HEYNE ‹
Das Buch Jane Austen starb 1817 im Alter von 41 Jahren. Was jedoch keiner weiß: Ihr Tod war nur vorgetäuscht,...
20 downloads
559 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
HEYNE ‹
Das Buch Jane Austen starb 1817 im Alter von 41 Jahren. Was jedoch keiner weiß: Ihr Tod war nur vorgetäuscht, denn Jane ist ein Vampir. Heute lebt sie unerkannt in einem Universitätsstädtchen in den USA und betreibt einen kleinen Buchladen. Dabei wird sie nicht nur von der allgemeinen Jane-Austen-Hysterie immer wieder zum Verzweifeln gebracht, sondern auch von den Verlagen, die seit über zweihundert Jahren ihr neuestes Manuskript ablehnen. Wenn Jane wenigstens Glück in der Liebe hätte! Doch all ihre romantischen Gefühle sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, auch wenn sie den schüchternen Literaturprofessor Walter noch so sympathisch findet. Bis eines Tages der geheimnisvolle Lord Byron wieder auftaucht, mit dem sie damals nicht nur eine stürmische Affäre hatte, sondern der sie auch zum Vampir gemacht hat. Auf einmal findet sich Jane inmitten einer ihrer eigenen Romanzen wieder … Auf unnachahmliche Weise verwebt Michael Thomas Ford die Geschichte der berühmtesten Schriftstellerin aller Zeiten mit einem modernen Mythos – Jane Austen kehrt zurück! Der Autor Michael Thomas Ford, geboren 1968, ist seit 1992 als Schriftsteller tätig. Er schrieb bereits über fünfzig Bücher für Jugendliche und Erwachsene, von denen einige mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurden. Der Autor lebt mit seinem Partner und fünf Hunden in San Francisco.
Michael Thomas Ford
Jane beißt zurück
Roman Aus dem Amerikanischen von Oliver Plaschka Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe JANE BITES BACK Deutsche Übersetzung von Oliver Plaschka
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden. Deutsche Erstausgabe 03/2010 Redaktion: Babette Kraus Copyright © 2009 by Michael Thomas Ford Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2010 E-Book by Brrazo 07/2010 Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3453-52589-4 www.heyne-magische-bestseller.de www.heyne.de
Für Liz Waters, die sehr guten Rat erteilt
1 Meine liebe Cassandra, ich wünschte mir wirklich, du hättest gestern Abend auf der Party sein können. Ich war gezwungen, Konversation mit den unangenehmsten Frauenzimmern zu betreiben, die man sich nur denken kann. Andererseits, wie ich dir schon gesagt habe, wünsche ich mir die Menschen gar nicht zu angenehm; denn so bleibt mir erspart, sie von Herzen zu mögen. Natürlich waren das nicht exakt die Worte, die Jane ihrer Schwester an jenem Heiligabend vor so langer Zeit geschrieben hatte, aber sie waren doch sehr ähnlich gewesen. Man konnte außerdem nach über zweihundert Jahren kaum von ihr erwarten, sich an jedes kleine Detail ihrer umfangreichen Korrespondenz zu erinnern. Auch wenn sie es ja eigentlich überprüfen könnte: Ihre gesammelten Briefe standen keine drei Meter von ihr entfernt in einem Regal. Doch sie beließ es dabei und stellte sich vor, wie sie die unangenehme Frau, die sie vor sich sah, in einem Brief an Cassie beschreiben würde. Melody Gladstone war zierlich. Ihre blasse Haut und ihre Arme, die an die Flügel eines Vögelchens erinnerten, verliehen ihr den Anschein von Zerbrechlichkeit, so als ob sie jeden Moment unter dem Gewicht ihres eigenen Kopfes zusammenbrechen könnte. Ihr Haar, blond wie Sommerweizen, wurde in ihrem Nacken von einem rosa Band zusammengehalten. Ihre Stimme klang sanft, und jeder Zuhörer im Raum war gezwungen, sich während ihrer Lesung mit dem Kopf nach vorne zu beugen. Elizabeth, deren frühere Fröhlichkeit zurückgekehrt war, wollte gerne von Mr. Darcy wissen, weshalb er 9
sich überhaupt in sie verliebt habe. »Wie konntest du nur den Anfang finden?«, fragte sie ihn. »Ich kann zwar verstehen, dass du ganz gut vorankamst, nachdem der Anfang gemacht war; was aber brachte den Stein ins Rollen?« »Ich kann nicht die genaue Stunde nennen oder den Ort oder den Blick oder die Worte, welche den Grundstein legten. Das ist zu lange her. Ich war mittendrin, ehe ich merkte, dass ich begonnen hatte.« »Meiner Schönheit hast du früh widerstanden, und was mein Benehmen betrifft – mein Verhalten dir gegenüber war immer bestenfalls unhöflich zu nennen, und nie habe ich mit dir gesprochen, ohne den Wunsch zu verspüren, dir wehzutun. Sag mir also ehrlich, hast du mich meiner Ungehörigkeit wegen bewundert?« »Der Lebhaftigkeit deines Gemüts wegen, ja.« »Du darfst es ruhig ah Ungehörigkeit bezeichnen, denn nichts anderes ist es gewesen. Tatsache ist, du hattest Höflichkeit, Ehrerbietung und aufmerksamen Übereifer satt. Du warst angewidert von den Frauen, deren einziges Anliegen es war, mit allem, was sie sagten und taten, deine Zustimmung zu finden. Ich habe dein Interesse geweckt, weil ich so anders war. Wärst du nicht ein so freundlicher Mensch gewesen, hättest du mich dafür gehasst; doch trotz der Mühen, die du auf dich nahmst, dich zu verstellen, waren deine Motive immer edelmütig und gerecht. Und in deinem Herzen verabscheutest du die Menschen, die dich so geflissentlich umwarben. So – ich habe es dir erspart, dich erklären zu müssen. Und ehrlich, wenn ich es so bedenke, kommt mir alles höchst vernünftig vor. Gewiss erfuhrst du nichts Gutes von mir – doch das zählt nicht, wenn man sich verliebt.«
10
Melody Gladstone schloss das Buch in ihren Händen und studierte aufmerksam ihr Publikum. »Wie Sie sehen«, sagte sie, »verliebte sich Mr. Darcy in Elizabeth, weil sie keine Angst hatte, sie selbst zu sein. Dies war ihre Belohnung dafür, nicht den erstbesten Antrag angenommen zu haben.« Zustimmendes Gemurmel ertönte im Raum. »Ich hab’ dir gesagt, es würde voll werden.« Am hinteren Ende des Ladens war Lucy neben Jane getreten. Mit offensichtlicher Genugtuung betrachtete sie die vielen Leute, die auf Klappstühlen zwischen den Bücherregalen gezwängt saßen. »Das ist es allerdings«, antwortete Jane ihrer jungen Verkäuferin. »Ich kann nicht glauben, dass sie ihr diesen Unsinn abnehmen.« Es war schlimm genug, dachte sie, dass so viele von ihnen in den Gewändern der Protagonisten erschienen waren. Sie zählte zwei Dutzend Elizabeths und vielleicht ein halbes Dutzend Darcys. Auch wenn einige der Elizabeths wohl ebenso gut Emmas sein könnten. Oder Mariannes oder Catherines oder Annes. Womöglich waren einige von ihnen sogar Fannys, auch wenn sie das bezweifelte. Nicht viele der Leserinnen schienen Fanny zu mögen. »Wir haben schon dreiundsechzig Bücher verkauft«, teilte Lucy ihr mit. »Und ich garantiere dir, die Hundert schaffen wir auch noch, sobald sie mit Reden fertig ist.« Jane erwiderte nichts. Auch wenn sie dankbar über die Verkäufe war, konnte sie nicht anders, als sich zu wünschen, dass die Leute auf ein anderes Buch aus wären. Auf irgendein anderes Buch. »Wir alle sind heute Abend hier, weil wir – wie Elizabeth Bennet, und wie Jane – daran glauben, dass wahre Liebe das wertvollste Geschenk ist, welches das Leben zu bieten hat.« 11
Jane betrachtete Melody Gladstone mit einer Mischung aus lebhafter Abneigung und widerstrebender Ehrfurcht. Wie hatte ihr Buch nur solch ein phänomenaler Erfolg werden können? Sie erinnerte sich, wie sie vor sechs Monaten ein Vorabexemplar überflogen und gedacht hatte, dass es zum Scheitern verurteilt wäre. Nun erkannte sie, dass nicht nur sehr viele Leute dumm genug waren, es in ihr Herz zu schließen, nein, sie stürzten sich mit einer Begeisterung darauf, die schon an Hysterie grenzte. »Die Botschaft von Warten auf Mr. Darcy ist diese«, sagte Melody, und hielt ihr Buch empor, als handele es sich um eine Art Heilige Schrift. »Wenn Sie die Schönheit der Liebe – wahrer Liebe – wirklich erfahren wollen, dann geben Sie sich niemandem hin, ehe Sie sie nicht gefunden haben.« Das Publikum applaudierte. Melody strahlte, dann hob sie eine Hand, und sie verstummten. »Ich weiß, dass viele von Ihnen sich diesem Ideal bereits verschrieben haben«, sagte sie. »Ich kann es an der Anzahl der Medaillons hier erkennen.« Gelächter erklang, als die Menschen die Köpfe drehten, um einander anzusehen. Manche hoben die Hände und griffen nach den Silbermedaillons, die sie an Ketten um ihre Hälse trugen. Melody Gladstone hielt ein identisches Medaillon empor und ließ es zwischen den Fingern baumeln wie ein Hypnotiseur sein Pendel. Ihre himmelblauen Augen ruhten auf ihrer Hörerschaft. »Für diejenigen, die es nicht wissen«, sagte sie, »dieses Medaillon ist das Symbol derer, die beschlossen haben, tatsächlich darauf zu warten, dass unser Mr. Darcy den Weg zu ihnen findet.« Sie öffnete das Medaillon und enthüllte ein Porträt darin. »Sieht er nicht fabelhaft 12
aus?«, fragte Melody. »Sein Bild wurde eigens für uns von niemand anderem als Paul Henry Mattheson gemalt, demselben Künstler, der all die wunderschönen Umschläge für die Neuauflagen der Jane-Austen-Romane geschaffen hat, die mein Verlag nun zusammen mit Warten auf Mr. Darcy herausbringt. Dieses Medaillon erhält nur, wer den Kontrakt hinten in meinem Buch unterschreibt und zusammen mit einer Quittung über den Erwerb des Buchs und der Romane einsendet. Wer also eines hat, kann sich als Mitglied einer sehr exklusiven Gesellschaft fühlen.« Überall sah Jane zustimmend nickende Köpfe. Die Lesung begann, zu einer religiösen Erweckungsversammlung zu werden. Halb erwartete sie, dass Melody Gladstone jene nach vorne rufen würde, die sich Errettung von ihren Sünden erhofften, während die Frommen sich niederwarfen und weinten und Hallelujah riefen. Stattdessen legte die Autorin ihr Medaillon vor sich hin und faltete ihre Hände. »Es war eine große Freude, Sie alle heute Abend kennenzulernen«, sagte sie. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, Sie alle hier zu sehen und zu wissen, dass ich Sie in bescheidenem Maße vielleicht dazu ermutigt habe, die Botschaft unserer geliebten Jane, die Botschaft von Reinheit und Selbstachtung, anzunehmen.« Als tosender Applaus im Raum ausbrach, rief Lucy: »Miss Gladstone wird gleich Bücher signieren. Wie sie bereits gesagt hat, erwerben diejenigen, die ihr Buch und das Jane-Austen-Set kaufen, das Vorrecht, auch eines der Medaillons mit Mr. Darcys Porträt zu erstehen. Wir haben eine limitierte Zahl von –« Bevor sie enden konnte, standen alle auf und stürmten schreiend und rempelnd zu den Tischen mit den hohen 13
Bücherstapeln. Jane machte einen Schritt zurück, als zwei Mädchen, beide in Empirekleidern, wie die Verrückten unter Einsatz ihrer Ellenbogen an ihr vorbeistürzten, um als Erste am Tisch zu sein. Sie mögen sich für Reinheit begeistern, dachte Jane, während sie beobachtete, wie die Mädchen nach den Büchern grabschten, aber ihre Manieren hätten Nachhilfe bitter nötig. Die nächsten anderthalb Stunden waren ein einziges eifriges Bücherverkaufen und -verpacken, und ein Staunen über die schier endlose Schlange von Menschen, die wollten, dass Melody Gladstone ihr Buch signierte. Viele der Frauen, und nicht wenige der jungen Männer, verließen den Laden unter Tränen, die Bücher fest an ihre Brust gedrückt und die Hände liebevoll an die Medaillons um ihren Hals gelegt. Endlich brachte Lucy den letzten Autogrammjäger zur Tür, und Jane stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Der Büchertisch, den sie und Lucy für den Abend aufgestellt hatten, war restlos leer. Hinter dem Tresen las sie die Verkaufsstatistik des Abends auf dem Bildschirm ab. Als sie die Zahlen sah, schnappte sie hörbar nach Luft. »Das ist mehr als in den ganzen letzten drei Wochen zusammen«, sagte Lucy, die ihr über die Schulter spähte. »Es ist unglaublich«, stimmte Jane zu. »So ist es jeden Abend«, seufzte Melody Gladstone. »Jeder liebt seine Jane Austen.« Jane war überrascht über den völlig veränderten Tonfall der Autorin. Sie blickte auf und sah Melody auf ihrem Stuhl, die Füße unter dem Tisch ausgestreckt, wie sie sich die Stirn massierte. »Haben Sie Aspirin?«, fragte sie. »Oder besser noch, haben Sie vielleicht Wodka?« 14
Jane und Lucy warfen sich einen Blick zu, dann ging Lucy los, um Aspirin zu suchen. Jane lächelte höflich und sagte: »Diese Tour muss sehr anstrengend für Sie sein.« »Sie ist ein Scheißalptraum«, antwortete Melody. Jane zuckte zusammen. »Jeden Abend ist es dasselbe. ›Habt keinen Sex, bevor ihr nicht den Richtigen gefunden habt. Haltet euch rein. Tragt dieses bescheuerte Medaillon, und eines Tages wird euer Prinz zu euch kommen.‹ Was für eine gequirlte Scheiße. Aber sie schlingen sie herunter.« Sie winkte ab. »Sie haben die Zahlen gesehen.« »Die sind allerdings beeindruckend«, gab Jane säuerlich zu. »Deshalb veranstalte ich ja den ganzen Zirkus«, antwortete Melody. »Jedes Mal, wenn einer dieser Spinner ein Buch kauft, stell’ ich mir fünf Mäuse mehr vor, die sich auf meinem Konto ansammeln.« Lucy kam mit einem Glas Wasser und zwei Aspirin zurück, die sie Melody reichte. Melody warf die Pillen in ihren Mund und trank das halbe Glas Wasser nach. »Mein Kopf bringt mich noch um«, sagte sie. »Ich hätte ein Valium nehmen sollen.« »Das heißt also«, sagte Jane vorsichtig, »Sie glauben nicht wirklich, was Sie in Ihrem Buch schreiben?« Melody schüttelte den Kopf. »Ich bitte Sie«, sagte sie. »Glauben Sie im Ernst, es gibt noch irgendwelche Mr. Darcys dort draußen? Gibt es nicht. Wahrscheinlich hat es sie nie gegeben. Diese Mädchen wollen aber glauben, dass es welche gibt, also gebe ich ihnen, was sie wollen.« »Und im Gegenzug werden Sie sehr wohlhabend dabei«, kommentierte Jane. »Es ist nur mein Stück vom großen Austen-Kuchen«, 15
sagte Melody. »Jeder will jetzt seines haben. Sie haben die Bücher gesehen. Austen ist der Renner. Sie schreiben ihren Namen irgendwo drauf, und es verkauft sich. Verdammt, mein Verleger bringt im Frühjahr ein JaneAusten-Massagebuch raus. Wissen Sie, wie es heißt? Sinn und Sinnesrausch.« Sie lachte. »Ich wette, es verkauft sich zwei Millionen Mal.« »Wir können nur darauf hoffen«, merkte Jane trocken an. Wenn sie Melody Gladstone zuvor nicht gemocht hatte, dann verabscheute sie sie jetzt. Sie war eine widerwärtige Frau, eine Opportunistin, die ihren Namen verwendete, um ein Vermögen zu machen. Während ich in den letzten zweihundert Jahren keinen einzigen Tantiemenscheck gesehen habe, dachte sie. Melody, die Janes wachsende Feindseligkeit nicht mitbekam, schnaubte unverschämt. »Ich kapiere selbst nicht, was so toll an Austen sein soll«, sagte sie. »Ich meine, haben Sie ihre Romane gelesen? Ich habe es kaum durchgeschaut. Das meiste von dem, was ich darüber weiß, hab ich von den Sondersendungen des PBS. Aber die Bücher? Da erzähl mir noch einer was von Langeweile.« Sie gab ein groteskes Schnarchen von sich, das Jane veranlasste verärgert ihre Zähne zusammenzubeißen. »Ich liebe Austen«, sagte Lucy. »Ich finde ihre Bücher wundervoll. Und wenn Sie mich fragen, handeln sie auch nicht davon, Mr. Darcy zu finden. Sie handeln von jungen Frauen, die die Konventionen brechen und versuchen, ihren eigenen Willen durchzusetzen.« Jane bedankte sich still bei Lucy. Sie versteht es, dachte Jane. Es ging nie um Darcy. »Alles, was ich weiß, ist, dass meine Tantiemen umso höher ausfallen, je mehr Leute es gibt, die Mr. Darcy lie16
ben«, sagte Melody. »Alles andere könnte mich weniger interessieren.« Du meinst, alles andere könnte dich nicht weniger interessieren. Jane verbiss es sich, die Worte laut auszusprechen. Melody Gladstone hatte nicht nur schlechte Umgangsformen, sie bediente sich auch einer haarsträubenden Grammatik. »Wir haben noch ein paar Bücher im Lager«, sagte Lucy. »Meinen Sie, Sie könnten sie noch signieren?« Melody verdrehte die Augen. »Ich schätze schon«, sagte sie. »Ich wünschte, Sie hätten sie für die Lesung nach vorne geholt, aber irgendjemand wird sie sich schon unter den Nagel reißen. Man sagt, ich sei einer der fünf größten Verkaufsschlager dieser Saison. Ich wäre ja auf Platz eins, wenn da nicht dieses Buch über dieses dämliche blinde Mädchen und ihren Hund wäre.« Lucy verzog sich und kehrte mit einem halben Dutzend Ausgaben von Warten auf Mr. Darcy zurück, die sie vor der Autorin auf den Tisch legte. »Wenn Sie fertig sind, kann ich Sie ins Hotel zurückfahren«, bot sie an. Jane, die gerade die Kasse zählte, sah auf. »Lucy, ich kann Miss Gladstone doch zurückfahren«, sagte sie. »Warum gehst du nicht nach Hause?« Lucy warf einen Blick auf Melody, die das letzte der Bücher signierte. »Bist du dir sicher?«, fragte sie Jane. »Mir ist es gleich, wer von Ihnen mich fährt«, sagte Melody, und verschloss ihren Füllfederhalter mit einem Schnappen. »Wir sollten aber allmählich in die Gänge kommen. Morgen in der Frühe muss ich schon wieder in einem Flieger nach Columbus oder Detroit oder einem anderen Dreckloch sitzen.« »Ich komme schon klar«, sagte Jane zu Lucy. »Geh 17
nur heim. Wir sehen uns morgen früh. Danke für die ganze Arbeit mit der Lesung.« »Kein Problem«, sagte Lucy. Sie wandte sich Melody Gladstone zu. »Danke fürs Kommen«, sagte sie. »Es war nett, Sie kennenzulernen.« Die Frau nickte, sagte aber nichts. Nach einer kurzen Pause, in der offensichtlich wurde, dass Melody nicht die Absicht hegte, Lucys Dank zu erwidern, warf Lucy Jane einen kurzen Blick zu. »Bis morgen«, sagte sie, drehte sich um und ging zur Vordertür. »Von mir aus können wir«, sagte Melody. Sie hatte sich erhoben und ihren Mantel angezogen, noch ehe Lucy die Tür hinter sich geschlossen hatte. Jane sah die Frau an und lächelte. »Also dann«, sagte sie. »Verweilen wir nicht länger in dieser freudvollen Stube.« Melody starrte sie an. »Mein Auto steht hinter dem Laden«, sagte Jane. »Ich hole nur schnell meinen Mantel.« Wenige Minuten später saßen sie in Janes ramponiertem Volvo und warteten darauf, dass die Heizung des Kombi ansprang. Melody rieb die Hände aneinander. »Wie alt ist das Ding eigentlich?«, fragte sie abschätzig. »Eine Dame fragt man nicht nach ihrem Alter«, sagte Jane streng, und handelte sich einen befremdeten Blick von Melody ein. Sie legte den Gang ein und fuhr vom Parkplatz: Während sie durch die verschneite Innenstadt von Brakeston fuhren, schaute Melody aus dem Fenster. »Dieser Ort ist so langweilig«, sagte sie. »Wie halten Sie es hier bloß aus?« »Ich finde diese Art von Bescheidenheit sehr charmant«, antwortete Jane. 18
»Ich würde ja eingehen, wenn ich in so einer Stadt leben müsste«, fuhr Melody fort. »Als ich meine Reiseroute das erste Mal sah, fragte ich mich: ›Brakeston? Wo zum Teufel liegt Brakeston?‹« »Lucy hat sich wirklich große Mühe gegeben, Sie zu uns zu holen«, teilte Jane ihr mit. »Und der Zulauf war doch ziemlich gut, oder nicht?« Melody zuckte die Achseln. »Kein Vergleich mit der Lesung in New York«, sagte sie. »Da mussten wir Leute wieder nach Hause schicken.« »Nein, wie schrecklich«, sagte Jane mitfühlend. »Nicht wahr?«, stimmte Melody zu. »Na ja, alles in allem bin ich wohl das Spannendste, was hier je durchkam. Wenigstens hab ich das Leben der Leute ein bisschen aufregender gemacht.« »Wir sind Ihnen ja so überaus dankbar, dass Sie uns beehrt haben«, sagte Jane. »Ich bin mir sicher, wir werden noch monatelang davon reden.« »Ich kann’s gar nicht erwarten, in die Zivilisation zurückzukehren«, sagte Melody und seufzte. Jetzt reicht’s, dachte Jane. Sie bog plötzlich von der Hauptverkehrsstraße ab und steuerte das Auto in eine ruhige Seitenstraße. »Das Hotel ist in dieser Richtung«, protestierte Melody. »Das ist eine Abkürzung«, sagte Jane knapp. Am Ende der Straße fuhr sie das Auto an den Bordstein und hielt vor einem Haus, das nur so blinkte vor lauter Weihnachtsschmuck. Vom Rasen aus stierte ein lebensgroßes Maria-und-Joseph-Paar zu ihnen hinüber. Hinter ihnen starrten Santa, Rudolph und Frosty, der Schneemann, verzückt auf das kleine Jesuskind herab, das in seiner Plastikkrippe schlief. Riesenhafte Zuc19
kerstangen dienten als Kulisse für die drei Elfen, die schreiend bunt verpackte Päckchen herantrugen. »Wo sind wir?«, fragte Melody. »Was machen wir hier?« »Ich muss mich nur um eine Kleinigkeit kümmern«, sagte Jane. Sie schnallte sich los und beugte sich zu ihrer Passagierin, die zu sehr von der bizarren Krippenszene eingenommen war, um sie zu bemerken. Während Jane ihren Mund öffnete, glitten die beiden Fangzähne, die in ihrem Oberkiefer versteckt lagen, aus ihren knöchernen Scheiden und rasteten mit einem sanften Klicken ein. Als ihre Lippen sich auf Melodys Hals legten, schrak Melody zusammen und stieß einen leisen Schrei aus, der abgeschnitten wurde, als Jane das Gesicht der jungen Frau gegen ihren Mantel drückte und dort festhielt, während das Blut über ihre Lippen zu strömen begann.
20
2 Manchmal erwachte sie fiebrig und desorientiert aus diesen Träumen, als ob während der Nacht ein Phantom in ihr Zimmer gekommen wäre, um ihre Lungen mit seinem teuflischem Atem zu füllen, der ihr den Verstand vergiftete. In den ersten Augenblicken der Besinnung kämpfte sie gegen die sie umschlingenden Laken und rief um Hilfe. Doch in dem leeren Haus verklang ihre Stimme ungehört. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 293 Eine lange, heiße Dusche half Jane, Melodys Geruch von ihrem Körper zu kriegen. Danach hüllte sie sich in einen weichen Morgenmantel und ging nach unten. Als sie in die Küche kam, trat sie auf etwas Weiches und Feuchtes. Sie machte das Licht an und sah einen kleinen, toten Vogel auf dem Boden vor dem Kühlschrank liegen. Sein helles, braunes Gefieder war blutbesprenkelt. Da erschien Tom, der schwarz-weiße Kater, den sie vor vielen Jahren aufgenommen hatte, und strich ihr schnurrend um die Füße. Jane bückte sich, um den Vogel aufzuheben. Ihr schauderte beim Anblick des Vogelkopfes, der schlaff von ihrer Hand baumelte. »Musst du sie immer nach drinnen tragen?«, fragte sie Tom, während sie den Vogel in den Abfalleimer warf und ihre Hände in der Spüle wusch. Sie leerte etwas Trockenfutter in Toms Fressnapf und stellte ihn auf den Boden. Der Kater trabte heran und fraß hungrig. Während er die Stücke zwischen seinen Zähnen zermalmte, beobachtete er Jane aus den Augenwinkeln. »Schreckliches Biest«, sagte Jane und kraulte ihn hin21
ter dem Ohr. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Post, die sie vom Flur mit hereingebracht hatte. Das meiste davon war Mist, doch am Boden des Stapels fand sich ein Brief. Als sie die Absenderadresse las, fühlte Jane, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sie fuhr mit dem Finger unter die Lasche und zog das Blatt Papier aus dem Umschlag. Sehr geehrte Miss Fairfax: Danke, dass Sie uns Ihr Manuskript zur Ansicht geschickt haben. Wir bedauern, Ihnen mitzuteilen, dass es nicht in unser Programm passt. Wir wünschen Ihnen noch viel Erfolg für Ihre weitere Zukunft. Mit freundlichen Grüßen, Jessica Abernathy Fourth Street Books Jane zerknüllte den Brief und warf ihn zu Boden. Tom beäugte ihn, als ob er überlegte, ob es sich lohnen würde, ihn unter den Tisch zu schleifen, unterbrach dabei sein Fressen aber nicht. Jane öffnete eine Flasche Merlot, nahm ein Glas aus der Vitrine und eine Tafel Schokolade aus einer der Schubladen, ließ Papierknäuel und Kater in der Küche und ging wieder nach oben in ihr Schlafzimmer. Sie goss sich ein Glas Wein ein und stellte es auf den Nachttisch. Dann öffnete sie eine Schublade des Nachttischs und entnahm ihr ein kleines Notizbuch. Sie schlug eine Seite nahe der Mitte des Buchs auf und trug Jessica Abernathys Namen in der ersten freien Zeile ein, welche in diesem Fall fast genau im oberen Drittel der Seite lag, gerade unter Barlow McInerney von Accordion Press. 22
Neben Jessicas Namen schrieb Jane die Nummer 116. »Einhundertsechzehn Ablehnungsschreiben«, murmelte sie. »Ein einhelliges Meinungsbild, würde ich sagen.« Sie durchblätterte die Seiten des Notizbuchs, bis sie zur ersten kam. Sie hatte das Manuskript natürlich nicht an ihren üblichen Verleger, John Murray, schicken können – das hätte einige sehr unangenehme Enthüllungen zur Folge gehabt. Daher war sie gezwungen gewesen, es anderweitig zu versuchen. An der Spitze der Liste von Lektoren, die ihr Manuskript abgelehnt hatten, stand ein gewisser Geoffrey Martin Pomerantz von Pomerantz & Joygulb, London. Jane hatte keine Erinnerungen mehr an Mr. Pomerantz (oder Mr. Joygulb, was das betraf). Ihr schlechtes Gedächtnis ließ sich jedoch vielleicht angesichts der Tatsache entschuldigen, dass es fast 185 Jahre her war, dass sie ihnen ihr Manuskript geschickt hatte. Wurde es nun wirklich schon so lange herumgereicht?, fragte sie sich. Sie nahm an, dass es so war, auch wenn ihr diese Vorstellung schwerfiel. Tom, der sich noch das Maul leckte, kam lautlos ins Zimmer getappt und sprang auf das Bett, wo er sich auf Janes Schoß niederließ und sofort einschlief. »Tom, vielleicht ist es an der Zeit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass ich nicht mehr schreiben kann«, sagte Jane. Tom öffnete eines seiner goldenen Augen, nur eine Sekunde, bevor er es wieder schloss und weiterschlief. Jane schloss das Notizbuch und legte es zurück in die Schublade. Sie sagte sich, wie sie es schon viele Male zuvor getan hatte, dass sie es einfach wegwerfen sollte. Es war deprimierend, es in ihrer Nähe zu wissen. Dennoch lag für sie eine masochistische Genugtuung darin, die Absagen zu dokumentieren. Die Originalbriefe be23
wahrte sie nicht auf – sie würden nur Platz wegnehmen, und außerdem irgendwann vor Alter zerfallen – die Namen aber behielt sie. Die meisten der Leute, die sie in ihr Buch eingetragen hatte, waren mittlerweile tot, was Jane ein kleines bisschen Befriedigung verschaffte. Dennoch ließ der Schmerz über das Nichtveröffentlichtsein nie ganz nach. »Ich bin Schriftstellerin«, erklärte sie Tom. »Das ist es, was ich tue. Ich schreibe.« Sie zögerte einen Moment und seufzte. »Wenigstens tat ich das einmal«, verbesserte sie sich. Die Wahrheit war, dass sie seit Abschluss des Manuskripts, das 116 Absagen erhalten hatte, nichts Neues mehr geschrieben hatte. Sie hatte es über die Jahre leicht überarbeitet, doch im Großen und Ganzen blieb es der Roman, den sie vor fast zwei Jahrhunderten fertiggestellt hatte. Sie hatte Die Brüder aufgeben müssen, als sie Chawton Cottage zum letzten Mal verließ – jenes Fragment, das ihre Familie in Sanditon umbenannt hatte; sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie wirklich glücklich darüber war –, dieses andere Manuskript aber war ihr Geheimnis geblieben. Sie hatte natürlich versucht, etwas Neues zu schreiben, doch die Last des unveröffentlichten Buches, das sie in Gedanken immer mit sich herumtrug, hatte sich als ein zu großes Hindernis erwiesen. Sie fühlte sich mit einem Mal sehr müde. Wie lange hatte sie jetzt schon den Buchladen? Sie rechnete nach. Es waren was, acht Jahre? Nein, neun. Sie war nach Brakeston gezogen, nachdem sie zwei Jahrzehnte in Phoenix zugebracht hatte, einer Stadt, die sie sich gerade deshalb ausgesucht hatte, weil sie mit dem kompletten Gegenteil des Wetters, das sie aus ihrer Kinderzeit in England kannte, gesegnet war. Zwanzig Jahre 24
unerbittliche Hitze und Sonnenschein hatten ihr jedoch irgendwann zugesetzt, nicht aus den Gründen, die man vielleicht vermuten würde (Sonnenlicht war nicht halb so verheerend für Vampire wie die landläufigen Mythen die Allgemeinheit glauben machen wollten), sondern weil sie eine natürliche Blässe besaß. Nach weniger als einer Stunde in der Sonne wurde sie rosa, und sie hatte es nie geschafft, auch nur einen Hauch von Bräune zu erreichen. Das Einzige, was sie bekam, war angeschwollene Haut in der Farbe eines gekochten Hummers. Es war kein besonders attraktiver Anblick. Jahrelang hatte sie versucht, die Merkmale des Alterns nachzuahmen; sie hatte ihr Haar gefärbt und Falten und Leberflecke vorgetäuscht. Aber alles hatte seine Grenzen, anstrengend war es auch, und irgendwann hatte sie es dann aufgegeben (sie erinnerte sich vage an das Jahr 1881, es könnte aber auch 1900 gewesen sein – der Beginn des neuen Jahrhunderts, das Jahr, in dem sie Europa verließ, um nach Amerika zu gehen, wäre ein logischer Zeitpunkt gewesen, um so etwas zu beschließen). Stattdessen zog sie nun einfach um, sobald man ihren mangelnden Alterungsprozess zu bemerken begann. Und so war sie nach vielen Umzügen in diese Stadt im nördlichen Teil des Staates New York gekommen, die sie mehr oder weniger aufs Geratewohl gewählt hatte, weil ihr der Klang ihres Namens gefiel. Neun Jahre, dachte sie. Damit bleiben mir weitere zehn oder so, bis ich über einen Umzug nachdenken muss. Es wäre möglich, dass sie sogar mehr Jahre aus Brakeston herausholen konnte. Hieß es denn nicht, 40 wäre die neue 30? Irgendwo hatte sie das kürzlich gehört. Doch wer immer das gesagt hatte, war eindeutig nicht die letzten zwei Jahrhunderte 41 gewesen. »Vierzig ist eher 25
die neue Hundertzweiundneunzig«, teilte sie dem Kater mit, der zusammengerollt auf ihrem Bauch lag und schlief. Sie trank den Rest des Weins und verdrückte die Schokolade, während sie sich durchs Fernsehprogramm zappte und Bruchteile verschiedener Shows mitnahm, bis schließlich nur noch Dauerwerbesendungen für Gemüseschäler und Schlankheitspillen liefen. Dann, den Kopf schwer von Wein, fühlte sie, wie ihr die Augen zufielen. Sie war noch nicht eingeschlafen, aber auch nicht mehr richtig wach, als ihre Gedanken zu einer Nacht vor vielen Jahren zurückkehrten. Sie stand auf einer Veranda, von der aus man einen See überblickte. Es war kurz nach Einbruch der Dunkelheit, und es regnete. Ein Gewitter ließ die Welt um sie herum erzittern, und die Wellen auf dem See waren stürmisch und wütend. Donner zerriss die Luft und Blitze spalteten den Himmel. Sie hatte Angst, gleichzeitig aber fühlte sie sich voller Leben. Niemand wusste, wo sie war. Sie hatte ihnen erzählt, sie besuche einen Freund, in Wahrheit aber hatte sie den Mann, in dessen Haus sie nun war, nie gesehen. Jedenfalls nicht persönlich. Sie hatten aber viele lange Briefe ausgetauscht, und durch diese Briefe hatte sie ihn kennengelernt. Als er ihr vorgeschlagen hatte, ihn in seinem Haus am Genfer See zu besuchen, hatte sie einen Moment gezögert und dann eingewilligt. Sie fühlte sich frei. Fern ihres Zuhauses und ihrer Familie konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Dass sie sich im Haus einer der skandalträchtigsten Persönlichkeiten ihrer Tage befand, machte die Erfahrung nur noch aufregender. Und er war genauso schön und inspirierend, wie sie erwartet hatte. »Was tust du hier draußen?« 26
Sie drehte sich um und sah, wie er sie beobachtete. Sein dunkles Haar war zurückgekämmt, und seine Augen schienen direkt in ihre Seele zu blicken. Er lächelte, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. »Ich sehe mir das Gewitter an«, antwortete sie. Er kam auf sie zu. Sein Hinken war kaum wahrnehmbar. Nach allem, was sie gehört hatte, hätte sie erwartet, dass es ausgeprägter war. Doch nichts an ihm war genauso, wie man es ihr beschrieben hatte. Es war, als erschiene er jedem Menschen in einer anderen Gestalt. »Es steht dir«, sagte er, und blieb neben ihr stehen. »Das Gewitter, meine ich.« Er legte einen Arm um ihre Taille. »Sie halten dich alle für einen ruhigen Nachmittag«, sagte er. »Aber in deinem Innersten tobst du vor Leidenschaft, nicht wahr?« Sie erwiderte nichts. Wie kam es nur, dass er sie so gut kannte? Es fühlte sich bereits so an, als ob sie ihn seit Jahren kannte, doch es war erst ein Tag seit ihrer Ankunft vergangen. »Die Nacht zeigt Sterne und Frauen in einem besseren Licht«, sagte er, während Donner über den Himmel rollte. »Komm nach drinnen. Du wirst dir sonst noch den Tod holen.« Sie ließ sich von ihm in den Salon zurückführen. Doch er hielt dort nicht an. Stattdessen führte er sie durch den Flur mit seinen vielen Porträts und Landschaftsbildern und in ein Schlafzimmer. Sein Schlafzimmer. Sie blieb stehen und nahm den Anblick des enormen Mahagonibetts mit seinen Schnitzereien und seinen rubinroten Samtvorhängen in sich auf. Die Bettlaken waren ein wildes Durcheinander, so als sei er gerade aufgestanden. Überall im Zimmer brannten Kerzen, und die Luft war von ihrer Wärme und einem schwachen Blumenduft erfüllt. 27
»Ich kann nicht«, sagte Jane, die plötzlich Angst verspürte. »Natürlich kannst du«, sagte er. »Es gibt nichts, vor dem du dich fürchten müsstest.« Sie zitterte, als er sich ihr zuwandte und begann, sie zu entkleiden. Sie schloss ihre Augen vor lauter Angst, dass sie den Raum fluchtartig verlassen würde, wenn sie ihn nun ansah. Seine Finger strichen geschickt über ihren Körper, und ließen ihr das Kleid von den Schultern gleiten. Zu ihren Füßen sank es in sich zusammen. Dann öffnete er die Bänder ihres Mieders. Sie atmete kaum, als er es ihr abnahm. Schließlich zog er ihr das Unterkleid aus, und sie stand nackt vor ihm. Als er seine Hände auf ihre Brüste legte, rang sie nach Atem, und als seine Lippen ihre Haut berührten, gaben ihre Knie nach. Er fing sie auf, nahm sie auf seine Arme und trug sie zum Bett. Er legte sie auf das Laken und trat zurück. Sie beobachtete durch ihre halb geöffneten Augen, wie er sich entkleidete. Sein Körper war schlank, seine Haut blass wie Milch. Als er die Hosen ablegte, warf sie einen kurzen Blick auf seine Männlichkeit, bevor sie den Blick wieder abwandte. Dann lag er neben ihr, seine Hand streichelte sie, und er sagte ihr, wie schön sie sei. Seine Küsse bedeckten ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Brüste und ihren Bauch. Seine Hände bereiteten ihr solche Lust, dass ihr der Atem stockte. Sekunden später war er über ihr, und sah in ihr Gesicht hinab. Seine Augen bohrten sich in ihre, und sie konnte nicht den Blick von ihnen wenden. Draußen tobte der Sturm, er blies eines der Fenster auf und ließ den Regen hinein. In diesem Moment beugte er sich herab und küsste sie. Sein Mund wanderte ihren Hals hinab. 28
Als seine Zähne ihr Fleisch durchbohrten, riss sie die Augen auf.
29
3 Als der Gärtner sich abwandte und in Richtung des Gewächshauses ging, fiel ihm etwas aus der Tasche. Constance trat näher und hob es auf und war überrascht, festzustellen, dass es sich um eine schön in grüne Seide gebundene Ausgabe von Miltons Wiedergewonnenem Paradies handelte. Sie war zweifelsohne oft gelesen worden, und während sie durch die Seiten blätterte, fragte sich Constance, ob Charles Barrowmans Gedanken womöglich um mehr als nur um den Kampf gegen Igel und die Aufzucht von Hortensien kreisten. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 78 Jane betrat Flyleaf Books mit dem sehr großen, sehr heißen und sehr schwarzen Kaffee, den sie sich gegen die Kopfschmerzen geholt hatte, die ihr vom Wein geblieben waren. Schlimmer noch als die Kopfschmerzen war der Nachhall ihres Traums. Ich habe mich schlecht benommen, dachte sie. Ganz und gar nicht wie eine Lady. »Schön, dass du vorbeischaust«, scherzte Lucy. Sie strich sich eine Locke ihres langen, krausen, schwarzen Haares hinters Ohr. Lucy war Anfang zwanzig, und sie war sarkastisch, witzig und äußerst intelligent. Bei ihrem Vorstellungsgespräch vor zwei Jahren hatte sie Jane erzählt, dass sie das College verlassen hatte, um sich einer MädchenPunkrock-Band anzuschließen, deren Songtitel allesamt bekannten feministischen Texten entlehnt waren. Nach sechs Monaten gemeinsam auf Tour begannen sie alle vier ihre Tage zur selben Zeit zu bekommen. Eines Abends dann war es vor versammeltem Publikum zum Bruch ge30
kommen, als die Bassistin in voller Absicht »The Female Eunuch« anstimmte, während die Sängerin die ersten Zeilen von »Ain’t I A Woman?« rief. Die folgenden Beleidigungen eskalierten rasch zu Vorwürfen und Tränen und fanden ein spektakuläres Ende, als die Schlagzeugerin, eine schüchterne, ehemalige Philosophiestudentin, die lange Passagen von Valerie Solanas S.C.U.M.-Manifest auf ihren Körper tätowiert hatte, aufgestanden war und geschrieen hatte: »Betty Friedan schreibt nur Scheiße, und ihr könnt mich alle mal!« Lucy hatte die Geschichte so schlagfertig erzählt, dass Jane sie sofort eingestellt hatte. »Übrigens«, sagte Lucy, als Jane ihren Mantel auszog und aufhängte, »die Zeitung von heute könnte dich interessieren.« Sie nickte in Richtung der Ausgabe des Daily Inquirer, die aufgeschlagen auf dem Tresen lag. Jane nahm sie zur Hand und überflog die Titelseite. »Senator im Ruhestand ruft Stiftung für Meade College ins Leben?«, las sie. »Darunter«, sagte Lucy. Jane sah nach. »Brakeston Lady Beavers treten zu Bezirksmeisterschaften an.« »Gib mal her« sagte Lucy und nahm ihr die Zeitung ab. Sie begann zu lesen. »Die bekannte Autorin Melody Gladstone wurde in den frühen Morgenstunden im Stadtzentrum aufgegriffen, nachdem die Polizei Anrufe mehrerer besorgter Bürger erhielt. Laut Officer Pete Bear, einem der beiden Polizisten vor Ort, schien Gladstone betrunken zu sein oder unter Einfluss einer unbekannten Substanz zu stehen. Gladstone ist die Autorin des Bestsellers Warten auf Mr. Darcy und war aufgrund einer Lesung bei Flyleaf Books in der Stadt.« Lucy blätterte um. »Es gibt auch ein Bild«, sagte sie. Jane sah sich den Schnappschuss von Melody Glad31
stone an. Sie stand auf der Hauptstraße, flankiert von den beiden Polizisten, die sie jeder an einem Arm hielten. Ihr Haar war wild zerzaust, und ihre Augen waren von Mascara und Lidschatten verschmiert. Ihr Gesichtsausdruck wirkte geistesabwesend, und ihr Mund war leicht geöffnet. »Meine Güte«, sagte Jane. »Sieht aus, als hätten sie einen tollwütigen Waschbär geschnappt. Würde mich nicht überraschen, zu hören, dass sie nun ausgestopft an einer Wand auf der Wache hängt.« »Du hast sie doch ins Hotel zurückgefahren«, sagte Lucy. »Ist irgendwas passiert?« Jane schüttelte den Kopf. »Ich hab sie abgesetzt und bin nach Hause«, antwortete sie. »Obwohl, wenn ich jetzt drüber nachdenke, sie hat etwas davon gesagt, dass sie noch einen trinken gehen will.« »Nun, ich würde sagen, sie hat eher noch sechs oder sieben zu sich genommen«, kommentierte Lucy. »Warte es nur ab, bis diese Geschichte rauskommt. Unsere kleine Vorzeigedame wird eine Menge Leser verlieren.« »Die Ärmste«, sagte Jane. »Ja«, stimmte Lucy zu. »Ich werde um sie trauern.« Die beiden tauschten einen Blick, und Jane entdeckte eine Spur der Befriedigung in Lucys Augen, doch sie sprachen nicht weiter darüber. Dann ging Lucy zurück an die Arbeit. Sie öffnete die Bücherkartons, die mit der morgendlichen UPS-Lieferung gekommen waren. Die neuen Titel auszupacken war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, und ihr Enthusiasmus wirkte fast immer ansteckend auf Jane. Sie selbst fühlte sich von frisch veröffentlichten Büchern irgendwie ein wenig gekränkt – ähnlich, wie kinderlose Frauen junge Mütter und ihre Kleinkinder manchmal mit einer Mischung aus Eifersucht und Ver32
zweiflung betrachteten – und es tat gut, zu sehen, dass sich noch jemand für sie begeistern konnte. »Schau nur«, rief Lucy, und griff in einen der Kartons. »Jane-Austen-Anziehpuppen, aus Papier. Sie sind ganz bezaubernd. Genau das Richtige für die Austenabteilung.« »Austenabteilung?«, fragte Jane und sah von den Rechnungen auf, die sie aus der Kasse genommen und zu sortieren begonnen hatte. »Was für eine Austenabteilung?« Lucy verdrehte die Augen. »Ich hab’s dir doch letzte Woche erzählt«, sagte sie. »Ich stelle eine Austenabteilung zusammen. Du hast doch gesehen, wie beliebt dieses Gladstone-Buch ist. Dann schau dir den ganzen anderen Austenkram an, den wir haben. Außer ihren eigenen Romanen haben wir noch Romane über sie. Dann gibt’s noch das Jane-Austen-Kochbuch und die Biographien und die gesammelten Briefe. Oh, und ich habe gerade im Publisher’s Weekly gelesen, dass jemand ein JaneAusten-Selbsthilfebuch herausbringt.« »Ein was?«, fragte Jane scharf. »Ja doch«, sagte Lucy. »Es geht darum, herauszufinden, welchem Jane-Austen-Charakter man am ehesten entspricht, und um diesen Persönlichkeitstyp herum einen Lebensplan zu entwerfen. Es heißt Würde die echte Elizabeth Bennett aufstehen, bitte. Deepak Chopra hat das Vorwort geschrieben. Ach egal, es wird großartig.« Jane biss die Zähne zusammen. Sie hatte gehofft, dieses lächerliche Kochbuch würde das Ende der Austenmanie sein. Ihre Beliebtheit war aber nur noch weiter gewachsen. Neulich gerade hatte sie in einem Modemagazin gelesen, dass Kleider im Stil ihrer Zeit der letzte Schrei auf Abschlussbällen und Sommerhochzeiten wären. 33
Es war wirklich alles zu viel, insbesondere, da Jane selbst keinen der Vorteile genoss, die sich damit verbanden, eine der beliebtesten Schriftstellerinnen aller Zeiten zu sein. Keine Tantiemenschecks fanden den Weg zu ihr. Niemand bat sie um Erlaubnis, all die Begleittexte für Leserunden, all die Gartenratgeber und Strickmuster entwerfen zu dürfen, die sich schubkarrenweise verkauften. Die Tatsache, dass sie ja im Grunde genommen eigentlich tot war, stellte nur einen schwachen Trost für sie dar. Sie begann mit der ihr verhassten Kassenzählerei. Sie hatte sich schon durch die Zwanziger und Zehner und Fünfer gearbeitet, und begann gerade mit dem ewig lästigen Kleingeld (wenn man Wechselgeld brauchte, hatte man nie genug davon, aber wenn man auf einen ordentlichen Tagesumsatz hoffte, gab es immer zu viel), als die Glocke über der Tür klingelte. Sie hoffte auf einen Kunden und war ein wenig enttäuscht, Walter Smith auf sie zukommen zu sehen. Er trug seine übliche Uniform: hellbraune Chinohosen und ein kariertes Flanellhemd unter einer braunen Twilljacke, auf die sein Name und der Name seiner Firma, eines Restaurierungsbetriebs, gestickt waren. Wie immer war er guter Dinge. Fünf Jahre kannte sie ihn nun, und nie hatte Jane ihn so finster dreinblicken gesehen. Walter stellte eine Papiertüte auf den Tresen und schob sie zu ihr herüber. Jane öffnete sie, und Zimtgeruch erfüllte die Luft. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte Jane. »Oh doch«, sagte Walter. Jane griff in die Tüte und holte eine Zimtschnecke heraus. Sie war noch warm und klebrig von Zucker. Jane biss hinein und stöhnte vor Wonne. Man machte sich ja viele falsche Vorstellungen von ihresgleichen, aber dass 34
sie die Fähigkeit verloren hätten, sich an gutem Essen zu erfreuen, war eine der populärsten. Jane war wirklich ein Stein vom Herzen gefallen, als sie diesen Irrtum als solchen erkannt hatte. Zugegeben, sie konnte sich nicht auf diese Art ernähren, der positive Aspekt aber war, dass sie auch nicht zunahm. Sie trug noch immer genau dieselbe Größe wie zum Zeitpunkt ihres Todes. »Sie kamen vor keinen zehn Minuten aus dem Ofen«, sagte Walter. Jane hatte im Laufe ihrer zweihundert Jahre viele wunderbare Dinge gekostet, aber kaum etwas konnte es mit den Zimtschnecken aufnehmen, welche die Bäckerei ein paar Häuser weiter die Straße hinab machte. Jane war abhängig von ihnen. Dass Walter ihr eine mitgebracht hatte, stimmte sie misstrauisch. »Was willst du?«, fragte sie ihn. Walters blaue Augen funkelten fröhlich, während er zusah, wie Jane sich die Zuckerglasur von den Fingern leckte. »Wer sagt denn, dass ich etwas will?«, fragte er und tat beleidigt. »Kann ich denn nicht einfach so einer Freundin eine Zimtschnecke vorbeibringen?« »Wer’s glaubt«, sagte Jane und aß einen weiteren Bissen. »Raus damit.« Walter lächelte. »In Ordnung«, sagte er. »Ich gestehe. Ich will dich wirklich um einen kleinen Gefallen bitten.« Jane wartete darauf, dass er fortfuhr. Walter zögerte und suchte sichtlich nach den passenden Worten. Bevor er so weit war, sagte Jane: »Walter, wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt. Ich kann nicht mit dir ausgehen. Ich meine –« »Ich will nicht mit dir ausgehen«, fiel ihr Walter ins Wort. 35
Jane sah ihn überrascht an. »Ich meine, ich will schon mit dir ausgehen«, sagte er, und errötete. »Aber ich weiß, dass du’s nicht tun wirst.« »Ich kann nicht«, verbesserte ihn Jane. »Das ist ein Unterschied.« »Du kannst nicht«, nickte Walter. »Wie auch immer, deshalb bin ich nicht hier. Ich möchte dich gerne auf meine Silvesterfeier einladen.« Jane stöhnte. »Ich hasse Silvester. Dieses ganze Theater und Aufhebens um ein weiteres Jahr, und alles ist immer so perfekt eingefädelt, dass es nur in einer einzigen großen Enttäuschung enden kann.« »Es ist bloß eine Party«, seufzte Walter. »Es gibt Champagner.« »Wie eindrucksvoll«, sagte Jane. »Und darf ich annehmen, es gibt auch Scharaden und Gesellschaftsspiele?« Walter sah sie auf eine Weise an, die sie an ein verwundetes Hündchen erinnerte. »Kommst du bitte?«, fragte er. Jane biss ein weiteres Stück von der Zimtschnecke ab und kaute, ehe sie antwortete. »Möglicherweise«, gab sie zurück. »Aber nur, weil du mich bestochen hast.« Walter lächelte. »Großartig. Wir freuen uns auf dein Kommen.« »Ich habe nicht gesagt –« »Ich muss los«, sagte Walter und sah auf seine Uhr. »Wir reißen heute früh Maggie Beechers Küche raus, und sie kriegt einen Anfall, wenn wir nicht punkt zehn vor der Tür stehen.« Er eilte hinaus, bevor Jane weiter protestieren konnte. Als er fort war, sagte Lucy: »Ich verstehe nicht, warum du nicht mit ihm ausgehst. Er fragt dich jetzt seit über einem Jahr.« 36
Jane seufzte. »Wir passen einfach nicht so gut zusammen«, sagte sie. »Weil er ein Zimmermann ist?«, fragte Lucy. »Nein«, sagte Jane rasch. »Und er ist ja nicht einfach ein Zimmermann. Er restauriert alte Gebäude, und das wirklich schön. Es hat aber nichts damit zu tun. Es ist einfach so, dass er … dass ich … einfach nicht …« Sie fand keinen Weg, den Satz zu beenden, ohne wie ein Snob zu klingen. »Ich kapiere es nicht«, sagte Lucy. »Er ist schlau. Er ist lustig. Er mag Bücher und Kunst und die ganzen Sachen, die du auch magst. Außerdem ist er ein heißer Typ.« »Ich denke, er sieht schon ganz ordentlich aus«, stimmte Jane zu und dachte an Walters durchaus ansprechendes Äußeres. Was für starke Hände er hat, dachte sie. »Dann erklär mir noch mal genau, weshalb du nicht mit ihm ausgehen kannst«, sagte Lucy. Weil ich tot bin, dachte Jane. Weil er alt werden wird, und ich nicht. Weil Männer in aller Regel keine Frauen mögen, die Blut trinken müssen, um am Leben zu bleiben. Was sie aber sagte, war: »Ich bin völlig zufrieden mit meinem Leben.« Lucy murmelte geistesabwesend etwas vor sich hin. »Was soll das heißen?«, wollte Jane wissen. Lucy stapelte ein paar Bücher auf dem Tisch. »Gar nichts«, sagte sie. »Ich habe mich nur geräuspert.« »Ich kenne dieses Räuspern«, schnappte Jane. »Das machst du immer, wenn du dir denkst: ›Dann geh und mach doch, was du willst‹.« »Ganz, wie du meinst«, sagte Lucy. »Schon okay.« »Ich habe Recht!«, rief Jane. »Und du weißt es!« Lucy sah sie von der Seite an. »Ganz, wie du meinst«, 37
wiederholte sie geziert. »Vielleicht sollte ich ja mit ihm ausgehen.« »Kein Problem«, sagte Jane und gab sich Mühe, so zu klingen, als ob es ihr nicht das Geringste ausmachen würde. »Bloß, weil er alt genug ist, dein Vater zu sein, solltest du dich nicht aufhalten lassen.« »Ah-ha!«, frohlockte Lucy. »Du magst ihn also doch!« »Tu ich nicht!«, sagte Jane. »Ich weise nur auf eine Tatsache hin.« »Du magst Walter«, sagte Lucy in einem Singsang. Jane strafte Lucy mit einem Kopfschütteln ab. »Ganz wie du meinst«, sagte sie.
38
4 Sie starrte die Schachtel an und wagte nicht, darauf zu hoffen, dass sich darin das Papier und die Stifte befanden, die sie sich zu Weihnachten gewünscht hatte. Constance wusste, dass ihre Eltern ihren Wunsch für ausgefallen hielten, und sie fürchtete, dass ihre Mutter und ihr Vater ihr stattdessen etwas anderes gekauft hatten – Haarbänder, Anziehpuppen oder ein weiteres Porzellankätzchen – nicht aus Grausamkeit oder Missbilligung, sondern weil sie sich einfach nicht vorstellen konnten, dass ihre Tochter das Leben einer Künstlerin führen wollte. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 25 Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Die Geschäfte gingen gut, und die Kunden kamen in Scharen, um rechtzeitig ihre Geschenke zusammenzubekommen. Lucys Vorhersage, dass die Austenabteilung ein Renner werden würde, erwies sich als richtig, und Jane sah zu, wie Stapel ihrer Bücher und der dazugehörigen Fan-Artikel aus dem Laden getragen wurden. Das war sowohl erfreulich als auch deprimierend, und der Gedanke an all die entgangenen Tantiemen bereitete ihr Kopfschmerzen. »Ich wusste, wir hätten die Jane-Austen-Actionfigur bestellen sollen«, meinte Lucy während einer der seltenen Pausen im geschäftigen Treiben. »Allein heute haben mich sechs Kunden danach gefragt.« »Keine Puppen«, entgegnete Jane knapp. »Es ist schlimm genug, dass ich mir diesen Austen-Weihnachtsschmuck habe aufschwätzen lassen.« »›Genau wie der, den Jane an ihren Baum hängte!‹«, 39
strahlte Lucy und zitierte den Text von der Verpackung des Schmucks. »Ist das die Möglichkeit«, meinte Jane, auch wenn sie zugeben musste, dass der Weihnachtsschmuck dem, den sie einmal besessen hatte, tatsächlich ähnlich sah. Außerdem hatten sie alle drei Packungen für $ 29.95 das Stück verkauft; sie konnte sich also nicht beschweren. Dann war endlich der Abend des vierundzwanzigsten Dezembers gekommen. Jane ließ Lucy um zwei nach Hause gehen, und um sechs bediente sie den letzten Kunden, einen gehetzt wirkenden Mann, der fünfzehn Minuten vor Ladenschluss noch hereingestürmt war, um scheinbar wahllos Bücher aus den Regalen zu greifen. Während Jane der Reihe nach seine Einkäufe einscannte, ging er mit dem Finger eine Liste in seiner Hand durch. »Emily, Frank, Sandra, Will, Jack, Maggie, Lloyd, Peter, Sally, Deirdre und der andere Jack«, las er laut. »Ich nehme nicht an, dass Sie das passende Buch für einen Hund besitzen?«, fragte er hoffnungsvoll. »Was für ein Hund ist es denn?«, fragte Jane, die gerade den Barcode auf dem Rücken des neuesten AnneRice-Romans einscannte. »Französische Bulldogge«, antwortete der Mann. »Ihr Name ist Gregory.« »Vielleicht mag sie ja Victor Hugo«, schlug Jane vor. »Oder aber«, fuhr sie fort, griff unter den Tresen, und zauberte einen großen Kauknochen mit einer grünen Schleife hervor – eine weitere von Lucys Ideen – »Sie versuchen es einmal hiermit.« Der Mann strahlte. »Perfekt!«, sagte er. »Jetzt habe ich alles.« »Wie steht’s mit Geschenkpapier?«, fragte Jane. »Verdammt!«, zischte der Mann. 40
»Gleich hier drüben«, sagte Jane und nickte in Richtung des beinahe leer geräumten Regals. »Ich glaube, wir haben noch etwas übrig, was nicht allzu sehr nach Fröhlichkeit schreit.« Der Mann nahm sich zwei Rollen Geschenkpapier und legte sie zu seinem Stapel. Minuten später trat er aus der Tür, mit drei unförmigen Einkaufstaschen unter dem Arm und $ 438 auf seiner nächsten Kreditkartenrechnung. »Fröhliche Weihnachten!«, rief er Jane noch zu, ehe er ging. »Fröhliche Weihnachten«, wiederholte sie. Dann schloss sie die Tür und drehte das Schild von GEÖFFNET auf GESCHLOSSEN. Als sie ins Büro ging, merkte sie, dass ihre Füße schmerzten. Daher entschloss sie sich, statt länger zu bleiben und die Unordnung im Laden aufzuräumen, die Lichter zu löschen und nach Hause zu gehen. Der Laden blieb morgen ohnehin geschlossen; sie konnte also genauso gut später aufräumen. Zuhause wurde sie begeistert von Tom empfangen. Er schnurrte laut und wand sich um ihre Fußknöchel wie ein pelziges Motorboot. »Du freust dich doch nur, mich zu sehen, weil du Hunger hast«, warf sie ihm vor, bückte sich aber dennoch herab. Sie nahm ihn auf, trug ihn in die Küche und setzte ihn auf der Arbeitsplatte ab, wo er zum Schrank mit dem Dosenfutter eilte. Sehnsüchtig blickte er auf die Tür. Während sie Toms Weihnachtsessen anrichtete, kam Jane nicht umhin, an vergangene Weihnachten zu denken. Die Feiertage waren immer eine glückliche Zeit für sie gewesen, erfüllt von wunderbaren Gerüchen, Klängen, und, was am schönsten war, Gelächter. Seit ihrem 41
Tod aber war Weichnachten bestenfalls ein Tag wie jeder andere, und schlechtestenfalls eine Erinnerung an all das, was sie verloren hatte. Sie stellte fest, dass sie es schrecklich vermisste. Ein Weihnachten war ihr besonders im Gedächtnis geblieben: das von 1786. Sie und Cassie waren gerade vom Internat zurück ins Pfarrhaus von Steventon gekommen. Sie waren 11 und 13 gewesen. Frei von den Zwängen der Schule mit all ihren Regeln und den strengen Oberinnen, genossen sie es in vollen Zügen, wieder zu Hause zu sein. Wie Vögel, die man plötzlich aus ihrem Käfig fliegen ließ, flatterten sie im Tiefflug durch das Haus. Sie erinnerte sich an die Gerüche der gebratenen Gans, des Plum Puddings und des Gewürzweins. Sie hörte die Stimme ihres Vaters, wie er voller Stolz von Frank berichtete, der mit seinen 12 Jahren schon in der Royal Navy diente. Und natürlich erinnerte sie sich an Henry, ihren Lieblingsbruder, wie er singend die Mistelzweige und den Efeu aufhängte. Dann gab es die Tänze und die Feierlichkeiten, die sie mit all der Aufgeregtheit eines kleinen Mädchens erlebte, das sich danach sehnte, einst an der Welt der Erwachsenen teilhaben zu dürfen. Sie verdrängte die Erinnerungen und ging nach oben in das kleinere der beiden Schlafzimmer, das sie als Arbeitszimmer gebrauchte. Sie setzte sich an ihren Computer und öffnete die Datei mit ihrem Roman. Es war an der Zeit, es realistisch zu betrachten – er würde sich nie verkaufen. Sie hatte es lange genug vermieden, sich das einzugestehen. Doch nun musste sie zugeben, dass Jane Austen möglicherweise ihr letztes Buch geschrieben hatte. War es denkbar, dass die Romane, die sie abgeliefert hatte, alles waren, was sie zu bieten hatte? Schließlich hatte sie 42
nicht erwartet, ewig zu leben, und vielleicht hatte sie alles gesagt, was sie zu sagen hatte. Der Gedanke kam ihr, dass all die Lektoren, die ihr Manuskript abgelehnt hatten, vielleicht lediglich erkannt hatten, was sie sich selbst nicht hatte eingestehen wollen. Sie markierte die Datei, öffnete das Kontextmenü, und wählte »In den Papierkorb verschieben.« Sie fragte sich, was ihre Fans tun würden, wenn sie sie nun sähen, bereit, einen ungelesenen Roman zu löschen. Würden sie versuchen, sie aufzuhalten? Natürlich würden sie das, sagte sie sich. Schließlich kauften sie bereitwillig die Fortsetzungen, die andere Autoren zu ihren Büchern schrieben, und selbst Bücher über Leute, denen ihre Romane gefielen. Sie konnten gar nicht genug von ihr kriegen. Aber sie werden es nie erfahren. Sie schickte sich an, den letzten Klick zu machen, der ihr Manuskript dem Tode überantworten würde. Dann aber wurde sie von einem Blinken in der oberen linken Ecke des Bildschirms abgelenkt. Sie hatte eine Nachricht in ihrem Posteingang. Sie gewährte ihrem Roman eine vorläufige Gnadenfrist und sah nach dem Neuankömmling in ihren E-Mails. Die Betreffszeile lautete: Ich hoffe, es wurde mir noch nicht weggeschnappt. Der Absender war eine Person, deren Namen ihr nichts sagte: Kelly Littlejohn. Ist wahrscheinlich bloß Spam, dachte Jane, und machte sich daran, die Nachricht zu löschen. Doch irgendwie klingelte etwas bei ihr, und so öffnete sie die E-Mail. Liebe Miss Fairfax, Ich bitte Sie, die Knappheit dieser Mail zu entschuldigen. Ich befinde mich gerade in einem Zug von Paris nach 43
Wien, und bin nicht gerade zuversichtlich, dass meine Internetverbindung lange halten wird. Ich habe gerade das Manuskript zu Ende gelesen, das Sie mir im September geschickt hatten. Kurz gesagt, ich bin begeistert. Ich befürchte allerdings, dass ich zu spät komme, und ein anderer, tüchtigerer Lektor es sich bereits gesichert hat. Wenn das der Fall sein sollte, wäre ich zwar maßlos enttäuscht, könnte aber nur mir selbst die Schuld daran geben. Falls der Roman allerdings noch verfügbar sein sollte, würde ich sehr gerne meine Ansprüche anmelden. Ich werde die nächsten Tage noch auf Reisen sein, aber antworten Sie mir doch bitte, wenn diese Nachricht Sie erreicht, und Sie Interesse an weiteren Gesprächen haben. Wenn ich nicht von Ihnen höre, melde ich mich bei Ihnen, sobald ich wieder in New York bin. Beste Grüße, Kelly Littlejohn Browder Publishing Jane las die E-Mail viermal in ungläubigem Staunen. Beim fünften Mal erlaubte sie es sich, ein kleines bisschen aufgeregt zu sein. Beim siebten Mal freute sie sich wie ein kleines Kind. »Sie mag mein Buch!«, rief sie aus. »Hast du gehört, Tom? Es hat ihr gefallen! Nein, sie war begeistert«, verbesserte sie sich. »Kelly Littlejohn ist begeistert von meinem Buch!« Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihren Roman einer Kelly Littlejohn geschickt zu haben, aber das über44
raschte sie nicht weiter. Sie hatte ihn so vielen Lektoren geschickt, dass ihre Namen in ihrem Verstand herumwirbelten wie Papier, das sich im Wind in den Straßen fängt. Aber sie musste ihn ihr wohl geschickt haben, und Kelly – du liebe Güte – war begeistert. Sie wollte ihn veröffentlichen. Jane erwog, es ruhig anzugehen und erst einmal nicht auf die E-Mail zu antworten. Und eine volle Minute gelang ihr das auch. Dann, voller Angst, dass Kelly Littlejohn ihr Schweigen als Absage interpretieren könnte, tippte sie eine schnelle Botschaft. Danke für Ihre Nachricht. Ja, der Roman ist noch zu haben, und ja, ich würde gerne mit Ihnen reden, wenn Sie zurück sind. Viele Grüße, Jane Fairfax Sie klickte auf Absenden, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Sie wollte, dass Ihre Antwort positiv, aber nicht schmeichlerisch war; interessiert, aber nicht verzweifelt. »Es ist ein schmaler Grat«, erinnerte sie sich selbst. Sie las Kelly Littlejohns E-Mail noch einmal. Nach so vielen Absagen kam es ihr vor, als handle die Nachricht vom Buch einer anderen. Einen Moment fürchtete sie gar, dass Kelly Littlejohn ihr Buch mit einem anderen verwechselt und den falschen Autor angeschrieben haben könnte. Sie war versucht, ihr noch einmal zu schreiben und sicherzustellen, dass es sich auch tatsächlich um ihren Roman handelte, aber sie hielt sich zurück. Der Gedanke an Geld kam ihr nicht. Auch nicht an die 45
Möglichkeit, bekannt zu werden. Sie wurde veröffentlicht. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten würde sie ein neues Buch, das sie geschrieben hatte, in Händen halten können. Sie las Kellys E-Mail ein weiteres Mal und fühlte sich zum ersten Mal in zwei Jahrhunderten wie ein kleines Mädchen am Weihnachtsmorgen.
46
5 Sie sagte sich, dass sie Partys verabscheute. Insbesondere war sie es leid, wie unter dem Deckmantel geistvoller Konversation der neueste Klatsch, die neuesten Frivolitäten gehandelt wurden. Was scherte sie Emilia Rothmans neues Kleid, und was von Interesse ließe sich wohl in den Debatten finden, die hinter vorgehaltener Hand über die Ansehnlichkeit von Arthur Potts kürzlich kultiviertem Schnauzbart geführt wurden? – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 17 »Du kommst also zurecht, wenn du dich ein paar Tage allein um den Laden kümmerst?« »Natürlich«, sagte Lucy. »Es ist nur ein Buchgeschäft, keine Kindertagesstätte.« »Also gut«, sagte Jane. »Ich glaube nicht, dass du in dieser kurzen Zeit allzu viel Schaden anrichten kannst.« »Du wirst überrascht sein«, zog Lucy sie auf. Es war eine Woche vergangen, seit Jane Kelly Littlejohns E-Mail erhalten hatte. Sie hatte immer noch nicht mit ihrer neuen Lektorin gesprochen, aber sie hatten sich E-Mails geschrieben. Zweimal schon hatte die Lektorin den Roman als »austenesk« bezeichnet. Jane musste immer kichern, wenn sie das las. Kelly hatte ihr gestern Abend gemailt, dass sie früher als geplant aus Europa zurück sein würde, und vorgeschlagen, dass Jane am zweiten Januar den Zug nach New York nahm, damit sie sich persönlich treffen konnten. Der Verlag würde sie in einem Hotel unterbringen. Jane hatte schon zugesagt, bevor sie mit Lucy gesprochen hatte, denn sie wusste ganz genau, dass Lucy sich 47
die Finger danach lecken würde, im Laden schalten und walten zu können, wie es ihr gefiel. »Ich möchte bei meiner Rückkehr nicht feststellen müssen, dass du die ganzen Lebensratgeber durch Comics ersetzt hast«, warnte Jane. Lucy grinste. »Ich dachte eher daran, sie bei der Religion unterzubringen«, sagte sie. »Und daran, eine Cappuccino-Maschine anzuschaffen.« Jane stöhnte. »Ich glaube, dass ich das noch bereuen werde.« Lucy tätschelte Janes Schulter. »Entspann dich«, sagte sie. »Es ist die Woche nach Neujahr. Da kauft sowieso niemand was – sie bringen höchstens den Kram zurück, den sie für Weihnachten gekauft haben.« »Da geht es mir doch gleich viel besser«, sagte Jane. »Dankeschön.« Sie hatte Lucy nichts vom Anlass der Reise erzählt, zumindest nicht dem tatsächlichen. Lucy dachte, dass Jane nach New York fuhr, um einen Freund zu besuchen und sich eine Show anzusehen. Obwohl sie unbedingt mit jemandem über die Neuigkeiten sprechen wollte, befürchtete Jane, einen Fehler zu begehen, wenn sie darüber redete, bevor alles geregelt war. »Etwas Freizeit wird dir guttun«, versicherte ihr Lucy. »Du warst so … angespannt die letzte Zeit.« Jane warf ihr einen Blick zu. »Was soll das heißen?«, wollte sie wissen. Lucy verdrehte die Augen. »Genau das«, sagte sie. »Du warst einfach ein bisschen schnippisch.« »Ich war nicht schnippisch«, widersprach Jane. »Okay, okay«, sagte Lucy und hob ihre Hände als Zeichen ihrer Kapitulation. »Du warst nicht schnippisch. Mein Fehler.« 48
»Zurück an die Arbeit, aber schnell«, sagte Jane, und versuchte, nicht zu lachen. Sie könnte nie auf Lucy böse sein. Lucy ging grinsend davon. »Der Laden gehört mi-hiihiir«, sang sie. Das Telefon klingelte, und Jane ging ran. »Flyleaf Books?« »Ja, könnten Sie bitte Miss Jane Fairfax bestellen, dass ein Anrufer für sie in der Leitung ist? Ein Gentleman.« »Hallo Walter«, sagte Jane. »Was kann ich heute für dich tun?« »Ich rufe nur an, um mich zu vergewissern, ob bei der heutigen Neujahrszusammenkunft mit deinem Erscheinen zu rechnen ist«, antwortete er. Jane seufzte leise. Sie hatte Walters Party völlig vergessen. Sie hatte ihm zugesagt, aber jetzt, wo es so weit war, graute es ihr. Sie spielte mit dem Gedanken, Walter zu sagen, dass sie verhindert sei, aber es fiel ihr keine glaubhafte Entschuldigung ein. »Natürlich werde ich kommen«, antwortete sie. »Was soll ich mitbringen?« »Nur deinen feinsinnigen Humor und ein Lächeln auf deinem Gesicht«, sagte Walter. »Das wird mehr als genug sein.« »Du gibst dich mit so wenig zufrieden«, scherzte Jane. »Wann fangen die Feierlichkeiten an?« »Um neun«, sagte Walter. Neun, dachte Jane. Das heißt, mindestens drei Stunden mit diesen Leuten. Ihr schauderte. »Wir sehen uns dann.« »Du hast ein Date?«, fragte Lucy, als Jane aufgelegt hatte. »Es ist sehr unhöflich, anderer Leute Unterhaltungen mit anzuhören«, sagte Jane. »Und nein, es ist kein Date. Es ist nur eine Party.« 49
»Ist Silvester nicht großartig?«, fragte Lucy. »Ich liebe Silvester«, fügte sie hinzu, ohne Jane Gelegenheit zum Antworten zu geben. »Es ist so, als ob man eine zweite Chance bekäme.« »Eine zweite Chance für was?« »Na, für alles«, antwortete Lucy. »Für dein Leben. Es ist wie ein Neuanfang. Du kannst alles sein, was du willst, und alles tun, was du willst.« »Dafür braucht man doch kein neues Jahr«, sagte Jane. »Eigentlich nicht«, stimmte Lucy zu. »Aber es ist ein Symbol. Ein neues Jahr, ein neues Du. Wie steht’s mit deinen Vorsätzen?« »Ich habe vor langer Zeit gelernt, keine mehr zu fassen«, sagte Jane. »Sie bringen nur Unglück.« Das war die Wahrheit. Als kleine Mädchen hatten sie und Cassie immer Neujahrsvorsätze gefasst. Sie hatten sie aufgeschrieben und die Zettel in Umschläge gesteckt, die sie dann mit Wachs aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters versiegelten und einander zur Aufbewahrung anvertrauten. Erst nächstes Silvester wurden die Umschläge geöffnet, und sie schauten nach, was die andere geschrieben hatte, und entschieden, ob sie ihre Ziele erreicht hatten oder nicht. Viel zu oft war Jane gescheitert, auch wenn dies zugegebenermaßen meist daran lag, dass ihre Vorsätze beispielsweise »weniger Klatsch über die Nachbarn verbreiten« oder »aufmerksamer in der Kirche sein« lauteten. Cassie, der es weit häufiger gelang, ihre Ziele zu erfüllen, sah zwar nie auf Jane herab; trotzdem quälte Jane ihr ständiger Misserfolg, und schließlich hörte sie damit auf. »Also ich habe viele Vorsätze«, fuhr Lucy unbeirrt fort. »Ich werde dreimal die Woche Yoga machen, Französisch lernen, einen Marathon laufen, und mindestens zwei Gedichte veröffentlichen – nicht online, sondern in 50
echten Magazinen. Oh, und ich werde mich freiwillig melden, Kindern aus benachteiligten Familien das Lesen beizubringen.« »Sehr vorbildlich«, sagte Jane. »Ich gratuliere dir zu deiner Entschlossenheit.« »Vielleicht sollte ich auch einfach nur fünf Pfund abnehmen, endlich mein Schlafzimmer streichen und mit Rauchen aufhören«, sagte Lucy. »Du rauchst nicht«, sagte Jane. »Ich könnte aber damit anfangen«, gab Lucy zurück. »Dann wäre es mir ein Leichtes, damit aufzuhören, und ich würde mich dadurch besser fühlen.« Jane lachte, dann überließ sie Lucy ihrer Arbeit und ging ins Lager, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Während sie Bücher zählte, dachte sie weiter über mögliche Vorsätze nach. Wenn sie welche fassen würde, welche wären das denn? Die Zeiten des Abnehmens waren vorbei – schließlich war sie ja tot. Rauchen stand auch nicht zur Debatte (auch wenn Lucys Kampf gegen das Laster sie beeindruckte). »Ich schätze, ich könnte damit aufhören, so viel zu essen«, beschloss sie. »Oder wenigstens nicht so viele.« Einen kurzen Moment wurde sie ernsthaft und erwog die Möglichkeit, sich ein Liebesleben zuzulegen. Nach Jahrhunderten ohne einen Lebensgefährten wäre das etwas Neues. Doch seit ihrer enttäuschenden Beziehung mit dem jungen Tom Lefroy war »Liebe« etwas, das sie sich für die Charaktere in ihren Romanen aufhob. Außerdem würde es keinen Spaß machen, ohne dass Cassie das Ausmaß ihres Erfolgs oder Misserfolgs bewertete. Sie seufzte, verdrängte die ganze Angelegenheit aus ihren Gedanken, und ordnete die Kochbücher neu. Mehrere Stunden später, als sie Lucy nach Hause ge51
schickt und den Laden abgeschlossen hatte, sah sie sich mit einer weiteren Frage konfrontiert – was sie zu Walters Party anziehen sollte. Das bisschen Enthusiasmus, das sie für den Abend hatte aufbringen können, löste sich in Nichts auf, als sie ihren Kleiderschrank durchstöberte. Alles schien entweder zu trostlos oder unangebracht. »Es ist ja nicht so, dass ich auf viele Partys ginge«, teilte sie Tom mit, der sie vom Bett aus beobachtete. Früher war es so viel leichter gewesen, sich anzuziehen. Gut, es hatte etwas mehr Unterwäsche gegeben, mit der man sich hatte arrangieren müssen, aber die Kleider selbst hatten im Großen und Ganzen nur wenig variiert. »Man wusste immer genau, was man zu was anziehen sollte«, sagte Jane. Sie erwog und verwarf eine Vielzahl verschiedener Möglichkeiten. Überrascht stellte sie fest, dass das Problem nicht daran lag, dass sie sich nicht entscheiden konnte, oder nicht allzu begeistert davon war, überhaupt auf eine Party gehen zu müssen. »Es liegt daran, dass mir Walters Meinung wichtig ist«, gestand sie Tom, der mittlerweile eingeschlafen war. Sie kam sich auf einmal sehr dumm vor. Zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit machte sie sich Sorgen darüber, welchen Eindruck sie bei einem Mann machen würde. »Es ist bloß Walter«, sagte sie sich. »Es ist ihm egal, wie du aussiehst.« Doch es ging nicht um ihn; es ging um sie. Aus Gründen, über die sie jetzt nicht nachdenken mochte, wollte sie attraktiv für ihn aussehen. Das war besorgniserregend, doch es stand nun mal im Raum, und sie musste es akzeptieren. Du dummes Mädchen, dachte sie und begann ihre Suche nach etwas Tragbarem von vorn. Selbst Fanny hatte mehr Verstand. 52
Letztlich entschied sie sich für ein ärmelloses, tiefgrünes Samtkleid. Der Anlass, zu dem sie es gekauft hatte, war längst vergessen, aber es war das schönste Stück in ihrem Schrank. Also zog sie es an. Es war ausgesprochen modern, weit entfernt von der Mode ihrer Zeit. Der Saum ging gerade bis zu den Knien, und es gab keinen unnützen Zierrat wie Schleifen oder Rosetten, die einem immerzu in die Quere kamen. Sie glaubte sich vage daran zu erinnern, es irgendwann in den Fünfzigern erstanden zu haben (vielleicht für eine Party auf dem Sommersitz der Kennedys?), und sorgte sich einen Moment, dass es altmodisch wirken könnte. Retro ist aber in, erinnerte sie sich. Endlich wirst du mal voll im Trend liegen, auch wenn es einzig und allem daran liegt, dass du nie etwas wegwirfst. Sie ergänzte das Kleid um ein Paar Ohrringe und eine Halskette, und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Wie sie sich da so anstarrte, grübelte sie, was Walter wohl davon halten würde. Wieder wünschte sie sich, dass Cassie da wäre, um ihr zu sagen, dass sie vorzeigbar aussah. Vielleicht sollte ich einfach zu Hause bleiben, dachte sie. Sie hatte Walter aber versprochen, dass sie kommen würde. Und es war ja auch nur für ein paar Stunden. »Wie schlimm kann es schon werden?«, fragte sie sich.
