Literaturlexikon 2.A. Band 3, Dep – Fre
Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann
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Literaturlexikon 2.A. Band 3, Dep – Fre
Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann
Walter de Gruyter
Killy Literaturlexikon
Band 3
Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Helmuth Kiesel, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 3 Dep – Fre
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 31. Januar 2008
1 Gedruckt auf säurefreiem Papier, *
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-020376-9 Biblioigrafische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten für die 2. Auflage 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz: Konrad Triltsch, Ochsenfurt-Hohestadt Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Sylvia Adrian Robert J. Alexander Thomas Anz Volker Arzt Ilse Auer Peter Aufgebauer Achim Aurnhammer Hans-Jürgen Bachorski Martina Backes Hans Ulrich Bächtold Eva-Maria Bangerter-Schmid Heike Bartel Susanne Barth Reinhard Baumann Hans-Joachim Behr Arnd Beise Jill Bepler Roland Berbig Govaert van den Bergh Barbara Beßlich Thomas Betz Klaus Beyrer Claus-Ulrich Bielefeld Dietrich Blaufuß Hans Peter Bleuel Ute von Bloh Hermann Blume Susanne Blumesberger Gottfried Boehm Holger Böning Ralf Georg Bogner Alexander von Bormann Michael Braun Michael U. Braun Reinhard Breymayer Helgard Bruhns Horst Brunner Günter de Bruyn Susanne Bürkle Andreas Buller Volker Busch Sonia Carboncini Peter Cersowsky
Rémy Charbon Bettina Clausen Beate Czapla Ralf Georg Czapla Birgit Dankert Annette Deeken Marc Degens Christoph Dejung Johannes Demandt Carol Diethe Jörg Döring Hubert Drüppel Reinhard Düchting Klaus Düwel Susan Eddey Hans Heinrich Eggebrecht Jürgen Egyptien Andrea Ehlert Susann El Kholi Adolf Endler Gotthard Erler Friederike Euler Richard Faber Antoine Faivre Massum Faryar Christoph Fasbender Bernhard Fetz Cornelia Fischer Ernst Fischer Jutta Freund Stefan Frevel Cornelia Fritsch Walter Helmut Fritz Gerhard Fuchs Stephan Füssel Klaus Garber Karl-Markus Gauß Sabine Geese Peter Geist Guillaume van Gemert Volker Giel Andreas Gierth Sonia Goldblum
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Peter Goßens Walter Grab Katharina Grätz Bernhard Graßl Philipp Gresser Wolfgang Griep Michael Grünbart Ralph Häfner Wilhelm Haefs Claudia Händl Günter Häntzschel Hiltrud Häntzschel Andrea Hahn Peter-Henning Haischer Anneli Hartmann Volker Hartmann Gerda Haßler Andreas Haus Jens Haustein Ulrich Hecht Jörg Helbig Ernst Hellgardt Nikolaus Henkel Klaus Hensel Ulrich Herrmann Georgine Hertle-Gäbhard Peter Heßelmann Walter Hettche Achim Hölter Winfried Hönes Stefan Höppner Heinz Holeczek Detlef Holland Nadine van Holt Otto Holzapfel Alexander Honold Karoline Hornik Sybille Hubach Christoph Huber Sigrid Hubert-Reichling Klaus Hübner Reinhold Hülsewiesche Adrian Hummel Bernhard Iglhaut Stefan Iglhaut Andrea Jäger Friedrich Jaeger Bettina von Jagow Bruno Jahn Johannes Janota Josef Jansen Gerhard Jaschke Herbert Jaumann Ulrich Joost
Renate Jürgensen Matthias Jung Rudolf Käser Joachim Kahl Irmgard Kampmann Carolina Kapraun Ursula von Keitz Helmut Keller Karina Kellermann Katharina Kienholz Christian Kiening Helmuth Kiesel Dieter Kimpel Martin Kintzinger J. Klaus Kipf Werner Klän Heribert Klein Erich Kleinschmidt Manfred Knedlik Reinhard Knodt Hans-Albrecht Koch Peter König Barbara Könneker Walter Kofler Maria Kohli Fritz Krafft Robert Krause Lothar Kreiser Rüdiger Krohn Melanie Kronenberg Hans-Martin Kruckis Wilhelm Kühlmann Walther Kummerow Susanne Kunisch Petra Kurten Gerhard Kurz Ulrike Längle Corinna Laude Reinhard Lauth Erwin Leibfried Wolfgang Leierseder Joseph Leighton Michael Lentz Agnieszka Lessmann Ulrike Leuschner Ludger Lieb Elisabeth Lienert Sandra Linden Joachim Linder Irmgard Lindner Charles Linsmayer Tim Lörke Martin Loew-Cadonna Hans-Martin Lohmann
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VII Dieter Lohmeier Sabine Lorenz Roman Luckscheiter Verena Luckscheiter Cornelia Lutz Ulrich Maché Helga Madland Inge Mager Barbara Mahlmann-Bauer Klaus Manger Lea Marquart Matías Martínez Arno Matschiner Stephan Mawick Volker Meid Anneros Meischner-Metge Matthias Mende Ute Mennecke-Haustein Erika A. Metzger Annette Meyhöfer Alain Michel Christoph Michel Wolfgang Mieder Wolfgang Miersemann Johann Michael Möller Emmy Moepps Burkhard Mojsisch Elfriede Moser-Rath Angelika Müller Dominik Müller Gerd Müller Waltraud Müller Wolf-Dieter Müller-Jahncke Gunnar Müller-Waldeck Bernd Naumann Wolfgang Neuber Bernd Neumann Peter Horst Neumann Hans-Josef Niederehe Norbert H. Ott Jürgen Overhoff Gaby Pailer Johannes G. Pankau Dietmar Peil Matthias Penzel Jens Pfeiffer Kristina Pfoser-Schewig Roland Pietsch Bernd Prätorius Judith Purver Fidel Rädle Frank Raepke Werner Raupp Alexander Reck
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Marc Reichwein Heimo Reinitzer Ulfert Ricklefs Nicolai Riedel Oliver Riedel Wolfgang Riedel Gerda Riedl Bernd Roeck Werner Röcke Michael Rölcke Walter Röll Regina Roth Udo Roth Franz Rottensteiner Oliver Ruf Walter Ruprechter Jacek Aleksander Rzeszotnik Johannes Sachslehner Eda Sagarra Jutta Sandstede Hans Sarkowicz Merio Scattola Walter E. Schäfer Michael Schäfermeyer Heinz Scheible Hans-Jochen Schiewer Jörg Schilling Michael Schilling Volker Schindler Wendelin Schmidt-Dengler Marion Schmitz Walter Schmitz Sabine Schmolinsky Ralf Schnell Eva Schobel Sabine Scholl Oliver R. Scholz Rainer B. Schossig Angela Schrameier Hermann Schreiber Erhard Schütz Karla Lydia Schultz Armin Schulz Gerhard Schulz Ursula Schulze Andreas Schumann Thomas B. Schumann Hans-Rüdiger Schwab Christian Schwarz Astrid Schweimler Ulrich Seelbach Robert Seidel Rolf Selbmann Rita Seuß
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Christoph Siegrist Franz Günter Sieveke Peter Skrine Johann Sonnleitner Stephan Speicher Günter Spendel Ingeborg Springer-Strand Gerhard Stäblein Georg Steer Heidemarie Stegmann-Meißner Johann Anselm Steiger Robert Steinborn Frank Steinmeyer Frauke Stiller Andrea Stoll Wolfgang Straub Anette Syndikus Joachim Telle Reinhard Tenberg Michael Then Erich Tremmel Anton Unterkircher Hans Rudolf Velten Silvio Vietta Klaus Völker Gisela Vollmann-Profe Hartmut Vollmer Clemens Vollnhals E. Theodor Voss Lieselotte Voss Hans Wagener Hans Rudolf Wahl Fritz Wahrenburg Bernhard Walcher Ernst Weber
Ulrich Weber Walter Weber Lydia Wegener Helmut Weidhase Christoph Weiß Eva Weisz Matthias Wermke Klaus U. Werner René Wetzel Ursula Weyrer Hermann Wiegand Sabine Wienker-Piepho Reiner Wild Jenny Williams Ulla Williams Werner Williams-Krapp Eva Willms Josef Winiger Christiane Wirtz Karsten Witte Theresia Wittenbrink Winfried Woesler Gerhard Wolf Rainer Wolf Elisabeth Wolfik Jean M. Woods Elisabeth Wunderle Johann Peter Wurm Karin E. Yes¸ ilada Bernd Zegowitz Carsten Zelle Lutz Zimmermann Günter Zöller Marek Zybura
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Depping, Georg Christoph Bernhard, * 13.5.1784 Münster, † 5.9.1853 Paris. – Historiker u. Dichter, der seit 1803 in Paris lebte u. zeitlebens in französischer u. deutscher Sprache publizierte.
Derleth zur 5. Ausg. desselben im 18. Bearb. u. hg. v. Johann W. S. Lindner. Lemgo 1829, Bd. 5, S. 400–403 u. Bd. 10, S. 597. – Ernst Raßmann: Nachrichten aus dem Leben u. den Schr.en Münsterländ. Schriftsteller. Münster 1866. – Joseph Kunz: Die frz. Lit. in D.s Pariser Korrespondenznachrichten. 2 Bde., Gießen 1924/25. – Friedrich Raßmann: D. In: ADB. – Kosch 3 (31971), S. 103. – Monika Lahrkamp: Quellen u. Forsch.en zur Gesch. der Stadt Münster. Münster 1976, Bd. 7/8. – Friedrich Keinemann: Westfalen im Zeitalter der Restauration u. der Julirevolution 1815–33. Münster 1987. – Markus Hänsel-Hohenhausen: Clemens Frhr. Droste zu Vischering. Bd. 1, Egelsbach 1991. Lea Marquart
Nach seinem Studium in Münster reiste D. 1803 nach Paris, um sich dort weiterzubilden. Er wurde Professor an der polytechn. Schule in Paris, später Privatgelehrter u. Mitherausgeber historischer u. geograf. Zeitschriften. Er knüpfte Kontakt mit einigen Fachgelehrten seiner Zeit, etwa mit Konrad Malte-Brun, Jens Baggesen oder Johann Daniel Oehlenschläger. 1810 war er beteiligt an einer frz. Ausgabe der Wahlverwandtschaften, später gab Derleth, Ludwig, * 3.11.1870 Gerolzhoer Werkausgaben frz. Dichter heraus, darun- fen/Unterfranken, † 13.1.1948 San Pietro ter Jean-Jacques Rousseau u. Nicolas Boileau. di Stabio/Tessin; Grabstätte: ebd. – LyriBereits 1811 entstand sein geschichtl. ker u. Epiker. Hauptwerk Histoire générale de l’Espagne depuis D. studierte seit 1889 u. a. Philosophie, Altles tems les plus reculés jusqu’à la fin du dix-hui- philologie u. Chemie in München; seit 1893 tième siècle. 1814 wurde er Mitgl. der Société unterrichtete er – mit z.T. mehrjähriger Undes antiquaires de France, 1822 erhielt er terbrechung – an mehreren bayer. Gymnasierstmals den Preis der Académie des inscrip- en, bis er 1906 seine Lehrtätigkeit aufgab u. tions et des belles lettres (für die Abhandlung als freier Schriftsteller in München (bis 1925) Ursachen der Auswanderung der Normänner im u. Rom (bis 1927), in Perchtoldsdorf bei Wien Mittelalter und ihre Niederlassung in Frankreich). (bis 1935) u. dann in San Pietro di Stabio 1846 promovierte D. in Münster u. wurde (Südschweiz) lebte. korrespondierendes Mitgl. der Bayerischen Ein bisweilen exzentrisch anmutender, Akademie der Wissenschaften. Er übersetzte u. a. vom Pariser Esoteriker Sàr Péladan bemedizin. Abhandlungen ins Französische, einflusster Katholizismus prägte D.s Leben u. veröffentlichte in Fachzeitschriften u. publi- Werk. Als er seinen Plan, einen religiös zierte belletrist. Werke in frz. u. dt. Sprache. kämpferischen Laienorden zu gründen, nicht D.s Publikationen wurden zu seinen Lebzei- realisieren konnte, verbrachte er 1897 mehten in verschiedene europ. Sprachen über- rere Monate in dem poln. Kloster der Resursetzt. rektionisten in Rom. Seine frühen Gedichte, Weitere Werke: Menodor u. Laura. Eine No- zuerst im »Pan« (1896) u. in den »Blättern für velle aus der Zeit der Belagerung v. Damascus. Paris die Kunst« erschienen, sind wie seine spätere 1806. – Les soirées d’hiver, ouvrage amusant et theologisch-philosoph. Lyrik u. Epik um ein instructif, dédié à la jeunesse. Paris 1807–10. – Slg. an Konstantinismus, mittelalterl. Ritterorder besten alten Span. histor. Ritter- u. maur. Ro- den, Gegenreformation (bes. Ignatius von manzen. Lpz. 1817. – La Grèce, ou description toLoyola), mithin an Traditionalismus u. Inpographique de la Livadie, de la Morée et de l’Artegralismus orientiertes Christentum bechipel. Paris 1823. – L’Angleterre, ou description müht. In dem frühexpressionist. Prosagedes îles de la Grande Bretagne. Paris 1823. – Erinnerungen aus dem Leben eines Deutschen in Paris. dicht Die Proklamationen (Lpz. 1904. Erw. Mchn. 1919) dokumentiert D. in pathetiLpz. 1832. Literatur: Christian Friedrich Raßmann: schem Ton u. mit heftigen Drohreden sein so Münsterländ. Schriftsteller-Lexikon. Lingen u. imperiales u. bonapartistisches wie prophet. Münster 1814 [1. Nachtr. 1815. 2. Nachtr. 1819. 3. Sendungsbewusstsein: »Soldaten, ich überNachtr. 1824]. – Johann Georg Meusel: D. In: Das gebe euch zur Plünderung – die Welt.« Als gelehrte Dtschld. im 19. Jh., nebst Supplementen der Erfolg ausblieb, zog D. die Ausgabe wie-
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der zurück. Auch das 15.000 Verse umfas- Dames Aufzeichnungen). Unter »Wahnmochinsende Hauptwerk Der Fränkische Koran (Teildr. ger« Salonheiden war D. der »Salonjesuit« (L. Weimar 1932. Kassel 1933) proklamiert mit Klages), »der Kosmiker des Katholizismus« gegenrevolutionärem Pathos eine neue hier- (E. Morwitz). arch. Ordnung auf kirchlicher Basis. In dieAusgabe: Das Werk. Hg. Christine Derleth u. sem myst. Epos beschreibt D. mit Reminis- Dominik Jost. 6 Bde., Bellnhausen 1971. zenzen an Bernhard von Clairvaux u. Franz Literatur: Erich Przywara: Heroisch. Paderb. von Assisi, aber auch Charles Fourier u. 1936. – Helmut Motekat: L. D. In: NDB. – Anne Schelling die Pilgerfahrt der Seele aus der Ratzki: Die Elitevorstellungen im Werk L. D.s [...]. Gottheit über das Erdendasein zurück zu Diss. Mchn. 1968. – Dominik Jost: Die Dichtung L. Gott. Mit offen antidemokratischer, teilweise D.s. Einf. in das Werk. Gladenbach 1975. – Jan Aler: terroristischer, jedenfalls militarist. Tendenz L. D. In: Gestalten um Stefan George. Hg. ders. Amsterd. 1984, S. 89–155. – Manfred Frank: Gott kritisiert er die »moderne« Zivilisation u. die im Exil. Vorlesungen über die neue Mythologie. etablierte Kirche. Der Eklektiker D. macht Ffm. 1988, S. 212 ff. – Richard Faber: MännerrunAnleihen bei den bibl. Propheten, bei orien- de mit Gräfin. Die ›Kosmiker‹ D., George, Klages, talischem Schrifttum, Dante, den Mystikern Schuler, Wolfskehl u. Franziska zu Reventlow. Mit sowie Nietzsches Zarathustra. einem Nachdr. des ›Schwabinger Beobachters‹. D. kann als Hauptvertreter eines Schwar- Ffm. 1994. Reinhard Tenberg / Richard Faber zen Nietzscheanismus gelten: Der Elitegedanke kommt allein schon in der gehobenen Derschau, Christoph, * 13.2.1938 PotsSprache zum Ausdruck, die sich durch barodam, † 7.11.1995 Hamburg. – Verfasser cke Rhetorik, Vorliebe für entlegene Fremdvon Lyrik u. Kurzprosa. wörter u. Palinodien auszeichnet. Einzelne Teile des Werks wurden separat publiziert, so Nach einem abgebrochenen Studium der die von Hans Urs von Balthasar angeregte Publizistik u. Volkswirtschaft arbeitete D. theolog. Dichtung Tod des Thanatos (Luzern zunächst mehrere Jahre in Fernsehspielab1945. Bellnhausen 1969). Balthasar, dessen teilungen verschiedener Rundfunkanstalten, entscheidender Lehrer Erich Przywara S. J. u. nach 1976 als Bilddokumentar in Hamburg. auch der Wiener Kardinal-Erzbischof InnitSeit 1970 veröffentlichte D. in Zeitungen, zer gehörten zu seinen großen u. einfluss- Zeitschriften u. Verlagen der subliterar. Szene reichen innerkirchl. Verehrern. »Gedichte von Liebe, Tod und dem täglichen D. war im Übrigen umstritten, wurde aber Kleinkram«, in denen er sich an angloameriauch von einem Avantgardisten u. dezidier- kan. Vorbildern orientierte. Von den Lyrikern ten Nichtchristen wie Harry Graf Kessler der sog. »Neuen Subjektivität«, »die es nötig hoch geschätzt. Stefan George schließlich, haben, mit einem Kunstanspruch / auf der den er beeinflusste u. mit dem er bis 1910 in Nase herumzurennen«, setzte sich D. deKontakt stand, zollte seiner »Imperatoren- monstrativ ab. Wie in einem Tagebuch pronatur« im Siebenten Ring u. im Stern des Bundes tokollierte er im »typischen Fünfminutengehohe Anerkennung; Thomas Mann hinge- dicht« zufällige Beobachtungen, Bruchstücke gen, der einer Lesung aus den Proklamationen von Gedanken, spontane Assoziationen u. beiwohnte, karikierte D.s »einsamen Grö- Zitate: »Spontaneität ist wichtiger als Perßenwahn« in der Novelle Beim Propheten fektion.« Bereits nach Erscheinen des ersten (1904; vgl. auch das Porträt des Naphta im Gedichtbands Den Kopf voll Suff und Kino Zauberberg u. das des Daniel Zur Höhe im 34. (Augsb. 1976) entzündete sich der Streit über Kap. des Doktor Faustus, außerdem die Novelle die Legitimität eines solchen poet. VerfahGladius Dei). Bes. hinzuweisen ist auf Franz rens. Kritiker monierten die Formlosigkeit Hessels, Franziska zu Reventlows u. O. A. H. der Gedichte, andere sprachen von der Schmitz’ D.-Persiflagen im »Schwabinger »überzeugenden Einfachheit« des »anarchiBeobachter«: »Warte Schwabing, Schwabing schen Derschau« (Peter Hamm). In die bewarte: / Dich holt Jesus Bonaparte« (vgl. auch wusst lässige u. provokative Sprache der Gezu Reventlows Schlüsselromane Ellen u. Herrn dichte fließt die »dirty speech« der amerikan.
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Underground-Poesie ebenso ein wie subkultureller Jargon u. Elemente der Popkultur. Ein paar Jahre lang goutierte die Kritik D.s Selbstinszenierung als anarchischer Berserker der Poesie, sah den Dichter in der Geistesverwandtschaft zu Charles Bukowski, dem »dirty old man« der amerikan. Beat-Literatur. Seit 1980 experimentierte D. auch mit der japan. Gedichtform des Haiku u. mit Prosa-Montagen, die nicht linearen Erzählverläufen, sondern einer asynchronen Traumlogik folgen. Um 1985 verfiel er auf die exzentr. Idee, Marathonläufe mit poet. Intermezzi zu inszenieren – für den von Kindheit an durch Lungenkrankheiten beeinträchtigten Autor ein gefährlich strapaziöses Unternehmen. Weitere Werke: Die Ufer der salzlosen Karibik. Kaufbeuren 1977 (L.). – So ein Theater. Theater & Hörsp.e, Features. Wiesb. 1977. – Die guten Wolken. Modern & Polaroid. Haikus. Mchn. 1980. – Grüne Rose. Heidelb. 1981 (L.). – Monolog in der Küche. Bern 1982 (L.). – So hin u. wieder die eigene Haut ritzen. Ausgew. Gedichte. Ffm. 1986. Literatur: Michael Braun: C. D. In: KLG. – Thomas Kraft: C. D. In: LGL. Michael Braun
Derschau, Christoph Friedrich von, * 12.1.1714 Königsberg, † 14. (oder 19.) 12.1799 Gut Wilhelminenholz bei Aurich; Grabstätte: ebd., Grabhügel im Wäldchen. – Dramatiker, Lyriker u. Epiker.
Deschner
Angeregt durch Theaterbesuche in Paris, schrieb D. Pylades und Orestes oder Denckmaal der Freundschaft (Liegnitz 1747). In fünf Aufzügen, mit z.T. sehr kurzen Auftritten, wird das schicksalhafte Zusammentreffen der Freunde Orest u. Pylades mit König Thoas u. Iphigenie dramatisiert. Zeitgenössische Kritiker sprachen von gutem Erfolg des (heute vergessenen) Stücks, aber auch von eher mittelmäßiger Qualität. Im Anhang des Dramas reflektiert der Autor selbstkritisch über den Gebrauch des Endreims, der dem Werk stilist. Schwerfälligkeit verleiht. Rechtsphilosophische Gedanken verarbeitete D. auf unterhaltsame Weise in Der Tempel der Gerechtigkeit (Tl. 1, o. O. 1758. Auch in: Johann Friedrich Loewen: Poetische Werke. Teilslg. Hbg./Lpz. 1760. Tle. 1 u. 2, Bln. 1777; an.). Anhand eines fiktiven Gangs durch den Tempel eines idealen Staates legt er seine Auffassung des Verhältnisses von Gerechtigkeit zu Natur, staatlicher Gewalt, Weisheit u. Religion dar. Trotz des z.T. emphat. Stils ist dies die wohl lesenswerteste Arbeit D.s. Weitere Werke: Lutheriade. Aurich 1760. 2. Aufl. u. d. T. ›Die Reformation‹. Halle 1781. – Andencken für meine Freunde. Aurich 1772. – Ueber die Verminderung des Krieges. Dessau 1782. Neuausgabe: So hin und wieder die eigene Haut ritzen ... Ausgew. Gedichte. Mit einem Nachw. v. Michael Krüger. Augsb. 1999. Literatur: August Hottenrott: C. F. v. D. Sein Leben u. seine Werke. Potsdam 1911. – Kat. der Bibl. des preuß. Regierungspräsidenten C. F. v. D. Bearb. v. Monika van Lengen. Aurich 1979. – Heike Lüken: Das Schicksal des Landes mit Diplomatie gemildert. C. F. v. D. in Ostfriesland. In: Ostfrieslandmagazin (2000), 2, S. 101–105.
Der Sohn einer aus Dirschau stammenden Familie studierte in Königsberg Rechtswissenschaften, Philosophie u. Mathematik. Er war Mitgl. der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Seit 1735 unternahm er BildungsMarion Schmitz / Red. reisen, die ihn nach Holland u. Belgien, schließlich nach Paris führten, wo er bis 1739 Deschner, Karlheinz, * 23.5.1924 Bamblieb. In Berlin wurde er nach seiner Rückberg. – Romanautor u. Literaturkritiker, kehr zum Fähnrich des preuß. Heeres erKirchenhistoriker u. -kritiker. nannt. Nach seinem Abschied 1742 wirkte er in Glogau u. Cleve (1749) als Konsistorial- Nach seinem Abitur im März 1942 diente der bzw. Regierungsrat, ab 1751 in Aurich als Sohn eines Försters u. Fischzüchters als Konsistorial- u. Regierungspräsident. Ab Kriegsfreiwilliger in verschiedenen Regi1785 lebte er auf seinem Gut Wilhelminen- mentern. 1946 studierte er zunächst Forstholz als Pensionär, umgeben von einer gro- wissenschaft an der Universität München, ßen Bibliothek, die er später der Stadt Aurich 1946/47 an der Philosophisch-Theologischen vermachte. Hochschule in Bamberg u. 1947–1951 Neue
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Dank der mäzenat. Förderung durch den deutsche Literaturwissenschaft, Philosophie u. Geschichte an der Universität Würzburg. Unternehmer Herbert Steffen (Masterhausen) D. promovierte 1951 über Lenaus metaphysi- sowie dank der publizistischen u. logist. Unsche Verzweiflung und ihr lyrischer Ausdruck terstützung durch die Giordano-Bruno-Stif(Würzb.). Seit 1951 arbeitet er als freier tung, ebenfalls von Steffen gegründet, haben Schriftsteller, Autor u. Editor, zgl. aber auch sich Produktivität u. Resonanz D.s erheblich als Publizist für Rundfunk u. Presse u. als gesteigert. Anlässlich seines 80. Geburtstages (2004) erhielt er den Wolfram-von-EschenVortragsreisender. 1955 erschien sein Roman Die Nacht steht bach-Preis des bayer. Bezirks Mittelfranken, um mein Haus (Mchn.), in dem er seinen Ekel wobei in der Begründung vornehmlich auf vor Leben u. Umwelt in aggressivem Ton ar- seine literar. Arbeiten Bezug genommen tikuliert u. damit die kurz darauf aus Eng- wurde u. auf jene, die die Schönheit seiner land kommende Auflehnung des »angry fränk. Heimat preisen. Neben dieser Anerkennung über einen enyoung man« vorwegnimmt. 1957 kam seine erste »literarische Streitschrift« heraus. Weil gen Sympathisantenkreis hinaus widerfuhr uns, wie er behauptet, die Literaturgeschichte u. widerfährt D. auch Kritik. 1994 erschien – größtenteils nur den »Katalog eines Kabi- nicht überraschend von kirchlich-theologinetts von (epigonalen) Mißgeburten« über- scher Seite – der Sammelband Kriminalisierung liefert habe, wobei er Hermann Hesse, Hans des Christentums? (Hg. Hans Seeliger. Freib. i. Carossa, Ernst Jünger u. a. nennt, propagiert Br.). Neuerdings artikuliert sich fundierte D. in Kitsch, Konvention und Kunst (Mchn.) das Kritik aus dem säkular-laizist. Spektrum des Lesen von Schriftstellern wie Hans Henny dt. Geistes- u. Kulturlebens, dem D. selber Jahnn, Hermann Broch, Robert Musil, Gott- angehört. Mit unterschiedlicher Reichweite u. Schärfe haben Joachim Kahl, Hubertus fried Benn u. a. 1962 veröffentlichte D. seine erste »kriti- Mynarek u. Armin Pfahl-Traughber Teilassche Kirchengeschichte« Abermals krähte der pekte u. theoret. Grundlagen D.s in Frage Hahn (Stgt.). Kritiker erhoben den Vorwurf, gestellt (Sonderh. 9 von »Aufklärung und eine solche Skandalchronik schildere nicht Kritik. Zeitschrift für freies Denken und hudie christl. Kirche, sondern ein Phantom. manistische Philosophie«, 2004. Aufklärung ist Andere betonten, D. bezeuge mit seiner Ärgernis... K. D. Leben – Werk – Wirkung. Hg. gründl. Kenntnis der Quellen wie der Litera- Hermann Gieselbusch u. Michael Schmidttur gerade seine Liebe zur histor. Wahrheit. Salomon. Aschaffenburg 2006). Eine krit. Auseinandersetzung mit der SiWeitere Werke: Mit Gott u. den Faschisten. tuation der Kirche ist auch sein Vortrag Über Stgt. 1965. – Das Kreuz mit der Kirche. Eine Sedie Notwendigkeit, aus der Kirche auszutreten xualgesch. des Christentums. Düsseld. u. Wien (gehalten in Nürnberg 1969), der ihm eine 1974. Andreas Gierth / Joachim Kahl Anzeige »wegen Kirchenbeschimpfung« eintrug. Der Prozess wurde 1971 in Nürnberg Desing, Anselm (Taufname: Franz Josef »wegen Geringfügigkeit« eingestellt. Albert), OSB, * 15.3.1699 Amberg, In den letzten Jahrzehnten bis in die Ge† 17.12.1772 Ensdorf/Oberpfalz. – Vergenwart konzentrierte sich D. auf die Fortfasser von historischen u. geografischen setzung u. angestrebte Vollendung seines Lehrbüchern, Rechtsphilosoph, kirchenkirchenkrit. Hauptwerkes Kriminalgeschichte rechtlicher Publizist. des Christentums, dessen erste beide Bände bereits 1986 u. 1988 in Reinbek erschienen In der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen sind. Der zuletzt (2004) veröffentlichte Band erschien D. als wahrer Polyhistor, der den 8 führt bis in die Mitte des 16. Jh. Der Titel Reform- u. Modernisierungsprozess im kath. des voluminösen Projekts soll zu verstehen Deutschland des 18. Jh. bestimmte u. prägte. geben, dass die Geschichte des Christentums Der Sohn eines Regierungsadvokaten benicht a u ch eine Geschichte von Verbrechen, suchte das Jesuitengymnasium in Amberg sondern dem Wesen nach eine solche sei. (1710–1715), studierte Philosophie in Wien
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(1715–1717) u. trat 1717 in das Benediktinerkloster Ensdorf ein. Nach dem Abschluss des ordenseigenen Studiums in Michelfeld, das einen philosophischen u. einen theolog. Kurs umfasste, empfing er 1723 die Priesterweihe. Aus der Erfahrung von Defiziten im gymnasialen Bildungswesen entwickelte D. eine rege publizist. Tätigkeit. In der programmat. Schrift Methodus Contracta Historiae (Amberg 1725) befasste er sich mit Methodik u. Didaktik des Geschichtsunterrichts. Als Lehrer der Grammatik am fürstbischöfl. Gymnasium in Freising (1725–1731) veröffentlichte er eine Reihe von z.T. vielfach aufgelegten Unterrichtswerken (Compendium eruditionis. Ingolst. 1731 u. ö.), die neben der Ausbildung der lat. Ausdrucksfähigkeit v. a. der Vermittlung von Sach- u. Realienwissen dienten. Im Bestreben, den zu vermittelnden Stoff in möglichst »sinnlicher« Form darzubieten, bediente er sich im Schulunterricht der »laterna magica«; darüber hinaus fertigte er Globus- u. Geschichtskarten, die er seinen Lehrbüchern (Kürtziste Universal-Histori nach der Geographia auf der Land-Karte zu erlernen. Freising 1731 u. ö.) beigab. 1731 kehrte D. als Prior in sein Heimatkloster zurück, setzte aber seine Bemühungen um eine praxisbezogene Bildung fort. In der Tradition der historisch-geograf. Statistik, wie sie u. a. von Johann David Koehler an der Universität Göttingen gepflegt wurde, legte er »für die Catholische Jugend« das dreibändige Geschichtskompendium Auxilia Historica (Stadt am Hof 1733. Stark erw. Aufl.n ebd. 1741 u. 1746/47 [8 Tle.], 3 Suppl.Bde., ebd. 1747/48) vor, eine Einführung in die moderne europ. Staatengeschichte, in Verfassungsrecht, Staatstheorie u. öffentl. Recht sowie in die histor. Hilfswissenschaften. Im Sinne eines aufklärer. Pragmatismus suchte D. mithilfe des vermittelten Stoffes tugendhafte u. nützl. Staatsbürger zu erziehen. 1736 erfolgte seine Berufung an die Benediktiner-Universität Salzburg, wo er Poesie u. Mathematik, später auch Ethik u. Geschichte lehrte; als reformfreudiger Wissenschaftsorganisator (1741/42 Dekan der Philosoph. Fakultät) setzte er sich mit Erfolg für die Ein-
Desing
führung von Experimentalphysik u. Geografie ein. Rege Beziehungen unterhielt er seit dieser Zeit zu dem oberösterr. Benediktinerstift Kremsmünster. Für die Ritterakademie, an deren Gründung er maßgeblich beteiligt war, verfasste er ein Lehrbuch (Hinlängliche Geographie vor die Schule. Salzb. 1743); zu einem Symbol von Modernität u. aufgeklärtem Geist wurde der 1758 fertiggestellte »Mathematische Turm«, errichtet nach seinen Plänen, der als »Universalmuseum« mit Sternwarte, Kunst- u. Naturalienkabinett u. physikal. Laboratorien einen enzyklopäd. Geist spiegelt. Stand D.s weitgefächerte Forschungs-, Lehr- u. Publikationstätigkeit auch im Zeichen jener praktisch-pragmat. Auffassung, die dem Zeitalter der Vernunft eignete, so distanzierte er sich in einer späteren Lebensphase doch nachdrücklich von allzu einseitigen rationalist. Positionen. Scharfe Kritik erfuhr das moderne Naturrecht, in dem er die widerspruchsvolle Moral des gottentfremdeten Menschen, die im Kampf gegen alle göttliche u. kirchl. Autorität steht, zu erkennen glaubte. Sein Hauptwerk Juris naturae larva detracta (Mchn. 1753) geriet zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Lehre Christian Wolffs u. Samuel Pufendorfs, der er mit den rechtsphilosoph. Schriften Jus naturae liberatum ac repurgatum (Mchn. 1753) u. Jus gentium (Mchn. 1753) eine eigene Darstellung aus kath. Perspektive entgegenstellte. Auf dem Feld kirchenrechtlicher Publizistik setzte D. mit der Abhandlung Opes sacerdoti num reipublicae noxiae (Stadt am Hof 1753. Dt. Übers. Mchn. 1768 u. ö. Ital. Übers. Ferrara 1768) zu einer Verteidigung der geistl. Güter u. Einkünfte gegen zeitgenöss. Säkularisierungsbestrebungen an. 1759 erfolgte seine Aufnahme in die Historische Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1761 zum Abt von Ensdorf gewählt, förderte D. mit Nachdruck das wiss. Leben in seinem Kloster, u. a. durch die großzügige Erweiterung der naturkundl. Sammlungen u. der Bibliothek. Von einer groß angelegten Geschichte des Deutschen Reiches brachte er nur noch den ersten Band (Deutschlandes untersuchter Reichs-Geschichte. Mchn. 1768) zum Druck; acht Bände des Manuskripts gelang-
Deßler
ten aus seinem Nachlass in die Univ.-Bibl. München. Weitere Werke: Porta linguae latinae. Ingolst. 1727 u. ö. – Index poeticus. Amberg 1731 u. ö. – Auxilia geometrica. Stadt am Hof 1738. – Collegia geographico-historico-politica. Stadt am Hof 1744. – Diatribe circa methodum Wolffianum. Stadt am Hof 1752. – Spiritus legum bellus an solidus. Stadt am Hof 1752. – Praejudicia reprehensa praejudicio majore. Stadt am Hof 1752. – Hypodigma politicum. Stadt am Hof 1752. – Regnum rationis hodiernum nihil praestantius esse vetere. Stadt am Hof 1752. – Herausgeber: Quintus Curtius Rufus: De rebus gestis Alexandri Magni. Stadt am Hof 1738 u. ö. Literatur: Bibliografie: Knedlik/Schrott 1999 (s. u.), S. 316–351. – Weitere Titel: Ildefons Stegmann: A. D. Abt v. Ensdorf 1699–1772. Ein Beitr. zur Gesch. der Aufklärung in Bayern. Mchn. 1929. – Ders.: A. D. In: NDB. – Stephan Haering: A. D. In: LThK. – Guillaume van Gemert: Staatsklugheit als Bildungsideal in der kath. Aufklärung. A. D.s Collegia geographico-historico-politica u. die Rechtsauffassung seiner Zeit. In: Literar. Klosterkultur in der Oberpfalz. Hg. Manfred Knedlik u. Alfred Wolfsteiner. Kallmünz 1997, S. 189–208. – Johannes Schaber: A. D. In: Bautz (Lit.). – M. Knedlik u. Georg Schrott (Hg.): A. D. (1699–1772). Ein benediktin. Universalgelehrter im Zeitalter der Aufklärung. Kallmünz 1999 (Lit.). – Johann Christian Klamt: Sternwarte u. Museum im Zeitalter der Aufklärung. Der Mathemat. Turm zu Kremsmünster. Mainz 1999. – Leticia Cabrera Caro: Modernidad y neoescolástica – A. D. Cádiz 2001. – Nachlass: Univ.-Bibl. München. – Archiv der Sternwarte Kremsmünster. Manfred Knedlik
Deßler, Desler, Dössler, Wolfgang Christoph, getauft 11.2.1660 Nürnberg, † 11.3. 1722 Nürnberg. – Kirchenlieddichter. D. erlernte wie sein Vater das Goldschmiedehandwerk, besuchte die Nürnberger Spitalschule u. studierte seit Juli 1677 (erneute Einschreibung am 3.9.1683) in Altdorf Theologie u. Philosophie (wegen Krankheit ohne Abschluss). Er wurde Hauslehrer, Korrektor u. Übersetzer in Nürnberg u. war 1705–1720 Konrektor der Spitalschule zum Hl. Geist. Die Korrektorentätigkeit brachte ihn mit Erasmus Francisci zusammen, der ihn mit Vertretern des Pegnesischen Blumenordens
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bekannt machte u. in der Dichtkunst unterwies u. für den er, auch in den neuen Sprachen bewandert, religiöse Werke ins Deutsche übersetzte. D. verfasste selbst Auslegungen zu Bibelworten, Andachten für die Passionszeit u. Erbauungslieder in barockem Sprachgewand. Darin spiegeln sich seine tiefe Frömmigkeit, aber auch seine körperl. Leiden (Gott-geheiligter Christen nutzlich-ergetzende Seelen-Lust. Nürnb. 1692. 31740. Seel-erfrischende [...] Blut- und Liebes-Rosen. Nürnb. 1695. 21723. Hertz-wallende [...] Funcken der Liebe Jesu. Nürnb. 1712). Einige seiner Kirchenlieder fanden durch pietist. Gesangbücher wie z.B. Johann A. Freylinghausens Geist-reiches Gesang-Buch (Halle 1704, 19 Aufl.n bis 1759) weite Verbreitung. Weiteres Werk: Das Contrefait christl. Klugheit, entworffen nach dem Leben des selig-verstorbenen [...] Herrn Erasmi Francisci etc. hänget [...] in folgender kurtzen Lob-Rede [...] auf, W. C. D. In: E. Francisci: Vorbereitl. Hertzens-Rüstung zu dem Ende [...]. Nürnb. 1694, Bl. G2r-H2r. Ausgaben: D.s, v. ihm selbst beschriebene Lebensgesch. in 2 Briefen an Johann Conrad Zeltner. In: Georg Andreas Will: Commercium epistolicum Norimbergense. Tl. 2, Altdorf 1757, S. 71–87. – Fischer-Tümpel 5, S. 347–362. Literatur: Johann Conrad Zeltner: Correctorum in typographiis eruditorum centuria. Altdorf 1716, S. 148 ff. – Koch 3, S. 529, 531 ff. – Adalbert Elschenbroich: D. In: NDB. – Bautz. – Heiduk/ Neumeister, S. 28, 159f., 324. – DBA 225,293; 231,160–164, 230–241. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1208 f. – Franz Krautwurst in: MGG 2. Aufl. Bd. 5, Sp. 909. – Lini Hübsch-Pfleger in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 7, S. 251. Jutta Sandstede / Red.
Dessoir, Max, * 8.2.1867 Berlin, † 19.7. 1947 Königstein/Taunus. – Psychologe, Ästhetiker. Musikalisch hochtalentiert, entschloss sich der Sprössling einer Künstlerfamilie früh zu einer wiss. Lebensarbeit im Grenzgebiet von Philosophie, Naturwissenschaft u. Kunst. In seiner Jugend verkehrte D. im Lokal der Berliner Naturalisten »Zum schwarzen Ferkel«, war mit Gerhart Hauptmann, Ferruccio Busoni, Max Reger u. Max Reinhardt befreundet. Er studierte Philosophie in Berlin
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bei Dilthey (Promotion 1889 mit der Dissertation Karl Philipp Moritz als Ästhetiker), danach Medizin in Würzburg (Promotion 1890 mit der Dissertation Über den Hautsinn); wiederum in Berlin, habilitierte er sich 1892 in Philosophie. Bis zur Jahrhundertwende blieb die method. Basis seiner Forschungsarbeit die von Dilthey vermittelte psycholog. Hermeneutik. Danach gewann die von Simmel u. Husserl gegen den bisherigen Psychologismus gerichtete Hinwendung zum philosoph. Objektivismus an Bedeutung. Schon vor der Promotion veröffentlichte D. eine umfangreiche Bibliographie des modernen Hypnotismus (Bln. 1888): Basis für seine lebenslangen Forschungen zur Parapsychologie, die er noch 1946 als sein zweites Hauptgebiet neben der systemat. Kunstwissenschaft bezeichnete. In diesem Bereich kam D. zunächst auf der Suche nach Überwindung des älteren, mechanist. Psychologismus, etwa Wilhelm Wundts, zu einer vertieften Vorstellung des Gegensatzes von Bewusstsein u. Unterbewusstsein (Doppel-Ich. Lpz. 1890). Durch Hypnose – die D. selbst praktizierte – zeige sich, dass die beiden Bewusstseinswelten voneinander abgegrenzt seien u. zwei verschiedene Persönlichkeiten konstituieren könnten. D. wurde bei Gericht als Sachverständiger für betrügerische Hellseherei herangezogen u. war in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als allerorten myst. GeistSuche das intellektuelle Gefüge erschütterte, ein Volksaufklärer gegen spiritualist. Verführung. Daneben ging auch D.s Werk zur Ästhetik u. Kunst den Weg vom psycholog. Subjektivismus zu einer objektiven Anschauung. Sein Hauptwerk auf diesem Gebiet, die Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (Stgt. 1906), u. die 1906 gegründete u. bis heute erscheinende »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft« sowie ein 1913 von ihm in Berlin organisierter erster internat. »Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft« haben tiefgreifende Bedeutung für die kunsthistor. Wissenschaft gewonnen. D. bemühte sich um den Nachweis, dass es, erstens, systematisch beschreibbare Qualitä-
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ten des Ästhetischen gebe, die den Gegenständen objektiv angehören (Harmonie u. Proportion, Rhythmus u. Metrum, Größe u. Grad) u. die unter der übergeordneten Qualität der »Anschaulichen Notwendigkeit« versammelt sein müssten; zweitens, dass das Ästhetische nicht allein Kunstwerken, sondern allen Arten von Gegenständen eigen sein könne. Die Frage nach dem Wesen der Kunst wird in einer teilweise Dilthey folgenden Art ersetzt durch die Bestimmung der Funktionen der Kunst. Mit einer Systematischen Kunstwissenschaft wollte D. sämtl. Künste in ein gemeinsames Bezugsschema setzen, das er nach »Raumkünsten« (Plastik, Malerei, Architektur) u. »Zeitkünsten« (Mimik, Poesie, Musik) unterteilte (Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, S. 310). Gemeinsames Kriterium aller Kunst war für D. der künstler. Schaffensprozess, für den er wieder seine psycholog. Bewusstseinstheorie heranzog, um die herkömmliche idealist. Lehre von der künstler. Inspiration zu widerlegen: Nicht ein fertiges Idealbild stehe vor dem geistigen Auge des Künstlers, sondern Kunstschaffen entstehe durch einen »unbewußten Schaffensdrang unterhalb der Bewußtseinsschwelle«, der zur Entäußerung dränge (ebd., S. 231). Die wiss. Methodik D.s ist eklektisch u. schwankt – von ihm selbst zugestanden – heterogen zwischen subjektiver u. objektiver Betrachtungsweise. Die meisten Bestimmungen erfolgen durch negative Ausschließung u. führen nicht zu positiven Begriffen. Dabei wandte sich D. gegen einseitigen Idealismus wie Realismus u. gegen alle Bemühungen, die Kunst primär »in ihrer Verflechtung mit den sie tragenden Menschen und Verhältnissen« festlegen zu wollen. Dagegen setzte er die Vorstellung eines im Werkcharakter entäußerten Sonderwesens der Kunst, dem er metaphys. Qualitäten nach Maßgabe der Trendelenburg-Dilthey’schen Weltanschauungstheorie zumaß. Im Sinne des fortschrittl. Wilhelminismus verfocht D. einen geistigen Elitecharakter der Kunst, wobei er von ihren »Funktionen« die des geistig u. sittlich läuternden, individuellen »Genusses« in »Weihestunden höchster Ergriffenheit« (ebd., S. 444) obenan stellte. Das menschl. Ziel zeige
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sich ihm dabei in der »vornehmen und freien Rede als Kunst. Mchn. 1940. 21948. – Buch der Erinnerung. Stgt. 21947. – Das Ich, der Traum, der Gesinnung des Gentleman« (ebd., S. 450). 2 D.s formale Verabsolutierung des Kunst- Tod. Stgt. 1947. 1951. Literatur: Bibliografien: Ztschr. für Ästhetik u. charakters erwies sich – kurz bevor die ersten abstrakten Bilder Kandinskys u. die Poésie Allg. Kunstwiss. 1927. – In: Christian Herrmann: pure entstanden – als wichtiger Baustein in M. D. Mensch u. Werk. Stgt. 1929. – Weitere Titel: Dino Formaggio: M. D. e il problema di una der Bildung eines autonomen Kunstbegriffs. ›Scienza generale dell’Arte‹. In: Rivista Estetica 3 D. öffnete, wie die Form-Kunsthistoriker (1958), S. 229–260. – Thomas Munro: Foreword. Heinrich Wölfflin, Alois Riegl u. August In: M. D. Aesthetics and Theory of Art. Detroit/ Schmarsow, die ästhet. Muster des Kunst- Michigan 1970. – Adolf Kurzweg: Die Gesch. der werks, in die dann etwa zur gleichen Zeit sein Berliner ›Gesellschaft für Experimental-Psychologeistiger Antipode Aby Warburg mit seiner gie‹ mit bes. Berücksichtigung ihrer Ausgangssiikonologisch vertieften Inhaltsdeutung der tuation u. des Wirkens v. M. D. Bln. 1976. – Rudolf Steiner: Von Seelenrätseln, Anthropologie u. AnKunst einspringen sollte. D.s öffentl. Wirkung war groß, da er sich throposophie. M. D. über Anthroposophie. DorAndreas Haus / Red. nicht scheute, auch populäre Arbeiten zu nach 1983. veröffentlichen. Der sachliche, elegante Stil seiner wiss. Prosa hat ihn dabei gewiss unDetmar von Lübeck, † um 1395. – Spätterstützt. Als Jurymitgl. öffentlicher Wettbemittelalterlicher Chronist. werbe, als Kulturbeirat der Reichs-Rundfunkgesellschaft, als Vorstandsmitgl. der D. ist zwischen 1368 u. 1380 als Lesemeister Berliner Volkshochschule u. als Mitgl. der u. bis 1394 als Mitgl. des FranziskanerkonFilm-Begutachtungsstelle hat er v. a. in den vents von St. Katharinen in Lübeck bezeugt. 1920er Jahren eine für einen Universitätsge- Von ihm ist eine in mehreren Fassungen lehrten bis dahin unbekannte Tätigkeit in entstandene Lübecker Chronik überliefert, die offenbar in offiziösem Auftrag der Stadt öffentl. Kulturbelangen entfaltet. 1934 wurde ihm von den Nationalsozialis- verfasst wurde: 1385 wurde D. von den Lüten die Herausgabe seiner Zeitschrift, 1937 becker Gerichtsherren Thomas Murkerke u. sein Ordinariat an der Berliner Universität Herman Langhe beauftragt, die 36 Jahre lang (seit 1897 a. o. Prof., seit 1920 Ordinarius) u. nicht mehr weitergeführte sog. Stades-Chronik jede Erlaubnis zu öffentl. Auftreten entzo- fortzuschreiben. Anlass der Beauftragung gen. 1943 verließ er unter Verlust seines ge- war der gescheiterte Knochenhaueraufstand samten wiss. Besitzes Berlin u. fand in von 1384, ihr Ziel, die Stadtgeschichte in ihKronberg/Ts. Unterkunft, wo er nach Her- rem reichs- u. weltgeschichtl. Kontext der ausgabe seiner Lebenserinnerungen, u. Lübecker Oberschicht zu vermitteln. Die Entstehungsschichten der Chronik nachdem ihm die Universität Frankfurt noch einmal ein Lehramt angeboten hatte, ver- sind nicht restlos geklärt. Vermutlich hat D. sein Material in drei Stufen zunehmend instarb. Weitere Werke: Gesch. der neueren dt. Psy- tensiver bearbeitet. Zu diskutieren wäre jechologie. Bd. 1: Von Leibniz bis Kant. Bln. 1894. doch, ob es sich dabei um das schrittweise Umgearbeitet 21902. – Abriß einer Gesch. der Psy- Entstehen einer endgültigen Fassung handelt chologie. Heidelb. 1911. – Das Bismarck-National- oder ob in sich abgeschlossene, vielleicht auch denkmal. Eine Erörterung des Wettbewerbes (zus. auf unterschiedl. Gebrauchssituationen zumit Hermann Muthesius). Jena 1912. – Über das geschnittene Werke (Stadtchronik, WeltchroBeschreiben v. Bildern. In: Ztschr. für Ästhetik u. nik) intendiert waren. Am Anfang steht wohl allg. Kunstwiss. 3 (1913), S. 440–461. – Kriegspsyeine Fortsetzung der Stades-Chronik für die cholog. Betrachtungen. Lpz. 1916. – Vom Jenseits Jahre 1350 bis 1386, die später bis 1395 weider Seele. Stgt. 1918. Nachdr. der 6. Aufl. Wiesb. 1979. – Vom Diesseits der Seele. Psycholog. Briefe. tergeführt wurde. Auf einer nächsten BearLpz. 1923. Neubearb. Bln. 1948. u. d. T. Psycholog. beitungsstufe scheint D. die gesamte StadesBriefe. – Lehrbuch der Philosophie. Bln. 1925. – Chronik mitsamt seiner eigenen Fortsetzung Der Okkultismus in Urkunden. Bln. 1925. – Die bis 1386 zu einer Lübeckischen Weltchronik
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von 1105 bis 1386 umgeschrieben zu haben, wobei er sich v. a. auf Vinzenz von Beauvais u. die Slavenchronik Helmolds von Bosau stützte u. eine aus der Sächsischen Weltchronik entnommene Einleitung voranstellte. Eine letzte Bearbeitung – die einzige, von der (annähernd) vollständige Handschriften existieren – erweitert den Berichtszeitraum auf die Jahre zwischen 1101 u. 1395. Dabei hat D., worauf er selbst hinweist, zahlreiche, von der Forschung teilweise nicht identifizierte Quellen ausgeschöpft. Vom gleichen Autor stammt auch ein chronikalischer Bericht über die Auseinandersetzungen der Stadt u. der Klöster mit Bischof Burchard von Serken u. der Weltgeistlichkeit Lübecks (1276–1319). Ausgaben: Karl Koppmann (Hg.): Die Chroniken der niedersächs. Städte. Lübeck 1. Lpz. 1884. Neudr. Gött. 1967, S. 115–597; Lübeck 2. Lpz. 1899. Neudr. Gött. 1967, S. 1–70, 319–332. Literatur: Koppmann (s. o.), Einl.en zu 1 u. 2. – F. Bruns: Reimar Kock. Der lüb. Chronist u. sein Werk. In: Ztschr. des Vereins für lüb. Gesch. u. Altertumskunde 35 (1955), S. 85–104. – Thomas Sandfuchs: D. v. L. In: VL. – Klaus Wriedt: Geschichtsschreibung in den wend. Hansestädten. In: Geschichtsschreibung u. Geschichtsbewußtsein im Späten MA. Hg. Hans Patze. Stgt. 1987, S. 401–426. – Jaroslaw Wenta: D. v. L. u. Preußen. In: Jb. der Oswald v. Wolkenstein-Gesellsch. 10 (1998), S. 409–418. Norbert H. Ott / Gerhard Wolf
Detmold, Johann Hermann, * 24.7.1807 Hannover, † 17.3.1856 Hannover. – Satiriker u. Politiker.
Deutschenspiegel
Kunstbetriebs. Den Aufenthalt 1837 in Paris bei Heine brach er aufgrund der polit. Umstände in Hannover ab (Aufhebung der Verfassung u. Verfolgung der »Göttinger Sieben«). Er ließ sich von der Opposition zum Abgeordneten wählen, sein Mandat wurde ihm jedoch 1839 von der Staatsgewalt entzogen. Gutzkows »Telegraph«, Cottas »Allgemeine Zeitung« u. a. Periodika bildeten fortan das Podium seiner Kritik, die in den vier Bänden zur Geschichte des Hannoverschen Verfassungskampfes (Hann. 1838–41) kulminierte. 1848 wurde D. auf Betreiben seines Freundes Stüve Abgeordneter der äußersten Rechten in der Frankfurter Nationalversammlung u. kurzzeitig sogar Minister. Damit entwickelte er sich zum realen Abbild jenes geltungssüchtigen u. gesinnungslosen Bürgertums, dem er noch 1849 unter der Mithilfe des Malerfreundes Adolph Schrödter in dem Bilderbuch Thaten und Meinungen des Herrn Piepmeyer, Abgeordneten zur konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt (Ffm. 1849. Neudr. Aachen/Mainz 2000) ein ironisches Denkmal gesetzt hatte. 1851 kehrte D. als Gesandter ohne Aufgaben nach Hannover zurück, wo er einen Monat nach Heine, der ihn 1848 aus seinem Testament gestrichen hatte, verstarb. Weitere Werke: Randzeichnungen. Braunschw. 1844. (Satiren). – Briefw. zwischen Johann Bertram Carl Stüve u. D. in den Jahren 1848–50. Hg. Gustav Stüve. Lpz./Hann. 1903. Literatur: Hermann Hüffer: Heinrich Heine u. J. H. D. In: Dt. Rundschau 11/12 (1884/85), S. 376–378, 452, 472. – Marie-Luise Ehrhardt: J. H. D. u. Jacob Grimm. In: Brüder-Grimm-Gedenken. Bd. 3, Marburg 1981, S. 172–187. – Bruno Kaiser: J. H. D. Die Kunst, in drei Stunden ein Kunstkenner zu werden. In: Ders.: Vom glückhaften Finden. Bln./Weimar 1985, S. 437–446. – Goedeke Forts.
D. entstammte einer angesehenen Arztfamilie, die 1815 vom Judentum zum Christentum konvertierte. Nach dem Studium ließ er sich 1830 in Hannover als Rechtsanwalt nieder. Gefördert durch Heinrich Heine, mit Michael Then / Red. dem er seit 1827 befreundet war, wandte sich D. der Literatur zu. Seine satir. Anleitung zur Deutsch, Manuel ! Manuel, Niklaus Kunstkennerschaft (Hann. 1834) anlässlich einer Ausstellung in Hannover, in der KunstDeutschenspiegel, um 1274/75. – Späturteil durch eine »Kunstkenner-Phraseolomittelalterliches oberdeutsches Rechtsgie« als in drei Stunden erlernbar gezeigt buch. wurde, machte ihn überregional bekannt. Die von ihm mit herausgegebenen »Hannover- Der »Spiegel allr taeutzher laevte«, wohl um schen Kunstblätter« (1835/36) festigten sei- 1274/75 vollendet, ist als frühe Stufe innernen Ruf als bissiger Kritiker des etablierten halb des Prozesses von Umformungen des
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Sachsenspiegels (Eike von Repgow) zum Schwa- Franziskaner, die diese Rechtstexte wohl als benspiegel zu verstehen, der sich im Umfeld eine Art Unterweisung zu rechtem Verhalten der Augsburger Franziskaner vollzog u. wohl auffassten, weiterverarbeiteten u. weitergaum 1276 beendet war. Vollständig überliefert ben. ist der D. im Gegensatz zu Sachsenspiegel u. Ausgaben: Der Spiegel dt. Leute. Hg. Julius FiSchwabenspiegel, die in einer Vielzahl von cker. Innsbr. 1859. – D. u. Augsburger SachsenHandschriften erhalten sind, nur in einem in spiegel. Hg. Karl A. Eckhardt u. Alfred Hühner. 2 bairisch-österr. Mundart geschriebenen Hann. 1933 (MGH Fontes 3). Literatur: Julius Ficker: Über die EntsteInnsbrucker Kodex aus dem 14. Jh. Grundlage für den D. ist eine oberdt. Übersetzung hungszeit des Sachsenspiegels u. die Ableitung des des Sachsenspiegels, die um 1270 im Franzis- Schwabenspiegels aus dem D. Innsbr. 1859. – Karl kanerkonvent in Augsburg vorhanden war. In A. Eckhardt: Der D., seine Entstehungsgesch. u. sein Verhältnis zum Schwabenspiegel. Weimar der Einteilung folgt der D. dem Sachsenspiegel. 1924. – A. H. Benna: D. In: Handwörterbuch zur Das Werk beginnt mit einem bis zu Na- dt. Rechtsgesch. 1, Sp. 685 f. – Peter Johanek: buchodonosor reichenden Auszug aus dem Rechtsschrifttum. In: Die dt. Lit. im späten MA. Buch der Könige, der die Verankerung des im Hg. Ingeborg Glier. Tl. 2, Mchn. 1987, S. 414–417. Folgenden darzustellenden Rechts im AT – Ulrich-Dieter Oppitz: Dt. Rechtsbücher des MA. beweisen soll u. zgl. Vorbilder für die Aus- Bd. 1: Beschreibung der Rechtsbücher, Köln/Wien übung der Rechtsprechung liefert. Die 260 1990, S. 32–24. – Joachim Heinzle: Gesch. der dt. Verse umfassende Reimvorrede ist eine Um- Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. arbeitung der Reimvorrede des Sachsenspiegels. Bd. 2/2: Wandlungen u. Neuansätze im 13. Jh., Von den 353 Artikeln des Landrechts sind die Tüb. 1994, S. 76 f. u. S. 171. – P. Johanek: Spiegel aller dt. Leute. In: VL. Elisabeth Wunderle ersten 109 fast ausschließlich Umarbeitungen des Sachsenspiegels. Für seine Bearbeitung hat der Verfasser theologische u. literar. Devrient, Eduard (Philipp), * 11.8.1801 Quellen (Bibel, Historia scholastica des Petrus Berlin, † 4.10.1877 Karlsruhe; Grabstätte: Comestor, Kaiserchronik, zwei Gedichte des ebd., Hauptfriedhof. – Schauspieler, Stricker u. a.) sowie römisches, kanonisches u. Dramatiker u. Autor dramaturgischer u. dt. Rechtsschrifttum (die Institutionen Justitheaterhistorischer Schriften. nians, den Mainzer Landfrieden, einen bayer. Landfrieden, die Summa Raymundi) benutzt. Nach einer kaufmänn. Ausbildung studierte Ab Artikel 110 ist der D. fast nur noch eine D., Kaufmannssohn u. Neffe des berühmten oberdt. Übersetzung des Sachsenspiegels. In Ludwig Devrient, in Berlin Musik bei Carl den D. sind Bispel des Stricker eingefügt, die Friedrich Zelter u. debütierte 1819 als Bassist – in Anlehnung an Exempla in Predigten – an der Königlichen Oper. Gemeinsam mit die Rechtslehren verdeutlichen sollen. Felix Mendelssohn-Bartholdy betrieb D. 1829 Der Vergleich mit dem Sachsenspiegel lässt die Wiederaufführung von Bachs Matthäusverschiedene Bearbeitungstendenzen erken- passion in der Berliner Singakademie, wobei nen: Während im Sachsenspiegel die Herlei- er die Partie des Christus übernahm. tung des Rechts aus den Gepflogenheiten der Ein Stimmversagen ließ D. 1831 zum KöVorfahren betont wird, wird im D. die Set- niglichen Schauspielhaus wechseln, wo er zung des Rechts durch Könige u. Kaiser u. die u. a. den Posa u. Richard II. spielte. 1844 trat Auslegung durch Rechtsgelehrte hervorge- er als Oberregisseur die Nachfolge Ludwig hoben; u. während im Vorwort auf die Gül- Tiecks am Dresdener Hoftheater an. Diffetigkeit des Gesetzbuches für die gesamten dt. renzen mit seinem Bruder Emil, der sein Lande hingewiesen wird, werden an ver- Virtuoseninteresse dem Ensemblespiel nicht schiedenen Stellen die Schwaben u. ihre hintanstellen wollte, veranlassten D., sich ab Sonderrechte hervorgehoben. 1846 auf darsteller. Aufgaben zu konzenWie der Schwabenspiegel u. das Buch der Kö- trieren. 1852 übernahm D. die Leitung des nige zeigt der D. starke sprachliche u. stilist. Hoftheaters in Karlsruhe u. trat nun nicht Bezüge zum Schrifttum der Augsburger mehr als Schauspieler auf. Mit Klassikerzy-
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Nicht der Neuentwurf der Institution, D.s klen (z.B. 20 Stücke von Shakespeare in der Spielzeit 1864/65) baute er das Hoftheater zu erzieherischer Impuls aus der Theaterarbeit einer Musterbühne im Sinne seines Theater- hat weitergewirkt. D. führte in Dresden das begriffs aus. 1858 erhielt er den Ehrendok- histor. Kostüm ein u. setzte ein festes Artortitel der Universität Jena. 1870 zog er sich beitsschema (Lese- u. Stückproben) durch. von der Theaterarbeit zurück. Von den fünf Der Betrieb des Karlsruher Hoftheaters erKindern aus D.s Ehe mit Therese Schlesinger hielt durch bewusste Spielplangestaltung (Heirat 1824) wurde der Sohn Otto (geb. (Klassiker- u. Opernzyklen) u. durch das Abstimmen der Einzelleistungen auf die Ge1838) ebenfalls Schauspieler. D. schrieb anfangs Operntexte; sein Li- samtwirkung (Ensemblespiel) modellhafte bretto Hans Heiling (Bln. 1827) wurde 1833 Züge. von Heinrich Marschner vertont. Nach D.s Weiteres Werk: Meine Erinnerungen an Felix Hinwendung zum Schauspiel entstanden ei- Mendelssohn-Bartholdy u. seine Briefe an mich. nige Dramen u. Lustspiele wie Die Gunst des Lpz. 1869. 31891. Augenblicks (Lpz. 1846, entstanden 1836), in Ausgaben: Dramat. u. dramaturg. Schr.en. 10 dem die neue Lust am Politisieren parodiert Bde., Lpz. 1846–72. – Tagebücher. In Auszügen hg. u. polit. Unernst bloßgestellt wird. Neben v. Rolf Kabel. 2 Bde., Weimar 1964. Literatur: Rudolf K. Goldschmit: E. D.s Bühsolchen Gebrauchsstücken ohne handwerkliche oder ästhet. Neuerungen verfasste D. v. a. nenreform am Karlsruher Hoftheater. Lpz. 1921. – theaterhistorische u. -polit. Schriften. In Über Ferdinand Rein: E. D. als Oberregisseur in Dresden. Theaterschulen (Bln. 1840), in Dialogform an- Diss. Erlangen 1931. – Julius Bab: Die Devrients. Bln. 1932. – Werner Breig u. Werner Schulz: Rigelegt, bejahte er die zeitgenössisch umstritchard Wagner u. Karlsruhe. Karlsr. 1987. – Gabriele tene Frage nach der Lehrbarkeit der Schau- Büchler-Hauschild: ›Der Fabrikant‹. E. D. soziales spielkunst. Die Reformschrift Das National- Schauspiel, ein frührealist. Zeitstück u. seine Betheater des Neuen Deutschlands (Lpz. 1848) ver- urteilung durch Karl Immermann. In: ›Stets wird abschiedet das Hoftheatermodell zugunsten die Wahrheit hadern mit dem Schönen.‹ Hg. Gerkünstlerischer Selbstverwaltung. D. stellt trude Cepl-Kaufmann. Köln u. a. 1990, S. 261–278. hier den Schauspieler den anderen Künstlern – Goedeke Forts. Alain Michel / Red. gleich u. dringt auf seine materielle Absicherung; konsequent forderte er Staatszuschüsse Dick, Uwe, * 21.12.1942 Schongau/Lech. – für den Theaterbetrieb. D.s Hauptwerk stellt Verfasser von Lyrik, Märchen, Prosa, die Geschichte der deutschen Schauspielkunst (5 Theaterstücken u. satirischen Schriften. Bde., Lpz. 1848–74) dar, deren Aufwärtsentwicklung er nachzuzeichnen suchte. Im Im Zentrum von D.s Dichtung steht das »Nationaltheater« (klass. Repertoire, Bil- Programm der »Deckung von Sprache und dungsfunktion) der Gegenwart u. der Zu- Leben«: »Bin ich eins: Wort und Wesen? kunft werde die Schauspielkunst den anderen Dann wäre ich meiner Weltformel nahe und Künsten ebenbürtig u. könne auf diese Weise lebte, indem ich schreibe, was ich lebe« (Sau»an den großen gesellschaftlichen Entwick- waldprosa. Mchn. 1976. 41987. Salzb. 2001). lungen unserer Zeit« teilhaben. Die Frage nach dem Ich lässt sich für D. nur D.s Schriften gehören in die Reihe der Re- im gesamtgesellschaftl. u. histor. Zusamformprogramme, die während der Märzre- menhang stellen. Historisches Bewusstsein volution für das Theater entworfen wurden heißt für ihn, die eurozentr. Perspektive hin (von Richard Wagner, Gutzkow, Laube, zur myth. u. asiat. Vorstellungswelt zu öffHeinrich Theodor Rötscher). So trat auch D. nen. für künstler. Selbstverwaltung u. eine antiAls Autor ist D. auch Sprachanalytiker, für kommerzielle Orientierung der Theater ein. den Sprachkritik immer auch GesellschaftsDie Sicherung von Gruppeninteressen im kritik ist: »Wir sind, wie wir sprechen« (SauTheater solle im Repräsentativsystem erfol- waldprosa). Aphoristik u. epigrammat. Kürze gen. Aufgabe des Theaters im neuen bürgerl. sind für seine Spracharbeiten ebenso charakStaat sei die Bildungsvermittlung. teristisch wie lyr. Groß- u. prosaische Misch-
Dick
formen. Ein Selbstporträt in nuce findet sich in Pochwasser (Mchn. 1992; 2001 integriert in die Sauwaldprosa): »Verwandlungen! Ihnen lebt er: Holzhacker, Archaischer Surrealist, Seelsorger, Kleinbauer, Arroganzheitsdenker, Staatsfeind ...«. In dieser Biographie ohne Ich, wie das Buch im Untertitel heißt, ist auch eine lebenspragmat. u. literar. Programmatik formuliert: »Auf der Suche nach einer Moderne des Unversöhnlichen. Auf der Suche nach einer unmöglichen Literatur.« Das Buch versammelt D.s Generalthemen: wider die »benennende Macht des Geistes, der die Welt erobert, aber die Natur zerstört«; die Fortsetzung des Totalitarismus mit anderen (wirtschaftl.) Mitteln; den »Primat der Idee über den – Rest, über die (noch) lebende Realität«; Einspruch gegen die Zernadelung des »Brudertiers« in den »WissenschaftsKZ’s« des Menschen. Auf Initiative der Großmutter veröffentlichten Tageszeitungen 1958 gegen Honorar erste Gedichte von D., die seit seinem 10. Lebensjahr entstanden waren. 1953–1955 lebte D. als Straßenkind in Karlsruhe u. Mannheim z.T. in Kellern von Hausruinen. Nach unregelmäßigem Schulbesuch 1955–1961 wuchs er in verschiedenen Internaten auf. 1961 arbeitete D. in einer Kupferschmiede u. einer Zahnfabrik sowie in einem Chiemgauer Berggasthof. Nach einem Volontariat war D. von 1961 bis 1968 Redakteur bei Tageszeitungen in Rosenheim u. München u. schrieb unkonventionelle Reportagen, denen ungewöhnl. Recherchearbeit zugrunde lag (z.B. ein Auftritt als Pantomimeclown im Circus Krone). 1970–1977 war D. Mitinitiator u. Lehrer der »Ersten Kindersprechschule Deutschlands« (ARD). Seit 1969 ist er als Rezitator (nicht nur der eigenen Werke) im In- u. Ausland unterwegs. Bekannt wurde er v. a. mit seinem Einmanntheater Der Öd, dem Bio-Drama eines Amok denkenden Monsters oder: Wechselfiebrige Anfälle von Weisheit, Torheit und Faschismus, wie es im Untertitel heißt (Mchn. 1980. Hörbuch: Bad Nauheim 1999). Das »Biertischwelttheater«, von D. über 200-mal in Szene gesetzt, erweist sich als volkskundl. Studie, denn viele Typen sind auch im »Öd« vereint, dieser Kunstfigur, changierend zwischen Vorurteil u. selbstiron.
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Einsicht, zwischen Redensarten, Mundart, verballhorntem (Kirchen-)Latein u. sporadisch, gezielt eingesetztem Hochdeutsch. Der Monolog eines Radfahrers (Passau 1985) ist auf der Bühne nicht minder erfolgreich. In vielen Bühnenprogrammen tritt D. zus. mit Musikern auf, so z.B. in Kontrabaß und Sauwaldprosa (mit Aladar Pege. Als MC: Mchn. 1989), Odyssee mit Cello und Trompete. Ein Canto für Ezra Pound (mit Michael Steinkühler u. Scott Stuer. Als MC: Mchn. 1993). Reisen führten ihn durch den Balkan, nach Sizilien, Dänemark, Wales, Schottland, über die Hebriden, die Shetland- u. Färöer-Inseln. Regelmäßig hielt sich D. in Istrien u. Venedig auf, wo er 1972 Ezra Pound traf. Dessen Werk ist für D. von nachhaltiger Bedeutung. Ein Canto für Ezra Pound (1985. In: Das niemals vertagte Leben. Mchn. 1991) ist ästhet. Bekenntnis u. zgl. eine Hommage an den amerikan. Dichter, auf dessen Cantos D. antwortet, indem er Pounds Aktualität in mentalitäts- u. gesellschaftskrit. Fragen aufzeigt. Pounds Sprachprogramm einer konkreten Bildhaftigkeit u. sein Postulat der unablässigen Suche nach dem richtigen Wort werden in D.s Gedichten eingelöst. Sein Werk zeichnet sich durch eine Vielsprachigkeit aus, die er »IndoEuroBairisch« nennt, eine Sprachensynthese, deren sinnenhafte Lautlichkeit von einer normierten Hochsprache nicht zu leisten ist. In ihr sind halbvergessene Worte verschiedener Mundarten u. sprachgeschichtl. Zeiträume vereint: u. a. Alemannisch, Bairisch, Berlinerisch, Mittel- u. Spätmittelhochdeutsch, Niederdeutsch u. Schwäbisch sowie Englisch, Griechisch, Lateinisch, u. Sanskrit. Onomatopoetische Wortneuschöpfungen schließen semant. Lücken u. machen D.s Dichtungen als Klangkörper erfahrbar. Die Gedichte der beiden wichtigsten Bände, Theriak. 13 Fügungen (Mchn. 1986) u. Das niemals vertagte Leben, mit früheren u. später entstandenen Gedichten versammelt in Des Blickes Tagnacht – Gedichte 1969–2001 (Salzb./ Wien/Mchn. 2002), weisen D. als einen bedeutenden Dichter der dt. Gegenwartsliteratur aus. Mit der »ersten Sauwaldiana« (1976) beginnt das Lebensprojekt des Autors, die Sauwaldprosa, die von D. mehrfach erweitert
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Didymus
worden ist: 1978 um ein »Nachstell-Vor- Passau. Für sein Werk erhielt er zahlreiche wort«, eine »Postludiums-Fuge« u. ein Preise: den Förderungspreis für junge »Fußnotenmurki« zur Huldigung Jean Pauls Künstler und Schriftsteller des Landes Bayern (seiner neben Arno Schmidt u. Karl Kraus (1972), den Förderpreis der Stadt Rosenheim bevorzugten »Prosa-Galion«), 1979 um »2 (1972), den Literaturpreis der Stiftung zur mal 13 Taschenbuchstaben zur Weltformel«, Förderung des Schrifttums (1978), den Marie1987 um die »Conclav-Erzählungen« Monolog Luise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt eines Radfahrers u. Der Jäger vom Knall. Hunds- (1986), den Tukan-Preis der Stadt München oktaven zu einer Sexualpathologie zwergdeutscher (1987 u. 1992) sowie 2007 den Jean-Paul-Preis Flintenmänner (als MC: Mchn. 1994), 2001 um des Freistaates Bayern für das literarische Pochwasser. »Drobm überm unterm Inn, süd- Gesamtwerk. lich der Nibelungenstraße also, nördlich der Weitere Werke: König Tauwim/Mangaseja. Sonnentore, dort ist mein Arkadien, der Zwei Märchen. Rosenheim 1970/71. Passau 1984. – Sauwald«, zeichnet der Ich-Erzähler den to- Im Namen des Baumes u. seines eingeborenen pograf. Grundriss einer Gegend im bayerisch- Sohnes des Buntspechts. Eine Brief-Poetologie. österr. Grenzgebiet, deren sprichwörtl. Er- Passau 1984. – Cantus firmus für Solisten mit Fahrung sich »kraft innerer Gesichte« alsbald Pferdefuß. Mchn. 1988. – Land-, See- u. Luftschaften für Saxophon u. Solosprecher. Mchn. 1995 zu einer »Sauwald-Odyssee« steigert, die in (CD). – Wer einen Dachschaden hat, der ist freilich der »großen Passauer Sauwaldkadenz« eines offen fürs Höhere. Ein HörBuch. Bad Nauheim »Solisten« am Biergarten-Nebentisch gipfelt. 1996. – Die Salzigkeit der Wogen u. der Sterne. Ein Dessen »Sauwald«-Vision weist deutl. Affi- HörBuch. Bad Nauheim 1997. – Marslanzen. Bad nitäten zu den Prophezeiungen des Mühl- Nauheim 2007. hiasl, dem Propheten aus dem (niederbayer.) Literatur: Hans Ziegler: Gesucht: ›Etiketten Wald u. dem Weltengericht im Muspilli auf: für U. D., einen Schriftsteller aus Bayern‹: ein ReDer »Sauwald« weitet u. verwandelt sich zu zeptionsspektrum mit Hinweisen auf Davon»Seelen-Landschaften«, das »seltsam traum- schleichwege der Literaturkritik. Mchn. 1977. – hafte Spiel der sogenannten Wirklichkeit« Eva Hesse: ›Niemands Zeitgenosse?‹ Zur Gegenvermischt sich mit den Realitäten des Vorge- wart v. U. D. In: U. D.: Theriak. Mchn. 1986, stellten, Erinnerten. Die Maxime des Ich-Er- S. 99–174. – Michael Lentz: ›– der Baum, die Woge, das Auge –‹. Zur poetolog. Funktion der Sprache zählers ist es, ganz dem Augenblick zu leben, bei U. D., dargestellt an THERIAK. Magisterarbeit denn so kulminiert »das ganze Werden [...] in (1992) [LMU München, Germanist. Bibl.]. – Gerald mir«, »einem Kollektiv von Personen ver- Stieg: Mythos u. Satire fürs ird. Paradies. In: U. D.: schiedenster Jahrhunderte«. Landschafts- Des Blickes Tagnacht – Gedichte 1969–2001. skizzierungen sind eng verbunden mit einer Salzb./Wien/Mchn. 2002, S. 240–280. – Petra Genealogie verwandter Seelen, deren Porträts Ernst: U. D. In: LGL. – Klaus Ickert: Die großen zgl. eine Hommage an ihre Lebenshaltung Bayern: U. D. Sauwäldler & Querdenker. BR Fernist. Von zentraler Bedeutung für die andere sehsendung 2005. Michael Lentz Seite, die innere Dimension des »Sauwalds«, ist der Bericht des Erzählers von seinem BeDidymus, Paul, eigentl.: P. Zwilling, such im Kubin-Haus. Ausgelöst von der * 6.11.1547 Torgau, † 6.11.1581 Torgau. »Dramatik des Verborgenen« der Bilder Ku– Neulateinischer Epiker. bins, des »Magiers von Zwickledt«, folgt der Leser dem Abtauchen in den »Traumsee«; Als Sohn des von Luther geschätzten PrediBilderstürze bedrohen das Erzählen: Dieses gers u. Superintendenten Gabriel Didymus »Sauwald«-Arkadien, das Kubin’sche (Schat- lernte D. in Grimma unter Adam Siber. Im ten-)Reich der Fantasie, zeigt sich schließlich Febr. 1572 wurde er in die Matrikel der als (er)lebbare Gegenwelt zum »bilderlosen Universität Wittenberg eingeschrieben, wo er Dasein«. auch den Magistergrad erwarb; seit dem Nach Stationen in Rosenheim, Brannen- Wintersemester 1573 (bis zum Sommerseburg, Wasserburg/Inn u. Altenburg lebt D. mester 1576) wirkte er als Professor der Phiheute als freier Autor in Niederperlesreut bei losophie u. Poesie an der jungen Universität
Diebold
Jena (Dekanat Sommersemester 1575) u. starb, erst 34-jährig, an seinem Geburts- u. Hochzeitstag. Sein Hauptwerk sind die acht epischen Bücher seiner Josephias (Josephiados libri VIII totam Genesin complectentes. Lpz. 1580), in der er nach der Wiedergabe der Josephslegende (Buch 1–3) Joseph das ganze Buch Genesis vor dem ägypt. Pharao rekapitulieren lässt (Buch 4–8). Als Episierung eines Bibelbuchs ist das Werk auch ein nlat. Beitrag zur Parodia christiana. In der Epistola dedicatoria an Ernst Graf in Mansfeld reflektiert D. den Unterschied von poeta u. historicus u. die epische Tradition des mos Homericus et Virgilianus für sein Bibelepos (»mea Genesis«); programmatisch imitiert bereits der Beginn des Epos das antike lat. Modell Vergil: »Sacra virumque cano, qui primus Hebronis ab oris / migrante Isacidum de stirpe Canopia venit / littora [...].« Weitere Werke: De prima hebdomade, seu mundi hominisque ortu et huius lapsu. Lpz. 1569. – De providentia divina. Carmina graduum XV. Lpz. 1580 (zus. mit der ›Josephias‹). – Carmina Sionia seu meletemata ex evangeliis dominicalibus. Wittenb. 1585. Literatur: VD 16, Z 741–744, ZV 21010–21013, 22012. – Weitere Titel: Johann Georg Terne: Versuch zur sufficienten Nachricht v. des G. D. fatalem Leben mit einem Unterricht v. des P. D. Tode. Lpz. 1737. – Jöcher 2, S. 113. Reinhard Düchting / Red.
Diebold, Bernhard, * 6.1.1886 Zürich, † 9.8.1945 Zürich. – Dramaturg, Romancier.
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sich D. einen Namen als Fachmann für die expressionist. Dramatik. Mit Der Fall Wagner. Eine Revision (Ffm. 1928) nahm er Richard Wagner beredt vor chauvinistischen u. nationalsozialist. Vereinnahmungen in Schutz. 1935 zog sich D., der Jude war, unfreiwillig nach Zürich zurück, wo er keine seinen Fähigkeiten angemessene Tätigkeit mehr fand u. zuletzt als Theaterreferent für die Tageszeitung »Die Tat« arbeitete. Im Schweizer Exil legte D. mit dem Roman-Panorama Das Reich ohne Mitte (Zürich 1938) in sehr persönlicher Weise Rechenschaft über die Entwicklung der Weimarer Republik u. die Tendenzen ab, die seiner Meinung nach die Heraufkunft des Nationalsozialismus ermöglicht hatten. Kritisch aufklären über die Situation der Zeit, die er als Aufbruch ins Chaos begriff, wollte D. auch mit seinem zweiten Roman, dem auf die Schweiz gemünzten Werk Der letzte Großvater oder Gegen die Jugend gibt es kein Gesetz (Zürich 1939). Überzeugender sind D.s bisweilen ins Surrealistische weisende kürzere Erzählungen, die er u. d. T. Italienische Suite. Nachdenkliche Geschichten von sonderbaren Begegnungen (Zürich 1939) veröffentlichte. Der völlige Misserfolg seiner Prosawerke u. das Scheitern seiner Bemühungen, dem provinziellen Schweizer Theater neue formale u. stoffl. Impulse zu geben, führten D. in seinen letzten Jahren mehr u. mehr in Resignation u. Verbitterung. Weitere Werke: Das Rollenfach im dt. Theaterbetrieb des 18. Jh. Lpz. 1913. Nachdr. Nendeln 1978. – Habima. Hebr. Theater. Bln. 1928. – Der unsterbl. Kranke. Zürich 1940 (Opernlibretto nach Molière). – B. D. (Hg.): Das Buch der guten Werke (1914–18). Ffm. 1932 (Anth. mit Texten gegen den Krieg). Charles Linsmayer / Red.
Nach abgebrochenem Jurastudium war D. bis 1908 Schauspielvolontär in Wien. Danach studierte er Philologie u. Theaterwissenschaft in Wien, Berlin u. Bern, wo er 1912 mit einer Diederichs, Eugen, * 22.6.1867 Löbitz bei Arbeit über Das schauspielerische Rollenfach im Naumburg/Saale, † 10.9.1930 Jena; deutschen Theaterbetrieb der zweiten Hälfte des 18. Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – VerJahrhunderts promovierte. 1913–1917 arbeilagsbuchhändler u. kulturphilosophitete D. als Dramaturg in München, anschliescher Publizist. ßend als Feuilletonredakteur der »Frankfurter Zeitung« mit Wohnsitz in Berlin. Mit Der Landwirtsohn D. gründete 1896 einen zahllosen Kritiken u. Werken wie Anarchie im Verlag in Florenz u. Leipzig; Verlagssignet Drama (Ffm. 1921. Nachdr. der Ausg. Bln. wurde Donatellos »Marzocco« (der florentin. 4 1928: New York/London 1972) oder Der Löwe). In geistiger Nähe zu Neuromantik, Denkspieler Georg Kaiser (Ffm. 1924) machte Jugendbewegung u. Werkbund war es sein
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Diepenbrock
Ziel, »moderne Bestrebungen auf dem Gebiet Strauß u. Torney u. das Haus D. Bad Nenndorf der Literatur, Sozialwissenschaft, Naturwis- 2005. Oliver Riedel / Red. senschaft und Theosophie« zu fördern u. dem Buch seine »Würde als Kunstwerk« zurückDiepenbrock, Melchior Frhr. (seit 1845) zugeben, was durch eine Erneuerung der von, * 6.1.1798 Bocholt, † 20.1.1853 Buchkultur im Geist von William Morris, Schloss Johannesberg/ÖsterreichischJohn Ruskin u. Walter Crane erreicht werden Schlesien; Grabstätte: Breslau, Dom. – sollte (Mitarbeit von Fritz Helmuth Ehmcke Übersetzer u. Erbauungsschriftsteller. u. Emil Rudolf Weiß). 1904 übersiedelte der Verlag nach Jena. D. erhielt 1910 den Grand D. entstammte einer alten, begüterten PatriPrix der Brüsseler Weltausstellung u. war zierfamilie. Durch Ungebärdigkeit u. Insub1914 der einzige dt. Teilnehmer der Leipziger ordination um geregelte Ausbildung u. mili»Internationalen Ausstellung für Buchge- tär. Karriere gebracht, fand er erst durch die werbe und Graphik«. In der von ihm ge- Begegnung mit Johann Michael Sailer (Nov. gründeten Zeitschrift »Die Tat« propagierte 1818) eine feste Lebensorientierung: Nach Studium der kath. Theologie D. die Erneuerung Deutschlands unter Re- dem kurs auf nationales Bewusstsein u. geistigen (1819–1822) empfing D. 1823 in Regensburg Aristokratismus. Die chauvinist. Einschläge die Priesterweihe u. fungierte bis 1832 als im Denken D.s hatten stets den kulturellen Privatsekretär Sailers, der dort 1829 Bischof Wettstreit der europ. Nationen als Hinter- geworden war. Darüber hinaus avancierte er grund u. blieben frei von Antisemitismus; zum Domkapitular (seit 1830) u. Generalvinicht der german. Herrenmensch war das kar der Regensburger Diözese (1842–1844). Ideal, sondern der »uomo universale« der Nur widerstrebend akzeptierte D. die Wahl Renaissance. Buchgeschichtlich bedeutsam zum Fürstbischof von Breslau (1845) u. die waren neben aufwendigen Luxusdrucken die nachfolgende Kardinalserhebung (1850). SoReihen »Das Zeitalter der Renaissance«, zialkaritative Erfolge, polit. Ausgleichsbe»Sammlung Thule« (Altnord. Dichtung), mühungen u. konfessionelle Versöhnlichkeit »Religiöse Stimmen der Völker«, »Märchen (»irenische Katholizität« im Gegensatz zur der Weltliteratur« (seit 1912); daneben stan- militanteren Ausrichtung des Eos-Kreises um den Werkausgaben u. a. von Jacobsen, Görres) sicherten D. die Freundschaft der Maeterlinck, Kierkegaard, Bergson. Bleibend Dynasten u. enorme Popularität als eine der ist sein Verdienst um die Publikation der bedeutendsten Integrations- u. RepräsentatiKlassiker altchines. u. ind. Philosophie u. Li- onsfiguren des dt. Katholizismus im 19. Jh. teratur. D. war mit den Dichterinnen Helene 1848 wurde er zum Mitgl. der Frankfurter Voigt-Diederichs u. – in zweiter Ehe – Lulu Nationalversammlung gewählt. Literarisch trat D. als kongenialer Übervon Strauß und Torney verheiratet. setzer u. spätromantisch-restaurativer ErWeitere Werke: Politik des Geistes. Jena 1920. – Aus meinem Leben. Lpz. 1927 (Autobiogr.). – bauungsschriftsteller hervor. Sein gemeinLeben u. Werk. Hg. Lulu v. Strauß u. Torney. Jena sam mit Sailer, Brentano u. Görres initiiertes 1939. »katholisches Bücherverbreitungsprojekt« Literatur: Walther Georg Oschilewski: E. D. u. sollte die christl. Erwachsenenbildung vorsein Werk. Jena 1936. – Friedrich v. der Leyen: E. D. antreiben, myst. Erlebnisreligiosität vermitIn: NDB. – Joachim Schondorff: Die blaue Blume v. teln u. Wegweiser für kath. Identitätsstiftung Jena. In: Ders.: Ein Bündel Modellfälle. Wien 1981, sein. Die Edition eigener Hirtenbriefe, PreS. 107–122. – Erich Viehöfer: Der Verleger als Ordigten u. verstreuter Gedichte diente diesem ganisator : E. D. u. die bürgerl. Reformbewegungen Zweck ebenso wie seine von Präzision u. der Jahrhundertwende. Ffm. 1988. – Irmgard »Durchsichtigkeit« (Droste) geprägten ÜberHeidler: Der Verleger E. D. u. seine Welt. Wiesb. 1998. – Justus H. Ulbricht u. Meike G. Werner tragungen. So fing D.s archaisierende Seuse(Hg.): Romantik, Revolution u. Reform. Der Eugen- Übersetzung (erstmals ins Neuhochdeutsche) Diederichs-Verlag im Epochenkontext 1900–49. die »Körnigkeit« der Diktion des Mystikers Gött. 1999. – Ulf Diederichs: Agnes Miegel, Lulu v. adäquat ein (Heinrich Suso’s, genannt Amandus,
Dieskau
Leben und Schriften. Regensb. 1829 u. ö.). Sein Geistlicher Blumenstrauß aus spanischen und deutschen Dichtergärten [...] (Sulzbach 1829 u. ö.) fand gleichfalls den besonderen Beifall der Droste (Brief vom Mai 1845). Neben geistl. Lyrik enthält dieses Hauptwerk D.s die erstmalige dt. Übersetzung von Calderóns »auto sacramental« Das Leben ein Traum. Weitere Werke: Ritter v. Ramsay. Fénelons Leben. Koblenz 1826 (Übers., zus. mit Clemens Brentano). – Ges. Predigten. Regensb. 1841 u. ö. Literatur: Johannes Horsthemke: M. v. D. als Übersetzer span. Dichtungen. Diss. Münster 1913. – Alexander Loichinger: M. D. Seine Jugend u. sein Wirken im Bistum Regensburg (1798–1845). Regensb. 1988 (mit Bibliogr.). – Hans Flasche: M. v. D. y Calderón. In: Ders.: Hacia Calderón. Décimo Coloquio Anglogermano Passau 1993. Stgt. 1994, S. 105–110. – Michal Kaczmarek: Kardynal M v. D. Breslau 2000. Adrian Hummel / Red.
Dieskau, Rudolf von, auch: Damian von Rudelstadt, Randolphus von Duysburgk, * 5.2.1593 Finsterwalde/Niederlausitz (?), † 20.7.1656 Dresden. – Autor didaktischer u. satirischer Dichtungen zum Hofleben.
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Gedancken). Aufklärung über das Hofleben verbindet sich mit Anweisungen zum rechten Verhalten des christl. Hofmanns, der »seinem Gott, seinem Herrn, und der erbarn Welt gefallen sol«. Der Lehrschrift folgte die Satire auf die höfisch-polit. Welt: Legation oder Abschickung der Esell in Parnassum (Lpz. 1638. 5 1658). Die ergebnislose Klage der unterdrückten Esel (Bauern) vor Apoll demonstriert, dass Gerechtigkeit in der polit. Wirklichkeit nicht zu erreichen ist. Kern der satir. Erzählung des obrigkeitstreuen Lutheraners ist die asopische Fabel Die Esel vor Zeus mit dem Fazit, dass niemand an seinem Schicksal etwas ändern kann; D. verbindet sie mit der von Traiano Boccalini (Ragguagli di Parnaso. 1612/13) ausgehenden Tradition von Parnassberichten. Im Übrigen verfasste D., schon 1628 als der »Niedrige« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen, nur noch einige Gelegenheitsgedichte. Weiteres Werk: Oratio, cur viro genere nobili instituenda sit peregrinatio [...] Jenae die 13. Martii [...] 1611. publice habita. [Jena] o. J. Literatur: Christian Zimmermann: Christl. Leich-Predigt, bey dem Begängnis des [...] Herrn Rudolphs v. Dißkau [...]. Dresden 1656. – Otto Schiff: R. v. D., ein sächs. Satiriker des 17. Jh. In: Neues Archiv für sächs. Gesch. u. Altertumskunde 56 (1935), S. 15–21. – Conermann FG, Bd. 3, S. 154–156. – Ders.: Rosenkreuzerischer ›Eselkönig‹ u. bäur. ›Legation oder Abschickung der Esell in Parnassum‹. In: Daphnis 14 (1985), S. 721–757. – DBA 259,151. Ingeborg Springer-Strand / Red.
D., Sohn eines kursächs. Kammer- u. Bergrates, erhielt eine akadem. Ausbildung (1609 Immatrikulation an der Universität Jena) u. trat – nachdem er u. sein Bruder 1625 die ererbte Herrschaft Finsterwalde verkauft hatten – als Hofmeister in herzoglich-weimarische Dienste. Hier wurde er 1628 zum Geheimen Rat ernannt. Von Weimar ging D. Diesterweg, (Friedrich) Adolf (Wilhelm), an den Dresdener Hof, dann nach Weißenfels * 29.10.1790 Siegen, † 7.7.1866 Berlin; (1633–1640 Amtshauptmann). Schließlich Grabstätte: ebd., Friedhof der St. Matwar er bis zu seinem Tod als Rat u. Hofthäi-Gemeinde. – Pädagoge. meister des Kurprinzen Johann Georg in Dresden tätig. Der Sohn eines nassauischen Justizbeamten Die Erfahrungen im Hof- u. Verwaltungs- studierte seit 1808 an den Universitäten dienst gingen in D.s Dichtungen ein. Sein Herborn, Heidelberg u. Tübingen Philosoerstes Werk knüpft an die von Opitz ge- phie u. Geschichte, Mathematik u. Naturschaffene Form der Schäferei (Prosaekloge) an wissenschaften. 1811 wurde D. Hauslehrer in u. nennt schon im Titel das Programm: Mannheim, ein Jahr später Gymnasiallehrer Frühlings-Gedichte, darinnen auch zugleich mit in Worms. 1813, an der Musterschule in angeführet wird wie ein rechtschaffener, wahrer Frankfurt/M., lernte er die Pädagogik Pestachristlicher Hoffmann müsse beschaffen seyn (Al- lozzis kennen. Ab 1818 wirkte D. als zweiter tenburg 1637. 1638. Budißin 1663. Budißin Rektor der Lateinschule in Elberfeld, wo er 1675 u. 1677 u. Lemgo 1700 u. d. T.: Frühlings Johann Friedrich Wilberg begegnete, der ihn
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Dietl
auf die Bedeutung der Volksschule hinwies. Deiters. 2 Bde., Bln./Lpz. 1950. – Sämtl. Werke. Hg. 1820 gründete er im Auftrag Preußens das H. Deiters u. a. 1. Abt.: Zeitschriftenbeiträge. 17 Lehrerseminar in Moers u. wurde dessen Bde., Bln. 1956–90. 2. Abt.: Verstreute Beiträge u. erster Direktor. Seit 1827 gab er die »Rhei- selbständige Schr.en. Bd. 18 ff., Neuwied 1998 ff. – D. am Niederrhein. Briefe u. Berichte. Hg. Klaus nischen Blätter für Erziehung und UnterGoebel. Neuwied/Kriftel 2000. richt« sowie zahlreiche Lehrbücher heraus. Literatur: Eduard Langenberg: D., sein Leben 1832 wurde er als Direktor des Seminars für u. seine Schr.en. 3 Tle., Ffm. 1867/68. – Ernst RiStadtschulen nach Berlin berufen. Hier be- chard Barth: D.s Stellung zu Pestalozzi. Das gründete er die »Pädagogische Gesellschaft«. Grundmotiv seiner pädagog. Entwicklung über1835 erschien sein Wegweiser zur Bildung für haupt. Diss. Lpz. 1910. – Eberhard Groß: ErzieLehrer [...] (Essen 41850). In seiner Schriften- hung u. Gesellsch. im Werk A. D.s. Weinheim 1966. reihe Die Lebensfrage der Civilisation griff D. – Wolfgang Schröder: A. D. Studien zu seiner auch sozialpolit. Themen auf u. äußerte sich Wirkungsgesch. in der Pädagogik des 19. u. 20. Jh. Über das Verderben auf den deutschen Universitä- Ffm./Bln./Mchn. 1978. – Horst F. Rupp: Religion ten (Bln. 1836). Nach Regierungsantritt u. ihre Didaktik bei F. A. W. D. Weinheim 1987. – Friedrich Wilhelms IV. wegen seiner Einstel- A. D. Wissen im Aufbruch. Kat. zur Ausstellung zum 200. Geburtstag. Weinheim 1990. – Gerd lung gegenüber Staat u. Kirche mehrfach vom Hohendorf (Hg.): D. Weinheim 1990. – W. SchröMinister Eichhorn gerügt, wurde D. 1847 der: Pädagog. Gewissen u. polit. Kompromiß. Zum vom Dienst suspendiert u. 1850 in den Ru- 200. Geburtstag des Pädagogen u. Schulpolitikers hestand versetzt. Seit 1851 gab er die »Jahr- F. A. W. D. Ffm. [1991]. – Johannes Kempelmann: bücher für Lehrer und Schulfreunde« heraus Didaktik als Prinzipienlehre. Essen 1995. – Edgar u. kritisierte in zahlreichen Veröffentlichun- Weiß: A. D. Kiel 1996. – Frithjof Grell: Der Rousgen, seit 1861 auch als Abgeordneter der seau der Reformpädagogen. Würzb. 1996. – Gert Fortschrittspartei im Preußischen Landtag, Geißler u. H. F. Rupp: A. D. zwischen Forsch. u. die Stiehlschen »Regulative« mit dem Ziel, in Mythos. Texte u. Dokumente zur Forschungsgesch. Bln. 1996. – G. Geißler (Hg.): F. A. W. D. Preußen eine konfessionslose Nationalschule (1790–1866). Baltmannsweiler 2002. einzuführen. Roland Pietsch / Red. Ausgangspunkt für D.s pädagog. Werk waren v. a. die Ideen Pestalozzis, der Wesen, Aufgabe u. Bedeutung von Erziehung u. Dietl, Georg Alois, auch: Yorik, * 19.2. Unterricht anthropologisch neu begründet 1752 Pressath/Oberpfalz, † 17.5.1809 hatte. Wesentliche Grundlage aller Erzie- Landshut; Gedenktafel auf dem Haupthung auch für D. war die Kenntnis der Men- friedhof Landshut. – Prosaist im Zeichen schennatur, während das Ziel der Bildung in der katholischen Aufklärung. der Hinführung des Menschen zur Selbsttätigkeit im Dienste des Wahren, Schönen u. D. besuchte das Jesuitengymnasium in AmGuten besteht, d.h. in der Humanität, die er berg, anschließend studierte er Theologie in im Sinne des Rationalismus dem Christen- Ingolstadt, wurde 1777 zum Priester geweiht tum gleichsetzt. D.s Pädagogik konzentrierte u. wirkte seit 1779 als Dorfkaplan in Ebnath/ sich auf pragmat. Ratschläge für den Schul- Oberpfalz. 1781 wurde er zum Kuraten in alltag; sie wurde für das preußisch-dt. Er- dem Wallfahrtsort Maria Taferl/Niederösterziehungs- u. Schulwesen, aber auch für das – reich ernannt. 1784 kehrte er nach Bayern nicht nur europäische – Ausland richtung- zurück u. übernahm die Pfarrei Berg bei Landshut. Seit 1801 lehrte er Ästhetik u. lat. weisend. Weitere Werke: Über Erziehung im Allgemei- Philologie an der Universität Landshut, seit nen u. Schulerziehung im Besonderen. Elberfeld 1802 war er überdies Stadtpfarrer von St. 1820. 21839. – Das pädagog. Dtschld. der Gegen- Martin in Landshut. Bekannt über die Grenzen Kurbayerns wart. 2 Bde., Bln. 1835. – Pädagog. Wollen u. Sollen. Lpz. 1857. hinaus wurde D. mit seinen anonym publiAusgaben: Briefe. Hg. Adolf Rebhuhn. Lpz. zierten Vertrauten Briefen eines Geistlichen in 1907. – Schr.en u. Parlamentsreden. Hg. Heinrich Baiern an seinen Freund (Mchn. 1786. 31815.
Dietmar von Aist
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Nachdr. der 2. Aufl. 1805. Hg. M. Knedlik. Dietmar von Aist. – Minnesänger des 12. Pressath 2002) sowie den Freundschäftlichen Jh. Briefen [...] (Mchn. 1790); postum erschien der Das unter dem Namen D.s überlieferte TextBand Nachgelassene freundschaftliche Briefe (Mchn. 1810). Die oft pointiert-kritischen, korpus umfasst 16 Minnelieder (42 Stroteils witzig-ironischen, bisweilen auch emp- phen). Über Herkunft u. Leben des Dichters liegen findsamen Briefe, die Reflexionen, Dialoge, autobiogr. Geschichten u. a. im bunten uns keine gesicherten Erkenntnisse vor. Ein Wechsel enthalten, stehen stilistisch unter freiherrliches Geschlecht »von Aist« ist seit dem Einfluss Wielands u. engl. Dichter wie 1125 in Oberösterreich urkundlich nachSmollett, Fielding u. Sterne, dessen Pseud- weisbar. Zwischen 1139/40 u. 1171 finden sich auch Urkunden eines Ditmarus de Agaonym »Yori(c)k« D. zeitweise übernahm. D., der als kath. Geistlicher u. um Brei- sta, dessen Identität mit dem Dichter aus tenwirkung bemühter Prediger u. »Volks- chronolog. Gründen jedoch bezweifelt werlehrer« zeitweilig einen vernunftreligiösen, den muss. Man hat daher vermutet, dass es vom Josephinismus geprägten aufklärer. Re- sich bei dem Dichter um einen jüngeren formkatholizismus vertrat, postulierte als Dietmar handelt, der einer Seitenlinie der Autor die Autonomie der literar. Fiktion, in Familie entstammte oder anderweitige, nicht der er vor Kritik an der kath. Schultheologie näher bestimmbare enge Beziehungen zu wie an überkommenen Predigtformen u. an diesem Hause unterhielt. Dass er dort Midogmatischen u. institutionellen Zwängen nisteriale gewesen sein könnte, ist wohl lenicht zurückschreckte. Dies u. die unterstellte diglich ein Analogieschluss aus der SelbstbeMitgliedschaft im Illuminatenorden führte in zeichnung Hartmanns von Aue (»dienstman den 1790er Jahren mehrfach zu disziplinar. was er zOuwe«, Der arme Heinrich V. 5) u. deMaßnahmen vonseiten der Kirche u. zu ei- ren gängiger Interpretation. Heinrich von nem zeitweiligen Verbot von D.s literar. dem Türlin beklagt in seinem um 1220 entSchriften durch die staatl. Zensur in Bayern. standenen Roman Diu Crône (V. 2438 ff.) den Weitere Werke: Predigten an seine Pfarrge- Tod D.s, ohne ein genaueres Todesdatum meinde. Mchn. 1786 u. ö. – Gespräche eines Pfar- anzugeben. Ähnlich unsicher wie die Lebensdaten des rers auf dem Lande mit seinen Pfarrkindern. Mchn. 1789. – Homilien über die sonntägl. Evangelien. Dichters ist dementsprechend die EingrenEine Erbauungsschr. für Leser v. Geschmack. zung seiner Schaffensperiode. Ungeachtet Mchn. 1789 u. ö. – Briefe über die mytholog. dessen wurde D. aufgrund der Form u. der Dichtungen der Griechen u. Römer. Mchn. 1800. – Inhalte einiger seiner Lieder einer frühen Die schönen Künste u. Wiss.en bilden zur HumaPhase des Minnesangs, dem sog. donauländ. nität. Eine Antrittsrede. Landshut 1801. – Rede als Minnesang (etwa 1150–1180), zugeordnet. die churfürstl. Univ. Landshut die ehemalige Dominikanerkirche in Besitz nahm [...]. Landshut Diese (tatsächlich durch keinerlei Faktenwissen gerechtfertigte) Annahme der zeitl. Ein1802. Literatur: Hans Pörnbacher: ›Hier zu Land ist ordnung führte dazu, dass ihm die meisten dieses nichts Seltenes.‹ Zur Rezeption engl. Dich- der unter seinem Namen überlieferten Lieder tung im Bayern des 18. Jh. In: Großbritannien u. als unecht abgeschrieben wurden. Noch in Dtschld. [...]. FS John W. P. Bourke. Mchn. 1974, der aktuellen Ausgabe von Minnesangs FrühS. 404–413. – Manfred Knedlik: G. A. D. In: Bautz. ling gelten lediglich die Lieder I-III als echt, – Ders. (Hg.): G. A. D. (1752–1809). Literar. Spät- wenngleich die Forschung (so etwa Tervooren aufklärung in Bayern. Pressath 2002 (mit Bibliogr.). in VL) sich mittlerweile geneigt zeigt, auch – Johannes Frimmel: Literar. Leben in Melk. Ein die Lieder IV, V, XI u. XIII D. »zurückzuerKloster im 18. Jh. im kulturellen Umbruch. Wien statten«. Allerdings herrscht bereits im MA u. a. 2005. Wilhelm Haefs Uneinigkeit darüber, welche Lieder D. gehören. Lediglich die zu Beginn des 14. Jh. entstandene Manessische Liederhandschrift (C) schreibt sämtl. Strophen D. zu; die wahr-
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Dietrich von Apolda
scheinlich kurz nach 1306 geschriebene tureingang. Lied XIII bietet ein frühes BeiWeingartner Liederhandschrift (B) nennt außer spiel für die in der Folgezeit zu einiger BeD. als Verfasser zweier Lieder (VIII, IX) Rein- liebtheit gelangende Gattung des Tagelieds. Anders als in den hochhöf. Minnekanzomar. Die früheste Handschrift, die um 1275 geschriebene Kleine Heidelberger Liederhand- nen, die Dame u. Sänger in unüberbrückbare schrift (A), kennt D.s Namen gar nicht, son- Distanz rücken, ist die in D.s Liedern prädern schreibt die in ihr überlieferten Lieder sentierte Auffassung der Liebe von GegenHeinrich von Veltkilchen (= Veldeke; III, 2, 4, seitigkeit geprägt. Frauen u. Männer treten 5; VII) u. Leutold von Seven (XVI) zu. Ange- zumeist als gleichberechtigt Sprechende auf. sichts dessen scheint es ratsam, sich von der Als in der weiteren Entwicklung des MinneHoffnung auf endgültige Zu- u. Abschrei- sangs wichtiges Thema taucht schon bei D. bungen zu verabschieden. Immerhin aber der Gedanke des Minnedienstes u. der Minne sollte die Möglichkeit, dass ein Dichter »in als veredelnde Kraft auf. jener literarisch ungemein schnellebigen Zeit Ausgaben: Minnesangs Frühling 1, S. 56–69 mehrere Stadien der lyrischen Entwicklung (zitiert). – Günther Schweikle: Die mhd. Minnelyzu umgreifen vermochte« (Scholz, S. 58), rik (mit nhd. Übertragung u. Komm.). Bd. 1, nicht leichtfertig zugunsten unreflektiert Darmst. 1977, S. 136–159, 388–408. – Teilausgabe zugrunde gelegter Modelle psychischer Kon- mit Übersetzung: Dt. Lyrik des Frühen u. Hohen MA. stanz oder entwicklungsgeschichtl. Determi- Ed. der Texte u. Komm.e v. Ingrid Kasten; Übers.en v. Margherita Kuhn. Ffm. 2005, S. 68–83 (II, III, IV, niertheit abgewiesen werden. Die bereits von V, VI, XI; XII, XIII). Handschrift A behauptete Nähe zu Veldeke Literatur: Auswahlbibliografie: Tervooren, Nr. ist nur unter der Voraussetzung problema473–483. – Weitere Titel: Kurt Rathke: D. v. A. Diss. tisch, dass D. ausschließlich für den Donau- Lpz. 1932. – Rolf Grimminger: Poetik des frühen ländischen Minnesang reklamiert werden Minnesangs. Mchn. 1969, S. 20–25, 49–54. – Helsoll. mut Tervooren u. Regine Weidemeier: ReimkonFestzuhalten bleibt so lediglich, dass die jekturen bei D. v. A. u. Friedrich v. Hausen. In: Lieder formal wie inhaltlich Merkmale ver- ZfdPh 90 (1971), Sonderh., S. 46–65. – Peter Wapschiedener Entwicklungsstufen des Minne- newski: Zwei altdt. Frauenlieder. In: Ders.: Waz ist sangs aufweisen. Der Strophenbau weist eine minne. Mchn. 1975, S. 9–22. – H. Tervooren: D. v. große Variabilität der Formen auf: paarge- A. In: VL. – Hans Georg Richert: Zur Szenerie v. MF reimte Langzeilenstrophen, sog. Kürenber- 39, 18: ›Slâfest du, vriedel ziere?‹ In: Colloquia Germanica 17 (1984) [1985], S. 193–199. – Arthur ger-Strophen (III), Kurzzeilenstrophen (IV, V, Groos: Modern stereotyping and medieval topoi: XIII paargereimt; VI u. VII mit doppeltem the lovers exchange in D.’s v. A. ›Uf der linden Kreuzreim; XV mit Periodenstrophen; VIII, ebene‹. in: JEGPh 88 (1989), S. 157–167. – Manfred X, XIV u. XVI mit Stollenstrophen); einige Günter Scholz: D. v. A.: ›Hei, nû kumet uns diu Lieder zeigen eine Kombination von Lang- u. zît‹. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. H. Tervooren. Kurzzeilen miteinander (I, II, XI, XII paar- MA. Stgt. 1993, S. 56–70. – Andreas Hensel: Vom gereimt; IX in der Form der Stollenstrophe). frühen Minnesang zur Lyrik der Hohen Minne: In XII findet sich der erste innerhalb der Studien zum Liebesbegriff u. zur literar. Konzeption der Autoren Kürenberger, D. v. A., Meinloh v. mhd. Lyrik überlieferte Refrain. Das vielfach variierte Thema der Lieder ist Sevelingen, Burggraf v. Rietenburg, Friedrich v. Hausen u. Rudolf v. Fenis. Ffm. 1997. die Klage voneinander getrennter Liebender. Jens Pfeiffer Wie etwa Meinloh von Sevelingen u. der genannte Heinrich von Veldeke schätzt D. den aus Männer- u. Frauenstrophen gefügten Dietrich von Apolda, * zwischen 1220 u. Wechsel. Es finden sich aber auch einzelne 1230, † 1302/03 Erfurt. – Dominikaner, Strophen mit isolierten Frauen- oder MänVerfasser der lateinischen Versionen der nerklagen; in eines der mehrstrophigen LieElisabeth- u. der Dominikus-Legende. der (XI) ist eine Botenstrophe eingefügt. Häufig verwendet er den in der provenzali- D. stammte wahrscheinlich aus dem thüring. schen u. mlat. Dichtung vorgeprägten Na- Adelsgeschlecht der Herren von Apolda. Er
Dietrich von Freiberg
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trat 1247 in das Erfurter Dominikanerkloster menten wie auch mündlich Tradiertes. Sogar ein, wo er auch starb. Offenbar stand er in Zitate aus Mechthilds von Magdeburg FlieKontakt mit den Mystikerinnen Mechthild ßendem Licht der Gottheit werden eingestreut. von Magdeburg u. Gertrud von Helfta sowie Das Werk ist in acht Bücher mit Kapitelunmit Mechthilds Beichtvater, dem Dominika- tergliederung aufgeteilt u. mit lehrhaften ner Heinrich von Halle. Für seine hagiograf. Exkursen durchsetzt. Auch dieser Text ist, Schriften unternahm D. Forschungsreisen, wahrscheinlich von einem Dominikaner, im v. a. in Thüringen u. Hessen. Erst in hohem 14. Jh. ins Deutsche übersetzt worden. Die Alter, zwischen 1286 u. 1291, erhielt er den sechs erhaltenen Handschriften stammen, Auftrag vom span. Ordensgeneral der Domi- soweit nachweisbar, ausschließlich aus Konnikaner, Munio de Zamora, eine neue Domi- venten reformierter Dominikanerinnen. Dass nikus-Vita zu verfassen: eine nicht gering zu die Dominikus-Vita nicht einen ähnl. Erfolg schätzende Ehre. Während sich die Arbeit an hatte wie die Elisabeth-Legende, dürfte an diesem Text knapp zehn Jahre lang hinzog, dem relativ geringen kult. Interesse für Doarbeitete er – offenbar ohne Auftrag – an ei- minikus liegen. ner Legende der hl. Elisabeth von Thüringen, Ausgaben: Lateinische Schriften: Vita S. Dominici. die er 1289/90 abschließen konnte. Beide Acta Sanctorum Aug. 1. Antwerpen 1733, Texte sollten zu »klassischen Fassungen« S. 562–632. 31867, S. 558–628. – Die Vita der hl. Elisabeth des D. v. A. Hg. Monika Rener. Marburg werden. Die Elisabeth-Vita basiert zwar auf einge- 1993. – Deutsche Versionen: Das Leben der hl. Elisahenden persönl. Nachforschungen, verwertet beth. Hg. Max Rieger. Stgt. 1886 (Verslegende). – Das Leben der hl. Elisabeth in drei mittelniederdt. aber auch eine Reihe von Quellen, über die D. Hss. Hg. Werner Stannat. Neumünster 1959. – im Prolog Rechenschaft ablegt. Ergänzend Susanne Schulz: Eine oberdt. Übers. der Vita der steuert er Elemente aus der thüring. Histo- Hl. Elisabeth nach D. v. A. Text u. Untersuchungen. riografie sowie romanhafte Episoden bei, die Diss. Marburg 1993. offenbar aus der volkstüml. Tradition stamLiteratur: Berthold Altaner: Der hl. Dominimen. Dem Werk war sehr bald großer Erfolg kus. Breslau 1922, S. 170–189. – Ludwig Wolff: Die beschieden. Eine dt. Verslegende u. mindes- hl. Elisabeth in der Lit. des dt. MA. In: Hess. Jb. für tens zehn Prosaübersetzungen gehen auf D.s Landesgesch. 13 (1963), S. 23–38. – Helmut LomText zurück. Der Verstext dürfte um 1300 nitzer: D. v. A. In: VL. – Werner Williams-Krapp: oder kurz danach entstanden sein u. schließt Die dt. u. ndl. Legendare des MA. Tüb. 1986, Resich eng an seine Vorlage an. In mehr als gister S. 405 f. – Matthias Werner: Die Elisabeth10.500 Versen schildert der geistl. Autor, der Vita des D. v. A. als Beispiel spätmittelalterl. Hagiographie. In: Geschichtsschreibung u. Geoffenbar Konrad von Würzburg kannte, wie schichtsbewußtsein im späten MA. Hg. Hans Patze. Elisabeth ihr Leben auf Christus u. dessen Sigmaringen 1987, S. 523–541. – M. Rener: ›SeNachfolge ausrichtete. Prosaübersetzungen mina in vallibus iactata‹. Der prägende Einfluß rehat es beinahe im gesamten dt. Raum gege- ligiöser Unterweisung, dargestellt am Beispiel der ben; eine am Niederrhein entstandene ist in hl. Elisabeth v. Thüringen. In: Mlat. Jb. 29 (1994), 22 Handschriften erhalten u. im Mittelfrän- H.2, S. 43–54. Werner Williams-Krapp / Red. kischen, im Niederdeutschen wie im Niederländischen verbreitet. Literarisch anspruchsDietrich von Freiberg, † um 1320. – voll ist eine um 1400 in Westfalen entstanDominikanertheologe u. Philosoph. dene Version in Reimprosa. Auch im hochdt. Raum sind verschiedene Übersetzungen er- D. war kurz nach 1270 als Lesemeister des halten, wenn auch jeweils in verhältnismäßig Dominikanerordens in Freiberg tätig, wenig wenigen Handschriften; drei oberdt. Über- später dann auch in Paris, wo er 1297 bei eisetzungen stammen noch aus dem 14. Jh. nem weiteren Aufenthalt (nach drei Jahren als Die von D. im Ordensauftrag angefertigte Provinzial der dt. Ordensprovinz) zum MaDominikus-Vita ist die bei Weitem umfang- gister/Doktor der Theologie promoviert reichste des 13. Jh. Sie vereinigt Stoff aus äl- wurde. Von seinem weiteren Leben ist nur die teren Legenden, Material aus amtl. Doku- mehrfache Anwesenheit bei Generalkapiteln
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des Ordens bekannt. Seine sämtlich lat. abgefassten Werke – 24 Traktate, einige Quaestiones, vier Briefe – lassen sich nach werkimmanenten Kriterien in eine Gruppe von früheren u. späteren Schriften scheiden; in den letzteren scheint sich der Schwerpunkt von der Frage des Intellekts auf die nach den Strukturen von Realität zu verlagern; Proklos u. der Liber de causis gewinnen verstärkte Bedeutung. Die Stellung D.s in der Geschichte der mittelalterl. Philosophie ist von der Forschung (z.T. auch wegen des Fehlens von Editionen) lange verkannt worden. Mittlerweile zeigt sich, welch bedeutender Rang sowohl der Intellekttheorie (bes. De visione beatifica u. De intellectu et intelligibili) wie der wiss. Methodik zuzusprechen ist. D. nimmt im Punkt der Bestimmung des »tätigen Intellekts« (im Gefolge des Albertus Magnus) eine Position ein, die von der des Thomas von Aquin in entscheidenden Fragen abweicht. Hatte dieser Vermittlungsstufen zwischen Gottheit u. tätigem Intellekt eingeschaltet u. dessen Funktion damit zu einem der Seele »Anhängenden« reduziert, so erblickt D. im »intellectus agens« den eigentl. Seelengrund, der Erkenntnis u. Lebensvollzug erst konstituiert. Der Intellekt erscheint nicht mehr als primär rezeptives Organ, sondern schaut das Seiende urbildhaft eingefaltet in sich selbst, bringt es – u. damit sich selbst – im Prozess der Selbsterkenntnis erst hervor. In unmittelbarer u. keiner weiteren Vermittlung bedürfenden Nähe zu Gott gehört der Intellekt mit Himmelsseelen u. Intelligenzen zus. einer gemeinsamen Seinsregion an – wie diese die »entia naturae« schaffen, so kreiert er (in gleichem Maße real) die »entia conceptionalia«. D. gelangt damit zu »einem Begriff des Bewusstseins« (Flasch), entdeckt eine eigene Sphäre des Denkens u. der Erkenntnis u. bereichert die Zeitphilosophie: In De natura et proprietate continuorum u. De mensuris untersucht er den Dimensions- wie den Maßaspekt der Zeit u. weist nach, dass die Zeit als sukzessives Kontinuum nicht auf Natur u. Naturkausalität zurückgeführt werden kann, sondern, obwohl kategorisierbar, vom Intellekt selbst verursacht ist. Diese neue Konzeption des Intellekts steht auch in Zusam-
Dietrich von Freiberg
menhang mit der Absicht, noch über Albertus Magnus hinaus die Selbständigkeit der Philosophie gegenüber der Theologie zu rechtfertigen u. einen autonomen wiss. Erkenntnisanspruch zu begründen. So wendet sich D. etwa vehement gegen eine Vermischung des Bereichs der Intelligenzen mit der christl. Engellehre, wie sie Thomas von Aquin vorgenommen hatte, u. tritt für eine strenge Trennung theologischer u. wiss. Argumentation ein. Bes. D.s naturwiss. Schrifttum macht dies deutlich: Die nach 1304 verfasste Abhandlung Über den Regenbogen (De iride), vielleicht noch im 17. Jh. rezipiert, entkleidet das Phänomen aller heilsgeschichtl. Vorzeichenfunktion u. deutet den Regenbogen in method. Stringenz u. Weitsichtigkeit als Brechung des Lichts im Wassertropfen. Obgleich D. u. a. in der Frage des »intellectus agens« eine Haltung einnahm, die der 1277 verurteilten averroist. Position nahestand, wurde seine Lehre (außer im internen Schulstreit mit dem Thomismus) nicht angegriffen; sie wirkte im 14. Jh. stark auf die dt. Dominikanerschule (z.B. Berthold von Moosburg), wohl in Einzelnem auch auf Meister Eckhart. Der von D.s philosophischer Konzeption getragene mhd. Traktat von der Seligkeit (zwischen 1303 u. 1323) offenbart Ansätze zur Differenzierung von D.s u. Eckharts Lehren u. Affinitäten zur philosoph. Mystik z.B. Johannes Taulers. Ausgaben: Opera omnia. Veröffentlicht unter der Leitung v. Kurt Flasch. 4 Bde., Hbg. 1977–85 (grundlegend die Einl. u. Bibliogr. zu den Bdn.). – Deutsche Einzelausgaben: Abh. über den Intellekt u. den Erkenntnisinhalt. Übers. v. Burkhard Mojsisch. Hbg. 1980. – Abh. über die Akzidentien. Lat.dt. Auf der Grundl. des Textes der krit. Ausg. v. Maria Rita Pagnoni-Sturlese übers. v. B. Mojsisch. Hbg. 1994. Literatur: Burkhard Mojsisch: Die Theorie des Intellekts bei D. Hbg. 1977. – Loris Sturlese: D. v. F. In: VL. – Ders.: Dokumente zu Leben u. Werk D.s. Hbg. 1984. – Kurt Flasch (Hg.): Von Meister D. zu Meister Eckhart. Hbg. 1984. – Ruedi Imbach: Die dt. Dominikanerschule. In: Grundfragen christl. Mystik. Hg. Margot Schmid. Stgt.-Bad Cannstatt 1987, S. 157–172. – Niklaus Largier: Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit. Ein Aufriss des Zeitproblems bei D. u. Meister Eckart. Bern u. a. 1989. – L. Sturlese: ›Traktat von der Seligkeit‹. In: VL. – Karl-Hermann
Dietrich von der Glezze
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Kandler u. a. (Hg.): D. Neue Perspektiven seiner Philosophie, Theologie u. Naturwiss. Amsterd. 1999. – Tiziana Suarez-Nani: Les anges et la philosophie. Subjectivité et fonction cosmologique des substances séparées à la fin du XIIIe siècle. Paris 2002. – K.-H. Kandler: D. u. die arab. Philosophie. In: Neue Ztschr. für systemat. Theologie 48 (2006), S. 99–108. – K. Flasch: D. Philosophie, Theologie, Naturforsch. um 1300. Ffm. 2007. Christian Kiening
Dietrich von der Glezze (Glesse). – Autor des 1270/90 entstandenen Märe Der Borte.
die göttl. Weltordnung verstoße u. schwerer wiege als ihr Ehebruch. Er unterwirft sich seiner Frau u. sie versöhnen sich. Das Märe verfügt neben der oberflächl. Moral, dass Schuld Vergebung finden soll, über zahlreiche Irritationsmomente, die oft aus einer Kollision der beiden Deutungssysteme Minne u. Ehe entstehen. Mit dem CrossDressing im Rahmen der List führt die Frau die Labilität der Geschlechterrollen vor u. installiert als souveräne Handlungslenkerin eine Relativität der Normverstöße, die unterschiedl. Formen der Sexualität in ein Wertverhältnis setzt.
Der knapp 900, meist vierhebige Reimpaarverse umfassende Gürtel (mhd. »borte«) ist in Ausgabe: Otto-Richard Meyer: Der Borte des D. drei Handschriften aus dem 14. u. 15. Jh. v. G. Untersuchungen u. Text. Königsb. 1915, überliefert. Das zum höf. Erzählen tendie- S. 79–112. rende Märe wurde von Wilhelm, dessen Vater Literatur: Hans-Friedrich Rosenfeld: D. v. d. G. Vogt von Weidenau in Schlesien war, in Auf- In: VL. – Martin Blum: Queer Desires in the MHG trag gegeben, der Autor D. nennt sich nach Comic Tale D. v. d. G.’s. In: Queering the Canon. dem niederschles. Glatz oder dem Ort Kles- Hg. Christoph Lorey u. John L. Plews. Columbia sengrund am Glatzer Schneeberg. Der Stoff 1998, S. 106–125. – Christa Ortmann u. Hedda Ragotzky: Minneherrin u. Ehefrau. Zum Status der ist in der Erzählung von Kephalos u. Prokris Geschlechterbeziehung im ›Gürtel‹ D. v. d. G. u. bei Antoninus Liberalis (Metamorphosen, ihrem Verhältnis zur Kategorie gender. In: manlîKap. 41) u. Hyginus (Fabel 189) bereits vor- chiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kagebildet. tegorien ›Körper‹ u. ›Geschlecht‹ in der dt. Lit. des Nach einem kurzen Prolog, der vom per- MA. Hg. Ingrid Bennewitz u. Helmut Tervooren. sonifizierten »borten« gesprochen wird, be- Bln. 1999, S. 67–84. – Andreas Kraß: Das erot. ginnt das in zwei parallelen Teilen konstru- Dreieck. Homosoziales Begehren in einer mittelierte Märe mit einer Beschreibung des vor- alterl. Novelle. In: Queer denken. Gegen die Ordbildl. Ritters Conrat u. seiner Frau, die in ei- nung der Sexualität. Hg. ders. Ffm. 2003, nem hyperbol. Lobpreis zur erotisch attrak- S. 277–297. Sandra Linden tiven Minnedame stilisiert wird. Ein fremder Ritter verliebt sich in sie u. bietet als MinneDietrich von Hopfgarten. – Verfasser lohn seine prächtigen Jagdtiere, doch erst als des strophischen Wigelis aus der ersten er einen magischen, unbesiegbar machenden Hälfte des 15. Jh. Gürtel anbietet, willigt die Frau ein. Der Liebesakt im paradiesähnl. Garten wird zur Der im Bernerton abgefasste Wigelis ist fragkosm. Minneidealität überhöht. Über den mentarisch als letztes Blatt einer auf Martini Ehebruch unterrichtet, geht Conrat an den 1455 datierten Handschrift erhalten (20 Hof des Herzogs von Brabant, wohin ihm Strophen, ca. 260 Verse, Textverlust). Ausseine Frau, als Ritter Heinrich von Schwaben weislich der Selbstnennung in der letzten verkleidet, folgt u. sich mit den erworbenen Strophe erhebt D. den Anspruch, den Wigalois Gütern auszeichnet. Conrat ist von Heinrichs Wirnts von Grafenberg (um 1220) »czu den Jagdtieren fasziniert, erbittet sie als freund- leden« gebracht, also strophisch gegliedert zu schaftliches Geschenk u. lässt sich auf dessen haben. Damit fertigte er die älteste erhaltene Forderung ein, ihm für die Gaben homose- Umsetzung eines höf. Romans ins heroische xuelle Liebe zu gewähren. Bevor es dazu Metrum an. kommt, enttarnt sich die Ehefrau u. beDas Fragment überliefert zwei Erzählabschimpft Conrat als »ketzer« (V. 777), weil schnitte: Überwindung des Schwertrades u. seine Bereitschaft zur Homosexualität gegen Kampf mit dem Zentauren (Strophen 1–10);
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Werbung um Larie u. abschließendes Fest mit Heidentaufe (Strophen 11–20). Während der erste relativ enge Vorlagenbindung verrät (ca. 180 Verse Wigalois), bündelt der zweite souverän gewaltige Erzählmassen (ca. 1300 Verse Wigalois). Obwohl der Schlussteil des Wigalois (ca. 2000 Verse) unbearbeitet blieb, dürfte D. eine vollständige Vorlage der alten mitteldt. Redaktion besessen haben. Textlücke u. Bearbeitungstechniken lassen auf einen Umfang zwischen 300 u. 400 Strophen schließen, die »mise en page« stellt den Wigelis in die Nähe etwa der Reduktionen im Dresdener Heldenbuch (1472/75). D., Kenner des arthurischen u. heroischen Genres, überschaute seine Vorlage komplett. Er akzentuierte das heroisch-hagiograf. Profil seines krisenresistenten Protagonisten, der eine Art Kreuzfahrer gegen das Böse verkörpert. Wichtiger als Hochzeit u. Krönung waren dem Bearbeiter die Heidenbekehrung u. die von Wigelis arrangierte Taufzeremonie. Ein sachkundiges Publikum hätte D. am Thüringer Landgrafenhof vorfinden können. In dessen Umfeld sind zwei Träger des Namens D. aus altem Thüringer Ministerialengeschlecht um 1400 (Schlotheim) bzw. um 1450 (Mülverstedt) gut bezeugt. Gerade der jüngere D., der sich in den Hussitenkriegen auszeichnete (1438), könnte in Wigalois ein Vorbild im Heidenkampf erblickt haben. Ausgabe: Christoph Fasbender: Der ›Wigelis‹ D.s v. H. u. die erzählende Lit. des SpätMA im mitteldt. Raum. Habil.-Schr. Jena 2006, S. 47–67. Literatur: Antonia Graeber: D. v. H., ›Wigelis‹. In: bescheidenheit. Dt. Lit. des MA in Eisenach u. Erfurt. Hg. Christoph Fasbender. Gotha 2006, S. 90–92. Christoph Fasbender
Dietrich, Veit, auch: Vitus Theodorus, * 8.12.1506 Nürnberg, † 25.3.1549 Nürnberg. – Akademischer Lehrer u. evangelischer Prediger. D. entstammte ärml. Verhältnissen, sein Vater war Schuster. Er besuchte die Lateinschule u. kam im März 1522 als Student nach Wittenberg (Magister Nov. 1529). Melanchthon war sein Lehrer u. Förderer; seit etwa 1528 gehörte er zu Luthers Hausgemeinschaft u. wurde dessen vertrauter Sekretär. 1529 be-
Dietrich
gleitete er Luther zum Marburger Religionsgespräch u. 1530 während des Augsburger Reichstages auf die Veste Coburg. 1531–1535 wirkte er in Wittenberg als Magister an der Universität (1533 Dekan der Artistenfakultät) u. weiterhin als enger Mitarbeiter Luthers. Von 1535 bis zu seinem Tod hatte D. das Predigeramt an St. Sebald in Nürnberg inne. Am 27. Dez. 1535 heiratete er die Nürnbergerin Kunigunde Leys. Seit 1545 fesselte ihn die Gicht an seine »studier und siech stube«, sodass ein Vicarius im Predigtamt bestellt wurde. 1547 suspendierte ihn der Rat von seinem Predigtamt, weil er dessen Nachgiebigkeit gegenüber der Religionspolitik des Kaisers kritisiert hatte. Heftige Auseinandersetzungen mit Andreas Osiander, Prediger an St. Lorenz, durchzogen seine Amtszeit. D. vertrat Nürnberg beim Schmalkaldener Konvent 1537, bei den Religionsgesprächen auf dem Regensburger Reichstag 1541 u. beim Regensburger Religionsgespräch 1546. Das literar. Werk D.s umfasst zum einen Ausgaben von Luthers exeget. Schriften, Vorlesungen u. Predigten (am wichtigsten: Haußpostil D. Martin Luthers. Zuerst Nürnb. 1546, nach einer eigenen Nachschrift von Luthers Hauspredigten). D.s Editionen fanden allerdings wegen seiner eigenmächtigen Bearbeitung der Nachschriften nicht immer Luthers Zustimmung. Für die Lutherüberlieferung wichtig wurden die von D. angelegten handschriftl. Sammlungen von Luthers Tischreden, Briefen, Konzepten u. Notizen. Zum andern war D. um seelsorgerliche Darstellung u. Verbreitung der evang. Lehre bemüht. Er trug mit z.T. noch lange benutzten Schriften zur Herausbildung einer Literatur bei, die »dem jungen Volck und gemeinen Man« zur Belehrung u. Erbauung diente. D. verfasste Trostschriften etwa zur Türkenbedrohung u. zur Pest. Während der Auseinandersetzungen um das von D. bekämpfte »Augsburger Interim« erschien in Nürnberg die Auslegung von Jesaja 51, Wie die christen zur zeit der verfolgung sich trösten sollen (1548), der bald weitere Trostschriften folgten. Eine lange Nachwirkung war D.s erbaul. »Summarien« beschieden. 1548 gab er in Erfurt die Summaria Christlicher Lehr heraus,
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der Summarien des AT (zuerst Wittenb. 1541) S. 399–411. – B. Klaus: V. D.s Gutachten über u. NT (zuerst Wittenb. 1544) vorausgegangen heiml. Eheschliessungen: ›Von den winckeleen waren. Der Psalter mit kurzen Summarien wurde bedencken‹. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 68 bis ins 19. Jh. aufgelegt. Der kirchl. Unter- (1999), S. 1–12. – Hellmut Zschoch in: RGG 4. Aufl. Bd. 2, Sp. 848. – Barbara Thomas: Adjektivderivaweisung der Jugend dienten die Kinderpredig tion im Nürnberger Frühneuhochdeutsch um (Nürnb. 1546) u. Von der Kinderzucht (Nürnb. 1500. Eine histor.-synchrone Analyse anhand v. 1546). Texten Albrecht Dürers, V. D.s u. Heinrich Die Liturgie bereicherte D. mit Kollekten- Deichslers. Bln. u. a. 2002. Klaus Düwel / Red. gebeten (Agend Büchlein für die Pfar-Herren auff dem Land. Nürnb. 1543). Obwohl er dem evang. Kirchengesang eine wichtige Aufgabe Dietrichs Flucht (Buch von Bern) und im Gottesdienst einräumte, hat er nur drei Rabenschlacht. – Mittelhochdeutsche Lieder gedichtet, darunter Das frölich Oster »historische« Dietrichepen (wohl letztes gesang, Victime pascali laudes genandt, verteutscht Viertel 13. Jh.). (1543). Ausgaben: Etl. Schrifften für den gemeinen man Die Verfasser der beiden Epen um Dietrichs v. unterricht Christlicher lehr u. leben u. zum trost von Bern Vertreibung, Exil am Hunnenhof u. der engstigen gewissen [...]. Nürnb. 1548 (insg. 11, vergebl. Rückkehrschlachten sind unbez.T. bereits zuvor gedr. Erbauungsschr.en). Nach- kannt; der sich in Dietrichs Flucht (v. 7983) dr. hg. u. mit einer Einl. vers. v. Oskar Reichmann. nennende »Hainrich der Voglaere« dürfte ein Assen 1972. – Das viert frölich Oster gesang. In: Redaktor bzw. der Verfasser eines zeitkrit. Epochen der dt. Lyrik. Bd. 3: Gedichte 1500–1600. Exkurses sein, der – wie auch die älteste Hg. Klaus Düwel. Mchn. 1978, S. 152 f. – Psalte(Riedegger) Handschrift – auf Umfeld u. rium Davidis carmine redditum per Eobanum (wohl antihabsburgisches) Interesse der nieHessum. Cum annotationibus Viti Theodori Noribergensis, quae commentarii vice esse possunt. Lpz. derösterr. Landherren Ende des 13. Jh. ver1548. Internet-Ed.: CAMENA: Abt. Poemata (bei E. weist. Dietrichs Flucht ist – gegen die heldenepische Tradition – in Reimpaarversen Hessus). Literatur: VD 16. – Weitere Titel: Theodor H. Fr. (10.129 vv.) abgefasst, die Rabenschlacht in Kolde in: RE 3. Aufl. Bd. 4, S. 653–658. – Matthias Strophen von sechs Kurz- bzw. drei LangzeiSimon: V. D. In: NDB. – DBA 237,281–295 – len (1139 Strophen). In der Überlieferung Bernhard Klaus: V. D. Leben u. Werk. Nürnb. 1958 (Ende 13. Jh. bis 1516; 4 Hss. u. je 1 Frag(mit Bibliogr.). – Ders.: Die Lutherüberlieferung V. ment) bilden die Texte ein Doppelepos, anaD.s. u. ihre Problematik. In: Ztschr. für bayer. log zum Überlieferungsverbund von NibeKirchengesch. 53 (1984), S. 33–47. – Marinus A. van lungenlied u. Nibelungenklage. Als stoffgeden Broek: Sprichwort u. Redensart in V. D.s ›Etschichtlich älter gilt die Rabenschlacht. Die liche schrifften für den gemeinen man‹. In: LeuAufnahme von Exzerpten aus Dietrichs Flucht vense bijdragen 75 (1986), S. 307–334. – Matthias Schlicht: Luthers Vorlesung über Psalm 90. Über- in die Weltchronik Heinrichs von München lieferung u. Theologie. Gött. 1994. – Mechthild (Ende 14. Jh.) deutet darauf, dass der DietHabermann: Verbale Wortbildung um 1500. Eine richstoff bis ins Spätmittelalter als Gehistor.-synchrone Untersuchung anhand v. Texten schichtswissen verstanden werden konnte. Albrecht Dürers, Heinrich Deichslers u. V. D.s. Bln. Stoffliche Grundlage der »historischen« u. a. 1994. – Annie Noblesse-Rocher: ›Christ pré- Dietrichepik ist die seit dem 9. Jh. vielfach sent et agissant‹. Une lettre de Mélanchthon sur la fassbare Fluchtsage: Dietrich von Bern (VeCène. In: Positions luthériennes 45 (1997), rona) ist die Sagenentsprechung des OstgoS. 130–141. – Helmut Puff: ›[...] ein schul / darinn tenkönigs Theoderich der Große (wohl wir allerlay Christliche tugend vnd zucht lernen.‹ 451–526); doch hat die Sage den Eroberer Ein Vergleich zweier ehedidakt. Schr.en des 16. Jh. In: Geschlechterbeziehungen u. Textfunktionen: Italiens zum glücklosen Vertriebenen geStudien zu Eheschr.en der Frühen Neuzeit. Hg. macht – vielleicht zur Bewältigung der histor. Rüdiger Schnell. Tüb. 1998, S. 59–88. – Stephen L. Erfahrung des Untergangs der ital. GotenWailes: Hans Sachs, John the Baptist, and the Dark herrschaft wenige Jahrzehnte nach TheodeDays in Nuremberg ca. 1548. In: GLL 52 (1999), richs Tod. In heldensagentypischer Synchro-
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nisierung des Ungleichzeitigen u. Personalisierung politischer Konflikte wird Theoderichs Gegner Odoaker (um 830/40 im ahd. Hildebrandslied Ursache für Dietrichs Flucht ins hunnische Exil) durch Erm(en)rich ersetzt (nachweisbar seit dem 11. Jh.), den Verwandtenfeind der Sage, dessen histor. Vorbild der 375 beim Einfall der Hunnen umgekommene Gotenkönig Ermanarich war; dass Dietrich bei Etzel (Attila, † 453) Zuflucht findet, setzt das positive Attila-Bild in Südosteuropa voraus u. könnte zudem ein Reflex von Theoderichs Jugendzeit als Geisel am byzantin. Hof sein. In Ravenna (Raben) besiegte u. tötete Theoderich nach langer Belagerung Odoaker; keine histor. Entsprechung haben die Schlachten bei Mailand u. Bologna in Dietrichs Flucht. Dort geht der Vertreibung durch Ermrich eine Genealogie Dietrichs von Bern voraus, in der wohl sekundär gekürzten Fassung der beiden älteren Handschriften beginnend mit Wolfdietrich, in der längeren Fassung mit den artus-ähnl. Königen Dietwart u. Sigeher sowie Wolfdietrichs Vorgänger Ortnit. Die Vorgeschichte zielt auf Integration einer geschlossenen heroischen Welt – selbst um den Preis des genealog. Bruchs zwischen Ortnit u. Wolfdietrich – u. entwirft zgl. eine (beinahe) ideale (aber nicht gewaltfreie) geschichtsenthobene Vorzeit. Mit Dietrichs Onkel Ermrich kommt vollends das Böse in die Welt: Er tötet seine Neffen, die Harlungen, u. versucht auf den Rat des treulosen Sibeche hin, auch Dietrich zu beseitigen. Dieser freilich wird gewarnt, setzt sich zur Wehr u. siegt in der Schlacht vor Mailand. Um seine von Ermrich gefangenen Gefolgsleute auszulösen, gibt Dietrich jedoch sein Reich auf u. zieht ins Exil zu Etzel, der ihn auf Fürsprache Rüdigers u. der Hunnenkönigin Helche großzügig unterstützt. Mit einem neuen (hunnischen) Heer zieht Dietrich nach Bern, das ihm der treue Amelolt zurückerobert hat, u. stellt sich Ermrich wiederum vor Mailand zur Schlacht. Ermrich erleidet große Verluste, kann aber entkommen. Der ehemalige Dietrichheld u. Überläufer Witege erlangt Dietrichs Verzeihung u. wird Statthalter von Raben. Dietrich führt das Hunnenheer nach Etzelburg zurück u. geht dort widerstrebend eine Verbindung
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mit Helches Nichte Herrat ein. Witege verrät Dietrich erneut u. liefert Raben an Ermrich aus. Dietrich droht zu verzweifeln, zieht jedoch mit einem riesigen Hunnenheer nach Italien zurück u. siegt in der Schlacht vor Bologna; Ermrich kann wiederum fliehen. Betrübt über seine hohen Verluste, begibt sich Dietrich zurück an den Etzelhof. Das Geschehen der Rabenschlacht schließt unmittelbar an: Dietrich, im hunnischen Exil, vermählt sich mit Herrat. Ein neues Heer wird aufgeboten. Die Hunnenprinzen Orte u. Scharphe drängen darauf mitzuziehen; Dietrich bürgt für ihre Sicherheit; auch sein junger Bruder Diether schließt sich an. Die drei Jungen werden in Bern unter Aufsicht gestellt, reiten jedoch heimlich davon u. verirren sich in die Umgebung von Raben, wo sie auf Witege treffen, der sie nach aufreibenden Zweikämpfen tötet. In der Schlacht bei Raben siegt Dietrich erneut (u. a. überwindet er Siegfried); Ermrich entkommt. Alle Siegesfreude wird indes durch die Nachricht vom Tod der drei Jünglinge zunichte. Feuer speiend, verfolgt Dietrich Witege bis ans Meer, wo dieser jedoch von einer Meerfrau gerettet wird. Durch Rüdigers Vermittlung wird Dietrich von Etzel u. Helche wieder in Gnaden aufgenommen. Die »historischen« Dietrichepen sind Schemaliteratur par excellence. Grundbaustein ist die zyklisch wiederkehrende Folge von (glücklosem) Schlachtsieg, Gang ins Exil, wiederum glückloser Rückkehrschlacht, erneutem Gang ins Exil usw.; das Unglück steigert sich dabei ins Unermessliche. Der Stil der Epen ist geprägt durch die Hyperbolik exorbitanter Gewaltorgien wie pathet. Klageexaltationen. Kennzeichnend für gattungspoetologisch »späte« Heldendichtung sind Hybridität u. Intertextualität: das gattungsübergreifende Brautwerbungsschema, arturische Elemente in der genealog. Vorgeschichte, v. a. die Anknüpfung an das Nibelungenlied. Aufgegriffen ist insbes. die typ. Rolle des »armen« Dietrich im immer neuen Scheitern des Helden. Dietrich agiert in einer Welt des Unheils u. des Bösen, personifiziert in seinem Gegner Ermrich, dem Ursprung aller »untriwe« (v. 3513), der nie endgültig ausge-
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schaltet wird. Zwar geben Dietrich u. seine burg: Parodie u. Pathos. Heldensagenrezeption in Helfer niemals auf, doch bleibt offen, ob die der histor. Dietrichepik. Mchn. 2002. Elisabeth Lienert Unausrottbarkeit des Bösen oder die Selbstbehauptung des Guten dominiert. Die Frage nach Gut u. Böse wird im Zusammenhang der Diettrich, Fritz, * 28.1.1902 Dresden, für adlige Rezipienten zentralen Themen von † 19.3.1964 Göttingen. – Lyriker, DraKampfesmut, Herrschaft u. Gefolgschaft matiker, Essayist u. Übersetzer. verhandelt. Dietrich erscheint als tapferer Kämpfer, treuer Gefolgsherr, Träger des Der Sohn eines Kaufmanns wuchs in Dresden Rechts. Sein Krieg gegen Ermrich ist aus- auf – über die Jugendzeit berichtet die Audrücklich von Gott legitimiert. Im Rahmen tobiografie Im glücklichen Dresden (Bln. 1962. 2 1963) – u. studierte Philosophie, Germanisnachnibelungischer Gewaltdiskurse verkörtik u. Theaterwissenschaft in Tübingen, pert Dietrich in der Regel einen neuen, Leipzig u. Frankfurt/M. ohne Abschluss. Seit pragmat. Heldentypus; die für die aventiuder Heirat mit Gertrud Stoltze 1922 lebte D. rehafte Dietrichepik typ. Zaudererrolle lässt als freier Schriftsteller in Dresden, freundsich auch in den Fluchtepen fassen, wenn schaftlich verbunden mit Theodor Däubler, Dietrich in maßlosen Klagen vorübergehend Gottfried Fischer-Gravelius, Martin Raschke seine Handlungsfähigkeit zu verlieren droht. u. Wolfgang Jess, dem Verleger der von Ansätze zur Problematisierung des Helden Raschke u. Günter Eich herausgegebenen werden allerdings nicht vertieft. Zeitschrift »Die Kolonne«. Er veröffentlichte Literarische Anspielungen belegen die Bein Zeitungen u. Zeitschriften Gedichte sowie kanntheit der Fluchtsage u. der stereotypen Aufsätze zu Kunst u. Kultur Frankreichs u. Heldenrollen. Im 15. Jh. überliefert (vielleicht Italiens, die er 1925 auf längeren Reisen beschon im 13. Jh. entstanden) ist ein Sprosssucht hatte, aber auch zur russischen u. asiat. epos um einen jungen Dietrichhelden, Alp- Geisteswelt. Mit Martin Buber gab er die harts Tod. Die Überlieferung der »histori- Sammlung Gandhi-Revolution (Dresden 1930) schen« Dietrichepik freilich ist vergleichs- heraus. weise schmal; in die Heldenbücher (GatTrotz seiner Orientierung an Bubers relitungssammlungen von Heldenepik) u. in den giösem Sozialismus erlag D. 1933 für kurze Druck gelangt sie nicht; im 16. Jh. spielt sie – Zeit der Faszination des Nationalsozialismus. von der Rezeption durch Kaiser Maximilian I. Das Röhm-Attentat, die Entlassung Max (Ambraser Heldenbuch) abgesehen – keine Rolle Reinhardts, der D.s Drama der Hybris Die mehr. Flügel des Daidalos aufführen wollte, SS-AnAusgaben: Dietrichs Flucht. Textgeschichtl. würfe gegen seinen Essay Griechischer und Ausg. Hg. Elisabeth Lienert u. Gertrud Beck. Tüb. christlicher Agon (1935) sowie das Auffüh2003. – Rabenschlacht. Textgeschichtl. Ausg. Hg. rungsverbot des Spiels Der Schmied von Gent E. Lienert u. Dorit Wolter. Tüb. 2005. (Bln. 1935) öffneten ihm die Augen für den Literatur: Walter Haug: Die histor. Dietrich- verbrecherischen u. tyrann. Charakter der sage. In: ZfdA 100 (1971), S. 43–62. – Michael NS-Herrschaft u. ließen ihn die Nähe zum Curschmann: Zu Struktur u. Thematik des Buchs v. George-Kreis suchen, aus dem ihm Wolfgang Bern. In: PBB (Tüb.) 98 (1976), S. 357–383. – W. Frommel u. Harro Siegel bes. nahestanden. Haug: Hyperbolik u. Zeremonialität. Zu Struktur Nach Kriegsdienst als Sanitäter u. nach sou. Welt v. ›Dietrichs Flucht‹ u. ›Rabenschlacht‹. In: wjet. Gefangenschaft ließ D. sich 1947 in Dt. Heldenepik in Tirol. König Laurin u. Dietrich v. Kassel, 1949 in Ravensburg u. 1955 erneut in Bern in der Dichtung des MA. Hg. Egon Kühebacher. Bozen 1979, S. 116–134. – Hugo Kuhn: Kassel nieder. D. verstand seine Lyrik (wie z.B. Stern überm ›Dietrichs Flucht‹ u. ›Rabenschlacht‹. In: VL. – Joachim Heinzle: Einf. in die mhd. Dietrichepik. Haus. Dresden 1932. Gesänge der Einkehr. KasBln./New York 1999, S. 53–83. – Sonja Kerth: Die sel, Basel 1949. Adams Nachfahr. Bln. 1959) im histor. Dietrichepik als ›späte Heldendichtung‹. In: Sinne des antiken Sehertums. Seine Verse ZfdA 129 (2000), S. 154–175. – Michael Mecklen- folgen antiken Formen. Aus D.s Werk ragen
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Übersetzungen u. Nachdichtungen zu frz. u. russ. Lyrik, v. a. aber zu antiken Autoren (Aristophanes, Catull, Properz, Ausonius) heraus, unter ihnen Properz: Die Liebesgedichte (Düsseld./Köln 1958). In den AphorismenFolgen Denkzettel (Kassel/Basel 1953) u. Vorsignale (in: Werke, Bd. 3) verbinden sich antike u. christl. Tradition. Ausgabe: Werke. Hg. Wilfried Brennecke. 3 Bde., Gött. 1963–66 (Bibliogr. in Bd. 3). Literatur: Kurt Werner: F. D. In: Die Lit. 36 (1934), S. 326–330. – Paul Wegwitz: F. D. In: Das Innere Reich 8 (1941), S. 164–168. – Gottfried Fischer-Gravelius: F. D. In: Welt u. Wort 6 (1951), 8.134–136. – Stimmen der Freunde. Zum 50. Geburtstag v. F. D. Biberach/Riß 1952 (u. a. Werner Bergengruen, Joseph Hegenbarth, Hermann Hesse, Rudolf Alexander Schröder, Max Sidow, Georg v. der Vring). – Karl August Horst: D. In: Hdb. der dt. Gegenwartslit. Hg. Hermann Kunisch. Bd. 2, Mchn. 21969, S. 174 f. – Franz Lennartz: D. In: Ders.: Dt. Schriftsteller des 20. Jh. im Spiegel der Kritik. Bd. 1, Stgt. 1984, S. 368.
berufl. u. innerstädt. Konflikte bildet D.s Vita ein wertvolles Zeugnis zur Mentalitätsgeschichte u. Alltagskultur um 1700. Ausgaben: Meister J. D., des Großen Kurfürsten Feldscher u. kgl. Hofbarbier. Hg. Ernst Consentius. Ebenhausen b. Mchn. 1915. Halle/S. 21935. Nachdr. u. d. T.: Mein Lebenslauf. Hg. Friedhelm Kemp. Mchn. 1966. – Die Lebensbeichte des Meisters J. D. Hg. Kurt Böttcher. Bln. 1964 (leicht gekürzte Ausg. mit modernisiertem Text). Literatur: Gunter Mann: D. In: NDB. – Wolfram Kaiser: Die Autobiogr. des Wundarztes J. D. (1665–1738). In: Ztschr. für die ges. innere Medizin 44 (1989), S. 518–524. – Johann Adam Stupp: J. D., ein Feldscher im Ungarnfeldzug 1683. Organentnahme vor dreihundert Jahren. In: Südostdt. Vierteljahresblätter 47 (1998), S. 249–250. Michael Schilling / Red.
Dietzenschmidt, Anton Franz, eigentl.: A. F. Schmidt, auch: Peter Thomas Bundtschuch, * 21.12.1893 TeplitzSchönau/Böhmen, † 17.1.1955 Esslingen/ Hans-Albrecht Koch / Red. Neckar. – Dramatiker.
Dietz, Johann, * 18.12.1665 Halle/Saale, † 4.3.1738 Halle/Saale. – Barbierchirurg; Verfasser einer Autobiografie. Von dem Hallischen Hofbarbier D. ist eine ausführl. Autobiografie erhalten, in der er seine Lehr- u. Wanderjahre beschreibt, die ihn als Feldscher in der Armee des Großen Kurfürsten nach Ungarn, in dän. Dienst nach Norddeutschland, als Arzt auf einem Walfangschiff in die Antarktis u. nach Norwegen führten. Nachdem D. mehrere Hofbarbierstellen bekleidet hatte, ließ er sich 1694 in seiner Heimatstadt als Meister nieder. Seine Streitigkeiten u. Konkurrenzkämpfe mit der ansässigen Zunft sind auch vor dem Hintergrund der Durchsetzung des Absolutismus gegenüber der alten Ständeordnung zu sehen. Seine handschriftlich überlieferte Autobiografie war wohl lediglich für seine Kinder u. die engsten Freunde bestimmt. Der Verfasser beabsichtigte v. a. Selbstrechtfertigung u. Belehrung im Sinne einer frommen u. bürgerl. Anschauungen verhafteten Lebenspraxis. Mit ihren Einblicken in die Gedankenwelt des gemeinen Mannes, in familiäre,
Der Sohn eines Hutfabrikanten ging 1913 nach Berlin u. besuchte ohne konkretes Studienziel die Universität. D. wurde von dem Herausgeber der »Schaubühne« Siegfried Jacobsohn gefördert u. erhielt für seine seit 1916 erschienenen Werke, insbes. für das Drama Christofer (Urauff. Bln. 1920), 1919 von Franz Servaes den angesehenen Kleist-Preis zuerkannt. In den nachfolgenden Jahren wurde er zu einem der meistgespielten Dramatiker seiner Generation. Unter dem Pseudonym Peter Thomas Bundtschuch verfasste er Jugendspiele, mit denen er sich für die Sache der Sudetendeutschen Jugend wie auch des »Reichsbundes der Katholischen Deutschen Jugend in der Tschechoslowakei« engagierte. D.s – überwiegend dramatisches – Schaffen ist eng mit seiner weltanschaul. Entwicklung verknüpft. In seinen Anfängen Atheist, gelangte er durch intensive Beschäftigung mit den Weltreligionen zu einer privatreligiösen Gottgläubigkeit, bis er in Berlin den kath. Sozialpolitiker Carl Sonnenschein kennenlernte, der ihn zu einem engagierten Katholizismus führte. D.s Wandlung spiegelt sich in seinem dichter. Werk sowohl in themati-
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scher wie auch in stilist. Hinsicht: Die Dramen der Frühzeit – Jeruschalajims Königin (entstanden 1912. Bln. 1919) u. Die Vertreibung der Hagar (entstanden 1915. Bln. 1916) – sind stofflich aus jüdisch-alttestamentar. Quellen geschöpft u. umkreisen in impressionistischer Manier das Problem des Eros; erst mit Christofer tritt die christl. Weltanschauung in den Vordergrund. Zgl. löst nun die Anlehnung an mittelalterl. Legenden- u. Mysterienspieltraditionen Tendenzen zur naturalist. Stilhaltung – in Mord im Hinterhaus (Bln. 1917. Nachdr. Freib. i. Br. 1983) u. Kleine Sklavin (Bln. 1918) – ab. Mit der Dramatisierung der Legende Vom lieben Augustin (Bln. 1925) wandte D. sich dem volkstüml. Drama, dem Laienspiel u. der volksliturg. Feier zu. In dem Maß, in welchem er sein Schaffen in den Dienst seiner religiösen Überzeugung stellte, entfernte sich D. von seinen vielversprechenden Anfängen; nach dem Verlust seiner Wirkungsmöglichkeiten durch den Nationalsozialismus reduzierte sich seine literar. Tätigkeit vollends auf unbedeutendes Brot- u. Gelegenheitsschrifttum. Weitere Werke: König Tod. Bln. 1918 (N.n u. Legenden). – Sanct Jacobsfahrt. Bln. 1920 (Legendenspiel). – Die Nächte des Bruder Vitalis. Bln. 1922 (D.). – Verfolgung. Ein Albdruck in sieben Stationen. Bln./Stgt. 1924. – Der Verräter Gottes. Bln 1929 (D.). – Die Flucht. Kinderkreuzzug. Bln. 1932 (N.n). – Die kleine Gabe. Reichenberg 1939. – Applaus. Reichenberg 1941 (R.). – Eine Selbstbiogr. aus dem Nachl. des Dichters mit einer Einf. u. Proben aus seinen Dichtungen. Hg. Johannes Tschech. Königst. 1959. Literatur: Johannes Tschech: D., ein Dramatiker der Gegenwart. Mit einem Geleitwort v. Herbert Cysarz. Lobnig 1933. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wien/Hbg. 1987, S. 453–456, 461 f. Ernst Fischer / Red.
Diez, Friedrich Christian, * 15.3.1794 Gießen, † 19.3.1876 Bonn. – Begründer der romanischen Philologie. D.’ Jugend war mit geprägt von der patriotischen, antinapoleon. Gesinnung u. der romant. MA-Begeisterung in Deutschland zu Beginn des 19. Jh. 1814 beteiligte er sich unter Führung seines Gießener Universitätslehrers Friedrich Gottlieb Welker – er lehrte
klass. Philologie, Archäologie u. Italienisch – als Freiwilliger am Frankreichfeldzug u. schloss sich nach seiner Rückkehr nach Gießen zeitweilig der unter dem Einfluss von Ernst Moritz Arndt stehenden student. Reformbewegung an. Ein Interesse D.’ an provenzalischer Lyrik ist schon für 1816 nachweisbar. Unbestätigt ist die Behauptung, Goethe habe ihn 1818 auf die Arbeiten von François Raynouard zur Troubadourlyrik aufmerksam gemacht, mit denen sich D. 1820 in den »Heidelberger Jahrbüchern der Literatur«, ebenso wie mit den Troubadourstudien August Wilhelm Schlegels, kritisch auseinandersetzte. 1821 erhielt D. auf Betreiben Welkers in Bonn eine Stelle als Lektor für Italienisch, Spanisch u. Portugiesisch. 1823 wurde er dort a. o. Professor, 1830 Ordinarius. 1826 erschien Die Poesie der Troubadours (Zwickau), welche – zus. mit Leben und Werke der Troubadours (Lpz. 1829) – bahnbrechend für das Studium der frz. mittelalterl. Lyrik war. Angeregt von Jacob Grimms Deutscher Grammatik, publizierte D. 1836–1843 die Grammatik der romanischen Sprachen (Bonn 51882), ein Meilenstein in der Geschichte der Romanistik, in der die konsequente Anwendung der historisch-vergleichenden Methode zur definitiven Abkehr von Raynouards These führte, das Provenzalische sei die roman. Ursprache. Diesem Werk folgte das Etymologische Wörterbuch der romanischen Sprachen (Bonn 1853). D. hatte nur wenige direkte Schüler, doch gilt er unangefochten als Begründer einer neuen Disziplin: der roman. Philologie. Weitere Werke: Altspan. Romanzen. Ffm. 1818. – Altroman. Sprachdenkmale. Bonn 1846. – Über die erste portugies. Kunst- u. Hofpoesie. Bonn 1863. – Altroman. Glossare. Bonn 1865. – Roman. Wortschöpfung. Bonn 1875. – F. D.’ kleinere Arbeiten u. Recensionen. Mchn. 1883. Literatur: Ernst Robert Curtius: Bonner Gedenkworte auf F. D. zum 15.3.1944. In: Roman. Forsch.en 60 (1948), S. 389–410. – Wolfgang Rettig: Raynouard, D. u. die roman. Ursprache. In: In memoriam F. D. Hg. Hans-Josef Niederehe u. a. Amsterd. 1976, S. 247–271. – Hans Ulrich Gumbrecht: Un souffle d’Allemagne ayant passé: F. D., Gaston Paris, and the genesis of national philologies. In: Romance Philology 40 (1986), S. 1–37. – Ulrike Bunge: F. D. als Übersetzer der Trobadors.
29 Tüb. 1993. – Richard Baum: Die Wende in der Philologie: Die Geburt der Sprachwiss. aus dem Geiste der Romantik. Jacob Grimm u. F. D. In: Zur Gesch. u. Problematik der Nationalphilologien in Europa. Hg. Frank Fürbeth u. a. Tüb. 1999, S. 221–240. Hans-Josef Niederehe / Red.
Diez, Heinrich Friedrich von (geadelt 1786), * 2.9.1751 Bernburg/Hzgt. Anhalt, † 7.4.1817 Berlin. – Diplomat, Verfasser orientalistischer Studien.
Diggelmann heit des H. v. Hammer[-Purgstall] zu Wien in Sprachen u. Wiss.en. Halle/Bln. 1815. – Briefw. zwischen Goethe u. v. D. Mitgetheilt v. Carl Siegfried. In: GoetheJb u. (1890), S. 24–41. Literatur: J. W. v. Goethe: Noten u. Abh.en zum besseren Verständnis des Divans. In: Weimarer Ausg. Bd. 7 (1888), S. 222 ff. – Franz Babinger: Ein oriental. Berater Goethes: H. F. v. D. In: GoetheJb 34 (1913), S. 83–100. – Ders.: Der Einfluß v. H. F. v. Diezens ›Buch des Kabus‹ u. ›Denkwürdigkeiten von Asien‹ auf Goethes ›West-östlichen Divan‹. In: GRM 5 (1913), S. 577–592. – Katharina Mommsen: Goethe u. D. Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Divan-Epoche. Bln. 1961. Erg. 2 1995. – Dies.: Goethe u. die arab. Welt. Ffm. 1988. – Ursula Winter: Die europ. Hss. der Bibl. Diez. Bd. 1/2, Lpz. 1986; Bd. 3, Wiesb. 1994. – Bernd G. Ulbrich: ›Der so wunderliche als treffliche Mann ...‹: das Lebenswerk des H. F. v. D. In: Mitt.en des Vereins für Anhalt. Landeskunde 11 (2002), S. 117–139. Ernst Fischer / Red.
Der Sohn eines Kaufmanns studierte seit 1769 in Halle Rechtswissenschaft u. war nach Abschluss seines Studiums zunächst in untergeordneten Ämtern bei der Regierung in Magdeburg tätig. In diese Zeit fällt auch ein intensives Studium verschiedener Sprachen; 1784 wurde D. auf Vermittlung Christian Wilhelm Dohms von Friedrich II. zum Geschäftsträger Preußens in Konstantinopel ernannt. 1790 wurde er, wegen Überschreitung der ihm erteilten Vollmachten im Rahmen Diggelmann, Walter Matthias, * 5.7.1927 eines Bündnisvertrags Preußens mit der Ho- Zürich, † 29.11.1979 Zürich. – Erzähler u. hen Pforte, abberufen. D. zog sich als Gehei- Romancier. mer Legationsrat zunächst auf ein Gut in Geboren als uneheliches Kind einer VollwaiPhilippsthal bei Potsdam zurück, ging 1798 sen, wuchs D. in einem Bündner Bergdorf nach Kolberg/Pommern u. 1807 schließlich auf. Die Ausbildung an der Oberrealschule nach Berlin. Chur scheiterte, eine Uhrmacherlehre wurde D. widmete sich seit seinem Rückzug aus wegen eines kleinen Diebstahls abgebrochen. dem diplomat. Dienst orientalist. Studien, als 1944 floh D. nach Italien, wurde von dt. deren wichtigste Ergebnisse eine Überset- Truppen aufgegriffen u. als Fremdarbeiter zung vom Buch des Kabus (Bln. 1811) u. die in nach Dresden deportiert. 1945 kehrte er in zwei Bänden erschienenen Denkwürdigkeiten die Schweiz zurück, wurde unter Vormundvon Asien in Künsten und Wissenschaften, Sitten, schaft gestellt u. vorübergehend in eine HeilGebräuchen und Alterthümern, Religion und Re- u. Pflegeanstalt eingewiesen. Nach Gelegengierungsverfassung [...] (Bln. 1811 u. 1815) gel- heitsarbeiten in Zürich u. autodidakt. Studiten können. Die Schriften D.’ gehören neben en machte er erste schriftsteller. Versuche. jenen von Joseph von Hammer-Purgstall zu 1956–1962 war er als Werbetexter tätig. Seine den wichtigsten Quellen für Goethes Aus- schwierige biogr. Konstellation behandelte einandersetzung mit dem Orient, namentlich D. als literarisches Leitmotiv u. machte sie in für die Gedichte des West-östlichen Divan vielfacher Abwandlung zur Geschichte seiner (1819. Erw. 1827). fiktiven Personen. In einer seiner letzten ErWeitere Werke: Beobachtungen über die sittl. zählungen, Spaziergänge auf der Margareteninsel Natur des Menschen. Halle 1773. – Der Stand der (Zürich/Köln 1980), stellt er sein Leben als das Natur. Lemgo 1775. – Apologie der Duldung u. eines Geschichtenerzählers dar: »Ich habe Preßfreyheit. Dessau 1781. – Benedict de Spinoza, angefangen, Geschichten zu erzählen, [...] nach Leben u. Lehren. Dessau 1783. – Ermahnung an Islambol oder Strafgericht über die Ausartung um mich selbst am Leben zu erhalten. [...] der Osmanen. Bln. 1811 (Übers. des türk. Dichters Literatur war für mich zu einer Waffe geUweissi). – Unfug u. Betrug in der Morgenländ. worden, mit der ich zunächst mich selber und Litt., nebst vielen Proben v. der groben Unwissen- später andere verteidigte.«
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Einblick in D.s Schaffen als zeitkrit. JourDer Erfolg als Werbefachmann, als professioneller Geschichtenerzähler im Dienst an- nalist gibt die Sammlung Feststellungen. Ein derer, machte D. misstrauisch gegen Techni- Lesebuch. Texte von 1963 bis 1978 (Zürich 1978). D. schrieb auch Fernseh- u. Hörspiele sowie ken der Meinungsmacher. Seine ersten bedeutenden Romane Geschichten um Abel (Ein- Theaterstücke. siedeln 1960) u. Das Verhör des Harry Wind Weitere Werke: Die Vergnügungsfahrt. Ffm. (Einsiedeln/Zürich/Köln 1962) erzählen Kar- 1969 (R.). – Ich heiße Thomy. Ffm. 1973 (R.). – rieren u. Karrierehintergründe erfolgreicher Filippinis Garten. Zürich/Köln 1978 (R.). – Tage v. Werbejournalisten. D. erweist sich hier als ein süßl. Wärme. E.en. Hg. Renate Nagel. Zürich/Köln Virtuose der zeitkritischen literar. Reportage, 1982. – Der Tag erzählt seine eigene Gesch. Ein die er im Roman Die Hinterlassenschaft (Mchn. Lesebuch. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Klara Obermüller. Zürich 1992. 1965. Nachdr. Zürich 1982) um FormeleLiteratur: János Szabó: Zur literarhistor. Bemente des Montageromans erweitert, indem deutung W. M. D.s. In: Germanist. Jb. DDR – Reer zeitgeschichtl. Dokumente in die Erzähpublik Ungarn 6 (1987), S. 146–155. – Klara Oberlung einfügt. Mit dieser Form des »erfunde- müller: W. M. D. (1927–79). ›Auch ich bin ein Sohn nen Tatsachenberichts« wendet sich D. auch Gottes, auch ich habe ein Recht, gekreuzigt zu gegen Zeitkritik in der Form der Parabel, wie werden‹. In: Grenzfall Lit. Hg. Joseph Bättig. sie z.B. Max Frisch in seinem Bühnenstück Freib./Schweiz 1993, S. 363–368. – Dies.: Der Andorra übt. D. will seine Gegner allerdings Wahrheit auf die Spur kommen. Gedanken zum eindeutig benennen, indem er den Verbin- Werk v. W. M. D. In: Orte 24 (2000), H. 119, dungen von Antisemitismus u. Antikommu- S. 11–17. – Thomas Kraft: W. M. D. In: LGL. – nismus in der Schweiz nachgeht. David Boller Charlotte Schallié: W. M. D. ›Die Hinterlassenentdeckt, dass sein vermeintlicher Vater sein schaft‹. In: Focus on German studies 11 (2004), S. 236–241 (Rez.). Rudolf Käser / Red. Großvater ist. Seine Eltern waren der nationalsozialist. Judenverfolgung zum Opfer gefallen. Auf der Suche nach den HintergrünDikmen, S¸inasi, * 5.1.1945 bei Samsun/ den des Geschehens kommt David in VerTürkei. – Satiriker, Kabarettist. bindung mit einem Pressebüro, das die Hetze gegen einen bekannten Kommunisten orga- D. kam 1972 nach Deutschland u. arbeitete 15 nisiert, der sich nach der Niederschlagung Jahre als Intensivkrankenpfleger in Ulm. des Ungarnaufstandes öffentlich weigerte, Erste kabarettist. Auftritte, u. a. 1983 u. 1984 von seinen Überzeugungen Abstand zu neh- in Dieter Hildebrandts Satiresendung Scheimen. Die Anspielungen auf die Kampagne benwischer. D. gründete zus. mit Muhsin gegen Konrad Farner sind unübersehbar. Omurca das erste dt.-türk. Kabarett, Knobi In den späteren Romanen tritt die auto- Bonbon, das von 1985–1997 erfolgreich tourbiogr. Problematik verstärkt ins Zentrum. te. Nach ihrer Trennung gründete D. zus. mit Dies gilt insbes. für den auch formal über- Ays¸ e Aktay in Frankfurt/M. die Kabarett-Änzeugenden Roman Aber den Kirschbaum, den derungsschneiderei (KÄS), wo er seither mehr als gibt es (Zürich/Köln 1975). Hauptperson ist sechs Soloprogramme auf die Bühne gebracht hier ein erfolgreicher Drehbuchautor, der hat, mit denen er auch deutschlandweit gasseine vielen Geschichten schließlich als Me- tiert. 1983 erschien D.s erster Satirenband Wir dium der Selbstfindung einzusetzen versteht. werden das Knoblauchkind schon schaukeln (Bln./ In Schatten. Tagebuch einer Krankheit (Zürich/ West), 1986 der zweite, Der andere Türke (Bln./ Köln 1979) verzichtet D. auf fiktive Maskie- West). Eine Neuauflage der Satiren kam 1995 rung. Angesichts seiner tödl. Krankheit wird heraus, Hurra, ich lebe in Deutschland!, mit eidas Erzählen von Geschichten noch einmal nem Vorwort von Dieter Hildebrandt zum Lebensbeweis. Mit dem Konzept einer (Mchn.). Sämtliche Bände sind vergriffen. dialogisch erarbeiteten Krankheits- u. Hei- 1988 erhielt D. für Knobi-Bonbon den Kleinlungsgeschichte entwirft D. eine bemerkens- kunstpreis, 1991 den Journalistenpreis der IG werte Utopie humaner Arzt-Patient-Bezie- Metall, 2003 den »Skyline« Kulturpreis der hung. Frankfurter SPD.
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D.s Satiren stehen in der Tradition der türk. Satire (Aziz Nesin, Haldun Taner), ebenso wie in der dt. Tradition (Kurt Tucholsky, Ludwig Thoma); er bezieht seine Themen unmittelbar aus der Situation von Türken in Deutschland u. der gegenseitigen Stereotypisierung. Auch die Diskriminierung von Ausländern in Deutschland ruft die satir. Kritik auf den Plan: »Da muß man sich einfach äußern, mit Zorn, mit Wut, auch mit Haß.« Satire hat bei D. jedoch nicht nur Ventilfunktion, wie er im von ihm 1985 mit herausgegebenen Band des Polynationalen Literatur- u. Kunstvereins, Lachen aus dem Ghetto (Katzenellnbogen), bekennt, sondern sie erfüllt v. a. auch eine Aufklärungsfunktion u. will über diese zum besseren Verständnis von Deutschen u. Türken beitragen. Die Satiren des ersten Bandes Wir werden das Knoblauchkind schon schaukeln drehen sich im Sinne einer Gastarbeiter-Ankunftsliteratur um die ersten Eindrücke der türk. Migranten in Deutschland. Von scheinbar naiver Warte aus berichtet D.s auktorialer Erzähler über Sitten u. Gebräuche der Deutschen: Klischees wie Gründlichkeit u. Ordnung, schnurgerade Autobahnen u. a. werden überhöht u. nach dem Konzept des verharmlosenden Blickwinkels euphemisiert. Die Ankunft in »Almanya« gerät, so der Titel einer Satire, zum Deutschlandmärchen. In D.s Briefsatiren tritt der Erzähler als »Deutschlandexperte« auf; dt. Kultur wird dabei zum Erweckungsmoment (Ein Türkenbub schreibt an Onkel Goethe). Im zweiten Band geht es vermehrt um das dt.-türk. Mit- u. Gegeneinander; im Spiel mit der Erwartungshaltung des Lesers werden gegenseitige Vorurteile entlarvt. Der auktoriale Erzähler gibt nun häufig Auskunft über die Türken (z.B. Tagesablauf eines Türken), nimmt die Pose der »Integrationsexperten« ein u. geriert sich als Der andere Türke (so ein weiterer Titel). Die größere Dialogizität der Texte geht mit der kabarettist. Arbeit einher. Entsprechend Kurt Tucholskys Anmerkungen zur Satire, wonach »der Deutsche« den Fehler mache, »das Dargestellte mit dem Darstellenden« zu verwechseln, hat auch die Literaturdidaktik D.s satir. Zerrbilder in positivistischer Lesart als Belege für vermeintlich »türkische Kultur« missverstanden. Die-
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ses Miss- bzw. Unverständnis schlug auch dem bissigen Knobi-Bonbon-Kabarett entgegen. Indessen haben D.s Satiren maßgeblich zur Etablierung des Genres in der interkulturellen Literatur beigetragen. Als Kabarettist verkörperte D. an der Seite von Omurca häufig die Figur des integrationsbeflissenen Türken bzw. des »Integrationsexperten«. Das Programm von Knobi-Bonbon nahm dt. Ängste aufs Korn (z.B. Vorsicht, frisch integriert! 1985; Putsch in Bonn 1988; Der Beschneider von Ulm 1992), richtete seine Spitzen aber auch gegen dt. u. türk. Rechtsextremismus. D.s Solo-Kabarett erkundet die Höhen u. Tiefen der multikulturellen Gesellschaft (Kleider machen Deutsche; Wenn der Türke zweimal klingelt), arbeitet sich am Geschlechterverhältnis ab (Mach kein Theater, Türke!, dazu entwirft D. die Figur der »PostFeministin« Gisela/Güsülü u. der »emanzipierten Türkin« Emine), stellt Verbindungen zur griech. Philosophie her (Du sollst nicht türken!), erzählt (s)eine Migrationsgeschichte (Quo vadis Türke?) oder nimmt den religiösen Fundamentalismus aufs Korn (Wahrlich, ich sage Euch...). Gegenüber der polit. Schärfe früherer Stücke ist D.s Humor versöhnlicher geworden. Den Begriff »Ethno-Kabarett« lehnt D. für sich ab, dennoch ist der Gründer des ersten türk. Kabaretts deutscher Sprache in Deutschland zum Vorläufer des Genres geworden. Literatur: Ulrike Reeg: Schreiben in der Fremde. Lit. nat. Minderheiten in der BRD. Essen 1988, S. 175–187. – Lutz Tantow: S. D. In: KLG. – Yüksel Baypinar: Dtschld. – ein türk. Märchen? Schlaraffenland als Zielscheibe der satir. E.en S¸. D.s. In: Begegnung mit dem Fremden. Hg. Eijiro Iwasaki. Bd. 8 (1991), S. 84–92. – Andrea ZielkeNadkarny: Satiren der Migrantenlit. im Deutschunterricht. Zwei exemplar. Unterrichtsentwürfe für die Sekundarstufe I. In: DU 5 (1993), S. 74–88. – Will Hasty u. Christa Merkes-Frei: Werkh. Lit.: S¸. D. – Zehra C¸ırak. Mchn./Atlanta 1996. – Karin E. Yes¸ ilada: Schreiben mit spitzer Feder. Die Satiren der türk.-dt. Migrationslit. In: ›Spagat mit Kopftuch‹. Ess.s zur Dt.-Türk. Sommerakademie. Hg. Jürgen Reulecke. Hbg. 1997, S. 529–564. – Mark Terkessidis: Kabarett u. Satire dt.-türk. Autoren. In: Interkulturelle Lit. in Dtschld. Ein Hdb. Hg. Carmine Chiellino. Stgt. 2000, S. 294–301. – K. Yes¸ ilada: ›Getürkt‹ oder nur ›anders‹? Türkenbild
Dilherr in der türk.-dt. Satire. In: The Image of the Turk in Europe from the Declaration of the Republic in 1923 to the 1990s. Hg. Nedret Kuran Burçog˘lu. Istanbul 2000, S. 205–220. – Thomas Kraft: S. D. In: LGL. Karin E. Yes¸ ilada
Dilherr, Johann Michael, * 14.10.1604 Themar, † 8.4.1669 Nürnberg; Grabstätte: ebd., St. Rochus-Friedhof. – Lutherischer Theologe u. Pädagoge. D.s Vater Johann Dilherr († 1623) war meining. Kammerprokurator u. Rechtskonsulent des Kantons Rhön-Werra der fränk. Reichsritterschaft. D. besuchte das Schleusinger Gymnasium u. studierte ab 1623 an der Universität Leipzig bei Caspar Barth. Die Enteignung seines Vaters im Zuge der Religionsverfolgungen des Würzburger Bischofs zwang D. zum Studienabbruch. Nach einem Aufenthalt in Wittenberg ging er 1627 im Auftrag von Nürnberger Verwandten als Hofmeister an die Universität Altdorf (Poeta laureatus 1629) u. 1629 an die Universität Jena (Magister 1630), wo er 1631 die Professur für Eloquenz, 1634 für Geschichte u. Dichtkunst u. 1635 das Rektorat erhielt. 1640 übernahm er als Nachfolger Johann Gerhards den Lehrstuhl für Theologie. Im selben Jahr bot ihm der Rat der Stadt Nürnberg eine leitende Stellung im Kirchenregiment an, doch verließ D. Jena erst während der krieger. Auseinandersetzungen 1642, um am Nürnberger Egidiengymnasium das Rektorat u. die Professur für Theologie u. Philosophie anzutreten u. als universitäres Propädeutikum das Auditorium publicum zu gründen. Nach dem Tod Johann Sauberts übertrug man D. 1646 das Amt des Hauptpredigers an St. Sebald, die Oberaufsicht über das Nürnberger Schulwesen, die Stipendien u. die Bücherzensur sowie die Betreuung der Stadtbibliothek. Unter D.s Führung wurde das Kirchenwesen grundlegend reformiert, 1666 ein Predigerseminar gegründet, die Kirchenvisitation eingeführt u. der Unterricht in den Elementarschulen nach den pädagog. Grundsätzen von Johann Amos Comenius u. Wolfgang Ratke neu gestaltet (Oratio de recta liberorum educatione. Sermon oder Rede Von der Rechten
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Kinderzucht und Unterrichtung der Jugend. Nürnb. 1642). D. setzte sich im Sinn der luth. Reformorthodoxie für die Abkehr von dogmat. Positionen zugunsten einer »theologia practica« ein. In den Auseinandersetzungen mit Katholiken, Reformierten u. »Schwärmern« zeigte er sich aus irenisch-humanistischem Geist um Ausgleich bemüht. Sein Horizont war weit gespannt; er beschäftigte sich mit Schriften niederländischer Calvinisten u. engl. Puritaner ebenso wie mit den grundlegenden Werken der kath. Reform. Mit zahlreichen Gelehrten stand er in briefl. Austausch (Commercium epistolicum Dilherriani aus der Sammlung Meusebach in der Biblioteka Jagiellon´ska Krakòw). Weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, wirkte er in Nürnberg fast 30 Jahre lang als überragender Anreger u. Förderer von Literatur u. Kunst, als pädagog. Erneuerer u. als populärer Prediger u. Seelsorger. D. hinterließ ein umfangreiches, vielgestaltiges Werk. Viele seiner theologischen, philolog. u. musiktheoret. Schriften wurden lange nachgedruckt. Der Weg vom Universitätstheologen, der in Jena mit lat. textkrit. Arbeiten zum NT u. zum Hohenlied hervorgetreten war, zum prakt. Theologen u. Seelsorger spiegelt sich in der Hinwendung zur Predigt u. geistl. Betrachtung in dt. Sprache. Die meisten Werke D.s sind Fragen der Praxis pietatis, der Bewährung des Glaubens im Alltag, gewidmet (u. a. Frommer Christen Täglicher Geleitsmann. Nürnb. 1653. Heil deß Sünders. Nürnb. 1653. Die Himmelische GluckHenne. Nürnb. 1653). D. verfasste Predigtsammlungen wie Fast-, Buß- und Bettage (Nürnb. 1648. 21658) u. geistl. Betrachtungen, etwa Christliche Betrachtungen der Thränen Jesu Christi (Nürnb. 1642), den Weg zu der Seligkeit (Nürnb. 1646. 51675), der auch in den Niederlanden erschien u. früh in die dän. Sprache übersetzt wurde, die Betrachtung des Todes (Nürnb. 1648. Erw. u. d. T. Tod, Gericht und Hölle. Nürnb. 1658) u. die Buß- und Passions-Betrachtungen (Nürnb. 1650). Klar aufgebaut u. in einer schlichten, bilderreichen Sprache, sollen D.s Predigten – vielfach an vorreformatorisches Schrifttum anknüpfend (Augustin, Chrysostomos, Bernhard von
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Clairvaux, Bonaventura, Thomas a Kempis) – die Glaubensinhalte veranschaulichen. In didaktischer Absicht führte D. die Emblematik zu neuer Blüte. Seine Schriften beginnen häufig mit einem Kupferstich, dem ein Motto u. eine Erklärung in Form eines Epigramms beigegeben sind, die in der folgenden Andacht ausgeführt werden; am Schluss stehen Gebete oder Lieder u. häufig als Notae lat. Zitate aus vorreformator. Werken. Für die Illustrationen zog D. den Nürnberger Kupferstecher Georg Strauch heran; die geistl. Lieder stammen meist von Georg Philipp Harsdörffer oder Sigmund von Birken. Vom ersten Jahr seiner Tätigkeit in Nürnberg an suchte D. die Mitarbeit von Wortkünstlern u. Musikern. 1644 ließ er gemeinsam mit Johann Klaj u. Sigmund Theophil Staden geistl. Redeoratorien im Auditorium publicum aufführen, die die Basis für das spätere Oratorium legten. Bei der Herausgabe von Gesangbüchern u. geistl. Liedersammlungen, durch die D. Gemeindegesang u. christl. Hausmusik fördern wollte, standen ihm neben Staden die Nürnberger Kirchenmusiker Johann Erasmus Kindermann u. Paul Hainlein zur Seite (Seelen-Music Erster Theil. Nürnb. 1644; mit Melodien Stadens). Mit den Dichtern des Pegnesischen Blumenordens stand D. in ständigem Kontakt u. beteiligte sich mit einer Vielzahl von Widmungsgedichten u. Vorreden an den Schriften der Gesellschaftsmitglieder; zu seinem Tod huldigten ihm die Pegnitzschäfer mit einer großen Prosaekloge Himmel-klingendes SchaeferSpjel. Typisch für D.s Meisterschaft im Umgang mit literarischen u. rhetor. Formen sind Werke wie die Christliche Felt-, Welt- und Gartenbetrachtung (Nürnb. 1647. 21648. 31651. 4 1667), in der Andachten, Gebete, Lieder u. Sinnbilder vereinigt sind, oder die Augen- und Hertzens-Lust (Nürnb. 1661) mit Versen, Kupfern u. Liedern. So sehr D. unter dem Einfluss von Johann Tauler u. Johann Arndt nach verinnerlichter Frömmigkeit strebte u. deshalb zu einem Vertreter der vorpietist. Reformbewegung wurde, so sehr blieb er doch zeitlebens einem späthumanistisch-rationalen Ethos verpflichtet. Weltgewandtheit, Lektüre der poetae u. Kenntnis der geistigen
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u. literar. Tradition sollten nach D. einen luth. Prediger ebenso auszeichnen wie Sittenstrenge u. moral. Integrität. Weitere Werke: Apparatus philologicus. Jena 1632. – Libri duo electorum. Jena 1633. – Contemplationes. Jena 1634. 21660. 31713. Engl. Übers. v. W. Style. London 1640. – Eclogae sacrae Novi Testamenti. Jena 1637. 51662. – Consolationes philosophicae. Jena 1639. – Christl. Andachten. Jena 1640. – Musicae justum encomium. Nürnb. 1643. – Icarus academicus. Nürnb. 1643. – Kurtze Betrachtung deß Berufs zum Lehr-Ampt. Nürnb. 1643. – Ankündigung des getroffenen Friedensschlusses. Nürnb. 1649. – Sündenleid u. Friedensfreud. Nürnb. 1649. – Gottseliges Friedens-Gedächtniß. Nürnb. 1650. – Göttl. Liebesflamme. Nürnb. 1651. 1654. 1664. 1667. 1675. 1681. Amsterd. 1651. 1658. 1667. 1672 (erw. Ausg. der ›Andachten‹ v. 1640). – Freudenblick des Ewigen Lebens. Nürnb. 1652. – Erster, Ander, Dritter Theil Evang. Schlußreimen. Nürnb. 1652. – Christl. Betrachtungen deß Gläntzenden Himmels. Nürnb. 1657. 31670. 41712. – Tugendschatz u. Lasterplatz. Nürnb. 1659. 21679. – Heilige Sonn- u. FesttagsArbeit. Nürnb. 1660. 21674. Nachdr. Mit einem Nachw. v. Dietmar Peil. Hildesh. 1994. – Ehre der Ehe. Nürnb. 1662. – Heilsame Beschneidung. Nürnb. 1662. – Heilig-Epistol. Ber. Nürnb. 1663. – Hohe Schul des Höchsten Lebens. Nürnb. 1663. – Das in den leidenden Herrn Jesum verliebte Christenherz. Nürnb. 1665. 21736. 31796. Dän. Übers. 1667. – Systema epistolicum. Nürnb. 1665. – Himmel u. Erde. Nürnb. 1667. 21699. – In canticum canticorum annotationes. Altenburg 1676. – De historia priscae Germaniae. Ffm./Lpz. 1718. – Herausgeber: Alte u. Neue geistl. Psalmen/Lieder u. Gebete. Nürnb. 1657. Ausgabe: Fischer-Tümpel 5, S. 167–177. – Predigten der Barockzeit. Texte u. Komm. Hg. Werner Welzig. Wien 1995, S. 69–78 (Predigtbeispiel). Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1256–1367. – Koch 3, S. 508–517. – Adolf Schwarzenberg: Das Leben u. Wirken J. M. D.s: Ein Beitr. zur Gesch. der Pädagogik des 17. Jh. Dresden 1892. – Paul Schreyer: J. M. D. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 14 (1939), S. 33–36. – Gerhard Schröttel: J. M. D. u. die vorpietist. Kirchenreform in Nürnberg. Nürnb. 1962. – Matthias Simon: Nürnberg. Pfarrerbuch. Nürnb. 1965. S. 46 f. Nr. 236. – Goldmann: J. M. D. In: Fränk. Klassiker (1971), S. 289–300. – Maria Fürstenwald: Letztes Ehren-Gedächtnüß u. Himmel-klingendes Schäferspiel, der literar. Freundschafts- u. Totenkult im Spiegel des barocken Trauerschäferspiels. In: Daphnis 2 (1973), S. 32–53. – Willard James Wiet-
Dilich feld: The emblem literature of J. M. D. (1604–69). Nürnb. 1975. – G. Schröttel: J. M. D. In: Fränk. Lebensbilder (1977), S. 142–151. – Dietmar Peil: Zur ›angewandten Emblematik‹ in protestant. Erbauungsbüchern: D., Arndt, Francisci, Scriver. Heidelb. 1978. – Thomas Bürger: Der Briefw. des Nürnberger Theologen J. M. D. In: Barocker LustSpiegel (1984), S. 139–174. – Rolf-Dieter Jahn: Die Weimarer Ernestin. Kurfürstenbibel u. D.-Bibel des Endter-Verlags in Nürnb.: 1641–1788. Versuch einer vollständigen Chronologie u. Bibliogr. Odenthal 1986. – John Roger Paas: In praise of J. M. D.: occasional poems written in 1644 by Sigmund v. Birken, Georg Philipp Harsdörffer, and Johann Klaj. In: Daphnis 21 (1992), S. 601–613. – Renate Jürgensen: J. M. D. u. der Pegnes. Blumenorden. In: Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Hg. Klaus Garber. Bd. 2, Tüb. 1996, S. 1320–1360. – Horst-Dieter Beyrstedt: J. M. D. In: Stadtlexikon Nürnb. Nürnb. 1999, S. 215. – Heinz Dörfler: Erbaul. Erzählgut in der evang.-luth. Predigt unter bes. Berücksichtigung der Predigten u. Schr.en J. M. D.s (1604–69). In: Daten zur Gesch. (2001), S. 62–79. – Wolfgang Sommer: Das Wahre Christentum in Franken: Zur Wirkungsgesch. Johann Arndts in Ansbach u. im Nürnberger Land. In: Ztschr. für bayer. Kirchengesch. 70 (2001), S. 106–118. – R. Jürgensen: Bibliotheca Norica. Patrizier u. Gelehrtenbibl.en in Nürnb. zwischen MA u. Aufklärung. Wiesb. 2002, S. 246–531. – Wolfgang Sommer: Das Wirken J. M. D.s in der Reichsstadt Nürnb. in der Mitte des 17. Jh. In: Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnb. 91 (2004), S. 181–193. – Reinhard Lieske: Evang. Frömmigkeit in niedersächs. Frauenklöstern: die Botschaft der emblemat. Bilder in Stift Fischbek u. Kloster Ebstorf nach Predigtbüchern des Nürnberger Theologen J. M. D. In: Jb. der Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. 2005, S. 55–99. – Ernst Rohmer: Lit. u. Theologie in Nürnb.: J. M. D. u. der Pegnes. Blumenorden. In: Aedificatio. Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit. Hg. Andreas Solbach. Tüb. 2005, S. 267–283. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 442–446. Renate Jürgensen
Dilich, Wilhelm, eigentl.: W. Schäffer, * 1571/72 Wabern/Hessen, † 1650 Dresden; Grabstätte: ebd., Unserer-LiebenFrauen-Kirchhof. – Topograf u. Historiograf; Festungsbaumeister u. Militärtheoretiker. Nach dem Besuch der städt. Gelehrtenschule in Kassel studierte der Pfarrerssohn in Wit-
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tenberg u. Marburg. Seine eigenhändig illustrierte Chronik des Hessenlandes (Synopsis descriptionis totius Hassiae tribus libris comprehensae. Erstdr. Marburg 1902), die seine zeichnerisch-schriftsteller. Doppelbegabung bezeugt, begründete die Verbindung zum hess. Hof, die D.s Leben u. Werk prägte. Schon 1592 erhielt er eine Stelle als Hofchronist u. Topograf bei Landgraf Moritz von Hessen-Kassel. Die pompösen Kindtauffeste am Kasseler Hof hat D. in Wort u. Bild aufgezeichnet, in Kupfer gestochen u. selbst verlegt (Historische Beschreibung der fürstlichen Kindtauff. Kassel 1598. Beschreibung und Abriß dero Ritterspiel. Kassel 1601); ab 1607 war er auch als Festungsbauingenieur tätig. 1622 geriet er, beim Landgrafen in Ungnade gefallen, in Haft, konnte jedoch 1624 mit seiner Familie fliehen u. trat 1625 in kursächs. Dienste. Als »Oberlandbaumeister« überwachte D. das gesamte Festungswesen in Sachsen. Von Bedeutung sind v. a. seine – von ihm selbst illustrierten – chronistisch-topograf. Werke, auf denen spätere Darstellungen vielfach aufbauen. So verwandte Matthäus Merian d.Ä. Zeichnungen D.s als Stichvorlagen. Im Auftrag des Landgrafen verfasste D. eine illustrierte Beschreibung u. Chronik seiner Heimat: Hessische Chronica (Kassel 1605). Vorangegangen waren die Descriptio Lipsiae (1594. Hg. v. Gustav Wustmann: Quellen zur Geschichte Leipzigs. Bd. 1, Lpz. 1889), die Ungarische Chronica (Kassel 1599) u. Urbis Bremae [...] typus et chronicon (Kassel 1604). Unvollständig blieb D.s kartograf. Aufnahme Hessens. Als Festungstheoretiker wurde D. so sehr geschätzt, dass sein Kriegßbuch (Kassel 1608), in dem er den modernen Festungsbau schildert, in einer erweiterten u. verbesserten Fassung (Ffm. 1698) noch 1718 wieder aufgelegt wurde. Sein militärtheoretisches Hauptwerk Peribologia oder Bericht von Vestungsgebewen (Ffm. 1640. Neudr. Unterschneidheim 1971) gab sein Sohn Johann Wilhelm, Stadtbaumeister in Frankfurt/M., heraus, der auch die gemeinsam mit dem Vater entworfenen – u. bis 1806 benutzten – Befestigungsanlagen Frankfurts ausführen ließ.
35 Ausgaben: Urbs et Academia Marpurgensis. Hg. Julius Caesar. Marburg 1867. Supplementum. Hg. Ferdinand Justi. Marburg 1898. – Rhein. Burgen nach Handzeichnungen D.s (1607). Hg. Carl Michaelis. Bln. o. J. [1900]. – W. D.s Federzeichnungen Kursächs. u. Meißn. Ortschaften. Hg. Christian Krollmann u. Paul E. Richter. Dresden 1907 (mit bio-bibliogr. Einl.). – W. D.s Landtafeln Hess. Ämter zwischen Rhein u. Weser. Hg. Edmund Stengel. Marburg 1927. – W. D.s Federzeichnungen Erzgebirg. u. Vogtländ. Orte. Schwarzenberg 1928. Literatur: Max Jähns: Gesch. der Kriegswiss.en vornehmlich in Dtschld. Mchn./Lpz. 1889–91, S. 956–960, 1118–1120. – Bettina Schleier: W. D.s Bremer Chronik. In: Bremisches Jb. 73 (1994), S. 12–47. – Georg Rózsa: Die Ungarnchronik W. D.s. In: Gutenberg-Jb. 71 (1996), S. 157–164. – Horst Nieder: W. D. (um 1571–1650). Zeichner, Schriftsteller u. Kartograph in höf. Dienst. Lemgo 2002. Achim Aurnhammer
Dill, Liesbet, eigentl.: Elisabeth Pauline D., * 28.3.1877 Dudweiler/Saar, † 15.4. 1962 Wiesbaden; Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – Erzählerin. Die Tochter des Guts- u. Brauereibesitzers Friedrich Dill war im Geist des aufstrebenden Besitz- u. Bildungsbürgertums der Gründerjahre erzogen worden. Rund 100 Romane, Erzählungen u. Essays umfasst ihr literarisches Werk. Hauptthemen ihres Schaffens, das stilistisch von Impressionismus, Naturalismus u. Heimatkunst beeinflusst ist, sind die Rolle der Frau in der bürgerl. Gesellschaft u. die Probleme der Grenzregionen Saarland u. Lothringen. Bereits in ihrem erfolgreichen Erstlingsroman Lo’s Ehe (Bln. 1903), aber auch in späteren Werken wie Virago (Stgt. 1913. St. Ingbert 2005) oder Rose Ferron (Dresden 1919/20. Olten u. a. 1959) setzt sich D. mit den Identitätskonflikten junger Frauen im starren Werte- u. Klassensystem des späten 19. Jh. auseinander. Mit dem Roman Wir von der Saar (Stgt. 1934), der mit der Saarkundgebung am Niederwalddenkmal (1933) u. einem Bekenntnis zu Hitler endet, suchte D. den Anschluss an die völkisch-nat. Literatur des Dritten Reichs. Nach 1945 wandte sie sich vornehmlich unterhaltenden Stoffen zu, deren Gestaltung jedoch nicht mehr die Quali-
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tät ihrer früheren Arbeiten erreichte u. die teilweise als Serienproduktion innerhalb populärer Romanreihen erschienen. Weitere Werke: Die Spionin. Lpz. 1917 (R.). – Der Grenzpfahl. Stgt. 1925 (R.). – Verzauberte Herzen. Mchn. 1958 (R.). Literatur: Günter Scholdt: L. D. In: Saarländ. Lebensbilder. Bd. 3, Saarbr. 1986, S. 219–242. Frank Steinmeyer / Red.
Dillenius, Friedrich Wilhelm Jonathan, * 20. oder 24.7.1754 Knittlingen/Württemberg, † 23.5.1815 Hemmingen/Württemberg. – Evangelischer Pfarrer, Pädagoge u. Übersetzer. D. studierte 1775–1778 in Tübingen. Anschließend wurde er Oberpraeceptor an der Uracher Lateinschule. 1795 trat er eine Pfarrstelle in Baltmannsweiler an, seit 1805 war er Pfarrer in Hemmingen. D. ist als Pädagoge der philanthropistischneuhumanist. Richtung zuzurechnen. Er engagierte sich in der Diskussion um die Gestaltung des Unterrichts an den Lateinschulen, wobei er sich v. a. auf die Pädagogen Johann Matthias Gesner u. Johann August Ernesti bezog (Nachricht von der Lehrart in der Uracher Schule. In: Archiv für ausübende Erziehungskunst 6, 1779, S. 311–345). Sein pädagogisch-philologisches Interesse, bes. an der griech. Sprache, dokumentiert sich in kommentierten Übersetzungen antiker u. humanist. Autoren (Xenophon, Appian, Lipsius), in seinen Chrestomathien zu Platon u. Cicero sowie in von ihm herausgegebenen Lehrwerken u. Wörterbüchern zu den alten Sprachen. Neuen Ansätzen aufklärerischer Pädagogik, die die Beobachtung u. Deutung erzieherischer Fakten in den Mittelpunkt stellen, folgt D. in seiner Abhandlung Fragmente eines Tagebuchs über die Entwicklung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Anlagen eines Kindes (in: Braunschweigisches Journal 11, 1789, S. 320–342). Hier schildert er detailliert die Entwicklung seiner Tochter Friederike während ihrer ersten siebeneinhalb Lebensmonate u. versucht, seine Beobachtungen medizinisch u. verhaltenspsychologisch zu interpretieren.
Dilthey Weitere Werke: Ueber die Vortheile, die ein Professionist, Wirth, Kaufmann u. jeder Nichtstudirende vom Lateinlernen hat. Stgt. 1787. – Der Student, oder Fragmente aus dem Tagebuche eines armen Studenten. Lpz. 1788. – Neuer Beytr. zur Gesch. der Zärtlichkeit; eine wörtl. wahre Gesch. Lpz. 1788. – Pädagog. Glaubensbekenntnis. Stgt. 1792. Susanne Barth / Red.
Dilthey, Wilhelm (Christian Ludwig), * 19.11.1833 Biebrich bei Wiesbaden, † 1.10.1911 Seis/Schlern; Grabstätte: Wiesbaden-Biebrich. – Philosoph. Nach dem als primus omnium bestandenen Abitur 1852 in Wiesbaden studierte der Pfarrerssohn D. in Heidelberg u. Berlin zunächst auf Wunsch des Elternhauses Theologie, dann Geschichte u. Philosophie bei Kuno Fischer, Boeckh, Ranke u. Trendelenburg. 1856 legte er »zur Beruhigung der Eltern« (so Otto Friedrich Bollnow in NDB) das theolog. Examen ab, im selben Jahr auch noch das philolog. Staatsexamen. Er war für zwei Jahre Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium, quittierte aber den Schuldienst, um sich trotz großer Geldnöte als freier wiss. Schriftsteller ganz der philosoph. Forschung zuwenden zu können. 1864 promovierte er in Berlin mit einer Arbeit über die Ethik Schleiermachers, noch im selben Jahr erfolgte seine Habilitation mit der Arbeit Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins. Schon 1866 erhielt er den Ruf nach Basel als o. Professor; ab 1868 wirkte er in Kiel, ab 1871 in Breslau. Hier befreundete er sich mit dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, mit dem er geschichtsphilosoph. Vorstellungen entwickelte. 1882 ging D. nach Berlin als Nachfolger des Logikers Lotze. 1905 gab er die akadem. Lehre zugunsten seiner schriftstellerischwiss. Arbeit auf. D.s Lebenszeit war die Phase der neueren Geschichte, die eine explosiv-akzelerierende Entfaltung der Naturwissenschaften u. der Technik brachte. In der Wissenschaftstheorie herrschte der Positivismus, der die Welt aus gegebenen Daten »erklären« wollte. Die Philosophie D.s ist die Antwort auf diese geschichtl. Konstellation. Er arbeitete die Unterschiede zwischen beiden Wissenschafts-
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gruppen heraus u. entfaltete die Eigenart u. Bedeutung der »Geisteswissenschaften«. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«, ist eine seiner grundlegenden Thesen. Kant hatte der naturwiss. Auffassung in seiner Kritik der reinen Vernunft das legitimierende Programm geschrieben; Mathematik u. Naturwissenschaften galten ihm als allein gültige Paradigmata. D., der »von der Geschichte hergekommen ist« (V, 10. Zitiert nach: Ges. Schr.en) – er meint seinen Lehrer Ranke u. die Historische Schule –, arbeitete sein Leben lang an einer Kritik der historischen Vernunft, die als Ergänzung zu Kant gedacht war. D. ist einer der Ersten, der durch die strenge Opposition von »Verstehen« u. »Erklären« auf die Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften als histor. Wissenschaften vom Menschen hinweist. Seine Kritik hat als Erkenntnisziel: »Menschheit zu bestimmen und von den Naturwissenschaften abzugrenzen« (VII, 87); sie ist also jedenfalls auch anthropologisch u. entwickelt sich »naturwüchsig aus den Aufgaben des Lebens selbst« (ebd., 79). So wird »das Leben« zum ersten zentralen Begriff dieses Denkens, u. im »Erlebnis« wird die Kraft dieses Lebens, als Ereignis, das in bes. eindrucksvoller Weise das Wesen des Lebens ausdrückt, deutlich. Das Erlebnis – etwa eines Dichters wie Goethe – ist als Ergebnis wichtig: als poet. Ausdruck. Nur auf diesem indirekten Weg über den gestalteten Ausdruck verstehen wir das Leben; so auch das Seelenleben anderer, in das wir uns über seinen objektivierten »Ausdruck« »einfühlen«, das wir »nacherleben«. In der Aufsatzsammlung Das Erlebnis und die Dichtung (Lpz. 1905. Gött. 161985) hat D. diesen Zusammenhang entfaltet. Das »Leben« als Basisbegriff – sein Denken fundiert auch die »Lebensphilosophie« –, »Erlebnis« als dessen gesteigertem Ausdruck, bereitet D. freilich zgl. Schwierigkeiten: Denn er hat nicht das Leben im Singular, vielmehr viele, auch viele Erlebnisse, jeder hat seine eigenen. So betont D. immer wieder die Geschichtlichkeit des Menschen, die ewige Bewegung der Änderung, so auch die Endlichkeit des Bewusstseins. Gadamer formuliert im Blick auf D.: »Absolute Identität
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von Bewußtsein und Gegenstand ist dem endlich geschichtlichen Bewußtsein prinzipiell unerreichbar«. Die geschichtl. Vernunft ist eine, die zur Entdogmatisierung führt als einer generellen Lösung des Menschen von Zwängen; zgl. aber bewirkt sie eine Meinungsdissoziation, die Konflikt bedeutet u. nicht mehr konsensual zu versöhnen ist. So kann D. auf die zentrale Frage, »wie in aller Relativität Objektivität möglich sei« (Gadamer), keine befriedigende Antwort liefern. Um aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden, sucht D. in seinem Hauptwerk Einleitung in die Geisteswissenschaften (Lpz. 1883) die Logik dieser Wissenschaftsgruppe zu entwickeln. Eines der wirksamsten Konzepte ist hier das der Struktur, das den Wirkzusammenhang des Lebendigen erfassen will. Die Struktur ist einmal die Ordnung des inneren Lebens u. Erlebens, zgl. auch für Veränderung, die als Entwicklung begriffen wird, die beschreibende Kategorie. Mit »Struktur« will D. das menschlich Allgemeine, Objektive erfassen (die Struktur des Menschen), aber auch die individuelle Prägung des Einzelnen. Spezifisch ist sie die Form, wie ich mich zur Welt verhalte: das »Korrelatverhältnis des Selbst und der gegenständlichen Welt«. Zweck der Geisteswissenschaften sei letztlich, »den praktischen Bedürfnissen der Gesellschaft« nachzukommen u. »ihre leitenden Organe mit den für ihre Aufgabe notwendigen Kenntnissen« auszurüsten. Gegen den zielvergessenden naturwiss. Positivismus akzentuiert D. damit das prakt. Interesse auf humane Einrichtung der Gesellschaft. Die Einleitung ist relativ theoriearm; sie bewegt sich weithin in der ersten »Klasse von Aussagen«, den Tatsachen, indem sie ein Referat der abendländ. Philosophie von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart D.s abliefert. Sie versteht sich auch als Vorbereitung einer Darstellung, die sich mehr in der zweiten Klasse von Aussagen, den »Theoremen«, bewegt. Bes. zu der dritten Klasse von Aussagen, den »Werten«, ist D. erst spät, in seiner Weltanschauungslehre, gelangt. Der zweite Teil der Einleitung wurde nie geschrieben, obwohl D. sein Leben lang Bausteine dafür sammelte. So in geschichtl. Untersuchungen
Dilthey
wie Studien zur Geschichte des deutschen Geistes oder Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt (beide aus dem Nachlass). In diesem Stoff soll das Material für die systemat. Darstellung, den Aufbau der geschichtl. Welt in den Geisteswissenschaften (Bln. 1910. Neuausg. hg. v. Manfred Riedel. Ffm. 1981) gefunden werden. Diese Arbeit liefert zwar »im Grunde nur Ansätze zu einer Fortsetzung der Einleitung in die Geisteswissenschaften, doch treibt Dilthey seine Grundlegung immer mehr ins Systematische« (Groethuysen). Zunächst glaubt er, Lösungen bei einer exakten wiss. Psychologie zu finden. Später will er die Erfahrungen, die aus dieser Ausbreitung geschichtl. Lebens zu gewinnen sind, in einer philosoph. Anthropologie fundieren, die schließlich in der Universalgeschichte ihren Abschluss fände. Das Formale, die Methode D.’schen Denkens, ist das Verstehen, in welchem »an sinnlich gegebenen Äußerungen seelischen Lebens dieses zur Erkenntnis kommt«. Er glaubt damit, »das Leben aus ihm selbst verstehen« zu können. Das »Leben« wird zu einem alles fundierenden Prozess, nur allg. in seiner »Struktur« formulierbar als das, was »mannigfach zu Lust, Stimmung, zu Leidenschaft [und] Streben bewegt«. D. war mit seinem Verstehen, das tendenziell das Bestehende respektiert, weil es alles versteht (u. verzeiht), bei der Polypositionalität des Lebens angelangt (deshalb wird D. auch von »linken« Theoretikern wie Benjamin kritisiert). Die Betonung der je anderen Geschichtlichkeit menschl. Verhältnisse ließ das Problem des Relativismus entstehen, für den nichts mehr wertend sortiert werden konnte, weil ihm alles gleichviel galt. Einen Ausweg aus dem Vorwurf des Allesverstehen-ist-alles-verzeihen suchte D. in den letzten Lebensjahren mit seiner Lehre von den Typen der Weltanschauung: Er nennt den Naturalismus (Demokrit, Marx), der die Welt materialistisch konstituiert, den Idealismus der Freiheit (Kant, Schiller), dem die Welt Ergebnis einer selbstbewussten Setzung des Menschen ist (einer Fichte’schen »Tathandlung«), u. schließlich den objektiven Idealismus (Hegel, Goethe), der als Pantheismus eine Vernunft in der Geschichte sieht. D. betont die nur einseitige Wahrheit aller
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Weltanschauungen, auch ihren »ganz provi- ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹. Darmst. sorischen Charakter« (VII, 99). Eine Weltan- 2001. – Thomas Leinkauf (Hg.): D. u. Cassirer. Die schauung ist ihm »weiter nichts als eine fi- Deutung der Neuzeit als Muster v. Geistes- u. xierte Stimmung«. Die Notwendigkeit ver- Kulturgesch. Hbg. 2003. – F. Rodi: Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk v. W. D. Weilersschiedener Weltanschauungen basiert letztwist 2003. – Reinhard Uhle: W. D.: ein pädagog. lich auf der Mehrdeutigkeit des Lebens selbst. Portrait. Weinheim 2003. Erwin Leibfried D. steht unübersehbar am Anfang der philosoph. Reflexionen des 20. Jh.; er hat das Thema angeschlagen, das seither behandelt Dinev, Dimitré, * 2.12.1968 Plovdiv/Bulwird: die Stellung des Menschen u. der Wisgarien. – Verfasser von Romanen, Erzähsenschaften von ihm in der Welt. Heidegger lungen, Essays, Theaterstücken u. Drehhat in einer fundamentalen Ontologie, die büchern. doch eine Anthropologie ist, die psycholog. Fragerichtung modifiziert vertieft, indem er Mit ersten Veröffentlichungen in bulgaridas Dasein kategorial erfasst. Husserl hat die scher, russ. u. dt. Sprache machte der Schüler beschreibende Methode in seiner Phänome- des Plovdiver Bertolt-Brecht-Gymnasiums nologie entfaltet, Gadamer die philosoph. seit 1986 auf sich aufmerksam. Nachdem er Hermeneutik, auf D. aufbauend, in Ausein- sein Heimatland 1990 verlassen hatte, arbeiandersetzung mit ihm begründet. Blumen- tete D. in verschiedenen Berufen u. begann berg arbeitet, wenn er die Legitimität der Neu- damit, in Wien Philosophie u. Slawistik zu zeit untersucht, auch an dieser D.’schen Fra- studieren sowie Prosa, Theaterstücke u. gestellung einer Begründung der Eigenstän- Drehbücher in dt. Sprache zu verfassen. 1999 wurde sein nach den Troerinnen des Euripides digkeit der Geisteswissenschaften. Weitere Werke: Leben Schleiermachers. 2 Bde., gestaltetes Stück Russenhuhn in Wien uraufBln. 1870 u. 1966. – Die Jugendgesch. Hegels. Bln. geführt; im Jahr darauf war D. beim Wiener 1905. – Studien zur Grundlegung der Geistes- Literaturwettbewerb »Schreiben zwischen wiss.en. Bln. 1905. – Die Philosophie des Lebens. den Kulturen« erfolgreich; u. 2001 erschien Ausw. v. Hermann Nohl. Gött. 1961. – Schr.en zur mit Die Inschrift (Wien) sein erster Band mit Pädagogik. Hg. Hans H. Groothoff u. Ulrich Herr- Erzählungen. Einige dieser Texte können als mann. Paderb. 1972. – Das Wesen der Philosophie. Vorarbeiten zum 2003 publizierten, bei KriHg. Otto Pöggeler. Hbg. 1984. tik u. Publikum im gesamten deutschspraAusgabe: Ges. Schr.en. Hg. Bernhard Groet- chigen Raum erfolgreichen Roman Engelshuysen u. Georg Misch, ab Bd. 15 Carlfried Grünzungen (Wien) gelten, für den der Autor u. a. der, ab Bd. 18 zus. mit Frithjof Rodi. 26 Bde., Gött. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 1923–2006. geehrt wurde. Iskren Mladenow u. Svetljo Literatur: Hans-Georg Gadamer: D.s VerstriApostolow, zwei junge Männer aus Plovdiv ckung in die Aporien des Historismus. In: Ders.: Wahrheit u. Methode. Tüb. 1960, S. 205–228. – mit unsicherer Zukunft u. leerem Geldbeutel, Jürgen Habermas: D.s Theorie des Ausdrucksver- pilgern am vorletzten Tag des Jahres 2001 an stehens: Ich-Identität u. sprachl. Kommunikation. die mit einem Engel verzierte Grabstätte des In: Ders.: Erkenntnis u. Interesse. Ffm. 1968, serb. Zuhälters Miro auf dem Wiener ZenS. 178–203. – Peter Krausser: Versuch einer syste- tralfriedhof, der mit seinen Handys beerdigt mat. Extrapolation zur Gewinnung eines hypothet. wurde. Sie gilt als letzte Hoffnung für die Vorgriffs auf die zu erwartende ›neue Kritik‹. In: Illegalen u. Unbehausten der Stadt. Die beiDers.: Kritik der endl. Vernunft. D.s Revolution der den Sprösslinge bulgar. Apparatschiks wissen allg. Wissenschafts- u. Handlungstheorie. Ffm. nicht, dass sie seit Svetljos Geburt schicksal1968, S. 60–84. – Manfred Riedel: Hermeneutik u. haft miteinander verbunden sind. In immer Erkenntniskritik. In: Ders.: Verstehen oder Erklären? Zur Theorie u. Gesch. der hermeneut. Wiss.en. neuen, zwischen fast romantischem Pathos u. Stgt. 1978, S. 64–112. – Frithjof Rodi u. Hans-Ul- tiefschwarzem Humor schillernden Anekdorich Lessing (Hg.): Materialien zur Philosophie W. ten entfaltet D.s auktorialer Erzähler wortD.s. Ffm. 1984. – Matthias Jung: D. zur Einf. Hbg. mächtig u. bilderreich die melancholisch1996. – Goedeke Forts. – H.-U. Lessing: W. D.s schaurige, bis in die Zeit der Großeltern der
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Protagonisten zurückreichende Geschichte im Alltag der Protagonisten u. als Resultat von Aufstieg u. Fall zweier Familien im haarsträubender bürokrat. Grenzziehungen kommunist. Bulgarien. Die von den Motiven vorgeführt, wobei satir. Gesellschaftskritik u. des Redens (der Zunge) u. des Traums die Schilderung surreal-wundersamer Begedurchwirkte tragikom. Darstellung ihrer benheiten einander durchdringen. 2006 wurSchicksale lässt seine Helden zu ahnungslo- de das Theaterstück Haut und Himmel uraufsen Komparsen in einem absurden Welt- geführt, 2007 folgte die Uraufführung des theater werden. D.s fabulierlustiger u. vom Wiener Burgtheater in Auftrag gegebesprachwitziger moderner Schelmenroman nen Dramas Das Haus des Richters. D.s Werk zählt zu den bedeutendsten Beivermittelt ein »Leben im Warteraum der Illegalität« (Fessmann) u. umkreist die Gren- trägen zur neueren, seit etwa 1990 entstanzen zwischen Verlusterfahrungen u. Lebens- denen deutschsprachigen Migrationsliteralust, zwischen den Toten u. den Lebenden u. tur, deren zuvor kaum einmal literarisch zwischen den Kulturen u. Mentalitäten. Das aufgegriffene Themen u. Motive sowie innoin Engelszungen so komisch wie kritisch ent- vative sprachl. Leistungen zunehmend Anerfaltete, Privates u. Politisches miteinander kennung finden. verschränkende, lebenspralle u. todesselige Literatur: Paul Jandl: Generation Lada. D. D. – Sittenbild bulgar. Alltags in der zweiten ein bulgar. Schriftsteller in Wien (Porträt). In: NZZ, Hälfte des 20. Jh. gibt jenen Menschen Spra- 8.12.2003, S. 24. – ›Wo gibt es das sonst?‹ Gespräch che u. Gesicht, die man im Diskurs über das mit Erich Demmer. In: Zukunft, H. 2, Wien 2004. – Zusammenwachsen Europas oft u. gerne Tilman Krause: Virtuose der Verknüpfung (Porvergisst. Stil, Ton u. Rhythmus von D.s trät). In: Börsenblatt. Wochenmagazin für den dt. Buchhandel 10/05 (10.3.2005). – Martin Hielscher: Sprache erinnern an seine Vorbilder aus der Andere Stimmen – andere Räume. Die Funktion russ. Literatur, speziell an Gogol, Tolstoi u. der Migrantenlit. in dt. Verlagen u. D. D.s Roman Tschechow, an lateinamerikan. Erzähler wie ›Engelszungen‹. In: Lit. u. Migration. Text + Kritik García Márquez u. bisweilen auch an Johann Sonderbd. 9 (2006), S. 196–208. Klaus Hübner Nestroy, Joseph Roth oder Bohumil Hrabal. Überarbeitete Fassungen früher entstandener sowie neue Erzählungen enthält der Dingelstedt, Franz (Ferdinand) Frhr. von, 2005 veröffentlichte Band Ein Licht über dem * 30.6.1814 Halsdorf/Oberhessen, † 15.5. Kopf (Wien). Die Helden der zehn tragikomi1881 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralschen u. oft gleichnishaften Erzählungen, die friedhof. – Lyriker, Erzähler, Publizist u. in Bulgarien oder in einem aus der Sicht der Theaterleiter. Unterprivilegierten geschilderten Wien spielen, sind Aus- u. Einwanderer, die ihr Glück Der Sohn eines kleinen Beamten wuchs seit suchen, ohne es je zu finden. Not u. Schmerz, 1816 in Rinteln auf, besuchte dort bis 1830 Trauer u. Wehmut, Lust u. Leid dieser Taxi- das Gymnasium u. studierte bis 1834 in fahrer, Asylanten, Schuhputzer, Wunder- Marburg Theologie. Eine geistl. Anstellung heiler oder kleinkriminellen Kriegsgewinnler wurde ihm verweigert, weil er geschauspieschildert D. auf hintergründige u. erzähl- lert u. Lieder gedichtet habe. Er wurde Lehtechnisch raffinierte Art. Die im Sinne Kafkas rer, seit 1836 am Kassler Fridericianum, u. magisch-realistischen u. zugleich märchen- schrieb nebenher Kunst- u. Theaterkritiken. haft-absurden Texte über Arbeit u. Liebe, 1836 veröffentlichte er in August Lewalds Heimat u. Zukunft suchende Menschen in »Europa« die satir. Bilder aus Hessen-Kassel. D.s schwierigen Situationen, die sich durch engagierte Kritik an polit. Missständen in Überlebenswillen, Schlitzohrigkeit, Fantasie seinen Spaziergängen eines Casseler Poeten (in: u. unerschütterliches Hoffen auszeichnen, Beibl. der »Landeszeitung«, 1837) führte zu werden mit witziger Lakonie, groteskem seiner Strafversetzung nach Fulda. Von hier Humor u. fast schwejkscher Heiterkeit er- aus vertiefte er seine Beziehungen zu Gutzzählt. Mitfühlend u. zart wird menschliches kow, knüpfte Kontakte zu Freiligrath u. Karl Scheitern als Folge politischer Umwälzungen Isidor Beck, später auch zu Saphir u. Lenau u.
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publizierte weiter in Zeitschriften krit. Notizen zum literar. u. polit. Leben. 1839 erschien in Fulda sein Roman Die neuen Argonauten, ein »Reisebild« aus der kurhess. Provinz, gespickt mit satir. Seitenhieben auf die dortigen restaurativen Verhältnisse. In Unter der Erde (2 Bde., Lpz. 1840) greift D. soziale Probleme auf, indem er das Leben einer reichen geadelten Bürgerfamilie dem Alltag in einem Bergwerk gegenüberstellt. 1841 gründete er eine eigene Zeitschrift, den »Salon«, dessen mutige Randglossen zu Kultur, Politik u. Zeitgeschehen ihm laufend Schwierigkeiten mit der Zensur eintrugen. In seinem folgenreichsten u. politisch brisantesten Werk, dem vierteiligen Gedichtzyklus Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters (Hbg. 1842. Neuausg. von Hans-Peter Bayerdörfer. Tüb. 1978), lässt D. im Gewand des Nachtwächters einen scharfzüngigen Beobachter durch ein dt. Städtchen ziehen u. Provinzzentren des Deutschen Bundes bereisen. D. entwirft ein sarkast. Gesamtbild des restaurativen Deutschland mit Attacken gegen Salonkultur, Untertanenmentalität u. Duodezfürsten u. decouvriert die wirkl. Verhältnisse im europ. Macht- u. Finanzgefüge. Die beiden ersten Teile des Zyklus bedienen sich virtuos des metr. Spiels mit Ghasel, Stanze, Kanzone u. parodistischer Stilmittel zum Zweck literar. Polemik; störend wirkt nur D.s Hang zu Wiederholungen u. pathet. Räsonieren. In der satir. Schärfe des Stils u. der zugespitzten Kritik ist Heines Einfluss unverkennbar. Die Liebeslyrik der beiden letzten, kürzeren Teile ist kaum aufs Vorausgegangene bezogen; es überwiegen allegor. Motive u. Weltschmerz-Thematik. D.s Nachtwächter-Zyklus (dessen Publikation zum generellen Vertriebsverbot für Schriften des Verlags Hoffmann und Campe führte) wurde zum Vorbild für Geist u. Stil oppositioneller Lyrik der 1840er Jahre. Sie stehen jedoch – wie sein literar. Schaffen insg. – der jungdt. Tradition näher als der oft abstrakten Freiheitspoesie späterer Vormärzlyrik. Als der Band ausgeliefert wurde u. die Zensur einschritt, war D. bereits auf dem Weg nach Paris. Im Okt. 1841 hatte er den Schuldienst quittiert u. zu Beginn des neuen Jahres eine feste Anstellung als Korrespondent bei
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Cottas »Allgemeiner Zeitung« erhalten. In Paris stand er in enger Verbindung zu Heine u. Herwegh. Nach einer Londonreise ließ D. sich in Wien nieder. Wegen bissiger Kritiken über das dortige kulturelle Leben unbeliebt geworden, nahm er 1843 am Kgl. Hof in Stuttgart eine Stelle als Vorleser u. Bibliothekar an; fortan trug er den Titel Hofrat. Sein Ruf als einer der führenden oppositionellen Autoren war mit dieser Flucht in finanzielle Sicherheit unwiderruflich diskreditiert. Freunde u. Kollegen grenzten sich ab, es erschienen zahlreiche Spottverse auf den »Nachtwächter« D. u. Parodien auf sein Werk. Seine späteren Prosadichtungen spiegeln D.s Gesinnungswandel zum gemäßigt Liberalen u. Konstitutionalisten. Einen neuen Wirkungsbereich fand D. als Dramaturg 1846 in Stuttgart am Hoftheater. Ab 1851 leitete er das Münchner Hoftheater u. wurde 1857 Generalintendant der Weimarer Hofbühne. Seit 1870 lebte er wieder in Wien als Hofoperndirektor u. später als Leiter des Burgtheaters. 1876 wurde er geadelt u. in den Freiherrnstand erhoben. Als einer der berühmtesten Regisseure Deutschlands setzte D. sich ein für Halm, Gutzkow, Hebbel, Ibsen u. Anzengruber. Seine Betonung von Kostümen u. Bühnenbild u. die Einführung von Massenszenen trugen in ähnl. Weise zur Modernisierung der dt. Bühne bei wie das Theater der Meininger. Wegweisend waren – trotz wenig glücklicher eigener Textbearbeitungen – seine Inszenierungen der Dramen Shakespeares. Weitere Werke: Licht u. Schatten der Liebe. Kassel 1838 (N.n). – Wanderbuch. 2 Tle., Lpz. 1839 u. 1843. – Das Gespenst der Ehre. 1840 (D.). – Heptameron. Ges. N.n. 2 Bde., Magdeb. 1841. – Das Haus der Barneveldt. Dresden 1850 (D.). – Shakespeare: Historien. 3 Bde., Bln. 1867 (Bearb.). – Eine Faust-Trilogie. Dramaturg. Studie. Bln. 1876. – Aus der Briefmappe eines Burgtheaterdirektors. Hg. Karl Glossy. Wien 1925. Ausgabe: Sämmtl. Werke. 12 Bde., Bln. 1877. Literatur: Otto Mayr: Die Prosadichtung F. D.s. Augsb. 1926. – Hans Sperling: F. D.s Lyrik auf ihre Quellen u. Vorbilder untersucht. Diss. Münster 1927. – Christine Chalaupka: F. D. als Regisseur. Diss. Wien 1957. – Hans-Peter Bayerdörfer: Laudatio auf einen Nachtwächter. Marginalien zum
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Verhältnis v. Heine u. D. In: HeineJb 15 (1976), S. 75–95. – Zum 100. Geburtstag v. F. D. 1814–81. FS. Bearb. v. Edmund Sindermann. Rinteln 1981. – Goedeke Forts. – Andrea Hofmann-Wellenhof: Das Manuskript-Journal der Burgtheaterredaktion F. v. D. Autoren u. ihre Theaterstücke. Wien 2003.
Tgb. Zürich 1983. – Von einer Sekunde zur andern. Gespräche mit Unfalltätern. Bern 1993.
Der Mitinitiator der Solothurner Literaturtage machte 1973 sein Diplom an der Schauspielakademie Zürich u. lebt heute in Berlin. Er war Bundesgerichtskorrespondent bei der Schweizerischen Depeschenagentur, seit 1998 ist er Deutschlandkorrepondent mehrerer Schweizer Zeitungen u. des Schweizerischen Radios DRS. 2001 erhielt er den SRGMedienpreis. Im Nachwort zu Nach eigener Aussage. Gerichtsreportagen (Gümlingen 1978. Erw. Ausg. Ffm. 1987) definiert D. seine Arbeit als »anwaltschaftlichen Journalismus«. Sein Augenmerk gilt u. a. dem sprachl. Formalismus der Rechtsprechung, der den Einzelfall in einem Raster von Paragrafen verschwinden lässt: »Es war deshalb [...] meine Aufgabe als Gerichtsreporter, jene Menschen zu erfinden, die vor Gericht stehen, und ihnen ihre Identität zurückzugeben, die ihnen die strafende Gesellschaft verweigert.« Der Roman Das Opfer (Ffm. 1985) ist die literar. Umsetzung dieses Programms. »Sehr geehrter Herr Lampart, Sie haben meinen Mann getötet. Darüber möchte ich mit Ihnen reden. Christa Dahinden.« Mit diesem lakon. Brief durchbricht die Frau des Opfers das Schweigen, das eine echte Trauer unmöglich macht. Nach u. nach entsteht das Psychogramm des verzweifelten Strafverteidigers Dahinden, der seinen Mörder dazu provoziert haben könnte, seinem nicht mehr erträgl. Leben ein Ende zu bereiten. Die Rollen von Opfer u. Täter werden hinterfragt, Versöhnung deutet sich an.
1906–1908 war er Regisseur am Stadttheater Rostock u. am Schiller-Theater in Berlin sowie Mitbegründer des Verbands Deutscher Bühnenschriftsteller. 1914–1918 diente D. als Soldat, ab 1924 stand er in Thüringen der NSDAP vor, aus der er 1928 ausgeschlossen wurde. 1933 jedoch wurde er als Gauleiter wieder eingesetzt. Neben einem Roman schrieb D. vor dem Ersten Weltkrieg einige volkstümlich intendierte Stücke. Seit dem Krieg verfasste er Schriften zur »Rassenfrage« u. Werke, die der frühen NS-Literatur zuzuordnen sind, wie der Roman Die Sünde wider das Blut (Lpz. 1918. 1934), in dem der »Schaden« vorgeführt wird, den »Judenjünglinge« durch geplante massenhafte Vergewaltigungen deutscher Frauen der »deutschen Rasse« zufügen. In seinen weiteren Romanen führte D. die nur oberflächlich als Literatur getarnte rassist. Propaganda fort, wenn auch mit anderen Akzenten: Seit den 1920er Jahren propagierte er eine »Volkskirche«, die sich auf eine angebliche »arisch-heldische Lehre Jesu« gründete. Daraufhin distanzierte sich die NSDAP zeitweise von D., ohne jedoch die enorme Verbreitung seiner Romane zu behindern.
Rudolf Käser / Red.
Dinter, Artur, * 27.6.1876 Mühlhausen, Stefan Frevel † 21.5.1948 Offenburg/Baden. – Verfasser von Romanen u. Propagandaschriften. Dinkelmann, Fritz H., * 14.2.1950 Zü- Der Sohn eines Zollrats studierte Naturwisrich. – Journalist, Theateranimateur u. senschaften u. Philosophie in München u. Regisseur. Straßburg u. promovierte zum Dr. phil. nat.
Weitere Werke: Wie man einen Blitz ableitet. Texte. Basel 1973. – Texte für die Theaterwerkstatt. Bd. 3, Basel 1979. – Permanente Gänsehaut. Ein lyr.
Weitere Werke: Die Sünde wider den Geist. Lpz. 1920 (R.). – Die Sünde wider die Liebe. Lpz. 1922 (R.). – 197 Thesen zur Vollendung der Reformation. Lpz. 1926. Literatur: H. Ahrens: Wir klagen an den ehemaligen Parteigenossen Nr. 5. Gauleiter der NSDAP in Thüringen. In: Aufbau, 3. Jg. 1947, S. 288–290. – Günter Hartung: A. D., der Erfolgsautor des frühen dt. Faschismus. In: Traditionen u. Traditionssuche des dt. Faschismus 4 (1988), S. 55–83. – James McPherson Ritchie: A. D.s antisemit. Trilogie. In: FS Albert Schneider. Hg. Fernand Hoffmann u. Joseph Kohnen. Luxemburg 1992, S. 179–194. – Christina v. Braun: ›Blut-
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schande‹: from the incest taboo to the Nuremberg racial laws. In: Encountering the other(s). Hg. Gisela Brinker-Gabler. Albany 1995, S. 127–148. – Günter Hartung: A. D., Erfolgsautor des frühen Nationalsozialismus. In: Deutschfaschist. Lit. u. Ästhetik. Hg. ders. Lpz. 2001, S. 98–124. Lutz Zimmermann / Red.
Dippel, Johann Conrad, auch: Christianus Democritus, * 10.8.1673 Schloss Frankenstein bei Darmstadt, † 25.4.1734 Schloss Wittgenstein bei Berleburg; Grabstätte: Laasphe, Kirche. – Theologe, Alchimist, Arzt. D. galt seiner Zeit als Sonderling u. theologischer Fantast; er wird bis heute als eine der schillerndsten Figuren der Zeit um 1700 angesehen. Eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit ihm wird neben seiner reichen geistigen Begabung auch die Ernsthaftigkeit u. die innere Folgerichtigkeit seiner Suche nach »unpartheyischer« Wahrheit in der Religion berücksichtigen müssen. Der Sohn eines luth. Pfarrers begann 1691 das Studium der Theologie in Gießen u. erwarb hier 1693 mit einer Disputation De nihilo den Magistertitel. Seine in den folgenden Jahren zunächst in Gießen, dann in Straßburg unternommenen Versuche, eine akadem. Laufbahn einzuschlagen, blieben erfolglos. In den theolog. Frontenbildungen jener Jahre war D. zunächst entschiedener Parteigänger der luth. Orthodoxie, neigte aber zunehmend dem Pietismus zu. Als er im Herbst 1696 aus Straßburg, wo er begonnen hatte, Privatvorlesungen über Astrologie u. Chiromantie zu halten, aufgrund von Schulden u. der Verwicklung in den gewaltsamen Tod eines Landsmanns fliehen musste u. sich wieder nach Gießen wandte, kam es hier im Spätsommer 1697 zu einem Zusammentreffen mit Gottfried Arnold, das D.s Hinwendung zum radikalen Pietismus förderte. Unter dem in der Folgezeit berühmt-berüchtigten Pseudonym Christianus Democritus (nach dem griech. Philosophen, der sich die Augen ausstechen ließ, um sich nicht vom äußeren Schein der Welt blenden zu lassen) erschienen jetzt seine Streitschriften Orcodoxia Orthodoxorum (Höllenlehre der Rechtgläubigen.
Gießen 1697), Papismus Protestantium Vapulans, Oder: Das gestäupte Papstthum (Gießen 1698) u. Wein und Oel in die Wunden des gestäupten Papstthums (Offenbach 1699), in denen D. scharfe Angriffe gegen die Orthodoxie richtete, für die er sich vor dem Konsistorium verantworten musste; die ihm auferlegten Publikationsverbote hat er jedoch immer wieder missachtet. Nach anfängl. Ablehnung des für den radikalen Pietismus bedeutsamen Chiliasmus wandte sich D. seit 1698 verstärkt eschatolog. Vorstellungen zu, die er v. a. in dem 1699 vollendeten Christen-Statt auff Erden ohne gewöhnlichen Lehr- Wehr- und Nehr-Stand (o. O. 1700) formulierte. Angelehnt an Augustinus’ De civitate Dei u. protestant. Utopien wie etwa Veit Ludwig von Seckendorffs Christen=stat (1686), propagierte D. den Anbruch des »Aureum seculum« im Jahre 1700. Die Erwartung einer Aufrichtung des Reiches Christi auf Erden, nach radikaler Zerschlagung aller bisherigen Ordnung, führte in einer der Hochburgen des Chiliasmus, der hess. Grafschaft Solms-Laubach, zu auch von D. unterstützten Auseinandersetzungen zwischen separatistisch gesonnenen Pietisten u. der Bevölkerung, wobei gewaltsame Ausschreitungen nur durch die Intervention der Grafenmutter verhindert werden konnten. Nach 1698 beschäftigte sich D. darüber hinaus in zunehmendem Maße mit Geheimwissenschaften, v. a. der Alchimie: In Hessen (vgl. die Vorrede zum Anderen Theil des WegWeisers zum verlohrnen Liecht und Recht. o. O. 1704) u. seit 1704 in Berlin erhielt er Gelegenheit, Goldmacherei zu betreiben u. nach einer Universalmedizin zu forschen; zu den Nebenergebnissen seiner chem. Experimente gehörte die Erfindung eines heilkräftigen Öls u. eines Farbstoffs, des sog. Berliner Blaus. In diese Jahre in Berlin fielen auch seine Begegnung mit Philipp Jacob Spener, mit dem ihn ein Verhältnis gegenseitiger Achtung verband, sowie die erbitterte Auseinandersetzung mit dem einflussreichen Gegner des Pietismus Johann Friedrich Mayer, damals schwedischer Generalsuperintendent in Pommern, in deren Folge D. wegen seiner Attacken gegen die Religionspolitik Karls XII. Berlin verlassen musste. Er begab sich in
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die Niederlande; hier setzte er sich kritischablehnend mit den Lehren Spinozas, Descartes’ u. Hobbes’ zur Freiheit des menschl. Willens auseinander (Fatum fatuum, das ist, Die thörige Nothwendigkeit [...]. Amsterd. 1710. Holländ. Ausg. Utrecht 1709), trat aber auch mit Vertretern des myst. Spiritualismus in nähere Verbindung. 1711 erwarb er in Leiden mit einer Dissertation über Vitae animalis morbus et medicina (Leiden 1711. Dt. Ausg. Ffm./Lpz. 1713) das medizin. Doktorat u. ließ sich als Arzt in der Nähe von Amsterdam nieder. 1714 ging D. auf Vermittlung des dän. Statthalters in Holstein, Graf Reventlow, der ihm bereits 1707 den Titel eines »Königlich Dänischen Kanzleirates« verschafft hatte, nach Altona. Hier herrschte Religionsfreiheit; da aber D. jetzt mit einer Kritik der polit. Zustände hervortrat u. in diesem Zusammenhang seinen bisherigen Gönner der Bestechlichkeit beschuldigte, wurde er verhaftet u. wegen Verleumdung zu lebenslanger Festungshaft auf Bornholm verurteilt. Nach sieben Jahren wurde er (auf Fürsprache des Grafen August von Wittgenstein) 1726 gnadenhalber entlassen; bei einem Zwischenaufenthalt in Stockholm, wo er sich zunächst vorwiegend als Arzt betätigt hatte, geriet D. erneut zwischen die Fronten politisch-religiöser Machtkämpfe. Es war nunmehr die erstarrte, veräußerlichte Frömmigkeit des pietist. Konventikelwesens, der er mit scharfen Angriffen entgegentrat. Aus Schweden ausgewiesen, gelangte D. über Kopenhagen, wo er einzelnen Berichten nach als Arzt u. a. von der kgl. Familie konsultiert worden sein soll, 1729 nach Berleburg – unter den damaligen Grafen Sayn-Wittgenstein Zufluchtsort religiöser Außenseiter. Hier traf er 1730 auch mit Graf Zinzendorf zusammen, mit dem er sich aber, nach anfänglich herzlichem Einvernehmen, bald überwarf. Bis zu seinem Tod blieb D. ein einzelgängerischer Kritiker jeder institutionalisierten Form von Religiosität. Die von dem Berleburger Leibmedikus Johann Conrad Canz herausgegebene Werksammlung Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen, durch die Publication der sämtlichen Schrifften Christiani Democriti (3
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Bde., Berleburg 1747), die neben mehr als 50 zuvor einzeln im Druck erschienenen Traktaten auch bis dahin ungedruckte Manuskripte u. eine (bis 1698 reichende) Autobiografie (als Lebens-Lauff bereits 1699 der Schrift Wein und Oel in die Wunden des gestäupten Papstthums angehängt) enthält, gibt den Blick frei auf ein Lebenswerk, das den drängenden Fragen seiner Zeit verhaftet ist, in seinem reformator. Anspruch aber bemerkenswerte geistige Unabhängigkeit beweist. Zwischen Orthodoxie, kirchlichem Pietismus, mystisch-spiritualistischer Kirchenkritik u. dem Religionsverständnis der Frühaufklärung fand D. zu einem eigenständigen Konzept individualistischer Frömmigkeit; aus der Kritik des Konfessionalismus, des Dogmatismus u. allen äußerl. Gottesdienstes heraus entwarf er das religionspädagog. Programm einer die Parteiungen innerhalb des Christentums überwindenden, wahren, d.h. »inneren« Kirche. Ein außerordentlich entwickeltes Selbstbewusstsein u. die Schärfe seiner bisweilen in literar. Formen (v. a. Kirchenlied-Parodien) gegossenen, auch Mittel der Satire nicht verschmähenden, sich vielfach in persönl. Attacken verwickelnden Polemik trugen dazu bei, dass er in eine isolierte Stellung geriet, in der er als haltloser Schwärmer denunziert werden konnte. Die heute fremd anmutende wechselseitige Durchdringung des theolog. Denkens mit naturwissenschaftlichen, medizin. u. alchimist. Vorstellungen, der die Ablehnung rein rationalistischer u. mechanist. Weltanschauung korrespondiert, ist Ausdruck einer ganzheitl. Auffassung des Menschen, deren geschichtl. Bedeutung erst aus einer nachaufklärerischen Position heraus wieder sichtbar geworden ist. Weitere Werke: Christiani Democriti: Summar. u. aufrichtige Glaubens-Bekänntniß, Uber diejenigen Lehr-Punkten, so biß hierher in dessen Schrifften erörtert worden [...]. o. O. 1700. – Ein Hirt, u. eine Heerde: Oder Unfehlbare Methode: Alle Secten u. Religionen zur einigen wahren Kirche u. Religion zu bringen, u. ohne einigem Synkretismo beständig zu vereinigen [...]. Amsterd. 1706. – Unpartheyische Gedancken, Uber eines so genannten Schwed. Theologi, Kurtzen Ber. v. Pietisten, etc. Nebst einer kurtzen Digression Von der
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Brutalität u. Illegalität des Religions-Zwangs [...]. Bln. 1706. – Grund-Riß zu einem solchen Systemate theologico, welches die Blöße aller Secten u. den Abfall v. der einigen Religion klar vor Augen leget [...]. Amsterd. 1719. – Haupt-Summa derer theolog. Grund-Lehren Christiani Democriti v. einem unpartheyischen Liebhaber der Wahrheit aus dessen Schrifften extrahiret; v. dem Auctore aber selbst approbiret u. für die seine erkannt [...]. Berleburg 1733. Literatur: Wilhelm Bender: J. K. D. Der Freigeist aus dem Pietismus. Ein Beitr. zur Entstehungsgesch. der Aufklärung. Bonn 1882. – KarlLudwig Voss: Christianus Democritus. Das Menschenbild bei J. C. D. Leiden 1970. – Ders.: J. C. D. In: Orthodoxie u. Pietismus. Hg. Martin Greschat. Stgt. 1982, S. 277–285. – Barbara Hoffmann: ›... daß es süße Träume und Versuchungen seyen‹. Geschriebene u. gelebte Utopien im Radikalen Pietismus. In: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jh. Hg. Hartmut Lehmann u. AnneCharlott Trepp. Gött. 1999, S. 101–127. – Stephan Goldschmidt: J. C. D. (1673–1734). Seine radikalpietist. Theologie u. ihre Entstehung. Gött. 2001. – Irmtraut Sahmland: Das medizin. Konzept J. C. D.s im Kontext geistesgesch. Tendenzen um 1700. In: Interdisziplinäre Pietismusforsch. Beitr. zum Ersten Internat. Kongress für Pietismusforsch. 2001. Hg. Udo Sträter. Bd. 2, Tüb. 2005, S. 597–610. Ernst Fischer / Udo Roth
Dirks, Walter, * 8.1.1901 Hörde bei Dortmund, † 30.5.1991 Wittnau bei Freiburg/ Br. – Publizist. Der Sohn eines Kaufmanns u. einer Sozialarbeiterin besuchte in Dortmund das katholisch-humanist. Gymnasium. Nach dem Abitur studierte D. kath. Theologie in Münster u. Paderborn. Nach dem Studienabbruch war er 1923–1934 Redakteur bei der Frankfurter linkskath. »Rhein-Mainischen Volkszeitung«. 1930 unterbrach er diese Tätigkeit vorübergehend, um in Gießen Philosophie zu studieren. 1933 wurde er in »Schutzhaft« genommen; zwischen 1935 u. 1943 konnte er nur noch Musikkritiken für die »Frankfurter Zeitung« schreiben, danach erhielt er Schreibverbot. 1946 erschien die erste Ausgabe der »Frankfurter Hefte«, die D. zus. mit Eugen Kogon herausgab – eine der einflussreichsten kulturpolit. Zeitschriften der Nachkriegszeit.
In ihnen erschien im Sept. 1950 jener wirkungsreiche Essay, in dem D. vom »restaurativen Charakter der Epoche« sprach u. der Bundesrepublik vorwarf, ein restauratives Staatsgebilde zu sein u. jene gesellschaftl. Verhältnisse zu prolongieren, die schon einmal in die Katastrophe geführt hätten. D.’ erklärtes Ziel war der Aufbau einer Demokratie auf der Basis eines christl. Sozialismus. Fortwährend betonte er die polit. u. soziale Verantwortung der Christen u. wurde dadurch zu einer Leitfigur eines »kritischen« oder »linken« Katholizismus. Von 1949 an war D. innenpolit. Kommentator beim Südwestfunk u. gleichzeitig zwischen 1953 u. 1956 Mitarbeiter am Frankfurter »Institut für Sozialforschung«, wo er zus. mit Theodor W. Adorno die »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« herausgab. 1956–1967 leitete er das Kulturressort beim Westdeutschen Rundfunk in Köln. Danach lebte er bis zu seinem Tod in Wittnau bei Freiburg; er war verheiratet mit der Musikpädagogin Marianne Dirks, geb. Ostertag († 1993). D. erhielt mehrere Preise, darunter den Kulturpreis des DGB (1969) u. den Geschwister-Scholl-Preis (1983). Den 1983 an ihn verliehenen Goethe-Preis der Stadt Frankfurt lehnte er aus Protest gegen den Vorjahrespreisträger Ernst Jünger ab. Nach D.’ eigenen Worten bestimmten zwei Dimensionen seine publizist. Arbeit: »Der Wille, die unvollkommene Wirklichkeit bis zur Vollkommenheit zu verändern, und der bescheidene Wille, das ›Notwendige‹ zu ermitteln und zu tun. Das zu tun, was ›die Not wenden‹ könnte, konkrete Not.« Die 1995 erstmals unter dem Namen Walter-Dirks-Preis (1999 umbenannt in Frankfurter Marianne-und-Walter-Dirks-Preis) verliehene Auszeichnung würdigt Menschen, deren Leben u. Arbeit im Zeichen des Brückenschlags zwischen Konfessionen, gesellschaftl. Kräften u. Parteien steht. Weitere Werke: Erbe u. Aufgabe. Ges. kulturpolit. Aufsätze. Ffm. 1931. – Die zweite Republik. Ffm. 1947. – Die Antwort der Mönche. Ffm. 1952. – Das schmutzige Geschäft? Politik u. die Verantwortung des Christen. Olten/Freib. i. Br. 1964. – Unser Vater u. das Vaterunser. Mchn. 1972. – Alte Wörter. 4 Kap. zur Sprache der Frömmigkeit.
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45 Mchn. 1976. – Das Vertraute u. das Vertrauen. Mchn. 1979. – War ich ein linker Spinner? Republikan. Texte v. Weimar bis Bonn. Mchn. 1983. – Der singende Stotterer. Autobiogr. Texte. Mchn. 1983. Ausgabe: Ges. Schr.en. 8 Bde., Zürich 1987–91. Literatur: Karl Prümm: W. D. u. Eugen Kogon als kath. Publizisten der Weimarer Republik. Heidelb. 1984. – Thomas Seiterich-Kreuzkamp: Links, frei u. katholisch: W. D. Ein Beitr. zur Gesch. des Katholizismus der Weimarer Republik. Ffm. 1986. – Ulrich Bröckling: W. D.-Bibliogr. Bonn 1991. – Wilfried Köpke: Geschäftsführung ohne Auftrag. Das Journalismusverständnis v. W. D. Hann. 1992. – U. Bröckling: W. D. In: Westfäl. Lebensbilder. Hg. Friedrich Georg Hohmann. Bd. 17, Münster 2005, S. 241–254. Heribert Klein / Red.
Dische, Irene, * 13.2.1952 New York. – Erzählerin, Romanautorin, Journalistin. D. wurde in New York als Kind einer dt. Exilantenfamilie geboren. Ihre Großeltern waren vor den Nationalsozialisten aus Deutschland geflohen, da der Großvater als zum Katholizismus konvertierter jüd. Arzt bedroht war. D.s Mutter war Pathologin u. der Aufenthalt im Leichenschauhaus für die Tochter von klein auf selbstverständlich; D.s Vater war ein bekannter Biochemiker. D. unternahm als Jugendliche eine längere Orientreise, arbeitete zwei Jahre bei dem Anthropologen Louis Leakey in Afrika u. begann anschließend ein Studium der Anthropologie in Harvard, wechselte jedoch bald zur Literatur. Sie schrieb zahlreiche Reportagen für amerikanische u. dt. Zeitschriften wie den »New Yorker« u. »Die Zeit«. Heute lebt D. in Berlin u. New York, ist verheiratet u. hat zwei Kinder. Sie schreibt in englischer Sprache, ihre Bücher erscheinen bisher jedoch zuerst in der dt. Übersetzung u. finden in Deutschland bislang auch stärkere Beachtung als in Amerika. Neben Erzählungen u. Romanen schreibt D. Kinderbücher (Esterhazy. Zus. mit Hans Magnus Enzensberger. Aarau u. a. 1993. Zwischen zwei Scheiben Glück. Mchn./Wien 1997), Drehbücher, Libretti u. bislang einen Krimi (Ein Job. Hbg. 2000. Übers. v. Mickey Gondswaard. Mchn. 2002. 2005. Übers. v. Reinhard Kaiser).
In ihren Büchern thematisiert D. das Erbe der Eltern- u. Großelterngeneration als Exilanten mit jüdischem Hintergrund u. demaskiert die Lebenslügen der Ausgewanderten ebenso wie der mit dem Regime verstrickten Deutschen. Die neu geschaffenen Identitäten u. das Verschweigen der Vergangenheit sowie dessen Folgen sind immer wieder Gegenstand der literar. Beschäftigung D.s. Bereits in ihrem von der Kritik in Deutschland euphorisch aufgenommenen Debüt-Erzählband Fromme Lügen (Ffm. 1989. Übers. v. Otto Bayer u. Monika Elwenspoek) führt etwa die vor den Nachkommen geheim gehaltene jüd. Abstammung des Großvaters dazu, dass seine Enkelin ihn für den untergetauchten Adolf Hitler hält. Neben den immer wieder überraschenden Wendungen fiel bei der Erstveröffentlichung v. a. der Umgang mit der dt.-jüd. Geschichte auf: D. schreibt schonungslos bis zur Groteske, lakonisch, unbarmherzig u. brachte damit einen völlig neuen Ton in die literar. Auseinandersetzung um die Folgen von Vertreibung u. Holocaust für die Überlebenden u. deren Nachfahren. Ihre Lust am Tabubruch, ihr Spiel mit Klischees, ihr kalter Blick trugen ihr den Titel einer »herzlosen Autorin im Seziersaal der Literatur« ein. In ihrem ersten Roman, Ein fremdes Gefühl. Veränderungen über einen Deutschen (Bln. 1993. Übers. v. R. Kaiser), arrangiert D. eine Verschränkung von Individual- u. Zeitgeschichte sowohl auf inhaltlicher wie auch auf sprachl. Ebene. Nazivergangenheit u. Wiedervereinigung werden in Beziehung gesetzt zur Entwicklung eines dt. Wissenschaftlers, dessen festgefügtes, jedoch emotional verarmtes Leben durch eine schwere Krankheit aus dem Gleichgewicht gerät. Er sucht einen Jungen zur Adoption als seinen Nachfolger u. begibt sich dabei unbeabsichtigt auf Entdeckungsreise ins Reich der Gefühle, die ihm derart fremd sind, dass er sie stets nur von außen, etwa als Veränderung der Mimik, feststellen kann, ohne dass er sie zu deuten wüsste. Der Roman ist aufgebaut in Anlehnung an Beethovens Diabelli-Variationen, nutzt die musikal. Tempi-Angaben zur ironisch überspitzten Charakterisierung der Handlung u. variiert dabei selbst spielerisch die musikal. Vor-
Dischereit
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lage. Komplexität u. Einfallsreichtum dieses Dischereit, Esther, * 23.4.1952 HeppenRomans haben bislang nur unzureichende heim/Bergstraße. – Verfasserin von GeAnerkennung gefunden. dichtbänden, Essays, Prosatexten, HörIhre Stoffe gewinnt D. häufig explizit aus spielen, einem Kinderbuch u. einem Rodem persönlichen oder zeitgeschichtl. Um- man; Gründerin der Avantgardeband feld; so verarbeitete sie die Alzheimer-Er- WordMusic. krankung ihres Vaters in der Erzählung Der Doktor braucht ein Heim (Ffm. 1990. Übers. v. Nach dem Frankfurter Staatsexamen für das R. Kaiser) u. in dem Dokumentarfilm Zacha- Lehramt u. einer Ausbildung zur Schriftsetrias (ZDF 1986). In ihrem Roman Großmama zerin arbeitete D. in der Metallindustrie; von packt aus (Hbg. 2005. Übers. v. R. Kaiser) lässt 1991 bis 1994 war sie als Gewerkschaftssesie ihre Großmutter die Lebensgeschichte von kretärin bei der ÖTV, danach bis 2007 in der Tochter u. Enkeltochter erzählen u. beleuch- Kulturarbeit des DGB beschäftigt u. lebt tet auf diese Weise die eigene Autobiografie heute in Berlin. Ihre schriftstellerische u. aus dem schonungslosen Blickwinkel der journalist. Tätigkeit nahm D. 1985 auf. Als Tochter einer jüd. Mutter, die den HoVorfahren. Für ihren bislang letzten Erzählband Lieben (Hbg. 2007. Übers. v. R. Kaiser) locaust in Deutschland versteckt überlebte, verarbeitete sie u. a. kurze Zeitungsnotizen u. setzt sich D. in ihrem Werk mit deutsch-jüentwickelte diese weiter zu Geschichten über discher Identität u. Identitätssuche auseinander. Bereits in der Erzählung Joëmis Tisch. ein Gefühl u. seine vielfältigen Facetten. 3 Allen ihren Texten gemeinsam ist eine Eine jüdische Geschichte (Ffm. 1988. 2006), mit der D. erstmals ein größeres Publikum erMischung aus ironisch-bissiger, komischer u. reichte, entwickelt sie den für ihre Prosa tyzgl. nüchtern-pointierter Schreibweise, die ständig neue, überraschende Wendungen u. pischen fragmentarisch-assoziativen Stil. Die eigenwillige, oftmals verblüffend einleuch- Erzählung setzt sich aus rd. 50 Abschnitten tende Metaphern bereithält. In Verbindung zusammen (Reiseberichte, Briefe, Interviews mit der Vermeidung jeglicher Sentimentalität etc.). Sie werden von der Frage zusammeneröffnet der respekt- u. tabulose Blick D.s gehalten, was es bedeute, nach dem »Dritten neue Perspektiven auf die deutsch-amerikan. Reich« als Jüdin in Deutschland zu leben. Kriegs- u. Nachkriegszeit u. ihre Nachwir- »Jüdisch zu sein« stellt D. auch in ihrem zweiten Prosawerk Merryn (Ffm. 1992) wenikungen bis in die Gegenwart. Weitere Werke: Die intimen Geständnisse des ger als religiös markierte Identität, sondern Oliver Weinstock. Bln. 1994 (Übers. v. Robin vielmehr als ungesicherte Existenzform u. Cackett, R. Kaiser u. Bernd Samland). – Das zweite geradezu schicksalhafte Herausforderung Leben des Domenico Scarlatti. Bln. 1995 (Übers. v. (Übungen, jüdisch zu sein. Ffm. 1998. Nachdr. Michael Walter). 1999) heraus. Literatur: Diana Orendi: Narrative strategies to In D.s ersten Gedichtbänden Als mir mein disclose pious lies in the works of I. D. In: Evolving Golem öffnete (Passau 1996) u. Rauhreifiger jewish identities in german culture: borders and Mund oder andere Nachrichten (Bln. 2001) umcrossings. Hg. Linda E. Feldman u. dies. Westport kreist das lyr. Ich in poetisch dichter Sprache 2000. S. 117–130. – Elke Liebs: The body as exile in die eigene weibl. Körperlichkeit vor dem the works of I. D. In: Barbara Kosta u. Helga Kraft: Writing against boundaries: nationality, ethnicity Hintergrund der Gewalt des Holocausts u. and gender in the german-speaking context. sucht nach der Möglichkeit eines »körperloAmsterd. 2003, S. 167–176. – Klaus Beckschulte: I. sen« Sprechens in einer Tätergesellschaft, die es zum Mit-Opfer stigmatisiert. In D.s dritD. In: LGL. – Jan Strümpel: I. D. In: KLG. Nadine van Holt tem Gedichtband Im Toaster steckt eine Scheibe Brot (Bln. 2006) sowie in den Erzählungen aus Der Morgen an dem der Zeitungsträger (Ffm. 2007) wird der Ton verhaltener. In alltägl. Bildern einer als fremd u. kalt empfundenen Welt erzeugt D. eine Atmosphäre, die zwi-
Ditfurth
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schen Resignation u. Selbstgenügsamkeit Ditfurth, Hoimar von, * 15.10.1921 Berwechselt. lin, † 1.11.1989 Staufen/Breisgau. – WisAls Autorin der sog. »jungen jüdischen Li- senschaftspublizist. teratur« wird D. von Literaturkritik u. ÖfNach dem Studium der Medizin lehrte D. seit fentlichkeit weniger beachtet als etwa Maxim 1959 an der Universität in Würzburg, 1967 Biller oder Barbara Honigmann. Sie erhielt wurde er dort u. ein Jahr später in Heidelberg dennoch zahlreiche Stipendien u. unternahm Ordinarius für Psychiatrie u. Neurologie. Ab internat. Vortrags- und Lesereisen für Goe1969 war D. freier Wissenschaftspublizist. the-Institute u. Universitäten u. a. in den Mit seiner Fernsehreihe Querschnitt USA. (1969–1982) schuf er einen unverwechselbaWeitere Werke: Anna macht Frühstück. Mchn. ren Typus naturwissenschaftlicher Sendun1985 (Kinderbuch). – Südkorea – Kein Land für gen, deren Sinn er weniger im Popularisieren friedl. Spiele. Zus. mit Michael Denis u. a. Reinb. 1988 (Aufsatzslg.). – Ich ziehe mir die Farben aus wissenschaftlicher Ergebnisse sah als vielder Haut. SR 1993 (Hörsp.). – Rote Schuhe. SR 1993 mehr im Aufzeigen von Naturwissenschaft (Hörsp.). – Christoph Dohm, Fragment für Orgel u. als Erkenntniswerkzeug, dessen sich der Sopran. Passau 1996. – Der Scherenschleifer. SR Mensch bedienen kann, um mehr über seine 1997 (Hörsp.). – Anschriften. DLR 1998 (Hörsp.). – Rolle u. seinen Stellenwert in der Natur, von Ich decke mich zu mit der Zeit. SR 1999 (Hörsp.). – der er selbst ein Teil ist, zu erfahren. Mit Eichmann an der Börse. In jüd. u. anderen Mit Sendungen wie Vor dem Menschen stirbt Angelegenheiten. Bln. 2001. – In Almas Zimmer. der Wald oder Der Ast, auf dem wir sitzen warnte WDR/DLR 2001 (Hörsp.). – Sommerwind u. andere D. vor den globalen Folgen eines exponentiKreise. DLR 2002 (Hörsp.). – Mona K. WDR 2003 ellen Bevölkerungswachstums und eines (Hörsp.). – Mellie. BR 2003 (Hörsp.). selbstzerstörerischen Einsatzes der Technik. Literatur: Karen Louise Remmler: En-gendering bodies of memory: tracing the genealogy of Zgl. machte er deutlich, inwieweit der Anidentity in the work of E. D., Barbara Honigmann trieb für diese beängstigende Entwicklung in and Irene Dische. In: Reemerging Jewish culture in der menschl. Stammesgeschichte zu suchen Germany. Hg. Sander L. Gilman u. dies. New York sei. Für seine populären Fernsehsendungen 1994, S. 184–209. – Eva Lezzi: Geschichtserinne- wurde D. mit zahlreichen Preisen ausgerung u. Weiblichkeitskonzeptionen bei E. D. u. zeichnet – darunter mit dem Adolf-GrimmeAnne Duden. In: Aschkenas 6 (1996), H. 1, Preis 1968 u. dem Prix Futura 1975. S. 117–148. – Itta Shedletzky: Eine dt.-jüd. Stimme Das Eingebundensein des Menschen in sucht Gehör – Zu E. D.s Romanen, Hörspielen u. seinen Lebensraum auf der Erde, in die bioGedichten. In: In der Sprache der Täter. Neue log. u. geistige Entwicklungsgeschichte der Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- u. Gegenwartslit. Hg. Stephan Braese. Wiesb./Opladen Organismen bis hin zur anorgan. Evolution 1998, S. 199–225. – Norbert Oellers: ›Sie holten des Kosmos ist Grundmotiv für D.s publizismich ein, die Toten der Geschichte‹: Ansichten über tisches Schaffen. Seine Fähigkeit, den Leser E. D.s ›Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte‹. In: durch anspruchsvoll, aber verständlich darDt.-jüd. Lit. der neunziger Jahre. Die Generation gestellte Gedanken zu fesseln, machte seine nach der Shoah. Beiträge des internat. Symposions Bücher, etwa Im Anfang war der Wasserstoff 26.-29. Nov. 2000 im Literar. Colloquium Berlin- (Hbg. 1972 u. ö. Frechen [2000]) u. Der Geist Wannsee. Hg. S. L. Gilman u. Hartmut Steinecke. fiel nicht vom Himmel (Hbg. 1976. Mchn. Bln. 2002, S. 75–88. – Katharina Hall (Hg.): E. D. 13 1993), zu Bestsellern. Cardiff 2007.
Verena Luckscheiter
Disticha Catonis ! Cato
Weitere Werke: Kinder des Weltalls. Hbg. 1970. Mchn. 101991. – Wir sind nicht nur v. dieser Welt. Hbg. 1981. Mchn. 101994. – So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit. Hbg. 1985 u. ö. Sonderausg. 1994. – Innensichten eines Artgenossen. Hbg. 1989. Mchn. 31993. – Das Gespräch (zus. mit Dieter Zilligen). Düsseld. 1990. 2 1992. – Das Erbe des Neandertalers. Weltbild zwischen Wiss. u. Glaube. Köln 1992. Mchn. 1994
Dittberner
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(postum). – Die Sterne leuchten, auch wenn wir sie nicht sehen. Köln 1994 (postum). – Die Wirklichkeit des Homo sapiens. Mchn. 1997 (postum). Literatur: Günther Stark: H. v. D. in der Kritik. Der Evolutionäre Utopismus. Kappelrodeck 2007. Volker Arzt / Red.
Dittberner, Hugo, * 16.11.1944 Gieboldehausen/Niedersachsen. – Erzähler u. Lyriker.
Widerständen der Alltäglichkeit. D. beobachtet – im Sinne Schillers – den »Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideale« – so entstehen poet. Idyllen. In den Gedichten des Bandes Das letzte fliegende Weiß (Köln 1992) tritt das lyr. Subjekt so weit wie möglich zurück, um das Offene u. die Durchlässigkeit einer Szene oder Situation zu feiern. Im Roman Wolken Vögel und Menschentränen (Gött. 1995) entwirft D. ein Porträt der 68er-Aufbruchsbewegung, deren utop. Anspruch in seinen Folgewirkungen mit der tristen Wirklichkeit rechtsradikaler Barbarei konfrontiert wird.
D. besuchte 1956–1965 ein evangelisch-luth. Schülerwohnheim, studierte anschließend Germanistik, Geschichte u. Philosophie an der Universität Göttingen u. promovierte Weitere Werke: Rutschbahn. Gedichte u. 1972 mit einer Arbeit über Heinrich Mann. Gesch.n (zus. mit Jens Wilke). Gött./Kassel 1973. – Seit 1973 lebt er als freier Schriftsteller in Donnervogel. Gedichte, Gesch.n u. Fotos (zus. mit J. Wilke). Gött./Kassel 1973. – Passierscheine. BerKalefeld. Thema des autobiogr. Romans Das Internat. gen 1973 (L.). – Heinrich Mann. Eine krit. Einf. in Papiere vom Kaffeetisch (Darmst. 1974) ist D.s die Forsch. Ffm. 1974. – Der Biß ins Gras. Köln 1976 (L.). – Ein unruhiges Jahr. ARD 1978 (FernInternatszeit in Bad Nenndorf. Bei der Vorsehsp.). – Jacobs Sieg. Reinb. 1979 (R.). – Ruhe bereitung eines Umzugs stößt der Ich-Er- hinter Gardinen. Gedichte 1971–80. Reinb. 1980. – zähler auf alte Aufzeichnungen u. Fotos: Er- Die gebratenen Tauben. Reinb. 1981 (E.en). – Drei innerungen werden wach an ein streng re- Tage Unordnung. Bielef. 1983 (E.en). – Roman eiglementiertes Leben voll wilder Träume u. ner Dämmerung. Bielef. 1985. – Der Tisch unter Aufbruchsfantasien, an frühe sexuelle Erfah- den Wolken. Gött. 1986 (L.). – Die Wörter, der rungen u. das Scheitern der ersten Liebe, an Wind. Bergen 1988 (L). – Gesch. einiger Leser. Züdas »synthetische Leben« zwischen Büchern rich 1990 (R.). – Über Wohltäter. Zürich 1992 u. Schallplatten. Im Prozess der Selbsterfor- (Ess.s). – Wasser Elegien. Springe 1997 (L.). – Arche schung entsteht die Utopie vom Schreiben als Nova. Gött. 1998 (Ess.). – Morgenübungen. Mchn. 2000 (L.). – Atem holen. Heidelb. 2006 (Ess.). – Lebensform. Indem er schreibend die IdentiHerausgeber: Kurze Weile. Gedichte in wenigen tätsbildung nachvollzieht, erfüllt sich der Zeilen. Gött. 2003. – Kunst ist Übertreibung. Ess.s. Erzähler seinen Lebenswunsch, Schriftsteller Gött. 2003. zu werden. Die Reiseerzählung Kurzurlaub Literatur: Gustav Zürcher: H. D. In: KLG. – (Darmst. 1976) handelt von der Sehnsucht Rüdiger Krohn: H. D. In: LGL. – Henning Zienach Befreiung aus den Zwängen des Alltags. britzki: ›Some may be heroes: / Not all of us are Ein junger Bibliotheksangestellter flieht für unhappy‹. Versuch über das Glück, H. D.s Gedichte ein paar Tage auf die Insel Borkum. Die Per- zu lesen. In: die horen 224 (2006), S. 175–180. sonen, die ihm dort begegnen, verkörpern die Michael Braun utop. Möglichkeiten eines anderen Lebens. D. konzentriert sich in seinen Romanen, Dittersdorf, Carl Ditters von (geadelt Erzählungen u. Gedichten auf die genaue u. 1773), * 2.11.1739 Wien, † 24.10.1799 diskrete Beobachtung des Ephemeren u. UnSchloss Rothlhotta/Gut Neuhof bei Pilsensationellen, auf die behutsame Erkungram/Böhmen. – Komponist; Übersetzer dung alltäglicher provinzieller Milieus (z.B. u. Verfasser von Opern- u. Singspielin den Erzählungen der Bände Draußen im texten. Dorf. Reinb. 1978. Wie man Provinzen erobert. Reinb. 1986). Die Gedichte umkreisen alltägl. Der Sohn eines k. u. k. Hof- u. Theaterstickers Stimmungen u. Erlebnisse: zart hingetupfte aus Danzig u. einer Wienerin erhielt bereits Wunschbilder von der Überwindung der mit sieben Jahren Violinunterricht u. erwarb »stumpfen Wirklichkeit« kollidieren mit den auf einem Jesuitengymnasium wie auch
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Dobenecker
durch Privatstunden eine umfassende Bil- 1950 an lebte er als freier Schriftsteller in dung. Bereits 1751 erhielt er eine Anstellung Ostberlin. D.s erste Veröffentlichungen, die Novelin der Wiener Hofkapelle des Prinzen von Sachsen-Hildburghausen, welcher D. 1761 an lensammlungen Wie der Mensch Gesicht bekam die kaiserl. Hofkapelle vermittelte. 1763 be- (Bln./DDR 1952) u. Das gelbe Kreuz (Bln./DDR gleitete er Christoph Willibald Gluck auf ei- 1954), zeigen, dass seine Begabung bei den ner Italienreise. 1765 wurde er Nachfolger kleinen Prosaformen liegt; ein Befund, den Michael Haydns im verwaisten Kapellmeis- die kriminalistisch angelegten u. pointiert teramt der Hofkapelle des Bischofs von schließenden Erzählungen Und sie liebten sich Großwardein, wo er seine spätere Frau, die doch (Halle/S. 1960) u. Anruf in der Nacht Sopranistin Nicolina Trink, kennenlernte; (Halle/S. 1973. 21977) bestätigten. Seinen 1769 wechselte er in die gleiche Position bei größten Erfolg hatte D. mit dem in der Zeit Graf Schaffgotsch, Fürstbischof von Breslau. des Zweiten Weltkriegs spielenden Roman Nach dessen Tod 1795 bot Baron Ignaz von Herz und Asche (Bln./DDR 1954. 1987). Dessen Stillfried dem schwer Erkrankten großzügig zweiter Teil konnte allerdings, obwohl er Unterkunft auf seinem böhm. Schloss Roth- vom Autor umgearbeitet wurde, nicht veröflhotta, wo D. zwei Tage nach Beendigung des fentlicht werden. Diktats seiner Autobiografie starb. Weitere Werke: Dschungel. Bln./DDR 1951 D. schuf viele dt. Singspiele, deren Texte (D.). – Doch unterm Rock der Teufel. Bln./DDR auf Shakespeare, Goldoni, Stephanie u. a. 1962. 1969 (E.). – Kriminalromane (Pseud. Peter zurückgehen oder aus D.s eigener Feder Addams): Engel für zehn Schilling. Bln./DDR 1967. stammen. Überaus erfolgreich war sein Doktor – Diamant im Storchennest. Halle/S. 1969. – Das und Apotheker (Urauff. Wien 1786), das gele- geborgte Gesicht. Bln./DDR 1973. Sylvia Adrian / Red. gentlich heute noch gegeben wird. Seine Autobiografie Karl von Dittersdorfs Lebensbeschreibung, seinem Sohne in die Feder diktiert (Lpz. Dobenecker, Katharina Margaretha, 1801. Neudr., hg. v. Norbert Miller. Mchn. auch: K. M. Schweser, * 14.11.1649 Hof, 1967), eine der ersten selbständigen Musiker† 11.12.1683 Wunsiedel. – Lyrikerin. Autobiografien, stellt eine unschätzbare Quelle für das kulturelle Leben der k. u. k. Die Tochter eines brandenburg. Hofrats verHaupt- u. Residenzstadt Wien im ausgehen- brachte ihre Jugend im Umkreis des Bayreuther Hofs Christian Ernsts u. Erdmuth Soden 18. Jh. dar. Literatur: Helmut Wirth: D. In: MGG. – Mar- phies. Am 12.11.1672 heiratete sie den branRat Johann garet H. Grave: D. In: The New Grove 5. – Hubert denburgisch-bayreuthischen Unverricht (Hg.): C. D. v. D. Leben, Umwelt, Werk. Baptist Dobenecker. Bereits am 25.12.1668 Tutzing 1997. – Sang-Chun Yeon: C. D. v. D. die wurde sie durch Vermittlung von Maria CaKammermusik für Streichinstrumente. Hildesh. tharina Stockfleth als »Sylvia« in den Pegneu. a. 1999. – Musikkultur in Schlesien zur Zeit v. sischen Blumenorden aufgenommen u. geTelemann u. D. Sinzig 2001. hörte in den folgenden Jahren zu den literaErich Tremmel / Red. risch engagiertesten Frauen des Ordens. Für Birkens Guelfis (1669) verfasste sie eine Reihe Djacenko, Boris, auch: Peter Addams, pastoraler Ehrengedichte u. steuerte 1669 * 10.9.1917 Riga. † 14.4.1975 Berlin/ auch zu Heinrich Arnold Stockfleths Macarie DDR. – Erzähler u. Dramatiker, Autor von (Neudr. hg. u. eingel. v. Volker Meid. Bern Kriminalromanen. 1978) u. 1672 zu Birkens Todes-Gedanken jeD. studierte Philosophie, bereiste verschie- weils ein Gedicht bei. Ihr Hauptwerk, ein dene europ. u. afrikan. Länder u. wurde handschriftlicher Zyklus von Sonn- u. Feierwährend des Zweiten Weltkriegs wegen po- tagssonetten, konnte bisher nicht aufgefunlitischer Tätigkeit mehrmals verhaftet. Von den werden. Literatur: Joachim Kröll: Die Ehre des Gebirges u. der hohen Wälder, C. M. D., geb. Schweser. In:
Dobereiner Daphnis 7 (1978), S. 287–339 (mit Auszügen aus Briefen u. einem unbekannten ›Schäfer Gedicht‹). – DBA 242,297–301. – Renate Jürgensen: Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesb. 1994, S. 50–52. – Dies.: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Gesch. des Pegnesischen Blumenordens in Nürnb. (1644–1744). Wiesb. 2006, S. 299–302 (u. Register). – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 448 f. Renate Jürgensen / Red.
Dobereiner, Philipp, * 1535 Tirschenreuth/Oberpfalz, † 22.1.1577 München; Grabstätte u. Epitaph: ebd., Frauenkirche. – Übersetzer u. Verfasser geistlicher Schriften.
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Lande. Noch 1612 besorgte Matthäus Tympius in Münster Neuauflagen von D.s Granada-Übersetzungen. Weitere Werke: Sendtschreyben [...] v. auffgang [...] des Christenthumbs [...] inn der newen welt. Mchn. 1571. – Zwä schöne [...] History [...] der heyligen Junckfrawen Mechtildis [...]. Dillingen 1574. Nachdr. mit Nachw. u. Bibliogr. v. Manfred Knedlik u. einer biogr. Skizze über die Selige Mechthild v. Diessen (1125–60) v. Hans Pörnbacher. Amsterd. u. a. 2002. Literatur: Bibliografie: Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 0228, 0229, 0584, 0589, 0818. – Weitere Titel: Manfred Knedlik: P. D. (1535–77). Eine Bibliogr. In: Daphnis 23 (1994), S. 591–620. – Thomas Kupferschmied: Das Epitaph des P. D. In: Die Münchner Frauenkirche. Hg. Hans Ramisch u. Peter B. Steiner. Mchn. 1994, S. 159–163. – M. Knedlik: P. D. In: Bautz (mit Lit.).
D. studierte ab 1554 Theologie in Ingolstadt u. erlangte die Doktorwürde. Nach der Priesterweihe 1561 in Passau war er Kaplan in Guillaume van Gemert Augsburg u. ab 1564 Kanonikus in Regensburg. 1570 berief Herzog Albrecht V. ihn nach München in den Geistlichen Rat. 1571 Doberer, Kurt Karl, * 11.9.1904 Nürnwurde er zum Stiftsdechanten an der Frauberg, † 20.8.1993 Nürnberg. – Journalist, enkirche ernannt. Lyriker u. Erzähler. Zahlreiche religiös-didaktische u. erbaul. Schriften machten D. ab 1558 zu einem der Der ausgebildete Ingenieur besuchte nach exponiertesten Vertreter der kath. Reform in Auslandsaufenthalten (Kairo, Istanbul, Paris) Bayern. Polemische u. kontroverstheolog. 1932/33 die Hochschule für Politik in Berlin. Werke (Der Caluinisten Kehrab. Mchn. 1570. Mitgliedschaften in der sozialist. StudentenRegiment vnnd Artzney Büchlein. Mchn. 1570) schaft sowie Veröffentlichungen im »Vorsind Ausnahmen. Beliebt waren D.s Gebet- u. wärts«, der »Leipziger Volkszeitung« u. a. Betrachtungsbücher (u. a. Der Geystlich Wöcker. führten zu Verfolgung u. Emigration nach Dillingen 1572. Der Geistlich Brunn der dürsti- Prag (1933). Dort war D. Korrespondent für gen Seel. Mchn. 1575), die noch bis ins 19. Jh. Exilblätter, schrieb Lyrik, Erzählungen sowie neu aufgelegt wurden (Seelenbrunnen. Graz zwei Bücher über Kriegstechnik. 1938 über1886). siedelte er auf Einladung des PEN nach LonAls einer der Ersten übersetzte D. Schriften don. Nach der Internierung war er Sekretär von Luis de Granada ins Deutsche (Memoriale des Deutschen Exil-PEN u. langjähriger AnGranatae. Mchn. 1574. Exercitia Granatae. gestellter der BBC. Seit seiner Rückkehr im Mchn. 1576); er stützte sich auf eine ital. Jahr 1950 lebte D., von seiner Heimatstadt Zwischenstufe. Nach ital. u. lat. Vorlagen weitgehend unbeachtet, wieder in Nürnberg. verdeutschte er Werke von Ludovicus Blosius D. veröffentlichte über 50 Bücher, darunter (Conclave animae. Dillingen 1570), Johannes den Roman Republik Nordpol (Bratislava 1936. Landsberg (Ein edels Schatzbüchlein. Dillingen Bln. 21989) u. die wissenschaftsgeschichtl. 1563), Antonius van Hemert (Christenlicher Werke Elektrokrieg – Maschine gegen Mensch Trostspiegel. Dillingen 1565) u. Gaspar Loarte (Wien 1938), The United States of Germany (Der Geistliche Hertzentröster. Mchn. 1576. Ro- (London 1944. Dt. Mchn. 1948), Die Goldmasenkrantzbüchlein. Mchn. 1577). cher (London 1948. Dt. Mchn. 1989. Ffm. D.s Bedeutung liegt nicht zuletzt in seiner 1991. Sonderausg. Mchn. 2003). Großer ErVermittlung roman. Frömmigkeit in die dt. folg blieb ihm nach dem Krieg versagt. Cha-
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rakteristisch für D. war seine Begeisterung für das Fremde (den Orient), für die polit. Utopie u. für die Technik, die er als einer der wenigen linken Vertreter der 1940er Jahre kritisch einschätzt. Einen frühen Höhepunkt in seinem Werk bildet die Kombination aus diesen Aspekten im Roman Republik Nordpol, in dem die Besatzung eines Panzerkreuzers ihr Schiff zum Territorium einer sozialist. Republik erklärt. D.s Erzählungen tendieren ins Volkstümliche. Die Poesie ist einfach u. bes. von anthropologischen u. polit. Aspekten getragen. Weitere Werke: Hebt unsere Fahnen. Karlsbad 1936 (L.). – Verse der Emigration. Karlsbad 1936 (Anth.). – Todesstrahlen u.a. Kriegswaffen (zus. mit Max Seydewitz). Prag/London 1936. – Singendes Volk. Karlsbad 1938 (Anth.). – 10 Jahre freie dt. Kultur im Exil. London 1943. – Der grüne Komet. Straßb. 1947 (R.). – Ruf der Sterne. Nürnb. 1968 (L.). – Drachenschlacht. Gerabronn 1970 (Ess.s u. E.en). – Philatelie für Kenner. Mchn. 1976. – Schöne Briefmarken. Dortm. 1979. Literatur: Nürnberger internat. Schriftsteller, zum 65. Geburtstag K. K. D.s. Institut für fränk. Lit. Ausstellungskat. 1967. – Biogr. Hdb. der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Unter der Gesamtleitung v. Werner Röder u. Herbert A. Strauss. – Uli Köhnle: Bibliogr. K. K. D. In: Fantasia (1993), H. 84/85, S. 141–152. – Jörg Weigand, Wilfried Czech u. Hans Joachim Alpers: Zum Tode v. K. K. D. (1904–93). Ebd., S. 133–141. – Jürgen Bräunlein: Leben heißt, gegen den Zufall zu kämpfen: der visionäre Ingenieur u. antifaschist. Science-Fiction-Autor K. K. D. In: Visionäre aus Franken. Hg. Bernd Flessner. Neustadt/Aisch 2000, S. 17–41. Reinhard Knodt / Red.
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terngedichte (Augsb. 1991) erhielt er 1993 den Bayrischen Literaturförderpreis. Thematisch u. stilistisch orientiert sich D. an Werken der Sub- u. Gegenkultur sowie an Spätwestern-, Action- u. Kriminalerzählungen bzw. -filmen. Seine Figuren – Außenseiter, Rebellen u. Verlierer – stehen vor dem Gegensatz zwischen Stadt u. Land oder im Lebensalltag der großstädt. Subkultur für Menschlichkeit ein. In D.s Prosabänden Bierherz. Flüssige Prosa (Hbg. 1994) u. Sprung aus den Wolken. Dancehall Stories (Hbg. 1996) tritt als Kennzeichen seines Erzählstils die Verknüpfung unterschiedlicher Textformen, u. a. Erzählung, Reportage u. Glosse, hervor; (fiktive) autobiogr. Bezüge bilden in der Regel die Klammer für die oft weit auseinanderliegenden Themen u. erleichtern den Zugang zu ihnen. Amerikanische Musikstile wie Rock, Blues u. Country prägen nicht nur den Rhythmus seiner Texte, sondern werden zunehmend zu ihrem Gegenstand. Die Kombination seiner Lesungen mit Live-Musik oder Discjockeyauftritten unterstreicht D.s enge Bindung an die (Pop-)Musik. Weitere Werke: Falschspieler. Hbg. 1988 (E.). – Der gute Johnny der Dreckskerl. Theaterstück. Augsb. 1992. – Nachmittag eines Reporters. ShortStories-Album. Mchn. 1998 (E.en). – The Beast In Me: Johnny Cash u. die seltsame u. schöne Welt der Countrymusik. Mchn. 2002 (Biogr.). – Sterne u. Straßen. Feuilletons. Artikel u. Erzählungen. Bln. 2004. Literatur: Jonathan Fischer: F. D. In: LGL. Robert Steinborn
Dobler, Franz, * 18.11.1959 Stuttgart. – Schriftsteller, Dichter, Dramatiker, Journalist; Discjockey.
Docen, Bernhard Joseph, * 1.10.1782 Osnabrück, † 21.11.1828 München; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – Germanist.
D. gelang der Einstieg in den Journalismus als Polizeireporter eines Lokalblattes. Er schreibt Artikel u. Kolumnen u. a. für die »Süddeutsche Zeitung«, verfasst u. inszeniert Features u. Hörspiele für Radiosender. Ab 1987 erscheinen seine literar. Arbeiten in verschiedenen Literaturzeitschriften. Für seinen Debütroman Tollwut (Hbg. 1991) u. den Gedichtband Jesse James und andere Wes-
In Göttingen studierte der Sohn eines Kanzleisekretärs zunächst Medizin, dann Archäologie u. Philologie bei Heyne. 1802 übersiedelte er nach Jena, wo er in Kontakt mit dem Frühromantikerkreis kam u. sein Studium beendete. Seit 1803 in München, arbeitete D. unter Christoph von Aretin an der Hofbibliothek, wo er ab 1806 als Skriptor, ab 1811 als Kustos wirkte.
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D.s Lebensaufgabe wurde die Ordnung u. buchstaben. Mchn. 1826. – B. J. D. u. a. (Hg.): MuKatalogisierung der infolge der Säkularisati- seum für altdt. Lit. u. Kunst. Bln. 1809–11. Literatur: Rudolf v. Raumer: Gesch. der geron an der Bayerischen Hofbibliothek zusammengefassten, reichen Handschriftenbestän- man. Philologie vorzugsweise in Dtschld. Mchn. de. Dabei entdeckte der Kenner der älteren dt. 1870, S. 343–354. – Philipp Strauch: Zur Gesch. der Sprach- u. Literaturepochen eine Fülle von dt. Philologie. Briefe an B. J. D. In: AfdA 28 (1901), S. 123–159. – Hubert Rosel: Josef Dobrovskys BeDenkmälern, darunter Wolframs Titurelziehungen zu B. J. D. u. Christian Friedrich Fragmente, die er 1810 u. d. T. Erstes Send- Schnurrer. In: Serta Slavica in memoriam Aloisii schreiben über den Titurel (Bln. u. Lpz.) edierte, Schmaus. Hg. Wolfgang Gesemann u. a. Mchn. jedoch irrtümlich als »voreschenbachisch« 1971, S. 635–639. – Karin Schneider: D.s Marieneinordnete. Zu den weiteren Verdiensten D.s klage. In: ZfdA 106 (1977), S. 138–145. – Eckhard zählen seine Vorarbeiten für eine erste ahd. Grunewald: Friedrich Heinrich v. der Hagen [...]. Grammatik u. ein ahd. Wörterbuch (aufbe- Bln./New York 1988, S. 76–81, 327–349. – Angeliwahrt in D.s Nachl. in der Staatsbibl. Mün- ka Koller: Minnesang-Rezeption um 1800. Ffm. u. a. 1992. – Iris Nölle-Hornkamp: D. In: Internat. chen). Germanistenlexikon. Hg. Christoph König. Bd. 1, D.s Rezensionen, krit. Abhandlungen, Bln./New York 2003, S. 395 f. Editionen kleinerer, sprachgeschichtlich Bernhard Graßl / Red. wertvoller Bruchstücke sowie kunsthistorische, histor. u. philolog. Arbeiten erschienen verstreut. Die frühe Sammlung Miscellaneen Doderer, (Franz Carl) Heimito (Ritter) zur Geschichte der teutschen Literatur (2 Bde., von, * 5.9.1896 Hadersdorf-Weidlingau Sulzbach 1807 u. 1809) ermöglicht einen bei Wien, † 23.12.1966 Wien; EhrenÜberblick über die Bandbreite seiner For- grabstätte: Wien, Grinzinger Friedhof. – schungen. Erzähler, Lyriker u. Essayist. D. suchte in historisch orientierter Kleinarbeit die Vor- u. Frühgeschichte der dt. Li- Als Enkel des akadem. Lehrers u. Architekten teratur zu erhellen. Sein wiss. Vorgehen war Richard von Doderer, der 1877 den Erbvon Erduin Julius Koch geprägt, dessen adelstitel erhielt, u. jüngster Sohn von insg. Compendium der deutschen Literaturgeschichte (2 sechs Kindern des Bauunternehmers Wilhelm Bde., 1790 u. 1798) er zu erweitern u. zu Ritter von Doderer u. dessen Frau Louise von berichtigen suchte. Trotz enger Zusammen- Hügel aus einer großbürgerlichen österr. Faarbeit mit von der Hagen brachte D. dessen milie stammend, begann D. nach dem Besuch »Erneuungen« alt- u. mhd. Texte, um so ein des humanist. Gymnasiums 1914 ein Studibreites Publikum anzusprechen, Skepsis ent- um der Jurisprudenz. 1915 wurde er zum gegen. In seiner Ausführlichen Beurtheilung der Militärdienst eingezogen, während dem er Sammlung deutscher Gedichte des Mittelalters (in: als Kavallerist an der russ. Front am Ztschr. von Deutschen für Deutsche, 1813) 12.7.1916 in Kriegsgefangenschaft geriet. In stellte er erstmals Grundsätze für die krit. den vier Jahren, die er nachfolgend in sibir. Herausgabe eines mittelalterl. Textes auf. Arbeitslagern verbrachte, fiel seine EntscheiNeben der »vielseitigsten Kenntniß der dung für den Beruf des Schriftstellers. Im Aug. 1920 kehrte D. nach Wien zurück Sprache und des Inhalts« war ihm v. a. die u. wählte nun ein Studium der Geschichte u. Einordnung des Werks in den histor. Kontext Philosophie, um seine schriftsteller. Laufwichtig. Mit diesem Postulat wurde D. erster bahn vorzubereiten; 1925 wurde er zum Dr. Vorläufer Lachmanns. phil. promoviert. Bereits während dieser Weitere Werke: Andenken an Hans Sachs, beStudienzeit erschienen die ersten Bücher, jerühmten Nürnbergischen Meistersänger. Altdorf 1803. – Über die Ursachen der Fortdauer der lat. doch mit geringem Erfolg. Um seinen LeSprache seit dem Untergange des abendländ. Röm. bensunterhalt zu bestreiten, verfasste D. in Reiches. Mchn. 1815. – vereinfachung der dt. den Jahren 1926–1931 zahlreiche Feuilletons rechtschreibung u. erleichterung des dt. schreibe- für Wiener Tageszeitungen. Maßgebend waunterrichts durch entfernung der großen anfangs- ren in dieser Zeit der Einfluss Otto Weinin-
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gers u. die Begegnung mit Albert Paris Gütersloh im Jahr 1924, die ihren Niederschlag in dem Essay Der Fall Gütersloh. Ein Schicksal und seine Deutung (Wien 1930. 1960) fand. 1930 heiratete D. die aus einer jüd. Familie stammende Gusti Hasterlik; die Verbindung währte nur kurz u. wurde 1938 geschieden. Am 1.4.1933 trat D. der bald darauf in Österreich verbotenen nationalsozialist. Partei bei u. übersiedelte 1936 nach Deutschland (Dachau). 1937 konnte er Kontakte mit dem Verlag C. H. Beck in München knüpfen. Der Roman Ein Mord, den jeder begeht (Mchn. 1938. 10 1996) ist sein erstes Werk in diesem Verlag. Ab 1937 distanzierte er sich vom Nationalsozialismus u. konvertierte 1940 – seine Familie war evangelisch – zum Katholizismus. D. wurde zur Luftwaffe eingezogen u. kehrte 1946 aus brit. Kriegsgefangenschaft nach Österreich zurück. 1948–1950 besuchte er einen Kurs am Institut für österr. Geschichtsforschung. Der während des Kriegs begonnene, 1948 abgeschlossene Roman Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (Mchn. 1951 u. ö. Zuletzt 2003) begründete seinen Ruhm als Schriftsteller. 1952 heiratete er Emma Maria Thoma. Die großen Romane Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff (Mchn. 1956. 1995 u. ö.) u. Die Wasserfälle von Slunj (Mchn. 1963 u. ö. Zuletzt 1995) machten D. als Repräsentanten der österr. Literatur der Nachkriegszeit bekannt. Er starb an einem Krebsleiden, ehe er den Roman Der Grenzwald (als Fragment hg. v. Dietrich Weber. Mchn. 1967 u. ö. Zuletzt 1995) vollenden konnte. D. wurde v. a. als Erzähler rezipiert. In den literaturtheoret. Reflexionen der Tagebücher schon war es ihm um die epischen Formen zu tun, die er in einer für ihn spezif. Form erarbeitete. Am Anfang standen die »Divertimenti«, kurze, für den Vortrag bestimmte Erzählungen, in denen mehrere Motivstränge nach einem musikal. Prinzip verknüpft werden. Sechs »Divertimenti« entstanden in den 1920er Jahren; sie wurden vereint erst in dem Band Erzählungen (Hg. Wendelin Schmidt-Dengler. Mchn. 1972) postum veröffentlicht. Als sein gelungenstes Werk erachtete D. die Erzählung, die er denn auch – er liebte Zahlensymbolik – als sein siebentes
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Divertimento gelten ließ, nämlich Die Posaunen von Jericho (entstanden 1951. Zürich 1958), worin er seine Befangenheit im Nationalsozialismus verhüllt darzustellen u. zu überwinden suchte. In der nur fragmentarisch erhaltenen Erzählung Jutta Bamberger (entstanden 1923/24; postum veröffentlicht in: Frühe Prosa. Hg. Hans Flesch-Brunningen. Mchn. 1968) ging es um das Schicksal einer Industriellentochter, die sich ihrer lesbischen Veranlagung erst allmählich bewusst wird. Als »Divertimento« war auch D.s erster größerer Roman Das Geheimnis des Reichs. Roman aus dem russischen Bürgerkrieg (Wien 1930) gedacht, doch überwucherte die Materialfülle den Entwurf. In der Folge entstanden dann viele Kurzgeschichten, die meist wie komplex ausgearbeitete Anekdoten wirken. Vieles produzierte D. für die Schublade, so den 1934 entstandenen Roman aus dem österr. Barock Der Umweg (Mchn. 1940. 1993 u. ö.) u. 1936 die zunächst als »Divertimento« entworfene u. später als »Ritter-Roman« bezeichnete Erzählung Das letzte Abenteuer (Stgt. 1953). In diesen frühen Romanen wie auch in Ein Mord den jeder begeht – das Buch erinnert nicht von ungefähr an einen Kriminalroman – steht ein Held im Mittelpunkt, dessen Lebenskrise ihre Lösung durch einen von D. als »Menschwerdung« bezeichneten Vorgang findet u. zgl. auch den Tod des Protagonisten bedeutet. Mit gutem Grund konnten diese Romane mit dem Attribut »monographisch« (Dietrich Weber) versehen werden; in die Serie gehört auch der Kurzroman Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal (entstanden 1939/40. Mchn. 1951 u. ö. Neuausg. 1978. 32006), dessen dubios-mittelmäßiger Held seine voyeurist. Praxis mit bürokratischer Pedanterie auch im Ruhestand betreibt. Die im trag. Finale endende »Menschwerdung« der frühen Romane wird im Zihal ironisch konterkariert. Dieser Roman ist zudem das Bindeglied zwischen den frühen »monographischen« u. späten »polyzentrischen« Romanen; mit ihm waren zudem Milieu u. Schauplatz für die Folgezeit gegeben: nämlich Wien. Die Strudlhofstiege verdankte die Entstehung zunächst dem Scheitern eines anderen Romankonzepts: Seit Beginn der 1930er
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Jahre hatte D. an den Dämonen gearbeitet, damals als Darstellung der Wiener Gesellschaft geplant, worin die Vorgänge entsprechend der Weltanschauung D.s eindeutig polit. Akzente erhalten sollten. Das Personal der Strudlhofstiege ist mit dem der Dämonen teilweise identisch. Die Romanhandlung – ein Teil spielt 1910/11, der andere 1923–1925 – klammert absichtsvoll die für Österreich so entscheidende Zäsur von 1918 aus u. suggeriert somit die Kontinuität des Alltags über alle polit. Veränderungen hinweg. Nicht um das Personal, sondern um das Lokal sind die Aktionen in D.s Romanen gruppiert: Die Strudlhofstiege ist eine Treppenanlage im 9. Wiener Gemeindebezirk, deren kaum beachtete Schönheit D. mit seinem Roman auch ins tourist. Bewusstsein hob. Sie ist für einige Figuren Bühne des Schicksals u. Sinnbild für die Struktur des Romans u. damit auch für das Leben schlechthin, dessen von D. stets betonter Umwegcharakter durch die Treppe symbolisiert werden soll. Mit Inhaltsbeschreibungen wird man D.s vielschichtigen Gebilden nicht gerecht, wenn auch die einzelnen Handlungsmomente auf einen Höhepunkt zustreben: Major Melzer rettet nach einem Verkehrsunfall der Frau das Leben, um die er fast 20 Jahre zuvor vergeblich gefreit hatte. Nach dem Romanerfolg der Strudlhofstiege machte sich D. an die Überarbeitung u. Vollendung der Dämonen; zum damaligen Zeitpunkt (1951) lag etwa ein Drittel vor. Auch in diesem – dem umfangreichsten – Werk D.s sind die Aktionen auf einen Höhepunkt hin – den Brand des Justizpalastes – organisiert. Für D. standen aber nicht die sozialen Gründe u. die polit. Konsequenzen dieses für Österreich so folgenreichen Ereignisses zur Diskussion, sondern die Privatschicksale vieler Figuren, für die jener 15.7.1927 einen Wendepunkt bedeutet. Im Unterschied zur Darstellung des Justizpalast-Brandes durch andere Autoren (z.B. durch Elias Canetti) enthält sich D. der Parteinahme: Er versucht, Schuld u. Last ›gleichmäßig‹ zu verteilen. Der Sprachkampf scheint den Klassenkampf zu ersetzen, was durch den Arbeiter Leonhard Kakabsa exemplifiziert werden soll, der als Autodidakt Latein lernt. Diese die Gegensätze
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harmonisierende Haltung, die auch der Verdrängung der jüngsten Vergangenheit entgegenkam, passte ausgezeichnet in das polit. Klima Österreichs nach dem Abschluss des Staatsvertrags (1955) u. in die Ära der Großen Koalition. Die Kritik hat später D.s Haltung verurteilt u. in der »Ideologie der Ideologielosigkeit« eine verkappt konservative Weltsicht erkennen wollen. Auch in seinen theoret. Schriften (z.B. in Grundlagen und Funktion des Romans. Nürnb. 1959) beschrieb D. als Aufgabe des Romanciers die »Wiedereroberung der Außenwelt«, deren innere Ordnung durch die Romankomposition sichtbar werden sollte. D. hielt an der Erzählbarkeit der Welt fest u. distanzierte sich mit Respekt von Musil, Proust u. Joyce, indem er den Essayismus im Roman verwarf, für die dynamisch u. spannend erzählte Aktion eintrat u. sich gegen die Auflösung der Wahrnehmung in assoziative Sequenzen verwahrte. Die Tagebücher (z.B. Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940–1950. Mchn. 1964) verarbeiten das durch die Apperzeption gewonnene Material u. wollen das »Quellgebiet« der Romane sein. Aus den Tagebüchern (D. nannte sie ab 1934 Commentarii) ging auch das nächste größere Romankonzept hervor, die Romantetralogie Roman No 7, die nach dem Vorbild der viersätzigen Symphonie aufgebaut werden sollte. Abgeschlossen wurde nur der erste »Satz«, Die Wasserfälle von Slunj. Auch hier ist eine Lokalität der Ausgangspunkt: Der Held Donald Clayton wird in der Nähe dieser Wasserfälle im kroat. Slunj gezeugt, wo er 30 Jahre später plötzlich an Herzversagen stirbt. Der wichtigste Schauplatz ist das Wien der Jahrhundertwende. Der zweite Teil der Tetralogie, Der Grenzwald, spielt während des Ersten Weltkriegs u. danach in Sibirien u. Wien. Beide »Sätze« sind kaum durch Handlung u. Figuren, sondern vielmehr durch kompositor. Entsprechungen miteinander verbunden. Nicht das Thema (wie noch bei den Dämonen) ist wichtig, sondern die Komposition, die ohne Erzählerkommentar die Verbindung der Figuren sichtbar machen soll. Dieses Konzept wollte D. im Grenzwald radikalisieren u. das Buch als »roman muet«, als »stummen Roman«, verstanden wissen. Obwohl es darin um so bri-
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sante Themen wie um die Aufdeckung von Kriegsverbrechen geht, verzichtete D. auf jeden erläuternden Einschub u. forderte den mündigen Leser, der kombinatorisch die Zusammenhänge erschließt u. so auch das zugrunde liegende ödipale Modell erkennt. Mit den großen Romanen wäre D.s Leistung nicht hinlänglich charakterisiert. Im Gegensatz zu der dort manifest werdenden Ordnung steht die Romangroteske Die Merowinger oder Die totale Familie (Mchn. 1962. 8 1994. St. Pölten 2005 u. ö.), deren Hauptfigur, der Familientyrann Childerich von Bartenbruch, durch vier nach einem bizarren System ausgeklügelte Ehen sein eigener Großvater wird. In D.s Kürzestgeschichten wird der alogisch-anarch. Gestus sichtbar, den er in Reservate dieser Art verbannte. Von diesen Texten, in denen von seiner versöhnlichen, auf Positivität bedachten Haltung kaum etwas zu bemerken ist, nahm auch die Neubewertung seines Werks in der jüngeren Vergangenheit ihren Ausgang, während an den großen Romanen die Verdrängung der Konflikte, die undialekt. Anschauung der Geschichte, die Unterwerfung unter das Schicksal (»Fatalogie« heißt dies in D.s Terminologie) u. die Herstellung der bürgerl. Idylle getadelt wurde. Seine konservative Weltanschauung, die mit einigem Aufwand betriebene Restauration des Erzählens u. der bedingungslose Glaube an die ordnungstiftende Kraft der Sprache machten D. für viele zum Exponenten der als Neubiedermeier bezeichneten 1950er Jahre. Indes verkennt man D.s Erzähltechnik, wenn man in ihm nur einen Vertreter des von Hermann Broch abqualifizierten »Geschichtelerzählens« sieht. In den Tagebüchern, in vielen Traktaten u. in den aphorismenartigen Artikeln seines Repertoriums (Hg. Dietrich Weber. Mchn. 1969. 2 1996) geht es um eine durchaus eigenständige Bestimmung literarischer Gattungen u. um ein Rollenverständnis des Schriftstellers, das diesen von allen subjektiven Befangenheiten befreit sehen möchte, um ihn »durchlässig« für die Wahrnehmung der Außenwelt zu machen. Trotz seiner in Theorie wie Praxis konservativen Haltung nähert sich D. in den Merowingern u. in seinen Kürzestgeschichten aber durch die innovator.
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Kompositionstechnik im Spätwerk Positionen, die der österr. Avantgarde der 1950er u. 1960er Jahre nicht unverwandt sind. D.s Werke sind bestimmt von Widersprüchen, die nicht zuletzt mit seiner Herkunft aus dem Wiener Großbürgertum zusammenhängen, das er kompromisslos ablehnte u. dem er zgl. sein reiches Anschauungsmaterial verdankte. Dass Widersprüche u. Krisen – auch der polit. Geschichte – in seinem Werk oft ausgeblendet erscheinen, mag skeptisch stimmen, doch ist auch die Anstrengung zu respektieren, mit der hier die Welt nicht von ihren Mängeln, sondern von ihrer sinnl. Fülle her erfahren werden soll. Weitere Werke: Gassen u. Landschaft. Wien 1923. Nachdr. Würzb. 2005. – Die Bresche. Ein Vorgang in vierundzwanzig Stunden. Wien 1924. Erneut in: Frühe Prosa. Mchn. 1995. 1996. – Julius Winkler. Wien/Lpz. [1937]. – Das letzte Abenteuer. Stgt. 1953 u. ö. Zuletzt Gött. 1998. – Ein Weg im Dunkeln. Gedichte u. epigrammat. Verse. Mchn. 1957. – Die Peinigung der Lederbeutelchen. Mchn. 1959. Mchn. 1984. 21988. – Unter schwarzen Sternen. Mchn. 1966. 1973. – Meine neunzehn Lebensläufe u. neun andere Gesch.n. Zum 70. Geburtstag des Autors. Mit 19 Fotos u. einer Schallplatte. Mchn. 1966. Ausgaben: Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze, Traktate, Reden. Hg. Wendelin SchmidtDengler. Vorw. v. Wolfgang H. Fleischer. Mchn. 1970. – Das D.-Buch. Eine Ausw. aus dem Werk H. v. D.s. Hg. Karl Heinz Kramberg. Mchn. 1976. – Commentarii 1951 bis 1956. Tagebücher aus dem Nachl. Hg. W. Schmidt-Dengler. Mchn. 1976. – Commentarii 1957 bis 1966. Tagebücher aus dem Nachl. 2. Hg. ders. Mchn. 1986. – H. v. D. – Albert Paris Gütersloh: Briefw. 1928–62. Hg. Reinhold Treml. Mchn. 1986. – Die sibir. Klarheit. Texte aus der Gefangenschaft. Hg. W. Schmidt-Dengler u. Martin Loew-Cadonna. Mchn. 1991. – Das erzähler. Werk in neun Bdn. Hg. W. Schmidt-Dengler. Mchn. 1995. Teilausg. u. d. T. Erzählungen. Mchn. 4 2006. – Gedanken über eine zu schreibende Gesch. der Stadt Wien. Faks. der Hs. des Dichters. Hg. Erich Fitzbauer. Wien 1996. – Tagebücher 1920–39. Hg. W. Schmidt-Dengler, M. Loew-Cadonna u. Gerald Sommer. 2 Bde., Mchn. 1996. – Von Figur zu Figur: Briefe an Ivar Ivask über Lit. u. Kritik. Hg. W. Fleischer u. W. Schmidt-Dengler. Mchn. 1996. Literatur: Dietrich Weber: H. v. D. Studien zu seinem Romanwerk. Mchn. 1963. – Lutz-Werner
Doderer Wolff: Wiedereroberte Außenwelt. Studien zur Erzählweise H. v. D.s am Beispiel des ›Roman No 7‹. Göpp. 1969. – René Tschirky: H. v. D.s ›Posaunen v. Jericho‹. Versuch einer Interpr. Bln. 1971. – Xaver Schaffgotsch (Hg.): Erinnerungen an H. v. D. Mchn. 1972. – Roswitha Fischer: Studien zur Entstehungsgesch. der ›Strudlhofstiege‹ H. v. D.s. Wien 1975. – Anton Reininger: Die Erlösung des Bürgers. Eine ideologiekrit. Studie zum Werk H. v. D.s. Bonn 1975. – Hans Joachim Schröder: Apperzeption u. Vorurteil. Untersuchungen zur Reflexion H. v. D.s. Heidelb. 1976. – Georg Schmid: D. lesen. Zu einer histor. Theorie der literar. Praxis. Essen/Salzb. 1978. – H. v. D. 1896–1966. Symposium anlässlich des 80. Geburtstages in Wien 1976. Hg. Wendelin Schmidt-Dengler. Salzb. 1978. – Michael Bachem: H. v. D. Boston 1981. – Elisabeth C. Hesson: Twentieth Century Odyssey – A study of H. v. D.s – ›Die Dämonen‹. Columbia 1982. – Bruce Irvin Turner: D. and the politics of marriage. Personal and social history in ›Die Dämonen‹. Stgt. 1982. – Michael Horowitz (Hg.): Begegnung mit H. v. D. Mchn. 1983. – Karl Heinrich Schneider: Die techn.-modern. Welt im Werk H. v. D.s. Ffm. u. a. 1985. – Ingrid Werkgartner Ryan: Zufall u. Freiheit in H. v. D.s ›Dämonen‹. Wien 1986. – Pierre Grappin u. Jean Pierre Christophe (Hg.): L’actualité de D. Actes du colloque international tenu à Metz (Nov. 1984). Metz 1986. – Dietrich Weber: H. v. D. Mchn. 1987. – Internat. Symposium H. v. D. Hg. Niederöst. Gesellsch. für Kunst u. Kultur. Wien 1988. – Roland Koch: Die Verbildlichung des Glücks. Untersuchungen zum Werk H. v. D.s. Tüb. 1989. – Ulla Lidém: Der grammat. Tigersprung. Studien zu H. v. D.s Sprachterminologie. Stockholm 1990. – Jan Papiór (Hg.): Untersuchungen zum Werk H. v. D.s. Poznan´ 1991. – Martin LoewCadonna: Zug um Zug. Studien zu H. v. D.s Roman ›Ein Mord den jeder begeht‹. Wien 1991. – Simone Leinkauf: Diarium in principio... Das Tgb. als Ort der Sinngebung. Untersuchungen zu Leitbegriffen im Denken H. v. D.s anhand seiner veröffentlichten u. unveröffentlichten Tagebücher. Ffm. u. a. 1992. – Gerald Sommer: Vom ›Sinn aller Metaphorie«. Zur Funktion komplexer Bildgestaltungen in H. v. D.s Roman ›Die Strudelhofstiege‹ – dargestellt anhand einer Interpr. der Entwicklung der Figuren Mary K. u. Melzer. Ffm. u. a. 1994. – Ulrike Schupp: Ordnung u. Bruch. Antinomien in H. v. D.s Roman ›Die Dämonen‹. Ffm. u. a. 1994. – Albrecht Huber: Die Epiphanie des ›Punkts‹ oder: ›die Begegnung mit einem Lichte‹. H. v. D.s ›mythisch-musikaliche Poetik‹ im Kern-Raum des Ereignisses. Würzb. 1994. – Wolfgang Fleischer: H. v. D. Das Leben. Das Umfeld des Werks in Fotos u. Dokumenten. Mit einem Vorw. v. W. Schmidt-
56 Dengler. Wien 1995. – Imke Henkel: Lebens-Bilder. Beobachtungen zur Wahrnehmung in H. v. D.s Romanwerk. Tüb. 1995. – H. v. D. (1896–1966). Selbstzeugnisse zu Leben u. Werk. Hg. M. LoewCadonna. Einführender Ess. W. Schmidt-Dengler. Mchn. 1995. – Thorsten Buchholz: Musik im Werk H. v. D.s. Ffm. u. a. 1996. – Franz Hubmann: Auf den Spuren v. H. v. D. Eine photographisch-literar. Reise rund um die ›Strudlhofstiege‹ in Wien. Wien 1996. – W. Fleischer: Das verleugnete Leben. Die Biogr. des H. v. D. Wien 1996. – G. Sommer u. W. Schmidt-Dengler (Hg.): ›Erst bricht man Fenster. Dann wird man selbst eines‹. Zum 100. Geburtstag v. H. v. D. Riverside 1997 – Hubert Kerscher: Zweite Wirklichkeit. Formen der grotesken Bewusstseinsverengung im Werk H. v. D.s. Ffm. u. a. 1998. – Kai Luehrs (Hg.): ›Excentrische Einsätze‹. Studien u. Ess.s zum Werk H. v. D.s. Bln. u. a. 1998. – Michael Vrüsch: Wirklichkeit u. Existenz. D.s Wirklichkeits- u. Literaturverständnis zwischen Ideologie u. Erfahrung. Ffm. u. a. 1998. – Paola Quadrelli: Controimmagine. Biografia e autobiografia nei primi romanzi di H. V. D. (1924–38). Florenz 1999. – Kai Luerhs-Kaiser u. G. Sommer (Hg.): ›Flügel u. Extreme‹. Aspekte der geistigen Entwicklung H. v. D.s. Würzb. 1999. – L.-W. Wolff: H. v. D. Reinb. 22000. – Susanne Krystufek-Roth: H. v. D.s. ›Die Dämonen‹. Erzähler u. Erzählen. Ann Arbor 2001. – Text + Kritik 150 (2001). – Christoph Dietz: ›Wer mich riechen will, muß fühlen‹. Geruch u. Geruchssinn im Werk H. v. D.s. Wien 2002. – Engelbert Pfeiffer: The writer’s place. H. v. D. and the Alsergrund district of Vienna. Translated and expanded with an afterword by Vincent King. Riverside 2001. – Henner Löffler: D.ABC. Ein Lexikon für Heimitisten. Mchn. 22001. – G. Sommer u. K. Luehrs-Kaiser (Hg.): ›Schüsse ins Finstere‹: Zu H. v. D.s Kurzprosa. Würzb. 2001. – G. Sommer (Hg.): ›Modus vivendi‹. Vom Hin u. Her des Dichters H. v. D. Landshut 2003. – Ders. (Hg.): Gassen u. Landschaften: H. v. D. ›Dämonen‹ vom Zentrum u. vom Rande aus betrachtet. Würzb. 2004. – Dietrich Weber: D.-Miniaturen. Hg. H. Löffler u. K. Luehrs-Kaiser. Würzb. 2005. – G. Sommer: H. v. D.: ›Technische Mittel‹. Fragmente einer Poetik des Schreibhandwerks. Wien 2006. – Martin Mosebach: Die Kunst des Bogenschießens u. der Roman. Zu den ›Commentarii‹ des H. v. D. Mchn. 2006. – Claudia Girardi u. Michael Girardi: H. v. D.s Preinblicke. Eine Lesereise mit alten u. neuen Ansichten. Wien 22007. – Thomas H. Petutschnig: Ist er die Mitte? Anmerkungen zu Funktion u. Bedeutung der Figur Leonhard Kakabsa für die Endfassung des Romans ›Die Dämonen‹ v. H. v. D. Wien 2007. Wendelin Schmidt-Dengler / Oliver Ruf
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Döbbelin, Doebelin, Döbelin, Karl Theophilus, * 24.4.1727 Königsberg/Neumark, † 10.12.1793 Berlin. – Schauspieler, Theaterleiter u. Dramatiker.
Döbler Literatur: Johann Friedrich Lauson: Die dt. Gesellsch. in Königsberg. Königsb. 1769. – Joseph Anton Christ: Schauspielerleben im 18. Jh. Erinnerungen. Hg. Rudolf Schirmer. Mchn. u. Lpz. 1912. – Conrad Höfer: Vom ältesten Weimarischen Hoftheater. Ein Beitr. zur Lebensgesch. v. Carl T. D. In: Studien zur Literaturgesch. FS Albert Köster. Lpz. 1912, S. 83–113. – Gerhard Born: Die Gründung des Berliner Nationaltheaters u. die Gesch. seines Personals, seines Spielplans u. seiner Verwaltung bis zu D.s Abgang. Diss. Erlangen 1934.
Nach Abbruch seines Jurastudiums in Frankfurt/O. u. Halle wurde D. 1750 Schauspieler bei der Neuberin u. wechselte 1752 in die Schuchische, 1754 in die Ackermann’sche Gesellschaft. Mit seiner eigenen, 1756 auf Anregung Gottscheds entstandenen Truppe Cornelia Fischer / Red. wurde er zu einem der wesentl. Vertreter der am frz. Klassizismus orientierten »gereinigten« Schaubühne. Nach Auflösung seiner Döbler, Hannsferdinand, auch: Peter BaTruppe 1765 ging D. zu Ackermann nach raban, * 29.6.1919 Berlin, † 25.12.2004 Zürich u. 1766 zu Schuch nach Berlin, mit Hannover. – Romancier u. Sachbuchaudem er sich im Jahr darauf das »preußische tor. Privilegium« teilte, welches ihm erneut den Nach Kriegsdienst u. -gefangenschaft war D. Aufbau einer eigenen Truppe ermöglichte. zunächst Bibliothekar in Essen. 1965 zog er 1768 gelang ihm mit der Aufführung von nach München, wo er seinen Lebensunterhalt Lessings Minna von Barnhelm ein bedeutender mit dem Schreiben von Sachbüchern verkünstler. u. finanzieller Erfolg; 1772 brachte diente; ab 1974 arbeitete er als Dozent an der er in Braunschweig Emilia Galotti zur UraufVolkshochschule Hannover. Daneben schrieb führung. 1775 erwarb er Heinrich Gottfried er Romane, die mehr Lob als Leser fanden. Kochs Privileg in Berlin u. bereicherte sein Keine Anhaltspunkte (Hbg. 1958) u. Exners Glück Repertoire mit dem beliebten neuen Genre (Buxtehude 1988) behandeln in präzisen Bedes dt. Singspiels. Hervorragende Schauspieschreibungen die durch die gesellschaftl. ler, unter ihnen Friedrich Ludwig Schröder, Verhältnisse ausgelösten Widersprüche im traten unter D.s Direktion auf; die Pflege von Bewusstsein u. Leben von »Aussteiger«-GeLessings Werk setzte er mit der Uraufführung stalten. Die Frage nach der Identität des des Nathan 1783 fort. Friedrich Wilhelm II. Einzelnen im Zusammenhang mit den polierhob 1786 das D.’sche Theater zum Königtisch-histor. Ereignissen führte D. auch zu lichen Nationaltheater; D. allerdings wurde seiner autobiogr. Trilogie, die in der Fülle der ein Jahr später wegen Misswirtschaft eine sog. »Bewältigungsliteratur« der jüngsten dt. Verwaltung vorgesetzt. 1789 zog er sich von Geschichte durch ihr literarisches Niveau u. der Bühne zurück. ihre selbstkrit. Aufrichtigkeit auffällt. Kein Als Schauspieler dem alten pathetisch-trag. Alibi. Ein deutscher Roman 1919–1945 (Bln. 1980) Stil verpflichtet, erwarb D. sich als Prinzipal schildert die typ. Entwicklung eines unu. als Förderer des Dramas der Aufklärung glückl. Jungen zum unpolitischen, pflichtVerdienste. Sein künstlerisches Credo kommt treuen Offizier im Dienst des nationalsoziaauch in seinen literar. Arbeiten zum Auslist. Regimes. Gez. Coriolan (Hbg. 1956) handruck, zumeist versifizierten Vorspielen, eidelt von einem zwielichtigen Doppelspiel in ner von den Wandertruppen im 18. Jh. gern der russ. Kriegsgefangenschaft, u. Nie wieder gebrauchten dramat. Nebenform zur proHölderlin. Roman einer Rückkehr (Buxtehude grammat. Interpretation ihrer Wirkungsab1989) zeigt die Auseinandersetzung des sicht. Heimkehrers aus der Gefangenschaft mit der Weitere Werke: Heinrich der Erhabene. Bln. entstehenden Bundesrepublik aus der Per1780 (Schausp.). – Vorspiele: Psyche in ihrer Kindspektive des Autors in den 1980er Jahren. D.s heit. Bln. 1775. – Philidor oder Der neunzigjährige Berufung auf Ibsen (»Dichten heißt GeGreis. Bln. 1776. – Titus. Bln. 1779. richtstag halten«) entspricht es, dass er das Ringen des Einzelnen um sein Leben u. seine
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Verstrickung in den herrschenden Zeitgeist so in den Blick rückt, dass dabei die Frage nach dem Gewissen u. der Schuld der Person deutlich wird. Das Hauptwerk seiner Tätigkeit als Sachbuchautor ist eine 10-bändige Kulturgeschichte der Welt (Mchn. 1971–74). Erwähnung verdient auch Hexenwahn. Die Geschichte einer Verfolgung (Mchn. 1977). 1998 erhielt D. den Kurt-Morawietz-Literaturpreis der Stadt Hannover. Weitere Werke: Ein Achtel Salz. Die Gesch. einer jungen Ehe. Mchn. 1955 (R.). – Der Preisträger. Hbg. 1962 (R.). Literatur: Jürgen Lodemann: H. D. In: KLG. Walther Kummerow / Red.
