C.H. GUENTER
KILLER,
TOD UND
TEUFEL
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG,
7550 RASTATT
1.
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C.H. GUENTER
KILLER,
TOD UND
TEUFEL
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG,
7550 RASTATT
1.
In dem Andendorf am Rio Maconor wartete eine Indianerin auf ihre Stunde. Das Kind kam zwei Wochen zu spät. Eigentlich sollte es schon an Pfingsten geboren werden. Aber es wurde doch Juni, südamerikanischer Herbst. Im Jahr 1863 herrschten zufällig keine Revolution und kein Krieg. In den Städten wurde nicht geschossen und auf dem Lande nicht geplündert, als es seinen Kopf aus dem Mutterleib schob. Dafür schrie die Hebamme wie beim Anblick eines Ungeheuers: „Madonna! Santa Madonna! Hilf uns Verlorenen! Hilf mir und der Wöchnerin!“ „Diablo, was ist los?“ fragte der Kindsvater aus dem Wohn raum der indianischen Bauernhütte. „Madonna Santa! In dreißig Jahren als Hebamme habe ich das nicht gesehen. Und sie wird es nicht überstehen, nie im Leben.“ Der Indio nahm seine Machete von der Wand und drückte sie der Hebamme in den Hintern und drohte: „Wenn meiner Frau und dem Nino etwas passiert, dann schicke ich dich zur Hölle, Comadrona.“ Die Hebamme tat, was sie konnte. Ein Arzt war sieben Reit stunden entfernt, also mußte sie allein zurechtkommen. Aber wie sie das Kind aus dem engen Becken der Schwangeren herausbekommen sollte, wußte sie nicht. Verzweifelt faßte sie hinein, zog, zerr te und riß, bis es auf der Welt war und schrie. „So was von einem Kopf“, sagte die Hebamme erschöpft. „Wie ein Pferd.“ Der Kopf glich mehr einem Kürbis. 3
Der Vater glaubte, daß das normal sei bei Neugeborenen. „Wir nennen ihn Pedro Maria Salvatore nach seinem Groß vater“, entschied der Indianer. Der Junge wurde erst im Dezember getauft, denn die Kirche hatte noch immer keinen Priester. Der letzte und der vorletzte waren erschossen worden. Im Laufe des nächsten Jahres wuchs Pedro Maria Salvatore nur mühsam heran. Mit achtzehn Monaten konnte er noch nicht laufen. Er fiel immer um, denn sein Kopf war zu schwer. Aber er konnte sprechen und Unterhaltungen führen wie ein Erwach sener. Er sang alle Lieder, und es war ein Wunder – er konnte sogar die Bibel lesen. Der neue Priester besuchte ihn oft und gab ihm andere Bü cher. Eines über Religion, eines über Sprachen, Französisch und Englisch, und eines über Mathematik. Bald stand fest, daß P.M.S. die Bücher nicht nur auswendig konnte, sondern auch ihren Sinn verstand. Der Knabe hatte übernatürliche Gaben und Kräfte. – Er wußte vorher, wann Regen kam oder Hitze und Trockenheit. Er sagte voraus, daß der Fluß die Brücke wegschwemmen würde, und rettete da durch mehreren Hirten das Leben. Und er sagte auch den Tod seines Vaters voraus. – Im Winter wurde er von hungrigen Wölfen angefallen. – Als P.M.S. so berühmt wurde, daß sie aus allen Teilen des Landes zu ihm pilgerten und ihn wie einen Heiligen zu vereh ren begannen, da starb er. Von einem Tag auf den anderen. Er legte sich am Abend hin und wachte am Morgen nicht mehr auf, als sei seine Mission auf Erden beendet. Der Priester zeichnete sein kurzes Leben von genau neun hundertneunundneunzig Tagen auf. Der Bericht ging nach Lima zum Bischof und ve rschwand dort in den Archiven. Er blieb Geheimnis des Ordinariats, bis 4
er einhundertzwanzig Jahre später einem jungen aufgeschlos senen Sekretär in die Hände fiel. Er leitete eine Kopie davon nach London weiter. Und zwar zur Psychiatrischen Fakultät der Medizinischen Universität.
In den Jahren zwischen Tschiang Kai-schek und Mao Tse-tung – es mochte um 1947 gewesen sein – litt China unter den Ver wüstungen der großen Revolution, und niemand wußte, wie sie enden würde. Nach wochenlangem Regen war der Gelbe Fluß über die Ufer getreten. Die Reisernte war verfault, es herrschte Hun gersnot, und das Fieber raffte Zehntausende dahin, als SihintiPong seine hochschwangere Frau über den Yang zur nächsten Sanitätsstation ruderte. Die Hebamme hatte eine schwere Geburt vorhergesagt. Es wurde der komplizierteste Kaiserschnitt, den der Militärarzt in Hunghoi je durchgeführt hatte. Der Säugling kam mit einem zeppelinartigen Schädel zur Welt. Bald jedoch nahm der Schädel die Form einer Birne an. Ganz einfach dadurch, daß der Zeppelin sich hinten verdickte. Den dünneren Teil vorn bildete die Nase, darunter ein schmaler Mund, darüber zwei Knopfaugen. „Und dieser lächerliche kleine Rumpf“, bemerkte einer der Ärzte. „Kaum Gliedmaßen. Welch eine Mißgeburt.“ „Er wird niemals gehen können.“ „Aber denken“, ergänzte der Oberstabsarzt. Die Oberschwester kam und berichtete, daß die Mutter des Kindes die Folgen der Operation – den Blutverlust, die allge meine Schwäche und das Wundfieber – wohl nicht überstehen werde. 5
Die Ärzte sahen sich die Wöchnerin an, deren Leben nur noch eine Rechenaufgabe war. „Vielleicht bekämen wir sie durch“, erklärte der Oberstabs arzt, „aber dann müßten wir den verwundeten Soldaten Blut übertragungen und Infusionen verweigern. Wir haben nicht genug Medikamente, eigentlich so gut wi e gar nichts.“ Es war Krieg, und Soldaten gingen vor. Also mußten sie die Mutter sterben lassen. Der Bauer begrub sie bei Regen und kaltem Wind drunten am Fluß. Dann wollte er mit seinem Sohn zurück in sein Dorf. „Das erlaube ich nicht“, entschied der Arzt. „Ehe du zu Hau se bist, ist er tot. Wir behalten ihn hier. Hier hat er Wärme, Milch und Versorgung. Du kannst ihn besuchen, wann du willst.“ Der Bauer ruderte nach Hause. Wenige Tage später sagte die Oberschwester des Feldlazaretts zu dem Chefarzt: „Auch hier gibt es keine Möglichkeit, ihn durchzubringen, Doktor. Vielleicht wäre es besser gewesen…“ „Ich weiß, was Sie denken, Genossin“, erwiderte der Arzt, „am besten wäre es gewesen, ihn neben seine Mutter ins Grab zu legen. Aber er ist ein Kapitode, Schwester, ein Kopfwesen. Die sind mehr aus der Mythologie als aus der Medizin bekannt. Deshalb bringen wir ihn mit dem nächsten Schub nach Tschunking. Verstehen Sie, dieses Kind ist eine medizinische Sensation.“ „Nein, das verstehe ich nicht, Doktor“, antwortete die resolu te Oberschwester. Das Kind ohne Namen kam per Schiff zur Medizinischen Universität der Provinz. Dort wurden die üblichen Messungen, Untersuchungen und Tests an ihm vorgenommen. Der Kapitode entwickelte sich mit animalischer Geschwi n digkeit. Zwar lernte er niemals gehen, er konnte nur sitzen, 6
aber mit seinen dünnen Fingern an den Stummelarmen brachte er erstaunliche Dinge zuwege. Er malte alles, was er in der Klinik oder draußen in der Stadt, wo man ihn spazierenfuhr, sah. Er behielt alles, was man ihm an Tönen, an Sprachen und an Bildern übermittelte, wie eine Tonfilmkamera. Er unterhielt sich mit den Ärzten und stellte Fragen, die bald niemand mehr zu beantworten imstande war. Mit vierzehn Monaten konnte er lesen und nahm binnen we niger Stunden den Inhalt ganzer Lexika auf. Besondere Fähig keit entwickelte er auf dem Gebiet der Logik. Wissenschaftler führten Diskussionen über mathematische und physikalische Probleme mit ihm. Er erläuterte ihnen die Funktion von UranPlutonium- und Wasserstoffbomben. Er stellte eine Theorie über Kernfusion auf, die so einfach war, daß die Experten sie nicht ernstnahmen. Und dann sagte er sogar das Ende des Krieges und die Flucht des Marschalls nach Taiwan voraus. Auch entwarf er ein sehr düsteres Zukunftsgemälde. Er be hauptete, die Menschheit stehe am Ende des Jahrtausends vor ihrem Untergang. Danach verfiel er in eine Art tiefe Depressi on. Als er aus ihr erwachte, war er fröhlich und heiter. Nach der Ursache dafür befragt, äußerte er große Zuversicht. Denn in etwa fünfzig Jahren würde einer seiner Brüder geboren, um der Erde eine ungeheure Veränderung zu bringen. Das war im Sommer des Jahres 1951. Wenige Monate vor Vollendung seines dritten Lebensjahres schlief der Kapitode eines Abends ein und erwachte nicht mehr. Er war genau neunhundertachtundneunzig Tage alt gewo rden. Er wurde obduziert. Sein Gehirn, an dem die Pathologen ge wisse Veränderungen fanden, kam als Präparat in ein Glasge fäß, wo es fortan in Spiritus schwamm 7
Der Sohn, der Don Vito Calabrese im Jahre 1969 in Palermo geboren wurde, war von solch abschreckender Häßlichkeit, daß die einflußreiche Familie ihn versteckt hielt. Der Säugling wurde nur im Park des Palazzo herumgefahren, und selbst dort nur in einem Kinderwagen mit zugezogenen Vorhängen. Die Amme, die ihn nährte, wimmerte stets vor Schmerzen, als würde ein Rudel hungriger Jungwölfe an ihrer Brust sau gen. Wenn sie ihn badete, mußte sie immer an eine riesige Kokosnuß mit verkümmerten Armen und Beinen denken. Donna Calabrese, die Mutter des Monsters, weigerte sich, ihm einen Namen zu geben und es taufen zulassen. „Er ist kein menschliches Wesen“, pflegte sie zu sagen. „Der Satan hat ihn uns in die Wiege gelegt.“ „Er ist von dir und von mir“, antwortete Don Vito dann sei ner Ehefrau. Sie war nicht schön, stammte aber aus dem Clan der Catane si. Mit ihr war Don Vito zum mächtigsten Paten der Amici dei Amici aufgestiegen. Im Grunde mußte er Donna Margherita recht geben, ihr Sohn war ein kleines Ungeheuer. „Man hat ihn mir untergeschoben“, jammerte sie, „irgendei ner von deinen Feinden. Gorillababys sind hübscher.“ „Nur können die mit acht Monaten nicht sprechen.“ „Unsinn, du hörst, was du hören willst, und nicht, daß er nur lallt.“ „Er ist mein Sohn. Basta!“ „Ein Wechselbalg.“ „Ich war dabei, als er geboren wurde.“ „Ja, im Nebenzimmer“, höhnte sie. „Bei dir waren nur der Arzt, die Hebamme und eine Kran kenschwester.“ „Dann haben sie das Monster eingeschmuggelt, in der Ta 8
sche, unter den Röcken. Oder…“ Sie blickte Don Vito böse an und sagte es so geradeheraus, wie sie, die einzige Tochter von Don Catanesi, immer alles sagte. „Oder du hattest die Syphilis von irgendeiner Hure.“ „Ich habe eine sehr schöne Tochter aus erster Ehe, vergiß das nicht.“ „Si, von einer Hure, die auch an Syphilis starb“, stichelte sie weiter. „Mamma mia!“ stöhnte Don Vito. „Du weißt, wie sie starb. Flugzeuge stürzen nicht wegen Syphilis ab. Außerdem habe ich mich untersuchen lassen. Wassermannsche Reaktion negativ.“ „Dein Arzt war bestochen.“ Sie diskutierten nicht weiter, verleugneten aber wie bisher die Existenz der Mißgeburt. Sie hatten die Mittel, das Schwe i gen über den Sohn nach außen hin aufrechtzuerhalten und durchzusetzen. Nur der Hausarzt kam immer wieder vorbei. Er untersuchte den Säugling und ging meist kopfschüttelnd. Eines Tages sagte er zu Don Vito: „Jetzt weiß ich es, er ist ein Kapitode.“ „Was ist das? Ein Großkopf?“ „Ein Kopfwesen.“ „Woher wissen Sie das, Dottore?“ „Aus Büchern. Alle fünfzig Jahre wird einer geboren. Sei es in Peru, in Grönland, in China. Sie sind mit rätselhaften Fähig keiten ausgestattet. Sie können hellsehen, ja sogar Materie beeinflussen.“ „Ist das wahr?“ strahlte der Mafioso plötzlich auf. „Nun, es steht geschrieben. Heute sind die Testmöglichkeiten natürlich ganz andere.“ „Er wird“, der Mafioso vermied das Wort Sohn, „er wird nicht getestet.“ Der Arzt zuckte mit der linken Schulter. 9
„Kapitoden durchrasen ein ganzes Menschenleben binnen weniger Monate.“ „Und dann?“ Der Arzt blieb die Antwort schuldig. Er kannte sie selbst nicht. Das Monster begann in den Sand zu malen, was es sah. Es bekam Buntstifte und Papier. Die Bilder, die es anfertigte, waren Fotografien seiner Umgebung. Es konnte deutlich nach sprechen, bald Gespräche führen. Es bekam ein Buch in die verkrüppelten Hände und lernte allein aus der Buchstabenfolge und der Wortlänge lesen. Fortan las es Tag und Nacht. Es schaffte die viele tausend Bände umfassende Bibliothek der Calabrese in wenigen Mona ten. Danach kam die Rechenphase, die Zeit der Diskussionen mit dem Arzt, später mit einem Priester und endlich mit einem Professor der Universität Palermo, einem umfassend gebildeten Mann, dem sich Don Vito anvertraute. Sein Sohn war ein Mon ster, aber ein geniales, und das machte ihn schon wieder stolz. Bald wurde allen klar, daß es ein Lebewesen dieser Art in Italien noch nie gegeben hatte. Zumindest war nichts davon verzeichnet. Don Vito, im Grunde ein einfacher Mann, glaubte an ein Wunder. Vielleicht hatte ihm das Schicksal mit diesem Mo n ster eine Botschaft in die Wiege gelegt. Einen Gesandten Got tes, einen P ropheten, einen Prototyp des Übermenschen. Das Monster sagte den Tod seiner Mutter voraus. Sie kam bei einer Raserei mit ihrem Ferrari von der Straße nach Trapani ab und verbrannte. Das Monster sagte voraus, daß es ein Seebeben geben würde und daß die Vulkane auf den Liparischen Inseln Asche und Lava speien würden. Es sagte voraus, daß der große Krieg, den die USA in Indonesien führten, bald zu Ende gehe. Es sagte 10
Schiffsuntergänge und Eisenbahnkatastrophen, den heißen Sommer und auch den extremen Winter vo raus, bei dem in Sizilien viele Menschen erfroren und die Wölfe aus den Abruzzen bis zu den Adriadörfern vordrangen. Es sagte das Ende der Zeit voraus, weil einer wie er käme und mit ihm die Welt vor einer ungeheuren Veränderung stehe. Eines Abends besuchte sein Vater ihn in der oberen Etage des Seitenflügels. Der Sohn musterte ihn aus den zwei Kokos nußlöchern und sagte: „Ich weiß jetzt alles, ich habe alles gesagt. Ich bin sehr müde, ich glaube, ich gehe bald fort.“ „Geh schlafen“, sagte Don Vito Calabrese ahnungslos. Das Monster, das Don Calabrese mehr geliebt hatte als ir gend etwas, erwachte nicht mehr. – Es starb, noch nicht ganz tausend Tage alt. 2. Mortimer Pittsburry arbeitete als Privatdozent an der medizini schen Fakultät der Universität von Edinburgh. Er hatte nur ein Ziel: Er wollte ordentlicher Professor in London oder Oxford werden. Darauf arbeitete er hin, und dafür hatte er sich einen For schungsbereich ausgespäht, der bisher nicht nur ve rnachlässigt, sondern glatt übersehen worden war. Die Kapitoden, auch Großköpfe oder Kopfwesen genannt, Mißgeburten, menschliche Monster, meist kurzlebig, aber mit unerklärbaren Fähigkeiten ausgestattet, wurden sein Spezialge biet. Seine Habilitationsschrift, in der Pittsburry sich mit allen in der Geschichte bekannt gewordenen Kapitoden befaßte, wurde vom Universitätsverlag Winther & Sons als Buch herausge 11
bracht und stark beachtet. – Allerdings auch stark belächelt. Dr. Pittsburrys Analysen und Vorträge über Großköpfe führ ten stets zu vehementen Podiumsdiskussionen, die in den Clubs dann weitergeführt wurden. Anläßlich eines Vertrages in Manchester nahm ein älterer Kollege Dr. Pittsburry auf den Haken und versuchte, ihn wie einen Fisch aufs Trockene zu ziehen. „Mortimer“, sagte er. „Ich habe Ihre Schriften und alle Arti kel, die Sie über die Kapitoden verfaßten, mit Interesse gele sen. Und ich muß sagen, Sie sollten Zukunftsromane schreiben. Sie haben das Zeug dazu. Diese sogenannten Großköpfe sind doch rein organische Mißgeburten ohne irgendwelche besonde ren Fähigkeiten. Ich möchte sogar behaupten, im Gegenteil. Kapitoden sind in der Regel geistig behindert. Lesen Sie mal bei Prof. Berenson nach. Er führt darüber genaue Statistiken.“ Dr. Pittsburry, um die Hälfte jünger als der Wissenschaftler, der ihn angriff – sein Haar war noch schwarz im Vergleich zu dem weißen des berühmten Kollegen –, schwieg erst einmal und faßte sich dann aus Bescheidenheit kurz. „In der Regel“, wiederholte er. „Sie meinen, es gibt Ausnahmen. Nun, in Ihren Veröffentli chungen kann ich keine Ausnahmen finden“, wurde er weiter angegriffen. „Alle Großköpfe, die Sie aufzählen, stammen aus Zeiten, die sich einer Kontrolle nach wissenschaftlichen Maß stäben entziehen. Sie waren Zeitgenossen von Gilgamesch, von Alexander dem Großen. Sie lebten in Rom zu Neros Zeit, im Mittelalter Friedrich des Staufers oder in der Hochrenaissance der Borgias.“ „Auch Luther beschrieb so ein Lebewesen“, erinnerte Pitts burry. „Er fand eine Bibelstelle.“ Allgemeines Gelächter war die Antwort. Einer zitierte: 12
„Sehet den Armen, der sein Brot teilte mit dem Bettler, und sehet nicht auf die Großköpfe, die goldene Zechinen im Te m pel wechseln. Also sprach der Herr.“ Mortimer Pittsburry spürte, daß man seine Theorien über die Kapitoden zum Ziel von Witzeleien machte, und erinnerte an den Peruaner Pedro Maria Salvatore. „Das war vor mehr als hundertzwanzig Jahren“, lautete die Antwort. „Aber die geheimen Dossiers der bischöflichen Kanzlei in Lima sind doch sehr nüchtern abgefaßt. Sie gelangten erst vor kurzem in den Besitz der Londoner Universitätsbibliothek.“ „O Gott!“ tat es einer ab. „Berichte von Priestern, katholi schen und obendrein noch südamerikanischen. Wie ernst, bitte, sind die zu nehmen?“ „Und die Untersuchungen der Universität in Tschunking?“ „Davon existiert nur die Abschrift eines Gedächtnisprotokol les. Das Original wurde im Krieg vernichtet.“ „Nicht aber das Präparat eines Kapitodengehirns.“ „Das auch das Gehirn eines Schweines sein kann.“ Es wurde viel getrunken. Die Diskussion war nicht mehr ernst zu nehmen. Als der Rauch von Pfeifen und Zigaretten im Clubraum so dicht wurde, daß man ihn nur noch mit Radar durchdringen konnte, empfahl Dr. Mortimer Pittsburry sich still und leise. Obwohl er mit seinen Forschungen kaum Anerkennung fand, arbeitete Pittsburry unverdrossen weiter und sammelte über Kapitoden alles, was er finden konnte. Die Hauptschwierigkeit dabei war, zu unterscheiden, wann es sich bei Neugeborenen um einen Organfehler und wann um einen echten Kapitoden handelte. Es gab keine zuverlässige 13
Methode, sogenannte Wasserköpfe von echten Kopfwesen zu trennen. Trotzdem erlangte Dr. Pittsburry auf diesem Gebiet der me dizinischen Forschung eine gewisse Berühmtheit. Mit mehr oder weniger brauchbaren Informationen bekam er Briefe aus aller Welt, Meist ging es um Falle von angeborenem Hydrocephalus oder auch Gehirnwassersucht. Die enormen Schädelvergröße rungen wurden durch die Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit zwi schen Gehirnoberfläche und der harten Hirnhaut ausgelöst. Aber eines Abends – Dr. Pittsburry saß noch in dem schma len Büro, das man Privatdozenten an der Universität einräumte – erhielt er einen Anruf, Ein Kollege aus Südafrika, ein einfacher Landarzt, sein Na me war Piet van Tillmans, wollte ihn sprechen. „Leichter“, sagte er in afrikaansgefärbtem Englisch, „ist Ihre Majestät die Königin zu erreichen, als ein berühmter Wissen schaftler.“ „Ich bin nur ein kleines Licht an der strahlenden Alma ma ter“, bedauerte der Engländer. „Daran liegt es wohl.“ Der Arzt aus Johannesburg, der das teure Ferngespräch aus eigener Tasche bezahlte, kam zur Sache. „Ich kenne jede Zeile, die Sie über Kapitoden geschrieben haben. Das heißt, soweit sie uns hier zugänglich sind.“ „Das freut mich.“ „Ihr Problem besteht darin, zu unterscheiden, was ein Hydro cephalus und was ein Kapitode ist.“ „Richtig“, bestätigte der Engländer. „Stammt die Deformati on des Schädels von Flüssigkeitsüberschuß unter der Pia mater oder in den Ventrikeln, ist es eine vermehrte Produktion von Liquor in Verbindung mit einer Behinderung des Abflusses, oder liegt ein echter Großkopf vor. Ein Kapitode mit all den 14
seltenen Fähigkeiten, die in den vergangenen viertausend Jah ren leider nur einige Male testiert wurden.“ „Ich kann Ihnen helfen“, erklärte der Südafrikaner schlicht. Pittsburry fragte vorsichtig; „Kennen Sie einen Fall?“ „Ich habe einen“, fuhr Dr. van Tillmans fort. „Schon seit zwei Jahren. Ich half ihm, auf die Welt zu kommen, und beo bachtete ihn seitdem.“ „Und es liegt keine eventuell von der Mutter erworbene Sy philis vor?“ „Ein echter Kapitode, glauben Sie mir, Kollege, mit den be kannten und noch weiteren ausgeprägten Fähigkeiten.“ Dem Engländer trocknete vor Aufregung der Rachen aus. Aber noch überwogen die Zweifel. „Liegt das Kind in einer Klinik?“ „Die Mutter würde es nie hergeben.“ „Staatliche Organe, bedrängt vo n Wissenschaft und For schung, gehen da meist recht brutal zu Werke.“ „Mein Kapitode ist ein Schwarzer. Ein Bantu. Er lebt mit seiner Mutter in einem Eingeborenenreservat, das ich persön lich betreue. Die Familie verschweigt seine Existenz. Dies aus Angst, aus Scheu, aus Ursachen, die mit dem alten Geister glauben zu tun haben.“ „Wie alt ist er?“ erkundigte Pittsburry sich. „Dreißig Monate.“ „Nach meiner Erfahrung überschreiten Kapitoden selten das dritte Lebensjahr.“ „Ich habe alles notiert“, versicherte der Arzt aus Johannes burg. „Darf ich Ihnen das Material zugehen lassen? Aber bitte, erwähnen Sie bei Veröffentlichungen meinen Namen nicht. Sie kennen das Regime hier. Sie würden gewiß ein Gesetz ausgra ben, wonach die Nichtmeldung der Sache bestraft werden 15
kann. – Oder sie machen schnell so ein Gesetz.“ „Sie können sich nicht vorstellen, wie aufgeregt ich bin“, ge stand der Engländer. „Ich werde keine Nacht mehr ruhig schla fen.“ „Die Notizen und Fotos gehen morgen mit Luftpost an Sie ab.“ „Dann habe ich sie bis Freitag“, rechnete Dr. Pittsburry und zögerte mit einemmal. „Nein, warten Sie, Tillmans! Wie wär’s, wenn ich mich in ein Flugzeug setzte und zu Ihnen käme?“ „Würde mich freuen.“ „Ich lasse zwei Vorlesungen ausfallen, nehme eine Woche Urlaub. Die paar hundert Pfund, die ein Flugticket kostet, krat ze ich noch zusammen.“ „Wann darf ich Sie erwarten?“ fragte der Anrufer.
Sie fuhren in Dr. Tillmans Landrover hinauf ins BotswanaTerritorium. Es war heiß, die Klimaanlage arbeitete nur ab und zu. Wenn sie funktionierte, dann strömte eiskalte Luft auf die Beine des Engländers. Aber meistens war es nur ein heißfeuchter Hauch. Auf dem Weg in das nördliche Grenzgebiet, das der Arzt viermal im Jahr besuchte, kamen sie durch Ebenen voll von roten Riesen-Protea. Es blühte bis zu den blauen Bergen hin. Jenseits der Berge begann die staubige, trockene Dornsavanne. Eine lange beschwerliche Reise. Immer wieder las der Eng länder bestimmte Stellen im Kapitoden-Bericht des Südameri kaners. Einmal schlug ihm der Landarzt kräftig gegen den Oberarm. Er deutete weit voraus. Die braunen Strohdächer eines Eingeborenenkrals lugten aus dem hohen Gras. Beim Näherkommen hoben die Frauen, die bei den Hütten arbeiteten, die Köpfe. 16
„Ist das ein Homeland“, fragte der Engländer, „ein abge sperrtes Gebiet?“ „Nicht hier, oben an der Grenze.“ „Sind das Bantus?“ „Alle Schwarzen werden Bantu oder Kaffern genannt. Bantu heißt Mensch, und Kaffer bedeutet ungläubig.“ Kinder mit Pennyflöten kamen ihnen entgegen. Der Doktor verteilte Bonbons. Am Rande des Krals hielt er und ging mit seinem Gast auf eine der Hütten zu. Aus ihrem Schatten trat eine Schwarze, hochgewachsen und selbst für europäische Begriffe sehr schön. Sie hatte etwas auf dem Arm, eingewi c kelt in bunten Kattun. Eigentlich bestand es nur aus einem footballförmigen Kopf mit zwei schwarzen Augen vorn und einem rosa Schlitz, dem Mund. „Das ist Mabaso“, stellte der Arzt vor. „Er kann nicht gehen. Sie muß ihn tragen, obgleich er schon zwanzig Pfund wiegt.“ Die schöne Bantufrau grüßte mit einem ängstlichen Lächeln im Gesicht. In dem Bündel bewegte sich etwas. Kleine, runzelige Hände, wie bei manchen Conterganmißbildungen oben am Schulterge lenk angewachsen, streckten sich heraus. Die Stimme war die eines alten Mannes. Indem er auf Dr. Pittsburry deutete, sagte er erst in Afri kaans, dann in Englisch: „Blondes Haar und helle Haut, Können sie auch Zepter und Krone mit in den Tod nehmen? Die Leichenträger schreiten zum Totenmarsch. Die Dunkelheit, sie wartet Auf dich, auf mich, auf uns alle.“ Der Engländer horte seinen Kollegen flüstern: „Ein Gedicht von S.V. Petersen. Er nannte es Conclusion. Mabaso kennt alle Gedichte von ihm, auch die von Campbell, 17
Roy Macnab, Butler, Delius. Den Roman In a Province von Laurens van der Post kann er sogar auswendig.“ Pittsburry löste sich nur mit Mühe von dem stechenden Blick des Kapitoden. Sie gingen ins Haus. Dort glühte ein Feuer. Sie bekamen Tee zu trinken. Der Tee schmeckte bitter. „Wir haben keinen Zucker“, bedauerte die Bantufrau. Doch das Lebewesen auf ihrem Arm sagte: „Was redest du. Der Tee ist, wie er sein soll.“ Der Engländer schlürfte noch einmal. Und wie durch Zauber war der Tee von mindestens drei Stück Würfelzucker gesüßt. Pittsburry blickte den Kollegen an. Der untersuchte Mabaso, um dem Besuch Routinecharakter zugeben. Aber das frühreife Genie wußte längst, worum es Er begann, über Tagespolitik zu sprechen, über die Unruhen in Traansvaal, im Zululand, über die Apartheid, über Mandela, den Freiheitskämpfer, und die Dummheit „Politik ist eine Schmierenkomödie“, sagte er, „aber ohne Beifall.“ „Von einem echten Dichter.“ „Aber keinesfalls von Shakespeare.“ Mabasos Haut war glatt wie poliertes, hellgebeiztes Holz. Wenig später geschah etwas Merkwürdiges, etwas Unglaub liches. Der Engländer hielt es zuerst für Zauberei. Sein südafri kanischer Kollege stippte eine Zigarette aus dem Päckchen, steckte sie in den Mund und suchte nach Feuer. – Er hatte die Streichhölzer im Wagen. – Der unförmige Kapitode schien es zu bemerken und sagte: „Warum rauchst du nicht, Doktor? Deine Zigarette brennt ja längst.“ Und so war es. Dr. van Tillmans saugte an der Zigarette, und sie glühte rot. Als habe ihn diese Demonstration zuviel Energie gekostet, schloß der Football die Augen und lag wie leblos auf dem 18
Strohpolster, auf das seine Mutter ihn gebettet hatte. Mit einemmal erwachte Mabaso wieder und sagte: „Regen wird kommen.“ „Nicht eine Wolke ist gemeldet“, erwiderte der Arzt „Ja, aus Westen, aber der Regen kommt aus Osten.“ „Das passiert nur alle zehn Jahre einmal, Mabaso.“ „Heute nacht schon.“ Die Besucher blickten sich an und wußten, was es bedeutete. Mabaso, das Monster, drängte sie zu eiligem Aufbrach. „Wir dürfen dich wiedersehen?“ fragte der Engländer. „Sooft ihr wollt.“ „Ich möchte dich näher kennenlernen, Mabaso.“ „Bringt ruhig eure Geräte mit“, erlaubte er. „Denn was euch interessiert, ist die dunkle Seite des Mondes.“ Er hatte bewiesen, daß er von erstaunlich vielen Dingen et was verstand. Nicht nur, daß er mehrere Sprachen beherrschte, er hatte die Intelligenz und das Wissen eines erwachsenen gebildeten Mannes. Und er hatte offenbar Einfluß auf die Ma terie. „Aber, Gentlemen“, sagte er, als sie schon im Begriff waren zu gehen. „Die Rückseite des Mondes ist weit weniger rätsel haft als die sichtbare. Das Rätsel von uns Kapitoden ist nicht lösbar. Nicht im Sommer, nicht im Winter, nicht in hundert Jahren.“ Doch plötzlich hielt er inne. „In zwanzig Jahren vielleicht wird ein Kapitode geboren und die Welt weiterbringen. Wohin – ich weiß es nicht. Ist es eine positive Veränderung oder eine katastrophale? Doch glaubt mir, er wird kommen. Er ist schon auf dem Weg.“ „Versuch, etwas über ihn herauszufinden“, bat van Tillmans. Der rosa Schlitz unter den Atemlöchern versuchte zu lächeln. 19
„Dazu bleibt mir keine Zeit“, bedauerte Mabaso. „Ich fahre bald heim zu meinen Brüdern.“ „Dazu besteht kein Anlaß. Du lebst hier sicher, und du bist gesund, Mabaso.“ „Nein, wir sind wie überdrehte Motoren. Wir laufen zu schnell und halten nur ein kurzes Rennen lang.“ „Keine Sorge, Mabaso.“ Der kleine Mensch winkte mit den Händen, als sei es ein Ab schied. „Keiner von uns wurde älter als tausend Tage“, sagte er und hielt inne. „Nein, stimmt gar nicht. Einer lebt schon seit zehn mal tausend Tagen.“ Die Mediziner tauschten verstohlene Blicke. „Einer wie du?“ fragte der Südafrikaner. „Mein Bruder.“ „Er lebt heute noch?“ „Ja, weit im Norden.“ „Wo im Norden? Wie ist sein Name?“ „Wie der seines Vaters. – Oder etwa wie der seiner Mutter?“ „Und wer ist sein Vater?“ „Sein Vater ist mein Vater, und mein Vater ist tot.“ Er schloß die Augen und verfiel wieder in Trance. Sie gingen und fahren nach Johannesburg zurück. Sie schwiegen lange. Endlich fragte Pittsburry: „Sprach er in einer Vision, oder hat er wirklich einen Bru der?“ „Keine Ahnung.“ „Warum ist er so hellhäutig?“ „Sein Vater war Europäer. Er mußte aus irgendeinem Grund fliehen. Er kam aus Deutschland und nahm eine Schwarze zur 20
Frau. Was nicht nur nach unserem Gesetz, sondern auch nach dem der Bantu verboten ist. Er schwängerte sie und wurde eines Tages auf der Jagd erschossen. Sie fanden seinen Kopf auf einem Baum, seinen Rumpf in einem Sumpf, seine Glieder verstreut in der Savanna.“ „Dann kam er verdammt nicht großartig dabei weg“, be merkte der Engländer viele Meilen später, als sie die Berge schon hinter sich hatten. „Vermutlich kam er schon in seiner Heimat verdammt schlecht weg. Wäre er sonst abgehauen?“ „Immerhin zeugte er einen Kapitoden.“ Der Südafrikaner lenkte den bocksteif gefederten Landrover vom Buschland auf die ausgebaute Straße und konnte jetzt in die oberen Gänge schalten. Der Motor war sofort leiser. Sie brauchten nicht mehr zu schreien, um sich zu unterhalten. „Einen Kapitoden?“ fragte van Tillmans stirnrunzelnd. „Mabaso ist einer“, bestätigte der Engländer. „Einen Kapitoden nur?“ fragte van Tillmans noch einmal. „Warum nicht zwei…?“ Dr. Pittsburry dachte lange nach. „Sie glauben also…“ „Vielleicht“, äußerte der einfache Landarzt. Noch vor dem Regen erreichten sie Johannesburg. Ihre Absicht, das Bantudorf noch einmal zu besuchen, war nicht durchführbar. Durch das Radio erfuhren sie, daß Auf ständische, Stämme aus Namibia, die Kalahari durchquert und alle Dörfer an der Grenze angegriffen und zerstört hatten. Un ter anderem auch den Kral, in dem der Kapitode Mabaso lebte. Die Hütten waren verbrannt und alle Bantu getötet worden. Nicht einmal ihre Hühner und Ziegen hatten die Mordbrenner verschont. 21
3.