53
6 Dass Jonathan Brut eine skandalträchtige Vergangenheit besaß, zog sie gar nicht in Zweifel. Seine Reputation als Schuft war allgemein bekannt, nicht nur in London, sondern auch in den verschlafenen Städtchen und Dörfern fern des geschäftigen Treibens der großen Stadt. Es hieß, er sei einem guten Dutzend Frauen zum Verhängnis geworden, Verheirateten wie Unverheirateten, und eine habe sich gar vergiftet, als er ihre Affäre beendete. Aus genau diesen Gründen hatte Constance ihn ausgesucht. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 71 »Du siehst atemberaubend aus«, sagte Walter, als er sie sah. »Du ebenfalls«, antwortete sie. Und das war die Wahrheit. Walters übliche Arbeitskleidung war verschwunden. Stattdessen trug er schwarze Hosen und einen tiefblauen Kaschmirpullover über einem weißen Hemd. Sein Haar war frisch geschnitten, und er strahlte Fröhlichkeit aus. Jane brachte kaum ein Wort heraus. »Es sind so viele Leute hier«, sagte sie rasch und sah sich um. Walters Haus schien aus allen Nähten zu platzen vor lauter Gästen, und alle waren festlich gekleidet. Janes schlichtes grünes Kleid erschien ihr, trotz Walters Komplimenten, auf einmal beklagenswert unangemessen. Walter legte ihr den Arm um die Taille. »Du musst mich kurz entschuldigen«, sagte er. »Da sind ein paar Leute vom Geschichtsverein, denen ich versprochen habe, sie mit den Details meiner Pläne für die Restaurierung der Bibliothek zu langweilen. Geh aber nicht weg. Ich sehe später nach dir.« Als sie ihn gehen sah, wurde ihr zunehmend unbehag54
licher zumute. Sie war spät gekommen, in der Hoffnung, die Zeitspanne, in der sie die Party ertragen musste, so kurz wie möglich zu halten. Als junge Frau im Pfarrhaus von Steventon hatte sie Partys geliebt, sie hatte sich aufs Tanzen und auf das Pianoforte gefreut, auf die lebhaften Gespräche und die Salonintrigen. Wie oft hatten Cassie und sie zusammen auf dem Sofa gesessen, sich an den Händen gehalten und über die skandalösen Vorgänge geflüstert, die gesehenen wie die ungesehenen. Sie sah sich im Wohnzimmer nach einer Rückzugsmöglichkeit um und entdeckte Sherman Applebaum alleine auf einer Couch. Sherman war Ende sechzig und der Redakteur der kleineren der beiden Zeitungen der Stadt. Er trug gerne Westen und Melonen, und Jane fand das charmant. Außerdem wusste sie von früheren Begegnungen, dass er eine unverbesserliche Plaudertasche war. Ihre Lieblingssorte. Sie durchquerte den Raum und nahm neben Sherman Platz. »Endlich kommt jemand, um mich zu retten«, sagte Sherman dramatisch. »Ich dachte schon, ich würde den gesamten Abend alleine verbringen.« Jane lachte. »Irgendwie glaube ich, Sie wären sich selbst die beste Gesellschaft, Sherman.« Sherman lächelte und tätschelte Janes Knie. »Sie schmeicheln mir«, sagte er. »Bitte fahren Sie fort. In meinem fortgeschrittenen Alter bieten sich mir nicht mehr viele Möglichkeiten, Komplimente von attraktiven jungen Frauen zu bekommen.« Wenn Sie wüssten, dachte Jane. Selbst Ihr Urururgroßvater könnte mich nicht mehr als junge Frau bezeichnen. »Woher haben Sie dieses herrliche Getränk?«, fragte sie. »Ich brauche ganz dringend etwas zu trinken.« 55
»Ich werde Ihnen etwas bringen«, sagte Sherman. »Gehen Sie nicht weg.« »Nicht doch«, sagte Jane. »Ich hole mir selbst etwas.« »Auf keinen Fall«, antwortete Sherman und machte Anstalten, sich zu erheben. »Ein Gentleman gestatt einer Dame niemals, sich selbst einen Drink zu holen. Außerdem fürchte ich, wenn ich mich nicht von Zeit zu Zeit bewege, werde ich noch verwelken und absterben.« Er stand auf und schlenderte Richtung Küche. Jane machte es sich auf der Couch bequem und wartete auf seine Rückkehr. Dabei horchte sie, ob sie irgendwelche interessanten Gesprächsthemen aufschnappte. Dann, wie aus dem Nichts, stand auf einmal eine Frau neben ihr. »Jane«, sagte sie. »Was für eine Überraschung.« Jane sprang beinahe von der Couch. »Miranda«, antwortete sie. »Wie schön, dich zu sehen.« Das war nicht ganz die Wahrheit. Miranda Fleck war eine Englischdozentin des nahe gelegenen Meade College. Sie war unglaublich jung, unglaublich mager, und unglaublich ehrgeizig. Sie redete ausschließlich in Aussagesätzen, was die meisten ihrer Gesprächspartner in den Wahnsinn trieb. Zu Janes Befremden nahm Miranda Shermans Platz auf der Couch ein. »Ich war diese Woche in Ihrem Laden«, stellte Miranda fest. Jane wartete darauf, dass Miranda fortfuhr, und ließ die Stille zwischen ihnen beiden anwachsen. Sie war sich nicht sicher, ob sie Miranda nun danken oder sich rechtfertigen sollte. Ein anderes Markenzeichen von Mirandas Sprechweise war, dass sie absolut keine Emotionen in ihre Sätze legte. »Sagen Sie«, wollte Miranda wissen, »was halten Sie 56
von diesem Buch, das den Text von Stolz und Vorurteil mit, wie nannte sich das doch, ›ultrabrutalem Zombiegemetzel‹ verbindet.« »Das ist einer unserer Bestseller«, antwortete Jane vorsichtig. Das stimmte. Das Buch, das im Frühjahr herausgekommen war, war ein Überraschungserfolg. Ein Teil von ihr sträubte sich bei dem Gedanken, dass jemand ihren Roman genommen und mit neuem, ausgesprochen unorthodoxem Text durchsetzt hatte, und kurzzeitig hatte sie erwogen, dem Autor einen unerfreulichen Besuch abzustatten. Doch schließlich hatte ihre Belustigung über ihre Verärgerung gesiegt, und sie hatte sogar begonnen, Kunden das Buch zu empfehlen. Auch wenn es schön wäre, Tantiemen dafür zu bekommen. »Aber was halten Sie davon«, drängte Miranda. »Finden Sie nicht, dass es ein wenig … schäbig ist. Ein beliebtes Buch mit etwas so Haarsträubendem zu besudeln.« Sie schüttelte den Kopf, als beklagte sie eine große Tragödie. »Haben Sie das Buch denn gelesen?«, fragte Jane. Miranda schnaubte. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Einen solchen Müll würde ich niemals lesen.« »Vielleicht sollten Sie das aber«, sagte Jane. »Es ist ziemlich witzig.« »Witzig«, wiederholte Miranda. »Ich glaube nicht, dass Austen sich dieser Meinung anschließen würde.« »Seien Sie sich da mal nicht so sicher«, sagte Jane. »Austen war ein großer Fan von Ann Radcliffes Romanen. Sie hatte eine echte Schwäche für Schauerromane.« »Zombies haben kaum etwas mit dem klassischen Schauerroman zu tun«, bestritt Miranda. »Vampire vielleicht, aber Zombies doch nicht.« 57
Mit großer Erleichterung sah Jane Sherman zurückkommen, ein Glas in jeder Hand. Als er Miranda sah, erstarrte er sichtlich. Doch ebenso schnell kehrte ein Lächeln auf sein Gesicht zurück. »Meine Damen«, sagte er, »ich bringe Ihnen Erfrischungen.« Er reichte jeder von ihnen ein Glas Wein. Miranda nahm ihr Glas kommentarlos entgegen, so als ob sie die ganze Zeit davon ausgegangen wäre, dass Sherman ihr etwas bringen würde. Sherman, nun selbst ohne Glas, setzte sich neben sie. Jane hätte ihm beinahe ihren Wein angeboten, doch sie wusste, dass er ihn nicht annehmen würde. Er ist viel zu sehr ein Gentleman, dachte sie. Und Miranda zu sehr ein Trampel. »Jane und ich diskutierten gerade, ob Jane Austen es schätzen würde, dass Heerscharen von Untoten ihren Vorgarten zertrampeln«, teilte Miranda Sherman mit. »Ah, das Zombiebuch«, sagte Sherman. »Ein wahres Lesevergnügen.« Jane verkniff sich ein lautes Lachen. Miranda runzelte die Stirn. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich ziehe das Original vor«, fuhr Sherman fort. »Aber es ist nichts Falsches daran, den Klassikern eine neue Wendung zu geben. Ich habe das Buch der Jüngsten meines Neffens geschenkt. Damit ist sie, hm, meine Großnichte? Wie auch immer, sie ist zwölf. Sie hat es verschlungen. Jetzt liest sie alles, was Austen je geschrieben hat. So kann’s gehen.« Mit einem Blick gab er Miranda zu verstehen, dass damit das letzte Wort in dieser Angelegenheit gesprochen wäre. »Miranda befürchtet, dass als Nächstes Vampire kommen«, sagte Jane, die nicht widerstehen konnte. »Verstand und Gefühl und Dracula, vielleicht.« 58
»Ich für meinen Teil habe eine Schwäche für Werwölfe«, sagte Sherman. »Emma würde, wie ich finde, eine erstklassige Lykanthropin abgeben.« Miranda nippte an ihrem Wein. »Nun, wenn man schon jemanden verfälschen muss, dann bin ich jedenfalls nicht überrascht, dass es Austen trifft«, sagte sie eisig. Jane schäumte vor Wut. Miranda war ein Brontë-Fan, und es war kein Geheimnis, dass ihr Janes Verkaufszahlen, welche die ihrer heißgeliebten Schwester regelmäßig übertrafen, wie den meisten Brontë-Fans ein Dorn im Auge war. »Austen ist unsere populärste Autorin«, konterte Jane. Miranda reagierte auf Janes Manöver ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich nehme an, Sie müssen auf den Massengeschmack Rücksicht nehmen, um Ihren Laden am Laufen zu halten.« Sie würde sich nicht schlecht machen in einer Salonschlacht, dachte Jane und bewunderte Miranda trotz der persönlichen Abneigung, die sie gegen sie empfand. Man wäre sich nie sicher, wie etwas gemeint war, oder was sie von einem hält. Plötzlich spürte sie einen scharfen Stich in ihrer Seite. Beinahe hätte sie aufgeschrieen. Sie presste ihre Hand auf die schmerzende Stelle. Wieder kam der Schmerz, diesmal noch stärker. Er wurde von grellen Blitzen hinter ihren Augenlidern begleitet. Nein, nein, nein, dachte sie. Nicht jetzt. Nicht hier. Sie musste trinken. »Ihr amüsiert euch auch alle?« Jane blickte auf und sah einen lächelnden Walter vor ihr stehen. »Und wie«, sagte sie, als die Krämpfe sie erneut durchzuckten. 59
»Das hört man gerne«, sagte Walter. »Also, über was habt ihr gerade gesprochen?« Jane zuckte zusammen, als die Schmerzen zurückkehrten und es ihr unmöglich machten, zu sprechen. Sie musste hier raus, bevor sie noch schlimmer wurden. Wie aber konnte sie sich entschuldigen, ohne unhöflich zu wirken, oder, noch schlimmer, Miranda glauben zu lassen, dass sie sich geschlagen gab? Sie überlegte rasch. Dann gab sie Mirandas Arm einen leichten Schubs, so dass Mirandas Weinglas jäh aus dem Gleichgewicht geriet und sich der Wein auf ihren Schoß und über ihr Kleid ergoss. Miranda stieß einen kleinen Schrei aus. »Es tut mir so leid!«, rief Jane. »Das wird Flecken geben«, ärgerte sich Miranda. »Nicht, wenn wir Soda darauf geben«, sagte Jane. »Kommen Sie mit.« Sie stand auf, griff sich Mirandas Hand und zog sie empor. Miranda entfuhr ein überraschtes Quieken. Zweifelsohne war sie über Janes Kraft erschrocken. »Die Herren werden uns kurz entschuldigen«, sagte Jane zu Walter und Sherman. »Natürlich«, sagte Walter. »Aber seht zu, dass ihr bis Mitternacht wieder da seid.« »Ich werde mein Möglichstes tun«, versicherte ihm Jane. Sie drängte sich durch die Menge und zog Miranda hinter sich her. Im Flur sah sie, dass die Toilette besetzt war, also wich sie in Walters Schlafzimmer aus. Sie ging um das unter Mänteln begrabene Bett herum, und zog Miranda weiter in das angrenzende WC. Dann schloss sie die Tür hinter ihnen und wandte sich ihr zu. »So«, sagte sie. »Dann wollen wir mal sehen, was wir für Sie tun können.« 60
»Aber Sie haben gar kein Soda geholt«, protestierte Miranda. Sie drehte den Wasserhahn auf und hielt ein Handtuch darunter. »Es wird eintrocknen.« »Immer schön der Reihe nach«, sagte Jane. Sie sprach ganz ruhig, und konzentrierte sich darauf, Mirandas Verstand zu benebeln. Die Kraft der Betörung war einer der wenigen Vampirtricks, den Jane beherrschte. Sie setzte diese Kraft nur sehr selten ein und hob sie für Momente wie diesen auf. Sie gab sich große Mühe, Mirandas Gedanken zu manipulieren. Miranda zögerte, das Handtuch noch immer unter dem Hahn. Langsam ließ sie es ins Becken gleiten, dann drehte sie sich um und sah Jane an. »Immer schön der Reihe nach«, wiederholte sie ruhig. Jane hielt ihre Augen auf die von Miranda gerichtet und legte der Frau ihre Hand in den Nacken. »Entspanne dich«, sagte sie. »Es dauert nur eine Minute.« Sie biss in die weiche Haut unter Mirandas linkem Ohr, wo ihr langes Haar die Bissspuren verdecken würde, bis sie heilen konnten. Miranda sank in ihren Armen zusammen, als sie das Bewusstsein verlor. Blut strömte in Janes Mund. Sie trank, und die Krämpfe ließen nach. Mirandas Blut war bitter, was Jane nicht im Mindesten überraschte, hielt sie sich Mirandas literarische Präferenzen vor Augen. Aber es erfüllte seinen Zweck, und, was vielleicht noch wichtiger war, es verhinderte, dass Jane mehr trank, als sie musste. Sobald die Schmerzen nachgelassen hatten, ließ sie Miranda zu Boden sinken. Dann wischte sie sich den Mund mit dem Handrücken ab, und murmelte benommen: »Austen – Brontë, 1:0.« Sie öffnete die Tür einen Spalt und linste ins Schlafzimmer. Es war verlassen. Sie hob Miranda auf die Arme, 61
trug sie zum Bett und legte sie dort hin. Dann arrangierte sie die Mäntel um sie herum, so dass sie die Frau zwar nicht bedeckten, aber dafür sorgten, dass man sie mit einem flüchtigen Blick in das Zimmer nicht bemerken würde. Und wenn man sie doch sieht, dachte sie, wird es so aussehen, als ob sie ihren Rausch ausschläft. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sherman saß auf der Couch, genau so, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Sie lächelte breit und setzte sich neben ihn. »Da bin ich wieder«, sagte sie. »Wie versprochen.« »Ich darf wohl annehmen, dass Sie sich um Miss Fleck gekümmert haben?« Jane nickte. »Ja, allerdings fürchte ich, dass sie sich entschieden hat, unsere Gesellschaft zugunsten angenehmerer Gefährten aufzugeben.« »Ein Jammer«, antwortete Sherman. Jane stellte fest, dass er sich in ihrer Abwesenheit etwas Neues zu trinken geholt hatte. Sie bemerkte auch, dass Walter nicht mehr da war. »Walter musste seinen Gastgeberpflichten nachkommen«, erläuterte Sherman, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Ich bin so froh, dass Sie wieder da sind. Es war grauenhaft langweilig.« »Dann lassen Sie uns das Versäumte nachholen«, sagte Jane. »Erzählen Sie mir alles, was Sie über all die Menschen hier wissen.« Innerhalb kürzester Zeit erfuhr Jane, dass sowohl Mr. als auch Mrs. Joanna Primsley eine Affäre mit dem Leiter des Debattierclubs der örtlichen Highschool hatten; dass Miranda Flecks Dissertation sich nicht etwa aufgrund einer ausufernden Quellensuche so endlos hinzog, sondern weil sich ihre eigenen Beiträge als nicht wirklich ihre eigenen entpuppt hatten; und dass eine erstaunliche 62
Anzahl an Gästen zum einen oder anderen Zeitpunkt einmal verhaftet gewesen waren: für Ladendiebstahl, Fahren unter Alkoholeinfluss, exhibitionistischer Neigungen, oder allem zusammen. »Als Nächstes werden Sie mir erzählen, dass Walter einen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit hat«, sagte Jane. Sherman winkte ab und lachte. »Walter hat keine Vergangenheit«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass er auch nur ein Date hatte, seit seine Frau starb.« »Seine Frau?«, hustete Jane und hätte sich beinahe an ihrem Wein verschluckt. »Ich wusste nicht, dass er verheiratet war!« Sherman nickte. »Evelyn«, sagte er. »Es muss jetzt bald fünfzehn Jahre her sein, dass sie starb. Es war wirklich eine Tragödie. Sie hatten erst ein paar Jahre zuvor geheiratet.« »Wie ist sie – was ist geschehen?«, fragte Jane. Sherman stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sie ertrank«, sagte er. »Am vierten Juli. Bei einem Picknick am See. Sie ging schwimmen. Niemand weiß genau, was geschah. Eben winkte sie uns noch zu, im nächsten Moment konnten wir sie schon nicht mehr sehen. Sie war tot, noch bevor irgendjemand bemerkte, dass etwas nicht stimmte.« »Wie schrecklich«, sagte Jane. »Armer Walter.« »Er war am Boden zerstört«, sagte Sherman. »Wir haben uns lange Zeit Sorgen um ihn gemacht.« »Er hat es mir gegenüber nie erwähnt«, sagte Jane. »Das überrascht mich nicht«, sagte Sherman. »Er spricht nie über sie. Ich glaube, es gibt nicht einmal Bilder von ihr im Haus. Es ist, als ob sie nie existiert hätte.« 63
Jane suchte das Zimmer nach Walter ab und fand ihn, wie er mit dem Vorsitzenden des Geschichtsvereins sprach. Er lächelte, lachte kurz auf und unterstrich das Gesagte nachdrücklich mit den Händen. Nicht zu glauben, dass er eine solche Tragödie erleiden musste, dachte sie. Sie fühlte mit ihm. Plötzlich wollte sie zu ihm gehen und ihm sagen, dass alles gut werden würde. »Zehn!«, rief jemand, und ließ Jane zusammenschrecken. »Neun!« Jane sah auf ihre Uhr. Es war beinahe Mitternacht. »Acht!« »Sieben!« Überall um sie herum standen die Leute auf und zählten die letzten Sekunden bis Neujahr. Sie setzten sich Hüte auf und hielten erwartungsvoll ihre Träten empor. »Sechs!« »Fünf!« Jane wurde von Sherman auf die Füße gezogen. Er setzte ihr einen spitzen Papphut auf und reichte ihr ein kleines Lufthorn. »Vier!« »Drei!« Auf einmal stand Walter vor Jane. »Du hast doch nicht geglaubt, ich würde dich das neue Jahr alleine einläuten lassen, oder?«, fragte er und grinste. »Zwei!« »Eins!« Walter schloss Jane in die Arme und küsste sie sachte auf den Mund. »Es ist schön, dass du rechtzeitig zurückgekommen bist.« »Frohes neues Jahr!« Überall um sie herum jubelten die Gäste und tröteten 64
auf ihren Hörnern und küssten sich. Walter ließ Jane los und jubelte mit ihnen. »Frohes neues Jahr«, sagte Jane, doch ihre Stimme wurde von den lauten Beifallsrufen übertönt.
65
7 London ähnelte Glenheath ebenso wenig, wie ein Pfau einem Zaunkönig ähnelt. Die Stadt strotzte vor Leben, stolz und prahlerisch. Die Farben waren strahlender, die Gerüche schwerer, die Geräusche schriller. Selbst die Hunde schienen zielstrebiger; sie trabten neben ihren Herren her, als ob auch sie dringenden Geschäften nachgehen müssten oder auf dem Weg zur Oper wären. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 80 Mit dem Zug zu fahren war nicht halb so interessant, wie es noch vor hundert Jahren gewesen war. Aber es war schneller, und das war immerhin etwas. Wie Jane so dasaß und die trostlose Winterlandschaft vorüberziehen sah, wurde sie nur noch von dem Wissen aufrecht gehalten, dass sie in wenigen Stunden in New York sein würde. Sie hätte fliegen können, aber sie vertraute Flugzeugen immer noch nicht so recht. Egal, wie oft man ihr die Prinzipien der Fliegerei erklärte, sie konnte einfach nicht glauben, dass etwas so Großes wie ein Flugzeug in der Luft bleiben konnte. Es war ihr die letzten Tage schwergefallen, sich auf die Geschäfte im Buchladen zu konzentrieren. Die Aussicht, ihre neue Verlegerin persönlich kennenzulernen, war aufregend. Außerdem war sie erleichtert, Brakeston zu verlassen. Der Ort hatte begonnen, sich klaustrophobisch anzufühlen. Ihr Geplauder mit Sherman hatte sie daran erinnert, dass zu viele Leute zu viel über die Angelegenheiten anderer Leute wussten. Dann war da noch diese Kleinigkeit mit Walters toter Ehefrau. Jane wusste nicht, weshalb, aber die Tatsache, 66
dass Walter Evelyn nie erwähnt hatte, verstimmte sie. Und dass es sie störte, störte sie noch mehr. Warum sollte es ihr etwas ausmachen, dass Walter einmal verheiratet gewesen war? »Egal«, sagte sie entschieden. »Es ist mir ganz egal.« Ein Junge von vielleicht acht Jahren sah auf und schaute sie von der anderen Seite des Gangs aus an. Er war in Utica zugestiegen, gemeinsam mit einer älteren Frau, die Jane für seine Großmutter hielt. Seitdem hatte er unablässig irgendein kleines Videospiel gespielt, das einen steten Strom von Pieps- und Zirpgeräuschen von sich gab, die für Jane wie die Geräusche elektronischer Grillen klangen. Die Großmutter war mittlerweile eingeschlafen. »Ganz egal«, äffte der Junge Jane nach. »Mir ganz egal.« Er wiederholte den Satz immer und immer wieder, während er sein Spiel spielte. Die Geräusche des Spiels unterlegten seinen Singsang mit einer Klangkulisse, dass es zum Verrücktwerden war. »Ganz egal.« Biep-BiepBiep »Mir ganz egal.« Biep-Biep-Biep »Ganz egal.« Biep-Biep-Biep Jane funkelte ihn an. Er drehte den Kopf und grinste sie an. »Mir ganz egal«, wiederholte er. Jane entblößte ihre Fangzähne in seine Richtung und verfolgte, wie der selbstgefällige Ausdruck auf seinem Gesicht dem blanken Entsetzen wich. Er schnappte nach Luft und ließ sein Spiel fallen. Er fingerte unter seinem Sitz herum, bis er es wieder hatte, und als er das nächste Mal aufsah, lächelte Jane ihn an. Er wandte sich ab und saß ganz still wie ein Vögelchen in der Nähe einer Katze. Vielleicht sollte sie Walter eine Chance geben, grübelte Jane, während sie wieder aus dem Fenster schaute. Wenn sie ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass 67
sie Walter sehr gern hatte. Er war genau die Art von Mann, in den sich ihre Romanheldinnen verlieben – willensstark, aber bereit, eine Frau sie selbst sein zu lassen; neugierig und fürsorglich, ohne herablassend zu sein, talentiert, aber nicht eingebildet. Wenn sie sich aber auf ihn einließe, liefe sie Gefahr, Walter tief zu verletzen. Gerade seine tragische Vergangenheit machte sie sehr vorsichtig. Eine tote Ehefrau war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wie könnte er jemals eine untote Frau akzeptieren, dachte sie? Es war zum Verrücktwerden, und egal, wie sie es betrachtete, ihr fiel kein befriedigendes Ende für die Geschichte ein. Walter würde sterben, und sie würde weiterleben. Oder er würde sie bitten, ihn zu einem Vampir zu machen, und sie würde ablehnen. Sie dachte lange darüber nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, und war erleichtert, als eine Stimme die bevorstehende Einfahrt in die Pennsylvania Station ankündigte. Sie beschäftigte sich damit, ihren Mantel anzuziehen und ihre Sachen einzupacken. Dann saß sie still und verfolgte, wie der Zug langsam durch die langen, dunklen Tunnel kroch, bis er schließlich an einem Gleis hielt und die Türen sich öffneten. Jane trat aus dem Zug und lief mit klickenden Absätzen das Gleis hinab, ihren Koffer hinter sich herziehend. Reisen waren so viel leichter geworden seit damals, doch ein wenig vermisste sie die Kultiviertheit, die einst damit einhergegangen war. Menschen reisten heute so selbstverständlich umher, dass der Hauch des Abenteuers zusammen mit all den Unannehmlichkeiten verschwunden war. Es fühlte sich nun weniger wie reisen als einfach wie irgendwo hingehen an. Als sie die Rolltreppe verließ und die Bahnhofshalle 68
betrat, bemerkte sie den Jungen aus dem Zug und seine Großmutter vor sich. Er drehte sich einmal um, und als er sah, dass sie ihm folgte, zog er seine Großmutter rasch in eine andere Richtung. Jane fragte sich vergnügt, wie lange er wohl Alpträume wegen der Frau aus dem Zug haben würde, und zu welchem Zeitpunkt er im Stillen beschließen würde, dass sie nie existiert habe. In der gewölbten Haupthalle des Bahnhofs hielt sie einen Moment inne und fühlte das wogende Meer der Menschen um sich herum. Sie spürte ihre Aufregung, ihre Geschäftigkeit, ihre Besorgnis und ihre Fröhlichkeit. Es durchfuhr sie wie Elektrizität. Sie hatte vergessen, wie es war, in einer Stadt zu sein, insbesondere einer so prächtigen wie New York. Jetzt zitterte sie vor Erwartung. Trotz zwei vergangener Jahrhunderte fühlte sie sich immer noch wie das Mädchen vom Land, das zum ersten Mal nach London gekommen war. Sie eilte zum Ausgang, begierig, sich auf den Straßen unter all die Menschen zu mischen. Als sie durch die Türen des Bahnhofs trat, fühlte sie, wie New York sie umhüllte. Die vielen Geräusche der Stadt füllten ihre Ohren, ihr Atem blies kühl über ihre Haut. Einen Moment stand Jane absolut still, bis sich ihre Augen und Ohren an die vielen Sinneseindrücke gewöhnt hatten, die sie überfluteten. »Aus dem Weg, Lady.« Ein Mann schob sich an ihr vorbei, den Blick zu Boden gerichtet, seine Hände in den Manteltaschen. Jane lachte über seine Unhöflichkeit. Auch das war Teil des Charmes von New York. Noch als sie sich auf die Rückbank ihres Taxis sinken ließ, konnte sie es kaum glauben, in New York und auf dem Weg zum einem Verleger zu sein. Alle ihre Bücher waren von ihrem Bruder Henry vermittelt wor69
den. Nicht nur dass sie noch nie selbst einen Verleger aufgesucht hatte, man hatte nicht einmal gewusst, dass es ihre Romane waren, die man verlegte. Doch all das würde sich nun ändern. Ich wünschte, Cassie wäre hier, dachte sie. Sie stellte sich vor, dieses Erlebnis mit ihrer Schwester zu teilen, und Cassandras Gesicht zu sehen, wie sie die Stadt, ihre Gebäude und Einwohner bestaunte; ihre Stimme zu hören, ihr fröhliches Geplauder; und ihre Hand nach der ihren greifen zu spüren, genauso, wie es immer gewesen war, wenn sie Henry in seiner Londoner Wohnung besucht hatten. Sie würde alles geben, dachte Jane, könnte sie ihre geliebte Cassie noch einmal sehen. Das Taxi schlängelte sich durch den Verkehr und hielt zehn Minuten später vor dem Verlagsgebäude von Browder Publishing. Es erhob sich hoch in den Winterhimmel, und der Schnee, der träge aus den Wolken fiel, welche die Stadt bekrönten, spiegelte sich im schimmernden, schwarzen Glas der Fassade. Sie überquerte mit ihrem Koffer den Bürgersteig, zwängte sich durch die Drehtüren, und betrat eine Lobby, die mit den vergrößerten, gerahmten Titelbildern der beliebtesten Bücher der letzten Jahre dekoriert war. Jane studierte sie auf dem Weg zu den Fahrstühlen und stellte sich vor, wie es wäre, hinge ihr eigenes Titelbild dort bei den anderen. Dann, gerade, als sie die Fahrstühle erreichte, stellte sie fest, dass dies bereits der Fall war: Zwischen einer erfolgreichen Serie von Liebesromanen und dem neuesten Thrillerstar hing Das Jane Austen Fitnessbuch an der Wand. Mit Schrecken betrachtete sie das Titelbild – die Tuschezeichnung einer Frau (sie mutmaßte, dass es sich dabei um sie selbst handeln sollte) in einem Empire70
Kleid, eine kleine Hantel in jeder Hand. Es war grässlich, und sie fühlte, wie ihr speiübel wurde. Das Summen eines ankommenden Aufzugs lenkte sie gnädigerweise ab, und sie riss sich von dem Poster los und betrat die Kabine. Sie drückte den Knopf für den 17. Stock und schloss ihre Augen, als sie nach oben fuhr. Denk nicht daran, sagte sie sich. Doch das Buchcover stand ihr noch immer vor Augen. Der Fahrstuhl hielt, und Jane trat in einen hell erleuchteten Empfangsraum hinaus. Hinter einem erhöhten Pult aus Kupfer und Glas saß eine hübsche junge Frau, die gerade in ein Headset sprach. »Ich verbinde Sie gerne mit der Werbeabteilung«, sagte sie. »Einen Moment.« Sie drückte einen Knopf an einem Telefon, dann lächelte sie Jane an. »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich möchte zu Kelly Littlejohn«, sagte Jane. »Ich habe einen Termin«, fügte sie hinzu, und befürchtete, die junge Frau könnte ihr nicht glauben. »Und Sie sind?«, fragte das Mädchen. »Jane«, sagte Jane. »Jane Fairfax. Entschuldigen Sie.« Die Rezeptionistin nickte, als vergebe sie Jane, und betätigte die Telefonanlage ein weiteres Mal. »Olivia, hier ist Chloe. Jane Fairfax ist hier und möchte zu Kelly.« Olivia, dachte Jane. Chloe. Was für Namen das waren! Sie fragte sich, ob es im Verlagsgeschäft nur solch durchgestylte junge Frauen mit perfektem Haarschnitt, teuren Anzügen und mit Namen wie denen von Heldinnen aus Liebesromanen gab. Wenn die Assistentinnen schon so berauschend sind, habe ich fast Angst, Kelly Littlejohn zu treffen. »Kelly wird jeden Moment für Sie da sein«, sagte 71
Chloe. »Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.« Mit einem Nicken ihres Kopfes wies sie Jane eine elegante Ledercouch an der Wand zu. Jane nahm Platz und stellte ihren Koffer neben sich. Sie war auf einmal sehr nervös und wusste nicht wohin mit ihren Händen. Sie hörte Chloe lachen, und einen Moment lang fürchtete sie, die junge Frau könnte über sie lachen, bevor sie erkannte, dass sie nur einen weiteren Anruf entgegengenommen hatte. Sie betrachtete ihre Schuhe. Wie scheußlich, dachte sie. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Sie erwog, die Toilette aufzusuchen und sich umzuziehen (sie hatte schickere Schuhe in ihrem Gepäck), wurde aber aus ihren Gedanken gerissen, als jemand ihren Namen sprach. Sie sah auf und erblickte einen gut aussehenden Mann von etwa vierzig Jahren. Er war in einen eleganten maßgeschneiderten Anzug aus dunkelbrauner Wolle gekleidet, und seine rot und gold gemusterte Krawatte war perfekt geknüpft, mit einem kleinen Grübchen im Knoten. Seine Haare waren kurz geschnitten und dunkel, und an den Schläfen leicht ergraut. Als er die Hand ausstreckte, konnte Jane den schwachen Duft nach Veilchen, Orange und Eiche riechen, der ihn umgab. »Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen«, sagte er mit einer warmen, tiefen Stimme. »Ich bin Kelly Littlejohn.«
72
8 Sie öffnete ihre Lippen und gestattete es Jonathan, die Traube zärtlich in ihren Mund zu legen. Sie biss hinein, das Fruchtfleisch platzte auf, und süßer Saft spülte über ihre Zunge. Sie hob ihre Finger zum Mund und bedeckte ihn, während sie kaute. Sie wollte nicht, dass sich ihre Freude so unverhüllt darbot. Es war, als habe Jonathan just in dem Moment den Raum betreten, in dem sie unbekleidet dem Bad entstieg. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 97 »Kelly«, wiederholte Jane, nahm die ausgestreckte Hand und spürte, wie die starken Finger sich um die ihren schlossen. »Oh je.« »Ist alles in Ordnung?«, fragte Kelly. »Nein«, sagte Jane und blinzelte. »Ich meine, ja. Alles ist gut. Es ist nur, dass ich Sie für eine Frau gehalten habe.« Beschämt sprach sie schneller. »Ich meine, ich hielt Sie nicht gerade eben für eine Frau. Sondern vorher. Wegen Ihres Namens. Wir haben nie miteinander gesprochen«, schloss sie und kam sich sehr dumm dabei vor. »Vielleicht gehe ich kurz vor die Tür und komme noch einmal rein?«, schlug sie vor. Kelly lachte. »Ist schon okay«, sagte er. »Das ist mir nicht zum ersten Mal passiert. Sie glauben nicht, wie viele Briefe ich kriege, die an Ms. Littlejohn adressiert sind.« Sein Blick fiel auf ihren Koffer. »Lassen Sie mich den nehmen«, sagte er. »Oh, ich kann –« begann Jane. »Ich bestehe darauf«, sagte Kelly mit einem Lächeln, das sein gesamtes Gesicht erhellte. 73
»Also gut«, gab Jane sich geschlagen. Als Kelly sich bückte, um den Koffer aufzunehmen, errötete sie. Hör auf, dich wie ein kleines Mädchen zu benehmen, schalt sie sich. Sie folgte Kelly, der ihr die Tür aufhielt. »Nach Ihnen«, sagte er, und abermals kam sie nicht umhin, zu bemerken, wie elegant er doch war. Ein echter Gentleman, dachte sie. Sie durchschritten einen von Büros gesäumten Flur. In jedem saß ein Lektor an seinem Schreibtisch, den Blick auf einen Bildschirm gerichtet. Im Vorbeigehen studierte Jane ihre Gesichter. Sie sahen allesamt unglaublich jung aus, so gar nicht wie die Verleger zu ihrer Zeit. Damals hatte es nur Männer weit in ihrer zweiten Lebenshälfte gegeben, die die Welt durch dicke Brillengläser betrachtet hatten, die Augen ruiniert vom jahrelangen Lesen in schummrigem Licht, die Finger ständig tintenverkleckst und rissig vom endlosen Blättern durch Manuskriptseiten. »Da wären wir«, sagte Kelly und betrat ein geräumiges Eckbüro. »Willkommen in meiner Festung.« Das Zimmer war groß, aber nicht verschwenderisch. Vor einer Fensterfront, von der aus man die Straße überblickte, stand ein Schreibtisch, auf dem sich Mappen und, wie Jane annahm, Manuskripte stapelten. Auch auf dem Boden türmten sich Manuskripte, und eine komplette Wand wurde von einem Bücherregal eingenommen. Das war die Verlegerwelt, die sie kannte, und Jane fühlte, wie sie sich angesichts des vertrauten Anblicks entspannte. »Es ist nicht viel, aber alles meins«, sagte Kelly. »Bitte nehmen Sie doch Platz.« Jane nahm einen der beiden Stühle, die gegenüber 74
Kellys Schreibtisch standen. Sie sah sich im Zimmer um und gab sich große Mühe, Kelly nicht anzustarren. »Müssen Sie die alle lesen?«, fragte sie, und deutete auf den Berg von Manuskripten. »Die meisten liest zuerst meine Assistentin«, antwortete er. »Aber ich versuche, einen Blick auf alles zu werfen. Ich ziehe es vor, mir meine eigene Meinung zu bilden.« Jane fragte sich, ob auch ihr Manuskript dort inmitten des ganzen Papiers hatte verharren müssen, und wie es gekommen war, dass Kelly es aus der Masse gerettet hatte. »Es ist schon ein kleines Wunder, dass überhaupt etwas veröffentlicht wird«, sagte Kelly, als würde er ihre Gedanken lesen. »Besonders ein Manuskript wie das Ihre, das nicht auf Verlangen eingesandt wurde. Darf ich fragen, weshalb Sie keinen Agenten benutzen?« »Der Gedanke war mir nie gekommen«, antwortete Jane wahrheitsgemäß. Kelly lachte und schüttelte den Kopf. »Ich muss sagen, es ist eine Wohltat, einen Autor zu treffen, dessen einziges Lebensziel es ist, veröffentlicht zu werden. Die meisten Autoren kommen hier rein und ich kann ihnen ansehen, dass sie in Wahrheit berühmt werden wollen. Den Eindruck habe ich bei Ihnen und Ihrem Buch nicht.« Sie fragte sich, was Kelly sagen würde, wüsste er, dass sie bereits eine der berühmtesten Autorinnen der Welt, und möglicherweise die populärste Schriftstellerin aller Zeiten war. Und dass sie sich mehr als alles andere wünschte, noch einmal veröffentlicht zu werden. »Die meisten wollen Stephen King oder Danielle Steel sein«, merkte Kelly an. »Ich weiß nicht, wann Schriftsteller aufhörten, Geschichtenerzähler zu sein, und stattdessen zu Superstars wurden, aber ich habe immer mehr den 75
Eindruck, dass wir Rollen besetzen, statt Autoren zu veröffentlichen.« Jane nickte, während sie den Blick durch das Büro schweifen ließ. Dann bemerkte sie an der Ecke von Kellys Schreibtisch ein Buch auf der Spitze eines Stapels, und sie fühlte ihren Mut sinken. Kellys Augen folgten ihrem Blick. »Oh, das«, seufzte er. »Das ist genau, was ich meine«, fügte er hinzu und präsentierte die Ausgabe des Jane Austen Fitnessbuchs. »Lächerlich, nicht wahr? Aber ich garantiere Ihnen, wir werden hunderttausend Exemplare davon verkaufen.« Er warf einen Blick auf das Cover und schnaubte. »Austen würde sich in ihrem Grab umdrehen«, sagte er. »In der Tat«, sagte Jane, und lachte leise vor Erleichterung. »Sie sind Britin«, sagte Kelly. »Wie bitte?«, fragte Jane. Sie starrte immer noch ihr Bild auf dem Einband an. »Ihr Akzent«, sagte Kelly. »Er ist britisch.« »Oh«, sagte Jane. »Ja, das stimmt.« »Wie lange leben Sie schon in Amerika?« Jane lachte auf. »Es kommt mir wie hundert Jahre vor. Meine Eltern zogen hierher, als ich noch sehr jung war«, fügte sie rasch hinzu. »Ich fand, dass Ihrem Text ein britisches Einfühlungsvermögen innewohnt«, sagte Kelly. »Ich glaube, das war es, was mir daran so gefiel. Ich denke, ich bin ziemlich anglophil.« Er lächelte wieder. »Manchmal glaube ich, ich bin im falschen Jahrhundert geboren.« »Ich weiß genau, was Sie meinen«, sagte Jane. »Sie müssen hungrig sein nach Ihrer Reise«, sagte Kelly. »Wollen wir zu Mittag essen?« »Das wäre großartig.« 76
Kelly stand auf und nahm seinen Mantel von der Rückseite der Bürotür. »Sie können Ihren Koffer hierlassen«, sagte er. »Wir kommen noch einmal her, bevor ich Sie ins Hotel bringen lasse.« Sie nahmen den Fahrstuhl nach unten, und als sie die Lobby verließen, fragte Kelly: »Ist das Ihr erster Besuch in New York?« »Ich war schon einmal hier«, sagte Jane. »Aber das ist sehr lange her.« Bevor es Autos auf den Straßen gab, dachte sie. Und lange, bevor Sie geboren wurden. Sie gingen einige Blocks, und erreichten ein Restaurant. Sie traten ein und befanden sich in der gut gelungenen Nachbildung eines französischen Bistros wieder. »Also dann«, sagte Kelly, nachdem ihnen ein Kellner zwei Gläser Merlot gebracht hatte. »Unterhalten wir uns ein wenig über Ihr Buch.« »Es freut mich sehr, dass es Ihnen gefällt«, sagte Jane. »Es gefällt mir nicht nur«, antwortete Kelly. »Ich bin begeistert. Es ist lange her, dass mir ein Buch so imponiert hat.« Jane fühlte sich erröten vor Stolz. »Es ist sehr liebenswürdig, dass Sie das sagen.« Kelly schüttelte den Kopf. »Ich sage nur meine Meinung«, bekräftigte er. »Es hat etwas Zeitloses. Bücher wie Ihres werden kaum noch geschrieben. Besonders nicht für Frauen. Heute dreht sich alles nur noch um Frauen in den besten Jahren, die auf die Bermudas gehen und sich dort in zweiundzwanzigjährige Surflehrer verlieben. Oder um junge Frauen, die bei Modemagazinen oder sonst wo arbeiten. Ich frage mich manchmal, ob die Leute ein gutes Buch noch erkennen würden, wenn man Ihnen eines schenken würde.« Er winkte ab. »Ihr Buch aber handelt von etwas.« 77
»Dankeschön«, sagte Jane. Kellys überschwängliches Lob machte sie ein bisschen verlegen, aber nach so vielen Jahren der Enttäuschung war es ihr nicht unangenehm. »Ich halte es für wichtig, dass ein Buch Verstand und Gefühl der Menschen anspricht.« Kelly hob sein Glas. »Auf Ihren Roman«, sagte er. »Möge er viele Wochen auf der Bestsellerliste stehen.« »Gerne doch«, lächelte Jane. »Und auf Ihren ausgesprochen guten Literaturgeschmack.« Sie lachten beide. Jane nippte an ihrem Wein und setzte das Glas ab. »Darf ich fragen, wann Sie das Buch herausbringen wollen?« »Ich bin froh, dass Sie das ansprechen«, sagte Kelly. »Normalerweise nehmen wir uns etwas mehr Zeit für die Werbung und alles Weitere. Ich würde Ihren Roman aber gerne sehr viel rascher auf den Markt bringen, am besten noch zum Sommer.« »Zum Sommer«, wiederholte Jane. Das sind nur noch fünf oder sechs Monate. »Rechtzeitig zur Urlaubszeit«, erläuterte Kelly. »Ich weiß, es klingt ein wenig albern, aber es ist eine alte Wahrheit im Verlagsgeschäft, dass sich Bücher für Frauen am besten im Sommer verkaufen.« Jane nickte und nahm einen tiefen Schluck von ihrem Wein. »Sie können es dann in Ihrem eigenen Laden verkaufen«, sagte Kelly. »Wenn Kunden es zur Kasse bringen, können Sie Ihnen anbieten, es zu signieren.« Jane lächelte breit. Gerne hätte sie Kelly erzählt, wie oft sie in Versuchung geraten war, eine frisch verkaufte Ausgabe von Stolz und Vorurteil zu nehmen und genau das zu tun. Jetzt könnte sie es. Was aber, wenn Lucy – oder sonst jemand – die Ähnlichkeit des Stils bemerken 78
würde?, kam es ihr in den Sinn. Was, wenn sie herausfinden, wer ich bin? Der Gedanke dämpfte ihre Vorfreude. »Um das Buch so früh zu veröffentlichen, müssen wir uns so schnell wie möglich an die Arbeit machen«, sagte Kelly und holte sie damit in die Gegenwart zurück. »Die gute Nachricht ist, dass wir uns nicht lange mit dem Lektorat aufhalten müssen. Ich weiß, wir haben nicht einmal den Vertrag unterzeichnet, aber ich habe mir die Freiheit genommen, das Manuskript durchzugehen und ein paar Vorschläge zu machen. Nichts Gravierendes. Wenn Sie mit meinen Änderungen einverstanden sind, können wir das Buch gleich in Druck geben. Wir werden so viel wie möglich klären, solange Sie hier sind, und ich werde Ihnen das Manuskript später mitgeben, damit Sie es zuhause fertig durchsehen können.« »Ich bin sicher, es wird alles in Ordnung sein«, sagte Jane mehr zu sich selbst als zu Kelly. Ihre Sorgen, dass man sie entlarven könnte, verblassten, als sie sich klarmachte, dass niemand auf die Idee käme, sie mit der Austen von einst in Verbindung zu bringen. Kelly neigte den Kopf. »Sie sind sich sicher, dass das Ihr erstes Buch ist?«, fragte er. Einen Moment geriet Jane in Panik. Hatte sie zu viel gesagt? Hatte Kelly sie irgendwie durchschaut? »Nein«, sagte sie hastig. »Ich meine ja, ich bin mir sicher. Weshalb fragen Sie?« »Weil Sie so gelassen auf alles reagieren«, sagte Kelly. »Normalerweise sind junge Autoren sehr nervös.« »Wenn es Sie beruhigt, innerlich bin ich fürchterlich aufgeregt«, versicherte ihm Jane. »Aber ich bin Britin. Wir leisten uns keine sichtbaren Emotionen, wissen Sie. Die wurden vor Jahrhunderten aus uns herausgezüchtet.« 79
Kelly lachte. »Ich werde daran denken«, sagte er. »Jetzt, wo ich Sie in unsere großen Pläne eingeweiht habe, sollte ich Ihnen vielleicht auch unser Angebot unterbreiten.« Jane hörte zu, während Kelly die Bedingungen des Vertrags darlegte. In Wahrheit interessierte sie sich nicht für den Vorschuss oder die Gewinnbeteiligung oder die Nebenrechte. Sie schützte aber große Aufmerksamkeit vor, nickte an den richtigen Stellen, und zögerte sogar lange genug zu einer bestimmten Angelegenheit, dass Kelly ihren Vorschuss noch einmal um zehn Prozent erhöhte. »Natürlich werden Sie sich erst einmal mit Ihrem Anwalt beraten wollen, bevor Sie einwilligen«, schloss er. »Ich hoffe aber, dass Sie ja sagen werden.« »Ja«, sagte Jane. Kelly schien den Atem anzuhalten. »Sind Sie sich sicher?«, fragte er. »Sie wollen es nicht zuerst mit jemandem besprechen?« »Wollen Sie denn andeuten, dass ich mir Sorgen machen sollte?«, fragte Jane. »Ich hielt Sie für einen höchst ehrbaren Mann, aber vielleicht sollte ich meine Einschätzung nochmals überdenken.« Sie zog ihn nur auf, aber Kelly missverstand ihre Bemerkung. Er deutete sie offenbar als Ausdruck von Zögerlichkeit. »Ich erhöhe Ihre Gewinnbeteiligung auf fünfzehn Prozent«, sagte er. »Höher kann ich aber nicht gehen. Ganz ehrlich.« Jane griff nach seiner Hand und tätschelte sie. Seine Nervosität war reizend, besonders, weil er zuvor so unerschütterlich gewirkt hatte. »Ganz ruhig«, sagte sie. »Sie klingen, als kauften Sie Ihr erstes Buch.« Kelly lachte unterdrückt und schüttelte den Kopf. »Ei80
nen Moment haben Sie mich ganz schön aus der Fassung gebracht«, gab er zu. »Um es ganz klar zu sagen, ich werde den Vertrag unterzeichnen«, sagte Jane. »Wir sind im Geschäft.« »Gut«, sagte Kelly. »Jetzt kann ich etwas essen.« Jane überflog die Karte. Wie üblich hatte sie keinen Hunger, aber sie wusste, dass sie etwas bestellen musste. Sie erwog das Schokoladen-Mousse, entschied sich dann aber für französische Zwiebelsuppe und einen kleinen Salat. Es hatte keinen Sinn, alle ihre Eigenheiten auf einmal zur Schau zu tragen. Der Kellner kam, sie bestellten, und setzten ihre Unterhaltung fort. Nachdem das Geschäftliche erledigt war, stelle Kelly Jane ein paar Fragen über sie selbst, die sie alle so unverbindlich wie möglich beantwortete. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit drehte sie den Spieß um. So erfuhr sie, noch ehe ihr Essen kam, dass Kelly in Pennsylvania aufgewachsen, in Chicago zur Schule gegangen und unmittelbar nach seinem Abschluss nach New York gezogen war, um im Verlagswesen zu arbeiten. »Meine Eltern waren sehr enttäuscht«, erzählte er. »Sie hofften, ich würde ein Investment Banker werden, oder, wie mein Vater es mal genannt hat, etwas Nützliches erlernen. Ich fürchte, Bücher genießen im Hause der Littlejohns kein allzu hohes Ansehen.« Jane wollte ihm noch mehr Fragen stellen, fand aber, dass es unhöflich wäre, so neugierig zu sein, wenn sie ihm gleichzeitig so viel von sich vorenthielt. Situationen wie diese waren ihr nur zu vertraut nach zweihundert Jahren, in denen sie die Kunst der Ausflüchte perfektioniert hatte. Stattdessen erkundigte sie sich nach den anderen Autoren, mit denen Kelly arbeitete. Viele der Namen, die er ihr nannte, waren ihr ein Begriff, auch wenn sie 81
keines ihrer Bücher gelesen hatte. Sie nahm sich vor, das nachzuholen, sobald sie wieder daheim war. Nach dem Essen kehrten sie und Kelly ins Büro zurück, wo Kelly ihr vier Exemplare eines Vertrags vorlegte. Nachdem er sie noch einmal daran erinnerte hatte, dass es ihr offenstand, sie von jemandem durchsehen zu lassen, beobachtete er gespannt, wie sie die letzte Seite eines jeden Exemplars unterschrieb. Als sie ihm die Verträge reichte, strahlte er. »Wollen wir jetzt das Manuskript besprechen?«, fragte Jane. Kelly nickte. »Zuerst habe ich aber eine kleine Überraschung.« Er nahm das Telefon und wählte. »Joanna, Jane Fairfax ist bei mir. Könnten Sie bitte reinkommen?« Er legte auf. »Ich bin sicher, Sie werden begeistert sein«, sagte er. »Zumindest hoffe ich das.« Kurz darauf betrat eine junge Frau mit einem großformatigen Poster das Büro. »Jane, das ist Joanna Clarke. Joanna ist unsere Chefdesignerin.« Joanna und Jane begrüßten einander. Dann sagte Kelly: »Ich war so beeindruckt von Ihrem Buch, dass ich Joanna von Paris aus gemailt habe. So konnte sie sich schon an die Arbeit machen.« Er nickte Joanna zu, die daraufhin das Poster präsentierte; es war das Vorschaubild für den Einband. Darauf war ein Farmhaus in der Dämmerung zu sehen. In einem der höher gelegenen Fenster brannte Licht, und man konnte den Rücken einer Frau durch die offenen Vorhänge erkennen. In der rechten unteren Ecke des Bildes stand ein Mann, den Blick zu ihr erhoben, einen Strauß Gänseblümchen in der Hand. »Constance«, las Jane den Titel. »Jane Fairfax.« 82
»Ich war mir nicht sicher, welchen Namen Sie benutzen wollen, also nahm ich den, den Sie in Ihrem Begleitschreiben verwendeten«, sagte Kelly. »Gefällt es Ihnen?« Jane starrte nur weiter das Poster an. Das ist mein Buch, sagte sie sich. Sie hatte sich so an die trostlosen Titelbilder gewöhnt, mit denen die Verleger ihre alten Bücher versahen – langweilige Gemälde englischer Landhäuser und Mädchen in weißen Kleidern – dass sie etwas Vergleichbares erwartet hatte. Dieses Cover war aber anders. Es war modern und doch zeitlos. »Es gefällt mir in der Tat«, sagte sie. »Ich finde es ganz bezaubernd.« Joanna lächelte. »Ich bin auch ziemlich zufrieden damit. Vielleicht ändern wir noch ein paar Kleinigkeiten, sobald die Leute aus dem Marketing ihre Meinung dazu abgegeben haben, aber ich glaube, im Großen und Ganzen wird es das sein.« »Würden Sie gerne einen Abzug mit nach Hause nehmen?«, fragte Kelly. »Wir können einen ausdrucken.« »Wirklich?«, fragte Jane. »Natürlich, das wäre großartig.« »Ich werde Ihnen einen machen«, sagte Joanna. »Danke«, sagte Jane, als Joanna hinausging. »Ich mag das Bild wirklich sehr.« Sie sah Kelly an. »Ich kann kaum glauben, dass dies alles passiert«, sagte sie. »Es kommt mir fast wie ein Traum vor.« »Wir werden sehen, wie Sie darüber denken, sobald wir mit dem Lektorat fertig sind«, sagte Kelly. »Wollen wir?« Jane zögerte nur einen Moment, dann nickte sie. »Fangen wir an«, sagte sie. Kelly schlug die erste Seite auf. 83
9 Sie hatte sich geschworen, dass sie sich nicht in ihn verlieben würde. Sie wollte Erfahrung – nicht Liebe. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass es einer weltgewandten Frau ein Leichtes sein sollte, zwischen beidem zu unterscheiden. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass Jonathan alles war, was ihr an einem Mann missfiel – und gleichzeitig alles, wonach es ihr bei einem Mann verlangte. Trotz allem, was sie über ihn wusste, ertappte sie sich dabei, wie sie sich wünschte, dass er sie in seine Arme schloss. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 102 Jane stand am Fenster und blickte auf den Times Square hinab. Es war ein Uhr morgens, und sie war kein bisschen müde. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass dieser Tag tatsächlich stattgefunden hatte. Heute Morgen noch war sie in Brakeston gewesen. Jetzt war sie in New York, hatte einen Buchvertrag unterzeichnet und den Text mit ihrem Lektor besprochen. Ihrem gutaussehenden, humorvollen, aufmerksamen Lektor. Sie schob den Gedanken beiseite. Es stimmte, dass auf Kelly all diese Eigenschaften zutrafen. Dennoch war es unprofessionell, auf diese Weise an ihn zu denken. Während des Abendessens aber, das sie nach der Arbeit an dem Manuskript zu sich genommen hatten, war sie sich immer mehr wie ein Schulmädchen vorgekommen, dem man den Kopf verdreht hatte, und nicht wie eine Frau von zweihundertdreiunddreißig. Nach dem Essen hatte Kelly sie zu einer Aufführung von Gypsy ausgeführt, und da war ihr aufgegangen, dass er sie stark an Richard 84
Mansfield erinnerte, jenen bezaubernden Schauspieler, der im neunzehnten Jahrhundert im Dienst der D’Oyly Carte Opera Company gestanden hatte. Sie hatte siebzehn Aufführungen von Mikado gesehen, nur Mansfields wegen, und die Verehrung, die sie für ihn empfand, hatte selbst dann nicht nachgelassen, als sich diese hässliche Sache mit Jack the Ripper ereignet hatte. (Sie hatte den Ripper gekannt, und obgleich nicht weniger charmant, war er doch nicht halb so ansehnlich wie Mansfield gewesen.) Ihre Schwäche für Mansfield hatte sich schließlich gelegt, und sie nahm an, dass es sich in diesem Falle ähnlich verhalten würde. Es war doch bloß die Freude darüber, endlich wieder eine veröffentlichte Schriftstellerin zu sein. Sie wandte sich um und betrachtete das Buchcover; sie hatte das Poster auf den Spiegel über der Kommode geklebt. Es schien ihr kaum vorstellbar, dass es wirklich ihr Buch war. »Constance«, las sie laut. »Von Jane Fairfax.« Sie kicherte, und schämte sich dafür, wie aufregend es doch war, ihren eigenen Namen so zu sagen. Der Titel, das musste sie zugeben, war vielleicht nicht gerade ihr stärkster. Sie bevorzugte aussagekräftige Titel. Was konnte schon Stolz und Vorurteil oder Verstand und Gefühl das Wasser reichen? Zugegeben, Mansfield Park und Die Abtei von Northanger klangen etwas farblos, doch das war damals der Geschmack der Leute gewesen. Und sie waren immer noch besser als Sir Walter Scotts Erzählungen meines Wirths. Das Cover aber gefiel ihr. Und Jane Fairfax zu sein, gefiel ihr im Großen und Ganzen auch. Jane Austen wäre ihr zwar lieber gewesen, aber das war natürlich unmöglich. Außerdem hatte sie sich mittlerweile daran gewöhnt, eine Fairfax zu sein. 85
Sie öffnete die Minibar und nahm sich zwei Tafeln Scharffen-Berger-Schokolade und eine kleine Flasche Shiraz heraus. Dann legte sie sich aufs Bett und versank mit einem wohligen Seufzen in der weichen Matratze. Sie riss die Verpackung von der Schokolade und knabberte an einer Ecke, schaltete den Fernseher ein und zappte durch die verschiedenen Sender. Sie sah sich dieses und jenes an, aber nichts weckte wirklich ihr Interesse. Sie hatte die halbe Schokolade gegessen, bis ihr auf einem der Sender ein vertrautes Gesicht entgegensprang. Sie hielt inne. Es war Peter Cushing. Und der Film, wie sie kurz darauf erkannte, war Dracula und seine Bräute. Es war einer ihrer Lieblingsfilme, und sie hatte ihn eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Sie kuschelte sich in die Kissen und genoss den Film, die Flasche Wein und die Schokolade leisteten ihr Gesellschaft. Dracula und seine Bräute war einer der berüchtigten Horrorstreifen der Hammer Film Productions und machte, fand Jane, enormen Spaß, wenn man selbst ein Vampir war. Es war vergnüglich, mitanzusehen, wie die junge Heldin in den Bann des hinreißenden, tragischen Baron Meinsters gezogen wurde (allein der Name ließ sie schaudern), ganz zu schweigen von der ohnehin lächerlichen Handlung und der Tatsache, dass trotz des Filmtitels und einer kurzen Anspielung im Dialog Dracula selbst kein einziges Mal wirklich vorkam. Während der Film weiterlief, fühlte Jane Traurigkeit in sich emporsteigen. Zum ersten Mal fühlte sie mit der jungen Marianne Danielle, einer unschuldigen Schullehrerin, die von Meinster benutzt wurde, ihm seine Flucht aus dem Zimmer zu ermöglichen, in dem ihn seine Mutter, die Baronin, gefangenhielt. Statt Marianne wie üblich 86
für ein dummes Mädchen zu halten, welches das Offensichtliche übersah, erkannte Jane nun die Verliebte in ihr, eine Verliebte, die einen verwundeten Mann vor sich sieht, der ihrer Zuwendung bedarf. Zum Ende des Films hatte sie die Flasche Wein und beinahe die zweite Schokoladentafel geschafft, und ihr war ein wenig übel. Auch wenn sie froh darüber war, dass Marianne das Schicksal der anderen Vampirbräute erspart blieb, so steigerten die Szenen, in denen der Baron erst von Weihwasser entstellt und dann von einem kreuzförmigen Schatten erledigt wurde, nicht gerade ihr Wohlbefinden. Sie musste an jene Zeit zurückdenken, als sie genauso unschuldig wie Marianne gewesen war. Auch sie hatte jemandem vertraut, der sie verraten hatte. Anders als Marianne war sie jedoch nicht entkommen. »Nein«, sagte sie zum Dunkel des Zimmers. »Du wirst nicht darüber nachdenken. Das ist vorbei.« Sie kam sich dumm dabei vor, die Gedanken laut auszusprechen. Sie hatte diese Technik 1972 auf einem Wochenendseminar gelernt. Das war das Jahr gewesen, in dem sie beschlossen hatte, sich selbst zu verwirklichen. Neben Dauerwellen und Schlaghosen war das eins von vielen Dingen, die sie bereute. Seine unliebsamen Gedanken dadurch loszuwerden, dass man sie laut aussprach, funktionierte allerdings tatsächlich. Diese Technik hatte ihr geholfen, etwas von der Wut loszuwerden, die sie so lange mit sich herumgetragen hatte. Sie drehte sich auf die Seite und richtete den Blick auf das Fenster. Hinter den Vorhängen funkelten die Lichter des Broadways, gingen an und wieder aus, und das Hupen von Autos durchbrach die Stille. »Das war die Vergangenheit. Das hier ist heute«, sagte Jane. »Das war die 87
Vergangenheit. Das hier ist heute.« Ein weiterer Trick, den sie an jenem langen Wochenende gelernt hatte. Sie wiederholte den Satz immer wieder, bis der Klang ihrer eigenen Stimme alles andere verdeckte. Als sie bemerkte, wie ihr die Augen zufielen, drehte sie sich auf den Rücken. Ihrem Bett gegenüber hing immer noch ihr Buchcover auf dem Spiegel. »Ich bin Jane Fairfax«, sagte sie. »Ich bin Jane Fairfax.« Mit diesem neuen Mantra auf den Lippen schlief sie ein. Als sie erwachte, fiel schmutzig graues Licht in ihr Zimmer. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass es wieder schneite. Jane war versucht, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und noch etwas länger zu schlafen, aber die Ziffern der Uhr neben dem Bett erinnerten sie daran, dass sie in einer Stunde mit Kelly zum Frühstück verabredet war, um den Rest seiner Änderungswünsche zu besprechen. Eigentlich hätte sie seine Vorschläge vorher durchsehen sollen, aber das Manuskript lag noch unangetastet auf dem Couchtisch am Fenster. Sie zwang sich, aufzustehen und unter die Dusche zu gehen. Dann zog sie sich den flauschigen weißen Hotelbademantel über und blätterte rasch durch das Manuskript, fügte hier und da etwas ein, und äußerte manchmal leises Unverständnis über Kellys Anmerkungen. Im Großen und Ganzen hatte aber alles seinen Sinn, und sie wurde gerade noch rechtzeitig fertig, um sich anzuziehen und ihre Sachen für die Heimreise zu packen. Sie hatten sich im Restaurant ihres Hotels verabredet, sie musste also nur nach unten gehen. Dennoch war sie fünf Minuten zu spät, und Kelly wartete bereits auf sie. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich, als er vom 88
Tisch aufstand und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab. »Ich war noch lange wach und bin das Manuskript durchgegangen.« »Ich bin auch gerade erst gekommen«, versicherte er ihr. Sie setzte sich und legte das Manuskript auf den Tisch. Es war nicht zu übersehen, wie herausgeputzt Kelly wirkte. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine blau gestreifte Krawatte. Sein gegeltes Haar war zurückgekämmt, und er sah aus, als hätte er eine erholsame Nacht hinter sich. Während ich wie eine Untote aussehe, dachte Jane, und mich auch so fühle. »Hast du gut geschlafen?«, fragte Kelly. Die Kellnerin brachte Jane eine Tasse Kaffee. »Sehr gut, danke«, sagte Jane. »Und gibt es etwas im Manuskript, das du besprechen möchtest?« Jane schüttelte den Kopf und goss Sahne in ihren Kaffee. »Sieht alles ganz gut aus«, sagte sie. »Nur ein paar Kleinigkeiten. Nichts schrecklich Wichtiges.« »Ich muss sagen, bis jetzt bist du eine traumhafte Autorin«, sagte Kelly. »Fast hoffe ich, das Buch verkauft sich nicht allzu gut.« »Wieso das denn?«, fragte Jane überrascht. »Blödsinn«, zwinkerte Kelly, der ihre Reaktion bemerkte. »Es ist nur so: wenn ein neuer Autor einen Bestseller landet, dann wird er oft etwas, sagen wir …« Er rang die Hände und suchte nach dem rechten Wort. »Aufgeblasen?«, schlug Jane vor. Kelly nickte. »Aufgeblasen«, stimmte er ihr zu. Jane hob ihre Brauen und lächelte. »Ich glaube, darüber musst du dir bei mir keine Sorgen machen«, sagte sie. 89
Sie besprachen die letzten Änderungen am Manuskript. Als sie fertig waren, packte Kelly die Seiten in seine Aktentasche. »Ich sollte dich zur Penn Station bringen« sagte er. »Dein Zug geht in einer halben Stunde.« Jane ging nach oben und holte ihre Sachen. Dann winkte Kelly ihnen ein Taxi, und sie fuhren zum Bahnhof. »Eine gute Heimreise«, sagte Kelly, als sie vor dem Bahnhof hielten. Abermals küsste er Jane auf die Wange, dann stieg sie aus. »Ich melde mich in paar Tagen, um zu besprechen, was als Nächstes passieren wird.« Jane winkte ihm zum Abschied zu und sah dem Taxi hinterher, den Kopf voller Träumereien über Kelly und ihr Buch, und die neuen Möglichkeiten in ihrem Leben. Hatte der Kuss etwas länger gedauert, als es die Höflichkeit verlangte? Der Zug war nicht besonders voll, und Jane hatte eine ganze Sitzreihe für sich allein. Sie setzte sich ans Fenster und schlug das Buch auf, das sie gestern auf der Hinreise begonnen hatte. Doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie würde den Leuten von ihrem Buch erzählen müssen. Wenigstens Lucy. Vielleicht Walter. Plötzlich dachte sie an Walter. Sie sah sein Gesicht und stellte sich vor, wie sehr er sich für sie freuen würde, wenn sie ihm erzählte, dass sie veröffentlicht werden würde. Seine Glückwünsche würden aufrichtig sein, nicht die Heucheleien irgendeines Neiders. Walter wäre gar nicht fähig, unaufrichtig zu sein. Obwohl sie wusste, dass es töricht war, kam sie nicht umhin, Walter mit Kelly zu vergleichen. Sie waren so verschieden. Während Kelly in einer schnelllebigen Welt verkehrte, war Walter mit dem bedächtigen Leben in ei90
ner Kleinstadt zufrieden. Kelly war weltgewandt, Walter bescheiden. Doch beide waren liebenswürdige Männer. Am Wichtigsten aber, rief sich Jane ins Gedächtnis, war, dass Walter ihr bereits seine Gefühle offenbart hatte. Kelly war nur ihr Lektor. Und doch konnte sie nicht anders, als sich zu fragen, ob Kelly nicht auch mehr werden könnte. Sie und er waren – zumindest, soweit Kelly das wusste – etwa gleich alt. Sie teilten viele Interessen. Und sie würden eng zusammenarbeiten. Wäre es da nicht möglich, dass eine romantische Beziehung erwuchs? Jane fühlte sich schuldig, überhaupt an so etwas zu denken. Und doch tat sie es. Sie konnte nicht abstreiten, dass sie Kelly attraktiv fand. Und ein Teil von ihr glaubte, dass er die unausweichliche Wahrheit über ihren Zustand besser aufnehmen würde als Walter. Ich könnte mir vorstellen, dass es in New York noch weit unglaubwürdigere Dinge gibt als Vampire, dachte sie. Während der Zug den Bahnhof verließ und langsam, aber stetig nach Norden zu rollen begann, beschäftigte sich Jane mit den Fragen über die zukünftige Gestaltung ihres Liebeslebens. Nach zweihundert Jahren, die jeder Romantik entbehrten, wurde es Zeit für eine Veränderung. »Ich werde nichts überstürzen«, versicherte sie sich selbst. »Ich werde die Dinge einfach nehmen, wie sie kommen.« Es war eine vernünftige Entscheidung, und sie war froh, sie getroffen zu haben. Schließlich hatte sie Walter keine Versprechungen gemacht. Es stand ihr frei, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Im Moment spielte sie lediglich verschiedene Möglichkeiten durch. Wenn es sich herausstellte, dass Kelly interessiert war, würde sie das 91
Richtige tun und eine Entscheidung zwischen beiden treffen. Nachdem diese Angelegenheit erledigt war, widmete sie sich wieder ihrem Buch. Sie versuchte vergebens, sich durch Das Täubchen von Barbara Pym zu quälen. Sie ist überhaupt nicht wie ich, dachte Jane, als sie eine Seite umschlug. Ich verstehe nicht, wie irgendjemand finden kann, dass wir uns ähneln. Nichts als Tee und Gartenpartys und Damenhüte.