Döblin, Alfred, * 10.8.1878 Stettin/Oder, † 26.6.1957 Emmendingen bei Freiburg i. Br.; Grabstätte: Housseras/Ost-Vogesen, Dorffriedhof. – Romancier, Dramatiker, Essayist. Die widerspruchsvolle Persönlichkeit D.s wurde in einer Familie geformt, die von schweren Konflikten zwischen sehr gegensätzlichen jüd. Eltern belastet war. Der Vater Max Döblin (1846–1921) war ein musisch vielseitig begabter Schneidermeister, die Mutter Sophie, geb. Freudenheim (1844–1920), die praktisch u. rational veranlagte Tochter eines Materialwarenhändlers, die für die künstler. Neigungen ihres Mannes u. später auch des Sohnes wenig übrig hatte. Zum traumatischen, später wiederholt thematisierten Ereignis in D.s Jugend wurde die Flucht des Vaters aus der familiären Bindung im Juni 1888. Mit einer 20 Jahre jüngeren Angestellten seiner Zuschneidestube verschwand er nach Amerika u. ließ die Familie in sozialem Elend zurück. D., das vierte von fünf Kindern, musste aus dem Gymnasium genommen werden. Noch im selben Jahr siedelte die Familie nach Berlin über. Die ärml. Lebensverhältnisse, die neuartigen Eindrücke der Großstadt u. die Autoritätskonflikte in der verhassten, später oft attackierten Schule gehörten zu den prägenden Erfahrungen der Berliner Jugendzeit. Erst 1891 konnte D. seine gymnasiale Ausbildung fortsetzen. Mit 22 Jahren machte er nach er-
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hebl. Schwierigkeiten (bes. in Mathematik) 1900 ein mittelmäßiges Abitur. Doch während der Schulzeit hatte der Vielleser die »Götter meiner Jugend« gefunden: Kleist u. Hölderlin. Hinzu kamen Nietzsche, Schopenhauer, Spinoza u. Dostojewski. Ab Okt. 1900 studierte D. Medizin: bis März 1904 in Berlin, wo er nebenbei auch Vorlesungen zur Philosophie hörte, dann in Freiburg i. Br. Dort spezialisierte er sich auf Neurologie u. Psychiatrie, legte im Juli 1905 die Abschlussprüfung mit »gut« ab u. promovierte noch im selben Monat bei Alfred Hoche über Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose (Bln. Neuausg. mit einem Nachw. v. Susanne Mahler. Bln. 2006). Ab Nov. 1905 arbeitete er in der Kreisirrenanstalt Prüll bei Regensburg, ab Okt. 1906 in Berliner Krankenhäusern. Im Okt. 1911 eröffnete er eine neurolog. Kassenpraxis. Die Konflikte in dem Doppelleben als Arzt u. Dichter verstärkten sich in dieser persönl. Krisenzeit durch die Ehe (Jan. 1912) mit der Medizinstudentin Erna Reiss, Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten u. Typ der pragmatischen, kunstfeindl. Mutter. Schon als Student schrieb D. literarisch ernst zu nehmende Erzählungen u. Romane. In dem gleichaltrigen Herwarth Walden fand er einen langjährigen Freund, der ihn in die Kunst- u. Literaturszene Berlins einführte. Mit zahlreichen literar. u. kunsttheoret. Beiträgen in dessen 1910 gegründeter Expressionistenzeitschrift »Der Sturm«, seiner 1913 im Verlag Georg Müller u. d. T. Die Ermordung einer Butterblume (Mchn. u. ö. 101998. 2004) erschienenen Sammlung früher Erzählungen u. dem Roman Die drei Sprünge des Wang-lun (Bln. 1915 u. ö. Düsseld. 2007) wurde D. zu einem der maßgebl. Autoren des Expressionismus. »Man lerne von der Psychiatrie«, forderte D. 1913 im »Sturm« mit seinem für die Theorie des modernen Romans wegweisenden »Berliner Programm«. Er meinte damit einen »Kinostil« neutraler Beobachtung, der auf kausale Erklärungen, erläuternde Erzählerkommentare u. psychologisierende Aussagen über das Innenleben der Figuren verzichten sollte. Schon früh entwickelte er, bestärkt noch durch den Futurismus, eine epi-
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sche Technik, die mit ihrer paratakt. Aneinanderreihung einzelner Wörter, kurzer Sätze u. sich verselbständigender Erzählsequenzen dazu geeignet war, die verwirrende Dynamik simultaner Großstadtreize u. sozialer Massenbewegungen literarisch zu imitieren. Von der Psychiatrie profitierte D. auch mit der für sein Werk von Beginn an charakterist. Vorliebe für psychopatholog. Themen. Wahnsinn, Sexualität u. Tod verweisen zus. auf eine unergründl. Macht des »Lebens«, mit der die Individualitätsansprüche u. der herrische Selbstbehauptungswille zivilisierter Subjekte in bedrohl. Konflikte geraten. D.s Werke sind Beschreibungen eines Kampfes, in dem der Einzelne gegenüber einer anonymen Kraft in sich selbst, in der Natur u. der Gesellschaft zur Ohnmacht u. Niederlage verurteilt ist. In dem 1902/03 entstandenen Roman Der schwarze Vorhang (Bln. 1919), der Geschichte einer Pubertätskrise, wird das Ringen des Protagonisten mit der eigenen Triebnatur zum Geschlechterkampf mit dem Mädchen, das sein erotisches Begehren weckt. D.s bekannteste Erzählung Die Ermordung einer Butterblume verarbeitet diese Thematik zum satir. Psychopathogramm eines wilhelmin. Bürgers, der im vergebl. Kampf gegen eine Blume u. gegen den eigenen Körper mit dem so autoritären wie lächerl. Gebaren eines stets um Disziplin u. Überlegenheit bemühten Geschäftsmanns auftritt. Mit der Titelfigur des Berlin-Romans Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine (Bln. 1918. Olten 1982) zeichnete D. eine weitere Karikatur dieses Typs. Ihn treibt der ökonom. Konkurrenzkampf im Zeitalter des techn. Fortschritts u. der Monopolbildung des Kapitals zum befreienden Wahnsinn. Angeregt u. a. von Martin Buber u. der daoist. Philosophie, setzte der chines. Wanglun-Roman, für den D. 1916 den FontanePreis bekam, der westlich-zivilisierten Mentalität aktiver Selbstbehauptung das östl. Ethos des »Nicht-Widerstrebens« u. »NichtHandelns« entgegen. Mit der für D. von nun an typ. Ansammlung riesiger Mengen historischen Materials erzählt der Roman das historisch verbürgte Schicksal einer daoist. Sekte, die im China des 18. Jh. zus. mit ihrem Führer Wang-lun von den kaiserl. Truppen
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ausgerottet wurde. Zum Schauplatz der dargestellten Kämpfe wird damit die Geschichte, die (auch in den noch folgenden histor. Erzählwerken) eine Geschichte von Aufständen, Unterdrückungen u. Kriegen ist. Wie auch in D.s zweitem histor. Roman Wallenstein (Bln. 1920 u. ö. Komm. Gesamtausg. Mchn. 2003) gehört dabei die Sympathie des Autors nicht den Siegern, sondern den Besiegten, den Schwachen u. den Leidenden. Die vom Historismus des 19. Jh. kultivierten »großen Männer, die Geschichte machen«, treten zurück hinter die vitale Macht eines kollektiven Geschehens, das sich in D.s Romanen mit einer Fülle historischer Fakten u. ohne den ordnenden Eingriff eines auktorialen Erzählers gleichsam selbst erzählt. Der Wadzek-Roman entstand während der ersten fünf Kriegsmonate mit dem für D.s Schreiben typ. Tempo; am Wallenstein arbeitete er ab Dez. 1916. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs hatte auch D. sich der nationalen Begeisterung nicht entziehen können. Ende 1914 meldete er sich als Freiwilliger u. wurde ab Jan. 1915 Militärarzt im lothring. Saargemünd. Mit einer 1917 in der »Neuen Rundschau« veröffentlichten Sympathieerklärung für die Revolution in Russland (Es ist Zeit!) begann für D. eine Phase politisch engagierter Publizistik. Nach Kriegsende kehrte er (im Nov. 1918) als Sympathisant der Rätedemokratie nach Berlin zurück, eröffnete erneut eine ärztl. Praxis, las Karl Marx u. Ferdinand Lassalle, gründlich jetzt auch Freud, schloss sich 1919–1921 eng der USPD an, danach (bis 1927) der SPD, betätigte sich unter dem Pseudonym Linke Poot intensiv als politischer Journalist u. Verfasser satirischer Zeitglossen, engagierte sich im »Schutzverband deutscher Schriftsteller«, dessen Erster Vorsitzender er im Jan. 1924 wurde, u. schrieb (zwischen 1921 u. 1924) regelmäßig Theaterkritiken für das »Prager Tagblatt«. 1920 begann er wieder literarisch zu arbeiten, verfasste zwei Theaterstücke (Lusitania u. Die Nonnen von Kemnade), schloss 1922 einige Monate seine Praxis u. zog sich vor der Familie in eine Pension zurück, um den Zukunftsroman Berge, Meere und Giganten (Bln. 1924 u. ö. Vollst. Ausg. Mchn. 2006) voranzutreiben. Daneben arbeitete er seine Natur-
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philosophie aus u. literarisierte 1923 u. d. T. Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord (Bln. 1924 u. ö. Zuletzt Düsseld. 2007) einen authent. Kriminalfall. In den Jahren nach seiner Polenreise im Herbst 1924, deren literar. Verarbeitung (Reise in Polen. Bln. 1926 u. ö. Vollst. Ausg. Mchn. 32000) von starken Sympathien des 1912 aus der jüd. Gemeinde ausgetretenen Autors für die staatlich unterdrückte Religiosität des orthodoxen Ostjudentums zeugt, sah sich D. zunehmend in das kulturelle, polit. u. gesellschaftl. Leben der Weimarer Republik integriert. Politische Aktivitäten entfaltete er u. a. als Gründungsmitgl. der aus kommunistischen u. linksliberalen Schriftstellern (darunter Brecht) gebildeten Gruppe 1925. Als er im Jan. 1928 in die »Sektion für Dichtkunst« der Preußischen Akademie der Künste gewählt wurde, galt er neben Heinrich Mann als namhaftester Repräsentant »linksbürgerlicher« Literatur. Das breite Publikum hatten seine Werke jedoch bisher nicht erreicht. Noch erfolgloser in dieser Hinsicht blieben das schwierige Versepos Manas (Bln. 1926. Olten 1961) u. die philosoph. Schrift Das Ich über der Natur (Bln. 1927). Erst der Roman Berlin Alexanderplatz (Untertitel: Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Zahlreiche Ausg.n, zuletzt Düsseld. 2007 mit einem Nachw. v. Helmuth Kiesel) machte D. zu einem populären Autor. Der bis dahin in Deutschland erste u. noch heute bedeutendste Großstadtroman wurde aufgrund seiner charakterist. Techniken des inneren Monologs u. der erlebten Rede, der Montage von Zeitungsausschnitten u. Stimmen großstädtischer Lebenswelt, der Komposition unterschiedlichster Sprachschichten, Motive u. Handlungsstränge, der filmschnittartigen Reihung heterogener Bilder u. Szenen zu Recht immer wieder mit James Joyces Ulysses (von D. 1928 rezensiert) u. John Dos Passos’ Manhattan Transfer verglichen. Die vielfältigen Anknüpfungen an das eigene Werk hat man dagegen weniger beachtet. In die Geschichte vom Transportarbeiter Biberkopf, der aus dem Gefängnis entlassen wird u. beschließt, »anständig zu sein«, der an der Großstadtrealität scheitert, krank in die Irrenanstalt eingeliefert wird u. am Ende ein
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neues Leben als Hilfsarbeiter beginnt, sind die für D.s gesamtes Werk charakterist. Handlungsschemata, Motive u. Themen eingegangen: der Kampf eines um Autonomie bemühten Individuums mit der Übermacht anonymer Kräfte; Schuld u. Buße; der Tod des alten u. die Geburt eines neuen, durch Krankheit gewandelten Menschen; die naturphilosophische u. religiöse Mystifikation sozialer Realitäten. Der offene Schluss ist symptomatisch für die durchgängigen Ambivalenzen des Autors, seiner Werke u. seiner Figuren: für das ständige Schwanken zwischen rebellischem Widerstand u. opferwilligem, leidensbereitem Anpassungsbedürfnis, zwischen individualanarchistischer Eigenwilligkeit u. symbiot. Verschmelzungswunsch mit der Natur oder sozialen Gemeinschaften, zwischen Zivilisationskritik u. Großstadtfaszination. Der zum größten Teil 1928 geschriebene, in der »Frankfurter Zeitung« vorabgedruckte u. im Okt. 1929 bei S. Fischer erschienene Roman wurde in etliche Sprachen übersetzt, in einer Hörspielfassung gesendet u. 1931 (mit Heinrich George in der Hauptrolle) verfilmt. Dem Autor verhalf der enorme Erfolg erstmals zu finanzieller Unabhängigkeit. Am 28.2.1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, verließ D. auf Anraten der Freunde Berlin. Er ließ sich zunächst in der Schweiz nieder, ab Nov. 1933 in Paris. Dort gehörte er zu den wenigen Emigranten, die die frz. Staatsbürgerschaft erhielten. In Paris engagierte er sich sogleich für die jüd. »Freilandbewegung«. Ab Okt. 1939 arbeitete er (u. a. mit den Germanisten Pierre Bertaux u. Robert Minder) propagandistisch im Dienst des frz. Informationsministeriums unter Jean Giraudoux. Am 10.6.1940 begann seine Flucht vor den dt. Besatzungstruppen durch Frankreich, Spanien u. Portugal in die USA. Am 12. Sept. erreichte er New York. In den Jahren der Emigration blieb D. literarisch fast ununterbrochen produktiv. In Zürich u. Paris hatte er den schon in Berlin begonnenen Roman Babylonische Wanderung oder Hochmut kommt vor dem Fall ausgearbeitet. In der Fabel eines aus dem Himmel auf die Erde vertriebenen Gottes überspielte er den Ernst der Exilsituation mit der burlesken
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Komik einer Abenteuer- u. Schelmengeschichte. Das Buch erschien 1934 im Amsterdamer Exilverlag Querido, der ein Jahr später auch den »kleinen Berliner Roman« mit »autobiographischem Einschlag« Pardon wird nicht gegeben (u. ö. Reinb. 1982) druckte. D. thematisierte hier den Verrat dt. Bürgertums an seinen alten Freiheitsidealen u. ließ den Helden erst im Sterben zu jener polit. Position finden, die schon 1931 seine Schrift Wissen und Verändern! den Intellektuellen empfohlen hatte: einen humanen, »geistesrevolutionären« Sozialismus jenseits doktrinärer Parteien. Noch im selben Jahr begann er die Arbeit an dem wieder auf umfangreichen Materialstudien basierenden SüdamerikaRoman Das Land ohne Tod (urspr. vorgesehener Titel: Amazonas) über die gewaltsame Kolonisierung u. Verwüstung der Natur u. indian. Kultur durch die Europäer. Das Werk (1937/ 38 in zwei Teilen in Amsterdam erschienen. Baden-Baden 1947) wurde zu einer »Art epischer Generalabrechnung mit unserer Civilisation« u. zur u. a. von Kierkegaard angeregten Erkundung christlicher Möglichkeiten angesichts der europ. Krise. In den fünf Jahren des amerikan. Exils schrieb D. zwar weiter, konnte indes so gut wie nichts mehr publizieren. Ungedruckt blieben der Bericht über seine Flucht durch Frankreich (Schicksalsreise. Ffm. 1949 u. ö. Solothurn 1993) u. v. a. auch die Fortsetzung des großen, bis 1943 auf vier Bände angewachsenen Revolutionsromans November 1918 (Amsterd. 1939. Mchn. 1948–50. Zuletzt 4 Bde., Mchn. 1995). Auch dieses histor. Epos über die Geschichte der missglückten Nachkriegsrevolution u. des durch seine Verwundung geläuterten Kriegsheimkehrers Friedrich Becker hatte aktuelle Bezüge. Es stellte die Frage nach der Schuld der Intellektuellen am verhängnisvollen Verlauf der dt. Geschichte u. nach einer verantwortbaren Position polit. Engagements. Angewiesen auf Arbeitslosenunterstützung, Spenden u. Almosen, verbrachte D. in Hollywood eine Zeit des sozialen Abstiegs u. der seelischen wie körperl. Zermürbung. Die mit der Taufe am 30.11.1941 offiziell vollzogene, doch der Öffentlichkeit verheimlichte Konversion zum Katholizismus verstärkte
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seine soziale Isolation auch unter den Exilschriftstellern. 1945 traf ihn die Nachricht vom Selbstmord (1940) eines seiner vier Söhne. Gleich nach Kriegsende kehrte D. als einer der ersten Emigranten fluchtartig in die Heimat zurück. Als Angestellter der frz. Militärregierung mit der literar. Zensur u. der Herausgabe der Zeitschrift »Das goldene Tor« (1946–1951) beauftragt, wirkte er mit an der Austreibung des Nazi-Geistes u. am kulturellen Wiederaufbau in Deutschland. Trotz kulturpolitischer Aktivitäten (u. a. als Mitbegründer der Akademie der Wissenschaften u. der Literatur zu Mainz) u. trotz des Erscheinens der bislang ungedruckten Exilromane konnte D. in Deutschland nicht wieder Fuß fassen – im Unterschied zu Thomas Mann, den er mit intriganter, den eigenen Ruf schädigender Polemik attackierte. Erst nachdem er persönlich verbittert, politisch enttäuscht u. körperlich schwer krank im April 1953 erneut nach Paris übergesiedelt war u. dort fast völlig isoliert lebte, setzten im Westen u. Osten Deutschlands verstärkte Bemühungen zu seiner materiellen Unterstützung u. literar. Wiederentdeckung ein. Erleben konnte D. noch das späte Erscheinen seines letzten großen Romans Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende, den er zu weiten Teilen 1945/46 in Baden-Baden morgens vor der Dienstzeit geschrieben hatte. Der von autobiogr. Motiven durchsetzte Roman erzählt die Geschichte vom verkrüppelten Kriegsheimkehrer Edward Allison, der im Elternhaus (wie Hamlet) eine dunkle Dramatik von Vater-Mutter-Sohn-Konflikten zu erhellen hat. Auf der Suche nach der Schuld am Krieg u. an seinem Unglück wird er erst nach einem gleichsam psychoanalyt. Heilprozess des Geschichtenerzählens aus der »langen Nacht der Lüge« befreit, von der die Familie belastet war. Als der Roman im Sept. 1956 in Ostberlin herauskam, wurde er ein großer Erfolg – D.s erster seit Langem u. sein letzter. Der Literaturpreis, den ihm die Bayerische Akademie der Schönen Künste am 27.6.1957 verlieh, kam für ihn zu spät. Einen Tag zuvor war D. nach langer Krankheit gestorben. Neben Kafka gilt D. als wichtigster Repräsentant u. Anreger moderner Romankunst in
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Deutschland. Nicht von dem beim breiten Publikum weit erfolgreicheren, doch traditionsverbundeneren Thomas Mann, sondern von ihm waren die jüngeren Autoren nach 1945 zu lernen bereit, darunter Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Peter Rühmkorf u. v. a. Günter Grass, der 1967 seinem »Lehrer« ausdrücklich dankte. Die Verfilmung von Berlin Alexanderplatz durch Rainer Werner Fassbinder wurde 1980 zum spektakulären Fernsehereignis u. hat dem Namen des Autors zu neuer Popularität verholfen. Noch heute indes wird D. mehr gelobt als gelesen. Weitere Werke: Lydia u. Mäxchen. Tiefe Verbeugung in einem Akt. Straßb. 1906. – Die Lobensteiner reisen nach Böhmen. Mchn. 1917. Neuausg. mit einem Nachw. v. Christina Althen. Mchn. 2006 (E.en). – Der dt. Maskenball. Bln. 1921. Olten 1972 (Zeitglossen). – Die Ehe. Drei Szenen u. ein Vorspiel. Bln. 1931. – Unser Dasein. Bln. 1933. Olten 1964 (philosoph. Werk). – Jüd. Erneuerung. Amsterd. 1933 (Aufs.). – Die dt. Lit. (im Ausland seit 1933). Paris 1938. – Der Oberst u. der Dichter oder Das menschl. Herz. Freib. i. Br. 1946 u. ö. Mchn. 1987 (E.). – Sieger u. Besiegte. Eine wahre Gesch. New York 1946. – Der unsterbl. Mensch. Ein Religionsgespräch. Freib. i. Br. 1946. Olten 1980. – Der Nürnberger Lehrprozeß (Pseud.: Hans Fiedeler). Baden-Baden 1946. – Unsere Sorge der Mensch. Mchn. 1948 (Ess.). – Ein Kerl muß eine Meinung haben. Ber.e u. Kritiken 1921–24. Bln. 1974. Mchn. 1981. Werkausgabe: Ausgew. Werke in Einzelbdn. In Verbindung mit den Söhnen hg. v. Walter Muschg. Weitergeführt v. Heinz Graber u. Anthony Riley. Olten/Freib. i. Br. 1960 ff. Literatur: Louis Huguet: Bibliogr. A. D. Bln. u. Weimar 1972. – Ernst Ribbat: Die Wahrheit des Lebens im frühen Werk A. D.s. Mchn. 1970. – Monique Weyemberg-Boussart: A. D. Seine Religiosität in Persönlichkeit u. Werk. Bonn 1970. – Leo Kreutzer: A. D. Sein Werk bis 1933. Stgt. 1970. – Klaus Müller-Salget: A. D. Werk u. Entwicklung. Bonn 1972. – Manfred Auer: Das Exil vor der Vertreibung. Motivkontinuität u. Quellenproblematik im späten Werk A. D.s. Bonn 1977. – Klaus Schröter: A. D. Reinb. 1978. – Jochen Meyer: A. D. 1878–1978. Eine Ausstellung des Dt. Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Marbach 1978. – Adalbert Wichert: A. D.s histor. Denken. Zur Poetik des modernen Geschichtsromans. Stgt. 1978. – Otto Keller: D.s Montageroman als Epos der Moderne. Mchn. 1980. – Roland Links: A. D. Mchn. 1981. – Helmuth Kiesel: Literar. Trauerar-
62 beit. Das Exil- u. Spätwerk A. D.s. Tüb. 1986. – Matthias Prangel: A. D. Stgt. 21987 (11973). – Wolfgang Schäffner: Die Ordnung des Wahns: Zur Poetologie des psychiatr. Wissens bei A. D. Mchn. 1995. – Christoph Bartscherer: Das Ich u. die Natur: A. D.s literar. Weg im Licht seiner Religionsphilosophie. Paderb. 1997. – Friedrich Emde: A. D. Sein Weg zum Christentum. Tüb. 1999. – Gabriele Sander: A. D. Stgt. 2001. – H. Kiesel: Gesch. der literar. Moderne. Mchn. 2004, S. 303–356. – Roland Dollinger, Wulf Koepke u. Heidi Thomann Tewarson (Hg.): A Companion to the Works of A. D. Rochester 2004. – Internat. A.-D.-Kolloquium Mainz 2005. A. D. zwischen Institution u. Provokation. Hg. Yvonne Wolf. Bern u. a. 2007. – Oliver Bernhardt: A. D. Mchn. 2007. Thomas Anz
Döblin, Hugo Emil, auch: Hendrik Tewel, * 29.10.1876 Stettin/Pommern, † 4.11. 1960 Zürich. – Verfasser von Gedichten, Dramen, Romanen, Hörspielen u. Essays. Der zweitälteste Bruder Alfred Döblins nahm, während er eine kaufmänn. Lehre absolvierte, Schauspielunterricht bei Paul Pauli u. Josef Kainz in Berlin. Als Schauspieler u. Rezitator trat er in verschiedenen Berliner Theatern u. Kabaretts auf, ab 1922 u. a. zus. mit Anita Berber u. Adele Sandrock in den literarisch-polit. Revuen des »Café Größenwahn« (= Café des Westens) am Kurfürstendamm, später im »fliegenden« Kabarett »Die Wespen«. Neben Einaktern u. Kurzszenen für das Kabarett schrieb D. Lieder, Gedichte, Dramen u. Drehbücher. Sein erster Gedichtband Stimmen aus dem Dunkel (Bln. 1929) enthält Visionen des kommenden Bombenkriegs u. der Zerstörung aller kulturellen Werte. 1930 gründete D. die erste Tonfilmschule in Berlin. Sie wurde am 1.4.1933 von der SA überfallen. Von diesem Tag an stand er unter ständiger Gestapo-Überwachung. Mithilfe des Schauspielers Paul Wegener emigrierte D. 1933 nach Prag, 1936 nach Österreich. Nach dem Einmarsch dt. Truppen u. dem »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialist. Deutschland im März 1938 gelang ihm die Flucht in die Schweiz. 1938 erschien dort sein schon vor dem Exil konzipiertes Drama Goliath erschlägt David, die Tragödie eines durch Rassenhass aus seiner dt. Heimat vertriebenen jüd. Krebsforschers. Ab 1944 trat D.
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wieder als Schauspieler auf u. wurde 1947 Professor am Schauspiel- u. Tonfilmstudio in Zürich. Seine nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Werke erschienen im Selbstverlag u. blieben weitgehend unbekannt. Weitere Werke: Eva-Lieder. 1896 (L.). – Die Mephisto-Tragödie. 1935. – Im Garten der Rosenlieder. 1944 (L.). – Die Stufe zu Gott. 1946 (L.). – Die Grenzen auf, die Herzen auf. 1950 (L.). Ilse Auer / Red.
Döhl, Reinhard, auch: Traugott Schneider, * 16.9.1934 Wattenscheid, † 29.5.2004 Stuttgart. – Literatur- u. Medienwissenschaftler, experimenteller Lyriker, Publizist, Kritiker, Hörspieltheoretiker u. -autor. Als Sohn des promovierten Historikers u. Lehrers Wilhelm Döhl u. seiner Ehefrau, der Naturwissenschaftlerin Luise Döhl, im westfäl. Wattenscheid geboren, wuchs D. in den Jahren des Zweiten Weltkrieges in Göttingen auf, wo er das humanist. Gymnasium besuchte. Erste Schreibversuche datieren auf Anfang der 1950er Jahre; inspiriert von der Arbeit als Erntehelfer u. von Wanderungen durch die Lüneburger Heide entstanden 1952/53 u. a. Landstreichergedichte. D. hörte zu dieser Zeit ein Hörspiel Günter Eichs (Die Nächte aus Viterbo) u. in der Folge alle vom NDR gesendeten Eich-Hörspiele. Er beschäftigte sich mit Sigmund Freud u. C. G. Jung u., während eines einjährigen Praktikums in der städt. Bücherei 1953/54, mit dadaist. Werken u. Programmen. Einen Platz im literarischkünstler. Betrieb suchend, besuchte D. die Büchereischule der Freien Hansestadt Hamburg, die er abbrach, nachdem er vergeblich versucht hatte, in die dortige Kunstakademie mit fotograf. Arbeiten aufgenommen zu werden. Er kehrte nach Göttingen zurück, wo er im Frühjahr 1957 das Externenabitur ablegte u. 1957–1959 Germanistik, Geschichte u. Philosophie studierte. Von Beginn an eine Doppelexistenz als Wissenschaftler auf der einen u. als Künstler sowie Autor auf der anderen Seite anstrebend, wurden 1958 eine Auswahl an Gedichten in einer Studentenzeitschrift veröffentlicht. In den nachfolgenden Jahren steigerte sich D.s
literarische u. künstler. Produktion, die er alsbald durch Übersetzungen, Theaterkritiken, Buchrezensionen, Collagen, Kunstpostkarten u. Essays ergänzte. 1959 gründete er mit anderen die »werkgruppe für dichtung« u. wurde Mitherausgeber von deren »protokollen« (1959/60); im gleichen Jahr folgte er einer Einladung Max Benses nach Stuttgart, um sein Studium in den Fächern Literaturwissenschaft, Ästhetik, Philosophie, Wissenschaftstheorie u. Politikwissenschaft fortzusetzen. D. gelang es, enge Kontakte zum poetisch-experimentell arbeitenden Kreis um Bense zu knüpfen u. Bekanntschaften etwa mit Helmut Heißenbüttel u. Ludwig Harig zu machen. Im Okt. wurde er zur Lesung eines Gedichtes auf der 22. Tagung der Gruppe 47 in Aschaffenburg eingeladen, bei der er grandios durchfiel. Der ersten Buchveröffentlichung 11 texte (Stgt. 1960) schlossen sich 1961 die erste wiss. Veröffentlichung (über Celan), die erste Ausstellungseröffnung (zu Georg Karl Pfahler) u. die erste Rundfunksendung (über Bense) an. In den 1960er Jahren schuf D., die Ideen seines Vortrags Über literarische Grenz- und Mischformen vom 19.10.1963 im Forum Stadtpark Graz einlösend, Text-Grafik-Integrationen, Comicstrips, überdruckte Zeitungen (Use papers) u. visuelle Texte. D. lernte Ernst Jandl u. durch ihn später Friederike Mayröcker kennen. 1965 promovierte sich D. mit einer Dissertation über Das literarische Werk Hans Arps 1903–1930. Zur poetischen Vorstellungskraft des Dadaismus (Stgt. 1967); im selben Jahr erhielt er den renommierten Prix Strasbourg. 1970 wurde seine erste Einzelausstellung realisiert. D. übernahm Lehraufträge an der Werkkunstschule Krefeld u. an der Rheinischen Musikschule Köln, konzipierte in einer 1970–1986 für den WDR entstandenen Sendereihe den einzigartigen Versuch einer Geschichte u. Typologie des Hörspiels in Lektionen, bevor er sich zu Beginn der 1970er Jahre vorerst aus dem Kulturbetrieb zurückzog. Eine akadem. Laufbahn planend, habilitierte sich D. 1979, wodurch er die Lehrbefugnis für Neuere deutsche Literatur unter bes. Berücksichtigung der Medien erhielt. In den folgenden Jahren unternahm D. längere Reisen, u. a. nach Japan u. in die Sowjetunion,
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u. wurde mit Stipendien u. Ehrerweisungen ausgezeichnet, darunter das Fellowship der Japan Society for Promotion of Science (1987), das Stipendium der Cité Internationale des Arts Paris (1990), der Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom (1992) u. Gastprofessuren an der Karl-Franzens-Universität in Graz (1996), der Kansai-Universität in Osaka (1996) u. der Hebrew University in Jerusalem (1998/ 99). Am 29.5.2004 starb er nach langer Krankheit im Alter von 69 Jahren in Stuttgart. D. machte sich im Laufe seiner wiss. Tätigkeit einen Namen als Theoretiker nicht nur des Hörspiels (Das Neue Hörspiel. Darmst. 1988. 21992. Das Hörspiel zur NS-Zeit. Darmst. 1992), sondern auch der Neuen Medien. Früh beteiligte er sich an Internetprojekten, die er häufig u. intensiv mit Johannes Auer bearbeitete; seit 1996 veröffentlichte er fast ausschließlich im WWW. Seine letzten Lehrveranstaltungen galten entsprechend den Wurzeln u. Möglichkeiten experimenteller Poesie im 20. Jh. als auch der Reproduktivität u. Produktivität im Internet. Interessiert u. neugierig, war er einer der Ersten, die sich auf neue mediale Erscheinungen einließen. Wie selbstverständlich empfand D. die Möglichkeiten der virtuell-digitalen Welt der Computer als Bestätigung zweifellos auch seiner eigenen Identität als Grenzgänger zwischen Wort u. Bild, zwischen der Sprache der Kunst u. derjenigen der Wissenschaft. Ab Mitte der 1990er Jahre entstanden Web-Projekte wie der Internet-Reader Als Stuttgart Schule, das epitaph gertrude stein zum 50. Todestag der Autorin oder die fastschrift h_h_h zum 75. Geburtstag von Heißenbüttel. Im Sept. 1998 erfolgte D.s Emeritierung. Im letzten Lebensjahrzehnt wandte er sich verstärkt Leben u. Werk Hermann Finsterlins zu, mit dem er sich bereits 1988 beschäftigt hatte (Das literarische Werk. Eine Annäherung. Stgt. 1988); er kuratierte eine Reihe von Ausstellungen, publizierte Kataloge (Sammlung Cremer. Stgt. 1995. Ein Werkquerschnitt. Schömberg 1999. Spielsachen und Spiele. Schömberg 2000. Erotische Zeichnungen. Aquarelle und Architekturen. Schömberg 2001) u. gründete im Jahr 2000 die Hermann Finsterlin-Gesellschaft.
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So wie Spielsachen u. Spiele symptomatisch das Finsterlin’sche Œuvre prägen, bildet auch der spieler. Synkretismus der Künste das Substrat von D.s Schaffen. Für seine vielseitigsten kreativen Betätigungen schöpfte er aus einem reichhaltigen Fundus an literar. Traditionen, v. a. der histor. Avantgarde, d.h. aus dem Œuvre der Dadaisten, der Wiener Gruppe u. anderer ludischer Literatur. Das Dialogische, das insbes. das Medium des Internets charakterisiert, beeinflusst D.s literarisch-künstler. Formen – seine Essays, in denen er z.B. über die Künstler-Dialoge zwischen Braque u. Picasso, Franz Marc u. Else Lasker-Schüler reflektiert, oder die integralen Typografiearbeiten mit Günther C. Kirschberger u. Hansjörg Mayer sind hierfür eindrucksvolle Belege. Als Stilmerkmal kann der spielerisch-freie Umgang mit Zitaten jedweder Provenienz gelten: D. »verlinkt« Texte, die bis dahin nichts miteinander zu tun hatten, u. aus dieser Verbindung entsteht eine Art »Hypertext«. Dazu gehört, dass er sowohl zahlreiche Fremdsprachen nutzt als auch verschiedene Dialekte, Märchen, Volkslieder, Redewendungen, Sprichwörter, Bauernregeln u. eine ungewöhnl. Vielzahl literar. Gattungen – von Prosa u. Gedicht über Hörspiel, Chanson u. Ballade bis hin zu Lautgedicht, Unsinnsvers, Limerick u. Haiku. Sein Werk kennzeichnet das Sprachspiel ebenso wie das Spiel mit der Sprache u. den Sprachen. Berühmt wurde D. in der Hauptsache mit seinem Gedicht apfel wurm von 1965, das mittlerweile in die meisten Schulbücher Eingang gefunden hat u. das im Sinne der konkreten Poesie u. des barocken Bildgedichts das Wort »Apfel« so lange wiederholt, bis es tatsächlich die Form eines Apfels erreicht, wobei in der Mitte das Wort »Wurm« zu lesen ist. Dieser »Wurm« findet sich – im übertragenen Sinne – in D.s Biografie. Denn der forschende Künstler D. hatte im Künstlerforscher D. stets einen Widersacher. So lässt sich die Auseinandersetzung mit avantgardist. Kunstwerken u. Poetologien auch als Möglichkeit verstehen, im distanzierten Blick die eigene Wortkunst zu präzisieren. Vor diesem Hintergrund müssen die Studien zu Arp, Schwitters oder auch Finsterlin neben
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ihrer zweifellos wichtigen forschungsgeschichtl. Bedeutung gelesen werden. Wie diese die Collage zum Stilprinizip erhoben, galt sie D. als entscheidendes poetolog. Baukonzept. Seine Wirkung u. Rezeption konzentriert sich auf eben jenen Prozess der Montage u. betrifft v. a. den Bereich der digitalen Netzliteratur. Auer schuf 1997 das Poem worm applepie for d., das D.s ursprüngl. »Apfel« mit einem computeranimierten Wurm ergänzt; dieser Wurm versteckt sich nicht mehr im Apfel: vielmehr beginnt er vor den Augen des Bildschirmbetrachters den Apfel aufzufressen. Der rote Wurm wird immer größer, der Apfel kleiner, bis er beinah ganz verschwunden ist – doch kurz zuvor startet das Spiel von vorne u. macht damit eine endlose Schleife des Vorgangs möglich. Zum 70. Geburtstag von D. sollte ein Festscript zum Thema experimentelle Literatur u. Internet erscheinen, das Auer als Herausgeber bearbeitete u. als Autor gestaltete – es wurde mit D.s Tod zu einem Erinnerungsbuch, in dem sich kreative Referenzen auf D.s Werke finden, etwa das Projekt appleinspace von Beat Suter u. René Bauer, in dem der Apfel nicht gefressen, sondern von realen Textwürmern (»Live-Queries«) aus dem Internet attackiert wird, die, mit dem Gesamtwerk D.s konfrontiert, den Apfel Zeile um Zeile mit Kon-Text füllen. Der Titel des Memoskripts $wurm = ($apfel>0) ? 1 : 0 stellt indes einen ausführbaren Code in der Skriptsprache PHP dar, der sich vom Computer interpretieren lässt u. programmatisch die D.’sche Kunstdimension benennt: »ist der apfel größer null, is(s)t der wurm, ansonsten is(s)t er nicht.« Weitere Werke: missa profana, zeitgedichte, moritat, liebesgedichte, variationen. Bln. 1962. – so etwas wie eine gesch. v. etwas. Stgt. 1962. – fingerübungen. Wiesb. 1962. – porträt einwände. Zus. mit K. Burkhardt. Stgt. 1962. – 4 texte. Stgt. 1964. – Prosa zum Beispiel. Wiesb. 1965. – geht u. geht. Stgt. 1966. – Das Buch Es Anna. Bln. 1966. – programm typografie 1, 2. Zus. mit G. C. Kirchberger u. H. Mayer. Stgt. 1966/67. – bedepequ. Stgt. 1967. – Wegwerfh.e. Stgt. 1967–86. – Poesia experimental. Estudios y teoria. Zus. mit E. Gomringer. Madrid 1968. – poem structures through the looking
Döhl glass. Zus. mit K. Burkhardt. Stgt. 1969. – Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs. Zus. mit B. Wilms u. a. Siegen 1981. – aus den botnanger sudelheften. ein notizbuch. Stgt. 1982. – Ansichtskarten u. Klerrijuhs aus der kleinen Stuttgarter Versschule. Zus. mit W. Ehehal. o. O. 1985. – wie man so sagt. gedichte. o. O. 1985. – wie man so liest. o. O. 1978 – Gillray was here. Eine Gesch. in Bildern. Stgt. 1987. – stuttgarterleben oder zerstreute Einsichten in die Kultur der Eingeborenen. o. O. 1987. – Auf der näml. Ebene. Eine poet. Korrespondenz v. R. D. u. a. Stgt. 1995. – ›kill the poem‹. digital visuell. konkrete poesie u. poem art. Zus. mit J. Auer. Zürich 2000. – Herausgeber: Zwischen Räume. 8 x Gedichte. Wiesb. 1963. – Christoph Martin Wieland: Werke I-III. Mchn. 1964–67. – (Zus. mit F. Martini) C. M. Wieland: Gesch. des Agathon. Stgt. 1979. – Ulrich Zeh. Stadt & Landschaft weiß. Leutenbach 1985. – U. Zeh. Sport Bilder. Waldshut 1986. – Kunst Handwerk Kunst. Kornwestheim 1986. – Wolfgang Ehehalt. Tgb. einer Fliege. Stgt. 1986. – U. Zehs Farb-Landschaften & Ereignisse. Kornwestheim 1987. – (Hg. zus. mit U. Bopp u. S. Mockler) U. Zeh. farblandschaften u. -ereignisse. Stgt. 1991. – (Hg. zus. mit dens.) Das schwarze Loch. Böblingen 1992. – (Hg. zus. mit dens.) poemchess. Stgt. 1997/98. – (Hg. zus. mit I. Morosawa) Bunkakoryu. Ein dt.-japan. Schriftwechsel. Eine Internet-Dokumentation. o. O. 1998 ff. – (Hg. zus. mit J. Auer) poet’s corner’le. der stuttgarter poetenwinkel. Eine Internet-Anthologie. Stgt. 1999 ff. Literatur: Helmut Heißenbüttel: Über ein Hörspiel v. R. D. WDR 1968. – Heinrich Vormweg: Hörspielautor R. D. WDR 1985. – Uta-Maria Heim: Als die Kunst noch lose an Nadel u. Reißnagel hing. R. D. provozierte konkret, ging ins innere Exil u. dann in den fernen Osten. In: ›Der VfB grüßt den tapferen Vietcong.‹ Stuttgart in den 60er Jahren. Hg. Helmut Böttiger. Stgt. 1989, S. 44–46. – Hannelore Schlaffer: Schriftstellerwissenschaftler. Zu R. D.s 60. Geburtstag. In: Stuttgarter Ztg., 3.9.1994. – Rolf H. Krauss: Die Photographie im Werk R. D.s. In: R. D. FotoBild. Stgt. 1997, S. 2–5. – Bettina Sorge: Nachw. In: R. D. Lesebuch. Münster 2002, S. 124–132. – Dies.: beiwort / spielanleitung. In: streck verse & lange gesichter. ein wörterspiel (mobile) mit 19 collagen des verf. Hg. A. Elhardt. Freiberg a. N. 2003, 4 S. – Beat Suter: ›Jetzt geht es wieder los.‹ R. D.s Bedeutung für die digitale Lit. In: Lit. in Westfalen. Hg. Walter Gödden. Bielef. 2006, S. 270–289. Oliver Ruf
Döllinger
Döllinger, Johann Joseph Ignaz von, auch: Janus, Quirinus, * 28.2.1799 Bamberg, † 10.1.1890 München. – Katholischer Theologe u. Kirchenpolitiker.
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die Bayerische Akademie der Wissenschaften als Nachfolger Justus von Liebigs zu ihrem Präsidenten. Weitere Werke: Gesch. der christl. Kirche. 2 Bde., Landshut 1833–35. – Lehrbuch der Kirchengesch. 2 Bde., Regensb. 1836–38 (auch engl. u. frz. ersch.). – Die Reformation. 3 Bde., Regensb. 1846–48. – Christentum u. Kirche. Regensb. 1860. – Kirche u. Kirchen, Papsttum u. Kirchenstaat. Mchn. 1861. Neudr. Ffm. 1969. – Beiträge zur polit., kirchl. u. Culturgesch. der sechs letzten Jahrhunderte. 3 Bde., Mchn. 1862–82. – Die Papstfabeln des MA. Mchn. 1863. Neudr. Ffm. 1962. – Über die Wiedervereinigung der Kirchen. Mchn. 1872. – Briefe u. Erklärungen v. I. v. D. über die Vatican. Dekrete 1869–87. Mchn. 1890. Neudr. Darmst. 1968. – Beiträge zur Sektengesch. des MA. 2 Bde., Mchn. 1890. Neudr. New York o. J. – Die Juden in Europa. Rede [...], gehalten am 25.7.1881. Bln. 1921. – Briefw. 1820–90. 4 Bde., Mchn. 1963–81. Literatur: John E. E. D. Lord Acton: D.s Historical Work. In: English Historical Review 5 (1890), S. 700–744. Neudr. London/New York 1962. – Walter Goetz: I. D. u. seine Entwicklung. In: Ders.: Historiker meiner Zeit. Köln/Graz 1957, S. 175–186. – Johannes Finsterhölzl: I. v. D. Graz 1969. – Victor Conzemius: D. In: TRE. – Georg Denzler (Hg.): Geschichtlichkeit u. Glaube. Zum 100. Todestag J. J. I. v. D. Mchn. 1990. – Goedeke Forts. – Manfred Weitlauff (Hg.): I. v. D. Kirchenhistoriker, Ökumeniker, Akademiepräsident. St. Ottilien 1999. Peter Aufgebauer / Red.
Der Sohn des Anatomen u. Physiologen Ignaz Christoph Döllinger begann 1816 in Würzburg das Studium der Philosophie u. kath. Theologie u. empfing 1822 nach Absolvierung des Bamberger Seminars die Priesterweihe. 1823 wurde er als Ordinarius für Kirchenrecht u. Kirchengeschichte an das Aschaffenburger Lyceum, eine Nachfolgeanstalt der nach 1798 unter frz. Herrschaft zur »Zentralschule« degradierten Mainzer Universität, berufen. Seit dieser Zeit war D. mit dem Dichter August von Platen befreundet. Nachdem D. durch seine 1826 erschienene Untersuchung Die Lehre der Eucharistie in den ersten drei Jahrhunderten (Diss. Landshut) zu fachlichem Ansehen gelangt war, gehörte er im selben Jahr zu den ersten von König Ludwig I. von Bayern an die neu gegründete Universität München Berufenen. Bald einer der führenden Kirchenhistoriker, beteiligte er sich intensiv an Bestrebungen um die Erneuerung der kath. Kirche Deutschlands. Er gehörte jahrzehntelang zu den aktiven Teilnehmern des Görres-Kreises, war Mitgl. der Frankfurter Nationalversammlung u. bestimmte das Programm verschiedener Bischofskonferenzen. Seine wiss. Verdienste liegen in erster Linie auf dem Gebiet der Patristik, der mit- Dönhoff, Marion (Hedda Ilse) Gräfin, * 2.12.1909 Schloss Friedrichstein/Osttelalterl. u. der neuzeitl. Kirchengeschichte. Der Entwicklung der zeitgenöss. röm. preußen, † 11.3.2002 Schloss Crottorf, Dogmatik stand er ablehnend gegenüber; Landkreis Altenkirchen, Rheinland-Pfalz. bereits im Vorfeld u. mit großem publizisti- – Journalistin u. Autorin. schen Echo stritt er unter den Pseudonym D. wurde auf dem Familiensitz Schloss Janus (Der Papst und das Konzil. Lpz. 1869) u. Friedrichstein, 20 km östlich vom KönigsQuirinus (Römische Briefe vom Konzil. Mchn. berg, in Ostpreußen in eine noch halbfeudale 1870) gegen das Erste Vatikanische Konzil u. Gesellschaftsstruktur hineingeboren. Ihr Vadas am 18.7.1870 verkündete Dogma von der ter August Karl Dönhoff († 1920), Mitgl. des Unfehlbarkeit des Papstes. Preußischen Herrenhauses u. ReichstagsabNach der alsbald erfolgten Exkommuni- geordneter, machte D. sehr bald mit gesellkation war D. fortan im kirchl. Bereich iso- schaftlichen u. polit. Fragen vertraut. Beeinliert; an der Organisation der altkath. Kirche flusst durch die ernste Wirtschaftskrise in den wollte er sich nicht beteiligen, stand ihr je- 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, begann doch aus Überzeugung nah. Im wiss. Leben D. ein Volkswirtschaftsstudium in Frankfurt/ genoss D. höchstes Ansehen: Die Universität M.: »Ich wollte einfach mehr begreifen von München wählte ihn 1871 zu ihrem Rektor, den Zusammenhängen, auch für Friedrich-
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stein.« 1933, nach der Machtergreifung Hitlers, wechselte sie nach Basel, um einer Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, da sie öffentlich ihre Abneigung gegen das NS-Regime zeigte (indem sie u. a. die Hakenkreuzfahne auf dem Dach der Universität entfernte, Flugblätter verteilte etc.). Wegen ihrer Sympathien für die Linken erwuchs zu dieser Zeit ihr Spitzname: die »rote Gräfin«. 1935 promovierte sie über die Entstehung u. Verwaltung des Dönhoff’schen Familienbesitzes. Die wesentl. Erkenntnisse aus dieser Arbeit veröffentlichte sie im zweiten Teil ihres erfolgreichen Werkes Namen die keiner mehr nennt. Ostpreußen: Menschen und Geschichte (Düsseld. 1962 u. ö. Erw. Neuausg. Würzb. 2003). Fast zwei Jahre lang kehrte sie dem nationalsozialist. Deutschland durch lange Aufenthalte u. a. in Afrika den Rücken, bis sie 1937 nach Ostpreußen zurückkehrte u. bald darauf die Gutsverwaltung alleine übernehmen musste. Dem Widerstand unter Claus Schenck Graf von Stauffenberg, Peter Graf Yorck von Wartenburg, dem Kreisauer Kreis, stand sie zumindest sehr nahe – die Gestapo verhörte auch sie nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler. Ihre eindrucksvollen Erinnerungen aus dieser Zeit legte D. in dem Werk Um der Ehre willen (Bln. 1994) dar. Ein differenziertes Bild von ihrer Mitwirkung im Kreisauer Kreis bietet Eckart Conze in seinem Aufsatz Welches Bild entwarf Gräfin Dönhoff vom deutschen Widerstand? (in: Vierteljahresh.e für Zeitgesch. Bd. 51 (2003), H. 4, S. 483–508). Am 24. Jan. 1945 war D. durch das Vorrücken der Russen gezwungen, das geliebte Friedrichstein fluchtartig zu verlassen. Die außergewöhnlich beeindruckende Schilderung ihrer Odysee zu Pferde u. ihre erschütternde Erfahrung des unendl. Leids des Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen gen Westen bilden die Grundlage des ersten Teils ihres bereits erwähnten Buches Namen die keiner mehr nennt (S. 7–53). Während sie hier Flucht u. Vertreibung schildert, beschreibt sie in ihrem anrührenden Buch Kindheit in Ostpreußen (Bln. 1988 u. ö. Sonderausg. 2003. Hbg. 2006) ein scheinbar auf Jahrhunderte gesichertes patriarchisch geregeltes Leben auf dem Stammsitz der Dönhoffs. D.s Buch wurde
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1988/89 zu einem Bestseller u. gehört – zus. mit Christian Graf von Krockows Reise nach Pommern (1985) u. Ilse Gräfin von Bredows Kartoffeln mit Stippe (1974) – zu den viel gelesenen Jugend- u. Kindheitserinnerungen preußischer Adeliger, in denen die Vergangenheit in der ostdt. Heimat im Gefühl des endgültig Vergangenen u. nicht Wiederzuerlangenden dargestellt wird. Am 1. März 1946 stieß D. zu der von der Militärregierung am 14. Febr. 1946 gegründeten Wochenzeitung »Die Zeit«, da die Redaktion der Zeitung auf zwei Memoranden der Journalistin aufmerksam geworden war. In diesen Memoranden, während der Nürnberger Prozesse verfasst, kritisiert sie das einseitige Bild der Alliierten Deutschland betreffend, da die Existenz eines dt. Widerstandes verleugnet wurde. D. übte stets größten Einfluss auf »Die Zeit« aus, war zweifellos die »Grande Dame« des Zeitungswesens des 20. Jh., blieb aber als Redakteurin u. Herausgeberin ein stets wacher u. krit. Geist. So verließ sie aus Protest gegen das Mitwirken von Richard Tüngel, der einen Text des NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt veröffentlichte, vorübergehend »Die Zeit«. In Ihrem Werk Ein wenig betrübt, Ihre Marion (Bln. 2003. Mchn. 2005), in dem sie die aufregenden Jahre in der »Zeit«-Redaktion u. mit dem Verleger Gerd Bucerius Revue passieren lässt, begründet sie ihren Widerstand: »Wer den Geist des Nationalsozialismus gepredigt und an seinen Sprachverdrehungen teilgenommen hat, soll für immer von der Presse (Lehre) ausgeschlossen sein.« Gerd Bucerius u. D. gewannen den Machtkampf u. brachten die äußerst erfolgreiche Wochenzeitschrift auf konsequent liberalen Kurs. 1955 gründete D. mit anderen liberalen Kräften die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Im gleichen Jahr wurde sie in der »Zeit« Ressortleiterin u. stellvertretende Chefredakteurin. 1968 stieg sie zur Chefredakteurin der »Zeit« auf, 1972 zur Herausgeberin, die sie bis zu ihrem Tod im Jahre 2002 blieb. Da sie für eine versöhnende Ostpolitik eintrat, forderte Willy Brandt sie 1970 auf, ihn zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages zu begleiten – in Anbetracht der großen persönl. Verluste in Ostpreußen sagte
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sie letztendlich mit großem Bedauern ab. Beobachtungen u. Komm.e aus drei Jahrzehnten. Zahlreiche Auszeichnungen u. Preise ehrten Stgt. 1983. Mchn. 1985. – Weit ist der Weg nach aus fünf Jahrihr politisches Engagement, ihre, wie sie es Osten. Berichte u. Betrachtungen zehnten. Stgt. 1985. Mchn. 21988. – Bilder, die selbst als Leitfaden formulierte, »stets von langsam verblassen. Ostpreuß. Erinnerungen. Bln. ethischen Prinzipien getragenen Berichtser1989. Mchn. 1999. Würzb. 2007. – Gestalten unstattungen«: 1962 erhielt sie die Ehrendok- serer Zeit. Polit. Portraits. Stgt. 1990. 51991. – Ritt torwürde des Smith-College (USA), da sie durch Masuren. Leer 1992. Würzb. 2002. – Zivili»der besten Tradition ihres Berufes stets treu siert den Kapitalismus. Grenzen der Freiheit. Stgt. geblieben ist«, außerdem den Joseph-E.-Dre- 1997 u. ö. Zuletzt Mchn. 2005. – Die neue Mittxel-Preis im Jahre 1964 u. den Theodor- wochsgesellsch. Bd. 1: Gespräche über Probleme v. Heuss-Preis 1966. Hervozuheben ist v. a. der Bürger u. Staat. Stgt. 1998. Bd. 2: Menschenrecht u. Friedenspreis des Börsenvereins des Deut- Bürgersinn. Stgt. 1999. – Was mir wichtig war. schen Buchhandels, 1971, zumal die Be- Letzte Aufzeichnungen u. Gespräche. Rheda-Wiedenbrück 2003. Mchn. 2004. gründung als Laudatio ihres Lebenswerkes Literatur: Karl-Heinz Janssen: Die Zeit in der herangezogen werden könnte: »Als PubliZEIT. 50 Jahre einer Wochenztg. Bln. 1995. – Alice zistin ist Gräfin Dönhoff für eine Politik der Schwarzer: M. D. Ein widerständiges Leben. Erste Versöhnung eingetreten, für eine Verständi- u. autorisierte Biogr. Köln 1996. – Haug v. Kuengung zwischen allen Nationen in West und heim: M. D. Reinb. 1999. – Rudolf Augstein: Ost.« 1988 erhielt D. den Heinrich-Heine- Nachruf zum Tod v. M. G. D. Spiegel Bd. 56 (2002), Preis der Stadt Düsseldorf (in ihrer Dankes- H. 12, S. 122–130. – Kilian Heck u. Christian rede wies sie auf die Situation in den besetz- Thidemann (Hg): Friedrichstein. Das Schloss der ten israel. Gebieten hin, was ihr heftige Kritik Grafen v. D. in Ostpreußen. Mchn./Bln. 2006. Georgine Hertle-Gäbhard des Zentralrats der Juden in Deutschland eintrug), 1999 den Bruno-Kreisky-Preis. Der Laudator hob ihre »prägende Rolle in der Dörffel, Georg Samuel, * 11.10.1643 50jährigen Geschichte der Bundesrepublik Plauen/Vogtland, † 16.8.1688 Weida/ Deutschland« hervor. D. wurde daneben zur Thüringen. – Pfarrer u. Astronom. Ehrenbürgerin der Stadt Hamburg ernannt. Für ihre Verdienste um die Völkerverständi- D.s Vater, Magister Friedrich Dörffel, war seit gung in Europa erhielt sie 1993 den Interna- 1638 Rektor der Stadtschule in Plauen, seit tionalen Brücke Preis der Stadt Görlitz, 1999 1644 Landdiakon für Oberlosa u. Straßberg, seine Mutter Maria Dörffel die Tochter des den Hermann-Sinsheimer-Preis. Auch sechs Plauener Ratsherrn Johann Tröger. Drei GeSchulen sind nach ihr benannt, darunter eine schwister überlebten die Kriegsjahre nicht. Schule in Polen, im masurischen Mikolajki. Nach Besuch der Plauener Lateinschule Der Marion-Dönhoff-Preis (finanziert von wurde D. 1653 an der Leipziger Universität der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius u. immatrikuliert. Zeitgleich besuchte er das der Marion Dönhoff-Stiftung) zeichnet seit Evangelisch-Luth. Stadtgymnasium in Halle. 2003 Persönlichkeiten aus, die sich bes. für 1661 wechselte er an die Universität Leipzig. gute Beziehungen zwischen Deutschland u. 1662 qualifizierte er sich mit einer AbhandOsteuropa engagiert haben bzw. für internat. lung De definitione et natura demonstrationis als Verständigung eintreten. Baccalaureus. Am 14. Febr. 1663 wurde er in Weitere Werke: Reise in ein fernes Land. Ber. Jena unter Erhard Weigel aufgrund der Exerüber Kultur, Wirtschaft u. Politik in der DDR. Hbg. citatio philosophica de quantitate motus gravium 1968. Reinb. 111971. – Dt. Außenpolitik v. Adezum Magister promoviert. In Leipzig könnte nauer bis Brandt. Hbg. 1970. – Von Gestern nach D. mit Leibniz zusammengetroffen sein, den Übermorgen. Hbg. 1981 (Gesch. Westdtschld.s.). – Dtschld., Deine Kanzler. Die Gesch. der Bundesre- er in seiner Kometenschrift von 1681 seinen publik vom Grundgesetz zum Einigungsvertrag. »fürnehmen Gönner« nennt. Von Okt. 1664 Mchn. 1981. Erw. u. aktualisiert u. d. T. Dtschld., bis Jan. 1667 studierte D. Theologie bei Jodeine Kanzler. Die Gesch. der Bundesrepublik hann Adam Schertzer. Im Dez. 1665 erschien 1949–99. Mchn. 1999. – Amerikan. Wechselbäder. seine Disputatio philologico-theologica de gloria
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templi ultimi ex Hagg. 2,6–9 adversus Judaeos asserta (Lpz.). Am 21. Dez. 1667 wurde D., inzwischen auch Baccalaureus der Theologie, als künftiger Nachfolger seines Vaters nach Plauen berufen. Am 20. Jan. 1668 wurde er in der Nicolaikirche zu Leipzig ordiniert. Nach dem Tod des Vaters erhielt er dessen Stelle als Pfarrer u. Landdiakon. Jährlich hielt er beinahe hundert Predigten in Plauen, Straßberg u. Oberlosa. Seit 1684 war er Superintendent in Weida. D. war dreimal verheiratet, mit Maria Elisabeth Gebhardt († 1677), die ihm fünf Kinder gebar, mit Salome Maria Klinger († 1686), die ihm vier Kinder schenkte, u. im letzten Lebensjahr mit Judith Francke († 1736), deren einziges Kind noch im gleichen Jahr wie der Vater starb. D. korrespondierte 1682–1688 mit Gottfried Kirch, der ebenfalls bei Weigel ausgebildet worden war u. danach unter Johann Hevelius seine astronom. Studien fortgesetzt hatte, über Himmelsbeobachtungen u. -berechnungen. Ein Briefwechsel D.s mit Weigel ist nur indirekt nachweisbar. In seiner Schrift über die Messung der Bewegung u. Beschleunigung verschieden schwerer Körper argumentiert D. aufgrund eigener Experimente, wertet aber auch die Dialoghi Galileis, die philosoph. Schriften von Descartes u. Pierre Gassendi sowie die Untersuchungen über den freien Fall von Giambattista Riccioli SJ aus, den er, unter Absehung von konfessionellen Differenzen, als »noster laudatus Ricciolus« bezeichnet. D. veröffentlichte seine Beobachtungen der Kometen von 1672, 1677, 1680/81 u. 1682, die an Genauigkeit mit denen Hevels konkurrieren konnten. Vor allem mit seiner Astronomischen Betrachtung des Großen Kometen (Plauen 1681) fand D. Eingang in die dt. Astronomiegeschichte. Er stellte darin fest, dass es sich bei dem vom 22. bis 24. Nov. 1680 bei Sonnenaufgang beobachteten Kometen u. dem nach dem 11. Dez. 1680 am Abendhimmel entdeckten um ein u. dasselbe Objekt handeln müsse, das sich in einer Parabel um die Sonne bewege, u. berechnete diese Parabel aufgrund der heliozentr. Hypothese, die er, wie viele protestantische u. jesuit. Gelehrte seiner Zeit, in der von Tycho Brahe vermittelten Form vertrat. Damit kam D. zum glei-
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chen Ergebnis wie 1687 Newton u. noch später Edmond Halley, die die stark gekrümmte ellipt. Bahn des Kometen 1680/81 aufgrund des 3. Keplerschen Gesetzes mathematisch rekonstruierten. D. veröffentlichte auch seine Beobachtungen des [Halleyschen] Kometen vom 25. Aug. bis 20. Sept. 1682 sowie Berechnungen zweier Mondfinsternisse 1683 u. 1684. Mit seiner in den Acta Eruditorum 1685 erschienenen Abhandlung über die Entfernungsmessung an Kometen mithilfe der durch die tägl. Erdrehung ermittelbaren Parallaxe trug D. zu einer seit Tycho Brahes Messungen viel diskutierten Frage bei. D.s Verdienste um die Kometenforschung wurden erst von Abraham Gotthelf Kästner u. Johann Christoph Gottsched gewürdigt, die seine nur mit »M. G. S. D.« unterzeichnete Kometenschrift von 1681 wiederentdeckten u. ihn zum Erben namhafter dt. Astronomen wie Georg Peurbach, Regiomontan u. Kepler erklärten. Die Verbindung von historisch-philologischer Exaktheit mit dem Ideal präziser Beobachtung u. Berechnung ist D. mit Leibniz u. Christian Wolff gemeinsam. De gloria templi ultimi ist eine ausführl. Auseinandersetzung mit der älteren u. zeitgenöss. rabbin. Exegese mit dem Ziel zu erweisen, dass die jüd. Hoffnung auf einen dritten Tempel, der den zweiten, im Jahr 70 zerstörten an Herrlichkeit übertreffen werde, gegenstandslos sei, weil Haggais Prophezeiung eines letzten Tempels sich, »spiritualiter« verstanden, auf die Ankunft Christi beziehen müsse. Anlass dieser antijüd. Schrift ist wahrscheinlich eine von D. zitierte anonyme jüd. Schrift aus dem Jahr 1643, die aufgrund astrologischer Berechnung das Kommen des Messias für 1664 prophezeite. Die Überlegenheit seiner Hermeneutik, welche die »certitudo theologica« der Prophezeiung erweisen solle, sieht D., in Analogie zur experimentellen Methode in der Naturforschung, in der Genauigkeit philologisch-historischer »observationes« am Text (Disputatio I, §§19–20). Ein Zeugnis von D.s luth. Rechtgläubigkeit ist seine Widerlegung der Schrift eines Prager Jesuiten Aloysius Richard Trost-Brunn der Ewangelischen [...] aus welchen sie ihre Tröstungen schöpffen/ durch welche sie von ihrer Seelen-Seeligkeit gewiß und versichert
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werden (Prag 1681). Mit rhetorischem Geschick, kunstvoller Polemik u. poet. Fantasie führt D. in Der ärgste Seelen-Gifft Des Trostlosen Papstthums (Jena 1682) die durch das Tridentinum bekräftigte Lehre ad absurdum, dass ein Christ nie sicher sein könne, zu den Seligen u. Erretteten zu gehören, wodurch Zweifel, Misstrauen u. Unglaube gefördert würden. Seine Loyalität gegenüber dem sächs. Kurfürsten bekundet D. in der panegyr. »Gedächtnis-Predigt« auf den ebenso frommen wie tapferen u. dabei vorsichtigen Oberstleutnant Hans Georg von Carlowitz, der im Dienst Johann Georg II. 1686 bei der Erstürmung der von Türken besetzten Festung Ofen sein Leben ließ (gedr. Eisenberg 1687). Literatur: Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit. Tl. 1, Lpz. 1733, S. 399. – Johann Friedrich Weidler: Historia Astronomiae. Wittenb. 1741, S. 551–571. – Abraham Gotthelf Kästner: Nachrichten v. G. S. D. [...], welcher die wahre Gestalt der Kometenbahnen zuerst entdeckt hat. In: Slg. einiger ausgew. Stücke der Gesellsch. der freien Künste zu Leipzig. Bd. 3, Lpz. 1755, S. 252–263. – Curt Reinhardt: Mag. G. S. D. Plauen 1882. – Otto Knopf: Die Astronomie an der Univ. Jena. Jena 1937, S. 51–55. – Rudolf Gerlach: D. In: NDB. – C. Doris Hellman: D. In: DSB. – G. S. D. (1632–88). Theologe u. Astronom. Hg. vom Verein für vogtländ. Gesch., Volks- u. Landeskunde e.V. Plauen 1994. – Elvira Pfitzner: Der Briefw. Gottfried Kirch – G. S. D. in den Unibibl.en Leipzig u. Basel. In: Die Sterne. Lpz./Bln. 71 (1995), Nr. 4, S. 221–226. – Dies.: Die astronom. Beobachtungen des Geistlichen G. S. D. 1643–88. Weißbach 1998. – Volker Fritz Brüning: Bibliogr. der Kometenlit. Stgt. 2000, S. 258, Nr. 1381 u. S. 259, Nr. 1382. Barbara Mahlmann-Bauer
Dörfler, Anton, * 2.8.1890 München, † 12.3.1981 Seeshaupt/Oberbayern. – Heimatdichter. D. verbrachte eine sorglose Kindheit u. Jugend in München u. Würzburg. Mit 16 Jahren begann er seine ersten Theaterstücke, Märchen u. Romane zu schreiben. Zgl. fühlte er sich zur Musik u. Malerei hingezogen. Er ergriff nacheinander verschiedene Berufe u. arbeitete u. a. als Lehrer, Schauspieler, Theaterkritiker u. Schriftleiter der Stuttgarter Zeitschrift »Die Lese«.
1918 erschienen seine Deutschen Geschichten aus drei Welten (Lpz.), die bereits deutlich den Einfluss seiner Vorbilder Wilhelm Raabe, Gottfried Keller u. Adalbert Stifter verrieten. Besonderen Erfolg erzielte D. 1921 mit dem Buch Wunder und Feste der Schule zu Wunnentor (Lpz.), mit dem er sich an die deutsch-nat. Jugend wandte. Bekannt wurde er mit dem Handwerkerroman Der tausendjährige Krug (Jena 1935), der ihm den »Volkspreis für deutsche Dichtung« eintrug. Während der Zeit des Dritten Reiches veröffentlichte er eine Reihe weiterer Bücher, in denen er den Wert der Heimat u. die konservativen Tugenden (Demut, Geduld, Frömmigkeit) einer vorindustriellen »heilen« Welt pries. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet D. zunehmend in Vergessenheit. Weitere Werke: Gedichte. Nürnb. 1925. – Der Ruf aus dem Garten. Jena 1936 (E.). – Niemandsland der Ehe. Düsseld. 1949 (R.). – Geduld im Segen. Würzb. 1963 (Teilslg.). – Jugend nach der Sonnenuhr. Heitere Erinnerungen. Volkach 1969. – Gedichte u. lyr. Szenen. Feldafing 1976. Peter König / Red.
Dörfler, Peter, * 29.4.1878 Untergermaringen bei Kaufbeuren, † 10.11.1955 München; Grabstätte: ebd., Friedhof Neuhausen. – Katholischer Priester u. Erzieher; Verfasser von Romanen u. Erzählungen. Der aus einer alteingesessenen Bauernfamilie im bayer. Schwaben stammende D. sollte nach dem Wunsch seiner Eltern Priester werden. Nach dem Abitur am Benediktinergymnasium St. Stephan in Augsburg studierte er Theologie in München u. wurde 1903 zum Priester geweiht. Als Seelsorger wirkte er in Steingaden, Lindenberg/Allgäu, Landsberg/Lech u. Mindelheim. Seine Schwierigkeiten, sich in den Priesterberuf zu finden, kompensierte er zunächst durch intensive Beschäftigung mit pädagogischer Literatur sowie mit der Lektüre Tolstois u. Ibsens. Dann folgten erste literar. Versuche: einige wenig erfolgreiche Volksstücke, schon bald aber auf Interesse stoßende Erzählungen, Romane u. Veröffentlichungen u. a. in der kath. Literaturzeitschrift »Hochland«.
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Auf einer Italienreise 1905 ergab sich für ihn Trilogien Apollonia (Der Roman eines Geschlechdie Möglichkeit, eine einjährige Kaplanstelle tes. Bln. 1932) u. Allgäu (Bln. 1936). Im Mitam Campo Santo Teutonico in Rom anzu- telpunkt der ersteren steht eine Frauengenehmen. Er nutzte diese Zeit zu historischen stalt, die sich durch Selbstlosigkeit auszeichu. archäolog. Studien u. erhielt gleichzeitig net. Mit Allgäu gelang ihm ein polit. BauernAnregungen zu weiteren Romanen (Neue roman, der in Inhalt u. Aussage weit über die Götter. 2 Bde., Kempten/Mchn. 1920). 1909 regionalen Grenzen hinausweist. Seine wurde er in München zum Dr. theol. pro- Hauptfigur, der wirtschaftl. Reformator des moviert. D. erfuhr in den nächsten Jahren Allgäus im 19. Jh., Karl Hirnbein, agiert u. Kritik aus kirchl. Kreisen wegen seiner reagiert im Spannungsgefüge von Tradition schriftsteller. Tätigkeit. Aber auch er selbst, u. politisch-gesellschaftl. Reaktion einerseits der Dogmatismus ablehnte, setzte sich kri- u. den modernen Strömungen von Nationatisch mit der inneren Lage der kath. Kirche lismus u. Liberalismus andererseits. D.s Romane sind am ehesten einem späten auseinander, ohne allerdings Hoffnungen auf Modernismus u. Reformkatholizismus zu poet. Realismus zuzuordnen. Das pädagogische u. priesterl. Anliegen des Autors wird setzen. Freudig übernahm er 1915 die Leitung des immer wieder deutlich. St. Marien-Ludwig-Ferdinand-Kinderheims Weitere Werke: Als Mutter noch lebte. Aus eiin München, denn diese Aufgabe erfüllte ihn ner Kindheit. Freib. i. Br. 1912. 43. geänderte Aufl. u. entsprach seinem priesterlichen u. päda- Kempten 1978. – Die Anfänge der Heiligenverehgog. Selbstverständnis. Er unternahm Vor- rung nach den röm. Inschr.en u. Bildwerken. Diss. tragsreisen zu einer wachsenden Leserge- Mchn. 1909. – Die Papstfahrt durch Schwaben. meinde durch ganz Deutschland u. Bil- Kempten/Mchn. 1923. 2. geänderte Aufl. Kempten 1979 (E.en). – Die Wessobrunner, Roman um ein dt. dungsreisen, v. a. im Mittelmeerraum. Den Künstlerdorf. Bln. 1941. Mchn. 41977. – Die GeNationalsozialismus lehnte er aus christl. sellen der Jungfer Michline. Freib. i. Br. 1953. Überzeugung ab. Obwohl er im Dritten Reich 21954. als unerwünschter Autor galt u. BehindeLiteratur: Joseph Bernhart: P. D. In: Lebensrungen nicht ausblieben, gelang es ihm, bilder aus dem bayer. Schwaben. Hg. Götz v. Pölweiterhin ohne Einschränkungen zu publi- nitz. Bd. 7, Mchn. 1959, S. 406–454 (mit Bibliogr.). zieren. 1945 verlieh ihm die Stadt München – Friedrich Braig: P. D. In: Stimmen der Zeit. ihren Literaturpreis, 1948 wurde er Mitgl. der Bd. 160, Freib. i. Br. 1956/57, S. 43–54 (mit BiAkademie der schönen Künste, München. Die bliogr.). – Rosemarie Mair: P. D. Priester, Dichter u. Gesamtauflage seiner Bücher übersteigt eine Pädagoge. In: Der Schwabenspiegel 3 (2002), Million (z.T. Übersetzungen in mehrere eu- S. 98–106. Reinhard Baumann / Red. rop. Sprachen). D.s literar. Schwerpunkte sind epische Döring, Bianca, eigentl.: Anne-Bianca D., Kurzformen wie Erzählungen u. Kalender* 15.12.1957 Schlitz/Hessen. – Schriftgeschichten in der Art Hebels, v. a. aber Rostellerin, Dichterin; Musikerin; Malerin; mane mit Stoffen aus frühchristlicher Zeit, Gesangs- u. Kreativtherapeutin. aus Heiligenlegenden u. aus seiner schwäbisch-allgäuischen Heimat. »Heimatdichter« D. studierte zwischen 1976 u. 1988 Germaallerdings wollte er nicht sein; er verstand nistik, Musik, Polytechnik u. Erziehungssich vielmehr als christl. Volksdichter u. als wissenschaft an der Hochschule für Musik in Kosmopolit, der mit den Menschen seiner Trossingen u. an den Universitäten in MarHeimat individuell menschl. Problematiken burg u. Kassel. Während dieser Zeit begann gestalten wollte. So trägt z.B. die schwäb. sie an Lesungen teilzunehmen u. als Sängerin Titelfigur des Romans Judith Finsterwalderin aufzutreten; Arbeiten in den Bereichen (Kempten/Mchn. 1916 u. ö. Mchn. 1955) Theater, Performance u. Malerei folgten. Wesenszüge der alttestamentar. Judith u. der Aufmerksamkeit erregte D.s Erzählung Ein Jungfrau von Orléans. In eine Reihe mit John Flamingo, eine Wüste (Ffm. 1990) aufgrund ihGalworthys Forsyte-Saga trat D. mit seinen rer lyrischen, hochmusikal. u. metaphernrei-
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chen Sprache. Diese transformiert das Geschehen um eine durch ihr Leben treibende junge Frau in ein nahezu unauflösbares Gewebe aus Wirklichkeit, Traum u. Vision. Das Spannungsverhältnis ihrer oft gewagten, an Surrealismus u. Expressionismus erinnernden Sprachbilder zur Realität erweist sich in der Folge als kennzeichnend für D.s gesamtes schriftstellerisches Werk. Der kurze, szenische Stil ihrer Prosa weicht gleichwohl größerem Erzählfluss in ihren Romanen Hallo Mr. Zebra (Mchn. 1999) u. Little Alien (Mchn. 2000). D.s weibl. Hauptfiguren sind auf der Suche nach ihrer Identität u. einem Platz in einer von Konventionen u. Normen geprägten Gesellschaft. Sie erfahren die Unvereinbarkeit von Individualität, Liebe u. Partnerschaft u. flüchten sich häufig in erlösende Gewalt- u. Todesvisionen. D. erhielt zahlreiche (Förder-)Preise u. Stipendien, zuletzt 2007 den Nordhessischen Autorenpreis. Heute lebt sie in Berlin u. führt einen »Raum für Gesang, Kreativität und Therapie«, in dem sie ihre vielfältigen künstlerischen Interessen vereint u. Hilfe zur Selbsterfahrung u. Heilung anbietet. Weitere Werke: Gezeitetes. Darmst. 1979 (G.e). – Schnee u. Niemand. Ffm. 1992 (E.). – Siebzehn. Stgt. 1993 (E.en). – Tag, Nacht – Helles, Verlies. Gedichte mit Collagen v. Wolf Spies. Gotha 1995. – Schierling u. Stern. Lüneb. 1999 (G.e). Literatur: Almuth Andreae: B. D. In: LGL. Robert Steinborn
Döring, (Johann Michael) Heinrich, * 8.5. 1789 Danzig, † 14.12.1862 Jena. – Biograf u. Übersetzer. Aus Familientradition eigentlich für das Kaufmannsgewerbe bestimmt, brach D. seine Lehre ab u. begann 1814 in Jena Theologie u. Philosophie zu studieren. Er wandte sich auf Anraten Goethes, Johannes Daniel Falks u. a. bald der Schriftstellerei zu. 1816 erschienen erste Arbeiten in Anthologien u. Almanachen, auch wurde D. Mitgl. der »Gesellschaft für die gesamte Mineralogie« in Jena. 1817 arbeitete D. in der Redaktion des Weimarer »Oppositionsblattes« mit u. widmete sich darauf ganz seiner Tätigkeit als Übersetzer, Literarhistoriker u. Biograf dt. Schriftsteller.
D., der sich auch als Übersetzer aus dem Englischen (Shakespeare, Scott, Sterne u. a.) einen Namen machte, ging v. a. als erster Biograf Goethes (Goethes Leben. Weimar 1828) in die Literaturgeschichte ein. Seine Lebensbeschreibungen basieren auf Selbstäußerungen der Porträtierten oder auf glaubwürdigen Zeugnissen. Der Seriencharakter bedingte jedoch, dass seine Arbeiten mit der Zeit immer oberflächlicher u. fehlerhafter wurden. Weitere Werke: Gedichte. Jena 1816. – Kleine Romane u. E.en. Jena 1818. – Galerie weimar. Schriftsteller. 2 Bde., Weimar 1822–24. – Schillers Leben. Weimar 1822. – Klopstocks Leben. Weimar 1825. – Jean Paul Richters Leben. Gotha 1826. – Schwänke, scherzhafte Gedichte u. Poesien ernsterer Gattung. Jena 1828. – Galerie dt. Dichter u. Prosaisten seit Mitte des 12. Jh. Gotha 1831. – Johann Heinrich Voss, nach seinem Leben u. Wirken. Weimar 1834. – Leben Johannes v. Müllers. Zeitz 1835. – Allegor. Jugendspiegel. Bln. 1845. – Goethes Selbstcharakteristik, nach des Dichters Briefen, seit seinem 18. Lebensjahre bis zum letzten entworfen. Weimar 1847. – Schillers Sturm- u. Drangperiode. Weimar 1852. – Schiller u. Goethe. Reliquien, Charakterzüge u. Anecdoten. Lpz. 1852. Literatur: Goedeke 9 (1913), S. 326–332. – Friedrich Schwarz: H. D. In: Altpr. Biogr. 1. Michael Then / Red.
Döring, Stefan, * 7.4.1954 Oranienburg. – Lyriker. Nach dem Abitur 1972 absolvierte D. seinen Militärdienst u. schloss 1978 ein Studium der Informationstechnik in Dresden ab. Anschließend war er bis 1980 Entwicklungsingenieur für medizin. Elektronik in Hohen Neuendorf; danach Heizer in Ostberlin. D. gehört zu den jüngeren, experimentell orientierten Autoren, mit denen sich die DDR schwer tat u. denen der Aufbau Verlag gegen Ende der DDR das Forum Außer der Reihe einräumte. Ein Hörspiel, Übersetzungen, Gedichte u. Grafik-Lyrik-Editionen machten ihn bekannt: im Selbstverlag 1982 mit Uta Hünniger, 1985 mit Thomas Florschuetz; 1985 erschien in Westberlin die Lyrik- u. Grafiksammlung ich fühle mich in grenzen wohl (zus. mit Sascha Anderson, Bert PapenfußGorek u. OUHI CHA). In der Sammlung experimenteller DDR-Literatur Berührung ist nur
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eine Randerscheinung (Hg. v. S. Anderson u. Elke Erb. Köln 1985) erschien von D. ein stück zeit, ein (Hör-)Spiel in Vierzeilern, mit der Konstellation Mann-Frau-Geliebter-Mörder, begleitet von mehreren Texten. 1989 erschien sein erster Gedichtband heutmorgenstern (Bln.), gefolgt von ZEHN (Bln. 1990), einer Sammlung von fünf Gedichtzyklen, die 1990 im Berliner Galrev-Verlag herausgegeben wurde. Seitdem ist er nur noch als Übersetzer in Erscheinung getreten. D.s subversive Schreibweise arbeitet v. a. am Sprachmaterial selbst u. fragt immer wieder nach Möglichkeiten der ästhet. Umsetzung einer Sprach-, Diskurs- u. Wirklichkeitskritik, die einem Durchbrechen der macht- u. ideologiebesetzten Offizialsprache der DDR gleichkommt. Im Gegensatz zu rein sprachspielerischen Formen manifestiert sich in D.s experimenteller Dichtung eine dezidierte Auflehnung gegen bestehende soziale u. polit. Verhältnisse. Thematisch kreisen seine Texte um die Ausreiseproblematik, den Zustand der ostdt. Medien, die Freiheits- u. Selbstbestimmungsrechte des Einzelnen, dessen Verhältnis zum Staat wie um die Sprache als wirklichkeitskonstituierendem Mittel selbst: »Stil ist Auflehnung der Ordnung innerhalb der Ordnung« (Introview. In: Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR. Ffm. 1988, S. 96–102). Sein Credo »alle verkehrten weisungen / sind bekannte wendungen« (wert um wert. In: heutmorgenstern) spiegelt sich wider im systemat. Aufgreifen von Redewendungen, die wörtlich genommen in ungewohnte Sinnzusammenhänge montiert werden. Durch zahlreiche provokative Verfremdungsverfahren erhalten sie ihren doppelbödigen Wortwitz, der Freiheit in u. durch Sprache herzustellen versucht. Zu D.s Vertextungsstrategien gehören v. a. die Verweigerung der herkömml. Syntax, der Interpunktion, der Orthografie, Phonologie u. Morphologie. Dem Spiel mit Buchstaben u. Lauten, dem Austauschen von Prä- u. Suffixen, anagrammat. Verfahren, Worttrennungen u. Wortverschmelzungen als Sprengen formaler Konventionen entspricht eine der Lyrik zugewiesene, darstellende, kommen-
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tierende u. wertende Funktion. So erscheinen die Revolutionsparolen bei der Generation der in die DDR Hineingeborenen als »faulheit, bleichheit, liederlichkeit« (LuchterhandJahrbuch der Lyrik 1986). D. fragt nach dem »gegenwert der gegenwart«, seine »wortfege« dekliniert »fortwege«; seine willelei (in: Sprache & Antwort, s. o.) beginnt trotzig: »ich habe euch nichts zu sagen / ihr habt mir nichts zu sagen«, doch diese Grammatik behält nur scheinbar recht; die Schlussstrophe lautet: »niemand hat uns was zu sagen / wir haben niemandem was zu sagen / wir machen was wir wollen / niemand macht was er will.« D.s Œuvre ist eines der herausragendsten Beispiele »literarischer Camouflage« (Mix), subtiler Aussparungs- u. Chiffrierungsstrategien der Lyrik aus der DDR, die nicht nur die Sprache, sondern auch u. gerade die Sprachverwendung kritisch durchleuchtet. Weitere Werke: Gedichte in: Die Vogelbühne. Bln./DDR 1983 (Anth.). – In den nichtoffiziellen Zeitschriften: Mikado. Neudr. Darmst. 1988. – ariadnefabrik u. schaden – Die eigene Stimme. Lyrik der DDR. Bln./Weimar 1988. – Der neue Zwiebelmarkt. Bln./DDR 1988 (Anth.). – heutmorgenstern. Bln. 1989. – ZEHN. Bln. 1990. – Bert Papenfuß-Gorek, Jan Faktor u. S. D.: Zoro in Skorne. In: Vogel oder Käfig sein. Bln. 1991, S. 14–25. – Mitherausgeber u. Autor der Berliner Ztschr. SKLAVEN (1994–99). Literatur: Gerhard Wolf: Zu einem Aspekt neuer Lyrik. In: Ders.: Wortlaut – Wortbruch – Wortlust. Lpz. 1988, S. 358 ff. – Alexander v. Bormann: Rede-Wendungen. Zur Rhetorik des gegenwärtigen Gedichts in der DDR. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 26 (1988), S. 89–143. – Dorothea v. Törne. Packen wir aus, Zeugen. S. D.: heutmorgenstern. In: NDL 38/5 (1990), S. 156–160. – Oliver Herwig: S. D. In: KLG. – York-Gothart Mix: ›Verstehen Sie’s?‹, ›Nein. Nichts...‹. Varianten literar. Camouflage in U. Plenzdorfs ›Die neuen Leiden des jungen W.‹, S. D.s ›weilen‹ u. R. Kunzes ›Sensible Wege‹. In: ZfG N. F. 5/1 (1995), S. 48–59. – Ilona Schäkel: Sprachgewand(t). Sprachkrit. Schreibweisen in der DDRLyrik v. Bert Papenfuß-Gorek u. S. D. Bremen 1999. Alexander von Bormann / Carolina Kapraun
Dörmann
Dörmann, Felix, eigentl.: F. Biedermann, * 29.5.1870 Wien, † 26.10.1928 Wien. – Lyriker, Erzähler, Bühnenschriftsteller u. Filmautor.
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car-Straus-Operette Ein Walzertraum (Lpz./ Wien). 1912–1914 war D. für die erste österr. Filmproduktionsgesellschaft tätig. Weitere Werke: Ledige Leute. Lpz. 1897 (Kom.). – Die Liebesmüden. Wien 1905 (D.). – Der platon. Wüstling. Wien 1920 (N.n). – Dirnen- u. Gaunerlieder. Aus der Spitzbubenkomödie ›Der Liebling v. London‹. Diebsmusik nach berühmten Mustern v. Hans Ewald Heller. Wien 1924. – Jazz. Wiener Roman. Warnsdorf 1925 (E.).
D.s Lyrik ist die Manifestation der Nervenkunst des Fin de Siècle. Die grenzenlose Subjektivität des Künstler-Ich war »um so ›moderner‹ [...], je mehr verschiedenen ›Sensationen‹ sie sich [...] öffnen und hingeben konnte. Empfangsorgane für diese SenLiteratur: Geneviève Bianquis: La poésie ausationen waren die ›Nerven‹« (Jens Malte Fi- trichienne de Hofmannsthal à Rilke. Paris 1926. – scher). Die beiden ersten Gedichtbände D.s Jens Malte Fischer: Fin de siècle. Komm. zu einer mit dem bezeichnenden Titel Neurotica (Lpz. Epoche. Mchn. 1978. –2 Jens Rieckmann: Aufbruch 1891. 21893) u. Sensationen (Wien 1892. 21897) in die Moderne. Ffm. 1986. – Helmut Schneider: F. D. Eine Monogr. Wien 1991. – Gabriella Rovamachten D. schlagartig berühmt. Ihre Mignati: Spleen e artificio. Poeti minori della Vienna schung aus überbetonter Sinnlichkeit u. Tri- di fine secolo. Neapel 1994. – Lieselotte Pouh: vialität führte sogar zur Konfiszierung der Wiener Lit. u. Psychoanalyse. F. D., Jakob Julius Werke durch die Staatsanwaltschaft. Das David u. Felix Salten. Ffm. u. a. 1997. – Herta Luise quälerisch-genussvolle Ausmalen von Liebe Ott: ›Vienne effondrée... les gens sont à bout dans u. Leidenschaft bleibt Thema D.s auch in den tous les sens du terme...‹. F. D. ›Jazz‹ (1925). In: Les anderen Gedichtbänden Gelächter (Dresden ›Jeunes Viennois‹ ont pris de l’âge. Hg. Rold Win1896) u. Tuberosen (Wien 1920) – süßlich termeyer. Valenciennes 2004, S. 163–177. Sabine Scholl / Red. duftende, »wächsernbleiche« Blüten, die seit D. zum Repertoire des Dekadenten gehören. D. folgt Baudelaire, aus dessen Prosa u. Fleurs du Mal er übersetzte (in: Moderne Rundschau Dörrie, Doris, * 26.5.1955 Hannover. – 3, 1891. Moderner Musenalmanach, 1893 u. Erzählerin u. Regisseurin. 1894), im Strophen- u. Versbau, in der Nei- Nach dem Abitur u. einem Studienaufenthalt gung zu Lautmalerei u. dem Gebrauch von in den USA begann D. 1975 ein Studium an Vokalreihen als Stilmittel. Zum Epigonen- der Hochschule für Fernsehen u. Film in tum D.s bemerkt Hermann Bahr schon 1893 München, an die sie 1997 selbst als Profeskritisch im Essay Das junge Österreich: »Er re- sorin berufen wurde. D. schrieb Filmkritiken, det nicht aus dem Leben: er redet immer aus arbeitete als Redaktionsassistentin u. freie fremden Litteraturen. Seine Schmerzen sind Mitarbeiterin für verschiedene Fernsehanvon Baudelaire und seine Wünsche sind von stalten, realisierte seit 1976 als Regisseurin u. Swinburne.« Die Gedichte versammeln we- Drehbuchautorin zahlreiche Spiel- u. Dokusentl. Elemente des Fin de Siècle: die duns- mentarfilme, darunter den Publikumserfolg tige Schwüle des Palmenhauses, denaturierte Männer von 1985. Pflanzen, Blumen mit extremen Düften u. 1987 erschien ihr erster Erzählungsband seltenen Farben – »lilasilbern« ist D.s Lieb- Liebe, Schmerz und das ganze verdammte Zeug lingsfarbe –, Beschreibungen von Interieurs, (Zürich), es folgten zahlreiche erfolgreiche abgedunkelten Räumen, verschiedenste Va- Kurzgeschichtensammlungen, Romane u. riationen der Beleuchtung, u. Frauengestal- Kinderbücher. D. pflegt eine plastische, ten, die zu kalten, aber kostbaren Bildern kurzweilige, häufig ironische Erzählweise; erstarrt sind. Von seinen zahlreichen Schau-, ihre fantasievollen, teils heiteren, teils meLustspielen u. Operettenlibretti brachte ihm lanchol. Geschichten kreisen oft um die Der Herr von Abadessa (Wien 1902) den Bau- Themenfelder Liebe, Beziehungen u. Einernfeld-Preis ein. Sein größter u. andauernd- samkeit. Ihr filmisches u. literar. Schaffen ster Erfolg aber war das 1907 gemeinsam mit wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichLeopold Jacobson verfasste Libretto zur Os- net, darunter dem Filmband in Gold, dem
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Bambi u. dem Bundesverdienstkreuz. D. inszenierte mehrere Opernaufführungen u. lebt in München. Weitere Werke: Bin ich schön? Zürich 1994 (E.en). – Samsara. Zürich 1996 (E.en). – Was machen wir jetzt? Zürich 2000 (R.). – Das blaue Kleid. Zürich 2002 (R.). Literatur: Agnieszka Palej: Die moderne dt. Unterhaltungslit. die Schriftstellerin D. D. im Spiegel der Pressekritik. In: Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Lit. der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Hg. Matthias Harder. Würzb. 2001, S. 167–176. – Antje Weber: D. D. In: LGL. Marc Degens
Dohm, Christian (Conrad) Wilhelm von (seit 1786), * 11.12.1751 Lemgo, † 29.5. 1820 Pustleben/Nordhausen. – Diplomat, Historiker u. Biograf.
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wurden in Frankreich 1791, in Preußen 1812 Grundlage der Emanzipationsgesetze. 1786 wurde D. Gesandter am Kurfürstlichen Hof in Köln. Während der Kriegsjahre erwarb er sich als Vertreter der preuß. Regierung in vielen Sondermissionen große Verdienste. Das veranlasste Jérôme Bonaparte, D. 1807 in das neu gegründete Königreich Westfalen zu holen. 1808–1810 war er Gesandter in Dresden. Während seiner letzten Lebensjahre auf Gut Pustleben entstanden die Denkwürdigkeiten meiner Zeit 1778–1806 (5 Bde., Lemgo 1814–19). Obwohl unvollständig geblieben, gelten sie noch heute als eine der umfassendsten histor. Darstellungen der Epoche. Weitere Werke: Darstellung v. Basedows Leben u. Wirken. Lemgo 1772. – Über den dt. Fürstenbund. Bln. 1785. – Die Lütticher Revolution 1789. Bln. 1790. Literatur: Wilhelm Gronau: C. W. v. D. nach seinem Wollen u. Handeln. Ein biogr. Versuch. Lemgo 1824. – Erich Sandow: Von seiner Vaterstadt vergessen. Goslar ehrt den Lemgoer C. W. v. D. In: Unsere lipp. Heimat 12 (1960), S. 1 f. – Regina Risse: C. W. D. u. sein Beitr. zur Politisierung der Aufklärung in Dtschld. Diss. Köln 1995. – Jonathan M. Hess: Germans, Jews and the claims of modernity. New Haven u. a. 2002. – Daniel Azuélos: Le judaïsme en question à l’époque des lumières. C. K. W. v. D., Moses Mendelssohn, Wilhelm v. Humboldt. In: EG 59 (2004), S. 195–218.
Der Sohn eines Predigers studierte seit 1769 in Leipzig zunächst Theologie, dann Rechtsu. Staatswissenschaften, ab 1774 in Göttingen. Er war Pagenhofmeister am Hof des Prinzen Ferdinand in Berlin, bevor er eine Professur am Carolinum in Kassel annahm (1776–1779). In diesen Jahren begann er mit der Veröffentlichung seines ersten großen Werks, den Materialien zur Statistik und neuesten Staatengeschichte (Lemgo 1775–85). Gemeinsam mit Boie gründete D. 1776 die Kunstzeitschrift »Deutsches Museum« (ab Cornelia Lutz / Red. 1789 »Neues Deutsches Museum«). Seine Hoffnung auf eine Anstellung im preuß. Dohm, (Wilhelm) Ernst, eigentl.: Elias Staatsdienst erfüllte sich 1779 nach der VerLevy, * 24.5.1819 Breslau, † 5.2.1883 öffentlichung seiner Geschichte des Bayerischen Berlin. – Publizist, Dramatiker u. ÜberErbfolgestreits (Prag): Er wurde als Geheimer setzer. Kriegs- u. Archivrat nach Berlin berufen. Große Aufmerksamkeit erregte D. 1781 D., Sohn eines Kaufmanns, studierte Theomit seiner auf Veranlassung Moses Mendels- logie u. Philosophie in Halle. Nach dem Stusohns vorgelegten Streitschrift Über die bür- dium begann er als Hauslehrer u. Journalist gerliche Verbesserung der Juden (Bln. u. Stettin. zu arbeiten. Er schrieb Beiträge u. a. für GuNeudr. Hildesh. 1973). Ganz im Sinne der bitz’ »Gesellschafter« u. das »Magazin für die Aufklärung argumentierend, wies er hier Litteratur des Auslandes«. Sein außergenach, dass die Misere der Juden nicht eine wöhnliches Talent für polit. Satire (meist in Folge ihres sog. Volkscharakters, sondern Reimform) bildete D. als Mitarbeiter des 1848 eine Konsequenz der Lebensbedingungen sei, gegründeten Berliner Witzblatts »Kladderaunter denen sie seit Jahrhunderten zu leiden datsch« aus, dessen Redaktion er 1849 überhätten. Als erster Deutscher forderte D. die nahm u. bis kurz vor seinem Tod leitete. bürgerl. Gleichberechtigung der Juden auf Trotz der scharfen Zensurbestimmungen – D. allen Gebieten. Seine Reformvorschläge wurde als verantwortlicher Redakteur des
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Öfteren in Polizeigewahrsam genommen – wurde das Blatt zu einer krit. Instanz für die polit. Entwicklung in Deutschland. 1879 erschienen seine Secundenbilder, eine Sammlung gereimter Ungereimter Chroniken, die wöchentlich im »Deutschen Montagsblatt« publiziert worden waren. Kritik- u. Formbewusstsein sind Kennzeichen seiner zahlreichen Komödien. In der bedeutendsten, dem Trojanischen Krieg (Bln. 1864), beschreibt er wortgewandt die gesellschaftl. u. polit. Zustände der Jahrhundertmitte. Im Jahr 1853 war D. für kurze Zeit Dramaturg am Königstädtischen Theater. Daneben machte er sich auch als Übersetzer frz. Literatur (v. a. von Libretti zu Offenbach-Operetten wie Die schöne Helena. Bln. 1864) einen Namen. Seine Frau Hedwig war eine bedeutende Vorkämpferin der Frauenrechtsbewegung. Weitere Werke: Fabeln v. La Fontaine. 2 Bde., Bln. 1877 (Übers.). – Ein neuer Lear. Posse in drei Akten. Bln. 1865. – Harte Steine. Kom. Charakterbild in drei Akten, mit Gesang (zus. mit F. Kaiser). Gedr. Bln. 1865. – E. D. u. Julius Rodenberg (Hg.): Salon für Litt., Kunst u. Gesellsch. Bln. 1867–72. Literatur: Paul Lindau: E. D. u. der Kladderadatsch. In: Nord u. Süd, Okt. 1879. – Max Osborn: E. D. In: ADB. – Heinz August: E. D. In: NDB. – Ingrid Heinrich-Jost (Hg.): Kladderadatsch. Die Gesch. eines Berliner Witzblattes v. 1848 bis ins Dritte Reich. Köln 1982. – Goedeke Forts. Cornelia Lutz / Bernd Zegowitz
Dohm, Hedwig (Marianne Adelaide), geb. Schlesinger, * 20.9.1831 Berlin, † 4.6. 1919 Berlin. – Dramatikerin, Erzählerin u. Essayistin. D., die Großmutter von Katja Mann, war das elfte von achtzehn Kindern eines Tabakfabrikanten. Mit 15 Jahren musste sie die Schule verlassen, 18-jährig konnte sie eine Ausbildung als Lehrerin beginnen. 1852 heiratete sie Ernst Dohm, den späteren Chefredakteur des »Kladderadatsch«. Über ihn kam sie in Kontakt mit den intellektuellen Zirkeln Berlins u. lernte Lassalle, Alexander von Humboldt, Varnhagen, Fontane, Fanny Lewald u. a. kennen. Durch die Erfahrungen während der Berliner Revolutionstage von 1848 politisch sensibilisiert, trat D. seit 1872 publizistisch
für die Gleichstellung der Frauen in allen Bereichen ein. Ohne sich direkt in der Frauenbewegung zu engagieren, unterhielt sie Kontakte mit Helene Lange, Alice Salomon, Lily Braun u. a. Neben ihren oft polemisch zugespitzten theoret. Schriften veröffentlichte sie eine Reihe von konventionellen Lustspielen sowie Novellen (Wie Frauen werden. Werde, die du bist. Breslau 1894. Neudr. Ffm. 1977) u. Frauenromane. 1915 schrieb sie ein leidenschaftl. Plädoyer für den Pazifismus (Der Mißbrauch des Todes. Senile Impressionen. Bln. 1918. Neuausg. Düsseld. 1986). Seit den 1970er Jahren findet D.s Werk wegen seiner feminist. Thematik wieder größere Aufmerksamkeit. Anlässlich des Hedwig-Dohm-Jahres 2006 erschien eine erweiterte Neuedition. Neben ihrem erzählerischen u. essayist. Werk werden bisher unveröffentlichte Briefe an Harden, Mauthner u. a. herausgegeben; ferner ist eine zweibändige Ausgabe von verschiedenen Texten (Feuilletontexte, Rezensionen, Glossen usw.) vorgesehen. Weitere Werke: Was die Pastoren v. den Frauen denken. Bln. 1872. Neuausg. Zürich 1977 (Ess.). – Die wiss. Emancipation der Frau. Bln. 1874. Neuausg. u. d. Sammeltitel ›Emanzipation‹. Hg. Berta Rahm. Zürich 1977. – Sibilla Dalmar. 1896. Neuausg. Bln. 2006 (R.). – Schicksale einer Seele. Bln. 1899. Neudr. Mchn. 1988 (R.). – Christa Ruland. Bln. 1902 (R.). – Sommerlieben: Freiluftnovellen. 1909. Neuausg. Bln. 2006. – Erinnerungen u. weitere Schr.en v. u. über H. D. Hg. Berta Rahm. Zürich 1980. Ausgabe: H. D. Ausgew. Texte: ein Lesebuch zum Jubiläum ihres 175. Geburtstages mit Essays u. Feuilletons, Novellen u. Dialogen, Aphorismen u. Briefen. Hg. Nikola Müller, Isabel Rohner. Bln. 2006. Literatur: Elisabeth Plessen: H. D. In: Frauen. Portraits aus 2 Jahrhunderten. Hg. Hans J. Schultz. Stgt. 1981, S. 128–141. – Gisela Brinker-Gabler: Die Frau ohne Eigenschaften. Zu H. D.s Roman ›Christa Ruland‹. In: Feminist. Studien 3 (1984), S. 117–127. – P. J. Reed: ›Alles was ich schreibe steht im Dienste der Frauen‹. Zum essayist. u. fiktionalen Werk H. D.s. Diss. Waikato 1985. – Gaby Pailer: Schreibe, die du bist: die Gestaltung weibl. ›Autorschaft‹ im erzähler. Werk H. D.s. Diss. Pfaffenweiler 1994. – Ute Speck: Ein mögl. Ich: Selbstreflexion in der Schreiberfahrung; zur Autobiographik der Politikerinnen Lily Braun, H. D. u.
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77 Rosa Luxemburg. Diss. Ffm. 1997. – Goedeke Forts. – Nikola Müller: H. D. (1831–1919): Eine komm. Bibliogr. Bln. 2000. – Katrin Gaetke Komm: Gender, nation and modernism in Germany around 1900. Diss. Ann Arbor 2001. – K. Komm: Das Kaiserreich in Zeitromanen v. H. D. u. Elizabeth v. Arnim. Oxford 2004. Peter König / Sonia Goldblum
Dohna, Abraham Burggraf zu, * 10.3.1579 Mohrungen, † 14.12.1631 Schlobitten/ Ostpreußen. – Diplomat u. Feldherr; Chronist u. Verfasser von Erbauungsliteratur.
können / sondern es durch Gottes Gnade von sich gestossen«, u. der Autor harrt »nunmehr alle Stunden der gnädigen Erlösung auß diesem meinem betrübten Egypten«. Mit immer wieder eingeflochtenen gelehrten u. zeitkrit. Exkursen entstand ein kämpferisch reformierter Traktat, der in seiner modern anmutenden sprachl. Glätte u. polit. Weitsicht den geschulten Berufsdiplomaten verrät. Ungedruckt im 17. Jh. blieben seine Historischen Reimen von dem ungereimten Reichstag anno 1613 (In: Chroust 1896), die – durchaus parteiisch – zum Frieden mahnen u. als erster Versuch einer umfangreichen Alexandrinerdichtung in dt. Sprache gelten. Moderne ital. u. frz. Vorlagen verarbeitete D. in seiner formal äußerst variationsreichen, auch Sonette einschließenden Liedersammlung, die zwischen 1600 u. 1610 entstand u. autobiogr. Konturen erkennen lässt. Sie wurde mittlerweile aus der Handschrift ediert (Roloff 2001, S. 828–942).
D. gehört zur preuß. Linie eines weit verzweigten politisch u. militärisch aktiven Adelsgeschlechts. Der jüngere Bruder Christoph (1583–1637), der bereits 1619 als »der Heilende« Mitgl. der Fruchtbringenden Gesellschaft wurde, diente Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz als Rat u. begleitete ihn später ins Exil. Wie seine Brüder verpflichtete der Vater Achaz zu Dohna D. zu einer akadem. AusLiteratur: Anton Chroust: A. v. D. Sein Leben u. bildung. Nach Studien in Rostock u. Altdorf sein Gedicht auf den Reichstag v. 1613. Mchn. unternahm D. eine Bildungsreise nach 1896. – A. Jeroschewitz: Der Übertritt der BurgFrankreich u. Italien. Auf der Heimreise über grafen zu D. zum reformierten Bekenntnis. Diss. Heidelberg, das damalige Zentrum des poli- Königsb. 1920. – Walter Nissen: A. v. D. In: NDB. – tisch aktiven dt. Calvinismus, konvertierte Klaus Garber: Zentraleurop. Calvinismus u. dt. ›Barock‹-Lit. In: Die reformierte Konfessionalisieder Lutheraner unter dem Einfluss des Hofrung in Dtschld. – Das Problem der ›Zweiten Repredigers u. maßgebl. Architekten der Pfälzer formation‹. Hg. Heinz Schilling. Gütersloh 1986, Böhmenpolitik, Abraham Scultetus, zum re- S. 317–348. – Hans-Gert Roloff: A. D. – ein ostformierten Bekenntnis. 1611 wieder in Preu- preuß. Dichter zu Beginn des 17. Jh. In: Kulturgeßen, diente er als Diplomat, Kriegsoberster u. sch. Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. K. Geheimer Rat dem Kurfürsten von Branden- Garber u. a. Tüb. 2001, S. 815–942. – Hans-Jürgen burg. Beim Ausbruch der böhm. Thronfol- Bömelburg: Reformierte Eliten im Preußenland. gestreitigkeiten 1618 übernahm er auf Bitten Religion, Politik u. Loyalitäten in der Familie D. der Fürsten u. Stände Schlesiens die Organi- (1560–1660). In: ARG 95 (2004), S. 210–239. Bernd Prätorius / Wilhelm Kühlmann sation des Grenzschutzes gegen Polen. Nach der Niederlage Friedrichs V. zog er sich auf Domann, Johannes, * 2.5.1564 Osnaseine Güter zurück. D. verarbeitete die Niederlage seiner Partei brück, † 20.9.1618 Den Haag. – Jurist; in einer religiösen Schrift, die unvollendet Chronist u. Lieddichter; Apologet der blieb u. erst postum gedruckt wurde. In Die niederdeutschen Kulturlandschaft. Plagen Aegypti Bey Der wunderlichen Außführung Nach dem Studium in Rostock u. Helmstedt des Volcks Gottes (Frankf./O. 1647. 21657) wird (Dr. iur. 1591) war D. ab 1592 Syndicus der »jetzige Zustand unseres lieben verwüs- Stralsunds, von 1605 – mit kurzen Unterteten Vaterlandes« mit dem Schicksal des brechungen – bis zu seinem Tod letzter geauserwählten Volkes in Ägypten verglichen. samthanseatischer Syndicus, zgl. seit 1611 Gleich den Israeliten hätten die Protestanten »das Bäpstliche harte Joch nicht vertragen
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Syndicus Rostocks. Später trat er auch in den Domasˇcyna, Rózˇa, eigentl.: Rosa DoDienst Lübecks. maschke, * 11.8.1951 Zerna/Sernjani in D. wirkte an der Abfassung Der Ehrbaren der Oberlausitz. – Lyrikerin, Erzählerin u. Hanse-Stædte Schiffs-Ordnung (Lübeck 1614) mit Übersetzerin. u. begann die von Johann Angelus Werdenhagen vollendete Geschichte der Hanse De Das Nomadisieren in einem sprachlich-kulrebus publicis Hanseaticis (4 Bde., Lübeck 1630/ turellen Zwischenraum, »im zwieland mit doppelzüngiger duellität«, ist zur poet. Pas31). Sein Bemühen um den Bestand der Hanse sion der Dichterin D. geworden. Als Angefindet Ausdruck in Ein schön new Lied Von der hörige des kleinen westslaw. Volks der Sorben Alten Teudtschen Hanse. Im Thon des Rolandes, (= Wenden) ist sie in einem multilingualen Oder wie es einem jeden besser gefellt (Zuerst gedr. Territorium aufgewachsen. Diesen poet. in: Daniel Georg Morhof: Unterricht von der »Gedächtnisraum« ihrer sorb. Heimat, in teutschen Sprache und Poesie. Kiel 1682, dem sich zahlreiche »Muttersprachen« u. S. 380–395). 102 achtzeilige Hildebrandstro- Dialekte begegnen, hat die Autorin als phen beschwören die frühere Stärke der »Landstreicherin über Traditions- und Hanse u. rufen zu erneutem Zusammenste- Sprechgrenzen hinweg« – so ihr erster Verhen auf. Der »Rolandston« entstammt nicht leger Gerhard Wolf – lyrisch erkundet. 1951 als Rosa Domaschke in Zerna in der dem hochmittelalterl. Rolandslied, sondern wohl – über die Niederlande vermittelt – der Oberlausitz geboren, wuchs D. in einer engl. Straßenballade. Metrisch der Volks- Landschaft auf, deren agrar. Struktur durch liedtradition verhaftet, ist D.s Gedicht von den exzessiven Braunkohlenabbau in der Lehrhaftigkeit, polit. Aktualitätsbezug u. DDR schwer versehrt worden war. Im Appellfunktion geprägt (Typus des histo- Braunkohlenrevier von Hoyerswerda, wo sie elf Jahre lang als Wirtschaftskauffrau u. Inrisch-polit. Lieds). Weitere Werke: Pro Westphalia ad Cl. V. Iu- genieur-Ökonomin arbeitete, erhielt die junstum Lipsium Apologeticus. In: Opuscula Varia de ge D. ihre ersten Lektionen in politischer Westphalia. Hg. Johannes Goes. Helmstedt 1668, Desillusionierung. Die forcierte Industrialisierungspolitik der S. 93–128. Ausgaben: Johann M. Lappenberg: Des Syndicus DDR hatte in der Lausitz ausgehöhlte LandD. Lied v. der dt. Hanse. In: Ztschr. des Vereins für schaften u. zerstörte Dörfer hinterlassen; den Hamburg. Gesch. 2 (1847), S. 451–471. offiziell als Vorzeige-Minderheit geförderten Literatur: Gottfried Kuhlmann: Leben u. Sorben wurde immer mehr Siedlungsraum Dichten des Hansasyndikus Dr. J. D. Diss. Münster entzogen. Die bedrohte dörfl. Kultur der 1907. – Paul Kalkum: Westfäl. Dichter des 17. Jh. Sorben in der Lausitz bildete dann ab 1985, Diss. Münster 1910. – Ludwig Erk u. Franz Böhme: als sich Rosa Domaschke am Literaturinstitut Dt. Liederhort. Bd. 2, Lpz. 1893. Neudr. Hildesh. Leipzig in die sorb. Dichterin D. verwandelte, 1963, S. 308–312. – Philipp Dollinger: Die Hanse. den existenziellen Erfahrungsgrund, in den Stgt. 1966, S. 346, 432 f. – Herbert Langer: Gestalten der Spätzeit – die Syndici der Hanse. In: Han- die Texte der Lyrikerin u. Märchenerzählerin sische Studien IX. Hg. Detlef Kattinger u. Horst immer wieder eintauchten. D. schreibt eine sprachempfindl. Poesie des Wernicke. Weimar 1998, S. 219–230. – Wilhelm Kühlmann: Das humanist. Westfalen [...]. In: Re- Übergangs u. der Zwischentöne, die sich begion – Lit. – Kultur. Hg. Martina Wagner-Egelhaaf. vorzugt mit jenen instabilen Bezirken beBielef. 2001, S. 121–139. Martin Kintzinger / Red. schäftigt, in denen die ober- u. niedersorb. Dialekte mit den Redesystemen des Hochdeutschen aufeinandertreffen. Als Erzählerin rekurriert sie auf die Traditionen magischer Spruchdichtung u. zehrt vom Sagen-, Legenden- u. Märchen-Schatz ihrer sorb. Lebenswelt. In ihrem Gedicht Triangel regional, das in ihrem Gedichtband selbstredend selbzweit selb-
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dritt (Bln. 1998) zu finden ist, spricht das lyr. Ich von der unaufhebbaren Fremdheit nicht nur des eigenen Namens, sondern auch der Physiognomie u. des körperl. Habitus. Der Text setzt ein mit dem Eingeständnis der prinzipiellen Unzugehörigkeit: »Ich gehöre nicht wirklich dazu«. Danach folgen programmat. Sequenzen über die lautl. Exotik des Namens »Domasˇ cyna«, der sich mit »Häusler(in)« übersetzen lässt. Die poet. Suchbewegung der Gedichte entzündet sich vorwiegend an vokabulären Reizen u. bizarren Wörter-Funden, die das Nomadisieren zwischen den Sprachwelten befeuern. So wird Poesie zur lyr. Schöpfungsgeschichte: Etymologisch verwandte Wörter aus dem Deutschen u. dem Sorbischen werden in spielerischer Manier durchbuchstabiert. Weitere Werke: zaungucker. Bln. 1991 (L.) – zwischen gangbein u. spielbein. Bln 1995 (L.). – Der Hase im Ärmel. Sorb. Märchen aus Spreewald u. Niederlausitz. Bln. 1997. – Kunstgriff am netzwerg. Ottensheim 1999 (L.). – spreewald. Zus. mit Peter Kühn. Bln. 2000 (P.). – stimmfaden. Heidelb. 2006 (L.). – Das Meer Die Insel Das Schiff. Sorb. Dichtung v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. Kito Lorenc. Heidelb. 2004. Literatur: Michael Braun: R. D. In: LGL. Michael Braun
Domin, Hilde, eigentl.: Hildegard Löwenstein, * 27.7.1912 Köln, † 22.2.2006 Heidelberg. – Lyrikerin, Essayistin, Erzählerin. Die aus einer assimilierten jüd. Kölner Familie stammende D. studierte zunächst Jura, dann Nationalökonomie, Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft (in Heidelberg, Berlin, Rom, Promotion in Florenz), emigrierte 1932 nach Italien, floh im Frühjahr 1939 nach Südengland, wo sie in Minehead als Sprachlehrerin arbeitete, im Juni 1940 nach Santo Domingo. In der diktatorisch regierten Dominikanischen Republik lebte sie bis 1954, unterbrochen durch drei längere USA-Aufenthalte, u. war als Übersetzerin, Fotografin u. Mitarbeiterin ihres Mannes, Erwin Walter Palm, tätig. Im Febr. 1954 kehrte sie aus dem Exil nach Deutschland
zurück u. ließ sich, nach zwei Spanienaufenthalten (1955–1957, 1957–1959), 1961 in Heidelberg nieder. D.s Bedeutung als Leitfigur der nachgeholten deutschsprachigen Lyrikmoderne gründet sich auf die Gedichtbände Nur eine Rose als Stütze (Ffm. 1959 u. ö. 1995), Rückkehr der Schiffe (Ffm. 1962 u. ö. 1994), Hier (Ffm. 1964 u. ö. 1996) u. Ich will dich (Mchn. 1970. 4 1981. Erw. Neuausg. Ffm. 1995), die in den Gesammelten Gedichten (Ffm. 1987) um etwa 100 bis dahin unveröffentlichte oder schwer zugängl. Texte erweitert wurden. Grundzüge der dialog. Poetik D.s finden sich schon in ihrer Sammlung Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische Gedicht zwischen Autor und Leser (Ffm./Bonn 1966 u. ö. Ffm. 1993), in der sie jeweils den Autor selbst u. einen Interpreten ihrer Wahl über ein Gedicht des Autors schreiben lässt. D.s Beitrag zur Lyrikdebatte ist die umfassende theoret. Abhandlung Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft (Mchn. 1968. 51988. Ffm. 1993). Hier situiert sie die Lyrik zwischen ästhetischem Autonomiepostulat u. öffentl. Engagement. Ihr einziger Roman Das zweite Paradies (Mchn. 1968. 2. überarb. Aufl. 1986. Ffm. 1993) ist der weniger überzeugende Versuch, die Exil- u. Rückkehrthematik auf die veränderte gesellschaftlich-polit. Nachkriegsituation zu übertragen; die einmontierten Zitate aus dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« wurden in der Neuausgabe (Ffm. 1980) gestrichen. Die Berichte über ihre Jugend, das Exil, die Rückkehr nach Deutschland sowie Aufsätze, Reden, Briefe u. die subtilen Gedichtinterpretationen liegen vor in den Gesammelten autobiographischen Schriften u. den Gesammelten Essays (beide Mchn. 1992 u. weitere Aufl.n). Die autobiogr. Thematik von Exil, Rückkehr u. Sprache spielt im Werk D.s eine entscheidende Rolle; der existentiell-dichterische Bezug kommt schon in der Wahl des Namens »Domin« zum Ausdruck, unter dem die geb. Hildegard Löwenstein Anfang der 1950er Jahre zu schreiben begann (»Ich nannte mich / ich selber rief mich / mit dem Namen einer Insel«). Praktizierte »Humanität zu Lebzeiten«, Wahrhaftigkeit der Sprache u. Zeugnis der Nicht-Neutralität gehören
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zu den Grundpostulaten ihrer Werke, die, beeinflusst durch die Sprach- u. Ideologiekritik ihrer Lehrer Karl Mannheim u. Karl Jaspers, unermüdlich Protest einlegen gegen »Menschenblindheit« u. »Vorauskonformismus«. »Wir müssen für die Verfolgten zeugen«, schreibt sie 1966 an Nelly Sachs, ohne wie diese die dichterische Thematik auf das Judentum einzugrenzen, zu dem sie sich als Teil einer »Schicksalsgemeinschaft« gleichwohl bekennt. Deshalb hat sie sich bei aller Skepsis, im Unterschied zu Paul Celan, einen vorsichtigen Optimismus gegenüber Deutschland bewahrt, in das sie als »Botin der Versöhnung« zurückgekehrt ist. D.s Gedichte sind geprägt von der Klarheit u. Lakonik der Sprache, der Appellkraft des Wortes, der Reduktion der Aussage u. der Konzentration auf Essenz. Parataktische Strukturen, gleitende Rhythmen, überraschende Zeilensprünge, Doppelbezüge u. Paradoxa sind die bevorzugten Ausdrucksmittel dieser Lyrik. Was seit dem Debütband (1959) ihren neuen Ton ausmacht, ist die Verbindung des Minimalismus der Kahlschlagpoesie mit den kühnen Metaphern u. der Thematik des »desengaño« der spanischamerikan. Lyriker (Jorge Carrera Andrade, Pierre Emmanuel u. a.), die D. – wie auch ihr Mann – ins Deutsche übertragen hat. D. liebt das in verschiedene Bedeutungen sich auffächernde Wort, die leise Eindringlichkeit u. Sensitivität wiederholbarer oder variierter Verse; sie artikuliert Modellerfahrungen, mit denen der Dichter den polit. Menschen im Leser anzusprechen bemüht ist, um dessen Widerstand gegen Außensteuerung zu mobilisieren. Ihre Gedichte sind mithin »Depeschen aus der Agentur der praktischen Vernunft« (Iso Camartin), abgesandt in der Zuversicht, ein »Alphabet [zu] erfinden / von tätigen Buchstaben«. Hauptthemen der Gedichte sind neben der Erfahrung der ambivalenten Rückkehr, die mit Wiedererkennen beschenkt, aber zugleich mit Nichtwiedererkennen erschreckt, die engagierte Zeitgenossenschaft des Autors (Graue Zeiten, Abschaffung des Befehlsnotstands, Der übernächste Krieg) u. die Umdeutung von Stoffen aus Bibel u. Mythos (Lieder zur Ermutigung, Sisyphus, Abel steh auf). Mit Kain u.
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Hiob, die sich trotz Schuld u. Leid bewähren, plädiert D. für das Recht der »zweiten Chance«; das Gedicht Ecce homo demonstriert keine religiöse Erlöserfigur, sondern stellt das Lehrbeispiel eines hilflosen, aber hilfsbereiten Menschen vor: »Weniger als die Hoffnung auf ihn // das ist der Mensch / einarmig immer // Nur der gekreuzigte / beide Arme / weit offen / der Hier-bin-Ich«. Im Wintersemester 1987/88 hielt D. die Poetik-Vorlesungen an der Universität Frankfurt. Sie erschienen 1988 u. d. T. Das Gedicht als Augenblick von Freiheit als Buch (Mchn.) u. geben Beispiele aus der Lyrikgeschichte nach 1945 für die theoret. Erwägungen von Wozu Lyrik heute. In beiden Büchern wird Lyrik verstanden als »Sache der ratio und der Erregung«, die den Bewusstseinsgrad der Erfahrung erhöht, als Möglichkeit der »Vereinigung des Unvereinbaren«, als »Gegenkraft gegen Außensteuerung« u. als Herausforderung an die Freiheit, »sich wieder und wieder zu behaupten«. D. war Ehrenprofessorin des Landes BadenWürttemberg, Mitgl. der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung u. des ExilP.E.N. Sie erhielt u. a. 1976 den Rilke-Preis, 1983 den Nelly-Sachs-Preis, 1992 den Hölderlin-Preis, den ersten Heidelberger Preis für Exilliteratur (der nach ihrem Tode als Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil vergeben wird), 1995 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, 1999 den JakobWassermann-Literaturpreis, 2005 den Großen Preis der Dominikanischen Republik. Weitere Werke: Höhlenbilder. Gedichte 1951/ 52. Duisburg 1968. – Die andalus. Katze. Stierstadt 1971. Neuausg. Düsseld. 1987 (E.en). – Nachkrieg u. Unfrieden. Gedichte als Index 1945–70. Neuwied/Bln. 1970. Erw. Neuausg.: Gedichte als Index 1945–95 (hg. mit Clemens Greve). Ffm. 1995. – Abel steh auf. Gedichte, Prosa, Theorie. Stgt. 1979. Erg. Ausg. 1996. – Ges. Gedichte. Ffm. 1987. 51995. – Der Baum blüht trotzdem. Gedichte. Ffm. 1999. – Briefwechsel: Mit Christine Lavant. In: Über Christine Lavant. Hg. Grete Lübbe-Grothues. Salzb. 1984, S. 142–166. – Mit Nelly Sachs. In: Birgit Lermen u. Michael Braun: Nelly Sachs. ›An letzter Atemspitze des Lebens‹. Bonn 1998, S. 217–254. Literatur: Bettina v. Wangenheim (Hg.): Heimkehr ins Wort. Ffm. 1982 (Materialienbd. zu H. D. mit Bibliogr.). Erw. Neuausg. u. d. T.: Voka-
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81 bular der Erinnerungen. Zum Werk v. H. D. Hg. Ilse Metz. Ffm. 1998. – Irmgard Hammers: H. D.: Dichtungstheoret. Reflexion u. künstler. Verwirklichung. Diss. Köln 1983. – Guy Stern: Das Thema der Rückkehr in den Werken v. H. D. In: Ders.: Lit. im Exil. Ismaning 1989, S. 167–189. – Michael Braun: Exil u. Engagement. Untersuchungen zu Lyrik u. Poetik H. D.s. Ffm. 1993. – Harald Vogel u. Michael Gans: Rose Ausländer – H.D. Gedichtinterpr.en. Baltmannsweiler 1996. – Birgit Lermen u. M. Braun: ›Hand in Hand mit der Sprache‹. H. D. Bonn 1997. – Elsbeth Pulver u. M. Braun: H. D. In: KLG. – Thomas Kastura: H. D. In: LGL. – Stephanie Lehr-Rosenberg: Umgang mit Fremde u. Heimat in Gedichten H. D.s. Würzb. 2003. – Ilka Scheidgen: H. D. Dichterin des Dennoch. Lahr 2006. Walter Helmut Fritz / Michael U. Braun
Dominik, Hans Joachim, * 15.11.1872 Zwickau, † 9.12.1945 Berlin. – Verfasser von technischen Zukunftsromanen, populärwissenschaftlichen Sachbüchern u. Jugendromanen.
D.s, Der Brand der Cheopspyramide (Bln. 1926. Mchn. 1995) u. Atomgewicht 500 (Bln. 1935. Mchn. 81986), wird die Nutzbarmachung von Atomenergie beschrieben. Weitere techn. Zukunftsmotive sind u. a. unsichtbarmachende Strahlen (König Laurins Mantel. Bln. 1928), künstl. Gummi (Kautschuk. Bln. 1930), Stratosphärenflugzeuge (Wettflug der Nationen. Lpz. 1934 u. ö. Mchn. 41995) u. Weltraumflüge (Treibstoff SR. Bln. 1940). Häufig ist die Romanhandlung von internationalen polit. Auseinandersetzungen bestimmt, in denen die dt. Partei in Gestalt heroischer Identifikationsfiguren (geniale Techniker, Erfinder oder auch Geschäftsleute) durch techn. Überlegenheit siegt. Außerdem schrieb D. popularisierende Technikdarstellungen u. erfolgreiche Jugendromane, z.B. John Workman der Zeitungsboy (Bln. 1909. Erw. Lpz. 1921) über den Aufstieg eines dt. Jungen zum amerikan. Millionär. D.s Werke erreichten bereits zu seinen Lebzeiten über zwei Millionen Gesamtauflage u. beeinflussten, teilweise in bearbeiteten u. gekürzten Ausgaben, die Science-FictionLiteratur nach 1945.
Der Sohn eines Verlagsbuchhändlers u. Enkel des Romanschriftstellers Theodor Mügge ging in Berlin u. Gotha zur Schule u. studierte nach dem Abitur an der TH in Berlin Weitere Werke: Der Sieger. Automobilroman. Maschinenbau u. Elektrotechnik. 1898–1904 Bln. 1913. – Der ›eiserne Halbmond‹. Kriegsmariarbeitete er bei verschiedenen Großfirmen, ab neroman. Bln. 1917. – Die Spur des Dschingis 1904 freiberuflich als Elektroingenieur u. Khan. Lpz. 1923 (R.). – Atlantis. Lpz. 1925 u. ö. 11 wirkte u. a. an der techn. Entwicklung von Mchn. 1987 (R.). – Triumphe der Technik. Bln. Erdtelegrafie, ferngelenkten Torpedos u. 1927 (Sachbuch). – Das Erbe der Uraniden. Bln. 1928. Gütersloh 1984 (R.). – Befehl aus dem DunEinschienenbahnen mit; im Ersten Weltkrieg kel. Bln. 1933. Gütersloh 1984 (R.). – Das stählerne war er im U-Boot-Bau beschäftigt. Die seit Geheimnis. Bln. 1934 u. ö. Mchn. 71985 (R.). – Vom 1902 nebenher ausgeübte Tätigkeit des Schraubstock zum Schreibtisch. Bln. 1942 (AutoSchriftstellers u. techn. Journalisten wurde ab biogr.). 1924 zum Hauptberuf u. machte D. zum Literatur: Alfons Höger: Die technolog. Heromeistgelesenen Autor technisch-utopischer en der german. Rasse. Zum Werk H. D.s. In: Text u. Romane in dt. Sprache. Kontext 8 (1980), S. 378–394. – William B. Fischer: Großen Erfolg erlangte D. mit seinem ers- The Empire Strikes Out: Kurd Lasswitz, H. D. and ten Zukunftsroman Die Macht der Drei (Lpz. the Development of German Science Fiction. Bowl1922. Gütersloh 1984), in dem es um die ing Green/Ohio 1984. – Hans-Edwin Friedrich: Scimilitärisch bedeutsame Anwendung einer ence Fiction in der deutschsprachigen Lit. Ein Reneuen Energieform geht. Seitdem entstanden ferat zur Forsch. bis 1993. 7. Sonderh. des IASL. Tüb. 1995 (Register!). – Detlef Münch: Science-Fic15 weitere populäre Zukunftsromane, die als tion-E.en u. Kriegsutopien in dt. Periodika Zeitungsromane konzipiert wurden u. in der 1880–1949. Dortm. 2005. Matías Martínez literar. Nachfolge Jules Vernes u. Bernhard Kellermanns um (erfundene, aber stets quasi naturwissenschaftlich legitimierte) revolu- Domma, Ottokar ! Häuser, Otto tionierende Techniken oder Energieformen kreisen. In zwei der bekanntesten Romane
Donatus von Passau
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Donatus von Passau, bürgerlich: Ägidius Donaueschinger Passionsspiel, zwiWillinger, * 1627 Passau, † 18.7.1694 schen 1470 u. 1500 aufgezeichnet. – Waidhofen/Thaya. – Kapuzinerprediger. Spätmittelalterliches geistliches Spiel. D. avancierte im Kapuzinerorden aufgrund bes. erfolgreicher Tätigkeit auf der Passauer Domkanzel zum Guardian, Definitor u. Provinzial. Noch zu Lebzeiten erschien ein Band mit 100 Passionspredigten Rosetum dolorosum centifoliatum: Schmertzhaffter Rosen-Gart von hundert blättigen Rosen (Sulzbach 1694). Postum folgte ein zweiteiliger Sonn- u. Feiertagszyklus Triumphus temporis Evangelici. Oder: Sieges-Gepräng der evangelischen Zeit (2 Tle., Sulzbach 1695), zu dem in der Widmung des Passauer Kapuzinerkonvents vermerkt ist, dass D. diese Predigten, oft in Gegenwart des Fürstbischofs, vorgetragen habe u. das ganze Korpus noch »vor seinem Todt [...] in die vier Jahrs-Zeiten abgetheilt und in den Druck zu geben gesinnet gewesen«. Beide Bände enthalten die zeittypischen ausführl. Register aller »Concepten, Geschichten und Sachen, nach dem Alphabet eingerichtet, zu Nutz und bequemlichern Gebrauch deren Predigern«; weniger belesenen u. eloquenten Amtsbrüdern als Muster zu dienen, war die vornehml. Funktion dieser Predigtsammlungen. D. brachte, stets von seinem Hauptanliegen der geistlich-sittl. Belehrung ausgehend, Beispiele aus dem kleinbürgerl. Alltagsleben mit umgangssprachl. Wendungen, Sprichwörtern, Liedeinlagen u. Predigtmärlein. Bemerkenswert ist seine schonungslose Ständekritik. Weitere Werke: Lis et controversia de iure praerogativae inter quatuor anni partes directrices vernalem, aestivalem, autumnalem et hiemalem nuper exorta [...]. o. O. u. J. [ca. 1690]. Literatur: Werner Welzig (Hg.): Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Bd. 1, Wien 1984, S. 208 f., 214 f.; Bd. 2, Wien 1987, S. 602. – Robert Pichl: Überlegungen zu den Begriffen ›Volk‹ u. ›volkstümlich‹ in der kath. Predigt der Barockzeit. In: Lit. u. Volk im 17. Jh. Hg. Wolfgang Brückner, Peter Blickle u. Dieter Breuer. Tl. 2, Wiesb. 1985, S. 509–526. – DBA 247,361–362. Elfriede Moser-Rath † / Red.
Das zweitägige D. P. (4177 Verse) ist in einer Handschrift aus dem letzten Drittel des 15. Jh. überliefert, die sich jedoch nicht vollständig erhalten hat. So fehlt nicht nur der Schluss des Spiels, sondern mit ihm ein Register, das genaue Angaben über die Kostümierung der Darsteller enthielt. Der Anfang hingegen ist vollständig u. verzeichnet vor dem eigentl. Spieltext zunächst die Bühnenorte (»hüsser und höff«) beider Spieltage. Aus den Regieanweisungen geht ferner hervor, dass mit dem Spiel eine Prozession der Darsteller zum u. vom Spielort verbunden war, wie sie etwa aus der Friedberger Dirigierrolle oder den Freiburger Spielen bekannt ist. Beigefügt ist der Handschrift zudem ein Bühnenplan des 16. Jh., der sich jedoch weder mit dem Verzeichnis der Bühnenorte noch mit den Regieangaben des ersten oder zweiten Spieltags in Einklang bringen ließ u. somit nicht zum D. P. gehören konnte. Er hat sich inzwischen einer Aufführung des Villinger Passionsspiels (spätes 16. Jh.) zuordnen lassen, dessen Text wiederum eng mit dem des D. P. verwandt ist. Es steht somit zu vermuten, dass das niederalemann. D. P. ebenfalls in Villingen bzw. in dessen nächster Umgebung entstanden ist. Text u. Regiebemerkungen des D. P. stimmen außerdem so häufig mit den Luzerner Passionsspielen (1545, 1571) überein, dass aus diesen der verlorene Schluss des D. P. relativ zuverlässig rekonstruiert werden konnte (Dinges). Die Handlung selbst setzt mit einem umfangreichen Magdalenenspiel ein, das Weltleben u. Bekehrung der Maria Magdalena schildert. Ein solcher Spielbeginn ist bei Passionsspielen höchst ungewöhnlich u. findet sich sonst nur noch in der Friedberger Dirigierrolle. Es folgen Geschehnisse aus dem öffentl. Leben Jesu (Versuchung, Wunder, Einzug in Jerusalem). Mit der Auszahlung der 30 Silberlinge an Judas endet der erste Spieltag (1728 Verse), dessen einzelne Handlungsblöcke kausal eng miteinander verknüpft sind. Auffällig ist, dass nicht die Erlösung der sündigen Menschheit thematisch
Donaueschinger Weltgerichtsspiel
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im Mittelpunkt steht, sondern der Gedanke, dass der Tod Christi allein aus Hass u. Neid der Juden resultiere. Diese Tendenz, immer mehr judenfeindl. Elemente in den Text zu integrieren, wird am zweiten Spieltag (2449 erhaltene Verse) in den Passionsszenen zum spielbeherrschenden Moment: Schilderung wie Darstellung der Marter u. Hinrichtung Christi übertreffen im D. P. alle anderen bekannten Spiele an Drastik, Ausführlichkeit u. Genauigkeit. Die auf diese Weise evozierte antijüd. Stimmung kulminiert in der Aufforderung der »Christiana« (d.h. Ecclesia) an die Zuschauer, den Tod Jesu an den Juden zu rächen. Das nachfolgende Osterspiel bricht mit v. 4177 ab (Verkündung der Auferstehung durch die drei Marien). Ausgaben: Eduard Hartl: Das Drama des MA. Passionsspiele 2. Lpz. 1942. Neudr. Darmst. 1966. – Anthonius H. Touber (Hg.): Das D. P. Stgt. 1985. Literatur: Georg Dinges: Untersuchungen zum D. P. Breslau 1910. – Rolf Steinbach: Die dt. Osteru. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 215–222. – Bernd Neumann: D. P. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Elly Vijfvinkel: Das D. P. im Luzerner Osterspiel. Ein Vergleich zweier Passionsspiele. Amsterd. u. a. 1986. – B. Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. – A. H. Touber: Das Osterspiel im D. P. Text u. Musik. In: Osterspiele. Hg. Max Siller. Innsbr. 1994, S. 203–209. – Carla Dauven-van Knippenberg: Die ›Passion de SainteGeneviève‹ u. das ›D. P.‹. Ein Vergleich. In: Kultureller Austausch u. Literaturgesch. im MA. Hg. Ingrid Kasten. Sigmaringen 1998, S. 271–282. – Ursula Schulze: Schmerz u. Heiligkeit. Zur Performanz von ›Passio‹ u. ›Compassio‹ in ausgew. Passionsspieltexten (Mittelrheinischen, Frankfurter, D. Spiel). In: Forsch.en zur dt. Lit. des SpätMA. Hg. Horst Brunner. Tüb. 2003. S. 211–232. – Jutta Eming: Gewalt im Geistl. Spiel. Das D. u. das Frankfurter P. In: GQ 78 (2005), S. 1–22. Bernd Neumann / Red.
Donaueschinger Weltgerichtsspiel, aufgezeichnet im 15. Jh. – Spätmittelalterliches geistliches Spiel. Das D. W. (ca. 350 Verse) gehört, wie der überwiegende Teil der bislang bekannten Weltgerichtsspiele des dt. Spätmittelalters, zur Gruppe der textlich eng miteinander
verwandten Spiele des sog. DonaueschingenRheinauer-Typus. Die Handschrift stammt aus dem 15. Jh. (erste Hälfte?) u. wurde wohl zu Lesezwecken aufgezeichnet, da auf drei Seiten Raum für Illustrationen, wie es sie z.B. im Kopenhagener Weltgerichtsspiel gibt, ausgespart blieb. Da einzelne Verse u. Verspartien jedoch wieder gestrichen u. auch die Illustrationen nicht ausgeführt worden sind, zeigt das Manuskript keinen fertigen, sondern viel eher Konzeptcharakter. Schreiber u. Herkunft der Handschrift sind unbekannt; sprachl. Kriterien verweisen aber auf den Bereich des Hochalemannischen. Anders als das Berner Weltgerichtsspiel verzichtet das D. W. auf die einleitenden Prophetenreden u. Engelrufe sowie auf die dramaturgisch so eindrucksvollen u. publikumswirksamen Schluss-»Szenen« anderer Spiele (Fürbitten Marias u. des Apostels Johannes, deren Ablehnung durch Christus, Zug der Verdammten in die Hölle, Gang der Seligen in den Himmel) u. zeigt lediglich einen Handlungsausschnitt: das Jüngste Gericht selbst. Auf die Trennung der Gerechten von den Sündern folgt ein Dialog Christi mit den Auserwählten, deren gute Werke u. unterlassene Sünden einzeln aufgezählt werden. Parallel dazu verläuft das Gespräch mit den Bösen, die verurteilt u. Luzifer übergeben werden. Mit einer Klage der Verdammten, die nun ihren Weg in die Hölle antreten müssen, endet das D. W. Ausgaben: Das Weltgerichtsspiel der Slg. Jantz mit der Donaueschinger Variante Hs. Nr. 136. Hg. Winder McConnel u. Ingeborg Henderson. In: Jb. des Wiener Goethe-Vereins 92/93 (1988/89), S. 223–321. – Die dt. Weltgerichtspiele des späten MA. Synopt. Gesamtausg. Hg. Hansjürgen Linke, 3 Bde, Tüb./Basel 2002. Literatur: Karl Reuschel: Die dt. Weltgerichtsspiele des MA u. der Reformationszeit. Lpz. 1906, S. 85 f., 90 f. – Hellmut Rosenfeld: D. W. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986, Nr. 34. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Bd. 2, Mchn. 1987, Nr. 3622. – Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des MA. Amsterd./Atlanta 2000, S. 23–30. Bernd Neumann / Ursula Schulze
Donhauser
Donhauser, Michael, * 27.10.1956 Vaduz/ Liechtenstein. – Lyriker u. poetischer Erzähler.
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Grübeln«. Dieses Grübeln ist an Adalbert Stifters »Instandsetzung des Glücks« geschult, das D. in einem der Aufsätze des Bandes Vom Sehen (Basel/Weil am Rhein/Wien 2004) analysiert: »Die Sprache reinstalliert das Glück, indem sie es erfindet, gegen den Verlust, durch die Bejahung.«
D. ist als österr. Staatsbürger in Liechtenstein aufgewachsen, er besuchte dort das Gymnasium u. ging 1976 zum Studium der Theologie, Romanistik u. Germanistik nach Wien, Weitere Werke: Der Holunder. Wien/Graz wo er seither lebt. 1986 (Prosag.e). – Edgar. Salzb./Wien 1987 (E.). – In D.s Gedichten u. Prosatexten begegnet Die Wörtlichkeit der Quitte. Graz/Wien 1990 (L.). – uns der einsame Protagonist als ein ziellos Dich noch und. Salzb. 1991 (L.). – Das neue Leben. Gehender: ein Gehender an der Peripherie Salzb./Wien 1994 (L.). – Livia oder die Reise. Salzb./ der Städte, »den Eingängen entlang, den Wien 1996 (R.). – Arthur Rimbaud: Die späten Toreinfahrten, den Baustellen«. Oft agiert Verse. Basel/Weil am Rhein/Wien 1998 (Übers.). – das lyr. Ich auch als romantisch-traumverlo- Die Hecke. Der Abend. Warmbronn 2002 (L.). – rener Wanderer, streift durch Wälder u. Venedig: Oktober. Heidelb. 2003 (L.). – Vom Schnee. Basel/Weil am Rhein/Wien 2003 (L.). – Ich Obstbaumgärten, flankiert vom Fluss- u. habe lange nicht doch nur an dich gedacht. Basel/ Himmelsrauschen. D.s lyrisches Subjekt ruft Weil am Rhein/Wien 2005 (L.). – Schönste Lieder. in fast mystischer Andacht die »Amsel« oder Basel/Weil am Rhein 2007 (L.). den »Holunder« an u. versucht sich im inLiteratur: Michael Braun: M. D. In: LGL. – Jörg ständigen Schauen der Präsenz der Dinge zu Drews: Laudatio auf M. D. In: manuskripte 169 vergewissern. »Sieh«, heißt es in der lyr. (2005), S. 84–87. Michael Braun Prosa des Bandes Die Gärten. Paris (Basel/Weil am Rhein/Wien 2000), »und es war eine Einladung, einzugehen in das Sehen als in eine Donner, Johann Jacob Christian, * 10.10. Glückseligkeit«. Mit der allmähl. Erzeugung 1799 Krefeld, † 28.3.1875 Krefeld. – Phider Sichtbarkeit werden die Dinge auch als lologe u. Übersetzer. akust. Phänomene erfahrbar, im Klang weitet Der Kaufmannssohn studierte 1817–1822 in sich die verloren geglaubte Landschaft zum Tübingen Philologie u. Theologie. Bereits paradiesischen Raum. während dieser Zeit versuchte sich D., dessen Die enzyklopädisch ausgedehnte lyr. Phä- Sprachtalent früh gefördert worden war, in nomenologie des Bandes Von den Dingen Übersetzungen: Des D. J. Juvenalis Satiren in der (Mchn./Wien 1993), die sich an den akrib. Versart der Urschrift verdeutscht (Tüb. 1821); ein Naturdeskriptionen des frz. Modernisten Jahr später folgte F. Persius Satyren [...] (Stgt.). Francis Ponge orientiert, weicht später formal Dadurch kam es zur Bekanntschaft mit dem strengeren Formen der Naturdichtung. Im Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß. Sarganserland (Basel/Weil am Rhein/Wien Nach dem Abschluss seines Studiums unter1999) arbeitet der Autor nur noch mit knap- richtete D. ab 1823 an den Seminaren in Urpen Vier- oder Fünfzeilern, wobei hier der ach u. Tübingen, seit 1827 in Ellwangen. Vers mitunter so weit reduziert wird, dass 1843 nach Stuttgart versetzt, trat er 1852 in lediglich ein karges Wort in der Zeile zurück den Ruhestand u. widmete sich fortan nur bleibt. Hier geht es um die lyr. Topografie noch seiner Übersetzertätigkeit. Als Höheeiner Landschaft, um das Alpen-Rheintal, in punkt seines Schaffens ist die Übersetzung dessen winterl. »Nachtlandstrassen«, Baum- der Dramen Sophokles’ anzusehen (Stgt. u. Hügel-Figurationen D. eine »Heimat« zu 1839. 81875). Seine eng an die formal-metr. verorten versucht. Seine Kindheitslandschaf- Vorgaben der Originale angelehnten, »bis ten um die Stadt Sargans verwandelt D. in heute unübertroffenen« (Laaths) Versionen sakrale Räume, deren Geheimnisse sich im konnten sich jedoch nur teilweise durchsetbloßen Benennen der Naturdetails offenba- zen. ren. Die Tonlage seiner Prosagedichte chaWeitere Werke: Die Lusiaden des L. de Camorakterisiert er als ein »transzendierendes ens’ verdeutscht. Stgt. 1833. – Euripides’ Werke.
85 Heidelb. 1841. – Aeschylos Werke, dt. in den Versmaßen der Urschrift. Stgt. 1854. – Homer, dt. 2 Bde., Stgt. 1855–58. – Pindar’s Sieges-Gesänge. Lpz. 1860. – Die Lustspiele des Aristophanes. 3 Bde., Lpz. 1861/62. – Die Lustspiele des P. Terentius. 2 Bde., Lpz. 1864. – Die Lustspiele des Plautus. 2 Bde., Lpz. 1864/65. Literatur: Karl Klüpfel: J. J. C. D. In: ADB. – Erwin Laaths: Zu unrecht vergessen. In: Merian 9, H. 5 (1956), S. 91–94. Michael Then / Red.
Donum Dei, entstanden spätestens im 15. Jh. – Text/Bild-Traktat alchemischen Inhalts.
Dor Ausgaben: Pandora, Das ist/ Die Edleste Gab Gottes/ oder der Werde [...] Stein der Weisen. Hg. Hieronymus Reusner. Basel 1582, S. 1–59 (dt. Erstabdruck). – Aurei velleris [...] Tractatus Quintus. Basel 1605, S. 244–278. – Tractatus varii, de vera praeparatione, et usu medicamentorum chymicorum. Hg. Bernard Gilles Penot. Basel 1616, S. 211–236 (lat. Erstabdr.). – Le don de dieu. Introduction, transcription et notes par Mino Gabriele. Suivi d’une autre version commentée par Albert Poisson. Paris 1988 (Reproduktion einer Bildfassung ohne genuinen D. D.-Text; Transkription einer frz. Version v. A. Poisson, 1891, hg. v. Eugène Canseliet, 1957). Literatur: Joachim Telle in: LexMA. – Julian Paulus: Das D. D. Zur Ed. eines frühneuzeitl. alchem. Traktats. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Gert Roloff. Amsterd. 1998, S. 795–803. – Julian Paulus in: Alchemie, S. 111 f. – J. Telle in: VL (Nachträge u. Korrekturen). Joachim Telle
Ein in über fünfzig lateinisch- u. vierzig deutschsprachigen Abschriften u. Abdrucken des 15. bis 18. Jh. überliefertes Werk. Wider alle Zuschreibungen etwa an Georg Aurach (Straßburg, 15. Jh.) ist der Urheber des D. D. unbekannt; seine Identität mit dem Urheber Dor, Milo, auch: Alex Lutin, Alexander des Bildprogramms steht dahin. Der florileDormann, eigentl.: Milutin Doroslovac, gienartige Text besteht aus Exzerpten, die * 7.3.1923 Budapest, † 5.12.2005 Wien. – der im 14. Jh. aktuellen Alchemieliteratur Erzähler, Dramatiker, Rundfunk- u. entstammen u. nach Konkordanzprinzip Fernsehautor, Übersetzer. collagiert worden sind. Zur Sprache gelangen theoret. Aspekte einer auf Sol, Luna u. Mer- Der Sohn wohlhabender serb. Eltern – der curius gegründeten Alchemie u. ein etap- Vater war Arzt – wuchs zunächst in der Wopenreiches Prozessgeschehen, das vom »grü- jwodina u. seit 1933 in Belgrad auf. 1942 nen Löwen« (Quecksilber) seinen Ausgang wurde er als kommunistischer Widerstandsnimmt, eine Coniunctio von »Mann« u. kämpfer verhaftet, 1943 als Zwangsarbeiter »Weib« u. eine Reductio des Goldes in Ma- nach Wien gebracht u. 1944 erneut inhaftiert. teria prima (Putrefactio-Phase) einbegreift u. D. blieb in Wien, wo er 1945–1949 Theaterim Gewinn einer Tinctura ad album u. Tinc- wissenschaften u. Romanistik studierte, 1948 tura ad rubeum (Universalmedizin) mündet. Arbeit beim frz. Informationsdienst fand u. Die allegorischen Res pictae, in Phiolen zunächst in Zeitschriften (»Plan«) deutsch zu platziert, entstanden in enger Anlehnung an schreiben begann. Seit 1951 war er Mitgl. der den Text; sie visualisieren Decknamen (Dra- Gruppe 47. 1953–1968 publizierte er zus. mit che) u. während der alchem. Wandlungsge- Reinhard Federmann Anthologien u. Romaschehnisse auftretende Erscheinungen (Wür- ne (Internationale Zone. Wien 1953. Neuausg. mer, Nebel, Blumen). Königin u. König per- Wien 1994). D. war 1971–1979 Vizepräsident sonifizieren Prinzipien bzw. Arkanstoffe (Sol/ bzw. geschäftsführender Vizepräsident, seit Mann, Luna/Weib), Kaiserin u. Kaiser das 1979 Präsident der Interessengemeinschaft »unvollkommene« Metalle in Silber u. Gold österreichischer Autoren, 1972–1988 Vizewandelnde weiße u. rote Elixier. Ausweislich präsident, seit 1988 Ehrenmitgl. des Östereiner reichen Überlieferung, die sich bis weit reichischen PEN-Clubs u. seit 1975 Präsident in die Neuzeit behauptete, aber auch mancher der Literarischen Verwertungsgesellschaft. Er Übersetzung ins Deutsche, Französische, trug maßgeblich dazu bei, dass für die österr. Englische, Tschechische u. Italienische zählt Autoren ein Sozialfonds geschaffen wurde. das D. D. zu den wirkmächtigsten DenkmäBekannt wurde D. mit seinen ersten, stark lern der spätmittelalterl. Alchemieliteratur. autobiogr. Romanen: Tote auf Urlaub (Stgt.
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1952. Neuausg. Salzb. 1992) dokumentiert geber: Die Verbannten. Eine Anth. Graz 1962. – Die den Weg eines jungen serb. Kommunisten Leiche im Keller. Dokumente des Widerstands gedurch faschist. Gefängnisse; in Nichts als Er- gen Dr. Kurt Waldheim. Wien 1988. Literatur: Helmut A. Niederle (Hg.): M. D. innerung (Stgt. 1959. Neuausg. Salzb. 1993) entwirft er ein atmosphär. Bild Serbiens um Beiträge u. Materialien. Wien/Darmst. 1988. – Kari 1936. Der in freierer Erzähltechnik angelegte, Grimstad: Changes in perspective. Narrative irony in M. D.’s ›Die Raikow Saga‹. In: MAL (1991), H. 3/ realist. Schlüsselroman Die weiße Stadt (Hbg. 4, S. 11–20. – Dossier M. D. In: LuK 1993, H. 271/ 1969. Neuausg. Salzb./Wien 1994) beschließt 272. – Cornelius Hell: M. D. In: KLG. – Jacques die Trilogie (u. d. T. Die Raikow-Saga. Mchn./ Lajarrige: Kulturwechsel als Plädoyer für die ToleWien 1979). Milde Ironie, Sentimentalität u. ranz. Zu M. D.s Mitteleuropäertum. In: Auf der Lokalkolorit kennzeichnen seine autobiogr. Suche nach einer größeren Heimat ... SprachErzählungen (Meine Reisen nach Wien. Eisen- wechsel/Kulturwechsel in der slaw. Welt. Hg. Ulstadt 1974. Erw. Neuaufl. Mchn./Wien 1981). rich Steltner. Jena 1999, S. 9–32. – Daniel Drascek: D. gilt nicht zuletzt durch seine Anthologien M. D. In: LGL. – J. Lajarrige (Hg.): M. D. Budapest – jugoslawischer Literatur u. Übersetzungen Belgrad – Wien. Wege eines österr. Schriftstellers. Symposium, Paris 16.-17.5.2003. Salzb./Wien (Ivo Andric´, Miroslav Krlezˇa, Vasko Popa) 2004. Ursula Weyrer / Bruno Jahn sowie durch Reisefeuilletons (Auf der Suche nach der größeren Heimat. St. Pölten 1988. Erw. Neuausg. u. d. T. Mitteleuropa. Mythos oder Dorn, Dorneus, auch lat. Spina, Gerhard, Wirklichkeit. Salzb./Wien 1996) u. Fernseh- Gerardus, * zwischen 1530 u. 1540 Mechdrehbücher über Norditalien u. Istrien als elen/Belgien, † ca. 1584 Frankfurt/M. – Symbolfigur des Mitteleuropagedankens u. Paracelsistischer Fachschriftsteller u. als wichtiger Kultur- u. Literaturvermittler. protestantischer Dissident. D. wurde u. a. mit dem Österreichischen Staatspreis des Bundesministeriums für Un- Ohne Abschluss studierte D. in Tübingen terricht u. Kunst für Romane (1962), dem (1559), später noch einmal in Basel (1567/68). Anton-Wildgans-Preis (1972), dem Österrei- Dort trat er über Adam von Bodenstein mit chischen Staatspreis für Verdienste um die den Strömungen u. der Publikationsoffensive österreichische Kultur im Ausland (1989), des hermetist. Paracelsismus in engsten dem Andreas-Gryphius-Preis der Künstler- Kontakt. Um 1567 treffen wir ihn in Lyon, wo gilde (1998) u. dem Bruno-Kreisky-Preis für er als bekennender Alchemiker u. Paraceldas politische Buch (2001) ausgezeichnet. susanhänger seine Clavis totius Philosophiae 2006 erhielt er postum den Theodor-Kramer- Chymisticae veröffentlichte (dt. Übers. Straßb. 1602), Vorspiel seiner ab 1568 einsetzenden Preis (zus. mit Robert Sommer). Reihe von Paracelsusausgaben, -übersetzunWeitere Werke: Unterwegs. Wien 1947 (E.en). – Salto mortale. Zürich 1960 (E.en). – Ballade vom gen u. -kommentaren (etwa 22 Drucke bis menschl. Körper. Graz/Wien/Köln 1966 (Werk- 1584). Neben Reisen nach Frankreich lebte D. ausw. v. Gerhard Fritsch; mit Bibliogr.). – Menuett. v. a. in Basel, ab 1581 in Frankfurt/M., wo Eisenstadt 1975 (D.). – Alle meine Brüder. Mchn. sich seine Lebensspuren verlieren. 1978 (R.). – Der letzte Sonntag. Bericht über das In Diensten v. a. des Basler Verlegers Pietro Attentat v. Sarajewo. Wien/Mchn. 1982 (R.). – Prve i Perna profilierte sich D. als sehr fruchtbarer poslednje pesme (Die ersten u. die letzten Gedich- medizinischer u. naturphilosoph. Publizist, te). Novi Sad 1988. – Auf dem falschen Dampfer. der die älteren Traditionen der hermetist. Fragmente einer Autobiogr. Wien/Darmst. 1988. – Alchemie in sein Werk integrierte. Ablesbar Der Mann, der fliegen konnte. Wien 1990 (E.) . – sind so auch die zeitgenöss. Tendenzen der Schriftsteller u. Potentaten. Schriften aus fünf illuminativen Spiritualisierung alchemischer Jahrzehnten. Wien 1991. – Leb wohl, Jugoslawien. Protokolle eines Zerfalls. Salzb./Wien 1993. 3., erw. Theoreme im Rahmen einer theosophischen Aufl., mit einer Antwort an Peter Handke. Salzb./ u. naturmag. Auslegung der bibl. SchöpWien 1996. – Wien, Juli 1999. Eine Gesch. Wien fungsgeschichte. Seine Freundschaft mit dem 1997. – Grenzüberschreitungen. Positionen eines ehemaligen Tübinger Professor u. engagierkämpferischen Humanisten. Wien 2003. – Heraus- ten Schwenckfeldianer Samuel Eisenmenger
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(Siderocrates; 1534–1585) beruhte auf dem Philosophie et Alchimie chez G. D. In: Alchemie et gemeinsamen Kampf gegen das akadem. Philosophie à la Renaissance. Hg. Jean Claude Wissenschaftssystem, umfasste die Hoffnung Margolin et Sylvain Matton. Paris 1993, auf eine endzeitl. Restauration des Wissens u. S. 215–221. – Didier Kahn: Les débuts de G. D. [...]. In: Analecta Paracelsica. Hg. Joachim Telle. Stgt. bekundete exemplarisch die Allianz zwischen 1994, S. 59–126. – Ders. in: Alchemie, S. 112–114. vielen Anhänger des Paracelsus u. den Ver- – Alfred Ribi: G. D. Das Problem von Drei u. Vier. tretern der protestant. Heterodoxie. Zgl. las- In: Nova Acta Paracelsica N. F. 16 (2002), S. 61–92. sen sich bei D. auch immer wieder Spuren des Wilhelm Kühlmann auf Ficino zurückweisenden Renaissanceplatonismus verfolgen. Diese Anregungen verschmolzen mit einer triadischen Anthropo- Dorn, Thea, eigentl.: Christiane Scherer, logie, die weitgehend auf Paracelsus zurück- * 23.7.1970 Offenbach. – Krimi- u. Sachgeht, zu dessen Verbreitung u. Exegese D. buchautorin, Dramaturgin u. Fernsehnicht nur durch seine editor. Aktivitäten, moderatorin. sondern auch durch lexikograf. Bemühungen Nach ihrer Gesangsausbildung schloss D. ihr u. scharfe Polemik gegen die Paracelsusgeg- Philosophie- u. Theaterwissenschaftsstudium ner (darunter der Heidelberger Professor mit einer Magisterarbeit über SelbsttäuThomas Erastus) beitrug. schungsmechanismen an der FU Berlin ab, D.s Werke wurden, auch in dt. Überset- wo sie von 1995 bis 2000 als Dozentin am zung, breit rezipiert u. wirkten noch ein auf Philosophischen Institut arbeitete. Es folgte die psychoallegor. Auslegung der Alchemie eine Tätigkeit als Dramaturgin in Hannover. bei C. G. Jung. D. lebt heute als freie Autorin in Berlin. Weitere Werke: Chymisticum Artificium NaFür ihren Debütroman Berliner Aufklärung turae. o. O. 1568. – Artificii Chymistici Physici, (Hbg. 1994) erhielt sie den Philip-MarloweMetaphysicique secunda Pars et tertia. De praepaPreis der Raymond-Chandler-Gesellschaft. rationibus metallicis in utroque Lapidis PhiloDer satir. Kriminalroman spielt an der Berlisophorum opere maiore minoreque tractatus excellentissimus. o. O. 1569. – Lapis metaphysicus aut ner Universität. Eine ehemalige Philosophiephilosophicus, qui universalis medicina vera fuit. studentin u. Betreiberin einer philosoph. o. O. 1569. – Congeries Paracelsicae Chemiae de Praxis für Lebensfragen klärt eine Mordserie transmutationibus metallorum. Ffm. 1581. – De auf, die mit einer in die 54 Postfächer der Naturae Luce Physica, ex Genesi desumpta, iuxta Dozenten verteilten Professorenleiche besententiam Theophrasti Paracelsi. [Angefügt:] Ad- ginnt u. sie in das überspitzt stereotyp gemonitio ad Thomam Erastum. Ffm. 1583. – Dic- schilderte Homosexuellenmilieu Berlins tionarium Theophrasti Paracelsi. Ffm. 1584. führt. Auch in anderen Texten stehen ungeNachdr. Hildesh./New York 1981. – Nachdr.e in: wöhnl. Frauenfiguren im Mittelpunkt. Im Theatrum Chemicum. Bd. 1–6, Straßb. 1659/61, Roman Die Hirnkönigin (Hbg. 1999) u. in dem hier Bd. 1, S. 193–591. – Werkbibliografien unter Theaterstück Nike – Schöner töten! (Urauff. Einschluss der Editionen: Karl Sudhoff: Ein Beitr. zur Bibliogr. der Paracelisten. In: ZfB 10 (1893), Hannover 2001) werden Serienmörderinnen S. 385–391. – Ders.: Versuch einer Kritik der porträtiert, u. das Sachbuch Die neue F-Klasse Echtheit der Paracelsischen Schr.en. I. Theil: Die (Mchn. 2006) setzt sich mit der Rolle der Frau unter Hohenheim’s Namen ersch. Druckschr.en. in unserer Gesellschaft auseinander. Bln. 1894. Nachdr. u. d. T. Bibliographia Paracel2000 wurde D. der Deutsche Krimipreis sica. Graz 1958 (Register). verliehen; seit 2004 moderiert sie die SWRNeue Teilausgabe: CP II (Vorreden u. Briefe) Sendung »Literatur im Foyer«. mit Übers.en, Komm.en S. 823–963 (Nr. 83–91).
u.
Bio-Bibliogr.,
Literatur: (neben CP II): Thorndike, Bd. 5 (1941), S. 630–636. – Martha Teach Gnudi. In: DSB, Bd. 3 (1970), S. 169–171. – C. G. Jung: Psychologie u. Alchemie. 2. rev. Aufl. Zürich 1952 (auch Ges. Werke. Bd. 12, 1972). – Jean-François Marquet:
Weitere Werke: Ringkampf. Hbg. 1996. – Berlin noir. Zus. mit Bärbel Balke u. a. Hbg. 1997. – Eine böse Überraschung. Zus. mit Gisbert Haefs u. a. Hbg. 1998. – Marleni: Preuß. Diven blond wie Stahl. Theaterstück. Urauff. Hamburg 2000. – Tödliche Widder, Erbarmungslose Stiere, Gefährl. Zwillinge u. a. Astrokrimis. Hg. zus. mit Uta
Dornau Glaubitz u. Lisa Kuppler. Ffm. 2000. – Ultima Ratio. Ges. Erzählungen u. Kolumnen. Hbg. 2001. – Bombsong. Zus. mit Ulrike Haage. Theaterstück. Urauff. Frankfurt/M. 2001. – Tatort: Der schwarze Troll. RB/WDR 2003. – Die Brut. Mchn. 2004. Literatur: Antje Weber: T. D. In: LGL. – Ulrich Fischer: T. D. In: KLG. Melanie Kronenberg
Dornau, Dornavius, Caspar, * 11.10.1577 Ziegenrück/Vogtland, † 28.9.1631 Brieg (Niederschlesien). – Späthumanistischer Gelehrter, Reformpädagoge, Diplomat, Mediziner. Die Karriere D.s, der als Lehrer von Martin Opitz meist mit einer Fußnote in dt. Literaturgeschichten vertreten ist, verlief für ihre Zeit exemplarisch. Sechs Phasen lassen sich unterscheiden: Seine philologischen u. medizin. Studien in Jena (1594–1597) setzte D. in Prag fort (bis 1602), wo er als Assistent eines kaiserl. Leibarztes u. Lehrer einer von böhmischen Adligen besuchten Privatschule mit aristokrat. Lebensformen in Berührung kam. Es schloss sich eine längere Bildungsreise an (1603–1607), die er als Hofmeister des jungen Jaroslaw von Smirziz absolvierte. In deren Verlauf wurde er in Basel, wo er sich auch mit paracelsist. Ideen auseinandersetzte, zum Dr. med. promoviert (Heptas miscella. Basel 1604) u. lernte die kulturellen Zentren des westeurop. Calvinismus, darunter den Heidelberger Hof, kennen. Die Zeit seines Rektorats am akadem. Gymnasium in Görlitz (1608–1615) kann als Phase der berufl. u. gesellschaftl. Etablierung eingestuft werden: D. heiratete die Tochter eines Görlitzer Patriziers (Sacrum nuptiale. Görlitz 1608 [Epithalamien]), verfasste eine neue Schulordnung (Gymnasii Gorlicensis disciplina et doctrina. Görlitz 1609), führte die öffentlichkeitswirksame Inszenierung Ciceronischer Reden als Schüleraufführungen ein u. sicherte sich mit panegyr. Schriften die Aufmerksamkeit des Herrscherhauses (u. a. Rodulphus Habsburgicus. Görlitz 1613. Adelstitel im selben Jahr). Als weiterer Aufstieg in der Gelehrtenhierarchie ist die Berufung zum Rektor u. »professor morum« (»mores«: gesellschaftlich adäquates Verhalten) der von Georg von Schönaich begründeten Schule in Beuthen an
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der Oder, die für Schlesien den Status einer Universität einnahm, zu verstehen. In seiner Beuthener Zeit (1616–1620) entstanden D.s wichtigste reformpädagog. Schriften (s. u.), von denen nicht zuletzt Martin Opitzens gleichfalls in Beuthen verfasster poetolog. Traktat Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae (Beuthen 1617) beeinflusst wurde. Zur Zeit des Böhmischen Aufstandes gelang es D., sich als Diplomat in den Dienst der schles. Fürsten u. Stände zu begeben (1620/ 21). Spärlich belegt, aber den äußeren Bedingungen nach wohl als Höhepunkt seiner Karriere anzusehen ist schließlich sein Amt als Leibarzt u. Rat des Herzogs von Brieg (1621–1631). Dass eine Gedenkschrift auf die Opfer des Böhmischen Aufstandes (Piis manibus Primorum Regni Bohemiae. o. O. 1623) unter anagrammat. Verhüllung des Autornamens erschien (»Adrianus Varposcus«), zeugt für D.s Pragmatismus ebenso wie für seine Empörung gegen die von ihm trotz konfessioneller Differenzen lange Zeit verehrte Habsburgerdynastie. D.s wichtigste Schriften sind ohne Zweifel die großen programmat. Reden, in denen er die Lage des Gelehrtenstandes im Zeichen zunehmender Konkurrenz durch einen akademisch gebildeten Adel u. sich verändernder Anforderungen im Hinblick auf Ausbildungsstandards u. Verhaltensnormen analysierte. Im Vorgriff auf die »Querelle des Anciens et des Modernes« beweist D., dass die in der Gegenwart konstatierten Missstände allesamt auch bereits in der Vergangenheit existierten (Parallela morum seculi. Görlitz 1616), die Leistungen der Gegenwart jedoch denen der Vergangenheit überlegen sind (Felicitas seculi. Beuthen 1617). Diesem grundsätzlich fortschrittsoptimist. Weltbild ist eine Pädagogik angemessen, die den unzeitgemäßen Pedantismus aus den Schulen verbannt u. stattdessen ein praxisorientiertes Curriculum unter Einbeziehung der »Realien« vertritt (Ulysses scholasticus. Hanau 1620). Komplementär dazu entwickelt D. eine auf neostoizist. Gedanken fußende Lehre des am »decorum« u. an den ständ. Hierarchien orientierten Verhaltens in der Öffentlichkeit (Charidemus. Beuthen 1617). In einer der Disputationen, die im Anschluss an den Charidemus ab-
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gehalten wurden, ließ D., der sich selbst 17. Jh. Hg. Albrecht Schöne. Mchn. 1976, konsequent des lat. Idioms bediente, aus S. 324–334. – Heinz Entner: Zum Kontext v. Markulturpatriot. Perspektive Argumente für die tin Opitz’ Aristarchus. In: Germanica WratislaGleichrangigkeit der dt. Sprache mit denen viensia 47 (1982), S. 3–58. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Entwicklung u. anderer Nationen entwickeln. Kritik des dt. Späthumanismus in der Lit. des BaD. war unter den Zeitgenossen (z.B. rockzeitalters. Tüb. 1982. – Robert Seidel: C. D. u. Comenius) als Gelehrter u. Bildungsreformer der Paracelsismus in Basel. Schulhumanismus u. hoch angesehen. In der Folge zeigen sich Medizin im frühen 17. Jh. In: Parerga Paracelsica. vereinzelte Spuren der Rezeption (z.B. zwei Hg. Joachim Telle. Stgt. 1991, S. 249–276. – Ders.: Neudr.e des Ulysses scholasticus im 18. Jh.), u. Späthumanismus in Schlesien. C. D. (1577–1631). die Opitz-Forschung hat sich seiner früh an- Leben u. Werk. Tüb. 1994. Robert Seidel genommen (grundlegend Entner). Seine kulturhist. Bedeutung im Zeichen von PrudenDornblüth, Joseph Anton Sebastian, tismus, Tacitismus u. Kulturpatriotismus auch: Augustinus Dornblüth, * um 1680 kann, wie ein früher Versuch (Sellmann) beGengenbach, † zwischen 1755 u. 1768 legt, freilich erst auf der Basis sozial- u. bil- Gengenbach. – Benediktiner; Übersetzer, dungshistorisch fundierter Epochenanalysen Sprach- u. Übersetzungstheoretiker. seit den 1970er Jahren (wegweisend Kühlmann) angemessen bewertet werden. Die Der Sohn eines Notars studierte nach seiner gute Quellenlage u. der repräsentative Ver- Schulzeit in Gengenbach bei Offenburg ab lauf von D.s Karriere legten eine umfassende 1707 zwei Semester Jura an der Universität monograf. Untersuchung nahe (Seidel). Eine Freiburg i. Br. 1708 trat er dem Benediktieigene Wirkungsgeschichte entfaltete das nerorden in Gengenbach bei u. nahm ein Jahr Amphitheatrum sapientiae Socraticae ioco-seriae (2 später den Mönchsnamen Augustinus an. Bde., Hanau 1619. Ffm. 21670. Neudr. Nach seiner Priesterausbildung wirkte er in Goldbach 1995 hg. v. Robert Seidel), eine verschiedenen elsäss. Klöstern u. Pfarreien, Sammlung iron. Enkomien u. verwandter bevor er 1719 endgültig ins Kloster GengenTexte, das wie vergleichbare Kompilate des bach zurückkehrte, wo er bis zu seinem Tod Späthumanismus im ganzen 17. Jh. Beach- eine rege Schreibtätigkeit entfaltete. Er tung fand u. von der motiv- u. gattungsge- übersetzte zahlreiche theolog. Werke aus dem Lateinischen u. Französischen, schrieb schichtl. Forschung gewürdigt wurde. Weitere Werke: Invidiae encomium. Görlitz auch eigene übersetzungstheoret. Arbeiten u. 1614. Frankf./O. 21618. – Menenius Agrippa, hoc verfasste moraltheolog. Schriften. Den Zeitgenossen wurde er durch Beiträge est, corporis humani cum republica perpetua comparatio. Hanau 1615. – De incrementis dominatus zur dt. Sprache seiner Zeit bekannt, in denen Turcici. Ffm. 1615. – Caecitas Israelis, hoc est, er als Oberdeutscher eine radikale Gegenpoquaestio controversa, an Iudaei in rebuspublicis sition zum mitteldt. Gottsched bezog, v. a. in Christianis sint ferendi. Beuthen 1620. seinem bedeutendsten Werk Observationes oder Sammelausgabe: Orationum aliorumque scri- gründliche Anmerckungen über die Art und Weise ptorum tomus I[-II]. Hg. Anton Schmiedt. Görlitz eine gute Übersetzung besonders in die teutsche 1677. Sprach zu machen [...] (Augsb. 1755). Im ersten Literatur: Bibliografie: Seidel 1994 (s. u.), Teil dieses Buchs plädiert D. für das ÜberS. 397–481 (Werke u. Lebenszeugnisse); S. 483–523 setzungsprinzip »non verbum e verbo, sed (Quellen u. Forschungslit.). – Weitere Titel: Adolf sensum de sensu«, das schon Hieronymus Sellmann: C. D., ein pädagog. Neuerer im Anfang vertreten hatte. Im zweiten polemisiert er (oft des 17. Jh. Langensalza 1898. – Ernst Koch: Böhm. in sehr drastischer Sprache) gegen Gottsched. Edelleute auf dem Görlitzer Gymnasium u. Rektor Dornavius. In: Neues Lausitzisches Magazin 93 Er wirft ihm vor, affektiert, weichlich u. (1917), S. 1–48. – Jörg-Ulrich Fechner: Der Lehr- u. französisierend zu schreiben (»wegen seinem Lektüreplan des Schönaichianums in Beuthen als Franzößlen, komt alles heraus, als wan er bildungsgeschichtl. Voraussetzung der Lit. In: immer schertzete«, S. 351). Außerdem würde Stadt – Schule – Univ. – Buchwesen u. die dt. Lit. im Gottsched diktatorisch den sächs. Sprachge-
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brauch (lexikalisch u. grammatisch) zur hochdt. Norm erklären u. sich damit selbstherrlich über die Sprache der oberdt. Provinzen hinwegsetzen. Diesen Standpunkt haben auch andere vertreten (etwa Carl Friedrich Aichinger, Johann Sigmund Valentin Popowitsch, Johann Jakob Heinrich Nast u. Friedrich Karl Fulda), aber keiner so engagiert u. vehement wie D. Weitere Werke: Praxis regulae S. P. Benedicti omnibus tam adultis quam iunioribus eam professis vel professuris perutilis [...] desumpta potissimum ex Gallico [...]. Mainz 1749. – Anleitung gemeiner Personen zu einem vollkommenen, das ist wahrhaft christl. Leben [...]. Augsb. 1751. – Nothwendige Vernunfft-Schlüsse über die wahre Religion. Augsb. 1751. – Übersetzungen: Eindringl. Vorstellungen der christl. Wahrheiten oder Betrachtungen auf alle Täge [...] aus dem Frz. in ein besseres Teutsch übers. [...]. 4 Tle., Rottweil am Neckar 1737. – [Jacques Bénigne Bossuet:] Erläuterung einiger Zweifflen über die Gebetter der Heil. Meß in Form eines Send-Schreibens [...] aus dem Frz. ins Teutsche übers. [...]. Augsb. u. Regensb. 1739. – [Anne Joseph de la Neuville S. J.:] Die Sittenlehre des Neuen Testaments in geistl. Betrachtungen auf jeden Tag des Jahres [...] in das Teutsche übersetzet [...]. Mainz 1748. – [Augustin Calmet:] Gelehrte Verhandlung der Materi, v. Erscheinungen der Geistern [...]. 2 Bde., Augsb. 1752. Literatur: Bio-bibliogr. Hdb. zur Sprachwiss. des 18. Jh. Hg. Herbert E. Brekle u. a. Bd. 2, Tüb. 1993, S. 277–279. – Weitere Titel: Ewald Augustus v. Boucke: Pater Augustin D.s ›Observationes‹. Mchn. 1895. – Max Hermann Jellinek: Gesch. der nhd. Grammatik v. den Anfängen bis auf Adelung. Bd. 1, Heidelb. 1913, S. 263–266. – E. A. Blackall: The ›Observationes‹ of Father D. In: MLR 50 (1955), S. 450–463. – DBA 249,150–154. – Klaus-Peter Wegera: Morphologie des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jh. In: Sprachgesch. Ein Hdb. zur Gesch. der dt. Sprache u. ihrer Erforsch. (= HSK Bd. 2). Hg. Werner Besch u. a. 2. Tlbd., Bln./New York 22000, S. 1810–1818 (u. Register). Bernd Naumann / Red.
Dorow, Wilhelm, * 22.3.1790 Königsberg, † 16.12.1845 Halle. – Archäologe, Historiker u. Biograf. Der Neffe Johann Friedrich Reichardts wandte sich zunächst dem Baufach zu u. trat 1806 in ein kaufmänn. Geschäft ein. Nach einer Parisreise erregte D. 1811 die Auf-
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merksamkeit des Fürsten Hardenberg u. ergriff die diplomat. Laufbahn. Bedeutende Wirksamkeit ergab sich 1814 auf einer Kommissionsreise zur humanitären Organisation des süddt. Lazarettwesens. Mittlerweile Gesandtschaftssekretär in Kopenhagen, schied D. 1817 infolge einer Kriegsverletzung aus dem Dienst. Zur Genesung in Wiesbaden, widmete er sich mit Verve u. Organisationstalent Ausgrabungen u. schließlich, mit Unterstützung Hardenbergs, der zentralen Verwaltung (1820 zum Direktor bestellt) der archäolog. Forschungen in den von Preußen neu gewonnenen rheinisch-westfäl. Provinzen. 1819 mit Hofrats- u. Doktortitel geehrt, wurde er mit seiner Sammlung Begründer des Museums rheinisch-westfäl. Altertümer in Bonn. Nach der Pensionierung 1824 leitete er in Neuwied erneut Ausgrabungen u. erwarb ab 1827 von Rom aus durch Ankauf u. Ausgrabung 442 etrusk. Vasen, die mit den Bartoldischen Antiken den Grundstock der Abteilung im Königlichen Museum Berlin bildeten. In Königsberg (1807 Ort des Exils von preuß. Hof u. Regierung) war D. den führenden Köpfen der preuß. Erneuerung begegnet; durch Reichardt vermittelt, ergaben sich aber auch Kontakte zum Kreis der Spätromantiker u. zu Goethe. D.s passionierte archäologisch-antiquarische Unternehmungen fanden Niederschlag in aufwendig illustrierten, meist großformatigen Publikationen, die weniger den großen Wissenschaftler D. (in der Spezialforschung stützte er sich auf Experten), als seine Begeisterung für »Denkmäler« aus »vaterländischer« u. fremder Vorzeit bezeugen. Hinzu trat später eine ambitionierte Herausgeber- u. Schriftstellertätigkeit auf biografischem Feld, zumeist Dokumentationen briefl. u. verwandter Zeugnisse, die sich auf seine, Varnhagens Kollektion vergleichbare Autografensammlung stützen konnten. Von Frau Rat Goethe zu Baader, Schleiermacher u. Arnim, von Schlabrendorf u. Blücher zu Börne, Varnhagen u. Iffland reicht die Palette der Dokumentationen, Darstellungen u. historischbiogr. Miniaturen zu nahezu 100 Persönlichkeiten aus Gegenwart u. naher Vergangenheit, meist preuß. Geistesgeschichte u.
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Historie. Sie bieten bis heute bedeutendes Quellenmaterial. Weitere Werke: Opferstätte u. Grabhügel der Germanen u. Römer am Rhein. 2 H.e, Wiesb. 1819–21. – Morgenländ. Alterthümer. 2 H.e, Wiesb. 1820/21. – Denkmale aus den alt-german. u. röm. Zeiten in den Rhein.-Westfäl. Provinzen. 2 Bde., Stgt. 1823 u. Bln. 1826. – Denkmäler alter Sprache u. Kunst. 2 Bde., Bonn 1823 u. Bln. 1827. – Facsimile v. Hss. berühmter Männer u. Frauen aus der Slg. des Herausgebers. 4. Tle., Bln. 1836–38. – Denkschr.en u. Briefe zur Charakteristik der Welt u. Litt. 5 Bde., Bln. 1836–41. – Erlebtes aus den Jahren 1790–1827. 4 Tle., Lpz. 1843–45. Literatur: Reinhard Fuchs: Zur Gesch. der Slg.en des Rhein. Landesmuseums Bonn. In: Rhein. Landesmuseum Bonn. 150 Jahre Slg.en 1820–1970. Düsseld. 1971, S. 30–33, S. 40–83. – Markus Mode: Talisman in Karneol. Ein Hallenser am Anfang der Orientalischen Archäologie. In: Hallesche Beiträge zur Orientwiss. (Halle/S.) 37 (2004), S. 7–37. Ulfert Ricklefs / Red.
Dorst, Tankred, * 19.12.1925 Oberlind bei Sonneberg/Thüringen. – Dramatiker, Drehbuchautor, Regisseur, Erzähler, Librettist u. Übersetzer. Der Vater, ein Ingenieur u. Maschinenfabrikant, starb 1931. Bis zur Einberufung 1944 besuchte D. die Oberschule. Aus englischer u. amerikan. Kriegsgefangenschaft wurde er Ende 1947 nach Westdeutschland entlassen. Er holte das Abitur nach u. begann 1950 in Bamberg das Studium der Germanistik, Kunstgeschichte u. Theaterwissenschaften, das er ein Jahr später in München, wo er seither lebt, fortsetzte, aber schließlich doch abbrach. Seit Mitte der 1950er Jahre wirkte D. als Autor beim Schwabinger Marionettentheater »Das kleine Spiel« mit. 1959 erhielt er für den Entwurf zu dem Stück Gesellschaft im Herbst (Mchn. 1961. Wieder in: Stücke. Hg. u. mit einem Nachw. v. Gerhard Mensching. Ffm. 21991) den Preis des Mannheimer Nationaltheaters. Dieser ersten folgten später zahlreiche weitere Auszeichnungen im In- u. Ausland, die seinen Rang als einer der wichtigsten, vielseitigsten u. beständigsten deutschsprachigen Gegenwartsdramatiker unterstreichen. Dazu zählen v. a. der GeorgBüchner-Preis der Deutschen Akademie für
Sprache u. Dichtung (1990), der E.T.A.-Hoffmann-Preis der Stadt Bamberg (1997 zus. mit Ursula Ehler), der Max-Frisch-Preis (1998) u. der Samuel-Bogumil-Linde-Preis (2006). Außerdem war D. 1970 writer-in-residence am Oberlin-College/Ohio u. las 1973 an Universitäten in Australien u. Neuseeland. An der Gesamthochschule Kassel hatte er 1986/87 eine Poetik-Dozentur inne. Seit 2003 hält D. Poetikvorlesungen an der Goethe-Universität in Frankfurt/M. 1978 wurde er Mitgl. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, 1983 wurde er in die Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz aufgenommen. Seit Anfang der 1970er Jahre lebt u. arbeitet er mit der Autorin u. Übersetzerin Ursula Ehler zusammen; das Ehepaar lebt in München. Seine Farcen, Grotesken u. Parabeln, die ihn nach 1960 bekannt machten (Große Schmährede an der Stadtmauer. Freiheit für Clemens. Die Kurve. Köln 1962. 31971. Der gestiefelte Kater oder Wie man das Spiel spielt. Köln 1963. Die Mohrin. Köln 1964), sind dem absurden Theater benachbart u. verraten den Einfluss der Marionettenbühne, mit der sich D. auch theoretisch auseinandergesetzt hat. Schon in den modellhaften Szenerien dieser frühen Stücke herrschen Motive vor, die in allen seinen Wandlungen bestimmend bleiben: die Schein- u. Rollenhaftigkeit der Existenz, ihre Masken u. Selbsttäuschungen, das »Spiel im Spiel«, das sinnlose Ritual, die Unmöglichkeit von menschlicher Nähe. Mitte der 1960er Jahre wird D. die geschlossene Form zum Problem. In Übersetzungen u. Bearbeitungen erprobt er die Gestaltung der Authentizität von Personen u. gesellschaftl. Wirklichkeiten. Toller (Ffm. 1968. 81991) bildet die entsprechende Zäsur in seinem Werk. Die revueartigen Szenen über das Scheitern der Münchner Räterepublik, die seine eigenständige Position innerhalb des gesellschaftskrit. Realismus der Literatur dieser Jahre sichtbar machen, werden zu einem spektakulären internat. Erfolg. Gemeinsam mit Peter Zadek, einem der vielen namhaften Regisseure, mit denen D. zusammenarbeitet, entsteht daraus die filmische Montage Rotmord oder I was a German (Mchn. 1969). Eine Reihe weiterer Stücke u.
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Szenarien (Sand. Köln 1971. Eiszeit. Ffm. 1973. Goncourt oder die Abschaffung des Todes. Ffm. 1977) verknüpft das Thema des Umschlags gesellschaftl. Aufbrüche mit den Antinomien des Intellektuellen im polit. Handeln. Zgl. enthalten sie einen verschlüsselten Kommentar zum Weg der bundesdt. Intelligenz zwischen Politisierung u. Tendenzwende. Dabei beharrt D. auf einer skept. Haltung, die es vorzieht, eigene »Irritationen [...] an den Zuschauer weiterzugeben«, anstatt Belehrungen vorzunehmen. Dass er dem Publikum Mündigkeit zumutet, gehört zum Selbstverständnis des Moralisten. In den sechs multimedialen, je zur Hälfte aus erzählenden Filmszenarien (Dorothea Merz. Ffm. 1976. Klaras Mutter. Ffm. 1978. Mosch. Ffm. 1980) u. Dramen (Auf dem Chimborazo. Ffm. 1974. Die Villa. Ffm. 1980. Heinrich oder Die Schmerzen der Phantasie. Ffm. 1985) bestehenden »Deutschen Stücken«, erweitert D.sein großes Thema eines »schauspielerischen« Wirklichkeitsverhältnisses am Beispiel der eigenen Lebensgeschichte zum krit. sozialpsycholog. Panorama von der zweiten Hälfte der Weimarer Republik bis zu den frühen 1970er Jahren. Während der Arbeit an diesem Zyklus entwirft D. zgl. sein umfangreichstes Werk, Merlin oder Das wüste Land (Ffm. 1981. 41993. Als Hörbuch: 4 CDs, Stgt. 1993. Übers.en in zahlreiche Sprachen), eine Adaption des mittelalterl. Artus-Stoffes. Angesichts unausbleiblicher heilloser Verstrickungen verliert der Magier die Lust, weiter in utop. Perspektive mit den Menschen zu »experimentieren«, u. verabschiedet sich aus den Schrecken der Geschichte in die Zeitlosigkeit der Natur. Die Parzival-Passagen aus diesem myth. Welttheater entwickelte D. weiter zum Text für ein gemeinsames Projekt mit Robert Wilson (Parzival. Auf der anderen Seite des Sees. Hbg. 1987). Die Arbeiten der 1980er Jahre verbindet ein starkes Interesse für die psychologisch oder soziologisch unauflösbaren Defizite der Existenz. Sie bewegen sich zwischen drastisch-naturalist. Detailgenauigkeit u. surrealen Sinn- oder Rätselbildern. Formal evozieren sie alte Grundmuster. So spielen die »Fragmente über d’Annunzio« (Der verbotene
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Garten. Mchn. 1983), die den Versuch, durch ein ästhetisch überhöhtes Leben der Vergänglichkeit zu entgehen, als Wahn entlarven, auf die Tradition des Totentanzes an. Der Eisenhans-Film (Köln 1983) spiegelt in der düsteren innerdt. Grenzlandschaft psych. Hilf- u. Ausweglosigkeiten. In Ich, Feuerbach (Ffm. 1986. 31991) wird die gesellschaftl. Ohnmachtserfahrung des am trag. Selbstwiderspruch seiner Kunst zerbrechenden Schauspielers transparent auf eine allg. Lebensangst angesichts eines abwesenden Gottes. D.s zweiter Titelbezug auf ein Märchen, Korbes (Ffm. 1988), setzt diese Linie fort: Die in ihrer Finsternis verharrende naturwüchsige Bosheit wird von der alten christl. Botschaft der Erlösung nicht mehr erreicht. In den letzten Jahren arbeitet D. an den meisten Projekten zus. mit seiner Frau. Die Werkstattberichte (Ffm. 1999) zeigen, dass es sich um eine Kooperation von seltener Intensität handelt; die Co-Autorschaft erlaubt das Ein- u. Verbinden unterschiedlicher, auch widerstrebender Perspektiven u. Wahrnehmungsformen. Werkstattberichte enthält eine Vielzahl von verstreuten, bekannten u. unbekannten Texten, Briefen u. Entwürfen D.s u. Ehlers sowie den Erstdruck der 1997 von D. gehaltenen Tübinger Poetikreden. 2006 ist D. auch als Opernregisseur hervorgetreten. Den zurückgetretenen dän. Regisseur Lars von Trier ersetzend, inszenierte er bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth Wagners Ring des Nibelungen. Seine Inszenierung, die den Wagner-Stoff in die heutige Zeit transportiert u. die Figuren zwischen Nobelhotel, Abbruchhaus u. Autobahn agieren lässt, wurde vom Publikum z.T. begeistert aufgenommen, von der Kritik jedoch kontrovers diskutiert. Weitere Werke: Geheimnis der Marionette. Mchn. 1957. – Auf kleiner Bühne. Versuche mit Marionetten. Mchn. 1959. – La Buffonata. Mainz 1961 (Ballettoper). – Denis Diderot: Rameaus Neffe. Köln 1963 (Übers. u. Bearb.). – Yolimba oder Die Grenzen der Magie. Mainz 1965 (Musikal. Posse). – Kleiner Mann, was nun? Ffm. 1972 (Revue nach dem Roman v. Hans Fallada). – Molière: Drei Stücke. Ffm. 1978 (Übers.). – Améley, der Biber u. der König auf dem Dach. Köln 1982 (Stück für Kinder). – Der nackte Mann. Ffm. 1986 (E.). – Grindkopf.
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93 Ffm. 1986 (Libretto für Schauspieler). – D. (Hg.): Die Münchner Räterepublik. Zeugnisse u. Kommentar. Ffm. 1966. – Karlos. Mchn. 1990 (D.). – Herr Paul. Ffm. 1993. 21994. Norweg. Übers. Oslo 1995 (D.). – Die Legende vom armen Heinrich. Ffm. 1996. – Harrys Kopf. Ffm. 1997. La Cabeza de Harry. Hondarribia 2002 (span. Übers.). – Merlins Zauber. Ffm. 2001. Ausgaben: Werkausg. Ffm. 1985 ff. (bislang ersch.: Bd. 1: Dt. Stücke, 1985. Bd. 2: Merlin oder das wüste Land, 1985. Bd. 3: Frühe Stücke, 1986. Bd. 4: Polit. Stücke, 1987. Bd. 5: Wie im Leben, wie im Traum u. andere Stücke, 1990. Bd. 6: Die Schattenlinie u. andere Stücke, 1995. Bd. 7: Die Freude am Leben u. andere Stücke, 2002). – Stücke. Hg. u. mit einem Nachw. v. Gerhard Mensching. 2 Bde., Ffm. 2/31991. Literatur: Horst Laube (Hg.): Werkbuch über T. D. Ffm. 1974. – Rainer Taëni (Hg.): T. D.: ›Toller‹. Ffm./Bln./Mchn. 1977. – Heinz.-B. Heller: T. D. In: Dt. Lit. der Gegenwart. Hg. Dietrich Weber. Bd. 2, Stgt. 1977, S. 77–97. – Dieter Hensing: T. D.: Von der geschlossenen zur offenen Figurenkonzeption. In: Studien zur Dramatik in der BR Dtschld. Hg. Gerhard Kluge. Amsterd. 1983, S. 177–223. – Rüdiger Krohn: ›Merlin oder Das wüste Land‹. In: Dt. Gegenwartsdramatik. Hg. Lothar Pikulik, Hajo Kurzenberger u. Georg Guntermann. Bd. 2, Gött. 1987, S. 7–34. – Günther Erken (Hg.): T. D. Ffm. 1989 (mit Bibliogr.). – Peter Bekes: T. D. In: KLG. – Gisa Hanusch: Stillgestellter Aufbruch. Bilder v. Weiblichkeit in den ›Deutschen Stücken‹ v. T. D. u. Ursula Ehler. Ffm. 1996. – Elin Nesje Vestli: Die Figur zwischen Faktizität u. Poetizität. Zur Figurenkonzeption im dokumentar. Drama T. D.s u. a. Ffm. 1998. – Ulrich Dittmann: T. D. In: LGL. – Alessandra Sorbello Staub (Hg.): T. D.: Begleith. zur Ausstellung in der Stadt- u. Universitätsbibl. Frankfurt/M., 5.11.-19.12.2003. Ffm. 2003. – Martin Buchwaldt: Ästhet. Radikalisierung: Theorie u. Lektüre deutschsprachiger Theatertexte der achtziger Jahre. T. D.: Karlos, Rainald Goetz: Krieg, Heiner Müller: Bildbeschreibung. Ffm. u. a. 2007. Hans-Rüdiger Schwab / Red.
Drach, Albert, * 17.12.1902 Wien, † 27.3. 1995 Mödling bei Wien. – Verfasser von Romanen, Dramen, Lyrik u. Hörspielen. D.s Mutter Jenny entstammte einer aschkenas. Kaufmannsfamilie aus Mähren, die sich in Wien niederließ. Väterlicherseits stammte D. von sephard. Juden ab, der Vater, Wilhelm, wurde in der Bukowina geboren u. studierte
zunächst in Czernowitz, später in Wien Mathematik u. Philosophie. Er arbeitete zuerst als Gymnasiallehrer, dann als Bankbeamter u. avancierte zum Vorstand der Österreichischen Länderbank. In Wien u. Umgebung fühlte sich die Familie selbstverständlich der dt. Nation verbunden. Das Judentum wurde auch für D. erst zum Thema, als er durch den heraufkommenden Nationalsozialismus dazu gezwungen wurde. D. besuchte das Akademische Gymnasium in Wien u. studierte anschließend Rechtswissenschaften. Nach juristischem Staatsexamen u. Promotion eröffnete er 1935 eine Anwaltspraxis in Mödling bei Wien. Das Schreiben war ihm aber immer die Hauptsache. Das dokumentieren u. a. ein früher Gedichtband (Kinder der Träume. Zürich 1919), Erzählungen, die er »Protokolle« nennt, u. zahlreiche Dramen. Für sein Stück Marquis de Sade (Bln.), das 1991 u. d. T. Das Satansspiel vom göttlichen Marquis uraufgeführt wurde, erhoffte er sich 1928 vergeblich den KleistPreis, nachdem ihm der Preisrichter, Hans Henny Jahnn, einen ermutigenden Brief geschrieben hatte. In seinem Drama Das Kasperlspiel vom Meister Siebentot setzt sich D., der 1933 Mein Kampf gelesen hatte, bereits 1935 mit der Figur Hitlers auseinander. Am 25.10.1938 flüchtete D. vor der Bedrohung durch die Nationalsozialisten über Split, Triest u. Paris nach Nizza. Er widmete sich dort v. a. dem Schreiben, was aber aufgrund der viermaligen Internierungen durch das Vichy-Regime in Sammellagern u. zuletzt in einem Auslieferungslager unterbrochen wurde. Im Lager Les Milles lernte er u. a. Lion Feuchtwanger u. Walter Hasenclever kennen, dessen Selbstmord er im Emigrationsbericht Unsentimentale Reise (Mchn./Wien 1966. Mchn. 1988. Wien 2005) genauso nüchternzynisch thematisiert wie die Stationen seiner eigenen Flucht u. den Identitätsverlust durch die erlittene Verfolgung. 1938/39, als die Lebensbedingungen im Exil-Land noch erträglich waren, verfasste er seinen ersten Roman, Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum (Mchn./Wien 1964. Mchn. 1989. Wien 2008), in dem er die Odyssee des armen Talmudschülers Zwetschkenbaum, der zu Unrecht beschuldigt wird, Zwetschken gestohlen zu
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haben, durch die Gefängnisse, Irrenanstalten u. Krankenhäuser der Monarchie beschreibt. Ab 20.1.1942 fuhren die ersten Deportationszüge von Südfrankreich nach Auschwitz. D. wurde im Sept. 1942 verhaftet u. ins Auslieferungslager Rivesaltes gebracht. Von dort erreichte er seine Entlassung mit falschen Papieren u. der profunden Kenntnis des frz. Rechts, das sich in Details vom dt. Recht unterschied. Bis zum Ende des Krieges überlebte er in Valdeblore, einem kleinen Ort in den frz. Meeralpen. Materiell überstand D. die Exilzeit durch Zuwendungen seiner nach Marokko geflohenen Halbschwester, durch Übersetzerjobs für die Résistance u. die amerikan. Truppen sowie durch Pilze, die in der letzten Phase des Krieges zu seinem Hauptnahrungsmittel wurden. 1947/48 kehrte D. in seine Heimat zurück u. versuchte vergeblich, Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum zu veröffentlichen. Da es ihm nicht gelang, als Schriftsteller Fuß zu fassen, nahm er seine Anwaltstätigkeit wieder auf, schrieb aber beharrlich weiter u. widmete sich der Rekonstruktionsarbeit an seinen verloren gegangenen Texten aus den 1930er u. 1940er Jahren. Im Tagebuchroman Das Beileid (Graz/Wien 1993. Wien 2006) behandelt er die Unerwünschtheit des Überlebenden im Nachkriegsösterreich, den schwierigen Prozess um die Wiederaufnahme eines alltägl. Lebens u. den Kampf um die Rückstellung des enteigneten Hauses, das er zwar 1948 formal zurückerhielt, über das er aber erst seit Mitte der 1950er Jahre wieder komplett verfügen konnte. 1954 heiratete D. die Mutter seiner beiden Kinder (Wilhelm geb. 1952, Jenny geb. 1954), Gerty Rauch, mit der er bis zu seinem Tod im sog. Drach-Hof in Mödling bei Wien lebte. 1964 wurde Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum 25 Jahre nach seiner Abfassung erstmals publiziert u. ein fulminanter Erfolg. Die missverständliche u. verharmlosende Rezeption als originelles Werk in der Tradition Herzmanovsky-Orlandos (»skurriler altösterreichischer Kanzleistil«) erwies sich allerdings als Bumerang. Der Emigrationsbericht Unsentimentale Reise u. das Protokoll Z.Z. – das ist die Zwischenzeit (Hbg./Düsseld. 1968. Mchn. 1990. Wien 2003), in dem
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D. das Österreich der Zwischenkriegszeit u. seine eigene, angesichts der Bedrohung durch den Nationalsozialismus fahrlässig-zögerl. Haltung kritisch thematisiert, stießen in den 1960er Jahren auf Unverständnis. Allein D.s Kriminalprotokoll Untersuchung an Mädeln (Hbg./Düsseld. 1971. Mchn. 1991. Wien 2002) fand einen gewissen Widerhall. Dass D.s großteils unaufgeführte Stücke, in denen es um die manipulative Macht der Sprache geht, in drei Bänden herauskamen (Das Spiel vom Meister Siebentot und weitere Verkleidungen. Mchn. 1965. Das Aneinandervorbeispiel und die inneren Verkleidungen. Mchn. 1966. Gottes Tod ein Unfall. Hbg./Düsseld. 1972), führte wegen ihrer Unverkäuflichkeit mittelfristig zur Einstellung der von Langen-Müller auf Claassen übergegangenen Werkausgabe. Mehr als ein Jahrzehnt lang waren keine Titel D.s lieferbar. 1988 setzte mit der Verleihung des GeorgBüchner-Preises eine D.-Renaissance ein. Ein Paradigmenwechsel hatte stattgefunden, das krit. Potenzial in D.s mitleidslos-distanzierter Sprache, das Radikale in seiner Komik, das Grimmige in seinem Humor, wurden erkannt. Im autobiogr. Roman Z.Z. – Das ist die Zwischenzeit u. in den meisten fiktionalen Werken bedient sich D. des von ihm selbst so genannten »Protokollstils«, mit dem er methodisch gegen seine Protagonisten, die systematisch zu Opfern gemacht werden, anschreibt. Erst aus der Negation heraus bekommen seine Helden Recht. D. gilt heute als innovativer, sperriger Autor, der seinen fixen Platz in der deutschsprachigen Literatur behauptet hat. Sein Nachlass wurde im Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufgearbeitet, was auch den Einblick in die komplizierte Entstehungsgeschichte seines Œuvres ermöglicht. In diesem Zusammenhang steht auch die Edition einer wissenschaftlich fundierten Neuausgabe bei Zsolnay, von der bislang fünf Bände erschienen sind. Für sein Werk erhielt D. neben dem Büchner-Preis (1988) den Manès-Sperber-Preis (1991), den Grillparzerpreis (1993) u. das Ehrendoktorat der Universität Wien (1993).
95 Weitere Werke: Die Kleinen Protokolle u. das Goggelbuch. Mchn./Wien 1965 (E.). – In Sachen de Sade. Nach dessen urschriftl. Texten u. denen seiner Kontaktpersonen. Düsseld. 1974 (Ess.). – JA UND NEIN. Drei Fälle. Mchn./Wien 1992 (E.). – Das Goggelbuch. Wien 1993 E.). – Ironie vom Glück. Kleine Protokolle u. E.en. Mchn./Wien 1994. – O Catilina. Ein Lust- u. Schauertraum. Mchn./Wien 1995. Literatur: André Fischer: Inszenierte Naivität. Zur ästhet. Simulation v. Gesch. bei Günter Grass, A. D. u. Walter Kempowski. Mchn. 1992. – Matthias Settele: Der Protokollstil des A. D. Recht, Gerechtigkeit, Sprache, Lit. Ffm. 1992. – Primus Heinz Kucher: Anwendungsfälle des Zynismus. A. D.s Lebens- u. Überlebensprotokolle. In: Österr. in Gesch. u. Lit. H. 1 (1993). – A. D. Hg. Gerhard Fuchs u. Günther A. Höfler. Graz u. a. 1995. – In Sachen A. D. Sieben Beiträge zum Werk. Hg. Bernhard Fetz. Wien 1995. – Andrea Reiter: ›Auf dass sie entsteigen der Dunkelheit‹. Die literar. Bewältigung v. KZ-Erfahrung. Wien 1995. – Wolfgang Preisendanz: Komik als Kompliment der Erfassung v. Kontingenzen: In: Kontingenz 1998. – Jürgen Egyptien: Im Schatten des Zwetschkenbaums. Judentum in A. D.s literar. u. essayist. Werk. In: Das jüd. Echo. Europ. Forum für Kultur u. Politik. Okt. 1999. – Anne Fuchs: A space of anxiety. Dislocation and abjection in modern German-Jewish literature. Amsterd. u. a. 1999. – Clemens Ruthner: ›GegenPornographie?‹ A. D.s intertextuelle Antwort auf ›Josefine Mutzenbacher‹. In: Österr. in Gesch. u. Lit. H. 3 (2000). – Eva Schobel: A. D. Ein wütender Weiser. Salzb. u. a. 2002 (Biogr.). – Mary Cosgrove: Grotesque ambivalence. Melancholy and mourning in the prose work of A. D. Tüb. 2004. – Alexandra Millner: Spiegelwelten – Weltenspiegel. Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek, Adolf Muschg, Thomas Bernhard, A. D. Wien 2004. – Michael Rohrwasser: Stachel der Lektüre: Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum. In: Klaus Kastberger: Grundbücher der österr. Lit. seit 1945. Wien 2007. Eva Schobel
Draesner, Ulrike, * 20.1.1962 München. – Verfasserin narrativer u. lyrischer Texte, Essayistin u. Übersetzerin (aus dem Englischen). D. studierte Rechtswissenschaft, Anglistik, Germanistik u. Philosophie in München u. Oxford. 1992 wurde sie im Fach Germanistische Mediävistik promoviert u. war von 1989 bis 1993 als wiss. Assistentin an der LMU
Draesner
München tätig. Seit 1994 lebt sie als freie Autorin, Essayistin, Übersetzerin u. Literaturkritikerin in Berlin. 1995 debütierte D. mit ihrem Gedichtband gedächtnisschleifen (Ffm.); 1998 erscheint ihr erster Roman, Lichtpause (Bln.). In allen ihren lyr. u. narrativen Texten steht das moderne Subjekt mit seinen Sozialisations- u. Beziehungsschwierigkeiten im Zentrum. Zentrale Themen sind Identität zwischen Gesellschaft, Naturwissenschaft u. moderner Technik, Gewissheit u. Unsicherheit der eigenen Biografie sowie Liebesbegehren u. emotionale Leblosigkeit des Menschen. Dabei versucht D. in ihrer Literatur nicht nur aktuelle Themen zu reflektieren, sondern auch eigene Muster u. Modelle einer alternativen Diskussion u. Realisierung zu präsentieren. Insofern sind ihre Texte geprägt von aktuellen literaturtheoret. Debatten über die Wertigkeit von Literatur u. ihrer Funktion für die Gesellschaft wie für den Einzelnen. In D.s Romandebüt Lichtpause wird einem 11-jährigen, tödlich verunglückten Mädchen nach seinem Tod eine Stimme verliehen, die seine eigene Biografie rekonstruiert. Dabei spielen Sozialisierungsphänomene von Lehrern, die Beziehung zum eigenen Körper u. zu den hierarchisch-autoritär dargestellten Eltern hinein, die den Kampf um eine eigene Identität auf dem Weg zwischen Kindsein u. Erwachsenwerden prägen. Die Frage nach Identität, verbunden mit der nach Alterität, wird auch im Roman Mitgift (Mchn. 2002. 2005) reflektiert. Hier steht allein die sexuelle Identitätsfindung einer Magersüchtigen mit einem androgynen Körper im Zentrum; deren Schwierigkeiten werden auf der Folie des Hermaphroditismus diskutiert. Die beiden Erzählbände Reisen unter den Augenlidern (Klagenf./Wien 1999) u. Hot dogs (Mchn. 2004. 2006) arbeiten mit verwandten Themen weiter: Gentechnologie u. Reproduzierbarkeit des menschl. Lebens stellen sich zwischen neu zu gestaltende Beziehungen von Familien- u. Paardasein, wobei Liebe u. Sexualität im postmodernen Zeitalter diskutiert werden. Der Roman Spiele (Mchn. 2005. 2007) wählt das Thema von individueller u. kollektiver Erinnerung u. deren Verknüpfungen. Die Protagonistin versucht, ihre eigene Bio-
Dräxler (-Manfred)
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grafie im Kontext des Attentats während der Dräxler (-Manfred), Karl Ferdinand, Olympischen Spiele 1972 in München zu auch: F. C. Claudius, Dr. F. C. Klinger, K. verarbeiten. L. W. von Klinger, Manfred, * 17.6.1806 In D.s vier Gedichtbänden gedächtnisschlei- Lemberg, † 31.12.1879 Darmstadt. – Pufen, anis-o-trop (Hbg. 1997), für die nacht geheu- blizist, Lyriker, Erzähler u. Übersetzer. erte zellen (Mchn. 2001) u. kugelblitz (Mchn. In Wien studierte D. auf Wunsch des Vaters, 2005) werden ähnl. Konstellation individueines österr. Beamten, zunächst Jura u. eller körperlicher u. seel. Spaltungen angewechselte dann zur Philologie (Promotion sprochen. D. rekurriert dabei auf Lyriker wie 1829 in Leipzig). Als geborener Galizier u. Durs Grünbein, Thomas Kling, Friederike wegen seines Alters nicht für eine Staatsstelle Mayröcker oder Ingeborg Bachmann. Neben zugelassen, wandte er sich der Schriftstellerei den hier aufgeführten Texten existieren zwei zu. So redigierte er 1834–1836 in Wien das Hörspiele (beide 1998 für den Bayerischen »Brockhaus’sche Pfennigmagazin«, wodurch Rundfunk), zahlreiche Essays u. Übersetzuner u. a. mit Lenau u. Anastasius Grün bekannt gen sowie intermediale Projekte, die unter wurde. Unter den Zensurverhältnissen der www.draesner.de aufgeführt sind. Ära Metternich verließ D. 1837 Österreich u. Für ihre Werke erhielt D. zahlreiche Preise ließ sich nach ausgedehnten Reisen durch wie 1995 den Förderpreis des Leonce-undDeutschland, Belgien, Frankreich u. England Lena-Preises, 1997 den Förderpreis der 1845 in Darmstadt nieder, wo er bis 1852 die Bayerischen Staatsregierung für Literatur, Redaktion der »Darmstädter Zeitung« leitete 1997 den Foglio-Preis für junge Literatur, u. 1852–1858 »Die Muse. Blätter für ernste 2001 den Förderpreis des Friedrich-Hölderund heitere Unterhaltung« herausgab. 1845 lin-Preises, 2002 den Preis der Literaturhäuwurde er zum Dramaturgen des Hoftheaters ser u. zuletzt 2006 den Droste-Preis. An der in Darmstadt ernannt. Otto-Friedrich-Universität Bamberg hatte sie Auch wenn D. bisweilen »zu den besten der 2006 die Poetikprofessur inne. jetzt lebenden deutschen Dichter und NoD.s Texte haben in der Literaturkritik seit 1995 starke Resonanz gefunden, sind aber in vellisten« (Meyers Groschen Bibliothek) geder wiss. Literatur bisher in keiner größeren rechnet wurde, konnte er sich nie ganz von seinen Vorbildern (z.B. Rückert) befreien. monograf. Studie erörtert worden. Wichtig sind seine Übersetzungen aus dem Literatur: Jörg Magenau: Der Körper als Französischen wie etwa Hugos Hernani (Pest Schnittfläche. Bemerkungen zu Lit. der neuesten ›Neuen Innerlichkeit‹: Texte v. Reto Hänny, Ulrike 1830) u. Ruy Blas (Ffm. 1839) u. seine in der Kolb, U. D., Durs Grünbein, Thomas Hettche, Tradition der Aufklärung stehenden KinderMarcel Beyer u. Michael Kleeberg. In: Baustelle bücher, so z.B. Welt und Ton. Bildungsbuch Gegenwartslit. Die neunziger Jahre. Hg. Andreas (Prag 1830). Erb. Opladen/Wiesb. 1998, S. 107–121. – AnneRose Meyer: Physiologie u. Poesie. Zu Körperdarstellungen in der Lyrik v. U. D., Durs Grünbein u. Thomas Kling. In: Jb. GegenwartsLit. 1 (2002), S. 107–133. – Michael Braun: U. D. In: KLG. – Heribert Kuhn: U. D. In: LGL. – Stefan Willer: Literar. Hermaphrodismus. Intersexualität im Familienroman, 2002. In: Repräsentationen. Medizin u. Ethik in Lit. u. Kunst der Moderne. Hg. Bettina v. Jagow u. Florian Steger. Heidelb. 2004, S. 83–97. – B. v. Jagow u. F. Steger: Bilder des Menschen zwischen Selbstbestimmung u. Fremdsteuerung: U. D.s ›autopilot‹-Gedichte. Ebd., S. 51–65. Bettina von Jagow
Weitere Werke: Romanzen, Lieder u. Sonette. Prag 1826. – Die Löffelritter. Hbg. 1826 (N.) – Das Kloster v. St. Bernhard. Meißen 1828 (E.). – Neuere Gedichte. Prag 1829. – Bunte Bilder. Nürnb. 1830 (E.en). – Das Buch der Gesch.n für die Jugend. Wien 1835. – Gruppen u. Puppen. 2 Bde., Lpz. 1836. – Vierundzwanzig Stunden. Ein Feuilleton des Tages. Lpz. 1842. – Pentameron. Gesch.n aus dem Leben. Lpz. 1858. – K. F. D. (Hg.): Rhein. Tb. auf das Jahr 1845(-56). Ffm. 1845–56. Literatur: Wurzbach 3. – Goedeke 12. – Franz Brümmer: K. F. D. In: ADB. – Karl v. Glossy: Literar. Geheimber.e aus dem Vormärz. In: Jb. Grillparzer-Gesellsch. 22 (1912), S. 206 u. 241; 23 (1913), S. 191. – Eva Obermayer-Marnach: K. F. D. In: ÖBL. Michael Then / Red.
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Dranmor, eigentl.: (Ludwig) Ferdinand Schmid, auch: Fernando S., * 22.7.1823 Muri bei Bern, † 17.3.1888 Bern; Grabstätte: ebd., Ostermundiger Friedhof. – Lyriker.
Dransfeld laus Lenaus. In: Lenau-Almanach 1979. Hg. Karl Gladt. Wien 1979, S. 274–94. – Jeroen Dewulf: D., der erste Kosmopolit der Schweizer Lit. In: Orte 29 (2006), S. 144, 52–57. Peter Skrine / Red.
Der Sohn eines aus Württemberg in die Dransfeld, Hedwig, * 24.2.1871 Hacheney Schweiz eingewanderten Bankiers wurde bei Hörde (heute: Dortmund), † 13.3. nach dessen Tod 1840 Geschäftsmann, aber 1925 Werl. – Politikerin; Lyrikerin, Junur widerwillig u. mit dem Vorsatz, im Aus- gendschriftstellerin, Journalistin. land seinen Wirkungskreis zu finden. 1843 D. war mit acht Jahren Vollwaise, lebte anließ er sich als Exporteur in Brasilien nieder. schließend bei der Großmutter mütterliAnfängliche Schwierigkeiten meisterte er cherseits in sehr eingeschränkten materiellen bald u. wurde 1852 zum österreichisch-un- Verhältnissen, wurde nach deren Tod in ein gar. Generalkonsul in Rio ernannt. Der Viel- Waisenhaus gegeben u. besuchte 1887–1890 gereiste kehrte 1868 nach Europa zurück u. das Lehrerinnenseminar in Paderborn. Anlebte bis 1874 in Paris. Wieder in Brasilien, schließend wurde sie an der Ursulinenschule hatte er mit wirtschaftl. Schwierigkeiten zu in Werl angestellt. Trotz schwerer Behindekämpfen. Das letzte Lebensjahr verbrachte D. rung durch die Folgen einer Knochentuberin der Heimatstadt (»Fahr wohl, o Himmels- kulose erwarb D. 1892 die Befähigung zum licht! / Ich klage nicht – / Doch wo die Tannen Unterricht an mittleren u. höheren Mädstehn, / Da möcht’ ich schlafen gehn.« 1841). chenschulen u. 1897 das Diplom für SchulD.s Lyrik zeugt trotz der Anklänge an vorsteherinnen. Ab 1903 leitete sie den AusLenau, Heine u. Platen von einer eigentüml. bau der Werler Schule zu einem Lyzeum. Dichterpersönlichkeit. Die 33 Poetischen Frag- Anfangs hoffte sie auf eine schriftsteller. mente (Lpz. 1860. 21865) bezeugen D.s dich- Laufbahn. Die Gedichte (Werl 1893) wie auch ter. Ursprünglichkeit u. Sprachgewandtheit der Band Erwachen. Neue Gedichte (Köln 1903. (Eine Nachtwache, Don Juan, Januario Garcia). 3–41925) sind durch themat. Vielfalt bei stiKaiser Maximilian (Wien 1868) ist ein dem listischer Konventionalität gekennzeichnet. »deutschen Hamlet« gewidmetes Klagelied. Die weitere schriftsteller. Tätigkeit der WerVor allem sein Requiem (Mchn. 1869) ist von ler Zeit war Folge der Mitgliedschaft in der D.s düster-hellaufflammendem Tempera- Literaturkommission des Katholischen Deutment geprägt; es enthält grüblerische, letzt- schen Lehrerinnenvereins. D. verfasste zwilich lebensbejahende Auseinandersetzungen schen 1893 u. 1905 zahlreiche Jugendschrifmit dem Problem der sinnl. Liebe u. der Un- ten meist kürzeren Umfangs. Am erfolgaufhaltsamkeit des Todes (»Lebendig ist der reichsten war der Mädchenroman Das GraTod, der uns bekümmert, / Solang das Jen- fendorli (Köln 1897. 10–111925) mit der Fortseits unsre Brust beengt«). Beeindruckend setzung Wie das Grafendorli glücklich wird (Köln bleiben D.s (von Conradi als »vulkanisch« 1898. 21906). Der gute Ton für die heranwach2 gewürdigte) Gestaltungskraft, sein von sende Jugend (Hamm 1897. 1930) verstand Schopenhauer beeinflusster Kulturpessimis- sich als Hilfestellung für die junge Lesermus u. die Gabe, tropischer Hitze u. dunklen schaft. Die in der Anthologie Buch der Wünsche Meerlandschaften als Symbolen existentieller (Hamm 1898. Erw. Neuaufl. 1930) enthaltenen, teils selbstverfassten Gelegenheitsgemenschl. Verlassenheit Ausdruck zu geben. Ausgaben: Ges. Dichtungen. Bln. 1873. Frau- dichte waren wohl für den Vortrag durch Schüler gedacht. Von der literar. Produktion enfeld 41900. Literatur: Ferdinand Vetter: F. S. (D.). Bern der Werler Zeit hat D. sich später distanziert. Seit 1904 redigierte sie »Die Christliche 1897. – Werner Günther: D. In: Ders.: Dichter der Frau«, das Organ des Katholischen Deutschen neueren Schweiz. Bern 1963, S. 67–85. – Martin Stern: Ludwig Ferdinand Schmid (D.): Ein Frauenbundes (KDF). 1909/10 belegte sie Schweizer Schicksalsgenosse Karl Postls u. Niko- geisteswiss. Vorlesungen an den Universitä-
Draud
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ten Münster u. Bonn u. ließ sich 1911 vom Westfäl. Lebensbilder. Im Auftr. der Hist. Komm. Schuldienst beurlauben, den sie in Erman- für Westf. hg. v. Robert Stupperich. Bd. 12, Münsgelung einer Alternative ergriffen hatte. 1912 ter 1979, S. 145–161. – Elisabeth Prégardier u. wurde sie zur Vorsitzenden des KDF gewählt Anne Mohr: Politik als Aufgabe. Engagement christl. Frauen in der Weimarer Republik. Annu. fand künftig in der Sozialpolitik ein ihren weiler u. a. 1990, S. 31–174, 253–266, 428. – HedNeigungen entsprechendes Betätigungsfeld. wig Wassenberg: Von der Volksschullehrerin zur Bald galt sie als eine der profiliertesten Ver- Volkslehrerin. Die Pädagogin H. D. (1871–1925). treterinnen der (nicht nur katholischen) dt. Ffm. u. a. 1994. – Biogr. bedeutender Dortmunder. Frauenbewegung. Aus patriotischer Über- Im Auftr. des Hist. Vereins für Dortmund u. die zeugung warb sie für das soziale Engagement Grafschaft Mark hg. v. Hans Bohrmann. Bd. 1, von Frauen zur Unterstützung des Ersten Dortm. 1994, S. 24–26. – Walter Gödden u. a.: Die Weltkrieges. Zum Frauenwahlrecht hatte sie Lust, ›Nein‹ zu sagen. Eine kleine Gesch. der sich zunächst vorsichtig geäußert. Nach des- westfäl. u. fläm. Kinder- u. Jugendlit. Münster 1997, S. 98 f. Volker Hartmann sen Einführung kämpfte sie darum, kath. Wählerinnen für das Zentrum zu gewinnen. Sie selbst vertrat die Partei 1919 in der ver- Draud, Draudius, Georg, * 9.1.1573 Daufassungsgebenden Nationalversammlung u. ernheim bei Büdingen/Hessen, † 25.5. als Mitgl. des Partei- u. Fraktionsvorstandes 1635 Butzbach. – Bibliograf u. politischvon 1920 bis zu ihrem Tod im Reichstag. Der theologischer Schriftsteller. Annahme des Versailler Vertrages stimmte D., die sich als Parlamentarierin v. a. Frauen- D. war Sohn eines evang. Pastors. Nach dem u. Jugendfragen widmete, nur widerstrebend Studium in Marburg (Bacc. art. 20.6.1589), zu. Die Redaktion der »Christlichen Frau« wo er 1591 unter dem Präsidium des Philogab sie 1920 ab. 1923 reiste sie mit Helene sophen Rodolphus Goclenius über Theses Weber in die USA, um Spenden für soziale physicae de mundo (VD 16, G 2371) disputierte, Zwecke zu sammeln. Die erst 1929 geweihte arbeitete der mittellose junge Theologe in Frauenfriedenskirche in Frankfurt-Bocken- Verlagsdruckereien in Herborn u. Frankfurt/ heim geht auf eine Initiative D.s noch aus der M. (bei N. Bassaeus u. S. Feyerabend). Von Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. 1924 ver- 1599 an hatte D. Pfarrstellen in Groß-Carben/ zichtete sie, schon von schwerer Krankheit Wetterau, Ortenberg (1614–1625) u. im heigezeichnet, auf den Vorsitz des Katholischen matl. Dauernheim inne. 1635 floh er vor dem Krieg nach Butzbach. Frauenbundes. Zu den ältesten deutschsprachigen BüWeitere Werke: Nach harter Prüfung. Köln cherkatalogen zählen D.s Bibliotheca exotica 1898 (E.). – Flitter u. Schein. Köln 1899 (E.). – Theo Westerholt. Erzählung aus der Zeit Albrecht Dü- (Ffm. 1610. Erw. 1625) u. seine Bibliotheca lirers. Köln 1899. – Die Geschwister di Monte Rosa. brorum Germanicorum classica. D. i. Verzeichnuß Erzählung aus dem 17. Jh. Köln 1900. – Die See- aller und jeder Bücher, so fast bey dencklichen Jaren schwalben. Erzählung für die Jugend. Bochum in teutscher Spraach von allerhand Materien hin 1902. – Il Santo. Erzählungen u. G.e für alle Ver- und wider in Truck außgangen (Ffm. 1611 u. ö. ehrer des hl. Antonius v. Padua. Paderb. 1902. – Faks.-Teilabdr. in: Verzeichnisse dt. musikal. Mutterstelle. Erzählung für die Jugend. Münster Bücher 1611 u. 1625. Hg. Konrad Ameln. 1902. – Organisationsprobleme der kath. FrauenBonn 1957). D. bietet, angeregt wohl durch welt. Freib. i. Br. 1913. – Bevölkerungsfrage u. seine Erfahrungen in den Offizinen, Extrakte Frauenfrage. Freib. i. Br. 1917. – Frauenberuf u. aus Messkatalogen, mit den dort übl. Fehlern Frauenarbeit. Freib. i. Br. 1918. – Zahlreiche Artibehaftet, nach Fakultäten geordnet u. teilkel in ›Die Christliche Frau‹. weise mit Annotationen versehen. Literatur: Helga Grebing: H. D. In: ND. – Der Erinnerung wert sind v. a. D.s polit. Bautz. – LThK. – Westf. Autorenlex. Bd. 3, S. 150–155. – Walter Ferber: H. D. (1871–1925). In: Bücher. Von ihm stammt die erste lat. ÜberZeitgesch. in Lebensbildern. Aus dem dt. Katholi- setzung von Della Ragion di Stato des Giovanni zismus des 20. Jh. Hg. Rudolf Morsey. Bd. 1, Mainz Botero (1589. Dt. 1596): De illustrium statu et 1973, S. 129–136. – Marianne Pünder: H. D. In: politia libri X (zus. mit einem zweiten Traktat
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erschienen in Ober-Ursel 1602). Hinzu kamen Jacob Heilbrunners Schwenckfeldio-Calvinismus, eine Schrift gegen die Zwinglianer, von D. ins Deutsche übersetzt, erweitert u. mit einer Vorrede herausgegeben (Ffm. 1598), dann die ebenfalls vermehrte Neuausgabe der Schedia regis des Diaconus Agapetus, einer Art Fürstenspiegel aus der Zeit Justinians (Ffm. 1615), u. erneut eine mit eigenen Zutaten erweiterte Ausgabe der bekannten Fürstlichen Tischreden des Heidelberger Hofrats Hippolytus a Collibus (Pseud. Johann Werner Gebhard), die 1617 in Frankfurt/M. erschien. Weitere Werke: Praxis iocandi, hoc est, iocorum sive facetiarum in conversationibus hominum rite adhibendarum via ac ratio commodissima [...]. Ffm. 1602. – Herausgeber: Sebastian Brant: Thesaurus (seu promptuarium) totius practicae juris civilis et criminalis, d. i. teudtscher revocirter richterl. Klagspiegel. Ffm. 1601. Literatur: VD 16, D 2646–2647. – Ernst Friedrich Neubauer: Nachricht v. den itztlebenden evang.-luth. u. reformierten Theologen. Bd. 1, Züllichau 1743. – J. Franck: D. In: ADB. – Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hess. Gelehrten- u. Schriftsteller-Gesch. Tl. 3, Gött. 1781, S. 213–221. – Hans-Joachim Koppitz: Bibliogr.n als geistes- u. kulturgeschichtl. Quellen im dt. Sprachgebiet. In: AGB 5 (1964), S. 818–828. – Rudolf Blum: Bibliographia. Eine wort- u. begriffsgeschichtl. Untersuchung. In: AGB 10 (1970), Sp. 1009–1246. – Michael Stolleis: Arcana imperii u. Ratio status. Gött. 1980 (Register). – DBA 250,4–28 u. 408,378. – Keith Eugene Mixter: Eastern european music in G. D.’s Verzeichnisse of 1611 and 1625. In: Musica Antiqua 8 (1988), S. 678–693. – R. Blum: Nationalbibliogr. u. Nationalbibl. In: AGB 35 (1990), bes. S. 15–24. – Peter Cahn in: MGG 2. Aufl. Bd. 5, Sp. 1393–1395. – M. Elizabeth C. Bartlet in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 7, S. 558. Herbert Jaumann / Red.
Drawert, Kurt, * 15.3.1956 Hennigsdorf. – Lyriker, Prosaautor u. Dramatiker. D. wuchs in Hohen-Neuendorf bei Berlin u. Dresden als Sohn eines hohen Beamten der DDR auf; nach einer Ausbildung zum Elektronik-Facharbeiter u. zahlreichen Tätigkeiten als Hilfsarbeiter machte er 1977 das Abitur, war bis 1980 Bibliothekar u. studierte 1982–1985 am Johannes R. Becher-Literaturinstitut in Leipzig. 1993 zog er nach Os-
Drawert
terholz-Scharmbeck bei Bremen, seit 1996 lebt er als freier Schriftsteller in Darmstadt. 1982 begann D., Gedichte in Zeitschriften u. Anthologien zu veröffentlichen; sein erster Lyrikband hieß in Anspielung auf Günter Eichs Nachkriegsgedicht Zweite Inventur (Bln./ Weimar 1987) u. erschien 1989 unter dem provokanten Titel Privateigentum (Ffm.) auch in der Bundesrepublik. D.s Gedichte setzen die Kritik der Metaphysik u. das Wissen um die Sprachlichkeit aller Erfahrung voraus u. zielen sowohl in die philosophische als auch in die polit. Dimension des menschl. Daseins. Aus der geistigen Opposition zur DDR wurde nach der Wende die Auseinandersetzung mit ihren mentalen Hinterlassenschaften. Der monolog. Wende-Roman Spiegelland (Ffm. 1992) stellt in diesem Zusammenhang sowohl die Verarbeitung der DDR als eines Sprachtraumas dar als auch die individuelle Entgegnung auf die vom Vater repräsentierte sprachl. Ordnung. Im Theaterstück Alles ist einfach (Ffm. 1995) greift D. die isolierte Endzeitdramaturgie Becketts auf, um zwei alte Männer über den Verlust von Utopie, Heimat u. Identität in einer geschichtsphilosoph. Obdachlosigkeit reflektieren zu lassen. Kaspar Hauser als literar. Figur u. Michel Foucault als Diskurstheoretiker sind für D.s Werk von kontinuierlicher Bedeutung, die sich explizit auch in seinen zahlreichen Essays manifestiert. Mit dem Gedichtband Frühjahrskollektion (Ffm.) kokettierte D. 2002 mit der Idee, das Gedicht als Ware zu begreifen u. sich in einem mal ironischen, mal eleg. Ton auf das Spiel u. den Zwang der Moden einzulassen. Zentrale Gedichte D.s handeln von Engeln – melancholischen Gestalten, die trotz Transzendenzverlusts von alter Hoffnung zeugen u. den Menschen Verbündete sind. Als Kritiker, Herausgeber u. Reiseschriftsteller hält D. die Ost-West-Perspektive lebendig. Die ostdt. Vergangenheit als Thema beherrscht auch die unausgewogene Rezeption seines insg. unterschätzten Werks. Werke: Haus ohne Menschen. Zeitmitschr.en. Ffm. 1993. – Fraktur. Lyrik, Prosa, Essay. Lpz. 1994. – Wo es war. Gedichte. Ffm. 1996. – Steinzeit. Ffm. 1999. – Rückseiten der Herrlichkeit. Texte u. Kontexte. Ffm. 2001.
Draws-Tychsen Literatur: Rainer Schedlinski: wie die dinge liegen. Lesart zu K. D.s ›Zweite Inventur‹. In: Temperamente 1 (1989), S. 156–159. – Andreas Herzog: Erinnern u. erzählen. Gespräch. In: NDL 42 (1994), H. 4, S. 63–71. – Wolfgang Emmerich: Warten, heillos. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. Walter Hinck. Bd. 7, Stgt. 1997, S. 107–115 – Carsten Jopp: Untersuchungen zum Spiegelmotiv in D.s ›Spiegelland‹. In: Text u. Kontext 20 (1997), H. 2, S. 203–227 – Angelika Klammer: K. D. In: LGL. – Iris Denneler: D., melanchol. Grenzgänger, Sprachskeptiker, Zeit-Seismograph. In: WW 55 (2005), H. 3, S. 465–479. – Elsbeth Pulver: K. D. In: KLG. Roman Luckscheiter
Draws-Tychsen, Hellmut, * 8.10.1904 Elbing/Westpreußen, † 7.1.1973 Gabersee/Attel (Oberbayern). – Journalist, Ethnograf, Lyriker, Dramatiker, Übersetzer.
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Jahre in drei Zuchthäusern u. sechs Konzentrationslagern. D.s Gedichte sind konventionell u. eher gut gemeint als gut gelungen. Zu einer innovativen Sprechweise oder einem unverwechselbaren eigenen Ton fand er nicht. Auch mit seinen übrigen literar. Bemühungen konnte er nicht reüssieren. Erwähnung findet er eigentlich nur noch als Herausgeber von Paul Scheerbarts Dichterischen Hauptwerken (Stgt. 1962) u. weil er von 1929 bis 1935 mit Marieluise Fleißer liiert war. Nach dem von Brecht inszenierten Skandal um die Pioniere in Ingolstadt war die entnervte Autorin in den Bann des extravagant u. bestimmend auftretenden D. geraten, der sie ins nationalist. Lager zu ziehen suchte. Es kam im Aug. 1929 zur Verlobung, zu gemeinsamen Auslandsreisen u. zur publizist. Zusammenarbeit (Fleißers Draws-Geschichten, 1929–33). Indessen war an ein Leben mit dem bizarr-autoritären u. ausbeuter. D. nicht zu denken. Im April 1933 kündigte Fleißer die Verlobung auf, im Jan. 1935 brach sie die Beziehung ab. In den Draws-Geschichten u. in dem fragmentar. Drama Der Tiefseefisch (1929–30, komplettiert 1972) hat Fleißer D. porträtiert.
Als Autodidakt eignete sich D. verschiedene europ. u. außereurop. Sprachen an, beschäftigte sich mit fremden Kulturen u. bezeichnete sich selbst als Ethnologen. Um 1930 war er Mitarbeiter der nationalkonservativen »Berliner Börsen-Zeitung«, doch waren seine berufl. Position u. seine Einkommensverhältnisse immer prekär. 1929 erschien sein Weitere Werke: Nordische Gedichte. Danzig erster Gedichtband Mein Westpreußenland. Ein 1932. – Calabobos. Jahrzeit- u. Uhrenlieder. Zyklus Heimatlieder (Danzig). Auch in anderen Diessen vor Mchn. 1954. Helmuth Kiesel Werken thematisierte D. seine Heimat, doch ging sein Blick weit über sie hinaus. Von den Drei Jünglinge im Feuerofen, erstes 60 Gedichten aus den Jahren 1925–1955, die Drittel des 12. Jh. – Frühmittelhochdeutder 1948 in Hamburg erstmals erschienene u. sches biblisches Gedicht. 1955 in erweiterter Form als Privatdruck verlegte Band Meer-Gedichte enthält, gelten Der Text, ausgehend von Dan 3, besteht aus viele ausländ. Meeresregionen, v. a. der Süd- 84 gereimten Vierhebern (43 binnengereimsee u. der Insel Hawaii. Obwohl D. dem na- ten Langzeilen?), die sich zu sieben im Umtionalkonservativen Lager zugerechnet wird, fang variierenden »Strophen« verbinden. In hielt er sich vom Nationalsozialismus fern. der Vorauer Handschrift (Stiftsbibl., 276) aus Ein Gedicht mit dem Titel Musische Kamera- dem letzten Viertel des 12. Jh., die als einzige den, das auf den 7.6.1937 datiert ist, beginnt das Werk überliefert, bilden die Drei Jünglinge mit den Versen: »Musische Kameraden, / mit der stilistisch verwandten Älteren Judith Vergeßt nicht das Wort: / Hier stehen Staat eine Einheit. Diese Verknüpfung, die wohl Partei Soldaten – – – / Wir stehen dort! // Wir nicht erst der letzte Schreiber vornahm, kennen keine Grenzen, / Sind keiner Rasse wurde dadurch begünstigt, dass in beiden feind [...].« Wegen seiner antirassist. Haltung Dichtungen – entsprechend den bibl. Vorlawurde D. aus der Reichsschrifttumskammer gen Daniel u. Judith – derselbe gottfeindl. ausgeschlossen u. inhaftiert; nach eigenen König Nabuchodonosor/Nebukadnezar die Angaben im »literarischen Selbsporträt« zu Erzählhandlung bestimmt oder doch auslöst. Beginn der Meer-Gedichte verbrachte er vier Entscheidender aber dürfte die themat. Ge-
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meinsamkeit beider Gedichte gewesen sein: Gott hilft denen, die ihn fürchten, u. bestraft die, die sich stolz gegen ihn auflehnen. Zwei Verse über die Vernichtung des Nabuchodonosor bilden denn auch die Brücke zwischen den urspr. sicher selbständigen Gedichten. Der Stil der Drei Jünglinge ist schlicht; die Vorlage wird auf eine knapp erzählte Ereignisfolge konzentriert. Ausgaben: Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1972, S. 60–62. Literatur: Werner Schröder: Die d.J. i. F. Die Ältere Judith. Überlieferung, Stoff, Form. Mainz 1976. Wieder in: Ders.: Frühe Schr.en zur ältesten dt. Lit. 1999, S. 145–254. – Ders.: Die Ältere Judith; Die d.J. i. F. In: VL. – Karl Konrad Polheim: Das frühmittelhochdt. Gedicht ›Von Gottes Gewalt‹. ›Die d.J. i. F.‹. ›Die ältere Judith‹. In: ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‹. Hg. James Hardin u. Jörg Jungmayr. Bln. 1992, S. 379–397. – Wiebke Freytag: Zur top. Verarbeitung v. Hrabans Allegorese in den ›D. J. i. F.‹ u. in der ›Älteren Judith‹. In: Wolfram-Studien 16 (2000), S. 192–234. Gisela Vollmann-Profe / Red.
Dresdener Heldenbuch, 1472 vermutlich in Nürnberg entstanden. – Frühneuhochdeutsche Sammelhandschrift mit Heldendichtung. Das D. H. (auch: DrHB, SLUB Dresden, Mscr. Dresd. M 201, Papier, 20 · 15 cm, 355 Bll.) umfasst elf Werke: Sechs Texte (Eckenlied, Rosengarten, Sigenot, Wunderer, Herzog Ernst, Laurin) wurden von Kasper von der Roen aus Münnerstadt in Unterfranken geschrieben, der seine Arbeit zu Ostern 1472 abschloss, fünf Texte (Ortnit, Wolfdietrich, Meerwunder, Virginal, Jüngeres Hildebrandslied) stammen von einem anonymen Schreiber. Als Entstehungsort kommt aufgrund der ostfränkischbair. Mischsprache am ehesten Nürnberg in Betracht. Kolorierte Federzeichnungen u. Initialen zu Beginn der Einzeltexte – beides mit Gold u. Silber beschichtet – signalisieren einen hohen Ausstattungsanspruch. Ein Auftraggeber ist jedoch nicht bekannt. Das mecklenburgische Wappen u. der Eintrag »Waltasar von gocz genaden herczog zu Mechelwurck« (Bl. 1*v) verweisen durch Form (Stierkopf bereits mit Nasenring) u. Inhalt
(Gottesgnadentum) auf eine etwas spätere Zeit. Herzog Balthasar, der 1480–1507 regierte, war allenfalls ein früher Besitzer der Handschrift. Spätere Eigentümer waren Gottfried Thomasius (1660–1746), Johann Christoph Gottsched (1700–1766) u. die Gesellschaft der freyen Künste in Leipzig (bis 1793). Die Schreibgewohnheiten verweisen darauf, dass Kasper seine Vorlagen lediglich abschrieb, während der Anonymus diese (verkürzend) umdichtete. Vielleicht stand Kasper auch als Koordinator u. Finanzier hinter dem Projekt u. beauftragte einen professionellen Schreiber mit den Überarbeitungen. Er dürfte relativ wohlhabend gewesen sein, da ein e e Casper von der Ron de Munderstatt im Sommersemester 1474 an der Universität Leipzig die volle Immatrikulationsgebühr zu entrichten hatte. Man kann davon ausgehen, dass es sich dabei um den Sohn des Schreibers handelt. Als Vorlage könnte bereits eine Sammelhandschrift gedient haben. Die Kombination des Doppelepos Ortnit/Wolfdietrich mit Dichtungen über Dietrich von Bern ist typisch für Heldenbücher. Die Anknüpfung zwischen den beiden Sagenkreisen erfolgt über eine goldene Rüstung, die von Ortnit, Wolfdietrich, Ecke u. Dietrich getragen wird. Auch die beiden gattungsferneren Texte Meerwunder u. Herzog Ernst passen motivisch zu den übrigen Werken: In Meerwunder steht – wie in Wunderer u. Virginal – der Kampf gegen einen menschenfressenden Unhold im Mittelpunkt, u. Ernst ist ebenso wie Wolfdietrich ein Vertriebener, der außergewöhnliche Abenteuer in der Fremde besteht. Die Produktion des D. H.s stand offenbar in Zusammenhang mit einem neu erwachten Interesse an strophischer Epik im Spätmittelalter. Ziel war es wohl, eine moderne, d.h. sprachlich u. metrisch den aktuellen Anforderungen angepasste Sammlung von sangbaren (u. daher nicht zu langen) Texten zu schaffen. Alle Werke sind in der Heunenweise (acht Halbzeilen mit Kreuzreim), dem 13zeiligen Bernerton bzw. dem Herzog-ErnstTon (dieser unterscheidet sich vom Bernerton nur durch die Melodie) geschrieben. Eine detaillierte Kenntnis der zeitgenöss. Musik lässt eine Passage in Laurin erkennen, in der
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neun Instrumente angeführt sind u. die Sänger ein vierstimmiges Tenorlied singen. Obwohl eine intensive Beschäftigung mit dem D. H. schon sehr früh einsetzte – Friedrich Heinrich von der Hagen legte 1820–1825 die erste Gesamtausgabe vor, er u. Ludwig Tieck übersetzten einige Texte –, fand es in der altgermanist. Forschung lange Zeit keine rechte Anerkennung. Die überarbeiteten u. teilweise verkürzten Texte lagen den frühen Altgermanisten zu weit abseits der »Originale«. Erst im Zuge einer generellen Aufwertung der handschriftl. Quellen wird auch das D. H. als wichtiges Zeugnis für die Rezeption älterer Literatur im 15. Jh. verstanden. Ausgaben: Der Helden Buch in der Ursprache. Hg. Friedrich Heinrich v. der Hagen u. Alois Primisser. 2 Bde., Bln. 1820–25. – The Wolfdietrich Epic in the D. H. Hg. Edward A. H. Fuchs. Louisville/Kentucky 1935. – Das Eckenlied. Tl. 2. Hg. Francis B. Brévart. Tüb. 1999. – Das D. H. u. die Bruchstücke des Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs. Ed. u. Digitalfaksimile. Hg. Walter Kofler. Stgt. 2006. Literatur: Friedrich Zarncke: Kaspar v. der Roen. In: Germania 1 (1856), S. 53–63. – Joachim Heinzle: Heldenbücher. In: VL. – Gisela Kornrumpf: Strophik im Zeitalter der Prosa: Dt. Heldendichtung im ausgehenden MA. In: Lit. u. Laienbildung im SpätMA u. in der Reformationszeit. Hg. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stgt. 1984, S. 316–340. Walter Kofler
Drewermann, Eugen, * 20.6.1940 Bergkamen bei Dortmund. – Theologe, Philosoph, Psychoanalytiker. Als Sohn eines wenig religiösen protestant. Vaters, von Beruf Bergmann, u. einer streng römisch-kath. Mutter wuchs der schon früh pazifistisch denkende D. mit zwei Geschwistern in der westfäl. Gemeinde Bergkamen auf. Nach dem Studium der Philosophie in Münster u. der kath. Theologie in Paderborn ebnete seine Priesterweihe ihm ab 1966 den Weg für wechselnde pastorale Dienste. Die für den Seelsorger D. unzureichende Moraltheologie sowie die nicht auf die Bedürfnisse der Gemeindemitglieder abgestimmte Bibelauslegung bewogen ihn zur Psychoanalyseausbildung in Tiefenbrunn bei Göttingen.
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Mit seinem Erstlingswerk Strukturen des Bösen (3 Bde., Paderb. 1977/78), das in exegetischer, psychoanalyt. u. philosoph. Interpretation der jahwistischen Urgeschichte sein Grundthema der Gegensätzlichkeit von menschlicher Angst u. christl. Erlösungslehre darlegt, habilitierte er sich für kath. Theologie. Die damit erworbene Lehrbefugnis für Dogmatik wurde ihm 1991 vom Paderborner Erzbischof Degenhardt entzogen. 1992 folgten das Predigtverbot u. die Suspendierung vom Priesteramt, 2005, an D.s 65. Geburtstag, der Austritt aus der kath. Kirche. D.s seit 1981 erscheinende tiefenpsycholog. Deutungen betonen die Gefahr, die in einer Aburteilung der Mythen u. Bilder des Unbewussten durch das Christentum liegt. Märchengestalten, seien es Grimms Frau Holle (Olten 1982. 91992. Erw. Neuaufl. Düsseld. 2003), Brüderchen und Schwesterchen (Olten 1990. 41992. Düsseld. 2003), Der Froschkönig (Olten 2003), Andersens »Kleine Meerjungfrau« in Liebe, Leiden und Unsterblichkeit (Freib. i. Br. 2003) oder gar Saint-Exupérys »Kleiner Prinz« in Das Eigentliche ist unsichtbar (Freib. i. Br. 1984. 202005), können dabei als gleichnisartige Erscheinungsformen ebenso auftreten wie Jesus Christus, dessen im Lukasevangelium erzählte Kindheitsgeschichte in Dein Name ist wie der Geschmack des Lebens (Freib. i. Br. 1986. 31995) durchleuchtet wird. D. rechtfertigt die dazu angewandte Methode in seiner Tiefenpsychologie und Exegese (2 Bde., Freib. i. Br. 1984/85. Mchn. 1993) mit dem Ziel, die Theologie von Seelenlosigkeit u. Zwängen zu befreien. Dass solche v. a. von den Machtstrukturen der Kirche herrühren, enthüllt D. anhand der Kleriker (Freib. i. Br. 1989. Düsseld. 2001), deren Arbeitgeber ihnen ein Recht auf Eros u. damit Seelenheil(ung) zugestehen sollte. Menschlichkeit zeigt aber auch, wer wie der Prophet Ezechiel in ... auf daß ihr wieder leben sollt (Zürich 2001) Gott in Zeiten des Krieges u. der Gefangenschaft nicht sucht, sondern ihn in sich weiß. Bewusstsein u. Glauben u. damit Neurologie u. Theologie nicht länger zu trennen fordert D. in Atem des Lebens (2 Bde., Düsseld. 2006/ 07), damit Gott, statt von den Erkenntnissen der Menschheit gejagt zu werden, mit ihr zus. den Umsturz wagt.
103 Literatur: Jörg Frey: E. D. u. die bibl. Exegese. Eine methodisch-krit. Analyse. Tüb. 1995. – Bernhard Lang: E. D. Kleines Porträt eines Romantikers. Paderb. 2001. Stephan Mawick
Drewitz, Ingeborg, geb. Neubert, * 10.1. 1923 Berlin, † 26.11.1986 Berlin. – Prosaautorin u. Dramatikerin. Die Tochter des Konstrukteurs Eugen Neubert u. der Musikstudentin u. Pianistin Hildegard (geb.Vogel) verbrachte ihr ganzes Leben in Berlin. Das Studium der Philosophie, Germanistik u. Geschichte schloss sie 1945 mit der Promotion ab. Ein Jahr später heiratete sie Bernhard Drewitz, mit dem sie drei Töchter großzog. In den Nachkriegsjahren schrieb D. zunächst eine Reihe von Dramen (z.B. Unio Mystica; Stadt ohne Brücke; Moses; Manuskripte 1948–56). Beachtung verdient das seit 1951 zunächst u. d. T. Masse Mensch entstandene, vielfach überarbeitete u. 1955 uraufgeführte Stück Alle Tore waren bewacht. Als erstes deutschsprachiges Schauspiel behandelt es ein Todeslager des Dritten Reichs. Nach einigen Hörspielen wandte D. sich neben literaturkritischen u. essayist. Arbeiten (z.B. Berliner Salons. Bln. 1965) überwiegend der erzählenden Prosa zu. D.’ literarisches Engagment gilt der Aufdeckung sozialer Missstände. Ihre meist in Berlin angesiedelten, dokumentarisch-realist. Romane behandeln neben aktuellen polit. Themen auch stets den schwierigen Umgang mit der jüngsten dt. Vergangenheit. Ihr erfolgreichster, autobiografisch geprägter Roman Gestern war Heute. Hundert Jahre Gegenwart (Düsseld. 1978. Neuausg. 1984. Mchn. 1998) verfolgt das Leben der Ich-Erzählerin Gabriele M. von der Geburt 1923 bis ins Jahr 1978. Vor dem Hintergrund von fünf Frauengenerationen beschreibt er den Entwicklungsprozess einer Journalistin, die versucht, sich von traditionellen Rollenmustern zu lösen u. Ehe, Mutterschaft u. Beruf auf neue Weise zu verbinden. Wie D.’ Gesamtwerk wurde auch dieser Roman als engagiertes zeitgeschichtl. Dokument gewürdigt u. in seiner narrativen Retrospektive einer Jugend im Dritten Reich u. a. mit Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976) verglichen. Der Roman
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verdeutlicht D.’ anhaltende literar. Auseinandersetzung mit Fragen individueller u. kollektiver Schuldverstrickung, die sich auch in ihren Dramen der 1980er Jahre fortsetzt (Gestern war Heute; Das Gartenfest; in: die horen 1987). Spätestens seit der Romanbiografie Bettine von Arnim (Düsseld. 1969. 31986. Bln. 2002) bildet die Auseinandersetzung mit der gesellschaftl. Rolle der Frau ein Grundthema ihres Werks. Die Anonymität des Großstadtlebens behandelt der auf der Basis soziologischer Fachliteratur entstandene Roman Das Hochhaus (Stgt. 1975). Die Konflikte sich bis zur Selbstaufgabe einsetzender Sozialarbeiter stehen im Mittelpunkt von Wer verteidigt Katrin Lambert? (Stgt. 1974). Ihr letztes Prosawerk, der Ideenroman Eingeschlossen (Düsseld. 1986. Bln./DDR 1989), lässt Jesus u. Prometheus in Gestalt des Sozialarbeiters J. u. des Atomphysikers P. in der geschlossenen Abteilung einer Nervenheilanstalt aufeinandertreffen. Einen bemerkenswerten, wenn auch von kolonialem Blick nicht ganz freien Beitrag zur Reiseliteratur liefert D. mit ihren während einer fünfwöchigen Vortragsreise enstandenen Aufzeichnungen Mein indisches Tagebuch (Stgt. 1983. Reinb. 1986. 1987). Für ihr literarisches Werk u. ihren vielfältigen kulturellen u. sozialpolit. Einsatz erhielt D. zahlreiche Preise. Als Vizepräsidentin des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland u. als stellvertretende Vorsitzende des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) galt ihr Engagement auch dem eigenen Berufsstand. Für die soziale Absicherung von Autoren setzte sie sich u. a. als Mitbegründerin der Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) ein, die der prakt. Umsetzung des Urheberrechts dient. In Berlin gründete sie die Neue Gesellschaft für Literatur (NGL). Ihr literarischer Nachlass, der neben Briefen v. a. die zahlreichen unveröffentlichten DramenManuskripte einschließt, befindet sich als Dauerleihgabe im Archiv der Akademie der Künste in Berlin. Weitere Werke: Und hatte keinen Menschen. Bln. 1955. 1962 (E.). – Der Anstoß. Bremen 1958 (R.). – Das Karussell. Gött. 1962 (R.). – Im Zeichen der Wölfe. Gött. 1963 (E.). – Eine fremde Braut. Mchn. 1968 (E.). – Der eine, der andere. Stgt. 1976.
Drexel Mchn. 1981 (E.). – Zeitverdichtung. Wien/Mchn./ Zürich 1980 (Ess.). – Die zerstörte Kontinuität. Exillit. u. Lit. des Widerstands. Wien/Mchn./Zürich 1981 (Ess.). – Eis auf der Elbe. Düsseld. 1982. Stgt. 1984 (R.). – Ich über mich. In: Frauenlit. Hg. Manfred Jürgensen. Bern/Ffm. 1983, S. 75–84. – Unter meiner Zeitlupe. Wien/Mchn./Zürich 1984 (Ess.). – Auch so ein Leben. Die fünfziger Jahre in Erzählungen. Gött. 1985. – Hinterm Fenster die Stadt. Düsseld. 1985. Mchn. 1988 (E.). – Die ganze Welt umwenden. Hg. Uwe Schweikert. Düsseld. 1987. Stgt. 1989 (Sammelbd.). – I. D. u. Winand Buchacker (Hg.): Mit Sätzen Mauern eindrücken. Briefw. mit einem Strafgefangenen. Hbg. 1979. Literatur: Harald Gröhler u. a.: I. D. In: horen 27/4 (1982), S. 101–123. – Titus Häussermann (Hg.): I. D. Materialien zu Werk u. Wirken. Stgt. 1983. 21988 (mit Bibliogr.). – Kurt Rothmann: I. D. In: Ders.: Deutschsprachige Schriftsteller seit 1945 in Einzeldarstellungen. Stgt. 1985, S. 111–115. – Gerhild Brüggemann Rogers: Das Romanwerk v. I. D. New York 1989. – Gisela Ullrich: I. D. In: KLG. – Yvonne Christiane Fischer-Lüder: An den Rand gedrückt – zum Opfer gemacht – Subjekt geworden. Die Entwicklung der Frauenfiguren in den Romanen v. I. D. Ffm. 1990. – Margaret E. Ward: I. D.’s Forgotten Dramas of the 1950s. In: Thalia’s Daughters. Hg. Susan L. Cocalis u. Ferrel Rose. Tüb. 1996, S. 173–190 – Almuth Andreae: I. D. In: LGL. – Barbara Becker-Cantarino u. Inge Stephan (Hg.): Von der Unzerstörbarkeit des Menschen. I. D. im literar. u. polit. Feld der 50er bis 80er Jahre. Ffm. 2006 (mit Bibliogr.). Agnieszka Lessmann / Gaby Pailer
Drexel, Jeremias, * 15.8.1581 Augsburg, † 19.4.1638 München. – Jesuit, Hofprediger, Verfasser geistlichen Schrifttums. Der Sohn protestantischer Eltern aus dem Handwerkerstand besuchte das 1581 gegründete Augsburger Jesuitengymnasium u. konvertierte wahrscheinlich 1594/95 nach Abschluss der Grammatikklasse. Hier regte ihn außer Jacob Gretser u. Jacob Pontanus bes. Matthias Rader, der Philologe, Historiker u. Verfasser der Bavaria sancta, in der Rhetorikklasse 1596–1598 zu ersten dichterischen Versuchen an. Nach seinem Eintritt in die Gesellschaft Jesu im Juli 1598 u. dem Noviziat in Landsberg/Lech studierte D. in Augsburg u. Ingolstadt Rhetorik, Philosophie u. Theologie. 1603–1607 war er Studienpräfekt der Gymnasien in Augsburg u. Dillingen.
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Nach Abschluss des Theologiestudiums in Ingolstadt folgte D. am 20.10.1610 Bidermann als Präfekt des Münchner Jesuitenkollegs. Dieses Amt übte er, mit einer Unterbrechung während des Tertiats in Ebersberg, bis 1.8.1612 aus. Am 18.12.1610 wurde er zum Priester geweiht u. zelebrierte drei Tage später die erste Hl. Messe in der Münchener Michaelskirche. Nach seiner Münchener Zeit lehrte er am Augsburger Kolleg als Nachfolger Raders Rhetorik, predigte in den Schulgottesdiensten u. leitete die Marianische Kongregation. Von 1615 bis an sein Lebensende war D. Prediger am Hof des Herzogs u. späteren Kurfürsten Maximilian I. in München. Das Kriegstagebuch, das er 1620 während seiner Teilnahme am böhmisch-österr. Feldzug als Seelsorger Maximilians führte, ist eine sozialgeschichtl. Fundgrube. D. arbeitete seine Predigtzyklen zu lat. Traktaten aus u. ließ sie von dem kurfürstl. Geheimschreiber Joachim Meichel, der auch Bidermanns Cenodoxus 1635 in dt. Verse übertrug, von dem scharfzüngigen Kontroverstheologen Conrad Vetter SJ, aber auch von anderen Gelehrten ins Oberdeutsche übersetzen. Einzig den Tugendtspiegel (Mchn. 1636), einen Predigtzyklus über die Tugenden der 1635 verstorbenen bayer. Kurfürstin Elisabeth, verfasste D. in dt. Sprache. Alle Schriften sind Angehörigen der Wittelsbacher u. a. Fürstenhäuser, Prälaten u. Äbtissinnen bayerischer Klöster, Kardinälen, päpstl. Nuntien, Bischöfen u. angesehenen Patriziern gewidmet u. zuerst in München erschienen. Für das 17. Jh. kann man von »mehr als 160 lateinischen und mehr als 40 deutschen Ausgaben« (Breuer) ausgehen. Allein in München wurden bis 1642 170.700 Exemplare seiner Werke abgesetzt; diese Berechnung Breuers wird vom Herausgeber der Werkausgabe (Antwerpen 1643) bestätigt. Zahlreiche Neudrucke, Übersetzungen sowie dt. u. lat. Gesamtausgaben kamen u. a. in Mainz, Würzburg, Köln, Brügge u. Antwerpen heraus. Noch 1747 u. 1758 erschienen die lat. Opera omnia in zwei Foliobänden in Lyon. Nach den ersten Jahrzehnten aggressiver Konfessionspolemik, in der die Jesuiten seit ihrer Niederlassung in Oberdeutschland mit Unterstützung der Wittelsbacher führend
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waren, kam D. zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs mit seinen unpolem. Traktaten dem Bedürfnis der Gläubigen nach positiver Orientierung in der Frömmigkeitspraxis entgegen. Auch bei protestant. Lesern war er populär. D. übernahm das Schema der ignatian. Exercitia spiritualia, die in der Folgezeit die Grundlage der Meditationspraxis in Schulen u. Kongregationen, aber auch der kath. aszet. Literatur u. Kunst überhaupt wurden. Eine Gruppe von D.s Traktaten, zu der De aeternitate considerationes (1620) u. das Tribunal Christi (1634) gehören, zeigt die heilsgeschichtl. Dimension der individuellen Lebenserfahrung u. sozialen Realität während des Kriegs auf. Eine zweite Serie, z.B. Gymnasium patientiae (1630) u. Aloe amari sed salubri succi ieiunium (1637), erläutert die guten Werke, durch die der Gläubige, gleich welchem Stand er angehöre, zu seinem ewigen Heil mitwirken könne. Eine dritte Reihe, z.B. Nicetas (1625) u. Tobias morali doctrina illustratus (1641), führt Exempel tugendhaften Lebens aus der Bibel, der Kirchen- u. Heiligengeschichte u. der Gegenwart (Kurfürstin Elisabeth, Franciscus Borgia, Justus Lipsius) vor. Gott trägt in D.s Schriften die Züge des absolutist. Herrschers, dem die Untertanen unbedingten Gehorsam schulden. D.s Appelle, die eigene soziale Situation, Leid u. Elend als gottgegebenes Schicksal, als »Creutz-Schuel« des himml. Pädagogen u. »Instrumente und Werckzeug« seiner Providenz zu ertragen, seine Weigerung, nach den realen Ursachen von Armut u. Wohlstand zu fragen, seine Befürwortung der Hexenprozesse (Gazophylacium Christi Eleemosyna, 1637, Tl. 1, Kap. 8, § 1), bes. im Fall der kriminellen Pappenheimerfamilie in München 1600 (vgl. Albrecht), seine A-la-mode-Kritik, seine »positive moralische Einschätzung des Hoflebens« (vgl. Breuer) u. seine moralpädagog. Lektüreempfehlungen Epiktets u. Senecas, der Kirchenväter u. des Lipsius, dessen neustoizist. Schriften er in seinen Traktaten verwertet hat, bezeugen D.s Übereinstimmung mit den Interessen der frühabsolutist. Staatsreform. Auf die quietistischen, apologet. Tendenzen, ihre sozialdisziplinierende Wirkung u. therapeutische, trostspendende Funktion scheint, ähnlich wie im Falle der
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Werke Lipsius’, der Erfolg D.s v. a. zurückzuführen zu sein. Im Briefwechsel Matthäus Raders werden zwei Dramen D.s erwähnt, Miles Carthaginiensis redivivus u. Fusculus, deren Manuskript nicht überliefert ist, die aber unter der Regie Raders im Herbst 1603 bzw. zu Fastnacht 1604 erfolgreich aufgeführt wurden. Von einem Dillinger Weihnachtsspiel Erithrenoterpsis, das D. gegenüber Rader am 1.1.1606 erwähnt, fehlt jede Spur. Von zwei weiteren Dramen, die unter Raders Regie in Augsburg im Okt. 1606 bzw. am 16.10.1608 in Ingolstadt szenisch umgesetzt wurden, sind Manuskripte überliefert (Triumphus crucis, wahrscheinlich eine Bearbeitung des Dialogus de cruce ferenda, der auch in Ingolstadt gespielt wurde; Julianus Apostata). Mit Rader, Rudolf Mattmann u. Jacob Bidermann beteiligte sich D. am poet. Wettstreit, in dem Petrus Franks Lied Der grimmig Todt mit seinem Pfeil (Augsb. 1604) in lat. Verse übertragen wurde; Rader brachte diese lat. Gedichte in Druck (Augsb. 1608. 2. Aufl. mit Berücksichtigung von D.s korrigierter Version im Juni 1608). Für die Augsburger Marianische Kongregation fertigte D., vermutlich mit seinen Schülern, einen emblemat. Bilderzyklus an (an Rader, 6.1.1611). Stilistisch orientierte sich D., wie sein Lehrer Rader, der noch ältere Pontanus u. die jüngeren Kollegen Bidermann, Balde u. Jacob Masen, am manierist. Argutia-Ideal u., bis zur offiziellen Einführung der Ratio studiorum am Augsburger Gymnasium 1604/05, am archaisierenden Attizismus des Justus Lipsius. Später bekannte er sich, auf Wunsch Raders, zum ciceron. Stilideal (an Rader, 1.1. u. 1.7.1606). Seine vielerseits wegen ihrer Eleganz bewunderte lat. Diktion ist, wie die der von ihm autorisierten Übersetzungen, reich an pointierten Sentenzen, Sprichwörtern, entlegenen Bildern u. Vergleichen. D. bevorzugte Beispiele, die abstrakte dogmat. Wahrheiten vereinfachten u. Gestalten der Bibel u. der Kirchengeschichte an die Lebenserfahrung seiner kath. Leser anpassten. Ausgaben: Opera. Mchn. 1628. – Opera Omnia Germanica. 4 Bde., Mainz 1645. – Sigmund Riezler (Hg.): Kriegstagebücher aus dem ligist. Hauptquartier 1620. Mchn. 1906 (= Abh. der bayer. Aka-
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demie der Wiss. 23/1, S. 77–210, bes. 139–189). – P. Matthäus Rader SJ, Bd. I: 1595–1612, bearb. v. Helmut Zäh u. Silvia Strodel, hg. v. Alois Schmid. Mchn. 1995, hier mehrere Briefe D.s an Rader. – (Ms. des ›Julianus Apostata‹ in der Studienbibl. Dillingen; Triumphus Crucis in der Bibliothèque cantonale, Fribourg; Briefe in der Bayer. Staatsbibl. Mchn.; Vita P. Jeremiae Drexelii (1638) im Bayer. Hauptstaatsarchiv München). Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Tl. 2, S. 1368–1418. – Duhr, Jesuiten, Bd. 2/2, S. 440–449. – Karl Pörnbacher: J. D. Leben u. Werk eines Barockpredigers. Mchn. 1965. – Heribert Breidenbach: Der Emblematiker J. D. S. J. Diss. Urbana/Illinois 1970. – Dieter Breuer: Oberdt. Lit. 1565–1630. Mchn. 1979, S. 122–144. – K. Pörnbacher: Die ird. ›Wolredenheit‹ des J. D. In: Jb. des Histor. Vereins Dillingen 83 (1981), S. 73–82. – Jean-Marie Valentin: Le Théâtre des Jésuites dans les Pays de Langue allemande. Répertoire chronologique des pièces et des documents conservés. 2 Bde., Stgt. 1983/4, II, S. 1043 f. – Italo Michele Battafarano: Armenfürsorge bei Albertinus u. D. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 47 (1984), S. 141–180 – Die Lit. des Barock. Ausgew. u. eingel. v. Hans Pörnbacher. Mchn. 1986. – Dieter Albrecht: Maximilian I. v. Bayern 1573–1651. Mchn. 1998 (Register). – Biogr. Lex. LMU. Barbara Mahlmann-Bauer
Drey, Arthur, * 9.9.1890 Würzburg, † 1.7. 1965 New York. – Lyriker, Essayist, Dramatiker. D. besuchte das Gymnasium in Wiesbaden u. studierte 1909–1911 in München u. Berlin Jura (1913 Promotion in Marburg). In Berlin machte er die Bekanntschaft Kurt Hillers u. kam mit dessen Literaturverein »Der neue Club« in Berührung, in dem im Rahmen des »Neopathetischen Kabaretts« Georg Heym, Jakob van Hoddis u. Else Lasker-Schüler auftraten. Bis zu seiner Emigration in die USA 1938 übte D. in Frankfurt/M. einen kaufmänn. Beruf aus. D.s dichterisches u. essayist. Werk ist von nur geringem Umfang: Neben einigen Gedichten, die seit 1911 in den Zeitschriften »Die Aktion« u. »Der Sturm« erschienen u. 1912 durch die Förderung Hillers in die expressionist. Anthologie Der Kondor aufgenommen wurden, war er mit einem pazifist. Essay an dem ersten der von Hiller heraus-
gegebenen Jahrbücher Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist beteiligt. Von den beiden einzigen selbständigen Veröffentlichungen erregte das »Volksspiel« genannte, gegen den Krieg gerichtete Drama Die Mordweih (Bln. 1919) großes Aufsehen. Die Gedichtsammlung Der unendliche Mensch (Lpz. 1919) galt Oskar Loerke bereits vier Jahre nach ihrem Erscheinen als deutliches Beispiel für die frühe Entwertung des expressionist. Pathos. Die Wiederentdeckung u. Aufwertung, die der Expressionismus in den 1960er Jahren erfuhr, nahm denn auch von D. kaum Notiz. Frank Raepke / Red.
Dreyer, Ernst Jürgen, * 20.8.1934 Oschatz/ Sachsen. – Prosaschriftsteller, Dramatiker, Übersetzer, Lyriker; Musikwissenschaftler. Die Kriegszeit mit den Folgen der dt. Teilung war bestimmend nicht nur für die frühe, durch Umzüge u. Fluchten bedingte Sozialisation des aus bürgerlichem Haus stammenden D., der das Studium der Musikwissenschaft in Weimar, Jena u. Leipzig 1959 mit Promotion abschloss – es waren auch die Erfahrungen der sich unmittelbar anschließenden Flucht aus der DDR in den Westen, die den Fond bildeten für das chef d’œuvre, den Großroman Die Spaltung, an dem D. nahezu 20 Jahre arbeitete. 1980 mit dem HermannHesse-Preis ausgezeichnet u. in drei Ausgaben (1979, 1980 u. 2001) erschienen, darf diese Romankonstruktion formal u. sprachexperimentell – die vielfach gebrochenen Bewusstseinslagen des Protagonisten Landmann ebenso konzessionslos präzise wiedergebend wie die O-Töne diverser DDR-Soziolekte – heute als ein Höhepunkt literarischer Ästhetik u. kulturhistor. Aussagekraft der dt. Nachkriegsliteratur gelten. Dennoch ohne Existenzsicherung arbeitete D. währenddessen als Journalist für Zeitungen u. Rundfunkanstalten, in den 1970er u. 1980er Jahren zumal als Lehrender im Fach Deutsch für Ausländer in Murnau, ab 1981 sein Domizil. Neue interkulturelle Erfahrungen inspirierten die Arbeit an dramat. Formen: D.s erstes Theaterstück Die goldene Brücke (gedr. Ffm. 1985) erhielt 1982 den Preis der Autorenstiftung; weitere mit Erfolg aufgeführte Schau-
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spiele (u. a. Das Double. Ffm. 1986, u. Die Nacht vor der Fahrt nach Bukarest. Ffm. 1987, beide Urauff. 1988) hinderten D. nicht daran, sich auch der dritten literar. Großform, zunächst als Übersetzer, ambitioniert zuzuwenden: In Zusammenarbeit mit Geraldine Gabor erschienen – spektakulär neu – zunächst Petrarcas Canzoniere (Basel u. a. 1989), Cavalcantis Le rime (Mainz 1991) u. Gedichte Mihai Eminescus (Der Abendstern. Mainz 1999). Parallel dazu entstanden selbständige formstrenge Arbeiten (als palindromischer Text zuerst Schielfleisch. Hbg. 1995) mit dem Schwerpunkt auf einer Aktualisierung der Sonett-Form (zahlreiche Publikationen, zuletzt konzentriert in der Edition O zartes Blau des Nebels überm Stau. Hbg. 2007) Gleichzeitig, seit 1993 freischaffend in Kaarst, erforscht der Wortmusiker D. die Zusammenhänge von Ton u. Wort im Feld vergessener DichterKomponisten (exemplarisch dazu die Edition der Liedkompositionen Leopold Schefers in der Reihe »Das Erbe deutscher Musik« 1994, Bd. 122): So bilden eigenständige u. dienende Produktionen im sekundärwissenschaftlich bislang vernachlässigten Œuvre D.s bis heute eine zweipolige Einheit. Weitere Werke: Ein Fall v. Liebeserschleichung. Ffm. 1980 (E). – Goethes Tonwiss. Ffm./ Bln./Wien 1985 (wiss. Monogr.). – Der eiserne Steg. Ffm. 1986 (D). – Herausgeber: Ladislaus Szücs: Zählappell. Als Arzt im KZ. Ffm. 1995. Literatur: Gisela Ullrich: E. D. In: KLG. – Petra Ernst: E. D. In: LGL. Bettina Clausen
Dreyer, Johann Matthias, * 1717 (1716?) Hamburg, † 20.6.1769 Hamburg. – Diplomat, Journalist, anakreontischer Dichter u. Satiriker. Der Sohn eines Kaufmanns besuchte das Johanneum in Hamburg u. studierte anschließend die Rechte in Leipzig, ohne einen Abschluss zu erreichen. Nach seiner Rückkehr nach Hamburg 1741 nahm er die Stelle eines Sekretärs bei Prinz Georg Ludwig von Holstein-Gottorp sowie bei dem Etatsrat Kaspar von Saldern an, widmete sich daneben den schönen Wissenschaften u. trat als Gelegenheitsdichter u. als Verfasser satirischer Epigramme hervor, die zunächst ungedruckt
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blieben u. in seinem Freundeskreis zirkulierten, zu welchem auch Friedrich von Hagedorn gehörte. Zgl. verfasste D. auch geistl. Gedichte, wobei er sich als aufgeklärter Anhänger einer natürlichen, physikotheologisch fundierten Religion gab. Aufsehen weit über Hamburg hinaus erregte D. mit einer anonym erschienenen Sammlung Schöne Spielwerke beym Wein, Punsch, Bischof, und Krambambuli, in Hamburg (Hbg./ Lpz. 1763), einer Sammlung von 216 (nicht sämtlich von D. selbst stammenden) Trinksprüchen, die vielfach sowohl in erotischer Hinsicht wie gegenüber der kirchl. Religion von besonderer Freizügigkeit waren. Das anakreont. Motiv des Lebensgenusses bei Wein, Liebe u. Gesang u. die (bei Hagedorn noch horazisch-weise beschränkte) literar. Kultur des Scherzes erscheinen hier auf provokative Weise gesteigert; tatsächlich aber waren diese Trinksprüche Ausdruck einer in bürgerlich-literar. Zirkeln praktizierten Geselligkeitskultur. Das Bändchen wurde auf Betreiben des Hamburger Hauptpastors Goeze vom Hamburger Rat inkriminiert u. öffentlich von Henkershand verbrannt; D. selbst wurde ausgewiesen u. durfte erst 1766 unter dem Schutz diplomatischer Immunität zurückkehren. Weitere Werke: Der Herr im Feuer, ein Gedicht über die den 10. März 1750 durch einen Wetterstrahl geschehen Einäscherung des Thurms u. der Kirche zu St. Michaelis in Hamburg. Hbg. 1750 (Ode). – Drey Gebete eines Anti-Klopstockianers, eines Klopstockianers u. eines guten Criticus. o. O. 1753. – Charfreitagsgedanken, in sechs Betrachtungen [...]. Hbg. 1767. – Ausführl. Nachricht v. der durch den Kunstrichter [Johann Friedrich] Löwen [...] gegen alle dt. Schaubühnen im letzt verwichenen Jahre ergangenen Achtserklärung [...]. o. O. 1767. – Vorzüglichste dt. Gedichte. Hg. Wilhelm Adolf Paulli. Altona 1771 (vermischte Gedichte, zus. mit Werken anderer Autoren). – Herausgeber: Georg Behrmann: Timoleon, der Bürgerfreund. Hbg. 1741 (Trauersp.). – Jakob Friedrich Lamprecht: Der Menschenfreund. Neuausg. Hbg. 1749 (Moral. Wochenschr.). – Neuer Beytrag zum Vergnügen des Verstandes u. Witzes. Bde. 5 u. 6. Bremen 1754/55. – Beitr. zum Nachtische für muntere u. ernsthafte Gesellsch.en. Hbg. 1766/67 (Wochenschr.).
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Ausgaben: Gedichte (Ausw.). In: Das wahre Glück, ein Mensch zu sein. Hg. Jochen Golz. Bln. 1973. – Schöne Spielwerke beym Wein, Punsch, Bischof u. Krambambuli [...]. Hg. Horst Hussel. Bln. 1988. – Dass. Mit einer Nachbemerkung neu hg. v. Matthias Wehrhahn. Hann. 1996. Literatur: O. Benecke: D. In: ADB. – Alfred Dreyer: J. M. D. 1717–69. Ein Hamburger satir. Dichter u. Holstein-Gottorper Diplomat. Ein Beitr. zur Geistesgesch. Hamburgs um die Mitte des 18. Jh. Hbg. 1934. – DBA 253,88–89. Ernst Fischer / Red.
Dreyer, Max, * 25.9.1862 Rostock, † 27.11. 1946 Göhren/Rügen; Grabstätte: ebd., Waldfriedhof. – Dramatiker, Autor humoristischer Romane u. Erzählungen, Dialektdichter.
mehr, sodass auch das Dritte Reich keinen Einschnitt darstellte. Dies bezeugen nicht nur D.s zahlreiche Publikationen zu dieser Zeit, sondern auch eine Reihe unveröffentlichter Bühnenstücke. Weitere Werke: Frauenwille. Stgt. 1892 (E.). – Unter blonden Bestien. Lpz./Bln. 1898 (Kom.). – Der Sieger. Bln./Stgt. 1900 (D.). – Nah Huus. Stgt. 1904 (plattdt. G.e). – Des Pfarrers Tochter v. Streladorf. Stgt. 1909 (Kom.). – Der Unbestechliche. Bln. 1918 (Kom.). – König Kandaules. Lpz. 1929 (R.). – Der Weg durchs Feuer. Lpz. 1930 (R.). – Dat Sympathiemiddel. Hbg. 1938 (Kom.). – Spuk. Greifsw. 1943 (R.). Literatur: Heinrich Zerkaulen: M. D., der Dichter u. sein Werk. Lpz. 1932. – Paul Babendererde: M. D., der Dichter der Ostsee. Greifsw. 1942. – Willi Passig: Der Einsame im Drachenhaus. M. D., der vergessene ›Dichter der Ostsee‹. In: Mecklenburg-Magazin 34 (2006), S. 23. Michael Then / Red.
Nach seiner Rostocker Gymnasialzeit studierte D., Sohn eines Lehrers, seit 1880 zunächst Theologie in Rostock, dann in Leipzig Philologie. Nach seiner Promotion 1884 war Dringenberg, Ludwig, * um 1410 Driner bis 1888 Lehrer in Malchin/Mecklenburg genberg bei Paderborn, † 1477 Schlettu. Bockenheim bei Frankfurt/M. Aufgrund stadt/Elsass. – Pädagoge. von berufl. Differenzen mit dem Direktor »abenteuerte« er »in die Schriftstellerei hin- Nach der Schulbildung bei den Fraterherren ein«. Bis 1898 war er als Redakteur bei der in Deventer (umstritten, vgl. Rapp S. 222) Berliner »Täglichen Rundschau« tätig u. studierte D. an der Universität Heidelberg wurde Mitgl. der »Freitagstisch«-Runde, wo (Magister artium 1434). Seine Bedeutung für er mit Bölsche, Dehmel, den Gebrüdern Hart, den elsässischen Humanismus als Rektor der Hartleben, Wolzogen, Scheerbart, Hille u. Schlettstädter Lateinschule (1441–1477) ist Flaischlen zusammentraf. Deren Diskussio- schwer zu überschätzen: Sie wurde zu einer nen regten ihn dazu an, seine ersten Thea- der berühmtesten Lehranstalten ihrer Zeit; terstücke zu veröffentlichen. Kontroversen hier erhielten wichtige elsäss. Humanisten riefen v. a. Der Probekandidat (Bln. 1900) u. Tal wie Jakob Wimpfeling, Peter Schott, Sebastides Lebens (Bln. 1903) hervor, die sich als an Murrho, später auch Beatus Rhenanus u. »Anklageschriften« gegen das autoritäre Bil- Martin Bucer ihre erste Ausbildung. D. redungswesen der wilhelmin. Zeit verstanden, formierte den Unterricht behutsam: Gelesen allerdings nicht frei von Phrasen u. idealisti- wurden noch die traditionellen Lehrbücher schem Pathos waren. (Donat, Alexander de Villa Dei), nicht mehr Nach seiner Übersiedlung an die Ostsee aber die Glossen u. Kommentare. Die Schüler widmete sich D., auf dessen Betreiben der sollten so früh wie möglich Latein verstehen Verband der dt. Bühnenschriftsteller u. u. auch sprechen können. Große Bedeutung -komponisten gegründet wurde, v. a. regio- wurde der Lektüre der Kirchenväter, aber nal-histor. Themen, wie die Romane Peter auch lat. Klassiker zugesprochen. Nach den Ohm (Stgt. 1908), Die Insel (Lpz. 1920) u. Die Mitteilungen Wimpfelings im Isidoneus gerSiedler von Hohenmoor (Lpz. 1921) belegen. manicus (1497) wiesen D.s UnterrichtsmethoDoch fehlt hier, wie auch bei zahlreichen den Ähnlichkeiten mit denjenigen der Brüder anderen späteren Dramen u. Dialektdich- vom gemeinsamen Leben auf. tungen D.s, die Kritik früherer Jahre. Der Als Schriftsteller trat D. nur wenig hervor. Unterhaltungscharakter überwog immer Erhalten sind 24 Hexameter auf Begeben-
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heiten des Jahres 1456, 32 Hexameter über verlachen: Texte zum Lachen u. übers Lachen. Karl den Kühnen u. die Fabel Narr und Löwe. Ffm./Wien 2003. Christian Schwarz / Red. Ihr stellte D. eine deutschsprachige Nutzanweisung voran, in der er die Bedeutung der Drollinger, Karl Friedrich, * 26.12.1688 von ihm praktizierten Methode unterstreicht, Durlach, † 1.6.1742 Basel. – Lyriker u. dt. Sprichwörter in lat. Verse zu übersetzen. Literatur: Franz Josef Worstbrock: D. In: VL. – Francis Rapp: Die Lateinschule v. Schlettstadt. In: Studien zum städt. Bildungswesen des späten MA u. der frühen Neuzeit. Hg. Bernd Moeller u. a. Gött. 1983, S. 215–234. Reinhard Tenberg / Red.
Droege, Heinrich, * 6.8.1933 Frankfurt/M. – Erzähler u. Herausgeber. D. entstammt einer Familie, deren Angehörige über Generationen hinweg Handwerker u. Arbeiter waren; der Urgroßvater gründete den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« in Bochum. Nach mehrfach durch den Krieg unterbrochenem Schulbesuch wurde D. Werkzeugmacher. Seit 1955 arbeitete er als Fernmeldetechniker bei der Bundespost. D.s literar. Tätigkeit steht in engem Zusammenhang mit seiner engagierten Arbeit in der Postgewerkschaft des DGB. Er wurde Mitgl. im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, gründete 1974 die »Frankfurter Werkstatt« dieses Kreises u. gibt Sammelbände mit Texten schreibender Werktätiger heraus. Seine eigenen Erzählungen versteht er als »Werktagsgeschichten«. Er protokolliert in ihnen die Belastungen u. Erfahrungen der Arbeitswelt u. dokumentiert die persönl. Energie zur Veränderung der Zustände aus dem Willen zur Solidarität der Werktätigen (z.B. in: Anton und Marinette. Eine Liebesgeschichte. Assenheim 1984. Der Tramp. Ffm. 1988). 1985 erhielt er den Journalistenpreis der IG-Metall für seine Reportagen über Türken in Deutschland. Weitere Werke: Begegnung mit Arno Schmidt. Assenheim 1985. – Gesch.n v. Karl u. Heinrich. Ffm. 1987. – Tage ohne Hosen. Wien 1992. – Ein langer Abschied. Wien 1994. – Leben, nur leben! Nachkrieg in einer Stadt. Ffm. 1996. – Herausgeber: Liebesgesch.n. Ffm. 1976. – Schön ist die Jugend. Ffm. 1980. – Tatort Arbeitsplatz. Ffm. 1984. – Leben gegen die Uhr. Ffm. 1985. – Vor Ort. Ffm. 1987. – Faulheit adelt. Texte gegen das herrschende Arbeitsethos. Ffm. 2000. – Lachen, auslachen,
Übersetzer.
Bereits D.s Vater stand im Dienst der Markgrafen von Baden-Durlach. Nach der Zerstörung Durlachs durch die Franzosen zog die Familie 1689 nach Badenweiler, wo D. durch Hauslehrer unterrichtet wurde, bis er 1703 an die Universität Basel ging u. dort bis 1710 Sprachen, Philosophie, Mathematik, hauptsächlich aber Jura studierte (Dissertation 1710). Nach Abschluss des Studiums trat D. in den Dienst seines Landesherrn als Registrator des in Basel aufbewahrten Geheimarchivs. Seine Aufgabe bestand in dessen Neuordnung u. Auswertung. 1722 wurde er zum Hofrat, 1727 zum Archivar ernannt. Der Stadt Basel, die er sein Leben lang nicht mehr verließ, stand er als juristischer Berater bei. Infolge seiner intensiven Tätigkeit litt der Unverheiratete u. schlecht Entlohnte unter ständigen schweren Kopfschmerzen. Trotzdem las D. unermüdlich die alten u. neuen Dichter, denen er in seinen seltenen Mußestunden nachzueifern suchte. Seine ersten Vorbilder der Schlesischen Schule wurden dabei bald durch Boileau u. Pope abgelöst, u. D. bemühte sich um einen gereinigten Geschmack – darin Haller verwandt. In geistlich-moralischen Lehrgedichten wie Lob der Gottheit, ueber die Unsterblichkeit der Seele u. Ueber die göttliche Vorsehung, in Epigrammen, Fabeln und Übersetzungen (u. a. Popes Essay on criticism), die z.T. erstmals in den Schriften der Deutschen Gesellschaft Leipzig erschienen, welche ihn 1733 zum Mitgl. ernannte, legte er Zeugnisse seiner wenig originellen Begabung vor. Im Literaturstreit neigte er zunächst Leipzig zu, um sich später, infolge der Geringschätzung durch Gottsched, stärker an die Zürcher anzuschließen. Der Herausgeber seiner Gedichte (deren ersten Teil D. selber zum Druck bestimmt hatte, während der zweite aus dem Nachlass ausgewählt wurde), Johann Jacob Spreng, charakterisiert D.s Leistung folgendermaßen: »Billig mag Er der erste schweizerische Dichter heißen,
Dronke
welchen man nicht nur den übrigen Deutschen, sondern auch den Franzosen, Italiänern und Engelländern [...] ohne Schamröthe entgegenhalten darf.« Weitere Werke: Gedichte samt andern dazugehörigen Stücken [...]. Hg. Johann Jacob Spreng. Basel 1743. Ffm. 21745 (wohl Titelaufl.). – D. an Bodmer. Zwölf Briefe. Hg. Gerhard Sauder. In: Ztschr. für die Gesch. des Oberrheins 112 (1964), S. 163–185. Ausgaben: Gedichte (1743). Nachdr. Stgt. 1972 (mit Texterläuterungen, Nachw. u. ausführl. Bibliogr. v. Uwe-W. Ketelsen, S. 399–476). – Gedichte. In: Dt. Literatur v. Luther bis Tucholsky. Digitale Bibl. 125 (2005). CD-ROM. Literatur: Bio-bibliogr. Hdb. zur Sprachwiss. des 18. Jh. Hg. Herbert E. Brekle u. a. Bd. 2, Tüb. 1993, S. 287 f. – Weitere Titel: Wilhelm Wackernagel: K. F. D. Academ. Festrede. Basel 1841. – Karl Rosenfelder: C. F. D. Ein Beitr. zur Literaturgesch. um die Wende des 17. u. 18. Jh. Diss. Mchn. 1923 (Ausg. 1931). – Frels, S. 58. – Adalbert Elschenbroich: D. In: NDB. – Engelbert Strobel: K. F. D. (1688–1742). Archivar, Rechtsgelehrter u. Dichter. In: Bad. Heimat 53 (1973), S. 353 ff. – Ingo Stöckmann: Vor der Lit. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tüb. 2002, S. 101–109. – Detlef Döring: Die Gesch. der Dt. Gesellsch. in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tüb. 2002. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 457–459. Christoph Siegrist / Red.
Dronke, Ernst (Andreas Dominicus), * 17.8.1822 Koblenz, † 2.11.1891 Liverpool. – Lyriker, Erzähler u. Journalist.
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den »Bund der Kommunisten« aufgenommen worden, er fand Anschluss an Friedrich Engels u. Karl Marx u. wurde Mitarbeiter der »Neuen Rheinischen Zeitung«. Nach mehreren Stationen im europ. Exil ließ er sich 1851 in London nieder u. wandte sich ab 1857 in Liverpool mit wechselnden Erfolgen kaufmänn. Tätigkeiten zu. Nach Deutschland ist er nicht mehr zurückgekehrt. Mit Berlin setzte D. einen Kontrapunkt zur grassierenden Mode der Geheimnisromane in der Nachfolge Sues; die Erzählungssammlungen Aus dem Volk (Ffm. 1846) u. Polizei-Geschichten (Lpz. 1846, jeweils Neuausg. Köln 1981. Polizei-Geschichten auch als Internet-Ed.) enthalten Frühformen der Sozialreportage u. thematisieren die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit, Deklassierung, Pauperismus u. Kriminalisierung sowie die Abhängigkeit der Intellektuellen von einem zunehmend kapitalistisch organisierten Verlags- u. Buchhandelswesen. Zitate verweisen auf den Einfluss von Georg Büchner u. Bettine von Arnim. D.s Schriften zählen zu den wichtigen Versuchen der literar. Darstellung sozialer Konflikte im Vormärz. Weitere Werke: Armsünder-Stimmen. 12 Lieder. Altenburg 1846. – Die Maikönigin. Ein Volksleben am Rhein. Lpz. 1846. Literatur: Erich Edler: Der Fall D. In: E. D.: Polizei-Gesch.n. Neudr. Stgt. 1968, S. 201–221. – Ders.: Die Anfänge des sozialen Romans u. der sozialen Novelle in Dtschld. Ffm. 1977. – Irina Hundt: E. D., ein Freund u. Kampfgefährte v. Marx u. Engels. Seine biogr. Entwicklung bis zur Niederlage der Revolution v. 1848/49. Diss. Bln. Humboldt-Univ. 1982. – Hans-Jürgen Singer: E. D. Einblicke in sein Leben u. Werk. Koblenz 1986. – Alphonso A. Frost: E. D. His Life and His Work. New York 1989. – Goedeke Forts. Joachim Linder
Der Sohn eines Philologen u. Gymnasiallehrers studierte Jura in Bonn, Marburg u. Berlin u. arbeitete ab 1843 in Berlin als Journalist. D. suchte Kontakt zu den Repräsentanten des »wahren Sozialismus« u. zu Handwerker- u. Arbeiterorganisationen u. wurde 1845 aus Droste, Wiglaf, * 27.6.1961 Herford/ polit. Gründen aus Berlin ausgewiesen; nach Westfalen. – Satiriker, Kolumnist, Lyridem Erscheinen seines protosoziolog. Reker; Musiker. portagenbuches Berlin (2 Bde., Bln. 1846. Neuausg. Darmst./Neuwied 1974. Zuletzt Aufgewachsen in der westfäl. Provinz, ging Bln. 1987) wurde er auf Betreiben der preuß. D. 1983 zum Studium der Publizistik u. Regierung vor Gericht gestellt u. wegen Ma- Kommunikationswissenschaft nach Berlin, jestätsbeleidigung u. a. zu zwei Jahren Fes- brach dieses aber schon nach wenigen Tagen tungshaft verurteilt. Er konnte nach einem ab. Für kurze Zeit war D. Redakteur der Jahr von der Festung Wesel nach Belgien Berliner »tageszeitung« (»taz«) (1987/88), in entfliehen. D. war noch während der Haft in der er auch bis 2006 regelmäßig veröffent-
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lichte, u. der Satirezeitschrift »Titanic« (1989–1991). Seitdem ist D., der bereits seit 1985 in verschiedenen Zeitschriften publizierte, als freier Autor u. Musiker tätig. D.s Popularität beruht auf seinen Kolumnen, die er v. a. in der Zeitung »Junge Welt« u. beim Radiosender MDR Figaro veröffentlicht. Seit D.s literarischem Debüt, Kommunikaze (Bln. 1989), sind die meisten seiner Bücher (z.B. Mein Kampf, dein Kampf. Hbg. 1992. Der infrarote Korsar. Bln. 2003 u. Wir sägen uns die Beine ab und sehen aus wie Gregor Gysi. Bln. 2004) im Kern Sammlungen dieser Kolumnen, angereichert mit einzelnen Gedichten u. weiteren Aufsätzen zu Literatur u. Musik. In den Kolumnen liefert D. Kommentare zu aktuellen polit. Themen, Alltagsbeobachtungen u. provinzieller Kultur, oft am Beispiel seiner Heimat Westfalen. Kennzeichnend für seine Arbeiten ist »die Insistenz auf Spaß, dazu die Lust an Polemik, am Regelverstoß u. am Schockierenden« (Erhard Schütz) sowie zahlreiche Neologismen u. Wortspiele. Dabei richten sich seine Attacken nicht nur gegen ein konservatives, sondern v. a. gegen ein aus D.s Sicht erstarrtes linkes Milieu u. dessen unaufrichtigen Moralismus. Kritik an D. kommt daher oft aus feministischen, autonomen u. linksbürgerl. Kreisen. Dennoch versteht D. sich durchaus als politisch links stehender, zutiefst moral. Autor. Seine Kolumnen haben D. häufige Vergleiche mit Kurt Tucholsky eingetragen (u. a. von Franz Josef Degenhardt). Als weitere Einflüsse sind die Reisebilder Heinrich Heines, die Neue Frankfurter Schule (F. W. Bernstein, Robert Gernhardt) u. die Punk- u. New Wave-Literatur der 1980er Jahre zu nennen. Wegen seiner polemischen Ausfälle ist D. als »die Nilpferdpeitsche unter den Kolumnisten« (taz) umstritten. Einen früheren Höhepunkt bildet der Konflikt um den gemeinsam mit Gerhard Henschel verfassten satir. Roman Der Barbier von Bebra (Hbg. 1996), in dem ein Massenmörder ehemalige DDRBürgerrechtler tötet, nachdem er ihnen Haare u. Bart abschneidet. Andererseits sind es ausdrücklich die kontroversen Texte D.s, für die er u. a. mit dem Ben-Witter-Preis (2003) u. dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis (2005) ausgezeichnet wurde.
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Einen Einstieg in D.s lyrisches Werk bietet die Sammlung nutzt gar nichts, es ist liebe! (Lpz. 2005). Die hier zusammengetragenen Songs u. Gedichte bieten ähnl. Themen wie die Kolumnen, jedoch angereichert um Liebes- u. Nonsenslyrik. Als Einflüsse sind neben Tucholsky u. a. Bernstein, Gernhardt u. Peter Hacks zu nennen. Daneben ist D. als Musiker tätig. Nach frühen Projekten mit Bela B. von der Band »Die Ärzte« (Singles Grönemeyer kann nicht tanzen u. Genschman, beide 1989) wird er seit 2000 vom Essener »SpardosenTerzett« begleitet, mit dem er auch Gedichte von Hacks vertonte. Schließlich veröffentlichte D. zahlreiche Hörbücher u. gibt seit 1999 mit Vincent Klink die Zeitschrift »Häuptling Eigener Herd« zum Thema Essen u. Trinken heraus. Weitere Werke: In 80 Phrasen um die Welt. Hbg. 1992 (mit Rattelschneck). – Am Arsch die Räuber. Hbg. 1993. – Sieger sehen anders aus. Hbg. 1994. – Brot u. Gürtelrosen u. andere Einwürfe aus Leben, Lit. u. Lalala. Bln. 1995. – Begrabt mein Hirn an der Biegung des Flusses. Hbg. 1997. – In welchem Pott schläft Gott? Hbg. 1998 (mit Rattelschneck). – Zen-Buddhismus u. Zellulitis: Polemiken, Glossen, Satiren u. Reimgedichte. Mchn. 1999. – Bombardiert Belgien! Bln. 1999. – Der Mullah v. Bullerbü: Roman. Hbg. 2000 (mit G. Henschel). – Die Rolle der Frau u. andere Lichtblicke. Bln. 2001. – Kafkas Affe stampft den Blues: Neue Texte. Bln. 2006. – Wurst. Mchn. 2006 (mit N. Heidelbach u. V. Klink). Literatur: Erhard Schütz: Tucholskys Erben oder Wiener Wiederkehr? Versuch einer Terrainerkundung zur Lit. v. Leben & Stil: Biller, D., Goldt u. andere. In: Jb. Int. Germ. 27 (1995), S. 101–122. – Werner Holly: ›Lebendig, farbig und immer noch links‹: Sozialer Stil in den frühen taz-Beiträgen v. W. D. In: Sprachstil – Zugänge u. Anwendungen. Hg. Irmhild Barz, Gotthard Lechner u. Marianne Schoder. Heidelb. 2003, S. 123–134. – Michael Ringel: W. D. In: LGL. – Walter Gödden: ›Wörter tun mehr weh als Messer‹. Anmerkungen zum neuen Droste-Preisträger W. D. In: Lit. in Westfalen 8 (2006), S. 243–264. Stefan Höppner
Droste-Hülshoff
Droste-Hülshoff, Annette von, eigentl.: Anna Elisabeth von D., * 12.1.1797 Schloss Hülshoff bei Münster, † 24.5. 1848 Meersburg/Bodensee; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Lyrikerin u. Erzählerin. D. entstammte einem alteingesessenen, nicht sehr einflussreichen westfäl. Adelsgeschlecht. Vom Vater Clemens August von DrosteHülshoff (1760–1826) entwirft D. in ihrem Romanfragment Bei uns zu Lande ein weitgehend ungekünsteltes Porträt; sie spricht ihm ein zuweilen »kindlich-naives« Gemüt zu. Er interessierte sich weniger für die »Ökonomie« als für Ornithologie, Geschichte, Musik u. den Aberglauben seiner Heimat. Mütterlicherseits entstammt D. dem angesehenen Geschlecht von Haxthausen aus dem zum Hochstift Paderborn gehörenden Bökendorf. Ihre Mutter Therese von Droste-Hülshoff (1772–1853), v. a. aber ihre Onkel von Haxthausen, die zeitweilig bedeutende Stellungen im preuß. Staatsdienst innehatten, waren vielfältig literarisch interessiert. Mit den Brüdern Grimm engagierten sie sich für die Erhaltung literarischen Volksguts. Nervliche Überreiztheit u. Krankheitsanfälligkeit, die von frühan belegt sind, nahmen zeitlebens Einfluss auf die literar. Produktion. 1810 fiel D. bei einer Komödienaufführung im benachbarten Hohenholter Damenstift auf; Graf Leopold von Stolberg, entfernter Freund der Familie, warnte daraufhin die Mutter vor einer allzu ambitionierten »Schauspielerei« ihrer Tochter, weil diese über »phantastischen Schwung« des Geistes verfüge. Durch die Teilnahme am Unterricht ihrer Brüder erwarb D. Bildung u. Sprachkenntnisse. Sie war sehr musikbegabt u. begann früh zu komponieren. Einfluss auf die musikal. Entwicklung nahm ihr Onkel Maximilian von Droste-Hülshoff, ein Freund Haydns u. bedeutender Komponist der Zeit. Erste literar. Versuche wurden von der Mutter betreut. Eine Aufzeichnung der Schwester Jenny hält fest, D. sei schon als Kind »voll Ehrgeiz im Bewußtsein ihrer Talente eitel gemacht« worden. Bereits als Zwölfjährige wurde sie von dem Münsteraner Zeitschriftenherausgeber Raßmann um Beiträge gebeten. Ihres dichterischen Talents
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nahm sich um 1811 der Rechtsprofessor Anton Mathias Sprickmann an, selbst einst ein erfolgreicher Bühnenautor, der dem Göttinger Hain nahestand u. Klopstock u. Goethe verehrte. Die Briefe D.s an ihn enthalten aufschlussreiche Selbstzeugnisse. Das Gefühl des Fremdseins u. Außenseitertums tritt in ihnen ebenso zutage wie in dem noch von Sprickmann betreuten Dramenfragment Bertha (1814) u. dem ihm zugesandten Gedicht Unruhe. Während des vierten Besuchs D.s bei ihren Paderborner Verwandten vertiefte sich 1819/ 20 ihre Neigung zu dem Göttinger Studenten Heinrich Straube, der als Dichtertalent galt. D. hatte Weihnachten 1820 den Plan gefasst, ihrer tiefreligiösen Stiefgroßmutter Maria Anna von Haxthausen zu jedem kirchl. Festtag ein religiöses Gedicht zu schenken. Freundschaft u. Bruch mit Straube wirkten auf das damals entstehende Geistliche Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage (1. Tl.), die erste bedeutendere Dichtung D.s, ein. Die Gedichte nahmen persönl. Bekenntnischarakter an, wodurch sie für die Großmutter »völlig unbrauchbar« wurden. Anfang der 1820er Jahre versuchte D. in ihrem Romanfragment Ledwina mit der Charakterisierung einer jungen sensiblen Frau der Restaurationszeit eine eigene Standortbestimmung. Dann stellte sie ihr literar. Schaffen ganz zurück u. wandte sich der Musik zu. Es entstanden mehrere Opernentwürfe. Seit 1826 bewohnte sie mit ihrer Mutter u. Schwester das nahe Hülshoff gelegene Rüschhaus, einen von dem Barockbaumeister Schlaun erbauten Herrensitz mit Bauernhauscharakter. Hier lebte D. äußerst anspruchslos. Von ihrer bescheidenen Leibrente von jährlich 300 Talern trug sie u. a. zur Unterstützung von zwei Theologiestudenten u. der Familie des verarmten Malers Johannes Sprick bei. Aufenthalte 1825/26 in Köln, 1828 u. 1830/ 31 in Bonn führten zur Freundschaft mit der Bankiersfrau Sibylla Mertens-Schaaffhausen, deren Haus Mittelpunkt eines Künstlerkreises war. Hier machte D. die Bekanntschaft Adele Schopenhauers, die in Jena über literar. Kontakte verfügte. Im Bonner Kreis entstanden erste Pläne zur Herausgabe einer Ge-
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dichtsammlung. Parallel suchte D. 1834 über ihren Schwager Joseph von Laßberg, der im Bodenseeraum lebte, nach einer Publikationsmöglichkeit. Zustande kam die Ausgabe der Gedichte (Münster 1838) jedoch erst durch Vermittlung des erblindeten Münsteraner Philosophiedozenten Christoph Bernhard Schlüter. Hauptinhalt waren die drei Versepen Das Hospiz auf dem großen St. Bernhard, Des Arztes Vermächtnis u. Die Schlacht im Loener Bruch. Das Publikum nahm kaum Notiz. Auf die Betreuung Schlüters, der einseitig frommerbaul. Literatur favorisierte, ist der konservative Anstrich des Bandes zurückzuführen. Von Schlüter ging auch die Anregung zur Vollendung des Geistlichen Jahres 1839 aus. In diesem Zyklus von 72 Gedichten, der heute zu den bedeutendsten religiösen Dichtungen dt. Sprache zählt, gelang es D., als Glaubende die Zerrissenheit des Menschen zwischen aufgeklärtem Bewusstsein u. religiöser Suche, Kierkegaards Krankheit zum Tode, im dichterischen Wort, z.T. unter Benutzung barocker Bildlichkeit, zu gestalten. Dabei schreit sie an manchen Stellen ihre seel. Not so heraus wie wenige Jahre später Heine seine körperl. Leiden. Der nähere Kontakt zu dem jungen Levin Schücking führte zu einer allmähl. Distanzierung von Schlüter u. seinem Kreis. D. unterstützte Schücking bei dem von Freiligrath übernommenen Projekt Das malerische und romantische Westphalen (Lpz. 1841). Dem Band, der Westfalen durch idyllische Landschaftsschilderungen im Stil einer Reiseschilderung aufzuwerten suchte, steuerte sie anonym Prosaskizzen u. Balladen bei. Letztere zeigen ihre große Fähigkeit, neben histor. Themen auch Gespenster- u. Second-Sight-Geschichten zu gestalten. Dem Westfalen-Thema, zu dem schon Die Schlacht im Loener Bruch (1837/ 38) zählte, blieb sie fortan treu. 1839 entstand der Plan des groß angelegten Westfalenromans Bei uns zu Lande in der Manier von Washington Irvings Bracebridge-Hall. Ein reisender Edelmann sollte Sitten, Gebräuche, Überlieferungen u. Lebensart der westfäl. Landschaften kennenlernen; in den Roman wollte sie die Handlung der Judenbuche integrieren: Das Ende des Geschehens der Judenbuche sollte sich vor den Augen des Edel-
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mannes vollziehen. Ein weiterer »Ableger« dieses Werks sind 1845 die Westfälischen Schilderungen in den »Historisch-politischen Blättern«; die stilistisch ausgefeilten Aufzeichnungen gelten noch heute als wertvolle volkskundl. Quellensammlung. Sie riefen eine »fatale Sensation« (D.) hervor; Gegendarstellungen behaupteten, einzelne Landstriche u. deren Bewohner seien zu negativ charakterisiert. In ihrer Prosa suchte die Autorin die wirklichkeitsnahe Abspiegelung u. sprach auch Schattenseiten an (Alkoholmissbrauch, Pauperismus, Kriminaldelikte), weshalb sie als Vorläuferin des bürgerl. Realismus angesehen wird. Seit 1838/39 gehörte D. in Münster einem kleinen Literaturzirkel um Elise Rüdiger, Frau eines preuß. Oberregierungsrats, an. In diesem Kreis, von ihr selbstironisch »Heckenschriftsteller-Gesellschaft« genannt – wichtigstes Mitgl. neben D. war Schücking –, stellte sie 1840 ihren Lustspielversuch Perdu vor, der, wie ihre Briefe, Beispiel ablegt von einem humorist. Talent. Förderlich wirkte sich die Zusammenarbeit u. enge Freundschaft mit Schücking aus, einem wichtigen Verbindungsglied zum Literaturmarkt. 1842 vermittelte er im Cotta’schen »Morgenblatt« den Abdruck der Judenbuche, der auf Tatsachen beruhenden Kriminalnovelle eines Judenmords im Paderborner Land u. seiner schicksalhaften Sühne. D. lässt die ihr überlieferten Fakten mit Ausnahme der Jahreszahl u. Namen stehen, stilisiert die Geschichte im Sinne der Schauerromantik u. bedient sich einer spannungssteigernden Erzählweise, indem sie z.B. Szenen durch Dialoge dramatisiert. Frei erfindet sie die Jugendgeschichte des Täters hinzu, die zwei Drittel des Textes ausmacht: Hier zeichnet sie mit höchstem psycholog. Gespür die Fehlentwicklung eines Kindes nach, die sie weniger aus dem ererbten Charakter als aus dem sozialen Umfeld ableitet. 1841/42 entstanden (im Beisein Schückings) auf der Meersburg am Bodensee, dem Wohnsitz der Familie ihres Schwagers, etwa 60 Gedichte, die den Grundstock der zweiten, bei Cotta erschienenen Lyrikausgabe D.s (Gedichte. Stgt./Tüb. 1844) bilden. Auf Schückings Anraten wurde die Sammlung von den
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polit. Zeitbildern eröffnet. Hier stellt die Autorin aus konservativer Sicht die Beachtung ethischer Grundwerte über die Kraft politischer Veränderungen, wie sie die Vormärzdichter forderten. Programmatischen Charakter hat das Gedicht An die Weltverbesserer (früherer Titel: Warnung an die Weltverbesserer). Es schließen sich die Heidebilder an, die einen neuen Ton einbringen, sowie Feld, Wald und See. Die Natur wird in ihren feinsten Regungen, Nuancen u. Schattierungen belauscht, realist. Detailbeobachtung mischt sich mit impressionistischer Klangmalerei. Mit der Aufnahme neuer Wirklichkeitselemente erweiterte sie die Möglichkeiten der Naturlyrik. Es folgen Gedichte vermischten Inhalts, Scherz und Ernst, Balladen sowie die »konservativen« Epen aus der 1838er Ausgabe. Vorveröffentlichungen im Cotta’schen »Morgenblatt« seit 1842 hatten D. bereits vereinzeltes Lob gebracht. Außer bei einem kleinen Kreis von Verehrern – darunter auch Georg von Cotta, der für die Gedichte ein so ansehnliches Honorar zahlte, dass sich D. davon das idyllische, oberhalb Meersburg gelegene Fürstenhäusle mit eigenem Weingarten ersteigern konnte – fand die Ausgabe jedoch erneut nur geringen Widerhall. Die Entfremdung von Schücking, der sich seit 1842 seiner Karriere widmete, führte nicht zu einem Versiegen der literar. Produktion; allerdings fehlte D. fortan ein adäquater literar. Gesprächspartner. Auch bedingt durch fortwährende Krankheit, kam es nur noch sporadisch zu Phasen intensiver Produktion; ein lyr. Meisterstück gelang ihr mit Im Grase (»Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras, / Von des Krautes Arom’ umhaucht, / Tiefe Flut, tief, tief trunkne Flut, / Wenn die Wolke am Azure verraucht...«). Die 1845 entstandenen Abbenburger-Gedichte dokumentieren eine poetolog. Wende, die D. im Briefentwurf an Melchior von Diepenbrock vom Mai 1845 näher begründet: Fortan stellt sie ihre Dichtung stärker in den Dienst einer moralisch-didakt. Wirkungsabsicht. Diese Pläne zu einem gemeinsamen Prosaband mit Elise Rüdiger, für den D. die Fragment gebliebene Erzählung Joseph verfasste, scheiterten jedoch.
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Neben Gesundheitsproblemen und dem Mangel an Förderung bewirkten auch Standesschranken u. familiäre Verpflichtungen (z.B. Krankenpflegedienste), dass D. kein größeres Werk hinterließ. Ihre erste Gedichtausgabe konnte nur halbanonym erscheinen, auch für das Geistliche Jahr kam nur eine postume Veröffentlichung (Stgt. 1851) in Frage. Die zu Lebzeiten fast unbekannte Autorin wurde erst im Kulturkampf entdeckt. Auch die heute in alle Weltsprachen übersetzte Judenbuche erlangte erst spät Erfolg. Ausgaben: Gesamtausgaben: (Grundsätzlich sei verwiesen auf die D.-Bibliogr. in Bd. 14 der Hist.krit. Ausg.: Bd. 14,1, 1983: Primärwerk. Bd. 14,2, 1985: Sekundärlit. D.-Bibliogr. 1981–2003. Hg. Jochen Grywatsch. Bielef. 2005.) – Ges. Schr.en. Hg. Levin Schücking. 3 Bde., Stgt. 1878/79. – Ges. Werke. Hg. Elisabeth Freiin v. D. u. Wilhelm Kreiten. 4 Bde., Münster/Paderb. 1884–87. – Sämtl. Werke. Hg. Karl Schulte Kemminghausen. 4 Bde., Mchn. 1925–30. – Hist.-krit. Ausg. Werke. Briefw. [Addenda] Hg. Winfried Woesler. 14 Bde., Tüb. 1978–2000. – A. v. D. Sämtl. Werke in zwei Bdn. Hg. Günther Weydt u. W. Woesler. Mchn. 1989. – A. v. D. Sämtl. Werke in zwei Bdn. Hg. Bodo Plachta u. W. Woesler. Ffm. 1994. – Briefe: A. v. D. Sämtl. Briefe. Hist.-krit. Ausg. Hg. W. Woesler. Mchn 1996. – Teilausgaben: Gedichte. Hg. Emil Staiger. Zürich 1949. 51984. – Gedichte. Hg. Christa Reinig. Ffm. 1969. – Die Schlacht im Loener Bruch. Hg. Lothar Jordan. Opladen 1986. – A. v. D. Ausgew. v. Sarah Kirsch. Köln 1986. – Die Judenbuche. Erarbeitet v. Peter Bekes u. Werner Bockholt. Hann. 2001. – Gedichte. Hg. Bernd Kortländer. Stgt. 2003. Literatur: Forschungsbericht: Günter Häntzschel: A. v. D. In: Zur Lit. der Restaurationsepoche 1815–48. Hg. Jost Hermand u. Manfred Windfuhr. Stgt. 1970, S. 151–201. – Biografien, Monografien: Levin Schücking: A. v. D. Ein Lebensbild. Hann. 1862. 21871. – Wilhelm Kreiten: A. v. D. Ein Charakterbild als Einl. in ihre Werke. Münster 1887 (Bd. 1,1 der Ges. Werke). – Hermann Hüffer: A. v. D. u. ihre Werke. Gotha 1887. 21911. – Peter Berglar: A. v. D. Reinb. 1967. – Giorgio Cusatelli: L’arcangelo e il drago. Itinerario ideologico di A. v. D. Bologna 1971. – Clemens Heselhaus: A. v. D. Werk u. Leben. Düsseld. 1971. – Ronald Schneider: A. v. D. Stgt. 1977. 21995. – Karl Schulte Kemminghausen u. Winfried Woesler: A. v. D. Mchn. 1980. – Doris Maurer: A. v. D. Ein Leben zwischen Auflehnung u. Gehorsam. Bonn 1982. – Wilhelm Gössmann: A. v. D. Ich u. Spiegelbild. Düsseld.
115 1985. – Ulrich Gaier: A. v. D. u. ihre literar. Welt am Bodensee. Marbach 1993. – Walter Gödden: A. v. D. (mit Diaslg.). Münster 1988. – Ders.: A. v. D. Leben u. Werk. Eine Dichterchronik. Bern 1993. – Herbert Kraft: A. v. D. Reinb. 1994. – Weitere Titel: G. Häntzschel: Tradition u. Originalität. Allegor. Darstellung im Werk A. v. D.s. Stgt. 1968. – Stephan Berning: Sinnbildsprache. Zur Bildstruktur des ›Geistl. Jahres‹ der A. v. D. Tüb. 1975. – R. Schneider: Realismus u. Restauration. Untersuchung zu Poetik u. ep. Werk der A. v. D. Kronberg/ Ts. 1976. – Bernd Kortländer: A. v. D. u. die dt. Lit. Münster 1979. – W. Woesler (Hg.): Modellfall der Rezeptionsforsch. D.-Rezeption im 19. Jh. 2 Bde., Ffm. u. a. 1980. – Monika Salmen: Das Autorbewußtsein A. v. D.s. Ffm. u. a. 1985. – Bodo Plachta: Untersuchungen zum handschriftl. Nachl. der A. v. D. Bern u. a. 1988. – Ernst Ribbat (Hg.): Dialoge mit der Droste. Paderb. 1998. – Goedeke Forts. – Gisela Greve u. Herta E. Harsch (Hg.): A. v. D. aus psychoanalyt. Sicht. Bln./Fulda 2003. – Periodika: Jb. der D.-Gesellsch. Bde. 1–5 (1947–72). – Beiträge zur D.-Forsch. Nr. 1–5 (1971–82). – D.-Jb. 1–6. Bd. 6. Hg. Jochen Grywatsch u. W. Woesler. Hann. 2007 (1987). Winfried Woesler
Droysen, Johann Gustav (Bernhard), * 6.7. 1808 Treptow/Pommern, † 19.6.1884 Berlin; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof der Zwölf-Apostel-Gemeinde. – Historiker, Philologe u. Übersetzer. D. wuchs unter recht bescheidenen Verhältnissen auf. Nach dem Tod seines Vaters († 1816), des Militärpfarrers Johann Christoph Droysen, u. seiner Mutter, geb. Caster († 1827), musste er für drei jüngere Schwestern sorgen u. seinen Lebensunterhalt durch Privatunterricht sichern – u. a. im Hause Mendelssohn-Bartholdy, wo er den nur wenig jüngeren Felix unterrichtete. Nach einer nur dank der Hilfe von Freunden ermöglichten Gymnasialbildung nahm er 1826 in Berlin ein Studium der klass. Philologie u. Philosophie auf. Sein Lehrer wurde Boeckh. Wichtige geistige Impulse verdankte er in dieser Zeit Hegel. Dem Oberlehrerexamen (1829) ließ er schnell seine Promotion (1831) folgen. 1833 habilitierte D. sich in Klassischer Philologie u. wurde Professor in Berlin (1835). Zunächst trat D. mit einer formgewandten, metrisch genauen Nachdichtung des Aischylos (2 Bde., Bln. 1832) hervor. Bereits für
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seine frühen histor. Darstellungen (Geschichte Alexanders des Großen. Bln. 1833. Geschichte des Hellenismus. 2 Bde., Hbg. 1836 u. 1843. 3 Bde., Gotha 21877 [inkl. der Geschichte Alexanders]. Neudr. Mchn. 1980) wurde das Interesse leitend, Historie zu treiben mit Blick auf Probleme der Gegenwart. Das Zeitalter des Hellenismus – als umfassender Epochenbegriff von D. geprägt – gewann bei ihm den Charakter eines Ursprungsorts menschlicher Freiheit, die es unter den Bedingungen der Gegenwart weiterzutreiben gelte im Hinblick auf das bürgerl. Ideal politischer Emanzipation u. persönl. Autonomie. Zgl. sah D. in der Einigung Griechenlands unter den Makedoniern sein eigenes Ideal eines geeinten Deutschland präfiguriert. 1840 folgte D. einem Ruf nach Kiel als Ordinarius für Geschichte. Seine althistor. Interessen traten jetzt hinter die histor. Arbeit an neuzeitlich-aktuellen Themen zurück. D.s Vorlesungen über die Freiheitskriege (2 Bde., Kiel 1846) können als eine histor. Bestätigung der polit. Programmatik des Liberalismus gelesen werden. Die Freiheitsgeschichte Europas seit dem Beginn der amerikan. Revolution legte für D. eine reformerische, auf evolutionären Wandel zielende Politik als sinnvollsten Weg in die Zukunft nahe. Gleichzeitig nahm er leidenschaftl. Anteil an der schleswig-holstein. Bewegung gegen die dän. Versuche einer polit. Einverleibung der beiden Herzogtümer seit Beginn der 1840er Jahre. Nach Ausbruch der Revolution von 1848 vertrat D. Schleswig u. Holstein in der Frankfurter Nationalversammlung. Als Vertreter der Casino-Fraktion, die sich für einen kleindt. Einheits- u. Nationalstaat einsetzte, entwickelte er sich aufgrund seines organisatorischen u. parlamentar. Talents zu einem der einflussreichsten polit. Köpfe der Paulskirche. Bereits in der Niederlage der Revolution wurde ihm deutlich, dass bestimmender Faktor einer zukünftigen dt. Einheit allein Preußen sein könne – eine Einsicht, die sich ihm in der Politik Bismarcks bestätigte. Nach der Niederlage der schleswig-holstein. Bewegung war D. aufgrund drohender dän. Repressalien gezwungen, Kiel zu verlassen. 1851 folgte er daher einem Ruf nach
Droysen
Jena. In dieser Jenaer Periode vollendete er seine Biografie Das Leben des Feldmarschalls Yorck von Wartenburg (3 Bde., Bln. 1851/52. 10 1897), die, schnell berühmt geworden, der Historiografie in darstellerischer wie method. Hinsicht völlig neue Wege wies. In ihr gelang es D., die Persönlichkeit Yorcks u. den ganzen zeitgeschichtl., polit. wie militär. Kontext sich wechselseitig beleuchten zu lassen. Seinen polit. Überzeugungen gemäß, sollte der Glanz des Preußens der Befreiungskriege Licht auf die unterstellte preuß. Mission für die Herstellung der dt. Einheit in der Gegenwart werfen. Auch sein eigentl. Lebenswerk, die Geschichte der preußischen Politik (14 Bde., Lpz. 1855–86), zielte in diese Richtung. Sie sollte in Form eines histor. Beweisgangs, beginnend im 15. Jh., »Preußens Beruf« bezeugen, die Einheit des Deutschen Reichs herzustellen u. zu sichern. D.s exponierter Stellung als Verfechter der »borussischen Geschichtsidee« entsprach die Berufung nach Berlin, wo er von 1859 bis zu seinem Tod wirkte. Während D.s Werk zur Geschichte der preuß. Politik schnell veraltete, rückte seine Historik (Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hg. Rudolf Hühner. Mchn. 1937. 81977. Krit. Gesamtausg. hg. v. Peter Leyh. 3 Bde. [Bd. 1 ersch.], Stgt.-Bad Cannstatt 1977) bereits nach ihrer ersten vollständigen Herausgabe immer mehr in den Mittelpunkt der geschichtsphilsophischen u. -theoret. Reflexion über den histor. Forschungsbereich. In seinem geschichtsphil. Werk hat D. unübertroffen das erkenntnistheoretische u. methodolog. Fundament des entstehenden Historismus entfaltet u. zur theoret. Begründung der Geschichtswissenschaft als eigenständiger Disziplin, deren Methode es sei, »forschend zu verstehen«, entscheidend beigetragen. In seiner Historik, die D. als »Wissenschaftslehre der Geschichte« bezeichnete, untersuchte er in systematischer Weise die einzelnen Schritte der historischen Erkenntnisprozedur (Heuristik, Quellenkritik, Interpretation, Darstellung), deren höchstes Ziel er im Erkennen der »historischen Ideen« oder »sittlicher Mächte« sah. Sein besonderer Verdienst lag aber in der theoretischen u. method. Begründung der
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histor. Hermeneutik. D. erweiterte den Bereich des Verstehens auf alles, »was Menschengeist und Menschenhand gestaltet, geprägt, berührt hat« (Historik. Stgt. 1977, S. 422) u. damit auch auf menschl. Artefakte u. Handlungen. Grundsätzlich hat er zwischen »Geschäften« u. »Geschichte« unterschieden: »Aus den Geschäften wird Geschichte, aber sie sind nicht die Geschichte.« (ebd., S. 69). Erst im histor. Rekonstruktionsakt werden »Geschäfte«, nachdem sie vom erkennenden Subjekt in seine Gegenwart ideell transponiert bzw. von ihm verinnerlicht wurden, zur »Geschichte«. Nur so verinnerlicht sei das Vergangene unvergangen, »d.h. wenn auch gewesen, doch noch gegenwärtig, und nur was so ideell gegenwärtig ist, ist für uns gewesen« (ebd.). Die histor. Tatsachen seien nur dann objektiv, wenn sie subjektiv erfasst u. narrativ dargestellt würden. D. erhob den Subjektivitätsfaktor zum Grundprinzip der histor. Erkenntnis u. wandte sich entschieden gegen »eunuchische Objektivität« u. »historische Unterparteilichkeit« des Erzählers. Seine erkenntnistheoret. Position verdeutlichte er in seiner bekanntesten Aussage: »Ich will nicht mehr, aber auch nicht weniger zu haben scheinen als eine relative Wahrheit mei n es Standpunktes, wie mein Vaterland, meine religiöse, meine politische Überzeugung, meine Zeit mir zu haben gestattet« (ebd., S. 236). In der histor. Forschung sah D. eine subjektbezogene, standortabhängige u. gegenwartsorientierte Erkenntnisprozedur, die die histor. Wahrheit nur in relativer Weise, u. zwar so, »wie sie der Erzähler sieht«, erkennen lässt. »Geschichte« definierte er als individuellen Erfahrungsbegriff, der sich im Medium gemeinsamer Erinnerungen konstituiert u. sich mittels interkommunikativer Verständigungsmittel (»konventioneller Zeichen«) nach dem »kartographischen« Prinzip präsentiert. Die erkenntnistheoret. Ideen der Historik D.s wurden später von Dilthey u. Gadamer aufgegriffen u. weiterentwickelt. D.s Terminus »Historik« ist inzwischen zum Inbegriff der histor. Erkenntnistheorie, die sowohl verschiedene Historikmodelle umfasst als
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auch heterogene Reflexionsstrategien impliziert, geworden. Weitere Werke: Des Aristophanes Werke. 3 Bde., Bln. 1835–37. 31881 (Übers.). – Abhandlungen. Zur neueren Gesch. Lpz. 1876. – Kleine Schr.en zur Alten Gesch. 2 Bde., Lpz. 1893/94. – Briefw. Hg. Rudolf Hühner. 2 Bde., Bln. 1929. – Polit. Schr.en. Hg. Felix Gilbert. Mchn. 1933. Literatur: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit u. Methode. Tüb. 1960, S. 205 ff. – Günter Birtsch: Die Nation als sittl. Idee. Der Nationalstaatsbegriff in Geschichtsschreibung u. polit. Gedankenwelt J. G. D.s. Köln 1964. – Jörn Rüsen: Begriffene Gesch. Genesis u. Begründung der Geschichtstheorie J. G. D.s. Paderb. 1969. – Irene Kohlstrunk: Logik u. Historie in D.s Geschichtstheorie. Eine Analyse v. Genese u. Konstitutionsprinzipien seiner ›Historik‹. Wiesb. 1980. – J. Rüsen: Grundzüge einer Historik. 3 Bde., Gött. 1983–89. – Hayden White: D.s Historik. Geschichtsschreibung als bürgerl. Wiss. In: Ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Ffm. 1990, S. 108–131. – Friedrich Jaeger u. J. Rüsen: Gesch. des Historismus. Mchn. 1992. – Hans-Jürgen Goertz: Umgang mit Gesch. Eine Einf. in die Geschichtstheorie. Tüb. 1995, S. 105–117. – Georg G. Iggers: Dt. Geschichtswiss. Eine Kritik der Geschichtsauffassung v. Herder bis zur Gegenwart. Wien u. a. 1997, S. 120–162. – Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Köln 1997, S. 130–134. – Christian-Georg Schuppe: Der andere D. Neue Aspekte seiner Theorie der Geschichtswiss. Stgt. 1998. – Goedeke Forts. – Peter Schumann: J. G. D. In: DBE. – Christian v. Zimmermann: Biogr. Anthropologie [...]. Bln./New York 2006, bes. S. 111–123. Friedrich Jaeger / Andreas Buller
Dryander, Johannes, eigentl.: Johann Eichmann, * 27.5.1500 Wetter bei Marburg, † 20.12.1560 Marburg. – Arzt u. Fachschriftsteller. D. studierte ab 1518 artes an der Universität Erfurt, darauf in Bourges u. (vermutlich) Paris Medizin u. Mathematik, bevor er 1533 die medizin. Doktorwürde an der Universität Mainz erlangte. Von 1535 bis zu seinem Tod war er an der Universität Marburg Professor der Medizin u. Mathematik, mehrfach auch deren Rektor. Er trat für eine Medizinalreform der Landgrafschaft Hessen-Kassel ein, in der er 1539 die Leprosenschau einführte, u.
Dryander
wirkte an den Landesspitälern Haina u. Merxhausen. D.s Verdienste liegen v. a. im Bereich der Anatomie. Seine in öffentl. Sektionen (1535 u. 1536; später 1539 u. 1558) gewonnenen Erfahrungen legte er zunächst in seiner Anatomia (Marburg 1537) nieder, in der er im Anschluss an seine Antrittsrede vom 25. Okt. 1536 insbes. über Schädel, Brusthöhle, Lunge, Luft- u. Speiseröhre sowie das Herz referierte. Die den Text begleitenden Holzschnitte, die vermutlich der Baseler Künstler Georg (Jörg) Thomas anfertigte, gelten als Zeugnisse der beginnenden exakten anatom. Abbildung. Eine von D. kastigierte Ausgabe der Anatomia Mondino de Luzzis (Marburg 1541) enthält auch Illustrationen aus Andreas Vesals Tabulae anatomicae sex (1538), die D. Plagiatsvorwürfe Vesals einbrachten. Neben einige Schriften zur Astrologie u. Chiromantie gab D. auch mathematisch-astronom. Werke heraus, in denen er u. a. Anleitungen zu Aufbau u. Benutzung astronomischer Instrumente wie Armillarsphäre, Sonnenuhr oder Quadrant gibt. D.s Wirkung als Verfasser deutschsprachiger Fachprosa ist bisher nicht zusammenhängend gewürdigt worden. Seine Abhandlung Vom Eymsser Bade (Mainz 1535. Neudr., hg. v. Irmgard Müller. Marburg 1981) ist eine der ersten dt. Badeschriften. 1537 erschien in Marburg Ein New Artzney vnnd Practicir Büchlein (Neudr. Lpz. 1983), das 1537 (Köln), 1538, 1557, 1563, 1572 u. 1589 (Neudr. Lindau 1979) erneut aufgelegt wurde. D. bearbeitete zudem den Spiegel der Arznei des Lorenz Fries, der u. d. T. Der ganzen Arznei gemeiner Inhalt (Ffm. 1542. 1547 u. 1557 u. d. T. Artzenei Spiegel) erschien. Weitere Werke: Das Nocturnal oder Die nachtuhr. Ffm. 1535. – Sonnawern allerhandt künstlich zumachen. Köln 1536. Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1994. – Abrahami Judaei liber de nativitatibus. Marburg 1537. – Petri de Abano librum de venenis. Marburg 1537. – Antiochi Tiberti De Chyromantia Libri III. Mainz 1538. – Spherae materialis [...] d.i. des hymmels lauff gründtl. Auslegung. Marburg 1539. – (Hg): Cosmographiae introductio. Marburg 1543. – Brevis et exquisita Quadrantis instrumenti [...] explicatio. Marburg 1550.
Drygalski Literatur: VD 16. – Arey v. Dommer: Die aeltesten Drucke aus Marburg in Hessen 1527–66. Marburg 1891. – Erwin Fuhrmeister: J. D. Wetteranus. Diss. Halle/Wittenb. 1920. – Franz Gundlach: Catalogus Professorum Academiae Marburgensis. Marburg 1927, S. 293 f. – Robert Herrlinger: Gesch. der medizin. Abb. Mchn. 1967, S. 83–86. – Guido Jüttner: Wilhelm Gratarolus – Benedikt Aretius. Naturwiss. Beziehungen der Univ. Marburg zur Schweiz im 16. Jh. Diss. rer. nat. Marburg 1969. – Irmgard Probst: Die Balneologie des 16. Jh. im Spiegel der dt. Badeschr.en. Münster 1971. – Wolf-Dieter Müller-Jahncke: J. D. u. [...] Agrippa v. Nettesheim in ihrem Briefw. In: Hess. Heimat 4 (1974), S. 91–98. – Joachim Telle (Hg.): Pharmazie u. der gemeine Mann. Weinheim/New York 21988, S. 68, 112. – Barbara Bauer (Hg.): Melanchthon u. die Marburger Professoren. 2 Bde., Marburg 1999. Wolf-Dieter Müller-Jahncke
Drygalski, Erich von, * 9.2.1865 Königsberg/Ostpreußen, † 10.1.1949 München. – Geograf u. Polarforscher.
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D. die Leitung der ersten dt. Antarktis-Expedition mit dem Schiff »Gauß« 1901–1903, die mit einem ausgeprägten wiss. Programm erfolgreich war, was D. in 20 Bänden (Die deutsche Südpolar-Expedition 1901–03. Bln. 1905–31) dokumentierte. 1910 nahm D. an der Zeppelin-Expedition nach Spitzbergen teil. Literarisch bedeutsam wurde D.s in der Tradition der engl. Reisebeschreibungen des 19. Jh. u. seines Lehrers von Richthofen (Tagebücher aus China. 1907) sowie seines Mitstudenten in Berlin, Sven Hedin, geschriebener populärer Bericht über seine Antarktisreise (Zum Kontinent des eisigen Südens. Bln. 1904. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Hans-Peter Weinhold. Lpz. 1989). Dieses fast 700 Seiten umfassende Werk fand große Verbreitung im Bildungsbürgertum u. bei der Jugend, speziell bei den Schülern höherer Schulen. Das Werk verbindet den Charakter des verständl. Sachbuchs mit der spannenden Schilderung des Abenteuers wiss. Arbeitens unter extremen Bedingungen u. entspricht so dem heroisierenden, patriot. Erziehungsideal der Kaiserzeit. D.s Buch ist aufgrund seiner zurückhaltenden Darstellung u. genauen Beschreibung noch heute lesenswert u. anregend geblieben. Seine populäre Darstellung hat in den folgenden Jahrzehnten mehrere entsprechende Berichte angeregt, so Alfred Wegeners Durch die weiße Wüste (1919) u. Alfred Wegeners letzte Grönlandfahrt (1932).
D. studierte zunächst Mathematik u. Physik in Königsberg, dann Geografie bei Ferdinand von Richthofen in Bonn, Leipzig u. Berlin, wo er – im Zeitalter des Kolonialismus – Prägung u. Anerkennung fand. 1887 promovierte er mit einer Arbeit über Die Geoid-Deformation der Kontinente zur Eiszeit und ihr Zusammenhang mit den Wärmeschwankungen in der Erdrinde, womit die Eis- u. Polarforschung zum Schwerpunkt seines Interesses wurde. Später befasste er sich bes. mit politischer Geografie, wie seine Literatur: Wilhelm Meinardus: E. v. D. In: 1921 in München gehaltene Rektoratsrede Petermanns Geograph. Mitt.en 93 (1949), Einfluß der Landesnatur auf die Entwicklung der S. 177–180. – Cornelia Lüdecke: Die dt. Polarforschung seit der Jahrhundertwende u. der Einfluss Völker (Mchn. 1922) zeigt. 1891 u. 1892/93 war er Leiter der von der E. v. D.s. Bremen 1995. – Dies.: Universitas AntGesellschaft für Erdkunde beauftragten arctica. Lpz. 2001. Gerhard Stäblein / Red. Grönland-Expedition, die am Rande des Inlandeises überwinterte. Außer der AusarbeiDu Bois-Reymond, Emil (Heinrich), tung der wiss. Ergebnisse hat er durch Vor* 7.11.1818 Berlin, † 26.12.1896 Berlin; träge u. Aufsätze in der »Zeitschrift der GeGrabstätte: ebd., Französischer Friedhof. sellschaft für Erdkunde zu Berlin« weite – Physiologe. Kreise der Gesellschaft der dt. Hauptstadt angesprochen. 1898 habilitierte sich D. bei D. entstammte einer Familie mit frz. Vorvon Richthofen, 1899 wurde er zum a. o. fahren. Er studierte seit 1837 in Berlin u. Professor ernannt u. erhielt 1906 den Ruf auf Bonn Naturwissenschaften, Mathematik, den neu geschaffenen Lehrstuhl für Geografie Philosophie u. Theologie, 1839–1843 Median der Universität München, den er bis 1935 zin (Promotion mit einer wissenschaftshistor. innehatte. Die dt. Reichsregierung übertrug Arbeit über elektrische Fische). Angeregt von
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seinem Lehrer Johannes Müller, begann er 1846–94. Hg. Christa Kirsten u. a. Bln. 1986. – bereits 1841 die Versuche des Physikers Carlo Rudolf Virchow u. E. D. Briefe 1864–94. Hg. Klaus Matteucci über tierische Elektrizität experi- Wenig. Marburg 1995. – Briefw. zwischen Alexmental-physiologisch nachzuprüfen. Die Er- ander v. Humboldt u. E. D. Hg. Ingo Schwarz u. K. Wenig. Bln. 1997. gebnisse hielt D. in den berühmt gewordenen Literatur: Heinrich Borutta: E. D. Wien u. a. Untersuchungen über thierische Elektricität (Bd. 1, 1922. – Peter W. Ruff: E. D. Lpz. 1981. – FerdiBln. 1848. Bd. 2 in 3 Tln., Bln. 1849–84) fest. nando Vidoni: Ignorabimus! E. D. u. die Debatte 1846 habilitierte er sich (über die saure Re- über die Grenzen wiss. Erkenntnis im 19. Jh. Ffm. aktion der Muskelsubstanz), nahm seine 1991. – Joachim Burckhard: Zwischen thierischer Lehrtätigkeit aber erst 1854 auf, nachdem er Elektricität u. Ignorabimus. Diss. Bln. 1999. – 1851 auf Fürsprache Müllers u. Alexander Christoph Gradmann: Gesch. u. Naturforsch. im von Humboldts Mitgl. der Preußischen Aka- ›technisch-induktiven Zeitalter‹. Ernst Hallier u. E. demie der Wissenschaften geworden war. D. als Kulturhistoriker. In: Die Institutionalisie1858 folgte D. Müller auf dessen Physiologie- rung der Medizinhistoriographie. Hg. Andreas Lehrstuhl nach u. wurde gleichzeitig Leiter Frewer u. Volker Roelcke. Stgt. 2001, S. 57–74. – Sven Dierig: Wiss. in der Maschinenstadt. E. D. u. des Physiologischen Instituts in Berlin, desseine Laboratorien in Berlin. Gött. 2006. sen Neubau 1877 nach seinen Plänen errichRoland Pietsch / Red. tet u. fertiggestellt wurde. Vielfältige administrative Aufgaben (u. a. als Rektor der UniDuboc, Charles Edouard, auch: Robert versität) ließen ihm keine Zeit mehr für eiWaldmüller, * 17.9.1822 Hamburg, gene Forschungen. † 15.4.1910 Dresden. – Erzähler u. ÜberIn sprachlich ausgefeilten Reden wie Über setzer. die Grenzen des Naturerkennens, Über das Nationalgefühl, Die sieben Welträtsel, Goethe und kein Wie sein Vater lernte D. den Kaufmannsberuf. Ende äußerte sich D. zu wissenschaftlichen u. Geschäftsreisen führten ihn quer durch Eukulturellen Themen. Daneben trat er für die ropa; in Kopenhagen stattete er Hebbel einen Gründung einer Sprachakademie zur Ver- Besuch ab. Studien in den bildenden Künsten besserung der allgemeinen sprachl. Kultur führten ihn auch nach Italien; danach widein. D.s Weltanschauung kann als (gemäßig- mete er sich ganz seiner literar. Tätigkeit. D. ter) mechan. Materialismus bezeichnet wer- bediente sich bei vielen seiner Prosaarbeiten den; er gipfelt in dem Bekenntnis, dass wir geschichtl. Stoffe (bes. aus dem MA), so auch das Wesen von Kraft u. Materie letztlich nicht in dem Roman Unterm Krummstab (Lpz. 1858). erkennen können: »ignorabimus«. Politisch Jacob Grimm, dem das Werk gewidmet ist, unterstützte er das von Bismarck geeinte dt. kritisierte daran das Durcheinander von Altem u. Neuem u. verwies damit auf eine Reich vorbehaltlos. In der Wissenschaftsgeschichte kommt D. grundsätzl. Schwäche D.s. Gelungener sind das Verdienst zu, die Messmethoden zur seine Übersetzungen Alfred Tennysons (Enoch Untersuchung physiologisch-elektrischer Arden. Hbg. 1866. Freundes-Klage [nach: In Phänomene vervollkommnet u. auf eine si- Memoriam A. H. H.]. Hbg. 1870). Sie beruhen chere Grundlage gestellt zu haben. Er gehörte auf dem ausgezeichneten Sprachtalent D.s, zu den Begründern der physikal. Physiologie das ihm auch für seine Stilkopien zustatten u. hat so die Entwicklung der neuzeitl. kam, die manchmal beinahe den Eindruck einer Übersetzung vermitteln, wie z.B. der Schulmedizin entscheidend geprägt. Roman Don Adone (2 Bde., Lpz. 1883). Durch Ausgaben: Ges. Abh.en zur allg. Muskel- u. Nervenphysik. 2 Bde., Lpz. 1875–77. – Reden. Hg. die Freundschaft zu Graf Wolf Heinrich Estelle Du Bois-Reymond. 2 Bde., Lpz. 1912. – Baudissin machte er die Bekanntschaft zahlVorträge über Philosophie u. Gesellsch. Hg. Sieg- reicher Literaten wie Gustav Freytags oder fried Wollgast. Bln. 1974. – Briefe: Briefw. E. D., Karl Gutzkows, an deren Zeitschriften er Anton Dohrn. Hg. Christiane Groeben. Bln./Hei- mitarbeitete. delb. 1985. – Dokumente einer Freundschaft. Briefw. zwischen Hermann v. Helmholtz u. E. D.