Für eine Organisation wie den Nachrichtendienst der Bundes republik Deutschland stellte die Sache einen Witzauftrag dar. Deshalb wurde sie anfangs auf privater Basis abgehandelt. Das war einige Wochen bevor sie sich zu einem Problem auf schaukelte, das nicht nur die Europäer, sondern auch die Ame rikaner, die Russen und darüber hinaus den Rest der Welt be schäftigte. Alles begann mit einem Brief. Er war völlig unzureichend an Mister Robert Urban, Mün chen/Germany adressiert. Dank der Tüchtigkeit der Bundespost und der für solche Sendungen zuständigen Abteilung erreichte der Brief seinen Empfänger. Eines Morgens fand der BND-Agent Nr. 18 ihn im Briefka sten jenes Gebäudes im Stadtteil Schwabing, dessen dritter Stock sein Penthaus trug. Urban hatte es eilig. Er war zum Golfen verabredet. Eigent lich sollte er längst in Starnberg sein. Ehe er ihn einsteckte, warf er einen kurzen Blick auf den Brief. Nach Stempel und Marke zu urteilen, kam der Brief aus Edinburgh in Schottland. – Der Absender war ein gewisser Dr. Mortimer Pittsburry. Während Urban den Sack mit den Golfschlägern in den Kof ferraum seines BMW-Coupes warf, überlegte er. Mortimer Pittsburry. Ein Name, den man sich merkte. Er er innerte sich. Aber das Licht aus dem Dunkel leuchtete schwach wie eine Kerze in einer Eiszeithöhle. Ja, Pittsburry, so ein lan ger dünner Brite mit rötlich-blondem Bart. Er wirkte wie in der Mitte abgeknickt, wenn er ging. Auf irgendeiner NATO-Tagung hatte er über irgendein The ma referiert. Der Tagungsort und das Thema würden ihm erst 22
einfallen, wenn er ernsthaft darüber nachdachte. Nur, daß sie später in der Bar noch einen gezwitschert hatten, das war Ur ban noch präsent. Wichtiger war es, so bald wie möglich durch die Stadt zum Club hinauszukommen und der Dame zu erklären, warum er sich verspätet hatte. – Die Wahrheit, daß er wegen einer ande ren Dame verschlafen hatte, mußte er verschweigen. Dies ebenso, wie er der anderen vorgeflunkert hatte, er müßte ins Hauptquartier. Das einzige, was stimmte, war seine Fahrtrich tung, nämlich Süden. Es war immer so im Leben. Man geriet in die Klemme, wenn man bei allen der liebe Junge sein wollte. Man konnte es nicht mit der einen treiben, ohne es sich mit der anderen zu verder ben. – Aber die eine war zu sensationell, als daß er sie aufge geben hätte, und die Lady am Golfplatz war ein Neuzugang. Blond, kühl, sophisticated. Keine heißblütige Tangotänzerin, aber auch nicht völlig reizlos. Von den drei Ausreden brauchte er nicht eine einzige. Die Lady saß auf dem Hocker der Bar des Hauses des Clubs, der der Bank gehörte, die wiederum ihr gehörte und süffelte schon in aller Frühe Champagner. Umgeben war sie von drei smarten Burschen. Alle in picobello Golfdreß. In seinen ausgelatschten Golfschuhen kam Urban sich regelrecht asozial vor. Und wenn er erst an die Porsches, Ferraris, Mercedes SL und Rolls dach te, unter die er seinen Trommelfeuer-BMW gemischt hatte, dann wurde ihm fast schlecht. Er hoffte nur, ungesehen wieder verduften zu können. Die Lady tat so, als bemerke sie ihn nicht. – Fabelhaft, pri ma, molto bello. – Aber einer ihrer Lackaffen entdeckte ihn. Er holte ihn ein, umarmte ihn, als hätten sie schon zusammen Tresore ausgeraubt, und zog ihn an die Bar zurück. Die kühle Blonde – sie erinnerte Urban an das Bier, das sie 23
in ihrer Brauerei herstellte – übersah ihn weiterhin. Und er sie. Sie drehte ihm den Rücken zu, während er sich mit diesen professionellen Nichtstuern unterhielt, die lediglich in der Lage waren, kleine weiße Gummibälle mit relativ wenig Anstren gung in relativ viele Graslöcher zu putten. Sie diskutierten so angeregt über nichts, daß sie die Lady völlig vergaßen. Bis sie ihm den Finger ins Kreuz stieß und sagte: „Dachte, wir seien zum Sport verabredet, Urban.“ Er leerte den Drink. „Habe Sie was gefragt, Urban.“ Er stellte das Glas weg. „Okay, gehen wir!“ Er war nicht mehr so scharf auf sie wie bei der Party letzte Woche. Und sie würde ihn soundso fertigmachen. Irgendwie war der Zauber fort. Oder er hatte noch die Tangotänzerin in den Gliedern. „Okay, dann gehen wir“, sagte sie. Draußen wartete ein Junge, der ein Gestell mit Rädern zog, auf dem ihr Sack mit den Schlägern lag. Urban trug seinen. Er war so schäbig wie die Schläger. Aber nicht vom häufigen Gebrauch, sondern vom Herumliegen im Keller. Sie schlenderte vor ihm zum ersten Loch – oder hieß es Ab schlag? – Dabei wippte ihr Apfelhintern unter dem weißen Rock. Sogar die Beine wirkten elegant, trotz der verunstaltenden Golfschuhe. Sie legte sich den Ball zurecht, nahm Maß, holte mit einer fabelhaft unnatürlichen, aber zünftigen Körperdrehung aus und schlug. Der Junge zog los in Richtung Loch Nummer zwei. Und sie musterte Urban aus ihren quellfrischen blauen Augen. Er wußte, was sie dachte. – Wie der Typ bloß ausschaut. Un rasiert, ungekämmt, dazu dieses freche Grinsen, der unve r 24
schämte Blick, der einem erst den BH, dann den Slip auszieht. Und das völlig ungolfmäßige Outfit. Dunkle Hosen, Glen checksakko, ein blaues Hemd, aber reichlich zerknittert. Er muß es schon gestern getragen haben. Und dieser Schlips, ohne Muster, gewirkt auch noch. Ein Abschleppseil ist das, aber keine Krawatte. Doch irgend etwas mußte sie an diesem Halunken gefunden haben, etwas, das sie bei anderen vergebens gesucht hatte. „Stimmt was nicht?“ fragte Urban und schlug lustlos. Sie spielte ihn in Grund und Boden. Sie verbügelte ihn regel recht. „Sie können es nicht mehr“, stellte sie irgendwann einmal zwischen dem x-ten Grün und dem Sandloch fest. „Ich war nie besser als heute, Gnädigste.“ „O Gott, und mit so was läßt man sich ein.“ Eigentlich war es ihre Einladung gewesen. Zu allem hätte er sie aufgefordert, aber nicht, mit ihr auf den Golfplatz zu gehen, wo er wußte, daß sie im Herbst die Nationale Mutter-, Tantenoder Schwestern-Meisterschaft gewonnen hatte. Beim nächsten Abschlag sagte sie: „Sie müssen sich konzentrieren, Bob.“ „Bei Ihrer Gegenwart? Unmöglich.“ Sie seufzte tief. Das weiße Polohemd spannte, sich so sehr über dem nackten Busen, daß der Alligator – oder war es nur ein Krokodil? – das Maul aufriß. „Das war kein Kompliment.“ „Nein“, sagte er. „Sie können Ihren Job nicht vergessen, Robert.“ „Und mein Job kann mich nicht vergessen.“ Plötzlich dachte er an den Brief in der Tasche. „Sie mögen Golf nicht“, erklärte sie. Wenn sie ging, entstand eine Parfümwolke hinter ihr. 25
Er blieb dort, wo die Strömung verwirbelte, stehen, atmete tief und dachte an ihren nackten Hintern. Ob er so zartbraun war wie ihr Hals, und ob ein Ei, wenn man es auf ihren Hintern fallen ließ, zerbrach oder weghüpfte – oder in der Spalte stek kenblieb? Er trat unversehens in ein Loch. „Verdammter Golfplatz!“ fluchte er. „Das dachte ich auch, als ich noch keinen eigenen hatte.“ Als sie so weit voraus war, daß er sie nie mehr einholte, und sie merkte, daß er keine Lust mehr hatte, stieß sie das Eisen in den Schlägersack und zog die Golfhandschuhe aus. „Schluß der Vorstellung. Mit inkompetenten Leuten macht es keinen Spaß.“ Er pflichtete ihr bei. „Was auch immer.“ Ich brauche das“, gestand sie. „Ihre Ideale sehen eben anders aus.“ „Nicht arbeiten“, gestand er, „wenig denken, keine Bewe gung.“ Ihr Blick drückte aus, daß sie ihm kein Wort glaubte. Oben im Clubhaus umfing sie wieder der Schwarm von Hei ratsschwindlern. Urban trug den alten Schlägersack zu seinem alten BMW, und der alte Motor donnerte in den alten Auspuff. Das war, dachte er, ein sogenannter verlorener Vormittag. Damit der Rest des Tages ausgefüllt war, fuhr Urban im Hauptquartier in Pullach vorbei und arbeitete im Büro am Schlußbericht des König-Salomon-Falles. Er wollte gerade den Brief aus Schottland Öffnen, da kam der Alte herein. Oberst i.G.a.D. Sebastian hatte irgendeine Nebensächlichkeit, die er für weltbewegend hielt. 26
Urban schob den Brief wieder in die Sakkotasche. Dann machte er die Biege. Sc hon um 16.00 Uhr. – Das bedeutete, daß sein Saldo von elftausend Überstunden sich um eine ve r ringerte. Zu Hause duschte er, putzte die Zähne und spülte den ekligen Zahnpastakaugummigeschmack mit Bourbon runter. – Schade um den Whisky. – Dann pflanzte er sich hin, riß den Brief auf und las über die Tippfehler hinweg. Dear Robert Urbanewsky, Ich erinnere mich, daß ich Sie zu später Stunde so nennen durfte. Sie sind unter den Geheimdienstleuten der Größte, den ich kenne. Wie ich der Größte in der Kapitodenforschung bin, von der Sie gewiß nie etwas gehört haben. Es handelt sich, wie der Name schon ausdrückt, um Großköpfe. Um Menschen mit außergewöhnlichen angeborenen Fähigkeiten. Meist sind sie schon nach neunhundert Tagen zu kleinen Einsteins entwickelt und erleben selten den tausendsten Tag. Sie machen sich äu ßerst rar, alle fünfzig Jahre schaut mal einer vorbei. Die Spur zu so einem Kapitoden – den einzigen, der länger als tausend Tage auf unserer Erde weilt – führt nach Deutschland. Ich muß ihn finden. Können Sie mir helfen? Darf ich Sie anrufen? Dann bitte ich um Ihre Nummer. Herzlichst Ihr Mortimer Pitterburger Es war nicht mehr die Zahnpasta, es war der Brief, der in Ur ban eine besondere Mundsäure aufkommen ließ. – Ein schlech tes Zeichen. Er brauchte noch einen Doppelten. Dann zögerte er nicht mehr lange. Er würde nicht telegrafie ren; Urbanewsky an Pitterburger. Er würde einfach anrufen. Er wählte durch. 27
Schon beim ersten Mal Freizeichen. Ein Universitätsbüro, eine Sekretärin. – Nein, der Professor sei nicht im Hause. Urban hinterließ seine Nummer. Dann legte er auf. Bourbon Nummer drei. Der Türsummer ging. – Bitte, jetzt nicht, wo er sich so ge mütlich zuprostete. – Prost, Urban, mit dir trinke ich am lieb sten! Der Summer ging wieder. Er war sturer als Urban. Im Bademantel, mit nichts darunter, und Pantoffeln, latschte Urban durch die Halle, durchs Entree und öffnete. Es haute ihn fast um. Da stand die Königin der Banken und der Biere. Sie war rundum frisch onduliert, gebügelt, gelackt, hoch glanzpoliert, tipptopp rausgeputzt. Weißer Trenchcoat, Hermès-Schal, weiße Handschuhe. Sie lachte aus einem Perlmuttgebiß, so weiß, wie es eben zu Blonden paßte. „Frau Zimmermann.“ „Hallo!“ rief sie. „Gleichfalls.“ „Überrascht?“ „Nie.“ „Fein“, sagte sie. „Schläfst du mit mir?“ Er stand breitbeinig da, also federte er es gelassen ab. Jetzt?“ „Wann sonst?“ „Nur so?“ fragte er. „Und nicht anders.“ „Komm rein.“ Sie ging an ihm vorbei. Als er die Tür geschlossen und versperrt hatte, stand sie vor dem wandgroßen Barockspiegel im Entree. Ein abendfüllendes 28
Ereignis. Der Mantel und der Schal lagen am Boden. Sie hatte nur noch die Schuhe und die weißen Handschuhe an. Ihr Hin tern war so zartbraun wie ihr Rücken. Urban war sicher, daß man darauf ein Ei entzweischlagen konnte. Sie drehte sich um. Ihre Brust hatte rosa Spitzen, kleine, aber freche Dinger. Zwischen den Schenkeln wölbte sich ein ve r goldeter Hügel, den Pelz einen Millimeter kurz geschnitten. Sie umarmte und küßte ihn. „Ich habe nur einen Tick“, gestand sie. „Du tust es gern auf dem Teppich, am liebsten grün und golf rasenkurz.“ „Nicht nur“, flüsterte sie. „Aber ich lasse immer die Hand schuhe an.“ Wahrscheinlich hatte sie abgebissene Fingernägel. Dann fielen sie übereinander her, als wäre er ein irischer Te r rorist und sie eine britische Polizistin.
Sie hieß Elvira, fand den Namen aber zickig und ließ sich Vira rufen. Vira Zimmermann. Sie hatte keine abgebissenen Nägel. Beim Frühstück überleg te Urban, ob es lohnte, dem Handschuhtick auf den Grund zu gehen. Vielleicht lag es daran, daß sein Rücken ohne ihre Handschuhe wie nach einer Geißelung ausgesehen hätte. Zu mindest wie nach fünfundzwanzig Hieben mit der neun schwänzigen Katze. – Jetzt war sie anschmiegsam und lieb. Aber das würde sich rasch ändern, wenn die Batterie wieder aufgeladen war. Etwas von der Orangenmarmelade tropfte auf ihren linken Busen. Sie deutete erschrocken darauf, und er hätte es glatt weggelutscht, wenn nicht das Telefon gegangen wäre. 29
„He, Urbanew!“ Er sprach es aus, wie man New York aus sprach, nämlich Urbanju. „He, Pittyburger! Deinen Brief erhalten.“ „Danke für die Rückmeldung.“ „Was kann ich tun for you?“ „Störe ich?“ „Ein wenig. Macht nichts.“ Der Engländer faßte sich kurz. „Da treibt man einen lebenden Kapitoden auf, dann bringen ihn die Hottentotten um. Aber er hat angeblich einen Bruder.“ „Dachte, sie sterben alle in der ersten Maienblüte.“ „Das ist ja die echte Sensation. Sein Bruder soll dreißig Jahre alt sein. Der erste Kapitode der Geschichte, der je diese rätsel hafte Schwelle von tausend Tagen überwunden hätte. Wir gingen der Sache nach. Der Vater – er ist tot, starb an einem gespaltenen Schädel – war Deutscher, ein Auswanderer, ein Flüchtling. Muß ungefähr in den sechziger Jahren oder vorher abgehauen sein.“ „Name?“ „Sorry.“ „Schon mal ganz außerordentlich prima“, bemerkte Urban. „Kein Name, keine Stadt, was sonst noch nicht?“ „Doch, eine Stadt gibt es. Seine Frau, eine Bantunegerin, hat ihn gefragt, woher er komme. Er erwähnte immer wieder ein Wort, das mit einem Konsonanten hinten im Hals beginnt, sich zu einem vollen Ton verlängert und mit einem T vorne bei den Zähnen endet.“ „Na, sag’s schon, Pitterburger“, drängte Urban, denn Lady Zimmermann war aufgestanden und begab sich nackt hinaus zu dem Dachgarten-Pool. Und das irritierte Urban von unten her. „Konten“, probierte der Engländer. „Kanten, Chanten.“ „Käsekuchen“, ergänzte Urban. „Halslaut, Mundhöhle. Nein, 30
stopp! Kuchen hat keinen Vokal, der bei den Zähnen gebildet wird. Eine Stadt also. Wie war’s mit Heidelberg?“ „Spaßvogel, he! Der alte Komiker Urbanewsky,“ „Oder Xanten.“ Erst herrschte Pause, und dann der Jubelschrei. „Klar, Xanten! Es ist Xanten! – Und was bedeutet Xanten, bitte?“ „Eine sehr alte, schöne Stadt am Niederrhein. Regierungsbe zirk Düsseldorf.“ „Mit Menschen, die dort leben und arbeiten?“ fragte der Eng länder ironisch. „Und lesen und schreiben können?“ „Einige gewiß. Und wenn nicht, dann kennen sie Engländer, die das für sie erledigen. Besatzungsangehörige oder die von der Rheinarmee.“ „Nein, die können es auch nicht.“ Sie hörten auf zu witzeln. Urban hoffte, daß man mit diesen Daten, auch wenn sie noch so dürftig waren, etwas finden kön ne. Ein junger Bursche war um 1960 herum nach Südafrika aus gewandert. Da mußte es Anträge, Abmeldungen, wer weiß was geben. Vorausgesetzt, er war nicht bei Nacht und Nebel ab gehauen oder geflüchtet. – Daß es einen Bruder des Kapitoden geben sollte, fiel ihm ein. Vielleicht war der Vater verschwun den, weil er ein rheinisches Mädchen vom rheinischen Rhein geschwängert hatte. „Den kriege ich“, versprach Urban großspurig. Der Engländer hatte noch etwas. „Vielleicht war er Tischler von Beruf. In der Bantuhütte standen in der Ecke ein Stuhl, mehr ein Hocker, und ein Re gal.“ „Europäer sitzen beim Essen nicht gerne auf dem Boden“, bemerkte Urban. „Ruf mich an.“ 31
„Wann?“ „Übermorgen.“ „Wochenende. Da möchte ich nicht stören.“ „Urbanew ist für den alten Pitterburger immer zu sprechen.“ „Zu Gegendiensten und so weiter“, sagte der Engländer. Nachdem Urban aufgelegt hatte, stellte er sich die Preisfrage, wann, wie und auf welchem Gebiet ein mittlerer Spinner wie Pittsburry je in der Lage sein sollte, ihm einen Dienst zu erwe i sen… Er ließ den Hausmantel fallen, stieg aus den Latschen und sprang zu Elvira Zimmermann ins Bassin. Wie konnte eine Frau so frech, so schön, so geil sein und Zimmermann heißen? „Komm, Zimmermann!“ rief er. „Wer es auf dem Teppich mag und in Himmelbetten, der mag es auch unter Wasser.“ Sie versuchte, ihm zu entkommen, und reckte ihm ihren Hin tern hin. Aber so war es ihm auch recht. „Meine Handschuhe!“ schrie sie. „Die brauchst du so nicht.“ „Meine Handschuhe“, wimmerte sie lustvoll, „o ve rdammt… meine Handschuhe… ja, du wirst schon sehen, warum, du verfluchter Hundesohn, duhhhh…“ 4. Don Vito Calabrese widmete sich seinen Geschäften minde stens zwei Stunden täglich. Dabei ging es um Gespräche mit Bankiers, Finanzierungen betreffend, mit Direktoren der Stadtverwaltung von Palermo, Grundstücke und Baugenehmigungen betreffend, mit Ingenieu ren der Straßenbaubehörde, den Autobahnbau betreffend. Er sprach mit den Verwaltern seiner Güter über die Ernte an Wei 32
zen, Mais und Wein. Er sprach mit den Metzgern seines Schlachthofes über die Herstellung von Schinken und Salami. Er konferierte mit Disponenten seiner Reederei über die Ausla stung der Schiffe sowie den Neubau von zwei Containerfrach tern. Natürlich ging es auch um die illegalen Geschäfte wie Schmuggel, Prostitution, um die Verarbeitung, den Transport und den Handel mit Heroin. Doch betraf dies hauptsächlich seine Niederlassungen in den USA, die dort nicht Mafia, son dern Cosa Nostra hießen. Dieser Sektor von Don Vitos Geschäften war ziemlich ge heim und von den anderen abgeschottet. Dafür hatte er seine Strohmänner und Anwälte. Der Rest des Tages verteilte sich auf den Besuch bei einer seiner Freundinnen, auf gutes Essen, auf Jagdausflüge mit den Amici, Gespräche mit seiner Tochter und dem Studium von Literatur. Der Bericht eines Engländers faszinierte Don Vito schon seit Wochen. Erst war es nur eine kurze Notiz im Corriera gewesen. Ein gewisser Dr. Mortimer Pittsburry war in Südafrika auf ein Lebewesen gestoßen, das sich vom derzeitigen Menschen typus unterschied wie der Homo sapiens dereinst vom Nean dertaler. Daraufhin hatte Don Vito sein Sekretariat beauftragt, ihm al le von dem britischen Forscher veröffentlichten Artikel und Bücher zu beschaffen. Es gab sie nur in englischer Sprache. – Don Vito beherrschte sie einigermaßen. Nach dem Krieg hatte sein Vater ihn, zwecks Ankurbelung der Geschäfte, für mehrere Jahre nach New York beordert. Don Vito las also Dr. Mortimer Pittsburrys Schriften im Ori ginal. Sie faszinierten ihn so, daß er mit dem Wissenschaftler 33
Kontakt aufnahm. Das gelang ihm auf Umwegen. Er führte sich bei dem Briten ein, indem er erklärte, einen dieser seltenen Kapitoden in seiner Familie gehabt zu haben. Dr. Pittsburry, stets auf der Suche nach Quellen, zeigte sich zunächst aufgeschlossen. „Besitzen Sie Unterlagen, Sir?“ „Fotos, Amateurfilme und Tagebücher. Jede Phase wurde festgehalten, Professore.“ „Und“, fragte der Wissenschaftler an, „die würden Sie mir zur Verfügung stellen?“ Nun zögerte der Sizilianer. „Nun ja, das schon. – Sagen wir, im Austausch gegen gewis se Informationen.“ Das schien den Schotten mißtrauisch zu machen. „Informationen welcher Art, Sir?“ „Alles, was Sie über Kapitoden wissen, speziell deren Pro phezeiungen, was die Zukunft ab dem Jahr zweitausend be trifft.“ „Darüber wissen wir so gut wie nichts, Sir.“ Der Sizilianer, gewohnt, immer Erfolg zu haben, wenn er ei ne Sache in die Hand nahm, glaubte Pittsburry nicht und ve r hielt sich völlig falsch. „Und die Andeutung in Ihrer letzten Veröffentlichung? Ha ben Sie da nur geflunkert oder gar gelogen, um Interesse zu wecken, um Forschungsmittel loszueisen?“ Der Schotte blieb zunächst noch höflich. „Wovon sprechen Sie, Sir?“ „Von dem Kapitoden, den Sie in Südafrika fanden, der kurz danach angeblich starb und der angeblich einen noch lebenden Bruder haben soll, ebenfalls einen Kapitoden.“ Von einem ihm unbekannten Ausländer auf diese Weise an 34
gegangen, schnappte der Wissenschaftler endgültig ein. „Das alles befindet sich im Stadium der Ermittlungen, Sir.“ „Wenn es mehr als eine Zeitungsente ist, dann rücken Sie ge fälligst damit heraus, Doktor!“ Dieser Ton gab Mortimer Pitts burry den Rest. „Die Sache ist geheim“, erklärte er schlicht. „Wer behauptet das?“ „Ich.“ „Und wer berechtigt Sie, eine Sache, die von allgemeinem Interesse ist, als geheim zu behandeln? Dachte immer, Er kenntnisse der Medizin, der Forschung, die dem Nutzen der Allgemeinheit dienen, seien auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „ „Abgesehen“, schränkte der Schotte ein, „von Spekulationen auf die Zukunft. Denn nur darum, einzig und allein darum, geht es Ihnen. – Aber auch mich und meine Freunde beschäftigt dieses Problem. Und deshalb ist die Sache von hier ab topse cret.“ Nun versuchte der Sizilianer einzulenken. „Können wir uns treffen?“ fragte Don Vito. „Ich sitze leider an einer sehr schwierigen Arbeit“, wich der Schotte aus. „Ich schicke Ihnen mein Privatflugzeug.“ „Bedaure“, erklärte der Brite, jetzt kurz angebunden. „Sie hören von mir“, beschied Don Vito ihn. Er legte auf und begann, nach einer Serie sizilianischer Flü che, nachzudenken. Er war entschlossen, die Angelegenheit auf bewährte Weise zu erledigen. Dazu ließ er einen seiner zuverlässigsten Mitar beiter komme n. Er war mittelgroß, aber oben ziemlich breit gebaut, was dar auf schließen ließ, daß sein schwarzer Anzug nicht mit Watte, sondern mit Muskeln gepolstert war. Der etwa zwanzigjährige Mann führte den Clan-Namen Coltello, das Messer. „Du sprichst Englisch?“ fragte der alte Mafioso. 35
„Wie ich es in Manhattan gelernt habe.“ „Das genügt. Du mußt für mich nach Edinburgh.“ „Wohin immer Sie es befehlen, Patrone“, sagte Coltello.