92
10 Sie hatte nicht mit seiner Anwesenheit bei der Party gerechnet. Doch als sie den Salon betrat, sah sie ihn sehr dicht neben Barbara Wexley auf dem Sofa sitzen. Er flüsterte ihr ins Ohr. Das Mädchen kicherte und schlug ihm zärtlich aufs Knie, worauf Jonathan mit gespieltem Schmerz reagierte. Dann wanderte sein Blick zum Eingang. Als er Constance dort stehen sah, lächelte er spöttisch, und sie fühlte, wie ihr Herz vor Zorn auf ihn entbrannte. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 127 »Etwas ist anders«, sagte Jane und sah sich im Laden um. »Du hast irgendetwas umgestellt.« Lucy begrüßte Jane mit einer herzlichen Umarmung. »Willkommen daheim«, sagte sie. »Ich war bloß achtundvierzig Stunden weg«, sagte Jane. »Es ist ja nicht so, als ob ich in den Krieg gezogen wäre.« Lucy ging ins Büro, um ihren Mantel aufzuhängen. »Es ist okay, wenn du mich vermisst hast«, rief sie. »Du kannst es ruhig zugeben, weißt du?« Sie kam wieder nach vorne zum Tresen. »Also, was ist? Hast du mir ein Geschenk mitgebracht?« »Das habe ich tatsächlich«, sagte Jane. Sie griff in ihre Tasche und holte das kleine Mitbringsel hervor, das sie in einem der zahllosen Touristenläden am Times Square erstanden hatte. Es war eine Schneekugel mit einem kleinen Empire State Building aus Plastik darin. Ein Plastik-King-Kong kletterte daran empor, einen Arm hoch erhoben, und 93
brüllend vor Wut. Lucy schüttelte die Kugel, und die kleinen Schneeflocken aus Plastikschnee wirbelten umher. »Wunderhübsch«, sagte Lucy. »Dankeschön. New York hat mir in meiner Sammlung noch gefehlt. Jetzt fehlen mir nur noch South Dakota, Arkansas und Maine. Oh, und ich habe Florida zerbrochen, dafür brauche ich also einen Ersatz.« Janes Augen richteten sich plötzlich auf eine Stelle links von der Kasse. »Was in aller Welt ist das?«, wollte sie wissen und deutete auf einen Ständer. Es sah aus, als hingen viele kleine Körper daran. »Sind sie nicht niedlich?«, fragte Lucy und lächelte verschmitzt. »Das sind Fingerpuppen berühmter Autoren. Ich habe sie vor einer Ewigkeit bestellt, aber erst gestern sind sie endlich gekommen.« Jane ging zum Ständer und nahm eine der winzigen Puppen herunter. Ihr graues Haar war zu einem Knoten gebunden, und ihr Gesicht blickte feierlich drein. »Virginia Woolf«, sagte Lucy. Sie nahm sich eine andere Puppe und zog sie über ihren Finger. Sie hatte wildes, schwarzes Haar. »Dylan Thomas. Wir haben so gut wie jeden. Na ja, jeden, der tot ist. Ich nehme mal an, sie wollten niemandem Geld dafür zahlen, also gibt’s keine J.K. Rowling und auch keinen John Grisham. Dafür haben wir James Baldwin, Louisa May Alcott, Samuel Pepys und Poe. Natürlich haben wir auch Shakespeare, und diese hier wird glaube ich unser absoluter Bestseller werden.« Sie hielt eine Puppe mit braunem Haar und einem weißen Kleid empor, das an der Brust zusammengehalten wurde. »Jane Austen«, sagte Jane und blickte in ihre eigenen Puppenaugen. 94
»Ich habe fünfzig davon bestellt«, sagte Lucy. »Wir haben schon fünf verkauft.« »Super«, sagte Jane, und mühte sich, vergnügt zu klingen. »Ich nehme nicht an, dass wir gestern auch ein paar echte Bücher verkauft haben?« »Es war ein ziemlich guter Tag für Januar«, antwortete Lucy. »Aber lass uns nicht über die Arbeit reden. Erzähl mir lieber von deiner Reise. Hattest du Spaß mit deinem Freund?« »Ja«, sagte Jane. Sie wollte Lucy unbedingt vom wahren Grund ihrer Reise nach New York erzählen, aber sie wusste, es wäre ein Fehler, ihr Geheimnis zu früh zu offenbaren. »Wir haben uns Gypsy angesehen.« Lucy seufzte. »Das würde ich auch gerne sehen«, sagte sie. »Eigentlich würde ich mir alles in New York gerne ansehen.« »Vielleicht können wir im Frühjahr ja hin«, sagte Jane zu ihrer eigenen Überraschung. »Nur du und ich.« »Im Ernst?«, rief Lucy und sah beinahe erschrocken aus. »Das wäre klasse.« Jane nahm sich die Belege vom Vortag und begann, sie durchzusehen. Sie vertraute Lucy blind, aber sie brauchte etwas, mit dem sie sich ablenken konnte. Jetzt, wo sie wieder von Büchern umgeben war, war das Einzige, woran sie denken konnte, ihr eigener Roman. Sie stellte sich Stapel davon auf einem der Tische vor. Sie malte sich aus, wie Kunden ihn in die Hand nahmen und ihren Namen erkannten. Sie dachte daran, wie es wäre, ihn zu verkaufen und in eine Tüte zu packen. Sie war so eingenommen von ihrem Tagtraum, dass sie kaum hörte, dass die Glocke über der Tür klingelte und jemand den Laden betrat. Ein paar Minuten später trat jemand an die Kasse und legte ein Buch auf den Tresen. Jane warf einen Blick dar95
auf und sah eine Ausgabe von Emma. Sofort schwand die Freude, die sie beim Gedanken an ihr neues Buch empfand, dahin. Sie wurde wieder daran erinnert, wie lange sie eigentlich schon gezwungen war, ihr Geheimnis zu bewahren. »Von all deinen Büchern ist dieses mein liebstes«, sagte eine Männerstimme. »Es ist ein sehr gutes Buch«, sagte Jane und nahm das Buch in die Hand. Erst als der Scanner den Barcode las und seine Zustimmung herauspiepste, realisierte sie, was der Kunde gesagt hatte. Ihre Augen zuckten empor. Der Mann vor ihr war eine auffällige Erscheinung, mit blasser Haut und einem Gesicht, das man wirklich nur als bildschön bezeichnen konnte. Er trug sein dunkles Haar etwas länger, so dass ihm eine Locke über eins seiner Augen fiel. Die Augen waren genauso dunkel wie sein Haar. Janes Herz schien einen Schlag auszusetzen, und das Atmen bereitete ihr Schwierigkeiten. »Du«, flüsterte sie. Der Mann lächelte, und seine Augen funkelten. »Ich«, sagte er. Jane rummelte an dem Buch in ihren Händen herum, und es fiel zu Boden. Sie bückte sich, um es aufzuheben, und hoffte, dass der Mann verschwunden sein würde, wenn sie wieder aufstand. Er war aber immer noch da. Wenn sich überhaupt etwas verändert hatte, dann war sein Lächeln jetzt noch eindringlicher. »Wie ich sehe, habt ihr euch schon kennengelernt.« Walters Stimme rief Jane ins Hier und Jetzt zurück. Wie aus dem Nichts war er plötzlich neben dem Mann aufgetaucht. »Du kennst ihn?«, fragte Jane und starrte Walter an. 96
»Brian ist mein Klient«, antwortete Walter. »Brian?«, wiederholte Jane. »Brian George«, sagte der Mann. »Du weißt doch, dass ich das alte Roberts-Haus restauriert habe?«, fragte Walter. Jane nickte. Walter hatte erstklassige Arbeit geleistet und das vernachlässigte viktorianische Anwesen wieder in alter Pracht erstrahlen lassen. Er hatte Jane erzählt, dass er es für so gut wie nichts gekauft hatte und es nach Abschluss der Arbeiten so bald wie möglich weiterverkaufen würde. »Brian war derjenige, der mich engagierte«, sagte Walter. »Ich hatte Walter gebeten, niemandem von dem Kauf zu erzählen«, sagte Brian. Jane hätte wirklich gerne gefragt, weshalb Brian George ein Geheimnis aus seinem Umzug nach Brakeston machen wollte, doch glücklicherweise ergriff Walter wieder das Wort. »Brian ist ein Schriftsteller«, sagte er. Jane beobachtete den Mann. »Ist das so?«, fragte sie. »Nun ja, ich versuche es«, sagte Brian. »Richtig«, sagte Jane. »Jetzt erinnere ich mich. Sie haben doch dieses Buch geschrieben, über die … äh … also diese …« Walter begann sich sichtlich unbehaglich zu fühlen, während sie nach Worten rang. Jane wusste, dass der Grund dafür Brian George war, obwohl George selbst völlig ungerührt schien. Jane seufzte. »Es tut mir leid. Bei den Unmengen von Büchern hier um mich herum kann ich einfach nicht alle Titel im Kopf behalten.« Sie sah, wie sich ein Grinsen auf Brian Georges Gesicht stahl, aber sie ignorierte es. 97
»Brian ist der Autor von Der Winter kommt langsam«, sagte Walter rasch. »Der Winter kommt langsam?«, fragte Lucy und streckte ihren Kopf hinter den Regalen der Gartenabteilung hervor. »Das habe ich richtig verschlungen.« Sie trat in den Gang hinaus und kam zur Kasse. »Und mit wem habe ich nun das Vergnügen?«, fragte Brian. »Das ist Lucy«, sagte Jane. »Die Geschäftsführerin.« Lucy drehte den Kopf. »Geschäftsführerin?«, fragte sie. »Seit wann –« »Überraschung!«, rief Jane, in der Hoffnung, sie dadurch abzulenken. »Ich wollte es dir heute Nachmittag sagen.« »Wow«, sagte Lucy. Dann sah sie wieder zu Brian. »Wow«, sagte sie noch einmal und lächelte, und Jane wusste, dass ihre Taktik gescheitert war. »Ich fand das Buch wirklich fantastisch. Ihre Gedichte sind wunderschön. So schlicht, und dennoch lassen sie einen nicht mehr los.« Brian legte sich die Hand auf die Brust. »Es ist mir eine Ehre«, sagte er. »Ich danke Ihnen.« »Lucy«, sagte Jane etwas schroff. Lucy drehte den Kopf, aber ganz langsam, so als könne sie sich nicht von Brian Georges Anblick losreißen. »Hmm?«, fragte sie. »Mir fiel gerade auf, dass die Auslage mit den Neuerscheinungen etwas durcheinander ist«, sagte Jane. »Könntest du da vielleicht etwas Ordnung reinbringen?« »Klar«, antwortete Lucy. »Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen«, sagte Brian. Lucy lächelte. »Mir ebenfalls«, sagte sie. 98
Jane beobachtete, wie Lucy davonging, den Kopf drehte, und Brian Georges Rücken mit einem fast sehnsuchtsvollen Blick bedachte. Jane widerstand dem Impuls, sie anzuschnauzen, dass sie das unterlassen solle. »Ich war gestern hier und hab dich gesucht«, unterbrach Walter ihre Gedanken. »Lucy hat gesagt, du warst in New York.« »Ja«, krächzte Jane, deren Kehle auf einmal ganz ausgetrocknet war. »Ich, äh, habe einen Freund besucht.« »Ich liebe New York«, sagte Brian. »Die Stadt hat eine solche Energie. Einfach herrlich.« »Kann nicht behaupten, dass ich mir viel daraus mache«, sagte Walter. »Zu laut. Zu viele Leute.« Jane achtete darauf, ob sie etwa eine Spur von Verärgerung aus seiner Stimme heraushörte. Störte es ihn, dass sie verreist war, ohne es ihm zu sagen? Brian lachte sanft. »Daran ist nichts auszusetzen.« Er sah Jane an. »Wie steht’s mit Ihnen, Jane? Sind Sie ein Kleinstadtmensch?« Er wollte sie provozieren, das wusste sie genau. Wie kannst du es wagen, dachte sie. Doch sie rang sich ein Lächeln ab und sagte: »Ich finde, dass beides seinen Reiz hat, wenn man weiß, wonach man suchen muss.« Ihr Blick ruhte auf Walter, während sie sprach, und mit einiger Genugtuung stellte sie fest, dass Brians Augen ihrem Blick gefolgt waren. »Ich verstehe«, sagte er. »Wahrscheinlich verhält es sich so.« »Also dann«, sagte Walter, der die Spannung im Raum offenbar nicht bemerkt hatte. »Brian begleitet mich heute zum Crandall-Haus.« »Ich habe vor, einen Roman zu schreiben«, erklärte Brian. »Ich überlege, ob ich einen Restaurator darin vorkommen lasse, und ich dachte mir, es kann nicht scha99
den, mir etwas Wissen aus erster Hand anzueignen, bevor ich versuche, darüber zu schreiben.« Was führst du im Schilde?, fragte sich Jane. Was für einen Grund könntest du haben, hierherzukommen? Was immer es war, sie wusste, dass nichts Gutes daraus erwachsen konnte. »Jane«, sagte Walter. »Ich rufe dich nachher an. Vielleicht könnten wir heute Abend alle bei mir zu Abend essen.« »Vielleicht«, sagte Jane. »Das wäre sicher nett.« Walter nickte. »Großartig«, sagte er. »Und jetzt lassen wir dich in Ruhe.« Brian warf Jane einen Blick zu. »Dann bis heute Abend«, sagte er und neigte unmerklich den Kopf. »Ich freue mich darauf.« Jane gab keine Antwort. Sie verfolgte, wie Walter und Brian den Laden verließen. Erst als sie außer Sichtweite waren, hob sie eine Hand zur Stirn. Oh nein, dachte sie. Nein, nein, nein, nein, nein. Einen Moment später war Lucy wieder zurück. »Ich kann’s gar nicht fassen, dass ich gerade Brian George getroffen habe!«, rief sie aus. »Er hat so einen süßen Akzent. Er ist Engländer, richtig?« »Eigentlich ist er Schotte«, korrigierte Jane. »Hast du Kopfschmerzen?«, fragte Lucy. Jane nahm ihre Hand von der Stirn. »Nur ganz leichte«, sagte sie. »Gleich geht es wieder.« »Ich frage mich, wie es wäre, ein Date mit einem Schriftsteller zu haben?«, überlegte Lucy. »Entsetzlich«, sagte Jane. »Es wäre entsetzlich. Ganz besonders mit diesem.« Lucy wandte sich ihr zu. »Was stimmt denn nicht mit ihm?«, fragte sie. »Und woher willst du das wissen?« 100
»Er ist ein Dichter«, sagte Jane schnell. »Dichter geben schreckliche Partner ab. Sie blasen den ganzen Tag über Trübsal und fragen dich nach den passenden Reimen. Es ist schrecklich langweilig.« »Okay«, sagte Lucy vorsichtig. »Ich versuche, daran zu denken. Aber er ist trotzdem ein heißer Typ.« Jane wollte noch etwas sagen, aber sie traute sich nicht. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war eine Lucy, die Brian George hinterherlief, aber sie konnte der jungen Frau keinen plausiblen Grund dafür nennen, ohne mit ihr über Dinge zu sprechen, die sie lieber für sich behielt. Vor allem aber wollte sie nicht wie eine verbitterte alte Frau klingen. Denn das ist schließlich genau, was du bist, sagte sie sich.
101
11 Sie und Charles kamen vom Picknick am Fluss zurück. Sie trug den Kranz aus Gänseblümchen, den er ihr geflochten hatte, und ihre Schuhe in der Hand. Trotz des Huts hatte die Sonne ihre Wangen gerötet, während Charles, der es gewöhnt war, Stunden im Garten zuzubringen, einfach noch etwas brauner geworden war. Er griff nach ihrer Hand, und für einen Augenblick war sie vollkommen glücklich. Dann fiel ein Schatten auf ihren Weg, und sie blickte auf und sah Jonathan vor sich stehen. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 143 Auf Walters Veranda hielt Jane inne. Entspann dich, sagte sie sich. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Doch es gab einen Grund, sich Sorgen zu machen, und egal, wie sehr sie sich das Gegenteil einredete, ihre Sorgen wurden nicht weniger. Sie würde den Abend einfach so gut es eben ging durchstehen müssen. Sie klingelte, und kurz darauf öffnete Walter die Tür. Er hatte eine Schürze um und rieb seine Hände an einem Geschirrtuch ab. Die Schürze war mit irgendeiner braunen Soße bekleckert. »Komm doch rein«, lächelte Walter und winkte sie nach drinnen. Er schien glänzender Laune zu sein. »So sieht man sich wieder.« Brian George stand im Wohnzimmer, ein Glas Wein in der Hand. Ein zweites Glas, beinahe leer, stand auf dem Tisch neben der Couch. »Hallo«, antwortete Jane unterkühlt. Walter nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in die Garderobe. »Ich freue mich sehr, dass Sie es geschafft haben«, sagte Brian, als sei er der Gastgeber und nicht Walter. 102
»Ja«, sagte Jane ausweichend und vermied Brians Blick. »Hier bin ich also.« Walter, der nicht zu bemerken schien, was zwischen ihnen beiden vorging, kehrte mit einer Flasche Wein zurück. »Brian hat einen großartigen Wein mitgebracht«, sagte er und goss ein Glas für Jane ein. »Ich habe schon zwei Gläser davon getrunken.« Das erklärt die gute Laune, dachte Jane und nahm das Glas entgegen. Sie zögerte kurz, dann nippte sie daran. Walter hatte Recht; der Wein war köstlich. »Domaine de la Romanee-Conti«, sagte sie. Brian nickte. »Ich habe ein paar Flaschen mitgebracht«, sagte er. »Es ist mein Lieblingswein.« Ja, dachte Jane. Ich erinnere mich. Es war auch einer der gefragtesten Weine der Welt, viel zu teuer für einen Dichter. Sie fragte sich, ob Walter realisierte, was er da trank. »Nimm doch Platz«, schlug Walter vor. Jane wartete, bis Brian Platz auf der Couch genommen hatte, dann setzte sie sich in einen der Sessel seitlich des Couchtisches. Walter nahm den anderen Sessel. »Sagen Sie, Jane, wie lange leben Sie schon in Brakeston?«, erkundigte sich Brian. »Fast zehn Jahre«, sagte Jane. Die Worte kamen abgehackt. »Zehn Jahre«, wiederholte Brian. »Das ist genug, um als Einheimische zu gelten, nehme ich an?« Walter gluckste. »Oh, sie gehört definitiv zu uns«, sagte er. »Es ist, als ob sie schon ewig hier lebte.« »So scheint es wohl«, sagte Brian. Er sah wieder Jane an. »Sie kommen aber aus Großbritannien, wenn ich den Akzent richtig deute. Leben Sie schon lange hier in den Kolonien?« 103
»Seit meiner Kindheit«, antwortete Jane. Ein listiges Lächeln stahl sich auf Brians Gesicht. »Dann vermissen Sie Ihre Heimat nicht?« Jane schüttelte den Kopf. »Ich war noch sehr klein, als wir hierherzogen«, sagte sie. »Ich erinnere mich kaum noch daran.« »Warst du früher schon einmal in den Staaten?«, fragte Walter Brian. Er goss sich noch mehr Wein ein. Dann reichte er die Flasche an Brian weiter. »Nein«, sagte Brian. »Das ist mein erstes Mal. Meine Familie lebt schon sehr lange in England.« Er blickte zu Jane. »Haben Sie noch Familie in England?« »Nein«, erwiderte Jane und hielt seinem Blick stand. »Ich fürchte, sie sind alle schon gestorben.« Brian nippte an seinem Wein. »Das tut mir sehr leid«, sagte er. Eine Tür weiter klingelte etwas, und Walter sprang auf. »Das Abendessen ist so weit«, sagte er. »Bitte zu Tisch!« Er eilte in die Küche, und Jane und Brian erhoben sich. Einen Moment standen sie sich gegenüber. »Was machst du hier?«, zischte Jane. »Ich dachte, Walter hätte es schon erwähnt«, sagte Brian. »Ich will etwas Landluft schnuppern.« Jane lachte kurz und bitter. »Da können wir uns ja glücklich schätzen«, sagte sie. »Und du bist dir sicher, dass das alles ist?« Brian streckte die Hand aus und streichelte ihre Wange. Jane schreckte zurück. »Ich hatte gehofft, ich könnte eine alte Bekanntschaft auffrischen«, sagte er. »Das Essen ist fertig!«, rief Walter aus dem Esszimmer. Jane wandte sich ab und ging davon. Sie fühlte einen brennenden Stich auf der Wange, wo Brian sie berührt 104
hatte. Im Esszimmer stellte Walter gerade eine Schüssel mit Erbsen auf den Tisch, wo sich schon eine Platte mit einem Braten, eine Schale mit Kartoffelbrei und das übliche Sortiment aus Gläsern und Essbesteck befand. »Du sitzt hier«, sagte Walter zu Jane und wies ihr einen Platz zur Linken. »Und Brian, du sitzt hier«, fuhr er fort, und deutete auf das Kopfende des Tisches. Sie nahmen alle Platz, und Walter nahm die Platte mit dem Braten zur Hand. »Ich hoffe, du magst es englisch«, sagte er und reichte den Braten zu Brian. »Ich kann durchgebratenes Fleisch nicht ausstehen.« »Das sieht wunderbar aus«, sagte Brian und nahm sich mehrere Stücke, bevor er die Platte an Jane weiterreichte. »Ich habe mein Fleisch gerne blutig.« Jane nahm sich ein kleines Stück vom Braten und lies sich dann die Erbsen von Walter reichen. Als sie die Schüssel ihrerseits an Brian weitergab, berührten sich ihre Finger. Es war, als würde sie ein Stromschlag durchfahren, sie zuckte heftig zusammen und die Schüssel entglitt ihr. Doch Brians Hand schoss nach vorne und fing sie auf, bevor sie auf dem Tisch aufschlug. Jane riss ihre Hand zurück, legte sie in ihren Schoß und rieb sie mit der anderen. Ihre Haut prickelte immer noch. »Jane, Brian ist auch ein Austen-Fan«, sagte Walter. »Ich sagte ihm, er soll dich darauf ansprechen.« »In der Tat«, bemerkte Brian. »Sagen Sie, Jane, wie denken Sie über den Austenwahn, der Ihr Land im Griff zu halten scheint?« Er machte eine kurze Pause. »Entschuldigen Sie. Ich meinte natürlich, dieses Land.« Jane stach auf das Stück Fleisch auf ihrem Teller ein. Der Saft, der herausfloss, war rötlich von Blut, und sie spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Be105
vor sie antwortete, nahm sie einen Bissen und kaute gründlich, um den Geschmack zu genießen. »Ich glaube, Austens Bücher sprechen Menschen gleich welchen Jahrhunderts an«, sagte sie dann. Brian nickte. »Frauen lieben schließlich Romanzen.« Jane wurde rot. »Es sind mehr als nur Romanzen«, sagte sie. »Und nicht nur Frauen fühlen sich von den Büchern angesprochen!« Brian schrieb mit seiner Gabel Muster in die Luft. »Natürlich«, sagte er. »Ich selbst schätze ihr Werk sehr. Dennoch werden Sie zugeben, dass ihre Themen reichlich … leichtgewichtig sind, wenn Sie so wollen.« Ohne Jane Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, fuhr er fort. »G. H. Lewes, der Kritiker, gab Charlotte Brontë einst den Rat, Austens Werk zu studieren, um ihre eigenen Unzulänglichkeiten als Autor zu überwinden. Wissen Sie, was sie geantwortet hat?« Jane schnaubte. »Sie sagte, Austens Werk sei, Zitat, ›wie die genau belichtete Daguerreotypie eines gewöhnlichen Gesichts; ein sorgfältig umzäunter, gut gepflegter Garten mit sauberen Kanten und zarten Blümchen – doch keine Spur einer wachen, lebhaften Physiognomie – kein weites Land – keine frische Luft – keine grünenden Hügel – kein munterer Bach‹«, sagte sie mit scharfer Zunge. »Wie ich sehe, haben Sie die Korrespondenz gelesen«, bemerkte Brian. »Und Sie scheinen anderer Meinung zu sein.« »Natürlich«, sagte Jane. »Was für ein Unsinn! Bloß weil Austens Heldinnen nicht ziellos durchs Moor stürzen und missgestaltete Männer anschmachten und von verrückten Frauen gequält werden und in Feuern verbrennen und was für Torheiten sonst noch …« Ihre Stimme versagte. Sie nahm ihr Weinglas und trank einen 106
tiefen Schluck. Charlotte Brontë, dachte sie. Ausgerechnet. Zu ihrer Verärgerung bemerkte sie, dass Walter und Brian lachten. »Was?«, fragte sie. »Du hast dich gerade so aufgeregt«, sagte Walter. »Fast als ob Austen eine gute Freundin von dir wäre. Was sie irgendwie auch ist, schätze ich.« Jane rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. »Ich finde, Jane Eyre ist ein guter Roman«, sagte sie. »Auf seine Art. Ich persönlich vermisse aber etwas Wärme, und die Melodramatik erschlägt mich.« »Vielleicht ist es gut, dass Austen gestorben ist, bevor Miss Brontë ihr Urteil über sie fällen konnte«, überlegte Brian. »Eine Eiseskälte hätte wohl den Salon gefrieren lassen, wären sie je aufeinandergetroffen.« »Das hätte ich sehr gerne erlebt«, sagte Walter. Mit Blick auf Jane fügte er an: »Vielleicht könntest du auch was über diese Brontë-Expertin sagen. Wie war ihr Name doch gleich?« Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Violet Grey. Sie ist auch kein großer Austen-Fan.« »Ich habe Grey getroffen«, sagte Brian. »Und ich muss zugeben, das wäre interessant. Sehr interessant.« Jane weigerte sich, das Thema weiter anzuheizen. Stattdessen inspizierte sie mit großem Interesse die Erbsen auf ihrem Teller. »Ist da Minze an den Erbsen?«, fragte sie Walter. Er nickte. »Schmeckt es dir?« »Ja«, sagte sie. »Wie bist du nur darauf gekommen?« »Schreiben Sie?«, unterbrach Brian. Jane sah ihn an. »Ich?«, fragte sie unschuldig. Brian lächelte. »Sie scheinen eine solche Leidenschaft für Bücher zu empfinden«, antwortete er. »Da dachte ich mir, vielleicht sind Sie ja selbst eine Schriftstellerin.« 107
»Ich habe ein wenig geschrieben, als ich noch jünger war«, sagte Jane. »Nichts Ernsthaftes. Heute reicht es mir, Bücher zu verkaufen.« »Ich würde mir sehr gerne einmal ansehen, was Sie geschrieben haben«, sagte Brian. »Vielleicht kann ich Sie überreden, es mir zu zeigen.« »Spar dir die Mühe«, sagte Walter. »Ich habe es jahrelang versucht. Sie bleibt hart.« »Ich fürchte, es gibt nichts zu Lesen«, sagte Jane. »Ich habe alles vor langer Zeit weggeworfen.« Brian blickte finster. »Das ist eine große Enttäuschung für mich«, sagte er. Jane gab keine Antwort. Sie konzentrierte sich auf ihren Teller und darauf, ein paar Bissen zu essen. Walter lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema, aber Jane hörte nicht mehr zu. Alles, was sie wollte, war, das Essen zu beenden und nach Hause zu gehen. Ein paar Minuten später blickte sie auf, als sie Walter ihren Namen sagen hörte. »Möchtest du etwas Kaffee zum Kuchen?«, fragte er. Jane wollte schon ablehnen und gab sich der Hoffnung hin, sich früh entschuldigen zu können. Doch das würde so aussehen, als ob sie Brian den Sieg in dem kleinen Wortgefecht überlassen würde, das er mit ihr geführt hatte. Er hatte bereits mehrere Treffer gelandet, und sie war fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. »Das wäre schön«, sagte sie. »Kann ich dir ein bisschen helfen?« Sie stand auf, bevor Walter ihr Angebot ausschlagen konnte. Sie nahm ihren Teller und die Bratenplatte und trug beides in die Küche. Walter folgte ihr nach und machte sich daran, Kaffee zu kochen, während Jane das restliche Geschirr aus dem Esszimmer holte. 108
»Er hat keine Ahnung, nicht wahr?«, fragte Brian, als Jane die Schüssel mit Erbsen nahm. »Natürlich nicht«, sagte Jane. »Liebst du ihn?« Jane packte die Schüssel fester und funkelte Brian an. »Was geht das dich an?« Brian lachte sanft und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Du hast dich kein bisschen verändert«, sagte er. »Dieselbe alte Jane.« »Das musst gerade du sagen!«, erwiderte sie. »Ich weiß ja nicht, was –« »Der Kaffee ist da«, verkündete Walter und unterbrach die Unterhaltung. »Der Kuchen kommt sofort.« Jane schickte sich an, ihm in die Küche zu folgen, aber Brian packte sie am Arm. »Triff dich morgen mit mir«, sagte er. »Warum sollte ich das wohl tun?«, fragte sie und schnaubte. »Weil du es möchtest«, sagte Brian. »Das sehe ich doch.« Jane zögerte. »Morgen«, sagte Brian. »Du wählst den Ort.« Jane seufzte. »Im Buchladen«, sagte sie. »Um neun, nachdem wir geschlossen haben.« Brian grinste. »Ich freue mich darauf«, sagte er. Der Nachtisch zog sich mit quälender Langsamkeit dahin. Jane stocherte in ihrem Kuchen herum, und obwohl es Schokoladenkuchen war, brachte sie es nicht über sich, mehr als ein paar Bissen davon zu essen. Sie trug wenig zur Unterhaltung bei, die sich nun um amerikanische Politik drehte. Als Brian schließlich verkündete, dass es Zeit zu gehen für ihn wäre, seufzte sie vor Erleichterung. 109
»Gute Nacht«, sagte Brian zu Walter, nachdem er seinen Mantel geholt hatte. »Wir sehen uns morgen, vermute ich.« Dann nahm er Janes Hand. »Und wir werden uns hoffentlich auch wiedersehen.« Nachdem er gegangen war, erbot sich Jane, Walter beim Aufräumen zu helfen. Sie waren in der Küche, Walter spülte, und Jane trocknete das Geschirr ab, das er ihr reichte. »Ihr kennt euch von früher, nicht wahr?«, fragte er da. Jane trocknete den Teller in ihrer Hand ab. Sie war sich nicht sicher, wie sie Walters Frage am besten beantworten sollte. Sie entschloss sich, ehrlich zu sein. »Ja«, sagte sie. »Das stimmt.« »Warum hast du denn nichts gesagt?« Jane nahm die Schüssel, die er ihr hinhielt. »Ich weiß nicht genau«, sagte sie. »Zuerst war es ein Schock, ihn zu sehen. Weißt du, manche Dinge sind schwer zu erklären.« »Er hat auch nichts davon gesagt«, stellte Walter fest. Jane nickte. »Ich nehme an, er war genauso überrascht, mich zu sehen.« »Wart ihr beide ein Paar?«, fragte Walter unerwartet. »Nein«, sagte Jane sofort. »Wirklich, wir haben uns nur kurz gekannt.« Walter spülte den letzten Teller ab. »Ich verstehe«, sagte er. Jane merkte, dass er ihr nicht ganz glaubte. Und sie konnte ihm keinen Vorwurf machen. Sie hatte ihm nicht alles erzählt. Nicht einmal annähernd. Doch im Moment war dies alles, was sie zu sagen bereit war. »Ich sollte gehen«, sagte sie. »Danke für das bezaubernde Abendessen.« »Danke fürs Kommen«, sagte Walter. Er zögerte kurz, dann beugte er sich vor und küsste sie. 110
Zu ihrer eigenen Überraschung erwiderte sie den Kuss. Wann habe ich denn das entschieden?, fragte sie sich. Offensichtlich hatte sie es aber getan. Walter löste die Umarmung. »Ich hole dir deinen Mantel«, sagte er. An der Tür gab er ihr einen weiteren Kuss. Dann war sie draußen und lief durch die klare, kalte Nacht. Als sie ihre Wohnung erreichte, nahm sie ihren Schlüssel aus der Tasche und schob ihn ins Schloss. Doch als sie nach dem Türknauf fasste, schwang die Tür nach innen auf. Dabei erinnerte sie sich doch daran, abgeschlossen zu haben, als sie ging. Sie ging nach drinnen und schaute sich um. Alles schien an seinem Platz zu sein. Falls man sie ausgeraubt hatte, mussten es sehr ordentliche Diebe gewesen sein. Dann spürte sie jemanden hinter sich. Im nächsten Moment wanderten warme Lippen ihren Nacken zu ihrem Ohr hinauf. »Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass ich mich bis morgen gedulden könnte, oder?«, flüsterte Brian.
111
12 »Du wusstest, was du wolltest, als du hierherkamst«, sagte Jonathan. »Wir wussten beide, was du wolltest. Jetzt aber hasst du mich dafür, es dir zu geben? Das scheint mir höchst undankbar zu sein.« – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 159 Jane stieß Brian von sich, aber er war zu stark für sie. Seine Arme hielten sie umschlossen und er hörte nicht auf, ihren Hals zu küssen. »Es war hart genug, dich nicht auf der Stelle zu nehmen, dort in seinem Haus«, sagte er. »Du bist genauso bezaubernd wie damals, als wir uns das erste Mal getroffen haben.« »Das liegt daran, dass ich tot bin«, sagte Jane. Sie stieß ihren Ellbogen in seinen Magen. Er ächzte überrascht und sein Griff lockerte sich. Sie nutzte die Gelegenheit, ihm zu entkommen, wirbelte herum und sah ihn an. »Verschwinde!«, befahl sie. Brian, der zusammengekrümmt nach Atem rang, blickte auf und lächelte verführerisch. »Das glaube ich dir nicht«, antwortete er. Jane wollte etwas erwidern, dann besann sie sich eines Besseren. Er war stur. Sie konnte ihn anschreien, so lange sie wollte, aber er würde nicht gehen. Einen kurzen Moment erwog sie, mit der Polizei zu drohen, aber das würde nichts nützen. »Wie ich dich verabscheue«, sagte sie eisig. »Das tust du nicht wirklich«, sagte Brian, während Jane ins Wohnzimmer ging und das Licht anmachte. »So weit ich mich entsinne, warst du mal sehr angetan von mir.« 112
»Nicht zuletzt, weil du mir vorgemacht hast, dass du nicht weniger angetan von mir wärst.« Brian lachte. »Aber ich war von dir sehr angetan, meine Liebe. Ich bin es immer noch. Wenn es anders wäre, wieso wäre ich wohl hier?« »Eigenartig«, sagte Jane. »Das ist genau die Frage, die ich mir stelle, seit du in meinem Buchladen aufgetaucht bist.« Brian ließ sich in einen der Sessel im Wohnzimmer sinken. »Es war eine lange Zeit seit unserer letzten Begegnung«, gab er zu. »Wahrscheinlich hast du mich für tot gehalten. Oder mehr tot. Toter eben.« Jane unterdrückte ein Lächeln und nahm auf dem Sofa Platz. »Der Gedanke kam mir tatsächlich«, sagte sie. »Wie du selbst einmal gesagt hast, ›Ich bin mir nicht sicher, ob ein langes Leben wünschenswert ist für einen Mann meines Gemüts und mit meinem Hang zur Niedergeschlagenheit.‹« »Das habe ich im Ernst gesagt?«, lachte Brian. Jane starrte ihn finster an. »Also wie hast du mich gefunden?« »Ah«, sagte Brian und hob seinen schlanken Finger. »Ich hätte gerne gesagt, dass es schwierig war, aber du musst selbst zugeben, dass du dir nicht allzu viel Mühe gegeben hast, dich zu verstecken. Elizabeth Jane Fairfax, fürwahr.« Jane zupfte am Bezug der Couch. »Na ja, nach ein oder zwei Jahrhunderten war ich es einfach leid. Davon abgesehen hast du dich, was das anbelangt, auch nicht sehr weit von deinen Wurzeln entfernt, Lord Byron.« Sie sprach seinen Namen mit aller Boshaftigkeit aus, die sie aufbringen konnte. Byron lachte. »Also sind wir beide es leid, andere Personen zu sein.« 113
Jane konnte dem kaum widersprechen. Sie zögerte, dann fragte sie: »Warum gerade jetzt?« Byron lehnte sich in seinem Sessel zurück und seufzte tief. »Ach, ich weiß nicht«, sagte er. »Ich schätze, ich bin in letzter Zeit ein wenig nostalgisch geworden. Ich vermisse die gute alte Zeit und so weiter.« »Ich kann mich nicht an viel Gutes erinnern«, sagte Jane. »Zumindest nicht, was dich angeht.« »Komm schon«, sagte Byron. »Unsere gemeinsame Zeit war nicht nur schlecht, oder?« »Nein«, gab Jane zu. »Unser Essen am ersten Abend war wirklich sehr nett, soweit ich mich entsinne. Ich rede von allem, was danach kam.« »Jetzt komm schon, Jane«, sagte Byron. »Schau, was ich alles für dich getan habe. Trotz deines Alters warst du praktisch noch ein Kind. Du warst ja geradezu eingekerkert in diesem Pfarrhaus. Ich hab dich vor all dem gerettet.« »Mich gerettet?«, rief Jane aus. »Es ging mir blendend in meiner kleinen Welt.« Byron wischte ihren Protest weg. »Wenn’s dir so gut ging, warum bist du dann zu mir gekommen?« Jane wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Er hatte die Schwachstelle in ihrer Beweisführung gefunden. Byron spürte das, und er lächelte sie mit strahlenden Augen an. »Siehst du?«, fragte er. »Du bist gekommen, weil du Erfahrung suchtest. Du warst fest entschlossen, mir deine Jungfräulichkeit zu schenken.« »Ich kam, weil du mich eingeladen hast!«, widersprach Jane. »Ja, ja«, stimmte Byron zu. »Aber du hast mir zuerst geschrieben. Ich habe nur das getan, was du offensichtlich wolltest. Du hättest nicht zu kommen brauchen. Tat114
sächlich glaube ich, dass du für diese Reise einiges auf dich genommen hast.« Jane stand auf. »Du bist unmöglich«, sagte sie. Sie wandte sich ab, damit er nicht die Frustration in ihrem Gesicht sehen konnte. Im nächsten Augenblick stand er wieder neben ihr. »Es tut mir leid«, sagte er sanft. »Das ist nicht wahr«, sagte Jane. »Das tat es nie.« Byron legte ihr die Hände auf die Schultern. Sie gestattete es. »Jetzt tut es mir aber leid«, sagte er. »Ich habe mich geändert mit der Zeit. Ich weiß jetzt, dass es falsch war, was ich dir angetan habe.« »Diese Einsicht kommt ein wenig spät«, sagte Jane. Byron küsste ihr Haar. »Ich wollte dir nie wehtun«, sagte er. »Ich war gedankenlos.« »Gedankenlos«, wiederholte Jane und schüttelte den Kopf. »So nennst du das also?« »Wie sollte ich es sonst nennen?« Jane wandte ihm das Gesicht zu. Schaute in seine Augen. »Böse« sagte sie. »Ich würde es böse nennen.« Es überraschte sie, zu sehen, dass Byron aufrichtig verletzt war. Er trat zurück, und Verwirrung zeigte sich auf seinem Gesicht. Sie hätte beinahe die Hand nach ihm ausgestreckt, doch sie zwang sich, es nicht zu tun. »Hasst du mich wirklich so sehr?«, fragte Byron. Seine Stimme bebte, und seine Augen verrieten die Traurigkeit in seinem Herzen. Eine lange Stille breitete sich zwischen ihnen aus, während der Jane mit ihren Gefühlen rang. Lass ihn nicht an dich ran, warnte sie sich selbst. Nicht mal ein bisschen. Sie wusste, sie sollte auf sich hören. Sie sollte die Sache ein für alle Mal beenden. Doch einen anderen Teil von ihr schmerzte es, Byron so verzweifelt 115
zu sehen. Er sagt, er habe sich geändert, wandte sie ein. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich hasse dich nicht. Nicht mehr. Dank dir habe ich wunderbare Dinge gesehen und getan. Habe ich dich in der Vergangenheit manchmal gehasst? Es wäre gelogen, würde ich es abstreiten. Doch was hätte ich heute davon?« Byron fiel vor ihr auf die Knie und ergriff ihre Hände, er legte seine Wange an ihre. »Ich wusste, du könntest mich nicht hassen«, sagte er. »Jane, du weißt gar nicht, wie oft ich mich nach dir gesehnt habe. Aber ich konnte dir nicht vor die Augen treten, weil ich wusste, was du von mir halten musstest. Und davon, was ich dir angetan habe.« Jane schloss die Augen. Zu viele Erinnerungen brachen über sie herein. Dinge, die sie tief in sich vergraben hatte, traten wieder an die Oberfläche. Erinnerungen. Bilder. Gefühle. Und nichts davon war willkommen. »Steh auf«, sagte sie und zog Byron auf die Beine. Sie hielt weiter seine Hand, während sie sich ansahen. »Ich hasse dich nicht«, sagte sie. »Aber ich liebe dich auch nicht.« Byron hob eine ihrer Hände an seinen Mund und küsste sie. »Nein«, sagte er. »Im Moment nicht. Vielleicht aber wirst du es einmal wieder tun.« Bevor Jane ihm widersprechen konnte, küsste er sie. Seine Lippen, voll und warm, drückten sich fest auf die ihren. Jane kämpfte nur einen Moment, bevor sie sich ihm ergab. Sie küsste ihn und hasste sich dafür, doch sie war unfähig, ihm zu widerstehen. Seine Arme schlossen sich um sie und zogen sie heran, so dass ihre Körper eng aneinandergepresst waren. Beinahe gleichzeitig wurde Jane von einem Kitzel überwältigt, der über ihre Haut 116
wanderte und sie erschaudern ließ. Sie hatte vergessen, wie es war, einen ihrer eigenen Art zu küssen. Das Gefühl wurde stärker, je länger sie sich küssten. Jane fühlte ihre Gedanken mit denen Byrons verschmelzen. Sie wusste, dass sie bald die letzte Kontrolle über sich verlieren würde, wenn sich das Band zwischen ihnen weiter verstärkte. Ihr blieben nur noch Augenblicke. Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen und entzog sich ihm. Die Trennung war schmerzhaft, und sie rang nach Atem. Es war, als ob man sie aus einem Traum gerissen und in die Wirklichkeit geworfen hätte. Ihr war auf einmal furchtbar kalt, und in einem, wie sie wusste, vergeblichen Versuch, sich zu wärmen, schlang sie ihre Arme um sich. »Ich kann nicht«, flüsterte sie, als Byron nach ihr griff. »Natürlich kannst du«, sagte er. Seine Stimme war verführerisch, und einen Moment fühlte sie sich wieder in jenen träumerischen Zustand abgleiten. »Nein«, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. »Ich bitte dich zu gehen.« Sie war überrascht, als Byron sich umwandte und zur Tür ging. Er öffnete sie, dann warf er ihr noch einen Blick zu. »Jene, die mich einst erhört«, sagte er sanft, »ein weit’res Mal mich hören wird. Ihr Herz ist kalt, doch nicht gefror’n – und die Schlacht noch nicht verlor’n.« Dann war er verschwunden, und Jane war alleine in ihrem Wohnzimmer. »Verdammt sollst du sein«, sagte sie in Richtung der Tür. Sie löschte das Licht und ging nach oben. In ihrem Schlafzimmer lag Tom zusammengerollt auf dem Bett. Er öffnete ein Auge und warf ihr einen kurzen Blick zu, dann schlief er weiter. Jane setzte sich neben ihn und begann, ihn zu streicheln, und er schnurrte sanft. 117
Sie fühlte noch immer die Wirkung von Byrons Kuss. Jane wusste, sie würde noch eine ganze Weile andauern, wahrscheinlich, bis sie das nächste Mal trank. Es war ihr lästig, dass sie früher als üblich würde trinken müssen. Doch sie hatte noch gut einen Tag Zeit, bevor das Verlangen zu groß würde. Wäre sie noch länger in seinen Armen geblieben, wäre es noch schwerer geworden, zu widerstehen. Im Moment wirbelten ihre Gedanken und Gefühle bunt durcheinander. Ein paar dieser Gedanken gehörten Byron. Sie sah Gesichter, die sie noch nie gesehen hatte, roch fremdartige Gerüche, fühlte Sehnsucht und Angst und Lust, die sie so nie gekannt hatte. Es war, als stünde sie unter Drogen. Sie zog sich aus, schlüpfte unter die Bettdecke und versuchte, zu schlafen. Doch ihr Körper brannte. Es war ihr unerträglich heiß. Sie befreite sich von Decke und Laken und ließ ihre überhitzte Haut abkühlen. Schweiß perlte von ihrer Stirn und durchnässte ihr Nachthemd. Mit zitternden Fingern riss sie es sich vom Leib und warf es zu Boden. Die Luft um sie schien schwül, und ihr Atem ging schwer. Unsichtbare Hände liebkosten sie, strichen über ihre Arme und an ihren Seiten entlang, legten sich auf ihre entblößten Brüste. Lippen kosten ihren Hals, ihre Fingerspitzen, ihre Brustwarzen. Wem gehörten sie? Da waren zwei Münder, drei, ein ganzes Dutzend. Sie suchte in der Dunkelheit nach Gesichtern, sah aber keine. Das sind seine Erinnerungen, dachte sie. Sie versuchte, sie zu verbannen, und wieder Kontrolle über ihren Verstand zu erlangen, doch es war, als würde sie gegen die Nachwirkungen von zu viel Wein ankämpfen. Sie wurde nur noch verwirrter. Das Bett schien voller Körper, mit ineinandergeschlungenen Armen und Beinen. 118
Heißer Atem leckte an ihr, und sie versuchte, den Kopf abzuwenden. »Nein!«, schrie sie. Kälte senkte sich herab. Sie stand alleine am Ufer eines großen, dunklen Sees. Der Himmel über ihr war voller funkelnder Diamanten, und ein riesiger Vollmond spiegelte sich im Wasser zu ihren Füßen. Sie war nackt. Dann legten sich Arme um sie, und sie spürte das langsame Schlagen eines anderen Herzens gegen ihren Rücken. »Es wird Zeit für deine Wiedergeburt«, sprach Byrons Stimme in ihr Ohr. »Komm mit mir.« Er nahm ihre Hand und trat ins Wasser. Im Mondlicht war sein Körper wie aus Marmor. Seine Augen leuchteten wie die Sterne. Jane sah in diese Augen, während sie ihm gestattete, sie in den See hinauszuführen. Das Wasser stieg um sie herum. Dann hob Byron sie an, und sie schwamm auf dem Wasser, sah in die Augen der Nacht empor. Auch Byron schwamm. Sein Körper war unter Jane, und ihr Kopf ruhte auf seiner Brust. Er hielt sie in den Armen wie ein Kind und stieß sich mit den Beinen ins tiefere Wasser hinaus. Während er schwamm, summte er ein Wiegenlied. Jane hörte den Klang der Worte, aber sobald sie versuchte, sie zu fassen, entwischten sie ihr. Stunden oder Tage schienen zu vergehen, während sie schwammen. Dann hielten sie an und trieben auf der ruhigen Oberfläche des Sees. Byron nahm Janes Handgelenke und überkreuzte sie auf ihrer Brust. Seine Arme lagen über ihren. »Mir ist, als träume ich«, murmelte Jane. Byron ließ sie los. Seine Hände wanderten zu ihren Schultern. Er liebkoste sie sanft. »Die große Kunst des Lebens ist die Kraft, zu empfinden«, sagte er. »Zu spü119
ren, dass wir existieren, selbst im Schmerz.« Seine Hände packten sie fester. »Es tut mir leid«, flüsterte er, und Jane wurde unter Wasser gedrückt. Sie rang um Atem. Durch das Wasser konnte sie die Sterne sehen. Sie stoben auseinander wie ein Bienenschwarm, als sie um sich schlug. Ihre vom Wasser unterdrückten Schreie klangen in ihren Ohren nach. Doch Byrons Hände, eisernen Gewichten gleich, hielten sie unten. Wasser strömte in ihren Mund, füllte ihren Hals. Sie kämpfte um Atem, doch sie bekam keine Luft. Nebel senkte sich über ihre Augen, und über ihr erloschen die Sterne, einer nach dem anderen, bis alles schwarz war. Keuchend erwachte sie. Sie war in Byrons Schlafzimmer, und er wiegte sie in seinen Armen. Er streichelte ihr Haar und summte wieder das stumme Wiegenlied. Jane drehte sich zur Seite und spuckte auf den Boden, um die Flüssigkeit aus ihrem Mund zu bekommen. »Es ist gut«, sagte Byron. »Jetzt ist es gut.« Draußen tobte noch immer der Sturm. Die Sterne waren verschwunden und der Himmel war schwarz. Obgleich Jane noch unbekleidet war, war sie trocken, so als ob sie nie im See gewesen, nie unter dem Himmel getrieben, nie unter Wasser gedrückt worden wäre. »Was hast du getan?«, fragte sie. Sie spürte ihr Herz pochen, doch irgendetwas war anders. Auf irgendeine Weise war sie verändert. »Du bist wiedergeboren worden«, sagte Byron. »Ich nahm dein Leben, dann gab ich es dir wieder zurück.« Er zeigte ihr sein Handgelenk. Blut troff aus einer frischen Wunde. Jane realisierte voller Schrecken, dass die Flüssigkeit in ihrem Mund kein Wasser war. Sie fuhr mit ihrer Zunge über ihre Zähne, an denen sie den vollen Geschmack von Fleisch und Eisen schmeckte. 120
»Nein«, sagte sie und versuchte, sich von Byron zu lösen. »Lass mich gehen!« Byron zog sie zurück und hielt sie fest an seiner Brust. »Es ist zu spät, Jane«, sagte er. »Es ist vollbracht.« »Du hast mich ertränkt!«, schrie Jane und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. »Ein Traum«, sagte Byron. »Von deiner Wiedergeburt. Wir nehmen es alle unterschiedlich wahr. Du hast aber nie dieses Bett verlassen.« »Was hast du getan?«, schluchzte Jane. »Was hast du mir angetan?« Der Wecker riss sie aus dem Schlaf. Tom saß neben ihr und blickte erwartungsvoll auf sie nieder. Er gab ein kurzes Miau von sich. Jane richtete sich auf. Der Alptraum wich langsam von ihr. Doch sie erinnerte sich noch sehr gut daran. Sie hatte diesen Traum schon sehr lange nicht mehr geträumt. Jetzt befürchtete sie, dass er sie wieder regelmäßig heimsuchen würde. Byrons Kuss hatte ihm neue Nahrung gegeben. »Verdammt soll er sein«, sagte sie zu Tom. »Verdammt soll er sein, dass er zu mir zurückgekommen ist.«
121
13 Eine Schriftstellerin zu sein, dachte sie, musste das Wunderbarste auf der Welt sein, und sei es aus dem einzigen Grund, dass ihre Charaktere genau das würden tun müssen, was sie ihnen sagte. Wie anders waren da doch Menschen aus Fleisch und Blut, die dazu neigten, das Gegenteil von dem zu tun, was man erwartete, und einen verstört und ratlos zurückließen, ohne dass man je erfuhr, was sie sich dabei dachten. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 167 »Ich habe gute Neuigkeiten.« Es dauerte einen Moment, bis Jane Kellys Stimme erkannte. »Sollte ich mich hinsetzen?«, fragte sie. »Du würdest bloß wieder aufspringen. Wir haben einen Klappentext von Margot Aldridge.« Jane konnte einen kleinen Freudenschrei nicht unterdrücken. »Die Margot Aldridge, die Die Schönheit der Lügen geschrieben hat?«, fragte sie. »Gibt es denn eine andere?«, fragte Kelly. Jane lachte. »Ich hoffe doch nicht«, sagte sie. »Sie schreibt sonst nie Werbung für andere Autoren«, sagte Kelly. »Aber ich kenne ihre Lektorin und habe es darauf ankommen lassen. Jennifer hat das Manuskript an Margot weitergeleitet, und sie war total begeistert. Willst du den Text hören?« »Ich weiß nicht recht«, sagte Jane. »Will ich?« Kelly ignorierte ihre Frage und begann zu lesen. »Constance ist einer jener seltenen Romane, der das Leben seiner Figuren mit so viel Feingefühl erforscht, dass wir vergessen, dass sie nur auf dem Papier existie122
ren. Der Debütroman von Jane Fairfax ist eine wahrhaft magische Erfahrung.« Jane fehlten die Worte. »Bist du noch dran?«, fragte Kelly nach zwanzig Sekunden der Stille. »Lies es noch einmal vor«, sagte Jane schließlich. Kelly tat, wie ihm geheißen. »Und das ist noch nicht alles«, sagte er. »Ich glaube, wir kriegen auch noch Texte von Fisher McTavish und Anne Gardot.« Jane hielt das Telefon fest umklammert. »Zähle noch mehr meiner Lieblingsautoren auf, und ich kriege einen Herzinfarkt«, sagte sie. »Ich kann’s nicht glauben.« »Ich habe dir doch gesagt, dass es ein großartiges Buch ist«, sagte Kelly. »Jeder hier ist ganz aus dem Häuschen deswegen. Ich habe sie kein Buch mehr so schnell an den Start bringen sehen seit der Enthüllungsgeschichte dieser Frau, die eine Affäre mit dem Präsidenten hatte. Es werden schon Vorabexemplare an Rezensenten verschickt, und der Vertrieb setzt alle Hebel in Bewegung, um die großen Ketten und Amazon so bald wie möglich für eine große Werbeoffensive zu gewinnen.« »Jetzt setze ich mich doch besser hin«, sagte Jane. »Ich kann das einfach nicht glauben. Ich war gerade mal vor zwei Wochen in New York.« »Und das ist erst der Anfang«, sagte Kelly. »Du wirst nachher noch einen Anruf von Nick Trilling bekommen. Er ist unser Mann für die Werbung. Wir brauchen eine Autorenbiographie für die Presse.« Mit einem Schlag schwand Janes Begeisterung. Daran hatte sie nicht gedacht. Das Buch überhaupt zu veröffentlichen war das Einzige, was ihr Sorgen gemacht hatte. Nichts lag ihr ferner, als Werbung für sich selbst zu machen. 123
»Ich denke, ich kann etwas zusammenstellen«, sagte sie. »Ich bin aber nicht schrecklich interessant.« »Machst du Witze?«, fragte Kelly. »Die Besitzerin eines Buchladens, die mit vierzig ihr erstes Buch schreibt? Du bist der Traum jedes Presseagenten. Jede Frau in ganz Amerika wird sich mit dir identifizieren können, Jane.« Das bezweifle ich, dachte Jane. »Vielleicht«, antwortete sie. »Wie auch immer, ich werde mich gerne mit – wie war sein Name noch gleich? – unterhalten.« »Sein Name ist Nick«, wiederholte Kelly. »Nick Trilling. Jane, ich muss jetzt auf eine Sitzung. Ich wollte dir einfach mitteilen, was hier so vor sich geht.« »Vielen Dank«, sagte Jane. »Ich muss sagen, das kommt mir alles sehr unwirklich vor.« »Sieh’s als einen wahr gewordenen Traum«, sagte Kelly. »Ich melde mich bald wieder.« Jane legte auf. Ein wahr gewordener Traum, dachte sie. Das ist nicht immer etwas Gutes. Sie dachte an ihr Abendessen mit Walter und Byron und an das, was danach passiert war. In dieser Nacht hatte sie sich lebhaft an alles erinnert. Der heimliche Besuch seines Hauses an den Ufern des Genfer Sees. Der Verlust ihrer Unschuld. Der Schmerz, der darauf folgte. Alles war zu ihr zurückgekommen. Ihr Tod und ihre Wiedergeburt. Ihre Liebeserklärung an Byron, nachdem er ihr erklärt hatte, was sie nun war. Seine kalte Zurückweisung ihrer Gefühle und ihre beschämende Rückkehr nach England. Die schlimmste ihrer Erinnerungen war, wie sie Cassie verlassen musste. Es war nicht leicht gewesen, im Laufe eines Jahres ihre eigene Krankheit und den darauf folgenden Tod zu inszenieren, doch mit der Hilfe eines mit124
fühlenden Arztes war es ihr gelungen. Der Arzt war ihr von einem anderen Vampir empfohlen worden; scheinbar zufällig hatte sie einige andere ihrer Art kennengelernt, auch wenn sie heute Byron im Verdacht hatte, ihnen von ihr erzählt zu haben. Cassie zu verlassen war dagegen fast unerträglich gewesen. Monatelang hatte sie nichts getan als zu weinen und sich tatsächlich tot zu wünschen. Es war dieser Verlust, den sie Byron nicht verzeihen konnte. Denn sie wünschte sich nichts mehr, als Cassie jetzt von ihrem Buch erzählen zu können. Ihre früheren Bücher waren alle anonym veröffentlicht worden, und nur ein kleiner Freundeskreis hatte ihre Identität gekannt. Der Ruhm war erst nach ihrem Tod gekommen. Sie wusste, Cassie würde mit ihr mitfiebern und sich noch mehr als Jane selbst darüber freuen, dass sie nun endlich ein Buch mit ihrem Namen darauf in Händen würde halten können. Es war ihr die letzten Tage gelungen, Byron aus dem Weg zu gehen, und er hatte sie auch nicht angerufen. Sie nahm an, dass er mit seiner Arbeit beschäftigt war, und war froh darüber, Ruhe vor ihm zu haben, sei es auch nur vorübergehend. Um die Erinnerungen zu vertreiben, die von ihrer Begegnung zurückgeblieben waren und seither ihren Verstand benebelten, hatte sie sich gezwungen, zu trinken. Sie war eine Stunde in eine andere Stadt gefahren, hatte die Rolle einer schwächlichen Hausfrau gespielt, und einen pickelgesichtigen Taschenträger am örtlichen Supermarkt gebeten, ihr mit ihren Tüten voller Mais-Chips, Salsa und alkoholfreiem Bier zum Auto zu helfen. Sie hatte rasch getrunken und ihn auf dem Parkplatz neben einem Müllcontainer zurückgelassen, wo er sich ausschlafen konnte, den Kopf auf einen Karton Do125
nuts vom Vortag gebettet. Jetzt fühlte sie sich mehr oder weniger wieder wie sie selbst. »Hey. Was treibst du da?« Lucys Stimme schreckte Jane auf, und sie schwang auf ihrem Stuhl herum. »Tut mir leid«, sagte Lucy. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte dir nur offiziell mitteilen, dass wir keine Mark-Twain-Fingerpuppen mehr haben. Soll ich welche nachbestellen?« Jane verdrehte die Augen. »Bitte nicht«, sagte sie. »Haben wir nicht immer noch ein halbes Dutzend Tennysons, die wir loswerden müssen?« Lucy lehnte sich an den Tresen. »Ja«, antwortete sie. »Aber die Austens gehen uns aus. Unser Hübscher hat gestern eine gekauft.« »Wer?«, fragte Jane. »Der Neue«, sagte Lucy. »Brian George.« »Er war gestern hier?«, erkundigte sich Jane. Lucy nickte. »Als du bei der Bank warst. Ich glaube, er steht auf dich«, fügte sie hinzu. »Was?«, rief Jane, ein wenig zu laut. Hatte Lucy etwas von ihnen beiden bemerkt? Der Gedanke jagte ihr Angst ein. »Er sagte, die Puppe sehe genau wie du aus«, erklärte Lucy. Sie warf Jane einen schrägen Blick zu. »Wenn ich dich so anschaue, du siehst wirklich ein bisschen aus wie sie.« »Unfug«, sagte Jane. »Alle Engländerinnen mittleren Alters sehen gleich aus. Wie auch immer, keine Puppen mehr. Es war eine lustige Idee, aber ich finde, wir sollten uns mehr an Bücher halten.« »Ich schätze, das ist dann das Aus für die LittleWomen-Actionfiguren«, scherzte Lucy. »Schade. Ich hatte 126
mich schon auf die Beth-Puppe gefreut. Mit echter Scharlach-Funktion.« »Raus«, sagte Jane und wies auf die Tür. Lucy gackerte böse und huschte hinaus. Jane blieb lachend zurück. Lucy erinnerte sie ein wenig an Cassandra; sie war immer auf Spaß aus. Kein Wunder, dass die junge Frau Jane so ans Herz gewachsen war. Sie wollte gerade aufstehen, als das Telefon klingelte. Vielleicht Nick Trilling, dachte sie und hob ab. »Guten Morgen«, sagte Walter. Jane fühlte sich ihm gegenüber ein wenig schuldig, als sie sagte: »Gleichfalls guten Morgen.« Auch wenn genau gesehen nichts zwischen ihr und Byron passiert war, fühlte sie sich, als würde sie Walter schlecht behandeln. »Ich habe mich gefragt, ob du zum Mittagessen schon was vorhast«, sagte Walter. »Ich habe dich schon ein paar Tage nicht mehr gesehen.« Jane zögerte. Sie wollte im Moment wirklich weder Walter noch Byron sehen. Es war ihr aber klar, dass sie es nicht mehr lange hinausschieben konnte. »Mittagessen wäre schön«, sagte sie. »Warum kommst du nicht gegen eins vorbei. Wir können in die Suppenküche gehen.« »Wunderbar«, sagte Walter. »Wir haben ein Date.« Kaum hatte sie aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte. »Ein Uhr«, sagte sie in der Annahme, dass es Walter war; Walter musste fast immer zurückrufen, weil er sich nicht merken konnte, was sie vereinbart hatten. »In der Suppenküche.« »Woher wusstest du, dass ich dich zum Mittagessen ausführen wollte?« Byrons Stimme schnurrte geradezu in der Leitung. Jane fühlte, wie ihr Puls sich beschleunigte. »Ich dachte, du bist jemand anders«, stammelte sie. 127
»Ich könnte ja so tun«, schlug Byron vor. »Ich bin viele verschiedene Männer gewesen seit unserer gemeinsamen Zeit.« »Das glaube ich gerne«, sagte Jane. »Und ich kann mit keinem von euch zu Mittag essen. Ich habe einen Termin.« Byron seufzte, als sei er schwer enttäuscht. »Wie ich sehe, habe ich dich an einen anderen Mann verloren.« »Du hast mich nie besessen«, schnappte Jane. »Wir werden schon sehen«, sagte Byron. »Dann vielleicht Abendessen?« »Nein«, sagte Jane. »Ich werde dich einfach so lange fragen, bis du einverstanden bist«, sagte Byron. »Davon abgesehen meine ich, dass wir etwas sehr viel Besseres zu essen finden könnten als das, was du letzte Nacht zu dir nahmst.« Jane ging beinahe in die Luft. »Du bist mir gefolgt!« »Du warst nicht die Einzige da draußen auf der Jagd«, sagte Byron. »Aber ernsthaft, blond steht dir nicht. Und der Junge, den du dir da ausgesucht hast. Wie hieß er noch gleich? Paul? Ich wette, er schmeckte nach Aknesalbe und zu viel Zucker. Es überrascht mich, dass dein Magen das verträgt.« »Ich trinke Blut, um zu überleben«, zischte Jane aus Angst, das Lucy sie hören könnte, wenn sie noch lauter sprach. »Nicht aus Spaß.« »Das ist der Unterschied zwischen uns«, sagte Byron. »Ich muss sagen, das amerikanische Essen sagt mir sehr zu.« »Ich lege jetzt auf«, sagte Jane. »Bitte ruf mich hier nicht mehr an.« »Warte«, unterbrach sie Byron. »Du hast nicht gesagt, wann wir uns wiedersehen können.« 128
Jane schloss fest die Augen und biss die Zähne zusammen. Er hatte bereits gesagt, dass er nicht lockerlassen würde, bis sie einwilligte, ihn zu treffen, und sie wusste, er meinte es ernst. Sie würde einwilligen müssen, konnte aber auch nicht so einfach nachgeben. »Ich werde es dich beizeiten wissen lassen«, sagte sie. Sie konnte Byron leise lachen hören. »Also gut«, sagte er. »Denk aber daran, ich bin kein geduldiger Mann.« »Auf Wiedersehen«, sagte Jane höflich, und legte auf. Sie konnte nicht glauben, was für ein Durcheinander an diesem Morgen gewesen war. Erst das Hochgefühl, als Kelly seine fantastischen Neuigkeiten überbracht hatte, und jetzt fühlte sie sich, als wäre die Luft aus ihr herausgepresst worden. Byrons Ankunft hatte ihr Leben gründlich auf den Kopf gestellt. Mittendrin stand Walter. Der gute, süße Walter, der nur wollte, dass sie ihn liebte. Männer, dachte sie. Das Verhängnis der Frauen, seit Adam Eva die Schuld für diese Geschichte mit dem blöden Apfel gab. Sie fragte sich einen Moment, ob es wohl zu spät wäre, lesbisch zu werden. »Ich bin sicher, sie haben es genauso schwer«, sagte sie in den leeren Raum. »Liebe ist für alle gefährlich.« Den Rest des Tages blieb sie im Büro, arbeitete sich durch den liegengebliebenen Papierkram, studierte Verlagskataloge, um zu sehen, welche Bücher sie vielleicht bestellen wollte, und vermied jeden Kontakt zu anderen Leuten. Sie fühlte sich in zu viele verschiedene Richtungen gezogen, um ordentlich denken zu können, und ihre Gedanken irrten planlos von einer Sache zur nächsten, während sie versuchte, sich über ihr Buch, Walter, Byron und eigentlich über ihr ganzes Leben klarzuwerden. Sie hätte große Lust, einfach zu verschwinden, in eine andere Stadt zu entfliehen und von vorne zu beginnen. Das wäre 129
aber auch nur eine vorübergehende Lösung, dachte sie sich. Außerdem wäre es gemein. Punkt eins klopfte Walter an die Bürotür. »Bist du so weit?«, fragte er. »Ich muss nur eben meinen Mantel holen«, sagte Jane. Fünf Minuten später saßen sie an einem Tisch in der Suppenküche und studierten die Speisekarte. »Ich glaube, ich nehme die Muschelsuppe«, sagte Walter. »Und du?« Jane wählte aufs Geratewohl etwas aus. Es war ihr egal, was in ihrem Magen war. »Vielleicht die Hühnersuppe mit Wildreis.« Sie gaben ihre Bestellung auf. Eine verlegene Stille breitete sich zwischen ihnen aus, die Jane als unangenehm empfand. »Ich möchte mich für neulich Abend entschuldigen«, sagte Walter nach ein paar Minuten. »Wofür?«, fragte Jane. »Dafür, dass ich dich über Brian ausgefragt habe«, erklärte Walter. »Es ging mich absolut nichts an.« Jane rührte ein Päckchen Zucker in den Eistee, den sie sich bestellt hatte. »Es ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Es tut mir leid, dass ich dir nie etwas davon erzählt habe. Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr damit gequält.« »Vielleicht ein bisschen«, gab Walter zu und spielte mit seiner Gabel. »Schließlich ist er ein sehr begehrter Mann.« »Findest du?«, fragte Jane. Walter nickte. »Alle Frauen in der Stadt hat es erwischt«, sagte er. »Du solltest sehen, wie sie ihm hinterherlaufen.« Zu ihrer Überraschung versetzte dies Jane einen Stich. Sie ignorierte die aufkommende Eifersucht, indem sie ein 130
weiteres Päckchen Zucker in ihren Tee rührte und energisch mit dem Löffel klapperte. »Was du nicht sagst.« »Ich persönlich bin ja der Meinung, dass es am Akzent liegt«, sagte Walter. »Frauen scheinen eine Schwäche für Männer mit englischem Akzent zu haben.« »Eigentlich ist er schottisch«, sagte Jane automatisch. »Das ist aber praktisch dasselbe«, fügte sie hastig hinzu. »Er ist jedenfalls bei der Damenwelt ein echter Renner«, sagte Walter. In diesem Moment kamen ihre Suppen und ersparten Jane eine Antwort. »Es gibt noch etwas, für das ich mich entschuldigen möchte«, sagte Walter. Er wartete nicht darauf, dass Jane etwas sagte, sondern fuhr fort. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht von Evelyn erzählt habe.« Jane sah ihn an, den Löffel auf halbem Weg zum Mund. »Sherman erzählte mir, dass ihr euch auf der Silvesterparty über sie unterhalten habt«, sagte Walter. »Ich hätte dir vor langer Zeit von ihr erzählen sollen.« Jane legte ihren Löffel zurück. »Walter, du musst mir nicht –« »Doch, das muss ich«, unterbrach er sie. Jane konzentrierte sich auf ihre Suppe. Sie war innerlich noch nicht bereit, Geheimnisse mit Walter zu teilen. Doch sie ließ ihn ausreden, nicht nur, weil sie so selbst nichts sagen musste, sondern auch, weil sie wirklich wissen wollte, was er zu sagen hatte. »Ich habe mir lange die Schuld an ihrem Tod gegeben«, sagte er. »Ich weiß, dass es nicht meine Schuld war, aber ich konnte nicht anders. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum ich nicht mit ihr schwimmen gegangen bin, warum ich nicht bei ihr war. Warum ich sie 131
nicht retten konnte. Irgendwann wurde ich es müde, mir diese Fragen zu stellen. Und ich wollte nicht mehr darüber reden. Es ist nicht so, dass ich Evelyn vergessen hätte, es ist eher so, dass dieser Verlust in meiner Vorstellung jemand anderen traf. Nicht mich, sondern einen anderen Mann. Ergibt das irgendeinen Sinn?« Jane gab sich große Mühe, nicht zu weinen. Was Walter gerade gesagt hatte, erinnerte sie sehr stark an die Gefühle, die der Verlust ihrer eigenen Familie in ihr ausgelöst hatte. Sie griff über den Tisch und nahm Walters Hand. In diesem Moment kam es ihr so vor, als ob sie etwas teilten, das über einfache Freundschaft, und selbst über Liebe, hinausging. »Es ergibt einen Sinn«, sagte sie, und Tränen rannen ihre Wangen hinab. »Allen Sinn dieser Welt.«
132
14 Ihre Wangen brannten vor Zorn, als sie aus dem Raum stürmte. Was Jonathan vorgeschlagen hatte, war undenkbar. Sie konnte eine solche Übereinkunft niemals akzeptieren, noch nicht einmal um Charles zu beschützen. Sie verfluchte ihre Eitelkeit. Sie verfluchte sich ebenfalls dafür, Charles in ihr Herz gelassen zu haben. Indem sie das getan hatte, hatte sie vielleicht sie beide dem Untergang geweiht. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 181 Lucy gähnte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt«, sagte sie. »Ich fühle mich, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen.« »Das liegt an dem vielen Kaffee, den du trinkst«, neckte sie Jane. Lucy war schon bei ihrer dritten Tasse, und es war gerade mal kurz nach zehn. »Vielleicht«, meinte Lucy, und nippte an ihrer Tasse. »Gestern Abend habe ich aber gar keinen Kaffee getrunken.« Sie stellte die Tasse ab. »Dafür hatte ich sehr seltsame Träume.« »Von was?«, fragte Jane, während sie einen Ständer mit neu erschienenen Taschenbüchern arrangierte. Sie war ausgesprochen guter Dinge. Nicht nur, dass sie froh war über das Gespräch, das sie und Walter vor ein paar Tagen geführt hatten; Byron hatte sie kein einziges Mal seitdem belästigt. Auch wenn sie seine Gegenwart in Brakeston noch immer als beunruhigend empfand und sie sicher war, dass er ihr nur allzu bald neue Probleme bereiten würde, war sie für den Moment fest entschlossen, die momentane Ruhe in ihrem Leben zu genießen. 133
»Ich war in einem Haus«, sagte Lucy. »An einem See. Ich weiß nicht, wo es war und wie ich dort hingelangte. Es tobte ein heftiges Gewitter. Dann tauchte dieser Mann auf. Er trug eine Maske. Eine Art Vogelgesicht. Eine Krähe, glaube ich.« Ein kalter Schauer lief Jane über den Rücken, als Lucy fortfuhr. »Wie auch immer, er nahm mich bei der Hand und führte mich in ein Schlafzimmer.« Sie sah Jane an und lächelte scheu. »Es ist etwas peinlich«, gab sie zu. »Es ist nämlich nicht so, dass ich ständig davon träume, wie irgendwelche Männer Liebe mit mir machen oder so.« Jane räusperte sich. »Erzähl weiter«, sagte sie. »Nun ja«, erwiderte Lucy. »Während wir also im Bett lagen, hob ich die Hand, um ihm die Maske abzunehmen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich die Federn berührt habe, und ich erinnere mich auch, wie ich die Maske anhob. Ich konnte nur einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen, dann wachte ich auf.« Janes Herz schlug ihr bis zum Hals. »Weißt du noch, wie er aussah?«, fragte sie. Lucy schüttelte den Kopf. »Das ist das Seltsame daran«, sagte sie. »Manchmal glaube ich, ich weiß es noch ganz genau. Ich kann mir sein Gesicht sogar bildlich vorstellen. Dann verwandelt es sich aber sofort in ein anderes, und ich vergesse, wie das erste Gesicht ausgesehen hatte. Es ist, als ob ich ihn in einem Spiegel sehe, doch der Spiegel zeigt ständig andere Männer, die hinter mir vorbeigehen.« »Ich verstehe«, sagte Jane. Ein schrecklicher Verdacht beschlich sie, einer, den sie nicht einmal für einen Moment in Betracht ziehen wollte. Lucy kratzte sich am Hals. Jane bemerkte es und musste ihre aufkommende Panik niederkämpfen. 134
»Blöde Spinnenbisse«, sagte Lucy. »Die jucken wie verrückt. Hey, vielleicht ist das ja der Grund für die Träume. Spinnengift.« Sie lachte. »Wäre das nicht verrückt?« Jane ging zu ihr hinüber. Der Bücherständer war vergessen. »Lass mich mal sehen«, sagte sie, und versuchte, ein Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie strich Lucys langes Haar zurück und untersuchte ihren Hals. Wie sie befürchtet hatte, befanden sich zwei winzige rote Wundmale wenige Zentimeter unter Lucys linkem Ohr. Sie waren schnell abgeheilt. Kein Wunder, dass Lucy sie als Insektenbisse abtat. »Ich glaube, du hast Recht«, sagte Jane. Ihre Hand hatte zu zittern begonnen, und sie zog sie schnell zurück. »Kratz nicht immer daran herum, damit machst du es nur noch schlimmer.« Lucy antwortete mit einem Gähnen und legte sich eine Hand über den Mund. »Ich bin entsetzlich müde«, sagte sie. »Du solltest dir den Nachmittag freinehmen«, schlug Jane vor. »Vielleicht reagierst du allergisch auf diesen Spinnenbiss. Ich muss ein paar Besorgungen machen, aber in etwa einer Stunde bin ich wieder zurück. Den Rest des Tages komme ich dann schon zurecht.« Lucy rieb ihre Augen. »Vielleicht«, sagte sie. »Noch ein paar Tassen Kaffee, und es könnte mir schon wieder besser gehen.« Nein, wird es nicht, dachte Jane. So schnell ließen die Symptome eines Bisses nicht nach. Dasselbe galt für den Traum, den Byron offenbar in Lucys Kopf gepflanzt hatte. Er hatte es natürlich mit Absicht getan; er wusste, dass Lucy Jane wahrscheinlich davon erzählen würde. Er wusste auch, dass sie genau das tun würde, was sie nun im Begriff war, zu tun. 135
»Ich bin bald zurück«, versicherte sie Lucy. »Denk daran – nicht kratzen.« Jane verließ den Laden und stieg in ihr Auto. Während sie zu Byrons Haus fuhr, schwor sie sich, sie würde ihn keines seiner üblen Spiele mit ihr treiben lassen. »Keinen Unsinn mehr«, sagte sie laut. Sie parkte vor seinem Haus und ging zur Vordertür. Erst als sie klopfte, kam es ihr in den Sinn, dass Byron vielleicht gar nicht da war. Dann aber hörte sie ihn rufen: »Einen Moment, bitte.« Als er Jane vor sich stehen sah, lächelte er breit. »Was für eine unerwartete Freude«, sagte er. »Komm rein.« Jane trat ein. Sie wollte etwas sagen, hielt aber inne, als sie das Innere des Hauses sah. Es war sorgfältig restauriert worden. Sie konnte kaum fassen, wie schön es war. Man hatte die Vertäfelungen aus Walnussholz von jahrealten Farbschichten befreit und frisch lackiert, das Buntglasfenster über der Treppe repariert und die modernen Lampen und die anderen unpassenden Einrichtungsgegenstände durch klassische Gegenstücke ersetzt. Sogar die Tapete – ein hübsches William-Morris-Design, roséfarbene Mohnblumen auf schwarzem Hintergrund – sah aus, als hinge sie immer schon in diesem Haus. Walter hat ganze Arbeit geleistet, dachte sie. Sie war so überwältigt von dem Haus, dass sie beinahe vergessen hätte, weswegen sie hier war. Dann fiel es ihr wieder ein. Ohne auf Byron zu warten, schritt sie ins Wohnzimmer und stellte sich hinter einen ledernen Lehnsessel. Sie wollte etwas zwischen sich und Byron haben, wenn sie ihn konfrontierte. »Ich weiß, was du mit Lucy angestellt hast«, teilte sie ihm mit, als er ihr nachfolgte. »Wie kannst du es wagen!« Byron zögerte. »Mir war nicht bewusst, dass sie tabu für mich ist«, sagte er unschuldig. »Außerdem habe ich 136
sie ja nicht leer getrunken. Ich habe nur einen Schluck genommen oder zwei.« Er lächelte verschmitzt. Jane wurde rot, und ihr Mund zitterte. »Schluss mit deinen Spielchen!«, rief sie. »Lass sie in Frieden!« Byron neigte seinen Kopf. »Du hast sie sehr gerne, nicht wahr?«, fragte er. »Vielleicht ist sie so etwas wie eine Tochter für dich?« Er dachte kurz nach, dann deutete er auf Jane. »Nein«, sagte er. »Keine Tochter. Eine Schwester.« Jane verstand ihn nur zu gut. Sie legte die Hände auf die Rückenlehne des Sessels und umschloss sie so fest, dass ihre Nägel Kratzspuren im Leder zurückließen. »Lass. Deine. Finger. Von. Ihr.« Sie stieß jedes Wort scharf hervor, als ob es eine Waffe wäre. Byron legte die Stirn in Falten. »Ich verstehe nicht recht, weshalb ich das tun sollte«, antwortete er. »Schließlich ist sie nur ein Mädchen.« Er schritt schnell durch den Raum und kam Jane so nahe, dass sie einen Moment lang dachte, er würde sie küssen. »Ich bin nicht an Lucy interessiert«, sagte er. Sein Atem strich warm über ihr Gesicht. »Sondern an dir. Doch bis du dich mir hingibst, werde ich mich wohl mit dem begnügen müssen, was ich bekommen kann.« »Du wirst mich nie bekommen«, sagte Jane. Byron beugte sich noch näher zu ihr. »Dann werde ich mir Lucy nehmen«, sagte er. »Vielleicht mache ich sie sogar unsterblich. Glaubst du, ihr würde das gefallen?« »Nein«, sagte Jane, kaum fähig, die Worte hervorzubringen. »Das kannst du nicht tun.« Byron trat lachend einen Schritt zurück. »Natürlich kann ich«, sagte er. »Was sollte mich aufhalten?« Er schnippte mit den Fingern. »Vielleicht verlangt es mich 137