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In Dresden, in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eines der intellektuellen Zentren Deutschlands, zählte D. zu den führenden Literaten. Als Förderer der Schiller-Stiftung (er war Präsident des Dresdener Vereins) trat er in Beziehung zu Schriftstellern wie Storm, Dingelstedt, Kürnberger u. Mörike. So erreichte er bald einen beachtl. Bekanntheitsgrad. Bereits zeitgenöss. Kritiker wie Heinrich Kurz monierten jedoch D.s mangelnde Originalität u. seine »unklare« u. »schwerfällige« Darstellung. Weitere Werke: Dichters Nachtquartiere. Hbg. 1852 (E.en). – Merlins Feiertage. Hbg. 1853. – DorfIdyllen. Stgt. 1860. – Wander-Studien. 2 Bde., Lpz. 1861. – Gehrt Hansen. 4 Bde., Bln. 1862 (R.). – Des wohlseligen Eusebius Hutzler [...] einfältige Selbstbekenntnisse. Hbg. 1871. – Brunhild. Lpz. 1874 (Trag.). – Walpra. Alpen-Idylle. Lpz. 1875. – Klänge aus der Fremde. Lpz. 1893. Literatur: Marlene J. Norst u. James M. Ritchie: Aus der ›Sammlung Duboc‹ in Australien. In: Euph. 59 (1965), S. 416–448. – Marlene J. Norst: Enoch Arden in the German Alps. A comparative study of Alfred Tennysons ›Enoch Arden‹ and D.s ›Walpra‹. In: Affinities. Hg. Rex William Last. London 1971, S. 52–67. – Susanne Schwabach-Albrecht: Die Ehrengabe der Dresdner Schillerstiftung zu Mörikes 70. Geburtstag. Briefe v. Johann Georg Fischer, E. D. u. Eduard Mörike. In: JbDSG 41 (1997), S. 21–30. – Goedeke Forts. Michael Then / Red.
Duden, Anne, * 1.1.1942 Oldenburg. – Verfasserin von Prosa, Lyrik u. Essays. D. verbrachte ihre frühe Kindheit in Berlin u. Ilsenburg (DDR) u. lebte von 1953–62 in Oldenburg. Nach einer Lehre als Buchhändlerin u. dem Studium in Berlin übte sie verschiedene Tätigkeiten aus u. war Mitbegründerin des Rotbuch Verlags. Seit 1978 lebt sie in London, Berlin u. Frankfurt/M. In ihren ersten beiden Prosabänden Übergang (Bln. 1982. Hbg. 1996) u. Das Judasschaf (Bln. 1985. Hbg. 1997) hat D. in einer strengen u. artifiziellen Sprache die Gewalt u. den Schrecken des Alltags u. deren Auswirkungen auf das Individuum dargestellt. Die Wirklichkeit wird als Terrorsystem erlebt, das den Einzelnen unablässig attackiert u. psychisch u. körperlich deformiert. Die Ich-Erzählerin,
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manchmal objektivierend u. distanzierend als »die Person« bezeichnet, versucht diesem Vernichtungsfeldzug in Das Judasschaf durch ihr magisches Erzählen u. Beschwören zu begegnen: Räsonierend, assoziierend u. halluzinierend widersetzt sich »die zurechtgefolterte Restperson, Trümmerüberbleibsel der Lebenden« der Angst. D. bemüht sich, der Entstehung u. der Logik dieser Angst auf die Spur zu kommen u. deren abweisende, die Wirklichkeit verzerrende u. verdüsternde Momente in der Struktur des Textes nachzubilden. Erfahrungen des individuellen Leids u. Gefühle des körperl. Ausgeliefertseins konfrontiert sie mit histor. Fakten. Indem D. z.B. Ausschnitte aus den Erinnerungen eines KZ-Kommandanten in ihren Text montiert, gelingt es ihr, die gesellschaftl. Ursachen zu benennen, die für die Verletzung u. Vernichtung der Psyche u. des Körpers mitverantwortlich sind. D.s Das Judasschaf zählt zu den gelungensten Auseinandersetzungen mit der dt. Vergangenheit. Auf Das Judasschaf folgten mit einigem zeitl. Abstand die Gedichtbände Steinschlag (Köln 1993) u. Hingegend (Lüneb. 1999. 2001), in denen D. zu einer poet. Sprache findet, die abstrakt u. sinnlich zgl. ist. In dichten Wortassoziationen u. polyphonen Strukturen führt D. verschiedene Sprach-, Zeit- u. Bedeutungsebenen zusammen. Sie verbindet den krit. Umgang mit Sprache u. ein bewusstes Suchen nach deren Verschreibern u. Widerständen mit der Auseinandersetzung mit dt. Geschichte u. Kultur sowie etablierten Machtverhältnissen u. Geschlechterrollen. In ihrer Bloßlegung u. Durchbrechung von dominanten polit., psycholog., linguist. u. kulturellen Strukturen lässt sich das krit. Potential von D.s Werk lesen, das sie mit kulturkrit. Theorien, u. a. der Frankfurter Schule, Walter Benjamins u. Jacques Derridas, verbindet, u. welches in einigen Interpretationen als »feministisch« eingeordnet wird. Die Bände Wimpertier (Köln 1995. 21997) u. Der wunde Punkt im Alphabet (Bln. 1995. 21996) zeigen Grenzüberschreitungen auch auf formaler Ebene mit einer Verknüpfung von Lyrik u. Prosa im ersten u. Essays, Prosaskizzen u. Bildkommentaren im zweiten Band. D.
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experimentiert hier mit tradierten literar. D. In: LGL. – Teresa Ludden: ›Das Undarstellbare Formen, welche sie, die Tradition der ästhet. darstellen‹. ›Kulturkritik‹ and the Representation Moderne fortschreibend, dekonstruiert, in- of Difference in the works of A. D. Bln. 2006. Claus-Ulrich Bielefeld / Heike Bartel novativ kombiniert u. so neue Ausdrucksmöglichkeiten schafft. Zungengewahrsam (Paderb. 1996. Köln 1999) Duden, Konrad (Alexander Friedrich), führt diese Verknüpfung von Formen u. * 3.1.1829 Gut Bossigt/Lackhausen bei Genres weiter u. setzt philosophisch-essayis- Wesel, † 1.8.1911 Sonnenberg bei Wiestisch D.s Suche nach neuen Warnehmungs- baden; Grabstätte: Bad Hersfeld, Friedhof wegen u. Ausdrucksmöglichkeiten fort. Mu- Frauenberg. – Philologe. sik u. bildende Kunst, bes. aus Renaissance u. Barock, liefern Material für alternative Aus- Der Sohn eines Ökonomen studierte druckssysteme, die das artikulieren wollen, 1846–1848 in Bonn Geschichte sowie Deutwas in der »traditionellen« Sprache von Ge- sche u. Klassische Philologie. Als Burschenschichte u. Kultur als das »Undarstellbare« schafter nahm er im Gefolge Arndts an den gilt: das Verschwiegene, Verdrängte u. Aus- 48er-Demonstrationen teil (Motto: Nation u. geschlossene. D.s symphilosophische Ver- Konstitution). Seit 1848 Hauslehrer in knüpfungen von Literatur, Musik u. Malerei, Frankfurt/M., legte er 1854 das Staatsexamen die auf die Arbeitsweise der Frühromantiker ab. Noch im gleichen Jahr promovierte er in verweisen, korrespondieren dabei mit Über- Marburg mit der Dissertation De Sophoclis schreitungen der Grenzen von Innen- u. Au- Antigona (Soest 1854). Seine Referendarzeit am Archigymnasium in Soest (Ostern bis ßenwelt. D.s jüngere, zwischen 2000 u. 2006 er- Herbst 1854) brach D. zugunsten einer schienene Texte, wie z.B. der poet. Essay A Hauslehrerstelle in Genua ab, wo er seine mon seul désir (im Sammelband Heimaten. Gött. spätere Frau Adeline Jacob kennenlernte. 2001) u. das große Gedicht Strophen (im 1859–1869 war D. erst Lehrer, dann auch Künstlerbuch Gotthard Graubner. Sardische Prorektor am Archigymnasium in Soest, daAquarelle. Mit 9 Gedichten »Strophen« von A. D. nach Gymnasialdirektor am Rutheneum in Münster 2005), sind auch Zeugnisse einer Schleiz/Thüringen u. 1876–1905 am Gymgrundsätzl. Unabschließbarkeit von Wahr- nasium in Hersfeld (heute: Bad Hersfeld). D. ist v. a. als einer der Wegbereiter einer nehmung u. Werk dieser bedeutenden Autoeinheitlichen dt. Rechtschreibung zu würdirin. gen. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jh. Literatur: Hubert Winkels: Mundtot. Die hinein herrschte Uneinigkeit darüber, ob leibhaftige Prosa A. D.s. In: Ders.: Einschnitte: Zur Lit. der 80er Jahre. Köln 1988, S. 42–60. – Sigrid man in der Orthografie dem historischWeigel: Schrei u. Körper – Zum Verhältnis v. Bil- etymolog. Prinzip (nach Jacob Grimm: dern u. Schrift. Ein Gespräch über ›Das Judasschaf‹. »Schreibe, wie es die geschichtliche EntIn: Laokoon u. kein Ende. Der Wettstreit der wicklung des Neuhochdeutschen aus dem Künste. Hg. Thomas Koebner. Mchn. 1989, Mittelhochdeutschen heraus verlangt«) oder S. 120–148. – Suzanne Greuner: Schmerzton. Mu- dem phonet. Prinzip (nach Adelung: sik in der Schreibweise v. Ingeborg Bachmann u. A. »Schreibe, wie du sprichst«) folgen solle. Mit D. Hbg. 1990. – Leslie Adelson: A. D.s ›Übergang‹ dem Ziel, wenigstens in seinem unmittelbaRacism and Feminist Aesthetics. A Provocation. In: ren Wirkungsbereich am Schleizer RutheneDies.: Making Bodies, Making History. Feminism um eine einheitl. Rechtschreibregelung für and German Identity. Lincoln/London 1993, den Unterricht herbeizuführen, verfasste D. S. 37–55. – Franziska Frei Gerlach: Schrift u. Ge1871 Regeln zur dt. Rechtschreibung auf der schlecht. Feminist. Entwürfe u. Lektüren v. Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann u. A. D. Bln. 1998. Grundlage der theoret. Überlegungen Rudolf – Anne-Kathrin Reulecke: A. D. In: KLG. – Heike von Raumers, der das phonet. Prinzip vertrat. Bartel u. Elizabeth Boa (Hg.): A. D.: A Revolution of Ergänzt um die Abhandlung Zur Orientirung Words. Approaches to her Fiction, Poetry and Es- [sic!] über die orthographische Frage u. um eine says. Amsterd./New York 2003. – Thomas Kraft: A. Wortliste von ca. 6000 Wörtern, erschien D.s
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Regelwerk im Folgejahr u. d. T. Die deutsche den Verlag Bibliographisches Institut in Rechtschreibung. Abhandlung, Regeln und Wörter- Leipzig, aus der sich später die Dudenredakverzeichnis (»Schleizer Duden«, Lpz. 1872). tion entwickelte. Seit der 9. Auflage von 1915 Mit dieser Veröffentlichung reihte sich D. ist der Name seines Urhebers fester Bestandunter die führenden Rechtschreibexperten teil des Wörterbuchtitels. Bis heute hat sich seiner Zeit ein. Entsprechend erhielt er 1876 Duden – Die deutsche Rechtschreibung als das bei eine Einladung zur später so genannten ers- Weitem verbreitetste Gebrauchswörterbuch ten Orthografischen Konferenz in Berlin, die im ganzen dt. Sprachraum behauptet. nach mehrtägigen Verhandlungen allerdings Weitere Werke: Versuch einer dt. Interpunktikeine Klärung in der Rechtschreibfrage er- onslehre. Schleiz 1876. – Die Zukunftsorthographie [...]. Lpz. 1876. – Orthograph. Wegweiser für brachte. Die deutsche Rechtschreibung gilt neben D.s das prakt. Leben. Lpz. 1881. – Die VerschiedenHauptwerk, dem Vollständigen Orthographi- heiten der amtl. Regelbücher über Orthographie schen Wörterbuch der deutschen Sprache (Lpz. [...]. Nördlingen 1886. – Rechtschreibung der Buchdruckereien dt. Sprache. Lpz./Wien 1903. 1880), als seine bedeutendste Schrift zur dt. Literatur: Günther Drosdowski u. a.: K. D. aus Orthografie. Den entscheidenden Einfluss Wesel. Wesel 1979. – Wolfgang U. Wurzel: K. D. auf die Entwicklung der dt. Rechtschreibung Lpz. 1979. – Ders.: K. D. – Leben u. Werk. Mannh. übte er jedoch über sein Wörterbuch aus. 1998 (mit Bibliogr.). – Dieter Nerius (Hg.): K. D.s Davon überzeugt, dass eine einheitl. Recht- orthograph. Schr.en. Hildesh./Zürich/New York schreibung nur über die Schulen erreichbar 2005. – Anke Goldberg: K. D. – Schreibe, wie Du sei, setzte er in diesem die von seinem Freund sprichst. Erfurt 2007. Wilhelm Wilmanns erarbeitete preuß. Susan Eddey / Matthias Wermke Schulorthografie (»Puttkamer-Orthographie«) um u. verschaffte dieser damit eine so weite Verbreitung, dass sie anlässlich der Dudow, Slátan, * 30.1.1903 Caribrod/Bul1901 einberufenen zweiten Orthografischen garien, † 12.7.1963 Fürstenwalde. – FilmKonferenz in Berlin den alleinigen Verhandu. Theaterregisseur, Dramatiker. lungsgegenstand darstellte. Das aus dieser Konferenz resultierende neue Regelwerk Der Sohn eines Eisenbahnarbeiters studierte wurde 1902 von allen dt. Ländern sowie von nach dem Abitur in Sofia von 1922 an TheaÖsterreich u. der Schweiz gebilligt u. 1903 im terwissenschaft an der Berliner Universität. Unterricht eingeführt. In die 7. Auflage von Anschließend war D. Regieassistent von Fritz D.s Wörterbuch (Lpz. 1902) waren diese Lang u. Georg Wilhelm Pabst in den Babelsneuen Regeln bereits eingearbeitet. Mit den berger Studios. Zwischen 1927 u. 1929 Beschlüssen von 1901 war die von D. seit 30 führten ihn Kontakte mit Sergej Eisenstein u. Jahren geforderte Einheitlichkeit der dt. Wladimir Majakowskij zu einer realist. BeRechtschreibung zwar hergestellt. Sein arbeitung proletarisch-revolutionärer Stoffe. zweites Bestreben, eine möglichst einfach Sein erster, mit einer kleinen Handkamera geregelte u. für alle leicht zu lernende u. zu gedrehter Kurzfilm Wie wohnt der Berliner Arbeherrschende »demokratische« Orthografie beiter? übernahm erstmals die Montagetechzu schaffen, war jedoch nur bedingt erreicht. nik des sowjet. Stummfilms in Deutschland. Diese zu vollenden betrachtete D. als blei- Um 1930 begann D.s Zusammenarbeit mit bende Aufgabe zukünftiger Reformbemü- Bertolt Brecht, dessen Lehrstücke er mitinszehungen. nierte. Es folgten 1931 Mann ist Mann u. 1932 Schon bei seinem ersten Erscheinen im Jahr Die Mutter. 1935 emigrierte D. nach Paris, 1880 war D.s Vollständigem Orthographischem später nach Ascona/Schweiz, wo er unter dem Wörterbuch der deutschen Sprache ein weitrei- Pseudonym Stephan Brodwin burleske Kochender Erfolg beschert, wofür auch die mödien schrieb. 1946 nach Berlin zurückgeschnell aufeinanderfolgenden Neuauflagen kehrt, trug D. wesentlich zur Weiterentsprechen. Mit der Erarbeitung der 7. Auflage wicklung des sozialist. Theaters u. Films in erhielt D. redaktionelle Unterstützung durch der DDR bei.
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D.s herausragende künstler. Leistung ist seine Regie des 1931/32 gedrehten Films Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt, für den Brecht u. Ernst Ottwald das Drehbuch schrieben. Der Film zeigt unter Anwendung von Tonbildmontagen (Einblendungen von Liedern, Chören, Zwischentiteln, Plakaten, Losungen) zunächst einen jungen Arbeitslosen in Berlin zu Anfang der 1930er Jahre, der wegen der Streichung der Arbeitslosenunterstützung für Jugendliche Selbstmord begeht. Die zweite Episode schildert, wie die Familie Bönike ihre Wohnung verliert u. in der von kleinbürgerl. Proletariern bevölkerten Zeltstadt »Kuhle Wampe« Zuflucht findet. In dialektischem Kontrast zur Handlung der ersten beiden Filmteile steht die dritte Episode mit ihrem sozialist. Schlussbekenntnis. Ein großes Sportfest mit einem Aufmarsch von 4000 Mitgliedern kommunistischer Sportverbände symbolisiert die Solidarität als proletar. Lösung, gipfelnd in dem von Hanns Eisler komponierten Solidaritätslied Vorwärts und nicht vergessen, gesungen von Ernst Busch. Mit Kuhle Wampe erreichte der proletar. Film in der Weimarer Republik nach Vorläufern wie Mutter Krausens Fahrt ins Glück von Piel Jutzi seinen Höhepunkt. Nach seiner Fertigstellung wurde Kuhle Wampe von der Filmprüfstelle Berlin verboten, doch nach Protesten von Künstlern u. Kritikern u. nach erhebl. Schnitten 1932 freigegeben. Weitere Werke: Unser tägl. Brot. Urauff. 1948 (Film). – Der Hauptmann v. Köln. Urauff. 1956 (Film). Literatur: S. D.: ›Kuhle Wampe‹ u. der Rotstift. In: Junge Welt (1958). – D., S. – sein Frühwerk. In: Filmwiss. Mitt.en. (1962). – Bertolt Brecht: Kuhle Wampe. Protokoll des Films u. Materialien. Ffm. 1969. Lpz. 1971. – Jochen Schulze-Diesel: Brecht kontra Hollywood: Bertolt Brecht/S. D, ›Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?‹. In: Praxis Deutsch 25 (1998), H. 148, S. 52–58. Detlef Holland / Red.
Dückers, Tanja, * 25.9.1968 Berlin. – Verfasserin von Prosa u. Lyrik, Essayistin u. Journalistin. Neben Studium (Magister in Kunstgeschichte, Amerikanistik u. Germanistik), Verlags-
praktika u. journalist. Tätigkeiten erprobte sich D. zunächst in der Berliner Poetry-SlamSzene. Ihre ersten Veröffentlichungen Morsezeichen u. Fireman (beide Bln. 1996) waren Kurzprosa- u. Lyrik-Experimente, während der patchworkartige Berlin-Roman Spielzone (Bln. 1999) u. der Erzählband Café Brazil (Bln. 2001) die Autorin ins Rampenlicht jener Bewegung rückten, mit der Ende der 1990er Jahre eine spezif. Literatur für junge Erwachsene Furore machte. Dass D.’ Texte indes niemals nur das Lebensgefühl einer bzw. ihrer Generation widerspiegelten, bestätigt sich im wachsenden Anspruch ihrer Stoffe: Der Familienroman Himmelskörper (Bln. 2003), der die auch von Günter Grass literarisierte Schiffskatastrophe der Wilhelm Gustloff zum Thema hat, versteht sich als Version der Enkel gegen den »Authentizitätsdünkel« der Großeltern u. ihr erzählerisches Vorrecht auf die Themen Krieg, Flucht u. Vertreibung. Dem Eindruck, die jungen Autoren seien geschichtsvergessen u. apolitisch, arbeitet D. darüber hinaus seit Jahren in zahlreichen Essays entgegen; entsprechende Feuilletonbeiträge versammelt der Band Morgen nach Utopia (Bln. 2007). Von der Prägung eines jeden Einzelnen durch seine eigene Familien-Geschichte erzählt Der längste Tag des Jahres (Bln. 2006), in dem D. ihrem Muster der multiperspektivischen, episod. Romanmontage vorerst treu bleibt. Weitere Werke: Luftpost. Gedichte Berlin – Barcelona. Köln 2001. – Herausgeberin: (mit Verena Carl): Stadt Land Krieg. Autoren der Gegenwart erzählen von der dt. Vergangenheit. Bln. 2004. Literatur: Thomas Kraft: T. D. In: LGL. – Adolf Höfer: Himmelskörper u. andere Unscharfe Bilder. Romane zur Thematik der dt. Kriegsopfer im Gefolge der Novelle ›Im Krebsgang‹ v. Günter Grass. In: Lit. für Leser 3 (2005), S. 147–161. – Nikola Roßbach: Bildwandlerinnen. Die Lyrikerinnen T. D., Sabine Scho u. Silke Scheuermann. In: Fräuleinwunder literarisch. Lit. v. Frauen zu Beginn des 21. Jh. Hg. Christiane Caemmerer u. a. Ffm. 2005, S. 191–212. – Ilse Nagelschmidt u. a. (Hg.): Zwischen Inszenierung u. Botschaft. Zur Lit. deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jh. Bln. 2006. Marc Reichwein
Düffel
Düffel, John von, * 20.10.1966 Göttingen. – Verfasser von Theaterstücken, Romanen, Essays, Hörspielen u. Übersetzungen.
124 schine). Heiner-Müller-Memorial-Monument-Moment-Mimesis. Gifkendorf 1997. – Rinderwahnsinn. Gifkendorf 1999 (D.). – Born in the RAF. Lebensbeichte eines Terroristenkindes. Gifkendorf 1999 (D.). – Schwimmen. Mchn. 2000. – Zeit des Verschwindens. Köln 2000 (R.). – Ego. Köln 2001 (R.). – Wasser u. andere Welten. Köln 2002 (P.). – Hotel Angst. Köln 2006 (E.). Literatur: Ulrich Fischer: J. v. D. In: KLG. – Michael Fischer: J. v. D. In: LGL. Michael Rölcke
Wegen der Lehrtätigkeit seines Vaters an verschiedenen Universitäten wuchs D. u. a. im irischen Londonderry u. in South Dakota auf. Studium der Philosophie, Germanistik u. Volkswirtschaft in Stirling/Schottland u. Freiburg i. Br. Während des Studiums unternahm er erste Versuche als Hörspielautor. 1989 promovierte D. über die Intentionalität Dühring, Eugen (Carl), * 12.1.1833 Berlin, als Absichtlichkeit (Stgt./Bln. 1991). Anschlie- † 21.9.1921 Nowawes bei Potsdam; ßend arbeitete er als Journalist u. Theater- Grabstätte: ebd., Friedhof. – Publizist. kritiker. Seit 1991 ist D. als Dramaturg an Der Sohn eines Geheimen Sekretärs der verschiedenen Theatern tätig; erst in Stendal, Preußischen Oberbaudirektion studierte 1993–1996 in Oldenburg, 1996–1998 in Ba- Jura, Philosophie u. Volkswirtschaft in Berlin sel, 1998–2000 in Bonn u. ab 2000 in Ham- (Dr. phil. 1861). Nach vollständiger Erblinburg. D. lebt u. arbeitet in Hamburg u. Bre- dung habilitierte sich D. 1863 in Philosophie, men. später in Volkswirtschaft. 1877 von der UniD.s Theaterstücke, die sich mit Themen wie versität Berlin abgesetzt – D. bewies einen Ausgrenzung oder dem Generationenkon- ausgeprägten Hang zu Kollegenfehden –, war flikt befassen, zählen zu den meistgespielten er fortan Privatgelehrter. Bedeutung für die dramat. Werken in den 1990er Jahren auf dt. Wissenschaftsgeschichte u. Einfluss auf das Bühnen. Mit Vom Wasser (Köln 1998) debü- ökonom. Denken der Berliner Sozialdemotierte D. als Romanautor. In diesem Roman, kraten erlangten die Werke Kritische Geschichte für den D. u. a. den Ernst-Willner-Preis u. den der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenaspekte-Literaturpreis erhielt, schildert der wart (Bln. 1869. 41894) u. Geschichte der NatioIch-Erzähler sowohl die Geschichte einer Fa- nalökonomie und des Socialismus [...] (Bln. 1871. miliendynastie als auch sein eigenes Verhält- Lpz. 41900). D.s Entwurf eines »sozialitären nis zum Wasser. D. verbindet eine poet. Gesellschaftssystems« sah die Beendigung Sprache mit präziser Beschreibung, er ver- aller Zwangs- u. Herrschaftsverhältnisse in zichtet auf Dialoge u. findet eindrückl. Bilder gradliniger, nichtdialektischer Entwicklung u. Figuren, um über Macht u. Melancholie durch alleinige Ausrichtung menschl. Handes Wassers zu erzählen. Dem Element u. der delns auf eine gewaltfreie Gesamtgesellschaft Familienthematik bleibt D. auch in seinem vor. Angriffe von Marx u. Engels gegen D.s Hegel’scher Philosophie Roman Houwelandt (Köln 2004) treu. Aus vier Trivialisierung Perspektiven wird die Entfremdung dreier (»Vulgärmaterialismus«) u. seine ÜberzeuGenerationen von Männern beschrieben, de- gung, Klassenunterschiede entstünden nur ren Beziehungen zueinander zu versteinern aufgrund von Gewaltanwendung, führten zu drohen. D.s Figuren reagieren auf vorgege- einem Streit, der 1877 in Engels’ Herrn Eugen bene Verhaltensmuster mit Strenge, Rück- Dührings Umwälzung der Wissenschaft, dem sog. zug, Emanzipation oder Abwehr u. verweisen Anti-Dühring, gipfelte. D., Befürworter großsomit auf D.s zentrale Themen: Angst, Ver- deutscher u. ostwärts gerichteter Kolonialpolitik, Gegner von Marxismus u. Bismarck, lust, Abschied, Einsamkeit. Weitere Werke: Oi. Gifkendorf 1995 (D.). – sah sich im Alter zunehmend auf einsamem Solingen. Gifkendorf 1995 (D.). – Die Unbekannte Posten. Die größte Wirkung übten seine anmit dem Fön. Ein Stück in Regieanweisungen u. tisemit. Werke aus. Der Text ist das Theater. Eine Autorenermutigung. Gifkendorf 1997. – Missing Müller (Müllerma-
Weitere Werke: Capital u. Arbeit. Neue Antworten auf alte Fragen. Bln. 1865. – Natürl. Dia-
Dürer
125 lektik. Neue log. Grundlegung der Wiss. u. Philosophie. Bln. 1865. – Logik u. Wissenschaftstheorie. Lpz. 1878. 21905. – Die Judenfrage als Frage der Rassenschädlichkeit für Existenz, Sitte u. Charakter der Völker. Lpz. 1881. Nowawes 51930. – Die Größen der modernen Lit. 2 Bde., Lpz. 1892/93. 2 1904 u. 1910. Literatur: Gerhard Albrecht: E. D.s Wertelehre. Jena 1914. – Christoph Cobet: Der Wortschatz des Antisemitismus in der Bismarckzeit. Mchn. 1973. – Birgitta Mogge: Rhetorik des Hasses. E. D. u. die Genese seines antisemit. Wortschatzes. Neuss 1977. – Rolf Kirchhoff u. Teodor I. Oisermann (Hg.): 100 Jahre ›Anti-Dühring‹. Bln. 1978. – Hans Pelger u. a.: Wiss. Sozialismus u. Arbeiterbewegung. Begriffsgesch. u. D.-Rezeption. Trier 1980. – Jenette Jakubowski: E. D. Antisemit, Antifeminist u. Rassist. In: Histor. Rassismusforsch. Hg. Barbara Danckwortt. Hbg. 1995, S. 70–90. – Goedeke Forts. Andreas Schumann / Red.
Düntzer, (Johann) Heinrich (Joseph), * 12.7.1813 Köln, † 16.12.1901 Köln. – Philologe u. Literaturhistoriker. D. studierte Klassische Philologie u. Literaturgeschichte in Bonn u. Berlin bei August Wilhelm Schlegel, Karl Lachmann u. August Boeckh. Seine erste Publikation zu Goethe war die Abhandlung Goethe’s Faust in seiner Einheit und Ganzheit (Köln 1836). Nach der Habilitation 1837 in Bonn bemühte sich D. lange vergeblich um einen Lehrstuhl. Verbittert übernahm er 1846 eine Bibliothekarsstelle in Köln u. publizierte fortan als Privatgelehrter. Aus der unüberschaubaren Menge von D.s Veröffentlichungen ragen der umfangreiche Kommentar zu Goethes Faust (Lpz. 1851) hervor u. die mehrfach aufgelegte Reihe Erläuterungen zu den deutschen Klassikern (86 Bde., Jena/Lpz. 1855–80). Früh wurde ihm sein Hang zu bloßer Anhäufung von Material ohne geistige Durchdringung vorgeworfen. D. wehrte sich stets mit heftiger Polemik, lieferte seinen Gegnern aber mit jeder Publikation, etwa den Biografien zu Goethe, Schiller u. Lessing, neue Angriffspunkte. Sein Unfehlbarkeitsanspruch in Fragen der Goethephilologie diente als Begründung, ihn von der Leitung der 1885 gegründeten Goethegesellschaft u. der geplanten Weimarer Aus-
gabe fernzuhalten. D. blieb nur die Mitherausgabe von Goethes Werken in Kürschners Deutscher National-Literatur (Stgt. 1882–97). Gegen Ende seines Lebens mit nahezu allen namhaften Goetheforschern zerstritten, rechnete er in seiner Autobiografie Mein Beruf als Ausleger (Lpz. 1899) mit ihnen ab. Weitere Werke: Charlotte v. Stein, Goethes Freundin. Stgt. 1874. – Goethe u. Karl August. Lpz. 1888. – Zur Goetheforsch. Neue Beiträge. Stgt. 1891. – Mitherausgeber: Herder’s Werke. 24 Tle., Bln. 1865–80. – Briefe: ›Durch Neigung und Eifer dem Goethe’schen Lebenskreis angehören‹. Briefw. zwischen Karl August Varnhagen v. Ense u. H. D. 1842–58. Hg. Berndt Tilp. Ffm. 2003. Literatur: Richard M. Meyer: H. D. In: GoetheJb 23 (1902), S. 244–247. – Hans-Martin Kruckis: Mikrolog. Wahrheit. Die Neugermanistik u. H. D. In: GRM N. F. 41 (1991), S. 270–283. – Goedeke Forts. – H.-M. Kruckis: D. In: Internat. Germanistenlexikon. Hg. Christoph König. Bd. 1, Bln./New York 2003, S. 411 f. Hans-Martin Kruckis
Dürer, Albrecht, * 21.5.1471 Nürnberg, † 6.4.1528 Nürnberg; Grabstätte: ebd., Johannisfriedhof. – Maler, Grafiker; Kunsttheoretiker. A. besuchte die Lateinschule von St. Sebald. Eine 1484 begonnene handwerkl. Ausbildung beim Vater, dem Goldschmied Albrecht Dürer d.Ä., brach D. ab, um sich der Malerei zu widmen. 1486 trat er als Lehrjunge in die Werkstatt des Malers u. Unternehmers Michael Wolgemut in Nürnberg ein. Der 1489 beendeten Malerlehre schlossen sich ab April 1490 Gesellenjahre an, in denen D. in Werkstätten am Oberrhein (Colmar, Straßburg, Basel) arbeitete. Zu seinem Baseler Frühwerk zählt ein Großteil der Illustrationen in Sebastian Brants Narrenschiff (Basel 1494). Im Mai 1494 kehrte er auf Wunsch des Vaters nach Nürnberg zurück, der ihn am 7. Juli mit Agnes Frey verheiratete. 1494/95 verbrachte D. einige Monate in Venedig. Nach der Niederlassung in seiner Vaterstadt (1495) wurde Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen 1496 sein erster hochstehender Auftraggeber. In die humanist. Gelehrtengemeinschaft zog ihn v. a. Conrad Celtis; ein Zeugnis ihrer Zusammenarbeit ist D.s Philosophie-Holz-
Dürer
schnitt in Celtis’ Quatuor libri amorum (1502). Später prägte D. die lebenslange Freundschaft mit Willibald Pirckheimer. Ab 1500 beschäftigten ihn neben seinen künstler. Arbeiten zunehmend auch kunsttheoret. Probleme, deren Lösungen u. Niederschriften gleichberechtigt neben dem malerischen u. grafischen Werk gewürdigt werden müssen. Ein zweiter Italienaufenthalt 1505–1507 (Venedig, Bologna, Florenz) festigte seinen Ruf als führender Künstler des Nordens. 1509 wurde D. in den Großen Rat seiner Heimatstadt gewählt. 1512 trat er in die Dienste Kaiser Maximilians I. Auf dem Reichstag in Augsburg 1518 porträtierte er den Herrscher. Auf einer Reise in die Niederlande vom 12.7.1520 bis Sommer 1521, mit der Hauptstation Antwerpen, begegnete er u. a. Lucas van Leyden u. Erasmus von Rotterdam. Sein auf dieser Fahrt geführtes Tage- u. Ausgabenbuch ist in verlässl. Abschriften überliefert (Tagebuch der Reise in die Niederlande. Hg. Fedja Anzelewsky. Zürich 1988). Von existentieller Bedeutung war für D. der reformator. Bilderstreit, in dem er sich mit ähnl. Argumenten wie Luther gegen die Ikonoklasten wandte. In der Spätzeit widmete sich D. zwei großen Unternehmungen: der Neuausstattung des Nürnberger Rathauses u. der Drucklegung seiner theoret. Erkenntnisse. 1525 erschien in Nürnberg die Underweysung der messung mit dem zirckel und richtscheyt (Neudr. Nördlingen 1983) – das erste Lehrbuch der angewandten Geometrie in dt. Sprache. Die aktuelle Türkengefahr erzwang zwischenzeitlich die Ausarbeitung einer Befestigungslehre, die D. König Ferdinand I. von Böhmen u. Ungarn widmete (Etliche underricht zu befestigung der Stett, Schloß und flecken. Nürnb. 1527. Neudr. Nördlingen 1980). Waren ihre fortifikator. Vorschläge bald überholt, so blieb das Kapitel über die Idealstadt im Bewusstsein späterer Generationen. Das dritte der gedruckten Bücher, die Proportionslehre, konnte erst nach D.s Tod ausgeliefert werden (Hierin sind begriffen vier bücher von menschlicher Proportion. Nürnb. 1528. Neudr. Nördlingen 1980). Joachim Camerarius übersetzte alle Schriften ins Lateinische (Paris 1532–35) u. begründete damit D.s Weltruhm als Autor. Ihre späteren ital., holländ. u.
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portugies. Fassungen sind, wie Gesamtausgaben der Opera, Teil der europ. D.-Renaissance um 1600. D.s kunsttheoret. Werk steht am Beginn des deutschsprachigen wiss. Schrifttums. Der Verzicht auf die universale Gelehrtensprache Latein muss als bewusster Akt nationaler Selbsterhöhung verstanden werden. Gedanklich u. sprachlich wollte D. gleichberechtigt den ital. Theoretikern des Quattrocento an die Seite treten. Deutlich verfolgte D. als Publizist pädagog. Absichten. Diesem Ziel diente die ungewöhnlich sorgfältige Ausstattung mit Holzschnitten. Gerichtet waren seine Traktate urspr. an die Malerknaben u. Handwerkslehrlinge seiner Zeit (doch diese verstanden die komplizierten Inhalte nicht). Erreicht hat D. die Gebildeten u. Gelehrten Europas. Bis ins 19. Jh. galten D.s drei Bücher an den Kunstakademien als unverzichtbare Lehrmittel. Inzwischen wurde auch die sprachschöpferische Leistung D.s. gewürdigt. Für viele Begriffe, etwa aus dem Bereich der Mathematik u. Ästhetik, fand er Eindeutschungen. Sein Name steht damit neben dem des Bibelübersetzers Martin Luther. Ihre Lebendigkeit unterscheidet die wenigen erhaltenen Briefe D.s vom Großteil des Schriftguts ihrer Zeit. Scharfe Beobachtungsgabe u. die Fähigkeit zu sprachl. Verdichtung verrät ein privates Gedenkbuch, von dem sich nur ein Einzelblatt erhalten hat. Seine in Abschriften überlieferten Reime geistl. u. moralisierenden Inhalts wirken dagegen kunstlos. Das meiste von D.s schriftlichem Nachlass ging verloren. Größere zusammenhängende Komplexe verwahren das Britische Museum in London u. die Stadtbibliothek Nürnberg. Ausgaben: Schriftl. Nachl. Hg. Hans Rupprich. 3 Bde., Bln. 1956–69. – Schr.en u. Briefe. Hg. Ernst Ullmann. Lpz. 1971. 61993. – Das Gesamtwerk. Sämtl. Gemälde, Handzeichnungen, Kupferstiche u. Holzschnitte; mit der Monogr. ›A. D. [...]‹ v. Fedja Anzelewsky. Bln. 2004 (CD-ROM). Literatur: Bibliografien: Hanns Bohatta: Versuch einer Bibliogr. der kunsttheoret. Werke A. D.s. Wien 1928. – M. Mende: D.-Bibliogr. Wiesb. 1971. – Jane Campbell Hutchison: A. D. A guide to research. New York u. a. 2000. – Werkverzeichnisse: Friedrich Winkler: Die Zeichnungen A. D.s. 4 Bde.,
127 Bln. 1936–39. – F. Anzelewsky: A. D. Das malerische Werk. Bln. 1971. Überarb., 2 Bde., 1991. – Walter L. Strauss: The complete drawings of A. D. 6 Bde., New York 1974 (Suppl. 1, 1977). – Ders.: Woodcuts and woodblocks. New York 1980. – A. D. Das druckgraph. Werk. Hg. German Nationalmuseum Nürnberg. 3 Bde., Mchn. 2001–04. – Biografien: Heinrich Wölfflin: Die Kunst A. D.s. Mchn. 1905. 51926. 102000. – Erwin Panofsky: The life and art of A. D. London 21945 (11943). Princeton 2005. Dt. Mchn. 1977. Ffm. 1995. – F. Anzelewsky: D.: Werk u. Wirkung. Stgt. 1980. Erlangen 1988. – Weitere Titel: E. Panofsky u. Fritz Saxl: D.s ›Melencolia I‹. Eine quellen- u. typengesch. Untersuchung. Lpz. 1923. – F. Winkler: D. u. die Illustrationen zum Narrenschiff [...]. Bln. 1951. – Hans Jantzen: A. D. In: NDB. – Gottfried Seebaß: D.s Stellung in der reformator. Bewegung. In: A. D.s Umwelt. FS zum 500. Geburtstag A. D.s [...]. Nürnb. 1971, S. 101–131. – Hans Düfel: A. D. In: TRE. – Robert Keil: Die Rezeption D.s in der dt. Kunstbuchlit. des 16. Jh. In: Wiener Jb. für Kunstgesch. 38 (1985), S. 133–150, 295–300. – John Rowlands: A. D. In: Contemporaries. – Jan Bialostocki: D. and his critics, 1500–1971 [...]. BadenBaden 1986. – Joachim Gaus: Amant enim se artes hae ad invicem. A. D.s Erasmusbildnis u. die Rhetorik. In: Architectura poetica. FS Johannes Rathofer. Hg. Ulrich Ernst u. Bernhard Sowinski. Köln u. a. 1990, S. 371–388. – Kurt Löcher: A. D. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 270–280. – Peter Krüger: D.s ›Apokalypse‹. Zur poet. Struktur einer Bilderzählung der Renaissance. Wiesb. 1996. – Ernst Rebel: A. D.: Maler u. Humanist. Mchn. 1996. 1999. – D. and his culture. Hg. Dagmar Eichberger u. Charles Zika. Cambridge u. a. 1998. 22005. – Jeffrey Ashcroft: Zum Wort u. Begriff der ›Kunst‹ in D.s Schr.en. In: Natur u. Kultur in der dt. Lit. des MA. Hg. Alan Robertshaw u. Gerhard Wolf. Tüb. 1999, S. 19–28. – Heike Sahm: D.s kleinere Texte. Konventionen als Spielraum für Individualität. Tüb. 2002 (Diss. Tüb. 1998). – Giovanni Fara: A. D. lettore e interprete di Vitruvio e Leon Battista Alberti in un’inedita versione di Cosimo Bartoli. In: Rinascimento 42 (2002), S. 171–351. – A. D. Hg. Klaus Albrecht Schröder u. Maria Luise Sternath. Ostfildern 2003 (Ausstellungskat.). – Claudia Wiener: Hochmittelalterl. Marienlob? Benedictus Chelidonius’ Elegien in ihrem Verhältnis zu Baptista Mantuanus’ ›Parthenice Mariana‹ u. D.s ›Marienleben‹. In: Lat. Lyrik der Frühen Neuzeit. Hg. Beate Czapla u. a. Tüb. 2003, S. 96–131. – Thomas Schauerte: Von der ›Philosophia‹ zur ›Melencolia I‹. Anmerkungen zu D.s Philosophie-Holzschnitt für Konrad Celtis. In: Pirckheimer Jb. für Renaissanceu. Humanismusforsch. 19 (2004), S. 117–140. –
Dürer David Price: A. D.s Renaissance: humanism, reformation and the art of faith. Ann Arbor 2005. – Gerd Unverfehrt: Da sah ich viel köstl. Dinge. A. D.s Reise in die Niederlande. Gött. 2007. Matthias Mende / Red.
Dürer, Hieronymus, * Dez. 1641 Glückstadt, † 6.7.1704 Osnabrück. – Evangelischer Theologe; Romancier u. Erbauungsschriftsteller. Der Urenkel von Albrecht Dürers Bruder Hans studierte ab 1662 Theologie in Leipzig, war Hauslehrer in Hamburg u. von 1674 an luth. Pastor in Haarlem/Niederlande. 1685 wurde er Oberpfarrer an St. Katharinen in Osnabrück, 1687 Superintendent. 1668 veröffentlichte D. in Hamburg sein Hauptwerk, den Roman Lauf der Welt und Spiel des Glücks (Nachdr. Hildesh. 1984), der wiederholt neu aufgelegt wurde (Hbg. 1681. o. O. 1685. Hann. 1687. Ffm./Lpz. 1739 u. 1740. Lpz. 1742. Nürnb. 1795). Er schildert, in der Ich-Form wie der Schelmenroman u. nicht ohne zuweilen aufdringl. Moralisierung, Herkunft u. Geschicke des verbummelten Studenten Tychander. Der Held zieht nach dem Tod der Eltern, von seinen Freunden verlassen u. von der Geliebten betrogen, in die Welt u. erlebt Auf u. Ab der Fortuna. Er kommt zu Geld, das er aber bald wieder verliert. Schließlich bringt er es zum König von Abessinien, wird aber gestürzt u. ist so arm wie zuvor. In der Liebe jedoch macht er gegenläufige Erfahrungen: Nach der Enttäuschung mit der geldgierigen Dirne in seiner Studentenzeit lernt er an seinen Gattinnen Treue bis in den Tod kennen. Am Ende erkennt Tychander die Nichtigkeit alles Irdischen u. die große eigene Sündigkeit. Zur Einsicht gekommen, erzählt u. kommentiert er sein Leben. Das Werk, dessen zentrale Themen die Unbeständigkeit des Glücks u. die Macht der Liebe sind, kombiniert Züge des pikaresken u. des höfisch-histor. Romans. Es ist ein wichtiges Zeugnis der dt. Rezeption des span. Pikaroromans, da D. für die Geschichte des Tychander zwei Kapitel aus dem Lazarillo de Tormes verwertete. Außer seinem Roman
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verfasste D. polemische, religiös-erbaul. bzw. pastoral ausgerichtete Schriften. Weitere Werke: Arcus triumphalis, P. Cornelio Hazard, Jesuitae Antwerpiensi ob insignem victoriam [...] erectus. Amsterd. 1675. – Lehr- u. trostreiche Sterbens-Gedancken. Amsterd. 1678. Osnabr. 1697. – Grondig Bericht van de Tegenwoordige Onlusten in de Lutersche Gemeente tot Haerlem [...]. Haarlem 1683. – Korte Antwoordt op het Faem-roovende Pasquil [...]. Haarlem 1683. – Die Hoffnung Israëls, oder: Gründl. u. ausführl. Beweiß, daß noch vor dem jüngsten Tage, die Fülle der übrigen Heyden in die Kirche eingehn, u. auch das Groß des jüd. Volcks, zu Christo solle bekehret werden [...]. Hann./Wolfenb. 1698. – Das Geheimniß des Reiches Jesu Christi [...]. Hann. 1701. – Gläubiger Christen wahrer Hertzens-Trost. Osnabr. 1702. Literatur: Walter Schäfer: Effigies Pastorum. Die Pastoren an St. Katharinen. Osnabr. 1960, S. 78–80. – Jürgen Mayer: Mischformen barocker Erzählkunst. Mchn. 1970. – Franz Heiduk: H. D. In: MLN 86 (1971), S. 385–387. – Karin Unsicker: Weltl. Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974, S. 251–272. – Dies.: H. D. In: BLSHL. – DBA 256,112–114. – Stefan Trappen: Jugendtorheit, Brötchenarbeit, Heilsbemühung. Erzählmotivationen u. ihre sozialgeschichtl. Fundierung beim niederen Roman v. Beer, D., Grimmelshausen, Reuter u. Riemer. In: Johann Beer – Schriftsteller, Komponist u. Hofbeamter 1655–1700. Hg. Ferdinand van Ingen u. Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 401–419. Guillaume van Gemert / Red.
Dürrenmatt, Friedrich (Reinhold), * 5.1. 1921 Konolfingen/Schweiz, † 14.12.1990 Neuchâtel/Schweiz. – Dramatiker, Erzähler, Essayist; Maler. D.s behütete Kindheit war reich an sinnl. Eindrücken aus der bäuerl. Umwelt im Emmental (Kt. Bern), reich aber auch an Geschichten – insbes. durch die elterl. Erzählungen aus der griech. Mythologie u. der Bibel, wie D. sich in seinen autobiogr. Stoffen erinnert. Zgl. führte die Rolle des protestant. Pfarrerssohns in der Dorfjugend zur Erfahrung des Außenstehens u. der Isolation, die sich mit dem Umzug der Familie 1935 in die Stadt Bern, wo D. das Gymnasium besuchte (Matura 1941), weiter akzentuierte. Der junge Mann fühlte sich in den Kriegsjahren in
der Schweiz gefangen in einer Schein-Idylle u. sympathisierte in seiner Rebellion gegen den Vater anfangs mit Nazi-Deutschland. In die Zeit des Literatur- u. Kunstgeschichts-, später des Philosophie- u. Psychologiestudiums in Bern u. Zürich fallen die ersten Erzählungen u. dramat. Versuche. D. war in dieser Phase unentschieden zwischen Malerei u. Schriftstellerei. 1946 traf er mit dem Abbruch des Studiums die Entscheidung für das Schreiben als Beruf, doch zeichnete u. malte er weiterhin. D.s Ehe mit der Schauspielerin Lotti Geissler (1946) entstammen drei Kinder (Peter geb. 1947, Barbara geb. 1949, Ruth geb. 1951). Die Familie lebte zunächst in Basel, dann in Ligerz am Bielersee u. schließlich – ab 1952 – in Neuchâtel, im französischsprachigen Teil der Schweiz. Den Lebensunterhalt der Familie verdiente D., der sich seit der Uraufführung seines Stücks Es steht geschrieben (Schauspielhaus Zürich 1947) in erster Linie als Dramatiker verstand, in den frühen 1950er Jahren v. a. mit Theaterkritiken, Kriminalromanen u. Hörspielen. Der endgültige Durchbruch gelang ihm mit der trag. Komödie Der Besuch der alten Dame (Urauff. Zürich 1956), die innerhalb von kurzer Zeit zum Welterfolg wurde u. D. aller finanziellen Sorgen enthob. Die Jahre danach standen ganz im Zeichen der dramat. Arbeit. Einen zweiten Höhepunkt des internat. Aufsehens erlebte D. mit der Komödie Die Physiker (Urauff. Zürich 1962). War er bis dahin v. a. mit dem Schauspielhaus Zürich verbunden, so beteiligte er sich 1968/69 an Werner Düggelins Direktion der Basler Theater. Die kurze, intensive Zusammenarbeit, die D. nachträglich als seine glücklichste Zeit am Theater bezeichnete, endete in einem z.T. öffentlich ausgetragenen Streit. Nach Herzinfarkten 1969 u. 1975 u. aufgrund zunehmender Misserfolge mit neuen Stücken zog sich D. ab Mitte der 1970er Jahre mehr u. mehr vom Theater zurück u. konzentrierte sich auf erzählerische u. essayist. Prosa. Im Mittelpunkt des Spätwerks steht die sich über mehr als 20 Jahre hinziehende Arbeit am Projekt der »Geschichte meiner Schriftstellerei«, der sog. Stoffe (Stoffe I-III. Zürich 1981. Turmbau: Stoffe IV-IX. Zürich 1990). Nach dem Tod seiner ersten Frau im Jan. 1983 stürzte D.
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in eine große Krise, aus der erst die Begegnung mit der Schauspielerin u. Filmerin Charlotte Kerr herausführte, die den vierstündigen Dokumentarfilm Portrait eines Planeten über D. drehte. Aus dieser Beziehung (Heirat 1984) schöpfte der Autor neue Energie u. neue Motive, wie auch schriftlich dokumentierte dramaturg. Gespräche (Rollenspiele: Protokoll einer fiktiven Inszenierung und Achterloo III. Zürich 1986) bezeugen. Kurz vor seinem 70. Geburtstag starb D. an einem Herzversagen. D. wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter der Hörspielpreis der Kriegsblinden (1956), der Schillerpreis der Stadt Mannheim (1959), der Grosse Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (1960), der Österreichische Staatspreis für Europäische Dichtung (1983), der Jean-Paul-Preis (1985), der Georg-Büchner-Preis (1986) sowie der ErnstRobert-Curtius-Preis für Essayistik (1989). Hinzu kommen fünf Ehrendoktorate. Die frühen Erzählungen, z.T. bereits während des Studiums entstanden u. mehrheitlich im Band Die Stadt (Zürich 1952) vereint, führen die Protagonisten – oft Ich-Erzähler – in albtraumhafte Situationen; sie sind Gefangene in labyrinthischen Anlagen oder Zeugen gewalttätiger Exzesse in einer düsteren, undurchschaubaren, heillosen Welt, die nur sehr vage den histor. Kontext des Weltkriegs anklingen lässt. Einflüsse des Expressionismus sind spürbar, die Motive erinnern z.T. an Franz Kafka. D. selbst unterstreicht die Bedeutung seiner philosoph. Lektüre (Platon, Kant, Kierkegaard) für die Entwicklung seines Schreibens. Erst in der zuletzt entstandenen Erzählung des Bandes Die Stadt, Der Tunnel, entwickelt sich der humorvolle Grundton, der das existentielle Pathos der frühen Texte bricht u. charakteristisch für das Gesamtwerk D.s wird: Eine alltägl. Bahnfahrt wird zum rasenden Sturz ins Erdinnere, den der Protagonist, ein verbummelter, weltabgewandter Student, »nicht ohne gespensterhafte Heiterkeit« mit den Worten kommentiert: »Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu.« Der christolog. Rahmen, den die erste u. letzte Erzählung des Bandes, Weihnacht u. Pilatus, bilden, verweist auf die Bedeutung der religiösen Auseinanderset-
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zung, insbes. mit Karl Barths dialektischer Theologie, als Ausgangspunkt D.s. Bis in die spätesten Texte, etwa den Roman Durcheinandertal (Zürich 1989), bleibt religiöses Denken strukturbildend, wenn D. auch aus der zunehmenden Distanz des Skeptikers u. Agnostikers schreibt, dem der Glaube eine ausschließliche Sache des Subjekts ist u. der in den späten Jahren zum erklärten Atheisten wird. Die Kriminalromane zeigen von Beginn an eine iron. Haltung den Konventionen des Genres gegenüber: In Der Richter und sein Henker (Einsiedeln/Köln/Zürich 1952) bedient sich der Berner Kommissär Bärlach am Ende seiner Karriere der Mittel des Verbrechers, indem er seinen ewigen Gegenspieler Gastmann, dem er keines seiner zahlreichen Verbrechen nachweisen konnte, indirekt u. jenseits des Gesetzes für einen Mord hinrichten lässt, den dieser gar nicht begangen hat. Im zweiten Bärlach-Roman, Der Verdacht (Einsiedeln/Köln/Zürich 1953), nimmt D. erstmals direkt Bezug auf die Zeitgeschichte, geht es doch um einen Schweizer Arzt, der in einem Nazi-Konzentrationslager seine Patienten durch Operationen ohne Narkose folterte u. nach dem Krieg unerkannt eine Privatklinik in Zürich führt. Der Roman Das Versprechen (Zürich 1958) bildet einen nachträgl. Gegenentwurf zum Kriminalfilm Es geschah am hellichten Tag, für den D. das Drehbuch schrieb. Der geniale Detektiv Matthäi läuft im Roman ins Leere, da der Serienmörder, bevor die logisch u. psychologisch richtig konzipierte Falle zuschnappen kann, bei einem Autounfall ums Leben kommt, was Matthäi erst viel später erfährt. Hier manifestiert sich zum ersten Mal deutlich D.s zentrales Thema der Diskrepanz zwischen menschlichem Erkenntnis- u. Ordnungsanspruch u. der grundsätzl. Unberechenbarkeit der Welt. In Justiz, um 1960 begonnen, aber erst 1985 abgeschlossen u. publiziert (Zürich), wird der Prozess der Detektion des Verbrechens in dessen Dissimulation verkehrt: Ein zunächst offensichtlicher, in einem belebten Restaurant begangener Mord verliert im Verlauf der Untersuchung durch die zunehmende erinnernde Vermittlung des Geschehens seine unmittelbare Evidenz, bis das Fehlen von
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plausiblen Motiven schließlich im Revisionsprozess zum Freispruch für den gleich nach der Tat verhafteten Mörder führt. In der Entwicklung der Kriminalromane widerspiegelt sich D.s allmähl. Umorientierung von moralischen zu erkenntniskrit. Fragestellungen. D.s Interesse für Erkenntnistheorie u. Naturwissenschaften zeigt sich auch in Essays u. Reden wie dem Vortrag Albert Einstein (Zürich 1979), gehalten an der ETH Zürich zum hundertsten Geburtstag: Einsteins Scheitern beim Versuch, die Relativitätstheorie mit der Quantentheorie in einer allgemeinen Feldtheorie zu vereinen, interpretiert D. als notwendige Folge des unüberbrückbaren Grabens zwischen wiss. Welt-Modellen u. der Welt »an sich«, mithin als Konsequenz davon, dass wir stets in menschl. Kategorien u. Denkrastern befangen bleiben, »dass wir die Welt der Erscheinungen nie zu durchstoßen vermögen«. Unter dem Eindruck der Quantentheorie u. der Heisenberg’schen Unschärferelation entwickelt D. auch seine Dramaturgie des Zufalls, die die bloß statist. Gesetzmäßigkeit u. Unberechenbarkeit im Einzelfall vom physikal. Mikrobereich auf das menschl. Verhalten überträgt. Ins Spätwerk findet insbes. die Kosmologie Eingang, wobei sich naturwiss. Modelle mit religiösen Denkfiguren zu apokalypt. Szenarien verbinden. Der religiöse Ausgangspunkt prägt, wie die ersten Erzählungen, auch D.s frühe Dramatik, das Wiedertäufer-Stück Es steht geschrieben (Basel 1947), das D. in der Uraufführung am Schauspielhaus Zürich aufgrund der drastisch-grotesken Sprache einen skandalträchtigen Antritt als Dramatiker bescherte, u. Der Blinde (Zürich 1960. Urauff. Basel 1948), eine Variante der Hiob-Geschichte in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, an deren Ende die bedingungslose Unterwerfung unter die unberechenbare Willkür u. Gnade eines verborgenen Gottes, eines Deus absconditus, steht. Die dramat. Anfänge lassen sich schwer in eine Tradition einordnen, sie zeigen Einflüsse von Büchner u. Grabbe, aber auch von zeitgenöss. Dramatikern wie Paul Claudel. Mit Romulus der Grosse (Zürich 1958. Urauff. Basel 1949) wendet sich D. vom dominieren-
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den religiösen Pathos der ersten Stücke ab – er lässt sie für weitere Aufführungen sperren – u. hin zur polit. Komödie. Er beruft sich dabei auf Aristophanes, der mittels des verfremdenden, grotesken Einfalls jene Distanz schaffe, deren es zur krit. Darstellung des zeitgenöss. Gemeinwesens bedürfe. Die »ungeschichtliche historische Komödie« stellt den Untergang Roms dar, der vom letzten, Hühner züchtenden u. scheinbar verantwortungslosen Kaiser gezielt vorangetrieben wird, indem er das Reich widerstandslos den einmarschierenden Germanen übergibt, da es seiner Ansicht nach seine Existenzberechtigung durch seinen Imperialismus verloren hat. Ähnlich wie Brecht hat D. viele seiner Stücke immer wieder aktualisiert u. variiert – von Romulus der Grosse gibt es fünf Fassungen, die aus dem listigen u. souveränen Richter über sein Reich allmählich einen Scheiternden machen. Während Die Ehe des Herrn Mississippi (Zürich 1952) – nach der Uraufführung in München 1952 das erste auch in Deutschland erfolgreiche D.-Stück – eine Konfrontation der Ideologien in Szene setzt, deren Vertreter in ihren Weltverbesserungsansprüchen allesamt an der Ungreifbarkeit einer opportunist. Frau Welt scheitern, wird in Ein Engel kommt nach Babylon (Zürich 1954. Urauff. München 1953) erneut das Verhältnis von individueller Existenz u. Staatsinteresse zum Thema. Die Handlung entwickelt sich aus der gegenseitigen Ausschließung von Glück u. Macht: Der König Nebukadnezar kann nicht zgl. Herrscher über sein Reich u. Geliebter des vom Himmel gesandten Kindes Kurrubi, einer allegor. Gnadenfigur, sein, die dem Ärmsten der Menschen versprochen ist. Die Empörung über diese Ungerechtigkeit Gottes treibt ihn zum Bau des Turms zu Babel. Die Hörspiele – entstanden mehrheitlich zwischen 1950 u. 1957 – dienten D. als dramatisches Experimentierfeld. Er entwickelt in dieser Kleinform eine dialekt. Dialogtechnik, die durch die zeitl. Beschränkung u. die Notwendigkeit, die ganze Situation sprachlich zu vergegenwärtigen, zu konzentrierten dramat. Parabeln führt. Viele davon wurden denn auch von D. selbst oder anderen in Theaterfassungen auf die Bühne gebracht.
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Kritisch beleuchtet werden in den Hörspielen der medial orchestrierte Heroen- u. Starkult (Stranitzky und der Nationalheld. Erstsendung 1952. Erstausg. Zürich 1959. Herkules und der Stall des Augias. Erstsendung 1954. Erstausg. Zürich 1954. Abendstunde im Spätherbst. Erstsendung 1957. Erstausg. Zürich 1959), das rücksichts- u. skrupellose Blockdenken der Großmächte (Das Unternehmen der Wega. Erstsendung 1955. Erstausg. Zürich 1969) u. ihr verantwortungsloses Spiel mit dem Feuer (Der Prozess um des Esels Schatten. Erstsendung 1951. Erstausg. Zürich 1958). Doch auch Sterben (Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen. Erstsendung 1952. Erstausg. Zürich 1957) u. Schuld (Der Doppelgänger. Entstanden 1946. Erstsendung 1960. Erstausg. Zürich 1960. Die Panne. Erstsendung 1956. Erstausg. Zürich 1961) werden in dieser dialekt. Form thematisiert. Im letztgenannten Hörspiel, das kurz nach der Erstsendung auch als Erzählung publiziert wurde (Zürich 1956), gerät ein Textilvertreter aufgrund einer Autopanne zufällig in einen privaten Herrenabend auf dem Lande. Er spielt als Angeklagter mit bei einem Gerichtsspiel der Juristen-Rentner, welche die ihm selbst zuvor nicht bewusste Schuld am Herzinfarkt-Tod seines einstigen Vorgesetzten nachweisen u. ihn für dieses Alltagsverbrechen zum Tod verurteilen. Während sich in der Hörspielfassung das Schuldbewusstsein des Vertreters am darauffolgenden Morgen mit der Ausnüchterung verflüchtigt hat, nimmt er in der Erzählfassung das Spiel ernst u. erhängt sich, betrunken u. erschüttert von der Größe seiner Schuld, im Gästezimmer. D.s erfolgreichstes Stück, die »tragische Komödie« Der Besuch der alten Dame (Zürich 1956), konzentriert sich ebenfalls auf die Schuldthematik. Es handelt von der Rückkehr der Milliardärin Claire Zachanassian ins Städtchen ihrer Jugend, Güllen. Sie verspricht unermessl. Geldsegen u. fordert dafür als Preis die Ermordung ihres verräterischen Jugendgeliebten, was zunächst empört zurückgewiesen, aber am Schluss aufgrund der hoffnungslosen Verschuldung der Güllener unausweichlich wird. D. interessiert die Dynamik von Kollektiv- u. Individualverhalten, er demonstriert im Experiment der alten
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Dame, wie die Verlockung des Geldes die kollektive Moral unterwandert: Erst in der Vereinzelung, wie sie der Krämer Alfred Ill erfährt, ist der Mensch fähig zu einer moral. Haltung u. zur Anerkennung von Schuld. Die »Komödie als Mausefalle« lockt den Betrachter zunächst im Stil einer heiteren Dorfposse ins Spiel, um dann allmählich in die Groteske zu kippen. D. traf mit dem Stück ins Zentrum der in der Nachkriegszeit aktuellen Debatten um den Zusammenhang von Schuldverdrängung u. Wirtschaftswunder, doch wurde die Parabel um die Macht des Geldes weltweit immer wieder in anderen kulturellen u. polit. Kontexten interpretiert u. adaptiert. D.s Dramenpoetik, die er exemplarisch im Essay Theaterprobleme (Zürich 1955) formuliert hat, basiert auf dem Verständnis der eigenen Epoche als einer heruntergekommenen Spätzeit, der nur noch die Komödie beikomme. Begründet wird diese These mit der Anonymisierung politischer Prozesse, die es nicht mehr erlaube, in der Tradition Schillers Repräsentanten der Macht in ihren trag. Konflikten ins Zentrum der Handlung zu stellen: Das Mittel der Groteske ermögliche es, der gesichtslosen Epoche wieder ein Gesicht zu verleihen. Das Komische u. Groteske erzeugten beim Rezipienten die für ein kritisches Verständnis notwendige Distanz gegenüber dem Geschehen. Seine literar. Fiktionen sieht D., wie er in späteren Essays erläutert, nicht in einem mimet. Verhältnis zur Welt, sondern er versteht sie als Gegen- oder Parallelwelten mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die nur indirekt etwas über die Welt aussagen. Dies gilt insbes. für die »Oper einer Privatbank« Frank V. (Urauff. Zürich 1959. Erstausg. Zürich 1960), die immer wieder mit Brechts Dreigroschenoper verglichen wurde, während sie der Autor eher als parodist. Transposition eines Shakespeare’schen Königsdramas ins Zeitgenössische, des Politischen ins Ökonomische, verstand. Nach dem Misserfolg der Bankenkomödie fand D. mit Die Physiker (Zürich 1962) wieder die Zustimmung des Publikums u. – etwas weniger uneingeschränkt – der Kritik. Das Stück um den genialen Physiker Möbius, der sich aus Angst vor der destruktiven Ausbeutung sei-
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ner Entdeckungen durch die Technik in eine Irrenanstalt flüchtet u. sich dabei fatalerweise in die Arme einer verrückten, machtbesessenen Irrenärztin begibt, bildet ein hochartifizielles Spiel mit der klass. Dramentradition. In seiner Skepsis gegenüber den zerstörer. Möglichkeiten der Forschung nimmt es indirekt Bezug auf die Debatte um die atomare Bewaffnung in Europa. Das Stück wird bereits im Jahr der Zürcher Uraufführung in Deutschland gleichzeitig auf weit über 40 Bühnen gespielt. Im Programmheft der Uraufführung formuliert D. das mittlerweile sprichwörtliche dramat. Programm der »schlimmstmöglichen Wendung«, die dann erreicht sei, wenn der Zufall die Pläne von Menschen so durchkreuze, dass sie das Gegenteil des Angestrebten erreichten. Mit der Komödie Der Meteor (Zürich 1966) um die repetitive Auferweckung eines sterbenden Erfolgsschriftstellers, dem das Nicht-SterbenKönnen zum Fluch wird, sowie den während der Basler Ko-Direktion mit Werner Düggelin entwickelten Bearbeitungen König Johann (nach Shakespeare, Urauff. Basel 1968. Erstausg. Zürich 1969) u. Play Strindberg (Urauff. Basel 1969. Erstausg. Zürich 1969), einer zur schwarzen Ehe-Komödie verdichteten Variation auf Strindbergs Totentanz, feierte D. seine letzten größeren Erfolge als Dramatiker. D.s Theaterarbeit dieser Zeit war – wohl nicht zuletzt im Zeichen der Beckett-Rezeption – geprägt von einer Tendenz zur Verknappung der Dialoge u. zu immer düstereren Szenarien. Diese Tendenz spitzt sich zu in der Komödie Der Mitmacher (Urauff. Zürich 1973) um ein mafiöses Leichenvernichtungsunternehmen in einer Großstadt. Der katastrophale Misserfolg dieser Komödie führte D. vor Augen, dass er in eine Sackgasse geraten war. Aus dieser schrieb er sich in einem langsamen u. mühseligen Arbeitsprozess heraus, im Mitmacher-Komplex (Zürich 1976), der neben dem Text des Stücks ein langes »Nachwort« u. »Nachwort zum Nachwort« enthält. Darin entwickelt D. die Form subjektiv vermittelten Schreibens, die für sein Spätwerk, insbes. für das Großprojekt der Stoffe, charakteristisch ist: Es ist eine Form, welche die Reflexion über das Stück verbindet mit Erinnerungen an die biogr.
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Entstehungsumstände, einer Rekonstruktion der ersten Fassung des Stoffs in Novellenform (Smithy) u. der Weiterentwicklung von Motiven des Stücks aus der dramaturg. Diskussion heraus in der eingeschobenen Erzählung Das Sterben der Pythia, die zgl. eine komplexe parodist. Variation des Ödipus-Stoffes bildet. Diese Mischform hält den literar. Stoff in der Schwebe zwischen subjektivem Ursprung u. objektivierter Gestalt in der dramatischen oder erzählerischen Fiktion, zwischen philosophierender Reflexion u. fiktionaler Handlung, zwischen Entwurf u. Vollendung, wobei immer mehr der Schreibprozess selbst in den Vordergrund rückt u. die Vollendung des Werks zum unerreichbaren Fluchtpunkt wird. D.s nicht ganz alltägliches Schicksal als Autor war geprägt von der Tatsache, dass er, der in den 1950er Jahren mit Max Frisch zus. das deutschsprachige Theater nach Brecht geprägt hatte, in der Mitte seines Lebens einerseits als Autor von »Klassikern« kanonisiert u. andererseits als aktueller Dramatiker vom Theaterbetrieb abgeschrieben wurde: Er blieb für viele der Moralist der fünfziger u. frühen sechziger Jahre, dessen Werke Patina angesetzt hatten. Für seine neuen Stücke interessierten sich keine großen Theater u. Regisseure mehr – nach dem Mitmacher entstanden immerhin noch Die Frist (Zürich 1977) um das Sterben eines Diktators u. Achterloo (Urauff. u. Erstausg. Zürich 1983. 4. Fassung: Urauff. Schwetzingen 1988. Erstausg. Zürich 1989), ein von Fassung zu Fassung vielschichtigeres u. verwirrenderes postdramat. Rollenspiel mit histor. Figuren, das alte Motive von D. wie den Verrat aus politischem Verantwortungsbewusstsein, den Tyrannenmord aus Verblendung u. die Welt als Irrenhaus aufnimmt. D.s spätes Prosawerk wurde nicht nur von einem Teil der Kritik, sondern auch von den Autoren der meistgelesenen Monografien zu seinem Werk (Knapp, Knopf) ohne genauere Untersuchung sehr skeptisch aufgenommen. Doch greift etwa der dort geäußerte Vorwurf der Wiederholung alter Motive zu kurz, entspricht doch dieses Merkmal nicht einem Mangel an Einfällen, sondern einem reflektierten literar. Gestus. Im Zentrum steht das
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Projekt der Stoffe (Stoffe I-III. Zürich 1981. Neuausg. als Labyrinth: Stoffe I-III. Zürich 1990 u. Turmbau: Stoffe IV-IX. Zürich 1990), von D. auch als »Dramaturgie der Phantasie« bezeichnet. Darin wird die biogr. Schilderung des Werdegangs zum Schriftsteller verknüpft mit der Rekonstruktion u. Neugestaltung früher, ungeschriebener oder fragmentar. Stoffe. Die große apokalypt. Erzählung Der Winterkrieg in Tibet (Stoff I) nimmt aus der Erzählung Die Stadt das Motiv eines unterird. Labyrinths auf, das hier, verbunden mit einem Kampf aller gegen alle, ins Monströse gesteigert ist. Die Beschreibung der Vorgänge im Tunnelsystem bildet zgl. eine Variation auf Platons Höhlengleichnis (aus dem Staat) u. wandelt dieses zum Sinnbild menschlicher Verblendung. Im Kontext dieser Erzählung entwickelt D. seine »Dramaturgie des Labyrinths«: Labyrinthische Strukturen werden nicht nur auf die figurale Ebene bezogen, sondern auch auf das Erzählen selbst, das die verschiedenen Perspektiven des LabyrinthErbauers Dädalus, des Minotaurus u. des Minotaurus-Bezwingers Theseus in verschiedenen Erzählpositionen in sich vereinigt u. verwirrend ineinander übergehen lässt. Das Labyrinth-Motiv wird weiter entwickelt im poet. Text Minotaurus, Eine Ballade (Zürich 1985), der mit Tuschezeichnungen des Autors illustriert ist u. einen neuen, trag. Ton in D.s Werk brachte: In rhythmischer Prosa zeigt D. das Drama eines im Spiegellabyrinth gefangenen Minotaurus, der zur Figur des absolut Einzelnen wird, getrieben von der Sehnsucht nach Menschwerdung u. nach dem Du, das ihm versagt bleibt. Die Novelle Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter (Zürich 1986), geschrieben in 24 kapitellangen Sätzen, verbindet Elemente eines Polit-Thrillers in einer Welt totaler Observation mit dem Motiv der Wüstenfahrt als Identitätssuche, die jedoch nicht aus einem Kabinett von Spiegelungen hinausführt: Identität scheint nur als multiple u. konstruierte denkbar, es gibt keinen festen Kern, den man finden u. an den man sich halten kann. Der Roman Durcheinandertal (Zürich 1989) schließlich verbindet einen grotesken Antiheimatroman mit einer an barockes Welttheater erinnernden metaphys. Ebene,
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auf der ein manichäisches Götterpaar sich gegenübertritt. Der Hauptakzent liegt jedoch auf den verflochtenen Erzählstrukturen, die als »ironische Kosmographie« (Meyer 2001), als spielerisch-allegor. Umsetzung wissenschaftlicher Diskurse wie Chaos- u. Spieltheorie in Überlagerung mit Elementen mythologischer u. theolog. Diskurse interpretiert wurden. Die letzten öffentl. Auftritte des Autors waren Laudationes für Michail Gorbatschow u. Václav Havel nach dem Fall der Berliner Mauer – als Endpunkte einer langen Reihe von polit. Reflexionen: War D. zunächst sehr zurückhaltend mit Äußerungen zum polit. Zeitgeschehen gewesen u. hatte sich auf allgemeine Diagnosen über das Zeitalter beschränkt, so blieb er nicht unberührt von der Politisierung der Kultur in den 1960er Jahren. Er äußerte sich vermehrt zu aktuellen Ereignissen u. entwickelte sein »dramaturgisches Denken«, indem er polit. Strukturen unter Einbezug von Modellgeschichten u. deren Variation interpretierte u. kommentierte – angefangen mit dem Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht (Zürich 1969) über das Spannungsverhältnis von Freiheit u. Gerechtigkeit in verschiedenen Gesellschaftsformen. Erwähnenswert ist insbes. der große Israel-Essay Zusammenhänge (Zürich 1976), der in (religions-)historischer Perspektive die Wurzeln des Konflikts zwischen Israel u. den Palästinensern, aber auch mögl. Wege der Versöhnung aufzeigt. Obwohl D.s polit. Stellungnahmen durchaus philosophisch fundiert u. durchdacht waren, provozierte er aufgrund der humorist. Eigenwilligkeit u. der Vorliebe für groteske Veranschaulichungen eher, als dass er ernst genommen wurde. Zuletzt geschah dies bei einer Preisrede auf Havel, worin er im Nov. 1990, wenige Wochen vor seinem Tod, indirekt eine zentrale polit. Frage nach dem Zusammenbruch des sozialist. Ostblocks auf den Punkt brachte: Statt den neuen tschechoslowak. Präsidenten u. Schriftstellerkollegen im freien Westen zu empfangen, begrüßte er ihn im Gefängnis Schweiz, in einem Gefängnis, in dem durch die gegenseitige Überwachung jeder zgl. Wärter u. Gefangener sei u. das sich selbst aufrechterhalte durch die Art, wie man Frei-
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heit als Besitz statt als existentielle u. polit. Aufgabe verstehe. Diese Rede markiert den Endpunkt eines Werks, das maßgeblich durch die Konstellation des Kalten Kriegs geprägt wurde, das jedoch durch die bewegl. Haltung des »Querdenkers« u. seine eigenwillige Orientierung an Kant u. Kierkegaard nie recht in die aktuellen intellektuellen Diskurse passte, aber aus der Distanz punktuell seine unzeitgemäße Aktualität erkennen lässt. Es ist ein skeptisches Denken u. Schreiben, das auf der Position des Einzelnen u. seiner Subjektivität als Bedingung von Freiheit beharrt, ein Insistieren auf dem »Trotzdem«, das sich der Versuchung zur Resignation widersetzt, ohne sich auf utop. Perspektiven einzulassen. D.s Schreiben ist charakterisiert als fantasievolles Schöpfen von Eigen- u. Gegenwelten, die untereinander durch Korrespondenzen u. Motivvariationen vernetzt sind, sodass die Einzelwerke Bausteine zu einem eigenen Kosmos bilden: Nicht zufällig steht am Schluss der Stoffe (im Band Turmbau) die Fiktion Das Hirn, in der die Entstehung des Kosmos u. der Erde seit dem Urknall als Kopfgeburt, als Emanation eines Welt-Hirns durchgespielt wird – eine Fiktion, die der Autor allerdings mit der autobiogr. Beschreibung eines Besuchs der Gedenkstätten von Auschwitz u. Birkenau abbricht, an deren unausweichlicher Faktizität die Lust am NeuErdenken der Welt zerschellt. Über die Jahrzehnte ist als Komplement zu den Gedankenwelten D.s im Privaten ein Bildwerk entstanden, das nach D.s Tod in einer Dauerausstellung im Centre Dürrenmatt in seinem Wohnhaus in Neuchâtel für die Öffentlichkeit zugänglich wurde. D. war Autodidakt, seine Malereien sind von expressiver Direktheit. In den Zeichnungen entwickelte er – neben vielen humoristischen, rasch hingeworfenen Karikaturen – mit der Feder einen Stil in dichten, feinen Linien u. Schraffuren, der im Gesamteffekt ein wenig an traditionelle Stiche erinnert, während die Figurengestaltung expressionistisch verzerrt ist u. die Szenarien meist grotesk u. gewalttätig sind. Oft basieren sie auf biblischen u. mytholog. Motiven, die umgedeutet oder parodistisch variiert werden. Verknüpfungen
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mit dem literar. Werk ergeben sich durch gemeinsame Themen u. Motive – etwa jenes des Labyrinths u. des Minotaurus oder des Turmbaus zu Babel –, gelegentlich sind die Bilder auch Illustrationen zu den Theaterstücken. Während in der breiteren Öffentlichkeit das D.-Bild nach wie vor durch den Schulkanon geprägt ist, d.h. durch die frühen Kriminalromane u. die Erfolgsstücke, die nach wie vor häufig, wenn auch mit sinkender Frequenz, gespielt werden, hat sich das Interesse der Forschung seit D.s Tod deutlich auf das Spätwerk hin verlagert; es gibt Untersuchungen etwa zu den Variationen des Labyrinth-Motivs u. deren narratologischer u. erkenntnistheoret. Relevanz, zu den intertextuellen Bezügen von D.s Werk auf Philosophie u. Naturwissenschaft oder zur Entwicklung prozesshafter u. selbstbezügl. Erzählformen in D.s später Prosa. Wie weit diese Forschungstendenzen nachhaltig auf die Rezeption von D.s Werk Einfluss haben werden, ist noch schwer absehbar. Weitere Werke: Grieche sucht Griechin. Eine Prosakomödie. Zürich 1955. – Abendstunde im Spätherbst. Zürich 1959 (Hörsp.). – Die Wiedertäufer. Komödie. Zürich 1967. – Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare. Zürich 1970. – Porträt eines Planeten: Übungsstück für Schauspieler. Zürich 1971. – Der Sturz. Zürich 1971. – Midas oder Die schwarze Leinwand. Zürich 1991. – Schweizerisches Literaturarchiv/Kunsthaus Zürich (Hg.): F. D. Schriftsteller u. Maler. Zürich 1994. – Gespräche 1961–90. Bd. 1–4, Zürich 1996. – Max Frisch u. F. D.: Briefw. Hg. Peter Rüedi. Zürich 1998. Ausgabe: Werkausg. in 37 Bdn. Zürich 1998. Literatur: Bibliografien: Daniel Keel (Hg.): Über F. D. Zürich 61998, S. 467–562. – Online-Bibliogr. der wiss. Sekundärlit. zu F. D. seit 1987 auf der Homepage des Schweizerischen Literaturarchivs (http://www.nb.admin.ch/slb/org/organisation/ 00783/00974/index.html?lang=de). – Gesamtdarstellungen: Elisabeth Brock-Sulzer: F. D. Stationen seines Werkes. Zürich 1986. – Jan Knopf: F. D. Mchn. 41988. – Hans Mayer: Frisch u. D. Ffm. 1992. – Gerhard P. Knapp: F. D. Stgt./Weimar 21993. – Heinz Ludwig Arnold: Querfahrt mit F. D. Zürich 1998. – Peter v. Matt: D.s Einsamkeit. In: Ders.: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literar. u. polit. Schweiz. Mchn./Wien 2001, S. 241–259. – Hugo Loetscher: F. D. – labyrinth. Erinnerungen. In:
135 Ders.: Lesen satt klettern: Aufsätze zur literar. Schweiz. Zürich 2003, S. 282–375. – Thomas Wörtche: F. D. In: LGL. – Ulrich Weber: F. D. oder Von der Lust, die Welt noch einmal zu erdenken. Bern/Stgt./Wien 2006. – Biografien: Lutz Tantow: F. D. Moralist u. Komödiant. Mchn. 1992. – Charlotte Kerr: Die Frau im roten Mantel. Mchn. 1992. – Peter Rüedi: Fast eine Freundschaft. In: Max Frisch u. F. D.: Briefw. Hg. ders. Zürich 1998, S. 7–91. – Neuere Sammelbände: D. Keel (Hg.): Über F. D. Zürich 6 1998. – Peter Rusterholz u. Irmgard Wirtz (Hg.): Die Verwandlung der ›Stoffe‹ als Stoff der Verwandlung. F. D.s Spätwerk. Bln. 2000. – H. L. Arnold (Hg.): Text + Kritik 50/51: F. D. (32003, Neufassung). – Jürgen Söring u. Annette Mingels (Hg.): D. im Zentrum. 7. Internat. Neuenburger Kolloquium 2000. Ffm. 2004. – Eugenio Spedicato (Hg.): F. D. e l’esperienza della paradossalità. Pisa 2004. – Neuere Forschung: Jürgen Meyer: Allegorien des Wissens. Flann O’Brians ›The Third Policeman‹ u. F. D.s ›Durcheinandertal‹ als iron. Kosmographien. Tüb. 2001. – A. Mingels: D. u. Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform. Köln/Weimar/Wien 2003. – Philipp Burkard: D.s ›Stoffe‹. Zur literar. Transformation der Erkenntnistheorien Kants u. Vaihingers im Spätwerk. Tüb./Basel 2004. – Roland Bursch: ›Wir dichten die Geschichte‹. Adaption u. Konstruktion v. Historie bei F. D. Würzb. 2006. – U. Weber: D.s Spätwerk: Die Entstehung aus der ›Mitmacher‹-Krise. Ffm./ Basel 2007. Ulrich Weber
Dürrenmatt, Ulrich, auch: Christe (Christian) Frymu(e)th, Sebastian (der) Schär(r)mauser, * 20.4.1849 Guggisberg/ Kt. Bern, † 27.7.1908 Herzogenbuchsee/ Kt. Bern. – Lyriker. D. war das jüngste von neun Kindern eines Bergbauern. Nach der Ausbildung am Kantonalen Lehrerseminar Münchenbuchsee (1865 bis 1868, Sekundarlehrerexamen Bern 1873) war er bis 1880 als Lehrer in Hirschhorn, Lorraine/Kt. Bern, Delémont, Frauenfeld u. Thun tätig. Zuerst liberal-radikalem Gedankengut verpflichtet, wandte D. sich Ende der 1870er Jahre den Konservativen zu; er wurde 1886 Großrat u. 1902 Nationalrat. Berühmt wurde er durch seine »Titelgedichte« zu aktuellen Themen, die er in Mundart u. Schriftsprache als Mitarbeiter u. seit 1887 als Redakteur der »Berner Volkszeitung« (»Buchsizeitung«) in fast jeder Nummer er-
Dürrson
scheinen ließ (gesammelt in elf Bänden mit wechselnden Obertiteln. Herzogenbuchsee 1882–1908). D.s Enkel ist Friedrich Dürrenmatt. Weitere Werke: Bärentalpen. Neue, satirischpolit. Schweizerlieder. Herzogenbuchsee 1878. – Der neue Schinderhannes. Herzogenbuchsee 1890 (Gedichte gegen das schweizer. Steuergesetz). – Gedichte. Hg. Johann Howald. Meiringen 1927. – Polit. Gedichte. Hg. u. komm. v. Erich Gruner. Bern 1950. Literatur: Johann Howald: U. D. u. seine Gedichte. 2 Bde., Meiringen 1927. – Erich Gruner: U. D. In: Berner Ztschr. für Gesch. u. Heimatkunde (1949), S. 127–145. – Theres Maurer: U. D. Bern 1975. – Peter Stettler: U. D. In: HLS. Rémy Charbon / Red.
Dürrson, Werner, * 12.9.1932 Schwenningen/Neckar, † 17.4.2008 Schloss Neufra bei Riedlingen. – Lyriker, Erzähler, Essayist, Übersetzer. Nach Kriegsjahren in seiner Geburtsstadt, Nachkriegszeit im Hohenlohischen erlernte D. in Stuttgart einen techn. Beruf. Gefördert durch ein Hohner-Stipendium, holte er das Abitur nach, legte in Trossingen das MusikExamen ab, begann das Studium in Tübingen (Germanistik, Romanistik, Musikwissenschaft), setzte es in München fort u. schloss es in Tübingen mit der Promotion ab. Seine Dissertation thematisierte eine für seine Dichtungen produktive Fragestellung (anhand der Gluck-Vertonungen von KlopstockOden): Musikalisch-poetische Mitteilungsformen im Spannungsfeld von Metrum und Rhythmus. Nach Reisen durch Amerika, Afrika u. Europa lehrte D. 1962–1968 an der Universität Poitiers, danach bis 1978 an einer Privatschule in Zürich. Er übernahm Dozenturen, wirkte bei vielen Vortragsveranstaltungen u. Symposien mit, verfasste als Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks literaturhistor. Sendungen. Nach den Jahren in Frankreich, danach in Hemmenhofen u. Kattenhorn am Bodensee, lebte er seit 1983 als freier Schriftsteller im Schloss Neufra bei Riedlingen/Donau. Er gehörte dem Deutschen Schriftstellerverband, dem PEN-Zentrum u. der frz. Association internationale des critiques littéraires an. Dem Lyrikpreis der Südwestpresse (1951)
Dukus Horant
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folgten mannigfaltige Ehrungen, u. a. der tobiografisches u. poet. Resümee in Lohmann Deutsche Kurzgeschichtenpreis (1973 u. oder die Kunst, sich das Leben zu nehmen – Eine 1983), Stipendien der Länder NRW u. Baden- romaneske Biographie (Tüb. 2007) erzählerisch Württemberg u. des Deutschen Literatur- vorlegte. Bis auf frühe Publikationen (z.B. Hermann fonds, die Stuttgarter u. Überlinger Literaturpreise, die Ehrengabe der Deutschen Hesse, Vom Wesen der Musik in der Dichtung. Stgt. Schillerstiftung Weimar, der Eichendorff- 1957), einige Privatdrucke, Übersetzungen u. Preis, die Einladung in die Villa Massimo. Briefe ist D.s Schaffen in der bislang sechsbändigen Werkausgabe versammelt: 1993 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. D.s Lyrik, zunächst Einflüsse Rilkes, Hesses Bde. 1–3: Gedichte, Bd. 4: Erzählungen verarbeitend u. überwindend (Blätter im Wind. (1992, Bühl/Moos), Bd. 5: Essays zur LiteraStgt. 1959; u. die Sonette Kreuzgänge. Tutt- tur, Bd. 6: Neuere Texte, u. a. Aphoristisches, lingen 1960, unter dem Geburtsnamen Dürr Drama (1997 u. 2002, Baden-Baden/Zürich). erschienen), nahm den Weg über den proLiteratur: Volker Demuth: W. D. In: KLG. duktiven Kontrast zur bildenden Kunst (biHelmut Weidhase bliophile Publikationen mit Holzschnitten von Erich Heckel, HAP Grieshaber, Klaus Dukus Horant, um 1300. – MittelalterliStaeck), fand zu zykl. Formen, die zeitkrit. ches Brautwerbungsepos. Themen mit lakonischer Zuspitzung u. metrischer Intensität aussprachen (Das Katten- Der mit rd. 280 vierzeiligen Strophen nur horner Schweigen. Weingarten 1984; die mit fragmentarisch erhaltene Text ist als letztes antiken Sprachmaßen gearbeiteten Rumäni- Stück einer 1382/83 in hebräischer Kursive schen Elegien. Hbg. 1997; die epigrammat. geschriebenen Handschrift (Cambridge, UniWeltstadt-Impressionen Pariser Spitzen. versity Library, T.-S. 10. K. 22) überliefert, Waldburg 2000). Vom Balladesken bis zur deren Entstehungsort – vorderer Orient oder Nonsense-Poesie (Läuse flöhen meine Lieder. Deutschland – ungeklärt ist; aufgefunden Stgt. 1981) erstreckt sich sein Gedichtwerk, wurde sie in der Genisa der Esra-Synagoge das mit eigenrhythmischer Diktion nicht von Fostat bei Kairo. passiv-poet. Zivilisationsflucht sucht, sonDie sprachl. Lokalisierung des D. H. ist dern wortaktiven »Abwehrzauber gegen den problematisch: Verschiedene Merkmale weiAlltagsterror« (Rede Wozu noch Gedichte? in sen ins Mitteldeutsche, da jedoch das PhoWeimar 1997) beschwört. nemsystem aus dem defektiven GraphemDie Prosa D.s ist dem raffend-kompakten system der hebräischen Schrift, die Vokale Stil der Lyrik nahe (Der Luftkünstler – Dreizehn nur reduziert notiert, gewonnen werden Stolpergeschichten. Schloss Scheer 1983. Sätze muss u. es in der Zeit an eindeutigen lautl. und Halbsätze. 2002). Seine essayist. Schriften Oppositionen zwischen dem Mittelhochsuchen Vergessenes, Verdrängtes zu erinnern deutschen u. dem Jiddischen mangelt, ist die (Hamann, Chamfort, Campana, Rubiner, aber Zuordnung zu einem der beiden Idiome auch Schillerknochen. Warmbronn 2004), die schwierig. Nur der die Hälfte der Handschrift frz.-dt. Übersetzungen den Kulturaustausch einnehmende D. H. ist stoffgeschichtlich dt. durch Kulturkenntnis zu sichern. Sie ver- Herkunft, alle übrigen Texte – drei aus hemitteln in meist zweisprachigen Editionen bräischen Midraschim übertragene Legenneben in Deutschland weniger bekannten den, die Erzählung Joßef ha-zadik u. die Löalten Dichtern (Wilhelm von Aquitanien, wenfabel – stammen aus jüd. Tradition; als Margarete von Navarra) vorzüglich die Pro- Schreiber nennt sich ein »Awroham« (Abramotoren der Moderne (Rimbaud, Mallarmé, ham). Dies sowie sprachsoziologische, morYvan Goll) u. zeitgenöss. Dichtung (Henri pholog. u. lexemat. Kriterien lassen den Michaux, René Char). Zwei szenische Werke Schluss zu, dass alle Texte des Kodex eine (Schubart, Christian Friedrich Daniel. Ffm. 1980 Frühstufe des Jiddischen repräsentieren. u. Erweitertes Vorspiel oder Wozu noch Theater, Das Handlungsschema des D. H. folgt, je2002) gehören zum Œuvre D.s, der sein au- denfalls bis zum fehlenden Schluss, dem für
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Dulk
Brautwerbungsepik geläufigen Typ: Der Dä- drücklich literar. Züge legen, wie die unvernenherzog Horant, berühmt wegen seiner ändert übernommenen, nicht formelhaft Sangeskunst, wird von dem jungen, eltern- umgeprägten Zitate zeigen. Somit ist das losen König Etene als Werbungshelfer aus- Epos auf einer Zwischenstufe der Literarisiegesucht. Die Wahl, die eine standesgemäße rung anzusiedeln; vielleicht repräsentiert der Heirat sichern soll, fällt schließlich auf die einzige Überlieferungszeuge, die Cambridger griech. Prinzessin Hilde. Mit der Person ihres Handschrift, das Repertoire eines VortragenVaters, des wilden Hagen, der jeden Freier den. abweist, taucht das Motiv der gefährl. BrautAusgaben: D. H. Hg. P. F. Ganz, F. Norman u. werbung auf. Horant nimmt nach anfängl. W. Schwarz. Tüb. 1964. Zögern den Auftrag an u. begibt sich mit eiLiteratur: Walter Röll u. Christoph Gerhardt: ner prachtvollen Gesandtschaft, darunter den Zur literarhistor. Einordnung des sog. ›D. H.‹. In: Riesen Asprian, Witold u. Wate, auf die DVjs 41 (1967), S. 517–527. – Manfred Caliebe: ›D. Schiffsreise nach Griechenland. Dort kom- H.‹. Studien zu seiner literar. Tradition. Bln. 1973. men die Boten, die sich als von Etene Ver- – Ders.: ›D. H.‹. In: VL. – Jerold C. Frakes: The triebene ausgeben, bei einem reichen Kauf- Politics of Interpretation. Alterity and Ideology in Old Yiddish Studies. New York 1989, passim. – mann unter. Horant kann während des Gabriele L. Strauch: D. H. Wanderer zwischen zwei Kirchgangs am Pfingstfest Kontakt mit Hilde Welten. Amsterd. u. a. 1990. – Manfred Kern: Veraufnehmen; sein zaubermächtiger Gesang wilderte Heldenepik in hebr. Lettern. Literar. Homacht es möglich, sich mit ihr im Kauf- rizont u. kultureller Austausch im D. H. In: Mhd. mannspalast zu verabreden u. ihr die Wer- Heldendichtung ausserhalb des Nibelungen- u. bung vorzutragen. Der Text bricht ab, als Dietrichkreises. 7. Pöchlarner Heldengespräch. Hg. Hilde der Heirat u. der für das folgende Klaus Zatloukal. Wien 2003, S. 109–134. – Fritz Hoffest geplanten Entführung zustimmt, Peter Knapp: D. H. u. die dt. subliterar. Epik des doch lässt sich der weitere Handlungsverlauf 13. u. 14. Jh. In: Aschkenas 14 (2004), S. 101–123. – – Entführung u. anschließende Verfolgung Wulf-Otto Dreeßen: ›Das was durch eine List getan‹. Zur Variante der ›gefährlichen Brautwerbung‹ durch Hagen – aus dem Hilde-Teil der Kuim D. H. In: ZfdPh 125 (2006), S. 47–60. drun, die dem gleichen Erzählschema folgt, Norbert H. Ott / Red. erschließen. Auch die Handlungsträger Etene, Horant, Hilde, Wate u. a. sind aus dem Hilde-KudrunDulk, Albert Friedrich Benno, auch: RüSagenkreis bekannt; Asprian u. Witold entbezahl, * 17.6.1819 Königsberg, † 29.10. stammen dem Rother-Stoff (König Rother), der 1884 Stuttgart. – Verfasser von Theaterwie andere sog. Spielmannsepen (Salman und stücken, Opernlibretti u. religionsphiloMorolf, Oswald, Orendel) motivische Parallelen sophischen Schriften; Revolutionär, Wiszum D. H. aufweist. Der Verfasser (oder Besenschaftler u. Freidenker. arbeiter) kannte, wie Zitate belegen, auch höf. Literatur (u. a. den Iwein Hartmanns von Aue, D. studierte an der Königsberger Universität, den Lanzelet). Doch muss er die betreffenden belegte naturwiss. u. geisteswiss. Fächer u. Texte nicht zwingend in der durch die promovierte im Fach Chemie. 1843 verfasste Überlieferung repräsentierten Form benutzt er sein erstes Drama (Orla. Zürich/Winterthur haben. Eventuell stand ihm lediglich eine 1844). Am 26. Juli 1844 verübte ein BürgerReihe »klassischer Zitate« zur Verfügung. meister aus Storkow, Heinrich Tschech, ein Das kompilierende Verfügen über Motive Attentat auf König Friedrich Wilhelm IV. u. Handlungsschemata aus unterschiedl. (Tschech. Nachl. D.). 1847 schrieb D. ein DraTextbereichen entspricht der Tradition der ma, das auf dem Jud-Süß-Stoff basiert u. die sog. Spielmannsepik u. der späten Helden- antisemit. Tendenzen der damaligen Zeit auf epik. Die Reimtypenarmut, viele Wiederho- eine außergewöhnlich hellsichtige Art u. lungen u. der formelhafte Stil erklären sich Weise aufzeigt (Lea. Königsb. 1848). Die Komöglicherweise aus einer mündl. Grund- mödie Die Wände hielt die Ereignisse der Reschicht des Textes, über die sich jedoch aus- volution fest (in Zus. mit Otto Seemann. In:
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Ausgabe: Sämmtl. Dramen. Hg. Ernst Ziel. Stgt. Der deutsche Michel. Stgt. 1979, S. 172–208). Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 1893/94. Literatur: Horst Denkler: Revolutionäre Dratrat D. eine Reise nach Ägypten an. 1850 ging es weiter nach Italien u. Deutschland, bis er maturgie u. revolutionäres Drama in Vormärz u. dann mit seiner Familie in die Schweiz zog, Märzrevolution. In: Gestaltungsgesch. u. Gesellan den Genfer See. 1855 vollendete D. sein in schaftsgesch. Hg. Helmut Kreuzer. Stgt. 1969, S. 306–337. – Astrid Schweimler: Tumurkieland. Ägypten begonnenes Drama Jesus der Christ. A. D. – ein mögl. Vorbild für Leonhard Hagebu1856 erfolgte der Umzug nach Stuttgart. Hier cher? In: Jb. der Raabe-Gesellsch. (1991), S. 82–94. entstand ein weiteres fünfaktiges Drama über – Goedeke Forts. – Ilse Walther-Dulk: Die Flucht ein bibl. Thema (Simson. Stgt. 1859). In der nach Ägypten des A. D. Weimar 2002. Künstlergesellschaft »Das Bergwerk« traf D. Astrid Schweimler u. a. mit Wilhelm Raabe zusammen. Von April bis Nov. 1872 unternahm er eine Reise Duller, Eduard, * 9.11.1809 Wien, † 24.7. nach Lappland, über die er später berichtete 1853 Wiesbaden. – Erzähler, Dramatiker, (Fahrten durch Norwegen und die Lappmark. Zus. Journalist u. Historiker. mit Georg Hartung. Stgt. 1877). Im gleichen Jahr erschien der erste Teil des in Ägypten D.s Leben war geprägt von den polit. Spanangelegten freidenkerischen Werkes Die nungen, denen er als liberaler Schriftsteller Stimme der Menschheit (Lpz. 1876). im Vormärz ausgesetzt war. Er studierte in D. war Gründungsmitgl. der SDAP, der Wien Jura u. Philosophie, verließ Österreich Arbeiterpartei, die später zu Sozialdemokra- 1830 wegen der Zensur. Aufgrund seiner tischen Partei wurde; er kandidierte 1876/77 polit. Anschauungen war er zu häufigerem für den Landtag, 1878 für den Reichstag. So Orts- u. Landeswechsel gezwungen; er lebte wurde D. Opfer der Sozialistengesetze Bis- nacheinander in München, Baden-Baden, marcks u. zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Trier, Frankfurt/M., Darmstadt (1836–1849), D. gründete 1882 in Stuttgart die erste dt. Wiesbaden u. Mainz. D. stand in engem Freidenkergemeinde. Als er 1884 starb, geriet Kontakt mit liberalen u. politisch engagierten der Trauerzug zur Demonstration für alle Autoren wie Friedrich von Sallet, Karl Gutzdiejenigen, die sich dem engagierten Mora- kow, Ferdinand Freiligrath u. Christian listen u. Künstler angeschlossen hatten. Dietrich Grabbe, dessen erster Biograf er In Horst Denklers Abhandlung Restauration wurde (Grabbes Leben. In: C. D. Grabbe: Die u. Revolution (Mchn. 1973) findet D. in einer Hermannsschlacht. Düsseld. 1838. Nachdr. Reihe mit weiteren revolutionären Dramati- Düsseld. 1978). Während der Revolution von kern Erwähnung. Seiner Rolle als Revolutio- 1848/49 war D. als Redakteur der »Darmnär widmete das Deutsche Literaturarchiv in städter Zeitung« aktiv. 1846 trat er zum Marbach eine Ausstellung (Jochen Meyer: A. Deutschkatholizismus über u. wirkte fortan D. – ein 48er. Stgt. 1988). 1998 erschien eine als Prediger in Mainz. Monografie, die den Nachlassbestand beIn seiner Breite u. Vielfalt ist D.s literarirücksichtigt u. den Dramatiker D. würdigt sches Werk bezeichnend für den im Jungen (Astrid Schweimler: A. D.: Ein Dramatiker der Deutschland entstandenen neuen Schriftstelgesellschaftlichen Emanzipation. Gießen 1998). lertypus, der die Grenze zwischen Kunst u. Weitere Werke: Der Irrgang des Lebens Jesu. Politik, zwischen Literatur u. Journalismus Bd. 1, Stgt. 1884. Bd. 2, Stgt. o. J. – Thier oder aufhob. D. arbeitete als Herausgeber von Mensch? Lpz. 1876. – Tod des Bewußtseins oder Journalen (1835–1838 redigierte er die gedie Unsterblichkeit. Lpz. 1863. – Was ist v. der mäßigt liberale, national ausgerichtete christl. Kirche zu halten? Zürich 1877. – Willa. W. Frankfurter Zeitschrift »Phönix«), wirkte an 1875. Nieder mit den Atheisten! Bln. 1995. – Zeitschriften u. Almanachen mit u. sah sich Nachlassbestand: Astrid Schweimler: A. D. Gießen als Berufsschriftsteller zu unablässiger Pro1998, S. 188–213 (u. a. Hinweise auf handschriftl. duktion gezwungen. Er verfasste Gedichte, Korrespondenz u. Werkauflistung). Libretti, Dramen, Novellen, Märchen u. histor. Romane; er schrieb Reisebeschreibungen,
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journalist. Texte u. in seinen letzten Lebensjahren auch erbaul. Traktate. Bekannt waren seine geschichtl. Werke, bes. die von revolutionär-nationalem Impetus getragene Geschichte des deutschen Volkes (Lpz. 1840, 11 Aufl.n bis 1891) u. die materialreiche kulturhistor. Zustandsschilderung Deutschland und das deutsche Volk (Lpz. 1845). In die Büchner-Forschung ist D. als Herausgeber der ersten Buchausgabe von Danton’s Tod (Ffm. 1835) eingegangen. Weitere Werke: Meister Pilgram. Wien 1829. Der Antichrist. 2 Bde., Lpz. 1833 (N.n.). – Erzählungen u. Phantasiestücke. Ffm. 1834. Gesch.n u. Mährchen für Jung u. Alt. Stgt. 1834. Kronen u. Ketten. 3 Bde., Ffm. 1835 (R.). – Loyola. Ffm. 1836. Kaiser u. Papst. 4 Tle., Lpz. 1838 (R.). – Die maler. u. romant. Donauländer. 20 Lfg.en, Lpz. 1838–40. Nachdr. Hildesh. 1977. – Gesch. der Jesuiten. Lpz. 1840. – F. v. Schillers Gesch. des Abfalls der vereinigten Niederlande fortgesetzt v. E. D. Köln 1841. Maria Theresia u. ihre Zeit. 2 Bde., Wiesb. 1843/44. – Histor. Novellen. Siegen 1844. – Gedichte. Bln. 1845. – Dtschld. u. das dt. Volk. 2 Bde., Lpz. 1845/46. – Das dt. Volk in seinen Mundarten, Sitten, Gebräuchen, Festen u. Trachten. Lpz. 1847. Nachdr. Lpz. 1999. – Johannes Ronge u. die freie Kirche. Ffm. 1849. Literatur: Heinrich Hubert Houben (Hg.): Ztschr.en des Jungen Dtschld. Tl. 2, Bln. 1909. Nachdr. Hildesh. 1970, Sp. 1–438. – Karl Esselborn: Der Deutschkatholizismus in Darmstadt. Diss. Gießen 1923. – Richard Newald: E. D., ein dt. Journalistenleben aus dem Vormärz. Breslau 1935. – Eduard Swoboda: E. D.s Dichtungen. Diss. Wien 1948. – Paul Wentzke: E. D. In: NDB. – Alexander Stollenwerk: E. D. In: Ders.: Der Deutschkatholizismus in den preuß. Rheinlanden. Mainz 1971, S. 199–202. – Hans Schleier: Gesch. der dt. Kulturgeschichtsschreibung. Bd. 1, Waltrop 2003, S. 333–337. Walter Weber / Katharina Grätz
Duncker, Dora, * 28.3.1855 Berlin, † 9.10. 1916 Berlin. – Erzählerin, Dramatikerin, Publizistin. D. war die Tochter des auch literarisch tätigen Verlegers Alexander Duncker u. Enkelin des Verlagsgründers von Duncker & Humblot, dessen Firmengeschichte sie in ihrem Roman Das Haus Duncker (Bln. 21918) erzählt. Von Privatlehrern hatte D. eine umfassende Ausbildung erhalten u. aus ihrem Elternhaus u.
Duncker
von Aufenthalten in München bei Karl von Piloty kannte sie viele Künstler wie Lenbach, Makart oder Paul Heyse. 1888 heiratete sie, die Ehe wurde aber bald wieder geschieden. D. lebte mit ihrer Tochter in Berlin. D.s umfangreiches Werk, das v. a. ab 1888 entstanden ist, umfasst Dramen, Operndichtungen, Charakter- u. Milieustudien, Märchen, Novellen u. Romane. D. war Mitarbeiterin bei Zeitungen u. Familienjournalen, Herausgeberin des Kinderkalenders »Buntes Jahr« (1886–1897) sowie der Monatsschrift »Zeitfragen«. Hauptthema ihrer Werke ist die weibl. Selbstbestimmung, gegen den Widerstand von Gesellschaftsnormen u. der durch Standeszugehörigkeit vorgegebenen Rollen. Die zu verteidigenden Werte sind dennoch konservative. So triumphieren in ihrem Gesellschaftsdrama Sphinx (1881) bürgerl. Wert-, Liebes- u. Familienvorstellungen; Konflikte durch nonkonformist. Verhaltensweisen werden lustspielhaft entschärft. D.s Figuren stammen aus dem Großbürgertum, der Aristokratie, dem Militär, selten aus dem Kleinbürgertum u. der Arbeiterschicht; den Handlungsraum gibt überwiegend der Großraum Berlin oder ein historisiertes Frankreich wie in dem Roman Ludwig XIV. und Louise de la Valliere (Bln. 1912) ab. Ihre Publikationen während des Weltkriegs spiegeln die zu dieser Zeit die allg. Überzeugung von der Notwendigkeit des Krieges wider. Weitere Werke: Sphinx. Bln. 1881 (D.). – Käte Grumbkow. Bln. 1886 (N.). – Reelles Heiratsgesuch. Inserat-Studien. Stgt. 1890. – Die Modistin. Novellen u. Skizzen. Bln. 1894. – Mütter. Bln. 1897 (N.n). – Die Frauen in napoleon. Zeit. In: Das XIX. Jh. in Wort u. Bild. Polit. u. Kulturgesch. v. Hans Kraemer in Verb. mit Georg Evert u. a. Bln. u. a. 1898, S. 301–304. – Großstadt. Bln. 1900 (R.). – Die große Lüge. Bln. 1900 (R.). – Sie soll deine Magd sein. Bln. 1902 (R.). – George Sand. Ein Buch der Leidenschaft. Bln. 1913. – Marquise v. Pompadour. Ein Roman aus galanter Zeit. Bln. 1913. – Die Blonden u. der Riese. Dresden 1914. – Berlin im Kriege. Großstadtskizzen aus den Kriegsjahren 1914–15. Bln. 1915. – Auf zur Sonne. Bln. 1916 (R.). Literatur: Sieglinde Klettenhammer: D. D. [Sphinx]. In: Lexikon deutschsprachiger Epik u.
Dunkelmänner
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Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb./Basel 2006.
Potential des Stoffs als seine moraldidakt. Implikationen ausschöpfen.
Maria Kohli / Robert Krause
Weitere Werke: Skizzen v. Heroismus u. Biedersinn. Ein Geschenk für Dtschld.s Patrioten. Wien/Lpz. 1790. – Weibertreue u. Pfaffengrimm, eine vaterländ. Ritterscene aus den Zeiten der ersten Kreuzzüge. Wien 1791. – Gebhard der Zweyte, Churfürst v. Cöln u. Agnes v. Mansfeld, Kanonissin v. Gürrisheim. Eine Bischofslegende aus dem 16. Jh. Wien 1791. – Sara v. Uriz oder das Ruinengespenst. Eine Kunde aus der Vorwelt. Hof 1793. – Konrad v. Kaufungen oder der Fürstenraub aus dem 15. Jh. Bln. 1794. – Die brittischen Helden. Ein dramat. Originalgemälde in drei Handlungen. Donauwörth 1794 (Autorschaft fragwürdig). – Raspo v. Felseneck, oder der Gottesgerichtskampf, aus dem 11. Jh. Bln. 1795. – Eleonore del Monti, eine Gesch. aus dem 18. Jh. Bln. 1796. – Philippe Welserinn. Eine Gesch. aus dem 16. Jh. Bln. 1797. – Die Franzosen in Passau. Eine beurkundete Geschichtserzählung. Salzb. 1802. – Erzählungen interessanter Gesch.n aus dem Leben merkwürdiger u. berühmter Personen älterer u. neuerer Zeiten. Bln. 1803. – Dt. Sinn u. Witz, oder Züge v. Geist, Witz, Kraft u. moral. Größe des Deutschen. Mit einer kleinen Biogr. des berühmten Zinkgref. Passau 1828. – Elisabeth die Heilige, Landgräfin v. Thüringen. Eine der schönsten Gesch.n der Vorzeit. Passau 1828. – Gesch. der Baiern. Regensb. 1829. – Isabella, Königin v. Portugall. Ein Seitenstück zur Gesch.: Elisabeth die Heilige, Landgräfin v. Thüringen. Passau 1830. – Theolinde. Königin v. Lombarden. Ein Seitenstück zur Gesch.: Isabella, Königin v. Portugall. 1832. – Programma. De Expeditionibus Sacris, Quas Cruciatas Vocant, earumque sequelis. Regensb. 1831. Literatur: Michael Hadley: Vorw. In: J. B. D.: Hellfried u. Hulda. Ein Mährchen aus den gräuelvollen Tagen der Vorwelt. Faksimiledr. nach der Aufl. 1792, hg. u. eingel. v. M. H. Bern/Ffm./New York 1985, S. 7–130 (mit ausführl. Bibliogr.).
Dunkelmänner, Briefe der ! Epistolae obscurorum virorum Durach, Johann Baptist, * 24.11.1766 Salzburg, † 18.10.1832 Regensburg. – Verfasser historischer Romane.
Der Jurist D. war als Akzessist, Gymnasiallehrer u. Bibliothekar tätig. Bereits die während seiner frühen Berufstätigkeit entstandenen literar. Versuche nehmen seine spätere Auseinandersetzung mit Stoffen der nationalen Geschichte, v. a. der Kreuzzugszeit, vorweg. Nach zwei Ritterstücken wandte er sich vorrangig Romanen zu, die in Handlungsaufbau u. Teildialogisierung oft dramat. Züge tragen. D.s theoret. Auseinandersetzung mit dem histor. Roman in den Vorreden fokussiert die Vereinbarkeit von Unterhaltungswert u. historischer Wahrscheinlichkeit. In seinem Roman Eva Trottinn, Nebengeliebte Heinrichs des Jüngern, Herzogs von Wolfenbüttel (Lpz. 1793) erprobt er erstmals eine solche Verbindung von Geschichte u. Fiktion, indem er die Rahmenhandlung vor dem Hintergrund eines historisch belegten Kontexts inszeniert u. erläuternde Fußnoten beifügt. Die sozialkrit. Perspektiven der Romane legen eine protestantisch-bürgerl. Grundhaltung offen. Typisch sind zudem Elemente der sich erst herausbildenden Gattung des Schauerromans, so etwa in D.s Ritterromanen Hellfried und Hulda. Ein Mährchen aus den gräuelvollen Tagen der Vorwelt (Lpz. 1792) oder Die Adelritter. Ein Greuelgemälde aus Christiane Wirtz den Zeiten der Vehmgerichte in fünf Handlungen (Görlitz 1793). Trotz der teils scharfen zeitgenöss. Kritik an der Unterhaltungsliteratur Dusch, Johann Jakob, * 12.2.1725 Celle, fand D.s Werk durchaus Beachtung. † 18.12.1787 Altona. – Lyriker, DramatiAb 1800 wandte sich D. zugunsten wis- ker, Erzähler, Literaturtheoretiker u. senschaftlicher Chroniken vorübergehend -kritiker, Pädagoge, Journalist u. Übervom Roman ab. Erst nach seiner Übersied- setzer. lung nach Regensburg (1824), wo er bis zu Nach dem Studium der Theologie, schönen seinem Tod am Kgl. Gymnasium lehrte, entWissenschaften u. engl. Literatur in Göttinstanden seine letzten histor. Romane, die gen, wo er 1748 zum Dichter gekrönt wurde, weniger das abenteuerlich-unterhaltsame lebte D. als Privatlehrer u. Schriftsteller in Schleswig-Holstein u. ab 1756 in Altona. Auf
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Empfehlung des Grafen Johann Hartwig Ernst von Bernstorff ernannte Friedrich V. von Dänemark ihn 1762 zum Professor der schönen Wissenschaften am Altonaer Gymnasium. Seit 1766 Direktor der Schule, erhielt er 1767 eine Professur für engl. u. dt. Sprache, 1771 für Philosophie u. Mathematik u. 1780 den Titel eines kgl. dän. Justizrats. Als Journalist u. Rezensent wirkte D. bei zahlreichen norddt. Periodika. Das immer wieder modifizierte, umfangreiche u. vielgestaltige Werk des Mannes, den Lessing 1759 als »eine der fruchtbarsten Federn unsrer Zeit« (41. Literaturbrief) charakterisierte, ist geprägt von der engl. Aufklärung u. vorzugsweise von Alexander Pope. Die Wirkung zeigt sich nicht nur in der Übersetzung u. Herausgabe der Sämmtlichen Werke Popes (5 Bde., Altona 1758–64), sondern auch in D.s poetischen u. literaturtheoret. Schriften. So war Popes Rape of the Lock Vorbild für die komischen Heldengedichte Das Toppé (Gött./Lpz. 1751) u. Der Schooßhund (Altona 1756). Daneben galt D.s Interesse der Lehrdichtung des Engländers, dessen philosophisch-didakt. Ausrichtung er in unterschiedl. Gattungen nachzuahmen versuchte. Das Spektrum reicht von Oden, Elegien u. alexandrin. Versen meist moralisch-lehrhafter Thematik über die an Vergil anknüpfende Schäferpoesie (Die unschuldigen Diebe. Hann. 1749. Tolk-Schuby. Altona 1751. Das Dorf. Altona 1760) bis zum bürgerl. Trauerspiel (Der Bankerot. Hbg./Bln. 1763). Seine literaturästhetischen u. -krit. Anschauungen entfaltete er meist in der Briefform, die er ebenso für sein unter dem Einfluss Samuel Richardsons stehendes voluminöses Romanwerk (Geschichte Carl Ferdiners. 6 Tle., Breslau 1776–80. Der Verlobte zweyer Bräute. 6 Tle., Breslau/Lpz. 1785) u. den aus dem Nachlass herausgegebenen Roman Die Pupille (2 Bde., Altona 1798) zu nutzen verstand. Die präzise Einordnung von D.s heterogenem Werk fiel schon zeitgenöss. Rezensenten schwer. Eine vorschnelle Etikettierung als Anhänger Gottscheds ist ebenso falsch wie die Unterstellung einer pauschalen Gegnerschaft im Hinblick auf Lessing u. Nicolai. Man wird D. am ehesten gerecht, wenn man ihm im Literaturstreit des 18. Jh. eine gemäßigt u.
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differenziert argumentierende Position zwischen den Hauptkontrahenten zuschreibt. Die Beliebtheit beim Publikum verdankte D., dessen Schriften z.T. mehrfach aufgelegt u. in mehrere Sprachen übersetzt wurden, vornehmlich seinen »Lehrgedichten«, die er theoretisch zu rechtfertigen u. als eigenständige Gattung zu etablieren trachtete. Seine moralisch-didakt. Intentionen korrespondieren mit den in zahlreichen Schulschriften dargelegten pädagog. Ambitionen des Gymnasialprofessors u. – seinem Selbstverständnis nach – »Sittenlehrers«. Während die Briefe an Freunde und Freundinnen (Altona 1759), in denen u. a. Probleme des Übersetzens, eine Ästhetik des Lehrgedichts, eine Theorie der Metapher u. der Reimkunst erörtert werden, D.s Vertrautheit mit der zeitgenöss. literaturtheoret. Diskussion dokumentieren, folgen die Moralischen Briefe zur Bildung des Herzens (Lpz. 1759) der Tradition der ovidischen Heldenbriefe u. akzentuieren die Tugendinstruktion. Die Briefe zur Bildung des Geschmacks (6 Tle., Breslau/Lpz. 1764–73), ein groß angelegter Versuch, Literaturgeschichte u. -kritik in pädagog. Absicht zu verbinden, enthalten D.s ästhetisches Programm in aller Ausführlichkeit. Auf dem Terrain der Heldengedichte sah er sich, über Ansätze bei Hoffmannswaldau u. Wieland hinausgehend, als Neuerer in der dt. Literatur. Eine mehrere Jahre andauernde literar. Fehde begann 1757 in der von Friedrich Nicolai u. Moses Mendelssohn publizierten »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste« mit einer Kritik von D.s Drey Gedichten (Altona/Lpz. 1756). Zentrale Vorwürfe der polem. Auseinandersetzung, in die sich Lessing u. Uz einschalteten, waren der Mangel an Originalität u. Homogenität, das Nachahmen u. Plagiieren, fehlendes »Genie«, weitschweifiger Stil u. grobe Nachlässigkeiten beim Übersetzen lat. u. engl. Literatur. Trotz heftiger Verteidigungsversuche von D. blieb sein Ruf nachhaltig geschädigt. Resigniert musste er 1780 feststellen, dass der Geschmack des Publikums sich gewandelt hatte u. die Wiederbelebung der Heroiden u. Lehrdichtung längst anachronist. Züge offenbarte. Als Vertreter veralteter literarästhet. Konzepte vermochte er sich nicht gegen
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Lessings u. Nicolais innovatives Literaturprogramm durchzusetzen. Weitere Werke: Vermischte Werke in verschiedenen Arten der Dichtkunst. Jena 1754. – Schilderungen aus dem Reiche der Natur u. der Sittenlehre. 4 Bde., Hbg./Lpz. 1757–60. – Vermischte krit. u. satyr. Schr.en. Altona 1758. – Orest u. Hermione. Altona 1762 (P.). – Glückseligkeit des Tugendhaften. Altona 1763 (Briefe in freien Versen). – Sämtl. Poet. Werke. 2 Tle., Altona 1765–67. – Die gelehrten Micrologen. Altona/Hbg. 1766 (Gespräch in Versen). – Briefe zur Bildung des Geschmacks. Gänzlich umgearbeitete Aufl. 3 Tle., Breslau/Lpz. 1773–79. – Sympathie. Altona 1774 (Gedicht). – Etwas v. dem Unfuge pädagog. Projektmacher. Altona 1777 (Abh.). – The student’s miscellany: a new select collection of various pieces in prose and verse. 2 Tle., Flensburg 1779 (Lehrbuch). – De natura constitutione et consilio Pharsaliae Annaei Lucani commentatio. Altona 1780. – Übersetzungen: Conyer Middletons röm. Gesch. 3 Bde., Altona 1757–59. – John Martin: P. Virgilii Maronis Georgicorum Libri IV. Hbg./Lpz. 1759. – David Hume: Gesch. v. Großbritannien. 2 Bde., Breslau/Lpz. 1762/63. – Edward Young: Resignation. Altona 1763. – David Hume: Gesch. v. England. 4 Bde., Breslau/Lpz. 1764–71. – John Langhorne: Briefe des Theodosius u. der Constantia. Bln./Lpz./Stettin 1764. – Samuel Bourn: Geistl. Reden. 2 Bde., Altona/Bremen 1771/72. Literatur: Gustav Deicke: J. J. D. Diss. Straßb. 1910. – Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht. Aarhus 1967. – Dan L. Flory: Lessing’s Controversy with D. In: Lessing Yearbook 5 (1973), S. 172–185. – Hans Haupt: J. J. D. In: BLSHL Bd. 5 (1979), S. 81–84. – Thomas O. Beebee: J. J. D. and the Genealogy of Epistolary Fiction. In: JEGPh 91 (1992), S. 360–382. – James M. Vanderlaan: Friedrich Nicolai and J. J. D. In: Seminar 28 (1992), S. 95–109. Peter Heßelmann
Duvanel, Adelheid, auch: Judith Januar, * 23.4.1936 Basel, † in der Nacht vom 7. auf den 8.7.1996 Basel (Freitod). – Prosaautorin u. Malerin. Nach dem Besuch einer Kunstgewerbeschule u. einer Lehre als Textilzeichnerin veröffentlichte D. erste literar. Texte unter dem Pseudonym Judith Januar; seit 1962 lebte sie als freie Schriftstellerin in Basel. D.s Werk besteht ausschließlich aus kurzen Prosastücken mit einer durchschnittl. Länge von 3–4 Seiten. Ihre Texte kreisen alle um die
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Themen Entfremdung u. Einsamkeit. Das Figurenensemble rekrutiert sich fast ausnahmslos aus sozialen Problemfällen. Oft sind es Kinder u. Jugendliche, die aus zerrütteten familiären Verhältnissen stammen. Ungeliebt u. unverstanden fristen sie ein freudloses Dasein, das sie in Traumwelten oder dumpfe Betäubung fliehen lässt. Der Erfahrungsverlust u. die Abtötung der sinnl. Wahrnehmung in den städt. Betonburgen verschärfen die ohnehin desaströse psych. Verfassung ihres Personals. In D.s diagnostischen Prosaminiaturen erscheint die moderne Gesellschaft als soziale Ruine, in der nur Vereinzelte u. seelisch Ruinierte hausen. Trotz dieser Diagnose, dass soziale Faktoren zur Entstehung psychischer Traumatisierungen u. dem Gefühl der Verlassenheit beigetragen haben, lassen D.s Texte doch keinen Zweifel daran, dass Einsamkeit weniger ein soziales Problem als ein existentielles Schicksal ist. Die Sentenz der Figur Laura: »Ich bin immer in der Fremde« (aus der Titelerzählung im Band Die Brieffreundin. Mchn. 1995) formuliert präzise dieses unaufhebbare Empfinden existentieller Unzugehörigkeit. D.s Figuren sind WeltWaisen schlechthin. Als Verarbeitungsform ihrer seel. Verletztheit fungieren Zeichnen u. Schreiben. Kunst u. Kreativität stehen bei D. im Zeichen der Therapie. Der selbsttherapeutische Effekt individueller Kreativität wird dabei schroff den obligator. Behandlungsmethoden der Psychotherapie gegenübergestellt, die diese Potentiale mit ihren routinierten Heilverfahren eher veröden. Genetisch erscheint die künstler. Kreativität als Surrogat für gescheiterte soziale Kontaktversuche, sie hüllt das dünnhäutige Ich in einen selbstgesponnenen Kokon, der es hermetisch von einer Angst einflößenden Außenwelt abschließt. Das Problem, seel. Deformationen in knappe Handlungsabläufe u. prägnante Situationsschilderungen umzusetzen, hat D. erzähltechnisch zu lösen versucht, indem sie ihre Prosaminiaturen meist in der Art von Exposition u. Durchführung untergliedert hat. Häufig beginnen ihre Texte mit einer metaphor. Naturbeschreibung, deren Bildlichkeit dann in die Personenkonstellation
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übergeht. Dadurch entsteht eine strukturelle Homologie von D.s Erzählbänden, die ihrem gesamten Werk eine strenge Einheitlichkeit verleiht. Es ließe sich pointierend davon sprechen, dass das D.’sche Werk nur aus einem einzigen Text besteht, der sich in einem obsessiven Wiederholungsritual in eine Vielzahl von Varianten aufgefächert hat. Wenn man überhaupt eine Entwicklung in D.s Schreiben sehen wollte, so bestünde sie in einer fortschreitenden Verknappung, die die randständigen Existenzen in ihren Lebensäußerungen quasi skelettiert u. dem Verschwinden entgegentreibt. D. erhielt 1984 den Kranichsteiner Literaturpreis, 1987 den Basler Literaturpreis u. 1995 den Preis des Kantons Bern. Weitere Werke: Erzählungen. Basel 1976. – Wände, dünn wie Haut. Basel 1979. – Windgesch.n. Darmst./Neuwied 1980. – Das Brillenmuseum. Darmst./Neuwied 1982. – Anna u. ich. Darmst./ Neuwied 1985. – Das verschwundene Haus. Darmst. 1988. – Gnadenfrist. Ffm. 1991. – Der letzte Frühlingstag. Mchn. 1997. – Beim Hute meiner Mutter. Zürich 2004. Literatur: Wolfram Malte Fues: Zur Zeit im Schreiben. Über das Erzählen A. D.s. In: Schnittpunkte. Parallelen. Lit. u. Literaturwiss. im ›Schreibraum Basel‹. Hg. Wolfram Groddeck u. Urs Allemann. Köln/Basel 1995, S.11–28. – Jürgen Egyptien: A. D. In: KLG. – Gudrun S. Krayfuß: Scheherazadel: Eine Basler Autorin wird entdeckt. Reflexionen zu Leben u. Werk v. A. D. Basel 1998. – Verena Stössinger: A. D. In: LGL. Jürgen Egyptien
Duve, Karen, * 16.11.1961 Hamburg. – Erzählerin, Roman- u. Kinderbuchautorin.
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hungsdrama, das dramaturg. Effekte eines Thrillers mit grotesker Schauerromantik verbindet, wurde weithin als Paradebeispiel für die seit Mitte der 1990er Jahre konstatierte Rückkehr des Epischen in der dt. Gegenwartsliteratur gewürdigt. D.s Fokus ruht auf Figuren mit einem »seelischen Dekubitus«. Ihr zweiter Roman Dies ist kein Liebeslied (Ffm. 2002) baut diese bereits aus den Erzählungen Keine Ahnung (Ffm. 1999) bekannte Perspektive zu einer umfassenden Chronik psychosomatischer Liebesenttäuschung aus, in der adoleszente Essstörungen in teilnahmslos-tragikomischer Manier geschildert werden. Versöhnlicher kommt der Fantasy-Genreroman Die entführte Prinzessin. Von Drachen, Liebe und anderen Ungeheuern (Ffm. 2005) daher, der vielen als weiterer Ausweis für die Fabulierkunst einer Autorin gilt, die mit Geschichten um einen Teddybär (Weihnachten mit Thomas Müller. Ffm. 2003. Thomas Müller und der Zirkusbär. Ffm. 2006) mittlerweile auch auf dem Kinderbuchmarkt reüssiert. Weitere Werke: Im tiefen Schnee ein stilles Heim. Hbg. 1995. – Bruno Orso fliegt ins Weltall. Eine Bildergesch. (zus. mit Judith Zaugg). Augsb. 1997. – Lexikon berühmter Tiere (zus. mit Thies Völker). Ffm. 1997. – Lexikon berühmter Pflanzen (zus. mit T. Völker). Zürich 1999. Literatur: Thomas Kraft: K. D. In: LGL. – Heidelinde Müller: Das ›literarische Fräuleinwunder‹. Inspektion eines Phänomens der dt. Gegenwartslit. in Einzelfallstudien. Ffm. 2004, S. 59–78. – Christiane Caemmerer: Anne Strelau: Generation Golf – weiblich oder german psycho? K. D.s zweiter Roman ›Dies ist kein Liebeslied‹, ein Poproman. In: Fräuleinwunder literarisch. Lit. v. Frauen zu Beginn des 21. Jh. Hg. dies. u. a. Ffm. 2005, S. 109–124. – Karin Herrmann: K. D. In: KLG. Marc Reichwein
Nach dem Abitur brach D. eine Ausbildung zur Steuerinspektoranwärterin ab u. verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten, u. a. einige Jahre als Taxi- Dwinger, Edwin Erich, * 23.4.1898 Kiel, fahrerin. Seit 1990 lebt sie als freie Autorin. † 17.12.1981 Gmund/Tegernsee. – RoD.s beim Publikum wie in der Kritik glei- mancier. chermaßen erfolgreiches Werk verknüpft Der Sohn eines Marineoffiziers u. einer Rusfantastische, der Märchen- u. Sagenwelt entsin meldete sich im Ersten Weltkrieg freilehnte Motive mit realist. Themen, die in der willig zu den Dragonern. Er geriet in den zeitgenöss. Popkultur u. Genderproblematik russ. Bürgerkrieg u. kämpfte mit der Weißen verortet sind. Paradigmatisch sichtbar wird Armee Koltschaks. Nach Gefangenschaft u. dieses Spektrum im Romandebüt Regenroman (Ffm. 1999. Bln. 2004. 2005): Das Bezie-
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Flucht ließ er sich 1921 als Landwirt im All- Atombomben der NATO-Länder endgültig vernichten. gäu nieder. Mit D.s Büchern, die auch in der BundesSeine Erlebnisse in Russland wurden zum bestimmenden Motiv seiner Bücher, v. a. in republik Deutschland hohe Auflagen erzielder Trilogie Die deutsche Passion. D., der sich ten, beginnt sich die Literaturwissenschaft in als »Chronist seiner Zeit« verstand, schildert den letzten Jahren etwas intensiver zu bein Armee hinter Stacheldraht (Jena 1929. Wörlitz schäftigen, v. a. unter rezeptionsgeschichtli1995) seine Erlebnisse in den sibir. Gefange- chen u. ideolog. Aspekten. Einar Schleef vernenlagern, in Zwischen Weiß und Rot (Jena arbeitete Texte aus Armee hinter Stacheldraht in 1930. Graz/Stgt. 2001) den russ. Bürgerkrieg seinem Stück Verratenes Volk (Urauff. am u. in Wir rufen Deutschland (Jena 1932) die 29.5.2000 im Deutschen Theater Berlin). ersten Jahre nach der Heimkehr. Die Trilogie Weitere Werke: Die letzten Reiter. Jena 1935. wurde zu einem außergewöhnlichen kom- Bergisch Gladbach 1979 (R.). – Und Gott schweigt? merziellen Erfolg, den die nationalistisch Jena 1936. Bergisch Gladbach 1979 (E.). – Auf halorientierte Kritik mit z.T. euphor. Rezensio- bem Wege. Jena 1939 (R.). – Wiedersehen mit Sowjetrußland. Tgb. vom Ostfeldzug. Jena 1942 nen begleitete. Aber auch die kommunist. Presse glaubte (Ber.). – Wenn die Dämme brechen... Freib. i. Br./ Ffm. 1950. Mchn. 1979 (R.). – General Wlassow. an D.s »objektive« Berichterstattung. Über Ffm./Überlingen/Bln. 1951 (R.). – Sie suchten die Zwischen Weiß und Rot schrieb Johannes R. Freiheit... Freib. i. Br./Ffm. 1952 (R.). Becher 1931 in der Zeitschrift »Literatur und Literatur: Klaus Theweleit: MännerphantasiWeltrevolution«, dass der Roman »wider en. 2 Bde., Ffm. 1977/78. – Helmut Müssener: Willen des Verfassers zu einem großartigen Becher u. D. In: Kürbiskern 1 (1982), S. 125–133. – Bekenntnis zum Bolschewismus wird«. D. Ders.: E. E. D.s Roman ›Zwischen Weiß u. Rot – Die wollte aber gerade auf die Gefährdung der russ. Tragödie‹ als dt. Trauerspiel. In: Deutschbürgerl. Ordnung durch den Kommunismus sprachige Exillit. Hg. Wulf Koepke u. Michael aufmerksam machen u. für eine Synthese aus Winkler. Bonn 1984, S. 125–143. – Hans Wagener: Kollektivismus u. Individualismus werben. Als Zeuge im Verhör. Zum Ideologieverdacht in Solch eine neue nat. Gemeinschaft beschrieb Sachen D. In: Jörg Thunecke: Leid der Worte. D. in Wir rufen Deutschland. Mit diesem heftig Panorama des literar. NS. Bonn 1987, S. 278–299. Walter Delabar: Dammbrüche u. Untergänge. E. umstrittenen Roman legte er ein indirektes E. D.: ›Wenn die Dämme brechen‹ (1950) u. ›GeBekenntnis zum nationalsozialist. Staat ab, neral Wlassow‹ (1951). In: Von Böll bis Buchheim. dem er nach 1933 als eifriger Propagandist Dt. Kriegsprosa nach 1945. Hg. H. Wagener. diente, v. a. mit der »volksdeutschen Passion« Amsterd./Atlanta 1997, S. 133–154. Karl SchlöDer Tod in Polen (Jena 1940), in der die anti- gel: Sibirien ist eine dt. Landschaft. Russland als deutschen Ausschreitungen am 3.9.1939 in Projektionsfläche dt. Träume u. Albträume im 20. Bromberg charakterisiert werden als »typi- Jh.: Die Romane E. E. D.s. In: FAZ, 7.5.1998, S. 44. sche Reaktion minderwertiger Charaktere, Hans Sarkowicz die damit selbst die polnische Nation aus der Reihe der Kulturvölker löscht«. Dyck, Dyk, Johann Gottfried, * 24.4.1750 Nach 1945 versuchte sich D., der 1935 mit Leipzig, † 21.5.1813 Leipzig. – Verleger, dem Dietrich-Eckart-Preis ausgezeichnet Theaterschriftsteller, Übersetzer; Verfasworden war u. später als SS-Obersturmführer ser historischer u. pädagogischer Abmit Sondervollmachten von Himmler die handlungen. Fronten bereist hatte, in seinen 12 Gesprächen (Velbert/Kettwig 1966) erfolglos als Wider- Als Sohn eines Verlagsbuchhändlers studierte standskämpfer darzustellen. Er distanzierte D. in Leipzig u. Wittenberg, wo er 1778 sein sich zwar deutlich vom Nationalsozialismus, Studium mit dem Magistergrad abschloss. Im aber nicht vom nationalistisch geprägten selben Jahr übernahm er die um 1660 geKampf gegen den Kommunismus. In seinem gründete u. 1745 von seinem Vater erworbeletzten Roman Es geschah im Jahre 1965 (Salzb./ ne »Dyksche Buchhandlung« in Leipzig, die Mchn. 1957) ließ er die UdSSR durch die unter seiner Leitung bes. durch das umfang-
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reiche Verlagsprogramm im Bereich der Schönen Literatur zu einer der führenden Buchhandlungen der Zeit wurde. D.s literar. Werk umfasst sowohl eigene Theaterstücke als auch Bühnenbearbeitungen u. -übersetzungen aus dem Französischen u. Italienischen. Im Verlag der Dykschen Buchhandlung erschienen die Sammlungen Komisches Theater der Franzosen für die Deutschen (10 Bde., Lpz. 1777–85) u. Nebentheater (6 Bde., Lpz. 1786–88), deren Herausgeber u. Beiträger D. war. Seine zahlreichen Lustspielbearbeitungen für die dt. Bühne, wie Ehrsucht und Schwatzhaftigkeit oder die Gefahr am Hofe nach Philippe Destouches (Lpz. 1780) u. Der Zerstreute nach Jean-François Regnard (Lpz. 1786), wurden allerdings von der zeitgenöss. Kritik – z.B. in den Xenien – verurteilt, da sie den Witz des Originals nicht erreichten. Gleichzeitig bleiben D.s eigene Dramen, z.B. Graf von Essex (Lpz. 1777) oder Der unentschlossene Liebhaber (Lpz. 1776), für die er den Begriff der »theatralischen Schilderung« prägte, in ihrer Orientierung an der frz. Tradition vor dem Hintergrund des bürgerl. Trauerspiels u. des Sturm u. DrangDramas eher unbedeutend.
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1783/84 übernahm D. von Christian Felix Weiße die Redaktion der literar. Zeitschrift »Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste«, die seit ihrer Gründung 1757 durch Nicolai u. Mendelssohn in seinem eigenen Verlag erschien. Als Vorsteher der Wendlerschen Freischule in Leipzig veröffentlichte D. pädagog. Schriften, Lesebücher u. zahlreiche histor. Abhandlungen, in denen er sich u. a. mit der Französischen Revolution auseinandersetzte. Weitere Werke: Lyr. Theater der Deutschen. 2 Bde., Lpz. 1782. – Lustspiele. Lpz. 1783. – Erste Linien zu einer Gesch. der europ. Staatsumwandlung [...]. Lpz. o. J. [1807]. – Sachsens sieben Kriege gegen Oestreich. Lpz. 1810. – Histor. Hdb. für die Jugend. Lpz. 1811. – Herausgeber: J. G. D. u. Georg Schaz: Charaktere der vornehmsten Dichter aller Nationen. Nachträge zu Sulzers allg. Theorie der schönen Künste. 8 Bde., Lpz. 1792–1800. – J. G. D. u. Johann Caspar Manso: Gegengeschenke an die Sudelköche zu Jena u. Weimar v. einigen dankbaren Gästen. Lpz. 1797. Literatur: Wilfried Passow: J. G. D.s Bemerkungen über theatral. Vorstellungen. In: Maske u. Kothurn 31 (1985), S. 7–15. – Nikolas Immer: Maria Stuart u. der Graf v. Essex. In: DVjs 78 (2004), S. 550–571. Sabine Lorenz / Red.
E Ebel, Johann Gottfried, * 6.10.1764 Züllichau/Preußisch-Schlesien, † 8.10.1830 Zürich. – Naturforscher u. Reiseschriftsteller.
sische erfuhren. Die schon von Haller u. Gessner vollzogene Idyllisierung der Schweizer Alpen zielte bei E. ebenso wie seine geolog. Forschungen (Über den Bau der Erde im Alpengebirge [...]. 2 Bde., Zürich 1808) auf eine Erziehung des Menschen durch die Größe u. Schönheit der Natur. Literarischen Einfluss übte E.s Reiseliteratur auf Schillers Drama Wilhelm Tell (1804) u. einige Gedichte Hölderlins aus, mit dem ihn ebenso wie mit Wilhelm von Humboldt, Görres u. Savigny eine enge Freundschaft verband. Das Verhältnis zu Bettine von Arnim hingegen war eher gespannter Natur; dies geht v. a. aus Bettines Briefroman Die Günderode (1840) hervor. Besondere Erwähnung verdient auch E.s editorische Bemühung um Ulrich Bräkers bedeutsame Autobiografie Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg (1789).
Der Sohn einer preuß. Kaufmannsfamilie studierte Natur- u. Arzneiwissenschaften an der Universität Frankfurt/O. Seiner Promotion (1789) schlossen sich Studienreisen nach Wien, Frankfurt/M. u. in die Schweiz an. Zwischen 1794 u. 1796 betrieb er in Frankfurt/M. eine Arztpraxis; als Sympathisant der frz. Republik u. Übersetzer staatsphilosophischer Schriften Emmanuel Sieyès’ entschloss sich E. jedoch bald zur Übersiedlung nach Paris (1796–1801). Dort machte er die Bekanntschaft des Anatomen Samuel Thomas von Sömmering, der ihn Goethe für eine Jenaer Professur empfahl. E. lehnte diese Lehrtätigkeit jedoch ab. Sein Einsatz für die polit. Zukunft der Schweiz brachte ihm schon Literatur: Madeleine Brunner: J. G. E. Medi1801 das helvet. u. später das Zürcher Bür- zinisches aus seinen Werken. Zürich 1976. – Berngerrecht ein (1820). Die Militärdiktatur Na- hard Böschenstein: Das Bild der Schweiz bei E., poleons bewog ihn schließlich zur Rückkehr Boehlendorff u. Hölderlin. In: Frankfurt aber ist nach Deutschland (1802). 1810 ließ sich E. der Nabel dieser Erde. Hg. Christoph Jamme u. endgültig in Zürich nieder; hier beschäftigte Otto Pöggeler. Stgt. 1983, S. 58–72. – Peter Faesser sich bis zuletzt mit wissenschaftlichen, ler: Freiheit, Idylle u. Natur. In: Schweizer Monatsh.e 64 (1984), S. 145–156. – Monika Sproll: Zur polit. u. sozialkaritativen Aufgaben. Chronologie v. Hölderlins Werbebriefen an E., Bereits E.s erster Aufenthalt in der Schweiz Schelling u. Goethe für die Ztschr. ›Iduna‹. In: (1790–1792) begründete seine naturphilo- HölderlinJb 33 (2002/03), S. 259–268. soph. Vorstellungen vom gestaltenden EinGerda Riedl / Red. wirken der Landschaft auf ihre Bewohner. In dem Reiseführer Anleitung auf die nützlichste Ebeling, Christoph Daniel, * 20.11.1741 und genußvollste Art in der Schweiz zu reisen (2 Garmissen bei Hildesheim, † 30.6.1817 Bde., Zürich 1793) u. in der Monografie Hamburg. – Amerikanist, Musik- u. LiteSchilderung der Gebirgsvölker der Schweitz (2 Bde., raturkritiker, Pädagoge u. Bibliothekar. Lpz. 1798 u. 1802. Neudr. mit Komm. v. Peter Faessler. St. Gallen 1983) entfaltete E. E.s vielfältige Interessen u. berufl. NeigunGedanken im Geiste Rousseaus. Beide Werke gen, die ihn im Laufe seines Lebens zu einem waren so erfolgreich, dass sie neben mehreren der bedeutendsten dt. Publizisten des ZeitAuflagen auch eine Übersetzung ins Franzö- alters der Aufklärung werden ließen, wurden
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z.T. schon im Vorschulalter von seinen Eltern geweckt. Sein Vater, der luth. Pfarrer Johann Justus Ebeling, u. seine Mutter Sophie Elisabeth Ebeling, die Tochter des Lauensteiner Organisten Johann Christoph Walbaum, ließen ihrem Sohn einen exzellenten, sprachbetonten Elementarunterricht zuteil werden u. förderten daneben auch sein musisches Talent. Während seiner Schulzeit auf dem Gymnasium Johanneum in Lüneburg (1753–1762) wurden die Bildungseindrücke der Kindheit weiter vertieft. So eignete sich E. als Gymnasiast nicht nur profunde Kenntnisse des Lateinischen u. Griechischen an, sondern auch eine große Virtuosität im Orgelspiel. Allerdings machte ein schon im Jugendalter einsetzendes Ohrenleiden, das in den letzten zehn Jahren seines Lebens zu völliger Taubheit führte, eine professionelle Musikerkarriere unmöglich. Stattdessen verlegte sich E. auf das Studium der Alten Sprachen u. der Theologie, das er von 1762 bis 1766 an der Universität Göttingen absolvierte. Nachdem ihn dort zunächst der Philologe Christian Gottlob Heyne u. der Theologe Johann David Michaelis durch das Studium führten, besuchte E. später überwiegend die Geschichtsvorlesungen des Statistikers u. Historikers Gottfried Achenwall. Heyne u. Achenwall kultivierten trotz ihrer unterschiedlichen wiss. Ausrichtung ein großes Interesse an den brit. Kolonien Nordamerikas, das sie offenbar auch an E. weitergaben. Denn E.s regelrechte Amerikabegeisterung, von der bereits seine in Göttingen verfasste Erstpublikation (Fragen, welche erst nach einigen Jahrhunderten können aufgelöst werden. In: Hannoverisches Magazin 3, 1765) zeugt, blieb ihm ein Leben lang erhalten. Nach einer kurzen Zeit als Privatlehrer in Leipzig (1766–1769), wo er ab 1767 für Friedrich Nicolais »Allgemeine Deutsche Bibliothek« Rezensionen verfasste u. zudem eine wegweisende Kurze Geschichte der deutschen Dichtkunst (In: Hannoverisches Magazin 5, 1767/68) herausgab, war E. an der Hamburger Handlungsakademie tätig (1769 bis 1784). Wiewohl sein Lehramt ihm abverlangte, den aus ganz Deutschland u. sogar Amerika angereisten Studenten einen soliden Unterricht in Geschichte u. politischer Öko-
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nomie zu erteilen, befasste er sich in seinen in Hamburg entstandenen Schriften zunächst fast ausschließlich mit literarischen u. musikal. Themen (u. a. Über die Vereinigung der Poesie und Musik. In: Hamburger Unterhaltungen 9, 1769). Als Freund des Hamburger Kirchenmusikdirektors Carl Philipp Emanuel Bach erhielt er zudem den Auftrag, das epochemachende musikwiss. Werk The present state of music in France and Italy von Charles Burney mit Kommentar ins Deutsche zu übersetzen (Tagebuch einer musikalischen Reise durch Frankreich und Italien. Hbg. 1772), wodurch er einen spürbaren Einfluss auf die musiktheoret. Debatten seiner Zeit ausübte. Gegen Ende seiner Lehrtätigkeit an der Handlungsakademie gab E. mit Johann Georg Büsch die Zeitschrift »Handlungsbibliothek« (3 Bde., Hbg. 1785–97) heraus, die schon bald zu den vorzüglichsten dt. Wirtschaftszeitschriften des 18. Jh. zählte. 1784 übernahm E. die Professur für Geschichte u. Griechisch am Hamburger Gymnasium. Hier verfasste er hochoriginelle Beiträge zur pädagogisch bedeutsamen Frage, mit welcher Methode man Schülern ein möglichst enzyklopädisches Wissen vermitteln könne (u. a. Nachricht von der Einrichtung und den Lectionen des Hamburgischen Gymnasiums. In: Hamburgische Addreß-Comtoir Nachrichten, 8. Mai 1786). Seine wichtigsten Arbeiten der 1790er Jahre waren jedoch die Erdbeschreibung und Geschichte von Amerika (7 Bde., Hbg. 1793–1816) u. das mit Dietrich Hermann Hegewisch edierte »Amerikanische Magazin« (1795–97). In diesen Schriften dokumentierte E. eine einzigartige Kenntnis der ökonomischen u. kulturellen Entwicklung der USA in ihrer Gründungsphase. Seine mit stupenden Details versehenen Arbeiten über Amerika gelten noch heute als Standardquellen zur Frühgeschichte der Vereinigten Staaten. Als Leiter der Hamburger Stadtbibliothek (von 1799 bis zu seinem Tode im Jahr 1817) gab er auch der Göttinger Universitätsbibliothek kollegiale Empfehlungen zur Beschaffung von Büchern, die den Grundstock für die heute wichtigste dt. Amerika-Sammlung legten. E.s private Amerika-Sammlung
Ebeling
befindet sich seit dem 19. Jh. in der Bostoner Harvard University. Nachdem E.s umfangreiches Lebenswerk lange Zeit in Vergessenheit geraten war, hat die Beschäftigung mit seiner Person u. seinen Schriften seit 1945 deutlich zugenommen. Davon zeugt u. a. die Vergabe der nach ihm benannten Stipendien durch die Deutsche Gesellschaft für Amerikastudien. Doch steht die wiederholt eingeforderte wiss. Untersuchung u. Darstellung seines Gesamtwerkes noch aus. Weitere Werke: Die v. E. abgeschlossene Gesamtausg. der Werke seines Freundes Friedrich Gottlieb Klopstock (12 Bde., Lpz. 1798–1817). – Händels Oratorium ›Der Messias‹ [...] mit dt. Texte [sic] v. Klopstock u. E. Hbg. 1809. Literatur: Charles I. Landis: C. D. E. Lancaster (PA) 1929. – Hermann Tiemann: C. D. E. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 41 (1951), S. 352–374. – Werner Kayser: C. D. E. In: NDB. – Gordon M. Stewart: C. D. E. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 61 (1975), S. 33–58. – Ders.: The literary contributions of C. D. E. Amsterd. 1978. – Jürgen Overhoff: C. D. E. (1741–1817). Forschungsber. In: Mitt.en des Hamburg. Arbeitskreises für Regionalgesch. 43 (2004), S. 69–82 (mit Bibliogr. u. vollst. Verz. der gedr. u. ungedr. Schr.en E.s). Jürgen Overhoff
Ebeling, Johann Georg, * 8.7.1637 Lüneburg, † 4.12.1676 Stettin. – Kantor, Komponist, Verfasser einer Musikgeschichte. Der Sohn eines angesehenen Buchdruckers besuchte das Lüneburger Gymnasium Johanneum u. studierte ab 1658 Theologie an der Universität Helmstedt. Wegen seiner musikal. Begabung wurde er 1659 (?) von Herzog Christian Ludwig von Braunschweig ins herzogl. Stift aufgenommen u. bereits 1660 nach Hamburg in das berühmte Collegium musicum berufen. Nur zwei Jahre später übertrug man ihm als Nachfolger von Johann Crüger das Kantorat an der Berliner St. Nicolaikirche, das ihn auch zur Lehrtätigkeit am Gymnasium zum Grauen Kloster verpflichtete. 1668, ein Jahr nachdem der von ihm hochgeschätzte Paul Gerhardt seiner streng luth. Gesinnung wegen abgesetzt worden war, verließ E. Berlin u. wurde Kan-
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tor in Stettin sowie Professor für Musik u. Griechisch am fürstl. Gymnasium Carolinum. E.s Hauptwerk sind die Vertonungen der Gerhardt’schen Lieder, die er u. d. T. Pauli Gerhardi Geistliche Andachten 1666/67 in Berlin als Erster vollständig herausgab (zahlreiche Neuaufl.n bis 1723). Nicht nur um ihrer Sangbarkeit willen, die v. a. auf ihre wortgerechte Melodik zurückzuführen ist, erfreuten sie sich lange großer Beliebtheit, sondern auch wegen ihres eindringlich-andachtsvollen Charakters. Viele der Lieder wurden fester Bestandteil der evang. Gottesdienstmusik (EKG 197, 297, 307, 346). Abgesehen von dem Begräbnismusiktext Ein Tag in den Vorhöfen (Bln. 1666) trat E. literarisch nur durch die lat. Schrift ARCHAIOLOGIAI ORPHICAE, i. e. antiquitates musicae, a prima inde usque origine per secula (Stettin 1675) hervor, die als älteste dt. Musikgeschichte gilt. Sie war für den Unterricht am Carolinum bestimmt u. ist vermutlich nur noch in einem Exemplar (UB Greifswald) erhalten. Ausgaben: J. G. E.: Zwölf geistl. Lieder P. Gerhardts. Hg. K. Ameln. Kassel 21956. – Johann Crüger u. J. G. E.: Zwölf Choralsätze. Stgt.-Plieningen 1951. – Paul Gerhardt: Geistl. Andachten. Nachdr. der Ausg. Bln. 1667. Hg. Friedhelm Kemp. 2 Bde., Bern/Mchn. 1975. Literatur: Carl V. Winterfeld: Der evang. Kirchengesang. Bd. 2, Lpz. 1845. – P. Gerhardts geistl. Lieder. Mit Einl. u. Lebensabriß v. Karl Gerok. Stgt. 1878. Lpz. 61907. – Hans Joachim Moser: J. G. E. zum 300. Geburtstag. In: Musik in Pommern, H. 6 (1937), S. 95–101. – Ders.: Die evang. Kirchenmusik in Dtschld. Bln./Darmst. 1954. – Christiane Engelbrecht: E. In: NDB. – Horst Walter: Musikgesch. der Stadt Lüneburg vom Ende des 16. bis zum Anfang des 18. Jh. Tutzing 1967. – Walter Blankenburg: J. G. E. 1637–76. In: Musik u. Kirche 46 (1976), S. 228–232. – Gottfried Gille: ›Du meine Seele, singe ...‹. Zum 300. Todestag v. Paul Gerhardt u. J. G. E. In: Kirche 31 (1976), S. 1 f. – Christian Bunners: Zum liturg. Gebrauch v. P. Gerhards Liedern in deren Frühzeit, bes. bei J. G. E. In: FS Frieder Schulz. Hg. Heinrich Riehm. Heidelb. 1988, S. 273–282. – Bautz. – DBA 260,218–226. – Ernst Rohmer: Martin Luthers Lieder im 17. Jh.: Zum Problem v. Intention u. Rezeption am Beispiel v. ›Ein feste Burg‹. In: Religion u. Religiosität im Zeitalter des Barocks. Hg. Dieter Breuer. Tl. 2, Wiesb. 1995, S. 581–591. – C. Bunners in: MGG 2. Aufl. Bd. 6, Sp. 5–9. – W.
149 Blankenburg u. Dorothea Schröder in: The New Grove 2. Aufl. Bd. 7, S. 844 f. Rainer Wolf / Red.
Eber, Paul, * 8.11.1511 Kitzingen, † 10.12. 1569 Wittenberg; Grabstätte (mit Epitaph von Lukas Cranach d.J.): ebd., Stadtkirche. – Theologe u. Kirchenlieddichter.
Eberbach Scheible. Wiesb. 1997, S. 285–321. – Siegfried Schindler: Die fürstl. brandenburg. Hauptstadt Kitzingen am Mainstrom im Land zu Franken zur Zeit P. E.s im 16. Jh. In: Frankenland. Ztschr. für fränk. Landeskunde u. Kulturpflege 49 (1997), S. 88–96. – Martin Rößler: ›Helft mir Gottes Güte preisen‹. Der Wittenberger Liederdichter P. E. In: Dona Melanchthoniana. Hg. Johanna Loehr. Stgt. 2001. 22005, S. 339–380. – H. Scheible: Melanchthons Briefw. Bd. 11, Stgt. 2003, S. 377 f. (Lit.). – Hildegard Tiggemann: Psalterium Davidis. Ein evang. lat. Brevier (1564) v. P. E. aus dem Stift Obernkirchen. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 44 (2005), S. 42–63. Heinz Scheible
Der Sohn eines Schneiders besuchte ab 1523 in Ansbach u. ab 1525 in Nürnberg Lateinschulen. Durch einen im 13. Lebensjahr erlittenen Reitunfall war er verkrüppelt. Am 1.6.1532 kam er nach Wittenberg. Er wurde einer der engsten Mitarbeiter Melanchthons, ihm ähnlich in Denkweise u. lat. Stil, u. stieg Eberbach, Peter, auch: Petreius Aperbaczu den höchsten Universitäts- u. Kirchenäm- chus, * um 1480 Rothenburg/Tauber, tern auf: 1536 Magister, 1541 Professor am † 1531/32 Erfurt (Heidelberg?). – FrühPädagogium, 1544 Professor für Physik, 1546 humanist. Mitgl. des Konsistoriums, mehrfach Dekan u. Als Sohn des wohlhabenden MedizinprofesRektor. 1557 erhielt er die Hebräischprofessors Georg Eberbach wurde E. 1497 an der sur an der theolog. Fakultät, wurde mit MeUniversität Erfurt immatrikuliert (Magister lanchthon zum Wormser Religionsgespräch 1508) u. widmete sich später der Jurispruentsandt u. am 6.1.1558 zum Schlossprediger denz (Baccalaureus iuris Basel 1512, Licenordiniert. 1558 wurde er als Nachfolger Butiatus iuris Heidelberg 1529). Die frühe Blüte genhagens Stadtpfarrer u. Generalsuperinder humanist. Literatur in Erfurt (Publikatendent des sächs. Kurkreises, 1559 Dr. tionen antiken Schrifttums durch Nikolaus theol., 1560 Senatsmitgl. der theolog. FaMarschalk) beeinflusste E. maßgeblich. Sie kultät. Nach Melanchthons Tod vertrat er führte ihn in den Umkreis des von der jungen weiterhin dessen Mittelposition in einer Zeit Humanistengeneration verehrten Gothaer sich verschärfender dogmat. Gegensätze. Kanonikus Mutianus Rufus. Reisen erbrachVon seinen z.T. mehrfach nachgedruckten ten Verbindungen mit anderen Persönlichwiss. Publikationen sind eine Jüdische Gekeiten der neuen literar. Kultur, u. a. in schichte (Contexta populi Judaici historia. WitStraßburg mit Wimpfeling (1505/06), in tenb. 1548) u. das Calendarium historicum Wien mit Vadian (1510). Zu E.s engerem (Wittenb. 1550) hervorzuheben; dieses wurde Freundeskreis zählten auch Ulrich von Hutauch ins Deutsche, jene ins Französische ten u. Eobanus Hessus (Briefwechsel). Wähübersetzt. Noch heute werden einige seiner rend eines Romaufenthalts (1514/15) gehörte Kirchenlieder gesungen (z.B. Wenn wir in E. zum literar. Zirkel des päpstl. Notars Johöchsten Nöten sein), die z.T. lat. Gedichte von hannes Goritz, gen. Corycius (Beiträge zur Camerarius u. Melanchthon als Vorlage haLyriksammlung Coryciana. Rom 1524. Hg. ben. Jozef Ijsewijn. Rom 1997). Ausgaben: Wackernagel 4 u. 5. Mit Gleichgesinnten verteidigte E. ReuchLiteratur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: lin im Kampf gegen die »Dunkelmänner« u. Gustav Kawerau: E. In: RE 5, S. 118–121; 23, gehörte zu der Erfurter Sodalitas literaria, die S. 361. – Nikolaus Müller: Philipp Melanchthons Erasmus gegen Widersacher in Schutz nahm letzte Lebenstage. Lpz. 1910, S. 119–122. – Robert (Beiträge zu: Epigrammata in Eduardum Leeum. Stupperich: E. In: NDB. – Ders.: Reformatorenlexikon. Gütersloh 1984, S. 72 f. – Bautz 1, Sp. Erfurt 1520). Den Zeitgenossen galt E. als 1441 f. – Walter Thüringer: P. E. (1511–69). Me- geistreicher u. namhafter Verfechter der hulanchthons Physik u. seine Stellung zu Copernicus. manist. Bildungsbewegung, obwohl er mit In: Melanchthon in seinen Schülern. Hg. Heinz größeren Veröffentlichungen nicht hervor-
Eberhard (von Gandersheim)
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trat. Ob ihm anonyme Schriften zuzuschrei- Eberhard von Cersne, urkundlich erben sind, ist fraglich. wähnt 1395 u. 1408. – Verfasser spätmitLiteratur: Carl Krause: Helius Eobanus Hessus. 2 Bde., Gotha 1879. Neudr. Nieuwkoop 1963 (Register). – Der Briefw. des Conradus Mutianus. Hg. Karl Gillert. 2 Bde., Halle 1890 (Register). – Gustav Bauch: Die Univ. Erfurt im Zeitalter des Frühhumanismus. Breslau 1904, S. 142–144. – Ellinger 1, S. 343. – Heinrich Grimm: Aperbacchus. In: NDB. – Gerald Dörner: E. In: VL Dt. Hum. Wilhelm Kühlmann
Eberhard (von Gandersheim), Priester Eberhard, urkundlich erwähnt 1204/07 u. 1216. – Verfasser/Übersetzer der Gandersheimer Reimchronik. E. verfasste die Chronik (knapp 2000 Verse) 1216/17 wohl auf Veranlassung der Äbtissin Mechthild I., die 1208 eine direkte Unterstellung des Klosters unter den Papst durchgesetzt hatte. Ihr kam die Aufgabe zu, Alter u. Ehrwürdigkeit des Gandersheimer Stifts zu dokumentieren. Dies geschieht in zwei mit gewissem Abstand verfassten Teilen: In einem ersten berichtet E. von der Klostergründung durch den sächs. Grafen Liudolf (843–856), die er einbettet in einen Rückblick auf dessen Ahnen u. Aspekte der Klostergeschichte bis in die Zeit Kaiser Arnulfs von Kärnten (896–899); im zweiten Teil verfolgt er die Entwicklung von Liudolfs Geschlecht über die Zeit der Ottonen bis Kaiser Heinrich II. Häufige Erzählereinschübe u. straffe Durchformung lassen die Gandersheimer Reimchronik als markanten Anfangspunkt nicht nur mittelniederdt. Schrifttums, sondern auch regionaler volkssprachl. Chronistik erscheinen. Ausgaben: Gandersheimer Reimchronik. Hg. Ludwig Wolff. Tüb. 21969 (mit Lit.). Literatur: Ludwig Wolff: Die Reimchronik E.s v. G. In: Nd. Jb. 50 (1924), S. 31–45. – Volker Honemann: E. v. G. In: VL. – Carla Riviello: La Gandersheimer Reimchronik: una Klostergründungsgesch. tra politica e religione. In: Rivista di cultura classica e medioevale 42 (2000), S. 241–287. Christian Kiening
telalterlicher Minnedichtungen. E. nennt sich selbst am Ende seines Werks Der Minne Regel als Autor. Urkundlich nachweisbar ist er 1395 als Student an der Universität in Erfurt u. 1408 als Kanonikus in Minden. Er stammt wohl aus der im 13. Jh. oft bezeugten adeligen Familie de Cersne. Der Minne Regel ist nur in einer im frühen 15. Jh. entstandenen Handschrift überliefert, die außerdem 20 Minnelieder E.s enthält. Weitere 13 dt. u. zehn lat. Gedichte, die das Register des Kodex ihm zuschreibt, sind nicht erhalten. 1401 vollendete E. sein 4830 Verse umfassendes Gedicht Der Minne Regel, das er statt in Reimpaaren in Kreuzreimen abfasste, wie sie in mittelniederländ. u. rheinischen Minnereden anzutreffen sind. Die Form der Minnerede verband E. mit Elementen des Traktats (Inhaltsverzeichnis in Prosa, Zwischenüberschriften, systemat. Anlage). Der Minne Regel gliedert sich in drei Teile: Im ersten gelangt der von Liebesleid geplagte Dichter auf einem Spaziergang vor den Garten der Minnekönigin, der von personifizierten Tugenden wie Zucht, Treue, Milde, Trost bewacht wird. Er erhält Zutritt u. von der Minnekönigin die Gebote der Minne. Im zweiten Teil antwortet die Minnekönigin auf 38 Fragen des Dichters zur Minne. Im dritten erwirbt er nach ritterl. Kämpfen einen Handschuh, einen Habicht sowie die 31 Minneregeln des Königs Sidrus u. gewinnt damit Hand u. Reich der Minnekönigin. Vor allem Teil 2 orientiert sich an Buch II, Kap. 6 u. 7 der Schrift De amore (1174–82) des Andreas Capellanus. Somit ist E. der erste Dichter deutscher Sprache, der über weite Strecken diesen Traktat verwendet. Die 20 E. zugeschriebenen Lieder behandeln konventionelle Themen des Minnesangs wie Minneklage u. Frauenpreis. Offensichtlich ist E. der traditionellen Vorstellung von Minne als Dienst ebenso verhaftet wie mit der älteren Literatur vertraut; so findet sich in Lied I, 4 eine Anspielung auf den Crâne Bertholds von Holle. E.s Werk hat keine große Verbreitung erfahren, was eventuell in der
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regionalen Beschränkung auf den niederdt. Raum seine Ursache hat. Ausgaben: ›Der Minne Regel‹ v. E. C. aus Minden mit einem Anhange v. Liedern. Hg. Franz X. Wöber. Wien 1861. – ›Der Minne Regel‹. Lieder. Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1981. – Elisabeth Hages-Weißflog: Die Lieder E.s v. C. Ed. u. Komm. Tüb. 1998. Literatur: Walther Blank: Die dt. Minneallegorie. Stgt. 1970 (Register). – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 290–298. – Horst Brunner: Das dt. Liebeslied um 1400. In: Ges. Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds v. Wolkenstein. Hg. HansDieter Mück u. Ulrich Müller. Göpp. 1978, S. 105–146. – I. Glier: E. v. C. In: VL. – Ronald M. Schmidt: Studien zur dt. Minnerede. Göpp. 1982. – Alfred Karnein: ›De Amore‹ in volkssprachl. Lit. Heidelb. 1985. – Heidrun Alex: Zum Liedcorpus E.s v. C. In: ZfdA 128 (1999), S. 337–341. – Wolfgang Achnitz: Minnereden. In: Forschungsber.e zur Internat. Germanistik. Germ. Mediävistik. Hg. Hans-Jochen Schiewer. Bd. 2, Bern u. a. 2003, S. 197–255. Elisabeth Wunderle / Red.
Eberhard, (Christian) August Gottlob, auch: Ysop Lafleur, Hilarius Reimbold, Ernst Scherzer, * 12.1.1769 Belzig/Potsdam, † 13.5.1845 Dresden. – Erzähler u. Epiker.
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schien. Mit August Lafontaine gab E. die Monatsschrift »Salina« (8 Bde., Halle 1812–16) heraus. 1835 verkaufte er seine Buchhandlung u. lebte teils in Hamburg, teils in Dresden u. auf einem Landgut bei Giebichenstein. Viele seiner Erzählungen u. einige Romane sind eilig niedergeschrieben, unoriginell u. heute vergessen. E.s literar. Ruf gründete sich auf das anmutig anspruchslose Hexameterepos Hannchen und die Küchlein (Halle 1822. 8 1840. Mit Illustrationen v. Otto Speckter. Neudr. Dortm. 1979. Mikrofiche Halle 2000), ein Idyll, das die Beziehungen einer verarmten Pfarrersfamilie zu ihrem gräfl. Patronatsherrn thematisiert. Es wurde im ganzen 19. Jh. – die 20. Auflage erschien 1865 in Essen – neben Voß’ Luise nicht nur Kindern u. Jugendlichen empfohlen. 1828 erschien E.s zweite Hexameterdichtung Der erste Mensch und die Erde (Halle), eine Schöpfungsgeschichte, die im Wesentlichen eine idyllische Robinsonade ist. Die religiöse Dichtung sucht zu zeigen, dass der Mensch nach dem Untergang der alten Götter durch seine Liebe, Kunst, Tugend u. Erkenntnis am Leben blieb u. höher stieg. Ausgaben: Ges. Schr.en. 20 Bde., Halle 1830/31. – Vermischte Gedichte. 2 Bde., Halle 1833.
Schon in früher Kindheit kam E. mit seiner Literatur: R. H. Kerby: C. A. G. E. London Familie nach Halle u. trat, im Alter von zwölf 1966. – Walter Müller: Vergessener Dichter vom Jahren verwaist, als Zögling in die Fran- Giebichenstein. Zum 150. Todestag v. A. G. E. In: cke’schen Stiftungen ein. Notgedrungen stu- Mitteldt. Ztg., Ausg. Halle/Saalkreis, Bd. 6 (1995), dierte er in Leipzig Theologie u. widmete sich 139, S. 16. Günter Häntzschel / Red. anschließend erfolglos in Halle u. Dresden der Malerei. Immerhin konnte er seinen LeEberhard, Johann August, * 31.8.1739 bensunterhalt durch die Herstellung von Halberstadt, † 6.1.1809 Halle. – TheoloZeichnungen u. Kupferstichen für die Illusge, Popularphilosoph, politischer Schrifttrierung naturwissenschaftlicher Werke besteller u. Moralist. streiten. Bald trat er auch als Schriftsteller hervor. Seit 1792 erschienen im »Taschen- Durch seinen Vater, Karl Christoph Eberhard, buch zum geselligen Vergnügen«, das Wil- Kantor an der evang. Martini-Kirche u. Lehrer helm Gottlieb Becker 1791–1814 herausgab, am Martineum in Halberstadt, erhielt E. im mehrere seiner Erzählungen. E. wurde auch Elternhaus u. auf dem Gymnasium eine sodurch die Romane Ysop Lafleurs sämmtliche wohl fundiert humanistische als auch neuWerke (Halle 1798) u. Ferdinand Warner, der sprachlich versierte, ideengeschichtlich-litearme Flötenspieler (2 Bde., Halle 1804) bekannt. rar. Bildung. Im 17. Lebensjahr bezog er für 1807 übernahm er die Rengersche Buch- drei Jahre die Universität Halle zum Studium handlung in Halle. Freundschaftlichen Ver- der Theologie, die dort seit der Rückkehr kehr pflegte er mit dem Dichter Christoph Christian Wolffs (1740) weniger eifernd pieAugust Tiedge, dessen Urania dort 1801 er- tistisch (Joachim Lange u. a.) als zunehmend
Eberhard
aufklärerisch (Siegmund Jakob Baumgarten, Johann Salomo Semler) gelehrt wurde. Ende 1759 kehrte E. nach Halberstadt zurück, wo er eine Hofmeisterstelle im Hause des Freiherrn von der Horst annahm; während der zweiten Hälfte des Siebenjährigen Kriegs lebte er auf dessen Gut Halden in Westfalen. Im Aug. 1763 erfolgte seine Ernennung zum Konrektor am Martineum u. zweiten Prediger an der Hospitalkirche zum Heiligen Geist. Noch im selben Jahr gab er diese Ämter auf u. folgte dem Freiherrn, der als Präsident der Kurmärkischen Kammer nach Berlin berufen worden war u. 1766 zum Staatsminister avancierte. Respektiert u. gefördert durch seinen Gönner, erlebte E. in Berlin die Gesellschaft der Diplomaten, der Gebildeten u. der Geschäftsleute; bald war er in den Kreis um Mendelssohn u. Nicolai aufgenommen. E. hatte die erste Zeit in Berlin zunächst als Weltmann u. Philosoph gelebt u. war dann im Interesse seines Fortkommens nach zwei Jahren in den Predigerstand zurückgegangen, als 1768 die Stelle eines Predigers am Arbeitshaus frei war. Um ihm als Inhaber dieser Stelle trotz der geringen Besoldung ein Auskommen zu sichern, war ihm gleichzeitig die Predigerstelle in dem Fischerdorf Stralow zuerkannt worden. Wie Nicolai betont, war Berlin nie zu verlassen sein eifrigster Wunsch. E. konnte unter diesen Bedingungen seine theolog. Studien weiter betreiben. Im Ergebnis seiner Forschungen zur Kirchengeschichte u. zu den Kirchenvätern, die v. a. auf eine historischkrit. Betrachtung der Glaubenslehren, ihrer Entstehung u. ihrer Veränderungen gerichtet waren, entstand seine Schrift Neue Apologie des Sokrates, oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden (Bln. u. Stettin 1772). Hintergrund des Aufsehens, das die E.’sche Schrift erregte, war die äußerst brisante Frage, ob Heiden die Eigenschaft der Tugend zukommen könne u. ob sie folglich Gegenstand göttlicher Gnade sein könnten. Marmontel hatte in seinem zu Toleranz aufrufenden Roman Belisaire im 15. Abschnitt dem Greise Belisar in den Mund gelegt, dass Heiden tugendhaft sein könnten u. dass daher die verstorbenen tugendhaften Heiden nicht verdammt seien. Der Erzbischof von Paris u.
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die Sorbonne hatten daraufhin ein Verdammungsurteil gegen dieses Buch ausgesprochen. Der niederländ. Kalvinst Peter Hofstede hatte beflissen zwei Bücher zur Verurteilung des Belisar geschrieben, in denen er insbes. die Tugend des Sokrates negierte u. feststellte, dass Heiden nicht Gegenstand göttlicher Barmherzigkeit sein könnten. Aus der Absicht einer erneuten Begründung der Einwände gegen die Lehre von der kollektiven Verdammtheit der Heiden u. die Gnadenwahl erklärt sich der Titel von E.s Werk. Im Prinzip war für E. u. die aufklärerische Vernunftreligion der moralisch denkende u. handelnde Mensch aufgrund seines Willens zu guten Werken vor Gott gerechtfertigt u. der Gnade wert; Offenbarung galt ihm allenfalls als eine Art Bürgschaft für Vernunftwahrheit. In diesem Punkt seiner Auseinandersetzung, u. a. mit Leibniz, forderte E. den Widerspruch Lessings heraus (Leibniz von den ewigen Strafen. Entstanden 1772), dem er wiederum im zweiten Band der zweiten Auflage seiner Schrift (Bln. 1776. 1778) ausführlich antwortete. Mit dem Erstling hatte er, seit 1774 auf einer Predigerstelle in Charlottenburg, nun die »Orthodoxen« u. die »heterodox gescholtenen Neueren« gleichermaßen gegen sich (Nicolai); die verschiedenen Lager waren sich einig in dem Urteil, der Lehrstuhl sei ihm angemessener als die Kanzel. Ein Gutteil seiner Arbeitskraft widmete E. indes weiterhin der Verbreitung aufklärerischer Religionskritik in Form des Briefromans Amyntor (Bln. 1782) u. v. a. philosophisch-anthropologischer Forschung, die u. d. T. Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens (Bln. 1776) den Preis der Königlichen Akademie der Wissenschaften zugesprochen erhielt. Hierin bestimmte er als Leibnizianer die Seele als Substanz, Einheit, Grundkraft, die in den Modifikationen des Denkens (tätig, logischsymbolisch, objektiv) u. des Empfindens (leidend, kontemplativ-anschauend, subjektiv) als ein ambivalentes Ganzes, wechselseitig bedingt, ermöglicht u. begrenzt, ihre konkret individuelle Gestalt hat. Als die Philosophische Fakultät der Universität Halle E. 1778 die Nachfolge des verstorbenen Georg Friedrich Meier anbot, durfte der Neuberufene als ein in Leibniz-
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Wolff’scher Philosophie u. emanzipativ fortschrittl. Gesinnung hervorragend ausgewiesener Gelehrter gelten. Widerstrebend trat er das akadem. Lehramt an, gewissenhaft zwar mit der Ankündigung Von dem Begriff der Philosophie und ihren Teilen (Bln. 1778) u. beeindruckend vom Arbeitsaufkommen her, doch die Neigung zum freien Vortrag u. zur konzentriert didakt. Paraphrase fehlte spürbar; der Beifall der Studenten blieb »nur mittelmäßig« (Nicolai). Erbaulich rührende Kanzelberedsamkeit u. das gesellige, geistreich schweifende Gespräch bereiteten ihm größere Freude. Von der gleichwohl regelmäßigen Lehrtätigkeit zeugen die umfangreichen Begleitkompendien, denen freilich die breitere Resonanz versagt blieb. Ursprünglich hatte der zuständige Minister, der Freiherr von Zedlitz, die dringende Bitte, den Lehrstuhl Wolffs u. Meiers zu übernehmen, an Immanuel Kant gerichtet. Dieser war jedoch dem Ruf nicht nachgekommen, da er sich beim Ausarbeiten der Kritik der reinen Vernunft nicht durch einen Wechsel der Universität stören lassen wollte. Somit verdankte E. seinen Lehrstuhl gerade dem Werk, gegen das er bald in eine heftige Polemik eintrat. Die von ihm herausgegebenen Zeitschriften »Philosophisches Magazin« (4 Bde., Halle 1788–92) u. »Philosophisches Archiv« (2 Bde., Bln. 1792–95) wurden zum Versammlungsort für die Anhänger der Leibniz-Wolff’schen Metaphysik, die den Geltungsanspruch der transzendentalen Vernunftkritik, v. a. die »Erkenntnis a priori« u. das »Ding an sich« betreffend, mit Hinweis auf ihre Gewährsmänner anzweifelten. Die Leibniz-Wolff’sche Richtung lebt von dem ontolog. Grundtheorem, dass widerspruchsfreies Denken das Sein repräsentiert. Sein u. Begriff gehören von daher zusammen. Dagegen hält der Kritizismus theoret. Begriffe nur unter der Bedingung einer korrespondierenden Anschauung für objektiv gültig. Auch unter dieser Bedingung gelten sie jedoch nur zur Erkenntnis von Gegenständen u. Erscheinungen. Dieses Erkennen hat sich nach dem Kritizismus auf etwas Gegebenes zu richten, das durch log. Verfahren nicht aufgehoben werden kann. Der von der ontolog. Richtung vorausgesetzte absolute Seinsbe-
Eberhard
zug, ohne den das Denken sich selbst widersprechen würde, ist nach dem krit. Paradigma eine Illusion. Die zentrale These E.s lautete, die eigentl. Kritik der reinen Vernunft habe bereits Leibniz dargelegt. Folglich sei auch an Kants Kritik nur das wahr, was mit der Leibniz’schen Kritik übereinstimme, was von ihr aber abweiche, falsch. Kant antwortete grob zurechtweisend: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (Königsb. 1790). Bereits Ende 1786 hatte die Berliner Akademie E. als Mitgl. aufgenommen, 1805 verlieh ihm der König den Titel Geheimer Rat, kurz vor seinem Tod erklärte ihn die Theologische Fakultät der Universität Halle zum Doktor der Gottesgelahrtheit. Ein Umschlagen der anfänglichen aufklärer. Radikalität E.s in eine Apologie des Bestehenden ist v. a. in seinen Reaktionen auf die Ereignisse der frz. Revolution feststellbar. Dabei schien ihm die polit. Revolution ähnlich unheimlich zu sein wie die durch Kant ausgelöste philosophische. In der Philosophiegeschichte wurde E. v. a. wegen seiner Auseinandersetzung mit Kant berücksichtigt. Andere seiner Werke, wie z.B. auch seine Synonymik, wurden kaum beachtet. Weitere Werke: Sittenlehre der Vernunft. Bln. 1781. 1786. Neudr. Ffm. 1971. Mikrofiche-Ed. Mchn. 1990–94. – Allg. Gesch. der Philosophie. Halle 1788. 1796. – Über Staatsverfassungen u. ihre Verbesserungen. 2 Bde., Halle 1793/94. – Abriß der Metaphysik. Halle 1794. – Versuch einer allg. dt. Synonymik. 6 Bde., Halle 1795–1802. – Hdb. für Ästhetik, in Briefen. 4 Bde., Halle 1803–05. – Der Geist des Urchristentums, in Abendgesprächen. 3 Bde., Halle 1807/08. Literatur: Friedrich Nicolai: Gedächtnißschr. auf J. A. E. Bln./Stettin 1810. – Eduard recte O. Ferber: Der philosoph. Streit zwischen I. Kant u. J. A. E. Bln. 1894. – Henry E. Allison: The KantEberhard Controversy. Baltimore/London 1973. – Elisabeth Böhm: Die Auseinandersetzung zwischen I. Kant u. J. A. E. über Fragen der Ästhetik u. Rhetorik. Stgt. 1981. – Zwi Batscha: Despotismus v. jeder Art reizt zu Widersetzlichkeit. Die Frz. Revolution in der dt. Popularphilosophie. Ffm. 1989. – Norbert Hinske (Hg.): Zentren der Aufklärung 1. Halle: Aufklärung u. Pietismus. Heidelb. 1989. – Claudio La Rocca (Hg.): Immanuel Kant:
Eberhardus Contro E. La polemica sulla critica della ragion pura. Pisa 1994. – Manfred Gawlina: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant u. J. A. E. Bln./New York 1996. – Marion Lauschke (Hg.): Der Streit mit J. A. E. / Immanuel Kant. Hbg. 1998. – Gerda Haßler: J. A. E. (1739–1809) – ein streitbarer Geist an den Grenzen der Aufklärung. Mit einer Ausw. v. Texten E.s. Halle 2000. Dieter Kimpel / Gerda Haßler
Eberhardus, Everardus, Alemannus, auch: E. Teutonicus, E. der Deutsche, E. von Bremen, erste Hälfte des 13. Jh. – Verfasser einer mittellateinischen Verspoetik.
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Anwendung der metrischen u. rhythm. Regeln (mit Beispielversen). Der Katalog der lat. Schulautoren, der nicht chronologisch oder sachlich geordnet ist, zeigt beispielhaft, dass antike u. mittelalterl. Autoren gleichberechtigt nebeneinander standen. Als Schulbuch zählte der Laborintus bis ins 16. Jh. zu den Standardwerken. Ausgaben: Edmond Faral: Les arts poétiques du 12e et du 13e siècle. Paris 1924. Neudr. 1962, S. 336–377. Literatur: Rudolf Limmer: Bildungszustände u. Bildungsideen des 13. Jh. Diss. Mchn. 1928. – Ulrich Krewitt: Metapher u. trop. Rede in der Auffassung des MA. Ratingen/Kastellaun/Wuppertal 1971, S. 411–426. – Franz Josef Worstbrock: E. der Deutsche. In: VL. – Peter Stotz: Dichten als Schulfach. Aspekte mittelalterl. Schulbildung. In: Mlat. Jb. 16 (1981), S. 1–16. – Hans Szklenar: Magister Nicolaus de Dybin. Vorstudien [...] zur Gesch. der literar. Rhetorik im späteren MA. Mchn. 1981, passim. – Ders.: Magister Nicolaus de Dybin als Lehrer der Rhetorik. In: Daphnis 16 (1987), S. 1–12. Anette Syndikus / Red.
E. ist nur aus seinem mlat. Lehrbuch der Dichtkunst, dem Laborintus (über 1000 Verse), bzw. aus späteren Kommentierungen u. Randbemerkungen zum Text bekannt. Seinen eigenen Angaben zufolge studierte er in Paris u. Orléans; später leitete er wohl an der Domschule in Bremen den Anfangsunterricht. Seine Lebenszeit lässt sich nur annähernd aus den Quellenangaben im Werk erschließen. Die Vorlagen, auf die E. verweist, Eberle, Josef, auch: Sebastian Blau, Josegehören zur neuen Gattung lat. Verspoetiken, phus Apellus, Peter Squenz, * 8.9.1901 die im ausgehenden 12. Jh. bes. in Paris u. Rottenburg/Neckar, † 20.9.1986 PontreOrléans, den Studienorten E.’, entwickelt sina/Schweiz; Grabstätte: ebd. – Erzähler worden war (Matthäus von Vendôme, Galu. Verfasser von schwäbischen u. lateinifried von Vinsauf). Durch E. wird diese sysschen Gedichten. temat. Darstellung der poet. Techniken erstmalig in den dt. Raum übertragen. Im Ge- Der Sohn eines Stadtpflegers besuchte das gensatz zu seinen Vorgängern belebt er den Gymnasium in Rottenburg. Nach dem Abitur trockenen Lehrstoff, indem er ihn in die Be- machte E. eine Buchhändlerlehre in Tübinschreibung des traurigen Loses eines Schul- gen. Während dieser Zeit entstanden neben meisters einbaut. Die Dichtkunst (Poesis) polit. Satiren u. zeitkrit. Essays die ersten selbst beklagt seine Leiden, nachdem sie ihn schwäb. Gedichte, die vom bäuerl. Lebensgemeinsam mit der Grammatica in den Re- alltag einer Kleinstadt um die Jahrhundertgeln ihrer Kunst unterwiesen hat. Neben wende handeln u. für deren Veröffentlichung dieser Rahmenhandlung verweist auch der er in Reminiszenz an den barocken oberTitel Laborintus auf das Schulmeisterelend. schwäb. Mundartdichter Sebastian Sailer die »Labyrinthus« wird nach der lat. Etymologie Maske des Sebastian Blau verwandte. Von gedeutet: »innen voll Mühen« (»labor intus«) 1927 bis zu seiner Absetzung durch die Naist die Schulstube, in der der Lehrer gefangen tionalsozialisten 1933 war E. Leiter der Vorsitzt. Die eigentl. Dichtungslehre wird als tragsabteilung beim Süddeutschen RundTeil des Grammatikunterrichts behandelt, funk. 1935 erhielt er Schreibverbot. Nach der ersten Stufe der Ausbildung in den sieben 1945 wurde er Herausgeber u. Redaktionsfreien Künsten; gelehrt werden u. a. die An- leiter der »Stuttgarter Zeitung«, die ihm ihre ordnung eines vorgegebenen Stoffs, seine liberale Ausrichtung verdankte. Verknappung oder Erweiterung, die durch In der 1946 erschienenen Rottenburger rhetor. Schmuck erreicht wird, sowie die Hauspostille (Tüb.) erzählt E. die Geschichte
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seiner Heimatstadt. Bekannt wurde er durch seine zahlreichen schwäb. Mundartgedichte, die an eine vergangene Welt erinnern, durch seine herausragenden lat. Gedichte, die in der Tradition Ovids u. Martials stehen u. die E. unter dem Pseudonym Josephus Apellus veröffentlichte, sowie durch seine den kultivierten »homme de lettres« verratenden kulturhistor. Betrachtungen. Weitere Werke: Mild u. bekömmlich. Stgt. 1928 (L.). – Kugelfuhr. Stgt. 1933 (L.). – Feierobed. Stgt. 1934 (L.). – Gold am Pazifik. Stgt. 1935 (E.). – Schwäb. Gedichte des Sebastian Blau. Stgt. 1946. – Laudes. Tüb. 1959 (L.). – Amores. Stgt. 1961 (L.). – Lat. Nächte. Stgt. 1966 (Ess.). – Aller Tage Morgen. Stgt. 1974 (Autobiogr.). – Caesars Glatze. Stgt. 1977 (Ess.). – Schwobespiagel. Stgt. 1981 (L.). – Das große J.-E.-Sebastian-Blau-Lesebuch. Hg. Eckart Frahm. Stgt. 2001. Literatur: Gerhard Storz: Über den Grund des Vergnügens an Dialektdichtung. Ein Nachtr. zu Sebastian Blau. In: Ders.: Figuren u. Prospekte. Stgt. 1963. – Bernhard Zeller: Poet u. Bürger. J. E. zum Gedächtnis. In: Dt. Akademie für Sprache u. Dichtung. Jb. 1986, S. 213–215. – J. E.: Poet u. Publizist. Mit Beiträgen v. Karlheinz Geppert. Stgt. 2001. – Karl Heinz Burmeister: J. E. In: Württembergische Biogr.n. Bd. 1, hg. v. Maria Magdalena Rückert, Stgt. 2006, S. 52–54. Peter König / Red.
Eberlin von Günzburg, Johann, auch: Eberlein, Eberl, Apriolus, * um 1470 Kleinkötz bei Günzburg, † Okt. 1533 Leutershausen bei Ansbach. – Theologe u. Reformator; Autor von Flugschriften u. Traktaten. Aus E.s früherer Lebenszeit ist nur bekannt, dass er in Basel (1489) u. Freiburg i. Br. (1493) studierte, 1490 in Basel den Magistertitel erwarb, später in den Franziskanerorden eintrat u. sich als Prediger in Schwaben bald einen Namen machte. Bewegt durch Luthers Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation, schloss er sich 1521 in Ulm der Reformation an (oder wurde aus seinem Ulmer Kloster ausgewiesen) u. kam 1522 nach Wittenberg, wo er sich an der Universität immatrikulierte. 1524 erhielt er nach seiner Heirat eine Predigerstelle in Erfurt u. wurde 1525 von Graf Georg II. als Pfarrer u. Reformator nach Wertheim am Main berufen. Nach dem Tod
Eberlin von Günzburg
des Grafen 1530 wieder entlassen, verbrachte er seine letzten Jahre als Prediger im fränk. Leutershausen. E. war neben Luther einer der wirksamsten populären Schriftsteller seiner Zeit. In seinem noch nicht vollständig edierten Werk nehmen die zwischen 1521 u. 1525 entstandenen reformator. Flugschriften den bedeutendsten Platz ein. In ihrer Sprache oft mit denjenigen Luthers verglichen, behandeln sie die ganze Breite der Themen, die damals in Bezug auf die Neugestaltung des politischen, sozialen u. religiösen Lebens diskutiert wurden, u. spiegeln zgl. den Verlauf der Reformation von der frühen progressiven bis zur beginnenden restaurativen Phase als Reaktion auf den Bauernkrieg wider. Am bekanntesten ist seine Flugschriftensammlung 15 bundtgnossen (Basel: Pamphilus Gengenbach 1521), die von ihm so genannt wurde, weil sich die 15 zuvor separat u. anonym publizierten Einzelschriften, aus denen sie besteht, »zu gut gemeiner teütscher nation zusamen geschworen« haben, »zu entblössen gemeinen mercklichen schaden, so lange jar vff allen gemeincklich gelegen ist« (I, 144). Im ersten bundtgnoß, der wohl noch im Umkreis des Wormser Reichstags entstand, appellierte E. an Karl V., sich an die Spitze der Reformation zu stellen, als deren geistige Führer er neben Luther auch Erasmus u. Hutten nannte, u. entwarf ein anschauliches Bild von den kirchl. Missständen, wobei er sich nicht nur auf Anklage u. Kritik beschränkte, sondern auch konkrete Vorschläge zu ihrer Behebung machte. Kernstück der Sammlung sind der zehnte u. elfte bundtgnoß, in denen E. u. d. T. statuten [...] vß dem land Wolfaria den utop. Entwurf einer neuen Ordnung des geistlichen u. weltl. Standes vorlegte. Er weist in seiner auf den bäuerlich-agrarischen Bereich zugeschnittenen Grundstruktur, der Ablehnung von Handelskapital u. Römischem Recht u. der Konzeption eines ansatzhaft »demokratischen« Staatsgefüges Übereinstimmungen mit den späteren Programmen der Bauern auf u. lässt erkennen, dass E. wenigstens zeitweise dem radikalen Flügel der Reformation nahestand. Thomas Murner ließ daher in seiner Satire Von dem Großen Lutherischen Narren die 15 bundtgnossen als Kerntruppe des
Ebermaier
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Lutherheeres aufmarschieren, das sich die kommunikativen Wirkung syntakt. Strukturen. Zerstörung der bestehenden Ordnung in Eine Untersuchung am 7. Bundesgenossen J. E.s v. G. In: Sprache in Vergangenheit u. Gegenwart. Hg. Staat u. Kirche zum Ziel gesetzt hat. Schon die 1522 publizierte Schrift Vom Wolfgang Brandt. Marburg 1988, S. 65–90. – Monika Rössing-Hager: Abstraktivität u. VerständMisbrauch christlicher Freyheyt (Grimma) zeigt lichkeit. Beobachtungen zur Komplexität abstrakjedoch, dass E. unter Luthers Einfluss von ter Ausdrucksweise im 7. Bundesgenossen J. E.s v. derartigen sozialutop. Vorstellungen bald G. Ebd., S. 47–64. – Marion Bujnáková: J. E. v. G.: abrückte, u. in dem Pamphlet Mich wundert, ›Wolfaria‹. Eine Gesellschaftsutopie aus dem 16. Jh. das kein Gelt im Land ist distanzierte er sich In: Philologica Pragensia 32 (1989), S. 184–194. – nicht nur von seinen eigenen bundtgnossen, Christian Peters: J. E. v. G.: franziskan. Reformer, sondern äußerte auch scharfe Kritik an den Humanist u. konservativer Reformator. Diss. protestant. Flugschriftenautoren u. »ge- Münster 1989. Gütersloh 1994 (enthält: Chronowinßdruckern«, die das neue Medium zu log. Verz. der gedr. Schr.en des J. E. v. G.: S. 339–374). – Enzo Baldini: Adlige u. Bauern in demagogischen Zwecken missbrauchten. Er den Schr.en J. E.s, einem Reformator zwischen selbst vollzog den endgültigen Schritt vom Erasmus u. Luther. In: Politik – Bildung – Religion. populären Reformationspropagandisten zum Hans Maier zum 65. Geburtstag. Hg. Theo Stamlehrhaft moralisierenden Autor mit Trakta- men. Paderb. 1996, S. 71–85. – Claudia Brinker-v. ten wie Ein schoner spiegel eins christlichen Lebens der Heyde: Neue Weltordnungen im Zeichen des (Straßb. 1524) oder Wie sich eyn Diener Gottes Antichrist. Radikale Reformer entwerfen die ideale Wortts ynn all seinem Thun halten soll (Wittenb. Gesellsch. In: Reisen, Entdecken, Utopien. Hg. Anil 1525), den man die erste evang. Pastoral- Bhatti u. Horst Turk. Bern u. a. 1998, S. 29–40. – theologie genannt hat, u. schrieb später noch Ferdinand Seibt: Utopica. Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit. Neuausg. Mchn. 2001. für den Grafen von Wertheim einen ungeBarbara Könneker / Herbert Jaumann druckt gebliebenen Knabenspiegel Ein furschlag, wie ein [...] herr oder vatter seinen sun solle zur schule [...] befelhen. Zu seinen humanist. Ebermaier, Ebermeier, Johann, getauft Anfängen kehrte E. schließlich mit der 21.10.1598 Tübingen, † 29.4.1666 Calw. Übersetzung von Tacitus’ Germania (1526) – Evangelischer Theologe; Emblembuchzurück, der ersten, die in dt. Sprache er- autor. schienen ist. Weiteres Werk: Ein zamengelesen buochlin v. Der Sohn eines Schlossers studierte seit 1617 der Teutschen Nation gelegenheit, sitten u. ge- in Tübingen (seit 1618 als Stiftler); 1619 brauche, durch Cornelium Tacitum (1525). Hg. wurde er Magister, 1626 Diakon in Wildbad, 1631 Pfarrer in Hausen/Lauchert, 1634 in Achim Masser. Innsbr. 1986. Ausgabe: Sämtl. Schr.en. 3 Bde. Hg. L. Enders. Breitenbürg bei Calw, 1635 Stadtpfarrer in Halle 1896–1903 (Bd. 1 enthält ›Die fünfzehn Zavelstein u. 1663 Superintendent in Calw. Bundesgenossen‹). Bemerkenswert sind seine Emblembücher Literatur: J. H. Schmidt: Die ›15 Bundesge- Syzygía connubialis Cervi et Leaenae in montibus nossen‹ des J. E. v. G. Lpz. 1900. – Wilhelm Lucke: lunae, das ist eheliche Verlobung deß Hirschen und Die Entstehung der ›15 bundtsgenossen‹ des E. Löwin (Stgt. 1653) u. New poetisch HoffnungsHalle 1902. – Ernst Deuerlein: E. In: Lebensbilder Gärtlein, das ist: CCC. und XXX. Sinnbilder von aus dem Bayer. Schwaben. Bd. 5 (1956), S. 70–92. – der Hoffnung (Tüb. 1653. Internet-Ed.: http:// Helmut Weidhase: Kunst u. Sprache im Spiegel der diglib.hab.de/drucke/80-4-eth/start.htm). reformator. u. humanist. Schr.en E.s. Tüb. 1967. – Das Hoffnungs-Gärtlein beeinflusste die emSusan Groag-Bell: J. E. v. G.’s ›Wolfaria‹. The first blematisch-kabbalist. Lehrtafel (1663) der protestant Utopia. In: Church History 36 (1967), S. 122–139. – Gottfried Geiger: Die reformator. Prinzessin Antonia von Württemberg in Bad Initia E.s nach seinen Flugschr.en. In: FS Ernst Taenach. E. erhielt 1649 den Titel eines Poeta Walter Zeeden. Mchn. 1976, S. 178–201. – Her- laureatus. mann Ehmer: E. in Wertheim. In: Wertheimer Jb. 1983 (1985 ersch.), S. 55–71. – Martin Brecht: E. in Wittenberg. Ebd., S. 47–54. – Ulrike Petry: Zur
Weitere Werke: Triumphus pacis Osnabruggensis et Noribergensis. Heroico carmine [...] adumbrata. Tüb. 1649 (Internet-Ed.: http://di-
Ebernand von Erfurt
157 glib.hab.de/drucke/65-11-poet/start.htm). – Threnodia Würtembergica, oder Würtembergisch Klaglied uber dem [...] seeligem Ableiben Dorotheae Amaliae Princessin u. Caroli Christophori Prinzen v. Würtemberg [...]. Stgt. 1650. – Kalver Newe Tempel-Bau, in VI. Grund-Säulen abgetheilet, u. durch kurtze Reim-Art beschrieben, mit angefügter geistl. Deutung [...]. Stgt. 1655. – Mausoleum Wurtembergicum [...]. Stgt. 1659. Literatur: Die Kirche zu St. Peter u. Paul in Calw u. ihre Pfarrer. Calw 1938, S. 25, 27–30, 91. – Reinhard Breymayer: F. C. Oetingers Theologia Emblematica. In: Friedrich Christoph Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Tl. 1, Bln. 1977, S. 1–30; Tafel IV. – DBA 262,182. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 468 f. Reinhard Breymayer / Red.
Ebermayer, Erich, * 14.9.1900 Bamberg, † 22.9.1970 Terracina/Latina. – Verfasser von Romanen, Dramen u. Drehbüchern.
(Emmy Göring u. Winifred Wagner). Neben z.T. sehr erfolgreichen Komödien, Drehbüchern u. Biografien veröffentlichte er (wohl auch zur eigenen Rechtfertigung) zwei umfangreiche Tagebücher aus den Jahren der nationalsozialist. Herrschaft, die neben biogr. Details aufschlussreiches Material über die Lebens- u. Arbeitsbedingungen der damals im Land gebliebenen Schriftsteller, Verleger, Schauspieler, Regisseure u. Filmleute lieferten (Denn heute gehört uns Deutschland... Hbg. 1959. ...und morgen die ganze Welt. Bayreuth 1966). Weitere Werke: Jürgen Ried oder Die tiefe Kluft. Wien 1931 (R.). – Werkzeug in Gottes Hand. Wien 1933 (R.). – Unter anderem Himmel. Wien 1941 (R.). – Gefährtin des Teufels. Leben u. Tod der Magda Goebbels. Hbg. 1952. – Fall Claasen. Hann. 1952 (R.). – Sie sind allzumal Sünder. Hbg. 1962 (R.). – Verzeih, wenn du kannst. Zürich 1964 (R.). – Morgen Mittag 12 Uhr. Mchn. 1970 (Schausp.). – Eh’ ich’s vergesse... Erinnerungen an Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Klaus Mann, Gustaf Gründgens, Emil Jannings u. Stefan Zweig. Hg. u. mit einem Vorw. v. Dirk Heißerer. Mchn. 2005. Literatur: Klaus Mann: Jüngste dt. Autoren. In: Neue Schweizer Rundschau 10 (1926), S. 1011–1018. – Joachim Kaiser: Hilferuf an den Leser. In: FH 7 (1952), S. 214–216.
Der in Leipzig aufgewachsene Sohn eines berühmten Juristen wurde ebenfalls zum Juristen ausgebildet. Bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten arbeitete E. als Rechtsanwalt. Schon während seines Studiums hatte er für Zeitungen geschrieben. 1924 erschien ein erster Band mit Novellen (Dr. Angelo. Lpz.), in denen seine Affinität zur Jugendbewegung Peter König / Red. bereits deutlich wird. 1926 veröffentlichte er das Bühnenstück Kaspar Hauser, das in HamEbernand von Erfurt, um 1220. – Verburg mit Gustaf Gründgens in der Titelrolle fasser der mittelalterlichen Legende uraufgeführt wurde u. E. in weiten Kreisen Heinrich und Kunigunde. bekannt machte. Zus. mit Klaus Mann u. Hans Rosenkranz gab er 1928 die für die E. gibt sich in seinem Werk durch ein Neue Sachlichkeit repräsentative Anthologie Akrostichon zu erkennen. In Erfurter Urjüngster Prosa (Bln.) heraus. kunden der Jahre 1192, 1193, 1212 u. 1217 Seinen literar. Durchbruch erzielte E. 1929 findet sich ein Bürgerlicher mit Namen mit dem auch international beachteten Ro- Ebernand. Ob dieser mit dem Verfasser der man Kampf um Odilienberg (Wien). In diesem Legende identisch ist, ist nicht geklärt. Das in Schlüsselroman der Jugendbewegung schil- Reimpaaren abgefasste Werk, das nur in einer derte er die ihm aus eigener Anschauung be- Handschrift des 15. Jh. überliefert ist, entkannten Streitigkeiten zwischen Gustav stand zwischen 1202 u. 1240, vermutlich um Wyneken u. Peter Suhrkamp um die Freie 1220. E. hat es nach eigenen Angaben (v. Schulgemeinde Wickersdorf u. das dort ver- 4029 ff.) auf Veranlassung des Zisterziensertretene Konzept einer neuen Pädagogik. 1933 bruders Reimbote aus dem Kloster Georwurde der Roman wegen »systemzersetzen- genthal bei Erfurt geschrieben, der sich für der« Tendenzen verboten; seinem Autor die 1200 erfolgte Heiligsprechung der Kaisewurde das Schreiben untersagt. rin Kunigunde eingesetzt hatte. Nach dem Krieg trat E. als Verteidiger in In 61 Kapiteln wird vom Leben des KaiEntnazifizierungsprozessen in Erscheinung serpaares berichtet. Erwähnung finden die
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Kämpfe, die Heinrich II. (1002–1024) mit ben, Legende, Kult u. Kunst. Petersberg 2002 (= 2., Gottes Hilfe siegreich beendete, z.B. der neu gestaltete u. erg. Aufl. 1. Aufl. u. d. T.: Die Kampf gegen die Wenden, für dessen erfolg- Heiligen Heinrich u. Kunigunde. Bamberg 1986), reichen Ausgang Heinrich die Wiederher- S. 146 f. – Hans-Hugo Steinhoff: Epilog: Legenden um Kunigunde. In: Kunigunde, empfange die stellung des Bischofssitzes Merseburg gelobt Krone. Hg. Matthias Wemhoff. Paderb. 2002, hatte. Heinrich löste sein Gelübde ein. Einen S. 88 f. Elisabeth Wunderle herausgehobenen Platz nimmt in der Legende die Gründung des Bistums Bamberg durch Heinrich u. Kunigunde ein. Aus dem Leben Ebers, Georg (Moritz), * 1.3.1837 Berlin, Kunigundes, der Züge Marias verliehen wer- † 7.8.1898 Tutzing; Grabstätte: Münden, wird u. a. von der Verleumdung durch chen, Nördlicher Friedhof. – Romanautor den Teufel berichtet, der sie in den Ruf der u. Ägyptologe. Unkeuschheit bringt. Sie widerlegt diesen Vorwurf, indem sie sich freiwillig einem Der Sohn eines früh verstorbenen Bankiers u. Gottesurteil unterzieht. Immer wieder wird Porzellanfabrikanten wuchs bei seiner Mutals bes. gottgefällig herausgestellt, dass das ter im großbürgerl. Milieu assimilierter JuKaiserpaar das Gelübde der Keuschheit ge- den in Berlin auf. Nach dem Besuch eines halten hat. Wunder, die dem Kaiserpaar zu- Internats im thüring. Keilhau wechselte E. teil wurden, zeugen für seine Heiligkeit, auf das Gymnasium in Cottbus, wo er den ebenso Wunder, die es nach dem Tod voll- Fürsten Pückler kennenlernte. Die Reifeprübrachte. Unterbrochen wird die Lebensbe- fung legte E. 1856 in Quedlinburg ab. Ein schreibung durch Reflexionen des Dichters u. Jurastudium in Göttingen musste er wegen Anreden an das Publikum, die einerseits der einer schweren Rückenmarkserkrankung abBeglaubigung des Gesagten dienen, anderer- brechen. Zurückgekehrt nach Berlin, beseits die Rezeption durch das Publikum schäftigte er sich unter Anleitung von Richard Lepsius, dem Begründer der dt. Ägypsteuern sollen. E. hat als Erster nicht getrennt das Leben tologie, mit ägyptischer Kunst u. dem hieroder beiden geschildert, sondern eine einheitl. glyphischen Schriftsystem. Nach dreijähriLebensbeschreibung des Kaiserpaares ver- gem Krankenlager u. Privatstudium studierte fasst. Er benutzte dafür lat. Viten u. Mira- er bei Lepsius, Heinrich Brugsch, August Boeckh u. Johann Gustav Droysen an der kelliteratur sowie mündliche, in Bamberg Friedrich-Wilhelms-Universität Ägyptologie, verbreitete Berichte. Seine Dichtung wurde, Altertumswissenschaften u. Geschichte. Prowie eine Handschrift aus dem 14. Jh. bezeugt, moviert wurde er im Jahre 1862 mit einer in Prosa umgearbeitet. In dieser Form findet Abhandlung Über die Herkunft des Memnon sie sich um 1400 in der Legendensammlung (Jena/Bln. 1862). Darin deutet sich E.’ akadeDer Heiligen Leben, von wo aus sie in das 1511 misch-poet. Doppelbegabung an, die sein gedruckte Werk Dye legend und leben des heyliLeben bestimmte. Bereits ein Jahr vor seiner gen sandt Keyser Heinrich von Nonnosus StettJenaer Habilitationsschrift über die 26. Köfelder einging. nigsdynastie der Ägypter u. noch bevor er Ausgaben: Heinrich u. Kunigunde v. E. v. E. Hg. selbst den Orient bereist hatte, publizierte E. Reinhold Bechstein. Quedlinburg/Lpz. 1860. einen dreibändigen histor. Roman aus dieser Neudr. Amsterd. 1968. – James Wesley Scott: Keisir Zeit: Eine ägyptische Königstochter (Stgt. 1864. u. Keisirin. Ann Arbor 1971. 16 1896. Zuletzt Bergisch Gladbach 1996). Literatur: Renate Klauser: Der Heinrichs- u. 1869 wurde E. als Extraordinarius nach Kunigundenkult im mittelalterl. Bistum Bamberg. Leipzig berufen, 1875 dort zum o. Professor Bamberg 1957. – Hans-Jürgen Schröpfer: Heinrich u. Kunigunde. Göpp. 1969. – Ulrich Wyss: Theorie ernannt. Nach seiner krankheitsbedingten der mhd. Legendenepik. Erlangen 1973, S. 32–103. Emeritierung 1889 lebte er in München u. – Helga Schüppert: E. v. E. In: VL (auch: Nachträge Tutzing. E. zählte zu den hervorragenden Vertretern u. Korrekturen). – Klaus Guth: Kaiser Heinrich II. u. Kaiserin Kunigunde. Das hl. Herrscherpaar. Le- seines Fachs, v. a. nachdem ihm während
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seiner zweiten Ägyptenreise 1872/73 zwei prominente Textfunde geglückt waren: Neben einem Schriftstück aus einem Grab in Theben aus der Zeit von Thutmosis III. (um 1460 v. Chr.), das er herausgab u. kommentierte (Mein Grab in Theben. Breslau 1878), erwarb E. für die Leipziger Universitätsbibliothek ein im Jahre 1550 v. Chr. geschriebenes medizin. Handbuch. Diese bedeutende Papyrushandschrift trägt seit E.’ mustergültiger Edition dessen Namen (Papyros Ebers. Das hermetische Buch über die Arzneimittel der Alten Ägypter in hieratischer Schrift. 2 Bde., Lpz. 1875). Durch sein Prachtwerk Ägypten in Wort und Bild (2 Bde., Stgt. 1879–80), das er im Geschmack der Gründerzeit von namhaften Künstlern wie Hans Makart, Franz Lenbach u. Lawrence Alma-Tadema illustrieren ließ, popularisierte E. die fachwiss. Forschung ebenso wie durch den mit Karl Baedeker verfassten Reiseführer durch Ägypten (Lpz. 1877) oder den als praktisches »Lese- und Handbuch für Freunde des Nillandes« konzipierten Cicerone durch das alte und neue Ägypten (Stgt./Lpz. 1886). E. gilt neben Felix Dahn als wichtigster Vertreter des sog. »Professorenromans«. Zu dieser Mode in den 1870er u. 1880er Jahren trug E. mit insg. 20 histor. Romanen bei. Davon spielen 14 in Ägypten u. auf der SinaiHalbinsel, allerdings mit unterschiedl. Handlungszeiten: Der Bogen reicht von der frühen Expansionspolitik gegen die morgenländ. Völker im 14. vorchristl. Jh. (Uarda. 3 Bde., Stgt./Lpz. 1877. 121891. Zuletzt Bergisch Gladbach 1998) über das sechste vorchristl. Jahrhundert, als Ägypten unter pers. Vorherrschaft geriet (Eine ägyptische Königstochter), über das ptolemäische Ägypten zwischen Hellenismus u. Rom (Die Schwestern. Stgt./Lpz. 1880. 191896. Zuletzt Stgt. 1916. Kleopatra. Stgt./Lpz. 1894. 101897. Nachdr. Erftstadt 2004), über die röm. Kaiserzeit wie in dem Hadrian-Roman Der Kaiser (Stgt./Lpz. 1881. 111887) u. dem Caracalla-Roman Per aspera (Stgt./Lpz. 1891) bis hin zur synkretist. Spätantike in Serapis (Stgt./Lpz. 1885. 101893). E.’ Romane sind auf »Culturcollisionen« angelegt, die einen Kulturvergleich ermöglichen. So spielt schon das Erstlingswerk Eine ägyptische Königstochter in einer Übergangszeit,
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wo »Griechisches und Ägyptisches zusammenstoßen«. Neben dem kulturvergleichenden Verfahren charakterisieren zwei Merkmale E.’ Antikenromane: eine Synthese von Geschichtswissenschaft u. Kunst u. ein Detailrealismus. So betont E. die histor. Stimmigkeit durch vielfältige »Paratexte« wie Fußnoten, Vorreden u. Widmungen. Allerdings nehmen die Anmerkungen, die den ägyptolog. Forschungsstand verbürgen, im Laufe der Romanproduktion stetig ab: Umfasst der Anmerkungsteil zur Ägyptischen Königstochter noch über 100 Seiten, kommt Serapis gänzlich ohne Anmerkungen aus. In Vorworten erläutert E. häufiger sein Vorhaben, »die Errungenschaften ernster Studien in ein von der Phantasie gewebtes Gewand [zu] kleide[n]«, u. rechtfertigt anachronist. Brechungen seiner Antikengemälde. Wie sehr E. seine antiken Tableaus mit der Gegenwart verschränkt, zeigt sich in dem Roman Uarda, dessen Folie unverkennbar der aktuelle Kulturkampf ist. Dass E. seine Romane nicht nur Professoren wie Richard Lepsius widmete, sondern auch zeitgenöss. Dichtern (Wilhelm Jordan, Conrad Ferdinand Meyer) u. bildenden Künstlern (Joseph Kopf, Alma-Tadema) zueignete, zeigt sein Bestreben, Wissenschaft durch Ästhetisierung zu popularisieren. Davon zeugt die Kooperation mit dem seinerzeit weltbekannten Maler Alma-Tadema (Korrespondenz im E.-Nachlass, Berlin). So illustrierte Alma-Tadema E.’ ägyptolog. Studien, wie andererseits E. nach »einem Gemälde seines Freundes Alma Tadema« das »Idyll« Eine Frage erzählte (Stgt./Lpz. 1881. 51887. »Mit einer von Alma Tadema dem Ebersschen Idyll angepaßten neuen Darstellung seines Gemäldes ›Eine Frage‹«). Mit Alma-Tadema verbindet E. die Neigung zu einem Detailrealismus, der den Beschreibungen antiker »Überreste« (im Sinne seines Lehrers Droysen) frönt u. weniger an bedeutenden histor. Personen interessiert ist. Die inverse Tendenz des antiquar. Romans, wonach Helden nur noch als Staffage für detaillierte Beschreibungen dienen, zeigt sich in E.’ KleopatraRoman, dessen Handlungszeit von der Seeschlacht bei Actium bis zur Einnahme Alexandrias durch Octavian reicht (31/30 v. Chr.). Wichtiger als die Titelheldin, die erst in der
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zweiten Hälfte auftritt, sind die beiden mi- tiklassizist. Antike-Rezeption um 1900. Hg. ders. nutiös beschriebenen Kunstwerke, die den u. Thomas Pittrof. Ffm. 2002, S. 273–298. Achim Aurnhammer Roman strukturieren: eine kolossale Doppelstatue von Kleopatra u. Marcus Antonius u. das Grabmal des kgl. Paars. Vielleicht war Ebert, Johann Arnold, * 8.2.1723 Hamdiese Tendenz zur Musealisierung auch der burg, † 19.3.1795 Braunschweig. – ProGrund dafür, dass der Ruhm von E.’ Ägypfessor für Englisch, Gelehrtengeschichte tenromanen die Jahrhundertwende nicht u. Griechisch; Übersetzer u. Lyriker. überdauerte. Die literar. Kritik distanzierte sich ebenso von E.’ »Theetischägyptern« u. Als Sohn mittelloser Eltern geboren, genoss »Pseudopoesie«, wie die Autoren der Klassi- E. in Hamburg eine ausgezeichnete Schulschen Moderne »jene Ebers-Römerinnen« bildung am Johanneum u. anschließend am ablehnten, »die doch immer die Fabriksmar- akadem. Gymnasium. Den wichtigsten Einke Alma-Tadema tragen« (Hugo von Hof- fluss während seiner Jugend übte – neben mannsthal). Brockes – Hagedorn auf ihn aus, der E. für die Weitere Werke: Personalbibliografie: Goedeke lyr. Poesie begeisterte u. sein Interesse für die Forts. – Nachlass: Staatsbibl. Preuss. Kulturbes. engl. Literatur weckte. In Hamburg entstanBerlin. – Einzelwerke: Homo sum. Stgt./Lpz. 1878 den E.s erste anakreont. Gedichte – von denen (R.). – Die Frau Bürgermeisterin. Stgt./Lpz. 1882. einige, von Telemann vertont, 1741 in dessen 15 1897 (R.). – Ein Wort. Stgt./Lpz. 1883. 121893. Oden erschienen – u. auch seine erste ÜberZuletzt Stgt. 1916 (R.). – Elifên. Ein Wüstentraum. setzung: eine Abhandlung über die Lieder Poet. Erzählung. Stgt./Lpz. 1887. 71890. – Die der Griechen von Louis Jovard de la Nauze, Nilbraut. 3 Bde., Stgt./Lpz. 1887 (R.). – Die Gred. die Hagedorn 1744 in seine Sammlung Neuer Roman aus dem alten Nürnberg. 2 Bde., Stgt./Lpz. 1889. 111897. Zuletzt Stgt. 1926. – Die Gesch. Oden und Lieder aufnahm. Mit der von Görner meines Lebens. Vom Kind bis zum Manne. Stgt. vertonten Serenade Das Vergnügen (1743; 1893. – Arachne. Stgt./Lpz. 1897. 61898. – Barbara wiederabgedr. 1751) geriet E. zwischen die Blomberg. Histor. Roman. 2 Bde., Stgt./Lpz. 1897. ideolog. Fronten der patriot. Aufklärung u. Ausgabe: Ges. Werke. 34 Bde., Stgt. u. a. der luth. Orthodoxie der Hansestadt. Das Geistliche Ministerium unterband weitere 1893–97. Literatur: Heinrich Steinhausen: Memphis in Aufführungen u. forderte E. unter der AnLeipzig oder G. E. u. seine ›Schwestern‹. Ffm. 1880. drohung, ihm kein Studienstipendium zu – Richard Gosche: G. E., der Forscher u. Dichter. gewähren, zum öffentl. Kotau auf. Lpz. [1885]. – Eduard Meyer: G. E. [1899]. In: Am 6.5.1743 wurde E. an der Universität Ders.: Kleine Schr.en zur Geschichtstheorie. Halle Leipzig als Student der Theologie immatri1910, S. 504–524. – Elisabeth Müller: G. E. Ein kuliert. Sein Studium finanzierte er z.T. Beitr. zum Problem des literar. Historismus [...]. durch Englischunterricht; z.B. Gellert u. Diss. Mchn. 1951. – Klaus Günther Just: Von der Giseke lernten bei ihm Englisch. Schon zu Gründerzeit bis zur Gegenwart. Bern/Mchn. 1973. – Rykle Borger: Drei Klassizisten: Alma Tadema, dieser Zeit waren E.s Kenntnisse der engl. E., Vosmaer. Leiden 1978. – Harald Mielsch: Das Literatur beachtlich, u. er konnte auch andere Bild der Antike im histor. Roman des 19. Jh. In: dafür begeistern. In Leipzig wurde E. mit dem GottschedGymnasium 87 (1980), S. 377–400. – Rawhia Riad Abdel-Noor: Ägypten in der dt. Lit. des 19. Jh.: Kreis bekannt; einzelne seiner Gedichte fanBogumil Goltz, Max Eyth, G. E. Diss. Mchn. 1986. den in die »Belustigungen des Verstandes – Hans Fischer: Der Ägyptologe G. E. Eine Fall- und Witzes« Aufnahme. Von 1744 an gehörte studie zum Problem Wiss. u. Öffentlichkeit im 19. E. zu den Mitarbeitern an den »Neuen BeyJh. Wiesb. 1994. – Achim Aurnhammer: Wiederträgen zum Vergnügen des Verstandes und holte Spiegelung. Zur Interdependenz gemalter u. Witzes«. Vier Jahre stand er in engster Vergedichteter Antikebilder bei G. E. u. Lawrence Alma-Tadema. In: ›Mehr Dionysos als Apoll‹. An- bindung mit den sog. Bremer Beiträgern, also Karl Christian Gärtner, Johann Andreas Cramer, Johann Adolf Schlegel wie auch mit Zachariä, Giseke, Gellert u. Rabener. Später kam
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Klopstock dazu. Mit mehreren von ihnen blieb E. lebenslang befreundet, u. der Kreis bestimmte seine literar. Tätigkeit in mehrfacher Hinsicht. Die zunehmende Opposition zu Gottsched ließ das Interesse für die engl. Literatur immer stärker in den Vordergrund treten. Zgl. pflegten E. u. seine Freunde die neue anakreont. Mode, die im Ton wie in der Thematik die Lyrik E.s weitgehend bestimmt hat. Darüber hinaus wurde die Freundschaft nicht nur in der Dichtung thematisiert, sondern zur idealen Form des literar. Lebens hochstilisiert. Mit Cramer, Rabener u. Giseke gab E. 1747 die Wochenschrift »Der Jüngling« heraus. E. veröffentlichte in den »Belustigungen« u. den »Neuen Beyträgen« mehrere Gedichte; in Leipzig begann er auch aus dem Englischen zu übersetzen. Erste Probe war das Gedicht The despairing shepherd von Matthew Prior. Danach wandte E. sich dem Leonidas zu, einem epischen Gedicht von Richard Glover. Die erste Fassung dieser Übersetzung erschien 1748 in den »Bremer Beyträgen« (Buchausg.n: Hbg. 1749. Wien 1764. Zürich 1766. Hbg. 1778). 1748 kam E. nach Braunschweig, wo er zunächst als Hofmeister arbeitete, dann als Sprachlehrer für Englisch am neu gegründeten Collegium Carolinum. Verantwortlich für seine Anstellung dort war der aufgeklärte Theologe u. Pädagoge Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, der auch andere Bremer Beiträger, namentlich Gärtner, Schmid u. Zachariä, im Rahmen gezielter Berufungspolitik für das Carolinum gewann. 1753 wurde E. zum Professor für Englisch ernannt. In dieser Stellung blieb er bis zu seinem Lebensende. In Braunschweig entfaltete E. eine vielseitige literar. Tätigkeit, v. a. als Übersetzer. Die Beschäftigung mit dem engl. Dichter Edward Young, dessen The Complaint, or Night Thoughts (1742–44) E. ins Deutsche übersetzte, wurde für ihn fast zu einer Lebensaufgabe, u. seine Freunde bedauerten zuweilen, dass sie einen so großen Teil seiner geistigen Energie in Anspruch nahm. Ohne Zweifel waren die Nachtgedanken E.s Hauptbeitrag zur Literatur seiner Zeit, denn die Rezeption Youngs war eine wesentl. Komponente der dt. Empfind-
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samkeit. Im Gegensatz zur späteren Rezeption führte E.s Prosaübersetzung jedoch unverkennbar zu einer theologisch-neolog. Vereinnahmung Youngs. Die ersten Teile (Nächte) erschienen 1751, u. E. hat die Übersetzung ständig revidiert u. verbessert. 1760–1763 erschien eine mehrbändige, zweisprachige Ausgabe der Nachtgedanken mit ausführl. Anmerkungen u. Kommentar, die 1769 mit der Ausgabe der 9. Nacht vollendet wurde. Sie zeigt E.s Kennerschaft der engl. Literatur u. der Antike. Die letzte von ihm verbesserte Ausgabe in fünf Bänden erschien 1791–1794 in Leipzig. Daneben übersetzte E. auch einige kleinere Werke von Young. Wichtig für E.s Wirken in Braunschweig waren seine Beziehungen zur herzogl. Familie; er erteilte dem Erbprinzen u. anderen Kindern des Herzogs Englischunterricht. Das vertraute Verhältnis der beiden trug entscheidend zur Berufung Lessings nach Wolfenbüttel bei. 1780 wurde E. zum Hofrat ernannt. Das dichte Netz seiner Freundschaften ist ein wesentl. Teil von E.s literarischem Leben. Seine dauerhafte Beziehung zu Klopstock u. zu seinen Hamburger Freunden (darunter Julius Gustav Alberti u. Basedow) stand ständig im Vordergrund; ebenso zur Familie Stolberg: zunächst zur Mutter, dann zu den Söhnen Christian u. Friedrich Leopold. Eine dauernde u. lebendige Freundschaft verband ihn mit Gleim, eine freundschaftl. Beziehung mit Ramler, der Gedichte von E. in seine Gedichtanthologien Lieder der Deutschen (1766; z.B. Das Lachen, zuerst 1741) bzw. Lyrische Blumenlese (1780) aufnahm. Zur Erhaltung u. Belebung seiner Freundschaften reiste E. viel; nicht nur nach Hamburg u. Tremsbüttel, sondern auch nach Berlin, Leipzig, Halle u. Weimar. Er traf bedeutende Gelehrte u. Literaten seiner Zeit u. stand bei ihnen in hohem Ansehen. In Göttingen hatte E. gute Beziehungen zu Christian Gottlob Heyne, Johann Georg Heinrich Feder, Christoph Meiners, Boie u. Lichtenberg. Hier studierten auch Kinder seiner Freunde, wie die beiden Stolbergs, Carl Friedrich Cramer u. August Wilhelm Rehberg, die ihn gelegentlich in Braunschweig besuchten.
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Erst im Mai 1773 heiratete E. Seine wesentlich jüngere Frau Luise war die Tochter des herzogl. Kammerrats u. Komponisten Johann Friedrich Gräfe. Diese Ehe war für E. nach früheren Enttäuschungen – Anfang 1756 hatte E. mit einer förml. Entsagungsdeklaration seine Hoffnungen auf eine als Mésalliance empfundene Liebesheirat begraben müssen – ein Wendepunkt, u. viele seiner späten Gedichte feiern den Jahrestag seiner Hochzeit. Mehrere dieser Gedichte, in die sich nach 1789 Zustimmung zu den Revolutionsereignissen in Frankreich mischt, sind in der Form der Epistel geschrieben, einer Gattung, die E. schon in seiner Leipziger Zeit gepflegt hatte. E.s poetisches Werk ist von eher bescheidenem Zuschnitt; die meisten Gedichte wurden in den Episteln und vermischten Gedichten (Hbg. 1789–95. Neudr. Bern 1971. Mit einer einleitenden Biografie von E.s Freund Eschenburg, auf die alle Lebensbeschreibungen E.s zurückgehen. Mikrofiche-Ed. Mchn. u. a. 1990) gesammelt. Mit seinen dichter. Anfängen schrieb sich E. in die anakreontisch-epikuräische Geselligkeitskultur einer aufgeklärten Lebensführung ein. Darin verbinden sich Ethik der Selbstsorge, Diätetik der Affekte u. Ästhetik zu einer positiven Anthropologie, die mit der kirchl. Seelsorge der luth. Orthodoxie (u. des Pietismus) mit ihrem auf Erbschuld, Sündenbewusstsein u. Bußgesinnung beruhenden Werteangebot in Konkurrenz trat. Als ein »überzeugter Verehrer eines vernünftigen Christentums« (Eschenburg) sollte E. später in Kontakt mit führenden Neologen seiner Zeit (Nösselt, Semler, Toellner, Alberti, Jerusalem, Spalding) stehen. Aber E.s Beitrag zur dt. Literatur des 18. Jh. besteht weniger in seiner eigenen dichter. Produktion als in seiner vielseitigen Vermittlerrolle. Als Übersetzer, Pädagoge u. literar. Berater in Fragen der Form u. des Geschmacks genoss E. bei seinen Zeitgenossen hohes Ansehen. E. war ein ungeheuer belesener Mann. Am Carolinum unterrichtete er nicht nur Englisch, sondern auch Gelehrtengeschichte. Nachdem er diese Verantwortung seinem Kollegen Eschenburg übertragen hatte, übernahm er den Griechischunterricht. Auch sein Interesse an
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Theologie hat er nie verloren. In seinen letzten Lebensjahren war er eng mit Johann Joachim Spalding befreundet, der 1795 ein rührendes Gedicht auf E.s Tod verfasste. Die erstaunl. Breite seiner Lektüre belegt E.s Bibliothek (Versteigerungskat. Braunschw. 1795). Glanzstücke waren seine engl. Bücher, aber kaum weniger beachtenswert die Bestände an dt. Literatur u. Literatur der Antike. In einem Brief an Hagedorn (15.1.1748) hat er über sich selbst geschrieben: »Ich getraue mir, nicht ein großer Schriftsteller, sondern ein großer Leser zu werden.« Weitere Werke: s. Goedeke IV/1 (31916), S. 69–70, 1105. – Personalbibl. bei Fritz Meyen: Bremer Beiträger am Collegium Carolinum in Braunschw. Braunschw. 1962, S. 92–125. – Nachlass: Materialien im Stadtarchiv Braunschw. H VIII A: Nr. 960; weiterführende Materialien im Bestand des Forschungsprojekts ›Brieferschließung Collegium Carolinum‹ (HAB). – Bildnisse: Kupferstich v. Gottlob August Liebe (als Frontispiz in: Neue Bibl. der schöenen Wiss. Bd. 9, 1769); Gemälde v. Benjamin Calau, um 1770 (Gleimhaus Halberstadt, verschollen); Kupferstich, gez. v. Schwarz, nach 1795 (Gleimhaus, Halberstadt). Literatur: Johannes Barnstorff: Youngs Nachtgedanken u. ihr Einfluß auf die dt. Lit. Bamberg 1895. – Richard Dorn: J. A. E.s literar. Wirksamkeit. Diss. Heidelb. 1921. – Heinrich Wall: Die Entwicklung der dt. Dichtung im 18. Jh. u. die Männer des Braunschweig. Kreises. Freib. i. Br. 1925. – Christel Matthias Schröder: Die Bremer Beiträge. Vorgesch. u. Gesch. einer dt. Ztschr. des 18. Jh. Bremen 1956. – Fritz Meyen: Bremer Beiträger am Collegium Carolinum in Braunschweig. Braunschw. 1962, S. 36–48. – John Louis Kind: Edward Young in Germany. New York 1966. – Joseph Leighton: Das Nichtschreiben v. Briefen. Eine Glosse zur Briefkunst des 18. Jh. In: Texte, Motive u. Gestalten der Goethezeit. FS Hans Reiss. Hg. John L. Hibberd u. a. Tüb. 1989, S. 1–11. – HansGeorg Kemper: Dt. Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/ 1: Empfindsamkeit. Tüb. 1997, S. 283–293. – Carsten Zelle: Der Freiheitsschwärmer. Die Frz. Revolution im Spiegel v. J. A. E.s unveröffentlichten Briefschaften. In: Braunschweig. Jb. 71 (1990), S. 39–54. – Ders.: Der ›Freund des Vergnügens‹ – zu den dichter. Anfängen J. A. E.s in Hamburg. In: Hermetik. Literar. Figurationen zwischen Babylon u. Cyberspace. Hg. Nicola Kaminski u. a. Tüb. 2002, S. 43–65. – Ders.: Anakreontik u. Anthropologie. Zu J. A. E.s ›Das Vergnügen‹ (1743). In: Anakreont.
163 Aufklärung. Hg. Manfred Beetz u. a. Tüb. 2005, S. 93–105. Joseph Leighton / Carsten Zelle
Ebert, Johann Jacob, auch: Zachäus, Zachäus Fidibusifex, * 20.11.1737 Breslau, † 18.3.1805. – Mathematiker, Popularphilosoph, pädagogischer Schriftsteller u. Übersetzer.
Ebner
verlangte er stets nüchterne erfahrungswiss. Beschreibung u. warnte vor Okkultismus u. Aberglauben. Als Fabeldichter, Epigrammatiker u. Verfasser satirischer Wochenblätter (»Fidibus«, Lpz. 1768–70. »Tapeten«, Wittenb./Lpz. 1771–76) begegnete er ohne vorwiegend literar. Ehrgeiz, mit Distanz u. Spott den literar. Moden, dem Geniekult u. dem Rezensionswesen. E. blieb auch in der anklagenden Darstellung von Irrationalität, Unwissenheit, Äußerlichkeit u. Vorurteil, etwa in seiner Sammlung von Erzählungen u. Glossen Biographien merkwürdiger Geschöpfe aus dem Thierreiche (2 Bde., Dessau/Lpz. 1784), bei seiner Überzeugung von der menschl. Bildungsfähigkeit u. der Idee von »Glückseligkeit« durch die Errungenschaften der Vernunft.
E., Sohn eines sächs. Steuerbeamten, erhielt seine Schulausbildung in Wurzen/Sachsen u. Breslau. Ab 1756 studierte er an der Universität Leipzig, wo er 1760 mit dem Magister der Philosophie abschloss u. sich im folgenden Jahr habilitierte. Seitdem war er als Schriftsteller u. Dozent tätig, nahm 1768/69 eine Hofmeisterstelle in Petersburg an u. hatte ab 1770 eine Professur für Mathematik in Wittenberg inne. Seine teils für den unWeitere Werke: Slg. kleiner Romane u. moral. mittelbaren Schulgebrauch, teils zur allge- Erzählungen. Wittenb. 1773. – Unterweisung in meinen »belehrenden Unterhaltung« abge- den philosoph. u. mathemat. Wiss.en. Lpz. 1773. – fassten Schriften hatten durchweg didakt. Nebenstunden eines Vaters dem Unterrichte seiner Charakter u. erfreuten sich breiter Zustim- Tochter gewidmet. Lpz. 1790. – Jb. zur belehrenmung; noch in den ersten Jahrzehnten nach den Unterhaltung für Damen. 8 Bde., Lpz. 1794–1801. Stefan Iglhaut / Red. E.s Tod erschienen Neuauflagen einiger seiner Werke. E.s mathematisch-naturwissenschaftliche Ebner, Christine, * Karfreitag 1277 Nürnsowie seine moralphilosoph. Handbücher berg, † 27.12.1356 Dominikanerkloster verfolgen das Ziel, Forschung u. Wissen der Engelthal, dort befand sich auch ihr Grab. Zeit leicht verständlich zu vermitteln u. das – Verfasserin mystischer Texte. auf Eliten beschränkte Gedankengut der Aufklärung für eine umfassende soziale Re- E. ist mehrfach archivalisch – neben anderen formbewegung fruchtbar zu machen (z.B. Familienmitgliedern – im ehemaligen DoUnterweisung in den Anfangsgründen der Natur- minikanerinnenkloster Engelthal bei Nürnlehre. Lpz. 1775. Unterweisung in den Anfangs- berg bezeugt u. stammt aus dem im MA weit gründen der vornehmsten Theile der practischen verzweigten Nürnberger Patriziergeschlecht Philosophie. Lpz. 1784). E. ging grundsätzlich der Ebner, den späteren Freiherren Ebner von von einem allg. Bildungsbedarf aus. Als Deist Eschenbach. Sie gilt als die bedeutendste vertrat er ein zunehmend rationalistisch-me- Autorin u. Mystikerin Engelthals, aber auch chanistisches Weltbild, das vom Glauben an der myst. Literatur des 14. Jh. Nicht zuletzt sozialen u. wiss. Fortschritt gleichermaßen wegen E.s anspruchsvollen Texten ist Engelgeprägt war. thal unter den dominikan. Frauenklöstern im In seinem Wochenblatt »Der Philosoph für 14. Jh. das literarisch produktivste Zentrum. Jedermann« (Lpz. 1784/85. Buchausg. MemBiografische Details enthalten allein die E. mingen 1787) griff E. abwägend u. aufklä- zugeschriebenen Texte, die entsprechend der rend in vielerlei öffentl. Debatten ein. Zu den spirituellen Konzepte mystischer Vitenliteraaufsehenerregenden Flugmaschinen der tur hagiografisch überformt sind. 1447 erMontgolfiers nahm er ebenso Stellung wie zu wähnt das Engelthaler Bücherverzeichnis den spektakulären Automatenerfindungen »trewe« (drei) »pucher von der cristina ebdes Wolfgang von Kempelen oder zu Mes- nerin«, wobei die Namensnennung nicht auf mers »thierischem Magnetismus«. Dabei Autorschaft abzielt, sondern, wie für solche
Ebner
Einträge üblich, auf E. als Gegenstand der Texte. Nicht mit letzter Sicherheit sind diese drei Bücher identifizierbar, aber es könnte damit jenes E.-Korpus gemeint sein, das eine auf ältere Vorlagen basierende E.-Sammelhandschrift aus dem 18. Jh. überliefert u. die sog. Gnadenvita (GV), die sog. Offenbarungen (Off.) u. das sog. Vitafragment (VF) umfasst. Alle drei Texte implizieren verschiedene Entstehungsszenarien u. Autorschaftskonzepte u. repräsentieren die großformatigen Typen der volkssprachl. Viten- u. Offenbarungsliteratur des 14. Jh. Die Mitte des 15. Jh. erstmalig überlieferte GV konzentriert sich auf die erste Lebenshälfte der »swester« u. thematisiert Begegnungen u. Kommunikation mit Gott. Der myst. Diskurs präsentiert sich hier in den verschiedensten Schreibweisen mit Interferenzen zu »fremden« Texten, ist mit einem Geflecht von Verweisen u. vieldeutigen Bemerkungen zum Schreibprozess verschiedenster Instanzen durchsetzt, operiert mit wechselnden Figurationen (»swester«, dem/ das »mensch«) u. Erzählpositionen (1. u. 3. Pers.), u. kombiniert eine eher heterogen wirkende Reihe narrativer, beschreibender u. dialog. Partien. Jenseits einer diffizilen themat. Schwerpunktbildung ergibt sich lediglich eine 3-teilige Großgliederung: ein sekundär montierter Prolog, der in hagiografischem Duktus von der Geburt bis zum angekündigten Tod der 67-jährigen Nonne die GV lebensgeschichtlich rahmt, eine Mittel- u. umfangreiche Schlusspartie. Der Mittelpartie fehlt eine dem Prolog vergleichbare klare, zeitlich-lineare Ordnung. Sie ist u. a. über verstreute, nicht chronologisch geordnete Altersangaben E.s strukturiert, über die sich, allenfalls idealtypisch, Stationen eines fortschreitenden myst. Weges skizzieren lassen, wie sie u. a. im Prolog im »zehn materien«Katalog theoretisch-exemplarisch vorgedacht sind: die Berufung zu Armut u. Ehelosigkeit der 7- bis 10-Jährigen, die geistl. Unterweisung u. erste Kommunion der 10-Jährigen, der Klostereintritt der 12-Jährigen, das Verlangen nach der Eucharistie u. die ersten »geistlichen gesichte« der 12- bis 17-Jährigen, die in der Nachfolge Christi erduldeten Leiden, Krankheiten u. äußerst strengen
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Bußübungen der 14- bis 40-Jährigen, die herausragenden Traumvisionen etwa zur myst. Schwangerschaft u. Hochzeit der 20bis 24-Jährigen, die 5 Jahre währende gnadenlose Zeit der 31-Jährigen, die Himmelsentrückungen der 36-Jährigen u. schließlich die durch die Altersangabe indizierte myst. Lebenswende der 40-Jährigen, womit im Prolog bezeichnenderweise auch der Beginn der Niederschrift des »Lebens« markiert ist. Der Prolog entwirft in den programmat. Konventionen mystischer Vitenliteratur eine gegenüber dem übrigen Text der GV konsistente Entstehungsgeschichte des »büchlins«: Mit 40 von Gott zum Geständnis ihrer myst. Erfahrungen an ihren Beichtvater, den Dominikaner Konrad von Füssen, gezwungen, sei das »büchlin« während einer 7-jährigen Schreibdauer in den Jahren 1317–1324 als Gemeinschaftswerk beider entstanden. Die zuerst in der zweiten Hälfte des 14. Jh. überlieferten Off. setzen medias in res ein »mit einer heilgen person, die wol bekant ist in himel vnd in ertrich«. Erst spätere Nachträge dechiffrieren den Namen E. Anders als die GV strukturiert, folgen die weithin als Dialog mit dem göttl. Partner u. strikt in der 3. Person konzipierten Off. mit Kapitelgliederung u. exakten Daten dem Kirchenjahr von Ostern 1344 bis zum Sonntag Trinitatis wohl 1352 u. fokussieren die zweite Lebenshälfte der »swester«. Während im Sinne eines myst. Prozedere innere u. allenfalls nach außen in Körper u. Schrift sich manifestierende Erfahrungen E.s in der GV im Zentrum stehen, konzentrieren sich die Off. auf die öffentl. Wirksamkeit der nun alten u. abgeklärten »swester«. In der Tradition biblischprophet. Sprechens, in typologischem Bezug von »fremder« u. »süsser« Rede, ist E. als Repräsentantin einer heils- u. zeitgeschichtlich begriffenen Gnadenzeit explizit in die Reihe der Propheten u. Offenbarungsvermittler gestellt. Gottinspiriert verkündet sie kommendes Unheil wie Hungersnöte, Pestepidemien, Erdbeben, reflektiert sie die Zustände der Christenheit zu Zeiten des Kirchenbanns, wird ermächtigt zur Beantwortung spitzfindiger theolog. Fragen u. zur Predigt vor den Geißlern u. schließlich suggestiv ins Umfeld »ir gaistlich freunt« ge-
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rückt, Johannes Tauler u. der Weltpriester tur, berichtet über geistl. Übungen u. göttl. Heinrich (wohl von Nördlingen), wie man es Gnadenerweise verstorbener Schwestern des aus der späteren Gottesfreundliteratur kennt. Klosters Engelthal, erfüllt somit Funktionen Zunehmend wird E. auch als Heilige kontu- von Memoria u. kollektiver Identitätskonstiriert, deren Fürbitten Regen bewirken, der tution u. inszeniert den sakralen Ruhm des Gott einen Nelkenextrakt u. ein »wazzer Klosters. Wirkungsgeschichtlich bleiben die seiner miltikeit« gegen Krankheiten verleiht, Person E.s u. ihre Texte aufs Engste verwoderen Segen der Burggraf von Nürnberg u. ben. Die Handschriftenrezeption bis ins 18. Karl IV. erbitten u. deren Verehrung am Grab Jh. konzentriert sich auf den klösterlichen u. schließlich bereits antizipiert wird. Indem familialen Bereich. Das Interesse der Familie Offenbarung u. Schrift sich gegenseitig be- an E. dokumentiert ein kurzer, lat., von dingen, wird E. in den Off. zur »souveränen« Hartmann Schedel aus verwandtschaftl. Autorin der eigenen Offenbarungsschrift, ist Gründen aus E.-Materialien kompilierter Leaber gleichzeitig mit dem göttl. Befehl zur bensbericht u. nicht zuletzt ein noch heute in Niederschrift – »Ditz dink sol geschriben der St.-Sebaldus-Kirche in Nürnberg existiewerdenn« – bloßes Medium der ihr von Gott rendes E.-Epitaph vom Ende des 15. Jh., das gewährten »grozzen minnzeichen« u. die Aura der in Kloster u. Familie als Heilige »grozzen offenbarung«. Die »auctoritas« des verehrten Nonne demonstriert. Textes liegt bei Gott. Explizit zitieren GV u. Ausgaben: Der Nonne v. Engelthal büchlein v. Off. lateinische biblisch-liturg. u. theolog. der genaden uberlast. Hg. Karl Schröder. Tüb. Texte u., neben einer Fülle von Anspielun- 1871. – Ed. des E.-Korpus in Vorb. gen, volkssprachl. Lieder, Gebete, TochterLiteratur: Siegfried Ringler: Viten- u. OffenSyon-Dichtungen, das Engelthaler Nonnen- barungslit. in Frauenklöstern des MA. Mchn. 1980. buch u. Mechthilds von Magdeburg Fließendes – Ders.: C. E. In: VL. – Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literar. Faktum. Tüb. 1988, bes. Licht der Gottheit. Das nur in der Handschrift des 18. Jh. er- S. 155–176. – Dies.: Das ›Leben‹ der C. E. In: Abendländ. Mystik im MA. Hg. Kurt Ruh. Stgt. haltene VF, mit dem Titel Dasz leben der seligen 1986, S. 402–422. – Leonard P. Hindsley: The Cristina Ebnerin prediger orden, die zu Engeltal Mystics of Engelthal. New York 1998. – Susanne begraben ligt, entspricht formal einer konven- Bürkle: Lit. im Kloster. Tüb./Basel 1999, bes. tionellen Heiligenvita, die in erster Linie die S. 233–316. – Dies.: Die ›Gnadenvita‹ C. E.s. In: Dt. GV chronologisch ordnet u. bearbeitet. VF Mystik im abendländ. Zusammenhang. Hg. Walreduziert den komplexen Vorläufertext auf ther Haug u. Wolfram Schneider-Lastin. Tüb. 2000, das Wesentliche, gliedert in kurze Kapitel u. S. 483–514. – Johanna Thali: Beten – Schreiben – erzählt konsequent in der 3. Person. Mit dem Lesen. Tüb./Basel 2003. – Johannes Janota: Gesch. Bericht von der 15-Jährigen bricht der Text der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der ab. Während VF eine spätere Bearbeitung von Neuzeit 3,1. Tüb. 2004, S. 116–124. Susanne Bürkle E.-Materialien darstellt, gibt die Überlieferung keine Antwort auf die Frage nach der redaktionellen Bearbeitung von GV u. Off. Ebner, Jeannie, verh. Allinger, * 17.11. Auch die Autorkonstruktionen der Texte ge1918 Sydney/Australien, † 16.3.2004 hören mit der Figur der schreibenden MystiWien. – Schriftstellerin u. Übersetzerin. kerin u. der Thematisierung des Schreibaktes zum Konzept mystischer Literatur: Schreiben Die Lyrikerin u. Erzählerin, Nichte des Phiist Medium mystischer Praxis. Gemeinhin losophen Ferdinand Ebner, wuchs in Wiener gilt E. auch als Autorin des bereits in der Neustadt auf. Mit 16 Jahren begann sie in Mitte des 14. Jh. überlieferten Engelthaler einem Büro zu arbeiten, betrieb 1939–1945 Nonnenbuches, das büchlein von der genaden ein Speditionsgeschäft u. studierte daneben uberlast. Doch erst eine spätere Abschrift au- Bildhauerei an der Wiener Kunstakademie. ßerhalb des Klosters fügt ihren Namen ein. Nach 1945 war sie in verschiedenen Berufen Das Nonnenbuch, ein eigenständiger, weit tätig; seit 1950 lebte sie als freie Schriftstelverbreiteter Typus mystischer Klosterlitera- lerin u. Übersetzerin in Wien. E. übersetzte
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mehr als 30 Bücher aus dem Englischen, u. a. Ebner, Margareta, * um 1291 Donauvon Edna O’Brien u. Doris Lessing. wörth, † 20.6.1351 Dominikanerinnen1968–1979 war sie Redakteurin der Monats- kloster Medingen; Grabstätte; ebd., zeitschrift »Literatur und Kritik«. Margaretenkapelle. – Verfasserin mystiBereits ihr erster Roman Sie warten auf Ant- scher Texte. wort (Wien 1954), vom Surrealismus beeinflusst, erweckte das Interesse der Kritik. Mit E. entstammte einem Donauwörther Patrizider Geschichte eines Hauses u. seiner Be- ergeschlecht u. war Nonne im Dominikanewohner wird die menschl. Existenz schlecht- rinnenkloster Maria Medingen bei Dillingen, hin thematisiert. Traumhafte Sequenzen zu dem familiale Beziehungen bestanden. verschmelzen mit Szenen der Alltagswelt. Bereits kurz nach ihrem Tod wird E. in der Religiös-metaphysische Einzelgleichnisse für sie errichteten Grabkapelle als Beata ververweisen auch auf ein wesentl. Element der ehrt, ihr Kult aber erst am 24.2.1979 approspäteren literar. Produktion: die Verwendung biert. Drei Texte werden mit E. in Verbinalttestamentar. Schlüsselbegriffe. Daneben dung gebracht: die Offenbarungen (Off.), das bestimmen das erot. Motiv, die sinnl. Wahr- Ebnerin Paternoster, die bereits 1353 in einer nehmung, die Komplexität der Mann-Frau- Medinger Handschrift gemeinsam überliefert Beziehung u. autobiogr. Bezüge das Werk der sind, u. eine Briefsammlung, die hauptsächAutorin. In ihrer Lyrik findet E. im Rückgriff lich die 56 Briefe Heinrichs von Nördlingen auf christl. Symbolik, v. a. die der Psalmen, zu an E. enthält. Heinrich von Nördlingen wird einer starken Bildhaftigkeit. Dabei reicht das meist in der Forschung mit dem »friunt goSpektrum der meist gereimten Gedichte vom tes« der Off. kontaminiert. Erst im 16. Jh. allerdings werden die hymnischen Ton über das Liedhafte bis zum grundsätzlich verschiedenen Texttypen – Off. weniger streng gereimten Zeitgedicht. Weitere Werke: Gesang an das Heute. Wien u. Briefe – überlieferungstechnisch in einer 1952 (L., E.en). – Die Wildnis früher Sommer. Köln/ Art E.-Korpus verbunden. Die Off. repräsenBln. 1958 (R.). – Der Königstiger. Köln/Bln. 1959 tieren die extreme Variante einer Gnadenvita (N.). – Die Götter reden nicht. Köln/Bln. 1961 – dem volkssprachl. Typus einer myst. Vita (E.en). – Im Schatten der Göttin. Graz/Wien 1963. – der dominikan. Klosterliteratur –, sowohl in Figuren in Schwarz u. Weiß. Gütersloh 1964 (R.). – ihrer themat. Fixierung auf Körper u. Protokoll aus einem Zwischenreich. Graz/Wien/ Krankheit als auch in ihrer literar. Machart. Köln 1975. – Gedichte u. Meditationen. Baden/ Mit der durchgängig gebrauchten Ich-Form, Wien 1978. – Sag ich. Köln 1979 (L.). – Erfrorene v. a. mit der Differenzierung in ein schreiRosen. Graz 1979 (E.en). – Drei Flötentöne. Graz 1981 (R.). – Aktäon. Graz 1983 (N.). – Gedichte u. bendes u. beschriebenes Ich, der RetrospekMeditationen II. Baden/Wien 1987. – Papierschiff- tive u. den Präsenz-Einbrüchen des Erinnerchen treiben. Erlebnis einer Kindheit. Graz 1987. – ten im Akt des Schreibens scheinen sich hier Der Genauigkeit zuliebe. Tagebücher 1942–80. die formalen Kriterien einer Autobiografie Graz 1993. abzuzeichnen. Allerdings bleibt das Ich naAusgaben: Sämtl. Gedichte 1940–93. Wien menlos, ebenso fehlt in der ersten Überliefe1993. – Die neue Penelope. Ein J.-E.-Lesebuch. Graz rung zunächst die Autorsignatur, was den 1998. exemplarischen Charakter des Ich verdeutLiteratur: Carine Kleiber: J. E. Eine Einf. Bern licht. Das E.-Korpus des 16. Jh. zeigt dann die 1985 (mit Bibliogr.). – Viktor Suchy: Die Traum- Tendenz zur biogr. Konkretisierung. Mit der häuptige. Traum u. Wirklichkeit im Werk J. E.s. In: einzigen präzisen Jahresangabe setzen 1312 Studien zur österr. Lit. Hg. ders. Wien 1992, die Off. mit Beginn einer »wunderlichen« S. 259–272. Kristina Pfoser-Schewig / Red. Krankheit ein, deren körperl. Symptome sich an Herz, Augen, Händen u. Kopf manifestieren. Die auffallend konkret beschriebene Krankheit löst in der Rückschau auf die 20 vorausliegenden Jahre die Entscheidung aus, fortan das Leben nach dem Willen Gottes
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auszurichten. Die im Folgenden überblickten Adressaten des Textes, übernimmt Gott die großen Zeiträume von anfangs drei, dann 13 Urheberschaft der Schrift, vermittelt über Jahren kulminieren in dem für die Vitenlite- den Evangelisten Johannes, dem »geminten ratur topischen Zustand völliger Verlassen- schriber« Gottes, der auch ihr als »schriber« heit. Während in dieser Phase der kranke dient. Mit dieser Art von »Evangelisation« Körper, wie es heißt, mit menschlicher Arznei beansprucht der Text quasi einen Platz inohne Erfolg bekämpft u. konventionell als nerhalb der christl. Offenbarungsschriften. Die Off. werden bis ins 18. Jh. in dominiSpiegel eines defizitären Innern gedeutet wird, ist der künftige Deutungsrahmen mit, kan. Klöstern tradiert. Mehr Prominenz erdass sie »ellend« werden müsse »hie uf ert- langte E. durch die Briefsammlung, in der rich«, vorgegeben. Mit der vom »friunt go- u. a. auch Ulrich III. von Kaisheim u. Johantes« bewirkten emotionalen Ablösung von nes Tauler vertreten sind. der Welt wird dann zunehmend der konkretAusgaben: M. E. u. Heinrich v. Nördlingen. Hg. phys. Körper als Sitz der Krankheit, der aber Philipp Strauch. Freib. i. Br./Tüb. 1882. Neudr. den ganzen Text über präsent bleibt, zei- Amsterd. 1966. – Der seligen Margarete Offenbachenhaft im Blick auf Christus überschrieben. rungen u. Briefe. Übertragen u. eingel. v. HieroDer programmat. Minnegriff Gottes, der ihr nymus Wilms. Vechta 1928. Literatur: Manfred Weitlauf: E. In: VL. – Ders.: menschliches Herz durch den Namen Jesu ersetzt u. damit dessen Präsenz als Logosge- ›dein got redender munt machet mich redenburt evoziert, leitet eine Annäherung an den losz...‹. In: Religiöse Frauenbewegung u. myst. Frömmigkeit im MA. Hg. Peter Dinzelbacher u. agonierenden Leib Christi ein. In der Reihe Dieter R. Bauer. Köln/Wien 1988, S. 303–352. – nacheinander erzählter Perioden der Fasten- Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literar. Faku. Passionszeit erzeugen mediale Effekte von tum. Tüb. 1988, S. 142–155. – Claudia Spanily: Gegenständen Bildern u. Texten eine »me- Autorschaft u. Geschlechterrolle. Ffm. 2002, moria passionis« u. »compassio«, was das S. 182–197. – Susanne Bürkle: Die Offenbarungen Erfassen Gottes mit allen Sinnen bewirkt, wie der M. E. In: Weibl. Rede – Rhetorik der Weibetwa das Wahrnehmen der 5 Wunden Christi lichkeit. Hg. Dörte Bischoff u. Martina Wagnerals Narbenschriften am eigenen Körper. Im- Egelhaaf. Freib. i. Br. 2003, S.79–102. – Bruno mer aber ist es der kranke Körper, begleitet Quast: ›drücken u. schreiben‹. Passionsmyst. von wechselnden Schüben des Schweigens, Frömmigkeit in den Offenbarungen der M. E. In: Gewalt im MA. Hg. Manuel Braun u. Cornelia Redens u. Schreiens, der als »imitatio« Christi Herberichs. Mchn. 2005, S. 293–306. – Barbara zunehmend stellvertretend dessen Martyri- Koch: M. E. Ersch. in: The Yale Companion to um veranschaulicht. Die Off. konzentrieren Medieval Holy Women. Hg. Rosalynn Voaden u. sich auf Christusfigurationen der Passions- u. Alastair Minnis. Susanne Bürkle Adventszeit, die durch die erzählte Buchentstehungsgeschichte u. damit durch den Schreibbeginn des »büechelins« voneinander Ebner-Eschenbach, Marie Freifrau von, abgesetzt sind. Der Akt des Schreibens der geb. Freiin von (seit 1843 Gräfin) Dubsky, Ich-Figur u. die »Buchwerdung« des von Gott * 13.9.1830 Schloss Zdislawic/Mähren, bewirkten Geschehens werden mit der Ad† 12.3.1916 Wien; Grabstätte: Zdislawic. ventszeit u. Gottes(Logos)Geburt u. den an– Erzählerin, Aphoristikerin u. Dramatischließenden Episoden zur Kindheit Christi kerin. kombiniert. Wie für die großformatige volkssprachl. Viten- u. Offenbarungsliteratur Wie Kaiserin Maria Theresia stammte E. vätypisch, sind auch hier Autorschaftskon- terlicherseits aus altösterreichischem, mütstruktion u. Buchentstehung Teil des Text- terlicherseits aus norddeutsch-protestantikonzepts. Den autobiogr. u. bekenntnishaf- schem Geschlecht. Sie heiratete 1848 ihren ten Gestus in einer Art Humilitastopik un- um 15 Jahre älteren Vetter Moritz, Professor terlaufend, ist nicht E. die eigentl. Autorin an der Ingenieur-Akademie in Wien, später des »büechleins«. Nach dem Schreibbefehl Feldmarschallleutnant u. Mitgl. der Akadedes »friunt gotes«, dem eingeschriebenen mie der Wissenschaften; die Ehe, in der es bis
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zum Ende stets unterschwellige Spannungen gab, blieb kinderlos. E. u. ihr Mann lebten 1848–1850 in Wien, bis 1856 in Klosterbruck bei Znaim, danach in Wien u. Zdislawic. Abgesehen von den anonym erschienenen fiktiven satir. Reisebriefen Aus Franzensbad (Lpz. 1858. Neuausg. Wien 1985) galten E.s erste literar. Versuche dem Drama. Trotz des Zuspruchs von Halm erlebte sie 15 Jahre lang mit ihren dramat. Versuchen – historischpolit. Dramen, Gesellschaftsstücken u. den »zwischen Schiller und Scribe« angesiedelten (Otto Ludwig) Maria Stuart in Schottland (Urauff. Karlsr. 1860) u. Doctor Ritter (Urauff. 1869: Burgtheater) – z.T. vernichtende Kritiken. Das hierzu von Grillparzer erbetene Urteil deutete sie damals als Aufmunterung, jedoch retrospektiv in Meine Erinnerungen an Grillparzer. Aus einem zeitlosen Tagebuch (Bln. 1916) selbstironisch als hellsichtige Warnung. Nach dem aufgrund der darin geübten Adelskritik skandalerregenden Misserfolg des Gesellschaftsstücks Das Waldfräulein (Urauff. 1873: Burgtheater) wandte sie sich der Erzählprosa zu. Ihre erste große Erzählung, Bozˇena (Stgt. 1875. 121916. Neuausg. Ffm. 1984. 1996), der erste Dienstmädchenroman in deutscher Sprache, der aus der Perspektive einer tschech. »Plebejerin« erzählt, wurde 1876 in den ersten Band des Neuen deutschen Novellenschatzes (mit einem Vorwort von Heyse) aufgenommen. Ihre 1880 in Julius Rodenbergs »Deutscher Rundschau« erstgedruckte Erzählung Lotti, die Uhrmacherin (Neuausg. hg. v. Marianne Henn. Stgt. 1999) – E. selbst hatte sich 1879 zur Uhrmacherin ausbilden lassen – brachte den literar. Durchbruch. Der »dramatischen Lehrzeit« verdankte sie charakterist. Merkmale ihrer Erzählkunst: die durchkomponierte Struktur, die Dialogizität, die Situationszuspitzung, auch die Steigerungstechnik. Diese ist ein prägendes Element ihrer Aphorismen (Bln. 1880). Als »letzter Ring einer langen Gedankenkette« fordert nach E. der Aphorismus den Leser – gezielt ist v. a. auf den männl. Leser – zu dialogischer Auseinandersetzung heraus. In seiner »politischemanzipatorischen Spielart« (Gerhard Neumann) äußern sich E.s Selbstbewusstsein als
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sozial denkender Autorin u. ihr Selbstverständnis als Frau am prägnantesten: »Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde – alle dummen Männer«. 1883 erschienen in Berlin ihre Dorf- und Schloßgeschichten (161922. Neuausg., ausgew. u. mit einem Nachw. vers. v. Joseph Peter Strelka. Ffm. 1991), die einige ihrer bekanntesten Werke enthalten: Der Kreisphysikus, die Geschichte des Aufstiegs eines galiz. Juden, Jakob Szela, der den Bauern als Opfer im Kampf zwischen Reformmonarchie u. feudalem Grundadel darstellt, u. die Geschichte des Hundes Krambambuli, die E.s Einfühlungsgabe in die Welt des Kreatürlichen belegt. Mit den beiden ebenfalls im Vorabdruck in der »Deutschen Rundschau« erschienenen, »Erzählungen« genannten Kurzromanen Das Gemeindekind (2 Bde., Bln. 1887. 211920. Neuausg. hg. v. Karlheinz Rossbacher. Stgt. 1983. 2004 u. ö.) u. Unsühnbar (2 Bde., Bln. 1890. Mchn. 1957 u. ö.) unterstrich sie ihren Ruf als führende Gestalt des österr. Spätrealismus. E.s Erfolg beim bildungsbürgerl. Lesepublikum erlaubte ihr, hohe Honorare zu fordern, so für den Vorabdruck u. die ersten zwei Buchauflagen (von insg. 15 zu ihren Lebzeiten) des Gemeindekinds 10.000 Mark. In Glaubenslos? (Bln. 1893. 31903) thematisierte E. am Beispiel eines kath. Priesters die Ausgrenzung des Andersdenkenden in der österr. Gesellschaft des ausgehenden 19. Jh. E.s Erzählwerk zeichnet eine an Fontane u. Saar erinnernde Kunst des dramat. Szenenbaus, der prägnanten Dialogführung u. Figurenzeichnung aus. Den Zeitkontext geben verfassungs-rechtl. Entwicklungen in Österreich seit Joseph II. bis in die Gegenwart der nachhaltig von der österr. Spätaufklärung geprägten Autorin, ohne dass diese direkt thematisiert werden: so die Aufhebung der Fronpflichten im Absolutismus, die Grundentlastung von 1848 oder das Oktoberdiplom von 1860, das dem Grundadel eine neue Rolle im Einvernehmen mit der nunmehr freien Bauernschaft zu versprechen schien, u. die Problematik der mitteleurop. Juden im Spannungsfeld von Emanzipation, Assimilation u. aufkommendem modernen Antisemitismus. Zentrales Thema vieler ihrer Werke ist das Spannungsverhältnis zwischen
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Dorf- u. Schlossbewohnern; an ihm zeichnet sich der psycholog. Werdegang der Hauptfiguren oder deren Lebensschicksal ab. E. schärfte durch ihr ungewöhnl. Einfühlungsvermögen in dörfl. Randexistenzen u. Dienerfiguren den Blick ihrer Leser für die Lebensrealität u. die Perspektive der sozialen Unterschichten. Die engagierte sozialkrit. Tendenz ihrer Werke – in ironischer Erzählweise wird herbe Kritik an der österr. Adelsgesellschaft geübt – wurde von der zeitgenöss. Kritik gerühmt, jedoch zumeist in Form einer Huldigung an die Dichterperson E. Die »ethische Substanz« ihrer Erzählungen geriet zum alleinigen Richtmesser der poet. Leistung. Die neuere u. neuste E.-Forschung musste antreten gegen eine Rezeption, die E.s »wahre Weiblichkeit« gegen radikalere Autorinnen ihrer Zeit auszuspielen pflegte u. sie aufgrund ihrer »pädagogischen Tendenz« einseitig in die Kategorie der Autorin von Schul- u. Mädchenlektüre eingeordnet hatte. Die Rezeption E.s hat also sehr lange darunter gelitten, nicht zuletzt dank der Manipulation der Autorin im Sinn einer »Leitfigur österreichischer Weiblichkeit« durch Bettelheim, dass die literaturästhetische Qualität ihrer Werke zu wenig untersucht worden ist, auch wenn die feminist. Literaturkritik vielfach neue Akzente gesetzt hat u. noch setzt. Auch dem Briefwechsel, im Gegensatz zu den etwas weniger ergiebigen Tagebüchern, ist bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit nicht zuletzt im Rahmen der hist.-krit. Ausgabe geschenkt worden. Bei zeitgenöss. Autorinnen wie Betty Paoli, Louise von François u. Enrica Handel-Mazzetti, deren Werk sie entschieden förderte, suchte E. bis ins hohe Alter die »freundschaftliche Vor-›Öffentlichkeit‹« (Fliedl) u. die künstlerische Selbstbestätigung. Der Gedankenaustausch mit ihr gewogenen Freundinnen u. jüngeren Bekannten – ein Beispiel Letzterer wäre Lou Andreas-Salomé, die sie in Wien kurz aufsuchte – war eine ganz wesentl. Ursache von E.s erstaunlicher Kreativität bis ins hohe Alter. So konnte sie einen wichtigen Beitrag zur Frauenautobiografie u. überhaupt zur perspektivistischen Narrativik der Gattung in Meine Kinderjahre (Bln. 1906) leisten, wie auch in Aus einem zeitlosen Tagebuch
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von 1916, einer Mischung von Aphorismen, Gedichten u. Kurzerzählungen. E. wurde 1898 mit dem höchsten Zivilorden Österreichs, dem Ehrenkreuz für Kunst u. Literatur, ausgezeichnet u. war 1900 erster weibl. Ehrendoktor der Wiener Universität. Weitere Werke: Die Prinzessin v. Banalien. Ein Märchen. Wien 1872. Mikrofiche-Ausg. Wildberg 1989/90. Bln. 1904. Mchn. 1955. – Neue Erzählungen. Bln. 1881. 51919. – Zwei Comtessen. Bln. 1885. 61902. Engl. The two countesses. New York 1893 (E.en). – Neue Dorf- u. Schloßgesch.n. Bln. 1886. 81922. Ausgaben: Ges. Schr.en. 6 Bde., Bln. 1893. – Ges. Werke. Hg. Johannes Klein. 3 Bde., Mchn. 1956–58. 3–51978. – Krit. Texte u. Deutungen. Hg. Karl Konrad Polheim u. a. Bonn/Tüb. 1978 ff. – Tagebücher. I-VI. Hg. ders. u. Norbert Gabriel. Tüb. 1989–97. Literatur: Anton Bettelheim: M. v. E.s Wirken u. Vermächtnis. Bln. 1920. – Mechtild Alkemade: Die Lebens- u. Weltanschauung der Freifrau M. v. E. Mit 6 Tafelbeilagen u. dem Briefw. Heyse u. E. Graz/Würzb. 1935. – Jiri Vesely: Tagebücher legen Zeugnis ab. Unbekannte Tagebücher der M. v. E. In: Gesch. u. Lit. 15 (1971), S. 211–241. – Konstanze Fliedl: Auch ein Beruf. In: Dt. Lit. v. Frauen. Hg. Gisela Brinker-Gabler. Bd. 2, Mchn. 1988, S. 69–85. – Eda Sagarra: M. v. E. and the Tradition of the Catholic Enlightenment. In: The Austrian Enlightenment and its Aftermath. Austrian Studies 2. Hg. Ritchie Robertson u. Edward Times. Edinburgh 1991, S. 117–131. – Karlheinz Rossbacher: Lit. u. Liberalismus. Zur Kultur der Ringstraßenzeit in Wien. Wien 1992. – Ferrel V. Rose: The Guises of Modesty: M. v. E.’s Female Artists. Columbia 1994. – Ulrike Tanzer: Frauenbilder im Werk M. v. E.s. Stgt. 1997. – Doris M. Klostermaier: M. v . E. The Victory of a Tenacious Will. Riverside 1997. – Goedeke Forts. – Carsten Kretschman: M. v. E. Eine Bibliogr. Tüb. 1999. – Claudia Seelig: ›Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt‹: Die Autobiogr. der M. v. E. In: Geschlecht – Lit. – Gesch. Hg. Gudrun Loster-Schneider. Bd. 1, St. Ingbert 1999, S. 151–171. – Peter C. Pfeiffer: Geschlecht, Gesch., Kreativität: Zu einer neuen Beurteilung der Schr.en M. v. E.s. In: ZfdPh 120 (2001), Sonderh., S. 73–89. – Ders.: Im Kanon u. um den Kanon herum: M. v. E. In: Akten des X. Internat. Germanistenkongresses Wien 2000. Bd. 8: Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jh. Hg. Peter Wiesinger. Bern 2003, S. 113–118. – Linda Kraus Worley: ›Plotting the czech lands‹: M. v. E.s Konstruktionen des
Ecbasis captivi Tschechischen. In: Herausforderung Osteuropa. Die Offenlegung stereotyper Bilder. Hg. Thede Kahl u. a. Wien/Mchn. 2004, S. 135–148. – Susanne Kord: Einl. In: Letzte Chancen. Vier Einakter v. M. v. E. MHRA Critical Texts Bd. 3, London 2005, S. 1–20. – Dies.: Einl. In: Macht des Weibes: Zwei histor. Tragödien v. M. v. E. MHRA Critical Texts Bd. 4, London 2005, S. 1–18. – Nachlass: Wiener Stadtbibl.; Státní Archiv Brno; DLA. Eda Sagarra
Ecbasis captivi, wohl Mitte des 11. Jh. – Ältestes mittelalterliches Tierepos. Aufgrund seiner uneigentlichen, verschlüsselten Aussageform ist der Text, dessen genauer Titel Ecbasis cuiusdam captivi per t(r)opologiam (»Der Ausbruch eines Gefangenen in sinnbildlicher Darstellung«) lautet, bis heute rätselhaft geblieben. Der Verfasser ist unbekannt; Herkunft, Entstehungszeit u. die Bedeutung des Titels sind umstritten; für die eigentl. Darstellungsabsicht stehen mehrere Deutungsmöglichkeiten nebeneinander. Indirekt lässt sich zumindest der Entstehungsort erschließen, da der Verfasser die Umgebung von Toul (Oberlothringen) u. die Vogesen, also das dt.-frz. Grenzgebiet, gut kannte. Datierungshinweise, die auf die Zeit zwischen 1043 u. 1046 führen, ergeben sich aus Anspielungen auf die polit. Verhältnisse unter Konrad (II.) u. Heinrich (III.), die früher auf die gleichnamigen Könige des 10. Jh. bezogen wurden, neuerdings auch wieder auf Heinrich IV. u. seinen Mitregenten Konrad III. am Ende des 11. Jh. Das mlat. Gedicht mit seinen insg. 1229 leonin. Versen (Hexameter mit Binnenreim) hat eine komplexe Struktur: Zwei vom Autor erfundene Rahmenhandlungen sind wie Schalen um eine (z.T. äsopische) Binnenfabel gelegt. Im Prolog gibt der Dichter vor, auf seine verbummelte Jugend zurückzublicken. In seiner Untätigkeit kam er sich im Kloster wie ein »Gefangener« vor; als er aber vor seinem Fenster fröhlich arbeitende Leute erblickt, wird ihm plötzlich bewusst, dass er bisher nur ein »unfruchtbarer Stamm«, ein »jämmerliches Kalb« gewesen ist. Um sich selbst zu heilen, beschließt er, das Leben dieses Kalbes darzustellen. Der autobiogr. Antrieb ist deutlich; ob jedoch hinter der nun
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folgenden Geschichte ein tatsächl. Ereignis steht oder ob es sich um ein fiktives warnendes Beispiel handelt, muss offen bleiben. In der Außenfabel (455 Verse) wird berichtet, wie ein Kalb am Ostersamstag des Jahres 812 mutwillig in die Freiheit entsprang, binnen Kurzem in die Fänge eines Wolfes geriet u. beinahe als Sonntagsbraten geendet wäre, hätte nicht die Herde den Verlust bemerkt, die Höhle des Wolfes belagert u. den Abtrünnigen zurückgeholt. Der Tod des Wolfes u. die Befreiung des Kalbes sind nur dem unvermuteten Auftauchen des Fuchses zu verdanken, dem Erbfeind des Wolfes. Wie es zu dieser Feindschaft kam, erzählt der Wolf selbst in der umfangreichen Binnenfabel (705 Verse), die in diesen Rahmen eingefügt ist. Einem seiner Vorfahren hatte der Fuchs die Haut abgezogen, um damit den kranken Löwen zu heilen. Am Hof des Königs der Tiere, dem Schauplatz der Heilung u. des anschließenden Festes, treten zahlreiche »Gefolgsleute« auf. Gebräuche u. Zeremonien, polit. u. religiöse Lebensformen sind dabei in Analogie zur menschl. Gesellschaft dargestellt. Dieser Abbildcharakter kann als satir. Entlarvung gedeutet werden, denn Grausamkeit, Verstellung u. Dummheit bestimmen das Verhalten. Das Epos wäre dann als spielerischer Versuch zu verstehen, die Zitate aus antiken u. frühchristl. Autoren – allein 250 Verse stammen aus Horaz – als iron. Brechungen mit komischer Wirkung. Zielscheibe des Spotts (u. Publikum) wäre dementsprechend eine monast. Gemeinschaft. Eine entgegengesetzte Darstellungsabsicht wird seit Jacob Grimm, der 1834 eine Handschrift der E. c. wiederentdeckt hatte, bis heute erwogen. In allegor. Auslegung erscheinen Ausbruch u. Gefangenschaft des Kalbes als Warnung vor den Gefährdungen einer sündhaften Welt. Die achsensymmetrisch angeordneten Erzählebenen könnten als Aufforderung zu einer derartigen Auslegung gelten, denn in deren Zentrum steht ein Gesang über die Passion Christi, d.h. die Erlösung nach dem Sündenfall, am Anfang u. Ende des Epos wird das Osterfest vorbereitet bzw. gefeiert. Eine weitere mögl. Lesart ergibt sich aus den dargestellten Rechtsverhältnissen: Als Beloh-
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Echtermeyer
nung für die Heilung des Löwen erhielt der Eccard, Johann Georg ! Eckart, Johann Fuchs der Binnenfabel eine Höhle, die sich Georg der Wolf der Außenfabel mittlerweile angeeignet hat. Dadurch, dass der Wolf am Ende Eccius dedolatus ! Pirckheimer, Willigetötet wird, sind die widerrechtl. Inbesitz- bald nahme u. der Raub des Kälbchens gesühnt; die Rechtsordnung ist wiederhergestellt. AuEchtermeyer, Theodor Ernst, * 12.8.1805 ßen- u. Innenfabel erscheinen dabei vielfältig Liebenwerda/Sachsen, † 6.5.1844 Dresverzahnt: Bereits der Vorfahr des Wolfes den. – Publizist u. Herausgeber. hatte sein Leben freiwillig für das Heil des Königs geopfert; so endet auch die Binnen- Auf Wunsch seines Vaters, eines kursächs. fabel mit einem Fest, in einer Friedensord- Beamten, begann E. ein Jurastudium in Halnung, in der die Macht neu verteilt werden le, wechselte aber unter dem Einfluss Hegels kann. in Berlin bald zur Philosophie u. dt. PhiloloWenngleich die Wirkung der E. c. gering gie. Nach der Promotion 1831 wurde E. an war, erschloss sie doch literar. Neuland u. das renommierte Paedagogicum der Hallnimmt wegen ihres Perspektivenreichtums eschen Stiftungen berufen; hier widmete er einen wichtigen Platz in der Geschichte des sich zunächst literaturdidakt. Arbeiten. UnTierepos u. der Fabel ein. ter dem Eindruck staatlicher Restriktionen u. Ausgaben: Jacob Grimm u. Andreas Schmeller der Auffassungen seines Kollegen Arnold (Hg.): Lat. Gedichte des 10. u. 11. Jh. Gött. 1838, Ruge wurde E. zu einem publizist. VorS. 241–330. – E. c. Hg. Karl Strecker. Hann. 1935. kämpfer revolutionärer Bestrebungen. WirtNeudr. 1956 (krit. Ausg.). – E. c. Hg. Winfried schaftliche Engpässe nach seiner krankheitsTrillitzsch. Lpz. 1964 (mit Übers., Komm. u. For- bedingten Aufgabe der Lehrtätigkeit (1838) schungsber.). – Walter Haug u. Benedikt K. Voll- u. Verfolgungsmaßnahmen der Zensurbemann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. hörden nötigten E. schließlich zur Übersied800–1150. Ffm. 1991, S. 300–387 (durchges. Text lung nach Dresden (1841). mit Übers.), S. 1250–1305 (Komm.). – Text aus E.s publizist. Projekte (u. a. »Deutscher Edwin H. Zeydel (Hg.): Chapel Hill 1964. In: ›BiMusenalmanach«. Bln. 1840/41; zus. mit bliotheca Augustana‹. www.fh-augsburg.de/ Ruge) dienten der normativ-tendenziösen harsch/Chronologia/Lspost11/Ecbasis/ecb_Anwendung junghegelianischer Denkkatecapt.html. Literatur: Fritz Peter Knapp: Das lat. Tierepos. gorien auf Literaturproduktion u. -geschichDarmst. 1979, S. 1–19. – Udo Kindermann: E. c. In: te. Als viel gelesenes, misstrauisch beobachVL. – Jan M. Ziolkowski: Talking Animals. Medie- tetes u. endlich verbotenes Rezensions- u. val Latin Beast Poetry 750–1150. Philadelphia Agitationsorgan verteidigten die von E. in1993, S. 153–197. – Jan Gossens: Von kranken Lö- itiierten u. gemeinsam mit Ruge herausgewen u. Rahmenerzählungen, Hoftagen u. Straf- gebenen Hallischen Jahrbücher für deutsche Wisprozessen. Bemerkungen zur Erzählstruktur des senschaft und Kunst (Lpz. 1838–41. Neudr. mittelalterl. Tierepos. In: FS Ruth Schmidt-WieGlashütten/Ts. 1972) Gedankenfreiheit u. gand. Essen 1996, S. 217–226. – Benedikt K. Vollmann: Freundschaft u. Herrschaft. Zur ›amicitia‹- bürgerl. Sittenkodex gegen das verschwomIdee im Waltharius, in der E. c. u. im Ruodlieb. In: men beschworene Feindbild des »RomantiFS Reinhard Düchting. Heidelb. 2001, S. 509–520. zismus«. Der aufsehenerregende Essay Der – Michael Schilling: Narrative Struktur u. Sinn- Protestantismus und die Romantik von 1839/40 konstituierung in der E. c. In: Mlat. Jb. 37 (2002), (Neudr. Hildesh. 1972) bündelte die VorS. 227–245. – Peter Strohschneider: Opfergewalt u. würfe: Verdammungsurteile treffen pietistiKönigsheil. Histor. Anthropologie monarchischer sche u. kath., solipsistische u. frivole, dämoHerrschaft in der E. c. In: Tierepik u. Tierallego- nische u. transzendentale Elemente »romanrese. Hg. Bernhard Jahn u. Otto Neudeck. Ffm. u. a. tisierender« Literatur; auch die jungdt. Ten2004, S. 15–51. Anette Syndikus denzdichtung u. das Treiben der mondänen Salons werden zu Gegenständen der Polemik. Dagegen gelten Goethes Gestaltungskunst u.
Eck
Schillers Freiheitspathos den »fürchterlichen Totschlagblättern« (Heine) für vorbildhaft. Dies gilt auch für E.s Konzeption seiner Mustersammlung Auswahl deutscher Gedichte für gelehrte Schulen (Halle 1836. 31842. 192005). Bei unverändertem Kernbestand u. einer Gesamtauflage von über 800.000 Exemplaren definierte diese Anthologie den Kanon der dt. Lyrik bis in die jüngste Vergangenheit. Literatur: Else v. Eck: Die Literaturkritik in den Hallischen u. Dt. Jahrbüchern (1838–42). Bln. 1926. – Kurt Abels: Kontinuität u. Wandel [...]: 150 Jahre ›Echtermeyer‹. In: WW 36 (1986), S. 67–75 (Lit.). – Elisabeth Katharina Paefgen: Der E. (1836–1981). Darstellung u. Auswertung seiner Gesch. im literatur- u. kulturhistor. Kontext. Ffm. u. a. 1990. Adrian Hummel / Red.
Eck, Eccius, Eckius, eigentl.: Maier, Maior, Mayer, Johannes, * 13.11.1486 Egg (Eck)/ Günz, † 10.2.1543 Ingolstadt; Grabstätte/ Epitaph: ebd., Liebfrauenkirche. – Katholischer Kontroverstheologe. E. studierte seit 1498 in Heidelberg, Tübingen, Köln u. Freiburg i. Br. Theologie. Daneben hörte er Jura, Geografie, Mathematik u. Astronomie. 1510 promovierte er zum Dr. theol. u. wurde Professor in Ingolstadt. 1519–1540 war er zgl. Pfarrer an der Ingolstädter Liebfrauenkirche, wo er eine rege Predigttätigkeit entfaltete. Wann u. wo er den seit 1519 gelegentlich nachgewiesenen Dr. decr. erwarb, ist ungewiss. Sein theolog. Erstlingswerk Chrysopassus praedestinationis erschien 1514 in Augsburg. Darin maß er dem freien Willen entscheidende Bedeutung zu. Seine Rechtfertigungslehre war prägend für seine später gegen die Reformatoren bezogenen Positionen. E. galt nicht nur als streitbarer Schriftgelehrter, sondern auch als einer der schärfsten Disputanten seiner Zeit. Im Auftrag Fuggers übernahm er 1514 die Verteidigung der festverzinsl. Handelsgesellschaftseinlage. Im Streit mit den humanistisch gesinnten Zinsgegnern erwarb er sich das disputatorische u. publizist. Rüstzeug für die Auseinandersetzung mit den Reformatoren. Der Ausgang des Zinsstreits war zwiespältig. Zwar steigerte er E.s Bekanntheitsgrad außerordentlich, fügte
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dem Ansehen des vermeintl. »Fuggerknechts« jedoch nachhaltigen Schaden zu. Trotz Affinität zum humanist. Zeitgeist sowie anfänglich zahlreicher Briefkontakte mit Vertretern des Humanismus war E. kein Humanist. Seit früher Jugend war er durch eine traditionelle scholast. Bildung geprägt. In den Humaniora galt seine eigentl. Leidenschaft der Philosophie, näherhin der Logik, die bes. in der Kritik der Humanisten stand. E. ließ wenig Gelegenheiten aus, selbst Häupter des Humanismus wie Laurentius Valla, Erasmus u. Ulrich Zasius harsch zu kritisieren. Bereits seine Erstveröffentlichung Bursa pavonis (Straßb. 1507) war ein Kommentar zur aristotel. Logik. Im Zuge der Universitätsreform verfasste er einen durch u. durch scholast. Kommentar zu den Summulae des Petrus Hispanus (Augsb. 1516), der deren Vorzüge für den Logikunterricht hervorhob. In seinen bahnbrechenden Aristoteleskommentaren (Augsb. 1517) wandte er sich zwar gegen eine allzu sophist. Scholastik, doch war die Kritik nicht auf die Substanz der rezipierten Lehre gerichtet. Vielmehr vertrat er eine von Auswüchsen purgierte Form der Scholastik, die der Selbsterneuerungsbewegung der ausgehenden Scholastik zuzuordnen ist. Humanistisch war allenfalls seine starke Quellenorientierung, v. a. hin auf den »reinen« Aristoteles. Obwohl E. anfänglich freundschaftl. Beziehungen gesucht hatte, geriet er durch seine Kritik an dessen Ablassthesen (Obelisci) früh in scharfen Gegensatz zu Luther. 1519 war er es, der Luther auf der Disputation von Leipzig dahin provozierte, auch Entscheidungen von Konzilien in Frage zu stellen u. Lehrsätze des Johannes Hus als christlich zu bezeichnen. 1520 erwirkte er die Bannandrohung gegen Luther. Als einer der Ersten erkannte er, dass es in der Auseinandersetzung mit Luthers Thesen in letzter Konsequenz um die Vollmacht der Kirche ging. Seine erste größere systemat. Schrift griff mit De primatu Petri (Ingolst. 1520) einen der Kernpunkte der Auseinandersetzung auf. E.s verbreitetstes Werk war das Handbuch Enchiridion locorum communium (Landshut 1525), das dem Leser in allen wichtigen Streitfragen als prakt. Argumentationshilfe
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Eckart
gegen die Lutheraner dienen sollte. E. wandte (1517–21). Hg. Peter Fabisch u. E. Iserloh. Tl. 1, sich gleichermaßen gegen die oberdt. u. Münster 1988, S. 401–447. – Consilium Ioan[nis] Schweizer Reformation. Die Badener Dispu- Eckii Theologi in casu quinque de centenario [syst. tation von 1526 endete mit einem Erfolg E.s Tl.]. In: Johann Peter Wurm: J. E. u. der oberdt. Zinsstreit 1515–18. Münster 1997, S. 221–285. – u. führte zum Verbot religiöser Neuerungen Internet-Ed. diverser Texte in: The Digital Library in zwölf Kantonen. of the Catholic Reformation (http://solomon. E. assistierte bei Reichstagen u. Religions- dlcr.alexanderstreet.com//). gesprächen u. beteiligte sich an zahlreichen Literatur: Bibliografie: Johannes Metzler (Hg.): Versuchen, die neuen Lehren zu widerlegen. Tres orationes funebres in exequiis Ioannis E.ii Deren bedeutendstes Ergebnis war die Con- habitae. Accesserunt aliquot epitaphia in E.ii obifutatio des Augsburger Bekenntnisses. Sie tum scripta et catalogus lucubrationum eiusdem zeichnet sich durch ungewohnte Kompro- (1543). Münster 1930, S. LXXI-CXXXII (unvollst. missbereitschaft aus, welche E. auch in den Werkverz.). – Weitere Titel: Erwin Iserloh: J. E. Ausschüssen bewies. Weit weniger kompro- (1486–1543), Scholastiker, Humanist, Kontrovers2 missbereit zeigte er sich in der Zurückwei- theologe. Münster 1985. – Ders. (Hg.): J. E. sung der Bekenntnisschrift Zwinglis u. der (1486–1543) im Streit der Jh.e. Münster 1988. – Franz Wachinger (Hg. u. Bearb.): Threni magistri Confessio Tetrapolitana, für die dieser ebenfalls nostri Ioannis Eckii [...]. Ffm. u. a. 1997 (Ausg. eidie Hauptarbeit leistete. Vom bayer. Herzog ner Satire auf E.). – Johann Peter Wurm: E. In: VL abgeordnet, nahm E. an den Religionsge- Dt. Hum. (Lit.). Johann Peter Wurm sprächen von Worms u. Regensburg teil, bei denen er wieder mit gewohnter Härte auftrat. Noch in Regensburg verbreitete er auf Eckart, (Johann) Dietrich, * 23.3.1868 Wunsch des Herzogs Annotationes (gedr.: Neumarkt/Oberpfalz, † 26.12.1923 Apologia. Ingolst. 1542), die das Regensburger Berchtesgaden; Grabstätte: ebd., Alter Buch ablehnten u. die Gespräche erfolgreich Friedhof. – Dramatiker u. Publizist. untergruben. E. war der erste u. blieb bis zu seinem Tode Nach einem abgebrochenen Medizinstudium einer der unversöhnlichsten unter den füh- arbeitete der Notarssohn seit 1899 als Jourrenden Kontroverstheologen. Was ihn her- nalist in Berlin, wo er vergeblich als Dichter aushob, war v. a. seine Analysefähigkeit, die u. Dramatiker zu reüssieren hoffte. Nach ihn früher als andere die weitreichenden ersten Anfängen mit romantisierender Lyrik Folgen der luth. Ablassthesen erkennen ließ. (In der Fremde. Baden-Baden 1893) attackierte Dabei machten ihn sein leidenschaftl. Auf- E. als Dramatiker das Besitz- u. Machtstreben treten u. seine dogmatisch-polem. Härte in im wilhelmin. Deutschland, etwa am Beispiel besonderem Maße zur Zielscheibe von Spott des Journalismus (Familienväter. Lpz. 1904). Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs führte u. Verleumdung (dazu Wachinger 1997). E. wurde so Gegenstand unzähliger Reformati- zu einer Radikalisierung seines auf einem popularisierten Wagnerianismus u. Geonssatiren. Ausgaben: Alfred Paetzold (Hg.): Die Konfuta- schichtspessimismus basierenden kulturkrit. tion des Vierstädtebekenntnisses. Lpz. 1900. – Konservatismus in Richtung einer völk. Wilhelm Gussmann (Hg.): D. J. E.s 404 Artikel zum Ideologie. In E.s Dramen äußerte sich dies in Reichstag v. Augsb. 1530. Nach der für Kaiser Karl der Hinwendung zu einer mystisch gesteiV. bestimmten Hs. hg. u. erl. Kassel 1930. – Herbert gerten Sicht deutscher Vergangenheit (HeinImmenkötter (Hg.): Die Confutatio der Confessio rich der Hohenstaufe. Bln./Mchn. 1915) u. in Augustana vom 3. Aug. 1530. Münster 1979. – einer die Peer Gynt-Figur für das völk. Denken Enchiridion locorum communium adversus Lutvereinnahmenden Adaption des Ibsen-Draherum et alios hostes ecclesiae (1525–43). Hg. mas (Bln. 1912. 21916. Zuletzt Mchn. 1922). Pierre Fraenkel. Münster 1979. – Enchiridion. Handbüchlein gemainer stell u. Artickel der jetzt In Lorenzaccio (Mchn. 1915), einem trotz Anschwebenden Neuwen leeren. Faks. Druck der klängen an Alfred de Musset eigenständigen Ausg. Augsb. 1533. Hg. Erwin Iserloh. Münster Drama, verband sich kruder Geschichtsfata1980. – Obelisci. In: Dokumente zur Causa Lutheri lismus erstmals mit offenem Antisemitismus.
Eckart
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E., der das Leben eines Bohemien führte u. Eckart, Gabriele, * 23.3.1954 Falkenstein/ von finanziellen Sorgen geplagt war, lebte ab Vogtland. – Lyrikerin u. Erzählerin. 1913 in München. Er war Mitgl. der ThuleE. studierte 1972–1976 Philosophie in OstGesellschaft u. gab von 1919 bis 1921 die antisemit. Wochenschrift »Auf gut deutsch« berlin u. nahm 1979 an einem Kurs am Joheraus, an der u. a. Alfred Rosenberg u. hannes R. Becher-Literaturinstitut in Leipzig Gottfried Feder mitwirkten. 1919 lernte er teil. Nach einem Besuch der Frankfurter Hitler kennen, den er als väterlicher Freund Buchmesse 1987 kehrte E. nicht in die DDR in die bessere Gesellschaft einführte u. zgl. zurück, behielt aber die DDR-Staatsbürgerstark beeinflusste. 1920 war E. maßgeblich schaft. Im Sommer 1988 zog sie in die USA, beteiligt am Kauf des »Völkischen Beobach- setzte dort ihr Studium fort u. promovierte ters«, des künftigen Zentralorgans der 1993 an der University of Minnesota. E. lehrt NSDAP, dessen Hauptschriftleitung er im in den USA als Dozentin für Deutsch u. SpaAug. 1921 übernahm. In dieser Funktion nisch. Das Grundmotiv von E.s zwischen 1970 u. wurde er nach einem Zerwürfnis mit Hitler 1976 entstandenen Gedichten, gesammelt im im März 1923 durch Rosenberg ersetzt. Von E. stammen der Text des SA-Kampf- Tagebuch (Bln./DDR 1978), ist der Kontrast liedes Deutschland, erwache! u. zahlreiche, zwischen dem scheinbar unbefangenen Um»Judaismus« u. »Bolschewismus« in einer gang der Autorin mit der Sprache u. dem Weltverschwörungsfantasie identifizierende Zweifel an der eigenen Ausdrucksfähigkeit. Pamphlete (u. a. Der Bolschewismus von Moses Dieser Zweifel, den sie als Unsicherheit gebis Lenin. Zwiegespräch zwischen Hitler und mir. genüber überkommenen Ansichten u. WahrMchn. 1924). Für die Traditions- u. Mythen- heiten erfährt, verdichtet sich in Sturzacker. bildung des NS-Staats gewann E., dem Hitler Gedichte 1980–1984 (Bln./DDR 1985) zu einem postum den ersten Band von Mein Kampf Gefühl persönl. Eingeengtheit, dem die Au(Mchn. 1924) gewidmet hatte, die Statur eines torin mit psychologischer Selbstreflexion u. heldenhaften Vorkämpfers; sein literarischer individueller Wahrheitssuche zu begegnen Einfluss auf die Entwicklung einer »völkisch- sucht. Wahrheiten findet E. im Alltagsleben der heroischen Dramatik« blieb jedoch gering. Weitere Werke: Der Froschkönig. Lpz. 1904 kleinen Leute, deren verborgene Individuali(Kom.). – Der Erbgraf. Bln. 1907 (D.). – Ein Kerl, der tät sie in Per Anhalter. Geschichten und Erlebnisse spekuliert. Bln. 1909 (Kom.) – Ibsen, Peer Gynt, der aus der DDR (Bln./DDR 1982. Köln 1986) große Krumme u. ich. Bln. 1914. – Ein Vermächt- aufspürte. Die Protagonisten des Alltags ließ nis. Hg. Alfred Rosenberg. Mchn. 1928. E. selbst zu Wort kommen in der Sammlung Literatur: Sonja Noller: D. E. In: NDB. – Paul So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR. Leben Wilhelm Becker: Der Dramatiker D. E. Ein Beitr. im Havelländischen Obstanbaugebiet (Köln zur Dramatik des Dritten Reiches. Diss. Köln 1969. 1984). Allerdings gaben E.s Gesprächspartner – Margarete Plewnia: Auf dem Wege zu Hitler. Der zu freimütig Auskunft über ihre Lebenssi›völkische‹ Publizist D. E. Bremen 1970. – Uwe-K. tuation. Nach dem Vorabdruck einiger InKetelsen: Völk.-nat. u. nationalsozialist. Lit. in Dtschld. 1890–1945. Stgt. 1976. – Christian Hen- terviews in der »Neuen Deutschen Literatur« nig: Der ›Deutsche‹ Peer Gynt. In: Der nahe Nor- (12, 1983, S. 93–101) u. in »Sinn und Form« den. FS Otto Oberholzer. Ffm. 1985, S. 161–174. – (2, 1984, S. 290–313) kam es in der DDR zu Claus-Ekkehard Bärsch: Die polit. Religion des NS. keiner vollständigen Veröffentlichung des Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Buchs. Die Auseinandersetzungen um die Schr.en v. D. E., Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg Protokolle hat Peter Merseburger in seinem u. Adolf Hitler. Mchn. 1998, S. 52–91. Buch Grenzgänger. Innenansichten der anderen Johannes G. Pankau / Clemens Vollnhals Republik (Mchn. 1988, S. 132–136) dargestellt. Weitere Werke: Gabriele Eckart. Bln./DDR 1974 (L.). – Der Seidelstein. Eine Novelle. Bln./DDR 1986. – Wie mag ich alles was beginnt. Gedichte. Köln 1987. – Frankreich heißt Jeanne. Drei Erzäh-
175 lungen. Bln./DDR 1990. – Der gute fremde Blick. Eine (Ost)deutsche entdeckt Amerika. Köln 1992. – Sprachtraumata in den Texten Wolfgang Hilbigs. New York 1996 (Wiss.). Literatur: E. In: Andrea Jäger: Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen u. Übersiedlungen v. 1961 bis 1989. Autorenlexikon. Ffm. 1995. – Anne Lequy: ›unbehaust‹? Die Thematik des Topos in Werken wenig(er) bekannter DDR-Autorinnen der siebziger u. achtziger Jahre. Eine feminist. Untersuchung. Ffm. 2000. Andrea Jäger
Eckart, Eccard, von Eckhardt, Johann Georg, * 7.9.1674 Duingen bei Alfeld/Leine, † 9.2.1730 Würzburg. – Historiograf, Philologe, Journalist. Der Sohn eines Försters besuchte das fürstl. Landesgymnasium Pforta u. bis 1696 die Universität Leipzig, wo er von der Theologie bald zur Jurisprudenz u. zum Studium der Geschichte überging. Neben Arbeiten als Korrektor in der Leipziger Offizin des Ahasver Fritsch versah E. zeitweise den Posten eines Sekretärs bei dem späteren kursächs. Minister u. Feldmarschall Jakob Heinrich von Flemming, dem er, so wird berichtet, aus Bayles eben erschienenem Dictionnaire vorlesen musste. Der junge Gelehrte mied den Militärdienst, wurde mit Leibniz bekannt u. siedelte vor 1700 nach Hannover über. 1706 wurde er in Helmstedt Professor für Geschichte, ab 1713 war er wieder enger Mitarbeiter von Leibniz u. Historiograf am Hof in Hannover. Nach Leibniz’ Tod 1716 wurde er auch als Bibliothekar dessen Nachfolger. In Zusammenarbeit mit Leibniz publizierte E. den »Monatlichen Auszug, aus allerhand neu-herausgegebenen, nützlichen und artigen Büchern« (3 Bde., Hann. 1700–02), das erste gelehrte Rezensions-Journal in dt. Sprache (die Vorgänger von Christian Thomasius, Wilhelm Ernst Tentzel oder Nikolaus Hieronymus Gundling waren – die Thomasischen »Monatsgespräche« wenigstens im ersten Jahr 1688 – in Gesprächsform gehalten). Leibniz selbst hatte Jahrzehnte zuvor das Projekt eines lat. gelehrten Rezensionsorgans im Stil des seit 1665 in Paris erscheinenden Prototyps, des »Journal des Sçavans«,
Eckart
u. d. T. eines »Nucleus librarius semestralis« verfolgt, aber nicht realisiert. E. führte die Geschichtswerke Leibniz’ fort, die Annales imperii u. die Origines Guelficae, ohne sie zum Abschluss zu bringen. Für die Duchesse d’Orléans, Liselotte von der Pfalz († 1722), verfasste er eine Leibniz-Biografie in frz. Sprache (Druck 1779). Seine genealog. Forschungen brachten ihn in Verbindung zu Prinz Eugen u. Kaiser Karl VI., der ihn 1719 in den Adelsstand erhob. 1723 flüchtete E. aus Hannover über das Kloster Corvey nach Köln, wo er im Jahr darauf zum kath. Bekenntnis konvertierte. Die Gründe für den in der gelehrten Welt aufsehenerregenden Konfessionswechsel – Schulden, gekränkter Ehrgeiz, religiöse Überzeugung – sind, wie gewöhnlich in solchen Fällen, nur schwer aus Legenden u. üblen Nachreden herauszulösen. E. wurde fürstbischöfl. Historiograf u. Bibliothekar beim Hochstift Würzburg sowie an der dortigen Universität, nachdem er Angebote des kath. Adels u. sogar der röm. Kurie ausgeschlagen hatte. Nun entstanden E.s große, an der quellenkrit. Methode der frz. Mauriner (d. i. der Benediktiner der Kongregation von St. Maur bei Reims, bes. Jean Mabillon, † 1707) orientierte Werke zur Universal-, Kirchen- u. Sprachgeschichte. Das Hauptwerk sind die Commentarii de rebus Franciae Orientalis et Episcopatus Wirceburgensis (2 Bde., Würzb. 1729 u. 1731), die in annalistischer Ordnung bis zu König Konrad I. zurückgehen. Das wichtigste sprachgeschichtl. Werk ist die Historia studii etymologici linguae Germanicae (Hann. 1711). Man hat die auch forschungsgeschichtlich angelegte Arbeit die erste Geschichte der dt. Philologie genannt. Daneben stehen mlat. u. altdt. Studien: zum Werk der Hadumoth von Gandersheim (Lpz. 1720), zu Otfried von Weißenburg (Hann. 1713) u. zum dt. Te Deum (Helmstedt 1713). Der erste Band der Commentarii enthält zudem eine Ausgabe des Hildebrandsliedes mit lat. Übersetzung u. Worterklärungen. Weitere Werke: Brevis ad historiam Germaniae introductio. Helmstedt 1709. – (Hg. mit Vorrede:) Gottfried Wilhelm Leibniz: Collectanea etymologica: illustrationi linguarum, veteris Celticae, Germanicae, Gallicae, aliarumque inservientia. Hann.
Eckartshausen 1717. Nachdr. Hildesh. 1970. – Poet. Nebenstunden. Braunschw. 1720. – Schreiben an den Päpstl. Nuntium Passionei v. seinem Abfalle, Anno 1724 geschrieben. In: Fortgesetzte Slg. v. alten u. neuen theolog. Sachen [...]. Auf das Jahr 1741 [...]. Lpz. o. J., Tl. IV, S. 64–67. Des Nuntii Antwort: ebd., S. 67. – Die Briefe v. J. G. E. an Bernhard Pez in Text u. Kommentar. Hg. Thomas Wallnig. Wien 2001. – Lebensbeschreibung des Freyherrn v. Leibnitz. Nürnb. 1779. Nachdr. in: Leibniz-Biogr.n. Hildesh. 2003. Literatur: Franz Xaver v. Wegele: J. G. Eckhart. In: ADB. – Richard Brill: J. G. Eccard. In: NDB. – DBA 266,87–119. – Rudolf v. Raumer: Gesch. der german. Philologie. Mchn. 1870. – Hubert Huß: Die Geschichtswiss. an der Univ. Würzburg. Diss. Würzb. 1940. – Heribert Raab: Biogr. über den Würzburger Historiographen J. G. v. E. In: Würzburger Diözesangeschichtsbl. 18/19 (1956/57). – Hermann Leskien: J. G. v. E. Das Werk eines Vorläufers der Germanistik. Diss. Würzb. 1965. – Ludwig Hammermayer: Zum dt. Maurinismus des frühen 18. Jh. In: Ztschr. für bayer. Landesgesch. 40 (1977), S. 391–444. – Annegret Stein-Karnbach: G. W. Leibniz u. der Buchhandel. In: AGB 23 (1982), Sp. 1190–1418. – Kath. Aufklärung, Aufklärung im kath. Dtschld. Hg. Harm Klueting. Hbg. 1993. – Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Gesch. der Literaturkritik zwischen Quintilian u. Thomasius. Leiden 1995. – Ders.: Historia literaria u. Formen gelehrter Slg.en, diesseits u. jenseits v. Periodizität. Eine Reihe v. Überlegungen. In: Erschließen u. Speichern v. Wissen in der Frühen Neuzeit. Formen u. Funktionen. Hg. Frank Grunert. Bln. 2007. Herbert Jaumann
Eckartshausen, Karl von (geadelt 1776), eigentl.: Franz Haimhausen, * 18.6.1752 Schloss Haimhausen/Bayern, † 13.5.1803 München. – Esoteriker. Der illegitime Sohn des Grafen Karl von Haimhausen u. der Tochter des Schlossintendanten, Anna Maria Eckhart, wurde von seiner Familie väterlicherseits beruflich unterstützt, aber nicht anerkannt u. trat daher nie eine Erbschaft an. 1770 ließ er sich an der Universität Ingolstadt immatrikulieren, wo er bis 1774 Philosophie u. Bayerisches Zivilrecht studierte. Er wurde 1777 Mitgl. der Münchener Akademie der Wissenschaften, 1780 ins Bürgerzensurkollegium aufgenommen u. 1784 zum Geheimen Hausarchivar ernannt.
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Das Werk E.s beginnt mit belletrist. Schriften, nämlich rührseligen Theaterstücken (wie Das Vorurtheil über den Stand und die Geburt. Ein Lustspiel in drey Aufzügen. Mchn. 1778) u. Kurzgeschichten in moral. Wochenschriften (etwa in »Das Sittenblatt, eine Wochenschrift«. Mchn. 1784). 1777 wurde er in die Freimaurerei (Loge Zur Behutsamkeit in München) aufgenommen, u. sein Hang zu den Geheimwissenschaften dürfte ihn dazu bewogen haben, auch dem Illuminatenorden beizutreten. Als er aber dessen polit. Ziele durchschaute, war der antirevolutionäre E. so entsetzt, dass er 1784 im Prozess gegen den Orden u. seinen Stifter Adam Weishaupt eine wichtige u. verheerende Rolle spielte u. später eine Reihe politisch-antiaufklärerischer Schriften verfasste (wie Ueber die Gefahr, die den Thronen, den Staaten und dem Christenthume den gänzlichen Verfall droht. Mchn. 1791). Für die Literatur- u. Geistesgeschichte sind die letzten 17 Jahre seines Lebens am interessantesten. Ab 1788 begann er, seinen esoter. Neigungen literar. Ausdruck zu geben (Aufschlüsse zur Magie. Mchn. 1788–92). Eher mystisch als theosophisch geprägt ist sein Gebetbuch Gott ist die reinste Liebe (Mchn. 1790), das über 100 Auflagen erreichte u. in elf Sprachen übersetzt wurde. Zu seinen schönsten u. tiefgreifendsten theosoph. Werken gehören Die Wolke über dem Heiligthum (o. O. 1802; acht Aufl.n, Übers.en in vier Sprachen) sowie zwei nachgelassene Schriften: Ueber die Zauberkräfte der Natur (Mchn. 1819. Neudr. hg. v. Antoine Faivre. Müllheim/Baden 1997) u. Ueber die wichtigsten Mysterien der Religion (Mchn. 1823. Neudr. hg. v. A. Faivre. Müllheim/Baden 1997). E. glaubte an das »Magische« (im Sinne der »Magia« der Renaissance) u. war überzeugt, dass »Erkenntnis« (im Sinne von erlösender »Gnosis«) zum Eindringen in den Geist der Dinge verhelfen könne. Der romant. Naturphilosophie stand er insofern nahe, als er die Errungenschaften der Wissenschaft nutzen wollte, um die Intuitionen der Theosophie zu bestätigen. Für ihn bezieht sich die Wiedergeburt durch die Theosophie nicht bloß auf den Menschen, sondern auch auf die Natur. Dieser kosmischen Erlösung sollen die Alchimisten dienen; E. war selbst einer ihrer
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Literatur: Ludwig Kleeberg: Studien zu Novaletzten ernst zu nehmenden Vertreter. Mit Ausnahme der Astrologie gibt es wenige Fel- lis (Novalis u. E.). In: Euph. 23 (1921), S. 603–639. – der der Esoterik, mit denen er sich nicht be- Auguste Viatte: Les Sources occultes du Romantisschäftigt hätte. Lieblingsthemen seiner spe- me. Bd. 2, Paris 1928, S. 44–52. – Hans Graßl: Aufbruch zur Romantik: Bayerns Beitr. zur dt. kulativen Forschungen sind der Fall Luzifers Geistesgesch. 1765–85. Mchn. 1968, S. 319–335. – u. Adams, die Androgynie u. nicht zuletzt die Antoine Faivre: E. et la théosophie chrétienne. Paris Arithmologie: 1794 erschien in Leipzig seine 1969. – Ayako Nakai: Die zwei Grundkräfte der Zahlenlehre der Natur, kurz danach seine Pro- Natur bei E. u. Novalis im Vergleich mit der chines. baseologie (Lpz. 1795); aber auch seine übrigen Naturphilosophie. In: FS Hans-Joachim Mähl. Tüb. Werke sind voll von Bemerkungen über eine 1988, S. 159–181. – Wolfgang Albrecht: K. v. E. als »traditionelle«, an Platon u. Pythagoras an- exponierter Repräsentant kath.-theosoph. Gegenknüpfende Wissenschaft, derzufolge die aufklärung. In: Von ›Obscuranten‹ u. ›EudämoZahlen Erkenntnismittel darstellen, Medien nisten‹ [...]. Hg. ders. u. Christoph Weiß. St. Ingbert 1997, S. 127–153. – A. Faivre: E. In: Dicsind zwischen Sinnlichem u. Übersinnlitionnaire des Francs-Maçons (ersch. 2008). chem, Mittel u. Stützpunkte, um das VerAntoine Faivre hältnis zwischen den Dingen u. dem All zu begreifen bzw. zu »erkennen«. Der E. um 1800 am nächsten stehende Eckenlied, erste Hälfte des 13. Jh. – Romantiker ist der poetisch begabtere Nova- Hochmittelalterliches Heldenepos. lis. Mystisch oder theosophisch orientierte Geister wie Johann Heinrich Jung-Stilling Im Bernerton (Kanzone mit 13 vierhebigen oder Johann Michael Sailer haben zu E.s Kurzzeilen) abgefasst, entstand das E. als Freunden gezählt. Autoren wie Herder haben Vertreter der aventiure- oder märchenhaften sich über ihn positiv geäußert. Sein Einfluss Dietrichepik in der ersten Hälfte des 13. Jh. vorwiegend auf die Esoterik des 19. u. 20. Jh. im bairisch-österr. Raum. Die frühe Überlieist beträchtlich. In Russland, wo er zu den ferung der sog. Helferich-Strophe im Codex Lieblingsautoren Kaiser Alexanders I. zählte, Buranus, sechs weitere Handschriften u. wurde eine Anzahl seiner Werke übersetzt. In mindestens elf Drucke aus dem 15. u. 16. Jh. Frankreich, England, ja ganz Europa u. in der (die drei verschiedene Versionen vertreten) Folgezeit in Amerika wurde E., wenn es um bezeugen eine anhaltende Beliebtheit des Esoterik oder geheimwissenschaftlich ge- gattungstypisch anonym überlieferten Epos. färbte Mystik ging, bis in die heutige Zeit Dieses teilt verschiedene motivische u. szen. immer wieder zitiert u. neben wenigen an- Elemente mit dem altfrz. Prosaroman Chevaderen Namen zum Symbol einer westlichen lier de Papageau, ohne dass einer der beiden Texte direkt vom andern abhängig sein u. christlichen esoter. Tradition. Weitere Werke: Myst. Nächte oder der Schlüs- müsste. Die Ausgangssituation ist in den verschiesel zu den Geheimnissen des Wunderbaren. Mchn. denen Fassungen die gleiche, jeweils geht es 1791. – Slg. der merkwürdigsten Visionen. Mchn. 1792. – Kostis Reise v. Morgen gegen Mittag. Do- um die Verifizierung eines divergierenden nauwörth 1795. – Die wichtigsten Hieroglyphen Dietrich-Bildes: Ecke diskutiert mit Vasolt u. fürs Menschenherz. Lpz. 1796. – Ueber Sprache u. Ebenrot über die Vortrefflichkeit des Recken Schrift. Lpz. 1797. – Einige Worte aus dem In- Dietrich von Bern u. beschließt, sich selbst nersten. Lpz. 1797. – Ueber die Perfektibilität des diesem im Kampf zu stellen. Von drei auf Menschengeschlechts. o. O. 1797. – Versuch einer Jochgrimm herrschenden Königinnen (naAnwendung der höheren Mathematik auf die mentlich allein Seburg) offiziell ausgeschickt Chymie. Lpz. 1797. – Ideen über das affirmative u. mit einer unzerstörbaren, noch von den Prinzip des Lebens. Lpz. 1798. – Die neuesten Entdeckungen über Licht, Wärme u. Feuer. Mchn. Helden Ortnit u. Wolfdietrich herrührenden 1798. – Blicke in die Zukunft. Lpz. 1799. Neudr. Rüstung versehen, zieht der riesenhafte Ecke, hg. v. Antoine Faivre. Müllheim/Baden 1997. – zu schwer für ein Pferd, zu Fuß aus. Er trifft Entwurf zu einer ganz neuen Chimie. Regensb. nach einigen Umwegen u. vorbereitenden 1800. – Chim. Versuche. Regensb. 1801. Abenteuern (Kampf mit einem »merewun-
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der«) auf Dietrich, der jedoch erst nach vielen Religion situiert, der Schluss bringt einen Aufforderungen u. Schmähreden zum Kampf Abriss von Dietrich/Theoderichs Kämpfen bereit ist. Bei diesem kommt Ecke ums Leben, mit Odoaker um Rom u. seine dort 31 Jahre Dietrich beklagt ihn, beraubt ihn nichtsdes- währende Herrschaft. Diese gesuchte Nähe toweniger der Rüstung (»rerop«) u. bricht zum Historischen mag es gewesen sein, die selbst zu den drei Königinnen auf, um ihnen umgekehrt den Chronisten (die generell die den Tod ihres Kämpfers mitzuteilen. Dabei märchenhafte Dietrichepik ablehnten) ein kommt es nach einer ersten Auseinanderset- Dorn im Auge war u. etwa dazu führte, dass zung mit Vasolt, der seinen Bruder rächen das E. im Zeitalter der Reformation zu den will, zu einer Serie von Abenteuern, die in verbotenen Büchern gehörte (Erzherzog Ferden einzelnen Fassungen variieren. Im Zen- dinand von Tirol ließ es beschlagnahmen). trum stehen die Kämpfe mit Eckes VerAusgaben: Das E. Text, Übers. u. Komm. v. wandtschaft, das Vordringen nach Joch- Francis B. Brévart. Stgt. 1986. – Das E. Sämtl. Fasgrimm, wo Dietrich in einer drast. Szene Se- sungen. Hg. ders. 3 Bde., Tüb. 1999. burg das Haupt Eckes zu Füßen wirft, u. die Literatur: Joachim Heinzle: Mhd. Dietrichepik. Mchn. 1978, S. 144–182. – Manfred Zips: abschließende Heimkehr nach Bern. Das E. steht, wie die märchenhafte Diet- Dietrichs Aventiure-Fahrten. In: Dt. Heldenepik in richepik überhaupt, im Zeichen der Aufwer- Tirol. Hg. Egon Kühebacher. Bozen 1979, tung Dietrichs (Theoderichs), der, in klerika- S. 135–171. – J. Heinzle: E. In: VL. – Francis B. Brévart: Des Helden Ausfahrt im ›E.‹ In: Archiv 220 ler Tradition wegen seines Bekenntnisses (1983), S. 268–284. – Carola L. Gottzmann: Helzum Arianismus als Ketzer verteufelt, hier dendichtung des 13. Jh. Ffm. u. a. 1987, zum vortreffl. Helden wird: keine Exilfigur S. 137–168. – Marie-Luise Bernscheuer: Herausmehr, sondern ein Helfer der Vertriebenen, forderungsschema u. Frauendienst im ›E.‹. In: kein wilder Jäger, sondern selbst Beschützer ZfdA 117 (1988), S. 173–201. – Matthias Meyer: Die einer Jungfrau. Dieser Dietrich erscheint aber Verfügbarkeit der Fiktion. Heidelb. 1994, zgl. als Zauderer, der den heroischen Auto- S. 187–236. – Hartmut Bleumer: Narrative Histomatismus des Kampfes blockiert u. in seiner rizität u. histor. Narration. In: ZfdA 129 (2000), fatalen Dynamik sichtbar macht: In die Rolle S. 125–153. – Elisabeth Lienert (Hg.): Dietrichepik. Eckes schlüpfend, bringt er diesen, ausgezo- Ffm. 2003/04. – Harald Haferland: Mündlichkeit, Gedächtnis u. Medialität. Heldendichtung im dt. gen, ihn selbst an den Hof zu bringen, seiMA. Gött. 2004, S. 173–222. – Udo Friedrich: nerseits als Toten an den Hof zurück – eine Transformationen myth. Gehalte im ›E.‹. In: Präkomplexe Inversion, die zeigt, dass es sich senz des Mythos. Hg. ders. u. Bruno Quast. Bln./ beim E. um ein Epos handelt, in dem Kom- New York 2004, S. 275–297. Christian Kiening ponenten heldenepischen Erzählens spielerisch variiert werden. Nicht nur geht es von vornherein um einen Diskurs über das HeEckermann, Johann Peter, * 21.9.1792 roische, auch die einzelnen Episoden sind Winsen an der Luhe/Niederelbe, † 3.12. mindestens so sehr von Gesprächen wie von 1854 Weimar. – Schriftsteller; seit 1823 Aktionen geprägt. Das Erzählen gewinnt eine redaktioneller Mitarbeiter u. GesprächsDoppelbödigkeit, verstärkt dadurch, dass partner Goethes, Mitherausgeber seiner sich auch strukturell verschiedene Muster nachgelassenen Werke. (Frauendienst, Zweikampf, Monstertötung) verschränken. Angelegt sind damit Überlie- Als Sohn eines Hausierers wuchs E. in ärmferungsvariationen im Detail wie im Rahmen. lichsten Verhältnissen auf, früh zu Hüte- u. Während Kaspar von der Rhön in seinem Feldarbeiten u. zur Begleitung seines Vaters Heldenbuch mit Dietrichs Bericht von seinen herangezogen, bis zu seinem 14. Lebensjahr Abenteuern nach erfolgter Rückkehr schließt, nur sporadisch die ungeliebte Schule besubieten andere Handschriften Ansätze zu er- chend. In dieser von ihm als glücklich beneuter Historisierung: Der Beginn der Ge- zeichneten Phase erwachte sein naturkundlischichte wird in Köln u. mit dem Hinweis auf ches Interesse an der Vogelwelt, das sein Leden Übergang von heidnischer zu christl. ben begleitete. Erste schulische Förderung,
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auch Privatunterricht in Französisch, erhielt er nach Entdeckung seines zeichner. Talents, musste sich jedoch, um seinen u. den Unterhalt seiner Eltern zu sichern, mit Anstellungen als Schreiber in Winsen (1808), Büroangestellter der Steuerdirektion in Lüneburg u. Uelzen (1810) u. »Mairie-Secretair« in Bevensen (1812) begnügen. Doch interpretierte er schon früh die Aufmerksamkeit, die seinen Begabungen zuteil wurde, als Zeichen, zu »etwas Hohem« bestimmt zu sein. 1813/14 nahm er als Freiwilliger am Feldzug gegen die Franzosen teil; die Campagne in Brabant, »einem Lande der Kunst«, belebte aufs Neue seinen Entschluss, Maler zu werden, den er nach der Rückkehr durch Unterricht bei Johann Heinrich Ramberg in Hannover, zunächst mit Kopien anatomischer Zeichnungen, zu verwirklichen suchte, bis ihn die Erkenntnis der Grenzen seiner Begabung u. körperl. Erschöpfung (z.T. eine Folge der Kriegsstrapazen) zum Aufgeben zwangen. Noch immer mittellos, nahm er im Sommer 1815 eine Stelle bei der »Militairkleidungs-Commission« in Hannover an. Gleichzeitig wandte er sich ganz der Dichtung zu, wobei ihm zunächst Theodor Körner, Klopstock u. Schiller zu Leitsternen wurden, auch für seine eigenen lyr. Versuche, unter ihnen solche mit vaterländischen u. sozialkrit. Themen. Mit der Lektüre von Goethes Gedichten begann für ihn eine neue Epoche; er entfernte sich von Schiller u. »lebte und webte« nun »Jahr und Tag« in Goethes Werken. An ihnen erkannte er seinen Bildungsmangel u. suchte ihn autodidaktisch – v. a. durch die Lektüre antiker Klassiker u. Shakespeares in Übersetzungen –, durch Privatstunden in Latein u. (nur kurzfristig, neben dem Beruf) durch Gymnasialunterricht zu beheben. Seine 1818 durch eine Denkschrift gestützte Bitte um ein Stipendium für ein »zweckfreies« (geistes-) wiss. Studium an der Universität Göttingen blieb erfolglos. Auch der Versuch, durch das 1820 verfasste Trauerspiel Eduard, eine an Jean Pauls Definition des Tragischen orientierte vage Gegenkonzeption zu den Schicksalsdramen Adolf Müllners u. Grillparzers (das trag. Schicksal kein objektives Verhängnis, sondern die Folge eines charakterl.