Der Mafiakiller, der eher aussah wie ein Algerier, brauchte einen Tag, um von Palermo nach Edinburgh zu gelangen, und dann einen halben, um Dr. Mortimer Pittsburry ausfindig zu machen. Coltello hatte in der Universität angerufen. Dort hatte man ihm die Auskunft erteilt, Dr. Pittsburry sei verreist, käme aber am Abend zurück und sei mit Sicherheit bis Mitternacht in seinem Zimmer erreichbar. Der Mafioso wartete die Dunkelheit ab. Nebel wallten vom Firth of Forth herein, als ihn das Taxi von Newhaven nach Clinton brachte. Im mittelalterlichen Gebäudekomplex der vierhundertjähri gen Universität drang hie und da ein gelber Lichtschein aus einem Fenster. „Warten Sie!“ sagte der Italiener zu dem Taxifahrer. „Wie lange, Sir?“ „Halbe Stunde.“ Er bekam eine Zehnpfundnote, steckte sie ein und nickte nur. Der Sizilianer war am Mittag schon dagewesen und hatte beobachtet, daß man seitlich an der Pforte vorbei durch einen Nebeneingang ins Haus kam. Das Büro von Dr. Pittsburry lag im dritten Stock unter dem Dach in einer Mansarde des linken Flügels des Hauptgebäudes. Aus der Mansarde war Licht gefallen, und oben unter der Tür kam ebenfalls Licht durch. Also trat Coltello, ohne anzuklop fen, ein. Zimmer war zuviel gesagt, es handelte sich eher um eine 36
Kammer. An den Wänden waren Bücher gestapelt, auf dem Fensterbrett Akten, dazwischen ein Kocher und eine Teekanne. Den Rest des Platzes nahm ein Schreibtisch ein. Dahinter stand ein Stuhl, davor ein Hocker. Auf dem Schreibtisch herrschte Chaos. Schreibmaschine, Telefon, Ascher, Tasse, Papier, Pa pier, Papier. – Dieser Pittsburry mußte eines von den ganz kleinen Lichtern der Universität sein. Sekretärinnen hätten wegen eines solchen Arbeitsplatzes die Gewerkschaft alar miert. Der Wissenschaftler, ein Sitzriese, mager, mit rötlichem Bart, fahler Haut und blassen Augen, blickte nur kurz auf. Er war weder überrascht, noch stellte er eine Frage. Er schien zu wissen, wer der Besucher war und wer ihn schickte. Er deutete auf den Stuhl. Doch Coltello blieb stehen. „Das Material!“ forderte er so direkt wie die Faust des Bo xers, die mit einem Haken durch die Deckung des Gegners drang und traf. „Für Don Vito?“ fragte der Schotte. „Kluger Junge.“ Nun lächelte der Wissenschaftler. „War nicht schwer.“ Weil er dabei überaus lässig seine Pfeife stopfte, schlug der Besucher ihm ein schwarzes Stück Eisen auf die Hand. Es sah aus wie ein abgesägtes Wasserleitungsrohr und saß handlang auf einem dünneren Stück Rohr. „Gib es raus, Junge!“ forderte er. „Der Geheimdienst hat es“, erklärte Pittsburry. Das beeindruckte den Sizilianer überhaupt nicht. Erst räumte er eine Schreibtischkante frei, setzte sich dann darauf und faßte mit der Linken in die rechte Sakkoinnenta sche. 37
Er zog ein Bündel Banknoten heraus, links das Geld, rechts die Waffe mit dem Schalldämpfer, drohte er: „Zehntausend Dollar oder eine Kugel. Mit einem Gruß vom Boß.“ Kopfschüttelnd ließ Pittsburry sich gegen die Lehne seines Sessels sacken. „Ihr tickt wohl nicht richtig, ihr Spaghetti?“ Der Mafioso war für seinen Job ein wenig zu hitzig. Er preß te dem Schotten den Schalldämpfer unters Kinn und stopfte ihm die Banknoten in den Mund. „Die Unterlagen!“ forderte er. „Du weißt, welche.“ Keuchend spuckte Pittsburry die Banknoten aus. „Was, zum Teufel“, fragte er, „kann euch daran gelegen sein?“ Er sagte es ganz ruhig. Trotzdem merkte der erfahrene Ma fiakiller, daß es der Ablenkung vor einem Angriff diente. Schon kam die Reaktion des Schotten mit nicht erwarteter Schnelligkeit und sportlicher Kraft. Er zog das Knie an, und trat dem Sizilianer zwischen die Beine. Gleichzeitig holte er aus, um ihm einen Handkantenschlag gegen das Gelenk jenes Armes zu versetzen, der die Waffe hielt. Dabei drehte er sich weg, so daß der Lauf nicht mehr das Weiche unter seinem Kinn berührte. Doch nun zeigte der Lauf auf sein Herz. Außerdem löste der Angriff des Schotten am Zeigefinger des Sizilianers eine Mus kelreaktion aus. Der Finger betätigte den Abzug. Der Schuß fiel. Die Kugel fuhr Pittsburry mitten ins Herz. Er bekam für einen Moment große, leuchtende Augen, dann zuckte er mehrmals und sackte vornüber. Der Italiener suchte seinen Schreibtisch ab, nahm alle Noti zen mit, auch das Band im Diktiergerät, dann ging er. Das Taxi wartete noch. Durch den Nebel tastete es sich zum 38
Bahnhof. Der Mafiakiller nahm den ersten Zug, der nach Sü den ging. In Leeds erreichte er den Nachtschnellzug nach London, und in Heathrow konnte er einen Platz in der Frühmaschine nach Mailand buchen. Bevor er abflog, rief er in Palermo an. „Ich glaube, ich hab’s, Signore“, meldete er. „Er war also zugänglich?“ „Nein.“ „Dann mußtest du nachhelfen?“ „Er ist tot.“ „Bene, melior ehe niente“, sagte Don Vito. „Besser als nichts.“ Don Vito Calabrese fühlte sich nur in Sizilien oder in seinem Haus drüben auf der Insel sicher. Also sann er nach einer Mög lichkeit weiterzukommen, ohne sich von der Stelle bewegen zu müssen. Er rief seine Tochter an und bat sie zu einem gemeinsamen Abendessen in den Palazzo. Don Vito liebte den festlichen Rahmen. Der fünf Meter lange Refektoriumstisch im Speisesaal wurde mit rosa Damast und Silberleuchtern für zwei Personen gedeckt. Da Don Vito ein wenig fror, stellte der Diener den elektrischen Heizkörper im Kamin an. Mit der Pünktlichkeit, zu der sie erzogen war, kam Coralla. Mit ihren achtundzwanzig Jahren war sie nicht mehr so schlank wie ein Schilfrohr, aber jedes Gramm saß an der richtigen Stelle. Eine Venus, zu Fleisch geworden und in natürlicher Große. Da ihr Vater Hosen an Frauen wenig schätzte, trug sie ein 39
kleines schwarzes Abendkleid. Den spitzen Ausschnitt hatte sie durch eine Brosche verkürzt, das dunkle Haar glatt nach hinten gekämmt Ihre Bescheidenheit war es, die Don Vito an seiner Tochter schätzte, die Schönheit, die sich erst beim zweiten Blick offen barte, und ihre Intelligenz. Er küßte sie. Stumm nahmen sie die Vorspeise, ein wenig Melone, ein wenig Parmaschinken. Das erste Glas Wein löste dem alten Mafioso die Zunge. Er sprach von seinem Problem „Eine fabelhafte Geschichte“, sagte Coralla. „Aber beim hundertstenmal wird sie langweilig, Papa.“ „Es quält mich“, gestand ihr Vater. „Dein Sohn ist seit vielen Jahren dahin, Papa.“ „Du kennst seine Prophezeiung.“ „Worte eines Dreijährigen“, schränkte sie ein. „Eines Genies.“ Die Pasta, ein einfacher, jedoch höchst raffiniert komponier ter Nudelauflauf, Lasagne mit Meeresfrüchten, wurde serviert. „Coltello war in England“, führte Cora das Gespräch weiter. Der alte Patron hörte auf zu gabeln. „Du weißt es? Woher?“ „Ich bin deine Tochter.“ Sie führte immerhin zwei Drittel seiner Geschäfte. Zumin dest die legalen. „Da läuft eine neue Entwicklung“, deutete der Alte an. „Bis jetzt galt die Regel, daß Kapitoden nur tausend Tage leben. Angeblich existiert einer, der schon dreißig Jahre alt ist.“ „Und?“ fragte Cora erstaunt. „Er lebt zehnmal so lange wie seine Brüder.“ „Und das behauptet dieser schottische Professor?“ „Er war ein Idiot, der seinen Kopf nicht von seinem Hintern 40
unterscheiden konnte“, höhnte Don Vito, „aber auch ein Exper te. Wir haben es aus dieser Quelle.“ Nun gab es Geschäfte in der Familie Calabrese, von denen Cora zwar etwas ahnte, die sie aber nicht genau kennen mußte. Das hatte Zeit bis zum Tod ihres Vaters, bis zu dem Tag, an dem sie alles übernahm. Aber sie konnte den Alten nicht im Regen stehen lassen, auch wenn sie seine Marotte für den Aus fluß seiner Senilität hielt. „Wir fanden Unterlagen“, berichtete Don Vito, „Hinweise.“ „Auf diesen ominösen Bruder eines verstorbenen Kapito den?“ „Er lebt in einer deutschen Stadt. Sie heißt Xanten und liegt am Niederrhein. Der Kapitode wurde um das Jahr 1959 gebo ren, als illegaler Sohn eines nach Südafrika ausgewanderten Tischlers. Da er alles andere als ein normaler Mensch ist, muß in dieser Stadt oder in der Umgebung etwas über ihn zu erfah ren sein. – Außerdem haben die Geheimdienste sich bereits an die Arbeit gemacht.“ „Warum“, fragte Cora erstaunt, „befaßt sich eine solche Ebe ne damit?“ „Das beweist seine Bedeutung. Und sie wiederum steht in Zusammenhang mit der Prophezeiung meines Sohnes, die mit den Aussagen der anderen bis heute bekannten Kapitoden übereinstimmt. Es wird kommen ein Tag, und es wird kommen ein Mensch, der in der Welt eine ungeheure Veränderung her beiführt.“ „Bis dahin bin ich eine alte Frau“, sagte Cora, meinte aber etwas anderes. „Und ich bin tot, willst du sagen.“ „Sterben müssen wir alle, Papa.“ „Nichts dagegen einzuwenden“, reagierte Don Vito mit Iro nie. „Aber die Mafia wird ewig leben. Sie wird weiterwachsen 41
und eines Tages so groß sein, daß sie die dritte Kraft zwischen Ost und West, zwischen Rot und Schwarz darstellt. Als einer der dafür Verantwortlichen muß ich wissen, was die Zukunft bringt.“ Er hob sein Glas. Der Wein warf rubinrote Reflexe gegen die Wände. Als nächsten Gang gab es Scaloppine. Dann etwas von Vö geln, ein Amselzungenragout. Vor dem Dessert sagte der alte Don Vito: „Du weißt, was ich von dir erwarte, Tochter.“ „Ich soll mich um diesen Typen in Xanten kümmern“, rea gierte sie folgerichtig. Daraufhin verriet Don Vito ihr den Namen eines deutschen Geheimagenten. Er hatte ermittelt, daß dieser Mann den Fall bearbeitete. „Vor ihm mußt du dich in acht nehmen“, warnte der Vater. „Im übrigen ist die Sache nicht sonderlich heiß. – Was darf ich dir servieren lassen, Cara mia, Früchte, Sorbet, Käse, ein Stückchen Zuppa Romana?“ „Nur Kaffee“, bat Cora Calabrese nachdenklich. Va bene, sie würde also nach Deutschland fahren und für den Alten Spionagedienste leisten. Nach der Panne in Edinburgh mußte die Sache ein wenig intelligenter angepackt werden. D’accordo, sie würde es tun. Certo. Sie war Don Vitos Tochter und gewohnt, zu gehorchen. Im Licht der Kerzen sah sie aus wie eine Madonna. „Du bist wunderbar“, sagte der Alte. „Spar dir die Komplimente, Vater!“ erwiderte Cora merk würdig schroff.
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5.
Die Computer des Landeskriminalamtes von NordrheinWestfalen und der Einwohnermeldeämter im Regierungsbezirk Düsseldorf lösten gemeinhin Gleichungen mit einer Unbekann ten in Sekundenbruchteilen. Um den Namen eines Mannes herauszufinden, der in Xanten gelebt hatte, Tischler war, nach Südafrika auswanderte und möglicherweise einen mißgebildeten Sohn hinterlassen hatte, dabei wurde ein moderner Fahndungscomputer nicht einmal handwarm. Vorausgesetzt, er verfügte über die nötigen Daten, und seien sie noch so bruchstückhaft verteilt. Die Verwaltung in NRW war aber erst vor acht Jahren auf EDV umgestellt worden. Und die alten Karteien lagerten ir gendwo in tiefen Kellern. Das brauchte man dem BND-Agenten Nr. 18, Robert Urban, nicht lange zu erklären. Er kannte das aus Erfahrung. „Dann“, hatte er gefordert, „schaut doch mal im Keller nach!“ Als Antwort war die Erklärung gekommen, die er ebenfalls aus Erfahrung kannte. „Seit wann interessiert der BND sich für innerdeutsche Be lange? Dachte, ihr seid ein Auslandsgeheimdienst.“ Auch dafür gab es eine Routineantwort. „Unsere Auslandstätigkeit hängt ja nicht frei in der Luft. Sie wurzelt stets im Bereich der Interessen unseres Staates.“ „Dann ist das Sache von Verfassungsschutz oder BKA.“ „Wir machen das für die Engländer.“ „Aber ihr, der BND, macht es. Also haltet euch an die Vorschriften!“ „Okay“, hatte Urban dem Kollegen entgegnet. „Ich stelle ei nen Antrag über den Verfassungsschutz an die Regierung in 43
Düsseldorf. Der landet dann ebenfalls auf Ihrem Schreibtisch, Herr Misterialrat. In zehn Wochen vielleicht. Dann kann es zu spät sein. Aber macht ja nichts. Hauptsache, alles läuft nach Vorschrift. Auch wenn Sie mir damit ein Recht verwehren, das Sie jedem Bürger zugestehen, nämlich über die Meldeämter einen Vermißten zu suchen.“ Nun äußerte der Beamte in Düsseldorf etwas, das Urban bei nahe auf die Palme brachte: „Der BND ist kein Bürger dieses Landes.“ „Stimmt. Er ist nur für die Sicherheit der Bürger dieses Landes da.“ Urban hatte aufgelegt und dann doch bekommen, was er woll te. Und zwar über einen Freund beim Bundeskriminalamt, über einen, der keine Fragen stellte, weil Urban ebenfalls keine Fragen stellte, wenn dem Kollegen an einer Antwort lag. Irgendwo bei einer Behörde, sei es in Xanten oder in Düssel dorf, war ein Mann oder eine Frau in den Keller gegangen, hatte den Staub von den uralten Handregistern geblasen und zu suchen begonnen. Mit folgendem Ergebnis: Name: Alfons Metzger Geboren: 14.11.38 in Xanten Beruf: Tischler Vorstrafen: keine. Aber gesucht wegen Verführung einer minderjährigen Verwandten 1. Grades. Aufenthaltsort: Seit 1959 unbekannt Zusatz: M. ging vermutlich nach Kapstadt. Die von ihm ge schwängerte Pauline Metzger (seine Halbschwester) brachte einen Knaben zur Welt. Name Alfons. Alfons Metzger jun. war trotz schwerster Geburtsfehler le bensfähig. Seine außergewöhnliche Intelligenz versetzte ihn aber kaum in die Lage, seine Umwelt wahrzunehmen. Nach dem frühen Tod seiner Mutter kam er in verschiedene Heime 44
und Erziehungsanstalten. Er lebt heute, kaum dreißigjährig, in einer staatlichen Altenpflegestätte bei Vynen nördlich von Xanten. Vor diesem Heim stand Robert Urban jetzt zu dieser Mit tagsstunde. Alfons Metzger stellte im Altenpflegeheim ein Kuriosum dar. Er war der jüngste Insasse, aber auch derjenige mit der läng sten Verweildauer. Sie betrug im Schnitt, also von Zugang bis Abgang eines Alten, ungefähr elf Monate. Alfons Metzger lebte schon seit neun Jahren in Vynen. Allmählich hatte er sich das schönste Zimmer ergattert, was immer das in einem überbelegten Heim bedeuten mochte. Aber er war allein auf zwölf Quadratmetern und hatte einen winzi gen Balkon mit Rheinblick. Urban war angemeldet. Er durfte Metzger, das Osterei, wie sie ihn wegen seines Kopfes nannten, sprechen. Dies allerdings in Anwesenheit einer Pflegerin. Es handelte sich um eine recht hübsche Person, etwa Ende Zwanzig, vermutlich Italienerin mit üppigen Formen, in makel los blütenweißer Schwesterntracht. Man hatte Urban versichert, daß sie kaum ein Wort Deutsch verstehe. Trotzdem und vorsichtshalber beschloß Urban, mit Metzger Englisch zu sprechen. – Metzger beherrsche, wie es hieß, viele Sprachen. Im Zimmer standen ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, ein Schrank und ein Fernsehapparat. Metzger hockte auf dem Bett. In journalistischer Kürze war er mit wenigen Worten zu be schreiben. Ein Liliputaner mit Wasserkopf und TurboIntelligenz. 45
Kaum hatte Urban sein Anliegen geäußert, schien er alles zu wissen, alles zu ahnen, alles zu begreifen, um was es ging. Das erleichterte Urbans Aufgabe erheblich. Sie begannen also ihre Unterhaltung. Die chemisch reine Nurse saß mit gefalteten Händen dabei und lächelte stupide. Urban deutete auf die Anwesende. „Lassen Sie uns Englisch sprechen, Alfons.“ „Von mir aus Russisch, Chinesisch, Suaheli oder die Sprache der Eskimos.“ „Sie waren nie in Rußland, in China, in Afrika oder Grön land?“ Der Kleine deutete auf seinen übergroßen Schädel, auf des sen Stirn die Adern hervortraten. „Im Geiste schon. Ich habe alles aus Büchern von Brock haus, Baedeker und Langenscheidt gelernt.“ Urban sprach jetzt englisch. Alfons ebenfalls. Es haperte nur ein wenig an seiner Aussprache. „Seit wann“, fragte Urban, „fühlen Sie sich so schlecht, Al fons?“ „Es begann vor drei Wochen.“ Urban erfuhr sogar das genaue Datum. Es fiel mit einem be stimmten Tag zusammen, nämlich mit dem, an dem das BantuMonster Mabaso in der Reservation in Südafrika getötet wo r den war. Er erwähnte es nicht, stellte sich aber darauf ein. Als könnte Metzger Gedanken lesen, sagte er: „Seit dem Tag, an dem mein Bruder starb.“ „Er lebte Zehntausende Kilometer von hier entfernt“, erwi derte Urban, „und war nicht einmal drei Jahre alt. Woher wi s sen Sie, daß es einen Bruder gab?“ „Er wußte auch, daß es mich gibt“, äußerte Metzger, als sei das eine Selbstverständlichkeit. „Oder erfuhren Ihre Verwandten davon?“ hakte Urban nach. 46
„Vater und Mutter sind beide tot“, lautete die Antwort so klar, als beziehe Metzger sein Wissen von weither, als flüstere es ihm eine geheime Stimme zu. „Andere Verwandte gibt es nicht. Seitdem mein Vater fortging, damals, als ich noch im Bauch meiner Mutter schwamm, hörten wir nichts mehr von ihm. Trotzdem weiß ich, daß er irgendwo im Busch erschlagen wurde und daß ich einen Bruder…“ Es war erstaunlich. Über was für eine Antenne verfügten die se Kapitoden? Tricks lagen hier bei Gott nicht vor. Von einem Kirchturm schlug die Stunde. Metzger deutete auf Urbans Handgelenk. „Ihre Uhr geht um siebzig Sekunden vor. – Falls aber eine Rolex nicht falsch anzeigen kann, hat die Turmuhr zu spät geschlagen.“ Urban beobachtete die Krankenschwester. Sie schaute ge langweilt zum Fenster hinaus. „Ihr Bruder Mabaso“, fuhr Urban fort, „sprach davon, daß bald einer der Ihren kommen und große Veränderungen herbei führen wird. Können Sie mir etwas über zukünftige Dinge sagen, Metzger?“ Der Zwerg mit dem aufgeblähten Kopf schloß die Augen. Da sie aus dem flächigen Gesicht hervortraten, ließen sie die Lider wie Halbkugeln erscheinen. „Von der fernen Zukunft weiß ich wenig“, sagte er. „Aber Sie, Oberst Urban, werden nicht mehr lange hier sein. Man wird Sie wegbeordern. Zu einem Rundgespräch mit Männern, die in großer Sorge wegen des Todes eines gemeinsamen Freundes schweben. Ja… und alles hat mit meinem ungebore nen Bruder zu tun.“ Urban war verblüfft und zeigte es offen. „Der noch gar nicht geboren ist?“ „Der ausersehen wurde, im nächsten Jahrtausend zu leben. Er 47
existiert noch nicht, aber bald, schon bald.“ Als strenge ihn die Sicht in die Zukunft zu sehr an, wechselte Metzger das Thema. Er sprach mit Urban über Politik, über Wirtschaft, über Krie ge. Er gestand, daß er Urban bedauerte. Alles was er auch un ternehme, wo immer man ihn einsetze, sei sinnlos. Das Böse sei immerdar wie die Schlange Hydra mit den neun Köpfen. Schlug man einen ab, wuchsen zwei neue nach. So lange Gold rar sei, sei Geld von Bedeutung, und so lange gäbe es Banken und Bosse. Und an ihnen würde die Welt zugrunde gehen. „Ihr Bruder“, beendete Urban die Pause, „der im nächsten Jahrtausend leben wird, woher kommt er?“ „Falls es ihm gelingt, den Kampf um das Leben zu gewi n nen, dann kommt er aus dem Westen.“ „Westeuropa?“ „Dort wird er geboren. So ist es bestimmt. Aber es gibt Mächte, die das verhindern könnten.“ „Was für Mächte? Staatliche, private? Kräfte des Schicksals, des Zufalls…?“ „Sein Vater wird Russe sein“, fuhr Metzger fort, „seine Mut ter Israelin oder Palästinenserin. Sie werden beide auf der Flucht sein, wie einst Maria und Joseph. Sie werden sich ir gendwo in einem Land, in einer Stadt, die vom Krieg nicht zur Ruhe kommt, begegnen. In einer Stadt zwischen bewaldeten Höhen und dem Meer. Eine einst blühende Stadt. Jetzt ist sie verwüstet. Christen und Moslems kämpfen um die Trümmer. Dort werden sich die beiden finden, verlieben und weiterflie hen. Die Frau wird ein Kind erwarten. Die beiden werden für eine kurze Spanne ihres Lebens sehr glücklich sein. Aber es gibt zu viele Kräfte, die meinen ungeborenen Bruder fürchten. Für die einen wird er der Retter sein, für die anderen der Zer störer.“ 48
Metzgers Augen waren jetzt wie von dichten Vorhängen ver schleiert. Er deutete zum Balkon. „Sehen Sie den Rhein, Oberst Urban?“ Der Fluß war hier breit. Er bildete Buchten wie Wucherun gen und seeartige Altwässer, Im Mittagslicht strömte er braun und träge durch die Ebene, die sich zu den Niederlanden hin immer weiter öffnete. Dann wieder Metzgers metallische Stimme: „Erzählen Sie mir vom Rhein. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Ich bin extrem kurzsichtig geworden. Und keine Brille hilft.“ „Mittagsstille überall“, sagte Urban. „Warten Sie nur, gleich wird ein Schlepper hinter dem Ree ser Bogen auftauchen. Ein alter Radschlepper mit rauchendem Schornstein. Er zieht drei Kähne bergwärts. Zwei nebeneinan der und einen dahinter. Querab von Rees wird er seine Dampf sirene…“ Es tutete wirklich. Doch der Schleppzug war noch immer nicht zu sehen. Er befand sich noch hinter der Flußbiegung. Doch bald sah Urban schwarzen Rauch aufsteigen. Ein Rad schlepper schob seinen spitzen Bug Richtung Südwesten. Urban übermittelte, was er sah, Metzger frohlockte. „Was habe ich gesagt?!“ Urban fragte ihn noch vieles. Alles, was ihm einfiel Einmal öffnete sich die Tür. Jemand schaute herein. Die Tür ging wieder zu, als fände im Zimmer eine Andacht statt, die man nicht stören dürfe. Mit einemmal veränderte sich die Gesichtsfarbe Metzgers. Er wurde grau und so faltig wie eine aufblasbare Gummipuppe, bei der man die Hälfte der Luft herausgelassen hatte. Die Krankenschwester bettete ihn, schob ein Kissen unter seinen dünnen Hals und deckte ihn zu. „Jetzt muß Schluß sein“, entschied sie. 49
Urban, der Italienisch fast so gut sprach wie Deutsch, ant wortete: „Ja, es war zuviel für ihn.“ Ihre dunklen Madonnenaugen musterten ihn, drückten aber nicht aus, was sie von ihm hielt. Sie schien um Metzger besorgt zu sein. Alles andere kümmerte sie wenig. „Er ermüdet schnell“, sagte sie. „Kein Wunder.“ „Wir müssen ihn schlafen lassen.“ „Wie lange schläft er?“ „Viele Stunden. Kommen Sie morgen wieder, Signore.“ „Ja, morgen“, erklärte Urban. Sie sprach das nahezu akzentfreie Italienisch gebildeter Frauen aus Familien, wo man auf die Aussprache achtete. Aber die Art, wie sie manche Vokale, meist am Ende eines Wortes, betonte und ausklingen ließ, erinnerte Urban an Sizilien. „Sie kommen aus dem Süden?“ fragte er. „Aus Calabrien.“ Da wußte er, daß sie log. – Warum verschwieg sie, daß sie aus Sizilien stammte? „Grazie, Sorella. Wie war doch Ihr Name?“ „Cora“, sagte sie. „Kommt das von Corina?“ „Von Coralla“ Sie schloß die Vorhänge und dann hinter Urban die Tür. Urban fuhr langsam in Richtung Duisburg. Die Straße Nr. 57 nach Rheinberg verlief kilometerweit schnurgerade. Um diese Zeit herrschte wenig Verkehr. Urban beendete das Gedächtnis protokoll, stellte den Recorder ab und versuchte, mit einem Schluck Bourbon die Unterhaltung mit Metzger zu begießen. Im Grunde war sie erfolgreich verlaufen, auch wenn noch 50
dies und jenes einzuordnen und zu bewerten war. Zweifellos hatte es einige merkwürdige Momente gegeben. Zum Beispiel die Sache mit der Uhr und wie Metzger den Schlepper vorhergesagt hatte. Aber die Ankündigung eines Rundgespräches mit wichtigen Männern, ausgelöst durch den unerwarteten Tod eines Freundes, hatte er wohl nur geträumt. Urban telefonierte. Im Hauptquartier lag nichts vor. – Er meldete sich ab und wollte die Rückreise nach München ge mütlich und ohne Eile antreten. Vielleicht fuhr er ein Stück am Rhein entlang, mit einer Übernachtung, dort, wo es gutes Essen gab. Wenig später summt sein Autotelefon. Er schaltete auf die Freisprechanlage. Der Operationschef, Wolf Sebastian, war sofort am Apparat. „Wo sind Sie jetzt, Nummer achtzehn?“ „Noch linksrheinisch.“ „Dann machen Sie mal kehrt.“ „Na schön. Und wohin, bitte?“ „Richtung Brüssel. Wann können Sie dort sein?“ Urban hatte die Karte ungefähr im Kopf. Die Entfernung bis Brüssel schätzte er auf zweihundert Kilometer. Ab 15.00 Uhr setzte der Verkehr wieder voll ein. Dann waren sogar die Au tobahnen dicht. „Siebzehn Uhr.“ „Geht’s nicht schneller?“ „Vielleicht Kommt darauf an, ob ich ins Zentrum von Brüs sel hinein muß.“ „NATO-Hauptquartier“, sagte der Alte. „Ich rufe dort an, daß man auf Sie wartet.“ Die Sitzung mußte spontan anberaumt worden sein. Also ging es um eine heiße Sache. „Die CIA ist vertreten“, zählte Sebastian auf, „MI-six, SIS 51
MI-Rom, Benelux, die Spanier, sogar die Franzosen. Alles, was Rang und Namen hat.“ „Um was geht es?“ „Keine Ahnung.“ „Also tipp-top-secret.“ „Man hört, es drehe sich um diese Kapitoden-Geschichte.“ Urban wunderte sich jetzt sehr. Bis zur Stunde war die Sache nicht einmal halboffiziell. Eigentlich war er nur nach Xanten gefahren, um Mortimer Pittsburry einen Gefallen zu erweisen. Daß für die NATO oder für die EG irgendeine Gefahr bestand, war erst in weiter Ferne zu ahnen. – Also mußte etwas passiert sein. Aber was hatte die blitzartige Reaktion der NATO ausge löst? Vor wenigen Tagen noch wußte kaum einer, was ein Kapitode war, und mit Sicherheit niemand bei den Geheim diensten. „Diese Kapitodensache“, erwähnte Urban, „beschäftigt doch nur Dr. Pittsburry und mich.“ „Ach ja, Pittsburry“, nahm der Alte den Namen auf. „Jetzt fällt es mir wieder ein. Offensichtlich hat Pittsburry noch ande re Dienste informiert.“ „Oder andere Dienste interessieren sich für Pittsburry“, dreh te Urban den Spieß um. „Nun, damit ist es vorbei“, rückte der Boß endlich heraus. „Ihr schottischer Freund ist tot, soll tot sein, glaube ich.“ „Unmöglich. Ich sprach noch vorgestern mit ihm über die Xantener Spur.“ „Ermordet, hört man.“ „Was noch?“ „Erfahren Sie gewiß alles in Brüssel.“ Sebastian wußte nicht mehr, außerdem entstand im Sprech kanal ein Rauschen, als würde man dicht an den Niagarafällen vorbeifahren. 52
Urban hängte ein, wendete und suchte sich den kürzesten Weg zur Autobahn nach Belgien.