aber gar nicht nach weiblicher Gesellschaft«, sagte er. »Vielleicht ist es an der Zeit für einen Gentleman als Freund. Jemand, mit dem ich Literatur diskutieren kann.« Walter, dachte Jane. Er meint Walter. »Ja«, sagte Byron, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. »Das wäre doch nett. Andererseits gibt es keinen Grund, warum ich nicht beides haben könnte.« »Genug«, sagte Jane. »Was willst du?« Byron lächelte sie an. »Du weißt, was ich will, Jane. Ich will dich.« »Und wie soll das gehen?«, fragte Jane. Ihre Wut kehrte zurück, und gab ihrer Stimme einen spöttischen Klang. »Sollen wir heiraten und uns hier niederlassen? Angesehene Bürger dieser kleinen Stadt werden? Stellst du dir so unsere Zukunft vor?« Byrons Miene war wie versteinert, als er erwiderte: »Ich erwarte, dass du mit mir gehst«, sagte er. »Zurück nach England, wo wir hingehören.« »Ah«, sagte Jane. »Vielleicht könnten wir unsere Zelte am Ufer des Genfer Sees aufschlagen. Ich glaube, ein Filmstar verbringt jetzt die Sommermonate in deinem alten Haus. George Clooney, glaube ich, oder vielleicht die Pitt-Jolies. Ich bin aber zuversichtlich, dass sie es uns den Rest des Jahres vermieten würden.« Sie starrte Byron an und erwartete einen seiner berühmten Wutausbrüche. Sie hatte ihn provoziert, und vielleicht hatte sie es zu weit getrieben, aber ihr Zorn war lichterloh entbrannt, sodass sie sich nicht länger zurückhalten konnte. Sie war überrascht, als er lauthals lachte. »Du hast dich doch etwas verändert seit unserer letzten Begegnung«, sagte er. »Das gefällt mir.« Er wurde auf einmal nachdenklich. »Du weißt, dass 138
dieses Leben eines Tages enden muss«, sagte er. »Wie viel Zeit bleibt dir noch, fünf weitere Jahre? Vielleicht zehn? Und was dann? Wirst du deinem Walter erzählen, was du bist? Wirst du ihn zu einem von uns machen?« »Das würde ich niemals tun«, schnappte Jane. »Ihn zu einem von uns machen? Oder ihm die Wahrheit sagen?« Jane wandte den Blick ab. »Das dachte ich mir«, sagte Byron. »Wie du siehst, hast du dich bereits entschieden. Womit nur noch mein Angebot übrigbleibt.« Jane schüttelte den Kopf, während er sprach. Dann wappnete sie sich und hob ihr Kinn. »Ich liebe dich nicht«, sagte sie mit fester Stimme. Ein weiteres Mal lachte Byron sie aus. »Wer hat etwas von Liebe gesagt?«, entgegnete er. »Wir sind beide zu alt, um an dieses Märchen von ›glücklich-bis-an-ihr-Ende‹ zu glauben, Jane.« »Du vielleicht«, sagte Jane. Byron lächelte. »Der Männer Liebe ist der Männer Leben weit entfernt. Den Frauen ist sie Ein und Alles.« »Hör auf, dich selbst zu zitieren«, sagte Jane. »Das ist eitel, selbst für deine Verhältnisse.« »Dennoch weißt du, dass ich Recht habe«, entgegnete Byron. Jane rümpfte die Nase. »Dazu müsste ich erst noch so zynisch wie du werden.« »Lass dir Zeit«, riet ihr Byron. »Wie auch immer, mein Angebot steht. Komm mit mir oder opfere Lucy und Walter. Ist das ein Preis, den du zu zahlen bereit bist?« Jane war versucht, sich umzudrehen und davonzulaufen. Das wäre aber nutzlos. Byron würde sie finden. Und 139
sie wusste ebenso gut, dass er genau das tun würde, was er ihr angedroht hatte, wenn sie ihn zurückwies. »Walter könnte nie begreifen, was du bist«, unterbrach Byron ihre Gedanken. »Und du müsstest zusehen, wie er alt wird und stirbt. Mit mir bliebe dir dieses Leid erspart.« »Ja«, stimmte Jane zu. »Es wäre einfacher.« »Dann hast du dich entschieden«, sagte Byron. »Gut.« »Das habe ich«, antwortete Jane. Ihre Stimme gewann an Kraft, als sie sprach. Sie holte tief Atem. »Ich habe mich entschieden, ihnen die Wahrheit zu sagen.«
140
15 Sie schloss ihre Augen. Seine Arme umringen sie und zogen sie an sich. Seine Finger streichelten ihr Haar. Sie widersetzte sich nur einen Moment. Dann öffnete sie die Augen und sah in sein Gesicht. Als er sie küsste, stellte sie sich vor, es wäre Charles’ Mund, der den ihren bedeckte. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 203 »Glaubst du an Geister?« Walter, der gerade Karotten würfelte, hielt einen Moment lang inne. »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Glaubst du denn an Geister?« Er fuhr mit seiner Arbeit fort. Das Geräusch des Messers auf dem Holz – rick-tick-tick – war irritierend. Janes Nerven lagen bereits blank, und der Klang tat ihr in den Ohren weh, so als ob jemand unablässig an eine Tür klopfte. Wer mag es sein (rief ich aus), der dieses unbescholtene Gemüse hackt?, dachte sie unwillkürlich. Sie wünschte, er würde damit aufhören. »Früher habe ich welche gesehen«, sagte sie, lauter als sonst, damit er sie über den Lärm hinweg verstand. »Als ich ein Kind war.« Walter beendete die Arbeit mit den Karotten, schüttete sie in eine Pfanne, und nahm sich eine Zwiebel. »Wirklich?«, fragte er. Er klang nicht ungläubig, oder so, als mache er sich über sie lustig, und Jane fragte sich, ob er sie überhaupt gehört hatte. »Meine Großmutter glaubte, dass sie Geister sehen könne.« Jane machte den Salat zum Abendessen. Sie hätte den Salat in kleine Stücke reißen sollen. Sie hatte aber so 141
gründliche Arbeit geleistet, dass nun vor ihr ein Haufen lag, der wie nasses, grünes Konfetti aussah. Man konnte nichts damit anfangen, und sie warf den Haufen schnell in den Mülleimer, bevor Walter es bemerken konnte. Die Unterhaltung lief nicht so gut, wie sie es sich erhofft hatte, vor allem weil sie keine Ahnung hatte, wo sie beginnen sollte. »Ich habe welche gesehen«, sagte sie. »Mehrere Male. Einmal war es ein Mann, der auf den Stufen einer Kirche stand, und ein anderes Mal ein kleines Mädchen, das in unserem Garten auftauchte. Sie sagte, sie suche nach ihrem Kater. Sie sagte, sein Name sei Mogger.« »Sie hat mit dir gesprochen?«, fragte Walter und schnitt die Zwiebel entzwei. Obwohl sie einen guten Meter entfernt war, begannen Janes Augen sofort zu tränen. Sie nickte. »Ist das nicht eigenartig?« Walter zuckte die Achseln. »Wer will das schon wissen?«, entgegnete er. »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.« »Hamlet war zwar verrückt«, antwortete Jane, »doch ich weiß seine Einstellung zu schätzen.« »Warum fragst du nach Geistern?«, fragte Walter, »hast du welche gesehen in letzter Zeit?« Jane schüttelte den Kopf und riss an einem frischen, grünen Salatblatt herum. Wenn es doch nur das wäre, dachte sie. Zu Walter sagte sie: »Nein. Es ist nur, dass Lucy heute etwas in dieser Art erzählt hat, und mir fiel auf, dass ich nicht weiß, was du von solchen … Dingen hältst«, schloss sie ungeschickt. Walter, der mit der Zwiebel fertig war, wusch seine Hände und trocknete sie mit einem Geschirrtuch ab. »Dinge«, wiederholte er. 142
»Ja«, sagte Jane. »Dinge.« »Wie Geister«, sagte Walter. »Geister«, stimmte Jane zu. »Und, ich weiß nicht, Gott, zum Beispiel. Himmel. Hölle. Was nach dem Tod kommt.« Walter hob eine Augenbraue. »Das sind gewichtige Fragen«, sagte er. »Ich glaube, ich werde einen Drink brauchen, wenn wir sie angehen wollen. Möchtest du auch einen?« »Ja bitte«, sagte Jane. Walter nahm zwei Gläser aus dem Schrank und wählte eine Flasche aus dem halben Dutzend in seinem Weinregal. Er entkorkte sie und schenkte ihnen ein. Dann reichte er Jane ein Glas. »Das Essen braucht noch etwa dreißig Minuten«, sagte er mit Blick auf das Lammragout, das auf dem Herd köchelte. »Warum setzen wir uns nicht so lange.« Dankbar ließ Jane von dem katastrophalen Salat ab und folgte Walter ins Wohnzimmer. Er hatte ein Feuer im Kamin gemacht, so dass der Raum warm und behaglich war und leicht nach Kiefernrauch roch. Unter anderen Umständen hätte sie sich entspannt gefühlt, doch angesichts dessen, was sie vorhatte, konnte sie nichts von alledem genießen. »Möchtest du bei Geistern anfangen und dich langsam zu Gott hocharbeiten, oder sollen wir gleich mit Gott beginnen und uns von da an runterarbeiten?«, fragte Walter und ließ sich in die Kissen auf der Couch sinken. Jane wollte sich in einem der Sessel niederlassen, aber Walter deutete auf den Platz neben sich. »Setz dich hierher«, sagte er. Obwohl sie gehofft hatte, auf etwas Distanz gehen zu können, kam Jane Walters Aufforderung nach. Sie setzte 143
sich aber so weit von ihm entfernt wie möglich, ohne dass es wie eine Zurückweisung aussah. Er drehte sich auf die Seite, legte seinen Arm auf die Lehne der Couch und sah sie an. »Gott oder Geister?«, fragte er. »Gott«, sagte Jane. »Damit wir den größten Brocken gleich aus dem Weg geschafft haben.« Walter stellte sein Weinglas auf sein Knie. »Ich bin in der Episkopalkirche aufgewachsen«, fing er an. »Im Wesentlichen waren wir die Art von Christen, die nur Weihnachten und Ostern in die Kirche gehen, aber ich mochte die ganzen Zeremonien.« Er schmunzelte. »Im College habe ich irgendwann einmal mit dem Gedanken gespielt, ins Priesterseminar zu gehen, aber dann wurde mir klar, dass ich das nur tat, weil ich glaubte, mir die Hochschule nicht leisten zu können. Hätte ich kein Stipendium bekommen, könnte es gut sein, dass ich heute Predigten halten würde, statt Holzböden auszubessern und viktorianische Fassaden zu erneuern.« »Dann glaubst du also nicht an Gott?«, fragte Jane. Walter trank etwas Wein, bevor er antwortete. »Es ist nicht möglich, das mit Sicherheit zu sagen, richtig? Es ist ja nicht so, dass man es beweisen oder widerlegen könnte.« »Ähnlich wie mit Geistern«, sagte Jane vorsichtig. »Nur dass du sagst, dass du welche gesehen und mit ihnen gesprochen hast«, erinnerte sie Walter. »Manche Leute glauben, dass sie regelmäßig mit Gott sprechen und er ihnen auch antwortet. Nur weil du oder ich das nicht tun, heißt das nicht, dass sie lügen.« »Wohl wahr«, sagte Jane. »Dann glaubst du also, dass Dinge – Geschöpfe – existieren könnten, die die meisten Menschen für völlig unmöglich halten?« »Gib mir ein Beispiel«, sagte Walter. Jane überlegte kurz. »Einhörner«, platzte es aus ihr 144
heraus. »Engel. Werwölfe. Vampire.« Beim letzten Wort schlossen sich ihre Lippen, so dass es fast wie ein Flüstern herauskam. »Jetzt weiß ich, was los ist«, sagte Walter. »Lucy und du habt euch diese Posey-Frost-Geschichten vorgelesen, richtig? Ich weiß noch, wie du gesagt hast, dass du sie für Müll hältst, aber ich hatte gleich so eine Ahnung, dass du nicht umhinkommen würdest, sie zu lesen.« Es brauchte einen Moment, bis Jane begriff, dass er von einer sehr erfolgreichen Romanreihe sprach, deren Hauptfigur bei Tag eine gefeierte Designerin von Damenunterwäsche war und eine Monsterjägerin bei Nacht. Die Bücher waren schrecklich, aber sie verkauften sich so schnell, wie sie geliefert wurden. Jane hatte versucht, eines zu lesen, aber nach den ersten fünfzehn Seiten aufgegeben, als die sinnliche Heldin, Vivienne Minx, einen Dämon mit einem Korsett erledigte. »Erwischt«, sagte Jane, und machte ein Gesicht, von dem sie hoffte, dass es auf lustige Weise schuldbewusst aussah. Walter überlegte einen Moment. »Die Menschen lieben es sicherlich, so zu tun, als ob solche Dinge existierten«, sagte er. »Doch ob sie’s nun tun oder nicht, wer weiß das schon?« Jane brummte missbilligend. »Du bist unmöglich.« »Was willst du hören?«, fragte Walter und hob seine Hände. »Glaube ich, dass es möglich ist, dass es einen Gott gibt oder Geister oder … Werwölfe? Sicher. Möglich ist viel. Habe ich aber einen gesehen? Weiß ich, dass es sie gibt? Nein.« »In Ordnung«, sagte Jane. Sie merkte, dass das alles war, was sie ihm würde entlocken können. »Jetzt sei bitte nicht böse auf mich«, sagte Walter. 145
»Ich bin nicht böse auf dich«, sagte Jane in einem Ton, der ihre Worte Lügen strafte. »Ich denke lediglich, dass wir in der Lage sein sollten, über alles zu reden, wenn wir einander weiterhin treffen wollen.« »Wir reden doch«, sagte Walter. »Bist du dir sicher, dass du nicht noch etwas mehr sagen wolltest? Willst du wirklich bloß wissen, wie ich über Gott denke?« »Nein«, sagte Jane. »Ich meine, ja. Nicht über Gott. Es ist mir relativ egal, wie du über Gott denkst.« »Was ist es dann?«, fragte Walter. Jane sah auf und blickte ihn an. Es hieß jetzt oder nie. »Es gibt etwas, was du über mich wissen musst«, begann sie. »Etwas Wichtiges. Darüber, wer ich bin. Was ich bin.« »Was du bist?«, wiederholte Walter. »Ich kann dir nicht ganz folgen. Worüber sprechen wir hier?« Seine Augen wurden groß. »Du bist Scientologin!«, rief er aus. »Das ist es. Oder eine Wicca! Hey, ich habe kein Problem damit.« Jane hob ihre Hände. »Nein«, sagte sie, um ihn zu bremsen. »Ich bin nichts von alledem. Ich bin …« Walter sah sie fragend an. Jane sah in seine ehrlichen, liebenswerten Augen, und erkannte, dass er von ganzem Herzen daran glaubte, mit allem klarkommen zu können, was sie auch sagen würde. So viel bedeute ich ihm, dachte sie. »Ich werde veröffentlicht«, hörte sie sich selbst sagen. Walter blinzelte. »Veröffentlicht?«, fragte er. Jane nickte wie verrückt. »Veröffentlicht«, sagte sie, und fragte sich, warum sie das jetzt gesagt hatte. »Ein Roman.« »Du hast einen Roman geschrieben?«, fragte Walter. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?« 146
»Ich weiß es nicht«, sagte Jane. »Ich schätze, ich hatte Angst, wie eine Närrin dazustehen, falls nichts daraus würde.« »Ein Roman«, sagte Walter noch einmal. Er strahlte bis über beide Ohren. »Na dann Glückwunsch! Ich bin ja so stolz auf dich.« Er rückte auf der Couch näher zu ihr und umarmte Jane. »Wie heißt er?« Einen Moment lang konnte sich Jane nicht mehr daran erinnern. »Constance«, fiel ihr dann wieder ein. »Constance«, wiederholte Walter. »Wann kommt das Buch heraus?« »Im Mai, glaube ich«, antwortete Jane. Walter schlug ihr sachte aufs Knie und drückte es. »Ich kann es kaum glauben«, sagte er. »Da bringst du mich so weit, dass ich befürchte, uns stünde eine große Diskussion über unsere religiösen Ansichten bevor, und dass wir aufgrund dieser Ansichten nicht zusammenpassen. Einhörner. Werwölfe.« Er lachte. »Du hast mich gründlich aufs Glatteis geführt.« »Richtig«, sagte Jane. »Nun, jetzt ist die Katze ja aus dem Sack.« »Wie lange weißt du’s schon?«, fragte Walter. »Nicht lange«, sagte sie. »Ein paar Wochen vielleicht.« »Bist du deshalb nach New York gefahren?« »Mmm hmm«, brummte Jane. Walter schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich gerissen«, sagte er. »Wow. Ein Roman. Das ist fantastisch, Jane. Wirklich fantastisch. Ich kann’s kaum erwarten, ihn zu lesen.« Dann sah er sie ernst an. »Gibt es noch andere Geheimnisse, von denen ich wissen sollte?« »Ich glaube nicht«, sagte Jane. Sie griff zu ihrem 147
Wein und verschluckte sich daran, als sie trinken wollte. »Nein, ich denke, das war’s«, fügte sie hinzu, als sie wieder sprechen konnte. »Weiß es sonst noch jemand?«, fragte Walter. »Nur du«, sagte Jane. »Und ich möchte, dass das bis auf Weiteres so bleibt. Ich will nicht, dass die Leute eine große Sache daraus machen. Es ist bloß ein Buch.« »Es ist nicht bloß ein Buch«, sagte Walter. »Es ist dein Buch. Und das ist etwas Besonderes.« Er grinste. »Du bist eine veröffentlichte Schriftstellerin.« Und ein unsterbliches, bluttrinkendes Monstrum, dachte Jane, während sie sich zu etwas zwang, das, wie sie hoffte, einem Lächeln ähnelte. »Das bin ich!«, sagte sie fröhlich. Während des Essens quälte Walter sie mit Fragen. Sie fütterte ihn mit kleinen Wissenshäppchen, gerade genug, dass er zufrieden war, aber nicht so viel, dass er alles wusste. Jetzt, da sie ihre bevorstehende Veröffentlichung enthüllt hatte, stellte sie fest, dass es ihr eine willkommene Ablenkung von ihrem eigentlichen Problem war. Das bereitete ihr immer noch Kopfzerbrechen. Sie hatte Walter ihr wichtigstes Geheimnis verschwiegen – das, welches wahrscheinlich zu seinem Tod führen würde, wenn sie es noch länger geheim hielt. »Wir werden eine große Party geben, wenn es herauskommt«, sagte Walter »Oh, und du wirst eine Lesung machen müssen.« Am Ende des Abends war Jane völlig erschöpft davon, Walter über ihr Buch reden zu hören. Um halb neun bedankte sie sich für das Essen, küsste ihn zum Abschied, und verließ ihn mit einem enormen Gefühl der Erleichterung, in das sich aber bald immer mehr Schuldgefühle mischten. Was die Bedrohung durch Byron anging, so hatte sie nichts getan, um Walters Situation zu verbessern. 148
Ihr Haus lag still, als sie es betrat. Halb hatte sie erwartet, Byron wieder in ihrem Wohnzimmer anzutreffen. Fast wäre es ihr lieber gewesen. Wenigstens hätte sie dann gewusst, dass Walter und Lucy für den Moment in Sicherheit waren. »Für den Moment glaube ich nicht, dass er irgendetwas tun wird«, sagte sie laut, und ging nach oben in ihr Schlafzimmer. »Was, wenn doch?« Jane erschrak und stieß einen spitzen Schrei aus. Ausgestreckt auf ihrem Bett lag Byron, die Hände hinter dem Kopf, vollkommen nackt. Tom saß auf seinem Bauch und sah Jane desinteressiert an. »Was machst du hier?«, wollte Jane wissen. »Ich warte auf dich«, sagte Byron. »Ich nehme an, das Gespräch mit deinem Freund verlief gut. Er schien die Neuigkeiten überraschend gut aufzunehmen.« »Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde«, antwortete Jane. Dann kam ihr ein Gedanke. »Du hast uns beobachtet«, sagte sie. »Schuldig im Sinne der Anklage«, sagte Byron. »Ehrlich gesagt, hätte ich eine aufregendere Szene erwartet. Es war wirklich ziemlich enttäuschend.« Er hat uns gesehen, dachte Jane bei sich. Aber hat er uns auch gehört? Wenn ja, dann wusste er, dass sie Walter nicht ernsthaft die Wahrheit über sich erzählt hatte. Doch wenn es so war, warum machte er sich dann nicht über ihr Scheitern lustig? Wusste er, dass sie bluffte? »Walter ist überraschend aufgeschlossen«, sagte sie. Byron rollte sich auf die Seite. Tom sprang vom Bett, tappte aus dem Zimmer und ließ sie allein. Jane versuchte, den Blick nicht tiefer als auf Byrons Gesicht zu richten, aber er machte es ihr nicht leicht. 149
»Und hast du es der jungen Lucy erzählt?«, fragte er. »Noch nicht«, sagte Jane. Byron rieb seine Finger an seiner Brust. »Dann kann ich ihr ja noch einen Besuch abstatten«, sagte er. »Das wäre eine geradezu … köstliche … Möglichkeit.« »Wage es nicht!«, rief Jane. »Ich werde es ihr bald sagen.« »Ah, aber du hast es noch nicht«, sagte Byron. Er setzte sich auf und griff nach seinen Hosen, die auf dem Boden lagen. Jane ergriff seinen Arm. »Nein«, sagte sie. »Bitte.« Byron streichelte ihr mit der freien Hand über das Gesicht. »Süße Jane«, sagte er. »Meine wunderschöne, süße Jane. Für dich würde ich fast alles tun.« »Dann lass Lucy in Frieden«, flehte Jane. »Also schön«, sagte Byron. »Doch wenn ich mich von ihrem Bett fernhalten soll, werde ich einen Ersatz brauchen.« Jane, die ihn nur zu gut verstand, wich vor ihm zurück. Byrons Lippen teilten sich und gaben den Blick auf zwei scharfe Fangzähne frei. »Ich bin hungrig, Jane«, sagte er, seine Stimme tief und verführerisch. »Oh, so hungrig.« Jane stellte sich vor, wie Lucy in ihrem Bett schlief und Byron auf sie herabblickte. Er hatte bereits einmal von ihr getrunken. Ein weiterer Biss, und sie würde sich wahrscheinlich verwandeln. Es sei denn, er tötete sie. Und die Entscheidung darüber hing einzig von den Worten ab, die Jane als Nächstes sprechen würde. Sie schloss die Augen und stellte sich Lucy vor, wie sie lachte und lächelte. »In Ordnung«, sagte sie. »Bleib bei mir.«
150
16 Sie fragte sich, ob es so etwas wie Versöhnung wirklich gab. Würde Charles ihr vergeben, wenn er wüsste, wer sie wirklich war? – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 207 Am Morgen war Byron verschwunden. Das Einzige, was noch an ihn erinnerte, war ein Dröhnen wie von Kirchenglocken in Janes Kopf. Ihr ganzer Körper schmerzte, und sie konnte kaum das Licht aushalten. Sie hatte ganz vergessen, wie es war, wenn zwei Vampire sich vereinten. All ihre Sinne wurden geschärft; der Nachteil aber war, dass im gleichen Maß auch ihre Schwächen zunahmen. Jane war wie ausgehungert. Sie hasste es, am Morgen nach Nahrung suchen zu müssen, sie würde es aber wohl tun müssen, wollte sie durch den Tag kommen. Erst aber musste sie sich vergewissern, dass Byron seinen Teil der Vereinbarung eingehalten hatte. Sie griff nach dem Telefon und wählte Lucys Nummer. Während sie auf das Klingeln lauschte, kratzte sie gedankenverloren an den kleinen Bisswunden an ihrer Hüfte. »Hallo?« »Lucy«, sagte Jane. »Ich bin’s.« Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich keine Ausrede dafür zurechtgelegt hatte, weshalb sie Lucy um – sie sah auf die Uhr – acht Uhr zwanzig am Morgen anrief. »Hallo Jane«, sagte Lucy. »Was gibt’s?« »Na ja«, antworte Jane und versuchte, ihr benebeltes Gehirn auf Trab zu bringen. »Ich, äh, wollte nur fragen, 151
ob ich dir auf dem Weg zum Laden vielleicht einen Bagel mitbringen soll.« »Oh«, sagte Lucy. »Klar, warum nicht.« »Großartig!«, begeisterte sich Jane. »Was für eine Sorte?« »Wie wär’s mit Rosinen?«, überlegte Lucy. »Rosinen und Frischkäse.« »Wird gemacht«, sagte Jane viel zu enthusiastisch. »Dann sehen wir uns in einer Stunde. Oh, was machen übrigens die Spinnenbisse?« »Die sind weg«, sagte Lucy. »Es juckt auch nicht mehr.« »Und hast du gut geschlafen?« »Wie ein Baby«, sagte Lucy. »Sonst noch was, Mom?« »Sehr komisch«, sagte Jane. »Bis in einer Stunde dann.« Sie legte auf und fühlte sich wie ein Trottel. Was Lucy jetzt von ihr denken musste! »Und hast du gut geschlafen?«, äffte sie ihre eigenen Worte nach. »Ganz ernsthaft, manchmal bist du eine richtige Närrin, Jane Austen. Jane Fairfax«, korrigierte sie sich. Ihr Kopf dröhnte immer noch. Sie duschte sich eilig, dann fuhr sie zum Supermarkt und kaufte ein paar Bagels und Frischkäse. Beim Geruch des Essens wurde ihr flau im Magen, und sie wusste, dass sie es nicht mehr lange würde aushalten können. Sie brauchte Blut, und zwar schnell. Das Problem war, dass ihr nicht genug Zeit blieb, an einen ihrer üblichen Orte zu fahren. Sie würde hier jagen müssen. Selbst unter besten Bedingungen stellte das ein ernstes Problem dar. Am helllichten Tag, mit nur zwanzig Minuten Zeit, bevor sie im Laden sein musste, war es beinahe unmöglich. Sie hatte aber keine Wahl. 152
Ein paar Minuten fuhr sie herum, und hoffte wider besseres Wissen darauf, dass ihr das Frühstück in den Schoß fallen würde. Sie erwog und verwarf einen Jogger, einen Betrunkenen, der an einer Bushaltestelle schlief, und einen Gemüsehändler, der gerade einen Laden belieferte. Sie war drauf und dran, zu dem Betrunkenen zurückzufahren, als sie sich vor der Kirche Unserer Lieben Frau des Immerwährenden Friedens wiederfand. Ein Schild draußen versprach: GOTT HAT IMMER EIN OFFENES OHR. TÄGLICHE BEICHTE. Nein, sagte sie sich, während sie das Schild anstarrte. Das kannst du nicht machen. Das ist einfach falsch. Dessen ungeachtet stellte sie fest, dass sie den Wagen um die Ecke fuhr und auf dem Kundenparkplatz eines noch geschlossenen Friseurgeschäfts parkte. Sie griff nach der Tasche auf dem Rücksitz, die ihre Jagdkleidung enthielt, und entnahm ihr eine blonde, kurz geschnittene Perücke, die sie sich überzog und so gut es eben ging zurechtrückte. Sie trug bereits eine Sonnenbrille, um ihre immer empfindlicheren Augen zu schützen, und dazu band sie sich noch ein Kopftuch um, sodass ihr Gesicht fast vollständig verdeckt war. Sie stieg aus und ging schnell die Stufen zur Kirche empor. Drinnen ließ sie den Blick über den Altarraum schweifen. Er war leer. Der Beichtstuhl war zu ihrer Rechten. Die Vorhänge an den Kammern für die Beichtenden zu beiden Seiten waren zurückgezogen, doch der an der mittleren Kammer, der Kammer des Priesters, war geschlossen. Jane ging zur linken der beiden Kammern und zog den Vorhang hinter sich zu. Sie kniete auf der schmalen, gepolsterten Bank nieder und wartete, bis das kleine Fenster in der Wand, das sie vom Priester trennte, zurückge153
zogen wurde. Sie konnte nur die Umrisse seines Gesichts ausmachen, als er sagte, »Was möchtest du beichten, meine Tochter?« Jane riss sich zusammen und sprach mit einer Stimme, die nicht wie die ihre klang. »Vergib mir, Vater«, sagte sie, und die Worte klangen eher wie eine Beschwörung als eine Beichte, »denn ich habe gesündigt.« Sie setzte ihre betörenden Kräfte nur selten ein. Normalerweise waren die Männer, die sie sich aussuchte, bereits von anderen Dingen berauscht. Gelegentlich aber musste sie zu ihren geheimen Kräften greifen. Dies war eine solche Gelegenheit. Sie wusste, dass sich die Gedanken des Priesters verwirrten, während sie mit ihm sprach. »Ja?«, sagte der Priester. Er klang benommen. »Ich habe gelogen«, sagte Jane. »Vergeben Sie mir.« »Dir ist vergeben«, sagte der Priester, auch wenn er nicht danach klang, als ob er sich seiner Sache sehr sicher wäre. »Gehe hin und …« Seine Stimme verlor sich. Jane verließ den Beichtstuhl und schlüpfte lautlos in die Kammer des Priesters. Er saß auf einem gewöhnlichen Klappstuhl und schaute starr geradeaus, ein friedliches Lächeln auf seinem Gesicht. Jane beugte sich vor und entfernte den Kollar von seinem Hals. Dann trank sie, seinen Kopf sanft in ihren Händen. Sie fühlte sich fast augenblicklich besser. Innerhalb einer Minute hörte ihr Kopf auf zu schmerzen, und ihre Augen brannten nicht länger. Sie entnahm dem Priester nur noch ein wenig mehr Blut, bevor sie von ihm abließ. Sie nahm ein Taschentuch aus ihrem Mantel und hielt es an die zwei kleinen Einstichstellen an seinem Hals. Als sie sicher war, dass es nicht mehr blutete, legte sie ihm wieder seinen Kollar um. 154
»Vergib mir, Vater«, sagte sie, ehe sie sich umdrehte und aus der Kirche floh. Sie kam beim Buchladen an, als Lucy gerade die Vordertür aufschloss. Lucy wartete, bis Jane aus dem Wagen ausstieg. »Was hat es denn mit dem neuen Haarschnitt auf sich?«, fragte Lucy. Jane verstand nicht, was sie meinte, und sagte: »Ich habe mir mein Haar nicht schneiden lassen.« »Es sieht aber ganz danach aus«, erwiderte Lucy. Da fiel Jane die Perücke wieder ein. Sie hatte ganz vergessen, sie abzunehmen. »Ach das«, sagte sie. »Richtig. Ich habe es nur ausprobiert. Wie findest du es? Man sagt ja, Blonde hätten mehr Spaß am Leben.« Lucy betrachtete die Perücke und biss sich auf die Lippen. »Ganz ehrlich?«, fragte sie. »Du siehst aus wie eine Hausfrau beim Seitensprung.« »Ich glaube, du hast Recht«, sagte Jane, öffnete die Tür, und ging nach drinnen. »Es war keine gute Idee.« Sie stellte die Einkaufstaschen auf dem Tresen ab und zog sich die Perücke vom Kopf. Ihr echtes Haar war ein einziges Durcheinander, aber das konnte sie ja wieder in Ordnung bringen. Lucy öffnete die Tüte und nahm einen Bagel heraus. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie. »Klar«, sagte Jane. »Warum?« Lucy zuckte die Schultern. »Du scheinst mir ein wenig, wie soll ich sagen, angespannt zu sein. Du hast mich noch nie zu Hause angerufen. Zumindest nicht morgens. Und dann die Perücke. Das passt überhaupt nicht zu dir.« Jane war damit beschäftigt, ihren Mantel auszuziehen und ihr Haar zu richten. Sie war sich nicht sicher, wie sie auf Lucys Frage reagieren sollte. Sie konnte ihr ja 155
schlecht erzählen, dass sie die Nacht mit Lord Byron verbracht hatte, um Lucy davor zu bewahren, in die Reihen der Untoten aufgenommen zu werden, und dann einen Priester verführt hatte, um etwas von seinem Blut zu trinken. Irgendetwas musste sie aber sagen. Nach allem, was sie wusste, beobachtete Byron sie, so wie er vorige Nacht sie und Walter beobachtet hatte. »Du hast Recht«, sagte sie. »Es ist nicht alles in Ordnung.« Lucy kaute auf einem Stück Bagel herum und schluckte. »Also, was ist los?«, fragte sie. »Probleme mit Walter? Läuft der Laden nicht gut? Hab’ ich was falsch gemacht?« »Nein«, sagte Jane schnell. »Nein, du hast nichts falsch gemacht. Und mit Walter und dem Laden ist auch alles in Ordnung. Es ist etwas vollkommen anderes.« »Ist Tante Rosa auf Besuch?«, fragte Lucy. Ihre Stimme klang mitfühlend. »Ich habe keine Tante –«, begann Jane, ehe sie Lucys Lieblingseuphemismus erkannte, mit dem sie immer ihre Tage umschrieb. »Nein«, sagte sie. »Im Moment ist niemand zu Besuch.« »Nun, dann fällt mir nichts mehr ein«, seufzte Lucy. »Es sei denn, du würdest schwanger sein. Diese Möglichkeit hatte ich ganz vergessen.« »Ich bin ganz bestimmt nicht schwanger«, antwortete Jane. Lucy knüllte die Verpackung des Bagel zusammen. »Dann gebe ich auf«, sagte sie. Jane hob an, etwas zu sagen, dann zögerte sie, blickte Lucy in die Augen und sagte: »Brian George ist ein Vampir. Und wie es sich trifft, bin ich auch einer. Er droht damit, dir und Walter wehzutun, wenn ich nicht mit ihm 156
zusammen durchbrenne, und ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich tun soll. Oh, und er hat dich neulich nachts besucht und dich in den Hals gebissen. Es waren keine Spinnen.« Eine Ewigkeit schien zu vergehen, in der Lucy und sie dastanden und einander ansahen. Jane fühlte sich deutlich besser, jetzt, da sie die Wahrheit gesagt hatte. Natürlich würde Lucy sie für verrückt halten, aber dagegen konnte sie nichts tun. Es sei denn, du behauptest, du hättest nur einen Witz gemacht, rief sie sich in Erinnerung. Sie war tatsächlich drauf und dran, genau das zu tun, und sei es nur, um das Schweigen zu brechen, als Lucy sagte: »Das erklärt aber noch nicht die Perücke.« »Die Perücke«, sagte Jane. »Richtig. Also –« »Ist schon okay«, unterbrach sie Lucy. »Ich muss es nicht wissen. Wie auch immer, ich wusste schon von der ganzen Vampirsache.« Jane war sich nicht sicher, ob sie recht gehört hatte. »Was? Du wusstest davon? Aber woher?« »Brian hat es mir erzählt«, erwiderte Lucy. »Gestern. Also eigentlich letzte Nacht. Er hat mich zum Abendessen ausgeführt.« »Und er hat dir erzählt, dass er und ich Vampire sind?«, fragte Jane. Lucy nickte. »Er hat aber nicht erwähnt, dass er die Nacht davor in mein Zimmer gekommen ist. Das macht mich jetzt doch ziemlich sauer.« »Moment mal«, sagte Jane und hielt ihre Hände hoch. »Du glaubst ihm?« »Du hast es doch selbst gerade gesagt –«, begann Lucy. »Ich weiß, was ich gesagt habe«, sagte Jane. »Darum geht es aber nicht. Der Punkt ist, dass es dich nicht im Geringsten aufzuregen scheint.« 157
»So würde ich das nicht sagen«, meinte Lucy. »Da ist ja noch diese Sache mit Brians nächtlichem Einbruch bei mir.« »Könnten wir das einen Moment außer Acht lassen?«, fragte Jane. »Lass uns doch damit anfangen, dass du allen Ernstes glaubst, dass er und ich Vampire sind. Vampire«, wiederholte sie. »So wie untot. Blut trinken. Diese ganzen unschönen Dinge.« »Ich habe eine vage Vorstellung davon«, sagte Lucy. »Aber du erzählst mir gerade, dass du wirklich glaubst, dass sie – dass wir – existieren«, sagte Jane. »Wieso auch nicht?«, fragte Lucy. »Ein ganzer Haufen Leute glaubt daran, dass ein unsichtbarer Typ oben im Himmel die Welt erschaffen hat. Mein Onkel Jasper glaubt, dass er von Aliens entführt wurde, und man ihm einen Sender in den Kopf gepflanzt hat. Außerdem entdecken sie doch ständig neue Dinge, die wir noch nicht kannten. Letzte Woche hat irgendein Wissenschaftler am Amazonas einen Frosch entdeckt, der seine Beute mit Hilfe von Schallwellen tötet. Wenn du mich fragst, ist das erheblich seltsamer als jeder Vampir.« »Du gehst so schrecklich vernünftig damit um«, sagte Jane. »Hast du denn gar keine Angst davor, was die Existenz von Vampiren bedeutet?« »Vielleicht ein bisschen«, gestand Lucy. »Aber irgendwie ist es auch romantisch, weißt du? Wie bei Vivienne Minx.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als sie sich auch schon den Mund zuhielt. »Du liest Posey Frost!«, rief Jane. »Nur den ersten Band!«, sagte Lucy. »Ich schwöre es dir. Okay, vielleicht die ersten beiden. Oder die ersten drei. Das war’s dann aber auch schon. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen.« 158
Jane schüttelte den Kopf. »Wie konntest du nur?«, fragte sie. »Ich?«, fragte Lucy. »Wer ist diejenige, die zu erwähnen vergaß, dass sie ein Vampir ist?« »Du hast ja Recht«, sagte Jane. »Du hast völlig Recht. Bitte entschuldige.« »Außerdem sind Vampire ja nicht so schlimm«, fügte Lucy hinzu. »Ich meine, ein paar Sachen hat Frost wahrscheinlich falsch dargestellt, aber ich weiß es ja nicht besser.« Sie zögerte einen Moment, dann fragte sie: »Heißt das, es gibt auch Werwölfe?« »Wir werden noch genug Gelegenheit haben, uns darüber zu unterhalten«, sagte Jane. »Wichtig ist für den Moment nur, dass du dich von Brian George fernhalten musst.« Sie wusste nicht, ob Byron Lucy seine wahre Identität enthüllt hatte. Noch schlimmer, sie wusste nicht, ob er ihrer Angestellten ihre Identität enthüllt hatte. Sie glaubte es zwar nicht, denn Lucy würde sonst kaum damit hinter dem Berg halten können. »Ist schon in Ordnung«, sagte Lucy. »Er und ich sind uns einig. Ich musste nur einverstanden sein, dass er mich zum Vampir machen würde.« »Was?« Jane schrie die Worte geradezu heraus. »Worin hast du eingewilligt?« »Mich zu einem Vampir machen zu lassen«, wiederholte Lucy. »Er sagte, es sei keine große Sache.« »Ich werde ihn töten, ganz im Ernst«, sagte Jane. »Erst lügt er mich an, damit ich ihn über Nacht bei mir bleiben lasse, und jetzt erzählst du mir, dass er dich überredet hat, dich von ihm verwandeln zu lassen?« »Er war bei dir gestern Abend?«, fragte Lucy. Sie klang verletzt. »Er hat mir erzählt, er müsse an seinem Roman arbeiten.« 159
»Das überrascht mich nicht«, sagte Jane. »Lektion eins – trau keinen Vampiren. Zumindest keinen männlichen. Besonders nicht diesem.« Lucys Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Jane trat zu ihr und nahm sie fest in den Arm. »Ach, meine Liebe«, sagte sie. »Lass nicht zu, dass er dich verletzt. Er ist es nicht wert, glaub mir.« »Er hat aber so schöne Sachen gesagt«, sagte Lucy. »Er hat Gedichte zitiert.« Jane verdrehte die Augen. »Ja, darin ist er ziemlich gut«, gab sie zu. »Was werden wir nun tun?«, fragte Lucy und schniefte. »Ich weiß es noch nicht«, antworte Jane. »Aber auf jeden Fall wird er sich bald wünschen, nie gestorben zu sein.«
160
17 Wie sie Jonathan da mit der jungen Minerva JonesLipton reden sah, verspürte Constance nicht wenig Lust, zu dem Mädchen zu eilen und sie in Sicherheit zu bringen. Aufmerksam und mit einem Funkeln in seinen dunklen Augen verfolgte Jonathan, wie das Mädchen weiter drauflosplapperte. Er erinnerte an einen Falken, der eine nachlässige Feldmaus beobachtete, und auf den perfekten Moment wartete, herabzustoßen und sie in seinen Fängen davonzutragen. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 227 »Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Lucy. »Alt genug, diese Frage nicht zu beantworten«, sagte Jane. Sie schaffte etwas Platz in ihrem Schrank, und entdeckte, dass sie deutlich zu viele Mäntel und Schals besaß. »Okay«, sagte Lucy. »Aber heißt das nun alt genug, um auf einer Party mit den Beatles, oder um auf einer Party mit Mozart gewesen zu sein?« »Wir können das ein andermal erörtern«, sagte Jane. Sie hatte Lucy noch immer nicht gesagt, wer sie tatsächlich war, und war sich auch nicht sicher, ob sie es jemals tun würde. Es war schon schlimm genug, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte. Trotz Lucys überraschender Bereitschaft, ihre Geschichte zu glauben, bereute sie es. Was habe ich mir nur dabei gedacht?, fragte sie sich, während sie drei Regenschirme aus dem Schrank nahm. Sie gab Byron die Schuld daran. Wenn er sie nicht verführt hätte, hätte sie einen klaren Kopf behalten. Schlimmer noch, sie hatte sich von ihm belügen lassen. 161
Schließlich hatte er sich Lucy gegenüber bereits offenbart gehabt. Auf mehr als nur eine Art, wie ich annehme, dachte Jane. Was für ein Scheusal. Doch was geschehen war, war geschehen. Das Einzige, was sie jetzt noch machen konnte, war, zu versuchen, Byrons Pläne zu vereiteln. Und Jane war eine Idee gekommen, auf welche Art sie vielleicht genau das erreichen konnte. »Er wird jeden Moment kommen«, sagte sie. »Bist du bereit?« Lucy nickte. »Ich denke schon«, antwortete sie. Jane holte tief Atem. »Gut«, sagte sie. »Du bleibst hier drin, bis es an der Zeit ist, herauszukommen.« »Woher weiß ich, dass es so weit ist?« »Glaub mir«, sagte Jane. »Du wirst es merken.« Es klingelte an der Tür, und Jane legte den Finger an die Lippen. »Rein mit dir«, flüsterte sie, schob Lucy in den Schrank, und arrangierte die Mäntel so, dass sie das Mädchen vollständig verbargen. »Und vergiss diese hier nicht.« Sie drückte Lucy etwas in die Hand. Lucy nickte, und Jane schloss die Tür. Jane warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel, dann ging sie, um Byron zu begrüßen. Als sie die Tür öffnete, schenkte er ihr sein charmantestes Lächeln. »Guten Abend«, sagte er mit einer Stimme, die einem Bela-Lugosi-Film zu entstammen schien. »Hör auf damit«, sagte Jane. »Der Witz ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr komisch.« Byron trat ein. »Meiner Erfahrung nach ist er ziemlich beliebt bei den Damen«, sagte er. »Die Frauen, mit denen du verkehrst, als Damen zu bezeichnen, strapaziert den Begriff doch ein wenig sehr, findest du nicht?«, fragte Jane. 162
Byron lachte. »Du hast ja eine Laune heute Abend«, sagte er. »Was ist los?« »Was glaubst du denn?«, fragte Jane. »Ich habe den ganzen Tag schon Kopfschmerzen.« »Ach so«, antwortete Byron. »Natürlich. Das tut mir leid. Bist du wirklich so lange schon mit keinem deiner Artgenossen mehr zusammen gewesen?« »Du bist der Letzte gewesen«, sagte Jane. »Obwohl es dich nichts angeht.« »Tatsächlich?«, fragte Byron. »Bemerkenswert. Hattest du wirklich all die vielen Jahre keinen Umgang mit einem anderen?« »Nicht auf diese Weise«, sagte Jane. »Und auch anderweitig nicht. Die ersten fünfzig Jahre war das noch anders, aber ich fürchte, ich finde die meisten unserer Artgenossen ziemlich ermüdend.« »Und Menschen etwa nicht?« »Wir sind Menschen«, sagte Jane. »Oder waren es wenigstens.« »Das stimmt«, sagte Byron. »Aber wir sind es nicht mehr. Ich bin heute nicht / Was ich einmal war.« »Du hältst schon ziemlich viel von deinem eigenen Werk, nicht wahr?«, fragte Jane. »Ich denke, in diesem Fall würden die Kritiker mir Recht geben«, erwiderte er. »Soweit ich mich entsinne, war Childe Hamide auch eines deiner Lieblingsgedichte.« Jane nahm auf der Couch Platz. »Ja«, sagte sie. »Aber wie auch immer, wir sind heute sehr alte Menschen. Setz dich doch.« Byron setzte sich ans andere Ende der Couch. Argwöhnisch beobachtete er Jane. »Warum hast du mich hergebeten?« 163
Jane legte ihre Hände in den Schoß. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie vorsichtig. »Über dein … Angebot.« Byron hob eine Augenbraue. »Und?« »Und ich glaube, mir ist eine Lösung eingefallen«, sagte sie. Eine Minute lang sagte Byron nichts. Seine Augen waren auf Jane gerichtet. Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten und nicht zu blinzeln. »Ist dir das?«, fragte Byron schließlich. »Wie du weißt, habe ich Walter von mir erzählt.« Byron nickte. »Es hat ganz den Anschein«, sagte er. Jane zögerte. Viel von ihrem Plan hing davon ab, ob Byron die Lüge, die sie ihm gleich erzählen würde, glauben würde oder nicht. »Er hat eingewilligt, mich mit dir zu teilen«, sagte sie. »Tatsächlich?«, wiederholte Byron und klang aufrichtig erstaunt. »Und wieso sollte er damit einverstanden sein?« »Weil er mich liebt«, sagte Jane. »Er würde mich eher teilen, als mich ganz zu verlieren.« Byron rutschte unruhig hin und her. Er kauft es mir ab, dachte Jane. Ein Hoffnungsschimmer flammte in ihr auf. »Ich muss gestehen, ich bin ein wenig enttäuscht«, sagte Byron. »Ich hätte etwas mehr Einsatz von ihm erwartet. Dass er versuchen würde, mir einen Pflock durchs Herz zu rammen oder etwas in dieser Art. Dies aber ist … überraschend.« »Mich hat es auch erstaunt«, sagte Jane. »Aber es war seine Idee, nicht meine.« Byrons Nase zuckte. »Und wie genau würde dieses Arrangement aussehen?«, fragte er. »Ich schätze, es gäbe mehrere Möglichkeiten«, sagte 164
Jane. »Wir wechseln uns nächteweise ab, oder an den Wochenenden. Oder wir teilen uns ein Bett zu dritt.« Byron sah entsetzt drein. »Ein Bett zu dritt?«, fragte er. »Ja«, sagte Jane. »Walter scheint willig zu sein, und von dir weiß man ja schließlich, dass du schon den einen oder anderen Mann in dein Bett gelassen hast.« Byron sah weg. »Ich wusste, ich hätte diese Briefe verbrennen sollen«, sagte er. »Jetzt ist es zu spät«, sagte Jane zärtlich. »Sie erwähnen sie sogar in deinem Wikipedia-Eintrag. Davon abgesehen regt es aber auch niemanden mehr auf.« »Ich weiß nicht«, sagte Byron und er klang wie ein bockiges Kind. »Ich glaube nicht, dass ich das kann. Ich will dich für mich allein.« Dann lächelte er überraschend. »Du hast meinen Eintrag auf Wikipedia nachgesehen?«, fragte er. Jane ignorierte die Frage. »Ich fürchte, dann haben wir ein Problem«, sagte sie. »Ich werde Walter nicht verlassen.« »Ich bringe ihn um!«, erklärte Byron. »Dann wirst du mich nie haben«, sagte Jane standhaft. »Davon abgesehen könnte ich ihn immer noch zu einem von uns machen, wenn es dazu käme.« Byrons Augen schossen hin und her. Jane konnte sehen, wie verzweifelt er war. Er hasste es, zu verlieren. Sie betete, dass er die Karte spielen würde, die sie erwartete. »Das Mädchen!«, stieß er aus, als ob es ihm jetzt gerade einfiele. »Ich werde sie töten. Ihr Blut wird an deinen Händen kleben.« »Dann wirst du mich immer noch nicht haben«, sagte Jane. Byrons Gesicht war voller Wut. Er sprang auf die Füße, seine Hände zu Fäusten geballt. 165
»Dann werde ich sie verwandeln!«, rief er. »Ich werde sie zu einer von uns machen!« Jane erwiderte nichts. Sie baute darauf, dass ihr Schweigen Byron nur noch wütender machen würde. Es kam, wie sie es vorhergesehen hatte. Er eilte zu ihr, warf sich neben ihr auf die Couch und packte sie bei den Schultern. »Ich werde es tun, Jane!«, sagte er. »Du weißt, dass ich es tun werde. Es sei denn, du willigst ein, mir und nur mir zu gehören.« »Bitte nicht«, sagte Jane. »Mach das nicht. Sie hat nichts getan, um das zu verdienen.« Sie zwang sich, eine Träne zu vergießen. »Sie erinnert dich an deine Schwester«, sagte Byron. »Das ist mir klar.« Seine Stimme klang vergnügt. Er dachte, er habe ihren wunden Punkt gefunden. »Sie verdient ein normales Leben«, sagte Jane, »und nicht eines wie das unsere.« Sie hoffte, Byron würde ihr nicht enthüllen, dass Lucy bereits eingewilligt hatte, ein Vampir zu werden, wenn er das wollte. Was als Nächstes geschah, hing ganz davon ab. Byron setzte sich auf. »Dann triff deine Wahl«, verlangte er. »Komm mit mir, oder ich kümmere mich um das Mädchen.« In diesem Moment öffnete sich die Tür des Schranks, und Lucy trat heraus. »Zu spät!«, rief sie. Byron starrte sie mit offenem Mund an. Dann sah er zu Jane. Sein Gesicht drückte Wut und Bestürzung aus. »Ich habe sie bereits zu einer von uns gemacht«, erklärte ihm Jane. »Nein«, sagte Byron. »Das würdest du nicht tun.« »Du hattest Recht«, sagte Jane. »Sie erinnert mich wirklich an meine Schwester. Und zwar so sehr, dass ich 166
beschlossen habe, nicht ohne sie leben zu wollen. Auf diese Weise können wir für immer zusammen sein.« Lucy schritt auf die Couch zu. »Du hast gesagt, du würdest mich lieben«, zischte sie Byron an. »Aber du hast mich nur benutzt, um an Jane heranzukommen.« Sie kniete sich auf den Boden zu Janes Füßen. Jane legte beschützend ihre Hand auf Lucys Kopf und streichelte ihr Haar. Als Erwiderung öffnete Lucy ihren Mund und gab den Blick auf zwei blitzende, weiße Fangzähne frei. »Siehst du?«, sagte Jane. »Dir bleibt nichts, womit du mich noch erpressen könntest.« »Ich könnte sie immer noch töten«, sagte Byron. Jane lachte auf. »Und das Risiko eingehen, dafür als Verräter gebrandmarkt zu werden?«, fragte sie. »Du kennst die Regeln ebenso gut wie ich. Man würde dich bis ans Ende der Welt hetzen.« Sie hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, ob das überhaupt stimmte, aber sie hatte etwas in dieser Art gehört, und hoffte, dass es Byron ähnlich erging. Sie wartete auf seine Erwiderung, und war überrascht, als er lediglich aufstand und zur Tür ging. Er sah nicht zurück, als er das Haus verließ. »Was war das jetzt?«, fragte Lucy nachdem etwa eine Minute vergangen war und nichts mehr auf seine Rückkehr schließen ließ. Jane schüttelte ihren Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich denke, es heißt, dass er es geglaubt hat.« Lucy griff in ihren Mund und entfernte die Plastikzähne, die sie getragen hatte. »Ein Glück, dass sie noch welche in der Drogerie hatten«, sagte sie und massierte ihr Zahnfleisch. »Ich dachte, nach Halloween gäbe es keine mehr.« »Du hast sehr gut mitgespielt«, sagte Jane. »Ich danke dir.« 167
»Danke nicht mir«, sagte Lucy. »Du hast das alles prima hingekriegt. Ehrlich gesagt kann ich kaum glauben, dass er uns das Ganze abgekauft hat.« »Wir ließen ihm keine andere Wahl mehr«, sagte Jane. »Ohne dich oder Walter blieb ihm nichts mehr, womit er mir hätte drohen können.« »Bloß dass Walter keine Ahnung hat, und ich kein Vampir bin«, rief ihr Lucy ins Gedächtnis. »Er weiß das aber nicht«, entgegnete Jane. »Und er hat keine Möglichkeit, es herauszufinden.« »Er muss ein ziemlicher Spinner gewesen sein, als er noch lebte«, bemerkte Lucy. Jane erwog, sie darüber aufzuklären, dass sie um Haaresbreite von einer der bekanntesten romantischen Ikonen aller Zeiten zu einem Vampir gemacht worden wäre. Lucy hätte das wahrscheinlich gefallen. Doch je weniger das Mädchen über Byron wusste, desto weniger würde sie von Jane erfahren. Jane war noch immer nicht bereit, ihr alles zu erzählen. »Erinnere ich dich wirklich an deine Schwester?«, fragte Lucy. Jane nickte. »Ja«, sagte sie. »Das tust du.« »Wie war ihr Name?« Jane zögerte. Sollte sie eine Schwester erfinden, damit ihre Identität ein Geheimnis blieb? Lucy würde alles glauben, was sie ihr erzählte. Sie verdient ein bisschen Wahrheit, sagte sich Jane. »Cassandra«, sagte sie. »Cassie.« »Cassie«, wiederholte Lucy. »Ein hübscher Name.« »Sie hätte dich gemocht«, sagte Jane. Sie saßen beisammen und starrten ins Feuer. Jane dachte an Cassie. Lucy war ihr wirklich ähnlich. Beide hatten einen feinen Sinn für Humor. Beide nahmen die 168
Dinge, wie sie kamen. Beide gaben ihr das Gefühl, jemanden auf der Welt zu haben, dem sie vertrauen konnte. »Was machen wir jetzt?«, fragte Lucy. »Abwarten«, sagte Jane. »Mr. George wird tun, was immer ihm in den Sinn kommt. Wir kümmern uns darum, wenn es so weit ist.« »Ich kann’s nicht fassen, dass ich geglaubt habe, er mag mich«, sagte Lucy. »Was für ein Idiot ich doch war.« »Auch kein größerer, als ich einmal war«, sagte Jane. »Ich bin auch auf ihn hereingefallen.« »Dich liebt er aber«, sagte Lucy. Jane schüttelte den Kopf. »Das tut er nicht«, sagte sie. »Er will nur glauben, dass er es tut. Er erkennt langsam, wie einsam es ist, die Ewigkeit alleine zu verbringen.« »Die Ewigkeit«, sagte Lucy. »Das ist eine lange Zeit.« Sie lachte über ihren eigenen Witz. Jane stimmte ein, obwohl es albern war. Dann wurde Lucy ernst. »Wirst du wirklich ewig leben?«, fragte sie. »Das weiß ich nicht«, antwortete Jane. »Den Legenden nach schon, aber ich habe gelernt, dass Legenden oft auch nicht mehr sind als eben Legenden. Dennoch geht es jetzt schon eine ganze Weile.« »Eine ganze Weile seit der Weltwirtschaftskrise, oder eine ganze Weile seit dem Fall von Rom?«, fragte Lucy. Jane klopfte ihr leicht an den Kopf. »Genug der Fragen«, sagte sie. »Alles zu seiner Zeit.« Lucy stöhnte. »Irgendwas musst du mir erzählen«, protestierte sie. »Schließlich habe ich gerade mein Seelenheil für dich riskiert.« »Noch eine Legende«, sagte Jane. »Der Teufel hat nichts damit zu tun. Meine Seele ist immer noch wohlauf, danke der Nachfrage. Aber du hast Recht; ich schulde dir wirklich etwas. Also kriegst du einen Hinweis: 169
Einmal, da saß ich mit ein paar anderen um einen Tisch, während Madame Blavatsky versuchte, meinen Geist für eine Gruppe von Hobbyspiritisten zu beschwören. Sie hatte keine Ahnung, dass ich ihr direkt gegenübersaß, und du kannst dir meine Überraschung vorstellen, als mein Geist begann, zu der versammelten Gesellschaft zu sprechen. Was für eine Hochstaplerin sie doch war.« »Mann, das engt es wirklich ein«, sagte Lucy. »Danke.« »Ich fürchte, mehr wirst du heute Abend nicht erfahren«, sagte Jane. »Jetzt rauf ins Gästezimmer mit dir. Ich denke, es ist das Beste, wenn du heute Nacht bei mir bleibst. Es ist schwer zu sagen, was Byron – Brian – vorhat.« Lucy sah sie an und wollte noch etwas sagen. Dann drehte sie sich um und ging zur Treppe. »Gute Nacht«, sagte sie. »Bis morgen früh.« »Gute Nacht«, gab Jane zurück. »Ich komme auch gleich. Ich will hier unten nur noch abschließen.« Lucy ging nach oben, während Jane die Tür verriegelte. Sie fragte sich, ob Lucy ihren Versprecher mitbekommen hatte, und wenn ja, ob sie sich den richtigen Reim darauf machte. Wahrscheinlich wird sie mir morgen früh auf den Zahn fühlen, dachte sie. Sie überprüfte die Küchentür und die Fenster, obwohl es reichlich sinnlos war. Byron wäre in der Lage, ins Haus einzudringen, wenn er es wirklich wollte. Es gab ihr aber ein gutes Gefühl. Dann setzte sie sich in einen Sessel ans Feuer. Obwohl sie es genoss, zu schlafen, musste sie es nicht unbedingt tun, und sie fand, sie könnte ebenso gut aufbleiben und dafür sorgen, dass Lucy in Sicherheit war. Kurz darauf sprang Tom auf ihren Schoß und rollte sich zusammen. 170
Jane öffnete ein Buch und begann zu lesen, aber ihre Gedanken kehrten zu Byron zurück. Würde er sie wirklich in Frieden lassen? So sehr sie es auch glauben wollte, dass ihre List ihn davon überzeugt hatte, keine Mittel mehr zu ihrer Erpressung zur Verfügung zu haben, war sie sich doch dessen nicht ganz sicher. Lucy konnte nicht ewig so tun, als wäre sie ein Vampir, und irgendwann würde er die Täuschung durchschauen. Was Walter betraf, so brauchte es nur ein paar klare Worte mit ihm, und Byron würde erkennen, dass Walter keine Ahnung hatte, was vor sich ging. Jane vertraute darauf, dass Byrons Stolz sein Verhängnis werden würde. Er hasste es, zu verlieren, besonders in Herzensdingen, und sie hoffte, dass seine vermeintliche Niederlage auf diesem Feld ihn dazu zwingen würde, weiterzuziehen. Wenn er das nicht tat, würde sie Walter die Wahrheit sagen müssen, und egal, was sie Byron gesagt hatte, sie war sich nicht im Mindesten sicher, ob Walter wirklich so verständnisvoll wäre, wie sie behauptet hatte. »Habe ich einen Fehler begangen?«, fragte sie Tom. Er sah sie einen Moment lang an, gähnte, und schlief dann weiter. »Ich dachte mir, dass du das sagen würdest«, sagte Jane. Sie widmete sich wieder dem Buch. Der Anfang war schwach, doch sie hoffte, es würde vielleicht besser werden. Ihr stand eine lange Nacht bevor.
171
18 Sie sehnte sich danach, Charles die Gedichte zu zeigen. Sie wollte hören, wie er sie für sie las, und brannte darauf, seine Meinung darüber zu hören. Doch der Gedanke, ihm ihre Leidenschaft für ihn zu enthüllen, und das Risiko einzugehen, dass er sie auslachen könnte, war noch schlimmer, als wenn er von ihrer Affäre mit Jonathan Brut erführe und sich angewidert von ihr abwenden würde. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 139 »Was soll das heißen, er ist weg?« Jane und Lucy warfen sich einen kurzen Blick zu, während sie auf Walters Antwort warteten. »Er ist weg«, wiederholte Walter. »Gestern Nacht brach er auf. Es scheint, es hat zu Hause einen Notfall in der Familie gegeben. Ich bin heute früh zu seinem Haus gegangen, um ein paar letzte Ausbesserungen am Verandageländer vorzunehmen, da hing das hier an der Tür.« Er wedelte mit einem zerknitterten Papier vor ihnen in der Luft. Jane unterdrücke ein Lächeln. »Etwas unhöflich, dir bloß eine Nachricht zu hinterlassen«, sagte sie. Walter zog die Nase hoch. »Schriftsteller«, sagte er. Er sah Jane an. »Entschuldige.« Lucy machte sich daran, eine Kiste Bücher auszupacken. »Wirklich schade«, sagte sie. »Er schien ein interessanter Mann zu sein.« »Nicht gerade das Wort, das ich gewählt hätte«, sagte Walter. »Ich meine, ich habe Verständnis dafür, wenn es einen Notfall gibt, aber einfach so zu verschwinden?« 172
Jane fiel es nicht leicht, ihre Aufregung zu verbergen. Wenn Byron wirklich verschwunden war (und sie war noch immer nicht vollständig davon überzeugt), dann hatte ihr Plan noch besser funktioniert, als sie zu hoffen gewagt hatte. Doch sie konnte ihre Erleichterung vor Walter nicht zu deutlich zeigen, denn er hatte ja keine Ahnung, was Byron ihm hatte antun wollen. »Ich muss wieder zurück an die Arbeit«, sagte Walter gereizt. »Ich wollte die Neuigkeit nur loswerden.« Jane setzte einen mitleidigen Blick auf. »Es ist in Ordnung, Walter«, sagte sie. »So was passiert eben.« Walter murmelte etwas Unverständliches als Antwort. »Bis später«, sagte er. Sobald er fort war, wandte Lucy sich Jane zu. »Wir haben’s geschafft!«, schrie sie, sprang auf und fiel ihr um den Hals. »Gut möglich«, stimmte Jane zu. »Wir müssen dennoch unsere Augen offen halten. Ihm ist alles zuzutrauen.« »Ein Jammer, dass wir ihn nicht ein paar von denen hier haben signieren lassen, bevor er verschwand«, sagte Lucy. Sie warf eine Ausgabe von Lord Byrons gesammelten Gedichten auf den Tresen. Jane sah sie einen Moment lang an. »Du hast es also gehört«, sagte sie. »Ich hatte es mich schon gefragt.« »Weißt du, er kam mir irgendwie bekannt vor«, sagte Lucy. »Aber ich dachte, er sieht einfach wie irgendein Schauspieler aus, oder wie jemand, der schon einmal im Laden war. Als du ihn dann Byron genannt hast, wusste ich plötzlich, wo ich ihn schon gesehen hatte: auf diesem Einband.« Jane studierte das Porträt auf dem Cover. »Er sieht unglaublich gut aus, nicht wahr?«, fragte sie. 173
»Mmm«, sagte Lucy, »er ist schon ein heißer Typ. Ein verlogener, betrügerischer, blutsaugender, heißer Typ.« Sie lehnte sich an den Tresen. »Und was sagt uns das über dich?« »Warum soll es uns etwas sagen?«, fragte Jane. »Vielleicht war ich nur eine ganz gewöhnliche Frau, die an den falschen Mann geriet. Wäre das denn so ungewöhnlich?« »Könnte ja alles sein«, gab Lucy zu. »Glaube ich aber nicht.« Jane kniff die Augen zusammen. »Und warum nicht?«, fragte sie. »Weil«, antwortete Lucy, und machte ihren Blick nach, »ich das hier auf deiner Kommode gefunden habe.« Sie hielt ein Medaillon empor. Es war geöffnet, und innen war ein kleines Aquarell von Cassie. »Du hast herumspioniert!« Jane heulte auf. Lucy schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich bin in dein Zimmer gegangen, um zu sehen, ob ich mir nicht eine Haarbürste leihen kann. Das hier lag geöffnet auf deiner Kommode.« »Aber du hast es gestohlen«, sagte Jane. »Das ist sogar noch schlimmer.« Lucy verdrehte die Augen. »Ich habe es nicht gestohlen«, sagte sie. »Ich habe es mir geliehen. Um es mit diesem Porträt zu vergleichen.« Sie hielt eine der zahlreichen Jane-Austen-Biographien hoch, die sie im Laden führten. Auf der Seite, die sie aufgeschlagen hatte, war ein Bild von Cassandra. »Die Bilder sind so gut wie identisch«, sagte Lucy. »Ich habe also ein Bild in meinem Medaillon, das diesem hier sehr ähnlich sieht«, sagte Jane. »Und weiter?« Lucy klappte das Buch zu. »Das Spiel ist aus«, sagte sie. »Raus mit der Wahrheit.« 174
Jane sortierte wahllos einige Papiere auf der Theke. »Oh, also gut«, sagte sie. »Ja, das ist Cassie. Und ja, ich bin …« Sie konnte sich nicht überwinden, es zu sagen. »Jane Austen«, sagte Lucy genüsslich. »Du. Bist. Jane. Austen.« Sie kostete jedes einzelne Wort aus. Dann starrte sie Jane mit offenem Mund an. »Du bist Jane Austen«, sagte sie noch einmal, diesmal in einem ehrfurchtsvollen Tonfall. »Jane Austen. Du bist Jane. Austen.« »Ich weiß«, sagte Jane. »Du musst mich wirklich nicht so häufig daran erinnern.« Lucy schüttelte den Kopf, als versuche sie, sich selbst aufzuwecken. »Das ist echt eigenartig«, sagte sie. »Das mit den Vampiren hat mir nichts ausgemacht. Ich meine, es ist schon echt gruselig, aber es hat mir nichts ausgemacht. Sogar die Sache mit Byron war noch ganz okay. Aber das jetzt – das ist einfach zu viel.« Sie starrte Jane an. »Verdammt noch mal, Jane Austen!« »Ja, um Himmels willen!«, sagte Jane. »Ja, ich bin Jane Austen. Und ich bin ein Vampir. Und verdammt noch mal, wie du es ausdrückst, es ist eigentlich viel zu viel. Aber so ist es nun mal.« Sie war laut geworden. Sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu beruhigen, dann sprach sie weiter. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe vergessen, dass du nicht ganz so viel Zeit hattest, dich daran zu gewöhnen, wie ich.« »Ist schon okay«, sagte Lucy. »Ich glaube, ich bin darüber hinweg.« Jane sah auf. »Was? Noch vor einem Moment hast du dich aufgeführt, als ob du gerade den Weihnachtsmann gesehen hättest.« »Ja, weißt du, jetzt bin ich darüber hinweg«, sagte Lucy. »So bin ich nun mal.« 175
»Bist du sicher, dass es dir gutgeht?«, fragte Jane. »Möchtest du dich hinlegen oder so?« »Du siehst anders aus als auf den Bildern«, sagte Lucy. »Hübscher.« Jane war einen Moment sprachlos. »Danke«, sagte sie dann. »Ich fand immer, dass ich auf diesen Porträts etwas verschüchtert aussehe. Außerdem habe ich meine Frisur geändert, weißt du.« Ein Lächeln huschte über Lucys Gesicht. »Weiß Walter, dass er mit Jane Austen ausgeht?«, fragte sie. »Nein«, sagte Jane hastig. »Und er wird es auch nicht erfahren. Lucy, versprich mir, dass du’s für dich behältst. Wenn du es ihm verrätst, werde ich ihm erzählen, dass du verrückt geworden bist oder ganz schrecklich abhängig von Schmerzmitteln oder etwas in dieser Art.« »Entspann dich«, sagte Lucy. »Ich werde es niemandem erzählen. Erstens würde ich so etwas nicht tun. Zweitens schulde ich dir noch etwas dafür, dass du mich davor bewahrt hast, die untote Liebessklavin Lord Byrons zu werden.« Sie zögerte. »Eigentlich sollte ich deswegen vielleicht eher wütend auf dich sein.« »Ich wüsste einfach nicht, wie ich es Walter sagen sollte«, sagte Jane. »Natürlich sollte ich es ihm sagen.« »Machst du Witze?«, fragte Lucy. »Hast du eine Ahnung, wie sehr das den armen Kerl unter Druck setzen würde?« Jane zuckte die Schultern. »Na ja, leicht wäre es für ihn sicher nicht, mit diesem ganzen Vampirproblem umzugehen.« »Dem Vampirproblem?«, rief Lucy. »Ich rede von dem Jane-Austen-Problem. Wie würde es dir denn gefallen, der Typ zu sein, der mit Jane Austen ausgeht?« 176
Jane war verwirrt. »Wäre das denn so schlimm?«, fragte sie. »Nun, irgendwie schon«, sagte Lucy. »Und die Schuld kannst du dir selbst zuschreiben, dir und deinem Mister Darcy. Er ist das Ideal jeder Frau. Sogar einiger Männer. Welcher Mann kann dem schon gerecht werden? Du hast jedem Mann auf dem Planeten gründlich die Tour vermasselt, als du Darcy erfunden hast.« Jane stützte die Hände auf die Hüften. »Behauptest du etwa, dass ich es Männern unmöglich mache, einem Ideal gerecht zu werden?« »Ja«, erwiderte Lucy knapp. »Streit’s nur nicht ab.« »Ich streite es aber ab«, protestierte Jane. »Er ist nur eine Figur in einem Roman!« Lucy blickte erschüttert drein. »Nur eine Figur?«, fragte sie. »Nur ein Roman?« Sie schnappte sich eine Ausgabe von Stolz und Vorurteil und wedelte damit in der Luft herum. »Das hier ist ja bloß der größte Roman aller Zeiten«, sagte sie. Jane errötete. »Du bist nicht die Erste, die das sagt«, wehrte sie ab, und versuchte, bescheiden dabei zu klingen. »Hör auf mich«, sagte Lucy. »Erzähl Walter kein Wort. Zumindest nicht, bis ihr verheiratet seid.« »Verheiratet?«, fragte Jane. »Wie kommst du darauf, dass ich ihn heiraten werde?« »Ich habe deine Bücher gelesen«, sagte Lucy. »Das hier ist genau wie in einem deiner Bücher.« »Wieso denn das?«, fragte Jane. »Ich habe in meinem Leben nie über Vampire geschrieben.« »Vergiss das mit den Vampiren«, sagte Lucy. »Du hast den schönen, netten Mann, der dich verehrt, den du aber irgendwie etwas langweilig findest.« 177
»Tue ich nicht!«, stritt Jane ab. »Doch, tust du wohl«, sagte Lucy. »Aber das ist okay. Auf der anderen Seite hast du den unglaublich attraktiven Kerl, der dir nur Schwierigkeiten macht, den du aber einfach nicht aus dem Kopf kriegst.« »Weiter«, sagte Jane. Jetzt, wo Lucy es sagte, musste sie zugeben, dass es wirklich ein wenig nach einem ihrer Romane klang. »Na ja, jetzt musst du eigentlich nur noch einsehen, dass der nette Kerl die weitaus bessere Partie abgibt«, schloss Lucy. »Dann heiratest du ihn.« »Er hat mich noch nicht einmal gefragt«, sagte Jane. »Zumindest nicht richtig.« Sie erzählte Lucy nicht, dass Walter schon einige Male versucht hatte, das Gespräch in diese Richtung zu lenken, und dass sie einfach so getan hatte, als hätte sie nichts bemerkt. »Die Zeiten haben sich geändert«, sagte Lucy. »Warum fragst du nicht ihn?« »Die Zeiten mögen sich geändert haben«, stimmte Jane zu, »aber ich nicht. Zumindest nicht so sehr. Und überhaupt, ich bin mir nicht sicher, ob ich Walter wirklich heiraten will.« »Erzähl mir jetzt nicht, dass es noch einen anderen heißen Kerl gibt«, sagte Lucy. Kellys Bild tauchte vor Janes geistigem Auge auf. »Nein«, sagte sie. »Ich weiß nur einfach nicht, ob ich bereit für die Ehe bin. Dann ist da immer noch dieses ganze … ach, du weißt schon.« Sie bleckte die Zähne, so dass ihre Eckzähne über die Unterlippe ragten. »Wenn du mich fragst, ich glaube, das wäre ihm ganz egal«, sagte Lucy. »Ich will jetzt nicht mehr darüber reden«, sage Jane. »Wir hatten schon genug Aufregung für einen Tag.« 178
»Das stimmt«, nickte Lucy. »Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen, dein Alfred zu sein.« »Mein was?« »Dein Alfred«, wiederholte Lucy. »Wie in Batman?« Jane schaute sie verdutzt an. »Batman?«, fragte sie. »Alfred war Bruce Waynes Butler«, erklärte Lucy. »Er wusste, dass Bruce Wayne Batman war, aber er behielt es für sich.« »Ach so«, sagte Jane. »Ich verstehe. So hatte ich das noch gar nicht gesehen.« »Wir brauchen eine Bathöhle«, erklärte Lucy. »Einen geheimen Unterschlupf.« »Ich würde sagen, das hier ist unsere Höhle«, sagte Jane und machte eine Geste, die den ganzen Laden mit einschloss. »Ich bin keine Superheldin.« »Ein paar Superkräfte musst du doch haben«, beharrte Lucy. »Welche sind es? Uuh – kannst du fliegen?« »Nein«, antwortete Jane. »Und ich kann mich auch nicht in eine Fledermaus verwandeln, du brauchst also gar nicht zu fragen.« »Komm schon«, sagte Lucy. »Gar nichts? Wirklich nicht?« »Mir wird nicht kalt«, gestand Jane. »Ich sehe sehr gut, und ich brauche keinen Schlaf, obwohl ich schlafen kann und es auch tue. Kleinere Verletzungen heilen ziemlich schnell bei mir. Davon abgesehen, bedaure, bin ich ganz normal.« Ihre Kraft der Betörung erwähnte sie nicht, und sie hatte deswegen ein schlechtes Gewissen, aber sie befürchtete, es könnte eines Tages notwendig werden, sie gegen Lucy einzusetzen. »Davon abgesehen, dass du ewig lebst«, warf Lucy ein. »Ja, davon abgesehen«, sagte Jane. »Aber glaub mir, es hat seinen Preis.« 179
Lucy zog ein Gesicht. »Können wir wenigstens Kostüme haben?«, schlug sie vor. »Es freut mich, dass du dich so dafür begeisterst«, sagte Jane. »Aber versuch bitte daran zu denken, dass das mein Leben ist.« »Tut mir leid«, entschuldigte sich Lucy. »Aber du bist mein erster Vampir. Und du bist Jane Austen. Es fällt schwer, nicht ein wenig aufgeregt zu sein.« »Das mag ja alles so sein«, sagte Jane. »Ich bin aber auch immer noch dein Boss, und das hier ist immer noch eine Buchhandlung. Wie wäre es, wenn wir ein wenig arbeiten würden?« Sie ließ Lucy die Kinderabteilung umgestalten und ging ins Büro, um ihre Gedanken zu ordnen. Alles hatte sich über Nacht geändert. Zum ersten Mal kannte jemand außer Byron und ein paar anderen Vampiren ihre Identität. Sie setzte sich großer Gefahr aus, indem sie darauf vertraute, dass Lucy ihr Geheimnis wahrte. Sie ist noch jung, dachte Jane. Sie könnte leicht einen Fehler begehen. Sie fragte sich, ob sie Brakeston nicht doch verlassen sollte. Wenn Lucy dann etwas erzählte, würde sie jeder für verrückt halten. Das könnte ich ihr nicht antun, dachte Jane. Sie konnte Lucy und Walter auch nicht der Gefahr aussetzen, die Byron nach wie vor darstellte. Denn selbst wenn er fort war, er könnte jederzeit wiederkommen. Nein, sie würde bleiben, und sie würde darauf vertrauen müssen, dass Lucy ihr Versprechen hielt. Es war der einzige ehrenhafte Weg. Doch was war mit Walter? Er hatte keine Ahnung. War es fair, ihm die Wahrheit vorzuenthalten, jetzt, da Lucy sie kannte? Sie wusste, dass es nicht so war. Sie wusste aber auch, dass sie es ihm nicht sagen konnte. 180
»Du bist ein Feigling, Jane Fairfax«, sagte sie. »Du hast Angst, dass er dich nicht mehr lieben wird, wenn er es erfährt.« Das war die Wahrheit. Obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie Walter jemals heiraten könnte, war sie auch nicht bereit, ihn aufzugeben. Es war schrecklich, sich so etwas einzugestehen, aber so war es. Wieder tauchte Kellys Gesicht in ihren Gedanken auf. Ja, auch darüber würde sie sich noch klarwerden müssen. Sie fand ihn attraktiv, und sie glaubte auch immer noch, dass er tolerant genug war, sie so anzunehmen, wie sie war. Aber er hatte ihr gegenüber keinerlei Ambitionen gezeigt. Ich lebe wirklich in einem meiner Romane, dachte sie. Der Moment des Selbstmitleids wurde von der Ankunft der Postbotin unterbrochen. »Für dich, Jane«, sagte Paula, und reichte ihr einen Stapel Briefe. Sie hielt einen weißen Umschlag empor. »Der hier wurde in den Kasten am Bahnhof geworfen. Keine Briefmarke, nur dein Name darauf. Eigentlich sollte ich dir ja das Porto berechnen, aber ich will noch mal ein Auge zudrücken.« Sie zwinkerte und reichte Jane den Umschlag. »Danke, Paula«, sagte Jane. Sie legte die anderen Briefe auf ihren Schreibtisch und studierte den Umschlag. Wie Paula gesagt hatte, zog sich ihr Name in schnörkeliger Schrift über die Vorderseite. Der Absender hatte schwarze Tinte benutzt. Sie öffnete den Umschlag mit dem Finger und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus. Meine liebe Jane, Auf die Gefahr hin, melodramatisch zu klingen: Wenn Du dies liest, bin ich schon fort. Ich habe den Brief mit der Post geschickt, statt ihn auf Deiner Schwelle oder an 181
einem anderen leicht einzusehenden Ort zurückzulassen, weil ich nicht wollte, dass Du ihn liest, bevor ich nicht schon auf halbem Weg zurück nach England bin. Verzeih mir, dass ich Deine Adresse vergessen habe, aber ich habe es ein wenig eilig. Ich bin zuversichtlich, dass Dich diese Zeilen zu gegebener Zeit erreichen werden. Du wirst wahrscheinlich denken, dass Du mich besiegt hast. Und vielleicht hast Du das auch. Dies ist aber nur eine Schlacht von vielen. Ich bin nun mehr denn je davon überzeugt, dass es unsere Bestimmung ist, zusammen zu sein. Fürs Erste werde ich Dich dem Leben überlassen, das Du gewählt hast. Doch wisse, dass meine Gedanken bei Dir sind, und dass ich eines Tages zurückkommen werde. In Liebe, Daruntergekritzelt war Byrons Unterschrift. Jane las den Brief noch ein weiteres Mal, dann zerknüllte sie ihn und warf ihn in den Papierkorb. Nur eine Schlacht von vielen, dachte sie. Für wen hält er sich eigentlich? Charles de Gaulle?