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»Misstons«), bekannt u. unabhängig zu werden, misslang. Erst die Herausgabe seiner Gedichte auf Subskription (Liebeslieder, überwiegend moralisierende Gedichte u. Sprüche u. eine lange Stanzen-Epistel als Dank an einen »hohen Freund« für die Rückführung aus Zweifeln in das »Glück des Glaubens«; ein Goethe geschicktes Exemplar blieb trotz der diskreten Huldigungsgedichte Von meinem Meister u. Seine Weise ohne persönl. Antwort) sowie die auf sein Entlassungsgesuch hin gewährte Abfindung durch die Kriegskanzlei ermöglichten ihm 1821 die Aufnahme eines Jura- u. Geschichtsstudiums in Göttingen (u. a. bei dem Juristen Gustav Hugo, dem Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren u. dem klass. Philologen Ludolf Dissen). Aus Dankbarkeit gegen Goethe, der ihm »nach allen Richtungen hin die Bahn gebrochen« habe, aber auch, um andere zu den Grundsätzen zu bekehren, die er sich »durch das Beste was die Poesie aufzuweisen hat [...] und die den ewig feststehenden Gesetzen der Natur und des Lebens gemäß sind«, gebildet hatte, verfasste er im Herbst u. Winter 1822/23 die Schrift Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe, eine, auch Jean Pauls Vorschule der Ästhetik verpflichtete, aphorist. Poetik, mit der er zgl., wie mit seinem Drama, »Lärm machen« wollte, »damit Geld und Ruf komme«. Unmittelbar nachdem er eine Abschrift Ende Mai 1823 nach Weimar geschickt hatte, in der Erwartung, dass Goethe sich bei Cotta für den Druck des Werks verwenden u. der Erfolg ihm ein Studium u. gesellschaftl. Anschluss in Berlin ermöglichen werde, begann E. eine Fußreise nach Weimar, wo er am 10.6.1823 von Goethe wohlwollend empfangen u. bald darauf mit ersten redaktionellen Arbeiten beauftragt wurde. Nach gelungener Probe, überdies durch die Beyträge zur Poesie qualifiziert, wurde E. ab Herbst 1823 von Goethe, dem er »keine weitere Bestimmung« zu haben schien, in näheren, zeitweise tägl. Umgang gezogen u. als Redaktor der noch ungedr. Schriften für die seit 1822 geplante Vollständige Ausgabe letzter Hand seiner Werke (=AlH) etabliert. Die auf Jahre berechnete Aufgabe umfasste nach Goethes Plan u. a., in der Masse der Papiere
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»das Brauchbare vom Unbrauchbaren zu sondern, das Problematische und nicht ganz Vollendete [...] zu besprechen, das entschieden Fertige abschreiben zu lassen, und alles nach inneren Bezügen nach und nach zu ordnen und zu Bänden zusammenzustellen«. E. nutzte die impliziten Freiheiten zu mancherlei Eingriffen u. Arrangements, wie er es sich später auch hauptsächlich als sein Verdienst anrechnete, Goethe die Vollendung des zweiten Teils des Faust (von dem er 1834 eine gekürzte Bühnenfassung Faust am Hofe des Kaisers herstellte) u. den 4. Teil von Dichtung und Wahrheit abgefordert zu haben. 1824 erschienen im Cotta-Verlag E.s Beyträge, 1825 verlieh ihm die Universität Jena auf Betreiben Goethes das Doktordiplom. Goethe unterstützte auch E.s Theaterleidenschaft u. seine 1824 aufgenommene, ihn finanziell notdürftig absichernde Tätigkeit als Deutschlehrer für junge Engländer, die in Weimar auf ihrer Bildungsreise Station machten, wodurch sich E. seinerseits als Englischlehrer des Erbprinzen Carl Alexander qualifizierte (1829–1835). Dagegen missbilligte Goethe E.s Versuche, in ausländ. Zeitschriften zu publizieren, wie er auch seine mehrfachen Anläufe nicht förderte, in Städten wie Berlin u. Frankfurt/M. oder in den Rheingegenden literar. Selbständigkeit zu gewinnen. Andererseits war Goethe außerstande, E.s Gründung einer häusl. Existenz mit seiner in Hannover zurückgelassenen Verlobten Johanne Bertram finanziell zu sichern, sodass die Heirat sich bis 1831 verzögerte (er habe »die ganze Zeit« als »Schüler und Mitarbeiter« Goethes auf seine »eigenen Kosten gelebt«, schrieb E. später dem Verleger Brockhaus). Dilatorisch behandelte Goethe E.s Wunsch, die bereits 1824 begonnenen, 1825 in Probestücken vorgelegten Aufzeichnungen ihrer Gespräche (»Unterhaltungen«, »Conversationen«) zu publizieren u. als »Werbeschrift« der AlH vorauszuschicken, wodurch E. für sich selbst »europäischen Ruhm« (bereits 1826 lag ihm das Angebot einer engl. Ausgabe vor) u. materielle Unabhängigkeit erhoffte. Das Projekt verdrängten jedoch aktuelle Arbeiten wie die Herausgabe der Festschrift zu Carl Augusts Regierungsjubiläum
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(1825/26), der wachsende redaktionelle Einsatz für Goethes Werke (1827–1830 erschienen in rascher Folge die Bde. 1–40 der sog. Taschenausg. der AlH), auch die anfängl. Begleitung Augusts von Goethe auf dessen Italienreise 1830. Als Hauptmotiv für seinen Reiseabbruch bezeichnete E. die Arbeit an den Gesprächen. Dem von einer Klausur erhofften Abschluss des Manuskripts nach der Rückkehr stellten sich Goethes Veto gegen dessen »baldige Publication« u. seine erneute, verstärkte Indienstnahme E.s entgegen. Mit der 1831 testamentarisch fixierten Einsetzung als (Mit-)Herausgeber der nachgelassenen Werke waren E.s Kräfte bis 1833 weitgehend gebunden (Bde. 41–55 der AlH; Abschluss 1842 mit Bd. 60; voraus ging 1836/ 37 die zus. mit Riemer edierte, um Nachlasstexte erweiterte Auswahlausg. von Goethes Werken in 2 Bdn., die sog. Quartausg.). Dennoch (u. trotz persönlicher Krisen: die durch seine Heirat mit Johanne Bertram beendete Liebesbeziehung zu der jungen Schauspielerin Auguste Kladzig; der Tod seiner Frau nach der Geburt des Sohnes Karl 1834) gelang E. 1835 der Abschluss der Gespräche in zwei Bänden, die, der Großherzogin Maria Pawlowna dediziert, 1836 bei Brockhaus in Leipzig erschienen. Trotz überaus positiver Rezensionen blieb dem Werk der erhoffte Verkaufserfolg bis in die 1870er Jahre versagt. Genauer als in der Vorrede zum 1. Band hat E. in einem Brief an Heinrich Laube vom 5.3.1844 die poetolog. Regie des Werks beschrieben, wobei er es gegen Rezipienten in Schutz nahm, die in ihm »ein bloßes Werk eines guten Gedächtnisses« sahen, »das maschinenmäßig die empfangenen Eindrücke zurückspiegelt [...] ähnlich der ganz gemeinen Realität der Licht-Bilder.« Vielmehr sei es ihm darum gegangen, einen »Helden« zu gestalten, den er nicht habe »sinken lassen« dürfen, zgl. um »die Aufgabe alle Kunst zu verbergen und bloß den reinen Eindruck eines Naturwerkes hervorzubringen«. Dieser (sein Unternehmen von »Konkurrenzen« wie Johann Daniel Falks, Kanzler von Müllers, Riemers u. Sorets Gesprächsaufzeichnungen unterscheidender) Formwille habe auch den genet. Prozess gesteuert: die empfangenen Eindrücke oft lange verzögert
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niederzuschreiben, »damit das Kleinliche sich verliere und nur das Bedeutendere zurückbleibe«, aus kargen Notizen »nach den Gesetzen einer geistigen Kristallisation« in mühsamen Prozessen, aber auch inspirierten Momenten themat. Zusammenhänge zu formen. Für diese Leistung beanspruchte E. den Status eines »Autors«, den ihm das ahnungslose Publikum durchweg vorenthalten habe. Auch die Vorrede zum bereits Anfang der 1840er Jahre konkret geplanten, durch einen jahrelangen vertragsrechtl. Streit mit Brockhaus verzögert erst 1848 bei Heinrichshofen erschienenen 3. Band der Gespräche, in der E. seine verfeinerte Assoziations- u. (durch die Integration von Gesprächsaufzeichnungen Frédéric Sorets perfektionierte) Montagetechnik offen darlegte, änderte an der Gewohnheit des Publikums (auch der meisten Goetheforscher) nichts, E.s überformte »Goethetexte« als Dokumente misszuverstehen u. als authent. Zeugnisse oder Teil seines Werks zu zitieren. Im gleichen Zug wurde E.s Eigenleistung verkannt u. sein Name, sei es unter dem verächtl. Etikett des »Goethepapageys« (Heine) oder dem wohlwollenden des exemplarisch »bescheidenen Menschen« (Houben) zum Synonym des epigonalen Propagators. In ihrem Eigenwert u. -anspruch wirkungslos blieben E.s Selbstdarstellung in der Einleitung zum 1. Band der Gespräche wie die selbstbewusst-krit. Würdigung von Goethes naturwiss. Leistungen in seinem Lexikonartikel Goethe für Brockhaus’ Conversations-Lexikon der Gegenwart 1839. Auch die Veröffentlichungen aus dem Tagebuch- u. Briefnachlass (durch Tewes, Houben u. Petersen), die E.s »Eigenleben« neben dem »Umgang« mit Goethe dokumentieren u. bisweilen die Originalität seiner Prosa aufleuchten lassen, bewirkten keine generelle Neueinschätzung. Fragwürdig sind angesichts der elementaren Spannungen in E.s Leben prominente Pauschalurteile über seine schriftsteller. Existenz als der eines »Adam, dem Gott der Herr seinen Hauch einbläst« u. der »mit Allem, vornämlich mit sich selbst im Reinen« sei (Hebbel an Elise Lensing, 13.9.1837), oder die ästhet. Bewertung der Gespräche als »pomadig-besänftigend« (Heine an Georg Weerth, 5.11.1851), aber auch
Eckermann
Nietzsches beiläufige Hyperbel von »dem besten deutschen Buche, das es giebt« (Menschliches, Allzumenschliches II 109). Dass E. als Überlieferer stets auch sich selbst zum Vorschein bringen wollte, geht aus einer späten Notiz zu dem nicht mehr verwirklichten Plan eines vierten u. letzten Gesprächs-Bandes hervor: »Einem Band Gespräche mit Goethe über den Zweiten Theil des Faust dürfte es zur Zierde gereichen wenn Goethes Tagebuch über meinen täglichen Verkehr mit ihm, demselben voranginge.« Analog zu seiner literar. Selbstaufwertung u. ihrem Scheitern verlief E.s zunehmend anachronistische bürgerl. Existenz nach Goethes Tod im Bannkreis des Weimarer Hofs, der ihm äußerl. Anerkennung zuteil werden ließ (1837 Ernennung zum ehrenamtl. Bibliothekar der Großherzogin; 1843 Hofratstitel), seine finanzielle Not jedoch dazu benutzte, ihn trotz mehrfacher Flucht- u. Befreiungsversuche in permanenter Abhängigkeit zu halten. Weitere Werke: Gedichte. Hann. 1821. – (Hg.) Weimars Jubelfest am 3. Sept. 1825. 2 Bde., Weimar 1825/26. – Gedichte. Lpz. 1838. – Einige Worte über den Rechtsstreit mit Brockhaus. Weimar 1846. – Goethes Faust am Hofe des Kaisers. In drei Akten für die Bühne eingerichtet v. J. P. E. Aus E.s Nachl. hg. v. Friedrich Tewes. Bln. 1901. – Aus Goethes Lebenskreise. J. P. E.s Nachl. Hg. ders. 1. Bd., Bln. 1905. Ausgaben: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Nach dem ersten Dr., dem Originalms. des 3. Tl.s u. E.s handschriftl. Nachl. hg. v. Heinrich Hubert Houben. Lpz. 1909 (zahlreiche Neuaufl.n). – Julius Petersen (Hg.): Mitt.en aus dem Briefw. zwischen Carl-Alexander v. Sachsen-Weimar u. J. P. E. In: Jb. der Slg. Kippenberg 2 (1922), S. 16–53. – Carl F. Schreiber (Hg.): Sieben Briefe Karl August Varnhagen v. Enses an J. P. E. In: JEGPh 21 (1922), S. 411–430. – J. Petersen (Hg.): E.s Briefe an Auguste Kladzig. In: Jb. der Slg. Kippenberg 4 (1924), S. 92–190. – Ders.: Die Entstehung der E.schen Gespräche u. ihre Glaubwürdigkeit. Mit [...] einem Anhang ungedr. Briefe v. u. an E. Ffm. 21925. Neudr. Hildesh. 1973. – J. P. E. Sein Leben für Goethe. Nach seinen neu aufgefundenen Tagebüchern u. Briefen dargestellt v. H. H. Houben. 2 Bde., Lpz. 1925/28. – Max Hecker (Hg.): Die Briefe Theodor Kräuters an E. In: GoetheJb 12 (1926), S. 264–306. – Wilhelm Schoof (Hg.): Freiligraths Briefw. mit E. u. Kanzler v. Müller. In:
Eckhart von Hochheim Euph. 48 (1954), S. 311–340. – Herbert Baum (Hg.): Unbekannte Briefe v. J. P. E. an Heinrich Stieglitz. In: Geschichtsblätter für Waldeck 50 (1958), S. 100–109. – Sander L. Gilman (Hg.): J. P. E. Aphorismen. Bln. 1984.
182 Funde u. Erkundungen zu Goethe. Weimar 1998, S. 340–348. Christoph Michel
Eckhart von Hochheim ! Eckhart, Meister Literatur: Bibliografien: Goedeke 2. Aufl. Bd. 13
(1938), S. 401–407. – Alfred Zastrau in: GoetheHdb. Bd. 2 (21961), Sp. 1976–1984. – DLL, Bd. 3 (31971), Sp. 852–855. – Walter Gröll u. Günther Hagen (Bearb.): J. P. E. Leben u. Werk. Winsen/Luhe 1992. – J. P. E. Leben im Spannungsfeld Goethes. Hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik vom Goethe-Nationalmuseum. Weimar 1992. – Regine Otto in: Goethe-Hdb. Bd. 4.1 (31998), S. 218–223. – J. P. E. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hg. Christoph Michel u. Hans Grüters. Ffm. 1999 (= Frankfurter Goethe-Ausg. Bd. 39). – Weitere Titel: Julius Petersen: E.s künstler. Leistung. In: Insel-Almanach auf das Jahr 1925. Lpz. 1924. – Helmut Spiess: Goethe, E. u. ›Faust auf der Bühne‹. Jena 1930. – Eduard Hitschmann: J. P. E. Eine psychoanalyt.-biogr. Studie. Wien 1933. – Adrien Robinet de Cléry: Frédéric-Jacob Soret et J. P. E. Histoire d’une amitié. In: Revue Germanique 24 (1933), S. 231–244 u. 26 (1935), S. 120–129. – Heinrich Hubert Houben: Goethes E. Die Lebensgesch. eines bescheidenen Menschen. Lpz. 1934. – Ernst Beutler: Einf. zu: J. P. E.: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Zürich 1949 (= Goethe: Gedenkausg. der Werke, Briefe u. Gespräche. Hg. Ernst Beutler. Sonderausg. 1999), S. 781–852. – Derek van Abbé: On Correcting E.s Perspectives. In: Publications of the English Goethe Society 1954. – Wilfried Franz: ›Dem Andenken des Unvergeßlichen‹. E.s Gedicht auf den Tod Goethes. In: JbFDH 1974, S. 53–70. – Paul Stöcklein: Die freie Porträtkunst E.s u. anderer Gesprächspartner. In: Ders.: Lit. als Vergnügen u. Erkenntnis. Heidelb. 1974, S. 96–100. – Karl Robert Mandelkow: Das Goethebild J. P. E.s. In: Ders.: Orpheus u. Maschine. Heidelb. 1976 (zuerst 1963), S. 38–62. – Leo Kreutzer: Inszenierung einer Abhängigkeit. J. P. E.s Leben für Goethe. In: Ders.: Mein Gott Goethe. Essays. Reinb. 1980, S. 125–142. – Edith Nahler: J. P. E. u. F. W. Riemer als Hg. v. Goethes literar. Nachl. In: Karl-Heinz Hahn: Im Vorfeld der Lit. Weimar 1991, S. 75–84. – Wolfgang Baumgart: Südl. Beleuchtung. Der Träumer E. In: Euph. 85 (1991), S. 111–124. – Avital Ronell: Der Goethe-Effekt. Goethe – E. – Freud. Mchn. 1994 (zuerst 1986). – C. Michel: E.s ›Prozeß‹. Eine Revision. In: Ettersburger H.e 3 (1995), S. 62–98. – Hans-Joachim Weitz: Goethe als Bühnenfigur auf dem zeitgenöss. Theater. Zu Martin Walser, ›In Goethes Hand‹. In: Ders.: ›Der einzelne Fall‹.
Eckhart, Meister, Eckhart von Hochheim, * vor 1260 Hochheim bei Gotha/Thüringen, † (vermutlich) 28.1.1328 (wahrscheinlich) Avignon. – Philosoph, Theologe, Prediger. Ein wichtiger Lebensabschnitt E.s hob an, als er nach seinem Eintritt ins Erfurter Predigerkloster den Bildungsgang eines Studenten des Dominikanerordens absolvierte. In Köln dürfte er Albert den Großen noch gehört haben (Sermo paschalis, n. 13). Vielleicht war er um 1286 zum ersten Mal in Paris. Sicher jedoch ist, dass er 1293 im Alter von wenigstens 33 Jahren als Sententiar von seinem Orden an die Pariser Universität Sorbonne geschickt wurde. Dort hielt er zu Beginn des akadem. Jahres 1293/94 als Bakkalaureus der Theologie die Collatio in libros Sententiarum, seine Antrittsvorlesung. Vom 18. April, dem Ostertag des Jahres 1294, datiert eine akadem. Festpredigt. Diese Predigt mit dem Titel Pascha nostrum ist das erste überlieferte Zeugnis von E.s Predigttätigkeit. In ihr distanzierte er sich mit zahlreichen Zitaten nichtchristlicher Philosophen u. Naturforscher von antiphilosoph. Tendenzen innerhalb der theolog. Fakultät, hob aber andererseits die Demut als christl. Tugend hervor. 1294 wurde E. zum Prior von Erfurt gewählt. Zwei Jahre später übernahm er auch das Amt des Vikars von Thüringen. Provinzial zu dieser Zeit (1293–1296) war Dietrich von Freiberg. Als Prior u. Vikar schrieb E. noch vor 1298 die Rede der underscheidunge. Obwohl ihnen Lehrgespräche (»collationes«) mit jungen Ordensbrüdern zugrunde lagen, behandelten die Reden grundsätzl. Fragen einer christl. Lebensführung u. wurden über das Erfurter Kloster hinaus auch in Laienkreisen gelesen. Wie vor ihm schon der Franziskaner David von Augsburg u. die Begine Mechthild von Magdeburg wählte E. die dt. Sprache zur Vermittlung spiritueller Einsichten. Den Re-
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den fehlt jede asket. Härte; auch die Vorstellungen von Hölle, Teufel u. Strafe. E. verkündet Gott als rückhaltlos sich schenkende Liebe, der nur der Einzelne von sich her Grenzen setzen könne, wenn er nicht in jedem Augenblick für sie empfänglich sei. Alles liege daran, sich von Besitzdenken sowie Eigeninteresse zu lösen u. Gott in allem Tun gegenwärtig zu haben. Nicht der Rückzug aus der Welt führe zu größerer Gottesnähe. Jeder Mensch solle vielmehr eine innere Einsamkeit erwerben u. seine Vernunft darin üben, sich durch alle Dinge hindurch auf den gegenwärtigen Gott zu richten u. sich so in Jesus Christus »hineinzubilden«. Auch der im MA selbstverständliche Vorrang des geistl. Standes vor dem des Laien wird nicht bestätigt: »Gott hat des Menschen Heil nicht an irgendeine besondere Weise gebunden. Ein jeder Mensch behalte seine Weise und ergreife in seiner Weise alles Gute und alle Weisen.« Der mit Gott »durchformte« Mensch wird »gotvar«, »gottfarbig«, was sein ganzes Handeln prägt: »Wenn du gerecht bist, dann sind auch deine Werke gerecht.« Heiligkeit ist nicht auf ein bestimmtes Tun, etwa auf asket. Übungen, sondern auf ein Sein gegründet, das sich durch einen bestimmten Vernunftgebrauch konstituiert. Wiederum nach Paris geschickt, wurde E. 1302 zum Magister der Theologie promoviert. In einer lat. Predigt zum Fest des hl. Augustinus am 28.8.1302 (oder 1303) vertritt er sein Verständnis von Theologie als Metaphysik, die im Anschluss an Boethius nicht in Vorstellungen verbleiben, sondern die Wesensform Gottes bedenken solle. Das Wertvollste aus dieser Zeit sind zwei Quaestiones, in denen er sich mit der Ansicht des Thomas von Aquin argumentativ auseinandersetzt u. gegenüber jedwedem Sein dem göttl. Erkennen Prädominanz zuerkennt, wodurch er seine Originalität voll zur Geltung gebracht hat, auch gegenüber dem sonst schon progressiven mittelalterl. Neuplatonismus: Das Leben des Geistes ist nicht mit dem Sein identisch, sondern dem Sein präordiniert, schon deshalb, weil das stumme Sein sich aus sich selbst heraus nicht zu rechtfertigen vermag, wohl aber das Erkennen. Aus seiner Predigttätigkeit sind zwei programmat. Sermones et
Eckhart, Meister
Lectiones zu Jesus Sirach erhalten. Auch seine ersten dt. Predigten, die überliefert sind, entstammen der Zeit nach dem ersten Pariser Magisterium. Sie setzen die Vernunft- u. Gotteslehre der Pariser Quaestiones voraus. Ein Großteil dieser schriftlich niedergelegten Predigten, insg. 32, ging in die frühe Sammlung Paradisus anime intelligentis ein. Sie zielen wie die Reden auf spirituelle Unterweisung, zeigen aber eine universitätsnahe, rationale Argumentation. Ihre Adressaten sind die Dominikanerbrüder in den Konventen u. Provinzkapiteln. Als Lesepredigten sollten sie auch deren Verpflichtung zur (dt.) Predigt dienlich sein. Mit seiner erneuten Berufung nach Paris setzte E. die ruhmreiche Tradition der dt. Dominikaner an der Sorbonne nach Albert dem Großen u. Dietrich von Freiberg fort. Die Ehre, zweimal von seinem Orden an das Pariser Magisterium entsandt worden zu sein, teilte E. nur mit Thomas von Aquin. Die Jahre 1311 bis 1313 sind von höchster Bedeutung. Sein »Dreigeteiltes Werk« (Opus tripartitum), das er in Paris konzipierte, sollte sein philosophisch-theologisches Denken systematisch darlegen. Grundlage sollte ein in 14 Traktaten entwickeltes Thesenwerk (Opus propositionum) über Grundbegriffe der Metaphysik sein; ein Opus quaestionum zu ausgewählten theolog. Problemen u. ein Opus expositionum mit exemplarischen Schriftauslegungen sollten die Fruchtbarkeit von E.s neuem Ansatz der Metaphysik erweisen. Ausgeführt u. erhalten sind Prologe (Prologus generalis in opus tripartitum, Prologus in opus propositionum, Prologus in Opus expositionum I u. II), ein Genesisu. Exodus-Kommentar in je zwei Redaktionen, ein »Buch der Bildreden (»parabolae«) in der Genesis«, ein Sapientia-Kommentar u. eine Auslegung des Johannesevangeliums. Vom zweiten Teil des Opus expositionum, dem Opus sermonum, sind lat. Predigtentwürfe erhalten. Vom Hohelied-Kommentar gibt es nur ein Fragment. Vom Matthäus-Kommentar, auf den E. des Öfteren verweist, ist keine Überlieferung bekannt. Es fehlen gänzlich das Opus propositionum u. das Opus quaestionum. Hat die I. Pariser Quaestio Sein als Charakteristikum des Geschaffenen gedeutet, so lautet im Prologus generalis zum »Dreigeteilten
Eckhart, Meister
Werk« die Grundthese: »Das Sein ist Gott« (»Esse est deus«). Darin liegt kein Widerspruch, weil E. im ganzen Opus tripartitum das göttl. Erkennen als Sein begreift, geleitet von der Einsicht, dass Gott sonst nicht wäre u. nicht Gott wäre. Dennoch bleibt eine bemerkenswerte Differenz zwischen dem göttl. Sein u. dem göttl. Erkennen bestehen: Das göttl. Sein ermöglicht bestimmtes Sein, dies, indem es sich zum bestimmten Sein hin vermittelt, das selbst Bestimmtes (»hoc et hoc«) in seiner Existenz erhält – so »in nuce« E.s Analogietheorie, eine Theorie faktischer Relationalitäten. Vernünftiges Denken erkennt jedoch, dass es Prinzip ist, erkennt, dass es etwas als Prinzipiat erkennt, das aber, weil Gedachtes des Denkens, selbst Denken ist, sodass Denken Denken denkt, sich denkt, u. das Gedachte als Denken sein Prinzip denkt, dies in wechselseitigem Sich-Setzen – so »in nuce« E.s Theorie univoker Korrelationskausalität. Aufgrund dieser Theorie weiß der Gerechte sich in der Gerechtigkeit, sich als die Gerechtigkeit, weiß sich derjenige, der frei ist, in der Freiheit, sich als Freiheit, weiß sich als Prinzip, in das das ungeschaffene u. unerschaffbare Prinzipiat seit je u. stets zurückgekehrt ist. Dieses Prinzipiat besitzt gegenüber Gott sogar einen Vorrang, da Gott nur ein Gott der Kreaturen ist, das Prinzipiat aber zum Geschaffenen keinen Bezug aufweist, sondern nur zu seinem ungeschaffenen Prinzip, mit dem es identisch ist. Das Ich weiß so sich als Prinzipiat, weiß sich, will sich, hat sich u. besitzt nur eine Voraussetzung: sich selbst als Prinzip. Sucht das Ich nach weiteren Voraussetzungen, so findet es immer nur sich u. weiß sich als voraussetzungslose Voraussetzung. So ist das Ich der absolute Grund, die absolute Einheit, der Anfang von allem – vernünftiges Erkennen, in dem Sein so Erkennen ist, dass es nichts ist als Erkennen. Trotz der Identität von Sein u. Erkennen genießt für E. schließlich doch das Erkennen wieder höchste Priorität. Während Dietrich von Freiberg konstatiert hat, d a s s der (tätige) Intellekt sein Prinzip, Gott, sogar auf die Weise seines Prinzips erkennt, expliziert E. näherhin, w ie höchstes Erkennen zu begreifen sei: als Prozess im Ausgang vom Ich als Erkennen hin zum Ich als erkanntem Ich
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u. zurück zum Ich als absolutem Ursprung. Das Ich ist »gotes grunt«, wo das Erkennen als Grund u. Ursprung der Seele des Menschen mit diesem Grund Gottes identisch ist. 1313 kehrte E. nicht wieder in die Leitung der Saxonia zurück; er wurde vielmehr als Vikar des Ordensgenerals Berengar von Landora u. seines Nachfolgers Hervaeus Natalis in die oberdt. Ordensprovinz entsandt. Über seinen genauen Auftrag gibt es bisher keine Dokumente. Belegt sind Aufenthalte in Straßburg u. in den Frauenklöstern von Katharinental u. Ötenbach. Vielleicht hatte er die Aufsicht über die süddt. Dominikanerinnenklöster, um 1300 bereits 65, u. über die Betreuung der zahlreichen Beginengemeinschaften. Letztere galten wegen ihrer nicht regulierten Lebensweise als bes. anfällig für die freigeistige Häresie. Das Konzil von Vienne (1311/12) hatte den Bettelorden die weitere Förderung der Beginen untersagt. Es mag sein, dass der angesehene Magister E. für die Beaufsichtigung der »cura monialium« (Nonnenseelsorge) u. der Beginenbetreuung während dieser auch für den Orden prekären Phase der Auseinandersetzung als bes. geeignet erschien. In der Zeit bis 1322/23 entstanden dt. Traktate u. Predigten. Der Traktat Von abegescheidenheit, neben der Rede der underscheidunge die verbreitetste Schrift E.s, könnte in der Auseinandersetzung mit dem Miroir des simples âmes (»Spiegel der einfachen Seelen«) der Begine Marguerite Porete (1310 in Paris als Häretikerin verbrannt) geschrieben worden sein. E. könnte ihr Buch in Paris kennengelernt haben; er behandelt gleiche Themen u. kommt zu ähnl. Aussagen. Die lautere Abgeschiedenheit (bei Marguerite: das Zu-nichts-Werden) übertrifft alle Tugenden, selbst Liebe, Demut u. Barmherzigkeit. Ihr Gegenstand ist weder dies noch das. Sie steht auf dem reinen Nichts. Die unbewegl. Abgeschiedenheit bringt den Menschen in die größte Gleichheit mit Gott. In ihr wird er von Gnaden das, was Gott von Natur ist (vgl. Miroir, n. 135). Den Liber Benedictus, bestehend aus dem Buch der göttlichen Tröstung u. der Lesepredigt Vom edlen Menschen, hat E. der Königin-Witwe Agnes, Gemahlin des 1301 verstorbenen Königs Andreas III. von Ungarn, wahrscheinlich
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anlässlich ihres Eintritts ins (halb)geistl. Leben 1318 in Königsfelden, übersandt (»misit magister Ekardus reginae Ungariae«; LW V, S. 198). Wahren Trost im Leid findet der Mensch in der Lehre, dass die Gerechtigkeit sich ganz in dem Gerechten, sofern er gerecht ist, gebiert. Zwischen der gebärenden Gerechtigkeit u. dem geborenen Gerechten herrscht Einheit in der Differenz: »Alles, was der Vater seinem Sohn gab, das alles gab er mir.« Die Lehre von der Gottesgeburt ist ein bemerkenswertes Motiv in E.s Denken. In ihr entfaltete er die Heilsbedeutsamkeit der Inkarnation Gottes für alle Menschen. Die Anfangsverse des Johannesprologs legt E. so aus, dass sie nicht nur über den Hervorgang des göttl. Wortes u. die Schöpfungsmittlerschaft des Logos Auskunft geben, sondern auch über die Kausalität des Denkens u. geistiger Prinzipien in der Welt. Weil göttliches u. geistiges Leben von gleicher Struktur sind, kann die Menschwerdung Gottes sich in der Sohnwerdung jedes Menschen vollenden. Erlösung geschieht durch die Annahme der Inkarnation im Vollzug der eigenen Gotteskindschaft. In ihr offenbart sich das tiefste Wesen des Menschseins ebenso wie das Wesen Gottes als rückhaltlose Liebe, die sich dem Geliebten gleichmacht u. so nicht mit Herrschaft verwechselt werden kann. Zwischen 1313 u. 1326 entstanden die meisten dt. Predigten, von denen wir handschriftl. Kenntnis haben. Einige (Pred. 13–15.22) sind als Predigtreihe konzipiert u. mit Sicherheit in Köln gehalten worden, im Zisterzienserinnenkloster von St. Mariengarten u. im Benediktinerinnenkloster St. Machabeorum. In der Predigt Misit dominus manum suam (DW II, Pred. 53) formulierte E. sein geistl. Predigtprogramm: »Wenn ich predige, so pflege ich zu sprechen von Abgeschiedenheit und dass der Mensch frei werden soll von sich selbst und allen Dingen. Zum zweiten, dass man wieder eingebildet werden soll in das einfache Gut, das Gott ist. Zum dritten, dass man des großen Adels gedenken soll, den Gott in die Seele gelegt hat, auf dass der Mensch damit auf wunderbare Weise zu Gott komme. Zum vierten von der Lauterkeit göttlicher Natur – welcher Glanz in göttlicher
Eckhart, Meister
Natur sei, das ist unaussprechlich« (DW II, S. 528 f.). Es kann vermutet werden, dass E. nach dem Tod von Hervaeus Natalis am 7.8.1323 vom neuen Ordensgeneral Barnabas Cagnoli von Vercelli an das »studium generale« der Dominikaner in Köln beordert wurde. Dort wurde E. von eigenen Ordensangehörigen, Wilhelm von Nidecke u. Hermann von Summo, wegen Häresie verklagt, sodass Heinrich II. von Virneburg, Erzbischof von Köln, vor Sept. 1326 einen Inquisitionsprozess gegen E. eröffnete. Als Beweismaterial legten die beiden Denunzianten Listen mit Einzelsätzen aus E.s Schriften vor. E. erkannte die Rechtmäßigkeit des erzbischöfl. Verfahrens nicht an u. appellierte am 24.1.1327 an den Hl. Stuhl in Avignon. Zudem unterwarf er sich am 13.2.1327 in einer öffentl. Erklärung in der Kölner Predigerkirche dem Urteil des kirchl. Lehramtes. Avignon zog den Prozess tatsächlich an sich u. verlegte das Schwergewicht der Anklage auf den formellen Wortlaut der inkriminierten Sätze (»heretici, prout verba sonant«). Von der Kurie vorgeladen, verteidigte E. in Avignon wiederum seine Lehre. Das abschließende Gutachten der Theologenkommission (sog. »Votum Avenionense«) bildete die Grundlage der Bulle In agro dominico vom 27.3.1329. Papst Johannes XXII. verurteilte darin 17 Thesen E.s als häretisch u. elf als übelklingend, kühn u. der Häresie verdächtig. Die Bulle vermerkt auch, E. habe vor seinem Tod die inkriminierten Sätze widerrufen, »sofern sie im Geiste der Gläubigen häretische Auffassungen erzeugen könnten«. Die Verurteilung hat E. nicht mehr erlebt. Die kirchl. Verurteilung E.s hat seine literar. Wirkung u. seinen Einfluss nicht ausgelöscht. Unter den Kölner Dominikanern bewahrte ein »Kreis von Eckhartisten« (Sturlese) seine Werke. Eine »Ausgabe letzter Hand« der lat. Werke veranstaltete ein anonymer Redaktor (sog. CT-Rezensent). Ein anderer Dominikaner stellte aus E.s Kölner Nachlass dessen Prozessunterlagen zur sog. Rechtfertigungsschrift zusammen u. brachte sie in Umlauf. Die Predigtsammlung Paradisus anime intelligentis wurde ebenfalls von Anhängern E.s initiiert. Heinrich Seuse unternahm
Eckhart, Meister
in seinem Büchlein der ewigen Wahrheit eine Verteidigung seines Lehrers, während Johannes Tauler eher eine ambivalente Haltung E.s Denken gegenüber an den Tag legte. Nur unverfängl. Exzerpte aus dem Buch der göttlichen Tröstung entnahm Johannes von Dambach († 1372) für seine Consolatio theologiae. Auch Autoren außerhalb des Dominikanerordens haben die Schriften E.s gekannt u. benutzt, so der Zisterzienser Nikolaus von Landau († nach Mitte des 14. Jh.), der Augustinereremit Jordan von Quedlinburg († um 1380) u. der Franziskaner Marquard von Lindau († 1392). Als »Meister von Paris« genoss E. auch bei den Melker Benediktinern im 15. Jh. hohes Ansehen. Am eingehendsten hat sich Nikolaus von Kues († 1464) mit E.s Philosophie auseinandergesetzt. Gegenüber dem Heidelberger Theologen Johannes Wenck aus Herrenberg († 1460) verteidigte er in seiner Apologia doctae ignorantiae (1449) souverän die Originalität E.s: Dessen Schriften enthielten viel Scharfsinniges u. Nützliches, wenngleich nur für die Gebildeten. Die Wirkung der dt. Traktate u. Predigten ist verzweigter als die der lat. Werke. Abschriften des 14. u. 15. Jh. finden sich vornehmlich in Klöstern, die im Zuge religiöser Reformbewegungen literarisch aktiv waren. Auch von Laien im 14. Jh. wurde E. gelesen. Die weiteste Verbreitung zeigen die Rede der underscheidunge mit 44 u. der Traktat Von abegescheidenheit mit 32 Textzeugen. Letzterer erschien im Druck 1670, 1701 (in Gottfried Arnolds Leben der Gläubigen), 1733 u. 1786 (in Gerhard Tersteegens Auserlesenen Lebensbeschreibungen) u. 1799 (in Leonard Meisters Helvetiens berühmte Männer in Bildnissen) auch als Schrift des Nikolaus von Flüe. Unter den 110 Predigten, deren Echtheit heute gesichert ist, ragen nur neun mit einer Bezeugung von 20 u. mehr Abschriften hervor. Einen größeren Leserkreis erreichten die Predigten 101–104, die als Nr. 2, 6, 8, 9 Aufnahme in den Leipziger (1498) u. dann auch in den Augsburger (1508), Basler (1521/22) u. Kölner (1543) Taulerdruck fanden. Luther hat E. im Augsburger Druck gelesen, ohne ihn bei seinem Namen zu kennen. Die größte Druckverbreitung erfuhren E.s Predigten durch Adam Petri, der 1521/22 im dritten Teil sei-
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ner Taulerdrucke etwa 60 Predigten »des hochgelerten vnd subtilen doctor Eckarts« edierte. Die wohl umfassendste Kenntnis von E.s dt. Schriften besaß im 16./17. Jh. der unermüdl. Sammler von Mystikerhandschriften Daniel Sudermann. Valentin Weigel u. der Niederländer Pelgrim Pullen haben wahrscheinlich über die Taulerdrucke Zugang zu E. gefunden. Mit E.s Gedanken vertraut zeigen sich auch Jacob Böhme in seinen Schriften u. Angelus Silesius im Cherubinischen Wandersmann. Die wiss. Neuentdeckung E.s kurz nach 1800 durch Philosophen, Philologen u. Theologen wurde von dem Urteil des Johannes Trithemius in De scriptoribus ecclesiasticis angeregt, der E. als »vir in divinis scripturis eruditus et in philosophia Aristotelica omnium suo tempore doctissimus« rühmte. Die Meinung Friedrich Schlegels (22.12.1807), E. sei »vielleicht der tiefsinnigste Philosoph, den Deutschland je gehabt hat«, löste eine uneingeschränkte E.-Bewunderung aus, die bis zu der Entdeckung von E.s lat. Schriften durch Heinrich S. Denifle 1886 anhielt. Franz von Baader nannte E. den »Erlauchtesten unter den Theologen des MA«. Auch Hegel wurde auf ihn aufmerksam: »Da haben wir es ja, was wir wollen.« Sein Schüler Karl Rosenkranz stilisierte E. sogar zum »Erzvater einer spezifischen deutschen Philosophie«. Rosenkranz war es auch, der 1831 die Sammelbezeichnung »Deutsche Mystik« erfand. 1857 publizierte Franz Pfeiffer erstmals E.s gesamtes deutschsprachiges Werk, soweit es ihm aus Handschriften zugänglich war, als Band 2 der Sammlung Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts. Die Einschätzungen E.s als Begründer einer spezifisch dt. Spiritualität, als Wegbereiter der Reformation sowie des dt. Idealismus u. als Herold einer Theologie sowie Philosophie der Zukunft, die die erste u. zweite Forschergeneration etabliert hatten, gerieten ins Zwielicht, als die ersten Analysen der lat. Schriften E. als einen höchst mittelmäßigen Scholastiker (Denifle) u. als einen Schüler des Thomas von Aquin (Karrer) zu erweisen schienen. In der modernen Forschung konnte jedoch einerseits historisch das Denken der sog. dt. Dominikanerschule des MA mit ihren fundamentalen Einsichten,
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die eine Verquickung von philosophisch begründeter u. religiös zu vollziehender Lebensweise nahe legen, u. die besondere Rolle E.s in diesem kulturellen Kontext erhellt werden. Zum anderen konnte ein neuer hermeneut. Zugang zu E.s Denken ermittelt werden, indem auf seine Bildrede (»figurata locutio«) abgehoben wurde: Bildreden enthalten Verdecktes, das es zu entdecken gilt, nämlich die Tiefe überzeitl. Lebens, das der Mensch approximativ zu realisieren sucht, aber – so E.s originäre Einsicht – im grundlosen Grund des Ich seit je erreicht hat, wo Gottes Grund u. des Menschen Grund koinzidieren. Ausgaben: Kritische Gesamtausgabe: M. E. Die dt. u. lat. Werke. Die dt. Werke [DW]. Bd. I-III, V. Hg. Josef Quint. Stgt. 1936–76. Bd. IV, 1–2 (1. Lfg.). Hg. Georg Steer. Stgt. 2003. Die lat. Werke [LW]. Bd. I, 1, II-IV, V, 1–2. Hg. Konrad Weiß u. a. Stgt. 1936–94. Bd. I, 2, V, 3–8. Hg. Loris Sturlese. Stgt. 1987/92 u. 2007. – Gesamt- u. Teilausgaben: Franz Pfeiffer (Hg.): Dt. Mystiker des 14. Jh. Bd. 2., Lpz. 1857. Neudr. Aalen 1962. – Philipp Strauch (Hg.): Paradisus anime intelligentis. Bln. 1918. – Niklaus Largier (Hg.): M. E., Werke I: Texte u. Übers.en v. J. Quint, Ffm. 1993. – Ders. (Hg.): M. E., Werke II: Texte u. Übers.en v. Ernst Benz u. a. Ffm. 1993. – Burkhard Mojsisch (Hg. u. Übers.): E. v. Hochheim, Utrum in deo sit idem esse et intelligere? Sind in Gott Sein u. Erkennen miteinander identisch? In: Bochumer Philosoph. Jb. für Antike u. MA 4/1999 (2000), S. 179–197. Übersetzungen: Josef Quint: M. E. Dt. Predigten u. Traktate. Mchn. 1955. 21963. Neudr. Zürich 1979. – Armand A. Maurer: Master E., Parisian Questions and Prologues. Toronto 1974. – Dietmar Mieth: M. E. Einheit im Sein u. Wirken. Olten 1979. Mchn. 1986. – Marco Vannini: M. E., Opere Tedesche. Florenz 1982. – Fernand Brunner u. a. L’œuvre latine de Maître E., 1: Le Commentaire de la Genèse précédé des Prologues. Paris 1984. – Emilie Zum Brunn u. a.: Maître E. à Paris. Une critique médiévale de l’ontothéologie. Les Questions parisiennes no 1 et no 2 d’E., études, textes et traductions. Paris 1984. – Karl Albert: M. E., Komm. zum Buch der Weisheit. Sankt Augustin 1988. – E. Zum Brunn u. a.: L’œuvre latine de Maître E., 6: Le Commentaire de l’évangile selon Jean: Le Prologue (chap. 1, 1–18). Paris 1989. – Günter Stachel: M. E.: alles lassen – einswerden. Myst. Texte – Reden der Unterscheidung u. Predigten. Mchn. 1992. – Alain de Libera: Maître E., Traités et Sermons. Paris 1993. – Goradz Koci-
Eckhart, Meister jancˇicˇ : Mojster E.: Pridige in traktati. Celje 1995 (slowen.). – Yoshiki Nakayama: Magistri Echardi Sermones. Tokio 1999. Opera Latina. Bd. 2, Tokio 2004. Bd. 1, Tokio 2005 (japan.). Literatur: Bibliografien: Thomas F. O’Meara: An E.-Bibliography. In: The Thomist 42 (1978), S. 313–336. – Niklaus Largier: Bibliogr. zu M. E. Freib./Schweiz 1989. – Kurt Ruh: M. E. In: VL. – N. Largier: M. E. Perspektiven der Forsch., 1980–93. In: ZfdPh 114 (1995), S. 29–98. – Ders.: Recent Work on M. E. Positions, Problems, New Perspectives, 1990–97. In: Recherches de théologie et philosophie médiévales 65 (1998), S. 147–167. – Gesamtdarstellungen: Heinrich S. Denifle: M. E.s lat. Schr.en u. die Grundanschauung seiner Lehre. In: Archiv für Lit.- u. Kirchengesch. des MA 2 (1886), S. 417–615. – Hans Hof: Scintilla animae. Eine Studie zu einem Grundbegriff in M. E.s Philosophie. Lund/Bonn 1952. – Vladimir Lossky: Théologie négative et connaissance de Dieu chez Maître E. Paris 1960. – Dietmar Mieth: Die Einheit v. Vita activa u. Vita contemplativa in den dt. Predigten u. Traktaten M. E.s u. bei Johannes Tauler. Regensb. 1969. – Ernst v. Bracken: M. E.: Legende u. Wirklichkeit. Meisenheim 1972. – Karl Albert: M. E.s These vom Sein. Untersuchungen zur Metaphysik des Opus Tripartitum. Saarbr./Kastellaun 1976. – Ruedi Imbach: ›Deus est intelligere‹. Das Verhältnis v. Sein u. Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas v. Aquin u. in den Pariser Quaestionen M. E.s. Freib./Schweiz 1976. – Alois M. Haas: M. E. als normative Gestalt geistl. Lebens. Einsiedeln 1979. – Ders.: Sermo mysticus. Studien zu Theologie u. Sprache der dt. Mystik. Freib./Schweiz 1979. – Bernhard Welte: M. E. Gedanken zu seinen Gedanken. Freib. i. Br. u. a. 1979. – Burkhard Mojsisch: M. E. Analogie, Univozität u. Einheit. Hbg. 1983. Engl. Amsterd./Philadelphia 2001. – Emilie Zum Brunn u. Alain de Libera: Maître E. Métaphysique du Verbe et théologie négative. Paris 1984. – K. Ruh: M. E. Theologe, Prediger, Mystiker. Mchn. 1985. – Rainer Hauke: Trinität u. Denken. Die Unterscheidung der Einheit v. Gott u. Mensch bei M. E. Ffm. 1986. – Otto Langer: Myst. Erfahrung u. spirituelle Theologie. Zu M. E.s Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit. Mchn. 1987. – Erwin Waldschütz: Denken u. Erfahren des Grundes. Zur philosoph. Deutung M. E.s. Wien u. a. 1989. – Wolfgang Wackernagel: ›Ymagine Denudari‹. Éthique de l’image et métaphysique de l’abstraction chez Maître E. Paris 1991. – Burkhard Hasebrink: Formen inzitativer Rede bei M. E. Untersuchungen zur literar. Konzeption der dt. Predigt. Tüb. 1992. – Reiner Manstetten: ›Esse est Deus‹. M.
Eckhart, Meister E.s christolog. Versöhnung v. Philosophie u. Religion u. ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes. Freib./Mchn. 1993. – Irmgard Kampmann: ›Ihr sollt der Sohn selber sein‹. Eine fundamentaltheolog. Studie zur Soteriologie M. E.s. Ffm. u. a. 1996. – K. Ruh: Gesch. der abendländ. Mystik. Bd. 3, Mchn. 1996. – Wouter Goris: Einheit als Prinzip u. Ziel. Versuch über die Einheitsmetaphysik des ›Opus Tripartitum‹ M. E.s. Leiden u. a. 1997. – Klaus Jacobi (Hg.): M. E.: Lebensstationen – Redesituationen. Bln. 1997. – Norbert Winkler: M. E. zur Einf. Hbg. 1997. – Emilie Zum Brunn (Hg.): Voici Maître E. Textes et études réunis. Grenoble 1998. – Mauritius Wilde: Das neue Bild vom Gottesbild. Bild u. Theologie bei M. E. Freib./Schweiz 2000. – Udo Kern: ›Gottes Sein ist mein Leben‹. Philosoph. Brocken bei M. E. Bln./New York 2003. – Andrés Quero-Sánchez: Sein als Freiheit: Die idealist. Metaphysik M. E.s u. Johann Gottlieb Fichtes. Freib. u. a. 2004. – Meik Peter Schirpenbach: Wirklichkeit u. Beziehung. Das strukturontolog. Schema der Termini generales im Opus Tripartitum M. E.s. Münster 2004. – Erik A. Panzig: ›Gelâzenheit‹ u. ›abegescheidenheit‹. Eine Einf. in das theolog. Denken des M. E. Lpz. 2005. – Andreas Speer u. Lydia Wegener (Hg.): M. E. in Erfurt. Bln./New York 2005. – Rodrigo Guerizoli: Die Verinnerlichung des Göttlichen. Eine Studie über den Geburtszyklus u. die Armutspredigt M. E.s. Leiden 2006. – Einzelinterpretationen: Georg Steer u. Loris Sturlese (Hg.): Lectura Eckhardi. Predigten M. E.s, v. Fachgelehrten gelesen u. gedeutet. Bd. 1, Stgt. u. a. 1998; Bd. 2, Stgt. 2003. – Spezielle Themen: B. Mojsisch: M. E.s Kritik der teleologisch-theokrat. Ethik Augustins. In: Medioevo 9 (1983), S. 43–59. – Ders.: Die Theorie des Ich in seiner Selbst- u. Weltbegründung bei M. E. In: L’Homme et son Univers au Moyen Âge. Hg. Christian Wenin. Bd. 1, Louvain-la-Neuve 1986, S. 267–272. – Susanne Köbele: ›Bîwort sîn‹. ›Absolute‹ Grammatik bei M. E. Ebd., S. 190–206. – Christoph Asmuth: M. E.s ›Buch der göttlichen Tröstung‹. In: Albertus Magnus u. der Albertismus. Dt. philosoph. Kultur des MA. Hg. Maarten J. F. M. Hoenen u. A. de Libera. Leiden u. a. 1995, S. 189–205. – Freimut Löser: ›Der niht enwil u. niht enweiz u. niht enhât‹. 3 übersehene Texte M. E.s zur Armutslehre. In: ›Contemplata aliis tradere‹. Studien zum Verhältnis v. Lit. u. Spiritualität. FS A. M. Haas. Hg. Claudia Brinker u. a. Bern u. a. 1995, S. 391–440. – B. Mojsisch: ›Ce moi‹: la conception du moi de maître E. Une contribution aux ›Lumières‹ du Moyen-Age. In: Revue des sciences religieuses 70 (1996), S. 18–30. – A. de Libera: On some Philosophical Aspects of Master E.’s Theology. In: Freib. Ztschr. für Philosophie u. Theologie
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189 S. 141–169. – Walter Haug: Das platon. Erbe bei M. E. In: ›...auf klassischem Boden begeistert‹. AntikeRezeptionen in der dt. Lit. FS Jochen Schmidt. Hg. Olaf Hildebrand u. Thomas Pittrof. Freib. i. Br. 2004, S. 17–35. – K. Flasch: M. E. Die Geburt der ›Dt. Mystik‹ aus dem Geist der arab. Philosophie. Mchn. 2006. – Wirkungen: Winfried Zeller: M. E. bei Valentin Weigel. In: ZKTh 57 (1938), S. 309–355. – Maria A. Lücker: M. E. u. die Devotio moderna. Leiden 1950. – Ingeborg Degenhardt: Studien zum Wandel des E.-Bildes. Leiden 1967. – Franz-Josef Schweitzer: Der Freiheitsbegriff der dt. Mystik. Seine Beziehung zur Ketzerei der Brüder u. Schwestern vom Freien Geist, mit bes. Berücksichtigung des pseudoeckhartschen Traktates ›Schwester Katrei‹ (Ed.). Ffm./Bln. 1981. – A. M. Haas: Luther u. die Mystik. In: DVjs 60 (1986), S. 177–207. – R. Imbach: Die dt. Dominikanerschule. In: Grundfragen christl. Mystik. Hg. Margot Schmidt. Stgt. 1987, S. 157–172. – K. Ruh: Traktat v. der Minne. Eine Schr. zum Verständnis u. zur Verteidigung v. M. E.s Metaphysik. In: FS Karl Stackmann. Gött. 1987, S. 208–229. – K. Flasch: M. E. u. die ›Dt. Mystik‹. – Zur Kritik eines historiograph. Schemas. In: Die Philosophie im 14. u. 15. Jh. Hg. Olaf Pluta. Amsterd. 1988, S. 439–463. – B. Mojsisch: ›Nichts‹ u. ›Negation‹. M. E. u. Nikolaus v. Kues. In: ›Historia Philosophiae Medii Aevi‹. Studien zur Gesch. der Philosophie des MA. FS K. Flasch. Hg. ders. u. O. Pluta. Bd. 2, Amsterd./Philadelphia 1991, S. 675–693. – Donata Schoeller: Gottesgeburt u. Selbstbewußtsein. Denken der Einheit bei M. E. u. Hegel. Hildesh. 1992. – Bernard McGinn: M. E. and the Beguine Mystics: Hadewijch of Brabant, Mechthild of Magdeburg and Marguerite Porete. New York 1994. – N. Largier: ›Intellectus in deum ascensus‹. Intellekttheoret. Auseinandersetzungen in Texten der dt. Mystik. In: DVLG 69 (1995), S. 423–471. – F.-J. Schweitzer: M. E. u. der Laie. Ein antihierarch. Dialog des 14. Jh. aus den Niederlanden. Bln. 1997. – Norbert Winkler: Dietrich v. Freiberg u. M. E. in der Kontroverse mit Thomas v. Aquin. In: Dietrich v. Freiberg. Neue Perspektiven seiner Philosophie, Theologie u. Naturwiss. Hg. Karl-Hermann Kandler, B. Mojsisch u. Franz-Bernhard Stammkötter. Amsterd./Philadelphia 1999, S. 189–266. – Johann Kreuzer: Gestalten mittelalterl. Philosophie. Mchn. 2000. – Saskia Wendel: Affektiv u. inkarniert. Ansätze Dt. Mystik als subjekttheoret. Herausforderung. Regensb. 2002. – Stefanie Frost: Nikolaus v. Kues u. M. E. Rezeption im Spiegel der Marginalien zum ›Opus tripartitum‹ M. E.s. Münst. 2006. – C. Ruta (Hg.): El Maestro E. en diálogo: entre sombra de ser. Buenos Aires 2006. – Virginie Pektas¸ : Mystique et Philosophie. ›Grunt‹, ›abgrunt‹ et ›Un-
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Eckstein, Bertha Helene ! Galahad, Sir Eckstein, (Friedrich Ludwig Adolf) Ernst, * 6.2.1845 Gießen, † 18.11.1900 Dresden. – Publizist, Erzähler u. Herausgeber. Der Sohn eines Hofgerichtsrats studierte Jura, daneben Philosophie u. Philologie in Gießen, Bonn u. Marburg (Promotion 1866). Anschließend war er als Reisejournalist (Reisen in West- u. Südeuropa) u. freier Schriftsteller tätig; 1872 wurde er Mitarbeiter der Wiener »Neuen Freien Presse«. Seit 1874 in Leipzig, redigierte er bis 1882 die »Deutsche Dichterhalle«, einen der vornehm-konservativen Almanache der Zeit. E. war 1879–1882 zusätzlich Redakteur des »Schalk«, einer populären satir. Zeitschrift. Einer der meistgelesenen Vielschreiber der Gründerzeit, begann E. seine literar. Laufbahn mit komischen Epen (u. a. Venus Urania. Stgt. 1872), wandte sich ab 1873 dem Reisefeuilleton zu (Pariser Leben. 4 Bde., Lpz. 1876/ 77), in dem er atmosphär. Schilderung mit sentimental angehauchter Beschreibung sozialer Gegensätze verband, u. wurde dann zum erfolgreichen Autor histor. Romane u. unterhaltender Novellistik. E. bildet mit Wilhelm Walloth u. Adolf Hausrath die »römische« Variante des Geschichtsromans neben der »germanischen« von Felix Dahn u. der »ägyptischen« von Georg Ebers. Seine Romane (u. a. Die Claudier. 3 Bde., Wien 1881) zählen zu den »Gelehrtenromanen«, die aus histor. Handbüchern entnommene Faktenberichte zu sensationellen, »pikanten« u. gewalterfüllten Szenen umformten, die in pompösem Stil dargeboten u. als »sittenschildernd« verstanden wurden. Die von E. angestrebte psycholog. Motivierung wurde bereits von der zeitgenöss. Kritik als verfehlt angesehen. Ein freundlicher Rezensent notiert: »Ecksteins poetisches Talent zeichnet
Eckstein
sich vor allem durch sprudelnde Laune und große Formgewandtheit aus«. Heute wird E. als Nachahmer von Ebers angesehen, sein Werk wie der histor. Roman der Gründerzeit insg. als Rechtfertigung des wilhelmin. Reichsgedankens aus pseudoaristokratischer Haltung u. myst. Personenkult. E.s Humoresken sind zumeist dem Motiv des Gymnasialbetriebs gewidmet; sein Besuch im Carzer (Lpz. 1875. 851890. Nachdr. Stgt. 1980. Heidelb. 1997. Kelkheim 2001) war Quelle der Erheiterung für mehrere Gymnasiastengenerationen. In den 1890er Jahren schloss er sich der neuen realist. Richtung der »Modernen« mit sozialkrit. Romanen an (u. a. Familie Hartwig. Bln. 1894). Weitere Werke: Humoresken. 2 Bde., Lpz. 1875 u. 1882. – Beiträge zur Gesch. des Feuilletons. 2 Bde., Lpz. 1876. – Lisa Toscanella. Stgt. 1876 (N.). – Ein Pessimist. Lpz. 1877 (Lustsp.). – Sturmnacht. 2 Bde., Lpz. 1878 (N.n). – Prusias. Roman aus dem letzten Jh. der röm. Republik. 3 Bde., Lpz. 1884. – Nero. 3 Bde., Lpz. 1889 (R.). – Ges. Schulhumoresken. Neudamm 1907. – E. E. 1845–1900: ein Lese- u. Bilderbuch. Hg. Erwin Leibfried. Fernwald 1995. – Humoresken. Kelkheim 2001. – Die ›rothe Jula‹: wie es sich rächt, wenn man statt Ehemann nur ›Hausfreund‹ sein will. Kelkheim 2001. – Arzt u. Autor: wie man die Literaturkritiker aufs Glatteis führen kann. Kelkheim 2001. – Herausgeber: Humorist. Hausschatz für das dt. Volk. 6 Bde., Bln. 1892. – Tonträger: Der Besuch im Karzer. Gelesen v. Kurt Lutz. Bln. 2001 (1 CD u. 1 Begleith.). Literatur: Bibliografie: Karola Rimmel: E. E.Bibliogr. Fernwald 1993. – Weitere Titel: Johanna Spitaler: Die poet. Namensgebung bei Felix Dahn, Georg Ebers, E. E. [...]. Diss. Graz 1946. – Wilmont Haacke: E. E. In: NDB. – Goedeke Forts. Christian Schwarz / Erwin Leibfried
Eckstein, Utz (bzw. Huldrych), auch: Acrogoniaeus, * um 1490 Esslingen/Neckar, † 7.10.1558 Zürich. – Reformierter Theologe u. Pamphletist. E. ist 1522/23 als Frühmesser in Weesen (Kt. St. Gallen) nachgewiesen. Er dürfte in jener Zeit mit Zwingli in Kontakt gekommen u. zur Reformation übergetreten sein. In den Entscheidungsjahren der Zürcher Reformation befand er sich im Kreis Zwinglis. Nachdem E. 1527/28 als Pfarrer in Thalwil (Kt. Zürich) gewirkt hatte, wurde er 1528 ins eben
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reformierte Rorschach am Bodensee entsandt. Nach der Rekatholisierung der Gemeinde kehrte er ins Gebiet Zürichs zurück u. amtete kurz in Zollikon u. Niederweningen. Von 1535 bis zu seinem Altersrücktritt im Mai 1558 war er Pfarrer in Uster. In gereimter, zumeist dialog. Form, in der Sprache volkstümlich, oft derb, sollten E.s Schriften das zwinglische Gedankengut popularisieren u. verteidigen. Die wichtigsten von ihnen veröffentlichte er im Umfeld der Disputation von Baden (1526). In der Klag des Gloubens (Zürich [vor 1525]) prangerte er die Verweltlichung von Kurie, Kirche u. Ordensleben an, verwarf die Messe als unbiblisch u. trat – gegen die repressive Herrschaft des dt. Adels – für bäuerliche u. republikan. Begehren ein. In seinem Concilium (Zürich [1525]. 2 1526. [Bern 1550]) griff er, gegen die Theologen Eck, Fabri u. Murner polemisierend, die gängigen Themen reformierter Kritik wie Papstgewalt, Heiligenverehrung, Fegefeuer, Beichte usw. auf; ausführlich u. mit Nachdruck explizierte er das symbol. Abendmahlsverständnis der Zwinglianer. Hatte E. 1525 die Sache der Bauern noch vorbehaltlos unterstützt, so suchte er – nach dem Bauernkrieg wohl zur Wahrung der Staatsinteressen gedrängt – diese mit seinem Rychsßtag ([Zürich 1526]. [Straßb. 1539]) von der Göttlichkeit der Gehorsams- u. der Zinspflicht zu überzeugen. Thomas Murner in Luzern erwuchs ihm in jenen Jahren zum publizist. Hauptgegner. E.s Tätigkeit hatte – wie die verschiedenen Neuauflagen seiner Werke zeigen – in ihrer Frühzeit eine breite Wirkung, fand aber über die Jahrhundertmitte hinaus kaum noch Nachhall. Weitere Werke: Dialogus. [Zürich, um 1524]. – Eyn hüpsch lied Doctor Johansen Ecken unnd Fabers badenfart betreffende. [Zürich] 1526. – Uff Doctor Thomas Murners Calender. [Zürich 1527]. – Reichstag, Concilium u. Klag des Glaubens. [Basel] 1592 (Sammeldr.). Ausgaben: ›Concilium‹ u. ›Rychsztag‹. In: Johann Fischart’s Geschichtklitterung [...]. Thomas Murner’s Gäuchmatt [...]. Vollst. u. wortgetreu hg. v. Johann Scheible. Stgt./Lpz. 1847, S. 705–826 u. 827–892.
191 Literatur: VD 16, E 496–509 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Salomon Vögelin: U. E. In: Jb. für Schweizer. Gesch. 7 (1882), S. 91–264. – Jakob Baechtold: Gesch. der dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892, S. 293–297. – Adrian Corrodi8 Sulzer: Zu U . E. In: Zwingliana 4 (1926), Nr. 1, S. 337–340. – Oskar Vasella: Neues über U. E., den Zürcher Pamphletisten. In: Ztschr. für Schweizer. Kirchengesch. 30 (1936), S. 37–48. – Peter Hegg: Ein unbekannter Apiarius-Dr. (Eine Ausg. v. U. E.’s ›Concilium‹). In: Ztschr. des schweizer. Gutenbergmuseums 2 (1953), S. 3–18. – Hans Stricker: U. E. In: NDB. – Paul Zinsli: Notvolles Prädikantenschicksal. In: Reformatio 9 (1960), S. 366–373. – Ninna Jørgensen: Bauer, Narr u. Pfaffe. Prototyp. Figuren u. ihre Funktion in der Reformationslit. Leiden 1988. – Hans Ulrich Bächtold: U. E. In: Bautz. Hans Ulrich Bächtold / Red.
Edel, Peter, eigentl.: P. Hirschweh, * 12.7. 1921 Berlin, † 7.5.1983 Berlin/DDR. – Romancier u. Publizist. Aus einer jüd. Familie stammend, musste E. infolge der Nürnberger Gesetze 1935 die Schule verlassen u. begann eine Ausbildung als Maler u. Grafiker. Von 1942 an im Widerstand aktiv, wurde er von der Gestapo in Schutzhaft genommen u. wegen »Verbreitung reichsfeindlicher Schriften« in Konzentrationslagern interniert. In dieser Zeit entstanden zahlreiche, Lager u. Folter beschreibende Zeichnungen. Nach dem Krieg arbeitete E. als Maler u. schrieb u. a. für die »Weltbühne« Film- u. Theaterkritiken, Kurzgeschichten, Glossen u. Reportagen. Bekannt wurde E. durch Die Bilder des Zeugen Schattmann. Ein Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart (Bln./DDR 1969), in dem er eigene KZ-Erlebnisse behandelte. Der Roman teilt sich in eine Rahmenerzählung – sie spielt 1961 in den Tagen des Prozesses des Obersten Gerichts der DDR gegen Adenauers Staatssekretär Hans Globke, der den Rechtskommentar zu den Nürnberger Gesetzen schrieb – u. die Darstellung jüd. Lebens in Berlin nach 1940, von Verhören durch die Gestapo u. der Internierung im Konzentrationslager. Die DDR-Kritik lobte die optimist. Tendenz der Rahmenhandlung mit ihrem Personal im Sinne des Sozialistischen Realismus: dem weisen Parteigenossen, dem klu-
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gen Baubrigadier, dem höfl. VoPo-Meister; den spielenden u. lärmenden Kindern als Sinnbild besseren Lebens. Der erzähltechnisch beeindruckende Teil ist hingegen die minutiöse Schilderung des gettoisierten, von der Deportation bedrohten jüd. Lebens in Berlin. Durch großzügigen Gebrauch des inneren Monologs u. der erlebten Rede – wie sie in dieser Funktion nur in Wilhelm Raabes späten Romanen vorkommt – gelingt es E., den hilflosen Stolz, die Ausweglosigkeit, die internen Streitereien u. den mutlosen Fatalismus assimilierter liberaler u. national gesinnter dt. Juden darzustellen. Dabei trifft E. genau das Idiom der tägl. Demütigung, des alltägl. Faschismus mit Berliner Schnauze. Bemerkenswert ist E.s erzähltechnisch avancierte Schilderung von Auschwitz: nicht als unmittelbares Erlebnis wie in Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen, sondern als Darstellung einer späteren Reise nach Auschwitz, während der das ins Bewusstsein drängende frühere Leid abrupt durchbricht. Trotz der Brutalität der Ereignisse gelingt es E. damit, auf glaubwürdige Weise einer Forderung des Sozialistischen Realismus zu genügen: ein typisches Ereignis mit einer optimist. Tendenz realistisch darzustellen. Weitere Werke: Schwestern der Nacht. Wien 1947 (R.). – Wenn es ans Leben geht. 2 Bde., Bln./ DDR u. Ffm. 1979 (Autobiogr.). Literatur: Heinz Plavius: Der Sinn ungemalter Bilder. In: SuF 5 (1969), S. 1262–1276. – Werner Neubert: P. E.: Die Kunst als Zeuge. In: NDL 10 (1969), S. 174–179. – Frank Schenke: Kommunisten, Schnorrer u. Heimatlose: jüd. Figuren in literar. Texten v. P. E., Stephan Hermlin u. Jurek Becker. In: Jews in German literature since 1945. Hg. Pól O’Dochartaigh. Amsterd. 2000, S. 315–325. – Ders.: ›...und nächstes Jahr in Jerusalem?‹: Darstellung v. Juden u. Judentum in Texten v. P. E., Stephan Hermlin u. Jurek Becker. Ffm./Bln. 2002. – Thomas Schmidt: ›Unsere Geschichte‹? Probleme der Holocaust-Darstellung unter DDR-Bedingungen. P. E., Fred Wander, Jurek Becker. Tl. 1. In: Monatshefte 98,1 (2006), S. 83–109. Detlef Holland / Red.
Edelmann
Edelmann, Johann Christian, * 9.7.1698 Weißenfels, † 15.2.1767 Berlin. – Radikaler Pietist, Hermetiker u. radikaler Aufklärungstheologe. Der aufgeweckte Sohn eines durch die Verschwendungssucht des Herzogs verarmten Hofmusikers u. Pageninformators am sächsisch-weißenfels. Hof besuchte das Lyzeum in Lauban wie auch das Gymnasium in Altenburg u. Weißenfels, ehe er in Jena evang. Theologie studierte (1720–1724). Dort hörte er die aufklärer. »Übergangstheologen« Johann Georg Walch u. bes. Johann Franz Buddeus, dessen milder luth.-orthodoxer Lehre wie Anti-Wolffianismus er sich im Wesentlichen anschloss. Aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel für die Abhaltung einer Dissertation ging er ohne Abschluss von der Universität ab u. wirkte in Niederösterreich (bei zwei dem Protestantismus treu gebliebenen Adligen) u. in Wien (bei einem hallisch-pietist. Kaufmann) wie auch in Sachsen (u. a. in Dresden) als Hauslehrer (1725–1736). Von innerer Unruhe getrieben, erweckte schließlich Gottfried Arnolds berühmte Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/ 1700) in ihm ein mystisch-spiritualist. Lebensgefühl u. ließ ihn zum radikalen Pietisten werden. Er trat nunmehr in Verbindung mit separatist. Kreisen, u. a. mit der asket. Gemeinschaft der Gichtelianer wie auch mit dem Grafen Zinzendorf u. seiner Brüdergemeine, die er 1734 in Herrnhut besuchte, ehe es mit ihm zum Bruch kam. Noch vor der Reise hatte eine Audition ein Durchbruchserlebnis ausgelöst, das ihm die Schriftstellerei als Lebensaufgabe zuwies. Dem Auftrag leistete E. noch in demselben Jahr mit den ersten vier Teilen seiner kirchenkrit. Erstlingsschrift Unschuldige Wahrheiten (insg. 15 Unterred. [Ffm./Büdingen/ Neuwied] 1735–43) Folge. Weitgehend auf Arnold u. Johann Konrad Dippel gestützt, zog er darin gegen das »verfallene« Kirchenchristentum u. die orthodoxe Theologie samt deren Dogmen zu Felde u. forderte ein sich an urchristl. Idealen orientierendes tolerantspiritualist. Christentum.
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Die Schrift machte ihn in separatist. Kreisen bekannt, sodass er von Johann Friedrich Haug zur Mitarbeit an der mit mystisch-allegor. Erklärungen versehenen radikalpietist. Berleburger Bibel (8 Bde., 1726–42; von E. bearb.: II Tim, Tit, Phlm) herangezogen wurde. Seit 1736 in Berleburg lebend, einer Hochburg des antikirchl. Spiritualismus, nahm er auch regen Kontakt mit weiteren separatist. Gemeinschaften der Umgebung auf (bes. mit Johann Friedrich Rock u. dessen Inspirationsgemeinde). Der vernunftfeindliche »Enthusiasmus« dieser Gruppe stieß E. schließlich jedoch ab. Im Frühjahr 1738 kam es zu einem weiteren Durchbruchserlebnis: zur Erkenntnis der Göttlichkeit der Vernunft. Ihren Niederschlag fand diese Einsicht in der Schrift Die Göttlichkeit der Vernunfft ([Neuwied] 1743), die, bes. von den Logos-Spekulationen Philons von Alexandrien u. den frühchristl. Apologeten (Justin dem Märtyrer, Clemens von Alexandrien) wie auch allgemein hermet. Schriften ausgehend, mit dem Neuverständnis des Prologs des Johannesevangeliums aufwartet: »Im Anfang war die Vernunfft [gr. logos] / und die Vernunfft war bey Gott / und [...] Gott war die Vernunfft.« In dieser hermet. Vorstellung, wobei der Vernunft auch aufklärer. Attribute zugesprochen werden, sieht E. das Band zwischen Gott u. Mensch; sie ersetzt die Offenbarungslehre. Nach eingehender Lektüre von bibel- u. religionskrit. Schriften, nicht zuletzt von Spinozas Tractatus theologico-politicus (1670), wurde er zum radikalen Aufklärungstheologen. 1740 erschienen sodann die ersten drei Teile seines Werks Moses mit aufgedecktem Angesicht (Ffm. 1740, 5–8, 28. Anblick, Ms 1754–56). Als erster dt. Gelehrter bekennt er sich darin offen zum Spinozismus u. unternimmt in Dialogform den bis dahin schärfsten Angriff in dt. Sprache auf die Göttlichkeit der Bibel (bes. des AT) u. die christl. Glaubenswahrheiten; in seine Kritik schließt er die Leibniz-Wolff’sche Philosophie mit ein, die sich »eine theologische Maske vorgestülpt« hätte. Zudem greift er auf Matthias Knutzen u. dessen antinomist. GewissensLehre zurück u. interpretiert die Beziehung von Welt u. Gott im hermet. Sinne (Kosmo-
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theismus). Das Werk erregte großes Aufsehen u. machte E. im gesamten Deutschen Reich berühmt u. berüchtigt. 1741 verließ E. Berleburg u. fand in der nahe gelegenen Grafschaft Hachenburg eine neue Bleibe, ehe er bereits drei Jahre später nach Neuwied übersiedelte. Auf Drängen der Geistlichkeit musste er dort ein Bekenntnis ablegen (Abgenöthigtes, jedoch andern nicht wieder aufgenöthigtes Glaubens-Bekenntniß. Neuwied 1746), das neben dem Moses sein Hauptwerk darstellt. Auch darin übt er Bibelkritik u. sieht die christl. wie jüd. Lehre als heidn. Entlehnung an. Bes. kritisiert er die herkömml. Christologie, der er ein aus mystischen, hermet. u. aufklärer. Elementen zusammengesetztes Jesus-Bild entgegenstellt. Nachdem auch das Reichskammergericht sich inzwischen mit E. befasste u. ihm eine Inhaftierung drohte, verließ er 1746 Neuwied u. fand im dänisch regierten Altona Zuflucht. Als »gefürchtetster Religionsspötter« bekannt, entfachte die Theologenschaft einen literar. Sturmlauf gegen ihn, der seit ca. 1740 über 160 Gegenschriften hervorbrachte; u. a. kam es 1750 in Frankfurt/M. zur öffentl. Verbrennung seiner Schriften. Nach weiteren Irrfahrten ließ E. sich 1749 in Berlin nieder, wo ihm Friedrich II. Wohnrecht gewährte. Dort (wie wohl auch in Hamburg) lebte er zurückgezogen u. arbeitete bes. an seiner Selbstbiografie, die erst 1849 erschien (Bln. Neuausg. Stgt.-Bad Cannstatt 1976), u. an den weiteren Anblicken seines Moses. Von seinen Zeitgenossen als ambivalente Gestalt angesehen, vertrat der introvertierte, vom Vorsehungsglauben beseelte Freigeist, der zeit seines Lebens zwischen Askese u. Lebenszugewandtheit lavierte, seine erkannten Wahrheiten in großer Freimütigkeit (auch vor dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm I., mit dem er 1739 zusammentraf). E. ist nicht nur ein markantes Bindeglied zwischen dem Radikalpietismus u. der Aufklärung; er vertritt überdies eine »vernünftige Hermetik«. Dabei ist er von überaus vielfältigen Traditionen beeinflusst, zu denen neben dem myst. Spiritualismus u. der hermetisch-esoter. Tradition auch klandestines (Ps.-Cymbalum), neuplatonisches (Renaissance-Platoniker, Cambridge Platonists), his-
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torisch-literar. (Jacob Friedrich Reimann) sowie kritisch-theolog. (Richard Simon) u. heterodoxes (Sozinianer) Schriftgut gehören; wichtige Wissensquelle sind ihm aber auch die Schriften der Orthodoxen (Unschuldige Nachrichten von Valentin E. Löscher. 1701–61). Aus diesen Einflüssen entsteht einerseits seine Christentumskritik, andererseits gelangt der wahrheitssuchende Aufklärer schließlich zu einer mystischpan(en)theistisch geprägten natürlichen Religion. Demnach versteht E. Gott als »Wesen aller Dinge« (vgl. Jesus Sirach 43,29), der nicht ohne die Welt, seinen Schatten, existieren könne; alle Dinge seien in Gott, aber dieser sei nicht in allem: »Was in Gott ist, daß ist Gott selbst« (Quedlinburgisches Nachdencken. Ms. der Harvard Divinity School Library, Mass., 1743/44). Der (wahre) Mensch, d.h. dessen Vernunft u. Gewissen, sei ein »wesentlicher Ausfluß« Gottes (Göttlichkeit der Vernunft); der Vernunft u. dem Gewissen zu folgen, bedeute sittlich zu leben u. gottgleich zu werden; die Metempsychose biete dabei die Möglichkeit, sich zu bessern, um sich dann letztendlich gemeinsam mit allen anderen Geschöpfen in der »Wiederbringung aller Dinge« (»Apokatastasis panton«, Act 3,21) zu finden. Das Christentum sei demgegenüber ein inhumaner Aberglaube, der auf einem jahrtausendealten »Pfaffenbetrug« (Esra) u. dem aus »toten Buchstaben« bestehenden »BibelGötzen« gründe. Dem das Liebesgebot predigenden Freidenker Jesus jedoch, einem Befreier vom »thörichten Pfaffen-Glauben«, gelte es in vernünftiger Weise nachzufolgen. Mit seiner leidenschaftl. Forderung nach Freiheit des Vernunftgebrauchs wie mit seiner wegweisenden Bibelkritik wurde E., der als einer der bedeutendsten dt. Prosaisten in der Zeit vor Lessing gilt, einer der wichtigsten Vertreter der dt. Radikalaufklärung. Damit hat er wohl auf Hermann Samuel Reimarus u. dessen Apologie, möglicherweise auch auf Lessing eingewirkt, dessen Toleranzforderung er vorwegnimmt. Ebenso klingt in seiner eth. Konzeption bereits das Ethos des kantischen Sittengesetzes an. Im 19. Jh. fand er bes. bei Bruno Bauer wie auch bei Friedrich
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Engels Gehör. Im 20. Jh. brachte ihn die marxistisch orientierte Geschichtsschreibung der ehemaligen DDR als Religionskritiker u. Exponent der antifeudalen bürgerl. Opposition zu Ehren. Weitere Werke: Christus u. Belial. [Neuwied] 1742. – Die erste Epistel St. Harenbergs. [Bln.] 1747. – Die andere Epistel St. Harenbergs. [Bln.?] 1748 (= Ms. 78 der ›Harold Jantz Collection‹ der Duke University in Derham, NC). – Von den Betrügereyen der Religionen. [Ms. Bln. 1761]. Stgt.Bad Cannstatt 1999 [= komm. Übers. v. Johann Joachim Müller, ›De imposturis religionum‹]. – Briefe: Sechs Briefe v. J. C. E. an Georg Christian Kreyssig. Hg. Philipp Strauch. Halle/S. 1918. Ausgabe: Sämtl. Schr.en in Einzelausg.n. 12 (13 Tl.-)Bde., Stgt.-Bad Cannstatt 1969–87. Literatur: Bibliografie: Johann Heinrich Pratje: Histor. Nachrichten v. J. C. E.s Leben, Schr.en u. Lehrbegriff. Hbg. 1753, S. 42–62, 170–266 (einschl. Gegenschr.en). – Werner Raupp: J. C. E. In: Bautz (Lit.). – Weitere Titel: Friedrich Schelling: J. C. E. (1698–1767) als Denker. Wien 1931 (Diss. masch.). – Wolfgang Heise: J. C. E. E. Seine histor. Bedeutung als Exponent der antifeudalen bürgerl. Opposition um die Mitte des 18. Jh. Diss. Bln./DDR 1954. – Walter Grossmann: J. C. E. From Orthodoxy to Enlightenment. Mouton/Den Haag/Paris 1976. – Annegret Schaper: Ein langer Abschied vom Christentum. J. C. E. (1698–1767) u. die dt. Frühaufklärung. Marburg 1996 (zgl. Diss. Freib. i. Br. 1994). – Hermann E. Stockinger: Die hermetisch-esoter. Tradition unter bes. Berücksichtigung der Einflüsse auf das Denken J. C. E.s. Hildesh. u. a. 2004. – Ders.: J. C. E. (1698–1767). Radikalpietist, Hermetiker u. radikaler Aufklärungstheologe. Hildesh. u. a. 2008. Werner Raupp / Hermann E. Stockinger
Edling, (Wolfgang) Anselm von, * 1741 Maria-Saal/Kärnten, † 23.4.1794 Göß/ Steiermark. – Erzähler u. Dramatiker der josephinischen Aufklärung. E., der einem Görzer Grafengeschlecht entstammte, war Benediktiner u. wurde 1778 zum (letzten) Abt von St. Paul/Kärnten gewählt. Nach der Aufhebung des Klosters 1787 wirkte er als Pfarrer u. Dechant in Wolfsberg, ab 1790 als Priesterhausdirektor, Domkustos u. Domherr in Leoben; er war auch Beichtvater der Erzherzogin Maria Anna u. Hofprediger in Klagenfurt.
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Die beiden literar. Hauptwerke E.s erschienen – nachdem zuvor u. a. sein gesellschaftskrit. »Nationaltrauerspiel Kärntens« Der Kornet, oder: So arg macht’s die Eifersucht (Klagenf. 1787) veröffentlicht worden war – erst kurz vor seinem Tod. Unter dem Einfluss (u. unter Mitwirkung) des zeitweise in Klagenfurts aufgeklärten Literatenkreisen verkehrenden Aloys Blumauer verfasste E. im Anschluss an die Vergil-Travestie des Wiener Lyrikers die satirisch-parodist. Versdichtung Blumauer bey den Göttern im Olympus über die Travestierung der Aeneis angeklagt [...] (Lpz., Grätz 1792. 31810). E. gestaltete darin den im Olymp stattfindenden, von Vergil aus Verärgerung über die Travestie angestrengten Prozess gegen den heruntergekommenen Dichter u. Buchhändler Blumauer. In der umfangreichen, romanhaften, eine volksaufklärer. Pastoraltheologie propagierenden Erzählung Der Priester, wie man ihn wünschen mag, und – wie er nicht alle Tage zu haben ist [...] (4 Bde., o. O. 1793) verteidigte E. die josephin. Kirchenpolitik. E., der auch zahlreiche, zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Gelegenheitsgedichte verfasst hat, die im geselligen literar. Kreis vorgetragen wurden, ist neben Virgilius Gleißenberger der bedeutendste Schriftsteller Kärntens im 18. Jh. Weitere Werke: Gesch. des Hzgt. Kärnten zum Gebrauche der studierenden Jugend. Wien 1781. – Briefe in Kärnten oder Lehrsätze für angehende Seelsorger. Klagenf./Laibach 1786. – Die Begebenheiten auf der Jagd oder Über die Unschuld hält die ewige Vorsicht das Schild. Klagenf. 1789 (kom. Oper). Literatur: Hermann Menhardt: Zu A. E.s Werken. In: Carinthia I, 114 (1924), S. 32–41. – Erich Nussbaumer: A. E.s Lyrik. I: Die ges. Gedichte der Ebentaler Hs. II: Gedichte aus dem Archiv der Elisabethinen zu Klagenfurt. In: Carinthia I, 143 (1953), S. 965–983, 984–987. – Ders.: Geistiges Kärnten. Lit.- u. Geistesgesch. des Landes. Klagenf. 1956, S. 228–248 u. ö. – Edith Rosenstrauch-Königsberg: Freimaurerei im josephin. Wien. Aloys Blumauers Weg vom Jesuiten zum Jakobiner. Wien/Stgt. 1975, S. 156–158. – Werner M. Bauer: Fiktion u. Polemik. Studien zum österr. Roman der Aufklärung. Wien 1977. Wilhelm Haefs
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Edschmid, Kasimir, eigentl.: Eduard Hermann Wilhelm Schmid, * 5.10.1890 Darmstadt, † 31.8.1966 Vulpera/Graubünden; Grabstätte: Darmstadt, Waldfriedhof. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Reiseschriftsteller u. Essayist. Der Sohn eines Physiklehrers studierte in München, Paris, Straßburg sowie Gießen Romanistik u. arbeitete danach für verschiedene Zeitungen. 1915 veröffentlichte er im Münchner Kurt Wolff Verlag u. d. T. Die sechs Mündungen seine ersten Novellen, die einen sensationellen Erfolg hatten. In der »Frankfurter Zeitung« schrieb Joachim Benn am 1.8.1915: »Die Geschichten Kasimir Edschmids sind Musterbeispiele des literarischen Expressionismus, ja, die ersten, die es bisher gibt.« Damit wurde E. zum Wortführer der neuen Bewegung. In rascher Folge erschienen die weiteren Novellenbände Das rasende Leben (Mchn. 1916), Timur (Lpz. 1916. Nachdr. Nendeln 1973), Die Fürstin (Weimar/Potsdam 1918. Lpz. 1990) u. der Roman Die achatnen Kugeln (Bln. 1920. Neuausg. mit einem Vorw. v. Hermann Schlösser. Darmst. 1996). Beispielhaft für E.s literar. Programm u. für seinen Stil ist die Novelle Der Lazo aus dem Band Die sechs Mündungen: Der Held, aus großbürgerl. Haus stammend, entflieht der Zivilisation u. sucht in der Fremde, hier im Wilden Westen, ein Leben in dauernder Erregung, das nicht von gesellschaftl. Konventionen, sondern von Gefühl u. Faustrecht bestimmt wird. Dieses Grundmuster variierte E. immer wieder geografisch u. zeitlich. Zum bedeutendsten Theoretiker des literar. Expressionismus avancierte E. mit der von ihm herausgegebenen Tribüne der Kunst und Zeit (29 Bde., Bln. 1919–23), die er mit seinem programmat. Essayband Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung eröffnete. Darin heißt es: »Die Realität muß von uns geschaffen werden [...]. So wird der ganze Raum des expressionist. Künstlers Vision. Er sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er gestaltet. Er nimmt nicht, er sucht. Nun gibt es nicht mehr die Kette der Tatsachen: Fabri-
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ken, Häuser, Krankheit, Huren, Geschrei und Hunger. Nun gibt es ihre Vision.« Nicht zuletzt wegen dieser Absolutsetzung des schöpferischen Ichs u. dem damit verbundenen, fast vollständigen Verzicht auf gesellschaftskrit. Ansätze ist E.s Frühwerk immer wieder von Literaturwissenschaftlern heftig attackiert worden. Während Günther Engel (1952) u. Helmut Liede (1960) noch eher zurückhaltend die Inflation der expressionist. Mittel bei E. konstatierten, die die hyperbol. Sprache zum Ornament erstarren lasse, waren andere Urteile nahezu vernichtend: Armin Arnold sprach 1972 sogar von »literarischem Spießertum im Futuristenpelz«, u. Hans-Georg Kemper sah 1975 in der Glorifizierung von Gewalt u. »Mannesidealen [...] unverkennbar Elemente, die sich im Dritten Reich verheerend auswirken sollten«. Eine umfassende Bewertung des Frühwerks steht allerdings noch aus. E. selbst hatte sich schon 1920 von dem in seinen formalen Möglichkeiten erschöpften Expressionismus abgewandt. In seinem Essayband Die doppelköpfige Nymphe (Bln. 1920. Nachdr. Nendeln 1973) schrieb er: »Nun kommt die stille Arbeit. Ich bin für Leistung. Aber ich bin gegen Expressionismus, der heute Pfarrerstöchter und Fabrikantenfrauen zur Erbauung umkitzelt.« Als Widerruf der frühen Ideale wertete Peter Pfaff (1969) den Roman Die gespenstischen Abenteuer des Hofrat Brüstlein (Wien 1927. Bearb. u. d. T. Pourtalès Abenteuer. Mchn. 1947), an dessen Ende »spontane und reflektierte Menschlichkeit« stehe. Das heroische Pathos blieb allerdings ein bestimmender Zug der literar. Arbeiten E.s, ob es sich um die Rennfahrergeschichte Sport um Gagaly (Wien 1928) handelte oder um den »Roman einer Leidenschaft« Lord Byron (Wien 1929), in dem der Titelheld erst durch den Verzicht auf die geliebte Schwester zur künstler. Vollendung gelangt. Dass E. in seinen Büchern, die heute zur gehobenen Unterhaltungsliteratur gerechnet werden, auch gesellschaftskrit. Töne anschlagen konnte, zeigt sein Venedig-Roman Feine Leute oder die Großen dieser Erde (Wien 1931), in dem er die Vergnügungen u. Intrigen der internat. Hochfinanz schildert. Die schon in seinen
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expressionist. Büchern spürbare Begeiste- Gesch. in Briefen. Mchn. 1999. – Herausgeber: Georg rung für fremde Welten schlug sich auch in Büchner: Ges. Werke. Mchn. 1948. – Briefe der seinen z.T. sehr erfolgreichen u. mehrfach Expressionisten. Ffm. 1964. Literatur: K. E. Bibliogr. Zusammengestellt v. übersetzten Reisebüchern nieder, in denen E. eigene Erlebnisse mit histor. Ereignissen Ursula G. Brammer. Heidelb. 1970. – K. E. Ein verband: Basken, Stiere, Araber (Bln. 1927), Das Buch der Freunde zu seinem 60. Geburtstag. Hg. Günter Schab. Düsseld./Mchn. 1950. – Günther große Reisebuch (Bln. 1927), Afrika nackt und Engel: Der Stil expressionist. Prosa im Frühwerk K. angezogen (Ffm. 1929), Glanz und Elend Süd- E.s. Diss. Köln 1952. – K. E. Der Weg. Die Welt. Das Amerikas (Ffm. 1931). Werk. Hg. Lutz Weltmann. Stgt. 1955. – Helmut Nach der nationalsozialist. Machtübernah- Liede: Stiltendenzen expressionist. Prosa. Diss. me kamen die meisten seiner Bücher auf die Freib. i. Br. 1960. – Peter Pfaff: K. E. In: ExpresVerbotslisten. E. konnte nur noch einge- sionismus als Lit. Hg. Wolfgang Rothe. Bern/Mchn. schränkt publizieren. Er zog sich immer 1969, S. 707–716. – K. E. 1890–1966. Ausstelhäufiger nach Italien zurück u. widmete sich lungskat. Bearb. v. Erich Zimmermann. Darmst. fast ausschließlich der umfangreichen Dar- 1970. – K. E. zum Gedenken. Darmst. 1971. – Arstellung dieses Landes, von der bis zu 1941 min Arnold: Prosa des Expressionismus. Stgt. u. a. 1972, S. 108–130. – Hans-Georg Kemper: Der vier Bände (Ffm. 1935–41) erschienen. Der ›neue‹ Mensch als alter Adam. K. E.: ›Der Lazo‹. In: Abschluss des Werks (Italien. Seefahrt, Palmen, Ders. u. Silvio Vietta: Expressionismus. Mchn. Unsterblichkeit. Düsseld. 1948) löste eine fast 1975, S. 330–341. Claus K. Netuschil (Bearbeieuphor. Zustimmung aus. Die »Italien«- ter): K. E. 1890–1966. Darmst. 1990. Kurt Bände seien ein »unvergleichliches Zeugnis Schleucher: Der rasende Schriftsteller K. E. Darmst. der Verbindung von Dichter und Wissen- 1990. Adolf Leisen (Hg.): K. E. u. Hans Purrschaftler«, schrieb Frank Thieß 1950 im Buch mann. Zeugnisse einer Freundschaft. Speyer 2002. der Freunde. Hans Sarkowicz Mit seinen histor. Romanen über die Entstehung der Kunstseidenindustrie (Der Zauberfaden. Mchn. 1949), Georg Büchner (Wenn Egard, Egardus, Paul, * um 1580 Keles Rosen sind, werden sie blühen. Mchn. 1950), linghusen, † Frühjahr 1655 Nortorf. – Simón Bolívar (Der Marschall und die Gnade. Lutherischer Prediger, ErbauungsschriftMchn. 1954) u. über die Staufer (Drei Kronen steller, Kirchenkritiker. für Rico. Gütersloh 1958) konnte E. nur noch Achtungserfolge erzielen. Sein nachexpres- Der Sohn eines Organisten brach das 1599 in sionistisches Werk ist heute, trotz der zahl- Rostock begonnene Theologiestudium aus reichen Neuauflagen, fast vollständig ver- finanziellen Gründen ab. Er wurde etwa 1601 Rektor u. Katechismusprediger in Rendsgessen. burg. 1645–1655 war er Pastor in Nortorf. E. Weitere Werke: Kean. Bln. 1921 (D.). – Das Bücher-Dekameron. Bln. 1922 (Ess.s) – Die Engel sah sich trotz mancher orthodoxieferner mit dem Spleen. Bln. 1923 (E.). – Hallo Welt. Wien Prägungen seines Denkens (auch paracels. 1930 (E.). – Dt. Schicksal. Wien 1932 (R.). – Das Einflüsse) im Einklang mit dem luth. BeSüdreich. Roman der Germanenzüge. Wien 1933. – kenntnis – wie auch keine Angriffe gegen ihn Der Liebesengel. Wien 1937 (R.). – Das gute Recht. bekannt sind. Als orthodoxer Verteidiger JoMchn. 1946 (R.). – Im Diamantental. Mchn. 1948 hann Arndts – damit in einer Reihe nord(E.). – Frühe Manifeste. Hbg. 1957. Neuausg. deutscher Theologen stehend – wandte sich Darmst. 1960 (Ess.s). – Tgb. 1958–60. Mchn. 1960. E. gegen den Tübinger Arndt-Kritiker Lukas – Lebendiger Expressionismus. AuseinandersetOsiander d.J. u. verglich Arndts Geschick mit zungen, Gestalten, Erinnerungen. Mchn. 1961. dem Luthers, ja selbst demjenigen Christi. Bearb. Ausg. Ffm. 1964. – Portraits u. Denksteine. Mchn. 1962 (Ess.s). – Frühe Schr.en. Hg. Ernst Jo- Bibelzitate mussten seine Arndt-Apologie hann. Neuwied 1970. – Essay. Rede. Feuilleton. auch gegenüber dem nicht verschwiegenen Eine Ausw. Besorgt v. Walter Schmiele. Darmst. Einfluss »unreiner« Autoren stützen. Gleiche 1990. Ulrike Edschmid (Hg.): ›Wir wollen nicht Milde widerfuhr E. wiederum seitens Speners mehr darüber reden‹. Erna Pinner u. K. E. Eine hinsichtlich von E.s Endzeitberechnungen.
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Egen von Bamberg
E.s milder Chiliasmus weist stark auf die Egen von Bamberg. – Verfasser zweier Ausgießung des Geistes hin; Christi Herr- Minnereden, entstanden etwa 1320–1340 schaft vollziehe sich in den Gläubigen, nicht (Überlieferung: Cgm 714, fol. 161v-170r; als ird. Machtausübung. Konfessioneller Donaueschingen, cod. 112, fol. 170). Streit werde aufhören. Ansonsten neigte E. einem weltfeindlichen, spiritualist. Chris- Der von keinem Dokument nachgewiesene tentum zu. Für Laien legte E. bibl. Bücher wie Verfasser nennt sich am Ende seiner Werke den Römerbrief aus, für den Braunschweiger »Meister Egen«; »von Bamberg« setzt sein Visionär Hans Engelbrecht ergriff er Partei. anonymer Lobredner u. Verfasser der MinneE.s Lehre vom inneren Wort war einem Spi- burg (um 1350) hinzu, womit er Herkunft ritualisten wie Johann Tennhardt wichtig. oder Aufenthaltsort bezeichnet. Dorthin verSeit 1623 brachte er seine – auf breite Käu- weisen auch die ostfränk. Merkmale der ferschichten ausgerichteten – Bücher aus- E.’schen Sprache. Die beiden Reimpaardichtungen (218 u. schließlich in dt. Sprache (Lüneburg: Stern) 138 vv.), vom Herausgeber wenig passend heraus. Philipp Jacob Spener bemühte sich in den 1670er Jahren intensiv (z.B. auch bei Jo- Klage der Minne u. das herze betitelt, bilden hann Wilhelm Petersen) um E.s z.T. seltene unter den meist anspruchslosen Minnereden Werke (Spener: Briefe 2, S. 383 f.; 3, S. 44 f., insofern eine Ausnahme, als sie im sog. ge157), empfahl sie als Wegweiser in die Bibel blümten Stil abgefasst sind, einer in der (Spener: Schriften VIII.2, 135 f.; Werke I.2, Neuzeit oft geschmähten, im MA aber viel 98 ff.) u. förderte den Druck von E.s Geistrei- bewunderten, manierierten Weise des Sprecher Schrifften Erstem [Zweitem, Drittem] Theil, chens, deren Vertreter, meist Lyriker wie Konrad von Würzburg u. Frauenlob, aber auch durch zwei Vorreden (1679–83). Literatur: Bibliografie: Moller: Cimbria litterata auch ein Epiker wie Albrecht von Scharfen1, S. 151–154. – Weitere Titel: Philipp Jakob Spener: berg, auf verschiedene Weise den extravaBriefe aus der Frankfurter Zeit 1–4. Tüb. 1992 ff. – ganten, ambitionierten Ausdruck (Wort, Bild, Ders.: Schr.en VIII.2. Hildesh. u. a. 2002, Vergleich, Metapher) suchten u. häuften. Die S. 113–152 (Vorreden zu E.). – Ders.: Werke I.2. Klage der Minne beginnt mit einer für dieses Gießen 2002, S. 98–100, 356 u. ö. – Johann Henrich Genre singulären geistl. Einleitung über das Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen, Bd. 2 (1701). göttl. Liebesgebot, geht über in den Preis der Neuausg. v. H.-J. Schrader. Tüb. 1982. – Gottfried Geliebten u. die Schilderung der verheerenArnold: Unparteiische Kirchen- u. Ketzer-Historie (21729). Neudr. Hildesh./New York 1967 u. 1999. den Wirkung, die deren Untreue haben würI,2, S. 930 f.; II,3, S. 217–220. – Eduard Alberti: de. das herze ist das Gespräch eines SprecherPaulus Egardus. In: ADB. – Paul Grünberg: P. J. Ichs mit seinem Herzen, das, überwältigt u. Spener. Neudr. Hildesh./New York 1988 verwüstet durch die Liebe, seinen Zustand in (11893–1906). Bd. 1, S. 60; Bd. 3, S. 390 u. ö. – Kaskaden von Antithesen schildert u. HeiFriedrich Braun: Johann Tennhardt. Mchn. 1934, lung verlangt. Auf die Frage des Ich nach der S. 1–5 u. ö. – Johannes Meyer: Kirchengesch. Nie- Person der Geliebten antwortet das Herz mit dersachsens. Gött. 1939, S. 125 f., 261. – Martin einem emphat. Schönheitspreis. Schmidt: Wiedergeburt u. neuer Mensch. Witten Über die Minneburg hinaus ist eine Nach1969, S. 311. – Gesch. Piet., Bd. 1, S. 147. – Schleswig-Holstein. Kirchengesch. Bd. 4, Neu- wirkung nicht bekannt. Auch die Forschung, münster 1984, S. 51 ff. u. ö. – Johannes Wallmann: die erst in jüngerer Zeit dem befremdenden Theologie u. Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Stilphänomen gerecht zu werden versucht, Tüb. 1996, S. 116–118 [1982] u. ö. hat das kleine Œuvre nur gelegentlich u. Dietrich Blaufuß meist nur im Rahmen größerer Monografien behandelt. Literatur: Otto Mordhorst (Hg.): E. u. ›die geblümte Rede‹. Bln. 1911. – Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Verz. der Hss. u. Drucke. Mchn. 1968. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Untersuchungen zur Gesch.,
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Überlieferung u. Typologie der dt. Minnereden. Mchn. 1971. – Eva Kiepe-Willms: Zu E. u. a. ZfdA 101 (1972), S. 285–288. – I. Glier: E. v. B. In: VL. – Wolfgang Achnitz: Minnereden. In: Forschungsber.e zur Internat. Germanistik. Hg. Hans-Jochen Schiewer. Bd. 2, Bern u. a. 2003, S. 197–255. – Jens Haustein: Geblümte Rede als Konvention. In: Triviale Minne? Konventionalität u. Trivialisierung in spätmittelalterl. Minnereden. Hg. Ludger Lieb u. a. Bln./New York 2006, S. 45–54. Eva Willms
Egenolf von Staufenberg Diemringer von Staufenberg
! Peter
Egenolff, Egenolph, Christian, * 26.7.1502 Offheim bei Hadamar/Kreis Limburg/ Lahn, † 9.2.1555 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., St. Peterskirchhof. – Buchdrucker, Verleger u. Herausgeber deutscher Sprichwörtersammlungen. E. war einer der bedeutendsten Buchdrucker des 16. Jh. Durch ein Studium an der Universität Mainz (evtl. von 1516 bis 1519, vgl. Verz. der Studierenden der alten Univ. Mainz. Wiesb. 1979, S. 283) hatte er sich eine humanist. Bildung angeeignet u. war in Verbindung mit Melanchthon, Burkart Waldis u. a. gelangt, deren Werke er später veröffentlichte. Ab 1524 arbeitete er bei dem Drucker Wolfgang Köpfel in Straßburg, wo er von 1526 an seine eigene Druckerei betrieb. Ende 1530 zog er nach Frankfurt/M. u. gründete dort eine Druckerei, die bis ins 18. Jh. weiterbestand. Aus Straßburg sind über 60 Drucke E.s belegt; in seiner Marburger Filiale druckte er 1538–1543 wenigstens 90, in Frankfurt über 500 Werke: v. a. medizinische, naturhistor., theolog. u. jurist. Schriften, darunter auch eine mit wertvollen Holzschnitten ausgestattete Bibel (Ffm. 1534). Verdienste erwarb sich E. auch als Notendrucker; er gab u. a. die Volksliedersammlung Gassenhawerlin und Reutterliedlein (Ffm. 1535. Neuausg. hg. v. E. Schulte-Strathaus. Mchn. 1911. Neudr. hg. u. eingel. v. Hans Joachim Moser. Augsb. 1927. Neudr. dieser Ausg. Hildesh. u. a. 1970) heraus. Seine Drucke zeichnen sich durch Holzschnitte von bekannten Künstlern wie Hans Sebald Beham u. Konrad Faber aus.
Besonderes Interesse hatte E. an Redensarten u. Sprichwörtern. E. – nicht Sebastian Franck – edierte die Sammlung Sibenthalbhundert Sprichwörter (Ffm. 1532. Neuausg. u. d. T. Sebastian Francks erste namenlose Sprichwörtersammlung. Hg. Friedrich Latendorf. Poesneck 1876. Neudr. Hildesh. 1970). Sie enthält 664 meist sehr knapp erläuterte dt. Sprichwörter, die E. zum größeren Teil aus Johann Agricolas Sammlung Sybenhundert u. fünfftzig teütscher Sprichwörter (1529) entnommen hat. Ein großer Erfolg wurde E.s Plagiat Sprichwörter, schöne, weise, Klugreden (Ffm. 1548. Neudr. Darmst. 1972), in dem er 386 Sprichwörterauslegungen aus Agricolas Sammlung u. 934 Texte aus Francks fast gleich betitelter Sammlung von 1541 zusammenstellte. Schon 1552 gab E. eine Neuauflage (Neudr. hg. v. Hans Henning. Mchn.Pullach 1968. Lpz. 1968) heraus. Mit weiteren 13 Auflagen bis 1691 wurde das Werk zur verbreitetsten frühen dt. Sprichwörtersammlung. Weitere Werke: Die besten lat. Redensarten aus Terentii Schauspielen. Straßb. 1530. – Güldin Bull Caroli des vierden, weiland röm. Kayser. Ffm. 1531. – Chronic von An- u. Abgang aller Weltwesen. Ffm. 1533. Literatur: VD 16, E 572–577. – Carl Schulze: Johann Agricola u. Sebastian Franck u. ihre Plagiatoren. In: Archiv 32 (1862), S. 153–160 (Nachtr. v. Friedrich Latendorf, S. 474–476). – Jakob Franck: Die Ausg. der Klugreden (1548–1691). In: Serapeum 27 (1866), S. 177–188. – Hermann Grotefend: C. E., der erste ständige Buchdrucker zu Frankfurt [...]. Ffm. 1881. – Douglas C. McMurtie: Types and typefounding in Germany. The work of C. E. and his successors in the development of the Luther foundry. Chicago 1932. – H. Gerber: C. E. In: Nassauische Lebensbilder 3 (1948), S. 84–92. – Josef Benzing: C. E. zu Straßburg u. seine Drucke (1528–30). In: Das Antiquariat 10 (1954), S. 88–92. – Ders.: Die Drucke C. E.s zu Frankfurt/M. v. Ende 1530 bis 1555. In: Das Antiquariat 11 (1955), S. 139 f., 162–164, 201 f., 232–236. – J. Benzing: E. In: NDB. – H. C. Müller: Die Liederdr.e C. E.s. Diss. Kiel 1964. – Günter Richter: C. E.s Erben 1555–1667. In: AGB 7 (1967), Sp. 449–1130 (urspr. Diss. Mainz 1964). – J. Benzing u. Jean Muller: Bibliographie strasbourgeoise: Bibliographie des ouvrages imprimés à Strasbourg [...] au XVIe siècle. 3 Bde., Baden-Baden 1981–86. – Wolfgang Mieder: Gesch. u. Probleme der nhd. Sprichwörterlexiko-
199 graphie. In: Studien zur nhd. Lexikographie. Hg. Herbert Ernst Wiegand. Bd. 5, Hildesh. 1984, S. 312–316. – DBA 268,47–61. – Juergen Seuss: Der Ahnherr der Frankfurter Verleger: C. E. In: Die großen Frankfurter. Hg. Hans Sarkowicz. Ffm. 3 1997, S. 13–24. – Mechthild Habermann: Dt. Fachtexte d. frühen Neuzeit. Bln./New York 2001 (Register). – Royston Gustavson: E. In: MGG 2. Aufl. Bd. 6, Sp. 98–103 (mit Verz. der Musikdr.e). – Marie Louise Göllner: E. In: The New Grove 2. Aufl. Bd. 7, S. 906 f. – C. E., 1502–55. Ein Frankfurter Meister des frühen Buchdrucks aus Hadamar. Hg. v. der Kulturvereinigung Hadamar. Limburg 2002 (mit Werkverz.). – Harald Haferland: Frühe Anzeichen eines lyr. Ichs. Zu einem Liedtyp der gedr. Liederslg.en aus der ersten Hälfte des 16. Jh. In: Dt. Liebeslyrik im 15. u. 16. Jh. Hg. Gert Hübner. Amsterd. 2005, S. 169–200. Wolfgang Mieder / Red.
Egerer Passionsspiel, auch: Egerer Fronleichnamsspiel, um 1500. – Spätmittelalterliches geistliches Spiel.
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Die Überleitung zum neutestamentl. Teil des Spiels bildet ein ausgedehntes Weihnachtsspiel, das von den Anfängen des Marienlebens bis zur Rückkehr der Hl. Familie aus Ägypten reicht. Mit einer »Szene«, die den zwölfjährigen Jesus im Tempel zeigt, endet der erste Spieltag. Der darauffolgende Tag führt das öffentl. Wirken u. die Passion Christi vor, wobei das Hauptgewicht auf die Darstellung der als »maßlos« präsentierten Leiden Jesu gelegt wird. Die Handlung des dritten Tags beginnt mit der Ausführung Christi nach Golgatha; ihr schließen sich Kreuzigung u. Grablegung – beides eng verflochten mit einer Marienklage – u. ein umfängliches Osterspiel an. Die Erscheinung Jesu vor Thomas u. eine von neuerlichen heftigen Angriffen gegen die zeitgenöss. Juden bestimmte Conclusor-Rede beenden das Spiel, das in dieser oder ähnlicher Form auf dem Egerer Marktplatz aufgeführt worden sein dürfte.
Das für eine dreitägige Aufführung konziAusgaben: E. Fronleichnamsspiel. Hg. Gustav pierte u. dementsprechend umfangreiche E. Milchsack. Tüb. 1881. P. (8312 Verse) wurde um 1500 von einem Literatur: Bernd Neumann: E. P. In: VL. – unbekannten Schreiber anhand einer oder Hansjürgen Linke: Zum Text des E. P. In: Euph. 78 mehrerer Vorlagen aufgezeichnet. Entgegen (1984), S. 275–279. – Rolf Bergmann: Kat. der seiner lat. Überschrift (»ludus de creacione deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen mundi«) umfasst das E. P. einen viel größeren des MA. Mchn. 1986. – B. Neumann: Geistl. Zeitraum, bei dessen Bearbeitung der an- Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. – Lisa Jessel: Die ›Egerer Marienklage‹ der onyme Autor sichtlich auf die Herstellung Prager Hss. XVI G 33. Bd. 2: Ed. u. Untersuchung. eines übergreifenden dramat. wie struktu- Stgt. 1987. – Brigitte Lehnen: Das E. P. Ffm. 1988. rellen Zusammenhangs u. eine organisch sich – Eckehard Simon: Das ›Egerer Fronleichnamspiel‹ entwickelnde Gesamthandlung, auf hand- in den Stadtrechnungen. In: ABäG 38/39 (1994), lungsimmanente Logik u. auf die schlüssige S. 299–311. Bernd Neumann / Red. Motivation selbst peripherer Details bedacht war. Eggebrecht, Axel, * 10.1.1899 Leipzig, Zwar setzt der Spieltext mit der Erschaf† 14.7.1991 Hamburg. – Publizist, Erfung der Welt, dem Engelsturz u. dem Sünzähler, Verfasser von Sachbüchern, Hördenfall ein, doch stellen diese Ereignisse leu. Fernsehspielen. diglich die Einleitung zu einem stofflich bis zu den Anfängen der Heilsgeschichte ausge- Nach trister Jugend in großbürgerl. Arztmidehnten Passionsspiel dar. Folgerichtig wird lieu nahm E. aus Abenteuerlust 1917/18 die Handlung mit weiteren »Szenen« des AT freiwillig am Ersten Weltkrieg teil. Sein fortgeführt, aus denen sich bereits wesentl. Germanistik- u. Philosophie-Studium (LeipGrundmuster des gesamten Spieltextes able- zig u. Kiel) brach er 1920 ab u. beteiligte sich sen lassen – ein beständiger Hang zum Mo- am Kapp-Putsch. In Berlin wurde er Leiter ralisieren, zu Didaxe u. Paränese sowie eine einer KPD-Ortsgruppe u. Pressechef einer geradezu antisemit. Haltung, die im Verlauf Filmgesellschaft sowie Sekretär von Willi des E. P. zu Polemik, Agitation u. immer Münzenberg. Längere Moskauaufenthalte neuen Angriffen gegen die Juden eskaliert. 1923/24 veranlassten ihn im Jahr 1925 aller-
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Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1920 (Privatdings, desillusioniert aus der KPD auszutredr.). – Leben einer Prinzessin. Amor vacui. Lpz. ten. E. wurde regelmäßiger Mitarbeiter des 1929. Überarb. Neuausg. Mchn. 1968. Reinb. 1988 Rundfunks, verschiedener Zeitschriften, v. a. (R.). – Weltlit. Ein Überblick. Hbg. 1948. – Epochen der Weltlit. Gütersloh 1964. Bangemachen gilt der »Weltbühne«, seiner eigentl. geistigen nicht. 28 Betrachtungen über den gesunden MenHeimat. Da er sich ab 1930 gegen den auf- schenverstand. Düsseld. 1969. – Das Drama der kommenden Nationalsozialismus engagiert Republik. Zum Neudr. der ›Weltbühne‹ zwei Eshatte, wurde er nach der Machtergreifung says v. A. E. u. Dietrich Pinkerneil. Königst. 1979. – mehrfach verhaftet u. erhielt Schreibverbot. Meine Weltlit. Bln./Bonn 1985. Durch persönl. Beziehungen seines Vaters Literatur: A. E. Eingel. v. Robert Neumann u. kam er frei, arbeitete als Drehbuchautor u. Kurt W. Marek. Hamburger Bibliogr.n 4. Hbg. trat der NS-Filmkammer bei. Nach 1945 war 1969. – Hanjo Kesting: A. E. In: KLG. – Ders.: Die E. im Auftrag der brit. Besatzung am Aufbau dt. Daseinsverfehlung. Gespräch mit A. E. In: des ersten Funksenders in Hamburg beteiligt, Ders.: Dichter ohne Vaterland. Bln./Bonn 1982. – bis 1949 Abteilungsleiter beim NWDR, 1946/ Thomas B. Schumann: Existenz am Rande der 47 Mitherausgeber der »Nordwestdeutschen wilden Epoche. In: Ders.: Asphaltlit. Bln. 1983. – Karl Otto Maue: Aufbruch, Skepsis, RechtfertiHefte«, 1947 Mitbegründer des neuen dt. gung: Drei Strategien im literar. Feld der NachPEN u. bis zu seinem Tod freier Autor in kriegszeit am Beispiel des Hamburger Autoren A. Hamburg. Zu seinem Gedächtnis stiftete E. u. a. In: Liebe, die im Abgrund Anker wirft. Hg. 2006 die Medienstiftung der Stadt- und Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter. Bln. 1990, Kreissparkasse Leipzig den mit 10.000 Euro S. 175–196. Thomas B. Schumann / Red. dotierten Axel-Eggebrecht-Preis für Verdienste um das Hörfunk-Feature, der ab 2008 Eggebrecht, Jürgen, * 17.11.1898 Baben/ (im Wechsel mit dem Günter-Eich-HörspielKreis Stendal, † 19.4.1982 München. – preis) verliehen werden soll. Lyriker u. Erzähler. E.s Schreiben, das Erzählungen u. Aufsätze, einen Roman u. Sachbücher, Hör- u. Der Sohn eines evang. Pfarrers studierte Fernsehspiele, Features u. a. umfasst, ist pri- Rechts-, Staats- u. Literaturwissenschaft. mär essayistisch ausgerichtet, wie schon seine Nach der Promotion (Dr. jur. 1925) volonfrühen feuilletonist. Publikationen Katzen tierte E. 1926 bei Reinhard Piper in München, (mit Zeichnungen v. Benedikt Fred Dolbin. wo er im Kreis der »Argonauten« verkehrte. Bln. 1927. 4., erw. Aufl. Baden-Baden 1956. E. debütierte mit Gedichten in der von Überarb. Ausg. Zürich 1990) u. Junge Mädchen Willi R. Fehse u. Klaus Mann herausgegebe(mit 32 Bildnisstudien v. Hedda Walther. Bln. nen Anthologie jüngster Lyrik (Hbg. 1927) u. in 1932) zeigen. Volk ans Gewehr! (mit 48 Tafeln. Otto Heuscheles Anthologie Junge deutsche Ffm. 1959. Neuausg. Bln./Bonn 1980 u. 1985) Lyrik (Lpz. 1928). 1928–1933 war er Lektor bietet anhand der Chronik eines Berliner Hauses der Deutschen Verlags-Anstalt u. daneben als 1930–1934 eine Analyse des aufkommenden Übersetzer (Maurice de Vlaminck: Gefahr vorNationalsozialismus. In seiner Autobiografie aus! Aufzeichnungen eines Malers. Stgt. 1930. Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche 1959 u. d. T. Gefährliche Wende), Rezensent u. (Reinb. 1975. 1990) schildert E. nüchtern Rundfunkautor tätig. seinen schwierigen Weg persönlicher u. polit. Als Kriegsverwaltungsrat in der ZensurabOrientierung, durchaus exemplarisch für teilung des Oberkommandos der Wehrmacht viele linke Intellektuelle. E. verstand sich als baute E. die Frontbücherei auf u. unterstützte Rationalist u. Aufklärer, als Agnostiker u. nach Kräften den Freund Günter Eich u. a. Utopist, der gegen alles Doktrinäre, Reaktio- Autoren (z.B. Horst Lange). 1949–1959 war er näre, Totalitäre kämpft. Als »zorniger alter Leiter der Abteilung »Kulturelles Wort« beim Mann« erhob er noch lange seine krit. Stim- NWDR, später NDR. me zugunsten eines humanen Fortschritts, E.s Gedichtsammlungen, z.B. Die Vogelkoje getreu seiner Lebensmaxime »Vernunft ist (Hbg. 1949) u. Splitterlicht (Ffm. 1975) fanden meine Religion«. außer bei befreundeten Kollegen kaum Be-
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achtung. Die gereimten Strophen vor 1962 beschwören angesichts der Vergänglichkeit u. des Todes auch erfüllte Momente. Die lakon. späten Gedichte reflektieren die Welt als »Scherben des Augenblicks«. Virtuos poetisierte Kindheitserinnerungen enthält das einzige Prosawerk Vaters Haus. Huldigung der nördlichen Stämme (Mchn. 1971). Weitere Werke: Der Diebesstieg. In: Junge dt. Dichtung. Hg. Kurt Virneburg u. Helmut Hurst. Bln./Zürich 1930 (E.). – Schwalbensturz. Ffm. 1956 (L.). – Zeichen in der Nacht. Dülmen 1962 (L.). – 13 Gedichte. In: Bestandsaufnahme. 5. Schriftstellerkongress VS. Hg. Bernt Engelmann. Mchn. 1980. – Der Rest. In: kürbiskern 2 (1981) (E.). Thomas Betz / Red.
Egger, Oswald, * 7.3.1963 Lana/Südtirol. – Lyriker, Essayist.
Dabei verschwindet das lyr. Subjekt fast hinter den dicht geflochtenen Wort-Agglomerationen, die durch die Wucherungen vegetabilischer Welten führen. Als zentrales Strukturelement in E.s sprachmystischer Dichtkunst fungieren geograf. Figuren – nämlich »Meridiane« u. »Loxodrome«. Die »Loxodrome« als Kurven auf einer Kugeloberfläche, die immer unter dem gleichen Winkel die Meridiane im geograf. Koordinatensystem schneiden, werden in den poetolog. Texten als Grundfiguren der poet. Bildfindung aufgerufen. Mit der Kühnheit des sprachbegeisterten Poeten erprobt E. in den insg. 3650 Vierzeilern seines kalendarisch konzipierten Werks nihilum album eine Vielzahl von Sprechhaltungen. Es ist eine Gedichtsprache, die fortwährend den Ton ändert: E. wechselt hier abrupt zwischen romantischem Liedton, ekstatischer Wortballung u. heiter-grotesken Wortarabesken.
Bevor er mit eigenen lyr. Veröffentlichungen an die Öffentlichkeit trat, agierte E. bereits Weitere Werke: Blaubarts Treue. Zürich 1996 1986 als Spiritus Rector der »Kulturtage (L.). – Und: der Venus trabant. Oper als Topos ohne Lana«, dem Mekka für die sprachexperi- Ort. Zürich 1997 (P.). – Juli, September, August. mentellen Dichter Europas. 1992 schloss er Poem. Stgt. 1997 (L.). – Sommern. Zürich 1998 (L.). sein Studium der Germanistik in Wien mit – Poemanderm Schlaf (Der Rede Dreh). Zürich 1999 einer Arbeit über die Poetik des Hermeti- (L.). – To Observe The Obverse. Zürich 2000 (L.). – Nichts, das ist. Ffm. 2001 (L.). – -broich, Homotoschen ab (Wort für Wort). Von 1989 bis 1998 pien eines Gedichts. Wien 2003 (P.). – Room of war er Herausgeber der Zeitschrift »Der Pro- Rumor. Los Angeles 2004 (Tunings. engl.). – Prosa, kurist« u. der »edition per procura«. Seit Proserpina, Prosa. Ffm. 2004 (L./Ess.). 2003 lebt E. auf einer ehemaligen RaketenLiteratur: Ilma Rakusa: UND RADEBREstation nahe der Museumsinsel Hombroich. CHEN. Laudatio auf O. E. anlässlich der Verleihung Er erhielt zahlreiche literar. Auszeichnungen, des Mondseer Lyrikpreises. In: Manuskripte 146 u. a. den Lyrikpreis Meran 2002 u. den Peter- (1999), S. 93–95. – Cornelia Jentzsch: Poesie als Huchel-Preis 2007. Biotop. In: EDIT 20 (2001). – Michael Braun: O. E. In einem Essay (Herde der Rede Moiré. In: In: LGL. Michael Braun Minima Poetica. Hg. Joachim Sartorius. Köln 1999, S. 47–55) vergleicht E. die KompositiEgger, Rosemarie, * 30.8.1938 Wien. – onsform seiner Gedichte mit »KlöppelbrieVerfasserin von Lyrik u. Kurzprosa. fen«. Tatsächlich entsteht aus dem beständigen Flechten, Knüpfen u. Verweben von E. erwarb ein Diplom als HauswirtschaftsleiWörtern u. Wortpartikeln ein eigener natur- terin, bevor sie in Basel Bildhauerei studierte. mag. Kosmos. In üppigen Groß-Poemen, z.B. Ausgedehnte Reisen führten sie u. a. häufig in Herde der Rede (Poem) (Ffm. 1999), später in nach Spanien, wo sie heute lebt. »Kalendergedichten« (Tag und Nacht sind zwei 1966 veröffentlichte E. einen ersten GeJahre. Warmbronn 2006), in »Liedern« u. dichtband wanderung (Breitenbach/Basel). In »Stanzen« (nihilum album. Ffm. 2007) be- späteren Publikationen treten neben die Gegeistert er sich für den Reiz mathematischer dichte auch kurze Prosatexte, so in es ist etwas u. zahlenmyst. Strukturbildung, die er wie geschehen (Zürich 1978). In E.s Gedichten u. einst Novalis als poetisch grundlegend für Kurztexten steht weniger das einsame Ich als das »Verhältnisspiel der Dinge« empfindet. die Begegnung mit dem Du im Zentrum. Sie
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richten sich an den realen oder erträumten Geliebten, aber auch an Mutter, Bruder, Kind oder Freund: Liebesgedichte im weitesten Sinn. Die Texte, deren Sprache in der Schlichtheit gewinnt, haben einen teils feierlichen, teils heiter-versponnenen Grundton. An einigen Stellen wird der Einfluss der konkreten Poesie spürbar u. lässt das Erlebnishafte in den Hintergrund treten. Zus. mit Werner Bücher ist E. Mitbegründerin der Zeitschrift »orte«. Weitere Werke: die gänsehaut. gedichte. Darmst. 1973. – ANNA – A – aaa. texte u. gedichte. Breitenbach o. J. [1976]. – gesch.n vom hauptmann u. seinen zwei frauen. Breitenbach 1977. – frühstück mit jesus, erzählungen. Aarau/Ffm./Salzb. 1979. – von draussen träumen. Gespräche mit Strafgefangengen. Aufgezeichnet v. R. E. Zürich 1981. – Ein Inselsommer. Zürich 1988 (E.en u. G.e). Dominik Müller / Red.
Eggers, Christian Ulrich Detlev Frhr. (1806) von, * 11.5.1758 Itzehoe, † 21.11. 1813 Gaarz/Holstein. – Kameralist, Publizist. Der Sohn eines holstein. Landkanzlers ließ sich nach dem Studium der Rechts- u. Staatswissenschaften in Kopenhagen nieder. 1785 wurde E. zum a. o. Professor der Rechtsu. Kameralwissenschaften, 1788 zum Professor für Staatsrecht ernannt, ließ sich aber 1789 von den akadem. Ämtern beurlauben, um in die Staatskanzlei zu wechseln. Zuvor war es ihm durch einige Abhandlungen gelungen, sich als engagierter Aufklärer auszuweisen (Skizzen und Fragmente einer Geschichte der Menschheit [...]. Flensburg/Lpz. 1786). In Staatsminister Andreas Peter Graf von Bernstorff, dessen enger Vertrauter E. wurde, fand sein Reformwille breiten Rückhalt. Der überzeugte Physiokrat nahm jetzt an der holstein. Bauernbefreiung teil u. warb für die Aufhebung der Leibeigenschaft. 1800 wurde E. in Kopenhagen ins Finanzkollegium, bald auch in die Deutsche Kanzlei berufen u. endlich, in seinem Sterbejahr, zum Oberpräsidenten von Kiel ernannt. Trotz des unleugbaren Hangs zur Vielschreiberei hatte E. mit seinen aufklärer. Schriften, die teilweise in den von ihm her-
ausgegebenen Periodika (»Deutsches gemeinnütziges Magazin«, 1788 ff. »Deutsches Magazin«, 1791 ff.) erschienen, reichen Erfolg. Weitere Werke: Denkwürdigkeiten der frz. Revolution in Hinsicht auf Staatsrecht u. Politik. 6 Bde., Kopenhagen 1794–1804. – Bemerkungen auf einer Reise durch das südl. Dtschld., das Elsaß u. die Schweiz in den Jahren 1798 u. 1799. 6 Bde., Kopenhagen 1801–08. – Beiträge zur Kenntniß v. Holstein. Kopenhagen 1804. Literatur: Martin Babel: C. v. E. In: Aufklärung 5/2 (1990), S. 127–129. Klaus Beyrer / Red.
Eggimann, Ernst, * 23.4.1936 Bern. – Verfasser von Lyrik, Kurzprosa, Essays, Einaktern u. Radiohörspielen. Nach dem Studium in Bern arbeitete E. als Sekundarlehrer. Er war von 1986–1997 für die Grüne Freie Liste Mitgl. des Großen Rats (Legislative) des Kt. Bern. Mittlerweile pensioniert, lebt er nach wie vor in Langnau i. E. 1968 revolutionierte E. – wie kurz zuvor Kurt Marti u. Mani Matter – die bernische Umgangssprache, eine typisch lyr. Sprache, u. brach mit der traditionellen Mundartlyrik aus dem »bluemete Trögli«, während Matter seither als Vater des Berner Chansons gilt. Die berndeutschen Gedichte der Bändchen henusode (Zürich 1968) u. heikermänt (Zürich 1971) tragen Züge konkreter Poesie, bekunden aber ein kritisches Verhältnis zu den zitierten Floskeln der Alltagssprache u. eine größere Anteilnahme an den Nöten alltäglicher Sprachlosigkeit. Das Psychogramm von Starrsinn u. Verschlossenheit, das sie vermitteln, weist über die Landbevölkerung des Emmentals, die der Autor zuerst im Blick hatte, hinaus. Auch wenn es in den letzten Jahren um E. still geworden ist: Seine Sprachexperimente u. -spielereien haben nichts von ihrem Reiz verloren. Die hochdt. Lyrikbände psalmen (Wiesb. 1967) u. jesustexte (Zürich 1972. U. d. T. JesusTexte. Bln. 1986) beziehen Stellung gegen selbstgefällige Bigotterie u. für ein eigenverantwortliches, engagiertes Christentum. Weitere Werke: Die Landschaft des Schülers. Zürich 1973 (E.en). – Meditation mit offenen Augen. Mchn. 1974. Überarb. Neuausg. Bern 1999
203 (Kurzp.). – e satz zmitts i d wäut. Zürich 1981 (L.). – Emmental (mit Fotos v. Walter Studer). Zürich 1983 (Ess.). – Henusomänt. Neuaufl. v. henusode u. heikermänt. Münsingen 1998 (L.). – Berner Almanach. Bern 1998 (Anth.). Dominik Müller / Katharina Kienholz
Egk, Werner, eigentl.: Werner Joseph Mayer, * 17.5.1901 Auchsesheim bei Augsburg, † 10.7.1983 Inning/Ammersee. – Komponist u. Librettist.
Ehrenbaum-Degele
Verlobung von San Domingo (Mainz 1963; nach Heinrich von Kleist), oder durch Veränderung der Schlüsse wie in 17 Tage und vier Minuten (Mainz 1966; nach Calderóns El mayor encanto amor), einer Neufassung der Circe. Weitere Werke: Columbus. Mainz 1933. Bühnenfassung 1951 (Funkoper). – Der Revisor. Mainz 1957 (Oper nach Gogol). – Ballette: Joan v. Zarissa. Mainz 1940. – Ein Sommertag (nach P. Strecker). Mainz 1950. – Die chines. Nachtigall (nach Hans Christian Andersen). Mainz 1953. – Frz. Suite nach Rameau. Mainz 1952. – Danza. Mainz 1960. – Casanova in London. Mainz 1969. – Die Zeit wartet nicht. Percha 1973 (Autobiogr.).
Nach dem Besuch des humanist. Gymnasiums in Augsburg, Klavier- u. GesangsunterLiteratur: Siegfried Borris: Der Schlüssel zur richt, der Beschäftigung mit Musikgeschichte Musik v. heute. Düsseld. 1967. – Brigitte Kohl u. u. frühen Vertonungen von Gedichten, u. a. Eckehart Nölle: W. E. Das Bühnenwerk. Mchn. von Rilke u. Werfel, studierte E. in München 1971. – Brigitte Müller: W. E., eine universelle Philosophie sowie bei Carl Orff Komposition, Begabung. Komponist, Schriftsteller, Interpret u. Musiktheorie u. Dirigieren. Nach längerem Zeichner. Donauwörth 2004. – Ulrike Toussaint: Italienaufenthalt u. einem Jahr in Berlin, wo Studien zu den Opern W. E.s. Diss. Mainz 2005. E. u. a. Kontakt zu Bertolt Brecht u. Kurt Ursula von Keitz / Red. Weill hatte, zog er 1929 nach München. 1936 wurde E. zum Kapellmeister an die Ehrenbaum-Degele, Hans, * 24.7.1889 preuß. Staatsoper Berlin berufen. 1939 Berlin, † 28.7.1915 am Narew/Russland. – wechselte er nach Frankfurt/M. u. übernahm Lyriker, Dramatiker, Erzähler. die Leitung der »Fachschaft Komponisten« in der Reichsmusikkammer. Er erhielt die Als Sohn eines begüterten Berliner Bankiers Kunstpreise Münchens (1949) u. Berlins u. Enkel eines Opernsängers wuchs E. in (1950). 1950–1953 war er Professor für großbürgerl. Lebensverhältnissen auf. Er Komposition u. Direktor der Musikhoch- studierte 1908/09 in Freiburg i. Br. Medizin schule in Westberlin. Danach lebte er als u. Philologie, setzte das Philologie-Studium freischaffender Komponist. dann in Berlin fort, immatrikulierte sich Für seine Libretti u. Ballettkonzeptionen 1910 in Heidelberg für Kunst- u. Literaturgriff E. auf literarisch vorgeformte Stoffe mit geschichte u. kehrte 1911 an die Berliner meist fantastischen oder märchenhaften Ele- Universität zurück. menten zurück: Die Zaubergeige (Mainz 1935; Schon früh fand E. Zugang zu den Künstnach Franz von Pocci) zeigt wie Peer Gynt ler- u. Literatenkreisen des Berliner Expres(Mainz 1938; nach Henrik Ibsen) das Streben sionismus. Bereits 1911 erschienen Gedichte nach Macht als Verführung durch jenseitige von ihm in der avantgardist. Wochenschrift Größen, deren dämonisches Wirken auch die »Der Sturm«, danach in weiteren namhaften Welt der Irischen Legende (Freib. i. Br. 1955; expressionist. Zeitschriften. In Kurt Hillers nach William Butler Yeats’ Countess Cathleen) »Cabaret Gnu« stellte er seine Verse rezitieprägt. Für das skandalträchtige Ballett Abra- rend der Öffentlichkeit vor. Mit Friedrich xas (Mainz 1950) verwendete E. Heinrich Wilhelm Murnau, Paul Zech u. Else LaskerHeines Tanzpoem Der Doktor Faustus. Die Schüler, die ihn als »Tristan« besang, war er Prinzipien seiner Textadaption beschrieb er befreundet. 1913/14 gab er mit Paul Zech, u. a. in seinem Aufsatz Über das Verhältnis der Robert R. Schmidt u. Ludwig Meidner die literarischen Vorlage zur Oper (in: Musik – Wort – Zeitschrift »Das neue Pathos« heraus. Bild. Mchn. 1960). Er modifiziert die Vorlagen Die Großstadt, Soldaten- u. Kriegserlebz.T. gravierend, sei es durch Hinzufügen nisse – in aller Illusions- u. Schonungslosigepisierender Rahmensituationen wie in der keit geschildert – sind zentrale Motive u.
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Themen seiner Lyrik. Dem Bemühen Murnaus war es zu verdanken, dass nach E.s frühem Kriegstod eine Sammlung seines lyr. Werks im Insel Verlag erschien, zu der Paul Zech ein »Geleitwort« verfasste: Gedichte (Lpz. 1917. Neudr. Nendeln 1973. Zuletzt Bonn 1995). Weitere Werke: Die Gräfin v. der Wart. Ein Trauersp. in fünf Akten. Karlsr./Lpz. 1912. – Kreuzfahrt. Verse. Hbg. 1913. – Der Werkmeister. Vorspiel zu einem Drama. Bln./Steglitz 1913. – Das Tausendste Regiment u. a. Dichtungen. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Hartmut Vollmer. Siegen 1986. – Gedichte. Mit Bildern v. Clemens Weiss. Bonn 1995. Literatur: Julius Kühn: Gefallene Dichter. In: Die Flöte 1 (1918/19), S. 183–184. – Hans J. Schütz: Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen. Mchn. 1988, S. 57–62. – Hans Helmut Prinzler (Hg.): Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films. Bln. 2003. – Brigitte Salmen (Bearb.): Murnau (Friedrich Wilhelm) in Murnau (Oberbayern). Murnau 2003. Hartmut Vollmer
Ehrenberg, Friedrich, * 6.12.1776 Elberfeld bei Wuppertal, † 7.12.1852 Berlin. – Reformierter Theologe u. Erbauungsschriftsteller.
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deten Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin ernannt. E.s auflagenstarke Erbauungsschriften richteten sich meist an ein weibl. Publikum (Reden an Gebildete aus dem weiblichen Geschlechte. Elberfeld 1804. 5. verb. Aufl. Iserlohn/Elberfeld 1854. Weiblicher Sinn und weibliches Leben. 2 Bde., Bln. 1809. 41862. Andachtsbuch für Gebildete des weiblichen Geschlechtes. Lpz. 1815. 6. verb. Aufl. 1844); darin versuchte der Autor, weibl. Mentalität u. Aktivität auf einen angeblich naturgemäßen Bereich der Häuslichkeit zu beschränken. Ganz im Sinne zeitgenössischer Frauentypologie begründete E. diese Restriktion mit polaren Dispositionen der Geschlechter. Nur eine Entwicklung der naturgegebenen Anlagen will er deshalb als »wahre Bildung und Aufklärung« verstehen. E.s pastoraltheologische u. popularphilosoph. Schriften orientieren sich hingegen am klass. Humanitätsideal u. heben auf eine verstärkte Affektenkontrolle ab (Geist der reinen Sittlichkeit in Beziehung auf die Veredelung der menschlichen Natur. Bln. 1802. Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1990–94). Vor dem Hintergrund menschlicher Sündhaftigkeit kritisierte E. freilich auch das aufgeklärtidealist. Perfektibilitätsdenken (Über Denken und Zweifeln, zur Aufklärung eines Mißverständnisses in der höheren Philosophie. Halle 1801. Mikrofiche-Ausg. Mchn. 1994).
Der Sohn eines westfäl. Kaufmanns studierte Theologie u. war anschließend in Plettenberg (1798–1803) u. Iserlohn (1803–1806) als PreWeitere Werke: Euphranor über die Liebe. 2 diger tätig; 1807 avancierte er zum Berliner Bde., Elberfeld 1805/06. Mikrofiche-Ausg. Mchn. Hofprediger. Aufgrund einer späteren Beru- 1994. – Betrachtungen über die wichtigsten Angefung ins Kultusministerium (1817) konnte E. legenheiten des religiösen Sinnes u. Lebens [...]. die Reorganisation der preuß. Landeskirche Bln. 1812 (Predigten). Gerda Riedl / Red. beeinflussen. Obwohl seine reformierten Positionen teilweise in Widerspruch zu den Ehrenbote, Sangspruchdichter wohl der Ansichten Friedrich Wilhelms III. standen, zweiten Hälfte des 13. Jh., vielleicht auch fand seine Tätigkeit Anerkennung: Ihm des frühen 14. Jh. wurden hohe Auszeichnungen (1821 Ritter des roten Adlerordens) u. mehrere Beförde- Der Name E. begegnet zuerst in dem in der rungen (1822 Oberhofprediger, 1834 Wirkli- ersten Hälfte des 14. Jh. entstandenen, um cher Oberkonsistorialrat) zuteil. Dabei war 1350 im Hausbuch des Michael de Leone sein Einfluss nicht unbegrenzt: So schwächte überlieferten Lobgedicht Lupold Hornburgs die Übertragung der von E. ausgeschlagenen von Rothenburg über zahlreiche Sangostpreuß. Generalsuperintendentur (1831) spruchdichter. Später, bis in das 17. Jh., finauf seinen luth. Gegenspieler Ernst Wilhelm det der E. sich regelmäßig in den DichterkaChristian Sartorius (1835) die reformierten talogen u. – als Tonerfinder – in den LiederGemeinden im sog. Agendenstreit. 1850 handschriften der Meistersinger, vereinzelt wurde E. zum Ehrenmitgl. des neu gegrün- mit dem Zusatz »vom Rhein«. Mit E. in
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Verbindung gebracht werden unterschiedl. Töne: in der Kolmarer Liederhandschrift (um 1460) die Spiegelweise u. die Schallweise (auch Langer Ton bzw. Kupferton genannt), in der Tradition des 16./17. Jh. neben der Spiegelweise auch der in der älteren Tradition unter Heinrich von Ofterdingen geführte Fürstenton des Wartburgkrieges, ferner der eigentlich Reinmar von Zweter gehörende Frau-Ehren-Ton sowie vereinzelt auch ein Langer Ton (nicht identisch mit der Schallweise!). Die Schallweise erscheint in dieser Zeit als Kupferton unter dem Namen Frauenlobs. Gustav Roethe vermutete, der E. u. Reinmar von Zweter seien ein u. dieselbe Person. Man habe für Reinmar, den Sänger der Frau Ehre, auch den Spielmannsnamen E. verwendet. Die neuere Forschung ist davon wieder abgekommen; der E. gehöre allenfalls in die Nachfolge Reinmars. Ein gewichtiges Argument ist der Umstand, dass der in der Spiegelweise begegnende dritte Stollen erst nach Reinmars Zeit, in der zweiten Hälfte des 13. Jh., in nennenswertem Umfang gebräuchlich worden sei. Aus dem 14. Jh. ist (in einer Leipziger Hs.) nur eine Strophe in der Spiegelweise überliefert; für sie wird Echtheit erwogen. Aus der Textüberlieferung des 15. u. vorreformator. 16. Jh. in der Spiegelweise u. der Schallweise sind echte Texte nicht zweifelsfrei auszusondern. Somit kann der E. von der Forschung nur als Erfinder zweier Töne, der Spiegelweise u. der Schallweise, gewürdigt werden. Literatur: Gustav Roethe: Die Gedichte Reinmars v. Zweter. Lpz. 1887. – Burghart Wachinger: E. In: VL. – RSM 3 (Verz. der Lieder mit Hinweisen auf Abdr.e u. weitere Lit.). Horst Brunner
Ehrenfels
ton Bruckner. Nach seiner Habilitation 1888 in Wien war E. zunächst a. o. Professor der Philosophie, von 1900 an Ordinarius an der Universität Prag. E.’ wiss. Leistung besteht in der Einführung des »Gestalt«-Begriffs in die Philosophie (Über Gestaltqualitäten. In: Vjs. für wiss. Philosophie 14, 1890. Neudr. in: Gestalthaftes Sehen. FS zum 100. Geburtstag C. E.’ Darmst. 1960, S. 11–64). E.’ klass. Beispiel für die Gestalthaftigkeit der menschl. Wahrnehmungen ist das Wiedererkennen einer Melodie unabhängig von der Tonhöhe. Da eine Melodie sich je nach Tonhöhe aus anderen Tönen zusammensetzt, schloss E., dass für die Melodie nur das Beziehungsgefüge der Töne – also deren Gestalt – konstitutiv sei. Die Fähigkeit, eine konstante Beziehung zwischen Reizdaten unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung der Reize zu erkennen, bestimmt nach E. die menschl. Wahrnehmung auch anderer Sinnesqualitäten. E. unterschied dabei Grade der Gestaltung: Eine Rose hat eine höhere Gestalt als ein Sandhaufen. Dabei bestimmte E. die Höhe einer Gestalt als das Produkt aus der Mannigfaltigkeit der Teile u. der Strenge der Einheit des Ganzen. Höhe u. Reinheit von Gestalten stellen nach E. für das menschl. Empfinden Werte an sich dar. Seinen gestalttheoret. Ansatz, der in vielfachen Varianten die Psychologie u. Pädagogik bis heute beschäftigt, wandte E. auf die Ethik, die Religion u. die Philosophie der Mathematik an. In seinen späteren Schriften unterzog E. traditionelle Wertvorstellungen einer gründlichen – u. umstrittenen – Revision. So glaubte er etwa in seiner Sexualethik (Wiesb. 1907), dass Monogamie aus eugenischen Gründen nur für Frauen, nicht aber für Männer Geltung beanspruchen könne.
Ehrenfels, (Maria) Christian (Julius Leopold Karl) Frhr. von, * 20.6.1859 Rodaun/ Niederösterreich, † 8.9.1932 Lichtenau/ Niederösterreich. – Philosoph u. Psychologe.
Weitere Werke: System der Werttheorie. 2 Bde., Lpz. 1897/98. – Kosmogonie. Jena 1916. – Das Primzahlengesetz. Lpz. 1922.
Der Sohn eines Gutsbesitzers studierte in Wien zunächst Landwirtschaft, dann Philosophie bei Franz Brentano. 1885 promovierte er in Graz bei Alexius von Meinong. Daneben nahm E. Unterricht in Musiktheorie bei An-
Literatur: Bibliografie in: Gestalthaftes Sehen [...]. a. a. O. – Weitere Titel: Max Brod: C. v. E. zum Gedenken. In: Kant-Studien 3/4 (1932), S. 313 f. – Hanno Ehses: Gestaltreinheit u. Gestalthöhe. Ulm 1972. – Reinhard Fabian (Hg.): C. E. Leben u. Werk.
Werkausgabe: Philosoph. Schr.en. Hg. Reinhard Fabian. 4 Bde., Mchn. 1982–90.
Ehrenreich Amsterd. 1986. – Walter Falk: Die Entdeckung des komponentialen Prinzips durch C. v. E. in ›Kosmogonie‹ (1916) u. ihre heutige Bedeutung. In: Das andere Wahrnehmen. FS August Nitschke. Hg. Martin Kintzinger. Köln 1991, S. 695–713. Angela Schrameier / Red.
Ehrenreich, Paul, * 27.12.1855 Berlin, † 14.4.1914 Berlin. – Ethnologe u. Mythenforscher.
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ethnolog. Grundlagen jeglicher Mythenforschung zukunftweisend. Dennoch geriet sein Buch, eine souveräne Zusammenfassung der damaligen Kenntnisse, durch die Abkehr der Wissenschaft von den Vorstellungen der naturmytholog. Schule etwas in den Hintergrund. Zu den klass. Arbeiten der Ethnologie gehört seine große Studie Die Mythen und Legenden der Südamerikanischen Urvölker und ihre Beziehungen zu denen Nordamerikas und der alten Welt (Suppl. zur »Zeitschrift für Ethnologie«, 1905), die bis heute, so skeptisch man einzelnen Deutungen gegenüberstehen muss, für die Motivforschung unentbehrlich ist.
Nach dem Studium der Medizin in Berlin, Heidelberg u. Würzburg promovierte E. 1880 zum Dr. med. in Berlin. Durch die Beschäftigung mit der phys. Anthropologie kam er zur Ethnologie. Nach zahlreichen ForWeitere Werke: Beiträge zur Völkerkunde schungsreisen durch Südamerika, u.a. als Brasiliens. Bln. 1891. Begleiter von Karl von den Steinen auf dessen Literatur: Otto Zerries: E. In: NDB. – Egon zweiter Xingu-Expedition, promovierte er Schaden: A obra de P. E. In: Notícia bibliográfica e 1898 zum Dr. phil. in Leipzig. E. war ab 1900 histórica 33 (2001), S. 262–266. Jörg Helbig / Red. als Privatdozent u. ab 1911 als Professor für Völkerkunde an der Universität Berlin tätig; Ehrenstein, Albert, * 23.12.1886 Wien, von 1910 bis zu seinem Tod war er Heraus† 8.4.1950 New York; Grabstätte: Longeber des Baessler Archivs. don, Bromley Hill Cemetery. – Lyriker u. Als Ergebnis seiner Forschungsreisen erErzähler. schien eine Fülle von Aufsätzen zur phys. Anthropologie, Linguistik u. Ethnologie der E. wurde im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring Indianer Südamerikas, v. a. Brasiliens. Ab in ärmlichen, kleinbürgerl. Verhältnissen 1905 beschäftigte sich E. fast ausschließlich geboren. Sein Bruder war der Schriftsteller mit Themen der Religionsethnologie, insbes. Carl Ehrenstein. Die Eltern, ungar. Juden, der Mythologie. 1910 erschien sein Haupt- reagierten mit Anpassung auf ihre Benachwerk Die allgemeine Mythologie und ihre ethno- teiligung in Wien, das schon um die Jahrlogischen Grundlagen (Bln.), von den Rezen- hundertwende ein Zentrum des Antisemitissenten als erstes Lehrbuch der vergleichenden mus war. Sie ermöglichten E. den Besuch des Mythologie begrüßt, vom Autor in charakte- Gymnasiums u. das Studium der Geschichte, ristischer Bescheidenheit als »orientierender Philologie u. Philosophie, das er 1910 mit Entwurf« bezeichnet. einer Dissertation über ungar. Geschichte Obwohl E. der sog. »naturmythologischen abschloss. Bereits um die Jahrhundertwende Schule« angehörte, vermied er doch stets de- schrieb er Gedichte, doch erst 1910 veröfren dogmat. Aussagen. Die einfachsten my- fentlichte Karl Kraus, neben Arthur Schnitztholog. Vorstellungen beruhen für ihn, im ler sein Förderer in dieser Zeit, E.s Gedicht Anschluss an Wilhelm Wundt, auf »personi- Wanderers Lied in der »Fackel«, das ihn fizierender Apperzeption der Naturvorgän- schlagartig berühmt machte. Darin u. v. a. in ge«. Daraus entwickeln sich dann der »pri- seinem Meisterwerk Tubutsch, einer 1911 in mitive Mythos« bzw. das »naturmythologi- Wien erschienenen u. von Oskar Kokoschka sche Märchen« als universelle Form des Na- illustrierten Erzählung (Neudr. Nendeln turmythos. Diese universellen Mythen gehen 1973), stellt sich E. selbst dar. E.s Karl Tuauf konkrete Naturgrundlagen zurück, z.B. butsch sucht nach dem eigenen Ich, findet auf Sonne u. Mond. So einseitig seine vor- aber in den Straßen Wiens nur groteske Bilwiegend mondmytholog. Deutungen oftmals der, die seine düstere Fantasie u. Todessehnsind, blieb sein entschiedener Hinweis auf die sucht beflügeln.
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E. war mit avantgardist. Literaten u. Künstlern bekannt; seine Gedichte u. Erzählungen wurden in den expressionist. Zeitschriften »Der Sturm« u. »Die Aktion« veröffentlicht. Noch vor dem Krieg, 1914, erschien eine Lyriksammlung u. d. T. Die weiße Zeit (Mchn. Neudr. Nendeln 1973). 1914 traf er sich auch mit kriegsgegnerischen Literaten (Walter Hasenclever u. Martin Buber) in Weimar. In zwei weiteren Gedichtbänden (Der Mensch schreit. Lpz. 1916. Die rote Zeit. Bln. 1917. Beide Neudr. Nendeln 1973) brachte er seine entschiedene Ablehnung des Kriegs zum Ausdruck. Als Lektor im Kurt Wolff Verlag erkannte er als einer der Ersten die Bedeutung Kafkas. Seine Beziehung zur Schauspielerin Elisabeth Bergner scheiterte, als die Bergner in Hollywood zu Ruhm gelangt war. Zwischen 1916 u. 1918 lebte E. in der Schweiz, wo er als Sekretär des »Vereins für Individualpsychologie« tätig war. Nach dem Krieg ging er nach Berlin; die Hoffnung auf eine dt. Revolution war jedoch bald zerstört. Tief enttäuscht nach Wien zurückgekehrt, überwarf er sich mit Karl Kraus, als er den Dichter Georg Kulka gegen dessen Plagiatsvorwurf verteidigte. In den 1920er Jahren nahm E.s Dichtung den aggressiven Gestus der Kriegsgedichte oft in resignative Trauer zurück. Er schrieb Briefe an Gott (Lpz./ Wien 1922) u. Nachdichtungen aus dem Chinesischen: Ich bin der unnütze Dichter, verloren in kranker Welt (Bln. 1970, aus dem Nachl.). In der Literatur Chinas hat er aber auch Rebellentum u. Aufruhr als ihm gemäße Haltung gefunden. Als er 1928/29 im Auftrag dt. Zeitungen Nordafrika u. den Nahen Osten bereiste, fand seine Sprache in Reportagen u. Gedichten über das vom Kolonialismus verursachte Elend zu expressivem Engagement zurück. 1932 emigrierte E. in die Schweiz, wo ihm die Ausweisung drohte; nur die tschech. Staatsbürgerschaft verhinderte die Abschiebung nach Deutschland. 1941 konnte er sich in die USA retten. Seine Zeit im Exil war von immer größer werdender Einsamkeit, Verarmung u. Verbitterung überschattet. Mit der Hilfe von Freunden u. mit Artikeln in der jüd. Wochenzeitung »Der Aufbau« gelang es ihm zu überleben. Nach 1945 fand sich für seine
Ehrenstein
Werke in Deutschland kein Verleger. E. starb 1950 in einem Armenhospital in New York. Der »Dichter der bittersten Gedichte deutscher Sprache« (Kurt Pinthus) war nicht nur ein Verzweifelter u. Hoffnungsloser, sondern auch ein Satiriker. Obwohl ein »Zerrissener von geradezu metaphysischen Graden« (Jörg Drews), tendierte er in seinem Leid nicht zu Indifferenz u. Nihilismus, sondern bestand auf der Erkenntnis der Ursache. E. diagnostizierte die schlechte Gegenwart u. erhoffte eine bessere Zukunft – zwar nicht für sich, wohl aber für die Menschheit. Ohne sein Ideal aus Buddhismus, Sozialismus u. Urchristentum, an dem er zeitlebens festhielt, ist die bes. Tönung u. Heftigkeit seiner Verzweiflung nicht zu verstehen. Diese verflacht nur selten zu Resignation u. Sentimentalität, meist ist sie aggressiv u. engagiert. Selbst eine Figur wie sein Karl Tubutsch wiegt die trostlose Nichtigkeit seiner Existenz mit verzweifelt-lustiger Selbstironie auf. E.s Sprache ist voll von Sarkasmen u. entlarvenden Wortspielen. Während des Kriegs erfährt sie eine ungeheure Ausdruckssteigerung mit vielen Abstufungen u. Brüchen, dröhnenden, aber auch zärtl. Tönen, mit Verstiegenheiten u. Abstürzen, um derart das Ungeheuerliche zu erfassen. Wie Drews bemerkt, steht im Zentrum der Sprechweise E.s immer das einzelne, fühlende Ich. Angesichts des Unfassbaren der Kriegsgräuel droht aber das Scheitern eines solchen lyr. Sprechens. Andererseits konnte der expressive Sprachgestus nach dem Krieg u. nach den begrabenen Revolutionshoffnungen sozusagen keinen Inhalt mehr finden. Das sind die Gründe für E.s dichter. Produktionskrise in den 1920er u. sein Verstummen als Dichter in den 1930er u. 1940er Jahren. Er hat in dieser Zeit sein Werk redigiert, verändert, umgestellt u. neu herausgegeben, so die Gedichte in den Bänden Die Gedichte (1900–1919) (Lpz./Prag/ Wien 1920) u. Mein Lied. Gedichte 1900–1931 (Bln. 1931), die Erzählungen in Ritter des Todes. Die Erzählungen 1900–1931 (Bln. 1926) u. die Aufsätze in Menschen und Affen (Bln. 1926). E. gehört zu den zu Unrecht vergessenen Dichtern. Selbst unter den Schriftstellern der jüngsten Vergangenheit war nur Arno Schmidt, der ihn zu seinen Lehrmeistern
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zählte u. der seine »heilsame Rücksichtslosigkeit« u. die schneidende Energie des Ausdrucks« von E. herleitete. Weitere Werke: Der Selbstmord eines Katers. Mchn. 1912. Umgearbeitet u. d. T.: Ber. aus einem Tollhaus. Lpz. 1919. Neudr. Nendeln 1973 (E.). – Nicht da nicht dort. Lpz. 1916. Umgearbeitet u. d. T.: Zaubermärchen. Bln. 1919 (E.). – Den ermordeten Brüdern. Zürich 1919 (L., P.). – Karl Kraus. Wien 1920 (Pamphlet). – Die Nacht wird. Lpz./Wien 1921 (L., N.n). – Dem ewigen Olymp. Lpz. 1921 (L., N.n). – Herbst. Bln. 1923 (L.). – Lukian. Bln. 1925 (Nachdichtung). – Nachdichtungen aus dem Chinesischen: Schi-King. Wien 1922 (L.). – Pe-Lo-Thien. Bln. 1923. Neudr. Königst./Mchn. 1981 (L.). – China klagt. Bln. 1924 (L.). – Räuber u. Soldaten. Roman frei nach dem Chinesischen. Bln. 1927. – Das gelbe Lied. Druck Bln. 1933; Auslieferung untersagt (L.). – Mörder aus Gerechtigkeit. Bln. 1931 (R.). Werkausgaben: Ausgew. Aufsätze. Hg. Moscheh-Ya-akov Ben-Gavriel. Heidelb. 1961. – Gedichte u. Prosa. Hg. Karl Otten. Neuwied/Bln. 1961. – Stimme über Barbaropa. Ausgew. Lyrik v. Jürgen Jahn. Bln./Weimar 1967. – Wie bin ich vorgespannt den Kohlenwagen meiner Trauer. Gedichte. Hg. Jörg Drews. Mchn. 1977. – A. E.: eine Collage. Hg. Werner Herbst u. Gerhard Jaschke. Siegen 1996. – ›Kein Schrei weckt dies konservativ blökende Schafvolk‹. Hg. Hanni Mittelmann. Mchn. 1997. Literatur: Jörg Drews: Die Lyrik A. E.s. Diss. Mchn. 1969. – Gabriel Beck: Die erzählende Prosa A. E.s. Freib./Schweiz 1969. – Alfred Beigel: Erlebnis u. Flucht im Werk A. E.s. Ffm. 1972 (mit Bibliogr.). – Karl-Markus Gauß: Wann endet die Nacht. Über A. E. Zürich 1986. – Armin A. Wallas: ›Von der Nacht beschienen‹: Forschungsber.; neue Lit. über A. E. In: Sprachkunst 19 (1988), S. 175–186. – K.-M. Gauß: A. E. oder Nicht da, nicht dort. In: Tinte ist bitter. Hg. ders. Klagenf. 1988, S. 120–136. – Uwe K. Faulhaber: A. E. In: Dt. Exillit. Bd. 2, S. 186–193. – Hanni Mittelmann: A. E.: ›Nicht da nicht dort‹. Exil, eine jüd. Erfahrung? In: Dt.-jüd. Exil- u. Emigrationslit. im 20. Jh. Hg. Itta Shedletzky u. Hans Otto Horch. Tüb. 1993, S. 237–247. – A. A. Wallas: A. E. Mythenzerstörer u. Mythenschöpfer. Mchn. 1994. – Hannelore Rodlauer: ›Ansichten eines Exterritorialen‹. A. E. u. Franz Kafka. In: Expressionismus in Österr. Hg. ders. u. Klaus Amann. Wien u. a. 1994, S. 225–252. – Matthias Huff: Selbstkasteiung als Selbstvergewisserung: zum literar. Ich im Werk A. E.s. Stgt. 1994. – A. A. Wallas: Aufzeichnungen aus der Welt der Exterritorialen, Lebensflüchtlinge u. Vorstadt-
208 Ahasvers. A. E.s (un)sentimentale Reise in die Untergründe Kakaniens. In: Habsburger Aporien? Hg. Eva Reichmann. Bielef. 1998, S. 77–111. – Wolfgang Klimbacher: Von den ›glänzenden Zeiten Europas‹ zur ›maschinellen Hinrichtungsart‹ in ›Barbaropa‹. Das Trauma des Ersten Weltkrieges bei Trakl, Kafka u. E. In: Kampf u. Krieg. Hg. Wolfgang Haubrichs. Stgt. 1998, S. 100–118. – H. Mittelmann: Jüd. Autobiogr.n u. ihre Subtexte: am Beispiel v. Stefan Zweig u. A. E. In: Jüd. Identitäten in Mitteleuropa. Hg. A. A. Wallas. Tüb. 2002, S. 101–110. – Ralf Georg Bogner: Der chines. Roman ›Shuizi zhuan‹ (14. Jh.), A. E.s Nachdichtung ›Räuber und Soldaten‹ (1927) u. sein Hörspiel ›Mörder aus Gerechtigkeit‹ (1932) – Metamorphosen eines Textes im Sprach-, Kultur- u. Medienwechsel. In: Deutsch-chines. Literaturbeziehungen. Hg. Wei Maoping u. Wilhelm Kühlmann. Shanghai 2006, S. 179–201. Walter Ruprechter / Red.
Ehrenstein, Carl, Karl, * 9.9.1892 Wien, † 10.1.1971 Whitstable/England. – Verfasser von Prosaskizzen, Erzähler, Übersetzer. E., das vierte von sieben Kindern kleinbürgerlicher jüdisch-ungar. Einwanderer – der Vater war Kassier in der Brauerei Ottakring –, absolvierte eine Banklehre u. lebte dann abwechselnd in Wien u. Berlin. Um dem Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg zu entgehen, simulierte der psychisch labile E. Wahnsinn. Ebenso wie sein Bruder Albert verbrachte er 1917 einige Monate im Zürcher Sanatorium Kilchberg. E. emigrierte nach England u. heiratete dort eine Engländerin. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Lektor u. Übersetzer, zunächst in London u. Bromley/Kent, dann in Whitstable/Kent. Zeit seines Lebens setzte sich Albert Ehrenstein für seinen jüngeren Bruder ein. Dessen erstes Werk, die Prosaskizzen Klagen eines Knaben (Lpz. 1913), vermittelte er an den Verleger Kurt Wolff, der es als sechsten Band seiner Reihe Der jüngste Tag herausgab. Die expressionist. Klagen richten sich gegen die Enge eines bürgerl. Lebens in Schule u. Beruf. Pathetische Todes- u. Liebessehnsucht, verbunden mit der Stilisierung zum Außenseiter, sind die literar. Reaktion des 21-jährigen E. auf eine als unwirtlich empfundene Umwelt. Ähnliches klingt in den Erzählungen
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Bitte um Liebe (Bln. 1921) an, zu denen Albert Ehrenstein ein Nachwort verfasste. Die Bücher E.s wurden nach 1945 nicht mehr aufgelegt, u. der Autor geriet in Vergessenheit. Der Nachlass liegt wie derjenige des Bruders Albert in der Jewish National and University Library in Jerusalem. Weitere Werke: Edgar Allan Poe: Die denkwürdigen Erlebnisse des Gordon Pym. Übers. v. C. E. u. Theodor Schramek. Mit 30 Zeichnungen v. Alfred Kubin. Bln. 1930. – Der Zumpel. Buchholz in der Nordheide 2006. Literatur: Paul Raabe: Die Autoren u. Bücher des literar. Expressionismus. Ein bibliogr. Hdb. in Zus. mit Ingrid Hannich-Bode. Stgt. 1985, S. 129. – Patrick Charbonneau: L’histoire brève peut-elle être intemporelle? Sur 3 histoires brévissimes de C. E., Wolfgang Borchert et Tony Duvert. In: Von der Novelle zur Kurzgesch. Hg. Dominique Iehl u. Horst Hombourg. Ffm. 1990, S. 17–31. Bernhard Fetz / Red.
während die bis 1950 maßgebliche ästhetisierende Naturlyrik eher in Vergessenheit geriet. E., der auch zu den Begründern des legendären Schweizer »Cabaret Cornichon« gehörte, publizierte über 30 Jahre hinweg seine satir. Gedichte mit großem Erfolg in der humorist. Zeitschrift »Nebelspalter«. 1978 erhielt er für sein Gesamtwerk den Literaturpreis der Stadt Zürich. Weitere Werke: Schiffern u. Kapitänen. Zürich 1932. – Sterne v. unten. Zürich 1939. – Das Stundenglas. Zürich 1948. – Morgenmond. Zürich 1951. – Ein ganz gewöhnl. Tag. Zürich 1954. – Die Himmelspost. Zürich 1956. – Riesenrad der Sterne. Zürich 1960. – Heimkehr der Tiere in der Hl. Nacht. Zürich 1965. – Die Gedichte des Pessimisten u. Moralisten A. E. Rorschach 1972. – Eine Art Bilanz. Zürich 1973. – Mich wundert, daß ich fröhlich bin. Zürich 1973. – Inseln sind keine Luftgespinste. Zürich 1977. – Gegen Ende des zweiten Jahrtausends. Postskripte. Zürich 1988. Charles Linsmayer
Ehrismann, Albert, * 20.9.1908 Zürich, † 20.2.1998 Zürich. – Lyriker. E. wuchs im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl auf u. entschloss sich nach einer kaufmänn. Ausbildung u. einem kurzen Deutschlandaufenthalt für die Existenz als freier Schriftsteller. Er lebte bis zu seinem Tod in Zürich. Mit Ausnahme einiger kürzerer Erzählungen (Der letzte Brief. Zürich 1948) u. einzelner dramat. Versuche (Der neue Kolumbus. Zus. mit Kurt Früh. Zürich 1939. Kolumbus kehrt zurück. Zürich 1948) schrieb E. ausschließlich Lyrik, wobei sein Spektrum vom empfindsamen Liebesgedicht über gesellschaftskritische, kämpferische Strophen u. Kabarett-Texte bis hin zum Auftragsgedicht für Werbezwecke reicht. Vom Zürcher Lyrikerkreis um Hermann Hiltbrunner, Paul Adolf Brenner u. a. unterschied sich E. bereits mit dem Erstling Lächeln auf dem Asphalt (Zürich 1930) durch sein bewusstes polit. Engagement (1932 wurde er wegen Dienstverweigerung verurteilt), die größere Publikumsnähe u. den oftmals an Villon erinnernden bänkelsängerischen Ton. Darum konnte E., der sich seine Hellhörigkeit für bedrohl. Entwicklungen stets bewahrte, auch nach 1968 noch als gewichtige aufklärer. Stimme Gehör finden,
Ehrke, Hans (Willi Walter), * 10.4.1898 Demmin/Pommern, † 29.10.1975 Kiel. – Verfasser von Erzählungen, Mundartstücken u. Kriegslyrik. Prägend für das literar. Werk des in Holstein aufgewachsenen E. waren die »niederdeutsche Bewegung« u. seine Erfahrungen als Soldat in zwei Weltkriegen. Knapp 17-jährig nahm er am Ersten Weltkrieg teil. Seine ersten Gedichte erschienen noch während der Kriegszeit auf dem Balkan. Nach dem Krieg beendete er zunächst eine Ausbildung als Lehrer, war dann jedoch jahrelang ohne Stellung. Angezogen von der niederdt. Bewegung um Stavenhagen, Boßdorf, Schurek, Gorch Fock u. a., begann er sich mit Mundartdichtung zu beschäftigen u. neben hochdt. Texten erste niederdt. Texte zu schreiben. 1921 veröffentlichte er u. d. T. Frühlicht. Heimatbilder aus der niederdeutschen Welt (Bordesholm) eine Sammlung von Skizzen u. Gedichten in beiderlei Sprachen, die ihn sofort bekannt machten u. eine bes. produktive u. glückl. Lebensphase einleiteten. Durch eine Anstellung im Schuldienst von unmittelbarer Existenznot befreit, schrieb er weitere Gedichte, Novellen u. plattdt. Geschich-
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ten, deren Hauptthema die Vergänglichkeit ist. Daneben knüpfte er Kontakte zu den niederdt. Bühnen von Richard Ohnsorg u. Otto Mensing in Hamburg u. Kiel, verfasste eine Reihe von Komödien (Narrenspeegel. Hbg. 1925. Füer. Hbg. 1927. November. Bln./Itzehoe 1930), die erfolgreich aufgeführt wurden, u. war selbst zeitweilig als Dramaturg tätig. 1933 endete diese Phase: E. zog sich vom Theater zurück u. schrieb in den folgenden Jahren nur noch hochdeutsch. Während des Dritten Reichs verfasste er überwiegend affirmative Kriegsliteratur wie den Roman Makedonka (Braunschw. 1938) u. den Lyrikband Gewappnetes Herz (Braunschw. 1943). Während des Krieges musste E. erneut an die Front. Nach 1945 konnte er als Schriftsteller nur schwer wieder Fuß fassen. 1968 erhielt er den Klaus-Groth-Preis. Weitere Werke: Schummertied. Bordesholm 1922 (E.). – Dat Haas un Swienegel-Spill. Hbg. 1948 (D.). – Begegnungen. Flensburg 1953 (L./E.). – Gahn un Kamen. Hbg. 1956 (L.). – Maike Husen. Urauff. NDR 1958 (Hörsp.). – Bemöten. Itzehoe 1964 (E.). – Der welle Tag. Itzehoe 1969. Literatur: Horst Franke: Gestalten u. Symbole im dichter. Werk H. E.s. Itzehoe 1963. – Ivo Braak: H. E. In: Klaus-Groth-Gesellsch., Groth-Jahresgabe 18 (1975/76), S. 77–78. Peter König / Red.
Ehrler, Hans Heinrich, * 7.7.1872 Mergentheim, † 14.6.1951 Liebenau bei Waldenbuch. – Heimatdichter. Der Sohn eines strenggläubigen Bienenzüchters u. Wachsziehers sollte urspr. Geistlicher werden. Er besuchte das Gymnasium in Ellwangen u. studierte nach dem Abitur Germanistik in Würzburg u. München. Danach arbeitete er als Redakteur u. Journalist für verschiedene Zeitungen in Deutschland u. war zeitweilig Mitherausgeber des »Schwäbischen Bundes«. Allerdings hasste er seinen journalist. Brotberuf u. empfand ihn als »Fron«. Erst 1911 gelang es ihm, ermutigt durch den Erfolg seines Erstlingsromans Briefe vom Land (Mchn.), sich aus dem Journalismus zu lösen u. eine Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen.
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Wie in seinem ersten Roman bildete auch in seinen späteren Prosawerken die Liebe zur Heimat das zentrale Thema. Der Vorstellung entsprechend, dass sich in der Heimat »das tiefe Geheimnis wesentlichen Lebens« erschließt u. ihr insofern eine spirituelle Bedeutung zukommt, ist E.s Prosa kontemplativ u. an »spannender Handlung« nicht interessiert, seine Sprache religiös aufgeladen, expressiv u. oft altertümlich im Ausdruck. Weitaus größeres Echo fand E. zu Lebzeiten als Lyriker. Vergleiche mit Mörike, Rilke, Silesius oder Novalis, die von Kritikern gezogen wurden, zeigen zwar die Richtung seiner poet. Produktion, sind jedoch überzogen. Vor dem Ersten Weltkrieg trat E. v. a. als ein »Dichter der Gefühle« hervor. Die Gedichte aus den 1912 u. 1913 erschienenen Sammlungen Lieder an ein Mädchen (Mchn.) u. Frühlingslieder (Mchn.) sind spätromantisch expressiv, voll sinnl. Fröhlichkeit, weisen jedoch oft formale Mängel auf. Nach dem Ersten Weltkrieg u. nach der Begegnung mit seinem späteren Freund Herman Hefele änderte sich E.s Stil. Seine Gedichte wurden formal u. thematisch anspruchsvoller u. dienten nun der symbol. Vergegenständlichung eines eigenwilligen Gedankengebäudes, zusammengefügt aus religiösen u. philosoph. Ideen unterschiedlicher Provenienz u. nicht selten abstrus anmutend (Gesicht und Antlitz. Gotha 1928. Die Lichter schwinden im Licht. Mchn. 1932. Unter dem Abendstern. Mchn. 1937). E. gilt als unpolit. Dichter. Zum Dritten Reich findet sich in seinen Werken kein Kommentar. Weitere Werke: Die Reise ins Pfarrhaus. Mchn. 1913 (R.). – Briefe aus meinem Kloster. Stgt. 1922. – Die Reise in die Heimat. Mchn. 1926 (R.). – Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm. Mchn. 1935 (R.). – Charlotte. Stgt. 1946 (R.). – Unsere Uhr hat einen Zauberschlag. Tüb. 1950 (L.). – Gedichte. Briefe vom Land. Hg. u. mit Nachw. v. Alois Keck. Würzb. 1972. – Aus der Heimat in die Heimat: Mergentheimer Lesebuch. Textausw. u. Nachw. v. Ulrich Lempp. Bad Mergentheim 1991. Literatur: Hermann Pongs: Schwäb. Geist der Gegenwart 1. H. H. E. zum 65. Geburtstag. In: Dichtung u. Volkstum, N. F. Euph. 38 (1937), S. 194–198. – Theodor Abele: H. H. E. In: Hochland 44 (1951/52), S. 91/92. Peter König / Red.
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Ehrmann, Marianne, auch: M. Sternheim (Bühnenname), geb. von Brentano, * 25.11.1755 (?) Rapperswyl/Zürichsee, † 14.8.1795 Stuttgart. – Zeitschriftenherausgeberin, Journalistin, Verfasserin von erzählenden u. dramatischen Texten. E., die ihre Eltern früh verlor, lebte bei einem Onkel, dem Geheimrat Dominikus von Brentano, von dem sie eine gute Erziehung erhielt, u. anderen Verwandten, war zeitweilig Erzieherin, heiratete mit 22 Jahren u. ging nach der Scheidung ihrer Ehe nach Wien, wo sie Schauspielerin wurde u. zu schreiben begann. E.s erste bedeutende Veröffentlichung war eine anonyme Abhandlung zur zeitgenöss. Geschlechterdebatte, Philosophie eines Weibs. Von einer Beobachterin (Kempten 1784). Obwohl von Rousseau beeinflusst, befürwortete E. nicht dessen Ideal der passiven Frau. Der Essay erschien in zwei Auflagen, wurde ins Französische übersetzt u. löste eine Kontroverse aus. Anton Adam Felner reagierte auf E.s Herausforderung mit Philosophie eines Mannes. Ein Gegenstück zur Philosophie eines Weibes. Von einem Beobachter (1785), in dem er gegen E.s Charakterisierung des Mannes protestierte. Nach mehreren Ortswechseln zog E. 1785 nach Straßburg, war dort weiter als Schauspielerin tätig u. schrieb das Schauspiel Leichtsinn und gutes Herz oder die Folgen der Erziehung (Straßb. 1786. Neudr. in: Frauen und Drama im 18. Jahrhundert. Hg. Karin Wurst. Köln/Wien 1991, S. 78–86). Das Drama wurde in Straßburg aufgeführt u. von dem Wiener Theaterdichter Emanuel Schikaneder nachgedruckt. Der Struktur nach entspricht es einem bürgerl. Trauerspiel bis auf den letzten Akt, in dem die bürgerl. Heldin, Lottchen, die Standesgrenzen überwindet u. den Grafen heiratet. Lottchen ist nicht die typische passive Heldin, die wir im 18. Jh. erwarten, sondern handelt selbständig. Als der Graf zögert, das Datum der Hochzeit festzulegen, reißt sie eine Pistole von der Wand u. schießt auf ihn. Doch Lottchen wird nicht zur Mörderin, der Schuss verfehlt sein Ziel u. der Graf sieht ein, dass er an ihrem Verhalten schuld ist, das er als »wahnsinnig« bezeichnet.
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Letzten Endes trennt sich der Graf von verantwortungslosen Männern u. zeigt, dass er nicht die Auffassung seines Hofmeisters teilt, der Frauen hauptsächlich als Spielzeug der Männer ansieht. E. lernte Theophil Friedrich Ehrmann kennen, nachdem er Philosophie eines Weibs rezensiert hatte. Ehrmann hatte Jura studiert, interessierte sich aber für Geschichte u. Geografie u. entschied sich, als freier Schriftsteller zu leben. Nach einer Tour durch das Elsass gab E. in Straßburg die Theaterlaufbahn auf. Sie heiratete Ehrmann 1786 u. verbrachte ein Jahr versteckt auf dem Lande in der Nähe von Straßburg, da die Eltern ihres Mannes seine Ehe mit einer Schauspielerin nicht akzeptierten. Da es in Straßburg keine ökonom. Perspektiven gab, zogen E. u. ihr Mann 1787 nach Isny, Oberschwaben. Dort gab Ehrmann die Zeitschrift »Frauenzimmerzeitung« (1787) heraus, ein Projekt, das das Ehepaar finanziell ruinierte. Auf die Einladung von Franziska von Hohenstein, Gräfin von Württemberg, die bald eine enge Freundin E.s wurde, zogen E. u. ihr Mann nach Stuttgart. Ehrmann versuchte dort vergeblich, eine Stellung an der Hohen Karlsschule zu bekommen. »Der Beobachter« (1788), eine zweite von ihm herausgegebene Zeitschrift, blieb ebenfalls erfolglos. E. hatte für beide Zeitschriften geschrieben u. veröffentlichte daneben 1788 den Roman Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen (Bern. Nachdr. Bern u. a. 1995). In einem Briefwechsel zwischen der Schauspielerin Amalie u. ihrer Freundin Fanny wird dargestellt, wie sich eine junge Frau alleine durchs Leben schlagen muss. Obwohl Amalie dem zeitgenöss. Weiblichkeitsideal entspricht, zeichnet sie sich durch selbstständiges Denken u. Handeln aus. Der Roman wird in der neueren Forschung als weibl. Variante des Bildungsromans bezeichnet. Die Schrift Kleine Fragmente für Denkerinnen (Isny 1789. Neudr. in: Ein Weib ein Wort. Hg. Doris Stump u. Maya Widmer. Freib. 1994) zeigt E.s zunehmendes Selbstvertrauen, da sie hier als die einzige Aphoristikerin des 18. Jh. auftritt. Wie auch in den von ihr herausgegebenen Zeitschriften geht es ihr in den Aphorismen darum zu zeigen, dass die Frau
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dem Mann gleichgestellt werden solle u. dass dies nur durch Bildung erreicht werden könne. Die von E. herausgegebene monatlich erscheinende Frauenzeitschrift »Amaliens Erholungsstunden« (1790–92. Nachdr. St. Augustin 1998. Mikrofiche-Ed. Erlangen 1999) erschien zuerst im Selbstverlag, dann bei Cotta in Tübingen u. war auch finanziell erfolgreich. E. korrespondierte u. a. mit Bürger u. Lavater u. nutzte die Gelegenheit, Subskriptionen für ihr Journal zu werben. Nach dem dritten Jahrgang kam es zum Bruch mit Cotta, u. die Zeitschrift wurde u. d. T. »Flora« mit Ferdinand Huber als Herausgeber u. mit konservativer Tendenz weitergeführt. E. gründete daraufhin 1793 ihre zweite Frauenzeitschrift, »Die Einsiedlerin aus den Alpen« (1793/94 bei Orell, Gessner u. Füssl. Neudr. Bern 2002). Da E. zunehmend kränkelte, konnten nur zwei Jahrgänge erscheinen. In einer Rezension nach ihrem Tode lobte »Die neue allgemeine Bibliothek« ihre Schreibweise als »männlich« u. schrieb: »Zehn andere seichte Versmacherinnen Deutschlands hätten an ihrer Stelle den Styx passieren mögen«. Eine solche Auffassung, die E. als eine Ausnahme feierte, aber andere Frauen ablehnte, hätte E. sicherlich zurückgewiesen. E. ist v. a. als Gründerin u. Herausgeberin der beiden Frauenzeitschriften bekannt. Die Auseinandersetzung um bessere Bildungsmöglichkeiten für Frauen im 18. Jh. wurde nicht zuletzt auch in diesen Zeitschriften geführt. E. gehört zu den wenigen Frauen, die im 18. Jh. als selbständige Zeitschriftenherausgeberinnen hervortraten, u. war dabei eine der erfolgreichsten. Sie ermutigte die Frauen zu selbständigem Urteil u. hielt den Männern kritisch den Spiegel vor. Dass das Ziel der weibl. Erziehung die gebildete Ehefrau, Hausfrau u. Mutter blieb, erklärt sich aus den Ideen ihrer Zeit, v. a. aus dem Einfluss Rousseaus in der zweiten Jahrhunderthälfte, der das egalitäre Frauen- bzw. Menschenbild der Frühaufklärung verdrängte. Trotzdem führte sie einen provokativen Ton in die Geschlechterdebatte ein; es war bedeutsam, dass eine Frau an der Geschlechterdebatte überhaupt teilnehmen wollte u.
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konnte. Vor allem in »Amaliens Erholungsstunden« war E. anderen zeitgenöss. Frauenzeitschriften weit voraus. Sie beschuldigte die Männer, die Frauen zu benachteiligen; diesen sei es nicht erlaubt, ihren Charakter zu entfalten, da die meisten Männer ungebildete, aber kokette Frauen bevorzugten. E. forderte ihre »liebenswürdigen« (nicht »schönen«, die übliche Anrede) Leserinnen auf, sich nicht von den immer lauter werdenden böswilligen Bemerkungen über die »Gelehrte« beirren zu lassen, u. schrieb in ihrer »Antrittsrede« zu »Amaliens Erholungsstunden«: »Wir wollen dem Vorurtheil zum Trotz unsere Köpfe aufheitern, unsere Seelen von den Schlakken reinigen, und unsere Pflichten durch gute Bücher und vernünftige Gesellschaft erfüllen lernen!« Im frühen 20. Jh. betonte die Forschung E.s Affinität zum Sturm u. Drang, eine Zuschreibung, die aufgrund ihrer Schreibweise durchaus plausibel ist. Die neuere Forschung zieht es vor, E. als eine »Beobachterin« der Sturm u. Drang-Bewegung zu bezeichnen. E. kann als Protofeministin betrachtet u. mit Englands Mary Wollstonecraft verglichen werden, da sie das selbständige Denken u. Handeln der Frauen in den Vordergrund rückt. Das Wort »Frauenemanzipation«, wie wir es heutzutage verstehen, erscheint noch nicht in ihrem Vokabular, aber ihre Schriften deuten darauf hin. E. ist eine aufgeklärte Denkerin, die von ihren Zeitgenossen geschätzt wurde u. heute wieder ihre lang verdiente Stellung in der dt. Literaturgeschichte einnimmt. Weitere Werke: Müßige Stunden eines Frauenzimmers. Kempten 1784. – Ninas Briefe an ihren Geliebten. Bern 1787. – Graf Bilding, eine Gesch. aus dem mittlern Zeitalter, dialogisirt [...]. Isny 1788. – Erzählungen. Heidelb. 1795. Ausgabe: Amaliens Feyerstunden. Ausw. der hinterlassenen moral. Schr.en. 3 Bde., Hbg. 1796–98. Literatur: Bibliografie: Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. u. 19. Jh. Stgt. 1981, S. 70. – Doris Stump u. a.: Dt. Schriftstellerinnen in der Schweiz, 1700–1945. Zürich 1994. – Weitere Titel: Theophil Friedrich Ehrmann: Denkmahl der Freundschaft u. Liebe, der Frau M. E. errichtet. Lpz. 1796. – Friedrich
213 David Gräter: Mein Besuch bey A. u. ihrem Gatten [...]. In: Württembergisch-Franken 52 (1968), S. 131–200. – Adalbert v. Hanstein: Die Frauen in der Gesch. des dt. Geisteslebens des 18. u. 19. Jh. 2 Bde., Lpz. 1899/1900. Bd. 2, S. 297–300. – Christine Touaillon: Der dt. Frauenroman des 18. Jh. Wien/Lpz. 1919, S. 228 f. u. passim. – Edith Krull: Das Wirken der Frau im frühen dt. Zeitschriftenwesen. Diss. Bln. 1939, S. 236–276. – Ruth Dawson: And this Shield is Called Self-Reliance. In: German Women in the 18th and 19th Centuries. Hg. Ruth-Ellen Joeres u. Mary Jo Maynes. Bloomington 1986, S. 157–174. – Das Frauenzimmer-Journal: Zur Herausbildung einer journalist. Gattung im 18. Jh. In: Dt. Lit. v. Frauen. Hg. Gisela BrinkerGabler. Bd. 1, Mchn. 1988, S. 452–468. – Helga Madland: An Introduction to the Works and Life of M. E. In: Lessing Yearbook 21 (1989), S. 171–196. – Helga Gallas u. Magdalena Heuser: Untersuchungen zum Roman v. Frauen um 1800. Tüb. 1990, S. 52–65. – Karin Wurst: Frauen u. Drama im 18. Jh. Köln/Wien 1991, S. 78–86. – H. Madland: Gender and the German Literary Canon. In: Monatshefte 84 (1992), S. 405–416. – Maya Widmer: Mit spitzer Feder gegen Vorurteile u. gallsüchtige Moral. In: Und schrieb u. schrieb wie ein Tiger aus dem Busch. Über Schriftstellerinnen in der deutschsprachigen Schweiz. Hg. Elisabeth Ryter u. a. Zürich 1994, S. 52–69. – Ulrike BöhmelFischera: Keine eigentl. Schulgelehrsamkeit. M. E.s Begriff der Denkerin. In: Querelles: Jb. für Frauenforsch. 1996, S. 142–157. – Britt-Angela Kirstein: M. E.: Publizistin u. Herausgeberin im ausgehenden 18. Jh. Wiesb. 1997. – H. Madland: M. E.: Reason and Emotion in her Life and Works. New York 1998. – R. Dawson: Confronting the Lords of Creation: M. E. In: The Contested Quill: Literature by Women in Germany, 1770–1800. Newark 2002, S. 221–285. – Maya Gerig: Ein Weib ein Wort. M. E.s literar. Beitrag zur Mündigkeit der Frau in der Aufklärung. Chapel Hill 2002. – Agnes Mueller: Der Aphorismus als grenzüberschreitende Gattung im Geschlechterdiskurs des 18. Jh. In: Akten des X. Internat. Germanistenkongresses Wien 2000. Bd. 6, Bern 2002. – Suzanne Kord: Discursive Dissociations: Women Playwrights as Observers of the Sturm u. Drang. In: Literature of the Sturm u. Drang. Hg. David Hill. Rochester 2003, S. 241–273. – Therese Bichsel: Ihr Herz braucht einen Mann: M. E.-Brentano, Schriftstellerin u. Denkerin. Roman. Oberhofen 2006. Lieselotte Voss / Helga Stipa Madland
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Eich, Günter, auch: Erich Günter, * 1.2. 1907 Lebus/Mark Brandenburg, † 20.12. 1972 Salzburg. – Lyriker, Hörspielautor, Erzähler. E.s Vater war Guts- u. Ziegeleipächter, später Bücherrevisor. 1918 zog die Familie (zwei Söhne) nach Berlin; im selben Jahr starb die Mutter. Nach der Wiederheirat des Vaters besuchte E. das Nikolai-Gymnasium in Leipzig. 1925–1932 studierte er in Berlin, Leipzig, Paris (1929/30) u. wiederum in Berlin Sinologie, zeitweise Jura u. Volkswirtschaft. Unter dem Pseudonym Erich Günter debütierte E. 1927 in der Anthologie jüngster Lyrik (hg. v. Willi Fehse u. Klaus Mann), drei Jahre später erschien ein Band Gedichte (Dresden 1930). Sein erstes Hörspiel entstand 1929 in Gemeinschaftsarbeit mit Martin Raschke (Das Leben und Sterben des Sängers Caruso. Bln. Mittelwellensender 1931). Raschke, dessen Gedächtnis E. 1957 den Gedichtzyklus Fortsetzung des Gesprächs widmete, war Herausgeber der Zeitschrift »Die Kolonne« (Dresden 1930–32); sie führte Autoren zusammen, denen E. auch später verbunden blieb, so Peter Huchel, Hermann Kasack, Horst Lange, Eberhard Meckel u. Oda Schaefer. Hier erschienen von E. Gedichte, Kritiken, das Hörspiel Ein Traum am Edsin-gol (SR 1950) u. auch der Schlussmonolog des Schauspiels Der Präsident, des einzigen dramat. Versuchs, der sich aus der Frühzeit erhalten hat. Das Lustspiel Die Glücksritter (Urauff. 1933; Musik von Mark Lothar. Gedr. in: Ges. Werke. Ffm. 1991) ist eine Bearbeitung der Eichendorff’schen Novelle. Spätere Versuche mit theatral. Formen blieben Fragment oder gingen, wie auch zwei Einakter aus dem letzten Lebensjahr, verloren. Früh verband sich E.s Hang zu szenischer Darstellung mit dem Medium Rundfunk. Bereits in seinen ersten Hörspielen – E. ist einer der Begründer dieser literar. Gattung – nutzte er die Möglichkeiten der Radio-Akustik für »magische« Grenzüberschreitungen u. Überlagerungen verschiedener Zeit- u. Realitätsebenen. Rundfunkarbeit ermöglichte ihm ab 1932 die Existenz eines freien Schriftstellers. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten
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avancierte er zu einem der meistbeschäftigten Rundfunkautoren des »Dritten Reiches«. Zwischen 1933 u. 1940 war er an mehr als 250 Hörfunkproduktionen beteiligt. Im Wechsel mit Martin Raschke schrieb E. 75 je einstündige Folgen der monatlich vom Deutschlandsender ausgestrahlten Reihe Deutscher Kalender. Ein Monatsbild vom Königswusterhäuser Landboten sowie 23 Folgen von Der märkische Kalendermann sagt den neuen Monat an. Diese Hörfolgen stellten in erbaulicher Form den ländl. Brauchtumsgedanken in den Mittelpunkt u. gehörten damit – ohne je manifest propagandistisch zu sein – zur politisch gewünschten, seriell verfassten Idyllenproduktion während des »Dritten Reiches«. Bei den Hörern war der Königswusterhäuser Landbote äußerst beliebt. E. betrachtete diese Beiträge als Erwerbsschreiberei, als reine »Gebrauchsdinge« (Brief an Raschke vom 17.4.1935). Anderes gilt für die teils eigenständigen Hörspiele – von der Weizenkantate (1936) etwa hoffte er, dass sie seinen »Ruhm als Dichter endgültig befestigen« werde (Brief an Ursula Kuhnert vom 18.4.1935). Diese Hoffnung erfüllte sich vorerst nicht. Stattdessen gibt es Hinweise, dass er seiner eigenen Rolle als Konfektionär des Propagandamediums zunehmend kritischer gegenüberstand. 1937 erfand er für die Hörspieladaption von Rudolf Brunngrabers Radium die Figur des Lyrikers Chabanais hinzu, die von Teilen der Forschung als literarisches Selbstporträt gelesen wird: Zunächst verschreibt sich Chabanais als Werbetexter einer skrupellosen Großindustrie, um schließlich aus Scham u. Selbsthass in den afrikan. Urwald zu flüchten. 1939 wurde E. zur Wehrmacht eingezogen. Nachdem Propagandaminister Goebbels 1940 auf einer Rundfunkkonferenz die Autoren in die Pflicht nahm, sich an einer Anti-England-Kampagne zu beteiligen, ließ E. sich vom Militärdienst beurlauben u. schrieb Rebellion in der Goldstadt (Erstsendung 8.5.1940) – ein ebenso antikapitalistisches wie zeitnotorisch-rassist. Hörspiel über den Streik weißer Grubenarbeiter im südafrikan. Johannesburg, die sich gegen ihre britisch-großindustriellen Ausbeuter auflehnen, weil ihnen gleich wenig Lohn ausbezahlt werden soll wie ihren »Nigger«-
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Kumpeln. Rebellion in der Goldstadt blieb E.s letzte Rundfunkarbeit während des »Dritten Reiches«. Seine schon 1935 in »Das innere Reich« erschienene Erzählung Katharina, eine trostlos-schöne Liebesgeschichte, fand als Buch in einer Feldpostausgabe von 1942 (23.32. Aufl.) weiteste Verbreitung. Während des »Dritten Reiches« entstanden nur wenige Gedichte. Als Funker der Luftabwehr geriet E. gegen Kriegsende in amerikan. Gefangenschaft (Lager bei Remagen u. Sinzig). Im selben Jahr entlassen, lebte er bis 1954 in Geisenhausen/Niederbayern. Die 1940 mit Else Burk geschlossene Ehe wurde 1949 geschieden. 1953 heiratete er Ilse Aichinger. Mit den Gedichten aus der Kriegsgefangenschaft begann eine neue Schaffensperiode. Als illusionslose Standortbestimmung eines Einzelnen u. Ausdruck kollektiver Not sind sie beispielhaft für die dt. Nachkriegslyrik. Auch die Beständigkeit literarischer Tradition unterzog E. nun einer skept. Prüfung. So enthält das Gedicht Latrine einen »irren« Nachklang der Andenken-Hymne Hölderlins, dessen Name mit dem Reimwort »Urin« dissoniert. Inventur dürfte, neben Paul Celans Todesfuge, das meistzitierte Gedicht der dt. Nachkriegsliteratur sein. Diese Gedichte stehen in der Sammlung Abgelegene Gehöfte (Ffm. 1948. Dresden [1996]). Das Bändchen Untergrundbahn (Hbg. 1949) enthält Beispiele einer auf Trauer gestimmten, die Geschichte einbeziehenden Naturlyrik. Ähnlich starken Widerhall wie die Gefangenschafts-Gedichte fand die Erzählung Züge im Nebel (in: »Der Anfang«, 1947). Eine neue Antwort auf die Frage nach der Verantwortung des Schriftstellers »vor der Zeit« gab E. in einem Aufsatz (Der Schriftsteller 1947, aus dem Nachl. 1973 veröffentlicht), der auch die Bedrohung der Menschheit durch die Atombombe bereits mitbedenkt. Durch seine Mitarbeit an der Zeitschrift »Der Ruf« (1946/47. Hg. v. Alfred Andersch u. Hans Werner Richter) fand E. Anschluss an die Gruppe 47, zu deren Gründungsmitgliedern er gehörte. 1950 erhielt er als Erster den Preis der Gruppe 47. Hatte er sich seit 1948 seinen Unterhalt zunächst durch Kinderhörspiele verdient, so wurde er nach dem Erfolg von Geh nicht nach
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El Kuwehd! (BR 1950) zum meistgefragten Hörspielautor der 1950er Jahre. Als ereignishaft empfand man die Erstsendung des Hörspiels Träume (NDR 1951). Fünf Schreckensszenen (Träume als Warnbilder) verbinden sich mit den sie umrahmenden Gedichten zu einem moral. Appell, der sich auch gegen die Wohlstandsmentalität der beginnenden »Wirtschaftswunder«-Epoche richtete. Tausende von Briefschreibern u. Anrufern reagierten verstört u. beleidigt. Bis 1960 schrieb E. jährlich etwa drei Hörspiele, darunter Höhepunkte der Gattung wie Die Andere und ich (SDR 1952; ausgezeichnet mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden 1953), Blick auf Venedig (SWF 1952 u. NDR/BR 1960), Die Mädchen aus Viterbo (SWF 1953), Das Jahr Lazertis (NDR 1954), Allah hat hundert Namen (SWF/BR/RB 1954), Die Brandung vor Setúbal (NDR/BR/HR 1957) u. Festianus, Märtyrer (NDR/BR 1958). Sie sind Beweise großer Sprachkunst u. einer im Religiösen wurzelnden sozialen Verantwortlichkeit. Sie alle variieren das für E.s Dichtung zentrale Motiv der zu überschreitenden Grenze, das sich in den Werken der mittleren Schaffensperiode mit dem Übersetzungsmotiv verbindet. »Übersetzen« ist ein Grundbegriff der E.’schen Poetologie, den die Rede vor den Kriegsblinden (in: Gestalt und Gedanke 2, 1953, S. 37–41) u. die Rede Einige Bemerkungen zum Thema Literatur und Wirklichkeit (in: Akzente 1956, S. 313–315) erläutern: »Wirklichkeit« sei nicht die Voraussetzung, sondern das Ziel seines Schreibens. Als Bedingung des Schriftstellerberufs gilt ihm »die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen«; Auftrag des Dichters sei es, aus dieser Sprache, in der Worte u. Dinge eins seien, zu übersetzen, »ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad von Wirklichkeit«. Mit dieser poetolog. Bedeutung des »Übersetzens« (= magische translatio) verbindet sich eine zweite: über-setzen, transgressio. Diese meint zum einen das Überschreiten der Todesgrenze in metaphys. Räume – z.B. in der Schlussszene von Allah hat hundert Namen oder in dem Gedicht Himbeerranken –, zum anderen einen sozialen Imperativ. So verlässt der Märtyrer Festianus
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den Ort der Seligen, um in der Hölle, die einem modernen Vernichtungslager gleicht, das Leid der Verdammten zu teilen. Das Motiv der Grenzüberschreitung verbindet bei E. eine naturmagische, dem romant. »Urtext«Gedanken verpflichtete Sprach- u. Dichtungskonzeption mit den Forderungen einer littérature engagée. Die Einheit dieser beiden Tendenzen kennzeichnet auch den für die mittlere Schaffensperiode repräsentativen Gedichtband Botschaften des Regens (Ffm. 1955 u. ö. Sonderausg. 1996). An der Gründung der Zeitschrift »Akzente« (1953 ff.) durch Walter Höllerer war E. wesentlich beteiligt. Seit 1955 unternahm er zahlreiche Auslandsreisen, meist zu Lesungen in Goethe-Instituten. China war damals unerreichbar, umso wichtiger wurde für den gelernten Sinologen die Begegnung mit Japan (1962). Sie klingt im Titel des Gedichtbands Anlässe und Steingärten (Ffm. 1966) nach u. dürfte E.s Neigung zu wortkarger Lyrik verstärkt haben. Es gibt von E. etwa 100 Nachdichtungen klassischer chines. Gedichte (1949 bis 1952). Die Rede zur Verleihung des Georg-BüchnerPreises (in: Jb. der dt. Akademie für Sprache u. Dichtung, 1959, S. 170–182) handelt von der Macht u. der von ihr gelenkten Sprache. Mit dem »Ressentiment eines anarchischen Instinktes« bestand E. »unbelehrbar darauf, daß sie [die Macht] eine Institution des Bösen« sei. Als die »abscheulichste Sprachlenkung« galt ihm die konfessionelle: »Von Gott kann man nur sprechen, wenn man weiß, was Sprache ist [...]. Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und als Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien.« Im Rückblick liest sich diese Rede wie eine Vorbotin jener allg. Politisierung der Literatur, die sich synchron zur polit. Entwicklung in der Bundesrepublik zwischen dem Bundestagswahlkampf 1961 u. der Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 vollzog. E., der sich am Ostermarsch 1968 in Ulm beteiligte, hat diese Politisierung gleichwohl nicht mitvollzogen.
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Auf der letzten, von demonstrierenden Studenten unterbrochenen Tagung der Gruppe 47 (Pulvermühle bei Erlangen 1967) las er zum ersten Mal aus jenen Texten, die 1968 u. d. T. Maulwürfe (Ffm. u. ö. Zuletzt Ffm./Lpz. 2006) erschienen. Eine zweite Sammlung Ein Tibeter in meinem Büro (Ffm.) folgte 1970. In diesen Maul-Würfen, einer Art Prosagedichten, lassen sich Tiefsinn u. Nonsens, Empörung u. Resignation nicht mehr unterscheiden. Ein Nachwort von König Midas ist eine Schmäh- u. Narrenrede gegen Apollon, dessen Gesang so »böse« ist wie die Macht, der er dient. Alle Sympathie gilt dem besiegten Marsyas, dessen vergeblicher Gegengesang einen Augenblick lang die Hierarchien der Götter u. Menschen erschüttert. In Äquinoktium, einem anderen Schlüsseltext zum Verständnis des Spätwerks, wird der »rötliche Schimmer im Schwarz unserer Katze« zur Epiphanie einer Gleichgültigkeit von Schweigen u. Reden, Wahrheit u. Lüge, Schönheit u. Furunkulose. In der Kulturkrise nach 1968 wurden die Maulwürfe als Beispiele einer Selbstzerstörung der »schönen Literatur« rezipiert. Später verstand man sie als »Rettung der Poesie im Unsinn«. Mit großer Konsequenz hatte sich E.s »Ressentiment eines anarchischen Instinktes« seit dem Frühwerk über die Gedichte u. Hörspiele der mittleren Schaffensperiode zum Spätwerk hin radikalisiert. Bereits in Gedichten des Bandes Zu den Akten (Ffm. 1964), der die Lyrik der späten 1950er u. frühen 1960er Jahre enthält, deutete sich diese Radikalisierung an. Das Hörspiel Man bittet zu läuten (NDR/BR 1964) – 13 Monologe mit taubstummen Gesprächspartnern nebst einem Intermezzo/Die Stimmen der Pilzfeinde – ist bereits ganz in der Haltung der Maulwürfe geschrieben. Diese Haltung hat E. 1971 in einem Interview als den Ausdruck einer Opposition gegen »das Establishment, nicht nur in der Gesellschaft, sondern in der ganzen Schöpfung«, als ein politisches u. religiöses »Nichtmehreinverstandensein« erklärt. Sein letztes Hörspiel Zeit und Kartoffeln (SWF/HR/NDR 1972) ist über die Gestalt Johann Gottfried Seumes, einer Identifikationsfigur des späten E., mit den im Sterbejahr
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erschienenen zwölf Gedichten Nach Seumes Papieren (Darmst. 1972) verbunden. Erste Symptome einer Herzkrankheit hatten sich bereits 1968 gezeigt. E. starb 1972 in einer Salzburger Klinik. Das gewünschte Grab neben dem Anarchisten Bakunin in Bern hat er nicht bekommen; seine Asche wurde am Bieler See, nahe Alfermée, verstreut. Weitere Werke: Marionettenspiele. Ffm. 1964. – Fünfzehn Hörspiele. Ffm. 1966. 91995. – Aus dem Chines. Ffm. 1976 (Übers.). – Der 29. Febr. Ein Märchen. Ffm. 1978. – G. E. liest Gedichte, ›Maulwürfe‹, Reden. Ffm. 1974 (Schallplatte). – Die Rebellion in der Goldstadt. Hg. Karl Karst. Tonkassette, Text u. Material. Ffm. 1997. Ausgaben: G. E. Ein Lesebuch. Ffm. 1972. – Gedichte. Ausgew. v. Ilse Aichinger. Ffm. 1973. – Ges. Werke. Rev. Ausg. Hg. Axel Vieregg u. a. Bde. 1–4, Ffm. 1991. – Briefw. mit Alfred Andersch. Hg. Jörg Döring, David Oels u. a. In: Berliner H.e 7 (2005), S. 7–74. – Sämtl. Gedichte. Auf der Grundlage der Ausg. v. A. Vieregg hg. v. Jörg Drews. Ffm. 2006. Literatur: Walter Höllerer: Rede auf den Preisträger des Georg-Büchner-Preises 1959. In Jb. der dt. Akademie für Sprache u. Dichtung (1959), S. 155–169. – Susanne Müller-Hanpft (Hg.): Über G. E. Ffm. 1970 (mit Bibliogr.). – Dies.: Lyrik u. Rezeption. Das Beispiel G. E. Mchn. 1972. – Siegfried Unseld (Hg.): G. E. zum Gedächtnis. Nachrufe bekannter Autoren. Ffm. 1973. – Heinz F. Schafroth: G. E. Mchn. 1976. – Gerhard Sauder: Anfänge des neuen E. In: FS Arthur Henkel. Heidelb. 1977, S. 333–350. – Stefan Bodo Würffel: Das dt. Hörsp. Stgt. 1978, S. 79–105. – Heinrich Georg Briner: Naturmystik, Biolog. Pessimismus, Ketzertum. G. E.s Werk im Spannungsfeld der Theodizee. Bonn 1978. – G. E. In: Text + Kritik 5, 31979 (mit Bibliogr.). – Peter Horst Neumann: Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist G. E. Stgt. 1981. – Michael Kohlenbach: G. E.s späte Prosa. Bonn 1982. – Eckhart Conrad Lutz: Vom Dummling, der Eidechse, der Kunst u. der Anarchie. Über G. E.s Umgang mit der Wirklichkeit. In: Poetica 15 (1983), S. 108–143. – Hans-Jürgen Heise: Vermessungsstäbe bilden den Gottesbegriff. Scheer [Leonberg] 1985. – Rudolf Käser: Zeichenmagie u. Sprachkritik in einem frühen Prosatext G. E.s. In: Sprachkunst 16 (1985), S. 202–220. – Joachim W. Storck (Bearb.): G. E. In: Marbacher Magazin 45, 1988 (zur Biogr.). – Glenn R. Cuomo: Career at the cost of compromise: G. E.’s life and work in the years 1933–45. Amsterd./Atlanta 1989. – Michael
Eichendorff
217 Oppermann: Innere u. äußere Wirklichkeit im Hörspielwerk G. E.s. Mchn. 1990. – Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. G. E.s Realitäten 1933–45. Eggingen 1993. – Ders. (Hg.): ›Unsere Sünden sind Maulwürfe‹ – Die G. E.-Debatte. Amsterd. 1996. – Joachim Storck: Anatomie einer Denunziation: Der ›Fall‹ G. E. In: FS Horst Meixner. Ffm. 1996, S. 156–182. – Hans-Ulrich Wagner: G. E. u. der Rundfunk: Ess. u. Dokumentation. Potsdam 1999. – Justus Fetscher: Das Empire bläst Saxophon. Text u. Kontext v. G. E.’s ›Rebellion in der Goldstadt‹. In: WB 45 (1999), S. 584–597. – Peter Walther (Hg.): G. E. Nach dem Ende der Biogr. Bln. 2000. – Jürgen Joachimsthaler: G. E. im bundesrepublikan. Kontext. In: Geist u. Macht. Hg. Marek Zybura. Dresden 2002, S. 255–285. – Roland Berbig: Mit Galle über Macht u. Sprache. E.s Büchnerpreisrede 1959 – v. der Hs. zum Druck. In: Berliner H.e 7 (2005), S. 264–286. Peter Horst Neumann / Jörg Döring
Eich, Johannes von ! Johannes von Eich Eichendorff, Joseph (Karl Benedikt) Frhr. von, * 10.3.1788 Schloss Lubowitz bei Ratibor/Oberschlesien, † 26.11.1857 Neisse/Schlesien; Grabstätte: ebd., Friedhof St. Jerusalem. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Publizist, Literarhistoriker u. Übersetzer. E. entstammte einer kath. Adelsfamilie. Nach dem Besuch des kath. Gymnasiums in Breslau 1801–1803 u. der Universität Breslau 1803–1805 begann er ein Jurastudium in Halle 1805/06, das er nach einer für seine dichter. Entwicklung wichtigen Reise in den Harz u. an die Nordsee 1805 in Heidelberg 1807/08 fortsetzte; hier hatte er Kontakt mit dem Dichter u. Novalis-Verehrer Otto Heinrich Graf von Loeben u. ließ sich von Görres’ Ästhetik-Vorlesungen u. der Lektüre von Des Knaben Wunderhorn faszinieren. Nach kurzen Bildungsreisen nach Paris u. Wien kehrte er 1808 nach Lubowitz zurück, um den Vater bei der Verwaltung der zunehmend verschuldeten Güter zu unterstützen. Den Winter 1809/10 verbrachte E. in Berlin, wo er mit Arnim, Brentano u. Adam Müller zusammenkam u. Vorlesungen bei Fichte besuchte. 1810 ging er nach Wien, um die für den Eintritt in den österr. Staatsdienst erforderlichen Jura-Prüfungen abzulegen; er wurde
bekannt mit Friedrich u. Dorothea Schlegel, hörte 1812 Friedrich Schlegels Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur, die für sein Poesieverständnis entscheidend waren, u. befreundete sich mit Dorotheas Sohn, dem Maler Philipp Veit. 1813–1815 nahm E. zunächst als Lützow’scher Jäger, dann als Infanterieoffizier u. 1815 als Landwehroffizier an den Befreiungskriegen teil. Durch Fouqués Vermittlung erschien 1815 in Nürnberg E.s erster Roman Ahnung und Gegenwart. Im selben Jahr heiratete er Aloysia (Luise) von Larisch. 1816 erfolgte sein Eintritt in den preuß. Staatsdienst als Referendar in Breslau. 1821 übernahm E. die ihm vom preuß. Minister Altenstein anvertraute Stelle eines kath. Kirchen- u. Schulrats in Danzig u. wurde enger Mitarbeiter Heinrich Theodor von Schöns, unter dessen Leitung er sich mit dem Wiederaufbau der Marienburg, des Schlosses des Deutschen Ritterordens, befasste u. mit dem er 1824 als Oberpräsidialrat nach Königsberg versetzt wurde. 1826 erschien Aus dem Leben eines Taugenichts in Berlin, wo E. bei Aufenthalten Umgang mit Alexis, Chamisso, Hitzig u. a. pflegte u. in die »Mittwochs-Gesellschaft« aufgenommen wurde. 1831 übersiedelte er mit seiner Familie dorthin; er wurde in verschiedenen Ministerien beschäftigt, die Suche nach einer festen Anstellung blieb jedoch bis zu seiner Ernennung zum Geheimen Regierungsrat 1841 vergeblich. Nachdem 1837 in Berlin die erste Ausgabe der Gedichte (41856) E.s erschienen war, folgte 1841/42 die seiner Werke (4 Bde., Bln.). 1842/43 war er mit dem Projekt des Kölner Dombaus befasst. 1844 wurde seinem Pensionsgesuch stattgegeben. In Wien machte er 1846/47 die Bekanntschaft mit Robert u. Clara Schumann, auch mit Grillparzer, Stifter u. a. 1853 erhielt er den bayer. Maximilianorden. Kurz nach der Übersiedlung 1855 nach Neisse starb seine Frau. Als letztes größeres Werk publizierte er eine zweibändige Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (Paderb. 1857. recte 1856). Neben Hoffmann ist E. der bedeutendste Vertreter der dt. Spätromantik. Im deutschsprachigen Raum ist er der bekannteste Dichter der Romantik überhaupt. Sein Ruhm basiert allerdings auf sehr schmaler Grund-
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lage: Seine Gedichte u. die Erzählung Aus dem Leben eines Taugenichts erlebten immer wieder Neuauflagen, während sein übriges Schaffen weitgehend ausgeklammert wurde. Diese Auswahl, die schon um 1840 feststand, begünstigte die Klischeevorstellungen, die über ein Jahrhundert die E.-Rezeption bestimmten. Er galt als naiver Volksdichter, seine Dichtung als unmittelbarer Ausdruck der Natur u. der Volksseele; ihr Kunstcharakter u. speziell der Verweisungscharakter ihrer Bildersprache wurden übersehen. Erst die neuere E.-Forschung hat auf die Symbolkraft u. Vielschichtigkeit seines Werks aufmerksam gemacht. Die wichtigsten Einflüsse auf sein Denken u. sein Dichtungsverständnis bezog E. von Friedrich Schlegel, Görres u. Arnim. Für Motive, Wortschatz u. Gestaltung seiner Werke waren u. a. Goethe, Novalis, Arnim u. Tieck, für seine Lyrik bes. der volksliedhafte Ton von Des Knaben Wunderhorn von Bedeutung. Als Spätromantiker übernahm E. vorgeprägte Bilder u. Topoi, die aber nicht nur auf Lektüre, sondern auch auf eigene, in seinen 1800–1817 geführten Tagebüchern festgehaltene Natur- u. Jugenderlebnisse zurückgehen. Das zunehmend Unzeitgemäße seiner Schreibweise war ihm dabei sehr wohl bewusst; bezeichnenderweise ist das »zu spät« ein Hauptmotiv seines Werks. Nicht allein angesichts seiner Stellung innerhalb der literar. Entwicklung in Deutschland, auch in der sozialen Situation eines landlosen Adligen im Zeitalter der Revolutionen u. der beginnenden Industrialisierung sowie als gläubiger Katholik in einer Epoche fortschreitender Säkularisation begriff sich E. als ein Zu-spät-Gekommener. Gerade dieses Bewusstsein bewahrte ihn aber vor bloßem Epigonentum u. half ihm, den unverwechselbaren Ton seiner reifen Dichtung zu finden. Dieser Ton, der sich erst 1808–1810 etabliert, wird von einer relativ beschränkten Anzahl immer wiederkehrender Wörter u. Bilder getragen. Adjektive wie »lustig«, »anmutig«, »prächtig«, »still«, Substantive (oft im Plural) wie »Berg«, »Wald«, »Strom«, »Tal«, kommen in E.s ganzem Œuvre, nicht nur in der Lyrik vor. Sie werden oft, aber et-
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was irreführend als »Formeln« bezeichnet, denn sie sind nicht nach Belieben austauschbar, sondern haben einen bestimmten Stellenwert im jeweiligen Kontext. Da viele von ihnen einer jahrtausendealten, sowohl volkstüml. als auch religiösen Tradition entstammen, erwecken sie im Leser Assoziationen, die sich keineswegs willkürlich ergeben. Sie schaffen ein Netz symbolischer Bezüge, die über sich hinausweisen auf eine hinter der empir. Realität liegende Transzendenz. Diese symbol. Tendenz verbindet E. mit anderen Romantikern; was ihn unterscheidet, ist die eindeutig christlich-kath. Prägung seiner Vorstellungswelt. Wie Novalis, Wackenroder u. Tieck sah er Natur u. menschliches Leben als rätselhafte »Hieroglyphenschrift«; zgl. sind beide aber göttl. Ursprungs u. verweisen auf ihren Schöpfer. Der Künstler hat die Aufgabe, die Schöpfung im christl. Sinn zu deuten u. in »hieroglyphischen« Bildern auszudrücken, die wiederum vom Leser, der »mit und über dem Buche dichten« soll (Ahnung und Gegenwart), gedeutet werden müssen. Die schöpfer. Mitarbeit des Lesers am Deutungsprozess ist unerlässlich, denn E.s Bilder, wenn auch vielfach emblemat. Ursprungs, weisen nur indirekt auf ihre immanente Bedeutung hin. Im Gegensatz zum Emblem sind sie verschlüsselt, weil ihrem Wahrheitsgehalt keine geschichtl. Wirklichkeit mehr entspricht. Aus demselben Grund ist E., obwohl Heimat ein zentraler Begriff seines Werks ist, »kein Dichter der Heimat, sondern der des Heimwehs« (Adorno). E. teilt das triad. Geschichtsbewusstsein der Romantik, d.h. einerseits die Vorstellung einer verlorenen u. wiederzugewinnenden paradiesischen Urzeit, andererseits die Auffassung der Gegenwart als Zeit der Entzweiung u. Verwirrung. Der Verlust seiner Heimat – Lubowitz wurde 1823 zwangsversteigert – verschmilzt in seinem Werk mit diesem romant. Topos, den er im heilsgeschichtl. Sinn interpretiert. Heimat ist ihm ein verlorener oder noch zu erreichender Zustand der Freiheit u. Erfüllung, von dem die Heimat der Kindheit nur ein Gleichnis ist. Sehnsucht, ein weiteres Hauptmotiv seines Werks, u. das verwandte Motiv des Wanderns haben diesen Zustand als
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Endziel. Für E. ist der Mensch homo viator, ein Reisender durch diese Welt auf dem Weg zum ewigen Zuhause. Er ist zgl., in der Tradition des christl. MA u. des Barock, Akteur auf der Weltbühne, auf der jeder sich in der ihm von Gott zugewiesenen Rolle zu bewähren hat. Nach E.s Überzeugung ist die Welt aber keineswegs nur Kulisse: sie besitzt Eigenwert, u. wie der Mensch ist auch sie erlösungsbedürftig. Der Dichter fördert die Erlösung der Welt, indem er ihre »Hieroglyphenschrift« deutet oder, wie es in dem bekannten Gedicht Wünschelrute heißt, das »Lied«, das »in allen Dingen schläft«, erweckt. Doch läuft er gleichzeitig Gefahr, ihrer Dämonie zu verfallen, wenn er sie von ihrem göttl. Ursprung trennt u. damit verendlicht. Diese Gefahr droht nach E.s Überzeugung bes. dem romant. Dichter; die Neigung, die poet. Imagination zu verabsolutieren, führe zum Verlust des Selbst an die dämon. Kräfte des Innern. Dieses Thema wird durch die vielen Venusgestalten in E.s Werk, v. a. in der Erzählung Das Marmorbild (1818 in Fouqués »Frauentaschenbuch für das Jahr 1819«), veranschaulicht. Die zerstörerischen Kräfte des Subjektivismus sieht E. ebenfalls in der Französischen Revolution am Werk (vgl. seine Erzählung Das Schloß Dürande. 1836 in: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1837). Doch unterzieht E. den Adel ebenfalls heftiger Kritik. Wie die meisten Romantiker versuchte sich E. in mehreren literar. Gattungen. Er schrieb nicht nur Lyrik u. Erzählungen, sondern auch Romane, Dramen u. Versepen. Nach 1840 u. bes. nach seiner Pensionierung widmete er sich hauptsächlich Übersetzungen aus der span. Literatur, v. a. Calderóns, u. literarhistor. u. polit. Schriften. Diese Arbeiten, die am wenigsten bekannten seines Gesamtwerks, machen jedoch dessen umfangreichsten Teil aus u. sind für das Verständnis seines poet. Werks von erheblicher Bedeutung. Durch sie wie durch seine eigene dichter. Produktion wollte er auf das Leben seiner Zeit wirken, die Kluft zwischen Leben u. Dichtung überbrücken. Romantische Exzesse u. Philistertum bekämpfte er durch Satire u. Ironie sowie durch die Polemik seiner späten Schriften. Im Gebrauch dieser rhetor. Mittel ist er trotz al-
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ler weltanschaul. Unterschiede Heine verwandt, zu dessen Romantischer Schule seine literarhistor. Schriften ein kath. Gegenstück bilden. Der Roman Ahnung und Gegenwart entstand in den Jahren 1810–1812 in Wien. Wegen seiner – wenn auch indirekten – Anspielungen auf aktuelle Ereignisse fand er jedoch erst 1815 einen Verleger. Unter den veränderten Umständen der Nachkriegszeit schien der Roman nicht mehr aktuell u. erregte wenig Aufmerksamkeit; er kam »zu spät«. Dennoch gilt er als eines der bedeutendsten Werke E.s. Er steht in der Tradition des romant. Romans mit Anklängen an Romane von Tieck, Arnim, Brentano, Dorothea Schlegel u. a. Bes. wichtig ist der Einfluss der Poetik Friedrich Schlegels. Einem von E. selbst verfassten Vorwort zufolge, das Fouqué – als Herausgeber – fast wörtlich übernahm, soll der Roman »ein getreues Bild jener Gewitterschwülen Zeit der Erwartung, der Sehnsucht und Verwirrung« vor Ausbruch der Befreiungskriege sein. Er will aber kein mimetisches Porträt der Zeit geben. Vielmehr versucht er, ein strukturelles u. symbol. Äquivalent sowohl der Verwirrung dieser Zeit, wie E. sie auffasste, als auch der zugrunde liegenden Ordnung des Universums zu schaffen, die er durch den göttl. Heilsplan garantiert sah. Gemäß der romant. Auffassung des Lebens als ständig erneuerter triad. Bewegung, in welcher polare Gegensätze zu einer höheren Einheit verbunden werden, ist der Roman in drei Bücher unterteilt. Das erste u. das dritte Buch spielen auf dem Land, das im Allgemeinen positive Werte verkörpert, das zweite in der Stadt (»Residenz«), die den negativen Pol darstellt. Bes. im zweiten Buch entfaltet E. seine Zeitu. Gesellschaftskritik als Kritik an der geistigen Elite Deutschlands u. als Aufruf an den Adel, die Verantwortung für die religiöse, moral. u. geistige Erneuerung der Nation zu übernehmen. Die Charaktere stehen in jeweils unterschiedlicher Beziehung zu den Hauptthemen des Romans, dem Verhältnis zwischen Kunst (Poesie) u. Leben sowie zwischen Gegenwart u. »alter, schöner Zeit«. Vor allem an ihrer Haltung der Dichtung gegenüber lässt sich der Grad ihres Engagements für christlich-ethische Werte ablesen. Der
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Aufbruch Graf Friedrichs, des Haupthelden, am Anfang des Romans steht im Zeichen der aufgehenden Sonne, Symbol des Lebens, der Hoffnung u. Erlösung, aber auch im Zeichen des Konflikts u. der Gefahr. Der Strudel u. das Kreuz auf dem Felsen, an denen sein Schiff auf dem Strom vorüberfährt, bezeichnen die beiden Pole, zwischen denen Leben u. Geschichte sich bewegen. Sie stehen in dialektischem Verhältnis zueinander: Der eine Pol bedeutet Selbstverlust durch Selbstverstrickung, der andere Selbstfindung durch Selbstaufgabe, wie sie im Traum Friedrichs fast genau in der Mitte des Romans (Kap. 14) durch die Worte des Christkindes angedeutet wird: »Liebst du mich recht, so gehe mit mir unter, als Sonne wirst du dann wieder aufgehen, und die Welt ist frei!« Dieser Traum bereitet seinen Entschluss vor, nach einer Reihe enttäuschender Erfahrungen, die mit seiner Teilnahme am missglückten Freiheitskampf enden, in ein Kloster zu gehen, um dort, da die Zeit zum Handeln noch nicht reif ist, durch Rückbesinnung auf die Werte der Vergangenheit u. der Religion eine bessere Zukunft vorzubereiten. Vorher hat er seine Heimat u. seinen »dunklen« Bruder Rudolf wiedergefunden u. dadurch die Rätsel seiner eigenen Existenz gelöst. Friedrichs Freund Leontin wandert mit seiner Frau Julie nach Amerika aus, um sich dort in der noch unberührten Natur ebenfalls für eine bessere Zukunft zu rüsten. Nur der Berufsdichter Faber, der Leben u. Poesie säuberlich zu trennen versteht, darf am Ende »in das blitzende, buntbewegte Leben« hinausziehen. Nach einem Schlusstableau, welches die Vertreter der verschiedenen Richtungen zum letzten Mal vereinigt, endet der Roman, wie er begonnen hatte: mit dem Sonnenaufgang. Einige der bekanntesten Gedichte E.s sind als lyr. Einlagen in den Prosatext eingewoben. Durch die Gattungsmischung u. die Naturbilder sowie den ständigen Bezug der Gegenwart auf Vergangenheit u. Zukunft weist der Roman auf die verborgene Einheit der Schöpfung hin. Er schafft aus »Ahnung und Erinnerung eine neue Welt«, die dem Leser die verworrene u. unfreie Gegenwart überwinden helfen soll.
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E.s berühmteste Erzählung, Aus dem Leben eines Taugenichts, entstand wahrscheinlich zwischen 1817 u. 1825, als E. von wirtschaftlichen u. familiären Sorgen bedrängt war. Die Geschichte vom Müllerjungen, der mit seiner Geige in die Welt zieht, um sein Glück zu machen, scheint der Lebensweise seines Schöpfers diametral entgegengesetzt; es wäre jedoch verfehlt, die Erzählung als Flucht vor der Realität zu sehen. Eher ist sie als bewusster Protest zu verstehen, als Gegenbild der Lebensumstände E.s, aber auch der gesamten gesellschaftl. Wirklichkeit seiner Zeit. Die Ichform der Erzählung zwingt den Leser, alles mit den Augen des naiven, kindl. Helden zu sehen; um sich der zeitkrit. Dimension der Erzählung voll bewusst zu werden, muss man jedoch zgl. den überlegenen Standpunkt des Autors mit seinen satirischen, iron. u. parodist. Anspielungen nachvollziehen. Die Gegensätze von »Glück« u. »Brot«, von menschenwürdigem Leben u. philisterhaftem Dasein durchziehen die gesamte Geschichte u. wirken strukturbildend. Die erste Liedeinlage, Wem Gott will rechte Gunst erweisen, konfrontiert die beiden Existenzarten miteinander u. bezeichnet paradoxerweise diejenigen, die »nur vom Kinderwiegen, von Sorgen, Last und Not um Brot« wissen, als »die Trägen«, während der Taugenichts, der »den lieben Gott nur walten« lässt, als der Aktive erscheint. Wie in Ahnung und Gegenwart spiegelt die verworrene Handlung die Verwirrung der Welt wider; das Ende ist jedoch märchenhaft: Der Taugenichts heiratet seine »schöne, gnädige Frau«, die sich als Portiersnichte entpuppt, »und es war alles, alles gut«. Dieses Ende negiert den krit. Impuls der Erzählung jedoch keineswegs. Die erste selbständige Lyriksammlung E.s enthält die Mehrheit seiner bis 1837 entstandenen Gedichte. Sie gliedern sich in die sieben Zyklen Wanderlieder, Sängerleben, Zeitlieder, Frühling und Liebe, Totenopfer, Geistliche Gedichte u. Romanzen. Für die Gedichtausgabe der Werke von 1841 wurde eine achte Gruppe (Aus dem Spanischen) hinzugefügt. Wieweit E. selbst an beiden Ausgaben mitwirkte, ist ungewiss. Viele der Gedichte waren schon in Almanachen oder eingefügt in sein Erzähl-
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werk erschienen: Der veränderte Kontext ergibt zwangsläufig Bedeutungsverschiebungen. E.s erste Gedichte sind von der Frühromantik u. Loeben beeinflusst. Die Formen (Sonett, Canzone usw.) stammen aus der ital. u. span. Tradition. Erst 1808/09 treten diese Formen unter dem Einfluss von Des Knaben Wunderhorn zugunsten der vierzeiligen »Volksliedstrophe«, die durch einfache Syntax u. Sangbarkeit gekennzeichnet ist, zurück. Wie keinem anderen Romantiker gelingt es E., diese lyr. Tradition zum Träger tiefer religiöser Bedeutungsgehalte zu machen. Andererseits behandeln mehrere Gedichte das Thema der Verführung durch dämonisierte Naturkräfte, die oft durch weibl. Figuren personifiziert werden. E. ist einer der meistvertonten dt. Dichter. Durch Vertonungen haben viele seiner Gedichte (In einem kühlen Grunde; O Täler weit, o Höhen; Der Jäger Abschied u. a.) eine weitgehend anonyme Popularität erreicht. Auf dem Gebiet des Kunstlieds haben sie internat. Ruhm erlangt. Das gilt auch für den Taugenichts, der in alle größeren Weltsprachen übersetzt wurde. Ansonsten ist E., dessen Wirkung auf die dt. Kultur u. Dichtung sowie das dt. Selbstverständnis kaum zu überschätzen ist, im Ausland weniger bekannt als manche seiner dt. Zeitgenossen. Der Anstoß aber, den Kierkegaards Denken u. speziell seine Romantikkritik von E.s späteren erzählerischen Werken, bes. der satir. Novelle Viel Lärmen um Nichts (zuerst in: Der Gesellschafter. 1832. Dann Bln. 1833; zus. mit Brentanos Wehmüller) u. dem Roman Dichter und ihre Gesellen (Bln. 1834) erhielt, sichert E.s. geistesgeschichtl. Bedeutung über die Moderne hinaus u. relativiert sein eigenes Selbstverständnis als ein Zu-spät-Gekommener. Außerdem ermöglichen neu entdecktes biogr. Material u. mehrere seit 1945 verschollene, in den letzten Jahren wieder aufgetauchte Handschriften einen vollständigeren Einblick in E.s Leben u. Schaffen als je zuvor. Ausgaben: Gesamtausgaben: Sämmtl. Werke. 2. Aufl. Hg. Hermann v. Eichendorff. 6 Bde., Lpz. 1864 (= SW). – Vermischte Schr.en. 5 Bde., Paderb. 1866/67 (= VS; Ergänzungen zu SW). – Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ausg. Hg. Wilhelm Kosch u. August Sauer. Fortgeführt v. Hermann Kunisch u.
Eichendorff Helmut Koopmann. Auf 25 Bde. geplant. Regensb. 1908 ff. Stgt. 1975 ff. – Neue Gesamtausg. der Werke u. Schr.en. Hg. Gerhart Baumann u. Siegfried Grosse. 4. Bde., Stgt. 1957/58. – Werke. Einf. u. Anmerkungen v. Ansgar Hillach u. Klaus-Dieter Krabiel. 5 Bde., Mchn. 1970–88. – Werke. Hg. Wolfgang Frühwald u. a. 6 Bde., Ffm. 1985–93. – Einzelwerke, Erstausgaben: Krieg den Philistern! Bln. 1824 (D.). – Meierbeths Glück u. Ende. Trag. mit Gesang u. Tanz. Bln. 1827. – Ezelin v. Romano. Königsb. 1828 (Trauersp.). – Der letzte Held v. Marienburg. Königsb. 1830 (Trauersp.). – Die Freier. Stgt. 1833 (Lustsp.). – Die Entführung. In: Urania. Tb. auf das Jahr 1839. 1838 (E.). – Der Graf Lucanor des Don Juan Manuel. Bln. 1840 (Übers.). – Die Glücksritter. In: Rhein. Jb. für Kunst u. Poesie 2, 1841 (E.). – Die Wiederherstellung des Schlosses der dt. Ordensritter zu Marienburg. Königsb./Bln. 1844. – Geistl. Schausp.e v. Don Pedro Calderon de la Barca. 2 Bde., Stgt./Tüb. 1846 u. 1853 (Übers.). – Über die eth. u. religiöse Bedeutung der neueren romant. Poesie in Dtschld. Lpz. 1847. – Der dt. Roman des 18. Jh. in seinem Verhältnis zum Christentum. Lpz. 1851. – Julian. Lpz. 1853 (Versep.). – Zur Gesch. des Dramas. Lpz. 1854. – Robert u. Guiscard. Lpz. 1855 (Versep.). – Lucius. Lpz. 1857 (Versep.). – Eine Meerfahrt. In: SW, Bd. 3 (E.). – Libertas u. ihr Freier. In: SW, Bd. 3. – Auch ich war in Arkadien. In: VS, Bd. 5, 1866 (E.). – Erlebtes. In: VS, Bd. 5, 1866 (Autobiogr.). Literatur: Bibliografie: Hans M. Meyer: E.-Bibliogr. In: Aurora 13 (1953) bis 17 (1957) u. 19 (1959) bis 37 (1977). Fortgesetzt v. Irmela Holtmeier. In: Aurora 38 (1978) bis 64 (2004). – Wolfgang Kron: E.-Bibliogr. In: E. heute. Hg. Paul Stöcklein. Mchn. 1960, S. 280–329. Nachtr.: 1966, S. 330. – Klaus-Dieter Krabiel: J. v. E. Komm. Studienbibliogr. Ffm. 1971. – Robert O. Goebel: Eichendorff’s Scholarly Reception: A Survey. Columbia 1993. – Thomas Lick: E.-Bibliogr. Forschungslit. zu Leben u. Werk J. v. E.s 1926–95. St. Katherinen 1998. – Forschungsberichte: Wolfram Mauser: E.-Lit. 1959–62. In: DU 14 (1962), H. 4, Beilage, S. 1–12. – Ders.: E.-Lit. 1962–67. In: DU 20 (1968), H. 3, Beilage, S. 1–24. – Richard Littlejohns: When is a Romantic not a Romantic? E. Research in the 1980s. In: GLL 42 (1989), S. 181–202. – Kommentar: Ansgar Hillach u. K.-D. Krabiel: E.-Komm. 2 Bde., Mchn. 1971/72. – Kataloge: J. Frhr. v. E. (1788–1857). Leben – Werk – Wirkung. Köln/Dülmen 1983. – Ich bin mit der Revolution geboren. J. v. E. 1788–1857. Ratingen 1988. – Sammelwerke: P. Stöcklein (Hg.): E. heute (s. o.). – Oskar Seidlin: Versuche über E. Gött. 1965. 21978. – Alfred Riemen (Hg.): Ansichten zu E. Beiträge der Forsch.
Eichendorff 1958–88. Sigmaringen 1988. – Gesamtdarstellung: Gerhard Möbus: Der andere E. Osnabr. 1960. – Christoph Wetzel: J. v. E. Salzb. 1982. – Biografisches: Paul Stöcklein: J. v. E. Reinb. 1963 u. ö. – Wolfgang Frühwald: E.-Chronik. Mchn./Wien 1977. – Ders. u. Franz Heiduk: J. v. E. Ffm. 1988. – Günther Schiwy: E. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biogr. Mchn. 2000. – Hermann Korte: J. v. E. Reinb. 2000. – Volkmar Stein: J. v. E. (Deutsch/ Polnisch). Würzb. 2001. – Hartwig Schultz: J. v. E. Eine Biogr. Ffm. 2007. – Allgemeines: Richard Alewyn: Eine Landschaft E.s In: Euph. 51 (1957), S. 42–60. – Theodor W. Adorno: Zum Gedächtnis E.s. In: Akzente 5 (1958), S. 73–95. – Alexander v. Bormann: Natura loquitur. Naturpoesie u. emblemat. Formel bei J. v. E. Tüb. 1968. – Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, E.s. Ffm. 1979. – Hans-Georg Pott (Hg.): E. u. die Spätromantik. Paderb. 1985. – Lyrik: Joseph Nadler: E.s Lyrik. Prag 1908. – Rudolf Haller: E.s Balladenwerk. Bern/Mchn. 1962. – Ursula Regener: Formelsuche. Studien zu E.s lyr. Frühwerk. Tüb. 2001. – Prosa: Josef Kunz: E. Höhepunkt u. Krise der Spätromantik. Oberursel 1951. Darmst. 1967. – Klaus Köhnke: ›Hieroglyphenschrift‹: Untersuchungen zu E.s E.en. Sigmaringen 1986. – Judith Purver: Hindeutung auf das Höhere. A Structural Study of the Novels of J. v. E. Ffm. 1989. – Otto Eberhardt: E.s ›Taugenichts‹: Quellen u. Beziehungshintergrund. Untersuchungen zum poet. Verfahren E.s. Würzb. 2000. – Ders.: E.s E.en ›Das Schloß Dürande‹ u. ›Die Entführung‹ als Beiträge zur Literaturkritik. Untersuchungen zum poet. Verfahren E.s II. Würzb. 2004. – Dramen: Harry Fröhlich: Dramatik des Unbewußten. Zur Autonomieproblematik v. Ich u. Nation in E.s ›historischen‹ Dramen. Tüb. 1998. – Zu Einzelproblemen: Hans Pörnbacher: E. als Beamter. Dortm. 1964. – Hans J. Lüthi: Dichtung u. Dichter bei J. v. E. Bern/Mchn. 1966. – Eberhard Lämmert: E.s Wandel unter den Deutschen. Überlegungen zur Wirkungsgesch. seiner Dichtung. In: Die dt. Romantik. Hg. Hans Steffen. Gött. 1967, S. 219–252. – Peter Krüger: E.s polit. Denken. Würzb. 1969. – Peter P. Schwarz: Aurora. Zur romant. Zeitstruktur bei E. Bad Homburg 1970. – Theresia Sauter Bailliet: Die Frauen im Werke E.s. Bonn 1972. – Martin Hollender: Die polit. u. ideolog. Vereinnahmung J. v. E.s. Einhundert Jahre Rezeptionsgesch. in der Publizistik (1888–1988). Ffm. 1997. – J. Purver: E. Kierkegaard’s Reception of a German Romantic. In: Kierkegaard and his German Contemporaries. Hg. Jon Stewart. Tl. 3, Aldershot u. a. 2007. – Reinhard Siegert (Hg.): Polit. Schr.en E.s. Zur Rechts- u.
222 Staatsphilosophie der späten Romantik. Paderb. 2007. Judith Purver
Eichendorff, Wilhelm Frhr. von, * 14.9. 1786 Schloss Lubowitz bei Ratibor, † 7.1. 1849 Innsbruck; Grabstätte: ebd., Wiltener Friedhof. – Lyriker. E. wuchs in enger Beziehung zu seinem jüngeren Bruder Joseph auf. 1810 gingen die Geschwister nach Wien, um dort – nach gemeinsamem Jurastudium in Halle u. Heidelberg – die Prüfung für den österr. Staatsdienst abzulegen. Im Frühjahr 1813 trennten sich ihre Wege. Während Joseph an den Befreiungskriegen teilnahm, blieb Wilhelm in Wien, schlug die Beamtenlaufbahn ein u. stieg 1827 zum Kreishauptmann von Trient u. k. u. k. wirkl. Gubernialrat auf. 1847 wurde er, da er den revolutionären Bestrebungen der ital. Bevölkerung Trients ungenügende Gegenwehr bot, seines Amtes enthoben u. 1848 nach Innsbruck strafversetzt, wo er bis zu seinem Tod als Gubernialrat an der Tiroler Landesstelle wirkte. Anregungen zu literar. Tätigkeit erhielt E. 1807/08 in Heidelberg von Loeben u. Friedrich Strauß. Erste lyr. Versuche erschienen auf Vermittlung Loebens 1808 in Friedrich Asts »Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst«; es folgten Publikationen in den »Hesperiden« (1816) u. den Aurikeln der Helmina von Chézy (Bln. 1818). E.s stark von der Novalisnachfolge Loebens geprägte Dichtung behandelt romant. Themenkreise wie die Verherrlichung des Göttlichen in der Natur u. die Sehnsucht des Individuums nach transzendenter Erfüllung. Seine literarhistor. Stellung ist durch die enge Bindung an seinen Bruder vermittelt, der nach der Trennung die Geschwisterbeziehung zum Thema mehrerer Gedichte (u.a. in: Zum Abschied an Wilhelm. 1813. Abendlandschaft an Wilhelm. 1814) sowie des Novellenfragments Das Wiedersehen (1816/ 17. Hg. Hermann Kunisch. In: Aurora 25, 1965, S. 7–39) machte. Weitere Werke: Jugendgedichte v. Joseph u. W. v. E. Hg. Raimund Pissin. Bln. 1906. Literatur: Franz Schumacher: W. Frhr. v. E. In: Aurora 5 (1935), S. 58–73. – Christine Schodrock: W. v. E., des Dichters Bruder. In: Aurora 26 (1966),
223 S. 7–21. – Brita v. Schönberg: Das Verhältnis der Brüder E. In: Aurora 28 (1968), S. 36–44. – Franz Heiduk: Die Brüder W. u. Joseph Freiherren v. E. als Studenten an der Leopoldina in Breslau (1803–05). In: Aurora 56 (1996), S. 127–132. – Ders.: Die Freiherren Joseph u. W. v. E. u. die Übernahme ihres Erbes in Mähren: Leh(e)n-Sedlnitz. In: Aurora 65 (2005), S. 201–206. Bernhard Graßl / Red.
Eichholz, Armin, * 19.12.1914 Heidelberg. – Parodist, Erzähler, Literaturkritiker. Durch seine Literaturparodien, die sich hauptsächlich auf Prosawerke der modernen Literatur beziehen, wurde E. nach Robert Neumann zu einem der bedeutendsten Parodisten der Gegenwart neben Peter Rühmkorf u. Karl Hoche. Anders als Rühmkorf, der den parodist. Standpunkt als moderne Möglichkeit des sich seiner Historizität bewussten lyr. Ich nutzt, geht E., ähnlich Neumann u. Hoche, von ästhetisch-literaturkrit. Normen aus, deren Anerkennung den Genuss der Parodie erst ermöglicht, u. steht damit in der Tradition der älteren literatursatir. Parodie. E. wertet seine Parodien als »kritische Paraphrase des Originals« u. damit als »Abart der Literaturkritik« (Vorw. zu: In flagranti. Parodien. Mchn. 1954. 51973. Neuausg. 1990). Sein parodistisches Verfahren benutzt v. a. »partiell karikierende Imitation, gelegentlich auch Substitution« (Wolfgang Gast). E. wurde 1975 mit dem Tukan-Preis der Stadt München, 1982 mit dem Ernst-HoferichterPreis ausgezeichnet. Weitere Werke: Per Saldo. Glossen zur Zeit. Mchn. 1955. – Buch am Spieß. Bücher – Floskeln. Mchn. 1964. – Ich traute meinen Augen. Kulturrevision mit Personen & Pointen. Mchn. 1976. – Heute abend stirbt Hamlet. In: Slg. Münchner Theaterkritiken. Mchn. 1977. – Kennen Sie Plundersweilern? In: Slg. Münchner Theaterkritiken. Mchn. 1977. Christian Schwarz / Red.
Eichholz
Eichholz, Eichholtz, Friedrich Wilhelm, auch: Drymantes, * 18.2.1720 Halberstadt, † 15.5.1800 Halberstadt. – Unterhaltungsschriftsteller, Publizist. Über E.’ Privat- u. Gesellschaftsleben ist nur wenig bekannt. Er veröffentlichte meist anonym u. nicht zum Lebensunterhalt; seine Werke sind unterhaltend, gelegentlich mit pädagogischem Anspruch. E. studierte zunächst Theologie, dann die Rechte in Halle, um 1745 in seiner Geburtsstadt eine Beamtenlaufbahn als Amtsrichter u. Aktuar zu beginnen. Nach ersten Veröffentlichungen (1742, 1746) wurde 1747 in Hamburg Der Leichtsinnige: ein Schäferspiel unter seinem Pseudonym gedruckt. Das Stück, in dem drei Schäfer um zwei Schäferinnen buhlen, hat acht Auftritte, ist in sechshebigen Jamben (mitunter als Alexandriner) geschrieben u. hat durchgängig Reimpaare. 1748 wurde E. Obersalzinspektor des Fürstentums Halberstadt, 1752 kgl. Kriegs- u. Domänenrat. 1755 erschienen Ein kleiner Band voll Allerhand von E. (Ffm./Lpz.) u. Gespräch eines Europäers mit einem Insulaner aus dem Königreiche Dümocala [...] (Ffm./Lpz.). Bes. in diesen beiden Werken zeigen sich E.’ Bildung u. Belesenheit. Ein kleiner Band [...] hat überwiegend satir. Charakter u. enthält teils kom., teils erot. Lyrik u. Kurzprosa. Bei den Gedichten zeigt sich wieder E.’ Vorliebe für Reim (Reimpaar, Schweifreim) u. Jambus (sechshebig, auch als Alexandriner, Knittelvers). Sein wichtigstes Werk ist das Gespräch eines Europäers, das in seinen drei Teilen ein Staatsmodell entwirft. In diesem »kleinen Roman« geht es um Politik, Moral u. darum, wie eine weise u. aufgeklärte Staatsklugheit erreicht werden kann, wobei dem Verfasser seine berufl. Erfahrung im Kriegs-, Justiz- u. Finanzwesen sowie seine theolog. Kenntnisse zugute kamen. Dabei wählte E. das alte Motiv des edlen Wilden (hier ein Brahmane), der auf einer Insel im Indischen Ozean in einem idealen Staat lebt. 1784 erschien in Halberstadt E.’ Biografie des Fabeldichters u. Rechtsgelehrten Magnus Gottfried Lichtwer, dessen Freund er war (M. G. Lichtwers Leben und Verdienste; nebst einigen
Eichhorn
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Beilagen). Ab 1785 schrieb er zahlreiche gelehrte u. heimatkundl. Artikel für die »Halberstädtischen gemeinnützigen Blätter« u. auch für die »Berlinische« u. die »Teutsche Monatsschrift«. 1787 avancierte E. zum ersten Direktor der Kriegs- u. Domänenkammer zu Halberstadt. Weitere Werke: Der Bürger; eine Wochenschr. Halberst. 1779/80. – Handwerkslieder. Lpz., Dessau 1783. – Neue Vaterländ. Blumenlese für Teutschlands Musensöhne. Halle 1796. Andrea Ehlert / Red.
Eichhorn, Hans, * 13.2.1956 Vöcklabruck/ Oberösterreich. – Lyriker u. Prosaschriftsteller, Verfasser eines Oratoriums.
des sicher zu sein glaubt, u. zgl. Versuch, für die Diskussion von Wols’ ästhetischer Praxis einen angemessenen sprachl. Ausdruck zu finden. Anerkennung fand E.s Arbeit durch Auszeichnungen u. Stipendien, u. a. das Rauriser Arbeitsstipendium für Literatur (1984) u. den Preis der Literaturzeitschrift »manuskripte« (1999). Weitere Werke: Der Umweg. Personen. Gegenstände. Prosa-Miniaturen. Weitra 1994. – Der Ruf. Die Reise. Das Wasser. Salzb./Wien 1995 (P.). – Höllengebirge. Prosa-Miniaturen. Wien 1995. – abfischen. Ein Oratorium. Mit Fotos v. Kurt Kaindl. Salzb. 1997. – Köpfemachen. Weitra 1997 (E.). – Petruskomplex. Salzb./Wien 1998 (L.). – Plankton. Szenen. Mikrogramme. Weitra 1999. – Im Weinberg des Herrn. Aus meinem Tgb. Baden-Baden 2002. – Verreisen auf der Stelle. Mchn. 2003 (L.). – Unterwegs zu glückl. Schweinen. St. Pölten 2006 (L.).
Nach der Matura an der Handelsakademie seiner Vaterstadt beendete E. ein Studium der Religionspädagogik vorzeitig u. lebt heute als Fischer, Maler u. Schriftsteller in Kirchdorf/ Literatur: Thomas Betz: H. E. In: LGL. – Kosch Krems u. am Attersee. Seit Erscheinen des 20. Jh. – Österr. Lit. v. außen, S. 165. – Kat.-Lexikon Lyrikbandes Das Zimmer als voller Bauch (Salzb. zur österr. Lit. des 20. Jh. 1.1, S. 84. – Helmut 1993) veröffentlicht er in meist kurzem Ab- Moysich: Manuskipte Literaturpreis. Laudatio für stand v. a. Bände mit Prosa u. Gedichten so- H. E. In: manuskripte 40 (2000), H. 148, S. 121 f. – wie Beiträge zu Zeitschriften u. Anthologien. Alexandra Millner: Vatermord u. Muttersühne. Der Beruf des Fischers u. die Landschaft des Erinnerungskonstruktionen bei H. E., Martin Pollack u. Günter Grass. In: Neues. Trends u. Motive Attersees sind häufig Thema eines dezidiert in der (österr.) Gegenwartslit. Hg. Friedbert modernen, experimentellen Schreibens, des- Aspetsberger. Innsbr. u. a. 2003, S. 140–157, hier sen Produkte sich klass. Gattungsbestim- S. 141–144. – Walter Wagner: Rauschende Lyrik. mungen entziehen. Daneben bemüht sich E., H. E.s neue Lyrikbände. In: LuK 405/406 (2006), auch durch Kooperationen, die Grenzen S. 94–96. Volker Hartmann zwischen den Künsten durchlässig zu machen, so in die umgehung – AtterseeTour (Wien Eichhorn, Karl Friedrich, * 20.11.1781 2002), morgenoper. SommerSeeGedichte (Attersee Jena, † 4.7.1854 Köln. – Rechtshistoriker. 2004) u. Der Wille zur Arbeit. Fragmente (Weitra u. Attersee 2006), jeweils gemeinsam mit dem Der Sohn des Jenaer Orientalisten Johann Fotografen Klaus Costadedoi, u. in Das Ein- Gottfried Eichhorn wuchs in Göttingen auf, tauchen. Die Verwandlung. Die Tonfolge (Weitra studierte dort von 1797 an u. a. bei Johann 2000), zus. mit dem Künstler Klaus Krobath. Stephan Pütter Rechtswissenschaft u. GeDiese Motive seines Schaffens bündeln sich schichte u. schloss seine akadem. Ausbildung auch in E.s umfangreichster Arbeit, dem 1801 als Dr. iur. utr. ab. Er habilitierte sich Prosaband Circus Wols (Salzb./Wien 2000) 1803 u. übernahm 1805 in Frankfurt/O. eine über den tachist. Künstler Alfred Otto Wolf- a. o. Professur. Während der Frankfurter Zeit gang Schultze (1913–1951). Das tagebuch- entstand der erste Teil der Deutschen Staatsähnl. Werk mit eingefügten Zitaten aus der und Rechtsgeschichte (4. Bde., Gött. 1808–23. Sekundärliteratur, biogr. Spekulationen zu 51843/44. Zuletzt Ffm. 1983), die E.s rechtsWols u. der Aufzeichnung eigener Alltagser- literar. Ruhm begründete. fahrungen ist in seiner subjektiven, offenen Mit diesem Werk wurde er zum WegbeForm ein bewusster Gegenentwurf zu einem reiter der modernen Rechtsgermanistik; als biogr. Schreiben, das sich seines Gegenstan- Erster verknüpfte er die bis dahin dominie-
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Eichrodt
rende Verfassungsgeschichte mit der privat-, Blick für die Historizität auch des protestant. lehn-, straf- u. prozessrechtsgeschichtl. Ent- Kirchenrechts. 1832 übernahm E., von Savigny gedrängt, wicklung zu einem geschlossenen Ganzen. Dabei schöpfte er nach Möglichkeit unmit- nochmals ein akadem. Lehramt, beendete telbar aus den Quellen u. legte mit nüchter- aber alsbald seine Vorlesungstätigkeit, um nem Augenmaß »eine sichere geschichtliche sich 1834–1847 ausschließlich der Praxis zuGrundlage für das jetzt bestehende practische zuwenden: als Mitgl. des Preußischen GeRecht«. Neben Friedrich Carl von Savigny, heimen Obertribunals, des Staatsrats (seit dem Haupt der Historischen Rechtsschule, 1838), der Gesetzgebungskommission (seit wurde E. zum Begründer ihres germanist. 1842) u. des Oberzensurgerichts (1843/44). Zweigs als eigenständiger Wissenschaft neLiteratur: Johann Friedrich v. Schulte: K. F. E. ben der des übermächtigen Romanismus. Sein Leben u. Wirken. Stgt. 1884 (mit Briefen E.s). – Noch in Frankfurt wandte sich E. der Frei- Ferdinand Frensdorff: K. F. E. In: ADB. – Ders.: maurerei zu u. engagierte sich in dem auf nat. Das Wiedererstehen des dt. Rechts. Zum 100jähriSelbstbesinnung gegen das napoleon. System gen Jubiläum v. K. F. E.s Rechtsgesch. Weimar 1908. – Rudolf Hübner: K. F. E. u. seine Nachfolgerichteten »Tugendbund«. ger. In: FS Heinrich Brunner. Weimar 1910, 1811 folgte E. einem Ruf der jungen BerS. 808–838. – Ernst Landsberg: Gesch. der dt. liner Universität auf den Lehrstuhl für dt. Rechtswiss. Bd. 3, 1, Mchn. 1910, S. 253–277. – Recht, nahm 1813/14 an den Feldzügen ge- Karl Jelusic: Die histor. Methode K. F. E.s. Baden gen Frankreich teil u. gründete 1815 die 1936. Neudr. Aalen 1978. – Ernst-Wolfgang Bö»Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissen- ckenförde: Die dt. verfassungsgeschichtl. Forsch. schaft«. Mitherausgeber war Savigny, dessen im 19. Jh. Bln. 1961, S. 42–73. – K. F. E. In: Volksgeistlehre E. im Übrigen zeitlebens Kleinheyer/Schröder (31989, mit Bibliogr.). – Frieebenso skeptisch gegenüberstand, wie er für derike Dopke: E. als Rechtsgutachter. Diss. Kiel die rechtsantiquarische Leistung Jacob 1991. Hubert Drüppel / Red. Grimms nur geringes Verständnis aufzubringen vermochte. Eichmann, Johann ! Dryander, Johannes Im Frühjahr 1817 wurde E. Ordinarius des dt. u. kanon. Rechts an der Georgia Augusta Eichrodt, Ludwig, auch: Rudolf Rodt, in Göttingen, wo er eine überaus erfolgreiche * 2.2.1827 Durlach/Baden, † 2.2.1892 Lehrtätigkeit entfaltete. Hier entstand als Lahr/Baden; Grabstätte: ebd., Alter Frucht seiner Vorlesungen seine Einleitung in Friedhof. – Lyriker u. Satiriker; Maler. das deutsche Privatrecht mit Einschluß des Lehen5 rechts (Gött. 1824. 1845). Dieses Lehrbuch Der Sohn des späteren badischen Innenmihob in klarer Abkehr von der partikular- nisters Ludwig Friedrich Eichrodt studierte rechtl. Betrachtungsweise die gemeindeut- Jura in Heidelberg u. Freiburg i. Br. Er war schen Grundlagen der autochthonen zivil- Burschenschafter wie sein Freund Victor von rechtl. Institute hervor u. brachte trotz me- Scheffel u. schlug wie dieser die Beamtenthodischer Schwächen einen wesentl. Fort- laufbahn ein. 1852 trat er eine Stelle als schritt auf dem Weg zur wiss. Geschlossen- Rechtspraktikant in Durlach an, wurde 1864 heit der Rechtsgermanistik. Amtsrichter in Bühl, 1871 Oberamtsrichter in Seiner zerrütteten Gesundheit wegen zog Lahr. sich E. 1829 auf sein Gut Ammerhof bei TüAb 1848 publizierte E. humoristische u. bingen zurück. Dort verfasste er seine satir. Verse in den Münchner »Fliegenden Grundsätze des Kirchenrechts der Katholischen und Blättern«, von denen die vielstrophigen GeEvangelischen Religionspartei in Deutschland (2 dichte u. d. T. Wanderlust bes. bekannt wurBde., Gött. 1831–33). Mit diesem Werk brach den. 1853 veröffentlichte er gemeinsam mit E. mit der neuen histor. Methode in eine dem Heidelberger Arzt Adolf Kußmaul Gebisher von der Naturrechtslehre beherrschte dichte in allerlei Humoren (Stgt.), zu denen auch Domäne ein, leitete die kirchenrechtl. Nor- das Buch Biedermaier gehörte. Es enthält von men aus den Quellen ab u. öffnete insbes. den E. u. Kußmaul entdeckte Gedichte des Dorf-
Eidam
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schulmeisters Samuel Friedrich Sauter in ›Urbild des Biedermeiers‹ vor seiner VereichroFlehingen, die in naiv-biederem u. unfrei- dung. Ebd., S. 113–134. – Theodor Verweyen u. willig komischem Ton gehalten sind, erwei- Gunther Witting: ›Posaunen hauchen wilden tert um parodierende Gedichte E.s u. Kuß- Geisterlaut‹ – L. E. als Parodist. Ebd., S. 135–154. – Goedeke Forts. mauls. Sie kreisen um drei Figuren, den Wolfgang Leierseder / Walter E. Schäfer Dorfschulmeister Gottlieb Biedermaier, den städt. Präzeptor Schwartenmaier u. den Eidam, Klaus, * 23.5.1926 Chemnitz, Buchbinder Horatius Treuherz, als fiktive † 1.1.2006 Oberaudorf. – Dramatiker u. Autoren. Der Name »Biedermaier« wurde in Librettist, Verfasser von Musikerbiografider Folge zum kulturellen Epochenbegriff. en. In Studentenkreisen u. Burschenschaften wurde E. bekannt durch das in Lahr erschei- Der Lehrerssohn war nach dem Abitur Soldat nende u. lange von ihm redigierte »Allge- im Zweiten Weltkrieg. Nach 1946 Schaumeine Deutsche Kommersbuch« (1858 ff.) spieler, wurde E. 1951 Chefdramaturg der sowie durch die von ihm herausgegebene sächs. Landesbühnen in Dresden. Seit 1958 Anthologie scherzhafter u. satir. Verse Hortus lebte er als freier Schriftsteller in Ostberlin; deliciarum für deutschen Humor gepflanzt (Lahr ab 1960 betreute er die Musicalabteilung des 1877–79). Mit seiner ernsten Lyrik, die sich Musikverlags VEB »Lied der Zeit«. Als freier epigonal an romant. Themen orientierte, Mitarbeiter wirkte er für Musikverlage von hatte E. weniger Erfolg (Leben und Liebe. Ffm. 1987 bis zu seinem Tod. E.s volkstüml. Unterhaltungsdramatik, 1856. Melodien. Stgt. 1875), ebenso wenig wie mit drei Schauspielen. In seinem Deutschen seine Jugendstücke u. Texte zu Operetten u. Knabenbuch (Lahr 1862–64) wurden Taten u. Musicals – darunter zahlreiche Adaptionen Schicksale bekannter mytholog. u. histor. nach amerikanischem Vorbild –, stehen für Figuren teils in pädagogischer Absicht, aber die Aneignung des bürgerlichen klass. kulturellen Erbes in der DDR. In seinen Dramen auch ironisierend vorgestellt. bearbeitete E. häufig frz. oder ital. Stücke, Weitere Werke: Rheinschwäbisch. Karlsr. 1868. – Lyrisches u. Kehraus. Fliegendes u. Sauser. etwa Die Hochzeit des Figaro (Urauff. 1957) nach Lahr 1869. – Autobiografie in: Das humorist. Beaumarchais. Damit vollzog E. die Abwendung der DDR-Dramatik vom Agit-PropDtschld. 2 (1887), S. 110–113. Theater hin zum traditionellen Volksstück Ausgabe: Ges. Dichtungen. Stgt. 1890. sozialistischer Thematik. Literatur: Adolf Kußmaul: JugenderinnerunFür sein Werk erhielt E. mehrere Preise, gen eines alten Arztes. Stgt. 1875 u. ö. – Karl Blind: Erinnerungen an L. E. In: Voss. Ztg. 4. u. 11.8.1895. darunter 1994 die Bismarck-Medaille in SilNeudr. in: L. E. 1827–92. Ausstellungskat. hg. v. ber für die Pflege deutschen Bühnenschafder Bad. Landesbibl. Karlsr. 1992. – Albert Kennel: fens. L. E. Lahr 1895. – Friedrich v. Weech: L. E. In: ADB. – Käte Lorenzen: L. E. In: NDB. – Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Bd. 1, Stgt. 1963, S. 147–151. – Renate Begemann (Hg.): L. E. (1827–92). Lahr 1992. – Reiner Haehling v. Lanzenauer: L. E., Dichterfürst im Biedermeier. In: Die Ortenau 72 (1992), S. 499–518. – Jutta Dresch: ›Ich wäre wohl ein guter Maler geworden, aber ich hatte eine ungelenke Hand‹. L. E. u. die bildende Kunst. In: L. E. 1827–92. Ausstellungskat. hg. v. der Bad. Landesbibl. Karlsr. 1992, S. 41–55. – R. H. v. Lanzenauer: E. als Jurist. Ebd., S. 57–70. – Walter Lauterwasser: Miniaturen u. Facetten – Aus dem öffentl. u. privaten Eichrodtnachl. Ebd., S. 71–98. – Walter E. Schäfer: ›Hohengeroldseck‹ – ein ›höherer Blödsinn‹? Ebd., S. 99–112. – Reinhart Siegert: Das
Weitere Werke: Der fliegende Teppich. Urauff. 1949. – Der Lügner. Urauff. 1957 (Kom. nach Goldoni). – System Kuckuck. 1963 (Kom.). – Der tapfere kleine Schneider. Urauff. 1970 (Puppensp.). – Robert Stolz. Biogr. eines Phänomens. Bln. 1989. – Das wahre Leben des Johann Sebastian Bach. Mchn./Zürich 1999. Heidemarie Stegmann-Meißner
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Eidlitz, Walther, * 28.8.1892 Wien, † 28.8. 1976 Vayholm/Schweden. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Reiseschriftsteller, Hinduismusforscher.
Eigner
mit den Mythen des Hinduismus, schließlich auch die Aufnahme in die »Gemeinschaft der Heiligen« beschreibt E. in Bhakta. Eine indische Odyssee (Hbg. 1951. Zuerst u. d. T. Den glömda världen. Stockholm 1948). Beachtung verdient auch die umfangreiche Studie Krsna-Caitanya. Sein Leben und seine Lehre (Stockholm 1968. Neuaufl. Vohrenbach 1985).
Der Sohn eines jüd. Kistenhändlers wurde in Wien zum Bauingenieur ausgebildet. Ende 1916 rückte er zum Militärdienst ein; nach Kriegsende unternahm er ausgedehnte ReiWeitere Werke: Die Herbstvögel. Bln. 1921 sen. Obwohl inzwischen zum Christentum (D.). – Kampf im Zwielicht. Wien 1928 (E.). – Reise konvertiert, verließ E. im April 1938, knapp nach den vier Winden. Auf den Spuren der Weltnach dem »Anschluss« u. einer »inneren Be- gesch. Braunschw. 1935 (P.). – Der Mantel der rufung folgend«, Wien u. widmete sich in großen Mutter. Eine Wanderung durch die nord. Indien dem Studium des Hinduismus. Von Welt. Braunschw. 1936 (essayist. Reiseber.e). – Die den Briten sechs Jahre lang in einem Inter- ind. Gottesliebe. Freib. i. Br. 1955. Zuerst u. d. T. nierungslager festgehalten, kehrte E. 1946 Krishnas leende. Stockholm 1955. – Der Glaube u. nach Europa zurück, hielt sich jedoch 1950/ die hl. Schr.en der Inder. Freib. i. Br. 1957. Zu51 wieder in Indien auf. 1952 übersiedelte er nächst u. d. T. Indisk mystik. Stockholm 1952. – Der Sinn des Lebens u. der ind. Weg zur liebenden nach Schweden. Hingabe. Freib. i. Br. 1974. Im Mittelpunkt seines Erstlingswerks, des Literatur: Wolfgang Klimbacher: W. E. u. die Dramas Hölderlin. Szenen aus einem Schicksal expressionist. Hölderlin-Rezeption. In: Expressio(Bln. 1917), steht die Liebesbeziehung des nismus in Österr. Hg. Klaus Amann u. Arnim A. Helden zu Susette Gontard. Der folgende Wallas. Wien u. a. 1994, S. 437–452. Gedichtband Der goldene Wind (Bln. 1918) lässt Johannes Sachslehner / Red. bereits die religiöse Begrifflichkeit anklingen, mit der E. seine Visionen von einer Auseinandersetzung zwischen Gut u. Böse Eigner, Gerd-Peter, * 21.4.1942 Malapane/ entwirft. So spielen die kurzen Erzählungen Oberschlesien (heute: Ozimek/Polen). – des Bandes Der junge Gina (Bln. 1919) auf ei- Roman- u. Hörspielautor. nem fernen Stern der Seele, dem leuchtenden Nachdem E.s Vater Anfang 1945 von russ. Kontrast zur kriegsversehrten Erde. 1920 Truppen erschossen worden war, flüchtete fand E. Aufnahme in die von Emil Alphons die Mutter mit ihren Kindern nach Dresden. Rheinhardt herausgegebene spätexpressio- In Wilhelmshaven (seit 1949) besuchte E. die nist. Lyrikanthologie Die Botschaft. Neue Ge- Schule, brach die Gymnasialausbildung jedichte aus Österreich (Wien 1920). Mit dem doch ab u. schlug sich als Journalist u. GeleMoses-Drama Der Berg in der Wüste (Wien genheitsarbeiter durch. Das Abitur holt er in 1923) begann sich E. – ganz im Trend der Zeit Oldenburg nach (1964) u. nahm in Hamburg, – den großen Führergestalten zuzuwenden: dann an der pädagogischen Hochschule in Nach der Novellentrilogie Die Gewaltigen Oldenburg ein Studium auf, das er 1968 mit (Wien 1926) über König David, Alexander der Lehramtsprüfung abschloss. Zwei Jahre den Großen u. Lenin wagte er mit den beiden lang wohnte er in Bremen u. unterrichtete Romanen Zodiak (Wien 1930) u. Das Licht der verhaltensgestörte Kinder (1969–1971), zog Welt (Wien 1932) den Sprung von den histor. aber seit 1971 eine unstete Existenz als freier Heroen zur heldischen Lichtgestalt der Zu- Schriftsteller an verschiedenen Orten vor: kunft. u. a. 1972–1975 in Kreta, 1976 in Bremen, E., der anfangs dem Nationalsozialismus 1980 in Paris, 1978 u. seit 1991 in Berlin. E. Sympathie entgegenbrachte, entschied sich erhielt zahlreiche Stipendien u. Preise, darfür die ind. Religion u. Geistesgeschichte, unter den Hörspielpreis des Österreichischen deren Erforschung u. Verbreitung sein Spät- Rundfunks für Abel & Luise (1978) u. die Ehwerk dient – insbes. auch seine Übersetzun- rengabe der Deutschen Schiller-Stiftung gen aus dem Sanskrit. Das Bekanntwerden (2005).
Eigner
Die Welt von E.s Romanen ist bevölkert von psychisch gefährdeten Figuren. Als Außenseiter oder Versager bewegen sie sich oft in gesellschaftl. Randzonen. Durchweg anhand eines in das Geschehen einbezogenen, meist also eher distanzlosen Erzählers werden fragile Wahrnehmungen u. unsichere Reflexionen, das Zerbrechen eng verschlungener Beziehungen u. die oft unschlüssigen Reaktionen eines kaum über die private Lebensführung hinausreichenden Bewusstseins protokolliert, in dem sich lineare Erzählsequenzen nicht selten in halluzinative Vorstellungen des Möglichen, Erinnerten u. Projektiven auflösen. Indem E. auf diese Weise komplexe Psychogramme entwirft, vertieft er sich zgl. äußerst empfindsam auf die Wirklichkeitsdetails der personalen Nahbereiche. Widersprüchliche Bedürfnisse stimulieren immer wieder die im Schreiben aufgehobene Suche nach Identitäten, treiben aus sich heraus zgl. Obsessionen u. Phantasmata der evasiven antibürgerl. Gewalt u. Sinnlichkeit. Insofern versteht sich E. als »radikal«: »Ich versuche, in meinen Büchern, heroisch ausgedrückt, hinter das zu kommen, was der öffentlichen Moral abträglich, obsolet oder nicht zuträglich ist. Ich obstruiere die Rasanz der Moden, ich bin altmodisch. Ich liebe die Leidenschaften, da das Leidenschaftslose immer Teil des Leidlosen ist, das uns verarmt und zu den großen Roheiten und wirklichen Verbrechen führt« (aus einem Interview in: Nachstellungen I. Essays. Ffm. 1998, S. 145). E.s Erstlingsroman Golli (Stgt. 1978) kreist mit der Titelfigur um einen seelisch gestörten Jungen, dessen Sonderbarkeiten von seinem Mathematiklehrer in vergrübelten nächtl. Aufzeichnungen festgehalten u. mit der eigenen Vergangenheit verwoben werden. Durch die zwanghafte Bindung an seinen Zögling erscheint der schließlich vereinsamte Betreuer am Ende als Opfer der eigenen u. der fremden Psychosen. Wesentlich mehr soziale Realität nimmt der folgende Roman Brandig (Mchn. 1985. Tb.-Ausg. 1988) in sich auf. Auch er verrätselt u. verkoppelt die Beziehung zweier männl. Figuren: die des Erzählers, eines in ländl. Einsamkeit geflüchteten Numismatikers, u. die der Titelgestalt, eines ehemaligen Terroristen-Anwalts. Auf der
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Suche nach Brandig wird der Leser mit dem Erzähler bis in ein entlegenes Bergdorf auf Kreta geführt, wo alte Partisanenkämpfe nachwirken u. sich erot. Offenbarungen andeuten. Doch erst in Paris enthüllt sich in einer durchzechten Nacht der Weg des mittlerweile heruntergekommenen Partners, der seinen Namen abgelegt hat u. seine von sinnlicher Hörigkeit gezeichneten Leidenslüste preisgibt, ja sich sicher ist, eine gemeinsame Freundin in jenem Moor umgebracht zu haben, dessen Moorleichen den Erzähler von Anfang an in einen symbolisch zu entziffernden Bann gezogen haben. Mit Vorliebe werden auf diese Weise Doppel- u. Spaltungsfiguren imaginiert. So auch im Brüderpaar des dritten Teils der Romantrilogie mit dem sprechenden Titel Mitten entzwei (Mchn. 1988. Tb.-Ausg. 1990), in dem E. Umweltprobleme aufgreift, u. in dem vornehmlich in Erinnerungsgesprächen einer Autoreise von Paris nach Westfalen konzipierten Roman Lichterfahrt mit Gesualdo (Mchn. 1996. Reinb. 1998). E. gelingen in epischer Filigranarbeit nun sogar humorist. Töne. Ein scheinbar mutterloses, vielleicht entführtes Kind fährt mit u. wird von zwei Freunden rührend umsorgt: hier der eine Art von Lebensbeichte ablegende, von fraulicher u. musikal. Schönheit faszinierte Geigenvirtuose mit schillerndem Protesthabitus u. chaotischem Lebenslauf, dort der verhinderte Archäologiestudent, der sich zur Lebenskonsolidierung anschickt u. in den Betrieb seines Vaters eintritt. In mehr als zehn – meist ungedruckten – Hörspielen hat E. seine Themen ebenso weiterverfolgt wie in Essays u. fiktiven Dialogen (etwa zwischen Dostojewski u. Flaubert), in denen wie schon im Titel u. in den Gesprächen des letzten Romans (Gesualdo, der Madrigalkomponist) Gestalten der älteren Musik- u. Literaturgeschichte (Mozart, Aragon, Nabokov), aber auch der Gegenwartsliteratur (darunter Hans-Joachim Schädlich, Ursula Krechel, Adolf Muschg) behandelt werden. Weitere Werke: Die langen zwölf Stunden der Kindheit. Flensburg 1982 (Hörsp.). – Nachstellungen II. Ffm. 1999 (Ess.s). – Rives, rivages, la mer. Das Ufer, die Küste, das Meer. Frz.-dt. Saint-Nazaire 2005 (E., Ess.s). – Mittagsstunde. Poet. Ron-
Eike von Repgow
229 do. Bln. 2006. – Ungedruckte Hörspiele: Sweet-WaterBeach (1976). – Kastration, mehr oder weniger sanft (1977). – Abel & Luise (1978). – Das Herz der Musik oder Der Onkel kommt, der Onkel geht (1980). – Barfuß in Stiefeln. Die einzige Begegnung zwischen Dostojewski u. Flaubert (1982; bearbeitet in Nachstellungen I, s. o.). – Aragons Traum (1982). – Im Notfall kann man immer noch alles wieder mit Gewinn verkaufen (1989). – Muttergrab in fünfzehn Dialogen (1994). – Über dem Amtsrichter wölbt sich der weite blaue Himmel (1995). – Ein amerikan. Traum (2000). Literatur: Manfred Mixner: G.-P. E. In: KLG. – Thomas Kraft: G.-P. E. in: LGL. Wilhelm Kühlmann
Eike von Repgow. – Verfasser eines Rechtsbuchs aus der ersten Hälfte des 13. Jh. Der Verfasser des Sachsenspiegels (Ssp.), dem auch – ohne zwingenden Grund – die Sächsische Weltchronik zugeschrieben wurde, stammt aus edelfreiem Geschlecht, das sich nach dem Dorf Reppichau zwischen Köthen u. Dessau nannte. Man wird ihn mit dem »Eike von Reppichowe« (auch: »Heico von Repechowe« u. Ä.) identifizieren können, der Lehnsmann des Grafen Hoyer von Valkenstein war u. zwischen 1209 u. 1233 in sechs Urkunden des Landgrafen Ludwig von Thüringen, des Markgrafen Dietrich von Meißen u. des Grafen Heinrich I. von Anhalt als Zeuge erscheint. Ob er Inhaber eines Schöffenstuhls war, ist unsicher, doch legt sein Werk Erfahrung in der Rechtspraxis nahe. E. scheint eine Ausbildung in den »septem artes liberales« erhalten u. auch theolog. Grundkenntnisse besessen zu haben, war jedoch kein gelehrter Jurist; seine Rechtskenntnisse schöpfte er aus anderen Quellen. Der Ssp., neben dem Mühlhäuser Reichsrechtsbuch eines der ältesten deutschsprachigen Rechtsbücher u. das mit der breitesten Wirkung, ist in mehr als 400 Handschriften überliefert. Sein Titel lehnt sich, erstmals in der Volkssprache, an die seit dem 12. Jh. deutlich anwachsende Speculum-Literatur an. Den pragmat. Rechtstext leiten zwei Vorreden ein, in denen E. Auskunft über Auftragssituation u. Ziel seiner Arbeit gibt. Die Aussage der Reimpaarvorrede (Praefatio
rhythmica, vv. 97–280), er habe seinen urspr. lat. geschriebenen Text erst auf Drängen Hoyers von Falkenstein ins Deutsche übertragen, gehört in den Bereich der Bescheidenheitstopik. Doch reflektiert die Bemerkung, dass ihm diese Arbeit »ane helphe vnd ane lere« sehr schwer fiel, durchaus die reale Situation, der er sich gegenübersah: Für die Übertragung der bislang stets lateinisch verfassten Rechtstexte in die von Mündlichkeit geprägte dt. Rechtssprache gab es kein Vorbild. Dass im Auctor vetus de beneficiis, einer lat. Reimprosafassung des Ssp.-Lehnrechts, noch ein Reflex dieser Urfassung E.s vorliegt, ist nicht zu beweisen. Mit der Absichtserklärung der Reimvorrede, nicht rechtsschöpferisch wirken zu wollen, sondern Recht, das »von aldere an unsich gebracht / unse guten vorevaren«, den Nachkommen weiterzureichen, stellt sich E. in die Tradition Gratians. Schon die Wahl des Speculum-Titels betont den Anspruch der fakt. Abbildung des durch seine lange Überlieferung legitimierten Rechts. In der Prosa-Vorrede (Prologus u. Textus Prologi) wird dieser Gedankengang religiös vertieft: Gott als Rechtsprinzip u. -instanz »is selve recht, dar umme ist em recht lef«. Das tradierte Recht mit seinem Ursprung im naturrechtlich geprägten Recht Gottes wird damit in eine allg. Tugendlehre eingebettet u. erhält zusätzl. Legitimation durch die Berufung auf die Geschichte: Konstantin u. Karl der Große, so der Textus Prologi, haben das urspr. göttl. Recht wiederhergestellt. Spätere Zusätze zu E.s Prologen variieren sowohl die rechtsphilosoph. Begründungen (Praefatio rhythmica, vv. 1–96) als auch die Legitimation durch Geschichte (Aufzählung der sächs. Geschlechter in der Vorrede Von der herren geburt). Obgleich die mittelalterl. Überlieferung des Ssp. schon zwischen Landrechts- u. Lehnrechtsteil unterscheidet, versteht E. sein Werk als Einheit u. verklammert beide Teile durch die Reim- u. Prosavorreden sowie das Schlusswort (Lehnrecht 78 §§ 1–3). Der erste Teil des Landrechts behandelt das Recht der Freien in Sippe, Ehe u. Gericht, d.h. Erbrecht, eheliches Güterrecht sowie Strafrecht u. -prozess (I, 3 § 3 – III. 41 § 4). Im zweiten Landrechtsteil (III, 41 § 4 – III, 82 § 1) wird die
Eike von Repgow
ständische, im Lehnrechtsteil die feudalrechtl. Ordnung des Reichs u. Sachsens samt den dazugehörigen Gerichtsverfassungen dargelegt. Die Zäsur liegt daher nicht zwischen Land- u. Lehnrecht, sondern zwischen erstem u. zweiten Landrechtsteil. Damit gliedert sich das Werk in einen Zivil- u. Strafrechts- sowie einen Verfassungsrechtsteil. Weniger klar durchschaubar ist die Feinstruktur des Ssp. Begründende Einschübe oder Verweise auf Parallelen zum eben behandelten Stoff unterbrechen häufig assoziativ die Darstellung der Rechtsmaterien. Ob E. sich an Ordnungsprinzipien des gelehrten Rechts, etwa an die Titelrubriken der kanonist. Dekretalensammlungen, anlehnt, ist fraglich. Die Abfassungszeit des Ssp. lässt sich aus der Quellenbenutzung erschließen: Während die Confoederatio cum principibus ecclesiasticis von 1220 u. die Treuga Heinrici von 1224 noch berücksichtigt wurden, ist der Mainzer Reichslandfriede von 1235 nicht mehr verwertet; das ebenfalls 1235 errichtete Herzogtum Braunschweig-Lüneburg fehlt im Verzeichnis der sächs. Fahnlehen. Das Speculum ecclesiae des Honorius Augustodunensis, Petrus Comestors Historia scholastica, Gratians Concordia discordantium canonum (Decretum Gratiani) von 1142 u. päpstl. Dekretalen, wohl aus der Compilatio tertia des Petrus von Benevent (um 1210) u. der Compilatio quarta des Johannes Teutonicus (1216/17), hat E. gekannt u. verarbeitet. Im Zuge der Überlieferung vom 13. ins 15. Jh. wurde der Ssp. mehrfach überarbeitet. Noch E. selbst scheint seine gegenüber der lat. Urfassung schon erweiterte Übersetzung (Fassung Ia) revidiert u. dabei in Sachdetails verändert zu haben (Fassung Ib). Die nicht näher datierbare Fassung Ic streicht E.s Namen in der Reimvorrede; zahlreiche Zusätze der zwischen 1261 u. 1270 in Magdeburg entstandenen Fassung Id bezeugen die römisch-rechtl. Kenntnisse ihres Bearbeiters. Diese Fassungen des 13. Jh. wahren die Einheit von Land- u. Lehnrecht auch in der durchgehenden Artikelzählung u. kennen noch keine Bucheinteilung. Erst im ersten Drittel des 14. Jh. setzt die scharfe Trennung in die Landrecht- u. Lehnrechtüberlieferung
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u. die Einteilung in Bücher ein, wohl im Zusammenhang mit der Glossierung des Landrechts durch Johannes von Buch, dessen Arbeit eine Synthese zwischen gelehrtem u. einheimischem Recht herzustellen versuchte u. die Verbreitung des Ssp. intensiv förderte. Obschon im urspr. Geltungsbereich, den Landrecht III, 62 angibt (Herzogtum Sachsen, Markgrafschaft Brandenburg, Landgrafschaft Thüringen, die Marken Meißen u. Lausitz, Grafschaft Aschersleben u. die Bistümer u. Pfalzstädte des Landes Sachsen), u. im Gebiet der dt. Ostsiedlung am stärksten verbreitet, wurde der Ssp. im gesamten dt. Sprachraum rezipiert. Unter den Trägern der Frühüberlieferung im späten 13. u. frühen 14. Jh. spielen die Schöffen der sächs. u. ostmitteldt. Städte, v. a. Halles u. Magdeburgs, eine bes. Rolle. Aber auch gelehrte Juristen mit Kenntnissen im römischen u. römisch-kanon. Recht u. die für die Vermittlung des Ssp. nach Oberdeutschland wichtigen Franziskaner sind am Verbreitungsprozess entscheidend beteiligt. Am Magdeburger Recht wiederum orientierten sich die Städte der dt. Ostsiedlung, weshalb dort Ssp.-Recht galt. Schon zwischen 1272 u. 1292 übersetzte der Notar Konrad von Oppeln in Breslau den Ssp. ins Lateinische (Versio Wratislawiensis); vor 1359 entstand die lat. Version des Landrechts durch Konrad von Sandomir (Versio Sandomiriensis), etwa gleichzeitig eine weitere in der Mark Brandenburg (Versio vulgata) – sie sind wie die Glosse des Johannes von Buch (nach 1325) Belege für die Auseinandersetzung gelehrter Juristen mit dem Text. Im Umkreis der Augsburger Franziskaner, die das Rechtsbuch entsprechend seinem SpeculumCharakter als Tugendlehre rezipierten, entwickelten sich in mehreren Bearbeitungsstufen die süddt. Nachfolgeschriften: Um 1274/ 75 wurde der Ssp., eine Bezeichnung in E.s Reimvorrede aufnehmend, zum Spiegel deutscher Leute (vgl. Art. Deutschenspiegel) umgearbeitet; ein Jahr darauf entstand auf der Grundlage des Ssp. die älteste Fassung eines in der Überlieferung häufig als Kaiserrecht bezeichneten süddt. Land- u. Lehnrechtsbuchs, dem 1609 Melchior Goldast den Titel Schwabenspiegel gab. In den minorit. Verwendungszusammenhang des Rechtsbuchs als
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Eilert
Tugendlehre ordnen sich auch die den süddt. derb./Mchn./Wien/Zürich 1984. – R. SchmidtSpiegeln oft vorangestellten Kurzchroniken Wiegand (Hg.): Text – Bild – Interpr. Untersu(Buch der Könige alter ê und niuwer ê) ein, die chungen zu den Bilderhss. des ›Ssp.‹. 2 Bde., Mchn. dem pragmat. Rechtstext die histor. Legiti- 1986. – F. Ebel: ›Ssp.‹. In: Handwörterbuch zur dt. Rechtsgesch. Bd. 4, Bln. 1988, Sp. 1228–1237. – R. mation verleihen. Schmidt-Wiegand u. Dagmar Hüpper (Hg.): Der Auf die bes. Autorität des Textes verweist ›Ssp.‹ als Buch. Ffm. u. a. 1991. – R. Schmidtauch die meist repräsentative bildl. Ausstat- Wiegand: Gott ist selber Recht. Die vier Bilderhss. tung der Handschriften: Gegen Ende des 13. des ›Ssp‹. Wolfenb. 21993. – Egbert Koolman, Jh. bildete sich ein in vier Kodizes des 14. Jh. Ewald Gäßler u. Friedrich Scheele (Hg.): der sassen tradierter Illustrationstypus heraus, der auf speyghel. Sachsenspiegel – Recht – Alltag. 2 Bde., jeder Buchseite kommentarartig einer Text- Oldenb. 1995. Norbert H. Ott / Hans-Joachim Behr spalte eine Bildspalte gegenüberstellt. Die Handschriften des späteren 14. u. 15. Jh. leiten den Text gewöhnlich durch ganzseitige Eilert, Bernd, * 20.6.1949 Oldenburg. – Titelminiaturen mit dem Bildnis Karls des Erzähler, Humorist, Übersetzer, DrehGroßen als Garanten des Rechts ein. Manche buchautor. dieser Miniaturen spielen auf den aktuellen Nach dem abgebrochenen Studium der Gebrauchsumkreis der Handschrift an, so das Theaterwissenschaft in Marburg zog E. 1970 Titelbild eines Lüneburger Exemplars (Rats- nach Frankfurt/M. u. arbeitete als Publizist u. bücherei, Ms. Jurid 2), das die Übergabe des Autor für Rundfunk u. Fernsehen. E. ist der Rechtsbuchs an den Sachsenherzog Widu- Autoren- u. Zeichnergruppe der »Neuen kind durch Karl den Großen als feierl. Akt im Frankfurter Schule« zuzurechnen u. war Beisein des Autors u. des Rats der Stadt 1979 Mitbegründer der Monatszeitschrift schildert, für den der Kodex bestimmt ist. »Titanic. Das endgültige Satiremagazin«. Der Ssp., das bedeutendste volkssprachl. 1981 erschien in München sein KriminalroRechtsbuch im dt. MA, ist dennoch nicht man Notwehr auf Italienisch (Neuausg. u. d. T. singulär, sondern ordnet sich ein in die Reihe Eingebildete Notwehr. Zürich 1989). 1985 der großen Aufzeichnungen des Gewohn- schrieb E. gemeinsam mit Robert Gernhardt heitsrechts in Europa, die mit dem Decretum u. Peter Knorr das Drehbuch zu Otto – Der Gratiani beginnen u. im 13. Jh. in allen europ. Film, es folgten sechs weitere Drehbücher, Ländern entstehen (z.B. Henricus de Bracton zuletzt 7 Zwerge – Der Wald ist nicht genug. 1991 in England, Vidal de Huesca in Spanien, veröffentlichte E. den Erzählungsband WinPierre de Fontaine u. die Coutumes Philippes dige Passagen (Zürich), der sich wie die meisten de Beaumanoir in Frankreich). In Preußen Texte von E. durch stilist. Virtuosität, ein war E.s Werk bis zum Erlass des Allgemeinen hohes Formbewusstsein u. hintergründigen Landrechts 1794 in Gebrauch u. hatte in Humor auszeichnet. Sachsen bis 1863, in Thüringen, Anhalt, E. übersetzte Werke von Oscar Wilde u. Holstein u. Lauenburg bis zum Inkrafttreten David Lodge aus dem Englischen u. trat als des BGB 1900 Gültigkeit als subsidiäre Herausgeber in Erscheinung, u. a. mit Das Rechtsquelle. Hausbuch der literarischen Hochkomik (Zürich Ausgaben: Ssp. Landrecht. Lehnrecht. Hg. Karl 1987). Kennzeichnend für die »Neue FrankAugust Eckhardt. 2 Bde., Gött. 1955/56 (MGH furter Schule« ist die gemeinsame Arbeit an Fontes NS I, 1.2). Texten u. Büchern: E. veröffentlichte mehLiteratur: Hans Schlosser: E. v. R. In: Hand- rere Gemeinschaftsbücher, darunter 1994 wörterbuch zur dt. Rechtsgesch. Bd. 1, Bln. 1971, den mit Eckhard Henscheid verfassten Dialog Sp. 896–899. – Rolf Lieberwirth: E. v. R. u. der Eckermann und sein Goethe (Zürich). ›Ssp.‹. Bln. 1982. – Ruth Schmidt-Wiegand: E. v. R. In: VL. – Peter Johanek: E. v. R., Hoyer v. Falkenstein u. die Entstehung des ›Ssp.‹. In: FS Heinz Stoob. Köln/Wien 1984, S. 716–755. – Alexander Ignor: Über das allg. Rechtsdenken E.s v. R. Pa-
Weitere Werke: Der Kronenklauer (zus. mit F. K. Waechter). Reinb. 1972 (Kinderbuch). – Das aboriginale Horoskop. Zürich 1983 (P).
Eilhart von Oberg Literatur: Ralph Gätke: B. E.s ›Hausbuch der literarischen Hochkomik‹. In: Ders.: Komisch wie Franz Kafka. Animiertexte. Oldenb. 1991, S. 213–253. – Klaus Cäsar Zehrer: Dialektik der Satire. Zur Komik v. Robert Gernhardt u. der ›Neuen Frankfurter Schule‹. Osnabr. 2002. – Thomas Kraft: B. E. In: LGL. Marc Degens
Eilhart von Oberg, mutmaßlich urkundlich bezeugt 1189–1209 (oder 1227). – Verfasser des ersten deutschsprachigen Tristanromans. E.s Name ist nur aus der späten Überlieferung bekannt: Die aus dem 15. Jh. stammende Dresdner Handschrift des Tristrant nennt im Epilog »von Hobergin her Eylhart« als Dichter, was sich verbinden lässt mit einem aus Braunschweiger Umkreis stammenden u. zwischen 1189 u. 1209 (oder 1227) in der Nähe des Hofs Heinrichs des Löwen bezeugten »Eilhardus de Oberch«. Auch manche Züge des Textes (Interesse an Staatsaktionen, Diskussion von Minne im Hinblick auf die gesellschaftl. Ordnung) können auf den Welfenhof bezogen werden. Die Identifikation des Autors mit diesem Angehörigen einer Ministerialenfamilie würde bedeuten, dass der Tristrant nach dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke entstanden wäre, mit dem er sich im langen Minnemonolog der Isalde berührt; dieser dürfte dann von demjenigen der Lavinia im Eneasroman inspiriert sein. Das heißt wohl auch: E.s Werk ist kein pionierhafter Vorläufer des höf. Romans, sondern trägt in dessen beginnende Hochphase (um 1190) einen eher archaischen Zug hinein, an dem wiederum die Nähe von Epos u. Roman sichtbar wird. Erschwert wird die Beurteilung dadurch, dass der alte Text nur durch drei Fragmente aus der Zeit um 1200 bekannt ist, andererseits die beiden vollständigen Handschriften des 15. Jh. aufgrund von Kürzungen oder Entstellungen kein authentisches Bild der alten Version geben. Probleme wie diese, gepaart mit E.s handlungsorientierter Art des Erzählens, haben den Tristrant seit den Anfängen der Forschung im Schatten der groß angelegten Konzeption Gottfrieds von Straßburg verharren lassen. In der Tat
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könnten die Unterschiede kaum größer sein: hier eine weitgehend reflexionslose, episodenhafte, paradigmatisch organisierte Erzählung, die sich mit der Einschätzung passionierter Liebe abmüht, dort eine hochreflektierte, durchmotivierte, stilistisch raffinierte, die die Liebeseinheit als quasi rituellen Vollzug feiert. Doch besitzt der Tristrant seine eigenen Qualitäten, die zgl. die Andersartigkeit mittelalterl. Erzählens erkennen lassen. E. bearbeitet eine altfrz. Vorlage, die nur mittelbar aus der Version des Südfranzosen Béroul bekannt ist. Er scheint wie andere Epiker der Zeit den Handlungsumrissen dieser Vorlage recht getreu gefolgt zu sein, aber in Szenen- u. Detailgestaltung spezif. Akzente gesetzt zu haben. Die Geschehensfolge gliedert sich in drei Teile, die sich mit verschiedenen narrativen Modellen verbinden: (1) Vorgeschichte u. Werbung, bestimmt durch Genealogie- u. Brautwerbungsschema, (2) räumlich eng zusammenhängende Episoden unter dem Zeichen intensiver Trankwirkung, bestimmt durch die Charakteristika eines Minneromans, (3) räumlich weiter gespannte Episoden unter dem Zeichen extensiver Trankwirkung, bestimmt durch Elemente eines Abenteuer-, Reise- oder Schwankromans. Vor allem die beiden ersten Teile bilden ein narratives Gerüst, das bis in die Frühdruckzeit für fast alle Tristanversionen grundlegend bleiben wird, der dritte hingegen, bei E. der umfangreichste, hat stärker episod. Charakter u. eröffnet Raum für Variationen. Genauer: (1) Die Geschichte beginnt mit einer Vorgeschichte, in wenigen Strichen angedeutet: Rivalin gewinnt im Kampf für König Marke von Korneval dessen Schwester Blancheflur zur Frau, die auf der Heimfahrt bei der Geburt eines Sohns (Tristrant) stirbt; dieser gelangt auf seinem späteren ritterl. Auszug zu Marke, dem er gegen den Tribut fordernden Môrolt aus Irland beisteht. Die bei seinem Sieg erlittene Verwundung kann nur von Isalde (einer Verwandten Môrolts) in Irland, wo Tristrant unerkannt landet, geheilt werden. Noch ein weiteres Mal betritt er Irland, wieder inkognito, diesmal als Brautwerber für König Marke; von Isalde identifiziert, kann er sich nur behaupten, indem er sie als Drachentöter
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vor den Eheansprüchen des Truchsessen bewahrt. Er führt sie nach der Versöhnung als Braut für Marke von Irland heim, dabei kommt es auf der Überfahrt zum verhängnisvollen Genuss des Minnetranks, der bewirkt, dass die in Liebe Verfallenen vier Jahre untrennbar sind u. für ihre Lebenszeit aneinander gebunden bleiben – eine eigentümliche, logisch prekäre Konstruktion, die bis in E.s Sprache hinein die Spannung zwischen Zwang u. Freiheit, Außen u. Innen, Unglück u. Glück transportiert, die den Roman prägt. (2) Die Ehe mit Marke wird geschlossen, Tristrant u. Isalde versuchen heimlich, ihre Liebe zu verwirklichen. Nachdem sie am Hof mehrmaligen Versuchen, sie zu überführen, knapp entkommen sind, leben sie zwei Jahre lang im Wald – von Kräutern, Jagd u. Fischfang. Die entbehrungs-, aber auch erfüllungsreiche Zeit findet ihr Ende mit dem Nachlassen der Trankwirkung. Durch Mithilfe eines Einsiedlers führt Tristrant Isalde an den Hof zurück u. wird selbst des Landes verwiesen. (3) Die Rückkehrabenteuer werden eingeleitet durch Tristrants Aufenthalt am Artushof, der ihm schließlich auch, als er sich an der von Marke aufgestellten Wolfsfalle verletzt, beisteht: Alle Artusritter fügen sich die gleiche Wunde zu u. verwischen damit den Verdacht. Im Folgenden dominiert das Wechselspiel von Annäherung u. Entfernung, Zorn, Enttäuschung u. Versöhnung zwischen den Liebenden, das deren Liebe erst eigentlich im Spannungsfeld von persönl. Bindung u. sozialer Verpflichtung profiliert. In Verkleidungen als Pilger, Fahrender u. Narr sucht Tristrant Isalde auf, ohne aber seine Verpflichtungen als Landesherr aus dem Auge zu verlieren. Seinem Schwager Kehenis hilft er, sich mit der geliebten, aber verheirateten Gariole zu vereinigen u. erleidet dabei eine erneute Wunde durch einen vergifteten Pfeil. Wieder kann nur Isalde helfen, doch die zweite Isalde, die er zwischenzeitlich aus Zorn geheiratet hat, täuscht ihn über die Ankunft des rettenden Schiffes. Tristrant stirbt vor Gram u. ihm nach die zu spät kommende Geliebte. Erst jetzt erfährt Marke vom Trank, verzeiht den beiden u. lässt sie ehrenvoll bestatten; ein Rosenstock u. eine
Eilhart von Oberg
Weinrebe auf ihren Gräbern verschlingen sich. E. konzentriert sich in seiner Darbietung auf den Helden Tristrant u. konturiert dessen Geschichte im Sinne u. Stile der Heldenepik. Doch greift er andererseits auf Mittel des höf. Romans zurück, um die Dynamik einer Liebesgeschichte zu entwerfen, die wiederum gerade darin sich zeigt, dass der als herausragender Krieger, treuer Gefolgsmann u. vorbildlicher Herrscher gezeichnete Held seine Identität in der passionierten Liebe zu verlieren droht – ohne dass er aber wie Iwein tatsächlich dem Wahnsinn verfiele. Tristrant bleibt eine situativ je anders erscheinende Figur: ein erfahrener Schlachtlenker, der mit seinen Taten Dietrich u. Hildebrand übertrifft, ein verständnisvoller Freund, der einen Kunstschlosser auftreibt, um Kehenis Zugang zur Geliebten zu verschaffen, ein seriöser Herrscher, der in lehensrechtl. Begriffen über die zukünftige Landesordnung zu sprechen weiß, ein verzweifelter Liebender, der am Ausbleiben der Geliebten stirbt. Die Tragik dieser von konkurrierenden Identitäten geprägten Figur zeigt E. als kompositorische Dialektik von Leben u. Tod: Der aus zwei Kämpfen todwund Hervorgehende kann nur geheilt werden in dem Land, das jedem Fremden den Tod angekündigt hat: Irland, kann nur das Leben gewinnen bei der, die ihn zu ihrem Todfeind erklärt hat: Isalde. In der Kemenatenszene erkennt sie in ihm genau in dem Moment den Môrolttöter (was seinen Tod zu bedeuten hätte), da, er, im Bade sitzend, dem Leben wiedergegeben scheint. Der Roman operiert einerseits mit einer Fatalität des Unausweichlichen, die schon die Konstituenten der erzählten Welt bestimmt: Raum als Zwischenraum, der das (potentielle) Liebespaar trennt, als Meer, das den zweimal »nach wâne« ausfahrenden Tristrant nur an die Küste Irlands werfen kann; Zeit als Zeit des (zunehmenden) Getrenntseins der Liebenden bzw. des (sich ausdehnenden) Augenblicks, wenn einmal alle Hindernisse der Begegnung überwunden sind. Er erzählt andererseits gegen diese Fatalität an, indem er die zerstörerische Minne verurteilt, die Probleme ausmalt, die das Einbrechen der Minnepassion in die gesellschaftl. Ordnung mit
Einhard
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sich bringt, u. die sich in scheinbar endloses Mertens: E., der Herzog u. der Truchseß: der Hin u. Her verlierende Geschichte genau dort Tristrant am Welfenhof. In: Tristan et Iseut, mythe ihr Ziel finden lässt, wo sie sich auf sich selbst européen et mondial. Hg. D. Buschinger. Göpp. zurückwendet: Tristrant erleidet die zweite 1987, S. 262–281. – Jan-Dirk Müller: Die Destruktion des Heros oder wie erzählt E. v. passionierter u. nunmehr tödl. Verwundung im Rahmen Liebe? In: Beiträge der Triester Tagung: Der einer Episode, die ebenfalls mit einem erot. ›Tristan‹ in der Lit. des MA. Hg. Paola Schulze-Belli Dreieck zu tun hat u. auffälligerweise im u. Michael Dallapiazza. Triest 1990, S. 19–37. – Modus narrativer Verschachtelung erzählt James A. Schultz: Why Do Tristan and Isolde Leave wird – Zeichen einer kompositor. Finalität. for the Woods? Narrative Motivation and Narrative E. verhandelt solchermaßen nicht nur Po- Coherence in E. and Gottfried v. Straßburg. In: sitionen zwischen gesellschaftlich uninte- MLN 102 (1987), S. 586–607. – Dagmar Mikaschgrierbarem Minnezwang u. höfisch-feudalen Köthner: Zur Konzeption der Tristanminne bei E. u. Gottfried v. Straßburg. Stgt. 1991. – Peter Werten, sondern auch Modalitäten des ErStrohschneider: Herrschaft u. Liebe. Strukturprozählens im Spannungsfeld von Mündlichkeit bleme des Tristanromans bei E. In: ZfdA 122 u. Schriftlichkeit. Er zeigt einen Erzähler, der (1993), S. 36–61. – Anna Keck: Liebeskonzeptionen zwar das Geschehen nicht ausführlich kom- der mittelalterl. Tristanromane. Zur Erzähllogik mentiert, gleichwohl mit seinen Wertungen der Werke Bérouls, E.s, Thomas’ u. Gottfrieds. ständig präsent ist: als Ordnung u. Orientie- Mchn. 1998. – Monika Schausten: Erzählwelten rung stiftende Instanz, die sich ebenso auf der Tristangesch. im hohen MA. Untersuchungen Buchschriftlichkeit beziehen wie als Rhapso- zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. den hinstellen kann. Das »Spielmännische« u. 13. Jh. Mchn. 1999. – Armin Schulz: in dem wilden wald. Außerhöf. Sonderräume, Liminalität ist ein Gestus, mit den Ambivalenzen des u. mythisierendes Erzählen in den Tristan-DichStoffes umzugehen, ohne diese metanarrativ tungen. In: DVjs 77 (2003), S. 515–547. aufzufangen. Genau das könnte auch die Christian Kiening Wirksamkeit von E.s Tristrant begründet haben. Zwar scheinen die eher gebrauchsorientierten Handschriften des Textes schnellerem Einhard, Einhart, auch: Eginhard(us), Verschleiß unterworfen gewesen zu sein als * um 770 im Maingau, † 840 (wohl 14.3.) diejenigen Gottfrieds, doch als vollständige Seligenstadt/Main; Grabstätte: ebd. – Version der Geschichte diente er nicht nur für Gelehrter, Berater Karls des Großen u. die Fortsetzung von dessen Romantorso, Ludwigs des Frommen, Leiter der Bau- u. sondern auch als Basis von Episodengedich- Kunstwerkstätten. ten wie Tristan als Mönch. Im 15. Jh. in Prosa E. entstammte einer ostfränk. adeligen Faaufgelöst, wurde er bis ins 17. Jh. hinein 13milie. Er erhielt seine erste Ausbildung im mal gedruckt; u. auch als Hans Sachs in seiner Kloster Fulda, in dem er auch als UrkundenTragedia mit 23 Personen (1553) die Prosa neuschreiber belegt ist (788 u. 791). Vor Frühjahr erlich in Reimpaare umwandelte, blieben 796 wurde er an den Hof Karls des Großen einzelne Wendungen des alten Textes erhalgesandt. In dessen Hofkapelle u. -schule entten. stand offensichtlich ein von Respekt u. VerAusgaben: Tristrant. Hg. Hadumod Bußmann. trauen bestimmtes Verhältnis zwischen E. u. Tüb. 1969 (Abdr. der alten Fragmente). – Tristrant. dem berühmten Gelehrten Alkuin (um Hg. Danielle Buschinger. Göpp. 1976 (Abdr. der 730–804). Nach Alkuins Weggang vom späten Hss.). – Tristrant u. Isalde. Hg. dies. Bln. Aachener Hof 796 trat E. in dessen Funktio2004 (nach der Heidelberger Hs.). nen ein u. übernahm leitende (künstlerische) Literatur: Gerhard Schindele: Tristan. Stgt. Aufgaben sowie zeitweise die Oberaufsicht 1971. – Danielle Buschinger: Le ›Tristrant‹ d’E. v. O. 2 Bde., Lille 1974. – Wolfgang Mohr: Tristan u. der kgl. Bauten in Aachen. Karl ließ ihn als Isolde. In: GRM 57 (1976), S. 54–83. – Gesa Bonath: polit. Ratgeber Briefe u. Erlässe abfassen u. Naupetenis – Tristan der Zwerg. Zum Schluß v. E.s übertrug ihm bes. Gesandtschaften. Unter ›Tristrant‹. In: Germanistik in Erlangen. Hg. seinem Nachfolger Ludwig dem Frommen Dietmar Peschel. Erlangen 1983, S. 41–60. – Volker (Kaiser seit 814) genoss E. dieselbe Vertrau-
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ensstellung. Er besaß zahlreiche Lehen u. war Laienabt mehrerer Klerikergemeinschaften. Auf dem ihm von Ludwig geschenkten Eigengut erbaute er eine Basilika (in Michelstadt-Steinbach), die er mit den Reliquien zweier Märtyrer, der in seinem Auftrag aus Rom transferierten Katakombenheiligen Marcellinus u. Petrus, ausstattete (827). Ihren endgültigen Ort erhielten sie ab Jan. 828 in Seligenstadt, zunächst in einer von E. erbauten Kirche, an der er zur Kultpflege u. Betreuung der Pilger eine Klerikerkongregation gründete, u. später in der heutigen, von E. etwa 830–836 errichteten Einhardsbasilika. Im Frühjahr 830 zog sich E. vom Hof zurück, um mit seiner Frau Imma († 836) in seinem Seligenstädter Kloster zu leben. Bei sich hatte er seine Bibliothek seltener Bücher, wie u. a. aus dem Briefwechsel mit dem Gelehrten Lupus von Ferrières (geb. um 805), dem Freund seiner letzten Jahre, erhellt. Abgesehen von verlorenen Schriften, den Arbeiten des »cancellarius« E. u. vier erhalten gebliebenen Urkunden in Angelegenheiten seiner Klöster sind lat. Werke verschiedener Gattungen von ihm bekannt. 59 historisch u. biografisch aufschlussreiche Briefe (823–840) sind fast alle nur in einer Briefmustersammlung überliefert. Über die Überführung u. die – auch überregional sich ereignenden – Wunder »seiner« Heiligen verfasste E. in einfachem Stil einen Bericht in vier Büchern (Translatio et miracula SS. Marcellini et Petri), der nach Aug. 830 öffentlich wurde. Wahrscheinlich stammt auch die Passio martyrum Marcellini et Petri, eine rhythm. Bearbeitung einer wohl im 5./6. Jh. entstandenen Legende, von E. In einem nach einer Frage des Lupus benannten theolog. Traktat Quaestio de adoranda cruce von 836 untersuchte er die Möglichkeit der Kreuzesverehrung; zur gleichen Zeit könnte er auch ein Gebetbuch ausgewählter Psalmen zusammengestellt haben. Diese Schriften sind in jeweils ein bis drei Handschriften des 9. oder 10. Jh. überliefert. Die seinen Ruhm begründende Vita Karoli Magni hingegen gehört zu den meistüberlieferten Geschichtswerken des MA (bisher in 134 Handschriften seit dem 9. Jh. sicher nachgewiesen). Ihre Datierung wird in jüngerer Zeit vor 829/30 oder ca. 817 bzw. in den
Einhard
früheren 820er Jahren angesetzt. Mit den Mitteln der ciceronianischen Rhetorik, in der Disposition Suetons Vitae Caesarum folgend, jedoch mit dem sprachl. Material der Hagiografie, verfasste E. als Augenzeuge, um der Erinnerung an den großen Karl († 814) willen, die erste nachantike Biografie eines säkularen Herrschers. Sie wurde sogleich Bestandteil des karoling. Gedächtnisses u. sollte für Jahrhunderte die lat. u. dt. Geschichtsschreibung sowie die Karls-Literatur beeinflussen. Ausgaben: Vita Karoli Magni: Hg. Oswald HolderEgger. Hann./Lpz. 61911 (MGH SS Rer. Germ. in us. schol. 25). Nachdr. 1965. Übers. v. Reinhold Rau. In: Quellen zur karoling. Reichsgesch. 1. Tl., Darmst. 1955. Nachdr. 1993, S. 157–211. Faksimileausg. [...] aus Codex Vindobonensis 529 (Folio 1–13) der Österr. Nationalbibl. [Komm., Transkription, Übers.] v. Wolfgang Milde u. Thomas Wurzel. Graz 1991. – Translatio: Hg. Georg Waitz. Hann. 1887 (MGH SS 15. Pars 1, S. 238–264). Nachdr. 1992. Übers. v. Karl Esselborn. Darmst. 1925. Nachdr. 1977. – Passio: Hg. Ernst Dümmler. Bln. 1884 (MGH Poetae latini. Tom. 2, S. 125–135). Nachdr. 1999. Prosaübers. v. Karl Esselborn. In: Archiv für hess. Gesch. u. Altertumskunde, N. F. 15, 1 (1926), S. 77–83. – Epistolae/Quaestio: Hg. Karl Hampe. Bln. 1899 (MGH Epistolae 5, S. 105–145, 146–149). Nachdr. 1995. Übers. der Briefe v. Michael Tangl. In: Otto Abel: Kaiser Karls Leben. 4. Aufl., bearb. u. erw. v. M. Tangl. Lpz. 1920, S. 60–87 (Ausw.). Übers. der Quaestio in: Das Einhardkreuz. Hg. Karl Hauck. Gött. 1974, S. 211–216. – Libellus de psalmis: Hg. Marco Vattasso. In: Bessarione 31 (1915), S. 92–104 (Ausw.). Literatur: Immo Eberl: E. In: VL. – Josef Fleckenstein: E. In: LexMA. – Hermann Schefers: E. Ein Lebensbild aus karoling. Zeit. MichelstadtSteinbach 1993. – E. Studien zu Leben u. Werk. Hg. Hermann Schefers. Darmst. 1997. – Matthias M. Tischler: E.s ›Vita Karoli‹. Studien zur Entstehung, Überlieferung u. Rezeption. 2 Tle., Hann. 2001. – David Ganz: E.’s Charlemagne: the characterisation of greatness. In: Charlemagne. Empire and society. Hg. Joanna Story. Manchester u. New York 2005, S. 38–51. Sabine Schmolinsky
Einsiedel-Scharfenstein
Einsiedel-Scharfenstein, Friedrich Hildebrand von, * 30.4.1750 Burg Lumpzig bei Altenburg, † 9.7.1828 Jena. – Dramatiker u. Übersetzer.
236 Mohrin‹, ›Der Selbstpeiniger‹, ‹Die Fremde aus Andros‹, ‹Der Hausfreund‹, ›Die Schwiegermutter‹]. Literatur: Hans Knoll: F. H. v. E. In: Ztschr. des Vereins für Thüring. Gesch. u. Altertumskunde, N. F. 22 (1915), S. 186–202. – Oscar Fambach: E.s Übers. der ›Adelphoe‹ des Terenz in der dt. Bühnen- u. Kritikgesch. In: JbFDH (1968), S. 59–129. – Simone Hauns: Athen – Rom – Weimar: Die Hecyra des Terenz im Spiegel ihrer Weimarer Übers. durch F. H. v. E. In: ScriptOralia Romana. Die röm. Lit. zwischen Mündlichkeit u. Schriftlichkeit. Hg. Lore Benz. Tüb. 2001, S. 169–201.
E. wurde mit elf Jahren Page am Hof der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-WeimarEisenach. Nach dem Jurastudium wurde er Assessor der Weimarer Justizverwaltung, folgte jedoch bald seinen künstler. Ambitionen. Im Okt. 1776 ging er als Kammerherr an den Weimarer Hof; dort war er u. a. Reisemarschall, Maître de Plaisir, Schauspieler, Walter Hettche / Red. Musiker, Komponist u. Dichter. Bei Hof erfreute er sich allseitiger Beliebtheit, wie sein Beiname »l’ami« belegt. Mit Goethe u. Her- Einstein, Carl, auch: Sabine Ree, Urian, * 26.4.1885 Neuwied, † 5.7.1940 bei der pflegte er freundschaftl. Kontakt. Neben bühnenwirksamen Possen schrieb Boeil-Bézing/Dép. Basses-Pyrénées (FreiE. anakreont. Lyrik u. liedhafte Gedichte im tod). – Schriftsteller u. Kunstkritiker. Stil Goethes. In seinem Stück Adolar und Hi- E. wuchs in Karlsruhe auf, wo sein Vater Dalaria oder Die Zigeuner spielte Goethe 1780 den niel Einstein (1847–1899) 1888 Direktor am Adolar. Die Grundlinien zu einer Theorie der Israelitischen Landesstift (zuständig für den Schauspielkunst [...] (Lpz. 1797. Neudr., hg. v. Religionslehrernachwuchs) geworden war. Anton Kippenberg u. Carl Schüddekopf. Lpz. Abitur 1903, eine Banklehre in Karlsruhe 1908. Zuletzt Stgt. 1991. Mikrofiche-Ed. brach er ab. Ab dem Wintersemester 1904/05 Mchn. 1990–94) fanden Schillers Beifall, u. studierte E. Philosophie, Kunstgeschichte, auch E.s Beiträge in den »Horen«, im »Jour- Geschichte u. Altphilologie in Berlin, blieb nal des Luxus und der Moden« u. im »Tie- jedoch ohne Abschluss; ab 1908 lebte er als furter Journal« wurden allg. gelobt, ebenso freier Schriftsteller. E. stand in Kontakt zu seine Bearbeitungen u. Übersetzungen von Franz Blei, der ihn förderte; ab 1910 bestand Stücken des Plautus, des Terenz u. Calderóns. Verbindung mit dem Kreis um die Zeitschrift E.s sechs Lustspiele des Terenz inszenierte »Die Aktion« (Franz Pfemfert) u. zur Berliner Goethe auf dem Weimarer Theater, um die Boheme (u. a. Kurt Hiller u. Ludwig Rubiner). antike Maskenkomödie wiederzubeleben. 1912 mehrmonatiger Aufenthalt in Paris Die Buchausgabe der Brüder [Adelphoe, dt.] (Kontakte zu den dt. Malern Rudolf Gross(Lpz. 1802) bezieht sich auf Goethes Insze- mann, Hans Purrmann u. a., vor allem aber nierung u. zeigt Gestalten der Weimarer zu den Kubisten, enge Beziehung zu Marcel Rey); Rückkehr nach Berlin (Kontakte zum Aufführung in kolorierten Kupferstichen. Wegen seines sorglosen u. leichtsinnigen »Blauen Reiter«); 1913 heiratete er die Russin Lebenswandels verarmte E. im Alter; auch die Maria Ramm, Pfemferts Schwägerin (ScheiStelle des Präsidenten am Oberappellations- dung 1923); 1914 Kriegsfreiwilliger; nach gericht in Jena, die er 1817 erhielt, konnte Verwundung 1915 Unteroffizier in Neunicht mehr zur Sanierung seiner zerrütteten Breisach/Elsass; 1916 abkommandiert zur Zivilverwaltung des Generalgouvernements Finanzverhältnisse beitragen. in Brüssel, Abteilung Kolonien; Umgang mit Weitere Werke: Ceres. Ein Vorspiel. Weimar Carl u. Thea Sternheim sowie Gottfried Benn. 1773. – Dschinnistan, oder Auserlesene Feen- u. Geister-Märchen [...] (zus. mit Wieland u. Jakob E. lernte dort auch Gräfin Aga von Hagen August Liebeskind). 3 Bde., Winterthur 1786–89. – kennen, seine langjährige Lebensgefährtin Die Brüder [Adelphoe]. Ein Lustsp. nach Terenz. (bis 1927). 1918 übernahm er eine führende Lpz. 1802. – Lustspiele des Terenz in freyer metr. Rolle im Brüsseler Soldatenrat, im Dez. Übers. 2 Bde., Lpz. 1806 [enth. ›Die Brüder‹, ›Die Flucht nach Berlin; 1919 Kontakt zu sparta-
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kist. Kreisen, wesentl. Mitarbeit im Berliner DADA (Bruch 1920); ab 1920 zunehmend erfolgreiche Tätigkeit als Kunstkritiker u. Kunsthistoriker in Berlin, Reise- u. Vortragstätigkeit. Die 1923 geplante Heirat mit der Frankfurter Bankierstochter Tony SimonWolfskehl zerschlug sich; 1925 gab er (zus. mit Paul Westheim) den Europa-Almanach heraus. 1928 erfolgte die Übersiedelung nach Paris, enger Kontakt zu den Surrealisten; von 1929 bis 1931 war E. Mitherausgeber der Zeitschrift »Documents«; Freundschaft mit Georges Braque, Michel Leiris, André u. Clara Malraux. 1932 heiratete er die Armenierin Lydia Guevrenikan (geb. 1915); die polit. Entwicklung machte eine Rückkehr ab 1933 nach Deutschland unmöglich, Versuche, nach Großbritannien u. in die USA zu emigrieren, scheiterten. 1936–1939 nahm E. am Spanischen Bürgerkrieg in Barcelona auf anarchistischer Seite (»Kolonne Durruti«) teil; 1939 Rückkehr nach Frankreich, zeitweise Internierung im Lager Argelès, Rückkehr nach Paris, 1940 neuerl. Internierung in einem Lager bei Bordeaux (Bassens?). Fluchtversuche nach der dt. Besetzung scheiterten, da der Weg über Spanien nicht möglich war. Freitod in den Pyrenäen. Der literar. Nachlass (Findbuch Carsten Wurm) ist zerstreut, der Hauptteil befindet sich im Archiv der Berliner Akademie der Künste. E.s literar. Anfänge sind dem Symbolismus verpflichtet, doch geht er mit seinem epochemachenden Erstlingsroman Bebuquin (1906 begonnen, 1912 veröffentlicht. Nachdr. Stgt. 1995) bei stofflicher Bohemeperspektive neue textexperimentelle Wege eines entkausalisierten, alogischen Erzählens, das vertraute Raum-/Zeit-Strukturen auflöst (»absolute Prosa«). E. entwickelt sein radikales Schreibmodell in einer Reihe von theoretischen (Anmerkungen. 1916) u. poet. Texten (Der unentwegte Platoniker. 1918; eine Fortsetzung des Bebuquin in den 1920er Jahren, der sog. BEB II-Komplex, bleibt Fragment) zwar weiter, doch rückt insg. der literar. Werkanteil in den Hintergrund. Das Verbot seines Dramas Die schlimme Botschaft (1921) wegen Gotteslästerung verstärkte seine Reserve. An die Stelle literarischer Produktion traten Kunstkritik u. Kunstgeschichtsschreibung.
Einstein
Das betrifft zum einen Die Kunst des 20. Jahrhunderts, deren erste Gesamtdarstellung E. im Rahmen der Propyläen-Kunstgeschichte vorlegte (1926. Erw. 31931. Bln. 1996). Seine intensive Beschäftigung mit dem Kubismus öffnete ihm den Blick für die von jenem prägend rezipierte, »primitive« Kunst Afrikas. Mit Negerplastik (1915. 21920. Ergänzend Afrikanische Plastik. 1922) vermittelte er erstmals einen Begriff von diesen Kunstformen als ästhetisch gleichwertiger Gestaltungsleistung im Vergleich zur europ. Tradition. Er ergänzte dieses Anliegen durch eine Bearbeitung afrikanischer Literatur (Afrikanische Legenden. Bln. 1925. Lpz. 1989). 1929–1931 gab er mit Georges Bataille die Avantgardezeitschrift »Documents« heraus u. verfasste zahlreiche Artikel dafür. Der letzte von E. publizierte literar. Text, das Poem Entwurf einer Landschaft, versteht sich als »kubistische« Dichtung (1930). Dem Kubisten George Braque ist E.s letzte Veröffentlichung (1934) gewidmet. Das groß angelegte Projekt eines Handbuchs der Kunst kommt über Entwürfe nicht mehr hinaus. Sein in den frühen 1930er Jahren konzipiertes Pamphlet Die Fabrikation der Fiktionen, das den Intellektuellen, Autoren u. Künstlern der Avantgarde politisches Versagen im 20. Jh. vorwirft, bleibt zu Lebenszeit ungedruckt (hg. Sibylle Penkert u. Karin Sello. Reinb. 1973). Weitere Werke: Existenz u. Ästhetik. Hg. Sibylle Penkert. Wiesb. 1970. – Laurenz oder Schweißfuß klagt gegen Pfurz in trüber Nacht. Hg. Walter Huder. Bln. 1971. – Ethnologie de l’art moderne. Hg. L. Meffre. Marseille 1993 [Documents-Beiträge C. E.s 1929/30]. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. E. Nef. Wiesb. 1962. – Werke. Hg. Rolf-Peter Baacke, Marion Schmid u. Liliane Meffre. 3 Bde., Bln./Wien 1980–85. Durchges. u. erw.: 5 Bde., Bln. 1992–96 (Bd. 4. Hg. Hermann Haarman. Bd. 5. Hg. Uwe Fleckner). – C. E. – Daniel-Henry Kahnweiler: Correspondance 1921–39. Hg. Liliane Meffre. Marseille 1993. Literatur: Sibylle Penkert: C. E. Gött. 1969. – Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie C. E.s. Mchn. 1976. – Hans-Joachim Dethlefs: Bildverbot u. Bildersturm. C. E. Marburg 1979 (Diss.). – Ders.: C. E. Ffm. 1985. – Klaus Kiefer (Hg.): Avantgarde – Weltkrieg – Exil. Materialien zu C. E. u. Mynona. Ffm./Bern 1986. – C. E. In: Text + Kritik 95 (1987). – Christoph Braun: C. E. Mchn. 1987. – Wilfried
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Ihrig: Literar. Avantgarde u. Dandysmus. Ffm. 1988. – C. E. Kolloquium 1986. Hg. K. H. Kiefer. Ffm. u. a. 1988. – Ines Franke-Gremmelspacher: ›Notwendigkeit der Kunst‹? Zu den späten Schr.en C. E.s. Stgt. 1989. – Liliane Meffre: C. E. et la problématique des avant-gardes dans les arts plastiques. Bern u. a. 1989. – C. E. – Materialien. Bd.1. Hg. Rolf-Peter Baacke. Bln. 1990. – Andreas Kramer: Die ›verfluchte Heredität loswerden‹. Studie zu C. E.s ›Bebuquin‹. Münster 1990. – Thomas Krämer: C. E.s ›Bebuquin‹. Romantheorie u. Textkonstitution. Würzb. 1991. – Dirk Heißerer: Negative Dichtung. Zum Verfahren der literar. Dekomposition bei C. E. Mchn. 1992. – Rüdiger Riechert: C. E. Kunst zwischen Schöpfung u. Vernichtung. Ffm. u. a. 1992. – Eckhard-Ehmke Sohns: Der Leser C. E.s. Zu einer Kritik der Interpr. in den frühen Texten. Ffm. u. a. 1992. – K. H. Kiefer: Diskurswandel im Werk C. E.s. Tüb. 1994. – Antje Quast: Das Neue u. die Revolte. Schüsselbegriffe der Avantgarde bei Guillaume Apollinaire u. C. E. Bonn 1994. – Manuela Günter: Anatomie des AntiSubjekts. Zur Subversion autobiogr. Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin u. C. E. Würzb. 1996. – C. E.-Kolloquium 1994. Hg. K. H. Kiefer. Ffm. u. a. 1996. – Henner Grube: C. E. Eine Bibliogr. Mainz 1997. – Reto Sorg: Aus den ›Gärten der Zeichen‹. Zu C. E.s ›Bebuquin‹. Mchn. 1998. – C. E.-Kolloquium 1998. Hg. Roland Baumann u. Hubert Roland. Ffm. u. a. 2001. – Conor Joyce: C. E. in ›Documents‹ And His Collaboration With Georges Bataille. Philadelphia 2002. – L. Meffre: C. E. 1885–1940. Itinéraires d’une pensée moderne. Paris 2002. – Johannes Sabel: Text u. Zeit. Versuche zu einer Verhältnisbestimmung ausgehend v. C. E.s Roman ›Bebuquin‹. Ffm. u. a. 2002. – Carsten Wurm: C. E. 1885–1940. Bln. 2002. – German Neundorfer: ›Kritik der Anschauung‹. Bildbeschreibung im kunstkrit. Werk C. E.s. Würzb. 2003. – Die visuelle Wende der Moderne. C. E.s Kunst des 20. Jh. Hg. K. H. Kiefer. Mchn. 2003. – Johanna Dahm: Der Blick des Hermaphroditen. C. E. u. die Kunst des 20. Jh. Würzb. 2004. – Uwe Fleckner: C. E. u. sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biogr. Bln. 2006. Erich Kleinschmidt
Einstein, Siegfried, * 30.11.1919 Laupheim/Württemberg, † 25.4.1983 Mannheim. – Essayist u. Lyriker. Der Sohn eines jüd. Warenhausbesitzers wurde 1934 Opfer antisemitischer Vorfälle an seiner Schule u. daraufhin von den Eltern auf ein schweizerisches Internat geschickt. Dort
machte er das Abitur u. erwarb ein Sprachenu. Handelsdiplom. 1941–1945 war er in einem Arbeitslager interniert. Nach Kriegsende blieb E. zunächst in der Schweiz. Er arbeitete als Journalist u. war zeitweilig Leiter eines kleinen Verlags. 1946 erschien sein erster Gedichtband Melodien in Dur und Moll (Zürich), über den Thomas Mann anerkennend schrieb: »Es ist viel Innigkeit und lautere Bewunderung Gottes in Ihren Worten.« In den folgenden Jahren wurde das Schicksal des Emigranten themat. Mittelpunkt seiner Dichtung, z.B. in seiner zweiten Gedichtsammlung Wolkenschiff (Zürich 1950), in der sich auch sein bekanntestes Gedicht Schlaflied für Daniel befindet. 1953 kehrte E. in die Bundesrepublik zurück u. musste feststellen, dass er hier als Jude noch immer Verunglimpfungen ausgesetzt sein konnte: »Die Toten klagen im Wind – / Und niemand ist aufgewacht« (Ulm ab 18.23 – Frankfurt an 21.15. In: Streit-Zeit-Schrift 2, 1959, S. 74). In Artikeln u. Reden versuchte er, die Öffentlichkeit aufzurütteln u. darauf aufmerksam zu machen, dass nur wenige der im Dritten Reich Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden waren. Weitere Werke: Legenden. Thal/St. Gallen 1949. – Eichmann – Chefbuchhalter des Todes. Ffm. 1961 (Dokumentation). – Meine Liebe ist erblindet. Mannh. 1984 (L.). – Wer wird in diesem Jahr den Schofar blasen? Gießen 1987 (Ess.). Literatur: Siegfried Gerth: S. E. In: Mannheimer H.e (1983). – Eberhard Thieme: Leben – u. vergessen? In: S. E.: Meine Liebe ist erblindet. a. a. O. (mit Bibliogr.). Peter König / Red.
Einzinger, Erwin, * 13.5.1953 Kirchdorf/ Oberösterreich. – Verfasser von Lyrik u. Prosa, Übersetzer. Nach dem Schulbesuch in Linz studierte E. in Salzburg Anglistik u. Germanistik. Seit 1974 publiziert er Texte – zuerst in Anthologien u. Literaturzeitschriften. Zus. mit jungen Salzburger Autoren gründete er die Literaturgruppe »Projektil«, die 1975–1980 die gleichnamige Zeitschrift herausgab. 1975–1979 war E. Redaktionsmitgl. der Salzburger Literaturzeitung »SALZ«. 1975
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Eipper
wurde er Lehrer am Gymnasium in Kirch- schichte der Unterhaltungsmusik (St. Pölten/ Salzb. 2005) vorlegte: ein anekdotisch-assodorf. E. lebt im oberösterr. Micheldorf. 1977 erhielt er den Georg-Trakl-Förder- ziativer Streifzug durch die Geschichte unsepreis, u. im selben Jahr erschien auch sein rer Zivilisation. E. wurde 1984 mit dem Rauriser Literaerster Gedichtband u. d. T. Lammzungen in Cellophan verpackt (Salzb. 1977): Fotos neben turpreis (zus. mit Alain Claude Sulzer), 1994 den Gedichten betonen die visuelle Kompo- mit dem manuskripte-Preis des Landes Steinente der Textgestaltung. E. macht die ihn ermark, 1996 mit dem Literaturpreis der umgebende gegenständl., gesellschaftl. u. Salzburger Wirtschaft u. 2002 mit dem Kulsprachl. Welt zum Thema u. zeichnet seine turpreis des Landes Oberösterreich ausgeWahrnehmungen sprachl. Schnappschüssen zeichnet. 2000 war er writer-in-residence der vergleichbar auf. Nach seinem Erstling ge- Bowling Green State University (Ohio, USA). lang ihm der Sprung zum renommierten Literatur: Evelyne Polt-Heinzl: Die kleinen Salzburger Residenz Verlag. Die leise Ironie, Feuer zwischen den Zeilen. Über den oberösterr. die in den Kurzbiografien, Skizzen u. Cha- Autor E. E. In: Die Rampe (1995), H. 2, S. 19–53. – rakterbildern des ersten dort erschienenen Christine Grond: E.E. In: KLG. – Thomas Kraft: E. Bandes anklingt (Das Erschrecken über die Stille, E. In: LGL. Kristina Pfoser-Schewig / Bruno Jahn in der die Wirklichkeit weitermachte. Einundsiebzigundein Leben. Salzb./Wien 1983), wird im Eipper, Paul, * 10.7.1891 Stuttgart, † 22.7. Roman Kopfschmuck für Mansfield (Salzb./Wien 1964 Lochham bei München. – Publizist 1985) entschieden u. offensiv fortgesetzt. Im u. Verfasser von Tierbüchern. Wechsel zwischen Ich- u. Er-Perspektive wird von einem Mann erzählt, der auf seiner Reise E. war zunächst Kunstmaler. Von 1912 bis durch Cornwall ein Buch von Katherine zum Kriegsdienst arbeitete er als BuchhändMansfield liest u. der Lebensgeschichte der ler. 1917 trat er in Berlin als Privatsekretär früh verstorbenen Schriftstellerin nachgeht. von Samuel Fischer in dessen Verlag ein, 1920 Seine eigene Vergangenheit reflektierend, in den Fritz Gurlitt Verlag. Von den zahlreierfindet er selbst Geschichten u. probiert chen intensiven Kontakten, die er als HerIdentifikationsmuster aus. Mit weiteren Ly- stellungs- u. Redaktionsleiter dieses Kunstrik- u. Prosabüchern – dem Gedichtband verlags fand, zeugen nur noch die postum Tiere, Wolken, Rache (Salzb./Wien 1986) u. den herausgegebenen Ateliergespräche mit LieberProsabänden Das Ideal und das Leben (Salzb./ mann und Corinth (Mchn. 1971), deren BeWien 1988) u. Blaue Bilder über die Liebe (Salzb./ deutung v. a. im Anekdotischen liegt. 1928 Wien 1992) sowie den Gedichtbänden Kleiner gelang ihm nach langjährigen, teilweise in Wink in die Richtung, in die jetzt auch das Messer Zeitungen publizierten literar. u. fotograf. zeigt (Salzb./Wien 1994) u. Hunde am Fenster Studien ein Buch, das in der Tierliteratur (Salzb./Wien 2008) – liefert er eine Fülle von neuartig war u., in viele Sprachen übersetzt, Momentaufnahmen aus dem bunten u. oft ein Welterfolg wurde: Tiere sehen dich an (Bln.). beschädigten zeitgenöss. Leben. Das wilde Brot Sein an der zeitgenöss. Kunst geschultes (Salzb./Wien 1995) ist eine erregende Wan- Empfinden für kreatürl. Lebendigkeit bederung durch Rom, wo – im Zeichen des hl. währte sich bei seinem Versuch, Tiere als Rochus – Heiliges u. Hündisches, Dolce Vita ausdrucksvolle Subjekte mit einem eigenen, u. faschist. Vergangenheit sich durchdringen. uns aber verwandten Leben zur Geltung zu E.s Texte sind von hoher Komplexität, reich bringen. Seit 1930 widmete er sich dieser an Beobachtungen, Details u. Bildhaftigkeit. Aufgabe in unzähligen Vorträgen, Funk- u. Nach dem Rom-Buch betätigte sich E. fast Fernsehserien, Filmen (Kamerad Tier, Waldzehn Jahre lang als Übersetzer amerikani- tierwelt der deutschen Heimat) u. Büchern über scher Literatur (u. a. von John Ashbery, Wil- Tiere aus aller Welt. liam Carpenter, Robert Creeley, James Weitere Werke: Menschenkinder. Mit 32 Schuyler), bevor er 2005 den mit Fußnoten u. Bildnisstudien nach Originalaufnahmen v. Hedda Register versehenen »Roman« Aus der Ge- Walther. Bln. 1929. – Die geschmiedete Rose. Ju-
Eisenacher Zehnjungfrauenspiel
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gend im Schwabenland. Mchn. 1961. – Wiedersehen mit Tieren. Ausgew. v. Veronika Eipper. Nachw. v. Adolf Portmann. Mchn. 1966. Literatur: Elfriede Horn: Naturforscher u. Schriftsteller. P. E. In: Geehrt, geliebt, vergessen? Hg. dies. Melsungen 1985, S. 65–70. Walther Kummerow † / Red.