Im abhörsicheren Konferenzraum des NATO-Hauptquartiers Europa, einem Oval mit niedriger Decke, saßen sieben ernste Männer mit steinernen Gesichtern. Nichts von dem üblichen „Hallo! How do you do? Come sta? Que tal?“ oder „Je vous salue, mes ami!“ Nur ein müdes Heben der Hände, einer Braue, eines Mund winkels. Urban nahm Platz. Die Raserei hatte ihn ausgedörrt. Er goß ein Glas voll, halb mit Limonensaft, halb mit Perrier. Es schmeckte fad ohne Alkohol. „Ist euch der Strom ausgegangen?“ fragte er die Runde. „Wir sind fertig.“ „Kann ich ja wieder gehen.“ „Auf dich haben wir gewartet, Dynamit.“ Sie kannten sich alle wie uralte Minister in einem uralten Kabinett, das nie umgebildet worden war. Wobei die Chance, daß man Minister feuerte, noch bedeutend größer war als Spit zenleute im Geheimdienst. Von denen gab es zu wenige. Einer sagte: „Mortimer ist tot.“ Die anderen nickten auf eine Weise, als hätten sie ihn alle gut gekannt. Du warst also nicht der einzige, den er mit seinem Kapito denkrampf belästigte, dachte Urban. – Nun gut, es war das Recht eines Wissenschaftlers, Quellen anzubohren. Alle wandten sie die Köpfe zu Urban hin. Wie bei einem Tennismatch. „Nicht meine Schuld, Gentlemen, schätze ich.“ 53
Sie hatten jeden gefragt, der Mortimer kannte, ob der Infor mationen weitergegeben habe. Sie fragten auch ihn. Reine Routine. „Die Sache war viel zu elitär“, sagte Urban, „als daß sie ir gendjemanden unterhalten hätte.“ „Wer tötete ihn dann?“ „Warum sonst sollte man ihm einen Herzschuß verpaßt ha ben? Mit schallgedämpfter Pistole?“ „Profis?“ Urban hörte zu und erfuhr einiges, was er noch nicht wußte. „Vielleicht ein Irrtum.“ Der Franzose, der bei der NATO-Geheimdienstsitzung nur Gast, aber auch für seinen makabren Witz gefürchtet war, sag te: „Es kommt einem vor, als hätte man den falschen Mann mit der falschen Waffe umgelegt, als er im falschen Hotelzimmer mit der falschen Frau im falschen Bett lag. Und das noch im falschen Schlafanzug.“ „Wieso?“ fragte der Engländer ironisch. Der Amerikaner, streng und hager wie ein Baptistenprediger, hob die Hand. „Gentlemen, bitte keine Vermutungen der dritten Art. Ihr seid verpflichtet, so zu arbeiten, daß man den Eindruck hat, es seien Experten bei der Sache.“ „Aber auch so lautlos“, bemerkte der Italiener, „daß keiner was bemerkt.“ Urban bekam eine Plastikhülle mit Papieren überreicht. Wä h rend die Diskussion weiterging, studierte er das Material. Als er es intus hatte, legte er die Akte weg. Das war wie ein Glok kensignal finden Schlußakt. „Du hast diesen ominösen Bruder gesprochen“, fragte der Holländer von VD. „Was war das Ergebnis?“ 54
Urban schilderte erst die Vorarbeit, die nötig gewesen war, um Alfons Metzger zu finden, und dann, was er aus ihm her ausgeholt hatte. „Das deckt sich teilweise mit den Berichten der Sowjets“, bemerkte dieser. Daß die Russen mitmischten, war Urban absolut neu. „KGB?“ fragte er. „Sie hatten einen Kapitodenfall in Sibirien. Schon lange Zeit her. Aber sie horten davon, was Mortimer Pittsburry ausgrub. Seitdem hängen sie sich rein. Da es weder um Politik noch um Forschung, Rüstung oder sonstwas geht, zeigen sie sich aus nahmsweise kooperativ.“ „Es kann“, meinte Urban, „um mehr gehen.“ „Klar, um die Superatombombe des Jahres zweitausend zehn.“ Urban erinnerte sich an einen Satz, von Adolf Metzger und sagte: „Mein Bruder, der kommen wird, ist wie die Kraft des Atoms gegen die Flammen eines Zündholzes, wie das Meer gegen einen Wassertropfen, hat Metzger gesagt. – Dabei kann ein normaler Kapitode schon Lottozahlen voraussagen, Tee ohne Zucker süßen und Uhren anhalten. Was bringt da erst der an gekündigte Superkapitode zustande?“ Da es keine Antwort darauf gab, wechselte der Amerikaner mit einer Frage das Thema: „Wie entstehen diese Kopfwesen überhaupt?“ „Daran arbeitete Dr. Pittsburry noch.“ „Und seine Theorie?“ Urban hatte lange mit Pittsburry gesprochen und lieferte ei nige Stichworte; „Transposonen sind am Werk.“ „Was sind Transposonen?“ 55
„Sogenannte springende Gene. Es gibt Erbanlagen, die prak tisch ungebunden, auf irgendeine Weise frei rotierend, in ein beliebiges Stück des Erbgutes überwechseln können. Sie ma chen aus Menschen Idioten oder Genies. Die Spring-Gene sind noch kaum erforscht. Aber es ist nicht auszuschließen, daß sie der Motor der Evolution sind.“ „Was den Fisch einst auf das Land brachte.“ „Dem Wurm zum Fliegen verhalf.“ „Den Affen zum Menschen machte.“ Urban stimmte dieser Definition bei. „Mortimer nannte sie die Mutationsgeneratoren. Aber wie wirken sie, wie sehen sie aus, wo sitzen sie? Das ist die Frage.“ Einer, es war der Norweger, sagte leise: „Schätze, die Industrie wäre ungeheuer scharf auf diese Bie ster.“ „Sie weiß davon und sucht sie längst.“ „Die Kapitoden haben solche Transposonen.“ „In sich, unauffindbar versteckt.“ „Und der Bruder der Brüder wird sie in verstärktem Maße besitzen.“ „In potenziertem Maße.“ „Nun, wenn er erreichen will, was man vorhersagt, nämlich dereinst die Welt zu verändern, dann wi rd er sie auch dringend brauchen“, sagte der Franzose im Ton eines Kabarettisten, dem nichts heilig war. Es ging weiter bis in die Nacht. Endlich wurden Beschlüsse gefaßt. „Punkt eins“, faßte der CIA-Delegierte zusammen: „Dieser Alfons Metzger muß geschützt werden wie die erste feine Spur zu einem Riesenmeteoriten, den keiner sieht, der aber im An flug ist, um die Erde aus ihrer Bahn zu werfen.“ „Und zweitens?“ fragte der Brite. 56
Der Amerikaner antwortete: „Zweitens, das ist der Meteorit an sich.“ „Ist damit der Mann aus dem nächsten Jahrtausend ge meint?“ „Wer sonst?“ „Er ist noch ungeboren.“ „Aber die Voraussetzungen, die Werkzeuge für seinen Ein satz sind vorhanden. Sein Vater und seine Mutter. Wir müssen uns aufmachen, sie zu suchen und zu finden.“ Allen war klar, daß es bis zur Stunde kein brauchbares Ve r fahren gab, um etwas, das noch gar nicht existierte, zu verhin dern. „Und wie, wenn ich fragen darf“, meldete der Belgier sich, „soll das vor sich gehen?“ „Mit allen Mitteln, über die wir verfügen.“ „Wird aber nicht ganz billig.“ „Spielt Geld in diesem Fall eine Rolle?“ fragte der Amerika ner provozierend. „Schlage vor, eine Spezialistentruppe zu bilden. Eine Gruppe von Experten, von A wie Elektronik bis Zet wie Bluthunde reichend.“ „Wie wär’s mit dem Code: Kommando zweitausend?“ „Hauptsache, wir haben schon mal einen Namen“, spottete Urban. Sie hatten den Namen und die Strategie, um die Erschaffung des Super-Kapitoden unter Kontrolle zu bringen. „Das ist Science-fiction“, meinte einer der Anwesenden. „Ich mag Zukunftsmusik.“ „Aber nicht die aus dem wirklichen Leben“, schränkte Urban ein. Bevor die ganze Besatzung im Mief aus Rauch, Kaffee- und Whiskydunst zu ersticken drohte, fand die Sitzung ihr natürli ches Ende. 57
6.
Sie kamen wie Diebe in der Nacht, wenn auch in bester Ab sicht. Die Organisation war wie immer perfekt. Mindestens so gut wie bei der Landung in der Normandie, wenn auch in etwas kleinerem Rahmen. Die Typen trugen keine Uniformen, sondern Jeans, Sportjak ken und Tennisschuhe. Nicht weil die Pumas noch in Mode waren, sondern weil man lautlos damit schleichen konnte. Sie fuhren einen Chevrolet-Blazer-Geländewagen mit USKennzeichen. Die wurden an den Grenzübergängen erfah rungsgemäß durchgewinkt. Der dritte Mann neben dem Chef des Kommandos und dem Fahrer war Arzt. Sie nannten ihn nur Doc. Doc, Captain und Driver, so redeten sie sich an, wenn sie überhaupt sprachen. Sie erreichten den kleinen Ort nördlich von Xanten bei An brach der Dunkelheit. Der Captain dirigierte den Driver zu einer einsamen Stelle, die er bei Tag erkundet hatte. Sie lag hinter einer Gebüschreihe. Rechts davon wälzte sich der Rhein dahin, links begann der Zaun des Altenpflegeheimes. Mit nahezu lautlos drehendem Achtzylinder hatte sich der schwarze Blazer das letzte Stück durch die Felder und Obstgär ten bewegt. „Licht aus!“ befahl der Captain mit gedämpfter Stimme. „Wenden und anhalten.“ Der Fahrer stellte den Allradgetriebenen so hin, daß er nicht lange zu rangieren brauchte. „Gut so?“ „Okay. Und jetzt die hintere Tür auf. Ihre Instrumente klar, Doc?“ „Soweit ja.“ 58
„Was heißt soweit?“ „Eine größere Operation kann ich nicht vornehmen.“ „Wird hoffentlich nicht nötig sein. Okay, Sie nehmen die Trage, Doc, ich gehe voraus.“ Der Arzt klemmte die Segeltuchtrage zusammengeklappt un ter den Arm. Zwei Alurohre, ein wenig Stoff und eine Klemm vorrichtung, die die Holme auseinanderspreizte, wogen nicht schwer. Der Captain hängte den Drahtzaun dort aus, wo er am Tag die Maschen zerschnitten hatte. Durch die Lücke gingen sie hinein in den Garten und liefen gebückt auf das große alte Gebäude zu. Der Fahrer lehnte am Kotflügel des Blazer, steckte sich eine Zigarette an und schaute auf die Uhr. – Nach Plan sollte alles in sechs Minuten, plus-minus zehn Prozent, erledigt sein. Etwas mehr als eine Zigarettenlänge. Erst hörte er den Captain und den Doc noch. Dann sah er noch ihre Schatten, dann hörte und sah er nichts mehr. Am Himmel stand ein Viertelmond, vor den sich immer wi e der Wolken schoben.
Der Balkon des Zimmers auf der Rheinseite war etwas mehr als parterrehoch, denn das Gelände fiel leicht ab. Der Captain kletterte als erster hinauf. Der Arzt reichte die Trage nach und kam hinterher. Der Captain erfaßte sein Hand gelenk und half ihm. „Tür ist auf“, flüsterte er. Durch sanften Druck gegen den Flügel vergrößerte er den Spalt. Die Punktlichtlampe warf einen hellen Kreis an die Wand. Ausreichend, um zu erkennen, wer im Bett lag. Es war ein Kopf mit verkümmerten Gliedern. Der Schläfer 59
hatte sich aus dem Laken gewühlt. Der Captain löschte die Lampe. „Du bist dran, Doc.“ Während der Captain die Trage auseinanderklappte, nahm der Doc einen Flacon und ein Taschentuch aus seiner Jacke. Er schraubte den Flacon auf und schüttete den Inhalt, etwa zehn Kubikzentimeter, auf das Taschentuch. Es handelte sich um ein rasch wirkendes Narkosemittel, allerdings der vierten Genera tion nach Chloroformäther. Es roch weder streng noch süßlich, sondern nach überhaupt nichts. „Licht, bitte!“ Der Arzt suchte die Atemöffnungen im riesigen Kopf des Zwerges und preßte das Taschentuch so darauf, daß Alfons Metzger gezwungen war, das Narkosemittel einzuatmen. Es dauerte nur wenige Sekunden. Der Zwerg hustete, machte ein paar Strampelbewegungen und erschlaffte. „Fertig.“ „Wie lange, Doc?“ „Lange genug.“ Sie hoben ihn auf die Trage und schnallten ihn dort fest, was wegen seiner unförmigen Gestalt schwierig war. Dann trugen sie ihn hinaus. Der Doc kletterte nach unten. Der Captain ließ die Trage hinab und sprang hinterher. Leise kam er im Gras auf. Aber irgendwo bellte ein Hund. Sie achteten nicht darauf, packten die Trage an den Holmen, hetzten durch den Garten und durch das Loch im Zaun. Die Trage schoben sie hinten in den Blazer. „Fünf dreißig“, sagte der Driver. „Nicht schlecht.“ Der Captain löschte die Spuren und hängte den Zaun zurück an den Pfosten. Die Erde war trocken. Die breiten Blazerreifen würden kaum Abdrücke hinterlassen. 60
„Und ab die Post!“ Der Driver ließ an. Ein kurzes Sirren. Der V-8 summte. In Leerlaufdrehzahlen rollten sie zur Straße, dann in Richtung Bundesstraße Nr. 57. Auf ihr blieben sie nicht lange. Sie nah men die Querverbindung zur Autobahn, eine Nebenstraße, die durch Felder und Wälder über eine Ortschaft namens Uedener bruch führte, aber gut ausgebaut war. Sie fuhren so zurück, wie sie hergekommen waren. Der erste, der etwas bemerkte, war der Driver. „Uns folgt einer.“ „Du bist auch nachts nie allein auf den Straßen.“ „So spät?“ „Er biegt gewiß gleich ab.“ Der Captain behielt recht. Der hinter ihnen war bald nicht mehr zu sehen. „Wie geht es unserem Passagier?“ fragte er den Doc. „Danke, Herz, Atmung, Kreislauf normal“, bestätigte der Arzt, Der Driver fuhr laut Tacho 45 m.p.h. Als er aus dem Wald kam, etwa einen halben Kilometer vor der Ortschaft, mußte er brutal auf die Bremse. Mitten auf der Straße stand ein Umlei tungsschild und beiderseits davon rot-weiß lackierte Blechton nen. „Hier war keine Umleitung.“ „Dann ist es eine Falle.“ „Von wem für wen?“ fragte der Captain. „Niemand weiß von unserer Operation. Also rein in den Graben, über die Böschung hoch, querfeldein. Wozu haben wir Allradantrieb?“ Der Fahrer setzte zurück, drückte die Automatic auf Stufe eins, damit sie nicht hochschaltete, und wollte gerade links 61
ausscheren, als jemand an sein Fenster klopfte. „Polizei.“ „Nichts wie weg!“ befahl der Captain. Da hatte der Mann draußen schon die Tür aufgerissen und drückte dem Fahrer eine Waffe in die Seite, die nicht aus den Arsenalen der deutschen Polizei stammte. Es handelte sich um eine Schrotflinte mit angesägten Läufen. Außerdem bestand die Polizeiuniform des Mannes nur aus der Mütze. Seine Helfer, die jetzt aus dem Dunkel sprangen, trugen Ge sichtsmasken. Sie arbeiteten lautlos und routiniert wie Profis. Kein Handgriff zuviel, keine Faxen. Der mit der Schrotflinte hielt den Driver in Schach. Drüben riß ein zweiter die Tür auf und zog den Captain ins Freie. Im Fallen versetzte er ihm noch einen Hieb gegen den Schädel, daß er die Erde schon ohne Besinnung erreichte. Hinten hatte einer die Hecktür geöffnet und winkte dem Doc mit der Pistole. Mit erhobenen Händen kam der Ar zt heraus. „Was wollen Sie?“ keuchte er. „Das gleiche wie Sie“, antwortete man ihm in Englisch mit italienischem Akzent. Sie entfernten den Infusionsschlauch aus Metzgers Vene. Ei ner nahm ihn samt Laken und Decke auf den Arm und ve r schwand mit ihm. „Das bringt ihn um“, sagte der Arzt. „Er wird ohnehin sterben.“ „Das ist Mord.“ Ein Lachen drang unter der schwarzen Maske hervor. „Durch uns oder durch Sie…?“ Etwas begann zu zischen. Erst links hinten, dann hinten rechts, dann vorne. Sie ließen die Luft aus den Blazerreifen. 62
Einer öffnete die Motorhaube, zog die Zündkerzenstecker ab, entfernte den Verteilerkopf und warf das Kabelgeschlinge ins Gebüsch. Andere fesselten den Fahrer, den Doc und den Mann am Bo den. Nach dieser Blitzaktion zogen sie sich zurück. Wagentüren schlugen zu. Motoren sprangen an. Ohne Licht fuhren sie weg. – Plötzlich herrschte beklemmende Stille. Der Driver fluchte. Der Doc konnte sich als erster aus der Kunststoffessel befreien. „Italiener“, sagte der Doc und kümmerte sich um den Ko m mandochef. Der Captain hockte mit versteinertem Gesicht da. „Mein Schädel platzt gleich.“ „Das vergeht, Captain.“ Er bekam eine Tablette und einen Schluck Cola aus der Do se. „Und jetzt?“ „Reifen aufpumpen ,Kabel zusammensuchen und dann zum nächsten Telefon! Wir müssen sie kriegen.“ „Wie?“ fragte der Doc. „Ohne Polizei, ohne die Zollbehör den. Sie arbeiten illegal wie wir.“ „Diesen Coup werde ich ihnen versalzen“, schwor der Cap tain. „Jetzt müssen Brüssel und Frankfurt die Hosen runterlas sen. Über die Grenze dürfen sie nie und nimmer mit diesem Kretin entkommen. Denn sind sie erst mal drüben, dann sehen wir ihn niemals wieder.“
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7. „Das war’s dann auch schon“, sagte der Chirurg. Im Kellergeschoß des freistehenden Hauses am D’Arve -Ufer von Genf gingen die Lampen aus. In einem Glasgefäß, es faßte etwa vier Liter, schwamm in ei ner honiggelben Flüssigkeit ein menschliches Gehirn. Auf das Gefäß kam ein Deckel, und das Ganze wurde in einen Ther mosbehälter gestellt. Innen Schaumstoff, außen Aluminium. Der Assistent des Chirurgen brachte den Behälter ins Erdge schoß, wo eine etwa dreißigjährige, elegante Frau wartete. Sie war in Pariser Chic gekleidet, trug ein schlichtes ReiseEnsemble, war aber zweifellos Italienerin. Der Chirurg übergab den Behälter und kassierte für seine Tä tigkeit eine Summe, die das doppelte Honorar einer BypassOperation in der Luxusklasse überstieg. „Seien Sie meiner Verschwiegenheit versichert“, erklärte der Chirurg. „Und Sie der unseren.“ „Was haben Sie mit dem Gehirn dieses ungewöhnlichen Le bewesens vor, meine Gnädigste?“ „Es geht zur Untersuchung an einen Gehirnspezialisten.“ „Ich nehme an, es handelt sich um einen privaten Auftrag, der sehr diskret behandelt wird.“ „So diskret wie unser Geschäft, Dottore.“ „Trotzdem, für den Fall, daß man Fragen stellt“, bat der Schweizer Mediziner. „Sagen Sie einfach, das Gehirn käme aus Leiden am alten Rhein.“ „Leiden in Holland?“ „In Leiden liegt die Zentrale Verteilungsstelle für Organ transplantate. Sie organisiert den Nachschub an Herzen, Nie ren, Lebern. Europaweit.“ 64
„Auch den von Gehirnen?“ „Die kann man nicht transplantieren. Noch nicht. Aber sie werden Unfallopfern mitunter zu Studienzwecken entnommen. Wenn Sie sagen, das Gehirn kommt aus Leiden, wird man sich damit zufriedengeben.“ „Sie können sich auf uns verlassen, Dottore“, versprach die Italienerin. „Das Gehirn kommt wirklich vom Rhein.“ Sie rief ihren Fahrer. Der kam herein, übernahm den Ther moskübel und trug ihn hinaus zu dem geparkten Lancia. „Wie lange hält es sich einigermaßen frisch?“ wollte die Ita lienerin noch wissen. „Binnen zwei Tagen sollte es im Labor des Neurologen lie gen.“ „Spätestens morgen“, erklärte die Auftraggeberin. Sie reichte dem Arzt die Hand. Er küßte sie artig und nahm den Duft eines kostbaren Parfüms wahr. Noch an der Tür stellte er eine Frage: „Was, bitte, Signora, soll mit den…hm… Überresten des Toten geschehen?“ Cora Calabrese hob erstaunt die Brauen. „Dachte, das sei im Preis enthalten.“ „Natürlich, sicher, gewiß, Madame, aber es ist nicht gere gelt.“ ,,Dann regeln Sie es bitte auf Ihre Weise, Dottore.“ „Nun, den Behörden kann man die Leiche so nicht überge ben.“ „Sie meinen, nicht mit ausgestopftem Schädel.“ „Man könnte es wohl auch komplett nicht. Immerhin handelt es sich um die Leiche eines außergewöhn lichen Lebewesens. Man würde Fragen stellen, Mord vermu ten.“ „Sie wissen, daß der Tod durch Herzschlag eintrat.“ 65
„Durch einen Kreislaufschock“, präzisierte der Arzt, „und nachfolgenden Herzstillstand. Das ist richtig. Aber gerade bei der Leiche eines solchen Monsters wird die Polizei ihren gan zen Fahndungsapparat anlaufen lassen.“ „Interessant“, bemerkte die Italienerin. „Wenn eine nackte Mädchenleiche in der Rhone schwimmt, wird man sagen, nun ja, eine heroinsüchtige Hure weniger. Aber bei so einem Mo n ster schaltet sich sofort Interpol ein.“ „Es ist immer der Seltenheitswert einer Sache, der entschei det, Madame“, erwiderte der Arzt. „Tun Sie das Nötige“, forderte die Italienerin. Ich nehme doch an, es ist nicht das erste und das letzte Mal, daß Sie mit einem Problem dieser Art konfrontiert sind, Dottore.“ Sie nickte herablassend und nahm graziös die Stufen zur Straße, wo ihr Fahrer die Fondtür des großen Lancia aufhielt. Sie schob sich in die beigen Ledersessel. Der Wagen zog ab. In der Nacht brachte der Chirurg die Überreste von Alfons Metzgers Leiche, verpackt in zwei Plastikmüllsäcke, zu seiner Segelyacht am Port Noir und versenkte sie weit draußen im See. Professor Dr. Magno Terminus galt als einer der bedeutendsten Neurologen Italiens. Er lehrte an der Universität von Perugia. Obwohl ihn immer wieder ein Ruf an größere Universitäten erreicht hatte, wollte er in der Toscana, seiner Heimat, leben, arbeiten und auch dort sterben. Das hinderte ihn nicht daran, durch die Welt reisend, Kon gresse und Tagungen zu besuchen. Als Vortragsredner war er sehr beliebt und kassierte beachtliche Honorare. Auch wenn seine Forschungen nur eine geringe Zahl von Experten wirklich interessierte. 66
Im fünfzigsten Jahr seines Lebens kaufte Professor Terminus das Landgut seiner Eltern zurück. Sie hatten es in den Nach kriegsjahren durch Spekulationen seines Vaters verloren. Der Kauf belastete den Professor mit mehr als einer Milliar de Lire. Die Zinsen waren hoch, und alles wollte bezahlt sein. Daher war Dr. Magno Terminus Nebeneinkünften nicht ab geneigt. Und da große Gehirnoperationen selten waren, befaßte er sich unter anderem auch mit Gutachten und Analysen. Als man ihm an diesem Freitagmorgen einen Thermosbehäl ter auf den Labortisch stellte, wußte er genau, was damit ve r bunden war. Nämlich eine wissenschaftliche Arbeit von be achtlichem Niveau und ein Honorar von fünfzigtausend Dollar. Sein Assistent las das im Thermosbehälter eingebaute Ther mometer ab. „Noch null Grad, Professore.“ „Ein zuverlässiges Gerät. Damit werden Organe optimal be fördert, öffnen wir also den Behälter.“ Der Assistent machte sich an die Arbeit. „Ich frage nicht, woher dieses Gehirn kommt“, sagte Profes sor Terminus, „und auch Sie werden jede Frage unterlassen. Unsere Aufgabe besteht darin, festzustellen, ob es etwas gibt, das dieses Gehirn von herkömmlichen menschlichen Gehirnen unterscheidet. Und wenn ja, worin dieser Unterschied besteht. Ist es eine Entartung, eine pathologische Verformung – oder eine Weiterentwicklung im Sinne von Evolution oder Mutati on, und was kann sie bewirken? Nur das ist unsere Aufgabe.“ Der Assistent kontrollierte die Siegel an den Schraubve r schlüssen und schnitt sie auf, ehe er die Verschlüsse öffnete. Als er den Deckel abnahm, dampfte die Kälte von Trockeneis aus dem Gefäß. Der Assistent zog Gummihandschuhe an, griff hinein und nahm das Glasgefäß heraus. 67
In der konservierenden Euro-Collins-Flüssigkeit schwamm ein Gehirn, graue Substanz, zu gleichförmigen Wölbungen gewellt. Ein Spotlight, ein kleiner Scheinwerfer, wurde auf das Ge hirn gerichtet. Der Professor betrachtete es zunächst rundherum. Dann wandte er sich an seinen Assistenten. „Alles bereit?“ „Fertig, Professore.“ Magno Terminus nahm durch tiefes Luftholen Anlauf. „Dann heraus damit! „ Die Auftraggeberin war schön, aber unnahbar. Sie verbarg ihr Gesicht hinter einem modischen Schleier, der vom käppiar tigen Hut bis zum Kinn reichte. Sie unterbrach das medizinische Chinesisch des Professors und fragte: „Wie, bitte, lautet das übersetzt für Durchschnittsitaliener?“ Terminus versuchte, sich populär zu fassen. „Das Gehirn ist das Zentrum, das die aus der Umwelt ko m menden Reize auffängt und verarbeitet.“ „Das ist mir bekannt, Professore.“ „Die Funktion des Gehirns ist weitgehend erforscht. Aller dings sind in ihm auch unbekannte gehirnferne Mechanismen eingebaut“ „Zum Beispiel?“ fragte die Auftraggebern. „Das Gehirn ist beim geschichtlichen Menschen auf eine be stimmte, immer gleiche Weise konstruiert. Zwei halbkugelige Hemisphären sind durch Balken zu Zwischenhirn und dritter Hirnkammer miteinander verbunden. Darin ruhen eingebettet die Ventrikel. Sie sind durch Kanäle mit der dritten Kammer, ein Stockwerk tiefer im Mittelhirn, verknüpft.“ Die Auftraggeberin unterbrach den Professor nochmals. 68
„Die allgemeine Geographie des Gehirns interessiert mich wenig.“ „Aber gewiß die Besonderheit dieses Präparats“, vermutete der Experte. „Va bene. Die Neurologic hat schon vor Jahrzehn ten mit großem Forschungsaufwand eine sogenannte Hirnkarte mit dem Sitz der jeweiligen Aktionen geschaffen. Man weiß ungefähr, welche Bezirke Glück, Zufriedenheit oder Wut aus lösen. Man kennt die Schaltstellen, die Instanzen und Oberin stanzen. Nun gibt es besagte vier Ventrikel…“ „Hirnkammern“, zeigte die Sizilianerin sich informiert. „Sie stehen untereinander in Verbindung und haben einen of fenen Anschluß an die sogenannten Liquorräume. An die Ge hirnflüssigkeit also.“ „Bitte, Professore“, drängte die Auftraggeberin. „Kommen Sie endlich zu dem Punkt.“ „Ich bin gerade dabei“, sagte der Mann mit dem Zeloten schädel. „Nur noch etwas Geduld. Diese erwähnte Flüssigkeit nun darf ihren Druck nicht erhöhen. Das wird durch einen natürlichen Abfluß ausgeglichen, den wir Absorption nennen. Ist dieser Druckausgleich genommen, kommt es zu Erkrankun gen vielfältiger Art.“ „Und wie stellt sich das in unserem Falle dar?“ Der Professor zeigte der Auftraggeberin eine Reihe von Fo tos. „Sehen Sie hier diesen Lappen? Er ist außergewöhnlich. Nur einmal in meinen dreißig Berufsjahren als Neurologe hörte ich von einer ähnlichen Verformung. Sie stört den Ablauf des Liquors. Das kann bei Kleinkindern zu Hydrocephalus, zu Wasserkopf, führen, aber auch zu ganz außergewöhnlichen Ereignissen.“ Cora Calabrese deutete auf die Vergrößerung. „Was enthält dieser Fleischlappen?“ 69
„Das wissen wir nicht“, bedauerte Magno Terminus. „Wie entsteht er?“ „Durch Mutation, durch ein Spring-Gen etwa.“ „Wo“, bohrte die Auftraggeberin weiter, „sind Sie diesem Evolutionsschub schon einmal begegnet?“ Der Wissenschaftler drückte die Brille bis zum ergrauenden Haaransatz und hob die Schultern in einer hilflosen eckigen Bewegung. „Ich selbst hatte erst heute das Glück. Aber es gibt Beweise, daß man an einem Gehirnpräparat in China schon die gleiche Veränderung fand.“ „In China?“ fragte Cora Calabrese erstaunt. „An der Medizinischen Universität in Tschunking. Dort exi stiert ein Präparat mit dem gleichen Lappenfortsatz. Man ent nahm das Gehirn einem Kleinkind, das im Alter von knapp drei Jahren verstarb. Bei Liquorstau leben Menschen in der Regel nicht länger.“ „Aber dieses Gehirn ist dreißig Jahre alt“, erinnerte die Auf traggeberin. „Es gibt Ausnahmen, Signorina“, erklärte Terminus ein we nig ratlos. Sie wollte mehr über den Fall in China wissen. Der Gehirnspezialist verwies sie auf das, was er Fachveröf fentlichungen entnommen hatte. „Es gibt einen Experten in Schottland. Dottor Mortimer Pitts burry. Er trägt alles zusammen, was es auf diesem Gebiet der Medizin gibt. Pittsburry spricht diesen sogenannten Kapitoden höchst erstaunliche Fähigkeiten zu.“ Im Laufe des Gesprächs hatte Cora Calabrese alles über das Alfons Metzger entnommene Gehirn erfahren, was auch der Professor wußte. „Ich erwarte Ihr schriftliches Gutachten“, sagte sie beim 70
Verabschieden. „Und wohin soll ich es schicken, Signorina?“ „An meine Adresse in Palermo.“ Der Professor war honoriert. Er hatte nur noch eine Frage: „Es ist rein medizinische Neugier“, schickte er voraus, „Wo her haben Sie dieses entartete Gehirn, das einen Menschen vermutlich zu übernatürlicher Sensibilität befähigt?“ Die schöne Sizilianerin lächelte unter dem Schleier. „Sie werden Ihre Neugier für immer bezähmen müssen, Pro fessore“, entgegnete sie. „Ich denke, meine Antwort ist im Honorar enthalten.“ Das vorläufige Material, Fotos, Skizzen, Vergrößerungen von Gehirnschnitten, wurde ihr in einem braunen Umschlag übergeben. Sie verließ die Universität von Perugia. Am Fenster seines Labors stehend, blickte Magno Terminus ihr nach. Die schöne Sizilianerin bestieg einen großen Lancia Thema und fuhr weg. Es gibt rätselhafte Dinge im Leben, dachte der Professor, vor deren Lösung man sich hüten sollte. 8. Eine Meldung der Genfer Kantonspolizei, wonach man aus dem Lac Leman die Leiche eines außergewöhnlichen, gehirn losen Lebewesens geborgen hatte, gab Urban zu denken. Bald bestand für ihn kein Zweifel mehr, daß es sich um den aus Xanten spurlos verschwundenen Alfons Metzger handeln müsse. Zudem stimmte die Beschreibung: ein Kürbiskopf saß an ei nem apfelstieldünnen Hals auf dem Körper eines Zwerges, der nicht größer war als der Kopf selbst. „Ich wollte ihn noch einmal besuchen“, sagte Urban. „Ich 71
kam zu spät.“ „Wer steckt dahinter?“ fragte der Operationschef des BND. Urban, den Selbstvorwürfe plagten, antwortete: „Man hätte ihm Personenschutz geben müssen. Jeder aus wechselbare Politiker in diesem Land hat eine Leibgarde, aber bei diesem einmaligen Geschöpf hätte man wohl erst die Ko stenfrage gestellt.“ „Wer“, wiederholte Sebastian, „ist schuld?“ Urban wußte es nicht. Er versuchte auch keine Erklärung zu geben. Nur eines fiel ihm dazu ein. „Mortimer Pittsburry fühlte sich als Übervater all dieser Ka pitoden. Auch er wurde ermordet.“ Der Fettbauch des Obersten wölbte sich über die Hose und sprengte schier den Mittelknopf des Sakkos. Während Urban auf die Explosion wartete, bemerkte der Alte: „Jaja, die Drüsen.“ „Oder der Frust.“ „Und Ihr verdammter Frust hat uns diese Sache einge brockt“, polterte der Alte. „Es wäre so oder so hochgekommen.“ „Was ermittelte der Yard in Edinburgh?“ „Herzschuß aus schallgedämpfter Pistole, Kaliber sieben fünfundsechzig. Ein Taxifahrer brachte einen dunkelhaarigen Mann zur Universität und wenig später zum Bahnhof. Er sprach American-Englisch mit Akzent. Aber den Akzent kann der Taxifahrer nicht näher definieren,“ „Man fand Metzgers ausgehöhlte Leiche viele hundert Kilo meter weit von Xanten entfernt in der Schweiz“, erwähnte Sebastian. Urban fügte etwas hinzu, das zunächst nur eine Facette zu sein schien. „Im Altenpflegeheim kannte man die Krankenschwester, die 72
Metzger umsorgte, gar nicht näher.“ „Wie kam sie dann hinein?“ „Sie beschäftigen Aushilfen. Bei dem Personalmangel sind sie für jedes Paar Hände dankbar. Doch das wird noch über prüft.“ „Gibt es Spuren des Kidnappings?“ „Breitreifenabdrücke, Marke Good-Year. Ein Loch am unte ren Zaun und zertrampelte Gänseblümchen. Nichts sonst.“ „Manchmal“, seufzte der Oberst, „überfällt einen der Wunsch wegzulaufen.“ „Genau“, sagte Urban und fuhr nach Hause. Er war nur wenige Minuten da, als er Besuch bekam. Die schöne Golfspielerin stand draußen. Wasserstoffblond wie Jean Harlow. Links hielt sie ein rundliches Paket in Alufolie, rechts ein längliches. „Hallo, Zimmermann!“ rief er. „Geräucherte Ente und französischer Rose“, sagte sie. „Ist das was?“ „Und das Dessert?“ „Das bin ich.“ „Und ich bin eigentlich auf Diät.“ Sie umarmte und biß ihn und öffnete die Lippen, um mit der Zunge zu spielen. „Wir sind doch scharf auf uns, Liebling! Warum sagst du nicht die Wahrheit?“ „Warum sollte ich“, sagte Urban.