182
19 Was für eine Schriftstellerin wollte sie sein? Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht. Jetzt, da die Frage im Raum stand, stellte sie fest, dass es die Geschichten von Frauen waren, die sie erzählen wollte. Keine Frauen, deren vorrangiges Ziel im Leben die Ehe war, sondern Frauen wie sie selbst, die mehr wollten, als nur einen Ehemann. – Jane Austen, Constanze, Manuskriptseite 87 Der Winter wich dem Frühling, und endlich hörte Jane damit auf, überall nach Byron Ausschau zu halten, wohin sie auch ging. Sie hatte Walter immer noch nicht die Wahrheit gesagt, und Lucy hatte ihr wochenlang keine Ruhe damit gelassen, bis sie endlich etwas anderes gefunden hatte, mit dem sie Jane quälen konnte. In der ersten Märzwoche erschien die Vorschau für Constance im Publishers Weekly, eine einseitige Werbeanzeige, die das Buch in lauten Tönen als »Pflichtlektüre für den Sommer« anpries. Das Titelbild war optimal platziert, ebenso ein Bild von Jane, auf dem Nick Trilling gegen ihre Einwände bestanden hatte. Es gab zahlreiche schmeichelhafte Werbetexte, und ein Kasten am Fuß der Anzeige verkündete eine Startauflage von 50 000 Exemplaren. »Wann wolltest du mir davon erzählen?«, fragte Lucy, als das Magazin sie erreichte. »Wenn ich die erste Kiste mit Büchern aufmache?« Seitdem verlief ihr Leben wie im Rausch. Erst kamen die Druckfahnen, und Jane verbrachte zwei Wochen damit, sie durchzusehen. Mehrere Male hatte sie unter Tränen Kelly angerufen, weil sie davon überzeugt war, dass 183
der Roman grauenhaft war und niemals veröffentlicht werden sollte. Jedes Mal beruhigte er sie und versicherte ihr, dass es sich um ein sehr gutes Buch handle. Dann war die unerfreuliche Sache mit dem Autorenfoto gewesen, das Walter mit seiner Digitalkamera aufgenommen hatte; Jane fand, dass sie darauf aussah wie eine Frau, die ihre Zeit damit verbrachte, Schals zu stricken und gereimte Verse zu verfassen. Nick hatte das Foto für perfekt erklärt, was sie aber nicht beschwichtigte. Die Ruhe vor dem Sturm dauerte bis Mitte April, als die ersten Rezensionen bei ihr eingingen. Zu diesem Zeitpunkt begannen auch andere Leute als Lucy und Walter zu registrieren, dass sich eine Schriftstellerin in ihrer Mitte befand. Schnell wurde Jane eine kleine Berühmtheit in ihrer Stadt und konnte nicht mehr weiter als ein paar Blocks gehen, ohne dass sie jemand anhielt und ihr zu ihrem ersten Buch gratulierte. Sie legte sich schnell eine Standardantwort zu (»Wie nett von Ihnen!«), und perfektionierte die Kunst, dankbar aber beschäftigt zu wirken (»Ich würde mich gerne noch ein wenig unterhalten, aber ich muss dringend zur Bank, bevor sie schließt. Ja, wir werden wahrscheinlich eine Party geben, wenn das Buch erscheint!«) »Wenn ich gewusst hätte, wie anstrengend das alles ist, hätte ich das Manuskript niemals eingesandt«, beschwerte sich Jane eines Abends bei Walter, nachdem sie bei ihr zu Hause zu Abend gegessen hatten. »Dieses anstrengende Lächeln immerzu – ich kriege noch einen Gesichtskrampf.« Sie massierte ihre Wangen und seufzte. »Das ist der Preis des literarischen Ruhms«, neckte Walter sie. Jane wollte gerade eine Bemerkung darüber machen, 184
wie viel einfacher doch alles gewesen wäre, hätte sie das Buch anonym veröffentlicht, ließ es aber im letzten Moment bleiben. Es fiel ihr immer schwerer, darauf zu achten, was sie zu wem sagen oder nicht sagen konnte. Sie hatte begonnen, die Offenheit zu schätzen, die sie neuerdings in ihren Gesprächen mit Lucy genoss. In Walters Gegenwart immer aufpassen zu müssen, was sie sagte, machte sie aber ganz schön nervös. »Kelly hat mir eine der ersten Rezensionen geschickt«, erzählte sie Walter. »Von einer Zeitung in Chicago, glaube ich. Sie ist ganz nett.« Sie reichte Walter den Ausschnitt, und er las ihn still. »Ganz nett?«, fragte er, als er geendet hatte. »Jane, sie vergleichen dich hier mit Inez Gossford. Das ist nicht nur nett, das ist fantastisch.« »Vermutlich hast du Recht«, gestand Jane. »Sie ist ziemlich populär, oder nicht?« Walter drohte ihr mit dem Finger. »Fang bitte nicht damit an«, sagte er. Jane sah ihn an. »Mit was?«, fragte sie. »Mit dieser ganzen Diskussion über populär oder literarisch«, sagte Walter. »Ich hasse es, wenn Leute versuchen, das eine als besser als das andere darzustellen. Als ob Bücher, die die Menschen gerne lesen, weniger wert wären als die, mit denen auch die Literatursnobs einverstanden sind.« »Was ist denn los mit dir?«, fragte Jane. »Ich habe dich noch nie so aufgebracht gesehen.« »Ach, das ist nur so eine alte Sache, die mich wurmt. Immer wenn ich sage, dass mir ein bestimmtes Buch gefällt, macht jemand eine spitze Bemerkung, dass es ja vielleicht ganz unterhaltsam, aber eigentlich kein richtiger Roman sei. Es ist total bescheuert. Und dann ärgern 185
sie sich, wenn ich sie daran erinnere, dass viele der Bücher, die wir heute für Klassiker halten, zu ihrer Zeit als Unterhaltung angesehen wurden. Dickens zum Beispiel. Sogar Austen.« Jane fühlte, wie sie sich verkrampfte, aber Walter schien es nicht zu bemerken und fuhr fort. »Wo sind denn all die ›literarischen‹ Romane jener Zeit geblieben?«, fragte er und zeichnete die Gänsefüßchen mit den Fingern nach. »Und was ist mit Trollope? Seine Barchester-Romane sind im Grunde Seifenopern, aber heute hält man sie für hohe englische Literatur. Und weißt du, was die Kritiker seiner Zeit über ihn sagten? Sie sagten, man könne sein Werk nicht ernst nehmen, weil er nämlich ihrer Meinung nach zu viel schrieb, und auch noch zugab, für Geld zu schreiben. Als ob Schriftsteller in zugigen Dachkammern vor sich hin vegetieren müssten, wo sie dann darauf warteten, von der Muse geküsst zu werden.« Jane wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Natürlich wusste sie, was die Kritiker über Trollope gesagt hatten. Es hatte sie empört, dass man die wunderbaren Bücher dieses Mannes so grausam behandelt hatte. Sie selbst hatte einige schreckliche Besprechungen über sich ergehen lassen müssen. Aber niemand außer ein paar Akademikern, die darauf bestanden, jedes noch so kleine Detail einer Biographie für die Ewigkeit zu bewahren, erinnerte sich heute noch daran. Woran sich die Leute erinnerten, war, dass man ihre Bücher gelesen hatte, und dass man sie gerne gelesen hatte. »Ich wollte nicht undankbar erscheinen«, sagte sie zu Walter. »Ich mag Gossfords Bücher. Ich glaube, ich habe einfach Angst, nicht ernst genommen zu werden.« »Ich nehme dich ernst«, sagte Walter. »Deine Freunde nehmen dich ernst. Kümmert es dich wirklich, was ir186
gendein Kritiker über dich denkt, der dich nicht einmal kennt?« Jane dachte einen Moment darüber nach. »Na ja«, sagte sie. »Ich fürchte, irgendwie schon. Ich weiß, das klingt oberflächlich, aber ich kann nichts dafür. Es beschäftigt mich, Walter. Es ist mein erster Roman. Ich will, dass er allen Leute so gut gefällt wie mir.« »Also bis jetzt hat niemand etwas Schlechtes darüber gesagt«, erinnerte Walter sie. »Ich bin mir aber sicher, irgendjemand wird –« »Danke«, unterbrach ihn Jane. »Jetzt geht es mir schon viel besser.« »Aber sie werden nicht Recht haben«, schloss Walter. »Das musst du einfach im Kopf behalten.« Sie wusste, dass er Recht hatte. Es war aber schwierig, zu ignorieren, was über ihr Buch gesagt wurde. Zusätzlich zu den Rezensionen, die Kelly ihr schickte, hatte sie sich angewöhnt, für sich selbst im Internet nachzuschlagen. Da ihr Buch bisher nur als Rezensionsexemplar erhältlich war, gab es noch nicht viel zu finden, aber sie hatte ein paar Blogs entdeckt, in denen sie erwähnt wurde. Wie die Rezensionen auch war das meiste, was dort über sie geschrieben wurde, positiv, bis auf ein paar wenig schmeichelhafte Ausnahmen. Eine Seite ging ihr besonders nach. Es war ein Blog namens Der treue Leser. Die Autorin war Violet Grey, die Brontë-Expertin, und offenbar hielt sie sich auch für eine Expertin für »Romane des Herzens«, wie sie es nannte. Sie hatte kürzlich einen Beitrag über Constance veröffentlicht – sie gab zu, den Roman noch nicht gelesen zu haben –, in dem sie sich abfällig über Janes Autorenfoto geäußert und daran gezweifelt hatte, dass »eine Frau mit einem so ausdruckslosen Gesicht etwas 187
Leidenschaftliches zu Papier bringen könne«. In einem Anfall von Wut hatte Jane einen bösen Kommentar zurückgelassen (anonym, natürlich), in dem sie Miss Grey nahelegte, ihre Bemerkungen doch auf das Werk selbst zu beschränken. Sie hatte nie eine Antwort erhalten. »Was wollen wir machen, wenn der große Tag gekommen ist?«, fragte Walter und holte sie damit in die Gegenwart zurück. »Der große Tag?«, fragte Jane und versuchte sich zu entsinnen, ob sie einen anstehenden Geburtstag oder Feiertag vergessen hatte. »Der Tag, an dem dein Buch erscheint«, erklärte Walter. »Wir sollten es irgendwie feiern.« »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, sagte Jane. »Ich schätze, wir könnten etwas ins Schaufenster stellen.« »Ich meine doch nicht im Laden«, sagte Walter. »Ich meine, was würdest du gerne tun?« »Lass mich darüber nachdenken«, sagte Jane. »Ich bin gar nicht sicher, ob ich an dem Tag überhaupt noch Zeit für irgendwas habe.« »Wollen wir’s hoffen«, sagte Walter. »Das ist erst der Anfang.« »Du klingst schon wie Kelly«, sagte Jane. »Er hat mir heute fast genau dasselbe gesagt.« »Er hat Recht. Du wirst ein echter Star werden. Da bin ich ganz sicher.« Etwas in seiner Stimme beunruhigte Jane. »Du klingst, als ob das etwas Schlechtes wäre«, sagte sie. Walter lächelte leicht. »Das ist es nicht«, sagte er. »Nicht für dich, zumindest. Vielleicht für mich.« »Warum sollte es schlecht für dich sein?«, fragte Jane. Walter seufzte. »Du wirst einen Riesenerfolg haben«, 188
sagte er. »Und ich bleibe der Bauunternehmer aus der Kleinstadt, der dir nichts zu bieten hat.« Jane wartete darauf, dass er lachen oder sagen würde, dass er nur Witze machte. Als keines von beidem geschah, sagte sie: »Du machst dir deshalb wirklich Sorgen, richtig?« »Ein bisschen«, gestand Walter. »Wie es aussieht, willst du mich nicht heiraten. Warum solltest du deine Meinung ändern, sobald du die Aufmerksamkeit der literarischen Welt genießt? Du wirst jemanden wollen, der mehr ist wie … wie … Kelly oder … Brian George«, schloss er. Jane sah ihm in die Augen. Sie konnte sehen, dass es ihm ernst war. Sag ihm die Wahrheit, verlangte eine innere Stimme in ihr. Sag sie ihm jetzt. »Daran liegt es gar nicht«, sagte sie, und erkannte im selben Moment, dass es das Falsche war. »Ich meine … heiraten … du … ich …« »Du brauchst nichts zu sagen«, wehrte Walter ab. »Ich weiß, wie die Dinge liegen. Und ich bin froh, dass wir diese gemeinsame Zeit hatten. Ich habe immer gewusst, dass es nicht ewig so weitergehen würde.« Jane griff nach seiner Hand. »Nein«, sagte sie. »Du verstehst es wirklich nicht. Du bedeutest mir viel. Sehr viel.« »Aber?«, fragte Walter. Jane wusste, wenn sie Walter je die Wahrheit sagen würde, dann jetzt. Sie schloss die Augen. »Ich«, begann sie. Sie konnte Walters Angespanntheit spüren, während er darauf wartete, dass sie fortfuhr. Sag’s einfach!, rief die Stimme in ihrem Kopf. Nun sag es ihm schon! »Ich habe mich für das Zölibat entschieden«, platzte es aus ihr heraus. 189
Sie öffnete die Augen einen kleinen Spalt und beobachtete Walters Gesicht. Zölibat?, dachte sie. Ist das das Beste, was du zu bieten hast? »Zölibat«, wiederholte Walter. Jane nickte. »Ja«, antwortete sie. »Zölibat.« »Ich verstehe«, sagte Walter. Er räusperte sich. »Das erklärt natürlich einiges. Wenn du mir die Frage gestattest, hat das religiöse Gründe?« »Nein«, sagte Jane. »Es ist eher eine … spirituelle … Sache. Ich habe die Entscheidung vor etwa zwölf Jahren getroffen. Es schien mir einfach das … Richtige zu sein. Für mich. Nicht für jeden, natürlich. Dann würden wir ja alle aussterben.« Sie presste die Lippen zusammen, aus Angst, etwas noch viel Dümmeres zu sagen, wenn sie weiterredete. »Zwölf Jahre«, sagte Walter. »Das ist eine lange Zeit.« Jane nickte, sagte aber nichts. »Und das ist der Grund, weshalb du dich nicht auf etwas Ernsthafteres einlassen willst?« Jane nickte abermals. »Es wäre einfach nicht fair dir gegenüber«, sagte sie. »Entschuldige, wenn ich dir widerspreche«, sagte Walter. »Aber solltest du diese Entscheidung nicht mir überlassen? Vielleicht macht es mir ja gar nichts aus. Vielleicht kann ich aus irgendeinem Grund auch gar nicht … du weißt schon«, sagte er, und wies vage in Richtung seines Schritts. »Vielleicht habe ich medizinische Probleme da unten, oder ich mag es einfach nicht, oder ich habe ein gestörtes Verhältnis zu meinem Körper.« »Hast du aber nicht, oder?«, fragte Jane. Walter schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht«, 190
sagte er. »Aber darum geht es nicht. Es geht mir darum, dass du es mir nicht gesagt hast, einfach weil du dachtest, dass es mich stören würde. Du hast mir gar nicht die Chance gegeben, auch etwas dazu zu sagen.« »Und stört es dich?«, fragte Jane und vergaß, dass sie das Zölibat nur erfunden hatte, um genau diese Diskussion zu vermeiden. Walter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich weiß nicht recht«, sagte er. »Ich habe schon lange Zeit darauf verzichtet. Vielleicht ist es gar nicht mehr so wichtig.« Jane errötete. Zu ihrer großen Erleichterung hatte Walter nie versucht, mehr als nur einen Kuss von ihr zu erhalten. Sie hatte angenommen, er sei zu sehr ein Gentleman, um auf mehr zu drängen. Die Wahrheit war, sie hatte Angst, was geschehen würde, wenn sie mit einem Menschen schlief. Wenn ihr Blutdurst sie überwältigte, wäre Walter in großer Gefahr. Was sie selbst betraf, so war sie sich auch nicht sicher, ob ein sterblicher Mann in der Lage wäre, ihr Verlangen in der gleichen Weise zu stillen wie ein Vampir. »Ich muss noch darüber nachdenken«, sagte er. Er lachte kurz. »Und die ganze Zeit habe ich gedacht, ich sei das Problem. Nicht, dass du ein Problem hättest«, versicherte er schnell. »Das wollte ich damit nicht sagen.« »Ich weiß, was du meinst«, sagte Jane. »Es ist schon in Ordnung. Ich hätte es dir früher sagen sollen. Vermutlich habe ich mich einfach geschämt.« »Das musst du nicht«, sagte Walter. »Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen.« Jane fühlte sich furchtbar. Sie hatte ihn belogen, um ihm nicht den wahren Grund ihrer Zurückhaltung nennen 191
zu müssen. Und nun war er derjenige, der ihr versicherte, dass alles in Ordnung mit ihr war. Wie soll ich es ihm nun jemals sagen?, fragte sie sich. »Ich sollte gehen«, sagte Walter. »Es ist spät, und ich muss in aller Frühe nach Syracuse, ein Spülbecken abholen.« »Du willst nur höflich sein«, sagte Jane. »Ich habe dich verärgert. Es tut mir leid.« »Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht ein wenig … verwirrt bin«, erwiderte Walter. »Ich bin aber nicht wütend. Wir sprechen uns morgen.« Jane tätschelte seine Hand. »Gut«, sagte sie. »Und danke, dass du so verständnisvoll bist.« Sie begleitete Walter zur Tür, wo er ihr einen ungeschickten Kuss gab. Dann lachte er. »Ich komme mir vor wie ein Teenager«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich mir erlauben kann.« Jane küsste ihn noch einmal, diesmal länger. »Gute Nacht«, sagte sie. Sie schloss die Tür hinter ihm und lehnte sich dagegen. »Was habe ich getan?«, fragte sie. »Ich habe es nur noch schlimmer gemacht. Jetzt hält er mich für frigide.« Sie ging in die Küche und nahm sich eine große Packung Schokoladeneis aus dem Kühlschrank. Sie riss den Deckel ab und schaufelte sich die Creme in den Mund. Doch nach ein paar Löffeln war es genug. Statt sich besser zu fühlen, ging es ihr nur noch schlechter. Und wenn Schokolade nicht mehr hilft, dachte sie und stellte die Packung zurück, dann weißt du, dass es schlimm ist. Sie löschte das Licht in der Küche und ging nach oben. Sie putzte die Zähne, zog ihr Nachthemd an und ging zu Bett. Sie musste Tom zur Seite schieben, da er 192
auf ihrem Kissen schlief. Er miaute protestierend und zog sich auf die andere Seite des Bettes zurück. »Wage es nicht«, warnte ihn Jane. Sie ließ sich in die Kissen sinken und sah zur Decke empor. Vage registrierte sie, dass sie wieder einmal die Spinnweben in den Ecken entfernen sollte. Sie wollte schlafen, doch sie wusste, sie würde nur weiter darüber nachdenken, dass sie Walter mit jeder neuen Lüge noch mehr verletzte. Sie hatte sich solche Mühe gegeben, die Wahrheit vor ihm geheim zu halten, dass sie sich nun nicht einmal mehr sicher war, wenn sie beschützen wollte – ihn oder sich selbst. Vielleicht willst du einfach nicht mit ihm zusammen sein, dachte sie. »Ich weiß es nicht!«, sagte sie frustriert. »Ich weiß nicht, was ich will!« Wie immer wünschte sie sich, dass Cassie da wäre und sie mit ihr reden könnte. Cassie hatte immer guten Rat gewusst. Sogar wenn Jane nicht sicher gewesen war, was ihre Charaktere tun sollten, hatte Cassie ihr geholfen, die Möglichkeiten durchzuspielen. Cassie war jetzt aber nicht hier. »Ich wünschte, ich wäre tot«, beklagte sich Jane bei Tom. »Ich meine untot. Nein. Un-untot. Ach, ich weiß nicht, was ich meine.« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und begann zu weinen.
193
20 Sie warf verstohlene Blicke auf die Kleider der anderen Mädchen und verglich sie mit ihren eigenen. Sie sahen alle so bezaubernd aus und schwebten durch den Raum wie Schmetterlinge auf einer warmen Sommerbrise. Sie dagegen war eine Motte, farblos und unscheinbar, wie sie da in der Ecke saß und wie zur Rache für ihre Unsichtbarkeit ein Loch in den Samt des Sofas wetzte. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 11 »Wie findest du es?« Jane betrachtete das Buch in ihren Händen. Ihr Buch. Vor wenigen Minuten erst hatte sie die Expresszustellung von Kelly bekommen und geöffnet. Jetzt telefonierte sie mit ihm, um ihm zu danken. »Es ist wunderschön«, sagte Jane und ließ ihre Finger über das Hochglanzcover gleiten, auf das der Titel und ihr Name in erhabenen Buchstaben geprägt waren. »Ich kann nicht glauben, dass es meins ist.« »In ein paar Tagen wirst du eine Sendung von fünfzig Exemplaren erhalten«, sagte Kelly. »Aber ich konnte nicht abwarten, wie du reagieren würdest.« Jane schlug das Buch auf und betrachtete die erste Seite. Langsam blätterte sie die Seiten um und sah die Worte an ihr vorüberziehen. Der Geruch der Tinte und des Papiers stiegen auf wie der Duft einer kostbaren Blume. Sie schloss die Augen und atmete diesen Duft ein. »Danke, dass du’s mir geschickt hast«, sagte sie. »War mir ein Vergnügen«, sagte Kelly. »Ich habe auch noch ein paar Neuigkeiten.« 194
»Ich glaube nicht, dass es noch besser werden kann«, sagte Jane. »Was gibt es denn?« »Nick hat ein Exemplar an Comfort und Joy geschickt.« »Ist das ein Buchladen?«, fragte Jane. »Comfort und Joy«, sagte Kelly. »Du kennst sie nicht?« Jane dachte einen Moment lang nach. »Die aus dem Fernsehen?«, fragte sie dann. »Eben die«, bestätigte Kelly. Jane atmete tief durch. Comfort und Joy waren die Königinnen des Vorabendprogramms. Joy, eine lebhafte Blondine mit konservativen Ansichten und unerträglich süßen Drillingen, von denen sie unablässig sprach, war das komplette Gegenteil von Comfort, einer liberalen Afroamerikanerin aus Louisiana, die in nüchternem Ton ihre Lebensweisheiten unters Volk streute. Sie waren die Gewinner einer der unzähligen Reality-Shows gewesen, die das Fernsehen die letzten Jahre erobert hatten, und die daraus entstandene Talkshow hätte eigentlich nur eine Staffel lang laufen sollen. Doch zur allgemeinen Überraschung war die Sendung bald zum Renner geworden, besonders unter den weiblichen Zuschauern, und mittlerweile lief sie im fünften Jahr. Ein paarmal im Jahr widmeten Comfort und Joy eine Folge einem aktuellen Buchtitel. Sie interviewten den Autor und diskutierten das Buch mit dem Publikum. Fast ausnahmslos verkauften sich die ausgewählten Bücher im Anschluss wie von selbst. Lucy hatte ein auffälliges Regal mit Empfehlungen aus der Sendung eingerichtet, und meistens standen unentschlossene Kunden schließlich mit wenigstens einem dieser Bücher in der Hand an der Kasse. »Sie wollen mich?«, fragte Jane. 195
»Nick verhandelt noch über die Details mit ihnen«, sagte Kelly. »Ich hätte ihm den Vortritt mit den guten Neuigkeiten lassen sollen, aber ich konnte nicht widerstehen. Er wird mich umbringen, weil ich ihm die Überraschung verdorben habe.« »Ich komme ins Fernsehen?«, fragte Jane. »Nicht einfach nur ins Fernsehen, Jane. Comfort und Joy. Das wird eine Riesensache. Nick wird dich später noch mit den Einzelheiten vertraut machen.« Sie redeten noch ein paar Minuten. Nachdem Jane aufgelegt hatte, saß sie wie benebelt an ihrem Tisch und starrte auf das Buch vor ihr. Das geschieht nicht wirklich, dachte sie. Es muss eine Verwechslung gegeben haben. Das ist das Buch von jemand anderem. Irgendwie ist mein Name auf den Umschlag geraten. »Du hast ein Buch!« Lucys Stimme riss Jane aus ihren Gedanken. Lucy schnappte sich das Buch vom Tisch und schaute es sich an. Sie drehte es um und studierte den Klappentext, dann schlug sie es auf und warf einen Blick auf die Autorenbiographie. Sie erinnerte Jane an eine frischgebackene Mutter, die sich vergewissert, dass an ihrem Baby auch alle Finger und Zehen dran waren. »Kann ich’s ins Schaufenster legen?«, fragte Lucy. Jane schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte sie. »Es ist ein Vorabexemplar. Nächste Woche kriegen wir die große Lieferung.« Lucy quietschte vor Freude. »Dein erstes Buch!«, rief sie. »Das ist so was von cool.« Dann schien ihr etwas einzufallen. »Na ja, nicht dein erstes Buch«, verbesserte sie sich. »Ach, du weißt schon, was ich meine.« »Ich weiß«, nickte Jane. »Und irgendwie ist es wirklich das erste. Ich habe so viele Jahre nichts mehr veröf196
fentlicht, dass ich gar nicht darüber nachdenken mag. Und damals war es noch nicht so aufregend. Da gab es noch keine Publicity, keine Interviews oder Talkshows.« »Talkshows?«, fragte Lucy. »Kommst du in eine Talkshow? Was denn für eine, etwas Regionales? Ich hoffe doch, nicht dieses Buchgeflüster mit Bonnie, das sonntags auf Kanal 5 läuft. Die gute Frau hat einfach ein Rad ab. Kannst du dir vorstellen, dass sie Amy Tan gebeten hat, ihr die Zubereitung chinesischer Nudelgerichte zu erklären?« »Nein«, sagte Jane. »Nicht auf Kanal 5.« Sie erzählte Lucy von Comfort und Joy. Dann hielt sie sich die Ohren zu, als Lucy vor Aufregung schrie. »Warte, bis Walter …«, hob Lucy an, dann beruhigte sie sich ein bisschen. »Tut mir leid«, fügte sie kurz darauf hinzu. Jane winkte ab. »Ist schon okay«, sagte sie. Seit ihrem letzten Gespräch mit Walter hatte sich ihre Beziehung etwas abgekühlt. Obwohl sie noch miteinander sprachen, hatten sie sich nicht mehr verabredet oder gemeinsam gegessen. Sie wusste nicht, ob er sie aufgegeben hatte oder noch immer über die Situation nachdachte, und sie hatte ihm auch keine Antwort abverlangt. Sie fühlte sich natürlich schuldig, aber sie sagte sich, dass er wahrscheinlich noch etwas Zeit brauchte. »Ich bin mir sicher, er wird sich freuen, selbst wenn ihr nicht …« Lucy runzelte die Stirn. »Ich halte jetzt besser meinen Mund«, sagte sie. Sie gab Jane das Buch zurück. »Ich bin vorne im Laden«, flüsterte sie. »Und kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten.« Kaum, dass Lucy gegangen war, klingelte das Telefon abermals. Jane hob ab und hörte Nick Trillings Stimme. »Der Mistkerl hat es dir schon verraten«, sagte er. 197
»Was verraten?«, fragte Jane. »Versuch nicht, ihn in Schutz zu nehmen. Ich hab ihn gehört. Ich kam gerade in sein Büro, um Bescheid zu geben, dass dein Auftritt bei der Show bestätigt wurde. Ich musste ihn erst zusammenstauchen, sonst hätte ich dich gleich angerufen. Einen solchen Scheiß kann ich ihm einfach nicht durchgehen lassen. Entschuldige bitte meine Ausdrucksweise.« Jane unterdrückte ein Lachen. Nicks stürmische Art war Teil seines besonderen Charmes. »Ich gestehe«, sagte sie. »Du bist nächsten Mittwoch in der Show«, informierte sie Nick. »Das Buch erscheint Dienstag, also ist das perfekt. Wenn wir nur ein Prozent der fünf Millionen Zuschauerinnen dazu bringen, das Buch zu kaufen, haben wir die Erstauflage abverkauft. Was mich daran erinnert, ich muss Kelly noch dazu bringen, die Auflage auf Hunderttausend zu erhöhen.« »Hunderttausend«, sagte Jane. »Einhunderttausend Bücher?« »Genau«, sagte Nick. »Oh, und Comfort und Joy schenken jedem im Publikum ein Exemplar. Das sollte eine gute Mundpropaganda geben. Ich fordere nicht gern das Schicksal heraus, aber ich glaube, die Spitze der Liste kommt in Sicht.« »Welcher Liste?«, rätselte Jane. »Ich rede von der Times-Liste«, sagte Nick. »Die Bestsellerliste, du weißt schon.« »Du machst Witze«, sagte Jane. »Hast du irgendwo Holz in der Nähe?«, erkundigte sich Nick. »Dann klopf drauf. Meine Worte in Gottes Gehörgang.« »Einhunderttausend Bücher«, murmelte Jane benommen. 198
»Eine Eins mit fünf Nullen«, bestätigte Nick. »Wie gesagt, ich muss mich jetzt wirklich um Kelly kümmern. Und wenn er mir irgendwie dumm kommt wegen der Auflage, werde ich ihn daran erinnern, dass meine Schwester Lektorin bei Random House ist, und dass ich keine Probleme damit habe, ihr deine Nummer zu geben. Oder hat dein Vertrag eine Klausel, die dich an uns bindet?« »Ich weiß nicht«, antwortete Jane. »Ich schätze schon.« »Zu schade«, meinte Nick. »Das würde ihn nämlich echt fertigmachen. Wie auch immer, ich muss mich ranhalten. Meine Sekretärin ruft dich später noch mal wegen deinem Flug und dem Hotel an.« Er legte auf, bevor ihm Jane noch irgendwelche Fragen stellen konnte, zum Beispiel, was sie in der Show eigentlich sagen, oder was sie dafür anziehen sollte. Ich sollte mir wahrscheinlich eine Folge ansehen, dachte sie. Sie fragte sich, ob sie ein Geschenk mitbringen sollte. Sie zuckte zusammen, als das Telefon ein drittes Mal klingelte. Fast hatte sie Angst, den Hörer abzunehmen. »Hallo?«, sagte sie. »Jane, ich bin’s noch mal, Kelly. Nick ist gerade bei mir und kugelt mir den Arm aus, wenn ich deine Auflage nicht erhöhe. Ich gebe es nur ungern zu, aber er hat Recht. Wir gehen rauf auf hunderttausend. Dann wollte ich dir noch sagen, dass ich dich nach Chicago begleiten werde. Und noch eine Neuigkeit.« »Zwei«, hörte Jane Nick rufen. »Zwei«, verbesserte sich Kelly. »Ich habe einen Anruf von dem Mann bekommen, der die Konferenz der Gilde romantischer Schriftsteller organisiert. Die Konferenz beginnt nächsten Freitag, und sie wollen, dass du dort 199
Bücher signierst. Das Ganze findet in New Orleans statt. Wir buchen dir einen Flug von Chicago aus.« Janes Kopf schwirrte von all den Neuigkeiten, die sie die letzte Stunde erfahren hatte. Comfort und Joy. Einhunderttausend. Die New York Times. Die Wörter jagten wie Wolken im Wind durch ihren Kopf. Chicago. New Orleans. Bücher signieren. Es war überwältigend. Ich muss eine Liste machen, dachte sie. Dann fiel ihr wieder ein, was Kelly gesagt hatte. »Was ist die zweite Neuigkeit?«, fragte sie. Sie hatte fast Angst vor der Antwort. »Entertainment Weekly«, antwortete Kelly. »Sie wollen dich für ihre Büchersparte. Sie machen eine große Ausgabe mit den heißesten Titeln für den Sommer. Du bist ihre erste Wahl. Wie es der Zufall will, wohnt eine ihrer Autorinnen in Chicago. Sie macht ein Interview mit dir im Hotel, bevor wir zur Show fahren.« Jane hörte Nick im Hintergrund etwas sagen. »Nick meint, ich soll dir ausrichten, dass sie Nora Collins für dich rausgeschmissen haben«, sagte er. »Ich könnte mir denken, dass sie nicht allzu glücklich darüber ist.« Jane hörte Nick etwas rufen, das wie »träge alte Kuh« klang. Kelly lachte. »Wie auch immer, ich denke, das waren alle Neuigkeiten für heute.« »Das will ich hoffen«, sagte Jane. »Ich glaube nicht, dass ich noch mehr verkraften würde. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wo ich mit den Vorbereitungen anfangen soll.« »Mach dir keine Sorgen. Wir helfen dir da durch«, versicherte ihr Kelly. »Du schaffst das schon. Denk dran, du bist jetzt ein Superstar.« »Ein Superstar«, wiederholte Jane. »Alles klar.« Sie legte das dritte Mal an diesem Morgen auf. Die 200
nächsten zehn Minuten starrte sie das Telefon an und wartete darauf, dass es noch einmal klingelte. Da es stumm blieb, nahm sie einen Notizblock zur Hand und begann, eine Liste zu erstellen, mit allem was sie vor ihrer Abreise nach Chicago noch erledigen musste. Als sie damit fertig war, waren es nur zwei Dinge: 1. Lucy erklären, was sie im Laden machen muss 2. Etwas zum Anziehen finden »Es scheint, es gibt doch nicht so viel zu klären«, sagte sie und ließ die Liste auf sich wirken. Sie hatte das Gefühl, dass das nicht alles sein konnte. Dann fiel ihr noch etwas ein. 3. Tom Noch einen dritten Punkt auf der Liste zu haben, war irgendwie eine Erleichterung, auch wenn sie ganz genau wusste, dass Lucy sich sehr gerne um Tom kümmern würde. Damit konnte sie diesen Punkt gleich wieder von der Liste streichen, und das Gefühl genießen, schon etwas erledigt zu haben. Momentan fühlte sich ihr ganzes Leben so an, als wäre es völlig außer Kontrolle geraten. Ihr Buch begann, ein Eigenleben zu entwickeln, und sie hinter sich herzuziehen. Nach so langer Zeit, die sie auf eine neue Veröffentlichung gewartet hatte, passierte auf einmal alles viel zu schnell. Sie rief Lucy herein und berichtete ihr kurz darüber, was los war. Wie sie erwartet hatte, war Lucy ganz wild darauf, die Woche mit Tom zu verbringen. Die Dinge, die den Laden betrafen, brauchten auch nicht allzu lange, 201
und eine Viertelstunde später hatte Jane nur noch einen Punkt auf ihrer Liste übrig. »Was trägt man im Vorabendprogramm?«, fragte sie Lucy. »Nichts Weißes«, antwortete Lucy sofort. »Weiß?«, fragte Jane. »Wieso kein Weiß?« »Falls du deine Tage bekommst«, erklärte Lucy. Als Jane sie verwirrt ansah, fügte sie hinzu: »Ich meine ja nur, du willst nicht da vorne auf der Bühne sitzen und auf einmal ’ne Karte von Sally kriegen.« »Woher hast du nur diese Sprüche?«, fragte Jane. »Tante Rosa? Eine Karte von Sally? Du bist ja ein gynäkologisches Wörterbuch.« »Frag meine Mutter«, sagte Lucy. »Sie hat nie etwas beim Namen genannt. Bis ich siebzehn wurde, nannte ich meine Vagina meine Pipu.« »Ich schätze, das ist besser, als von deinem Damengarten zu sprechen«, sinnierte Jane. »Wie auch immer, davon abgesehen, dass man kein Weiß tragen sollte, haben wir die Kleiderauswahl noch nicht besonders eingegrenzt.« »Ich komme heute Abend bei dir vorbei«, sagte Lucy. »Wir wühlen uns durch deinen Schrank und schauen, was du so hast. Ich bin sicher, es wird sich etwas finden. Und wenn nicht, können wir immer noch in ein Kaufhaus gehen.« Jane schüttelte sich. »In ein Kaufhaus«, sagte sie in einem Ton, als spräche sie von einer unheilbaren Krankheit. »Nun, du wirst dich vielleicht einfach dazu zwingen müssen«, erklärte ihr Lucy. »Ich lasse dich nicht zu Comfort und Joy, solange du so aussiehst wie immer.« »Wie immer?«, fragte Jane. »Was soll das heißen?« Lucy wedelte mit der Hand vor ihrer Nase herum. »Na so eben«, sagte sie. »Wie eine Hausfrau.« 202
»Das ist nicht wahr!«, rief Jane aus. »Tut mir leid«, sagte Lucy. »Vielleicht ist es nicht ganz so schlimm. Aber nah dran.« »Byron scheint das nicht so gesehen zu haben«, sagte Jane mit verletztem Stolz. »Und Walter auch nicht.« »Byron würde es mit allem treiben, was zwei Beine hat«, rief Lucy ihr ins Gedächtnis. »Und Walter ist … Walter. Vertrau mir in dieser Sache. Du brauchst einen neuen Anstrich.« Jane blickte in den kleinen Spiegel an der Wand. Sie sah müde aus, und ihre Frisur war vielleicht wirklich ein bisschen einfallslos. »Ich schätze, ich könnte etwas Frische vertragen«, gab sie zu. »Wir fangen gleich nach der Arbeit an«, sagte Lucy. »Das wird ein Spaß.« Die Türglocke klingelte, und Lucy eilte davon, um den Kunden zu bedienen. Jane blieb im Büro zurück und studierte ihr Spiegelbild. »Das wird ein Spaß.« Sie wiederholte Lucys Versprechen, und versuchte, es so klingen zu lassen, als ob sie daran glaubte.
203
21 Charles berührte ihre Wange. »Du bist wie die Trauertaube«, sagte er. »Sie ist nicht die lauteste. Sie hat nicht das farbenfrohste Gefieder. Aber ihr Lied ist das schönste aller Tauben. Schön genug, um dein Herz zu brechen.« – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 246 »Was sollen wir damit anstellen?« Jane begutachtete sich im Spiegel. Hinter ihr stand Lucy neben einer atemberaubend schönen Japanerin in einem schwarzen Rollkragenpullover und eleganten schwarzen Hosen. Die Frau blickte verblüfft auf Janes Haar herab, als sei sie gerade Zeuge eines Unfalls geworden. Sie schien zu überlegen, ob das Opfer noch gerettet werden konnte oder nicht. »Keine Sorge«, sagte Lucy und klopfte Jane auf die Schulter. »Aiko kann Wunder vollbringen.« Jane lächelte matt. Sie bereute es schon, dass sie sich von Lucy hatte überreden lassen, ihre Friseurin aufzusuchen. Doch Lucy zufolge hatte sich Aiko großzügig bereiterklärt, ihr kurzfristig diesen Termin zu geben. Nun saß Jane in ihrem Stuhl und erwartete Aikos Urteil. Aiko stocherte mit einem Kamm in Janes Haar herum. »Lasch«, sagte sie. »Verzeihung«, entschuldigte sich Jane. Aiko schüttelte den Kopf. »Schreckliche Farbe«, sagte sie. »Habe ich selbst gemacht«, erklärte Jane. »Sieht auch so aus«, sagte Aiko und seufzte tief. 204
»Können wir ihr helfen?«, fragte Lucy. »Ich weiß noch nicht«, antwortete Aiko. »Es ist schlimm.« »Aber versuchen können wir’s?«, fragte Lucy hoffnungsvoll. Aiko nahm sich eine Schere und ließ sie mehrmals auf- und zuschnappen, während sie Jane im Spiegel betrachtete. »Versuchen kann ich es«, bestätigte sie. Sie drehte den Stuhl herum, so dass Jane sich nicht länger im Spiegel sehen konnte. »Aiko mag es nicht, wenn man sieht, was sie tut«, erklärte Lucy. »Es stört ihren Schaffensprozess.« »Solange sie nichts zu Drastisches tut«, sagte Jane. Lucy legte einen Finger an die Lippen. »Sag nichts«, flüsterte sie in Janes Ohr. »Sie ist ein wenig temperamentvoll. Vertrau ihr einfach. Sie ist ein Genie.« Jane sah zu, wie sich Aiko ein paar schwarze Latexhandschuhe über die schmalen Hände zog. »Zuerst die Farbe«, verkündete sie. Jane beschloss, dass die beste Verhaltensweise wäre, einfach die Augen zu schließen und an England zu denken. Sie wollte gar nicht wissen, was Aiko mit ihrem Kopf anstellte. Es wird sicher alles gut, wiederholte sie bei sich selbst. Alles wird gut. Sie machte sich vor, sie hätte einen Traum, in dem sie von einem Stuhl zum nächsten transportiert wurde. Alle möglichen Mittel wurden in ihr Haar gerieben und wieder ausgespült. Scheren klapperten an ihren Ohren. Heiße Luft blies ihr ins Gesicht. Dann sagte Aiko: »Erledigt.« Der Stuhl schwang herum, und Jane sah ihre neue Erscheinung im Spiegel. Sie schnappte nach Luft. »Ich sehe ja wunderschön aus«, sagte sie atemlos. 205
»Ja«, sagte Aiko. Zum ersten Mal, seit Jane ihren Salon betreten hatte, lächelte die Japanerin. »Schön.« Jane wusste nicht, ob sie ihre Frisur oder Jane selbst meinte, aber es war ihr gleich. Sie konnte kaum glauben, wie sie aussah. Ihr Haar hatte nun einen tiefgoldenen Braunton. Aiko hatte einiges davon abgeschnitten, so dass es nun Janes Gesicht umrahmte, statt es wie ein altersschwacher Adventskranz zu krönen. Es war modern, sah natürlich aus, und es ist perfekt, dachte Jane. »Es ist ein Wunder.« Lucy stand neben Jane und starrte auf ihren Kopf. »Ich weiß«, sagte Aiko. Jane hob die Hand und strich über ihr Haar, wo es ihre Wangen berührte. Es war ihr, als würde sie das Gesicht einer Fremden berühren. »Das bin wirklich ich«, sagte sie. »Jetzt zu deinem Make-up«, sagte Lucy. »Kein Make-up«, sagte Aiko. »Bloß Haare.« »Nein, nein«, sagte Lucy. »Das machen wir zu Hause.« »Viel Glück«, sagte Aiko, und ging davon. »Danke«, rief Jane ihr nach. Sie blickte zu Lucy auf. »Sind wir fertig?«, fragte sie. Lucy nickte und half Jane aus dem Stuhl. Jane zahlte an der Kasse bei einem dünnen, schwarz gekleideten Jungen, der sie wortlos den Kreditkartenbeleg unterschreiben ließ. »Die Leute hier sind ziemlich schweigsam, nicht?«, fragte Jane, als sie und Lucy den Salon verließen. »Aiko steht total auf Minimalismus«, erklärte Lucy. »Ich glaube, sie mag dich«, fügte sie hinzu, als sie in Janes Auto stiegen. »Normalerweise redet sie nicht so viel.« Jane fuhr nach Hause. Unterwegs hielten sie an einer 206
Drogerie, wo Lucy ein paar Sachen einkaufen konnte, die sie, wie sie behauptete, für den zweiten Teil von Janes Verwandlung brauchen würden. Lucy ließ Jane im Auto warten, während sie einkaufte. Jane verbrachte die Zeit damit, sich im Rückspiegel anzusehen. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass das wirklich sie war, die sie da sah, und sie musste dem Impuls widerstehen, sich umzudrehen, um sich zu vergewissern, dass da keine andere Frau auf dem Rücksitz saß. Als Lucy wiederkam, trug sie eine große Tasche. »Ist das alles für mich?«, fragte Jane. »Ist es so schlimm?« »Es sind nur ein paar Kleinigkeiten«, sagte Lucy. Ihre Lüge wurde zwanzig Minuten später entlarvt, als sie in Janes Schlafzimmer die Tüte auf ihr Bett entleerte, und sich ein Strom von Tuben, Puderdosen, Bürsten, Gläsern und verschiedenen anderen Dingen, die Jane nicht erkannte, daraus ergoss. »Ich wusste nicht, dass du eine Kosmetikerin bist«, scherzte Jane. »Ich musste das Make-up der ganzen Band übernehmen«, sagte Lucy. »Ein paar Kniffe habe ich dabei auch gelernt.« Wie schon Aiko zuvor, gestatte auch Lucy ihr nicht, ihr bei der Arbeit zuzusehen. Sie erklärte Jane aber, was sie tat, und zeigte ihr die verschiedenen Bürsten, Pinzetten, Wimpernzangen und Konturenstifte, die sie verwendete. »Trag den dunkelsten Schatten immer ganz innen auf«, sagte sie. Darauf folgte: »Benutz einen Konturenstift, um deinen Lippen Form zu geben«, »Halte die Wimpernzange mindestens zehn Sekunden lang«, und »Das Rouge hier kommt oben auf die Wangen.« »Kannst du’s dir merken?«, fragte sie zwischen den Erklärungen. 207
»Ich glaube, ja«, sagte Jane angespannt. »Ich werde es dir aufschreiben«, sagte Lucy und schüttelte den Kopf. »Es ist alles ziemlich kompliziert«, sagte Jane. »Zu meiner Zeit bissen wir uns nur auf die Lippen, damit sie ein wenig Farbe bekamen.« »Komm mir nicht mit ›Damals gab’s noch kein Maybelline‹«, sagte Lucy. »Du hattest tausend Jahre Zeit, zu lernen, wie man Make-up benutzt.« »Jetzt übertreib mal nicht«, sagte Jane. »Ich habe einfach nie viel Sinn darin gesehen.« »Das hättest du aber sollen«, sagte Lucy. »Du siehst atemberaubend aus.« Sie nahm einen Handspiegel und hielt ihn vor Janes Gesicht. »Siehst du?« Jane war von ihrer neuen Frisur überwältigt gewesen; jetzt war sie gleichermaßen von der Verwandlung ihres Gesichts fasziniert. Sie war immer noch sie selbst, aber ein neues und verbessertes Selbst. Das Beste aber war, sie war nicht aufgetakelt wie eine Kurtisane. »Ich hatte Angst, ich würde wie Marie Antoinette aussehen«, gestand sie Lucy. »Der Vogelscheiße-Look ist seit ein paar Jahren aus der Mode«, stichelte Lucy. Jane berührte ihr Gesicht. »Ich hatte keine Ahnung, dass ich so aussehen kann«, sagte sie. Dann fing sie zu ihrer eigenen großen Überraschung zu weinen an. »Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte sie noch einmal. Lucy legte den Arm um Jane. »Du bist seit zweihundert Jahren eine Lady«, sagte sie leise. »Doch irgendwann während dieser Zeit hast du verlernt, eine Frau zu sein.« Jane lachte, während Lucy versuchte, ernsthaft zu bleiben. »Die Zeile wäre eines Bulwer-Lyttons würdig 208
gewesen«, sagte Jane. »Aber ich weiß deine Anteilnahme zu schätzen. Danke vielmals.« Sie trocknete ihre Augen mit einem von Lucys Taschentüchern. »Ich werde nie in der Lage sein, das alleine so hinzubekommen, weißt du.« »Es ist wirklich nicht so schwer«, sagte Lucy. »Jetzt lass uns mal sehen, was du so in deinem Schrank hast.« »Warte noch einen Moment«, sagte Jane. »Bleib einfach noch ein bisschen hier bei mir sitzen.« Lucy setzte sich wieder aufs Bett. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie. »Es ist schon okay«, sagte Jane. »Nur ein bisschen viel auf einmal. Es war wirklich eine lange Zeit. Für alles. Aber jetzt bin ich wieder eine Schriftstellerin. Es geht alles so schnell.« »Du hast nicht mehr daran geglaubt, oder?«, fragte Lucy. Jane schüttelte den Kopf. »Nein«, gab sie zu. »Irgendwie … na ja, hatte ich die Hoffnung schon fast aufgegeben.« Lucy zögerte einen Moment. »Warst du wirklich nicht … mit jemandem zusammen … seit Byron?« »Doch, schon«, sagte Jane. »Ich bin vielleicht keine Kameliendame, aber ich hatte auch so meine Herzensangelegenheiten.« »Herzensangelegenheiten«, wiederholte Lucy. »Mit anderen Worten, du hattest keinen Sex.« »Sei nicht so vulgär«, sagte Jane streng. »Nicht einmal mit anderen Vampiren?«, fragte Lucy. »Besonders nicht mit denen«, sagte Jane. »Du redest nie über sie«, sagte Lucy. »Warum nicht? Hast du denn keine, was weiß ich, Vampirfreunde?« Jane lachte. »Wenn du es sagst, klingt es wie ein Gartenclub«, sagte sie. Sie dachte einen Moment nach, wie 209
viel sie Lucy erzählen sollte. Es war kein Thema, über das sie sich allzu gerne unterhielt. »Ich habe schon andere kennengelernt«, sagte sie. »Die ersten fünfzig oder sechzig Jahre fand ich ihre Gesellschaft auch angenehm.« »Gab es viele von ihnen?«, fragte Lucy. »Gibt es viele von ihnen?« »Nicht sehr viele«, sagte Jane. »Aber damals sahen wir uns öfter als heute. Ich hatte ein paar Freunde«, fuhr sie fort. »Von einigen von ihnen hast du sogar schon gehört. Und nein, ich werde dir nicht verraten, wer sie sind«, fügte sie hinzu, bevor Lucy fragen konnte. »Eine der Regeln ist, das wir einander nicht preisgeben, es sei denn, es ist absolut notwendig. Nachdem du dich verwandelt hast, willst du jedenfalls mit denen zusammen sein, die so sind wie du. Es beruhigt einen etwas. Mit der Zeit aber stellte ich fest, das wir abgesehen davon, was wir einmal waren, wenig Gemeinsamkeiten hatten. Ich verbrachte immer weniger Zeit mit den anderen. Die letzten hundert Jahre hatte ich so gut wie keinen Kontakt mehr zu ihnen.« »Bis jetzt«, sagte Lucy. »Bis Byron hier auftauchte.« »Bis Byron hier auftauchte«, stimmte Jane zu. »Ich tue das alles aber nicht für ihn«, betonte sie. »Ich tue es für mich selbst.« »Und vielleicht ein kleines bisschen für Walter?«, forschte Lucy. »Mach diesen schönen Moment nicht kaputt«, sagte Jane. Sie nahm Lucys Hand. »Du bedeutest mir wirklich sehr viel«, sagte sie. »Ich hoffe, du weißt das.« »Ich weiß«, sagte Lucy. »Auch du bedeutest mir viel.« Sie stand auf und zog Jane mit sich. »Weshalb ich jetzt sicherstellen werde, dass dein Auftritt im landesweiten Fernsehen keine Tragödie wird.« 210
22 Sie sah hinaus in den Garten. Dort, bei den Rosenbüschen, stand die Gestalt eines Mannes. Er sah zu ihrem Fenster hinauf, ohne sich zu bewegen. War es Charles? Sie versuchte, sein Gesicht zu erkennen, aber der Regen verdeckte seine Züge. Sie rannte die Treppe hinab und aus der Küchentür hinaus. Ihre Füße rutschten auf dem nassen Gras, als sie zur Rückseite des Hauses rannte. Doch als sie den Garten erreichte, war der Mann verschwunden. Eine einzige rote Rose lag dort, wo er gestanden hatte. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 193 Jane sah den Koffern zu, wie sie auf dem Gepäckband im Kreis fuhren. Einer nach dem anderen wurden sie von den wartenden Reisenden aufgenommen und rollten mit ihren Besitzern davon. Vor einiger Zeit waren die letzten aus den tiefen Eingeweiden des Flughafens ausgespuckt worden, so dass nun nur noch drei vereinsamte Taschen und eine Kiste mit der Aufschrift TIEFKÜHLFISCH blieben. Langsam kreisten sie auf der Gepäckausgabe, bis die Maschinerie mit einem Rucken zum Stillstand kam. »Sieht so aus, als ob wir auf der Insel des verlorenen Gepäcks gestrandet wären«, meinte ein Mann neben Jane. »Da können wir uns wohl schon mal anstellen gehen.« Er drehte sich um und zog davon. Jane sah, dass er auf eine Schlange von etwa zwanzig Menschen zusteuerte, die resigniert vor dem Büro ihrer Fluggesellschaft anstanden. Ihre Gesichter stellten ihre Frustration zur Schau. Ein letztes Mal ließ Jane den Blick über die ver211
bliebenen Gepäckstücke schweifen, in der Hoffnung, ihre Koffer irgendwie übersehen zu haben. Dann gab sie auf und stellte sich zu den anderen. Eine halbe Stunde später stand sie vor einer grimmig dreinblickenden Frau, die ihr Ticket verlangte, ohne sie überhaupt anzusehen. Jane reichte ihr ihre Reiseunterlagen mit dem darangehefteten Gepäckabschnitt. »Können Sie mir sagen, wann ich mit meinen Sachen rechnen kann?«, fragte sie. Jane fand, das Grunzen der Frau ließ auf eine gehörige Portion Schadenfreude schließen. Sie fragte sich, was für eine Sorte Mensch man sein musste, um tagein, tagaus einen solchen Job machen zu können, in dem man stundenlang nur mit verärgerten Reisenden und verloren gegangenen Gepäckstücken zu tun hatte. Sadistin, dachte sie, während die Frau mit unverhohlener Boshaftigkeit etwas in die Tastatur eines Computers eintippte. »Es gibt keine Unterlagen dazu«, sagte die Frau. »Tut mir leid.« »Keine Unterlagen?«, fragte Jane. »Ich verstehe nicht ganz. Ich habe doch einen Gepäckabschnitt.« Sie deutete auf die Dokumente, die die Frau noch immer in der Hand hielt. »Es gibt keine Unterlagen«, wiederholte die Frau. Jane schenkte der Frau ihr süßestes Lächeln. »Es muss doch sicher irgendeine Spur von meinem Gepäck geben.« Die Frau seufzte tief. »Es könnte überall sein«, sagte sie müde. »Albuquerque, Neu-Delhi, Paris. Suchen Sie sich was aus. Wenn es nicht im System ist, existiert es offiziell auch nicht.« »Aber sicher –«, begann Jane. »Füllen Sie das hier aus und schicken Sie’s uns«, unterbrach die Frau und schob Jane ein Formular zu. »Wir 212
erstatten Ihnen bis zu hundertfünfzig Dollar.« Sie sah an Jane vorbei. »Der Nächste«, sagte sie. Jane war im Begriff, einen Streit zu beginnen, aber als sie die wachsende Verärgerung der Leute hinter sich bemerkte, beschloss sie, dass es keinen Sinn hatte. Die Frau würde ihr ganz offensichtlich keine Hilfe mehr sein. Davon abgesehen musste Jane sich beeilen, wenn sie noch rechtzeitig im Hotel sein wollte. Es war halb zehn, und ihr Interview mit der Entertainment-Weekly-Reporterin war für elf angesetzt. Entrüstet zog sie davon und hinaus Richtung Taxistand. Die Fahrt vom O’Hare-Flughafen zum Hotel dauerte sehr viel länger, als sie erwartet hatte, und als sie nach weiteren zehn Minuten am Empfangschalter endlich ihr Zimmer betrat, war es Viertel vor elf. Sie hatte kaum Zeit, ins Bad zu gehen und ihr Gesicht zu waschen, als es auch schon an der Tür klopfte. Sie öffnete und sah sich einer Frau gegenüber, die viel zu jung für eine Reporterin schien. Sie war gertenschlank, tadellos gekleidet, und ihr Make-up war ohne jeden Makel. Ihr goldbraunes Haar fiel über ihre Schultern und harmonisierte perfekt mit ihren grünen Augen. Jane hasste sie vom ersten Moment an. »Hi«, sagte die Frau fröhlich. »Ich bin Farrah.« »Farrah«, wiederholte Jane. Farrah lachte. »Ich weiß schon. Meine Mutter war ein riesiger Fan von Drei Engel für Charlie. Meine Schwestern heißen Kate und Jaclyn. Es ist alles ganz schön retro, irgendwie.« Ohne weitere Einladung trat sie ein. »Was für ein tolles Zimmer!«, begeisterte sie sich. »So rot!« »Ja«, sagte Jane. Die ungezwungenen Manieren der jungen Frau hatten sie überrumpelt. Sie hatte jemand Äl213
teren erwartet, jemand Zurückhaltenderen. Ich hätte wohl besser einen Blick in das Magazin werfen sollen, dachte sie. Sie hatte eine Ausgabe gekauft, um sie im Flugzeug zu lesen, war aber kurz nach dem Start eingeschlafen und erst zur Landung in Chicago wieder aufgewacht. »Ich war ja so aufgeregt, als ich diesen Auftrag bekam«, sagte Farrah, zog ihre Jacke aus und setzte sich auf einen der Stühle im Wohnbereich der Suite. »Ich liebe Bücher.« »Ist das so?«, fragte Jane höflich. Farrah nickte. »In der Highschool war ich ein Riesenfan von Cherry High Gossip Club«, sagte sie. Jane unterdrückte ein Lachen. Die Cherry-HighRomane waren so ziemlich die geistlosesten Bücher, die ihr je untergekommen waren. Sie drehten sich um eine Gruppe von Mädchen, die ein anonymes Skandalblatt an ihrer nur reichen Töchter vorbehaltenen Highschool vertrieben. Wie zu erwarten lag die Auflage in den Millionen, besonders, seit die Fernsehsendung, die auf den Büchern basierte, zum Hit geworden war. »Kennen Sie Felicity Bingham?«, fragte Farrah. Das war die Autorin der Reihe. »Ich fürchte nicht«, sagte Jane. Farrah nahm ein kleines Diktiergerät aus ihrer Tasche. »Ein Jammer. Ich nahm an, ihr Schriftsteller kennt euch alle irgendwie«, sagte sie. Jane nahm auf der Couch gegenüber Platz. »Brakeston ist nicht gerade die literarische Hauptstadt der Welt«, sagte sie. »Brakeston?«, wiederholte Farrah. Ihre makellosen Brauen legten sich in Falten. »Da wohne ich«, sagte Jane. »Im Bundesstaat New York.« 214
Farrah nickte. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Tut mir leid. Ich hatte furchtbar viel um die Ohren diese Woche.« »Ist schon gut«, sagte Jane. Farrah hantierte eine Minute mit dem Diktiergerät, während Jane geduldig wartete. Dann legte sie es zwischen ihnen auf den Tisch. »Okay«, sagte sie. »Fangen wir an. Sie sind Engländerin, richtig?« Jane wiederholte die Geschichte, die sie sich vorher zurechtgelegt hatte, denn Nick hatte ihr versichert, dass dies nicht ihr letztes Interview sein würde. Sie kam aus England, war aber in jungen Jahren in die Vereinigten Staaten gezogen, als ihr Vater, ein Diplomat, versetzt worden war. Sie hatte keine Geschwister. Ihre Eltern waren beide verstorben. Die Geschichte war tragisch, sie erfüllte ihren Zweck, und Jane erzählte sie gut. »Das ist ziemlich genau das, was in der Biographie stand, die Ihr Verleger uns geschickt hat«, sagte Farrah. »Ich habe im Internet nach mehr gesucht, aber nichts gefunden. Haben Sie keine Website?« Jane schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich bin nicht ganz auf dem Laufenden, was die Technik angeht«, sagte sie. »In dieser Beziehung bin ich sehr altmodisch.« »Altmodisch«, wiederholte Farrah. »Das ist irgendwie süß. Wenn ich sonst Leute interviewe, schreiben sie die ganze Zeit SMS oder checken ihre E-Mails.« Sie stellte noch ein paar langweilige Fragen (Was für Hobbys hatte sie? Wie sah ihr Schreiballtag aus? Wie fühlte es sich an, in ihrem Alter den ersten Roman zu veröffentlichen?), die Jane, so hoffte sie, allesamt mit Charme und Witz beantwortete. Dann räusperte sich Farrah und nahm eine ernstere Haltung an. »Woher haben Sie die Idee für diesen Roman genommen?« 215
»Ich habe einige Jahre daran gearbeitet«, sagte Jane. »Die Idee kam mir, als eine Freundin sich ein neues Haus bauen ließ. Ich begann, darüber nachzudenken, wie intim die Beziehung zwischen Architekt und Bauherrin doch ist. Es ist fast so eine Art Ehe. Daraus entwickelten sich dann die Charaktere Constance und Charles, und danach ergab sich der ganze Rest.« Farrah nickte leidenschaftlich. »Ich verstehe«, sagte sie. »Es sind also echte Menschen?« »Eigentlich nicht«, antwortete Jane. »Es sind erfundene Figuren, die aus den Erfahrungen einer Freundin entstanden sind.« »Wie heißt Ihre Freundin?«, fragte Farrah. Jane zögerte. »Ich glaube nicht, dass sie namentlich genannt werden möchte.« »Aber wenn es die Erfahrungen von jemand anderem waren, kommt es Ihnen dann nicht so vor, als ob Sie sie – na ja – gestohlen hätten?« »Gestohlen?«, fragte Jane schockiert. »Nein.« »Es ist aber nicht Ihre Geschichte«, beharrte Farrah. »Es ist doch alles erfunden«, sagte Jane. »Jede Geschichte basiert auf einem Fünkchen Wahrheit. Mein Buch handelt aber nicht wirklich von meiner Freundin. Es wurde nur von ihr inspiriert.« »Schön und gut«, sagte Farrah. »Trotzdem, finden Sie nicht, dass Sie sich lieber selbst etwas hätten ausdenken sollen?« Jane sah die Reporterin lange an, unsicher, wie sie reagieren sollte. Schließlich fuhr Farrah fort. »Entschuldigen Sie die vielen Fragen«, sagte sie. »Aber ich finde, wir Journalisten schulden es unseren Lesern, die Wahrheit zu drucken.« »Die Wahrheit?«, fragte Jane. »Ich verstehe nicht ganz.« 216
Farrah schaltete das Diktiergerät ab. »Ich sollte das nicht tun«, sagte sie. »Aber ich finde Ihr Buch ganz fantastisch, und Sie scheinen ein netter Mensch zu sein.« Sie schürzte die Lippen, als versuche sie, ein mathematisches Problem zu lösen. »Ich habe eine E-Mail bekommen«, sagte sie schließlich. »Vor ein paar Tagen. Ich weiß nicht, von wem. Sie war anonym. Wer auch immer sie mir schickte, sagte, dass Sie sich … die Inspiration für Ihr Buch von jemand anderem geborgt hätten.« »Geborgt?«, fragte Jane. »Sie meinen, gestohlen?« »Ich mag dieses Wort nicht«, sagte Farrah. »Doch ja, das ist mehr oder weniger, was in der E-Mail stand.« Jane fehlten die Worte. Wer konnte ihr nur so etwas vorwerfen? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Sie hatte keine Feinde, von denen sie wüsste. Außer vielleicht Byron, sagte eine Stimme in ihrem Inneren. Byron. Würde er wirklich so etwas tun? Sonst fiel ihr niemand ein, der einen Grund dazu hätte. Doch selbst für ihn wäre es erbärmlich. Verachtete er sie wirklich so sehr? Du hast seinen männlichen Stolz verletzt, erinnerte sie dieselbe Stimme. Sie spürte, dass Farah auf eine Antwort wartete. Doch was sollte sie jetzt tun? Sie konnte es abstreiten, so viel sie wollte, doch die Anklage war bereits erhoben. Alles, was sie nun sagte, würde unaufrichtig klingen, besonders für jemanden wie Farrah, deren Vorstellung von investigativem Journalismus sich auf die Fähigkeiten der Mädchen aus Cherry High belief. »Ich halte es für wichtig, darauf einzugehen«, sagte Jane vorsichtig. »Würden Sie mich einen Moment entschuldigen? Es gibt da etwas, um das ich mich dringend kümmern muss. Es dauert nur ein paar Minuten.« »Klar«, sagte Farrah. »Kein Problem.« 217
Jane stand auf. »Ich bin gleich zurück«, sagte sie der jungen Frau. »Bitte, bedienen Sie sich an der Minibar.« Sie lächelte verbindlich und ging zur Tür. Sobald sie im Flur war, rannte sie, so schnell sie konnte, zum Fahrstuhl. Sie ging unruhig auf und ab, bis er gekommen war. Als die Türen sich endlich öffneten, sprang sie geradezu hinein, drückte auf einen Knopf auf der Konsole, fuhr ein Stockwerk tiefer und stieg aus. Sie hielt nach den Nummern an der Wand des Flurs Ausschau und folgte den Pfeilen zur Nummer 1822. Sie klopfte an der Tür und wartete, dass Kelly sich melden würde. Einen Moment später öffnete sich die Tür. »Du musst mir helfen –«, begann Jane. Dann registrierte sie, dass der Mann, der vor ihr stand, nicht Kelly war. Es war jemand, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und er trug nichts als ein Handtuch, das er um seine Hüfte geschlungen hatte. »Tut mir leid«, stotterte sie. »Ich muss mich in der Nummer geirrt haben.« »Wer ist es, Bryce?«, hörte Jane Kellys Stimme im Hintergrund. »Ist das meine Wäsche?« »Nein«, sagte der Mann, den Jane nun für Bryce hielt. »Ich glaube, es ist deine Autorin.« Er trat beiseite, als Kelly im Eingang erschien. »Jane«, sagte Kelly. »Solltest du nicht beim Interview mit Entertainment Weekly sein?« Jane nickte. »Deshalb bin ich hier«, sagte sie und schielte in das Zimmer, wo Bryce sich um seine Garderobe kümmerte. Kelly bemerkte ihren Blick. »Entschuldige«, sagte er. »Ich hätte euch erst vorstellen sollen. Bryce, das ist Jane. Jane, das ist Bryce, mein Partner.« Das letzte Wort traf Jane wie ein eiskalter Wasser218
strahl. Partner, dachte sie wie betäubt, als ihr dämmerte, was Kelly meinte. »Ich hatte ganz vergessen, dass ihr beiden euch noch nicht getroffen habt«, fuhr Kelly fort, und schien ihren Schock gar nicht zu bemerken. Bryce zog sich schnell ein Hemd über. »Ihr Buch ist hinreißend«, sagte er. »Danke«, sagte Jane. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kelly. »Wir haben ein Problem«, sagte sie. Dann erklärte sie ihm die Situation. »Das ist alles?«, fragte Kelly, als Jane geendet hatte. »Keine Sorge. Das passiert bei jedem wichtigen Buch. Irgendein Spinner setzt ein Gerücht in die Welt, dass der Autor das Ganze nur abgeschrieben hat. Er bombardiert sämtliche Magazine mit Briefen und versucht, Unfrieden zu stiften. In der Regel ist es irgendein Möchtegernschriftsteller, der glaubt, er bekäme Aufmerksamkeit oder Geld, wenn er nur ordentlich Stunk macht.« »Aber sie sagt, sie weiß nicht, wer die E-Mail geschrieben hat«, sagte Jane. »Umso besser«, erklärte Kelly. »Denn dann ist es bloß jemand, der nichts Besseres zu tun hat. Wir werden Folgendes tun: Sag dieser Frau – wie war ihr Name doch gleich?« »Farrah«, sagte Jane. »Farrah?«, fragten Kelly und Bryce gleichzeitig. »Irgendeine Geschichte mit ihrer Mutter«, sagte Jane. »Also, was sage ich?« »Du sagst ihr, dass uns diese E-Mails bekannt sind, und sie in böswilliger Absicht von jemandem geschickt werden, der dir den Erfolg nicht gönnt. Sag ihr, dass sich unsere Anwälte darum kümmern. Das wird sie zum Schweigen bringen. Sie wird nicht darüber schreiben, 219
solange sie glaubt, dass sie juristische Schwierigkeiten bekommt, wenn sie Behauptungen ohne Beweise verbreitet.« »Das ist alles?«, fragte Jane. »Das ist alles«, sagte Kelly. »Manchmal ist es von Vorteil, in einem prozesssüchtigen Land zu leben. Jetzt geh besser, bevor sie noch misstrauischer wird. Hier, nimm das mit, damit sie sieht, dass du wirklich etwas zu tun hattest.« Er reichte Jane eine Ausgabe ihres Buchs. »Sie hat bisher nur eine gebundene Fassung der Druckfahnen gesehen. Sag ihr, dass du ihr eine signierte Ausgabe des richtigen Buchs schenken wolltest.« Jane nahm das Buch. »Jetzt los«, rief Kelly. »Wir müssen um halb zwei beim Studio sein.« »Bis dann!«, rief Bryce ihr nach. Jane antwortete nicht. Während sie zum Fahrstuhl schritt, fragte sie sich, wie sie nur so blauäugig hatte sein können, Kellys Vorliebe für Männer zu übersehen. Er ist elegant, gutaussehend und kultiviert, dachte sie. Ich hätte es wissen sollen. Man sollte meinen, nach der Sache mit Percy Shelley hätte ich meine Lektion gelernt. Vor ihrer Tür hielt sie an und schöpfte Atem. Sie sah auf ihre Uhr. Sie war nur fünf Minuten weg gewesen. Jetzt musste sie es nur noch durch den Rest des Interviews schaffen. Sie würde Farrah sagen, dass sie die Erlaubnis ihres Verlegers gebraucht habe, um ihr von den Plagiatsvorwürfen zu erzählen, und dass es einen Rechtsstreit darum gebe. Das sollte reichen. Sie öffnete die Tür. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen –« Mitten im Satz brach sie ab. Farrah lag reglos auf dem Bett. Ihre starren Augen waren zur Decke gerichtet.