Eisenacher Zehnjungfrauenspiel Thüringisches Zehnjungfrauenspiel
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Eisendle, Helmut, * 12.1.1939 Graz, † 20.9.2003 Wien. – Verfasser von Essays, Stücken, Hör- u. Fernsehspielen sowie von sprach- u. literaturkritischer Prosa. Der Sohn eines höheren Postverwaltungsbeamten erlernte zunächst den Beruf eines Telefonmechanikers in seiner Heimatstadt, holte dann aber die Matura nach, studierte in Graz Biologie, Zoologie u. Psychologie u. wurde 1970 aufgrund einer Arbeit über Das Fehlverhalten beim Lösen von Intelligenzproblemen als weitere Information über die Struktur der Persönlichkeit zum Dr. phil. promoviert. Nach zweijähriger Tätigkeit in der Pharmabranche u. in einer »Psychologischen Arbeitsgruppe für Erziehungsberatung und Verhaltensmodifikation« wurde er 1972 freier Schriftsteller, lebte längere Zeit in Barcelona, Berlin (West), München, Friaul, Triest, Amsterdam u. in der Steiermark, bis er sich 1993 in Wien niederließ. E. war Mitgl. der »Grazer Autorenversammlung« u. des Grazer »Forum Stadtpark«; zus. mit Gert Jonke u. Gerhard Roth zählte er innerhalb dieser avantgardist. Schriftstellergruppen zu den »literarischen Szientisten« der österr. Gegenwartsliteratur. Er zeichnete sich dabei durch eine radikale sprach- u. literaturkrit. Position aus, die zgl. zum Ausgangspunkt einer prinzipiellen Kritik insbes. der Naturwissenschaften wurde. Den Beginn dieser Auseinandersetzung mit dem von E. postulierten »literarischen« Charakter der Wissenschaft bildete seine Beschäftigung mit neobehaviorist. Lerntheorien während des Psychologiestudiums; ihrer Dokumentation u. versuchsweisen Anwendung auf fiktive Lebensläufe widmeten sich seine frühen literar. Arbeiten, z.B. das Stück A
Violation Study oder El Condor Pasa (in: manuskripte 33, 1971, S. 23–32). Konsequent weiter in seiner Wissenschaftskritik ging E. mit dem Roman Walder oder die stilisierte Entwicklung einer Neurose. Ein programmiertes Lehrbuch des Josef W. (Mchn. 1972. Linz 1984. Erstdr. in: manuskripte 31/32, 1971, S. 1–101). In der Reduktion auf ein vorgegebenes Modell u. der Ausgrenzung der Realität erweist sich die Unzulänglichkeit des »programmierten Lehrbuchs«; es scheitert an seinem Mangel an Leben. Sarkastisch bietet der Autor als Ersatz – nach dem Selbstmord des neurot. Josef Walder – im Schlusskapitel des Romans die »Suicidologie« als neuen, vielversprechenden Forschungszweig an. Explizit formuliert E. die seiner Meinung nach offenkundige Gleichung »Wissenschaft ist Kunst« in dem Theaterstück Salongespräch oder Die Chronik der geistigen Wunder schimmert fahl und zweideutig (in: manuskripte 44, 1974, S. 3–12). Stark beeinflusst von Fritz Mauthners Abhandlung Beiträge zu einer Kritik der Sprache, entwickelte E. in dem 1974 beim »Steirischen Herbst« gehaltenen Referat Sprache und Schreiben oder Der Terminus Realismus (in: Realismus – welcher? Sechzehn Autoren auf der Suche nach einem literarischen Begriff. Hg. Peter Laemmle. Mchn. 1976, S. 92–97) einen Literaturbegriff, der, von der Subjektivität jeder sprachl. Äußerung ausgehend, den privaten Akt des Schreibens in den Vordergrund rückt u. als Beurteilungskriterium von Literatur einzig deren Wirkung auf den Leser anerkennt. Erste Anwendung fand diese sprachkrit. Position in dem Roman Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand (Salzb./Wien 1976. Neuausg. Bln. 2001), der das Verhältnis des Autors zu den Theoriegebäuden der Wissenschaft in einem neuen Licht zeigt. Das Verhältnis von Literatur u. Wissenschaft bleibt ein Hauptthema von E. u. drängt bei ihm auf eine Erweiterung des Literaturbegriffs. E. legte eine stattl. Reihe von Essays, Hörspielen, dialogischen u. erzählerischen Werken vor. Aufmerksamkeit erregten v. a. der sprachkrit. »Unterhaltungsroman« Exil oder Der braune Salon (Salzb. 1977); der dialog. »Roman« Die Frau an der Grenze (Salzb./Wien 1984), der das konfliktträchtige Verhältnis
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zwischen den Geschlechtern thematisiert; der Liebe. Wien 1998 (mit Fotografien v. Lisl Ponger). – Roman Oh Hannah! (Wien/Darmst. 1988), der Lauf, Alter, die Welt ist hinter dir her. Wien/Mchn. in einer Art Fallgeschichte den schwierigen 2000 (E.). – Gut u. Böse sind Vorurteile der Götter. Selbstfindungsprozess einer Frau beschreibt, Ein Gespräch. Salzb./Wien/Ffm. 2002. – Herausgeber: Österr. lesen. Texte v. Artmann bis Zeemann. die nach dem Tod ihres Vaters mit den NorWien 1995. – Fremd. Eine Anth. Wien/Mchn. 1997. men u. Gepflogenheiten ihrer gutbürgerl. Literatur: Peter Laemmle: Aus dem SuicidUmgebung nicht mehr zurechtkommt; die kästlein eines Grazer Menschenfreunds. Zu den Erzählung Block oder Die Melancholie (Zürich Texten u. Stücken H. E.s. In: Wie die Grazer aus1991), die, in Berlin angesiedelt, in einem zogen, die Lit. zu erobern. Hg. ders. u. Jörg Drews. langen Bewusstseinsmonolog die Psyche ei- 2., erg. Aufl. Mchn. 1979, S. 113–121. – Johan D. C. nes handlungsunfähigen Solipsisten zum Potgieter: H. E.: The First Twenty Years on the Ausdruck kommen lässt; die »Camouflage« Contemporary Austrian Literary Scene. In: MAL 29 Die vorletzte Fassung der Wunderwelt (Zürich (1996), H. 2, S. 83–100. – Georg Patzer: H. E. In: 1993), die in 24 Kapiteln lebensgeschichtl. LGL. – Martin Lüdke, Manfred Mixner u. Nicolai Riedel: H. E. In: KLG. Stationen u. poet. Positionen des Autors reJohannes Sachslehner / Bruno Jahn flektiert; der Roman Der Egoist (Innsbr. 1996), in dem ein Mann sich durch die Liebesbegegnung mit einer Frau seines egoist. Cha- Eisenhart, Johann Friedrich, * 15.10.1720 rakters als eines »vorsichtigen Besitzers sei- Speyer, † 10.10.1783 Helmstedt. – Jurist. nes Lebens« bewusst wird. E. blieb bis zu seinem Tod trotz Krebser- E. entstammte einer Juristenfamilie; sein krankung sehr produktiv; sein letztes Buch, Großvater Johann († 1707) war Professor in der Roman Ein Stück des blauen Himmels Helmstedt, der Vater Archivar u. Kanzleise(Salzb./Wien/Ffm. 2003), der von einem al- kretär in Speyer. Ab 1739 studierte E. an der ten, an Speiseröhrenkrebs erkrankten artes-Fakultät in Helmstedt; das 1741 folSchriftsteller handelt, erschien wenige Tage gende Jura-Studium wurde 1746 mit dem vor E.s Tod. Für sein Schaffen wurde E. seit Lizentiat abgeschlossen. Nach zwei Jahren in Göttingen kehrte E. nach Helmstedt zurück, 1972 mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, wo er 1748 Doktor, 1751 a. o. Professor, 1755 zuletzt 1993 mit dem Österreichischen WürOrdinarius, 1759 Hofrat u. 1763 Ordinarius digungspreis für Literatur. der Spruchfakultät wurde. Aus der LehrtäWeitere Werke: Hdb. zum ordentl. Leben oder tigkeit entstanden u. a. Einführungen in die Ein Testinstrument zur Prüfung der Anpassung an sog. Literaturgeschichte des gelehrten Rechts das Durchschnittsidealverhalten. Mchn. 1973 (P.). – (Institutiones historiae juris litterariae. Halle Daimon & Veranda oder Gespräche eines Mädchens 1752. 1763) u. in das dt. Privatrecht (Instituvor dem Tode. Jungfrauenleiden. Der Strahl der Augen trifft die Welt. Erlangen 1978 (L.). – Das tiones juris germanici privati. Halle 1753. 1761. nachtländ. Reich des Doktor Lipsky. Salzb./Wien 1775). E. gehört zu jenen »patriotischen« 1979 (E.en). – Das Verbot ist der Motor der Lust. Juristen, die sich Mitte des 18. Jh. mit MeSalzb./Wien 1980 (Ess.s). – Der Narr auf dem Hü- thoden der humanist. Jurisprudenz dem gel. Landstriche, Flüsse, Städte, Dinge. Salzb./Wien einheim. Recht zuwandten u. deren Leistung 1981. – Das schweigende Monster. Prosamoritat. unter dem Eindruck der nachfolgenden HisGraz 1981. – Ich über mich & keinen andern. Graz torischen Schule fast in Vergessenheit geriet. 1981. – Skinfaxi. Ein Märchen. Bln. 1983 (mit Bil- E. las über dt. Recht, schrieb Abhandlungen dern v. Susanne Berner). – Billard. Eine Groteske in dt. Sprache (Kleine Schriften. 2 Bde., Erfurt für zwei Personen. Graz 1984. – Anrufe. Der Dop1751–53) u. war Vorsteher der Teutschen pelgänger. Die Verfolgung. 3 Romane nach Giorgio Gesellschaft in Helmstedt. Daneben verfasste Manganelli. Wien/Bln. 1985. – Die Gaunersprache der Intellektuellen. Sechs Dialoge. Ffm. 1986 er Gedichte. Nachruhm fanden nur seine Studien über (Hörsp.e). – Beiläufige Gedanken über Etwas. Rechtssprichwörter. E. war nicht der erste Wien/Darmst. 1989 (Ess.s). – Entzauberungen. Aufsätze zu Lit. u. Kunst. Mit einem Nachw. v. Jurist, der Sprichwörter – seit Erasmus auch Franz Josef Czernin. Wien 1994. – Dschungel der ein Humanistenthema – kommentierte, aber
Eisenlohr
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seine Grundsätze der deutschen Rechte in Sprüch- Eisenlohr, Friedrich, * 26.5.1889 Freiburg wörtern (Helmstedt 1759. Lpz. 21792. Zuletzt i. Br., † 18.10.1954 Berlin/DDR. – Verneu bearb. Bln. 1935) hatten Erfolg, weil er fasser von Dramen u. Romanen. nicht ohne Gelehrsamkeit u. dennoch geE.s erste u. einzige noch bekannte Publikameinverständlich, ja »belletristisch«, zu tionen sind die von der frühexpressionist. schreiben verstand. Die Arbeit entstammte Groteske beeinflussten u. auf den dadaist. nicht rein antiquar. Interessen, sondern ist Individualanarchismus vorgreifenden Krimiauch ein Beitrag zur Erschließung der Genal-Sonette. Moritaten im klassischen Stil (Lpz. schichte des einheim. Rechts. In E.s Begriff 1913), die er in Zusammenarbeit mit Ludwig vom Sprichwort spielt neben der Form das Rubiner u. Livingstone Hahn verfasst hatte. übl. Element der Volksläufigkeit keine Rolle. In der konventionellen Form des Sonetts Im Geist des aufgeklärten Rationalismus gilt stellen sie eine zyn. Apologie des intellektudas Rechtssprichwort v. a. als mnemotechn. ellen Verbrechers dar. Der Zerfall bürgerl. Hilfsmittel, um in schriftlosen Zeiten Gesetz Moral wird kritisch konstatiert u. provokau. Gewohnheit »dem gemeinen Volk auf eine torisch propagiert. leichte Weise beizubringen«. Es ist also noch 1918 veröffentlichte E. in Franz Pfemferts nicht Äußerung von Volksrecht. Die EditiZeitschrift »Die Aktion« Essays über Frank onsgeschichte von E.s Buch spiegelte dann Wedekind u. Carl Sternheim, die zu Vorbiltrotzdem die Wellen des Nationalgefühls. Es dern seiner eigenen seitdem entstandenen, wurde, bearbeitet von Karl Eduard Otto, 1823 meist unveröffentlichten Dramen, vorwiein Leipzig zum dritten Mal aufgelegt, zum gend Komödien, wurden. Nach seinen neuvierten Mal 1935 in Berlin in einer Bearbeisachl. Zeitromanen Das gläserne Netz. Ein Rotung von Kurt Waldmann u. d. T. Deutsches man aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts (Bln. Recht in Sprichwörtern. 1927) u. Quintett 1928 (Bln. 1928) schrieb er Während E. die Rechtssprichwörter juriseine große Anzahl weiterer Romane, die sich tisch behandelte (Von dem Beweise durch jedoch nach 1933 zu Unterhaltungs- u. KriSprüchwörter. Erfurt 1750. Auch in: Kleine minalliteratur trivialisierten, um in affirmaSchriften. Bd. 1, Erfurt 1751), zielten seine Ertiver Literatur zu enden, die auch nationalzählungen von besonderen Rechtshändeln (10 sozialist. Ideologeme reproduzierte. Bde., Halle u. Helmstedt 1767–79) auf ein Nach 1945 wurde E. Leiter des Bühnenbreites Publikum. Sie sind ein dt. Gegenstück Vertriebs im Aufbau-Verlag, Berlin/DDR. etwa der Causes célèbres von Pitaval (1735–65. Weitere Werke: Die Legende der Marquise de Dt. 1747–68), eines zu jener Zeit beliebten Croisset. Bln./Mchn. 1918 (Schausp.). – Der Skanjuristisch-literar. Genres, das Literatur u. dal. Mchn. 1920 (Kom.). – Masken. Mchn. 1921 Kunst des ausgehenden 18. u. beginnenden (Kom.). – Die Herren vom Hebsack. Bln. 1936 (R.). – 19. Jh. nachweislich beeinflusst hat. Bomber über Warschau. Kameradschaft zweier dt. Literatur: Stintzing-Landsberg: Gesch. der dt. Rechtswiss. Bd. 3,I, Mchn./Lpz. 1898, S. 244. – Albrecht Foth: Gelehrtes röm.-kanon. Recht in dt. Rechtssprichwörtern. Tüb. 1971. – Eckhardt Meyer-Krentler: Die verkaufte Braut. Jurist. u. literar. Wirklichkeitssicht im 18. u. frühen 19. Jh. In: Lessing-Yearbook 16 (1984), S. 95–123. – Ders.: ›Geschichtserzählungen‹: zur Poetik des Sachverhalts im jurist. Schrifttum des 18. Jh. In: Erzählte Kriminalität. Hg. Jörg Schönert u. Joachim Linder. Tüb. 1991, S. 117–157. Govaert van den Bergh / Red.
Flieger. Bln. 1940 (E.). – Die große Probe. Bln. 1943 (R.). – Ewigkeiten lächeln ungesund. Mit einem Nachw. v. Klaus Völker. Mchn. 1992 (L.). Literatur: Ernst Lewalter: Der Dramatiker F. E. In: Die neue Schaubühne, 5. Jg., 2. H., 28.2.1925, S. 76–79. – Ernst Alker: Profile u. Gestalten der dt. Lit. nach 1914. Stgt. 1977, S. 225 f. – Paul Raabe: Die Autoren u. Bücher des literar. Expressionismus. Stgt. 1985, S. 132 f. (Bibliogr.). – Wolfgang Menzel: ›Der reizende Schlamper E.‹. Erinnerung an einen Freiburger Schriftsteller der ersten Jahrhunderthälfte. In: Allmende 14 (1994), H. 40/41, S. 144–161. Armin Schulz / Red.
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Eisenmenger, Johann Andreas, * 1654 Mannheim, † 20.12.1704 Mannheim. – Orientalist. Wann immer antisemit. Autoren seit dem 18. u. noch im 20. Jh. glaubten, ihren Invektiven u. Verleumdungen einen »wissenschaftlichen« Anstrich geben zu müssen, sind der Name E. u. sein Werk nicht weit; »wissenschaftlich« hieß dabei meist nur der Rekurs auf Originalzitate aus den jüd. Schriften statt auf die übl. Klischees aus zweiter u. dritter Hand. Der Sohn des kurfürstl. Steuereintreibers Johann David Eisenmenger (die genauen Geburtsdaten werden in keiner Arbeit über ihn genannt) entstammte einer alten pfälz. Familie protestantischer Konfession. Nach Studien der oriental. Sprachen, bes. des Hebräischen, seit 1670 am Heidelberger Collegium Sapientiae u. 1680–1681 auch in Amsterdam tritt er als Mitarbeiter an dem großen bibelkrit. Sammelwerk der Synopsis criticorum des Philologen Matthew Pole in Erscheinung. In dieser Zeit begann er auch die Arbeit an seinem Hauptwerk, das ihn nahezu 20 Jahre in Anspruch nehmen sollte. Er erhielt zunächst in der kurpfälz. Kanzlei in Heidelberg eine Anstellung als Archivar u. lehrte seit 1686 Arabisch an der Universität. Infolge der Zerstörung Heidelbergs durch frz. Truppen im Jahre 1693 wich die Verwaltung des Hofes vorübergehend nach Frankfurt/M. aus, wo E. weiter in der Kanzlei beschäftigt war, Kontakte zu jüd. Gelehrten unterhielt u. seine oriental. Studien fortsetzte. Nachdem er einen Ruf an die Universität Utrecht als Nachfolger des berühmten Johann Leusden abgelehnt hatte, wurde E. im gleichen Jahr auf den Heidelberger Lehrstuhl für Orientalistik berufen, aufgrund des 1700 in Frankfurt/M. in einer Auflage von über 2000 Exemplaren gedruckten monumentalen Hauptwerkes Entdecktes Judentum. Die beiden Bände umfassen mehr als 2000 Seiten, u. der daraufhin erfolgende jüd. Protest am kaiserl. Hof zu Wien entzündete sich v. a. daran, dass die gelehrte Scharteke auf Deutsch erschienen u. allerlei Missbrauch zu befürchten war. Man bewirkte denn auch die Konfiskation fast der gesamten Auflage im Reich. Die jahrzehnte-
Eisenmenger
lang bis 1763 heftig prozessierenden Erben erreichten 1711 den Druck einer Neuauflage, die König Friedrich I. in Preußen finanzierte u. die nur dort gedruckt werden durfte, aber die Bemühungen des Königs in Wien um eine Freigabe des Buches waren vergeblich. Erst 1740 wurde das kaiserl. Publikationsverbot für die erste Auflage aufgehoben. Bei E.s Werk handelt es sich im Wesentlichen um eine Zusammenstellung zahlloser Zitate aus über 200 jüd. Religionsschriften, die kommentierenden Zwischenbemerkungen vernachlässigen die Kontexte u. reproduzieren alte Missdeutungen, Vorurteile u. Schmähungen, fügen neue hinzu u. laufen auf die These hinaus, die Rabbinen hätten schon immer mit den Mitteln einer subversiven Strategie das Ziel einer messianisch begründeten Vernichtung des Christentums verfolgt. E. vertritt einen traditionellen christl. Antijudaismus. Er ist jedoch kein extremer Antisemit, vielmehr ein nicht ganz untypischer gelehrter Liebhaber der Kultur u. Religionsgeschichte des Judentums, deren Studium im 17. Jh. unter Theologen u. Philologen aller Konfessionen in ganz Europa aufgeblüht war. Neben streng bibelphilolog. Interessen standen aus heutiger Sicht dahinter in der Regel missionar. Absichten der Judenbekehrung u. der Abwehr von Konversionen zum Judentum, die ebenfalls zugenommen hatten. Doch die Missionsoffensive, mit der man die »fremden Religionsverwandten« zur christl. Wahrheit zu bewegen gedachte, sollte mit einem Höchstmaß an Vermittlung gelehrten Wissens einhergehen, wie man z.B. auch am Wirken des Hamburger Orientalisten Esdras Edzardus studieren kann. E.s Buch »ist nicht das Werk eines tollwütigen Fälschers, sondern ein grundgelehrtes, intelligentes und gut konstruiertes Stück Demagogie« (Wilcke 2001; am ergiebigsten Niewöhner 2002; eine Monografie, die das Hauptwerk erstmals gründlich untersuchte, fehlt). Weiteres Werk: (Hg. mit Johannes Leusden): Biblia Hebraica non punctata: Versibus, capitibus & sectionibus interstincta, notisque Masoretarum, quas Kri & Ktif appellant, instructa. Ffm. 1694. Ausgaben: Entdecktes Judentum, Oder: gründl. u. wahrhafter Bericht, welchergestalt die verstockte
Eisenmenger Juden die Hochheilige Dreieinigkeit, Gott Vater, Sohn u. Hl. Geist, erschreckl. Weise lästern u. verunehren, die Hl. Mutter Christi verschmähen, das NT, die Evangelisten u. Aposteln, die Christl. Religion spöttlich durchziehen, u. die ganze Christenheit auf das äußerste verachten u. verfluchen [...]. 2 Tle., Ffm. 1700 (Reprint in UB der FU Berlin). – Neuauflagen: Königsb. [d. i. Bln.] 1711. Mikrofiche-Ed. 1993. Nachdr. der 1. Aufl.: Bln. 1740. – Weitere Ausgaben und Auszüge: Elias Libor Roblik: Jüd. Augen-Gläser, Der andere Teil: Ausgezogen aus dem 1. (u. 2.) Tl. des Entdeckten Judentums Joannis Eisenmenger: allwo aus dem Jüd. Buch (Talmud genannt) bewiesen wird, daß der jetzige Jüd. Glauben ein falscher u. gottloser Glaube seye. Brünn u. Königgrätz 1743. – C. Anton u. J. A. E. (Hg.): Einl. in die rabbin. Rechte, dabei insonderheit v. dem Judeneide. Braunschw. 1756. – Entdecktes Judentum. Bearb. Neuausg. hg. v. Franz Xaver Schieferl. Dresden 1893. Mikrofiche-Ed. Mchn. 2002. – Die Sittenlehre des Juden: Zusammenstellung rabbin. Lehren u. jüd. Sittengesetze, dem Talmud bzw. Schulchan Aruch entnommen u. komm. v. dem Orientalisten Prof. E. u. Kanonikus Prof. August Rohling in Prag. Stgt. ca. 1919. Nürnb.: Dt. Schutz- u. Trutz-Bund, Landesverein Bayern, ca. 1920. Übersetzung: Rabbinical literature: Or, The traditions of the Jews, contained in their Talmud and other mystical writings. Hg. Revd. J. P. Stehelin. London 1732. 1742/43. 1748 (engl.).
244 Bd. 2, S. 210 f. – Ders.: From Prejudice to Destruction. Anti-Semitism 1700–1933. Cambridge/Mass. 1980, S. 13–22. – Friedrich Niewöhner: Jüd.christl. Religionsgespräch im 18. Jh. mit Maimonides u. E. In: Das jüd.-christl. Religionsgespräch. Hg. Heinz Kremers u. Julius H. Schoeps. Stgt./Bonn 1988, S. 21–40. – Michael Schmidt: Metamorphosen der Niedertracht. ›Wiss. Antisemitismus‹ als polit. Kitsch. In: Judenbilder. Kulturgesch. antijüd. Mythen u. antisemit. Vorurteile. Hg. Stefan Rohrbacher u. Michael Schmidt. Reinb. 1991, S. 369–391. – Carsten Wilcke: Augiasstall oder Bildungsgut? Zum protestant. Studium des Talmud in der Barockzeit. In: Kalonymos 4 (2001), S. 14–20. – Friedrich Niewöhner: Entdecktes Judentum u. jüd. Augen-Gläser. J. A. E. In: Denkwelten um 1700. Hg. Richard van Dülmen u. Sina Rauschenbach. Köln 2002, S. 169–180. – Jaumann Hdb. – Stefan Rohrbacher: ›Gründlicher u. Wahrhaffter Bericht‹. Des Orientalisten J. A. E.s Entdecktes Judenthum (1700) als Klassiker des ›wiss.‹ Antisemitismus. In: Reuchlin u. seine Erben. Forscher, Denker, Ideologen u. Spinner. Hg. Peter Schäfer u. Irina Wandrey. Sigmaringen 2005, S. 171–188. Herbert Jaumann
Eisenmenger, Samuel ! Siderocrates
Eisenreich, Herbert, * 7.2.1925 Linz, † 6.6.1986 Wien; Grabstätte: ebd., ZenLiteratur: Zedler, Bd. 8 (1734). – Siegfried: J. A. tralfriedhof (Ehrengrab). – Erzähler, EsE. In: ADB. – Hans Joachim Schoeps: J. A. E. In: sayist, Lyriker, Aphoristiker, Hörspiel- u. NDB. – Bautz. – Paulus Christianus (Pseud.): Me- Sachbuchautor. ditationes, Oder aufrichtige Gedanken u. Urteil über Joannis Andreä Einsenmengers [sic] Entdecktes Judentum. Halle ca. 1711. – Anton Theodor Hartmann: J. A. E. u. seine jüd. Gegner in geschichtlich literar. Erörterungen kritisch beleuchtet. Parchim 1834. – Gerson Wolf: Der Prozeß E. In: Monatsschr. für Gesch. u. Wiss. des Judentums 18, N. F. 1 (1869), S. 378–384, 425–432, 465–473. – Max Wiener: Des Hof- u. Kammeragenten Leffmann Behrens Intervention bei dem Erscheinen judenfeindl. Schriften. In: Magazin für die Wiss. des Judentums 6 (1879), S. 48–63. – Leopold Löwenstein: Der Prozeß E. In: Magazin für die Wiss. des Judentums 18 (1891), S. 209–240 (mit Briefdokumenten). – Encyclopaedia Judaica, Bd. 6, Bln. 1930; Jacob Levinger in Bd. 2, Jerusalem 1971. – The Universal Jewish Encyclopedia, Bd. 4, New York 1948. – Jacob Katz: The Sources of Modern Anti-Semitism. E.’s Method of Presenting Evidence from Talmudic Sources. In: Proceedings of the 5th World Congress of Jewish Studies. Jerusalem 1972,
E.s Schulzeit fand im Mai 1943 mit der Einberufung zu Reichsarbeitsdienst u. Wehrmacht eine jähe Unterbrechung. Während der Invasion in Frankreich erlitt er Verletzungen, die seine Existenz nach dem Krieg schwer belasten sollten. Die nachgeholte Reifeprüfung 1946 ermöglichte ihm das Studium der Germanistik, Altphilologie u. Theaterwissenschaft in Wien, das er durch Gelegenheitsarbeiten selbst finanzierte, nach zwei Jahren jedoch abbrach. In der Folge lebte E. als freier Schriftsteller u. Journalist, ab 1952 in Hamburg für »Die Zeit«, daneben auch für den NWDR u. den RIAS Berlin. Nach Wien zurückgekehrt, redigierte er u. a. im ORF die Sendereihe Literarischer Salon – die erste Sendung 1967 war dem Werk des verehrten Freundes Heimito von Doderer gewidmet. Nach einem Frankreichaufenthalt
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wieder in Wien, zog sich E. zusehends zurück. Er starb nach langem Leiden an einem Gehirntumor. Der überzeugte Verteidiger einer österr. »Nationalliteratur« stellte sein Schaffen ganz bewusst in diese Tradition: In der Nachkriegszeit sah er eine »Epoche der Selbsttäuschung« u. trat an, das »Wesen des Österreichischen treu zu bewahren«. Eine genaue Typologie davon gibt E. im Essay Das schöpferische Mißtrauen oder Ist Österreichs Literatur eine österreichische Literatur? (in: Reaktionen. Essays zur Literatur. Gütersloh 1964). Für seinen Erzählband Böse schöne Welt (Stgt. 1957) entwickelt E. in dem Essay Eine Geschichte erzählt sich selbst das Modell einer größtmöglichen erzähler. Annäherung an das Leben in der »Geschichte« unter Verzicht auf die epische Distanz. Die »Geschichten« aus Böse schöne Welt greifen ganz bestimmte Lebensfragmente heraus – entscheidende Erfahrungen der Protagonisten, die sie dem »Urgrund des Lebens« näherbringen. Bekannt wurde E. jedoch v. a. durch das Hörspiel Wovon wir leben und woran wir sterben (Ffm. 1958. Neuaufl. Hbg. 1964), in dem er vor dem Hintergrund des dt. Wirtschaftswunders das Scheitern einer menschl. Beziehung schildert. In den folgenden Werken rücken zusehends konkrete Lebensumstände in den Blickpunkt: Die Erzählbände Sozusagen Liebesgeschichten (Gütersloh 1965), Ein schöner Sieg und 21 andere Mißverständnisse (Graz 1973), Die Freunde meiner Frau (Zürich 1966. 21978) u. Die blaue Distel der Romantik (Graz 1976) demonstrieren vornehmlich an missglückten Zweierbeziehungen moderner »Durchschnittsmenschen« die Defizite der »neuen Klasse«, deren materialist. Ausrichtung E. strikt ablehnt. Vehikel dieser Kritik wird dabei nicht zuletzt das geschickt eingesetzte Denk- u. Sprachklischee. Seit Anfang der 1950er Jahre arbeitete E. an einem umfangreichen Roman mit dem Arbeitstitel Sieger und Besiegte, als Fragment u. d. T. Die abgelegte Zeit (Hg. Christine Fritsch. Wien 1985) erschienen. »Genau und kalten Blickes« versucht E. in diesem breit angelegten Werk, das an die Kompositionsschemata Doderers erinnert, eine Phänomenologie der österr. Nachkriegsgesellschaft zu leisten.
Eisenreich
Den Essays zur Literatur (Reaktionen. Gütersloh 1964), deren Ablehnung der Moderne als »artistisches Ghetto« z.T. heftige Kritik hervorrief, folgte Das kleine Stifterbuch (Salzb. 1967), dessen Interpretation Stifters als existentiellen Dichters ebenfalls Kontroversen auslöste. Großen Anklang fanden dagegen E.s Stadtu. Landschaftsbeschreibungen, so etwa der zus. mit dem Grafiker Kurt Absalon herausgebrachte Band Carnuntum, Geist und Fleisch (Wien 1960). E. erhielt zahlreiche Literaturpreise. Weitere Werke: Einladung deutlich zu leben. Wien 1952 (E.). – Auch in ihrer Sünde. Hbg. 1953 (R.). – Große Welt auf kleinen Schienen. Das Entstehen einer Modellanlage. Salzb. 1963. 21988. – Ich im Auto. Salzb. 1966 (Sachbuch). – Der Urgroßvater. Gütersloh 1964 (E.). – Sebastian. Die Ketzer. Zwei Dialoge. Gütersloh 1966. – Verlorene Funde. Gedichte 1946–52. Graz/Wien/Köln 1976. – Groschenweisheiten. Aus dem Zettelkram eines Sophisten. Ausgew. u. hg. v. Christine Fritsch. Mühlacker-Irdning 1985 (Aphorismen). – Der alte Adam. Aus dem Zettelkram eines Sophisten. Ausgew. u. hg. v. ders. Mühlacker-Irdning 1985 (Aphorismen). – Memoiren des Kopfes. Aus dem Zettelkram eines Sophisten. Ausgew. u. hg. v. ders. Mühlacker-Irdning 1986 (Aphorismen). Literatur: Wendelin Schmidt-Dengler: ›Erlebnis wie bei Dostojewski‹ u. ›Die ganze Geschichte‹. Zu zwei E.en v. H. E. In: ZfdPh 87 (1968), S. 591–612. – Ders.: H. E. In: Dt. Lit. seit 1945 in Einzeldarstellungen. Hg. Dietrich Weber. Stgt. 3 1968, S. 297–314. – György Sebestyen: E. u. die anderen. In: Ders.: Studien zur Lit. Eisenstadt 1980, S. 268–278. – Juliane Köhler: Janusköpfige Welt: Die Kurzgesch.n H. E.s. Mchn. 1990. – Gertrud Fussenegger: H. E. ein Versuch. In: Postscriptum. Hg. Petra Maria Dallinger. Linz 1996, S. 55–76. – Slawomir Piontek: Der Mythos v. der österr. Identität: Überlegungen zu Aspekten der Wirklichkeitsmythisierung in Werken v. Albert Paris Gütersloh, Heimito v. Doderer u. H. E. Ffm./ Bln. 1999. – Günther A. Höfler: H. E. In: LGL. – Christian Teissl: Über H. E. (1925–86). In: LuK 391/ 392 (2005), S. 99–110. Johannes Sachslehner / Red.
Eisler
Eisler, Hanns, * 6.7.1898 Leipzig, † 6.9. 1962 Berlin/DDR; Grabstätte: Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof. – Komponist. E. war der Sohn des jüd. Philosophen Rudolf Eisler u. Bruder des KPD- u. SED-Politikers Gerhart Eisler u. der KPD-Politikerin Ruth Fischer. Über die Familie der aus dem Proletariat stammenden Mutter war man der Sozialdemokratie verbunden. Als Gymnasiast in Wien gab E. eine pazifist. Schülerzeitung heraus; das Kriegserlebnis führte zu deutlicher Linksorientierung. 1919 nahm er in Wien ein Kompositionsstudium bei Arnold Schönberg auf u. wurde dessen Lieblingsschüler; dem späteren, politisch motivierten Bruch folgte im Exil die erneute Annäherung. Während seines Musikstudiums leitete E. Arbeiterchöre u. unterstützte die Arbeiterkulturbewegung. 1925 zog er nach Berlin, wo er sich der KPD annäherte. Hier kam es zu Arbeitsbeziehungen u. a. zu Erwin Piscator, den Filmregisseuren Joris Ivens u. Walther Ruttmann (Musik zu Opus III. Urauff. 1925), zu Erich Weinert, Johannes R. Becher u. zur Mitarbeit im »Bund Proletarisch Revolutionärer Schriftsteller«. E. förderte in Agit-PropGruppen u. Kabaretts die proletarisch-revolutionäre Musikkultur. Besondere Beziehungen knüpfte E. zu Bertolt Brecht, für dessen Lehrstück Die Maßnahme er 1930 die Musik schrieb (Klavierauszug Wien 1931). Jahre einer fruchtbaren Zusammenarbeit begannen: 1932 entstand die Musik zu Die Mutter (Urauff. 1932) u. zum Film Kuhle Wampe (Urauff. 1932). Nach wechselndem Aufenthalt in Europa wurden von 1938 an die USA E.s ständiges Exilland; bereits seit 1935 hatte er einen Lehrauftrag für Komposition an der New Yorker New School for Social Research. 1937 hatte E. gemeinsam mit Ernst Bloch in die in der dt. Emigrantenzeitschrift »Das Wort« beginnende Expressionismusdebatte u. Erbediskussion eingegriffen, in der die Geltung der bürgerl. Literatur für den sozialist. Realismus abgehandelt wurde. E.s u. Blochs Aufsätze Avantgardekunst und Volksfront (in: Die neue Weltbühne 50, 1937, S. 1568–1573) u. Die Kunst zu erben (in: ebd., I, 1938,
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S. 13–18) wurden v. a. von Georg Lukács heftig bekämpft. In den USA entstanden E.s Vertonungen von Svendborger Gedichten Brechts (1939), die Musik zu dessen Stück Die Gesichte der Simone Machard (1943) u. die Filmmusik zu Fritz Langs Hangmen also Die (Urauff. 1943), für die E. einen Oscar erhielt. E.s ästhet. Position dieser Zeit findet sich in seiner mit Theodor W. Adorno verfassten Schrift Composing for the Films (New York 1947. Dt. Mchn. 1969. Bearb. Bln. 1949). 1947/48 wurde E. vor den antikommunist. »Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit« geladen (Auszug aus den Verhörprotokollen in: Jürgen Schebera: H. E. im USA-Exil. Bln./DDR u. Meisenheim 1978, S. 141–201). Seit 1950 wieder in Berlin, leitete E. eine Komponistenklasse der Akademie der Künste u. vertonte 1950 Bechers Neue Deutsche Volkslieder (Bln./DDR), komponierte die DDR-Nationalhymne (Bln. 1949; Text von Johannes R. Becher) u. wurde wiederholt mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Auch die Zusammenarbeit mit Brecht nahm E. wieder auf. Sein literar. Schaffen beschränkte sich auf das Libretto zur geplanten Oper Johann Faustus (Bln./DDR 1952), in dem E. unter dem Eindruck von Thomas Manns Doktor Faustus auf das Faust-Volksbuch zurückgriff. In E.s vom epischen Theater beeinflussten Text wird in Anlehnung an Brechts satir. »Tui«-Kritik (Tui = Intellektueller) die Faustgestalt ideologiekritisch genutzt: Der Intellektuelle Faust, ein Bauernsohn, dient sich den Herrschenden an u. verrät im Bauernkrieg die Sache der Klassenbrüder. In einer radikalen »Confessio« zieht der Teufelsbündler am Ende selbstkritisch die Summe: »Nun geh ich zu Grund / Und so soll jeder gehn, / Der nicht den Mut hat, / Zu seiner Sach zu stehn« (S. 77). Der in lockerer Zusammenarbeit mit Brecht entstandene Text geriet in den Sog der an Prinzipien der stalinist. Kulturpolitik orientierten »Formalismusdebatte« in der DDR. Er wurde daher zunächst kulturpolitisch schroff zurückgewiesen. Die DDR-Erstaufführung mit dem Berliner Ensemble konnte erst 1982 stattfinden.
247 Weiteres Werk: Materialien zu einer Dialektik der Musik. Lpz. 1973. Ausgaben: Ges. Werke. Lpz. 1968 ff. Darin: Serie 3, Bd. 1: Musik u. Politik. Schr.en 1924–48. Lpz. u. Mchn. 1973. Bd. 2: Musik u. Politik. Schr.en 1948–62. Lpz. u. Mchn. 1982. Bd. 3: Schr.en, Addenda. Lpz. u. Mchn. 1982. Bd. 7: Gespräche mit Hans Bunge. Lpz. 1975. – Gesamtausg. Hg. v. der Internat. H.-E.-Gesellsch. unter der Leitung v. Gert Mattenklott u. Christian Martin Schmidt. Wiesb. 2002 ff. Literatur: Das Argument. Sonderbd. H. E. Bln./ West 1975. – Günter Meyer u. a.: Hätten sich Georg Lukács u. H. E. in der Mitte des Tunnels getroffen? In: Dialog u. Kontroverse mit Georg Lukács. Lpz. 1975, S. 358–396. – Manfred Grabs: H. E. Ein Hdb. Lpz. 1982. – Wer war H. E.? Bln./West 1983. – Jürgen Schebera: H. E. Bln./DDR 1984. – Werner Mittenzwei: Nachw. zum ›Doktor Faustus: Fassung letzter Hand‹. Bln./DDR 1983. – Albrecht Dümling: Laßt euch nicht verführen. Brecht u. die Musik. Mchn. 1985, S. 256 ff. – Gunnar MüllerWaldeck: Erbestrategie u. dramat. Methode. In: Neuanfänge. Bln./DDR 1986, S. 102–171. – Inge Münz-Koenen: Johann Faustus – ein Werk, das Fragment blieb. In: Werke u. Wirkungen. Hg. dies. Lpz. 1987, S. 226–305. – Rolf Urs Ringer: ›Die Musik wird da viel ausmachen [...]‹. H. E.s ›Hollywooder Liederbuch‹. In: NZZ 306 (1988), S. 61 f. – Irmgard Schartner: H. E., Johann Faustus: das Werk u. seine Aufführungsgesch. Ffm. 1998. – Maren Köster (Hg.): H. E. ›’s müßt dem Himmel Höllenangst werden‹. Hofheim 1998. – Peter Schweinhardt (Hg.): H. E.s Johann Faustus. 50 Jahre nach Erscheinen des Operntextes 1952. Wiesb. 2005. Gunnar Müller-Waldeck / Tim Lörke
Eisner, Kurt, * 14.5.1867 Berlin, † 21.2. 1919 München; Grabstätte: ebd., Neuer Israelitischer Friedhof. – Publizist u. Politiker.
Ekert-Rotholz
litisch u. schloss sich 1917 der USPD an. Wegen führender Beteiligung am Munitionsarbeiterstreik war er von Jan. bis Okt. 1918 in Haft. Am 7. Nov. gewann er mit unerwarteter Tatkraft Arbeiter u. Soldaten für eine unblutige Revolution, bildete ein Rätesystem u. rief den Freistaat Bayern aus, dessen erster Ministerpräsident er wurde. Durch seine Rätepolitik geriet E. in Konflikt mit der sozialdemokrat. Reichsregierung; bei den Wahlen im Jan. 1919 verlor er seine parlamentar. Basis. Auf dem Weg zur Landtagseröffnung, wo er seinen Rücktritt erklären wollte, wurde E. von Anton Graf Arco auf Valley, einem jungen Offizier aus österr.bayr. Altadel, erschossen. Als Publizist sah E. seine Aufgabe darin, an polit. Mündigkeit heranzuführen; als Ansatzpunkt dafür galt ihm eine emanzipator. Erziehung. Primäres Ziel war für ihn die Veränderung der menschl. Triebstruktur, die er als Vorbedingung für eine Sozialrevolution begriff. Arthur Rosenberg nannte ihn »den einzigen schöpferischen Staatsmann« der Novemberrevolution. Weitere Werke: Wilhelm Liebknecht. Bln. 1906 (Biogr.). – Das Ende des Reichs. Dtschld. u. Preußen im Zeitalter der großen Revolution. Bln. 1917. – Die neue Zeit. 2 Bde., Mchn. 1919. – Wachsen u. Werden. Lpz. 1926 (Aphorismen, G.e, Tagebuchbl.). – Sozialismus als Aktion. Hg. Freya Eisner. Ffm. 1975. – Zwischen Kapitalismus u. Kommunismus. Hg. dies. Ffm. 1996. Ausgabe: Ges. Schr.en. 2 Bde., Bln. 1919. Literatur: Hans Beyer: Die Revolution in Bayern 1918/19. Bln./DDR 1957. 21988. – Freya Eisner: K. E. Die Politik des libertären Sozialismus. Ffm. 1979. – Bernhard Grau: K. E. Eine Biogr. Mchn. 2001. Hans Peter Bleuel / Red.
E. war der Sohn eines jüd. Hoflieferanten u. wuchs im Berliner Westen auf. Er war AnEkert-Rotholz, Alice Maria, * 5.9.1900 hänger von Friedrich Naumanns NationalsoHamburg, † 17.6.1995 London. – Verfaszialem Verein, ehe er zur Sozialdemokratie serin von Unterhaltungsromanen. fand. Nach dem Studium der Germanistik u. Philosophie (bei Hermann Cohen) arbeitete er Die Tochter eines engl. Exportkaufmanns u. seit 1899 in der Redaktion des Parteiorgans einer dt.-jüd. Mutter wuchs in Hamburg auf. »Vorwärts« u. wurde 1905 als Revisionist Ihr Debüt als Lyrikerin Anfang der 1930er entlassen. Danach führte E. in München als Jahre in der »Weltbühne« fand mit der Publizist u. Theaterkritiker das Leben eines Machtergreifung der Nationalsozialisten ein Bohemien. Erst im Krieg engagierte sich der Ende. 1933 emigrierte sie mit ihrem Mann überzeugte Pazifist u. Humanist wieder po- nach London, von wo aus die Familie 1939
Ekkehard I. von St. Gallen
nach Bangkok übersiedelte. 1952 kehrte E. nach Hamburg zurück u. arbeitete als Journalistin für Presse u. Rundfunk. Nach dem Tod ihres Mannes 1959 übersiedelte sie nach London, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Nach einem ostasiat. Reisebuch (Siam hinter der Bambuswand. Mchn. 1953) veröffentlichte E. 1954 ihren ersten Roman Reis aus Silberschalen (Hbg. u. ö. Zuletzt Reinb. 1994), der außerordentl. Erfolg hatte u. bald auch in andere Sprachen übersetzt wurde. Dem Erstlingswerk folgten weitere, umfangreiche Romane mit einer Millionenauflage. Die Bücher der »deutschen Pearl S. Buck«, wie sie genannt wurde, spielen in der exot. Welt Südostasiens, Japans, Australiens, der Karibik oder Lateinamerikas. Sie sind formal nach dem Muster der engl. »group-novel« gebaut u. erzählen die Geschichten von Personen, die aus verschiedenen Ländern u. Gesellschaftsschichten kommen u. deren Wege vom Schicksal für einen Augenblick zusammengeführt werden. Weitere Werke: Mohn in den Bergen. Hbg. 1961. Ffm. 1995. – Der Juwelenbaum. Hbg. 1968. – Fünf Uhr Nachmittag. Hbg. 1971. Ffm. 1994. – Füchse in Kamakura. Hbg. 1975. Ffm. 1994. – Flucht aus den Bambusgärten. Hbg. 1982. – Indiras Fenster. Hbg. 1990. – Die letzte Kaiserin. Hbg. 1992. – Im feurigen Licht. Ges. Gedichte 1929–93. Hbg. 2000. Peter König / Red.
Ekkehard I. von St. Gallen, auch: Ekkehardus Decanus, * um 910 in der Umgebung von St. Gallen, † 14.1.973 St. Gallen. – Sequenzendichter, Verfasser von Viten. Aus einem bedeutenden Geschlecht stammend, wurde E. im Kloster St. Gallen erzogen u. erlangte durch seine Gelehrsamkeit u. sein liebenswürdiges Wesen bald Achtung u. Ansehen. Seine Mitbrüder wählten ihn unter Abt Craloh (942–958) zum Dekan; damit hatte er das zweithöchste Amt inne. Nach ihrem Wunsch ernannte ihn Craloh 958 zu seinem Nachfolger. Da E. jedoch seit einem Sturz vom Pferd hinkte, lehnte er ab u. übertrug die Auszeichnung auf seinen Neffen Purkhart. Sein Einfluss im Kloster blieb freilich ungemindert. Bei einer Wallfahrt nach Rom pflegte der Papst mit ihm längere Zeit
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vertrauten Umgang; auch Kaiser Otto I. schätzte ihn. Ekkehard IV. widmete ihm ein Kapitel in seiner Geschichte des Klosters (Casus St. Galli, Kap. 80): Neben der detaillierten Biografie enthält es auch ein Verzeichnis von E.s Schriften, das Sequenzen, Antifone (auf die Heiligen Andreas u. Afra), einen Märtyrerhymnus u. eine Vita Waltharii manufortis umfasst. Die um 960/70 entstandene Lebensbeschreibung der Klausnerin Wiborada (Vita Sanctae Wiboradae, vgl. Casus, Kap. 56), welche 926 beim Ungarneinfall in St. Gallen den Märtyrertod erlitten hatte, ist mittlerweile für E. gesichert. Mit seinen fünf Sequenzen führte E. diese neue Gattung der liturg. Lyrik, eine Erweiterung des gesungenen Alleluja, fort, die Notker Balbulus (»der Stammler«, auch: »der Dichter«) für den ostfränk. Raum begründet u. maßgebend geprägt hatte. Wie sehr dessen Schule auch noch zwei Generationen nach seinem Tod (912) weiterwirkte, zeigen alle Sequenzen E.s, sprachlich bes. die auf die Enthauptung Johannes des Täufers. Obwohl man die Sequenzen nicht an der gestalterischen Kraft des großen Vorbilds messen kann, lebten sie in der liturg. Praxis vieler Klöster fort. In dieser Tradition ist E. ein wichtiger Zeuge für die Ausnahmestellung, die sein Heimatkloster u. dessen nähere Umgebung seit der ausgehenden Karolingerzeit einnahm: Während fast überall polit. Schwierigkeiten sowie Normannen- u. Ungarneinfälle die literar. Produktion in den Klöstern erschwerten, suchte man in St. Gallen nach neuen Wegen. Die Sequenzdichtung ist ein bes. eindrucksvolles Beispiel für die innovative Kraft, die von diesem blühenden Kulturzentrum ausging; mit ihr wurden über die Nachahmung antiker Metren hinaus neue rhythm. Formen gefunden, die die mlat. Dichtung von nun an auch bei weltl. Themen bestimmen sollten. Seit Jacob Grimm galt E. als einer der Hauptzeugen für diese Erneuerung. Man hielt ihn für den Verfasser des hexametr. Epos Waltharius, das einen Stoff der heimischen Heldensage mittellateinisch darstellt. Mit diesem ungewöhnl. Werk setzte man eine Vita Waltharii manufortis (Das Leben von Walther Starkhand) gleich, die E. nach den Angaben
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Ekkehard IV. von St. Gallen
Ekkehards IV. in jungen Jahren verfasst hatte. Ekkehard IV. von St. Gallen, * um 980 Diese Identifizierung (u. die Datierung des wohl in der Umgebung von St. Gallen, Waltharius) war lange Zeit umstritten; mitt- † 21.10. um 1060. – Verfasser von lateilerweile kann sie als weitgehend widerlegt nischen Gedichten u. einer Klostergegelten, auch wenn immer wieder Gegenar- schichte (möglicherweise verwandt mit gumente vorgebracht werden. Bei E.s Wal- Ekkehard I.). therdichtung dürfte es sich eher um eine (verlorene) Lebensbeschreibung in der Art Der Lehrer E.s in St. Gallen war Notker der von Heiligenviten gehandelt haben. Als Deutsche, an den er sich stets dankbar erinWegbereiter einer neuartigen Hinwendung nerte. Nach dessen Tod (1022) ging E. nach zu weltl. Stoffen u. eines wachsenden kultu- Mainz; unter Erzbischof Aribo (1021–1031), rellen Selbstgefühls unter den Ottonen kann der ihn zu mehreren Dichtungen anregte, er demnach kaum mehr gelten. Im 19. Jh. unterrichtete er an der dortigen Domschule. allerdings gelangte E. als Verfasser des Wal- Unklar sind Ursache u. Zeitpunkt der Rücktharius zu neuem Ruhm: Joseph Victor von kehr nach St. Gallen, wo er seine frühere Scheffel verbindet in seinem Roman Ekkehard Lehrtätigkeit fortsetzte. In Zusammenhang (Ffm. 1855. Zürich 1985. Bln. 1989) die Le- damit entstand E.s »Gesamtausgabe« seiner bensgeschicke E.s mit denen seines Neffen, Dichtungen mit dem nur teilweise zutrefEkkehards II. Dieser unterrichtete Hadwig, fenden modernen Titel Liber benedictionum die Witwe Purkharts II. von Schwaben, was (Buch der Segenssprüche); sie ist in E.s eimit Scheffels Quelle, der Klostergeschichte genhändiger Abschrift erhalten (Codex 393). Ekkehards IV., übereinstimmt. Die in dich- Konzipiert als Mustersammlung zur Abfasterischer Freiheit gestaltete Liebesgeschichte sung lat. Verse, enthält sie z.B. in den Beneendet mit Scheffels Übersetzung des Waltha- dictiones super lectores per circulum anni (Lektirius, der dadurch einem großen Publikum onssegnungen im Jahreskreis) auch E.s eigene Schulübungen, die von seinem Lehrer Notker bekannt wurde. Ausgaben: Wolfram v. den Steinen: Notker der gesammelt worden waren. Die poet. Qualität Dichter u. seine geistige Welt. Editionsbd. Bern ist nicht hoch einzuschätzen; literaturge1948. Neudr. 1978, S. 115–118, 130, 134 (Sequen- schichtlich wichtig ist jedoch die Einführung zen). – Walter Berschin (Hg.): Vitae Sanctae Wibo- zweisilbiger Leoniner (Hexameter mit Binradae. St. Gallen 1983 (krit. Ausg. mit Einl. u. dt. nenreim). Da die Vermittlung von Vers- u. Übers.). – Dieter Schaller: Die Paulus-Sequenz E.s Reimtechnik im Vordergrund steht, sind z.B. [zuerst 1981]. In: Ders.: Studien zur lat. Dichtung die Benedictiones ad mensas (Tischsegnungen) des FrühMA. Stgt. 1995, S. 201–203. kulturhistorisch weniger bedeutend als früLiteratur: Wolfram v. den Steinen: s. o. Dar- her angenommen. Nicht ein Speisezettel des stellungsbd., S. 439–465, 604–608. – Eva Irblich: Klosters, sondern ein literar. Kunstprodukt Die Vitae Sanctae Wiboradae. St. Gallen 1970. – wird hier einem Kreis von Kennern mitgeHans F. Haefele: Vita Waltharii Manufortis. In: FS Bernhard Bischoff. Stgt. 1971, S. 260–276 (u. a. teilt, die wie E. den Niedergang benediktin. Antiphon auf Andreas; Verse auf Rachilt). – Peter Großzügigkeit bedauern. Denn seit 1034 Stotz: E. In: VL. – Walter Berschin: Sanktgall. Of- hatte cluniazensischer Reformgeist unter Abt fiziendichtung aus otton. Zeit. In: FS Walter Bulst. Norpert das Leben in St. Gallen verändert. Heidelb. 1981, S. 13–48. – Gereon Becht: Sprach- Aus einem reformkrit. Antrieb heraus ist liches in den Vitae S. Wiboradae (II). Dabei ein auch E.s Hauptwerk entstanden, die Casus St. Walthariuszitat in der jüngeren Vita. In: Mlat. Jb. Galli, mit denen er, aus mündl. Klostertradi24/25 (1989/90), S. 1–9. – Dieter Schaller: Von St. tionen schöpfend, die gleichnamige Chronik Gallen nach Mainz? Zum Verfasserproblem des Ratperts fortsetzte. Nicht nur von den ›Waltharius‹. Ebd., S. 423–437. – Ders. (1995, s. o.), S. 197–235, 424 f.; vgl. S. 41 f. – Vgl. auch Waltha- »Wechselfällen« des Schicksals (casus) aus der Zeit von 883 bis 972 wird berichtet; darüber rius. Anette Syndikus hinaus soll an »exemplarischen Fällen« aus dem Leben bedeutender Klostermitglieder gezeigt werden, wie in St. Gallen das Leben
Eleonore von Österreich
nach der Benediktregel – jenseits reformerischer Buchstabentreue – in vollkommener Weise verwirklicht wurde. Historische Genauigkeit oder die chronolog. Abfolge treten dahinter zurück. Dem 19. Jh. bot der »Verfasser der besten Memoiren« des Frühmittelalters (Gustav Freytag) ein unverfälschtes Zeitbild (zu Victor von Scheffel vgl. Ekkehard I.). Ausgaben: Liber benedictionum: Hg. Johannes Egli. St. Gallen 1909 (mit Erläuterungen). – Casus St. Galli: Hg. Hans F. Haefele. Darmst. 1980. 31991 (mit dt. Übers.). – Weitere Werke: Peter Osterwalder: Das ahd. Galluslied Ratperts u. seine lat. Übers. durch E. Bln./New York 1982 (aus dem ›Liber benedictionum‹, S. 83–201, mit dt. Übers., S. 190–207). Literatur: Gustav Freytag: Aus dem Klosterleben. In: Bilder aus der dt. Vergangenheit Bd. 1 (1859). In: Ges. Werke Bd. 17, Lpz. 31910, S. 349–405 (mit Teilübers. aus den ›Casus‹). – Hans F. Haefele: Untersuchungen zu E.s IV. ›Casus Sancti Galli‹. In: Dt. Archiv für Gesch. des MA 17 (1961), S. 145–190; 18 (1962), S. 120–170. – Peter Stotz: Ardua spes mundi. Studien zu lat. Gedichten aus St. Gallen. Bern 1972. – H. F. Haefele: E. In: VL. – Johannes Duft: Der Geschichtenschreiber E. († um 1060). Ekkehardus – Ekkehart. In: Ders.: Die Abtei St. Gallen Bd. 2, Sigmaringen 1991, S. 211–220; vgl. S. 169–171 (E. über Notker), S. 297–301 (zu den Abb.). – Karl Schmucki: Die St. Galler Klostergesch.n E.s IV. illustriert an Hss. aus der Stiftsbibl. Gossau 1995. – Ernst Hellgardt: Die ›Casus Sancti Galli‹ E.s IV. u. die Benediktregel. In: Literar. Kommunikation u. soziale Interaktion. Hg. Beate Kellner, Ludger Lieb u. Peter Strohschneider. Ffm. 2001, S. 27–50. – Walter Berschin: Eremus u. Insula. St. Gallen u. die Reichenau im MA – Modell einer lat. Literaturlandschaft. Wiesb. 1987. Erw. 2 2005, bes. S. 27, 60 f., 65 f. Anette Syndikus
Eleonore von Österreich, auch: E. Stuart, E. von Schottland, * um 1433 Dunfermline/Schottland, † 20.11.1480 Innsbruck. – Vermutlich Verfasserin des Prosaromans Pontus und Sidonia. Als sechstes Kind Jakobs I. von Schottland wuchs E. in Schottland u. ab 1445 am Hof Karls VII. von Frankreich auf; 1449 kam sie durch Heirat mit Herzog Sigmund von Tirol (1427–1496), dem Vetter Kaiser Friedrichs III., an den Innsbrucker Hof, der kaum we-
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niger vom literar. Leben der Zeit geprägt war als der ihres Vaters. Im Dienst des Herzogs standen zeitweise Laurentius Blumenau, Gregor Heimburg, Püterich von Reichertshausen u. Antonius von Pforr. Heinrich Gundelfingen, Albrecht von Bonstetten u. Heinrich Steinhöwel widmeten ihm Werke; Letzterer eignete der Herzogin seine Übersetzung von Boccaccios De claris mulieribus zu. Ob Eleonore als Übersetzerin des frz. Prosaromans Ponthus et la belle Sidoyne (Ende 14. Jh.) gelten kann, der Mitte des 15. Jh. in drei voneinander unabhängig entstandenen dt. Fassungen vorliegt, ist in der Forschung umstritten. Zugeschrieben wird ihr das Werk (Fassung A) nur in der Vorrede des nach ihrem Tod 1483 bei Hans Schönsperger in Augsburg erschienenen Drucks. Der einzige erhaltene handschriftl. Textzeuge der Fassung A, entstanden 1465 vermutlich im Südtiroler Raum, enthält keinerlei Hinweis auf ihre Autorschaft, stellt allerdings auch nicht die Druckvorlage dar. Anders als die beiden anderen, stilistisch abweichenden Übersetzungen, die anonym ungefähr zeitgleich im rheinfränk. (Fassung B, 5 Hss.) bzw. Berner Raum (Fassung C, 1 Hs.) entstanden u. nicht in den Druck gelangten, wurde die E. zugeschriebene Fassung A unter ihrem Namen bis ins 18. Jh. immer wieder neu aufgelegt u. zählt zu den populärsten sog. Volksbüchern. Der Roman, der letztlich auf die anglonormann. Verserzählung Horn et Rimenhild (um 1180) zurückgeht, erzählt die Geschichte des Königssohnes Pontus von Galizien, der, durch Heiden aus seiner Heimat vertrieben, in die Bretagne gelangt u. sich dort in die Königstochter Sidonia verliebt. Von einem Nebenbuhler bei der Geliebten verleumdet, verlässt Pontus für ein Jahr den Hof. Alle in der Zwischenzeit von ihm besiegten Ritter schickt er zu Sidonia, um ihr auf diese Weise seine Treue zu bekunden. Kaum zurückgekehrt, wird er wiederum verleumdet, diesmal beim König, u. verlässt für weitere sieben Jahre den Hof. Er kommt gerade noch rechtzeitig in die Bretagne zurück, um die erzwungene Hochzeit seiner Geliebten mit dem Verleumder zu verhindern u. sie seinerseits heiraten zu können. Zum Schluss gelingt es
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Elgers
ihm, sein Erbe von den Heiden zurückzuer- u. Sidonia‹. In: LiLi 89 (1993), S. 50–69. – Albrecht obern u. seinen Gegenspieler endgültig zu Classen: Die leidende u. unterdrückte Frau im Robesiegen, sodass der glückhaften Herrschaft man des 15. Jh. Zur Verfasserschaft des frühnhd. von Pontus u. Sidonia nichts mehr im Wege Romans ›Pontus u. Sidonia‹. Forschungsber. u. Interpr. In: Germanic Notes and Reviews 25 (1994), steht. S. 9–24. – R. Hahn: Pontus u. Sidonia. In: EM. Der Roman ist von diesem guten Ausgang Jens Haustein / Martina Backes her motiviert, der zu keiner Zeit in Frage gestellt ist u. auf den hin erzählt wird. GeElgers, Paul, eigentl.: P. Schmidt-Elgers, währ für den glückl. Schluss bietet der in je* 23.3.1915 Berlin, † 7.6.1995 Rudolstadt/ der Hinsicht vorbildl. Held; er ist der christThüringen. – Verfasser von Kriminalrolichste, tugendhafteste, mutigste u. auch manen u. Erzählungen. schönste Ritter. Seine moral. Vollkommenheit, seine Tapferkeit u. Glaubensstärke Der Drogist, Sohn eines Musiklehrers, war werden umso offenkundiger, je mehr die nach seiner Rückkehr aus sowjetischer GeBosheit u. Gottesferne der Negativfiguren fangenschaft 1948 zunächst kulturpolitisch (Verleumder u. Heiden) deutlich werden. Der als Direktionsassistent der Deutschen KonReiz dieses Romans liegt in seiner wohl- zert- und Gastspieldirektion in Erfurt durchdachten, verschiedene Motivketten (1957–1959) u. als Verlagslektor des Greifenzum Ende hin geschickt zusammenführen- verlags (1961–1965) in Rudolstadt tätig; ab den Schematik; er ist nicht realistisch, son- 1966 arbeitete er als freier Schriftsteller. E. gehörte zur Bewegung der schreibenden dern idealistisch, ja utopisch. Ein solches Konzept duldet keinerlei Einbrüche, keine Arbeiter in der DDR u. arbeitete mit BeIronie des Erzählers seinem Helden gegen- triebsangehörigen zusammen. Für seinen über u. keine Selbstzweifel oder Fehltritte des Roman Es begann im Sommer (Rudolstadt Protagonisten (wie das durchaus der Fall im 1960), der den Aufbau einer sozialist. Brigade höf. Roman ist, dem der Pontus motivisch beschreibt, erhielt E. den FDGB-Literaturverpflichtet bleibt), da sonst die Absicht des preis 1961. E.’ Romane u. Erzählungen mit Erzählers in Frage gestellt würde, mit dem historisch-dokumentarischer Thematik geRoman dem Leser »viel guter schœner Lere hören zur didakt. Abenteuer- u. Unterhalvnd Vnterweisunge vnd Geleichnuß« auf tungsliteratur der Aufbauphase der DDR u. seinem Weg zu tugendhaftem Handeln u. entsprechen deren romantisch-pathetischer einem glaubensfesten Leben an die Hand zu Realismuskonzeption. Im Mittelpunkt der Handlungen steht jeweils der wagemutige, geben. Ausgaben: Reinhard Hahn (Hg.): ›Pontus und verantwortungsbewusste Held der ArbeiterSidonia‹ in der E. v. Ö. zugeschriebenen Fassung (A) klasse, der sich durchaus in der Gestalt eins nach der Gothaer Hs. Chart. A 590. Göpp. 2005. – E. Detektivs nach amerikanisch-westlichem Zuv. Ö.: Pontus u. Sidonia. Nachdr. der Ausg. Augsb. schnitt darstellen ließ. 1485. Mit einem Nachw. v. Gerhard Diehl u. Ruth Finckh. Hildesh./Zürich/New York 2002. Literatur: Paul Wüst: Die dt. Prosaromane v. Pontus u. Sidonia. Diss. Marburg 1903. – Norbert Thomas: Handlungsstruktur u. dominante Motivik in dt. Prosaromanen des 15. u. frühen 16. Jh. Nürnb. 1971. – Hans-Hugo Steinhoff: E. v. Ö. In: VL. – Hannes Kästner: ›Pontus u. Sidonia‹ in Innsbruck. In: Jb. der Oswald v. Wolkenstein-Gesellsch. 2 (1982/83), S. 99–128. – Reinhard Hahn: ›Von frantzosischer zungen in teütsch‹: Das literar. Leben am Innsbrucker Hof des späteren 15. Jh. u. der Prosaroman ›Pontus u. Sidonia (A)‹. Ffm./Bern u. a. 1990. – Ders.: Zum Verhältnis v. Belehrung u. Unterhaltung im Prosaroman: Nochmals ›Pontus
Weitere Werke: Gold im Urwald. Bln./DDR 1954 (E.). – Einer zuviel im Geschäft. Rudolstadt 1962 (R.). – Die Marquise v. Brinvilliers. Rudolstadt 1964 (R.). – Jungfrau Johanna. Rudolstadt 1977 (R.). – Masaniello oder der große Fischeraufstand v. Neapel. Rudolstadt 1987 (R.). – Herausgeber: Der vorgetäuschte Mord. 4 histor. Kriminalfälle. Rudolstadt 1989. Literatur: Lebendige Gesch. P. E. zum 80. Geburtstag. Hg. Günter Gerstmann. Rudolstadt 1995. Heidemarie Stegmann-Meißner
Elhen von Wolfhagen
Elhen von Wolfhagen, Tilemann, * 1347/48 Wolfhagen bei Kassel, † nach 1406. – Schreiber u. Chronist.
252 (1926), S. 289–324. – Harro Brack: Die Geschichtsauffassung der Limburger Chronik. Diss. Mchn. 1953. – H. Gensicke: Zur Limburger Chronik. In: Nassauische Annalen 73 (1962), S. 262–267. – Peter Johanek: Ehlen T. v. W. In: VL. Norbert H. Ott / Gerhard Wolf
Der »schriber Dilemann«, der sich in Kap. 107 der Limburger Chronik nennt, darf als ihr Verfasser gelten u. kann mit dem öffentl. Notar E. identifiziert werden, der gegen Ende des 14. Jh. zahlreiche Urkunden in Limburg/ Elias, Norbert, * 22.6.1897 Breslau, † 1.8. Lahn ausfertigte. In Limburg, wo er seit 1370 1990 Amsterdam. – Kulturphilosoph, bezeugt ist, wirkte E. als »notarius publicus« Soziologe. u. war zeitweilig auch Stadtschreiber. Die In Breslau, Freiburg u. Heidelberg studierte letzte Urkunde von seiner Hand ist auf 1398 E. von 1918 an Medizin, Psychologie u. Phidatiert, doch lebte er zumindest bis 1406. losophie; 1922 wurde er in Philosophie in Die Limburger Chronik, bis auf ein Fragment Breslau promoviert. Von der Dissertation Idee des 15. Jh. nur in elf Handschriften u. zwei und Individuum. Ein Beitrag zur Philosophie der Drucken des 16. bis 18. Jh. überliefert, ver- Geschichte ist lediglich ein 1924 in Breslau zeichnet, ohne eine Stadtchronik im engeren gedruckter Auszug erhalten. Nach kurzer Sinne zu sein, in chronologischer, episoden- Tätigkeit in der Industrie arbeitete sich E. seit artiger Reihung die Ereignisse von 1335 bis 1924 in Heidelberg bei Alfred Weber, Karl 1398 in Limburg u. im Lahntal. E. betont, nur Mannheim u. in engem Kontakt mit dem Selbstgesehenes u. -gehörtes zu berichten, Kreis um Marianne Weber, der Witwe Max muss aber bei der Darstellung des weiter zu- Webers, in die Soziologie ein. Als Assistent rückliegenden Geschehens – gut 40 Jahre Mannheims ging er 1930 an die Universität (1377/78) nach dem großen Sturm von 1335, Frankfurt. Die nationalsozialist. Machtübermit dem die Chronik anhebt, begann er seine nahme 1933 verhinderte die Fortsetzung Arbeit – auf ältere lokale Aufzeichnungen seines Habilitationsverfahrens u. zwang E. zu zurückgegriffen haben. emigrieren. Die Habilitationsschrift Die höfiE. berichtet aus der Perspektive der Lim- sche Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie burger Führungsschicht über lokale polit. des Königtums und der höfischen Aristokratie Ereignisse (Fehden der Dynasten Limburgs u. wurde mit einer neuen Einleitung über Sodes Lahntals) u. außergewöhnl. Geschehnisse ziologie und Geschichtswissenschaft erst 1969 (Pest, Naturkatastrophen, Geißlerzüge). (Neuwied. Neuausg. Ffm. 1983. 71994) geZahlreiche Informationen zur Sachkultur, druckt. Die Zeit des Exils verbrachte E. zuetwa zur Kleidermode, geben der Chronik nächst in Paris, dann von 1935 an in England, einen besonderen kulturhistor. Stellenwert. wo er an der London School of Economics u. Mehrfach sind zeitgenöss. Lieder (z.B. Ger- in der Erwachsenenbildung, seit 1954 als lachs von Limburg oder Peters von Arberg) in Professor an der Universität Leicester tätig den Prosatext eingeschoben. Ereignisse, die war. 1961–1963 lehrte er an der Universität E. für bes. bemerkenswert (»notabile«, Ghana. Einige Jahre arbeitete E. am Zentrum Kap. 13) hält, kommentiert er mit Autoritä- für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld. tenzitaten (Aristoteles, Bernhard von ClairDie Exilierung hat die Wirkung von E. in vaux u. a.), die wohl aus Sentenzensamm- Deutschland zunächst behindert. Während er lungen stammen. Wigand Gerstenberg u. Jo- in England u. in den Niederlanden bereits hannes Rothe hat E.s Chronik als Quelle ge- früher beachtet wurde, setzte im deutschdient. sprachigen Bereich erst mit der 1969 erAusgaben: Die Limburger Chronik des T. E. v. schienenen zweiten Auflage von Über den W. Hg. Arthur Wyss. Hann. 1883. Neudr. Dublin/ Prozeß der Zivilisation (Bern. Neudr. Ffm. 1976 Zürich 1973 (MGH Dt. Chron. 4, I). u. ö.) eine intensivere Rezeption ein, die bald Literatur: G. Zedler: Die Quellen der Limbur- über Soziologie u. Sozialpsychologie hinaus ger Chronik u. ihre Verwertung. In: Histor. Vjs. 23 in andere Fachgebiete, so in Geschichte u.
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Elisabeth von Baden-Durlach
Literaturwissenschaft, hineinreichte. 1977 Wissenschaftstheorie, mit Themen wie Tod u. erhielt E. den Theodor-W.-Adorno-Preis der Zeit beschäftigt. Neben seinen wiss. Arbeiten schrieb E. Stadt Frankfurt; 1988 wurde er mit dem erstmals vergebenen Europäischen Amalfi- auch Gedichte; eine Auswahl erschien 1987 u. d. T. Los der Menschen (Ffm.). Seit 1997 erPreis für Soziologie ausgezeichnet. Im erstmals 1939 in Basel erschienenen scheint eine auf 19 Bände angelegte GesamtHauptwerk Über den Prozeß der Zivilisation. So- ausgabe der Werke von E., von der bisher 18 ziogenetische und psychogenetische Untersuchungen Bände erschienen sind, darunter die zuerst untersuchte E. den komplementären Zusam- 1991 auf Englisch veröffentlichte Symboltheomenhang zwischen zunehmender sozialer rie (Ffm. 2001); lediglich der Registerband Verflechtung u. sich verändernder psych. steht noch aus. Struktur des Individuums in der frühen euWeitere Werke: Was ist Soziologie? Mchn. rop. Neuzeit, der z.B. am sich wandelnden 1970. – Zwei Reden anläßlich der Verleihung des Scham- u. Peinlichkeitsempfinden ablesbar Theodor-W.-Adomo-Preises (mit Wolf Lepenies). ist; ein Kennzeichen dieses Prozesses ist die Ffm. 1977. – Über die Einsamkeit des Sterbenden. Verwandlung von gesellschaftlich erfahre- Ffm. 1982. – Engagement u. Distanzierung. Arnem Fremdzwang in Selbstzwang des Indi- beiten zur Wissenssoziologie 1. Ffm. 1984. – Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie 2. Ffm. viduums. Auf materialen Untersuchungen 1984. – Humana conditio. Beobachtungen zur aufbauend, entwickelte E. eine umfassende Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eiTheorie des historischen u. sozialen Wandels, nes Kriegsendes. Ffm. 1986. – N. E. über sich selbst. die in ihrer Verknüpfung von Geschichte, Ffm. 1990. – Mozart. Zur Soziologie eines Genies. Soziologie u. Psychologie einen Gegenent- Ffm. 1991. wurf zu den in den Sozialwissenschaften Ausgabe: Ges. Schr.en in 19 Bdn. Hg. im Auftrag vorherrschenden struktural-funktionalist. der Norbert-Elias-Stichting Amsterdam v. ReinTheorien darstellt. Ausgangspunkt ist die hard Blomert u. Heike Hammer. Ffm. 1997–2006. wechselseitige Abhängigkeit u. AngewiesenLiteratur: Bibliografie: http://www.kuwi.uniheit der Menschen u. damit die Interdepen- linz.ac.at/hyperelias/z-elias/. – Hermann Korte: denz der verschiedenen menschl. Lebensäu- Über N. E. Das Werden eines Menschenwissenßerungen. Deren Subjekte sind weder die schaftlers. Ffm. 1988. 2. Aufl. Opladen 1997. – vereinzelten Individuen noch eine abstrakt Stephen Mennell: N. E. Civilization and the HuSelf-Image. Oxford/New York 1989. Dublin gedachte Gesellschaft, sondern die ihrerseits man 2 1998. – Ralf Baumgart u. Volker Eichener: N. E. miteinander verflochtenen Figurationen – zur Einf. Hbg. 1991. 21997. – N. E. u. die Menvon der Familie bis zum Staat –, die nicht schenwiss.en. Studien zur Entstehung u. Wirzuletzt Organisationen von Machtverhältnis- kungsgesch. seines Werkes. Hg. Karl-Siegbert sen sind. Diese Figurationen sind dynam. Rehberg. Ffm. 1995. – Michael Schröter: ErfahGebilde; ihre Entwicklung gehorcht Gesetz- rungen mit N. E. Ffm. 1997. – Robert van Krieken: mäßigkeiten, welche die – durchaus unge- N. E. Key Sociologists. London 1998. – Zivilisatiplanten – histor. Wandlungsprozesse be- onstheorie in der Bilanz. Beitragsreihe zum 100. stimmen. In zahlreichen weiteren Arbeiten Geburtstag v. N. E. Hg. Annette Treibel, Helmut hat E. die Theorie der Zivilisation an unter- Kuzmics u. Reinhard Blomert. Opladen 2000. – schiedl. Gegenständen erprobt u. beständig Claudia Opitz (Hrsg.): Höf. Gesellsch. u. Zivilisationsprozess. N. E.’ Werk in kulturwiss. Perspektive. weiter entwickelt, so in den Abhandlungen in Köln 2004. Reiner Wild Die Gesellschaft der Individuen (Ffm. 1987. Wieder in: Gesammelte Schriften. Bd. 10, Ffm. 2001), in der zuerst englisch erschienenen Elisabeth von Baden-Durlach, * 6.2. Untersuchung Etablierte und Außenseiter (zus. 1620 Durlach, † 13.10.1692 Basel. – mit John L. Scotson, dt. 1990) oder in den Spruchdichterin. Studien über die Deutschen (Ffm. 1989. Nachdr. 2002. Wieder in: Gesammelte Schriften. Bd. 11, E. war die zweite Tochter des Markgrafen Ffm. 2005). Weiter hat sich E. mit Sportso- Georg Friedrich von Baden-Durlach u. seiner ziologie, mit Fragen der Wissenssoziologie u. zweiten Gemahlin Agatha, geb. Gräfin von
Elisabeth, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg
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Erbach. 1629 zogen E. u. ihre drei Jahre ältere Elisabeth, Herzogin von Calenberg-GötSchwester Anna zu dem während des Kriegs tingen, * 1510 Berlin, † 25.5.1558 Ilmenlange im Straßburger Exil lebenden Vater. Sie au; Epitaph in der Stadtkirche zu erhielten Fremdsprachen-, Mal- u. Ge- Schleusingen. – Reformationsfürstin, schichtsunterricht; vermutlich unterwies sie Verfasserin didaktischer u. erbaulicher der vom Vater u. später auch von den Töch- Schriften sowie zahlreicher Briefe. tern geförderte Jesaias Rompler von Löwenhalt im Gedichtschreiben. 1638 wurde der E., Tochter Kurfürst Joachims I. von BranHof nach Basel verlegt; 1685 vertrieb der denburg u. der Elisabeth von Dänemark, Feldzug Ludwigs XIV. die nach dem Westfä- heiratete 15-jährig den verwitweten kinderlischen Frieden in ihre Heimat Zurückge- losen Herzog Erich I. von Calenberg-Göttingen. Durch die Geburt des Thronfolgers Erich kehrte erneut nach Basel. In Basel begannen E. u. Anna 1647 ihre II. (geb. 1528) hatte E. ihre Hauptaufgabe handschriftl. Gedichtsammlungen. Annas erfüllt u. erhielt – zumal nach der EntdeDichtungen blieben ungedruckt. E. gab da- ckung der Untreue ihres Gemahls – von diegegen Tausendt merckwürdige Gedenck-Sprüch sem nicht nur das Amt Münden als Leibzucht auß unterschiedlichen Authoren zusammen gezogen mit eigener Regierungsgewalt, sondern auch und in teutsche Verse übersetzt (Durlach 1685) religiöse Freiheit zugestanden. Nach Konheraus, von deren Beliebtheit eine bereits takten zu Luther, bei dem sich ihre Mutter 1696 erschienene zweite Auflage zeugt. Die nach der Flucht vor dem streng kath. Gatten Sammlung sollte, der Vorrede zufolge, bes. aufhielt, ließ E. sich im Frühjahr 1538 von der Erbauung von Leserinnen dienen. Die in einem benachbarten hess. Geistlichen im Alexandrinern verfassten Sprüche sind fast Mündener Schloss das Abendmahl unter ausschließlich Vermahnungen zur Tugend. beiderlei Gestalt reichen u. bekannte sich ofQuellen sind die Bibel, Luther, die Kirchen- fen zur Reformation. In diesem Sinne erzog väter, klass. Schriftsteller u. die Devisen be- sie auch ihre vier Kinder. Nachdem Erich I. 1540 gestorben war, erbat sie sich Antonius kannter Regenten. Weiteres Werk: In den Sprüchen Salomos: die Corvinus zur Mithilfe bei der Durchführung Forchte des Herrn ist der Anfang der Weisheit [...] der Reformation im gesamten Fürstentum u. ließ sich von den Landständen ihre Vor(handschriftl. Gedichtslg.). Literatur: Karl Zell: Die Fürstentöchter des mundschaftsregentschaft anerkennen. CorviHauses Baden. Karlsr. 1842. – J. Franck: E. In: ADB. nus arbeitete eine Kirchen- u. Klosterord– Jean M. Woods: ›Die Pflicht befiehlet mir / zu nung aus u. führte 1542 als neuer Landessuschreiben u. zu dichten‹: Drei literarisch tätige perintendent eine Kirchenvisitation durch. Markgräfinnen zu Baden-Durlach. In: Die Frau v. E. verfasste Mandate, Instruktionen, Vorder Reformation zur Romantik. Hg. Barbara Be- reden u. einen Sendbrief an ihre Untertanen cker-Cantarino. Bonn 21987, S. 36–57. – Wilhelm (1545) überwiegend selbst. KirchenpflegKühlmann u. Walter E. Schäfer (Hg.): Des Jesaias schaft verstand sie als Teil ihrer polit. AmtsRomplers v. Löwenhalt erstes Gebüsch seiner ReimGetichte. Nachdr. der Ausg. Straßb. 1647. Tüb. pflichten. Als ihr zum Katholizismus zurückgekehrter Sohn Erich beim Regierungs1988 (s. Nachw.). Jean M. Woods / Red. antritt 1546 die Reformationsmaßnahmen seiner Mutter missbilligte, 1548 das AugsElisabeth, Herzogin von Braunburger Interim einführte u. Corvinus 1549 schweig-Lüneburg ! Elisabeth, Herzgefangen setzte, fürchtete E. um ihr Lebensogin von Calenberg-Göttingen werk. Auch die 1546 mit Graf Poppo von Henneberg geschlossene zweite Ehe bot ihr weder Trost noch Schutz. Infolge falscher, mit ihrem Sohn zusammen getroffener außenpolit. Entscheidungen verlor sie am Ende ihren Besitz Münden u. zog sich 1555 verbittert ins Hennebergische zurück. Dort
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vollendete sie ihr früher begonnenes Witwentrostbuch, versank aber immer mehr in geistige Umnachtung. E. war eine Frau von ungewöhnlicher Führungsstärke, großer Lernfähigkeit u. beachtlicher literar. Begabung. Davon zeugen ihre Briefe an Fürsten u. Theologen ebenso wie ein Regierungshandbuch für den Sohn, Eheratschläge für die nach Preußen heiratende Tochter, geistl. Lieder u. ein laientheolog. Gutachten im Osiandrischen Streit. Ausgaben: Der Widwen Handbüchlein. Lpz. 1598. – Paul Tschackert: Herzogin E. v. Münden [...] die erste Schriftstellerin aus dem Hause Brandenburg. In: Hohenzollern-Jb. 1899, Beilagen I u. II. – Eberhard v. der Goltz (Hg.): Lieder der Herzogin E. In: Ztschr. der Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. 10 (1914), S. 147–208. – Ingeborg Mengel (Hg.): E. v. Braunschweig-Lüneburg u. Albrecht v. Preußen. Ein Fürstenbriefw. der Reformationszeit. Gött. 1954. Literatur: Ingeborg Klettke-Mengel: E. In: NDB. – Inge Mager: ›Wegert euch des lieben heiligen Creutzes nicht‹. Das Witwentrostbuch der Herzogin E. v. C.-G. In: Kirche u. Gesellsch. im Heiligen Röm. Reich des 15. u. 16. Jh. Hg. Hartmut Boockmann. Gött. 1994, S. 207–224. – Dies.: Das Ehestandsbüchlein der Herzogin E. v. C. für Anna Maria in Preußen. In: Kirchengeschichtl. Probleme des Preussenlandes aus MA u. Früher Neuzeit. Hg. Bernhart Jähnig. Marburg 2001, S. 199–216. – Ernst-August Nebig: E., Herzogin v. C. Gött. 2006.
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Inge Mager
Elisabeth, Gräfin von Lothringen und Nassau-Saarbrücken, * zwischen 1394 und 1397/98, † 17.1.1456; Grabstätte: Saarbrücken, Stiftskirche St. Arnual. – Initiatorin von Übertragungen französischer Versepen in frühneuhochdeutsche Prosa. E. gehört zu den wenigen adligen Frauen, die sich mit der Literaturproduktion im dt. MA in Verbindung bringen lassen. Sie war die Tochter des Grafen von Vaudémont, Friedrich (Ferry) von Lothringen, u. der Margarethe von Joinville. Geburtsjahr u. Geburtsort E.s sind nicht bekannt. Als Terminus post quem gilt die Hochzeit ihrer Eltern im Jahr 1393. Am 11. Aug. 1412 wurde sie mit Philipp Graf von Nassau u. Saarbrücken ver-
mählt. Drei Kinder sind in Urkunden u. Chroniken bezeugt: Philipp (geb. 12.3.1418), Johann (geb. 4.4.1423) u. Margaretha (geb. 26.4.1426). Nach dem Tod ihres Gemahls im Jahr 1429 übernahm sie die vormundschaftl. Regentschaft im Herrschaftsgebiet. Im Umkreis E.s wurden in der ersten Hälfte des 15. Jh. vier Chansons de geste in frühneuhochdeutsche Prosa übertragen: Herzog Herpin, Loher und Maller, Huge Scheppel u. Königin Sibille. In der Subscriptio der Handschriften u. Drucke des Loher und Maller u. im Erstdruck des Huge Scheppel (Grüninger, 1500) ist E. als verantwortlich für die Übertragungen genannt, während ihre Mutter die Übersetzung der Epen ins Französische vorgenommen haben soll. Anzunehmen ist, dass die frz. Vorlagen aus dem Besitz der Mutter E.s stammen, doch gilt die Beteiligung der beiden Frauen an den Übertragungen heute als unwahrscheinlich. Ging die ältere Forschung noch von E. als Übersetzerin der Chansons de geste aus, so ist die neuere Forschung (vgl. von Bloh 2002, S. 32; Spieß 1998, S. 95) – u. a. aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse E.s – davon abgerückt. Die frz. Vorlagen selbst sind nicht überliefert. Allein zum Loher und Maller sind wenige Verse erhalten (Fragment in Wiesbaden). Stoffgeschichtlich geht der Herzog Herpin auf den Lion de Bourges zurück, doch haben die beiden überlieferten Fassungen nicht als unmittelbare Vorlagen gedient. Das gilt auch für die Chanson von Gormond et Isembard, an die der dritte Teil des Loher und Maller anknüpft, ebenso für den Hugues Capet, der Vergleichsmöglichkeiten mit dem Huge Scheppel bietet. Die handschriftl. Überlieferung der dt. Prosa setzt erst in der zweiten Hälfte des 15. Jh., also nach dem Tod E.s, ein. Sechs der neun überlieferten Epen-Handschriften können allerdings mit engeren u. weiteren Verwandten E.s in Verbindung gebracht werden. So sind die drei Codices in Hamburg u. Wolfenbüttel, die alle vier Prosaepen enthalten, für den Sohn E.s, Johann III., entstanden; bei der Handschrift des Loher und Maller in Heidelberg handelt es sich um eine Abschrift, die der Tochter E.s, Margarethe von Rodemachern (1426–1490), gehörte; die Handschrift des Loher und Maller in Köln stammt aus der
Elisabeth
Bibliothek der Grafen von ManderscheidBlankenheim, mit denen E. weitläufig verwandt war, u. der Codex in Heidelberg, der den Herzog Herpin enthält, befand sich im 15. Jh. im Besitz der Margarete von Savoyen († 1479), mit der E. gleichfalls verwandtschaftlich verbunden war. Legt man die Anzahl der erhaltenen Handschriften zugrunde, dann könnten Herzog Herpin u. Loher und Maller im 15. Jh. die weiteste Verbreitung gefunden haben: Der Herzog Herpin ist in drei (Berlin, Heidelberg, Wolfenbüttel), der Loher und Maller sogar in fünf Handschriften überliefert (Hamburg, Heidelberg, Köln, Krˇ ivoklát, Wien), während von der Königin Sibille u. dem Huge Scheppel nur je eine Handschrift bekannt ist (Hamburg). Bei den vier Epen handelt es sich um die frühesten Zeugnisse einer Übertragung frz. Versepen in dt. Prosa. Ihre Zusammengehörigkeit wird über Karl den Großen u. seine Nachkommen hergestellt, wobei Anspielungen u. Querverweise eine Lektüre in der Reihenfolge Herzog Herpin – Loher und Maller – Huge Scheppel – Königin Sibille nahe legen. Erzählt werden Geschichten über die Geschichte Frankreichs, über die Kaiser, Könige, Königinnen u. Vasallen: Im Herzog Herpin wird Harpin de Bourges († 1109) zu einem Vasallen Karls des Großen; im Loher und Maller könnte der histor. Kaiser Lothar (840–855) den Ausgangspunkt bilden, der nun Sohn statt Enkel Karls des Großen ist, aber auch Lothars/Lohers histor. Vater Ludwig der Fromme (814–840) ist denkbar oder Ludwig V. le Fainéant († 987), der letzte Karolinger u. Vorgänger des Hugues Capet (987–996), von dem im Huge Scheppel erzählt wird. Verschiedene, historisch weit auseinander liegende Ereignisse u. polit. Konstellationen bilden die Folie für die narrative Verhandlung von Macht- u. Geltungsansprüchen. Dabei organisieren – z.T. seriell – sich wiederholende u. wechselseitig perspektivierende Szenenmuster (Trennung u. Wiedervereinigung, Frauendienst, Brautwerbung, das âventiure-Modell, Zweikämpfe, Gottesgerichte usw.) das Erzählte, anhand derer Problemkonstellationen durchgespielt werden, die sich aus Machtinteressen, Intrigen, dem sexuellen Begehren oder Bindungen durch Liebe,
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Freundschaft, Verwandtschaft u. Vasallität ergeben. Auslöser für das Erzählen von der Einbuße ererbter Herrschaft im Herzog Herpin ist die Verleumdung des gleichnamigen Protagonisten anlässlich eines Hoftages Karls des Großen. Berichtet wird von drei Generationen einer adligen Familie, deren Mitglieder in direkter Linie – nur ein unehel. Sohn ist vom Anspruch auf das väterl. Erbe ausgenommen – am Kampf um das Erbe beteiligt sind: von Herpin von Burges, von dessen Sohn Lewe u. den Enkeln, d.h. den beiden ehel. Söhnen Lewes (Wilhelm u. Ölbaum) sowie seinem unehel. Sohn (Gerhart). Gewalt, Kriege u. Rechtsstreitigkeiten durchziehen das gesamte Epos, bis am Ende den Söhnen Lewes die Rückeroberung der Herrschaft gelingt. Das ist im Loher und Maller nicht anders, doch im Unterschied zum Herzog Herpin werden legitime Herrschaftsansprüche hier nicht von außen streitig gemacht, sondern Erbstreitigkeiten u. Machtinteressen werden vorwiegend unter den engsten Familienmitgliedern ausgefochten (Loher u. Ludwig, Isenbart u. Ludwig). Organisiert ist das Erzählte außerdem nicht allein über die direkte männl. Linie eines Geschlechts: Die erste Generation wird durch Kaiser Karl repräsentiert; die zweite Generation durch die Brüder Loher u. Ludwig sowie deren Schwester, die Gräfin von Pontier, der als Tochter des Kaisers im Handlungsgeschehen allerdings nur eine marginale Rolle zukommt; im letzten Teil vertritt dann Isenbart, der Sohn der Gräfin, neben Lohers Sohn Marphone die dritte Generation. Wie im Herzog Herpin ordnen sich den Kämpfen um die angestammte Herrschaft unzählige unerhörte Liebesgeschichten zu, die ebenso anfällig für Konflikte sind wie die Herrschaftsbelange. Dabei kommt den bisweilen skandalösen Überschreitungen feudaladliger Wertordnungen in den Epen weitaus mehr Aufmerksamkeit zu als den geltenden gesellschaftl. Zusammenhängen. Doch bleibt auch die Liebe letztlich in maßgebende polit. Interessen, dynast. Allianzen oder ständ. Vorstellungen eingebunden. Im Loher und Maller haben Ludwigs Nachkommen an den Ereignissen keinen Anteil. Von Ludwigs Tochter Marie
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Elisabeth von Schönau
wird im Huge Scheppel weitererzählt, in dem es ille‹. Tüb. 2002. – W. Haubrichs u. Hans-Walter um den insofern gefährdeten frz. Thron geht, Herrmann (Hg.): Zwischen Dtschld. u. Frankreich. als keine männl. Erben vorhanden sind. Im E. v. L., Gräfin v. N.-S. St. Ingbert 2002. Ute von Bloh Mittelpunkt dieses Epos, in dem nun ein einzelner Akteur als Träger der Handlung fungiert, steht der Aufstieg eines verwegenen Elisabeth von Schönau, * 1128/29, Helden mit überragender Kampfkraft, der † 18.6.1164/65 Kloster Schönau bei Kosich die Erbtochter samt Königreich erobert. blenz, Reliquiar: ebd., St. Florin. – VerDie gegenüber dem Herzog Herpin u. dem Loher fasserin visionärer Schriften. und Maller straffere Konzeption teilt der Huge Scheppel mit der Königin Sibille, die von der zu E. entstammte einer nicht unbedeutenden Unrecht vertriebenen Gemahlin Karls des rheinischen Adelsfamilie. 1141/42 wurde die Großen handelt, für die es Gerechtigkeit Zwölfjährige den Nonnen des BenediktinerDoppelklosters Schönau übergeben. Um wiederherzustellen gilt. In Editionen zugänglich sind bisher nur 1147 legte sie die Profess ab, um 1157 wurde der Huge Scheppel u. die Königin Sibille, nicht sie zur Leiterin (magistra) gewählt. Mit 23 aber der Herzog Herpin u. der Loher und Maller. Jahren hatte E., erschüttert von krankheitsDrei der Prosaepen wurden später erneut ähnl. Zuständen, ihre ersten Visionen, die bearbeitet u. – z.T. bis ins 18. Jh. – gedruckt zunächst von ihren Mitschwestern, dann (Herzog Herpin, Loher und Maller, Huge Scheppel). auch von ihrem Bruder Ekbert aufgezeichnet 1805 gab Friedrich Schlegel eine neue Bear- wurden. Das erste Buch der Libri visionum beitung des Loher und Maller heraus (Loher und (Visionen, 1152/55) ist geprägt von persönliMaller. Eine Rittergeschichte); 1810 integrierte chen emotionalen u. spirituellen ErfahrunAchim von Arnim die Geschichte von Hug gen u. folgt im ekstat. Miterleben dem Ablauf Schapler aus der Druckfassung von 1537 in des Kirchenjahrs. Nachdem Ekbert 1155 einen Roman (Armut, Reichtum, Schuld und Buße ebenfalls in Schönau eingetreten war, verder Gräfin Dolores); im 19. Jh. entstanden von schiebt sich der Akzent hin zu den Antworten Karl Simrock u. Gustav Schwab weitere Be- des Engels. E. versteht sich mit wachsender Zuversicht als Stimme göttl. Botschaften (Viarbeitungen in sog. Volksbuchsammlungen. sionen, Buch 2 u. 3). Unter Ekberts Einfluss Ausgaben: Hermann Urtel (Hg.): Der Huge begann sie, Christus u. den Heiligen genauere Scheppel der Gräfin E. v. N.-S. nach der Hs. der Hamburger Stadtbibl. mit einer Einl. v. H. U. Hbg. Fragen nach theologischen oder kirchl. Pro1905 – Hermann Tiemann (Hg.): Der Roman v. der blemen der Zeit vorzulegen: Daraus entstanKönigin Sibille in drei Prosafassungen des 14. u. 15. den Mahnungen an den Klerus u. die verschiedenen Stände der Laien im Liber viarum Jh. Hbg. 1977. Literatur: Wolfgang Liepe: E. v. N.-S. Entste- Dei (Die Wege Gottes, auch: Wege zu Gott, hung u. Anfänge des Prosaromans in Dtschld. 1156/57), Revelationes de sacro exercitu virginum Halle/S. 1920. – Hans-Hugo Steinhoff: E. v. N.-S. Coloniensium (Offenbarungen über die heilige In: VL. – Walter Haug: Huge Scheppel – der sex- Schar der Kölner Jungfrauen, 1156/57), die besessene Metzger auf dem Lilienthron. Mit einem auf einen Reliquienfund in Köln Bezug nehOrganon einer alternativen Ästhetik für das spätere men u. zur Verbreitung der Ursula-Legende MA. In: Wolfram-Studien 11 (1989), S. 185–205 – beigetragen haben, schließlich die BestätiWolfgang Haubrichs: Die Kraft v. franckrichs gung der leibl. Himmelfahrt Mariens durch wappen. Königsgesch. u. genealog. Motivik in den die Visiones de resurrectione beatae Mariae virginis Prosahistorien der E. v. L. u. N.-S. In: DU 43 (1991), (1156/59); sie wurden in einer späteren ReH. 4, S. 4–19 – Karl-Heinz Spieß: Zum Gebrauch v. daktion dem zweiten Buch der Visionen anLit. im spätmittelalterl. Adel. In: Kultureller Austausch u. Literaturgesch. im MA. Hg. Ingrid Kasten gefügt. Über das Sterben E.s berichtet Ekbert u. a. Sigmaringen 1998, S. 81–96 – Ute v. Bloh: in einem Brief an Verwandte (De obitu ElisaAusgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem beth). Ekbert hat einen wichtigen Anteil an E.s Umkreis der Gräfin E. v. N.-S.: ›Herzog Herpin‹, ›Loher u. Maller‹, ›Huge Scheppel‹, ›Königin Sib- Schriften, da er die Niederschrift mitformu-
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liert u. schon zu E.s Lebzeiten Sammlungen Ellenhard, * um 1240 Straßburg, † Mai zusammengestellt hat, doch lassen sich im 1304 Straßburg. – Anreger des sog. EllenVergleich mit dessen Schriften auch eigene hard-Kodex, einer Sammlung historiograSicht- u. Ausdrucksweisen E.s ausmachen. fischer Texte. Durch seine weitreichenden Beziehungen verbreitete sich das Ansehen der Seherin, so- Der Angehörige der bürgerl. Ministerialendass von außerhalb des Klosters Fragen an sie schicht Straßburgs initiierte zwischen 1290 gerichtet wurden; E.s Antworten sind in über u. 1299 eine Sammelhandschrift mit lat. his20 Briefen überliefert. Bei Hildegard von toriograf. Werken u. Notizen – heute in St. Bingen fand die sensible E. ermutigende Paul im Lavanttal, Archiv des BenediktinerUnterstützung; zwei Briefe Hildegards u. stifts, Hs. 25.4.15 (37/1) –, die als frühes Beispiel »bürgerlicher« Geschichtsschreidrei Briefe E.s bezeugen dies eindrucksvoll. E.s Visionen, die im MA weiter verbreitet bung hauptsächlich wegen der Aufzeichnung waren als die Hildegards u. in verschiedene zeitgenössischer Ereignisse aufschlussreich Sprachen übersetzt wurden, stehen am Be- für Landes- u. Reichsgeschichte ist. An einiginn einer neuen Form von Visionsliteratur: gen der geschilderten Begebenheiten, etwa Waren es bisher männl. Seher, die ins Jenseits der Schlacht bei Hausbergen am 8.3.1262 entrückt u. dort zur radikalen Umkehr auf- (»Bellum Waltherianum«), war E. selbst begerufen wurden, so entsteht die spätere teiligt. Zwischen 1284 u. 1303 ist er als zuFrauenmystik – wie die Visionen E.s u. Hil- ständig für das Stiftungsvermögen des degards – aus einem spirituellen Gebetsleben, Straßburger Münsterbaus bezeugt; von 1292 das durch die Schau bestätigt u. vertieft wird. bis zu seinem Tod war er Pfleger der ArAusgaben: Die Visionen der hl. E. u. die Schrif- menpfründen des Münsters. Dies dokumenten der Aebte Ekbert [...] v. S. Hg. Ferdinand W. E. tiert E.s einflussreiche Rolle bei den städt. Roth. Brünn 1884. 21886. – E. v. S. Werke. Hg. Peter Autonomiebestrebungen gegenüber den Dinzelbacher. Paderb. u. a. 2006 (dt. Übers., mit Straßburger Bischöfen. Einl. u. Komm.). Der sog. Ellenhard-Kodex überliefert elf hisLiteratur: Kurt Köster: E. v. S. Werk u. Wirtoriograf. Werke, von denen zwei spätere kung im Spiegel der mittelalterl. handschriftl. Überlieferung. In: Archiv für mittelrhein. Kir- Zutaten sind. Die Sammlung steht unter dem chengesch. 3 (1951), S. 243–315; vgl. ebd. 4 (1952), programmat. Ziel, Straßburger Stadt- u. BisS. 79–119 (u. a. Korrekturen u. Modifikationen zur tumsgeschichte in die Reichs- u. WeltgeAusg. v. Roth). – Ders.: E. v. S. In: VL. – Elisabeth schichte einzubinden, u. zwar in bewusst Gössmann: Das Menschenbild der Hildegard v. reichsstädtischer, die ideolog. Ausrichtung Bingen u. E. v. S. vor dem Hintergrund der früh- der Stadtbürger auf die habsburgischen Köscholast. Anthropologie. In: Frauenmystik im MA. nige betonender u. gegen den Episkopat geHg. Peter Dinzelbacher u. Dieter R. Bauer. Ostfildern 1985, S. 24–47. – Anne L. Clark: E. of S. A richteter Perspektive. Die Bedeutung der handschriftl. SammTwelfth-Century Visionary. Philadelphia 1992 (mit Hss.-Verz. u. Lit.). – Claudia Spanily: Autorschaft u. lung liegt v. a. darin, dass sie, gleich nach der Geschlechterrolle. Möglichkeiten weibl. Literaten- Fertigstellung im Spital in Straßburg aufbetums im MA. Ffm. u. a. 2002, S. 88–105, 364–377. – wahrt, dort den dt. Chroniken Fritsche CloJoachim Kemper: Das benediktin. Doppelkloster seners u. Jakob Twingers von Königshofen als Schönau u. die Visionen E.s v. S. In: Archiv für Quelle diente; in den die Straßburger Ereigmittelrhein. Kirchengesch. 54 (2002), S. 55–102. nisse betreffenden Teilen ihrer Werke halten Anette Syndikus sich beide Autoren eng an E.s Kodex, dessen Gesamtkonzeption für Closeners u. Twingers Elisabeth Charlotte, Herzogin von Geschichtsbild ebenfalls verbindlich bleibt. Orléans ! Liselotte von der Pfalz Auch Jakob Wimpfeling hat die Handschrift benutzt, die spätestens zu Anfang des 16. Jh. in den habsburgischen Osten gekommen sein muss.
Ellinger
259 Literatur: Aloys Schulte: Ein Straßburger Geschichtsschreiber des 13. Jh. In: Literaturbeilage zur Gemeindeztg. für Elsaß-Lothringen (1881), S. 138–146. – Erich Kleinschmidt: Herrscherdarstellung. Bern/Mchn. 1974, S. 122–127. – Dieter Mertens: E. In: VL. – Ders.: Der Straßburger E.Codex in St. Paul im Lavanttal. In: Geschichtsschreibung u. Geschichtsbewußtsein im späten MA. Hg. Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 543–580. Norbert H. Ott / Red.
Ellert, Gerhart, eigentl.: Gertrud Schmirger, * 26.1.1900 Wolfsberg/Kärnten, † 7.5.1975 Wolfsberg/Kärnten; Grabstätte: ebd., Stadtfriedhof. – Verfasserin historischer Romane u. Prosa. Die Arzttochter war Privatschülerin der Benediktiner Stiftsherren von St. Paul im Kärntner Lavanttal. Dort befindet sich heute ihr Nachlass. Nach einigen Semestern Medizin u. Geschichtsvorlesungen in Graz u. Wien kehrte E. in ihre Heimatstadt zurück, wo sie von 1922 an eine Baumschule betrieb. Ihr erstes Buch Der Zauberer, ein histor. Roman über Papst Silvester II., erschien 1933 (Wien/Lpz. Wien 101956. Neuausg. Klagenf. 1981). Darin, wie auch in ihren späteren, spannend geschriebenen, simpel gegliederten u. in den 1930er bis 1950er Jahren überaus erfolgreichen Werken zelebriert E. als Grundfigur gern die machtvolle, heldenhaft gegen Widersacher u. Widrigkeiten ankämpfende histor. Persönlichkeit – so in dem Drama Der Doge Foscari (Wien/Lpz. 1936) u. in den Romanen Wallenstein (Wien/Lpz. 1937. Wien 61952. Neuausg. 21977. Jugendausg. Wien 1938) u. Richelieu (Wien 1948. 31956. Neuausg. 1973). Eben diese Bejahung der Führernatur sicherte der Autorin im Dritten Reich bes. Publizität; militant Völkisches findet sich in E.s Werk aber nicht. Die Schriftstellerin erhielt 1959 den Österreichischen Staatspreis für Kinder- u. Jugendliteratur, 1960 den Ehrenring der Stadt Wolfsberg. Weitere Werke: Karl V. Wien/Lpz. 1935. Wien 1967. Neuausg. Salzb. 1980. Jugendausg. Wien 1938 (R.). – Michelangelo. Wien 1942. 51959. Neuausg. 1975 (R.). – Peter de Vinea. Bln. 1947 (D.). – Das blaue Pferd. E.en zu Kunstwerken. Wien/
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Mchn. 1958. – Europas verlorene Küste. Nordafrika im Bild der Gesch. Wien 1970. Ausgabe: Ges. Werke. 3 Bde., Salzb. 1980. Literatur: Birgit Urbas: Leben u. Werk G. S.s (Pseud. G. E.) im Spiegel ihrer histor. Romane. Diss. Graz 1980. Martin Loew-Cadonna / Red.
Ellinger, Andreas, * 1526 Orlamünde/ Thüringen, † 12.3.1582 Jena. – Arzt; neulateinischer Dichter. E. studierte in Wittenberg (Magister 1549), anschließend v. a. Medizin in Leipzig (Dr. med. 1557). Seit 1569 wirkte er als Medizinprofessor in Jena. Dabei scheint er sich nicht nur an die Autoritäten der Schulmedizin angeschlossen, sondern auch zur Verbreitung der neuen Heilkunde des Paracelsus beigetragen zu haben (nach Hirsch; Art u. Zuweisung der diesbezügl. Werke sind nicht zweifelsfrei geklärt). Im Umkreis Melanchthons u. des ihm anhängenden Dichterkreises fand E. zur Poesie. Wie Georg Fabricius u. Adam Siber bemühte er sich bes. um die Wiederbelebung der altchristl. Hymnendichtung u. wandte sich gegen engherzige Berührungsängste der Lutheraner, die diese Gesänge als zur Papstkirche gehörig verwarfen (umfangreiche Sammlung Hymnorum ecclesiasticorum ab A. E. emendatorum libri III. Ffm. 1578). Weitere Werke: Praecipua Catechismi capita et Septem Sapientum Dicta variis carminum generibus pro pueris reddita. Magdeb. 1546. Erfurt 1560. – Divini Hippocratis aphorismorum [...] selectarum [...] paraphrasis poetica [...] Hippocratis prognosticorum paraphrasis poetica. Ffm. 1579. – Rathschlag [...] wie man sich zur Zeit der Pest praeservirt. Lpz. 1587. Ausgaben: Textausw. in: CAMENA. Literatur: Johannes Günther: Lebensskizzen der Professoren der Univ. Jena. Jena 1858. Neudr. Aalen 1979, S. 118. – Arnold Hirsch: E. In: ADB. – Ellinger 2, S. 163. – Ernst Giese u. Benno v. Hagen: Gesch. der medizin. Fakultät der Friedrich-SchillerUniv. Jena 1958, S. 81–83. Wilhelm Kühlmann
Elmenhorst
Elmenhorst, H(e)inrich, * 19.10.1632 Parchim/Mecklenburg, † 21.5.1704 Hamburg. – Evangelischer Theologe; Librettist u. Kirchenlieddichter. Bereits als 13-Jähriger wurde E. am 17.7.1646 in die Matrikel der Universität Helmstedt eingetragen (»deponiert«). Das Studium der Theologie nahm er aber erst im Sommersemester 1650 auf, u. zwar in Leipzig (Bacc. art. 20.11.1652, Magisterpromotion 21.3.1654), wo ihn die luth. Orthodoxie u. das rege Musikleben prägten. Als junger Poet veröffentlichte er das Schäferspiel Rosetta (Lpz. 1653). Ab 1660 wirkte er in Hamburg als Diakon, ab 1673 als Archidiakon an St. Katharinen, ab 1696 auch als Seelsorger am St. Hiob-Spital. In seinen gedruckten Predigten (u. a. Leidensund Liebesmaß, wie sich ein Christe im Leiden und Unglücke soll verhalten. Hbg. 1682) bekundet sich seine Gegenposition zu dem in Hamburg verbreiteten weltverneinenden Pietismus. Aus dieser Haltung heraus erlangte er musikgeschichtl. Bedeutung als Mitbegründer u. Förderer der 1678 eröffneten Hamburger Oper, die als die erste »stehende« dt. Volksoper Geltung gewann. Als das Opernhaus 1696 auf Betreiben der Pietisten, v. a. des mit Philipp Jacob Spener befreundeten Hamburger St. Jacobi-Pfarrers Anton Reiser geschlossen wurde, war E. an der alsbaldigen Wiedereröffnung maßgebend beteiligt. Als Antwort auf Reisers Theatromania, oder die Wercke der Finsterniß in denen öffentlichen SchauSpielen (Ratzeburg 1681) veröffentlichte er, nach der am 28. Jan. 1686 erfolgten Schließung des Hamburger Opernhauses, seine Dramatologia antiquo-hodierna. Das ist: Bericht von denen Oper-Spielen (Hbg. 1688. Neudr. Lpz. 1978), in der er ausführt, dass die Opernspiele zwar bei den Heiden abgöttisch u. lasterhaft gewesen u. daher mit Recht von der Kirche verboten worden seien, heute jedoch »zur geziemenden Ergetzung und Erbauung im Tugend-Wandel« dienten, zumal in ihnen allezeit das Laster bestraft, die Tugend jedoch geehrt u. belohnt werde u. sie überdies die »Ausübung teutscher Poesie« förderte. Für die Hamburger Oper schrieb E. eine Reihe von Libretti, die in Hamburg im Druck erschienen: die Singspiele Orontes, der verlohrne
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und wieder gefundene königkliche Prinz aus Candia (1678) u. Die wol und bedächtig liebende Michal oder Der siegende und fliehende David (1679; Musik v. Johann Wolfgang Franck), die gegen die Sinnenfeindschaft der Pietisten gerichtete geistl. Oper Charitine oder göttliche Geliebte (1681; Musik v. J. W. Franck) sowie das Opernspiel Der im Christentum bis an den Tod beständige Martyrer Polyeuct (1688; nach Corneille, Musik v. Johann Philipp Förtsch). E. ist auch als Verfasser von geistl. Liedtexten hervorgetreten, deren Melodien zum großen Teil von Franck stammen. 1681 u. 1682 erschienen in Hamburg zwei Sammlungen Geistliche Lieder von E. u. Franck, die in einem Geistlichen Gesangbuch (Hbg. 1685) zusammengefasst u. erweitert wurden. 1700 gab J. C. Jauch in Lüneburg sämtl. Geistreiche Lieder E.s (»anjetzo aber bis auf 100 vermehret«) mit 73 Melodien von Franck, 23 Melodien von dem Lüneburger Organisten Georg Böhm u. vier Melodien von dem Regensburger Kantor Peter Laurentius Wockenfuß heraus. E.s Liedtexte leiden weithin an übertriebener Metaphorik u. zeitbedingten »Barockismen«; sie verdanken ihren Wert v. a. den Melodien von Franck u. Böhm. Weitere Werke: Disputat. metaphys. de vero (Praes.: Christian Hilscher, Resp.: H. E.). Lpz. 1653. – De existentia formae substantialis ad diem 18. Martii disputabunt Praeses, M. H. E. [...] et Matthias Winckelmann [...] Resp. [...]. Lpz. 1654. – Bewehrte Seelen-Artzeney, in mannigfaltigen geistl. u. leibl. Nöhten zu gebrauchen [...]. Hbg. 1665. – Die wieder die Gesetz-Treiber von Gott vertheidigte Glaubens-Lehre [...] Hbg. 1694. – Johann Wolfgang Franck, H. E.: Geist-reiche Lieder [...]. Lüneb. 1700. Neudr. Hildesh. 2000. Ausgaben: Ausgew. ›geistreiche‹ Lieder (1700). Bearb v. Max Seiffert. Lpz. 1955. – Geistl. Lieder v. H. E. Hg. Josef Kromolicki u. Wilhelm Krabbe, rev. v. Hans Joachim Moser. Wiesb./Graz 1961. – Die Singspiele ›Orontes‹ (1678), ›Die Macchabaeische Mutter‹ (1679), ›Die wol u. beständig-liebende Michal‹ (1679) u. ›Die Geburth Christi‹ (1681) in: Wolfenbütteler Digitale Bibl., Abt.: Festkultur online (http://www.hab.de/). Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1419–1426 (Bibliogr.). – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata [...]. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 183 f. – Frels, S. 64. – Richard Klages: Johann Wolfgang Franck. Untersuchungen zu seiner
261 Lebensgesch. u. zu seinen geistl. Kompositionen. Hbg. 1937. – Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hbg. (1678–1738). 2 Bde., Wolfenb. 1957. – Käte Lorenzen: E. In: NDB. – Heiduk/ Neumeister, S. 29, 161, 325 f. – W. Gordon Marigold: Dichtung in Hamburg zur Zeit der Opernkriege. Das literar. Werk H. E.s. In: ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‹. Hg. James Hardin u. Jörg Jungmayr. Bern 1992, S. 873–891. – Wolfgang Kaelcke: Parchimer Persönlichkeiten. Tl. 1, Parchim 1996, S. 32 f. – W. G. Marigold: Aspekte des geistl. Liedes im 17. Jh.: Johann Rist, H. E., Christian Knorr v. Rosenroth. In: Morgen-Glantz 6 (1996), S. 81–98. – Anette Guse: Zu einer Poetologie der Liebe in Textbüchern der Hamburger Oper (1678–1738). Eine Fallstudie zu H. E., Christian Friedrich Hunold u. Barthold Feind. Diss. Kingston University 1997. Ann Arbor 2000. – George J. Buelow: E. In: The New Grove 2. Aufl. Bd. 8, S. 157 f. – Christoph Hust: E. In: MGG 2. Aufl. Bd. 6, Sp. 281–283. – Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie u. Kunst. Tüb. 2005, S. 220–226. – Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti v. den Anfängen bis 1730. Paderb. u. a. 2005. – Bernhard Jahn: Die Sinne u. die Oper. Sinnlichkeit u. das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- u. mitteldt. Raumes (1680–1740). Tüb. 2005. Hans Heinrich Eggebrecht † / Red.
Eloesser, Arthur, * 20.3.1870 Berlin, † 14.2.1938 Berlin. – Literatur- u. Theaterkritiker. Der Sohn eines jüd. Kaufmanns studierte zunächst Geschichte (bei Treitschke), dann Germanistik u. Romanistik in Berlin, Genf u. Paris. 1893 promovierte er bei Erich Schmidt mit einer Dissertation über die ältesten dt. Molière-Übersetzungen. Sein Plan, sich mit einer Arbeit über Das bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert (Bln. 1898) zu habilitieren u. die wiss. Laufbahn einzuschlagen, scheiterte an seiner jüd. Herkunft. 1899 machte ihm die traditionsreiche »Vossische Zeitung« das Angebot, als Theaterkritiker die Nachfolge Paul Schlenthers anzutreten. In den Folgejahren entwickelte sich E. zu einem der angesehensten Berliner Kritiker. Aus der positivist. Schule Scherers u. Schmidts kommend, zudem durch Kindheitseindrücke im Berliner Norden für die sozialen Probleme der Zeit sensibilisiert, setzte er sich v. a. für die »lebensechten« u.
Eloesser
zgl. »lebensbewahrenden« Dramen der Naturalisten (insbes. Hauptmanns) ein, während er den Expressionisten gegenüber eine ambivalente Haltung einnahm u. »destruktive« Autoren wie Strindberg u. Wedekind verständnislos ablehnte. Nach dem Verkauf der »Vossischen Zeitung« 1914 sammelte E. sechs Jahre lang als Dramaturg u. Regisseur am Berliner Lessing-Theater auch prakt. Theatererfahrungen. 1920 kehrte er wieder zum Journalistenberuf zurück (1921 Vorsitzender des »Schutzverbands deutscher Schriftsteller«), 1924 ging er zur »Weltbühne«, 1928 erneut zur »Vossischen Zeitung«. Die Jahre der Weimarer Republik zählten zu E.s produktivsten: 1919 erschien Die Straße meiner Jugend (Bln. Neuausg. Bln. 1987), eine Sammlung kleiner, liebenswürdiger Skizzen, die »etwas von der seelischen und geistigen Beschaffenheit des Berlinertums fühlbar zu machen« versuchten, 1925 eine Biografie über Thomas Mann (Bln.), 1930/31 eine groß angelegte, von der Kritik wohlwollend aufgenommene zweibändige Darstellung Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart (Bln.). Die Zäsur erfolgte 1933, als E. auf Betreiben der Nationalsozialisten die Redaktion der »Vossischen Zeitung« verlassen musste. Eine Existenzgrundlage fand er bis zu seinem Lebensende bei der »Jüdischen Rundschau«, wo auch seine Erinnerungen eines Berliner Juden erschienen. Weitere Werke: Heinrich v. Kleist. Eine Studie. Bln. 1905. Mikrofiche-Ausg. Egelsbach u. a. 1994. – Elisabeth Bergner. Bln. 1928 (Biogr.). – Vom Ghetto nach Europa. Bln. 1936. Neuausg. Bln. 1988. Literatur: Doris Schaaf: Der Theaterkritiker A. E. Bln. 1962. – Utz Held: Stadt u. Charakter in A. E.s ›Die Straße meiner Jugend‹. In: Berlin-Flaneure. Hg. Peter Sprengler. Bln. 1998, S. 65–79. – Andreas Terwey: A. E. Der Philologe als Kritiker. In: Berliner Univ. u. dt. Literaturgesch. Hg. Gesine Bey. Ffm. 1998, S. 201–214. – Horst Häker: A. E.s Kleist-Studie v. 1903. Dokument eines trag. Irrtums. In: Ders.: Überwiegend Kleist. Heilbr. 2003, S. 213–215. Peter König / Red.
Elsner
Elsner, Gisela, * 2.5.1937 Nürnberg, † 13.5.1992 München. – Verfasserin von Romanen u. Erzählungen. Die Tochter eines Industriemanagers studierte nach dem Abitur 1956 einige Semester Germanistik, Philosophie u. Theaterwissenschaften in Wien u. lebte in London, Rom, Paris u. Hamburg, bis sie 1977 als freie Schriftstellerin München zum Wohnsitz wählte. Nach ersten Veröffentlichungen in Anthologien u. Zeitschriften wie »Vorzeichen« u. »Akzente« beteiligte sich E. ab 1961 an der Gruppe 61 u. wurde zu den Tagungen der Gruppe 47 eingeladen. 1963 erhielt sie das Julius-Campe-Stipendium, 1987 den Gerrit-Engelke-Preis. Die Verleihung des Prix Formentor 1964 für ihr Roman-Debüt machte sie weithin bekannt: Die Riesenzwerge (Reinb. 1964) erschien gleichzeitig in vielen Ländern Europas u. Amerikas. »Humorist des Monströsen, das im Gewöhnlichen zum Vorschein kommt«, so beschrieb Hans Magnus Enzensberger die Verfasserin u. charakterisierte damit die Linie, die, zur Satire u. akrib. Groteske gesteigert, ihr weiteres Schaffen, ihre Romane, Erzählungen u. Hörspiele, bestimmte. Ironisch entlarvt E. die Bösartigkeit des Spießers, die Gewalttätigkeit kleinbürgerlicher Verhaltensformen, die zerstörer. Zwangsläufigkeit unreflektierter Normen im privaten Leben, indem sie in schonungsloser Konsequenz das Alltägliche zum Absurden steigert u. menschl. Reaktionen zu monströsen Ungeheuerlichkeiten ausarten lässt: »Wenn man exakt sein will, sind Mitleid und Sympathie fehl am Platz.« Ihre manieristisch stilisierte, monoton beschreibende Sprache vermag es, Details scharf zu fassen. Kafka u. der Nouveau Roman waren ihre frühen Vorbilder, später orientierte sie sich mehr am Realismus u. Naturalismus, wollte nach dem Vorbild Zolas »Geschichte sinnlich erfahrbar« machen. Treu blieb E., die Mitgl. der DKP war, ihrer extrem krit. Sicht auf die Bundesrepublik. In ihrem Roman Der Punktsieg (Reinb. 1977), der zunächst Gelobtes Land heißen sollte, porträtierte sie entlarvend die opportunist. Anpassung eines Unternehmers an die sozial-progressive Stimmung zur Zeit der sozial-libe-
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ralen Koalition, im Roman Das Windei (Reinb. 1987) rekapitulierte sie Aufstieg u. Absturz einer Familie in Zeiten des Wirtschaftswunders. Weitere Romane gelten der Geschlechterproblematik: Abseits (Reinb. 1982) zeigt, wie eine junge verheiratete Frau durch die einengenden familiären u. berufl. Verhältnisse in den Tod getrieben wird; Die Zähmung (Reinb. 1984. Bln. 2002) präsentiert den Fall eines Mannes, der durch seine erfolgreiche Frau zum Haushaltsgehilfen degradiert wird. Ihr letzter Roman Fliegeralarm (Wien/Darmst. 1989) schildert, wie Kinder in den Jahren des Bombenkriegs faschist. Verhaltensmuster übernehmen, in den Ruinen ein KZ einrichten u. einen Jungen zu Tode quälen. E.s letzte Romane stießen bei der Kritik zunehmend auf Ablehnung, der RowohltVerlag trennte sich von ihr. Physisch u. psychisch erschöpft, enttäuscht u. hoffnungslos, nahm sich E. im Mai 1992 das Leben. Ihr Sohn, der Regisseur Oskar Roehler, erzählt in dem 2000 erschienenen, mehrfach ausgezeichneten Film Die Unberührbare von der Lebenskrise seiner Mutter; die Hauptrolle spielte Hannelore Elsner. Weitere Werke: Der Nachwuchs. Reinb. 1968 (R.). – Das Berührungsverbot. Reinb. 1970 (R.). – Herr Leiselheimer u. weitere Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen. Mchn. 1973 (E.). – Die Zerreißprobe. Reinb. 1980 (E.). – Gefahrensphären. Wien/Darmst. 1988 (Ess.). – Wespen im Schnee. 99 Briefe u. ein Tgb. Bln. 2001. Literatur: Marlis Gerhardt: G. E. In: Neue Lit. der Frauen. Hg. Heinz Puknus. Mchn. 1980, S. 88–94. – Werner Preuß: Von den ›Riesenzwergen‹ bis zur ›Zähmung‹. Zu G. E.s Prosa u. ihren Kritikern. In: Kürbiskern (1985), S. 119–130. – Malgorzata Pólrola: Zieht das Ewig-Weibliche (noch) hinan? Zwei Porträts unerot. Körperlichkeit: Arno Schmidt u. G. E. In: Das Erotische in der Lit. Hg. Thomas Schneider. Ffm. 1993, S. 145–165. – Christine Flitner: Frauen in der Literaturkritik: G. E. u. Elfriede Jelinek im Feuilleton der BR Dtschld. Pfaffenweiler 1995. – Wend Kässens u. Michael Töteberg: G. E. In: KLG. – Dorothe Cremer: ›Ihre Gebärden sind riesig, ihre Äußerungen winzig‹: zu G. E.s ›Die Riesenzwerge‹. Schreibweise u. soziale Realität der Adenauerzeit. Herbolzheim 2003. – Petra Ernst: G. E. In: LGL. – Christine Künzel: G. E. ›Die Riesenzwerge‹ (1964). In: Meisterwerke. Hg. Claudia Benthien. Köln 2005, S. 93–109. – Evelyne Polt-Heinzl: ›Ich war die erste Frau, die eine Satire /
/
263 [...] schrieb‹: G. E. (1937–92). In: Zeitlos. Hg. dies. Wien 2005, S. 183–204. Hans Peter Bleuel / Red.
Eltester, Elster, Otto Christoph, * 1666 Kleve, † 1738 Berlin. – Jurist u. Lyriker.
Elverfeld
aus (»An den hinterlassenen bruder des seel. Herrn C. E. [...]«), das nach einem Einzeldruck erst im siebten Teil der Neukirch’schen Anthologie (Neukirch, S. 399–402) veröffentlicht wurde u. wichtige Nachrichten zum Leben u. zu den Plänen der Brüder in Berlin enthält.
E.s Vater war lange Mundschenk des Großen Kurfürsten. E. wuchs in Berlin auf, studierte Weitere Werke: Der im Frühling Verstorbene nach 1681 in Frankfurt/O. Jura u. gehörte, u. von seinem eintzigen Bruder beklagte Tirsis. wie sein Bruder Christian, später namhafter o. O. 1700. – Beschreibung der Illumination welche Baumeister in Berlin, dem Dichterkreis um bey der Krönungs-Feyr Sr. Kgl. Maj. in Preussen v. Johann Christoph Beckmann an, der sich v. a. der Kunst-Academie in Berlin alles unterthänigst mit der Dichtung Hoffmannswaldaus u. Lo- praesentiret worden. [Bln.] 1701. Literatur: Wilhelm Eltester: Eine brandenhensteins beschäftigte. Hier lernte er Benjaburg.-preuß. Beamtenfamilie. Dortm. 1959. – min Neukirch kennen, dem er freundschaftFranz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. lich verbunden blieb. Unter dem Einfluss Bern/Mchn. 1971, S. 44–50. – Joachim Schöbel: dieses Kreises gründete E. später in Berlin ›liljen-milch und rosen-purpur‹. Die Metaphorik in eine »Hirtengesellschaft«, die sich der Pflege der galanten Lyrik des Spätbarock. Untersuchung galanter Sprache u. Dichtung widmete. Er zur Neukirchschen Slg. Ffm. 1972. erhielt den Decknamen »Tityrus«, Christian Erika A. Metzger / Red. wurde »Thyrsis« genannt. Ab 1690 wirkte E. beruflich in Berlin, zuElverfeld, Jonas von, * um 1550 Krempe erst als sog. Kreis-Schreiber, später als Kam(?), † nach 1611. – Lyriker. mergerichtsrat, Kgl. Preußischer Pronotar u. Sekretär der 1696 gegründeten Preußischen E., vermutlich Sohn eines aus Elbersfeld Akademie der Künste und Mechanischen stammenden Pastors, wurde 1571 in Jena Wissenschaften. Eine Italienreise 1695/96 immatrikuliert. Um 1590 gehörte er zum stand möglicherweise in Zusammenhang mit Kreis des kgl. dän. Statthalters in Schleswig u. dem plötzl. Tod seiner von ihm als »Sylvia« Holstein, Heinrich Rantzau auf Breitenburg besungenen Geliebten Eva Louyse Schultze bei Itzehoe. 1598 u. 1609 veröffentlichte E. am 6.4.1694 (vgl. das im ersten Teil der Werke als herzoglich gottorfischer Land- u. Neukirch’schen Anthologie enthaltene Gedicht Ding (= Gerichts)schreiber der Karrharde im Die unter dem namen der Sylvia verstorbene u. be- Amt Tondern. klagte Jungfer Schultzin. Neukirch, S. 196–198). E. schrieb v. a. lat. Gedichte zum Ruhm von Außer Einzeldrucken veröffentlichte E. Heinrich Rantzau u. Mitgliedern des Hauses über 100, fast immer »galante« u. »verliebte« der Herzöge von Schleswig-Holstein-Gottorf Gedichte in den ersten beiden Bänden der sowie Epigramme auf Fürsten, AdelsgeNeukirch’schen Anthologie (Neukirch, Tl. 1, schlechter, Städte u. Ämter Schleswigs u. passim; Tl. 2, passim). Unter den Galanten in Holsteins. Sie wurden mit Erläuterungen Berlin überragte er seine Zeitgenossen Jo- Rantzaus in lat. Prosa auf dessen Kosten als hann von Besser, Benjamin Neukirch u. Buch De Holsatia (Hbg. 1592) gedruckt. Mit Christian Reuter an poetischer Qualität bei seinen lat. Versen fügt sich E. ganz in den Weitem. Bes. seinen Sonetten ist ein mit literar. Kreis ein, den Heinrich Rantzau im Klarheit der Gedankenführung verbundener Stil eines Kleinfürsten der Renaissance um unmittelbarer Ton eigen. Galante Gestik (z.B. sich sammelte. In dt. Sprache hat E. nur die »Sie weigert ihm ein armband«) u. das »ut Pharmaceutice Davidica (Schleswig 1609) zum pictura poesis« (z.B. »Er mahlet ihr bildnis«) Druck gebracht, die Nachdichtungen von – für E. Grundmuster des lyr. Sprechens – Psalmen u. einige geistl. Lieder enthält. Diese wirken noch heute natürlich. Benjamin stehen in Form u. Stil noch ganz in der Neukirch sprach E. seine Anerkennung in volkstüml. Liedtradition des 16. Jh.; gelehrteinem Trauergedicht auf Christian Eltester manieristisch sind nur der Titel, die Vorrede
Elwenspoek
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u. die Einleitungen zu den einzelnen Liedern mit der durchgehaltenen medizinisch-pharmazeut. Metaphorik (der Psalter als Arznei des Hl. Geistes, die alle menschl. Gebrechen heilt). Wirkungen hat dieses Werk nicht gehabt. Literatur: VD 16, E 1044–1048, ZV 3009, 5393, 24359. – Weitere Titel: Johannes Moller: Cimbria literata [...]. Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 159. – Dieter Lohmeier: E. In: BLSHL (mit Nachweis der Werke u. der Lit.). – DBA 279,359–361. – Detlev Kraack: Eine ›heraldische Topographie‹ der Herzogtümer Schleswig u. Holstein [...]. In: Heinrich Rantzau (1526–98). Kgl. Statthalter in Schleswig u. Holstein. Ein Humanist beschreibt sein Land. Hg. Marion Bejschowetz-Iserhoht. Schleswig 1999 (Ausstellungskat.), S. 77–83. – D. Lohmeier: Heinrich Rantzau. Humanismus u. Renaissance in Schleswig-Holstein. Heide 2000. – Peter Zeeberg: Heinrich Rantzau. A bibliography. Kopenhagen 2004. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 483 f. Dieter Lohmeier / Red.
E. die Biografie zum histor. Tatsachenroman: Anhand histor. Ereignisse (Bau des Panamakanals u. a.), dargestellt unter Verwendung von Dokumenten aus Originalquellen, schilderte er histor. Persönlichkeiten von ihren »menschlichen Seiten« her. Nach dem Krieg arbeitete E. wieder als Rundfunksprecher. Aus seinen Sendungen sind eine Reihe von heiteren Trost- u. Ermunterungsbüchern hervorgegangen. Weitere Werke: Schinderhannes. Stgt. 1925 (Biogr.). – Jud Süß Oppenheimer. Stgt. 1926 (Biogr.). – Charlotte v. Mexiko. Stgt. 1927 (Biogr.). – Rinaldo Rinaldini. Stgt. 1929 (Biogr.). – Der höll. Krishan. Bln. 1936 (Biogr.). – Die roten Lotosblüten. Stgt. 1941 (R.). – Panama. Bln. 1942 (R.). – Hauspostille des Herzens. Freib. i. Br. 1956. – Neue Hauspostille des Herzens. Freib. i. Br. 1958. Literatur: Achim Anders: Meister einer beglückenden Lebenskunst. In: Ostdt. Monatsh.e 25 (1959). – Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück v. mir. Ffm. 1969, S. 299–314. – Walter Benjamin: Rez. zu C. E.: ›Rinaldo Rinaldini‹. In: Ders.: Ges. Schr.en. Bd. 3, Ffm. 1972, S. 185 f.
Elwenspoek, Curt, auch: Conrad ElgenPeter König / Red. stein, Christoph Erik Ganter, * 28.5.1884 Königsberg, † 13.4.1959 Tübingen. – Dramaturg, Verfasser von Biografien u. Elzer, Margarethe Anna Elisabeth, * 19.10. Tatsachenromanen. 1889 Halle/Saale, † 26.8.1966 Tegernsee. E. war der Sohn eines Militärbeamten. Er – Verfasserin von Unterhaltungsromanen. studierte Jura u. promovierte 1908 mit einer Arbeit zur Geschichte des preuß. Landrechts. Danach war er als Schauspieler, Regisseur u. Dramaturg u. a. in Amsterdam, Köln, Wiesbaden u. Mainz tätig. 1922 wurde er Intendant in Kiel u. engagierte Carl Zuckmayer, den er zuvor in Mainz kennengelernt hatte, als Dramaturgen. Der unkonventionelle Spielplan (Büchner, Barlach, Lenz, Grabbe, Strindberg u. Wedekind) u. der experimentelle Theaterstil E.s führten 1923 zu seiner Entlassung. 1924 ging E. nach Stuttgart u. arbeitete zunächst als Chefdramaturg am Theater, dann 1930–1938 als Rundfunksprecher. Während der Zeit in Stuttgart entstanden, stilistisch von der Neuen Sachlichkeit beeinflusst, seine ersten histor. Biografien, die v. a. volkstüml. Figuren (Schinderhannes, Rinaldo Rinaldini) behandelten u. neben Bilddokumenten ausführl. Quellenmaterial präsentierten. Während der 1940er Jahre erweiterte
Wie ihre Schwester Friede Birkner kopierte E. die Unterhaltungsliteratur der Mutter Hedwig Courths-Mahler. 1921–1953 veröffentlichte sie 54 Romane, deren Titel bereits auf die Befriedigung sentimentaler Lektürebedürfnisse abzielen, u. a. Die Fahrt ins Glück (Lpz. 1923), Ännes Bekehrung (Lpz. 1928), Die blonde Dulderin (Lpz. 1932), Er soll dein Herr sein (Lpz. 1932), Der Mann ihres Herzens (Reutlingen 1935). Als Vertreterin des Frauenromans gestaltet E. traditionelle Weiblichkeitsvorstellungen. Triviale Sprachklischees kennzeichnen ihre Romane dabei in gleicher Weise wie die krasse Schwarz-Weiß-Zeichnung der Charaktere. Die erfolgreiche Verbreitung ihrer Romane während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland dokumentiert die Beliebtheit jener Texte, die gesellschaftl. Fragen aussparten u. soziale Konflikte (Klassenunterschiede) auf stereotype Weise auflösten.
Emerich
265 Weitere Werke: Käthe Gernsbachs Ehe. Lpz. 1926. – Schicksalsstunden. Lpz. 1929. – Hanna Dürens Bewährungsfrist. Lpz. 1930. – Lockruf der Ferne. Lpz. 1930. – Nelly, denk an mich! Lpz. 1934. Andrea Stoll / Red.
Embser, Johann Valentin, * 14.2.1749 auf der Bruchmühle bei Wörth/Elsass, † 27.11.1783 Zweibrücken. – Verfasser pädagogischer Schriften u. Mitarbeiter an Klassikereditionen.
Butters: Über die Bipontiner u. die Editiones Bipontinae. Zweibrücken 1877. – NDA. – Georg Burkard: Bibliogr. der Editiones Bipontinae. Zweibrücken 1989. – Wilhelm Janssen: J. V. E. u. der vorrevolutionäre Bellizismus in Dtschld. In: Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Hg. Johannes Kunisch Herfried. Bln. 1999, S. 43–55. – Lars G. Svensson: Die Gesch. der Bibliotheca Bipontina. Mit einem Kat. der Hss. Kaiserslautern 2002. Sigrid Hubert-Reichling / Red.
Nach dem Studium in Halle u. Göttingen war Emerich, Friedrich Joseph, * 21.2.1773 E. Französischlehrer der Ritterakademie Re- Wetzlar, † 17.11.1802 Würzburg. – Lyrival. Auf seinen Reisen machte er die Be- ker u. Publizist. kanntschaft von Euler, Klopstock, d’Alembert u. Rousseau. Seit 1775 war er Präzeptor am Wie das anderer Freunde des Kreises um Hölderlin (Casimir Ulrich Boehlendorff, Gymnasium Illustre in Zweibrücken. In seinen Schriften setzte er sich mit aktu- Siegfried Schmid), war auch E.s Schicksal ellen Geistesfragen auseinander. Das päda- dem Hölderlins ähnlich. Der Sohn eines Jugog. Konzept Basedows u. Bahrdts bezeich- risten am Reichskammergericht Wetzlar nete er als »System von Grillen« (Philanthro- wurde im Sept. 1802, dem Wahnsinn verfalpische Gedanken über den Philanthropinismus. len, ins Juliusspital Würzburg gebracht, wo Mannh. 1777). Seine Hauptschrift Die Abgöt- er nach einem Hungerstreik starb. E. studierte 1790–1793 in Mainz u. Marterei unseres Jahrhunderts. Erster Abgott: Ewiger burg Jurisprudenz. Zur Advokatur am Friede (Mannh. 1779; ohne Forts. Auch ins Reichskammergericht wurde er 1796 wegen Französische übers.) zeigt den Niedergang seiner Mitgliedschaft in revolutionären Ziraller Kultur in einer von Rousseau entworfenen kriegsfreien Welt. Schon Zeitgenossen keln nicht zugelassen. Als Freiwilliger schloss kritisierten E.s »blühende vielleicht zu blu- er sich der frz. Armee an, weil er von ihr die mige Schreibart« (»Rheinische Beiträge zur revolutionäre Umgestaltung Deutschlands erhoffte. Eine Offizierskarriere scheiterte. Gelehrsamkeit«, 1779, S. 45). Nachhaltigere Bedeutung als durch die ei- 1798–1801 arbeitete E. in der Militär- u. genen Schriften erlangte E. als Mitgl. der Munizipalverwaltung des republikan. Mainz Societas Bipontina, in der er mit Friedrich in untergeordneten Stellungen. Seit 1801 Christian Exter u. seinem Schwiegervater lebte er als »freier« Schriftsteller, zeitweise in Georg Christian Crollius seit 1777 griech. u. bitterer Armut. Gerade wegen seines republat. Klassiker edierte (Editiones Bipontinae). likan. Engagements kritisierte er scharf die 1779 gab er selbständig, umsichtig u. zu- polit. Zustände links des Rheins. Seine Briefe rückhaltend hinsichtlich eigenmächtiger über den gegenwärtigen Zustand der dt.-frz. Korrekturen eine Sallust-Ausgabe heraus. An Rheinländer (1801/02) in Wilhelm von Arden Werkausgaben von Plautus (1778), Platon chenholtz’ »Minerva« führten zur Verfol(1781), Tacitus (1779/80) u. Velleius (1780; gung u. schließlich zu seiner Abschiebung ins Reichsgebiet. Er brach körperlich u. seelisch alle Zweibrücken) war er beteiligt. zusammen. Weitere Werke: Alle Geisteskräfte sind bey jeE.s Werk ist dem literar. Jakobinismus zuder Kunst u. Wiss. thätig. Zweibrücken 1775. – zurechnen. Bedeutende anonym erschienene Parallèle de l’Esprit de Dieu avec l’Esprit du monde. Sermon prononcé à Mannheim 1777. Mannh. 1778. jakobin. Schriften, u. a. die Flugschrift WieLiteratur: Johann Carl Bonnet: Lieder, Oden u. derholter Aufruf an die deutsche Nation (1794), Gesänge. Zweibrücken 1786, S. 6–8. – Johann Ge- sind von Gauch E. zugeschrieben worden. org Faber: Erläuterungen des Briefs Pauli an die Für die Publikation der Gedichte (Frankenthal Galater. Zweibrücken 1790, S. 49–51. – Friedrich 1799) verwandte sich Hölderlin, ohne seine
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Kritik an ihrer Form E. gegenüber zu verhehlen. Die vornehmlich hymnische Lyrik fordert zum Kampf für die »Freiheit« auf. Weitere Werke: Graf Lilienhain, ein psycholog. Roman. Bayreuth 1795. – Briefe eines Marseillers während der leztern Begebenheiten bei der Sambre- u. Maasarmee bis an Hoche’s Tod. Hbg./Altona 1799. – Blick in die Zukunft bei dem Lüneviller Frieden. Mainz 1801. – Flugschriften: Anrede an Dtschld.s Fürsten. 1797. – Zuruf eines Deutschen an Europa’s Fürsten u. an seine Mitbürger. 1797. Literatur: Sigfrid Gauch: F. J. E. – ein dt. Jakobiner. Ffm./Bern/New York 1986. Gerhard Kurz
Emser, Hieronymus, * 26.3.1478 Weidenstetten bei Ulm, † 8.11.1527 Dresden; Grabstätte: ebd., Liebfrauenfriedhof. – Humanist u. katholischer Kontroverstheologe.
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breitung des reformator. Gedankenguts zu verhindern. Dabei ging er »dialogisch« vor, versuchte also, Luthers theolog. Schriften Satz für Satz zu widerlegen (so in der extensiven Gegenschrift Wyder den falschgenanten Ecclesiasten. Lpz. 1523). Als theologischer Gutachter kritisierte u. kommentierte E. Luthers Bibelübersetzung (Annotationes. Dresden 1524 u. ö.). In der Folge beauftragte Herzog Georg ihn mit einer eigenen Übersetzung des NT, die sich jedoch weitestgehend am Luthertext orientierte (Das naw testament. Dresden 1527 u. ö.). E.s zahlreiche u. oft vielfach aufgelegte Schriften dokumentieren eine breite humanist. Bildung, weniger aber eine fundierte theolog. Position. Den Zeitgenossen galt er (mit dem Spitznamen »Bock Emser«) als einer der wichtigsten altkirchl. Gegner Luthers in den ersten Jahren der Reformation. Nachwirkung allerdings war dem produktiven Kontroverstheologen kaum beschieden.
Der Sohn des Kanzlers des Stiftes St. Ulrich u. Afra in Augsburg studierte in Tübingen (ab Ausgaben: Diverse Werke in: Flugschr.en gegen 1493, u. a. bei Dionysius Reuchlin), Basel die Reformation (1518–24). Hg. Adolf Laube. Bln. (Magister artium 1499, Priesterweihe 1502), 1997, u. in: Flugschr.en gegen die Reformation Erfurt u. Leipzig, wo er 1505 zum Baccalau- (1525–30). Hg. ders. 2 Bde., Bln. 2000. – Internetreus der Theologie u. später zum Lizentiaten Ed. diverser Texte in: The Digital Library of the des kanon. Rechts promoviert wurde. Catholic Reformation (http://solomon.dlcr.alexanderstreet.com//). 1502–1504 begleitete er als Sekretär den Literatur: Bibliografie: Klaiber, Nr. 957–1002. – päpstl. Legaten Kardinal Raimund Peraudi, Hans-Joachim Köhler (Hg.): Bibliogr. der Flugder in Deutschland Ablässe für den Türkenschr.en des 16. Jh. Tl. 1, Bd. 1, Tüb. 1991, Nr. kreuzzug verkaufte. Georg von Sachsen berief 883–900, 903–915. – Weitere Titel: Heribert SmoE. 1505 als Kaplan u. Sekretär (bis 1511) an linsky: Augustin v. Alveldt u. H. E. Eine Untersuden Dresdner Hof. E. blieb bis zu seinem Tod chung zur Kontroverstheologie der frühen ReforBerater des Herzogs u. wurde einer der mationszeit im Herzogtum Sachsen. Münster 1984. wichtigsten (theolog.) Schriftsteller in Sach- – Ludger Lieb: H. E. In: VL Dt. Hum. sen. 1524–1526 machte er sich als erster Reinhard Tenberg / Ludger Lieb Dresdner Drucker einen Namen (sog. »Emserpresse«). Ende, Michael (Andreas Helmuth), * 12.11. E. gab bereits seit 1503 mehrere lat. Werke 1929 Garmisch-Partenkirchen, † 28.08. heraus (u. a. das Enchiridion militis christiani 1995 Filderstadt-Bonlanden nahe Stuttdes Erasmus) u. publizierte eigene Schriften: gart; Grabstätte: Waldfriedhof München. neben einem Lehrgedicht über die Ehe, Eyn – Schriftsteller, Librettist u. Schauspieler. deutsche Satyra (Lpz. 1505), v. a. die umfangreiche Vita Bennonis (Lpz. 1512), Grundlage In der Familie des surrealist. Malers Edgar für die Heiligsprechung des Bischofs Benno Ende geboren, lernte E. von klein auf die von Meißen. Einen Einschnitt markierte die Mechanismen der Visualisierung des FantasLeipziger Disputation Luthers mit Eck tischen kennen, das er später selber in eine (1519). Seitdem führte E. einen publizist. bilderreiche Sprache kleiden sollte. Nach Kampf gegen Luther, Karlstadt u. Zwingli. In Abitur u. Schauspielausbildung an der Falpolem. Schriften bemühte er sich, die Aus- ckenbergschule in München wirkte er als
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Schauspieler u. Kabarettist. Um die Mitte der 1950er Jahre, als er den Beruf des Dramatikers anstrebte, setzte er sich intensiv mit Brechts Kunstauffassungen auseinander, die ihn als Theorie faszinierten, deren indoktrinativer Charakter ihm jedoch zuwider war. Nach etlichen Prosa-Versuchen u. (nicht immer) aufgeführten Theaterstücken wandte sich E., den schon immer philosoph. Systeme mit magischem Weltbild interessierten, in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre dem Märchenhaften zu. In der Zeit der beginnenden Politisierung der Literatur u. des von ihr geforderten sozialen Engagements stieß sein erstes Romanmanuskript als fantast. »Kindergeschichte« bei mehreren Verlagen zunächst auf Ablehnung, bis es schließlich in zwei separate Bände gesplittet als Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Stgt. 1960 u. ö.; Deutscher Kinderbuchpreis 1961) u. Jim Knopf und die Wilde 13 (Stgt. 1962 u. ö. Rheda-Wiedenbrück 2004) erschien. Die beiden Bücher entfalten einen kindlichem Fassungs- u. Urteilsvermögen entsprechenden Kosmos fantastischer Figuren, Phänomene u. Handlungen, der gleichwohl allgemeingültigen ästhet. wie moral. Ansprüchen genügt. E. sprengte beispielsweise mit den Episoden der Suche des schwarzen Jungen Jim Knopf nach seiner Herkunft den konventionellen, in den Erzähltraditionen der Vorkriegszeit verharrenden Rahmen bundesrepublikanischer Kinderliteratur, blieb aber der Tradition des dt. Entwicklungsromans treu. Die Zeichen der modernen Zeit manifestierten sich wiederum im Spannungsverhältnis zwischen Knopf u. den Lummerländern, indem die »karikaturhafte Überzeichnung der sozialen Funktionszusammenhänge [...] die bloße Zweckgerichtetheit einer formierten Gesellschaft« (Birgit Otte) satirisierte. Die von Franz Josef Tripp liebevoll illustrierten Texte wurden nach überraschendem außerordentl. Erfolg bei Kindern u. Erwachsenen u. teilweise auch bei Kritik (Weltfluchtvorwürfe) dramatisiert, audiovisuell adaptiert u. international verbreitet (Übersetzungen in über 20 Sprachen). Der Märchenroman Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte
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(Stgt. 1973. 472005; Deutscher Jugendbuchpreis 1974; Verfilmung 1985/86), in dem ein charismatisches Kind die Welt vor der Vereinnahmung durch eine Leistungs- u. Effizienz-Diktatur – symbolisiert durch »Zeitdiebe« – rettet, verdankte seine Entstehung E.s italienischem »Exil« (1970/71–1985), wo in der »magischen« mediterranen Atmosphäre, im Gegensatz zum »kalten« Norden, das Träumen, die Erfahrung des Sinnlichen u. Mystischen sowie eine kreative harmonische Verschmelzung von Realem u. Unwirklichem noch möglich seien. Momo wartet daher mit einer antirationalistischen, der technokrat. Vernünftigkeit das EmotionalIntuitive entgegensetzenden Position auf u. moniert eine Wirklichkeitskrise, die nur durch eine neue Mythologie zu überwinden sei. Der Roman wiederholte den Soforterfolg von Jim Knopf nicht u. fand eine verbreitete Aufnahme bei den Lesern erst im Gefolge von Die unendliche Geschichte (Stgt. 1979 u. ö. Neuausg. Stgt./Wien 2004; Verfilmung 1983). Auch in diesem international emphatisch aufgenommenen fantast. Roman rettet ein Kind, was verloren zu gehen droht: das Land Phantásien. Bastian Baltasar Bux muss in abenteuerl. Prüfungen der Fantasie zu ihrem Recht verhelfen, um seine eigenen in der Realität vorhandenen Schwierigkeiten zu bewältigen, von denen die Rahmenhandlung berichtet. Die Fantasie erscheint als ein Heilmittel für unsere durchrationalisierte »kranke« Welt. Doch warnt der Roman zgl. davor, Fantasie u. Wirklichkeit zu verwechseln u. sich im Imaginierten zu verlieren. Ferner demonstriert er im Zusammenspiel der Binnen- u. Rahmenhandlung die wirklichkeitsschaffende Macht der Sprache, die durch das Ritual der Benennung neue Realitäten kreiert. Während eine neue Lesergeneration von 14- bis 30-Jährigen angesichts der einsetzenden Fantasy-Welle beide Texte zu Kultbüchern neuer Subjektivität erhob, reagierten Literaturkritiker eher abschätzig. Hermann Bausinger deutete sie als Eskapismus, der von narzisstischen, an der Zukunft zweifelnden Jugendlichen begierig aufgenommen werde u. ihnen zur Flucht in Unverbindlichkeit verhelfe (»Placeboeffekt«). Die präzise Trennung von Gut u. Böse in E.s Fantastik lasse
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eine geschlossene Welt entstehen, in der Phantasie u. Realität. M. E. Gedächtnisband 2000. nichts sinnlos, alles von Bedeutung erscheine Passau 2000. – Hans Unterreitmeier: M. E. In: LGL. u. fern realistischer Konflikte zu folgenloser – Hajna Stoyan: Die phantast. Kinderbücher v. M. Identifikation einlade. Andreas von Prond- E. Ffm. 2004. Birgit Dankert / Jacek Rzeszotnik czynsky sah Die unendliche Geschichte als eine Mischung von »christologischem MystizisEndler, Adolf, * 20.9.1930 Düsseldorf. – mus« u. »Sozialkritik in der Orientierung Lyriker, Erzähler, Essayist, Nachdichter. romantischer Denkweise« u. als Kritik am Vernunft-Mythos, wie er sowohl der techno- Der Sohn eines dt.-böhm. Handelskaufmanns log. Rationalität als auch einer ökonomisier- arbeitete nach dem Schulabschluss in verten Subjektivität zugrunde liege. Im Wider- schiedenen Berufen, u. a. als Kranführer u. spruch dazu verfolge er jedoch in diffusen Transportarbeiter sowie als freier Mitarbeiter »Mysterien der Alten« vernunftorientierte von Zeitungen u. Zeitschriften. 1955 übersiedelte er in die DDR, nachdem wegen bürgerl. Tugenden. E. regte mit seinen fantast. Romanen in der »Staatsgefährdung« Anklage gegen ihn erBundesrepublik die verstärkte Aufnahme hoben worden war. Von 1955 bis 1957 stumärchenhaft-fantastischer Elemente im Kin- dierte er am Institut für Literatur »Johannes der- u. Jugendbuch an. Er selbst wandte sich R. Becher« in Leipzig. Seither ist er freibeeiner mehr surrealistisch orientierten ruflich als Lyriker, Kritiker, Essayist u. ProSchreibweise zu, z.B. in den Erzählsamm- saist tätig. Bis 1983 lebte er in Berlin, von lungen Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth 1983 bis 1990 in Leipzig, seit 1990 wieder in (Stgt. 1984 u. ö. Mchn. 82002. Neuausg. 2006) Berlin. 1979 wurde er wegen seines Protestes oder Das Gefängnis der Freiheit (Stgt. 1992. Tb.- gegen strafrechtl. Maßnahmen, die Stefan Ausg. Mchn. 2007) u. in Theaterstücken wie Heym u. Robert Havemann betrafen, aus dem Das Gaukler-Märchen (Stgt. 1982. Mchn. Schriftstellerverband der DDR ausgeschlos5 sen. 1993). Im Zentrum des E.’schen Werkes stand von E. erhielt u. a. den Janusz-Korczak-Preis (1981), den Deutschen Fantasy-Preis (1987), Beginn an die Lyrik, wenngleich im Laufe der das Bundesverdienstkreuz am Bande (1989), Jahre Essay, Tagebuch u. Prosa die Dichtung den Kurd-Laßwitz-Preis (1996) u. wurde zum eindrucksvoll zu flankieren begannen. Während seine ersten nach der Übersiedlung in Autor des Jahres 1982 u. 1990 gewählt. die DDR veröffentlichten Gedichtbände ErWeitere Werke: Das Schnurpsenbuch. Stgt. 1969. 3. erw. Ausg. 1979. – Das Traumfresserchen. wacht ohne Furcht (Halle 1960) u. Die Kinder der Stgt. 1978 u. ö. Überarb. Neuausg. Hbg. 2004. – Der Nibelungen (Halle 1964) eher plebejisch-revoGoggolori. Eine bair. Mär. Stück in acht Bildern u. lutionäre Traditionen aufnahmen, kristallieinem Epilog. Stgt. 1984. – Ophelias Schatten- sierte sich seit Mitte der 1960er Jahre das theater. Stgt. 1988. 61994. – Der satanarchäolüge- charakteristisch »Endlereske« in der Lyrik nialkohöllische Wunschpunsch. Stgt. 1989 u. ö. heraus, das Rainer Kirsch anlässlich des GeNeuausg. Stgt. 2007. – Bilderbuchtexte zu Illus- dichts Dies Sirren dergestalt umschrieb: »oft trationen u. a. v. Annegret Fuchshuber, Friedrich ist da (...) im Hintergrund ein Kichern, ja Hechelmann, Marie-Luise Lemke-Pricken, Bern- Fratzenschneiden, zweite, dritte Bedeutunhard Oberdieck, Roswitha Quadflieg, Binette gen springen aus den Formeln und drehen sie Schröder. um, seltsame Stimmen reden aus dubiosen Literatur: Birgit Otte: M. E. In: KLG. – M. E. Örtlichkeiten.« Eine Auskunft E.s – »Ich opzum 50. Geburtstag. Stgt. 1979. – Andreas v. poniere indessen gegen diese ständig zur ErProndczynsky: Die unendl. Sehnsucht nach sich starrung und Abtötung des Lebens strebende selbst: Auf den Spuren eines neuen Mythos. Ffm. 1983. – Claudia Ludwig: Was du ererbt v. deinen Welt« deutet an, warum er nun dazu überVätern hast. M. E.s Phantasien, Symbolik u. literar. ging, entleerte Ideologiesprachen zu destruQuellen. Bern 1988. – Roman Hocke: M. E. u. seine ieren, gegen eingeforderte Affirmation die phantast. Welt. Die Suche nach dem Zauberwort. Erlebniswelt des Berliner Hinterhof- u. Stgt. 1997. – Jacek Rzeszotnik (Hg.): Zwischen Kneipenmilieus in das Gedicht zu holen.
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Dabei trieb er lyr. Grotesken hervor, die oft auf Realsatiren ideologischer Übercodierung z.B. von Körperzeichen basierten. Gleichsam als Kehrseite zentrierten viele Gedichte die Verletzbarkeit des Körpers, unterstützt durch schrille Lautballungen, Interjektionen, unvermittelt in den Text eingesenkte Imaginationen, Polemikspitzen u. intertextuelle Bezüge zu Nahverwandten wie Paul Gurk, Kurt Schwitters, den frz. Surrealisten oder Günter Bruno Fuchs. Seit Ende der 1970er Jahre erhielten Zitatcollagen u. surrealist. Techniken größeres Gewicht, es entstanden mehr u. mehr »fratzenhafte Gedichte«, in denen »mit der Gefahr des Absturzes ins Irre-Sein wohl nicht nur kokettiert wird«. Es begannen waghalsige Balanceakte ins Ungesicherte, die das hervortrieben, was Bataille das »obszöne Werk« genannt hatte: »endlich kippt das alles kreischend ins Wüste und Kaputte um und sticht zerbeult sternenwärts«. Mit seinen Kritiken u. Essays zur Gegenwartslyrik wurde E. bereits Anfang der 1960er Jahre zum Fürsprecher u. krit. Begleiter jener Dichterplejade, für die er den durchgesetzten Begriff »Sächsische Dichterschule« prägte. Seine Polemiken gegen eine subjektleere, staatsnahe Dichtung führten zum Dauerkonflikt mit der DDR-Literaturwissenschaft u. -kritik. So hatte bereits die von E. u. Karl Mickel besorgte Lyrikanthologie In diesem besseren Land (Halle 1966) dank ihrer Orientierung an ästhet. Maßstäben für heftige Gegenreaktionen gesorgt. Auch später hatte sich E. in Essays von bemerkenswerter Genauigkeit u. Verve u. a. zu Inge Müller, Erich Arendt, Peter Huchel, Uwe Greßmann, Sarah Kirsch, Walter Werner, d.h. zur nichtoffziellen Lyrikszene der 1980er Jahre, als einer der couragiertesten Verteidiger elaborierter Gegenwartspoesie erwiesen. Die Prosa – E. begann mit Reportagen u. kunstfertigen Reiseskizzen – nahm seit den späten 1970er Jahren einen breiteren Raum in E.s Werk ein. Die Biermann-Ausweisung 1976 u. der Ausschluss E.s aus dem Schriftstellerverband der DDR beförderten eine weitere, entschiedene Radikalisierung des Schreibansatzes, den er fortan als »phantasmagorisch« apostrophierte. Seine erst 1994
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u. d. T. Tarzan im Prenzlauer Berg (Lpz.) veröffentlichten »Sudelblätter« der Jahre 1981 bis 1983 zeichnen den Erfahrungsgrund der Phantasmagorien nach: den als zunehmend surrealistisch wahrgenommenen Alltag im zerfallenden Staatsgebilde DDR, dem künstlerisch nur noch in Steigerungsformen des »Schwarzen Humors« beizukommen war. Der in der DDR-Öffentlichkeit Verfemte verfeinerte nun Textformen, die sich optimal in Wohnungslesungen darbieten u. in der entstehenden nichtoffiziellen Zeitschriftenszene in Umlauf setzen ließen. So entstand über die Jahre ein einzigartiges »work in progress«, das als kapriziös-karnevaleskes Nebbich-Projekt nicht von ungefähr an François Rabelais, Arno Schmidt u. James Joyce erinnerte. Konsequent folgte E. dem Prinzip des »Hakenschlagens durch die literarische Landschaft« u. ließ ein wucherndes Flechtwerk entstehen von Anekdoten, Short Storys, Zeitungsausrissen, Hinterhofdialogen, Ideologie-»Kaderwelsch«, Romanexposés u. Dramoletten. Dabei trieb E. ein raffiniertes Spiel mit Maskierung u. Demaskierung, Autorposition u. Erzählzeit, ganz zur Freude einer stetig wachsenden »Endler-Gemeinde« (Helmut Heißenbüttel). Für sein Werk erhielt E. zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1978 den Förderpreis Literatur zum Kunstpreis der Akademie der Künste Berlin (West), 1990 den HeinrichMann-Preis der Akademie der Künste (Ost), 1994 den Brandenburgischen Literaturpreis, 1995 den Kritikerpreis der SWF-Bestenliste u. den Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau, 1996 die Rahel Varnhagen von Ense-Medaille 1996 (gemeinsam mit Brigitte Schreier-Endler), 1998 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung, im Jahr 2000 den Bremer Literaturpreis u. den Peter Huchel-Preis. 2001 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen, 2003 der Hans-Erich-Nossack-Preis. Eine »Liebeserklärung« Wolfgang Hilbigs weist auf den singulären Platz, den E. in der dt. Literaturgeschichte einnimmt: »Jedes Mal, wenn man etwas von Dir liest, glaubt man, man müsse sich augenblicklich totlachen. Doch dann merkt man plötzlich, daß man schon tot war, und daß man sich wieder lebendig gelacht hat.«
Endres Weitere Werke: Weg in die Wische. Reportagen u. Gedichte. Halle 1960. – Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten. Nachgedichtet u. hg. zus. mit Rainer Kirsch. Bln./DDR 1971. – Das Sandkorn. Halle 1974 (L.). – Nackt mit Brille. Bln./West 1975 (L.). – Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen. Halle 1976 (P.). – Verwirrte klare Botschaften. Reinb. 1979 (L.). – Nadelkissen. Aus den Notizzetteln Bobbi Bergermanns. Bln./West 1979 (P.). – Neue Nachricht v. ›Nebbich‹. Bln./West 1980 (P.). – Akte Endler. Gedichte aus 25 Jahren. Lpz. 1981. – Ohne Nennung v. Gründen. Vermischtes aus dem poet. Werk des Bobbi ›Bumke‹ Bergermann. Bln./ West 1985 (P. u. L.). – Schichtenflotz. Papiere aus dem Seesack eines Hundertjährigen. Bln./West 1987 (P.). – Vorbildlich schleimlösend. Nachrichten aus einer Hauptstadt 1972–2008. Bln. 1990 (P.). – Citatteria & Zackendullst. Notizen, Fragmente, Zitate. Bln. 1990. – Den Tiger reiten. Aufsätze, Polemiken u. Notizen zur Lyrik der DDR. Hg. Manfred Behn. Ffm. 1990 (Ess.s). – Die Exzesse Bubi Blazezaks im Fokus des Kalten Krieges. Satir. Collagen u. Capriccios 1976–94. Lpz. 1995 (P.). – Warnung vor Utah. Momente einer USA-Reise. Lpz. 1996 (P.). – Der Pudding der Apokalypse. Gedichte v. 1968–98. Ffm. 2000. – Schweigen Schreiben Reden Schweigen (Reden 1995–2001). Ffm. 2003. – Nebbich. Eine dt. Karriere. Gött. 2005 (P.). – Krähenüberkrächzte Rolltreppe. Neunundsiebzig kurze Gedichte aus einem halben Jahrhundert. Gött. 2007 (L.). Literatur: Peter Gosse: Dichter E. In: Ders.: Mundwerk. Ess.s. Halle/Lpz. 1983, S. 68–83. – Gerrit-Jan Berendse: A. E. Von der Kunst des Ruinierens. In: Ders.: Die ›Sächsische Dichterschule‹. Lyrik in der DDR der sechziger u. siebziger Jahre. Ffm. 1990, S. 151–180. – Manfred Behn: A. E. – eine kleine Apologie. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Lit. Hg. Karl Deiritz u. Hannes Kraus. Bln. 1993, S. 94–99. – G.-J. Berendse (Hg.): Krawarnewall. Über A. E. Lpz. 1997. – Ders.: A. E. Chroniken eines Stadtnomaden. In: Ders.: Grenz-Fallstudien. Ess.s zum Topos Prenzlauer Berg in der DDR-Lit. Bln. 1999, S. 59–80. – Peter Geist: Zerbeult sternwärts. In: NDL 5 (2000), S. 36–44. – Holger Brohm: Die Koordinaten im Kopf. Gutachterwesen u. Literaturkritik in der DDR in den 1960er Jahren. Fallbeispiel Lyrik. Bln. 2001. – M. Behn: A. E. In: KLG. – P. Geist: A. E. In: LGL. Peter Geist
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Endres, Ria, * 12.6.1946 Buchloe. – Essayistin, Dramatikerin, Lyrikerin, Hörspiel- u. Prosaautorin. Kindheit u. Jugend verlebte E. zus. mit ihrer Mutter in Buchloe. Ihren Vater, einen amerikan. Besatzungssoldaten irischer Abstammung, hat sie nicht kennengelernt. 1958–1966 besuchte sie das Musische Gymnasium in Wettenhausen, wo sie auch das Abitur ablegte. Bis 1972 studierte E. v. a. in Frankfurt/M. Germanistik, Philosophie u. Geschichte. 1973–1980 arbeitete sie als Lehrbeauftragte an verschiedenen Schulen u. Hochschulen; 1979 wurde sie an der Universität Frankfurt/M. promoviert. Seit 1980 arbeitet E. als freie Schriftstellerin in Frankfurt/ M., wo sie seit 1969 lebt. 1980 erregte E. zum ersten Mal Aufsehen durch ihre Studie über die »Männerporträts« in Thomas Bernhards Werk: Am Ende angekommen. Dargestellt am wahnhaften Dunkel der Männerporträts des Thomas Bernhard (Diss. Ffm. Neudr. Wien u. a. [1994]). Das Buch ist eine sprachkrit. u. vitale Auseinandersetzung mit Bernhards Werk, ein Plädoyer gegen dessen als männlich charakterisierte »Ordnung der Zerstörung«. Unter ihren weiteren Essays (u. a. zu Ingeborg Bachmann, Simone Weil, Elfriede Jelinek, Hannah Arendt) ragt die Arbeit Am Anfang war die Stimme. Zu Samuel Becketts Werk (Reinb. 1986. 1991) an Umfang u. Radikalität heraus. Kafkas Wort vom Dichter, der nicht ein Spiegel der Gesellschaft sei, sondern eine Uhr, die vorgeht, könnte als Motto über dieser Essaysammlung stehen, die Becketts Beitrag zur literar. Moderne zu bestimmen sucht. Auch in jüngerer Zeit beschäftigte sich E. mit dem Werk des Dichters, so in dem Essayband Samuel Beckett und seine Landschaften (Aachen 2006). Ihre erste Prosa ohne den interpretierenden Bezug auf andere Literatur wagt E. 1982 mit Milena antwortet (Reinb. Neudr. Ffm. 1996), einem großen fiktiven Brief der Braut Kafkas. Von Anfang an wird die Fiktivität des Textes durch die Erzähldisposition ausgestellt: Milena fährt gleichzeitig von Prag nach Wien u. von Wien nach Prag; dadurch wird die Linearität der Zeit durchbrochen. Gegenwart, Vergangenheit u. Zukunft (Milenas Ermor-
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dung im Konzentrationslager Ravensbrück u. Ferrel Rose. Tüb. 1996, S. 271–290. – Patricia durch die Nationalsozialisten) sind gleicher- Hallstein: R. E. In: LGL. Michael Schäfermeyer / Red. maßen anwesend u. können zitiert werden. Kontrapunktiert werden Milenas Reflexionen, die Notate ihrer Verletzungen durch den Endrikat, Fred, * 7.6.1890 Nakel/Netze, sich immer wieder kunstvoll entziehenden † 12.8.1942 München; Grabstätte: ebd., Bräutigam, durch die Schilderung einer sehr Waldfriedhof. – Lyriker, Kabarettist. gemischten Reisegesellschaft, bestehend aus In Wanne-Eickel als Sohn eines Bergmanns Odradek, dem Affen, u. Herrn Bailey, alles aufgewachsen, begann E. nach seiner Handbekannte Figuren Kafkas. Deren Eigenarten, werkslehre Couplets u. Sketche zu schreiben, Verhaltensweisen u. Reden sieht sich Milena u. a. für Claire Waldoff u. Marita Gründgens, zusehends assimiliert, findet jedoch im bevor er selbst in Cafés u. kleinen Varietés Fortgang zu ihrer eigenen Sprache u. damit auftrat u. seine Gedichte u. Couplets rezizu relativer Autonomie. tierte. Seine Vorliebe für Improvisationen im Mit einer Vielzahl von Theaterstücken, unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum – Hörspielen u. Funksendungen hat E. seitdem mit einem dicken Adressbuch in der Hand, vielerlei aktuelle Themen – von der Frauen- aus dem er scheinbar vorlas – führte ihn imbewegung bis zur Alzheimer-Krankheit – mer wieder in den Münchner »Simpl«, ins angesprochen u. zahlreiche Künstler u. In- »Kabarett der Komiker« nach Berlin u. in den tellektuelle porträtiert. 1982 erhielt sie das Hamburger »Bronzekeller«. Die heiteren LeStipendium der Villa Massimo in Rom, 1989 bensbetrachtungen des skurrilen Schwabinden Dramatikerpreis des »Bundes der Thea- ger Poeten, teils Epigramme, teils Miniaturtergemeinden«, 1996 das Baldreit-Stipendi- Balladen, parodieren die Schwächen der Zeit um der Stadt Baden-Baden sowie 2008 eine zumeist auf spielerischer Ebene, erinnernd an Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung. Christian Morgenstern u. Joachim RingelWeitere Werke: Hörspiele: Das fröhl. Endspiel. natz. In seinen witzig-frivolen Versen Höchst WDR 1980. – Der Osterhasenzug. WDR 1981. – Wo weltliche Sündenfibel. Moralische und ›unmoralidie Liebe hinfällt. BR 1983. – Auferstehung des sche‹ Verse (Bln. 1940) bespöttelt E. moralische Fleisches. WDR 1983. – Tango zu dritt. WDR 1984. Grundfesten; in den Versen Liederliches und – Freistil für Damen. WDR 1984. – Zwillinge. WDR Lyrisches. Verse zum vergnüglichen Leben (Bln. 1984. – Dramen: Der Kongreß. Reinb. 1987. – Acht 1940) formuliert er »Lebensweisheiten« eines Weltmeister. Reinb. 1987. – Aus dt. Dunkel. Reinb. »Salonhumoristen«. In seinen letzten Le1988. – Film: Die Kunst ist gegen den Körper des bensjahren reiste E. mit seinem Ensemble Künstlers gerichtet. Elfriede Jelinek – eine österr. »Die Arche. Kabarett der tödlichen LangeSchriftstellerin (zus. mit Carmen Tartarotti). – Esweile« unangefochten durch Deutschland, says: ›Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar‹. während die meisten polit. Kabaretts u. ihre Zur Dichtung der Ingeborg Bachmann. In: NRs, H. 4, 92. Jg. (1981). – Unglück einer Extremistin. Ge- Künstler von den Nationalsozialisten aufdanken zu Simone Weil. In: ›eine frau ist eine frau grund ihrer klaren Richtung verboten u. ist eine frau ...‹. Autorinnen über Autorinnen. Zu- verfolgt wurden. sammengestellt v. Elfriede Gerstl. Wien 1985. – ›Zerstörung, Verlust, Erinnerung‹. Hannah Arendt: Wege in die Philosophie u. ins tägl. Leben. In: Lit. in Frankfurt/M. Hg. Peter Hahn. Königst./ Ts. 1987. – Der Zwischenmensch. Ffm. 1991. – Abschied vom Gedicht? Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. Aachen 1996 (zus. mit Maria Behre). – Lyrik: Froher Wahnsinn. Baden-Baden 1997.
Weitere Werke: Die lustige Arche. Tierfibel für Jung u. Alt. Mchn. 1935. – Der fröhl. Diogenes. Verse in Kürze u. Lebenswürze. Bln. 1942. – Sündenfallobst. Verse zum fröhl. Genießen. Bln. 1953. Sabine Geese / Red.
Enengl, Josef, * 4.9.1926 Kallham am Hausruck/Oberösterreich, † 12.4.1993 Literatur: Elfriede Jelinek: Vom Schrecken der Wien. – Lyriker, Erzähler, Essayist.
Nähe. In: ›eine frau ist eine frau ist eine frau ...‹. Wien 1985. – Margit Fröhlich: R. E.’ dramatic work. In: Thalia’s daughters. Hg. Susan L. Cocalis
Nach dem Besuch der Realschule in Linz studierte E. in Graz u. Wien Germanistik u.
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Philosophie. Sein Interesse galt schon früh den Werken der bildenden Kunst. Mit Kubin, Wotruba, Vedova u. Karl Anton Wolf verband ihn langjährige Freundschaft. Um 1950 begann seine literar. Produktion mit Essays über Wotruba u. Kierkegaard. Daneben verfasste er Studien über Kubin, Ensor, Picasso u. a. Seine »Traumaufzeichnungen«, fantastischen Gedichte u. Erzählungen erschienen zuerst als Sonderdrucke der von Hermann Schürrer mitbegründeten Wiener Literaturu. Kunstzeitschrift »Freibord«. 1956 erhielt E. ein Arbeitsstipendium des Hugo-von-Hofmannsthal-Preises für Essays, später den Förderpreis der Stadt Wien u. den Theodor-Körner-Preis. Nach Lyrikpublikationen im »Merkur«, den »Neuen Deutschen Heften« u. den »Neuen Wegen« erfolgte 1957 E.s erste Buchveröffentlichung Der Vogel Simurg (Wien). E., der sich nie einer literar. Gruppe zugehörig fühlte, stand dem Surrealismus nahe. Am Ursprung der Atmung. Phantastische Gedichte, Erzählungen, Studien, Essays, Traumaufzeichnungen (Wien 1987) vereint Texte aus mehr als 30 Jahren. In diesem Werk ist wohl am anschaulichsten das poet. Credo E.s dargelegt, der im Wiener Arbeiterbezirk Ottakring zurückgezogen lebte. Weitere Werke: Gedichte 1950–78. Wien 1979. – Neue Gedichte. Wien 1980. – Alfred Kubins Selbstgespräch. Wien 1981. – Schwarze Spiegel. Wien 1983. – Der Lammadler. Wien 1983. – Baudelaire ist das Genie der Fallschirmspringer oder Der Stolz des Adlers kratzt mich im Rücken. Traumaufzeichnungen. Wien 1986. – Linz – Tibet – Wien: Stenogramme. Wien 1992. Literatur: Hermann Schürrer: Zu J. E.s Gedichten 1950–78. Wien 1979. – Camillo Schaefer: Ein Dichter für Dichter. Wien 1979. – Gerhard Jaschke: Zauberer in Erdferne. Wien 1987. Gerhard Jaschke
Enenkel, Enikel, Job Hartmann von, * 14.9. 1576 Heinrichschlag/Niederösterreich, † 9.2.1627 Wien. – Historiker u. Genealoge. E. stammte aus einem alten niederösterr. Adelsgeschlecht. Er besuchte 1584–1588 die protestant. Lateinschule in Loosdorf, darauf das Gymnasium illustre von Meseritsch/
Mähren. 1592 begann er Studien, bes. der Rechte u. der Geschichte, an der Universität Jena, 1596 schrieb er sich in Padua ein. Bis 1600 blieb er in Italien; zeitweilig studierte er auch in Siena. Nach Heimkehr u. Heirat (um 1601 mit Margarete Lappiz, der Witwe des Dichters Christoph von Schallenberg) lebte er auf dem Schlösschen Leobenbach (Leombach) im Land ob der Enns. Er bekleidete verschiedene Ämter in der Landesverwaltung, gelegentlich diplomatisch zwischen den Interessen der Stände u. denen des Wiener Hofs vermittelnd. Um 1606 wurde er Landrat ob der Enns, 1610–1613 war er Inspektor der Linzer Landesschule, anschließend Kämmerer, Kaiserlicher Rat u. Regent der niederösterr. Stände in Wien – trotz seines protestant. Glaubens. In Wien blieb er – 1616 zum zweiten Mal verheiratet – bis an sein Lebensende. Keine von E.s Schriften scheint zum Druck gelangt zu sein. Neben verschiedenen Arbeiten histor. u. religiösen Inhalts sind v. a. die Collectanea genealogica (3 Bde., 1602–27) zu nennen: genealog. Sammlungen, die er nach eifriger Suche in den Archiven Niederösterreichs zusammenstellte. Bereits in diesem Konvolut wird sein Interesse für die allgemeine mittelalterl. Geschichte der habsburgischen Lande erkennbar, das ihn zu Abschriften bedeutender Geschichtswerke veranlasste. So ist die Chronik des Thomas Haselbacher, gen. Ebendorfer, allein durch E.s Kopie überliefert; zu Beginn des 17. Jh. fertigte er eine Abschrift des österr. Fürstenbuchs seines Vorfahren Jans Enikel an. In seinem Umkreis entstand schließlich der Plan zu einem umfassenden Editionsunternehmen, das Annalen u. a. histor. Quellen vereinen sollte – ein Vorgriff auf die Scriptores rerum austriacarum veteres ac genuini (1721–45) des Hieronymus Pez. E.s Bruder Georg Achaz von Enenkel wurde als Verfasser einer Thukydides-Übersetzung u. a. Schriften bekannt. Literatur: Anna Coreth: J. H. v. E. In: MIÖG 55 (1944), S. 247–302. – Dies.: Österr. Geschichtsschreibung in der Barockzeit. Wien 1950, S. 125 f. u. passim. – Kosch. – Christl Müller: Altdt. Hss. u. Drucke in der Bibl. des J. H. v. E. (1576–1627). In: Würzburger Prosastudien. FS Kurt Ruh. Hg. Peter
273 Kesting. Bd. 2, Mchn. 1975, S. 237–254. – Kurt Holter: Beiträge zur Gesch. der E.-Bibl. In: Mitt.en des oberösterr. Landesarchivs 14 (1984), S. 305–324. – Andreas Brandtner: Habent sua fata libelli. Bausteine zur Erforsch. der E.-Bibl. In: Jb. des oberösterr. Musealvereines 145 (2000), S. 145–153. Bernd Roeck / Red.
Engel und Waldbruder, erste Hälfte des 14. Jh. – Mittelalterliches Exempel.
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übertrieben fürsorgl. Eltern, die aus Liebe zum Kind den Gottesdienst versäumten; der Diebstahl war Strafe für unrechtmäßigen Besitz; die Schenkung begünstigte einen, dessen Seele bereits verloren war; der zweite Mord verhinderte einen beabsichtigten Ehebruch. Am Ende erweist sich das Geschehene als Traum, der den Einsiedler Demut lehrt. Nach weiteren drei Jahren in seiner Klause schaut er im Tod das Antlitz Gottes. Die dt. Versfassung geht wohl auf die lat. Version Jakobs von Vitry (Motiv des doppelten Mordes) zurück. Der Verfasser geht mit dem Stoff recht eigenständig um u. lehnt sich sprachlich gelegentlich an die Version Heinrichs des Teichner an. Weitere bekannte Autoren des späten MA u. der frühen Neuzeit haben den Stoff behandelt: Hans Vintler, Heinrich Schlüsselfelder, Geiler von Kaysersberg, Johannes Pauli u. Hans Sachs (zweimal). Außerdem ist das Exempel in der gereimten Vitas patrum-Übersetzung, dem Väterbuch (um 1300), in den dt. Prosaübersetzungen der Vitas patrum u. in mehreren dt. Exempelsammlungen des MA zu finden, etwa in den Übersetzungen der Gesta romanorum u. dem Seelenwurzgarten. Die Beliebtheit des über ganz Europa bis in die Neuzeit in sechs Redaktionen verbreiteten Exempels ist zu erklären aus einer gelungenen Kombination von stofflicher Drastik mit demütiger Einsicht in Gottes unerforschliche Weisheit u. Gerechtigkeit.
Die urspr. talmudische Erzählung ist eine der vielen Varianten des überaus populären Theodizee-Exempels (Annti Aarne und Stith Thompson: The Types of the Folktale. Helsinki 2 1964, Nr. 759), das in verschiedenen Versionen in der jüdischen, mohammedan. u. christl. Literatur begegnet. Durch seine Aufnahme in die Sammlung der frühchristl. Eremitenviten u. -exempel, die Vitas patrum, wurde das Exempel im christl. Bereich weit verbreitet u. in populäre Sammlungen des MA aufgenommen, z.B. in die Sermones Jakobs von Vitry u. in die Gesta romanorum. Zahlreiche volkssprachl. Adaptionen der Erzählung zeugen von der großen Beliebtheit, die sie im dt. Sprachraum bis in die nachmittelalterl. Zeit genoss. Die aus der ersten Hälfte des 14. Jh. stammende anonyme Versfassung (498 Vv.) aus dem bairisch-österr. Sprachraum erzählt die Geschichte in folgender Version: Nach 50 Jahren strenger Askese begehrt ein Einsiedler von Gott, nun endlich Christus sehen zu dürfen. Diese AnAusgaben: Die Legende v. E. u. W. Hg. Anton E. maßung wird bestraft: Gott schickt einen Schönbach. Wien 1901 (Sitzungsber.e, phil.-histor. Engel in Räubergestalt, der zunächst die Klasse 143). Klause des Eremiten niederbrennt u. ihn zur Literatur: Otto Rohde: Die Erzählung vom gemeinsamen Wanderschaft auffordert. Nun Einsiedler u. dem Engel in ihrer geschichtl. Entmuss der Einsiedler miterleben, wie sein Ge- wicklung. Diss. Rostock 1893. – Hans-Werner fährte eine Reihe grausamer u. scheinbar Haase: Die Theodizeelegende vom Engel u. dem sinnloser Taten begeht. Er verbrüht das un- Eremiten. Diss. Gött. 1966. – Erich Wimmer: E. u. W. In: VL. – Haim Schwarzbaum: Engel u. Eremit. schuldige Kind des ersten Gastgebers, stiehlt In: EM. Ulla Williams / Red. dem zweiten gastfreundl. Wirt einen wertvollen Becher, um ihn dem dritten, unfreundlichen zu schenken. Zuletzt stürzt er Engel, Eduard, * 12.11.1851 Stolp/Pomden Bediensteten des vierten Wirts ins Wasmern, † 23.11.1938 Bornim bei Potsdam. ser, als dieser den Reisenden den Weg zeigt. – Literarhistoriker u. Sprachpfleger. Danach gibt er sich dem entsetzten Einsiedler als Engel zu erkennen u. erläutert den Sinn Der Sohn eines Kanzleigerichtsrats studierte seiner zunächst unverständl. Taten als göttl. 1870–1873 Sanskrit, klass. u. roman. PhiloGerechtigkeit: Der Kindesmord strafte die logie in Berlin u. promovierte 1874 in Ros-
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tock. Seit 1870 war E. Schreiber im preuß. Abgeordnetenhaus, 1871–1919 Stenograf im Reichstag. 1879–1883 redigierte er das »Magazin für die Literatur des In- und Auslandes«, in dem u. a. Zola u. Daudet dem dt. Publikum vorgestellt wurden. 1903 wurde er auf eine Professur für Orientalistik in Berlin berufen. Literarisch favorisierte E. Klassik u. Realismus, während er moderne Strömungen ablehnte. Wegen seiner jüd. Herkunft erhielt er ab 1933 Publikationsverbot. Der Schwerpunkt seines Schaffens lag in literarhistorischen (Geschichte der deutschen Literatur. Wien/ Lpz. 1906. 381929) u. v. a. purist. Arbeiten mit deutschtümelnder Note, die in hohen Auflagen verbreitet waren: Deutsche Stilkunst (Lpz. 1911. 311931), Sprich Deutsch! Ein Buch zur Entwelschung (Lpz. 1–31917. Ab der 2. Aufl. mit dem Untertitel: Zum Hilfsdienst am Vaterland), Entwelschung (Lpz. 1918. Neuausg. hg. v. Lutz Mackensen u. d. T. Verdeutschungswörterbuch. Lüneb. 1955. Zuletzt u. d. T. Fremdwörterbuch. Egelsbach 1994). Sein ausgeprägter Sinn für Normierung u. Vereinfachung kam auch in seinem Einsatz für eine Eisenbahnreform u. die – während des Ersten Weltkriegs verwirklichte – Einführung der Sommerzeit zum Ausdruck. Weitere Werke: Lord Byron. Eine Autobiogr. nach Tagebüchern u. Briefen. Bln. 1876. – 1914–19. Ein Tgb. 6 Bde., Braunschw. 1919. – Gesch. der frz. Lit. Dresden 1882. Lpz. 101927. Zuletzt Lpz. 1982. – Gesch. der engl. Lit. Lpz. 1883. 101929. – Kaspar Hauser, Schwindler oder Prinz. Braunschw. 1931. 4 1931 (R.).
prägt haben muss, zeigt sich darin, dass in vielen seiner Romane Wirklichkeit nur durch die Presse vermittelt in die Geschichte Eingang findet. Leitendes Motiv der meisten Arbeiten E.s ist der einsame Held, der durch Intrigen in große Schwierigkeiten gerät. Rettung naht von einer uneigennützig liebenden Frau. E., der sich stark an Gustav Freytag u. Julian Schmidt anlehnt, versagt seinen Helden eine wirkl. Entwicklung. Dies zeigt sich auch in dem Drama Hadasa (Bln. 1895), dem eine Verschmelzung der Geschichte der Scheherazade mit der von Königin Esther zugrunde liegt. Dass E.s Bücher heute nahezu unbekannt sind, liegt v. a. an Darstellungsschwächen der meisten Werke, aber auch an der NS-Kulturpolitik, in der für E.s Motto »wir sitzen alle auf der Anklagebank« (Das Gericht. Bln. 1931) kein Platz war. Weitere Werke: Ahnen u. Enkel. 2 Bde., Jena 1892 (R.). – Die Furcht vor dem Weibe. Bln. 1901 (R.). – Hann Klüth, der Philosoph. Bln. 1905 (R.). – Kapitän Spieker u. sein Schiffsjunge. Bln. 1912 (E.). – Claus Störtebecker. 2 Bde., Lpz. 1920 (R.). Neudr. Bln. 1932. U.d.T. Klaus Störtebecker. Erftstadt 2004. – Die Liebe durch die Luft. Bln. 1925 (R.). Literatur: Richard Dohse: G. E. In: Die schöne Lit. 7 (1906). Michael Then / Red.
Engel, Johann Jakob, * 11.9.1741 Parchim/ Mecklenburg, † 28.6.1802 Parchim/ Mecklenburg. – Essayist, Kritiker, ÄstheLiteratur: Anke Sauter: E. E. Literaturhistori- tiker, Erzähler, Dramatiker, Theaterker, Stillehrer, Sprachreiniger. Bamberg 2000. – praktiker. Georg Tannheimer: Die dt. Byrons. Hbg. 2001. – Stefan Stirnemann: E. E.s ›Deutsche Stilkunst‹ u. Ludwig Reiners. In: Krit. Ausg. 8 (2004), S. 48–50. Andreas Schumann / Red.
Engel, Georg (Julius Leopold), auch: Johannes Jörgensen, * 29.10.1866 Greifswald, † 19.10.1931 Berlin. – Erzähler, Dramatiker, Journalist. E., Sohn eines Großhandelskaufmanns, studierte 1887–1890 in Berlin Philosophie u. Geschichte; anschließend war er für ein Jahr Kunst- u. Theaterkritiker für das »Berliner Tageblatt«. Wie sehr ihn diese Tätigkeit ge-
Die Identität von Geburts- u. Sterbeort in der mecklenburgischen Provinz täuscht darüber hinweg, dass E. die produktiven Jahre seines Lebens an zwei urbanen Brennpunkten des literar. Lebens seiner Zeit zugebracht hat: im Leipzig der mittleren Aufklärung u. im Berlin der Spätaufklärung u. Frühromantik. Die heutige Unbekanntheit kontrastiert mit dem einstigen Renommee dessen, der als einer der »hellsten und scharfsinnigsten«, überdies bestschreibenden dt. Autoren seiner Zeit (Jördens u. a.) galt. Geboren als Sohn eines aufgeklärten Predigers, der mit dem Satiriker Christian Lud-
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wig Liscow befreundet war, mütterlicherseits Enkel eines wohlhabenden Kaufmanns, verlebte E. den letzten Teil seiner Schulzeit (seit 1750) u. seine ersten Universitätsjahre (seit 1757) bei Verwandten in Rostock, zunächst mit dem Ziel, ebenfalls Prediger zu werden. Mit dem Wechsel auf die mecklenburgische Universität Bützow, wo er bei dem Mathematiker, Philosophen, Physiker u. Psychologen Johann Nicolaus Tetens hörte, ging schon bald die Abkehr von der Theologie einher. In Bützow hielt er 1763 anlässlich der Beendigung des Siebenjährigen Krieges seine erste öffentl. Rede, dort wurde er im gleichen Jahr zum Doktor der Philosophie promoviert. Seine volle Entfaltung als vielseitiger Literat u. verständiger Zeitgenosse erfuhr E. in Leipzig, dem »Klein-Paris« des dt. 18. Jh., wohin er 1765 übersiedelte, um sein Studium in den Bereichen Philosophie, Geschichte, alte u. neue Sprachen u. Jurisprudenz zu erweitern; im gleichen Jahr übrigens wie der acht Jahre jüngere Goethe, mit dem er (wie sein Verleger Johann Gottfried Dyck sich später erinnerte) im Schönkopfischen Hause gemeinsam Theater spielte (Minna von Barnhelm u. Diderots Hausvater) u. mit dem er verschiedene akadem. Lehrer (Christian August Clodius, Johann August Ernesti, Johann Gottlob Böhme u. a.) u. zahlreiche Bekannte (Corona Schröter, Adam Friedrich Oeser, Johann Friedrich Bause, Johann Adam Hiller, Johann Joachim Eschenburg u. a.) gemein hatte, ohne mit ihm selbst befreundet zu sein. Befreundet war E. in Leipzig mit Christian Felix Weiße, Christian Garve u. August Gottlieb Meißner, deren Affinität sich sehr bald u. noch auf lange hin in der Wahl der eigenen literar. Gattungen (Drama, Literaturkritik, Essay, Dialog u. Dialogroman) erwies. Tiefer noch war die Wirkung des Umgangs mit dem (derzeit innovativ) die psychophysische Einheit des Menschen vertretenden Leipziger Mediziner u. Anthroprologen Ernst Platner, weitreichend zudem die Vertrautheit mit der Praxis des zeitgenöss. Theaters, die sich ergab aus dem persönl. Umgang mit den Mitgliedern der zur Messezeit in Leipzig gastierenden Wanderbühnen, der Koch’schen u. Seyler’schen Truppe, bei der letzteren namentlich mit dem berühmten Conrad Ekhof,
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den E. zu Beginn der 1770er Jahre mehrere Monate auf Gastspielreisen begleitete. Nach anfänglicher Tätigkeit als Hauslehrer, zeitweilig auch als Universitätsdozent, versuchte E. in Leipzig, eine Existenz als freier Schriftsteller zu begründen, u. zwar als regelmäßiger Mitarbeiter an Weißes einflussreicher »Neuer Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste«, später auch an Nicolais »Allgemeiner deutscher Bibliothek«, als Rezensent u. Essayist, als Übersetzer (Batteux, Home), als Autor von Dramen u. Libretti sowie von selbständig erschienenen Prosatexten. Mitte der 1770er Jahre wurde es allerdings nötig, dass sich Freunde um E.s Versorgung bemühten. Unter verschiedenen auswärtigen Angeboten von Bibliothekarsstellen u. Professuren entschied sich E. schließlich für Berlin, wo er 1776 eine Professur »der Moralphilosophie und der schönen Wissenschaften« am Joachimsthalschen Gymnasium übernahm u. wo sich bald der lebhafte Umgang mit den Berliner Literaten u. Künstlern – Nicolai, Mendelssohn, Ramler, David Friedländer, Johann August Eberhard, Johann Erich Biester, Karl Philipp Moritz, Henriette u. Marcus Herz, Zelter, Reichardt, Quanz, Chodowiecki – ergab. Gleich im ersten Jahr nach seiner Übersiedlung nach Berlin hatte E. eine für ihn bedeutsame Begegnung mit dem soeben aus Italien zurückgekehrten Lessing, aus der zwei Gespräche überliefert sind: zum einen Lessings Reaktion auf E.s Emilia Galotti-Essay, zum anderen Lessings Äußerungen über sein geplantes Faust-Drama. Aus den Berliner Jahren, in denen E. ein bes. gern gesehener Gast u. Mitgl. verschiedener Zirkel (des Herz’schen Lesekreises, der »Mittwochsgesellschaft«, des »Montagsklubbs« u. der beiden Berliner Akademien) war, rühren die zahlreichen Anekdoten her (s. Jördens), in denen E. als schlagfertiger u. fantasievoller, witziger u. selbst denkender Gesprächspartner figuriert. Gerühmt wird auch sein pädagogisches Talent: Unterrichtet hat E. Mendelssohns Tochter Dorothea u. deren Geschwister, Privatvorlesungen erhielten die Brüder Wilhelm u. Alexander von Humboldt sowie verschiedene preuß. Prinzen, darunter der spätere König Friedrich Wilhelm III. In
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den Jahren 1787–1794 leitete E. (von 1790 an gemeinsam mit Ramler) als Oberdirektor das Berliner Hoftheater, bis E.s bühnentechnisch begründete Einwände gegen eine von Friedrich Wilhelm II. gewünschte Aufführung von Mozarts Zauberflöte den Anlass gaben, mit E. eine zwar kompetente, mit ihren freimütigen Äußerungen aber oft unbequeme Persönlichkeit loszuwerden. Ohne Pension entlassen, zog sich E. 1794 nach Schwerin zurück, wo er bei seinem Bruder, dem Arzt Karl Christian Engel, lebte u. bei zunehmender Kränklichkeit (u. a. Augenleiden u. »Hypochondrie«) auf seine schriftsteller. Tätigkeit angewiesen war (1795–97 Beitr. zu Schillers »Horen«: Entzückung des Las Casas u. Herr Lorenz Stark). Nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms III. wurde E. 1798 mit einem Ehrengehalt nach Berlin zurückgerufen. Abgesehen davon, dass er noch kurz vor seinem Tode um ein Gutachten für die geplante Berliner Universität gebeten wurde, das er 1802 vorlegte, ist E. in diesen Jahren in Berlin selbst nicht mehr hervorgetreten. In diese Zeit fallen die Angriffe der Berliner Romantik gegen E. als Parteigänger Nicolais, v. a. bei dessen Streit mit Fichte. Zuletzt bereitete E., gemeinsam mit Nicolai u. Friedländer, noch die Gesamtausgabe seiner Schriften vor (12 Bde., Bln. 1801–06. Nachdr. Ffm. 1971. 14 Bde., Bln. 1844/45 u. 1851. Mikrofiche-Ed. Mchn. 1991), deren vierter Band in Arbeit war, als E. während eines Besuchs bei seiner Mutter starb. E.s Ruhm bei der Mitwelt u. eine Weile noch bei der Nachwelt gründet sich auf die folgenden Schriften: Der Philosoph für die Welt (3 Bde., Lpz. [I-II] 1775–77 u. Bln. [III] 1800, eine Sammlung »popularphilosophischer« Essays, z.T. in Dialog- u. Briefform, mit Beiträgen auch anderer Autoren: Eberhard, Friedländer, Garve, Mendelssohn, Kant); Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten (Bln. 1783, als erster Teil einer geplanten Poetik. Nachdr. Hildesh. 1977. Mikrofiche-Ed. Mchn. 1994); Ideen zu einer Mimik (2 Bde., Bln. 1785/86, eine in Briefen geschriebene Theorie der »körperlichen Beredtsamkeit« des Schauspielers. Nachdr. Darmst. 1968 u. Hildesh. 1968); Fürstenspiegel (Bln. 1798, »Sit-
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tenlehre« bzw. »nützliche Wahrheiten« für Fürsten u. die es werden sollen in Form kurzer Essays: u. a. Fürsten-Wollust, Verschwendung, Denkfreiheit, Müßiggang, Schmeichelei, Rache); Herr Lorenz Stark. Ein Charaktergemälde (Bln. 1801, dialogreicher Roman im Kaufmannsmilieu; Neudr., hg. v. A. Kosˇenina u. M. Wehrhahn. St. Ingbert 1991); mehrere Dramen, u. a. Der dankbare Sohn (Lpz. 1771), Der Edelknabe (Lpz. 1774), Titus (Bln. 1779), Eid und Pflicht (Bln. 1803, Auff. in Hamburg 1798, unter versch. Titeln – Der Geissel, Der Eid, Der erzwungene Eid – bis in die Leipziger Zeit zurückgehend) sowie die Lobreden auf die preuß. Könige Friedrich II. (1781) u. Friedrich Wilhelm II. (1786), die sich aus Verpflichtungen des Berliner Lehramtes ergaben u. deren erste ihm den Spott der Weimaraner (Xenien, 1796, Nr. 467) eintrug. Im Streit um Lessings Spinozismus nahm E. nach Mendelssohns Tod Partei mit der Veröffentlichung von dessen Schrift An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobi Briefwechsel über die Lehre des Spinoza (Bln. 1786). Als Grundmuster des E.’schen Œuvres ergibt sich ein tiefer Widerspruch, mit dem E. nur ein Beispiel ist für Widersprüche insbes. der dt. Aufklärung im Vorfeld u. noch zur Zeit der Frz. Revolution: Auf der ei ne n Seite hat E. im Gegenstand u. in der Methode seiner Schriften die Sache des »Selbst-Denkers« zu seiner eigenen gemacht: als Zu-sichKommen u. Mündig-Werden des Subjekts im jeweiligen Leser, dessen produktives Vermögen sich im sokratischen Dialog u. bei Autoren wie Shaftesbury, Diderot u. Lessing geübten »situativen« Sprechen u. Denken aktiviert sieht. Exemplarisch dafür steht neben dem für das Berliner Gymnasium konzipierten Versuch einer Methode, die Vernunftlehre an Platonischen Dialogen zu entwickeln (Bln. 1780) der noch in Leipzig entstandene Aufsatz Ueber Handlung, Gespräch und Erzählung (1774. Neudr., hg. v. E. T. Voss. Stgt. 1964), der mit der zunächst poetolog. Frage nach den Denku. Redeweisen »hinter« den Gattungen zgl. deren mündigkeits- u. andrerseits herrschaftskonstituierende Eigenschaften in Literatur wie Philosophie (»Werden-Sehen« statt dogmat. Abgeschlossenheit) in den Blick
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Engelberger Predigten
rückt. Auf der a n d eren Seite stehen die Kosˇ enina: J. J. E.-Bibliogr. In: Das achtzehnte Jh. 14 Schriften E.s, die ungeachtet des als »Selbst- (1990), S. 79–121. – Ders. u. Matthias Wehrhahn: denker« gedachten Subjekts dem Souverän in Nachtr. zur J. J. E.-Bibliogr. In: Das achtzehnte Jh. seiner Eigenschaft als »Selbstherrscher« hul- 16 (1992), S. 99–106. – Dies.: J. J. E. Leben u. Werk [...]. Ausstellung zum 250. Geburtstag. UB der FU digen: zum einen die beiden Lobreden auf die Berlin. 1991. – Christoph Blatter: J. J. E. Wegbepreuß. Könige von 1781 u. 1786 sowie der reiter der modernen Erzählkunst. Bern u. a. 1993. – Fürstenspiegel von 1798, die Gewünschtes als A. Kosˇ enina (Hg.): J. J. E. Philosoph für die Welt, gegeben setzen, zum andern die Dramen Der Ästhetiker u. Dichter. Internat. Kolloquium der dankbare Sohn, Der Edelknabe u. Titus, in denen Bln.-Brandenburg. Akad. der Wiss.en. 2002. Hann. das (von Diderot überkommene) positive 2005. E. Theodor Voss Modell des »Hausvaters«, das im bürgerl. Milieu des Lorenz Stark nicht einmal unkriEngelberger Predigten, redigiert um tisch behandelt ist, auf den jeweiligen preuß. 1350. – Spätmittelalterliche Sammlung »Landesvater« angewendet wird. Allerdings von Predigten mystagogischer u. katestehen sich in dem frühen (im Thema preu- chetischer Ausrichtung. ßischer Geiselnahme während des Siebenjährigen Krieges an Lessings Minna von Barn- Die Versuche, eine histor. Predigerpersönhelm erinnernden), bei Lebzeiten nicht ge- lichkeit zu identifizieren – vorgeschlagen druckten Drama Eid und Pflicht, in dem der wurden der Engelberger Prior Johannes Bol»Hausvater« als Opfer der Befehle des frem- senheim u. der Stanser Pfarrer Bartholomäus den Königs stirbt, beide Instanzen einander Fridauer –, die als Verfasser oder Kompilator der Predigtsammlung in Frage kommen ausschließend gegenüber. Bemerkenswert ist die mit zahlreichen Ar- könnte, sind allesamt gescheitert. Selbst die chivfunden versehene neuere Edition von E.s lange Zeit fraglos geltende Vorstellung eines Briefwechsel aus den Jahren 1765 bis 1802 »Engelberger Predigers« überhaupt, ist nicht (hg. v. A. Kosˇ enina. Würzb. 1992) mit 150 mehr aufrechtzuerhalten, seitdem die HoBriefen E.s (von insg. 180) an die verschie- mogenität der Sammlung von S. Beck u. K. densten Empfänger (u. a. Adelung, Campe, Ruh in Frage gestellt wurde u. M. Stauffacher Doebbelin, Friedrich Wilhelm II., Garve, nachgewiesen hat, dass für die Sammlung lat. Kant, Kotzebue, Mendelssohn, Nicolai, Soccus-Predigten in unterschiedlicher BearSchiller, Weiße, Wieland), mit denen sich beitungstendenz – fast wörtlich oder stark unser Bild von E.s Leben u. Werk, seinen je- bearbeitend – übersetzt wurden. Entstanden weiligen Befindlichkeiten u. epochalen Posi- ist die Predigtsammlung in der Zeit des Schismas (Rom u. Avignon werden zus. ertionen erheblich erweitert u. vertieft. wähnt), der Hinweis auf ein Jubeljahr ließe Literatur: Friedrich Nicolai: Gedächtnißschr. auf J. J. E. Bln. 1806. – Jördens, Bd. 1 (1806), sich mithin am ehesten auf 1350 beziehen. S. 444–447 u. Bd. 6 (1811), S. 61–73. – Karl Hein- Das Korpus ist demnach um 1350 im Zurich Jördens: Denkwürdigkeiten, Charakterzüge, sammenhang mit der blühenden oberrhein. Anekdoten aus dem Leben der vorzügl. dt. Dichter Mystik aus unterschiedl. Quellen zusamu. Prosaisten. Bd. 1 (1812), S. 3–28. – Ersch/Gruber mengestellt u. redigiert worden. 49 der 55 1, 34 (1840), S. 233–238. – Adalbert Elschenbroich: bisher identifizierten Predigten sind in zwei J. J. E. In: NDB. – E. Theodor Voss: Nachw. u. Sammelhandschriften des letzten Viertels des editor. Anhang zum Neudr. v. E.s ›Über Handlung, 14. Jh. u. einer Handschrift aus dem ersten Gespräch u. Erzählung‹. Stgt. 1964. – Klaus R. Viertel des 15. Jh. in der Stiftsbibliothek von Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jh. Stgt. 1968, Engelberg überliefert (codd. 335–337). Eine S. 134–168 u. passim. – Hans-Gerhard Winter: sekundäre Überlieferung ist im 15. Jh. in Dialog u. Dialogroman. Mit einer Analyse v. J. J. E.s Gesprächstheorie. Darmst. 1974. – Zwi Batscha: vornehmlich dominikan. Kreisen des BodenBemerkungen zu J. J. E.s polit. Theorie. In: Ders.: seeraumes zu beobachten. Die Predigten sind nicht als Kanzel-, son›Despotismus von jeder Art reizt zu Widersetzlichkeit‹. Die frz. Revolution in der dt. Popular- dern als Lesepredigten für die monast. philosophie. Ffm. 1989, S. 219–247. – Alexander Tischlesung oder für die private Meditation
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gedacht. Die unmittelbaren Adressaten dürf- Engelhardt, Elisabeth, * 11.3.1925 Leerten die Benediktinerinnen in Engelberg ge- stetten bei Nürnberg, † 8.8.1978 Leerwesen sein, obwohl die Texte nicht immer stetten bei Nürnberg. – Verfasserin von genau auf diesen Leserkreis passen. In der Erzählungen, Romanen u. Hörbildern. Sammlung sind beide Formen der mittelalDie Tochter eines Kleinbauern u. Fabrikarterl. Predigt, Sermo u. Homilie, vertreten, beiters besuchte im Anschluss an die Volkswobei der Sermo bevorzugt wird. Der Predischule eine kaufmänn. Privatschule. Sie nahm ger kommt in der Regel zunächst auf spekulative theolog. Fragen zu sprechen, verbindet drei Jahre Unterricht bei einem Kunst- u. dies aber geschickt mit Betrachtungen über Theatermaler, war ab 1953 Dekorationsnäden monast. Alltag. Seine Hauptthemen sind herin u. Malerin bei den Städtischen Bühnen dementsprechend das Gelübde, die Selbster- Nürnberg. Durch die Vermittlung Max von kenntnis, das Bemühen um Vollkommenheit, der Grüns schloss sie sich 1965 der Dortd.h. um die Vereinigung mit Gott, u. das munder Gruppe 61 an. In ihren Erzählungen thematisiert E. soGebet. Die Sprache ist klar u. leicht verständlich. Charakteristisch für die E. P. ist ziale Konflikte aus der Perspektive kleinbürauch der milde Ton; nie werden harte For- gerlich-proletarischer Protagonisten. Dabei derungen an das Publikum gestellt. Die E. P. gilt ihre Sympathie v. a. den Frauen, die unter stehen in der Tradition der dominikan. einer inhumanen Arbeitswelt u. den gesellMystik u. deren Hauptvertreter Meister Eck- schaftl. Ansprüchen leiden. E. bevorzugt die hart, Heinrich Seuse u. Johannes Tauler, Form des Romans, in der sie komplexe Gedessen Predigten z.B. in den E. P. mit eu- sellschaftsbilder entwickelt. So stellt sie in charistischem Inhalt z.T. wörtlich zitiert dem Roman Ein deutsches Dorf in Bayern (mit einem Nachw. v. Ingeborg Drewitz. Wupwerden. pertal 1974. Mchn. 21989) die negativen BeAusgaben: Krit. Ausg. in Vorb. – Einzeltexte: Wilhelm Wackernagel (Hg.): Altdt. Predigten u. wusstseinsveränderungen innerhalb einer Gebete aus Hss. Basel 1876. Neudr. Darmst. 1964, Dorfgemeinschaft dar, die durch einen BauS. 182–208, 583–589. – Philipp Strauch: Der En- boom u. den damit verbundenen Reichtum gelberger Prediger. In: ZfdPh 50 (1926), S. 1–45, ausgelöst werden. Materielles Denken breitet 210–241. – Walter Muschg: Myst. Texte aus dem sich unter den Dorfbewohnern aus, die eth. MA. Basel 1934, S. 133–146. – Kurt Ruh: Dt. Lit. im Normen verlieren an Bedeutung; gleichzeitig Benediktinerinnenkloster St. Andreas in Engel- werden traditionelle Kultur u. gewachsene berg. In: Titlisgrüsse 67 (1981), S. 79 f. Wieder ab- Natur vernichtet. E. dämonisiert ihre Sozialgedr. in: Ders.: Kleine Schr.en. Bd. 2, Bln./New kritik auf zweifache Weise: Die eigentl. UrYork 1984, S. 287. sachen des Verfalls erscheinen als latente Literatur: Sigisbert Beck: Untersuchungen Anlage zum Bösen in den Dorfbewohnern zum Engelberger Prediger. Freib./Schweiz 1952. – selbst u. der Weg in die Katastrophe wird mit Ders.: Engelberger Prediger. In: VL. – Kurt Ruh 1981 (a. a. O.), S. 77–88 bzw. 275–295. – Mathias dem Einbruch einer irrationalen Macht in Stauffacher: Untersuchungen zur handschriftl. Verbindung gebracht. Überlieferung des ›Engelberger Predigers‹. Masch. Diss. 3 Bde., Basel 1982. – K. Ruh: Der Handschriftenbestand des St. Andreas-Klosters in Engelberg. Ein Überblick. In: Bewegung in der Beständigkeit. Zu Gesch. u. Wirken der Benediktinerinnen v. St. Andreas/Sarnen Obwalden. Hg. Rolf de Kegel. Alpnach 2000, S. 107–120. Werner Williams-Krapp / René Wetzel
Weitere Werke: Feuer heilt. Zürich 1964. 21969 (R.). – Erzählungen. In: Aus der Welt der Arbeit. Almanach der Gruppe 61. Hg. Fritz Hüser u. Max v. der Grün in Zus. mit Wolfgang Promies. Neuwied/ Bln. 1966. – Johanna geht. Nürnb. 1972 (E.en). – Ländl. Franken. o. O. 1975 (Hörbild). – E. E. (Hg.): Idas Tränen fließen in die Tasse. Düsseld. 1971. Ffm. 21988. Literatur: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Gruppe 61. Arbeiterlit. – Lit. der Arbeitswelt? Mchn. 1971. – Keith Bullivant: Gruppe 61 nach zehn Jahren. In: Basis 3 (1972), S. 98–111. – Ingeborg Höverkamp: E. E. Eine Monogr. Gerabronn 1994. – Gerhard
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279 Armanski: Fränk. Literaturlese: Essays über Poeten zwischen Main u. Donau. Würzb. 1998. Josef Jansen / Red.
Engelke, Gerrit, * 21.10.1890 Hannover, † 13.10.1918 bei Cambrai/Frankreich; Grabstätte: Soldatenfriedhof Étaples-surMer. – Lyriker u. Zeichner.
welt, Liebe, Lebensgefühl behandelt E. – erst fasziniert vom Fortschritt, dann zunehmend zweifelnd am »entseelenden« Industrie-Materialismus – oftmals mit großer sprachl. Emphase u. zuweilen auch mit religiöser Bildlichkeit. Die Suche nach Ursprünglichkeit u. Einheit, das Streben nach weltumspannender »Menschenbrüderlichkeit« u. »Gottgemeinschaft«, die kosm. Perspektive des Allgeistes oder Allgebärers lassen ihn gegen »Bleichsucht-Poesie« u. lyr. »Himbeerlimonade« den »Schallwort-Hammer« schwingen. Ihn betätigt er sprachschöpferisch u. mit einem Rhythmusgefühl, das an Walt Whitman erinnert. E.s Sendungsbewusstsein ist nicht politisch fundiert. Seine Gedichte bieten Modelle emphatischer Lyrik mit der pazifist. Vision eines geeinigten, neuen Europa an. Zu seinem Gedächtnis verleiht die Stadt Hannover seit 1979 alle zwei Jahre den Gerrit-Engelke-Preis für zeitgenössische Literatur.
Der Sohn des kaufmänn. Angestellten u. späteren Inhabers eines Weißwarengeschäftes Louis E. ließ sich nach dem Besuch der Volksschule zum Malergesellen ausbilden u. arbeitete zunächst in verschiedenen Handwerksbetrieben, ehe er in Abendkursen der Kunstgewerbeschule zu Hannover als Zeichner – 1914 kaufte das Kestner-Museum etwa 80 Aquarelle u. Zeichnungen von ihm an – u. seit 1912 auch als Dichter auf sich aufmerksam machte. Nach der Auswanderung von Eltern u. Schwester in die USA sah E. sich auf sich allein gestellt u. zwischen der Lohnarbeit als Anstreichergehilfe u. längeren Phasen der Arbeitslosigkeit aufgerieben. Rückhalt fand Weitere Werke: Gesang der Welt. Gedichte, er u. a. bei Richard Dehmel, den er 1913 Tagebuchblätter u. Briefe. Hg. Walther G. Oschikennengelernt hatte u. der ihm zu ersten lewski. Bln. 1927. – Vermächtnis. Aus dem Nachl. Publikationen in Paul Zechs Zeitschrift »Das hg. v. Jakob Kneip. Lpz. 1937. – Das Gesamtwerk. neue Pathos« verhalf, sowie bei Jakob Kneip Rhythmus des neuen Europa. Hg. Hermann Blome. u. den »Werkleuten auf Haus Nyland«. Kneip Mchn. 1960. Neudr. Hann. 1979. Literatur: Kurt Morawietz: ›Mich aber schone, druckte seine Gedichte in der Hauszeitschrift Tod ...‹. G. E. 1890–1918. Hann. 1979 (mit Bi»Quadriga« u. schrieb auch den Nachruf auf bliogr.). – Ders. (Hg.): Zwischen Wolken u. Großseinen jungen Kollegen, der, nachdem er stadtrauch. Warum E. lesen? Dokumentation zum 1915 Heinrich Lerschs Angebot, ihn für seine 100. Geburtstag des hannoverschen Dichters G. E. Kesselschmiede zu reklamieren, abgelehnt Hann. 1992. hatte, zum Frontdienst einberufen worden u. Anneli Hartmann / Ralf Georg Czapla in den letzten Kriegstagen in einem brit. Lazarett seinen Verwundungen erlegen war. Engelmann, Bernt, * 20.1.1921 Berlin, E., wie zahlreiche Arbeiterdichter Autodi† 14.4.1994 München. – Verfasser sozidakt, sah zu Lebzeiten nur wenige seiner alkritischer Tatsachenromane u. politiGedichte u. Zyklen gedruckt. Zus. mit Lersch scher Sachbücher. u. Karl Zielke gab er die Anthologie Schulter an Schulter. Gedichte von drei Arbeitern (Jena 1916) Der Sohn eines Verlagsdirektors erlebte die heraus. Den lange geplanten Band Rhythmus Kindheit in Berlin u. kam 1932 nach Düsseldes neuen Europa konnte er nicht vollenden. dorf, wo er 1938 das Abitur ablegte. Auf den Postum gab Kneip unter diesem Titel eine Reichsarbeitsdienst folgte die KriegsteilnahWerkauswahl (Jena 1921) heraus. me bei der Luftwaffe; nach einem LazarettE.s Etikettierung als Arbeiterdichter ver- aufenthalt nahm er 1942 das Studium auf u. hinderte eine breitere Rezeption, zumal sich wurde Mitarbeiter einer Wirtschaftskorreseine Dichtung nicht ohne Weiteres den li- spondenz. Seine Arbeit im Widerstand wurde terar. Strömungen jener Zeit zuordnen lässt. 1944 aufgedeckt; E. überlebte als Häftling die Seine Themen Großstadt, Technik, Arbeits- Konzentrationslager Flossenbürg, Hersbruck
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Weitere Werke: Das Reich zerfiel, die Reichen u. Dachau bis zur Befreiung im Mai 1945. In Köln, Bonn, Genf u. Paris studierte er Neuere blieben. Hbg. 1972. – Ihr da oben, wir da unten Sprachen, Geschichte u. Jura. 1947 begann er (zus. mit Günter Wallraff). Köln 1973. – Dt. Antiseine journalist. Tätigkeit in der Gewerk- geschichtsbuch: Wir Untertanen. Mchn. 1974. – Einig gegen Recht u. Freiheit. Mchn. 1975. – Trotz schaftspresse. Sieben Jahre arbeitete er für alledem. Dt. Radikale 1777–1977. Mchn. 1977. – den »Spiegel«, 1961–1964 für das Fernsehen. Die Laufmasche. Mchn. 1980. Gött. 1994. – Im Zus. mit Gert von Paczensky gab er bis 1967 Gleichschritt marsch. Wie wir die Nazizeit erlebten. die Zeitschrift »deutsches panorama« heraus. 1933–39. Köln 1982. Neuausg. Gött. 2001. – Ab 1964 lebte er als freier Schriftsteller am Weißbuch: Frieden. Köln 1982. – Vorwärts u. nicht Tegernsee. vergessen. Mchn. 1985. – Du deutsch? Mchn. 1984. E.s persönl. Biografie war wie seine streit- Gött. 2004. – Die Freiheit! Das Recht! Johann Jabare publizist. Tätigkeit gekennzeichnet coby. Bln./Bonn 1986 (Biogr.). – Berlin. Eine Stadt durch polit. Engagement: Er war zwölf Jahre wie keine andere. Mchn. 1986. Gött. 1994. – Großes Präsidiumsmitgl. des PEN-Zentrums der Verdienstkreuz mit Stern. Gött. 1987. – Wir hab’n ja den Kopf noch fest auf dem Hals. Köln. 1987. – Bundesrepublik Deutschland, 1977–1984 Gesch. in Gesch.n. Ein Lesebuch. Gött. 1989. – Bundesvorsitzender des Verbands deutscher Dtschld.-Report. Gött. 1991. 1994. – EntnazifizieSchriftsteller (VS) in der IG Druck u. Papier u. rung. Polit. Säuberung u. Rehabilitierung in den in diesem Ehrenamt Initiator von zahlreichen vier Besatzungszonen 1945–49. Mchn. 1991. Friedensinitiativen. Literatur: Manfred Dierks u. Diethelm FreyAls Buchautor wurde E. schon mit seiner tag: B. E. In: KLG. Hans Peter Bleuel / Red. ersten Publikation Meine Freunde, die Millionäre. Ein Beitrag zur Soziologie der WohlstandsgeEngels, Friedrich, auch: F. Oswald, sellschaft nach eigenen Erlebnissen (Darmst. * 28.11.1820 Barmen, † 5.8.1895 London. 1963) schlagartig bekannt: eine süffisante – Unternehmer; sozialistischer TheoretiKritik am Wohlstandswunder u. seinen ker u. Publizist. mächtigen Profiteuren. In seinen folgenden Büchern bis zu Krupp (Mchn. 1969) setzte er Der älteste Sohn eines pietist. Textilfabriseinen informativen Stil sozialkritischer In- kanten besuchte ab 1834 das Elberfelder diskretionen fort: In Deutschland ohne Juden Gymnasium. Ohne Schulabschluss begann E. (Mchn. 1970. Rev. Ausg. Gött. 1998) bis zu 1837 eine Kaufmannslehre in der Firma seiden Tatsachenromanen Großes Bundesver- nes Vaters mit Sitz in Barmen u. Manchester. dienstkreuz (Mchn. 1974. Gött. 1998) u. Hotel 1838–1841 setzte er die Ausbildung in BreBilderberg (Königst. 1977. Gött. 2004) ent- men fort u. beendete sie – nach einjährigem hüllte er die Verquickung von Rechtskartell, Militärdienst in Berlin (Herbst 1841–1842) – NS-Vergangenheit u. wirtschaftl. Macht in erst 1844 in Manchester. Ämtern u. Personen bis in die Gegenwart. Als In Bremen schrieb E. neben zahlreichen krit. Aufklärer in der Tradition Johann Jaco- Literaturkritiken v. a. Gedichte, dramat. Verbis, des Vormärz u. der Berliner »Weltbühne« suche u. Prosaarbeiten. Früh entwickelte liverstand sich E. mit seinen faktenreichen u. terarisch-polit. Interessen wurden durch von klaren polit. Positionen getragenen Börne, Freiligrath u. bes. durch Gutzkow »Anti-Geschichtsbüchern«, in denen er »Ge- gefördert, dessen »Telegraph für Deutschschichte von unten« zeigen will. Ihr Spek- land« 1838–1841 zahlreiche Beiträge von E. trum reicht vom absolutist. Preußen bis zur brachte, u. a. die religions- u. sozialkrit. Briefe Sozialdemokratischen Partei, von Vergan- aus dem Wuppertal (1839). Gleichzeitig lieferte genheitsträumen dt. Macht bis zu Alpträu- er Korrespondentenberichte für die Augsmen dt. Gegenwart. burger »Allgemeine Zeitung« u. Cottas E. hat dem polit. Sachbuch u. engagierter »Morgenblatt«. Aus seiner pietist. Erziehung Geschichtsdarstellung ein breites Publikum verbliebene religiöse Probleme konnte E. erst erschlossen u. bes. bei jüngeren Lesern große durch die Lektüre von Strauß, Hegel u. FeuResonanz gefunden. 1986 erhielt er den Heinrich-Heine-Preis der DDR.
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erbach im Sinne eines materialist. Weltbilds lösen. In Berlin wurde E. vom Parteigänger des Jungen Deutschland zum Junghegelianer. Er besuchte Philosophievorlesungen, schloss sich der Gruppe um Bruno u. Edgar Bauer, den sog. »Freien« (zu denen auch Marx gehört hatte), an u. polemisierte 1842 in zwei Broschüren gegen Schellings Offenbarungsphilosophie. Immer stärkeres Gewicht bekamen polit. Tagesfragen, so in seinen gegen den reaktionären Kurs Preußens gerichteten Artikeln für die »Rheinische Zeitung« (ab April 1842). E.’ Lehrzeit in England (1842–1844), in der er seine irische Lebensgefährtin Mary Burns kennenlernte u. sich mit Georg Weerth befreundete, bestimmte seinen Weg zum Kommunismus. Er nahm die Folgen der Industrialisierung als Kontrast zwischen ökonomischem Fortschritt u. Verelendung des Proletariats wahr u. lernte neue Kampfformen der sich formierenden engl. Arbeiterbewegung (Streiks, Meetings u. Gesetzesinitiativen) kennen. Seine literar. Arbeiten erschienen, als Berichte u. Sozialdokumentationen, in engl. u. dt. frühsozialistischen Periodika. Ökonomisch-soziale Empirie, das Studium der Schriften bürgerlicher Ökonomen, utop. Sozialisten u. Kommunisten waren grundlegend für die 1844 in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« veröffentlichten, von Marx als »geniale Skizze« bewerteten Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. Wurden die mit der Industrialisierung verbundenen sozioökonom. Veränderungen hier auf der Theorieebene abgehandelt, so legte E. den Schwerpunkt von Die Lage der arbeitenden Klasse in England (Lpz. 1845) auf die auch auf eigener Anschauung basierende Beschreibung der inhumanen Arbeits-, Wohn- u. Lebensbedingungen des engl. Proletariats. Diese vorwiegend aus Statistiken, Parlamentsberichten, Quellensammlungen u. Zeitungsartikeln kompilierte Studie wird von moderner sozialhistor. Forschung allerdings kritisch beurteilt, denn E. ergriff bewusst Partei für die engl. Industriearbeiter. Seine Revolutionsprognose u. die beschriebene Vermittlerposition der Kommunisten »über« den Klassen-
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gegensätzen wurden von E. 1892 im Vorwort zur Neuauflage noch selbst revidiert. Das Englandbuch fand – vor dem Hintergrund des in der Weberrevolte von 1844 zutage getretenen Pauperismusproblems in Deutschland – starke Beachtung u. wurde auch von konservativer Seite positiv bewertet. Die im Sept. 1844 geschlossene Freundschaft mit Marx führte zunächst zu einer gemeinsamen Aufarbeitung ihrer philosoph. Vergangenheit. Der Distanzierung von den Junghegelianern um Bruno Bauer in Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik (Ffm. 1845), zu der E. nur wenige Seiten beitrug, folgte die krit. Abrechnung mit den Anschauungen Feuerbachs, Stirners u. der inzwischen als »wahre Sozialisten« abgewerteten Weggefährten (Moses Heß, Arnold Ruge u. a.) in der 1845/46 verfassten, aber nicht publizierten Schrift Die deutsche Ideologie (MEGA1 I/5). In diesen Zusammenhang gehören E.’ letzte größere literaturkrit. Arbeiten, die Artikelfolge Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa (in: Deutsche-Brüsseler-Zeitung, Sept.-Dez. 1847) u. das Manuskript Die wahren Sozialisten (MEGA1 I/6), in denen er gegen Tendenzen zur Versöhnung der Klassen einer sozialen Mitleidspoesie polemisiert. Die kommunist. Agitation mit Heß in Wuppertal (Elberfelder Reden, Febr. 1845) zwang E. ins polit. Exil; wie Marx wohnte er 1845–1848 abwechselnd in Brüssel u. Paris. Im Auftrag des »Bunds der Kommunisten« – bei dessen Gründung 1847 in London E. eine zentrale Rolle spielte – verfasste er Grundsätze des Kommunismus (MEGA1 I/6), die in das mit Marx geschriebene Manifest der Kommunistischen Partei (London, Febr. 1848) eingingen; hier wurde, gelegentlich noch im Stil der proletar. Befreiungstheologie, erstmals öffentlich die »Lehre von den Bedingungen der Befreiung des Proletariats« verkündet u. gegen konkurrierende Ideologien abgegrenzt. Nach den Revolutionen von 1848 gaben Marx u. E. in Köln von Juni 1848 bis Mai 1849 die »Neue Rheinische Zeitung« (als »Organ der Demokratie«) heraus, in der sie die polit. Entwicklungen im Frankfurter Parlament u. in den Bundesstaaten attackierten u. kommentierten. Nach seiner Teilnahme am missglückten badisch-pfälz. Aufstand (Juni/
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Juli 1849) kehrte E. nach England zurück, wo er seit 1850 in der väterl. Firma arbeitete, zuletzt als Teilhaber. Er sicherte damit auch Marx’ Lebensunterhalt u. ermöglichte ihm, eigene Interessen hintansetzend, die wiss. Arbeit (v. a. an Zur Kritik der Politischen Ökonomie u. an Das Kapital). E. selbst widmete sich seither verstärkt histor. Studien (Der deutsche Bauernkrieg. In: Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue, 1850. Revolution und Konterrevolution in Deutschland. In: New York Daily Tribune, 1851/52). Zgl. erschloss sich E. ein weiteres Arbeitsgebiet: militärwiss. Studien u. strateg. Überlegungen. Erst im 20. Jh. wurde bekannt, dass er der Autor einer Reihe von Artikeln war, die Marx in den 1850er Jahren bei der »New York Daily Tribune« u. der »New American Cyclopedia« eingereicht hatte. Neben Artikeln in einschlägigen Periodika begründeten die Broschüren Po und Rhein (Bln. 1859) u. Savoyen, Nizza und der Rhein (Bln. 1860) bei den Zeitgenossen seinen Ruf als Fachmann in militär. Fragen u. ebenso seinen Spitznamen »General«. Auch wenn ihn der Zusammenhang zwischen der Armee u. ihrer Effektivität u. der Entwicklung der Produktivkräfte bes. interessierte, blieb er mit seinen akrib. Studien nicht bei monokausalen Betrachtungen stehen. Seine Analysen des Krimkrieges, des amerikan. Bürgerkrieges oder des DeutschFranzösischen Krieges gehören »zum besten und eindrucksvollsten [...], was die militärhistorische Literatur des 19. Jh. hervorgebracht hat« (Münkler). Bemerkenswert ist E.’ Wandel in der Einschätzung der Folgen eines europ. Krieges in seinen letzten Lebensjahren. Er fürchtete nicht nur einen Weltkrieg mit Millionen von Toten u. dem Bankrott des polit. Systems im Gefolge, sondern betrachtete einen Krieg als »l’éventualité la plus terrible« (E. an Paul Lafargue, 25.3.1889), auch u. gerade für einen Sieg der Arbeiterbewegung. Seit 1893 schließlich trat er für Abrüstung ein. E. nahm regen Anteil an der Entwicklung der europ. Arbeiterbewegungen, insbes. in Deutschland. Er pflegte intensive Konktakte zur Parteiführung u. nahm Stellung zu programmat. Fragen, z.B. mit der Veröffentlichung der 1875 abgefassten Kritik des Gothaer
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Programms (In: Die Neue Zeit 1890/91). In der 1864 gegründeten »Internationalen ArbeiterAssoziation« wurde E. erst nach seinem Rückzug aus der Firma (1869) aktiv, seit Okt.1870 als Mitgl. des Generalrats, später als korrespondierender Sekretär für Belgien, dann auch für Spanien u. Italien sowie für Portugal u. Dänemark. Nach dem Haager Kongress (1872) verfasste E., unter Mitarbeit von Marx u. dessen Schwiegersohn Paul Lafargue, die gegen Michail Bakunin gerichtete Schrift L’Alliance de la Démocratie Socialiste et l’Association Internationale des Travailleurs (London/Hbg. 1873. Dt. Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation. Braunschw. 1874). 1889–1893 nahm E., nach anfänglicher Skepsis, erhebl. Einfluss auf Gestaltung u. Politik der sog. »Zweiten Internationale«. Er war entscheidend an der Durchsetzung der »marxistisch« orientierten Parteien, insbes. aus Frankreich u. Deutschland, gegenüber anderen sozialist. Richtungen beteiligt, auch wenn andere Faktoren diese Entwicklung förderten. Er trat kaum öffentlich in Erscheinung, sondern zog die Fäden, wie sich v. a. in seiner Korrespondenz mit Partnern in Frankreich, England, Deutschland u. in mehreren kleineren Ländern zeigt, mehr im Hintergrund der internat. Kongresse, durch die die Zweite Internationale im Wesentlichen in Erscheinung trat. Nach dem Umzug nach London (1870) zielten seine Veröffentlichungen, als nun »freier« Schriftsteller, auf die begriffl. Präzisierung, histor. Vertiefung u. method. Abgrenzung des wiss. Sozialismus als »theoretischen Ausdruck[s] der proletarischen Bewegung«. So im »Anti-Dühring« (Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Lpz. 1878), wo er versucht, materialist. Dialektik umfassend als »Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- u. Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft u. des Denkens« zu fassen. Schriften wie Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (Paris 1880. Dt. Hottingen/Zürich 1882) u. Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (Stgt. 1888) dienten, auch durch Vorabdrucke in der sozialdemokrat. Presse, der histor. Herleitung u. Verbreitung des neuen Weltbildes. Neue
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histor. u. naturwiss. Bereiche erschloss E. der materialist. Sichtweise in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (Hottingen/Zürich 1884) u. in der Fragment gebliebenen Dialektik der Natur (1873–82; MEGA2 I/26). Zu literar. Problemen nahm E. nur noch punktuell, meist in Briefen, Stellung, so z.B. in der Sickingen-Debatte (an Lassalle, 18.5.1859) oder zu Fragen von Tendenz u. Realismus im Roman (an Minna Kautsky, 26.11.1885, u. an Margaret Harkness, Anfang April 1888). Gerade die hier nur skizzierten Essentials einer realist. Schreibweise (z.B. Wirklichkeitstreue der Darstellung, Typik u. Individualität der Charaktere, Verzicht auf direkte Parteinahme des Autors) u. E.’ Plädoyer für die Romankunst Balzacs (gegen Zola) erhielten in der von Lukács u. a. vertretenen Konzeption des sozialist. Realismus dogmat. Rang. Nach dem Tod von Marx 1883 betrachtete E. sich als dessen politischer u. literar. Nachlassverwalter u. regte mit Neuherausgaben u. Übersetzungen von Werken, die Marx allein oder mit ihm zus. verfasst hatte, z.B. Manifesto of the Communist Party, sowie mit seiner publizist. Tätigkeit eine ausgedehnte Rezeption an (z.B. MEGA2 I/31). Etwa ein Jahrzehnt nahm die Herausgabe der von Marx in mehreren fragmentar. Entwürfen hinterlassenen Bände 2 u. 3 des Kapital (Hbg. 1885. 1894. MEGA2 II/12, II/13, II/14 u. II/15) in Anspruch. Die Unfertigkeit der Marx’schen Texte (MEGA2 II/4.2, II/4.3, II/14 u. II/11) schuf einigen Spielraum bei der Gestaltung der Druckfassungen, den E. für zahlreiche stilist. wie inhaltl. Verbesserungen nutzte, vielfach zum Nutzen des Lesers, doch insg. mit großer Zurückhaltung u. darauf bedacht, von Marx offen gelassene Fragen u. Probleme nicht zu verdecken. Inwieweit ihm Letzteres gelang, wird kontrovers diskutiert, ebenso wie die Frage, ob sich daraus Differenzen zwischen Marx u. E. ableiten lassen, ein Thema, über das im Rahmen des Verhältnisses von Marx u. E. im 20. Jh. verschiedentlich debattiert wurde. Ausgaben: Karl Marx u. F. E.: Hist.-krit. Gesamtausg. Hg. David B. Rjazanow u. Vladimir V. Adoratskij. 12 Bde., Ffm./Bln./Moskau 1927–35 (MEGA1). – Karl Marx u. F. E.: Werke. Hg. Institut
Engels für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 39 Bde. u. 2 Erg. -Bde., Bln./DDR 1965–68 (MEW). – Karl Marx u. F. E.: Gesamtausg. Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU u. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bln./DDR 1975–90. Seit 1991 Hg. Internat. Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Bln. (MEGA2). – Briefe: August Bebel u. Eduard Bernstein (Hg.): Der Briefw. zwischen Karl Marx u. F. E. 4 Bde., Stgt. 1913. – Benedikt Kautsky (Hg.): F. E.’ Briefw. mit Karl Kautsky. Wien 1955. – Émile Bottigelli (Hg.): F. E.; Paul et Laura Lafargue. Correspondance. 3 Bde., Paris 1956–59. – Georg Eckert (Hg.): Wilhelm Liebknecht. Briefw. mit Karl Marx u. F. E. Den Haag 1963. – Werner Blumenberg (Hg.): August Bebels Briefw. mit F. E. Den Haag 1965. – Manfred Häckel (Hg.): Freiligraths Briefw. mit Marx u. E. 2 Bde., Bln./DDR 1968. 21976. – Helmut Hirsch (Hg.): Eduard Bernsteins Briefw. mit F. E. Assen 1970. – Michael Knieriem (Hg.): Die Herkunft des F. E. Briefe aus der Verwandtschaft 1791–1847. Trier 1991. Literatur: Gustav Mayer: F. E. Eine Biogr. 2 Bde., Den Haag 1934. – Georg Lukács: Marx u. E. als Literaturhistoriker. Bln. 1948. – Auguste Cornu: Karl Marx u. F. E. Leben u. Werk. 3 Bde., Bln./DDR u. Weimar 1954–68. – Peter Demetz: Marx, E. u. die Dichter. Stgt. 1959. – Hermann Bollnow: F. E. In: NDB. – Vera Machácˇková: Der junge E. u. die Lit. (1838–44). Bln./DDR 1961. – Horst Ullrich: Der junge E. 2 Bde., Bln./DDR 1961–66. – Bert Andréas: Le Manifeste Communiste de Marx et E. Mailand 1963. – Manfred Kliem u. a.: Marx/E.Verz. 2 Bde., Bln./DDR 1966–71. – Helmut Hirsch: F. E. Reinb. 1968. – Helmut Fleischer: Marx u. E. Die philosoph. Grundlinien ihres Denkens. Freib. i. Br./Mchn. 1970. – Heinrich Gemkow u. a.: F. E. Eine Biogr. Bln./DDR 1970. – Hans Pelger: F. E. 1820–1970. Referate, Diskussionen, Dokumente. Internat. wiss. Konferenz in Wuppertal 25.29.5.1970. Hann. 1971. – William O. Henderson: The Life of F. E. 2 Bde., London 1976. – Franz Neubauer: Marx-E. Bibliogr. Boppard 1979. – Hans Koch: Marx, E. u. die Ästhetik. Bln./DDR 1983. – Cecil L. Eubanks: Karl Marx and F. E. An Analytical Bibliography. New York/London 21984. – Hal Draper: The Marx-E. Register. A Complete Bibliography of Marx and E.’ Individual Writings. Vol. II of The Marx-Engels Cyclopedia. New York 1985. – Niels Mader: Philosophie als polit. Prozeß. Karl Marx u. F. E. [...]. Köln 1986. – Michael Knieriem: ›Gewinn unter Gottes Segen‹. Ein Beitr. zu Firmengesch. u. geschäftl. Situation v. F. E. Aus dem Archiv der Firma ›Ermen & Engels‹ in Engelskirchen. Wuppertal 1987. – Terrell Carver: F. E. His
Engin
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Life and Thought. Basingstoke 1989. – Stephen H. Rigby: E. and the formation of Marxism. History, dialectics and revolution. Manchester/New York 1992. – Christopher J. Arthur (Hg.): E. Today. A Centenary Appreciation. Basingstoke/London 1996. – Markus Bürgi: F. E. u. die Zweite Internationale. In: MEGA-Studien 1996/2, S. 66–78. – Georges Labica u. Mireille Delbraccio (Hg.): F. E., savant et révolutionnaire. Paris 1997. – Goedeke Forts. – Manfred B. Steger u. T. Carver (Hg.): E. after Marx. Manchester 1999. – Herfried Münkler: Der gesellschaftl. Fortschritt u. die Rolle der Gewalt: F. E. als Theoretiker des Krieges. In: Marxismus. Versuch einer Bilanz. Hg. Volker Gerhardt. Magdeb. 2001, S. 165–191. – T. Carver: E. A very short introduction. Oxford/New York 2003. Fritz Wahrenburg / Regina Roth
Engin, Osman, * 25.9.1960 bei Izmir/Türkei. – Satiriker.
Osmans« wurden zum Vorbild deutsch-türkischer Sitcoms im dt. Fernsehen u. mehrfach für das Theater adaptiert u. in Schulbücher aufgenommen. Weitere Werke: Oberkanakengeil. Bln. 2001. Mchn. 2003. – GötterRatte. Mchn. 2004. – Westöstl. Sofa. Mchn. 2006. – Getürkte Weihnacht. Mchn. 2006. – Don Osman auf Tour. Urlaubsgesch.n. Mchn. 2007. Literatur: Ulrike Reeg: Schreiben in der Fremde. Lit. nationaler Minderheiten in der BRD. Essen 1988, S. 175–187. – Karin E. Yes¸ ilada: Schreiben mit spitzer Feder. Die Satiren der türk.dt. Migrationslit. In: ›Spagat mit Kopftuch‹. Essays zur Dt.-Türk. Sommerakademie. Hg. Jürgen Reulecke. Hbg. 1997, S. 529–564. – Mark Terkessidis: Kabarett u. Satire dt.-türk. Autoren. In: Interkulturelle Lit. in Dtschld. Ein Hdb. Hg. Carmine Chiellino. Stgt. 2000, S. 294–301. – Yüksel Baypinar: Kanaken-Gandhi. Das Deutschlandbild des Satirikers O. E. In: Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jh. Hg. Peter Wiesinger u. a. Bd. 7, Bern 2002, S. 249–254.
E. kam 1973 nach Deutschland. Er studierte Sozialpädagogik in Bremen, wo er als freier Karin E. Yes¸ ilada Autor lebt. 1983–2003 erschienen seine satir. Kurzgeschichten im Bremer, seitdem im Hamburger Stadtmagazin sowie in dt. u. in- Enikel, Jans ! Jans Enikel ternat. Printmedien; seit 2002 regelmäßig auch im WDR Hörfunk. E. erhielt mehrere Enk von der Burg, Michael (Leopold), Literaturpreise, darunter 2006 den ARD-Me* 18.1.1788 Wien, † 11.6.1843 Melk/Niedienpreis. derösterreich (Freitod). – LiteraturtheoreE. schuf die dt.-türk. Figur »Osman« u. tiker u. Epiker. seine Familie, deren Leben in Deutschland zum Gegenstand satirischer Spiegelungen Seit 1810 Ordensbruder im Kloster Melk, deutscher u. türk. Stereotypen wird: Der stand E. in literarischem Austausch mit Deutschling (Bln./W. 1985) nimmt zwischen Grillparzer, Seidl u. a. Seine Vorliebe galt der den Stühlen Platz u. mausert sich zum Sperr- Tragödie; selbst kaum talentiert, wurde er müll-Efendi (Reinb. 1991). E.s humorist. Prin- Förderer des jungen Halm (vgl. ihren Briefzip basiert auf Dialogen u. Maskerade, in wechsel. Hg. Anton Schachinger. Wien 1890), diesem Universum ist Alles getürkt! (Reinb. dem er strenge formale u. ethische Richtlini1992). Mit dem Wechsel zur Humoreske en für das Hochstildrama vorgab. Seinen (Untertitel: Geschichten zum Lachen) gleitet die Ruhm als Literaturtheoretiker u. Kritiker ursprüngl. Satire häufig ins Seichte ab. Den- begründete E. 1827 mit der ästhet. Schrift noch verarbeitet E. als einer der ersten dt.- Melpomene oder über das tragische Interesse türk. Autoren den Rechtsextremismus sati- (Wien). 1828–1843 veröffentlichte er zahlreirisch: Alle Dackel umsonst gebissen (Bln./West che Rezensionen in den »Jahrbüchern der 1989) u. Dütschlünd, Dütschlünd übür üllüs (Bln. Litteratur« u. arbeitete an der Zeitschrift 1994) sind z.T. bissige Anmerkungen zum »Iris« mit; die Artikel E.s, der sich eingehend dt.-türk. Verhältnis nach der Wiedervereini- mit italienischer, span., antiker u. oriental. gung. Der Roman Kanaken-Gandhi (Bln. 1998) Literatur befasste, zeugen von vielseitiger ist eine komische Abrechnung mit dem dt. Bildung. 1834 veröffentlichte er Briefe über Ausländergesetz. E.s heimtürkische Geschichten Goethe’s Faust (Wien); es ist die erste selb(so der Untertitel) rund um die Familie »Don ständige Schrift zu diesem Werk u. zeigt E.s
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normatives, klassizist. Literaturverständnis. In der Tradition der Aufklärung stehen E.s zahlreiche diätet. Schriften, u. a. Eudoxia oder die Quellen der Seelenruhe (Wien 1824) u. Über die Freundschaft (Wien 1840). Der Übergang zu dichter. Arbeiten ist fließend; wie in den theoret. Schriften liegt in den Romanen, u. a. Don Tiburzio (Wien 1831), das Hauptgewicht auf einer gefälligen moral. Belehrung. Für E. erwies sich der Rollengegensatz von Mönch/ Schulmann u. Literat als unvereinbar; die soziale Desintegration ließ ihn den Tod in der Donau suchen. Weitere Werke: Die Blumen. Wien 1822 (Lehrg.). – Über den Umgang mit uns selbst. Wien 1829. – Dorats Tod. Wien 1933 (R.). – Studien über Lope de Vega Carpio. Wien 1839. Literatur: Gottfried Miesenböck: M. E.s Auffassung des Tragischen u. Friedrich Halm. Diss. Wien 1963. – Herbert Seidler: Österr. Vormärz u. Goethezeit. Wien 1982. Cornelia Fritsch / Red.
Enking, Ottomar, * 28.9.1867 Kiel, † 13.2. 1945 Dresden. – Romanautor.
Ens
gewieften Schwindlern betrogen oder gar ruiniert u. sind in der Enge u. Dumpfheit ihrer Existenz für E. ein Sinnbild der Unfreiheit des zwischen Tragik u. Komik sich bewegenden menschl. Daseins. Neben seinem erzähler. Werk schrieb E. eine Reihe von literaturgeschichtl. Arbeiten (u. a. über Friedrich Hebbel, Otto Ernst u. Timm Kröger) sowie Übersetzungen (Jens Peter Jacobsens Niels Lyhne). Nach dem Ersten Weltkrieg geriet er mehr u. mehr in Vergessenheit. Zuletzt war er Lehrer an der Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe in Dresden. Weitere Werke: Romane: Patriarch Mahnke. Dresden 1905. – Wie Truges seine Mutter suchte. Bln. 1908. – Das Kind. Dresden 1909. – Momms Lebensknecht. Bln. 1911. – Matthias Tedebus der Wandersmann. Bln. 1913. – Der Pfingstmarkt. Bremen 1924. Literatur: Dierk Gerhard Puls: O. E. Dichter u. Dichtung in Kiel. Kiel 1962. – Otto Hachtmann: O. E. Zu seinem 50. Geburtstag. Dresden 1917. – Ders.: O. E. In: Die schöne Lit. 25 (1924), S. 324–328 (mit Bibliogr.). Peter König / Red.
Der Sohn eines Rektors besuchte das Gymnasium in Kiel u. Flensburg. Nach dem AbEns, Caspar, auch: C. von Lorch, C. Casitur studierte E. zunächst Philologie u. Jura, parsen, * 1569 Lorch/Württemberg, dann Philosophie u. Geschichte. Doch schon † 1642 (oder später) Köln (?). – Verfasser nach wenigen Semestern verließ er die Univon Gebrauchsschriften u. Übersetzunversität u. wurde Schauspieler. Als er ergen. kannte, dass ihm das rechte Talent fürs Theater fehlte, wechselte er erneut das Tä- E. gehört zu den wenig erforschten Berufstigkeitsfeld u. wurde erst Mitarbeiter bei ei- schriftstellern des 17. Jh. Als Sohn eines proner Kieler Lokalzeitung, dann Redakteur bei testant. Pfarrers erhielt er ein Stipendium der verschiedenen Zeitungen in Köln, Wismar u. Stiftsschule Bebenhausen; er studierte in Dresden. Zgl. begann E., seine Erlebnisse u. Tübingen (immatrikuliert 23.9.1586), brach Erfahrungen als Journalist in norddt. Klein- jedoch 1591 seine Ausbildung ab. Nach unstädten nutzend, humorist. Erzählungen u. bekanntem Aufenthalt (Basel, Frankfurt?), Romane zu schreiben. Sein wachsender Er- vielleicht als Reisebegleiter von Adligen, folg ermöglichte es ihm, sich nach 1904 als wandte er sich nach Köln, wo er – nicht ohne freier Schriftsteller in Dresden zu etablieren. Schwierigkeiten mit den Behörden (vorüberBekannt wurde E. v. a. mit dem Roman gehende Ausweisung) – in Zusammenarbeit Familie P. C. Behm (Dresden 1902). Wie auch in mit den ortsansässigen Verlagen eine rege liseinen anderen Erzählungen u. Romanen terar. Aktivität entfaltete. Abgesehen von schildert er hier, mit demselben »unbarm- nlat. Dichtung widmete sich E. dem Geherzigen Blick für die Lebenslüge wie Ibsen« brauchsschrifttum (Reiseführer, viel gelesene (Hachtmann), das Leben von norddt. Klein- Sammlungen von Aphorismen, Apophthegstädtern in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Sie men, Naturwissenschaftliches, Konversatistehen unter dem Bann des Althergebrachten, onsliteratur). Basis seines Schaffens war die belauern sich auf Schritt u. Tritt, werden von Veröffentlichung von dt. u. lat. Messrelatio-
Entkrist Vasnacht
nen (Köln 1605–1642; mit Unterbrechungen). Daraus stellte er in Fortsetzungen erscheinende Berichtsbände über aktuelle histor. Ereignisse zusammen (u. a. Annales [...] de bello Gallo-Belgico. Köln 1606–24). Beachtenswert sind seine Übersetzungen: eine dt. Fassung von Lodovico Guicciardinis L’Hore di recreatione (Köln 1622), lat. Übertragungen von Werken Antonio de Guevaras (Epistolae. Köln 1616) u. des span. Schelmenromans (Vite humanae Proscenium [...] sub persona Gusmani Alfaracii. Köln 1623/24. Danzig 1652; hier auch eine gekürzte lat. Version des Lazarillo de Tormes). In seine Epidorpidum libri (Köln 1612–48. Mehrere, jeweils erw. Ausg.n) fügte E. auch eine lat. Übersetzung der cervantinischen Novelle El Licenciado Vidriera ein. Ausgaben: Textausw. in: CAMENA. Literatur: Bibliografie: British Library Central Catalogue. Bd. 101, London 1981, S. 187 f. (unvollst.). – Weitere Titel: Felix Stieve: Über die ältesten [...] Ztg.en oder Messrelationen. Mchn. 1881. – James Fitzmaurice-Kelly: Phantasio-Cratuminos sive Homo vitreus. In: Revue Hispanique 4 (1897), S. 44–70. – Dietrich Briesemeister: ›Hablar en buen romance‹ [...]. Die erste nlat. Übers. des ›Lazarillo de Tormes‹. In: Umgangssprache in der Iberoromania. Hg. Günter Holtus u. Edgar Radtke. Tüb. 1984, S. 331–342. – Walther Ludwig: Zwei span. Romane, lat. bearb. v. einem Deutschen [...]: das Vitae humanae proscenium v. C. E. (1652) – eine Mennipeische Satire. In: Nlat. Jb. 8 (2006), S. 129–176. Wilhelm Kühlmann
Des Entkrist Vasnacht, 15. Jh. – Spätmittelalterliches Fastnachtsspiel. D. E. V. (518 Verse) enthält Elemente der im späten MA beliebten, auch in zahlreichen volkssprachl. Werken bearbeiteten Antichrist-Legende, die durch aktuelle polit. Anspielungen erweitert u. zu einem Fastnachtsspiel umgestaltet ist. Der Verfasser des nur in einer Münchener Handschrift überlieferten Stückes ist unbekannt. Aus den polit. Anspielungen kann geschlossen werden, dass die Vorlage zu D. E. V., bei der es sich vielleicht um ein geistliches Spiel handelte, während der Regierungszeit Kaiser Karls IV. (1346–1378) entstanden ist. Einen Anhaltspunkt dafür bietet die Angabe, dass der Vater des vom Antichristen verführten
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Kaisers, wie der Vater Karls IV., König von Böhmen gewesen sei. Der Bischof des Spieles, Gugelweyt, kann mit Dietrich von Kugelweit, Bischof von Sarepta u. Finanzminister Karls IV., identifiziert werden. Das ursprüngl. Spiel ist in der Schweiz, vermutlich in Zürich, entstanden. Im 15. Jh. wurde diese Vorlage im ostfränk. Raume, wohl in Nürnberg, durch eher äußerl. Veränderungen zu dem Fastnachtsspiel D. E. V. umgearbeitet: So tritt am Schluss ein Ausschreier auf, der sich beim Wirt für den »schimpf« entschuldigt. Auch die Figur des »Froß«, des Vielfraßes, soll dem Stück den Charakter eines Fastnachtsspieles verleihen. Das Auftreten der beiden Figuren steht jedoch in keinem Zusammenhang mit dem Inhalt des Spieles. Wie viele Bearbeitungen der Antichrist-Legende beginnt das Spiel mit dem Hinweis darauf, dass der »Entkrist« (Antichrist) schon in dieser Welt sei. Elias u. Enoch, die der Legende zufolge zur Erde zurückkehren werden, um die Menschen vor dem Antichristen zu warnen, werden angekündigt. Während sich beide Propheten dem betrügerischen »Entkristen« entgegenstellen u. zum Festhalten am christl. Glauben auffordern, betonen zunächst ein Bote u. dann der »Entkrist« selbst, dass er der wahre Gott sei, dem Anbetung u. Dienst gebührten. Elias u. Enoch werden von Schergen des »Entkrist« getötet. Diesem gelingt es, die Juden an ihn glauben zu lassen: Sie verehren ihn als ihren Messias. Danach versucht er, den Kaiser für sich zu gewinnen, der nach Absprache mit seinen Räten zur Bedingung macht, dass der »Entkrist« dem Kaiser ein Gespräch mit seinem toten Vater ermögliche u. große Mengen an Gold u. Silber herbeischaffe. Als er die Wünsche erfüllt, erkennt ihn der Kaiser als wahren Gott an. Auch Lahme u. Blinde gewinnt der »Entkrist« für sich, indem er sie heilt. Bischof Gugelweyt, dem er zunächst das Bistum Luzern sowie Gold u. Silber verspricht, zieht er auf seine Seite, indem er überdies die Auflösung des Ehelosigkeitsgelübdes für Geistliche gewährt, den Abt Gödlein Waltschlawch durch das Versprechen reichl. Essens u. Trinkens. Einen Pilger kann der »Entkrist« für sich gewinnen, indem er ihn zuerst töten lässt u. dann auferweckt. An
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dieser Stelle treten plötzlich die aus dem Fastnachtsspiel bekannten Figuren »Froß« u. Ausschreier auf u. führen ein unvermitteltes Ende des Spieles herbei. D. E. V. berichtet, traditionellen Motiven der Antichrist-Legende folgend, über die Methoden, mit denen der »Entkrist« Anhänger für sich gewinnt: über Wunder, Schätze u. Drohungen. Weitere sonst beschriebene Stationen aus dem Lebensweg des Antichristen, wie Geburt u. Tod, werden nicht erwähnt. Ausgaben: Adelbert v. Keller (Hg.): Fastnachtspiele aus dem 15. Jh. Bd. 2, Stgt. 1853. Neudr. Darmst. 1965, Nr. 68. – Friederike Christ-Kutter (Hg.): Frühe Schweizerspiele. Bern 1963, S. 41–61. Literatur: Victor Michels: Studien u. Forsch.en über die ältesten dt. Fastnachtsspiele. Straßb. 1896. – Karl Reuschel: Die dt. Weltgerichtsspiele des MA u. der Reformationszeit. Lpz. 1906, S. 41–50. – Friederike Christ-Kutter 1963 (s. o.), S. 30–40. – Dies. in: VL (auch: Nachträge u. Korrekturen). – VL Bd. 11, Sp. 413 f. – K. Aichele: Das Antichristdrama des MA, der Reformation u. Gegenreformation. Den Haag 1974, bes. S. 40–42. – D. Brett-Evans: Von Hrosvit bis Folz u. Gengenbach II, 1975, S. 40–42. – Johannes Janota: Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 3/1: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit, Tüb. 2004, S. 375–377. Elisabeth Wunderle
Enzensberger, Christian, * 24.12.1931 Nürnberg. – Anglist, Essayist, Übersetzer u. Romanautor. Der Bruder von Hans Magnus Enzensberger machte sich erst mit Übersetzungen der Gedichte von Giorgos Seferis (Ffm. 1962), George D. Painters Proust-Biografie (Ffm. 1962) u. Lewis Carrolls Alice im Wunderland (Ffm. 1963. 2001. 2006. Überarb. Neuausg. Zürich 2007) einen Namen, ehe er mit Größerer Versuch über den Schmutz (Mchn. 1968. Ffm./Bln./ Wien 1980) einen viel beachteten Essay vorlegte. Den dafür 1969 verliehenen Bremer Literaturpreis lehnte E. aus Unbehagen am bürgerl. Kulturbetrieb ab. Mit dem formal schwer einzuordnenden Text, der mit den Elementen von Traktat, Essay, Lyrik u. Roman spielt, ging E. gegen die »irrsinnig große Hygiene« der Gesellschaft an.
Enzensberger
Auf den Erfahrungen der Krise der Literatur in den späten 1960er Jahren u. dem grundsätzl. Zweifel an der gesellschaftl. Funktion von Kunst (z.B. Hans Magnus Enzensberger in: »Kursbuch« 15) bauen E.s literaturtheoret. Vorstellungen auf. In Literatur und Interesse. Eine politische Ästhetik mit zwei Beispielen aus der englischen Literatur (2 Bde., Mchn. 1977. 2., erw. Fassung Ffm. 1981) weist er der Literatur nach, sie übernehme angesichts des gesellschaftl. Sinndefizits eine kompensatorische, nicht eine krit. Funktion. Literatur sei interessegeleitet u. legitimiere die bestehenden Verhältnisse. E. widerspricht der idealistisch orientierten Kunsttheorie ebenso wie den Vertretern der Kritischen Theorie u. fordert die Literaturwissenschaft auf, ein Verfahren zu entwickeln, das die Entstehung des Kunstschönen aus den gesellschaftl. Verhältnissen seiner Entstehungszeit erklärt. Folgerichtig stellt E. in seinem ersten Roman Was ist was (Nördlingen 1987) die Historizität des Menschen in den Mittelpunkt. In vielfacher Verzahnung führen ein geschichtsbetrachtendes Wir u. ein Ich mit autobiogr. Zügen die »große« u. die »kleine« Geschichte vor. Das kollektive Erzählsubjekt spannt in der Geschichte der Menschwerdung den Bogen vom durch das weibl. Prinzip beherrschten Jäger- u. Sammlerdasein bis zur Gegenwart. Das individuelle Erzählsubjekt berichtet parallel die Lebens- u. Bildungsgeschichte des Knaben Istian von der Zeugung bis zum Professorenamt. Weitere Werke: Viktorian. Lyrik. Tennyson u. Swinburne in der Gesch. der Entfremdung. Mchn. 1969. – Materialist. Reduktion v. Lit. In: Neue Ansichten einer künftigen Germanistik. Hg. Jürgen Kolbe. Mchn. 1973. – Die Grenzen der literar. Utopie. In: Akzente, Jg. 28, H. 1 (1981). – Übersetzungen: Werke v. Lewis Carroll, Edward Bond, Donald Barthelme. Literatur: Peter Uwe Hohendahl: Lit. u. Interesse. Eine polit. Ästhetik v. C. E. In: Basis. Jb. für dt. Gegenwartslit. Bd. 10. Hg. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. Ffm. 1980. – Jutta Ressel: C. E. In: LGL. Bernhard Iglhaut / Red.
Enzensberger
Enzensberger, Hans Magnus, auch: Andreas Thalmayr, Linda Quilt, Elisabeth Ambras, Serenus M. Brezengang, * 11.11. 1929 Kaufbeuren/Allgäu. – Lyriker, Essayist, Herausgeber, Übersetzer. Nach der Kindheit in Nürnberg u. dem Besuch der Oberschule in Nördlingen studierte E. 1949–1954 Literaturwissenschaft, Sprachen u. Philosophie in Erlangen, Hamburg, Freiburg i. Br., Paris u. promovierte 1955 mit einer Untersuchung zu Brentanos Poetik (Mchn. 1961). Er arbeitete zunächst als Rundfunkredakteur in Stuttgart (bei Alfred Andersch) u. Gastdozent in Ulm (Hochschule für Gestaltung), dann als freier Schriftsteller in Norwegen (Stranda, 1957–1959; Tjöme, 1961) u. Italien (Lanuvio bei Rom, 1959–1960). Nach kurzer Tätigkeit als Lektor bei Suhrkamp in Frankfurt/M. (1960/61) u. einer Gastdozentur für Poetik an der Frankfurter Universität (1964/65) zog E. nach Berlin, wo er 1965 die Zeitschrift »Kursbuch« u. 1970 den Kursbuch Verlag gründete. Frühere Reisen hatten ihn bereits nach USA, Mexiko, in die Sowjetunion u. nach Südamerika geführt, jetzt besuchte er Südeuropa u. den Fernen Osten, hielt sich auch längere Zeit auf Kuba (1968/69) u. in New York (1974/75) auf. 1979 zog E. nach München, wo er seither lebt. 1980 gründete er eine zweite Zeitschrift, »TransAtlantik«, an der er bis 1982 mitwirkte. 1985 rief E. die »Andere Bibliothek« ins Leben: eine Buchreihe, die in bibliophil aufgemachten Bänden bemerkenswerte Texte gegenwärtig schreibender Autoren wie vergangener Zeiten bietet (bis 1989 bei Greno, seit 1990 bei Eichborn). Wie andere namhafte Autoren seiner Generation war E. Mitgl. der Gruppe 47; seit 2000 ist er Mitgl. des Ordens »Pour le Mérite«. E. erhielt u. a. den BüchnerPreis (1963), den Heinrich-Böll-Preis (1985), den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1987), den Ernst-RobertCurtius-Preis (1997), den Heinrich-HeinePreis (1998), den Ludwig-Börne-Preis u. den Prinz-von-Asturien-Preis (beide 2002). In eigenwilliger Nachfolge Heines u. Brechts war E. seit den 1960er Jahren ein Garant für techn. Brillanz u. krit. Engagement. Sein vielfältiges Schaffen gliedert sich
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in vier – allerdings nicht scharf zu trennende – Abschnitte: die elegante, zornige Lyrik der 1950er u. frühen 1960er Jahre, begleitet sowohl von poetologischen wie medienanalyt. Essays; die linksradikale Publizistik des folgenden Jahrzehnts, samt der didakt. Wendung zur Dokumentarliteratur; die über Geschichte u. Zeitgeschehen kritisch reflektierenden Gedichtzyklen, Essays u. Reportagen seit Mitte der 1970er Jahre; die Essays u. Gedichte seit den späten 1980er Jahren, in denen die krit. Auseinandersetzung mit der Gegenwart zwar fortgesetzt, aber ironisch gemildert wird. Die ersten gesellschafts- u. medienkrit. Essays verfasste E. als Radioredakteur u. Mitarbeiter von Zeitungen u. Zeitschriften. Polemisch u. konstruktiv fragt er nach den Möglichkeiten politischer Aufklärung, der Funktion des Intellektuellen im Netz der Bewußtseins-Industrie (programmatischer Aufsatz aus dem Band Einzelheiten. Ffm. 1962). Als er 1957 mit seinem ersten Gedichtband (verteidigung der wölfe. Ffm.) die literar. Szene betrat, wurde er als »zorniger junger Mann« gefeiert u. verpönt. Seine hellhörige, böse Lyrik entfachte sich am Phlegma der Zeitgenossen u. den Manipulationen der Mächtigen. Die schillernde Metaphorik erinnert an Benn, die dialekt. Struktur u. Argumentation an Brecht. Die Verbindung von formalen Manierismen u. radikaler Kritik hingegen ist eine Schöpfung E.s. Mit diesem u. den zwei folgenden Bänden (landessprache. Ffm. 1960. blindenschrift. Ffm. 1964) war sein Ruf als hervorragender Lyriker einer neuen, politisch aktiven Generation gesichert. In einem seiner wichtigsten Aufsätze aus dieser Zeit untersuchte er, in Anlehnung an Adorno, das Verhältnis von Poesie und Politik (1962), das aus der dialektischen Spannung zwischen massivem Bemächtigungsstreben einerseits u. machtfreiem immanent-krit. Widerstand andererseits besteht. E. machte sich sowohl als Übersetzer (Cesar Vallejo, William Carlos Williams, Franco Fortini, Lars Gustafsson u. a.) wie als Herausgeber einen Namen (u. a. Museum der modernen Poesie. Ffm. 1960. Allerleirauh. Viele schöne Kinderreime. Ffm. 1961). Beide Tätigkeiten bleiben integraler Bestandteil seines Werks.
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Von der Mitte der 1960er Jahre an, mit Gründung der polit. Zeitschrift »Kursbuch« u. dem Umzug nach Berlin, traten Poetologie u. Poesie zugunsten einer politisch engagierten Publizistik in den Hintergrund. E. verneint nun den gesellschaftl. Nutzen der Literatur. Wie schon in der 1964 erschienenen Essaysammlung Politik und Verbrechen (Ffm.) analysiert er den Legalitätsanspruch der organisierten Macht angesichts ihrer menschenfeindl. Ziele. Seine Untersuchungen legen die Mechanismen der kapitalist. Medien, der repressiven Gesellschaftsstrukturen u. der fortschreitenden »Ausplünderung der armen Welt« bloß. Im Brennpunkt seiner Kritik steht ein ökonomisch bedingter Imperialismus, den er v. a. den in den Vietnamkrieg verwickelten USA zur Last legt. 1968 brach E. sein Forschungsstipendium in Connecticut ab, um im post-revolutionären Kuba direkten Einblick in die Anliegen der Dritten Welt zu gewinnen. Resultat dieses Aufenthalts ist E.s Wendung zur Dokumentarliteratur, z.B. in dem Stück Das Verhör von Habana (Ffm. 1970) u. den im selben Jahr von E. herausgegebenen Verteidigungsreden Freisprüche. Revolutionäre vor Gericht (Ffm.). Er setzte sein didakt. Engagement fort in »politischen Lesebüchern«, die sich v. a. an Biografien orientieren, z.B. in den von ihm herausgegebenen Gesprächen mit Marx und Engels (Ffm. 1973) oder dem aus Zitaten montierten Tatsachenroman vom Leben u. Tod des span. Freiheitskämpfers Durruti, Der kurze Sommer der Anarchie (verfilmt 1971 WDR. Ffm. 1972). Es geht ihm hier, wie bei der Bearbeitung von unbekannten Autobiografien, um Fragen, die durch die Geschichte nicht beantwortet worden sind, um die Dialektik von Fiktion u. Dokument. Mit dem Gedichtzyklus Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts (Ffm. 1975) setzte E. sein histor. Interesse in die ihm eigene Form der lyr. Reportage um. Er stellt sie als kulturelles, wiss. u. polit. Werkzeug der Neuzeit dar, begleitet von einer untergründigen Kritik am Vergessen. In der poetisch-poetolog. »Komödie« vom Untergang der Titanic (Ffm. 1978), die E. als sein Hauptwerk betrachtet, wird der Fortschritt zur apokalypt. Vision, aufgehoben
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in einer Polyfonie der Stimmen, in der auch die selbstkrit. Stimme des lyr. Ich nicht fehlt – ermattet vom linksintellektuellen Kampf. 1980 schloss sich eine dritte düstere Meditation über das Thema Fortschritt an, der Gedichtband Die Furie des Verschwindens (Ffm.). Syntax u. Metaphorik, bisher komplex, nähern sich jetzt der Alltagssprache. In seinen gleichzeitig erschienenen Essays zeigte sich E. weniger an der Geschichte als am bundesrepublikan. Tagesgeschehen interessiert (Politische Brosamen. Ffm. 1982); der Ton wird leichter u. verbindlicher, so auch in dem auf der Bühne wenig erfolgreichen, aufklärerischen Stück Der Menschenfreund (Ffm. 1984). »Gebärden souveränen Resignierens«, »Stoßseufzer ostentative(r) Illusionslosigkeit einer gewissen, ehemals jugendbewegten, bundesrepublikanisch kritischen Intelligenz« werden der Reportagensammlung Ach, Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern (Ffm. 1987) angelastet (Merkur 12, 1987, S. 1077). Vom Verzicht auf Utopie sind auch die u. d. T. Mittelmaß und Wahn (Ffm. 1988) erschienenen Gesammelten Zerstreuungen geprägt: E. geht darin von einer diffusen, dezentralisierten Gesellschaft aus, deren »Indifferenz u. Integrationsfähigkeit« er ausdrücklich lobt: Die Deutungen linker wie rechter Gesellschaftskritik »haben sich nicht nur als unwichtig erwiesen, sie waren falsch« (a. a. O., S. 251 f.). E.s Einstellung gegenüber der bundesrepublikan. Gesellschaft wird Ende der 1980er Jahre pragmatisch u. versöhnlich. In den 1990er Jahren publizierte E. zahlreiche Essays, die sich mit aktuellen Problemen der internat. Politik (Irak, Balkan, Afrika) wie mit längerfristigen soziokulturellen Entwicklungstendenzen befassen (gesammelt in: Zickzack. Ffm. 1997). Die meisten von ihnen erschienen zunächst in Wochen- oder Tageszeitungen, lösten z.T. heftige Kontroversen aus u. bestätigten E.s Rang als eines tonangebenden, aber auch unberechenbaren Intellektuellen. Daneben gelangen ihm mit der »Hasengeschichte« Esterhazy (Ffm. 1993, zus. mit Irene Dische) u. mit dem »Mathematikbuch« Der Zahlenteufel (Mchn. 1997) beachtl. Erfolge als Kinder- u. Jugendbuchautor.
Epistolae obscurorum virorum Weitere Werke: Dtschld., Dtschld. unter anderem. Äußerungen zur Politik. Ffm. 1967 (Aufs.). – Gedichte 1955–70. Ffm. 1971 (L.). – Palaver. Polit. Überlegungen. 1967–73. Ffm. 1974 (Aufs.). – Die Gedichte. Ffm. 1983 (L.). – Gedichte 1950–85. Ffm. 1986 (L.). – Requiem für eine romant. Frau. Die Gesch. v. Auguste Bussmann u. Clemens Brentano. Bln. 1988. – Das Wasserzeichen der Poesie. Nördlingen 1985. –Hammerstein oder der Eigensinn. Eine dt. Gesch. Ffm. 2008 (Biogr.). Literatur: Joachim Schickel (Hg.): Über H. M. E. Ffm. 1970. – Text + Kritik 49 (1976). – Henning Falkenstein: H. M. E. Bln. 1977. – Anita Krätzer: Studien zum Amerikabild in der neueren dt. Lit.: Max Frisch, Uwe Johnson, H. M. E. u. das ›Kursbuch‹. Diss. Bern 1982. – Reinhold Grimm (Hg.): H. M. E. Ffm. 1984. – Ders.: Texturen. Essays u. a. zu H. M. E. Bern 1984. – Frank Dietschreit u. Barbara Heinze-Dietschreit: H. M. E. Stgt. 1986. – Kristin Schmidt: Poesie als Mausoleum der Gesch. Zur Aufhebung der Gesch. in der Lyrik H. M. E.s. Ffm. 1990. – Un Nam: Normalismus u. Postmoderne. Diskursanalyse der Gesellschafts- u. Geschichtsauffassung in den Gedichten H. M. E.s. Ffm. 1995. – Martin Fritsche: H. M. E.s produktionsorientierte Moral. Konstanten in der Ästhetik eines Widersachers der Gleichheit. Bern 1997. – Hermann Korte: H. M. E. In: KLG. – Jörg Lau: H. M. E.: Ein öffentl. Leben. Bln. 1999. – Byung-Hee Rim: H. M. E.: Ein Paradigma der dt. Lyrik seit Mitte der 1950er Jahre. Ffm. 2000. – Christoph Bartmann: H. M. E. In: LGL. – R. Grimm: Fremd- u. / oder Selbstübersetzung. Zu E.s lyr. Werk. In: Text & Kontext 27 (2005), S. 7–67. – Alasdair King: H. M. E.: Writing, media, democracy. Bern 2007. Karla Lydia Schultz / Red.
Epistolae obscurorum virorum, 1515 in Druck erschienen. – Humanistensatire. Die E. gelten als Höhepunkt der Humanistensatire. Sie prägen bis heute die Deutung ihres unmittelbaren Anlasses, des ReuchlinPfefferkorn’schen Streits, als eines der Reformation vorausliegenden Kampfs der Humanisten gegen Scholastik u. Pfaffenkirche: eine literar. Fiktion, denn die im »Judenbücherstreit« aufbrechenden Fronten lassen sich nicht auf diesen Gegensatz reduzieren. Der vom Judentum zum Christentum konvertierte Johann Pfefferkorn forderte seit 1507 die Einziehung des religiösen Schrifttums der Juden, da es, voller Lügen über das Christentum, deren Bekehrung hindere. 1509
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erlangte Pfefferkorn von Kaiser Maximilian I. das Mandat zur Konfiskation; wegen rechtlicher Einwände wurde es jedoch bald mit der Auflage wieder ausgesetzt, zunächst gelehrte Gutachten über die jüd. Literatur einzuholen. Johannes Reuchlin, der berühmteste dt. Hebraist, votierte gegen die Konfiskation. Sein Urteil entsprang seiner neuplatonisch beeinflussten theolog. Hochschätzung der hebräischen Sprache u. der Kabbala. Reuchlin sah in ihr die Quelle für eine geistige Überwindung des Judentums auf der Grundlage seiner eigenen religiösen Überlieferungen; Bekehrung durch Zwang lehnte er ab. Reuchlins Votum, das Pfefferkorn auch persönlich angriff, löste einen Streit aus, der in ganz Europa bes. unter den Humanisten Beachtung fand u. in dessen Verlauf von Autoren beider Seiten über 40 Schriften publiziert wurden. Es begann mit der Veröffentlichung von Reuchlins zunächst geheimem Gutachten, veranlasst durch Pfefferkorns Handspiegel (1511), in seinem Augenspiegel (1511). Die Schrift wurde, wie auch Reuchlins Defensio contra calumniatores Colonienses (1512), der Heterodoxie verdächtigt, von den Kölner Dominikanern konfisziert wie auch von der Universität Paris verurteilt. Darauf eröffnete der Dominikaner Jacobus Hoogstraeten als Inquisitor gegen den Augenspiegel den Ketzerprozess. Die Verhandlung wurde nach Rom gezogen, wo nach einem ersten, für Reuchlin günstigen Votum (im Juli 1516) die endgültige Entscheidung erst am 23.06.1520 unter dem Eindruck der »Causa Lutheri« gegen Reuchlin fiel. Reuchlin selbst hatte 1512 in seiner Defensio der wahren Theologie die durch Logik u. Dialektik verdorbene falsche »Theologisterei« gegenübergestellt u. publizierte 1514 eine Sammlung an ihn gerichteter Gelehrtenbriefe in den drei klass. Bibelsprachen Latein, Griechisch u. Hebräisch (Clarorum virorum epistolae), um die Solidarität der Humanisten mit dem berühmten »homo trilinguus« zu demonstrieren. Die E., von Reuchlins Clarorum virorum epistolae angeregt, erschienen im Herbst 1515 anonym bei Heinrich Gran in Hagenau. Ihr Ruhm verbreitete sich schnell. Nach einem unveränderten Nachdruck war im Herbst
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1516 eine um einen Anhang von sieben Briefen erweiterte Ausgabe in Umlauf, u. im Frühjahr 1517 erschien ebenfalls anonym ein zweiter Teil in Speyer (davon eine 2. Aufl. 1517 in Bern, recte: Straßb.). Die Verfasserschaft blieb verborgen, bis 1532 der Lutheraner Justus Menius auf Luthers Veranlassung den einstigen Erfurter Lehrer Crotus Rubeanus († 1545), der inzwischen zur kath. Kirche zurückgekehrt war, in einer anonymen Responsio offen als Autor bezeichnete. Heute gilt im allg. Crotus als Urheber von Idee u. Hauptteil der ersten Ausgabe des 1. Teils von 1515, Ulrich von Hutten hingegen als Autor des Anhangs zur zweiten Ausgabe von Teil 1 u. der meisten Briefe des 2. Teils von 1516/17. Huttens Mitarbeit schon an Teil 1 ist umstritten; gute Gründe sprechen dafür, Hutten, der sich zu dieser Zeit als Student in Bologna aufhielt, den Brief I, 1, die glänzende Schilderung eines aristotelischen Magisterschmauses, zuzuschreiben. Als weitere Beiträger kommen v. a. Hermann von dem Busche (I, 19 u. 36; auch I, 12 u. 39?) u. vielleicht der Freund Jakob Fuchs, wie Hutten ein Studienfreund bzw. Schüler des älteren Crotus aus Erfurter Jahren vor 1505. Der fiktiven Konstruktion gemäß sind die 41 Briefe der ersten Ausgabe zumeist von ehemaligen Schülern aus ganz Deutschland an den »Magister Ortvinus Gratius, der in Köln die bona littera lehrt«, gerichtet. Den Dominikaner Gratius gab es wirklich (eigentl. Ortwin van Graes aus Westfalen), er lehrte seit 1506 an den Kölner Artistenfakultät u. hatte Übersetzungen u. Ausgaben Pfefferkorn’scher Schriften besorgt. Die an ihn gerichteten fiktiven Briefe sind Zerrbilder der in einer humanistischen »sodalitas« gepflegten Freundschaftskorrespondenz. Die Verfasser tauschen Grüße, Schmeicheleien u. Gedichte aus u. erkundigen sich – ein Leitmotiv – nach dem Stand des Streits mit dem verdächtigen Reuchlin. Die 62 Briefe des zweiten Teils setzen neue Akzente. Der Reuchlin-Streit wird in einigen Briefen zum Hauptthema. Die Darstellung nähert sich aktueller Berichterstattung; viele Briefe kommen direkt aus der röm. Kurie. Die »obscuri« schildern ihre Auseinandersetzungen mit den – namentlich genannten –
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Reuchlinisten, deren Programm so zur Darstellung gelangt. Hutten gelingt hier ein frühes Beispiel der sog. mimetischen Satire, derer sich Erasmus (im Lob der Torheit, 1511) ebenso wie Karl Kraus im 20. Jh. bedient hat: Die von sich eingenommenen »obscuri« geben selbst die Erfolge der Reuchlinpartei – u. damit ihre eigene Niederlage – zu Protokoll. Hinzu tritt im 2. Teil immer wieder engagierte konfessionelle Propaganda, u. so bezeichnet dieser Teil eine Etappe in der Entwicklung der Humanisten- zur wenig später auftretenden Reformationssatire. Hauptmittel der mimet. Satire ist in beiden Teilen die Selbstdarstellung des »vir obscurus« in der eigenen Rede (Hutten: »barbare ridentur barbari«). Angesprochen werden darin Lebens-, Denk- u. Sprachgewohnheiten. In unzähligen Germanismen, falscher Verwendung von Konjunktionen u. Präpositionen u. umständl. Neologismen, ganz nach dem Fehlerregister des Lehrbuchs der Rhetorik, parodiert ihre Sprache das mittelalterl. Kirchen- u. Schullatein. Die E. als ein Text der »Anti-Rhetorik«, des polemisch-satir. Negativs der Stilprinzipien der humanist. Rhetorik, wurde zum Gegenstand erst der neueren Forschung (vgl. Kivistö 2002). Das theolog. Interesse gilt, wo nicht absurden Scheinproblemen, der Metaphysik u. dem Schulenstreit: Die scholast. Theologie erscheint als leerlaufende philosoph. Methodik. Mittelalterlichen (Binnenreim) u. volkssprachl. Vorbildern (Knittelvers) verhaftet ist die holprige u. triviale religiöse Poesie der Dunkelmänner. Deren wissenschaftlicher u. religiös-moral. Ehrgeiz wird durch ihre übrigen Interessen zusätzlich desavouiert (Liebesabenteuer, Gelage, Raufhändel, akadem. Titelsucht). Die Berichte von ihrem Treiben nehmen mehrfach die Gestalt burlesker (Fäkal-)Schwänke an, die die Protagonisten als bäurische, lasterhafte, aber auch dumme Menschen darstellen, die ihr laxes Gewissen mit der Beichte beruhigen. Die »obscuri« verkörpern den unhumanist. Gelehrten sowohl der Artisten- wie der Theologenfakultät, dessen Feinde u. Konkurrenten die »weltlichen Poeten« sind, aber insbes. auch den (Ordens-)Kleriker, den Mönch, in seiner Unbildung, Amoralität u. Gewinnsucht. In
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Teil 2 kommt deren Gegensatz zu den »Neotheologen« (II, 20) u. deren Haupt Erasmus deutlich zum Ausdruck. Das erasmische Ideal der »via Christi« (II, 43), einer interiorisierten, am philologisch-rationalen Bibel- u. Sprachenstudium orientierten Frömmigkeit, ist die Folie für die satir. Destruktion der veräußerlichten kirchl. Zustände (Ablasshandel, Reliquienkult, Beichtkasuistik). Besondere Kritik erfährt die von den Theologen usurpierte Inspirationslehre, die gelehrtes Wissen überflüssig erscheinen lässt u. zudem dem Nichtgeistlichen ein theolog. Urteil grundsätzlich verwehrt. Hier meldet sich das neue Selbstbewusstsein des gelehrten Laien zu Wort. Die E. stehen in vielfältiger Beziehung zur satir. Literatur des 15. u. 16. Jh. Sie schöpfen aus Narrenliteratur u. Mönchssatire (Brant, Erasmus). Wichtige Anregungen gingen auch, bes. für die »Barbarolexis«, die absichtlich rohe Sprachmischung, von der Universitätssatire der »Quaestiones quodlibetae« aus, in denen der universitäre Betrieb durch die Disputation von Scherzfragen karikiert wurde (z.B. Johannes Hartlieb: De fide meretricum. Heidelb. 1499. De generibus ebriosorum et de ebrietate vitanda. Erfurt 1515). Vorläufer sind auch die satir. Schülergespräche des Paulus Niavis. Die E. greifen daneben auf die Schwank- u. Fazetienliteratur zurück (Poggio, Bebel). Den Typ des »obscurus« fanden die Verfasser also in Einzelzügen vor, die sie bündelten. Eine besondere Leistung des Texts liegt wohl in der konsequenten Nutzung der Briefform zur humanist. Satire auf das Barbarentum, die in der Tradition, etwa bei Hartlieb, nur angedeutet ist. Nicht nur die weitere Humanistensatire, sondern v. a. die bald darauf losbrechende Reformationspolemik griff auf die E. zurück. Die spätere Rezeption spiegelt allerdings eher bildungsbewusstes Vergnügen über das schlechte Latein vergangener Zeiten. Die satir. Potenzen wurden jedoch im 19. Jh. im Zuge des Kampfs gegen den kath. Ultramontanismus neu entdeckt (vgl. Epistolae obscurorum recentes. 1839).
292 Ausgaben: Ulrichi Hutteni equitis Operum supplementum. E. cum inlustrantibus adversariisque scriptis. Hg. Eduard Böcking. 2 Bde., Lpz. 1864–70. Nachdr. Osnabrück 1966 (mit Bibliogr.). – Briefe v. Dunkelmännern (E.). Zum erstenmal ins Dt. übers. v. Wilhelm Binder. Stgt. 1876. Gera 1898 u. 1904. – Francis Griffin Stokes: E. The latin text with an english rendering; notes and an historical introduction. London 1909. – Aloys Bömer: E. 2 Bde. in einem Bd., Heidelb. 1924. Nachdr. Aalen 1978. – Briefe v. Dunkelmännern an Magister Ortvinus Gratius aus Deventer, Prof. der schönen Künste zu Cöln. Aus d. Küchenlateinischen übertragen durch Jodocum Plaßmann. Lpz. 1941. – Peter Amelung: Briefe der Dunkelmänner. Rev. Ausg. der Übers. Binders. Mchn. 1964. – Dunkelmänner-Briefe an Magister Ortuin Gratius aus Deventer. Hg. Karl Riha. Ffm. 1991. Literatur: Walter Brecht: Die Verf. der E. Diss. Straßb. 1903. Druck 1904. – Aloys Bömer: Ist Ulrich v. Hutten am 1. Tl. der E. nicht beteiligt gewesen? In: Aufsätze Fritz Milkau gewidmet. Lpz. 1921, S. 10–18. – Paul Lehmann: Die Parodie im MA. Mchn. 1922. – Karl-Heinz Gerschmann: ›Antiqui – Novi – Moderni‹ in den E. In: Archiv für Begriffsgesch. 2 (1967), S. 23–36. – Günter Hess: Dt.-lat. Narrenzunft. Mchn. 1971, bes. S. 175–220. – H. J. Overfield: A New Look at the Reuchlin Affair. In: Studies in Medieval and Renaissance History 8 (1971), S. 167–207. – Peter Schäffer: Letters of Obscure Men. In: The Renaissance and Reformation in Germany. An Introduction. Hg. Gerhart Hoffmeister. New York 1977, S. 129–140. – Jacques Chomarat: Les hommes obscurs et la poésie. In: L’humanisme allemand (1480–1540). Mchn. 1979, S. 261 ff. – Heiko A. Obermann: Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst u. Judenplage im Zeitalter v. Humanismus u. Reformation. Bln. 1981. – Reinhard Paul Becker: A War of Fools. The Letters of Obscure Men. Bern u. a. 1981. – Bengt Löfstedt: Zur Sprache der E. In: Mlat. Jb. 18 (1983), S. 271–289. – H. J. Overfield: The Reuchlin Affair. In: Ders.: Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany. New Jersey 1984, S. 247–297. – Winfried Frey: Die E. – ein antijüd. Pamphlet? In: Archiv Bibliographia Judaica 1 (1985), S. 145–72. – U. Horst: Jacobus Hoogstraeten O.P. (ca. 1460–1527). In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Hg. Erwin Iserloh. Bd. 4, Münster 1987, S. 7–14. – Winfried Trusen: Johann Reuchlin u. die Fakultäten. In: Der Humanismus u. die oberen Fakultäten. Mitt. der Kommission für Humanismusforsch. 14. Hg. Gundolf Keil u. a. Weinheim 1987, S. 115–157. – Winfried Frey: Multum teneo de tali libro. Die E. In: Ulrich v. Hutten. Ritter,
Eppendorff
293 Humanist, Publizist 1488–1523. Kat. d. Ausstellung Schlüchtern, bearb. v. Peter Laub. Kassel 1988, S. 197–210. – Reinhard Hahn: Huttens Anteil an den E. In: Pirckheimer-Jb. 4 (1988), S. 79–111. – Erich Meuthen: Die E. In: Ecclesia militans. FS Remigius Bäumer. Bd. 2, Paderb. u. a. 1988, S. 53–80. – Hans-Martin Kirn: Das Bild vom Juden im Dtschld. des frühen 16. Jh., dargestellt an den Schr.en Johannes Pfefferkorns. Tüb. 1989. – Günther Mensching: Die Kölner Spätscholastik in der Satire der E. In: Die Kölner Universität im MA. Geistige Wurzeln u. soziale Wirklichkeit. Hg. A. Zimmermann. Bln. 1989, S. 508–523. – Barbara Könneker: Satire im 16. Jh. Mchn. 1991. – Fidel Rädle: Die E. In: Abh. der Akad. der Wiss. zu Göttingen, Phil-Hist. Kl., 3. Folge, Bd. 206 (1994), S. 103–115. – James V. Mehl: Language, Class, and Mimic Satire in the Characterization of Correspondence in the E. In: Sixteenth Century Journal 25 (1994), S. 289–305. – J. Gruber: Texte einer Zeitenwende: Die E. In: Anregung. Ztschr. für Gymnasialpädagogik 41 (1995), S. 154–168. – Sari Kivistö: Creating Anti-Eloquence. E. and the Humanist Polemics on Style. Helsinki 2002. Ute Mennecke-Haustein / Herbert Jaumann
Eppendorff, Heinrich von, * um 1496 Eppendorf bei Freiberg/Sachsen, † nach 1551 Straßburg. – Humanist; Herausgeber u. Übersetzer. E., wohl Sohn eines Erbschulzen, Dorfrichters u. Zinngießers, studierte nach dem Schulbesuch in Freiberg 1506–1508 Artes in Leipzig, war dann vielleicht Stadtschreiber in Kamenz. 1520 überbrachte er Erasmus in Löwen ein Geschenk Herzog Georgs von Sachsen; zu dieser Zeit lernte er auch Hutten kennen. Er nannte sich in den nächsten Jahren Ritter, wogegen Erasmus ab 1523 Sturm lief. Seit Sept. 1520 studierte er mit einem Stipendium des Herzogs in Freiburg i. Br. bei Zasius die Rechte, verließ die Universität jedoch 1522 wegen Geldnot u. ging zu Erasmus nach Basel. Aus den Jahren 1522–1536 sind Briefe von u. an Bonifacius Amerbach, Erasmus, Herzog Heinrich von Sachsen, Nikolaus Hausmann, Beatus Rhenanus u. Zwingli überliefert. In der schweren Auseinandersetzung zwischen Erasmus u. Hutten, in der sich die großen Konflikte der Zeit exemplarisch spiegeln, spielte E. eine unklare Vermittler-
rolle als Vertrauter beider. Wahrscheinlich war er an der Vorbereitung der Cum Erasmo Roterodamo [...] Expostulatio ([Straßb. 1523]) beteiligt, in der Hutten Erasmus aufforderte, »die Lutherische sach betreffend« positiv Stellung zu nehmen. Er geriet in immer stärkere Gegnerschaft zu Erasmus, der Hutten mit seinen Spongia (Basel 1523) abfertigte u. E. mit Erfolg bei Herzog Georg anschwärzte. Zwar kam es 1528 zu einer Einigung mit Erasmus, doch griff dieser den »miles gloriosus« weiter an. E. verteidigte sich mit der Justa querela (Hagenau 1531). Nach Huttens Tod lebte E. in Straßburg. Seit um 1534 umfangreiche Werke weltl. Inhalts auf Deutsch wieder verkäuflich waren, scheint E. zumindest teilweise vom Herausgeben, v. a. aber vom Übersetzen großer Texte im Dienst des Verlegers Johann Schott gelebt zu haben. Er brachte als erster Plinius dem dt. Lesepublikum nahe (Natürlicher History fünff Bücher. Straßb. 1545) u. war einer der wichtigsten Plutarchübersetzer; gleich anderen folgte er hier der lat. Bearbeitung des Erasmus. Seine Römischer Historien Bekürtzung (Straßb. 1536) bot eine Alternative zu der verbreiteten u. sehr umfangreichen Römischen Historie (1505) Bernhard Schöfferlins. Im Vergleich zum Übersetzungsstil des ausgehenden 15. Jh. ist E.s Stil modern. Er »klebt« nicht am Latein der Vorlagen; Deutlichkeit ist oberstes Prinzip. Diese Darstellungsweise veraltete gegen 1570; keine der Übersetzungen, die u. a. für Hans Sachs eine wichtige Quelle waren, scheint nach 1558 noch gedruckt worden zu sein. Weitere Werke: Übersetzungen: Plutarchi v. Cheronea u. anderer Kurtz weise u. höfl. Spruch. Straßb. 1534. 1544. [u. a. Titel] 1551. – Türck. Kayser Ankunfft Kryeg vnd Händlung gegen u. wider die Christen [...]. Mit anderen Translationen [Schr.en v. Petrus Nannius, Juan Luiz Vives u. a.]. Straßb. 1540. [u. a. Titel] 1545. – Albert Krantz: Denmärkische, Schwed. vnd Norwäg. Chronica. Straßb. 1545. [u. a. Titel] 1558. Literatur: Worstbrock, Nr. 187, 292, 308, 310–312, 316–317 (Bibliogr. v. E.s Übers.en antiker Texte). – VD 16, E 1847–1849, F 1674–1675, K 2233–2236, P 3552, 3687, ZV 5295, 22371. – FrankRutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 0002, 0247,
Erasmus von Rotterdam 0432. – Weitere Titel: Christoph Saxius: De Henrico Eppendorpio commentarius. Lpz. 1745. – William Kurrelmeyer: Contributions to german lexicography from translations of H. v. E. In: Publications of the Modern Language Association of America 34 (1919), S. 151–188. – Werner Kaegi: Hutten u. Erasmus. In: Histor. Vjs. 22 (1924/25), S. 200–278, 461–514. – Heinrich Grimm: E. In: NDB. – Barbara Könneker: H. v. E. In: Contemporaries 1, S. 438–441. – Heinz Holeczek: Hutten u. Erasmus. In: Hutten u. Erasmus. Nürnb. 1988, S. 321–335 (Kat.). Walter Röll / Red.
Erasmus von Rotterdam, Desiderius, * 1466 oder 1469, † 11./12.7.1536 Basel; Grabstätte: ebd., Münster. – Verfasser theologischer, philologischer, pädagogischer u. satirischer Schriften; bedeutendster Repräsentant des europäischen Renaissance-Humanismus. Wie bei vielen seiner Zeitgenossen aus unteren Schichten bleibt E.’ Jugend dunkel. Geboren ist er wohl nahe Rotterdam, vielleicht auch in Gouda, dem Herkunftsort seiner Mutter. Das Geburtsjahr gibt er selbst verschieden an. Das unehel. Kind hatte nur einen Vornamen. Der Beiname »Roterodamus« war selbstgewählt; den Beinamen »Desiderius« legte er sich literar. Gepflogenheiten entsprechend zu. Sein Vater namens Gerard oder Gerrit war ein niederer Kleriker, der mit seiner aus einer Arztfamilie stammenden Mutter, Margarete Rogers, im Konkubinat lebte. Der Vater soll früh verschollen sein; die Vormünder hätten ihn – so stellt E. es in seinem Compendium vitae (1524) dar – ins Kloster gedrängt. Sein Leben lässt sich in drei Phasen einteilen: eine lange Jugend der Selbstfindung in einer traditionalistischen geistl. u. akadem. Welt; dann, nach dem Durchbruch des längst Dreißigjährigen, folgten zwei Jahrzehnte intensivster Studien, gekennzeichnet durch hohe räuml. Mobilität u. eine Explosion seiner Produktivität; schließlich das ortsständig verbrachte Alter. Die Bildung verlief normal: Nach dem Schulbesuch in Gouda ging E. in die Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben in Deventer, die einen Ruf als Stätte der Devotio moderna u. berühmte Lehrer (Alexander
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Hegius) hatte, ihn jedoch wenig prägte. Wohl 1487 ins Augustiner-Chorherrenstift Stein bei Gouda gebracht, scheint E. das Klosterleben anfangs akzeptiert zu haben. 1492 erhielt er die Priesterweihe: Mit diesem ersten bezeugten Ereignis seines Lebens musste sich E. bis in seine letzten Jahre auseinandersetzen. Literarische Zeugnisse zeigen den etwas schwärmer. Mönch mit konventionellen Themen (De contemptu mundi) beschäftigt. Erstes Zeichen für den Wunsch, dem Kloster zu entkommen, ist E.’ Bemühen um einen Aufenthalt in Italien: Gegen 1493 wird er deshalb Sekretär beim Bischof von Cambrai, Heinrich von Bergen. Doch die Reisepläne zerschlagen sich. Um 1495 lässt ihn der Bischof mit geringem Zehrgeld nach Paris gehen, was E. befristet Urlaub vom Kloster verschaffte. E. wohnte zunächst im Collège Montaigu, seinen Berichten zufolge ein Ort extremer Weltentsagung. Auch nach dem Auszug blieb sein Leben miserabel: Fechten um den Lebensunterhalt; die beste Aussicht stellten Privatschüler dar, aus denen Mäzene werden konnten. Nach Paris brachte E. bereits seine erste humanist. Programmschrift Antibarbari mit, aus der erst ein Vierteljahrhundert später, stark überarbeitet, Teile veröffentlicht wurden. Sie enthält bereits wesentl. Elemente seines Humanismus, v. a. die Idee der Perfektibilität des Menschen durch Bildung u. Erziehung: Die humane Bildung, auf natürl. Weise exemplarisch in der Antike »offenbart«, wird durch die christl. Offenbarung überhöht. Der junge, von Natur aus nicht festgelegte Mensch wird durch Bildung zivilisiert u. damit für den christl. Glauben bereit. Barbar u. Bildungsfeind ist nicht der rohe Ungebildete, sondern der mit christlichem Absolutheitsanspruch sich tyrannisch gebärdende Missgebildete, der die Universitäten beherrscht. Die Verbindung antiker Bildung u. christl. Lehre ist bereits bei den Kirchenvätern Augustinus u. Hieronymus verwirklicht. Mehrere ital. Humanisten hatte E. bereits rezipiert, v. a. Lorenzo Vallas philolog. Humanismus u. Pico della Mirandolas neuplaton. Anthropologie. Eine Synthese zwischen »eruditio« u. »pietas« gelang ihm
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jedoch noch nicht, weil er die Möglichkeit einer genuin christl. Bildung bestritt. In Paris studierte E. die Kirchenväter u. alte u. neue Lateiner. Er fand Eingang in den Humanistenkreis u. sah sich 1495 mit einem Lobgedicht auf Robert Gaguin erstmals gedruckt. Doch Scholaren wie ihn gab es dort sehr viele. In einem Schüler, dem jungen Lord Mountjoy, einem späteren Erzieher des Prinzen Henry Tudor, fand E. den ersten Mäzen. Mountjoy lud ihn 1499 nach England ein, mit der Aussicht auf eine Italienreise. In England wurde E. erstmals anerkannt u. in die Gesellschaft eingeführt – so durch Thomas More am Prinzenhof Heinrichs. Im Umgang mit den engl. Humanisten wurde ihm die Bedeutung der griech. Überlieferung klar. Mit dem Dean of St. Paul’s John Colet führte er fruchtbare Diskussionen (Disputatiuncula de tedio, pavore, tristitia Jesu. Concio de puero Jesu). Der kurzfristige Misserfolg der engl. Beziehungen (die Italienreise zerschlug sich, die mühsam gesammelten 20 Pfund wurden in Dover konfisziert) enttäuschte ihn zwar, doch langfristig schöpfte er die Möglichkeiten der engl. Kontakte aus. Wieder auf dem Kontinent, begann für E. ein überaus dynamischer Lebensabschnitt. Vor allem in vier Räumen hielt sich E. bis 1521 auf. Nach 1499/1500 war er noch wiederholt in England: 1505/06, 1509–1514, kurz 1515 u. 1518. Dort spielten, neben der Auseinandersetzung mit Colet, die kreative Freundschaft mit More sowie die Förderung durch William Warham, Erzbischof von Canterbury, u. den treuen Lord Mountjoy eine große Rolle. Sie alle erhofften vom Regierungsantritt Heinrichs VIII. das goldene Zeitalter des Humanismus, wurden aber nach 1509 enttäuscht. 1500/01 u. 1504/05 war E. nochmals in Paris, wo er erst seine Adagia, dann Vallas Annotationes in Novum Testamentum edierte. Er suchte, bes. 1501–1504 u. 1516–1521 in den südl. Niederlanden, wo das habsburgisch-burgund. Machtzentrum lag, einen Wohnsitz. In Antwerpen fand E. ab 1503 in Theodor Martens einen Drucker, bei dem er u. a. seine Lucubratiunculae mit dem anfangs kaum beachteten Enchiridion militis Christiani veröffentlichte.
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1506 konnte E. den lange angestrebten Italienaufenthalt als Tutor der Söhne des kgl. engl. Leibarztes Boerio antreten. In Italien hatte er v. a. als Herausgeber u. Übersetzer antiker Texte bereits einen Ruf. Schnell erwarb er in Turin den theolog. Doktorgrad, hielt sich dann u. a. in Florenz, Bologna, Padua u. Neapel auf. In Venedig kam er in Kontakt mit der berühmten Offizin des Aldus Manutius: Wichtigstes Ergebnis waren die um zahlreiche griech. Sprüche erweiteren Adagia chiliades tres (1508). Nach Rom kam E. erst 1508; dem krieger. Papst Julius II. war er mehrfach ausgewichen. (Ihm widmete der Pazifist E. später die anonyme Dialog-Satire Julius exclusus e coelis.) Am päpstl. Hof nahm er einflussreiche Kardinäle für sich ein, so Giovanni di Medici, den späteren Papst Leo X., u. die Kardinäle Grimani u. Riario. Zeitgenossen beeindruckte sein Interesse an den Schätzen v. a. griechischer Manuskripte in Italien. Während er nach Italien zog, sann er über Alter u. Tod (Ode de senectute) nach, auf dem Rückweg 1509 entwarf er sein langlebigstes Werk, das Lob der Torheit. E. bewegte die Nachricht vom bevorstehenden Thronwechsel in England zum sofortigen Aufbruch. Zwei Jahre hörte die Mitwelt nichts von ihm; erst im April 1511, auf dem Weg nach Paris zur Drucklegung des Lobes der Torheit bei Gourmont, begann er wieder zu korrespondieren. England, wohin er bald zurückkehrte, erfüllte nicht seine hochgespannten Erwartungen, schon weil ein leistungsfähiges Druckzentrum fehlte, v. a. aber, weil Heinrich VIII. die kleine Bildungselite des Landes für seine Machtpolitik funktionalisierte. In eine neue Abhängigkeit wollte E. sich nicht begeben. Zurück in den Niederlanden entwickelte E. seine Beziehungen zum Habsburger Hof. Der Kanzler von Brabant, Jean le Sauvage, vermittelte ihm 1515 die Ehrenstellung eines Hofrats beim späteren Kaiser Karl. Die damit verbundene Pension u. die Geldrente für die ihm verliehene Pfründe wurden zwar nur unregelmäßig ausgezahlt, erschienen ihm aber als wichtiger Beitrag zur Existenzsicherung. E. revanchierte sich mit einer Karl, später Ferdinand gewidmeten Institutio principis christiani. Diesen Fürstenspiegel – seine
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wichtigste polit. Schrift – ließ er 1516 mit den Moral-Texten des Isokrates u. Plutarchs für Herrscher sowie seinem Panegyricus ad Philippum Austriae ducem herausgeben. Als Karl als designierter span. König 1516 nach Spanien aufbrach, wollte E. jedoch nicht mitziehen. Eigentlich wollte sich E. nach seiner Rückkehr aus England 1514 unmittelbar nach Basel zu Froben aufmachen; doch kaum war er auf dem Kontinent, erreichte ihn von seinem Prior u. alten Freund Servatius Roger die kategor. Aufforderung, ins Kloster zurückzukehren. E. lehnte dies mit einem bemerkenswerten Selbstbekenntnis ab, in dem er den ihm gemäßen Lebensweg überzeugend darlegte. Nun betrieb er seine Befreiung ernsthaft. 1517 erhielt er mit Hilfe seiner engl. Gönner den päpstl. Dispens, als Kleriker in der Welt zu leben u. kirchl. Pfründe annehmen zu dürfen. Die Reise rheinaufwärts nach Basel, ebenso die Rückreise, glich einem Triumphzug. Die dt. Humanisten feierten ihn als das Licht Deutschlands; E. schien Deutscher werden zu wollen. Zweimal traf er Hutten u. Reuchlin in Mainz u. Frankfurt. Die Zusammenarbeit mit dem Hause Amerbach-Froben wurde begründet. Nach einem kurzen Englandbesuch kehrte E. schon 1515 wieder nach Basel zurück u. jagte in einer 18-monatigen »Tour de force« das Novum Instrumentum (NT) u. den Hieronymus durch die Presse. Daneben erschienen eine Neuausgabe der Adagia u. des Encomium Moriae, die Institutio principis christiani u. der Seneca. Die NT-Ausgabe enthielt einen »kritischen« griech. Text mit einer eigenen lat. Version, den »Annotationes« u. Vorreden. Unter dem Schlachtruf »ad fontes« wurde die humanist. Textkritik auf die Bibel angewendet. E. praktizierte freilich noch eine subjektive, konjekturale Methode der Erschließung des Ursinnes, konnte sich aber meist auf Kirchenväter berufen. Dadurch geriet er in direkten Gegensatz zur herkömml. Exegese nach dem vierfachen Schriftsinn. Da die Edition sich als zu fehlerhaft erwies, kam 1519 die zweite, Novum Testamentum genannt, heraus. Für die dritte Ausgabe 1522 siedelte E. endgültig nach Basel über. Der Lebens- u. Wirkraum des E. mit dem Oberrhein im Zentrum u. als Pole Italien im
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Süden u. den Niederlanden, Südostengland u. dem Pariser Becken im Nordwesten erstreckte sich entlang der europ. Kulturachse, die die zivilisatorisch am weitesten entwickelten Gebiete verband. Bei der Wahl seines festen Sitzes spielten prakt. Überlegungen eine Rolle: ein leistungsfähiges Druckzentrum, ein Kreis kompetenter Mitarbeiter u. Partner, ein gesichertes Auskommen u. v. a. Unabhängigkeit. Konsequent mied E. den direkten Einflussbereich der großen Herrscher. Er wies kategorisch alle Angebote ab, nach Osten, nach Böhmen, Polen oder Sachsen zu ziehen. In Löwen waren die Gegensätze zwischen aggressiven Traditionalisten u. Vertretern der guten Bildung, verstärkt durch den Beginn der Reformation, für ihn auf Dauer unerträglich. Basel hatte nicht zuletzt den Vorteil einer »republikanischen« Regierungsform u. war unabhängig von den großen Mächten. E.s Breitenwirkung ab 1516/18 war enorm. Andererseits musste er immer mehr Zeit aufwenden, um sich gegen Missbrauch u. Missverständnisse zu schützen. Schicksalhaft für sein spätes Werk u. dessen Rezeption wurde sein distanziertes – erst freundlicheres, dann zunehmend abweisendes – Verhältnis zur Reformation. Andererseits ließ er sich nicht zu einer parteil. Gegnerschaft hinreißen. Er wich zwar vor der Basler Reformation 1529–1535 in das kath. Freiburg aus, kehrte jedoch beim Nahen seines Todes im Sommer 1535 zurück u. starb im Froben’schen Haus. Einigermaßen zufrieden konnte der Vielgerühmte, aber auch von allen Seiten Gescholtene, seine Seele dem »Lieven God« anvertrauen. Aus mehreren Berichten geht hervor, dass E. ab 1523 eine Gesamtausgabe seines Werkes vorbereitete. Ausgereift ist der Plan im Index Lucubrationum (»Lucubrationes« sind während des nächtl. Studiums verfasste Schriften), den er einem Brief an Hector Boece im März 1530 beigab u. umgehend publizierte. Er wurde in der ersten Basler Nachlassausgabe um 1540 durch Amerbach, Froben, Episcopius (mit Vita u. Vorrede von Beatus Rhenanus) genau befolgt u. blieb in der Leidener Ausgabe (1703–06) sowie in der neuen Amsterdamer Gesamtausgabe Leitlinie. E.
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teilte seine Werke nach formalen u. nach inhaltl. Kennzeichnungen in neun Klassen (»Ordines«) ein, die in ungefähr gleich große Bände passen sollten. Den Bildungsthemen im humanist. Sinne, seiner »ureigensten Sache«, sind die ersten drei Ordines gewidmet: 1. Schriften »ad institutionem literarum«, 2. die Adagia u. 3. die Briefe. Die Schriften enthalten u. a. lat. Übersetzungen griechischer Autoren (so Lukian, Libanius, Euripides etc.) sowie Übungsreden (Declamationes etc.) u. Leitfäden (Institutiones, Rationes) für den eleganten Gebrauch der alten Sprachen (etwa den Ciceronianus, De copia verborum u. die Similia-Beispiele). Die Adagia, eine Sammlung antiker Sprichwörter u. Redensarten, die als sein erstes Buch 1500 in Paris erschien, hat E. in zehn eigenen Ausgaben immer wieder überarbeitet u. erweitert, so um 1508 für Manutius auf 3260 griechisch-lat. Nummern. Die Ausgabe letzter Hand (Basel: Froben 1536) war ein riesiges Foliowerk von 4151 Sprichwörtern, meist antiken »Weisheiten« aus Fabeln, Anekdoten u. Schwänken – mit kurzen u. auch umfangreicheren, essayist. Exkursen seiner eigenen sozial- u. kirchenkrit. Gedanken. Neben wenigen vollständigen Nachdrucken gab es eine Vielfalt von Auszügen, Bearbeitungen u. Einzelausgaben. Berühmt wurden etwa das pazifist. Adagium Dulce bellum inexperto (Süß ist der Krieg dem Unerfahrenen) u. Nr. 2201 Sileni Alcibiades (Silen ist eine Statuette, die außen hässlich, innen göttlich schön ist). In zahlreichen Bearbeitungen, namentlich denen von Eberhard Tappe (zuerst Straßb. 1539) u. Sebastian Franck (Ffm. 1541), wurden antike Überlieferung u. dt.-niederländ. Spruchweisheit nebeneinandergestellt. Für die Emblematik des 16./17. Jh. waren die Adagia eine unentbehrl. Voraussetzung. Als Stilvorlage für den Schulunterricht hatten sie bis ins 18. Jh. eine kaum zu überschätzende Wirkung auf die Sprachkultur Europas. In den dritten Ordo gehören die Colloqia (Vertrauten Gespräche), die E. in zahlreichen Ausgaben ausbaute u. umarbeitete. Sie sollten formal der Erlernung von gelehrten Gesprächen dienen; u. a. enthielten sie eine
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einzigartige Sammlung von ironisch-witzigen, zeitkrit. Gesprächen zwischen typ. Charakteren (Abt, Mönch, Mädchen, Söldner usw.). Die Briefe trugen wohl am nachhaltigsten zum europ. Ruhm des »Humanistenfürsten« bei. Vom offiziellen Widmungsbrief über die themat. Vorrede bis zum lakon. Informationsbrief u. der gelehrten Streitschrift hat er in ihnen die verschiedensten Themen entfaltet. Zentral sind die Klassen 4 »moralia« (polit. Ethik) u. 5 »pietas« (christl. Lebensphilosophie). Hier finden sich viele seiner berühmten Werke (Moriae Encomium, Institutio principis, Querela pacis, Enchiridion, Methodus theologiae, Paraclesis u. De bello Turcico). Daneben stehen Ausgaben von Übersetzungen entsprechender paganer Texte sowie Kommentare bibl. Texte, wie die Psalmenparaphrasen. Das Enchiridion militis christiani (Dolch oder Handbüchlein des christl. Ritters) ist ein Leitfaden für die christl. Lebensführung eines »ungeschlachten Kriegsmannes«. Diese frühe Frömmigkeitsschrift (1503 erstmals veröffentlicht) wurde v. a. wegen ihres Biblizismus u. ihrer Christologie in der frühen Reformation (seit der Froben-Ausgabe 1518) zu einem großen Erfolg, dann aber wegen ihres Moralismus u. ihrer Lehrhaftigkeit – so von Luther u. Loyola – als kalt kritisiert. Die kath. Kirche setzte das Enchiridion auf den Index. Für viele Leser, nicht nur seiner Zeit, entwarf E. hier eine kultivierte Frömmigkeit bzw. eine Synthese von Zivilisation u. frommer Innerlichkeit. Das Encomium Moriae (Lob der Torheit) ist angelegt als ruhmrediges Eigenlob der personifizierten Torheit: Alle Mächtigen u. Gebildeten kommen sich zwar weise vor, sehen aber vor lauter Eitelkeit nicht, dass sie nur der närr. Torheit dienen. Allein die törichte Eitelkeit hält die Welt in Bewegung. Ziel des Autors ist die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Torheit u. Weisheit. Er findet sie in der Ekstase, im »Außer-sich-Sein«. Das Thomas More gewidmete Werk erhebt sich in seiner ironisch-witzigen Gedankenführung weit über die Tradition der Narrenliteratur (etwa des bekannten Narrenschiffs Brants). Es wurde aus inhaltl. wie formalen Gründen ein Hauptwerk des Humanismus u. ist auch
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heute noch (mit der »Friedensklage«) das lesbarste Werk des E. Die Querela pacis (Klage des Friedens) ist die beeindruckendste Friedensschrift des Pazifisten. Verfasst 1516/17 im Auftrag der burgund. Politiker Chièvre u. Le Sauvage, die einen Ausgleich zwischen Habsburg u. Frankreich anstrebten, geht sie weit über den Anlass hinaus, indem sie das zeitgenöss. Kriegswesen kritisiert. Frau Friede klagt eindrücklich, sie werde in allen Nationen u. von allen Ständen vertrieben. E. gliedert antithetisch: Im Kosmos u. auf den einzelnen Ebenen der Natur herrscht Eintracht u. Harmonie, unter den am meisten auf Frieden angewiesenen Menschen dagegen in allen Schichten Hass, Streit u. Krieg. Im Zentrum steht die Idee, dass die Ordnung der Natur, die Botschaft Christi u. die Würde des Menschen den Frieden verlangen. Die Klassen 6, 7 u. 9 repräsentieren die Beiträge zur Erschließung des NT u. der Kirchenväter: die eigene lat. NT-Version, die NT-Paraphrasen u. die Väterausgaben sowie lat. Versionen griech. Kirchenvätertexte. Die lat. Väter-Ausgaben sind v. a. durch Vorreden u. Scholien vertreten. Auf das Studium u. die Edition der Kirchenväter hat E. wohl die meiste Zeit verwendet. Ungeliebt ist der achte, später neunte Ordo der Apologien (Streitschriften), die E. immer als aufgezwungene Ablenkungen von seinen eigentl. Arbeiten bezeichnete. Dennoch sind sie wichtige Stellungnahmen zur Reformdiskussion seiner Zeit, so das Schreiben an den Bischof von Basel, die Schriften gegen die Straßburger Reformatoren (Contra Pseudoevangelicos) u. gegen Luther (De libero arbitrio u. Hyperaspistes, Purgatio adversus epistolam Lutheri). E. schrieb Latein, gelegentlich Griechisch. Galt der Lateiner als unübertroffenes Vorbild (außer für die strengen »Ciceronianer«), waren ihm Gräzisten wie Budé u. Beatus Rhenanus anerkanntermaßen überlegen. Aussagen über die Größe seines zeitgenöss. lat. Lesepublikums sind schon wegen der extrem unterschiedl. Auflagenzahlen gewagt (5000 direkte Leser sind sicher zu gering gegriffen, 50.000 dagegen kaum zu belegen). Da es über die Lesefertigkeit der Bevölkerung sehr un-
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terschiedl. Aussagen gibt, lässt sich der Leserkreis der volkssprachigen Ausgaben noch weniger quantifizieren. E. wollte die »gebildete Christenheit« erreichen. Tatsächlich lasen ihn die Angehörigen einer schmalen, regional unterschiedlich dünnen Schicht von Geistlichen, Lehrern u. »Regenten« (Inhaber öffentl. Ämter). Die Vorstellung vom Lateinischen als der allg. Kultursprache war in der frühen Schaffensperiode des E. noch berechtigt, doch gegen Ende seines Lebens hatte im dt. Sprachraum die Aufwertung der Volkssprache durch die Reformation zu entscheidenden Veränderungen geführt. Zwischen 1519 u. dem Tod des E. wurden etwa 70 selbständige Arbeiten dt. übersetzt, die in fast 250 Drucken bis 1550 erschienen. Damit war E. nach Luther der auf Deutsch am meisten gelesene Autor. Die Themen der Übersetzungen spiegeln das Interesse der volkssprachigen Öffentlichkeit an E.’ Beitrag zur Reformdiskussion: Erschließung der Bibel u. ihre Ausdeutung für die Reform; Reformation u. kath. Reform; Bildungsreform; Hebung von Zivilisation sowie öffentl. Moral in der Politik. Zahlreich sind die dt. Texte aus den NTAusgaben u. Kommentaren, die E. selbst als zentralen Bestandteil seines Werks ansah. Johannes Lang u. Nikolaus Krumpach übersetzten Bibeltexte nach der Version des E. (15 Drucke bis 1523). Sie wurden bald durch die Lutherübersetzung ersetzt. Mindestens 34 anonyme Drucke von Auszügen aus den Annotationes in Novum Testamentum gelten prakt. Themen wie Werkgerechtigkeit, Kirchengesang, Söldner u. Schlüsselgewalt des Papstes. Die meisten stammen von Georg Spalatin. Die Paraphrasen zum NT erschienen in zwei Schüben (Zürich: Froschauer), weitgehend übersetzt von Leo Jud: 1521–1524 die Apostelbriefe, 1542–1552 die Evangelien. Urbanus Rhegius übersetzte den Titusbrief nach der E.-Paraphrase (Augsb. 1524), Michael Rischen das Johannesevangelium (Lpz. 1524), Petrus Tritonius die Bergpredigt (Augsb. 1524). E.’ Vorreden zu den Bibelausgaben fanden in der frühen Reformation bes. großes Interesse: Neben 14 anonymen dt. Drucken der
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Paraclesis, des Aufrufs zur Bibellesung (1520–22, wohl von Spalatin u. Jud) stehen 1522–1525 u. d. T. Von walfart mindestens zwölf Drucke der Nova Praefatio für die Ausgabe der lat. NTVersion. Als Übersetzer nennt sich Nikolaus Krumpach. Für die allg. Bibellesung wurden der Kommentar zu Psalm 1, Beatus vir (1515), übersetzt von Leo Jud (Basel, Straßb. 1520), u. die Karl V. gewidmete Nachrede zur Matthaeusparaphrase (1522) als Ermahnung zum Bibelstudium deutsch verbreitet (Basel, Augsb., Lpz. jeweils 1522), letztere in zwei Übersetzungen der gemäßigten kath. Reformer Johannes Botzheim u. Antonius Beuther. Es ist bemerkenswert, dass nicht alle Stellungnahmen des E. zur Reformation deutsch verbreitet wurden. Zum Lutherprozess erschienen zunächst (1520–1522) zehn kleinere Flugschriften, meist Briefe. Ein anonymer Ratschlag was man in Luthers Sache handeln soll (Consilium cuiusdam) in vier dt. Ausgaben sollte vor dem Wormser Reichstag für eine friedl. Beilegung des Falles werben. Von den Übersetzern ist nur Thomas Murner bekannt, der zwei Schreiben des E. seiner dt. Ausgabe der Verteidigung der sieben Sakramente des engl. Königs (Straßb.: Grüninger 1522) beigab. Seine neutrale bis maßvoll-krit. Haltung vermochte E. allerdings nicht durchzuhalten. Die öffentl. Absage an Luther in De libero arbitrio (Über den freien Willen) wurde umgehend von Nikolaus Hermann von Altdorf (Lpz.: Thanner) übersetzt. Das Schirm- und Schutzbüchlein gegen Luthers heftige Erwiderung Vom verknechteten Willen übersetzte auszugweise Hieronymus Emser (Lpz.: Lotter 1526). Die letzte Auseinandersetzung mit Luther Mitte der 1530er Jahre wurde nicht mehr übersetzt. 1522 wurde E. in Basel in die Auseinandersetzungen um die schweizerisch-süddt. Reformation hineingezogen. Zu Beginn der Basler Reformationsbewegung präzisierte E. für den Bischof von Basel, Christoph von Utenheim, in einem Briefgutachten seine Reformvorschläge. Zwei dt. Ausgaben erschienen sofort in Augsburg u. Leipzig. Die folgenden Auseinandersetzungen um das Altarssakrament waren ein gefährliches Feld für den eher »spiritualistischen« E., der sich
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mehrfach gegen die Vereinnahmung für den symbol. Sakramentsbegriff der Zwinglianer wehren musste: so 1526 mit Schriften gegen Konrad Pellikan u. Leo Jud u. einem Briefgutachten an die Schweizer Tagsatzung in Baden. Das Schreiben gegen die »PseudoEvangelicos«, in dem E. 1530 mit den Straßburgern abrechnete, wurde von Hieronymus Gebwiler wie von E.’ Freiburger Drucker Johannes Faber Emmeus übersetzt u. in drei Drucken (Hagenau, Freib.) verbreitet. An der Freiburger Übersetzung nahm E. selbst erhebl. Veränderungen vor. Drei Ausgaben stammen von Straßburger Reformatoren: so ein Brief an den böhm. Edelmann Johann Schlecht von Costeletz von 1519, der die friedl. Beilegung der in Böhmen vorhandenen Spaltungen empfahl, u. die 1529/30 von Gerhard Geldenhauer in Straßburg veröffentlichten Auszüge »die Verfolgung der Ketzer betreffend«. Bemerkenswert ist die in neun dt. Drucken ab 1531 überlieferte Flugschrift, die in 17 Punkten E.’ in einem Brief an Kardinal Campeggio vorsichtig formulierte Ansicht zu Toleranz u. Duldung zuspitzte. E. sah darin einen unerträgl. Missbrauch seiner Ausgleichsbemühungen. Danach beklagte sich E. nur noch resigniert über die verlorene Einheit u. fehlende Reform der Kirche: Deutsch erschienen ein Gebet um Frieden (Precatio ad Jesum pro pace. Nürnb. 1,2 1534), die Schrift Von der kirchen lieblichen Vereinigung (De sarcienda ecclesiae), übersetzt von Wolfgang Capito (Straßb.), u. als die letzte seiner dt. publizierten Schriften die Klage über die ausgebliebene Reinigung der Kirche (De puritate ecclesia, zu Psalm 15, dt. v. Sebastian Roth. Dresden 1536. Lpz. 1537). Von den Schriften zur christl. Zivilisation erschienen bis 1550 annähernd 40 Texte in über 70 Drucken. Im Kontext der Reformation wurde das Enchiridion 1520/21 mehrfach deutsch bearbeitet: Die Übersetzung Johannes Adelphus Mulings (Basel: Adam Petri 1520) überarbeitete Leo Jud (Basel: Valentin Curio 1521). Ein konzentrierter Auszug durch Onophrius Pirchinger erschien bei Otmar (Augsb. 1543). E. hatte für die Basler Ausgabe von 1518 eine umfangreiche Vorrede an Paul Volz geschrieben, die für den großen Erfolg des Enchiridion grundlegend war u. in
Erasmus von Rotterdam
Adelphus’ u. Juds Übersetzungen enthalten ist. Spalatin ließ sie in eigener Übersetzung (Mainz: Schöffer 1521) drucken. In diesen Kontext gehört das Colloquium Vom Fasten und Fleischessen (Convivium profanum. Dt. Augsb.: Heinrich Steiner 1524). Zu Gebet u. Erbauung fand die Meditation über das Vaterunser weite dt. Verbreitung, erst anonym (Straßb.: Flach 1523), dann in einer Version des Schulmeisters Pinitianus mit einer Widmung an Margarete Peutinger (Augsb.: Otmar 1524. Landshut: Weissenburger 1530). Bereits 1522 war die Expostulatio oder Klage des Kindes Jesu von Emser u. Jud nachgedichtet worden. Auch die ebenfalls für Colets Schule bei St. Paul’s in London verfasste Schulschrift Concio de puero Jesu erschien deutsch als Predigt vom Knaben Jesu (Köln: Lupus 1536). Die Jud’sche Nachdichtung der Klage Jesu fand großen Anklang u. wurde von Michael Weinmar zum Kirchenlied umgedichtet. Er nahm sie 1540 in sein Augsburger Gesangbuch auf u. ließ die Novae Precationes (1536) als Gebet des Erasmus von Rotterdam erscheinen. Drei gewichtige erbaul. Werke ließ E. um 1523–1525 bei Froben erst lateinisch, dann umgehend deutsch herausgehen: Wie man Gott bitten, loben und danken soll (Modus orandi), Hochpreysung der ungemessenen Barmherzigkeit Gottes (Immensa misericordia Dei) u. Vergleychung einer waren Jungfrau und eines Martyrers (Virginis et martyris comparatio). Die dt. Ausgaben wurden mehrfach nachgedruckt. Zum Thema Ehe wurden einige Colloquia übersetzt. Berühmt wurde das Gespräch zwischen den Eheweibern Eulalia u. Xantippe (Uxor mempsigamus), das 1524/25 fünfmal deutsch herauskam u. in Sammlungen aufgenommen wurde, so in Draches Ehetafel (Erfurt: Stürmer 1549). Eine dt. Sammlung von vier Gesprächen (Lpz.: Blum 1535?) enthält auch die Gespräche Ein Freier und das Mädchen (Proci et puella) u. Eine uneheliche Ehe (Conjugium impar). Der Weiber Reichstag (Senatulus) erschien in drei dt. Versausgaben bei Güldenmundt in Nürnberg u. Ramminger in Augsburg 1537/38. In der dt. Ausgabe von 15 Colloquia durch Justus Alberti (Augsb.: Steiner 1545) sind vier der Ehe bzw. Jungfräulichkeit gewidmet; die anderen behandeln
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Mönchtum, Begräbnis u. Tod. Die grundlegenden Äußerungen des E. zur Ehe, Lob der Ehe (Encomium matrimoniae von 1518) u. EheAnweisung (Institutio matrimoniae von 1526), wurden erst 1542 von Johann Herold übersetzt (Straßb.: Beck. Augsb.: Ulhart). Eine Stellungnahme zur Ehescheidung wurde u. d. T. Ehegericht (Basel: Kundig 1549) von einem anonymen Kompilator herausgegeben. Von den zahlreichen Werken zur Kindererziehung war De Civilitate morum (1530) am erfolgreichsten. Es wurde zu einem weit verbreiteten Schulbuch für den Anfängerunterricht. Bes. oft nachgedruckt wurde die lat.-dt. Bearbeitung in Frage u. Antwort durch Reinhard Hadamer (Marburg um 1537). Auch andere Texte fanden als Lehrbücher Verbreitung, so aus den Colloquia die sog. Formulae colloquiorum, die Veit Nuber lateinischdeutsch bearbeitete (Augsb.: Steiner 1537 u. ö.). De lingua wurde von Herold übersetzt u. in zwei Fassungen (Straßb.: Beck 1544) gedruckt. Die eigentlich humanist. Bildungsschriften wie De pueris instituendis blieben den Gebildeten vorbehalten. Das Sterben war eines der Hauptthemen E’. Bes. die Colloquia Das Gespräch zweier Sterbender (Funus) u. Barfüsser Begräbnis (Exequiae seraphicae) fanden dt. Verbreitung (Speyer, Köln 1527. Dresden: Stöckel 1530 [zweimal]. Magdeb. 1531 [plattdt.]. Nürnb.: Güldenmundt 1540 u. 1544). Die Preparatio ad mortem (1534) wurde sofort von Gebwiler übersetzt (Hagenau: Kobian 1534). Eine neue Ausgabe widmete der Marburger Professor Salwächter dem hess. Landgrafen in dessen Bedrängnis vor dem Schmalkaldischen Krieg (Ffm: Gülfferich 1546). Beigegeben ist eine dt. Version der Declamatio de morte (Basel: Froben 1517). Die polit. Schriften sind eine bedeutende Textgruppe im deutsch rezipierten E.-Werk. Als erste E.-Schrift überhaupt übersetzte der kaiserl. Rat am Reichskammergericht Ulrich Varnbühler das Adagium Dulce bellum inexperto u. d. T. Der Krieg ist süß allein dem Unerfahrenen (Basel: Cratander 1519. Straßb.: Schürer 1520). Die Querela Pacis (1517) erfuhr bald in zwei dt. Übersetzungen erhebl. Verbreitung. Spalatin übersetzte sie als Clag des Frids, inn allen nation und landen vertrieben (Augsb.: Grimm 1521). Im gleichen Jahr er-
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schien in Zürich eine andere Version. Für den größeren Erfolg von Spalatins Ausgabe war wichtig, dass er ihr den Brief des E. an Anton von Bergen (1514) beigab, in dem E. zeigte, »was übels, nachtayls und Unwesens auß den Krieg erwächst«, wie Spalatin in seiner Widmung an Kurfürst Friedrich von Sachsen sagte. Im Nachdruck Schürers (Straßb. 1522) hat der Brief ein eigenes Titelblatt, sodass er gesondert verbreitet werden konnte. Die Institutio principis christiani wurde 1521 von Spalatin u. Jud parallel übersetzt u. bei Grimm u. Froschauer herausgegeben. Jud gab seiner Ausgabe den Isokratestext über die Regierungskunst bei; Spalatin flankierte seine Ausgabe mit dem Adagium Man muß entweder (als) ein König oder ein Narr geboren sein (Aut regem aut fatuum nasci oportere) u. dem übersetzten Plutarchtext Von der Unterscheidung eines Freundes und eines Schmeichlers (De discrimine adulatoris et amici. Beide bei Schöffer 1520). Hierher gehört auch das erst 1529 verfasste Colloquium Vom erdichten oder falschen Adel (Emendita nobilitas. Dt. in zwei Fassungen Nürnb.: Wächter um 1534). Der Dialog zwischen Julius II. u. Petrus vor der verschlossenen Himmelstür wurde bei Johann Eckhardt 1521 anonym deutsch veröffentlicht. Zum Türkenkrieg erschien aus der Consultatio de bello Turcis inferendo ein kurzer dt. Auszug (Ffm.: Egenolff 1531). Dem Herausgeber ging es v. a. um das Argument, dass die Mächtigen das Türkenproblem nur als Frage der Waffenstärke sehen, nicht als moral. Herausforderung. Ausgaben: Werke: Omnia opera. 9 Bde., Basel 1540. – Opera Omnia emendatoria et auctiora. 10 Bde., Leiden 1703–06. Neudr. Hildesh. 1961/62. – Opus epistolarum. Hg. P. S. Allen u. a. 12 Bde., Oxford 1906–58. – Erasmi Opuscula. A Supplement to the Opera Omnia. Hg. Wallace K. Ferguson. Den Haag 1933. – Ausgew. Werke. Hg. Hajo u. Annemarie Holborn. Mchn. 1933. Neudr. 1964. – The Poems of D. E. Hg. Cornelis Reedijk. Leiden 1956. – Ausgew. pädagog. Schr.en. Hg. Anton J. Gail. Paderb. 1963. – Opera Omnia [...] recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata. Amsterd./New York/Oxford 1969 ff. – Collected Works of E. Toronto u. a. 1974 ff. Übersetzungen: Klage des Friedens. Hg. Arthur v. Arx. Basel 1945. – Handbüchlein des christl.