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Irgendein unverschämter Mensch hatte Urbans Privatnummer gewählt und klingelte sich in seine Intimsphäre. Da die Einführungsrunde mit der Banklady schon gelaufen war, hob Urban ab. Es war aber kein Anruf aus dem Hauptquartier oder vom Tankwart, daß der Wagen gewaschen sei. Urban vernahm hef tiges Atmen. Da holte einer vor dem Start zum Hundertmeter lauf noch einmal tief Luft Urban meldete sich nie mit seinem Namen, nur mit Hallo oder Ja bitte. Und wenn einer fragte: Welche Nummer haben Sie? pflegte er gegenzufragen: Und welche Nummer wollen Sie bitte? „Mister Urban?“ Zwei Dinge fielen ihm sofort auf. Es war eine dunkle, ein wenig rauhe Frauenstimme, und Englisch war nicht ihre Mut tersprache, „Was kann ich für Sie tun, Gnädigste?“ „Sie suchen nach den Entführern von Alfons Metzger.“ „Nach seinen Mördern“, verbesserte er. „Wir haben ihn nicht entführt und nicht umgebracht.“ Jetzt projizierte die Stimme ein verschwommenes Bild auf die große Mattscheibe seines Gedächtnisses. Urban sah hasel nußbraunes Haar, dunkle, leuchtende Augen unter schweren Lidern. Ein Madonnengesicht „Schwester Cora?“ fragte er. „Nicht wir waren es“, wiederholte sie, „sondern Ihre Freun de.“ „Was wissen Sie, Cora?“ „Daß Sie Ihren Freunden mißtrauen und uns vertrauen soll ten.“ „Wer ist wir?“ „Besser, Sie arbeiten mit uns zusammen. Besser für Sie, für 74
uns alle. Sie hören von mir. Bald.“ „Cora…“ Er sprach nicht weiter, denn sie hatte aufgelegt. Urban saß im Himmelbett des bayerischen Terroristen Schmied von Kochel und steckte sich eine Zigarette an. Er dachte so sehr nach, daß er die schöne Blonde neben sich völlig vergaß. „Was war?“ fragte Vira Zimmermann. „Nichts.“ „Warum bist du so schweigsam? Ein depressiver Schub et wa? Dachte nicht, daß ein so kurzes Gespräch dich dermaßen umhaut, Oberst.“ Was verstand sie davon? Sie hatte keine Ahnung. – Und er hatte auch keine. Er knüllte das Kissen in den Rücken und starrte vor sich hin. Er war ganz woanders, und ihre Stimme war ungeheuer weit weg. „Sag doch was, Urban.“ Erst als er ihre Hand spürte, war er wieder zurück von der Reise und in München, in Schwabing, in seinem Penthouse, in seinem Bett. „He, sag doch was!“ „Was?“ „Irgend etwas.“ Er bemühte sich angestrengt. Es fiel ihm nichts ein als ein blödes Wortspiel. „Was bedeutet das?“ fragte er. „Zwei Eier, eine Liebe, ein Mann, eine Frau und ein Zimmer.“ Sie rutschte herüber und drückte sich eng an ihn. Er spürte die feuchte Wärme ihrer nackten Haut auf der sei nen. „Ich weiß es.“ 75
„Dann sag’s!“ „Nein, sag du es.“ „Es bedeutet: Ei, ei, liebe Frau Zimmermann.“ Sie zog den rechten Handschuh aus und zeigte ihm ihre gold lackierten Krallen. „Du kannst einem jede Hoffnung nehmen.“ „Ich bin ein Ekel“, gestand er. Im Büro des BND-Vizepräsidenten stand ein Mann im grauen Flanellanzug. Dazu trug er ein rotes Jerseyhemd und einen grünen Binder. Immerhin waren die Schuhe schwarz. Schwere, auf Leisten gearbeitete zwiegenähte Apparate, vorne ziemlich rund. Allein daran wäre er als Amerikaner zu erkennen gewesen. Urban jedoch kannte auch sein Gesicht. – Er war diesem grin senden Sunnyboy erst in Brüssel begegnet Diesmal aber herrschte trübes Wetter. Colonel Coster von der CIA hatte ausdrucksmäßig den Regenschirm aufgespannt. Ein wenig müde reichte er Urban die Hand. „Tut mir leid, Commander, daß Sie meinetwegen so früh…“ „Naja, ist gleich Mittag“, entschuldigte Urban ihn. Der Vize saß nur aufmerksam dabei. Er sagte kein Wort und hielt sich raus. Der Amerikaner stand immer noch, als habe er wer weiß was zu verkünden. Urban plagten schlimme Ahnungen. „Ich muß das unbedingt persönlich bereinigen“, erklärte der Amerikaner. „Mit einem Brief oder durch einen Anruf ist das nicht getan.“ „Na, dann beginnen Sie mal schön, Colonel.“ „Natürlich bin ich Angehöriger des amerikanischen Geheim dienstes, aber persönlich habe ich mit dieser Geschichte nichts 76
zu tun. Ich gab nur Informationen weiter. Dann hat man mich weder gefragt noch zu Rate gezogen. Man hat einfach be schlossen und gehandelt.“ „Und ist auf die Schnauze gefallen“, ergänzte Urban. „Schwer“, gestand der Amerikaner. „Ich fürchte, es ist die schlimmste Panne, die der Agency in diesem Jahr unterlief.“ „In den letzten zehn Jahren“, erweiterte Urban das Angebot „Es gibt keine Entschuldigung dafür.“ „Darf man endlich erfahren, um was es geht?“ machte der britisch zurückhaltende Vizepräsident sich jetzt bemerkbar. Er steckte sich eine von seinen flachen Nil-Zigaretten an, den unverfälscht nikotinkräftigen unentmannten. Schon die ersten feinen Rauchschwaden ließen das Aroma ahnen. Es stank nicht nach Papier und Kohlefilter. Colonel Coster war immer noch bei der Vorrede seiner Er klärung. Ein Zeichen, wie peinlich ihm alles war. „Ich kam, so schnell ich konnte, hierher. Die Zusammenar beit unserer Dienste darf doch nicht… nicht durch so eine Sa che getrübt werden. Eine Maßnahme, die man an oberster Stel le in Washington aber für notwendig hielt.“ „Notwendig und machbar sind zweierlei“, gab Urban zu be denken. „Man hielt sie durchaus für machbar.“ „Aber sie wurde offenbar falsch gemacht.“ „Gentlemen“, ließ der Vizedirektor sich vernehmen, denn es wurde allgemein Englisch gesprochen. „Gentlemen, bitte. Klar text.“ Endlich setzte auch der lange Ami sich wieder, faltete die Hände und sagte: „Kurzum: Auf Grund der Sachlage und der zunehmenden Wichtigkeit des Objektes Alfons Metzger, sahen wir seine Sicherheit in einem unbewachten Altenpflegeheim am Rhein 77
nicht mehr für gegeben. Es wurde beschlossen, ihn als das zu betrachten, was man eine Spur in die Zukunft nennt. Die Spur zu einer möglicherweise weltgefährdenden Entwicklung im Jahr zweitausendzehn. Okay, wir hatten in Brüssel beschlossen, daß wir gemeinsam etwas unternehmen wollen. Aber es gab Kräfte bei uns, die auf schnelles Handeln bestanden.“ Inzwischen hatte der BND-Vize sich in den Fall eingeklinkt. „Dann haben Sie ihn also entführt.“ „Und getötet“, fügte Urban hinzu. „Nur entführt“, schränkte Coster ein. „Dies unter Berück sichtigung aller nur denkbaren Vorsichtsmaßnahmen. Metzger wurde unter ärztlicher Aufsicht quasi in einem Krankentrans portwagen abgeholt. Er sollte in eines unserer medizinisch psychologischen Zentren gebracht werden.“ „Unter Narkose?“ fragte Urban. „Unter ärztlicher Überwachung.“ Der Amerikaner arbeitete nervös mit den Händen. Seine Finger führten miteinander Ringkämpfe aus. „Der Transport wurde auf einer Nebenstraße in einem einsamen Waldstück abgefangen. Unser Kommando wurde kampfunfähig gemacht, das Objekt entführt.“ „Ein Entführter wird entführt“, kommentierte Urban kopf schüttelnd. „Wenn Alfons Metzger starb, dann nur, weil diese Leute ihm nicht die nötige Versorgung zuteil werden ließen.“ Immer sind die anderen schuld, dachte Urban. Und am Ende will es nie einer gewesen sein. „Diese Leute“, fragte der Vize. „Wer sind diese Leute?“ „Vermutlich eine italienische Gruppe, Sir.“ „Im Zweifelsfalle stets die Mafia.“ „Auch eine Frau war dabei“, ergänzte Urban. Der Amerikaner fuhr zusammen, dann herum. „Woher wissen Sie das, Commander Urban?“ 78
„Lassen Sie mir doch meine kleinen Geheimnisse, Coster.“ „Verdammt, wenn Sie das wissen, müssen Sie ebenfalls die Finger drinhaben.“ „Haben wir auch.“ „Dann gibt es vielleicht sogar drei schuldige Gruppen.“ Urban hielt es nicht für nötig, der CIA gegenüber Erklärun gen abzugeben. Er wandte sich an seinen zweithöchsten Vo r gesetzten: „Ich erhielt einen Anruf von Schwester Cora. Sie beschuldigt die CIA und riet uns zur Zusammenarbeit mit ihr.“ Coster fragte: „Wer ist Schwester Cora?“ „Die Frau, die offenbar zu der Gruppe gehört, die Ihren Transport überfiel.“ Coster pumpte sich künstlich auf. „Woher kennen Sie ihren Namen, Colonel Urban?“ „Es gelang ihr, irgendwie in das Altenpflegeheim einzudrin gen und dort für kurze Zeit die Stelle von Metzgers Pflegerin zu übernehmen. Ich habe das überprüft. Metzgers langjährige Pflegerin erkrankte, Vielleicht half man dabei etwas nach. Dann meldete jene Cora sich als Ersatz. Da in solchen Heimen immerzu Personalmangel herrscht, akzeptierten sie gerne die Aushilfe. Mehr konnte man mir nicht dazu sagen.“ Der Amerikaner saß da, geknickt wie Napoleon nach der Schlacht bei Waterloo, und bat um eine Tasse Kaffee. Später rückte der Amerikaner damit heraus, wie sein Dienst die Panne auszubügeln gedenke. „Wir haben mittlerweile das Kommando zweitausend ins Leben gerufen.“ „Das ging ja flott.“ 79
„Well, binnen eines Tages. Zwei Under-Cover-Agenten im Libanon – der eine arbeitet auf christlicher, der andere auf moslemischer Seite – suchen Maria und Josef.“ Der Vize war wieder am Rande seiner Informationsbreite an gelangt. „Verstehe ich richtig?“ „Maria und Josef“, erklärte Urban, „sind die Decknamen für das Paar, das sich nach Aussage mehrer Kapitoden irgendwo an der Levante begegnen wird, als gemeinsame Urheber jenes Überwesens, das nach der Jahrtausendwende aktiv werden soll.“ „Zum Nutzen oder zum Schaden der Welt“, ergänzte der Amerikaner. „Wobei meist des einen Schaden des anderen Nutzen ist.“ „Das ist immer so bei machtpolitischen oder weltwirtschaftlichen Interessen“, kommentierte der Vizepräsident. „Nun mal allen Ernstes und unter Männern, die noch ihre fünf Sinne beisammen haben. Glaubt man wirklich an diesen Schwach sinn?“ „Wir würden liebend gern nicht daran glauben“, beteuerte Urban, „aber die Parameter zeigen an, daß wir Maßnahmen ergreifen müssen.“ „Sonst wirft man uns eines Tages vor, daß wir geschlafen hätten.“ „Meistens wirft man uns vor, wir wären zu wach gewesen, hätten überstürzt und voreilig mit übertriebenen Mitteln gehan delt.“ Der Amerikaner suchte bei Urban Hilfe. „Commander Urban, bitte.“ „Colonel Coster“, faßte Urban zusammen. „Zwei Ihrer Agen ten suchen also in einer restlos zerstörten Stadt, wo sich in jedem Keller eine andere Milizgruppe versteckt, nach Maria 80
und Josef. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen,“ „Gleichzeitig laufen in Washington und auch in Moskau kompetente Programme durch die Computer. „ „Metzger deutete an“, erläuterte Urban seinem Chef, ,4aß Jo sef ein aus Rußland geflohener Dissident, ein Antikommunist oder sogar ein Terrorist sei, der im Libanon Schutz sucht. Und bei Maria könnte es sich um eine Palästinenserin handeln, die von den Israelis gejagt wird.“ „Wir nehmen selbstverständlich auch Kontakte mit dem is raelischen Geheimdienst Mossad auf“, fuhr Colonel Coster fort. „In Tel Aviv wie in Moskau wird auf heißen Drähten nach den beiden gefahndet. Die Sowjets überprüfen die Szene der Regimegegner von Wladiwostok bis Leningrad, also alles, was frei herumläuft oder in Lagern und Gefängnissen sitzt! – Ähn lich gehen die Israelis vor. Ihre Agenten im Libanon we rden ständig mit den neuesten Informationen gefüttert. – Noch lie gen keine Ergebnisse vor, aber man verfolgt schon Spuren, und wir sind voller Hoffnung.“ Das letzte Wort war längst verklungen, als der BND-Vize endlich in die Stille sagte: „Und wenn sich die Hoffnung erfüllt?“ ,,Das würde bedeuten, daß wir die beiden haben.“ „Und dann?“ „Wird man weitersehen.“ „Auf welche Weise? Wie wird man vorgehen? Wieder mit Entführung oder mit lebenslänglicher Haft?“ „Bliebe ja noch übrig, die beiden operativ unfruchtbar zu machen“, äußerte Urban sarkastisch. „Ware das nicht die von der CIA bevorzugte eleganteste Lösung?“ Unter normalen Umständen hätte der Colonel diese Spitze nicht hingenommen. Aber sie hatten ihr Gesicht verloren und 81
brauchten die Unterstützung des BND. „Vielleicht gibt es noch andere Lösungen“, bemerkte er reichlich schwach. „Erst muß man sie haben. Und das wird schwer sein.“ „Praktisch unmöglich.“ „Und dann“, der Amerikaner hob den Zeigefinger, „existie ren ja noch andere Interessengruppen, wie die Vorgänge am Rhein und der Anruf bei Ihnen, Commander Urban, bestäti gen.“ „Gehen Sie ruhig davon aus, Colonel“, betonte Urban, „daß wir unsere Hausaufgaben machen werden.“ Man vereinbarte, in engem Kontakt zu bleiben. Als Colonel Coster sich verabschiedet hatte, fragte der BNDVize seinen Agenten Nr. 18: „Trauen Sie ihm?“ „Coster schon.“ „Wem aber nicht?“ „Leuten, die panische Angst haben.“ „Denen traue ich auch nie“, gestand der Vize. „Nie“, bemerkte Urban, „ist noch viel zuviel.“ 9. An manchen Tagen schossen sie mit allen Kalibern und ließen die Trümmer tanzen. Das geschah meist dann, wenn aus Syrien Nachschub kam oder Munitionstransporter in den Häfen lagen. Es war, als ballerten sie hinaus, was sie hatten, ehe die Waf fen bei dem feuchtheißen Klima Rost ansetzten. Der Krieg um Beirut hatte sich so brutalisiert, daß Granat werfer und Maschinenpistolen besser mit Futter versorgt wur den als die Einwohner. – Ein Toter war nichts, eine Kanone alles. Die Menschen verkamen, krepierten, verrotteten, starben 82
dahin. Die einen schreiend, die anderen leise jammernd, die einen fluchend, die anderen stumm ergeben und betend. Die einen starben in der Gluthitze mit unzähligen Mücken auf den eiternden Verbänden, die anderen verfaulten in Regen und Schlamm. Die Überlebenden hungerten und schwebten Tag und Nacht in Angst Aber die Kämpfe gingen weiter. Im Norden starben sie für Machtinteressen, für die Christus herhalten mußte. Im Süden wehten die Fahnen Mohammeds, des Propheten. Auf diese Weise kamen in diesem Jahr schon dreißigtausend um. Fanatische AMAL-Milizionä re hatten sie gefangen, brutal verhört und getrennt. Aber eine gnädige Werfergranate hatte das Stabsquartier des Kommandanten voll erwischt. Sie hatte die Stockwerke durchschlagen, war über dem Kellergewölbe detoniert und hatte alles in Fetzen gerissen. Mauerwerk, Beton und Körper. – Im Keller hatte sie nur die Zwischenwände der Zellen zum Einsturz gebracht. Keine Werfergranate der Welt hatte diese Wirkung. „Jetzt setzen sie schon Mörser ein“, sagte der Mann, dessen Bart und Haar seit Wochen wild wucherten und dessen Haut von Läusen zerstochen war. Jemand keuchte, als bekäme er keine Luft Hustend entwi k kelte sich eine Stimme. „Mörser, was ist das?“ „Steilfeuergeschütze“, sagte er, „mit mindestens Kaliber dreißig Komma irgendwas.“ Mit einemmal begriff er, daß die Stimme aus dem Dunkeln keine Halluzination war. In den Wochen seiner Einzelhaft hatte er sie immer wieder vernommen. Bis hinein in seine Schmerz 83
delirien war sie ihm gefolgt. Aber jetzt war diese Stimme echt. Er wagte kaum zu fragen. Die Vorstellung, daß sie es sein könnte, war zu wundervoll. „Joshew“, hörte er seinen Namen. Und noch einmal: „Jos hew!“ Endlich wagte er zu antworten. „Marisha?“ Er preßte den Arm, so gut die Ketten es zuließen, vor sein Gesicht, um den Kalkstaub und die Brandgase nicht einatmen zu müssen. Er hörte, wie Steine und Geröll bewegt wurden, als versuche ein Verschütteter sich davon zu befreien. „Joshew!“ Er biß sich ins Gelenk seiner Hand. Es schmerzte. Das be deutete, daß er wach war. „Marisha!“ schrie er. Im grauen Licht, das durch Risse und Sprenglöcher drang, sah er, daß sich etwas bewegte. Eine Gestalt, tastend, wankend, kam auf ihn zu. Es dauerte endlos, aber dann war sie da. Sie hatte ihn gefun den. Ihre Hände suchten nach seinem Gesicht. Er spürte ihre Nähe, wie sie ihn umarmte und küßte. Sie räumte den Schutt weg. „Joshew, mein Gott.“ „Marisha“, flüsterte er. „Du lebst.“ „Und du?“ „Ein wenig. Hilf mir“, sagte er. „Meine Beine, sind sie noch an mir?“ Er fühlte ihr Tasten, den Druck ihrer Finger an seinen Schenkeln. Ja, er hatte noch Gefühl. Er versuchte sich zu be wegen. Es ging nicht. „Hilf mir“, bat er sie. „Dazu bin ich da“, sagte Marisha. 84
Das Haus war so zerstört, daß sich niemand in den Keller wag te. Weder Plünderer noch Behausung Suchende. Außerdem lag es in der neuen Kampflinie nahe der Ahmed-Tabarra-Straße. Bei Tag und Nacht wurde aus Werfern, Haubitzen und Ma schinengewehren geschossen. Ab und zu heulte eine Rakete von den Suleiman-Höhen herüber. Am Freitag explodierte das Butangaslager im Dora-Viertel und erschütterte die ganze Stadt. – Die zwei im Keller über standen auch das. Irgendwo rann Wasser. Ein aufgerissenes Rohr ließ es in die Tiefe tröpfeln. Und mittags stand über einem Mauerloch sogar die Sonne. Marisha, die Palästinenserin, die man besser behandelt hatte als Joshew, den russischen Dissidenten, war ständig unterwegs wie eine Ratte. Sie fand Konserven und grub auch einen ve r beulten Army-Verbandskasten aus dem Schutt. Sie versorgte Joshews Wunden und massierte immer wieder seine Fußknöchel. Sie überredete ihn, daß er aufstand und zu gehen versuchte. „Sie sind gebrochen.“ Vor Schmerzen gab er auf. „Sie haben mit Gewehrkolben draufgedroschen.“ Sie tastete die Füße ab und schüttelte den Kopf. „Nichts ist gebrochen. Ich weiß es, ich habe im Lager bei ei nem Arzt gearbeitet. Bis die PLO den Kibbuz angriff und die Armee das Lager ausräucherte.“ Sie hatte ihm erzählt, daß sie Palästina nicht habe verlassen wollen, daß man sie aber für eine Terroristin hielt, weil sie einem verletzten PLO-Kämpfer eine Morphiumspritze gesetzt hatte, die aus israelischen Armeebeständen stammte. Man hatte sie zu anderen Todeskandidaten in eine Kaserne gesperrt. Sie war entkommen und seitdem auf der Flucht. „Nie hättest du dich mit mir einlassen dürfen“, sagte der 85
Russe. „Sie waren immer okay zu dir. Erst als ich kam, begann dein Unglück.“ „Und mein Glück“, gestand sie, ohne aufzublicken. „Leute wie mich, Ausländer, Intellektuelle, die will niemand haben. Man sperrt sie ein und schiebt sie ab. Für die einen bin ich ein Staatsfeind, für die anderen ein Spion. Aber ich habe nicht klein beigegeben. Ich sagte, ich sei kein Spion, sie aber seien die Hundesöhne Allahs.“ „Ein Wunder, daß du noch lebst“, bemerkte das Mädchen. Der Verbandskasten enthielt ein alkoholisches Gel. Damit massierte sie seine Beine. Außerdem fand sie im Kasten ein medizinisches Handbuch in drei Sprachen und darunter noch Papiere. Sie steckten in einer Plastikhülle. Sie zog sie heraus und ging damit ans Licht. Plötzlich vernahm Joshew ihren Schrei. „Bei Allah!“ rief sie. „Allah schützt die Liebenden.“ „Was ist?“ Sie zeigte es ihm. Sie hatte die Kriegskasse der AMALGruppe gefunden. Fast zehntausend Dollar. In der Nacht griff General Aoun im Norden wieder an. Aber die Einheiten der Kommandantes schlugen die Christen zurück. Gegen das Geschützfeuer und den hellen Schein der Leucht granaten suchten sie Schutz in den Trümmern des alten Kom mandogebäudes. Dabei schienen sie erkannt zu haben, daß der Keller noch intakt war. Also würden sie wiederkommen. „Nein, sie kommen nicht“, sagte Joshew. „Unter den Trüm mern verwesen die Leichen. Noch zwei Tage diese Hitze, und der Pestgestank bildet eine Mauer.“ „Trotzdem müssen wir weg“, entschied Marisha. Sie machten Gehübungen. Bald konnte er schon ohne ihre 86
Hilfe ein paar Schritte zurücklegen. Inzwischen hatte Marisha einen Ausgang gegraben. „Wenn es dunkel ist“, sagte sie, „schaue ich mich draußen um.“ „Und wenn sie dich wieder schnappen?“ „Ich passe schon auf.“ „Wir haben nicht zweimal Glück.“ „Sogar dreimal“, erwiderte sie. „Zweimal hatten wir schon Glück, nämlich, daß wir uns fanden und daß wir leben.“ Getroffen hatten sie sich an einer Tankstelle. Er hatte einen Lastwagen gefahren und sie einen Jeep. Dann war eine Granate eingeschlagen und hatte das fürchterlichste Feuer, das er je erlebt hatte, verur sacht. Benzin war auf Marisha gespritzt. Ihre Kleider hatten Feuer gefangen. Er hatte sie weggeschleift und das Feuer er stickt. Dann hatte er sie in ein Haus getragen. Seitdem waren sie beisammen. „Sie haben dich beim Verhör geschont. Aber baue nicht auf ihre Nachsicht“, warnte er. „Sie schonten mich“, sagte sie, „weil ich sagte, ich sei schwanger. Schwangere Frauen rühren sie nicht an.“ Mit seinem vernarbten Gesicht versuchte er zu lächeln. „Bist du schwanger?“ „Vielleicht“, sagte sie. „Von dem einen Mal?“ „Es war mehr als einmal“, rechnete sie ihm vor. „Und es gibt Frauen, die schlafen einmal im Leben mit einem Kerl und bekommen Zwillinge.“ Sie machte sich ein wenig zurecht. „Wie sehe ich aus?“ fragte sie. „Elegant“, sagte er. Der graugrüne Uniformrock war zerrissen und hatte Brand 87
flecke. Die Bluse war dreckig und verschwitzt. Sie band ein Kopftuch um und beeilte sich, damit er ihr nicht noch Verhal tensmaßregeln mitgab. Sie wußte besser als er, wie man sich in dieser Stadt verhalten mußte. Er verstand eine Menge von Literatur und Sprachen, das hatte er studiert. Sie aber verstand viel vom Krieg, sie war damit aufgewachsen. Gegen Mitternacht kam sie zurück. Sie hatte Brot dabei, ein paar Flaschen Fruchtsaft und zwei Sardinendosen. „Der totale Luxus.“ „Für Dollars kriegst du alles.“ „Wer hier Geld sehen läßt, holt sich den Tod – wie einer, der schwitzend im Wind steht, die Influenza.“ „Zwei waren hinter mir her“, erzählte sie. „Aber ich wurde sie los. Ich bin eine Katze. Du wirst mich noch kennenlernen.“ „Katze“, sagte er. „Marisha, die Katze.“ Über der Stadt glühte die Sonne. Der Gestank der verwesen den Leichen wurde unerträglich. Am Montag kam ein Räumkommando mit Baggern. Sie gru ben die Trümmer um und bestreuten die Leichen mit Kalk, ehe sie sie wegbrachten. „Morgen sind sie da“, befürchtete Joshew. „Also müssen wir jetzt weg. Kannst du gehen?“ „Nein“, sagte er. „Aber ich werde es tun. Notfalls auf Hän den und Knien.“ In der Nacht verließen sie ihr Versteck wie Lemuren, die aus der Erde krochen. Nur westlich in Richtung Libanon wurde gekämpft. Sie ka men unbehelligt durch die Straßen, wo meist nur noch die Fassaden der Häuser standen, bis zum Martyrs-Platz bei dem hohen Minarett. Dort konnte Joshew nicht mehr weiter. 88
Erst hockte Marisha fast verzweifelt neben ihn. Dann mit ei nemmal war sie weg und kam mit einem Kinderwagen wieder. In den half sie ihm hinein und schob ihn mühsam in Richtung zum Hafen. „Kein Taxi war aufzutreiben.“ „Wegen der Ausgangssperren“, sagte Joshew. „Woher hast du…?“ „Fünfzig Dollar.“ „Für diese Karre?“ „Willst du auf der Straße krepieren, oder was?“ Sie schafften es bis zu der Stelle, wo die Port Street in die al te French Street überging. Dann brach der Kinderwagen zu sammen. Humpelnd erreichte Joshew die Kaimauer. Er sagte kein Wort, blickte nur in ihre Augen. Aber sein Blick sagte genug. – Was jetzt? „Schluß, Ende.“ „Nein, weiter.“ „Wohin? Übers Wasser? Zu Fuß?“ „Ich suche ein Boot.“ Einen anderen Weg gab es nicht. Rings um den Libanon war syrisches Gebiet, und auf die Flugzeuge und die Schiffe kam man nicht. Dort standen sie in Schlangen an und bezahlten schon tausend Dollar für einen Quadratmeter Platz an Deck. Sie hockten sich hin und warteten. Im Park drüben jagten verhungernde Hunde verhungernde Ratten. Sie achteten nicht mehr auf solche Geräusche. Im Osten blitzten in den Bergen die Mündungsfeuer der Ab schüsse. Gedämpft rollten die Donner herüber. „Das war eine Neunzentimeter“, sagte Joshew. „Eine russi sche. Ich erkenne sie an ihrem Klängpäng. Immer kläng-päng.“ Später hörten sie einen Motor. Der Motor wurde lauter. „Und das ist ein Jeep“, sagte Marisha. „Ich kenne Jeeps.“ 89