220
23 Mrs. Eleanor Burnham bedachte Jane mit einem eisigen Blick. »Man muss Ihnen zu Ihrem erfolgreichen Einstieg in unser Unternehmen gratulieren«, sagte sie. »Es geschieht nicht alle Tage, dass eine junge Frau von Ihrem Stand sich über eben diesen erhebt.« »Ich frage mich, ob es sich wirklich so verhält«, antwortete Constance und lächelte süß. »Vielleicht bin ich ja gar nicht aufgestiegen, sondern Sie sind gefallen.« – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 115 »Farrah?« Jane näherte sich langsam dem Bett. Die Reporterin antwortete nicht, doch ihre Augen waren immer noch geöffnet. Dann bemerkte Jane die beiden kleinen Wunden an ihrem Hals. Das Blut an ihren Rändern war noch frisch. »Nein, nein, nein«, sagte Jane und schüttelte die junge Frau. Ihr stocksteifer Körper rollte unter ihren Händen hin und her. Ihr Kopf drehte sich, und sie starrte Jane entgegen, ohne sie zu sehen. »Verdammt«, sagte Jane grimmig. Das Mädchen war hinüber. Sie war eindeutig gebissen worden. Aber von wem? Soweit Jane wusste, war sie der einzige Vampir im Hotel. Allerdings war sie nie besonders gut darin gewesen, die Nähe anderer Vampire zu spüren; es war, als ob ihr Vampirradar nach vielen Jahren, in denen sie es nicht benutzt hatte, den Geist aufgegeben hätte. Natürlich gab es auch noch andere Vampire in Chicago, aber sie kannte sie nicht. Die einzige andere Möglichkeit war Byron. 221
Da begann alles einen Sinn zu ergeben. Byron war derjenige gewesen, der der Reporterin die E-Mail geschickt hatte. Jetzt hatte er sie getötet, um Jane nicht nur wegen des Plagiats, sondern für Mord dranzukriegen. Ich wusste es, er hatte damals zu schnell aufgegeben, dachte sie bitter. Dabei plante er die ganze Zeit seine Rache. Nun, er hatte ganze Arbeit geleistet. Sie betrachtete Farrahs leblosen Körper. Dann hob sie mit zitternden Fingern ihre Lippen. Kein Blut an den Zähnen. Das wenigstens war gut. Es hieß, dass Byron sie nicht verwandelt hatte. Sie war nur tot. Was allerdings schlimm genug ist, dachte Jane, während sie den Mund des Mädchens wieder schloss und sich die Finger an einem Taschentuch abwischte. Da bemerkte sie die Uhr auf ihrem Nachttisch. Es war beinahe Mittag. Ihr fiel wieder ein, dass Kelly gesagt hatte, sie müssten um halb zwei im Studio sein. Und sie hatte noch immer nichts anzuziehen. Die bequeme Kleidung, die sie für den Flug getragen hatte, war ganz und gar nicht geeignet, um darin vor Millionen von Zuschauern aufzutreten. Sie musste etwas Passendes finden. Aber sie konnte Farrah auch nicht einfach auf ihrem Bett liegen lassen. Wenn jemand hereinkam, würde er sie finden, und das wäre katastrophal. Es gab keine Möglichkeit, die Leiche aus dem Zimmer zu schaffen. Selbst wenn sie sie in den Flur schleppen könnte, was sollte sie dann damit tun? Und bei diesem speziellen Problem konnte sie auch Kelly nicht um Hilfe bitten. Abgesehen von dem Mordfall würde das auch noch zu anderen Fragen führen, die zu beantworten Jane nicht bereit war. Je länger sie grübelte, desto weniger Zeit blieb ihr, 222
sich ein neues Outfit zu kaufen. Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Der Schrank war ungeeignet, genau wie die Badewanne. Für den Moment würde sie Farrah wohl unter dem Bett verstauen müssen. Sie nahm das Mädchen bei den Schultern, zog es aus dem Bett und legte es so sanft wie möglich auf dem Teppich ab. Dabei verlor Farrah einen ihrer Schuhe, und Jane versuchte, ihn ihr wieder über den bloßen Fuß zu ziehen, doch ohne Erfolg, und so stieß sie ihn schließlich unter das Bett. Dann schob sie Farrahs Leiche hinterher. Sie schob sie, so weit sie nur konnte, dann ging sie zur anderen Seite des Bettes und zog das letzte Stück von ihr hinunter. Als sie fertig war, keuchte sie vor Anstrengung. Für eine kleingewachsene Frau war Farrah bemerkenswert schwer zu bewegen. Besser, dachte Jane, als sie die Bettwäsche zurechtzupfte. Und jetzt: shoppen. Sie griff nach ihrer Börse und sah ihre Notizen durch. Lucy hatte ihr genau aufgeschrieben, was für Kleidungsstücke zusammenpassten und wie sie beim Make-up vorgehen sollte. Im Moment war die Liste freilich nutzlos, denn Janes Kleidung und Make-up waren sonst wo. Sie musste wieder alles neu besorgen und von vorne beginnen. Der Gedanke daran erfüllte sie mit Panik. Sie wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollte. Doch die Uhr tickte, und sie musste sich ranhalten. Sie nahm ihre Schlüsselkarte, verließ das Zimmer und fuhr in die Lobby, wo sie sich an den Concierge wandte. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und versuchte, die Aufregung in ihrer Stimme zu verbergen. »Wo bekomme ich hier am besten Schuhe? Ich fürchte, ich habe vergessen, meine guten Schuhe einzupacken.« Der Mann am Empfang antwortete sofort. »Macy’s«, 223
sagte er. »Das ist nur drei Blocks entfernt. Oder Sie versuchend bei Nordstrom, aber die sind weiter weg.« »Macy’s klingt gut«, sagte Jane. »Vielen Dank.« Sie eilte aus dem Hotel und rannte fast in die Richtung, die der Concierge ihr gewiesen hatte. Als sie atemlos und erschöpft bei Macy’s ankam, sah sie besorgt auf ihre Uhr. Sie hatte weniger als fünfundvierzig Minuten, um alles zu kaufen, was sie brauchte, zum Hotel zurückzurennen und sich umzuziehen, bevor sie mit Kelly zum Sender fuhr. Sie kramte Lucys Liste hervor und las den ersten Posten. »Schwarze Hosen«, sagte sie laut. »Rote Bluse. Also los.« Sie warf einen Blick auf den Lageplan des Kaufhauses und machte sich auf zur Damenabteilung. Dort angekommen, sah sie sich hilflos um. Es gab mindestens zwanzig verschiedene Sorten schwarzer Hosen und fast genauso viele rote Blusen. »Kann ich Ihnen helfen?« Eine junge Frau, die auf verstörende Weise so aussah, als wäre sie Farrahs Schwester, kam auf sie zu. »Ich brauche Kleider«, sagte Jane, was nicht sehr hilfreich war. »Und ich bin in Eile.« Sie drückte der Verkäuferin die Liste in die Hand. Die Frau sah die Liste durch und nickte. »Ich denke, wir haben genau das, was Sie brauchen«, sagte sie. »Kommen Sie. Mein Name ist übrigens Sandra.« »Jane«, sagte Jane höflich. Lidschatten, dachte sie unwillkürlich, als sie die Make-up-Abteilung passierten. Lippenstift. Rosa, nicht korallenrot. »Probieren wir’s doch mit diesen hier«, sagte Sandra und hielt vor einem Ständer mit schwarzen Hosen. »Ich denke, die sollten passen. Warum probieren Sie die nicht 224
mal eben an, und ich bringe Ihnen noch ein paar andere zur Auswahl.« »Ich glaube nicht, dass ich die Zeit dazu habe –«, begann Jane. »Die Umkleidekabinen sind gleich dort drüben«, sagte Sandra. »Nur los. Ich bin gleich wieder da.« Jane gehorchte verschüchtert. Sie nahm die Hosen mit in eine der kleinen Umkleidekabinen und zog sie pflichtschuldig an. Zu ihrer Überraschung passten sie tatsächlich. Sie war schon im Begriff, sie wieder auszuziehen, erleichtert, dass alles so glatt verlief, als sie Sandras Stimme von draußen hörte. »Hier sind noch ein paar Hosen«, sagte sie. »Diese hier sind –«, hob Jane an. »Hier«, sagte Sandra, öffnete die Tür, und drückte Jane einen Armvoll Hosen in die Hand. »Ich bin gleich wieder da.« Bevor Jane weiter protestieren konnte, war das Mädchen auch schon wieder verschwunden. Jane warf einen Blick auf den Stapel schwarzer Hosen, die für sie alle gleich aussahen, und stöhnte. Ein kurzer Blick auf die Uhr steigerte ihr Gefühl der Panik noch. Ich muss hier raus, dachte sie. Das erste Paar schwarzer Hosen eng an sich gepresst, schlich sie sich aus der Umkleidekabine. Sie hielt Ausschau nach Sandra. Das Mädchen war auf halbem Weg zurück. Sie hatte mehrere rote Blusen über dem Arm. Los jetzt!, sagte sich Jane, bevor sie dich sieht! Sie duckte sich und huschte von Ständer zu Ständer, den Kopf gesenkt, damit Sandra sie nicht entdeckte. Erst als sie hinter einem Ständer mit Strandkleidern in Deckung war, wagte sie es, einen Blick zu riskieren. Sandra war fast bei den Umkleiden angelangt. Jane nutzte die 225
Gelegenheit, zu den Blusenständern zu huschen. Sie schnappte sich eine rote Bluse, vergewisserte sich kurz, ob sie auch die richtige Größe hatte, und floh dann Richtung Schuhabteilung. Ein paar Minuten später hatte sie ein Paar schwarze Pumps erbeutet und hinterließ einen verdutzten Verkäufer, der umgeben von Kartons auf dem Boden saß. Als Nächstes nahm sie das Make-up in Angriff. »Lidschatten, Lippenstift, Rouge«, schrie sie die verblüffte Verkäuferin an. »Die Farben sind völlig egal, solange sie nur zusammenpassen.« Das Mädchen starrte Jane mit großen Augen an. »Welche Marke hätten Sie gerne?«, fragte sie. »Wir haben ein besonderes –« »Ich habe nur fünf Minuten Zeit!«, schrie Jane und schlug mit der Faust auf die Glastheke. Das Mädchen öffnete die Schubladen unter der Theke und begann, verschiedene Artikel herauszusuchen. Während sie suchte, reckte Jane den Hals, und hoffte, dass Sandra die Suche nach ihr aufgegeben hatte. Zu ihrem Entsetzen entdeckte sie Sandra, wie sie zwischen den Ständern umherwanderte und offenkundig Ausschau nach ihr hielt. »Das sieht alles ganz wunderbar aus«, sagte Jane zu der Verkäuferin. »Und das hier möchte ich auch gleich bezahlen.« Sie lud ihre Kleider und die Schuhe auf die Theke, und warf dem Mädchen ihre Kreditkarte hin. Sie zog sie durch das Lesegerät und reichte Jane den Beleg zum Unterschreiben. »Ich falte sie Ihnen zusammen«, sagte sie, öffnete eine Tüte und griff nach der Bluse. »Keine Zeit!«, sagte Jane. Sie riss dem Mädchen die Bluse aus der Hand, warf sie in die Tüte, und schob alles 226
Übrige, das auf der Theke lag, hinterher. »Danke für Ihre Hilfe!«, rief Jane, als sie davonrannte. »Sagen Sie Sandra, dass es mir leidtut!« Fünf vor eins erreichte Jane wieder ihr Zimmer. Durch die Tür konnte sie das Telefon klingeln hören. Sie trat ein und riss den Hörer ans Ohr. »Hallo?« »Ich bin’s, Kelly. Ich wollte nur sichergehen, dass du so weit bist. Wir treffen uns in einer Viertelstunde unten in der Halle. Bryce ist wie immer zu spät dran. Er muss sich wohl noch rausputzen für Comfort und Joy. Wir werden aber rechtzeitig im Studio sein. Es ist nicht weit von hier.« »Sehr gut«, sagte Jane, und versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen. »Das ist prima. Wir sehen uns dann in fünfzehn Minuten.« Sie legte auf, schüttete den Inhalt der Einkaufstasche auf das Bett und machte sich an die Arbeit. Die Kleider anzuziehen, war der leichteste Teil der Übung, das Make-up aber stand auf einem ganz anderen Blatt. Sie hatte Lucys Notizen in Sandras Händen zurückgelassen, also musste sie versuchen, sich genau zu erinnern, was Lucy gesagt hatte. Sie öffnete den Lidschatten, und sah, dass die Verkäuferin ein eigenartiges Violett ausgewählt hatte. Als sie sich ein wenig davon auf die Lider tupfte, sah es aus, als hätte sie einen Bluterguss. Sie versuchte, die Farbe zu ignorieren, und trug den Lidschatten so gut sie eben konnte auf. Als Nächstes kamen Lippenstift und Rouge. Dann lehnte sie sich zurück und begutachtete das Resultat. »Ich sehe aus, als ob man mich rückwärts durch eine Hecke geschleppt hätte«, murmelte sie. Sie hatte aber keine Wahl. Sie musste nach unten gehen. Als sie ihre neuen Schuhe anzog, rutschte einer davon 227
versehentlich unter das Bett. Sie kniete sich hin und tastete danach. Ihre Finger fanden den Absatz ohne Mühen. Dann, als sie den Schuh hervorzog, fiel ihr auf, dass unter dem Bett etwas fehlte, was ihre Finger eigentlich berührt haben müssten. Sie hob die Matratze an und sah unter das Bett. Farrahs Leiche war verschwunden.
228
24 Das Häuschen war klein und einfach, aber es hatte einen bezaubernden Garten und einen Teich. Es wäre genau richtig. Sie stellte sich vor, wie sie in dem kleinen Arbeitszimmer saß, auf die Blumen hinausschaute und stundenlang schrieb. »Mit etwas Ausdauer und sechs Monaten Zeit«, sagte sie sich, »wirst du deinen ersten Roman fertig schreiben.« – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 278 »Kindchen, welche Transe hat dich denn angemalt?« Comfort warf einen Blick auf Jane und schleppte sie in ihre Garderobe. »Setz dich«, sagte sie und drückte Jane in den Frisierstuhl. »Tomboy, wo steckst du?«, brüllte sie. Einen Moment später kam ein groß gewachsener Latino hereingerannt. Er trocknete sich die Hände an einem Handtuch. »Immer mit der Ruhe, meine Gute«, sagte er. »Ich musste erst Miss Joy zuspachteln, und du weißt, wie lange das dauert.« Er und Comfort gackerten über den Witz, während Jane still in ihrem Stuhl saß und ihre schreiend bunten Pfauenaugen im Spiegel betrachtete. Kelly und Bryce waren sehr höflich mit ihr umgegangen; aber sie sah schrecklich aus, wie ein Preisboxer kurz vor dem K. o. »Jane, das ist Tomboy«, sagte Comfort. »Er macht unser Make-up, du weißt also, dass er ein Genie ist. Tomboy, das ist Miss Jane Fairfax.« »Die Jane Fairfax?«, fragte Tomboy, seine Hände in die Hüften gestemmt. »Ich hab ihm dein Buch gegeben«, sagte Comfort. 229
»Das Miststück hat es mir immer noch nicht zurückgebracht.« »Und ich werde es auch nicht mehr hergeben«, sagte Tomboy. Er legte Jane die Hand auf die Schulter. »Es war herrlich«, begeisterte er sich. »Schätzchen, mach irgendwas mit Miss Janes Gesicht«, befahl Comfort. »Mach sie so hübsch wie mich und die Gargoyle.« Ein weiteres Gegacker folgte, dann stolzierte Comfort aus der Garderobe. Jane konnte hören, wie sie mit Kelly und Bryce auf dem Flur sprach. Ihre tiefe, volle Stimme wurde gelegentlich von Gelächter unterbrochen. »Sie scheint nett zu sein«, sagte Jane, während Tomboy ihr ein weißes Tuch um den Hals legte. »So nett, wie die andere boshaft ist«, sagte Tomboy. Er nahm ein Wattepad und tauchte es in etwas Cold Cream. »Schließ die Augen«, sagte er. Jane tat, wie ihr geheißen, und fühlte kurz drauf, wie er ihr Creme auf die Lider tupfte. Tomboys Berührung war sanft und beruhigte ihre angespannten Nerven. »Ist Joy wirklich so schlimm?«, fragte sie. Tomboy pfiff leise durch die Zähne. »Sagen wir es einmal so, ihre Mama hat ihr nicht den besten Namen gegeben«, sagte er. »Wenn sie gewartet hätte, bis sie fünf oder sechs gewesen wäre, hätte sie sie vielleicht Pampelmuse oder so getauft. Hat nicht irgendeine Schauspielerin gerade ihr Kind nach einem Obst benannt?« »Glaube schon«, sagte Jane, ohne zu wissen, ob es stimmte oder nicht. »Joy wirkt immer so nett in der Show.« Auch das war eine Lüge. Sie hatte nur eine Sendung gesehen, um sich auf ihren Auftritt vorzubereiten. Joy hatte darin zwar nicht gerade fröhlich, jedoch wenigstens einigermaßen sympathisch gewirkt. 230
»Sie geben ihr was vor der Sendung«, sagte Tomboy. »Nicht im Ernst.« »Oh, nichts Schlimmes«, antwortete Tomboy und wischte ihre Augenlider mit einem warmen Tuch ab. »Nur ein paar Valium. Die hindern sie daran, durchzudrehen.« »Davon hatte ich ja keine Ahnung«, sagte Jane. »Das ist auch besser so für alle Beteiligten«, versicherte ihr Tomboy. »Jetzt schau mich mal an.« Jane schaute ihm in die Augen, die eine warme, dunkelbraune Farbe hatten. Sein Gesicht war nur Zentimeter von dem ihren entfernt. Er griff nach etwas, und plötzlich spürte sie einen kurzen Schmerz nahe ihrer Augenbraue. »Autsch!« »Ich zupfe bloß diese Haare hier«, sagte Tomboy. Er rupfte ihr ein weiteres Haar heraus, dann noch eins. Jane versuchte, nicht zusammenzuzucken. Als er endlich fertig war, stellte sie fest, dass sie die Lehnen des Stuhls krampfhaft umklammert hielt. Das wiederum erinnerte sie an Farrahs verschwundene Leiche, und ihre ganze Anspannung kehrte auf einen Schlag zurück. »Schließ die Augen«, sagte Tomboy. Jane fühlte, wie er irgendetwas – vermutlich Lidschatten – auf ihre Augen tupfte. Sie fragte sich, welche Farbe es wohl war, auch wenn wahrscheinlich alles besser als das Violett war, das sie sich ins Gesicht geschmiert hatte. »Mir hat das Buch wirklich sehr gefallen«, sagte Tomboy, während er mit der Arbeit fortfuhr. »Es ist so viel besser als der meiste Kram, der dort geschrieben wird. Die Charaktere sind glaubhaft, nicht wie die Schauspieler in den Seifenopern. Es hat mich an Jane Austen erinnert.« »Austen«, sagte Jane. »Wirklich?« »Mmm hmm«, murmelte Tomboy. Es fühlte sich an, 231
als zöge er einen Bleistift über ihr unteres Augenlid. »Sie ist meine Lieblingsautorin. Ich habe Mansfield Park bestimmt ein Dutzend Mal gelesen.« »Mansfield Park? Wirklich?« Jane war überrascht. Es war auch ihr Lieblingsbuch, aber sie war daran gewöhnt, dass die Leute es nicht mochten. »Nicht Stolz und Vorurteil?« »Das mag ich natürlich auch«, sagte Tomboy. »Aber Mansfield Park hat mehr, ich weiß auch nicht, Tiefe. Fanny ist ein wunderbarer Mensch, weißt du? Sie kann bloß einfach nichts richtig machen. Ich musste bei deinem Buch irgendwie daran denken.« Er trat zurück und betrachtete sein Werk. Nach ein paar letzten Handgriffen und etwas mehr Rouge sagte er: »Schau’s dir an und sag mir, was du davon hältst.« Jane war verblüfft. Tomboy hatte ihr Gesicht verwandelt. Statt müde und gestresst sah sie nun erfrischt und lebendig aus. »Ich kann kaum glauben, dass ich das bin«, sagte sie. »Dankeschön.« Tomboy lächelte. »War mir ein Vergnügen«, sagte er. »Jetzt geh da raus und zeig’s ihnen allen.« Wie auf ein Stichwort kam Comfort herein, warf einen Blick auf Jane und schnalzte mit der Zunge. »Er hat ganze Arbeit mit dir geleistet«, sagte sie. »Ich weiß gar nicht, ob ich mich von dir so in den Schatten stellen lassen will.« »Ich glaube nicht, dass das möglich wäre«, sagte Jane. »Aber trotzdem danke.« »Komm mit«, sagte Comfort und nahm Janes Hand. »Zeit, dich der Drachenlady vorzustellen.« Sie führte Jane den Flur hinab zu einer anderen Garderobe. Drinnen saß Joy und redete auf einen jungen Mann mit einem Hasengesicht ein, der sich Notizen auf einem Block machte. 232
»Und sechs Flaschen Gin«, sagte Joy. »Und nicht den Dreck, den du letztes Mal gekauft hast. Los jetzt.« Der Assistent rannte nach draußen, und Joy wandte sich den Eintretenden zu. Als sie Comfort und Jane entdeckte, strahlte sie über beide Ohren. »Hallo«, gurrte sie, als sie aufstand und Jane umarmte. »Es freut mich soooo sehr, dass du gekommen bist.« »Danke für die Einladung«, gab Jane zurück. Joy sah Jane direkt an. Jane erwiderte den Blick. Etwas an Joys Augen war eigenartig. Sie sahen irgendwie trübe aus. Da fiel Jane das Valium wieder ein. »Wir werden soooo einen Spaß haben«, sagte Joy. »Nicht wahr, Comfort?« »Natürlich«, sagte Comfort vergnügt. »Jane, ich bring dich jetzt in den Green Room. Joy, wir sehen uns in einer Minute.« »Bis gleich«, rief Jane über ihre Schulter, während Comfort sie aus der Garderobe drängte. »Grundgütiger Himmel«, hauchte Comfort. »Das Mädchen ist ja breiter als ein alter Köter auf der Veranda an einem warmen Julitag. Dem Herrn sei’s gedankt. Das Letzte, was ich jetzt noch brauche, ist, dass sie mir während der Kocheinlage ausflippt.« »Kocheinlage?«, fragte Jane. Sie hatte gedacht, sie sei der einzige Gast. »Käse-Tortillas, schnell und einfach«, sagte Comfort. »Es dauert nur zehn Minuten, aber manchmal wird es Joy unheimlich, wenn Feuer im Spiel ist. Wie auch immer, unsere ersten Gäste sind diese Familie, die fünftausend Dollar in Kleingeld gesammelt haben, einfach indem sie es ein Jahr lang überall aufgelesen haben. Unter uns, ich glaube ja, dass sie den einen oder anderen Wunschbrunnen geplündert haben, aber die Kleinen sind niedlich, 233
und dem Publikum gefällt es gut. Dann hast du den Hauptteil der Sendung, und mit den Tortillas hören wir auf.« Sie erreichten den Green Room. »Ich muss mich jetzt fertig machen«, sagte Comfort. »Du wartest einfach hier. Wenn du dran bist, holt dich jemand ab. Du kannst die Show auf dem Monitor verfolgen, wenn du willst.« Jane öffnete die Tür zum Green Room. Kelly und Bryce waren da, zusammen mit einer fünfköpfigen Familie, bei der es sich wohl um die Kleingeldsammler handeln musste. Kelly sprang auf, als sie eintrat. »Da bist du ja«, rief er. Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er mehr als genug von der sparsamen Familie hatte, die Jane allesamt mit einem breiten Lächeln auf ihren Gesichtern anstarrten. »Ich bin Tammy Tucker«, sagte die Mutter der Familie und winkte. »Das ist mein Mann Ted, und das sind unsere Kinder. Die Zwillinge sind Tracy und Tina, und das ist Ted junior.« Die drei Kinder winkten Jane zu. »Hallo«, sagte Jane. »Willst du mein Kleingeldglas sehen?« Eins der Mädchen (sie wusste nicht, welches) kam auf sie zu und präsentierte ein schlichtes, mit Münzen gefülltes Glas. »Da sind über zweihundert Dollar drin!«, erklärte sie stolz. »Tja«, sagte Jane. »Wenn das nichts ist?« »Tina, lass die nette Schriftstellerin in Ruhe«, sagte Tammy. »Und lass Mami dein Haar richten. Wir kommen gleich dran.« Jane und Kelly ließen Tammy ihre Familie herrichten und gesellten sich zu Bryce, der am anderen Ende des Raums mit großem Interesse einen mit Speisen beladenen Tisch studierte. »Sind sie weg?«, flüsterte er. »Nein«, antwortete Kelly. »Aber gleich.« Er wandte 234
sich Jane zu. »Sie haben uns den Trichter gezeigt, mit dem sie ihre Münzrollen befüllen«, sagte er. »Ich hab’ es kaum noch ausgehalten«, sagte Bryce. »Wenn der Kleine noch einmal ›Kanadische Pennies sind kein echtes Geld‹ gesagt hätte, ich hätte ihm eine Ohrfeige verpasst.« Kelly nahm sich einen Bagel. »Willst du auch was?«, fragte er Jane. Jane schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre«, sagte sie. Sie hatte bereits Magenschmerzen wegen des Farrahproblems. Jetzt kamen auch noch Krämpfe dazu. Oh nein, dachte sie, als sie erkannte, was das bedeutete. Nicht nur dass sie nervös war, sie würde bald auch noch trinken müssen. Die ganze Aufregung und die Rennerei hatten ihre Reserven verbraucht. Sie ertappte sich dabei, wie sie die drei Tuckerkinder beäugte. Sie würden bestimmt keines vermissen, dachte sie. Zum großen Glück der Zwillinge und ihres Bruders kam ein Mitarbeiter, um sie zum Set zu führen. Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte, kehrte Bryce zum Sitzbereich zurück. »Was für ein Gruselkabinett«, sagte er. »Wie viel Geld haben sie letztes Jahr noch gleich ›gefunden‹?« Man merkte ihm an, dass er seine Zweifel an den Behauptungen der Tuckers hatte. »Fünftausend, glaube ich«, sagte Jane. Bryce zählte mit den Fingern. »Das sind knapp vierzehn Dollar am Tag«, sagte er. »Das kauf ich ihnen einfach nicht ab – es sei denn, die Kinder rauben Imbissbuden aus.« »Hör auf«, lachte Kelly. »Vielleicht haben sie einfach so eine Art Inselbegabung. Du weißt schon, statt Cello zu spielen, können sie eben gut Kleingeld finden.« 235
Jane setzte sich zu ihnen in einen Sessel. Sie versuchte, das nagende Gefühl zu ignorieren, das sich immer mehr in ihrem Magen ausbreitete. Steh einfach die Show durch, sagte sie sich. Ein paar Minuten später fing die Show an. Jane konnte das Publikum durch die Wände hören, und sie konnte es auf dem Monitor sehen. Erst kamen Comfort und Joy auf die Bühne und rissen ein paar Witze. Danach gab es eine Werbepause, dann kam die Tuckerfamilie. Jane drehte den Ton leise. Ihr Magen schmerzte, und Farrahs verschwundene Leiche ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie war sich immer sicherer, dass Byron hinter allem steckte. »Jane?« Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Derselbe Mann, der die Tuckers abgeholt hatte, bat sie nun, ihm zu folgen. Jane stand auf. »Hals- und Beinbruch«, sagte Kelly und drückte ihre Hand. »Du wirst großartig sein.« Jane folgte dem Mitarbeiter den Flur hinab. Als sie um eine Ecke bogen, stießen sie fast mit den Tuckers zusammen, die von einem anderen Mann zurück in den Green Room gebracht wurden. »Sind wir jetzt berühmt, Daddy?«, fragte Ted junior gerade seinen Vater. »Wir sind gerade noch in der Werbepause«, erklärte der junge Mann Jane, während er sie aufs Set führte. »In neunzig Sekunden gehen wir wieder auf Sendung.« Das Set von Comfort und Joy war wie ein Wohnzimmer dekoriert. Die beiden Gastgeberinnen saßen auf einem Sofa, während ihre Gäste auf der anderen Seite eines ovalen Couchtischs in Sesseln Platz nahmen. Jane wurde zu einem der Sessel geführt, dann kam jemand von hinten und befestigte ein Mikrophon an ihrer Bluse. »Es ist so schön, dich zu sehen«, sagte Joy, die Jane 236
am nächsten saß. Jane sah zu Comfort, die mitleidig die Augen verdrehte. »Und wir sind wieder auf Sendung in fünf-vier-drei.« Zu Janes Rechten zählte jemand einen Countdown. »Wie Sie ja alle wissen, bin ich eine Leseratte«, verkündete Comfort. Applaus brach auf den Rängen aus, aber Jane war verwirrt. Comfort klang wie ein anderer Mensch, als ob sie eine Rolle spielte. »Es ist mir heute ein Vergnügen, Ihnen Jane Fairfax vorzustellen«, fuhr Comfort fort. »Janes Buch heißt Constance. Ich will jetzt nicht behaupten, dass dieses Buch besser wäre als ein paar Streicheleinheiten von meinem Mann, aber ich war die ganze Nacht über auf, und mein Mann schlief tief und fest neben mir.« Das Publikum grölte. Comforts Stimme begann Jane auf die Nerven zu gehen. Schlimmer noch, ihre Ohren begannen zu klingeln, und sie fühlte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. »Comfort, ich muss dir zustimmen.« Jetzt war es Joy, die sprach. Ihre Stimme kam wie von fern und klang monoton, fast wie die eines Roboters. »Ich finde dieses Buch gaaaanz große Klasse.« »Jane, erzähl uns doch, wie es zu diesem Buch gekommen ist«, sagte Comfort. Eine Kamera schwang herum, und Jane sah direkt in ihr blinkendes rotes Auge. Ein Produktionsassistent bedeutete ihr lautlos, wieder zu Comfort und Joy zu blicken. Jane drehte den Kopf und sah in Comforts lächelndes Gesicht. Sie begann zu sprechen, hörte aber gar nicht, was sie sagte. Ihre Worte klangen wie das zusammenhanglose Gemurmel von jemandem, der durch ein Kissen sprach. Sie konnte den Blick nicht von Joys Kopf abwenden. Er 237
hüpfte auf und ab, als ob Joy ihr bei allem, was sie sagte, zustimmte. Jane sah Comforts Mund sich öffnen und schließen, als sie eine Frage stellte, und hörte ein Geräusch wie von summenden Bienen, als sie antwortete. Sie hörte sich selbst lachen, und irgendwo in der Ferne fiel das Publikum in ihr Gelächter ein. Sie hatte keine Ahnung, was sie gesagt hatte. Vergiss nicht, zu lächeln, sagte sie sich, und versuchte, ihre Lippen so zu bewegen, dass, wie sie hoffte, ihr Gesicht Zuversicht und Freude ausstrahlte. Schweißperlen liefen ihren Rücken hinab. Warum war ihr nur so heiß? Sie bemerkte, wie das Licht sich änderte, und da sah sie, dass sie direkt unter der Studiobeleuchtung saß. Die Scheinwerfer waren heller, aber auch heißer als normales Licht, und Janes sensible Haut reagierte empfindlich auf die erhöhte Temperatur. Ihre Hände wurden bereits rot, und sie wusste, dass der Rest bald folgen würde. Sie legte die Hände in den Schoß und versuchte, die Rötungen hinauszuzögern, indem sie die eine Hand über die andere legte. Als sie endlich in einer Werbepause waren, stand sie auf, sobald man ihr das Okay dazu gab. Joy blieb sitzen, während ein Assistent ihr Make-up nachbesserte, Comfort aber stand auf und kam zu Jane hinüber. »Du schlägst dich großartig, Schätzchen«, sagte sie. »Tut mir leid wegen des ganzen Quatschs mit ›bei uns zu Hause …‹ und so weiter. Das Publikum steht drauf.« Sie warf Joy einen Blick zu. »Wir können von Glück sagen, dass sie heute nicht ihre Wörter verschluckt. Das ist immerhin schon etwas. Pass auf, wenn wir wieder auf Sendung gehen, kürzen wir das einfach ab. Ich kündige an, dass jeder ein Buch bekommt, und du kannst die Freakshow verlassen.« 238
»So schlimm ist es gar nicht«, sagte Jane. »Es macht mir Spaß.« »Es freut mich, dass es wenigstens einer von uns beiden Spaß macht«, sagte Comfort. »Jetzt setz’ dich. Es geht in zehn Sekunden weiter.« Die zweite Hälfte des Interviews lief glatt, wenigstens soweit Jane das beurteilen konnte. Die Hitze des Lichts begann ihr aber wirklich Sorgen zu machen. Ihre Haut juckte, und es fühlte sich an, als ob ihr Make-up sich zu einer Maske verhärtet hätte. Als Comfort ankündigte, dass jeder im Publikum eine Ausgabe von Janes Roman bekommt, täuschte Jane Überraschung vor und strahlte ins Publikum. Geschafft, sagte sie zu sich selbst. Dann hörte sie Joys Stimme. »Wenn wir wieder auf Sendung sind, wird Chefkoch Jose Fernandez uns zeigen, wie man Käse-Tortillas macht!«, schrie sie. »Jane, warum bleibst du nicht noch ein bisschen und hilfst uns dabei?« »Nun«, sagte Jane, »Ich sollte wirklich –« »Wollt ihr nicht auch, dass Jane noch ein Weilchen bleibt?«, rief Joy dem Publikum zu. »Wär das nicht grooooßartig?« Die Antwort war lautes Jubeln. »Ich könnte natürlich noch bleiben«, sagte Jane schwach. »Alles klar!«, sagte Joy. »In ein paar Minuten sind wir zurück.« Die Show ging in die Werbepause, und die Bühnenarbeiter stürmten das Set. Jane sprang auf, als jemand ihren Sessel wegriss, und ein anderer eine behelfsmäßige Küche hereinrollte. Man band ihr eine Schürze um den Hals, und dann schüttelte sie einem griesgrämig aussehenden Mann in der weißen Kleidung eines Chefkochs die Hand. Das wäre dann wohl Juan, dachte sie, während der Mann 239
die Zutaten inspizierte, die auf der Arbeitsfläche der Küche auf ihn warteten. »Was soll ich machen?«, fragte Jane. »Stehen Sie möglichst nicht im Weg rum, und wenn ich es Ihnen sage, streuen Sie Käse auf die gottverdammte Tortillas«, sagte Juan gereizt. Jane drängte sich hinter Comfort zu Juans Linken, während Joy zu seiner Rechten stand. »Showtime«, sagte Comfort, als ein weiteres Mal der Countdown begann. Jane fühlte sich, als habe man ihren Kopf in Brand gesteckt. Ihre Kopfhaut brannte, und sie hatte Angst, dass ihr Haar jede Sekunde in Flammen aufgehen könnte. Sie versuchte, interessiert dreinzuschauen, während Chefkoch Juan die Feinheiten von Käse-Tortillas erläuterte. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, was hier eigentlich vor sich ging. Die verschiedenen Gerüche, die den Schalen auf der Arbeitsfläche entstiegen, vermischten sich in ihrer Nase und verursachten ihr Übelkeit. Sie fühlte sich, als ob sie sich gleich übergeben müsste. Dann hörte sie einen unterdrückten Schmerzensschrei und ein ihr gut bekannter metallischer Geruch stieg ihr in die Nase. Sie sah auf und bemerkte Joy, die es beim Tomatenwürfeln tatsächlich geschafft hatte, sich in den Finger zu schneiden. Ein paar Blutstropfen waren auf die Arbeitsfläche getropft, und aus der Wunde an ihrem Finger floss noch etwas nach. Jane fühlte ihre Fangzähne mit sanftem Klicken einrasten. Ihre Sinne schärften sich, als der Blutgeruch ihr Verlangen noch erhöhte. Sie fühlte sich zu Joys verletztem Finger hingezogen. »Ups!«, sagte Joy fröhlich. Sie wickelte ihren Finger in ein Spültuch. »Alles in Ordnung, es ist nur ein kleiner Kratzer«, versicherte sie dem Publikum. 240
Jane starrte noch immer auf das Blut. Sie konnte es geradezu schmecken. Ihr Kopf schwamm. Die Lichter über ihr fühlten sich wie gleißende Sonnen an. Ihre Haut stand in Flammen, und ihre Augen schmerzten. Aber alles, was sie sehen konnte, waren nur noch die Blutstropfen. Dann, wie aus heiterem Himmel, drückte ihr Joy eine Schale mit geriebenem Käse in die Hand. Sie blickte sie verständnislos an, dann fiel ihr wieder ein, was Juan gesagt hatte. Sie nahm eine Handvoll, beugte sich vor, und versuchte, sie über die Tortilla zu verteilen. Doch in ihren heißen Händen verwandelte sich der Käse in eine klebrige Masse, die auf die Tortilla plumpste und dann auf ihr thronte wie eine aufsässige Kröte. Chefkoch Juan warf einen verzweifelten Blick darauf, dann schaute er Jane finster an. »Okay«, hörte Jane Comfort sagen. »Jetzt schieben wir das in den Ofen.« Sie schnappte sich das Backblech mit der Käse-Tortilla, und schob es eilig in die Ofenattrappe hinter ihnen. Dann nahm sie eine fertige KäseTortilla von der oberen Schiene und präsentierte sie dem Publikum. »Sieht das nicht toll aus?«, fragte sie. »Ich liiiiiiebe mexikanisches Essen!«, verkündete Joy, während Chefkoch Juan nur schief grinste und ein vergessenes Stück Käse mit den Fingern auf den Teppich schnippte. Eine Minute später war alles vorbei. Kaum, waren sie nicht mehr auf Sendung, eilte Jane von der Bühne. Sobald sie nicht mehr in der Nähe der Lichter war, fühlte sie sich ein bisschen besser. Sie schickte sich an, zum Green Room zurückzukehren, um sich etwas Wasser zu holen, als Joy vorbeilief. »Verdammtes Messer«, murmelte sie im Gehen. »Warum hat mir niemand gesagt, dass es so scharf ist?« 241
Der Blutgeruch zog Jane mit sich wie ein Drachen seinen Schwanz. Ihre Nasenflügel zuckten. Sie musste sich wirklich eine Stärkung verschaffen. Sie beobachtete, wie Joy in ihrer Garderobe verschwand. Dann sah sie sich um. Alle schienen beschäftigt. Selbst Comfort gab Autogramme und unterhielt sich mit ein paar Leuten aus dem Publikum. Jane sah wieder zu Joys Garderobe. Nur eine winzige Kleinigkeit, sagte sie sich. Gerade genug, um wieder auf die Beine zu kommen.
242
25 Sie studierte das Blatt, das vor ihr lag. Zeile auf Zeile füllten ihre handgeschriebenen Worte das cremefarbene Papier. Es hatte sie den Großteil des Abends gekostet, diese Worte zu finden. Jetzt, im Schein des Feuers, las sie sie sich selbst vor. Es waren gute Worte, voller Tiefe und Schönheit, und sie brachten ihre Geschichte zu einem höchst befriedigenden Abschluss. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 356 Es regnete leicht, als Jane am Maison de Trois Soeurs im French Quarter ankam. Die feuchte Luft roch leicht sumpfig und es war so heiß, dass sich Jane fühlte, als wäre sie in einen nassen Wollpullover gekleidet. Das Schlimmste aber war, was das Wetter ihrem Haar angetan hatte, das nun schlaff und strähnig auf ihre Schultern herabhing. Sie bezahlte den Taxifahrer und trug ihre Koffer ins Hotel. Am Empfang begrüßte sie ein junger Mann mit einem runden Gesicht und einer kleinen, stahlgefassten Brille. »Einen guten Tag«, sagte er müde. »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Ich möchte einchecken«, sagte Jane. Sie nannte ihm ihren Namen und wartete, während er sich durch einen altmodischen Terminkalender mit handschriftlichen Notizen blätterte. Sie stellte fest, dass kein Computer in Sichtweite war. Tatsächlich schien alles in der Lobby mindestens hundert Jahre zu alt zu sein. Gaslicht flackerte an den Wänden, und die schweren Holzmöbel kauerten auf den abgewetzten Teppichen wie riesige Tiere, die rosafarbene Samtsättel trugen. Eigentlich wirklich reizend, dachte Jane. 243
»Da haben wir Sie ja«, sagte der Rezeptionist und machte einen Vermerk in seinem Buch, wahrscheinlich neben ihrer Reservierung. »Sie sind also wegen der Konferenz in der Stadt.« Jane nickte. »Wohnen viele Konferenzteilnehmer hier?«, fragte sie. »Ein paar«, antwortete der Mann. »Die meisten bleiben die ganze Zeit im Tagungshotel. Ein paar sind aber hier abgestiegen, weil man hier etwas mehr für sich ist. Außerdem mögen sie das ursprüngliche Ambiente.« »Das ist auch wirklich reizend«, sagte Jane, als er ihr einen echten Schlüssel statt der üblichen Magnetkarte reichte. Wie alles andere im Maison de Trois Soeurs war der Schlüssel alt, sein Metall abgenutzt von den Händen der vielen Hotelgäste. »Sie sind in Zimmer neun«, sagte der Mann. »Das ist durch den Salon und die Treppe hoch, zweiter Stock. Brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Gepäck?« Jane schüttelte den Kopf. »Ich komme schon klar«, sagte sie. »Aber trotzdem danke.« »Ich bin Luke«, sagte der Mann. »Lassen Sie es mich wissen, falls Sie irgendetwas brauchen.« Jane ließ den Schlüssel in ihre Tasche gleiten, nahm ihre Taschen und ging hinauf in den zweiten Stock. Ein Flur mit vielen Türen lag zu ihrer Rechten. Die Treppe führte noch weiter nach oben. Jane durchquerte den Flur, bis sie vor einer Tür mit einer kleinen 9 aus Messing an ihrem Mittelpfosten stand. Der Schlüssel glitt geschmeidig in das Schlüsselloch, und mit einem kaum wahrnehmbaren Seufzen schwang die Tür auf. Das Zimmer war größer, als sie erwartet hatte. An der Wand stand ein Messingbett. Die blaue Steppdecke darauf war im traditionellem Karomuster gehalten. Direkt 244
gegenüber stand eine Kommode mit einem großen Spiegel darüber, außerdem ein gemütlich aussehender Sessel mit blauem Polsterbezug. Nach links führte eine Tür ins Badezimmer. Die rückwärtige Wand wurde von hohen Fenstern eingenommen, die vom Boden bis zur Decke reichten und wegen des Regens geschlossen waren. Draußen war ein kleiner, schmiedeeiserner Balkon, von dem aus man die Straße überblickte. Jane legte einen Koffer aufs Bett und stellte den anderen neben die Kommode. Dann ging sie zu den Fenstern und öffnete eines davon. Der Regen hatte nachgelassen, und Dampf stieg vom Kopfsteinpflaster unten auf. Der Geruch nach Erde und Fäulnis war nun stärker, aber nicht unangenehm. Es ist, als ob die ganze Stadt um mich herum zerfällt, dachte Jane. Sie war fast ein Jahrhundert nicht mehr in New Orleans gewesen. Sie hatte früher viele ihresgleichen gekannt, die hier gelebt hatten, aber sie hatte die Korrespondenz mit ihnen seit langem aufgegeben. Zuerst hatte es ihr gefallen, wie besessen sie alle von der Vergangenheit waren, besonders weil sich damals alles so rasend schnell veränderte, sodass es ihr vorkam, als ob die Welt, die sie gekannt hatte, verschwand. Aber irgendwann hatte es sie gelangweilt: die manierierte Art, zu sprechen, diese morbide Faszination für Maskenbälle und das Schlafen in Särgen; und sie hatte ihnen allen Lebewohl gesagt. Sie war sich sicher, dass sie noch heute hier wohnten, aber sie hatte nicht die Absicht, nach ihnen zu suchen. Sie würde danach nur deprimiert sein. Sie kehrte zum Bett zurück und öffnete den Koffer. Bevor sie Chicago verlassen hatte, war sie noch einmal groß einkaufen gegangen, so dass sie nun genug Kleider und alles andere besaß. Sie nahm mehrere Kleidungsstücke 245
aus dem Koffer und hängte sie in den schmalen Schrank. Sie trug gerade ihren Kulturbeutel ins Bad, als das Klingeln ihres Handys die Stille unterbrach. Jane ging zurück zur Kommode und nahm den Anruf entgegen. »Hallo?« »Ms. Fairfax«, sagte eine Frauenstimme. »Hier ist Farrah Rubenstein. Von Entertainment Weekly«, fügte sie hinzu, als Jane nicht gleich antwortete. »Wer bitte ist da?«, fragte sie bestürzt. Sie wusste sehr gut, wer Farrah war. Sie hatte nur nicht erwartet, ihre Stimme zu hören. Du solltest doch tot sein, dachte sie. »Wie schön, von Ihnen zu hören«, versicherte sie der Reporterin. »Es tut mir leid, wenn ich Sie störe«, sagte Farrah, die die Überraschung in Janes Stimme nicht bemerkt zu haben schien. »Ich hätte nur noch ein paar Fragen zu Ihrem Buch.« Jane setzte sich auf die Bettkante. »Fragen Sie nur«, sagte sie. Sie hätte die junge Frau sehr gerne gefragt, ob auch alles in Ordnung war. Haben Sie zum Beispiel den Drang verspürt, andere Leute in den Hals zu beißen?, dachte sie. Aber sie konnte das nicht sagen, ohne zuzugeben, dass etwas Merkwürdiges geschehen war, und andererseits wollte sie auch nicht, dass Farrah erfuhr, dass sie sie unter ihrem Bett versteckt hatte, während sie einkaufen gegangen war. Sie bemerkte, dass sie die rote Bluse in der Hand hielt, die sie gekauft hatte, und schob sie unter eines der Kissen, aus Angst, Farrah könnte sie irgendwie bemerken. »Okay«, sagte Farrah. »Ich habe ganz vergessen, zu fragen, ob die Namen Ihrer Charaktere irgendeine symbolische Bedeutung haben.« Jane beantwortete die Frage mechanisch, ohne genau mitzubekommen, was sie eigentlich sagte. Farrah hatte 246
noch einige Fragen, die Jane alle auf die gleiche fast unbewusste Weise beantwortete. Sie konnte Farrahs Bild nicht abschütteln, wie sie auf dem Hotelzimmerbett lag, die Augen leblos zur Decke gerichtet. Was war mit ihr geschehen? »Farrah«, fragte sie, als sie es nicht länger aushielt. »Fühlen Sie sich gut?« »Ich?«, fragte Farrah. »Ja. Wieso?« »Nur so«, sagte Jane und überlegte schnell. »Ich scheine mir in Chicago irgendwas eingefangen zu haben. Ich glaube, es war die Luft im Hotel. Ich fragte mich, ob Sie nach unserem Treffen irgendwelche … Symptome bemerkt haben.« »Nein«, sagte Farrah. »Eigentlich fühle ich mich großartig. Vielleicht sind Sie ja etwas anfälliger«, versuchte sie zu helfen. »Vielleicht«, stimmte Jane zu. Farrah hob an, Jane eine Frage zu ihrem Plot zu stellen. »Sie sind sich sicher, dass Sie sich nicht ungewöhnlich fühlen?«, unterbrach Jane. »Vergesslich vielleicht? Oder müde? Vielleicht verspüren Sie ein Verlangen nach rohem Fleisch?« Farrah lachte. »Iiih«, sagte sie. »Ich bin Vegetarierin. Nein, ich fühle mich großartig. Wenn ich Ihnen jetzt vielleicht noch ein paar Fragen stellen dürfte?« Sie unterhielten sich noch etwa zehn Minuten lang. Dann bedankte sich Farrah. Sie sagte Jane noch, wann das Interview erscheinen würde, dann legte sie auf. Jane schaltete ihr Telefon aus. Eine Weile saß sie auf dem Bett, starrte das Telefon in ihren Händen an und fragte sich, was hier eigentlich vorging. Ich habe doch ihren Hals gesehen, dachte sie. Das Mädchen war tot. Das war sie aber eindeutig nicht. Irgendwie hatte sie 247
das Hotelzimmer verlassen und erinnerte sich nun entweder an nichts, oder aber sie log. So oder so war es beunruhigend. Warum sollte jemand (und sie ahnte, wer dieser Jemand war) solche Mühen auf sich nehmen, die Reporterin auszusaugen und Jane einen Mord anzuhängen, nur um dann den Leichnam zu beseitigen? Es ergab keinen Sinn. Leider hatte sie keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. In einer Stunde gab es einen Cocktailempfang für die Konferenzteilnehmer, und es wurde fest mit ihrer Anwesenheit gerechnet. Auch wenn ihr heiß war, und sie sich verschwitzt und nach diesem Telefonat auch völlig verunsichert fühlte, musste sie gehen. Sie zwang sich, aufzustehen, und ging ins Bad, um zu sehen, ob sie vielleicht noch irgendetwas mit ihrem Haar anstellen konnte. Um Viertel nach sechs betrat sie den Ballsaal im zweiten Stock des Tagungshotels. Er war voller Leute – die meisten Frauen –, die sich laut unterhielten und Fingerfood von Tabletts aßen, die von gelangweilt dreinschauenden Kellnern herumgetragen wurden. Jane registrierte mit Besorgnis, dass eine Menge rosa Kleidung zu sehen war. Sie fand den Empfangstisch und nährte sich zwei Frauen, die sie an ihren Namensschildern als die Organisatorinnen erkannte. Bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte, schrie eine von ihnen schon auf. »Jane Fairfax!«, rief sie. »Ach, ich liebe Ihr Buch.« Sie streckte die Hand aus, während sich die Leute in Janes Nähe zu ihr umdrehten, und sich offensichtlich fragten, wer sie denn war, dass sie eine solch enthusiastische Aufmerksamkeit verdient hatte. Jane errötete und ergriff die ausgestreckte Hand. »Ich bin Sally Higgins-Smythe«, sagte die Frau. »Mit einem Y«, fügte sie hinzu, und unterstrich ihr Namens248
schild mit einem pummeligen Finger. »Ich habe Sie zur Konferenz eingeladen.« »Dann bin ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet«, sagte Jane. Sally Higgins-Smythe hatte einen wilden Glanz in ihren Augen, der schon an Hysterie grenzte, und Jane hatte den Verdacht, dass sie die letzten vierundzwanzig Stunden nur Koffein und Zucker zu sich genommen hatte. »Hier ist Ihr Abzeichen«, sagte Sally und steckte Jane ein herzförmiges Namensschild an die Brust. »Und hier ist Ihr Ablaufplan.« Sie drückte ihr ein Merkblatt in die Hand. »Ich muss mich im Moment leider um diesen Tisch kümmern, aber ich kann Ihren Auftritt kaum erwarten.« »Ja«, sagte Jane. »Ich –« Sie stockte. »Meinen Auftritt?«, fragte sie, als ihr dämmerte, was Sally gerade gesagt hatte. »Hat man es Ihnen denn nicht gesagt?«, fragte Sally. »Sie werden an einer Podiumsdiskussion teilnehmen. Darüber, was Frauen von Liebesromanen erwarten. Sie, Penelope Wentz, und Chiara Carrington.« »Niemand hat mir etwas von einer Podiumsdiskussion gesagt«, sagte Jane. »Wäre es Ihnen nicht möglich –« »Das wird schon gut gehen«, unterbrach sie Sally. »Alles, was Sie tun müssen, ist ein paar Worte zu sagen und dann die Fragen zu beantworten.« Jane wollte widersprechen, dann besann sie sich eines Besseren. Sie wollte keinen Ärger auf ihrer ersten Konferenz. Reicht es denn nicht, dass schon eine Reporterin wegen dir gestorben ist?, fragte sie sich. Du musst es nicht noch schlimmer machen und dir den Ruf einhandeln, schwierig zu sein. »Sie haben Recht«, sagte sie zu Sally. »Es wird Spaß machen, ganz bestimmt.« Sie ließ Sally weiter die Neuankömmlinge begrüßen, 249
und begab sich in die hinterste Ecke des Raums, wo sie hoffte, niemandem im Weg zu stehen. Auf ihrem Weg nahm sie sich ein Glas Wein von einem der Tabletts und trank es beinahe leer, bevor sie auch nur die Hälfte des Wegs geschafft hatte. Sie wünschte, Kelly wäre hier oder Nick. Alleine, wie sie war, fühlte sie sich wie ein neues Mädchen an der Schule. Sie kannte niemanden, und jeder starrte sie an, um herauszufinden, wer sie war. Sie fand ein ruhiges Plätzchen in der Nähe einer Topfpalme und versuchte, sich bedeckt zu halten. Mit ein wenig Glück würde niemand von ihr Notiz nehmen, und sie könnte sich früh zurückziehen. Später könnte sie sich dann in Ruhe überlegen, was sie bei der Diskussion sagen sollte. Was Frauen von Liebesromanen erwarten, dachte sie. Na prima. »Jane?« Jane sah auf und erblickte eine groß gewachsene, gut aussehende Frau vor sich. Das dunkle Braun ihrer Haut wurde von ihrem herrlichen, bernsteinfarbenen Kleid noch unterstrichen. Ein Diamantenhalsband schmückte ihren schlanken Hals, und ihr Haar war zu einem festen, glänzenden Knoten hochgesteckt. Jane zerbrach sich den Kopf um herauszubekommen, welcher Filmstar sie war. »Chiara Carrington«, sagte die Frau und schenkte Jane ein blitzendes Lächeln. »Ich dachte, ich stelle mich vor unserer Diskussion morgen vor.« »Oh!« sagte Jane. »Das ist sehr nett von Ihnen. Ich habe eben erst erfahren, dass ich auch an der Diskussion teilnehme.« Chiara lachte. »Ging mir so ähnlich«, sagte sie. »Sally vergisst es gerne, uns Autoren solche unbedeutenden Kleinigkeiten mitzuteilen. Nach ein paar Konferenzen hat man sich daran gewöhnt.« 250
Einige Minuten hielten die beiden Smalltalk. Dann sagte Chiara: »Es ist mir ja so peinlich, aber ich muss gestehen, ich habe keines Ihrer Bücher gelesen.« Wer’s glaubt, dachte Jane. »Kein Problem«, sagte sie. »Es ist mein erstes. Und wo wir schon beim Beichten sind, von Ihnen habe ich auch noch nichts gelesen. Ist es auch Ihr erstes?« »Mein fünfzehntes«, antwortete Chiara. Eiseskälte hatte sich in ihre Stimme geschlichen, und Jane erkannte sofort, dass sie einen Fehler begangen hatte. »So viele?«, entfuhr es ihr. »Sie können doch unmöglich so alt sein, um so viele –« »Entschuldigen Sie.« Eine andere Stimme unterbrach Janes Versuch einer Entschuldigung. Jane drehte sich um und sah eine Frau neben sich, klein und ganz in Grau gekleidet. Ihre Haut war hell und ihre Augen von demselben Grau wie ihre Kleidung. Ihr braunes Haar war zu einem strengen Knoten in ihrem Nacken gebunden. »Ich würde gerne ein paar Worte mit Ihnen wechseln, wenn ich darf«, sagte sie. Sie warf Chiara einen durchdringenden Blick zu. »Alleine.« »Ist schon gut«, sagte Chiara, »ich wollte gerade gehen.« Sie warf Jane einen eisigen Blick zu. »Wir sehen uns dann wohl morgen«, sagte sie und ging davon. Jane wandte sich wieder der Fremden zu. »Wir wurden uns noch nicht vorgestellt«, sagte sie. »Violet«, sagte die Frau. »Violet Grey.« Jane hatte schon die Hand ausstrecken wollen. Jetzt aber unterließ sie es. »Oh«, sagte sie, »von Ihnen habe ich schon einiges gelesen.« Violet Grey lächelte grimmig. »Natürlich«, sagte sie. »Und ich von Ihnen.« Jane war sich nicht sicher, wie sie weiter vorgehen 251
sollte. Sie wusste bereits, was Violet von ihrem Buch hielt. Sollte sie sie damit konfrontieren? Oder erwartete man von ihr, einfach nur dazustehen, während Violet eine perverse Freude daran hatte, sie zappeln zu lassen? »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen eine Szene zu machen«, sagte Violet, als könnte sie Janes Gedanken lesen. »Ich glaube nicht, dass das irgendeine von uns will.« »Nein«, sagte Jane. »Nein, das wollen wir nicht.« Violet nickte höflich. »Dann werde ich einfach sagen, was ich zu sagen habe. Ich beabsichtige, Sie bloßzustellen.« »Wie bitte?«, fragte Jane. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« »Ich dachte mir, dass Sie das sagen würden«, sagte Violet. »Was ich damit meine, ist, dass ich beweisen kann, dass Sie nicht die sind, die Sie vorgeben zu sein.« Jane zögerte einen kurzen Moment. Wusste Violet vielleicht über sie Bescheid? Und wenn ja, woher? Sie wollte etwas sagen. »Geben Sie sich keine Mühe, es abzustreiten«, unterbrach Violet. »Ich habe alle Beweise, die ich brauche.« »Beweise?«, wiederholte Jane. »Dass Sie Ihren Roman gestohlen haben«, sagte Violet. Jane hörte sich vor Erleichterung lachen. Die Frau wusste also gar nichts. Dann sickerten ihre Worte zu ihr durch. »Sie glauben, ich habe bei jemandem abgeschrieben?«, fragte sie. »Nicht nur bei irgendjemandem, Miss Fairfax«, sagte Violet. »Bei Charlotte Brontë.« »Brontë?«, fragte Jane. »Wie um alles in der Welt kommen Sie darauf, dass ich bei Charlotte Brontë abgeschrieben hätte?« 252
»Wie der Zufall es will, befindet sich das Originalmanuskript, das Sie Constance nennen, in meinem Besitz«, teilte Violet ihr mit. »Das ist unmöglich«, sagte Jane. »Und dennoch ist es so«, beharrte Violet. »Ich habe auch einen Zeugen – einen Experten für Manuskripte des neunzehnten Jahrhunderts – der die Urheberschaft des Manuskripts bestätigen wird.« Jane dachte einen Moment lang nach. Was war aus dem Originalmanuskript des Romans geworden? Sie versuchte, sich zu erinnern. Dann fiel es ihr wieder ein – sie hatte es Byron geschenkt. Tatsächlich hatte sie das Buch als eine Art Liebesbrief an ihn begonnen und es vor ihrer Familie geheim gehalten, anders als die anderen Bücher, aus denen sie für gewöhnlich laut vorgelesen hatte, während sie an ihnen arbeitete. Der Gedanke verursachte ihr heute Übelkeit, aber damals hatte sie das Buch für die perfekte Methode gehalten, Byron zu zeigen, wie sehr sie ihn verehrte. Dann, nach allem, was er ihr angetan hatte, war sie aus seinem Haus geflohen – ohne das Manuskript. Sie hatte natürlich eine Kopie in Chawton gehabt, das Original aber war in dem Haus an den Ufern des Genfer Sees geblieben. »Ich weiß nicht, wie Sie an eine Kopie des Manuskripts gekommen sind«, fuhr Violet fort. »Ich nehme an, dass mehrere davon existieren könnten. Brontë war bekannt dafür, immer zwei oder drei zu machen, für den Fall, dass eine zerstört würde. Sie aber haben eine davon, da bin ich mir ganz sicher. Und ich beabsichtige, zu beweisen, dass Sie sie als Grundlage für Ihren Roman benutzt haben.« »Das muss ein Missverständnis sein«, sagte Jane. Violet rümpfte die Nase. »Ein ziemlich großes, würde 253
ich sagen. Was, glauben Sie, wird die literarische Welt dazu sagen, wenn bekannt wird, dass Sie Ihren Roman nicht nur plagiiert, sondern auch noch verhindert haben, dass man von der Existenz eines weiteren CharlotteBrontë-Romans erfährt?« »Sie wollen wohl nicht verstehen«, sagte Jane. »Oh doch, ich verstehe sehr gut«, sagte Violet. »Und eines weiß ich ganz genau: Wenn Sie morgen nicht bei der Podiumsdiskussion aufstehen und zugeben, was Sie getan haben, werde ich gezwungen sein, Sie bloßzustellen.« »Das kann ich nicht tun! Das entspricht nicht der Wahrheit.« »Morgen«, sagte Violet, und wandte sich zum Gehen. Dann drehte sie sich noch einmal um. »Wenn Sie es nicht tun, tue ich es.«
254
26 Charles kam im Oktober, nachdem der erste harte Frost den letzten Äpfeln den Tod gebracht hatte und die wenigen Blätter, die sich noch störrisch an den Bäumen hielten, verwelkt waren. Er erreichte das Häuschen eines hellen, kalten Nachmittags. Er trug einen kleinen Koffer und seinen roten Lieblingskater in einem Weidenkorb. Constance kehrte gerade von einem Spaziergang zum Teich zurück, wo sie nachgesehen hatte, was die Uferenten machten, und sah ihn bei der Eingangstür stehen. Doch statt sofort zu ihm zu rennen, stand sie einen langen Moment ganz still, und bestaunte das Sonnenlicht, wie es Lichtkleckse auf sein Haar zauberte. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 372 Sie wünschte, es wäre dunkler. Obwohl die Dämmerung schon lange hereingebrochen war und es nach wie vor regnete, war es immer noch hell genug, dass Violet sie entdecken würde, wenn sie sich umdrehte. Bis jetzt hatte sie aber noch nicht einmal eine Pause eingelegt, und durcheilte das French Quarter auf einer eigenartigen Zickzackroute. Jane fragte sich, ob die Frau argwöhnte, dass man sie verfolgen könnte. Dem war ja auch tatsächlich so. Jane hatte gerade so lange gewartet, bis sich der Schock und der Zorn über Violets Forderungen gelegt hatten. Als Violet dann das Hotel verließ, hatte sie sich an ihre Fersen geheftet. Sie war sich nicht sicher, weshalb sie es tat, oder was sie denn unternehmen würde, aber ihr Instinkt riet ihr, ein Auge auf Violet zu haben. Und so folgte sie ihr, wobei sie einen gewissen Abstand zwischen ihnen ließ, falls sie 255
sich schnell in einen Eingang ducken und Violets Blick entgehen musste. Violet war die Rue Chartres entlanggeeilt, bis sie Jackson Square erreichte. Auf der anderen Seite des Platzes wandte sie sich der St. Ann Street zu und ging nach Nordwesten. Sie bog ein weiteres Mal ab, nahm die Dauphine Street nach Osten, überquerte eine Weile später die Esplanade und betrat den Faubourg Marigny. Sie ließ den Washington Square hinter sich, überquerte die Elysian Fields Avenue, bog in die Mandeville Street, und einen Block weiter schließlich nach Westen in die Burgundy Street. Ein paar Häuser weiter hielt sie vor einem kleinen roten Haus. Sie ging über die Veranda zur Eingangstür und trat ein. Jane stand im Schatten des Hauses gegenüber und wünschte sich, sie hätte vernünftige Schuhe angezogen. Ihre Füße schmerzten, und sie spürte, dass sich an ihrer rechten großen Zehe bereits eine Blase bildete. In dem Haus, das Violet betreten hatte, ging das Licht an. Es drang durch die Holzlamellen der Jalousien und warf wässrig gelbe Streifen auf die weiß gestrichenen Dielenbretter der Veranda. Wegen der Jalousien konnte Jane nichts erkennen, und so überquerte sie schnell die Straße und verbarg sich in dem engen Raum zwischen Violets Haus und dem daneben. Dort war noch ein weiteres Fenster, aber schwere Vorhänge verhinderten, dass Jane hineinsehen konnte. Sie schlich weiter und hoffte, eine Möglichkeit zu finden, in das Innere des Hauses zu spähen. Auf der Rückseite des Hauses wurde sie fündig. Der Hinterhof war klein, und der Garten verwildert, so dass er nun einem Dschungel blühender Pflanzen glich, die die Luft mit ihren Düften erfüllten. Es gab eine kleinere 256
Version der vorderen Veranda mit einer einfachen Tür, von der Jane annahm, dass sie in die Küche führte. Ein schmales Fenster auf einer Seite der Tür leuchtete schwach in die Dunkelheit hinaus. Jane dachte finster an Schlangen, als sie sich durch das Gras zur Veranda vorarbeitete und durch das Fenster blickte. Sie hatte mit ihrer Vermutung Recht gehabt. Es war eine ziemlich große Küche, schäbig, aber sauber. Die Küchengeräte waren alt, beinahe schon antik, und die Tapete hatte an mehreren Stellen Flecken von Wasserschäden erlitten. Sie sollte wirklich nach dem Dach sehen lassen, dachte Jane. Walter wäre entsetzt, wenn er so etwas sähe. An einer Seite des Raumes stand ein Tisch, rechteckig und von dunkelbrauner Farbe. Auf jeder Seite des Tisches stand ein Stuhl. Drei der Stühle waren besetzt. Jane machte einen Schritt zurück, aus Angst, entdeckt zu werden. Doch als eine Minute verstrichen war, ohne dass sie jemand bemerkt hatte, wagte sie einen zweiten Blick. Zwei der Gestalten waren weiblich. Sie trugen dunkle Kleider, ähnlich dem, das Violet getragen hatte. Ihre Haare waren ebenso zusammengebunden, und ihre Gesichter waren genauso blass. Die dritte Gestalt war ein Mann. Er trug einen Anzug und einen säuberlichen Seitenscheitel. Er hatte Jane den Rücken zugekehrt, so dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Alle drei hatten ihre Hände ordentlich im Schoß zusammengelegt. Einen Moment später betrat Violet den Raum. »Ich bin zurück«, sagte sie. »Und ich glaube, unser Plan hat funktioniert.« Niemand antwortete ihr, aber Violet schien das nicht zu kümmern. Sie durchquerte die Küche, holte Essen aus dem Kühlschrank und stellte es auf den Tisch. Dann goss 257
sie Wein in vier Gläser und stellte jedes vor einen Platz. Als sie fertig war, setzte sie sich auf den verbliebenen Stuhl, gegenüber dem des Mannes. Sie hob ihr Glas. »Auf die Rache«, sagte sie. Sie lachte und nahm einen Schluck Wein. Einen Moment schloss sie ihre Augen. »Ist das nicht köstlich?«, fragte sie. Keiner der drei Gäste antwortete ihr, keiner von ihnen rührte auch nur einen Finger. Die Gläser standen unberührt vor ihnen. Violet schien sich immer noch nicht an ihrem Schweigen zu stören, hob eine Platte mit Fleisch und nahm ein Stück. »Anne?«, sagte sie und sah zu der rechts sitzenden Person. »Oh, entschuldige. Du magst doch lieber das Endstück. Tut mir leid.« Sie drehte sich nach links und legte ein weiteres Stück Fleisch ihrer anderen Nachbarin auf den Teller. »Emily du magst es lieber blutig.« Anne und Emily scheinen ihre Ansichten lieber für sich zu behalten, dachte Jane, während sie zusah, wie Violet die Teller mit Essen füllte. Die seltsame Szene ergab immer weniger Sinn. »Möchtest du das Gebet sagen?«, fragte Violet, und meinte offenbar den Mann, der ihr gegenübersaß. Sie neigte den Kopf. Jane hörte kein Wort aus dem Mund des Mannes, aber ein paar Augenblicke später hob Violet wieder den Kopf. »Danke, Branwell«, sagte sie. Branwell?, dachte Jane. Anne? Emily? Da dämmerte es ihr. Sie beobachtete Violet, die sich angeregt unterhielt, während sie aß. Es sind Puppen, dachte Jane. Schaufensterpuppen oder etwas in der Art. Sie hat sie eingekleidet und hält sie für die Brontës. Auf einmal ergab alles einen Sinn. Violet war nicht nur ein Brontë-Fan; sie war von den Brontës besessen. Kein Wunder, dass sie daran glauben wollte, dass Janes 258
Manuskript von Charlotte geschrieben worden war. Sie tut sogar so, als wäre sie Charlotte, dachte Jane. Deshalb hießen die anderen beiden auch Anne und Emily. Natürlich hat sie sich die erfolgreichste Schwester für sich selbst ausgesucht, dachte Jane. Sie mag verrückt sein, aber sie ist schlau und gerissen. Jane hatte schon viele Brontë-Fanatiker getroffen, aber Violet stahl ihnen allen die Show. Nicht nur, dass sie sich ihre eigene kleine Familie geschaffen hatte, sie hatte es irgendwie auch geschafft, Janes Manuskript auszugraben und sich einzureden, dass es aus Charlottes Feder stammte. Irgendwie war es auch etwas traurig, und beinahe tat sie Jane ein bisschen leid. Andererseits versucht sie, mich zu erpressen, rief sie sich ins Gedächtnis. Die Frage war, was sie dagegen unternehmen sollte. Sie konnte Violets Behauptungen von sich weisen, aber solange Violet im Besitz des Manuskripts war, würde es immer einen Beweis geben, dass Jane bei irgendjemandem abgeschrieben hatte. Ob Experten Charlotte für die Autorin hielten oder nicht, man würde Jane des Plagiats bezichtigen. Ich muss es wiederhaben, dachte Jane. Das ist die einzige Möglichkeit. Aber wie? Sie konnte nicht einfach hineinspazieren und verlangen, dass Violet es ihr aushändigte. Du könntest sie immer noch aussaugen, schlug ihr eine innere Stimme vor. Es war keine schlechte Idee. Sie könnte das problemlos tun, und dann in Ruhe nach dem Manuskript suchen, während Violet die Schäfchen zählte. Mit ein bisschen Glück würde sie sich am nächsten Tag an nichts erinnern. Aber sie würde sich noch an das Manuskript erinnern, und das würde den ganzen Plan durchkreuzen. Die 259
einzig verlässliche Möglichkeit war, sie komplett leer zu trinken. Sie zu töten. Jane war in großer Versuchung. Schließlich hatte Violet ihr gedroht. Noch schlimmer, sie warf ihr vor, ihr eigenes Werk gestohlen zu haben. Irgendwie verdiente sie es wirklich, dachte Jane. Was aber, wenn sie jemandem davon erzählt hatte? Einem Freund vielleicht? Oder dem Manuskript-Experten, den sie erwähnt hatte. Wer das wohl sein mochte? Jane hatte keinen Schimmer. Wenn sie Violet aus dem Weg räumte, gab es unter Umständen immer noch Leute, die sie anklagen könnten. Nein, die einzige Möglichkeit war, das Manuskript sicherzustellen. Hoffentlich besaß niemand eine Kopie davon. Wenn Jane das Manuskript erst hatte, konnte Violet ihr vorwerfen, was sie wollte, doch ohne Beweise würde sie niemand ernst nehmen. Sie könnte ein wenig Ärger und ein paar Spekulationen verursachen, aber nur für eine kurze Zeit. Und jeder, der genau genug hinsah, würde erkennen, dass Violet so verrückt wie ein Sack voll Ratten war. Janes Aufgabe bestand also darin, das Manuskript zu finden. Wenn nötig, würde sie die Frau beißen und ausschalten, aber sie hoffte, dass das nicht nötig sein würde. Lieber wäre es ihr, wenn Violet sie überhaupt nicht sehen würde. Sie war aber bereit, zu tun, was auch immer notwendig war. Sie konnte das Haus natürlich nicht durch die Küche betreten, also suchte sie nach einem anderen Weg. Die Vordertür wäre zu riskant, aber ein Fenster an der Seite wäre gut. Dummerweise war das eine, an dem sie vorbeigekommen war, verschlossen. Sie ging auf die andere Seite und fand ein weiteres, kleineres Fenster. Das Glas war geriffelt und milchig. Das muss das Bad sein, dachte Jane. 260
Sie versuchte, es zu öffnen, und zu ihrer großen Erleichterung lies es sich nach oben schieben. Dahinter lag wie vermutet das Badezimmer. Die Tür war geschlossen. Jetzt musste Jane nur noch hineinkommen. Sie stützte sich auf das Sims und stieß sich mit den Füßen ab. Ihr Kopf ragte nun in den Raum, und einen Moment hing sie da, schwankend wie eine Wippe, und balancierte auf ihrem Magen. Dann gelang es ihr, den Rand der altmodischen Badewanne unter ihr zu packen und sich hineinzuziehen. Sie purzelte in die große Wanne, rang nach Luft und horchte auf den Klang von Schritten. Als nichts zu hören war, kletterte sie aus der Wanne und schlich zur Tür. Sie linste durchs Schlüsselloch und sah einen langen Korridor. Es war ziemlich dunkel, doch am anderen Ende konnte sie das Küchenlicht sehen. So weit, so gut, dachte Jane und öffnete behutsam die Tür. Sie trat in den Flur und sah sich um. Es gab zwei weitere Türen, beide geschlossen. Eine von ihnen, so hoffte sie, würde sie in das Zimmer mit ihrem Manuskript führen. Sie ging zur ersten Tür und drehte den Knauf. Die Tür führte in einen Wandschrank voll alter Mäntel. Der Geruch von Mottenkugeln lastete schwer darin. Jane unterdrückte ein Husten, schloss die Tür, und ging weiter. Aus der Küche drang das Geräusch fließenden Wassers. Das Abendessen scheint vorbei zu sein, dachte Jane. Ich muss mich beeilen. Die zweite Tür führte in das Arbeitszimmer. Ein großer Tisch stand an der Wand, und eingepasste Regale waren vom Boden bis zur Decke randvoll mit Büchern aller Art gefüllt. Seltsamerweise, bedachte man die Jahreszeit, brannte dem Schreibtisch gegenüber ein Feuer in einem kleinen Kamin. Vor dem Kamin stand ein Sessel. 261
Und davor hingestreckt lag ein kleiner, braun und weiß gescheckter Spaniel. Seine Pfoten zuckten im Schlaf. Na toll, dachte Jane, trat ein, und schloss vorsichtig die Tür hinter sich. Alles, was sie jetzt noch brauchte, war, dass der Hund aufwachte und zu bellen begann. Sie beäugte ihn misstrauisch, während sie sich dem Schreibtisch näherte, der ihr der logischste Ort für die Suche nach ihrem Manuskript zu sein schien. Sie öffnete die mittlere Schublade. Sie war mit dem üblichen Krimskrams gefüllt: Stifte, Radiergummis, Briefmarken, ein paar Bögen Papier. Jane schloss sie wieder. Sie durchsuchte jede Schublade so rasch und leise, wie sie nur konnte. Jedes Mal verlief die Suche ergebnislos. Wenn Violet wirklich ein Manuskript besaß, hatte sie es an einem anderen Ort versteckt. Jane trat in die Mitte des Raums und sah sich um. Vielleicht hat sie es in einem der Bücher versteckt, dachte sie. Sie besah sich die Regale, die unter der Last ihres Inhalts ächzten. Es war unmöglich, sie alle durchzusehen. Der Hund winselte leise, und Jane zuckte zusammen. Sie warf ihm einen Blick zu und sah, dass er immer noch schlief. Einen Moment fragte sie sich, was er wohl träumte. Dann bemerkte sie etwas auf dem Sessel. Einen Stapel Papier. So leicht kann es nicht sein, oder?, fragte sie sich. Sie schlich sich zum Sessel und sah nach. Sie beugte sich vor, nahm die Blätter empor und betrachtete sie im Schein des Feuers. »Als sie ihn das Haus verlassen sah, verspürte sie großen Triumph, doch dieser Triumph war getrübt vom bitteren Geschmack der Verzweiflung«, las sie. Sie erkannte den Satz als den (mittlerweile überarbeiteten) Eröffnungssatz des siebzehnten Kapitels ihres Romans. Sie erkannte auch ihre Handschrift. Das Manuskript schien das Original zu sein. 262
Ein einzelnes Blatt fiel zu Boden. Jane hob es auf. Es war die Titelseite. Constance, stand darauf. Von Jane Austen. Bloß, dass ihr Name durchgestrichen und Charlotte Brontës Name darübergeschrieben worden war. Violet hatte es also tatsächlich gefunden. Und sie wusste, dass Jane der wahre Autor war. Nicht Brontë. »Aber warum dann das alles?«, hörte sie sich selbst sagen. »Weil es das Buch ist, das ich hätte schreiben sollen.« Jane fuhr herum und sah Violet in der Tür stehen. Sie betrachtete Jane mit einem Ausdruck blanken Hasses. »Ich hätte wissen sollen, dass Sie mir folgen würden«, sagte sie und schloss die Tür. »Ich schätze, ich habe es auch gewusst.« »Was soll das heißen, es ist das Buch, das Sie hätten schreiben sollen?«, fragte Jane. »Schreiben Sie?« Violet lachte. Ihr Ton war eisig. Jane bemerkte, dass der Spaniel aus seinen Träumen erwacht war und sich aufsetzte. Jetzt muss ich mir wegen beiden Sorgen machen, dachte sie. »Ob ich schreibe?«, wiederholte Violet. »Ja, das tue ich. Und wesentlich besser als Austen. Jedenfalls, bis sie das schrieb.« Sie nickte in Richtung des Manuskripts in Janes Händen. »Dieses Meisterwerk.« »Danke«, sagte Jane, deren Manieren einen Moment die Oberhand über ihre Angst und ihre Verwirrung gewannen. Violet schüttelte den Kopf. »Bloß wird niemand glauben, dass Sie es geschrieben haben«, sagte sie. »Alle werden glauben, dass ich es geschrieben habe.« »Sie?«, fragte Jane. »Ich dachte, Sie glauben, dass Charlotte Brontë es geschrieben hat.« Sie hielt das Titelblatt hoch und wedelte damit hin und her. Violet verzog das Gesicht. »Sind Sie wirklich so ein263
fältig?«, fragte sie. »Haben Sie denn nicht erkannt, wer ich bin?« »Ich weiß, wer Sie zu sein glauben«, sagte Jane vorsichtig. Sie dachte an die Puppen, die um den Küchentisch versammelt saßen. »Sie glauben, dass Sie Charlotte Brontë sind. Was völlig in Ordnung ist«, fügte sie hastig hinzu. »Daran ist nichts auszusetzen.« »Idiotin!«, spie Violet. »Ich bilde mir nicht ein, Charlotte zu sein. Ich bin Charlotte!« Als Violet ihren Mund zu einem Fauchen öffnete, sah Jane zwei Fangzähne aus ihrem Oberkiefer schnellen. Nein, dachte sie. Das kann doch nicht wahr sein. »Gib mir das Manuskript, und ich lasse dich vielleicht am Leben«, drohte Violet. Sie trat einen Schritt auf Jane zu. Mich am Leben lassen?, dachte Jane. Was redet sie da? Plötzlich wurde ihr klar – Violet wusste nicht, wer sie war. Sie glaubt, ich bin Jane Fairfax, eine ganz gewöhnliche Frau, erkannte sie. »Moment!«, rief Jane, um Zeit zu gewinnen. »Ich gebe es Ihnen ja. Sagen Sie mir nur, wo Sie es herhaben. Ich … ich dachte, ich hätte die einzige Kopie gefunden.« Violet lachte. »Natürlich dachtest du das. Wie solltest du auch ahnen, dass ich dieses Manuskript von Lord Byron persönlich bekommen habe? Na ja, ich habe es ihm gestohlen.« »Byron?«, fragte Jane. Sie dachte kurz nach. »Er hat dich verwandelt, nicht wahr?« Jetzt war es an Violet, verwirrt dreinzuschauen. »Woher weißt du das?«, zischte sie. Jane verdrehte die Augen. »Um Himmels willen, Charlotte, wer, glaubst du wohl, dass ich bin?« Sie entblößte ihre Zähne und ließ ihre Fänge herausgleiten. 264
»Der Bastard scheint sich durch die komplette englische Literatur geschlafen zu haben.« »Nein«, sagte Charlotte, und trat einen Schritt zurück. »Das kann nicht sein. Du kannst das nicht sein.« »Tja, nun, es sieht ganz danach aus, als ob wir beide hier sind«, stellte sie fest. »Also, was machen wir jetzt?« »Jasper!«, schrie Charlotte statt einer Antwort. »Fass!« Der Spaniel sprang auf, bereit, seiner Herrin zu gehorchen. Jane sah ihn näher kommen und wusste, dass sie nicht aus dem Zimmer entkommen konnte, besonders nicht solange Charlotte im Weg stand. »Jasper, sitz!«, sagte sie bestimmt. Zu ihrer Überraschung funktionierte es. Der Hund setzte sich wieder hin und sah sie erwartungsvoll an. »Jasper!«, rief Charlotte. Bevor Charlotte ihren Befehl beenden konnte, eilte Jane zum Kamin und warf das Manuskript hinein. Das alte Papier fing sofort Feuer und begann zu brennen. »Nein!«, schrie Charlotte. Sie rannte herbei, stieß Jane beiseite, und griff ins Feuer, um die Seiten herauszuholen. Jane rappelte sich wieder auf und wich zurück, während Charlotte versuchte, zu retten, was vom Manuskript noch zu retten war. Sie ist es wirklich, staunte sie. Charlotte hatte einige Bögen Papier aus dem Feuer gezogen, und versuchte, die Flammen mit ihren Händen zu ersticken. Da leckte eine Flamme empor und züngelte am Ärmel ihres Kleids hinauf. In Sekundenschnelle breitete sich das Feuer aus und erfasste das ganze Gewand. Charlotte schrie vor Schmerzen. »Hilf mir!«, schrie sie, und schlug mit beiden Händen auf die Flammen ein. Dies entfachte das Feuer aber nur 265
noch mehr, und kurz darauf verschlangen die Flammen ihren ganzen Körper. Jane konnte nur dastehen und entsetzt zusehen, wie Charlotte bei dem Versuch, das Feuer zu löschen, wie ein Derwisch herumwirbelte. Sie sah, dass die Flammen auf das Zimmer übergriffen. Schon brannte der Sessel, und die Kanten des Teppichs schwelten. Einen Moment später rannte Jasper zur Tür und begann wie wild an ihr zu kratzen. Seine Angst brach den Bann und ließ auch Jane wieder handeln. Sie wandte sich von der kreischenden Charlotte ab, öffnete die Tür und folgte Jasper in den Flur. Er rannte zur Küche, Jane hinterher. Der Flur füllte sich bereits mit Rauch. Jasper rannte durch die Küche und stieß die Hintertür mit der Nase auf. Dann verschwand er in der Nacht. Jane wollte ihm schon folgen, als ihr Blick auf den Küchentisch und die drei Figuren fiel, die immer noch um ihn versammelt saßen. Sie ging zu der, die ihr am nächsten saß, und sah in ihr Gesicht. Haut, oder was von ihr übrig war, spannte sich über den Schädelknochen. Die Augen waren verschwunden. Der Mund war ein Stück verschrumpeltes Fleisch. Sie sah zu den anderen beiden Leichen. Sie waren ebenso mumifiziert. Das kann sie doch nicht ernsthaft getan haben, dachte Jane. Sie sah Charlottes berühmten Geschwistern ins Gesicht und zitterte. Das war einfach nicht richtig von ihr. Dann hörte sie ein Krachen, als Teile des Dachs in sich zusammenfielen. Sie rannte zur Tür, stieß sie auf, folgte Jasper und brachte sich in Sicherheit.