Erasmus von Rotterdam Streiters. Hg. Hubert Schiel. Freib. i. Br. 1952. – Vom freien Willen. Hg. Otto Schuhmacher. Gött. 2 1956. – Briefe. Hg. Walter Köhler u. Andreas Flitner. Bremen 31956. – Ausgew. Schr.en, lat. u. dt. Hg. Werner Welzig. 3./4. Aufl. 8 Bde., Darmst. 2006. – La Correspondance d’Erasme. Traduction intégrale. 12 Bde., Brüssel 1967–84 (frz.). – Adagia [Ausw.]. Hg. Theodor Knecht. Zürich 1984. 21985. Lat./dt. Hg. Anton J. Gail. Stgt. 1983. 1994. 2000. 2005. Engl. Hg. William Barker. Toronto u. a. 2001. – Schutzschr. (Hyperaspistes) gegen Martin Luthers Buch ›Vom unfreien Willen‹. Hg. Siegfried Wollgast. Lpz. 1986. Literatur: Bibliografien: Ferdinand van der Haeghen: Bibliotheca Erasmiana. 3 Séries. Gent 1893. Neudr. 1961. 1972. – Luisa Cuerta Guttierez: Las impresiones españolas de Erasmo en la epoca imperial. In: Gutenberg Jb. 1950, S. 203–208. – Jean Claude Margolin: Douze années de bibliographie érasmienne (1950–61). Paris 1963. – Edward James Devereux: English Translators of E. 1522–57. In: Editing sixteenth Century texts. Toronto 1966. – VD 16, E 1859–3666. – Marcel Bataillon: Erasmo y España. 2 Bde., Mexico City/Buenos Aires 1966. – Jean Claude Margolin: Quatorze années de bibliographie érasmienne (1936–49). Paris 1969. – Alois Gerlo u. Franz de Raeve: Répertoire des lettres traduites d’Erasme. Brüssel 1969. – E. in English. A Newsletter published by University of Toronto Press. 1970. – ARG, Beih.: Literaturber., seit 1972. – Jean Claude Margolin: Neuf années de bibliographie érasmienne (1962–70). Paris/Toronto/Buffalo 1977. – Simon Willem Bijl: E. in het Nederlands tot 1617. Diss. Nieuwkoop 1978. – Johana J. Meyers: Authors, Articles, translated or annotated by E. v. R. Rotterdam 1982. – Biografien: Johan Huizinga: E. Haarlem 1924. Dt. v. Werner Kaegi. Basel 1928. – Richard Newald: E. R. Freib. i. Br. 1947. Neudr. Darmst. 1970. – Karl August Meissinger: E. v. R. Bln. 21948. – Margaret Mann Philipps: E. and the Northern Renaissance. 1949. Woodbridge 21981. – Roland H. Bainton: E. of Christendom. New York 1969. Dt. Gött. 1972. – James D. Tracy: E. The Growth of a Mind. Genf 1972. – Robert Stupperich: E. v. R. u. seine Welt. Bln./New York 1977. – Contemporaries. – Cornelius Augustijn: E v. R. Leben – Werk – Wirkung. Mchn. 1986. – Leon Ernest Halkin: E. v. R. Zürich 1992. – Christine Christ v. Wedel: E. v. R. Anwalt eines neuzeitl. Christentums. Mchn. 2003. – Anton J. Gail: E. v. R. Reinb. 92004 (11974). – Sammelwerke/ Kataloge: P. S. Allen: E. Lectures and wayfaring Sketches. Oxford 1934. – Gedenkschr. zum 400. Todestag des E. v. R. Hg. Histor. u. antiquar. Gesellsch. zu Basel 1936. – Colloquium Erasmianum.
Erastus Actes du Colloque International [...] 1967. Mons 1968. – Jean Claude Margolin: Recherches érasmiennes. Genf 1969. – Joseph Coppens (Hg.): Scrinium Erasmianum. 2 Bde., Leiden 1969. – Colloquia Erasmiana Turonensis. 2 Bde., Tours 1969. Paris 1972. – E. en zijn tijd. 2 Bde., Rotterdam 1969 (Kat.). – Thomas Alan Dorey (Hg.): E. London 1970. – Actes du Congrès Erasme, organisé par la Municipalité de Rotterdam 27–29 octobre 1969. Amsterd./London 1971. – Richard L. De Molen (Hg.): Essays on the Works of E. New Haven/London 1978. – E. v. R. Vorkämpfer für Friede u. Toleranz. Kat. Histor. Museum Basel. Basel 1986. – C. Coppens, Jozef IJsewijn u. a. (Hg.): Erasmiana Lovaniensia. Löwen 1986. – Actes du colloque international Erasme. Hg. Jacques Chomarat. Genf 1990. – Erasmus-Rezeption in Landessprachen: Margaret Mann Phillips: Erasme et les débuts de la réforme française 1517–34. Paris 1934. – Dies.: E. and Propaganda. A study of E. in English and French. In: Modern Language Quarterly 1942, S. 1–7. – James Hutton: E. and France: the Propaganda for Peace. In: Studies in the Renaissance 8 (1961), S. 103–127. – Maria Cytowska: L’influence d’Erasme en Pologne au XVIe siècle. In: Renaissance u. Humanismus in Mittel- u. Osteuropa. Hg. Johannes Irmscher. Bd. 2, Bln. 1962, S. 192–196. – Otto Herding: Die dt. Gestalt der ›Institutio Principis Christiani‹ des E. In: FS Gerd Tellenbach. Freib. i. Br. 1968, S. 534–551. – Irmgard Bezzel: Leo Jud als Erasmusübersetzer. In: DVjs 1975, S. 628–644. – Worstbrock. – E. v. R. 1469–1536. Dt. Übers.en des 16. Jh. Ausstellung der Bayer. Staatsbibl. 25.2.3.5.1980 (Kat.). – Heinz Holeczek: E. of R. and the Dissemination of His Writings in German. In: E. of R. Society Yearbook 3 (1983), S. 23–55. – Ders.: E. Deutsch. Bd. 1: Die volkssprachl. Rezeption des E. v. R. in der reformator. Öffentlichkeit 1519–36. Stgt. 1986. – Irma Eltink: E.-Rezeption zwischen Politikum u. Herzensangelegenheit. Diss. Amsterd. 2006. Heinz Holeczek
Erastus, Thomas, eigentl.: T. Lüber, Lieber, Liebler, * 7.9.1524 Baden/Aargau, † 31.12.1583 Basel. – Mediziner u. Theologe. Nach Abschluss eines Medizinstudiums in Bologna (Dr. med. 1552) war E. ab 1555 Leibarzt der Grafen Wilhelm u. Georg von Henneberg. 1558 wurde er Medizinprofessor an der Universität Heidelberg u. spielte fortan an der Universität u. in der kurpfälz. Landeskirche eine führende Rolle. Der
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streitbare Verfechter des reformierten Bekenntnisses Zürcher Prägung hatte zunächst maßgebl. Anteil am Triumph der Reformierten (1560). Spannungen zwischen der Zürcher u. Genfer Lehre in Fragen der Kirchenzucht brachten ihn dann aber in schwere Bedrängnis. In den Heidelberger Antitrinitarierprozess verwickelt, zeitweilig im Kirchenbann (1570/76), konnte er seine Professur jedoch behaupten. Erst als Kurfürst Ludwig VI. die Kurpfalz lutheranisierte, wich E. nach Basel (1580). Er stand mit zahlreichen Theologen u. Medizinern im Austausch (Bullinger, Gwalther, Grynaeus, Joachim Camerarius d.J., Konrad Gessner, Johann Crato von Kraftheim). Unter E.’ kontroverstheolog. Schriften ragt eine Verteidigung der zwinglian. Abendmahlslehre hervor (Bericht/ wie die wort Christi/ Das ist mein leib/ etc. zu8 uerstehen seien. Heidelb. 1562); sie bildete einen Grundstein für die Bekenntnisbildung im Heidelberger Katechismus (1563). In seiner der »ecclesiastica disciplina« gewidmeten Explicatio (1569. Gedr. London 1589) verfocht E. unter Ablehnung einer presbyterialen Sittengerichtsbarkeit die Auffassung, dass sich die obrigkeitl. Rechtsgewalt zwar nicht auf die geistl. Belange der Kirche, wohl aber auf äußere Organisation, Kirchen- u. Sittenzucht erstrecke. Mehrere Schriften widmete E. der Astrologie; insbes. mit der Defensio libelli Hieronymi Savonarolae (Paris 1569) u. den Briefen De astrologia divinatrice (Basel 1580) rüttelte er an Voraussetzungen von Astromedizin u. Prognostik. Mit Werken zur Arzneimittellehre trat er einem übertriebenen Glauben an Existenz u. Wirkung »okkulter« Tugenden bestimmter Heilmittel entgegen (De occultis pharmacorum potestatibus. Basel 1574. De medicamentorum purgantium facultate. Basel 1574. Examen de simplicibus. Lyon 1607. De auro potabili. Basel 1578.). An der therapeut. Überlegenheit der galenistischen Materia medica über die zukunftsträchtigen Arzneien der paracelsist. Arztchemiker hegte E. keinen Zweifel. E.’ Summe antimag. Denkens, die Disputationen De medicina nova Philippi Paracelsi (Basel 1571/73), sollte dem sich anbahnenden Siegeszug der pharmazeut. Chemie wehren;
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nicht zuletzt trugen vermeintlich häresieverdächtige Verflechtungen zwischen Magie u. Religion dazu bei, dass sich E. zum Anwalt von galenistischer Schulmedizin u. reformierter »pietas« machte u. den Paracelsismus bekämpfte. E. erblickte im medizinisch-naturkundl. Streben Hohenheims u. der Magia naturalis der von Ficino repräsentierten »Platonici« eine in Gemeinschaft mit Dämonen u. aus der Kraft Satans ausgeübte Kunst. Notwendig mündeten seine rabiat-calumniösen Sturmläufe wider die »bestia« Paracelsus in dem Urteil, der »Magus« Paracelsus u. seine Anhänger seien der Todesstrafe würdige Kapitalverbrecher. E.’ Versuch, Weltsicht u. naturforscherl. Ansprüche der »Platonici« zu entzaubern, verrät oft eine Pionieren empir. Naturforschung verwandte Haltung. Über deren enge Grenzen u. innere Brüchigkeit belehrt freilich schon ein Blick in die Johann Weyers De praestigiis daemonum (1563) entgegengesetzten Schriften De lamiis seu strigibus (Basel 1577/ 78), die noch deutlicher als sein Hauptwerk De medicina [...] Paracelsi E.’ Teufelsglauben bekunden u. der Tötung von »Hexen« das Wort reden. Die Masse seiner medizinisch-naturkundl. Werke richtete E. an die lateinverwurzelte Respublica litteraria. Ausnahmen bilden nur die Übersetzung eines Traktats Girolamo Savonarolas, die eine landessprachl. gebundene Leserschaft vor Astrologia divinatrix u. Astrologia medica warnen sollte (Astrologia confutata. 1557), ferner eine Pestschrift für den »gemeinen Mann« (Bericht. Heidelb. 1563). Die kirchenpolitisch-staatsrechtl. Lehren E.’ wirkten bes. in England u. Schottland nach (»Erastianism«). Seine aristotelisch-galenist. Physica hat das Paracelsusbild der Gegner Hohenheims nachhaltig mitgeprägt. George Taylor (eigentl. Adolf Hausrath) machte E. zur Hauptfigur eines Romans (Klytia. 1882. Lpz. 71909). Ausgaben: Deux dialogues touchant le pouvoir des sorcières. Genf 1579. In: Jean Wier (Johann Weyer): Histoires [...] des illusions [...] des diables. Hg. Désiré Magloire Bourneville. Paris 1885. New York 1976. – Epistola de natura [...] lapidis sabulosi. Basel 1572. Hg. u. übers. v. Wolfgang Ziehen. Aalen 1984.
Erastus Literatur: Eberhard Stübler: Gesch. der medizin. Fakultät der Univ. Heidelb. Heidelb. 1926, S. 42–53 u. ö. – Thorndike, Bd. 5, S. 652–667. – Ruth Wesel-Roth: T. E. Ein Beitr. zur Gesch. der reformierten Kirche u. zur Lehre v. der Staatssouveränität. Lahr 1954 (mit ergänzungsbedürftigem Werkverz.). – Hedwig Pfister: Bad Kissingen vor 400 Jahren. Würzb. 1954, S. 17–26 (mit Abdr. eines Gutachtens E.’ über das Kissinger Mineralwasser). – Johann Karcher: T. E. In: Gesnerus 14 (1957), S. 1–13. – Daniel Pickering Walker: Spiritual and demonic magic from Ficino to Campanella. London 1958, S. 156–166. – Walter Pagel: Paracelsus. Basel 2 1982, S. 311–333. – R. Wesel-Roth: E. In: NDB. – W. Pagel: E. In: DSB, Bd. 4 (1971), S. 386–388. – Gustav Adolf Benrath: Die Korrespondenz zwischen Bullinger u. T. E. In: Heinrich Bullinger 1504–75. Hg. Ulrich Gabler u. Erland Herkenrath. Bd. 2, Zürich 1975, S. 87–141. – Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle: Humanismus u. Medizin an der Univ. Heidelb. im 16. Jh. In: Semper Apertus. 600 Jahre Ruprecht-Karls-Univ. Hg. Wilhelm Doerr u. a. Bd. 1, Bln./Heidelb./New York 1985, S. 255–289. – Elmar Mittler (Hg.): Bibliotheca Palatina. Textbd. Heidelb. 1986 (Kat.) s. v. – Christopher J. Burchill: The Heidelberg Antitrinitarians. Baden-Baden 1989. – Friedrich Wilhelm Bautz: E. In: Bautz. – Charles D. Gunnoe: T. E. and his Circle of Anti-Paracelsians. In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast v. Hohenheims im dt. Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hg. J. Telle. Stgt. 1994, S. 127–148. – Jole Shackelford: Early Reception of Paracelsian Theory. Severinus and E. In: Sixteenth Century Journal 26 (1995), S. 123–135. – Charles D. Gunnoe: E. and Paracelsianism. Theological Motifs in the Thomas E.’ Rejection of Paracelsian Natural Philosophy. In: Reading the book of nature. The other side of the scientific revolution. Hg. Allen G. Debus u. Michael T. Walton. Kirksville 1998, S. 45–65. – Ders.: T. E. in Heidelb. A Renaissance Physician during the Second Reformation, 1558–80. Diss. University of Virginia. Ann Arbor 1998 (mit Werk- u. Briefverz.). – Gustav Adolf Benrath: E. In: RGG, Bd. 2 (1999), S. 1384. – Dagmar Drüll: Heidelberger Gelehrtenlexikon. Bd. 1, Bln. 2002, S. 141 f. – Melanchthons Briefw. Bd. 11. Personen A-E, Bearb. v. Heinz Scheible u. a. Stgt.-Bad Cannstatt 2003, S. 412. – Jaumann Hdb. – Veronika Feller-Vest: E. In: HLS. – William R. Newman: Atoms and Alchemy. Chymistry and the Experimental Origins of the Scientific Revolution. Chicago 2006, S. 45–65. – Ralf Bröer: Antiparacelsismus u. Dreieinigkeit. Medizin. Antitrinitarismus v. T. E. (1524–83) bis Ernst Soner (1572–1605). In: Ber.e zur Wissenschaftsgesch. 29
Erb (2006), S. 137–154, hier S. 138–141. – CP I-II (zu Schr.en gegen E.). Joachim Telle
Erb, Elke, * 18.2.1938 Scherbach/Eifel. – Lyrikerin u. Übersetzerin.
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mentare sich überlagern, eine unauflösl. Einheit bilden u. den Schreibprozess erkennbar werden lassen. Mit diesen Bänden fand E. zu einem Stil, der über die »Wendezeit« hinwegtrug u. E. auch im wiedervereinigten Deutschland große Anerkennung einbrachte. Mit dem Gedichtband Unschuld, du Licht meiner Augen (Gött. 1994) bezieht sich E. auf das Werk Friederike Mayröckers u. bemüht sich um eine dezidiert weibl. Schreibweise. Lebensgeschichtliche, polit. u. poetolog. »Auskünfte« erteilt sie schließlich in dem Prosaband Der wilde Forst, der tiefe Wald (Gött. 1995) u. in Mensch sein, nicht (Basel 1998), einem Band mit Gedichten u. Tagebuchaufzeichnungen. 1967–1978 war E. mit dem Schriftsteller Adolf Endler verheiratet. Heute lebt sie in Berlin u. im sächs. Wuischke. Sie ist Mitgl. der Sächsischen Akademie der Künste u. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel-Preis (1988), den HeinrichMann-Preis (1990 zus. mit Adolf Endler), die Ehrengabe der Schillerstiftung (1993), die Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille (1994), den Ida-Dehmel-Preis (1995), den Norbert-C.Kaser-Preis u. den F.-C.-Weiskopf-Preis der Akademie der Künste Berlin (beide 1999).
Die Tochter des marxist. Literaturhistorikers Ewald Erb, der 1949 mit seiner Familie in den Osten Deutschlands übersiedelte, studierte in Halle 1957–1963 Germanistik, Russisch u. Pädagogik, arbeitete danach bis 1966 als Lektorin beim Mitteldeutschen Verlag in Halle, wurde 1966 freie Literaturkritikerin in Berlin u. trat Ende der 1960er Jahre v. a. als Lyrikerin u. Übersetzerin russ. u. sowjet. Literatur hervor (Blok, Pasternak, Zwetajewa). Zentrum ihrer literar. Produktion ist die Bemühung um höchste Präzision u. Authentizität der eigenen poet. Texte, im Wesentlichen orientiert an der subjektiven Geschichte der Autorin. Dabei nutzt E. die ganze Skala der poet. Sprechweisen vom streng gebundenen Vers bis zu experimenteller Offenheit. In ihren frühen Bänden Gutachten (Bln./DDR 1975) u. Einer schreit (Bln./West 1976) gab sie dem schockhaften Erstaunen angesichts der Sensationen des Alltäglichen Ausdruck (»Denkt euch, ich habe einen Zaun gesehen«); später galt dieses Erstaunen zunehmend den Weitere Werke: Das bucklige Pferdchen (zus. sprachl. u. gestischen Artikulationen des mit Adolf Endler). Urauff. Bln./DDR 1973 (KinMenschen: »Du? – sprichst zu schnell. / Und derstück). – Trost. Gedichte u. Prosa. Ausgew. v. dann ins tote Ohr.« E.s Texte gehen immer Sarah Kirsch. Stgt. 1982. – Vexierbild Bln./DDR häufiger von notierten Redensarten, literar. 1983 (L.). – E. E. u. Sascha Anderson (Hg.): BerühZitaten, Sprichwörtern aus (Der Faden der Ge- rung ist nur eine Randerscheinung. Köln 1985 (L.Anth.). duld. Bln./DDR 1978). Gleichzeitig setzten Literatur: Gerrit-Jan Berendse: E. E. In: KLG. – sprachspielerische Erkundungen ein, die der Ulrike Draesner: E. E. In: LGL. Auseinandersetzung mit einem Autor wie Adolf Endler / Red. Jean Arp u. der sympathisierenden Aufgeschlossenheit gegenüber den neodadaist. Exaltationen einiger der jüngsten DDR-LiteraErb, Ute, * 25.12.1940 Scherbach bei Bonn. ten zu danken sind. Im Lauf dieses Prozesses – Lyrikerin. wurde E. für die DDR-Literatur zur Initiatorin u. Protagonistin des miniaturhaften Pro- Die zwei Jahre jüngere Schwester von Elke sa-Gedichts im Sinn Baudelaires u. Rim- Erb siedelte 1949 mit ihrer Familie in die bauds. Gebündelt u. radikalisiert finden sich DDR über. Knapp 17-jährig floh sie, »aus die Techniken u. Elemente von E.s Schaffen Heimweh nach einem Deutschland, das es gar in den schwer deklarierbaren »Textbänden« nicht gab«, wieder in den Westen. Heimisch Kastanienallee (Bln./Weimar 1987) u. Winkel- weder im einen noch im anderen Teil züge oder nicht vermutete aufschlußreiche Verhält- Deutschlands, führte sie in den folgenden nisse (Bln. 1991, im Privatdruck 1984), in de- Jahren das Leben einer Entwurzelten: Sie nen Gedichte u. essayistisch-erzähler. Kom- wechselte häufig die Schule, ging nach
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Westberlin u. Israel, arbeitete als Hilfsarbeiterin, holte auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach, studierte Pädagogik u. engagierte sich für die Studentenbewegung. Heute lebt E. in Berlin. Als 17-Jährige schrieb E. ihr erstes Buch Die Kette an deinem Hals – Aufzeichnungen eines zornigen jungen Mädchens aus Mitteldeutschland (Ffm. 1960. Gütersloh 1962), in dem sie ihre Erlebnisse während des letzten Schuljahrs in der DDR schilderte. 1977 erschien ihr erster Band mit engagierter Lyrik Ein schöner Land (Bln.), der aufgrund ihrer virtuosen Handhabung klassischer Formen (Sonett) u. der Eingängigkeit ihrer poet. Sprache als Talentprobe einer großen Begabung gewertet wurde. Weitere Werke: Schulter an Schulter. Bln. 1979 (L.). Peter König / Red.
Erdheim, Claudia, * 6.10.1945 Wien. – Romanautorin.
Erdmuth(e) Sophie
Realitätenbesitzerin (Wien 1993) führt am Beispiel eines renovierungsbedürftigen Wiener Mietshauses die Geschäftspraktiken in der Immobilienbranche vor Augen. Der Roman So eine schöne Liebe (Wien 1995) gilt den Erfahrungen einer Lektorin u. eines Universitätsprofessors, die sich, beide um die 50 u. verheiratet, auf eine Liebesbeziehung einlassen, an ihren unterschiedl. Ansprüchen aber scheitern. E. steht in der Tradition der österr. Gesellschafts- u. Kulturkritik, ebenso in der Tradition der Sprachkritik. Seit Mitte der 1990er Jahre thematisiert sie – Resultat von Reisen nach Estland u. Russland – osteurop. Verhältnisse. Mit ihrem vorerst letzten Roman, Längst nicht mehr koscher. Die Geschichte einer Familie (Wien 2006), kehrte sie freilich wieder zu ihren autobiogr. Anfängen zurück: Es ist die Geschichte ihrer jüd. Familie zwischen 1874 u. 1945, zwischen wirtschaftl. Aufstieg, kultureller Assimilation u. Holocaust. E. ist Mitgl. der Grazer Autorenvereinigung u. der Literaturvereinigung »Podium«. Sie erhielt neben diversen Stipendien 1984 den Preis des Österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und Kultus, 1987 den Förderpreis der Stadt Wien u. 1998 den Förderpreis des Theodor-Körner-Preises.
E. studierte in Wien, München u. Kiel Philosophie u. Logik u. promovierte mit einer Arbeit über Philosophisch-logische Probleme in ungeraden Kontexten. Sie unterrichtete Logik an den Universitäten Kiel u. Hamburg u. lebt heute als Lehrbeauftragte für Philosophie in Wien. Im Mittelpunkt ihrer ersten literar. Publikation, dem Roman Bist du wahnsinnig geworWeitere Werke: Ohnedies höchstens die Hälfte. den? (Wien 1984), steht die Beziehung der Wien 1987 (R.). – Karlis Ferien. Wien 1994 (E.n). – Autorin zu ihrer Mutter, der bekannten Psy- Männer bitte klingeln. Wien 1995 (Szenen). – Virve. choanalytikerin Tea Genner-Erdheim. Die Wien 1998. – Eindrücke. Wien 1999. – Früher war skurril-komische Erzählweise ist geprägt alles besser. Wien 2000. Literatur: Helga W. Kraft: Seiltanz der Mütter durch die »erlebte Rede«; mit viel zitiertem Originalton, mit charakterist. Redewendun- u. Töchter in der Männerwelt. Schweigen u. gen, in denen sich aller Standesdünkel u. die Sprechversuche. C. E. ›Bist du wahnsinnig geworden‹ u. a. In: Mütter, Töchter, Frauen. Hg. dies. Eigenheiten der Berufsgruppe der PsychoStgt. 1993, S. 267–295. – Petra Ernst: C. E. In: LGL. analytiker widerspiegeln, holt E. das Bild der – Simone Winko: C. E. In: KLG. Mutter in die banale Realität der 1950er Kristina Pfoser-Schewig / Red. Jahre, der Kindheit der Ich-Erzählerin. Der Roman Herzbrüche. Szenen aus der psychotheraErdmuth(e) Sophie, Markgräfin von peutischen Praxis (Wien 1985) erregte Aufsehen Brandenburg-Bayreuth, geb. Kurprinzesdurch seine erbarmungslose Darstellung des sin von Sachsen, * 15.2.1644 Dresden, Scheiterns einer Therapie. Schon früher hatte † 12.6.1670 Bayreuth. – Verfasserin eines E. Kritik an der Psychoanalyse geübt – anenzyklopädischen Kompendiums. knüpfend an Karl Poppers Logik der Forschung. In den authent. Notaten der Herzbrüche rech- Die Tochter des Kurfürsten Johann Georg II. nete sie dann mit den selbsterlebten u. -er- von Sachsen u. Magdalenas, geb. Prinzessin littenen Psycho-Exerzitien ab. Der Roman Die von Brandenburg-Kulmbach, erhielt eine für
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jene Zeit vorzügl. Erziehung. Der Dresdner Erfurter Enchiridion, erstmals gedruckt Oberhofprediger Jakob Weller, in dessen 1524. – Frühes lutherisches Gesangbuch. Christlichem Hertz-Schreinlein, das ist, kurtze AnEyn Enchiridion oder Handbüchlein. eynem ytzliweisung zu Erkäntniß der Artickel des christlichen Glaubens auß Gottes Wort (Dresden 1655. 1675) chen Christen fast nutzlich bey sich zuhaben ersich eine Darstellung der begabten Prinzessin schien 1524 »Gedruckt zu Erffurd, yn der findet, überwachte die geistige Entwicklung Permenter gassen, zum Ferbefaß«, der Offides Kindes. Im Okt. 1662 heiratete E. den zin Johannes Loersfelts. Ebenfalls 1524 Markgrafen Christian Ernst von Branden- brachte unter dem gleichen Titel Mathes burg-Bayreuth. Zeitlebens kränklich, starb Maler aus der Offizin »Zum Schwarzen Hornn« einen Konkurrenzdruck heraus. Besie kinderlos schon mit 26 Jahren. E. u. ihr Gemahl pflegten Verbindungen reits 1525 schickte Loersfelt eine Ergänzung mit dem Nürnberger Dichterkreis; bes. nahe zu seinem Erfurter (oder: Färbefass-) Enchistanden sie Sigmund von Birken. Die Dich- ridion nach. Diese enthält eine Vorrede, die terin Catharina Regina von Greiffenberg Johann Eberlin von Günzburg zugeschrieben wird. Sie verurteilt in bildkräftiger Sprache wurde von ihnen unterstützt. Zu einem Bestseller wurde E.s in Tabel- Missbräuche beim Gottesdienst. Das E. E. umfasst 26 Lieder (16 mit Melolenform gehaltenes Kompendium zur Geschichte u. Beschaffenheit des Heiligen Rö- dien) von Martin Luther (17), Paulus Speratus mischen Reichs u. auch zu anderen Wissens- (3), Elisabeth Creutziger (1), Justus Jonas (1), gebieten (Handlung von der Welt Alter, deß Hei- Erhart Hegenwalt (1) sowie unbekannten ligen Römischen Reichs Ständen, und derselben Verfassern (3). Es handelt sich um PsalmenBeschaffenheit. o. O. 1666. 1668. 1669. 1670. lieder, Gesänge zu Ostern u. Pfingsten, LobLpz. 1674; u. d. T.: Sonderbare Kirchen- Staats- u. Danklieder. Einige der Lieder Luthers und Welt-Sachen [...]. Hg. Johann Georg Layriz. standen bereits im Achtliederbuch, zur JahNürnb. 1676. 1678. 1689. 1696). Als Anhang reswende 1523/24 in Wittenberg gedruckt, enthalten die erste u. zweite Auflage des die meisten erscheinen im E. E. erstmals, handl. Nachschlagewerks die Geschichte der darunter auch Luthers Lied Von den zween Königin Zenobia mit einem Kommentar, der Merterern Christi, das der zwei in Brüssel 1523 die Bewunderung der Autorin für eine starke, verbrannten Anhänger der neuen Lehre gedenkt. Die meisten Lieder sind in das EKG unabhängige Heldin bezeugt. Literatur: Wolfgang Ferber: Bey dem fürstl. übernommen worden. Kinds-Tauffen, des [...] fürstl. Fräwleins [...] den 20. Martii [...] Erdmuth Sophia [...]. Dresden 1644. – Heinrich Arnold Stockfleth: Frommer u. glaubiger Christen endl. Seelen Vergnügung [...]. Der [...] E. S. [...] Herzogin. Nunmehr hochseeligsten Andenckens [...] bey dero hoch-fürstl. Sepultur, den 23. Augusti anno 1670 [...]. o. O. 1670. – Caspar v. Lilien: Höchst betrauerl. Kronen-Fall [...]. Bayreuth [1670] (Leichenpredigt; darin das einzige überlieferte Gedicht E.s u. ein Trauergedicht Catharina Regina v. Greiffenbergs). – Carl F. Goeschel: E. S. [...]. Bln. 1852. – Joachim Kröll: Bayreuther Barock u. frühe Aufklärung. Tl. 1. In: Archiv für Gesch. v. Oberfranken 55 (1975), S. 55–177. – Michael Peters: E. S., Markgräfin v. Brandenburg-Bayreuth (1644–70). In: Fränk. Lebensbilder 19 (2002), S. 65–80. – Der Briefw. zwischen Sigmund v. Birken u. Catharina Regina v. Greiffenberg. Hg. Hartmut Laufhütte. Tüb. 2005, passim. – DBA 288,226–230. Jean M. Woods / Red.
Ausgaben: Das E. E. (1524). Kassel 1929. – Das E. E. (1524). Neudr. mit einem Geleitwort hg. v. Konrad Ameln. Kassel u. a. 1983. – Luthers geistl. Lieder u. Kirchengesänge. Vollst. Neued. in Ergänzung zu Bd. 35 der Weimarer Ausg. Hg. Markus Jenny. Wien u. a. 1985. Literatur: Josef Benzing u. Helmut Claus: Lutherbibliogr. Baden-Baden 21989, Nr. 3575–3593: ›Die Erf. Enchiridien v. 1524 u. die auf sie zurückgehenden Drucke‹ (Konkordanz zum VD 16 im 2. Bd. der Lutherbibliogr. Baden-Baden 1994). – Friedrich Zelle (Hg.): Das älteste luth. Haus-Gesangbuch (Färbefass-Enchiridion) 1524. Gött. 1903. – Martin v. Hase: Die Drucker der Erfurter Enchiridien, Mathes Maler u. Johannes Loersfelt. In: Jb. für Liturgik u. Hymnologie 2 (1956), S. 91–93. – Günter Birkner: Luthers Verhältnis zum Geistl. Gesangbüchlein v. Johann Walter u. zum E. E. (Loersfeld) v. 1524. In: FS Hans Conradin. Hg. Volker Kalisch. Bern/Stgt. 1983, S. 21–34. – Ri-
307 chard Schaal [Günther Kraft] in: MGG (Sachteil) 2. Aufl. Bd. 3, Sp. 143 f. – Siegfried Bräuer: Thomas Müntzers Tedeum in den Erfurter Drucken v. 1524/ 25 u. die Umgestaltung des Gottesdienstes. In: Flugschr.en der Reformationszeit. Colloquium im Erfurter Augustinerkloster 1999. Hg. Ulman Weiss. Tüb. 2001, S. 173–200. Klaus Düwel / Red.
Erhard, Johann Ulrich, * 1647 Roseck, † 15.8.1718 Stuttgart. – Theologe; Lyriker.
Erhardt [...] Stadt Esslingen. Stgt. 1701. – Trauer- u. Trostgedicht auf den unverhofften Todes-Fall des weltberuffenen Grossbritann. Königs Wilhelmi III. Stgt. 1702. – Der unter dem Hauss Oesterreich gegen den Auf- u. Nidergang durch Gottes Schutz allzeit sigende röm. Adler. Stgt. 1705. – Der in Kriegs- u. Friedens-Zeiten blühende WürtembergMost [...] Neben einem [...] auff gesammten hochfürstl. Hoff gerichteten Neu-Jahrs-Wunsch [...] überreicht den 1. Januarii 1706. o. O. [Stgt.] u. J. – Dreyfacher Auffzug der sieben Planeten [...]. Stgt. 1707. – Würtembergische Pyramide, der Asche Leopoldi Magni u. dem [...] Herrn Josepho I. gewidmet. Stgt. o. J. [1705].
E. wuchs in Wildberg/Württemberg auf u. studierte seit 1667 in Tübingen Theologie Ausgabe: Himml. Nachtigall. Hg. u. komm. v. (Bakkalaureat am 21.8.1667, Magister am Christian Sinn. Konstanz u. a. 2002. 29.3.1671). Ab 1676 war er Klosterpräzeptor Literatur: J. Hartmann d.J.: E. In: ADB. – Roin Hirsau, 1679 wurde er Pastor in Maichin- bert Ludwig Hiller: J. U. E. Württemberg’s gen, 1689 in Gerlingen. Um 1696 erfolgte die ›Smallest Nightingale‹. Diss. Cornell University, Ernennung zum Hofpoeten. 1700 wurde er Ithaca/New York 1959. – Ders.: A protestant answer Gymnasialprofessor für Latein u. Poesie in to Spee’s ›Trutznachtigall‹. In: JEGPh 61 (1962), S. 217–231. – DBA 288,430–433. – K. Eberhard Stuttgart. Oehler: Eine schwäb. Nachtigall. Der barocke E. schrieb v. a. lat. Lyrik, darunter eine Dichterpfarrer J. U. E. In: Württemberg. Blätter für große Zahl von Epigrammen (Etesiae Heliconii, Kirchenmusik 61 (1994), S. 6–15. – Ders.: Nachtisive centuriae epigrammatum duae horis recreatio- gall u. Hofpoet. J. U. E., ein barocker schwäb. nis [...] conflatae. Tüb. 1673. Chiliadis epigram- Dichterpfarrer. In: BWKG 97 (1997), S. 35–58. matum partes duo. Stgt. 1680 [= Rosetum ParGuillaume van Gemert / Red. nassium, Tl. 4]). Das Hauptwerk dieser Zeit ist der Gedichtzyklus Rosetum Parnassium (Stgt. 1674), Roseti Parnassii, ampliatio (Stgt. Erhardt, Heinz, * 20.2.1909 Riga, † 5.6. 1675). u. Renovatio et propagatio Roseti Parnassii 1979 Hamburg-Wellingsbüttel; Grab(Stgt. 1678). Unter den späteren Werken ragt stätte: Hamburg-Ohlsdorf, Friedhof. – die deutschsprachige Sammlung Neu ver- Schauspieler, Kabarettist u. Schriftsteller. mehrte im Frühling, Sommer, Herbst und Winter Am Leipziger Konservatorium (1926–1928) singende himmlische Nachtigall (Stgt. 1706. ausgebildet, debütierte E., Sohn des Thea2 1751) hervor, die E. offenbar als protestan- terkapellmeisters Gustav Erhardt, 1932 am tisches Gegenstück zu Spees Trutznachtigall Deutschen Schauspiel in Riga als Komponist konzipierte. Herder nahm ein lat. Gedicht E.s u. Schauspieler. Im Reichssender Breslau trug in Stimmen der Völker in Liedern (2. Tl., 1779) er eigene Chansons u. Ulk-Texte vor, bis ihn auf, bedauerte dabei dessen Abhängigkeit Willy Schaeffers 1938 am Berliner »Kabarett von Balde, gönnte ihm aber trotz des der Komiker« engagierte. Nach der Entlas»Mönchslateins« einen besseren Nachruhm. sung aus der Kriegsgefangenschaft wurde E. Weitere Werke: Nomen super omne nomen, erfolgreicher Conférencier, Kabarettist, Bühsive, jubilus S. Bernhardi de nomine Jesu, aemulo nen- u. Filmkomiker. Wenige Tage vor seicertamine illustratus. Stgt. o. J. [ca. 1674]. – Jubi- nem Tod erhielt er das Große Verdienstkreuz lum Parnassium [...], cum [...] Jeremias Cunradus der Bundesrepublik Deutschland nachträgCellarius [...] suprema in philosophia laurea corolich zu seinem 70. Geburtstag. E. ist ein Stern naretur [...] excitatus a J. U. E. et Joh. Bernhardo im Walk of Fame des Kabaretts gewidmet. Haerlino. Tüb. 1674. – Lyrica miscellanea. Stgt. Neben den Hauptrollen in musikal. Lust1680 (= Rosetum Parnassium, Tl. 5). – Lustschertspielen an der Kleinen Komödie in Hamburg zender Auffzug der Götter u. Göttinnen [...]. Stgt. 1683 (Hochzeitsgedicht). – Mitleydens- Warnungs- begründeten v. a. die zahlreichen Filme seine u. Trost-Zeilen über die erbärml. Einäscherung der außerordentl. Popularität. E. spielte häufig
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den »kleinen Mann« (Willi Winzig), der sich nicht zuletzt aufgrund seiner liebenswürdigen Verlegenheit durchsetzen konnte. In seinen literar. Werken beherrscht E. die Kunst der Nonsensdichtung u. der Wortspielerei. Die heiter-ironischen, oft grotesken Verse u. Prosastücke decken – ohne politisch-gesellschaftl. Ambitionen – manches unangemessen Ernste auf. Werke: Das große H.-E.-Buch. Hann. 1970. 1997. Zuletzt Oldenb. 2003. – Satierliches. Hann. 1980.
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Literatur: Rainer Berg u. Norbert Klugmann: H. E., dieser Schelm! Die Lebensgesch. des großen Komikers. Hann. 1987. Reinhard Tenberg / Red.
Erk, Ludwig (Christian), * 6.1.1807 Wetzlar, † 25.11.1883 Berlin; Grabstätte: ebd., St. Elisabeth I. – Musikpädagoge, Chorleiter, Herausgeber von Schulliederbüchern, Liedsammler u. Anreger wissenschaftlicher Volksliedforschung. E. war in der Lehrerbildung u. v. a. in der musikal. Volksbildung als Chorgründer u. Dirigent tätig, in Berlin 1857 mit dem Titel eines kgl. Musikdirektors, 1876 eines Professors. Ein Großteil der dt. Chortradition baute auf seine vorbildl. Arbeit; Gleiches galt für viele Generationen bei der Gestaltung von Schulliederbüchern. Aus heutiger Sicht hat er seine nachhaltige Wirkung als innovativer Anreger einer wiss. Betrachtung der populären Liedüberlieferung u. einer krit. Volksliedforschung überhaupt. E. war Sohn eines evang. Kantors u. wurde vom Vater mit solider musikal. Bildung ausgestattet. Er war Schüler von u. a. Anton u. Johann André in Offenbach/M. sowie von anderen damals bekannten Musikern. Als Kind erlebte er ab 1813 in Dreieichenhain (Dreieich) bei Darmstadt zudem ein Umfeld, in dem er Volkslieder (Liedüberlieferung der einfachen, oft ländl. Bevölkerung) »in reicher Fülle« (Walter Salmen, in: MGG Bd. 3, 1953) kennenlernte (u. selbst später aus der Erinnerung aufzeichnete bzw. notieren ließ). Er gründete mehrere Lehrergesangvereine (u. a. in Moers, wo er bei seinem Schwager Adolf Diesterweg Seminarlehrer war). Als er 1835 nach Berlin an das Kgl. Seminar für Stadt-
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schullehrer berufen wurde, entstanden dort auf seine Initative hin 1845 »Erk’s Männergesangverein« u. 1852 ein gemischter Chor. Sein musikpädagog. Schwerpunkt zeigte sich in seiner Rolle als Herausgeber zahlreicher u. sehr erfolgreicher Schulliederbücher, u. a. der Liederkranz (Essen 1841). Für diese bearbeitete E. die Lieder in erhebl. Maße (vgl. Willi Gundlach: Die Schulliederbücher von L. E. Diss. Köln 1969), u. diese Schulliederbücher sind »entscheidend« für die Reformierung des dt. Schulgesangs. Damit schuf E. einen vorbildl. »anspruchslosen Liedton« (Salmen); er bevorzugte einen einfachen Melodiesatz u. eine leicht singbare Dur-Tonalität. E. gab ebenfalls mehrere Gebrauchsliederbücher für Chöre, bes. für Männerchöre, heraus, u. a. die Sammlung drei- und vierstimmiger Gesänge für Männerstimmen [...] (Essen 1835). In der noch im Entstehen begriffenen wiss. Volksliedforschung übertrug E. die textorientierte u. historisch interessierte Sammeltätigkeit eines Ludwig Uhland auf die »gegenwärtige mündl. Überlieferung seiner Zeit« (Wilhelm Heiske). Doch Uhland blieb »in der Gelehrtenstube« sitzen (Heiske) u. verließ sich auf Bibliotheksreisen u. fremde Sammlungen. E. dagegen betrieb Feldforschung u. regte an, die Lieder in ihrer tatsächlich überlieferten Gestalt zu dokumentieren. Aus der Vielzahl der Belege wollte er zu einer krit. überzeugenden Fassung kommen. Das war so damals neu, u. mit seinem zusätzl. Blick auf die Melodien begründete er auch eine musikal. Volksliedforschung. Hier lag um 1840 der Beginn einer krit. (Sammlung u.) Edition des dt. Volksliedes überhaupt. Bahnbrechend dazu ist ebenfalls der enge Freund (davon zeugt ein lebhafter Briefwechsel) August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dessen (zus. mit Ernst Richter) Schlesische Volkslieder mit Melodien (1842) die erste große wiss. Regionaledition überhaupt darstellen. E. übernahm die gesamte, überaus wichtige Sammlung von Hoffmann von Fallersleben (u. diese floss als wesentl. Teil in den »Erk-Böhme« ein). Als Dritter im Bunde ist Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth zu nennen, dessen Fränkische Volkslieder (Lpz. 1855) ähnlich innovativ sind. E. distanzierte sich damit deutlich vom romant. Volksliedbegriff, der
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Generationen vor ihm (u. noch nach ihm) wirkte. E. gab zwar Arnims u. Brentanos berühmte (nach heutiger Vorstellung jedoch unwiss.) Ausgabe Des Knaben Wunderhorn neu u. erweitert heraus (3 Tle. [1806/08], Tl. 4 hg. v. E. Bln. 1857), aber z.B. Anton Wilhelm von Zuccalmaglios Bearbeitung von Volksliedern nach Text u. Melodie (versch. Ausgaben seit 1840) wurden bereits 1848 von E. als mit einem »Übermaß von Verfälschungen« behaftet scharf kritisiert. Die Sammeltätigkeit von E. (eigene u. übernommene) umfasste zuletzt ca. 50.000 Liednummern (Texte, überwiegend mit Notierung der Melodien); sie liegt in Berlin, Abschriften davon (Manuskript für eine 1914 nicht realisierte Gesamtedition) in Freiburg i. Br. im Dt. Volksliedarchiv. Mit der Sammlung Erk ergab sich eine wesentl. Grundlage für die vorbildl. Erschließung der Liedlandschaften Hessen, Brandenburg u. Schlesien (Hoffmann von Fallersleben) mit zuverlässigen Aufzeichnungen (z.T. systematisch u. in mehreren Varianten) aus den Jahren 1830 bis 1880. E. war offensichtlich in der jungen Volksliedforschung schon früh eine der treibenden Kräfte; er notierte z.B. 1839 zu einem Lied: »Von der Mutter unserer Dienstmagd Caroline Schulz aus Schwedt«. Gemessen an dem, was bis um 1840 üblich war (u. teilweise noch Jahrzehnte danach blieb), nämlich die unkrit. Abschrift von Liedtexten (ohne oder wie im Wunderhorn mit fingierter Quellenangabe) u. die Notierung von Melodien mit dem alleinigen Ziel, einen »vollständigen« u. »korrekten« Text (u. die »richtige« Melodie) zu »retten«, ist die real dokumentierende Praxis dieser neuen Generation ein beachtl. Schritt. E.s Gesamtwerk spiegelt sich in zahlreichen Editionen u. Gebrauchsliederbüchern: (Bd. 1 zus. mit Wilhelm Irmer) Die deutschen Volkslieder mit ihren Singweisen (Bd. 1, H.e 1–6, Bln. 1838–41) u. Neue deutsche Volkslieder [...] (Bd. 2, H.e 1–6, Bln. 1841–44. Bd. 3, H. 1, Bln. 1845). Neben dieser für die Praxis gedachten Ausgabe entsteht der erste Versuch einer krit. wiss. Gesamtedition mit dem Deutschen Liederhort (Bln. 1856). Aufgrund der umfangreichen Sammlung im Nachlass konnte Franz Magnus Böhme den dreibän-
Erk
digen Deutschen Liederhort (Bln. 1893/94) in sehr kurzer Zeit herausgeben. Das Werk blieb notwendigerweise mit manchen Fehlern u. Flüchtigkeiten Böhmes behaftet (vgl. Erich Seemann, in: Jb. für Volksliedforsch. 1, 1928, S. 183–185), aber dieser »Erk-Böhme« bildet bisher (in der Vielfalt der übersichtlich präsentierten Überlieferung) ein Standardwerk als gültige Grundlage zur Identifizierung deutschsprachiger populärer Liedüberlieferung. Die Breite des Ansatzes rückte »Volkslied« aus dem Winkel der Einseitigkeit (u. schloss z.B. Kirchenlied mit ein). Der »ErkBöhme« wurde aus kommunist. Ideologie heraus vorschnell als »reaktionär, preußischjunkerlich und antidemokratisch« verurteilt (so Hermann Strobach: Deutsches Volkslied in Geschichte und Gegenwart. Bln./DDR 1980, S. 20); erst nach der »Wende« konnte dieses Fehlurteil relativiert werden (Otto Holzapfel u. a. 1993). E. war zus. seinem Bruder Friedrich Erk u. seinem Schwager Wilhelm Greef Bearbeiter versch. Gebrauchsliederbücher, so dass die Autorschaft mehrfach verwechselt wird; das Lahrer Kommersbuch (1858) ist von Friedrich Erk (s. u.). Es enstanden ebenfalls u. a.: Turnund Wanderlieder für die deutsche Jugend, (zus. mit W. Greef) Kindergärtchen (1843), Musikalischer Jugendfreund, Kinderlieder, Volksklänge usw., zumeist in vielen Auflagen u. späteren Bearbeitungen. Historische Interessen spiegeln: Der alte Fritz im Volksliede (Bln. 21851) u. Die deutschen Freiheitskriege in Liedern und Gedichten (Bln. 1863). Die Bibliothek von E. kaufte die Staatsbibliothek zu Berlin; der Nachlass besteht aus 41 Sammelbänden (ca. 30.000 Seiten). Der Männerchor »Erk 1845« in Berlin wurde 1986 gegründet; es gibt nach E. benannte Grundschulen in Dreieich, Langen (bei Offenbach/M.) u. Wetzlar. Weitere Werke: Chronolog. Verz. der musikal. Werke u. literar. Arbeiten v. L. E. 1825–67. Bln. 1867. – Volksklänge. Lieder für den mehrstimmigen Männerchor. Bln. (in H.n), H. 3, 1852; in 6 H.n 1856; H. 7, 1860. – Hg. v. Einl., Biogr.n, Melodien u. Gedichten zu Johann Ott’s Liederslg. v. 1544 (zus. mit Robert Eitner u. O. Kade). Bln. 1876. – Dt. Liederschatz. Bd. 1–3, Lpz. o. J.; Bd. 1 neu hg. v. Max Friedlaender. – [Das Siona. Choräle [...]. Essen
Erlauer Spiele 1876, wird zuweilen fälschlicherweise E. zugeordnet; es stammt v. seinem Bruder Friedrich. Gleiches gilt für das Allg. dt. Turnerliederbuch. Lahr 1862, u. für das Gesangbuch für Freimaurer. Düsseld. 1851]. Ausgaben: Liederkranz. Essen 341868. 631880. 78 1887. Hg. v. Wilhelm Greef u. Friedrich Wiedermann. 1902. Neu bearb. v. F. Wiedermann u. L. Krämer. 1913. 1916. 1231923. – Die dt. Volkslieder mit ihren Singweisen (zus. mit Wilhelm Irmer). Hg. Johannes Koepp. Bd. 1–2, Potsdam 1938. Neudr. Hildesh. 1982. Literatur: Ernst Schade: L. E.s krit. Liederslg. u. sein ›Volkslied‹-Begriff. Diss. Marburg 1971. – Weitere Arbeiten zu E. v. E. Schade u. a. in: Jb. für Volksliedforsch. 18 (1973), S. 117–119 [E. u. die Aufzeichnung v. Volksliedern im 19. Jh.] u. 35 (1990), S. 44–63 [Volkslied-Ed.en u. E.] sowie in: Hess. Bl. für Volkskunde 64/65 (1973/74), S. 275–279 [E. u. die Brüder Grimm]. – Lieder in Chorsätzen v. L. E. Hg. E. Schade. Bd. 1–2, Darmst. 1983. – E. Schade: Was das Volk zu singen weiß. Dreieich 1992. – Vgl. Otto Holzapfel: Liedverz. Bd. 1–2, Hildesh. 2006 (mit weiteren Hinweisen). Otto Holzapfel
Erlauer Spiele. – Sammlung von sechs Spieltexten aus der ersten Hälfte des 15. Jh. Die E. S. sind in einer Handschrift aus der ersten Hälfte des 15. Jh. überliefert (drei verschiedene Schreiber), die in der vorliegenden Form keinesfalls unmittelbaren Aufführungszwecken gedient haben kann. Es handelt sich vielmehr – wie verschiedene mit »vacat«- oder »etc.«-Vermerken versehene Textpassagen u. eine Vielzahl nacheinander aufgezeichneter Textalternativen zeigen – um ein Arbeitsmanuskript, anhand dessen neue Spieltexte erstellt bzw. Varianten für spätere Textbearbeitungen konserviert werden konnten. Dass mit den Spielen offenbar in entsprechender Weise verfahren worden ist, belegen Nachträge, Randbemerkungen, Streichungen u. Korrekturen von wenigstens drei weiteren Händen. Nach dem letzten Spiel findet sich ein Schreibervermerk, in dem auf die Herkunft der Vorlage(n) für die E. S. verwiesen wird. Danach stammte(n) diese aus Kärnten (Gmünd im Liesertal oder Umgebung), was auch durch die sprachl. Analyse der E. S. bestätigt wird.
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Das erste Spiel der Handschrift, das Erlauer Weihnachtsspiel (Erlau I), wurde vom Schreiber selbst als »ludus in cunabulis Christi«, also als Krippenspiel, apostrophiert. Der kurze, allerdings nicht vollständig aufgezeichnete Text (58 Verse) ist in Inhalt u. Form eine bislang singuläre Erscheinung unter den dt. Weihnachtsspielen. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Kindelwiegen u. Weihnachtsfreude, denen wirkungsvoll der Unglaube der Juden an der unbefleckten Empfängnis Mariae entgegengestellt wird. Umfangreiche u. detaillierte Regieanweisungen zu Beginn des Spiels regeln genau den Verlauf der von Instrumentalmusik begleiteten Einzugsprozession, die Lage der Bühnenorte u. das Verhalten der Darsteller. Auch das folgende Dreikönigsspiel (Erlau II; 356 Verse), das bislang älteste vollständig erhaltene Dreikönigsspiel im dt. Sprachgebiet, war mit einer Prozession der Darsteller zum Aufführungsort verbunden. Während das Erlauer Weihnachtsspiel jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach als »Stubenspiel« inszeniert werden sollte, fand die Aufführung des Dreikönigsspiels mit Sicherheit im Freien statt: Die Magier kommen beritten auf die Bühne, die Flucht nach Ägypten erfolgt auf einem Schlitten. Den Text bestimmen Einbindung in die Tradition u. der Wille zur Konkretisierung von Ereignissen: Der liturgischen Haltung breiter Textpartien steht in scharfem Kontrast die realist. Darstellung des bethlehemitischen Kindermordes gegenüber. Noch ausgeprägter zeigt sich diese Tendenz im Erlauer Osterspiel (Erlau III), das in 1331 Versen mit den liturgisch geprägten Handlungsabschnitten (Gang der Marien zum Grabe, Hortulanusszene, Verkündigung der Auferstehung) ein durch u. durch säkularisiertes Salbenkrämerspiel verbindet. Wie im Innsbrucker, Melker u. Wiener Osterspiel bzw. im Lübener Osterspielfragment wird auch im Erlauer Osterspiel an dieser Stelle mit betont drast. Mitteln (Fäkalsprache, Sexualmetaphorik) eine der Heilswelt vollkommen entgegengesetzte, rein materialistisch orientierte Daseinsform vorgeführt u. nachdrücklich diskreditiert. Das zweiteilige Erlauer Magdalenenspiel (Erlau IV; 713 Verse) beginnt mit einem Teu-
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felsspiel, in dem die Teufel neun Seelen einfangen u. vor Luzifers Gericht bringen, u. leitet nach einer beide Handlungsblöcke verknüpfenden Luziferrede über in einen »ludus Marie Magdalene in gaudio«, in dem zunächst das ganz auf triebhaft-sinnl. Genüsse ausgerichtete Weltleben Magdalenas, dann aber um so eindringlicher ihre Reue u. Bekehrung geschildert werden. Im Erlauer Wächterspiel (Erlau V) wird in 477 Versen ein Ausschnitt des Ostergeschehens vorgeführt, der in Erlau III fehlt (Dingung der Grabwächter, Wache am Grabe, Christi Auferstehung u. Höllenfahrt, Bestrafung der Wächter). Das letzte Spiel, die Erlauer Marienklage (Erlau VI; 438 Verse), zeigt zu Beginn Maria, Maria Magdalena u. Maria Cleophe in einer kurzen Klage über den leidenden Christus, die sich dann – unter ständiger Aufforderung der Zuschauer zur »compassio« – in einem schmerzerfüllten Dialog zwischen Johannes u. der »mater dei« extensiv steigert. Ausgaben: E. S. Hg. Karl F. Kummer. Wien 1882. Neudr. 1977. Literatur: Alfred Bäschlin: Die altdt. Salbenkrämerspiele. Mulhouse 1929, passim. – Eduard Hartl: Das Drama des MA. Lpz. 1937. Neudr. 1964, passim. – Alois Koschar: Die ›E. S‹. In: Carinthia I, Bd. 160 (1970), S. 796–824. – Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 36–39, 43–47. – Hansjürgen Linke: Zwischen Jammertal u. Schlaraffenland. In: ZfdA 100 (1971), S. 350–370. – Bernd Neumann: E. S. In: VL. – Johannes Janota: Zu Typus u. Funktion der E. S.Aufzeichnung. In: Zeman, Tl. 1, S. 511–520. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – B. Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. Bernd Neumann / Red.
Erlenberger, Maria, unaufgelöstes Pseudonym einer wohl österreichischen Autorin, * um 1947. – Verfasserin von Erlebnisberichten, Romanautorin, Lyrikerin. Über die realen Lebensdaten der Schriftstellerin ist nahezu nichts bekannt. Dem gegenüber steht ein vermeintlich autobiografisch gefärbtes Werk: Paratexte legen eine Gleichsetzung von Ich-Erzählerin u. Autorin nahe,
Erlenberger
über den tatsächl. Fiktionalitätsgrad der Texte E.s kann nur gemutmaßt werden. Auch Ich-Perspektive u. überwiegende Präsensform erzeugen eine starke Unmittelbarkeit der »Erlebnisberichte«, mit denen sich die Autorin in die Aufarbeitungs- u. Betroffenheitsliteratur der 1970er u. 1980er Jahre einreiht. Bes. authentisch präsentiert sich der von der Kritik durchweg positiv aufgenommene Erstling der Autorin. Für Der Hunger nach Wahnsinn. Ein Bericht (Reinb. 1977) erhält E. 1978 den Bremer Förderpreis für Literatur, der Band erscheint in mehreren Auflagen u. wird ins Holländische übersetzt. E. beschreibt hier, wie sie nach einem »Selbstmordversuch durch Verhungern« – sie ist bis auf knapp 32 kg abgemagert – in eine psychiatr. Anstalt eingeliefert wird. Die Diagnose lautet auf »Skizofrenie«, Schreiben wird für E. zur Selbsttherapie. Das Ergebnis liegt mit ihrem ersten Buch vor, in dem sich erinnernde Rückschau an den Krankheitsverlauf u. Eindrücke des Klinikalltags abwechseln. E.s selbstentblößende »Konfession« wirkt verstörend; die Autorin schildert einen Fluchtversuch aus einer krank machenden Realität, der die Grenze zwischen Normalität u. Wahnsinn in Frage stellt: »Der Unterschied zwischen den Irren und den Normalen liegt nur darin, daß einer eingeliefert ist und einer nicht.« In E.s zweiter Veröffentlichung Das Erlernen der Totgeburt (Reinb. 1979) berichtet dieselbe Ich-Erzählerin: vom Kampf mit den Behörden, um den sechsjährigen Sohn vor der »Beschneidungsanstalt« Schule zu bewahren, vom Sterbeprozess der Großmutter sowie der retrospektiv geschilderten, traumatischen Schwangerschaft. Der Text fällt gegenüber dem Erstling in seiner Eindringlichkeit zurück, die Erzählstränge sind allzu gewollt u. konstruiert aufeinander bezogen; das Schreiben ist E. zum Brotberuf geworden. Selbstreflexionen u. der Dialog mit dem Leser dominieren E.s lyr. Versuche. In ihrer Gedankensammlung Ich will schuld sein (Reinb. 1980) entkommt die Autorin dem Kreisen um das eigene Ich nur selten. Ihr schriftstellerisches Selbstverständnis steht auch im Zentrum ihres Aufsatzes Literathure (In: Literaturmagazin 11, 1979), der eine ra-
Erlösung
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dikale Abrechnung mit Literatur u. Kultur- graphien. Heidelb. 1986. – Miroslawa Czarnecka: betrieb darstellt. Deutlich weniger drastisch Frauenlit. der 70er u. 80er Jahre in der BRD. Warberichtet E. in munterem Plauderton in schau/Breslau 1988. – Heinar Kipphardt: Laudatio Hoffnung auf Erinnern (Reinb. 1982) von einem auf M. E. In: Ders.: Ruckediguh, Blut ist im Schuh. Ess.s, Briefe, Entwürfe 2: 1964–82. Reinb. 1989, Dichtertreffen in Ostia, zu dem u. a. William S. 256–260. – Petra Ernst: M. E. In: LGL. – Riki S. Borroughs, Erich Fried, Allen Ginsberg u. Winter: M. E. In: KLG. Karoline Hornik Peter Handke erwartet werden. Inwieweit die hier geschilderten Begegnungen mit den Schriftstellern den Tatsachen entsprechen, ist Erlösung, Anfang des 14. Jh. – Heilsgefraglich – die Gespräche geben in erster Linie schichtliches Epos. Auskunft über E.s eigene Dichterexistenz. Allein ihr utopischer Roman Singende Erde Der unbekannte geistl. Dichter der E., dem (Reinb. 1981) verweigert den autobiogr. Ges- man lange auch eine Versfassung des Leben der tus, der ihr gesamtes restl. Werk durchzieht. heiligen Elisabeth zugeschrieben hat, verfügte Die erinnerungslose Ich-Erzählerin durch- über eine profunde theolog. Bildung u. war wandert hier nach dem Zugrundegehen der nicht nur in der lat., sondern auch der höfiZivilisation verschiedene Lebensräume (Kin- schen dt. Dichtung beschlagen. Die Gestalderkannibalengruppe, technisierte Hoch- tung der Tribunalszene (vv. 349–1034) zeugt hauskultur, Naturmystik u. a.); in einer Welt von guter Kenntnis der zeitgenöss. dt. ohne verbindliche äußere Ordnung führt der Rechtsprechung; die Beschreibung des GotWeg ins Innere der Ich-Figur – jedoch über- testhrons (vv. 433–466) erweist den Autor als schlagen sich die zahllos aneinandergereih- sachverständigen Kenner der got. Baukunst. ten Bilder. E.s einziger fiktionaler Versuch Sprache u. Reime des in mehreren Handwird in den Feuilletons fast ausnahmslos schriften u. Bruchstücken überlieferten Epos erlauben Rückschlüsse auf die Zugehörigkeit verrissen. Verschränkung von Leben u. Werk er- des Verfassers zum rheinfränk. Sprachraum. Die E. erzählt in 7022 Versen die Heilsgescheint bei E. ausgesprochen eng, ihr Pseudonym wirft die Schriftstellerin noch zusätz- schichte von der Schöpfung bis zum Weltlich auf die Figur ihrer Ich-Erzählerin zurück. ende unter Einschub dogmat. Erörterungen. Mit einer rein literaturkrit. Bewertung Der kunstvoll gestaltete Prolog (vv. 1–104), scheint man E. deshalb nicht gerecht werden als dessen stilist. Vorbild Gottfrieds von zu können (Ernst); in der Forschung wird Straßburg Tristan-Prolog gilt, ist in Strophen vornehmlich auf die Verflechtung von mit durchgereimten Vierzeilern verfasst u. Wahnsinn, Normalität u. Krankheit einge- wiederholt variierend das Leitwort »wungangen u. das Hungern als Aufbegehren ge- der«. Der Verfasser preist das Wunder der gen die zugeschriebene Frauenrolle bewertet Dreifaltigkeit u. legt seine Absicht dar, die (Czarnecka, Weigel). Evelyn Keitel wagt eine Menschwerdung des Gottessohnes zu schilGenrebestimmung. Sie beschreibt Hunger dern. Er werde nicht, wie das sein Publikum nach Wahnsinn als paradigmatisch für den li- vielleicht erwarte (vv. 83 f.), im Stil des höf. terar. Typ der »Psychopathographie«. E.s Romans (erwähnt werden v. 89–96 u. a. letzte Veröffentlichung liegt bereits über Iwein, Tristan u. Parzival), sondern ohne alzwanzig Jahre zurück, sie berichtet in der len Schmuck (v. 88: »ân allez flôrieren«) erErzählung Mein Körper von einem eben erlit- zählen. Die in Reimpaaren abgefasste Erzählung tenen Gehirnschlag, der ihre eine Körperhälfte lahmlegt – sie endet mit den Worten: setzt mit Schöpfung u. Sündenfall ein. Nun »Die Linke ist eiskalt, aber die andere Hand sitzt Gott, umgeben von den himml. Heerschreibt gut.« (In: Jochen Jung: Mein Körper. scharen, zu Gericht. In einer breit angelegten Gerichtsszene treten Gottvater als GerichtsSalzb. 1985). Literatur: Siegrid Weigel: Der schielende Blick. vorsitzender, umgeben vom Gottesrat mit 24 In: Inge Stephan u. dies.: Die verborgene Frau. Bln. »ratman«, die als Töchter Gottes dargestell1983, S. 83–137. – Evelyne Keitel: Psychopatho- ten göttl. Tugenden als Ankläger (Wahrheit /
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Erné
u. Gerechtigkeit) u. Verteidiger (Barmher- nach ihrer Entstehung wurden v. a. Dialogzigkeit u. Friede) u. Gottsohn als Urteils- szenen nahezu unverändert in die Spiele sprecher auf. Anlass für das Erlösungsge- übernommen. Entgegen der Prologaussage setzt der schehen ist der Streit der Töchter Gottes (Psalm 84,11): Barmherzigkeit u. Friede for- Dichter die Stilmittel der höf. Epik gekonnt dern Gnade für den gefallenen Menschen, ein. In Stil u. Verskunst steht die E. durchaus während Wahrheit u. Gerechtigkeit seine in der Nachfolge des höf. Romans; auch die Verurteilung verlangen. Eine Lösung wird Anordnung des Stoffes erfolgt in Anlehnung möglich, weil Gottsohn sich bereit erklärt, die an die höf. Epik als kontinuierl. Entfaltung Sünde des Menschen auf sich zu nehmen, eines Handlungszusammenhangs, den der sodass sie der Gerechtigkeit entsprechend Weg des »Helden« strukturiert. Neu ist in gesühnt u. die Menschheit damit gerettet diesem Ausmaß die planvoll entwickelte werden kann. Dieser Vorschlag wird ein- Prozesshaftigkeit des Heilsgeschehens. Im stimmig angenommen; die Trinität be- Stofflichen selbst, im objektiv-dogmatisch schließt, den Sohn zur Erlösung des Men- vorgegebenen Sinn der Heilsgeschichte steht schen auf die Erde zu senden. An alttesta- die E. als das letzte mhd. Bibelepos jedoch mentliche u. heidn. Christusweissagungen ganz in der Tradition der dt. Bibelepik. schließt eine in weiten Teilen auf das NT Ausgaben: Die E. Hg. Karl Bartsch. Quedlinb./ gestützte Schilderung des Erlösungsgesche- Lpz. 1858. Neudr. Amsterd. 1966. – Die E. Hg. hens an. Knapp berichtet werden Verkündi- Friedrich Maurer. Lpz. 1934. Neudr. Darmst. 1964. gung u. Empfängnis Mariens, die Geburt Literatur: Karl Bartsch: Der Dichter der E. In: Christi mit der Anbetung der Hirten u. der hl. Germania 7 (1862), S. 1–43. – Rolf Bergmann: drei Könige, die Flucht nach Ägypten u. der Studien zur Entstehung u. Gesch. der dt. PassiKindermord von Bethlehem, die Taufe Jesu, onsspiele des 13. u. 14. Jh. Mchn. 1972, S. 124–171. die Versuchung u. die Bergpredigt. Etwas – Walter Haug: Die Sibylle u. Vergil in der E. In: Lit. in der Gesellsch. des SpätMA. Hg. Hans U. Gumbreiter wird nach dem Einzug in Jerusalem u. brecht. Heidelb. 1980, S. 71–94. – Ursula Hennig: dem Abendmahl die Passion mit Höllenfahrt E. in: VL. – Ferdinand Urbanek: Die Tribunalszene u. Auferstehung erzählt; auf die Schilderung in der E. als Beispiel rhetor. Textsublimierung. In: der Himmelfahrt, des Pfingstwunders, der Euph. 74 (1980), S. 287–311. – Jens Haustein: Die Missionstaten der Apostel u. der Himmel- Höllenfahrtsszene in der E. In: Die Funktion aufahrt der Gottesmutter folgt die Geschichte ßer- u. innerliterar. Faktoren für die Entstehung dt. des Antichrist mit Enoch u. Elias. Im An- Lit. des MA u. der frühen Neuzeit. Hg. Christa schluss an die Beschreibung der Fünfzehn Baufeld. Göpp. 1994, S. 77–90. – Maria SherwoodVorzeichen des Jüngsten Gerichts (nach der Smith: Selbstgespräch zu dritt. Innertrinitar. GeHistoria Scholastica des Petrus Comestor) wird spräche im ›Anegenge‹ u. in der E. In: Dialoge. Hg. Nikolaus Henkel u. a. Tüb. 2003, S. 213–224. schließlich auf Christi Wiederkehr beim Claudia Händl / Christoph Fasbender Weltgerichtstag verwiesen. Erzählt werden also die dogmatisch wichtigen Ereignisse der Heilsgeschichte; die Wundertaten Jesu wer- Ermenrikes Dot ! Koninc Ermenrîkes den, abgesehen von der Hochzeit zu Kana, Dôt nur pauschal erwähnt. Die E. schließt mit Mahnungen des Dichters zu den sieben Erné, Nino, eigentl.: Giovanni Bruno E., Todsünden u. den zehn Geboten. * 31.10.1921 Berlin, † 11.12.1994 Mainz. Der belesene Dichter nutzte neben der – Schriftsteller, Dramaturg, Journalist, Vulgata auch apokryphe Schriften (so z.B. das Fernsehjournalist. Evangelium Nicodemi für die Höllenfahrt). Sicher verarbeitet hat er das Leben der heiligen Nach einer Jugend in Deutschland u. Italien Elisabeth. Ob er auch lat. u. dt. dramat. Quel- studierte E. in München u. Berlin Philologie len kannte, ist bisher nicht eindeutig ermit- (Dr. phil. 1944: Die schwebende Betonung als telt worden. Unbestritten ist die Wirkung der Kunstmittel in der Lyrik). 1945–1948 lebte E. in E. auf das geistl. Spiel der Zeit: Schon bald München, zeitweilig als Dramaturg an den
Ernesti
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Kammerspielen, u. hatte erste literar. Erfolge Ernesti, Johann August, * 4.8.1707 Tenn(1946 erhielt er den ersten Preis im Novellen- stedt/Thüringen, † 11.9.1781 Leipzig. – Wettbewerb der Zeitschr. Die Zukunft). Nach Lutherischer Theologe, klassischer Philoeiner Phase journalist. Arbeiten, 1950–1953 loge u. Pädagoge. in Mainz, übernahm E. eine Dozentur (Lecteur d’allemand) an der Universität Aix-en- Nach dem Besuch der Fürstenschule Pforta Provence, in einer Stadt, die bis in seine studierte E. Theologie, Philologie, PhilosoSpätwerke präsent blieb (Murmelpoeme. Ah- phie u. Mathematik in Wittenberg (1726) u. rensburg 1967. Der weiße Pavillon. Paderb. Leipzig (1728). Als Konrektor (1731), seit 1995). Nach 1961 arbeitete er als Verlagslek- 1734 Rektor der Thomasschule lehrte er tor in Hamburg u. schuf Fernsehfilme für den griech. u. lat. Klassiker, Universalgeschichte, NDR. Das Fernsehen bestimmte den weiteren Rhetorik u. Philosophie. Um ihn in Leipzig Weg: 1966–1973 Korrespondent des ZDF in zu halten, verlieh man E. 1742 eine außerorRom, dann Hauptredakteur »Aktuelles« für dentl. Professur litterarum humaniorum, Kulturberichterstattung des ZDF. Ab 1973 1756 eine ordentl. Professur für Beredsambis zu seinem Tod lebte E. in Mainz, mit li- keit, 1759 eine Professur für Theologie. In der klass. Philologie erwarb sich E. Verterar. Arbeiten befasst. 1979 wurde ihm der dienste durch Ausgaben u. Bearbeitungen Kunstpreis Rheinland-Pfalz verliehen. griechischer u. röm. Klassiker (Homer, Cicero E. brachte ein umfängliches u. vielgestaltiges literar. Werk hervor, das von literatur- u. a.) u. die Pflege der lat. Sprache. Sehr erwiss. Abhandlungen (Kunst der Novelle. Wiesb. folgreich waren seine vielfach aufgelegten 1956. Nachdr. Paderb. 1995. Don Quijotes Lehrbücher Initia doctrinae solidioris (Lpz. Lanze. Paderb. 1997) über Lyrik (Der sinnende 1736), eine an Wolff orientierte Einführung Bettler. Karlsr. 1946), Kurzgeschichten (Junger in die mathematischen u. philosoph. WisMann in der Stadtbahn. Mchn. 1959), Erzäh- senschaften, u. Initia rhetorica (Lpz. 1750), eine lungen (Fahrgäste. Mchn. 1981. Kinder des Sa- im In- u. Ausland gefeierte Einführung in die turn, drei Novellen. Stgt. 1987) zu einer Serie Rhetorik. In der theolog. Fakultät las E. vorrangig von Romanen reicht (Rom – ein Tag, eine Nacht. Karlsr. 1982. Nachruf auf Othello. Mchn. 1976. Hermeneutik des NTs, Kirchengeschichte u. Kellerkneipe und Elfenbeinturm. Mchn. 1979). E. Dogmatik. Die der Vernunft zugängliche naübersetzte Erzählungen u. a. von Dino Buz- türl. Gotteserkenntnis wird durch die Offenzati, Italo Calvino, André Maurois, Valery barung wesentlich erweitert. Dazu muss die Larbaud. Am bekanntesten wurde er jedoch Interpretation der Hl. Schrift methodisch durch seine Italien-Essays (Italien süß und gesichert werden. E.s Bemühungen um eine sauer. Wiesb. 1975. Italien wie ich es sehe. Gü- philologisch-histor. Schriftauslegung gipfeln tersloh 1977. 2., verb. Aufl. Ffm. 1982) u. in der Institutio interpretis Novi Testamenti (Lpz. 3 seine Fernsehfilme u. a. über Hermann Hesse, 1761. 1775), einem wirkmächtigen Lehrbuch Karl Kraus u. über Impressionen aus Italien. der neutestamentl. Hermeneutik. Durch die Italiens Kultur u. Städte bildeten ein Grund- sorgfältige Ermittlung des Sprachgebrauchs u. der histor. Umstände kann der Interpret thema seiner Filme u. Bücher. Literatur: Bibliografie: N. E.: Weiße, schwarz- den einen, vom Autor beabsichtigten Sinn gemusterte Flügel. Bramsche 1986, S. 60–69, jeder Stelle verstehen u. anderen erklären. 87–91. – Weitere Titel: Kosch 4, S. 156. – N. E.: Ge- Insofern unterscheidet sich die Auslegung boren in Bln. Ein Selbstporträt. In: Welt u. Wort 16 der Bibel methodisch nicht von der Inter(1961), H.1, S. 11 f. – Wolfgang Lohmeyer: Ein pretation profaner histor. Schriften. Im Sinne Enkel Don Quijotes. N. E. In: Aus Mainz – Vier- einer Verbindung von historischer u. dogmat. teljahrsh.e für Kultur, Politik, Wirtschaft, Gesch. Theologie nahm E. auch zu Lehrfragen H. 4 (1981), S. 60–68. – Mechthild Curtius: Auto(Abendmahl; drei Ämter Christi) auf der rengespräche. Ffm. 1991, S. 73–82. Grundlage einer nach seinen hermeneut. Walter E. Schäfer Prinzipien durchgeführten Schriftauslegung Stellung. Durch seine Hermeneutik, seine
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Ernst
Lehrtätigkeit u. nicht zuletzt durch das Rezensionsorgan »Neue [später: Neueste] Theologische Bibliothek« (1760–69; 1771–77) übte E. großen Einfluss auf die Theologen seiner u. der nächsten Generation aus (Samuel Friedrich Nathanaël Morus; Johann Salomo Semler; Carl August Gottlieb Keil u. a.).
says. 3 Bde., Zürich 1946. – Von Zürich nach Weimar. Zürich 1953 (Ess.). – Der Helvetismus. Zürich 1954 (Ess.). – Aus Goethes Freundeskreis. Zürich 1955 (Ess.).
Weitere Werke: Opuscola oratoria, orationes, prolusiones et elogia. Lpz. 1762. 21767. – Opuscula philologica critica. Lpz. 1764. 21776. – Opuscula theologica. Lpz. 1773. 21792.
Ernst, Gustav, * 23.8.1944 Wien. – Verfasser von Prosastücken, Dramen u. Gedichten.
Literatur: Emanuel Hirsch: Gesch. der neuern evang. Theologie. Bd. 4, Gütersloh 1952, S. 10–14. – Friedrich Christoph Ilgner: Die neutestamentl. Auslegungslehre des J. A. E. (1707–81). Ein Beitr. zur Erforsch. der Aufklärungshermeneutik. Lpz. 2002. – Bengt Löfstedt: Zu J. A. E.s Reden u. philolog. Schr.en. In: Acta antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 43 (2003), S. 257–261. – Friedrich Wilhelm Bautz: E. In: Bautz. Oliver R. Scholz
Nach dem Studium der Philosophie, Geschichte, Psychologie u. Germanistik lebt u. arbeitet E. heute als freier Schriftsteller in Wien. Er ist Mitgl. der Grazer Autorenversammlung, war von 1969 bis 1996 Mitherausgeber der Wiener Literaturzeitschrift »Wespennest«; seit 1997 gibt er gemeinsam mit Karin Fleischanderl die Literaturzeitschrift »kolik« heraus. Neben einigen Hörspielen u. Drehbüchern für Spielfilme (Exit ... nur keine Panik. 1980. Herzklopfen. 1985) verfasste E. Prosa, Gedichte u. Theaterstücke. Seine Prosaarbeit Am Kehlkopf. Vier Geschichten und ein Stück (Bln. 1974) stellt soziale Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Herrschenden u. Beherrschten dar am Beispiel von Haushälterin/Herrschaft, Angestelltem/Chef, Kind/Eltern. Als »Analyse einer gesellschaftlichen Bewegung zu zweit« versteht E. seinen Roman Einsame Klasse (mit 6 Bildern von Elisabeth Ernst. Königst. 1979. Wien 1995), in dem er die schwierigen Lebens- u. Arbeitsbedingungen junger Künstler darstellt. Soziale Gewaltverhältnisse sind der Anlass für das »moderne Volksstück« Ein irrer Haß (Ffm. 1981). Schonungslos entlarvend wird ein Milieu der Armut, Verzweiflung u. Lieblosigkeit in entsprechend derber, roher Sprache gezeichnet: Ein junger Mann, der nach mehrjähriger Haft nach Hause zurückkehrt, braucht Geld, um wieder Anschluss ans Leben zu finden. Eine Geiselnahme soll ihm bei dem neuen Start helfen. Das Unternehmen scheitert, der Gewalttäter wird verhaftet. Uraufgeführt 1979 erhielt E. dafür den Förderpreis der Frankfurter Autorenstiftung. In Österreich kam das Stück 1983 wegen der »ausgesprochen ordinären Sprache« nur in »drastisch entschärfter« Fassung auf die
Ernst, Fritz, * 14.6.1889 Winterthur, † 26.3.1958 Zürich. – Literaturwissenschaftler u. Essayist. E. studierte zunächst Jura, dann Germanistik in Zürich, Berlin u. Paris (Dr. phil. 1915). Danach war er 30 Jahre lang Geschichtslehrer am Zürcher Mädchengymnasium, ehe er für dt. Literaturgeschichte bzw. vergleichende Literaturwissenschaft an die Eidgenössische Technische Hochschule u. an die Universität Zürich berufen wurde. E.s bedeutendste Leistung waren seine Essays. In ihnen befasste er sich mit der schweizerischen Kulturgeschichte, die er als integrativen Bestandteil der europ. Geistesgeschichte betrachtete, u. der Frage nach einer eigenständigen Schweizer Literatur (Die Schweiz als geistige Mittlerin. Zürich 1932. Helvetia Mediatrix. Zürich 1939. Neuausg. 1945. Gibt es eine schweizerische Nationalliteratur? St. Gallen 1955), aber auch mit Goethe, Schiller, Alexander von Humboldt sowie der span. Literatur- u. Geistesgeschichte. Weitere Werke: Die romant. Ironie. Diss. Zürich 1915. – Studien zur europ. Lit. Zürich 1930 (Ess.). – Wilhelm Tell. Bl. aus seiner Ruhmesgesch. Zürich 1936. Neuausg. u. d. T. Wilhelm Tell als Freiheitssymbol Europas. Zürich 1979. – Die Sendung des Kleinstaats. Zürich 1940 (Reden). – Es-
Ausgaben: Späte Ess.s. Zürich 1963 (mit Bibliogr.). – Ges. Schr.en. Hg. Gunther G. Wolf. Heidelb. 1985. Charles Linsmayer / Red.
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Bühne. In seinem Stück Mallorca, 1986 in zus. mit K. Fleischanderl. Bln. 2003. – Blutbad, Wien uraufgeführt, setzt sich E. mit der ös- Strip u. tausend Rosen. Ges. Theaterstücke. Wien terr. Sozialdemokratie auseinander u. nimmt 2004. – Grado. Süße Nacht. Wien 2004 (P.). – den unreflektierten Alltagsgebrauch von Tollhaus. Szenen, Dialoge, kleine Stücke. Wien 2007. Meinungen, im Besonderen aber die PhraLiteratur: Wolfgang Straub: G. E. In: LGL. seologie der Politikersprache aufs Korn. Kristina Pfoser-Schewig / Wolfgang Straub 1987 legte E. mit dem Roman Frühling in der Via Condotti (Zürich) nach längerer Pause erstmals wieder ein Prosastück vor. Der RoErnst, Jakob Daniel, * 3.12.1640 Rochlitz/ man reflektiert Eindrücke eines längeren Meißen, † 15.12.1707 Altenburg. – VerRom-Aufenthaltes E.s in den Jahren 1983/84 fasser von Exempel- u. Predigtsammlunu. erzählt die Geschichte eines Ehepaares, gen, Erbauungs- u. zeitkritischen Schrifdas, nach 20 Jahren an die Orte der Hochten. zeitsreise zurückgekehrt, seinen Konflikten u. Streitigkeiten nicht zu entkommen ver- Nach dem Schulbesuch in Rochlitz u. Altenmag. In den Folgejahren wird E.s Prosa zu- burg schloss E., Sohn des Schuldirektors u. nehmend »dramatischer« u. dialogischer; späteren Pfarrers Daniel Ernst, sein Studium diese Entwicklung zeigt sich z.B. in dem in Leipzig 1662 als Magister ab; kurz darauf Roman Trennungen (Wien 2000), der als Mo- wurde er zum Dichter gekrönt. 1663 wurde er nolog eines gekränkten Ichs gestaltet ist, d.h. zum Pfarrer in Cribitsch bei Altenburg erals Rede bzw. Schimpftirade an ein fiktives nannt; 1678 übernahm er das Rektorenamt Gegenüber. Im Mittelpunkt stehen hier, am Altenburger Gymnasium u. ab 1681 wieebenso wie in der zwei Jahre später erschie- der verschiedene geistl. Ämter, bis er nenen »Rede« Die Frau des Kanzlers (Wien) die schließlich 1705 Stiftsprediger u. KonsistoriMotive der gescheiterten Beziehung, von alassessor zu Altenburg wurde. E. verfasste Erbauungsschriften wie Des Trennung u. Scheidung. In E.s Theaterstücken dominiert weiterhin Himmlischen Salomonis [...] Unheil von der wahdas Politische: Herzgruft (Urauff. Wien 1988) ren und falschen Glückseeligkeit der Menschen thematisiert das Vergessen geschichtlicher (Altenburg 1695. Mikrofiche-Ausg. New HaEreignisse u. Realitäten, Ein Volksfreund ven 1973), Predigten, etwa die Sammlung (Urauff. Wien 1994) den postmodernen Erndte-Predigten (Altenburg 1702), u. zeitkrit. Rechtsradikalismus. Die Figurenzeichnung Schriften wie die Wag-Schaale der Frantzosen wird dabei zunehmend pointierter; der polit. (Altenburg 1694). Vor allem aber trat er durch Anspruch, im Sinne Brechts an einer »ästhe- die Kompilation umfangreicher, z.T. mehrtische[n] Praxis des Widerstands« zu arbeiten, bändiger Exempelsammlungen hervor; zwischen Erbauungsschrift u. Exempelsammbleibt bestehen. Weitere Werke: Plünderung. Ein Fragment. lung ist dabei nicht immer eindeutig zu unWien 1970. – Wespennest. 20 Jahre brauchbare terscheiden. Manche Schriften, wie Das NeuTexte. Hg. zus. mit W. Famler. Wien 1989. – auffgerichtete Historische Bilder-Hauß (zuerst AlDrehbuch schreiben. Hg. zus. mit T. Pluch. Wien tenburg 1674/75) oder Die Neu-zugerichtete 1990. – Mit mir nicht. Wien 1991 (D.). – Nahauf- Historische Confect-Taffel (zuerst Altenburg nahmen. Zur Situation des österr. Kinofilms. Hg. 1677), geben schon im Haupttitel ihren zus. mit G. Schedl. Wien 1992. – (Hg.) Drehort kompilator. Charakter zu erkennen; andere, Schreibtisch. Film schreiben in Europa u. USA. wie Ehrenholds [...] Christmüthig-verachtete EiWien 1992. – Film Kritik Schreiben. Hg. zus. mit G. telkeit Des nichtig- und flüchtigen Welt-Wesens Haberl u. G. Schlemmer. Wien 1993. – Franz u. (zuerst Altenburg 1676), verweisen erst im Maria. Bln. 1994 (D.). – (Hg.) Sprache im Film. Wien 1994. – Faust. Brüssel 1995 (D.). – Exit II ... Untertitel auf die in ihnen enthaltenen Verklärte Nacht. 1995 (Drehb.). – (Hg.) Autoren- »Historien«. Die Fülle der Exempel, mit denen E. beFilm/Film-Autoren. Wien 1996. – Casino. Wien 1998 (D.). – Ideale Verhältnisse. Wien 2001 (D.). – lehren u. unterhalten will, sind den HistoriZum Glück gibt’s Österr.! Junge österr. Lit. Hg. enkompilationen u. Chroniken des 16. u. 17.
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Jh. sowie den bekannten protestant. Exempelsammlungen entnommen. Die umfangreichen Quellenverzeichnisse in einigen Werken bezeugen E.s große Belesenheit; die wiederholten Auflagen vieler seiner Schriften dokumentieren seinen Erfolg. Über die Anwendungsmöglichkeiten seiner teilweise mit kurzen Verseinlagen durchsetzten Exempelkompilationen äußerte E. sich theoretisch in der Anweisung, wie die drei Theile seines Historischen Bilder-Hauses [...] nützlich anzuwenden (2 Tle., Altenburg 1685); zwei weitere Auflagen dieser Anweisung lassen vermuten, dass E.s Exempelsammlungen auch als Handbücher für Prediger verwendet wurden. E.s Werk ist bisher bibliografisch nicht vollständig erfasst u. literaturhistorisch nicht einmal ansatzweise gewürdigt worden. Literatur: Bibliografie: Hugo Hayn u. Alfred N. Gotendorf: Bibliotheca Germanorum erotica et curiosa. Bd. 2, Neudr. Hanau 1967, S. 169–175. – Weitere Titel: Ernst H. Rehermann: Die protestant. Exempelslg. des 16. u. 17. Jh. In: Volkserzählung u. Reformation. Hg. Wolfgang Brückner. Bln. 1974, S. 580–645, bes. S. 622–625, 641–644. – Heiduk/ Neumeister, S. 326 f. – EM 4, Sp. 222–225. – Achim Aurnhammer: Harvey u. der Paduaner Herzaufschneider. Zur Resonanz der Vivisektion in der dt. Barockdichtung (Mitternacht, E., Wiedemann). In: Iliaster. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Hbg. 1999, S. 13–39. Dietmar Peil / Red.
Ernst, Otto, eigentl.: O. E. Schmidt, * 7.10. 1862 Ottensen bei Hamburg, † 5.3.1926 Hamburg-Groß Flottbek; Grabstätte: ebd., Stiller Weg. – Dramatiker, Erzähler, Essayist u. Lyriker. Der Sohn eines sozialdemokrat. Zigarrenmachers war nach Besuch der Hamburger Präparandenanstalt u. des Lehrerseminars (1877–1883) Volksschullehrer in Hamburg bis 1901, danach freier Schriftsteller. Für seine Gedichte (Norden) wurde er 1889 mit dem Augsburger Schiller-Preis ausgezeichnet. 1891 gründete er zus. mit Gustav Falke die »Freie Literarische Gesellschaft« in Hamburg. Selbst Vater von fünf Kindern, trat E. in zahlreichen Publikationen als Anwalt ihrer Rechte auf u. setzte sich für den Kunsterziehungsgedanken ein. Für die
»Freie Bühne« war er als Literaturkritiker tätig. In Fortsetzung der von Hauptmann wiederbelebten sozialkrit. Komödie ließ E. in Jugend von heute (Hbg. 1899) von Nietzsche begeisterte junge Kleinbürger-Snobs Revue passieren, die sich in nihilistischem Rausch als Überwinder klassischer Kunst aufspielen. Ähnlich erfolgreich war das Lustspiel Flachsmann als Erzieher (Lpz. 1901), dessen Reichtum an teils karikierten, teils liebevoll-sentimental geschilderten Lehrertypen die beabsichtigte Satire auf das wilhelmin. Bildungssystem überspielt. Die von E. geübte Kritik war kleinbürgerlich-liberal orientiert, antipreußisch, reformistisch, dabei aber loyal gegenüber dem Kaiser. Auf breiten Anklang der bürgerl. Leserschaft stieß seine autobiogr. Bildungsromanfolge Asmus Semper’s Jugendland (Lpz. 1905. 1922), Semper der Jüngling (Lpz. 1908. 1923) u. Semper der Mann (Lpz. 1916. 1938), weil sie das Ideal der Selbstbescheidung in psychologisch einfühlsamer, der Heimatkunst verpflichteter Darstellung u. in dem stimmungshaft-detailschildernden Stil darboten, den auch E.s »Plaudereien« pflegten. Bis heute populär blieben seine Kindergeschichten Appelschnut (Lpz. 1907. Rostock 1989. 21990 u. ö.) u. die Ballade Nis Randers. E.s Werk kommt auch sozialgeschichtl. Quellenwert zu, da es die Landflucht u. Lebensreformbewegungen der Jahre um den Ersten Weltkrieg widerspiegelt. Nahm er in dieser Zeit an der allg. Nationalisierung des polit. Denkens teil, so war er doch auch aufgeschlossen für sozialist. Experimente in den 1920er Jahren (vgl. seine Edition Internationales Arbeiterlesebuch. Kommunismus in Südamerika. Hbg. 1922). Weitere Werke: Die größte Sünde. Hbg. 1895 (D.). – Der süße Willy. Hbg. 1895 (E.). – Stimmen des Mittags. Lpz. 1901 (L.). – Die Gerechtigkeit. Lpz. 1902 (Kom.). – Vom Strande des Lebens. Lpz. 1908 (N.n u. Skizzen). – Laßt uns unsern Kindern leben! Buch für Eltern u. Erzieher. Lpz. 1912. – Nietzsche, der falsche Prophet. Lpz. 1914. – Gewittersegen. Ein Kriegsbuch. Lpz. 1915. – Sterntaler u. Sonnengulden. Bln. 1918 (Humor-Anth.). – Mann der Arbeit, aufgewacht! 1919 (L.). – Humo-
Ernst rist. Plaudereien. 4 Bde., Lpz. 1919. – Niederdt. Miniaturen. Vertell, vertell! Hann. 1925. Ausgaben: Ges. Werke. 12 Bde., Lpz. 1922/23. – Der dt. Schulmeister u. sein Werk. Ges. pädagog. Aufsätze u. Reden. Lpz. 1926. Literatur: Gustav Falke: O. E. in: Magazin für die Lit. des In- u. Auslandes 1895, Sp. 1713–1719. – Ottomar Enking: O. E. u. sein Schaffen. Lpz. 1912. – Karl Kraus: Die Feldgrauen [Über O. E.]. In: Ders.: Weltgericht (= Werke, Bd. 13). Mchn. 1965, S. 101–107. – Margarete Dierks: O. E. In: LKJL. – Franz Lösel: O. E.s ›Flachsmann als Erzieher‹ im zeitgenöss. Zusammenhang. In: Mutual Exchanges. Hg. Dirk Jürgens. Ffm. 1999, S. 209–221. Christian Schwarz / Red.
Ernst, (Karl Friedrich) Paul, auch: P. W. Spaßmöller, * 7.3.1866 Elbingerode/ Harz, † 13.5.1933 St. Georgen an der Stiefing/Steiermark; Grabstätte: ebd., Friedhof beim Schloss. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker u. Essayist. E. gehört zu den prägnantesten Vertretern der »Literatur der Antimoderne« u. zu einer exemplarischen Gestalt der Zeit- u. Geistesgeschichte am Ende des 19. u. Anfang des 20. Jh. Der Bergmannssohn aus dem Harz sollte urspr. Theologe werden, geriet jedoch auf dem Umweg über die Literatur ins geistige Umfeld der dt. Arbeiterbewegung. Nach wenigen Semestern Theologie in Göttingen, Tübingen u. Berlin wechselte er 1887 zur Nationalökonomie, studierte u. a. bei Gustav Schmoller in Berlin u. promovierte 1892 bei August Oncken in Bern. E. kam mit den Arbeiten von Marx in Berührung, konnte sich für den Historischen Materialismus jedoch nie recht begeistern. Für ihn blieb der Revolutionär ein »Phantast« u. »Illusionär«. Als Redakteur der Parteipresse u. Versammlungsredner gehörte E. in den 1890er Jahren zum linksradikalen Flügel der dt. Sozialdemokratie u. zog bald den Unmut der Parteiführung auf sich. Engels warnte aus dem fernen London vor jener »Clique vorlauter Literaten und Studenten«, die sich besser ans Schreiben von Romanen, Dramen u. Kunstkritiken halten sollten. Als E. sich unter dem Einfluss des konservativen Politikers Rudolf Meyer, an dessen Der Kapitalismus fin de siècle (1894) er mitarbeitete, von der Sozialdemo-
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kratie abwandte, bezeichnete ihn auch Kautsky als einen jener »Dandies der Literatur, die stets mit der neuesten Mode gehen«. Um 1886 hatte er in Berlin die Brüder Heinrich u. Julius Hart kennengelernt, die ihn in den Berliner Dichterzirkel »Durch« einführten. Im Umkreis des Naturalismus u. unter dem freundschaftl. Einfluss von Arno Holz u. Johannes Schlaf – mit ihnen kam es Ende der 1890er Jahre zum Bruch – hatte E. seine ersten literar. Versuche unternommen. Doch »all dies elende, dumme Zeug, das uns schon im Leben so anwidert«, schien ihm bald keiner künstler. Gestaltung wert. »Wir haben an die Stelle der Pflicht die Nerven gesetzt, an die Stelle des Sollens das Erkennen, wir denken vom Menschen wie vom Tier«, heißt es später in E.s Bemerkungen über mich selbst (in: Der Weg zur Form. Lpz. 1906). Gegenüber der neuromant. Abkehrbewegung vom Naturalismus u. ihrer Betonung der individuellen Persönlichkeit fand sich E. u. a. mit Samuel Lublinski u. Wilhelm von Scholz zur neuklass. Bewegung zusammen, deren Rückbesinnung auf die geschlossene Form u. Gattungstreue er in seiner Essaysammlung Der Weg zur Form theoretisch begründete u. im eigenen Werk zu praktizieren suchte. Mit seinem rasch anwachsenden erzählerischen Werk (über 250 Novellen) hatte E. Erfolg. Noch heute gilt er als Erneuerer der strengen Form der Novelle aus dem Geist Boccaccios, die alles »in einem einzigen Vorfall« bündelte, »von dem aus das Leben dann nach rückwärts und nach vorwärts bestrahlt wird« (vgl. auch seine Übersetzungen Altitaliänische Novellen. 2 Bde., Lpz. 1902). Seine gleichlaufenden Bemühungen – 1905 auch als Dramaturg am neu eröffneten Düsseldorfer Schauspielhaus, wo er zudem die Theaterzeitschrift »Die Masken« herausgab –, auch im Theater an die klass. Kunsttraditionen anzuknüpfen, waren weniger erfolgreich. Gegenüber dem zeitgenöss. Drama klagte er die absolute Sittlichkeit als Wertmaßstab ein. »Das Höchste des Menschlichen ist das Ethos«, bekundete er 1912 in der Vorrede zu Credo (2 Bde., Bln.), höher könne nur die Religion sein. Obwohl das Schauspiel Demetrios (Lpz. 1905) als »Ideengedicht von schlagender Macht« (Kerr) gerühmt wurde,
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waren die meisten von E.s Stücken wie Canossa (Lpz. 1908), Brunhild (Lpz. 1909), Ariadne auf Naxos (Weimar 1912) oder Preußengeist (Lpz. 1915) kunstvoll konstruierte Buchdramen, die jedoch rasch wieder von den Spielplänen verschwanden. Für Georg Lukács, mit dem E. eine Freundschaft verband, war er jedoch neben Stefan George einer der wenigen Großen der Gegenwart, die die Kraft fanden, über die »schöne, aber schmutzig schillernde Oberfläche« der meisten aktuellen Werke hinauszugelangen u. die Form zur »höchsten Richterin des Lebens« werden zu lassen. In den Jahren 1923 bis 1928 erschien E.s Kaiserbuch (6 Bde., Mchn. 1923 u. Ebersberg 1926/28) – mit seinen ungefähr 90.000 Versen eines der umfangreichsten Epen der dt. Literatur –, das die Geschichte der großen dt. Kaiser des MA erzählte. Fast ein Jahrzehnt brachte E., der seit der Jahrhundertwende die Existenz eines freien Schriftstellers führte, darüber zu. Die Reaktionen auf die Publikation des Kaiserbuchs schwankten zwischen erstaunter Ratlosigkeit u. höchstem Lob; von der Literaturwissenschaft wird das Werk jedoch bis heute wenig beachtet u. in modernen Literaturgeschichten oft ganz übergangen. Von 1925 bis zu seinem Tod lebte Ernst auf dem Schloss in St. Georgen an der Stiefing in der Steiermark – ohne Radio, Telefon oder Zeitungen. In dieser Zeit entstanden auch die erfolgreichen Romane Der Schatz im Morgenbrotstal (Lpz. 1926) u. Das Glück von Lautenthal (Mchn. 1933). 1931/32 stellten Arthur Hübner, Paul Kluckhohn, Werner Sombart u. Walther Vogel mit Unterstützung von über 100 geisteswiss. Lehrstühlen, darunter Georg Dehio, Julius Petersen oder Max Wundt, einen Antrag an die Schwedische Akademie in Stockholm, den Nobelpreis für Literatur an E. zu verleihen. Auch wenn E., den man zu den Vertretern der »Konservativen Revolution« rechnen kann, mit überzeugten Nationalsozialisten in Kontakt stand, war er doch ein klarer Gegner des Nationalsozialismus, den er »für eine große Gefahr hielt«; auch jegl. Art von Rassismus u. Antisemitismus lehnte er entschieden ab. Nach 1933 wurde E. von der nationalsozialist. Bewegung stark vereinnahmt (etwa von Will Vesper) – einige seiner Stoffe
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sowie sein Verständnis des Dichters als Führer u. Erzieher schienen dafür prädestiniert – u. avancierte zu einem viel gespielten Dramatiker. Weitere Werke: Polymeter. Bln. 1898 (L.). – Der schmale Weg zum Glück. Stgt. 1904 (R.). – Ninon de Lenclos. Lpz. 1910 (Trauersp.). – Der Tod des Cosimo. Bln. 1912 (N.n). – Manfred u. Beatrice. Bln. 1913 (D.). – Saat auf Hoffnung. Bln. 1916 (R.) – Der Zusammenbruch des Dt. Idealismus. Mchn. 1919 (Ess.s). – Der Zusammenbruch des Marxismus. Mchn. 1919 (Ess.s). – Komödiantengesch.n. Mchn. 1920. – Spitzbubengesch.n. Mchn. 1920. – Erdachte Gespräche. Mchn. 1921. – Chriemhild. Mchn. 1922 (D.). – Gesch.n v. dt. Art. Mchn. 1928. – Jugenderinnerungen. Mchn. 1929. – Grundlagen der neuen Gesellsch. Mchn. 1930. – Der Heiland. Ein Epos in Versen. Mchn. 1930. – Jünglingsjahre. Mchn. 1931 (Autobiogr.). – Beten u. Arbeiten. Breslau 1932 (L.). – Childerich (Trauersp.). Düsseld. 1959. – Gedanken zur Weltlit. Hg. Karl August Kutzbach. Gütersloh 1959. – Acht Einakter. Hg. ders. Emsdetten 1977. – Der Mann mit dem tötenden Blick. Hg. Wolfgang Promies. Ffm. 1979 (frühe E.en). – Briefe: Alexander Reck: Briefw. P. E. – Will Vesper 1919–33. Einf. – Ed. – Komm. Würzb. 2003. Gesamtausgabe: Ges. Werke. 21 Bde., Mchn. 1928–42. Literatur: Robert Faesi: P. E. u. die neuklass. Bestrebungen im Drama. Lpz. 1913. – Herbert Georg Göpfert: P. E. u. die Tragödie. Lpz. 1932. – Adolf Potthoff: P. E. Einf. in sein Leben u. Werk. Mchn. 1935. – Karl August Kutzbach (Hg.): Der junge P. E. Langensalza 1937. – Ders. (Hg.): P. E. in St. Georgen. Briefe u. Berichte aus den Jahren 1925 bis 1933. Gött. 1966. – Ders. (Hg.): Die neuklass. Bewegung um 1905. P. E. in Düsseldorf. Emsdetten 1972. – Ders. (Hg.): P. E. u. Georg Lukács. Dokumente einer Freundschaft. Emsdetten 1974. – Norbert Fuerst: Ideologie u. Lit. Zum Dialog zwischen P. E. u. Georg Lukács. Düsseld. 1975. – Andreas Wöhrmann: Das Programm der Neuklassik. Ffm./Bern 1979. – K. A. Kutzbach (Hg.): P. E. heute. Emsdetten 1980. – N. Fuerst: P. E. Der Haudegen des Geistes. Mchn. 1985. – Jutta Bucquet-Radczewski: Die neuklass. Tragödie bei P. E. (1900–10). Würzb. 1993. – Hildegard Châtellier: Verwerfung der Bürgerlichkeit. Wandlungen des Konservatismus am Beispiel P. E.s. Würzb. 2002. – Horst Thomé (Hg.): P. E. Außenseiter u. Zeitgenosse. Würzb. 2002. – Zeitschrift: Der Wille zur Form. Ztschr. der P. E.-Gesellsch. 1957 ff. Johann Michael Möller / Alexander Reck
Erpenbeck
Erpenbeck, Fritz, * 6.4.1897 Mainz, † 7.1. 1975 Berlin/DDR. – Redakteur, Theaterkritiker, Verfasser von Romanen u. Kriminalromanen.
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reinsten ausprägte: Die Aufklärung des Falls ist einem Polizeikollektiv übertragen; der Leser kann – soweit er sich für die Probleme des Kollektivs um den Genossen Hauptmann Peter Brückner überhaupt zu interessieren vermag – die Lösung selbst finden; u. das Verbrechen wird nicht nur als Übertretung juristischer Normen, sondern auch als Vergehen gegen den Sozialismus interpretiert.
Während der Weimarer Republik arbeitete E. als Schauspieler u. Regisseur von Agit-PropTheatern in Berlin u. als Dramaturg bei Erwin Piscator. Von 1927 an verfasste er satirisch-polit. Texte über die Situation der ArWeitere Werke: Emigranten. Moskau 1937. beiter für die »Rote Fahne« u. die »Links- Bln./DDR 1954 (R.). – Gründer. Moskau 1940. Bln. kurve«. Von 1933 an lebte E. mit seiner Frau 1945. 2. Tl., 1965 (R.). – Lebendiges Theater. AufHedda Zinner in der Emigration in Prag, wo sätze u. Kritiken. Bln./DDR 1949. – Wilhelm Pieck. er bis 1935 Mitherausgeber der »Arbeiter-Il- Ein Lebensbild. Bln./DDR 1951. – Aus dem Thealustrierten-Zeitung« war; anschließend lebte terleben. Aufsätze u. Kritiken. Bln./DDR 1959. – er bis 1945 in der UdSSR. Dort war er ver- Tödl. Bilanz. Bln./DDR 1965 (Kriminalroman). – antwortlicher Redakteur der von Bredel, Der Tote auf dem Thron. Bln./DDR 1973 (KrimiBrecht u. Feuchtwanger herausgegebenen dt. nalroman). – Der betende Engel. Kriminalgesch.n aus der DDR. Bln. 1999. Emigrantenzeitschrift »Das Wort« (Moskau Heidemarie Stegmann-Meißner / Red. 1936–39. Neudr. 11 Bde., Hilversum/Zürich 1969), in der die für die Herausbildung des literar. Sozialistischen Realismus wichtige Erpenbeck, Jenny, * 12.3.1967 Berlin/ Expressionismus- u. Realismusdebatte statt- DDR. – Prosaautorin, Dramatikerin, Refand. Die darin von Georg Lukács bestimm- gisseurin. ten Positionen wurden nach 1945 maßgeb- Einer in DDR-Kulturkreisen bekannten Falich für die Literaturtheorie in der DDR. Von milie entstammend, studierte E. von 1988 bis 1945 an gab E. die Zeitschrift »Theater der 1990 Theaterwissenschaften u. von 1990 bis Zeit« heraus, das für die DDR-Dramatik 1994 Musiktheater-Regie in Berlin. Im Anwichtigste Periodikum, in dem – neben schluss ist sie mit Inszenierungen an dt. u. Theaterkritiken u. -berichten – viele Dramen, österr. Bühnen, später auch eigenen Theadie nicht oder noch nicht als Buch erschienen, terstücken (Katzen haben sieben Leben. Urauff. vollständig abgedruckt werden. Von 1959 an Graz 2000. Leibesübungen für eine Sünderin. war E. Chefdramaturg an der Volksbühne Urauff. Berlin 2003) hervorgetreten. Nach Berlin. einigen Jahren Regiearbeit in Graz lebt sie E. war Georg Lukács’ Ästhetik verpflichtet heute wieder in Berlin. u. forderte eine sozialistisch-realist. Literatur E.s literar. Karriere begann mit der viel der Volkstümlichkeit als Synthese von bür- beachteten Geschichte vom alten Kind (Ffm. gerlich-realistischer u. der dieser Tradition 1999), der Parabel einer Identitätsverweigeverpflichteten sozialist. Literatur. Der rung, in der sich ein Findelkind als getarnte Kunstwert eines Dramas bemesse sich – so E. Frau entpuppt, die sich gegen jede Lebens– an der Aktualität seines Inhalts; in der chronologie in das Kollektiv eines KinderNachkriegszeit also an seiner antifaschist. heims begeben hat. Auch in ihrem ErzähTendenz. Nach der Uraufführung von lungsband Tand (Ffm. 2001) u. in Wörterbuch Brechts Mutter Courage 1949 u. verstärkt (Ffm. 2004), einem Psychogramm kindlichen während des Formalismusstreits 1951/52 Spracherwerbs im Schatten eines totalitären bekämpfte E. Brechts episches Theater, das er Regimes, zeigt sich die Hinfälligkeit von in die Nähe spätbürgerlicher Dekadenz identitätsbildenden Ordnungen wie Familie, rückte. Schule oder Staat als das bisher zentrale Sujet In den 1960er u. 1970er Jahren verfasste E. von E.s Prosa. Mit einer stark verknappten, Kriminalromane, in denen er die für dieses formalisierten Sprache unterscheidet sich die Genre in der DDR geltenden Normen am »Wortkünstlerin« E. (NZZ) deutlich vom
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zeitgenöss. Realismus der anderen »Enkel von Grass & Co«, mit denen sie für eine Aufsehen erregende Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« (Nr. 41/1999) posierte. Literatur: Thomas Kraft: J. E. In: LGL. – Heidelinde Müller: Das ›literarische Fräuleinwunder‹. Inspektion eines Phänomens der dt. Gegenwartslit. in Einzelfallstudien. Ffm. 2004, S. 79–97. – Kathleen Draeger: Versuch über einen Verlust – Schwierigkeiten mit der Identität. J. E.s Wörterbuch. In: Zwischen Inszenierung u. Botschaft. Zur Lit. deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jh. Hg. Ilse Nagelschmidt u. a. Bln. 2006, S. 139–151. Marc Reichwein
Ertl, Emil, * 11.3.1860 Wien, † 8.5.1935 Wien. – Vertreter des österreichischen Heimat- u. Geschichtsromans.
Ertl
schung der polit. Erwartungen von 1848. Auf der Wegwacht (Lpz. 1911) führt ins Österreich nach 1866, das geprägt ist vom Abstieg der Weberdynastien, dem Börsenkrach u. zunehmenden sozialen Konflikten. Im Haus zum Seidenbaum (Lpz. 1926. [1935]) erweitert den Romanzyklus zur Tetralogie. Nach der Annahme einer Resolution gegen das nationalsozialist. Deutschland durch den österr. PEN-Club im Juni 1933 erklärte E. neben anderen nationalen u. völk. Dichtern seinen Austritt aus dem Schriftstellerverband. E.s bodenständige Dichtung erzählt vom alten Wien der Habsburger Zeit, von Arbeit u. Fleiß als Haupttugenden des dt.-österr. Bürgertums. Weitere Werke: Mistral. Stgt. 1901 (N.n). – Gesprengte Ketten. Lpz. 1909. – Der Neuhäuselhof. Lpz. 1913 (R.). – Der Antlaßstein. Lpz. 1917 (R.). – Der Berg der Läuterung. Lpz. 1922 (N.n). – Karthago. Kampf u. Untergang. Lpz. 1924. Bln. [1941] (R.). – Gesch.n aus meiner Jugend. Lpz. 1927. Wien 1948 (Autobiogr.). – Das Lattacherkind. Ein Roman aus der Bergwelt. Lpz. 1929. Wien [1964]. – Meisternovellen. Hg. Heinrich Wastian. Lpz. 1930. – Lebensfrühling. Erinnerungen aus dem lieben alten Wien meiner Jugend. Lpz. 1932.
Aus einer alten Wiener Seidenweberfamilie stammend, studierte E. Jura, Philosophie u. Geschichte in Wien u. Graz (Dr. phil.). Zwischen 1886 u. 1927 lebte er in Graz als Bibliotheksbeamter u. später als Bibliotheksdirektor der k. k. Technischen Hochschule, seit 1927 als Hofrat i. R. wieder in Wien. Er war befreundet mit dem Heimatdichter Literatur: Alfred Walheim: E. E. Sein Leben u. Peter Rosegger, über den er 1923 seine Erin- seine Werke. Lpz. 1912. – E. E. zum 70. Geburtstag. nerungen (Peter Rosegger. Wie ich ihn kannte und Eine FS. Lpz. 1930. – Elfriede Ladich: Die Auffasliebte. Lpz.) veröffentlichte. sung der Gesch. Österreichs in den Romanen E. E.s. In den Liebesmärchen (Lpz. 1886. 21896. Diss. Wien 1949. – Werner M. Bauer: Ein Volk an Zuletzt Lpz. 1920) gestaltete E. Motive aus der Arbeit. Stil u. polit. Bedeutung der Seidenwedem dt. Volksmärchen. Seine Novellen waren ber-Romane v. E. E. In: Zeman Bd. 2, S. 1017–1036. Eva Weisz / Red. beeinflusst von der naturalist. Milieuschilderung u. knüpften an die gesellschaftl. Realität im Wien der Jahrhundertwende an. Ertl, Ignatius, * 15.8.1645 Ingolstadt, In seinem Lebenswerk, der Romantrilogie Ein † 20.9.1713 Schönthal/Oberpfalz. – AuVolk an der Arbeit. 100 Jahre Deutsch-Österreich im gustinereremit, Prediger. Roman (3 Bde., Lpz. 1912), beschreibt E. die industrielle u. soziale Entwicklung Öster- Der Sohn eines Hofgerichtsadvokaten wuchs reichs am Beispiel einiger Wiener Bürgerfa- in München auf u. besuchte dort bis 1661 das milien: Die Leute vom blauen Guguckshaus (Lpz. Jesuitengymnasium. Über weitere Studien u. 1906) spielt vor dem histor. Hintergrund der das Datum des Ordenseintritts ist nichts beBesetzung Wiens durch Napoleon u. hat die kannt. E. wirkte lange Zeit erfolgreich als Geschichte der Weberfamilie Kebach u. die »ordinari Prediger« in München u. wurde ab unproblemat. Einbindung des Handwerks in 1682 häufig zu Festpredigten in München u. den familiären Verband zum Thema. Der in diverse oberbayer. Klöster berufen. Später zweite Teil, Freiheit, die ich meine (Lpz. 1909), versah er die Kanzel im Frauenkloster Nieschildert den Wandel vom Handwebstuhl zur derviehbach/Niederbayern; den Lebensabend maschinellen Seidenweberei u. die Enttäu- verbrachte er im Kloster Schönthal, bis zu-
Ertler
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letzt mit der Drucklegung seiner Predigten Leibfreid: Fabel. Bamberg 1984, S. 150–152. – Peter Brecht: Kanzelberedsamkeit. Eine Studie zur beschäftigt. Als E.s Hauptwerk gilt der zweibändige, Rhetorik des Barockpredigers I. E. (1645–1713). In: jeweils rund 1000 Seiten umfassende Jahres- Pädagogik, Kunst, Wiss. [...]. Hg. Wolfgang Lang u. Hermann Patsch. Mchn. 1987, S. 3–39. – E. Moserzyklus Sonn- und feyer-tägliches Tolle Lege, das ist: Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag Geist- und lehrreiche Predigen (Nürnb. 1700 u. im Spiegel süddt. Barockpredigten. Stgt. 1991, 2 3 1705. 1708. 1715). Zu E.s Lebzeiten er- passim. – Manfred Knedlik: E. In: Bautz. schienen Rorantis coeli et amantis dei deliciae, das Elfriede Moser-Rath † / Red. ist: Auserlesene Rorate-Predigen (Nürnb. 1700), ein zweites Dominicale u. d. T. Promontorium Ertler, Bruno, * 29.1.1889 Pernitz/Niebonae spei, oder: Himmlisches Vorgebürg der guten derösterreich, † 10.12.1927 Graz; GrabHoffnung (Augsb. 1711) u. ein Band mit 36 stätte: ebd., St. Leonhard Friedhof. – ErFastenpredigten Amara dulcis, das ist: Bitter- zähler, Dramatiker, Lyriker. süsses Bußkraut (Nürnb. 1712). Postum folgten Der Sohn einer Postmeisterfamilie studierte Miscellaneae conciones (Augsb. 1715). Mit seiner die rhetor. Schulung der Jesui- ab 1909 in Graz Germanistik u. Kunstwisten verratenden Eloquenz war E. in erster senschaft (1916 Dr. phil.). Als Journalist u. Linie um die religiöse u. sittl. Unterweisung Kunstreferent war er bei verschiedenen Graseiner Zuhörerschaft bemüht, ging jedoch zer Zeitungen tätig. 1924 übernahm er das zgl. in bilderreicher Sprache auf ihr Alltags- neu errichtete Lektorat für Zeitungswesen an leben ein u. lieferte so Kulturbilder seiner der Universität Graz. Im Okt. 1926 fand der Zeit. Mit religiösen Beispielen, farbig ausge- in ärml. Verhältnissen lebende u. schwer sponnenen Fabeln u. von Humor zeugenden kranke Dichter eine Anstellung beim steierSchwanken exemplifizierte er die geistl. märk. Landes-Abgabenamt. Erstmals an die Öffentlichkeit trat E. 1910 Lehre u. fand jeweils mit Geschick zur mit einer Lesung des dramat. Märchens Der ernsthaften Nutzanwendung. Aufgrund weitreichender Belesenheit im historischen, Glücksbecher (Bln.-Friedenau 1911) in Graz; naturwiss. u. geografisch-völkerkundl. zahlreiche noch während des Studiums entSchrifttum vermittelte er Bildungsgut aller standene Texte konnte er erst nach dem ErsArt. E.s Predigten sind von hohem sprachl. u. ten Weltkrieg veröffentlichen, so den Gedichtband Eva Lilith (Wien 1919) u. die Nosozialhistor. Quellenwert. vellen Venus im Morgen, Venus, die Feindin u. Die Ausgaben: ›Gescheite Narrheit, vernarrte Weisheit‹ u. ›Der geschickteste Eselskopf‹. In: Die Sau Königin von Tasmanien (alle Wien 1921). Gemit dem güldenen Haarband. Herzhafte Predigten prägt wird die Prosa E.s, der seit 1910 um die aus alter u. neuer Zeit. Hg. Gerd Heinz-Mohr. Unheilbarkeit seines Leberleidens wusste, Düsseld. u. a. 1973, S. 47–69. – Wachtbares Hert- von einer Natur u. Mensch bejahenden Lezens-Aug, das ist: Schuldigste Lob- u. Leich-Predig bensphilosophie; stofflich greift er mit Vor[...]. Nürnb. 1702. Neudr. hg. u. mit einem Nachw. liebe auf Kindheits- u. Jugenderlebnisse zuvers. v. Franz Wenhardt. Gars am Inn 1986. – Pre- rück sowie auf die Problematik erotischer digtexempla in: Predigten der Barockzeit. Texte u. Beziehungen, die im Verzicht enden. Bekannt Komm. Hg. Werner Welzig. Wien 1995, S. 51–59 u. wurde E. Anfang der 1920er Jahre v. a. mit 401–411. den u. d. T. Wenn zwei das Gleiche tun... (Wien Literatur: Elfriede Moser-Rath: Münchener 1920) zusammengefassten drei Einaktern InVolksprediger der Barockzeit. In: Bayer. Jb. für sel im Strom, Mitarbeiter u. Der Wächter des PaVolkskunde (1958), S. 85–103. – Dies.: Predigtradieses sowie mit dem histor. Schauspiel Anna märlein der Barockzeit. Bln. 1964, S. 285–305 u. Iwanowna (in: Dramatische Werke. Hg. Emil 473–480. – Peter Brecht: Der Barockprediger I. E. (1645–1713). Diss. Mchn. 1967. – Volker Wend- Nack. Wien 1957). Wiederholte Aufführung land: Ostermärchen u. Ostergelächter. Brauchtüml. an Laienbühnen, als Puppenspiel u. im Kanzelrhetorik u. ihre kulturkrit. Würdigung seit Rundfunk erlebte auch sein »deutsches Stück dem ausgehenden MA. Ffm./Bern/Cirencester im Volkston« Das Spiel vom Doktor Faust (Graz 1980, S. 244–252. – DBA 292,172–174. – Erwin 1923), in dem E. Goethes grüblerischer
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Faustfigur den fröhlichen, lebenstüchtigen Hanswurst gegenüberstellt. Das Traumspiel Belian und Marpalye (gedr. u. uraufg. Graz 1924) entwirft – stofflich an die Parzivalsage anknüpfend – in Gestalt des Mädchens Marpalye das Idealbild einer »suchenden« Frauenseele. E. war Mitgl. des Grazer Dichterkreises »Freiland«. Weitere Werke: Heimkehr. Notturno. Graz 1917 (D.). – Begegnungen im Wald. Graz 1936 (E.en). – Novellen 1 u. Novellen 2. Wien 1946. – Erlebnisse des Herzens. Wien 1948 (E.en; u. a. ›Venus, die Feindin‹). – Durch den großen Garten gehen. Gedichte. Hg. Emil Nack. Wien 1953. – Dichters Dornenstraße. N.en u. E.en. Hg. Emil Nack. Wien 1954. – Das klingende Fenster. E.en u. Gedichte. Ausgew. u. eingel. v. Heribert Schwarzbauer. Graz/Wien 1957. Literatur: Kurt Kaschnitz: Die geistige u. künstler. Entwicklung im Werk B. E.s. Diss. Graz 1949. – Emil Nack: Lebensbild. In: Dichters Dornenstraße, a. a. O., S. 7–52. – Isolde Emich (Hg.): Österr. Prosa. Paderb. 1964. Johannes Sachslehner / Red.
Erxleben, Dorothea Christiane, geb. Leporin, * 13.11.1715 Quedlinburg, † 13.6. 1762 Quedlinburg. – Ärztin, Gelehrte. Die Tochter des zu seiner Zeit bekannten Quedlinburger Arztes Christian Polycarp Leporin, die früh ungewöhnl. Begabung zeigte, wurde von Hauslehrern u. ihrem Vater unterrichtet. Unter dessen Leitung begann sie ein häusliches Fachstudium der Medizin u. stellte 1740 beim Regierungsantritt Friedrichs II. von Preußen einen Antrag auf Zulassung zum medizin. Examen an der Universität Halle. Der Antrag wurde im nächsten Jahr genehmigt. 1742 veröffentlichte E. ihr vier Jahre vorher geschriebenes Plädoyer für das wiss. Studium von Frauen: Gründliche Untersuchung der Ursachen, die das weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten, darin deren Unerheblichkeit gezeiget, und wie möglich, nöthig und nützlich es sey, daß dieses Geschlecht der Gelahrtheit sich befleisse, umständlich dargeleget wird von Dorotheen Christianen Leporinin. Nebst einer Vorrede ihres Vaters D. Christiani Polycarpi Leporin, Med. Pract. in Quedlinburg (Bln. 1742. Nachdr. Hildesh./New York 21977. Nachdr. Dößel
2004. Ohne den Namen der Verfasserin u. die Vorrede nachgedr. u. d. T.: Vernünftige Gedanken vom Studieren des schönen Geschlechts. Ffm./ Lpz. 1749). Das Universitätsexamen musste zunächst aufgeschoben werden, da E. 1742 den Pfarrer Johann Christian Erxleben heiratete u. einen Haushalt u. Kinder zu versorgen hatte. Schließlich wurde sie 1754, nachdem sie eine Dissertation eingereicht u. das mündl. Examen bestanden hatte, an der Universität Halle als erste dt. Frau zum Dr. med. promoviert. Bis zu ihrem Tod war sie in Quedlinburg als Ärztin tätig. E.s betont wissenschaftlich argumentierende Schrift Gründliche Untersuchung ist von Bedeutung im Kontext des Verhältnisses von Frau u. Wissenschaft, das in der Frühaufklärung neu diskutiert wurde. Es ging um die Frage der (immer wieder geleugneten) Studierfähigkeit von Frauen u. um die weitere Frage, ob die Beschäftigung der Frauen mit Wissenschaften wünschenswert sei. Die Frühaufklärung – so etwa Gottsched – nahm Partei für die gelehrte Frau, während in der zweiten Jahrhunderthälfte die Bewegung wieder rückläufig war u. die weibl. Gelehrsamkeit negativ beurteilt wurde. Bei E. findet sich der besondere Fall, dass hier nicht nur eine von einer Frau verfasste Schrift zugunsten des wiss. Studiums von Frauen vorliegt, sondern dass die Verfasserin selbst bis zur Ausübung eines Berufs gelangt ist, was auch von den progressiven Verteidigern der weibl. Beschäftigung mit Wissenschaft sonst allg. abgelehnt wurde. Weitere Werke: Dissertatio inauguralis medica exponens quod nimis cito ac jucunde curare, saepius fiat caussa minus tutae curationis. Halle 1754. Erw. u. v. E. ins Dt. übers. u. d. T.: Academ. Abh. v. der gar zu geschwinden u. angenehmen, aber deswegen öfters unsichern Heilung der Krankheiten [...]. Halle 1755. Neudr. Halle 2004. Literatur: Jöcher/Adelung 2, Sp. 927 f. – Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Histor.-literar. Hdb. berühmter u. denkwürdiger Personen, welche in dem 18. Jh. gestorben sind. Bd. 2, Lpz. 1794. Neudr. Graz 1972, S. 133–135. – Meusel 3, S. 171 f. – Ersch/Gruber 37, S. 416 f. – A: Hirsch: E. In: ADB. – Lieselotte Buchheim: E. In: NDB. – Heinz Böhm: D. C. E. Ihr Leben u. Wirken. Quedlinb. 1965. – Anton Hermann Billig: D. C. E., die erste dt. Ärztin. Diss. Mchn. 1966. – Peter Petschauer: C.
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D. Leporin (E.), Sophia (Gutermann) v. La Roche, and Angelika Kauffmann. Background and dilemmas of independence. In: Studies in eighteenthcentury culture 15 (1986), S. 127–143. – Schmidt, Quellenlexikon, Bd. 6 (31996), S. 289 f. – Ingrid Guentherodt: Autobiogr. Auslassungen. Sprachl. Umwege u. nichtsprachl. Verschlüsselungen zu autobiogr. Texten v. Maria Cunitz, Maria Sibylla Merian u. D. C. E., geb. Leporin. In: Autobiogr.n v. Frauen. Beiträge zu ihrer Gesch. Hg. Magdalena Heuser. Tüb. 1996, S. 135–151. – Gerta Beaucamp: das Testament der Dr. D. C. E. In: Mitteldt. Jb. für Kultur u. Gesch. 4 (1997), S. 59–67. – Brigitte Meixner: Dr. D. C. E.: Erste dt. promovierte Ärztin. Halle/S. 1999. – D. C. E. Weibl. Gelehrsamkeit u. medizin. Profession seit dem 18. Jh. Hg. Eva Brinkschulte u. Eva Labouvie. Halle/S. 2006. Lieselotte Voss / Red.
Eschenbach, Olga, eigentl.: Johanna Hering, verh. Salkowsky, * 29.1.1821 Memel, † 1884 in Südfrankreich. – Mädchenbuchautorin.
Normen weiblicher Erziehung vollzieht sich nicht immer reibungslos, gelegentlich sperren sich die Protagonistinnen – Vorformen des »Trotzkopf«-Typus – gegen die Ansprüche des weibl. Rollenmodells u. fügen sich erst nach einer Phase der »Selbstbesinnung« ein (z.B. im Sammelband Der Seele Schönheit. Bln. 1845). Unter E.s Erzählungen finden sich auch solche, die der »atypischen Mädchenliteratur« (Begriff nach Wilkending 2003, S. 5) des 19. Jh. zuzurechnen sind. Es handelt sich zum einen um Reiseerzählungen, in denen geografische u. kulturanthropolog. Sachinformationen die Romanhandlung überformen (Kirch zu Elisabeths Frühling und Winter in Rom [1881] in: Wilkending 2003), zum anderen um histor. Erzählungen, die die Leserinnen mit Preußens Geschichte vertraut machen sollen (Glasenapp, ebd.). Das Aufkommen solcher literar. Modelle in der Mädchenliteratur verweist darauf, dass sich im Laufe des 19. Jh. Dimensionen einer neuen mentalen Mobilität aufseiten der Autorinnen wie der jungen Leserinnen eröffneten.
Die schriftsteller. Laufbahn E.s ist eng mit ihrem Lebenslauf verknüpft. Ihre Biografie Weitere Werke: Gertrudens E.en für die weibl. zeigt den Beginn der Wandlung weiblicher Jugend. Bln. 1846. – Erholungsstunden. Bln. 1851 Lebensentwürfe im gesellschaftl. Kontext des (E.en u. N.n). 19. Jh. Nach einer durch den finanziellen Literatur: Bibliografie: HKJL 4, Bibliogr. Nr. Ruin des Vaters, eines Apothekers, notwendig 201. – Weitere Titel: Christian Freitag: O. E. In: gewordenen Ausbildung als Erzieherin trat E. LKJL. – Gisela Wilkending: Kinder- u. Jugendlit. ihre erste Stelle als Hauslehrerin mit 15 Jah- Mädchenlit. Vom 18. Jh. bis zum Zweiten Weltren an, weitere Stellen folgten. Später ging sie krieg. Stgt. 1994 (Abdr. der E. ›Vergissmeinnicht‹, 1845). – Dies. (Hg.): Mädchenlit. der Kaiserzeit. als Gesellschaftsdame nach England, kehrte Stgt. 2003. Susanne Barth aber nach zwei Jahren zurück u. lebte fortan in Königsberg bei einer Freundin. Um 1857 heiratete sie nach dem Tod der Freundin deEschenburg, Johann Joachim, * 7.12.1743 ren verwitweten Ehemann u. zog mit ihm Hamburg, † 29.2.1820 Braunschweig; nach Südfrankreich. Grabstätte: ebd., Magni-Friedhof. – AkaDie Anregungen für ihre schriftsteller. Tädemischer Lehrer, Übersetzer, Literaturtigkeit bezog E. v. a. aus ihrem Beruf. E. hat theoretiker u. Kritiker. zwischen 1845 u. 1884 ca. 20 Werke, die sich v. a. an Mädchen wenden, verfasst, davon die Der Kaufmannssohn besuchte in Hamburg meisten in der Zeit ihrer Berufstätigkeit. Ihre das Johanneum u. das Akademische GymnaWerke – Erzählungen, Schauspiele u. Lyrik – sium, wo er eine literar. »Anonymische Geerfreuten sich großer Beliebtheit, einige sellschaft« von Schülern leitete, zunächst mit wurden noch nach ihrem Tod nachgedruckt Esdras Heinrich Mutzenbecher. Als Student oder neu aufgelegt. Wenngleich sie in der der Theologie in Leipzig (1764–1767) blieb E. Grundtendenz noch das traditionelle Mäd- Vorsitzender der in Göttingen weiter bestechenbild der Zeit transportieren, so zeigen henden Vereinigung. Er hörte u. a. bei Johann sich in ihnen doch bereits Spuren eines August Ernesti, Christian Fürchtegott Gellert Wandels. Der Anpassungsprozess an die u. Christian August Clodius. Er wurde be-
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kannt mit Christian Felix Weiße, dessen Angebot, die »Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste« zu redigieren, er ablehnte, mit Georg Joachim Zollikofer, der E. die Überarbeitung u. Vervollständigung von Wielands Shakespeare-Übersetzung vermittelte (William Shakespeare: Schauspiele. Übers. von C. M. Wieland, neue Aufl., umgearb. von J. J. Eschenburg. 13 Bde., Zürich 1775–77), mit Heinrich Christian Boie, dessen »Deutschem Museum« er ein »Britisches Museum für die Deutschen« (1777–81) an die Seite stellte, auch mit Christoph Daniel Ebeling, Johann Jakob Engel, Christian Garve, Johann Benjamin Michaelis, Daniel Schiebeler u. a., darunter Goethe, mit dem aber zeitlebens keine Verbindung zustande kam. Der Student E. übersetzte aus dem Französischen u. gab 1766–1767 auch die Hamburger Zeitschrift »Unterhaltungen« mit wiss. Aufsätzen aus verschiedenen Gebieten heraus. 1766 wurde Christian Gottlob Heyne wegen eines Gedichtes auf E. aufmerksam u. forderte ihn auf, das Studium in Göttingen fortzusetzen. Er vermittelte E. die Bekanntschaft Friedrich Nicolais, u. E. wurde ein rühriger Rezensent für dessen »Allgemeine Deutsche Bibliothek«. Nach einem Semester in Göttingen begann E. seine lebenslange Tätigkeit am Collegium Carolinum in Braunschweig; die Verbindung dorthin hatte sein Kommilitone Karl Wilhelm Jerusalem hergestellt. Noch 1772 wollte Heyne E. für Göttingen gewinnen. In Braunschweig war E. zunächst als Öffentlicher Hofmeister angestellt (1767–1773). Als Übersetzer wandte er sich insbes. Operetten-Libretti zu für Heinrich Gottfried Koch, Friedrich Ludwig Schröder u. Abel Seyler. Aus dem Englischen übertrug er Werke zur Musikgeschichte. 1772 veranstaltete er zum Geburtstag des Herzogs Karl I. eine Aufführung von Händels Judas Makkabäus mit eigener dt. Übersetzung (Braunschw. 1772). Wissenschaftlich trat er hervor mit der Übersetzung von Horazens Epistel an die Pisonen und an den Augustus (Lpz. 1772) nach der engl. Ausgabe von Richard Hurd; er war damit nach Heynes Urteil für das akadem. Lehramt qualifiziert. Zuvor hatte er Elizabeth Montagus Versuch über Shakespeares Genie und Schrif-
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ten (Lpz. 1771) übersetzt, worin dem Genie Verstöße gegen die Regeln der Poetik zugestanden werden. Den Sturm u. Drang wies er aber in Nicolais »Bibliothek« zurück (vgl. seine Götz- u. Hofmeister-Rezensionen). Auch in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« (seit 1785) hielt er eine gewisse Distanz zur zeitgenöss. dt. Literatur. Als ADB-Rezensent von Herders Adrastea zeigte er sich dann als Kämpfer auf verlorenem Posten. 1773 wurde E. Erzieher eines natürl. Sohnes des Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand u., bis 1777, a. o. Professor. Lessing hätte E. lieber als Bibliothekars-Kollegen bei sich gehabt. E. sah sich nach Lessings Tod 1781 übergangen, als das Amt Ernst Theodor Langer übertragen wurde. 1783 wurde E. Bibliothekar des Carolinums. 1784 versuchte er über Heyne, an die Universitätsbibliothek Göttingen zu wechseln. Die Stelle erhielt Jeremias David Reuss, der in der dt. Bibliotheksgeschichte Epoche machen sollte. Als a. o. Prof. las E. über Theorie u. Geschichte der Literatur sowie Logik. Seine Überarbeitung u. Vervollständigung von Wielands Shakespeare-Übersetzung war die erste vollständige dt. Ausgabe der Dramen, bis auf Richard III. in Prosa ausgeführt. Das Verhältnis zwischen E. u. Wieland war jedoch, trotz öffentlicher Komplimente, gespannt. Die Verbreitung der Übersetzung wurde durch Gabriel Eckerts sog. »Mannheimer Nachdruck« eingeschränkt, der aber eine solche Verbesserung darstellte, dass E. trotz einer Aufforderung Nicolais keine öffentl. Erklärung über die ihm zuzubilligende Leistung abgab. E.s Anmerkungen wurden in der frz. Übersetzung Pierre Le Tourneurs ab Band 7 (Paris 1780) u. in der niederländischen (Amsterd. 1778–82) benutzt. Die zweite Auflage (William Shakespeare: Schauspiele. Neue, ganz umgearbeitete Ausgabe. 12 Bde., Zürich 1798–1806) musste mit der August Wilhelm Schlegels konkurrieren, doch die Anmerkungen hatten Bestand. E. legte auch das erste dt. Shakespeare-Handbuch vor u. brachte damit den Stand der engl. Forschung nach Deutschland (Über W. Shakespeare. Zürich 1787). E. ließ sich fürstlich portraitieren in leuchtend rotem Umhang mit einem Band Shakespeare in der Hand (Privatbesitz).
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1777 wurde E. zum o. Prof. ernannt u. heiratete Dorothea Schmid, Tochter seines Kollegen Konrad Arnold Schmid. E. las über Theorie der schönen Wissenschaften, Enzyklopädie, Kunstgeschichte, Mythologie, klass. Literatur u. Logik. Aus der Lehre entsprangen seine langlebigen Werke: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (Bln./Stettin 1783. 51836. Zuletzt Hildesh. 1976. Ins Frz. u. Niederländ. übers.) u. Handbuch der klassischen Literatur (Bln./Stettin 1783. 81837. Ins Dän., Engl. u. Frz. übers.), urspr. eine Umarbeitung von Benjamin Hederichs Anleitung zu den vornehmsten historischen Wissenschaften (1711). Der Entwurf wollte mit systematisch geordneten Grundsätzen zum Lesen, Erklären u. Anwenden der besten Muster jeder Gattung anregen. Bezeichnend für E. ist die Würdigung der Oper als einer die schönen Künste vereinigenden Gattung. Das Vorbild war insbes. Johann Georg Sulzer, an dessen Neuausgabe der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (Lpz. 1792–1808) E. beteiligt war. Zum Entwurf veröffentlichte er die Beispielsammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (9 Bde., Bln./Stettin 1788–95). Sie zeigt systematisch, nach Gattungen gegliedert, die vorbildl. Regelanwendung der antiken u. neueren europ. Literatur. Jedem Autor ist eine Charakterisierung u. Bibliografie beigegeben. E. vertrat eher Gattungspoetik als Literaturgeschichte. Auch sein Handbuch ist systematisch angelegt u. enthält einleitende Kommentare zum jeweils angemessenen sprachl. Ausdruck. E. hätte seine Beispielsammlung ohne den Einspruch des Verlegers Nicolai noch fortgesetzt, u. dass genau dieses Werk in den Xenien verspottet wurde, traf E.s Wirken im Kern. 1786 wurde E. zum Hofrat ernannt. 1787 übernahm er das Intelligenzwesen – auch im wiederholt glanzvoll umgestalteten Titel des Intelligenzblattes zeigte er sich als Liebhaber der Buchkultur – u. das Direktorium der Fürstl. Waisenhaus-Buchhandlung, die aber nach wenigen Wochen an Johann Heinrich Campe verkauft wurde. Zwei Folgen von E.s Erbitterung darüber sind zu nennen: Zum einen hatte E. selbst vorgeschlagen, Nicolai möge seinen Verlag nach dem Tod Friedrichs
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II. von Preußen 1786 nach Braunschweig verlegen. Nun scheute er aber Schwierigkeiten mit Campe u. wich Nicolais drängenden Fragen lange aus, bis der Freund resignierte. Nicolai bedauerte noch im Alter die verpasste Gelegenheit. Zum anderen hatte E. 1785 bei Moses Mendelssohn einen Vorschlag für einen Lessing-Grabstein erbeten, als sich aber Campe, vertreten durch den Schauspieler Johann Friedrich Wilhelm Grossmann, seit 1788 um Geld für einen Gedenkstein bemühte, verweigerte E. die Verwaltung der Spenden, u. sogar, als Nicolai als Sprecher der alten Freunde Lessings auf eigene Kosten Campe zuvorkommen wollte, bat er E. jahrelang vergeblich um einen Entwurf. Der dt. Literatur des MA widmete E. Aufsätze, z.T. gesammelt u. d. T. Denkmäler altdeutscher Dichtkunst (Bremen 1799); er gab Boners Edelstein in hundert Fabeln heraus (Bln. 1810) u. war Zuträger von Johann Gustav Gottlieb Büsching u. Friedrich Heinrich von der Hagen. Zu Johann Wilhelm von Archenholz’ Minerva trug er mehrere Darstellungen der aktuellen engl. Literatur bei. Befreundet war er insbes. mit Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (Vizepräsident in Braunschweig), Langer, Lessing u. Nicolai. Seine Korrespondenz konzentrierte sich auf das protestant. Norddeutschland. Zu den Bekannten in England gehörte Joseph Planta, der Direktor des Britischen Museums. E. war Hofrat (1786), Kanonikus (1800), Geheimer Justizrat (1817), Mitgl. der Akademien von Amsterdam, Leiden, Livorno u. München, auch der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache Karl Christian Müllers (1818) sowie seit 1817 Ehrendoktor der Universitäten Göttingen u. Marburg. E. betrachtete die Literatur u. Musik Europas im Zusammenhang. Durch Sammeln u. Weitergeben wollte er Deutschland in eine größere Tradition integrieren. Bei Hofe wie in der Gelehrtenrepublik zeigte er sich als ein Mann von begründetem Geschmack; als Weggefährte eines Friedrich Nicolai aber für veraltet erachtet, wurde er von Jüngeren, deren eigene Werke ohne den Fundus auch eines E. so kaum möglich gewesen wären, in die Vergessenheit gedrängt.
327 Weitere Werke: Lehrbuch der Wissenschaftskunde, ein Grundriß encyklopäd. Vorlesungen. Bln./Stettin 1792. – Entwurf einer Gesch. des Collegii Carolini in Braunschweig. Bln./Stettin 1812. – Übersetzungen: Jean Racine: Esther. In: Unterhaltungen 3 (1767). – John Brown: Betrachtungen über die Poesie u. Musik. Lpz. 1769. – Daniel Webb: Betrachtungen über die Verwandtschaft der Poesie u. Musik. Lpz. 1771. – François Marie Arouet de Voltaire: Zayre. Lpz. 1776. – Joseph Priestley: Vorlesungen über Redekunst u. Kritik. Lpz. 1779. – Charles Burney: Abh. über die Musik der Alten. Lpz. 1781. – William Hay: Religion des Philosophen. Braunschw. 1782. – C. Burney: Nachricht v. Georg Friedrich Händels Lebensumständen. Bln./Stettin 1785. – Edward Gibbon: Versuch über das Studium der Lit. Hbg. 1792. – Edmund Burke: Über den neuen polit. Zustand u. die Verhältnisse der europ. Staaten seit der Revolution. Hbg. 1798. – Alexander Pope: Versuch über die Kritik. Wien. 1801. – Heinrich Füessli: Vorlesungen über die Malerei. Braunschw. 1803. – Herausgeber: Daniel Schiebeler: Auserlesene Gedichte. Hbg. 1773. – Friedrich Wilhelm Zachariä: Auserlesene Stücke der besten dt. Dichter. Bd. 3, Braunschw. 1778. – Ders.: Hinterlassene Schr.en. Braunschw. 1781. – Braunschweigische Anzeigen [nebst] Braunschweigisches Magazin. Braunschw. 1787 ff. – Gotthold Ephraim Lessing: Kollektaneen zur Lit. 2 Bde., Bln. 1790. – Ders.: Leben des Sophokles. Bln. 1790. – Ders.: Sämtl. Schr.en. Bde. 10–12, 15 u. 16, Bln. 1792/93. – Johann Arnold Ebert: Episteln u. vermischte Gedichte. Tl. 2, Hbg. 1792. – Friedrich v. Hagedorn: Poet. Werke. Hbg. 1800. – Karl Philipp Moritz: Vorlesungen über den Styl. Braunschw. 1808. Literatur: Ludwig Bernhard Eschenburg: Nachrichten über die Familie E. in Lübeck. Lübeck 1910. – Hans Schrader: E. u. Shakespeare. Diss. Marburg 1911. – Marion C. Lazenby: The Influence of Wieland and E. on Schlegel’s ShakespeareTranslation. Baltimore 1942. – Fritz Meyen: J. J. E., Abriß seines Lebens u. Schaffens nebst Bibliogr. Braunschw. 1957. – Manfred Pirscher: J. J. E., ein Beitr. zur Literatur- u. Wissenschaftsgesch. des 18. Jh. Diss. Münster 1959. – Roger Paulin: J. J. E. u. die europ. Gelehrtenrepublik am Übergang vom 18. zum 19. Jh. In: IASL 11 (1986), S. 51–72. – Hermann Korte: E.s europ. Lektürekanon. In: Literar. Kanonbildung. Hg. Heinz Ludwig Arnold. Mchn. 2002, S. 101–117 (Text + Kritik, Sonder-Bd.). – R. Paulin: Shakespeare, E. u. Weimar. In: Archiv 158 (2006), S. 82–95. Ulrich Hecht
Eschmann
Eschmann, Ernst Wilhelm, auch: Leopold Dingräve, * 16.8.1904 Berlin, † 22.2.1987 München. – Verfasser von Reiseskizzen, Aphorismen u. Langzeilen-Gedichten. Nach dem Abitur studierte E. Jura, Nationalökonomie, Philosophie u. Geschichte an verschiedenen Universitäten im In- u. Ausland u. promovierte 1928 in Heidelberg mit einer Arbeit über den faschist. Staat in Italien (Breslau 1930). Anfang der 1930er Jahre gehörte er neben Hans Zehrer, Ferdinand Fried u. Giselher Wirsing zum rechtsradikalen »Tatkreis«, einer Gruppe von jungen Redakteuren, die sich um die Zeitschrift »Die Tat« scharte u. in der Endphase der Weimarer Republik großen Einfluss auf die intellektuelle Jugend ausübte. Nach 1933 wurde E. zunächst Herausgeber der Zeitschrift, begann dann aber eine akadem. Karriere u. lehrte von 1936 an Soziologie in Berlin. 1936 erschienen als erste literar. Veröffentlichung seine poet. Reiseskizzen Griechisches Tagebuch (Jena). In ihnen verbindet E. mit leichter Hand Landschaftsschilderung u. Geschichtserzählung. Nach dem Krieg folgten u. d. T. Das Amerika der Griechen (Jena 1961) entsprechende Reiseskizzen zum antiken Süditalien. 1938 veröffentlichte E. sein erfolgreichstes Buch, Erdachte Briefe (Jena), eine Sammlung von fiktiven Briefen teils historischer, teils erfundener Persönlichkeiten, von der Antike (Heraklit) bis zur Gegenwart (Mussolini). Nach 1945 lebte E. als freier Schriftsteller im Tessin. 1960–1969 war er Professor für Philosophie in Münster. Bekannt wurde E. in der Nachkriegszeit v. a. durch seine Tessiner Episteln (Hbg. 1949. 1970), Langzeilen-Gedichte, die Alfred Andersch als die »vorzüglichsten modernen in deutscher Sprache« rühmte, sowie durch seinen Roman Die Tanne (Karlsr. 1953), der von der Liebe eines jungen Mannes zu einem Baum erzählt. Weitere Werke: Ariadne. Jena 1939 (D.). – Notizen im Tal. Düsseld. 1962 (Aphorismen). – Einträge. Notizen im Raum. Hbg. 1967 (Aphorismen). – Besuch bei einem Sultan. In: NDH 33, H. 2 (1986), S. 261 f. – Innehalten. In: NDH 34 (1987), S. 266 f. (Aphorismen).
Eschstruth
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Literatur: Otto Flake: E. W. E.: Griech. Tgb. In: Die neue Rundschau 47 (1936), S. 888–896. – Joachim Günther: E. W. E. In: NDH 21 (1974), S. 669–671. – Ders.: In: NDH 26 (1979), S. 668–670. – Richard Wernshauser: E. W. E.: Erdachte Briefe. In: NDH 28 (1981), S. 607–609. Peter König / Red.
Eschstruth, Nataly (Auguste Karoline Amalia Hermine) von, * 17.5.1860 Hofgeismar, † 1.12.1939 Schwerin. – Erzählerin u. Dramatikerin. Die Tochter eines hess. Offiziers wurde in Merseburg, Berlin u. in einem Mädchenpensionat in Neuchâtel erzogen; dort entstanden ihre ersten Novellen. 1890 heiratete sie den preuß. Offizier Franz von KnobelsdorffBrenkenhoff. E. trat schon zwölfjährig an die Öffentlichkeit (Versdichtungen in Ernst Ecksteins »Deutscher Dichterhalle«), schrieb Schauspiele u. Schwänke, von denen Pirmasenz, oder Karl August’s Brautfahrt, Die Sturmnixe (beide Bln. 1883) u. Sie wird geküßt (Bln. 1888) auf der Bühne erfolgreich waren. Auf Anregung Scheffels u. Ebers’ verfasste sie histor. Dramen (u. a. Die Ordre des Grafen Guise. Bln. 1884). Ihre erfolgreichen Unterhaltungsromane spielten in Hof- u. Adelskreisen, die ihr durch die Freundschaft mit dem Herzogspaar Johann-Albrecht von Mecklenburg-Schwerin u. der Großherzogin Charlotte von Mecklenburg-Strelitz vertraut waren. Der treuherzige u. humorist. Erzählton u. die naiv-idealisierende Charakterzeichnung erweckten in ihrem national gesinnten Lesepublikum den Eindruck, unmittelbaren Einblick in Alltagsleben u. Familiengeschichte der höchsten Kreise zu gewinnen, beispielhaft in: Gänseliesel. Eine Hofgeschichte (2 Bde., Jena 1886) u. Die Bären von Hohen-Esp (auf Wunsch Wilhelms II. entstanden; 2 Bde., Lpz. 1902. 8 1904. Neu bearb. Köln 1965). »Die Gegenwart« würdigte E., der auch mehrere Preise zugesprochen wurden, 1899 als »unsere beliebteste deutsche Schriftstellerin«. Literatur: Ruth K. Angress: Sklavenmoral u. Infantilismus im Frauen- u. Familienroman. In: Popularität u. Trivialität. Hg. Reinhold Grimm u. Jost Hermand. Ffm. 1974, S. 121–139. Eda Sagarra / Red.
Esmarch, Nicolaus Ludwig, * 1.4.1654 Klixbüll/Schleswig, † 6.5.1719 Herzhorn. – Evangelischer Theologe; Lyriker. E. stammte aus einer Pastorenfamilie. Er studierte ab 1674 in Kiel u. ab 1676 in Wittenberg Theologie, 1679 ging er als Hauslehrer nach Kopenhagen. Dort kam er wohl mit Graf Ulrik Frederik Gyldenløve in Verbindung; dieser empfahl ihn 1682 der Gemeinde Herzhorn (bei Glückstadt), in der er Kirchenpatron war, als Pastor. E. wurde gewählt u. behielt das Amt bis zu seinem Tod. 1683 o. 1684 heiratete er die Tochter des Horster Pastors Andreas Wilhadius, mit der er mehrere Kinder hatte. Außer Gelegenheitsgedichten zu Begräbnissen, Hochzeiten u. a. Festen, für die es in Glückstadt (das Festung u. Sitz höherer Behörden war) u. den anderen kleinen Städten der holstein. Elbmarschen ein Publikum gab, schrieb E. geistl. Gedichte u. Epigramme. Er sammelte sein Werk in einem Doppelband (Glückstadt u. Lpz. 1707) mit den Titeln Sion (für die geistl. Lyrik) u. Helicon (für die weltliche). Stilgeschichtlich gehören E.s Verse, die eigenes Gepräge vermissen lassen, in den Übergang vom Barock zur Aufklärung. E. soll auch in niederdt. Sprache gedichtet haben, doch ist davon nichts überliefert. Weitere Werke: Exercitationem theologicam de libro vitae [...] submittet A[utor]. et R[espondens]. N. L. E. [...] ad d. 16.4.1678 (Praes.: Abraham Calov). Wittenb. 1678. – Gedancken über das andre Jubel-Jahr der evang.-luth. Kirchen [...]. Glückstadt 1717. – Letzte Pflicht [...]. Altona 1717 (Trauergedicht auf Georg Richertz, Pastor v. Altona). Ausgaben: Poet. Helicon, oder, zusammengetragene geistl. Begräbniss-Hochzeit-Glückwunschungs-Gedichte, auch geistl. weltl. Epigrammata. Lpz. 1743. – Barocke Reime aus Herzhorn in Holstein. Erneut ans Licht der Welt gezerrt v. Erich Leverkus. Hbg. 2002. Literatur: Christian Friedrich Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen. Hbg. 1721–38. Neuausg. hg. v. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. Nachweise u. Register. Wolfenb. 1983, S. 84. – Rudolf Möller: E. In: BLSHL, Bd. 7, S. 63 f. (mit Nachweis weiterer Gedichte u. der Lit.). – DBA 294,262–265. Dieter Lohmeier / Red.
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Esra und Nehemia, entstanden in den 30er Jahren des 14. Jh. – Anonymes geistliches Epos.
Essig
So wundert es nicht, dass die in erzählenden Ordensdichtungen oft zu beobachtenden mystisch-allegor. Auslegungen u. Exkurse in E. u. N. ebenso wie die sonst übl. Glossierung fehlen. Der Verfasser orientiert sich an den poetologisch-metr. Diskussionen, die in der Ordensliteratur insbes. von Heinrich von Hesler (Apokalypse) u. Nikolaus von Jeroschin (Kronike) geführt wurden. Bis v. 739 füllt er die Verse streng achtsilbig, danach mit 7–11 Silben. Er dürfte das Passional, die Makkabäer (um 1331) u. wohl auch Tilos von Kulm Von siben ingesigeln (1331) gekannt haben. In der Handschrift folgt unmittelbar die Judith (1254?), zu der E. u. N. den zeithistor. Hintergrund bietet.
Das Epos von rd. 3200 Versen lässt sich aufgrund seines Inhalts, seines Wortschatzes, seines Stils u. seiner Überlieferung in einer Sammelhandschrift mit Ordensdichtungen aus dem Besitz der Kommende Mergentheim (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, HB XIII 11, um 1350) der Deutschordensliteratur zuweisen. Es wird allg. in deren produktivste Zeit in Preußen, die Regentschaft der Hochmeister Luder von Braunschweig (1331–1335) u. Dietrich von Altenburg (1335–1341) gesetzt, in deren Programm es sich zwanglos einfügt. Vom VerAusgaben: S. D. Stirk: Esdras u. Neemyas. fasser sind weder Herkunft, Name noch Stand Breslau 1938. bekannt. Literatur: Edgar Kress: E. u. N., eine Grundlage von E. u. N. sind die Bücher I-III Deutschordensdichtung. Diss. Marburg 1923. – der Vulgata, denen eine recht freie Wieder- Karl Helm u. Walther Ziesemer: Die Lit. des Dt. gabe der Vorrede des Hieronymus (vv. 1–108) Ritterordens. Gießen 1951, S. 115–117. – Günther vorangestellt ist. Bis auf wenige Erweiterun- Jungbluth: E. u. N. In: VL. – Henrike Lähnemann: gen hält der Verfasser sich eng an seine bibl. Hystoria Judith. Bln./New York 2006, S. 267 f. Claudia Händl / Christoph Fasbender Vorlage u. berichtet von der Entlassung der Juden aus der Gefangenschaft durch den Perserkönig Kyros bis zur Wiedererrichtung des vom babylon. König Nebukadnezar zer- Essig, Hermann, * 28.8.1878 Truchtelfinstörten Tempels u. der Stadtmauern in Jeru- gen/Schwäbische Alb, † 21.6.1918 Berlin; salem, vom Bemühen des aus hohe-priester- Grabstätte: Parkfriedhof Lichterfelde. – lichem Geschlecht stammenden Esra um die Dramatiker u. Romanautor. Neubestimmung der jüd. Kult- u. Volksge- E., das sechste von sieben Kindern eines meinschaft u. vom umsichtigen Wirken des protestant. Pfarrers, besuchte die Lateinpers. Statthalters Nehemia in Jerusalem. schule in Weinsberg u. das Gymnasium in Abweichungen finden sich v. a. bei den Heilbronn. Anschließend Ingenieursstudium langen Namenslisten, die der Übersetzer an der Technischen Hochschule in Stuttgart. meist weglässt (mit Begründung, vv. 1902 schwere Lungenerkrankung; während 3145–3149 u. 3194–3199). Anachronismen des Sanatoriumsaufenthalts in Davos begann wie z. B. an den beiden Stellen, an denen Esra E., Tagebuch zu führen u. religiös gefärbte das jüd. Volk dazu aufruft, die Beichte abzu- Texte zu schreiben sowie erste dramat. Szelegen (v. 1260 u. vv. 3129 f.), oder in der Szene nen in Versen. Das Angebot eines Studienam Hof des Königs Darius, in welcher der kollegen, Mitarbeiter in seinem Ingenieursdritte Jüngling als Personifikation der büro zu werden, veranlasste ihn 1904 zur Wahrheit Jesus Christus lobt (vv. 2748 f.), Übersiedelung nach Berlin. 1905 heiratete er sind dem grundsätzl. Anliegen der Adaptati- die junge Witwe des sozialdemokrat. Reichson geschuldet. Für solche aktualisierende tagsabgeordneten, Redakteurs u. DramatiLesart bot sich der Stoff, der von Verteidi- kers Emil Rosenow; sie veranlasste ihn, seigungskampf u. Selbstbehauptung einer nen Beruf aufzugeben u. sich ganz seiner Glaubensgemeinschaft unter erschwerten Schriftstellerei zu widmen. Bedingungen handelt, wie kaum ein anderer Allen Schwierigkeiten u. Missgeschicken trotzend, schrieb E. nun Stück um Stück. Er an.
Estherrolle
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orientierte sich in seinem dramat. Schaffen an drama Überteufel (Bln. 1912), in dem er wüste Shakespeare u. Sudermann, was bei ihm zu Geschlechts- u. hanebüchene Familienkriege einer eigentüml. Form von sozial engagier- darstellt u. dessen schaurige Komik sich zu tem Historiendrama (Napoleons Aufstieg. Ent- einem grotesken Pandämonium auswächst. standen 1903–1905. Bln. 1912) oder kurios Weitere Werke: Mariä Heimsuchung. Bln. verstiegenem Lustspielrealismus führte (Die 1909. – Furchtlos u. treu. Bln. 1911. – Ihr stilles Weiber von Weinsberg. Bln. 1909). E. fand li- Glück! Bln. 1912. – Der Frauenmut. Bln. 1912. – terar. Anerkennung u. in Paul Cassirer u. Der Held vom Wald. Bln. 1912. – Ein Taubenspäter dem »Sturm«-Herausgeber Herwarth schlag. Bln. 1913. – Des Kaisers Soldaten. Stgt./Bln. Walden geneigte Verleger, die Bühnen aber 1915. – 12 Novellen. Bln. 1916. – Kätzi. Bln. 1922. Literatur: Annemarie Pinto: H. E., Studien zu versagten sich seinen exzentrischen, aufmüpfigen Volksstücken, nicht zuletzt aus seiner Person u. zu seinem Werk. Bern 1977. – Paul Raabe: Die Autoren u. Bücher des literar. ExpresZensurgründen. 1913 u. 1914 erhielt er den sionismus. Ein bibliogr. Hdb. Stgt. 1985, Kleist-Preis. Als er 1914 zum Kriegsdienst S. 133–135. – Rolf-Bernhard Essig: E.s Geburtseinrückte, übernahm der »Sturm«-Verlag haus in Truchtelfingen. Dt. Schiller-Gesellsch. auch den Vertrieb seiner im Selbstverlag er- Marbach. Stgt. 1992. – Ders.: H. E. Vom Volksstück schienenen Werke. Walden druckte mehrere zum Großstadtroman – ein schwäb. Schriftsteller Kurzgeschichten u. Grotesken im »Sturm« u. im Berlin des Expressionismus. Kat. der Staatsbibl. veröffentlichte 1917 die Erzählung Der Wet- zu Berlin – Preuß. Kulturbesitz. Wiesb. 1993. terfrosch (entstanden 1908) als Buch. Nach eiKlaus Völker ner für ihn schriftstellerisch noch einmal sehr produktiven Zeit (er war für ein Jahr vom Estherrolle ! Megilass Ester Militär freigestellt) starb E. an den Folgen einer Lungenentzündung im KreiskrankenEttighoffer, Paul Coelestin, auch: Frank haus Berlin-Lichterfelde. Löhr von Wachendorf, * 14.4.1896 ColPostum erschien 1919 (Lpz. bei Kurt Wolff. mar, † 15.10.1975 Niederkastenholz bei Neuausg. Bonn 1997) sein Schlüsselroman Euskirchen. – Journalist, Erzähler u. Der Taifun, in dem er sich nicht eben virtuos u. Sachbuchautor. etwas bieder mit dem »Sturm«-Kreis als einer moralisch u. künstlerisch auf den Hund ge- Aufgewachsen bei seinen Großeltern, bekommenen »Narrengesellschaft« auseinan- suchte E. ein Jesuitengymnasium in Mons/ dersetzt. E. blieb auch nach seinem Tod ein Belgien u. meldete sich nach dem Abitur 1914 von den Bühnen eher gemiedener Autor, der als Kriegsfreiwilliger. Seine als Antwort auf immer noch, wenn mutige Theaterleute (wie Erich Maria Remarque in Romanform veröf1923 Leopold Jessner) ihn aufführten, die fentlichten Kriegserlebnisse (Gespenster am toZensur auf den Plan rief. Seine besten Stücke ten Mann. Köln 1931) schildern z.T. einsind bissige, antiklerikale, gegen Kleinstadt- drucksvoll die Materialschlachten des Ersten geist, bigotte Moral u. Lebensverachtung ge- Weltkriegs. Sie wiesen ihn als typ. Vertreter richtete Volksstücke wie Die Glückskuh (Bln. des »soldatischen Nationalismus« aus. Wäh1910), Der Schweinepriester (Bln. 1915) oder rend E. verschiedenen journalist. Tätigkeiten Pharaos Traum (Bln. 1916. Neuausg. u. d. T. nachging, schrieb er zahlreiche, meist als Pastor Rindfleisch oder Pharaos Traum. Lpz. Tatsachenberichte deklarierte Kriegsbücher, 1918. Gespielt u. d. T. Der Kuhhandel, 1928 die weite Verbreitung fanden; am bekannrecht erfolgreich im Berliner Theater am testen wurde Verdun. Das große Gericht (Bln. Schiffbauerdamm mit einer Bühnenmusik 1936. Neuaufl. 1976 u. ö.). von Kurt Weill, dem das Stück 1934 auch als In Reiseberichten u. Sachbüchern berichVorlage zu seiner gleichnamigen Operette, tete er über Afrika (So sah ich Afrika. Gütersloh Libretto Robert Vambery – Urauff. 1935 in 1939. Sisal. Gütersloh 1943). Diese wie auch London als musical play A Kingdom for a Cow – andere seiner zahlreichen Werke jener Zeit diente) sowie das verborgene Instinkte u. enthalten rassistische bzw. antisemit. WenLeidenschaften grell beleuchtende Schauer- dungen (z.B. Erschossen in Nanzig. Straßb.
Ettner
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1942) oder pro-nazistische Bekenntnisse (z.B. das Mädchenbuch Die Lene beißt sich durch. Düsseld. 1936). Am Zweiten Weltkrieg nahm E. als Hauptmann bei einer Propagandaeinheit in Finnland u. Frankreich teil. 1946 wurde er aus engl. Kriegsgefangenschaft entlassen. Ab 1949 arbeitete er als Journalist bei der »Kölner Rundschau«. In dieser Zeit verfasste er Romane u. Sachbücher v. a. ökonomisch-technischen Inhalts (Atomstadt. Bonn 1949. Kohle. Essen 1952) u. übersetzte aus dem Englischen.
Ausgaben mhd. Werke wie Der Singerkrieg uf Wartburc (Ilmenau 1830), Heinrichs von Meißen, des Frauenlobes, Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder (Quedlinb./Lpz. 1843) oder Heinrich von Veldeke (Lpz. 1952). Einen Überblick gibt E.s Handbuch der deutschen Literaturgeschichte (Lpz. 1847). Bemerkenswert ist sein Versuch, Literaturgeschichte belletristisch aufzubereiten (Herbstabende und Winternächte. Gespräche über deutsche Dichtungen und Dichter. 3 Bde., Stgt. 1865–67). Auch E.s belletrist. Werke behandeln mittelalterl. Sujets.
Weitere Werke: Von der Teufelsinsel zum Leben. Köln 1932. – Revolver über der Stadt. Düsseld. 1936. – Eine Armee meutert. Bln. 1938. – Sturm 1918. Gütersloh 1938. – Tannenberg. Düsseld. 1939. – Bewährung. Düsseld. 1941. – 44 Tage u. Nächte. Der Westfeldzug 1940. Stgt. 1953. – Die große Plage. Ffm. 1954. – Rohstoff Eins. Essen 1956. – Mein amerikan. Bruder. Bayreuth 1963. – Adam greift nach den Sternen. Mchn. 1972.
Literatur: Ludwig Tobler: E. M. L. E. In: ADB. – Internat. Germanistenlexikon 1800–1950. Hg. Christoph König. Bd. 1, Bln./New York 2003. – Jens Haustein: L. E.s Jenaer Habilitation vom Jahre 1831. In: Vir ingenio mirandus. Hg. William J. Jones. Bd. 2, Göpp. 2003, S. 1025–1037. Rüdiger Krohn / Red.
Ettner, Etner, Etnerus, Johann Christoph, auch: J. C. E. von Eiteritz, von E. und EiEttmüller, (Ernst Moritz) Ludwig, * 5.10. teritz, * 16.3.1654 in Glogau/Nieder1802 Gersdorf bei Löbau/Oberlausitz, schlesien, † 22.12.1724 Breslau. – Arzt, † 15.4.1877 Unterstraß bei Zürich. – Erzähler u. Fachschriftsteller. Germanist u. Übersetzer. Erhard Schütz / Red.
Der Pastorensohn studierte 1823–1826 in Leipzig zunächst Medizin u. dann dt. Philologie. 1830 habilitierte er sich in Jena u. erhielt dort eine Privatdozentur für mittelalterl. Literatur. 1833 folgte er einem Ruf als Professor für dt. Sprache u. Literatur ans Obergymnasium in Zürich. 1856 wurde er überdies a. o. Prof. an der Universität Zürich, an die er 1863 ganz überwechselte. E. entfaltete eine reiche mediävist. Publikationstätigkeit, die sich v. a. auf Editionen u. Übersetzungen konzentrierte. Dabei beschränkte er sich nicht nur auf die mhd. Literatur des MA, sondern widmete sich auch mittelniederdt., altnord. u. altsächs. Denkmälern. So verdanken wir ihm die erste dt. Übertragung des Beowulf (Zürich 1840), eine Sammlung Altnordischer Sagenschatz in neun Büchern, übersetzt und erläutert (Lpz. 1870) u. die ins Niederdeutsche übersetzte Ausgabe von Des Fürsten von Rügen, Wizlaw IV., Sprüche und Lieder (Quedlinb./Lpz. 1852). Überholt, aber als Pionierleistung wertvoll sind seine übersetzten u. kommentierten
E. studierte seit 1670 an der Universität Leipzig (Dr. med. 1674). Er war spätestens 1682 als Physicus in Gurau/Gora (bei Breslau) tätig, hielt sich dann in Posen u. Thorn auf. Spätestens seit 1689 lebte er in Breslau, wo er vergeblich eine Apotheke zu gründen suchte. E. nannte sich »Rat und Leibmedicus« des poln. Königs Jan III. Sobieski u. Rat Kaiser Leopolds I., doch ist über entsprechende Tätigkeiten nichts Näheres bekannt. 1708 erhob man E. in den böhm. Ritterstand. E. bereicherte das medizinisch-pharmazeut. Sachschrifttum für den »gemeinen Mann« mit einer Pestschrift (Unterricht. Lissa 1682) u. einer Beschreibung deß Egerischen SauerBrunns (Eger 1699). Seine Arzneimittelmonografien u. eine Kompilation alchemischer Fachtexte (Rosetum chymicum, Oder: Chymischer Rosen-Garten. Ffm./Lpz. 1724) machen in E. einen Vertreter der pharmazeut. Chemie u. zeitübl. Transmutationsalchemie kenntlich. Literarhistorischen Rang sichert E. seine Beteiligung an der bereits von Harsdörffer, Francisci, Johannes Prätorius, Happel u. Rist vorangetriebenen Vermittlung gelehrt-lat.
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Sachwissens an eine deutschgebundene Le- roque Literature. New York 1942. – Franz Heiduk: 3 serschaft. Nicht unberührt von Tendenzen E. In: Kosch, Bd. 4 ( 1972), Sp. 567–569. – Wolfgang Eckart: Medizinkritik in einigen Romanen des »politischen« Romans seiner Zeit (Weise, der Barockzeit. In: Heilberufe u. Kranke im 17. u. Riemer), veröffentlichte er unter dem Namen 18. Jh. Hg. ders. u. Johanna Geyer-Kordesch. einer Symbolfigur altdt. Tugenden, des »geMünster 1982, S. 49–75. – J. Hardin: J. C. E. Phytreuen Eckharts«, den Medicinischen Maul-Af- sician, Novelist, and Alchemist. In: Daphnis 19 fen, ein umfängl. Erzählwerk, das sich aus (1990), S. 135–159. – Peter Heßelmann: Zur Redem Entlarvten Marcktschreyer (Ffm./Lpz. 1694. zeptionsgesch. Grimmelshausens im Spätbarock. Neudr. Lpz. 1975), Entlauffenen Chymicus Das Werk J. C. E. In: Simpliciana 12 (1990), (Augsb./Lpz. 1696), Unwürdigen Doctor S. 229–266. – Udo Benzenhöfer. Die medizinisch(Augsb./Lpz. 1697), Verwegenen Chirurgus polit. Lehrromane des Dichterarztes J. C. E. (Augsb./Lpz. 1698), Ungewissenhafften Apo- (1654–1724). In: Heilkunde u. Krankheitserfahtecker (Augsb./Lpz. 1700) u. der Unvorsichtigen rung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain v. Literaturgesch. u. Medizingesch. Hg. ders. u. Heb-Amme (Lpz. 1715) zusammensetzt. E. beWilhelm Kühlmann. Tüb. 1992, S. 283–298. – Angegnet hier als ein gewandter Kompilator, drea Wicke: Gelehrte Autorschaft u. polit. Roman – der auf der Grundlage aktueller Sachschriften zu ausgewählten Paratexten v. Weise, Riemer, E. u. über bestimmte Bereiche der Medizin u. anderen Autoren. In: Morgen-Glantz 12 (2002), Pharmazie umfassend informiert. Doch ver- S. 481–522. Joachim Telle band er fachl. Unterweisung, Mitteilung »nützlicher« Realien, Heilberufsrüge u. Kritik an therapeut. Praktiken seiner Zeit mit Eucken, Rudolf, * 5.1.1846 Aurich, † 15.9. einer novellist. Darbietung »erschrecklicher 1926 Jena. – Lebensphilosoph. und lustiger Begebenheiten«; auch durch den Einsatz darstellerischer Elemente der Reise- Der Sohn eines Postmeisters studierte in erzählung u. Gesprächsliteratur hebt sich der Göttingen u. Berlin bei Rudolf Hermann Maul-Affe von der Masse frühneuzeitl. Lotze u. Gustav Teichmüller Philosophie u. deutschsprachiger Sachbücher ab. So gelang Altphilologie; von 1874 bis zu seiner EmeriE. mit seinen »Dialog-Itinerarien« ein Sach- tierung 1920 lehrte er mit weit über die buchtypus, der nicht nur den Fachmann, Grenzen der Universität ausstrahlendem Ersondern auch eine medizinisch-naturkund- folg in Jena. E. hatte seine akadem. Karriere lich aufgeschlossene Laienleserschaft er- an der Universität Basel mit philologischer Ausrichtung u. begriffsgeschichtl. Ambitioreichte. nen begonnen. Ab den späten 1880er Jahren Weitere Werke: Disputatio chirurgica de resonitu vel contrafissura cranii. Lpz. 1674. – De es- rückte E. ab von der philologisch u. historisch sentia salis armoniaci martialis. Fraustadt 1689. – ausgerichteten Universitätsphilosophie u. Bezoardicum universale. o. O. 1701. – Vade et oc- drängte weg von der »selbstgerechten Fachcide Cain, Oder: gehe u. schlage den Cain todt. gelehrsamkeit«. Er strebte nach außerwiss. Ffm./Lpz. 1724. – Herausgeber: Pierre Potier: In- Sinnstiftungskompetenz. Sein Denken entventa chymica [u. d. T. Manes Poteriani]. Ffm./Lpz. historisierte sich, u. E. begann einen populä1692. – Hermann Busschoof: Das [...] Podagra. ren Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (Lpz. Breslau 1693. 1896). E.s Neoidealismus bemühte sich gegen Literatur: Bibliografie: James Hardin: J. C. E. Ende des 19. Jh. um eine weltanschaul. Eine beschreibende Bibliogr. Bern/Stgt. 1988. – Standortbestimmung u. zivilisationskrit. Dünnhaupt 2. Aufl., Bd. 2, S. 1427–1436. – Weitere Selbstreflexion der Moderne. Sein Werk bot Titel: John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 1, ein allgemein gehaltenes bildungsbürgerl. Glasgow 1906, S. 252–254. – Arnold Hirsch: BürBrevier zur weltanschaul. Orientierung in gertum u. Barock im dt. Roman. Ffm. 1934. Köln/ Wien 1979. – Josef Wastl: E. v. Eiteritz. Ein dt. Arzt unübersichtl. Zeiten. Für seine zahlreichen Arbeiten erhielt E. u. Schriftsteller der Barockzeit nebst einer Dar1908 als zweiter Deutscher (nach Theodor stellung seiner Grundsätze der Wundbehandlung. Diss. med. Mchn. 1940. – Frederick Herbert Wag- Mommsen, 1902, u. vor Paul Heyse, 1910) man: Magie and Natural Science in German Ba- den Literaturnobelpreis. Seine enorme Wir-
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kung vor u. nach dem Ersten Weltkrieg beruhte auf der von ihm übernommenen prophet. Rolle eines Menschheitsretters. Wie viele seiner Zeitgenossen sah E. die Gegenwart durch eine geistige Krise bestimmt, die von Intellektualismus u. Technizismus geprägt sei u. sich im Gespaltensein des modernen Menschen, in einem Verlust der Einheit u. Ganzheit des Lebens äußere. Eine Lösung der Krise erhoffte er sich von einer, Ansätze des Deutschen Idealismus wiederbelebenden, neuen Metaphysik des Geistes. E. ging von der Voraussetzung aus, dass neben der empirischen, materiellen Welt eine übersubjektive, höhere Geisteswelt existiere, welche in die Individuen hineinreiche u. zu der diese sich durch sittl. Lebensführung hinaufzuarbeiten hätten. Sinn erhält das Leben nach E. nur durch die Teilhabe an dieser Geisteswelt, die sich nicht durch Kontemplation, sondern durch sittliches Handeln erschließt, zu dem E. auch die geistige u. schöpferische Tätigkeit in Wissenschaft u. Kunst zählte. Da die Erhebung der natürl. Individualität zur geistigen Persönlichkeit Ziel u. Werk der Erziehung sein sollte, bemühte sich E., Einfluss auf die Pädagogik seiner Zeit auszuüben, u. nahm u. a. an der Ausbildung von Volksschullehrern in Thüringen teil. Das humanitäre, religiöse Sendungsbewusstsein E.s sowie die Eingängigkeit seiner kulturkrit. Botschaft ließen ihn weit über die engeren akadem. Kreise hinaus Gehör finden, was durch die Gründung des Rudolf-EuckenBundes 1920 belegt wird. Die dreifache Frontstellung gegen den Naturalismus, gegen die sozial-eudämonist. Ethik u. gegen das klerikale Christentum machten ihn zu einem einflussreichen Philosophen des Wilhelminismus. Doch auch seine Wirkung als Universitätslehrer war groß: Zu seinen Schülern gehörten Fritz Medicus u. Max Scheler. Durch Medicus, den späteren Herausgeber der Werke Fichtes, wirkte E.s Anknüpfung an den Idealismus Fichtes fort, durch Scheler sein vehementes Eintreten für eine antiformalistische, heroische Liebesethik sowie seine Kritik am Psychologismus in der Philosophie. Im Ersten Weltkrieg beteiligte sich E. publizistisch mit zahlreichen Schriften am
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»Kulturkrieg«, jenem Intellektuellenkonstrukt, das den Krieg zu einem Kampf für das dt. Wesen stilisierte u. ihn mit einer philosoph. Weihe versah. Dabei unterschied E. wertend scharf zwischen einer hochgehaltenen dt. Kultur der Innerlichkeit u. einer bloß äußerlichen westl. Zivilisation der Kriegsgegner. E. beschwor Die sittlichen Kräfte des Krieges (Lpz. 1914) in der Hoffnung, den Kriegsnationalismus zum neoidealist. Zweck instrumentalisieren zu können. Dem revolutionären Umbruch in Deutschland stand er misstrauisch gegenüber. Während E. heutzutage in Deutschland weitgehend vergessen ist, zeigen in England u. Amerika »New-Age«-Bewegungen in ihrer Suche nach einem neuen ganzheitl. Denken Ansätze für eine Rezeption seines Werks. Einer Aufnahme des E.’schen Denkens in Deutschland standen histor. Bedenken im Weg: Der einem vagen Gefühl des Unbehagens an der modernen Welt entspringende, den aufklärer. Rationalismus verdächtigende Neoidealismus E.s erschien nach der Verwendung des Lebens- u. Weltanschauungsbegriffs im Dritten Reich für eine naive Rezeption nicht mehr brauchbar. Weitere Werke: Gesch. u. Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart. Lpz. 1878. – Gesch. der philosoph. Terminologie. Lpz. 1879. Neudr. Hildesh. 1960. Zuletzt Lpz. 2005 u. d. T. Einf. in die Philosophie. – Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein u. Tat der Menschheit. Lpz. 1888. – Die Lebensanschauungen der großen Denker. Lpz. 1890. Bln. 201950. Zuletzt Hildesh. 2007 (= Ges. Werke Bd. 12). – Der Sinn u. Wert des Lebens. Lpz. 1908. – Lebenserinnerungen. Lpz. 1921. Ausgabe: Ges. Werke. Bln./Lpz. 1903 ff. Nachdr. Hildesh. 2005 ff. (einzelne Bde. verschiedener Aufl.n nachgedr.). Literatur: Otto Siebert: R. E.s Welt- u. Lebensanschauungen. Langensalza 1904. – Meyrick Booth: R. E. His Philosophy and Influence. London 1913. – Friedrich Überwegs Grundriß der Gesch. der Philosophie. 4. Tl.: Traugott K. Österreich: Die dt. Philosophie des 19. Jh. u. der Gegenwart. Bln. 1923, S. 559–561, 720–721. – Erich Becker: E. u. seine Philosophie. Lpz. 1927. – Reinhold Haskamp: Spekulativer u. phänomenolog. Personalismus. Einflüsse J. G. Fichtes u. R. E.s auf Max Webers Philosophie der Person. Freib. i. Br. 1966. – Friedrich Wilhelm Graf: Die Positivität des Geistigen. R.
Eulenberg E.s Programm neoidealist. Universalintegration. In: Kultur u. Kulturwiss.en um 1900. Bd. 2: Idealismus u. Positivismus. Hg. Gangolf Hübinger. Stgt. 1997, S. 53–85. – Uwe Dathe: Der Nachl. R. E.s. Eine Bestandsübersicht. In: Ztschr. für neuere Theologiegesch. 9 (2002), S. 268–301. – Barbara Beßlich: ›In Zeiten der Vorbereitung größerer Dinge‹. Die Jahrhundertwende als Epochenschwelle der Moderne in R. E.s neoidealist. Weltanschauungslit. In: IASL 30 (2005), S. 167–187. Peter König / Barbara Beßlich
Eulenberg, Herbert, auch: Siebenkäs, * 25.1.1876 Mülheim/Rhein, † 4.9.1949 Düsseldorf-Kaiserswerth; Grabstätte: ebd., »Haus Freiheit«. – Verfasser von Dramen u. biografischen Essays. Der Sohn eines rheinischen Fabrikanten schrieb während seines Jurastudiums die ersten Bühnenstücke. Nach der Promotion ging er als Dramaturg zu Ferdinand Bonn nach Berlin. Dort lernte er seine Frau Hedda kennen, die in erster Ehe mit Arthur Moeller van den Bruck verheiratet war. 1905–1909 war er Mitarbeiter des Dumont-LindemannTheaters Düsseldorf u. der Theaterzeitschrift »Masken«. Bis zu seinem Tod lebte er in seinem »Haus Freiheit« in Kaiserswerth. Er stand den Malern des »Jungen Rheinland« nahe, war befreundet mit Thomas Mann, Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann u. den großen Verlegern seiner Zeit. Gemeinsam mit Paul Ernst, dann mit Wilhelm Schmidtbonn gestaltete E. die sonntägl. »Morgenfeiern« des Düsseldorfer Schauspielhauses: von volksbildnerischem Ethos getragene Dichter- u. Künstler-Matineen. Aus ihnen gingen die Schattenbilder hervor (Bln. 1910. 851927). Hier schuf E. ein dem Schöpferkult verpflichtetes erzähler. Genre, das szenenhaft gerafft Biografie, Werk u. Aura der »Meister« vergegenwärtigt. Es folgten weitere Sammlungen in ebenfalls hohen Auflagen. Mit den im Gefühlsrausch handelnden Figuren seiner ersten neuromant. Dramen (Dogenglück. Bln. 1899. Anna Walewska. Bln. 1899. Münchhausen. Bln. 1900. Leidenschaft. Lpz. 1901) u. einer mit Bildern überladenen Sprache stellte sich E. provokativ gegen den Naturalismus. Aus der Tradition des Sturm u.
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Drang u. der Romantik hoffte er Drama u. Bühne zu erneuern. Nach umstrittenen Aufführungen u. einem legendären Skandal um Ritter Blaubart (Urauff. Bln. 1906) gelang ihm mit Alles um Liebe (Urauff. Mchn. u. Hbg. 1911) u. Alles um Geld (Urauff. Bln. 1911) der Durchbruch am Theater. Der aufrührerische Ton seiner Anfänge erschien nun zur Innerlichkeit gemildert. Zarte, ihrer Sensibilität ausgelieferte »Seelen« u. kauzige Sonderlinge scheitern in der bürgerl. Gesellschaft. So hebt z.B. Belinde. Ein Liebesstück (Urauff. Mchn., Dresden u. Lpz. 1912) den Adel des seinem Gefühl lebenden Menschen hervor. Zahlreiche Aufführungen, Preise (Volksschillerpreis 1913) u. Vorzugsausgaben zeugen von E.s Popularität. Alfred Kerr allerdings beklagte den Konservatismus seiner Stücke. Nach dem Ersten Weltkrieg nahmen E.s Dramen bei gleichbleibender Thematik eine Wendung ins Stilisierte, Schwankhafte. Er widmete sich zunehmend dem Roman (z.B. Wir Zugvögel. Stgt. 1923) u. biogr. Erzählungen (z.B. Die Familie Feuerbach. Stgt. 1924. Schubert und die Frauen. Hellerau 1928). Seine Amerikareise (1923) mit literar. Lesungen u. humorist. Vorträgen, z.T. begleitet von Roda Roda, verstand E. als Kultur- u. Friedensbotschaft. Von den Nationalsozialisten »unerwünscht«, veröffentlichte er ab 1933 unter dem Pseudonym Siebenkäs. Im Hinblick auf die moral. Rehabilitierung Deutschlands aus seinem kulturellen Erbe schrieb E. nach 1945 in den Zeitschriften »Aufbau« u. »Die Weltbühne«. Für seine Würdigungen Heines erhielt er den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Hamburg u. den Nationalpreis. Es gab Neuauflagen der Schattenbilder in West u. Ost. Weitere Werke: Dt. Sonette. Lpz. 1910. 31915. – Sonderbare Gesch.n. Lpz. 1910. 141920. – Schiller. Eine Rede zu seinen Ehren. Lpz. 1910. – Katinka die Fliege. Lpz. 1911. 151917. – Die Kunst in unserer Zeit. Lpz. 1911. – Neue Bilder. Bln. 1912. 46 1923. – Letzte Bilder. Bln. 1915. 381923. – Skizzen aus Litauen, Weißrußland u. Kurland. Zeichnungen v. Hermann Struck. Bln. 1916. – Mein Leben für die Bühne. Bln. 1919. 131924. – Heinrich Heine. Bln. 1947. Ausgabe: Ausgew. Werke in 5 Bdn. Stgt. 1925/ 26.
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335 Literatur: Bibliografie: Ernst Metelmann: H. E. In: Die schöne Lit. Jg. 28, H. 9 (1927), S. 390 ff. – Weitere Titel: Peter Hamecher: H. E. Ein Orientierungsversuch. Lpz. 1911. – H. W. Keim: H. E. Düsseld. 1925. – Hedwig Smola: Das dramat. Schaffen H. E.s. Diss. Wien 1950. – Hedda Eulenberg: Im Doppelglück v. Kunst u. Leben. Düsseld. 1952. – Gert Richter: Humanitätsideal u. Gesellschaftskritik in den Dramen H. E.s. Diss. Lpz. 1958. – Helgard Bruhns: H. E. Drama, Dramatik, Wirkung. Diss. Ffm. 1974. – Kat. der Ausstellung zum 100. Geburtstag H. E.s. Heinrich-Heine-Institut. Düsseld. 1976. – Frank Thissen: H. E. Ein Exkurs. In: Das literar. Düsseldorf. Hg. Gertrude CeplKaufmann u. Winfried Hartkopf. Düsseld. 1988, S. 197–200. – Ders.: Die ›Morgenfeiern‹ des Düsseldorfer Schauspielhauses: H. E.s Bühnengottesdienste. Ebd., S. 261–271. – Ders.: ›Edle Arznei für den Alltag‹: H. E.s Düsseldorfer Morgenfeiern u. die Romantikrezeption um 1900. Köln 1992. – Bernd Kortländer: Weltbürger am Rhein. Leben u. Werk H. E.s. In: Ganges Europas, heiliger Strom! Hg. Sabine Brenner. Düsseld. 2001, S. 75–98. – Ders.: Rheinischer Internationalismus am Beispiel H. E.s In: Literar. Fundstücke. Hg. Ariane Neuhaus-Koch u. G. Cepl-Kaufmann. Heidelb. 2002, S. 256–274. – S. Brenner: ›Heinrich Heine hat mich gebeten, in seinem Namen folgendes zu erklären‹. Der rhein. Dichter H. E. u. sein literar. Vorbild H. H. In: ›... und die Welt ist so lieblich verworren‹. Hg. B. Kortländer u. Sikander Singh. Bielef. 2004, S. 409–417. Helgard Bruhns / Red.
Eulenspiegel Ulenspiegel
! Bote, Hermann
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Euringer, Richard, auch: Florian Ammer, * 4.4.1891 Augsburg, † 29.8.1953 Essen. – Romanschriftsteller. E. studierte nach dem Besuch des Gymnasiums Musik. 1914–1916 war er Flugzeugführer, zunächst an der Westfront, dann mit einem dt. Expeditionskorps an der Sinaifront. Bereits in den 1920er Jahren schloss er sich dem Nationalsozialismus an, gründete 1931 den »Nationalverband Deutscher Schriftsteller« u. wurde nach der nationalsozialist. Machtübernahme Leiter der Stadtbücherei Essen. 1933 trat er in die »gleichgeschaltete« Dichterakademie der Preußischen Akademie der Künste ein. 1935 wurde er zum Reichskultursenator innerhalb der Reichskulturkammer ernannt. Von 1936 an lebte er in
Asenthal bei Bad Salzuflen als freier Schriftsteller. E.s Werk stellt den Versuch dar, der Sinnlosigkeit von Krieg u. sozialer Not den Opferwillen der Gemeinschaft, das Hohelied des Heroismus u. die Glorifizierung des dt. Nationalgedankens entgegenzusetzen, so in den autobiografisch inspirierten Romanen Fliegerschule 4 (Hbg. 1929) u. Die Arbeitslosen (Hbg. 1930). Individualität löst er in völk. Kollektivsymbolik auf u. unterstellt alle gesellschaftl. Prozessualität der Kategorie des »Schicksals«. Den erstmals verliehenen Nationalen Buchpreis erhielt E. 1934 für seine Deutsche Passion 1933 (Oldenb. 1933), einem »Hörwerk« in der Tradition des dt. Mysterienspiels, das sich zgl. als Vorläufer der nationalsozialist. »Thingspiel«-Bewegung verstehen lässt. Es ist durchgängig dualistisch strukturiert durch das unversöhnl. Widerspiel des »Bösen Geistes«, auf dessen Seite Finsternis u. Deutschfeindlichkeit, Brutalität u. Zynismus versammelt sind, u. des »Guten Geistes«, der die dt. Sache zuletzt zum Sieg führt. Ob historischer Roman (Die Fürsten fallen. Lpz. 1935), Biografie (Dietrich Eckart. Hgb. 1935) oder Lyrik (Die Gedichte. Bln. 1937) – E.s Werk folgt durchweg groben polit. Mustern u. ist in traditionalistischer Formensprache verfasst. Es hatte deshalb nur in der Zeit Konjunktur, in der das polit. System herrschte, dem es dienen sollte. E. ist nach 1945 in Vergessenheit geraten. Sein letztes Werk, der Bericht Die Weltreise des Marco Polo (Stgt. 1954), hat kaum noch Resonanz gefunden. Weitere Werke: Chronik einer dt. Wandlung 1925–35. Hbg. 1936 (Autobiogr.). – Vortrupp Pascha. Bln. 1937 (R.). – Der Zug durch die Wüste. Bln. 1938 (R.). Literatur: Horst Denkler u. Karl Prümm (Hg.): Die dt. Lit. im Dritten Reich. Themen, Traditionen, Wirkungen. Stgt. 1976. – Ralf Schnell: Was ist ›Nationalsozialistische Dichtung‹? In: Leid der Worte. Panorama des literar. Nationalsozialismus. Hg. Jörg Thunecke. Bonn 1987. – Johannes M. Reichl: Das Thingspiel. Über den Versuch eines nationalsozialist. Lehrstück-Theaters (E., Heincke, Möller). Mit einem Anhang über Bert Brecht. Ffm. 1988. – Jürgen Hillesheim: ›Heil dir Führer! Führ
Evangelium Nicodemi uns an!...‹. Der Augsburger Dichter R. E. Würzb. 1995. – Helmut Kreuzer: Vom Mythus zur politisch-sozialen Aktualität. Streiflichter auf dt. Hörspiele zwischen 1927 u. 1933. In: Deutschsprachige Hörspiele 1924–33. Hg. ders. Ffm. 2003, S. 25–38. Ralf Schnell / Red.
Evangelium Nicodemi. – Spätantikes Bibelapokryph des 5. Jh. Nach Auskunft der ältesten (griech.) Fassung des E. N. soll 425 ein Christ namens Ananias von dem biblisch beglaubigten Augenzeugen Nicodemus, »princeps Iudaeorum« u. heiml. Anhänger Jesu (vgl. Joh 3,1 u. ö.), hebräisch verfasste Protokolle über den Prozess Jesu aufgefunden u. ins Griechische übersetzt haben. Gemäß dieser Verfasserfiktion erhielt die in mehreren Schichten entstandene Sammlung apokrypher Texte, die die in den kanonischen Evangelien nicht berücksichtigten Ereignisse der Passionsgeschichte ergänzen wollen, im MA den Titel E. N. Inhalt des ersten Teils (Ada oder Gesta Pilati) ist der Prozess vor Pilatus, Kreuzigung u. Begräbnis sowie die Verhandlung im Synedrion; der später hinzugefügte zweite Teil enthält die Aussagen der beiden von den Toten auferstandenen Zeugen Leukios u. Charinos über Christi Höllenfahrt u. seine Befreiung der Altväter (Descensus Christi ad inferos). Die Kompilation dieser Texte – mit dezidiert antijüd. Tendenz, die Pilatus von der Schuld am Tod Jesu zu entlasten sucht – wird wohl im 5. Jh. vorgenommen worden sein. Zu Beginn des MA entstanden weitere, das E. N. fortsetzende Texte, so ein Briefwechsel zwischen Pilatus u. Tiberius bzw. Herodes, v. a. aber Erzählungen über den Tod des Pilatus (»Mors Pilati«) u. über die als Rache für den Tod Christi erfolgte Zerstörung Jerusalems (Pilatus-Veronika-Legende). Fassungen des E. N. wurden während des ganzen MA tradiert u. wirkten auf zahlreiche andere Texte u. auf die bildende Kunst ein. Die volkssprachl. Rezeption setzt mit Versdichtungen ein. Bereits um 1200 muss eine solche existiert haben, die nicht vor 1230 in die Urstende Konrads von Heimesfurt eingegangen ist. Um 1300 versifizierte der v. a. vom Deutschen Orden rezipierte Heinrich
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von Hesler das E. N. In der ersten Hälfte des 14. Jh. hebt dann ein nicht mehr versiegender Strom von ober-, mittel- u. niederdeutschen, durchweg unabhängig voneinander entstandenen Prosafassungen an. Die Zusammenstellung der Textbestandteile kann dabei variieren; oft folgen dem eigentl. E. N. der Pilatusbrief u. die Pilatus-Veronika-Legende (so in der bair. Fassung A, der südwestdt. Fassung F u. der österr. Fassung H). Neben Versionen, die bis in die Syntax hinein genau an der lat. Vorlage festhalten (z.B. Fassung A), gibt es auch freiere, teils kürzende (Fassungen D u. F), teils stofflich ausweitende Übersetzungen (Fassung E, gleiche Zusatzquelle wie Konrad von Heimesfurt). Lateinische u. volkssprachl. Versionen dienten zahlreichen weiteren Bearbeitungen des Stoffs als Quelle: so Gundackers von Judenburg Christi Hort (Ende 13. Jh.) u. Erlösung, Prosatexten wie der Legenda aurea des Jacobus de Voragine, dem Belial des Jacobus de Theramo u. verschiedenen Passionstraktaten, aber auch dem geistl. Spiel. Da die volkssprachl. Fassungen noch nicht in ihrer ganzen Breite erschlossen sind, können Aussagen über ihre Überlieferungsu. Gebrauchssituation zunächst nur vorläufig sein. Signifikant ist immerhin, dass die Texte häufig in Zusammenhang mit bibl. Büchern (so Fassung H, die Teil des sog. Klosterneuburger Evangelienwerks ist) oder mit Erbauungsliteratur im weitesten Sinn (z.B. Marquards von Lindau Hiob-Traktat, Heinrichs von St. Gallen Passionstraktat, Der kleine Seelentrost, Ars moriendi-Texte, Beichtunterweisungen u. Gebete, Heiligenleben u. a.) überliefert sind. Besitzvermerke der Handschriften deuten darauf, dass die dt. Fassungen des E. N. v. a. in Frauenklöstern u. religiösen Laienbewegungen sowie vom städtischen, an religiösen Fragen interessierten Bürgertum rezipiert wurden. Ausgaben: Achim Masser (Hg.): Dat ewangelium Nicodemi van deme lidende vnses heren Ihesu Christi. Bln. 1978. – Ders. u. Max Siller (Hg.): Das E. N. in spätmittelalterl. dt. Prosa. Heidelb. 1987. Literatur: Karl-Ernst Geith: Zu einigen Fassungen der Veronikalegende in der mhd. Lit. In: FS Friedrich Maurer. Düsseld. 1968, S. 262–288. – Achim Masser: Bibel- u. Legendenepik des dt. MA. Bln. 1976, S. 112–124 u. ö. – Albert Schelb: E. N. In:
337 VL. – A. Masser: Das E. N. u. das mittelalterl. Spiel. In: ZfdPh 107 (1988), S. 48–66. – Werner J. Hoffmann: The ›Gospel of Nicodemus‹ in High German Literature of the Middle Ages. In: The Medieval ›Gospel of Nicodemus‹ [...] in Western Europe. Hg. Zbigniew Izydorczyk. Tempe/Arizona 1997, S. 287–336. Norbert H. Ott / Christoph Fasbender
Evenius, Ewen, Sigismund, * um 1585 Nauen, begraben 17.9.1639 Weimar. – Evangelischer Theologe u. Pädagoge. E. schrieb sich im April 1602 in die Matrikel der Universität Wittenberg ein, um Philologie u. Theologie zu studieren (Mag. art. 1608). Im Jahre 1611 wurde er Adjunkt der dortigen Philosoph. Fakultät, ab Juli 1613 Rektor am städt. Gymnasium in Halle u. ab 1622 Rektor am Gymnasium in Magdeburg bis zur Zerstörung der Stadt im Juni 1631. Nach kurzen Tätigkeiten als Rektor des Gymnasiums zu Reval u. in Regensburg (1633) wurde er 1634 von Herzog Ernst dem Frommen als Schulrat nach Sachsen-Weimar berufen. In der Folge initiierte er das Weimarische Bibelwerk u. unterbreitete Reformvorschläge für das Schulwesen u. den Religionsunterricht. Zeit seines Lebens setzte er sich kritisch mit den Methoden des Reformpädagogen Wolfgang Ratke (Ratichius) auseinander; mit dem Nürnberger Prediger Johann Saubert war er freundschaftlich verbunden. Neben seinen Antrittsreden für die Gymnasien u. seinen theolog. Streitschriften – z.B. gegen den Jesuiten Adam Contzen (Tyrannidis pontificiae secularis demonstratio apologetica [...]. Halle/S. 1619. Diabolus palmatus [...]. Magdeb. 1621) u. den Magdeburger Pastor Andreas Cramer (Christliche Betrawrung der fast seltzamen Verwirrung M. Andreae Crameri [...]. Cramerus prostratus, coram ecclesia convictus [...] u. Christlicher Probier Stein [...], alle Magdeb. 1624 u. zus. mit dem Pfarrer Johann Kotzibue) – verfasste E. zahlreiche Schriften zum Schulu. Erziehungswesen (z.B. 1618: Formal und Abriß, wie eine christliche und evangelische Schule wohl und richtig anzustellen sei. In: Friedrich A. Eckstein: Programm der Lateinischen Hauptschule in Halle. Halle 1861) sowie zwei didakt. Bücher mit Illustrationen: für Erwachsene
Evenius
Die christlich-gottselige Katechismusschule (Erfurt 1636) u. für Kinder zwischen drei u. fünf Jahren die Christliche, gottselige Bilder Schule (Jena 1636. Frz. 1666. Ital. 1673). Die Bilder Schule gilt als das erste Buch, das Bilder in den Dienst der schulischen Unterweisung stellt. Sie ist ein Produkt der pädagog. u. theolog. Reformbestrebungen der Zeit nach 1600. Am Anfang stehen drei ganzseitige »Generalbilder« zu den Themen Gottesfurcht, Gebet u. Katechismus. Es folgen 54 kleinformatige »Special-Bilder«, die den jeweiligen Zustand der Menschheit vom Sündenfall über die Erlösung bis hin zum ewigen Leben wiedergeben. Bild u. Text sind in mnemotechnischer Manier durch Ziffernsysteme verbunden. Bildgebrauch u. die Befürwortung des Realienunterrichts machen E. zu einem Vorläufer Johann Amos Comenius’ u. dessen Orbis sensualium pictus (1657). Weitere Werke: E¯thike¯ seu Doctrina de moribus universa [...] in disputationes XXVII redacta [...] Wittenb. 1612. – Disputationum anthropologicarum prima [-decima nona]. Wittenb. 1612/13. Literatur: VD 17. – Paul Stötzner: S. E. Ein Beitr. zur Gesch. des Ratichianismus. Zwickau 1895 (mit Werkverz.). – Herbert v. Hintzenstern: Die ›Bilderschule‹ des S. E. In: Domine dirige me in verbo tuo. Bln. 1961, S. 210–222. – Klaus Schaller: Die Pädagogik des Johann A. Comenius u. die Anfänge des pädagog. Realismus im 17. Jh. Heidelb. 1962 (mit Abb.). – Heinrich Michaelis: E. In: NDB. – Gerhard Ringshausen: Von der Buchillustration zum Unterrichtsmedium. Weinheim/Basel 1976 (mit Abb.). – Ingrid Hruby: S. E.: Christl., gottselige Bilder Schule (1637). In: HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 145–156 u. 1241 f. – Martin Klöker: Literar. Kultur in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jh. In: Stadt u. Lit. im dt. Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 2, Tüb. 1998, S. 822–841. – Walter Troxler: S. E. In: Bautz. – Ernst Koch in: RGG 4. Aufl. Bd. 2, Sp. 1747. – Estermann/Bürger 2, S. 339 (Verz. gedr. Briefe). – Ludolf Bremer: S. E. (1585/89–1639). Ein Pädagoge des 17. Jh. Köln u. a. 2001. – Markus Friedrich: Der Export des Helmstedter Hofmannstreits ins Erzstift Magdeburg (1600–30): Johannes Olearius, S. E., Andreas Cramer. In: Bildung u. städt. Gesellsch. Beiträge zur hallischen Bildungsgesch. Hg. Thomas J. Müller-Bahlke. Halle 2004, S. 36–53. Eva-Maria Bangerter-Schmid / Red.
Evers
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Evers, Ernst Eduard, * 15.8.1844 Kaköhl bei Plön/Holstein, † 23.10.1921 Malente/ Schleswig-Holstein. – Erzähler u. Herausgeber von Erbauungsschrifttum. Der Sohn eines Wagenbauers studierte in Kiel u. Berlin Theologie. 1869 trat E. eine Stelle als Pastor in Tetenbüll, danach in Berlin an. 1888 trat er in den Dienst der Berliner Stadtmission. Neben zahlreichen religiösen Kalendern (»Martha-Kalender. Ein Jahrbuch für Frauen und Jungfrauen«. Bln. 1899 f. »Der deutsche Volksbote. Ein Kalender auf das Jahr [...]«. Bln. 1894–96) begründete er »Das Immergrün. Ein Unterhaltungsblatt zur Förderung christlichen deutschen Familienlebens« (Wiesb. 1882 ff.). Die tief religiöse Haltung E.s spiegelt sich in zahlreichen Erzählungen wider, meist mit einem vorangestellten Sinnspruch als Aufhänger (etwa »Mit Gott fahr fort, / Zur Leuchte wähl sein Wort«), aber auch darin, dass der Erlös mancher Bücher (z.B. Tauperlen. Eine Gedichtsammlung für die Feierstunden des Lebens. Bln. 1899) karitativen Einrichtungen zugute kam. In E.s Spätschriften wird immer deutlicher, dass er der Religion eine ausschließlich staatserhaltende Funktion zuschreibt (vgl. Kriegsträume und andere patriotische Erzählungen. Bln. 1908). Weitere Werke: Ehestand u. Wehestand. Norden 1876 (E.). – Auguste Victoria. Das Lebensbild der dt. Kaiserin. Bln. 1888. – Wilde Wogen. Eine Erzählung aus der Zeit des 30jährigen Krieges. Bln. 1890. – Unser Kaiserpaar. Plön 1905 (Lebensbilder). Michael Then / Red.
Ewald, Johann Joachim, * 3.9.1727 Spandau, † nach 1762 (verschollen). – Gelegenheitsdichter, Epigrammatiker.
dieser Position; die anschließende Englandreise endete im finanziellen Fiasko (1757). Neuerliche Empfehlungen machten ihn zum Hofmeister des Erbprinzen Ludwig von Hessen-Darmstadt (1757/58). Trotz seiner angegriffenen Gesundheit quittierte er auch dessen Dienste u. unternahm – völlig sprachunkundig – eine Italienreise; von Winckelmann sporadisch unterstützt u. aus finanziellen Gründen zur Konversion genötigt, irrte er krank u. mittellos zwischen Rom u. Neapel, Florenz u. Livorno umher (1758–1762). Danach verlieren sich seine Spuren. E. betätigte sich während seiner Berliner Zeit öfter als Gelegenheitsdichter; er schrieb zeittypische Lyrik anakreontischen Kolorits, patriotisch-friderizianische Gedichte in der Nachfolge Gleims u. scharfzüngig-treffsichere Epigramme (Lieder u. Sinngedichte in zweyen Büchern. o. O. [Dresden] 1757. Hg. Karl Heinrich Jördens. Bln. 31791). Nicolai widmete dem unglückl. Abenteurer einen ausführl. Nachruf (in: Neue Berlinische Monatsschrift 20, 1808, S. 257–273). E.s Lieder u. Epigramme fanden auch Eingang in moderne Anthologien (Wer mich u. Ilse sieht im Grase. Hg. Johannes Bobrowski. Bln. 1964. Deutsche Epigramme. Hg. Gerhard Neumann. Stgt. 1969). Ausgaben: Sinn-Gedichte in zwey Büchern. Bln. 1755. Neudr. hg. v. Georg Ellinger. Bln. 1890. – Gedichte. Neue, verbesserte Aufl. Dresden 1806. – Sinn Gedichte in zwey Büchern. Bln. 1755. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. Digitale Bibl. 125 (2005). CD-ROM. Literatur: W. Creizenach: E. In: ADB. – Adolf Bach: J. J. E. in Ems. In: Hess. Chronik 11 (1922), S. 22–29, 37–41. – DBA 298,380–381 u. 425–430. Adrian Hummel / Red.
Nach seiner Berliner Gymnasialzeit (1744–1748) widmete sich E. in Halle 1748/ Ewald, Johann Ludwig, * 16.9.1748 Drei49 jurist. Studien. 1749–1752 nahm er die eichenhain/Hessen, † 19.3.1822 Karlsrulukrative Stelle eines Hofmeisters beim he. – Kirchenleitender Theologe, Pädapreuß. General von Retzow ein. Durch dessen goge, Schriftsteller, Publizist. Protektion avancierte er zum Auditeur (Verhörbeamter beim Kriegsgericht) eines Pots- E. studierte in Marburg Theologie (Immatridamer Regiments (1752–1757) u. trat in kulation am 4.10.1766) u. wurde hier von der freundschaftl. Kontakt zu Ramler, Ewald von sog. Neologie tief geprägt. 1771–1773 arbeiKleist u. Friedrich Nicolai. Ungebändigte tete E. als Hauslehrer, wurde 1773 als PrediAbenteuerlust bewegte E. jedoch zur Aufgabe ger nach Ravolzhausen u. im selben Jahr nach
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Ewald
Offenbach berufen. Hier nahm er u. a. Kon- tum (pogromartige Hep-Hep-Bewegung takt mit Goethe auf, der 1775 anlässlich von 1819). E. forderte nicht nur die bürgerl. E.s Eheschließung mit Rahel Gertraude du Gleichstellung der Juden, sondern plädierte Fay den frisch Vermählten das Lied In allen im Anschluss an die paulin. Geschichtstheoguten Stunden widmete. Infolge seines Aus- logie auch für eine Hochschätzung Israels als tausches mit Johann C. Lavater, Philipp desjenigen Volkes, dem Jesus entstammte u. Matthäus Hahn u. Justus Christoph Krafft das die bleibende Wurzel des Christentums vollzog E. zwischen 1774 u. 1776 eine theo- darstellt. E. hat (Hamann, Claudius u. a. verlog. Kehre, distanzierte sich deutlich von gleichbar) bibl. Theologie als Metakritik am seiner rational-moralisch geprägten Theolo- die ratio des Menschen hypostasierenden gie u. bildete eine v. a. an der Narrativität der Rationalismus der Aufklärung betrieben, war bibl. Textwelten orientierte theolog. Existenz jedoch zgl. in politischer u. pädagog. Hinaus, die in vielerlei Hinsicht auf die refor- sicht gemäßigter Anhänger der Aufklärung. mator. Tradition zurückgriff, um sie innovaNeuausgaben: Ideen über die nöthige Organitiv zu reformulieren. sation der Israeliten in christl. Staaten. Hg. Johann Als lippischer Generalsuperintendent Anselm Steiger. Heidelb. 1999. – Projüd. Schr.en (1783–1796) entfaltete E. eine breit angelegte aus den Jahren 1817 bis 1821. Hg. ders. Heidelb. schriftsteller. Tätigkeit (pädagog. Traktate, 2000. Literatur: Johann Anselm Steiger: J. L. E. RetPredigten, Erbauliches, Schulbücher), trat (wie auch später) als Publizist mit mehreren tung eines theolog. Zeitgenossen. Gött. 1996 Zeitschriftenprojekten in Erscheinung u. (Werkverz. S. 447–517). – Hans-Martin Kirn: Dt. Spätaufklärung u. Pietismus. Gött. 1998. trieb ein schulpädagog. Reformwerk erfolgJohann Anselm Steiger reich voran, das philanthropische, pestalozzische u. (hierin deutlich eigene Akzente setzend) bibelkatechet. Impulse miteinander Ewald, Schack (getauft: Jacques) Herverband. Als polit. Schriftsteller äußerte sich mann, * 6.2.1745 Gotha, † 5.5.1822 GoE. zu Fragen der Volksaufklärung u. artikutha. – Verfasser von Oden u. Dramen, lierte Kritik an der lippischen Ritterschaft, Übersetzer, Dramatiker, Lyriker u. Publidie sich weigerte, einen finanziellen Beitrag zist. zur Verteidigung des Reiches gegen die frz. Revolutionsheere zu leisten (Was sollte der Adel Der frühe Tod des Vaters (1757) stürzte E.s jetzt thun? Lpz. 1793). Dies trug E. einen Familie in eine finanzielle Krise; dennoch schweren Konflikt mit der lippischen Ritter- durfte E. das Gothaer Gymnasium (bis 1764) schaft ein, die sich mehrfach über ihn beim u. die Universität Jena (1764–1769) besuchen. Reichshofrat in Wien beschwerte u. erwirkte, Nach dem Abschluss seiner jurist. Studien dass die lippische Regierung im Aug. 1794 praktizierte er zunächst mit geringem Erfolg von Wien angewiesen wurde, gegen ihren in Gotha (1769–1772) u. ging dann nach Superintendenten einen Verweis auszuspre- Göttingen, wo er einige Mitglieder des chen. Daraufhin kehrte E. Detmold den Rü- Hainbundes (Voß, Hölty, Miller) kennencken u. übernahm 1796 eine Pfarrstelle in lernte; unter ihrem Einfluss verschrieb er sich Bremen. 1805 wurde er als Professor für den Idealen des Bundes u. der Schriftstellerei. Pastoraltheol. u. Moral an die jüngst reorga- In den folgenden Jahren (1772–1783) zehrte nisierte Universität Heidelberg u. 1807 zum E. deshalb von den geringen Einnahmen aus ersten Geistlichen der reformierten Kirche in seiner publizist. Arbeit; erst 1783 akzeptierte Baden nach Karlsruhe berufen, um an der er zur finanziellen Absicherung seiner Ehe Aufrichtung der Bekenntnisunion mitzuar- einen Posten als subalterner Hofbeamter. beiten, die 1822 zustande kam. Nach mehreren Beförderungen (Hofrat 1812) Beeindruckend sind E.s 1816–1821 publi- verstarb der regional bekannte u. vielseitig zierte Apologien für das nach dem Wiener gebildete Gelehrte in Gotha. Kongress (u. a. von Friedrich Rühs u. Jakob Neben literar. Schriften veröffentlichte E. Friedrich Fries) heftig angefeindete Juden- juristische (Kritik der Regierungsform des deut-
Ewers
schen Reiches. Gotha 1798) u. philosoph. Werke (Die Allgegenwart Gottes. 2 Bde., Gotha 1817 u. 1819). Einen Großteil seiner Schriften bilden allerdings einträgl. Übersetzungen meist kulturhistorischen oder belletrist. Inhalts (W. Chambers Abhandlung über die orientalische Gartenkunst. Gotha 1775. Adaïr’s Beschreibung der nordamerikanischen Indianer. Breslau 1782. Lieder des Markus Antonius Flaminius. Gotha 1775). Sie waren ebenso wie E.s Zeitschriften (»Gothaische Gelehrte Zeitung«, 1774–1804) um die Verbreitung neuesten Wissens bemüht. Die zeitgenöss. Psychologie (»Erfahrungsseelenkunde«) bereicherte E. mit seiner Arbeit Über das menschliche Herz (3 Bde., Erfurt 1784). Seine lyr. Versuche (Oden. Gotha 1772) standen im Bannkreis Klopstocks u. fanden nur wenige Freunde. Unter den Schauspielen des Autors ist Heyrath aus Liebe (Gotha 1781) wegen des angedeuteten, aber geschickt überspielten Konflikts zwischen empfindungsechter Liebes- u. berechnender Vernunftehe als vorsichtige Adelskritik von literatursoziolog. Interesse. E.s Bekanntheit bis heute beruht auf seiner Gastgeberrolle bei der ersten Verdammung Wielands durch den Göttinger Hainbund (3.10.1772). Literatur: M. Berbig: S. H. E. In: Mitt.en der Vereinigung für Gothaische Gesch. 1903, S. 88–111 (mit Werkbibliogr.). – Hans-Jürgen-Schrader: Mit Feuer, Schwert u. schlechtem Gewissen. Zum Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland. In: Euph. 78 (1984), S. 325–367 (mit Lit.). Adrian Hummel / Red.
Ewers, Hanns Heinz, * 3.11.1871 Düsseldorf, † 12.6.1943 Berlin; Grabstätte: Düsseldorf, Nordfriedhof. – Romancier, Erzähler, Herausgeber, Drehbuchautor u. Journalist. Der Sohn eines Genre- u. Historienmalers studierte in Berlin, Bonn u. Genf Jura u. promovierte 1894 in Bonn. Um die Jahrhundertwende ging er als Autor an Ernst von Wolzogens Berliner Kabarett »Überbrettl«. Der Erfolg seiner ersten Bücher, z.B. Fabelbuch (zus. mit Theodor Etzel. Mchn. 1901. 4. Aufl. ca. 1904), ermöglichte es E., große Reisen durch Europa, Asien u. Amerika zu un-
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ternehmen. Sie bilden den Hintergrund für einen Teil seiner fantast. Romane u. Erzählungen, mit denen E. der Durchbruch gelang. E. berief sich auf Edgar Allan Poe (Bln. 1906; Ess.) u. auf andere Klassiker der fantast. Literatur wie E. T. A. Hoffmann u. Adelbert von Chamisso. Allerdings standen bei E. psychopatholog. Aspekte der Sexualität u. die vordergründige Lust an schockierenden, die bürgerl. Moralvorstellungen verletzenden Details im Mittelpunkt. E. attackierte die wilhelmin. Gesellschaft mit ihren uneingestandenen sexuellen Wünschen, ohne sie wirklich verändern zu wollen. Das macht v. a. sein erfolgreichster Roman Alraune (Mchn. 1911; bis 1922 238.000 Exemplare. Zuletzt Düsseld. 1998. Verfilmt 1919, 1927, 1930, 1951) deutlich, der mit Der Zauberlehrling oder Die Teufelsjäger (Mchn. 1909. 1920. Erftstadt 2005) u. Vampir (Mchn. 1921) zu der stark autobiografisch gefärbten Frank Braun-Trilogie gehört. Der mit grausamen u. kitschigen Details gespickte Roman, der kriminalpsycholog. u. psychoanalyt. Thesen trivialisiert, bereitete seinem Publikum, wie Winfried Freund 1982 schrieb, einen »dekadenten Lesegenuß«. Diese nur scheinbare Herausforderung der gesellschaftl. Normen stieß bei der literar. Kritik weitgehend auf Ablehnung. Karl Kraus nannte E. 1913 in der »Fackel« einen »transzendenten Weinhändler«, der als »Vertreter angesehener Verlagsfirmen sogar bis ins Jenseits vorgedrungen« sei. Fast uneingeschränktes Lob erntete E. dagegen für seine Filme. Mit Der Student von Prag (1913), für den er das Drehbuch verfasst hatte, schuf er einen der ersten dt. Filme von Rang. Der Erste Weltkrieg überraschte E. während einer Amerikareise. Er blieb in den USA, schrieb patriot. Gedichte (Deutsche Kriegslieder. Mchn. 1915) u. wurde schließlich interniert. Erst 1920 konnte er zurückkehren. Der Abschluss des Versailler Vertrags u. die gegen ihn gerichteten Angriffe in der linksbürgerl. Presse verstärkten seinen Nationalismus. Schon früh kam er in Kontakt mit der »Schwarzen Reichswehr« u. der NSDAP, der er 1931 beitrat. Ein Jahr später erschien Reiter in deutscher Nacht (Stgt. 1932), die literarisch verbrämte Lebensgeschichte des NSDAP-
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Ewiger Jude
Funktionärs Paul Schulz. Obwohl der Roman H. E. als Prophet ohne Zukunft. Bedingungsanawegen der Schilderung sexueller Details auch lysen des gescheiterten Propagandaromans ›Horst in nationalsozialist. Kreisen umstritten blieb, Wessel‹. Wetzlar 1999. – Esther Roßmeißl: Märtykonnte E. kurz danach sein angeblich im rerstilisierungen in der Lit. des Dritten Reiches. Taunusstein 2000. – Jared Colin Poley: H. H. E. The Auftrag von Hitler geschriebenes Buch über occupied Rhineland, and German decolonization. Horst Wessel (Stgt. 1932), die 1930 ermordete Diss. Los Angeles 2001. – Marion Knobloch: H. H. Symbolfigur der NSDAP, veröffentlichen. In E. Bestseller-Autor in Kaiserreich u. Weimarer Reeinem Teil der NS-Presse stieß der zunächst publik. Diss. Marburg 2001. Ausg. Marburg 2002. sehr erfolgreiche Dokumentarroman v. a. – Hans Richard Brittnacher: Von Kriegern u. Dulwegen der früheren, unterdessen verfemten dern, Schindern u. Mönchen. Bilder vom Mann bei Romane E.’ auf heftige Kritik. Zunächst ge- H. H. E. u. Ernst Jünger. In: ZfG N. F. 12 (2002), 2, noss E. noch den Schutz von Goebbels, in S. 308–323. – Ulrike Brandenburg: H. H. E. dessen Auftrag er im März 1933 den Schutz- (1871–1943). Von der Jahrhundertwende zum Dritten Reich – Erzählungen, Dramen, Romane verband deutscher Schriftsteller »gleichge1903–32. Diss. Mainz 2002. Ausg. Ffm. u. a. 2003. – schaltet« hatte. Doch der nach dem Horst Klaus Gmachl: Zauberlehrling, Alraune u. Vampir. Wessel-Roman gedrehte Film durfte nur in Die Frank-Braun-Romane v. H. H. E. Diss. Innsbr. einer Schnittfassung u. unter dem neuen Ti- 2003. Ausg. Norderstedt 2005. Hans Sarkowicz tel Hans Westmar gezeigt werden. E., dessen polit. Wandlung zum Nationalsozialisten die Kulturfunktionäre anzweifelten, fiel schließ- Der Ewige Jude, auch: Ahasverus, Der lich in Ungnade. Fast alle seine Bücher wur- wandernde Jude. – Gestalt in mittelalterden bis 1940 verboten. lichen Legenden u. einem sog. Volksbuch, Seine Romane (v. a. Alraune) u. Erzählungen Anfang 17. Jh. sind nach der NS-Zeit teilweise wieder erschienen, allerdings ohne größere Resonanz. Ausgangspunkt der Legendenbildung sind Dagegen steht eine intensive wiss. Auseinan- Berichte des Evangelisten Johannes von Jesus’ dersetzung mit seinem Werk. Vor allem sein Gefangennahme: Mit dabei war der Knecht Beitrag zur Entwicklung der fantast. Litera- Malchus (Jh 18,3–10), ein anderer schlug ihn tur in Deutschland u. seine Propagandaro- beim Verhör (18,22; auch Mk 14,65). Die mane werden unter psychologischen u. biogr. Gestalten eines Angreifers wurden bereits in frühchristl. Schriften zusammengesehen u. Aspekten erforscht. mit Motiven aus der Legende des hl. Johannes Weitere Werke: Das Grauen. Seltsame Gesch.n. 11 Mchn. 1909. 1912. 1922 (E.). – Indien u. ich. verbunden; diese wiederum geht auf BibelMchn. 1911. 91913. – Nachtmahr. Mchn. 1922 (E.). stellen zurück, die von dessen möglichem – Fundvogel. Bln. 1928 (R.). – Herausgeber: Galerie Fortleben bis zur Wiederkunft Christi handeln (Jh 21,20–23; vgl. Mt 26,28; als Motto der Phantasten. 8 Bde., Mchn. 1914–22. Literatur: Michael Sennewald: H. H. E. Phan- im »Volksbuch« zitiert). Als zum Christentum Bekehrter erscheint tastik u. Jugendstil. Diss. Meisenheim/Glan 1973. – Bernd Kortländer: Vom ›Studenten v. Prag‹ zu der Sünder, der zur Strafe seit der Kreuzi›Horst Wessel‹ – H. H. E. u. der Film. In: Düssel- gung weiterleben muss, in Chroniken des 13. dorfer Kinematograph. Beiträge zu einer Filmge- Jh., die wohl aus mündl. Traditionen schöpsch. Düsseld. 1982, S. 137–148. – Helmut H. Die- fen. In der Version des Roger de Wendover († derichs: ›Der Student v. Prag‹. Einf. u. Protokoll. 1236) etwa ist es Cartaphilus, der Türsteher Stgt. 1985. – Wilfried Kugel: Der Unverantwortli- des Pilatus, der Jesus schlug, um seinen Gang che. H. H. E. – Biogr. u. Psychogramm. Diss. Bln. zur Hinrichtung zu beschleunigen (Flores 1987. Ausg. Düsseld. 1992. – Reinhold Keiner historiarum. London 1571. Zürich 1582. Hg. (Hg.): H. H. E. u. der phantast. Film. Hildesh. 1988. Hans Richard Brittnacher: Märtyrer im Braun- Henry G. Hewlett. Bd. 2, London 1887. hemd. H. H. E.: ›Horst Wessel. Ein deutsches Neudr. New York 1965). Die Jesus zugeSchicksal‹ (1932). In: Dichtung im Dritten Reich? schriebene Antwort, »ich gehe, und du wirst Hg. Christiane Caemmerer u. Walter Delabar. Op- mich erwarten, bis ich wiederkomme«, ist (in laden 1996, S. 215–230. – Stefanie Stockhorst: H. variierter Form) auch in späteren Fassungen
Excidium Trojae
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die entscheidende Begründung für die »ewi- Endzeit – der Wiederkunft des Antichrist, der ge« Wanderschaft. In Rogers Chronik wie von Juden unterstützt werde. Als wandauch in deren Fortsetzung (Matthaeus Pari- lungsreiche literar. Figur ist der E. J. bis in die siensis: Chronica maiora. Hg. Henry R. Luard. Gegenwart lebendig geblieben. Bd. 3, London 1876) liegt der Hauptakzent Literatur: Leonhard Neubaur: Die Sage vom allerdings auf der wundersamen Zeugen- ewigen Juden. Lpz. 1884. 21893 (erw.). – George K. schaft für den christl. Glauben, denn Joseph, Anderson: The Legend of the Wandering Jew. 3 wie Cartaphilus seit seiner Taufe heißt, er- Providence 1965. Hanover/New Hampshire 1991. wartet in Armenien voll demütiger Beschei- – Galit Hasan-Rokem u. Alan Dundes (Hg.): The denheit seine Erlösung am Jüngsten Tag. Wandering Jew. Bloomington 1985. – Winfried Frey: Ein geborener Jud v. Jerusalem. ÜberlegunWichtig sind die Zeugen, die mit dem heigen zur Entstehung der Ahasver-Figur. In: FS Karl ligmäßigen Büßer Umgang hatten: Bei Roger E. Grözinger. Wiesb. 2002, S. 207–217. – Stefan erzählt ein armen. Bischof während seines Nied: ›ich will stehen und ruhen, du aber solt geBesuchs in St. Alban’s im Jahr 1228, Guido hen‹. Das Volksbuch v. Ahasver. In: Juden in der dt. Bonatti († um 1300) berichtet von Bewohnern Lit. des MA. Hg. Ursula Schulze. Tüb. 2002, von Forli, die 1267 »Johannes Buttadeus«, S. 257–278. Anette Syndikus den »Gottschläger«, gesehen hatten (De astronomia I,5. Augsb. 1491. Basel 1550. 1600. Excidium Trojae. – Pseudohistorische Dt. ebd. 1572). Quellen des 4. bis 6. Jh. für mittelalterliSolche »gelehrten« Quellen kannte der che Bearbeitungen des Trojastoffs. Verfasser des sog. »Volksbuchs«, Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Der »Untergang Trojas« war dem MA nicht Namen Ahaßverus, einer siebenseitigen aus dem homerischen Epos (8. Jh. v. Chr.), Druckschrift, die 1602 neunmal an fingierten sondern aus anonymen lat. Prosaerzählungen Orten erschien (Faks. bei Mona Körte u. Ro- bekannt. Am wichtigsten wurde die Pseudobert Stockhammer [Hg.]: Ahasvers Spur. Dich- historiografie De excidio Troiae historia (Getungen und Dokumente vom ›E. J.‹. Lpz. 1995). schichte vom Untergang Trojas), die vermutZwar sind charakterist. Züge wie Armut, lich nach einer spätantiken griech. Vorlage Demut, Gottergebenheit u. Zeugenschaft der gegen Ende des 5. Jh. entstanden war. Deren Passion beibehalten, doch aus dem Türsteher Verfasser gibt sich als der Phrygier (d.h. Trowird ein jüd. Schuster, der »das Crucifige« janer) Dares aus; als Kriegsteilnehmer habe er mitschrie u. Jesus nicht an seiner Hauswand den tatsächl. Ereignissen näher gestanden als ausruhen ließ; seither muss er – entsprechend der spätere Homer. Zur Bekräftigung des dem hier abgewandelten Jesuswort – »ge- Anspruchs auf histor. Wahrheit ist ein Einhen«. Erzählt habe dies der Bischof von leitungsbrief hinzugefügt, den der röm. BioSchleswig, Paulus von Eitzen († 1598), der mit graf Nepos (1. Jh. v. Chr.) an den Historiker Ahasver 1542 in Hamburg selbst gesprochen Sallust geschrieben haben soll. Nepos behabe. Erst in weiteren Fassungen ist in theo- richtet darin, wie er das Manuskript des Dares log. Zusätzen eine deutlicher antijüd. Hal- in Athen gefunden habe. Diese fingierte Autung auszumachen, so im Wunderbarlichen Be- genzeugenschaft verhalf der »Geschichte« im richt eines Chrysostomus Dudulaeus Westphalus autoritätsgebundenen MA zu beispiellosem (Pseud., neun Drucke bis 1619). Die Be- Erfolg. Auch die griechenfeindl. Haltung des zeichnung »E. J.« ist erstmals 1694 belegt. Homerkritikers Dares wurde übernommen. Der große Erfolg des »Volksbuchs« (zahl- Sie spiegelt sich z.B. in der über das griech. reiche Übers.en, über 70 dt. Drucke) wird Epos hinausgehenden Vorgeschichte, die die heute zurückgeführt auf die Wiedererkenn- Ursache des trojan. Krieges neu akzentuiert: barkeit der Gestalt des wandernden Juden, Der Raub der Helena wird nicht mehr Paris auf die Vorliebe für »wunderbare«, überna- zur Last gelegt, sondern erscheint als Rachetürl. Erscheinungen, aber auch auf antijüd. akt für die erste Zerstörung Trojas. Im BeTendenzen innerhalb der Reformation, ver- richt über die Eroberung selbst sind auch bunden mit einer verbreiteten Erwartung der andere trojan. Helden aufgewertet; bes. die
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Exner
Gestalt des Troilus sowie Liebesgeschichten ler. Stgt. 1984, S. 247–289. – Frantisˇek Graus: wie die zwischen Achill u. Polyxena übten auf Troja u. trojan. Herkunftssage im MA. In: Kontinuität u. Transformation der Antike im MA. Hg. spätere Zeiten große Anziehungskraft aus. Da Dares nur bis zum Untergang Trojas Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 25–43. – Stefan Merkle: ›Troiani belli verior textus‹. Die berichtet, griff das MA für die Heimkehr der Trojaber.e des Dictys u. Dares. In: Die dt. Trojalit. Griechen auf eine weitere Pseudohistorio- des MA u. der frühen Neuzeit. Hg. Horst Brunner. grafie zurück: das »Tagebuch des trojani- Wiesb. 1990, S. 491–522. – Elisabeth Lienert: Dt. schen Krieges« (Ephemeris belli Troiani) des Antikenromane des MA. Bln. 2001, S. 9–25, Kreters Dictys (lat. vermutlich im 4. Jh.). Sei- 103–106, 158–162. Anette Syndikus ner trojafeindl. Einstellung ist es zu verdanken, dass der wesentlich knappere Bericht des Exner, Balthasar, * 24.8.1576 Hirschberg/ Dares die maßgebl. Quelle blieb, so z.B. in Schlesien, † 27.9.1624 Breslau. – Jurist, Benoîts Roman de Troie, der frz. Vorlage Historiker, Gekrönter Dichter. Herborts von Fritzlar. Daneben wird (etwa bei Konrad von E. entstammte dem niederschles. Hirschberg. Würzburg oder im Göttweiger Trojanerkrieg) Er besuchte das Elisabeth-Gymnasium in u. a. die Jugendgeschichte von Paris u. Achill Breslau u. absolvierte sein Studium in aus einer dritten lat. Prosaquelle ergänzt. Im Frankfurt/O. u. Leipzig. Eine Bildungsreise Excidium Troie (ursprünglich 4./6. Jh., ver- in den Westen, typisch für alle namhaften schiedene spätere Bearbeitungen) sind die schles. Späthumanisten, blieb ihm versagt. Er Ereignisse in Troja – unabhängig von Dares kompensierte das Defizit durch maßlose Anu. Dictys – für den Schulunterricht zusam- sprüche u. ebenso großen Ehrgeiz. Eine Karmengefasst u. (Vergil folgend) weitergeführt riere am Hof Rudolfs II. in Prag blieb Episode bis zu Aeneas’ Ankunft in Italien u. zur (1599–1604). Die Dichterkrönung dürfte in Prag, wahrscheinlich 1599, erfolgt sein. Auch Gründung Roms. Die Überzeugung, dass einzelne Stämme u. am Hof der Brandenburger u. der Herzöge Herrscherdynastien des christl. Abendlands von Münsterberg ist E. bezeugt. In Teschen ebenso wie die Römer von den Trojanern nahm er das Amt eines Erziehers des Prinzen abstammten, trug zur mittelalterl. Vorliebe Friedrich Wilhelm wahr. An das von Georg für den Trojastoff bei; auch die dt. Kaiser von Schönaich 1613/14 gegründete Beutheuntermauerten damit ihre Weltherrschafts- ner Gymnasium, das für eine kurze Frist die ansprüche. Mit der Wiederentdeckung Ho- Rolle einer fehlenden schles. Landesunivermers durch die Humanisten endete im 16. Jh. sität innehatte, wurde E. zunächst als Prodie Beanspruchung des trojan. Krieges für die rektor des Pädagogiums u. sodann als Proeigene Gegenwart; Dares u. Dictys wurden fessor für Geschichte berufen, nahm jedoch zeitweilig auch die Professuren für Rechtsaus den Handschriften ediert u. übersetzt. Ausgaben: Hg. Ferdinand Meister. Lpz. 1872 wissenschaft sowie für Beredsamkeit u. (Dictys). 1873 (Dares). – Richard M. Frazer Jr.: The Dichtkunst wahr. In Beuthen war er u. a. in Trojan War. Bloomington u. a. 1966 (engl. Übers. den Arianismusstreit um Georg Vechner vervon Dares u. Dictys, mit Einl. u. Anmerkungen). – wickelt, der eine erstmalig geschaffene »ProHg. Werner Eisenhut. Lpz. 1958. 21973 (Dictys). – fessura Pietatis« wahrnahm, u. geriet in hefHg. Elmar B. Atwood u. Virgil K. Whitaker. Cam- tige Auseinandersetzungen mit dem iren. bridge/Mass. 1944 (›Excidium Troie‹, mit Einl., Fürsten, der keine konfessionellen ZwistigKomm. u. Lit.). keiten duldete. E. starb in Breslau an der Pest. Literatur: Helene Homeyer: Die spartan. HeE. hat merklich mit Caspar Cunrad konlena u. der trojan. Krieg. Wandlungen u. Wandekurrieren wollen u. ein gleichfalls reiches rungen eines Sagenkreises vom Altertum bis zur epigrammat. Werk vorgelegt. Seine Anchora Gegenwart. Wiesb. 1977. – Werner Eisenhut: Spätantike Troja-E.en – mit einem Ausblick auf die Utriusque Vitae: Hoc est Symbolicum SPERO MEmittelalterl. Troja-Lit. In: Mlat. Jb. 18 (1983), LIORA. Centuria I-III (Hanau 1619) hat Cunrads S. 1–28. – Alfred Ebenbauer: Antike Stoffe. In: Ep. Theatrum Symbolicum zum Vorbild. E. hat, Stoffe des MA. Hg. Volker Mertens u. Ulrich Mül- Cunrad folgend, seine nach kleinen numeri-
Exodus
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schen Einheiten gegliederte Epigramm- Paul Fleming, Simon Dach. Köln/Weimar/Wien Sammlungen permanent gepflegt u. aufbau- 2008 (mit komm. Bibliogr.). Klaus Garber end auf ihnen Synopsen gebildet. Diese stehen – anders als bei Cunrad – nicht als klar Exodus , Altdeutsche Exodus, um 1120/30. – voneinander abgrenzbare Werke dar. Viel- Frühmittelhochdeutsches Bibelepos. mehr ist das Bild durch Titelauflagen, Umstellungen u. Neukompositionen unscharf u. Die E. (3316 gereimte Kurzverse), entstand teilweise verwirrend. Als E.s bedeutendste wohl zwischen 1120 u. 1130 in Österreich. Sammlung haben die Carminum Miscell. Libri (Entstehung im alemann. Westen wurde XII (Beuthen 1619. Titelaufl.: Schediasmata ebenfalls erwogen.) Sie ist in zwei HandPoetica. Beuthen 1620, mit alphabet. Perso- schriften überliefert, die auf eine gemeinsame nenregister) zu gelten. Eine Bibliografie steht Vorlage zurückgehen u. das Werk jeweils im Anschluss an Genesis u. Physiologus tradieren. aus. Weiteres Werk: De rerumpublicarum, regno- Die sog. Millstätter Handschrift enthält die gerum, imperiorum conversione et eversione oratio samte Dichtung; die etwas ältere u. in der Textgestalt konservativere Wiener Handschrift [...]. Beuthen 1620. Ausgabe: Valerius maximus christianus: hoc est, reicht nur bis v. 1480 (Lücke von 1401–1454). dictorum et factorum memorabilium, unius atque Vorlage ist das bibl. Buch Exodus (2. Mose) alterius seculi, imperatorum, regum, principum, bis 15,19 (Moses Lobgesang nach dem inprimis christianorum, libri novem. Hanau 1620. Durchzug durch das Rote Meer). In der VersInternet-Ed.: CAMENA: Abt. Thesaurus. u. Reimgestaltung ist die E. gegenüber der Literatur: Nikolaus Henel: Silesia togata (Hs., älteren Genesis fortgeschritten: Der Vierheber BU Wroclaw), XII, 756. – Ders.: Silesiographia re- wird deutlicher als metr. Norm respektiert, novata (Hs., BU Wroclaw), I, 218–220. – Johann die Zahl der unterfüllten wie der überlangen Heinrich Cunrad: Silesia togata [...]. Hg. Caspar Verse ist geringer, einsilbige Reime werden Theophil Schindler. Liegnitz 1706, S. 67. – Johann seltener verwendet. In der erzähler. AusrichSigmund John: Parnassus Silesiacus. Tl. I-II, Brestung aber lässt sich das jüngere durchaus mit lau 1728–29, I, 65–67; II, 16. – S. J. Ehrhardt: Presbyterologie des Evang. Schlesiens. Tl. I-V, dem älteren Werk vergleichen. Auch dem E.Liegnitz 1780–90, II, 585 f. – Daniel Heinrich He- Dichter kommt es v. a. auf die lebendige ring: Gesch. des ehemaligen berühmten Gymnasi- Handlung an, auch er verzichtet weitgehend ums zu Beuthen an der Oder. 1.-5. Nachlese. Bres- auf allegor. Deutungen. Andererseits aktualau 1784–88. Anhang zur Gesch. des beuthn. lisiert er seine Quelle, indem er Elemente aus Gymnasiums. Breslau 1789, I, 8; II, 9–11; V, 11. – der adeligen Lebenswelt seines Publikums Johann Georg Gottlieb Peucker: Kurze biogr. einbezieht. Das berühmteste Beispiel dafür Nachrichten der vornehmsten schles. Gelehrten findet sich in der Wiedergabe der ägypt. Pla[...]. Grottkau 1788, S. 25. – Christian Daniel gen (vv. 1339–1362 bzw. 2162–2180). Hier Klopsch: Gesch. des berühmten Schönaichischen lässt der Autor die Kröten u. Heuschrecken Gymnasiums zu Beuthen an der Oder [...]. Großals unritterliche bzw. ritterl. Heere auftreten. Glogau 1818, S. 29 f., 51, 166 ff., 229–238 (Biogr. mit reichhaltiger Bibliogr.). – Enchiridion renatae Diese »Verritterung« der bibl. Vorlage ist poesis latinae in Bohemia et Moravia cultae. Hg. wohl kaum aus der Kreuzzugsstimmung der Zalozˇili Antonín Truhlárˇ u. Karel Hrdina. Bd. 2, Zeit zu erklären, auch nicht als Ironisierung Prag 1966, S. 112–117 (mit vielfachen Aufschlüs- der weltl. Heldendichtung zu werten, vielselungen der Adressaten u. Beiträger u. wichtigen mehr ergreift hier der Dichter die willkomStandortangaben der Nachkriegszeit, v. a. zu den mene Möglichkeit, sein Darstellungstalent zu Beständen der UB Wroclaw). – George Schulz- entfalten u. seine laikale Zuhörerschaft in Behrend (Hg.): Martin Opitz. Ges. Werke, Bd. 1, bes. Weise anzusprechen. Publikumsrück117 ff. – Robert John Weston Evans: Rudolf II and sicht dürfte auch der Grund dafür gewesen his world. Oxford 1973. Korrigierte Ausg. o. O. sein, dass er sorgfältig alles meidet, was 1997, S. 148. – Robert Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Tüb. 1994, S. 246, S. 450–453 (u. Regis- theolog. Bildung oder umständl. Erklärunter). – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 497–499. – gen erfordert hätte. /
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Klaus Garber: Reise in den Osten. Martin Opitz,
Ausgabe: Die Altdt. E. Hg. E. Kossmann. 1886.
345 Literatur: Edgar Papp: Die Altdt. E. Untersuchungen u. krit. Text. Mchn. 1968. – Ursula Hennig: Altdt. E. In: VL. – Hartmut Freytag: Die Theorie der allegor. Schriftdeutung u. die Allegorie in dt. Texten bes. des 11. u. 12. Jh. Bern/Mchn. 1982. Gisela Vollmann-Profe / Red.
Eyb, Albrecht von ! Albrecht von Eyb Eyth, (Eduard Friedrich) Max(imilian) von (geadelt 1896), * 6.5.1836 Kirchheim/ Teck, † 25.8.1906 Ulm; Grabstätte: ebd., Neuer Friedhof. – Erzähler u. Techniker.
Ezzolied Waldteufel. Schauspiel. Heilbr. 1883. – Der Kampf um die Cheopspyramide. 2 Bde., Heidelb. 1902. – Lebendige Kräfte. Bln. 1905 (Vorträge). – Der Schneider von Ulm. Gesch. eines zweihundert Jahre zu früh Geborenen. 2 Bde., Stgt. 1906. Ausgabe: Ges. Schr.en. 6 Bde., Stgt./Heidelb. 1909/10. Literatur: Theodor Heuss: M. E. 1836–1906. In: Ders.: Dt. Gestalten. Studien zum 19. Jh. Stgt./ Tüb. 1951, S. 287–296. – Carl Heydt: Nachw. In: M. E.: Die Brücke über die Ennobucht (Berufstragik). Hg. ders. Stgt. 1980, S. 145–152. – Harro Segeberg: Literar. Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis v. Technik- u. Literaturgesch. im 19. u. frühen 20. Jh. Tüb. 1987. – Ders.: Lit. im techn. Zeitalter. Von der Frühzeit der dt. Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Darmst. 1997. – Goedeke Forts. – Horst Thomé: Der schwäb. Ikarus. Zur Psychologie des Erfinders in M. E.s ›Der Schneider von Ulm‹. In: Modernisierung u. Lit. Hg. Walter Göbel. Tüb. 2000, S. 149–159. – Klaus Herrmann (unter Mitwirkung v. Birgit Knolmayer): M. E. Seine Welt in der Welt v. morgen. Ffm. 2006. – Gerd Theißen: M. E.: Landtechnik-Pionier u. Dichter der Tat. Zum 100. Todestag des Gründers der DLG. Münster 2006. Joachim Linder
E. entstammte einer pietistisch geprägten schwäb. Theologenfamilie; beide Eltern waren auch schriftstellerisch tätig. Er schloss 1856 in Stuttgart ein Maschinenbaustudium ab u. übernahm 1861 die Auslandsvertretung für Dampfpflüge einer engl. Firma. Auf zahlreichen Reisen setzte er sich für die Einführung dieser Technik in der Landwirtschaft ein u. war 1863–1866 Chefingenieur eines ägypt. Fürsten. 1882 nach Deutschland zurückgekehrt, war er maßgeblich an der Gründung der Deutschen Landwirtschafts- Ezzo ! Ezzolied gesellschaft 1885 beteiligt, deren geschäftsführender Direktor er bis 1896 war. Ezzolied, entstanden um 1060. – FrühE.s Tagebuch-Briefe von seinen Reisen, die mittelhochdeutsche Dichtung auf Schöpsein Vater für den Druck bearbeitet hatte fung, Christus u. Kirche. (Wanderbuch eines Ingenieurs. 6 Bde., Heidelb. 1871–84), bildeten die Grundlage seiner Au- Die stroph. Dichtung ist in zwei handschriftl. tobiografie Im Strom unserer Zeit (3 Bde., Fassungen ohne Melodie überliefert (StraßHeidelb. 1904/05. Neudr. Düsseld. 1985). Die burger Fassung um 1130, in alemann. Erlebnisse u. Begegnungen seiner Inge- Schreibsprache = S; Vorauer Fassung, Ende nieurstätigkeit u. seines Reiselebens verar- des 12. Jh., in bair. Schreibsprache = V). In der Prologstrophe der Vorauer Fassung beitete er auch in dem Erzählungsband Hinter Pflug und Schraubstock. Skizzen aus dem Taschen- werden Ezzo als Dichter, Wille als Komponist buch eines Ingenieurs (2 Bde., Stgt. 1899. Zahl- u. Bischof Gunther von Bamberg als Aufreiche Neuausg.n). In konventionellen Er- traggeber des Lieds genannt, das man aufzählformen werden Konflikte des wissen- grund der Amtszeit Gunthers (1057–1065) schaftlich-techn. u. ökonom. Fortschritts ziemlich genau datieren u. lokalisieren kann. aufgenommen, die in einer »Synthese aus Der Name Ezzo ist mehrfach in Bamberger deutscher Wissenschaftlichkeit, englischem Urkunden der Zeit bezeugt u. wird in der um Pragmatismus und amerikanischem Kosten- 1130 im Kloster Göttweig enstandenen Vita Denken« als lösbar erscheinen (Segeberg Altmanni erwähnt, wo im Zusammenhang mit der berühmten Pilgerfahrt ins Hl. Land 1997). Weitere Werke: Volkmar. Historisch-romant. (1064–1065, erwartete Wiederkehr Christi) Gedicht. Lpz. 1863. – Das Agrikulturmaschinen- unter der Führung des Bischofs Gunther von wesen in Ägypten. In drei Abtlg.en. Stgt. 1867. – Bamberg u. des Mainzer Erzbischofs SiegMönch u. Landsknecht. Heidelb. 1882 (E.). – Der fried berichtet wird, ein »canonicus« u.
Ezzolied
»scholasticus Ezzo« habe eine »cantilena de miraculis Christi« in seiner Muttersprache (»patria lingua«) verfasst. Dieser Ezzo wird gemeinhin mit dem Dichter gleichgesetzt; die bezeugte »cantilena« gilt als Ausgangspunkt des variant überlieferten E.s. Es ist in einer siebenstrophigen Fassung mit 76 Versen (S) u. einer 34-strophigen mit 420 Versen (V) überliefert. Die alte Forschungsmeinung, bei S handle es sich um ein dem Original nahestehendes Fragment, bei V um eine erweiternde Bearbeitung des 12. Jh., ist von Freytag (1984) infrage gestellt worden. Er interpretiert V als Text, der wegen seiner Einbettung in die österl. Liturgie mit der urspr. Fassung u. ihrer in der Vita Altmanni erwähnten Bedeutung für den Palästinazug 1064/65 übereinstimme. Lutz (1997) knüpft an diese Überlegungen an, zeigt, dass die österl. Konzeption nicht ursprünglich sein muss, u. macht wahrscheinlich, dass V konzeptionell von einem Heilsoptimismus geprägt ist, der durch die Verknüpfung mit der Vorstellung von der prinzipiellen Heiligkeit des Sonntags ein pastorales u. katechet. Gepräge erhält. Die erste Strophe der Straßburger Fassung, als Programmstrophe gestaltet, gibt nach einer Wendung an das Publikum Thema u. Quellen des Lieds – Schöpfung u. Menschheitsgeschichte nach der Lehre des AT – an, die zweite Prologstrophe wendet sich in einer Art Gebetsanruf an Christus als Licht in der Finsternis (»lux in tenebris«, in Anlehnung an das Johannes-Evangelium). Auf diese beiden auch formal abgesetzten Strophen (Achtzeiler) folgen fünf zwölfzeilige Strophen, die im Anschluss an einen Lobpreis auf die Schöpfungstat Gottes von der Erschaffung des Menschen, dem Sündenfall u. der darauffolgenden Teufelsnacht berichten. Die Finsternis dieser Nacht wird bereits von den als Sternen dargestellten Patriarchen des AT (Abel, Enoch, Noah, Abraham u. David) vorausdeutend für den als Sonne bezeichneten Gottessohn durchbrochen. Mit den Verheißungen dieser Sterne in der siebten Strophe endet der Text. Für die Vorauer Fassung liegt keine strenge stroph. Gliederung vor: Die 420 Verse sind in 34 unterschiedlich lange Abschnitte geglie-
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dert (Initialengliederung der Hs.), deren Umfang zwischen sechs u. 18 Zeilen schwankt, wobei die Zwölfzeiler überwiegen. Lutz (1997) rekonstruiert eine zahlensymbolisch gestaltete Grundstruktur von V. Die Fassung beginnt mit der bereits erwähnten Strophe, die den Dichter, den Komponisten u. den Auftraggeber des Liedes nennt. Neu in der Programmansage sind im Vergleich zur älteren Fassung S der Hinweis auf die vier Evangelien (dritter Abschnitt), der Zusatz im fünften Abschnitt über die Erschaffung des Menschen u. im achten Abschnitt die Darstellung des Paradieses. Mit dem zwölften Abschnitt beginnt der Teil, der nur in der jüngeren Fassung überliefert ist, mit Johannes dem Täufer als Fortsetzung der alttestamentl. Vorboten Christi. Nach Ankündigung des Erscheinens Christi als Sonne u. Tag wird die Vollendung des göttl. Heilsplans durch die Menschwerdung des Gottessohnes u. seinen Tod am Kreuz dargestellt. Am Ende des Vorauer Gedichts erfolgt ein hymn. Preis der Heilstat mit Anrufung des Kreuzes u. die typolog. Deutung des Volkes Israel auf die Christenheit; der Lobpreis der Trinität u. das Glaubensbekenntnis bilden den Abschluss. Weitgehende Klarheit besteht hinsichtlich des sozialen Milieus (Lutz 1997), dem das E. entwachsen ist: Entstehungsgeschichtlich war dies die geistl. u. weltl. Elite, d.h. der kgl. Hof Heinrichs III. u. Heinrichs IV. bzw. seiner Mutter Kaiserin Agnes sowie das klerikal-intellektuelle Umfeld in den Bistümern u. (Reichs-)Klöstern (Anno von Köln, Altmann von Passau, Gebhard von Salzburg, Siegfried von Mainz, Gunther von Bamberg etc.). Überlieferungsgeschichtlich verbindet sich das E. auf das Engste mit der klösterl. Reformbewegung, die wesentlich Anstöße aus Fruttuaria u. Cluny erhielt und u. a. über St. Blasien bis weit in das 12. Jh. hinein ihre Wirkung im deutschsprachigen Raum entfaltete. Ungeklärt bleibt die Frage nach Umfang u. Gesamtkonzeption der urspr. Fassung des Lieds. Es liegen zahlreiche divergierende Rekonstruktionsversuche vor (vgl. zusammenfassend Schweikle 1980, kritisch dazu Freytag), deren Wert beschränkt ist. Entscheidend ist die Situierung der Entstehung u. der
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überlieferten Fassungen in bestimmten Gebrauchs- u. Lebenszusammenhängen (s. o.). Das E. ist das Produkt der gemeinsamen Kultur der laikalen u. klerikalen Elite des 11. Jh.; es erwächst zus. mit anderen Texten wie der Wiener Genesis, dem Annolied u. dem Memento mori diesem Milieu u. markiert den Beginn der frühmhd. Literatur. Es spiegelt das geistl. u. theolog. Wissen seiner Zeit u. knüpft an die Stiltraditionen an, die die lat. »ars rhetorica« bzw. »ars praedicandi« zur Verfügung stellte (Urbanek 1987/88). Ausgaben: Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. I. Tüb. 1972, S. 1–26 (mit vollst. Bibliogr. bis 1970). – Walter Haug u. B. Konrad Vollmann (Hg.): Frühe dt. Lit. u. lat. Lit. in Dtschld. 800–1150. Ffm. 1991, S. 566–595 (mhd./nhd.). – Christoph Lange: Das Ezzo-Lied in der Vorauer Fassung. Text, Übers. u. Komm. Erlangen 2005. Literatur: Hugo Kuhn: Gestalten u. Lebenskräfte der frühmhd. Dichtung. In: DVjs 27 (1953),
Ezzolied S. 1–30. – Günther Schweikle: Ezzos Gesang u. Memento Mori. Diss. Tüb. 1955. – Ruth SchmidtWiegand: Die Weltalter in Ezzos Gesang. In: FS Fritz Tschirch. Köln/Wien 1972, S. 42–51. – Günther Schweikle: E. In: VL (auch: VL, Nachträge u. Korrekturen). – Rudolf Schützeichel: E. Versuch einer Rekonstruktion. In: Ders.: Textgebundenheit. Tüb. 1981, S. 77–101 (leicht überarb. u. erw. Fassung des Aufsatzes: Ezzos Cantilena. In: Euph. 54 [1960], S. 121–134). – Hartmut Freytag: Ezzos Gesang. Text u. Funktion. In: Geistl. Denkformen in der Lit. des MA. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Mchn. 1984, S. 154–170. – Ferdinand Urbanek: Das E. in den Traditionen v. ›ars rhetorica‹ u. german.-heim. Redekunst. In: ZfdPh 106 (1987), S. 321–340; 107 (1988), S. 26–48. – Eckart Conrad Lutz: Literaturgesch. als Gesch. v. Lebenszusammenhängen. Das Beispiel des Ezzo-Liedes. In: Mittelalterl. Lit. im Lebenszusammenhang. Hg. ders. Freiburg/Schweiz 1997, S. 95–145. Claudia Händl / Hans-Jochen Schiewer
F Faber, Johann Heinrich, * 1742 Straßburg, † 1791 Mainz. – Jurist, Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Übersetzer, Journalist.
Handelsstadt Frankfurt am Mayn (2 Bde., Ffm. 1788/89) machte F. über engere Grenzen hinaus bekannt. Ohne Amt lebte er, noch literarisch arbeitend, bis zu seinem Tod wieder in Mainz.
F. studierte in Straßburg die Rechte u. schloss sein Studium 1763 mit der Promotion ab. Weitere Werke: Inkle u. Yariko. Ein Trauersp. Später, als kurmainzischer Hofgerichtsrat, Ffm. 1768. – Ueber Gellerts Absterben. Ffm. 1770. war er gleichzeitig Professor der Rechte u. – Winterabende oder Slg. unterhaltender Gesch.n, schönen Wissenschaften an der Universität E.en, Anekdoten, Schausp.en, G.en, Schnurren [...]. Mainz. Für dieses Aufgabenfeld schrieb er D. 3 Tle., Ffm. 1781–85. – Poet. u. prosaische Aufsätze Johann Heinrich Fabers [...] Anfangsgründe der über Aufklärung [...]. 12 Stücke, Ffm. 1789. – schönen Wissenschaften zu dem Gebrauche seiner Louise oder Der Sieg weibl. Tugend im Contraste akademischen Vorlesungen (Mainz 1767. Auszug zwoer Schwestern. 2 Tle., Ffm. 1792 (R.). Literatur: Alexander Dietz: Das Frankfurter hieraus: Erste Grundsätze der teutschen SprachZeitungswesen bis zum Jahre 1810. In: Didaskalia. kunst. Mainz 1768). Sehr bald schon ging F. als Sekretär des Unterhaltungsblatt des Frankfurter Journals 281 vom 28.11.1888, S. 1122. – Hans Fromm (Hg.): kaiserl. Gesandten Graf Leopold Johann von Bibliogr. dt. Übers.en aus dem Französischen Neipperg nach Frankfurt/M. Hier widmete er 1700–1948. Baden-Baden 1950–53. – Peggy sich einer vielseitigen schriftsteller. Tätigkeit. Paslowski: Der Beitr. Johann Adam Weishaupts zur Er verfasste Bühnenstücke, schrieb Abhand- Pädagogik des Illuminatismus. Diss. Jena 2004. lungen, Romane, Erzählungen u. Gedichte, Emmy Moepps / Red. v. a. aber übersetzte u. bearbeitete er, bes. zu Beginn der 1770er Jahre, zahlreiche Werke Faber, Johann Ludwig, * 1635 Nürnberg, aus dem Französischen für die dt. Bühne: † 26.11.1678 Öttingen. – GelegenheitsSchauspiele, Lustspiele, vorwiegend jedoch dichter, Übersetzer u. Dramatiker. Singspiele nach L. H. Dancourt, Charles Simon Favart, Jean-François Marmontel, Louis- Nach dem Besuch der Lateinschule zu Hersbruck u. des Egidiengymnasiums in NürnSébastien Mercier, Michel Jean Sedaine u. a. berg studierte der Pfarrerssohn an den UniAuf journalistischem Gebiet war F. ebenversitäten Altdorf (Magister 1654), Tübingen falls sehr rege; er arbeitete an der Zeitschrift u. Heidelberg. 1657 wurde er Konrektor des »Geist der Journale« (Ffm. 1775) mit u. war Fürstlichen Gymnasiums in Öttingen, 1664 1775–1787 Redakteur der wöchentlich vierübernahm er das Rektorat dieser Schule, mal erscheinenden »Frankfurter Kayserl. wechselte 1666 als Schulleiter nach HersReichs-Ober-Post-Amts-Zeitung«. 1786/87 bruck u. wirkte von 1670 bis zu seinem Tod gab F. in Frankfurt/M. die Monatsschrift als Lehrer am Egidiengymnasium in Nürn»Der Sammler« (2 Bde., je 12 H.e) heraus, die berg. 1664 wurde er als »Ferrando I.« in den er, um bereits im Titel seinem aufklärer. Pegnesischen Blumenorden aufgenommen, Anliegen Ausdruck zu verleihen, unter dem 1669 durch Sigmund von Birken zum Dichter Namen »Der Illuminat« (12 Hefte) 1788 gekrönt. fortsetzte. Seine Topographische, politische und historische Beschreibung der Reichs-, Wahl- und
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F. trat in Öttingen u. Nürnberg v. a. als Gelegenheitsdichter u. Verfasser geistl. Lieder in Erscheinung. Unter seinem Schäfernamen verfasste er originelle pastorale Hochzeitsgedichte für Mitglieder des Nürnberger Patriziats: Der gebesserte Stand (Nürnb. 1673), Das verletzte, benetzte und ergetzte Scheflein (Nürnb. 1675), Feyerliches Vermählungsfest Dafnis und Dafne (Nürnb. 1675), Freuden-Feyerliches Vermählungsfest Filodors mit Marilene (Nürnb. 1675). Als Übersetzer widmete er sich dem Werk des Jesuiten Jacob Balde: Jesu des Gekreutzigten Erhöhung (Nürnb. 1672) u. Die gesunde Krankheit (Nürnb. 1677). In den 1670er Jahren ließ er bibl. Dramen erscheinen, die von Schülern des Egidiengymnasiums aufgeführt wurden, so Herodes der Kindermörder, Singspiel (Nürnb. 1675), Abraham der Gläubige und Isaak der Gehorsame (Nürnb. 1675) u. Musikalisches Misch-Spiel: Oder Demokritus und Heraklitus (Nürnb. 1676). Weitere Werke: Kurtze Sonntags-Seuffzerlein. Nördlingen 1662. – Jesus meine Liebe. Nördl. 1663. – Letzte Gerichts-Posaune. Nördlingen 1664. Literatur: Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß löbl. Hirten- u. Blumen-Ordens an der Pegnitz [...]. Nürnb. 1744, S. 284–287. – Georg A. Will u. Christian K. Nopitsch: Nürnberg. Gelehrten-Lexikon. Nürnb. 1755–1808. Bd. 1, S. 368–369. – Koch 3, S. 492 f. – Fischer/Tümpel 5, S. 58–60. – Kelchner: F. In: ADB. – Klaus Garber: Der locus amoenus u. der locus terribilis. Köln/Wien 1974. – Volker v. Volckamer: Pegnitzschäfer am WörnitzStrand (1980) S. 21–22. – Katrin Wacker. In: Stadtlexikon Nürnberg. Nürnb. 1999, S. 261. – Markus Paul: Reichsstadt u. Schauspiel: Theatrale Kunst im Nürnb. des 17. Jh. Tüb. 2002. – Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Wiesb. 2006, S. 262–272. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 507 f. Renate Jürgensen
Fabri, Albrecht, eigentl.: A. Schmitz, * 20.2.1911 Köln, † 11.2.1998 Köln. – Essayist, Aphoristiker, Übersetzer. Noch als Schüler entdeckte F. Ende der 1920er Jahre das Werk Gottfried Benns für sich. Diese geistige Begegnung wurde richtungsweisend für F.s ästhetisches Denken. Um 1930 schloss er sich der sog. »Rheinischen Gruppe« um Goswin P. Gath u. Max Bense an u. beteiligte sich an deren litera-
Fabri
risch-musikal. Darbietungen mit eigenen Kompositionen. In den 1930er Jahren studierte er bei Erwin Bücken Musik u. bei Fritz Fleck Kompositionslehre. Gleichzeitig machte er die ersten Schritte als Essayist u. Literaturkritiker u. veröffentlichte Texte in der »Kölnischen Zeitung«, in der »Deutschen Zeitschrift« u. in »Hochland«. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg siedelte er nach München über u. lebte von Arbeiten für den Rundfunk. Bei Kriegsausbruch wurde er eingezogen u. diente fünf Jahre als Soldat in Frankreich u. an der Ostfront. Nach Ende des Kriegs kehrte F. nach Köln zurück u. unterrichtete lange Jahre an der Deutschen Buchhändlerschule. Für einige Semester holte ihn Max Bense an die Hochschule für Gestaltung in Ulm. Schließlich arbeitete F. als freier Verlagslektor, Übersetzer (vorwiegend aus dem Französischen u. Amerikanischen unter diversen Pseudonymen) u. Autor. Mit seinen Essaybänden Der schmutzige Daumen (Mchn. 1948), Interview mit Sisyphos (Köln 1952) u. den Variationen (Wiesb. 1959) wurde er in den späten 1940er u. 1950er Jahren zu einem der entschiedensten Verfechter der abstrakten Kunst u. der absoluten Poesie. In ihnen zeigte sich F. als brillant formulierender Theoretiker einer l’art pour l’art-Ästhetik. Durch seine regelmäßige Mitarbeit am »Merkur« kam ihm im zeitgenössischen ästhet. Diskurs eine Schlüsselstellung zu. Viele seiner kunsttheoret. Texte entstanden als Eröffnungsreden für Ausstellungen in der avantgardist. Kölner Galerie »Der Spiegel«. In programmat. Essays wie Der Geist eines Malers sind seine Rots, seine Grüns, seine Blaus (1949) legte er seine Überzeugung dar, dass es in der künstler. Produktion allein darum gehen könne, die rechte Farbe auf dem rechten Platz aufzutragen oder anders gesagt: um den Eigenwert des ästhet. Materials. Ganz im Sinne der Benn’schen Sentenz »Form ist der höchste Inhalt« aus den Problemen der Lyrik lässt F. das Geistige in der Kunst vollkommen in der ästhet. Gestalt zur Gerinnung kommen. Analog hat F. auch in seinen Präliminarien zu einer Theorie der Literatur (1957) die Maxime aufgestellt, dass der vollkommene Satz keinen Sinn »habe«, sondern der Sinn »sei«. F.
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rekurriert bei diesem Postulat auf die ästhet. In: Divertimenti (a. a. O.), S. 255–263. – Martin Vorstellungen der Frühromantik u. des Maurach: A. F. In: KLG. – Wilfried Dörstel: F.s Symbolismus von der Autonomie der Spra- kunstkrit. Maximen. Köln 2000. – Jürgen Egypche. Aus der zunächst rein techn. Bestim- tien: Ein Wünschelrutengänger des richtigen Worts. In: Das Komma als Hebel der Welt (a. a. O.), mung des poet. Prozesses hat F. eine korreS. 32–38. Jürgen Egyptien spondierende Theorie der Kritik abgeleitet, die er als »Atelierkritik« bezeichnete. Ihr Ziel besteht in der Prüfung der handwerkl. Be- Fabri, Felix, dt.: Felix Schmid, * 1438 Züherrschung der künstler. Mittel. Die Pointe rich, † 23.3.1502 Ulm. – Lesemeister u. von F.s Position besteht nun darin, dass für Generalprediger des Dominikanerorden, ihn der Formalist durch seinen Glauben an Verfasser geistlicher Traktate, von Reisedie Bedeutsamkeit der richtigen Handha- beschreibungen u. einer Geschichte bung von Farben, Tönen u. Worten für die Schwabens u. der Stadt Ulm. richtige Einrichtung der Welt sich gerade als der eigentl. Idealist erweise. Zur Legitimation F., Sohn des Jos Schmid u. der Clara von dieser These referiert F. gerne die Anekdote Issnach, trat 1452 in den Basler Dominikaüber Konfuzius, der in der Richtigstellung nerkonvent ein u. war von 1468 bis zu seinem der Begriffe die wichtigste Bedingung für die Tod im Dominikanerkloster zu Ulm tätig. richtige Regierungsform gesehen haben soll. Seine Reisen, insbes. die beiden Pilgerfahrten Eine Orientierung an chines. Weisheits- 1480 (215 Tage) u. 1483/84 (289 Tage) ins Hl. lehren tritt bei F. im aphorist. Spätwerk im- Land, verarbeitete F. in mehreren Werken, mer deutlicher zu Tage. Der ohnehin schon die heute den Hauptanteil seines erhaltenen konzise Stil wird noch einmal verdichtet, die literar. Œuvres ausmachen. Als wichtigstes Werk F.s gilt sein EvagatoGedankenführung in funkelnde Paradoxa rium, das ab etwa 1484 in lat. Sprache enthineingetrieben. Ein zentrales Motiv seiner stand. In elf Traktaten beschreibt F. seine ästhet. u. erkenntnistheoret. Reflexionen ist Fahrten ins Hl. Land. Zahlreiche kommenin der Überwindung des dualist. Subjekttierende Exkurse unterbrechen die äußere Objekt-Denkens zu sehen, das F. für eine Art Form eines nach Monaten u. Tagen geord»Sündenfall« der europ. Geistesgeschichte neten Diariums. Der erste Teil des Evagatohielt. rium enthält einen Bericht der gesamten ersF. wurde für sein Werk mit dem Preis des ten Pilgerreise, auf den die Beschreibung der Kulturkreises des BDI (1953) u. der Wilhelmzweiten Fahrt bis Jerusalem mit einer SchilHeinse-Medaille der Mainzer Akademie der derung der bekannten hl. Stätten folgt. Im Wissenschaften und der Literatur (1991) auszweiten Teil schildert F. den weiteren Verlauf gezeichnet; die Kunstakademie Düsseldorf der zweiten Fahrt, die ihn von Jerusalem verlieh ihm 1995 die Ehrenmitgliedschaft. durch Palästina u. die Wüste Sinai zum Weitere Werke: Rede für Gottfried Benn. Kloster der hl. Katharina, ans Rote Meer u. Wiesb. 1956. – Der rote Faden. Mchn. 1958. – nach Kairo führte. Im Zusammenhang mit Tangenten. Köln 1964. – Stücke. Köln 1971. – Reder Rückreise werden v. a. die griech. Inseln den zu Ausstellungen v. Hann Trier. Aachen 1995. u. Venedig beschrieben. Mit der Ankunft in – Das Komma als Hebel der Welt. Rez.en u. Porträts. Hg. u. mit einem Ess. v. Jürgen Egyptien. Ulm schließt das Evagatorium. Das Evagatorium, das in gewandtem Stil Warmbronn 2007. Ausgaben: Divertimenti. Ausgew. Texte aus über die reine Reisebeschreibung hinaus den fünf Jahrzehnten. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. geistl. Sinn der Pilgerfahrt vermittelt u. Paul Good. Düsseld./Bonn 1996. – Der schmutzige gleichzeitig eine »Weltkunde« des Vorderen Daumen. Ges. Schr.en. Hg. Ingeborg Fabri u. Orients gibt, gilt als das bedeutendste Werk der damaligen Reiseliteratur. Im Gegensatz Martin Weinmann. Ffm. 2000. Literatur: Felix Philipp Ingold: Im offenen zum Evagatorium wurde die dt. Kurzfassung Hof. Erinnerung u. Gruß an A. F. In: Schreibh. 43 von 1484 bereits im 16. Jh. gedruckt u. be(1994) S. 33–37. – Paul Good: Nicht – Ein Nachw. gründete durch die Aufnahme in Feyer-
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abends Reyßbuch (1584) F.s Nachruhm. Ge- Fabri, Faber, Johann, Johannes, eigentl.: J. stützt auf seine Reiseberichte verfasste F. Schmid (nicht, wie früher angenommen: 1492 die Geistliche Pilgerfahrt oder die Sionspil- Heigerlin), * 1478 Leutkirch/Allgäu, gerin, die den Nonnen, denen die Pilgerfahrt † 21.5.1541 Wien; Grabstätte: ebd., Steins Hl. Land verwehrt war, den Nachvollzug phansdom. – Humanist, Jurist, katholiermöglichen sollte. Ein gereimtes Pilger- scher Kontroverstheologe, Verfasser lateibüchlein in dt. Sprache, das in 1064 Versen nischer Predigten. über die erste Pilgerfahrt von 1480 berichtet, ist in einer Abschrift aus dem Jahr 1482 er- F. besuchte ab 1490 als Almosenbettler die Schule in Konstanz u. Ulm u. studierte halten. Die urspr. als Schlusstraktat des Evagato- Rechte, Theologie u. Hebräisch in Tübingen rium geplante Darstellung der schwäb. Ge- (ab 1505), dann in Freiburg i. Br. bei Ulrich schichte u. die Beschreibung der Stadt Ulm Zasius (ab 1509), wo er zum Dr. iur. utr. (Descriptio Sueviae u. Tractatus de civitate Ulmens) promovierte. 1513 wurde er in Basel Offizial verfasste F., gestützt auf Chroniken, Urkun- des Bischofs Christoph von Utenheim, bald den, mündl. Berichte u. eigene Erlebnisse. F. darauf Domkanoniker; 1514 erhielt er Disbesorgte auch die erste gedruckte Ausgabe pens zur Pfründenhäufung; 1518 wurde er der Schriften Heinrich Seuses (Augsb. 1482); Generalvikar im Bistum Konstanz u. päpstl. von seinen dt. Predigten ist nur wenig über- Protonotar. In Rom profilierte er sich 1521/22 mit dem Opus adversus aliena dogmata Martini liefert. Obwohl nicht dem Humanismus zuzu- Lutheri (Rom: Silber 1522. Neu bearb. u. d. T. rechnen, ist F. ein Repräsentant der an neuen Malleus in haeresim Lutheranam. Köln: Quentel Erkenntnissen u. persönl. Erfahrungen in- 1524). F. gehörte zu den kath. Vertretern teressierten gelehrten Bildungsschicht. In beim Zürcher (1523) u. Badener (1526) Reliseinen Reisebeschreibungen sind Ansätze ei- gionsgespräch u. nahm für Habsburg u. die ner Ablösung von der literar. Tradition, einer Bischöfe von Basel, Konstanz u. a. 1524–1532 Literarisierung individuellen Erlebens u. ei- an den Reichstagen u. Konventen teil. Aktiv gegen Täufer u. Schwärmer, verhörte er 1528 nes Weltbildwandels beobachtbar. Ausgaben: Fratris Felicis Fabri Evagatorium in Balthasar Hubmaier. Als Bischof von Wien Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem. (1530–1541) verfolgte er eine eigene Linie Hg. Conrad D. Haßler. 3 Bde., Stgt. 1843–49. – Dt. gemäßigter Reform. Zu Eck u. Cochläus hielt Übers. in Auszügen: F. F.: Galeere u. Karawane. er Distanz u. blieb erasmian. Reformern wie Bearb. u. mit einem Nachw. versehen v. Herbert Capito u. Rhegius freundschaftlich verbunWiegandt. Stgt. 1996. – Die Sionspilger. Hg. Wie- den. land Carls. Bln. 1999. Literarisch tätig war F. als Humanist (DeLiteratur: Herbert Feilke: F. F.s Evagatorium clamationes. Augsb. 1528 ff.), dann als Konüber seine Reise in das Hl. Land. Ffm./Bern 1976. – troverstheologe, gegen Ende seines Lebens Kurt Hannemann: F. In: VL (auch: Nachträge u. mit lat. Predigtsammlungen. 1523–1532 Korrekturen). – Herbert Wiegandt: F. In: Lebensverfasste er dt. Schriften gegen Zwinglianer bilder aus Schwaben u. Franken. Bd. 15. Hg. Robert Uhland. Stgt. 1983, S. 1–28. – Christian Hippler: u. Wiedertäufer. Die erste erschien 1523: Ain Die Reise nach Jerusalem. Ffm./Bern/New York warlich underrichtung wie es in Zürich ergangen sei 1987, S. 167–170 u. passim. – Xenja v. Ertzdorff: (o. O.). Sein Bekenntnis findet sich in den ›Die ding muoss man mit gesunder vernunft anse- Summarien. Underricht auß was christlichen Urhen‹. Das Evagatorium des Ulmer Dominikaners F. sachen Doctor Johan Fabri bißher der Lutherischen F. 1484-ca. 1495. In: Beschreibung der Welt. Hg. lere nit anhängig (o. O. 1526. Lat. Köln: Quentel dies. Amsterd./Atlanta 2000, S. 219–262. 1527). Gegen die Wiedertäufer schrieb er UrClaudia Händl / Gerhard Wolf sach warumb [...] Balthasar Hubmayer zu Wienn 1528 verbrennet sey (Wien 1528. Dresden: Stöckel 21528) u. Christenliche ablainung des Yrsal so Caspar Schwenckfelder aufzerichten understanden hat (Wien 1529). 1532 feierte er in einem
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Drostbiechlin den Sieg der fünf innerschweizerischen Kantone. Sachlich verteidigte er Sakramente, den päpstl. Primat u. die kirchl. Gebräuche, ohne seine reformerischen Neigungen zu verleugnen. Die geringe Wirkung seiner ermüdend langatmig argumentierenden Schriften enttäuschte ihn selbst. F. wurde öfter mit Johann Faber OP aus Augsburg (um 1475–1530), manchmal mit Johann Faber OP aus Heilborn (1504–1558) verwechselt. Weitere Werke: Opera omnia. 3 Bde., Köln 1537–41. – Opuscula. Hg. Johannes Cochlaeus. Lpz. 1537.
literatur verfasste er Der heylige, klug und gelehrte Teufel (Eisleben 1567). Weitere Werke: Bericht vom Gesetze Gottes, seinem Brauch u. Mißbrauch. Eisleben 1569. – Ein Sendbrief an die Pfarrkinder der Gemeine Christi ad D. Petrum in Eisleben. o. O. u. J. – Hauskirche. Eisleben 1572. Literatur: Bibliographien: VD 16. – Kosch (mit irrtüml. Nennung des v. dem gleichnamigen kath. Kontroverstheologen u. Dramatiker [um 1520–81] stammenden Dramas ›Evangelicus fluctuans‹). – Weitere Titel: DBA 302,365–388. Hermann Wiegand
Ausgaben: Diverse Werke in: Flugschr.en gegen die Reformation (1525–30). Hg. Adolf Laube. 2 Bde., Bln. 2000.
Fabricius, David, * 9.3.1564 Esens/Ostfriesland, † 7.5.1617 (a.St.) Osteel; Grabstätte: ebd., Kirche; Denkmal (errichtet Literatur: Bibliografien: Leo Helbling: Dr. J. F. Münster 1942, S. 139–149. – Klaiber, S. 100–103. – 1896) auf dem Friedhof. – Evangelischer Weitere Titel: Karl Czerwenka: Dr. J. F. als General- Theologe, Kartograf u. Astronom. vikar in Konstanz. Diss. Wien 1903. – Leo Helbling: Dr. J. F. u. die schweizer. Reformation. Diss. Freib./ Schweiz 1933. – Hermann Tüchle: Johannes F. In: NDB. – Christian Radey: Dr. J. F., Bischof v. Wien. Diss. Wien 1976. – Herbert Immenkötter: J. F. In: Kath. Theologen der Reformationszeit. Hg. Erwin Iserloh. Bd. 1, Münster 1984, S. 90–97. – Ders.: F. In: TRE. – Arthur Angst: Heigerlin oder Schmidt? Der Familiennnahme des in Leutkirch geborenen Wiener Bischofs u. Kontroverstheologen Dr. J. F. (1478–1541). In: Rottenburger Jb. für Kirchengesch. 3 (1984), S. 197–205. – Contemporaries. – Friedrich Wilhelm Bautz: Johannes F. In: Bautz. – Heribert Smolinsky: Kirchenväter u. Exegese in der frühen röm.-kath. Kontroverstheologie des 16. Jh. In: Ders.: Im Zeichen v. Kirchenreform u. Reformation. Münster 2005, S. 401–419. Heinz Holeczek
Fabricius, Andreas, eigentl.: A. Goldschmidt, * 1528 Chemnitz, † 26.10.1577 Eisleben. – Theologe u. neulateinischer Dichter. F. betätigte sich wie sein Bruder Georg Fabricius als nlat. Dichter (Christus lacrymans. Wittenb. 1550), v. a. aber als theolog. Hausschriftsteller. Er wurde 1554 in Wittenberg Magister, danach Rektor in Nordhausen, 1560 Diakon an der dortigen Nicolaikirche u. nach Differenzen mit Kollegen 1569 Pfarrer in Eisleben. Als Beitrag zur zeittyp. Teufels-
F. war das älteste Kind des Schmieds Jan Jansen. Über seine erste Schulbildung (möglicherweise in Norden) ist nichts bekannt. Später hat er die Lateinschule in Braunschweig besucht, wo er nach eigenem Bericht von Heinrich Lampadius in die Mathematik u. Astronomie eingeführt wurde. Am 14.1.1583 wurde er (als David Faber Esensis) in die Matrikel der Universität Helmstedt eingetragen. Bereits 1584 erhielt F. in Resterhave (bei Dornum) eine Patronatsstelle; 1603 wurde er an die Pfarre Osteel (zwischen Marienhafe u. Norden) versetzt. In der Abgeschiedenheit Ostfrieslands widmete sich F., gefördert durch seinen Landesherrn Enno III., wiss. Problemen. Von ihm stammen eine erste Karte Ostfrieslands (1589; 1610 u. 1617 erneuert), mehrere kleinere (lat. u. dt.) Schriften über den neuen Stern von 1604 (u. a. Kurtzer und gründtlicher Bericht, von Erscheinung und Bedeutung deß grossen newen WunderSterns, welcher den 1. Octobr. deß 1604. Jahrs [...] zu sehen ist [...]. Hbg. 1605. Goslar 1622. Faecialis coelestis Romani Aquilae revicturi. hoc est de illustri et nova quadam stella [...] futuram Imperij Romani mutationem, restaurationem et gloriam praesignificante. o. O. 1606.) sowie astrolog. Prognostika (Kalendarien, erhalten für die Jahre 1607, 1609, 1615, 1616 u. 1617), in denen er auch von seinen astronom. Beobachtungen berichtete. Er stand mit den
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bedeutendsten Astronomen seiner Zeit in Briefwechsel (Jost Bürgi ab 1593; Tycho Brahe, den er auch in Wandsbek u. Prag besuchte, ab 1596; Johannes Kepler 1601 bis 1609; Simon Mayr, Michael Mästlin u. a.). Die krit. Korrespondenz mit Kepler, dem F. nach dem Tod Brahes (1601) als bester beobachtender Astronom galt, gewährt einen guten Einblick in die Entdeckungsgeschichte der Kepler’schen Gesetze. F. selbst hielt an dem geozentr. tychonischen Weltbild fest. F. entdeckte am 3. (n. St.: 13.) 8.1596 eine vermeintl. Nova im Sternbild Walfisch, die er nach zwölf Jahren wiederfand (er hielt Kometen u. Neue Sterne für wiederkehrende Gebilde) u. gegenüber Kepler als »mira res« bezeichnete. Es handelt sich um den ersten beobachteten Veränderlichen Stern (o Ceti), von Kepler »Mira Ceti« genannt, den späteren Prototyp der Mira-Sterne. In seinem ungedruckten Calendarium historicum (1590 ff., Niedersächs. Staatsarchiv Aurich), einem wiss. Tagebuch, finden sich neben der Erwähnung historisch-politischer Ereignisse v. a. klimakundlich wichtige, regelmäßige u. sorgfältige Aufzeichnungen meteorologischer u. atmosphär. Erscheinungen (aus der Zeit vom 1.1.1585 bis Ende Jan. 1613). F. starb eines gewaltsamen Todes. Sein Grabstein trägt die Inschrift: »Anno 1617 den 7. May is de würdige un wolgeleerde Heer D. F., Pastor un Astronomius tho Osteel, van eenen geheten Frerick Hoyer iammerlyken vermoordet, int Jaer 53 sines Olders«. Weitere Werke: Korte Beschryvinge v. WestIndien, welcke man gemeinlick de Nye Werlt nömet [...]. Hbg. 1612. – Van Isslandt u. Grönlandt, eine korte beschryvinge uth warhafften Scribenten mit vlyte colligeret, u. in eine richtige Ordnung vorfahtet [...]. o. O. 1616 (Widmungs-Vorr. dat.: Ostel 2.7.1612). Ausgaben: Island u. Grönland zu Anfang des 17. Jh. kurz u. bündig nach wahrhaften Ber.en beschrieben [...]. In Original u. Uebers. hg. u. mit geschichtl. Vorbem. vers. v. Karl Tannen. Bremen 1890 (Übers. zuerst in: Hansa. Ztschr. für Seewesen 8 u. 9, 1889). – Vom neuen Stern. Neudr. hg. v. Gerhard Berthold. Norden 1897 (mit einer Bibliogr. der Schr.en des D. F. v. neuen Stern). – Briefw. mit Johannes Kepler. In: Ders.: Ges. Werke. Bde. 14–16. Hg. Max Caspar. Mchn. 1949–54. – Nie u. warhafftige beschrivinge des Ostfreslandes.
Fabricius Emden 1589 (Landkarte). Neudr. Juist 1963. – Oostfrieslandt [...] exacta descriptio autore D. F. Esensi, 1613 [überarb. Aufl. der 2. Karte v. 1592]. Neudr. Oldenb. (ca. 1981). – Die Beschreibung v. West-Indien u. v. Ost-Indien (Hbg. 1612). Neudr., komm., ins Hochdt. übertragen, erl. u. mit Abb.en u. alten Karten vers. v. Uta Lindgren. Aurich 2006. Literatur: Wilhelm Olbers: Materialien zu einer Lebensbeschreibung der beiden Astronomen, D. u. Johannes F. In: Astronom. Nachrichten 31 (1851), S. 129–142. – Bernhard Bunte: Über D. F. 1. Tl. In: Jb. der Gesellsch. für bildende Kunst u. vaterländ. Altertümer zu Emden 6 (1885) 2. H., S. 91–128; 7 (1886) 1. H., S. 93–130, u. 2. H. (1887), S. 18–66 (= 2. Tl.: Über den Briefw. des D. F. mit Kepler, nebst ausführl. Auszügen); 8 (1888) 1. H., S. 1–40 (= 3. Tl.: Über das Leben, die Zeitverhältnisse u. die wiss. Thätigkeit des D. F.). – Ludwig Häpke: F. u. die Entdeckung der Sonnenflecke. In: Abh.en hg. v. naturwiss. Vereine zu Bremen 10 ([April 1888] 1889), S. 249–272. – Gerhard Berthold: Der Magister Johann Fabricius u. die Sonnenflecken nebst einem Excurse über D. F. Lpz. 1894. – Georg Sello: Des D. F. Karte v. Ostfriesland u. andere Fabriciana des Oldenburger Archivs. Norden/Norderney 1896. – Horst Schiffhauer: D. F. Varel o. J. – Frida Weymann: Söhne Ostfrieslands 1: D. u. Johannes F. 2. D. F. u. sein Calendarium Historicum. In: Ostfreesland 15 (1928), S. 123–129 u. 16 (1929), S. 141–145. – Willy Jahn: D. F. In: NDB. – Arend Lang: Die ›Nie u. warhafftige Beschrivinge des Ostfreslandes‹. Eine wiederentdeckte Karte des D. F. v. 1589. Erläuterungen zu der v. R. Venator besorgten Lichtdruckausg. Jever 1963 (auch in: Jb. der Gesellschaft für bild. Kunst u. vaterländ. Altertümer zu Emden 43 (1963), S. 91–124). – Diedrich Wattenberg: D. F. Der Astronom Ostfrieslands. Bln.-Treptow 1964. – Walter Lenke: Das Klima Ende des 16. u. Anfang des 17. Jh. nach Beobachtungen v. Tycho de Brahe auf Hven, Leonhard III. Treuttwein in Fürstenfeld u. D. F. in Ostfriesland. Offenbach 1968. – Heinz Ramm: Kleine Eiszeit gehabt? Die Auswertung des Calendarium Historicum des D. F. In: Ostfriesland 1969, S. 7–9. – Menno Smid: Ostfries. Kirchengesch. Pewsum 1974, S. 296 (Abb. des Grab- u. des Gedenksteins). – DBA 303,1–33. – Gudrun DekkerSchwichow: Die dunklen Punkte blieben. Die Lebensgesch. des Pastors u. Astronomen D. F. In: Ostfriesland-Magazin 1996, S. 66–70. – Menso Folkerts: F. In: Biogr. Lexikon für Ostfriesland. Hg. Martin Tielke. 2. Bd., Aurich 1997, S. 106–114 (mit vollst. Werkverz. u. Standortnachweisen). – Ders.: Der Astronom D. F. (1564–1617). Leben u. Wirken. In: Ber.e zur Wissenschaftsgesch. 23 (2000),
Fabricius S. 127–143. – Fritz Krafft: Die bedeutendsten Astronomen. Wiesb. 2007, S. 94–97. Fritz Krafft
Fabricius, Georg, eigentl.: G. Goldschmidt, * 23.4.1516 Chemnitz, † Juli 1571 Meißen. – Neulateinischer Dichter, Pädagoge u. Herausgeber. F. besuchte die Lateinschule bis 1534 in Chemnitz, dann in Annaberg, wo Johannes Rivius, der Organisator des sächsischen protestant. Schulwesens, sein Lehrer war. Von 1538 an studierte er in Leipzig u. war dann Lehrer in Chemnitz u. Freiberg, bis er mit Wolfgang von Werthern eine große Italienreise antrat (1539–1543), die ihn u. a. nach Padua, Bologna, Venedig, Rom u. Neapel führte. 1544 reiste er nach Straßburg (Verbindung mit Johann Sturm). 1546 wurde er Rektor der Fürstenschule St. Afra in Meißen, wo er mit Wolfgang Meurer Freundschaft schloss. Obgleich seine Tätigkeit in St. Afra nicht unbeeinträchtigt blieb, lehnte er zwei an ihn ergangene Rufe nach Wittenberg ab. Unter seiner Leitung wurde die Schule zu einer der berühmtesten protestant. Lehranstalten des 16. Jh. 1570 krönte ihn Kaiser Maximilian II. zum Dichter; postum wurde er geadelt. F. stand mit den bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit, mit Melanchthon, Camerarius, Neander, David Chytraeus, auch mit Naturforschern wie Georg Agricola u. Conrad Gesner, in regem Brief- u. Gedankenaustausch. F. ist für die Geschichte der nlat. Literatur wichtig als Erneuerer einer formal an Horaz, aber auch den Sprach- u. Stilmustern der christl. Spätantike (Prudentius, Paulinus von Nola) orientierten christl. Oden-, Hymnen- u. Elegiendichtung. Programmatisch lehnte er die in der nlat. Dichtung verbreitete Übernahme der heidn. Mythologie ab. Aus einem Ad Deum Omnipotentem odarum liber unus (Wittenb. 1545) erwachsen, bietet die Sammelausgabe seiner geistl. Lyrik in den 25 Büchern der Poemata sacra (Basel 1567) ein Spektrum von Gegenstücken zur antiken lyr. Dichtung: von Horaz, dessen Sujets bei F. auf ethische, polit. u. religiöse Themen beschränkt werden (Aufforderungen zur Einheit der Kirche, zum Türkenkrieg u. a.) bis zu
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Ovid, dessen Liebeselegien in dem Amorum filii Dei liber unus in geistl. Kontrafaktur auf Christus gewendet werden. Wie die dichterische steht auch die pädagogisch schriftsteller. Tätigkeit F.’ im Dienst des Aufbaus eines protestant. Schulwesens, das bei Orientierung der formalen, v. a. rhetor. Schulung an der griechisch-röm. Antike deren Inhalte durch christliche weitgehend ersetzt. Diesem Ziel dienen Blütenlesen aus der spätantik-christl. Dichtung (z. B. Historiarum sacrarum e poetis veteribus Christianis libri II. Lpz. 1566) u. Sammlungen moralisch unanstößiger Redewendungen römischer Komödiendichter u. Ciceros sowie eine einflussreiche Poetik in sieben Büchern (zuerst Lpz. 1574), die sich jedoch weitgehend auf technische Anweisungen beschränkt. In die Frühzeit von F.’ gelehrter Tätigkeit fällt ein Reisegedichtbuch, das, wie ein Buch über die Altertümer Roms, bis weit in das 17. Jh. als Handbuch genutzt wurde (Itinerum liber unus. Zuerst Lpz. 1547. Roma, Antiquitatum libri II. Zuerst Basel 1550). Weniger Erfolg hatte F. mit seinen historiograf. Werken im Dienste des kursächs. Hofes (u. a. Originum Saxonicarum libri VII. Jena 1598, postum). Bedeutend waren seine philolog. Leistungen als Herausgeber von Vergil u. Horaz. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: D. C. G. Baumgarten-Crusius (Hg.): Epistolae ad [...] Meurerum et aequales. Lpz. 1845. – Ders.: De Georgii Fabricii vita et scriptis. Programm Meißen 1839. – Ellinger 2 (Register). – Kurt Hannemann: Der Humanist G. F. in Meissen, das Luthermonotessaron in Wittenberg u. Leipzig u. der Heliandpraefatiokodex aus Naumburg/S. In: Filologia Germanica (1974), S. 7–109. – Eckart Schäfer: Dt. Horaz. Wiesb. 1976. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. Baden-Baden 1984 (Register). – HL, S. 607–651 (Textausw. mit Übers.), S. 1311–1335 (Bio-Bibliogr. u. Komm.). – Walther Ludwig: G. F. – der zweite Rektor der Fürstenschule St. Afra in Meißen. In: Ders.: Miscella Neolatina. Ausgew. Aufsätze 1989–2003. Bd. 2, Hildesh. u. a. 2004, S. 268–292 (zuerst 2001). – Ders.: Geistl. Dichtung des 16. Jh. – Die Poemata sacra des G. F. Gött. 2001. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 515–520. – Wilhelm Kühlmann: Poeten u. Puritaner: Christl. u. pagane Poesie im dt. Humanismus. In: Kühlmann (2006), S. 57–83. – Jaumann Hdb. Hermann Wiegand
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Fabricius, Georg Andreas, * 28.5.1589 Herzberg, † 30.5.1645 Göttingen. – Philologe, Polyhistor.
Fabricius Literatur: Jöcher. – Johann G. W. Dunkel: Histor.-krit. Nachrichten v. verstorbenen Gelehrten u. deren Schr.en. Cöthen 1735–60. – Heinrich Wilhelm Rotermund: Das gelehrte Hann. oder Lexikon v. Schriftstellern u. Schriftstellerinnen. Bremen 1823. – Friedrich August Eckstein: Nomenclator philologorum. Lpz. 1871. – Johann C. Poggendorf: Biogr.-literar. Handwörterbuch zur Gesch. der exakten Wiss.en. Lpz. 1863. – Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgesch. humanist. u. barocker Wiss. Hbg. 1983, S. 70. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 522–527.
Der Sohn eines Superintendenten besuchte das Pädagogium in Göttingen u. studierte in Jena u. Wittenberg, wo er 1608 mit dem Magisterexamen abschloss. 1609 wurde er Rektor in Oldenburg, 1612 Pädagogiarch des Pädagogiums in Göttingen (seit 1947 MaxPlanck-Gymnasium). Sein Unterricht zielte v. a. auf die Erlangung der Fähigkeit der Franz Günter Sieveke Eloquenz, um in der Weise des »bene dicendi« in Latein schreiben, Reden halten u. diskutieren zu können. Aber auch das Dichten in Fabricius, Johann, * 11.2.1644 Altdorf, lat. u. griech. Sprache, was er selbst nach † 29.1.1729 Königslutter. – Evangelischer Auskunft der von Janus Gruter edierten Deli- Theologe. tiae poetarum germanorum huius superiorique aevi Der Sohn eines Theologieprofessors u. illustrium (6. Bde. Ffm. 1612) beherrschte, Nürnberger Predigers studierte Theologie in sollte der Schüler können. Lat. Epigramme Helmstedt u. Altdorf; es folgten ausgedehnte von F. finden sich auch in der von Otto Sieg- Reisen u. a. durch Ungarn u. Italien. In Vefried Harnisch 1617 besorgten Sammlung nedig war er 1670–1677 Prediger der heimDem Durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten und lichen luth. Gemeinde. An Hilfsaktionen wie Herrn Herrn Friedrich Ulrich Hertzogen zu dem Freikauf von Opfern der ungar. GegenBraunschweig vnd Lüneburg. Seit 1626 beklei- reformation in den 1670er Jahren war er bedete F. das Rektorenamt am Gymnasium in teiligt. 1677/78 wurde F. Professor der Mühlhausen u. lebte ab 1633 in Göttingen. Theologie in Altdorf (Dr. theol. Jena 1690). F.’ Schriften weisen ihn als Polyhistor aus. 1697 ging er als Professor nach Helmstedt, Sein auch noch in heutiger Sicht bedeu- wurde 1701 als Nachfolger Friedrich Ulrich tendstes Werk ist der Thesaurus philosophicus Calixts Abt von Königslutter, 1703 braunsive Tabulae totius philosophiae systema (Braun- schweigisch-lüneburgischer Konsistorialrat schw. 1624). In 376 Tabellen – also unter u. 1709 Generalinspektor der Schulen im mnemotechn. Gesichtspunkten u. für den Herzogtum Braunschweig. F. korrespondierUnterrichtsgebrauch bestimmt – behandelt te u. a. mit Leibniz, Spener u. Gottlieb Spizel er im Sinne des Ramismus alle für den da- (u. a. aus Venedig). maligen Gelehrten wichtigen Disziplinen 1709 musste F., dem Willen des Herzogs (Grammatik, Rhetorik, Poetik, Mathematik gemäß, wegen ruinierten Ansehens im Ausu. Philosophie). Er publizierte außerdem land als Professor seinen Abschied einreichen. Werke zur Theologie, Physik u. Astronomie Dafür verantwortlich war v. a. seine Beraterwie z.B. das auch als Schulbuch genutzte tätigkeit bei dem »politischen« KonfessionsSpeculum Astronomologicum (Goslar 1642). Zu wechsel Elisabeth Christines von Wolfenbüterwähnen sind auch die polit. Dissertationen, tel, der Mutter der Kaiserin Maria Theresia, die er betreute, u. die Tatsache, dass er sich als die zugunsten der Heirat mit dem späteren Herausgeber musikalischer Werke betätigte Kaiser Karl VI. 1707 zum kath. Glauben z.B. der Cantiones Gregorianae, Festo Scholastico, übergetreten war. Dieser Vorgang, für Chrisquo Juventus Theopolitana ad Pietatis et Humani- tian Thomasius von hohem Interesse, betatis officinam publico et solemni ritu Maiorum wirkte eine Flut von Gutachten etc. – unter instituto verè pio invitari et adduci consuevit, de- ihnen ein wohl über 20 Jahre altes von stinatae (Goslar 1624, an. hg. v. M[agister] Spener. Die breite literar. AuseinandersetG[eorg] A[ndr.] F[abricius] P[aedagogiarcha] zung machte F.’ undurchsichtige Haltung zu einem Politikum. Er ging sogar so weit, AuG[ottingensis]).
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torschaften zu verbergen oder abzustreiten. RGG 4. Aufl. – Markus Vinzent (Hg.): Metzler-LeF. erwies sich als einer der katholisierenden xikon christl. Denker. Stgt. 2000, S. 239 f. – D. Calixtiner. Mit Spener, dem er 1670 in Blaufuß: Korrespondierender Pietismus [...]. Lpz. Frankfurt/M. begegnete, teilte er die Hoff- 2003. – Jaumann Hdb. – D. Blaufuß: Wider ›papentzende‹ Theologie. Ein Gutachten Philipp Jacob nung auf Bekehrung der Juden, wohl nicht in Speners im Zusammenhang der Konversion v. Eligleichem Maße dessen Sorge wegen des sabeth Christine v. Wolfenbüttel. In: Regionaler Wiederauflebens des Synkretistischen Strei- Kulturraum u. intellektuelle Kommunikation [...]. tes. F.’ große Gelehrsamkeit – 1703 wurde er Hg. Axel E. Walter. Amsterd. u. a. 2005, S. 91–115. Mitgl. der Berliner Akademie der Wissen- – LThK. Dietrich Blaufuß schaften – bewahrte ihn nicht vor den Gefahren, die dem Synkretismus seiner Zeit von Fabricius, Johann Albert, * 11.11.1668 der Politik drohten, auf deren Feld er Leipzig, † 30.4.1736 Hamburg. – Philoschließlich geopfert wurde.
loge, Universalgelehrter.
Werke: Consideratio variarum controversiarum [...]. Helmstedt 1704. 21715. – Erörterte Frage [...], daß zwischen der Augspurg. Confeßion u. Röm.Cath. Religion kein sonderl. Unterschied sey [...], also statuiret occasione einer vorgewesenen Vermählung eins cath. Königs u. evang. Princeßin. o. O. 1706. – Historia Bibliothecae Fabricianae. 6 Bde., Wolfenb. 1712–24. – Korrespondenz: Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 392–395 (s. auch Johann Georg Schelhorn: Amoenitates literariae 6, 1726, S. 216–220, Nr. 37–45: 9 Teildr.e 1671/75); Tl. 2, S. 340–341. – Spizel-Korrespondenz, masch. Verz., Staats- u. Stadtbibl. Augsburg 28 Cod. Aug. 410a, S. 24–28, Nr. 291–372 (F.). Ergänzungen in: Dietrich Blaufuß: G. Spizel. Diss. masch. 1971, S. 629–631. – D. Blaufuß: Spener-Arbeiten [...]. Bern u. a. 21980, S. XXXII-XXXIV. – Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Bd. 2–4, Tüb. 1996–2005. – Leibniz Akademie-Ausg. I/ 14–20 (Korrespondenz 1697–1702), Bln. 1993–2006. Literatur: Bibliografie: Nürnberg. GelehrtenLexicon. Hg. Georg Andreas Will u. Christian Conrad Nopitsch. Bde. 1 u. 5. – Weitere Titel: Julius August Wagenmann: J. F. In: ADB. – Carl Meusel (Hg.): Christl. Kirchenlexikon. Bd. 2, Lpz. 1889, S. 499 f. – Hermann Schüssler: J. F. In: NDB. – Johann Georg Walch: Histor. u. Theolog. Einl. [...]. 1733–39. Neudr., mit Nachw. v. Dietrich Blaufuß. Stgt.-Bad Cannstatt 1972–85. Bd. 1, S. 364–370; Bd. 4,2, S. 852–889. – Wilhelm Hoeck: Anton Ulrich u. Elisabeth Christine v. Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel. Eine durch archival. Dokumente begründete Darstellung ihre Übertritts zur röm. Kirche. Wolfenb. 1845. – Gerhard Ulhorn: F. In: RE. – Gerlinde Körper: Studien zur Biogr. Elisabeth Christines [...]. Diss. phil. Wien 1975 (masch.). – D. Blaufuß: Reichsstadt u. Pietismus – Philipp Jacob Spener u. Gottlieb Spizel aus Augsburg. Neustadt/Aisch 1977, S. 45 u. ö. – Michael Albrecht: Eklektik [...]. Stgt.-Bad Cannstatt 1994. –
Der aus dem holstein. Itzehoe stammende Vater von F., Werner, war als Musikdirektor u. Organist in Leipzig tätig u. trat auch als Musiktheoretiker hervor; seine Mutter Martha Corthum war die Tochter eines Predigers in Bergedorf bei Hamburg. Nach dem frühen Verlust der Eltern wuchs F. seit 1679 bei dem Leipziger Theologen Valentin Alberti auf. Seine ersten Lehrer waren Wenzeslaus Buhl u. Johann Gottfried Herrichen. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Quedlinburg (1684–1686) bezog er im Herbst 1686 die Universität Leipzig. Bei derart ausgezeichneten Lehrern wie Johann Benedict Carpzov d.J., Thomas Ittig, Johann Schmidt, Johannes Olearius, Joachim Feller, Adam Rechenberg, Johannes Cyprian u. dem Herausgeber der Acta eruditorum, Otto Mencke, vermochte er sich rasch die antike, frühchristl. u. mittelalterl. Literaturgeschichte in ihrem gesamten Umfang anzueignen. Sehr früh nahm er Maßstab an den führenden Philologen seiner Epoche wie Joseph Justus Scaliger, Caspar Barth, Daniel Georg Morhof u. William Cave. Seit 1694 dauerhaft in Hamburg lebend, war er zunächst Bibliothekar im Hause Johann Friedrich Mayers, Hauptpastors an St. Jacobi, ohne dass er – wie Mayer – an den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen luth. Orthodoxie u. Pietismus merkl. Anteil genommen hätte. In Begleitung Mayers unternahm er 1696 eine Reise nach Schweden, die ihn mit führenden schwed. Gelehrten in Verbindung brachte. 1699 wurde er in Kiel bei seinem Mentor (Mayer hatte dort eine Professur inne) mit einer Arbeit über das Erinnerungsvermögen der Seele nach dem Tode
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des Leibes zum Doktor der Theologie promoviert. Im selben Jahr trat er die Professur für Beredsamkeit u. prakt. Philosophie am hamburgischen Akademischen Gymnasium in der Nachfolge des verstorbenen Vincentius Placcius an. 1708–1711 war er zusätzlich Rektor der hamburgischen Lateinschule Johanneum. Sein Korrespondentennetz umspannte ziemlich lückenlos die europ. Gelehrtenrepublik seiner Zeit. Darüber hinaus hat F. das gesellschaftliche u. intellektuelle Leben in Hamburg über mehrere Jahrzehnte hinweg maßgeblich mitgeformt. In den wechselnden Freundschaftskreisen – darunter die »Teutsch-übende Gesellschaft« u. die »Patriotische Gesellschaft« – übte er eine auf Rationalität u. Sittlichkeit gegründete Wirksamkeit aus. Aus diesen, die intellektuelle Elite Hamburgs repräsentierenden Unternehmungen gingen zahlreiche, z.T. bedeutende Gelehrte u. Schriftsteller hervor (Barthold Heinrich Brockes, Johann Hübner, Johannes Klefeker, Michael Richey, Christian Friedrich Weichmann u. a.). F. war mit Margaretha Schulze, der Tochter des Rektors am Johanneum, verheiratet. Eine der beiden Töchter, Johanna Friederica, heiratete 1728 F.’ Schüler u. späteren Kollegen Hermann Samuel Reimarus. F. hat ein beeindruckendes polyhistor. Gesamtwerk hinterlassen. In produktiver Überformung älterer frühneuzeitlicher bio-bibliogr. Werke zur Literaturgeschichte von der Antike bis in die Neuzeit (Alexander ab Alexandris, Raffaello Maffei Volaterrano, Coelius Rhodiginus [d.i. Lodovico Ricchieri], Johannes Trithemius, Konrad Gessner, Johannes Wower, Peter Lambeck, Daniel Georg Morhof u. a.) stellte er die Kenntnis der Geistesgeschichte – vor dem Hintergrund der neueren hermeneut. u. diplomat. Verfahren der Textkritik – auf eine neue Grundlage. In zuvor unerreichter Vollständigkeit u. Präzision geben die drei »Bibliotheken« (Bibliotheca latina: 1699; Bibliotheca graeca: 1705–28 mit zwei grundlegend überarbeiteten Neuaufl.n; Bibliotheca latina mediae et infimae aetatis: 1734–35) Aufschluss über Autorschaft, Überlieferung u. Echtheit der erhaltenen, verlorenen u. mutmaßl. Schriften von der griechischen u. lat. Antike bis in die Zeit der
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Renaissance. Die Einbeziehung der byzantinischen u. der mittelalterl. Literatur, die Edition handschriftl. Materials, die krit. Kommentierung der Geschichte der Editionen u. Übersetzungen sowie die Darbietung von Konkordantien u. Registern machen F.’ Literaturgeschichte zu einem bis heute unentbehrl. Hilfsmittel der philolog. Praxis. Auch als Editor ist F. herausragend in Erscheinung getreten. Zu nennen sind v. a. die bis weit ins 19. Jh. gültige Edition der Schriften des Sextus Empiricus (Lpz. 1718), die überhaupt erste Gesamtausgabe der Werke des Hippolytos von Rom (Hbg. 1716–18), der Timaios-Kommentar des Chalcidius (1718), die Apokryphen zum NT (Hbg. 1703. Erw. 1719) u. die Pseudepigrafen zum AT (Hbg. 1713. Erw. 1723). Stimulierend auf die intellektuelle Auseinandersetzung wirkte v. a. die Einbeziehung der gelehrten Debatten des eigenen u. der unmittelbar vorausliegenden Jahrhunderte. Demselben Anliegen, die Überlieferung für die eigene Lebens- u. Denkform fruchtbar zu machen, verdanken sich darüber hinaus zahlreiche Neudrucke von Autoren wie Leonardo Bruni, Jacques Gaffarel, Leone Allacci, Paul Colomiès, Anselmo Banduri, Fénelon, Peter Lambeck u. Morhof. F. erkannte sehr früh die Möglichkeit, den durch die Skepsis des 17. Jh. aufgerissenen Zwiespalt zwischen Glauben u. Wissen durch die Physikotheologie zu überbrücken. Wenn es gelang, die Erforschung der »Natur« im Sinne der von Paulus aufgegebenen Erkenntnis Gottes aus dem Sichtbaren (Röm. 1,19) zu lenken, konnte auch die »gesellige Natur« des Menschen im Sinne einer auf das Wohl aller zweckgerichteten Sittlichkeit aufgefasst werden. Der von Robert Boyle entwickelte Zweckbegriff (Teleologie) schien sich als ein auf ein rationales (göttl.) Prinzip gestelltes universales Werkzeug zu bewähren, mit dem die zuletzt noch wirksamen neuplatonischen (Platonismus von Cambridge) u. myst. (z.B. Gottfried Arnold) Erklärungsarten der »Natur« im Ganzen u. der »Natur« des Menschen im Besonderen erfolgreich demontiert werden konnten. Dass sich an der mit dem Namen William Derham verknüpften physikotheolog. Bewegung namhafte Philologen wie Richard
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Bentley u. F. beteiligten, ist nicht verwunderlich, war doch die Erforschung der Natur seit der Antike eine Angelegenheit von Universalgelehrten wie Plinius oder Seneca. F. regte nicht nur die dt. Übersetzung der beiden Hauptwerke Derhams (Astrotheologie. Hbg. 1728. Physicotheologie. Hbg. 1730) an, er verfasste auch selbst eine Hydrotheologie (Hbg. 1734) u. den Entwurf einer Pyrotheologie (Hbg. 1732). Für die Lithotheologie (1735) des Freundes Friedrich Christian Lesser hat er die Vorrede geschrieben. Auch im Bereich der christl. Apologetik hat sich F. große Verdienste erworben. Der Delectus argumentorum (Hbg. 1725) ist eine Art kommentierter Bibliografie; sie versammelt – wiederum unter Einbeziehung der zeitgenöss. Diskussion – erschöpfend diejenigen Schriften, die sich der Rechtfertigung der christl. Religion gewidmet haben. Die Abhandlung Salutaris lux Evangelii toti orbi per divinam gratiam exoriens (Hbg. 1731) setzt die Geschichte der christl. Mission (unter Einschluss der katholischen u. insbes. der jesuit. Mission) im Sinne einer histor. Geografie des Christentums um. F.’ Wirksamkeit ist unabsehbar. Aufstieg u. öffentl. Anerkennung der Philologie im 19. u. frühen 20. Jh. verdanken sich nicht zuletzt den von ihm entwickelten Verfahren, die Textgeschichte gesichert in den Griff zu bekommen. Die Poesie eines Brockes u. seiner Nachfolger entspringt im Wesentlichen den Ressourcen, die sein Werk u. seine intellektuelle Freigebigkeit bereitstellten. Als einer derjenigen Gelehrten, die noch einmal das Ganze der Überlieferung zu umgreifen strebten, setzte er die Tradition in ein fruchtbares Verhältnis zu den intellektuellen Herausforderungen seiner Zeit. Weitere Werke: Scriptorum recentt. Decas. Lpz. 1688. – De antiquorum philosophorum, stoicorum maxime, cavillationibus exercitatio. Lpz. 1692. – Exercitatio de platonismo Philonis Judaei viro doctissimo Johanni Jonsio opposita. Lpz. 1693. – Bibliographia antiquaria, sive introductio in notitiam scriptorum qui antiquitates hebraicas, graecas, romanas et christianas scriptis illustraverunt. Hbg. 1716. – Opusculorum historico-critico-literariorum sylloge quae sparsim viderant lucem nunc recensita denuo et partem aucta. Hbg. 1738.
358 Literatur: Hermann Samuel Reimarus: De vita et scriptis Joannis Alberti Fabricii commentarius. Hbg. 1737. – Jean-Pierre Niceron: Memoires pour servir à l’histoire des hommes illustres dans la Republique des Lettres, avec un catalogue raisonné de leurs ouvrages. Bd. 40, Paris 1739, S. 107–162. – Hans Schröder: Lexikon der Hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 2, Hbg. 1854, S. 238–259. – Kurt Detlev Möller: J. A. F. 1668–1736. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 36 (1937), S. 1–64. – Mathilde Verner: J. A. F. Eighteenth-Century Scholar and Bibliographer. In: The Papers of the Bibliographical Society of America 60 (1966), S. 281–326. – Jürgen Rathje: Gelehrtenschulen, Gelehrte, Gelehrtenzirkel u. Hamburgs geistiges Leben im frühen 18. Jh. In: Hamburg im Zeitalter der Aufklärung. Hg. Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter. Hbg. 1989, S. 93–123. – Erik Petersen: J. A. F. en humanist i Europa. 2 Bde., Kopenhagen 1998 (maßgebl. Monogr.). – Ralph Häfner: Das Erkenntnisproblem in der Philologie um 1700. Zum Verhältnis v. Polymathie, Philologie u. Aporetik bei Jacob Friedrich Reimmann, Christian Thomasius u. J. A. F. In: Philologie u. Erkenntnis. Zu Begriff u. Problem frühneuzeitl. ›Philologie‹. Hg. ders. Tüb. 2001, S. 95–128. – Ders.: Philolog. Festkultur in Hamburg im ersten Drittel des 18. Jh.: F., Brockes, Telemann. Ebd., S. 349–380. – Ders.: Götter im Exil. Frühneuzeitl. Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christl. Apologetik u. philolog. Kritik (ca. 1590–1736). Tüb. 2003, S. 423–576. – Ders.: Literaturgesch. u. Physikotheologie: J. A. F. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christl. Theologie u. Kultur zwischen Tradition u. Zukunft. Mit einem Verz. sämtl. Promotionen der Theolog. Fak. Hamburg. Hg. Johann A. Steiger. Bln./New York 2005, S. 34–57. – Werner Raupp: J. A. F. In: Bautz. – Jaumann Hbd. Ralph Häfner
Fabricius, Johann Andreas, * 18.6.1696 Dodendorf bei Magdeburg, † 28.2.1769 Nordhausen/Harz. – Rhetoriker, Lehrer, Organisator gelehrter Sozietäten, Autor der Historia litteraria. Der Sohn eines Pastors, der mit dem bedeutenden Thomasius-Schüler Johann Franz Buddeus in Wittenberg bei Burkhard Gotthelf Struve studiert hatte, ging nach dem Besuch der Schule im Kloster Bergen bei Magdeburg 1713 an die Universität Helmstedt, wo er die Artes, bes. Rhetorik u. Poetik,
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aber auch mathematische u. medizin. Studien betrieb, früh mit großem Interesse für die deutschsprachige Poesie. 1715–1718 studierte er in Leipzig, u. a. bei dem Philosophen u. Mediziner Johann Andreas Rüdiger, einem der bekanntesten Schüler von Christian Thomasius. 1718–1723 unterrichtete er in Jena als Magister legens dt. Rhetorik sowie Logik u. Naturrecht nach Rüdiger u. Christian Wolff. Nachdem sich dort die Hoffnung auf Patronage durch Struve, den Lehrer des Vaters, nicht erfüllt hatte, ging er 1723 als Magister nach Leipzig, wo sein erstes größeres Werk erschien: die Philosophische Oratorie: Das ist vernünfftige Anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit (1724), über das es 1725 zu einem Disput mit Gottsched in dessen Moralischer Wochenschrift »Die vernünftigen Tadlerinnen« kam. Um 1724/25 ist er wie auch Gottsched Mitgl. der Leipziger Deutschübenden poetischen Gesellschaft (später Deutsche Gesellschaft). 1725–1740 hielt er sich erneut in Jena auf, wo er auch die Historia litteraria lehrte. Er regte die Gründung einer Teutschen Gesellschaft an (Societas oratoria: »Rednergesellschaft«) u. publizierte dafür programmat. Überlegungen: Vorschlag zu einigen Collegiis practicis (gedr. im Anhang zu Vernünftige Grundregeln zum Parentiren, 1728). Die Jenaer Sozietät bestand von 1728 bis ca. 1770, der Thomasius-Schüler Gottlieb Stolle, Jurist, Philosoph u. Poet, war bis zu seinem Tod ihr Senior. F. wurde 1730 nach verschiedenen Konflikten ausgeschlossen. Er war auch Anreger der 1733 bis ca. 1844 bestehenden Societas Latina Ienensis, die von dem jungen Juristen Georg Ludwig Herzog gegründet sowie u. a. von Hallbauer u. den Brüdern Walch geleitet wurde. 1740 verließ der streitbare Gelehrte, der offenbar keinem Konflikt aus dem Weg gegangen u. beruflich nicht vorangekommen ist, Jena u. ging nach Braunschweig, wo er als Rektor der Katharinen-Schule u. seit 1746 als Professor am Collegium Carolinum amtierte, doch holte ihn auch dort der Konflikt mit der Teutschen Gesellschaft in Jena ein, u. er wurde im gleichen Jahr entlassen. 1746–1752 lehrte er als Adjunkt wieder dt. Rhetorik an der Universität in Jena, wo er eine weitere Sozietät gründete: das Institutum litterarium
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academicum (1751–1754). 1753 bis zu seinem Tod amtierte er als Rektor des Gymnasiums in Nordhausen am Harz. Sein Hauptwerk im Genre der Historia litteraria ist der umfangreiche Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit (3 Bde., Lpz. 1752–54. Nachdr. Hildesh. 1978). F. war ein bedeutender Vertreter der dt.-lat. Sozietätenbewegung im frühen 18. Jh., v. a. des Typus der »Rednergesellschaft«, die sich nach dem Modell u. a. Gottscheds auf die Pflege der dt. Rhetorik u. Poesie gerichtet hat. Das Verhältnis zur lat. Redekunst wurde von ihm jedoch als durchaus komplementär u. nicht prinzipiell im Gegensatz zur lat. Gelehrtenkultur verstanden, die sich im mittleren 18. Jh. ihrem Ende näherte. Weitere Werke: Entwurf zu einem Collegio oratorio. Lpz. 1723. – Philosoph. Oratorie: Das ist vernünfftige Anleitung zur gelehrten u. galanten Beredsamkeit [...]. Lpz. 1724. Nachdr. Kronberg 1974. – (Mit J. C. Köcher, D. G. Werner:) Monatl. Nachrichten v. gelehrten Leuten u. Schrifften, bes. dem gegenwärtigen Zustand der Univ. Jena. Jena 1726–29. – Vernünfftige Grund-Regeln zum Parentiren: Mit einigen auserlesenen Exempeln erl. u. einem Vorschlag zu einigen Collegiis practicis vermehrt. Jena 1728. 1739. – Philosoph. Redekunst. Lpz. 1739 (enthält: Autobiogr., Werk-Verz.). – Abriß einer allg. Historie der Gelahrtheit: zum Gebrauch eines darüber zu haltenden Collegii aufgesetzt. Jena 1731. – Specimen orthographiae Teutonicae demonstratae. Jena 1734. – (Hg. u. Verf.:) Thüring. Nachrichten v. gelehrten Sachen, sonderlich der Univ. Jena. Jena 1734–36. – (Neuausg. u. Forts.:) Johann Georg Heinsius: Unpartheyische Kirchen-Historie Alten u. Neuen Testaments. Th. I-II: Von Erschaffung der Welt bis auf das Jahr nach Christi Geburt 1730. Jena 1735. – (Praes.:) In culpae scribentium non adsignanda Latini sermonis vitia rationes adlaturus. Ernst Justus Alberti (resp.). Jena 1739. – De philosophia polemica et iudice competente in controversiis. Braunschw. 1745. – Auszug aus den Anfangsgründen der Allg. Gelehrsamkeit oder Weltweisheit, bes. der Practischen. Wolfenb. 1746. 1748. – (Hg. u. Verf.:) Crit. Bibl. 4 Bde., Lpz. 1748; 1755–58. – Zusatz v. den dt. Gesellschafften, bes. der jenaischen u. der derselbigen Stifter u. Ursprung. In: Crit. Bibl. 2 (1750), 6. Stück, S. 544–51. – Rede, die er bei seinem Amtsantritte am 30. Okt. 1753 gehalten [...]. Nordhausen 1754.– Die Schule, eine Werkstatt des hl. Geistes. Nordhausen 1759.
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Literatur: K. Thiede: Verz. der Titel der bisher ersch. wiss. Programm-Abh.en des Kgl. Gymnasiums zu Nordhausen 1672–1911. In: Ber. des Kgl. Gymnasiums zu Nordhausen 387 (1912), enthält: Verz. der Abh.en v. F. 1754–66. – Felicitas Marwinski: J. A. F. u. die Jenaer gelehrten Gesellsch.en des 18. Jh. Jena 1989. – Herbert Jaumann: Die Societas Latina Ienensis (1734–1848). In: Gelehrte Gesellsch.en im mitteldt. Raum (1650–1820). Hg. Detlef Döring u. Kurt Nowak. Tl. 3, Stgt./Lpz. 2002, S. 33–70 (mit Bibliogr.). Herbert Jaumann
Fabricius, Johann Jacob, Kläger vom Creuzberg * (1618, wahrscheinlicher) † 4.3.1673 Amsterdam. – Theologe.
auch: Justus in Curland, 1620 Lennep, Evangelischer
F. gehört in den breiten Strom der Kirchen- u. Dogmenkritik des frühen 17. Jh., deren Anliegen vom Pietismus aufgegriffen wurden. Der Sohn des Lenneper Geistlichen Johann Fabricius d.J. († 1631) besuchte wohl die Dortmunder Gelehrtenschule u. studierte – nach einem »Bekehrungs«-Erlebnis – seit 1637 an der Universität Rostock Mathematik, Hebräisch u. Theologie, mit guten Zeugnissen von dort scheidend. Von den Theologen zog ihn v. a. der reformorthodoxe Joachim Lütkemann als Prediger an. Folgenreich war die Studiengemeinschaft, die ihn unter dem Hebraisten Samuel Bohl mit Hermann Jung, Justus Brawe u. Clamerus Florinus zusammenführte. F. wurde Magister, lehrte Mathematik u. oriental. Sprachen, disputierte, predigte u. wirkte auf den Frühpietisten Heinrich Müller ein. Noch vor Antritt des ersten Predigeramtes in Schwelm 1644 (wo er Bußpredigten zur Wiedergeburt gehalten haben will) brachte F. sich durch die Abmahnung der Trinklust eines Geistlichen in den Verdacht, einer Irrlehre anzuhängen, dem er durch seine in der Erklärung der Predigt Christi [...] Matth: cap. 5/ 6/ 7 [...] (Dortm. 1646) vertretene Lehre vom neuen Menschen weitere Nahrung gab. Pseudonymität u. Drucklegung im Ausland (Niederlande) folgten. Später dem Verdacht des Weigelianismus unterworfen – obgleich wohl näher bei Luther als bisher gesehen –, konnte er sich nach dem langen Schwelmer Kirchenstreit 1653 in Schwelm nicht mehr
halten. Mit der Übernahme der luth. Pfarre in Zwolle 1654 begann wiederum eine Phase intensiven Austauschs mit den Rostocker Freunden, auch mit Johann Amos Comenius. F., Brawe u. Florinus wurden 1660/61 ins Sulzbachische berufen. Vor allem von Herzog Christian August von der Pfalz (1664) aufgefordert, arbeiteten sie in Gemeinschaft mit einem Kreis exzellenter Hebraisten an einer Neuübersetzung des hebräischen Psalters. Vorher hatten Lehrverdächtigungen gegenüber F., Brawe u. Florinus eine Liquidierung des für das junge Herzogtum Sulzbach lebenswichtigen Neuburger Hauptvergleichs von 1656 heraufbeschworen. Sie traten ihnen in [...] Gründliche Antwort wegen der ungegründeten Außsprengung wider die Evangelischen Lehrer (Nürnb. 1662) entgegen. Obwohl in der Amtsführung tadelsfrei, verließ F. 1667 Sulzbach u. ging nach Amsterdam, wohl zu Johann Georg Gichtel. F.’ geistl. Selbstbiografie (Abermahlige Bezeugung und Bestätigung der göttlichen Wahrheit. Amsterd. 1669) war bis in die jüngste Vergangenheit ignoriert. Die – unkritische – anonym erschienene Biografie seines Anhängers Engelbert Holterhoff (Memoria J. J. Fabricii. Ffm. 1692) wurde über viele Stufen (Breckling; Gottfried Arnold; romant. Naturphilosophie des 19. Jh./Gotthilf Heinrich Schubert) bis weit ins 20. Jh. rezipiert. Literatur: Bibliografie: John Bruckner: A bibliographical catalogue of 17th century German books published in Holland. Den Haag/Paris 1971 (Ergänzungen in: Wolfenbütteler Barocknachrichten 11, 1984, S. 84–87). – Klueting 2003 (s. u.), S. 335–339. – Korrespondenz: Ebd., S. 291, 316 f., 319–328. – Weitere Titel: Gottfried Arnold: Das Leben der Gläubigen [...]. Halle 1701, S. 946–1089 [Holterhoff-Vita]. – Emil Böhmer: J. J. F. In: Jb. des Vereins für Westfäl. Kirchengesch. 47 (1954), S. 44–69. – Manfred Finke: Toleranz u. ›discrete‹ Frömmigkeit nach 1650. In: Chloe 2 (1984), S. 193–212. – Ders.: Sulzbach im 17. Jh. Regensb. 1998. – Reinhard Breymayer: Politik aus dem Geist der Bibel. In: Pietismus-Forsch.en. Hg. Dietrich Blaufuß. Ffm. u. a. 1986, S. 385–513. – Paul Estié: Die Auseinandersetzung v. Charias, Breckling, Jungius u. Gichtel in der luth. Gemeinde zu Kampen 1661–68. In: PuN 18 (1990), S. 11–30. – Gesch. Piet. Bd. 1, S. 229 f. – Volker Wappmann: Durchbruch zur Toleranz. Die Religionspolitik des
361 Pfalzgrafen Christian August v. Sulzbach 1622–1708. Neustadt/Aisch 1995. – Harm Klueting: Reformatio vitae. J. J. F. (1618/20–1673). Ein Beitr. zu Konfessionalisierung u. Sozialdisziplinierung im Luthertum des 17. Jh. Münster 2003 (grundlegend, umfassend). – Friedrich Breckling: Autobiogr. [...]. Hg. u. komm. v. Johann Anselm Steiger. Tüb. 2005. Dietrich Blaufuß
Fabricius, Johannes, Johann, * 8.1.1587 (a. St.) Resterhave/Ostfriesland, † zwischen 9.3.1616 u. 7.5.1617; Grabstätte: Osteel, Friedhof. – Astronom.