Es war der Wagen einer Ein-Mann-Patrouille der libanesi schen Armee. Der Soldat fuhr ohne Licht, aber es war hell genug, daß er sie sehen konnte. Der Soldat hielt an und stieg aus. Breitbeinig stelzte er mit seinen Stiefeln auf sie zu. Er sprach Französisch. Joshew hatte es studiert. Der Soldat leuchtete Marisha ins Gesicht. Offenbar fand er sie hübsch. „Willst du mich heiraten, Poupette“, fragte er, „für ein Stündchen, he?“ „Hau ab, Arschloch“, entgegnete sie. Er lachte bösartig. „Ich kann auch anders. Aufstehen! Mitkommen, Ihr Gesin del! Wer sich so spät herumtreibt, wird erschossen.“ Joshew war noch nicht lange in diesem verfluchten Land, aber er dachte schon wie ein Terrorist. Er zog das weniger schmerzende Bein an und trat dem Soldaten gegen das Knie. Der taumelte, fing sich aber und zog seine Pistole. „Aufstehen und an die Wand, Mann!“ Joshew rappelte sich hoch. Als er an der Mauer der alten Promenade lehnte, drückte der Soldat ihm den Lauf seiner Waffe unter den Rippenbogen. „Willst du noch mal beten?“ Marisha berührte seinen Arm. „Und wenn ich dich heirate, läßt du ihn dann in Ruhe?“ Der Soldat musterte sie mißtrauisch. Sie gefiel ihm noch immer. Er schaute sich um und deutete zu der Steintreppe, die zum Strand führte. „Dort“, sagte er, „und keine Zicken.“ Vorher fesselte er Joshew. Als er damit fertig war, nahm er das Mädchen beim Arm und zog es hinunter. Am Strand riß er ihr die Bluse auf und faßte ihr unter den Rock. 90
„Leg dich hin, Beine breit. Ich bin ein schneller Freier.“ Sie legte sich hin. Als er sich auf sie warf, stach sie ihm mit dem Taschenmesser in den Rücken. Aber die Klinge war zu kurz. Der Soldat fluchte, sprang auf, legte die Waffe auf sie an und schoß. Doch er traf sie nicht. Sie hatte sich herumgeworfen. Er schoß wieder. Diesmal traf er sie an der Schulter. Ehe er zum dritten Mal schießen konnte, wirbelte von irgendwoher ein dunkler Gegenstand auf ihn zu. Die Wucht schleuderte ihn zu Boden, wo er liegenblieb. „Joshew!“ schrie das Mädchen und rannte zur Straße. Die Arme eines Mannes hielten sie auf. Er preßte die Hand auf ihre Lippen. „Keinen Ton! Joshew ist okay.“ „Wer sind Sie?“ stieß sie hervor. Der Unbekannte schaute sich erst den Soldaten an. „Was ist mit ihm?“ „Es geht ihm gut“, sagte der Unbekannte auf englisch. „Er ist nur bewußtlos.“ Der glattrasierte Gentleman, der den Soldaten mit einem Wurf geschoß umgefällt hatte, sagte, er heiße Dynamit. Daß Dynamit ein Sprengstoff war, das wußten Joshew und Marisha. Daß es ein Deckname war, nahmen sie an. Dynamit brachte sie im Jeep der Patrouille auf die Nordseite zu den Christen und versteckte sie für einen Tag im Gartenhaus einer Villa. Von dort schmuggelte er sie nachts aus der Stadt. Sie fuhren nach Norden, immer am Meer entlang. Sobald sie in die Nähe von Kontrollen kamen, wählte Dynamit einen Umweg. „Zwei Amerikaner“, sagte er, „fielen euretwegen in die Hä n 91
de der PLO. Deshalb kann ich nicht mitkommen.“ „Wohin?“ fragte Joshew. „In der Bucht von El Mina liegt ein Schiff. Am Strand wartet zwischen Mitternacht und zwei Uhr ein Schlauchboot. Es bringt euch hinüber.“ „Was ist das für ein Schiff?“ „Keine weiteren Fragen bitte.“ „Beirut war schon Hölle genug“, erinnerte Marisha sich schaudernd. „Ein Kriegsschiff“, erklärte Dynamit widerstrebend. „Amerikaner? Sechste Flotte?“ „Der Zerstörer eines NATO-Mitgliedstaates“, fügte er noch hinzu. „Man bringt euch in eine Offizierskammer und wird euch gut versorgen. Aber bleibt unter Deck. Drei Tage lang. In Neapel wird man euch an Land setzen. Ich erwarte euch dann in Rom.“ „Wo in Rom?“ Dynamit übergab ihnen einen Zettel mit Namen, Adresse und Telefonnummer. „Und warum kommen Sie nicht mit uns?“ fragte Joshew mißtrauisch, wie ein eben dem Henker Entsprungener. „Ich muß mich erst um die CIA-Agenten kümmern.“ „Und“, fragte Joshew wieder, „warum tun Sie das alles für uns?“ „Das erfahrt ihr in Rom.“ „Okay“, sagte Marisha, „ist okay.“ „Aber warum?“ Joshew gab sich nicht zufrieden. „Wir sind nur zwei unter Hunderttausenden, denen geholfen werden muß.“ Der Mann, der sich Dynamit nannte, wandte sich an das Mädchen. „Eine Frage, auch wenn sie indiskret ist.“ 92
„Nur zu, Sie sind unser Retter.“ „Sind Sie schwanger, Marisha?“ Sie verbarg nur mühsam ihre Verwunderung und die Angst, die diese Frage auslöste. „Woher wissen Sie?“ „Wir haben überallhin Verbindungen, zu Gynäkologen eben so wie zu den Verhörkommandos der AMAL-Milizen.“ „Vielleicht“, sagte sie. „Ist das die Antwort?“ „Vielleicht“, wiederholte sie noch einmal. Wegen eines Umwegs, den sie hinter Byblos machen muß ten, kamen sie zu spät. Am Strand lag kein Boot. Man sah nur Sand, ein paar Felsen und die leere Fläche des Meeres. Der deutsche Geheimagent Robert Urban war sicher, daß es der verabredete Platz war. Also wartete er. Und dann sah er eine Zigarette glühen. Ein Mann war aus einer Felsspalte getreten. Vermutlich hat ten sie das Boot dort in Deckung gebracht. – Die Übergabe fand lautlos und schnell statt. „Bis bald in Rom“, verabschiedete Dynamit sich. „Hoffentlich gesund“ Marisha wünschte ihm Glück. „In unserem Job“, sagte Urban, „gibt es kein Vollkasko.“ Er wartete, bis die graue Hülle des Bootes mit dem Grau des Horizonts verschwamm. Dann stieg er hinauf zu seinem Wa gen. Der Mond nahm zu, die Luft war klar bis hinauf zu den Ster nen. Er saß da, zählte zusammen, was er hatte, und es war verdammt wenig. Eine reichliche Menge blieb noch zu tun. Zuviel für einen Mann allein und für achtundvierzig Stunden. – Er war müde. Die Ungewißheit darüber, wie es weiterging, bedrückte ihn. 93
In der Seitentasche des alten VW steckte eine Flasche Bour bon oder was man im ausgeplünderten Beirut als Bourbon kaufen konnte. Er steckte sich eine MC an. – Er mußte sparsam mit den Zi garetten umgehen. Bei Streß rauchte er mitunter Kette. – Nicht raucher mußten auch sterben. Aber mit Rauchen ging es ein fach besser und mit Whisky und Rauchen noch einen Zacken besser. – Aber jetzt schon Alkohol, kaum daß der Tag begon nen hatte? – Irgendwie mußte er das Tief und die Kopfschmer zen wegkriegen. Er faßte in die äußere Sakkotasche. Wo andere Leute ein Seidentuch oder Präservative trugen, hatte er den Plastikstrei fen mit den kostbaren weißen Bonbons. Er drückte ein Thoma pyrin heraus. Nimm zwei, dachte er, und schluckte sie. Es war kein Luxusdinner, aber sie machten den Kopf frei. Er brauchte Power und Ideen, sonst kam er nie aus der Ecke, in die er ein geklemmt war. Er ließ den Käfermotor an, um noch einmal durch die Hölle zu marschieren. 10. Don Vito Calabrese klopfte nie Sprüche. Eher untertrieb er. „Es ist kein Gerücht“, erklärte er. „Die beiden haben den Li banon verlassen.“ „Und woher weißt du das?“ fragte sein Schwiegervater, der schon über siebzig war. „Hör zu, Don Francesco“, führte Calabrese aus. „Im Westen gibt es kein Land, mit Ausnahme von Kuba, in dem wir nicht über weitverzweigte Organisationen umfangreiche Geschäfte kontrollieren. Wir beginnen sogar in der Sowjetunion Fuß zu fassen. Wie sich zeigt, ist selbst dieses Polizei-Militärregime gegen uns machtlos. Wundert es dich also, daß wir auch Stütz 94
punkte in Nahost errichtet haben? Bei den Arabern, bei den Israelis, den Ayatollahs, von der PLO bis zur AMAL, vom Atlasgebirge bis an den Tigris. Frag also nicht, woher ich das weiß. Frag lieber, was ich nicht weiß.“ „Diese Prophezeiung, ist sie denn ernst zu nehmen?“ Don Vito entledigte sich seines schwarzen Sakkos. Es war einfach zu schwül. Nahezu dreißig Grad. Trotz der dicken Mauern und hohen Decken seines Palazzos. Was nutzten Kli maanlagen, wenn das Personal immer wieder die Fenster Öff nete? Man konnte ihnen sagen, was man wollte. Sie waren dumm wie Ochsen. Trotz der Hitze verzichtete die Amici nicht auf ihren Nach mittagslikör und den Espresso. Als serviert war, fuhr Don Vito fort: „Über Prophezeiungen dieser Art würde ich normalerweise laut lachen – ridere, capisci? – wenn ich nicht selbst ein solches Kopfwesen in der Familie… Nun, du kennst das Problem. Meine Frau, Gott mache sie selig, warf mir vor, ich hätte mir bei einer Hure die Seuche geholt. Ich schwöre dir, ich leide nicht an Syphilis, und mein Sohn war ein Genie.“ „Aber du warst bei Huren“, sagte der Uralte. „Und du gehst heute noch zu ihnen“, bemerkte Don Vito trocken. „Nur, um meine Augen zu erfreuen“, gestand der Alte ki chernd. „Bene d’accordo, du bist am Zug, Vito. Als der große Patrone an der Spitze unserer Familien mit der meisten Compe tenza willst du also vorbeugen.“ „Wehret den Anfängen und den Sirenenklängen“, sagte Ca labrese. „Was hast du vor?“ „Ich möchte dieses Paar, das auch die NATOGeheimdienste als das einzig in Frage kommende ermittelten, 95
zu unseren Freunden machen.“ „Im Sinne von Werkzeug.“ „Notfalls mit Nachdruck.“ „Kein leichtes Unterfangen gegen die USA, die Engländer und die Deutschen.“ „Sie machen Fehler, wir aber nicht.“ „Meinen Segen hast du“, sagte der Uralte. Den brauche ich nicht, dachte Don Vito, nahm ihn aber offi ziell entgegen. Trotz seiner fortgeschrittenen Senilität fragte der Uralte hart näckig: „Wie stellt sich die Lage im einzelnen dar?“ Don Vito stillte Don Francescos Neugier. „Das Liebespaar, aus dessen Verbindung der Über-Kapitode entstehen soll, ist unterwegs. Man brachte sie auf einen deut schen Zerstörer. Solange sie sich dort befinden, sind sie uner reichbar. Aber wir folgen dem Schiff, beobachten es und neh men an, daß man das Paar irgendwo in Italien an Land setzt. Und hier sind wir stark. Hier sind wir die Herren.“ „Man hat gute Leute zu ihrem Schutz angesetzt, denke ich.“ „Die besten. Wir kennen sie alle.“ „Aber was hat die NATO mit den beiden vor?“ „Wir werden es bald wissen.“ „Und dann?“ „Handeln wir vor den anderen. Zwischen uns und den Ge heimdiensten gibt es einen wesentlichen Unterschied. Wir sind schneller.“ „Aber“, wandte der uralte Weißhaarige ein, „gegen ihre Spit zenleute brauchen wir ebensolche Spitzenleute.“ „Gegen ihren besten Mann, meinst du.“ „Gegen diesen Mister Dynamit.“ „Ich setze eine besondere Waffe auf ihn an“, sagte Don Vito. 96
„Die schärfste die ich habe. Eine Frau.“ „Cora?“ „Deine Enkelin, wenn es dir recht ist“, erklärte Don Vito.
„Du bist schön“, sagte Don Vito Calabrese zu Cora. „Männer lieben schöne Frauen. Für sie tun sie alles. Für sie betrügen, rauben und töten sie. Für sie spionieren sie auch. Mach ihn zum Verräter, Cora.“ „Es fällt mir leicht“, antwortete Cora Calabrese. Sie trug eine weiße, enganliegende Saffianlederhose, die sich oberhalb der Schenkel zu einem beachtlichen Hintern ausrun dete, um dann in einer schmalen Taille zu enden. Das Gegen gewicht bildete ihr stattlicher Busen, jede Seite gewiß fünf Pfund schwer und auch ohne Hilfskonstruktion haltbar. „Was fällt dir leicht, Figlia mia?“ „Ihn anzumachen.“ „Das klingt hurenhaft.“ Sie nahm eine aufreizende Körperhaltung ein, indem sie die Hüften nach vorne schob. „Und es ist auch so gemeint, Padre Patrone. Du verlangst von mir Gesetzwidrigkeiten, aber auch Keuschheit. Beides schließt sich aus wie ein Sommertag mitten im Winter. Die Zeiten, wo man den Mädchen in Sizilien ungeliebte Ehemänner ins Bett legte, nur weil sie dem dann paßten, sind vorbei. Wir siziliani schen Mädchen waren immer Huren. Aber heute suchen wir uns unsere Freier selbst.“ Don Vito wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Er war nicht sonderlich gebildet, aber lebensklug. „Du weißt, wie weit du gehen mußt, Cara mia.“ „So weit, wie es Spaß macht.“ „Und Erfolg hat.“ 97
„Erfolg ist wie Geld. Geld erniedrigt Frauen, Spaß erhebt uns.“ „Wollust, Sinnlichkeit“, tat Don Vito es ab. „Du glaubst also, das sei ehrlicher.“ „Es ist das einzige, was zählt“, gestand sie. Es hat wenig Sinn, dachte Don Vito, mit dieser pervertierten Generation zu diskutieren, du ziehst immer den kürzeren. Also beschränkte er sich auf Fakten. ,,Diese Frau ist schwanger oder wird es bald sein.“ „Das ist der Lauf der Dinge, Papa.“ „Den wir beeinflussen müssen.“ „Ich beneide dieses Mäd chen.“ „Keine Sentimentalitäten, bitte“, forderte Don Vito. „Du fährst nach Neapel und wartest dort auf meine Informationen. Du suchst die beiden, findest sie, beobachtest sie und folgst ihnen auf Schritt und Tritt. Wenn dir dieser Dynamit in die Quere kommt, dann…“ „… weiß ich, was ich zu tun habe.“ „Ich verlasse mich auf dich, Tochter.“ „Und wenn alles nach deinen Wünschen läuft“, fragte sie, „was dann?“ Don Vito benutzte nun die Worte seiner Tochter. „Dann werde ich wissen, was ich zu tun habe.“ Das gemeinsame Abendessen verlief so, als dinierten zwei Fremde miteinander. 11. Drei Tage später wartete der BND-Agent Robert Urban in Rom vergebens. Vom Kommandanten des im Mittelmeer operierenden Zer störers Rommel wußte er, daß Maria und Josef in der Flotten basis Neapel wohlbehalten und relativ gesund an Land gesetzt worden waren. Diese Information war über NATO-Süd an das BND 98
Hauptquartier Pullach gelaufen und nicht anzuzweifeln. Aber bei der angegebenen Adresse in der Via Tiburtone kamen die beiden nicht an. Da hatte er unter Einsatz von Leben, Gesundheit und Über stunden die zwei CIA-Agenten bei der AMAL abgelöst und war über Tel Aviv nach Rom gejettet, und nun saß er hier wie bestellt und nicht abgeholt Und dann erschien noch diese rätselhafte Frau auf der Bild fläche. Wenn sie jemals Krankenschwester gewesen war, dann war er Adolf Hitler Schickelgruber, der berühmte Aquarellmaler. Er lag auf dem Bett in seinem Zimmer im Hotel Hassler Vil la Medici mit Blick auf die Spanische Treppe, als sie herein schwebte wie Eleonora die Düse. „Verzeihung, ich habe geklopft.“ „Sie haben nicht geklopft, und ich habe Sie nicht hereingebe ten“, sagte er. „Aber es ist meine Schuld. Ich vergaß, die Tür abzusperren.“ „Ein Mann wie Sie hat keine Angst“, sagte sie. Er zeigte ihr sein angeborenes Lachen, das Freunde für ein Grinsen hielten, Gegner aber arrogant bis unverschämt fanden. „Angst? Vor nichts und niemandem, Gnädigste.“ Sie stand ungefähr im Schnittpunkt der Linien, die man vom Balkon zum Kamin und von der Tür bis zu seinem Bett ziehen konnte. Sie war schön, aber nicht zu schön, also mit jenen kleinen Mängeln behaftet, die eine Frau erst recht eindrucks voll machten. Er war ihr nur einmal begegnet, nämlich im Zimmer des be dauernswerten Kapitoden Metzger. Und wie ihr Anruf damals in der Nacht, so kam auch sie jetzt im falschen Moment. „Woher haben Sie meine Adresse, Cora?“ „Wir“, sagte sie, als würde sie die Weltfirma Siemens vertre 99
ten, „wissen immer, was wir wissen müssen.“ „Und der Portier ließ Sie einfach herauf?“ „Das ist nur eine Frage, welche Zahl auf der Banknote steht, die man dafür ausgibt.“ Bis jetzt hatte er sich nicht bewegt und auch nicht aufgerich tet. Mochte sie es als Unhöflichkeit betrachten. Es war ihm egal. „Wenn Sie“, fuhr er fort, „immer alles wissen, was Sie wi s sen müssen, wozu sind Sie dann gekommen, Gnädigste?“ Sie legte die Tasche ab, schaute sich um und ließ sich auf dem zierlichen Damensessel nieder. Sie saß aufrecht da wie der Zögling einer strengen Erzieherin, die sich eine steinreiche Familie geleistet hatte. Aber wie sie die Beine übereinander schlug, so daß man Knie und ein Stück vom Oberschenkel sah, das hatte sie gewiß in keinem Kloster gelernt. Die Beine waren lang, nicht zu dünn, eher kräftig und eine Wucht. Die Strümpfe hatten den Schimmer der ganz teuren. Die hochhackigen Schuhe mit dem Tupfen Gold, der sich an der Handtasche und den Handschuhen wiederholte, paßten dazu wie Sahne zu frischen Erdbeeren. „Jetzt geht es um mehr als nur um Wissen.“ Urban erinnerte sich. „Um unsere Zusammenarbeit schätze ich.“ „Das schlug ich Ihnen bereits vor. Und es soll Ihr Schaden nicht sein, Mister Dynamit.“ „Wenn ich also ablehne, dann ist es mein Schaden“, folgerte er. „Ihre Dummheit.“ „Signora.“ Solche Damen sprach man mit Frau an. „Signora, Geld, oder was auch immer, reizen mich wenig. Ich bin Agent, das wissen Sie, und ich mache meinen Job. Aber weiter reicht mein Ehrgeiz nicht.“ 100
„Warum“, fragte sie, mit Lippen, die so glänzten, daß ein neuartiger Lack im Spiel sein mußte, „sind Sie Agent?“ „Weil in meiner Familie noch keiner so etwas gewesen ist.“ Sie fühlte, daß er sie nicht ernst nahm und daß er auf diese Weise aus der Sache herauszukommen versuchte. „Sind Sie glücklich, Oberst Urban?“ „Nicht unglücklich“, sagte er. „Das ist schon viel. Und Sie, Cora?“ „Zufrieden“, gestand sie. „Mein voller Name ist übrigens Co ra de Cavallino.“ Er tastete nach den Zigaretten, stieß eine MC heraus und steckte sie an. „Und was, zum Teufel, haben Sie mit der Geschichte zu tun?“ kam er zurück zum Thema. „In Xanten, in München und hier.“ Sie setzte an, beendete nach drei Worten den Satz, formulier te neu und schwieg wieder eine Weile, als fürchte sie, zuviel preiszugeben. „Ich arbeite für eine Gruppe, der an der Prophezeiung dieser Kapitoden mindestens ebensoviel liegt wie den westlichen Geheimdiensten.“ „Und den östlichen“, ergänzte Urban. „Wirklich?“ „Nur zur Abgrenzung“, sagte Urban. „Für den Fall, daß sich unsere Interessen berühren, und damit Sie wissen, mit wem sie es zu tun kriegen, Signora de Cavallino.“ „Unsere Interessen berühren sich längst Aber wir werden uns durchsetzen.“ „Und wie, bitte?“ „Mit allen Mitteln.“ „In Form einer Auseinandersetzung?“ „Kommt darauf an. Unter Umständen schon.“ 101
„Einer bewaffneten?“ „Wir haben keine Angst vor Krieg“, erklärte sie, „aber noch versuchen wir es mit den Mitteln der Diplomatie.“ Er kannte diese Form der Diplomatie. „Sie sind erst zufrieden, wenn wir aussteigen und Ihnen das Gelände überlassen. Stimmt’s?“ Von ihren dunklen Augen ging eine starke Wirkung aus. Das sagte man auch seinen Augen nach, auch wenn sie gegen ihre wundervollen dunkelbraunen nur eisgrau waren. „Meine Gruppe…“ Urban unterbrach sie. „Warum sagen Sie nicht Familie, Clan, Mafia, Cosa nostra?“ „Meine Gruppe“, beharrte sie, „ist mächtig und einflußreich. Sie verfügt über unerschöpfliche finanzielle Mittel und vor allem über eine genaue Marschrichtung, um in der Sache tätig zu werden, vielmehr die Führung zu übernehmen.“ Er konnte sich denken, von welcher Seite das alles kam. Nur unter dem, was sie als Marschrichtung bezeichnete, konnte er sich wenig vorstellen. Er provozierte sie. „Ihre Gruppe als Anführer der Kapitoden. Kapitoden aller Länder vereinigt euch.“ Sie blieb sehr ernst. „Der Präsident unserer Gruppe hatte selbst einen Sohn, der Kapitode war. Er hat es geliebt, dieses Monster, und wird alles tun, um zu verhindern, daß diese fürchterliche Prophezeiung wahr wird.“ „Daß der Weltveränderer einst kommen wird?“ „Sein Erscheinen ist genau terminiert. Es wird um das Jahr zweitausend sein.“ Urban lag noch immer da, und er fand das gut so, denn er er fuhr Sachen, die man im Liegen besser verkraftete. 102
„Dieses Paar“, machte sie weiter, „dem Sie und amerikani sche Agenten aus dem Libanon heraushalfen, muß entweder vor sich selbst geschützt oder für alle Zeiten isoliert werden.“ Er rauchte tief ein und langsam aus. „Dazu müßte man sie erst haben.“ „Sie warten demnach auf die beiden so vergebens wie wir.“ Ein Schulterzucken war seine Antwort. „Ja, wir warten.“ „Aber Sie erfahren etwas schneller, wo die beiden sind.“ „Gewiß.“ „Wir sollten zusammenarbeiten, ehe etwas Unabänderliches geschieht.“ Sein Telefon summte. Es war der Mann, der in dem Haus saß, dessen Adresse man Joshew und Marisha gegeben hatte. Bei ihm liefen alle Infos zusammen. „Ich rufe zurück“, sagte Urban und legte auf. Dann widmete er sich wieder voll und ganz der schönen Frau, die er inzwischen für eine Sizilianerin hielt Sie stand jetzt an der Tür zum Balkon. Die Form ihres Kör pers war für ein Vollweib beinah perfekt. Sie schien jederzeit bereit dazu, den Vulkan ausbrechen zu lassen. Urban rief den Zimmerkellner und ließ Spumante bringen, den bewährten Zungenlöser. Der Cameriere öffnete die Flasche, goß zwei Gläser halbvoll und ging wieder. Sie tranken, tranken sich aber nicht zu. „Kürzlich schienen Sie mir bereit für eine Kooperation“, sag te sie. „Kürzlich war neulich, und neulich war ein anderer Tag, 103
Gnädigste. Außerdem waren Sie es, die Neuigkeiten lieferte. Heute verlangen Sie Hilfe von mir, die ich Ihnen nicht geben kann.“ „Wollen“, ergänzte sie. „Kann“, beharrte er. „Man nennt Sie nicht grundlos Mister Dynamit.“ „Darin liegt eine grobe Überschätzung.“ „Mag sein“, sagte sie abfällig. „Sie kennen eine Menge Tricks, aber vom wahren Leben haben Sie keine Ahnung.“ „So ist es, Signora.“ Sie setzte das Glas ab, stand auf und trat zu ihm ans Bett. Ih re Stimme klang auf einmal heller. „Wir können auch anders.“ „Wollen Sie mein Wissen etwa mit chirurgischen Mitteln aus meinem Kopf herauslösen und meinen Körper mit fehlendem Gehirn in irgendeinen See werfen, wie in Genf geschehen?“ „Metzger war schon tot“, betonte sie. „Ja, er starb wegen unterlassener Hilfeleistung.“ „Signer dottore Urban“, versuchte sie es in einem neuen Ton fall wieder. „Ich kann wirklich auch ganz anders.“ Er ahnte, was jetzt kam. Jetzt folgten die Mittel einer Frau. Offenbar löste der Spumante ihre Hemmungen. Nicht vorstellbar, was daraus entstehen würde. Dieses Vul kanweib und er an diesem Nachmittag in Rom, in diesem Zimmer, in diesem Bett, von Spumante angeregt. – Er schenkte all seine Erfahrungen einem Waisenkind, wenn sie es nicht darauf abgesehen hatte. „Sind Sie verheiratet, Colonello?“ „Sehe ich so aus?“ „Verlobt?“ „Was ist das?“ „Verliebt?“ 104
Er verstärkte sein Lächeln. „Wenn ja, nur zu meinen Bedingungen.“ Sie legte die Kostümjacke ab. „Und diese Bedingungen lauten?“ Langsam ging sie zur Balkontür, schloß sie, zog die Vorhän ge zu, machte Licht, goß Spumante nach, auch in sein Glas. „Salute! – Und diese Bedingungen lauten?“ „Nicht zu Ihren Bedingungen, Cora.“ Sie glaubte ihm nicht, schien aber alles einsetzen zu wollen, um ihn zu gewinnen. Und sie verfügte über ein perfektes Waf fenarsenal. – Das begann bei dem erotisierenden Parfüm bis zu dem, was sich unter der Bluse wölbte und sich dort, ohne we i tere stoffliche Einschränkung, zum Angriff bereitmachte. Während sie die Gürtelschließe öffnete, fragt sie: „Mit wie vielen Frauen hast du geschlafen?“ „Blonden oder Schwarzen?“ „Im Ernst.“ „Also im Winter bevorzuge ich Rote.“ Sie tastete seitlich zum Reißverschluß. „Und warum schläfst du nicht mit mir?“ „Weil man in Sizilien entehrte Jungfrauen heiraten muß.“ Sie zog die Bluse aus. Doch Urban sprang vom Bett. Er öffnete Vorhänge und Fen stertüren wieder und atmete tief die frische Luft, die vom Tiber heraufstrich. Seine Absicht, ihr Angebot abzulehnen, war klar und eindeu tig. „Das wirst du büßen, Dynamit“, zischte sie böse. „Na, wennschon!“ „Mein Ehrenwort.“ „Laß die Ehre lieber aus dem Spiel“, riet er ihr. Sie holte aus, um ihn zu ohrfeigen. Aber nicht einmal das ge 105
lang ihr. Er fing ihre Hand. Dabei kamen sie sich bedrohlich nahe. Es stand in ihren Augen geschrieben, daß er sie fortan zur Todfeindin hatte. – Eine Sizilianerin, die man nicht in sein Bett gelassen hatte, konnte wohl nicht anders. Sie zog sich wieder an, nahm ihre Tasche, ihre Jacke und ging. Es war ein total mißlungener Auftritt. Sie schlug die Tür nicht zu, sondern schloß sie leise. Und das machte alles so verdammt gefährlich.