266
27 Jonathans Auftauchen war nicht völlig unerwartet, aber dennoch ein Schock. Nach so vielen Monaten ohne ein Wort hatte sie sich allmählich der Hoffnung hingegeben, dass er sich einen anderen Zeitvertreib gesucht hatte. Nun erkannte sie, dass sie es besser hätte wissen müssen. Er würde sie nie gehen lassen. Nie. Nicht, bis nicht einer von ihnen tot war. – Jane Austen, Constanze, Manuskriptseite 399 »Ich habe gerade Charlotte Brontë getötet.« Jane war in ihrem Hotelzimmer, ihr Handy in der einen, eine Packung Verbandszeug in der der anderen Hand. Sie war ins Hotel zurückgerannt, und die Blasen an ihren Füßen schmerzten sie sehr. »Du hast was getan?«, fragte Lucy. »Charlotte Brontë«, wiederholte Jane. »Ich habe sie umgebracht. Na ja, man könnte auch sagen, dass sie sich selbst umgebracht hat. Es ist ja nicht so, dass ich sie ins Kaminfeuer gestoßen hätte oder etwas in der Art. Aber ich fühle mich doch ein wenig verantwortlich.« »Du wirst mir das schon etwas ausführlicher erklären müssen«, sagte Lucy. Jane erzählte ihr die ganze Geschichte, von der Konfrontation auf der Konferenz bis zu ihrer Flucht aus der Küche. »Was ist aus Jasper geworden?«, fragte Lucy, als Jane geendet hatte. »Ich weiß nicht«, sagte Jane. »Er ist davongelaufen.« 267
»Du musst ihn finden!«, beharrte Lucy. »Wahrscheinlich ist er total verängstigt.« »Er hat mit Charlotte und ihren drei mumifizierten Geschwistern gelebt«, warf Jane ein. »Wenn ihn das nicht verängstigt hat, wird ihn nichts mehr verängstigen.« »Geh wenigstens noch mal hin und halt nach ihm Ausschau«, sagte Lucy. »Okay?« Jane seufzte. »Okay«, gab sie nach. »Ich gehe noch mal hin. Aber nicht gleich. Ich kann kaum noch laufen. Ach egal, ich habe dich nicht angerufen, um über den Hund zu reden.« »Warum hast du angerufen?«, fragte Lucy. »Hast du den Teil mitgekriegt, in dem ich Charlotte Brontë getötet habe?«, fragte Jane. »Was soll ich nur tun?« »Warum solltest du überhaupt etwas tun?«, gab Lucy zurück. »Wenn sie tot ist, ist sie tot. Es ist ja nicht so, dass ihre Familie nach ihr suchen würde.« Daran hatte Jane nicht gedacht. »Du hast Recht«, sagte sie und fühlte sich ein wenig besser. »Und technisch gesehen war sie sowieso schon tot.« »Könnte Feuer sie denn wirklich töten?«, fragte Lucy. »Das könnte es«, bestätigte Jane. »Eigentlich könnte so ziemlich alles, was dich töten würde, auch sie töten. Ich meine, uns.« »Wirklich alles?«, fragte Lucy. »Gut, nicht alles«, präzisierte Jane. »Wir sind immun gegen Krankheiten. Mein Tipp ist, weil das, was uns zu dem macht, was wir sind, von einer Art Virus verursacht wird, der alles angreift, womit er in Kontakt kommt. Ich kannte mal einen Wissenschaftler, der –« Lucy gab ein leises Schnarchen von sich. »Ich hatte nicht um eine Biostunde gebeten«, sagte sie. 268
»Werd nicht frech«, sagte Jane. »Egal, Krankheiten scheiden aus. Genau wie Altersschwäche, weil wir so alt bleiben, wie wir waren, als wir verwandelt wurden. Aber so ziemlich alles andere kann uns erledigen.« »Knoblauch?«, fragte Lucy. »Alles nur Märchen«, rief Jane. »Weihwasser?« »Nur, wenn wir darin ertrinken«, sagte Jane. »Ich rede von den üblichen Missgeschicken, bei denen man sterben kann. Flugzeugabstürze. Aufgespießt werden. Seinen Kopf verlieren. Diese Art von Dingen.« »Man lernt nie aus. Ich dachte, Vampire wären einfach magisch, wie Einhörner oder Kobolde.« »Ich würde es nicht als magisch bezeichnen«, antwortete Jane. »Und wir müssen genauso auf uns aufpassen wie du.« »Was, wenn du bloß einen Arm verlierst?«, fragte Lucy. »Oder sagen wir, eine Zehe. Wächst das nach?« »Wir sind keine Eidechsen«, sagte Jane betont höflich. »Doch ja, wir haben einige … interessante regenerative Eigenschaften. Trotzdem können wir sterben, wenn der Schaden nur groß genug ist.« »Dann wollen wir mal annehmen, dass Charlotte wirklich extraknusprig ist«, sagte Lucy. »Musst du so etwas sagen?« »Tut mir leid«, entschuldigte sich Lucy. »Aber irgendwie finde ich es schräg, sich über die tote Charlotte Brontë zu unterhalten. Egal, gehen wir davon aus, dass es diesmal wirklich für immer ist. Wie ich schon sagte, ich sehe da kein Problem. Bloß für den armen Jasper. Du wirst doch nach ihm suchen, ja?« »Das habe ich dir doch gesagt«, sagte Jane. »Aber was ist mit mir?« 269
»Geh morgen wieder zur Konferenz«, sagte Lucy. »Tu einfach so, als ob nichts Ungewöhnliches passiert wäre. Soweit es die anderen was angeht, warst du auf deinem Zimmer und hast die ganze Nacht geschlafen.« Jane überlegte kurz. War es wirklich so einfach? Sie versuchte, einen Fehler in Lucys Gedankengang zu finden, aber sie konnte keinen entdecken. Niemand hatte ihre Unterhaltung mit Violet Grey mit angehört. Niemand hatte gesehen, wie sie Violet nach Hause gefolgt war. Und ganz bestimmt wusste niemand, dass Violet in Wahrheit Charlotte Brontë war. »Was ist mit diesem Manuskript-Experten?«, fragte Jane. »Den gibt es doch gar nicht«, erklärte Lucy. »Ehrlich, man könnte meinen, du hättest noch nie ein Buch geschrieben. Charlotte hat ihn erfunden, als sie noch glaubte, dass du normal bist. Ich meine sterblich. Also kein Vampir. Gott, das ist alles so verwirrend.« »Du hast Recht«, stimmte Jane ihr zu. »Sie wollte mir nur einreden, dass sie wissenschaftliche Beweise hat.« Sie lachte auf. »Sie hatte ja keinen Schimmer, wer ich bin«, sagte sie. »Was für eine seltsame Geschichte.« »Warum?«, fragte Lucy. »Du hattest doch auch keinen Schimmer, wer sie ist.« »Musst du einem immer den Spaß verderben?«, fragte Jane. »Aber sicher doch«, sagte Lucy. »Die Autorin von Jane Eyre zu verbrennen – was für ein Spaß.« »Na ja, irgendwie ist es schon makaber, wenn man’s bedenkt«, sagte Jane. »Bertha Mason und so.« »Man merkt, dass es dir wieder besser geht«, sagte Lucy. »Schön, dass ich dir helfen konnte. Jetzt geh Jasper suchen. Ich will morgen einen Bericht, wie es ihm geht.« 270
Jane legte auf. Sie erhob sich und ging Richtung Badezimmer. Vielleicht würde sie sich ein schönes, heißes Bad einlassen. Dann dachte sie an Jasper, allein in der Nacht, und keinen Ort, an den er gehörte. Sie stellte sich vor, wie sie Lucy anlügen müsste, wenn sie nicht nach ihm suchen würde. »Ach, verdammt«, fluchte sie, als sie sich nach ihren Schuhen bückte. Dieses Mal nahm sie ein Taxi, und bat den Fahrer, sie ein paar Blocks vor Charlottes Haus – oder was davon übrig war – abzusetzen. Als Jane näher kam, sah sie, dass das Feuer ganze Arbeit geleistet hatte. Das Haus war zerstört. Das Einzige, was noch stand, war der geziegelte Kamin, der sich von den geschwärzten Balken des Hauses wie ein riesiger Finger erhob und eine obszöne Geste an Jane zu richten schien. Zwei Löschfahrzeuge blockierten die Straße, und eine Handvoll Einsatzleute standen auf dem Bürgersteig und begutachteten die Ruine. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Von den Haufen aus verkohltem Holz und Asche stiegen stinkende Rauchschwaden in den Nachthimmel empor, und die Luft roch verbrannt und beißend. Jane mied die Feuerwehrleute, passierte die Löschzüge und ging zur anderen Straßenseite. Sie wollte von niemandem gesehen und mit dem Feuer in Zusammenhang gebracht werden. Sie fragte sich, ob man schon die Überreste von Charlotte und ihren Geschwistern gefunden hatte. Wie es aussah, war so ziemlich alles, was im Haus war, eingeäschert worden. Jetzt, da sie hier war, merkte sie, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie Jasper finden sollte. Irgendwie hatte sie wohl erwartet, ihn auf dem Bürgersteig sitzen zu sehen, wie er einsam und verlassen die Überreste seines 271
Heims besah. Doch außer den Feuerwehrleuten und ein paar gaffenden Nachbarn war die Gegend verlassen. Den Hund zu finden, würde unmöglich sein, fürchtete sie. »Jasper«, rief sie sanft. »Bist du da?« Zu ihrer Überraschung kam der Spaniel hinter einem Nachbarhaus hervor. Schwanzwedelnd kam er auf Jane zu und setzte sich vor sie hin. Er bellte kurz und legte den Kopf schief, die Ohren aufmerksam gehoben. »Hallo«, sagte Jane. »Tut mir leid mit deinem Haus«, fügte sie hinzu. Jasper bellte ein weiteres Mal. Er und Jane sahen sich einen langen Moment an, während Jane überlegte, was sie nun mit ihm anstellen sollte. Sie hatte nicht erwartet, ihn zu finden, daher hatte sie nie weitere Pläne über diesen Punkt hinaus gemacht. Sie ging ihre Möglichkeiten durch. Sie könnte ihn in ein Heim bringen. Das wäre das einfachste. Für mich zumindest, dachte sie. Je länger sie in Jaspers braune Augen sah, desto sicherer war sie sich, dass sie ihn auf keinen Fall zurücklassen konnte. Es war nicht seine Schuld, dass er das Pech gehabt hatte, bei den Brontës zu leben. Und in gewisser Weise hatte er Jane bei ihrer Konfrontation mit Charlotte sogar geholfen. »Ach, was soll’s«, sagte Jane. »Komm mit.« Sie und Jasper gingen eine Weile die Straße hinab, bis Jane es gelang, ein Taxi zurück zum Hotel zu bekommen. Sie ließ den Fahrer kurz an einem kleinen Supermarkt halten, wo sie Hundefutter und zwei große Plastikschüsseln kaufte. Während sie im Laden war, saß Jasper gehorsam draußen und wartete, so als ob er schon immer mit Jane gelebt hätte. Sie fand seine Hingabe rührend, und trotz allem, was geschehen war, fühlte sie, wie er ihr 272
ans Herz wuchs. Er war, entschied sie, ein sehr liebenswerter Hund. Ihn ins Hotel zu bekommen, erwies sich als nicht allzu schwer, da niemand am Empfang saß. In ihrem Zimmer füllte Jane eine Schüssel mit Leitungswasser und die andere mit Hundefutter. Jasper stürzte sich gierig darauf, und verschlang den Inhalt der Futterschale in wenigen Minuten. Dann trank er ausgiebig, und mit noch tropfender Schnauze sprang er aufs Bett und rollte sich am Fußende zusammen. Das arme Tier ist völlig erschöpft, dachte Jane. Sie ließ ihn schlafen und ging ins Badezimmer, wo sie endlich in den Genuss einer warmen Dusche kam, nach der sie sich seit Stunden gesehnt hatte. Dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, zog ihr Nachthemd an und ging zu Bett. Jasper wachte auf, kam zum Kopfende des Bettes und legte sich neben Jane, seinen Rücken an sie gepresst. Nach kurzem Zögern streichelte sie seine Ohren. »Süße Träume«, flüsterte sie ihm ins Ohr, doch er war schon eingeschlafen. Sie erwachte mit ihrem Gesicht in Jaspers Nackenfell. Er hatte sich die ganze Nacht nicht geregt, doch als Jane sich aufsetzte, war er sofort hellwach, gähnte, und streckte seine Pfoten. »Was stelle ich nur mit dir an?«, fragte Jane. »Ich schätze, ich werde dich wohl mit nach Hause nehmen müssen. Und wo lasse ich dich denn heute, während ich auf dieser verdammten Podiumsdiskussion sein muss?« Jasper sprang vom Bett und schüttelte sich. Dann blickte er vielsagend zur Tür. Es dauerte einen Moment, bis Jane begriff, was er wollte. »Richtig«, sagte sie. »Du musst ja raus. Gib mir nur eine Minute Zeit.« 273
Sie zog ein Paar Jeans und ein Hemd an und suchte ihre Schuhe. Dann öffnete sie die Tür. Sofort trottete Jasper die Treppe hinunter Richtung Lobby. Sie eilte ihm nach, besorgt, was geschehen würde, wenn jemand vom Personal ihn sah. Doch als sie ihn fand, lag er auf seinem Rücken, und ließ sich von Luke den Bauch kraulen. »Es tut mir leid«, entschuldigte sich Jane. »Ich weiß, dass er nicht hier sein sollte. Aber ich fand ihn letzte Nacht herumstreunend, und er sah so verloren und verängstigt aus, dass ich –« »Ist schon okay«, sagte Luke. »Hunde sind hier erlaubt,« Wie ist denn sein Name? »Jasper«, antwortete Jane. »Werden Sie ihn behalten?« Jane zögerte einen Moment. »Ich glaube schon«, sagte sie. »Es gibt aber ein kleines Problem.« Sie erklärte dem jungen Mann ihre Situation. »Kein Problem«, sagte Luke. »Er kann heute bei mir bleiben. Und fürs Flugzeug brauchen Sie nur eine Hundebox. Ich kann Ihnen eine aus der Zoohandlung besorgen, wenn Sie wollen. Ich setze Sie Ihnen einfach auf die Rechnung. Wo wir schon dabei sind, er sollte vielleicht auch ein Halsband haben.« Jane dankte Luke überschwänglich. Sie ließ Jasper bei ihm, ging zurück auf ihr Zimmer und bereitete sich auf die Konferenz vor. Sie hatte sich bisher überhaupt keine Gedanken über die Diskussion gemacht. Jetzt grübelte sie über das Thema. Was erwarteten Frauen wohl von Romanzen? Romantik natürlich, dachte sie. Was für eine dämliche Frage. Sie wusste, dass sie das dem Publikum natürlich so nicht sagen konnte. Schließlich waren sie ja gerade da, weil sie an Romantik glaubten. Und anscheinend kauften 274
sie ihr Buch, weil sie es für romantisch hielten. Bei dem Gedanken sträubte sich alles in ihr. Sie hatte es immer gehasst, als Romantikerin bezeichnet zu werden. »Wenn überhaupt, bin ich eine Pragmatikerin«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Zehn Minuten später verließ sie das Hotel. Jasper lag vor dem Empfang auf dem Boden, als ob er sein ganzes Leben dort verbracht hätte. Jane hielt an, um ihn am Kopf zu kraulen, und er wedelte mit seinem kleinen Schwanz. »Bis nachher«, sagte sie. Ein Taxi brachte sie zum Tagungshotel. Es herrschte nun reger Betrieb, und die Lobby war voller geschäftiger Leute, die auf der Suche nach einem Vortragsraum vorübereilten oder ihren Freunden hinterherliefen. Jane fand einen Ablaufplan und suchte nach ihrem Namen. Sie fand ihn gleich zweimal – einmal bei der Diskussion und einmal um zwei bei einer Signierstunde, für die sie anscheinend eingeplant war. Zunächst aber musste sie einen Raum finden, den man das Pfauenzimmer nannte. Sie fand es im dritten Stock. Es war ein sehr großer Saal, und er war bereits gut besucht. Jane entdeckte Chiara Carrington in der Nähe der Bühne. Chiara trug einen rubinroten Hosenanzug und sah atemberaubend aus. Sie unterhielt sich mit einer kleinen, untersetzten Frau mit schlecht sitzender Dauerwelle. Die Frau bemerkte Jane und sagte etwas zu Chiara, die sich umdrehte und ein finsteres Gesicht aufsetzte. Dann erwiderte sie etwas, und die andere Frau lachte und hielt und sich die Hand vor den Mund. Das wird ja großartig, dachte Jane, während sie auf die beiden zuging. Als sie ankam, lächelte sie und hielt 275
der blonden Frau die Hand hin. »Sie müssen Penelope sein«, sagte sie. Chiara unterdrückte ein Lachen, als die Frau erwiderte: »Ich bin Rebecca Little, die Chefredakteurin des RomanceMagazins. Ich moderiere die Diskussion.« »Oh«, sagte Jane und errötete. Sie hatte nicht nur Chiara beleidigt, sondern auch noch zu erkennen gegeben, dass sie weder Rebecca Little noch Penelope Wentz kannte. Sie hinterließ einen wundervollen ersten Eindruck, dachte sie. »Penelope ist noch nicht hier«, sagte Rebecca. »Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass sie überhaupt kommt.« Chiara gab ein zustimmendes Schnauben von sich. Jane versuchte, nichts zu sagen, das sie noch ahnungsloser erscheinen ließ, konnte aber nicht widerstehen zu fragen. »Wieso überrascht?« »Na ja, niemand hat sie jemals gesehen«, sagte Chiara, als ob das zur Allgemeinbildung gehörte und Jane ein weiteres Mal durch eine einfache Prüfung gefallen wäre. »Es gibt keine Autorenporträts in ihren Büchern, alle Interviews führt sie per E-Mail, und sie war noch nie auf einer Konferenz«, erklärte Rebecca. »Ich habe jahrelang versucht, sie als Gast zu bekommen. Ich habe keine Ahnung, was sie dieses Jahr dazu bewogen hat, ihre Meinung zu ändern, aber ich habe mich sehr darüber gefreut. Ihre Identität ist eins der großen Geheimnisse des Genres.« Sie nickte Richtung Publikum. »Deshalb sind auch so viele Leute hier.« Sie tätschelte Chiaras Arm. »Und natürlich deinetwegen«, fügte sie hinzu. Chiara lächelte zurückhaltend. »Und wegen Jane«, sagte sie. »Natürlich«, sagte Rebecca. »Und auch wegen Jane.« Jane wünschte, Sally Higgins-Smythe wäre da. Die 276
wenigstens mag mich, dachte sie. Diese beiden würden mich bei der erstbesten Gelegenheit von einer Klippe stoßen. Einen Moment fragte sie sich, ob Charlotte ihnen vielleicht von Janes angeblichem Diebstahl oder ihrem eigenen Manuskript erzählt hatte. Vielleicht war die ganze Diskussion ja eine aufwändige Falle, und man würde sie bloßzustellen versuchen. Du bist bloß paranoid, sagte sie sich. Alles wird gut. »Entschuldigen Sie.« Im selben Moment, in dem sie die tiefe Stimme vernahm, wusste sie, dass es ganz und gar nicht gut werden würde. Jane drehte sich um und sah Byron hinter sich stehen. Er trug Jeans, einen schwarzen Ledermantel und ein weißes Hemd, das am Hals geöffnet war und den Blick auf ein blasses Dreieck Haut freigab. Er hatte sich einen Ziegenbart stehen lassen, und wenn sie ihn nicht so gut kennen würde, hätte sie ihn nicht wiedererkannt. »Was machst du –«, hob sie an. Er ignorierte sie und streckte Rebecca die Hand hin. »Sie müssen Rebecca sein«, sagte er mit seiner charmantesten Stimme. Er lächelte und entblößte seine weißen Zähne. »Ich bin Penelope Wentz.«
277
28 »Hast du denn wirklich nie an mich gedacht?«, fragte Jonathan und nahm ihre Hand. »Hast du nicht unsere Unterhaltungen vermisst? Hast du meinen Kuss nicht vermisst?« Sie sah auf und versuchte zu sagen, dass das nicht stimmte, aber die Worte starben in ihrem Mund. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 403 Rebecca konnte nicht anders, als Byron einfach nur anzustarren. Chiara tat dasselbe. Auch wenn Jane mehr als nur ein wenig verärgert war, konnte sie es ihnen doch kaum verübeln. Er sah gut aus, umso mehr mit dem Bart. Dieser verdeckte sein Kinn, und das hatte Jane ohnehin nie für den vorteilhaftesten Teil seines Gesichts gehalten. »Sie?«, fragte Rebecca, als sie endlich ihre Stimme wiederfand. »Sie sind Penelope Wentz?« Sie kicherte und sah sich um, ob ihr vielleicht jemand einen Streich spielte. Dann sah sie Chiara an, die immer noch Byron anstarrte. Es hatte ihr völlig die Sprache verschlagen. »Mir ist klar, dass dies etwas verwirrend für Sie sein muss«, sagte Byron sanft. »Ich versichere Ihnen aber, dass ich tatsächlich sie bin.« Dann wandte er sich Jane zu und tat so, als träfe er sie zum ersten Mal. »Ich glaube nicht, dass wir einander schon vorgestellt wurden«, sagte er und hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Tavish Osborn.« Jane schenkte ihm einen Blick, der ihn wissen ließ, dass sie diese seine letzte Gaunerei nicht im Mindesten komisch fand. »Jane Fairfax«, sagte sie. Byron tat einen Schritt zurück. »Jane Fairfax!«, rief er aus. »Die Autorin von Constance.« 278
»Eben diese«, nickte Jane ohne Begeisterung. Byron drehte sich zu Rebecca und Chiara um. »Haben Sie ihr Buch gelesen?«, fragte er. »Meiner Meinung nach ist es die beste Liebesgeschichte, die im letzten Jahrhundert erschienen ist. Äh, Jahrzehnt.« »Wenn das kein Kompliment ist«, sagte Jane, während Rebecca und Chiara verstörte Blicke austauschten. Schließlich räusperte sich Chiara. »Verzeihen Sie meine Überraschung«, sagte sie zu Byron. »Ich – wir«, sie sah zu Rebecca, die nickte. »Wir nahmen an, dass Sie eine Frau sind.« Byron lachte freundlich. »Ich kann mir denken, weshalb«, antwortete er. Dann fixierte er Chiara mit einem seiner sinnlichsten Blicke. »Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich durch und durch ein Mann bin.« Chiara errötete, während es Jane gelang, Blickkontakt zu Byron herzustellen. »Oh, bitte«, formte sie mit den Lippen. Er grinste und zwinkerte. »Nun, das wird auf jeden Fall eine riesige Überraschung!«, sagte Rebecca. »Ehrlich, ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Sie blickte Byron an, von Kopf bis Fuß. »Sie. Penelope Wentz.« Sie kicherte wieder. Byron sah auf seine Uhr. »Ich glaube, es ist auch schon fast so weit«, sagte er. »Natürlich«, sagte Rebecca und schüttelte den Kopf, als ob sie geträumt hätte und aufwachen müsste. »Warum nehmen wir nicht unsere Plätze ein?« Sie begaben sich auf die Bühne, auf der ein Tisch und vier Stühle bereitstanden. Chiara nahm den ersten Stuhl, und Jane nahm den, der am weitesten von Chiara entfernt stand. Erleichtert sah sie, wie Rebecca nach dem Stuhl neben ihr griff. Dann trat Byron dazwischen. »Würde es Ihnen etwas ausmachen?«, fragte er. 279
Rebecca warf Jane einen missgünstigen Blick zu. »Nicht im Geringsten«, sagte sie knapp. Jane sah Chiara ihren Hals recken, um zu sehen, was vor sich ging. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie sah, wo Byron zu sitzen beschlossen hatte. Sie ging davon aus, dass er sich zwischen sie und Rebecca setzen würde, dachte Jane. So hätten sie beide so tun können, als ob er ihre Nähe suchte. »Penelope Wentz?«, sagte Jane mit gesenkter Stimme, sobald Byron sich gesetzt hatte. »Ich nehme an, du hast die echte Penelope getötet.« »Nicht doch«, antwortete Byron. »Ich bin wirklich Penelope Wentz.« Er hob eine Augenbraue. »Ich bin schließlich der romantischste Mann der Welt.« Jane schnaubte. »Ich traue dir einfach nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Du hast versprochen, wegzubleiben.« Byron hob einen Finger. »Ich habe aber auch gesagt, dass ich eines Tages wiederkommen würde.« »Das war vor drei Monaten!«, sagte Jane. »Das nenne ich kaum eine angemessene Zeitspanne.« »Willkommen zu unserer Diskussion an diesem Morgen.« Rebeccas Ankündigung unterband jeden weiteren Streit zwischen Jane und Byron. Jane lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und gab sich Mühe, ihn nicht anzusehen. »Wir sind heute überglücklich, einige der aufregendsten Namen des Genres bei uns begrüßen zu dürfen«, fuhr sie fort. »Ihr kennt ja alle Chiara, die Autorin von Romanen wie Wohin der Wind auch weht und Das Geschenk der Liebe.« Sie machte eine Pause, um dem Publikum Gelegenheit zum Applaudieren zu geben. »Und wir freuen uns, euch Jane Fairfax vorzustellen, deren Roman Constance gerade großes Aufsehen auf dem Buchmarkt erregt.« 280
Jane registrierte mit etwas Enttäuschung, dass ihr Applaus weniger enthusiastisch ausfiel als die Begrüßung, die Chiara erhalten hatte. Byron aber klatschte laut. Sie widerstand dem Versuch, ihn unter dem Tisch zu treten. Rebecca holte hörbar Luft. »Ich bin sicher, viele von euch sind hier, weil sie das Gesicht hinter den PenelopeWentz-Romanen sehen wollen«, sagte sie. Ein beifälliges Murmeln lief durch die Menge, und viele Leute klatschten. »Nun, ich nehme an, ihr werdet genauso überrascht sein wie ich, als ich sie das erste Mal traf.« Sie machte eine dramatische Pause. »Oder sollte ich sagen, als ich ihn das erste Mal traf«, schloss sie und wies mit ihrer Hand auf Byron. »Ich darf also vorstellen, Mr. Tavish Osborn, den Mann hinter Penelope Wentz!« Erstaunte Ausrufe waren überall im Saal zu hören, und das Blitzlichtgewitter zahlloser Kameras blendete Jane für einen Moment. Sie versuchte, von Byron etwas abzurücken. Eine Frau in der ersten Reihe stand auf. Sie war ganz in Rosa gekleidet und hielt eines von Penelope Wentz’ Büchern umklammert. Sie hielt es an ihre Brust gedrückt und sah Byron anklagend an. »Ich glaube das nicht«, sagte sie. »Kein Mann könnte verstehen, was es heißt, eine …« – sie zögerte einen Moment – »Frau in einem bestimmten Alter zu sein«, schloss sie. »Das ist ein interessanter Punkt«, sagte Rebecca rasch. »Schließlich lautet das Thema unserer Diskussion ja, was erwarten Frauen von Liebesgeschichten. Vielleicht könnten Sie der Leserin die Frage unter diesem Blickwinkel beantworten«, schlug sie vor und sah Byron an. »Liebend gerne, Rebecca«, sagte Byron. Er richtete 281
seine Aufmerksamkeit auf die Frau, die gesprochen hatte. Jane sah, wie sie einen Schritt zurück machte und sich hinsetzte, als ob sie gestoßen worden wäre. Sie wusste, dass Byron eine seiner Kräfte gegen sie einsetzte. Als ob er das nötig hätte, dachte sie. Die Hälfte des Saals hat sich bereits in ihn verliebt. »Ich weiß, dass es für viele von euch ein Schock sein dürfte, dass ich ein Mann bin«, sagte Byron. »Schließlich werdet ihr euch fragen, woher kann ich denn wissen, wie es ist, eine Frau zu sein? Nun, ich werde euch mein Geheimnis verraten.« Er lehnte sich vor, wie als Aufforderung, doch näher heranzurücken. Und tatsächlich lehnten sich viele im Publikum nach vorne. »Ich liebe Frauen über alles«, sagte Byron. »Ich liebe alles an euch, und mehr als alles andere liebe ich es, euch zuzuhören.« Er lehnte sich zurück. »Und das ist mein Geheimnis«, sagte er. »Ich höre zu. Wenn ihr meine Bücher lest, bin nicht ich es, der die Geschichten erzählt, sondern du bist es.« Er deutete auf die Frau, die an ihm gezweifelt hatte, und nun heftig errötete. »Und du«, fuhr er fort, und deutete auf eine andere Frau. »Und du.« Er deutete in die Mitte des Publikums. Sie glauben alle, dass er nur mit ihnen spricht, dachte Jane. Er hat jede Einzelne von ihnen betört. »Du betrügst«, zischte sie leise, in der Gewissheit, dass Byron sie hören konnte. »Wenn ich schreibe, gebe ich euren Gefühlen eine Stimme«, fuhr Byron fort und ignorierte sie. Seine Stimme war ein regelrechtes Schnurren. Im Saal brach stürmischer Applaus aus. Die Hälfte des Publikums stand auf und schlug die Hände zusammen wie dressierte Robben ihre Flossen. Jane hätte ihnen gerne befohlen, sich wieder hinzusetzen und den Mund zu 282
halten. Byron warf ihr ein unverschämtes Grinsen zu. Du scheußlicher, scheußlicher Mann, dachte Jane. »Was für eine wortgewandte Antwort.« Rebecca hatte wieder die Kontrolle über die Bühne. Jane sah, dass sie sich über die Augen wischte. Weinte sie etwa? Sie tat es tatsächlich. Jane wurde übel. Byron hatte sie alle in der Hand. »Und was genau ist es, das Frauen wollen?«, hörte Jane sich fragen. Alle Augen wandten sich ihr zu, auch Byrons. Jane fühlte, wie sie errötete, aber sie wusste, dass sie jetzt nicht klein beigeben dufte. Sie holte tief Luft und sah Byron an. »Ich würde gerne hören, was Penelope glaubt«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass wir –«, begann Rebecca. »Ich aber schon«, unterbrach Jane. »Schließlich hat Mr. Osborn eine große Zahl von Büchern aufgrund seines tiefen Verständnisses weiblicher Wünsche geschrieben. Ich frage mich, ob er bereit ist, uns dieses Geheimnis zu verraten – uns, seinen Leserinnen«, fügte sie an. Byrons Mundwinkel zuckten, und Jane wusste, dass sie einen Treffer gelandet hatte. Er riss sich aber schnell wieder zusammen. »Aber gerne doch«, sagte er. »Ohne sie zu betören«, flüsterte Jane, während sie so tat, als ob sie einen Schluck Wasser aus ihrem Glas trank. Byron beachtete sie nicht. »Was Frauen wollen«, begann er. Es gab eine lange Pause, die noch länger wurde, während Byron nachzudenken schien. Jane spürte, wie das Publikum ungeduldig wurde. Jemand hustete. »Was Frauen wollen, ist, so angenommen zu werden, wie sie sind«, sagte Byron schließlich. »Nicht als das, was die Medien ihnen einreden, zu sein, sondern so, wie sie wirklich sind.« 283
Als das Publikum klatschte, warf Byron Jane einen triumphierenden Blick zu. »Ich verstehe«, sagte Jane laut. »Und doch stellen Ihre Bücher Frauen nicht wirklich so dar, wie sie sind, habe ich Recht?« »Warum machen wir nicht mit der nächsten Frage weiter«, sagte Rebecca, und starrte Jane feindselig an. »Einen Augenblick«, sagte Jane. »Mr. Osborn«, wandte sie sich an Byron. »Erwarten Sie wirklich von uns, dass wir glauben, dass Sie nicht genauso schuldig sind, Frauen als idealisiertes Abbild ihrer selbst zu präsentieren?« Da sie nie einen von Penelope Wentz’ Romanen gelesen hatte, konnte sie nur hoffen, dass sie in ihrer Einschätzung von Byrons Prosa richtig lag. »Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass Geschichten, vor allem romantische Geschichten, am besten funktionieren, wenn sie eine gewisse Portion Fantasie beinhalten«, sagte Byron glatt. »Schließlich glauben Sie doch wohl kaum, dass eine Welt der Wäsche, der Fahrgemeinschaften und der Hausaufgabenbetreuung den geeigneten Hintergrund für eine Liebesgeschichte bietet, oder?« »Tatsächlich glaube ich das durchaus«, sagte Jane. »Schließlich haben einige der romantischsten Erzählungen der Weltliteratur absolut gewöhnliche Frauen als Hauptpersonen. Nehmen Sie nur Verstand und –« »Ich finde, wir sollten jetzt weitermachen«, unterbrach Rebecca laut. »Mr. Osborn, vielleicht könnten Sie uns mehr darüber erzählen, wie es kam, dass Sie unter dem Namen Penelope Wentz schrieben. Ich bin sicher, es ist eine faszinierende Geschichte.« Jane ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken. Sie wusste, dass man sie ausgestochen hatte. Byrons betörende Kräfte waren einfach zu stark, und sie war aus der Übung. Er 284
hatte ihr die Bühne entrissen, und das in einem Moment, der ein Augenblick des Triumphs für sie und ihr Buch hätte werden sollen. Die nächste Stunde nahm Byron Fragen aus dem Publikum entgegen und spielte sie zielsicher wieder zurück. Jane und Chiara wurden kaum wahrgenommen. Mehr als einmal setzte eine von ihnen an, eine Frage zu beantworten, nur um wieder von jemandem unterbrochen zu werden, der lieber Byrons Meinung zum Thema hören wollte. Während Jane der Verlauf der Diskussion ärgerte, schien es Chiara aber nichts auszumachen, von Byron in den Schatten gestellt zu werden. Schließlich blendete Jane alles aus, saß einfach nur da, und tat so, als ob sie alles aufmerksam verfolgte. Doch erst als eine weitere Woge des Applauses erklang, hörte sie wieder zu. Es schien so, als wäre die Diskussion vorüber. »Mr. Osborn wird nun Bücher signieren«, kündigte Rebecca an. »Oh, und natürlich auch die anderen Autoren«, fügte sie schnell hinzu. »Bitte stellen Sie sich in einer Reihe an.« Es schien Jane, als ob fast jeder im Raum gleichzeitig zur Bühne stürmte. Einen Moment fürchtete sie, überrannt zu werden, aber in letzter Sekunde kam die Menge zum Stillstand und schaffte es irgendwie, sich zu einer Warteschlange zu formieren. Die erste Zuhörerin, ein Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren, betrat die Bühne und kam auf sie zu. Jane lächelte, in der Erwartung, ihr erstes Buch zu signieren. Die Frau würdigte sie jedoch keines Blickes, und ging geradewegs auf Byron zu. »Könnten Sie es für Brandi signieren?«, fragte das Mädchen. »Das ist Brandi mit einem ›i‹, richtig?«, fragte Byron. 285
Das Mädchen strahlte. »Wie haben Sie das nur erraten!« Byron antwortete, während er in ihr Buch schrieb. »Ein so einzigartiges Mädchen wie du wird doch sicher auch einen einzigartigen Namen haben«, sagte er. Brandi kicherte und biss sich verlegen auf die Lippen. »Vielen Dank, dass du heute gekommen bist«, sagte Byron, und versicherte sich eines weiteren Kicherns. »Ich hoffe, das Buch gefällt dir.« »Das wird es ganz bestimmt«, stotterte Brandi, als sie von Rebecca dazu angehalten wurde, weiterzugehen. Mit gewisser Befriedigung bemerkte Jane, dass das Mädchen an Chiara vorbeilief, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Da war auch schon eine weitere Leserin an Jane vorbeigelaufen und sprach mit Byron. Wie schon bei Brandi wickelte er sie derart um den Finger, dass sie bald nur noch kichern konnte. »Wer glaubst du eigentlich, dass du bist?«, fragte Jane in einer Pause, als eine Frau gerade ging und eine andere kam. »Die Beatles?« Mit quälender Langsamkeit wurde die Schlange kürzer. Nicht eine einzige Leserin bat Jane oder Chiara um ein Autogramm. Als die letzte Byrons Unterschrift erhalten hatte und strahlend davonging, stand Jane auf. »Das war ein Spaß«, sagte sie. »Ich fürchte, ich muss jetzt aber weiter. Es war nett, euch alle kennenzulernen.« Sie packte ihre Sachen zusammen und schickte sich an, zu gehen. Es kümmerte sie nicht, ob sie Chiara oder Rebecca beleidigt hatte. Die gesamte Reise war, was sie anbelangte, reine Zeitverschwendung gewesen. Nicht ganz, erinnerte sie sich. Schließlich hast du Charlotte Brontë getötet, und das ist ja immerhin etwas. »Jane, warte.« 286
Sie hörte Byrons Stimme hinter sich, hielt aber nicht an. Einen Moment später griff er sie am Arm. »Warte«, sagte er. Sie befreite sich aus seinem Griff und wirbelte herum, um ihn anzusehen. »Warum um alles in der Welt sollte ich das wohl tun?«, fragte sie. »Ich weiß das mit Charlotte«, sagte er. Jane knirschte mit den Zähnen. Natürlich, dachte sie. »Was genau weißt du?«, wollte sie wissen, und machte sich erst gar nicht die Mühe, sich gegen seine versteckte Anschuldigung zur Wehr zu setzen. »Ganz egal, was du weißt, vielleicht sollte ich dich fragen, woher sie das Manuskript hat, dass ich dir gegeben habe?« Byron hielt entschuldigend die Hände hoch. »Ich weiß«, sagte er. »Und es tut mir leid. Aber du machst dir keine Vorstellung davon, wie besessen sie ist. War. Woher hätte ich wissen sollen, dass sie es mir wegnehmen würde?« »Du hast sie also wirklich verwandelt«, sagte Jane. »Sag mal, gibt es sonst noch jemanden, nach dem ich Ausschau halten sollte? Christina Rossetti, vielleicht? Dorothy Parker? Truman Capote?« Byron zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen«, antwortete er. Beleidigt zog Jane von dannen. Byron rannte ihr hinterher. »Jane, Liebling«, sagte er. »Es tut mir so leid. Ich konnte einfach nicht wegbleiben. Du wirkst auf mein Herz wie ein Magnet.« Jane machte ein würgendes Geräusch. »Und du auf meinen Magen wie ein Abführmittel«, sagte sie. »Keine schönen Worte, nach allem, was ich für dich getan habe«, sagte Byron. Er machte ein verletztes Gesicht. »Was du für mich getan hast?«, wiederholte Jane. 287
»Meinst du damit deine Drohung, Walter zu töten und Lucy noch Schlimmeres anzutun? Oder meinst du, mein Manuskript in die Hände einer Person fallen zu lassen, die mir derart übel mitspielen wollte?« »Der Fairness halber sollte gesagt sein, sie ist wahrscheinlich nicht die Einzige«, sagte Byron. »Aber nein, davon rede ich nicht. Ich meine in Chicago.« Jane holte laut Luft. »Du hast also wirklich dieses Mädchen gebissen!«, klagte sie ihn an. Byron schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das war Charlotte. Ich war derjenige, der das Mädchen gerettet hat. Und dich«, fügte er hinzu. »Und wie genau hast du sie gerettet?« »Charlotte war nicht gerade die … Geschickteste von uns«, sagte er. »Sie war nie richtig fähig, etwas bis zum Schluss durchzuziehen. Sie dachte, sie hätte das Mädchen getötet, aber sie hatte sie nur geschwächt.« »Was tat sie da überhaupt?«, fragte Jane. »Sie versuchte, dir eine Falle zu stellen, nehme ich an«, sagte Byron. Die Erklärung klang plausibel, auch wenn Jane so ihre Zweifel daran hatte. »Und was hast du dort gemacht?«, fragte sie Byron. »Auf dich achtgegeben«, sagte er. »Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Mmm«, sagte Jane. »Ganz der Gentleman.« Byron senkte den Blick. »Jane, ich habe mein Versprechen gehalten«, sagte er. »Ich habe weder dich, noch Walter, noch Lucy behelligt. Ich habe dich nur beschützt.« Jane hatte nichts darauf zu erwidern. Wenn er sich in Chicago wirklich um Farrah gekümmert hatte, gab es tatsächlich etwas, wofür sie ihm dankbar sein musste. 288
Und vielleicht hatte Charlotte ihm das Manuskript vor vielen Jahren ja wirklich einfach gestohlen. Sie schätzte, es konnte sein, dass er die Wahrheit sagte. »Lass uns zu Abend essen«, sagte Byron. »Es ist unsere letzte Nacht in New Orleans.« »Nein«, sagte Jane bestimmt. »Das kommt nicht in Frage. Ich könnte vielleicht in der Lage sein, dir zu vergeben, was du –« »Nur Abendessen«, sagte Byron. »Und dann, ich verspreche es, verschwinde ich für immer.« »Deiner Definition von ›für immer‹ mangelt es leider stark an Genauigkeit«, sagte Jane. Er sah sie mit seinen dunklen, braunen Augen an. »Okay«, sagte sie, »Abendessen. Danach verschwindest du aber. Versprich es mir.« Byron lächelte. »Versprochen«, sagte er. »Ich hol dich um sieben ab.« »Nein«, sagte Jane schnell. »Ich treffe dich dort.« Sie wollte nicht, dass er wusste, wo sie abgestiegen war. »La Maison de Trois Soeurs«, sagte Byron. »Ich weiß es schon.« »Du bist unmöglich«, sagte Jane, wandte sich ab, und ließ ihn in der Lobby stehen. Als sie zurück zum Hotel kam, sah sie Jasper auf einem sonnenbeschienenen Fleckchen vor dem Haupteingang liegen. Als er sie sah, sprang er auf und rannte zu ihr. Sein kleiner Schwanz wedelte wie wild. Jane beugte sich zu ihm hinab und streichelte ihn. Dabei entdeckte sie, dass er ein neues, rotes Halsband trug. »Bist du nicht ein hübscher Junge«, sagte sie. »Ich fand, die Farbe steht ihm«, rief Luke durch die offene Tür. »Das tut sie wirklich«, stimmte Jane zu. »Danke für die Besorgungen.« 289
»Kein Problem«, sagte Luke. »Seine neue Hundebox ist auf Ihrem Zimmer. Alles, was Sie tun müssen, ist, ihn am Flughafen einzuchecken.« Jane sah zu Jasper herab. »Hast du gehört?«, fragte sie. »Morgen fliegst du mit dem Flugzeug.« Jasper bellte ihr freudig zu, und Jane und Luke lachten beide. »Danke, dass Sie sich den ganzen Tag über um ihn gekümmert haben«, sagte Jane zu dem jungen Mann. Sie ging nach oben, Jasper folgte ihr auf dem Fuß. Als sie in ihrem Zimmer war, zog sie die Schuhe aus, legte sich eine Weile auf das Bett und dachte über die Ereignisse dieses Tages nach. Es war alles ein wenig zu viel gewesen. Aber es ist beinahe geschafft, sagte sie sich. Du musst nur noch das Abendessen überstehen.
290
29 Constance wich vor ihm zurück. Sein Kuss tat so weh, als habe er sie auf die Wange geschlagen. Doch noch schmerzhafter war die Erkenntnis, dass sie wollte, dass er sie noch einmal küsste. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 411 Um Viertel nach sechs stand sie auf und zog sich fürs Abendessen um. Sie entschied sich bewusst für etwas legeres, um Byron zu zeigen, dass sie ihn nicht zu beeindrucken versuchte. Diesmal wird er mir nicht auf den Geist gehen, versprach sie sich. Sie fütterte Jasper, und mit der neuen Leine, die sie aufgerollt auf der Kommode gefunden hatte, führte sie ihn einmal rasch um den Block. Als sie zurück ins Zimmer kamen, sprang er sofort aufs Bett. »Tom wird das überhaupt nicht mögen«, sagte Jane. Sie fragte sich, wie sie die beiden ohne zu viel Scherereien miteinander vertraut machen könnte. Um fünf vor sieben ging sie in die Lobby, um auf Byron zu warten. Er mochte zwar wissen, wo sie abgestiegen war, aber sie würde ihn nicht in die Nähe ihres Zimmers lassen. Ganz bestimmt nicht, versprach sie sich. Er kam pünktlich um sieben. Jane bemerkte, dass auch er ziemlich zwanglos gekleidet war, und sie war überrascht, festzustellen, dass sie das ein wenig enttäuschte. Anscheinend hält er es auch nicht für ein Date, dachte sie, während sie aufstand, um ihn zu begrüßen. »Wohin gehen wir?«, fragte sie, während sie die Straße hinabliefen. Sie entfernten sich von den Restaurants und näherten sich einer etwas heruntergekommenen Gegend 291
im Marigny, und Jane fühlte sich leicht entnervt. Wollte Byron sie hereinlegen? »Entspann dich«, sagte er und nahm ihren Arm. »Ich bringe dich zu einem authentischen Lokal von New Orleans, nicht zu einem der Restaurants, deren einziger Sinn es ist, Touristen ihr Geld abzuknöpfen.« »Also wohnst du hier?«, fragte Jane. »Ich wohnte hier«, sagte Byron. »Aber natürlich habe ich schon so ziemlich überall gewohnt, nicht wahr?« »Und Charlotte?«, fragte Jane. »Wie lange wohnt sie schon – wie lange hat sie hier gewohnt?« »Lass uns nicht über Charlotte reden, in Ordnung?«, schlug Byron vor. »Sie war nur ein … Störfaktor. Jetzt ist sie’s nicht mehr.« »Du hast leicht reden«, sagte Jane. »Du bist nicht derjenige, der sie in Brand gesteckt hat.« Byron lachte. »Niemand wird es dir vorwerfen«, sagte er. »Sie war ein ziemlich düsteres Geschöpf. Diese Mumien«, fügte er hinzu, und Jane fühlte, wie er erschauerte. »Die waren in der Tat ziemlich schauderhaft«, stimmte Jane zu. Byron hielt vor einer Tür, über der ein rotes Neonschild flackerte. THE PLACE, verkündete es. »Das ist es«, sagte er. »Das sehe ich«, sagte Jane. Sie schaute durch das kleine Fenster in der Tür. Drinnen war es dunkel. »Bist du dir sicher?«, fragte sie. Byron zog die Tür auf. »Ich bin mir sicher«, sagte er. Janes Meinung über das Restaurant besserte sich nicht, als sie hineingingen. Ein halbes Dutzend kleine Tische standen in dem engen Raum. Die Stühle um die Tische passten nicht zueinander, und die karierten Tischdecken machten einen schmierigen Eindruck. Die Wände waren 292
kahl und in einer Farbe gestrichen, die vermutlich einmal weiß gewesen war, aber nun einen starken Gelbstich aufwies. Ein Ventilator hing von der Decke und drehte sich träge in der Hitze. Ein langes Stück Fliegenpapier hing von ihm herab, mit toten Fliegen übersät. Fünf Tische waren belegt, die meisten von Männern, die Abita-Bier tranken. Byron führte Jane zum letzten verbliebenen Tisch und zog den Stuhl für sie zurück. Sie inspizierte den Sitz mit ihren Fingerspitzen, bevor sie sich setzte. Es schien sich nichts darauf zu befinden, das ihre Hosen schmutzig machen würde. »Dir steht ein wahrer Genuss bevor«, sagte Byron. »Außenseiter verschlägt es normalerweise nicht hierher.« »Außenseiter?«, fragte Jane. »Du meinst Touristen?« »Gewissermaßen«, sagte Byron. Bevor er weiter ausholen konnte, näherte sich ihnen eine müde dreinblickende Frau unbestimmten Alters. Sie war groß und schlank, und ihr langes blondes Haar war an den Wurzeln ein paar Zentimeter dunkel nachgewachsen. Ihr Gesicht war ungewöhnlich rot. »Byron, mon cher«, sagte sie. »Wo hast du gesteckt?« Ihre Stimme hatte einen schweren Cajun-Akzent. »Hier und dort«, sagte Byron. Er nickte zu Jane. »Emmeline, Jane. Jane, Emmeline.« Die Frau nickte Jane zu. »Sie ist eine von deinen?«, fragte sie Byron. Byron grinste. »Frag das besser sie«, erwiderte er. Emmeline richtete ihren Blick auf Jane. Ihre Augen waren beinahe schwarz, und etwas an ihnen schien unendlich alt zu sein. Dann begriff Jane, was es war. Sie sah zu Byron, der lachte. »Ja«, sagte er. »Sie ist eine von uns.« Er deutete auf die anderen Tische. »Sie alle. Na ja, die meisten.« 293
Jane hatte es die Sprache verschlagen. Sie war noch nie in ihrem Leben in einem Club gewesen, der nur für Vampire bestimmt war. »Aber wie –«, setzte sie an. »Die Zeiten haben sich geändert, Jane«, sagte Byron. »Wir müssen uns nicht mehr die ganze Zeit verstecken, besonders nicht in einer Stadt wie dieser. Was glaubst du, warum Charlotte sich hier niederließ?« »Ich hab gehört, sie hat sich letzte Nacht abgefackelt«, sagte Emmeline. »Kann nicht behaupten, dass wir sie vermissen werden.« »Siehst du?«, fragte Byron leise. »Ihr wollt die Flusskrebse«, sagte Emmeline. Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie in den hinteren Bereichen des Restaurants. »Das ist alles so merkwürdig«, sagte Jane zu Byron. »Du warst zu lange von deinen Leuten getrennt«, sagte Byron. »Du siehst alles nur mit Menschenaugen.« Jane wollte protestieren, aber Byron unterbrach sie. »Das sollte keine Beleidigung sein«, sagte er. »Na ja, vielleicht war es doch ein bisschen verletzend«, gab er zu. »Ich wüsste nicht, was falsch daran sein sollte, sich etwas Menschlichkeit zu bewahren«, sagte Jane spitz. »Schließlich waren wir alle mal Menschen.« »Waren«, betonte Byron. »Wir sind’s aber nicht mehr. Bist du es nicht leid, dich zu verstecken? Würde es dir nicht gefallen, in einer Welt zu leben, in der du dir keine Sorgen machen müsstest, entlarvt zu werden?« »Ich mache mir an sich keine Sorgen«, sagte Jane. »Außerdem habe ich jetzt Lucy. Und Walter«, fügte sie rasch hinzu. »Richtig, Walter«, sagte Byron. Jane konnte nicht heraushören, ob er sich über sie lustig machte oder einfach nur zustimmte. 294
Emmeline kehrte mit einer enormen Metallschüssel zurück, die sie auf dem Tisch ablud. Ein Berg von Kartoffeln, Wurst, Mais und Krebsen war darin aufgehäuft und drohte, über den Rand zu kippen. Jane sah zu, wie Emmeline zwei Flaschen Bier, eine leere Schale, und einen dicken Stapel Servietten ablud. »Zeig ihr, wie man Köpfe auslutscht«, sagte sie zu Byron. Jane nahm sich einen Krebs. Seine Schale war dunkelrot, und seine kleinen schwarzen Augen starrten sie leblos an. »Was stelle ich damit an?«, fragte sie. »Sieh her«, sagte Byron. Er nahm einen Krebs, hielt ihn gerade unterhalb des Kopfes und drehte ihn, so dass der Kopf sich vom Körper löste. Er legte den Kopf zur Seite, schälte den Panzer des Krebses, dann presste er die kleine Schwanzflosse und drückte so das bloßgelegte Fleisch in seinen Mund. »Und jetzt kommt das Beste«, sagte er und nahm den Kopf wieder zur Hand. Er setzte ihn an die Lippen und saugte einen Moment vernehmlich daran, bevor er ihn in die leere Schale warf. »Und so lutscht man den Kopf aus«, sagte er. »Jetzt du. Versuch es.« »Lieber nicht«, meinte Jane. »Es ist ziemlich unappetitlich.« »Es wäre dumm, es nicht zu tun«, sagte Byron. »Wenn du den Kopf nicht auslutschst, wird jeder wissen, dass du eine Außenseiterin bist.« Jane spielte nachdenklich mit dem Krebs in ihrer Hand. Obwohl niemand im Restaurant sie direkt anblickte, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Also dann, dachte sie, und versuchte, es Byron nachzumachen. Kopf und Körper bekam sie leicht getrennt, und das Fleisch aus dem Schwanz zu bekommen, war auch ziemlich einfach. Es war außerdem auch unglaublich köstlich. 295
Der Kopf aber war eine ganz andere Angelegenheit. Sie nahm ihn in den Mund und saugte. Sofort wurde ihr Mund von einem würzigen Schwall Butter und einer schwammigen Masse gefüllt. Sie würgte, und schaffte es gerade noch so, das Ganze herunterzuschlucken. Sie griff nach einer Flasche Bier und spülte kräftig nach. »Was ist das?«, fragte sie, und schaute mit Abscheu auf den nun leeren Krebskopf. »Das Kopffett«, erklärte Byron. »Es ist das Beste daran.« Er drehte einen weiteren Krebs auseinander und aß ihn. »Halte den Schwanz, sauge den Kopf aus«, intonierte er. »Versuch’s noch einmal. Du wirst es noch zu schätzen lernen, das verspreche ich dir.« »Deine Versprechungen haben mich schon öfter aufs Glatteis geführt«, sagte Jane. Sie nahm einen halben Maiskolben und biss hinein. »Ich halte mich lieber an etwas Sicheres.« Sie aßen eine Weile schweigend. Jane entschloss sich, einen weiteren Krebs zu probieren, und diesmal schmeckte er ihr sehr viel besser. Sie aß noch einige mehr, dann bemerkte sie, dass Byron sie beobachtete. »Ich glaube, der Erste war irgendwie nichts«, verteidigte sie sich. »Es ist schön, immer noch essen zu können, nicht wahr?«, fragte Byron. »Es ist eine der wenigen menschlichen Gewohnheiten, die ich noch schätze. Das, und Liebe zu machen«, fügte er hinzu. »Ich ziehe es vor, Liebe zu fühlen, besten Dank«, konterte Jane und stach mit ihrer Gabel nach einem Stück Wurst. »Als ich dich in jener Nacht besucht habe, schien es dir gefallen zu haben«, meinte Byron. Er lutschte vielsa296
gend an einem Krebskopf und leckte sich hinterher die Lippen. »Das war nur, um dich von Walter und Lucy fernzuhalten«, erinnerte ihn Jane. »Es hat dir also nicht gefallen?«, fragte Byron. Jane studierte eingehend den Flusskrebs, den sie im Begriff war, zu köpfen. »Das habe ich nicht gesagt«, sagte sie. »Also hat es dir gefallen?«, versuchte es Byron. »Ist in den Zangen Fleisch?«, fragte Jane und betrachtete die Scheren des Krebses. »Ich werte das als ein Ja«, sagte Byron. »Ich habe es auch genossen.« »Natürlich hast du das«, sagte Jane. »Du würdest es mit jedem genießen, sogar mit … mit …« Sie suchte nach jemand passend Unangenehmem. »Oscar Wilde«, schloss sie. »Keine Ahnung«, sagte Byron. »Habe es nie probiert. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich schön wäre.« »Was, wenn es mir gefallen hat?«, fragte Jane. »Was dann?« Byron leckte seine Finger. »Vielleicht solltest du dir diese Frage stellen«, schlug er vor. »Vielleicht habe ich das schon getan«, sagte Jane. »Und vielleicht bin ich zur Überzeugung gelangt, dass es mir gar nichts bedeutet hat. Du bedeutest mir nichts.« »Ich bin tief verletzt«, sagte Byron, und legte die Hand auf sein Herz. »Ich dachte, wir bedeuten einander etwas.« Jane ignorierte ihn und widmete sich ihrem Essen. Byron schaffte es wieder einmal, sie fast in den Wahnsinn zu treiben. Warum fiel ihm das so leicht? Warum lässt du das denn zu?, fragte eine Stimme in ihr. 297
»Ich weiß es nicht!«, sagte Jane laut. Sie bemerkte, dass sie zu laut gesprochen hatte, und fühlte, wie ihre Wangen sich röteten. »Wann hast du angefangen, Liebesromane zu schreiben?«, fragte sie rasch. »Vor einigen Jahren«, antwortete Byron. »Es ist einfach nur so eine Beschäftigung. Und es bringt ein wenig Geld ein.« »Jetzt, wo jeder weiß, dass du Penelope Wentz bist, was wirst du tun?« »Ich habe mich noch nicht entschieden«, antwortete Byron. »Vielleicht wird Penelope noch ein paar Bücher schreiben. Vielleicht wird sie auch einfach verschwinden.« »Sie wird bestimmt nicht verschwinden«, sagte Jane. »Du brauchst doch die Aufmerksamkeit. Wenn es anders wäre, hättest du dich heute nicht zu erkennen gegeben.« »Nun ja, es bringt schon gewisse Vorzüge mit sich, sagte Byron. »Meine Fans sind mir sehr ergeben.« »Du hattest einen zum Mittagessen, richtig?«, fragte Jane. »Du bist sehr kleinlich«, sagte Byron. »Das steht dir nicht.« Jane aß den letzten Flusskrebs und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. »Warum bin ich eigentlich hier?«, fragte sie. Sie war drauf und dran, den Abend zu beenden. »Ich will mich entschuldigen«, sagte Byron. Jane sah ihn misstrauisch an. »Für was?« »Dafür, wie ich mich dir gegenüber verhalten habe«, sagte Byron. »Vor all diesen Jahren. Es war falsch von mir.« Jane räusperte sich. »Das stimmt«, sagte sie. 298
»Ich nahm dir deine Jungfräulichkeit und machte dich zu dem, was du bist«, fuhr Byron fort. Jane blickte sich um, um zu sehen, ob die anderen Gäste ihnen zuhörten. Sie fürchtete, sie würden ein falsches Bild von ihr bekommen, wenn sie das Gespräch mitbekamen. »Ich habe dich ausgenutzt«, sagte Byron, den es anscheinend nicht kümmerte, ob jemand mithörte. »Eine traurige, einsame, alte Frau, die –« »Ich war nicht alt«, widersprach Jane. »Für die damaligen Verhältnisse schon«, sagte Byron. »Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass ich mich schlecht verhalten habe. Das tut mir aufrichtig leid. Kannst du mir je verzeihen?« Jane entfernte ein Stück Krebsschale unter ihrem Fingernagel. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Du warst wirklich widerlich. Und das nach all den netten Dingen, die du in deinen Briefen geschrieben hattest. Es war ein ziemlicher Schock für mich, weißt du.« »Ich war jung«, sagte Byron. »Du warst achtundzwanzig«, sagte Jane. »Das ist alt genug, um es besser zu wissen.« »Ich meine für unsere Verhältnisse«, sagte Byron. »Daran gemessen, war das nicht gerade alt. Außerdem war ich krank, und da waren die Scheidung von Anne, die Gemeinheiten wegen des Kindes, die Sache mit Claire.« Er hob die Hände über den Kopf. »Es war alles zu viel für mich. Du schienst mir das einzig helle Licht in einer Nacht des Unglücks zu sein.« Jane wünschte sich, einen Zahnstocher zu haben, denn ein Stückchen Mais hatte sich an ihrem Eckzahn festgesetzt. Sie hörte Byron nur mit halbem Ohr zu. Sie war oft genug auf seine blumigen Reden hereingefallen. »Also gut«, sagte sie. 299
Byron stockte in seinem Redefluss. »Also gut?«, wiederholte er. »Also gut, ich vergebe dir«, sagte Jane. »Es ist ja auch egal – was geschehen ist, ist geschehen. Es ist ja nicht so, als ob du mich wieder zurückverwandeln könntest.« »Bist du dir da sicher?«, fragte Byron. »Wenn du noch weiter fragst, werde ich es nicht mehr sein«, sagte Jane. »Lass uns einfach von was anderem reden. Eine Frage, die ich mir immer gestellt habe, war – wer hat dich eigentlich zum Vampir gemacht?« Byron lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sein Rücken lehnte an der schmutzigen Wand. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Du weißt, dass ich in den Jahren vor 1816 viel unterwegs war.« Jane nickte. »Das weiß ich.« »Ich verbrachte einen Großteil dieser Zeit in Griechenland«, fuhr Byron fort. »Dort lernte ich einen jungen Mann namens Ambrose kennen. Er war ein Soldat.« Er hielt inne, und ein trauriges Lächeln spielte für einen Moment auf seinem Gesicht. »Du hättest ihn sehen sollen«, sagte er. »Er war wunderschön. Ich habe mich sofort in ihn verliebt.« »Wie schockierend«, bemerkte Jane, aber nicht unfreundlich. Sie entdeckte gerade eine andere Seite an Byron, und es war ziemlich rührend. »Das einzige, was mir seltsam vorkam, war, dass Ambrose nie die Nacht mit mir verbrachte«, sagte Byron. »Jede Nacht, nachdem wir gegessen und uns geliebt hatten, verließ er mein Haus. Er sagte mir nicht, wohin er ging. Ich nahm an, dass es eine Frau in seinem Leben gab, vielleicht eine Ehefrau und Kinder. Erst machte mir das nichts aus, doch im Laufe des Sommers wurde ich 300
eifersüchtig.« Er sah Jane an. »Ich weiß, es muss dir schwerfallen, das zu glauben.« Jane sagte nichts, und nippte an ihrem Bier. Angesichts der vielen Frauen, die Byron ihren Männern aus einer Laune heraus gestohlen und dann ebenso gedankenlos wieder fallengelassen hatte, war die Vorstellung, dass er jemanden so lieben konnte, dass er sich Gedanken darüber machte, in wessen Bett derjenige schlief, faszinierend. Dieser Ambrose muss etwas ganz Besonderes gewesen sein, dachte sie. »Eines Nachts hielt ich es nicht länger aus. Ich folgte ihm heimlich. Er durchstreifte die Stadt, und landete schließlich im Hafenviertel. Da, in den Docks, sah ich ihn, wie er einen anderen Mann küsste. Jedenfalls dachte ich, dass er das tat.« »Er trank«, sagte Jane. Byron nickte. »Voller Entsetzen sah ich mit an, wie er den Mann tötete. Dann drehte er sich um und entdeckte mich. Ich wollte weglaufen, aber noch mehr als das wollte ich, dass er mich liebte.« Byron wurde still. Er schien in Gedanken verloren, und wippte langsam auf seinem Stuhl vor und zurück. »Du hast dich von ihm beißen lassen, nicht wahr?«, fragte Jane. Byron sah auf. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt. »Ja«, sagte er. »Es war der einzige Weg, wie wir zusammen sein konnten. Und eine Weile waren wir das auch.« »Aber du hast ihn verlassen?«, riet Jane. Byron schüttelte den Kopf. »Er wurde getötet«, sagte er. »Nachdem er mich zu einem Vampir gemacht hatte, brachte Ambrose mir das Jagen bei. Eines Nachts verführte ich eine Einheimische, ein schönes, aber leichtsinniges Mädchen. Ich versuchte zum ersten Mal, die Kraft der Betörung einzusetzen, und war zu selbstsicher. Das 301
Mädchen kam zu sich, während ich trank, und schaffte es, zu entkommen. Sie hatte mein Gesicht gesehen. Ich rannte nach Hause und erzählte Ambrose, was geschehen war. Als das Mädchen mit Verstärkung zurückkam, betörte Ambrose sie, so dass sie glaubte, dass er es gewesen war, dessen Gesicht sie gesehen hatte. Vorher hatte er mir schon befohlen, durch die Hintertür zu flüchten und in die Hügel zu entkommen.« Jane fühlte, wie ihr kalt wurde. Sie hatte Angst vor dem, was als Nächstes kommen würde. Die Geschichte konnte kein glückliches Ende nehmen, so viel war klar, und sie wollte es eigentlich nicht hören. Dennoch hörte sie gespannt zu, wie es weiterging. Byron holte tief Luft. »Sie schleppten ihn ins Stadtzentrum, schlugen ihm einen Pflock durchs Herz, und warfen ihn dann von den Klippen ins Meer«, sagte er. »Ich konnte nichts für ihn tun. Niemand konnte so etwas überleben. Also tat ich, was er mir aufgetragen hatte. Ich schlug mich durch die Hügel und ging zurück nach Italien, wo ich ein neues Leben begann.« Jane wusste nicht, was sie sagen sollte, daher griff sie nach Byrons Hand. Er saß völlig reglos da. »Weißt du, was Ambrose bedeutet?«, fragte er nach einer Weile. »Unsterblich. Das nennt man wohl Ironie.« »Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte Jane. »Natürlich nicht«, sagte Byron. »Ich habe nie jemandem von ihm erzählt, bis heute. Aber ich war es dir schuldig. Vielleicht habe ich einen Teil meiner Schuld nun beglichen.« »Du schuldest mir gar nichts«, sagte Jane und zog ihre Hand zurück. »Ich kam in jenem Sommer zu dir und suchte nach einem Abenteuer, und genau das hast du mir auch geboten.« 302
»Ja«, sagte Byron. »Aber ich hätte fragen sollen, ob du dich darauf einlassen willst.« Jane wollte noch etwas sagen, wurde aber von Emmeline unterbrochen. Sie hatte einen jungen Mann bei sich. Der Mann war muskulös und hatte einen glasigen Blick. Er trug ein AC/DC-T-Shirt und sein Hals war von Blutergüssen überzogen. »Habt ihr noch Platz für den Nachtisch gelassen?«, fragte Emmeline.