Fabricius
gleichzeitig, aber unabhängig voneinander durch mehrere Gelehrte gemacht. Ausgaben: Briefw. mit Johannes Kepler. In: Ders.: Ges. Werke. Bd. 16. Hg. Max Caspar. Mchn. 1954, Nr. 485 u. 509. – De maculis in sole observatis [...] narratio [...]. Wittenb. 1611. Internet-Ed.: http://diglib.hab.de/drucke/180-13-quod-5/ start.htm. Literatur: Wilhelm Olbers: Materialien zu einer Lebensbeschreibung der beiden Astronomen, David u. J. F. In: Astronom. Nachrichten 31 (1851), No. 729, Sp. 129–142. – Ludwig Häpke: F. u. die Entdeckung der Sonnenflecke. In: Abh.en hg. vom naturwiss. Vereine zu Bremen 10 ([April 1888] 1889), S. 249–272 (mit Auszügen aus ›De maculis‹, S. 267–272). – Bernhard Bunte: Über J. F., den Entdecker der Sonnenflecken. In: Jb. der Gesellsch. für bildende Kunst u. vaterländ. Altertümer zu Emden 9 (1890), H. 1, S. 59–77. – Gerhard Berthold: Der Magister J. F. u. die Sonnenflecken nebst einem Excurse über David F. Lpz. 1894. – Frida Weymann: Söhne Ostfrieslands. David u. J. F. In: Ostfreesland 15 (1928), S. 123–129. – Willy Jahn: J. F. In: NDB. – Menso Folkerts: F. In: Biogr. Lexikon für Ostfriesland. Hg. Martin Tielke. Bd. 2, Aurich 1997, S. 114–117. – Martin Stolzenau: Von Galileo Galilei ignoriert. J. F., der Entdecker der Sonnenflecken. Vor 400 Jahren ging der Mediziner u. Astronom aus Resterhafe nach Wittenberg. In: Fries. Heimat 2006, S. 366. – Fritz Krafft: Die bedeutendsten Astronomen. Wiesb. 2007, S. 94–97.
Der Sohn des David Fabricius besuchte ab 1601 die Lateinschule zu Braunschweig u. studierte mit einem Stipendium des Grafen von Ostfriesland in Helmstedt (Immatrikulation 27.10.1604), danach in Wittenberg (Immatrikulation 16.8.1606, Magisterpromotion 24.9.1611) sowie zwischenzeitlich (1609/10) Medizin in Leiden – jeweils unterbrochen durch längere Aufenthalte in Osteel, wo er gemeinsam mit seinem Vater meteorologische u. astronom. Beobachtungen durchführte. Von Leiden hatte er hierzu einige der neuen (holländ.) Fernrohre mitgebracht. Bei ihren durch Galileis Nuncius sidereus Fritz Krafft (1610) angeregten Himmelsbeobachtungen konzentrierten sich Vater u. Sohn auf die von Galilei noch nicht beachtete Sonne. Dabei Fabricius, Vincentius, eigentl.: Schmid, entdeckte F. am 27.2.1611 (a. St.) fleckenar* 8.9.1612 Hamburg, † 11.4.1667 Wartige Verdunklungen auf der Sonnenscheibe, schau. – Lyriker des Späthumanismus. die sie über längere Zeit systematisch (im Anschluss an Kepler nach dem »camera obs- Der frühreife Sohn eines Kaufmanns besuchte cura«-Prinzip) beobachteten. Sie verfolgten das Gymnasium Johanneum seiner Heimatauch die Wanderung der Sonnenflecken, aus stadt, 1628 auch die Schule in Lüneburg. der F. auf eine Rotation der Sonne (innerhalb Wegen der Kriegswirren wandte er sich zum von 27/28 Tagen) schloss. Er veröffentlichte Studium der Medizin u. Jurisprudenz nicht, die Beobachtungen 1611 in Wittenberg wie beabsichtigt, nach Leipzig, sondern nach (Widmung vom 13.6.1611) u. d. T. De maculis Leiden. in sole observatis, et apparente earum cum sole Vor allem durch seine virtuose, an namconversione, narratio. Stilistisch etwas unbe- hafte Vorbilder (Lotichius) anknüpfende lat. holfen, gibt die Schrift die Erscheinung erst- Lyrik (Liebeselegien, Kasualgedichte zu biomals gedruckt bekannt. Sie geriet jedoch über grafischen, gesellschaftl. u. zeitgeschichtl. den öffentlich ausgefochtenen Prioritäten- Themen) gewann er im Kreis der berühmten streit zwischen Galilei u. Christoph Scheiner holländ. Gelehrten (Heinsius, Huygens, in Vergessenheit, obwohl Kepler u. Simon Salmasius, Grotius u. a.) alsbald den Ruf eines Mayr auf die Priorität F.’ u. seines Vaters »Poeta suavissimus«. Janus Dousa beschäfhinwiesen; die Entdeckung selbst wurde etwa tigte ihn als Hauslehrer auf seinem als Mu-
Fabricius Hildanus
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senort viel besungenen Gut Noordwijk Ostsee. Hg. Thomas Haye. Amsterd./Atlanta 2000, (hiernach genannt sind F.’ Amores Nordwicen- S. 265–287. Wilhelm Kühlmann ses, ein Zyklus erot. Elegien, abgedr. in der ersten Gedichtpublikation Poemata Juvenilia. Fabricius Hildanus ! Fabry, Wilhelm Leiden 1633). Dem illustren Freundeskreis war es zu verdanken, dass F. 1632 sogar eine Fabricius Montanus, Johannes ! Monöffentl. Rede zur Befreiung Leidens von der tanus, Johannes Fabricius span. Bedrohung halten durfte (Oratio de Obsidione & Liberatione Civitatis Leidensis. Leiden Fabry, Fabri, Wilhelm, latinisiert: Guil1632). Studienreisen führten ihn schließlich helmus Fabricius Hildanus, * 25.6.1560 über Köln (1636) u. Belgien nach England Hilden bei Düsseldorf, † 14.2.1634 Bern. (1639), Frankreich u. Italien. – Wundarzt, medizinischer FachschriftMit dem Titel eines Licentiatus Juris (1640) steller, Lehrdichter u. Verfasser religiöser wirkte er nach der Rückkehr in Hamburg als Lieder. Sekretär des einflussreichen Diplomaten Der Sohn des Gerichtsschreibers Peter Dreß Claude Même d’Avaux, der ihn den Stadtväabsolvierte kein akadem. Medizinstudium; tern von Danzig empfahl. F. stieg hier vom Grundlagen seines Könnens wurden ihm von Syndicus (1644) zum Bürgermeister (1666) wundärztl. Lehrherren in Neuss, Düsseldorf auf. Auf einer Gesandtschaftsreise ereilte ihn u. Genf vermittelt. Dann übte er eine ausgeder Tod. dehnte chirurg. Praxis in der Westschweiz u. Mit seiner Lyrik, aber auch mit seinen Reim Rheinland aus. 1602–1610 lebte er als den u. dem ausgedehnten, erst zum Teil ge- Stadtwundarzt in Payerne (Peterlingen), doch druckten Briefwechsel (Nachl. in der Stadt- setzte er seine Konsultationsreisen bes. in das bibliothek Danzig) präsentierte sich F. als ei- oberrheinisch-elsäss. u. niederrhein. Gebiet ner der Großen des Deutschen Späthuma- fort. Nach erneutem Aufenthalt in Lausanne nismus. Zu seinen engsten Freunden seit der (1611–1615) wirkte er bis zu seinem Tod als Hamburger Zeit gehörte der Dichter Zacha- dritter Stadtarzt in Bern (1615–1634). rias Lund. Er ließ etl. seiner Gedichte in F.’ Während seiner Lehrjahre wurde F. von Werken abdrucken. Karl Utenhoven, dem Hofpoeten Wilhelms Weitere Werke: Poematum Editio secunda [...] III. von Kleve (Düsseldorf), gefördert. 1587 Accessit Pransus paratus, seu Satyra in Poetas, & heiratete er die calvinist. Erbauungsschrifteorum contemptores. Amsterd. 1638 (mit zahlrei- stellerin Marie Colinet, für die er Johann chen Gedichten des Freundeskreises). – Poemation Gerhards Quinquaginta meditationes sacrae von Heroicum de stupendo & admirabili casu [...]. Hbg. Jean Combillon ins Frz. übersetzen ließ (Bern 1636 (mit einer dt. Fassung v. Zacharias Lund). – 1630). F. unterhielt Beziehungen mit Caspar Opera omnia. Orationes [...] Dissertationes [...] Dornau, den Dichtern Daniel Rhagorius Epistolae [...] & Poemata. Lpz. 1685 (hier auch (Bern) u. Johann Jakob Grasser (Basel), TheoS. 752–784: Themistocles. Tragoedia). – Briefe: u. a. dor Beza u. mit zahlreichen namhaften Ärzauch in: Alexander Reifferscheid (Hg.): Quellen zur Gesch. des geistigen Lebens in Dtschld. während ten. Erhalten blieben Zeugnisse von F.s Briefwechsel mit fast 200 Korrespondenten. des 17. Jh. Probe-H. Heilbr. 1880. F. verfasste balneolog. Schriften, Werke zur Ausgaben: Textausw. in: CAMENA. Militärmedizin u. einen Kommentar zu geLiteratur: Johannes Moller: Cimbria literata. reimten Gesundheitsregeln des Dichterarztes Bd. 3, Kopenhagen 1744, S. 243–249. – Ulrich Johann Posthius (Schatzkämmerlein der GeMoerke: Die Anfänge der weltl. Barocklyrik in Schleswig-Holstein. Neumünster 1972, S. 153 u. ö. sundheit. Ffm. 1628). Einen Schwerpunkt sei– Ulrich Bornemann: Anlehnung u. Abgrenzung nes literar. Wirkens bildeten Krankheitsmo[...]. Assen/Amsterd. 1976, S. 14 ff. u. ö. – Minna nografien, repräsentiert von dem Traktat Vom Skafte Jensen: Eine humanist. Dichterfreundschaft heißen und kalten Brand (Köln 1593 u. ö.). In des 17. Jh. In: Humanismus im Norden. Frühneu- einem »Discursus« forderte F. die Obrigkeit zeitl. Rezeption antiker Kultur u. Lit. an Nord- u. auf, dem chemiatr. u. wundärztl. Pfuscher-
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Fährmann
Ausgaben: Fischer-Tümpel 1, S. 221 f. – Burktum zu wehren u. die Anatomie zu fördern; auch vertrat er hier aufgrund anatomischer hard Reber: Ein Lobgedicht des Fabricius Hildanus Befunde die Auffassung, dass gefolterte auf den ›Wasserschatz‹ des Tabernaemontanus, Menschen »Sachen bekennen, an die sie viel- sowie Anweisungen des Gebrauches der Bäder v. Baden im Aargau u. v. Markgrafen-Baden. In: Meleicht nie gedacht haben« (Anatomiae prae- dizin. Klinik, Jg. 1906, Nr. 6, S. 1–7. – Ausgew. stantia et utilitatis. Dt. Bern 1624). In den Ob- Observationes. Übers. v. Roman Johann Schaefer, servationum et curationum chirurgicarum centurae eingel. v. Karl Sudhoff. Lpz. 1914. Neudr. Lpz. I-VI (1606–46) fand der reiche ärztl. Beob- 1968. – Von der Fürtrefflichkeit u. Nutz der Anatachtungs- u. Erfahrungsschatz F.s einen omy. Bern 21624. Neuausg. v. Fritz de Quervain u. Hans Bloesch. Aarau/Lpz. 1936. – Gründl. Bericht markanten Niederschlag. 2 F. gehörte zu den fachlich u. literarisch vom heißen u. kalten Brand. 1603. Neuausg. v. Erich Hintzsche. Bern/Stgt. 1965. – Ian L. Naylor, bedeutendsten Chirurgen des dt. KulturgeBert Curtis, James J. R. Kirkpatrick: Treatment of biets um 1600. Nicht nur bewahrten sich Burn Scars and Contractures in the early Sevenseine Werke im 17. Jh. ihre fachl. Geltungs- teenth Century: W. F.’s Approach. In: Medical kraft. Manche deutsch geschriebenen Werke History 40 (1996), S. 472–486 (›De combustioniwurden sogar ins Lateinische übersetzt; seine bus‹, Kap. 14, in engl. Übers.). lat. Opera omnia (Ffm. 1646. 1682) gelangten Literatur: Bibliografie: Verena Schneider-Hiltins Deutsche (Wund-Artzney. Übers. v. Fried- brunner: W. F. v. Hilden. Verz. der Werke u. des rich Greiff. Ffm. 1652). Frühneuzeitliche Briefw. Bern/Stgt./Wien 1976. – Weitere Titel: A. Übertragungen in die frz., engl. u. nieder- Hirsch: F. In: ADB. – Roman Johann Schaefer: W. länd. Sprache unterstreichen F.s internat. Fabricius v. Hilden. Breslau 1904. – Heinrich Ansehen. Sein Werk begünstigte im dt. Strangmeier (Hg.): Hildener Jb. 1953/55. Hilden 1956, S. 3–324 (mit Textproben). – Ders. (Hg.): W. Sprachgebiet den allmähl. Wandel der oft F. v. Hilden. Leben, Gestalt, Wirken. Wuppertalnoch in analphabetischem Handwerkertum Elberfeld 1957. – Ellis Jones: The life and works of verstrickten Chirurgie in eine akadem. Dis- G. Fabricius Hildanus. In: Medical History 3 (1959), ziplin; es förderte den Aufstieg der dt. Spra- S. 112–134. 4 (1960), S. 196–209. – Gernot Rath: che zu einem akademisch anerkannten Me- Fabricius Hildanus. In: NDB. – Kosch, Bd. 4 (31972), Sp. 707 f. – Erich Hintzsche: G. Fabricius dium der Medizin. Das medizin. Werk flankieren dt. Gele- Hildanus 1560–1634. Hilden 1972. – Hans genheitsdichtungen, religiöse Lieder in Tö- Schadewaldt: Der gegenwärtige Stand der F.Forsch. In: Düsseldorfer Jb. 54 (1974), S. 141–144. nen des Hugenottenpsalters (Geistliche Lieder – Wolfgang Hennig (Hg.): Fabrystudien IV. Hilden und Gesäng. Oppenheim 1616) u. Lasterschelte 1975 (mit Forschungsbibliogr.). – Hellmut Thom(Abmahnung von der Trunckenheit. o. O. [Ffm.?] ke: Medizin u. Poesie. Fabricius Hildanus als 1623). Außerdem verfasste F. aus reformier- Dichter. In: Res Publica Litteraria. Hg. Sebastian tem Geist eine der Jugend zugedachte Tu- Neumeister u. Conrad Wiedemann. Tl. 2, Wiesb. gend- u. Lebenslehre von über 13.000 Vers- 1987, S. 431–442. – Olivier Pot: Une encyclopédie zeilen (Spiegel Deß Menschlichen Lebens. Erneute protestante autour de Simon Goulart. In: BHR 56 Ausg. Bern 1621), eine auf antike Autoren, (1994), S. 475–493. – Robert Jütte: F. In: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jh. Hg. Wolfreligiöse Schriften (Augustin, Johann Gergang U. Eckart u. Christoph Gradmann. Mchn. hard) u. dt. Literatur gegründete Lehrdich- 1995, S. 127 f. – Jaumann Hdb. – Urs Boschung: F. tung. Sie macht in F. einen entschiedenen In: HLS. Joachim Telle Sprachpatrioten u. frühen Anwalt der deutschsprachigen Kunstdichtung kenntlich, der Sprachmengern, die die dt. Sprache mit Fährmann, Willi, * 18.12.1929 Duisburg. ital. u. frz. »blätzen« meinten flicken zu – Autor von Kinder- u. Jugendliteratur. müssen, entgegnete, dass man in der »vber- Nach Maurerlehre, Abendgymnasium u. auß schönen vnd vralten vrsprünglichen Studium in Oberhausen u. Münster arbeitete Teutschen sprach« alles ohne fremdsprachige F., dessen Vater aus Ostpreußen stammte, Elemente ausdrücken u. auch »zierliche/feine 1953–1963 als Volksschullehrer in Duisburg vnd lustige gedichte machen« könne. u. 1963–1972 als Rektor einer Xantener
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Hauptschule. Bis zu seiner Pensionierung berkasten‹. Hg. Henner Barthel. Ffm. 2000, war er Schulrat eines Bezirks am Niederrhein. S. 395–412. Birgit Dankert / Red. F. lebt in Xanten u. ist Mitgl. des dt. P.E.N. Seit 1956 schreibt F. vornehmlich heitere, Faes, Urs, * 13.2.1947 Aarau/Schweiz. – meist realist. u. anspruchsvolle BilderbuchLyriker u. Prosaschriftsteller. texte, Kindergeschichten sowie Jugendromane. Die vier histor. Romane Das Jahr der Wölfe Nach dem Studium der Geschichte, Germa(Würzb. 1962. 131999), Kristina, vergiß nicht ... nistik u. Philosophie arbeitete F. zunächst als (Würzb. 1974. 91998). Der lange Weg des Lukas Grundschullehrer. In die Zürcher Zeit als B. (Würzb. 1980. 61999) u. Zeit zu hassen, Zeit Gymnasiallehrer fällt auch die Promotion zu lieben (Würzb. 1985. 61994) schildern das zum Dr. phil. Der Autor lebt heute in Zürich Schicksal einer ostpreuß. Handwerkerfamilie u. San Feliciano. Nach literar. Anfängen mit Gedichten (Eine von 1870 bis zur Gegenwart. F. versteht es hier, wie auch in seinen anderen Büchern, Kerbe am Mittag. Aarau 1975. Regenspur. Mutselbst schwierige u. bedrückende Themen wie tenz 1982) stehen in den ersten RomanpuKrieg, Vertreibung u. Flucht einfühlsam u. blikationen Protagonisten im Mittelpunkt, kindgerecht zu gestalten. Mit dieser »Ge- die durch Lebens- u. Arbeitsverhältnisse schichte von unten betrachtet« trug er ent- (Webfehler. Basel 1983) oder Schicksalsschläge scheidend zur Wiederentdeckung der histor. (Bis ans Ende der Erinnerung. Basel 1986) in eine Dimension in der deutschsprachigen Ju- Sinnkrise geraten. Dabei folgen die Gegendliteratur bei. F. erzählte auch berühmte schichten nicht einem chronolog. HandSagenstoffe für Kinder nach, so den des Ni- lungsverlauf, sondern setzen sich aus Bruchbelungenliedes in Siegfried von Xanten (Stgt. stücken von Erinnertem u. Reflexionen zu1987. 41990 u. ö.) u. Kriemhilds Rache (Stgt. sammen, was auch in späteren Romanen im1988. Würzb. 31999) sowie die Artussage in mer wieder zum Darstellungsprinzip wird. Der König und sein Zauberer (Würzb. 1993. Erzähltechnisch knüpft F. damit an die ReNeuausg. u. d. T. König Artus und sein Zauberer. zeption der literar. Moderne in der Schweiz durch Autoren wie Max Frisch oder Hans Würzb. 2004). F.s vielfach prämierte Kinder- u. Jugend- Rudolf Hilty an. Um den Zusammenhang von individueller bücher (u. a. 1980 Katholischer Jugendbuchpreis u. Österreichischer Staatspreis für Ju- Geschichte, Zeitgeschichte u. Gegenwart geht gendliteratur, 1981 Deutscher Jugendlitera- es in dem Roman Sommerwende (Ffm. 1989). turpreis) sind geprägt von einer christlich- Die drei Zeitebenen der Geschichte (1941, 1980er Jahre u. Gegenwart) fügen sich nicht humanen Grundhaltung. Weitere Werke: Es geschah im Nachbarhaus. nur zur Lebensgeschichte der Mutter des IchWürzb. 1968. 191993. 272000 (R.). – Der überaus Erzählers zusammen u. legen deren durch die starke Willibald. Würzb. 1983. 91999 (E.). – Gud- latente Nazi-Freundlichkeit der Dorfbewohrun. Eine alte Sage neu erzählt. Stgt. 1991 u. ö. (R.). ner bedingte maßgebl. Wendungen offen. – Meine Oma macht Gesch.n. Würzb. 1995. 1999. – Der Roman stellt auch eine AuseinandersetAls Oma das Papier noch bügelte. Erlebte Gesch.n. zung mit der Schweizer Geschichte u. Politik Kevelaer 1996. 2007. – Die Stunde der Lerche. während des Zweiten Weltkrieges dar u. Würzb. 2004. schließt an die literar. Aufarbeitungen der Literatur: Ralf Caspary: W. F. In: KLG. – Nazi-Zeit des gut eine Generation älteren Eberhard Streier: Die Beziehungen zwischen Jung Walter Matthias Diggelmann (Die Hinterlasu. Alt in Werken v. W. F. In: W. F. (Hg.): Die Jungen – die Alten. Mülheim 1997, S. 125–172. – Heinrich senschaft. 1965) u. Otto Friedrich Walters (Die Pleticha (Hg.): Bücher sind wie Flügel. Zum 70. Zeit des Fasans. 1988) an. Charakteristisch für F.’ Stil ist eine bewusst Geburtstag v. W. F. Würzb. 1999. – Malte Dahrendorf: Gesch. in Gesch.n. Zu W. F.s (zeit-)ge- einfache u. lakon. Sprache, der, wie schon in schichtl. Romanen. In: Aus ›Wundertüte‹ u. ›Zau- den frühen Romanen auch in Alphabet des Abschieds (Ffm. 1991), eine komplexe Erzählstruktur gegenübersteht. Die Vorgeschichte
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der Liebe zwischen Paul u. Nicole u. die zu- zugehen. Neben persönl. Verfehlungen des fällige Wiederbegegnung vor der anspie- Vaters wird am Rande auch sein Grenzdienst lungsreichen Trümmerlandschaft Roms wird während der Nazi-Zeit thematisiert, der eivon einem Erzähler berichtet, der diese »Ar- nen gewichtigen Teil des Generationenerbes chäologie der Erinnerung« mit dem Erzähl- ausmacht (»Wir tragen die Väterhypothek«). Eine wiss. Würdigung des F.’schen Werkes gestus des Wahrscheinlichen (»Denkbar wäre«) betreibt u. damit deutlich die The- steht noch aus. matik von Frischs Mein Name sei Gantenbein Weitere Werke: Der Traum vom Leben. Er(»Ich stelle mir vor«) anklingen lässt. zählungen. Basel 1983. – Augenblicke im Paradies. Das virtuose Spiel mit dem Leser durch Ffm. 1994 (R.). mehrfache Dimensionierung des Textes u. Literatur: Heinz Hug: U. F. In: KLG. – Rosder Thematisierung des Erzählvorganges marie Zeller: Der neue Roman in der Schweiz. selbst wird im Roman Ombra (Ffm. 1997) Freib./Schweiz 1992. – Marc Aeschbacher: Tendurch eine Buch-im-Buch-Konstruktion noch denzen der schweizer. Gegenwartslit. (1964–94). gesteigert. Auf der Suche nach seinem ver- Bern 1997. – Markus Bundi: U.F. In: LGL. Bernhard Walcher schwundenen Freund, dem Schriftsteller Lem Steffen, reist der Ich-Erzähler nach Umbrien u. findet dort die von seinem Freund halbFaesi, Robert, * 10.4.1883 Zürich, † 18.9. fertig zurückgelassene Biografie über den 1972 Zollikon bei Zürich. – Dramatiker, Renaissance-Maler Piero della Francesca. Die Lyriker, Erzähler; Literarhistoriker. Nachforschungen zu Lems Leben u. Verschwinden offenbaren für den Ich-Erzähler Der Spross eines reichen Zürcher Patriziereinen Unbekannten u. seine Schreibsituation geschlechts studierte nach der Matura ab wird der von Lem immer ähnlicher, der mit 1901 zunächst Jura, dann Germanistik in seiner Piero-Biografie über einen letztlich nur Lausanne, Zürich u. Berlin (Dr. phil. 1907). Er durch sein Werk fassbaren Künstler schreiben war Gymnasiallehrer in Zürich, reiste zu wollte. Die Idee der Parallelbiografie greift F. längeren Bildungsaufenthalten nach Paris, auch später in seinem Roman Als hätte die Stille London u. Moskau u. habilitierte sich 1911 in Türen (Ffm. 2005) noch einmal auf u. spiegelt Zürich für neuere dt. u. schweizerische Litedort die Ab- u. Hintergründe der Beziehung raturgeschichte. 1922 wurde er a. o. Prof., eines jungen Paares an der Liebesgeschichte 1943 o. Prof., 1953 emeritiert. Als Präsident des Komponisten Alban Berg mit Hanna bzw. Mitgl. zahlreicher kultureller Gremien Fuchs. (Schweizerischer Schriftsteller-Verein, Mit Und Ruth (Ffm. 2001. 2003) hat F. einen Schweizerische Schillerstiftung u. a.) spielte modernen Internatsroman geschrieben, in F. eine maßgebl. Rolle in der schweizerischen dem sein Zentralthema der Erinnerung von Literaturpolitik. Obwohl politisch eher konseiner Negation her beleuchtet wird: »Gibt es servativ, setzte er sich in der NS-Zeit verein Anrecht auf Vergessen«. Um diesen Satz schiedentlich für bedrohte dt. Exilautoren herum wird der lange zurückliegende ein. Als Literarhistoriker befasste er sich vorSelbstmord eines Internatsfreundes durch wiegend mit der traditionsverpflichteten den Ich-Erzähler nur schrittweise rekonstru- jüngeren Literatur (Rilke, Dehmel, Paul iert u. die Frage der persönl. Schuld aufge- Ernst, Thomas Mann) u. mit den Schweizer worfen. Zeitgenossen (Gestalten und Wandlungen In seinem jüngsten Roman (Liebesarchiv. schweizerischer Dichtung. Zürich 1922). Ffm. 2007) kehrt F. zu einer übersichtlicheF.s eigenes literar. Werk umfasst praktisch ren Erzählweise zurück. Der Ich-Erzähler u. alle Spielarten: von den klassizist. Tragödien Schriftsteller lernt nach einer Lesung die Odysseus und Nausikaa (Zürich 1911) u. Opferehemalige Geliebte seines verstorbenen Va- spiel (Zürich 1925) über Lustspiele wie Die ters u. später deren Tochter kennen, mit der Fassade (Bln. 1918) u. Leerlauf (Bln. 1929) bis er versucht, die Vergangenheit zu entschlüs- zum Kasperlespiel Dichternöte (Zürich 1921), seln u. damit seiner eigenen Identität nach- von expressionistisch angehauchter polit.
Faktor
Lyrik (Aus der Brandung. Lpz. 1917) über neuromant. Dichtungen in der Nachbarschaft Dehmels u. Rilkes (Der brennende Busch. Zürich 1926. Das Antlitz der Erde. Frauenfeld/Lpz. 1936) bis zu humoristischen u. parodist. Versen in der Nachfolge Wilhelm Buschs (Ungereimte Welt gereimt. Zürich 1946). Als Erzähler gestaltete F., der 1908 mit der historisierenden Zürcher Idylle debütierte, primär die Geschichte seiner Vaterstadt, die er in der Romantrilogie Die Stadt der Väter (Zürich 1941), Die Stadt der Freiheit (Zürich 1944) u. Die Stadt des Friedens (Zürich 1952) aus dem Blickwinkel des staatstreuen konservativen Bürgers für die Zeit zwischen dem Ancien régime u. 1848 literarisch aufarbeitete. Von Bedeutung für das schweizerische Selbstverständnis im Ersten Weltkrieg u. für die sog. »geistige Landesverteidigung« im Zweiten Weltkrieg war auch F.s patriot. Erzählung Füsilier Wipf (Frauenfeld 1917), die durch ihre Verfilmung 1938 zu seinem populärsten Werk avancierte. Weitere Werke: Die offenen Türen. Bln. 1912 (D.). – Das poet. Zürich. Miniaturen aus dem 18. Jh. (zus. mit Eduard Korrodi). Zürich 1913 – Der König v. Sainte-Pélagie. Lpz. 1924 (E.). – Tag unsres Volks. Frauenfeld 1939 (Kantate). – Alles Korn meinet Weizen. Zürich 1961 (R.). – Erlebnisse, Ergebnisse. Zürich 1963 (Autobiogr.). – R. F. (Hg.): Thomas Mann – R. F.: Briefw. Zürich 1962. Literatur: Peter Stadler: R. F. (1883–1972) u. Jakob Bührer (1882–1975). Kulturpolit. Doppelprofil zweier literar. Zeitgenossen. Zürich 1994. – André Bucher: Zur Rezeption der klass. Moderne in der Schweizer Germanistik: Untersuchungen zu Ermatinger, F., Muschg u. Staiger. In: Schreiben gegen die Moderne. Hg. Corina Caduff u. Michael Gamper. Zürich 2001, S. 65–83. – Internat. Germanistenlexikon. Hg. Christoph König. Bd. 1, Bln./ New York. Charles Linsmayer / Red.
Faktor, Jan, * 3.11.1951 Prag. – Verfasser von Essays, experimenteller Lyrik u. von Romanen. F. studierte Datenverarbeitung u. arbeitete von 1973 bis 1978 als Operator u. Programmierer in Prag. 1978 siedelte er in die DDR über. In Ostberlin war er als Schlosser, Kindergärtner u. Übersetzer tätig. F. war bis 1989 stark in der alternativen Literaturszene
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engagiert, von der er sich aber wegen ihrer polit. Enthaltsamkeit distanzierte. 1989 war er Mitarbeiter des Rundbriefs des Neuen Forums, später Mitarbeiter der Zeitung »Die Andere«. Ebenfalls 1989 wurde F. Mitgl. des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie. Seine experimentellen Texte wurden u. d. T. Georgs Versuche an einem Gedicht u. andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens (Bln. 1989) von Gerhard Wolf in der Reihe des AufbauVerlages Außer der Reihe herausgegeben. F.s Lyrik u. serielle Prosa orientierte sich am Dadaismus u. an den Sprachspielen Ernst Jandls. Anfangs noch auf Tschechisch schreibend, dekonstruierte F. die Syntax des Deutschen u. baute sie zu neuen, überraschenden Formen zusammen. Für seine Körpertexte (Bln. 1993) erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis. Sein Debütroman Schornstein (Köln 2006) wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis 2005 ausgezeichnet. Dem an einer seltenen Stoffwechselkrankheit erkrankten Protagonisten Schornstein wird von der Krankenkasse die nötige Therapie verweigert. Der Kampf für Gerechtigkeit verursacht eine innere Krise des Helden, der als »Einzelfall« mit Ironie um seine Selbstbehauptung ringen muss. Der in einem lakon. Ton gehaltene Roman lässt sich in die Gattung der Pikaroromane einreihen; seine Hauptfigur erinnert an Kleists Michael Kohlhaas u. an den Soldaten Schweijk. Weitere Werke: Henry’s Jupitergestik in der Blutlache Nr. 3 u. andere positive Texte aus Georgs Besudelungs- u. Selbstbesudelungskabinett. Bln. 1991 (Texte, Manifeste, Stücke). – Die Leute trinken zuviel, kommen gleich mit Flaschen an oder melden sich gar nicht oder Georgs Abschiede u. Atempausen nach dem verhinderten Werdegang zum Arrogator eines Literaturstosstrupps. Bln. 1995 (Körpertexte, Sprechtexte, Ess.s). – Fremd im eigenen Land? Gießen 2000 (Ess.s; zus. mit Annette Simon). Literatur: Eberhard Falcke: J. F. In: LGL. – Jörg Magenau: In überlebensnotwendiger Distanz. J. F. u. sein Roman› Schornstein‹. In: Wespennest 142 (2006), S. 75–81. Michael Rölcke
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Falckenberg, Otto, auch: Peter Luft, * 5.10.1873 Koblenz, † 25.12.1947 Starnberg; Grabstätte: ebd. Städtischer Friedhof. – Regisseur, Theaterleiter, Schauspielpädagoge.
Falckh Weitere Werke: Unecht. Bln. 1894 (naturalist. Einakter). – Schluß. Bln. 1895 (N.). – Erlösung. Mchn. 1898 (D.). – Morgenlieder. Lpz. 1899. – Der Sieger. Mchn./Lpz. 1906 (dramat. G.). – Texte für ›Die Elf Scharfrichter‹ Mchn. 1901–03. – Herausgeber: Friedrich v. Schiller. Dt. Dramaturgie. Bd. 2, Mchn. u. Lpz. 1909. – Die Fahrt ins Wunderbare. Märchen dt. Dichter. Mchn. 1911. Literatur: Wolfgang Petzet: O. F. Mein Leben – Mein Theater. Mchn. 1944. – Hans Gebhart: Über die Kunst des Schauspielers. Gespräche mit O. F. Mchn. 1949. – Wolfgang Petzet: Theater. Die Münchner Kammerspiele 1911–72. Mchn. 1973. – Friederike Euler: Der Regisseur u. Schauspielerpädagoge O. F. Diss. Mchn. 1976. – Dies.: Theater zwischen Anpassung u. Widerstand. Die Münchner Kammerspiele im Dritten Reich. In: Bayern in der NS-Zeit. Bd. 2, Mchn./Wien 1979. – Birgit Pargner: O. F. Regiepoet der Münchner Kammerspiele. Hg. vom Deutschen Theatermuseum München. Lpz. 2005. Friederike Euler / Red.
F. entstammte einem gut situierten bürgerl. Elternhaus (Musikalienhandel u. -verlag), was ihm zunächst ein ungebundenes Dasein als Schriftsteller, Laienregisseur u. Kunstliebhaber erlaubte. Nach Gymnasium in Koblenz u. Universität in Berlin u. München nahm er aktiv am Kulturleben Münchens teil, das seine Wahlheimat wurde u. blieb (Mitarbeit im Akademisch-Dramatischen Verein; Mitbegründer des Goethebundes u. des literar. Kabaretts »Die Elf Scharfrichter«). 1914 hatte F. sein Regiedebüt an den Münchner Kammerspielen, wo er ab 1915 Spielleiter u. Dramaturg sowie von 1917–1944 Intendant war u. insg. 125 Inszenierungen (davon 30 Uraufführungen) betreute. F. zählt zu den Falckh, Falck, Falk, Joseph Alois, * 23.3. Wegbereitern Strindbergs u. anderer zeitge- 1803 Weinheim/Baden, † 1.2.1830 nöss. Autoren, auch der expressionist. Mo- Mannheim. – Verfasser historischer Roderne; daneben widmete er sich dem Volks-, mane. Boulevard- u. Historienstück, pflegte aber F. wurde als drittes u. letztes Kind des in zunehmend Klassiker der Weltliteratur. Als Regisseur vertrat F. die Maxime der Weinheim als Stadtphysikus praktizierenden Werktreue. Hervorgehoben wurden seine Arztes Alois Falckh u. seiner aus Aschaffeneinfühlsame Führung der Darsteller, Förde- burg stammenden Frau Marie Antonia (geb. Erbs) geboren. Die wenigen biogr. Quellen rung junger Talente, konsequente Ensemerwähnen einhellig sein Lungenleiden u. den blepflege, auch theoretisch-prakt. Bemühunvon früher Kindheit an schwächl. Gesundgen um die Schauspielerausbildung u. -erheitszustand. Mit knapp 16 Jahren wurde er ziehung. Als freier Autor (1894–1914) u. von seinem Vater am 16.11.1818 an der UniVerfasser verschiedener epischer, lyr. u. draversität Heidelberg immatrikuliert, wo er in mat. Werke hatte F. sich vom Naturalismus den Matrikeln nochmals am 5.5.1822 mit zur Neuromantik hin entwickelt, wobei er dem Vermerk »renovirt« erwähnt wird, was gern volkstümlich-komödiantische u. mär- darauf hindeutet, dass F. sein Studium ofchenhafte Motive adaptierte. Weiterwirkende fenbar für einige Semester unterbrach u. als Resonanz fanden zwei Arbeiten: Ein deutsches schon einmal Immatrikulierter dann zu einer Weihnachtsspiel (Mchn. u. Lpz. 1907. Urauff. »ermäßigten Gebühr« aufgenommen wurde. Mchn. 1906; Musik v. Bernhard Stavenhagen) In das Jahr 1822 fallen auch der Tod des Vasowie Doktor Eisenbart (Mchn. u. Lpz. 1907. ters u. die (anonyme) Publikation seines ersUrauff. Mannh. 1908), eine Komödie in vier ten Romans (Geschichte der Familie Veits von Aufzügen. Das Stück, in dem sich Motive aus Helmenrodt. Eine wahre Geschichte des 12ten der dt. Volksdichtung u. Machiavellis Man- Jahrhunderts. 2 Tle., Lpz. 1822. 21824). Sein dragola mischen, bezeichnete Lion Feucht- Studium hat F. nicht abgeschlossen, denn wanger als »heiter-tiefe Komödie, gesegnet kurz nach dem Tod des Vaters übersiedelte von allen guten Geistern früher deutscher die Mutter 1823 mit den drei Kindern nach Mannheim. In rascher Folge entstanden hier Kunst« (Rheinische Thalia, 14.5.1922).
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bis zu F.s Tod 15 weitere, meist mehrbändige etolog. Beiträgen zum histor. Roman einen Romane, die eine intensive Auseinanderset- prominenten Platz einnimmt. Wenngleich die Forschung zum Roman des zung mit dem histor. Roman nach Scott’schem Muster erkennen lassen, dessen Re- 19. Jh. erheblich an Profil gewonnen hat, so zeption seit den 1820er Jahren weite Bereiche stehen Detailuntersuchungen u. -interpretades literar. Lebens erfasste. Ähnlich wie in tionen zu einzelnen, heute weitgehend verseinem Erstling bildet auch in seinem zwei- gessenen Autoren wie F. noch aus. Weitere Werke: Pater Seraphim oder Leben u. ten, ebenfalls anonym erschienenen Roman (Adolph von Bomsen und seine treue Idda oder merkwürdige Erfahrungen eines Augustiners. Eine Ritterkraft und Mönchslist. Aus den Zeiten der Erz. aus der letzten Hälfte des achtzehnten Jh. heiligen Vehme. Mannh. 1824) eine Familien- Mannh. 1828. – Alonso di Moro, genannt Der heulende Abbadonna oder die Teufelsmühle in den geschichte vor der Kulisse des späten MA den Apenninen. Räuberroman. 2 Tle., Mannh. 1828. – Ausgangspunkt für ein Sittengemälde, das Graf Isidro de la Barka oder Span. National- u. sich in der kontrastiven Darstellung von so- Hofleben. Ein Gemälde aus der ersten Hälfte des zialen Zentralbegriffen wie Tugend u. Laster, achtzehnten Jh. Mannh. 1830. Vergebung u. Rache entfaltet. Literatur: H. Stubenrauch: Der fruchtbarste Ufo von Freysingen oder Die durch Zauberkraft Mannheimer Dichter. In: Neue Mannheimer Ztg. blank gewordene Rüstung. Eine Rittergeschichte aus Nr. 54, 1.2.1930 (o. S.), darauf beruhend: W. den Zeiten der Kreuzzüge (Mannh. 1824) bildet Oeftering: Gesch. der Lit. in Baden, Tl. 2, Karlsr. den Auftakt zu einer Reihe von drei Roma- 1937, S. 124 f. – Hermann J. Sottong: Transformanen, die einen gemeinsamen zeitgeschichtl. tion u. Reaktion. Histor. Erzählen v. der Goethezeit zum Realismus. Mchn. 1992. – Hartmut Vollmer: Hintergrund besitzen u. gattungstypologisch Der deutschsprachige Roman 1815–20. Bestand, an ältere Muster des Abenteuer- u. (romanti- Entwicklung, Gattungen, Rolle u. Bedeutung in schen) Geisterromans anknüpfen, wie sie F. der Lit. u. in der Zeit. Mchn. 1993. – Norbert Otto sicherlich von den gut zwei Generationen äl- Eke u. Hartmut Steinecke (Hg.): Gesch.n aus der teren Autoren (darunter Julius Voß u. Chris- Gesch. Zum Stand des histor. Erzählens im toph Hildebrandt) kannte. Seine Anonymität Dtschld. der frühen Restaurationszeit. Mchn. 1994. Bernhard Walcher gab F. – offenbar ermuntert durch die Erfolge – erst mit seinem achten Roman auf (Gunhilde die Wilde oder Das Waldkapellchen im Hubthale Falk, Gunter, * 26.10.1942 Graz, † 25.12. am Rheine. Eine Sage aus den Zeiten des Faust- 1983 Graz; Grabstätte: ebd., Kalvarienbergfriedhof. – Verfasser von Lyrik u. rechts. Lpz. 1827). Deutlichen Gegenwartsbezug – trotz des Kurzprosa. histor. Stoffes aus dem 16. Jh. – weist der F. studierte Soziologie, Philosophie, Zoologie Roman Paul Juranitsch oder Die Türken vor Si- u. Mathematik u. promovierte 1967 mit einer geth. Ein historisch-romantisches Helden-Gemälde Arbeit über Spielsysteme und Spielverhalten; er aus dem sechzehnten Jahrhundert (2 Tle., Mannh. arbeitete als Assistent am Institut für Sozio1828) auf. Als Schreibanlass nennt F. im logie der Universität Wien, ab 1969 an der Vorwort »die neuesten Zeitereignisse, welche Universität Graz, wo er sich 1980 habilitierte. die Aufmerksamkeit des Publikums so allge- Neben zahlreichen wiss. Publikationen vermein auf jenes barbarische Mischlingsvolk, öffentlichte F. drei Bücher mit Prosatexten u. der Türken, hinlenken«, u. meint damit die Lyrik. Er war Mitgl. der Grazer Autorenverrussisch-türk. Auseinandersetzungen um den sammlung u. des Forum Stadtpark u. publiStatus von Griechenland. Zwar benutzt F. zierte seit 1963 in der Zeitschrift »manuTheodor Körners Erfolgsdrama Zrinyi (1812) skripte«. Der Wiener Gruppe nahestehend, als Vorlage, doch organisiert er den histor. veranstaltete F. in den 1960er Jahren AktiStoff nicht um den ungar. Nationalhelden onstheater u. Happenings u. a. mit Wolfgang Graf Zrinyi, sondern um den ungar. Haupt- Bauer, Oswald Wiener u. Otto Mühl. mann Paul Juranitsch u. folgt damit dem Den innovativen sprachkrit. Ansatz von Ideal des »mittleren Helden«, das in den po- Konrad Bayer u. Gerhard Rühm setzte F. fort.
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Er schrieb Montage-Texte, Dialektgedichte u. Experimentelle. G. F.s u. Reinhard Priessnitz’ experimentierte mit dem Wortmaterial der Verhältnis zu Theorie u. Dichtung. Ebd., Comic-Sprechblasen. Bei äußerster Einfach- S. 63–106. – D. Bartens u. G. Fuchs: Bibliogr. G. F. heit erreichten seine Texte ein hohes Maß an Ebd., S. 244–276. – Dies.: ›Überraschungen sind eingeschlossen‹. Spielbegriff u. Literaturauffassung Irritation. Er probierte aus, wie Bedeutungen des Grazer Autors G. F. im Spannungsfeld v. Dezustande kommen u. wie die gesellschaftl. terminismus u. Kontingenz. Ebd., S. 120–140. Wirklichkeit »gemacht« ist; wobei er sich auf Kristina Pfoser-Schewig / Red. das Eigengewicht der Sprache u. ihrer Klischees konzentrierte. In seinen kurzen Pro- Falk, Johann(es) Daniel, auch: Johannes satexten (Der Pfau ist ein stolzes Tier. Brühl von der Ostsee, * 26.10.1768 Danzig, 1965) spielt er mit Konventionen, Phrasen, † 14.2.1826 Weimar; Grabstätte: ebd., Genres u. vorgefertigten Sprachteilen, die Alter Friedhof. – Schriftsteller, Diplomat durch Wiederholung, Umstellung, Häufung u. Pädagoge. u. sinnlose Aneinanderreihung verschiedene Deutungsmöglichkeiten entstehen lassen. In Aufgewachsen in einem pietist. Elternhaus – seinem zweiten Band (Die Würfel in manchen der Vater war Perückenmacher – u. beeinSätzen. Alle Texte 1961–1977 in zur Chronologie flusst von seinem aufgeklärten Gemeindeumgekehrter Reihenfolge. Spenge 1977) begann pastor S. L. Majewski konnte der wissensF. die Reihe seiner »Franz«-Geschichten: In durstige F. mit Hilfe eines Stipendiums des diesen Texten, die auf Selbstbeobachtung Danziger Rats 1791 in Halle das Studium der beruhen, werden innere Zustände wie Theologie aufnehmen; er wechselte jedoch Schmerz, Unruhe, Organempfindungen re- bald zur antiken u. neueren Literatur. 1797 flektiert. Weitere Geschichten von »Franz« heiratete F. Caroline Rosenfeld; im gleichen finden sich in seiner letzten literar. Publika- Jahr siedelte er nach Weimar über u. hatte tion (Die dunkle Seite des Würfels. Alle Texte dort u. a. Umgang mit Wieland, Herder u. Goethe. 1806 (u. noch einmal 1813) erwarb 1977–1983 in zur Chronologie umgekehrter Reisich F. große Verdienste, als er als Dolmethenfolge. Spenge 1983), doch überwiegen hier scher die Plünderung größerer Teile der Stadt lyr. Formen: Mit dem Haiku hatte F. eine für durch die napoleon. Truppen verhinderte; er ihn neue Form gefunden. Hier konnte er wurde dafür zum Legationsrat ernannt. 1813 seinen experimentierenden Umgang mit gründete er die »Gesellschaft der Freunde in Sprache fortsetzen, indem er sich auf ein in der Not« (auch »Falksches Institut« genannt), hohem Maße reduziertes Wortmaterial bewelche sich verwaister u. verwahrloster Kinschränkte. der annahm. Mit seiner von lebendigem 1977 erhielt F. das Österreichische StaatsGlauben getragenen sozialkaritativen Tätigstipendium für Literatur; 1984 wurde ihm keit wurde F. zu einem Vorläufer der evang. postum der Literaturpreis des Landes Steier- »inneren Mission«. mark zugesprochen. Die literar. Laufbahn F.s spiegelt die EntAusgaben: Unveröffentlichte Texte aus dem wicklungslinien u. Brüche seiner Epoche wiNachl. In: Manuskripte (1999), H. 143, S. 96–102. – der: Die in juvenalischem Stil gehaltenen Lauf wenn du kannst. Alle Texte. Hg. Günter Verssatiren der Anfangszeit – etwa die von Eichberger. Klagenf./Wien 2006. Wieland mit wohlwollendem Kommentar Literatur: Heinz Steinert: G. F.s theatral. Sen- 1796 im »Teutschen Merkur« abgedruckte dung. In: G. F. Hg. Daniela Bartens u. Klaus Kastantimilitarist. Satire Die Helden – weisen ihn berger. Graz 2000, S. 187–201. – Wilhelm Hengstnoch als Aufklärer aus. In Weimar war er ler: Bad science and happy attitude. Ebd., philosophisch-weltanschaulich an Herder, S. 202–216. – Gerhard Fuchs: ›Schweinsbrust mit Leberfülle warf ihm hundert Rindsrouladen zu‹. dichterisch zunehmend an Goethe orientiert; Intertextualität bei G. F. Ebd., S. 36–62. – Günter die anfänglich strikte Gegnerschaft zu den Eichberger: Denk-Male oder Kommen u. Gehen. Romantikern bildete zunächst den Grundzug Anekdoten über / Texte v. / Komm.e zu G. F. Ebd., seiner literar. Tätigkeit. Zu den wichtigsten S. 19–34. – Thomas Eder: Experimente wider das Publikationen dieses Zeitraums zählen das
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Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire Entstehungsgesch. v. Kleists ›Amphitryon‹. In: (7 Bde., Lpz./Weimar 1797–1803) u. das dra- JbDSG 13 (1969), S. 361–396. – Trude Reis: J. F. als mat. Gedicht Prometheus (Tüb. 1803). Ab Erzieher verwahrloster Jugend. Ffm./Bln. 1931. – 1802, als F. vermehrten Umgang mit Goethe Richard J. Allen: J. D. F. and the Tradition of German Satire. Diss. Baltimore 1969. – Paul Saupe: J. pflegte, ergriff er unter dessen Einfluss Partei D. F. 1768–1826. Weimar 1979. – Johannes Defür die Romantiker. Als Anhänger einer mandt: J. D. F. Sein Weg v. Danzig über Halle nach klassizist. Kunst- u. Dichtungstheorie trat F. Weimar (1768–99). In: AGP 36 (1999) (Lit.). – Ders.: in den Kleinen Abhandlungen die Poesie und Kunst J. D. F.s Begegnungen mit Frau v. Krüdener u. ihr betreffend (Weimar 1803) hervor. Nach seiner Gespräch über Goethe. In: Frömmigkeit unter den Hinwendung zur Kinderfürsorge (1813) ver- Bedingungen der Neuzeit. FS G. A. Benrath. Hg. fasste F. mehrere pädagog. Schriften, wid- Reiner Braun u. Wolf-Friedrich Schäufele. Darmst./ mete sich aber auch dem religiösen Volkslied Kassel u. Karlsr. 2001, S. 225–236. – Ders.: J. D. F.s zur prakt. Verwendung in seinem Institut; in Verhältnis zum christl. Glauben. In: PuN 33 (2007), S. 148–165. Ernst Fischer / Johannes Demandt diesem Zusammenhang entstand das Weihnachtslied O du fröhliche. F. fand lange Zeit ausschließlich als »Nebenfigur« der Weimarer Klassik literarhistor. Falke, Gustav, * 11.1.1853 Lübeck, † 8.2. Beachtung, als Autor der Schrift Goethe aus 1916 Großborstel bei Hamburg; Grabnäherm persönlichen Umgange dargestellt (Lpz. stätte: Hamburg, Ohlsdorfer Friedhof. – 1832. Neudr. Hildesh. 1977), in welcher er Lyriker, Erzähler u. Jugendbuchautor. ein weitgehend authentisches Zeugnis ihrer Der Lübecker Kaufmannssohn entstammte Gespräche gibt. Neues Interesse weckte der einer den Wissenschaften u. Künsten aufgeNachweis der Parallelen u. Abhängigkeiten schlossenen Familie, aus der ein Onkel, Jodes Kleist’schen Amphitryon von der vorgänhannes, sich als Historiker u. Archivar in gigen Bearbeitung des Stoffes durch F. (AmDresden einen Namen machte, ein anderer, phitruon. Halle 1804. Neuausg. hg. v. Helmut Jakob, als Kunsthistoriker u. Konservator am Sembdner. Bln. 1971). Germanischen Museum in Nürnberg. F.s Weitere Werke: Die hl. Gräber zu Kom u. die Stiefvater (seit 1862), der Kaufmann HerGebete. Lpz. 1796 (Verssatiren). – Der Mensch u. mann Stahl, willigte allerdings in F.s früh die Helden. Zwei satir. Gedichte. Lpz. 1798. – Lebekundeten Wunsch, Musik oder Literatur zu ben, wunderbare Reisen u. Irrfahrten des Johannes v. der Ostsee. Bd. 1 (mehr nicht ersch.), Tüb. 1805 studieren, nicht ein u. schickte ihn 1868 nach (Briefroman). – Elysium u. Tartarus. Eine Ztg. für dem Besuch des Realgymnasiums in die Poesie, Kunst u. neuere Zeitgesch., auf das Jahr Buchhandelslehre nach Hamburg. Nach 1806. – Coriolan frey nach Shakespeare. Amsterd./ Ausbruch des Krieges von 1870 verließ F. Lpz. 1812 (D.). – Kriegsbüchlein. Lpz. 1815. Neu- Hamburg u. arbeitete in den folgenden Jahausg. 1911. – Aufruf, zunächst an die Landstände ren als Buchhändlergehilfe in Essen, Stutt[...], Lpz. 1818 – Auserlesene Werke. 3 Bde., Lpz. gart u. Hildburghausen. Dem Ruf der Mutter 1819. – Dr. Martin Luther u. die Reformation in folgend, die sich von ihrem zweiten Mann Volksliedern. Lpz. 1830. – Reise nach Jena u. Wei- nach einer wenig glückl. Ehe trennte, kehrte mar im Jahre 1794. Hg. Heinrich Döring. Lpz. er 1878 nach Hamburg zurück u. wurde dort 1857. Neuausg. Jena 1913. – Geheimes Tgb. oder nach intensivem Privatstudium bei dem anmein Leben vor Gott. Hg. Ernst Schering. Stgt. gesehenen Musikpädagogen Emil Krause 1964. – Pädagog. Schr.en. Hg. ders. Stgt. 1967. – Die Prinzessin mit dem Schweinerüssel. Lustspiele, Klavierlehrer. Dieser Tätigkeit ging er bis Gedichte, Publizistik. Hg. Paul Saupe. Bln./DDR 1903 nach. 1884 hatte er sich mit seiner Schülerin, Anna Theen, verlobt, die er dann 1988. Literatur: Heinrich Döring: Lebensumrisse F.s. nach vier Jahren heiratete (vier Kinder). Zu F.s Quedlinb. 1840. – Ernst Witte: F. u. Goethe. Diss. 50. Geburtstag setzte ihm der Senat der Stadt Rostock 1912. – Ernst Schering: J. F. Leben u. Hamburg eine jährl. Ehrenpension von 3000 Wirken im Umbruch der Zeiten. Stgt. 1961 (mit Mark aus, sodass er sich ganz dem dichter. Werkausw.). – Helmut Sembdner: Kleist u. F. Zur Schaffen widmen konnte.
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Das literar. Debüt erfolgte 1890 in der von Roman Der Mann im Nebel (Hbg. 1899). Im Otto von Leixner herausgegebenen »Deut- Ersten Weltkrieg erlag F. der nationalist. schen Romanzeitung«. F.s eigentl. Entdecker Stimmung u. beteiligte sich mit seinen Gewar Detlev von Liliencron, der im selben Jahr dichten am ideolog. Kriegsdienst, wofür er auf seine Gedichte in Karl Emil Franzos’ 1915, dem Erscheinungsjahr von Vaterland, »Deutscher Dichtung« u. in Karl Bleibtreus heilig Land. Kriegslieder (Lpz.), von Wilhelm II. »Gesellschaft« aufmerksam geworden war, den Roten Adlerorden erhielt. ihn zum Dichten ermunterte u. sich für ihn Weitere Werke: Aus dem Durchschnitt. Bln. auch öffentlich einsetzte. Dem Impressionis- 1892 (R.). – Tanz u. Andacht. Bln. 1893 (L.). – mus Liliencrons, dem F. seinen ersten Ge- Zwischen zwei Nächten. Stgt. 1894 (L.). – Neue dichtband Mynheer der Tod (Dresden 1891) Fahrt. Bln. 1897 (L.). – Mit dem Leben. Hbg. 1899 zugeeignet hatte, blieb er in Stimmung u. (L.). – Hohe Sommertage. Hbg. 1902 (L.). – Ausgew. Farbe seiner Lyrik zeitlebens verpflichtet. Gedichte. Hbg. 1905. – En Handvull Appeln. Plattdt. Rimels vor unse Görn. Hbg. 1906. – Frohe Unübersehbar sind bei ihm aber auch starke Fracht. Hbg. 1907 (L.). – Die Kinder aus Ohlsens Anklänge an Autoren, die ganz dem 19. Jh. Gang. Bln. 1908 (R.). – Der Spanier. Bln. 1910 (N.). zugehören (wie Mörike, Eichendorff, Keller, – Ges. Dichtungen. 5 Bde., Hbg. 1912. – KriegsStorm, Meyer u. Geibel). So hielt sich F. aus dichtungen. 8 H.e., Hbg. 1914–17. – Das Leben den literar. Kämpfen u. Auseinandersetzun- lebt. Letzte Gedichte. Bln. 1916. gen seiner Zeit auffallend heraus. Dem AnLiteratur: Ernst Ludwig Schellenberg: G. F. als spruch der »jungen« expressionist. Literatur, Lyriker. Lpz. 1908. – Oscar Ludwig Brandt: G. F. sich der Wirklichkeit zu stellen, stand F. re- Hbg. 1917. – Heinrich Spiero: G. F. Braunschw. serviert gegenüber, seine autobiogr. Schrift 1928. – Karl Oppert: G. F. zum Gedächtnis. In: Die Stadt mit den goldenen Türmen (Bln. 1912) ist Euph. 47 (1953), S. 68–78. – Joachim Mueller (Hg.): ein unverhohlenes Bekenntnis zur Wirklich- Die Akten G. F. u. Max Dauthendey. Weimar 1970. keitsferne seiner Lyrik. In F.s ästhetisch-lite- – Jürgen Viering: Eine Pantomime der Sehnsucht. Über G. F.s ›Zwei‹. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. rarischem Selbstverständnis war die OpposiHarald Hartung. Bd. 6, Stgt. 1983, S. 43–52. – tion von Kunst u. Leben fundamental; sie Gerhard Steiner: Stille Dächer – zarte Liebe. Die durchzieht leitmotivisch sein dichterisches Jugendzeit des Dichters G. F. in Hildburghausen. Schaffen, in dem er Zuflucht vor Erfahrungen Hildburghausen 1994. Marek Zybura / Red. des Tages suchte. Der Anlehnung ans Volkslied verdanken sich die Musikalität u. Naturverbundenheit seiner Gedichte. Der Falke, Konrad, eigentl.: Karl Frey, * 19.3. volkstüml. Ton korrespondiert mit dem Lob 1880 Aarau, † 28.4.1942 Eustis/Florida. – des häusl. Alltags inmitten des engeren Erzähler u. Essayist. Kreises des heimischen Herdes. In dieser von konservativer Bürgerlichkeit geprägten äs- Der Sohn vermögender Eltern arbeitete nach thetischen u. psych. Disposition F.s liegt sein juristischen, philolog. u. philosoph. Studien Versagen als Autor naturalistischer Zeitprosa in Neuenburg, Heidelberg u. Zürich (Dr. phil. begründet. In seinem wichtigsten Roman 1903) einige Zeit als Literaturdozent in ZüLanden und Stranden (2 Bde., Bln. 1895), einem rich, um ab 1912 abwechselnd in Italien u. am Panorama der Hamburger Welt in ihrem Zürichsee das Leben eines freien SchriftstelGeschäfts- u. Künstlermilieu, ihren Alster- lers u. Gelehrten zu führen. Schon früh griff villen der Reichen u. den bunten Szenen von er mit mutigen u. unorthodoxen StellungSt. Pauli, vermochte sich F. zur modernen nahmen in die politische u. kulturelle Dis»konsequenten« Schreibweise nicht durch- kussion seiner Zeit ein. 1914–1918 gehörte er zuringen u. beließ es bei realist. Details. Von zu den erklärten Gegnern des dt. Imperialisseinen naturalist. Versuchen distanzierte sich mus, u. ab 1933 setzte er sich in Artikeln u. F. dann auch selber: »Ja, es steckt viel Beob- Reden kompromisslos wie kaum ein anderer achtung darin. Aber es ist doch nichts mit Schweizer gegen den Faschismus zur Wehr. diesem nüchternen Realismus« – so in seinem Wichtig wurde in dieser Frontstellung die anderen, unter Nietzsches Zeichen stehenden von F. u. Thomas Mann gegründete Exil-
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zeitschrift »Mass und Wert«, die von 1937 bis 1940 in Zürich erschien. Dass F. von den Nationalsozialisten ernst genommen wurde, belegt die Tatsache, dass sein Essay Machtwille und Menschenwürde (Zürich 1934) 1937 auf der »Liste schädlichen und unerwünschten Schrifttums« figurierte. Literarisch hatte F. früh als Dramatiker debütiert, geriet aber mit seinen einer klassizistisch-idealist. Tradition verpflichteten Schauspielen immer mehr in den Windschatten der zeitgenöss. Bühnenpraxis. Das änderte sich auch nicht, als er 1930–1933 seine dramat. Produktion auf eigene Kosten in fünf Bänden drucken ließ. Gewichtiger ist seine Leistung als Erzähler, die in zwei großen, zweibändigen Romanen gipfelte: Der Kinderkreuzzug. Ein Roman der Sehnsucht (Zürich 1924. 31934), eine ins Historische des MA verlegte Utopie, u. Jesus von Nazareth (postum Zürich 1950), eine undogmat. Interpretation von Jesu Leben u. Wirken. Beide Werke zeugen von der religiösen Dimension seines humanen Idealismus u. gestalten seinen Glauben an eine Veränderbarkeit der Menschenwelt. Weitere Werke: Francesca da Rimini. Aarau 1904 (D.). – Dichtungen. Aarau 1904 (L.). – Die ewige Tragödie. Zürich 1909 (3 Einakterzyklen). – Im Banne der Jungfrau. Zürich 1909 (Ess.). – Carmina Romana. Zürich 1910 (L.). – Kainz als Hamlet. Zürich 1911 (Ess.). – Astorre. Zürich 1912 (D.). – Der schweizer. Kulturwille. Zürich 1914 (Ess.). – San Salvatore. Zürich 1916 (E.). – Die Gefahren der Schweiz. Zürich 1918 (Ess.). – Dantes Divina Commedia. Zürich 1921. 21947 (Übers.). – Marienlegenden. Zürich 1926 (Übers.). – Schicksalswende. Zürich 1932 (Ess.). – Was geht vor in der Welt? Zürich 1938 (Ess.). Literatur: Zeno Inderbitzin: K. F. Sein Leben, seine Werke. Diss. Luzern 1958. – Thomas Baltensweiler: Mass u. Wert – Die Exilztschr. v. Thomas Mann u. K. F. Bern 1996. Charles Linsmayer / Red.
Falkner, Gerhard, * 15.3.1951 Schwabach. – Lyriker, Verfasser von Kurzprosa u. Theaterstücken. F. verbrachte Kindheit u. Jugend in Franken, u. a. in Nürnberg. Stipendien ermöglichten ihm längere Aufenthalte in den USA (1981),
in Berlin (1983), Amsterdam (1985) u. Rom (1986); heute lebt F. in Berlin. Bereits seine erste Veröffentlichung, der Gedichtband so beginnen am körper die tage (Privatdr. Nürnb. 1978. Darmst./Neuwied 1981. 1984. Mchn. 2007), lässt eine Art Dichtungsprogramm ahnen, das, zwischen den drei Polen Körperlichkeit, Sprachkritik u. Politik, bis heute sichtbar ist. Dem Literaturbetrieb seiner Jugend, der vom lyr. Dokumentarismus u. neuer Subjektivität wie von z.T. auch polit. Lyrik geprägt ist, setzt er eine »Ästhetik des Choks« entgegen, die sich an Benjamin u. der Beat-Generation orientiert. Elitär u. schroff wendet sich F. gegen eine Poesie des »geistigen Mittelstandes«, publiziert zunächst in Zeitschriften wie den »Nürnberger Blättern« (Aufzeichnungen aus einem kalten Vierteljahr. Nr. 4, 1978), dann in vielen sog. »Künstlerbüchern« (ich verlasse, julia, dein land, mit Peter Kampehl 1980. silent rooms, zus. M. Ralf Kehrbach. Bln. 1987). Die Kritik nimmt den elitären Gestus F.s bereitwillig auf, spricht von »hochkarätigen Wortskulpturen« u. »kantiger Tektonik«, kann aber oft nicht erkennen, dass F. hinter der elitären Maske eher einer erhöhten Sensitivität das Wort redet. In dem Gedichtband der atem unter der erde (Darmst./Neuwied 1984) wie auch in dem ersten Kurzprosaband Berlin – Eisenherzbriefe (Darmst./Neuwied 1987) ist es die gleichzeitig nach innen u. außen gerichtete Wahrnehmungsfähigkeit, die zu überraschenden Formulierungen u. im extensiven Sprachspiel zu semant. Kaskaden führt, wie sie von Ginsberg u. Lawrence Ferlinghetti angeregt worden sein könnten. F. verbleibt allerdings, anders als die Vorbilder, einerseits im Rahmen oft hermet. Subjektivität, andererseits beschwert er seine Aussagen (»die Moderne muß im eigenen Körper besiegt werden [...]«) oft mit philosoph. Statements. Überhaupt ist die Tendenz F.s zum Ende der 1980er Jahre unverkennbar, mit den Mitteln der Poesie quasi die Aufgabe philosophischer Essayistik u. ästhet. Theorie zu übernehmen. In der Schrift Über den Unwert des Gedichts. Fragmente und Reflexionen (zus. mit Renate v. Mangoldt. Bln./Weimar 1993) entsteht schließlich eine erste »theoretische« Auseinandersetzung, die
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in (lockerer) Orientierung an Heidegger er- Köln 1998 (Theaterstück). – Budapester Szenen. kennend schöpferisches, d.h. »poietisches« Junge ungar. Lyrik. Hg. zus. mit Orsolya Kallász. Sprechen vom bloß zeitgemäßen poet. »Re- Köln 1999. – Endogene Gedichte. Grundbuch. Köln den« abhebt. Das Schöne ist für F. »Intensi- 2000. – A Lady Dies (Bühnenstück. Urauff. Staatstheater Nürnberg 2000). tät« sowie »Turbulenz und Fremdartigkeit, Literatur: Thomas Zenke: Krise. Über G. F. In: die sich auf eine Aussage zusammenzieht«. Die Zeit, 8.12.1989. – Reinhard Knodt: Poetik als Das Gedicht »muss über die Sprache, in der Aphoristik? – ›Über den Unwert des Gedichts‹. G. wir uns am wohlsten fühlen, hinaus«, denn F.s Poetik zwischen Wertkonservatismus u. PostLyrik ist für F. keine »fröhliche Unterhal- moderne. In: NR (1994), H. 2, S. 163–165. – Erk tung«. Stattdessen beruft er sich auf George: Grimm: Zwischen Sprachkörper u. Körpersprache. »Nur durch den Zauber bleibt das Leben G. F.s ›wemut‹. In: Sprache im techn. Zeitalter wach...«. (1993), H. 128, S. 456–468. – Neil H. Donahue: Die 1990er Jahre, die F. teilweise in Berlin Dollars and Sense/Das Gedicht, das Genicht. In: u. teilweise mit seiner Frau, der Malerin Nora Sprache im techn. Zeitalter (1995), H. 134, Matocza, in einem einsamen Haus in Franken S. 189–199. – Ders.: Voice and Void. The Poetry of verbrachte (vgl. materien. Künstlerbuch, zus. G. F. Heidelb. 1998. – Erk Grimm: G. F. In: KLG. – Sebastian Kiefer: Sprechwiesenwachs. In: NDL mit Nora Matocza 1989), sind bestimmt vom (2001), H. 2, S. 97–111. – Ruth Spietschka: G. F. In: sprachl. Austesten klassischer Inhalte (Nova- LGL. – Peter Geist: G. F. In: Deutschsprachige Lylis, Friedrich Schlegel, Baudelaire, Rilke) u. riker des 20. Jh. Hg. Ursula Heukenkamp u. ders. von der Auseinandersetzung mit der post- Bln. 2007. Reinhard Knodt modernen Philosophie (Nietzsche, Cioran, Heidegger, Baudrillard, Virilio). Es entstanden u. a. AM LIT (mit Sylvère Lotringer. Bln. Fallada, Hans, eigentl.: Rudolf Ditzen, 1992), seventeen selected poems (mit vier Porträts * 21.7.1893 Greifswald, † 5.2.1947 Berlinv. Bernhard Prinz. Bln. 1994) u. das KünstNiederschönhausen; Grabstätte: Carwitz lerbuch Zukunftskrieg (zus. mit Horst Münch. bei Feldberg, Mecklenburg-Vorpommern. Mönchengladbach 1996). F. gewinnt in die– Romanautor. sen Veröffentlichungen zunehmend Treffsicherheit u. Leichtigkeit, was die Auseinan- F., drittes Kind des Landgerichtsrats u. spädersetzung mit dem herrschenden Zeitgeist teren Reichsgerichtsrats Wilhelm Ditzen u. anbelangt (die »Mauerfallnacht« Berlins als seiner Frau Elisabeth, besuchte das GymnaBerlins »ground Zero« in Gegensprechstadt – sium in Berlin, Leipzig u., wegen schulischen ground zero. Gedicht u. CD mit Musik v. David Versagens, in Rudolstadt. Der sensible u. Moss. Idstein 2005). Andererseits geraten kränkl. Junge machte eine schwere Puberseine Detailuntersuchungen nun gelegentlich tätskrise durch, die in einem doppelten an semant. Grenzen oder verwandeln sich zu Selbstmordversuch endete, den F. nur zufällig überlebte. Ohne höheren Schulabschluss in sich kreisenden Arabesken. F., der als produktive Übergangsgestalt wurde er 1913 Gutseleve in Posterstein bei von einer noch »deutsch« geprägten Lyrik- Nöbdenitz/Sachsen u. arbeitete in den foltradition zu einer eher international ausge- genden Jahren auf verschiedenen Gütern in richteten Sprachperspektive gesehen werden Mecklenburg, Westpreußen u. Schlesien. kann (Geist), fördert jetzt auch die Lyrik der Schon in jungen Jahren Kettenraucher u. Alneuen Generation (Grünbein, Kling) u. gibt koholiker, wurde er 1919 in den Wirren der ungar. Lyrik heraus. Dass er in der dt. Kritik Nachkriegszeit morphiumsüchtig. Nach einen relativ bescheidenen Platz einnimmt, fehlgeschlagenen Entziehungskuren geriet er spricht eher gegen diese als gegen F. u. seine Anfang der 1920er Jahre in den Sog der Bekatalysatorische Wirkung auf die zeitgenöss. schaffungskriminalität. Wegen Unterschlagung wurde er 1923 zu drei Monaten, 1926 Lyrik. Weitere Werke: N. VIII (sic). Künstlerbuch mit zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Aquatintas v. A. R. Penck. Bln. 1997. – Der Quael- Nach seiner Entlassung schlug er sich als meister. Köln 1998 (Theaterstück). – Alte Helden. Adressenschreiber in Hamburg durch, dann
Fallada
als Annoncenwerber u. Lokalredakteur beim »General-Anzeiger« von Neumünster. 1929 heiratete er Anna Margarethe Issel, der er in der Figur von »Lämmchen« in seinem Roman Kleiner Mann, was nun? (Bln. 1932. Zahlreiche Ausg.n, zuletzt Bln. 62005) ein Denkmal gesetzt hat. Nach dem Welterfolg dieses Romans kaufte sich F. 1933 ein bäuerliches Anwesen in Carwitz bei Feldberg/ Mecklenburg, wo er glaubte, den schlimmsten Auswüchsen des Dritten Reiches entgehen zu können. Der Traum Carwitz wurde auf Dauer zu einem Alptraum, sowohl in persönlicher als auch in literar. Hinsicht. Nach der Scheidung von seiner Frau am 5.7.1944 u. einem Zwangsaufenthalt in der Landesanstalt Neustrelitz-Strelitz wegen Mordversuchs an Anna heiratete er am 1.2.1945 die ebenfalls drogenabhängige, verwitwete Ursula Losch. Nach Kriegsende war er 1945 vier Monate lang Bürgermeister von Feldberg; dann siedelte er nach Berlin über, wo er durch Vermittlung von Johannes R. Becher als freier Mitarbeiter der Ostberliner »Täglichen Rundschau« tätig war. Wieder drogensüchtig, wurde F. schließlich in die Nervenklinik der Berliner Charité eingewiesen; nach der Überführung in ein behelfsmäßiges Krankenhaus in Berlin-Niederschönhausen starb er dort an einer Herzlähmung. F. war gegen Ende der Weimarer Republik einer der populärsten dt. Romanautoren, ein Vertreter der Neuen Sachlichkeit. In seinen in präziser Alltagssprache geschriebenen Zeitromanen gibt er ein Bild der Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen. Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen u. aus der geistigen u. emotionalen Perspektive des psychologisch genau charakterisierten »kleinen Mannes«, des Angestellten u. des sozialen Außenseiters, des ehemaligen Sträflings oder Trinkers, fordern die Romane den Leser zur Identifizierung mit den Helden auf, denen als Opfer sozialer Machtverhältnisse oft nur der Rückzug in ein bescheidenes, häusl. Eheglück bzw. in die Geborgenheit des Gefängnisses bleibt. F.s erste Romane Der junge Goedeschal (Bln. 1920) u. Anton und Gerda (Bln. 1923. Beide erneut in: Falladas Frühwerk. Hg. Günter
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Caspar. Bd. 1, Bln. 1993), sind in Thematik u. Stil expressionistisch u. hatten wenig Erfolg. Erst mit der Veröffentlichung von Bauern, Bonzen und Bomben (Bln. 1931. Zahlreiche Ausg.n, zuletzt Bln. 1999. 22008. Hbg. 2006) erzielte er seinen ersten großen Erfolg u. begann die Reihe seiner sozialkrit. Romane. Auf der Grundlage seiner Erlebnisse als Reporter beim Landvolk-Prozess in Neumünster (1929) stellt er die Geschichte einer Bauerndemonstration gegen überzogene Besteuerung, ihren Zusammenstoß mit der Polizei, den Prozess u. den anschließenden Ein- u. Verkaufsboykott der Stadt durch die Bauern dar. Der Roman, der ein Panorama der Gesellschaft u. der polit. Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik entfaltet, wurde wegen seiner realistischen u. dialogreichen Erzählweise bei seinem Erscheinen als Prototyp der Neuen Sachlichkeit gefeiert. F.s Welterfolg Kleiner Mann, was nun? stellt in naturalistischer Detailschilderung das vergebl. Streben des kleinen Angestellten bzw. Arbeitslosen Pinneberg u. seiner resoluten Frau »Lämmchen« nach einem bescheidenen Auskommen dar. Am Ende steht der Rückzug in die private Idylle der Familie u. ein Lob auf die menschl. Anständigkeit. Politische Konsequenzen werden von Pinneberg (u. damit vom Autor) bewusst abgelehnt, sodass der Roman ein genaues Abbild der Mentalität breiter Bevölkerungsschichten zur Zeit der Massenarbeitslosigkeit gibt. Sehr erfolgreich war auch der Gefängnisroman Wer einmal aus dem Blechnapf frisst (Bln. 1934 u. ö. Zuletzt Bln. 1994. 21998), in dem sich der ehemalige Sträfling Kufalt nach seiner Entlassung vergeblich bemüht, wieder zum Mitgl. der bürgerl. Gesellschaft zu werden, schließlich wieder straffällig wird u. erleichtert ins Gefängnis zurückkehrt. Nachdem die Romane Wer einmal aus dem Blechnapf frisst u. Wir hatten mal ein Kind (Bln. 1934. Zahlreiche Ausg.n, zuletzt Bln. 2003) von der offiziellen Kritik des Dritten Reichs ablehnend beurteilt worden waren, schrieb F. in den folgenden Jahren Kinderbücher (Hoppelpoppel, wo bist du? Lpz. 1936 u. ö. Zuletzt 1989), Übersetzungen (Unser Herr Vater. Bln. 1936. Reinb. 1961. 2 1963), Erinnerungsbücher (Damals bei uns daheim. Stgt. 1941 u. ö. Zuletzt Reinb. 1995.
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Fallmerayer
Bln. 32003) u. eine Reihe harmloser Unter- Falladas Frühwerk in 2 Bdn. Hg. ders. Bln./Weimar haltungsromane, in denen zeitkrit. Tenden- 1993. Literatur: Biografien: Jürgen Manthey: H. F. in zen fehlten (u. a. Märchen vom Stadtschreiber, der aufs Land flog. Bln. 1935 u. ö. Neumünster Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1963. H. F. Sein Leben u. Werk. Bln./ 2006. Altes Herz geht auf die Reise. Bln. 1936 – Alfred Geßler: 2 u. ö. Zuletzt Bln. 42007). Die einzige Aus- DDR 1972. 1976. – Tom Crepon: Leben u. Tode des H. F. Halle/Lpz. 1978. – Werner Liersch: H. F. nahme bildet Wolf unter Wölfen (Bln. 1937 u. ö. Sein großes kleines Leben. Düsseld./Köln 1981. Reinb. u. Ffm. 1994), in dem die sozialen 21993. – Cecilia v. Studnitz: Es war wie ein Rausch. Folgen der Inflation in den zwanziger Jahren F. u. sein Leben. Düsseld. 1997. – Jenny Williams: in Stadt u. Land schildert werden. Mehr Leben als eins. H. F. Biogr. Bln. 2002. – Wei1944 entstand in der geschlossenen Lan- tere Titel: Rudolf Wolff (Hg.): H. F. Werk u. Wirdesanstalt Neustrelitz-Strelitz der Roman Der kung. Bonn 1983. – Günter Caspar: F.-Studien. Trinker (postum Hbg. 1950. Zahlreiche Bln./DDR 1988. – Reinhard K. Zachau: H. F. als Ausg.n, zuletzt Bln. 22007). Aus der Erfah- polit. Schriftsteller. New York 1990. – Sabine Lange: Im Mäckelbörgischen, in der Welteinsamkeit. rung der eigenen Drogenabhängigkeit beH. F. in Carwitz u. Feldberg (1933–45). Neubranschreibt der Autor den Aufenthalt eines ehe- denburg 1995. – Gunnar Müller-Waldeck u. Roland maligen Kaufmanns u. Alkoholikers in einer Ulrich (Hg.): H. F. Sein Leben in Bildern u. Briefen. Heilanstalt. Nach dem Zweiten Weltkrieg Bln. 1997. – Manfred Kuhnke: Die Hampels u. die gelang es F. trotz vielfältiger privater u. ge- Quangels. Authentisches u. Erfundenes in H. F.s sundheitl. Probleme, noch zwei weitere Ro- letztem Roman. Neubrandenburg 2001. – Geoff mane zu schreiben. In Der Alpdruck (Bln. 1947 Wilkes: H. F.’s Crisis Novels, 1931–47. Bern 2002. – u. ö. Zuletzt 1998) schildert er in der Gestalt Thomas Bredohl u. J. Williams (Hg.): Die Provinz des Dr. Doll seine Zeit als Bürgermeister von im Leben u. Werk v. H. F. Bln. 2005. – Periodikum: H. F. Jb. Hg. v. der H. F.-Gesellsch. u. dem LiteraFeldberg. Jeder stirbt für sich allein (Bln. 1947 turzentrum Neubrandenburg e. V. 1995 ff. 2 u. ö. 2000. Rheda-Wiedenbrück/Gütersloh Hans Wagener / Jenny Williams 2007) ist ein Roman über die Widerstandsbewegung. Der Arbeiter Quangel u. seine Frau legen antifaschist. Postkarten aus, wer- Fallmerayer, Jakob Philipp, * 10.12.1790 den schließlich aber entdeckt, verurteilt u. Pairdorf/Gemeinde Tschötsch bei Brixen, hingerichtet. F. führt hier zum ersten Mal † 26.4.1861 München; Grabstätte: ebd., starke, positive Arbeiterfiguren ein, Men- Südlicher Friedhof. – Historiker, Reiseschen, die angesichts bedrohlicher polit. schriftsteller u. Publizist. Mächte nicht resignieren, sondern aktiv Widerstand leisten u. damit ihrem Leben einen F., Sohn eines Tagelöhners, trat nach Studien Sinn geben. Er hat somit die Perspektive des an den Universitäten zu Landshut u. Salzburg 1813 in das bayer. Heer ein; nach den Feld»kleinen Mannes« u. sein Ideal der menschl. zügen in Frankreich setzte er in der Garnison Anständigkeit bewahrt, darüber hinaus aber zu Lindau 1815–1818 seine Ausbildung fort. die Passivität u. unpolitische, resignative 1818 wurde er Primarlehrer am Gymnasium Haltung seiner früheren Gestalten aufgegein Augsburg, 1821 in Landshut, wo er 1826 ben. zum Lyzealprofessor für Geschichte ernannt Weitere Werke: Gesch.n aus der Murkelei. Bln. wurde u. 1827 auch die Professur für Philo1938. Düsseld. 1997 u. ö. – Der eiserne Gustav. Bln. logie übernahm. Die Preisschrift Geschichte des 2 1938. 1997. 2008 u. ö. – Kleiner Mann, großer Mann – alles vertauscht. Stgt. 1939 u. ö. Reinb. Kaiserthums von Trapezunt (Mchn. 1827) ent1993. – Zwei zarte Lämmchen, weiß wie Schnee. wickelte seine Grundannahme unabänderliHann. 1953 u. ö. Reinb. 1993. – Ein Mann will nach cher Gesetze des Geschichtsverlaufs. In aufoben. Reinb. 1970. Zuletzt 1994. – Fridolin der klärer. Tradition kombinierte F. Dekadenzfreche Dachs. Ffm. 1955 u. ö. Bln. 2003. – Märchen u. Fortschrittsdenken. u. Gesch.n. Bln./DDR 1985. 21986. In der Geschichte der Halbinsel Morea während Ausgaben: Ausgew. Werke in Einzelausg.n. Hg. des Mittelalters (2 Bde., Stgt. 1830 u. 1836) Günter Caspar. 10 Bde., Bln./DDR 1962–88. – legte er dar, die Bevölkerung Griechenlands
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bestehe keineswegs aus Nachfahren der alten Rumpfparlament; der polizeil. Verfolgung Hellenen, sondern sei vielmehr von einer entzog er sich – von Juli 1849 bis April 1850 – slaw. Neubesiedlung u. der byzantinisch- ins Schweizer Exil. Nach der Rückkehr nach griech. Rückeroberung geprägt. Die These München löste seine scharfe Polemik gegen provozierte – meist in grob vereinfachter eine kämpferisch katholisch-konservative Wiedergabe – die Anhänger des liberalen, Akademierede von Johann Nepomuk Ringsaber streng neuhumanistisch geprägten eis den »Fragmentistenstreit« aus; den droPhilhellenismus; König Ludwig I. von Bayern henden Ausschluss aus der Akademie konnselbst soll Friedrich Thiersch, den führenden ten F.s Freunde abwenden (1851). In seinem Klassischen Philologen des Landes, mit ihrer letzten, von Vereinsamung geprägten LeWiderlegung in der einflussreichen Augs- bensjahrzehnt blieb F. weiterhin publizisburger »Allgemeinen Zeitung« beauftragt tisch tätig. Seine zum Großteil erhalten gehaben. Überdies gab F.s anstößiger polit. Li- bliebenen u. nur fragmentarisch veröffentberalismus den Anlass zu seiner Amtsenthe- lichten Tagebücher u. Briefe sind eine bislang bung nach der Rückkehr von seiner Orient- kaum genutzte Quelle zum wiss. u. intellekreise, die er mit dem oppositionellen russ. tuellen Leben des 19. Jh. Grafen Alexander Ostermann-Tolstoi Ausgaben: Hans Feigl u. Ernst Molden (Hg.): 1831–1834 unternommen hatte. Als er 1835 Schr.en u. Tagebücher 2. Bd., Mchn. 1913 (Tageordentl. Mitgl. der Histor. Klasse der Bayeri- bücher unvollst.veröffentlicht). – Ges. Werke. Hg. schen Akademie der Wissenschaften wurde, Georg Martin Thomas. 3 Bde., Lpz. 1861. Literatur: Herbert Seidler: J. P. F.s geistige war der Besuch seiner öffentl. Vorträge den Entwicklung. Mchn. 1947 (mit Bibliogr.). – Georg Studenten verboten. Trotz des Werbens des russ. Gesandten v. Rauch: J. P. F. u. der russ. Reichsgedanke bei F. I. Fedor Tjutcˇev warnte F. in seinen publizist. Tjutcˇev. In: Jb. für die Gesch. Osteuropas, N. F. 1 (1953), S. 54–96. – Franz Babinger: Der AkadeArbeiten, die v. a. in der Augsburger »Allgemiezwist um J. P. F. In: Sitzungsber.e der Bayer. meinen Zeitung« erschienen, unablässig vor Akademie der Wiss.en, phil.-histor. Klasse, H. 5 dem Machtanspruch des Zarentums u. (1959), S. 1–66. – Eugen Thurnher (Hg.): J. P. F. machte sich zum Anwalt des türk. Staats u. Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller. Innsbr. Volks, was ihm sogar einen hohen türk. Or- 1993. – Thomas Leeb: J. P. F. Publizist u. Politiker den einbrachte. Mit seinen Appellen an zwischen Revolution u. Reaktion, Mchn. 1996 (mit Deutschlands Einigkeit ordnete er die liberale Bibliogr.). – Michael Grünbart: J. P. F. u. sein türk. Russenfeindschaft der 1830er Jahre vollends Orden. In: Biblos 44 (1995), S. 271–295. – Ders.: in den universalhistor. Gegensatz von Mor- Die Briefe v. u. an J. P. F. Eine Bestandsaufnahme. Wien 2000 (536 Nrn.). – Ellen Hastaba: ›... ich kann genland u. Abendland ein. nichts besseres hervorbringen‹. J. P. F. Hagion-Oros Zwei weitere Reisen – 1840–1842 (Trapeoder der heilige Berg Athos. In. Tirol zwischen zunt, Konstantinopel, Athos, Athen) u. 1847/ Zeiten u. Völkern. Hg. E. Thurnher. Innsbr. 2002, 48 (Athen, Konstantinopel, Trapezunt, Hei- S. 200–230. – Nachlass: Teilnachlässe im Museum liges Land) – vertieften F.s Orientkenntnis; Ferdinandeum Innsbruck (Tagebücher, Briefe), die Fragmente aus dem Orient (2 Bde., Stgt. dem Staatsarchiv Nürnberg u. in der Bayer. 1845. Neuausg. Mchn. 1963), ebenso gelehrte Staatsbibl. München. wie glänzend formulierte Essays mit einer Walter Schmitz / Michael Grünbart programmat. Vorrede, trugen den Ruhm des »Fragmentisten« in weite Kreise. Er unterFankhauser, Alfred, * 4.11.1890 Gysenrichtete von 1844 bis 1847 den bayer. Kronstein/Kt. Bern, † 22.2.1973 Bern. – Jourprinzen Maximilian, der ihn – ab 1848 König nalist, Schriftsteller; Astrologe u. Maler. Maximilian II. – als Berater an den Hof holte. Um die Professur als Nachfolger von Joseph Der Sohn eines Lohnkäsers mit ständig Görres in München, die ihm im März 1848 wechselndem Arbeitsort wuchs in verschiezuerkannt wurde, brachte ihn jedoch seine denen Dörfern des Emmentals auf, bis er Tätigkeit als Abgeordneter in der Frankfurter 1906 ins evang. Lehrerseminar Muristalden/ Nationalversammlung u. dem Stuttgarter Kt. Bern eintrat u. sich zum Primarlehrer
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ausbilden ließ. Die erste Lehrerstelle im unteremmentalischen Rothenbaum wurde zum Schauplatz von F.s erster Erzählung Rosenbaum. Aus Peter Buchers Tagebuch, die 1914 in der »Berner Woche« erschien u. 1918 u. d. T. Peter der Tor und seine Liebe in München einen Verlag fand. 1915 immatrikulierte sich F. an der Universität Bern, um zunächst das Sekundarlehrerdiplom zu erwerben u. dann Geschichte u. Psychologie zu studieren. Durch die Bekanntschaft mit Karl Radek wurde er 1915 mit sozialist. Ideen vertraut, die sich im Dialektstück Der Chrützwäg widerspiegeln. Auf Anregung Simon Gfellers für Otto von Greyerz’ »Berner Heimatschutztheater« geschrieben, wurde das Stück nach der erfolgreichen Uraufführung von 1917 tabuisiert, da es den Erwartungen der Auftraggeber zwar in künstlerischer, nicht aber in politisch-ideolog. Hinsicht entsprach. Nach der Promotion zum Dr. phil. arbeitete F. ab 1920 bis zu seinem Tod als Theaterrezensent u. Kolumnist der sozialdemokrat. Tageszeitung »Berner Tagwacht«. Sein expressionistischer Antikriegsroman Der Gotteskranke (Mchn. 1921) wurde nach Erscheinen vom damals führenden Berner Kritiker Otto von Greyerz gnadenlos verrissen, worauf F. den selbstherrl. Rezensenten in seiner Satire Tobias Moor (Bern 1922) humorvoll zur Hölle schickte. Die Reihe seiner reifen Prosawerke begann F., der auch Lyriker war (Tag und Nacht. Bern 1924), mit dem poetischen, autobiogr. Kindheitsroman Vorfrühling (Zürich 1923). 1925 erschien, ebenfalls bei Grethlein in Zürich, sein Wiedertäufer-Roman Die Brüder der Flamme. Darin verarbeitete er histor. Ereignisse, die sich in der Mediationszeit in Bern u. Umgebung abspielten u. 1802–1807 in verschiedenen Ketzerprozessen gegen die sog. Antonianer-Brüder gipfelten. F. lässt seine Hauptfigur, den seherisch begabten Bauern Samuel Glanzmann, zum gedemütigten u. öffentlich angeprangerten Ketzer u. Rebellen wider die bernische Obrigkeit werden, bis er schließlich der ird. Gerechtigkeit entkommt u. sich in einem ekstatischen, auch vom Stil her typisch expressionist. Schlussfanal durch einen vom Himmel herabfahrenden Blitz selber richtet. Der expressionist. Künstler
Fankhauser
Werner Neuhaus ließ sich vom Text zu zwölf Holzschnitten inspirieren, die allerdings erst 1983 in die Neuausgabe (hg. v. Charles Linsmayer. Zürich) Eingang fanden. Die beiden Fortsetzungsbände Engel und Dämonen (Bln. 1926) u. Der Herr der inneren Ringe (Bln. 1929) erreichten bei Weitem nicht mehr die Kraft von Die Brüder der Flamme u. ließen schon sehr stark den Einfluss der Astrologie erkennen, der sich F., angeregt durch den Maler Johann Robert Schürch, inzwischen auch beruflich zugewandt hatte. Mit Werken wie Astrologie als kosmische Psychologie (Bern 1927) oder Das wahre Gesicht der Astrologie (Zürich 1932) suchte er die Astrologie in den Rang einer ernst zu nehmenden Wissenschaft zu erheben. Ab 1940 wandte sich F. überraschend erneut der Erzählkunst zu u. schuf mit Der Messias (Zürich 1940), Wahlenwart (Zürich 1944), Von Frühling zu Frühling (Zürich 1944), Denn sie werden das Erdreich besitzen (Zürich 1947) u. Die Allmend (Zürich 1952) eine Reihe von Romanen, die einer Erneuerung der Gesellschaft aus den Gedanken der sozialen Solidarität, der gelebten Sinnlichkeit u. aus den Werten des naturverbundenen bäuerl. Lebens heraus das Wort reden u. in ihrer zeitgeschichtl. Bedeutung wie auch in ihrem literar. Wert noch immer zu entdecken sind. Neben der Problematik der Verstädterung u. der Entfremdung des Menschen von seinen Ursprüngen ist in diesen Romanen auch immer wieder die Frage der ehel. Lebensgemeinschaft angesprochen u. mit z.T. originellen Ideen beantwortet. F., der fünfmal verheiratet war, konnte dabei aus dem Fundus seiner reichen persönl. Erfahrungen schöpfen. Neben der erzählerischen pflegte F. auch in späteren Jahren wieder die dramat. Literaturgattung, zu der er nicht nur eine ganze Reihe berndeutscher Schauspiele beisteuerte (u. a. E Schatte fallt, es Liecht geit uf. Bern 1946. Vo wyt här. Elgg 1949), sondern auch das 1930 von 900 Mitwirkenden in Bern uraufgeführte »sozialistische Festspiel« Völkerfreiheit oder das kämpfer. Agitationsstück Der neue Michael Kohlhaas (Bern 1935), wie F. ja überhaupt in der Zeit des Faschismus zu dessen furchtlosen Kritikern zählte. Für die Büchergilde Gutenberg, die sein Spätwerk herausbrachte, war er auch als Übersetzer tätig.
Farner
F., der schon zu Lebzeiten als Autor praktisch vergessen war, wandte sich in seinen späten Jahren der Malerei zu u. hinterließ bei seinem Tod über 200 Natur- u. Landschaftsgemälde. Weitere Werke: Das Urlaubsgesuch. E. vom Schweizer Grenzdienst. Einsiedeln 1916. – Madonna. Drei Legenden. Bern 1922. – Von den Werten des Lebens. Bern 1922 (Ess.). – Der König dieser Welt. Bern 1925 (D.). – Die Hand der Mutter. Basel 1926 (E.). – Iwan Petrowitsch. Bln. 1926 (E.). – Eine Mutter sucht ihren Sohn. Zürich 1932 (E.). – Grauholz u. Neuenegg. Bern 1940 (D.). – Lied u. Gleichnis. Bern 1948 (L.). – Gsuecht wird: e Maa. Bern 1952 (D.). – Wär isch der Sünder? Elgg 1954 (D.). – Gottesgab. Elgg 1954 (D.). – Salomo vo Blindebach. Elgg 1956 (D.). Literatur: Charles Linsmayer: ›... krank v. dem Gedanken, wie die Erde sein sollte u. wie sie nicht ist‹. Leben u. Werk des Berner Schriftstellers A. F. In: A. F.: Die Brüder der Flamme. Mit 12 Holzschnitten v. Werner Neuhaus. Neu hg. v. C. Linsmayer in: Frühling der Gegenwart. Bd. 28, Zürich 1983. Charles Linsmayer / Red.
Farner, Konrad, * 11.7.1903 Luzern, † 10.4.1974 Zürich. – Kunsthistoriker u. Essayist.
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Zielscheibe des Antikommunismus, eine Entwicklung, die 1956 im sog. Pogrom von Thalwil gipfelte: Eine aufgebrachte Volksmenge versammelte sich um F.s Haus u. bedrohte ihn u. seine Familie massiv (die Hintergründe sind literarisch dargestellt in Walter Matthias Diggelmanns Roman Die Hinterlassenschaft. 1965). Ende der 1960er Jahre wurde F., der 1969 aus der Kommunistischen Partei austrat u. sich einer westl. Spielart des Maoismus zuwandte, zum Wortführer einer Annäherung zwischen Marxismus u. Christentum. Diese Bemühungen spiegeln sich in dem Band Theologie des Kommunismus? (Ffm. 1969. Zürich 1985) wider, in dem er, aufbauend auf seiner Dissertation, eine enge Verwandtschaft zwischen Urchristentum u. undoktrinärem Kommunismus postulierte. Die rebellierenden Studenten der 68er-Bewegung entdeckten F. als Geistesverwandten u. suchten ihn gegen den Widerstand der Professoren als akadem. Lehrer zu installieren. In Basel scheiterte der Versuch 1968, in Zürich konnte ihm 1972 ein kunstsoziolog. Lehrauftrag erteilt werden. Seit 1984 bemüht sich in Zürich eine Konrad-Farner-Vereinigung um Neuausgaben von F.s Werken. Weitere Werke: Hans Erni. Weg u. Zielsetzung
Der Abkömmling einer alten Zürcher Familie des Künstlers. Zürich/London 1943. – Picassos u. Sohn eines Geometers besuchte die Schulen Taube. Dresden 1956. – Fragen u. Frager. Christ u. in Luzern u. studierte 1922–1924 Kunstge- Marxist heute. Düsseld. 1958. – Gustave Doré, der schichte u. Geschichte in Frankfurt/M., industrialisierte Romantiker. Dresden 1963. Mchn. München u. Köln. Nach zehn Jahren Praxis 1975. – Kunst als Engagement. Darmst. 1973 (Ess.s). – Für die Erde: geeint – Für den Himmel: als Antiquar, Kunstexperte u. Ausstellungsentzweit. Zum Dialog Christ-Marxist. Zürich 1973 gestalter studierte er 1936–1941 in Basel Po- (Ess.s). – Beiträge zu Leben u. Werk K. F.s. Hg. v. litologie, Geschichte, Literatur u. Theologie der K.-F.-Vereinigung. Zürich 1988. (Dissertation: Der auf Thomas von Aquin überAusgabe: K. F.-Lesebuch. Hg. Max Bächlin u. kommene christliche Eigentumsbegriff). Danach Martha Farner. Basel 1978. 21980 (ausgew. F.-Texwar F. Verlagslektor, freier Schriftsteller, te). Charles Linsmayer Kunsthistoriker, polit. Essayist u. Theoretiker. Seit 1941 verheiratet mit Martha Gemsch, lebte er bis 1950 in Frenkendorf bei Faschinger, Lilian, geb. Mitterer, * 29.4. Liestal u. dann bis zu seinem Tod in Thalwil 1950 Tschöran/Kärnten. – Lyrikerin, Erbei Zürich. zählerin u. Romanautorin, literarische F., der schon 1923 der Kommunistischen Übersetzerin. Partei der Schweiz beigetreten war, setzte sich in seinen Essays u. Reden v. a. mit der Nach dem Studium der Anglistik u. GeÄsthetik des Marxismus auseinander u. galt schichte in Graz war F. von 1975 bis 1991 als in Ost u. West als führender kommunist. Vertragsassistentin am Anglistik-Institut der Kunsttheoretiker. In der Schweiz wurde er dortigen Universität tätig, 1979 promovierte insbes. in der Zeit des Kalten Kriegs zur sie über mittelengl. Mystik (Book of Margery
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Kempe). Erste Studienaufenthalte in Connecticut/USA u. Oxford verstärkten F.s Interesse für die angloamerikan. Literatur, das sich im Lauf der Jahre in ihrer Arbeit als literar. Übersetzerin niederschlug. Neben Werken von Paul Bowles, Janet Frame, John Banville u. a. übertrug sie v. a. 1989 Gertrude Steins sprachavantgardistisches Opus magnum The making of Americans ins Deutsche – eine Übersetzungstour de force, für die sie drei Jahre benötigte. Von 1994 bis 1999 war sie immer wieder in Paris, von 1998 bis 2004 hatte sie mehrere Gastprofessuren in den USA inne. F. lebt derzeit in Wien. Der erste eigene Lyrik- u. Prosaband Selbstauslöser (Graz) erschien 1983. Formal eher konventionell erkundet das lyr. Ich in den Gedichten sein Verhältnis zum (männl.) Du, interpretiert u. variiert Alltagsbeobachtungen, bisweilen mit skeptischer Distanz gegenüber den einengenden Selbstverständlichkeiten einer verordneten Vernunft: »...nichts ist so klug / daß es in meine sehnsucht / eine bresche schlüge«. Überregionale Beachtung fand F. bereits mit ihrem Erzählreigen Die neue Scheherazade (Mchn. 1986. 1989. Durchges. Aufl. 2003), in dem die »Austro-Perserin« Hedwig Moser sich ihr Überleben u. ihre Identität erredet/ erschreibt. Das Sofa in Graz wird zum Widerstandsnest gegen die erstickende Macht aller fundamentalist. Unterdrückung. Von hier aus erfindet sie erot. Begegnungen in einer mit bekannten Männerfiguren (Christo, Tom Waits, Clint Eastwood, Roman Polanski etc.) angefüllten Vorstellungswelt – der Schutzraum der Fiktion verhindert die Vereinnahmung u. Inbesitznahme, bildet einen Wall gegen die verschlingende Nähe der kruden Tatsachen u. Eigenschaften: »Um wieviel schöner ist meine Beschäftigung mit Männern, die mir fernbleiben, die tot sind oder die es im landläufigen Sinn gar nicht gibt«. Schreiben ist auch in Lustspiel (Mchn. 1989) ein probates Mittel zur Distanzierung. Mit unverkennbar autobiogr. Hintergrund berichtet die Ich-Erzählerin von ihrem amour fou zum verheirateten Gottfried, von ihrer sexuellen Hörigkeit mit all ihren wunderbaren Schrecknissen u. von ihren Freiheits-
Faschinger
sehnsüchten, die sich vom Schreiben nähren: »Dann werde ich mich wieder auf das Sofa setzen und das wenige von dir wegschreiben, das noch übrig ist. [...] Schreibend den alten Abhängigkeiten ein Ende machen, her mit der luftigen Freiheit [...]«. Formal u. sprachlich folgt der Text anscheinend einem laissezfaire-Prinzip – absatzlos u. in freien Assoziationsketten bildet Lustspiel die Denkbewegung der Erzählerin nach, schnelle Perspektiven- u. Schauplatzwechsel, einmontierte Zitate u. Liedtexte, Anleihen beim HerzSchmerz-Heftroman u. beim Porno sorgen für eine entsprechende Dynamik. Die Anbindung an konkrete Beobachtungen u. Alltagserfahrungen, das Herbeizitieren von Gegenständen u. Personen erzeugen einen Aufmerksamkeitssog, der durch die Verortung in der emotionalen Wirklichkeit der Erzählerin aber keinen Eindruck von Beliebigkeit erzeugt. Stärker stilisiert u. literarisch funktionalisiert scheint das Stilmittel der (über)genau beschriebenen Außenwelt-Details im Erzählband Frau mit drei Flugzeugen (Köln 1993. Mchn. 1997. Engl. Woman with three aeroplanes. London 1998). Die unter der Oberfläche brodelnden Leidenschaften erschließen sich gerade durch die Aussparung, an der Textoberfläche reihen sich lapidar Gesprächswiedergaben, Handlungsabläufe u. Objektbeschreibungen aneinander. Die Figuren reden, sie handeln, aber sie sind nicht handlungsmächtig, es passiert (ihnen) eben, der Zugang zum eigenen Inneren ist versperrt u. nichts davon lässt sich direkt mitteilen. Vergleichsweise deftig-anspruchsloser erscheint die literar. Realisierung in F.s Erfolgsroman Magdalena Sünderin (Köln 1995. Mchn. 1997). Eine hübsche Kärntner Motorradfahrerin entführt einen Priester, legt ihm eine Beichte über ihre sieben Männermorde ab u. verführt ihn schließlich. Der Unterhaltungsaspekt in Richtung Komik ist nunmehr nachhaltig ausgeprägt. Die Heldin präsentiert sich als unbekümmerte Erotomanin u. selbstbewusste Lebenskünstlerin, bei der sich intellektuelle Qualitäten wie Wissen, traditionelle Bildung u. Reflexion mit spontanen Gefühlsaufwallungen u. deren bedenkl. Folgen verbinden. Magdalena Leitner wettert
Fassbind
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ganz nebenbei auch gegen die kath. Kirche u. u. entspricht dem Anliegen der Autorin, das »verlogene« Christentum, gegen die Fa- Verfestigung u. Stillstand zu vermeiden. Demgegenüber eher konventionell-kulinamilie, gegen Österreich im Allgemeinen u. Besonderen, bes. gegen die dortigen Frauen, risch gestaltet sich das Bild von der (Wiener) gegen die Gebildeten. Die koketten Anklänge Stadt der Verlierer (Mchn. 2007), in Szene gean Thomas Bernhard u. seine wohlfeilen setzt vom misogynen Ich-Erzähler Matthias Österreich-Beschimpfungen mögen das Ihre Karner, einem Gigolo, der vom Lebensretter dazu beigetragen haben, dass Magdalena Sün- zum Mörder seiner Vera mutiert, u. einer derin das bislang mit Abstand erfolgreichste (neutraleren) Erzählinstanz rund um die DeBuch F.s mit Übersetzungen in 15 Sprachen tektivin Emma Novak u. ihren Assistenten (u. a. ins Polnische, Griechische, Hebräische Mick Hammerl. Das Spiel mit den Versatzstücken des (psychologischen) Kriminalrou. sogar ins Chinesische) wurde. Mit erzählerischer Verve konstruiert die mans gehorcht den Bauprinzipien gehobener Autorin in der opulenten Wiener Passion (Köln Unterhaltungsliteratur, wobei trotz der satir. 1999. Mchn. 2001. Niederländ. Weense passie. Überzeichnung das allzu nachdrückliche u. Amsterd. 2000. Engl. Vienna Passion. London detailverliebte Ausstellen von Klischees bis2000) ein Neben-, Nach- u. Miteinander von weilen das krit. Anliegen in Frage stellt. Die wiss. Rezeption F.s beschränkt sich fiktionalen Lebensläufen – geschickt arrangiert um histor. Ereignisse, Personen u. Ört- bislang auf einige (auch englischsprachige) lichkeiten, die nicht nur als Staffage fungie- Aufsätze u. mehrere Diplomarbeiten an ösren, sondern in der literar. Belichtung ge- terr. Universitäten, die meist eine gegen pasellschafts- u. sozialkrit. Anliegen transpor- triarchale Rollenzuschreibung aufbegehrentieren. Insbes. die im Roman zentral gestellte de weibl. Identitätssuche als Lesart bevorzuManuskriptfiktion – die um 1900 vor ihrer gen. Die letzte Nummer der germanist. feHinrichtung verfasste Lebensbeichte des minist. Zeitschrift »Script« (2001, H. 19) böhm. Dienstmädchens Rosa Havelka – mo- enthält mehrere Beiträge zum Werk der Audelliert ein eindrucksvolles Panorama des torin. Zuwandermilieus im Wien des »Fin de sièWeitere Werke: Ortsfremd. Gedichte. Badencle«. Als Rahmengeschichte in der Gegenwart Baden 1994. – Sprünge. Graz 1994 (E.en). fungiert die Lovestory zwischen dem verLiteratur: Helga Schreckenberger: L. F. In: klemmten Schubert-Bewunderer u. Musik- KLG. – Thomas Kraft: L. F. In: LGL. lehrer Josef Horvath u. seiner amerikan. Gerhard Fuchs Schülerin Magnolia Brown, inszeniert als Potpourri von Erotik, Aktualitätsbezug, iron. Fassbind, Franz, * 7.3.1919 Unteriberg/ bis karikaturesken Figurenbeschreibungen u. Kt. Schwyz, † 9.7.2003 Adliswil/Kt. Zügenauen Alltagsskizzen. Von einem »Schmörich. – Verfasser von Romanen, Lyrik u. ker« auf »beträchtlichem Niveau« spricht Drehbüchern. denn auch Ulrich Weinzierl in der FAZ. Das Übermaß an Fabulierlust, das F.s Texte Nach der Volksschule in Zürich war F. Gymimmer wieder in die Nähe der Unterhal- nasiast in Einsiedeln, Absolvent des Zürcher tungsliteratur rückt, erscheint in Paarweise. Konservatoriums u. Student der Germanistik. Acht Pariser Episoden (Köln 2002. Mchn. 2004. Dann arbeitete er als Journalist, Komponist u. Span. Dobles historias. Barcelona 2003) deut- freier Schriftsteller u. lebte bis zu seinem Tod lich eingedämmt: Ein Reigen von Beschrei- in Adliswil bei Zürich. bungen, Kurzdialogen, Beobachtungen, MoSeit 1937, als in einem Zuger Verlag seine mentaufnahmen u. Handlungsepisoden fügt ersten Gedichte erschienen, war F. als Versich zu literar. »Short Cuts« großstädtischer treter eines christlich orientierten, sozial enWahrnehmung. Die vielperspektivisch-asso- gagierten Schrifttums in Zürich präsent. Von ziative Schreibweise, die sprachl. Bilder wie viel beachteten Hörspielen wie Weihnachten Filmsequenzen ineinandermontiert, führt zu 1938, Urs Graf (Zürich 1943) oder Die Geburt der einer Dynamisierung des Handlungsablaufs Freiheit (Lugano 1945) bis zu Dokumentarfil-
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men, von geistl. Oratorien (Atombombe. Einsiedeln 1945) u. lyr. Gedichten bis zu breit angelegten Romanen (Zeitloses Leben. Olten 1941. Von aller Welt geehrt. Einsiedeln 1948. Der Mann. Einsiedeln 1950) umfasst sein Werk ungewöhnlich viele Spielarten. F. schrieb auch Hörspiel- u. Filmmusik. Weitere Werke: Bundeslieder. Zürich 1952. Zug. 1984 (L.). – Valentin. Zürich 1958 (R.). – Lieder aus einer Schenke. Solothurn 1959. Zürich 1981 (L.). – Die Werke der Barmherzigkeit. Schwyz 1975 (L.). – Zeichen im Sand. Schwyz 1982 (L.). Gesamtausgabe: Werke in 12 Bdn. Hg. Peter Wild. Olten/Schwyz 1988–97. Literatur: B. v. Matt u. Franziska Schläpfer: Aus Pflicht zur Leidenschaft. F. B. Leben u. Werk. In: Werkausg. Bd. 12, Schwyz 1997. Charles Linsmayer
Fassbinder, Rainer Werner, * 31.5.1945 Bad Wörishofen, † 10.6.1982 München; Grabstätte: ebd., Friedhof Bogenhausen. – Theater- u. Filmregisseur, Dramatiker u. Drehbuchautor. Geboren als Sohn eines Arztes u. einer Übersetzerin, blieb F. nach der Scheidung der Eltern 1951 bei der Mutter. Er besuchte die Rudolf-Steiner-Schule in München, dann ein Internat in Augsburg, das er kurz vor dem Abitur verließ. Nach zweijähriger Arbeit in einem Kölner Hausverwaltungsbüro nahm F. 1964–1966 Schauspielunterricht in München. 1965/66 entstanden zwei erste Kurzfilme. 1967 wurde er Mitgl. des Münchener »Action-Theaters«, aus dem sich unter seiner Initiative 1968 das »antiteater« bildete. In Stücken wie Katzelmacher (Urauff. Mchn. 1968. Gedr. Ffm. 1970) u. Anarchie in Bayern (Urauff. Mchn. 1969. Gedr. Ffm. 1985) behandelte F. Gewalt u. Sexualität im Alltag von Kleinbürgern u. Kriminellen. Daneben führte er klass. Repertoiredramen in aktualisierten Fassungen auf. Seit Bremer Freiheit (Urauff. Bremen 1971. Gedr. Ffm. 1972), das mit über 60 Inszenierungen zu seinem erfolgreichsten Stück wurde, u. Die bitteren Tränen der Petra von Kant (Urauff. Ffm. 1971. Gedr. Ffm. 1976) erweiterte u. veränderte F. seine zunächst antitraditionelle u. scheinbar »kunstlose« Drama-
turgie u. a. durch die Verwendung melodramat. Elemente. Nach der Auflösung des »antiteater« 1971 inszenierte er parallel zu seinem umfangreichen Filmschaffen bis 1976 weiter (in Bremen u. Bochum) u. wurde 1974 Direktor des Frankfurter »Theater am Turm«. Das wegen vermuteter antisemit. Tendenzen über F.s Tod hinaus umstrittene Stück Der Müll, die Stadt und der Tod (entstanden 1975/76) wurde nach seinem Rücktritt 1975 nicht mehr aufgeführt u. löste noch 1985 bei einem neuen Inszenierungsversuch in Frankfurt Bühnenbesetzungen u. öffentl. Auseinandersetzungen aus. F. gilt als führender Vertreter des neuen dt. Autorenfilms. Er schuf zahlreiche Filme, darunter Der Händler der vier Jahreszeiten (1971), Angst essen Seele auf (1973), Fontane Effi Briest (1974), Die Ehe der Maria Braun (1978), In einem Jahr mit 13 Monden (1978) u. Querelle – ein Pakt mit dem Teufel (1982). Für das Fernsehen drehte er u. a. die fünfteilige Serie Acht Stunden sind kein Tag (1972) u. die 14-teilige Verfilmung von Döblins Berlin Alexanderplatz (1979/80). In seinen dramat. Werken u. Filmen nahm F. Einflüsse von so unterschiedl. Autoren u. Regisseuren auf wie Alfred Döblin, Marieluise Fleißer, Jean Genet, Oskar Maria Graf, Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Melville, Douglas Sirk, Jean-Marie Straub u. Raoul Walsh. Für seine Filme erhielt F. zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Silbernen (1979) u. den Goldenen Bären (1982) der Internationalen Filmfestspiele von Berlin. Weitere Werke: Antiteater 1. Ffm. 1970 (D.). – Antiteater 2. Ffm. 1972 (D.). – Stücke 3. Ffm. 1976 (D.; vom Verlag zurückgezogen). – Filme befreien den Kopf. Hg. Michael Töteberg. Ffm. 1984 (Ess.). – Die Anarchie der Phantasie. Ffm. 1986 (Interviews). – Die Kinofilme. Hg. M. Töteberg. 5 Bde. Mchn., dann Ffm. 1987–91 (Drehbücher). – F. über F. Die ungekürzten Interviews. Hg. Robert Fischer. Ffm. 2004. Literatur: Peter W. Jansen u. Wolfram Schütte (Hg.): R. W. F. Mchn. 1974. Erw. Mchn. 51985. – Heiner Lichtenstein (Hg.): Die F.-Kontroverse oder Das Ende der Schonzeit. Königst./Ts. 1986. – Michael Töteberg: R. W. F. In: KLG. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): R. W. F. Mchn. 1989. – Thomas Elsaesser: R. W. F. Bln. 2001. – M. Töteberg: R. W. F. Reinb. 2002. – Sabine Pott: Film als Geschichts-
Fassmann schreibung bei R. W. F. Ffm. 2002. 2., durchges. Aufl. 2004. – Andreas Ammer: R. W. F. In: LGL. – David Barnett: R. W. F. and the German theatre. Cambridge 2005. Matías Martínez
Fassmann, David, auch: Pithander von der Quelle, * 1683 Wiesenthal/Erzgebirge, † 14.6.1744 Lichtenstadt/Böhmen. – Unterhaltungsschriftsteller u. Historiograf.
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in der ersten Hälfte des 18. Jh. In allgemeinverständlicher u. unterhaltsamer Weise verbreitete F. auch in seinen übrigen Journalen u. Schriften zeitgenöss. Bildungsgut (Der auf Ordre und Kosten seines Kaysers reisende Chineser [...]. 4 Bde., Lpz. 1721–33 [Journal]. Der curiöse Staatsmann [...]. Lpz. 1731–39 [Journal]. Glorwürdigstes Leben und Thaten Friedrich Augusts des Grossen [...]. Hbg. 1733). Literatur:
Ludwig Lindenberg:
Leben u.
Im Anschluss an ein abgebrochenes Studium Schr.en D. F.s. Diss. Bln. 1937. Neudr. New York/ (1703) war F. 1705–1709 in diversen Kanz- London 1970. – Ulrich Schmid: Gespräche in dem leien als Sekretär tätig. Seit 1709 Quartier- Reiche derer Todten (1718–39). In: Dt. Ztschr.en meister im Heer Augusts des Starken, geriet des 17.-20. Jh. Hg. Heinz-Dietrich Fischer. Pullach er 1711 in Gefangenschaft, entfloh u. ge- 1973, S. 49–59. – John Rutledge: The dialogue of the dead in eighteenth century Germany. Bern/ langte nach Dresden. Eine Hofmeisterstelle Ffm. 1974. – Nils Eckhardt: Arzt, Medizin u. Tod beim Sohn des engl. Lord-Kanzlers William im Spiegel der v. D. F. (1683–1744) in den Jahren Cowper ermöglichte F. mehrere Reisen in die 1718 bis 1739 hg. Ztschr. ›Gespräche in dem Reiche Niederlande, nach England, Irland, Frank- derer Todten‹. Diss. Düsseld. 1987. – Manuel reich u. Italien (1711–1717). Seine perma- Baumbach: Lukian in Dtschld. Mchn. 2002. nente Geldnot suchte er in Leipzig als Gerda Riedl / Ralf Georg Bogner Sprachlehrer, Übersetzer u. Schriftsteller zu überwinden (1717–1725). Zusammenstöße Fatah, Sherko, * 28.11.1964 Berlin/DDR. – mit den Zensurbehörden veranlassten ihn Verfasser von Romanen u. Erzählungen. 1725, Leipzig zu verlassen u. den Berliner Hof Friedrich Wilhelms I. aufzusuchen (bis F. ist Sohn eines irakischen Kurden u. einer 1731). Eine feste Anstellung als Nachfolger dt. Mutter. Seine Kindheit verbrachte er in Jacob Paul von Gundlings schlug er allerdings der DDR. 1975 siedelte die Familie nach eiaus. Wieder in Leipzig (1731), widmete er sich nem Zwischenaufenthalt in Wien nach bis kurz vor seinem Tod journalistischen u. Westberlin über. F. studierte dort Philososchriftsteller. Tätigkeiten. phie u. Kunstgeschichte. Trotz seiner kurd. Mit den sog. »Todtengesprächen« (Gesprä- Wurzeln u. mehrerer Aufenthalte im Irak che in dem Reiche derer Todten [...]. Lpz. versteht F. sich als deutscher Autor. Der Ver1718–39) etablierte sich der unstete u. ei- lust der Kindheitsräume, die Erfahrung der genwillige F. als Erfolgsautor. Die hohen Fremde u. die Fragen nach Herkunft u. HeiAuflagenzahlen u. etl. Raubdrucke bestätigen mat sind Themen, die in F.s Prosa verarbeitet dies ebenso wie die literar. Imitation seines u. reflektiert werden. F.s erster Roman, Im Journals durch Christoph Gottlieb Richter Grenzland (Salzb./Wien 2001), beschreibt die (Todtengespräche. 1757–63) u. Moritz Flavius Geschichte eines Schmugglers, der einen nur Trenck von Tonder (Politische Gespräche im ihm bekannten Pfad durch vermintes GrenzReiche der Todten. 1796–1810). Nach dem for- gelände als Geheimnis bewahren will, weil malen Vorbild der Nouveaux Dialogues des Morts dieser Weg ihm Auskommen u. – trotz aller (1683) des Bernard Le Bovier de Fontenelle Gefahr – eine gewisse Sicherheit bietet. Mit ließ F. darin zwei (oder mehr) verstorbene, der Gefangennahme seines Sohnes durch die meist hochgestellte Persönlichkeiten über Geheimpolizei geht für den Schmuggler der popularphilosophische, histor. u. tagespolit. Verlust seines Lebensraumes einher. F. schilFragen plaudern. Meinungsvielfalt ist im dert mit gleichzeitiger Distanz u. Nähe vom Zeichen der Frühaufklärung oberstes Prinzip Zusammenbruch der mythisch anmutenden der Dialoge. Die einer Zeitschrift ähnlichen Gelassenheit seines Protagonisten. Der RoTotengespräche avancierten zu einem zen- man, für den F. mit dem aspekte-Literaturtralen Medium der Informationsvermittlung preis ausgezeichnet wurde, erzählt weniger
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von einer konkreten Wirklichkeit, sondern bringt in betörenden Bildern u. oft gleichnishafter Sprache eine universale Fremdheit zum Ausdruck. Das Thema der Bikulturalität ist im zweiten Roman Onkelchen (Salzb. 2004) zentral. Einen Deutschen verschlägt die Suche nach der Geschichte des Titel gebenden »Onkelchens« Omar in den Norden des Irak. Dort beginnt er zu begreifen, welche verheerenden Auswirkungen alltägliche Gewalt auf die Biografien der Menschen hat. F. beschreibt Entwurzelung als eine existentielle Erfahrung, die roh u. kaum vereinbar mit Fremdheitsattitüden in der westl. Gesellschaft ist. Er führt in seinen Geschichten sprachgewaltig die Kulturen an die Grenzen ihres Verstehens. F. versagt dem Leser die verbindende Folklore, seine Prosa nimmt die Fremdheit ins Erzählen hinein. 2002 erhielt F. den Kritikerpreis des Verbandes der deutschen Kritiker; 2007 wurde ihm der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil der Stadt Heidelberg zugesprochen. Weitere Werke: Donnie. Salzb./Wien 2002 (E.). Literatur: Cornelia Zetzsche: S. F. In: LGL. – Manar Omar: Zwischen Exotik u. deutsch-arab. Alltag. Zur ›germanophonen‹ Lit. arabischstämmiger Schriftsteller. In: Der Nahe Osten – Ein Teil Europas? Reflexionen zu Raum- u. Kulturkonzeptionen im modernen Nahen Osten. Hg. Atef Botros. Würzb. 2006, S. 265–288. Michael Rölcke
Faulhaber, Johann, * 5.5.1580 Ulm, † 10.9.1635 Ulm. – Rechenmeister, Ingenieur; Meistersinger; Verfasser mathematischer u. »schwärmerisch«-prophetischer Schriften. F. erlernte das Weberhandwerk; nach Unterricht bei dem »Schulmodisten« Johann Krafft u. dem Rechenmeister David Selzlin gründete er eine »Deutsche Schule« (1600). 1624 bestellte ihn der Ulmer Senat zum »Ingenieur«. Die oft geäußerte Ansicht, F. sei Mitgl. der Rosenkreuzergesellschaft gewesen, ist unzutreffend. F.s Briefwechsel (nur unzureichend erschlossen) dokumentiert ein weit gespanntes Beziehungsnetz. Zu F.s Freunden u. Bekannten zählten: der »Fanatiker« Noa Kolb († 1615), der Rechenmeister Sebastian Kurz
Faulhaber
(Nürnberg), die Ärzte Johan Remmelin (Ulm), David Verbecius (Ulm), Johann Georg Brengger (Kaufbeuren), Daniel Mögling (Ulm, seit 1621 in Butzbach/Wetterau) u. Johann Schreckh/Terrentius, ferner die Mathematiker Ludolph van Collen/Ceulen (Leiden), Matthäus Beger (Reutlingen), Daniel Schwenter (Altdorf), Joseph Solomon Delmedigo, Michael Mästlin (Tübingen), Wilhelm Schickard (Tübingen) oder der Galilei-Übersetzer Matthias Bernegger (Straßburg). F. traf den Grammatiker Wolfgang Ratke (1615), René Descartes (Ulm 1619/20) u. Johann Kepler (Ulm 1626/27: Mitarbeit am Ulmer Maßkessel). Manche Landesherren (Prinz Moritz von Nassau-Oranien, Landgraf Philipp von Hessen-Butzbach u. a.), aber auch städt. Obrigkeiten zogen F. insbes. bei fortifikatorischen Problemen zurate. F. hinterließ einige geistl. Meisterlieder. Den inhaltl. Schwerpunkt seines deutschsprachigen Werks bildeten mathematische, arithmet. u. mechan. »Inventionen«; trotz seiner transmutationsalchemischen Praxis sind von F. keine Alchemica bekannt. Die heute so genannten »Faulhaberpolynome« erinnern daran, dass F. zu den hervorragenden Mathematikern der frühen Neuzeit gehört. Seine fachsprachl. Leistungen aber stehen dahin. Markante Züge verdankt F.s Publizistik ihren religiösen Elementen, namentlich chiliast. Lehren, fassbar in seinen Deutungen bestimmter »versiegelter Worte Gottes« in der Hl. Schrift, nach denen etwa die »himmlische Wunderzahl« 1260 eine besondere Bedeutung besitze, Gott an prophet. Bibelstellen pyramidale Zahlen (»numeri figurati« wie etwa 666) gebraucht habe (Newer Mathematischer Kunstspiegel. Ulm 1612. Lat. u. d. T. Speculum. Ulm 1612. Himlische gehaime Magia Oder Newe Cabalistische Kunst/ vnd Wunderrechnung/ Vom Gog vnd Magog. Nürnb. 1613. Lat. u. d. T. Magia. Nürnb. 1613. Andeutung/ Einer vnerhörten newen Wunderkunst. Nürnb. 1613. Lat. u. d. T. Ansa. Ffm. 1613), aber auch in F.s aufsehenerregender Vorhersage eines 1618 erschienenen Kometen (Fama Siderea Nova. Hg. Julius Gerhardinus Goldtbeeg. Nürnb. 1619; dazu Gegenschriften der Ulmer Schulmänner Johann Baptist Hebenstreit u. Zim-
Fauser
pert Wehe, Apologien der Pseudonymi C. Euthymius de Brusca u. Justus Cornelius). Mit seinen »enthusiastischen« Exegesen »biblischer Zahlen« tauchte sich F. ins Licht eines von Gott erleuchteten Propheten, sodass er wiederholt in schwere Konflikte mit der Ulmer Obrigkeit geriet; F.s Werke bieten mithin wertvolle Zeugnisse der frühneuzeitl. Theomathematik. F. figuriert in Walter Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994, Briefe Nr. 216, 243, 373). Weitere Werke: Arithmet. Cubiccossischer Lustgarten. Tüb. 1604. – Newe Geometr. vnd Perspectiuische Inuentiones Etl. sonderbahrer Instrument. Ffm. 1610. – Newerfundener Gebrauch eines Niderländ. Instruments zum abmessen. Augsb. 1610. – [Johann Remmelin] Mysterium Arithmeticum, Sive, Cabalistica et Philosophica Inventio. o. O. 1615 (mit F.s Widmung an die Rosenkreuzer). – J. F.s [...] Continuatio, Seiner newen Wunderkünsten. Hg. Conradus Holtzhalbius. Nürnb. 1617. – Newer Arithmet. Wegweyser. Ulm 1617. – Newe Arithmet. Proportiones. Ulm 1618. – Continuatio deß [...] Kunstspiegels. Tüb. 1620. – Gehaimes Prognosticum vom Gog vnd Magog. 1620. – Erste Teutsche Lection [...] vom Gog vnd Magog. Augsb. 1621. – Zwey vnd Viertzig Secreta. Augsb. 1622. – Miracula Arithmetica. Augsb. 1622. – Mechan. Verbesserung einer Alten Roßmühlen. Ulm 1625. – Weitere Continuation deß [...] Kunstspiegels. Ulm 1626. – Geheime Kunstkammer. Ulm 1628. – Ingenieurs-Schul. Tle. 1–4, Nürnb. 1630/33. – Academia Algebrae. Augsb. 1631. – Magdeburgischer Phoenix [...] Erfindung einer Retirada. Augsb. 1632. – Weiteres bei Schneider 1993 (s. u.), S. 229–238; s. auch VD 17. Ausgaben: Meisterlieder des 16. bis 18. Jh. Hg. Eva Klesatschke u. Horst Brunner. Tüb. 1993, Nr. 28, S. 84–86 (ein Meisterlied geistl. Inhalts). – Handschriftenbestände: Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. allemand 219 (fast 400 Briefe; Transkriptionen: Ulm, Stadtarchiv). – Ulm, Stadtarchiv. – Darmstadt, LUB, Ms. 3044 (Briefe an Philipp v. Hessen), Ms. 3064. – München, SB, cgm. 12554, Bl. 193–196 (›Magia‹). – Darmstadt, Stadtarchiv, D 4 72/9, Bl. 1–36 (Briefe an u. v. Landgraf Philipp v. Hessen-Butzbach). – Schaffhausen, Stadtbibl., Ms. Scaph. 8, vol. IV, Fasc. 1/23 (14 Briefe an Ludwig Lucius). – Stuttgart, LB, Cod. math. 28 36/36a (Briefe). – Uppsala, UB, Ms. Y 132 d (Stammbuch Daniel Stoltz v. Stoltzenberg), Bl. 451 (Eintrag F., Basel, 4. Jan. 1624). – Weiteres bei Schneider 1993 (s. u.), S. 239–245.
384 Literatur: J. F. Höchstetter: J. F. In: ADB. – Gottlob Kirschmer: J. F. In: NDB. – Paul A. Kirchvogel in: DSB, Bd. 4 (1971), S. 549–553. – Kosch, Bd. 4 (1972), S. 799. – Heinrich Husmann: J. F. (1580–1635). Mathematiker u. mensuraler Meistersinger. In: Studies in Renaissance and Baroque Music in Honor of Arthur Mendel. Hg. Robert L. Marshall. Kassel 1974, S. 108–116. – Gerhard Zweckbronner: Rechenmeister, Ingenieur u. Bürger zu Ulm – J. F. (1580–1635) in seiner Zeit. In: Technikgesch. 47 (1980), S. 114–132. – RSM, Bd. 7 (1990), S. 192–194. – Ivo Schneider: Johannes F. 1580–1635. Rechenmeister in einer Welt des Umbruchs. Basel 1993. – Kurt Hawlitschek: J. F. 1580–1635. Eine Blütezeit der mathemat. Wiss.en in Ulm. Ulm 1995 (S. 257–331: Proben aus F.s Briefw.; S. 332–354: F. unter ›Fanatismo‹-Verdacht; Protokoll eines verhörartigen Colloquium, Ulm, 18. Okt. 1619). – K. Hawlitschek: J. F. (1580–1635). Briefe u. Begegnungen. In: Rechenmeister u. Cossisten der frühen Neuzeit. Hg. Rainer Gebhardt u. Helmuth Albrecht. o. O. [AnnabergBuchholz] o. J. [1997], S. 191–210. – I. Schneider: Wie Huren u. Betrüger – die Begegnung des jungen Descartes mit der Welt der Praktiker der Mathematik. In: Ber.e zur Wissenschaftsgesch. 20 (1997), S. 173–188. – Édouard Mehl: Descartes en Allemagne 1619–20. Le contexte allemand de l’élaboration de la science cartésienne. Straßb. 2001, s. v. – K. Hawlitschek: Die Deutschlandreise des René Descartes. In: Ber.e zur Wissenschaftsgesch. 25 (2002), S. 235–252. Joachim Telle
Fauser, Jörg, * 16.7.1944 Bad Schwalbach, † 17.7.1987 Feldkirchen bei München. – Lyriker, Essayist, Erzähler, Verfasser von Kriminalromanen. Nach Abitur u. abgebrochenem Studium war F., Sohn eines Malers u. einer Schauspielerin, Nachtwächter u. Gepäckarbeiter, lebte in Frankfurt/M., London, Heidelberg, Istanbul, Göttingen u. Berlin u. ließ sich 1974 als freier Schriftsteller in München nieder. 1987 wurde er nach der Feier seines 43. Geburtstags überfahren. Die vielen Wohnorte sowie Aufenthalte in Spanien, Marokko, den USA u. Indonesien dokumentieren genauso wie F.s publizist. Tätigkeiten eine Suche, deren Ziel abseits gängiger Konventionen, auch abseits der Gegenkultur seiner Zeit zu vermuten ist. Autobiografischen Hintergrund haben F.s frühe experimentelle Prosa u. die Gedichte. F.s
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Faust-Historia
Stoff war das Leben im Zwielicht, an den 1979 (N.). – Mann u. Maus. Mchn. 1982 (E.en). – Rändern der Gesellschaft; seine Figuren Kant. Ein Szene-Thriller. Mchn. 1987 (R.). – ›Ich Trinker, Prostituierte u. »kleine Leute«, wie habe eine Mordswut‹. Briefe an die Eltern sie bei Fallada oder Bukowski vorkommen. 1957–1987. Ffm. 1993 (Briefe). – Das leise lächelnde Nein u. andere Texte (Werkausg., ErgänLiterarische Vorbilder wie Burroughs, zungsbd.). Hg. Carl Weissner. Hbg./Ffm. 1994 Chandler, Himes, Ambler, Orwell, Kerouac, (enthält E.en, Hörsp., Ess.s u. Romanfragment v. aber auch Joseph Roth u. Hans Frick porträ- 1983, ›Der dritte Weg‹). tierte er in den Essaysammlungen Der Strand Ausgabe: Die J.-F.-Edition. Hg. Carl Weissner. 8 der Städte (Bln. 1975) u. Blues für Blondinen Bde. u. Ergänzungbd., Ffm. 1990–94. (Ffm./Bln./Wien 1984). F.s Augenmerk galt Literatur: Biografie: Matthias Penzel u. Ambros auch bei Dostojewski, Bakunin, Duchamps, Waibel: Rebell im Cola-Hinterland. Bln. 2004. – später Vicki Baum u. Russell Banks neben Weitere Titel: Anthony Waine: Anatomy of a Serious dem Werk stets auch dem Leben u. Leiden Thriller: J. F.’s ›Der Schneemann‹. In: Neoph. 77 von Künstlern. So geriet seine Biografie über (1993), S. 99–112. – Thomas Kraft: J. F. In: LGL. – Marlon Brando, Der versilberte Rebell (Mchn. Lutz Tantow: J. F. In: KLG. – Andreas Kramer: 1978), zu einem essayist. Rundumschlag ge- Schnittstellen. Beobachtungen zu dt. Cut-Up-Texgen den dt. Kulturbetrieb, »die Schakale vom ten um 1970. In: Abfälle. Stoff- u. Materialrepräsentation in der dt. Pop-Lit. der 60er Jahre. Hg. kulturellen Wort«. Dirck Linck u. Gert Mattenklott. Hann. 2006, Im Kriminalroman fand F. ein Genre, das S. 57–74. – Werner Jung: ›Let’s go man, go!‹ J. F. u. seinem lakon. Stil entsprach u. ihm auch sein Amerika. In: Das Amerika der Autoren. Hg. Kritikerlob eintrug. Der ehemals zum »Un- Jochen Vogt u. Alexander Stephan. Mchn. 2006, dergroundpoeten« Stilisierte erwies sich in S. 323–336. Annette Meyhöfer / Matthias Penzel Der Schneemann (Mchn. 1981) u. Das Schlangenmaul (Ffm./Bln./Wien 1985) als realistischer Erzähler mit Sinn für Rhythmus u. Faust-Historia, erstmals gedruckt 1587. – Tempo, ohne Scheu vor Klischees, zumal de- Prosaroman. nen des einsamen Helden u. harten Draufgängers. In dem autobiogr. Roman Rohstoff In der Offizin des Frankfurter Buchdruckers (Ffm./Bln./Wien 1984) hat F. die Jahre Johann Spies erschien zur Herbstmesse 1587 1968–73 verarbeitet. Einen Redakteursposten die Historia von D. Johann Fausten / dem weitbebei »TransAtlantik« (Hg. Enzensberger u. a.) schreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler / Wie er kündigte er 1986, um sich in dem Roman Die sich gegen dem Teuffel auff eine benandte zeit verTournee dem Boulevard-Theater zu widmen. schrieben / Was er hierzwischen für seltzame Das Fragment wurde von Rainer Weiss u. Jan Abentheuwer gesehen / selbs angerichtet vnd geBürger bearbeitet, um als neunter u. ab- trieben / biß er endtlich seinen wol verdienten Lohn schließender Band einer Edition im Jahr 2007 empfangen. Nach Ausweis der Vorrede hatte sie ein »guter Freund von Speyer« verfasst. Eine veröffentlicht zu werden. Beim Ingeborg Bachmann-Literaturwett- überzeugende Auflösung dieser Angabe ist bewerb 1984 für seinen Naturalismus ver- bisher nicht gelungen. Nachrichten von einer spottet u. beschimpft, wurde F. seit den histor. Person (Georg) »Faust« gehen in das erste Viertel des 16. Jh. zurück: Archivalische 1990er Jahren als Pionier der Popliteratur von Quellen berichten von einem Astrologen u. einer ganz neuen Generation von Erzählern Wahrsager, einem Nigromanten u. Zauber(Biller, Grünbein, Stuckrad-Barre) entdeckt. künstler. An die Figur lehnen sich WanderWeitere Werke: Aqualunge. Ein Report. Gött. anekdoten an, eine Bemerkung Luthers in 1971 (E.). – tophane. Gersthofen 1972 (R.). – Die den Tischreden macht Faust zum NegativexHarry Gelb Story. Gersthofen 1973 (L.). – Der Tod der Nilpferde. Saarbr. 1975 (Hörsp.). – C’est la vie empel eines Teufelsbündners. Vielfältige ErRrose. Mainz 1977 (Drehbuch). – Für eine Mark zähltraditionen (Schwänke, Reiseberichte, und acht. Ffm. 1978 (Hörsp.; 1998 verfilmt als theolog. Traktate, Teufelsliteratur) fließen in ›Frankfurter Kreuz‹). – Trotzki, Goethe u. das die F. ein, die weltliterar. Bedeutung gewinGlück. Mchn. 1979 (L.). – Alles wird gut. Mchn. nen sollte.
Faust-Historia
Die Handlung ist dreigeteilt: in einen biogr. Rahmen sind Disputationen Fausts mit dem Teufel, umfangreiche Weltreisen u. schwankhafte Episoden eingebettet. Faust bricht sein Theologiestudium ab u. wird zum »Weltmensch«; er beschwört den Teufel u. verschreibt sich ihm auf 24 Jahre. Er will die »Elementa spekulieren« u. von Mephostophiles Kenntnisse über die Erschaffung der Welt u. die Sterne, die Struktur von Himmel u. Hölle erhalten. Er versucht vermessen, die Schöpfung zu verstehen, ohne den Schöpfer zu berücksichtigen. Fausts Schuld verdeutlichen die Worte »Spekulierer« u. »Fürwitz«: »Spekulieren« meint den widersinnigen Gebrauch der Vernunft, um in Reiche vorzudringen, die nur dem Glaubenden zugänglich sind. »Fürwitz« (lat. curiositas) kennzeichnet das Wissenwollen als sündiges, nur auf weltl. Dinge gerichtetes Streben. Über die Hälfte der 68 Kapitel schildern die amüsanten u. reizvollen Folgen des Pakts; der Zauberer Faust narrt seine Umwelt u. unternimmt Flugreisen auf einem Mantel durch aller Herren Länder. Detaillierte Ortsbeschreibungen entlehnte der Redaktor geografischen Kompendien, v. a. der Schedel’schen Weltchronik. In der Aneinanderreihung untereinander austauschbarer Anekdoten u. Schwänke steht die F. in der Tradition der Schwankromane, die meist literar. Komik zur Belehrung einsetzen. Provoziert Eulenspiegel die gesellschaftl., zünftig gebundene Ordnung, so fordert Faust die göttl. Ordnung heraus. Faust aber scheitert: Der Teufel kann ihm keine Wahrheiten vermitteln; die Zauberkunststücke entlarven sich als Taschenspielertricks oder als »Blendwerk«; eine Höllenfahrt entpuppt sich als Traum, die Verbindung mit Helena als Trugbild auf Zeit. Mephostophiles agiert im Rahmen der reformator. Teufelslehre, die die reale Macht des Teufels in der Welt lehrt, aber in der Betonung der Allmacht u. Alleinwirksamkeit Gottes diesem Dualismus Grenzen setzt. Die Historia ist daher nur mit Kenntnis reformatorischer Theologie u. v. a. der populären reformatorisch-belehrenden Schriften zu entschlüsseln. Hier erweisen sich Johannes Aurifabers Tischreden oder Colloquia Doctor Martin Luthers (1566. Nachdr. Lpz. 1967) als
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Hauptquelle, in der sich eindringlich u. anschaulich die Teufelslehre Luthers, ferner erstmals die Verbindung des Zauberkünstlers Faust mit dem Teufelsbündner u. zgl. das Vorbild für die Erzählweise in Exempeln finden. Nur kurz lebt Faust in der Illusion, die göttl. Weltgesetze überwinden zu können. Ein Moment des Triumphs macht die Katastrophe um so sichtbarer: »Also wer hoch steygen will / der fellet auch hoch herab.« Der Sturz ist nicht aufzuhalten: »Dem Fausto lieff die Stunde herbey / wie ein Stundglaß [...] da ward Faustus erst zame.« Da ihm rechte Gesinnung u. Vertrauen auf die verzeihende Macht Gottes fehlen, entgeht er dem ewigen Verderben nicht. Der Teufel holt sich seinen Knecht in bestialischer Weise. Die F. zeigt die Grenzen irdischer, menschl. Hybris. Die zeitgenöss. Rezeption setzte mehrfach gegen die dezidierte theolog. Intention des Verfassers ein; alle weiteren Ausgaben u. Auflagen (bekannt sind 22 bis 1599) unterschiedlicher Verleger wurden in der Regel im Schwankteil erweitert; auffällig ist eine gründl. Überarbeitung von 1589 (C-Reihe), die 12-mal nachgedruckt u. erstaunlich exakt redaktionell u. textkritisch redigiert wurde, die Präzisierungen bei geograf. Angaben u. in der Teufelslehre enthält, ein lat. Epigramm zu Beginn u. 24 resümierende lat. Distichen am Ende u. sechs neue Kapitel, die im Leipziger u. Erfurter Universitätsmilieu spielen; zum Motivgehalt gehören u. a. Auerbachs Keller u. die Beschwörung homerischer Helden. Diese Version besitzt einen wirkungsvollen Titelholzschnitt, der die Verschwörung u. die wild bewegten Folgen plastisch vor Augen führt, nach einem ersten kleineren Holzschnitt von 1588, ebenfalls mit den Kernszenen der Verschwörung u. dem Flug des Mephisto mit Faust. Der Erstverleger Spies druckte 1588 noch einmal eine Ausgabe mit einem verdeutlichenden Texteinschub »Zeugnuß der Hl. Schrift / von den verbottenen Zauberkünsten«, wohl um die dominant werdenden schwankhaften Partien wiederum auf die theolog. Grunddisposition zu verweisen. Das Titelblatt des Fortsetzungs»Romans«, des Wagnerbuchs (1593), wirbt bereits mit den »abenteuerlichen Zoten und
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Possen [...], einer feinen Beschreibung der Neuen Inseln« (= Amerika), die »gar kurtzweilig zu lesen« sind. Die weitere Stoffgeschichte bewegte sich zwischen der theolog. Verengung eines Georg Rudolf Widmann (1599) u. der Umwertung in der Aufklärung durch Lessing u. Goethe. Ausgaben: Historia v. D. Johann Fausten. In: Romane des 15. u. 16. Jh. Nach den Erstdr.en mit sämtl. Holzschnitten. Hg. Jan-Dirk Müller. Ffm. 1990, S. 829–986 (Text) u. 1319–1430 (Komm. u. Zusatzkap.). – Historia v. D. Johann Fausten (1587). Krit. Ausg. Hg. Stephan Füssel u. Hans Joachim Kreutzer. Erg. u. bibliogr. aktualisierte Ausg. Stgt. 2006 (dort weitere Lit.). – Historia v. D. Johann Fausten. Jüngere Version v. 1589. Hg. Peter Philipp Riedl. Bln. 2006. Literatur: Frank Baron: Faustus. Gesch. – Sage – Dichtung. Mchn. 1982. – Die ›Historia von D. J. Fausten‹. Ein wiss. Symposium. Hg. Günther Mahal. Vaihingen/Enz 1988. – Das Faustbuch v. 1587. Provokation u. Wirkung. Hg. Richard Auernheimer u. F. Baron. Mchn. 1991. – Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 402–419. – Faust. Annäherung an einen Mythos. Hg. Frank Möbius u. a. Gött. 21996. – Hans Joachim Kreutzer: Faust. Mythos u. Musik. Mchn. 2003. – Jan Rohls: ›Historia von D. Johann Fausten‹: Der luth. Roman u. seine literar. Wirkung. In: Protestantismus u. dt. Lit. Hg. Ders. u. Günther Wenz. Gött. 2004, S. 27–53. Stephan Füssel
Fechenbach, Felix, * 28.1.1894 Bad Mergentheim, † 7.8.1933 Detmold (erschossen). – Gewerkschaftsfunktionär u. Journalist. Der Sohn eines jüd. Bäckers trat nach abgebrochener Schulausbildung in eine Kaufmannslehre ein. Schon während seiner Lehrzeit begann F., sich gewerkschaftlich zu engagieren u. in der sozialdemokrat. Jugendbewegung mitzuarbeiten. Über Frankfurt/M. führte sein Weg nach München, wo er als junger Gewerkschaftsfunktionär seine ersten Artikel veröffentlichte. Bes. wichtig wurde für ihn die Begegnung mit Kurt Eisner, dessen Sekretär er während der Münchner Revolution 1918/19 wurde. Die Erinnerung an den 1919 von einem Rechtsextremisten ermordeten bayr. Ministerpräsidenten ver-
Fechenbach
suchte F. in seinen Schriften u. Reden in den folgenden Jahren stets wachzuhalten. In einem aufsehenerregenden Prozess wegen Landesverrats wurde F. 1922 zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt. Angeblich hatte er Deutschland durch die Veröffentlichung eines Telegramms des bayr. Gesandten beim Vatikan in der Kriegsschuldfrage schwer geschadet. Das Urteil, das die Freiheit der Presse in Frage stellte u. Empörung im ganzen Reich auslöste, wurde 1926 aufgehoben, nachdem F. bereits 1924 freigelassen worden war. Über seine Gefängnisjahre berichtete er 1925 in dem Buch Im Haus der Freudlosen (Bln.). Schon wenige Tage nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde der krit. Journalist in »Schutzhaft« genommen u. im Aug. 1933 auf dem Weg ins Konzentrationslager Dachau – angeblich »auf der Flucht« – erschossen. Die Briefe, die er während der Schutzhaft an seine Frau geschrieben hatte, erschienen 1936 in der Schweiz mit einem Vorwort von Heinrich Mann (Mein Herz schlägt weiter. St. Gallen). Weitere Werke: Der Revolutionär Kurt Eisner. Bln. 1929 (Ess.). – Der Puppenspieler. Zürich 1937 (R.). Literatur: Max Hirschberg u. Friedrich Thimme (Hg.): F. Der Fall. Tüb. 1924. – Walther Victor (Hg.): Das F. F.-Buch. Arbon 1936. – Ders.: Auf der Flucht erschossen. In: Aufbau 4 (1948), S. 705–707. – Ders.: Köpfe u. Herzen. Weimar 1949. – Ders.: [...] es kommt darauf an, sie zu verändern. Weimar 1962. – Hermann Schueler: Auf der Flucht erschossen. Köln 1981. – Dieter Heistermann (Hg.): F. F. Ein Leben für die Freiheit. Mit einem Geleitwort v. Johannes Rau u. einem Beitr. v. Heinrich Mann. Warburg 1993. – Sabine Klocke-Daffa: F. F., Journalist, Schriftsteller, Pazifist. In: Ztschr. für Geschichtswiss. 42 (1994), H. 6, S. 525–528. – Michael Vogt: ›Genosse Kasperle‹. F. F.s Figurentheater als Medium demokrat. Erziehung. In: Jüd. Lit. in Westfalen. Hg. Hartmut Steinecke u. Günter Tiggesbäumker. Bielef. 2002, S. 89–99. – Kurt Müller u. Frank Dieckbreder: Im Wald bei Kleinenberg. Die Ermordung des Journalisten F. F. Emsdetten 2002. Peter König / Red.
Fechner
Fechner, Gustav Theodor, auch: Dr. Mises, * 19.4.1801 Groß-Särchen/Niederlausitz, † 18.11.1887 Leipzig. – Physiker, Naturphilosoph, Satiriker; Begründer der Psychophysik u. der empirischen Ästhetik. F., Sohn eines aufgeklärten evang. Pfarrers wuchs nach dem Tod des Vaters (1807) unter der fürsorglichen, aber strengen Obhut seines Onkels Eusebius Fischer, Pfarrer in Wurzen u. Ranis, auf. 14-jährig bezog er die Kreuzschule in Dresden. Im Mai 1817 schrieb er sich zum Medizinstudium an der Universität Leipzig ein, 1822 bestand er die praktische medizin. Prüfung. Da er sich zum Arzt weder talentiert noch gut ausgebildet fühlte, verzichtete er auf das kostspielige Examen zum Dr. med. – seine ersten Publikationen, erschienen unter dem Pseudonym Dr. Mises, sind zwei Satiren auf die Medizin: Beweis, dass der Mond aus Jodine bestehe (Germanien 1821), Panegyrikus der jetzigen Medicin und Naturgeschichte (Lpz. 1822). Beide nehmen Denkweisen aufs Korn, die z.T. heute noch zu finden sind. 1823 absolvierte F. seine Promotion u. Habilitation an der Philosophischen Fakultät. Trotz bekundeter Neigung zur Kunst (siehe Brief an Jean Paul vom 6.10.1825, Nationalzeitung Berlin, 26.11.1887, Nr. 22, Morgenausg.) übernahm er – zum Broterwerb, aber auch mit wiss. Ambitionen – die Übersetzung u. Bearbeitung der führenden mehrbändigen frz. Lehrbücher der Physik (Biot) u. Chemie (Thénard). Damit begann seine wiss. Laufbahn als Physiker; die Physik verdankt ihm Beiträge zur Elektrophysik, Atomenlehre u. Telekommunikation. 1834 erfolgte die Berufung auf das Ordinariat der Physik an die Universität Leipzig. Da er kurz vorher die Herausgabe eines Hauslexikons. Vollständiges Handbuch praktischer Lebenskenntnisse für alle Stände übernommen hatte, folgte eine Zeit übermäßiger Belastung. Eine Schädigung der Augen durch Experimente zu subjektiven Sinneserscheinungen führte 1840 zur völligen Erschöpfung. Er musste jedes Experimentieren aufgeben u. verzichtete auf die Physikprofessur.
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Nach der Genesung (um 1846) begann seine wiss. u. literar. Karriere als pensionierter Professor. Basierend auf umfangreichen Kenntnissen u. experimentellen Erfahrungen aus der Physik u. der Fähigkeit zu übergreifender Problemsicht entwickelte er ein eigenständiges Weltbild. F. war überzeugt, dass Kausalität, Gesetzlichkeit u. Freiheit vereinbar, gleichsam einem »obersten Gesetz« unterworfen sind. Da die Welt sich in Raum u. Zeit ständig ändert u. entwickelt, ist sie nur nach dem Anteil des Alten wiederkehrend u. determiniert. Neue Umstände sind nicht vorausbestimmt, ihre Kausalität kann erst mit ihrem Eintreten erforscht werden. Die Ansicht vom »Gesamtzusammenhang der Welt« führte ihn zu den Grundgedanken der Psychophysik, aber auch zu Gedanken, die von der Selbstorganisationsforschung aufgenommen wurden (Einige Ideen zur Entwicklungs- und Schöpfungsgeschichte der Organismen. Lpz. 1873) u. zur Entwicklung der Statistik u. Wahrscheinlichkeitstheorie beigetragen haben (Kollektivmasslehre. Lpz. 1897). Mit der Begründung der Psychophysik (Elemente der Psychophysik. 2 Bde., Lpz. 1860) als »exakte Lehre von den funktionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele« wurde er zum Mitbegründer der experimentellen Psychologie. Die International Society for Psychophysics begeht ihre jährl. Fachtagung als »Fechner-Day«. Neigung zur Kunst u. Interesse an Ästhetik bestimmten die Ausarbeitung seiner »Ästhetik von unten«; sie soll empirisch begründete Urteile über Wohlgefälligkeit u. Schönheit treffen. Das Verhältnis von »gut« u. »schön« gehört für ihn zu den theoretisch u. empirisch tragenden Themen (Vorschule der Ästhetik. Lpz. 1876). Zum »Madonnenstreit« sammelte er akribisch die Meinungen der Kunstwelt. Nicht ohne Ironie stellte er fest, dass die Dresdner Madonna mit ihrer Echtheit Anteile der vorher hochgelobten Schönheit verloren hat. F. hat wissenschaftliches, literar. u. alltägl. Beschäftigen mit der Welt nie streng getrennt, vermutlich liegt hierin eine Quelle seines Gedankenreichtums. Hatte er bereits in der intensiv naturwissenschaftlich geprägten Zeit als Dr. Mises mit
Fechter
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Stapelia Mixta (Lpz. 1824), Vergleichende Anato- Fechter, Paul Otto Heinrich, * 14.9.1880 mie der Engel (Lpz. 1825), Arbeiten über Elbing, † 9.1.1958 Berlin-Lichtenrade. – Friedrich Rückert u. Heinrich Heine (1835), Journalist, Literaturhistoriker u. -kritiker, Das Büchlein vom Leben nach dem Tode (Dresden Prosaautor. 1836) u. Schutzmittel für die Cholera (Lpz. 1832) F. studierte Architektur, Natur- u. Geistessein Interesse an allgemeinen u. alltägl. Frawissenschaften u. promovierte 1905 über Die gen bekundet, so folgten 1846 seine Ethik Grundlagen der Realdialektik (Mchn. 1906). Er Über das höchste Gut (Lpz.) u. mit Nanna oder war kulturpolit. Redakteur bei den »DresdÜber das Seelenleben der Pflanzen (Lpz. 1848) ner Neuesten Nachrichten«, wurde 1911 bedenkenswerte, auch amüsante BetrachtunFeuilletonredakteur bei der »Vossischen Zeigen zum Verhältnis des Menschen zur Natur. tung«, 1918 bei der »Deutschen Allgemeinen Drei Jahre später erschien seine Philosophie Zeitung« in Berlin u. arbeitete 1933–1940 als Zend-Avesta oder Über die Dinge des Himmels und Mitherausgeber der Kulturzeitschriften des Jenseits: Vom Standpunkt der Naturbetrach»Deutsche Zukunft« u. der »Neuen Deuttung. Die Idee der Allbeseelung der Natur schen Hefte« (1954–1956). wurde zwiespältig aufgenommen, die tiefAls Theaterkritiker gehörte F. zum Kreis sinnigen Gedanken, leider etwas weitum Alfred Polgar u. Herbert Ihering. Ab 1938 schweifig verpackt, wurden nur von wenigen nahm er in Berlin an der »Mittwochsgesellerkannt. 1879 stellte er seine Naturphilososchaft« teil, die sich als »unauffällige Zelle phie noch einmal kompakt als Die Tagesansicht des Widerstands« gegen den Nationalsoziagegenüber der Nachtansicht (Lpz.) zur Diskussilismus verstand (vgl. Menschen und Zeiten. Beon. gegnungen aus fünf Jahrzehnten. Gütersloh Wie viele seiner Zeitgenossen verfasste F. 1948). Gedichte (Lpz. 1841), ein Rätselbüchlein (Lpz. Seinem Werk Der Expressionismus (Mchn. 1850), ein Märchen (Das Wünschelmännchen. 1914), einer der ersten Untersuchungen dieUnter dem Pseud. Dr. Mises. Lahr 1884; woser Literaturepoche, folgten weitere literabei vermerkt sei, dass seine Ehefrau Clara turgeschichtl. Abhandlungen (z.B. Dichtung Fechner als »Schwarze Tante« im Märchender Deutschen. Bln. 1932). Sie sind wegen F.s an erzählen erfolgreicher war) u. bemerkensvölkischer Gesinnung orientierter Literaturwerte Literatur- u. Zeitkritiken. Seine letzte bewertung umstritten. Nach dem Zweiten Schrift Zur Kritik des Mendebrunnens (Lpz. Weltkrieg veröffentlichte er Monografien, 1887) beschließt humorvoll das reiche Lez.B. über Knut Hamsun (Gütersloh 1952), u. benswerk eines besonderen Menschen. Erinnerungen an Zeitgenossen (Menschen auf Literatur: Bibliografie: G. T. F. G.-T.-F.-Gemeinen Wegen. Gütersloh 1955). Seine letzten sellsch. Lpz. 1995. – Weitere Titel: Rainer Mausfeld: Lebensjahre widmete F. drei Bänden über Das Grundzüge der F.-Skalierung. Ffm. 1985. – Rudolf Arnheim: The other G. T. F. In: Ders.: New Essays europäische Drama (Mannh. 1956–58) vom Baon the Psychology of Art. Berkeley 1986. – Monika rock bis zur Gegenwart. Fick: Sinnenwelt u. Weltseele. Der psychophys. Monismus in der Lit. der Jahrhundertwende. Tüb. 1993. – Michael Heidelberger: Die innere Seite der Natur. Ffm. 1993. – Hans-Jürgen Arendt: G. T. F. Ffm. 1999. – Ulla Fix (Hg.): F. u. die Folgen außerhalb der Naturwiss.en. Tüb. 2003. – G. T. F. Tagebücher 1829–79. 2 Bde., Stgt. 2004. Anneros Meischner-Metge
Weitere Werke: Die Kletterstange. Stgt. 1925 (R.). – Der Ruck im Fahrstuhl. Stgt. 1927 (R.). – Die Rückkehr zur Natur. Stgt. 1929 (R.). – Das wartende Land. Stgt. 1931 (R.). – Die Fahrt nach der Ahnfrau. Stgt. 1935 (E.). – Die Gärten des Lebens. Stgt. 1938 (R.). – Kleines Wörterbuch für literar. Gespräche. Gütersloh 1950. – Zwischen Haff u. Weichsel. Jahre der Jugend. Gütersloh 1954. Angelika Müller / Red.
Feder
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Feder, Ernst, auch: Ernesto A., Spectator, Feder, Johann Georg Heinrich, * 15.4.1740 * 18.3.1881 Berlin, † 29.3.1964 Berlin. – Schornweißbach bei Neustadt/Aisch, Politischer Schriftsteller u. Publizist. † 22.5.1821 Hannover. – Philosoph, Pädagoge. Der Sohn eines jüd. Fabrikbesitzers ließ sich nach Jurastudium u. Promotion als Rechtsanwalt in Berlin nieder. Er nahm am Ersten Weltkrieg teil u. gehörte zu den Mitbegründern der liberalen DDP (Deutsche Demokratische Partei). 1919 berief ihn Theodor Wolff, dessen Vertrauter er wurde, zum innenpolit. Ressortleiter des »Berliner Tageblatts«, einer der wichtigsten Zeitungen der Weimarer Republik. Nach dem Zerwürfnis mit dessen Verleger Hans Lachmann-Mosse 1931 arbeitete F. freiberuflich. 1933 emigrierte er vor drohender Verhaftung nach Paris, 1941 nach Brasilien (Rettungsaktion des 1940 von Varian Fry u. a. gegründeten Emergency Rescue Committees), wo er Mitarbeiter einheimischer wie exilierter Presseorgane u. Mitgl. des brasilian. PEN-Clubs wurde. 1957 kehrte er auf persönl. Aufforderung seines Freundes Theodor Heuss nach Berlin zurück. F. war ein engagierter liberaler Publizist u. polit. Schriftsteller, der sich vehement gegen die Untergrabung der Weimarer Demokratie durch nationalsozialistische u. kommunist. Kräfte einsetzte. Seine ausgewählten Tagebücher 1926–1932 Heute sprach ich mit... (hg. v. Cécile Lowenthal-Hensel u. Arnold Paucker. Stgt. 1971) sind ein wesentliches Quellenwerk zur Geschichte u. Kultur der Weimarer Republik mit unretuschierten Informationen aus erster Hand über polit. Vorgänge hinter den Kulissen.
Weitere Werke: Theodor Barth u. der demokrat. Gedanke. Gotha 1919. – Hugo Preuß. Ein Lebensbild. Bln. 1926. – Paul Nathan. Politik u. Humanität. Bln. 1929. – Bismarcks großes Spiel. Die geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers. Ffm. 1932. 21933. – Les Huguenots en Allemagne. Paris 1935. – Goethes Gegenwart. Rio de Janeiro 1950. – Begegnungen. Die Großen der Welt im Zwiegespräch. Esslingen 1950. Span. Ausg. 1944. Portugies. Ausg. 1945. Literatur: Vorw. zu ›Heute sprach ich mit...‹. a. a. O. – Thomas B. Schumann: Aber jetzt würde scharf zugegriffen werden. In: Ders.: Asphaltlit. Bln. 1983. Thomas B. Schumann / Red.
F. entstammte einer alten Pfarrersfamilie. 1751 kam er in die Schule zu Neustadt/Aisch. 1757–1760 studierte er Theologie u. Pädagogik in Erlangen. Er hörte den Philosophen Simon Gabriel Suckow, der ihn zur Wolff’schen Philosophie hinführte. Mit Schubart war er befreundet. 1760–1765 war er Hauslehrer bei dem Freiherrn von Wöllwarth in Polsingen. Aus den pädagog. Erfahrungen dieser Zeit stammten sowohl seine Inauguraldissertation Homo natura non ferus (Erlangen 1765) als auch das Buch Der neue Emil oder von der Erziehung nach bewährten Grundsätzen (2 Tle., Erlangen 1768–71), beide stark von Rousseau beeinflusst. 1765 wurde F. Professor der Metaphysik u. oriental. Sprachen am Coburger Casimirianum, 1766 Professor der Logik, Metaphysik u. prakt. Philosophie. In Coburg wurde er mit den philosoph. Lehrbüchern von Samuel Christian Hollmann, Christian August Crusius u. Joachim Georg Darjes vertraut; hier entstand sein Grundriß der Philosophischen Wissenschaften (Coburg 1667, 21769), ein wegen seiner übersichtl. Einteilung u. deutl. Darstellung sehr erfolgreiches Lehrbuch, das der eklekt. Philosophie zugeordnet werden kann. 1767 erhielt F. einen Ruf nach Göttingen. Es folgten: Lehrbuch der Logik und Metaphysik (Gött. 1769. 21794. Lat. Ausg. u. d. T. Institutiones Logicae et Metaphysicae. Gött. 1777. 2 1797) u. Lehrbuch der praktischen Philosophie (Gött. 1770). Sein Hauptwerk Untersuchungen über den menschlichen Willen (4 Tle., Lemgo 1779–93. Ital. Ausg. Brescia 1822) nimmt aufgrund seiner Typenlehre einen wichtigen Platz in der Geschichte der Psychologie ein. 1782 wurde F. zum Hofrat ernannt. Er entwickelte eine reiche literar. Tätigkeit in verschiedenen Zeitschriften. Als Redakteur der »Göttingischen Gelehrten Anzeigen« schrieb er 1777 die erste dt. Rezension zu Adam Smiths An inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (1776), die positiv ausfiel. Zu einer berühmten Kontroverse führte hingegen die am 19.1.1782 in dem-
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Federer
selben Organ erschienene Rezension von Federer, Heinrich, * 6.10.1866 Brienz/ Kants Kritik der reinen Vernunft. Der Verfasser Bern, † 29.4.1928 Zürich. – Erzähler u. war Christian Garve, F. hat den Text redigiert Romanschriftsteller. u. drastisch gekürzt. Von seiner Hand fügte er »einen Vergleich des Kantschen Idealismus Der Sohn eines hochbegabten, aber lebensmit dem Berkeleyschen« hinzu (vgl. F.s Au- untüchtigen Künstlers wuchs in Sachseln/Kt. tobiografie Leben, Natur, Grundsätze. Hg. v. F.s Obwalden auf u. stand ganz unter der sorSohn Karl August Ludwig Feder. Darmst. genden Obhut der Mutter, einer Konvertitin 1825, S. 119). Kant erwiderte in seinen Prole- aus dem zürcherischen Bülach. Diese Frau, gomena (1783), woraufhin F. die Schrift Ueber der er im Mätteliseppi u. in Am Fenster ein Raum und Causalität. Zur Prüfung der Kantischen schmeichelhaftes Denkmal setzt, drängte F. Philosophie (Gött. 1787) veröffentlichte u. mit dazu, kath. Priester zu werden, u. ermögChristoph Meiners die gegen Kant gerichtete lichte ihm den Besuch des Benediktiner»Philosophische Bibliothek« (1788 bis 1791) konvikts Sarnen. Nach dem Tod der Eltern (beide starben 1881) setzte F. den einmal gründete. Als Popularphilosoph war F. nicht imstan- eingeschlagenen Weg fort u. ließ sich ungede, die Neuartigkeit u. Bedeutung der krit. achtet seiner Neigung zur Schriftstellerei in Philosophie zu verstehen. Der erfolglose Eichstätt, Luzern, Freiburg/Schweiz u. St. Feldzug gegen Kant beeinträchtigte sein An- Georgen/Kt. St. Gallen zum kath. Kleriker sehen. 1797 verließ er die Göttinger Univer- ausbilden (Priesterweihe 1893 in St. Gallen). sität u. ging als Direktor des Georgianums Von Jugend auf asthmakrank, musste er aber nach Hannover. Seit 1802 Bibliothekar der die Kaplanstelle in Jonschwil/Kt. St. Gallen kgl. Bibliothek, veröffentlichte F. Commercii nach sechs Jahren aufgeben. Er trat daraufhin epistolici Leibnitiani selectae specimina (Hann. als Redakteur bei den kath. »Zürcher Nach1805); 1806 wurde er Direktor der Hofschule richten« ein u. wusste diese Stellung mit dem u. Ritter des Guelfenordens, 1819 Geheimer Amt des Hausgeistlichen in einem SchwesJustizrat, 1820 Dr. jur. ternhaus zu verknüpfen. In kurzer Zeit schuf Weitere Werke: De morte voluntaria I. Erlan- er sich einen Namen als führender christlichgen 1765. II. Coburg 1766. – Grundlehren zur sozialer Kommentator u. Leitartikler. 1902 Kenntnis des menschl. Willens. Gött. 1782. 31789. – wurde F. während eines Ferienaufenthalts Sophie Churfürstin v. Hannover. Hann. 1810. auf dem Stanserhorn verhaftet u. wegen hoLiteratur: Johann Stephan Pütter u. a.: Versuch mosexuellen Umgangs mit Minderjährigen einer akadem. Gelehrtengesch. der Univ. Göttingen. Bd. 2, Gött. 1788, S. 164–166. Bd. 3, 1820, unter Anklage gestellt. Obwohl ihm nichts S. 192–194. Bd. 4, 1838, S. 286. – Heinrich Wil- nachgewiesen werden konnte, verfiel F. der helm Rotermund: Das gelehrte Hannover. Bd. 2, Ächtung von Kirche u. Öffentlichkeit. Er Bremen 1823, S. 22–24. – Robert Sommer: verlor seine Stelle u. musste sich in den folGrundzüge einer Gesch. der dt. Psychologie. genden Jahren mit journalist. GelegenheitsWürzb. 1892, S. 313–320. – Karl Vorländer (Hg.): arbeiten »durchhungern«, bis er mit den Kants Prolegomena. Lpz. 1905, S. IX-XIII. – Erich Lachweiler Geschichten u. dem Roman Berge und Pachaly: F.s Erkenntnistheorie u. Metaphysik. Lpz. 1906. – Wilhelm Stietz: F. als Gegner I. Kants. Diss. Menschen (beide Bln. 1911) den Durchbruch Rostock 1924. – Max Wundt: Die dt. Schulphilo- als Schriftsteller schaffte. Mit dem so erwirtsophie im Zeitalter der Aufklärung. Tüb. 1945. schafteten Einkommen konnte er sich bis zu Neudr. Hildesh. 1964, S. 290–292 u. 306 f. – Jan seinem Tod finanziell über Wasser halten u. Rachold: Die aufklärer. Vernunft im Spannungs- v. a. auch dem Druck der Kirchenleitung wifeld zwischen rationalistisch-metaphys. u. poli- derstehen, die den sozial aufgeschlossenen tisch-sozialer Deutung. Ffm. 1999. Kleriker noch 1910 zu einer gehässigen AtSonia Carboncini / Red. tacke gegen den sog. Modernismus gezwungen hatte (vgl. die unter Pseud. erschienenen Senex-Artikel in den »Zürcher Nachrichten«, 3.-7.2.1910, 7.-31.5.1910).
Federmann
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F., dessen Stärke weniger in der epischen Erg. mit den Kapiteln Aus jungen Tagen, posBreite als in der überschaubaren Kürze der tum Bln. 1928). Sein Wirken als Kaplan in klass. durchgebildeten Novelle (Vater und Sohn Jonschwil spiegelt sich in den beiden Priesim Examen. Bln. 1909. Sisto e Sesto. Heilbr. terromanen Jungfer Therese (Bln. 1913) u. Papst 1913) bzw. im lockeren Parlando der erzäh- und Kaiser im Dorf (Bln. 1924). Vor allem letzlerischen Skizze (Umbrische Reisegeschichtlein. teres Werk zeigt F. auf der Höhe seiner Kunst Heilbr. 1917) sichtbar wird, gestaltete der Menschendarstellung u. darf neben Das hauptsächlich drei Themenkreise: das Leben Mätteliseppi als sein gelungenstes größeres u. die Schicksale der Bergbewohner seiner Werk gelten. Nach seinem Tod veröffentlichte der Grote Heimat, die Erinnerungen u. Geschichten, die er von seinen zahlreichen Italienreisen Verlag 1931–1934 F.s gesammelte Werke in mitbrachte, sowie den eigenen Weg vom Ar- zwölf Bänden (Neuausg. Luzern 1944–57). meleutekind zum kath. Priester. Obwohl F. 1938 erschien die grundlegende F.-Biografie die Idealisierung u. Heroisierung des Berglers von Oswald Floeck. Ab 1944 nahmen sich der als Gott am nächsten stehenden, dem Stadt- kath. Luzerner Rex Verlag u. der kath. Pater menschen weit überlegenen Typus nicht Sigisbert Frick seines Werks an. In der Folge fremd ist, stellt er die Schweizer Bergwelt u. wurde F. immer ausschließlicher auf den Inihre Bewohner sehr viel persönlicher u. wär- nerschweizer Raum u. sein kath. Credo festmer dar als die Zeitgenossen Jakob Christoph gelegt. Erst in jüngster Zeit ist versucht Heer u. Ernst Zahn, mit denen zus. F. als worden, ihn von diesen Vereinnahmungen Repräsentant der Schweizer Heimatliteratur loszulösen u. als sozialkritischen, erstaunlich in Deutschland zum Bestsellerautor avan- modern denkenden christl. Erzähler wieder cierte. Auch fehlt es seinen beiden gewich- dem ganzen dt. Sprachraum zurückzugeben tigsten Leistungen auf diesem Gebiet, den (Charles Linsmayer: Nachw. zu: Gerechtigkeit Romanen Berge und Menschen u. Pilatus (Bln. muß anders kommen. Meistererzählungen. Hg. 1912) durchaus nicht an skeptischen, krit. ders. Zürich 1981). Äußerungen gegen die damals grassierende Weitere Werke: Spitzbube über Spitzbube. Bergbegeisterung. So beschreibt Berge und Bln. 1921 (E.). – Regina Lob. Bln. 1925 (R.). – NiMenschen das Scheitern eines ehrgeizigen, die klaus v. Flüe. Frauenfeld 1928. Mit Nachw. v. Karl Natur bedrohenden Bergbahnprojekts, wäh- Fehr. Luzern 1986. – Briefe. Hg. Sigisbert Frick. rend Pilatus, die Darstellung eines kompro- Luzern 1963. – Literar. Studien. Hg. ders. Luzern misslosen, herrischen Obwaldner Bauern u. 1966. – Literar. Landschaften. Sarnen 1998 – Auf den Spuren des Franz v. Assisi. Hg. Marzena GoBergführers, der an seiner engstirnigen Umrecka u. Agnes Aregger. Freiburg/Schweiz 2004. gebung u. an der Unwirtlichkeit der Berge Literatur: Hans Oser: H. F. Luzern 1928. – zugrunde geht, das Bild einer heilen AlpenOswald Floeck: H. F. Bln. 1938. – Sigisbert Frick: welt drastisch relativiert. Seiner Bergheimat, H. F. Luzern 1960. – Paul Cattani: Gespräche mit zu der er seit den bitteren Erfahrungen von H. F. Luzern 1967. – Paul Kamer: H. F. Nachw. zu 1902 in einem zwiespältigen Verhältnis H. F.: ›Pilatus‹. a. a. O. Neu hg. v. Charles Linsstand, stellt F. in seinen südländ. Geschichten mayer in: Frühling der Gegenwart. Bd. 6, Zürich u. Erinnerungsbildern eine heitere, sinnlich- 1981. – Pirmin Meier: Der Fall F. – Priester u. lebensfrohe Welt gegenüber, die sich biswei- Schriftsteller in der Stunde der Versuchung: eine len, wie in Sisto e Sesto, sogar zur Utopie eines erzähler. Recherche. Zürich 2002. Charles Linsmayer ird. Paradieses verdichtet, charakteristischerweise aber die Dimension der kürzeren, bisweilen zu Zyklen verknüpften Erzählform Federmann, Daniel, *in Memmingen, niemals übersteigt. Am eindrücklichsten er† vor 1600 (?). – Übersetzer. zählt F. da, wo er seine eigene Biografie umsetzt: in Das Mätteliseppi (Bln. 1916), der Über das Leben des Vetters Nikolaus FederDarstellung seiner Kindheit u. Schulzeit in manns ist nur bekannt, dass er GeheimObwalden, u. in den explizit so benannten schreiber des Georg Sigmund Seld, VizeJugenderinnerungen Am Fenster (Bln. 1927. kanzler Karls V. u. Ferdinands II., war. Den
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Vorreden seiner Übersetzungen zufolge ist er Federmann, Nikolaus, * um 1505 Ulm, viel gereist. F. gehörte zur Bildungselite, eine † Februar 1542 Valladolid. – Verfasser eiUniversitätsmatrikel ist jedoch nicht über- nes Reiseberichts. liefert. Er übersetzte die Trionfi Petrarcas u. d. T. Der Ulmer Bürgersohn begleitete 1529/30 als Sechs Triumph Francisci Petrarche [...] in welchen Agent der Augsburger Welser, denen 1528 man fein kurtzweiliger weiß zu grossem lust er- von Kaiser Karl V. Venezuela als Pfandbesitz spiegeln kan den gemeinen Lauff, Stand, Wesen und übertragen worden war, eine Gruppe von Ende des menschlichen Lebens [...] (Basel 1578). Aussiedlern u. Bergleuten von Sevilla nach Bereits der Titel erwähnt die Übersetzung in Coro u. wurde vom Statthalter Ambrosius zirliche Teutsche Verß u. die Außlegung und Er- Dalfinger zu seinem Vertreter ernannt. Als klerung aller fürnemesten Sachen, die F. der Dalfinger Coro verlassen musste, übertrug er Übersetzung angefügt hat. Die Vorrede weist F. am 30. Juli 1530 die Vollmacht über Vedarauf hin, dass die Übertragung der Verse nezuela. Ohne Befugnis brach F. im Sept. Petrarcas ins Deutsche als unmöglich galt. F.s 1530 mit 110 Fußsoldaten, 16 Reitern u. 100 Auslegung ist der erste deutschsprachige Indianern zu einem Eroberungszug ins Zeilen- u. Sachkommentar zu einem poet. nördl. Gebiet des Orinoco auf, um das »SüdText nach den Prinzipien der humanistischen meer«, den Pazifischen Ozean, zu suchen u. einen neuen Handelsweg nach Asien zu erTextauslegung. Darüber hinaus übersetzte F. zwei Schrif- schließen. Dieses Ziel erreichte er nicht, ten Ludovico Guicciardinis, dem er nach ei- kehrte aber am 17. März 1531 mit Gold nach genem Bekunden 1573/74 in Antwerpen be- Coro zurück. Für seine Eigenmächtigkeit gegnet war. Die Hore di recreatione wurden als verbannte ihn Dalfinger aus der Kolonie. F. Erquickstunden. Von allerley kurtzweiligen Histo- kehrte nach Deutschland zurück u. rechtferrien, philosophischen Sprüchen, lehrreichen Fabeln tigte sich 1532 vor den Welsern in Augsburg. und schimpfflichen Bossen, so man mit nutz und Er konnte sich rehabilitieren, wurde als Gelust in allen fürfallenden Reden brauchen kan [...] neralkapitän eingesetzt u. fuhr 1534/35 mit 1574 (u. 1575) bei Peter Perna in Basel ge- dem neuen Statthalter, Georg Hohermuth druckt. Die Beschreibung der Niederlande von Speyer, erneut nach Coro. Auf der Suche erschien u. d. T. Niderlands beschreibung in wel- nach dem sagenhaften El Dorado unternahm cher aller darinn begriffnen Landtschafften, Fürs- F. 1535 einen zweiten Eroberungszug, der tenthumben, Graveschafften, Herrschafften und ihn in das spätere Neugranada führte. Dabei namhafftigsten Oertern, Ursprung und Auffgang, gründete er 1535 die Stadt Riohacha u. im eigentlich geklärt wirt 1580 bei Sebastian Hen- April 1539, gemeinsam mit den span. Eroberern Jimenez de Quesada u. Sebastián de ricpetri in Basel. Literatur: VD 16, G 4045, 4047, 4048, P 1740. – Belalcázar, Bogotá. Im Juli 1539 begab F. sich Kosch. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. auf die Rückreise nach Europa. Die Welser Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis beschuldigten ihn des Vertragsbruches, der zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. unterlassenen Hilfeleistung gegenüber sei0541, 0542, 0895, 1121. – Weitere Titel: Erich nen Kameraden sowie der Unterschlagung Kleinschmidt: ›Petrarca Teutsch‹. D. F.s erste von Geldern u. forderten eine Entschädigung Übers. der ›Trionfi‹ aus dem Jahr 1578. In: Daphnis von 100.000 Dukaten Smaragd u. 15.000 11 (1982), S. 743–776. – Petrarca in Dtschld. AusDukaten Gold. F. konnte diese riesige Summe stellung zum 700. Geb. (20. Juli 2004) im GoetheMuseum Düsseldorf. Kat. v. Achim Aurnhammer. nicht aufbringen u. kam einige Wochen ins Heidelb. 2004. – Italo Michele Battafarano: Gefängnis von Antwerpen. Er wehrte sich mit Dell’arte di tradur poesia. Dante, Petrarca, Ariosto, Gegenklagen u. beschuldigte seinerseits die Garzoni, Campanella, Marino, Belli. Analisi delle Welser u. a. der Steuerhinterziehung. In eitraduzioni tedesche dall’età barocca fino a Stefan nem am 19. Okt. 1541 geschlossenen VerGeorge. Bern u. a. 2006. Frauke Stiller / Red. gleich mit den Welsern verzichteten diese auf ihre finanziellen Forderungen, u. F. gab seine Ansprüche auf Neugranada auf. Von der In-
Federmann
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quisition als Lutheraner verdächtigt, starb F. Frühneuzeit-Info 2 (1991), H. 1. S. 76–83; [Tl. 2: Marktgeschichtl. Komm.] Ebd. H. 2. S. 12–34. – im Febr. 1542 in Valladolid. Den Bericht über seine erste Reise verfasste Sabine Wagner: N. F.s Jndianische Historia: Zum F. zur Rechtfertigung vor den Welsern im Verhältnis v. offizieller Reiseberichterstattung u. jurist. Rhetorik. In: Frühneuzeit-Info 5 (1994), H. Jahr 1532. Der Text wurde 15 Jahre nach F.s 2. – Dies.: Die Topik der Aneignung. Zur FunkTod von seinem Schwager Hans Kiffhaber tionalisierung des Kannibalismus in der dt. Lit. der u. d. T. Jndianische Historia. Eyn schöne kurtz- Frühen Neuzeit. Phil Diss. (masch.) Wien 1998. weilige Historia Niclaus Federmanns des Jüngern Wolfgang Neuber erster raise so er von Hispania zu Andolosia auß in Indias des Occeanischen Mörs gethan hat [...] auffs Federmann, Reinhard, * 12.2.1923 Wien, kürtzest beschriben gantz lustig zu lesen (Hage† 29.1.1976 Wien. – Erzähler u. literarinau: Sigmund Bund 1557) publiziert. Erzählt scher Übersetzer. werden F.s Reise nach u. von Venezuela u. v. a. der Eroberungszug. Zu rd. zwei Dritteln Der Sohn eines hohen Wiener Juristen verlor besteht das Buch aus der dt. Übersetzung je- die Eltern sehr früh u. arbeitete nach der nes Protokolls, das der kaiserl. Notar ver- Matura 1941 u. a. zeitweise als Hilfsarbeiter fasste, der die Expedition begleitete. Das u. Chauffeur. 1942 zur Wehrmacht einberuhauptsächl. Augenmerk liegt dabei auf der fen, kam F. verwundet in russ. GefangenReisebewegung von einem indian. Volk zum schaft. 1946 begann er im Kreis um die Zeitnächsten u. auf den militär. Ereignissen, die schrift »Plan« Gedichte u. kleine Prosa zu sich aus der Landnahme für die span. Krone veröffentlichen. Gefördert von Otto Basil, fiergaben. Die genauen Angaben über die ein- nanziell unterstützt von Friedrich Torberg, zelnen Etappen erlauben es, sie geografisch geriet er schnell in den Sog literar. Lebens u. nachzuvollziehen. Eine in vergleichbaren verfasste, meist mit Milo Dor, KriminalroReiseberichten der Zeit übliche Beschreibung mane mit viel Zeitkolorit (Internationale Zone. der Sitten der Indianer findet sich nicht. Als Wien/Bln. 1953). Anhaltender Geldmangel einer der wenigen volkssprachl. Reiseberichte veranlasste F. zu reger Mitarbeit bei Zeitunder Frühen Neuzeit blieb das Buch zudem gen u. Zeitschriften (Kurzgeschichten) u. bei ohne Illustrationen. Aus diesen Gegebenhei- Fernsehen u. Rundfunk (Features, Hörspiele). ten erklärt es sich wohl, dass der Bericht keine Er war tätig als Herausgeber u. a. von Leopold zweite Auflage erlebte u. erst im 19. Jh. wie- von Sacher-Masoch u. Bertha Zuckerkandl. So derentdeckt wurde. Alfred Döblin setzte F. in beansprucht, kam der hochbegabte Erzähler seiner Amazonas-Trilogie (1937–48) ein lite- nur selten zu literar. Arbeiten von einer Qualität wie der Erzählung Napoleon war ein rarisches Denkmal. Ausgaben: Belle et agréable narration du pre- kleiner Mann (Mchn. 1957. 1963) oder den mier voyage de Nicolas F. le jeune. Paris 1837. – Erzählbänden Es kann nicht ganz gelogen sein Indianische Historia: Neuausg., hg. v. Karl August (Wien 1951) u. Der schielende Engel (Graz 1963). Klüpfel. Stgt. 1859. – Neuausg., hg. v. Arnold Fe- Von F.s sechs Romanen ist Das Himmelreich der dermann. In: Ders.: Dt. Konquistadoren in Süd- Lügner (Mchn. 1959) der bedeutendste: F. eramerika. Bln. 1938. – Neudr. u. d. T. Historia In- zählt darin von der Februarrevolte der österr. diana. Madrid 1958. – Neudr. Amsterd. 1969. – Sozialdemokratie 1934. Die Jahre 1938 u. Faks. der Erstausg. Wien 1994. 1948 verbindet F. in dem Roman Chronik einer Literatur: Karl Heinrich Panhorst: N. F. u. die Nacht (Wien 1988), der 1950 in der Wiener Entdeckung Neu-Granadas. In: Iberica 7 (1927), »Arbeiterzeitung« erschien. F. übersetzte, S. 106–130. – Hermann Kellenbenz: F. In: NDB. – z.T. zus. mit Milo Dor, u. a. Milovan Djilas, Juan Friede: N. F., Conquistador de Venezuela. Ivo Andric´, Isaak Babel u. – als echte NachCaracas 1959. – Wolfgang Neuber: Fremde Welt im europ. Horizont. Zur Topik der dt. Amerika-Rei- schöpfung – Dino Buzzati. Seit 1961 Mitgl. seberichte der Frühen Neuzeit. Bln. 1991. – Ders.: des österr. PEN-Clubs, war F. zuletzt dessen Die Drucke der im Original dt. Amerikareisebe- Generalsekretär u. organisierte den großen richte bis 1715. Synopse, Bibliogr. u. marktge- PEN-Kongress 1975. Seit 1972 gab er die Lischichtl. Komm. [Tl. 1: Synopse, Bibliogr.] In: teraturzeitschrift »Die Pestsäule« heraus.
Federspiel
395 Weitere Werke: Romeo u. Julia in Wien (zus. mit Milo Dor). Zürich 1954 (R.). – Othello v. Salerno (zus. mit M. Dor). Zürich 1956 (R.). – Herr Felix Austria u. seine Wohltäter. Mchn. 1970 (R.). – Die Stimme. Wien 2001 (E.en). Literatur: ›Die Pestsäule‹ (in memoriam R. F.). Wien 1977 (mit Bibliogr.). – Hermann Schreiber: Über R. F. (1923–1976). In: LuK (1993), H. 273/ 274, S. 99–104. – Milo Dor: Der Fall R. F. In: Krit. Ausg. 7 (2003), 1, S. 56 f. Hermann Schreiber / Red.
Federspiel, Jürg, * 28.6.1931 Kemptthal/ Kt. Zürich, † Januar (12.1.?) 2007 Basel. – Erzähler. Der in Davos aufgewachsene F. galt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Deutschschweiz. Ab 1951 arbeitete er als Reporter u. Filmkritiker für verschiedene Schweizer Zeitungen. Nach längeren Aufenthalten in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland u. den USA lebte er bis zu seinem Tod abwechselnd in Basel u. New York. Er litt unter Diabetes u. Parkinson. Nachdem er seit dem 12.1.2007 als vermisst galt, wurde seine Leiche am 25.1.2007 in einem Stauwehr gefunden; wahrscheinlich hat er seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. In der Ballade von der Typhoid Mary (Ffm. 1982. 31991 u. ö.) erfand F., ausgehend von mündlicher Überlieferung u. dem Aufsatz eines Seuchenmediziners, jene Maria Caduff, Tochter von Bündner Auswanderern, die 1868 New York auf einem Schiff erreicht, dessen Passagiere einer Typhusepidemie zum Opfer gefallen sind. All den »Gönnern«, die das Waisenkind unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit missbrauchen, bringt Mary den Tod, denn sie ist immune Trägerin des Virus. Erst ein Mediziner auf dem neuesten Stand epidemologischer Erkenntnis findet ihre Spur. Dr. Rageet, ein sterbender Arzt, zeichnet ihre Geschichte auf. In Mary möchte er einen Racheengel sehen, der ausgleichende Gerechtigkeit übte. Doch die moderne Medizin hat mit den Seuchen auch die Möglichkeit vertrieben, daran zu glauben. Zurück bleibt eine »Seelenpest«, verzweifelte Gleichgültigkeit bei gleichzeitiger Tabuisierung des Sterbens, wogegen Rageet vergeblich anschreibt.
F.s erste literar. Publikation war eine Sammlung von Erzählungen (Orangen und Tode. Mchn. 1961. 1985 u. ö.). Davon sind Orangen vor ihrem Fenster u. Die MonderauChronik meisterhafte Kurzgeschichten, ebenso die Erzählungen In den Wäldern des Herzens u. Der Überlebende aus F.s zweitem Erzählband Der Mann der Glück brachte (Mchn. 1966. Ffm. 1983). Die bittere Dissonanz von Liebe, Verrat u. Tod ist das vielfältig variierte Thema. In Museum des Hasses. Tage in Manhattan (Mchn. 1969. 51981. Ffm. 1990) entsteht durch die Konstellation unterschiedlicher Textsorten eine aktuelle Darstellung des Überlebens in der Großstadt New York, die dem Leser die Sicherheit panoramat. Distanz entzieht: »Es ist verboten in diesen Zeiten, Ansichtskarten zu schreiben«, sagte F. u. benannte sein Leitmotiv: »Der Tod ist die asymptotische Annäherung an alle Geheimnisse dieser Stadt«. Damit gab F. in nuce auch die Poetologie seiner beiden Reportagebände Die beste Stadt für Blinde und andere Berichte (Zürich 1980. 1984) u. Wahn und Müll. Berichte und Gedichte (Zürich 1983). F. ging darin recherchierend von dem aus, was im Allgemeinen verdrängt wird, von der Leiche im Leichenhaus, vom Friedhof u. vom Abfallberg. Er berichtet in eindringl. Kunstreportagen, wie das Publikum auf Werke reagiert, die dieses Verdrängte in Erinnerung rufen. F. erhielt u. a. 1986 den Literaturpreis der Stadt Zürich u. 1988 den Basler Literaturpreis. Weitere Werke: Massaker im Mond. Mchn. 1963. Ffm. 1986 (R.). – Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Zwölf Fabeln. Ffm. 1985. 1988. – Kilroy, Stimmen in der Subway. Frauenfeld 1988 (Hörsp.). – Geographie der Lust. Ffm. 1989. 1995 (R.). – Eine Halbtagsstelle in Pompeji. Ffm. 1993. 1995 (E.en). – Melancolia Americana. Portraits. Zürich 1994. – Im Innern der Erde wütet das Nichts. Frauenfeld 2000 (L.). Literatur: Pirmin Meier: J. F. Der Mensch als Puzzle, nicht als Rätsel. In: Grenzfall Lit. Hg. Joseph Bättig u. Stephan Leimgruber. Freib./Schweiz 1993, S. 471–487. – Romey Sabalius: Von Irren u. Normalen. Über die beängstigende Un/Normalität des Alltags in der Kurzprosa v. J. F. In: Flucht u. Dissidenz. Hg. Zymunt Mielczarek. Ffm. u. a. 1999, S. 103–122. – Barbara Rowin´ska-Januszewska: Auf der Suche nach verlorenen Gefühlen. Zu J. F.s ›Eine
Fedro Halbtagsstelle in Pompeji‹. In: Neue Erscheinungen in der dt. Sprache u. Lit. unter dem Gesichtspunkt der Germanistenausbildung. Hg. Hanna Biadun-Grabarek u. André Barz. Bydgoszcz 2001, S. 148–165. – Dies.: Die Sehnsucht nach den Sternen. Zu J. F.s ›Eine Halbtagsstelle in Pompeji‹. In: Dies.: Helvet. Literaturwelten im 20. Jh. Poznan´ 2003, S. 125–152. – Anton Krättli: J. F. In: KLG. – Lutz Hagestedt: J. F. In: LGL. Rudolf Käser / Red.
Fedro (auch: Phaedro), Georg, * Rodach/ Franken, † nach 1577. – Arzt; Verfasser chirurgischer u. alchemomedizinischer Schriften.
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che Streuüberlieferungen dokumentieren im Verein mit den Aufgriffen F.’scher Texte durch namhafte Herausgeber (Forberger, Figulus, Johann Thölde, Johannes Staricius) eine lebhafte F.-Rezeption in der frühneuzeitl. Respublica alchemica. Die vernichtenden Urteile über F.s frühparacelsistisches Werk in der neueren Historiografie sind revisionsbedürftig. Ausgabe: CP II, Nr. 71 (Dedikation der ›Verantwortung‹ an Friedrich IV. Graf v. Wied, Köln 1565). Literatur: Karl Sudhoff: Ein Beitr. zur Bibliogr. der Paracelsisten. In: ZfB 10 (1893), S. 316–326, 385–407, hier S. 320–324; 11 (1894), S. 169–172, hier S. 170 f. – John Ferguson: Bibliotheca chemica. Bd. 2, Glasgow 1905, S. 187 f. – CP II, S. 528–549 (mit weiterer Lit.). Joachim Telle
Schulhumanistisch geprägte Lehrjahre führten F. an die Universität Basel (1556/57) u. Dillingen; weitere Stationen seines unsteten Lebensganges bildeten Wien (1559), Douai/ Fegfeuer. – Mitteldeutscher SpruchdichFlandern (1561/62), Ingolstadt (1562), Augster aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. burg u. der Niederrhein, Schauplatz schwerer Konflikte F.s mit Johann Weyer, Bernhard Von F. ist ein Korpus von 21 Spruchstrophen Dessen u. weiteren Schulmedizinern (siehe (davon zwei unvollständig), in zwei Tönen F.s autobiogr. Verantwortung [...] Auff etlich überliefert. Die in beiden Textzeugen (Jenaer vnglimpff der Sophistischen Artzten. o. O. [Köln] Liederhs. [= J]: 14 Strophen. Basler Fragment 1566). Dann gehörte F. zur Entourage der [= Ba]: sieben Strophen) bruchstückhafte Königin Katharina von Habsburg (Aufent- Tradierung lässt allerdings nur auf ein gehalte in Wien 1567 u. in Linz); schließlich ringfügig umfangreicheres Œuvre schließen. lebte er in Augsburg (1571, 1574) u. Inns- Der Name »vegeviur« erscheint allein in Ba, bruck (1577). F. zählte Humanisten (Johann die in J (nach Blattverlust) stehenden StroOporinus, Basel; Kilian Blanckenstein, Dil- phen hielt man lange irrtümlich für Werke lingen; Matthaeus Westcapellius, Douai) u. Meister Gervelins. Paracelsisten (Hans Killian, Neuburg/D.; »Fegfeuer« ist Künstlername, vielleicht in Christoph Ries, Salzburg) zu seinen Freunden Anlehnung an den gleichzeitigen, ebenfalls u. Bekannten; auffällig sind mannigfaltige mitteldt. Kollegen »Höllefeuer« (allein in J höf. Beziehungen (etwa zu Kaiser Ferdinand überliefert), in dessen einzigem Ton man I., Wien; Pfalzgraf Ludwig, Amberg/Ober- zudem formale Entsprechungen zu F.s Ton I pfalz; Ludwig I. Graf von Sayn-Wittgenstein; erkannte. Liegt nicht redaktionelle VerErzherzog Ferdinand II., Innsbruck). wechslung, sondern absichtsvolle BezugnahSeine Hinwendung zur paracelsist. Alche- me vor, passte dies gut zu F.s Profil als momedizin verband F. 1562 in Ingolstadt mit Spruchdichter, der nicht nur die traditionelder Veröffentlichung deutscher Schriften zur len Themen seiner Zunft bediente (GastlichBekämpfung der Epilepsie (Eleenus), Pest keit, Freigebigkeit, Frömmigkeit), sondern in (Halopyrgice), »offener Schäden« (Chirurgia seinem Sang eine Vernetzung mit den Dichminor) u. zur alchem. Bereitung einer Arkan- terkollegen – auch vermittels namentlicher substanz (Aquila coelestis), denen sich eine Cur Nennung – erstrebte. Gegen ungenannte der [...] Pestilentz (Wien o. J.) anschloss. Die lat. »dunkelmeister« gibt F. sich durchaus Opuscula iatro-chemica (hg. v. Johann Andreas kampflustig (J 9). In einen sonst nicht beSchenck. Ffm. 1611) öffneten F.s Weg ins zeugten Streit zwischen dem mitteldt. Englische (Physicall [...] Works. Übers. v. Meißner u. dem oberdt. Marner greift er alNicholas Culpeper. London 1654 u. ö.). Etli- lerdings mit einer Strophe ein (J 18), die den
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attackierten Marner gegenüber dem Anspruch auf künstler. Alleinherrschaft, den der Meißner artikuliert haben soll, in Schutz nimmt, wobei F. nebenher auf andere ihm bekannte Sänger in »Ostervranken« anspielt. Die vorauszusetzende Aktualität dieser Kontroverse ist, da Gönnernennungen fehlen, der wichtigste Anhaltspunkt für die Datierung von F.s Schaffen, das wohl ohne Nachhall blieb. Ausgaben: Georg Holz u. a. (Hg.): Die Jenaer Liederhs. I. Lpz. 1901, S. 59–62 (Nr. 5–18). – Wolfgang v. Wangenheim: Das Basler Fragment einer mitteldt.-niederdt. Liederhs. u. sein Spruchdichter-Repertoire (Kelin, F.). Ffm. 1972, S. 154–230. Literatur: Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973. – Georg Objartel: Der Meißner der Jenaer Liederhs. Bln. 1977, S. 45–48. – Udo Gerdes: F. In: VL. – Helmut Lomnitzer: Höllefeuer. In: VL. – RSM 3 (1986). – Jens Haustein: Marner-Studien. Tüb. 1995, S. 41–43. Christoph Fasbender
Fehse
wegung in F., der zu den wichtigsten Neubegründern einer ernsthaften niederdt. Erzählprosa im 20. Jh. gehört, den Ahnherrn plattdt. Blut- u. Bodenliteratur. Ausgaben: Sämtl. Werke. Hg. Kay Dohnke u. Jürgen Ruge. 5 Bde., Hbg. 1986 ff. Literatur: Gustav Hoffmann: Die Weltanschauung bei J. H. F. Diss. Neumünster 1957. – Lotte Foerste: Idee als Gestalt in F.scher Kunst. Neumünster/Hbg. 1962. – Claus Schuppenhauer: J. H. F. In: Ders.: Plattdt. Klassiker. Leer 1982, S. 61–90. – Kay Dohnke (Hg.): J. H. F. – ein Erzähler der Provinz. Heide in Holstein 1987. – Ders.: ›Maren‹ u. der Mann im Braunhemd. Zur Rezeption der Werke v. J. H. F. im Dritten Reich. In: Studien zu Moritz Jahn. Hg. Dieter Stellmacher. Rinteln 1986, S. 91–132. – Claus Schuppenhauer: ›Nu Steweln an, Gewehr to Hand...‹. Zu Bild u. Funktion des Krieges bei J. H. F. (u. in der niederdt. Lit. überhaupt). In: Nd. Jb. 113 (1990), S. 7–43. – Goedeke Forts. – Ludo Simons: J. H. F. in Flandern. In: Vulpis adolatio. Hg. Robert Peters u. a. Heidelb. 2001, S. 791–800. Jörg Schilling / Red.
Fehrs, Johann Hinrich, * 10.4.1838 Müh- Fehse, Willi Richard, * 16.5.1906 Kassieck/ lenbarbek, † 17.8.1916 Itzehoe; Grab- Altmark, † 2.3.1977 Göttingen. – Erzähstätte: ebd., Städtischer Friedhof. – Er- ler, Essayist, Lyriker. zähler u. Lyriker. Der Landarbeitersohn F. war 1865–1903 Leiter einer Privatschule in Itzehoe. Er verfasste zunächst hoch- u. plattdt. Lyrik u. Kurzprosa, wandte sich aber als einer der wenigen niederdt. Schriftsteller nach Reuter auch dem Roman zu. Seine plattdt. Erzählung Lütj Hinnerk (Itzehoe 1878) beschreibt das schwere Schicksal eines behinderten Jungen. Das hier spürbare Interesse an psycholog. Fragestellungen kommt auch in F.’ Hauptwerk Maren, en DörpRoman ut de Tid von 1848–51 (Garding 1907) zum Ausdruck. Der nach dem Vorbild des realist. Romans strukturierte Text analysiert vor dem Hintergrund der schleswig-holsteinischen Erhebung gegen Dänemark Grundzüge des bäuerl. Wertsystems u. schildert den Lebensweg einer Frau, die ihrer verarmten Familie durch die Heirat mit einem ungeliebten Großbauern über die schwierigen Zeiten hinweghilft. Während der Herrschaft der Nationalsozialisten sahen weite Teile der niederdt. Be-
Der Sohn eines Bauern aus der Altmark veröffentlichte während seiner Ausbildung zum Lehrer den ersten Gedichtband Frührot (Lpz. 1925). 1926 ging F. nach Berlin, wo er u. a. bei Eduard Spranger u. Max Dessoir studierte u. für die »Literarische Welt« u. a. Zeitschriften zu schreiben begann. Gemeinsam mit Klaus Mann gab er 1927 eine Anthologie jüngster Lyrik (Hbg., mit den ersten Arbeiten v. Günter Eich) heraus, der 1929 eine zweite folgte. Mit Manfred Hausmann, Ernst Glaeser, Wilhelm Emanuel Süskind, Martin Beheim-Schwarzbach u. a. gehörte er seit 1928 zum »Kreis der Zwölf«, einer Gruppe junger Literaten, die sich die Aufgabe gestellt hatten, »eine Literatur des Rundfunks zu schaffen und die Form des Hörspiels zu finden«. 1932 erschien der Novellenband Flucht vor dem Alter (Magdeb.), der bereits den wehmütig-übermütigen Humoristen der späteren Jahre erkennen ließ. Nach dem Zweiten Weltkrieg übte F. als Rektor einer Schule in Göttingen weiter seinen pädagog. Beruf aus. Zgl. entfaltete er eine
Feind
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rege literar. Tätigkeit, verfasste Gedichte, Novellen, Romane, Essays, Hörspiele, Jugendbücher u. Theaterkritiken. Bekannt wurde er v. a. mit seiner Anekdotensammlung aus der dt. Literaturgeschichte Der blühende Lorbeer (Mchn. 1953) sowie mit dem Essayband Liebeserklärung an Europa (Ffm. 1969). In seinem letzten Roman Der Sonnenjüngling (Lahr 1977) schilderte er unter Verwendung genauer geschichtl. u. völkerkundl. Fakten eine Episode aus der Zeit der span. Eroberung Südamerikas. Weitere Werke: Von Goethe bis Grass. Bielef. 1963 (Ess.). – Romeo im Tingeltangel. Klagenf. 1964 (R.). – Das Herbstlicht. Ffm. 1972 (L.). Peter König / Red.
Feind, Barthold, d.J., auch: Ferdinandus Gastus von Perlensee, Aristobulus Eutropius, Sincerus Wahrmund, * 23.11.1678 Hamburg, † 15.10.1721 Hamburg. – Jurist; Verfasser von (Musik-)Theaterstücken, Gedichten, Satiren, literarischen, politischen u. juristischen Traktaten, Übersetzer u. Zeitschriften-Herausgeber. Nach dem Besuch des Johanneums (1690) u. des Akademischen Gymnasiums (1697) in Hamburg studierte F. in Wittenberg (1699) u. Halle (1701) weltliche u. kirchl. Jurisprudenz, u. a. bei Thomasius, u. kehrte 1703 als Licentiat beider Rechte nach Hamburg zurück. 1704/05 bereiste F. Italien, 1706/07 Belgien, Holland u. Frankreich. Gegen die Demokratische Partei in Hamburg engagierte sich F. auf Seiten des patriz. Rats, sodass es 1707 zur Verbrennung seiner Schriften u. zu seiner Exilierung kam. Nach Restauration der Ratsherrschaft kehrte F. 1708 zurück, wurde aber erst 1710 endgültig rehabilitiert. F. lebte danach als Advokat u. vorübergehend als Dom-Vikar in Hamburg. Als schwedischer Agent wurde er 1717 kurzzeitig im dän. Rendsburg inhaftiert. 1721 starb der 42-Jährige infolge eines Treppensturzes. Schon als Schüler führten F. u. sein Freundeskreis, zu dem Michael Richey u. Barthold Heinrich Brockes gehörten, »Comoedien« auf. Als junger Mann hegte F. den Ehrgeiz, »den Ruhm eines der vornehmsten deutschen Poeten zu erwerben«, erinnerte
sich Brockes. Zwischen 1705 u. 1710 war F. der bedeutendste Autor der Hamburger Oper, sowohl als Bearbeiter italienischer Vorlagen als auch mit Original-Libretti, aus denen Johann Caspar Goethe (Viaggio per l’Italia, 1740) wie selbstverständlich zitierte. Außerdem betätigte F. sich als Gelegenheitsdichter, Übersetzer (Jacob Cats: Wercke. Hbg. 1710–17) u. Journalist (Relationes Curiosæ. 3 Bde., Hbg. 1707–09). Herausragend sind F.s Vorreden u. theoret. Aufsätze (v. a. Gedancken von der Opera. In: Deutsche Gedichte. Stade 1708. Von Erregung der Gemüths-Bewegungen in Schau-Spielen. In: Simson. Hbg. 1709), in denen er überraschend moderne Ideen entwickelte, etwa über die histor. Relativität literarischer Regeln u. Formen oder über die Autonomie der Kunstwahrheit. Seine wirkungsästhet. Überlegungen überholten die aufklärerisch-klassizist. Poetik noch vor ihrer Kodifizierung bei Gottsched. F. wertete nichtsprachl. Zeichen in der Kunst auf u. begriff v. a. das musikal. Theater als synästhetisches Ereignis, dessen »Endzweck« es sei, »den Nutzen mit, durch und in der Belustigung zu verknüpffen.« Bei F. lief die Aufklärung der Menschen nicht nur über den Verstand, sondern auch über die Sinne, u. zwar als Neben- u. Ineinander begrifflicher u. begriffsloser Kunstübung. F.s literar. Wirkung war zunächst gering. Das politisch-satir. Zeitstück Das verwirrte Haus Jacob (o. O. 1703. o. O. 21708. Nachdr. Bern 1983) beeinflusste zwar Ludvig Holbergs Den Politiske Kandestøber (1722), doch später wurde F. kaum mehr wahr genommen, weil sein Name mit dem von Christian Heinrich Postel irrtümlich für die bloße Nachahmung der »schwülstigen und spitzfindigen« ital. Barock-Dichtung stand (so bei Lessing 1765: 332. Literaturbrief). Erst im 20. Jh. wurde er in der Wissenschaft ebenso wie auf dem Theater wieder entdeckt. Am erfolgreichsten war das von Reinhard Keiser vertonte »Musicalische Schau-Spiel« Masagniello Furioso (Hamburg 1706, 1709, 1714, 1727; Neuinszenierungen: Berlin 1967, Basel 1973, Bremen 1989, Stuttgart 2001. Nachdr. 1980). Das erste Produkt der Zusammenarbeit von F. u. Keiser, Römische Unruhe/ oder: Die Edelmüthige Octavia (o. O. [Hbg.] 1705), das
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Händel so sehr beeindruckte, dass er diese Oper öfters zitierte, wurde 2004 in Karlsruhe wieder aufgeführt. Weitere Werke: Musikalische Schauspiele: Die Kleinmüthige Selbst-Mörderin Lucretia. Oder: Die Staats-Thorheit des Brutus. [Hbg.] 1705. Nachdr. 1980. – Der Durchlauchtige Secretarius, Oder: Almira, Königin in Castilien. Hbg. 1706 (FeustkingBearb.). – La costanza sforzata. Die Bezwungene Beständigkeit/ Oder Die listige Rache des Sueno. [Hbg.] 1706. – L’amore ammalato. Die kranckende Liebe. Oder: Antiochus u. Stratonica. [Hbg.] 1708. – Der Fall des grossen Richters in Jsrael Simson, Oder: Die abgekühlte Liebes-Rache der Debora. Hbg. 1709. Nachdr. 1980. – Der durch den Fall des Grossen Pompejus Erhöhete Julius Caesar. [Hbg.] 1710. – Das Röm. April-Fest. Hbg. 1716. – Andere Dichtungen: Die Gedancken Einiger aus der Ferne am Apollons-Berge weidenden Schäffer. 1700. – Geöffnete Schaubühne Der Fürnehmsten WeltWeisen u. deren Gesellschafften. Ffm./Lpz. 1702. – Das Karneval der Liebe. Halle 1702. Nachdr. 1981. – Der heldenmüthige Monarch v. Schweden Carolus XII. Stade 1707. – Der Weißheit-Born. Hbg. 1713. Nachdr. 1982. – Der Geist der Poesie. Hbg. 1714. Nachdr. 1981. – Echo Serenata. Hbg. 1714. Nachdr. 1981. – Übertragungen: J. v. Decker: Das Lob Der Geld-Sucht. Hbg./Lpz.1702. – V. Nolfi: Bellerophon Oder: Das in die Preuß. Krone verwandelte Wagen-Gestirn. Hbg. 1708. – F. Silvani: Desiderius, König der Longobarden. Hbg. 1709. – M. Noris: L’amore verso la patria [...]. Oder: Der Sterbende Cato. Hbg. 1711. – G. Rossi: Rinaldo. Hbg. 1715. Nachdr. 1980. – Abhandlungen: Disputatio [...] An sacrificia sint religionis naturalis? Wittenb. 1699. – Ex prudentia morali de polypragmosyne. Wittenb. 1700. – Unstreitiges Recht Eines Fürsten/ Staats/ oder [einer] Freyen [...] Republique, Einen Gesandten [...] Bey Schändung seines sonst inviolablen Caracters, in Verübung sonst sträffl. Mißhandlungen/ insonderheit gegen den Staat/ Zu arrestiren u. [...] zurück zu schicken. Hbg. 1719. – Außerdem verschiedene literar. u. polit. Streitschr.en. Sammelausgabe: Barth. Feindes/ Lt. Dt. Gedichte/ Bestehend in Musical. Schau-Spielen/ LobGlückwünschungs- Verliebten u. Moral. Gedichten/ Ernst- u. schertzhafften Sinn- u. Grabschrifften/ Satyren/ Cantaten u. allerhand Gattungen. Sammt einer Vorrede Von dem Temperament u. GemühtsBeschaffenheit eines Poeten/ u. Gedancken v. der Opera. Stade 1708. Nachdr. Bern u. a. 1989. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1437–1456. – Dt. Gedichte 1708 (Nachdr. 1989, s. o.), S. 75*-90*. – Biografien: DBA 311,
Feinler 196–227. – Wilhelm Creizenach: F. In: ADB. – Heinrich Reincke: F. In: NDB. – W. Gordon Marigold in: Dt. Gedichte 1708 (Nachdr. 1989, s. o.), S. 13*-34*. – B. Jahn in: MGG 2. Aufl. P 6 (2001), Sp. 879–881. – Weitere Titel: Gloria Flaherty: Opera in the Development of German Critical Thought. Princeton 1978, S. 53–65. – Hans-Joachim Theill: Reinhard Keisers ›Masaniello furioso‹. In: Schweizer Beiträge zur Musikwiss. 3 (1978), S. 107–142. – Silke Leopold: F.s u. Keisers »Masagniello furioso«. Eine polit. Oper? In: Hamburger Jb. f. Musikwiss. 5 (1981), S. 55–68. – Helen Watanabe-O’Kelly: B. F.’s ›Octavia‹ (1705) and the ›Schuldrama‹-Tradition. In: GLL 35 (1982), S. 208–220. – W. G. Marigold: Die polit. Schr.en B. F.s. In: Daphnis 13 (1984), S. 477–523. – H. Watanabe-O’Kelly: B. F., Gottsched, and ›Cato‹ – or Opera Reviled. In: PEGS 55 (1984/85), S. 107–123. – W. G. Marigold: B. F. u. die Satire in Hamburg am Anfang des 18. Jh. In: Daphnis 14 (1985), S. 803–831. – Ernst Fischer: Patrioten u. Ketzermacher. Zum Verhältnis v. Aufklärung u. luth. Orthodoxie in Hamburg am Beginn des 18. Jh. In: Zwischen Aufklärung u. Restauration. Hg. Wolfgang Frühwald u. a. Tüb. 1989, S. 17–47. – Klaus Zelm: Reinhard Keiser, Die röm. Unruhe oder Die edelmütige Octavia. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Bd. 3 (1989), S. 271 f. – Sara Smart: Die Oper u. die Arie um 1700. In: Chloe 12 (1992), S. 183–212. – Susanne Bauer-Roesch: Gewalt auf der Opernbühne des 17. Jh. In: Ein Schauplatz herber Angst. Hg. Markus Meumann u. a. Gött. 1997, S. 145–169. – Dorothea Schröder: Zeitgesch. auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater im Dienst v. Politik u. Diplomatie (1690–1745). Gött. 1998, S. 122–127 u. 251–256. – Arnd Beise: Neapel 1647–Hamburg 1706. B. F.s ›Masagniello Furioso‹ u. das Drama um 1700 als Institution histor. Gelehrsamkeit. In: Gelehrsamkeit in Dtschld. u. Italien im 18. Jh. Hg. Giorgio Cusatelli u. a. Tüb. 1999, S. 219–239. – Anette Guse: B. F.s ›Gedancken von der Opera‹ u. ihr Bezug zu Lessing. In: Seminar 38 (2002), S. 192–208. – Stephan Kraft u. Andreas Merzhäuser: Il caso Masaniello. Zur Bedeutung ital. Modelle der Rationalität bei Christian Weise u. B. F. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Hg. Sylvia Heudecker u. a. Tüb. 2004, S. 198–219. – Flood, Poets Laureate, Bd. 4, S. 2358 f. Arnd Beise
Feinler, Gottfried, * 5.12.1650 Gleima bei Naumburg, † 5.6.1721 Wiehe/Unstrut. – Lyriker. Der Werdegang F.s wurde entscheidend durch das Vorbild seines Vaters Johann Fein-
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Weitere Werke: Neu ausgefertigtes poet. ler geprägt, eines luth. Geistlichen u. erfolgreichen Erbauungsschriftstellers. Im Gegen- Schatz-Kästlein [...]. Gera 1685. – Lob des himml. satz zum Vater, der v. a. seine Predigten für Stadt-Lebens, in alexandrin. Versen entworffen. den Druck bearbeitete u. thematisch geordnet Jena 1698. – Theatrum morientium. Geistl.-histor. Schauplatz. Worinnen enthalten: 1. Rühml. Nachveröffentlichte, zeigte der Sohn früh eine klang 500 [...] Christen. 2. Ehren-Gedächtniss 200 Neigung zur schönen Literatur u. trat selbst evang. [...] Theologen [...]. Lpz. 1701/02. 3. Anals Dichter hervor. Sein 1669 in Leipzig be- hang: [...] Todten-Gedichte. Lpz. 1701. – Bibl. gonnenes Studium setzte er 1672 in Jena fort Schau-Bühne bekehrter Sünder. Lpz. 1704. – Bibl. u. erhielt vier Jahre später eine Anstellung als Buß-Exempel. Lpz. 1704. – Tractatus historicus v. Diakon in Wiehe u. als Pastor in Garnbach. der neulich gewesenen großen ungemeinen SonVon 1676 bis zu seinem Tod wirkte F. dort als nen-Finsterniß [...]. Jena 1707. – Zweihundert evang. Theologen, Lehrer u. Prediger Ehren-GeSeelsorger. Seine erste Publikation, Poetisches Lust- dächtnuß. o. O. (ca. 1710). Ausgabe: Fischer-Tümpel 4, S. 375 f. Gärtgin (Zeitz 1677), ist eine Sammlung von Literatur: Goedeke 3, S. 283 f. – Karl Voßler: 200 Gedichten barocker Autoren, die die Entwicklung der opitzian. Kunstdichtung Das dt. Madrigal. Weimar 1898, S. 42, 72–74. – nach 1624 widerspiegelt. Seine eigene Dich- Dietrich Korn: Das Thema des jüngsten Tages in tung erhielt ihre entscheidende formale An- der dt. Lit. des 17. Jh. Tüb. 1957. – Günter Ott: Die ›Vier letzten Dinge‹ in der Lyrik des Andreas regung durch Caspar Zieglers Traktat Von den Gryphius. Untersuchungen zur Todesauffassung Madrigalen (Lpz. 1653). So entstand nicht al- des Dichters u. zur Tradition des eschatol. Zyklus’. lein die Übertragung des Hohen Liedes in Ffm. u. a. 1985, S. 105–113. – Heiduk/Neumeister, Madrigale (Heilig verliebte und hinwieder hertz- S. 30, 162, 327. Ulrich Maché / Red. lich geliebte Sulamithin. Jena 1698), sondern auch sein Wohl-geplagter und unverzagter Tobias (Lpz. 1701. 1702). Darüber hinaus behandelte Feld, Friedrich, eigentl.: F. Rosenfeld, er in der Form des Madrigals auch allgemeine * 5.12.1902 Wien, † 27.12.1987 Bexhill/ religiöse Themen: Poetische Betrachtung der IV. Großbritannien. – Verfasser von Kinderletzten Dinge, oder geistliche Madrigalen (Jena u. Jugendbüchern. 1692). Sein Historischer Lust-Garten (Lpz. 1702), vornehmlich eine Sammlung christlich-be- Nach dem Studium der Kunst- u. Literaturlehrender Histörchen u. Anekdoten, enthält – geschichte schrieb F. Theater- u. Filmkritiken in Anlehnung an F.s erste Anthologie – Ge- für die sozialdemokrat. »Arbeiterzeitung« in dichtproben von Opitz bis zu F. selbst. In ei- Wien. Als diese 1934 verboten wurde, ging er ner vorangestellten Abhandlung über den in die Tschechoslowakei u. arbeitete in den Zweck der Poesie gab F., unter Hinweis auf folgenden Jahren in Prag als Lektor u. Dradie bibl. Sänger Moses, Hiob, David u. Salo- maturg für eine amerikan. Filmgesellschaft. mon, der religiösen Lyrik den Vorzug vor 1939 emigrierte er nach Großbritannien. weltlicher Dichtung. Um die dt. Sprache ge- Dort musste er sich zunächst in einer Fabrik schmeidiger zu machen, forderte er unter verdingen, fand schließlich aber eine BeBerufung auf die Fruchtbringende Gesell- schäftigung bei einer Nachrichtenagentur. schaft weiterhin die Übersetzung literari- Seit 1962 lebte er als freier Schriftsteller in scher Werke in die Muttersprache. Sussex. Neben Ernst Stockmann u. Martin Kempe F. hat zahlreiche Kinder- u. Jugendbücher gehört F. zu den Dichtern, die der Form des geschrieben, die z.T. hohe Gesamtauflagen Madrigals in der zweiten Hälfte des 17. Jh. erzielten u. in viele Sprachen übersetzt wurzum Durchbruch verholfen haben. Eine den. Seinem eigenen Anspruch nach wollte er nachhaltige Wirkung war jedoch weder sei- als Kinderbuchautor »vor allem ein Genen Dichtungen noch seinen Erbauungs- schichtenerzähler« sein. Die Helden seiner schriften beschieden. Bücher sind meist Tiere u. Gegenstände, die mit ungewöhnl. Eigenschaften begabt sind u. die seltsamsten Abenteuer bestehen müssen,
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wobei das Gute stets belohnt u. das Böse bestraft wird. Besonderen Erfolg hatte F. mit dem Buch 1414 geht auf Urlaub (Wien 1948), in dem er die fantasievoll-märchenhafte Geschichte einer Lokomotive erzählt. Neben Erzählungen schrieb F. auch eine Reihe von Hörspielen u. Kinderstücken (Der Brunnen von Almazar. Wien 1949. Der schweigsame Flamingo. Wien 1964.) Weitere Werke: Tirilin reist um die Welt. Wien 1931. – Der Flug ins Karfunkelland. Prag 1936. – Der musikal. Regenschirm. Wien 1950. – Die Katze, die alle Sprachen konnte. Hbg. 1957. – Der Papagei v. Isfahan. Stgt. 1963. – Der Reiter auf der Wolke. Wien 1966. – Der König hinter dem Wandschirm. Gött. 1973. – Rendezvous mit Sebastian. Stgt. 1977. – Die unheiml. Nacht. Hann. 1980. – Dr. Pfirsich ist sprachlos. Hann. 1988. Peter König / Red.
Felder, Franz Michael, * 13.5.1839 Schoppernau, † 26.4.1869 Schoppernau; Denkmal an der Kirchenmauer. – Romanautor, Erzähler, Verfasser von gesellschaftskritischen Abhandlungen, Sozialreformer. Von Kindheit an auf einem Auge blind u. im Dorf durch seine Lesesucht ein Außenseiter, eignete sich der Bregenzerwälder Bauer F. autodidaktisch eine umfangreiche Bildung an. Seine von Auerbach u. James F. Cooper angeregte Dorfgeschichte Nümmamüllers und das Schwarzokaspale (Lindau 1863) über den Aufstieg einer heruntergekommenen Müllersfamilie wurde ein erster schriftstellerischer Erfolg. Sein literarischer Förderer, der Leipziger Germanist Rudolf Hildebrand, machte den romanschreibenden Bauern 1867 durch einen Artikel in der »Gartenlaube« als literar. Sensation bekannt. Er gewann den Hirzel-Verlag für ihn, wo F.s im Dorfmilieu spielende u. von aufklärerischem Gedankengut getragene Zeitromane erschienen: In Sonderlinge (2 Bde., Lpz. 1867) verbindet F. die Darstellung des Gegensatzes zwischen Fortschrittsgläubigkeit u. Rückständigkeit mit Naturschilderungen u. einer spannenden Handlung, in Reich und Arm (Lpz. 1868) steht die soziale Frage im Mittelpunkt. F.s noch zu seinen Lebzeiten ins Niederländische übersetzten Romane weisen ihn als bedeutenden
Felder
Vertreter eines politisch bewussten poet. Realismus aus. F. publizierte auch in Zeitschriften, etwa dem »Grenzboten« oder der »Österreichischen Gartenlaube«, in der 1867 die Erzählung Liebeszeichen erschien. Seine Sammlung von Sprichwörtern, Sagen u. Redensarten des Innerbregenzerwaldes stellte er Rudolf Hildebrand für das von diesem herausgegebene Deutsche Wörterbuch (den »Grimm«) zur Verfügung, das insg. etwa 300 F. zu dankende Belegstellen enthält. Seit 1864 im Gemeinderat, setzte F. in seiner Heimat mit der Gründung einer Handwerkerleihbibliothek, einer Viehversicherungsgesellschaft u. einer Sennereigenossenschaft ein umfangreiches sozialpolit. Reformwerk in die Tat um. Die von ihm u. seinem Schwager Kaspar Moosbrugger initiierte Vorarlberg’sche Partei der Gleichberechtigung (1866) forderte als erste Partei im alten Österreich das allg. Wahlrecht. In der Parteischrift Gespräche des Lehrers Magerhuber mit seinem Vetter Michel (1866, erst 1912 ersch.), legte F. seine von Lassalle inspirierten polit. Reformideen nieder, die ihm die Verketzerung als »Freimaurer« u. »Rot-Republikaner« von Seiten des ultramontanen Klerus u. Anfeindungen durch die monopolist. Käsegroßhändler eintrugen u. ihn mehrmals zur Flucht zwangen. Im Aug. 1868 starb überraschend seine Frau, mit der er fünf Kinder hatte; in den Monaten bis zu seinem eigenen frühen Tod an Tuberkulose verfasste F. sein bedeutendstes Werk, die Autobiografie Aus meinem Leben (Wien 1904. Neuausg. mit Vorbemerkung v. Peter Handke u. Nachw. v. Walter Methlagl. Salzb. 1985), die anhand seiner eigenen Entwicklung ein präzises Sozialporträt des Dorflebens im Westen der Habsburgermonarchie zeichnet. Seine zahlreichen Briefe sind nicht nur als biogr. Zeugnisse wichtig, sondern auch durch ihre sprachl. Qualität bemerkenswert. Nach F.s Tod tobte in Vorarlberg der Kampf um sein Andenken zwischen klerikalen Schmähungen u. der Verehrung durch Liberale u. Sozialdemokraten weiter. 1875 wurde das Felder-Denkmal aufgestellt, 1910 der erste liberale Franz Michael Felder-Verein gegründet. F.s Biograf Hermann Sander gab
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eine erste Werkausgabe heraus (Sämtliche Werke. 4 Bde., Lpz. 1910–13), der 1969 gegründete zweite Felder-Verein eine Gesamtausgabe, die auch fünf Bände mit Korrespondenzen enthält. Das 1981 gegründete Vorarlberger Literaturarchiv trägt den Namen Franz Michael Felder-Archiv, die Gemeinde Schoppernau hat 2004 ein FelderMuseum eröffnet. Ausgaben: Sämtl. Werke. 12 Bde., Bregenz 1970–95. – Ulrike Längle (Hg.): ›Ich will der Wahrheitsgeiger sein‹. Ein Leben in Briefen. Salzb. u. a. 1994. – Aus meinem Leben. Nachw. v. Walter Methlagl. Lengwil 2004. Als Hörbuch, gelesen v. Markus Hering. Lengwil 2005. Literatur: Hermann Sander: Das Leben F.s, des Bauers, Dichters u. Volksmannes. Innsbr. 1876. – F. M. F. Kat. der Ausstellung zum 100. Todestag. Bregenz 1969. – Walter Methlagl: Die Entstehung v. F. M. F.s Roman ›Reich und Arm‹. Ein ›Erwartungshorizont‹. Habil. (masch.) Innsbr. 1977. – Ders.: Der Traum des Bauern F. M. F. Bregenz 1984. – Maria K. Strolz: F .M. F. Bibliogr. Versuch einer ganzheitl. Darstellung seines Lebens u. Werkes. 2 Bde., Bregenz 1989. – Klaus Zeyringer: Bauer u. Dichter. F. M. F. u. die Dorfgesch. In: WW 40 (1990), H. 3, S. 352–376. – Ruthilde Frischenschlager: F. M. F. (1839–69). Bildungsweg u. Persönlichkeit. Mchn. 1991. – Ulrike Längle: F. Franz Michael, François Michel, Ferenc Mihály (1839–69). In: Die einen raus – die anderen rein. Kanon u. Lit. Hg. Wendelin Schmidt-Dengler u. a. Bln. 1994, S. 19–39. – Goedeke Forts. – Michaela Neumann: F. M. F. als Volkserzieher. Ffm. u. a. 2001. – F. M. F. (1839–69). Kat. zur Ausstellung im F. Museum Schoppernau. Lengwil 2005. Ulrike Längle
Feldes, Roderich, * 21.12.1946 Offdilln/ Hessen, † 10.5.1996 Eiershausen/Hessen. – Lyriker, Erzähler, Romanautor. F. absolvierte 1968–1973 in Gießen u. Frankfurt/M. ein Studium der Germanistik, Philosophie u. Volkskunde, das er 1974 mit der Promotion abschloss. F. verfasste zunächst Gedichte (haubergsnelken. Ffm. 1967), Erzählungen (Die Reise an den Rand des Willens. Hbg. 1979), Fabeln (Vom Unwesen einiger Wesen: fabelhaftes. Büdingen 1983), Hörspiele u. Essays, wandte sich dann aber der modernen krit. Heimatliteratur zu, wie sie seit den frühen 1970er Jahren in unterschiedl. Form etwa von Franz Xaver
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Kroetz, Gerhard Roth, Otto F. Walter u. Ludwig Fels geschrieben wurde. F. teilte deren Radikalität nicht. Zwar schildern seine Romane in vielfachen Variationen den Verfall des bodenständigen dörfl. Lebens u. die entfremdende Orientierung der Menschen an modernen, aber wenig beglückenden Leitbildern, zeigen die Verwandlung der ländl. Welt in einen für den Verkehr erschlossenen u. technisierten Raum; aber dies geschieht nicht im Ton der Verwerfung, sondern der Klage, die sich oft in langen monolog. Passagen äußert. Im Roman Lilar (Hbg. 1980) schildert der in sein Heimatdorf zurückgekehrte Erzähler seine Jugend kontrastiv zur negativ erfahrenen Gegenwart. Der vielstimmige Roman Das Verschwinden der Harmonie (Hbg. 1981) rekapituliert das Zerbrechen eines dörfl. Harmoniegefühls, das freilich schon lange nur Fiktion war. Auch in seinem letzten Roman, Der Wal oder Mama, hörst du mich noch? (Gießen 1991), spielt der Gegensatz von Land u. Stadt eine große Rolle, insofern der Held, der in einer Großstadt lebt, regelmäßig aus dieser in die dörfl. Welt seiner Kindheit zu fliehen sucht, was freilich als parasitäres Verhalten erscheint, das die Entwicklung von Autonomie verhindert. F. war Mitgl. des PEN-Zentrums. 1976 erhielt er den Georg-Mackensen-Literaturpreis, 1980/81 das Märkische Stipendium für Literatur, für die Arbeit an seinem letzten Roman ein Stipendium des hess. Ministers für Wissenschaft und Kunst. Weitere Werke: Das Wort als Werkzeug. Diss. Gött. 1976. – Magie: die unbewußte Kraft. Bonn 1978. – Das Weber-Panofsky-Syndrom. Assenheim 1984 (E.en). – Isolierglas: E.en vom Wohnen u. Leben. Mchn. 1985. – Der Wellensittich. Assenheim 1986 (E.en). – Wetterfest. Gedichte aus 30 Jahren. Gießen 1993. Literatur: Anton Thuswaldner: R. F. In: KLG. Christian Schwarz / Red.
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Felgenhauer, Paul, auch: Christianus Crucigerus, Der Kleine (»Paulus«), Leo ex Sylva u. a., * 16.11.1593 Puschwitz/Böhmen, † nach 1676 Bremen. – Spiritualistischer Theologe, Mediziner. Der Sohn eines Pfarrers († 1604) studierte ab 1612 in Wittenberg wohl v. a. unter Wolfgang Franz, der ihn als kurfürstl. Stipendiaten für ein halbes Jahr als Prediger an der Schlosskirche empfahl. F. wurde bald mit Schriften u. Gedanken Johann Arndts, Johann Gerhards, Valentin Weigels u. Caspar Schwenckfelds bekannt – u. damit der Schultheologie entfremdet. Zwei als unmittelbare Gottesbegegnung erlebte Wenden in seinem Leben ließen ihn zum einen scharfe Bußrufe (gerade auch an Geistliche) ausstoßen u. polit. Schriftstellerei für den Winterkönig betreiben. Nach dessen Katastrophe lebte F. seit 1624 in Bremen. Zum anderen hielt er mit der Botschaft vom Geheimnis Christi als des himml. Menschen bis 1638 auf weiten Reisen Strafpredigten, der ganzen Christenheit geltend (u. a. in Hamburg, Berlin, Bremen, Amsterdam, Leiden, Danzig) u. ließ sich zum Mediziner ausbilden. Zwei Grundwerke entstanden, Aurora Sapientiae (o. O. 1628) u. Das Geheymus von [!] TEMPEL DES HERRN ([Amsterd.] 1631). Von 1638 bis 1653 führte F., als Mediziner auch in Hamburg u. Bremen gefragt, in Bederkesa bei Bremen ein äußerlich ruhiges Leben. Hier sammelte er eine überkonfessionelle Gemeinde »Philadelphia« – unzufriedene Lutheraner einschließend. Anzeigen beim Bremer Rat wegen falscher Lehre (u. a. Chiliasmus) u. Gotteslästerung erfolgten, ebenso Vertreibung durch den schwedisch-brem. Krieg. In Leeste u. Brinkum (Amt Syke) fand F. sein Auskommen. Am Gottesdienst – nicht jedoch am Abendmahl – nahm er nun regelmäßig teil. Überraschend am 17. Sept. 1657 verhaftet, verweigerte F. bis zur Ausweisung am 27. März 1658 hartnäckig einen Widerruf. Ab 1659 dürfte F. in Bremen gelebt haben – vorübergehend in Amsterdam. ANTHORA, Das ist Gifft-Heil, von Hilfen gegen Seuchen handelnd, erschien 1677 (o. O.) – nach langem publizist. Schweigen, im Titel nun sicher an einen scharfen Disput mit Ludwig Friedrich
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Gifftheil erinnernd. Möglicherweise ist F. selbst ein Opfer der Pest geworden; Todestag u. Begräbnisstätte sind unbekannt. F.s theologisches Gedankengut (Schriftverständnis, Kirche, Amt, Sakramente) u. prakt. Maßregeln (Lebensführung, Gebet, Glaube als Gehorsam) sind stark von einer Geist-Theologie u. von ethischer Strenge geprägt; Jakob Böhmes Einfluss ist unverkennbar. Der Zugang zur realen Kirche blieb F. verschlossen, auch im Gegenüber zu bibl. Anweisungen an Soldaten vertrat er unbedingten Pazifismus. Etliches von F.s literarischer Produktion blieb Manuskript, ggf. als Kopien durch Wanderhändler der Drucke mit in Umlauf gebracht. Der Anteil an Kontroversliteratur ist groß (Enthusiasterei: Georg Rost; Abendmahl: Michael Havemann; Praeadamiten-Lehre: Isaac de la Peyrère; Sozinianer). Auf seine z.T. zahlreiche Leserschaft vermochte er sich durchaus einzustellen (Kinderpostille. o. O. 1652: gereimte Episteln u. Evangelien). Die zahlreichen Widmungsempfänger, Briefpartner u. literar. Gegner zeigen das dichte Kommunikationsnetz dieses weitgereisten unangepassten Theologen u. Mediziners; unbekannte wie bekannte Namen begegnen: Manasse ben Israel (durch Petrus Serrarius vermittelt), John Durie, auch Johann Amos Comenius, der freilich F.s Lehren für verworren hielt. F. als profilierter Spiritualist gehört (so Schrader) »wirkmächtig mit in die geistige Ahnenreihe des Pietismus«. Weitere Werke: [an.] Wichtiges Gespräch vom Kirchen-Gehen. [Getrennt paginiert] In: Johann Friedrich Haug: Theosophia Pneumatica, oder Geheime Gottes-Lehre [...]. o. O. 1710 (StB Braunschweig; als separater Druck UB Marburg). Literatur: Bibliografien: Cenek Zibrt: Bibliografie ceské historie 5. Prag 1912, S. 801–816 (auch Werke über/gegen F.). – Wolters 1956 (s. u.), S. 71–84 (12 Hss. in S. 73–78). – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1457–1477 (Hss. Nr. 6, 12, 13). – Briefe: Wolters 1956 (s. u.), S. 79, 81. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1471 Nr. 37; S. 1473 Nr. 44. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 345. – Quellen: Staatsarchiv Hannover: Cal. Br. Arch. Des. 23 X d Nr. 7 (Gefangenschaft u. Prozess 1657/58). – Wolters 1956 (s. u.), S. 71. – Weitere Titel: Friedrich Breckling: Prüffung der [...] Felgenhaurischen [...] Geister, ob sie aus Gott sind [...]. o. O. 1665. –
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Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- u. Ketzerhistorie. Tl. 3. [Ffm. 1729] Neudr. Hildesh. 1967=1999, Kap. 5, S. 56–60; Tl. 4, S. 1299. – Julius August Wagenmann: F. In: ADB. – RE. – Josef Volf: Pavel Felgenhauer a jeho nábozˇenské názory. In: Casopis Matice moravské 86 (1912), S. 93–116. – Ders.: Pavel Felgenahuera Horologium Hussianum. Ebd., S. 305–312. – Hans Joachim Schoeps: Vom himml. Fleisch Christi. Tüb. 1951. Nachdr. in: Ges. Schr.en 5 (2005), S. 71–80. – Ders.: Philosemitismus im Barock. Tüb. 1952. Nachdr. in: Ges. Schr.en 3 (1998), S. 18–45 [1949]. – Peter Poscharsky: F. In: NDB. – Ernst Georg Wolters: P. F.s Leben u. Wirken. Tl. 1: Das Leben F.s Bearb. v. Philipp Meyer. In: Jb. der Gesellsch. für niedersächs. Kirchengesch. 54 (1956), S. 63–71; Tl. 2: Die Lehre F.s. Ebd. 55 (1957), S. 54–94 (grundlegend). – Milada Blekastad: Comenius [...]. Oslo/Prag 1969, S. 267 f. u. ö. (Reg.). – Martin Schmidt: Ges. Studien zur Gesch. des Pietismus. Bd. 1, Bielef. 1969, S. 246 ff. u. ö.; Bd. 2, Gött. 1984, S. 89 ff. u. ö. (Register [auch zu Bd. 1]). – Ronny Ambjörnsson: Den sista striden. Om en svensk pacifist från 1600-talet. In: Lychnos 1979/80, S. 20–78 (F. u. Anders Kempe). – HansJürgen Schrader: Literaturproduktion u. Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ ›Historie Der Wiedergebohrnen‹ [...]. Gött. 1989, S. 171 m. S. 456 f., 251, 374 f., 375 f. – Gesch. Piet. Bd. 1, S. 206–240, hier 220 f. – LThK. – RGG. Dietrich Blaufuß
Fellenberg, Philipp Emanuel von, * 15.6. 1771 Bern, † 21.11.1844 Hofwyl/Kt. Bern; Grabstätte: ebd. – Agronom, Pädagoge u. Philanthrop.
völkerungsschichten ein: das landwirtschaftl. Institut für Söhne höherer Stände (von 1807 bis 1820), die »Wehrli-Schule«, eine landwirtschaftl. Industrieschule für arme Knaben (ab 1810), eine Realschule für Söhne des Mittelstands (ab 1830), eine Kleinkinder- u. Haushaltungsschule sowie eine Lehrerbildungsstätte. Seine Grundsätze legte er u. a. in den Zeitschriften »Landwirtschaftliche Blätter von Hofwyl« (Aarau 1808–17) u. »Pädagogische Blätter von Hofwyl« (Bern 1843) dar. Beeinflusst von physiokrat. Ideen, von Pestalozzi u. Kant, strebte F. die Erneuerung der Menschheit auf der Basis einer umfassenden Erziehung an, die zu einer religiössittl. Vervollkommnung des Einzelnen u. der friedl. Koexistenz aller Stände führen sollte; wesentliches Bildungselement dafür war – als »Urberuf des Menschen« – die Landwirtschaft. Zusammengehalten von der Persönlichkeit F.s, zerfiel der Erziehungsstaat bald nach seinem Tod. Seinen Einfluss zeigen zahlreiche Gründungen von Schulen u. landwirtschaftl. Mustergütern in Europa u. den USA; auf literarischer Ebene setzten sich Goethe in seiner Pädagogischen Provinz (1821) u. Gotthelf mit F. auseinander. Weitere Werke: Ansichten der Schweizerischen Landwirtschaft u. der zweckmäßigen Mittel, sie zu vervollkommnen. Bern 1807. – Die providentielle Bestimmung der Schweiz. Hofwyl 1841.
Literatur: Karl Robert Pabst: Der Veteran v. Der Sohn eines der Aufklärung aufgeschlossenen Berner Patriziergeschlechts wurde von Hofwyl. 3 Bde., Aarau 1861–63. – Kurt GuggisHauslehrern u. in Pfeffels Institut in Colmar berg: P. E. v. F. u. sein Erziehungsstaat. 2 Bde., erzogen; 1789 studierte er in Tübingen Jura. Bern 1953. – Anton M. Lindgren: Der naturwiss. Unterricht bei F. [...]. Stgt. 1955. – Silvio Martini: Auf Reisen in der Schweiz u. in Deutschland P. E. v. F. als Agronom u. seine Wirkung in Europa. sowie im Paris der Revolutionszeit (1794) In: Schweizerische landwirtschaftl. Monatsh.e 57 machte er sich mit den polit. u. sozialen Zu- (1979), S. 280–288. – Rudolf Wepfer: ›Ich bin auch ständen bekannt, wurde Anhänger der Revo- das Werk meiner selbst‹. P. E. v. F. Dornach 2000. lution u. Befürworter von Reformen im eiAndrea Hahn / Red. genen Land. Mit Denkschriften, der Teilnahme am Widerstandskampf der Berner Feller, Joachim, auch: Cholander, Franbeim Einmarsch der Franzosen 1798 u. als ciscus Dermasius, * 30.11.1638 Zwickau, Legationssekretär in Paris beteiligte er sich an † 5.4.1691 Leipzig. – Evangelischer der helvet. Politik, zog sich aber schon bald Theologe; Polyhistor, Dichter. zurück u. begann 1799 mit dem Aufbau seines pädagog. Imperiums Hofwyl. Der Sohn des Tuchmachers Christian Feller u. Auf diesem Landgut richtete er nach ständ. der Pfarrerstochter Sabine, geb. Oehlmann, Prinzipien Erziehungsanstalten für alle Be- besuchte das Zwickauer Gymnasium. Sein
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Lehrer Christian Daum erkannte früh F.s heißt es: »Es ist ietzt Stadtbekannt der Nahm poetisches Talent u. ebnete ihm nach der der Pietisten« (Erstdr. wohl in: Luctuosa deAufnahme des Universitätsstudiums in Leip- sideria [...], quibus [...] Martinum Bornium [...] zig 1656 (Aufnahme des Eidesunmündigen prosequebantur [...] patroni, praeceptores atque in die Matrikel im Sommer 1649, Bacc. art. u. amici. Lpz. 1689). In der Vorrede vom Magister am 26.1.1660) den Weg zu ein- 8.10.1689 zu Johann Gerhards Ein und funffzig flussreichen Professoren wie Friedrich Rap- geistliche Andachten (Lpz. 1690. Lpz./Dresden polt u. Jakob Thomasius, die nacheinander 21692) bezeichnet sich F. als »Biblista und seine Schwiegerväter wurden (F. war der erste Pietista«, u. bekennt des Weiteren in dem Lehrer seines Schwagers Christian Thoma- Sonnet auf Joachim Göring: »Ich selbsten will sius). 1667 wurde er Collega tertius an der hiemit gestehen ohne Scheu / Daß ich ein Nikolaischule in Leipzig, am 9.5.1671 dort Pietist ohn schmeich- und heucheln sey.« Lic. theol., 1674 Dekan der philosoph. FaWeiteres Werk: (Pseud.) Francisci Dermasii kultät, 1676 Prof. der Poesie u. Leiter der Bi- Hermunduri, Epistola ad [...] L. Adamum Rechenbliotheca Paulina, 1680, 1684 u. 1688 Rektor bergium [...], de intolerabili fastu criticorum quorundam, speciatim Jacobi Gronovii [...]. Lpz. 1687. der Universität. Ausgaben: (Ausg. der Pietismus-Sonette F.s aus Von seinen Verdiensten als Leiter der Universitätsbibliothek zeugen seine Oratio de Bi- dem Jahr 1689) Sonnet [auf M. Born]. In: Herrn D. bliotheca academiae Lipsiensis Paulina (Lpz. Joh. Benedicti Carpzovii [...] bey christl. Begräbnüß 1676) u. der von Lessing gewürdigte Catalogus Herrn Martin Borns [...] gehaltene Leich-Predigt / sampt Herrn L. J. F.s [...] Epicedio, worauf die Incodicum manuscriptorum bibliothecae Paulinae qvisition wider die Pietisten angegangen. o. O. (Lpz. 1686). 1682 begründete er mit Otto 1692, S. 32. – Sonnet [auf M. Born] u. Sonnet [auf Mencke u. Friedrich Benedikt Carpzov die Joachim Göring]. In: [Adelheid Sibylla Schwarz:] Acta eruditorum. Ein Repräsentant des poly- Gottes ernstl. Offenbarung wider D. August Pfeifhistor. Gelehrtentums der Zeit, publizierte F. fern [...] Daneben [...] der Anfang des weltberuffeeine große Zahl von Abhandlungen; die nen Pietismi woher solcher eigentl. entstanden / Zeitgenossen schätzten ihn bes. als Histori- neml. meistentheils durch [...] Verse des [...] J. F.s. ker. Er stürzte in der Nacht des 5.4.1691 o. O. 1692. Literatur: Georg Lehmann: Der Gefallene, aber schlaftrunken aus dem Fenster u. starb an den nicht weggeworfene Gerechte. Lpz. 1692 (LeichenUnfallfolgen. Der Poeta laureatus (1660) sah sich als predigt). – Richard Beck: Aus dem Leben J. F.s. In: Nachfahre des Fürstenschulrektors Adam Si- Mitt. des Altertumsvereins für Zwickau u. Umgebung 4 (1894), S. 24–77. – Kurt Müller: J. F. In: ber humanistischer Tradition verpflichtet; NDB. – Karl-Ernst Bergunder: F. In: The New zgl. bemühte er sich in seinen lat. u. dt. Grove. London 1980. – Heiduk/Neumeister, Widmungs- u. Gelegenheitsgedichten um S. 30f., 163, 327. – Reinhard Breymayer: Auktieine lebendige, ungezwungene Sprache. onskat.e dt. Pietistenbibl.en. In: Bücherkat.e als Das zahlreiche eigene Lieder enthaltende buchgeschichtl. Quellen in der frühen Neuzeit. Hg. Andachtsbuch Der andächtige Student (o. O. Reinhard Wittmann. Wiesb. 1985, S. 113–208 (Lit.). [Lpz.] 1682. 41718) u. das Gebetbuch Unent- – Anthony John Harper. Schr.en zur Lyrik Leipzigs. berlicher dreyfacher [...] Leit-Stern der Reisenden Stgt. 1985. – HKJL (1991), Sp. 1250 f. – Estermann/ [...] Mit einer Vorrede Lic. J. F.s (3 Tle. Lpz./Halle Bürger 1, S. 407 f.; 2, S. 346 (Verz. gedr. Briefe). – ca. 1681 u. ö.) bekunden F.s Hinwendung Michael Märker: F. In: MGG 2. Aufl. Bd. 6, Sp. 931 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 542–548. zum Pietismus. Reinhard Breymayer / Red. Historisch bedeutsam war v. a. die publizistisch wirkungsvolle Verwendung des Begriffs »Pietist« bei der Verteidigung der Felmayer, Rudolf, * 24.12.1897 Wien, Leipziger Magister um August Hermann † 27.1.1970 Wien; Grabstätte: ebd., ZenFrancke, durch die sich der ursprüngliche tralfriedhof. – Lyriker. Spottname als Selbstbezeichnung der Spenerianer einbürgern konnte: In dem Sonnet auf Nach dem Besuch der Handelsakademie arden Tod des pietist. Studenten Martin Born beitete F. als Bankbeamter in Wien. Im
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Literatur: Franz Richter: Medusa aus der VorZweiten Weltkrieg war er der Luftwaffe in Aspern als Schreiber zugeteilt. Nach Kriegs- stadt: R. F. zum Gedenken. In: Podium (1988), H. ende rückte F. in die Schlüsselpositionen des 68, S. 32–33. – Viktor Suchy: Repetent des Lebens: Wiener Literaturbetriebs auf: 1945/46 arbei- Erinnerungen an den Lyriker R. F. In: Studien zur österr. Lit. (1992), S. 255–258. – Christian Teissl: R. tete er an der Neuorganisation der literar. F. (1897–1970). In: LuK (2000), H. 345/346, Abteilung des Österreichischen Rundfunks S. 103–109. Johannes Sachslehner / Red. mit; gleichzeitig war er Lyrikreferent im Studio Wien. Im Amt für Kultur und Volksbildung der Stadt Wien übernahm er das Li- Felner, Ignaz Andreas Anton, auch: Ignaz teraturreferat; außerdem war er Bibliothekar Anton Adam F., * 17.8.1754 Freiburg i. u. Lektor der Wiener Städtischen Büchereien. Br., † 5.4.1825 Merzhausen bei Freiburg In all diesen Funktionen entfaltete F. eine i. Br. – Verfasser von theologischen, pädrege Tätigkeit, die ihn zu einer literar. Insti- agogischen u. erbaulichen Schriften, tution der Nachkriegszeit werden ließ. Mundart- u. Gelegenheitsdichter. F.s erster Gedichtband erschien 1936 in Wien u. d. T. Die stillen Götter (Wien 21946); Der Sohn eines Freiburger Universitätsdrudie Themenvielfalt der Gedichte reicht dabei ckers trat 1770 in den Jesuitenorden ein u. von persönl. Erinnerungen über Stimmun- empfing 1776 nach der Auflösung des Ordens gen u. Landschaftsbilder bis hin zu der von F. die Priesterweihe. Schon seit 1772 unterrichtete F. in Freiburg als Professor der Rhetorik bes. geliebten fernöstl. Lebens- u. Denkweise. am akadem. Gymnasium u. wurde 1812 zu Noch deutlicher kommt diese Beziehung in dessen Präfekt ernannt. F.s Bemühungen um seinem nächsten Gedichtband Östliche Seele im eine Priesterstelle waren erst 1814 erfolgTode (Wien 1945) zum Ausdruck, der als Ideal reich, als er das Pfarramt in Merzhausen anein »China der Seele« evoziert. In Der Spieltreten konnte, das er bis zu seinem Tod bezeughändler aus dem Osten. Neue Gedichte (Wien kleidete. 1958) greift F. diese Thematik wiederum auf. F. trat erstmals 1782 mit seiner achtbänAber auch spezifisch wienerische Sujets digen Übersetzung von Cicerons Briefen (Freib. kommen zur Sprache, so etwa in Barocker i. Br. 1782) literarisch hervor. Von Febr. bis Kondukt. Eine burleske Dichtung in wienerischer Mai 1783 erschien seine Freiburger Stadt- und Mundart (Wien 1962), Eine wienerische Passion Landpredigerkritik, mit der er im Tenor der (Wien 1963) u. Der Wiener und sein Tod (Wien kath. Aufklärung »den Troß geistlicher 1968). Charlatanen und Marktschreier von der heiBedeutsam für die österr. Literatur nach ligen Katheder wegzugeißeln« suchte. Im 1945 war F. als Mentor u. Herausgeber junger selben Jahr wandte sich F. mit seinen GeistliAutoren mit der Lyrikanthologie Tür an Tür (3 chen Liedern (Freib. i. Br.) der Dichtung zu, Folgen, Wien 1950, 1951 u. 1955); 1955 be- denen er 1787 Felners Launen (Freib. i. Br.) gann er mit der Herausgabe der Reihe Neue folgen ließ, eine bunte Mischung aus anaDichtung aus Österreich, die bis 1970 in 144 kreontischen, lehrhaften u. panegyr. Liedern Bändchen fortgeführt wurde. Zu erwähnen u. Gedichten. Auf den Ausbruch der Franzöist auch die Lyrikanthologie Dein Herz ist deine sischen Revolution reagierte F. mit seinen Heimat (Wien 1955), die den vom National- Beherzigungen für Deutsche (Freib. i. Br. 1793), sozialismus verfolgten österr. Autoren ge- einem schrillen Pamphlet gegen Frankreich widmet ist. (»das zweyte Babel«) u. dessen »zwey blenF. erhielt 1935 den Julius-Reich-Preis der dende Irrlichter« Freiheit u. Gleichheit. Auch Universität Wien; 1956 wurde er mit dem in den Gedichten (Freib. i. Br. 1796), entstanÖsterreichischen Staatspreis für Lyrik ausge- den im Jahr des Einmarschs französischer zeichnet. Truppen im Breisgau, finden sich propaganWeitere Werke: Gesicht des Menschen. Ge- distische u. antifrz. Kriegsgesänge. Der Erfolg von Hebels Alemannischen Gedichte. Wien 1948. – Repetenten des Lebens. Eingel. u. ausgew. v. Viktor Suchy. Graz/Wien 1963. dichten animierte F. zu seiner Sammlung Neue
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Alemannische Gedichte (Basel 1803), die neben Eigenem auch mundartl. Übersetzungen von Gedichten Höltys u. Matthias Claudius’ enthält. Kurz zuvor hatte F. Hebel Übersetzungen von dessen Gedichten ins Hochdeutsche zugesandt, die jedoch nicht auf die erwünschte Anerkennung des Dichters stießen. Auch an den alemann. Gedichten seines Nachahmers fand Hebel keinen Gefallen u. hielt sie für »blos hinübersetz[t]«, ein Urteil, dem sich die Nachwelt angeschlossen hat. Daneben trat F. häufig bei öffentl. Anlässen als Gelegenheitsdichter in Erscheinung u. behauptete so seinen Platz als wichtige Figur des kulturellen Lebens in Freiburg. Weitere Werke: Philosophie eines Mannes. Ein Gegenstück zur Philosophie eines Weibes. Basel 1785 (an.). – Trauerrede auf Joseph II. Freib. i. Br. 1790. – Ueber die Ausbildung der Jünglinge auf akadem. Gymnasien. Basel 1792. – Empfindungen der wackern Bürger der Stadt Freiburg i. Br. [...]. o. O. u. J. [Freib. i. Br. 1796?] (an.). – Gebeth-Buch für denkende u. fühlende Christen. Freib. i. Br. 1800. – Lieder für die Armen. Freib. i. Br. 1800. – An Seine Majestät Franz II. Freib. i. Br. 1801. – Gedanken u. Empfindungen auf dem Gottes-Acker. Hadamar 1808. – Gebetbuch für die Jugend. Ffm. 1815. – Der Röm. Katechismus. Übers. v. Dr. I. F. Mainz 1822. Literatur: Johann Baptist Trenkle: Die Alemann. Dichtung seit Johann Peter Hebel. Tauberbischofsheim 1881, S. 30–32. – Friedrich Schön: Gesch. der dt. Mundartdichtung. 1. Tl., Freib. i. B. 1920, S. 31. – Wilhelm E. Oeftering: Über unsere alemann. Mundart-Dichtung. In: Mein Heimatland 13 (1926), S. 77 f. – Ders.: I. F. In: Die Pyramide 21, Nr. 17 (1932), S. 65 f. – Ders.: Gesch. der Lit. in Baden. Bd. 2, Karlsr. 1937, S. 64–66. – Robert Feger: Im Wettstreit mit Hebel. Der Freiburger Dichter I. F. In: Die Markgrafschaft 11,2 (1959), S. 13–16. – Rolf Max Kully: Der Freiburger Dichter I. A. A. F. In: Zwischen Josephinismus u. Frühliberalismus. Hg. Achim Aurnhammer u. Wilhelm Kühlmann. Freib. i. Br. 2002, S. 413–435. Philipp Gresser
Fels, Ludwig, * 27.11.1946 Treuchtlingen. – Verfasser von Gedichten, Dramen, Romanen u. Essays. F. war nach Volks-, Berufsschule u. Malerlehre ab 1964 in Nürnberg als Brauereiarbeiter, Maschinist, Stanzer, Packer u. Hilfsar-
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beiter in verschiedenen Betrieben beschäftigt. 1973 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband Anläufe (Darmst.), in dem Kälte u. Gewalt des Alltags thematisiert werden. Kurze Zeit gehörte F. dem »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« an. Seit 1983 lebt er in Wien. F.s Schaffen umfasst Lyrik, Romane, Erzählungen, Hörspiele u. Dramen. In einfacher, aber expressiver Sprache beschreibt F., der sich als »Bruder« aller sozial Deklassierten fühlt, das Milieu u. Schicksal der zu kurz gekommenen, aus der Gesellschaft ausgegrenzten u. von ihr deformierten Menschen. Pessimistisch thematisiert er deren Versuch, aus ihrer tristen u. menschenverachtenden Umgebung auszubrechen. So entflieht der dickleibige G. Bleistein in dem Roman Ein Unding der Liebe (Darmst. 1981) seinen lieblosen Verwandten u. der erniedrigenden Arbeit in einer Großküche u. wird dadurch endgültig zum Außenseiter. Grotesk u. irrational sind auch die Bemühungen der Hauptpersonen in F.’ Dramen Lämmermann (Ffm. 1983. Urauff. Hbg. 1983) u. Der Affenmörder (Ffm. 1985. Urauff. Mchn. 1985. ORF 1985), ihrem Familien- u. Berufsleben zu entkommen. Reflexionen über den eigenen Alltag stehen in den Erzählungen (Mein Land. Darmst. 1978. Die Eroberung der Liebe. Mchn. 1985) neben kritischer Auseinandersetzung mit aktuellen polit. Themen. Der Roman Bleeding Heart (Mchn. 1993) erzählt von einem Werbetexter, der, von seiner Geliebten verlassen, nach Tanger reist, um sich umzubringen, u. der sich dort mithilfe von Alkohol u. Barbituraten in einen von Sehnsucht u. Gewalt erfüllten Rausch der Verzweiflung versetzt. Der Roman Mister Joe (Mchn. 1997) berichtet von einem Arzt, der als Sextourist in Manila seinen Obsessionen nachgeht u. dadurch den Tod einer Halbwüchsigen verursacht, vor Gericht aber freigesprochen wird, weil er Polizei u. Zeugen bestochen hat. Die Kritik monierte an diesen beiden Romanen eine Verselbständigung der Gewaltszenen u. der four-letter-word-Sprache. Mehr Anerkennung fand der realistischere Roman Krums Versuchung (Hbg. 2003): die Geschichte des Schlagertexters Krum Kelding, der aus seiner konventionell gewordenen Ehe ausbricht, um
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seiner einstigen südamerikan. Geliebten zu Hilfe zu eilen, u. der in deren Heimatland in die Hölle der polit. Gewalt gerät. F. wurde für sein Schaffen mehrfach ausgezeichnet: 1979 mit dem Leonce-und-LenaPreis der Stadt Darmstadt, 1981 mit dem Kulturpreis der Stadt Nürnberg, 1983 mit dem Hans-Fallada-Preis, 1988 mit der Fördergabe des Schillerpreises, 1992 mit dem Kranichsteiner Literaturpreis, 2004 mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis. 1986 war F. Stadtschreiber in Bergen-Enkheim. Weitere Werke: Kaputt oder Ein Hörstück aus Scherben. SR 1973. – Platzangst. Darmst./Neuwied 1974 (E.en). – Ernüchterung. Erlangen 1975 (L.). – Die Sünden der Armut. Darmst./Neuwied 1975 (R.). – Kanakenfauna. Fünfzehn Ber.e. Darmst./ Neuwied 1982. – Betonmärchen. Darmst./Neuwied 1983 (E.en). – Der Anfang der Vergangenheit. Mchn./Zürich 1984 (L.). – Rosen für Afrika. Mchn. 1987 (R.). – Blaue Allee, Versprengte Tataren. Mchn. 1988 (L.). – Der Himmel war eine große Gegenwart. Ein Abschied. Mchn. 1990. – Reise zum Mittelpunkt des Herzens. Salzb. 2006 (R.). Literatur: Fritz Gesing: Offen o. ehrlich? Strategien der Abwehr u. Anpassung in drei autobiogr. Werken der Gegenwart. L. F. ›Der Himmel war eine große Gegenwart‹ u. a. In: Über sich selber reden. Hg. Johannes Cremerius. Würzb. 1992, S. 49–94. – Michael Töteberg: L. F. In: KLG. – Stephan Reinhardt: L. F. In: LGL. Irmgard Lindner / Red.
Felseneck, Marie von, eigentl.: Maria Luise Mancke, auch: William Forster, M. Weißenburg, * 29.11.1847 Leipzig, † 29.8.1926 Berlin. – Erzählerin.
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Muster des »Backfischromans«: Junge Mädchen, meist aus gutbürgerlichem Hause, müssen sich unter widrigsten Umständen bewähren u. ihren Platz im Leben finden. Solche Prüfungen geben F. die Gelegenheit, ihren Leserinnen in sehr direkter Form die Ideale u. Werte der bürgerl. Frauenrolle zu vermitteln. Neben Tugenden wie Fleiß, Pflichttreue u. sozialer Anpassung propagiert sie dabei auch das Recht der Frau auf Bildung, Arbeit u. freie Berufswahl (Der Weg ins Leben. Bln. 1910): Vorstellungen von einer individuellen Emanzipation, die sie aus eigener Erfahrung in Die Schriftstellerin. Forderungen, Leistungen, Aussichten in diesem Beruf (Bln. 1899) darlegte. Seit 1896 lebte F. in Berlin u. war mehrere Jahre Vorstandsmitgl. im »Deutschen Schriftstellerinnen-Bund« u. im »Verein zur Reform der Jugendliteratur«. F. verfasste auch eine Fortsetzung zu Emmy von Rhodens Trotzkopf, dem Klassiker des Genres. Trotzkopfs Erlebnisse im Weltkriege (Bln. 1916), eine vorbehaltlose Verherrlichung des Krieges u. der dt. Kriegszielpolitik, wurden später wieder aus der Serie entfernt. Weitere Werke: Königin Luise. Bln. 1897 (Biogr.). – Was Gertrud erlebte. Bln. 1900 (R.). – Fräulein Studentin. Bln. 1910 (R.). – Landwehrmanns Einzige. 3 Bde., Bln. 1915/16 (R.). – Trotzkopf heiratet. Bln. 1919 (R.). – Käthes Pensionsjahre. Bln. 1930 (R.). Literatur: Dagmar-Renate Eicke: ›Teenager‹ zu Kaisers Zeiten. Die ›höhere‹ Tochter in Gesellsch., Anstands- u. Mädchenbüchern zwischen 1860 u. 1900. Marburg 1980. – Anja Klotz: M. v. E. In: LKJL. Wolfgang Griep / Red.
Der Vater, Oberstabsarzt in Leipzig, später in Dresden, pflegte regen gesellschaftl. Umgang Ferber, Christian, auch: Simon Glas, Limit Künstlern u. Schriftstellern. So kam auch sette Mullère, eigentl.: Georg Heinrich die Tochter früh mit Literatur in Berührung. Balthasar Seidel, * 31.10.1919 EberswalF. begann ihre schriftsteller. Laufbahn mit de, † 26.2.1992 Midhurst/Großbritannikulturhistor. Aufsätzen u. Erzählungen, been. – Erzähler, Hörspielautor, Satiriker, arbeitete Märchen u. Sagen (Aus Pommerns Übersetzer, Journalist. Vergangenheit. Bln. 1901) u. schrieb populäre Biografien in patriotischem Ton (Fürst Bis- F. studierte in München, war Kriegsteilnehmarck. Bln. 1899). Am erfolgreichsten jedoch mer, Verlagslektor u. ab 1956 Redaktionswaren ihre über 50 Mädchenromane »für die mitgl. der »Welt«. Er lebte als Korrespondent reifere Jugend«, die seit 1893 in rascher Folge für Westeuropa in der Nähe von London. F. erschienen. war Mitgl. der Gruppe 47. Er erhielt in den Die trivialen Handlungschemata voller Jahren 1966 u. 1971/72 den Theodor-WolffKlischees u. stereotyper Figuren folgen dem Preis. Um sein Andenken zu wahren, wird in
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Anerkennung seines Lebenswerks seit 2000 die Christian-Ferber-Ehrengabe verliehen. Erster Preisträger war der Schriftsteller Reiner Kunze. Unter dem Pseudonym Simon Glas veröffentlichte F. Romane, die sich durch kunstvollen Aufbau u. Sprachwitz auszeichnen. Als Christian Ferber veröffentlichte er glänzende Satiren über den Alltag (z.B. Die Moritat vom Eigenheim. Hbg. 1967), Hörspiele, die den Hörer »mit der Frage politischer Schuld und Verständnislosigkeit« (Schwitzke) konfrontieren (z.B. Gäste aus Deutschland. 1964), Journalistisches u. Sachbücher, von denen die Familiengeschichte Die Seidels (Stgt. 1979) weithin bekannt wurde. U.d.T. Aus den schwarzen Wachstuchheften gab er Tagebücher seiner Mutter Ina Seidel heraus (Hbg. 1984). Weitere Werke: Das Netz. Braunschw. 1951 (R.). – Die schwachen Punkte. Braunschw. 1953 (R.). – C. F.s Flohmarkt. Bln. 1963 (Ess.). – Ein Buch könnte ich schreiben. Die autobiogr. Skizzen Georg Seidels (1919–92). Mit einem Nachw. v. Erwin Wickert. Gött. 1996. Literatur: Friedrich Sieburg: Nur für Leser, Stgt. 1955, S. 290–292. – Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Köln/Bln. 1963, S. 347. – Ingeborg Drewitz: Die zerstörte Kontinuität. Wien 1981, S. 189–191. Winfried Hönes / Red.
Ferber, Nikolaus, auch: N. Herborn, * um 1480 Herborn/Hessen, † 15.4.1535 Toulouse; Grabstätte: ebd. – Franziskaner, Kontroverstheologe. F. wurde früh Franziskaner u. studierte ab 1512 Theologie in Köln. Um 1520 wurde er Guardian zu Marburg, wo er seinen Landesfürsten Philipp von Hessen vor der evang. Freiheit warnte. Sein religiöser Hauptgegner war der zum luth. Glauben übergetretene Franziskaner Lambert von Avignon. Den Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen auf der Homberger Synode 1526, nach der F. mehrere Streitschriften verfasste: Assertiones, Eyn kurtzer berycht, Epistola, Monas. Anfang 1527 wurde F. aus Hessen vertrieben, Guardian des Klosters Brühl u. Domprediger in Köln. Anlässlich seiner Fastenpredigten im Kölner Dom 1530 klagte F. Erasmus von Rotterdam als einen der Hauptschuldigen an
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den religiösen Umwälzungen an, obwohl er ihn als Bibelübersetzer schätzte. F. wurde 1530 nach Kopenhagen zum Herrentag eingeladen, um dort die alte Lehre gegen die Reformatoren zu verteidigen. Seine berühmte Confutatio Lutheranismi Danici anno 1530 conscripta (Hg. Ludwig Schmitt. Quaracchi 1902) entstand. Am 8.8.1529 wurde F. zum Provinzial der Kölnischen Franziskanerprovinz gewählt u. 1532–1535 Generalkommissar der cismontanen Ordensprovinzen. In dieser Funktion bereiste er Belgien, Spanien u. Frankreich, förderte bes. die überseeischen Indianermissionen, fand aber keine Zeit mehr fürs Schrifttum. F. verfasste etwa 25 selbständige Arbeiten, die heute teilweise verschollen sind (vgl. Schmitt 1896, Kurten 1950). Sein Hauptwerk, die Apologetik Locorum communium adversus huius temporis haereses, enchiridion (Köln 1528), das er Herzog Johann III. von Cleve-JülichBerg gewidmet hat, bietet in 50 Kapiteln eine übersichtl. Darstellung der kath. Lehre, soweit sie von den Reformatoren angegriffen wurde. Weiteres Werk: Epitome de inventis nuper Indiae populis idololatris ad fidem Christi, atque adeo ad ecclesiam catholicam convertendis. In: Hernán Cortés: De insulis nuper inventis [...] narrationes. Köln 1532. Ausgabe: Locorum communium [...] enchiridion (Ausg. Köln 1529). Hg. Patricius Schlager. Münster 1927. Literatur: Klaiber, Nr. 1135–1149. – VD 16, B 3761, F 735–753, ZV 5789, 23412, 23413, 25451 (Bibliogr.). – Weitere Titel: C. Krafft: N. Herborn. In: ADB. – Ludwig Schmitt: Der Kölner Theologe Nikolaus Stagefyr u. der Franziskaner N. H. Freib. i. Br. 1896. – Patricius Schlager: Gesch. der köln. Franziskaner-Ordensprovinz während des Reformationszeitalters. Regensb. 1909. – Odulphus van der Vat: P. Nicolaus Herborn en de Buitenlandsche Missies. In: Collectanea Franciscana Neerlandica 2 (1931), S. 395–425. – Edmund Kurten: Franz Lambert v. Avignon u. N. Herborn in ihrer Stellung zum Ordensgedanken u. zum Franziskanertum im bes. Münster 1950. – Sophronius Clasen OFM: N. F. In: NDB. – Dictionnaire d’Histoire et Géographie Ecclésiastiques 16 (1967), Sp. 1017 f. – Eugen Hoffmann u. Peter G. Bietenholz in: Contemporaries. – Peter Fabisch: N. Herborn OFM (ca. 1480–1534). In: Kath. Theologen der Reformati-
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onszeit. Hg. Erwin Iserloh. Bd. 5, Münster 1988, S. 32–49 (mit Verz. der Werke u. Lit.). Susanne Kunisch / Red.
Ferber, Wolfgang d.Ä., * 9.5.1586 Zwickau, begraben 2.3.1657 Zwickau. – Pritschmeister.
diesen gefährl. [...] Kriegs-leufften freyen oder unehlich leben sol. Dresden 1633. Ausgabe: Fischer-Tümpel 1, S. 414. Literatur: Heiduk/Neumeister, S. 31 f., 163 f., 328 f. – Weitere Titel: Karl Bachler: Der Pritschmeister W. F. Diss. Breslau 1930. – Ders.: Der Zwickauer Pritschmeister W. F. In: Neues Archiv für sächs. Gesch. 51 (1930), S. 58–67. – Gustav Bebermeyer: Pritschmeister. In: RL, Bd. 3 (21977), S. 257–262. Guillaume van Gemert / Red.
F., Sohn des Tuchmachers u. Färbers Georg Ferber, übte nach dem Besuch der Zwickauer Lateinschule den väterl. Beruf aus u. war zudem Steuereinnehmer. Wie sein Vater gehörte Ferdinand II. von Tirol, * 14.6.1529 Linz, er zu den sog. Pritschmeistern, die bes. im 16. † 24.1.1595 Innsbruck. – Zweiter Sohn Jh. bei großen Feiern als Gelegenheits- u. von Kaiser Ferdinand I. u. Anna von Stegreifdichter, zgl. oft auch als Festordner u. Böhmen, Erzherzog von Tirol. Spaßmacher auftraten. F. war am Dresdner Die erste Zeit seines Lebens verbrachte F. in Hof als »Churfürstlicher Sächsischer PritschInnsbruck u. Prag; ab 1547 war er Statthalter meister« engagiert. Böhmens; 1556 Heerführer im Feldzug geF. ist der letzte bedeutende Vertreter der gen die Türken in Ungarn. Politisch lukrative Pritschmeisterdichtung; er verfasste mindesEheschließungen lehnte F. ab. Grund war die tens 70 Dichtungen. Am Anfang stehen Darbereits 1557 heimlich geschlossene »morgastellungen von Schützenfesten; später setzen natische« Ehe mit der reichen Augsburger allg. Festbeschreibungen diese Tradition fort. Patriziertochter Philippine Welser, die 1576 Ab etwa 1625 finden sich zunehmend Gedurch die Dispens Papst Gregors XIII. für dichte anlässlich feierlicher Begebenheiten offiziell erklärt wurde. Der Ehe entstammten am Hofe, denen später nicht-höf. Gelegenzwei Söhne, die nicht sukzessionsfähig waheitsdichtungen jeglicher Art an die Seite ren: Andreas (geb. 1558, Kardinal), Karl (geb. treten. 1560, Markgraf zu Burgau). Durch die LänF. war aber nicht ausschließlich Gelegenderteilung Kaiser Ferdinands I. 1564 wurden heitsdichter. Lassen sich seine Kriegs- u. F. Vorderösterreich, d.h. Tirol u. die VorlanFriedensdichtungen noch dieser Kategorie de, sowie der habsburgische Streubesitz in zuzählen, so gilt das nicht mehr für seinen Süddeutschland zugewiesen. VorderösterJahreszeitenzyklus (Frühlingsherrligkeit, Winreich gewährleistete aufgrund seiner inneren ters Nutzbarkeit, Sommers-Fröhligkeit, Herbstes Homogenität (große Entfernung zur osman. Köstlichkeit. Dresden 1628–30), sein vierbänGrenze u. weitgehendes Fehlen religiöser diges Verzwicktes Zwickau (Zwickau/Dresden Auseinandersetzungen) eine stabile Regie1633–50) u. für geistl. Schriften wie Christlich rung. Neben der Innsbrucker Hofburg war und einfältige Gedanken von dem Leiden u. Sterben Schloss Ambras Wohnsitz u. Spielstätte geunseres Herrn Jesu Christi (Dresden 1640). selligen, aber auch verschwenderischen F. war schon zu Lebzeiten Angriffen, bes. Fürstenlebens mit Schauessen, Turnieren, von kirchl. Seite, ausgesetzt, fand aber auch Jagden, Tänzen u. Schauspielen. So ist der umfassende Anerkennung, wie etwa ZachaBeginn des Barocktheaters in Österreich mit rias Thümlings Schuldiges Gratial dem [...] Herrn der Aufführung des Speculum vitae humanae Wolfgang Ferber (Zwickau 1650) belegt. (1584), eines Jedermann-artigen Schauspiels, Weitere Werke: (außer den 66 bei Heiduk/ des ersten in dt. Prosa, verfasst von F., beNeumeister S. 328 f. aufgeführten Titeln) Epiceeinflusst von Jesuitenspielen u. der Kunst der dium [...] über den tödl. [...] Abgang der [...] Fürstin [...] Sophiae. Dresden 1623. – Churfürstl. Commedia dell’arte italienischer u. engl. Sächs. [...] Heyraths Relation. Dresden 1627. – Der Wandertruppen, zu sehen. Nach Philippine Churfürstl. Sächs. Unterthanen Jungfrawen Abend- Welsers Tod 1580 heiratete F. 1582 aus dyTantz. Dresden 1628. – Frag u. Antwort ob man in nast. Gründen seine Nichte Anna Caterina
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Gonzaga, die ihm zwei Töchter gebar. 1595 starb F.; er wurde in der Innsbrucker Hofkirche begraben. Hervorzuheben ist v. a. seine Bedeutung als Kunstsammler. Im Laufe seines Lebens ließ er eine erhebl. Menge an Porträts des Hauses Habsburg u. den mit ihm verwandten Herrschergeschlechtern malen, die als eine Art visueller Stammbaum gesehen werden kann. Er stellte eine Kunst- u. Wunderkammer zusammen, die später großteils an Kaiser Rudolf II. überging, eine beachtl. Sammlung von Rüstungen u. Waffen, ferner eine Mineralien- u. Münzsammlung u. eine Bibliothek. Ein Großteil dieser Kunstwerke bildet den Grundstock der Sammlungen des Kunsthistorischen Museums in Wien u. auf Schloss Ambras. All das sind Zeugnisse einer Selbstinszenierung als selbstbewussten, kultivierten u. modernen Landesfürsten des 16. Jh. Literatur: Joseph Hirn: Erzherzog F. II. v. Tirol. Gesch. seiner Regierung u. seiner Länder. 2 Bde., Innsbr. 1885 u. 1888. – Elisabeth Wolfik: ›Was auf solches unser Ewiglichs absterben unser Fürstliches Begrebnus belange...‹. Tod, Begräbnis u. Grablege Erzherzog F. II. v. Tirol (1529–95) als Beispiel für einen ›Oberschichtentod‹ in der Frühen Neuzeit. In: Frühneuzeit-Info 11 (2000), H. 1, S. 39–67. – Václav Bu8 zˇek: Ferdinand Tyrolsky´ mezi Prahou a Innsbruckem. Sˇlechta z cˇesky´ch zemí na cesteˇ ke dvoru8 m prvních Habsburku8 . Cˇeské Budeˇjovice 2006. Elisabeth Wolfik
Ferdinand Albrecht, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, * 22.5.1636 Braunschweig, † 23.4.1687 Bevern; Grabstätte: Braunschweig, Dom. – Verfasser von Erbauungsschriften u. einer Autobiografie. Der jüngste Sohn Herzog Augusts d.J. wurde zus. mit seinem Halbbruder Anton Ulrich u. a. von Justus Georg Schottelius u. Sigmund von Birken unterrichtet. Wie seine Geschwister korrespondierte er mit Johann Valentin Andreae u. dichtete u. übersetzte unter Anleitung seiner Mutter Sophie Elisabeth. Nach dem Tod des Vaters 1666 zog er sich – überzeugt, von seinen Brüdern um das Erbe betrogen worden zu sein – auf seinen Apanagenbesitz Bevern zurück. Hier begründete er eine bedeutende Bibliothek zeitgenössischer Literatur, bes. Belletristik, u. stellte aus
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auf Reisen erworbenen Objekten eine Kunstu. Raritätenkammer zusammen. Er wurde 1665 in die Londoner Royal Society, 1673 als der »Wunderliche im Fruchtbringen« in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen. F. A. veröffentlichte v. a. erbaul. Schriften. Eines der seltenen Beispiele einer gedruckten Fürstenautobiografie sind seine Wunderliche Begebnüssen (Bevern 1678. Neudr. Bern 1988), die v. a. in der Jugend unternommene Reisen durch Europa schildern. Weitere Werke: Andächtige Gedanken. Braunschw. 1656. Bremen 21674. Bevern 31677. – Blümlein Allerley Gesch.n. Hann. 1673. Rinteln 2 1685. – Die Wunderl. Göttl. Dinge. Bevern 1680. – XXIV. Andachten vom Leyden Christi. Bremen 1682. Literatur: Jill Bepler: F. A. – A Traveller and his Travelogue. Wiesb. 1988. – Dies.: Barocke Sammellust. Die Bibl. u. Kunstkammer des Herzogs F. A. zu Braunschweig-Lüneburg. Weinheim 1988 (Kat.). – Dies.: Kleine große Welt: zur Hofkultur einer Kleinstresidenz: Schloß Bevern 1667–87. In: Simpliciana 14 (1992), S.177–196. – Dies.: Ansichten eines Staatsbegräbnisses. Funeralwerke u. Diarien als Quelle zeremonieller Praxis. In: Zeremoniell als höf. Ästhetik. Hg. J. Berns u. T. Rahn. Tüb. 1995, S. 183–197. – Kathleen Menzie Lesko: Evidence of restoration performances: Duke F. A.’s annotated playtexts from 1664–65. In: Philological Quarterly 79 (2000), S. 45–68. Jill Bepler
Ferenczi, Sándor, * 7.7.1873 Miskolcz/ Ungarn, † 22.5.1933 Budapest. – Psychoanalytiker. Als Sohn eines Buchhändlers u. Verlegers in einem kulturell aufgeschlossenen Elternhaus aufgewachsen, studierte F. 1890–1896 in Wien Medizin u. arbeitete anschließend als Assistenz- u. Sekundararzt in Ungarn; 1904 wurde er Leiter des neurolog. Ambulatoriums der Budapester Allgemeinen Krankenkasse u. 1907 neurologischer Sachverständiger des Budapester Gerichtshofs. Um diese Zeit kam F. mit der Freud’schen Psychoanalyse in Berührung. Die Begegnung F.s mit Freud sollte für beide Männer wie für die psychoanalyt. Bewegung weitreichende Folgen haben. F. avancierte nicht nur zum engsten Mitarbeiter des Älteren; er war auch der Einzige aus dem Freud-Kreis, der es nach
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dem Urteil Michael Balints an Kühnheit u. Freud, S. F. Hg. Eva Brabant. 3 Bde., Wien u. a. Selbständigkeit des Denkens mit dem Be- 1993–2005. Literatur: Paul Harmat: Freud, F. u. die ungar. gründer der Psychoanalyse aufnehmen konnte. F. war die treibende Kraft bei der Psychoanalyse. Tüb. 1988. – Helmut Junker: Unter Gründung der »Internationalen Psychoana- Übermenschen: Freud & F. Die Gesch. einer Beziehung in Briefen. Tüb. 1997. – André Haynal: Die lytischen Vereinigung« 1910, er begleitete Technik-Debatte in der Psychoanalyse. Freud, F., 1909 Freud auf dessen Amerikareise ge- Balint. Gießen 2000 (11989). meinsam mit C. G. Jung, u. er festigte seinen Hans-Martin Lohmann / Red. Ruf als »enfant terrible« der Psychoanalyse, indem er in Fragen der analyt. Theorie u. Technik im Laufe der Jahre immer eigenwil- Fernau, Joachim, auch: John Forster, ligere Wege ging. 1913 gründete F. die »Un- * 11.9.1909 Bromberg/Westpreußen, garische Psychoanalytische Vereinigung«, † 24.11.1988 München; Grabstätte: ebd., deren Präsident er bis 1933 blieb. Während Alter Bogenhausener Friedhof. – Journader kurzlebigen ungar. Räterepublik 1919 list, Verfasser historischer Sachbücher u. erhielt F. die international erste Universi- Romane. tätsprofessur für Psychoanalyse. F. veröffentlichte eine Reihe bedeutender F. besuchte das humanist. Gymnasium in Schriften – Populäre Vorträge über Psychoanalyse Hirschberg/Riesengebirge, studierte nach (Wien 1922), Entwicklungsziele der Psychoanalyse dem Abitur an der philosoph. Fakultät in (zus. mit Otto Rank. Wien 1924) u. v. a. den Berlin u. arbeitete als Journalist für den UllVersuch einer Genitaltheorie (Wien 1924) –, die stein Verlag. 1939 wurde er Soldat, später ihn als selbständigen Denker ausweisen. F.s wechselte er zur Waffen-SS. Im Aug. 1944 originäre Leistung für die Psychoanalyse be- beschwor er als Kriegsberichterstatter in einem weitverbreiteten Durchhalteartikel den steht darin, dass er, der »Meister der kleinen Glauben an eine Wunderwaffe in Hitlers Form: der psychoanalytischen KurzgeschichHänden. te« (Helmut Dahmer), im Umgang mit seinen Nach dem Krieg war F. zunächst Redakteur Patienten zu techn. Experimenten neigte, die in Stuttgart. 1952 ließ er sich als freiberufl. Freuds strengem Verständnis vom psychoSchriftsteller u. Maler in München nieder; analyt. Setting widersprachen u. F. gegen zeitweise lebte er in Florenz. Mit seinen umEnde seines Lebens in die Isolation trieben. strittenen Bestsellern, die histor. Themen in Gleichwohl haben seine neuartigen Versuche, unterhaltsamer Verpackung anbieten, erzieleinen therapeut. Zugang zu tief regredierten te er in den 1950er, 1960er u. 1970er Jahren Patienten zu finden, Schule gemacht: Was eine Gesamtauflage von mehr als zwei Milheute als psychoanalyt. Objektbeziehungslionen Exemplaren. F. nannte sich selbst eitheorie imponiert, ist ohne F.s Pionierarbeit nen Konservativen. In seinen Büchern allernicht denkbar. dings findet sich eine latente völkisch-nat. Weitere Werke: Bausteine zur Psychoanalyse. Geschichtskonzeption. Eine entsprechende Bde. 1 u. 2, Wien 1927. Bde. 3 u. 4, Wien 1938. Darstellung enthält sein meistverkauftes Neudr. Bern 1964. – Schr.en zur Psychoanalyse. 2 Werk Deutschland, Deutschland über alles... (mit Bde., Ffm. 1970 u. 1972, Neudr. 2004 (darin: Midem Untertitel Von Arminius bis Adenauer. Olchael Balint: Einl. des Hg. Bd. 1, S. IX-XXII. Judith denb. 1952). Im Plauderton, mit iron. AnDupont: Einl. Bd. 2, S. IX-XXII). – Ohne Sympathie keine Heilung. Das klin. Tgb. v. 1932. Hg. J. Du- merkungen u. sarkast. Witzeleien, bemüht pont. Ffm. 1988. – (mit Otto Rank): Entwick- sich der Autor um des Lesers Einverständnis lungsziele der Psychoanalyse. Zur Wechselbezie- im Sinne eines »gesunden Volksempfinhung v. Theorie u. Praxis. Mit einem Nachw. v. dens«. Gleichzeitig wird in saloppen umgangssprachl. Wendungen ein histor. BilderMichael Turnheim. Wien 1996. Briefausgaben: Correspondance 1921–33. S. F., bogen entfaltet, der die angebotenen rassist. Georg Groddeck. Paris 1982. Dt. Ffm 1983. Erw. u. antidemokrat. Stereotypen subtil bestätigt. Neuausg. Ffm. u. Basel 2006. – Briefw. Sigmund Unterschwellig provoziert diese suggestive
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Erzählstrategie ein Bedauern über den Verlust des nat. Mythos vom Großdeutschen Reich. Weitere Werke: Und sie schämeten sich nicht. Ein Zweitausendjahr-Bericht. Bln. 1958. – Die jungen Männer. Bln. 1960 (R.). – Rosen für Apoll. Die Gesch. der Griechen. Bln. 1961. – Disteln für Hagen. Bestandsaufnahme der dt. Seele. Bln. 1966. – Wie es euch gefällt. Eine lächelnde Stilkunde. Mchn. 1969. – Cäsar läßt grüßen. Die Gesch. der Römer. Mchn. 1971. – Ein Frühling in Florenz. Mchn. 1973 (R.). – ›Halleluja‹. Die Gesch. der USA. Mchn. 1977. – ›Guten Abend, Herr Fernau‹. Mchn. 1984 (fiktive Gespräche). – Und er sah, daß es gut war. Mchn. 1989 (E.). Literatur: Christa Bürger: Textanalyse u. Ideologiekritik. Zur Rezeption zeitgenöss. Unterhaltungslit. Ffm. 1973. – Gustav René Hocke: Schriftsteller u. Maler J. F. Bln. 1976. – Heinz Schimmel (Hg.): Tanz der Seelen. Der Tod als Verwandler der Seele. Die Totentanz-Dichtung v. J. F. u. ihre eurythm. Darstellung. Flensburg 1993. – J. F., der Schriftsteller als Maler. Ausstellung im Schloßmuseum der Kunstslg.en zu Weimar, 24.4.14.6.1998. Hg. Rolf Bothe. Weimar 1998 (Kat.). Volker Busch / Red.
Fernow, Carl Ludwig, * 19.11.1763 Blumenhagen bei Pasewalk, † 4.12.1808 Weimar. – Zeichner, Dichter, Schriftsteller, Kunsthistoriker u. -theoretiker, Dialektologe u. Italianist. F. entstammte einer Bauernfamilie in der Uckermark. Wiederholt auf Förderung angewiesen, wurde ihm diese anfangs durch seine Patin Susanne von Necker, eine Verwandte Madame de Staëls, zuteil. Die sich bietende Gelegenheit einer Apothekerlehre musste F. in Anklam, später in Lübeck ergreifen, wo er sich, selbst zu Malerei u. Poesie neigend, 1786 mit dem klassizist. Künstler Asmus Jakob Carstens befreundete, den er in Rom wiedertraf. Von Ramdohr in Celle nach Italien gewiesen, schlug sich F. zunächst mit Porträtzeichnen u. Schreiben durch, gelangte nach Weimar u. blieb von 1791 bis 1793 an der Jenaer Universität, wo ihn der Kantianer Reinhold u. Schiller am meisten einnahmen. Hier machte er die Bekanntschaft des dän. Schriftstellers Jens Immanuel Baggesen, der ihm die Reisebegleitung von Bern über Wien u. Venedig nach Rom anbot. Allerdings ge-
langte F. nach Baggesens Reiseabbruch in Florenz erst in einem zweiten Anlauf mit Unterstützung des Grafen Purgstall von Bern aus am 29. Sept. 1794 nach Rom, wo Carstens anfangs die Wohnung mit ihm teilte u. F. ihm zuletzt 1798 die Grabrede hielt. In Rom lernte F. eine Reihe von Künstlern u. Gelehrten kennen, darunter Bertel Thorvaldsen, Friedrich Weinbrenner, Aloys Hirt u. Heinrich Meyer, pflegte u. a. durch Zeitschriften einen dt.-ital. Kulturtransfer, hielt Vorlesungen über Ästhetik u. besprach 1795 eine Atelierausstellung Carstens’scher Werke für Wielands »Neuen Teutschen Merkur«. Die napoleon. Kriegswirren begünstigten weder die Kunstverhältnisse noch F.s in Rom eingeschränktes Leben. Verheiratet mit einer Römerin, ausgestattet mit einer ital. Bibliothek (ca. 1000 Bde.) sowie dem CarstensNachlass, kehrte F., von Krankheit gezeichnet, 1803 nach Jena-Weimar zurück, wo er als Extraordinarius für Ästhetik an der Universität den Grund für die Kunstgeschichte legte u. eine Vorform der Italianistik praktizierte. Im Frühjahr 1804 übernahm F. in der Nachfolge Jagemanns die Bibliothekarsstelle bei Herzoginwitwe Anna Amalia in Weimar, die es ihm erlaubte, seine Kunst- u. Sprachstudien noch einmal zu intensivieren. In der Nacht zum 4. Dez. 1808 erlag er seiner Krankheit. Gegenüber dem Zeichner u. beachtl. Versdichter gewann der Gelehrte in F. die Oberhand, der zudem ein bemerkenswerter Briefschreiber war (s. Schopenhauer 1810). Mit seinen Beiträgen zur Ästhetik, Kunst- u. Literaturgeschichte Italiens sowie zur ital. Sprache u. ihren Dialekten bereicherte F. nicht nur die Italienkenntnisse des Weimarer Hofes u. der Weimarer Kunstfreunde, auch wenn seine Wirkung auf sich warten ließ. Seinem Sitten- und Kulturgemälde von Rom (Gotha 1802) u. der Italienischen Sprachlehre für Deutsche (2 Tle., Tüb. 1804) folgten die Sammlung der Aufsätze in den Römischen Studien (3 Tle., Zürich 1806–08) sowie die Biografien von Carstens (Lpz. 1806. Hg. u. erg. v. M. Riegel. Hann. 1867), Canova (Zürich 1806 u. Römische Studien, Tl. 1) u. Ariost (postum Zürich 1809). Mit Dante, Petrarca (Lpz. 1818. Nachdr. Amsterd. 1972), Ariost u. Tas-
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so war eine Galerie der vier größten Dichter, 1806, S. 296). Zukunftsweisendes Kunststremit Leonardo da Vinci, Tizian, Raffael, Cor- ben, wie es Carstens für F. verkörpert, bildet reggio eine der vier größten Maler Italiens aus antiker Plastizität (Klassizismus) u. mogeplant. Die ital. Dichtungen gab F. in Rac- dernem Malerischen (Romantik) ein neues colta di autori classici italiani (12 Bde., Jena organ. Ganzes. Entsprechend beschreibt F. 1805–07) heraus. An Goethes Winkelmann und das Kunstschöne als mit dem Konstruktionssein Jahrhundert (1805) beteiligt, begann F. willen zur Deckung kommendes Erzieeine als programmatisch verstandene Ge- hungsideal. samtausgabe der Werke Winckelmanns, die Ausgaben: Eine Ed. v. F.s Schr.en u. Aufsätzen von J. H. Meyer, J. Schulze, F. Förster (11 Bde. u. a. aus Wielands ›Neuem Teutschen Merkur‹, u. Tafelbd., Dresden u. Bln. 1808–26) fort- auch seiner Gedichte, bleibt Desiderat. – Die Ed. v. geführt wurde. Die ehrgeizige Ästhetik nach F.s Briefen ist seitens Harald Tauschs u. Margrit philosoph. Prinzipien ließ sich aufgrund sei- Glasers in Arbeit (voraussichtlich 2010). Vgl. neben nes frühen Todes ebenso wenig wie das den v. Johanna Schopenhauer 1810 mitgeteilten Briefen die Slg.: C. L. F.: Röm. Briefe an Johann »vollständige Polyglott« der vom LateiniPohrt 1793–98. Hg. Herbert v. Einem u. Rudolf schen abstammenden Tochtersprachen (in 4 Pohrt. Bln. 1944. Bdn., an Böttiger 10.2.1805) verwirklichen. Literatur: Johanna Schopenhauer (Hg.): C. L. F. gilt heute als Dialektgeograf für die ital. F.s Leben. Tüb. 1810. Auch in: Sämmtl. Schr.en v. Mundarten, gehört zu den Gründervätern der Johanna Schopenhauer. Bd. 1–2, Lpz. 1830. – Livia Dialektologie u. ist als einer der frühesten Gerhardt: C. L. F. Lpz. 1908. – Herbert v. Einem: C. Sprachkomparatisten hervorgetreten (vgl. L. F. Eine Studie zum dt. Klassizismus. Bln. 1935. – Albrecht u. Thun in: Knoche/Tausch 2000). Irmgard Fernow: C. L. F. als Ästhetiker. Ein VerWie auf sprachlichem u. literar. Gebiet ist F. gleich mit der ›Kritik der Urteilskraft‹. Diss. Bonn. auf dem Gebiet der Kunst ein vergleichend Würzb. 1936. – Georg Luck: C. L. F. Bern 1984. – arbeitender Ästhetiker. Den Anspruch der Klaus Manger: F.s Carstens. In: Italienbeziehungen antiken Meisterstücke transformiert er in des klass. Weimar. Hg. ders. Tüb. 1997, S. 181–196. – Alessandro Costazza: Das ›Charakteristische‹ als Parallele zu Winckelmann u. Wieland, dem ästhet. Kategorie der dt. Klassik. Eine Diskussion sein Ariost gewidmet ist, am Beginn des 19. Jh. zwischen Hirt, F. u. Goethe nach 200 Jahren. In: an den Romantikern vorbei u. diesen entge- JbDSG 42 (1998), S. 64–94. – Michael Knoche u. gen in die Gegenwart. Durch das Netz der Harald Tausch (Hg.): Von Rom nach Weimar – C. L. Widmungsträger seiner Arbeiten verbindet F. Tüb. 2000. – H. Tausch: Entfernung der Antike. sich F. über die mit ihm bekannt gewordenen C. L. F. im Kontext der Kunsttheorie um 1800. Tüb. Künstler u. Gelehrten hinaus mit einem eu- 2000. – Alexander Auf der Heyde: C. L. F. in Italia rop. Freundeskreis, z.B. Georg Zoëga in Rom, (1794–1803). Tesi di laurea, Università degli studi Friederike Brun in Kopenhagen, Johann di Firenze 2001/02. – H. Tausch: C. L. F. In: AKL. – Gottfried Seume in Leipzig oder Gerhard von Franz Joachim Verspohl: C. L. F.s Winckelmann. Eine Ed. der ›Werke‹. Stendal 2004. – Reinhard Kügelgen in Dresden, dem wir sein Porträt Wegner (Hg.): Kunst als Wiss. C. L. F. – ein Beverdanken. Gleichzeitig wirkt F. mit den gründer der Kunstgesch. Gött. 2005. – K. Manger: Weimarer Kunstfreunden zusammen. Dem Das Italienbild des klass. Weimar nach Jagemann: komparatist. Ansatz entspricht eine auch C. L. F. In: Die Italianistik in der Weimarer Klassik. formal sich niederschlagende, an Merciers Das Leben u. Werk v. Christian Joseph Jagemann Tableau de Paris sich anlehnende Multiper- (1735–1804). Hg. Jörn Albrecht u. Peter Kofler. spektivität, die F. erstmals im Gemälde von Tüb. 2006, S. 227–241. Klaus Manger Rom praktiziert u. die seine Carstens-Monografie, wohl die erste Künstlerbiografie in dt. Ferolli, Beatrice, * 18.9.1932 Wien. – Sprache, ebenso prägt wie die F. postum geSchauspielerin, Bühnen- u. Romanautowidmete Monografie von Johanna Schopenrin. hauer (s. u.). Darstellungsziel ist, unter Einarbeitung von Quellen u., soweit möglich, Nach dem humanist. Gymnasium besuchte F. aus eigener Anschauung zu zeigen, wie eine das Max-Reinhardt-Seminar in Wien u. arPerson »ward, was sie geworden« (Carstens beitete 15 Jahre als Schauspielerin. 1958 be-
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Ferra-Mikura
Ferra-Mikura, Vera, eigentl.: Gertrud Mikura, geb. G. V. Ferra, auch: G. Ferra, Trude Ferra, V. Ferra, G. V. Ferra Mikura, Pseudonyme: Veronika Eisen, Andreas Crocus geb. Ferra, * 14.2.1923 Wien, † 9.3.1997 Wien. – Verfasserin von Gedichten, Hörspielen, Erzählungen, Kurzgeschichten, Kinder- u. Jugendbüchern.
selte sie in ihrer Lyrik zu einem eher krit. Ton (Zeit ist mit Uhren nicht meßbar. Wien/Mchn. 1962). F.s erste Bücher für Kinder waren Märchen mit erzieherischem Gehalt (z.B. Der Teppich der schönen Träume. Wien 1955), mit denen sie jedoch neuartige, literar. Märchen schuf, in denen auf Hexen, Riesen u. Ungeheuer bewusst verzichtet wird u. stattdessen Menschen, Tiere u. Blumen die Träger der Handlung sind. In ihren liebenswürdigen u. von humanem Engagement getragenen zahlreichen Kinderbüchern verbinden sich in einer oft skurril-fantastischen – an Fritz von Herzmanovsky-Orlando erinnernden – abenteuerl. Handlung Absurdes u. Reales. Ihr großes Verdienst sind die ersten fantast. Erzählungen für Kinder in Österreich. Für sie selbst sind es Geschichten, deren Boden wie ein Schachbrett angeordnet ist, wobei ein Teil der Felder real, der andere irreal oder stellenweise fantatisch übersteigert ist. Bekannt sind die in sechs Bänden erschienenen, mehrfach aufgelegten Erzählungen über die drei Stanisläuse (z.B. Besuch bei den drei Stanisläusen. Wien 1964. 62003. Die Mäuse der drei Stanisläuse. Wien 1965. 82002). F. erhielt 59 Auszeichnungen, u. a. 1983 den Österreichischen Würdigungspreis, 6mal den Österreichischen Staatspreis, 9-mal den Kinder- u. Jugendbuchpreis der Stadt Wien. 34 ihrer Kinderbücher standen auf Ehrenlisten des Bundesministeriums für Unterricht u. Kunst u. des Kulturamtes der Stadt Wien, z.B. 1966 Erwähnung auf der Ehrenliste des Hans Christian AndersenPreises. 1988 wurde ihr die Goldene Ehrenmedaille der Stadt Wien für bedeutende Leistungen überreicht. 2004 wurde in Wien ein Weg nach ihr benannt.
F. besuchte nach der Pflichtschule Abendkurse der Handelsakademie u. war zunächst in der elterl. Vogelhandlung, danach u. a. als Stenotypistin, Redaktionssekretärin u. Verlagslektorin tätig; anschließend arbeitete die inzwischen verheiratete zweifache Mutter als Schriftstellerin. Nach frühen, empfindsamen Gedichten (Melodie am Morgen. Salzb. 1946), erstmals in der Zeitschrift »Plan« veröffentlicht, wech-
Weitere Werke: 65 Bücher in mehreren Übers.en u. Aufl.en erschienen, u. a. Riki. Roman für junge Mädchen. Wien 1951. – Schuldlos wie die Mohnkapsel. Graz./Wien 1961 (L. u. P.). – Zwölf Leute sind kein Dutzend. Wien/Mchn. 1962 (E.). – Lustig singt die Regentonne. Wien 1964. 112006. – Solche Leute mag ich nicht. Wien 1966 (E.). – Literar. Luftnummer. Wien 1970 (Kurzgesch.). – Die Oma gibt dem Meer die Hand. Wien 1982. 21988. – Das Denken überlaß nicht den Pferden! Wien 1986. – ›Veronika!‹, ›Veronika!‹, ›Veronika!‹ rufen die
gann sie Theaterstücke zu schreiben, die zwar vielfach übersetzt wurden, aber trotz geschickter Dialogführung u. wirkungsvoller Rollen zu konstruiert wirkten, um sich durchzusetzen. Ihre Dramen wurden in Wien uraufgeführt: Alphabet in der Ewigkeit (1960), Wunschträume (1961), Wackelkontakt (1963), Fetzenflieger (1975). F.s Unterhaltungsromane, z.B. Die Sommerinsel (Gütersloh 1976. Mchn. 1986), in denen dialog. Elemente dominant bleiben, verdanken ihren Erfolg trivialliterar. Strategien wie Identifikationsangeboten, Spannung u. exot. Schauplätzen. Außerdem hat F. etwa 40 Drehbücher für Fernsehspiele u. Serien wie Traumschiff, Insel der Träume oder Schlosshotel Orth geschrieben. 1969 erhielt sie den Preis der Theodor-Körner-Stiftung. Zuletzt arbeitete F. nicht nur als Professorin an der Universität für Musik u. darstellende Kunst in Wien, sondern sie besitzt auch eine eigene Kolumne in der Tageszeitung »Kurier« u. ist freie Mitarbeiterin des Magazins »Kirche In«. Weitere Werke: Die Kürbisflöte. Mchn. 1983. 1986 (R.). – September-Song. Mchn. 1985. 21988 (R.). – Fährt ein Schiff nach Apulien. Wien/Mchn. 1981. – Das Gartenzimmer. Mchn. 1987. – Im Süden hat der Himmel Fenster. Mchn. [1997] (R.). – Alle Himmel stehen offen. Wien 2002 (R.). Johann Sonnleitner / Red.
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drei Stanisläuse. Wien 1995. 32004. – 1957 bis 1963 Beiträge im ›Simplicissimus‹ u. in zahlreichen Anthologien (u. a. ›Lebendige Stadt‹, ›Tür an Tür‹), zahlreiche mediale Verarbeitungen ihrer Werke. Literatur: Susanne Blumesberger: ›Das Brutgeschäft des Autors ist keine stille Wonne der Besinnlichkeit‹. Porträt u. Interview über die österr. Erzählerin, Lyrikerin u. Kinderbuchautorin V. F. (1923–97). In: Biblos. Beiträge zu Buch, Bibl. u. Schrift (2002), H. 51/2, S. 215–243. – Libri liberorum. Mitt.en der Österr. Gesellsch. für Kinder- u. Jugendliteraturforsch.: V. F. (1923–97), Sonderh. März 2003. – Liesl Mikura: V. Ferra-Mikura-Weg. In: Libri liberorum 2004, H. 18, S. 21–24. – Ernst Seibert: V. F. Auf dem Schachbrett der Lit. In: Praesent. Das österr. Literaturjb. 2004. Wien 2004, S. 85–93. – S. Blumesberger: V. F. In: Kinder- u. Jugendlit. Ein Lexikon. Hg. Kurt Franz, Günther Lange u. Franz-Josef Payrhuber. Meitingen 2006, 27. Erg.-Lfg. Juni 2006, S. 1–53. – Christa Gürtler: Schriftstellerinnen am Rand mittendrin? Zum Beispiel V. F. In: Im Keller. Der Untergrund des literar. Aufbruchs nach 1945. Hg. Evelyne PoltHeinzl u. Daniela Strigl. Wien 2007, S. 78–96. Eva Weisz / Susanne Blumesberger
Ferrarius, Johannes, Beiname: Montanus, eigentl.: Johann Eisermann, * 1485/86 Amöneburg bei Marburg, † 25.6.1558 Marburg. – Humanist u. Jurist. F. studierte seit 1509 in Wittenberg die Artes u. Theologie, wurde 1514 zum Magister artium u. 1517 zum Baccalaureus biblicus promoviert. Seit 1518 hielt er Vorlesungen über Aristoteles, Quintilian u. Plinius. 1521/22 war er Rektor der Universität Wittenberg. Nach den 1521 ausgebrochenen Wittenberger Unruhen kehrte er nach Marburg zurück. Seit 1523 Mitgl. des Rates der Stadt u. in verschiedenen Verwaltungsfunktionen als juristischer Fachmann bewährt, wurde er 1527 erster Rektor der Universität Marburg u., obwohl erst 1533 zum Dr. legum promoviert, Professor des Zivilrechts. Weitere sieben Rektorate folgten. 1536 wurde er Vizekanzler der Universität, 1548 Vizekanzler des hess. Landgrafen. In Wittenberg entstanden eine kurzgefasste Verslehre (Epitome de carmine plurifariam condendo. Wittenb. 1509) u. eine epische Bearbeitung des Lebens der hl. Elisabeth (In vitam divae Helisabet [...] libri tres. Lpz. 1518), die
den Schwerpunkt der Handlung nach Marburg verlagert. Ein von antiker Gelehrsamkeit überladener panegyr. Fürstenspiegel ist die große Rede, die F. 1516 in Wittenberg auf Prinz Wolfgang, den Pfalzgrafen bei Rhein, hielt (Ad Illustrissimum Principem Volfgangum [...] Panegyricus. Wittenb. 1516). Unter dem Pseudonym Nemo verfasste F. mehrfach nachgedruckte Streitschriften im Nachgang zur Leipziger Disputation (Encomium Rubii Longipolli. Wittenb. 1519. Excusatio Neminis adversus Nullum Lipsensem. Lpz. 1519). Als Jurist entfaltete F. eine umfangreiche wiss. Tätigkeit u. a. als Verfasser von Kommentaren zum röm. Recht (Adnotationes in IIII Institutionum Iustiniani libros. Marburg 1532 u. ö. Ad titulum Pandectarum de regulis iuris integer commentarius. Marburg 1536), u. Handbüchern (Commentarius [...] de appellationibus [...]. Marburg 1542. De iudiciorum praeexercitamentis enchiridion. Ffm. 1554). Er gilt als einer der bedeutendsten Staatsrechtler seiner Zeit. In dt. Sprache verfasste er eine anonym erschienene Verteidigung reformatorischer Maßnahmen in Hessen (Was [...] Philips landgraue zu Hessen [...] als ein Christlicher Furst mit den Closter personen [...] vorgenommen hat. Marburg 1527. Zahlreiche Nachdr.e) u. die erste Staatslehre der frühen Neuzeit (Von dem gemeynen nutze. Marburg 1533), deren stark erweiterte lat. Fassung (De re publica bene instituenda paraenesis. Basel 1556) 1559 ins Englische übersetzt wurde. Weitere Werke: Bei Arrey v. Dommer: Die ältesten Drucke v. Marburg i. H. 1527–1566. Marburg 1892, S. 34 f., 37, 45 f., 81. – Helmut Coing (Hg.): Hdb. der Quellen u. Lit. Literatur: Otto Clemen: Literar. Nachspiele zur Leipziger Disputation. In: Beiträge zur sächs. Kirchengesch. 12 (1898), S. 58–63. – Franz Gundlach: Catalogus Professorum Academiae Marburgensis. Marburg 1927, S. 84 f. – Brita Eckert: Der Gedanke des gemeinen Nutzen in der luth. Staatslehre des 16. u. 17. Jh. Diss. Ffm. 1976. – Luise SchornSchütte: ›Den eygen nutz hindan setzen und der Gemeyn wolfart suchen‹. In: Menschen u. Strukturen in der Gesch. Alteuropas. FS Johannes Kunisch. Bln. 2002. – Gury Schneider-Ludorff: Die Hospitalstiftung Landgraf Philipps des Großmütigen. In: Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Hg. Arnd Friedrich. Petersberg 2004. Fidel Rädle / J. Klaus Kipf
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Feßler, Ignaz, Ignatius, Aurelius, * 18.5. 1756 Zurndorf/Burgenland, † 15.12.1839 St. Petersburg. – Verfasser historischer Romane, Publizist.
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1797). F.s spätere Romane (mit teils historischen, teils zeitsatir. Sujets), die konfessionsgeschichtl. Studie Ansichten von Religion und Kirchenthum (3 Bde., Bln. 1805), seine freimaurerischen u. autobiogr. Schriften sind als »Werke der Reflektion« konzipiert, Werke, die F.s eklektischen weltanschaulich-religiösen Standpunkt verdeutlichen, den Spätaufklärung u. Sturm u. Drang ebenso formten wie romantisches u. pietist. Gedankengut.
Nach dem Besuch des Raaber Jesuitengymnasiums trat F. 1773 in den Kapuzinerorden ein. Seit 1779 Priester, brachte ihn seine öffentl. Anzeige heimlich betriebener Klostergefängnisse in Konflikt mit seinem Orden. Einflüsse von Jansenismus u. Deismus, von Josephinismus u. Freimaurerei entfremdeten Weitere Werke: Sydney. Cölln, recte Breslau F. zunehmend dem kath. Glauben. Er stu- 1788 (D.). – Sämmtl. Schr.en über Freymaurerey. 3 dierte Theologie in Wien u. promovierte 1783 Bde., Freyberg 1805–07. – Abälard u. Heloisa. 2 zum Dr. theol. Ab 1784 war er Orientalistik- Bde., Bln. 1806 (R.). – Bonaventura’s myst. Nächte. Professor in Lemberg. 1787 wurde er aus dem Bln. 1807 (R.). – Gesch. der Ungern u. ihrer LandKapuzinerorden entlassen. 1788–1796 wirkte sassen. 10 Bde., Lpz. 1815–25. – Dr. F.s Rückblicke er als Hofbibliothekar in Carolath/Schlesien. auf seine siebzigjährige Pilgerschaft. Breslau 1824 Der 1791 zum Luthertum übergetretene F. (Autobiogr.). – Dr. F.s Resultate seines Denkens u. wurde 1798 preußischer Staatsbeamter in Erfahrens. Breslau 1826. Literatur: Janos Koszó: I. A. F. Budapest 1923. Berlin. Gleichzeitig entfaltete er eine rege Tätigkeit als Romancier, Publizist u. Refor- – Peter Friedrich Barton: I. A. F. Wien/Köln/Graz 1969. – Ders.: Jesuiten, Jansenisten, Josephiner mer der preuß. Freimaurerei. Zu seinen [...]. Der Fall I. F. Wien/Köln/Graz 1978. – Ders.: Freunden u. Bekannten zählten Jean Paul, Erzieher, Erzähler, Evergeten: [...] F. in Schlesien. Fichte, Schelling u. die Brüder Schlegel. 1809 Wien/Köln/Graz 1980. – Ders.: Maurer, Mysten, zum Orientalistik-Professor in St. Petersburg Moralisten: [...] F. in Berlin. Wien/Köln/Graz 1982. berufen, avancierte F. 1819 zum Bischof der – Ders.: Romantiker, Religionstheoretiker, Roevang. Gemeinde in Russland. 1833 bis zu manschreiber: [...] F. in Brandenburg. Wien/Köln/ seinem Tod war er Kirchenrat in St. Peters- Graz 1983. – Florian Maurice: Freimaurerei um 1800. I. A. F. u. die Reform der Großloge Royal burg. F. schrieb zahlreiche histor. Romane, die er York in Berlin. Tüb. 1997. Walter Weber / Red. als »historische Gemälde« bzw. »poetische Geschichtsdarstellungen« charakterisierte. Mit seinem Romanerstling Marc-Aurel (4 Bde., Fest, Joachim, * 8.12.1926 Berlin-KarlsBreslau 1790–92) konterkarierte er den re- horst, † 11.9.2006 Kronberg/Taunus. – publikan. Umsturzgeist mit dem Idealbild Historiker, Journalist, Essayist, Drehdes aufgeklärten Herrschers, der die polit. buchautor, Reiseschriftsteller, Verfasser Reform selbst ins Werk setzt. In der Tradition von Memoiren. des aufklärer. Staatsromans u. Fürstenspie- F. war der zweite Sohn des Schulleiters Jogels suchte F. anhand der exemplifizierten hannes Fest, der sich in der Zentrumspartei Biografie eines Großen der Antike darzustel- politisch betätigte u. der Führung des delen, wie »eine über Vorurtheile erhabene mokrat. Wehrverbandes »Reichsbanner Vernunft, und auf die menschliche Natur Schwarz-Rot-Gold« angehörte. Als unvergegründete Tugend den Menschen erhebt« söhnlicher Gegner des Nationalsozialismus (Marc-Aurel. Bd. 1, Widmungstext, unpagi- wurde der Vater 1933 aus dem Schuldienst niert). Die Dialektik von politischer Macht u. entlassen, wodurch sich die finanzielle Lage eth. Verantwortung am Beispiel historischer der Familie, die in den folgenden Jahren von Herrscher-Persönlichkeiten beschäftigte F. der Gestapo überwacht wurde, drastisch verauch in den Romanen Aristides und Themistocles schlechterte. Ihr bildungsbürgerlicher Haus(2 Bde., Bln. 1792), Attila, König der Hunnen halt als Trutzburg gegen den Konformismus (Breslau 1794) u. Alexander der Eroberer (Bln. der Diktatur ist zentrales Thema von F.s
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letztem Buch, den Memoiren Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend (Reinb. 2006). Aufgrund dieser Erfahrung vermochte F. die Gesellschaftsschicht, der er entstammte, später weder pauschal zu verdammen noch sich soziolog. Theorien zu eigen zu machen, die die persönliche moral. Verantwortung zum Verschwinden bringen. F. besuchte in Berlin die Volksschule u. das Leibniz-Gymnasium, das er 1941 wegen einer Hitler-Karikatur verlassen musste, danach ein kath. Internat u. das Friedrichs-Gymnasium in Freiburg i. Br. Nach militärischer Grundausbildung, Flakdienst u. Kriegsgefangenschaft studierte er in Freiburg i. Br., Frankfurt/M. u. Berlin Jura, Geschichte, Soziologie, Germanistik u. Kunstgeschichte. Eine geplante jurist. Dissertation gab F. zugunsten einer journalist. Tätigkeit beim RIAS Berlin auf. Aus einer Serie zur dt. Geschichte ging sein erstes Buch Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft (Mchn. 1963. 11 1994) hervor, das wie die meisten seiner späteren Werke in mehrere Sprachen übersetzt wurde. In seiner Berliner Zeit fand F. Anschluss an den Intellektuellen-Kreis um den Verleger Wolf Jobst Siedler sowie an die Autoren der antikommunist. Zeitschrift »Der Monat«. Einige dieser geistigen Weggefährten porträtierte er, nicht immer unkritisch, in seinem Buch Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde (Reinb. 2004). Auf Siedlers Anregung betreute F. als »vernehmender Lektor« ab 1966 die Erinnerungen (Bln. 1969) des früheren Rüstungmsministers Albert Speer. Seine Gespräche mit dem Autor bildeten die Grundlage für Speer. Eine Biographie (Bln. 1999). Doch musste sich F. im Anschluss an Heinrich Breloers Dokumentarfilm Speer und Er (2005) vorhalten lassen, er habe sich von Speer, was dessen Kenntnis der Judenvernichtung u. die Beteiligung daran betraf, hinters Licht führen lassen. Dies erkannte F. teilweise in seinem Buch Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981 (Reinb. 2005) an. 1961 wechselte er als Chefdramaturg u. Hauptabteilungsleiter Fernsehspiel nach Hamburg zum Norddeutschen Rundfunk, dessen Chefredakteur u. Hauptabteilungsleitungleiter Zeitgeschehen er 1963 wurde. Von Eugen Kogon übernahm
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er in der Folge auch die Moderation des Fernsehmagazins Panorama. 1968 ließ sich F. beurlauben, um die Arbeit an einer Biografie Hitlers aufzunehmen, aber auch weil er die parteipolit. Einflussnahme auf den Sender missbilligte. F. war geprägt von einer antiideolog. Haltung, die er mit der von Helmut Schelsky beschriebenen jüngeren Skeptischen Generation teilte. Ihr geistiges Fundament fand F. in der liberalen Gesellschaftstheorie Karl R. Poppers (so noch in: Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft. Bln. 1993. 21994) sowie in der Totalitarismustheorie, etwa in der Ausprägung durch Hannah Arendt u. in der Anwendung durch Karl Dietrich Bracher. Entsprechend sah er schon den durchaus minoritären akadem. Marxismus der 1950er u. frühen 1960er Jahre (Wolfgang Abendroth, Ernst Bloch) mit Besorgnis u. kritisierte die Studentenbewegung des ausgehenden Jahrzehnts, obwohl sich in seiner damaligen Publizistik gemeinsame Motive ausmachen lassen, etwa die scharfe Kritik an der Bonner Großen Koalition (1966–1969) oder die Zurückweisung der Forderung nach journalistischer Ausgewogenheit als Sehnsucht nach der Volksgemeinschaft. 1973 erschien Hitler. Eine Biographie (Bln. 1973; zahlreiche Aufl.n u. Ausg.n). Sie wurde ein internat. Bestseller, dem erst Ian Kershaw (1998–2000) eine mindestens gleichrangige Publikation zur Seite stellen konnte, u. bildete die Grundlage für den Film Hitler. Eine Karriere (Regie: Christian Herrendörfer, 1977; Begleitbuch Ffm. 1977). Er war nicht unumstritten. Unter anderem wurde die Befürchtung laut, die dargestellten psycholog. Überwältigungsstrategien des Nationalsozialismus würden auch auf gegenwärtige Zuschauer ihre Wirkung nicht verfehlen. F. gehörte neben seinem zeitweiligen Freund Sebastian Haffner zu den wenigen Journalisten, die mit der akademischen histor. Forschung von Gleich zu Gleich diskutieren konnten. Der in den 1970er Jahren dominierenden Sozialgeschichte hielt F. vor, sie verliere durch Detailstudien u. einen esoter. Sprachgestus das breite Publikum, das für ihn beispielhaft v. a. die großen Historiker des 19. Jh. u. Golo Mann erreicht hatten (Wege
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zur Geschichte. Über Theodor Mommsen, Jacob 2005. – Die unwissenden Magier. Über Thomas u. Burckhardt und Golo Mann. Zürich 1992. Heinrich Mann. Bln. 1984. – Der tanzende Tod. 2 1993). 1973 wurde F. der für das Feuilleton Über Ursprung u. Form des Totentanzes vom MA zuständige Mitherausgeber der »Frankfurter bis zur Gegenwart. [Mit Zeichnungen v. Horst Janssen]. Lübeck 1986. – Zwischen Diktatur u. Lit. Allgemeinen Zeitung«. Unter seiner Leitung Marcel Reich-Ranicki im Gespräch mit J. F. Ffm. (bis 1993) wurde es zu einem der wichtigsten 1987. – Der zerstörte Traum. Vom Ende des utop. intellektuellen Foren in dt. Sprache, das, Zeitalters. Bln. 1991. 51993. – Nach den Utopien. häufig in der Auseinandersetzung mit dem Eine Betrachtung zur Zeit. Köln 1992. – Das trag. bis 1985 von Fritz J. Raddatz geleiteten Vermächtnis. Der 20. Juli 1944. Heidelb. 1994. – Kulturteil der »ZEIT«, weit in den polit. Mit den Augen des Händlers. Bernhard Heisig, Raum reichende Debatten anstieß, so 1986 Begegnung mit Bildern. Bln. 1995. – Cäsar Pinnau, den Historikerstreit, durch den die Bezie- Architekt. Hbg. 1982. 2., erw. Aufl. 1995. – hung zu F.s Literaturchef Marcel Reich-Ra- Fremdheit u. Nähe. Von der Gegenwart des Gewenicki irreparablen Schaden nahm. F. machte senen. Stgt. 1996 (Ess.s). – Herausgeber: Heinrich Himmler: Geheimreden 1933–45 u. andere Ansich zwar die These Ernst Noltes vom ursächl. sprachen. Ffm. 1974. – Die großen Stifter. LebensZusammenhang zwischen bolschewistischem bilder – Zeitbilder. Bln. 1997. Klassenmord u. nationalsozialistischer JuLiteratur: Reden anläßlich der Geburtstagsfeidenvernichtung nicht völlig zu eigen, sah die er für J. F. am 8. Dez. 1986. Hg. für Freunde der Kontroverse, die sich daran knüpfte, jedoch FAZ. Ffm. 1986. – Wolf Jobst Siedler: Über J. F. In: als Auseinandersetzung um die wiss. Dis- Von Gesch. umgeben. J. F. zum Sechzigsten. Bln. kussionsfreiheit. Distanz hielt er hingegen zu 1986, S. 7–12. – ›Historikerstreit‹. Die Dokumenden rechten Intellektuellen, die sich in den tation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der 1990er Jahren als »Neunundachtziger« um nationalsozialist. Judenvernichtung. Mchn. 91995. den Ullstein-Verlag sammelten. In seiner Es- – Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stgt. 1999, say-Sammlung Aufgehobene Vergangenheit (Stgt. S. 477–483, 540–549. – Max A. Höfer: J. F., der 1981. 21981) kündigte F. an, die Befassung konservative Triumphator. In: Ders.: Meinungsführer, Denker, Visionäre. Wer sie sind, was sie mit dem Nationalsozialismus, den ihm der denken, wie sie wirken. Ffm. 2005, S. 247–252. – Vater einst als »Gossenthema« hatte ausreden Hanjo Kesting: Im Schatten des Untergangs. Zum wollen, hinter sich zu lassen. Doch sollte sie Tod v. J. F. In: Neue Gesellschaft / FH 10 (2006), Schwerpunkt seiner Veröffentlichungen blei- S. 59–62. – Gustav Seibt: Bürger v. histor. Zuben. Dazu zählen neben den Speer-Mono- schnitt. Zum Tod v. J. F. In: Dt. Akademie für grafien Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli Sprache u. Dichtung Jb. 2006, S. 239–244. – Trau(Bln. 1994. 41994) u. Der Untergang. Hitler und erfeier für J. F. in der Frankfurter Paulskirche. In: das Ende des Dritten Reiches. Eine historische FAZ 222, 23.9.2006, S. 39–41 (mit Würdigungen v. Skizze (Bln. 2002. 42002), Grundlage des Frank Schirrmacher, Martin Walser, Eduard Beaumehrfach preisgekrönten Filmes von Oliver camp u. Hagen Schulze). Volker Hartmann Hirschbiegel (2004). Abseits dieses Themenkomplexes erschienen u. a. Im Gegenlicht. Eine Feuchtersleben, Ernst (Maria Johann italienische Reise (Bln. 1998. Neuausg. Reinb. Karl) Frhr. von, * 29.4.1806 Wien, † 3.9. 2004), ursprünglich ein gemeinsames Buch1849 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralprojekt mit Wolf Jobst Siedler, u. Horst Jansfriedhof (Ehrengrab). – Medizinischer u. sen. Ein Selbstbildnis von fremder Hand (Bln. philosophischer Schriftsteller, Aphoristi3 2001. 2003). Die späten Essays F.s, gesamker, Kritiker, Lyriker u. Pädagoge. melt in Bürgerlichkeit als Lebensform (Reinb. 2007) u. Nach dem Scheitern der Utopien (Reinb. F. wurde als Sohn des aus einem sächs. 2007), sind geprägt von zunehmendem Ge- Pfarrhaus stammenden Offiziers u. österr. schichtspessimismus u. Trauer über das Ende Hofrats Ernst Karl Friedrich von Feuchtersleben u. der in zweiter Ehe angeheirateten des Bürgertums, wie der Autor es verstand. Weitere Werke: Hitler. Gesichter eines Dikta- Cäcilie Edle von Clusolis geboren. Die kurze tors [zu Fotos v. Heinrich Hoffmann; mit Jochen v. Kindheit auf dem Lande, wohin das asthen. Lang]. Hbg. 1968. 3. Aufl. der Neuausg. Mchn. Kind nach frühem Mutterverlust verschickt
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wurde, erfuhr durch die vorzeitige Einschulung des kaum Siebenjährigen in die k. k. Theresianische Ritterakademie zu Wien einen traumat. Abbruch. Gegen die nun ausbrechende »Hypochondrie«, die seine Tagebuchblätter mit Krankheitsnotaten beginnen lässt, fand F. erste Wege zur Selbstmächtigkeit in der Stoa (»mein Vaterhaus«). Seine aus Selbstbeobachtungen methodisch fortentwickelte »Neigung zum Studium der Natur und des Menschen«, die in den naturgeschichtl. Sammlungen des Internats reiche Nahrung fand, sowie die philosophisch-idealist. Ausrichtung seines Denkens durch seinen Philosophieprofessor Bonifazius Busek gaben nach elf Jahren »Schule der Knechtschaft« (1813–1824) den Ausschlag, die Ritterakademie vorzeitig zu verlassen, um die für einen Adeligen unstandesgemäße ärztl. Laufbahn einzuschlagen. Bereits zu Beginn des Medizinstudiums (1824–1834, Dr. med.) gab sich F. mit seiner ersten Zeitschriften-Publikation Ueber das Studium der Natur (1825) als begeisterter Schüler der »romantischen Medizin« Schellings zu erkennen, die mit F.s Lehrer, dem »philosophischen Arzt« Philipp Carl Hartmann, in der Universität Wien Einzug gehalten hatte. Ihm verdankte er die ganzheitl. Auffassung des Lebens als eines dynamischen, aus polaren Gegensätzen sich steigernden Prozesses – eine naturphilosoph. Grundorientierung, die das Denken F.s zeitlebens geleitet hat. Im regen Austausch mit dem oppositionell gesinnten Franz-SchubertKreis u. der späteren »Sterngesellschaft« (unter den Freunden der theresian. Mitschüler Anastasius Grün, Franz von Schober, Franz von Bruchmann, Eduard von Bauernfeld, Moritz von Schwind, der Medizinhistoriker Franz Romeo Seligmann) strebte F. neben der Medizin mit dem Studium der Philosophie u. Philologie, Psychologie, bildenden Kunst u. Orientalistik nach einer universellen Gelehrsamkeit, die sich auf Goethe als Bildungszentrum ausrichtete. Zunächst in seinen poet. Ambitionen bestärkt, gewann F. dank der Förderung durch Gustav Schwab den renommierten Klassiker-Verlag Cotta für die Publikation seiner Gedichte (Stgt. 1836): Von der Jugendlyrik – unter der die »alt-
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deutsche Weise« Es ist bestimmt in Gottes Rath bes. durch die Vertonung Mendelssohn-Bartholdys (1839; op. 47, Nr. 4) wirkliches »Volkslied« geworden ist – über Natur- u. Widmungslyrik, orientalisierende u. antikisierende Versmaße bis hin zu Epigrammatik u. didakt. Weltanschauungslyrik wird ein poet. Bildungsgang symbolisiert, dessen Gliederung vom »Trieb« zum »Sinn« zgl. den Abschluss einer »Lebensepoche« andeutet. F.s Vater setzte am 19.6.1834, als eines von vielen Opfern der zeittyp. »Hypochondrie«, seinem Leben in der Donau ein Ende. Davon belastet, erscheinen F.s Lebenswendungen als Abfolge von Selbstrettungen aus Krankheit u. Katastrophen u. deuten auf Triebkräfte jenes »rastlosen« Bildungsdranges nach innen u. außen, die das literarische, medizin. u. pädagogisch-polit. Werk durchdringen. Mit den Kräften der Selbstbeharrung schloss der völlig Mittellose die – unstandesgemäße – Ehe mit der Kärntnerin Helene Kalcher u. eröffnete eine Vorstadt-Praxis. Zgl. konzentrierte er sich auf die – seiner didakt. Tendenz mehr entsprechende – Form der gelehrten Kritik u. Aphoristik. In den folgenden Jahren veröffentlichte F. weit über 60 krit. Schriften, die ihm Anerkennung als Literatur- u. Kunstkritiker u. die Freundschaft Grillparzers (Meine Erinnerungen an Feuchtersleben) eintrugen. Der themat. Bogen spannte sich von Grundsatzfragen der Kritik u. Leserschaft, der Poetologie u. Kunsttheorie, des histor. Romans (Scott, Bulwer-Lytton), der Novellistik (Kleist) bis hin zu fachgelehrten Auseinandersetzungen mit der dt. Literaturgeschichtsschreibung (Gervinus) u. der osman. Dichtkunst (Hammer-Purgstall). Neben Besprechungen der österr. Literatur u. der Wiener Kunstausstellungen konturieren die Einwirkungen Goethe’s (Rahel Varnhagen von Ense, Bettine von Arnim, Eckermann u. a.), v. a. Erläuterungen zum damals noch kaum rezipierten Spätwerk (West-östlicher Diwan, Faust II, naturwiss. Schriften), einen herausragenden Bereich. Nur eine strenge Auswahl daraus gelangte in den Sammelband Beiträge zur Literatur, Kunst- und Lebens-Theorie (Wien 1837), dem als Ergänzungsband die Lebensblätter (Wien 1841) nachfolgten.