Urban rief bei der Adresse an, die Joshew und Marisha anlau fen sollten. „Ich räume meine Position“, meldete der Italiener. „Sie kommen nicht mehr.“ Das bedeutete, daß die beiden Rom längst hinter sich gelas sen hatten. Eine andere Auslegung war nicht möglich. Ein Unfall oder ihr Tod hätten Alarm ausgelöst. Doch nach Alarm klang es nicht. „Mein zweiter Mann“, berichtete der italienische Agent, „der im Auto vor dem Haus wartete, sah die beiden. Sie schlender ten die Via Morgagni herunter, bogen ab, gingen auf das Haus zu, blieben stehen, lasen die Schilder an der Klingelleiste und spazierten weiter. – Mein Kollege dachte, sie wären nur über vorsichtig und kämen wieder zurück. Aber sie kamen nicht. – Er fuhr los, begann sie zu suchen und sah sie an der Haltestelle Margherita in einen Bus steigen. Er folgte dem Bus, aber im Nachmittagsverkehr von Rom ist es praktisch unmöglich, eine Verfolgung aufzunehmen. Er geriet von einem Stau in den nächsten. Also ließ er seinen Wagen stehen und rannte zur Stazione Termini. Dort stand der Bus natürlich längst nicht mehr. In den letzten zwanzig Minuten waren mehrere Züge abgegangen. Einer nach Neapel, einer nach Ancona und einer 106
nach Mailand. Mein Kollege nahm nicht an, daß die beiden nach Süden oder an die Adria wollten. Er fragte den Zugabfertiger am Bahnsteig. Der konnte sich an die beiden nicht erinnern, dafür aber der Beamte am Fahr kartenschalter. Er berichtete, daß sie Billetts bis Florenz kauf ten. Das bedeutet aber noch nichts. Man kann jederzeit im Zug nachlösen.“ „Florenz-Verona-Mailand oder Brenner also.“ „Wie es aus sieht, sind sie wieder auf der Flucht nach Ägypten“, spottete der Italiener, „vor Herodes’ Verfolgung.“ „Damals ging es um Jesus.“ „Vielleicht ist sie schon schwanger.“ „Wir müssen jetzt handeln“, entschied Urban. „Sie haben, soweit mir das italienische Eisenbahnnetz gegenwärtig ist, drei Fluchtmöglichkeiten. Florenz-Verona-Brenner, VeronaMailand, Verona-Triest. Der Osten scheidet aus, da kommen sie her, von dort haben sie genug. Schätze, sie versuchen, Itali en so schnell wie möglich zu verlassen.“ „Richtung Österreich, Bundesrepublik, Schweiz.“ „Das sind die vorläufigen Auffanglinien.“ In diesem Moment hörte Urban ein Knacken in der Leitung. Er dachte schon, der Kollege hätte eingehängt, er war aber noch da. „Ich brauche ein Fahrzeug mit Autotelefon.“ „Wird besorgt.“ Wieder das Knacken. Diesmal hatte der SISMIAgent aufgelegt.
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Urban fuhr nach unten und beschwerte sich beim HasslerDirektor. Sie kannten sich gut. Urban war seit Jahren hier Stammgast. „Die Rezeption ließ eine Dame auf mein Zimmer. Nichts da gegen einzuwenden, aber bitte mit vorheriger Anmeldung.“ „Das ist unerhört“, regte der Manager sich auf. „Es lief wohl alles über einen Fünfzigtausend-Lire-Schein. Doch allein darum geht es nicht. Ich führte eben ein Telefonge spräch vertraulichen Charakters mit der Polizia. Es wurde von der Zentrale mitgehört.“ Der Hotel-Manager winkte dem Mann an der Rezeption und der Sekretärin und ließ sie nach hinten in die Telefonzentrale vorausgehen. Dort fegte er eiskalt wie ein Schneesturm im Februar durch. „Nichts gegen Trinkgelder“, sagte er. „Die stehen Ihnen zu, aber zwecks unerlaubter Handlungen Geldscheine zu kassieren, das ist ein Kündigungsgrund.“ Er wandte sich an das Mädchen in der Zentrale: „Telefonistinnen Ihres Kalibers kriege ich jeden Tag ein Dutzend. Sie haben eine Chance. Gestehen Sie! Was geschah während des Gesprächs, das soeben von Zimmer einsvierzehn geführt wurde?“ In die Enge getrieben, gab die Telefonistin zu, daß ein Mann bei ihr in der Zentrale gesessen und mit dem Stilett seine Fin gernägel gesäubert habe. „Er ist mit Signora de Cavallino gekommen und nach ihr ge gangen“, fügte der Rezeptionist hinzu. „Nannte er einen Namen?“ fragte der Hotelmanager. „Die Signora rief ihn Coltello.“ „Und er hörte das Gespräch von Signor Urban mit?“ „Er zwang mich dazu, ihn in die Leitung zu schalten.“ „Womit zwang er Sie? Mit einer Pistole oder mit fünfzigtau send Lire?“ 108
Es waren hunderttausend Lire gewesen und die Drohung, ihr das hübsche Gesicht zu zerschneiden, wenn sie ihn verriet. „Da wurde eindeutig Zwang ausgeübt“, entschied Urban. „Lassen Sie es gut sein, Direttore.“ Der Manager war außer sich. Zumindest jammerte er herum. „Was können wir bloß tun?“ „Der Mann ist fort, die Lady auch“, sagte Urban. „Rufen Sie mir ein Taxi.“ Bis das Taxi kam, hatte Urban seine Klamotten in die Reise tasche geworfen und seine Rechnung bezahlt. Der Hotelmana ger sorgte dafür, daß alles wie geschmiert lief. Dann brachte er Urban noch hinaus. „Werden Sie diesen Vorfall unserem Hause ankreiden?“
„Schon vergessen.“
Der Manager öffnete die Taxitür.
„Ci vediamo, Commendatore.“
„Ja, man sieht sich später“, wählte Urban die italienische
Form für eine unbestimmte Verabredung. 12. „Wir haben den Knopf gedrückt“, berichtete Colonel Coster von der CIA. „Ob Sie es glauben oder nicht, Commander Ur ban, es hat funktioniert.“ „Und das Ergebnis?“ fragte Urban.
Seine derzeitige Position war das SISMI-Büro in Bozen.
„Bis jetzt negativ.“
„Dann hat es nicht sonderlich gut geklappt. Funktion ohne
Ergebnis. Aktion ohne Reaktion.“ „Immerhin hat sich erwiesen, daß die Zusammenarbeit der NATO-Geheimdienste mit Interpol, mit Interkrim, mit dem Yard und FBI funktioniert wie eine gutgeölte Maschine.“ 109
„Eine ziemlich sinnlose Maschine, wenn sie keine Nutzlei stung bringt“, bedauerte Urban. Colonel Coster erwähnte noch einige Fakten. „Alle Fernzüge, Busse, Personenkraftwagen und Trucks, welche die italienische Grenze nach Norden überqueren, we r den überwacht. Die Beamten verzichten seit vierundzwanzig Stunden darauf, Ganoven, Devisenschieber, Rauschgiftkuriere oder was auch immer zu finden. Sie sind nur noch auf zwei Personen fixiert, auf die die Beschreibung von Maria und Josef paßt.“ Urban unterdrückte jede weitere Frage. Er traf eine einfache Feststellung: „Man fand sie aber nicht.“ „Jetzt konzentrieren wir uns auf die Hotels und Pensionen in der Schweiz und in Österreich.“ „Schließt auch die Flugplätze mit ein.“ „Haben die beiden so viel Reisegeld?“ „Eine gefüllte Kasse sogar.“ „Also können sie sich Zelt und Schlafsäcke kaufen.“ „Kümmert euch auch um die Campingplätze.“ „Es heißt, das Mädchen sei schwanger.“ „Das würde die Suche auf Gynäkologen, Kliniken und Sana torien ausweiten.“ „Sowie auf Bethlehems Stall“, höhnte der Amerikaner. „Und was macht der BND?“ „Wir aktivieren Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz und suchen sie im Gebiet der Republik.“ „Wie bleiben wir in Kontakt?“ Urban gab dem Amerikaner die Sammelnummer der Polizei dienststelle in Bozen, bei der alle Informationen zusammenlie fen. „Ein Affe“, sagte Urban, „hebt den Schwanz, und alle ande ren tun es ihm nach.“ 110
„Was bleibt uns sonst noch übrig?“ „Nichts anderes“, sagte Urban. Unter der Nummer der Leitstelle Bozen kam zwölf Stunden später eine Telefonkonferenz zustande. Jeder, der an ihr teilnahm, war berechtigt, gewisse Entschei dungen zu treffen. Allerdings mit einem Vorbehalt. Die Ent scheidung durfte nicht zum Schaden des jeweiligen Diensther ren gefällt werden. Und darin lag die Schwierigkeit. „Entsteht daraus ein Nachteil, wenn wir die Suche nach den beiden einstellen?“ gab der Engländer zu bedenken. „Sie meinen, den Fall abzuschließen?“ fragte der Amerika ner. „Dachte, über die möglichen Konsequenzen sind wir uns in Brüssel einig gewesen.“ „Von Einigkeit war nicht die Rede.“ „Nun, es wurde beschlossen, daß das Kommando zweitau send gebildet wird, um das Projekt Maria und Josef unter Ko n trolle zu bringen.“ „Mit fünf gegen drei Stimmen.“ „Weil Frankreich nicht stimmberechtigt ist, denn es ist kein NATO-Vollmitglied.“ „Herrschaften“, mischte Urban sich ein. „Sind wir hier beim alten Völkerbund oder wo? Es geht doch einfach um folgendes: Wir hinterlassen unseren Erben diese Erde in einem höchst desolaten Zustand, sowohl wirtschaftlich wie politisch und Ökologisch. Ich will, bei Gott, keinen Vortrag über verseuchte Meere, sterbende Wälder, ausufernde Wüsten, versiegende Rohstoffquellen und das Ozonloch halten. Das setze ich als bekannt voraus.“ Der Belgier wandte folgendes ein: „Dann setzen Sie bitte auch voraus, Colonel Urban, daß wir, bis dieser SuperKapitode handlungsfähig ist, alle längst pensioniert sind oder 111
gar nicht mehr leben.“ Der Norweger protestierte: „Also alles laufenlassen, meinen Sie?“ „Erst machen wir die Erde zu einem Schrotthaufen, und dann kommt noch einer daher, der ihn möglicherweise in die Luft sprengt, während wir reden, reden, reden.“ „Bis dahin ist doch alles scheißegal.“ „Und wenn ich nun an Märchen glaube“, fragte der Ameri kaner, „und halte dieses noch Ungeborene für den großen Ret ter der Menschheit?“ „Dann ist das Ihr Märchen“, sagte der Engländer. Es ging hin und her. Eine Menge Emotionen kamen zum Ausbruch, bis Urban die Geduld verlor und um Sachlichkeit bat. „Gentlemen!“ rief er, „Noch ein Gedanke sei erlaubt. Jede r von uns weiß, daß es so nicht weitergehen kann. Der Lift, in dem wir alle sitzen, rast bereits in Richtung Hölle. Wenn es einen gibt, der ihn bremsen kann, soll man ihn nicht auch noch daran hindern. – Das wäre das eine. Und das andere ist, daß es offenbar eine Gruppe gibt, die versucht, die bremsende Hand am letzten Hebel abzuschlagen. – Oder für ihre eigenen Zwe k ke zu nutzen. Also ist es unsere Pflicht, die beiden ausfindig zu machen.“ Man kam überein, noch zweiundsiebzig Stunden weiterzu machen. Von jetzt ab in drei Tagen sollte eine neue Konferenz in Brüssel oder per Telefon-Rundschaltung stattfinden. Wie dann die Entscheidung aussah, das konnte sich jeder an den Fingern abzählen. Dann würde wohl die Mehrzahl, wenn nicht alle Stimmberechtigten, dagegen sein.
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Nicht in letzter Minute, aber doch kurz vor zwölf kam die erlö sende Nachricht. Die Innsbrucker Kripo hatte in einem leeren Güterwagen am Rangierbahnhof zwei Personen, auf die die Beschreibung paß te, aufgegriffen. Urban sprach mit dem Chef des Innsbrucker Sicherheitsbüros und lieferte die Beschreibung. „Ein Mann, Mitte Zwanzig, hager, fast unterernährt. Hinkt leicht wegen einer Beinverletzung, und er spricht Englisch mit Ostakzent.“ „Name laut eigener Angabe Joshew Kerenski“, ergänzte Innsbruck. „Die Frau ist etwas jünger“, beschrieb Urban sie. „Arabischer Gesichtsschnitt, Haar glatt nach hinten gekämmt und zu einem kurzen Stummel gebunden. Schußwunde an der Schul ter. Spricht nahezu akzentfreies Englisch. Name Marisha Hauff.“ „Beide sind gekleidet in Jeans, Pullover, Armeestiefel, was serfeste Nylonwindjacken. Sie haben kaum Gepäck.“ „Das sind sie“, frohlockte Urban. „Sie wissen gar nicht, wie uns das erleichtert, Herr Kriminalrat. Wo finde ich die Gesuch ten?“ „Sie waren in einem höchst kritischen Zustand, sonst hätten sie die Flucht weiter fortgesetzt. Wir brachten sie ins Kranken haus. Sie sind kaum vernehmungsfähig.“ „Vielleicht sieht es bis zum Abend anders aus“, hoffte Ur ban. „Ich bin in einer Stunde da.“ „Von Bozen aus bis hierher?“ „Ich nehme den Hubschrauber“, sagte Urban. „Oder den Al fa.“ „Wir unterrichten die Arzte in der Klinik“, versprach der Österreicher. „Aber ich muß Sie darauf hinweisen, daß diese 113
zwei Personen unsere Häftlinge sind. Was immer man ihnen vorwerfen wird, hier handelt es sich nur um illegale Einreise in einem leeren Güterwagen der Brennerbahn. Egal welches In teresse an ihnen besteht, Auslieferung ist nur auf offiziellem Weg über Anträge et cetera möglich.“ „Trauen Sie mir legale Schritte nicht zu?“ fragte Urban. „Nun“, zögerte der Österreicher, „Sie sind auch hier kein un beschriebenes Blatt, Oberst Urban.“ „Ich möchte bitte mit den beiden sprechen.“ „Nicht in offiziellem Auftrag, bitte, nicht als Funktionär des BND. Wir sind ein neutrales Land.“ „Rein privat“, versicherte Urban. „Nur rein privat.“ „Darauf werde ich persönlich achten“, versicherte der Krimi nalbeamte.
Es erwies sich als unnötig, daß Urban die Flüchtlinge aus dem Libanon noch einmal zu Gesicht bekam Was der Arzt zu sagen hatte, genügte ihm. Als er es hörte, wußte er, daß der Fall Maria und Josef sowohl für die NATOGeheimdienste als auch für die Geheimdienste des Ostens abgeschlossen sein würde. „Wir haben beide auf die Intensivstation gelegt“, sagte der Chefarzt, „und in einen Zustand der Ruhe versetzt. Sie schla fen.“ „Was ist mit ihnen geschehen?“ wollte Urban wissen. „Nun, sie sind wohl in erster Linie psychisch geschädigt, also nervlich. Was man der Frau und dem Mann körperlich zufügte, das werden sie überstehen.“ „Sie sind verletzt?“ „Abgesehen von einer heilenden Streifschußwunde bei dem Mädchen kann man von Verletzung nicht sprechen“, führte der 114
Chefarzt aus. „Was man bei dem Mann vornahm, ist nur ein kleiner chirurgischer Eingriff, wie er in Indien zehntausendmal pro Tag vorgenommen wird. Und zwar ambulant, nicht einmal unter Vollnarkose.“ Urban ahnte Schlimmes. „Sie meinen doch nicht etwa, man hätte ihn unfruchtbar ge macht?“ Der Arzt bestätigte Urbans Verdacht. „In der Tat. Man hat seine Samenstränge durchtrennt. Medi zinisch gesehen ganz schulmäßig und sachgerecht. Normaler weise darf ein Mann nach diesem Eingriff sofort nach Hause, allerdings nicht per Fahrrad.“ „Nun kann er zeitlebens keine Kinder mehr zeugen.“ „Richtig. Und mit der jungen Frau verfuhr man ähnlich.“ „Wie?“ wünschte Urban zu erfahren. Der Chefarzt drückte sich jetzt gut verständlich aus. „Man hat durch einen Eingriff Eizellen abgesaugt. Ebenfalls ein Eingriff, den jede Frauenklinik ambulant durchführt. Wie gesagt, davon geht keine gesundheitliche Gefährdung der bei den aus. Aber wohl eine starke psychische.“ Urban war erschüttert. Im Grunde war das Problem damit gelöst. Aber sofort tauch te ein neues auf. Jetzt ging es darum, wer das mit Joshew Ke renski und Marisha Hauff angestellt hatte. Der Chef des Innsbrucker Sicherheitsbüros stellte ebenfalls Fragen. „Was bedeutet das für den Mann und die Frau?“ „Wie es aussieht, werden die beiden weder miteinander noch mit einem anderen Partner jemals Nachwuchs haben können.“ „Halten Sie das für einen legalen Eingriff, Doktor?“ Der Arzt wehrte mit erhobenen Händen ab. „Nur dann, wenn das Einverständnis der beiden vorgelegen hätte.“ 115
Urban nahm den Arzt beiseite und senkte die Stimme, „Doktor, geben Sie mir recht, wenn ich annehme, daß die Ei absaugung und die Sterilisation nicht ausschließt, daß man eine In-Vitro-Befruchtung vornimmt?“ Ohne zu überlegen, stimmte der Chefarzt zu. „Mit dem letzten Sperma des jungen Mannes und der Ent nahme aus den Eierstöcken der Frau wäre eine Befruchtung im Reagenzglas durchaus denkbar.“ „Ohne Probleme?“ „ Für einen Facharzt heute eine alltägliche Sache.“ „Und die erfolgten Eingriffe, wurden sie von Fachärzten ausgeführt?“ „Ganz ohne Zweifel.“ Gegen das Würgen im Hals steckte Urban sich eine Zigarette an. „Können wir gehen?“ fragte der Kriminalrat. Urban nickte nur. „Sie sind auf einmal so blaß geworden“, bemerkte der Öster reicher. „Mir ist auch zum Kotzen“, gestand Urban.
Robert Urban beanspruchte den Fahndungsapparat der italieni schen Geheimdienste noch einmal. „Ich brauche die Adresse einer Cora de Cavallino“, erklärte er, „und nichts sonst.“ „Klingt adelig“, hieß es. „Wer ist sie, wo lebt sie, woher stammt sie?“ „Cora ist jedenfalls nicht uritalienisch. Die vornehmen Fami lien haben immer darauf geachtet, ihren Töchtern italienische Namen zu geben.“ „Vielleicht eine Abkürzung“, deutete Urban an. 116
„Du hörst von uns“, versprachen die Kollegen in Rom Urban wartete im Sicherheitsbüro in Innsbruck. Es gab vo r züglichen österreichischen Kaffee, der seinem Ruf, der beste der Welt zu sein, insofern Ehre machte, als er in diesem tristen Büro besser war als in München an der Via Leopolde. Urban richtete sich darauf ein, daß es Stunden dauerte. Die Italiener arbeiteten wie immer fix, aber auf Stottern. „Es gibt eine Corinna de Cavallino“, meldeten sie. „Du fin dest sie auf dem Cimitero einer Stadt in Calabrien.“ Cimitero bedeutete leider Friedhof. „Dann ist die Cora, die ich meine, eine andere“, beharrte Ur ban, „denn die war vor zwei Tagen noch verdammt lebendig.“ Bald danach der nächste Anruf. „Die alte Dame starb mit fast neunzig.“ „Kann sie eine Tochter haben oder Nichte?“ „Mit Sicherheit. Die Sippe der de Cavallino verarmte und verheiratete sich mit reichen sizilianischen Familien.“ Urban zählte zusammen. Die Cora, die er kannte, die angeb lich für eine mächtige Gruppe arbeitete und in deren Familie ein Kapitode vorgekommen war, hatte offensichtlich nur den Namen der verstorbenen Corinna de Cavallino benutzt. – Was aber nicht ausschloß, daß sie noch mehr von ihr benutzte und daß man in dieser Richtung weiterkam. „Gibt es noch andere Cavallini?“ „Das wird überprüft.“ „Existieren noch Häuser, Palazzi oder Landguter der Caval lini?“ „Wir arbeiten daran.“ „Und ich warte.“ Urban verlor zusehends die Ruhe und Geduld. Da er den Österreichern schon auf die Nerven ging, beschloß er, nach München zu fahren. Er konnte in gut neunzig Minuten 117
dort sein. Vom Hauptquartier aus ließ sich alles ganz anders handhaben. Außerdem brauchte er dringend eine Mütze voll Schlaf. Es gab nur ein Problem. Er hatte noch den Alfa des SISMIKollegen in Benutzung. Er mußte ihn von München aus durch die Fahrbereitschaft zurückbringen lassen. – Als er ent schlossen war, es so und nicht anders zu machen, erfolgte der dritte Anruf aus Rom „Über diese weitverbreitete Familie der de Cavallino wissen wir noch wenig“, berichtete der Kollege. „Aber die Verstorbe ne besitzt einen Palazzo auf einem Hügel über Cosenza, mit Mauern herum, Gräben und Zugbrücke, festungsartig, aber heruntergekommen. Ein alter Kastellan mit seiner Familie bewacht es.“ Urban wiederholte den Ort. „Das sind gut zwölfhundert Kilometer von Innsbruck aus“, schätzte der Italiener. „Keine Entfernung für einen schnellen Alfa Romeo.“ „Was macht mein Auto?“ „Du hast es bald zurück“, versprach Urban. Er war bereits unterwegs nach Süden. Cosenza, überlegte er, was war doch mit Cosenza? Das Gedicht des unglücklichen fränkischen Adligen August Graf von Platen, in dem er des Westgotenkönig Alarichs Be gräbnis besang, fiel ihm ein: Nächtlich am Busento lispeln, bei Cosenza, dumpfe Lieder, auf den Wasser schallte es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder! Und den Fluß hinauf, hinunter, ziehn die Schatten tapfrer Goten, 118
Die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten. Mannometer, dachte er, und keiner beweint Urbansky, unse res Volkes nächsten Toten. Um sich abzulenken, trat er aufs Gaspedal. Der Alfa legte noch einen Zahn zu. Bei hundertachtzig lispelte der Wind um die Karosserie, und aus dem Auspuff grollten dumpfe Lieder. 13. Bei Sonnenaufgang fand der BND-Agent Robert Urban den kastellartigen Palazzo wie beschrieben. Im klaren Frühlicht lag er scharf wie ein Scherenschnitt auf dem Hügel zwischen Pinien und Zypressen. Doch die Idylle würde nicht lange anhalten. Vom Westen trieben Gewitterwolken heran. Innen nachtblau, an den Rän dern schon giftgrün, Der letzte Wetterbericht hatte Schlimmes verkündet. Südlich von Neapel tobten bereits orkanartige Stürme. Zwei Autos waren von der Küstenstraße in den Golf von Salerno gerissen worden. So weit es ging, fuhr Urban den Berg hinauf. Dann stellte er den Alfa Romeo am Rande eines Olivenhaines ab. Es war kalt geworden. Er schlüpfte in seinen Burberrys und stellte den Kragen hoch. Bevor er den Mantel zuknöpfte, prüfte er den Sitz seiner Mauser. Die 7,65er saß am Magnethalfter. Zwar konnte er sich keine Situation vorstellen, in der er sie benutzte, aber das Gefühl, nicht allein zu sein, beruhigte. Seitlich des Weges stieg er durch den Korkeichenwald auf. Bald kam er an eine efeuumwucherte Mauer. An ihr entlang erreichte er einen Graben, trocken bis zum Grund, aber voll 119
Abfall: alte Reifen, Kühlschränke, Matratzen, rostige Bettge stelle und Haushaltsmüll. Wer machte sich bloß die Mühe, all das Zeug heraufzu schleppen? Vermutlich war das Kastell irgendwann einmal entrümpelt worden. Vom Burggraben aus sah er über sich die Brücke. Einst hatte man sie zum Hochziehen konstruiert, jetzt bestand sie aus un beweglichen hölzernen Balken und Bohlen. Aber das Tor war geschlossen. Urban ging in dem Graben um das Kastell herum und stieß auf einen Tunnel. Er mochte im Mittelalter mehreren Zwecken gedient haben. Dem Abfluß der Kloake und der Möglichkeit einer Flucht. Man hatte ihn mit einem Pfropfen aus Steinen, Schutt und Eisenschrott versperrt. Urban räumte eine Spalte frei. Der Tunnel war innen manns hoch oval. Es stank erbärmlich. Nach ungefähr dreißig Metern und einer Biegung sah er die Treppe. Stufen wie frischgehauen, also selten genutzt, führten nach oben um die Ecke in einen Wachraum. Dann noch weiter nach oben; so weit, daß er an nahm, der hölzerne Deckel müsse sich im Hof des Kastells öffnen. Er hob ihn an. Es kostete einige Anstrengung. Trotzdem irrte Urban sich. – Er befand sich im Erdgeschoß des Turmes. Die Fenster waren ohne Scheiben. Von der aufgehenden Morgensonne war nichts mehr zu sehen. Der Himmel war grau. Böen pfiffen ums Gemäuer, und vom Meer her näherten sich Regenschleier. Ein Geräusch ließ Urban herumfahren. Hinter ihm stand die Schießbudenfigur eines Wilderers. Der alte Mann mit Bart legte die Schrotflinte auf ihn an. Über die verlängerte Linie von Korn und Kimme blickte Ur ban ihm direkt in sein Auge. Es war das linke. – Also war er 120
Linkshänder. Ein Linksschütze und gewiß fast blind. „Ich knalle Sie ab wie einen tollen Hund“, sagte er auf cala bresisch. „Und warum, bitte?“ „Was suchen Sie hier?“ „Ich mußte mal.“ Was Besseres fiel Urban nicht ein. „Können Sie nicht lesen? Überall sind Verbotsschilder.“ „Bedaure, nichts gesehen.“ „Dann sind Sie durch den Tunnel gekommen, und das nicht um zu scheißen, Signore.“ Der Alte kombinierte noch recht ordentlich. „Und jetzt die Flügel hoch, Sie Pazzo, und mitkommen.“ Der Alte ließ Urban im Halbkreis um sich herumgehen. Da bei führte er den Lauf mit und richtete ihn ständig auf Urbans Kopf. Schrot im Hintern war schon übel genug, aber im Kopf und auf kurze Distanz führte es meist zu irreparablen Schäden. Urban stolperte. Zum Glück hatte der Alte Nerven. Er zog nicht gleich ab. Aus Westen kam das Gewitter rasend schnell näher. In der Ferne zuckten schon Blitze. Urban blieb stehen. „Ich bin wirklich nur ein Spaziergänger.“ „Das werden wir überprüfen.“ „Hunderttausend Lire“, bot er. „Über Geld reden wir später.“ „Sind Sie der Custode hier?“ „Der Verwalter, bitte.“ Wieder blitzte es. Die Augen des Alten schlossen sich gegen das grelle weiße Licht. „Ich hatte nicht die Absicht…“, setzte Urban an. „Los weiter, Mann! Gleich duscht es.“ 121
Urban sah die Tür. Sie hing schief und unbeweglich in den Angeln. Er ging langsam darauf zu, um den Alten näherrücken zu lassen. Urban hörte schon seinen Atem. Jetzt wartete er nur noch auf den nächsten Blitz. – Aber es kam keiner. Doch dann fuhr einer, irre gezackt, aus den Wolken bis zur Erde. In seinem gleißenden Licht duckte Urban ab, stieß den Arm schräg nach oben weg und gab dem Lauf der Waffe eine andere Richtung. Der Schuß fiel. Die Schrotladung spritzte hoch ins Freie. Ur ban packte den Lauf und den Kolben und preßte dem Alten das Gewehr gegen den Hals. „Ich bin nur halb so alt wie du. Damit mußtest du rechnen, Amico.“ „Wer sind Sie?“ keuchte der Verwalter. „Ich stelle jetzt die Fragen. Wer ist noch hier oben?“ Der Alte hatte einen unsteten Blick und stotterte. „Nur wir drei. Meine Frau, die andere und ich.“ „Welche andere?“ „Sie brachten sie in der Nacht auf einer Krankentrage. Aus dem Hospital, sagten sie.“ „Wer brachte sie?“ „Ich kenne die Leute nicht.“ „War Cora dabei?“ „Wer ist Cora?“ „Cora de Cavallino.“ „Es gibt keine Cora de Cavallino.“ „Was soll mit der Frau geschehen?“ „Sie muß still liegenbleiben, bis man sie wieder fortschafft.“ „Ist sie krank, verletzt?“ Der Alte geriet in Panik. „Ich weiß es nicht, Signore, dottore, direttore…“ „Verdammt, man muß doch etwas gesagt haben.“ 122
„Eine Frau aus Cosenza, hieß es. Sie darf sich zwei Tage lang nicht bewegen.“ „Bring mich zu ihr!“ befahl Urban.