303
30 In dieser Nacht las sie Charles das erste Mal vor. Erst stolperte sie über die Wörter, dann wurde sie wieder sicherer und fuhr fort, angespannt, aber freudig erregt. Die ganze Zeit über beobachtete sie heimlich sein Gesicht und wartete auf eine Reaktion. Als sie ihn endlich lächeln sah, fühlte es sich an, als ob ihr Herz bersten müsse vor Freude. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 374 Jane war erleichtert, als das Flugzeug am Albany Airport aufsetzte. Sie war noch mehr erleichtert, als sie Lucy an der Gepäckausgabe auf sie warten sah. »Wenn das nicht Jane, die Vampirjägerin ist«, sagte Lucy und umarmte sie. »Das finde ich gar nicht lustig«, sagte Jane. Sie sah sich nach dem Ausgabeschalter für das Sondergepäck um und entdeckte Jaspers Hundebox. »Ich war sicher, er würde im Gepäckraum erfrieren«, sagte sie, und zog Lucy zu dem wartenden Hund. Als er Jane sah, bearbeitete Jasper die Tür der Box wie wild mit den Pfoten und winselte. Jane ließ ihn heraus, und er sprang an Lucy hoch. »Hallo, mein Hübscher«, sagte Lucy. Jasper leckte ihr über die Nase. »Ich glaube, ich habe mich schon in ihn verliebt«, sagte Lucy. »Es ist deine Schuld, dass er hier ist«, antwortete Jane. »Wenn du nicht darauf bestanden hättest, dass ich nach ihm suche –« »Wenn du nicht – du weißt schon, was ich meine – dann hättest du ihn auch nicht suchen gehen müssen«, unterbrach Lucy. 304
Jane beachtete sie nicht. »Ich frage mich, wo meine Sachen sind«, sagte sie und spähte über das mit Gepäck bepackte Förderband. »Ich hab’ sie schon«, sagte Lucy. »Siehst du?« Sie deutete auf zwei Koffer, die Janes Namensschild an den Griffen hatten. »Ich hab’ sie beim nicht abgeholten Gepäck gesehen, und angenommen, dass sie mit einem früheren Flug gekommen sind.« Jane knurrte. »Das sind die Koffer, die ich ursprünglich für den Flug nach Chicago eingecheckt hatte«, sagte sie verärgert. »Man hat sie anscheinend nie in ein Flugzeug verladen.« Lucy lachte. »Na, dann hast du ja jetzt noch mehr Kleider«, sagte sie. Jane ließ Lucy mit den beiden Koffern zurück und ging ihre anderen beiden Koffer suchen. Sie hatte ein ungutes Gefühl, als sie zusah, wie das Förderband sich drehte und all die anderen Gepäckstücke ihre Besitzer fanden. Und wieder hörte sie das Knirschen des Getriebes, als das inzwischen leere Förderband anhielt. »Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein«, sagte sie zu Lucy. »Was habe ich nur Schlimmes getan, um so vom Pech verfolgt zu werden?« »Vampirjägerin«, flüsterte Lucy. »Hör auf damit!«, rief Jane. »Tut mir leid«, sagte Lucy. »Komm, stellen wir uns am Gepäckschalter an.« Jane schüttelte den Kopf. »Nehmen wir’s sportlich als unentschieden«, sagte sie und nahm ihre beiden ursprünglichen Koffer. »Außerdem befand sich nichts in den Koffern, was ich unbedingt bräuchte.« Sie gingen zum Ausgang. Lucy führte Jasper an der Leine und zog seine Box hinter sich her. »Stell dir nur 305
mal vor«, sagte sie schelmisch. »Irgendein Gepäckabfertiger könnte gerade Jane Austens Höschen befingern.« »Mach nur so weiter«, sagte Jane. »Und ich werde dich beißen.« Sie erreichten die Tiefgarage, wo sie alles in Lucys Auto verluden. Jasper, der hinten saß, winselte, bis Lucy das Fenster für ihn herunterließ. Sofort streckte er den Kopf heraus. »Ich frage mich, wie es war, Charlotte Brontës Hund zu sein«, sagte Lucy, während sie die Parklücke verließen. »Könnten wir diesen Namen bitte nicht mehr erwähnen?«, fragte Jane. »Du hast aber eine ganz schön miese Laune«, sagte Lucy. »Was ist denn eigentlich so passiert auf der Konferenz? Außer, dass du Char–« »Byron ist passiert«, sagte Jane. »Byron?« »Eine lange Geschichte«, sagte Jane. »Aber es genügt wohl, zu sagen, dass wir uns ausgesöhnt haben.« Lucy sah sie mit großen Augen an. »Du hast aber nicht mit ihm geschlafen, oder doch?«, fragte sie. »Nein!«, rief Jane. »Wir hatten bloß ein Abendessen zusammen. Dann brachte er mich nach Hause. Ich gebe es ungern zu, aber er benahm sich wie ein tadelloser Gentleman. Man könnte meinen, er führt etwas im Schilde.« »Aber warum war er überhaupt dort?«, fragte Lucy. Jane erzählte ihr die ganze Geschichte. »Penelope Wentz?«, staunte Lucy, als Jane fertig war. »Ihre Bücher sind schrecklich.« Das zu hören, erfüllte Jane mit einer gewissen Befriedigung, für die sich sofort schämte. »Anscheinend sind 306
sie ziemlich beliebt«, sagte sie wie als Entschuldigung an Byron. »Das sind sie allerdings«, sagte Lucy. »Wir verkaufen ihre Bücher tonnenweise. Seine Bücher«, verbesserte sie sich. »Ist es dir noch nicht aufgefallen?« »Ich muss gestehen, ich achte nicht immer darauf, was die Leute so kaufen«, sagte Jane. »Und da du seit gut einem Jahr die meisten Bestellungen tätigst, habe ich keinen Überblick über die Lesegewohnheiten unserer Kunden mehr. Ehrlich gesagt bin ich der ganzen Sache manchmal etwas überdrüssig.« »Ich kann nie genug von Büchern kriegen«, sagte Lucy, während sie den Flughafen verließen und auf die Schnellstraße einbogen. »Egal, erzähl mir mehr von Byron.« »Er tut mir leid«, sagte Jane. »Ich weiß, wie sich das anhört, aber du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er von seinem toten Freund erzählte.« »Seinem toten Freund?«, fragte Lucy. »Du klingst wie meine Mutter, wenn sie vom Freund meines Bruders redet.« »Also schön, seinem Liebhaber«, sagte Jane. »Zu meiner Zeit sprachen wir überhaupt nicht über so was.« »Ihr seid auch noch in Kutschen herumgefahren«, mahnte Lucy. »Aber erzähl ruhig weiter.« »Er war richtig verliebt in Ambrose«, sagte Jane. »Um ehrlich zu sein, ich hätte nie gedacht, dass er dazu fähig ist.« »Klingt, als ob Ambroses Tod etwas in ihm hat sterben lassen«, mutmaßte Lucy. »Das glaube ich auch«, stimmte Jane zu. Sie verfiel in Schweigen und sah zu, wie die trostlose Kulisse des nördlichen New York am Fenster vorüberglitt. 307
»Du musstest an dich und Walter denken, nicht wahr?«, sagte Lucy nach ein paar Minuten. »Ja«, gab Jane zu. »Ich frage mich, ob ich mich, was Walter angeht, nicht wie eine Närrin verhalten habe.« »Vielleicht ist es an der Zeit, etwas zu wagen«, sagte Lucy. Jane seufzte. Sie hatte gerade das Gleiche gedacht. Dennoch hatte ein Teil von ihr immer noch schreckliche Angst davor. Schließlich änderte ihr Sinneswandel nichts an den Realitäten: Sie war immer noch ein Vampir, und Walter war immer noch ein Mensch. Er würde immer noch alt werden und sterben. Und auch wenn sie irgendwann selbst einmal sterben könnte, so würde sie doch nicht altern, wenigstens nicht in derselben Art und Weise wie er. Es war eine Situation, die wie dazu bestimmt schien, einen oder beide Partner unglücklich zu machen. »Mein Vater starb mit zweiunddreißig, weißt du«, sagte Lucy. Jane wandte sich ihr zu. »Aber ich habe ihn doch getroffen«, sagte sie. »Als deine Eltern letztes Jahr zu Besuch waren.« »Jim ist mein Stiefvater«, sagte Lucy. »Ich nenne ihn Dad, aber er ist es nicht, jedenfalls nicht biologisch. Er und meine Mutter sind seit meinem elften Lebensjahr verheiratet. Mein Vater starb an einem Hirntumor. Es war schrecklich, vor allem für meine Mutter.« »Ich kann mir das kaum vorstellen«, sagte Jane. »Sie liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt«, fuhr Lucy fort. »Als er starb, hätte sie einfach in Depressionen verfallen können. Aber sie tat es nicht. Sie erinnerte sich an all die guten und schönen Dinge und warf den Rest über Bord.« Jane verstand, was Lucy sagen wollte. Das Leben bot 308
einem nie irgendwelche Garantien. Alles konnte jederzeit passieren, und Menschen konnten ohne Vorwarnung auseinandergerissen werden. Sie dachte an Walter und Evelyn. Aber sieh doch, wie tief ihn das getroffen hat, erinnerte sie sich. Er kann kaum über sie sprechen. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich weiß einfach nicht was ich tun soll.« »Wie du meinst«, sagte Lucy. »Verbringe die nächsten tausend Jahre in Einsamkeit.« »Du bist wirklich eine ungehobelte junge Dame, weißt du das?«, fragte Jane. »Ich werde dir noch eine Geschichte erzählen«, sagte Lucy, und ignorierte den Tadel. »Als ich noch mit der Band unterwegs war, sah ich eines Nachts in Milwaukee – der Auftritt war gerade vorbei – diesen Hund vor dem Club, in dem wir spielten. Er wühlte sich durch die Mülltonnen, und der Türsteher gab ihm einen Tritt, damit er verschwindet. Der Hund lief in eine Gasse, und ich folgte ihm. Er versteckte sich unter unserem Bus und wollte nicht mehr herauskommen. Er war total verängstigt. Also holte ich einen Hamburger aus dem Club und saß da zwei Stunden lang und redete ihm gut zu. Ich schätze, der Hunger besiegte schließlich seine Angst, denn irgendwann kam er endlich rausgekrochen und fraß.« »Das ist eine schreckliche Geschichte«, sagte Jane. »Es wird noch schlimmer«, sagte Lucy. »Die Kurzfassung der Geschichte ist, dass ich die anderen Mädchen überredete, ihn zu behalten. Er war ein hässlicher kleiner Kerl, ein richtiger Straßenköter. Er humpelte, und an manchen Stellen fiel ihm sein Fell aus. Ich nannte ihn Spike. Wie auch immer, als wir Des Moines erreichten, brachte ich ihn zum Tierarzt, um sicherzugehen, dass er okay war. Er war es nicht. Es stellte sich heraus, dass er 309
ein krankes Herz hatte. Der Arzt sagte, dass er als Welpe wohl fast verhungert sei und man ihn ziemlich schlecht behandelt habe. Sein Bein war mal gebrochen gewesen, und deshalb hinkte er.« Jane warf einen Blick nach hinten zu Jasper, der immer noch aus dem Fenster schaute. Seine Ohren flatterten im Fahrtwind. »Ich glaube nicht, dass ich den Rest der Geschichte hören will«, sagte sie. »Das wirst du aber«, sagte Lucy. »Der springende Punkt kommt nämlich noch. Nach allem, was mit meinem Vater geschehen war, glaubte ich nicht, dass ich damit umgehen konnte, jemanden, den ich liebte, zu verlieren. Die anderen Mädchen wollten, dass ich Spike einschläfern oder ihn in einem Tierheim lassen sollte. Und beinahe hätte ich das auch getan. Aber dann hab’ ich in sein komisches kleines Gesicht gesehen, und ich wusste, dass ich es nicht tun konnte. Es gab einen Grund, warum er in mein Leben getreten war. Also behielt ich ihn.« Sie wurde still, und Jane dachte, dass die Geschichte zu Ende war. Das war ja nun gar nicht so schlimm, dachte sie erleichtert. »Er starb drei Monate später«, sagte Lucy plötzlich. Die Worte kamen nun stoßweise. »Wir waren in Albuquerque. Es ging ihm schon seit ein paar Tagen nicht mehr gut, er atmete schwer, und er wollte nicht mehr fressen. Ich wusste, etwas war nicht in Ordnung, also blieb ich eines Nachts auf, hielt ihn und nibbelte seine Ohren, sagte ihm, was für ein guter Junge er war. Irgendwann schaute ich zu ihm runter, er war nicht mehr am Leben.« Jane fühlte einen Kloß im Hals. Sie sah zu Lucy hinüber und erwartete, dass sie weinte. Stattdessen lächelte sie. 310
»Ich verstehe nicht ganz.« Lucy warf ihr einen Blick zu. Wieder war Jane überrascht, dass da ein Ausdruck der Freude auf ihrem Gesicht war. »Er starb in dem Wissen, dass ich ihn liebte«, sagte Lucy. »Hunde leben für den Augenblick. Egal, wie sie sich fühlen, sie glauben, dass sie sich immer so gefühlt haben. In diesen drei Monaten glaubte Spike, dass er der glücklichste Hund auf der Welt sei. Er vergaß, dass er misshandelt, eingeschüchtert und zurückgelassen worden war. Und als seine Zeit gekommen war, war ich für ihn da.« Sie machte eine kurze Pause. »Wenn du mich fragst, kann man nicht viel mehr vom Leben erwarten.« »Aber was war mit dir?«, fragte Jane. »Du musstest ihn verlieren.« »Aber ich durfte drei glückliche Monate mit ihm verbringen«, sagte Lucy. »Ich durfte ihn lieben und mich um ihn kümmern. Wenn ich diese Chance nicht ergriffen hätte, hätte ich all diese Erfahrungen nie gemacht. Und wenn ich jetzt über ihn nachdenke, denke ich nur an all die guten Dinge, die ich mit ihm erlebt habe.« »Deshalb wolltest du, dass ich nach Jasper suche«, sagte Jane. »Du glaubst, dass er mein Spike ist.« »Nein«, sagte Lucy. »Ich wollte, dass du nach Jasper suchst, weil ich wusste, dass er allein ist. Walter ist dein Spike.« »Das war ein schrecklicher Trick«, sagte Jane und schniefte. »Es ist kein Trick«, sagte Lucy. »Sondern die Wahrheit.« Jane verbrachte die nächsten beiden Stunden damit, sich über alles außer über Walter zu unterhalten. Als Lucy sie zu Hause absetzte, war Jane erleichtert, sie los zu 311
sein. Sie nahm Jasper mit nach drinnen, und das Erste, was er sah, war Tom. Sie starrten einander ein paar Sekunden lang an, dann schoss Tom die Treppe nach oben, und Jasper mit wildem Gebell hinterher. »So viel zu Ruhe und Gelassenheit«, dachte Jane, und ließ die beiden die Dinge unter sich klären. Sie ging in die Küche und sah die Post durch, die sich in ihrer Abwesenheit gesammelt hatte. Wie üblich waren es nur Rechnungen, Werbung und uninteressantes Zeug, das anonym an den oder die »Bewohner« gerichtet war. Nichts Persönliches. Keine Briefe oder Postkarten. Nichts von irgendjemandem, der sich um sie sorgte. »Du hast Lucy an dich herangelassen«, sagte sie sich. Jasper kam in die Küche getrabt. Er hatte einen frischen Kratzer auf der Nase, und Jane nahm an, dass er und Tom wohl eine Art Abkommen getroffen hatten. Jane füllte seine Wasserschale und stellte sie auf den Boden. Jasper trank gierig, verspritzte die Hälfte des Wassers über den Boden und tauchte seine Ohren in die Schüssel. Jane machte sich eine Notiz, dass sie Küchenpapier kaufen musste. »Du wirst mir nicht wegsterben, oder?«, fragte sie Jasper. Er schaute zu ihr hoch und wedelte mit seinem kleinen Schwanz. »Gut«, sagte Jane. Sie verließ die Küche, um ihre Koffer nach oben zu tragen, als ihr auffiel, dass das Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter blinkte. Wahrscheinlich Kelly, dachte sie, als sie die Play-Taste drückte. »Jane, hier ist Walter«, sagte die vertraute Stimme. »Ich melde mich nur, weil ich gerne wissen wollte, wie deine Reise war. Ich hab dich bei Comfort und Joy gesehen. Es war … interessant.« Er machte eine Pause. »Du 312
hast gut ausgesehen«, fuhr er fort. »Egal, das ist auch schon alles. Ruf mich bitte an, wenn du wieder zurück bist. Wenn du willst. Tschüss.« Jane löschte die Nachricht, aber die Worte hallten in ihr nach. Walter sorgte sich um sie. Sie wusste das. Aber … Aber was?, fragte eine Stimme, die auf zermürbende Weise wie Lucys Stimme klang. »Aber alles«, sagte Jane verärgert. »Alles, einfach alles. Es würde einfach nicht funktionieren.« Sie ging weiter nach oben, warf ihre Koffer aufs Bett und begann mit dem Auspacken. »Es ist unmöglich«, sagte sie und warf die Unterwäsche in den Wäschekorb. Auch, wenn sie sie gar nicht getragen hatte: Lucys Bemerkung über den Gepäckabfertiger hatte sie misstrauisch gemacht. »Zunächst einmal würde er, sobald er die Wahrheit über mich erfährt, gar nichts mehr mit mir zu tun haben wollen.« Jasper kam ins Schlafzimmer und legte sich hin. Einen Moment später streckte Tom seinen Kopf unter dem Bett hervor und kroch heraus, wobei er einen weiten Bogen um Jasper schlug und so tat, als würde er ihn nicht sehen. Dann sprang er aufs Bett und machte es sich auf Janes roter Seidenbluse bequem, die sie gerade aus dem Koffer geholt hatte. »Ihr wisst, dass ich Recht habe«, sagte Jane zu Tom und Jasper. »Hört auf, mich so anzusehen.« Sie nahm ein Paar Schuhe aus dem Koffer und warf sie auf den Boden. »Ich meine, wer würde schon mit jemandem wie mir zusammen sein wollen?«, fragte sie. »Tut mir leid, mein Schatz«, sagte sie, indem sie sich selbst parodierte. »Ich kann heute Abend nicht mit dir fernsehen. Ich muss raus und jemanden suchen, den ich beißen kann.« Sie scheuchte Tom von ihrer Bluse herun313
ter und schüttelte seine Haare von ihr. »Nicht im Ernst«, sagte sie entschlossen. »Nicht dass es nicht schön wäre«, sagte sie und nahm die Hosen aus dem Koffer, die sie im Fernsehen hatte tragen wollen. »Es ist ganz schön lange her, dass ich mit jemandem zusammengelebt habe. Und ich vermisse schon ein paar Dinge, zum Beispiel, dass jemand meine Hand hält, und dass nicht nur ein Kater zu Hause auf mich wartet.« Sie sah zu Tom. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. Dann sah sie zu Jasper. »Nicht dass du nicht ein netter Kerl wärst«, sagte sie. »Aber es ist nicht das Gleiche.« Sie war mit dem ersten Koffer fertig und machte mit dem zweiten weiter. Der enthielt vor allem Toilettenartikel, die sie ins Bad brachte. »Männer sind auch so kompliziert«, dachte sie bei sich. »Man weiß nie, was sie gerade denken.« Sie legte ihre Schminktasche auf dem Badezimmertisch ab. »Auch wenn Walter immer sagt, was er denkt«, hielt sie entgegen. Als sie fertig war, stellte sie die Koffer zurück in den Schrank. Tom und Jasper beobachteten sie immer noch, Tom mit einem ausgesprochen gelangweilten Ausdruck und Jasper, als könne sie jeden Moment verkünden, dass es Essenszeit sei. »Was seht ihr mich so an?«, herrschte Jane sie an. »Das wird nicht funktionieren.« Sie seufzte. »Also gut. Ihr gewinnt.« Sie ging in ihr Arbeitszimmer, nahm das Telefon und wählte Walters Nummer, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Walter hob beim zweiten Klingeln ab. Jane zwang sich, nicht aufzulegen. »Ich bin’s, Jane«, sagte sie. »Ich habe mich gefragt, ob du heute Abend Zeit hättest, essen zu gehen? Es gibt da etwas, über das ich mich mit dir unterhalten möchte.« 314
31 Als sie ihm somit endlich erzählt hatte, was sie so lange vor ihm geheim gehalten hatte, sah sie auf, ihre Augen feucht vor Tränen. »Kannst du mir je vergeben?«, fragte sie. Er kniete nieder und griff ihre Hand. »Dir vergeben?«, entgegnete er. »Für was? Dafür, dass du ein törichtes Herz besitzt? Wer von uns hätte das nicht?« – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 431 »Es lief wirklich gut«, sagte Jane am nächsten Morgen zu Lucy, und sie berichtete ihr von ihrem gestrigen Abendessen und der Unterhaltung mit Walter. »Besonders hat ihn gefreut, dass das mit dem Zölibat nicht stimmt.« »Also hast du ihm von der ganzen, du weißt schon … Situation erzählt?«, fragte Lucy. Jane, die gerade die Krimiabteilung alphabetisch sortierte, begann sich auf einmal sehr für das Cover eines Ellis-Peters-Romans zu interessieren. »Es kam nicht dazu«, murmelte sie. »Verzeihung?«, fragte Lucy. »Es klang gerade so, als hättest du gesagt, dass du gekniffen hast. Habe ich das richtig verstanden?« »Ich werde es ihm noch erzählen«, sagte Jane. »Nur nicht sofort.« Lucy schnalzte mit der Zunge. »Komm mir ja nicht so«, warnte Jane sie. »Ich werde das schon noch hinkriegen. Es war schwer genug, ihm zu sagen, dass ich unter gewissen Verlustängsten leide. Als er dann antwortete, dass er mich nie im Stich lassen würde, war ich vollauf damit beschäftigt, nicht vor Rührung die Fassung zu verlieren.« 315
»Na ja, du hast noch etwa zehn Jahre Zeit, es ihm zu sagen«, sagte Lucy. »Dann wird er allmählich anfangen, sich zu fragen, warum du nicht zunimmst und dein Haar nicht grau wird.« »Dann kann ich immer noch behaupten, dass ich mich einfach sehr gut halte«, schlug Jane vor. Lucy lachte. »Wenigstens seid ihr euch endlich nähergekommen.« »Bei dir klingt das, als ob wir Promis wären, sagte Jane.« »Nun, einer von euch ist das ja«, bemerkte Lucy. Bevor Jane etwas erwidern konnte, klingelte das Telefon. Jane ging ins Büro und nahm ab. »Jane, hier ist Kelly.« Seine Stimme klang eigenartig – zittrig und verschnieft. »Was ist los?«, fragte Jane besorgt. »Bryce hat eine Affäre«, sagte Kelly. Jane hörte ihn hicksen, als er in Tränen ausbrach. »Bist du dir sicher?«, fragte sie. »Ich bin mir sicher«, meinte Kelly. »Außerdem hab ich ihn darauf angesprochen, und er hat es mir gestanden.« »Oh Kelly«, sagte Jane. »Das tut mir ja so leid.« »Das Schlimmste ist, er hat den Kerl getroffen, als wir in Chicago waren.« »Wie hat er denn nur die Zeit dafür gefunden?«, fragte Jane und erkannte im selben Moment, dass das wahrscheinlich nicht die richtige Antwort darauf war. »Sie haben sich im Fitnessraum des Hotels kennengelernt«, erklärte Kelly. »In der Sauna, natürlich. Ich wusste ich hätte mit ihm gehen sollen, statt Pay-TV zu schauen.« »Wenn sie sich nur das eine Mal getroffen haben, kann es keine große Affäre sein«, sagte Jane. 316
»Das Beste kommt noch«, sagte Kelly. »Der Kerl war Gast in dem Hotel. Tatsächlich lebt er hier in New York, zumindest die meiste Zeit. Bryce hat sich wieder mit ihm getroffen. Er hat gelogen und behauptet, er sei bowlen gewesen.« »Das tut mir wirklich leid«, sagte Jane. Ihr fiel nichts mehr ein, was sie sonst sagen könnte, ohne dass es gezwungen klang. »Er sagt, dass er nicht weiß, was er will«, fuhr Kelly dessen ungeachtet fort. »Er sagt, er muss sich erst über ein paar Dinge klarwerden. Nun, darüber kann er sich jetzt ja bei Grayson Gedanken machen.« »Grayson?«, fragte Jane. »Das ist sein Name«, sagte Kelly. »Grayson! Was soll ich bitteschön dagegen unternehmen?« Jane hörte ein gedämpftes, trompetendes Geräusch, als Kelly seine Nase putzte. Dann war er wieder am Telefon. »Oh, und dein Buch wird Sonntag auf Platz eins der Times-Liste stehen.« »Das ist wirklich –«, begann Jane. »Wie bitte?« »Dein Buch. Die New-York-Times-Bestsellerliste. Platz eins. Tut mir leid, ich sollte mich wirklich mehr freuen. Herzlichen Glückwunsch!« »Platz eins«, wiederholte Jane und ließ die Nachricht auf sich einwirken. »Mein Buch. Auf Platz eins.« »Du bist auf der Liste über dem neuen Roman von Rebecca Ingstrom eingestiegen«, sagte Kelly. »Man hört, sie sei außer sich. Es ist das erste Mal, dass sie in ihrer ersten Woche nicht Platz eins belegt.« Jane hörte nicht mehr zu. Ihr Buch – ihr Buch – war auf Platz eins der weltweit wichtigsten Bestsellerliste. Sie konnte kaum noch atmen. »Glaubst du, Bryce liebt ihn?«, fragte Kelly. 317
»Liebt wen?«, fragte Jane irritiert. »Grayson«, sagte Kelly. »Oh«, antwortete Jane. »Weiß ich nicht. So was ist nicht leicht zu sagen.« Sie denken wirklich alle nur an sich, oder?, dachte sie. Ganz egal, welches Geschlecht sie bevorzugen. »Ich muss hier raus«, verkündete Kelly. »Ich brauche Abstand von diesem ganzen Drama. Ich frage mich, ob ich genügend Flugmeilen beisammenhabe, um damit nach Paris zu kommen.« »Warum kommst du nicht hierher?«, hörte sich Jane fragen. »Aufs Land?«, fragte Kelly. Man hörte ihm an, dass er sich absolut keinen Grund dafür denken konnte, so etwas zu tun. »Ja, zu mir«, sagte Jane. »Wenn du dich in den Zug setzt, schaffst du es rechtzeitig zum Abendessen. Du kannst bei mir wohnen. Es ist sehr schön hier, und es gibt absolut nichts zu tun. Wir können die ganze Nacht über reden und schauen, was wir für dich tun können.« Kelly schwieg einen langen Moment. »Weißt du was? Ich denke, das mache ich«, sagte er dann. »Ein paar Tage auf dem Land werden mir vielleicht gut tun.« »Also, es ist nicht direkt auf dem Land«, sagte Jane. »Wir haben schon Strom und fließendes Wasser.« Kelly beachtete den Scherz nicht. Sie hörte ihn tippen. »Ich schaue mir gerade den Fahrplan im Internet an«, sagte er. »Wenn ich mich ranhalte, kriege ich noch den Zug um elf«, sagte er. »Um fünf kommt er an. Kannst du mich am Bahnhof abholen?« »Na klar«, antwortete Jane. »Vorausgesetzt, ich habe bis dahin das Gespann vor dem Wagen. Du weißt, wie stur Maultiere sein können.« 318
Wieder ignorierte Kelly den Witz. »Wir sehen uns dann«, sagte er. »Und danke, Jane. Ich wusste, es würde mir besser gehen, wenn ich mit dir gesprochen habe.« Kelly legte auf, und Jane verließ das Büro. »Irgendwas Aufregendes?«, fragte Lucy. »Ich kriege Besuch«, sagte Jane. »Und mein Buch scheint auf Platz eins zu sein.« Lucys Freudenschrei ließ sie zusammenzucken. Es wurde ihr schwindlig, als Lucy sie hochhob und im Kreis herumwirbelte und vor Freude dabei quietschte. »Du bist die Nummer eins!«, rief sie, als sie Jane wieder auf die Füße setzte. »Du bist die verdammte Nummer EINS!« Jane sah Lucy ins Gesicht. »Oh mein Gott«, sagte sie. »Ich bin die verdammte Nummer EINS!« Ihr gemeinsamer Aufschrei war ohrenbetäubend. Siebzehn Minuten nach fünf fuhr der Zug in den Bahnhof von Brakeston ein. Etwa zwei Dutzend Passagiere stiegen aus, darunter die unverwechselbare Erscheinung von Kelly Littlejohn. Jane winkte ihm zu, und er begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wange. »Wirklich nicht schlecht«, bemerkte Kelly mit Blick auf den Bahnhof. »Ich hatte Ställe und Kühe und barfüßige Kinder erwartet, die mit Reifen spielen.« »Ungeachtet dessen, was du gehört hast, gibt es Zivilisation abseits der Insel Manhattans«, sagte Jane. »Ich dachte, das seien Ammenmärchen«, neckte Kelly sie. Während der Fahrt zu ihrem Haus unterließ es Jane, sich nach Bryce zu erkundigen, und auch Kelly erwähnte ihn nicht. Er schien mittlerweile aber besserer Laune zu sein, wofür Jane sehr dankbar war. Es wäre ihr schwergefallen, ihre frisch erblühte Beziehung zu Walter zu ge319
nießen, wenn sie das Gefühl gehabt hätte, dass es Kelly angesichts ihres Glücks nur noch elender ginge. »Ich dachte daran, heute Abend essen zu gehen«, sagte sie. »Mit Walter und Lucy.« »Lucy arbeitet bei dir im Laden, richtig?«, fragte Kelly. »Ich glaube, sie war ein- oder zweimal am Telefon.« »Das stimmt«, bestätigte Jane. »Und Walter, ist das ihr Freund?« Jane zögerte. Er wird es sowieso herausfinden, sagte sie sich. Du kannst es genauso gut hinter dich bringen. »Nein, Walter ist mein Freund«, sagte sie. Kelly sah überrascht drein. »Wirklich?«, fragte er. »Du klingst erschüttert«, sagte Jane. »Nein«, sagte Kelly schnell. »Es ist nur, dass ich mir dich nie so vorgestellt habe.« »Wie denn?«, fragte Jane. »Als Mensch? Als Frau?« »Nimm es mir nicht übel«, sagte Kelly. »Aber du erscheinst eben so, wie soll ich es sagen, anständig, wenn du verstehst, was ich meine.« »Anständig«, sagte Jane. »Und das schließt aus, dass ich ein Liebesleben habe?« »Natürlich nicht«, sagte Kelly. »Egal, ich kann’s nicht erwarten, ihn kennenzulernen«, fügte er rasch hinzu. Jane schnaubte. Anständig, dachte sie. Ich werde ihm zeigen, was anständig ist. Nachdem sie angekommen waren, führte sie Kelly ins Gästezimmer. Sie vergewisserte sich, dass er genug Handtücher besaß, dann ließ sie ihn ausruhen und sich fürs Abendessen fertig machen. Sie hatten eine Reservierung um halb acht in einem Sushi-Restaurant, das, wie sie hoffte, Kelly die kultiviertere Seite Brakestons vor Augen führen würde. Walter und Lucy würden sie dort treffen.
320
»Come Up And Sashimi Some Time?« fragte Kelly neunzig Minuten später. »Das ist nicht ihr Ernst.« Jane hatte gehofft, er würde es nicht bemerken. »Ich finde es ziemlich witzig«, sagte sie, als sie die Tür des Restaurants öffnete und sie eintraten. Sie suchte nach Walter und Lucy und fand sie an einem der niedrigen Tische, wo die Gäste zum Essen auf dem Boden saßen. Sie hatte Walters Hang zum Authentischen vergessen, und wünschte, sie hätte daran gedacht, bevor sie ihn gebeten hatte, die Plätze zu reservieren. »Hallo!«, sagte Walter und erhob sich. Wie Lucy hatte auch er seine Schuhe ausgezogen. Jane bemerkte, dass er weiße Sportsocken trug. Sie sah auch, wie Kelly darauf blickte. »Sie müssen Kelly sein«, sagte Walter, griff die Hand des Verlegers mit beiden Händen und schüttelte sie kräftig. »Jane hat mir so viel von Ihnen erzählt.« »Tatsächlich?«, erwiderte Kelly, während er sich bückte und seine Schuhe auszog. »Dann haben Sie mir etwas voraus.« Zu Janes Erleichterung hörte Walter die letzte Bemerkung nicht, weil er gerade damit beschäftigt war, sie mit einem Kuss zu begrüßen. Sie zog ihre Schuhe aus und setzte sich neben Walter, während Kelly auf einem Kissen neben Lucy Platz nahm. »Hi«, sagte Lucy. »Mir hat sie auch viel von Ihnen erzählt. Aber keine Angst, sie versucht nicht, uns zu verkuppeln oder so.« Jane warf ihr einen strengen Blick zu, den Lucy ignorierte. Aber Kelly lachte nur. »Ich fürchte, Sie wären enttäuscht, wenn’s so wäre«, sagte er. »Beim ersten Date gebe ich nämlich immer eine lausige Figur ab.« »Ich war so frei, uns schon einen Aperitif zu bestel321
len«, sagte Walter in die Runde. »Ich hoffe, Sie mögen Sake«, sagte er, an Kelly gewandt. »Das kommt darauf an«, sagte Kelly. »Was für Sake ist es denn?« »Am liebsten mag ich Juyondai«, sagte Walter. »Ich hätte beinahe Tentaka bestellt, aber ich glaube, den meisten Leuten ist er zu trocken.« Kelly warf Jane einen Blick zu. »Er hat seine Hausaufgaben gemacht«, sagte er. »Du kannst ihn behalten.« »Ich hatte ja keine Ahnung«, gestand Jane. Sie sah Walter an. »Du steckst voller Überraschungen«, sagte sie voller Bewunderung. »Ich habe noch nie Sake getrunken«, verkündete Lucy. »Dann steht Ihnen ein besonderer Genuss bevor«, sagte Kelly. Er wandte sich an Walter. »Sie haben hier wohl kaum ankimo, oder?« »Nicht nur das, sie haben auch ausgezeichnetes hotate.« »Hast du eine Ahnung, wovon sie reden?«, fragte Lucy Jane. »Nicht die geringste«, antwortete sie. »Ich habe so das Gefühl, dass die beiden heute Abend das Bestellen für uns übernehmen werden. Du und ich werden ihren kulinarischen Launen hilflos ausgeliefert sein.« »Solange das Essen sich nicht mehr bewegt«, sagte Lucy. »Mit roh komme ich klar, aber nicht mit lebendig.« Sie schnitt Jane eine Grimasse. Der Sake kam, und Walter schenkte jedem von ihnen etwas ein. Kelly zeigte Lucy, wie man ihn trank, und Walter zeigte es Jane. »Du musst auf jeden Fall daran riechen«, sagte er. »Das Aroma allein ist schon eine schöne Erfahrung.« 322
Jane mochte es, wie er ihr das Saketrinken zeigte. Es war auf eine Weise intim, wie sie es schon seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte. Sie dachte daran, wie Byron ihr das Krebseessen beigebracht hatte. Es war nicht das Gleiche gewesen. Walter gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, so als teile er seine Erfahrungen mit ihr, statt ihr nur zu erklären, wie man sie sammelte. Der Kellner kam, und wie Jane es vorhergesehen hatte, bestellten Walter und Kelly für den ganzen Tisch. Auch diesmal genoss sie es, dass jemand sich auf diese Art um sie kümmerte. Ich schätze, das ist ganz schön altmodisch von mir, dachte sie, während sie zuhörte, wie Walter verschiedene Sorten von Sushi herunterrasselte. Aber was soll’s, ich bin ein Mädchen aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sie lachte bei dem Gedanken und bemerkte, dass sie ein kleines bisschen beschwipst war. Auch das genoss sie, und als Walter ihren Sakebecher wieder füllte, protestierte sie nicht. Es ist ziemlich angenehm, einen Freund zu haben, dachte sie bei sich. Ich weiß nicht, weshalb ich so lange damit gewartet habe. Das Essen kam, aber Kelly und Walter weigerten sich, Jane und Lucy zu erklären, um was es sich bei allem handelte. »Einfach versuchen«, beharrte Kelly und platzierte mehrere vielfarbige Stückchen auf Lucys Teller. »Ich sage dann hinterher, was es war.« »Das ist eins meiner Lieblingshäppchen«, sagte Walter und wählte etwas Dunkelrosafarbenes für Jane aus. »Es –« Das Klingeln von Janes Handy unterbrach ihn. Sie brauchte einen Moment, bis sie es in ihrer Handtasche gefunden hatte. Wer konnte das jetzt sein?, fragte sie sich und nahm es heraus. Nur Lucy, Walter und Kelly hatten überhaupt die Nummer, und sie saßen alle hier bei ihr am Tisch. 323
»Hallo?« »Ms. Fairfax, hier spricht Sal Maldonado von der Feuerwehr.« Die Stimme war rau und schwer zu verstehen. »Feuerwehr?«, wiederholte Jane. »Ich fürchte, es gibt ein Problem in Ihrem Laden«, sagte der Mann. »Ist es ein Feuer?«, fragte Jane und versuchte, auf die Füße zu kommen. Die anderen unterbrachen ihr Gespräch und starrten sie gebannt an. »Nein, kein Feuer«, kam die Antwort. »Aber wir hatten einen Fehlalarm. Ich denke, mit Ihrem Feuermelder stimmt etwas nicht. Sie müssten nur kurz rüberkommen und den Laden für mich aufschließen.« »Natürlich«, sagte Jane, erleichtert, dass es nichts Schlimmeres war. »Ich bin in fünf Minuten dort.« Sie legte auf. »Ihr müsst euch keine Sorgen machen«, sagte sie den anderen. »Nur ein falscher Feueralarm im Laden. Sie müssen hinein und es überprüfen. Ich bin sofort wieder da.« »Ich komme mit«, sagte Walter und stand auf. »Nein, du bleibst hier«, sagte Jane. »Aber vielen Dank.« Sie drückte Walters Arm. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich traue mich nicht, die beiden alleine zu lassen.« Sie nickte Richtung Lucy und Kelly. »Ich glaube, sie brauchen eine Anstandsdame.« Walter setzte sich wieder, und Jane streifte ihre Schuhe über. Sie versprach noch einmal, so schnell wie möglich wieder zurück zu sein, dann ging sie und stieg in ihr Auto. In wenigen Minuten war sie am Laden. Als sie ausstieg, sah sie allerdings nicht die Spur eines Feuerwehrmanns oder irgendwelcher Einsatzfahrzeuge. Sie ging zur Tür und stellte fest, dass sie bereits geöffnet war. Scheinbar hat er mich dann doch nicht gebraucht, dachte sie, als sie nach drinnen ging. 324
»Mr. Maldonado?«, rief sie. »Hier ist Jane Fairfax. Sind Sie da?« Es gab keine Antwort, aber Jane hörte Geräusche aus Richtung des Büros. Sie betätigte den Lichtschalter neben der Tür, aber es blieb dunkel. Sie müssen den Strom abgestellt haben, dachte sie, während sie sich nach hinten vorarbeitete. »Mr. Maldonado?«, rief sie wieder. »Sind Sie da?« Sie erreichte das Büro und trat ein. Jemand bewegte sich in dem dämmrigen Licht. »Mr. Maldonado?«, fragte Jane. Die Gestalt drehte sich um. Jane rang nach Atem. Dann traf sie etwas an der Stirn, und alles um sie herum wurde schwarz.
325
32 Jonathan lag mit blutender Lippe am Boden und starrte finster zu Charles empor, der sich mit geballten Fäusten über ihn erhob. Ein mörderischer Ausdruck stand in Charles’ Augen, und einen Moment lang fürchtete Constance, er würde Jonathan töten. Stattdessen spuckte er in den Schmutz neben Jonathans Kopf. »Geh«, sagte er. »Und störe uns niemals wieder.« – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 433 Der Schlag weckte sie auf. Wo bin ich?, fragte sich Jane. Was ist geschehen? Ihr Kopf schmerzte, und sie sah Sterne vor ihren Augen. »Willkommen zur Party«, sagte eine Stimme. Jane schüttelte den Kopf und blinzelte, um besser sehen zu können. Ihre Hände waren im Rücken gefesselt, und jemand stand über ihr und lächelte triumphierend. »Charlotte!«, stieß sie hervor. »Überrascht?«, fragte Charlotte. »Aber du bist doch tot«, sagte Jane. »Das ist wahr«, stimmte Charlotte zu. »Aber eben nicht ganz tot.« »Das Feuer«, sagte Jane. Charlotte sah völlig gesund aus, keine Verbrennung zu sehen. »Ja, das Feuer«, sagte Charlotte. »Das war ein guter Versuch. Glücklicherweise heilt unsereiner aber ziemlich schnell, so lange nichts Lebenswichtiges zerstört worden ist.« »Jane, wer ist diese Frau?« Jane zuckte beim Klang der anderen Stimme zusammen. Sie sah nach links und war entsetzt, Walter, Kelly 326
und Lucy dort auf dem Boden liegen zu sehen, die Hände gefesselt wie ihre. Alle drei starrten Charlotte an. Charlotte lachte. »War es nicht großmütig von ihnen, zu deiner Rettung zu eilen?«, fragte sie. »Alles, was ich tun musste, war, zu warten.« »Lass sie in Frieden!«, rief Jane außer sich. »Sie haben nichts damit zu tun.« Charlotte legte den Kopf schief. »Wirklich nicht?«, fragte sie. »Weißt du, ich glaube schon, dass sie etwas damit zu tun haben. Eine ganze Menge sogar.« Sie ging in die Knie, so dass ihr Gesicht genau vor Janes war. »Weißt du auch, warum?«, fragte sie. Jane konnte Charlottes Atem auf ihrem Gesicht spüren. Sie würde Charlotte gerne empfehlen, es einmal mit einem Pfefferminzbonbon zu versuchen, unterließ es aber. »Nein«, sagte sie. »Ich weiß nicht, warum.« Charlotte beugte sich noch tiefer herab, so dass sie in Janes Ohr flüsterte. »Ich sage dir, warum«, sagte sie. »Weil sie meine Rache sein werden. Ich werde jeden Einzelnen von ihnen aussaugen, während du zusehen musst. Dann werde ich diesen Ort in Brand stecken, und zusehen, wie er bis auf die Grundmauern abbrennt, genau wie du zugesehen hast, als mein Haus und meine Familie verbrannten.« Sie stand auf und brachte ihr Kleid in Ordnung. »Oh, und ich will meinen Hund zurück«, sagte sie. »Das kannst du nicht tun«, sagte Jane. »Warum nicht?«, schrie Charlotte. Ihre Stimme war schrill vor Zorn. »Sag mir, weshalb ich mir diese Genugtuung versagen sollte!« »Du warst diejenige, die mein Buch stehlen wollte«, schrie Jane zurück. »Du bist diejenige, die hier im Unrecht ist.« »Ansichtssache«, sagte Charlotte schnippisch. 327
»Wer sind Sie?«, fragte Kelly. »Wer ich bin?«, gab Charlotte zurück. »Wer ich bin?« Die Lautstärke ihrer Stimme nahm im selben Maße zu wie ihre Entrüstung, während sie zu den Gefangenen hinüberging. »Violet Grey«, sagte Jane. »Das ist Violet Grey.« »Die Bloggerin?«, fragte Kelly. »Die eine, der dein Buch nicht gefallen hat?« Jane nickte, während Charlotte rot anlief. Kelly starrte sie an. »Das alles, weil Ihnen einen Buch nicht gefallen hat?«, fragte er. »Finden Sie nicht, dass Sie ein kleines bisschen überreagieren?« Charlotte ballte ihre Hände zu Fäusten und machte einen Schritt zurück. Sie schloss ihre Augen und begann zu zitieren: »Im Allgemeinen hält man Frauen für sehr ruhig«, begann sie. Dann riss sie ihre Augen auf und zeigte mit dem Finger auf Kelly. »Aber Frauen empfinden genau wie Männer; auch sie brauchen ein Betätigungsfeld für ihre Talente, genau wie ihre Brüder; sie leiden unter zu vielen Fesseln, unter zu langer Stagnation ganz genauso, wie Männer darunter leiden würden; und es ist engstirnig von ihren begünstigteren Mitmenschen, zu sagen, dass sie sich doch aufs Puddingkochen und Strümpfestopfen, auf Klavierspiel und Stickarbeiten beschränken sollten. Es ist gedankenlos, sie zu verdammen oder zu verlachen, wenn sie versuchen, mehr zu erreichen oder mehr zu erfahren, als das, was für ihr Geschlecht von jeher als ausreichend erachtet wurde.« »Was hat denn bitteschön Jane Eyre mit all dem zu tun?«, fragte Kelly, als sie fertig war. »Es hat alles damit zu tun!«, keifte Charlotte. Sie begann, auf und ab zu laufen, und dabei mit ihren Fäusten 328
auf ihre Hüften zu schlagen. »Als das Journal of Words seine Liste der hundert besten englischsprachigen Romane erstellte, könnt ihr euch vorstellen, dass Stolz und Vorurteil da auf Platz zwölf lag?« Sie hielt inne und starrte Jane düster an. »Und wisst ihr auch, wo Jane Eyre lag?«, fragte sie. Sie sah der Reihe nach alle vier an, aber niemand antwortete ihr. »Platz zweiundfünfzig!«, schrie sie auf. »Hinter diesem pornographischen Travestieroman namens Lolita!« Sie spie den Titel aus, als ob er Gift wäre. »Hinter Huckleberry Finn! Hinter Ulysses. Hat je einer von euch versucht, Ulysses zu lesen? Habt ihr es je bis zum Ende geschafft? Nein, habt ihr nicht. Niemand hat das. Sie tragen das Buch nur alle mit sich herum und behaupten, es gelesen zu haben.« Lucy räusperte sich. »So weit ich mich entsinne, lag Sturmhöhe auf Platz neunundzwanzig.« »Das hat Emily geschrieben!«, tobte Charlotte. »Ich meine ja nur«, verteidigte sich Lucy. »Wenn es hier um Austen gegen Brontë geht, sind Charlotte und Emily doch wenigstens im selben Team.« »Ich glaube, mit dir fange ich an«, verkündete Charlotte. Walter, der bis jetzt still gewesen war, erhob auf einmal seine Stimme. »Wir sollten uns alle etwas beruhigen.« Charlotte wandte sich ihm zu. »Und wer genau bist du?«, fragte sie. »Ich bin ihr Freund«, sagte Walter rund nickte in Richtung Jane. Ein böses Lächeln stahl sich auf Charlottes Gesicht. »Ihr Freund«, wiederholte sie. Dann lachte sie höhnisch auf. »Das läuft noch besser, als ich es zu hoffen gewagt hätte. Meine Rache wird wahrlich süß sein.« Jane fühlte, wie sie vor Zorn zitterte. »Nicht Gewalt 329
vermag den Hass am besten zu besiegen«, zitierte sie. »Noch ist es Rache, die gewisslich Wunden heilt.« Charlotte grinste sie an. »Also hast du mein Buch gelesen«, sagte sie. »Ich bin gerührt.« »Ihr Buch?«, fragte Lucy. »Aber das ist doch von –« Sie stockte und sah Charlotte an. Ihre Augen wurden groß. Dann blickte sie zu Jane, die erschöpft nickte. Lucy schloss ihren Mund und starrte Charlotte entgeistert an. »Seid ihr alle wirklich so dumm?«, fragte Charlotte. »Sie sind wahnsinnig«, sagte Walter. »Sie können ja sein, wer immer Sie sein wollen, aber welchen Grund haben Sie, Jane zu hassen?« Charlotte trat einen Schritt zurück. Sie sah Walter lange an, dann warf sie Jane einen Blick zu. »Er weiß es nicht, oder?«, fragte sie. »Er weiß es wirklich nicht.« »Was weiß ich nicht?«, fragte Walter. Charlotte klatschte vor Freude in die Hände wie ein Kind und hielt sie sich dann vor den Mund. Ihre Augen strahlten. »Oh, das wird ein Riesenspaß«, sagte sie. »Also gut, lasst mich euch eine Geschichte erzählen.« Sie holte tief Luft. »Es war einmal«, begann sie. Auf einmal wurde die Tür zum Lager aufgerissen. Jane blickte auf und sah Byron mit langen Schritten hereinkommen. »Du!«, rief sie aus. Ihre Stimme klang seltsam, als ob sie durch ein Megaphon sprechen würde. Dann erkannte sie, dass es daran lag, dass jeder im Raum genau dasselbe Wort zu exakt derselben Zeit gesagt hatte. Sie warf den anderen einen Blick zu. Alle starrten Byron mit demselben Ausdruck von Fassungslosigkeit an. »Jane?«, fragte Kelly. Er sah verdutzt zu ihr herüber. »Das ist der Kerl, mit dem Bryce geschlafen hat.« »Bryce?«, fragte Jane, nicht minder verdutzt. Sie sah zu Byron. »Du bist Grayson?«, staunte sie. 330
Byron zuckte die Schultern. »Ich weiß, das ist etwas peinlich, aber leider nicht zu ändern«, sagte er. Bevor er weiterreden konnte, warf sich Charlotte mit entblößten Zähnen auf ihn. »Du hast mich verlassen!«, kreischte sie. Byron machte einen Schritt zur Seite und gab ihr einen heftigen Stoß, als sie an ihm vorüberlief. Charlotte stürzte Kopf voran in einen Stapel Kochbücher, der daraufhin umkippte und sie mit sich riss. Sie rappelte sich wieder auf und setzte erneut zum Angriff an. Diesmal gelang es Byron, sie am Arm zu packen. Er schleuderte sie wild herum und sie taumelte gegen eines der hohen Regale. Sie schlug hart mit dem Kopf auf, das Regal fiel um und begrub sie unter einer Lawine von Büchern. Augenblicklich sprang sie wieder auf, und warf wie wild mit ein paar Exemplaren um sich. Eines schmiss sie nach Byrons Kopf, verfehlte ihn jedoch knapp. »Mach mich los!«, sagte Jane zu Byron. »Ich kann dir helfen.« »Keine Zeit«, sagte Byron und versuchte, Charlotte aufzuhalten. Charlotte warf nun immer wilder mit Büchern um sich. Eines nach dem anderen nahm sie auf und schleuderte es nach Byron, so schnell sie nur konnte. Ein Feuerwerk aus Jugendliteratur, Pop-up-Büchern und Haushaltsratgebern prasselte auf Byron ein. Jane sah eine Ausgabe von In meinem Himmel mit flatternden Seiten vorüberfliegen und Byrons Wange verletzen. Sich duckend und Haken schlagend kämpfte sich Byron zu Charlotte vor und schlug ihre Fluggeschosse dabei aus dem Weg. Dann standen die beiden eng umschlungen. Charlotte kratzte und schlug mit wütendem Gekreische nach Byron, und dieser versuchte, sie zu bändigen. 331
Dann sah Jane zu ihrer Überraschung, wie Walter aufstand. Die Seile, mit denen Charlotte seine Handgelenke gefesselt hatte, fielen zu Boden. Dann beugte er sich zu Kelly und Lucy herab und befreite sie. »Los!«, sagte er. »Macht, dass ihr hier rauskommt.« Die beiden rannten davon, und Walter kam zu Jane. Er kniete sich neben ihr nieder und durchschnitt ihre Fesseln. »Wie konntest du dich befreien?«, fragte sie, als sie aufstand. »Mein Taschenmesser«, sagte Walter, nahm sie am Arm und rannte mit ihr zur Tür. »Ich brauchte nur eine Weile, bis ich es aufbekam.« Hinter ihr hörte Jane ein Krachen und wilde Schreie, während Byron und Charlotte ihren Kampf fortsetzten. Im vorderen Teil des Ladens warteten Kelly und Lucy gespannt auf sie. »Wer gewinnt?«, fragte Lucy. Jane schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen«, antwortete sie. »Wir sollten die Polizei rufen«, schlug Walter vor. »Nein!«, sagten Lucy und Jane gleichzeitig. Walter sah sie beide an. »Aber –«, begann er. »Vertrau mir«, unterbrach ihn Jane. »Wir sollten wenigstens versuchen, ihm zu helfen«, sagte Walter. »Von mir aus kann sie ihn haben«, sagte Kelly. »Er hat meine Beziehung ruiniert.« »Falls du es vergessen haben solltest, er hat gerade dein Leben gerettet«, sagte Lucy spitz. »Für den Moment«, sagte Jane. »Wir müssen hier raus.« Sie rannten durch die Vordertür auf den Parkplatz. Dort fanden sie sich zu einer Gruppe zusammen und be332
hielten den Laden im Auge. Sie sahen, wie sich im Inneren schattenhafte Gestalten hin und her bewegten. »Sie kämpfen noch immer«, sagte Jane. Dann war ein lautes Rumpeln von drinnen zu hören, und etwas fiel krachend um. »Das klang nach dem Audiobuchständer«, bemerkte Lucy. »Das reicht«, sagte Walter. »Ich gehe rein.« Noch bevor Jane ihn aufhalten konnte, war er zurückgerannt. Immer lauter werdender Lärm erfüllte die Luft, dann rannte eine Gestalt auf die große Fensterfront des Ladens zu. Der Schatten dieser Person wurde immer größer, dann prallte er mit einem scheußlichen dumpfen Klang auf die Scheibe. Das Glas zerbarst. Kleine Glasstückchen prasselten wie Hagel auf den Bürgersteig, gefolgt von Charlotte. Sie landete mit dem Gesicht voran auf dem Pflaster und regte sich nicht mehr. Walter und Byron traten aus dem Laden und keuchten schwer. Sie warfen einen Blick auf Charlottes hingestreckten Körper. Byron schlug Walter auf die Schulter. »Gut gemacht«, sagte er. Walter schüttelte den Kopf. »Du warst derjenige, der ihr mit dem Stephen-King-Hardcover eins übergebraten hat. Das hat ihr ganz schön den Wind aus den Segeln genommen.« »Dem Himmel sei Dank, ist er ein Mann vieler Worte«, sagte Byron. Die beiden kehrten zu den Übrigen zurück. Jane umarmte Walter und drückte ihn fest an sich. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht«, sagte sie. »Ich auch«, sagte Walter. »Eine Weile dachte ich ja, diese Verrückte würde uns allen den Hals durchschneiden. Ich begreife es immer noch nicht. Alles wegen eines Buchs?« 333
»Es war gut, dass du vorbeigekommen bist«, sagte Lucy zu Byron. Bevor Byron etwas erwidern konnte, holte Kelly aus und schlug Byron ins Gesicht. Byron taumelte zurück und hielt seine Nase, während Kelly mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hand schüttelte. »Das tat weh!«, schrie er auf. »Verdammt noch mal!«, rief Byron. »Jungs!«, sagte Jane und ging dazwischen. »Das könnt ihr später unter euch ausmachen. Jetzt müssen wir uns etwas für Charlotte überlegen. Ich meine, Violet.« »Das könnte ein Problem werden«, sagte Lucy. Jane drehte sich um. »Wieso?« Lucy nickte in Richtung des Ladens. Wo Charlotte gelegen hatte, war nun nichts mehr zu sehen als zerbrochenes Glas.
334
33 Sie presste ihren Kopf an Charles’ Brust. Sein Herz lag unter ihrer Wange, und jeder Schlag versicherte sie seiner Gegenwart. Sie passte ihren Atem an seinen an, bis sie ein Körper wurden, der sich Blut und Atem teilte. – Jane Austen, Constance, Manuskriptseite 435 »Erklär mir doch einmal, weshalb wir nicht die Polizei rufen sollen«, bat Walter. Sie waren gerade zu ihr nach Hause zurückgekehrt, nachdem sie im Buchladen etwas Ordnung geschaffen hatten. Es war zwei Uhr morgens, und Jane war erschöpft. Sie saß auf dem Sofa, die Beine hochgelegt, und trank eine Tasse Tee. »Es würde nur Umstände bereiten«, antwortete Jane. »Umstände?«, wiederholte Walter. »Die Frau wollte uns umbringen.« »Ich glaube nicht, dass sie das wirklich getan hätte«, sagte Jane. »Ich glaube, sie war einfach nur aufgebracht.« Walter warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Du hast doch gesehen, wie es im Laden aussah«, erinnerte er sie. »Du hast auch gesehen, was sie mit uns angestellt hat. Das war ein bisschen mehr als einfach nur ›aufgebracht‹. Das war eher, ich weiß auch nicht, sie war völlig außer sich …« »Vertrau mir«, sagte Jane. »Wir wissen, wer sie ist. Wir können sie leicht ausfindig machen, wenn wir müssen. Ich glaube aber, du und Byron habt ihr genug Angst eingejagt.« »Das ist auch wieder so etwas«, sagte Walter. »Warum ist Byron wieder zurückgekommen? Und was war 335
das mit ihm und Kellys Freund? Das ist alles doch sehr verwirrend.« Als wäre er gerufen worden, kam Kelly ins Wohnzimmer. Er hatte ein Handtuch mit Eiswürfeln um seine lädierte Hand geschlungen. »Hilft das Eis?«, fragte Jane. »Ein wenig«, antwortete er. »Ich hätte nie gedacht, wie weh so was tun kann.« »Tja weißt du, Byron – Brian – hat einen ziemlichen Dickkopf«, sagte Jane. Kelly legte den Kopf in den Nacken und stöhnte. »Ich komme mir ziemlich dumm vor«, sagte er. »Ich habe mich wie ein Schuljunge benommen, der wütend war, weil jemand ihm sein Taschengeld gestohlen hat.« »Es klang ganz danach, als ob er etwas mehr als das Taschengeld gestohlen hätte«, sagte Walter. »Ich hätte ihm auch eine reingehauen.« Er sah Jane an und grinste. »Jungs«, sagte Jane. »Ihr seid unmöglich.« Dessen ungeachtet, griff sie nach Walters Hand. »Wer ist der Kerl?«, fragte Kelly. »Irgendein bisexueller, schreibender Kung-Fu-Meister oder was? Und das ist doch verrückt – kaum, dass er mit euch aneinandergeraten ist, macht er sich an Bryce heran?« »Nicht so verrückt, wie du vielleicht glaubst«, sagte Jane. »Aber wo wir gerade davon sprechen, wie sieht es mit deinen Gefühle für Bryce aus?« Kelly winkte ab. »Ich weiß nicht recht«, antwortete er. »Ich war fast zehn Jahre mit dem Mann zusammen. Und ich denke, wenn ich bereit war, um ihn zu kämpfen, werde ich ihn wohl auch noch lieben. Er schuldet mir aber jetzt ordentlich was. Wir reden hier mindestens von einer Europareise oder vielleicht von einem Haus auf dem Land.« Er biss sich verlegen auf die Lippen, dann hob er 336
eine Augenbraue. »Außerdem, das muss ich zugeben, Brian hat wirklich was.« »Denk nicht einmal dran«, sagte Jane schnell. Kelly lachte. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde ein braver Junge sein.« Er erhob sich. »Und jetzt heißt es ab ins Bett für mich. Das war Aufregung genug für einen Stadtjungen wie mich. Ich hatte ja keine Ahnung, wie wild es hier auf dem Land so zugeht.« »Warte nur bis morgen«, sagte Walter. »Wir planen einen Scheunenbau.« Kelly ging nach oben und ließ Walter und Jane allein. Jane hielt immer noch Walters Hand. Seine Hand zu halten beruhigte sie. Er war etwas Festes, an das sie sich klammern konnte, etwas Echtes, Warmes und Sicheres. Ich könnte ewig so dasitzen, dachte sie. »Ich mag ihn«, sagte Walter. »Mögen? Wen?«, fragte Jane. »Kelly«, sagte Walter. »Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte beinahe gehofft, er würde sagen, dass es aus ist mit ihm und diesem Bryce. Ich wollte ihn schon mit Hank zusammenbringen.« »Hank auch?«, fragte Jane. »Du meinst deinen Elektriker?« Sie rief sich Walters langjährigen Freund und gelegentlichen Mitarbeiter ins Gedächtnis. Er war ein großer Mann mit einem dichten Bart und Händen, die Jane an Bärentatzen erinnerten. Walter nickte. »Auch der große Hank«, bestätigte er. »Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte Jane. »Wie auch immer, ich glaube nicht, dass sie viel gemeinsam hätten.« »Und wieder stellst du Vermutungen an«, sagte Walter. »Ist es nicht das, was du auch über uns gedacht hast?« »Überhaupt nicht«, sagte Jane. »Na ja, vielleicht ein bisschen«, gab sie zu. 337
»Hank würde dich überraschen«, sagte Walter. »Und sieh dir Kelly an. Er hat ganz schön ausgeteilt. Es würde mich nicht wundern, wenn die Nase unseres hübschen Freundes nach dieser Nacht ein wenig Schieflage hätte.« Darauf würde ich nicht wetten, dachte Jane. Wahrscheinlicher war, dass Byron sich bereits geheilt hatte. Dasselbe galt für die kleineren Wunden, die Charlotte ihm zugefügt hatte. Was Charlotte selbst betraf, so machte sich Jane keine allzu großen Sorgen wegen ihr. Jetzt, da sie sich zu erkennen gegeben hatte, hatte sie wahrscheinlich Angst, es noch einmal zu versuchen. Dennoch war es besser, in Zukunft die Augen aufzuhalten. Walter drückte ihre Hand und Jane sah ihn an. Irgendwie sah er besorgt aus. »Es gibt etwas, das ich dir sagen wollte«, sagte er. »Es fällt mir wirklich nicht leicht.« Jetzt kommt es, dachte Jane. Ihr Herz schlug wie wild. Walter hatte herausgekriegt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Er würde ihr nun sagen, dass sie doch nicht zusammen sein konnten. »Es ist jetzt alles so schnell gegangen, und ich finde, dass –« begann Walter. Doch bevor er fortfahren konnte, wurde er von Jasper unterbrochen, der ins Wohnzimmer gestürmt kam. Er kläffte und schaute vielsagend Richtung Küche. »Du hattest schon Abendessen«, erinnerte ihn Jane. Jasper kläffte noch einmal. »Ich glaube, er will nach draußen«, sagte Walter. »Natürlich«, sagte Jane. »Ich lasse ihn raus. Merk dir, wo wir gerade stehen geblieben sind.« Sie sprang auf und eilte in die Küche. Sie war erleichtert, etwas Abstand zwischen sich und Walter zu bekommen. Sie wusste, was er sagen wollte, und sie wollte 338
es nicht hören. Gerade, als ich gedacht hatte, dass es vielleicht funktionieren könnte, dachte sie traurig, als sie die Hintertür öffnete, und Jasper in den Hof entließ. Sie trat nach draußen und schloss die Tür hinter sich. »Ich nehme an, es war unvermeidlich«, sagte sie. »Was denn?« Sie schrak zusammen, als Byron aus den Schatten trat. »Warum musst du immer so etwas Überraschendes machen?«, fragte sie. »Kannst du nicht einfach klingeln, so wie andere Leute?« Byron sah zum Mond empor, der voll am Himmel stand. »Erst einmal bin ich nicht wie andere Leute«, sagte er. »Zweitens glaube ich nicht, dass Walter sehr versessen darauf wäre, mich jetzt zu sehen.« »Ich glaube nicht, dass es nach heute Nacht noch einen großen Unterschied macht«, sagte Jane. »Ich glaube, er will Schluss mit mir machen.« Byron lachte. »Was ist bitte so komisch daran?«, fragte Jane. »Glaube ja nicht, dass ich jetzt hinter dir herlaufen werde.« »Oh, ich glaube, das ist mir mittlerweile klar«, sagte Byron. »Außerdem habe ich einen neuen Zeitvertreib gefunden.« »Noch so eine Sache«, sagte Jane. »Warum musstest du ausgerechnet Bryce verführen?« Byron hielt protestierend seine Hände hoch. »Das war reiner Zufall«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, dass er mit dir in Verbindung steht. Es war eine glückliche Fügung.« »Nicht so glücklich für Kelly«, entgegnete Jane. »Er ist sehr verletzt. Oh, und rede dir bloß nicht ein, dass ich nicht wüsste, dass der einzige Weg, an Bryce zu kommen, war, ihn mit deinen Kräften zu betören.« 339
Byron sah verletzt drein. »Heißt das, du findest, ich verliere mein gutes Aussehen?« »Leider nein«, sagte Jane. »Aber ich weiß, wie sehr sich die beiden lieben.« »Dann mag es dich vielleicht freuen, zu hören, dass Bryce mich heute früh angerufen und mir in unmissverständlichen Worten zu verstehen gegeben hat, dass es aus ist mit uns.« »Siehst du!«, sagte Jane. »Das geschieht dir recht.« Dann kam ihr ein Gedanke. »Was machst du hier überhaupt?« »Es ist eine herrliche Nacht«, sagte Byron. »Du bist auf der Jagd!«, klagte Jane ihn an. »Nicht doch«, sagte Byron. »Ich halte bloß Ausschau. Nach Charlotte.« »Du glaubst doch nicht, dass sie zurückkommen wird, oder?«, fragte Jane. »Nein«, sagte Byron. »Zumindest nicht für einige Zeit. Ich will aber kein Risiko eingehen.« »Ich glaube, ich komme ganz gut allein mit ihr klar, wenn es sein muss«, sagte Jane. »Ehrlich gesagt«, sagte Byron, »glaube ich das nicht.« Seine Stimme nahm einen ernsten Ton an. »Charlotte ist nicht die Einzige, wegen der wir uns Sorgen machen müssen.« Jane sah ihn. »Wie meinst du das?« »Du weißt, dass es im Laufe der Jahre immer wieder gewisse Gruppierungen gab, die versucht haben, unsere Art auszulöschen.« Jane erschauerte. Sie kannte die Leute, von denen Byron sprach, nur zu gut – berühmt-berüchtigte Persönlichkeiten, deren besondere Fähigkeiten dazu geführt hatten, dass man sie als Vampirjäger rekrutiert hatte. Ein Name 340
im Besonderen fiel ihr ein, und instinktiv fuhr sie ihre Fangzähne aus, als sie an das letzte Zusammentreffen mit dieser Frau dachte – und an den Geschmack ihres berüchtigten coq au vin. »Natürlich weiß ich das«, sagte sie. »Es gab in letzter Zeit verstärkte Aktivitäten«, sagte Byron. Seine Stimme klang nun sehr besorgt. »Gerüchte eines Wiederauflebens. Der Zwischenfall mit Charlotte könnte … Konsequenzen haben. Besonders jetzt, da du im Rampenlicht stehst.« »Na wundervoll«, seufzte Jane. »Es wäre klug, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten«, fuhr Byron fort. »Wir können Dinge tun – du kannst Dinge tun – von denen du dir keine Vorstellung machst. Du hast gerade mal eine leise Ahnung von den Möglichkeiten, die uns offenstehen.« »Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Jane. »Du wurdest nie unterwiesen«, sagte Byron. »Du hast so viele Jahre die Gesellschaft deiner Artgenossen gemieden, dass du nicht einmal weißt, was du bist.« Jane sah ihm ins Gesicht. Er sagt die Wahrheit, dachte sie. »Ich kann dich unterweisen«, sagte Byron. »Wenn du mich lässt.« »Ich wusste es«, sagte Jane. »Zum letzten Mal, ich werde nicht mit dir fortgehen.« »Darum bitte ich dich doch gar nicht«, antwortete Byron. »Ich könnte hierbleiben.« »Hier?«, wiederholte Jane. »Nicht hier«, sagte Byron und nickte in Richtung des Hauses. »Aber hier in Brakeston.« »Bist du wahnsinnig?«, fragte Jane. »Wahrscheinlich«, sagte Byron. »Aber es ist an der 341
Zeit, dass ich ein paar Dinge wiedergutmache, und ich kann damit anfangen, dass ich dir zeige, was alles in dir steckt. Außerdem habe ich ja ein Haus hier.« Jasper, der jeden Busch im Hof markiert hatte, kam zu ihnen gerannt. Byron bückte sich, um ihn zu streicheln, aber Jasper knurrte. »Er hat mich noch nie gemocht«, sagte Byron. »Er besitzt eine gute Menschenkenntnis«, sagte Jane. »Ich werde gehen, wenn du das willst«, sagte Byron. »Das schwöre ich dir. Aber bitte überleg dir mein Angebot.« Jane wollte ihm gerade sagen, dass er verschwinden sollte. Ihn ein für alle Mal loszuwerden, würde alles so viel einfacher für sie machen. Dann aber dachte sie darüber nach, was er ihr anbot. Was sind das für Dinge, die ich tun kann?, fragte sie sich. Gehörte zum Untot-Sein mehr, als einfach nur untot zu sein? »Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie rasch, bevor sie ihre Meinung ändern konnte. »In der Zwischenzeit halte dich von Lucy fern. Ich nehme an, du hast schon bemerkt, dass sie nicht wirklich eine von uns ist.« »Das habe ich in der Tat«, sagte Byron. »Aber es war ein geschickter Schachzug von dir.« »Danke«, sagte Jane. »Aber ich meine es ernst – halte dich von ihr fern.« »Was, wenn ich dir verspreche, sie nicht zu verwandeln?«, fragte Byron. »Ich muss sagen, sie ist mir ans Herz gewachsen. Sie ist eine wirklich aufgeweckte junge Frau.« »Bring mich nicht dazu, es mir anders zu überlegen«, drohte Jane. »Jetzt geh. Morgen reden wir weiter.« Byron nickte zum Abschied und verschwand wieder in den Schatten. Jane trieb Jasper zurück in die Küche, wo 342
er hielt, um etwas zu trinken. Jane ging weiter ins Wohnzimmer. Erst als sie Walter dort sitzen sah, fiel ihr wieder ein, dass sie vor etwas davongelaufen war, bei dem es sich nur um schlechte Nachrichten handeln konnte. »Das war aber ein langes Geschäft«, bemerkte Walter. »Nicht wahr?«, fragte Jane. Sie war ziemlich durcheinander, und sie konnte kaum noch klar denken. Er wird mich abservieren, dachte sie. Sie setzte sich und legte die Hände in den Schoß. Sie wagte es nicht, nach Walters Hand zu greifen, aus Angst, dass er sie von ihr wegziehen könnte. »Wie ich schon sagte«, begann Walter. Er räusperte sich. »Das fällt schwerer, als ich gedacht hätte.« »Du brauchst nicht –«, begann Jane. »Oh doch«, sagte Walter. »Ich hätte das schon vor langer Zeit sagen sollen.« Janes Herz raste wie wild. Sie fühlte sich ganz plötzlich nicht mehr wie eine Frau von zweihundertdreiunddreißig, sondern wie ein achtzehnjähriges Mädchen. Alle die vielen Jahre der Erfahrung waren in einem einzigen Augenblick wie weggewischt. Alles bisher Erlebte zählte nicht länger. Walter würde ihr das Herz brechen, so als ob es zum allerersten Mal geschähe. »Ich liebe dich«, sagte Walter. Jane starrte ihn an. Was hat er da gerade gesagt?, fragte sie sich selbst. »Ich weiß, dass du das nicht hören willst«, sagte Walter. Er sprach schnell und stolperte mit einer für ihn untypischen Nervosität über seine Worte. »Ich weiß, dass ich dich damit wahrscheinlich verschrecken werde. Aber es ist die Wahrheit, Jane. Ich liebe dich wirklich. Und wenn dir das Angst macht, dann kann ich auch damit leben, wenn –« 343
»Ich liebe dich auch«, fiel Jane ihm ins Wort. Er sah sie lange Zeit an. »Ist das dein Ernst?« Jane nickte. »Mein völliger Ernst«, wiederholte sie. Walter öffnete seinen Mund, dann schloss er ihn wieder. Er wiederholte das einige Male. »Du siehst aus wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, wenn du das machst«, zog Jane ihn auf. »Ich habe Angst, aufzuwachen, wenn ich etwas sage«, sagte Walter. Jane nahm seine Hand. »Du wirst schon nicht aufwachen«, sagte sie. »Es sei denn natürlich, du meinst morgen früh in meinem Bett.« Walter stand auf und zog Jane in die Höhe. Er nahm sie in die Arme und gab ihr einen langen Kuss. Sie blickte ihm in die Augen und sah dort alles, was sie sich ersehnt hatte. »Jane Fairfax«, sagte Walter. »Willst du mir vielleicht ein unmoralisches Angebot machen?« »Ja, Walter Smith«, sagte Jane. »Das ist genau das, was ich vorhabe.« Walter küsste sie noch einmal. »Das wurde auch Zeit«, sagte er, nahm sie bei der Hand und führte sie zur Treppe nach oben.
344
345
346