Die Frau, sie war Mitte Zwanzig und von kräftigem bäuerli chem Typus, lag im Bett des Verwalterehepaares. Sie hatte die Augen geschlossen und befand sich offenbar in einem medi kamentös hervorgerufenen Dämmerzustand. Urban verhörte die Frau des Custode. Sie wirkte verängstigt, als habe man ihr Verhaltensmaßregeln genannt, die sie unbe dingt einhalten mußte. „Ich gebe ihr Milch, lauwarm, und eine Tablette darin aufge löst.“ Urban ließ sich die Tablette zeigen. Es war ein Hormonpräparat. Doch wer wußte schon, ob in dem Röhrchen das war, was außen draufstand? „Wer brachte sie?“ „Zwei Sanitäter.“ „Wie heißt sie?“ „Sie hat keinen Namen.“ „Das Röhrchen mit den Tabletten, ist das alles?“ „Sie wird abgeholt“, wich die Alte aus. „Wann?“ Die Frau des Kastellans suchte Hilfe bei ihrem Mann. „Bald.“ Urban wiederholte seine Frage. „Sind die Tabletten alles, was die Sanitäter daließen?“ Die Frau ging in die Küche, zog dort eine Schublade auf und kam wieder. „Und diesen Umschlag.“ Urban riß ihn auf. Inhalt: ein ausgefüllter Vordruck, wie er in 123
Kliniken verwendet wurde. Darauf ein medizinischer Befund, Maßnahmen und Therapie, und das alles in Kürzeln und Kurz form. Urban versuchte, es einzudeutschen. Immer wieder fand er die Buchstaben IVS. Einiges darüber wußte er aus dem Gespräch mit dem Chefarzt in Innsbruck. IVS bedeutete Reagenzglasbefruchtung. Es war mühsam, aber er kam zu dem Ergebnis, daß man be samte Eizellen in die Gebärmutter dieser Frau eingespült hatte. – In der Regel mußte das binnen vierundzwanzig Stunden vorgenommen werden. Es lag also eine künstliche Befruchtung vor. - Ein Verfahren, das heute in jeder Frauenklinik gemacht we r den konnte. Eines war ihm absolut klar: Diese Italienerin im Dämmer schlaf war eine sogenannte Leihmutter, dazu ausersehen, das Kind anderer Eltern auszutragen. Auf diese Weise arbeitete Coras Gruppe also. Sie behielt die Kontrolle, indem sie Josef und Maria sterili siert und eine Leihmutter zur Brutstätte des Super-Kapitoden ausersehen hatte. Welch eine gigantische Manipulation! – Ein ganz normaler gynäkologischer Vorgang konnte sich zu einem weltverän dernden Ereignis entwickeln. Urban hörte den Custode mit seiner Frau flüstern. Die beiden waren nicht ungefährlich. Zwar lag die Schrotflinte im Turm, doch der Alte konnte ein Messer oder ein Beil holen. Urban behielt ihn im Blickfeld. Der Alte ging in die Küche und schnitt Brot ab. Er tauchte es in Olivenöl, gab Salz und Gewürze darauf und aß davon. Dazu trank er Rotwein. Die Frau saß auf einem Hocker am Kopfende des Bettes. Sie 124
hatte die Hände gefaltet und schien zu beten. Das Unwetter tobte jetzt um das alte Kastell. Den Blitzen, die wie blinkende Säbel durch die Luft zischten, folgte das Pau kengedröhn der Donner, so nah und so laut auf dieser Höhe, als würde die Burg mitten ins Zentrum des Unwetters ragen. Der Alte stand in der Küche an Tisch, kaute sein Brot, trank den Wein und schielte auf Urban. Seine Frau betete. Doch mit einemmal betete sie sehr laut. – Das war es, was Urban alarmierte. Aber zu spät. Als er herumfuhr, sah er einen Kerl und ein Weib hinter sich. Sie kamen von hinten aus dem Ziegenstall. Vielmehr, sie wa ren schon da. Der Mann hatte links ein Messer und rechts eine Pistole ohne Schalldämpfer. Urban warf sich zur Seite, packte den Hocker, ging damit auf den Killer los und klemmte ihn gegen die Wand. Der Killer schoß, und Urban schlug zu. Die Kugel klatschte ins Hartholz des Hockers. Urbans Handkante traf seinen Hals. Taumelnd schoß der Killer wieder. Urban erhielt einen fürch terlichen Schlag von hinten gegen den Schädel. Selbst mit größter Anstrengung gelang ihm keine Aktion mehr. Alles verschwamm. Sowohl der Killer als auch das Gesicht des Ka stellans. Keine Chance mehr, irgendwie an seine Mauser zu kommen. Der Killer drückte ihm die Spitze der Klinge neben dem Sakkorevers auf das Hemd. In Herzhöhe. „Soll ich ihn umlegen?“ „Noch nicht“, entschied Cora Calabrese. „Warum nicht?“ „Wir brauchen ihn noch. Nur er weiß, was sie vorhaben.“ „Die Hände nach vorn!“ forderte der verschlagene Typ mit dem Messer und der Pistole. 125
Urban mußte sie überkreuzen. Cora band Schnüre herum, so fest, daß sein Blut gestaut wurde. „Was machen wir mit ihm?“ „Wir nehmen ihn mit, Coltello“, sagte sie. Urban wußte, daß Coltello der Name für Messer war. „Coltello, dein Maß ist voll“, keuchte er. „Warum“, fragte Cora ihn, „gingst du nicht den leichteren Weg, Urban?“ „Weil er der falsche war.“ „Und dieser Weg, glaubst du, ist der richtige?“ Er hob die Schulter. Jede Antwort war sinnlos. Er saß in der Falle. Er hätte es wissen und nicht zum zweiten Mal erst lernen müssen. So etwas war immer schmerzhaft. „Jetzt geht es nasch System Cora“, sagte sie. „Das glaube ich dir.“ Er ahnte, was ihn erwartete. Er mußte blind gewesen sein. Denn, daß sie eine Mafiosa war, das stand ihr auf der Stirn geschrieben. 14. Als sie von Robert Urban nach vierundzwanzig Stunden noch immer nichts gehört hatten, entschlossen die Geheimdienste, angeführt von SISMI Rom, sich zu einer konzertierten Aktion, Der Ort, wohin der BND-Agent sich begeben hatte, war be kannt. Hubschrauber entdeckten den Alfa mit der römischen Behördennummer auf halber Höhe des Berges, den das Caval lino-Kastell krönte. In den Abendstunden des Donnerstags näherte sich der Fe stung oberhalb von Cosenza ein Kommando, bestehend aus Carabinieri sowie einer Spezialeinheit der italienischen Armee 126
und einigen Agenten. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Aber am Ende wurde nicht ein einziger Schuß abgegeben. Es kam zu keinem Kugelwechsel, und es gab keinen Verwunde ten. Nur ein Mann hatte sich den Fuß verstaucht, als er die Mauer überstieg, um das Burgtor von innen zu öffnen. Was das Kommando vorfand, war makaber, half aber nicht weiter. Zunächst fanden sie Blut an den Wänden und auf dem Stein boden, der in den Stall führte. Dort war nichts zu sehen. Einer der Polizisten schnupperte. „Hier gab es Ziegen.“ „Und Schweine.“ Sie wollten schon wieder gehen, da nahm einer die Heugabel von der Wand und stieß damit in einen Haufen Einstreu. „Mehr Mist als Stroh.“ Er traf auf einen Gegenstand. „Wie ein Sack“, sagte er und räumte die Mischung aus Laub, dürrem Gras und Maisstengeln beiseite. In der Ecke zwischen Mauer und Schweinekoben lagen ein alter Mann und eine alte Frau. Zwischen ihnen ein Gewehr. „Grobschrot“, sagte der Carabiniere-Offizier, der den Einsatz leitete. „Erst brachte er die Alte um, dann sich.“ „Und warum, bitte?“ Sie überprüften das Gewehr. In den Läufen steckten noch die Papphülsen. Sie nahmen ei ne heraus und rochen daran. „Dürfte ungefähr einen Tag her sein.“ „Und das Blut?“ Wo immer Blut war, fühlte es sich trocken an, aber nicht so trocken, daß es an der schabenden Messerklinge zu Pulver wurde. Es schmierte noch. Die Pigmente waren also noch nicht 127
völlig ausgehärtet. „Das Blut dürfte allenfalls einen Tag alt sein.“ „Warum sollten sie sich getötet haben?“ „Das ist Sache der Kripo, der Polizeimediziner und des Staatsanwalts.“ Sie nahmen alles auf und machten Fotos. Zurück im Haus sagte einer der Geheimagenten: „Im Bett hat jemand gelegen. Vermutlich eine Frau. Ich fand lange schwarze Haare auf dem Kopfkissen.“ „Die Alte hat graue und kurze.“ In der Küche entdeckten sie Medikamente. Der Arzt, der den Einsatz begleitete, entzifferte den Beipackzettel. „Hormone“, sagte er. „Testosteron und andere.“ „Wofür gibt man die?“ „Für tausend Sachen.“ Sie funkten das Ergebnis zur Einsatzzentrale in Cetrore. Aber sie konnten nichts anderes melden, als daß das Kastell leer und von dem deutschen Agenten keine Spur zu finden war. Bald zogen sie ab, denn das Unwetter verstärkte sich von Stunde zu Stunde. An den Küsten Calabriens waren schon weite Landstriche überschwemmt. Die Flüsse führten Hoch wasser. Von den Bergen kamen Lehm und Geröllawinen her unter. Die meteorologischen Stationen sagten keine Besserung, eher eine Verschlechterung voraus. Windstärke und Wolken brüche sollten noch zunehmen. Besonders schlimm war es im Bereich der Liparischen Inseln und an der Nordküste Siziliens. Im Tyrrhenischen Meer war die Schiffahrt ohnehin eingestellt worden.
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15.
Trotz des anhaltenden Unwetters, der orkanartigen Stürme und sintflutartigen Regenfälle stach das Schiff in See. Urban, ausgestattet mit besonderer Sensibilität für technische Vorgänge, wußte nur so viel, daß man ihn und auch die Leih mutter an die Küste und auf eine Yacht gebracht hatte. Dabei mußte es sich um ein Fahrzeug handeln, das größer als ein Hochseefischkutter war, aber kleiner als die Fährdampfer, die den Verkehr zu den Liparischen Inseln aufrechterhielten. Jedenfalls lag die Yacht satt in der schweren See. Sie wurde nicht herumgebeutelt wie ein Gummiball, wozu in der Regel auch kräftige Maschinen, ein modernes Stabilisierungssystem und ein erfahrener Skipper ihren Beitrag leisteten. Aus dem Licht im Bulleye seines Gefängnisses konnte Urban kaum auf den Kurs schließen. Trotzdem schätzte er, daß es nach Südwesten ging. Der Himmel war rechts, im Westen also, eine Spur heller als im Osten. Sofern man den Himmel überhaupt sah. Denn draußen ging alles ineinander über. Himmel und Meer, oben und unten. Urban lag, eingeklemmt in die Notkoje, in einem Raum, in dem es nach geteertem Tauwerk und Mennige stank. Die Au ßenwände verliefen schräg. Demnach befand er sich in Bugnä he. Urban war ziemlich erschöpft. Ständig hatte er zu tun, daß das Stampfen des Schiffes ihn nicht aus der Koje warf. Wegen der Fesselung konnte er sich aber nicht festhalten. Er mußte sich mit Knien und Rücken festkeilen. Wenn weiter hinten im Schiff ein Schott geöffnet wurde, wehte mitunter ein frischer Hauch durch das Lüftungsgitter, dann war das fast schon wie Weihnachten. Die Uhr hatte man ihm gelassen. Seitdem sie ihn im Kastell 129
überrumpelt hatten, waren ein Tag und ein halber, gut sieben unddreißig Stunden, vergangen. Sein Mund war bis tief in den Hals hinein ausgedörrt. Der Rachen fühlte sich an wie Schaumgummi mit einer Pelz schicht. Er hatte solchen Durst, daß er nahe daran war, das Schwitzwasser von der Wand zu lecken. – Aber um das Risiko einer Infektion einzugehen, war er noch nicht durstig genug. Es wurde früh dunkel. Es blies noch heftiger, und der See gang war so, daß manchmal die Schrauben des Antriebs frei kamen. Er hörte es, wenn die Motoren sekundenlang die Dreh zahl erhöhten. Am Abend wurden die Vorreibehebel am Schott bewegt. Je mand versuchte, die eiserne Tür zu öffnen. Es gelang ihm mit Mühe. Urban merkte bald, daß es eine Frau war. Der Duft des Parfüms avisierte Cora. Sie brachte ihm eine Flasche Mineralwasser und setzte sie ihm an die Lippen, weil die Fesseln ihn an der Selbstbedienung hinderten. Er trank hastig, setzte ab, atmete tief, trank erneut „Soll ich danke sagen?“ keuchte er. „Ich weiß, wie es gemeint wäre.“ „Wohin geht die Reise?“ „Du wirst es rechtzeitig erfahren.“ „Kurs Afrika. Aber bis Afrika ist es weit. Ob der Kahn das durchhält?“ „Die Yacht ist noch aus Eisen gebaut. Sie reitet jeden Sturm ab.“ Urban trank wieder. Den Rest goß sie ihm übers Gesicht. „Das muß reichen, bis wir da sind.“ „Du bist“, sagte er, „doch längst schon da. Am Ziel, meine ich. Du hast gewonnen, Cora.“ „Beinahe“, schränkte sie ein. „Noch fünfzig Meilen unge fähr.“ 130
„Schätze, dann erreichen wir die Inseln. Panaria. Vulcano, Lipari“, er zählte auf, was ihm einfiel, um eine Reaktion bei ihr auszulösen, „Salina, Filicudi, Alicudi.“ „Du kennst sie alle?“ „Ich war oft dort.“ „Alleine?“ „Dorthin fährt man nicht allein.“ „Mit einer Frau also.“ „Mit wem sonst?“ Sie lachte bitter. „Diesmal wirst du verdammt allein sein. Denn so viel kann ich dir versprechen, Robertino: Du wirst keinen guten Zeugen abgeben, denn du wirst tot sein.“ „In Stromboli?“ fragte er. – Das war die letzte Insel, die er noch nicht erwähnt hatte. „In Stromboli oder wo auch immer.“ Er blickte sie an und lächelte dabei. „Der eine wird leben, der andere wird sterben. Das muß wohl so sein.“ „Damit er nicht weitererzählen kann, daß in neun Monaten irgendwo ein Kind das Licht der Welt erblicken wird, dessen Erscheinen vorhergesagt wurde wie die Geburt Jesu Christi.“ „Mit Jesus änderte sich auch einiges“, erwähnte Urban, „ob wohl es um ihn herum nichts als Tod, Mord, Verbrechen, Krie ge und Verfolgungen gab. Er konnte nichts dafür, ebensowenig wie der Kapitode, den eure Leihmutter austragen wird.“ Das Schiff machte eine heftige Rollbewegung. Cora mußte sich festhalten, um nicht auf ihn zu fallen. Dann öffnete sie das eiserne Schott. „Du weißt mehr als jeder andere. Schade!“ „Ich wollte niemals unwissend sterben. Warum schickst du nicht Coltello, damit er es erledigt? Oder warum tust du es 131
nicht selbst?“ „Hat keine Eile“, sagte sie. „Jeder kommt an die Reihe.“ Sie stieg über das Süll, und das Schott schlug hinter ihr zu. Urban lag da. Seine Gedanken hörten auf, um eine Flucht möglichkeit zu kreisen. – Hier kam keiner mehr heraus. In der Nacht erwachte er davon, daß sich die Bewegungen der Yacht geändert hatten und daß die Maschinen mit unregelmä ßigen Drehzahlen liefen. Als Kapitän zur See der Reserve und einiger Erfahrung auf Schiffen, gab es dafür nur eine Erklärung. – Die Yacht hatte ihr Ziel, eine der Inseln, erreicht. Sie hatte sich der Insel auf der Leeseite genähert, lief jetzt also in ihrem Windschatten. Hier war die See relativ ruhig. Die Insel mußte also ziemlich hoch sein. Die Maschinenmanöver ließen darauf schließen, daß der Skipper versuchte, die Yacht in der Fahrrinne zu halten, und daß er sich an einen Hafen oder eine Angelegestelle herantaste te. Zweifellos handelte es sich um eine komplizierte Navigiere rei. Es dauerte bis in die Morgenstunden hinein. Endlich erschollen von Deck Kommandos und Arbeitsgeräu sche. Die Anker wurden weggefiert. Das Spill lief an. Letzte Maschinenmanöver, und dann Ruhe im Schiff. – Die Motoren standen. Nur ein Generatordiesel summte noch. Schotts gingen auf und schlugen zu. Die Passagiere und die Besatzung verließen das Schiff. Danach permanente Stille. Urban hatte man vergessen. Oder man hielt sein Gefängnis tief in der Farblast für sicher. Aus dem, was er wußte, und dem, was er von Cora erfahren hatte, versuchte er, die Lage zu analysieren. 132
Sie brachten die Leihmutter auf eine Insel. Vermutlich besaß die Interessengruppe, die Familie, der Clan, oder wer immer hinter dieser Operation steckte, hier einen Unterschlupf. Der Yacht nach zu schließen, war es nicht nur eine Hütte, sondern eine luxuriöse Villa am Hang eines Berges, mit weitem Blick über Bucht und Meer. Diese Leute pflegten standesgemäß zu leben. Wahrscheinlich hatten sie sogar ein Pflegeteam ange heuert, um die Leihmutter optimal zu versorgen. Diese Bäuerin lebte wohl nie mehr im Leben so gut wie in den nächsten neun Monaten. Ob sie am Ende ein Monster zur Welt brachten, Zwillinge oder wer weiß was, das war diesen Frauen in der Regel egal. Ihre Leistung wurde finanziell abge glichen und aus. Plötzlich machte das Schiff eine unerwartet heftige Bewe gung, wie von einer querlaufenden Welle hochgehobe n. Das Heulen des Sturms nahm plötzlich zu.
Offensichtlich hatte der Wind gedreht und kam jetzt auch von der anderen Seite, Seine eiskalte Pranke faßte also um die Insel herum. Regen mit Tropfen wie Hagelkörner so groß und schwer hämmerten auf das Deck. Urban fühlte sich wie im Inneren einer Trommel. So ging es weiter, bis es Tag wurde. Mit einemmal hörte er Schritte. Tastend, unsicher, wie je mand, der Mühe hatte, vorwärts zu kommen. Die Schritte näherten sich, waren bald ganz nah. Das Schott schwang auf und prallte gegen den Gummipuffer. Vor ihm stand Coltello. Er griff in seine Thermojacke und holte sein Messer heraus. Ein Druck auf die Holzschalen, und die Klinge sprang frei. 133
„Damit“, sagte er, „treffe ich auf zwanzig Schritt den Kern eines Pfirsichs.“ „Gratuliere.“ „Wie präzise“, fuhr Coltello fort, „wird erst mein Stich sein oder mein Schnitt. Herzstich, Kehlschnitt, was immer du be vorzugst, Mann.“ „Daß du vorher nachdenkst“, sagte Urban, „bevorzuge ich. Was hältst du von hunderttausend Dollar?“ Wieder machte die Yacht diese halbe Seitwärtsrolle, als wü r de sie von einem riesigen Kaventsmann unterlaufen. „Geld, was ist Geld, das einem nur versprochen wird“, sagte Coltello. Der Sizilianer tänzelte, hielt sich fest und war entschlossen, es zu tun. Da hörte er einen Schrei vom Mittschiff her. Der Schrei schenkte Urban noch eine Minute Leben. „Signora!“ rief Coltello nach achtern. „Kommen Sie, schnell, Coltello! Etwas ist gerissen. Die Lei ne oder die Kette. Kommen Sie! Wir treiben ab.“ Der Sizilianer verschwand, und wieder wurde die Yacht an gehoben. Sie krängte steil auf und krachte an Backbord gegen den Fender. So hart, daß Holzbohlen splitterten. Madonna, dachte Urban, du hast die Wahl zwischen Kopf ab und ersaufen. Beides war gleich wenig erstrebenswert. Obwohl unter Ken nern behauptet wurde, daß Ertrinken eine angenehme Form der Verabschiedung sei.
Aus einem Schwall schäumenden Meerwassers tauchte Cora auf wie Aphrodite. Aber eigentlich sah sie mehr aus wie eine nasse Ratte. „Feuer und Wasser“, sagte sie. „Wie ist das möglich? Schon 134
im Mittelalter schrieben sie, daß bei solchen Regenstürmen immer der Vulkan gegengehalten habe.“ „Er spricht nur seine Sprache“, sagte Urban. „Er will auch etwas sagen.“ „Geröll und Schlamm bewegen sich wie träge Flüsse bis ins Dorf.“ „Schätze, euer Haus steht, einem Bunker ähnlich, unzerstör bar an einer sicheren Stelle.“ „Die Kette ist ab“, sagte sie, „die Ankerkette.“ „Welche?“ „Vom anderen Anker. Jetzt dreht das Schiff um die achtere.“ Die Bewegungen waren so heftig, daß die Yacht sich bald endgültig losreißen würde. „Bring dich in Sicherheit“, riet Urban. „Coltello versucht, die Maschinen anzuwerfen.“ „Wenn er damit umgehen kann wie mit dem Messer, dann kannst du beruhigt sein.“ Cora bezweifelte es. „Ich will nicht ertrinken“, sagte sie. „Aber wenn es so sein muß, dann möchte ich vorher dich. Eine Reise ins Inferno, aber nur mit dir.“ Sie war ungeheuer erregt, er sah es an den Kegeln ihrer Brü ste unter der nassen Bluse. Sie riß die Bluse auf, daß die Knöpfe wegsprangen, dann zerrte sie den Rock nach oben und warf sich breitbeinig auf ihn, als wäre sie der Hengst. Sie riß sein Hemd auf und krallte ihre Fingernägel in seine Brust. „Du wirst mich lieben“, schrie sie. „Jetzt!“ „Du bist verrückt, Cora.“ „Dann werde ich es tun.“ „Das traue ich dir zu.“ 135
„Ich dachte immer daran, Tag und Nacht, jede Stunde, und jetzt tue ich es. Ob es dir gefällt oder dich demütigt, dir Lust erzeugt oder Abscheu. Ich will es, und ich kriege es.“ Sie tastete nach dem Reißverschluß seiner Hose, zog ihn auf, griff hinein, zerfetzte seinen Slip und warf sich auf ihn. „Ich kriege immer, was ich möchte“, keuchte sie. „Du möchtest es gar nicht, du willst es nur.“ „Ja, weil es mir vorenthalten wurde.“ Sie bewegte sich heftiger. Mit einer Hand stützte sie sich auf, mit der anderen holte sie sich, was sie haben wollte. Und als sie es endlich hatte, wurden sie zusammen aus der Koje geschleu dert. Eine Kraft, wie sie nur die entfesselte Natur aufbrachte, hatte das Schiff hochgeworfen, kreisen lassen und brachte es in eine Schräglage, in der es zu kentern drohte. „Coltello!“ schrie Cora. Sie tastete sich hinaus und kam nach Minuten blutüberströmt wieder. „Es hat ihn erwischt“, keuchte sie. „Hol uns heraus. Bei der Madonna, du kannst es.“ Urban hielt ihr die Stahlachter hin. Sie suchte den Schlüssel und fummelte ihn in den Schlitz. Als er endlich frei war, seit Tagen wieder frei, lag er da und fürchtete, daß es zu spät war. Er massierte seine Gelenke, richtete sich auf und hangelte sich nach oben. Den Weg zur Brücke fand er wie ein Pferd den Weg in den Stall. Es gab einen inneren Fahrstand und die Fly-Bridge. Oben hing ein Mann über dem Ruder. Sein blutüberströmter Kopf war von einem Schäkel zermalmt. Urban zerrte ihn aus den Speichen und versuchte, die Moto 136
ren zu starten. Im Nu war er durchnäßt. Das Salzwasser biß in den Wunden und in den Augen. Die Maschinen sprangen nicht an. Urban kletterte nach unten. Auf der Armaturenkonsole ve r wirrte ihn die Vielfalt von Knöpfen, Schaltern und Manome tern. Mot. I – Mot. II – Batterie-Hauptschalter – Ein – Aus – Gas öl-Vorpumpe – Vorglühen – Anlasser – Anlaßsperre – Anlaß wiederholung – Einspritzpumpe – Startanreicherung – Leer laufregulierung. Verdammte Scheiße, dachte er. Die Yacht wurde vom Sturm ziemlich schlecht behandelt und von Land weg auf See getrieben. Draußen gähnte ein schwar zes Loch. Das war die Stelle, wo hinter den Inseln die Finger des Orkans sich wieder die Hände reichten. – Wenn sie dorthin trieben, dann gute Nacht. Urban schaltete die Batterie ein. Die Amperezeiger zuckten. – Strom war da. Treibstofförderpumpe. Vorglühen. – Wenn nur ein Motor lief, waren sie gerettet. Die gerissene Ankerkette hämmerte beim Stampfen gegen den Rumpf. Irgendwann würde sie ein Leck schlagen. Der Sturm packte das Schiff jetzt von der Seite. Urban klammerte sich fest. Die rote Vorglühlampe verlosch. Druck auf den Anlasser. – Dem Schnarren folgte in der Tiefe ein Rumpeln. Der Motor kam. – Erhöhte Leerlaufdrehzahl. Sobald der Motor Gas an nahm, gab er es ihm – 600 Umdrehungen. Und Ruder Hartlage. Langsam drehte das Heck gegen die See. – Aufbäumen, Tal fahrt, Gischt. Hoch hinauf, tief hinunter. – Wumm! Und noch einmal wumm! – Grundberührung. Urban wollte mit dem Ruder aufkommen, da merkte er, daß 137
es in Hartlage klemmte. Wie festgefressen. Das war es dann, dachte er. Mit Hartruder beschrieb die Yacht einen Kreis von etwa ei ner Viertelmeile Durchmesser. Irgend etwas hielt das Ruder blatt fest. Wenn er den Motor abstellte, geriet er in den tobenden Kes sel quer kommender Dünen und Winde. – Ließ er ihn laufen, dann krachte er bei der nächsten Runde gegen die Klippen. – Aber das mußte die Rettung sein. Da sah er Cora neben sich. Sie hatte sich ein Glas umgehängt und suchte das Land ab. „Mein Gott!“ rief sie und immer wieder: „Mein Gott!“ „Was ist?“ „Der Stromboli nimmt Rache.“ „An wem? Es gibt auch Unschuldige.“ „Ich kann unser Haus nicht mehr sehen.“ „Steht es nicht wie ein Bunker?“ „Mein Vater ist dort. Don Vito. Don Francesco mein Groß vater. Der Arzt, der Anwalt, die Frau, die Freunde meines Va ters, die Angestellten.“ Sie setzte das Glas ab. Eine See kam über bis zur Brücke. „Bring mich an Land!“ schrie sie entsetzt. „Ich habe sowieso keine andere Wahl“, entschied er. Der Ruderschaden ließ sich nicht beheben. Minuten oder Stunden später – Urban wußte es nicht, wieviel Zeit vergangen war – setzten der Seegang und die 800 PS der Maschine die Yacht hart auf Grund. Unterwasserfelsen zerbeulten den Rumpf, aber sie hatte noch so viel Fahrt, daß sie sich ein Stück den Strand hinaufschob. Mit dem Kiel auf feinem Kies liegend, kippte sie seitlich weg. Cora sagte noch: „Ich kann nicht erwarten, daß wir uns wiedersehen.“ 138
„Wohl kaum.“ „Wirst du mir verzeihen?“ „Nein“, antwortete er. Sie hastete nach vorn. Dann sprang sie in den salzigen Schaum, den die Dünung gegen das Land warf. Er sah sie niemals lebend wieder. Der Sturm tobte noch drei Tage. Das SOS, das Urban aussandte, brachte schließlich eine Ber gungseinheit der 6. Flotte auf die Beine. Sie kamen mit zwei Schleppern, einem kranbestückten Hilfsschiff, einem Tender, der Proviant brachte und Verletzte aufnehmen konnte. Eine Abteilung Marinepioniere kümmerte sich um die Villa oberhalb des Dorfes. Sie hatte wie ein Falkennest auf einer Felsnase gelegen. Aber dort war sie nicht mehr. Eine Erdlawi ne vom Osthang des Berges hatte sie mit Millionen Tonnen Schlamm und Geröll angefallen, hatte sie umfaßt, erwürgt und schließlich in die Tiefe gerissen. Etwa hundertzwanzig Meter weiter unten, im Tal eines Flus ses, machten die Pioniere sich auf die Suche nach den Toten. Man fand einige, mußte sie allerdings aus dem hartgewordenen Schlamm regelrecht heraussägen. Die Leichen wurden in der Dorfschule aufgereiht. Urban identifizierte nur die von Cora Calabrese. Von den anderen sagte man ihm, daß es Don Vito Calabrese, sein Schwiegervater, ein Rechtsanwalt, ein Arzt aus Palermo, Angestellte und Personal seien. – Im ganzen hatte man neun Leichen aus dem Schlamm unterhalb der Villa geborgen. Nur eine Leiche suchte Urban vergebens. Die der calabresischen Bäuerin. Jener Frau, die Joshew und Marishas Kind zur Welt bringen sollte. Den von den Kapitoden angekündigten großen Bruder, der der Welt des Jahres 2000 etwas Außergewöhnli ches bringen sollte. Gutes oder Schlechtes. Himmel oder Hölle. 139
Diesem Lebewesen hatte ihre Jagd gegolten. Doch die Frau, die es in sich trug, fand Urban unter den Toten nicht. Ende der Woche kehrte Urban nach München zurück. Die Arbeit war beendet, aber nicht getan. Nicht zur Zufriedenheit aller. Aber besser ging es eben nicht. Hol’s der Teufel. Er war todmüde. Ohne zu duschen – ein dreifacher Bourbon ersetzte das Zäh neputzen –, stieg er zur Galerie hinauf in Richtung Himmel bett. – Da ging der Türsummer. Jetzt, so spät, Madonna! Auch das noch. – No, Sir, nicht mit ihm. Er ging weiter nach oben, machte dann aber kehrt, denn die Klingel gab keine Ruhe. Halb in Wut und halb in Trance öffne te er. Die Wasserstoffbombe Jean Harlow lehnte draußen. „Hallo, Zimmermann“, gähnte er. „Hallo, Urban. Der falsche Moment, wie?“ „Der falscheste überhaupt.“ Sie trat ein, als wäre sie hier zu Hause. Im ovalrunden Entree blieb sie vor dem Spiegel stehen und lächelte. „Es gibt ein Mittel, meine unverhofften Besuche zu verhin dern“, deutete sie an. „Ich kenne keines.“ „Heirate mich.“ O Gott, dachte er, nicht in tausend Jahren. Er wischte sich von oben her über das Gesicht, konnte aber den Ausdruck von Hilflosigkeit nicht wegbringen. „Warum heiraten?“ „Ich bin attraktiv, Urban.“ 140
„Das sind andere auch, Lady.“ „Und nicht unvermögend.“ „Geld ist nicht alles. Geld macht meist nicht glücklich.“ „Aber auch nicht unglücklich.“ „Stimmt!“ Er steuerte die Bourbonflasche an. Anders beherrschte er diese überaus heikle Situation nicht mehr. Dann kam auch das noch, der letzte Hammer. „Und ich kann kochen“, erwähnte Frau Zimmermann. „Das allerdings“, äußerte er, „wäre ein Argument.“ Er leerte das Glas, rollte sich in die Sofaecke und war im Nu eingeschlafen. ENDE
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