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Der Selbstmord seines engsten Freundes Johann Mayrhofer, Lyriker u. Zensor in einer Person, am 5.2.1836 wurde von F. wie auch im Dichterkreis (Bauernfelds Gedicht Tod eines Zensors) als exemplarisches Schicksal des zwischen äußerer, korrumpierender Beamtenpflicht u. inneren Idealen »Zerrissenen« empfunden. Tief erschüttert, reagierte F. darauf mit der Niederschrift der populärphilosoph. Abhandlung Zur Diätetik der Seele (Journalfassung 1837. 1. Buchausg. Wien 1838). Mit allein fünf Auflagen zu Lebzeiten (51848) offenbarte die explosive Rezeption dieser leicht lesbaren Anti-HypochondrieSchrift, dass darin die latente Pathologie einer ganzen Epoche angesprochen wurde. Hier stieß die unter Kraftlosigkeit (Asthenie) leidende Generation auf ein Therapeutikum, das sich völlig auf die Stärkung des Subjekts konzentrierte – nicht durch lebensprakt. Vorschriften, sondern allein durch Ermächtigung der psych. Kräfte, des Willens, der Selbsterkenntnis u. Selbstbeherrschung, mittels Einsicht in die leib-seelischen Wechselwirkungen. Dabei wird der – die traditionelle Diätetik regierende – stoizist. Begriff der Seelenruhe durch Ver ni c ht u ng der Leidenschaften verworfen zugunsten des naturidealist. Konzepts eines in allen Teilen harmonisch ausgebildeten Organismus, dessen Gesundheit auf dem Au sgl ei ch gegensätzlicher Leidenschaften beruht. Die (versteckte) Übersetzung aus der »Ethik« des (verbotenen) Spinoza im Zentrum der Diätetik zeigt an, dass »Natur« hier mehr ist als erholsame Landschaft: Sie ist Entfaltung der göttl. Vernunft, ist »Wahrheit«; wer nach ihren Gesetzen lebt, lebt nicht nur gesund, sondern auch gut u. schön. Das ist der Kern der Diätetik als »Kalobiotik« (Lehre vom schönen Leben), mit der sich F. von der regierenden Diätetik der Goethezeit, Hufelands »Makrobiotik« (Lehre vom langen Leben) bewusst absetzte. Im Sinne eines »Resultate« notierenden »diätetischen Tagebuchs« entstand – das gesamte Schaffen begleitend – mit über 1000 Einzelsentenzen eines der umfassendsten aphorist. Werke der deutschsprachigen Literatur. Eine beziehungsreiche Auswahl davon ordnete F. jeweils als gleichgewichtigen An-
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hang, untergliedert in »Wissen – Kunst – Leben« der Diätetik, den Beiträgen u. den Lebensblättern zu. Das aphorist. Lebenswerk vollendete F. in der (erst postum gedruckten) Sammlung Confessionen (Wien 1851), in denen wesentl. Ergebnisse seiner Philosophierezeption (von Kant bis Hegel u. Herbart) zusammengefasst sind. Eine gesellschaftlich wirksame Mitgestaltung konnte sich F. allerdings viel mehr in der von wiss. Umbrüchen aufgerührten Wiener Medizin versprechen: F.s medizinphilosoph. Apologetik Über die Gewißheit und Würde der Heilkunst (Wien 1839. Neuaufl. 1848 u. d. T. Ärzte und Publikum) zog seine Berufung zum Sekretär der 1838 gegründeten k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien nach sich, die er über vier Jahre (1840–1844) leitete. Er legte dieses Amt nieder, um sich seinem »Lieblingsfach« zu widmen. 1843 hatte F. mit seiner Habilitation zum ersten österr. Dozenten für »ärztliche Seelenkunde« einen wissenschaftsgeschichtl. Meilenstein gesetzt. Den im Wintersemester 1844/45 begonnenen, spektakulär erfolgreichen Vorlesungen folgte 1845 das erste österr. Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde. Mit der medizinhistorisch paradigmat. Einführung der psychosomat. Deutung seelischer Störungen als Persönlichkeits- statt Gehirnerkrankungen verband F. auch ein programmatisches Zeichen. Verstärkt durch die philosophisch ergänzte dt. Neuausgabe von Hartmann’s Fest-Rede vom Leben des Geistes (Wien 1846) stellten beide Schriften den Versuch dar, die auf lokalistischen, pathologisch-anatom. Organbefunden sich formierende Rokitansky-Schule in eine anthropolog. Gesamtschau des Menschen als leib-seelischer Einheit zurückzubinden. Diese werkleitende, seinem teleologischen Organismus-Denken verpflichtete Versöhnungsphilosophie bestimmte auch F.s Konzeptionen einer Bildungsreform, die diesen Leitlinien v. a. in der Gleichstellung aller Nationalsprachen als Unterrichtssprachen u. in der Verbindung der modernen realist. Fachausbildung mit humanist. Grundwerten Rechnung trug: Seit 1845 Dekan der medizin. Fakultät, wurde F. am 9. Okt. 1847 zum Vizedirektor der medizinisch-chirurg. Studien ernannt. Aber erst die in der Märzrevolu-
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tion 1848 – auch unter F.s persönlichem Einsatz – errungene Lehr- u. Lernfreiheit u. seine Berufung zur Leitung des Unterrichtsministeriums am 18. Juli (in der selbstgewählten Funktion des politisch entlasteteren Unterstaatssekretärs) machten es möglich, die Entwürfe zu einer überfälligen Neugestaltung des gesamten Unterrichtssystems im Vielvölkerstaat umzusetzen. Die einschneidenden Reformschritte, die F. auch zur Vereinheitlichung des medizin. Studiums setzte, brachte den Lehrkörper gegen ihn auf. Als F. nach dem blutigen Aufruhr des 7. Okt., der den gesundheitlich Zerrütteten zur Flucht aus Wien u. zum Rückzug aus der Unterrichtsreform zwang, in sein vormaliges Wirkungsfeld zurückkehren wollte, stieß er auf einmütigen Protest der Fakultät. Mit dem Verlust aller Ämter seiner leidenschaftl. Bildungsmission beraubt, verfiel er erneut seinem hypochondr. Leiden, dem er schließlich erlag. Ihn errettete auch nicht das einzig verbliebene Wirkungsfeld: die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, deren Gründung er gemeinsam mit Hammer-Purgstall 1845/46 vorbereitet u. die ihn am 17. Juli 1848 zum wirkl. Mitgl. ernannt hatte. Sein viermonatiges Leiden beschränkte F.s Arbeitskraft. Die schon öffentlich angekündigten Fünf Vorlesungen zur Anthropologie (1849), seine letzte Arbeit, konnte er nicht mehr vortragen. Eine Paradoxie der Rezeptionsgeschichte ist, dass gerade der von ihm höchst kritisch bewertete Friedrich Hebbel Ernst Frhrn. von Feuchtersleben’s sämmtliche Werke. Mit Ausschluß der rein medizinischen (7 Bde., Wien 1851–53) der Nachwelt überlieferte. Neben der nachhaltig rezipierten Aphoristik blieb die mit unzähligen Auflagen (431879) bis in die Gegenwart verbreitete Diätetik der Seele F.s wirkungsmächtigste Schrift. Über ihre populärmedizin. Rezeption als Selbstheilungsschrift hinaus übertrug sie diätet. Funktionen auf Literatur u. Kunst u. machte die Antinomie des »Gesunden« u. »Kranken« zu wirkungsästhet. Kategorien des literar. Diskurses. Dabei tendiert die naturphilosoph. Überhöhung der »Lebenskunst« in ein »Lebenskunstwerk« zu einer Ästhetisierung, welche die Diätetik als »ärztliche Utopie« (Ernst Bloch)
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mit den utop. Gegenwelten Adalbert Stifters verbindet. Woran F. zu seiner Zeit gescheitert ist – dem Streben, ganzheitl. Konzepte mit den analyt. Forschungserträgen der modernen experimentellen Naturwissenschaft zu vermitteln –, erscheint im Horizont gegenwärtiger Konzepte einer ganzheitl. Medizin aktuell. Weitere Werke: Lineamenta isagoges in doctrinam de indicationibus [Lehre v. den Heilanzeigen]. Med. Diss. Wien 1834. – Ueber das Hippocrat. erste Buch v. der Diaet. Wien 1835. – Almanach v. Radierungen v. M. v. Schwind mit erklärendem Text v. F. Zürich 1844 [1843]. – Herausgaber: W. Fr. Meyern: Dya-Na-Sore, oder: Die Wanderer. 3., vollst. Original-Aufl. 5 Bde., Wien 1840/41. – Burkhard Eble: Die Gesch. der pract. Arzneikunde [...] v. Jahre 1800–25. Wien 1840. – Verhandlungen der k. k. Gesellsch. der Aerzte zu Wien. 3 Bde., Wien 1842–44. – Hinterlassene kleine Schr.en W. Fr. Meyern’s. 3 Bde., Wien 1842. – Gedichte v. Johann Mayrhofer. Neue Slg. Wien 1843. – Friedrich v. Schlegel’s sämmtl. Werke. 2. Orig.-Ausg. 15 Bde., Wien 1846. – Geist dt. Klassiker. Eine Blumenlese ihrer geistreichsten u. gemüthlichsten Gedanken, Maximen u. Aussprüche. 10 Tle., Lpz. 1851 (postum besorgt v. Ludwig Scheyrer). Historisch-kritische Ausgabe: Sämtl. Werke u. Briefe. Krit. Ausg. Hg. Hedwig Heger u. a. Wien 1987 ff. Ersch.: Bd. I/1.2: Sämtl. Gedichte. Bearb. v. Hermann Blume. 1987. Bd. III/3: Pädagog. u. polit. Schr.en u. Reden. Bearb. v. Horst Pfeiffle. 2006. Bd. VI/1.2: Sämtl. Briefe – Autobiogr. Schr.en – Tagebuchblätter. Bearb. v. Barbara Otto. 2002. Literatur: Bibliografie: E. Frhr. v. F. Verz. seiner Schr.en. Zusammengestellt v. Hubert Lengauer. In: Anzeiger der phil.-histor. Klasse der Österr. Akademie der Wiss. 112 (1975), S. 339–351. – Weitere Titel: Erna Lesky: Die Wiener medizin. Schule im 19. Jh. [1965]. Graz u. Köln 21978, bes. S. 119 ff.; 177 ff. – Wolfgang Rißmann: E. Frhr. v. F. Sein Beitr. zur medizin. Anthropologie u. Psychopathologie. Freib. i. Br. 1980. – Herbert Seidler: E. Frhr. v. F. In: Österr. Vormärz u. Goethezeit. Wien 1982, S. 364–381. – Hermann Blume: ›... ein schwer wiegendes Opfer von meiner Seite‹. Zu Hebbels Ausg. ›Sämmtliche Werke‹ des E. Frhr. v. F. Mit drei unveröffentlichten Briefen aus der Verlagskorrespondenz Hebbel – Carl Gerold. In: Hebbel. Mensch u. Dichter im Werk. Schriftenreihe der Friedrich-Hebbel-Gesellsch. 5 (1995), S. 117–161. – Christian v. Zimmermann: ›Brigitta‹ – seelenkundlich gelesen. Zur Verwendung »kalobiotischer Lebensmaximen« F.s in Stifters Erzählung. In:
423 Adalbert Stifter. Dichter u. Maler, Denkmalpfleger u. Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Hg. Hartmut Laufhütte. Tüb. 1996, S. 410–434. – Goedeke Forts. – Friedmann Spicker: Der Aphorismus. Begriff u. Gattung vom 18. Jh. bis 1912. Bln. 1997, S. 118 ff. – Karl Pisa: E. Frhr. v. F. Pionier der Psychosomatik. Wien 1998. – Herbert H. Egglmaier: E. Frhr. v. F. als Bildungspolitiker. Klagenf. 2000. Hermann Blume
Feuchtwanger, Lion (Jacob Arje), * 7.7. 1884 München, † 21.12.1958 Los Angeles; Grabstätte: Santa Monica, Woodlawn Friedhof. – Romancier, Theaterkritiker. F. stammte aus dem jüdischen, in Glaubensdingen noch orthodox geprägten Großbürgertum Münchens; er brach 1903 nach dem Abitur mit seinem Elternhaus, um sich einer schöngeistigen Laufbahn zu widmen. Diese wurde seit der Gründung des literar. Vereins »Phöbus« (1903) von antisemit. Anwürfen begleitet; in dem Schlüsselroman Der tönerne Gott (Mchn. 1910) wird – noch im Rahmen der Dekadenzliteratur um 1900 – sogleich die Frage nach den Existenzformen des Juden zum Leitthema. Auch die Dissertation Heinrich Heines Fragment ›Der Rabbi von Bacharach‹. Eine kritische Studie (Mchn. 1907), mit der F. sein philolog. Studium bei Franz Muncker abgeschlossen hatte, zeugt von seinem Interesse an der Existenz des jüd. Schriftstellers in Deutschland. Wegen der Beschränkungen in der Hochschullaufbahn für Juden verzichtete er auf eine Habilitation. Erfolgreich war F. zunächst als Theaterkritiker; seine kurzlebige Zeitschrift »Der Spiegel« ging in Siegfried Jacobsohns »Schaubühne« auf, der F. bis 1916 Artikel lieferte. Nach Kriegsausbruch warnte F. als einer der ersten dt. Autoren vor patriotischer Hysterie – in Essays u. bald auch in Bearbeitungen von Dramen der Weltliteratur wie Die Perser (nach Aischylos. Mchn. 1917) u. Friede. Ein burleskes Spiel. Nach den ›Acharnern‹ und der ›Eirene‹ des Aristophanes (Mchn. 1918); doch erst das Zeitstück Die Kriegsgefangenen (Mchn. 1919), das um Verständnis für den frz. »Erbfeind« warb, wurde von der Zensur unterdrückt. Freilich änderte auch die Münchner Räterepublik, deren polit. Programm F. bil-
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ligte, wenig an seiner Skepsis gegen die Wirkungschancen von Literatur; sein »dramatischer Roman« um den Dichterrevolutionär Thomas Wendt (Mchn. 1920) bezeugt dies. Das Stück gab jedoch Anstöße zu einer »Revolution des Theaters«, die bis zum »epischen Theater« Bertolt Brechts führen sollte, der wie die junge Marieluise Fleißer um 1920 zu den Schützlingen des bereits einflussreichen F. gehörte. Seit der Umsiedlung in die Metropole Berlin zählte F., wie seine literar. Vorbilder Heinrich Mann u. Alfred Döblin, zu den Repräsentanten fortschrittlicher Literatur in der Weimarer Republik. Er publizierte im »Berliner Tageblatt« u. in der »Weltbühne«; die Geste einer Neuen Sachlichkeit, Provinzkritik u. Amerikanismus provozierten in seinem Werk die traditionellen Dichtungsklischees. Als Rollengedichte der berühmten Romanfigur Babbitt v. Sinclair Lewis ließ F. (zunächst unerkannt unter dem Pseudonym J. L. Wetcheek) sein »amerikanisches Liederbuch« PEP (mit Zeichnungen von Caspar Neher. Potsdam 1928) erscheinen. Die Zusammenarbeit mit Brecht, die noch in München mit dessen Leben Eduards des Zweiten von England (um 1923) begonnen hatte, wurde mit der Umarbeitung von F.s Drama Warren Hastings. Gouverneur von Indien (Mchn. 1916) zu Kalkutta: 4. Mai (in: Drei angelsächsische Stücke. Bln. 1927) fortgesetzt; sie bewährte sich noch im Exil am gemeinsamen SimoneProjekt. Mit dem Welterfolg seines Romans Jud Süß (Mchn. 1925), der Bearbeitung seines früheren Jud Süß-Dramas (Mchn. 1918), hatte F. freilich zu dem Typus des »historischen Romans« gefunden, dem er auch in Werken mit zeitgeschichtlichem Stoff treu bleiben sollte. Mit dem bösartigen nationalsozialist. Propagandafilm, den Veit Harlan 1940 aus dem Stoff fertigte, hat F.s Roman nichts gemeinsam. Im Schicksal des Hoflieferanten SüßOppenheimer, in seinem steilen Aufstieg im Württemberg des 18. Jh. u. seinem Sturz, entdeckte F. das Modell für das Dasein eines jüd. Staatsmannes, wie er es ursprünglich in einem Roman um Walther Rathenau schildern wollte. Die Spannung zwischen Ost u. West, zwischen »Geist« u. »Tat«, zwischen Kontemplation u. einem Handeln, das von
Feuchtwanger
der Jagd nach »Erfolg« bestimmt ist, hatte schon den Dramatiker fasziniert. Im »Roman, Typ Feuchtwanger« (Heinrich Mann) wird sie an vielfältigem, sorgfältig recherchiertem Material aufgewiesen; seine Stoffe wählte F. aus der Gegenwart, aus dem 18. Jh. als der Epoche von bürgerlicher Aufklärung u. Revolution, aus der Antike u. aus der Geschichte der Judenheit. Gerade die Juden als das »Volk des Buches« sind zu Sachwaltern des »Geistes« berufen; doch verlockt sie das Stigma ihrer Volkszugehörigkeit immer wieder zur Gier nach Anerkennung u. »Erfolg«. Der Jud Süß nimmt erst zuletzt sein Judentum an. Obschon diese Romane sich als buntes, belehrendes u. spannendes »Gewebe« (Alfred Döblin) von Figuren u. Handlungen präsentieren, zielt der Erzähler F., nach dem »Realismus« u. nach dem »Historismus«, nicht auf ein detailechtes Geschichtsgemälde, sondern auf die Erkenntnis überzeitlicher Wahrheit durch Typisierung der histor. Prozesse u. der historisch Handelnden. So schildert der zeitgeschichtl. Roman Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz (Bln. 1930) in zeitkrit. Absicht den Aufstieg der Hitlerbewegung im Bayern der Jahre 1920–1923 als abgetane histor. Episode. Der »Völkische Beobachter« (17.10.1931) bescheinigte dem Verfasser, er habe sich »nach dieser Leistung [...] einen zukünftigen Emigrantenpaß reichlich verdient«. Das Exil führte F. 1933 nach Sanary-surMer, dann – nach seiner Internierung in Frankreich 1940 u. der Befreiung durch eine Intervention Eleanor Roosevelts – in die Vereinigten Staaten; seit Febr. 1941 lebte F. in Los Angeles. Entschieden widmete sich der prominente F. dem Kampf gegen den Nationalsozialismus. 1936–1939 war er Mitherausgeber der Moskauer Exilzeitschrift »Das Wort«. Bei seiner Moskaureise 1936/37 wurde er von Stalin empfangen, erlebte freilich auch den Schauprozess gegen Karl Radek. Trotzdem bekannte sich F. in seinem Reisebericht Moskau 1937 (Amsterd. 1937) emphatisch zum Sowjetkommunismus u. löste damit heftige Debatten unter den dt. Emigranten aus. In der McCarthy-Ära scheiterte daran noch seine Einbürgerung in die USA. Nach Deutschland kehrte F. nicht mehr zurück.
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Das Schaffen der Exilzeit baut auf den Grundlagen der 1920er Jahre auf. Der Fortschritt zu vernünftiger Humanität bleibt für F. der Sinn der Geschichte. Die Aufgabe der Kunst in diesem Prozess untersuchen die Romane Die Geschwister Oppenheim (Amsterd. 1933. Seit der Ausg. Rudolstadt 1949 u. d. T. Die Geschwister Oppermann) u. Exil (Amsterd. 1940); sie wurden nachträglich mit Erfolg zur »Wartesaal«-Trilogie zusammengefasst. F.s Roman-Satiren gegen den Nationalsozialismus – Der falsche Nero (Amsterd. 1936) u. Die Zauberer (New York 1943. Endgültiger Titel: Die Brüder Lautensack. London 1944) – führen die ästhet. Faschismusdeutung aus Erfolg, die Hitler als wahnsinnigen Schauspieler einer histor. Rolle vorstellt, fort. Andererseits wird in Simone (Stockholm 1944) der Widerstand – konkurrierend zu Brechts Konzept in Die Gesichte der Simone Machard – als Nachvollzug von Geschichtslektüre begriffen. In epischer Breite stellt das Panorama des vorrevolutionären Frankreich, Waffen für Amerika (Stockholm 1947/48. U. d. T. Die Füchse im Weinberg. Amsterd. 1947/48), den je eigenen Beitrag verschiedener Schriftsteller- u. Menschentypen – von Beaumarchais bis Franklin – zum Fortschritt vor. Zu F.s zentralem Werk wird jedoch die Josephus-Trilogie (Der jüdische Krieg. Bln. 1932. Die Söhne. Amsterd. 1935. Der Tag wird kommen. Stockholm 1945), das Modell für das Dasein eines jüd. Schriftstellers in einer nichtjüd. Welt. Im Lebenslauf des antiken jüd. Geschichtsschreibers Flavius Josephus werden wirkende Mächte der Zeitgeschichte u. zgl. Motive von F.s gesamtem Schaffen reflektiert. Der histor. Prozess, der vom Hass der Barbaren gegen den Geist vorangetrieben wird u. deshalb widersinnig wirkt, verlangt dem Geschichtsschreiber – nach einer Formel Theodor Lessings – die »Sinngebung des Sinnlosen« ab; wird ihm allerdings »Erfolg« zuteil, verstrickt sich der betrachtende Autor selbst in den Taumel der Macht. Überdies ist er von den Extremen eines pragmatisch-vernünftigen, aber bindungslosen Kosmopolitismus u. eines leidenschaftlichen, aber lebensfeindl. Nationalismus bedroht. Die beiden letzten Werke F.s, Spanische Ballade (Bln./DDR u. Reinb. 1955. Seit der Ausg. Bln./DDR 1955 u. d. T. Die Jüdin
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von Toledo) u. Jefta und seine Tochter (Bln./DDR u. Reinb. 1957), kreisen um dieses Dilemma des Judentums. Der Roman Goya oder der arge Weg der Erkenntnis (Ffm. 1951) hingegen handelt wiederum von dem Preis, den der volkstümliche, gesellschaftskrit. Künstler für die Erkenntnis der Wahrheit im Geschichtsprozess zahlen muss; Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean-Jacques Rousseau (Ffm. 1952) lässt schließlich die Person des Autors völlig hinter den histor. Taten verschwinden, die durch seine Worte bewirkt wurden. So hat F. den Weltruhm seines Werkes, der einem Robert Musil, aber auch Freunden wie Thomas Mann als Indiz geringeren Ranges erschien, bis zuletzt nach seinen künstlerischen u. ethischen Voraussetzungen befragt. Weitere Werke: Die häßl. Herzogin. Bln. 1923 (R.). – Die Aufgabe des Judentums (zus. mit Arnold Zweig). Paris 1933. – Unholdes Frankreich. Meine Erlebnisse unter der Regierung Petain. London 1942. – Wahn oder Der Teufel in Boston. Los Angeles 1948. – Centum Opuscula. Hg. Wolfgang Berndt. Rudolstadt 1956 (späterer Verlagstitel: Ein Buch nur für meine Freunde). – Das Haus der Desdemona oder Größe u. Grenze histor. Dichtung. Hg. Fritz Zschech. Rudolstadt 1961. Ausgaben: Ges. Werke. Bde. 1–6, 8–9, 11, 17–18, Amsterd. 1935–48. – Ges. Werke in Einzelausg.n. 14 Bde., Bln./DDR u. Weimar 1955 ff. Literatur: Bibliografien: Gertrude Goetz: A Critical Bibliography of L. F.’s Work in German. Diss. Los Angeles 1971. – Hertha Keilbach: A Bibliography of L. F.’s Work in English Translation. Diss. Los Angeles 1973. – John M. Spalek u. Sandra H. Hawrylchak: L. F. Ein bibliogr. Hdb. Bd. 1: Deutschsprachige Ausg.n. Mchn. 1998. – Weitere Titel: L. F. zum 70. Geburtstag. Worte seiner Freunde. Bln./DDR 1954. – John M. Spalek (Hg.): L. F. The Man, His Ideas, His Work. Los Angeles 1972. – Lothar Kahn: Insight and Action: Life and Work of L. F. Rutherford 1975. – Synnöve Clason: Die Welt erklären. Gesch. u. Fiktion in L. F.s Roman ›Erfolg‹. Stockholm 1975. – Wolfgang MüllerFunk: Lit. als geschichtl. Argument. Zur ästhet. Konzeption u. Geschichtsverarbeitung in L. F.s Romantrilogie ›Der Wartesaal‹. Bern 1981. – Martha Feuchtwanger: Nur eine Frau. Jahre – Tage – Stunden. Mchn. 1983. – L. F. In: Text + Kritik 79/80 (1983) (mit Bibliogr.). – Wulf Köpke: L. F. Mchn. 1983. – Volker Skierka: L. F. Eine Biogr. Bln. 1984 (mit Bibliogr.). – Rudolf Wolff (Hg.): L. F. Werk u. Wirkung. Bonn 1984 (mit Bibliogr.). – Wolfgang
Feuerbach Müller-Funk (Hg.): Jahrmarkt der Gerechtigkeit. Studien zu L. F.s zeitgeschichtl. Werk. Tüb. 1987. – Frank Dietschreit: L. F. Stgt. 1988 (mit Bibliogr.). – Stefan Dreyer: Schriftstellerrollen u. Schreibmodelle im Exil. Zur Periodisierung v. L. F.s Romanwerk 1933–45. Bern 1988. – Carl Wege: Bertolt Brecht u. L. F.: ›Kalkutta, 4. Mai‹. Ein Stück Neuer Sachlichkeit. Mchn. 1988. – Judith Wessler: L. F.s ›Erfolg‹. A ›Großstadt‹ Novel. New York 1989. – Kamakshi P. Murti: Die Reinkarnation des Lesers als Autor. Ein rezeptionsgeschichtl. Versuch über den Einfluss der altind. Lit. auf dt. Schriftsteller um 1900. Bln. 1990. – Doris Rothmund: L. F. u. Frankreich. Exilerfahrung u. dt.-jüd. Selbstverständnis. Ffm. 1990. – Friedrich Knilli u. Rainer Matzker (Hg.): Der elektron. Literaturbericht. Das Datenbankprogramm ›Jud Süß / Juden u. Medien‹. Bern 1991. – L. F.: ›Geschwister Oppermann‹. Interpr. v. Peter Thalheim. Mchn. 1994. – Nortrud Gornringer: L. F. Briefe an Eva van Hoboken. Wien 1996. – Norbert Rehrmann: ›Ein sagenhafter Ort der Begegnung‹. L. F.s Roman ›Die Jüdin von Toledo‹ im Spiegel v. Kulturgesch. u. Literaturwiss. Bln. 1996. – Doris Reischl: Gegenwart im histor. Roman. Zur Funktion der Figurenkonstellationen in L. F.s Josephus-Trilogie. Regensb. 1997. – Sarah Fraiman: Judaism in the Works of Beer-Hofmann and F. New York 1998. – Shaswati Mazumdar: F. / Brecht. Der Umgang mit der ind. Kolonialgesch. Eine Studie zur Konstruktion des Anderen. Würzb. 1998. – Heike Specht: Die Feuchtwangers. Familie, Tradition u. jüd. Selbstverständnis im dt.-jüd. Bürgertum des 19. u. 20. Jh. Gött. 2006. Walter Schmitz
Feuerbach, (Paul Johann) Anselm Ritter von (seit 1813), * 14.11.1775 Hainichen bei Jena, † 29.5.1833 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Strafrechtler. F. war der vorehel. Sohn des späteren Frankfurter Advokaten Johann Anselm Feuerbach, dessen Geschlecht aus der Wetterau stammte u. schon vorher Theologen u. Juristen hervorgebracht hatte. F.s Frau Wilhelmine Tröster war die Tochter eines natürl. Sohnes von Ernst August Herzog von Sachsen-Weimar. Sie sind die Ahnen einer »geistigen Dynastie«: die Eltern von Anselm Feuerbach, dem Archäologen u. Verfasser des Buchs Der Vaticanische Apollo (21855), von Karl Feuerbach, dem Mathematiker u. Entdecker des »Feuerbach’schen Kreises«, u. von Ludwig
Feuerbach
Andreas Feuerbach, dem Philosophen; der Maler Anselm Feuerbach war ihr Enkel. Nach seiner philosoph. Promotion 1795 u. der juristischen 1799 in Jena wurde F. Rechtslehrer an der Jenaer, 1802 an der Kieler u. 1804 an der Landshuter Universität. 1805 wegen akadem. Querelen aus der Professur ausgeschieden, trat er als außerordentlicher (später ordentl.) Geheimer Referendar in das bayer. Justiz- u. Polizeidepartement in München ein. 1806 wurde in Bayern auf sein Betreiben die Folter abgeschafft, 1813 das von ihm entworfene neue bayer. Strafgesetzbuch (StGB) verkündet. Einen seiner ministeriellen Vorträge über dieses Werk hat Hugo von Hofmannsthal als Muster dt. Prosa in sein Deutsches Lesebuch (2 Bde., 1922/23) aufgenommen. Von F.s gesetzgeberischen Arbeiten u. beredtem Stil zeugt weiter sein Buch Themis oder Beiträge zur Gesetzgebung (Landshut 1812). 1814 wurde F. aus polit. Gründen, unter Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rat im außerordentl. Dienst, zweiter Präsident des Appellationsgerichts in Bamberg, 1817 Chefpräsident des gleichen Gerichts in Ansbach, wo er sich mit einer eindrucksvollen Rede über Die hohe Würde des Richteramts (Nürnb.) einführte. Seit 1828 beschäftigte ihn der rätselhafte Fall des Findlings Kaspar Hauser (Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen. Ansbach 1832). F., eine geniale, vulkanische Natur, der »Heißsporn der Aufklärung« (Treitschke), war für die Rechtsentwicklung u. Kulturgeschichte wegweisend: Mit seinen strafrechtl. Schriften, bes. mit seinem Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts (Gießen 1801. 141847), begründete er die neuere dt. Strafrechtswissenschaft. Als Schöpfer des bayer. StGB von 1813 wurde er zum Bahnbrecher einer neuen Gesetzgebung u. Vorkämpfer für ein rechtsstaatliches Strafrecht. Sein Werk diente aufgrund seiner Gesetzessprache u. Gesetzestechnik, trotz einer anfechtbaren u. einseitig am Abschreckungsgedanken ausgerichteten Straftheorie, in- u. ausländ. Rechtsordnungen zum Vorbild. Für diese Kodifikation sind gemäß dem in der Sache alten, in der Form aber auf F. zurückgehenden Fundamentalsatz »Nullum crimen, nulla poena sine lege« kennzeich-
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nend: scharfe Umreißung der Deliktstatbestände u. (allerdings oft zu) enge Begrenzung der Strafrahmen, strikte Befolgung des Tatprinzips, strenge Unterscheidung von strafrechtlicher u. moral. Betrachtungsweise. Mit seinem Werk Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle (2 Bde., Gießen 1808–11), einer Frucht seiner ministeriellen Gnadenpraxis, u. mit seiner darauf beruhenden zweibändigen, auch in andere Sprachen übersetzten Aktenmäßigen Darstellung merkwürdiger Verbrechen (Gießen 1828/29) wurde F. zum »Klassiker der Kriminalliteratur«, dessen »Lebensarbeit in die schöne Literatur hineinragt« (Gustav Radbruch). Sein oft geradezu »feuerflüssiger« Stil, der seinem Namen alle Ehre machte, ließ ihn zu einem bedeutenden dt. Prosaisten werden. Weitere Werke: Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Gewalt u. das Zwangsrecht des Bürgers gegen den Oberherrn. Erfurt u. Gießen 1798. Neudr. Darmst. 1967. – Revision der Grundsätze u. Grundbegriffe des positiven peinl. Rechts. 2 Tle., Erfurt 1799–1800. Neudr. Aalen 1966. – Kritik des Kleinschrod. Entwurfs zu einem peinl. Gesetzbuche für die Chur-Pfalz-Bayer. Staaten. 3 Tle., Gießen 1804. – Betrachtungen des Geschwornengerichts. Lansdhut 1813. Nachdr. Goldbach 1999. – Betrachtungen über die Öffentlichkeit u. Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege. 1. Bd., Gießen 1821. 2. Bd. u. d. T. Über die Gerichtsverfassung u. das gerichtl. Verfahren Frankreichs. Gießen 1825. Neudr. beider Bde. Aalen 1969. – Kleinere Schr.en vermischten Inhalts. Nürnb. 1833. Nachdr. Goldbach 1999. – Naturrecht u. positives Recht. Ausgew. Texte. Hg. Gerhard Haney. Freib. i. Br. 1993. – Reflexionen, Maximen, Erfahrungen. Hg. Wilfried Küper. Heidelb. 1993. Literatur: Ludwig Feuerbach: A. Ritter v. F.s Leben u. Wirken [...]. Lpz. 1852. 21853 u. d. T. Biogr. Nachl. Neudr. Aalen 1973. – Heinrich Marquardsen: P. J. A. v. F. In: ADB. – Max Grünhut: A. v. F. u. das Problem der strafrechtl. Zurechnung. Hbg. 1922. Neudr. Aalen 1978. – Gustav Radbruch: P. J. A. F. Ein Juristenleben. Wien 1934. Gött. 3 1969. – Ders.: Die F.s. Eine geistige Dynastie. In: Ders.: Gestalten u. Gedanken. Lpz. 1945. Stgt. 2 1954. – Ders.: Eine F.-Gedenkrede [...]. Tüb. 1952. – Günter Spendel: P. J. A. F. In: Neue Jurist. Wochenschr. (1958), S. 815. – Erik Wolf: Große Rechtsdenker der dt. Geistesgesch. Tüb. 41963, S. 543 (mit Bibliogr. u. Lit.). – Eberhard Kipper: J. P. A. F. Sein Leben als Denker, Gesetzgeber u.
427 Richter. Köln 1969. 21989. – Klaus Lüderssen: P. J. A. v. F. In: Handwörterbuch zur dt. Rechtsgesch. 1 (1971). – Arthur Kaufmann: P. J. A. v. F. – Jurist des Kritizismus. In: FS Max Spindler. Land u. Reich, Stamm u. Nation. Bd. 3, Mchn. 1984, S. 181. – Rolf Gröschner u. Gerhard Haney (Hg.): Die Bedeutung P. J. A. F.s (1775–1833) für die Gegenwart. Wiesb. 2003 (mit Bibliogr.). Günter Spendel / Red.
Feuerbach, Ludwig (Andreas), * 28.7.1804 Landshut, † 13.9.1872 Rechenberg bei Nürnberg; Grabstätte: Nürnberg, Johannis-Friedhof. – Philosoph u. Religionskritiker. F.s Vater war der bekannte Strafrechtslehrer Anselm Ritter von Feuerbach. Der ältere Bruder F.s war Kunsthistoriker u. Archäologe, dessen Sohn Anselm der berühmte Maler. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Ansbach begann F. 1823 in Heidelberg mit dem Studium der Theologie bei dem Hegelianer Karl Daub. 1824 wechselte er nach Berlin zu Hegel selbst u. damit zur Philosophie. Da er als Stipendiat des bayer. Königs das Studium in Bayern abzuschließen hatte, ging er 1826 nach Erlangen, wo er 1828 promovierte u. sich im selben Jahr habilitierte mit der Arbeit De ratione una, universali, infinita (Erlangen 1828). 1829 erhielt er die venia legendi u. las bis zum Frühjahr 1834, dann wieder im Winter 1835/36 an der Erlanger Universität. Aus diesen Vorlesungen gingen die Bücher hervor, mit denen er sich einen Namen als Philosophiehistoriker der HegelSchule machte: Geschichte der neueren Philosophie von Bacon bis Spinoza (Ansbach 1833) sowie Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie (Ansbach 1837). Zu einer festen Anstellung in Erlangen kam es jedoch nicht, weil bekannt geworden war, dass F. der Verfasser der 1830 anonym erschienenen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (Nürnb.) war, in denen er den Glauben an die persönl. Unsterblichkeit angegriffen hatte. 1837 heiratete F. Bertha Löw, eine Mitinhaberin der Porzellanfabrik in Bruckberg bei Ansbach. Er übersiedelte dorthin u. konnte sich dank bescheidener Einkünfte aus dem Unternehmen ganz seiner philosoph. Schriftstellerei widmen. Er verabschiedete
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sich auch innerlich von der universitären Philosophie u. machte die Religionskritik zu seinem Hauptthema. Als persönl. Standortbestimmung schrieb er eine Monografie über den Begründer der frz. Aufklärung (Pierre Bayle. Ansbach 1838). In Beiträgen für die »Hallischen Jahrbücher« wandte er sich scharf gegen die restaurativ-religiösen Tendenzen der Spätromantik (bes. Zur Kritik der »positiven Philosophie«, 1838). Durch diese Beiträge wurde er zum Exponenten der sog. Junghegelianer (mit Arnold Ruge, Bruno Bauer, David Friedrich Strauß u. a.). In die Zeit bis 1850 fällt die produktivste Phase im Schaffen F.s. 1839 erschien in den »Hallischen Jahrbüchern« der Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, in dem F. erstmals das spekulative Denken als solches in Frage stellte. Zwei Jahre später erschien sein bekanntestes Werk, Das Wesen des Christentums (Lpz. 1841. Erw. Ausg.n 1843 u. 1849), das sofort großes Aufsehen erregte. F. entwickelte hier zum ersten Mal seine anthropolog. Kritik des Gottesglaubens. In den programmat. Texten Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie (Zürich/ Winterthur 1843) u. Grundsätze der Philosophie der Zukunft (Zürich/Winterthur 1843) wandte er seinen religionskrit. Ansatz auf die Philosophie des Deutschen Idealismus an: Sie sei »das Denken des Menschen außer den Menschen gesetzt«, im Grunde also säkularisierte Theologie. Hinter dem idealist. Geistbegriff stehe die christl. Gottesvorstellung. Er forderte eine Philosophie, für welche die Wahrheit »nicht im Wissen für sich selbst« besteht, sondern in der »Totalität des menschlichen Lebens und Wesens«. Das Wesen der Religion (Lpz. 1846) brachte die Erweiterung des krit. Grundgedankens auf Religionen überhaupt. Wesentlich umfassender wird das Thema ausgeführt in den Vorlesungen, die F. 1848/ 49 in einer durch die Revolutionsereignisse geprägten Atmosphäre in Heidelberg hielt. Zuhörer waren u. a. die Dichter Gottfried Keller, Hoffmann von Fallersleben u. Berthold Auerbach. Nach dem Scheitern der Revolution zog sich F. ganz auf seine Studien zurück. Sieben Jahre lang arbeitete er an der Theogonie aus den Quellen des klassischen, hebräischen und christli-
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chen Altertums (Lpz. 1857). Als 1859 die Bruckberger Porzellanfabrik liquidiert wurde, zog F. mit seiner Familie in eine Wohnung nahe Nürnberg. Die Unterstützung durch Freunde u. Gönner gewährleistete eine sorgenfreie Existenz, doch F. verkraftete den Verlust des Bruckberger »Musensitzes« nur schwer u. fand nicht zur früheren Arbeitskraft zurück. 1866 erschien noch die wichtige Studie Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit (Lpz. 1866). In den letzten Lebensjahren trat F. der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Bei seinem Begräbnis gab ihm eine große Menschenmenge das letzte Geleit. F.s Leistung liegt auf dem Gebiet der Religionskritik. Bis in das Spätwerk hinein war er bemüht, seine These »Die Wahrheit Gottes ist der Mensch, die Wahrheit der Theologie ist die Anthropologie« mit immer neuen Belegen aus der Religionsgeschichte zu stützen u. ihren anthropolog. Gehalt zu entfalten. Dabei ist F.s Religionskritik eingebettet in einen vom Menschen her gedachten Materialismus, in dem erkenntnistheoretische, psycholog. u. moralphilosoph. Erwägungen zusammenkommen. In der Substanz nimmt F. die heutige humanwiss. Sichtweise vorweg. Originell bleibt sein Gedanke einer »emanzipatorischen Sinnlichkeit« (Alfred Schmidt). In seinem Frühwerk steht F. noch im Bann des Hegel’schen Denkens. In der Dissertation De ratione begreift er die Vernunft als das universale Einheits- u. Gemeinschaftsprinzip. In den Betrachtungen über das Problem des Verhältnisses von Individuum u. Gattung deutet sich bereits eine Denkfigur an, die später religionskritisch fruchtbar wird. Die Gedanken über Tod und Unsterblichkeit brechen bereits radikal mit der Annahme eines der natürl. Welt jenseitigen (göttl.) Seins. Vor allem verwarf F. den Unsterblichkeitsglauben, den er als Ausdruck der egoist. Versteifung des Individuums auf seine Selbstbehauptung verstand. An seine Stelle müsse eine den Tod anerkennende religiöse Haltung treten, die Gott in der ird. Existenz suche u. finde. Eine wichtige Zwischenstufe der Entwicklung F.s zum materialist. Kritiker der Religion u. der Hegel’schen Philosophie bilden seine philosophiehistor. Studien. So wandte
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er bereits in den Ausführungen zu der Mystik Jacob Böhmes sein religionskrit. Verfahren an, die Gott zugedachten Bestimmungen als indirekte Aussagen über das Wesen des Menschen zu begreifen. Der sinnliche, leibhaftige Mensch erscheint als das Geheimnis der Religion. Auf eine sensualistisch-materialist. Basis gestellt, findet sich dieser Grundgedanke in F.s Hauptschrift Das Wesen des Christentums. F. leitete hier die Entstehung der (christl.) Religion aus dem Wesen des Menschen ab u. überbot damit die Religionskritik der Aufklärung, die konkrete Religionen meist auf die Verfälschung einer allg. Urreligion durch interessierte Personengruppen zurückführte (sog. Priestertrugshypothese). F. argumentierte mit der Differenz, die zwischen dem begrenzten Individuum u. dem Wesen der Gattung besteht. Religion ist aufgrund der Erfahrung dieser Differenz als die Vergegenständlichung des Gattungswesens zu einem außerweltl. Gott zu begreifen. Sie ist »Bewußtsein des Unendlichen«, was nichts anderes bedeutet als »Bewußtsein von der Unendlichkeit des Bewußtseins«. Darin ist für F. die positive Bedeutung der Religion zu sehen. Da sie aber andererseits davon lebt, dass ihr die eigene Wahrheit verborgen bleibt – Gott wird als etwas vom Menschen Verschiedenes verehrt, das »Bild ist als Bild Sache« –, widerspricht sie auch dem Wesen des Menschen. F.s Religionskritik erhält ihr Pathos erst durch die Überzeugung, dass »der Mensch sich selbst in und durch Gott« bezwecke u. dass dieser Zweck erst verwirklicht werden könne, wenn der Doppelcharakter der Religion erkannt worden ist. Für F. sind also Religionen keineswegs Unsinn oder reine Illusion; vielmehr ging es ihm darum zu zeigen, dass die religiösen Mysterien in Wahrheit solche der menschl. Natur seien. Die in der Zeit des Vormärz entstandenen Schriften F.s weiten diese Grundgedanken in Richtung einer Kritik der Philosophie aus. »Der Mensch denkt, nicht das Ich, nicht die Vernunft.« Damit stellte F. den auf ein Du angewiesenen Menschen in seinem prakt. Handeln ins Zentrum der Betrachtung. Die Forderung der berühmten Feuerbachthese von Marx, es komme weniger darauf an, die
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Fey
Ausgaben: Sämtl. Werke. Stgt. 1903–11. 2. Aufl. Welt zu interpretieren, als sie zu verändern, mit 3 Erg.-Bdn. Stgt. 1959–64. – Anthropolog. ist bei F. selbst schon vorgeprägt. In der Theogonie erweitert F. die religions- Materialismus. Ausgew. Schr.en. Hg. Alfred kritischen Argumente durch eine psycholog. Schmidt. 2 Bde., Ffm. 1967. – Werke in 6 Bdn. (Bd. 6 nicht ersch.). Ffm. 1975/76. – Ges. Werke. Theorie des »Wunsches«. Der Wunsch entHg. Werner Schuffenhauer. 22 Bde., Bln. 1969 ff. steht aus der Kluft zwischen dem Wollen u. (krit. Ed.). dem Können der Menschen. Er regt die EinLiteratur: Karl Grün: L. F.s philosoph. Chabildungskraft an, göttliche Wesen zu er- rakterentwicklung. Lpz. 1874. – Friedrich Jodl: L. schaffen, für die Wollen u. Können eins sind F. Stgt. 21921. – Simon Rawidowicz: L. F.s Philou. von denen die Menschen zu erlangen hof- sophie. Bln. 1931. – Hans-Jörg Braun: L. F.s Lehre fen, was ihnen aufgrund ihres beschränkten vom Menschen. Stgt. 1971. – Ders.: Die ReligionsKönnens versagt bleiben muss. Im Spätwerk philosophie L. F.s. Stgt. 1972. – Werner SchuffenF.s tritt das Menschheitspathos der früheren hauer: L. F. u. der junge Marx. Bln. 21972. – Alfred Schriften merklich zurück u. macht einem Schmidt: Emanzipator. Sinnlichkeit. L. F.s anphysiolog. Materialismus Platz, der mit einer thropolog. Materialismus. Mchn. 1973. – Hermann im Glückseligkeitstrieb des Menschen zen- Lübbe u. a. (Hg.): Atheismus in der Diskussion. Mchn. 1975. – Erich Thies (Hg.): L. F. Darmst. trierten Sittenlehre einhergeht. 1976. – Hans-Martin Sass: L. F. Reinb. 1978. – F.s Denken hat eine außerordentl. Wir- Goedeke Forts. – Josef Winiger: L. F. Bln. 2004. kung ausgeübt. In der Zeit des polit. u. geisMatthias Jung / Josef Winiger tigen Umbruchs der 1840er Jahre war er die philosop. Leitfigur. Am bekanntesten ist der Feuerhanz ! Pyrgallius, Henning Einfluss auf Karl Marx u. Friedrich Engels. In ihrer Deutschen Ideologie (1845) u. ihren Thesen Fey, Nikolaus, * 2.3.1881 Wiesentheid, über Feuerbach sowie in Engels’ später Schrift † 19.7.1956 Gerolzhofen. – MundartLudwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen dichter. deutschen Philosophie (1888) wird die große Bedeutung F.s für den Materialismus u. die F. entstammte einer Handwerkerfamilie. Er Religionskritik herausgestellt. F. selbst nahm absolvierte eine Schreinerlehre, besuchte die regen Anteil an den demokratischen u. früh- Gymnasien in St. Ottilien u. Schweinfurt u. sozialist. Bewegungen des Vormärz, ohne studierte anschließend Philosophie u. Gesich freilich konkret in eine Gruppierung schichte in München u. Berlin. einzubringen. F. wollte mit seinem literar. Werk einen Auch zahlreiche Naturwissenschaftler (Carl Beitrag leisten zur Erhaltung des fränk. Vogt, Jakob Moleschott, Ludwig Büchner, Brauchtums u. der fränk. Mundart (Hinter Ernst Haeckel u. a.), die bei der Erklärung der Pflügen. Wandsbek 1911. Mit den Schnittern. natürl. Phänomene keine Mitwirkung über- Lohr/Main 1919. Mei Frank’n. Lohr/Main natürlicher Ursachen mehr gelten ließen, 1929. Heemet, dei Harz. Würzb. 1941). In ziviberiefen sich explizit auf F. lisationskrit. Absicht stellte er mainfränk. F.s Einfluss auf die Literatur seiner Zeit war Natur u. bäuerlichhandwerkl. Verhältnisse ebenfalls beträchtlich. Neben Georg Herwegh dar, z.B. in seinem Roman Der kleine Heiland u. Friedrich Hebbel ist an Gottfried Keller zu (Wandsbek 1912). Er stand dem Burg Roerinnern, der durch die Bekanntschaft mit thenfelser Kreis um den kath. Theologen der Person u. dem Denken F.s dazu gelangte, Romano Guardini nahe u. verfasste Mysteriden Gottes- u. Unsterblichkeitsglauben auf- en- u. Festspiele. Am bekanntesten wurde zugeben. In Kellers Roman Der grüne Heinrich sein histor. Schauspiel Florian Geyer (Würzb. figuriert F. als »der bestrickende Vogel, der 1925), das erstmals 1925 (seitdem regelmä[...] mit seinem monotonen, tiefen und klas- ßig) als Freilichtspiel in Giebelstadt, dem sischen Gesang den Gott aus der Menschen- Heimatort des Titelhelden, aufgeführt wurbrust wegsingt«. de. Die Nationalsozialisten versuchten vergeblich, F.s volkstüml. Dichtung für ihre Ideologie zu vereinnahmen, den Autor zum
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Kirchenaustritt zu bewegen u. den religiös bestimmten Teil seiner Lyrik zu unterdrücken. Weitere Werke: Fränk. Volk u. Land. Würzb. 1950 (Mundartdichtung). – Durch Fald u. Wengert. Marktbreit 1974 (L.). – Derheem in Frankn. Marktbreit 1981 (L.). Christian Schwarz / Red.
Fichte, Hubert, * 31.3.1935 Perleberg/ Westpriegnitz, † 8.3.1986 Hamburg. – Romanautor u. Verfasser ethnopoetischer Schriften. F. vertrat den Typus eines Schriftstellers, wie es ihn in Deutschland seit dem 18. Jh. nicht mehr gegeben hatte. Er war ein ethnologisch ausgerichteter Poet u. gleichzeitig ein poetisch versierter Ethnologe. Er entdeckte die Dritte Welt in der Ersten Welt. Auf seinen Reisen um den Erdball, nach Afrika, nach Brasilien, in die Karibik, suchte er nach jenen sinnl. Erfahrungen des Fremden, die es ihm ermöglichten, das eigene Subjekt in seiner »Empfindlichkeit« zum organisierenden Prinzip des Schreibens zu machen. Im literar. Alter Ego »Jäcki« gespiegelt, macht F. sich selbst, als »Irma« die Fotografin Leonore Mau (seine Lebensgefährtin) zu Sonden der Fremderfahrung. Die Kunde von den Realien wie z.B. religiöse Riten oder der Gebrauch von Heilpflanzen war F. wichtiger als die Psychologie der von ihm beschriebenen Figuren. Die fiktionale Einkleidung der Konstellationen seiner Forschungsreisen dient nicht der Verdeckung ihres autobiogr. Gehalts, sondern einer spielerischen Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Poesie u. Wissenschaft. Wie der Roman über F.s Feldstudien in Zentralamerika den Titel Forschungsbericht (Ffm. 1989. 2005) trägt, so hat F. in seinem letzten Werk Explosion (Ffm. 1993. 2006) einen sehr persönlich gehaltenen »Roman der Ethnologie« geschrieben. Die selbstreflexive »writing culture«-Debatte der zeitgenöss. Ethnologie (Geertz, Clifford, Fabian) zieht aus F.s »Ketzerischen Bemerkungen« den Imperativ einer krit. Selbstbefragung u. »Ethnographie der Ethnographen«. F.s Interesse für afroamerikan. Kulte u. postkoloniale Situationen wird unter den Autoren seiner Generation bes. von Hans
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Christoph Buch geteilt, unter den jüngeren Autoren hat F. auf Reiseschriftsteller wie Michael Roes und Ilija Trojanow gewirkt. Der in Brandenburg geborene F. wuchs in einem Arbeiterbezirk von Hamburg auf. Während des Zweiten Weltkrieges floh seine Mutter mit ihm 1942 nach Bayern, wo F. in Schrobenhausen ein Jahr in einem kath. Kinderheim verbrachte, dem literarisch transformierten Schauplatz seines ersten Romans Das Waisenhaus (Reinb. 1965 u. ö. Zuletzt Ffm. 2005). Die ländl. Umgebung, die Riten u. Bildmächtigkeit des bayer. Katholizismus stellten eine erste Form ethnografischer Fremderfahrung dar, während die Disziplinarmacht der lieblosen Anstalt das Thema des nach Trost u. Zärtlichkeit sich sehnenden Subjekts präformiert. Während der Hamburger Schulzeit wirkte F. im Schulfunk u. auf der Bühne des Schauspielhauses an Aufführungen mit. Er lernte den Schriftsteller Hans Henny Jahnn kennen, der lebensbestimmenden Einfluss auf ihn ausübte u. ihm die Augen für seine Bisexualität geöffnet haben soll (Du bist fifty-fifty in: Pubertät, S. 35). In der Figur des Pozzi (Versuch über die Pubertät. Hbg. 1974 u. ö. Zuletzt Ffm. 2005) findet sich F.s Begegnung mit Jahnn gespiegelt. Nach einer landwirtschaftl. Ausbildung hielt F. sich längere Zeit in Schweden u. Frankreich auf. Er debütierte mit den Erzählungen Aufbruch nach Turku (Hbg. 1963. Ffm. 1985. 1988) u. errang seinen Durchbruch mit dem Roman Die Palette (Reinb. 1968 u. ö. Ffm. 1981. 2005). Darin erfand er einen einzigartig vielstimmigen Jargon sozialer Randfiguren im Rahmen einer Hamburger Tageskneipe. Der Erfolg erlaubte dem Autor ausgedehnte Studienreisen in Südeuropa. F. erhielt 1967 ein Stipendium zum Aufenthalt in der Villa Massimo, 1965 den Hermann-Hesse-Preis für Das Waisenhaus sowie den Fontane-Preis. Er lehrte an vielen Universitäten des Auslands u. hielt kurz vor seinem Tod Vorlesungen zur Literatur in Wien, die er im Frühjahr 1986 wegen seiner Krankheit abbrechen musste. Sein autobiografisch radikalstes Werk ist der Versuch über die Pubertät. Hier werden Erfahrungen aus der »Leder-Szene« der Homosexuellen nicht nur zum Gruppenporträt
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montiert. F. begann die Initiationsriten wie eine ethnolog. Recherche zu erfassen. Der Untersucher wird dabei zum Untersuchten, die Recherche zum Auto-Experiment, wie dies nur noch bei dem Autor Michel Leiris vergleichbar in Erscheinung tritt. F., in der Nomenklatur der Nationalsozialisten der »Halbjude«, das nichtehelich geborene Kind, der Bisexuelle, der Vielsprachige, der in diversen Kulturen Bewanderte, beschrieb hier eine Grundsituation seines Schreibens, das Getto, das er schreibend durchbrach. Er, der Außenseiter, suchte zwangsläufig nach dem Anderen im Fremden, nicht im Vertrauten. So stieß er auf die Karibik, einen Ort, an dem sich die Sklavenkultur der Schwarzafrikaner mit eingeborenen Indianerkulturen u. den kath. Einflüssen spanischer Kolonisatoren mischte. Dies war F.s ideales Forschungsgebiet, auf dem er die Vielfalt der Völker, Religionen u. Riten vermaß. Die wichtigsten Werke aus den 1970er Jahren entstanden in Ko-Autorenschaft mit Leonore Mau: Xango. Die afroamerikanischen Religionen (Bd. 2, Ffm. 1976), Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen (Bd. 4, Ffm. 1980) u. Lazarus und die Waschmaschine – Kleine Einführung in die afroamerikanische Kultur (Ffm. 1985). Nachdem sein Roman Detlevs Imitationen, ›Grünspan‹ (Reinb. 1971 u. ö. Zuletzt Ffm. 2005) bei der Kritik auf Ablehnung gestoßen war, beschloss F., keine weiteren Einzelbände mehr zu veröffentlichen. Er begann an dem groß angelegten Schriftenzyklus Die Geschichte der Empfindlichkeit zu arbeiten, der seit 1987 aus dem Nachlass herausgegeben wurde (Ffm.) u. 2006, zum 20. Todestag, mit dem Band Die zweite Schuld zum Abschluss kam. Der programmat. Zyklustitel lehnt sich an den Aufklärungsbegriff der »sensibilité« an. Er fasst F.s Wahrnehmungsweise u. seine Bestimmung der Darstellung als »Form« in eins. In dieses Hauptwerk fanden sowohl abgeschlossene Werke Eingang wie Hotel Garni (1987), der Roman Forschungsbericht, die der Mutter gewidmete Geschichte der Nanã (1990), der Marokko-Roman Der Platz der Gehenkten (1989), der fast noch fertiggestellte Ethnologie-Roman Explosion u. der diesem korrespondierende Materialienband Das Haus der Mina in São Luiz de Maranhão (1989) sowie
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zahlreiche nachgelassene Texte u. Fragmente, Reiseberichte, literar. Aufsätze, ethnolog. Studien, Hörspiele, Glossen u. Interviews. Als Gesprächspartner waren Namenlose (Hans Eppendorfer: Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte. Ffm. 1977. Wolli, Indienfahrer. Ffm. 1978) für F. von ebenso großer Bedeutung wie die Berühmten (z.B. Jean Genet). Die Fähigkeit, gerade den Sprachlosen, Armen u. Entrechteten in der Dritten Welt zum Ausdruck ihrer komplexen Imagination der Welt zu verhelfen, gehört zu F.s bes. Qualitäten. Nie gelten seine Fragen der exot. Situation, die in Hamburger Bordellen oder haitian. Zauberzeremonien billig auszubeuten wäre, sondern dem Bereich des gemeinhin Verschwiegenen, des Verbotenen. F. brach Tabus, ohne sie je zu entzaubern. Im Roman Der Platz der Gehenkten z.B. wird das Land Marokko zum Ort, an dem die Wirklichkeit, zu Facetten zerlegt, in Form der nachgemachten Suren des Korans poetisch neu ersteht. Ein poetologisch zu verstehendes Doppelporträt der Künstler Jäcki u. Irma liefert F. in Hotel Garni. »Ich wollte in die Welt. Europa war mir kaum groß genug. Der Äquator war meine Heimat. Ich war den Afrikanern verwandt, den Lappen, den Mizteken. Ich war der landlose Schwule, der fruchtlose, die Lustpartie, der im Kataster keine Spuren hinterlässt. Ich wollte schreiben.« So sind die Notate: einsilbig u. unruhig, getragen von kraftvollen Gesten. Im Buchdruck füllen sie keine ganzen Zeilen. Sie brechen ab. Ein Rest bleibt ausgespart. Der Schritt zum nächsten Satz gleicht einem Sprung in die nächste Zeile. Der Flattersatz, den F. wählte, bezeichnet schon typografisch einen Autor, der im Aufbruch begriffen ist. Die eigene Person wurde F. zum Arbeitsinstrument, der eigene Körper zum ersten u. letzten Ort der Fremderfahrung. In Romanen wie Forschungsbericht u. Explosion rücken die Schreibsituation u. die alltägl. Lebensumstände des reisenden Autors in den Mittelpunkt. Zgl. verfolgt F. stets ein exzentrisches u. erot. Begehren, den je konkreten Fremden kennen, sehen u. spüren zu wollen. Sexualität ist ihm ein Mittel der Erkenntnis. In den afroamerikan. Kulten u. Riten, in die F. durch Studien, Gespräche u. teilnehmende Beob-
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achtung eingeführt zu werden versuchte, kommt eine Form religiöser Hybridität zum Ausdruck, in der F. die eigene Lebenssituation reflektiert sieht. Afrikanische Kulte, die mit den Sklaven nach Amerika wanderten u. sich dort gegen die koloniale Repression durchsetzten, sind ein Medium der »Bi-Kontinentalität«. Ebenso begriff sich der Autor F. mit seiner eigenen Bisexualität als Anwohner mehrerer Welten, als grenzgängerischer Reporter zwischen literarischem Erbe u. authentischer Selbsterfahrung. In seinen Essays zur Literatur, die oft als Radiotexte entstanden – was ihre offene Form erklärt –, setzte sich F. mit de Sade, Rimbaud, Jahnn u. Lohenstein, schließlich auch mit Herodot auseinander. In jenem Historiker der Antike, der die Reisen in der Alten Welt in schmucklosen Anekdoten erzählte, erkannte F. einen Vorläufer seiner eigenen Poetik. Sie verbindet Sachkunde mit dem Wunsch nach Vernetzung. F.s Plädoyer für Vielfalt u. Verschiedenheit der Formen (in der Welt der Menschen wie in jener der Literatur) zeitigte ein prometheisches Werk von ehrgeizigem, ja enzyklopäd. Zuschnitt, aber ohne den Anspruch auf totalisierende Geschlossenheit. F. sah die Welt nicht kategorisch, er sah sie phänomenal. Literatur: Thomas Beckermann (Hg.): H. F. Materialien zu Leben u. Werk. Ffm. 1985. – Torsten Teichert: ›Herzschlag aussen‹. Die poet. Konstruktion des Fremden u. des Eigenen im Werk v. H. F. Ffm. 1987. – Peter Bekes: H. F. In: KLG. – Hartmut Böhme: Riten des Autors u. Leben der Lit. Stgt. 1992. – Michael Fisch: H. F. In: LGL. – Peter Braun: Eine Reise durch das Werk v. H. F. Ffm. 2005. Karsten Witte / Alexander Honold
Fichte, Immanuel Hermann von (seit 1863), * 18.7.1796 Jena, † 8.7.1879 Stuttgart. – Philosoph. In Berlin besuchte der einzige Sohn u. spätere Herausgeber (Sämmtliche Werke. 8 Bde., Lpz. 1845/46) Johann Gottlieb Fichtes 1805–1812 das Friedrichwerdersche Gymnasium, bevor er ein Studium der Philologie, seit 1815 der Philosophie begann (Promotion 1818 mit einer Arbeit zum Neuplatonismus; in der obligator. Disputation trat Hegel als Opponent
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auf). Burschenschaftlicher Sympathien verdächtigt, gab F. eine Berliner Dozentur auf u. wurde 1822 Gymnasialoberlehrer in Saarbrücken, 1826 in Düsseldorf, wo er mit Immermann, Grabbe, Schadow u. MendelssohnBartholdy freundschaftlich verbunden war. Seit 1829 in regem Briefwechsel mit Christian Hermann Weiße, gründete F. 1837 gemeinsam mit ihm, Carus u. Anton Günther die »Zeitschrift für Philosophie und speculative Theologie« (seit 1847: »[...] und philosophische Kritik«). 1836 a. o. Prof. in Bonn, wurde F. 1842 als Ordinarius nach Tübingen berufen, wo er mit den Vertretern der »Schwäbischen Dichterschule« (Schwab, Kerner, Mayer, Pfizer, Uhland) verkehrte. 1847 rief er eine allg. dt. Philosophenversammlung nach Gotha ein. F. gehört mit Weiße zu den wichtigsten Vertretern des spekulativen Theismus, der in Anlehnung an den späten Schelling den »Hegelschen Begriffsformalismus« hinter sich lassen wollte, um das »Eigenpersönliche« an Gott wie Mensch zu akzentuieren (Grundzüge zum System der Philosophie. 3 Tle., Heidelb. 1833–46). Auf dieser Basis entwarf F. auch ein System der Ethik (3 Bde., Lpz. 1850–53) als Lehre vom Wesen des menschl. Willens, deren letzter Grund die Gottesliebe ist. Gegen den herrschenden materialist. Zeitgeist kämpfte er v. a. im Rahmen seiner Anthropologie (Lpz. 1856) u. Psychologie (2 Tle., Lpz. 1864 u. 1873) an. Weitere Werke: Sätze zur Vorschule der Theologie. Stgt. 1826. – Über Gegensatz, Wendepunkt u. Ziel heutiger Philosophie. 3 Tle., Heidelb. 1834. – Die Idee der Persönlichkeit u. der individuellen Fortdauer. Elberfeld 1835. – Der neuere Spiritualismus, sein Werth u. seine Täuschungen. Lpz. 1878. Neuausgabe: Blütenlese aus seinen Werken. Hg. Hermann Ehret. Rendsburg 1994. Literatur: Heinrich Beckedorf: Die Ethik I. H. F.s Diss. Rostock 1912. – Gustav Spiegel: I. H. F.s Lehre vom Genius, Charakteristik seiner Anthropologie u. Psychologie. Stgt. 1927. – Marie Horstmeier: Die Idee der Persönlichkeit bei I. H. F. Gött. 1930. – Hermann Ehret: I. H. F. Ein Denker gegen seine Zeit. Stgt. 1986. – Stefan Koslowski: Idealismus als Fundamentaltheismus. Wien 1994. – Ana-
433 tol Schneider: Personalität u. Wirklichkeit. Würzb. 2001. Roland Pietsch / Red.
Fichte, Johann Gottlieb, * 19.5.1762 Rammenau, † 29.1.1814 Berlin; Grabstätte: ebd., Dorotheenstädtischer Friedhof. – Philosoph. Der arme Bandwirkersohn konnte nach Abschluss der ihm durch einen Adeligen ermöglichten Erziehung in Schulpforta (1780) sein Theologiestudium nicht beenden u. verdiente von 1784 an als Hauslehrer auf dem Land in Sachsen, Zürich, Leipzig u. Krockow seinen Lebensunterhalt. Als er 1791 nach Königsberg kam, stellte er sich bei Kant mit einem Versuch einer Critik aller Offenbarung (Königsb.) vor, der 1792 infolge eines buchhändlerischen Tricks z.T. ohne Verfassernamen erschien u. daraufhin vielerorts für das erwartete religionsphilosoph. Werk Kants gehalten wurde. In dieser Schrift wird die positive Religion erstmals vom Standpunkt der krit. Philosophie Kants aus legitimiert, wobei v. a. die Erkenntnisfunktion theologischer Aussagen dargelegt wird. Trotz des revolutionären Terrors in Frankreich trat F. anschließend mit einem anonym veröffentlichten Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution (Danzig 1793/94) für deren Prinzipien u. das Recht auf Revolution ein. Nach Zürich zurückgekehrt, heiratete F. 1793 eine Nichte Klopstocks, Johanna Maria Rahn. 1794 erhielt er einen Ruf an die Universität Jena. Noch bevor er diese Stelle antrat, konzipierte er in Fortführung kantischer Gedanken eine systemat. Transzendentalphilosophie (Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie. Stgt. 1971, postum), deren Grundzüge er im Hause Lavaters vortrug (Züricher Vorlesungen über den Begriff der Wissenschaftslehre. Neuried 1996, postum) u. der er in Jena den Namen »Wissenschaftslehre« gab: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (Lpz. 1794/95). Darin wird das Anliegen der kantischen Transzendentalphilosophie systematisch ausgeführt: Aus einem unmittelbar evidenten Prinzip, der »Thathandlung«, wird das Gefüge der Grundprinzipien des Bildens – Bilden heißt hier Erkennen, Handeln,
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Denken, Wollen, Vorstellen usw. – u. von dessen Objekten entfaltet u. erschöpft, indem auch die philosoph. Reflexion in diesem Bilden eingeholt wird. Den Grundgedanken Kants, dass das uns allein zugängliche, erscheinende Sein wesentlich im Bewusstsein konstituiert sei, radikalisierte F., da er erkannte, dass die Formen des Wissens, in denen uns die Wirklichkeit erscheint, selbst aus dem Ich hervorgehen. F. legte hierbei die konstitutive Rolle praktischer Momente für die Erkenntnis dar, die damit neben dem Handeln im engeren Sinne als dynam. Grundtätigkeit des Ichs ausgewiesen wird. F. erklärte so die transzendentale Konstitution – ihr erfassendes Organ nannte er »intellektuelle Anschauung« – aus dem Ineinandergreifen von notwendiger Vermittlung – der Wechselbeziehung zwischen dem Ich u. seinen Objekten – u. ursprünglicher Freiheit, wodurch die Wissenschaftslehre die Einseitigkeiten des Idealismus u. Realismus vermeidet, aber deren Anliegen gerecht wird. F. vertrat, was vielfach verkannt wurde, einen methodischen, aber keinen metaphys. Idealismus. An die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre anknüpfend, zeigt F.s Naturlehre – nur teilweise im Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre (Jena 1795), im Übrigen nur sporadisch bzw. im Zusammenhang anderer Ausführungen dargelegt – höchste systemat. Geschlossenheit. Ausgehend davon, dass die Selbsttätigkeit des Ich zwar stets durch Widerstände gehemmt, doch nie durchgehend determiniert sei, wird gezeigt, dass sie über Handlungsalternativen verfügen muss, die sie selegierend realisieren kann. Schon das Dasein empfundener Hemmungen ist Folge eines dialekt. Vermittelns – »Schwebens« – der produzierenden Einbildungskraft zwischen intendierter Vernunftunendlichkeit u. der durch Bestimmung begrenzten Tätigkeit. Die Determination durch Hemmungen konstituiert zwar eigenständig die Wirklichkeit mit (Realismus), aber nur, indem sie in freier Reflexion gesetzt wird (Idealismus). F. ist durch diesen Ansatz Begründer der modernen dialekt. Denkweise geworden, wenngleich seine Auffassung von der Hegels wesentlich verschieden ist.
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Eine systemat. Ergänzung zur Naturphilosophie ist F.s Lehre von der organischen Natur, die er in der Grundlage des Naturrechts (1. Tl., Jena 1796. 2. Tl., Lpz. 1797) u. noch weiter im System der Sittenlehre (Jena 1798) entfaltete. An Kant anknüpfend, entwarf F. ein Formensystem der reflektierenden Urteilskraft, soweit diese ohne Freiheit bestimmend ist: nämlich Bewegung, Zweckgerichtetheit u. Organisation als Umkehrung der Relationskategorien Substantialität, Kausalität u. Wechselwirkung. Diese Lebensformen werden im spontanen Angehen der nach ihrer Verwirklichung strebenden Vernunft gegen die Hemmungen realisiert u. analog zu den Verstandesbegriffen – den Kategorien – in die Objektivität entäußert. Die durch die reflektierende Urteilskraft bestimmte Naturtendenz kommt aber nie für sich allein, sondern stets nur so vor, dass sie als Komponente vernünftigen Setzens zur Disposition der Entscheidungsfreiheit gestellt ist. F. verwirft dabei den intelligiblen Fatalismus: Entwicklungsgeschichtlich darf nicht das vernünftige Sein aus dem organischen, sondern umgekehrt muss dieses als Teil des vernünftigen Bildens verstanden werden. In der Grundlage des Naturrechts hatte F. aber nicht nur Teile seiner Organismustheorie dargestellt, sondern er vollzog darin auf der Grundlage einer in der Philosophie erstmalig ausgeführten Interpersonalitätstheorie eine epistemologisch gesicherte Ausweitung der Erfahrungswelt – über diejenige Kants hinaus – vom bloßen Natur- auf den Gesellschaftsbereich. Die von der moralischen strikt getrennte Rechtssphäre wird aus den Konsequenzen der Interpersonalitätstheorie entfaltet. F. zeichnet auf dieser Grundlage das Modell eines republikan. Staates in Überwindung der einseitigen individualistischen u. universalist. Auffassungen. Der Staat wird zwar als notwendige Form gemeinschaftl. Existierens der Menschen verstanden, aber gegenüber den höheren Weisen interpersonaler Existenz nicht verabsolutiert, sondern als Instrument zu deren Verwirklichung angesehen. So hatte F. nach Antritt seiner Professur im Mai 1794 in Jena das ges. System der Wissenschaftslehre – also außer der Grundlage
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auch die Disziplinen Natur-, Rechts-, u. Sittenlehre – mit beispiellosem Erfolg vorgetragen. Er löste mit seiner Philosophie die krit. Lehre Kants nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der gebildeten Öffentlichkeit ab. Schelling, Karl Leonhard Reinhold, Johann Friedrich Herbart u. Friedrich Schlegel nahmen zeitweilig den Standpunkt der Wissenschaftslehre ein; die Dichter Schiller, Hölderlin u. Novalis wurden nachhaltig beeinflusst. Bevor F. jedoch eine transzendentale Religionslehre ausarbeiten konnte, entfesselten einige Aufsätze, die er u. Friedrich Forberg im Herbst 1798 in dem von F. seit 1797 gemeinsam mit Friedrich Immanuel Niethammer herausgegebenen »Philosophischen Journal« veröffentlicht hatten, den sog. Atheismusstreit. Eine anonyme Streitschrift bezichtigte F. des Atheismus u. führte, nachdem das Konsistorium Anzeige erstattet hatte, zum Verbot des Heftes der Zeitschrift in Kursachsen sowie zu einem Requisitionsverfahren bei den die Universität Jena tragenden Höfen. In der Folge wurde F. – unter Goethes Mitwirkung – seines Lehramts enthoben; mit Hilfe Friedrich Schlegels fand er Zuflucht in Berlin, wo er jedoch erst nach einigen Jahren seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen konnte. In Berlin schlossen sich F. führende Vertreter der literar. Romantik an (August Wilhelm Schlegel, August Ferdinand Bernhardi, Tieck, Fouqué, Chamisso u. a.), obwohl er gegenüber deren Ideen vom genialischen Individuum, von der absoluten Ironie u. vom Systemfragment ablehnend blieb. Nachdem F. schon zuvor seine wiss. Ausführungen durch verschiedene Schriften – darunter dem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (Jena 1797/98) – allgemeiner verständlich zu machen versucht hatte, ließ er Anfang 1800 mit der Bestimmung des Menschen (Bln.) eine sprachlich ausgefeilte populäre Darstellung der aus der Wissenschaftslehre hervorgehenden Denkart folgen. Im Spätherbst desselben Jahres trat er mit der nationalökonom. Schrift Der geschloßne Handelsstaat (Tüb.) hervor, die antikolonialistisch inspiriert ist u. in der F. die Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft u. gesellschaftlichem Leben durchleuchtete, den Anspruch
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auf Besitz aus dem gegenseitig zugestandenen Recht auf Arbeit ableitete u. eine planwirtschaftliche u. ständ. Ordnung vorschlug. Gegen die F. u. die Transzendentalphilosophie bekämpfenden u. F. gesellschaftlich diskriminierenden Berliner Aufklärer u. Popularphilosophen Friedrich Nicolai, Johann Erich Biester, Friedrich Gedike u. deren in Deutschland einflussreiches Organ, die »Neue allgemeine deutsche Bibliothek«, führte F. mit der Satire Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen (Tüb. 1801) einen entscheidenden Schlag, mit dem er ihre Prädominanz in Preußen beendete u. den Boden für die großen Reformen nach 1806 mit vorbereitete. Um die Jahrhundertwende lösten sich Reinhold, der zu Gottfried Bardili übertrat, mit einem rationalen Realismus sowie Schelling u. Hegel mit einem absoluten Idealismus von der Transzendentalphilosophie. Mit Rücksicht auf das durchgängige Missverständnis der Wissenschaftslehre entschloss sich F., vorläufig keine streng wiss. Arbeiten mehr zu veröffentlichen. In jahrelanger intensiver Forschung rang er um die gedankl. Vollendung der Wissenschaftslehre in einer philosophia prima, in der er zwischen dem Absoluten – Gott – u. der absoluten Erscheinung unterschied sowie die Entfaltung der Erscheinungsmomente aus einem einzigen Prinzip durchführte. F. trat damit in Gegensatz zu dem in Deutschland vorherrschenden Immanentismus. In schrittweiser Aufhebung aller nur faktischen Voraussetzungen bot die neue Wissenschaftslehre eine rein genet. Durchführung des absoluten Wissens (in der sog. Wissenschaftslehre von 1804. Bonn 1834). Vom Jahresbeginn 1804 an trug F. das Ergebnis mehrmals der geistigen Elite Berlins vor. Im Sommer 1805 lehrte F. an der Universität Erlangen, wo er eine Professur erhalten hatte. Die rapiden polit. Veränderungen, die auch F.s Lehrtätigkeit in Erlangen ein Ende bereiteten, der Untergang der Französischen Republik u. des Heiligen Römischen Reiches, insbes. die Niederlage Österreichs u. Preußens, veranlassten F., sich erneut mit einer Schrift, den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (Bln. 1806), intensiv der gesellschaftl. Lage zuzuwenden u. seine Konzeption der
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Geschichte zu entfalten, die er einerseits als apriorisch vorgezeichnete Selbstverwirklichung der Vernunft in der Zeit, andererseits als Resultante persönl. Freiheitsentscheidungen begriff, die auch unvernünftig ausfallen können. Im gegenwärtigen »vollendet sündhaften« Zeitalter habe sich die Menschheit zwar von der Autorität befreit, aber den Weg der besonnenen konsequenten Verwirklichung des transzendental Vernünftigen noch nicht beschritten. In seiner nachgelassenen, 1806/07 entstandenen Studie Der Patriotismus und sein Gegentheil (Bonn 1835) fasste F. die Möglichkeit einer vernunftwidrigen Entwicklung u. deren desaströse Folgen ins Auge. Als entschiedener Gegner Napoleons I., in dem er den Verräter an den Revolutionsideen sah, folgte F. Ende 1806 der preuß. Regierung nach Königsberg – wo er im Winter ein Semester lang an der Universität lehrte – u. 1807 nach Memel, von wo er zur See nach Kopenhagen auswich. Er kehrte dann aber doch nach Berlin zurück, wo er bei fortbestehender frz. Besetzung Reden an die deutsche Nation hielt u. veröffentlichte (Bln. 1808), die zündend auf die in der Entstehung begriffene Befreiungsbewegung wirkten. Wie schon 1793 sah F. die Möglichkeit einer tragfähigen Erneuerung einzig darin, dass sie in der transzendental verstandenen Vernunftwissenschaft gründe, welche durch eine Erziehung im Sinne der Grundsätze des mit ihm befreundeten Pestalozzi vorbereitet werden sollte. Dem vorzüglich durch seine Reichsgeschichte dazu vorbereiteten dt. Volk falle diese Aufgabe zu. Zwei Jahre zuvor war für F. in der Anweisung zum seeligen Leben (Bln. 1806) die religiöse Verwirklichung der Realisationsmöglichkeiten des universellen Vernunftziels durch den Menschen, der aufgrund seiner Unsterblichkeit Bürger zweier Welten ist, in den Vordergrund gerückt. Danach offenbarte sich Jesus Christus als die substantiell wirklich gewordene Vernunft. Durch die im johanneischen Sinne verstandene Liebe trete der religiöse Mensch schon auf Erden in das ewige Leben ein. Mehrfach vorgetragene Überlegungen über die Bestimmung des Gelehrten u. das Wesen des Gelehrten (Jena 1794. Bln. 1806 u. 1811) sowie
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schon früher entworfene Pläne der Reform der Universitäten u. zur Errichtung eines Dozentenseminars (Erlangen 1806, Berlin 1807) befähigten F., neben Wilhelm von Humboldt wesentlich Anteil an der Errichtung der Universität Berlin zu nehmen, deren erster gewählter Rektor er wurde. In Verteidigung eines von studentischen Orden angegriffenen jüd. Studenten geriet er jedoch mit der großen Mehrheit des Lehrkörpers in Konflikt, der sich auf die Seite seines Gegners in dieser Angelegenheit, Schleiermachers, stellte. F. trat von seinem Amt zurück, wenngleich ihm später die preuß. Regierung in der Sache im Wesentlichen recht gab. F.s erneute Lehrtätigkeit 1810–1814 galt neben der Bestimmung der Aufgabe des Gelehrten v. a. der Hinführung zur Wissenschaftslehre u. der Darlegung derselben samt ihrer Disziplinen. Zur Veröffentlichung zu Lebzeiten kam aber nur Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse (Bln. 1810), da die sich rasch verändernde polit. Situation F. an einer geplanten, allen Ansprüchen genügenden schriftl. Fassung hinderte. Als er 1813 seine Vorlesungen wegen der Kriegserklärung Preußens an Frankreich abbrechen musste, erhob er in seiner Rede an seine Zuhörer (Tüb. 1815) warnend seine Stimme vor einer mögl. Rückkehr zu reaktionären Gesellschaftsformen nach der Befreiung. Doch konnte F. seine Auffassung der rechtlich-wirtschaftlichen (Rechtslehre. Bonn 1834. Entstanden 1812) wie der erzieherisch-kulturellen Seite (in der sog. Staatslehre. Bln. 1820. Entstanden 1813) des staatl. Lebens zu einer höheren Synthese bringen. Trotz seiner beeinträchtigten Gesundheit nahm er an Landwehrübungen teil. Bei der Pflege an Typhus erkrankter Soldaten infizierte sich F.s Frau um die Jahreswende 1814; sie überlebte dank seiner Pflege, F. selbst aber wurde das Opfer einer dabei erfolgten Ansteckung. F.s willensstarker Charakter hatte schon zu seinen Lebzeiten Anerkennung bei seinen Zeitgenossen gefunden. Er war nicht nur als Redner u. Vortragender, sondern auch als Sprachformer u. -schöpfer v. a. auf philosophischem Gebiet eine der ausdrucksgewaltigen Persönlichkeiten der Geschichte. Mit Nicolai’s Leben schuf er ein neues literar. Genre,
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die exemplarische Personalsatire. Seine ungewöhnliche philosoph. Denkkraft ermöglichte es ihm, in folgerichtiger Ausweitung u. Vertiefung der kantischen Erkenntnisse ein System der Philosophie auszuarbeiten, das in seiner Verbindung von spekulativer Gründlichkeit u. praktischem Anspruch auch heute noch Aktualität besitzt. Allerdings wurde F.s Philosophie von Anfang an gründlich missverstanden, zumeist als einseitiger, subjektiver Idealismus. Seine Ideen auf den Gebieten der Rechts-, Wirtschafts- u. Staatslehre haben tiefgreifend gewirkt. F. stand mit den meisten führenden Persönlichkeiten des klass. Deutschland in persönlicher Verbindung u. oft in lebhafter geistiger Auseinandersetzung. Weitere Werke: Rezensionen: J G. F. in zeitgenöss. Rezensionen. 4 Bde., Stgt. 1995. – Einzelwerke, postume Ausgaben: Ueber das Verhältniß der Logik zur transscendentalen Logik. Hbg. 1982. – Wissenschaftslehre 1805. Hbg. 1984. – Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804. Hbg. 2 1986. – Die Principien der Gottes- Sitten- u. Rechtslehre. Hbg. 1986. – Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift 1798/99. Hbg. 21994. – Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02. Hbg. 21997. – Ultima Inquirenda. J. G. F.s letzte Bearbeitungen der Wissenschaftslehre Ende 1813/Anfang 1814. Stgt. 2001. Ausgaben: J. G. F.s Nachgel. Werke. Hg. Immanuel Hermann Fichte. 3 Bde., Bonn 1834/35. – J. G. F.s sämmtl. Werke. Hg. ders. 8 Bde., Lpz. 1845/ 46. Neudr. beider Ausg.n als F.s Werke. 11 Bde., Bln. 1971. – J. G. F. Gesamtausg. der Bayer. Akademie der Wiss. Stgt. 1962 ff. – J. G. F.: Die späten wiss. Vorlesungen. Stgt. 2000 ff. – Briefe: J. G. F. Briefw. 2 Bde., Lpz. 21930. – Schelling-F. Briefw. Neuried 2001. – Gespräche: J. G. F. im Gespräch. 6 Bde., Stgt. 1978–92. – Literatur: Bibliografien: J. G. F. Bibliogr. Stgt. 1968. – F.-Bibliogr. 1968–92. Amsterd./Atlanta 1994. – Gesamtdarstellungen: Heinz Heimsoeth: F. Mchn. 1923. – Max Wundt: J. G. F.s Leben u. seine Lehre. Stgt. 1927. – Martial Gueroult: L’évolution et la structure de la doctrine de la science chez F. 2 Bde., Paris 1930. – Peter Baumanns: J. G. F. Krit. Gesamtdarstellung seiner Philosophie. Freib. i. Br./ Mchn. 1990. – Peter Rohs: J. G. F. Mchn. 1991. – Biografien: Immanuel Hermann Fichte: J. G. F.s Leben u. literar. Briefw. 2 Bde., Lpz. 21862. – Xavier Léon: F. et son temps. 3 Bde., Paris 1922–27. – Anthony J. La Vopa: F.: The Self and the Calling of
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437 Philosophy, 1762–1799. Cambridge 2001. – Weitere Titel: Friedrich H. Jacobi: An F. In: Ders.: Werke. Bd. 3, Lpz. 1816, S. 1–57. – Luigi Pareyson: L’Estetica dell’Idealismo Tedesco. Turin 1950. – Wolfgang Janke: F. Bln. 1970. – Ludwig Siep: Hegels Fichtekritik u. die Wissenschaftslehre v. 1804. Freib. i. Br./Mchn. 1970. – P. Baumanns: F.s ursprüngl. System. 1972. – Wolfgang Schrader: Empirisches u. absolutes Ich. Stgt. 1972. – Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der dt. Romantik. Ffm. 1973. – Wilhelm Weischedel: Der frühe F. Stgt. 21973. – Hansjürgen Verweyen: Recht u. Sittlichkeit. in J. G. F.s Gesellschaftslehre. Freib. i. Br./Mchn. 1975. – Reinhard Lauth: Die transzendentale Naturlehre F.s nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hbg. 1984. – Marek J. Siemek: Die Idee des Transzendentalismus bei F. u. Kant. Hbg. 1984. – Alain Renaut: Le système du droit. Paris 1986. – Jürgen Stolzenberg: F.s Begriff der intellektuellen Anschauung. Stgt. 1986. – Edith Düsing: Intersubjektivität u. Selbstbewußtsein. Köln 1986. – Appellation an das Publikum [...]. Dokumente zum Atheismusstreit um F., Forberg, Niethammer. Jena 1798/99. Lpz. 1987. – Manfred Frank: Einf. in die frühromant. Ästhetik. Ffm. 1989. – Frederick Neuhouser: F.’s Theory of Subjectivity. Cambridge 1990. – Hartmut Traub: J. G. F.s Populärphilosophie 1804–06. Stgt. 1992. – Wolfgang Janke: Vom Bilde des Absoluten. Bln./ New York 1993. – Wayne Martin: Idealism and Objectivity. Stanford 1997. – Günter Zöller: F.’s Transcendental Philosophy. Cambridge 1998. – Alexis Philonenko: La liberté humaine dans la philosophie de F. Paris 31999. – Christoph Asmuth: Das Begreifen des Unbegreiflichen. Stgt. 1999. – Violetta Waibel: Hölderlin u. F. 1794–1800. Paderb. 2000. – Ulrich Schlösser: Das Erfassen des Einleuchtens. Bln. 2001. – F.s prakt. Philosophie. Hg. Hans Georg v. Manz u. G. Zöller. Hildesh. 2006. – Peter L. Oesterreich u. Hartmut Traub: Der ganze F. Die populäre, wiss. u. metaphilosoph. Erschließung der Welt. Stgt. 2006. – Stefano Bacin: F. in Schulpforta (1774–80). Kontext u. Dokumente. Stgt. 2007. – Daniel Breazeale: F. and the Project of Transcendental Philosophy. Oxford 2008. Reinhard Lauth / Günter Zöller
Ficker, Ludwig von, auch: Fortunat, Lorenz Luguber, Michael Laurin, * 13.4. 1880 München, † 20.3.1967 Innsbruck; Grabstätte: Innsbruck-Mühlau (neben Georg Trakls Grab). – Herausgeber u. Essayist. Der Sohn einer Südtiroler Mutter u. des aus westfäl. Familie stammenden Rechtshistorikers Julius von Ficker, Bruder des Meteorologen Heinrich von Ficker u. des Musikhistorikers Rudolf von Ficker, verbrachte seine Kindheit in München. 1896 übersiedelte F. nach Innsbruck, wo er nach der Matura auf Wunsch seines Vaters Jura studierte (er fiel bei der 1. Staatsprüfung im Fach seines Vaters durch). Seit 1899 erfolgten erste Veröffentlichungen von Prosaarbeiten, Gedichten (Inbrunst des Sturms. Ein Reigen Verse. Lpz./Bln. 1904) u. Besprechungen, 1900 die Uraufführung seines ersten Dramas (Sündenkinder. Linz/Lpz. 1900) in Innsbruck. D. wollte Schauspieler werden, was ihm sein Vater untersagte. Der Konflikt mit dem Vater führte zur Enterbung (dies machten die Geschwister allerdings rückgängig). 1902, nach dem Tod des Vaters, Studium der Kunstgeschichte u. Germanistik in Berlin, Wien u. Rom (ohne Abschluss). 1907 Aufenthalt in Paris, 1908 Heirat mit Cäcilie Molander (drei Kinder). 1909 arbeitete F. an der Kunst- u. Literaturzeitschrift »Der Föhn« mit. Nach Zerwürfnissen mit den Herausgebern gründete er 1910 zus. mit Max von Esterle u. Carl Dallago (und v. a. für Dallago) die Zeitschrift »Der Brenner«, die anfangs als Halbmonatsschrift, später in unregelmäßiger Folge bis 1954 erschien. F. fungierte als alleinverantwortlicher Herausgeber, die Zeitschrift erschien im eigens dafür gegründeten Brenner Verlag, in dem seit 1911 auch selbstständige Publikationen erschienen. Wurden die ersten Jahrgänge noch hauptsächlich von Tiroler Autoren bestritten, u. a. von Dallago, Esterle, Bernhard Jülg, Hugo Neugebauer, Joseph Georg Oberkofler u. Arthur von Wallpach, so konnte F. bald auch auswärtige Autoren wie Hermann Broch, Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, Else Lasker-Schüler u. Rilke als Mitarbeiter gewinnen. Im Mai 1912 erschien
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Weitere Werke: Und Friede den Menschen! im »Brenner« das erste Gedicht Georg Trakls, der bei F. auch Familienanschluss fand u. im Eine Christnachtstragödie. Linz/Wien/Lpz. 1901. – »Brenner«-Kreis zusehends zum Inbegriff Studien über Karl Kraus. Mit Beiträgen v. Carl des Dichters stilisiert wurde. 1912 veranstal- Dallago, F. u. Karl Borromäus Heinrich. Innsbr. 1913. – Erinnerung an Georg Trakl. Hg. v. F. tete F. die erste Lesung von Karl Kraus in Innsbr. 1926. – Denkzettel u. Danksagungen. ReInnsbruck u. initiierte 1913 nach Angriffen den u. Aufsätze. Hg. Franz Seyr. Mchn. 1967. auf Kraus die Rundfrage über Karl Kraus (hg. v. Ausgaben: Briefw. 1909–14. Hg. Walter MethF. Innsbr. 1917). F.s u. Esterles Satiren u. lagl, Anton Unterkircher u. a. Salzb. 1986. – Briefw. Polemiken im »Brenner« waren stark von je- 1914–25. Innsbr. 1988. – Briefw. 1926–39. Innsbr. nen in der »Fackel« geprägt. Ludwig Witt- 1991. – Briefw. 1940–67. Innsbr. 1996 (F.s Briefw. genstein wiederum überließ F. aufgrund von mit Ebner u. Wittgenstein in den jeweiligen GeKraus’ Hochschätzung des »Brenner« eine samtausg.n). – Martin Heidegger – L. F. Briefw. Summe von 100.000 Kronen (ca. 300.000 1952–67. Hg. Matthias Flatscher. Stgt. 2004. Literatur: Walter Bapka: Der »Brenner« v. Euro) zur Verteilung an bedürftige Künstler. 1910–15. Diss. Innsbr. 1950. – Zeit u. Stunde. FS L. 1915–1918 nahm F. am Ersten Weltkrieg v. F. zum 75. Geburtstag. Hg. Ignaz Zangerle. als Offizier an der Dolomitenfront u. in GaSalzb. 1955. – Walter Methlagl: Der ›Brenner‹. lizien teil. Durch Krieg u. Inflation verlor F. Weltanschaul. Wandlungen vor dem Ersten Weltsein Vermögen, gliederte 1921 den »Brenner« krieg. Diss. Innsbr. 1966. – Gerald Stieg: Der dem Universitätsverlag Wagner an u. wurde ›Brenner‹ u. die ›Fackel‹. Ein Beitr. zur Wirkungsdessen Angestellter. »Der Brenner« wandte gesch. v. Karl Kraus. Salzb. 1976. – Untersuchunsich mit seinen neuen Mitarbeitern Theodor gen zum ›Brenner‹. FS I. Zangerle. Hg. W. MethHaecker, Ferdinand Ebner, Ignaz Zangerle, lagl, E. Sauermann u. Sigurd P. Scheichl. Salzb. Paula Schlier u. Hildegard Jone vermehrt 1981. – Sieglinde Klettenhammer, Erika WimmerWebhofer: Aufbruch in die Moderne. Die Ztschr. philosoph. u. religiösen Fragestellungen zu. ›Der Brenner‹ 1910–15. Innsbr. 1990. – BrennerDies führte auch zu einer allmähl. Distan- Kreis. L’altra Austria. Brescia 2002. – Der Ficker. zierung von den Positionen von Kraus, dem N. F. u. 2. F. Hg. Benedikt Ledebur. Innsbr./Wien F. gleichwohl freundschaftlich verbunden 2005/06. blieb. 1929–1933 war F. Korrektor bei den Johann Sonnleitner / Anton Unterkircher »Innsbrucker Nachrichten«, 1935–1945 Korrektor beim Deutschen Alpenverlag (Tyrolia). 1940 wurde »Der Brenner« von der Reichs- Fidelinus, Christian Ernst, * unbekannt, † schrifttumskammer in die Liste des »schäd- unbekannt. – Um 1750 in Gotha lebender lichen und unerwünschten Schrifttums« Romanautor. eingereiht. F. pflegte Kontakte zu jüd. Emi- F. ist bislang nur als Verfasser zweier an den granten u. antifaschist. Widerstandskreisen Messeplätzen Frankfurt/M. u. Leipzig ver(u. a. Brüder von Trott, Michael Guttenbrun- breiteter Romane bekannt. 1753 erschien Die ner, Viktor E. Frankl, Werner Kraft). Nach Böhmische Robinsonin (Ffm. u. Lpz.), eine Rodem Krieg stand F. in freundschaftl. Kon- binsonade mit weibl. Helden, 1754 Die engetakten u. a. mit Paul Celan, Christine Lavant, ländische Banise, oder Begebenheiten der Prinzeßin Christine Busta, Ingeborg Bachmann, H. C. von Sussex (Ffm./Lpz. Nachdr. Ffm. 1970), eine Artmann, Thomas Bernhard, Theodor W. ins England des 10. Jh. verlegte NacherzähAdorno u. Martin Heidegger, die er v. a. über lung von Heinrich Anselm von Zieglers Asiaseinen umfangreichen Briefwechsel, seine tischer Banise (1689. Neuaufl. u. a. 1738 u. zweite großen Lebensleistung, pflegte. Erst 1753). spät erhielt F. für sein Lebenswerk öffentl. Beide Romane sind typisch für die GatAnerkennung, u. a. 1960 den Großen Öster- tungssituation um 1750. Ohne Verständnis reichischen Staatspreis. 1964 wurde an der für den utop. Entwurf höfischer Staats- u. Universität Innsbruck das »Brenner-Archiv« Gesellschaftsvorstellungen in Zieglers Roeingerichtet (1979 umbenannt in »For- man bzw. für die ästhet. Vorausprojektion schungsinstitut Brenner-Archiv«). einer demokratisch regierten, von Vernunft
Fiedler
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u. christlicher Sittenlehre bestimmten Gesellschaft in den frühen Robinsonaden wird die Gattungsgeschichte zum Steinbruch für Stoffe u. Motive. Hauptzweck ist die Unterhaltung des Lesers mit »Exotischem«, auch wenn der Verfasser beteuert, dass er nur »die Tugend recht anmuthig und liebenswerth« (Banise, Vorrede) habe vorstellen wollen. Tugend meint hier vornehmlich ein von christlicher Ethik u. ökonom. Interessen geleitetes sexuelles Verhalten. Literatur: Herbert Singer: Der dt. Roman zwischen Barock u. Rokoko. Köln/Graz 1963, S. 100–103. – Ernst Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983, S. 108 u. 227. – Harald Bräuner: Die Suche nach dem ›deutschen Fielding‹. Engl. Vorlagen u. dt. Nachahmer in Entwürfen des ›Originalromans‹ (1750–80). Stgt. 1988. Ernst Weber / Red.
Fiedler, Fidler, Fidlerus, Felix, † 1553 Königsberg (?). – Neulateinischer Dichter. F. stammte aus der Schweiz u. soll von Kaiser Karl V. zum Kriegsrat u. Poeta laureatus ernannt worden sein. Wahrscheinlich als Anhänger der Reformation wandte er sich nach Königsberg, wo er zeitweise im Umkreis Herzog Albrechts von Preußen lebte. Mit seiner Versdichtung trat F. in die Fußstapfen des in Königsberg lehrenden Georg Sabinus, zu dessen Werken er Begleitpoeme lieferte. In einer mit Sabinus u. a. verfassten Gratulationsschrift zur zweiten Hochzeit des Herzogs veröffentlichte F. einen ehrgeizigen Gedichtzyklus über die dt. Flüsse (Fluminum germaniae descriptio. Königsb. 1550. Neudr. Halle 1625. Ausw. mit Übers. in: Harry C. Schnur (Hg.): Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Stgt. 1967). Weitere Werke: Idyllion de obitu Dorotheae Coniugis principis Alberti. Königsb. 1547. – Epithalamion de nuptiis Georgii Sabini. Königsb. 1550. – Philotas, ecloga [...] Addita et elegia de obitu [...] N. Perrendi a Gravella. Augsb. 1550. – De eclipsi lunae [...] anno MDLI. Augsb. 1551. – Apologus in Fridericum Staphylum. Elegia de radice malorum. In: Synodus avium depingens miseriam faciem ecclesiae. o. O. 1557. – Invectiva in podagram. Hg. Johann Aurpach. Mchn. 1565.
Literatur: Hermann Freytag: Der preuß. Humanismus bis 1550. In Ztschr. des westpreuß. Geschichtsvereins 47 (1904), bes. S. 62 f. – Hermann Hamelmann: Illustrium Westphaliae Virorum libri sex. Hg. Klemens Löffler. Münster 1908, S. 186. – Ellinger 2, S. 292, 294 f. – F. F. Schwarz: F. In: Altpr. Biogr. – Karl Schottenloher: Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jh. Münster 1953, S. 96. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 552 f. Wilhelm Kühlmann
Fiedler, (Adolph) Konrad, * 23.9.1841 Öderan/Sachsen, † 3.6.1895 München. – Kunstschriftsteller, Sammler u. Mäzen. F. entstammte einer jüd. Industriellenfamilie. Sein Vater, der sich früh aus den Geschäften auf das Rittergut Crostewitz bei Leipzig zurückgezogen hatte u. 1854 in einer Nervenanstalt starb, hinterließ ihm neben bedeutenden materiellen Gütern auch eine sensible, zur Melancholie neigende Konstitution. Nach anfänglicher Privaterziehung besuchte F. 1856–1861 die Fürstenschule in Meißen u. studierte anschließend Jurisprudenz in Lausanne, Heidelberg, Berlin u. Leipzig, wo er 1865 promovierte u. das Staatsexamen machte. Dem Beruf eines Juristen ging er nur kurz in einer Anwaltskanzlei nach. Die meisten Länder Europas u. den Vorderen Orient lernte er auf Reisen kennen, von denen unveröffentlichte Tagebücher erhalten sind. 1866/67 begegnete er in Rom Anselm Feuerbach u. Hans von Marées, 1867/68 Adolf von Hildebrand. F. lebte als reisender Kunstschriftsteller, Sammler u. Mäzen (v. a. von Marées), ohne jedoch in den tägl. Kunstbetrieb einzugreifen. Ab 1880 in München, unterhielt er auch gesellschaftl. Verbindungen zu dem Wagner-Dirigenten Hermann Levi (der 1895 F.s Witwe heiratete) u. zum Haus Wahnfried in Bayreuth. F. wirkte (v. a. postum) durch sein kunstphilosophisches Konzept von der Autonomie der Kunst, das er seit seiner Studentenzeit in der Auseinandersetzung mit Kant, der psychophys. Kant-Interpretation u. Schopenhauer entwickelt hatte. Es veranlasste ihn, die akadem. Historienmalerei u. den historisierenden Eklektizismus seiner Zeit kritisch zu sehen. F.s zentrale wiss. These lautete: Kunst
Figulus
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ist eine genuine Form von Erkenntnis, die Figulus, Benedictus, eigentl. wohl: Hafsich von derjenigen der Wissenschaften un- ner, Häfner, * 29.12.1567 Uttenhofen/ terscheidet. Dieses Erkennen ist eine bes. Franken, † nach 1624. – Dichter u. paraWeise des Sehens; F.s natürliches Arbeitsfeld celsistischer Sachbuchpublizist. waren deshalb die visuellen Künste. Er dachte sie aus einem Prozess der »Ausdrucksgestal- F. war vermutlich Zögling der Fürstenschule tung«, als reine »Sichtbarkeitsgebilde« ent- Heilsbronn. Nach Studienabbruch in Witstanden. Er wandte sich gegen die traditio- tenberg (immatrikuliert 1591) wirkte F. als nelle Ästhetik, bes. aber die Geschmacksäs- luth. Prediger im fränk. Lipprichhausen, thetik, wie überhaupt gegen alle Theorien, doch wurde er im Zuge der gegenreformator. welche der Kunst keine eigene Form von Er- Politik des Würzburger Fürstbischofs Julius kenntnis zubilligen. Damit zog er die Kon- Echter von Mespelbrunn 1601 aus Franken sequenz aus der Einsicht, dass Kunst nicht vertrieben. Dem »Poeta Laureatus Caesareus« »das Sichtbare wiedergibt, sondern selbst (gekrönt von P. Schede Melissus) war fortan sichtbar macht«. Diese Wendung Paul Klees ein unstetes Wanderleben beschieden, das ihn ist ganz im Sinne F.s gesprochen, sie belegt nach Tübingen, Straßburg, Hagenau, Freiseine außerordentl. Wirkung unter moder- burg i. Br., Kassel, Augsburg, Tirol u. Kärnnen, nach-mimet. Künstlern des 20. Jh. F. ten führte. Aus seiner heterodoxen Haltung beeinflusste die kunstgeschichtl. Methodolo- ergaben sich schwere Konflikte mit manchen gie (Formanalyse: Heinrich Wölfflin, Max Obrigkeiten; Erzherzog Maximilian, Regent Imdahl u. a.) u. gilt als einer der wichtigsten von Tirol, antwortete auf F.’ religiöse »KetTheoretiker der bildenden Künste, die er vom zereien« 1612 mit einem Haftbefehl; GefanSehen her zu begründen u. zu verstehen genschaft in Ensisheim/Vorderösterreich suchte. Von großer Bedeutung für die dt. (dokumentiert für 1617). Der mittellose ExiKunst um 1870–1890 war die freundschaftl. lant wurde 1604 von dem Tübinger Gräzisten Konstellation, die er mit Marées u. Hilde- Martin Crusius finanziell unterstützt; später warb er um die Gönnerschaft von Landgraf brand bildete. Weitere Werke: Über die Beurteilung v. Wer- Moritz von Hessen-Kassel (1611) u. suchte ken der bildenden Kunst. Lpz. 1876. – Moderner Johann Valentin Andreae in Vaihingen auf Naturalismus u. künstler. Wahrheit. Lpz. 1881. – (1617?). F. hing einer alchemoreligiösen OppositiÜber den Ursprung der künstler. Tätigkeit. Lpz. 1887. – Schr.en über Kunst. Hg. Hans Marbach. onsbewegung an, die ihre reformatorischLpz. 1896. – Schr.en über Kunst. Hg. Hermann chiliast. Sehnsüchte auf einen Sieg der Konnerth. 2 Bde., Mchn. 1913/14. – F.s Briefe an »Theosophia« u. paracelsist. Naturkunde Marees. In: H. v. Marées Briefe. Mchn. 1920. – über orthodoxe Kirchenlehre, aristotelischAdolf v. Hildebrands Briefw. mit K. F. Hg. Günther humanistische »Schulphilosophia« u. galeJachmann. Dresden 1927. – Schr.en zur Kunst. Hg. 2 Gottfried Boehm. 2 Bde., Mchn. 1971. 1989/90 nist. Medizin gründete. Vertreter dieser auf (mit Bibliogr.). – Schr.en über Kunst. Hg. Hans Reform von Religion, Staat u. Wissenschaft drängenden Gruppierung, namentlich Adam Eckstein. Köln 1996. Literatur: Brigitte Scheer: C. F.s Kunsttheorie. Haslmayr (Tirol) u. Karl Widemann (AugsIn: Ideengesch. u. Kunstwiss. Philosophie u. bil- burg), zählten zu seinen engsten Freunden; dende Kunst im Kaiserreich. Hg. Ernst Mai u. a. mit dem Marburger Theoalchemiker Raphael Bln. 1983, S. 133–144. – Stefan Majetschak (Hg.): Egli stand F. in fachlichem Austausch. Auge u. Hand. K. F.s Kunstheorie im Kontext. F. trat zunächst mit Lobgedichten auf LuMchn. 1997. Gottfried Boehm / Red. ther u. den fränk. Paracelsisten Georg am Wald (Stgt. 1600), Lamenta sive carmina lugubria (Mainz 1602) u. einer griech.-lat. Psalmenparaphrase (1602), mit weiteren Psalmendichtungen, Casualien u. Carmina (Petrus larvatus. 1606. Precatio D. Bernhardi ad Jesum Christum. o. J.) hervor, in denen der hetero-
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Filek
doxe Paracelsist noch weitgehend unkennt- Joachim Telle. Stgt. 1994, S. 335–406, hier lich bleibt. Dann wandelte er sich zu einem S. 352–354. – Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre Sachbuchpublizisten, der eine »Astronomia«, der Frühen Neuzeit. Bemerkungen zur mittelalterl. »Magia«, »Cabala« u. »Alchymia« einbegrei- Vorgesch. u. zur Eigenart einer epochalen Denkform in Wiss., Lit. u. Kunst. Hg. Uwe Ruberg u. fende »Hermetische Philosophia« verfocht Dietmar Peil. Stgt./Lpz. 1999, S. 57. – Hermann u., auf dem Boden eines Natur- u. Gotteser- Geyer: Verborgene Weisheit. Johann Arndts ›Vier kenntnis verbindenden chymischen Chris- Bücher vom Wahren Christentum‹ als Programm tentums, einer Zweiten Reformation Bahn zu einer spiritualistisch-hermet. Theologie. Tl. 3, Bln./ brechen suchte. New York 2001, S. 454–462. – Florian Ebeling: Das 1608/09 gab F. zahlreiche deutschsprachi- Geheimnis des Hermes Trismegistos. Gesch. des ge Alchemica, Paracelsica, pseudoparacelsi- Hermetismus v. der Antike bis zur Neuzeit. Mit sche Schriften u. Werke von Bartholomäus einem Vorw. v. Jan Assmann. Mchn. 2005, Carrichter heraus. Bis ins 18. Jh. erfolgte S. 107–109. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 559 f. Joachim Telle Nachdrucke lassen annehmen, dass dieses textgeschichtlich wertvolle Sachbuchkorpus manche Impulse auf den Fortgang der para- Filek, Egid Edler von Wittinghausen, celsist. Alchemie ausübte u. den Aufstieg der auch: E. Witting, * 18.1.1874 Wien, Landessprache zum anerkannten Medium † 20.4.1949 Wien; Grabstätte: ebd., Zender Wissenschaften u. Künste förderte. Hin- tralfriedhof. – Erzähler, Verfasser von gegen blieb F.’ Plan, die ungedruckten Wanderbüchern. Theologica des Paracelsus u. ein dreibändiges Chrysotheatrum zu edieren, unverwirklicht, Der Sohn eines Juristen u. Französischlehrers konnte sich seine dt. Liber proverbiorum-Vers- – das Adelsprädikat war dem Großvater verfassung nur handschriftlich bewahren; auch liehen worden – besuchte das Gymnasium in ist mit keiner Einflussnahme F.’ auf Entste- Wien u. St. Pölten, wo sein Deutsch- u. Gehung u. Eigenarten des rosenkreuzerischen schichtslehrer der Dichter Franz Keim war, Reformmanifests (Fama Fraternitatis) oder dem F. entscheidende Anregungen für sein Andreaes Chymischer Hochzeit zu rechnen. F. späteres Schaffen verdankte. Nach dem Stufiguriert in Walter Ummingers Briefroman dium der Philosophie, Germanistik, GeDas Winterkönigreich (Stgt. 1994, Briefe Nr. 69, schichte u. Geografie (Dr. phil. 1896) war er als Lehrer in Iglau (dort schloss er Freund77, 88, 89). schaft mit dem sudetendt. Autor Karl Hans Ausgaben: Pandora. Straßb. 1608. Engl. Übers.: A Golden and Blessed Casket of Nature’s Marvels. Strobl), Brünn u. Wien tätig. 1922 trat er in London 1893. 21963. – Paracelsus, Kleine Wund- den Ruhestand u. unternahm in den folgenArtzney [...] Sampt zweiyen [...] Tractätlein H. den Jahren Reisen nach Norddeutschland, Bartholomaei Karrichters. Straßb. 1608. Neudr. Italien, Jugoslawien u. in die Schweiz. F., der 1898–1908 die Jugendzeitschrift Lindau 1982. – Glückwünschung zur Hochzeit Philipp Hainhofers (Augsb. 1601). In: Flugbl. »Gaudeamus« leitete, debütierte mit der auBd. 3: Die Slg. der Herzog August Bibl. in Wol- tobiogr. Novellensammlung Mein Frühling fenbüttel, Tl. 3: Theologica. Quodlibetica, Tüb. (Linz 1900), der bald darauf ein zweiter Band 1989, Nr. 186, S. 364 f. Fresken (Brünn 1903) folgte. Der erste Roman Literatur: Karl Sudhoff: Versuch einer Kritik Ein Narr des Herzens (Bln.-Charlottenburg der Echtheit der Paracels. Schr.en. Tl. l, Bln. 1894. – 1911. Vorabdruck in: Kölnische Zeitung, Will-Erich Peuckert: Pansophie. Bln. 21956. – Joa- 1910) wirbt für eine fortschrittl. Pädagogik u. chim Telle: B. F. In: Medizinhistor. Journal 22 die damit verbundene Schulreform. Das (1987), S. 303–326 (mit Werkverz.). – Carlos Gilly: ebenfalls sehr aktuelle Problem des FrauenAdam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterd. 1994, S. 93–105. studiums greift der Roman Mimis Versorgung – Julian Paulus: Alchemie u. Paracelsismus um (Bln.-Charlottenburg 1913) auf. Sein erfolg1600. Siebzig Porträts. In: Analecta Paracelsica. reichstes Werk war der Roman Wachtmeister Studien zum Nachleben Theophrast v. Hohen- Pummer (Bln. 1918), die Geschichte eines heims im dt. Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hg. Waldviertler Gendarmen, der, in seinem
Filip
Diensteifer missverstanden u. bei der geliebten Wirtstochter erfolglos, in den Karpaten den Heldentod findet. Wie zahlreiche österr. Erzähler wandte sich auch F. nach dem Ersten Weltkrieg histor. Stoffen zu: Die Erzählung Wie Dieter die Heimat fand (Wien 1920) führt in die Zeit der Hussitenkriege, der Roman Die wundersame Wandlung des Herrn Melander (Wien 1921) gestaltet das Ende des Dreißigjährigen Kriegs als Paradigma der Gegenwart. Weite Verbreitung fanden die zahlreichen Heimat- u. Wanderbücher F.s, wie etwa Von Semmering bis Bozen (Wien 1928) oder Ein fröhliches RaxBüchlein (Mödling 1925) u. Komm mit in die Wachau (Wien 1948). Weitere Werke: Das schwarze Täschchen. Verlag der 10. Kärntner Armee 1917 (E.en). – Der schwarze Strich. Eine Grillparzergesch. Wien 1922. – Wienerwald. Ein Landschaftsbuch (zus. mit Emmerich Schaffran). Wien 1924. – Vom Glück der armen Teufel. Wien 1926 (N.n). – Gustav Jahn, ein Maler der Berge. Wien 1927. – Verwirrung in Magdalenenbad. Bln. 1939 (R.). – Komm mit nach Schönbrunn. Wien 1944. 21948. – Novellen um Grillparzer. Linz-Urfahr/Wien 1948. – Komm mit in den Wienerwald. Wien 1949. Literatur: Maria Reitter: E. F., eine Monogr. Diss. Wien 1949. Johannes Sachslehner / Red.
Filip, Ota, * 9.3.1930 Ostrau. – Romanautor. F.s Verhältnis zur dt. Kultur u. Sprache begann, als der opportunist. Vater mit dem Einmarsch der Deutschen in seine mährische Heimatstadt im März 1939 seine »deutsche« Identität entdeckte, mit den Nazis kollaborierte u. den neunjährigen Sohn von der tschechischen in die dt. Volksschule schickte. Im Mai 1945 zog F. nach Prag, wo er auf das Gymnasium ging u. nebenbei in der Sportredaktion der Zeitschrift »Mladá fronta« arbeitete. Im April 1951 wurde er zum Militärdienst eingezogen u. aufgrund seiner vermeintlich deutsch-bourgeoisen Identität als Arbeitssoldat nach Kadan geschickt. Danach begann er ein Fernstudium der Journalistik an der Universität Prag. Ende 1953 heiratete er.
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F. arbeitete als Journalist u. wurde Anfang der 1960er Jahre wegen seiner abweichenden Meinungen zu einem Jahr Zwangsarbeit in die Kohlengruben von Ostrau geschickt. Anschließend verdiente er sein Geld als Hilfs- u. Bauarbeiter. Gleichzeitig schrieb er an seinem ersten Roman, Das Café an der Straße zum Friedhof, dessen dt. Ausgabe (Ffm. 1968) in ihrem Erscheinungsjahr auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wurde u. ihn im Westen bekannt machte. Der Roman erzählt die traurig-komische Geschichte einer Kindheit während der dt. Besatzungszeit. Ab 1968 arbeitete F. als Lektor beim Profil-Verlag in Ostrau. Ende Aug. 1969 wurde er wegen seines Protestes zum ersten Jahrestag der sowjet. Okkupation zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Zeitgleich erschien in der Bundesrepublik sein zweiter in der Heimat verbotener Roman, Ein Narr für jede Stadt (Ffm.). Nach seiner Entlassung jobbte er u. a. als LKWFahrer. 1973 erschien beim Fischer-Verlag Die Himmelfahrt des Lojzek Lapácek. Während in seinem Debütroman u. a. die Konflikte der Tschechen u. Sudetendeutschen im Schatten des Kriegsgeschehens thematisiert werden, liest sich Die Himmelfahrt eher als literar. Bearbeitung der Nationalitätenstreitigkeiten der ersten Republik u. der Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg. Insofern können beide Texte als zeitgeschichtlich geprägte literar. Korrekturen des Deutschen- aber auch des Tschechenbildes in der NachkriegsTschechoslowakei angesehen werden. Im Juli 1974 immigrierte F. mit seiner Familie in die Bundesrepublik, wurde in Bayern sesshaft u. erhielt die dt. Staatsbürgerschaft. Später begann er in dt. Sprache zu schreiben. 1985 erschien der Prager Roman Café Slavia (Ffm. Weitere Ausg.n 1988 u. Mchn. 2001). Darin wird die Geschichte des skurrilen österreichisch-böhm. Maskenkünstlers Graf Nikolaus Belecredos erzählt. Anhand dieser Schelmenfigur vermittelt F. nicht nur einen Abriss von sechs Jahrzehnten Prager u. mitteleurop. Geschichte (1912–1970), sondern konzipiert zgl. eine histor. Tiefenschärfe, die bis in das Jahr 921, zu den Anfängen der tschech. Kultur, zurückreicht. 1986 wurde das Werk mit dem Chamisso-Preis ausgezeichnet. 1988 erschien Die Sehnsucht nach
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Finck
Literatur: James Jordan: O. F. In: KLG. – StefProcida (Ffm.) – ein Exilroman, der sich mit der Emigrationsproblematik der Osteuropäer fen Höhne: O. F. In: LGL. – Massum Faryar: zwischen 1945 u. 1988 befasst. 1991 erhielt Fenster zur Zeitgesch. Eine monograph. Studie zu O. F. u. seinem Werk. Bln. 2005. der Autor den Andreas-Gryphius-Preis. Massum Faryar F. engagierte sich in den 1990er Jahren zunehmend für die Versöhnung zwischen Finck, Fink, Friedrich Ludwig Karl, Graf (Sudeten-)Deutschen u. Tschechen. Seine Esvon Fin(c)kenstein, * 18.2.1745 Stocksays u. Reportagen wurden in die publizist. holm, † 18.4.1818 Madlitz/Neumark. – Sammelbände Die stillen Toten unterm Klee Herausgeber, Übersetzer, Mäzen. 2 (Mchn. 1992. 1997) u. ›... doch die Märchen sprechen deutsch‹ (Mchn. 1996) aufgenommen. F. war der älteste Sohn des Grafen Karl WilAnfang 1998 geriet F. in die Schlagzeilen, da helm Finck von Finckenstein († 1800), des er während seines Militärdienstes einen späteren Gesandten in Schweden u. KabiFluchtplan seiner Kameraden dem Geheim- nettsministers Friedrichs II. von Preußen. dienst verraten haben soll. Vor diesem Hin- Nach dem Jurastudium (Halle 1763–1766) tergrund erschien 2001 das autobiogr. Werk wurde er 1769 Kammergerichtsrat u. bald Der siebente Lebenslauf (Mchn.). Darin schildert darauf zweiter Regierungspräsident in StetF. sein Leben zwischen 1939 u. 1953 u. ver- tin, 1777 Regierungspräsident in Küstrin. In arbeitet zgl. die Trauer um den im Jan. 1998 der Folge des berühmt-berüchtigten Müllerdurch Suizid verlorenen Sohn Paul. Mit Fak- Arnold-Prozesses, in den Friedrich II. einten belegt F., dass er damals nicht zu den griff, wurde F. am 11.12.1779 vom König Tätern, sondern zu den Opfern gehört hatte. seines Amtes enthoben. Nach Friedrichs II. Das Buch gilt als »ein schonungsloses Be- Tod rehabilitiert, wollte F. dennoch kein Amt kenntnis« u. ein Zeitzeugnis mitteleuropäi- im Dienst Preußens mehr annehmen. Seither scher Geschichte. 2005 erschien der Roman widmete er sich der Verwaltung der väterl. Das Russenhaus (Mchn.), der die Liebesge- Güter, der Wissenschaft, Kunst u. Musik. Zu den von ihm unterstützten Autoren schichte zwischen Gabriele Münter u. Wassily gehörten der Architekt, Kunstschriftsteller u. Kandinsky erzählt. F. ist zum einen ein Fabulierer mit skurri- Altertumsforscher Hans Christian Genelli († len Einfällen, zum anderen ein politisch-ge- 1823) u. v. a. Ludwig Tieck, der sich mit seiner schichtlich fixierter Autor – ein Dichter zwi- Familie insg. elf Jahre auf F.s Gut Ziebingen (1802–1804, 1806–1808, schen Scherz u. Ernst. Sein historisches In- aufhielt 1813–1819). Im Alter betätigte sich F. wieder teresse ist eng mit der Handlungsdimension der Texte verflochten u. bildet deren soliden politisch: Er war Führer der ständ. OppositiHintergrund. Ein Meisterwerk dieser Insze- on gegen die Innen- u. Finanzpolitik des nierungstechnik ist sein Hauptwerk Café Sla- Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, via, in dessen Erzählstil fantastische, ma- wofür er 1811 Festungshaft in Spandau ergisch-realist., surrealist. sowie expressionist. hielt, u. Berater seines Sohnes, eines außerTendenzen zusammenfließen, während der ordentl. preuß. Gesandten in Wien. Mit Friedrich August Wolf stand F. in Kern realistisch bleibt. F. hat sein Leben stets Briefwechsel. Als Herausgeber u. Übersetzer im Kontext der polit. Zeitgeschichte reflektiert, in seiner Biografie, in den Abschnitten befand er sich in der Tradition der dt. Idylvor der Auswanderung 1974, den Exiljahren lendichtung (Gessner, Voß, Goethe u. a.), von 1974–1989 u. der Nachwendezeit, zeichnet der Goethe sagte, dass sie »gegen die Zerrissich eine Entwicklung u. Wandlung in seiner senheit der Geschichte« stehe. Zwei Bände Kreativität ab. Seit 2005 schreibt er wieder Versübersetzungen der antiken Idyllik u. Bukolik (v. a. Vergils u. Theokrits) erschienen hauptsächlich in seiner Muttersprache. Weitere auf Deutsch erschienene Werke: 1789 in Berlin u. d. T. Arethusa, eine TheokritZweikämpfe. Ffm. 1975. – Maiandach. Ffm. 1977. Übersetzung entstand 1793/94. Wenn F. da– Wallenstein u. Lukretia. Ffm. 1978. – Großvater mit auch das Interesse dt. Dichter (Mörike) an Theokrit weckte, so konnte sich seine Überu. die Kanone. Ffm. 1981.
Finck
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setzungskunst an der eines Christian Gottlob Heyne oder eines Johann Heinrich Voß nicht messen. 1804 gab er Ewald von Kleists Idylle Der Frühling (1749) in krit. Bearbeitung heraus. Literatur: Walter Fränzel: Gesch. des Übersetzens im 18. Jh. Lpz. 1914. – Gerhard Kaiser: Von Arkadien nach Elysium. Gött. 1978. – Renate Boeschenstein-Schäfer: Idylle. Stgt. 21978. – Melanie Finckenstein u. a.: So ist die Anmuth gestaltet. G. F. L. K. F. v. F. u. sein Madlitz. Bln. 1998. Christian Schwarz / Red.
Finck, Werner, eigentl.: Walter Richard, * 2.5.1902 München, † 31.7.1978 München. – Verfasser von Parodien u. Gedichten.
Kabarettform fand nur mäßigen Anklang. Große Erfolge feierte er dafür mit Soloprogrammen durch seinen unverwechselbaren Stil u. als Schauspieler in kom. Rollen sehr eigenwilliger Prägung. Seine sachlich-herzl. Gedichte u. humorvollen Texte sind gewinnende Dokumente literar. Kleinkunst, doch fehlt ihnen das Flair seines einmaligen Vertrags. Am lebendigsten wird er in seiner autobiogr. Conférence Alter Narr – was nun? (Mchn. u. Bln. 1972). Weitere Werke: Neue Herzlichkeit. Bln. 1931 (L.). – Kautschbrevier. Bln. 1938. – Finckenschläge. Bln. 1953. – Witz als Schicksal – Schicksal als Witz. Hbg. 1966. – Heiter, auf verlorenem Posten. Mchn. 1977. – Das große W.-F.-Buch. Bln. 1985. – Das Beste v. W. F. Mchn. 1988. – Spaßvogel – vogelfrei. Hg. Hansjörg Schneider u. Wolfgang Wessig. Bln. 1991. Hans Peter Bleuel / Red.
Der Sohn eines Apothekers besuchte das Gymnasium u. übte danach seine vielseitigen künstler. Talente: an der Kunstschule in Finckelthaus, Finkelthaus, Gottfried, Dresden u. als Zeitungsvolontär, als reisender * 23.2.1614 Leipzig, † 4.8.1648 Bautzen. – Vortragskünstler u. als Mitgl. von TheaterLyriker, Übersetzer. gruppen. Im Frühjahr 1929 trat F. erstmals mit eigenen Parodien u. Gedichten in Berli- Der Sohn eines Leipziger Juristen absolvierte ner Kabaretts auf: bei den »Unmöglichen« u. Schule u. rechtswiss. Studium in seiner Heiim »Larifari«. Mit Hans Deppe gründete er matstadt. Bereits im Wintersemester 1615 noch im gleichen Jahr »Die Katakombe«. trug ihn sein Vater Sigismund, soeben zum F. machte aus Nervosität u. Schüchternheit Rektor der Universität gewählt, in die Maeine Tugend, aus scheinbarer Publikums- trikel ein. Zus. mit seinem Bruder Sigismund scheu u. Geistesverwirrung einen neuen Stil erwarb F. das Bakkalaureat (14.3.1629) u. die der Conférence: Er stotterte brillant, sprach Magisterwürde (2.5.1633). 1639 traf F. seinen nur in unvollendeten Sätzen, verhaspelte sich Freund Paul Fleming in Hamburg u. trat von höchst geistreich u. überließ es den Zuhö- dort eine Reise nach Holland u. Brasilien an, rern, die Spitzen u. Pointen nachzuvollzie- von der er Ende 1641 nach Leipzig zurückhen. Parodie mit Niveau, Satire mit Sympa- kehrte. Im Okt. 1647 wurde er Kammerprothie, Humor mit angriffslustigem Witz waren kurator der Oberlausitz. die Kennzeichen der »Katakombe«, die F. seit F. war die eigenwilligste Gestalt unter den Ende 1930 mit dem Komiker Rudolf Platte Leipziger Dichtern der 1630er Jahre. Er verfortführte. Seine hintersinnigen Sticheleien öffentlichte schon als Student – zuweilen gegen Dummheit u. Aufgeblasenheit, den scherzhaft-verspielte – Gelegenheitsgedichte, Militarismus u. die Ewig-Gestrigen brachten die er mit »Greger Federfechter von Lützen«, F. 1935 in Konflikt mit den nationalsozialist. »Guter Freund«, »Theopacius OecolampaMachthabern. Für Monate war er im Kon- dius« oder »M. G. F.« unterzeichnete. 1635 zentrationslager Esterwegen interniert u. erschien pseudonym sein erstes längeres hatte zeitweise Arbeitsverbot; doch die ge- Werk Floridans Lob- und Liebesgedichte (Lpz.), schickt genutzte Narrenkappe bewahrte ihn eine Prosaekloge nach dem Muster von Opitz’ vor Schlimmerem. Hercinie (1630). Die erste Lyriksammlung F.’ Nach dem Krieg gründete F. 1948 in (M. G. F. L. Deutsche Oden oder Gesänge. Lpz. Stuttgart »Die Mausefalle« u. in Zürich das 1638) enthält neben petrarkist. Liebesge»Nebelhorn«, doch seine humorig-nostalg. dichten von teils schäferl. Charakter scherz-
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Der Fincken Ritter
haft-freche Lieder u. bäuerlich-derbe Ge- Der Fincken Ritter. – Von einem Andichte nach niederländ. Vorbildern, die zu- onymus verfasster komischer Roman. meist auch in Gottfriedt Finckelthausens DeutDer Autor des F. R. ist unbekannt, vielleicht sche Gesänge (Hbg. o. J. [1640]) aufgenommen wurden. Dreißig teutsche Gesänge (Lpz. 1642) im Elsass beheimatet. Die History vnd Legend von dem trefflichen und enthält z.T. bis dahin unveröffentlichte Lieweit erfarnen Ritter, Herrn Policarpen von Kirrlabesgedichte. Die umfangreichste Ausgabe Lustige Lieder erschien 1645 in Lübeck mit 76 rissa, genandt der Fincken Ritter (Straßb. 1560. Neudr.e im 16. u. 17. Jh.) ist als Ich-ErzähGedichten (Titelauflage Lübeck 1648). Daneben übersetzte F. das Hohelied (Des lung u. Parodie des spätmittelalterl. Reiseweisen Salomons Hohes Lied, sampt andern geist- berichts oder -romans mit seinen Kontrafaklichen Andachten. Lpz. 1638) sowie u. d. T. Das turen der vertrauten Welt konzipiert (Jean de Urtheil des Schäffers Paris (Lpz. 1638. 1645) Mandeville, Brandan, Alexanderroman u. a.). Nicolas Renouards Le jugement de Paris. Die Der Roman bleibt gegenbildlich an diese ErForm der Prosaekloge griff er nochmals in der zähltradition gebunden, radikalisiert sie aber Trauerschrift Herrn Thomas Leonhart Schwen- zur Präsentation einer verkehrten Welt, in der dendörffers letztes Ehrengedächtnis (Lpz. [1637]) die Maßstäbe der Wahrnehmung u. des Verauf. 1646/47 richtete er in der Hoffnung auf stehens selbst verrückt werden. So wird die ein Hofamt eine Reihe von Gelegenheits- exotische Ferne der Reisen nach Indien, Chischriften an Mitglieder des Dresdner Hofes, na oder gar ins Jenseits in eine vertraute u. darunter ein in zahlreichen Drucken erschie- genau lokalisierbare Umgebung (Straßburg, nenes Brunnengedicht Lobspruch des wunder- Nürnberg oder München) verschoben. Weibaren Heil-Brunnens zu Hornhausen (Dresden teste Ferne u. nächste Nähe sind nicht mehr unterscheidbar, die Regeln der räuml. Aus1646). dehnung u. Entfernung ebenso außer Kraft Ausgabe: Fischer-Tümpel 1, S. 450. gesetzt wie die Ordnung der Zeit. Denn die Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1478–1483 (Bibliogr.). – Heinrich Pröhle: Der Reise vollzieht sich – zumindest in biogr. sächs. Dichter G. F. In: AfLg 3 (1874), S. 66–108. – Hinsicht – im Krebsgang: Der F. R. beginnt Ernst Kroker: G. F. In: Schr.en des Vereins für die seine Erzählung als Fernhandelskaufmann, Gesch. Leipzigs 5 (1896), S. 213–221. – Willi der alles verliert, u. endet nach seiner ReFlemming: G. F. In: NDB. – Maria Fürstenwald: gression in den Mutterleib mit seiner Geburt Letztes Ehren-Gedächtnüß u. Himmelklingendes u. den ersten Schritten des Kleinkinds. Der Schaeferspiel. Der literar. Freundschafts- u. Toten- Auflösung einer verbindl. Ordnung von kult im Spiegel des barocken Trauerschäferspiels. Raum u. Zeit entspricht die Dissoziation von In: Daphnis 2 (1973), S. 32–53. – Klaus Garber: Der Sprache u. Wirklichkeit, Person u. Welt, locus amoenus u. der locus terribilis. Köln/Wien schließlich auch der Person selbst. Die Spra1974, S. 116 f. – Paul E. Logan: G. F. rediscovered. In: College Language Association Journal 19 (1975), che verliert dabei ihren eindeutigen Sinn; S. 38–49. – Heiduk/Neumeister, S. 32 f., 164 f., Kommunikation, Austausch u. Gespräch 329 f. – Anthony John Harper: Ein neu aufgefun- werden unmöglich. Umgekehrt findet die denes Frühwerk von G. F.? In: Daphnis 7 (1978), Wirklichkeit ihre Ordnung höchstens noch S. 689–696. – Ders.: Schr.en zur Lyrik Leipzigs im Gegensatz des Vertrauten. So nimmt der 1620–70. Stgt. 1985. – Ders.: Song-writer G. F. In: F. R. den Weg auf die Achseln u. gelangt zu GLL 41 (1988), S. 371–380. – Ders.: The song-books einem steinernen Birnbaum: »da hieng der of G. F. Glasgow 1988. – Ders.: Versteckspiel mit weg uber die weiden / da brandt der Bach / Cupido: ein unbekanntes Leipziger Hochzeitsgeunnd loeschten die Bauren mit stro [...] /da dicht v. G. F. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 15 (1988), S. 14–20. – Ders.: German secular wurden die Hunde vonn den Hasen gefangen song-books of the mid-seventeenth century. An / die Schaaff henckten die Woelff / huener examination of the texts in collections of songs unnd gaenß stelten unnd richteten den published in the german-language area between Füchsen vnnd Mordern / mit fallen unnd 1624 and 1660. Aldershot u. a. 2003. garnen nach«. Höhepunkt ist die SelbstzerRenate Jürgensen / Red. störung des Erzählers, der sich selbst den
Finckenstein
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Kopf abmäht, ihm hinterherläuft, ihn wieder aufsetzt, durch einen starken Windstoß wiederum verliert usf. Wo man aber den Kopf verliert, ist alles möglich geworden. Der F. R. zeigt, ähnlich wie das Lalebuch, einige Formen solcher Verrücktheiten von Mensch u. Welt auf. Ausgabe: Das Volksbuch vom Finkenritter (nach dem Straßburger Druck v. 1560). Hg. Johannes Bolte. Zwickau 1913. Literatur: Carl Müller-Fraureuth: Die dt. Lügendichtungen bis auf Münchhausen. Halle 1881, S. 15 ff. (Neudr. Hildesh. 1965). – Joachim Knape: Der ›Finckenritter‹. Text u. Untersuchung. In: Philobiblon 35 (1991), S. 97–148. – Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Baden 1991, S. 489–492; Tl. 2: Drucke des 17. Jh. BadenBaden 1994, S. 145–151. – Thomas Cramer: Von einem der auszog, die Welt kaputtzulachen. Der ›Finckenritter‹. In: Kom. Gegenwelten. Lachen u. Lit. in MA u. Früher Neuzeit. Hg. Werner Röcke u. Helge Neumann. Paderb. u. a. 1999, S. 283–299. Werner Röcke
Finckenstein, Ottfried Graf, * 18.4.1901 Ordensburg Schönberg bei Deutsch Eylau/Ostpreußen, † 23.11.1987 Ottawa/ Kanada. – Verfasser von Romanen, Novellen, Hörspielen u. Gedichten. Der Nachfahr einer alten Diplomaten- u. Offiziersfamilie studierte Volkswirtschaft u. war in den 1930er Jahren für Banken tätig. In den beiden Weltkriegen war er Offizier, nach 1945 lebte er in Schleswig-Holstein als Leiter des Landeskulturverbands bis 1959, danach als Journalist in Amerika. Wichtigstes Thema war für F. die Kultur u. das polit. Schicksal West- u. Ostpreußens, die er im Unterschied zu seinen Zeitgenossen Alfred Brust, Ernst Wiechert u. Willy Kramp aus der Perspektive des Adels beschreibt. Daher sind bereits seine beiden ersten Romane, Fünfkirchen (Jena 1936) über eine Gutsu. Dorfgemeinschaft in der Zeit von 1905 bis 1919 u. Die Mutter (Jena 1938. Düsseld. 1952) über das Schicksal einer Witwe in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, durch den Gedanken bestimmt, eine untergegangene Welt u. die ihr zugehörige Lebenshaltung litera-
risch festzuhalten. Diesen Themenkreis hat F. nie verlassen. Weitere Werke: Der Kranichschrei. Hbg. 1937 (N.). – Das harte Frühjahr. Jena 1937 (E.en). – Liebende. Mchn. 1949 (N.n). – Die Nonne. Mchn. 1949 (N.). – Schwanengesang. Roman einer versunkenen Heimat. Mchn. 1950 (R.). – Nur die Störche sind geblieben. Erinnerungen eines Ostpreussen. Mchn. 1994. Literatur: Rudolf Adolph: O. Graf v. F. In: Ostdt. Monatsh.e 23 (1956/57), S. 163 f. Walther Kummerow † / Red.
Finckh, Ludwig, * 21.3.1876 Reutlingen, † 8.3.1964 Gaienhofen; Grabstätte: Am Wanderweg von Reutlingen zur Achalm. – Lyriker u. Prosaschriftsteller (Heimatliteratur); Arzt. Der Apothekersohn studierte zunächst Jura in Tübingen, München sowie Leipzig u. danach in Freiburg i. Br. u. Berlin Medizin (Promotion 1904). Bereits 1900 hatte er mit Fraue du, du Süße (Dresden) seinen ersten, im Brettlstil gehaltenen Gedichtband veröffentlicht. 1905 ließ er sich mit seinem Studienfreund Hermann Hesse in Gaienhofen nieder. Für seine zweite Lyriksammlung Rosen (Stgt. 1906) schrieb Otto Julius Bierbaum ein launiges Vorwort u. bezeichnete F. als »echten Frauenlob«. Die eher anspruchslosen, aber sehr erfolgreichen Erzählungen Der Rosendoktor (Stgt. 1906) u. Die Reise nach Tripstrill (Mchn. 1911) markieren F.s Hinwendung zur Heimatliteratur. Nach dem Ersten Weltkrieg attackierte F. in seinen antirevolutionären Schriften u. Reden die Veränderungen in Deutschland u. fand v. a. bei der bünd. Jugend Beifall. Sein unreflektiertes Bekenntnis zum »Deutschtum« führte ihn zum einen ab 1922 auf Propagandareisen nach Osteuropa u. zur Glorifizierung der dort lebenden Deutschen (Bruder Deutscher. Stgt. 1925) u. zum anderen zur Verehrung der Vorfahren zuerst im Ahnenbüchlein (Stgt. 1921), die in der Forderung gipfelte, auf »gute Rasse«, »hochwertige Erbteile« u. »unverdorbenes Blut« zu achten. Die Nähe F.s zur NS-Ideologie zeigen auch seine die Verbundenheit mit der »Scholle« propagierenden Erzählungen. »Im Bauern-
Findeisen
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tum liegt der Keim unserer Wiedergeburt«, Findeisen, Kurt Arnold, * 15.10.1883 heißt es fast programmatisch in: Die Jakobs- Zwickau, † 18.11.1963 Dresden. – Erzähleiter (Stgt. 1920. U. d. T. Die Wolkenreiter 1943 ler, Lyriker u. Biograf. wiederaufgelegt). Die Freundschaft zu Hesse Der Sohn eines Angestellten beim Bergbau im kühlte deutlich ab. Während der NS-Zeit konnte F. trotz viel- Erzgebirge war nach dem Studium in Jena fältiger Förderung (u. a. erhielt er 1936 den zunächst Volksschullehrer in Plauen u. im Schwäbischen Dichterpreis) nicht mehr an Ersten Weltkrieg Krankenpfleger. Von 1925 seine früheren Erfolge anknüpfen. Seine Ah- an leitete er die Schulfunkabteilung des Mitnenbücher (Die Ahnenburg. Stgt. 1935) u. his- teldeutschen Rundfunks, bis er 1934 bei den torisierenden Romane (Ein starkes Leben. Tüb. Säuberungen nach dem sog. Röhm-Putsch 1936) wurden von der völkisch-orientierten entlassen wurde, da er mit der Herausgabe Literaturbetrachtung zwar herausgestellt, der Sammlung von Volksliedern u. Erzähfanden aber nur noch verhältnismäßig wenig lungen Braune Kameraden (Dresden 1934) auf die falsche Seite gesetzt hatte. Käufer. F.s umfangreiches, kämpferisch nationalNach 1945 wandte sich F. wieder seiner verklärenden Heimatliteratur zu (Schelmerei dt. Werk – ohne seine Herausgebertätigkeit am Bodensee. Ulm 1952), die allerdings trotz mehr als 80 Titel – umfasst Erzählungen, der Aktivitäten des 1955 gegründeten »Lud- Geschichten, historisch-biogr. Werke über wig-Finckh-Freundeskreises« keine überre- Dichter wie Seume u. Kleist sowie die Hergionale Beachtung mehr fand. Eine krit. ausgabe u. Pflege sächs. Dichtung u. HeiAuseinandersetzung mit dem Werk F.s fehlt. matkunde. In seinen Gedichten im Volkston In Süddeutschland sind noch zahlreiche verstand es F., behagl. WeihnachtsatmoStraßen nach ihm benannt. Im Hegau heißt sphäre u. volkstüml. Gemütlichkeit zu evoein Wanderweg nach ihm, weil er zwischen zieren (Das goldene Weihnachtsbuch. Lpz. 1929. 7 1935 u. 1939 im Bündnis mit Heinrich Erw. 1938. Herford 1985. Husum 2002). Held einer Reihe von Moritaten u. BänkelHimmler die Abtragung des (Basalt-)Bergs liedern F.s ist der eulenspiegelnde Wendelin Hohenstoffeln verhinderte. Weitere Werke: Himmel u. Erde. Stgt. 1961 Dudelsack (Wendelin Dudelsack. Bittersüße Verse. (Autobiogr.). – Gaienhofener Idylle. Erinnerungen Lpz. 1943). Viel gelesen wurde F.s Roman aus dem an Hermann Hesse. Reutl. 1981. Ausgaben: Das dichter. Werk. 7 Bde., Stgt. 1926. Erzgebirge Der Sohn der Wälder (Lpz. 1922. – Ausgew. Werke. 2 Bde., Stgt. 1956. – ... daß alle Bln./DDR 31974. Husum 41999), ein LebensroHarmonien leis erklingen. Nachgelassene Gedichte man des Raubschützen Karl Stülpner. Ein weiteu. Prosastücke. Hg. Gotthilf Hafner. Ulm 1956. – rer Aspekt seines fleißigen Schaffens waren Aus seinen Freundesbriefen. Ulm 1973. die zahlreichen – auch nach 1945 in der DDR Literatur: Gertrud Fink: L. F. Leben u. Werk. wiederaufgelegten – Romane über große Tüb. 1936. – Eugen Thurnher: Familiengeschichtl. Musiker, etwa über den in F.s Heimatstadt Fragen in den Werken L. F.s. Diss. Wien 1937. – Zwickau geborenen Robert Schumann u. Gotthold Wurster: Der dt. F. Leben u. Werk. Mchn. 1941. – Werner Dürr (Hg.): Aus der Stille kam dir über Schubert, Brahms, Bach u. Händel. F. Kraft. Stgt. 1956. – L. F. zum 100. Geburtstag am nutzte die Künstlerromane dabei häufig zu 21.3.1976. Ulm 1976. Eugen Wendler: L. F. Ein tagespolit. Propaganda. So nannte er in seiner Leben als Heimatdichter u. Naturfreund. Reutl. 1939 in Dresden erschienenen Erzählung 1985. Kurt Oesterle: Doktor Faust besiegt Shy- über die Ostlandfahrt des Paul Fleming von lock. Wie L. F. den Hohenstoffeln rettete u. wie der 1635 den dt. Einmarsch in Polen u. den Pakt Reichsführer-SS Heinrich Himmler als sein Me- mit der Sowjetunion eine Verteidigung des phisto ihm dabei half. In: Allmende 18 (1998), dt. »Erdenanrechts«. S. 238–271.
Hans Sarkowicz
Weitere Werke: Der Davidsbündler. Ein Robert-Schumann-Roman. 2 Bde., Lpz. 1921–24. – Dudelsack. Musikal. Balladen, Grotesken u. Liebesreime. Lpz. 1929. – Ich blas auf grünen Halmen.
Fink Ein K.-A.-F.-Buch. Hg. u. mit einem Vorw. v. Hans Christoph Kaergel. Bln. 1943 (mit Primär- u. Sekundärbibliogr.). – Wir zogen in das Feld. Bilder aus der Gesch. des dt. Soldatenliedes. Reutl. 1943. – Der Goldschmied Johann Melchior Dinglinger u. sein Glück. Biberach 1951. – Der goldene Reiter u. sein Verhängnis. Eine Romanchronik aus den Tagen des Barock. Bln./DDR 1954. 131990. Detlef Holland / Red.
Fink, Humbert, * 13.8.1933 Salerno/ltalien, † 16.5.1992 Maria Saal/Kärnten. – Verfasser von Gedichten, Romanen, Essays, Reisebüchern u. kulturpolitischen Kommentaren. Nach Kindheit u. Mittelschule in Kärnten begann der Sohn eines Industriellen ab 1953 in der Zeitschrift »Neue Wege« Gedichte zu veröffentlichen, in denen sich RealistischBildhaftes mit Surrealem verbindet u. deren rhythm. Sprache mit formalen Vorbildern bricht. Sein einziger Gedichtband blieb jedoch Verse aus Aquafredda (Klagenf. 1953). Der Roman Die engen Mauern (Stgt. 1958) ist die realist. Darstellung von Provinzialismus u. gescheiterten Ausbruchversuchen aus kleinbürgerlicher Enge, in der das »dumpfe Gesetz«, die Lebens- u. Freiheitsfeindlichkeit, herrschen. Nach seinem zweiten Roman Die Absage (Stgt. 1960) wandte er sich ausschließlich der kommentierenden Prosa u. der Reisebeschreibung zu. In Zornige Träume. Report über die Mittelmeerländer (Wien 1974) betrachtet F. kritisch die polit. u. soziale Realität des jeweiligen Landes. F.s Herausgebertätigkeit manifestiert sich in den »Österreichischen Blättern« (zus. mit Paul Kruntorad. Jg. 1, H.e 1–3, 1957/58), die als Gegenkonzept zu »Wort in der Zeit« gedacht waren u. weniger provinziell u. konservativ sein wollten. Ebenfalls mit Paul Kruntorad gab er ab 1959 die »Hefte für Literatur und Kritik« heraus. Gemeinsam mit Ernst Willner entwickelte F. 1977 die Idee des Ingeborg-BachmannPreises, den der ORF u. die Landeshauptstadt Kärntens ausrichten. Ab 1977 gab er zus. mit Marcel Reich-Ranicki (bis 1986) u. Willner die »Klagenfurter Texte« heraus. Daneben war er Mitarbeiter beim ORF u. bei der Wiener »Kronen-Zeitung«.
448 Weitere Werke: Stadtgesch.n. Auf den Spuren europ. Gesch. Tüb./Stgt. 1971. – Anatol. Elegien. Vom Bosporus bis Antiochia. Wien/Mchn. 1977. – Auf Pilgerstraßen durch Europa. Mchn. 1980 (R.). – Franz v. Assisi. Der Mann, das Werk, die Zeit. Mchn. 1981. – Martin Luther. Mchn. 1982. Neuaufl. Esslingen 1994. – Land der Deutschen. Reportagen aus einem sonderbaren Land. Innsbr./ Ffm. 1985. – Ich bin der Herr der Welt. Friedrich II. der Staufer. Mchn. 1986. – Macchiavelli. Eine Biogr. Mchn. 1988. Tb.-Ausg. 1990. – Franz Grillparzer. Ffm. 1990. – Auf den Spuren des Doppeladlers. Düsseld. 1992. 21994 (Sachb.). Rita Seuß / Red.
Fiorillo, Johann Dominicus, * 13.10.1748 Hamburg, † 10.9.1821 Göttingen. – Maler, Kunsthistoriker. F. regte in der Kunstliteratur nach Winckelmann den Paradigmenwechsel von der Antike zur Renaissance an u. trug so entscheidend zur Genese der Frühromantik bei. F. stammte aus einer ital. Künstlerfamilie. Nach seinem Malereistudium 1759–1769 in Bayreuth, Rom u. Bologna arbeitete er zunächst als Historienmaler am Braunschweiger Hof. 1781 ging er nach Göttingen, wo er ab 1784 das Kupferstichkabinett leitete u. bald auch Kurse gab. Durch seine Beförderung zum a. o. Prof. (o. Prof. erst 1813) wurde F. 1794 zum ersten dt. Hochschullehrer für Kunstgeschichte. Sein Hauptwerk, erschienen in Göttingen, ist die monumentale Geschichte der zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis in die neuesten Zeiten, deren 1. Teil (1798) die Römische u. Florentinische Schule thematisiert. Der 2. Teil (1801) behandelt Venedig u. die Lombardei, der 3. Frankreich (1803–05), der 4. Spanien (1806) u. der 5. England (1808). 1815–1820 erschienen weitere vier Bände zur Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den Niederlanden (Hann.). Dieses nach damaligem Standard außerordentlich akkurate, im Rahmen des Göttinger Projekts großer Wissenschaftsgeschichten situierte Werk knüpft an die Kunsthistoriografie Vasaris, aber auch an die Storia pittorica dell’Italia (1789) von Luigi Lanzi an, wobei F. eher die Zusammenhänge der regionalen Schulen u. die polit. Einflüsse auf die Kunstentwicklung
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Fischart
herausstellte. Das Manuskript der ersten 109 (1992), S. 115–130. – Renaissance in der Robeiden Bände redigierte August Wilhelm mantik. J. D. F., ital. Kunst u. die Georgia Augusta. Hildesh. 1993. – A. Hölter: J. D. F.s ›Geschichte der Schlegel. Für die Generation der Frühromantiker – zeichnenden Künstler‹ u. ihr Bild der Renaissance. In: Romantik u. Renaissance. Hg. S. Vietta. Stgt./ neben den Bürdern Schlegel bes. WackenroWeimar 1994, S. 99–115. – Antje Middeldorf Koder u. Tieck, die seine Vorlesung hörten u. segarten (Hg.): J. D. F. Gött. 1997. – Susanne Adina unmittelbar für die Herzensergießungen eines Meyer: La ›Storia delle arti de disegno‹ di J. D. F. kunstliebenden Klosterbruders sowie Franz Stern- Bologna 2001. – A. Hölter: F. In: AKL. – Claudia balds Wanderungen nutzten – war F.s Verge- Schrapel: J. D. F. Hildesh./Zürich/New York 2004. genwärtigung der ital. Renaissance so be- – Stefan Schweizer: J. D. F. In: DBE. deutsam, weil er auf der Basis einer enormen Silvio Vietta / Achim Hölter Quellenkenntnis u. umfänglicher Autopsie fachmännisch die gegenüber der Antike ei- Fischart, Johann, gen. Mentzer, Fischaert, genständige, z.T. überlegene Qualität von Piscator, eigentl.: Johannes Baptist Malerei u. Bildhauerkunst des 16. Jh. her- Friedrich Fischer, auch: J. F. G. M., H. ausstellte. Dabei machte er sich auch den Winhold Wüstbluot vom Nebelschiff, neuen historisierenden Blick auf die Quellen Huldrich Wisart, Huldrich Elloposcleros zunutze (Ueber die Quellen, welche Vasari benutzt Reznem, Jesuwalt Pickhart von Mentz, hat. In: Kleine Schriften artistischen Inhalts. Gött. Baptist Guisart, J. Noha Trauschiff von 1803). Zudem lenkte F. das Augenmerk auf Trübuchen, Artwisus von Fischmentzpolit. Faktoren, insbes. die kunststiftende u. weiler, * ca. 1547 Straßburg, † 1590 For-erhaltende Funktion der (kath.) Kirche, u. bach/Lothringen. – Publizist, Übersetzer, regte so die romant. Reflexionen über das Satiriker. Verhältnis von Kunst u. Religion mit an. Sein Begriff der »Erfindung« steht allerdings dem Der älteste Sohn eines aus Mainz stammenrationalist. Kunstbegriff eines Anton Raphael den wohlhabenden evang. Gewürzhändlers Mengs nahe u. hält noch deutlich vor der (Hans Fischer aus Mainz) wurde ca. 1547 in Schwelle der Romantik mit ihren Begriffen Straßburg geboren, besuchte vermutlich zuvon Kunstenthusiasmus u. produktiver Ein- nächst das Gymnasium seiner Heimatstadt u. bildungskraft: F. huldigt noch nicht dem – eventuell erst nach dem Tod des Vaters romant. Primat der Fantasie, sondern einer (1561) – die sicher nicht gleichwertige Latradtionellen »inventio«-Lehre. Auch Goethe, teinschule in Worms, wo ein entfernter Verdessen Nähe F. suchte, kritisierte an ihm das wandter, der »Paedagogus« Caspar Scheidt Übergewicht an Wissensstoff – es kommt in (Übersetzer von Friedrich Dedekinds zivilizahlreichen Rezensionen, Aufsätzen u. klei- sationskritischer Satire Grobianus), sein neren Schriften zum Ausdruck – über die »Praeceptor« war. F.s Studienzeit begann in Tübingen, wo er am 30.10.1564 immatriku»kunstreichen Charakterzüge«. Zweifellos aber vollzog sich mit F.s Werk liert wurde. Nachdem er im Juli 1566 das ein wichtiger Schritt hin zur u. a. in seinem Studium der Artes liberales mit vier SemesSchüler Rumohr verkörperten histor. u. ex- tern erfolgreich beendet hatte, reiste er nach Frankreich, um dort seine jurist. Studien akten Kunstwissenschaft des 19. Jh. aufzunehmen (von seinem Aufenthalt in PaAusgabe: J. Dominik F.: Schr.en. Nachdr. hg. v. ris zeugen zahlreiche Erwerbungen juristiAchim Hölter. 16 Bde., Hildesh./Zürich/New York scher Fachliteratur). Im Herbst 1567 wurden 1997–2007. die Protestanten aus Paris vertrieben; F. Literatur: Wilhelm van Kempen: J. D. F. In: kehrte daher (vielleicht mit einem Umweg NDB. – Achim Hölter: Der Romantiker als Student. Zur Identität v. zwei Tieck-Hss. In: DVjS 61 (1987), über London u. die Niederlande) zurück nach S. 125–150. – Silvio Vietta: Raffael-Rezeption in Deutschland, setzte sein Jura-Studium, wie er der literar. Frühromantik. In: FS Hans-Joachim selbst bezeugt, in Siena fort u. hat es verMähl. Tüb. 1988, S. 221–241. – A. Hölter: Goethe, mutlich dort (1568/69?) mit dem jurist. Meyer u. der Kunsthistoriker J. D. F. In: Goethe-Jb. Baccalaureat abgeschlossen. Durch den Ver-
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lust dreier zu Weihnachten 1569 in Straßburg abgebrannter Häuser (aus dem Erbe des Vaters) konnte sich F. die Promotion finanziell vorerst nicht leisten, wurde Autor (v. a. im Verlag Bernhard Jobins, seines Schwagers), Übersetzer u. Publizist. Im Frühsommer 1574 immatrikulierte sich F. an der Universität Basel, wo bereits im Juli/Aug. 1574 die Thesenverteidigung u. die öffentl. Disputation erfolgte. Am 14. Aug. wurde F. feierlich zum Dr. jur. ernannt. Bei dem glänzenden Ruf der Basler jurist. Fakultät, deren Absolventen eine gesicherte Laufbahn bevorstand, verwundert die lange Zeit, die F. benötigte, um eine seiner Ausbildung entsprechende feste Anstellung zu finden (für die er als Amtmann noch nicht einmal den Doktortitel benötigt hätte). Im Juni 1578 begegnet er in einer Liste von Praktikanten am Reichskammergericht in Speyer. Erst die Übersetzung der Daemonomania Jean Bodins (deren Vorrede er Aug. 1581 in Speyer unterzeichnete. Nachdr. der 2. Ausg. De Magorum Daemonomania: Vom Außgelasnen Wütigen Teüffelsheer. Straßb. 1591. Hg. Hans Bidermann. Graz 1973) u. die von ihm für den Druck durchgesehene (u. mit verwandten Schriften erweiterte) Ausgabe des lat. Malleus Maleficarum 1582 verschafften ihm die Anerkennung Egenolfs von Rappoltstein, die schließlich zur Anstellung im Herbst 1583 als Amtmann im kath. Forbach (Lothringen) führte. Mit Aussicht auf diese Stelle konnte F. auch eine Familie gründen: Am 11.11.1583 heiratete er Anna Elisabeth Herzog aus Wörth, Tochter des Chronisten Bernhard Herzog. Nach dem 17.3.1590, jedoch noch vor Jahresende, verstarb F. in Forbach: Sollte die kurze Einführung in die Flugschrift Nachdruck oder letzte Zeitung (Straßb.: Jobin 1590) F.s letzte journalist. Arbeit gewesen sein, so war er am 9. Sept. noch am Leben. Er hinterließ seiner Witwe (u. den beiden Kindern), nachdem er das Vermögen seines Vaters in den Studienjahren u. in der Zeit als mittelloser Praktikant am Kammergericht bis 1582 weitgehend aufgebraucht hatte, wohl nur den Bücherbesitz, eine kleine Erbschaft u. (geringe) Schulden, u. a. bei Buchhändlern u. Buchbindern in Frankfurt, Hagenau u. Speyer. Aus seiner von der Witwe sogleich verkauften stattl. Bi-
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bliothek von mehreren hundert (wenn nicht gar mehr als 1000) Bänden sind über 50 Bücher u. Flugschriften noch heute erhalten. Sein Porträt, in den 1580er Jahren nach einer Zeichnung von Christoph Murer als Holzschnitt ausgeführt, erschien erstmals 1607 in einer Neuauflage des Ehezuchtbüchleins. Zwei Jahrzehnte, von 1570 bis 1590, hat F. eine Fülle von publizistischen, wiss. u. satir. Texten verfasst, für den Druck eingerichtet, bevorwortet u. überarbeitet. Den Umfang seines Werkes zu bestimmen, fällt bis heute schwer: 48 seiner Schriften sind vom Verfasser mit einer Signatur versehen (Abwandlung des Namens: Anagramm, Palindrom, Gräzisierung, Devise »Alors comme alors«, mit den Initialen spielende Motti: »In Forchten gehts Mittel«, »Im Fischen gilts Mischen«, »Iove Foventer Gignitur Minerva«). Alle anderen Texte (meist kleineren Umfangs: Flugschriften u. Einblatt- oder Porträtdrucke, die gattungsbedingt ohne Verfasserangabe bleiben) sind ihm aufgrund stilistischer Merkmale zugeschrieben worden. Die Zahl der Zuweisungen reicht von 30 (so Seelbach/Hoffmann) bis zu 90 Texten (Gesamtzahl aller Nennungen). Die meisten Titel erschienen im Verlag seines Schwagers, des Formschneiders u. Druckers Bernhard Jobin, der eine der großen Offizinen in Straßburg leitete, die sich auf volkssprachige Literatur spezialisiert hatten. In enger Zusammenarbeit mit dem Künstler Tobias Stimmer, der die Holzschnitte schuf, entstanden zahlreiche bebilderte Werke u. Einblattdrucke. In konfrontativer bis spielerisch-iron. Auseinandersetzung mit den Literaten seiner eigenen Zeit, in engem Kontakt zu seinem Leserpublikum, dessen Vorkenntnisse u. Erwartungshaltungen er (auf je andere Register zugreifend) aufnahm, verfasste F. religionsu. staatspolit. Stellungnahmen aus reichsstädtischer, protestant. Perspektive, die gegnerische Anschauungen u. deren Verfechter mit subtiler Satire oder auch kräftiger, niederer Polemik in die Schranken weist. Belehrende u. aufklärende Gebrauchstexte zur Festigung der sittlich-moral. Werte u. zur Erweiterung des Bildungshorizonts der städt. Leser sind ebenso bei ihm zu finden wie sein reichhaltiges Sortiment an Unterhaltungs-
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schrifttum. Diese nicht selbst gefundenen, sondern erneuerten, übersetzten, erweiterten Texte anderer hat er als kongenialer, aber nicht immer den Absichten seiner Vorgänger gerecht werdender, von einer hedonist. Lust an Sprach- u. Wissensspielen stets die »copia verborum et rerum« bevorzugender Interpret aufbereitet für ein gewiss nicht anspruchsloses Publikum. Bis in die 1620er Jahre hielt das Interesse an seinen bisweilen universalgelehrt überfrachteten Satiren, Aller Praktik Großmutter (1572 bzw. 1574), dem Flöhhatz (1577. Hg. Alois Haas. Stgt. 1967), der Geschichtschrift (1575 bzw. 1590, s. u.), dem Podagrammisch Trostbüchlein (1577. Hg. Adolf Hauffen. 1894), dem Bienenkorb (1579), der Wunderlichst unerhörtest Legend (vom Jesuiterhütlein. 1580), durchaus an, erkennbar an den Neuauflagen (oft in verlegerischer Kontinuation des Jobin-Nachfolgers Johann Carolus) u. der zeitgenöss. Nachahmung seines Stils (angefangen beim Autor des Lalebuchs bis hin zu Wolfhart Spangenberg). Auch wenn der Übersetzer u. Bearbeiter F. den Ton der Satire des Philipp van Marnix, Biencorf der H. Rommsche Kercke, in seinen Zusätzen (»Mentzerkletten«) nicht immer durchhält u. von der ironischen »imitatio« abgleitet in die konfrontative Polemik, so war dieses Buch das erfolgreichste u. sicher auch der wichtigste Beitrag F.s zur Literatur seiner Zeit. Es wurde bis 1620 ein Dutzend Mal nachgedruckt (allein innerhalb des ersten Jahrzehnts erschienen fünf Ausgaben). Einen vergleichbar anhaltenden Erfolg hatten nur drei seiner Werke mit sittlichernsthaftem Anliegen: der Werbe-Text zur tourist. Attraktion des Astronomischen Uhrwerks im Straßburger Münster (Eigentliche Fürbildung. 1574), sein Philosophisch Ehzuchtbüchlein (1578. Hg. A. Hauffen. 1894), u. die Anmanung zu Christlicher Kinderzucht (1578) als Standardbeigabe zum luth. Katechismus der Kirchengemeinden Straßburgs. Anderthalb Jahrhunderte danach war F. nur noch ein Kuriosum am Rande, bis er Ende des 18. Jh. als »der komischte Kopf, [...] dergleichen Deutschland vorher und nach ihm nicht aufweisen kann« (Carl Friedr. Flögel) Text um Textschicht wiederentdeckt wurde, in seiner
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Sperrigkeit bis heute Leser abstoßend wie faszinierend. Die konfessionelle Streitliteratur bereicherte F. gleich mit seiner ersten Flugschrift, dem in den Straßburger Bischofsstreit eingreifenden Nacht-Rab (1570. Hg. Seelbach 1993), den er mit Rücksicht auf die örtl. Zensur in Ursel bei Frankfurt drucken ließ. Hingegen bekannte er sich in dem in der Erstfassung monströsen (fünfspaltig bedrucktes Plakat von 70 cm Länge) Einblattdruck des Barfüsser Secten- und Kuttenstreits (1570/71; ebd.) mit seinen Initialen als Gegner des streitbaren Franziskaners Johannes Nas u. seiner Anatomia Lutheri (1568). Weniger polemisch, eher von nicht minder wirksamer sanfter Ironie durchzogen ist die Reimchronik der Taten von Dominici und Francisci Leben (1571; ebd.), in der F. den Ursprungslegenden der Dominikaner u. Franziskaner den Boden der Prädestination u. Heiligkeit entzieht. Der iron. Gestus leitet dann über zu der liebevoll anteilnehmenden Nacherzählung des Eulenspiegel reimenweis (1572. Hg. Seelbach 2002), die auch ohne jede literar. Vorbildung von vorzüglichem Unterhaltungswert ist. In seinen beiden umfängl. Vorworten (anders als der Haupttext in schlichter Prosa) allerdings stellt F. seine Helden-Vita in die Tradition der iron. Enkomien (Ps.-Homer u. Ps.-Ovid), in die Nachfolge von Lukians Parasit u. Erasmus’ Lob der Torheit. Das Glückhafft Schiff von Zürich (1577. Hg. Alois Haas. Stgt. 1967) galt dem das Behagliche, Bürgerstolz u. betriebsamen Fleiß liebenden 19. Jh. als die eigentl. Glanzleistung des Autors. Die Pritschmeister-Dichtung über ein eher nebensächliches lokales Ereignis (ein städteübergreifendes Schützenfest in Straßburg erhielt in Rekordzeit – sinnfällig demonstriert an dem mitgebrachten, noch warmen Hirsebrei – den Besuch einer Rudermannschaft aus Zürich) war gleichwohl politisch bedeutsam: das dreifache Städtelob von Zürich, Bern u. Straßburg u. das kostbare Gut der Freiheit ist Gegenstand der ein Jahrzehnt später publizierten Ordenlichen Beschreibung/ Welcher gestalt die Nachbarliche Bündnuß [...] der dreyen Löblichen Freien Stätt [...] ist ernewert [...] worden (1588. Hg. Hauffen 1895).
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Der Fall der Affentheurlich Naupengeheurliche(n) Geschichtklitterung (zuerst u. d. T. Affenteurliche vnd Vngeheurliche Geschichtschrift 1575. 1582. 1590. Hg. Albert Alsleben. Halle 1891. Hg. Hildegard Schnabel. Halle 1969) spricht augenfällig gegen eine strikte Grenzziehung zwischen humanistischer Latinität u. unterhaltsam belehrender Volkssprache: Ein erzieherisches Programm ist diesem Riesenroman mit zwergenhaft verkümmerter Handlung nicht abzugewinnen, der Unterhaltungswert für Leser des Amadis oder Eulenspiegel mehr als fraglich. Der (bedrohlich) als »vberschrecklich lustig auf den Teutschen Meridian visirt(e)« Text F.s sucht die Gelehrsamkeit des Franzosen François Rabelais mit der Übersetzung, Ergänzung, Umspielung seines Gargantua (das zweite Buch der Pentalogie) an Genauigkeit u. Detailfülle zu übertrumpfen. Tatsächlich enthält die Geschichtklitterung eine (von Missverständnissen abgesehen) getreue Übertragung des Originals, doch um die Vorgänge bis zur Geburt des Helden auszuloten, nötigt F. seine Leser zu einer Aufholjagd durch das Wissen aller Zeiten u. Völker. Bevor Gargantua seine ersten Worte schreit, ist ein Drittel der Erzählzeit verbraucht. Was als Filterschwäche in der Wahrnehmung der Welt erscheinen könnte, was vielleicht nicht zu Unrecht als manieristische oder groteske Schreibweise verortet wurde, ist der Versuch des Erzählers, das monströse Anliegen des Romans sinnfällig zu machen: die Vergeblichkeit der Systematisierung von Wissen, die Unangemessenheit sprachlicher Zeichen, die Hilflosigkeit gnomischer Weisheit gegenüber den Abgründen der erfahrbaren Welt. Kindheit, Erziehung, Studium u. Heldentaten Gargantuas werden im weitern Verlauf zwar ebenfalls amplifiziert, doch nicht mehr im Übermaß u. ohne Beeinträchtigung des Leserblicks für den roten Faden. Die hinzugefügten Exempel, Exkurse u. Reihen bedienen je ein weiteres Unterkapitel der vom Erzähler aufgeschlagenen Enzyklopädie. Der Catalogus Catalogorum perpetuo durabilis (1590. Hg. Michael Schilling. Tüb. 1993) ist wohl F.s anspruchsvollstes Werk: es ist Zeugnis der höchsten Gelehrsamkeit seines Autors (einen Erzähler gibt es in dem para-
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textuellen, fiktiven Bücherkatalog nicht) u. erfordert hinsichtlich der Mitarbeit vom Rezipienten sowohl umfassende Latinität als auch enzyklopäd. Bildung. Hier zeigt sich vielleicht am deutlichsten, dass der Autor die Teilhabe an einer durchaus elitären Kultur beansprucht u. dies seinem Leser unmissverständlich verdeutlicht: »Indocti a Musis atque a Gratiis absunt« (Quintilian). Ausgaben: Sämtl. Dichtungen. [Reimdichtung] Hg. Heinrich Kurz. 3 Bde., Lpz. 1866/67. – Werke. Eine Ausw. Hg. Adolf Hauffen. 3 Bde., Stgt. [1895, 1893, 1894]. – Sämtl. Werke. Hg. Ulrich Seelbach u. a. Bern (Bd. 2: Stgt.-Bad Cannstatt) 1993 ff. – Einzelausgaben: Amadis. Nachdr. der Bde. 1–6. Ffm. 1569–1572. Bern 1988 (Bd. 6 übers. v. J. F.). – Kurtzer u. Woldienl. Vorbericht/ v. Vrsprung [...] der Emblematen. In: Mathias Holtzwart: Emblematum Tyrocinia. Hg. Peter v. Düffel u. Klaus Peter Schmidt. Stgt. 1968. 2006. Literatur: Adolf Hauffen: Zur Litt. der iron. Enkomien. In: Vjs. f. Litteraturgesch. 6 (1893), S. 161–185. – Ders.: F.-Studie XIV. Neue Belege zur Familiengesch. F.s. In: Euph. 19 (1912), S. 1–16. – Ders.: F.-Studie XV. In: Euph. 20 (1913), S. 332–356. – Ders.: F.-Studie XVI. In: Euph. 21 (1914), S. 463–490, 681–695. – Ders.: J.F. Ein Literaturbild. 2 Bde., Bln. 1921/22. – Albert Leitzmann: Fischartiana. Jena 1924. – Erich Kleinschmidt: Stadt u. Lit. in der frühen Neuzeit. Wien 1982. – Spätrenaissance am Oberrhein: Tobias Stimmer 1539–1584. Kat. Basel 1984. – Hans-Jürgen Bachorski: J. F. In: Killy. – Christian Hoffmann: Die Promotionsthesen J. F.s. In: Daphnis 19 (1990), S. 635–652. – Pia Holenstein: Der Ehediskurs der Renaissance in F.s ›Geschichtsklitterung‹. Krit. Lektüre des fünften Kapitels. Bern 1991. – Wilhelm Kühlmann: J. F. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 589–612. – Carlos Gilly: Über zwei Sebastian Franck zugeschriebene Reimdichtungen. In: Sebastian Franck (1499–1542). Wiesb. 1993, S. 223–238. – Christian Hoffmann: Bücher u. Autographen von J. F. In: Daphnis 25 (1996), S. 489–579. – Harry Oelke: Konfessionelle Bildpropaganda des späten 16. Jh.: Die Nas-F.-Kontroverse 1568/71. In: ARG 87 (1996), S. 149–200. – Josef K. Glowa: J. F.’s ›Geschichtklitterung‹. A Study of the Narrator and Narrative Strategies. New York 2000. – Achim Aurnhammer: J. F.s Spottsonette. In: Simpliciana 22 (2000), S. 145–165. – Ulrich Seelbach: Ludus lectoris. Studien zum idealen Leser J. F.s. Heidelb. 2000. – Ders.: Fremde Federn. Die Quellen J. F.s u. der Prätexte seines idealen Lesers in der Forsch. In: Daphnis 29 (2000),
453 S. 465–583. – Walter Schäfer: Die Nachwirkungen der Satire-Auffassung F.s im 17. Jh. In: Kühlmann/ Schäfer (2001), S. 389–408. – Nicola Kaminski: F.s ›Geschichtklitterung‹ zwischen Rabelais-imitatio u. -aemulatio mit des Gargantua vnnachzuthuniger stärck. In: Die Präsenz der Antike im Übergang v. MA zur Frühen Neuzeit. Hg. Ludger Grenzmann u. a. Gött. 2004, S. 273–304. – Thomas Bulang: Ursprachen u. Sprachverwandtschaft in J. F.s ›Geschichtklitterung‹ In: GRM 56 (2006), S. 127–148. Ulrich Seelbach
Fischer, Carl, * 6.6.1841 Grünberg/Schlesien, † 22.6.1906 Halle. – Autor proletarischer Lebenserinnerungen.
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lität u. Religiosität vor Augen: F. lehnt sich nur auf, wo ihm die göttl. Ordnung verletzt erscheint. Nach dem Erfolg der Denkwürdigkeiten (bald in 2. Aufl.) stellte Göhre eine Neue Folge (Lpz./Jena 1904) sowie die Skizzen Aus einem Arbeiterleben (Lpz./Jena 1905) zusammen. Literatur: Ursula Münchow: Frühe Dt. Arbeiterbiogr. Bln./DDR 1973. – Georg Bollenbeck: Zur Theorie u. Gesch. der frühen Arbeiterlebenserinnerungen. Kronberg/Ts. 1976, S. 109–136. – Tilman Westphalen u. Frank Woesthoff (Hg.): C. F. 1841–1906. 2 Bde., Osnabr. 1982. – F. Woesthoff: Prolet, Pietist, Prophet. Gött. 1995. Arno Matschiner / Red.
Nach Lehrzeit in der Wagenschmierfabrik seines Onkels, dann als Bäcker (GesellenprüFischer, Christian August, auch: C. Alfung 1859) bei seinem tyrann. Vater ging F. thing, Felix von Fröhlichsheim, F. Heauf Wanderschaft. 1863–1866 verdingte er benstreit, Adam Theobald Pruzum u. a., sich als ungelernter Erdarbeiter für einen * 29.8.1771 Leipzig, † 14.4.1829 Mainz. – Bahndurchstich. Weitere Wanderarbeit, eine Autor von Reiseberichten, Erzählungen u. Inhaftierung wegen Bettelei u. SpitalaufentFabeln. halte folgten. 1869 nahm F., auch wegen durchgelaufener Schuhsohlen, in Osnabrück Nach seinem Jurastudium in Leipzig feste Arbeit an: In einem Stahlwerk blieb er 1788–1792 unternahm F. als Kaufmann u. 15 Jahre, zuletzt als Steinformer, bis er aus Hofmeister Reisen durch Westeuropa u. Protest gegen die schlechten Arbeitsbedin- Russland. Eindrücke davon fanden Eingang gungen seinen Abschied nahm; danach Ab- in zahlreiche Reisebeschreibungen, u. a. Reise kocher bei den Eisenbahnwerken, fand er von Amsterdam über Madrid nach Cadiz und Ge1899, halbinvalid (»alte Maschine [...], die nua in den Jahren 1797 und 1798 (Bln. 1799. nun in den Schrott mußte«), bei seiner Komm. Neuausg. hg. v. Christian v. ZimSchwester in Jeßnitz ein Unterkommen. mermann. Heidelb. 1998). 1798 ließ er sich in Um den Lebensabend zu sichern, verfasste Dresden nieder, wurde 1803 in Jena Magister F. eine Autobiografie, die auf Vermittlung u. schließlich 1804 mit dem Titel eines MeiPaul Göhres, der das Manuskript nach Gut- ningschen Legationsrats Professor der Kuldünken redigierte u. kürzte, 1903 in Jena bei turgeschichte u. schönen Literatur in WürzDiederichs erschien (Ausstattung von Hein- burg. Seine 1808 geschlossene Ehe mit der rich Vogeler). Dem Verleger passten die literarisch tätigen Caroline Auguste Fischer kunstlosen, mit der Luthersprache als einzi- war von kurzer Dauer – wie auch sein Lehrger Orientierung verfassten Denkwürdigkeiten amt: 1809 wurde er zwangsemeritiert, nach und Erinnerungen eines Arbeiters des tiefreligiö- Wiedereinstellung 1818 brachte ihm das sen, politisch abstinenten, kaisertreuen F., in 1821 in Leipzig erschienene Buch Katzendas von ihm propagierte Konzept eines urspr. sprung von Frankfurt nach München im Herbst sozialen Organismus. Das bedeutende Zeug- 1820 wegen Beleidigung des Ministers von nis des Arbeiterlebens zur Zeit der Indus- Lerchenfeld sieben Jahre Festungshaft ein. trialisierung lässt sich gleichwohl als imma- Nach vorzeitiger Entlassung 1824 verbrachte nente Kritik an der drückenden Monotonie u. F. seinen Lebensabend als Privatgelehrter u. Ungerechtigkeit kapitalistischer Lohnarbeit freier Schriftsteller in Bonn, Frankfurt/M. u. lesen. Der »innere Zustände« aussparende, Mainz. detailrealistische Erfahrungsbericht führt Erwähnung verdienen von F.s Werken neden Zusammenhang von Untertanenmenta- ben seinen Erotischen Schriften (Lpz. 1807), die
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eine Adaption der galanten Romane der Aufklärung sind, aber sich auch stark an Epen Wielands wie Idris und Zenide anlehnen, v. a. seine Politischen Fabeln (Königsb. 1796). Diese in Prosa geschriebenen Stücke haben zwar nicht den kritisch-didakt. Impetus eines Pfeffel, sind aber ein exakter Spiegel des zeitgeschichtl. Geschehens. So finden sich darin listige Füchse in der Rolle von »Demokraten«, u. stechfreudige Mücken werden in der wohl bekanntesten Fabel Der Löwe und die Mücke als »Sansculotten« porträtiert. Weitere Werke: Die wahnsinnigen Könige. Histor. Gemählde. Königsb. 1796. – Über den Umgang der Weiber mit Männern. Lpz. 1800. Neudr. Hildesh. 1990. – Der Hahn mit neun Hühnern. Dramat. Tändeleyen. Köln o. J. [1800]. – Hannchens Hin- u. Herzüge, nebst der Gesch. dreier Hochzeitsnächte. 3 Bde., Dresden 1800 (R.). – Gustchens Gesch., oder eben so muß es kommen, um Jungfer zu bleiben. Stambul u. Avignon (recte: Posen) 1805. – Allg. unterhaltender CuriositätenAlmanach für 1825. Mainz 1825. Literatur: Goedeke 5. – Hamberger/Meusel 13. – Friedrich Laun: Memoiren. Bunzlau 1837. – Erwin Leibfried u. Josef M. Werle (Hg.): Texte zur Theorie der Fabel. Stgt. 1978. – Hans-Wolf Jäger: Lehrdichtung. In: Hansers Sozialgesch. der dt. Lit. Hg. Rolf Grimminger. Bd. 3, Mchn. 1980, S. 542 f. – Peter Höpgen: C. A. F. Wissenschaftler, Fabulist, Unterhaltungsschriftsteller. Trier 1998. – Josef Huerkamp u. Georg Meyer-Thurow: ›Die Einsamkeit, die Natur u. meine Feder, dies ist mein einziger Genuß‹. C. A. F., Schriftsteller u. Universitätsprof. Bielef. 2001. Michael Then / Red.
Fischer, Ernst, * 3.7.1899 Chomutov (heute Tschechische Republik), † 31.7. 1972 Deutschfeistritz/Steiermark; Grabstätte: Wien, Zentralfriedhof. – Essayist, Verfasser historischer, literaturgeschichtlicher u. ästhetischer Schriften; Übersetzer, Lyriker. Als ältester Sohn eines k. u. k. Offiziers in Graz aufgewachsen, ging F. 1927 als Feuilletonredakteur der »Arbeiter-Zeitung« nach Wien, wo er bald zum Idol der sog. »Linksopposition« u. der sozialist. Jugend wurde; nach dem österr. Bürgerkrieg von 1934 Kommunist geworden, emigrierte er mit seiner ersten Frau, Ruth von Mayenburg, nach
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Moskau. F., den nach eigener Deutung »die Wirklichkeit nötigte, das zu werden, was seiner Natur widersprach: ein Politiker«, kehrte 1945 nach Wien zurück, wurde erster Unterrichtsminister der Zweiten Republik u. blieb bis 1959 Abgeordneter des österr. Nationalrats, als dessen bester Redner er galt. In zweiter Ehe mit Lou Eisler verheiratet, schrieb F. in den 1960er Jahren aufsehenerregende Bücher, die ihm weltweites Ansehen als Vordenker eines undogmat. Marxismus brachten. 1969 wurde er wegen seiner unversöhnl. Kritik an dem von ihm so apostrophierten »Panzerkommunismus« aus der KPÖ ausgeschlossen. Über sein in die großen Hoffnungen u. großen Enttäuschungen der Epoche verstricktes Leben hat er in zwei äußerst selbstkritischen autobiogr. Büchern berichtet (Erinnerungen und Reflexionen. Reinb. 1969. Neudr. Ffm. 1987. Das Ende einer Illusion. Wien 1973. Neudr. Ffm. 1988). F. debütierte mit romantisch-utop. Gedichten (Vogel Sehnsucht. Wien 1920) sowie mit brillanten Polemiken, Kritiken u. Essays, die die besten Traditionen des österr. Feuilletonismus mit einer kämpferisch-polit. Haltung verbanden (erstmals ges. in: Literatur. Politik. Kultur. Frühe Schriften. Ffm. 1984). Im Moskauer Exil widmete er sich vorzugsweise der Geschichte, Kultur u. nat. Eigenständigkeit Österreichs, die er gegenüber weitverbreiteten »großdeutschen« Traditionen in Österreich zu begründen suchte (u. a. Die Entstehung des österreichischen Volkscharakters. Wien 1945). Als sein ästhetisches Hauptwerk gilt die in drei zunehmend undogmatischeren Fassungen vorliegende, viel übersetzte Studie Von der Notwendigkeit der Kunst (Hbg. 1967. Neudr. Ffm. 1985). Zgl. prägnant u. weitgespannt sind F.s meisterhafte Essays zur Literatur (u. a. Von Grillparzer zu Kafka. Wien 1962); seine lebenslange Beschäftigung mit der kontrovers gedeuteten Romantik gipfelte in Wesen und Ursprung der Romantik (hg. aus dem Nachl. Ffm. 1986). Zeitlebens war F. selbst Romantiker u. Revolutionär, Ästhet u. Politiker – u. dies im Widerstreit stets alles zgl.; sein eigenes lyr. Schaffen, zu dem auch kongeniale Baudelaire- u. Verlaine-Übersetzungen gehören,
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umfasst Liebeslieder ebenso wie die listigfiktiven Elegien aus dem Nachlaß des Ovid (Lpz. 1963). Weitere Werke: Krise der Jugend. Wien 1932. – Österr. 1848. Wien 1946. – Denn wir sind Liebende. Gedichte. Bln. 1952. – Dichtung u. Deutung. Wien 1953. – Zeitgeist u. Lit. Wien 1964. – Kunst u. Koexistenz. Reinb. 1966. – Auf den Spuren der Wirklichkeit. Reinb. 1968. – Was Marx wirklich sagte (zus. mit Franz Marek). Wien 1968. Ausgabe: Werkausg. in Einzelbdn. Ffm. 1984 ff. (8 Bde. bisher ersch.). Literatur: Günther Nenning: Dahinter beginnt die Wahrheit. Über E. F., Dichter, Kommunist u. Altösterreicher. In: Profil 18 (1987), Nr. 13, S. 50–52. – Thomas Mann. u. E. F.: ›Kunst oder Sozialismus?‹. Ein Briefw. zwischen E. F. u. T. M. In: Thomas-Mann-Jb. 3 (1990), S. 249–254. – Friederike Eigler: Individualismus u. polit. Engagement. E. F.s Positionen zum Austrofaschismus u. zum Anschluß. In: Austrian writers and the Anschluß. Hg. Donald G. Daviau. Riverside 1991, S. 207–223. – Jürgen Egyptien: E. F.s Grazer Jahre oder Die Erotisierung v. Lit., Politik u. Leben. In: Lit. in der Peripherie. Hg. v. der Thomas-KramerGesellsch. Wien 1992, S. 155–174. – Ders.: Realismus, Totalität u. Entfremdung. Zu einigen Differenzen in den ästhet. Theorien v. Georg Lucács u. E. F. In: Diskursüberschneidungen. Hg. Werner Jung. Bern 1993, S. 87–100. – Ders.: Die unvollendete Symphonie. Das Konzept einer österr. Identität u. nat. Souveränität in den Schr.en v. E. F. In: Österr.Konzeptionen u. jüd. Selbstverständnis. Hg. Hanni Mittelmann u. Armin A. Wallas. Tüb. 2001, S. 249–262. Karl-Markus Gauß / Red.
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ten Heinrich Glasmeier umfunktionierten Stift St. Florian. F. arbeitete nach dem Krieg zunächst als freier Journalist in Stuttgart. 1951–1957 war er beim Hessischen Rundfunk für die Hörerforschung zuständig. Danach lehrte er an verschiedenen Universitäten im Bereich Rundfunkkunde. F. entwickelte eine Dramaturgie der Hörfunkformen, die von dem Ideal eines pädagogischen, auf Breitenwirkung ausgerichteten Rundfunks ausging. Für das Hörspiel versprach er sich die stärkste Wirkung von der Darstellung psychischer Zustände u. Konflikte im »Stimmenspiel«. Er selbst experimentierte in den 1930er Jahren u. a. mit der handlungsfreien, chorischen Form des »Funkoratoriums«. In seiner Dramaturgie des Rundfunks (Heidelb. 1942) trat er zwar für das im propagandist. Rundfunk verdrängte Hörspiel ein, bestimmte aber als zentrale Aufgabe des Rundfunks die »Dramaturgie der Wirklichkeit« im aktuellen Bericht. Auch in der Nachkriegszeit betonte F. den publizist. Charakter des Mediums u. stellte dem Hörspiel der Verinnerlichung das Feature als gleichwertige Gattung gegenüber. Weitere Werke: Das Hörspiel. Form u. Funktion. Stgt. 1964. Literatur: Joachim-Felix Leonhard (Hg.): Programmgesch. des Hörfunks in der Weimarer Republik. 2 Bde., Mchn. 1997. Theresia Wittenbrink
Fischer, Friedrich Christoph Jonathan, * 12.2.1750 Stuttgart, † 30.9.1797 Halle. – Fischer, Eugen Kurt, * 6.1.1892 Stuttgart, Kulturhistoriker u. Jurist. † 15.11.1964 Stuttgart. – Redakteur, Nach dem Besuch des Gymnasiums seiner Rundfunkprogrammleiter u. -theoretiHeimatstadt absolvierte der Sohn eines ker. F. schloss sein Studium der Germanistik, Theater- u. Kunstgeschichte 1915 mit der Promotion ab. Zwischen 1919 u. 1929 war er als Redakteur am Dresdener »Kunstwart« u. als Feuilletonleiter in Chemnitz u. Königsberg tätig. 1929 übernahm F. die Leitung der literar. Abteilung des Leipziger Rundfunks, bis er im Herbst 1932 zur Reichs-RundfunkGesellschaft nach Berlin berufen wurde. Ab 1933 wirkte er als Sendeleiter in Berlin, Köln, Saarbrücken, 1942–1945 als Bibliothekar in dem zum Sitz des Reichsrundfunkintendan-
württemberg. Hofkammerrats 1764–1768 eine prakt. Verwaltungsausbildung bei einem Beamten auf dem Land. Anschließend studierte er in Tübingen die Kameralwissenschaften, wandte sich jedoch bald der Rechtswissenschaft zu. 1775 ging F. nach Wien, wo er seit 1776 als Sekretär der badischen Gesandtschaft arbeitete. Hier wurde er in den polit. Streit um die bayr. Erbfolge verwickelt u. musste Wien 1778 verlassen. In mehreren Schriften hat sich F. in der Folge mit dieser Problematik befasst, so z.B. in Versuch über die Geschichte der teutschen Erb-
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folge (2 Bde., Mannh. 1778). Nach kurzer Tätigkeit als zweibrückenscher Legationssekretär in München wurde er 1779 o. Prof. für Staats- u. Lehnsrecht in Halle, wo er bis zu seinem Tod lebte u. sich mit fächerübergreifenden kulturhistor. Werken einen Namen machte. Neben der materialreichen Geschichte des teutschen Handels (4 Tle., Hann. 1785–92. 2., verb. Aufl. der Tle. 1 u. 2, Hann. 1793 u. 1797) verfasste er eine populäre Geschichte Friedrichs des Zweiten, Königs von Preussen (2 Tle., Halle 1787) u. die kulturgeschichtlich interessante Studie Probenächte der teutschen Bauernmädchen (Bln. u. Lpz. 1780), die häufig neu aufgelegt wurde (zuletzt RottenburgWurmlingen 1983). Weitere Werke: Über die Gesch. des Despotismus in Teutschland. Halle 1780. Neudr. Aalen 1969. – Kleine Schr.en aus der Gesch., dem Staatsu. Lehenrechte. 2 Bde., Halle 1781. – Sitten u. Gebräuche der Europäer im 5. u. 6. Jh. Frankf./O. 1784. – Lehrbegrif [sic] sämtl. Kameral- u. Polizeyrechte. 3 Bde., Frankf./O. 1785. Literatur: Johann Christian Koppe: Lexicon der jetzt in Teutschland lebenden Jurist. Schriftsteller u. akadem. Lehrer. Bd. 1, Lpz. 1793. – Eckhard Derday: Die Darstellung des Handelsrechts im ›Lehrbegrif sämtlicher Kameral- und Policeyrechte‹ v. F. C. J. F. Diss. Mainz 1975.
fentlichte er eine Vielzahl theologischer, philosoph., pädagog., astronom. u. histor. Abhandlungen in eigenen Zeitschriften (»Fliegende Blätter für Freunde der Toleranz, Aufklärung und Menschenverbesserung«, 1783/84. »Halberstädtische Gemeinnützige Blätter. Zum Besten der Armen«, 1785–1800. »Teutsche Monatsschrift«, 1790–94). Aufklärerischen Impetus verrät auch F.s Erziehungsroman Olavides und Rochow (Halberst. 1779); seine Gelegenheitsgedichte (Gottlob Nathanael Fischers auserlesene Gedichte. Hg. Christian Friedrich Bernhard Augustin. Halberst. 1805 u. a.) orientieren sich dagegen an Klopstocks antikisierenden Formen u. imitieren dessen Hymnensprache ebenso wie Gleims patriot. Töne. F. beteiligte sich auch am Xenien-Streit; seine Parodien auf die Xenien (Halberst. 1797) tadeln Goethes Leichtfertigkeit, Schillers schwärmerische Metaphysik u. Fichtes undurchsichtige Philosopheme vor dem Hintergrund aufgeklärter Welt- u. Moralvorstellungen. Beachtung haben freilich auch sie kaum gefunden. Literatur: Meusel 3, S. 354–361 (mit Werkverz.). Adrian Hummel / Red.
Fischer, Heinrich Ludwig, * 4.8.1762 Köthen, † 19.1.1831 Breinum bei Hildesheim. – Pfarrer, pädagogischer SchriftFischer, Gottlob Nathanael, * 12.1.1748 steller, Volksaufklärer. Graba bei Saalfeld, † 20.3.1800 HalberF. besuchte von 1774 an die lat. Schule des stadt. – Publizist; Gelegenheitsdichter. Christoph Weiß / Red.
F. entstammte einer traditionsreichen Predigerfamilie. Nach dem Besuch der Saalfelder Stadtschule (1758–1763) wechselte er an das Gymnasium des Halleschen Waisenhauses (1763–1766), später an die Universität Halle (1766–1769). Weitverzweigte theolog., geistes- u. naturwiss. Studien erbrachten eine Anstellung als Lehrer am Pädagogium des Waisenhauses (1769–1775). Schließlich bewog ihn die Freundschaft mit Gleim zur Übersiedelung nach Halberstadt (1775). Hier avancierte er zum Rektor der bekannten Domschule (1783–1800). F.s Ansehen beruhte auf seinem selbstlosen Einsatz für die Verbreitung neuester Wissensbestände unter den bürgerl. Leserschichten Halberstadts. Zu diesem Zweck veröf-
Waisenhauses in Halle u. studierte seit 1779 an der dortigen Universität Theologie. Nach einer ersten Tätigkeit als Lehrer am Waisenhaus wurde er 1783 Ausbilder von Landschullehrern am neu gegründeten Seminar in Köthen u. Prediger am Armenhaus. Bis 1798 übte er verschiedene Lehrtätigkeiten aus, u. a. war er seit 1790 zweiter Inspektor des Landschullehrerseminars in Hannover. Danach hatte er bis zu seinem Lebensende verschiedene Pfarrstellen im Hildesheimischen inne. 1797 wurde er Ehrenmitgl. der physikalischökonomischen Gesellschaft in der Oberlausitz. Seine publizist. Tätigkeit begann F. 1781 als Gründer des »Gemeinnützigen Anhaltischen Wochenblattes«. Es folgten Anweisungen für Landschullehrer, zur Verbesserung des bis-
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herigen Unterrichts (2 Tle., Lpz. 1789–91). Berühmt wurde er durch Das Buch vom Aberglauben (Tl. 1, Weißenburg 1790. Lpz. 21791. Tl. 2, Hann. 1793), mit dem er sich als Volksaufklärer betätigen sowie »practische Vorurtheile« bekämpfen wollte. Diesem Thema blieb F. in zahlreichen Schriften treu, in denen er durch die Vermittlung von Kenntnissen in der Naturlehre zur »Dämpfung des Aberglaubens« beitragen wollte. Schließlich erschienen als »Anhang zu dem Buch vom Aberglauben« Beiträge zur Beantwortung der Frage: ob Aufklärung schon weit genug gediehen oder vollendet sey? (Hann. 1794), mit denen er angesichts der durch die Umwälzung in Frankreich auch in Deutschland grassierenden Revolutionsfurcht für eine Fortführung der Volksaufklärung eintrat. Weitere Werke: Vermischte Aufsätze [...]. Ein Lesebuch für gesellschaftl. Zirkel. 2 Bde., Eisenach 1792. – Anweisung, die christl. Glaubens- u. Sittenlehre practisch zu behandeln. Hbg. 1793. – Geschichtsbüchlein für Kinder u. Volksschulen. Hbg. 1793. – Naturgesch. u. Naturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens. Hbg./Kiel 1793. – Neues geograph. Lehr- u. Lesebuch für Kinder u. Volksschulen [...]. Altona 1794. – Die Reiche der Natur, ein Lehr- u. Lesebuch für Kinder. 3 Tle., Schwerin 1795–97. – Katechismus des Haushaltes u. Ackerbaues, zum Gebrauch in Schulen. Braunschw. 1797. – Bauernphilosophie, oder gemeinnütziger Unterricht für Bürger u. Landleute [...]. 2 Bde., Lpz. 1800. – Der Jahrmarkt, ein Lehr- u. Lesebuch für alle Stände, die Gutes thun, u. Böses meiden wollen. Gött. 1800. Literatur: Joachim v. Schwarzkopf: Ueber polit. Ztg.en u. Intelligenzblätter in Sachsen, Thüringen, Hessen u. einigen angrenzenden Gebieten. Gotha 1802. – Heinrich Wilhelm Rotermund: Das gelehrte Hannover. Bd. 2, Bremen 1823, S. 43 f. Holger Böning / Red.
Fischer, Johann Georg, * 15.10.1816 Groß-Süssen/Württemberg, † 4.5.1897 Stuttgart; Grabstätte: ebd., Pragfriedhof. – Lyriker u. Dramatiker. 1831–1833 besuchte F., Sohn eines Zimmermanns, das Lehrerseminar Esslingen; anschließend war er Schulgehilfe. 1841 nahm er in Tübingen das Studium der Naturwissenschaften u. der Literatur auf, das er 1845 mit dem Reallehrerexamen abschloss. Danach
wurde F. Lehrer an der Elementarschule Stuttgart, ab 1858 deren Leiter. Aus seiner 1848 geschlossenen Ehe mit der Pfarrerstochter Auguste Neubert ging der Sohn Hermann hervor, der sich als Herausgeber des Schwäbischen Wörterbuches (Tüb. 1904 ff.) einen Namen machte. Ab 1861 unterrichtete F. an der Oberrealschule Stuttgart. Den philosoph. Doktorgrad erwarb F. 1857 in Tübingen aufgrund seiner eingereichten Gedichte u. Aufsätze über das Leben der Vögel sowie das Verhältnis der modernen zur klass. Poesie. Anlässlich seines 80. Geburtstags ernannte ihn die dortige naturwiss. Fakultät zu ihrem Ehrendoktor. Leidenschaftlicher Schiller-Verehrer (u. a. hielt er zahlreiche Reden zu Schiller-Festen), war F. einer der Wegbereiter für die Errichtung des Schiller-Nationalmuseums in Marbach (wo auch sein literar. Nachlass aufbewahrt wird). Seinen Ruf als Lyriker begründete F., der noch Hölderlin begegnet war, mit der Sammlung Gedichte (Stgt. 1854), die durch seine Aufnahmefähigkeit für Sinnesnuancen geprägt sind. Naturerleben u. Eros sind Konstanten seines lyr. Œuvres, das sich in idyllischer Anlage u. lockerem Plauderton an Mörike anlehnt. F. schrieb auch Dramen mit zeitpolit. Tendenz wie Friedrich der Zweite von Hohenstaufen (Stgt. 1863), das die Opposition von historisch gewachsenem Rechtszustand u. aufgeklärtem Despotismus gestaltet, u. Florian Geyer, der Volksheld im deutschen Bauernkrieg (Stgt. 1866). Weitere Werke: Kaiser Maximilian v. Mexiko. Stgt. 1868 (Trauersp.). – Neue Lieder. Stgt. 1876. – Auf dem Heimweg. Stgt. 1891 (L.). – Mit achtzig Jahren. Stgt. 1896 (L.). Literatur: Hermann Fischer: Erinnerungen an J. G. F. Tüb. 1897. – Otto Güntter: J. G. F. In: Schwäb. Lebensbilder. Hg. Max Miller u. Robert Uhland. Bd. 6, Stgt. 1957, S. 367–385. – Goedeke Forts. Helmut Keller / Red.
Fischer, Johann Karl Christian, * 13.10. 1752 Leipzig, † 30.9.1807 Güstrow. – Schauspieler u. Theaterdichter. Die Informationen zur Person differieren stark. Mehreren Angaben zufolge studierte F. zunächst in Leipzig bei Gellert (1768) u. ver-
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dingte sich anschließend bei norddt. Thea- Gianetta. 3 Tle., Lpz. 1798). Zur Freimaurerei tergesellschaften als Schauspieler u. Theater- bezog er Stellung in Eleusinien des 19. Jahrdichter (1768–1778). F.s übrige Wirkungs- hunderts (2 Bde., Bln. 1802/03); eine Opitzstätten lassen sich nur mehr näherungsweise Biografie blieb unveröffentlicht. Schließlich bezeichnen: Jedenfalls folgte anstellungslo- gründete F. auf eine Anregung Brentanos hin sen Jahren in Güstrow (1778–1785?) ein die »Friedensblätter. Eine Zeitschrift für LeAufstieg zum Theaterdirektor von Schwerin ben, Literatur und Kunst« (Wien 1814/15. (1790–1795?); nach Güstrow zurückgekehrt, Neudr. Bern 1970). Sie war zum Publikatiwurde der begabte Musiker dort Organist onsorgan der literar. Avantgarde (Brentano, Eichendorff, Kleist, Zacharias Werner u. a.) (1800). In seiner Eigenschaft als Theaterdichter bestimmt; seiner national-dt. Ausrichtung verfasste F. Dramen u. Singspiele (Ideale wegen blieb diesem österr. Journal allerdings menschlicher Güte. Ein Schauspiel für Kinder. der Erfolg versagt. Rostock 1781. Gellerts Denkmal. Ein Epilog mit Literatur: Josef Körner: Die Wiener ›FriedensGesang und Tanz. o. O. u. J.) im Geiste der po- blätter‹ 1814–15, eine romant. Ztschr. In: Ztschr. pulären Aufklärung, oft nach frz. Vorbildern. für Bücherfreunde 14 (1922), S. 90–98 (mit BiblioSein Briefroman Briefe an seine Lieben (2 Bde., gr.). Adrian Hummel / Red. Stralsund 1776) imitiert Sprache u. Weltgefühl von Goethes Werther. Bekannt wurde F. durch Sagensammlungen wie Mecklenburgische Fischer, Kuno (Ernst Berthold), * 23.7. Sagen der Vorzeit (Rostock/Lpz. 1795) u. seine 1824 Sandewalde/Schlesien, † 5.7.1907 Predigten für Schauspieler (Lübeck 1788). Darin Heidelberg; Grabstätte: ebd., Bergfriedfordert F. die gesellschaftl. Aufwertung der hof. – Philosoph u. Literarhistoriker. Darsteller u. eine qualitative Verbesserung des Spielplans an kleinen Bühnen. Der Sohn eines evang. Pfarrers begann nach Literatur: Carl Schröder: Mecklenburg u. die Schulausbildung in Posen 1844 das Studium Mecklenburger in der schönen Lit. Bln. 1909 (mit der Philologie in Leipzig, wechselte jedoch Werkverz.). – Eike Pies: Principale. Ratingen 1973. schon 1845 nach Halle. Er verlagerte seinen Adrian Hummel / Red. Studienschwerpunkt auf die Philosophie u. hörte bes. bei Johann Eduard Erdmann. 1847 promovierte F. mit der Arbeit De Parmenide Fischer, Johann Karl Christian, auch: Platonico (Stgt. 1851). Schon während des Gustav Fredau, * 1765 Oels/Schlesien, Studiums setzten Publikationen zu literari† 8.10.1816 Wien-Meidling. – Prosaschen u. philosoph. Tagesaktualitäten ein, schriftsteller u. Publizist. z.B. über Ruge u. Feuerbach. Seit 1848 war F. F.s nähere Lebensumstände liegen großteils als Hauslehrer in Pforzheim zur Finanzieim Dunkeln. Mit ziemlicher Sicherheit war er rung seiner Habilitation, die 1850 an der 1789–1797 Konrektor in Hirschberg/Schlesi- Universität Heidelberg angenommen wurde. en. Eine Stelle als Königlich Preußischer 1852 legte er den ersten Band seiner später 1904 abgeschlossenen Hofrat u. seinen Berliner Wohnsitz gab er zu hochgerühmten, einem unbestimmten Zeitpunkt wieder auf. zehnbändigen Geschichte der neuern Philosophie Seine letzten Lebensjahre verbrachte er an- (Heidelb. Neudr. Nendeln 1973) vor. 1853 wurde F. wegen des Verdachts theologischscheinend als Privatgelehrter in Wien. F. war mit führenden Persönlichkeiten der politischer Radikalität die Lehrerlaubnis literar. Romantik (Brentano, August Wilhelm entzogen. An der nachfolgenden breiten UnSchlegel, Jacob Grimm) befreundet. Unter terstützungskampagne für F. beteiligten sich dem Einfluss ihrer Dichtungsmaximen pu- u. a. seine Heidelberger Kollegen Gervinus u. blizierte F. philosophisch überfrachtete Er- Schlosser, aber auch Boeckh in Berlin. zählungen (Kleine Scenen. Breslau/Lpz. 1793) Schließlich wurde er 1856 in Jena als o. Prof. u. Romane (Die Pfleglinge der Heiligen Katharina bestallt. 1872 nach Heidelberg zurückberuvon Siena. Lpz. 1794. Graf Pietro d’Albi und fen, lehrte er dort erfolgreich bis 1904.
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F.s philosophischer Standpunkt wandelte Rechte. Stgt.-Bad Cannstatt 1962. – Reinhold sich im Laufe seines Lebens erheblich: Vom Hülsewiesche: System u. Gesch. Leben u. Werke K. »linken« Hegelianer zu einem der Begründer F.s. New York u. a. 1989. – Goedeke Forts. – Enrico des Neukantianismus mit klaren kulturphi- A. Colombo: Logica e metafisica in K. F. Mailand 2004. Reinhold Hülsewiesche / Red. losoph. Perspektiven. Neben seiner monumentalen Philosophiegeschichte u. philosophisch-systemat. Einzelwerken, deren verschiedene Auflagen seine Entwicklung spie- Fischer, Marie Louise, * 28.10.1922 Düsgeln, schrieb F. literarhistor. u. -krit. Essays, seldorf, † 2.4.2005 Prien am Chiemsee. – die sich zuerst mit Zeitgenossen (Freytag Verfasserin von Unterhaltungs- u. Juu. a.), später ausschließlich mit den klass. gendliteratur. Dichtern Shakespeare, Lessing, Goethe, Nach dem Studium der Germanistik, TheaSchiller befassten, denen er mit einem hohen terwissenschaften u. Kunstgeschichte schrieb Maß an Identifikation begegnete. In diesen F. seit Mitte der 1950er Jahre mehr als 100 Arbeiten entwickelte er eine interpretator. Unterhaltungs- u. Kriminalromane, mehr als Essayistik, deren Kategorien in Germanistik 45 Jugend- u. Sachbücher. Ihre Werke wuru. Philosophie nachwirkten. Der Schwer- den in 23 Sprachen übersetzt u. erreichten punkt lag auf den Zusammenhängen zwi- eine Gesamtauflage von über 70 Mio. Exemschen der Lebenssituation der Autoren u. plaren. F. war mit dem Schriftsteller Gustl dem jeweiligen Werk. So bilden z.B. »das Kernmayr († 1977) verheiratet u. lebte seit Genie eines Dichters«, Goethe, u. sein Stoff, den 1960er Jahren in Samerberg/Oberbayern. In für die Trivialliteratur charakteristischer Faust, »der im Genie Goethes prädeterminiert war«, in F.s Vorstellung eine Einheit Weise kennzeichnen auch F.s Romane die (Goethes Faust. Stgt. 1878, S. 37 f.). Seine ent- Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren u. die wicklungs- u. kulturgeschichtl. Arbeitsweise, auf ein Happy-End zielende Handlungsfühdie später von Dilthey methodisch ausgebaut rung. Eine Ausnahme stellt ihr historischer wurde u. die sich an der Herausarbeitung der Roman Das Dragonerhaus (Mchn. 1977. KlaRolle der »Einbildungskraft des Dichters« u. genf. 1992 u. ö.) dar, der das Leben des bayr. der Darstellung einer »Gestalt des geistigen Landadels im ausgehenden 18. Jh. mit kulLebens« zeigt (Schiller als Philosoph. Heidelb. turhistor. Details veranschaulicht. Einige ih1892, S. 33), stieß nicht auf die Zustimmung rer Stoffe wurden verfilmt, u. a. der Roman 23 der zeitgenöss. Philologen. F.s Streit mit Frauenstation (Mchn. 1966. 1989. Überarb. 8 Düntzer auf dem Gebiet der Goethephilolo- Ausg. 1990. 1993), der dem traditionellen gie legt davon beredtes Zeugnis ab. Die Wir- Ärzte-Klischee des »Halbgottes in Weiß« kung seiner literar. Essays wie die der Philo- zeitgenöss. Variationen abgewinnt. Weitere Werke: Romane: Wildes Blut. Zürich sophiegeschichte fand ihre scharfe Grenze 1967. Mchn. 1970. 261992. Bergisch Gladbach 2000 mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Weitere Werke: Diotima. Die Idee des Schönen. Pforzheim 1849. – System der Logik u. Metaphysik oder Wissenschaftslehre. Stgt. 1852. Heidelb. 2 1865. Neuausg. Heidelb. 1998. – Anti-Trendelenburg. Jena 1870. – Goethe-Schr.en. 3 Reihen, Heidelb. 1890–1903. – Philosoph. Schr.en. 5 Bde., Heidelb. 1891/92. – Kleine Schr.en. 3 Reihen, Heidelb. 1901 (enthält die Shakespeare- u. LessingSchr.en). – Schiller-Schr.en. 2 Reihen, Heidelb. 1891/92. Literatur: Hugo Falkenheim: K. F. u. die literarhistor. Methode. Bln. 1892. – Bruno Bauch: K. F. Jena 1924. – Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Hbg. 71978. – Hermann Lübbe: Die Hegelsche
u. ö. – Und so was nennt ihr Liebe. Zürich 1972. – Alles, was uns glücklich macht. Mchn. 1974. 14 1995. – Diese heiß ersehnten Jahre. Mchn. u. a. 1976. Stgt. 1985 u. ö. – Dreimal Hochzeit. Hbg. 1977. Bearb. Neufassung Mchn. 1982. 101992. – Geliebter Heiratsschwindler. Mchn. 1980. Neuausg. 1983. 121994. – Die Rivalin. Mchn. 1980. 7 1987. Klagenf. 1992. – Ehebruch. Mchn. 1980 u. ö. Sonderausg. St. Augustin [1997]. – Die Leihmutter. Bergisch Gladbach 1986. 1991. 2001 u. ö. – Mädchenträume. Mchn. 1990 u. ö. – Das Geheimnis der Greta K. Bergisch Gladbach 1990 u. ö. Sonderausg. Köln 2000. – Späte Liebe. Gütersloh [1990]. Mchn. 1991. 81995 u. ö. – Sanfte Gewalt. Mchn. 1992. 8 1995 u. ö.
Fischer Literatur: Liselotte Denk (Hg.): Auf der Suche nach Morgen. Begegnungen mit Prominenten. Mchn. 1981. – Dies. (Hg.): M. L. F. Die Autorin u. ihr Werk. Information, Zeugnis, Kritik. Mchn. 1982. – Gisela Elsner: Das lukrative Gewerbe einer Kerkermeisterin. Über die Dauerseller, die Verleger u. die Leser v. M. L. F. In: Dies.: Gefahrensphären. Wien 1988, S. 110–137. Andrea Stoll / Red.
Fischer, Marthe Renate (Auguste), * 17.4. 1851 Zielenzig/Mark Brandenburg, † 7.7. 1925 Rudolstadt. – Erzählerin. Die Tochter eines verarmten Gutsbesitzers wurde zunächst als Jugendbuchautorin bekannt, bes. mit der »Erzählung für junge Mädchen« Die Jüngste des Kleeblatts (Stgt. 1894). Seit den 1890er Jahren gründete sich ihr Ruf zunehmend auf ihre Bauern- u. Heimatromane, die thüring. Verhältnisse schildern. 1890 erschien der Roman Die Aufrichtigen. Eine Bauerngeschichte (Stgt.); es folgten u. a. Das Patenkind (Stgt. 1907) u. Die Blöttnertochter (Stgt. 1913. Bln. 1977. 21978. Neuausg. beider Werke u. d. T. Erzählungen. Breslau 1943). Die Romane Wir ziehen unsere Lebensstraße (Stgt. 1920) u. Hört, was die Scholle spricht (Stgt. 1925) markieren F.s Übergang vom (christl.) Heimatroman zum Typus der Blut- u. Bodenliteratur, die ihre Popularität im Dritten Reich begründeten. Einzelne Romane wie Die aus dem Drachenhaus (1910. Zuletzt Bln. 1967. 2 1969) wurden bis in die zweite Hälfte des 20. Jh. von christl. Verlagen weiter verlegt. Weitere Werke: Die kleine Helma Habermann. Stgt. 1–31923. Neuausg. Bln./DDR 1965 (R.). – Die Liebesüße. Stgt. 1925 (N.). Literatur: Peter Zimmermann: Der Bauernroman. Antifeudalismus – Konservatismus – Faschismus. Stgt. 1975. Eda Sagarra
Fischer, Ruth, eigentl.: Elfriede Golke, * 11.12.1895 Leipzig, † 13.3.1961 Paris. – KPD-Politikerin u. politische Publizistin. Die Tochter des österr. Philosophen Rudolf Eisler u. Schwester des Komponisten Hanns Eisler u. des Politikers Gerhart Eisler (KPD/ SED) wuchs in Wien auf. 1918 war F. Gründungsmitgl. der KPDÖ. Politische Karriere machte sie bei der KPD, die sie 1921 zur Vorsitzenden der Berliner Parteiorganisation
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wählte. 1924–1926 gehörte sie dem Präsidium der Komintern an u. war 1924–1928 Abgeordnete im Deutschen Reichstag. Zwei Jahre lang (1924/25) betrieb sie zus. mit Arkadij Maslow als Spitzenfunktionärin eine kompromisslose Politik der Bolschewisierung der KPD. Im Zuge von Stalins Abrechnung mit dem linken Flügel wurde F. 1925 aus dem Politbüro ausgeschlossen u. 1925/26 in Moskau festgehalten. Sie entkam nach Berlin u. wurde 1926 als Linksoppositionelle aus der KPD ausgeschlossen. Nach der nationalsozialist. Machtergreifung 1933 in die Emigration getrieben, lebte sie 1933–1940 in Paris u. floh dann in die USA, wo sie bis zu ihrer Rückkehr nach Frankreich wissenschaftlich u. publizistisch für die Harvard University arbeitete. Das eigene Beteiligtsein, Vertrautheit mit dem Apparat u. die Kenntnis der Akteure sind die Stärke ihres Hauptwerks Stalin and German Communism (Cambridge/Mass. 1948. Dt. Ffm. 1950). Die späteren Analysen Von Lenin zu Mao (Düsseld./Köln 1956) u. Die Umformung der Sowjetgesellschaft (Düsseld./Köln 1958) setzten Hoffnung auf einen erneuerten, entstalinisierten Kommunismus u. sind Zeichen für den Glauben des alten österr. Linkskommunismus an den »Neuen Menschen« in Rotchina. Trotz ihrer spektakulären Biografie zwischen linksradikalem Engagement u. Stalinkritik ist F. heute kaum mehr bekannt, obwohl sie sich im Nachkriegsdeutschland durch Publikationen u. Vorträge erneut einen Namen machte. Weitere Werke: Sexualethik des Kommunismus. Wien 1920. – Dt. Kinderfibel (zus. mit Franz Heimann). Bln. 1933. – Stalin’s Rise to Power. London 1951. Literatur: Ladislaus Singer: Marxisten im Widerstreit. Sechs Porträts. Stgt.-Degerloch 1979. – Peter Lübbe (Hg.): Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen u. Mss. des Exils. R. F. u. Arkadij Maslow. Mit einem Vorw. v. Hermann Weber. Mchn. 1990. – Sabine Hering u. Kurt Schilde (Hg.): Kampfname R. F. Wandlungen einer dt. Kommunistin. Ffm. 1995. Anneli Hartmann / Red.
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Fischer, S(amuel), * 24.12.1859 Liptó Szent Miklós (Ungarn), † 15.10.1934 Berlin; Grabstätte: ebd., Jüdischer Friedhof Weißensee. – Verleger.
Fischer
wicklung Halt« machte, verschloss sich auch dem Expressionismus nicht; verlegt wurden u. a. Döblin, Flake, Jahnn, Wolfenstein. Mit dem Verlagseintritt seines späteren Schwiegersohns Gottfried Bermann 1925 (seit 1928 Geschäftsführer) trat F. langsam in den Hintergrund. »Als Geschäftsmann, als Freund und Mäzen« des Autors u. seines Werks hat er die dt. Literatur der beginnenden Moderne entscheidend mitgeprägt.
F., fünftes Kind eines Kaufmanns u. späteren Salzamt-Verwalters, trat 1883, nach einer Buchhandelslehre in Wien (1874–1880), als Kompagnon in die Berliner Verlagsbuchhandlung Hugo Steinitz ein; 1886 machte er sich selbständig. Das Programm der AnWeitere Werke: S. F. u. sein Verlag. Reden, fangsjahre bestimmten (in Neuübersetzun- Briefe, Aufsätze. Hg. Gottfried u. Brigitte Bergen) Tolstoj, Dostojewskij, Zola u. – als zug- mann-Fischer. Bln. 1926. – S. F. u. Hedwig Fischer. kräftigster Autor der Reihe »Nordische Bi- Briefw. mit Autoren. Hg. Dierk Rodewald u. Cobliothek« (1889 bis 1891), die dem Verlag rinna Fiedler. Ffm. 1989. eigenes Profil gewann – Ibsen. GründungsLiteratur: Peter de Mendelssohn: S. F. u. sein mitgl. der Freien Bühne 1889 u. Verleger der Verlag. Ffm. 1970. – S. F., Verlag. Von der Grüngleichnamigen einflussreichen Zeitschrift, dung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Ausstelwar F. entschiedener Förderer der »literari- lungskat. Marbach 1986. – 100 Jahre S. F. Verlag. schen Lufterneuerung nach dem Epigonen- Bibliogr. Bearb. v. Knut Beck. Ffm. 1986. – Helmut tum« (Thomas Mann), bald mit dem Ehren- Koopmann: Thomas Mann u. S. F. In: ThomasMann-Jb. 14 (2001), S. 105–127. titel eines »Cotta des Naturalismus«. Darüber Arno Matschiner / Red. hinaus öffnete sich der Verlag – Lektor war seit 1896 Moritz Heimann, nach dessen Tod 1925 Oskar Loerke – auch gegenläufigen li- Fischer, Wilhelm (Johannes), auch: W. F. ˇ terar. Strömungen. Das anfänglich naturalist. in Graz, * 18.4.1846 Csakathurn (Cakovec)/Kroatien, † 30.5.1932 Graz; GrabKampforgan »Freie Bühne« wurde 1894 umbenannt in »Neue (bis 1904: Deutsche) stätte: ebd., St. Leonhard-Friedhof. – ErRundschau«; die Redaktion übernahm Oscar zähler, Epiker, Dramatiker. Bie; zu Gerhart Hauptmann gesellten sich Der Sohn eines jüd. Kaufmanns besuchte das Autoren wie Thomas Mann, Hesse, Schnitz- Gymnasium in Warasdin (Varazˇdin) u. ler, Hofmannsthal, Peter Altenberg (»S. Fi- Stuhlweißenburg (Székesfehérvár); ab 1865 scher druckte mich, und so wurde ich!«), auch studierte er in Graz Jura, wechselte jedoch fremdsprachige wie d’Annunzio, Bang, Shaw. bald zur Medizin u. schließlich zur philoF.s Intention, »das Revolutionäre ins Klassi- soph. Fakultät, in der seine endgültige Wahl sche münden zu lassen« (Mann), unterstri- auf Geschichte u. klass. Philologie fiel. 1870 chen die bald einsetzenden Gesamtausgaben, promovierte er zum Dr. phil. u. wurde Beu. a. von Ibsen, Hauptmann, Dehmel. Die amter der Steiermärkischen Landesbiblionach dem Misserfolg der »Collection Fischer« thek, deren Direktor er 1901–1919 war. Eine (1897/98) gegründete »Bibliothek zeitgenös- zentrale Figur des Grazer literar. Lebens, war sischer Romane« (1908 bis 1919), in Ein- F. auch Obmann des Steirischen Schriftstelheitspreis u. -ausstattung (Einbandzeich- lerbundes. nungen von E. R. Weiß, Karl Walser, Grosz Erstmals an die Öffentlichkeit trat F. 1872 u. a.) Vorläufer des Taschenbuchs, sollte die mit der Novelle Eine Sommernachtstragödie (in: »breite Masse« für anspruchsvolle Literatur Westermanns Jahrbuch; dann in dem Samgewinnen. melbd. Sommernachtserzählungen. Lpz. 1882. »Dem Publikum neue Werte aufzudrän- Mchn. 31911), die das Liebesdrama eines gen, die es nicht will, ist die wichtigste und jungen Mädchens mit dem Problem natiovornehmste Mission des Verlegers« (aus ei- naler Gegensätze zu verknüpfen sucht. Trotz nem Gespräch mit Pfemfert. In: Die Aktion, positiver Kritik blieb sie ebenso unbeachtet 1914). F., der »an keinem Punkt der Ent- wie das von Robert Hamerling beeinflusste
Fischer-Colbrie
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Epos Atlantis (Lpz. 1880. Mchn. 21911) u. die Novellensammlung Der Mediceer (Mchn. 1894. Neuausg. 1904), in der sich F. eng der Erzähltechnik Meyers u. Heyses u. der Mode des Historismus verpflichtet zeigt. Der Durchbruch gelang erst mit den Grazer Novellen (Lpz. 1898. 41911), gedacht als Gegenbilder zu Kellers Züricher Novellen; v. a. Das Licht im Elendhause, die Geschichte des aufopferungsvollen Mädchens Diemut während der Pestzeit, erlangte große Popularität (auch separat Wiesb. 1903). Seinen Ruf als »Grazer Stadtpoet« festigte F. mit dem Entwicklungsroman Die Freude am Licht (Bln. 1902. Mchn. 24 1925), der unter nachdrückl. Einsatz von Licht- u. Sonnensymbolik den Aufstieg des strahlenden Kraftmenschen Zenz Paltram schildert. Seine theoret. Explikation findet der Grundgedanke dieses Werks in F.s Poetenphilosophie. Eine Weltanschauung (Mchn. 1904): Darwinismus, Neuplatonismus u. Christentum verschmelzen hier in der Idee der Entwicklung des »Gottmenschlichen aus dem Tiermenschlichen«. In den Novellenbänden Murwellen (Mchn. 1909. 31910) u. Alltagszauber (Mchn. 1913. 31914) versuchte F. in zahlreichen Variationen, bisweilen auch im märchenhaften Ton, seine Vorstellung von der Evolution der »Lichtnatur« erzählerisch transparent werden zu lassen. Weitere Werke: Unter altem Himmel. Lpz. 1891. Mchn. 21904 (E.en). – Königin Hekabe. Mchn. 1905 (Trauersp.). – Hans Heinzlin. Mchn. 1905 (E.). – Lebensmorgen. Mchn. 1906. 21907 (E.en). – Sonne u. Wolke. Mchn. 1907 (Aphorismen). – Sonnenopfer. Mchn. 1908 (R.). – Friedrich Nietzsches Bild. Mchn. 1910 (Ess.). – Aus der Tiefe. Mchn. 1912. 41923 (E.en). – Kriegsbuch. Mchn. 1915. – Wagemut. Gotha 1917 (E.en). – Das Geheimnis des Weltalls. Stgt. 1921 (E.en). – Beethoven als Mensch. Regensb. 1928 (Ess.). Literatur: Franz Wastian: W. F., der Grazer Stadtpoet. Mchn. 1911. – Adolfine Seiberl: W. F. in Graz. Diss. Wien 1938. – Helene Schüller: Die Erzählungen v. W. F. in Graz. Diss. Wien 1938. Johannes Sachslehner / Red.
Fischer-Colbrie, Arthur, * 25.7.1895 Linz, † 30.12.1968 Linz. – Lyriker. Nach dem Besuch des Staatsgymnasiums in Linz studierte F. Sprach- u. Literaturwissen-
schaft in Wien u. München, nach Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg Musik am Mozarteum in Salzburg. Er arbeitete als Bankbeamter, ab 1930 als Beamter der oberösterr. Landesregierung. Nach seinem ersten Lyrikband Musik der Jahreszeiten (Wien 1928) schloss er sich dem Dichterkreis »Die Gruppe« um Friedrich Sacher an, dem u. a. Julius Zerzer, Friedrich Billinger, Wilhelm Szabo u. später Josef Weinheber angehörten. F.s Gedichte erschienen auch in der Anthologie Junge Deutsche Lyrik (Lpz. 1928), die sich vom Expressionismus abwandte u. der formalen Restauration mit Themen wie Landschaft, Liebe, Religion u. Musik huldigte. Der Antimodernismus seiner klassizist. Lyrik, die z.T. vertont wurde, seine Nähe zur Provinzliteratur u. zu völk. Autorenkreisen begünstigten seine Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer u. seine Rezeption bis in die 1950er Jahre, als F. Jurymitgl. des Handel-Mazzetti-Preises war. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Lyrik-Preis der »Dame« 1938. Weitere Werke: Unterm Sternbild der Leier. Brünn 1941. – Der ewige Klang. Ausgew. Gedichte. Linz 1945. – Orgel der Seele. Wien 1954. – Das Haus der hundert Rätsel. Nachw. v. Hubert Razinger. Graz/Wien 1955. – Johannes Kepler. Linz 1960 (Dramat. Gedicht). – Gleichenberger Elegien. Graz/Wien/Köln 1961. 21966. – Farbenfuge. Ausgew. u. eingel. v. Aldemar Schiffkorn. Graz 1962. Johann Sonnleitner / Red.
Fitger, Arthur (Heinrich Wilhelm), * 4.10. 1840 Delmenhorst, † 28.6.1909 Horn bei Bremen; Grabstätte: Bremen, Riensberger Friedhof. – Dramatiker, Lyriker, Publizist u. Maler. Der Sohn eines Postmeisters u. Hoteliers kam nach Ausbildung in Oldenburg u. Kunststudien in München, Dresden, Antwerpen u. Italien ins gründerzeitl. Bremen, wo sich seine Doppelbegabung als Maler u. Dichter schnell entfaltete. Er versorgte das Bürgertum der Hansestadt mit Kolossalgemälden à la Makart u. trat bald, mit wechselndem Erfolg, auch als Dramatiker, Gesellschaftspoet u. Kunstkolumnist hervor.
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Flach
Zu überregionaler Bekanntheit brachte es Flach, Jakob, * 26.3.1894 Winterthur, F. mit Dramen, deren Aufführung ihm Her- † 30.9.1982 Arcegno/Tessin. – Marionetzog Georg II. von Meiningen ermöglichte, der tenspieler; Erzähler. seine Truppe zur Verfügung stellte. Ihre Nach Jugend- u. Schulzeit in Winterthur Bühnenwirksamkeit erzielte er durch weltstudierte F. Botanik u. Geologie an der Eidanschaulich-historisierende Inhalte, formal genössischen Technischen Hochschule Zübediente er sich aus der Requisitenkammer rich. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, überkommener Dramatik; Symbolik u. Perden er als Grenzsoldat miterlebte, wohnte F., sonal waren christl. u. antiken Sagenstoffen wenn er nicht gerade auf einer seiner Reisen entlehnt. Erfolge hatte F. mit Die Hexe (Olu. Wanderungen quer durch Europa war, als 6 denb. 1876. 1895), einem pantheist. Entwurf Maler, Schriftsteller u. in verschiedenen angegen religiösen Dogmatismus u. kirchl. Orderen Berufen in Arcegno bei Ascona. Seit thodoxie, u. mit der Herodias-Adaption Die 1937 leitete er als Spieler, Regisseur, StückeRosen von Tyburn (Oldenb. 1888). schreiber u. Puppenhersteller das von ihm Als Lyriker, der allerdings über Bremen u. gegründete Asconeser Marionettentheater. Nordwestdeutschland kaum hinauswirkte, Als Autor überzeugt F. am meisten in kurzen, war F. stark zeitgebunden u. epigonal. Nur improvisiert wirkenden Erzähltexten, in dedas Gedicht Ich bin ein jung, jung Malergesell nen er als moderner Vagant irgendwo in Eu(1871) erlangte die Verbreitung eines Volksropa »vor Ort«, auf einer Hafenmauer sitzend lieds. Neben überwiegend Gelegenheits- u. oder am Tisch einer verrauchten Kneipe, seiGesellschaftspoesie (nach Scheffels Vorbild), ne Erlebnisse festhielt, um sie dann, mit der teilweise schon damals als peinlich pathetisch Adresse irgendeiner Redaktion versehen, in u. verstaubt empfunden, finden sich zunehden nächsten Briefkasten zu werfen. Eine mend auch streitbar-atheistische u. kulturReihe solcher Kurzgeschichten, die einen Zug pessimist. Töne in seinem lyrischen (u. puvon Weltweite u. Internationalität in die blizist.) Werk. schweizerische Enge hineintrugen, hat F. Weitere Werke: Fahrendes Volk. Oldenb. 1875. gesammelt herausgegeben in Bänden wie 4 1894 (L.). – Winternächte. Bln. 1881. 31887 (L.). – Minestra. Dank für Rebhuhn, Schwein und Spargel 3 Von Gottes Gnaden. Oldenb. 1883. 1895 (Trauersp.). – Jean Meslier. Lpz. 1894 (Trauersp. nach (Frauenfeld 1937. Neuausg. Ffm. 1981), Vita Voltaire). – Requiem aeternam dona ei. Lpz. 1894 vagorum. Kleine Erlebnisse am Saume Europas (L.). – San Marcos Tochter. Romant. Trauersp. Ol- (Frauenfeld 1945) oder Brautfahrt ohne Ende (Frauenfeld 1959). Obwohl F. unzweifelhaft denb. 1902. Literatur: Helmut Wocke: A. F. Sein Leben u. einer modernen, zeitlos aktuellen Spielart Schaffen. Stgt. 1913. – Georg v. Lindern: A. F. von Erzählliteratur zugehörte, ist es nach Maler u. Dichter. Delmenhorst 1962. – Kurd seinem Tod rasch still um ihn geworden. Schulz: A. F., ein brem. Dichter in der Übergangszeit. In: Jb. der Wittheit zu Bremen 7 (1963). – R. Desne: Le Cure Meslier au théâtre: Une Pièce d’A. F. (1894). In: D. J. Mossop u. a.: Studies in the French Eighteenth Century. Durham 1978, S. 22–38. – Wilhelm Gilly de Montaut: Studie zum maler. Œuvre des Delmenhorster Malerpoeten A. F. Delmenhorst 1984. – Dieter Hägermann: Erzbischof Adalbert v. Bremen im Gründerzeitdrama. In: Brem. Jb. 66 (1988), S. 327–339. – Goedeke Forts. Rainer B. Schossig / Red.
Weitere Werke: Die Verhinderten. Freib. i. Br. 1929 (E.). – Nordischer Sommer. Zürich 1946 (N.). – Wir bauen ein Marionettentheater. Zürich 1951. – Das schwarze Afrika für Anfänger. Zürich 1965. – Ein Bursche namens Ibrahim. (Werkausg. Bd. 1). Bern 1990 (R.). Charles Linsmayer / Red.
Flacius Illyricus
Flacius Illyricus, Matthias, eigentl.: M. Vlacˇic´, auch: Frankovic´, * 3.3.1520 Labin/ Kroatien (ital.: Albona), † 11.3.1575 Frankfurt/M. – Lutherischer Theologe; Pamphletist, Historiker u. Hermeneutiker. F.’ Vater Andreas war Grundbesitzer im damals venezian. Istrien, seine Mutter entstammte dem Patriziat von Albona. 1536/37 genoss F. in Venedig den Unterricht des Humanisten Giovanni Battista Egnazio. Er wollte Mönch werden, doch der mit seiner Mutter verschwägerte Franziskanerprovinzial Baldo Lupetina, der später wegen seiner Sympathien für die Reformation hingerichtet wurde, schickte ihn nach Deutschland. F. studierte ab Sommer 1539 in Basel, wo er bei dem Gräzisten Simon Grynaeus wohnte u. seinen späteren Verleger Johannes Oporinus kennenlernte. In Tübingen hörte er bei dem Philologen Joachim Camerarius, dem Mediziner u. Botaniker Leonhard Fuchs u. bei seinem Landsmann, dem Camerariusschüler Matthias Garbitius Illyricus. Im Sommer 1541 ging er nach Wittenberg. Melanchthon förderte ihn; aber in einer schweren religiösen Krise erfuhr er von Luther lebensbestimmende Hilfe. 1544 erhielt F. an der Universität Wittenberg eine Professur für Hebräisch, obwohl er den Magistergrad erst am 25.2.1546 erwarb. Während des Schmalkaldischen Kriegs 1546/47 unterrichtete er in Braunschweig, kehrte aber im Herbst 1547 nach Wittenberg zurück. In den Lehrstreitigkeiten nach Luthers Tod wurde F. zum kompromisslosen Verteidiger der luth. Lehre (»Gnesiolutheraner«). In – zunächst pseudonymen – Flugschriften bekämpfte er das Augsburger Interim. Da er die Mitwirkung der Wittenberger Theologen um Melanchthon an der kursächs. Kirchenpolitik (Leipziger Interim) nicht verhindern konnte, ging er im März 1549 nach Magdeburg u. schloss sich den dortigen Gnesiolutheranern an. Er publizierte zahlreiche deutsche u. lateinische Streitschriften u. stärkte den Kampfgeist der 1550/51 belagerten Stadt. Er plante u. organisierte das monumentale Kirchengeschichtswerk der sog. Magdeburger Zenturien (Bde. 1–13, Basel 1559–74). 1557
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wurde er Theologieprofessor u. Generalsuperintendent in Jena. Doch das streitbare Amts- u. Sendungsbewusstsein F.’ u. seiner Gesinnungsgenossen führte 1561 zur Entlassung. F. fand 1562 in Regensburg Zuflucht, wo er ohne Amt wissenschaftlich arbeitete u. auch kroatische, slowen. u. ital. Schriften publizierte. 1566/67 beriet er einige Monate die luth. Gemeinde in Antwerpen. 1567 erschien in Basel die Clavis Scripturae sacrae, in der F. auch seine eigentüml. Erbsündenlehre (die Substanz des Menschen ist geschädigt, der freie Wille zerstört) publizierte. Nun galt er sogar den meisten seiner früheren Kampfgenossen als Häretiker, als neuer Manichäer. Die Reichsstadt Frankfurt/ M. nahm ihn nicht auf. In Straßburg durfte er sich bis 1573 aufhalten. Dann brachte er seine Familie in Frankfurt/M. unter, reiste bis nach Schlesien, kehrte krank nach Frankfurt/M. zurück u. starb dort kurz vor dem Ausweisungstermin. F.’ histor. Arbeiten dienen dem Beweis des auf Melanchthon zurückgehenden Gedankens, dass das Evangelium trotz Depravation in der Papstkirche durch eine kontinuierl. Reihe von »Zeugen der Wahrheit« erhalten blieb. In seinem Catalogus testium veritatis (Basel 1556. Erw. 1562) dokumentierte er diese Geschichtstheologie durch Quellenauszüge. Darunter befindet sich seit 1562 die Präfatio des Heliand, abgedruckt durch Vermittlung des Georg Fabricius aus einer Leipziger Handschrift (heute verschollen), die zuvor Luther besessen hatte. Auch Otfrids Evangelienharmonie, auf die schon Trithemius 1494 u. Beatus Rhenanus 1531 hingewiesen hatten, stellte der Catalogus 1562 durch Textproben vor. Die Handschrift der Bibliothek Ulrich Fuggers hatte 1560 der Augsburger Stadtarzt Achilles Pirmin Gasser wohl auf Anregung F.’ abgeschrieben. F. ermöglichte auch die Drucklegung des vollständigen Textes 1571 in Basel. In seiner Vorrede erklärte er diese Publikation zur Dankesgabe an das dt. Volk für das Gastrecht u. den Empfang der wahren Religion. F.’ Beitrag zur Hermeneutik wird hoch bewertet (Dilthey, Karl Holl, Gadamer, Geldsetzer). Mit seiner Clavis scripturae schuf er in Abhängigkeit von Luther, Melanchthon,
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Flaischlen
Andreas Hyperius u. a. ein bis ins 18. Jh. Flaischlen, Cäsar (Otto Hugo), auch: C. nachgedrucktes Hilfsmittel für die reforma- Stuart, C. F. Stuart, * 12.5.1864 Stuttgart, tor. Bibelauslegung u. ein Kompendium ihrer † 16.10.1920 Gundelsheim am Neckar; theoret. Grundlegung. Ausgehend von dem Grabstätte: Stuttgart, Pragfriedhof. – Erdogmat. Vorverständnis der Einheitlichkeit zähler u. Lyriker. u. Klarheit der Hl. Schrift werden die Regeln der Methodik humanistischer Philologie F. wuchs in Ellwangen auf, brach seine dargeboten, z.B. den Skopus einer Stelle oder Schulausbildung ab u. wurde Buchhändlerden Stil einer Schrift zu beachten – Regeln, gehilfe in Brüssel u. Bern. Das Studium der die auch unabhängig von dem Postulat der Germanistik u. Philosophie holte er ab 1886 Glaubensanalogie Anwendung finden konn- u. a. in Berlin u. Leipzig nach u. promovierte mit einer Arbeit über Otto Heinrich von Cemten. mingen (Stgt. 1890). Nach der ersten GeAusgaben: Heinz Scheible (Hg.): Die Anfänge dichtsammlung Nachtschatten (Minden 1884) der reformator. Geschichtsschreibung. Melanchthon, Sleidan, F. u. die Magdeburger Zenturien. entstand das Drama Graf Lothar (Lpz. 1886) als Gütersloh 1966. – Lutz Geldsetzer (Hg.): De ratione Nebenprodukt seiner germanist. Studien. cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnis- Angezogen von der Großstadt, suchte der grund der Hl. Schrift. Düsseld. 1968. – Internet-Ed. ehrgeizige Schriftsteller den literar. Erfolg in diverser Texte in: The Digital Library of Classic der Reichshauptstadt Berlin, zgl. Forum Protestant Texts (http://solomon.tcpt.alexander- dichterischer Repräsentanz wie auch Bühne street.com/). journalistischer Effekthascherei. Der GegenLiteratur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: satz zwischen der Verachtung des LiteraturJohann Balthasar Ritter: M. Matthiae Flacii [...] betriebs u. dem unbeugsamen Willen, sich Leben u. Tod. Ffm. 21725 (mit zahlreichen Briefen). zum Erfolg durchzubeißen, bildete das The– Wilhelm Preger: M. F. I. u. seine Zeit. 2 Bde., ma u. Leitmotiv seiner Schriften. Der mittelErlangen 1859–61. Neudr. Hildesh. u. Nieuwkoop lose F. hielt sich mit populärwissenschaftli1964. – Gustav Kawerau: F. In: RE. – Mijo Mirkovic´ : Matija Vlacˇic´ Ilirik. Zagreb 1960 (S. 487–549 cher Vielschreiberei (u. a. einer Graphischen dt. Zusammenfassung). – Kurt Hannemann: Die Litteratur-Tafel. Stgt. 1890) über Wasser; daLösung des Rätsels der Herkunft der Heli- neben fand er bald Zugang zur jungen natuandpraefatio. In: Der Heliand. Hg. Jürgen Eichhoff ralist. Bewegung Berlins. Bölsches Schrift Die u. Irmengard Rauch. Darmst. 1973. – Oliver K. naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie Olson: F. In: TRE (Lit.). – Rudolf Keller: Der (1886) u. der Umgang mit Hauptmann, Schlüssel zur Schrift. Die Lehre vom Wort Gottes Schlaf, Holz, Dehmel, Hartleben, Bierbaum bei M. F. I. Hann. 1984. – Heinz Scheible: Der u. den Brüdern Hart prägten seine literar. ›Catalogus Testium Veritatis‹. F. als Schüler MeVorstellungswelt. Die Theaterstücke Toni lanchthons. In: Ebernburg-Hefte 30 (1996), S. 91–105. – Bernd Jörg Diebner: M. F. I. Zur Stürmer (Bln. 1891) u. Martin Lehnhardt. Ein Hermeneutik der Melanchthon-Schule. In: Melan- Kampf um Gott (Bln. 1895), aus Anverwandchthon in seinen Schülern. Hg. H. Scheible. Wiesb. lung wie aus Abwehr dieser Eindrücke ver1997, S. 157–182. – Martin Wallraff: Die Rezeption fasst, verstand F. als Überwindung des Nader spätantiken Kirchengeschichtswerke im 16. Jh. turalismus. Seine Gestalten treten als ProIn: Auctoritas Patrum II. Neue Beiträge zur Re- pheten u. Kämpfer eines wahrhaftigen, auf zeption der Kirchenväter im 15. u. 16. Jh. Hg. Leif das Höhere gerichteten Lebens im WiderGrane, Alfred Schindler u. Markus Wriedt. Mainz stand gegen die eigene Zeit auf. Sie propa1998, S. 223–260, bes. 242–248. – Martina Hartgieren einen neuen Kunstbegriff, der alle mann: Humanismus u. Kirchenkritik. M. F. I. als Erforscher des MA. Stgt. 2001. – O. K. Olson: M. F. Züge einer Privatreligion trägt u. in den die and the survival of Luther’s reform. Wiesb. 2002. – unvergorenen Theorien Nietzsches u. DarIrena Backus: Historical method and confessional wins eingegangen sind. Dazwischen widmete identity in the era of the Reformation (1378–1615). sich F. schwäbischer Mundartdichtung, wie Leiden 2003, S. 343–382. – H. Scheible: Melan- er überhaupt das Lyrische als Kern seines chthons Briefw. Bd. 12, Stgt. 2005, S. 66–69 (Lit). Schaffens ansah, obwohl seine GedichtHeinz Scheible sammlungen wie Von Alltag und Sonne (Bln.
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1898; Gesamtaufl. fast 275.000 Exemplare) Kampfes u. der Innerlichkeit, radikale Leoder Aus den Lehr- und Wanderjahren des Lebens bens- u. Gesellschaftskritik, idyllisierende (Bln. 1900. 591921) – darin das bekannte Hab Überhöhung des Provinzlebens zum letzten Sonne im Herzen [...] – bei der Kritik freundl. Wert »Heimat« u. die Heroisierung des soAblehnung erfuhren (beim breiten Lesepu- zialen Aufstiegswillens verbanden sich zu eiblikum freilich immensen Anklang fanden). nem Roman, dessen fulminanter Erfolg beNach wiederholten Aufenthalten auf Rü- wies, wie genau er auf die Stimmung der gen u. einer Italienreise, wo er Inspiration zu Jahrhundertwende mit seinem Untertitel Aus weiterem Schaffen suchte, nach literar. Brot- dem Leben eines Jeden gezielt u. getroffen hatte. arbeiten (als Redakteur an Hartlebens JuWeitere Werke: Prof. Hardtmuth. Bln. 1897 gendstil-Zeitschrift »Pan«, die er 1896–1900 (N.). – Neujahrsbuch. Bln. 1907 (L.). – Von Derhoim leitete) u. einem gescheiterten Theaterprojekt ond Drauße. Stgt. 1924 (L.). Schall und Rauch (u. a. mit Max Reinhardt) Ausgabe: Ges. Dichtungen. 6 Bde., Stgt. 1921. wandte F. dieser Art Literaturbetrieb den Literatur: Amalie Böck: C. F.s Wirken mit bes. Rücken. Die monumentale, aber dann ge- Berücksichtigung seiner dramat. Werke. Diss. Wien scheiterte Idee einer Deutschen Bibel, einer 1921. – Gotthilf Stecher: C. F. Kunst u. Leben. Stgt./ Sammlung der »kanonischen Schriften un- Bln./Lpz. 1924. – Walter Hagen: C. F. In: Schwäb. serer deutschen Dichtung«, beanspruchte Lebensbilder. Hg. Max Miller u. Robert Uhland. seine gesamte Arbeitskraft. Als chauvinisti- Bd. 10, Stgt. 1966, S. 443–465. – Ingeborg Lohfink: C. F. Badegast u. Dichter des ›Mönchguter Skizscher Kriegsverherrlicher u. Bespöttler des zenbuchs‹. In: Dies.: Mein Pommernbuch. Glück»pazifistelnden« Internationalismus machte stadt 2001, S. 88–95. – Joachim Puttkammer: C. F. F. während des Ersten Weltkriegs mit Kopf- In: Ders.: Schriftsteller in Graal-Müritz. Bentwisch oben-auf, die Hand am Knauf, mein deutsches Volk 2004, S. 18–19. Rolf Selbmann / Red. Sonn auf! (Bln./Stgt. 1915) u. dem Feldbüchlein Heimat und Welt (Stgt. 1916) noch einmal auf sich aufmerksam. Flake, Otto, auch: Werrenwag, Leo F. F.s Roman Jost Seyfried (2 Bde., Bln. 1905) Kotta, Karel Manders, * 29.10.1880 Metz, verschmilzt mehrere heterogene Projekte mit † 10.11.1963 Baden-Baden; Grabstätte: autobiogr. Erlebnissen. In fingierten Briefen La Tranche sur Mer. – Erzähler, Essayist, an eine Geliebte u. deren gelegentl. AntworÜbersetzer. ten, in Tagebuchblättern, Notizzetteln u. Gedichten führt der Titelheld seine Selbst- Der Vater, ein Justizbeamter, nahm sich wegespräche. Im Predigerton u. in äußerster gen Spielschulden das Leben, als F. neun Handlungsarmut wird eine wahre Künstler- Jahre alt war. Der schwierigen Schulzeit in existenz als Gegenbild zur Banalität des All- Colmar folgte 1900 das Studium der Germatags u. der Großstadt entworfen. F.s patheti- nistik, Philosophie, des Sanskrit u. der sche u. archaisierend-lakon. Sprache, z.T. im Kunstgeschichte in Straßburg, das F. nicht Gestus von Spruchweisheiten daherkom- abschloss. Sein elsäss. Bewusstsein machte mend, flüchtet in Großstadtsymbole u. ihn Zum guten Europäer, so der Titel einer EsKampfmetaphorik u. weicht so der konkreten saysammlung (Bln. 1924), u. führte ihn im Diskussion der aufgeworfenen Probleme aus. Kreis des »Jüngsten Elsaß« u. a. mit René Der Dichter als »Führer«, wie F. ihn verstand, Schickele u. Ernst Stadler zusammen, mit erhebt den Anspruch, Kunst u. Leben auf ei- denen er ab 1902 die Zeitschrift »Der Stürner höheren Ebene neu zu vereinen. Dabei mer«, ab 1903 umbenannt in »Der Merker«, reibt er sich beständig an der Realität u. lebt herausgab. Zunächst Hauslehrer in Petersim Widerspruch zwischen dem Opportunis- burg, ging F. 1907 als Feuilletonchef zum mus des »Dreinschlagens« u. einer selbst- »Leipziger Tagblatt«. Ab 1909 lebte er als mitleidigen Resignation. freier Schriftsteller an wechselnden WohnorMan hat an Jost Seyfried die Ideologisierung ten. der Kunst im Sinne der völk. Literatur bis hin Nach ersten belletrist. Erfolgen (Schritt für zum Faschismus aufgezeigt. Der Kult des Schritt. Bln. 1912) wurde F. mit dem Roman
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Freitagskind (Bln. 1913. Tl. 1 der bis 1928 fünf Romane um Ruland) Autor des S. Fischer Verlags. Als Theaterzensor im besetzten Brüssel traf F. 1917 Gottfried Benn, Rudolf Alexander Schröder, Wilhelm Hausenstein. 1918, als Korrespondent in Zürich, schloss F. sich den Dadaisten an; mit Walter Serner u. Tristan Tzara gab er die letzte Publikation des Dada in Zürich, Der Zeltweg (1919), heraus u. charakterisierte den Kreis um Hans Arp u. Hugo Ball in dem Roman Nein und Ja (Bln. 1920). Später distanzierte sich F. von seinen Werken experimenteller Prosa (auch: Die Stadt des Hirns. Bln. 1919) u. kehrte zum linearen Erzählen zurück. Die ihm angemessene Form fand er in der Adaption der »vies romancées«, in der er mit histor. Biografien (Ulrich von Hutten. Bln. 1929. Marquis de Sade. Mit einem Anhang über Retif de la Bretonne. Bln. 1930) ebenso zur Meisterschaft gelangte wie mit seinen Romanen, die er als fiktive Biografien verstand (Nachw. zum Fortunat. Baden-Baden 1946). Weil er im Sommerroman (Bln. 1927. Neudr. Ffm 1985) für die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols, wo er seit 1926 lebte, Partei ergriffen hatte, wurde F. von den Faschisten ausgewiesen. Zur Zeit der Weimarer Republik war er verstärkt publizistisch tätig, v. a. in der »Neuen Rundschau«. Auf Wunsch seines Verlags unterschrieb F. 1933 eine »Loyalitätserklärung deutscher Schriftsteller« an den Reichskanzler Adolf Hitler in der Illusion, dem jüd. Verlag einen Spielraum zu erhalten. Damit geriet er bei den antifaschist. Kreisen in Misskredit. Andererseits verweigerten die Nationalsozialisten dem linksbürgerl. Autor das Papier zum Druck seiner Werke. Auf Verständigungsversuche Peter Suhrkamps reagierte F. überempfindlich. Die Kriegsjahre verbrachte er unter schwierigen wirtschaftl. Bedingungen in zunehmender Isolation in Baden-Baden, wo er sich 1928 niedergelassen hatte. Stoffe aus der Historie, bes. dem 19. Jh., die er schon früher bevorzugt hatte, boten ihm nun die Möglichkeit zur inneren Emigration. In der Nachkriegszeit war F. fast vergessen. Rundfunkbeiträge u. Übersetzungen (u. a. Balzacs, Montaignes, Stendhals, den F. bes. schätzte), sicherten ihm das Überleben. Seine Dichtungen, die in literarisch unbedeutenden
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Verlagen erschienen, hatten kaum Resonanz. Erst 1958 kam es durch die engagierte Vermittlung Rolf Hochhuths im BertelsmannLesering zu einer bescheidenen Renaissance; der Verlag Sigbert Mohn übernahm neu entstehende Werke. Seit den 1980er Jahren erscheinen einzelne Titel F.s wieder in Neuauflagen u. als Taschenbücher. Von der ersten Veröffentlichung im »Stürmer« (1902) bis zur letzten Erzählung (Ballade in Dur. Gütersloh 1963) weist F.s Werk, geschrieben in einer brillanten Prosa, rd. 100 Titel auf, vom Märchen über den Kriminalroman bis zur philosoph. Abhandlung. In den 1920er Jahren waren seine Romane neben die von Heinrich u. Thomas Mann, Hesse u. Döblin gestellt worden. Die Wirkungsgeschichte von F.s Werk ist noch nicht geschrieben. Dass die Kunst die Wirklichkeit um das Mögliche erweitern kann, ist durchgängiges Thema von F.s erzählerischem Werk. Die Helden u. Heldinnen der fiktiven Biografien sind Abenteurer, die vorgezeichnete Wege verlassen u. die Gelegenheit zu alternativen Erfahrungen nutzen. »Die Situationen gingen in der Welt herum und warteten auf jeden« (Fortunat. Baden-Baden 1946). Im Zentrum der Suche steht der Eros, den F. auch zum Gegenstand essayistischer Werke machte (Die erotische Freiheit. Bln. 1928. Traktat vom Eros. Pseud.: Leo F. Kotta. Mchn. 1948). F.s Lebensbericht Es wird Abend (Gütersloh 1960. Neudr. Ffm. 2005) deutet die autobiogr. Substanz des Erzählwerks an, die in Werken wie Scherzo (Bln. 1936), Der Pianist (Gütersloh 1960), Des trockenen Tones satt (in: Spiel und Nachspiel. Zwei Romane. Gütersloh 1962) zutage tritt. Die oberrheinische u. badische Landschaft, in der F. den größten Teil seines Lebens verbrachte, ist Schauplatz der meisten seiner Romane u. Erzählungen. Trotz präziser Beschreibungen des histor. Umfelds bis ins kleinste Detail, versteht F. seine Werke nicht als histor. Romane; die Historie sei lediglich »Freskowand für ein Einzelleben« (Nachw. Fortunat). Vielmehr beruft er sich auf die Tradition des Bildungs- u. Erziehungsromans. In Fortunat entwickelt sich aus den Stationen des Lebens- u. Bildungswegs des
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Helden die kompositor. Ordnung; der Ro- Welt. Ein Symposium über O. F. Bozen 1992. – Sabine Grad: Als Schriftsteller leben. Das publizist. man zählt zu F.s Meisterwerken. F.s Maxime »Klarheit, Gelassenheit, Sinn- Werk O. F.s. St. Ingbert 1992. – Michael Farin u. lichkeit, Energie« (Das neuantike Weltbild. Raoul Schrott (Hg.): O. F. u. Dada 1918–21. Siegen 1992. – Peter Delvaux: O. F. In: Im Schatten der Darmst. 1922) bestimmen Inhalt u. Form des Literaturgesch. Hg. Jattie Enklaar. Amsterd. 2005, Werks, symbol. Überhöhungen, ideolog. S. 107–112. Zielsetzungen fehlen. So ist analog das Ende Ulrike Leuschner / Roman Luckscheiter der Teleologie Gegenstand der philosoph. Abhandlungen F.s. »Wenn dem Leben ein Flatow, Curth, * 9.1.1920 Berlin. – Autor Sinn abgewonnen werden kann, besteht er in von Boulevardkomödien, Drehbüchern u. der Auffassung, man sei da, um das Leben zu Liedertexten. bestehen« heißt es programmatisch in FortuDer Sohn des Humoristen Siegmund Flatow nat. Weitere Werke: Horns Ring. Bln. 1916 (R.). – u. der Chansonsängerin Alwine Kiekebusch Das Logbuch. Bln. 1917 (Feuilletons). – Es ist Zeit schloss eine kaufmänn. Lehre ab u. war als [...]. Bln. 1929 (R.). – Maria im Dachgarten u. a. Verkäufer u. Modezeichner tätig. Nach ArMärchen. Bielef. 1931. – Montijo oder Die Suche beits- u. Wehrdienst während des Zweiten nach der Nation. Bln. 1931 (R.). – Hortense oder Die Weltkriegs wechselte F. 1945 als Conferencier Rückkehr nach Baden-Baden. Bln. 1933. Neudr. u. Kabarettist in den Unterhaltungsbereich. Zürich 2003. Tb.-Ausg. Ffm. 2005. – Der Straß- Seinen ersten Erfolg als Bühnenautor hatte er burger Zuckerbeck u. a. Märchen. Bln. 1933. – 1947 in Berlin mit der Revue Melodie der Straße Sternennächte am Bosporus. Bln. 1936 (R.). – Tür(zus. mit Bruno Balz). Für RIAS Berlin schrieb kenlouis. Gemälde einer Zeit. Bln. 1937 (Biogr.). – Große Damen des Barock. Bln. 1939 (Biogr.). – er in den folgenden Jahren rd. 50 KabarettVersuch über Stendhal. Mchn. 1946 (Ess.). – sendungen (darunter Die Rückblende mit Hans Nietzsche. Rückblick auf eine Philosophie. Baden- Rosenthal). Berliner Humor u. die BewältiBaden 1947. – Der Handelsherr. Flensburg 1948 gung des Wiederaufbaus waren die bestim(E.). – Ordo. Die Philosophie im Zeitalter der Mas- menden Themen. sen (Pseud.: Leo F. Kotta). Hbg. 1948. – Die Sand1951/52 arbeitete F. bei dem Kabarett uhr. Baden-Baden 1950 (R.). – Die Monthiver- »Nürnberger Trichter« mit. In der Folgezeit Mädchen. Baden-Baden 1952. Neudr. 1988 (R.). – schrieb er mehr als 30 Filmdrehbücher, z.B. Schloß Ortenau. Hattingen 1955 (R.). – Der letzte Das Fräulein vom Amt (1954). Ganovenlehre Gott. Das Ende des theolog. Denkens. Hbg. 1961. – (1966), u. rd. 300 Liedertexte. Nicht minder Die Verurteilung des Sokrates. Biogr. Ess.s aus sechs Jahrzehnten. Hg. Fredy Gröbli-Schaub u. Rolf produktiv u. erfolgreich war er als Bühnen- u. Hochhuth. Heidelb. 1970. – Die Dame ›Brabant‹. Fernsehautor. Sein Volksstück Das Fenster zum Baden-Baden 1972 (R.). – Die frz. Revolution. Lpz. Flur (zus. mit Horst Pillau) wurde am Berliner Hebbel-Theater am 30.1.1960 uraufgeführt, 1932. Neudr. Zürich 1988. Werkausgabe: Werke. Hg. Rolf Hochhuth u. zweimal verfilmt u. mehrfach als Fernsehspiel wiederholt. Dass der Beruf des Vaters als Peter Härtling. 5 Bde., Ffm. 1973–76. Literatur: Max Rychner: Glücklich erlebtes Fahrer sich nicht mit seiner Farbenblindheit Europa. Zu dem Roman ›Fortunat‹ v. O. F. In: verträgt, fordert hier die Familie als rettende Ders.: Zwischen Mitte u. Rand. Zürich 1964. – Instanz heraus. Komödiantische UnernsthafMichael Farin; O. F.s Lauda-Romane ›Die Stadt des tigkeit lässt, wenn es denn einem integren Hirns‹ u. ›Nein und Ja‹. Dokumentation – Analyse Zweck dient, sogar einen Bankeinbruch als – Bibliogr. Diss. Bern 1979. – Peter Härtling: Der charmante Gaunerei zu. So in der Boulevardunbequeme F. In: Ders.: Meine Lektüre. Lit. als Komödie Das Geld liegt auf der Bank (Urauff. Widerstand. Hg. Klaus Siblewski. Darmst./NeuBln. 1968), die mehr als 500 Aufführungen wied 1981. – Michael Farin (Hg.): O. F. Annäherungen an einen Eigensinnigen. Baden-Baden am Hebbel-Theater erlebte. F.s Komödien, die sich auch in den 1970er 1985. – Gert Ueding: Vom mögl. Leben. O. F. In: Jahren großer Beliebtheit erfreuten, stiften Ders.: Die anderen Klassiker. Literar. Porträts aus zwei Jahrhunderten. Mchn. 1986, S. 198–225. – harmlose Verwirrungen u. liebenswerte Ferrucio Delle Cave (Hg.): Die Unvollendbarkeit der Missverständnisse, wollen über verzeihl.
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Schwächen schmunzeln lassen u. verlorene Harmonie wiederherstellen. Dieses zeitlose Konzept sicherte F. gleichbleibend hohe Einschaltquoten bei seinen Fernsehserien Das Traumschiff – Jubiläumssendung zum 25-jährigen Bestehen im Jahr 2006 – u. Ich heirate eine Familie. Weitere Werke: Vier Witwen sind zu viel. Bergisch Gladbach 1988. – Durchreise (Erstveröffentlichung). Bergisch Gladbach 1993. – ›Aber für uns könnte ja die Zeit stehenbleiben...‹. Ein Briefw. (Arthur Brauner u. C. F.). Bln. 2001. – Am Kurfürstendamm fing’s an: Erinnerungen aus einem Gedächtnis mit Lücken (mit Verz. der Arbeiten für Theater, Fernsehen, Hörfunk, Kabarett u. Film, der Liedertexte, Bücher, Ehrenämter u. Auszeichnungen). Mchn. 2000. Literatur: Eckhard Schulz: C. F., der Mann für alle Fälle. Dokumentationen u. Komm. Bln. 1995. Annette Deeken / Red.
Flatter, Richard, * 14.4.1891 Wien, † 5.11. 1960 Wien. – Übersetzer, Lyriker, Publizist. Nach der Ausbildung zum Rechtsanwalt, einer Theaterlehre bei Max Reinhardt u. Regiearbeit in Prag u. Breslau widmete sich F. ganz der großen Leidenschaft seines publizist. Lebens – dem Werk William Shakespeares, das er vor verfälschenden Übersetzern u. Regisseuren, vor Fehldeutungen u. Fehldeutern schützen u. dem Original getreu wiederherstellen wollte. Dem dienten seine theaterwiss. Studien wie seine polem. Auseinandersetzungen (Karl Kraus als Nachdichter Shakespeares. Wien 1933), ebenso seine in hervorragender Kenntnis von Sprache u. Bühne des elisabethan. Zeitalters verfertigten Übersetzungen fast aller Shakespeare’schen Stücke (Shakespeares Dramen in 6 Bänden. Wien/ Bad Bocklet/Zürich 1951–55). 1938 musste F. vor den Nationalsozialisten nach England fliehen, wo er als »enemy alien« inhaftiert u. nach Australien deportiert wurde. Zwischen 1948 u. 1953 lebte er in den USA, danach bis zu seinem Tod wieder in Wien. Sein hohes literar. Vermögen bündelte er fast ausschließlich in Nachdichtungen Shakespeares (Shakespeares Sonette. Wien/ Mchn./Basel 1957); die eigene Lyrik blieb gebändigter, formstrenger Konvention ver-
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pflichtet (Weg und Heimkehr. Wien 1937). Seine Dramen (z.B. Oliver Cromwell. o. O. 1954) vermochten sich auf der Bühne nicht durchzusetzen. Weitere Werke: Die Fähre. Engl. Lyrik aus 5 Jh.en. Nachdichtungen. Wien 1936. 21954. – Shakespeare’s Producing Hand. London 1948 (Ess.). – Hamlet’s Father. London 1949 (Ess.). – Triumph der Gnade. Wien 1956 (Ess.). Karl-Markus Gauß / Red.
Flayder, Flayderus, Friedrich Hermann, getauft am 10.10.1596 Tübingen, † 6.4. 1640 Tübingen. – Dramatiker, Lyriker u. Universitätslehrer. Als Sohn eines luth. Universitätsangehörigen studierte F. in seiner Heimatstadt (Magister 16.8.1615) u. wirkte 1620–1628 als Professor an der Tübinger Adelsakademie, dem »Collegium Illustre«. Zgl. war er seit 1620 Extraordinarius, seit 1636 auch o. Prof. an der Universität u. las an der Artistenfakultät über antike Autoren u. rhetor. Themen. Daneben versah er seit 1626 das Amt des Universitätsbibliothekars. Mit seinen Dramen gehört F., wie Heinrich Bebel u. Nicodemus Frischlin, in die Reihe der »Tübinger Dichterhumanisten«. In seiner Komödie Imma portatrix (gedr. Tüb. 1625) gestaltete er die mittelalterl. Sage von Eginhard u. Emma. Die handlungsarme Geschichte der heiml. Liebe zu einer Kaisertochter wird durch Episoden u. eine im bäuerl. Milieu spielende Parallelhandlung mit derb-komischen Szenen ausgebaut. Die Sage der Doppelehe des Grafen von Gleichen inspirierte F. zu seinem Drama Ludovicus Bigamus (Tüb. 1625). Wie auch im ersten Stück interessierte sich der Autor bes. für die seel. Reaktion der Frauen, während der Titelheld hier eher komische Züge annimmt. In seiner Argenis (Tüb. 1626) dramatisierte F. den Staatsroman John Barclays, während er in der Komödie Moria rediviva (Tüb. 1627) die Narrensatire des Erasmus von Rotterdam nach dem Darstellungsmuster der satir. Ständerevue für die Bühne einrichtete. Aufgeführt wurden die Stücke von den Schülern des »Collegium Illustre«.
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Von bes. Gewicht sind F.s Schulreden, darunter v. a. die Deklamation De arte volandi (gedr. Tüb. 1627). Zu der Frage, ob es dem Menschen möglich sei zu fliegen, wird auf den künftigen Fortschritt der Technik verwiesen, gleichzeitig jedoch an die Gefährdung der göttl. Ordnung u. der moral. Integrität des Menschen durch den Missbrauch der wiss. Neugier (curiositas) erinnert. Das lyr. Werk F.s beschränkt sich auf Epigramme (Epigrammatum libellus. Tüb. 1627) u. Elegien, die sich eng an den jeweils gegebenen Anlass u. die biografisch erschließbare Lebenswelt des Dichters halten. Daneben beschäftigte sich F. mit editor. Arbeiten (Anacreon. Tüb. 1622) u. legte eine lat. Teilübersetzung von Petrarcas Trionfi vor. Ausgaben: Ausgew. Werke. Hg. Gustav Bebermeyer. Lpz. 1925. – Nachruf auf Janus Gruter. In: Balthasar Venator: Ges. Schr.en. Hg. Georg Burkard. Heidelb. 2001. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1484–1489. – Gustav Bebermeyer: Tübinger Dichterhumanisten. Tüb. 1927. Neudr. Hildesh. 1967. – Gunther Haupt: F. H. F.s ›Moria rediviva‹ u. die bedeutendsten Vertreter des lat. Schuldramas im 16. u. 17. Jh. Tüb. 1928. – G. Bebermeyer: F. H. F. In: NDB. – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat. Tüb. 1982 (Register). – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 568–570. Wilhelm Kühlmann
Fleck, Konrad, um 1200. – Verfasser eines höfischen Liebesromans. Sein Name u. seine Person bleiben im Dunkeln, da er weder urkundlich bezeugt ist noch sich in seinem einzigen erhaltenen Werk, Flore und Blanscheflur (8006 Verse), selbst nennt. Rudolf von Ems erwähnt in den Literaturexkursen seines Willehalm von Orlens (um 1235) u. seines Alexander F. nicht nur als (bereits verstorbenen) Autor von Flore und Blanscheflur, sondern schreibt ihm auch einen nicht erhaltenen Cliges zu, der vielleicht von Ulrich von Türheim fertiggestellt wurde. Da F. an beiden Stellen zwischen Freidank u. dem Stricker eingeordnet wird, sein Werk andererseits intime Kenntnis des Hartmann’schen Sprachstils voraussetzt, dürfte Flore und Blanscheflur um 1220, vielleicht
(aufgrund des alemann. Sprachstandes) im Basler Raum oder im Elsass, entstanden sein. Thema ist die weltliterarisch verbreitete Geschichte einer Kinderminne: Floris, der Heide, u. Blanscheflur, die Christin, werden zur gleichen Stunde geboren u. wachsen in inniger Vertrautheit auf. Von Floris’ Vater, der um eine standesgemäße Heirat seines Sohnes fürchtet, auseinandergerissen, verzweifeln sie fast an der Trennung. Blanscheflur wird an den Fürsten (»amiral«) von Babilon verkauft, Floris gaukelt man vor, sie sei gestorben; erst als er im Begriff ist, an ihrem Grab Selbstmord zu begehen, erfährt er die Wahrheit, u. sein Weg der Suche beginnt. Er dringt schließlich, in einem Rosenkorb versteckt, in die Festung des Fürsten ein, erlebt eine kurze Zeit der Wiedervereinigung mit Blanscheflur, bis sie entdeckt u. zum Tode verurteilt werden. Als der Fürst jedoch von der Treue ihrer Liebe Kenntnis erhält, begnadigt er die beiden. Floris wird zum Ritter geschlagen u. tritt nach der Rückkehr des Paares in Spanien die Herrschaft an. Blanscheflur gebiert eine Tochter: Berhta, die Mutter Karls des Großen – die Geschichte erhält damit eine genealog. Anbindung. Beide Protagonisten sterben hundertjährig am selben Tag. F. folgt der frz. Vorlage (einer »version aristocratique« des Stoffes aus der Zeit um 1150/60) ziemlich genau u. setzt doch eigene Akzente, z.B. indem er im Prolog die Situation höf. Erzählens reflektiert oder bei der Kindheit der beiden Liebenden literar. Intertexte so präsent hält, dass höf. Liebe u. höf. Rede ununterscheidbar werden. An der ausführl. Darstellung einer auf Blanscheflurs angeblichem Grab angebrachten mechanist. Nachbildung eines Minnepaars, das sich umarmen, küssen u. miteinander reden kann, entwickelt F. ein nuanciertes Wechselspiel von Präsenz u. Repräsentation. Aus dem kostbaren Pokal, der Teil des Kaufpreises für Blanscheflur ist, macht er ein leitmotivisch die Erzählung durchziehendes schillerndes Stück: zgl. Objekt des Begehrens u. Substitut für die Begehrte, zgl. Träger einer Geschichte (des trojan. Kriegs) u. einer bildl. Darstellung (des Liebespaars Paris/Helena). Genaue Kompositorik, Detailreichtum u. reflexive Erfas-
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sung des Minnephänomens (z.B. des not- tung der Lit. Hg. Beate Kellner, Peter Strohschneiwendigen Wechsels von Freude u. Leid) kön- der u. Franziska Wenzel. Bln. 2005, S. 163–186. – nen als charakteristisch für die Erzählung Haiko Wandhoff: Bilder der Liebe – Bilder des gelten. Sie weist zwar nicht den Tiefgang Todes. F.s Flore-Roman u. die Kunstbeschreibungen in der höf. Epik des dt. MA. In: Die poet. Ekanderer höf. Romane auf, besitzt aber, was phrasis v. Kunstwerken. Hg. Christine Ratkopsycholog. Motivierung, Raum- u. Zeitge- witsch. Wien 2006, S. 55–76. Christian Kiening staltung angeht, eine beachtl. Geschlossenheit u. stellt überdies verschiedene Modelle der Pragmatik von Literatur u. Kunst zur Fleischer, Johann Michael, auch: SelimeDiskussion. Von höchster Intensität ist die nes, * 5.2.1711 Zschopau, † 9.3.1773 Liebeshandlung: Von vornherein (von der Renthendorf/Thüringen. – Pfarrer; UnWiege an) bestimmt füreinander, erfolgt die terhaltungsschriftsteller. endgültige Wiedervereinigung der Liebenden aufgrund beständiger »triuwe«, gegenseiti- Über die näheren Lebensumstände F.s ist nur gen Vertrauens u. Bedürfens bis in den Tod, wenig bekannt. Anscheinend studierte er in was schließlich auch den hartherzigen »ami- Halle u. Leipzig, bevor er in Wittenberg den ral« (obgleich konträt zu dessen rein körperl. Titel eines Magisters der Philosophie erwarb. Anschließend war er als Pastor der Gemeinde Liebesvorstellung) erweichen lässt. Große direkte Wirkung scheint der Erzäh- Renthendorf (Diözese Neustadt/Orla) tätig lung – wie auch schon dem ersten Versuch, (1741–1773). Nur zwei theologisch ausgerichtete Werke den Stoff im Deutschen heimisch zu machen, (Zuverlässige Nachricht von einem Gespenste. Lpz. dem fragmentar. Trierer Floyris (um 1160) – 1750. Der Zustand der Seelen nach dem Tode. nicht beschieden gewesen zu sein. Von Bruchstücken abgesehen, ist der Text voll- Lpz./Schleiz 1771) lassen sich F. mit Sicherständig erst in zwei in der Louber-Werkstatt heit zuweisen. Zeittypische Trinksprüche hergestellten (illustrierten bzw. zur Illustra- (Moralische und schertzhafte Gesundheiten zu eition vorgesehenen) Handschriften aus der nem angenehmen und erlaubten Zeitvertreibe, geMitte des 15. Jh. überliefert. Die Prosaversion sammlet von Selimenes. Freystadt/Breslau von 1499 geht bereits auf Boccaccio zurück. 1750), galant-frivole Romane (Der verliebte Journaliste. Ffm./Lpz. 1729. Begebenheiten [...]. Ausgaben: Flore u. Blanscheflur. Hg. Emil Kopenhagen 1731. Die nordische Lucretia. Ffm./ Sommer. Lpz. 1846. – Bruchstücke v. K. F.s ›Flore u. Blanscheflur‹. Hg. Carl Rischen. Heidelb. 1913. Lpz. 1731) u. mehrere Robinsonaden von literaturgeschichtlicher Bedeutung erschienen Literatur: Johanna Belkin: Das mechan. Menunter dem Pseudonym Selimenes u. sind mit schenbild in der Floredichtung K. F.s In: ZfdA 100 (1971), S. 325–346. – Peter Ganz: K. F. In: VL. – hoher Wahrscheinlichkeit F. zuzuordnen. Seine Robinsonaden repräsentieren zwei Verena Schäfer: Flore u. Blancheflur. Epos u. erfolgsträchtige Rezeptionsstadien der InselVolksbuch. Mchn. 1984. – Werner Röcke: Liebe u. Schrift. In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Welt- u. Abenteuermotivik von Daniel Defoes Robildwandel. Hg. ders. u. Ursula Schaefer. Tüb. binson Crusoe (1719). Soziale Deklassierung u. 1996, S. 85–107. – Patricia E. Grieve: ›Floire and abenteuerl. Odyssee, insulare ÜbergangsBlancheflor‹ and the European romance. Cam- existenz u. eth. Bewährung, vorsehungsbebridge 1997. – Michael Waltenberger: Diversität u. stimmte Schatzsuche u. gesellschaftl. AbsonKonversion. Kulturkonstruktionen im frz. u. im dt. derung nach glücklicher Heimkehr struktuFlorisroman. In: Ordnung u. Unordnung in der Lit. rieren die eine Romangruppe (Die wunderbahre des MA. Hg. Wolfgang Harms u. a. Stgt. 2003, und erstaunenswürdige Begebenheiten des Herrn S. 25–43. – Ludger Lieb u. Stefan Müller: Situatiovon Lydio [...]. Ffm./Lpz. 1730. Der Isländische nen literar. Erzählens. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 33–56. – Margreth Egidi: Der Immer- Robinson [...]. Kopenhagen/Lpz. 1755. Der Fägleiche. Erzählen ohne Sujet. In: Literar. Leben. roeische Robinson [...]. Kopenhagen/Lpz. 1756). Hg. Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer. Tüb. Eine zweite Romangruppe (Der Nordische Ro2002, S. 133–158. – Margreth Egidi: Implikationen binson [...]. Kopenhagen 1741. Nachdr. Ffm. v. Lit. u. Kunst in ›Flore u. Blanscheflur‹. In: Gel- 1971. Der Dänische Robinson. Kopenhagen/Lpz.
Fleischer
1750–53) radikalisiert die Verweigerungshaltung: Rückzugs- u. Zufriedenheitssehnsüchte werden nunmehr auf eine insulare Gemeinschaft ohne sozialutop. Züge projiziert. Motivierend in beiden Romangruppen wirkt der unausgesprochene Wunsch nach Überwindung gesellschaftlich-ökonomischer Unwägbarkeiten durch die glückende Existenzsicherung des autarken Individuums. Literatur: Hermann Ullrich: Robinson u. Robinsonaden. Weimar 1898. Nachdr. Lichtenstein 1977. – Jürgen Fohrmann: Abenteuer u. Bürgertum. Zur Gesch. der dt. Robinsonaden im 18. Jh. Stgt. 1981. – Jürgen Schlaeger: Die Robinsonade als frühbürgerl. ›Eutopia‹. In: Utopieforsch. Hg. Wilhelm Vosskamp. Bd. 2, Stgt. 1982, S.279–298. – DBA 327,182–183. – HKJL (1991), Sp. 1272 f. – Günter Dammann: Liebe u. Ehe im dt. Roman um 1730. In: Das Werk Johann Gottfried Schnabels u. die Romane u. Diskurse des frühen 18. Jh. Hg. ders. Tüb. 2004, S. 35–90. Adrian Hummel / Red.
Fleischer, Tobias, * 1630 Elbing, † Ende Nov. 1690 Kopenhagen. – Übersetzer. Nach der Gymnasialzeit in Elbing u. Bremen studierte der Sohn eines Weißgerbers Jura u. Mathematik in Helmstedt (Immatrikulation 21.8.1650), wo er sich mit Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg anfreundete. 1656 trat F. in die schwed. Kanzlei ein, ging dann 1661 als Sekretär des Grafen Anton nach Oldenburg. Er wirkte auch als Bibliothekar in Hannover u. zuletzt als dänischer Bergrat. Neben zahlreichen Kasualgedichten ließ F. ein Sammelwerk u. d. T. GlaubensGnaden- Helden- und Liebes-Spiegel durch zwo Traurspiele Polieyt und Cinna in französischen Reymen dargestellet (Oldenb. 1666) erscheinen (unvollst. Nachdr. u. d. T. Erstlinge von Tragedien, Helden-Reimen, und andern Tichtereyen. [Bremen] 1666). Die beiden Dramenübersetzungen, die sich eng an Versmaß u. Syntax des Originals halten, machten dem dt. Lesepublikum erstmals Dramen (Polyeucte u. Cinna) Pierre Corneilles zugänglich. Weitere Werke: Affectus posthumus seu elogium oratorium piis manibus [...] Francisci Helwingi [...]. Helmst. 1654. – Nachruhms-Cypres, aufgegrünet aus der hochgräfl. Leich-bestattung
472 der [...] verstorbenen [...] Augusta, Gräfin zu Sayn, Witgen u. Honstein [...] Oldenb. 1666. Literatur: Karl Heinrich Schmid: Corneille u. die dt. Lit. Ein Beitr. zur Gesch. der dt. Corneilleübers.en. Tl. 1: Die Übersetzer des 17. Jh. Esslingen 1909. – Heiduk/Neumeister, S. 33, 165 f., 337. – Martin Bircher: ›Der Chloris Winter-Lust‹. T. F. u. Anton Ulrich 1650 in Helmstedt. In: Barocker LustSpiegel. FS Blake Lee Spahr. Hg. Martin Bircher u. a. Amsterd. 1984, S. 205–243 (mit Werkverz.). Robert J. Alexander / Red.
Fleißer, Marieluise, * 22.11.1901 Ingolstadt, † 2.2.1974 Ingolstadt; Grabstätte: ebd., Westfriedhof. – Dramatikerin u. Prosaistin. Die Ingolstädter Herkunft (der Vater Heinrich Fleißer war dort Geschmeidemacher u. Eisenwarenhändler) mit der überschaubaren heimatl. Umgebung u. den ihr verwandten Menschen war für F. zeitlebens ein leidlich schützender Ort u. fruchtbarer Nährboden ihrer Sprache, durch Kleinbürgergeist, Bigotterie u. Provinzenge aber zgl. Fessel u. Behinderung. Nach dem Abitur am Klosterinternat der Englischen Fräulein in Regensburg begann sie in München Theaterwissenschaft (bei Artur Kutscher), Germanistik u. Philosophie zu studieren. 1922 begegnete sie Lion Feuchtwanger, durch dessen Vermittlung 1923 ihre erste Erzählung Meine Zwillingsschwester Olga (später u. d. T. Die Dreizehnjährigen) in der Zeitschrift »Das Tagebuch« (Bln.) veröffentlicht wurde. Durch Feuchtwanger lernte sie Bertolt Brechts Theaterarbeit kennen, die in ihr einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. F. beendete ihr Studium ohne Abschluss u. lebte als freie Schriftstellerin in Ingolstadt u. München, 1926 einige Monate u. von Mai 1929 bis zum Herbst 1932 ganz in Berlin. Diese Jahre bis 1932 waren trotz großer Entbehrungen die produktivsten ihres Lebens. Neben dem Stück Die Fußwaschung entstanden ihre ersten, eigenwilligen Erzählungen (u. a. Der Apfel, Die Stunde der Magd), die im Ton naiver Unbedarftheit von jungen Mädchen handeln, die mit ihrem erwachenden sexuellen Begehren einer gewalttätigen Männerwelt schutzlos ausgeliefert sind (Ein Pfund Orangen und neun andere Geschichten der
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M. F. aus Ingolstadt. Bln. 1929). Im schwülen Klima pubertärer Sexualität u. einer bigott myst. Glaubenshaltung ist auch das Stück Die Fußwaschung angesiedelt, in dem die Protagonisten, jugendl. Außenseiter, dem »Rudelgesetz der Kleinstadt« nicht entrinnen können. 1926 wurde das Drama durch Vermittlung Feuchtwangers u. Brechts u. d. T. Fegefeuer in Ingolstadt an der Jungen Bühne Berlin uraufgeführt u. von Herbert Ihering u. Alfred Kerr hochgelobt. In dem Stück Pioniere in Ingolstadt (Urauff. Dresden 1928), einer Komödie in lockerer Bilderfolge, gelang es ihr, noch pointierter die Beziehungen zwischen Männern u. Frauen als Mechanismen von Unterdrückung u. Abhängigkeit sichtbar zu machen. Die Soldaten geben den auf sie ausgeübten Druck u. Drill nach unten weiter. Am Ende der Kette stehen die Frauen, die sich von ihnen Abwechslung, Geld u. Liebe erhofft hatten. Die Kritik lobte v. a. F.s Sprachkraft, ihre bes. Diktion, »das Gestische in der Sprache des Volkes, schöpferische Gewalt, die sich zu gleichen Teilen aus entschiedenem Ausdruckswillen und aus Verfehlen und Ausgleiten zusammensetzt« (Walter Benjamin). Brecht hatte die Aufführung am Berliner Schiffbauerdammtheater 1929 durch Text- u. Regieeingriffe so scharf zugespitzt, dass der folgende von der rechten Presse initiierte Theaterskandal ihre Heimatstadt Ingolstadt über Jahrzehnte hinweg gegen sie einnahm u. sie, trotz des Lobes aller führenden Theaterkritiker, nachhaltig verunsicherte. Mit der Verlobung mit dem rechtskonservativen Journalisten u. erbitterten Brecht-Gegner Hellmut Draws-Tychsen im Aug. 1929 ging sie eine folgenreiche, über Jahre (bis 1934 dauernde) quälende u. ausbeuterische Verbindung ein. Während der Zeit der Weimarer Republik war F. überdies eine viel beachtete Feuilletonistin in den wichtigsten Tageszeitungen u. im neuen Medium Rundfunk. Bei den in der Zeit beliebten Umfragen war sie unter den Stimmen der jungen Generation häufig als einzige Frau gefragt. 1931 erschien in Berlin ihr einziger Roman Mehlreisende Frieda Geier (später u. d. T. Eine Zierde für den Verein. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben u. Verkaufen. Ffm. 61995), der heute
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als Prototyp des neusachl. Romans gilt, wenngleich in der Kleinbürgeratmosphäre Ingolstadts angesiedelt. Hier (wie auch in der Erzählung Abenteuer aus dem Englischen Garten von 1927) ist es die Frau, Frieda Geier, die die Spielregeln bestimmt u. ihre Selbständigkeit gegen die Unterordnung unter herkömml. Geschlechterrollen erfolgreich behauptet. F. selbst ging 1935 eine sie einengende Ehe mit dem Vereinsschwimmer u. Tabakwarenhändler Josef Haindl ein. In den folgenden 20 Jahren hinderten sie die verschiedensten Ursachen daran zu schreiben: die eigene Ablehnung ihrer früheren Arbeiten, Kräfteverzehr in Ladengeschäft u. Haushalt, Missbilligung durch die Ingolstädter Mitbürger, schwere körperl. u. psych. Krankheiten, Kriegseinsatz in der Rüstungsindustrie, Luftangriffe, Hunger u. Verarmung in der Nachkriegszeit u. v. a. das gänzl. Unverständnis des Ehemanns ihrem Schreibbedürfnis gegenüber. Sie verfasste in dieser Zeit nur zwei Dramen: Karl Stuart (entstanden 1938–44. Mchn. 1946) u. Der starke Stamm (Urauff. Mchn. 1950 durch Brechts Vermittlung). 1953 erhielt F. den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1961 den neu geschaffenen Kunstförderpreis der Stadt Ingolstadt. Damit entstanden, nach dem Tod des Ehemanns 1958, nun erstmals wieder Bedingungen, die ihr das Schreiben ermöglichten. In der Erzählung Avantgarde (Mchn. 1963) blendet F. mehrere – z.T. als autobiografisch erkennbare – Paargeschichten übereinander u. zeichnet so die Leidensgeschichte einer jungen begabten Frau, die vom Genie zunächst erkannt u. gefördert, in der Folge der Härte des Konkurrenzkampfes ausgeliefert u. zerstört wird. Avantgarde wurde trotz gegenteiliger Meinung der Autorin als Fleißer-Brecht-Geschichte rezipiert u. avancierte zu einem Kulttext der Neuen Frauenbewegung. Durch das veränderte polit. Klima in der Bundesrepublik Deutschland Ende der 1960er Jahre erinnerte man sich wieder der seit den 1930er Jahren vergessenen u. nun sozialkritisch gelesenen Theaterstücke, die F.s fulminante Wiederentdeckung einleiteten. Die jungen Dramatiker Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder
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u. Franz Xaver Kroetz bekannten sich offen zu F. als ihrem Vorbild. In ihren zwei letzten Lebensjahren griff F. für die von Kroetz angeregte Gesamtausgabe in ihr gesamtes Frühwerk empfindlich ein. Sie erlebte bedeutende Aufführungen ihrer Stücke. 1981, zum 80. Geburtstag, stiftete die Stadt Ingolstadt den Marieluise-Fleißer-Preis. Weitere Werke: Andorranische Abenteuer. Bln. 1932. – Der Tiefseefisch. Text. Fragmente. Materialien. Hg. Wend Kässens u. Michael Töteberg. Ffm. 1980. Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Günther Rühle. 3 Bde., Ffm. 1972. Erg. durch Bd. 4: Aus dem Nachl. Ffm. 1989. – Ausgew. Werke in einem Bd. Hg. Klaus Schuhmann. Bln./DDR 1979. – Die List. Frühe Erzählungen. Hg. Bernhard Echte. Ffm. 1995. 1997. – Erzählungen. Hg. G. Rühle. Ffm. 2001. – Briefe: Briefw. 1925–74. Hg. ders. Ffm. 2001. Literatur: Günther Rühle (Hg.): Materialien zum Leben u. Schreiben der M. F. Ffm. 1973. – M. F. In: Text + Kritik 64 (1979), mit Bibliogr. –– Günther Lutz: Die Stellung M. Fs. in der bayer. Lit. des 20. Jh. Bern/Ffm. 1979. – Eva Pfister: Unter dem fremden Gesetz. Zu Produktionsbedingungen, Werk u. Rezeption der Dramatikerin M. F. Diss. Wien 1981. – Sissi Tax: M. F. Schreiben ums Überleben. Versuch zur Biogr. Basel/Ffm. 1984. – Moray McGowan: M. F. Mchn. 1987. – G. Lutz: M. F. Verdichtetes Leben. Mchn. 1988 (Biogr.). – Ina Brueckel: Leben u. Schreiben der M. F. Freib. i. Br. 1996. – Sabine Göttel: ›Natürlich sind es Bruchstücke‹: Zum Verhältnis von Biogr. u. literar. Produktion bei M. F. St. Ingbert 1997. – Gast Mannes: M. F. & Alexander Weicker: ›Ich bin stolz auf ihn, solange ich lebe‹. Echternach 1999. – Anne Waterstraat: ›Ein System und keine Gnade‹: Zum Zusammenhang v. Gottesbild, Sündenverständnis u. Geschlechterverhältnis in ausgew. Texten M. F.s. Ffm. u. a. 2000. – Maria E. Müller u. Ulrike Vedder (Hg.): Reflexive Naivität. Zum Werk M. Fs. Bln. 2000. – Hiltrud Häntzschel: ›Diese Frau ist ein Besitz‹. M. F. zum 100. Geburtstag. Marbacher Magazin 96 (2001). – Dies.: M. F. Eine Biogr. Ffm. 2007. – Reihe: Schriftenreihe der M. F.-Gesellsch. e.V. Ingolst. 1997 ff. Hiltrud Häntzschel
Fleming, Flemming(ius), Paul, * 5.10.1609 Hartenstein im Vogtland, † 2.4.1640 Hamburg. – Lyriker. Dank der Unterstützung durch eine gräfl. Patin (Katharina von Schönburg) erhielt F.,
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Sohn eines protestant. Pfarrers, eine seiner Begabung angemessene Ausbildung zunächst an der Stadtschule in Mittweida, ab 1622 an der Thomasschule in Leipzig, wo er u. a. von dem Musikerdichter Johann Hermann Schein unterrichtet wurde. 1628–1633 studierte F. an der Leipziger Universität. Nach der vorgeschriebenen gelehrt-philolog. Ausbildung in der Artistenfakultät wandte er sich dem Studium der Medizin zu, das er am 2.5.1633 vorläufig mit dem Magistergrad abschloss. Der Schlesier Georg Gloger, der mit ihm in Leipzig studierte, machte F. mit den Vorstellungen von Martin Opitz über eine humanistisch geprägte Poesie in dt. Sprache bekannt. Erste Gedichte, zumeist Gelegenheitsgedichte (Trauer-, Hochzeits- u. Gratulationsgedichte, aber auch religiöse u. patriot. Texte), sowohl in lat. als auch in dt. Sprache, entstanden bereits in der Studienzeit. Der früheste Druck datiert auf das Jahr 1630. An den Anlass einer Hochzeit gebunden ist auch die erste Sammlung von Liebesgedichten, der lat. Zyklus Rubella seu Suaviorum liber I (Rubella oder das Buch der Küsse. Lpz. 1631). Mit ihm knüpft F. an Catull u. Platon u. die bes. von den Niederländern Johannes Secundus, Janus Lernutius u. Janus Dousa gepflegte Kussdichtung an (auch das spielerisch graziöse dt. Gedicht Wie er wolle geküsset seyn gehört hierher). Bereits die Rubella ist dem Petrarkismus dieser Dichter sowie der Franzosen Nicolas Bourbon u. Julius Cäsar Scaliger, des Niederländers Daniel Heinius u. des Martin Opitz explizit verpflichtet. Doch erst die postum erschienenen dt. Gedichte machen den ganzen Umfang der Rezeption u. schöpferischen Umgestaltung petrarkistischer Motive u. Denkformen deutlich: Sie preisen die Schönheit der Geliebten (nach Körperteilen getrennt) u. die mit ihr verbundenen Objekte u. Örtlichkeiten, beschäftigen sich mit dem Wesen der Liebe u. ihrer Wirkung u. benutzen zu diesem Zweck das ganze antithetische u. hyperbol. Arsenal der überlieferten Liebessprache, gelegentlich bis hin zum Parodistischen. Doch neben den traditionellen Motiven der klagenden Liebe, neben Selbstverlust u. Todessehnsucht, scheint bereits in der Rubella das Thema der Treue u. der bis zum Tod beider Partner währenden
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Liebe auf, das in den späteren Jahren stärker in den Vordergrund tritt, ohne dass man die für das 17. Jh. problemat. Kategorie der Entwicklung heranziehen oder von einer »Überwindung« des Petrarkismus sprechen könnte. Hier verbinden sich Motive der Liebes-, Freundschafts- u. Hochzeitsdichtung. Die bedeutendsten Leistungen F.s auf dem Gebiet der dt. Dichtung befinden sich dabei nicht zufällig unter den »Oden«. Stellen Sonett u. Alexandriner die angemessenen Formen dar, die Antithetik der petrarkist. Liebesauffassung auszudrücken, so ermöglicht die »Ode«, das Lied, einen schlichteren Ton, der an das Volks- u. Gesellschaftslied anklingt (z.B. Ein getreues Hertze wissen / hat des höchsten Schatzes Preiß), ohne dass damit eine Absage an die »gelehrte« Poesie in der Nachfolge von Opitz verbunden wäre. Allerdings führte der gerade in der Schlichtheit überaus gelungene Ausdruck aufgrund des mit der Empfindsamkeit gewandelten Literaturverständnisses zu der falschen Annahme, F. setze seine Empfindungen unmittelbar in Poesie um. F.s religiöse Dichtung bewegt sich in traditionellem Rahmen: Psalmendichtung, Reflexionen über christl. Glaubenswahrheiten u. Bibelsprüche, ein Passionsgedicht, geistl. Lieder. Vorbilder findet er hierfür nicht nur bei Protestanten, sondern z.B. in der jesuit. Andachtslyrik eines Sarbiewski. Religiöse u. patriot. Themen verbinden sich in den Texten, die sich auf die aktuelle Situation des Dreißigjährigen Kriegs, auf die Siege u. den Tod Gustav Adolfs beziehen. Von hier ist der Weg nicht weit zu polit. Appellen im Dienst der protestant. Sache (Schreiben Vertriebener Fr. Germanien an ihre Söhne / Oder die Churf. Fürsten und Stände im Teutschlande. Lpz. 1631). Auch Gedichte zu anderen »Gelegenheiten« verweisen immer wieder auf den düsteren Hintergrund des Kriegs. Wohl durch die Vermittlung von Adam Olearius, einem seiner Prüfer, erhielt F. die Möglichkeit, unter den »Hoff-Junckern und Trucksessen« (s. Teilnehmerverz.) an einer holstein. Gesandtschaft nach Russland u. Persien teilzunehmen (1633–1639), die eine neue Handelsroute durch Russland nach Persien erschließen sollte, um Holstein in den profitablen Orienthandel einzubinden. Das
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Unternehmen scheiterte, wurde aber berühmt durch Olearius’ Reisebeschreibung (1647 u. ö.), in der auch Gedichte F.s enthalten sind. Auf der Reise hatte F. außer mit dem Gesandtschaftssekretär Olearius freundschaftl. Umgang v. a. mit dem Arzt Hartmann Gramann, dem Stallmeister Johann Albrecht von Mandelslo, dem Teilnehmer der schwed. Gesandtschaft Georg Wilhelm Pöhmer u. dem Leibarzt des Zaren Wendelin Sibelist, der das gleiche Schiff wie die Gesandtschaft benutzte. Von diesen Männern sind zumindest Stammbucheinträge u. Gelegenheitsgedichte erhalten. Am 8.11.1633 schiffte sich die Gesandtschaft in Travemünde ein. Von Riga führte die Reise auf dem Landweg weiter über Nowgorod nach Moskau (Aufenthalt 14.8.-24.12.1634) u., nach Abschluss der Verhandlungen, zurück nach Reval. Dort wartete man über ein Jahr auf eine Bestätigung »über die abgehandelte Pacten« aus der Residenzstadt Gottorf. Während des Aufenthalts (10.1.1635–2.3.1636) fand F. Anschluss an gebildete Kreise der Stadt, Freundschaft schloss er v. a. mit den Professoren des Revaler Gymnasiums Timotheus Polus (poeta laureatus) u. Reiner Brockmann (Verfasser griechischer, lat., dt. u. estn. Gedichte). Zu dem Personenkreis, zu dem F. Beziehungen pflegte, gehörte außerdem die Familie des Kaufmanns Heinrich Niehusen mit seinen drei Töchtern, Elisabeth, Elsabe u. Anna. F.s Neigung zu Elsabe fanden ihren Niederschlag in mehreren Gedichten, in denen sie anagrammatisch verschlüsselt als Salvie, Basile, Salibene, Salibande erscheint. Doch nach Elsabes Heirat im Juni 1637, bei einem zweiten Aufenthalt in Reval (13.4.-11.7.1639) verlobte F. sich mit deren jüngerer Schwester Anna. (Die Weiterreise hatte zunächst wieder nach Moskau, dann mit dem Schiff die Wolga abwärts ins Kaspische Meer u. auf dem Landweg nach Isfahan, dem Sitz des Schahs, geführt, wo man am 3.8.1637 ankam. Am 21.12.1637 war man, ohne mit den Persern ins Geschäft gekommen zu sein, zur Rückreise nach Reval aufgebrochen.) F. reiste danach über Kiel u. Gottorf – hier endete offiziell die Gesandtschaftsreise – nach Leiden, immatrikulierte sich am 29.10.1639 an der Universität u. wurde am 23.2.1640 mit einer
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Arbeit über die Syphilis (De lue venerea) zum Doktor der Medizin promoviert. Er verließ Leiden am 7.3.1640. Auf der Rückreise nach Reval starb er an einer schweren Erkältung u. wurde in der Familiengruft der Familie Niehusen in Hamburg bestattet. Ein Großteil von F.s Dichtungen ist in den Jahren der Reise entstanden. Während die Liebe weiterhin sein Thema bleibt, verliert mit dem Aufbruch nach Persien die patriot. Thematik an Bedeutung, tritt aber später in veränderter Form, als Sehnsucht des »halbverlorenen Sohns« nach einer idealisierten Heimat, wieder hervor. F.s Verse begleiten die Reise. Er evoziert mit Hilfe eines verschwenderischen mytholog. Apparats die exot. Schauplätze, besingt die gesellschaftl. Anlässe u. Gelegenheiten, gedenkt der fernen Geliebten u. ruft die überstandenen Gefahren zurück: Stürme, Schiffbrüche, Tatarenüberfälle, Hunger u. Durst. Zgl. fördert die Reise, eine Ausnahmesituation, Selbstbeobachtung u. Selbstreflexion. So mag sie F. geholfen haben, den eigenen Ton zu finden. Das Gegenbild des von widerstreitenden Affekten hin u. her gerissenen petrarkist. Liebhabers, wie er in einem Teil der Liebesgedichte gezeichnet ist, zeigen die weltanschaulich-philosoph. Sonette (An Sich, Grafschrifft / so er ihm selbst gemacht), die ein Tugendprogramm auf der Basis des Neostoizismus enthalten u. voller Selbstbewusstsein die Gültigkeit u. Leistung des eigenen Lebens betonen, das durch die Dichtung der Unsterblichkeit versichert ist. Hier wirken die Ideale des Renaissancehumanismus nach. Stoische Handlungsmaximen formuliert auch das Alexandrinergedicht In grooß Neugart der Reussen. Es erinnert an Zlatna, ein Lehrgedicht von Opitz, das die »Ruhe deß Gemüthes« u. das einfache Leben preist. Die Einsamkeit ist der Ort der Reflexion über sich selbst. Zgl. stellt F. der zivilisator. Verderbnis u. der Welt des Krieges das genügsame Leben der russ. Bauern entgegen u. beschwört den Mythos vom Goldenen Zeitalter. Es sind alte Topoi, doch aktualisiert u. kritisch auf den Krieg u. die gesellschaftl. Zwänge des Absolutismus bezogen. Den stoischen Lebenslehren stehen freilich andere gegenüber, insbes. in der geistl. Lyrik: Das Ideal der Beständigkeit lässt sich
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auch christlich begründen (Laß dich nur nichts nicht tauren). Außer Einzeldrucken erschienen zu F.s Lebzeiten nur einige kleinere Sammlungen weltlicher u. geistl. Lyrik im Druck. Der ganze Umfang seines lyr. Schaffens in dt. Sprache wurde erst nach seinem Tod in der von Olearius besorgten Ausgabe der Teütschen Poemata (1646) sichtbar, die wie andere zeitgenöss. Gedichtsammlungen nach Gattungen (»Poetische Wälder«, Epigramme, Oden, Sonette) u. innerhalb dieses Rahmens nach Gegenständen gegliedert ist (Geistliche Sachen, Glückwünschungen, Leichen-, Hochzeits-, Liebesgedichte). Von den lat. Texten, die in der Tradition der antiken Dichtung u. der lat. Poesie der Renaissance u. der Zeitgenossen stehen, gab Olearius nur die Epigramme heraus (1649). Der größte Teil der lat. Werke blieb ungedruckt. Als Lyriker stellten schon die Zeitgenossen F. über das Vorbild Opitz. Obwohl F. sich nämlich als »Opitzianer« verstand, war er anders als sein Vorbild fast ausschließlich Lyriker; ein geplanter Roman (Margenis) kam nicht zustande. F.s Werk bedeutet den ersten Höhepunkt der neuen dt. Kunstdichtung des 17. Jh. Sein dichterischer Rang blieb auch in den folgenden Jahrhunderten unbestritten, wenn sich auch die Kenntnis seines Werks auf wenige Gedichte – Sonette u. Lieder – beschränkte. Das Leben des Weitgereisten u. Frühverstorbenen bot Stoff für Roman u. Novelle (u. a. Franz Theodor Wangenheim: Paul Fleming oder die Gesandtschaftsreise nach Persien. Historischer Roman. Lpz. 1842. Clara Gerhard, eigentl.: C. Gerlach: Ein getreues Herze wissen. In: Dies.: Aus dem Herzensleben berühmter Dichter. Novellen und Skizzen. Halle 1911. Werner Legère: In allen meinen Taten. Ein Paul-Fleming-Roman. Bln./DDR 1982). Weitere Werke: Erstausgaben: Arae Schönburgicae. Lpz. 1630. – Taedae Schoenburgicae. Lpz. 1631. – Davids / Des Hebreischen Königs u. Propheten Buszpsalme. Lpz. 1631. – Promus miscellaneorum epigrammatum et odarum. Lpz. 1631. – Klagegedichte Uber das unschüldigste Leiden unsers Erlösers u. Todt Jesu Christi. Lpz. 1632. – Gedichte Auff [...] Herrn Reineri Brockmans [...] Und der [...] Jungfrawen Dorotheen Temme / Hochzeit. Reval 1635 (Prosaekloge). – D. P. F.s Poetischer
477 Gedichten [...] Prodromus. Hbg. 1641. – Teütsche Poemata. Lübeck [1646]. Neudr. Hildesh. 1969. – Epigrammata latina. Amsterd. u. Hbg. 1649. – Marian R. Sperberg-McQueen: An Autograph Manuscript of Early Poems by P. F. in the Ratsschulbibl. in Zwickau. In: Humanistica Lovaniensia 42 (1993), S. 402–450. – Beate Czapla: Parentatio Adonidis. Ed. u. Interpr. eines bislang wenig beachteten Ged. v. P. F. In: Nlat. Jb. 4 (2002), S. 31–53. Ausgaben: Gesamtausgaben: P. F.s Lat. Gedichte. Hg. Johann Martin Lappenberg. Stgt. 1863. Neudr. Amsterd. 1969. – P. F.s Dt. Gedichte. Hg. ders. 2 Tle., Stgt. 1865. Neudr. Darmst. 1965. – Teilausgaben: Auserlesene Stücke der besten dt. Dichter. Hg. Friedrich Wilhelm Zachariä. Bd. 2, Braunschw. 1771, S. 1–324. – P. F.s erlesene Gedichte. Hg. Gustav Schwab. Stgt. 1820. – Auserlesene Gedichte. Hg. Wilhelm Müller. Lpz. 1822. – Gedichte. Hg. Julius Tittmann. Lpz. 1870. – P. F., Friedrich v. Logau u. Adam Olearius. Hg. Hermann Oesterley. Bln. u. Stgt. [1855]. Neudr. Tüb. 1974, S. 1–133. – Ausgew. lat. Gedichte. Hg. C. Kirchner. Halle [1901]. – Sei dennoch unverzagt. Eine Ausw. Hg. Uwe Berger. Bln. 1977. – Dt. Gedichte. Hg. Volker Meid. Stgt. 1986. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1490–1513. – Bibliogr. zur dt. Literaturgesch. des Barockzeitalters. Hg. Ilse Pyritz. 2. Tl., Bern 1985, S. 171–178. – Weitere Titel: Stephan Tropsch: F.s Verhältnis zur röm. Dichtung. Graz 1895. Neudr. Hildesh. 1976. – Friedrich Wilhelm Schmitz: Metr. Untersuchungen zu P. F.s dt. Gedichten. Straßb. 1910. – Paul Rave: P. F.s Lat.Lyrik. 1. Teil: Technik der imitatio antiker Autoren. Diss. Heidelb. 1925 (masch.). – Hans Pyritz: P. F.s dt. Liebeslyrik. Lpz. 1932. Neudr. New York 1967. – Eugen Honsberg: Studien über den barocken Stil in P. F.s dt. Lyrik. Würzb. 1938. – Siegfried Scheer: P. F. 1609–40. Seine literarhistor. Nachwirkungen in drei Jahrhunderten. In: Imprimatur 9 (1939/40), Sonderbeilage nach S. 176. – Liselotte Supersaxo: Die Sonette P. F.s. Chronologie u. Entwicklung. Diss. Zürich 1956. – H. Pyritz: P. F.s Liebeslyrik. Zur Gesch. des Petrarkismus. Gött. 1963. – Eva Dürrenfeld: P. F. u. Johann Christian Günther: Motive – Themen – Formen. Diss. Tüb. 1964. – Manfred Beller: Thema, Konvention u. Sprache der mytholog. Ausdrucksformen in P. F.s Gedichten. In: Euph. 67 (1973), S. 157–189. – Anna Maria Carpi: P. F. De se ipso ad se ipsum. Mailand 1973. – Wilhelm Kühlmann: Selbstbehauptung u. Selbstdisziplin. Zu P. F.s An sich. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. Volker Meid. Bd. 1, Stgt. 1982, S. 159–166. Wieder in: Kühlmann (2006),
Flemmer S. 500–518. – Jörg-Ulrich Fechner: P. F. In: Dt. Dichter des 17. Jh. Hg. Harald Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984, S. 365–384. – Dieter Lohmeier: P. F.s poet. Bekenntnisse zu Moskau u. Rußland. In: Russen u. Rußland aus dt. Sicht. 9.-17. Jh. Hg. Mechthild Keller. Mchn. 1985, S. 341–370. – P. F. Werk u. Wirkung. Wiss. Kolloquium [...] auf Schloß Stein in Hartenstein. Zwickau 1986. – Klaus Garber: P. F. in Riga. Die wiederentdeckten Gedichte der Sig. Gadebusch. In: FS Marian Szyrocki. Amsterd. 1988, S. 255–308. – Heinz Entner: P. F. Ein dt. Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Lpz. 1989. – Marian R. Sperberg-McQueen: The German Poetry of P. F. Studies in Genre and History. Chapel Hill/London 1990. – Maria Cäcilie Pohl: P. F. IchDarstellung, Übers.en, Reisegedichte, Münster/ Hbg. 1993. – Beate Czapla: Erlebnispoesie oder erlebte Poesie? P. F.s Suavia u. die Tradition der zyklusbildenden lat. Kußgedichte. In: Lat. Lyrik der Frühen Neuzeit. Hg. dies., Ralf Georg Czapla u. Robert Seidel. Tüb. 2003, S. 356–397. – K. Garber: Das Erbe Opitzens im hohen Norden. P. F.s Revaler Pastoralgedicht. In: Kulturgesch. der balt. Länder in der Frühen Neuzeit. Hg. ders. u. Martin Klöker. Tüb. 2003. – M. Klöker: Literar. Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jh. (1600–57). 2 Bde., Tüb. 2005. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 570–574. – K. Garber: Reise in den Osten. Martin Opitz – P. F. – Simon Dach u. die Überlieferung ihres Werkes. Köln/Weimar/Wien 2008. Volker Meid / Beate Czapla
Flemmer, Christian, * um 1648 bei Stintenburg bei Schwerin, † 1681/82. – Lyriker, Dramatiker u. Übersetzer. Nachdem F. bereits am 6.5.1657 in die Matrikel der Universität Helmstedt eingetragen worden war (»ritu depositionis initiatus«), erfolgte die förmliche Einschreibung erst am 1.7.1665 (»in numerum civium receptus«). Nach dem Studium wurde er Sekretär bei Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg. F.s Rosen (Helmstedt 1667) sind eine Sophie Elisabeth von Braunschweig gewidmete Sammlung von Madrigalen, Oden u. Stanzen, teils nach Vorlagen von Anakreon, Ariost u. Jakob Cats. Teutsche geistliche Elegien (o. O. [Wolfenb.] 1679) u. Teutsche geistliche Lieder u. Gesänge (Wolfenb. 1680) folgten. Für den Wolfenbütteler Hof verfasste er Gelegenheitsgedichte, eine handschriftlich überlieferte Beschreibung des Fürstlichen Lusthauses
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Salzdahlum (1697. Abdr. bei Gerkens) sowie kleinere, in Salzdahlum aufgeführte Schauspiele (Die zwey Weiber oder die Gedult des Sokrates [...]. Wolfenb. 1680, nach Niccolò Minatos La patienza di Socrate). Er korrespondierte lange mit Birken u. wurde 1681 als »Fidamor« in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen. Er übersetzte u. a. Werke des engl. Erbauungsschriftstellers u. Satirikers Joseph Hall (The great impostor [1623]. Der grosse Betrüger des Menschen Herze. Braunschw. 1674) u. des frz. Predigers der reformierten Kirchen zu Rochelle Laurent Drelincourt (La paix de dieu [1662]. Der Friede Gottes [...]. Wolfenb. 1680). Literatur: Monika Hueck: Gelegenheitsgedichte auf Herzog August v. Braunschweig-Lüneburg u. seine Familie (1579–1666). Ein bibliogr. Verz. der Drucke u. Hss. in der HAB Wolfenbüttel. Wolfenb. 1982. – Weitere Titel: Adelung 2, S. 1129. – Johann Herdegen: Histor. Nachricht. Nürnb. 1744, S. 524–536. – Heiduk/Neumeister, S. 33, 166, 337. – Gerhard Gerkens: Das fürstl. Lustschloß Salzdahlum u. sein Erbauer Hzg. Anton Ulrich. Braunschw. 1974. – Renate Jürgensen: Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnb. 1644 bis 1744. Wiesb. 1994. – Dies.: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Gesch. des Pegnesischen Blumenordens in Nürnb. (1644–1744). Wiesb. 2006, S. 523–525. Renate Jürgensen / Red.
Flesch, Hans, * 18.12.1896 Frankfurt/M., verschollen März 1945. – Rundfunkintendant u. Hörspielpionier. F. entstammte einer angesehenen Frankfurter Familie mit jüd. Vorfahren. Bereits während seines Medizinstudiums gehörte er einem Frankfurter Künstlerkreis an. Nach seiner Promotion 1924 begann er als Künstlerischer Leiter beim kurz zuvor gegründeten Frankfurter Rundfunk. Mit seinem aktuellen u. künstlerisch innovativen Programm errang F. so viel Anerkennung, dass man ihn 1929 zum Intendanten der Berliner Funkstunde berief. Rechtsgerichtete Angriffe führten 1932 zu seiner Entlassung, 1933 dann zur Verhaftung als Angeklagter im nationalsozialist. Rundfunkprozess. Nach der Freilassung 1935 lebte F. ohne eigenes Einkommen,
ab 1938 als kleiner Angestellter in Frankfurt/ M. u. Berlin. 1942 wurde er als Arzt dienstverpflichtet. Im März 1945 ist er als Sanitätsoffizier an der Ostfront verschollen. In die Hörspielgeschichte ist F. eingegangen als Autor des am 24.10.1924 gesendeten »Versuchs einer Senderspielgroteske« Zauberei auf dem Sender (in: Funk 1, 1924, S. 543–546). Auf parodist. Weise wird die Funktion des Rundfunks als Kulturvermittler reflektiert. Einzelne Programmteile verselbständigen sich, u. die stereotype Sendeabfolge löst sich vorübergehend in tumultartigen Szenen auf. Mit der Störung des Sendebetriebs von Zauberhand macht F. auf den Illusionscharakter des am Radioempfänger Gehörten aufmerksam. Während Heinz Schwitzke in seiner Hörspielgeschichte das Stück aufgrund seines experimentellen Charakters nicht als Hörspiel anerkennt, gilt es in der neueren Forschung als erstes Hörspiel des dt. Rundfunks. Weitreichende Bedeutung hatte F.s Engagement für die zeitgenöss. Kunst im Rundfunk. Auftragsarbeiten vergab er z.B. an Kurt Weill (in Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht) u. seinen Freund u. Schwager Paul Hindemith. Vor allem die Neue Musik galt ihm als Weg zu einer eigenständigen, von der Rundfunktechnik bestimmten akust. Kunst. Eine Voraussetzung für das rundfunkspezif. Hörspiel sah F. in der Abkehr von der Live-Sendung. Von ihm geförderte Versuche mit dem Aufzeichnungsverfahren des Tonfilms, wie z.B. Walter Ruttmanns erst 1978 wieder aufgefundene Montage Weekend (1930), konnten sich gegenüber den etablierten zeitgenöss. Hörspielformen nicht durchsetzen, wiesen aber voraus auf die Originalton-Kompositionen des Neuen Hörspiels. Literatur: August Soppe: Radio der ›Neuen Sachlichkeit‹ H. F. – Rundfunkintendant in der Weimarer Republik. SWF 1988 (Sendemanuskript). – Ders.: Radio Dämmerung. Zur Organisations-, Programm- u. Rezeptionsgesch. des neuen Mediums Rundfunk am Beispiel Frankfurt/M. 1923–26. Diss. Marburg 1988. – Joachim-Felix Leonhard (Hg.): Programmgesch. des Hörfunks in der Weimarer Republik. 2 Bde., Mchn. 1997. – Wolfgang Hagen: Der Neue Mensch u. die Störung. H. F.s vergessene Arbeit für den frühen Rundfunk. In:
479 Signale der Störung. Hg. Albert Kümmel. Mchn. 2003, S. 275–286. Theresia Wittenbrink
Flesch-Brunningen, Hans, eigentl.: Johannes Flesch Edler von Brunningen, auch: Johannes von Bruning, Vincenz (Vincent) Brun, * 5.2.1895 Brünn, † 1.8. 1981 Bad Ischl/Oberösterreich. – Verfasser von Romanen u. Erzählungen. Die weitverzweigte jüd. Familie der Flesch war, aus Frankfurt/M. kommend, in die österr. Erblande eingewandert; der Großvater F.s war zum Katholizismus übergetreten u. in den Adelsstand erhoben worden, sein Vater Joseph Flesch Edler von Brunningen leitete als kaufmänn. Direktor ein Industrieunternehmen. F. wuchs in Abbazia (Opatija) u. Wien auf, absolvierte das Gymnasium u. begann ein Jurastudium, das durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen wurde. Er diente als »Einjährig-Freiwilliger« in Wolhynien u. Italien. Danach nahm F. das Studium wieder auf u. wurde 1919 zum Dr. jur. promoviert; seit Okt. 1919 zum ersten Mal verheiratet, arbeitete er bis 1923 als Bankangestellter, dann als Rechtsanwaltsanwärter in einer Wiener Kanzlei. Im März 1925 verließ er seine Familie u. ging nach Italien, wo er v. a. auf Capri lebte. 1928 übersiedelte F., nicht zuletzt auf Drängen seines Freundes Albert Ehrenstein, nach Berlin u. fasste dort Fuß als freier Schriftsteller. Dazwischen unternahm er wieder Reisen nach Italien u. Frankreich; bei einem neuerl. Wienaufenthalt schloss er Freundschaft mit Heimito von Doderer. Da die Gefahr rassischer Verfolgung nach der Machtübernahme Hitlers zusehends wuchs, emigrierte F. im Nov. 1933 nach Holland. Anfang 1934 traf er in London ein. Beinahe völlig mittellos, brachte er sich anfangs mit Gelegenheitsarbeiten durch; später gelang es ihm, neben seinen Büchern auch Artikel in engl. Zeitschriften zu veröffentlichen. Im Febr. 1939 heiratete er Sophie Glücksmann († 1947); nach Ausbruch des Kriegs wurde er von den Engländern interniert, erhielt jedoch dann eine Anstellung in der österreichischen bzw. (ab 1940) dt. Sektion der BBC, für die er als Sprecher, Übersetzer u. Autor bis 1958 tätig war. Bereits vor
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dem Krieg hatte er seiner antifaschist. Überzeugung in Vorträgen für verschiedene Emigrantenorganisationen Ausdruck gegeben, u. seit der Gründung 1938 in London war er verstärkt im »Freien Deutschen Kulturbund« engagiert, dessen zeitweiliger Vorsitzender er auch später wurde. F. beteiligte sich 1943 an der Gründung des Club 43 u. war Mitgl., später Vorsitzender des PEN-Zentrums dt. Autoren im Ausland. 1958 kehrte F. nach Österreich zurück, ab 1963 lebte er wieder ständig in Wien. 1972 heiratete er die Schriftstellerin u. Übersetzerin Hilde Spiel, die er schon im Exil kennengelernt hatte. Sein erster Text, das Gedicht Lust, wurde von Alfred Kerr in die Wochenschrift »PAN« (3. Jg., 1912, Nr. 6) aufgenommen. Beträchtliches Aufsehen erregte knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sein Manifest Die Revolution der Erotik (in: Wiecker Bote 1, 1914, H. 11/12), gleichzeitig widmete ihm Franz Pfemfert eine Sondernummer seiner Zeitschrift »Die Aktion« (4. Jg., 25.7.1914). Der Hauptbeitrag dieses Heftes, die fantast. Erzählung Der Satan, wurde in der ersten selbständigen Publikation F.s, dem Novellenband Das zerstörte Idyll (Lpz. 1917. Ersch. in: Der jüngste Tag. Bd. 44/45), noch einmal abgedruckt. Das zeitkritische antibürgerl. Element dieser kurzen Prosaarbeiten verstärkt sich in dem Roman Baltasar Tipho. Eine Geschichte vom Stern Karina (Wien 1919) entscheidend: F. entwirft hier die alptraumartige Vision einer Welt, die zur absoluten Klassengesellschaft von »Unteren« u. »Oberen«, Herren u. Sklaven, verkommen ist. Die Entfremdung ist für die Protagonisten dieses utop. Romans zur allg. Erfahrung geworden, an ihr zerbricht schließlich auch der Titelheld. Inzwischen als einer der wenigen expressionist. Prosaautoren Österreichs anerkannt, thematisierte F. in der Erzählung Bürger Narr (Wien 1920) noch einmal die Revolte der jungen Generation. Wie bei zahlreichen anderen Autoren folgte auch bei F. gegen Ende der 1920er Jahre der Umschlag von der Utopie zu histor. Stoffen. Der auf ausführl. Vorstudien basierende Revolutionsroman Die Amazone (Bln. 1930) schildert das Schicksal eines Luxemburger Bauernmädchens während der Französischen
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Revolution; in die Zeit der Befreiungskriege Vertriebene. Von Ovid bis Gorguloff. Wien/Lpz. gegen Napoleon führt der Roman Die Herzogin 1933. – Die verführte Zeit. Lebenserinnerungen. von Ragusa (Salzb. 1935), dessen Heldin Marie Hg. u. mit einem Nachw. v. Manfred Mixner. Wien Louise, die Gattin des Marschalls Marmont, 1988. Literatur: Sylvia M. Patsch: H. F. In: Dies.: an der sie umgebenden soldatischen Männergesellschaft scheitert u. Selbstmord be- Österr. Schriftsteller im Exil in Großbritannien. Ein Kap. vergessener österr. Lit. Wien 1985, geht. Das Bild eines geschichtsmächtigen S. 73–101. – Helmut Kreutzer: Zu frühen dt. Hörhistor. Helden zeichnet F. in seinem nächsten spielen u. Hörspielkonzeptionen (1924–1927/28): Roman Alkibiades (Amsterd. 1936), der zu- ›Radiophantasie‹ u. ›Katastrophen-Finale‹. In: nächst in zwei Teilen in engl. Sprache er- Ders.: Deutschsprachige Hörspiele 1924–33. Ffm. scheint (Alcibiades Beloved of Gods and Men. New u. a. 2003, S. 9–23. – Schreibh. Bd. 61, Jg. 2003 [mit York 1935. Alcibiades Forsaken by Gods. London Beitr. zu H. F.]. – Evelyne Polt-Heinzl: H. F. 1936); die heitere Gelassenheit des Alkibiades (1895–1981). In: LuK H. 393/394, S. 101–109. Johannes Sachslehner / Ralf Georg Bogner gerät dabei zur radikalen Absage an zahllose zeitgenöss. Biografien »starker Männer«, wie sie v. a. von völk. Autoren verfasst wurden. Flex, Walter, * 6.7.1887 Eisenach, † 16.10. Die Erfahrung des Exils gestaltete F. zu1917 Peudehof/Insel Ösel (gefallen). – nächst in zwei Romanen, in denen eine Schriftsteller u. Soldat. spannende Kriminalgeschichte bzw. der polit. Wagemut der Hauptfiguren zum Aus- F. wurde als zweiter von vier Söhnen des gangspunkt für Reflexionen über das Exil- kulturell außerordentlich engagierten natioproblem werden: Masquerade (New York nalliberalen Gymnasialprofessors Rudolf 1938. U.d.T. Masquerade. The Blond Spider. Flex u. seiner Ehefrau Margarete geb. Pollack London 1939) u. Untimely Ulysses (London geboren. Nach dem Abitur in seiner Heimat1940); beide Werke wurden nicht ins Dt. stadt studierte er 1906–1911 in Erlangen u. Straßburg Germanistik u. Geschichte u. proübersetzt. Die düsteren Kriegsjahre in London schil- movierte mit einer Arbeit über die dt. Dedert F. in dem Roman Perlen und schwarze metriusdramen. Gleichzeitig betätigte er sich Tränen (Hbg. 1948. Mchn. 21980). Eine nur in der völkisch-nationalen Burschenschaft leicht verschlüsselte Chronik seines Lebens Bubenruthia Erlangen. Seit 1910 arbeitete er bis 1933, v. a. aber eine Auseinandersetzung überdies als Hauslehrer u. Erzieher auf adlimit seiner jüd. Herkunft bietet das Werk Die gen Gütern, bis 1913 zunächst bei der Familie Teile und das Ganze (Wien/Hbg. 1969), ein von Bismarck in Varzin (Hinterpommern) u. Roman, in dem F. als Ich-Erzähler Fritz Fle- in Friedrichsruh bei Hamburg, danach bis cker auftritt. Wie sehr die wechselvolle polit. zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf dem Geschichte dieses Jahrhunderts Glück u. Un- Landgut Retschke der Familie von Leesen in glück eines einfachen Menschen mitbe- der südl. Provinz Posen. Im Aug. 1914 melstimmten, zeigt das Alterswerk F.s, der Ro- dete er sich freiwillig zum Kriegsdienst. Nach man Die Frumm (Mchn. 1979. Ffm. 1981), kurzer Ausbildung verbrachte er den ersten exemplarisch am Schicksal einer Tingeltan- Kriegswinter in Lothringen an der Westfront. Im März 1915 wurde er sodann zur Offigel-Tänzerin u. späteren Toilettenfrau. Das umfangreiche Werk, zu dem auch ziersausbildung nach Posen abkommandiert. Hörspiele u. Übersetzungen zählen, gerät, Hier lernte er den kriegsfreiwilligen Theoloauch u. gerade in Österreich, zunehmend in gie-Studenten Ernst Wurche kennen, dessen Tod im Aug. 1915 zum traumat. Erlebnis Vergessenheit. wurde. Zum Leutnant befördert, wurde F. im Weitere Werke: Gegenspiel. Wien 1920 (N.n). – Die beiden Wege. Ein Buch der Jugend. Baden-Ba- Mai 1915 an die Ostfront versetzt, wo er in den 1928 (E.). – Auszug u. Wiederkehr. Bln. 1929 den folgenden zwei Jahren zumeist in Nord(R.). – Wasser u. Wein. In: Berliner Tagebl., 1931 ostpolen u. im Baltikum stationiert war. 1917 (Fortsetzungsr.). – Die Frauen v. Villa Nordpol. In: hielt er sich vorübergehend zu kriegsgeBerliner Börsenkurier, 1931 (Fortsetzungsr.). – schichtl. Arbeiten in Berlin auf, kehrte aller-
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dings schon bald an die Front im Osten zurück. Er fiel als Kompaniechef bei der Eroberung der estn. Insel Ösel während eines militärisch bedeutungslosen Scharmützels. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg versuchte sich F. zunächst erfolglos mit histor. Dichtungen sowie mit Novellen u. einer Tragödie, die den zeitgenöss. Bismarck-Kult bedienten. Bekannter wurde er erst mit Kriegsgedichten, die er seit Aug. 1914 u. a. in der »Täglichen Rundschau« – einer auflagenstarken überregionalen Tageszeitung – veröffentlichte. Sie wurden nach ihrem Erstdruck bis 1917 auch in drei Anthologien publiziert. Den bei Weitem größten Nachhall fand F. jedoch mit seiner autobiografisch orientierten Schrift Der Wanderer zwischen beiden Welten (Mchn. 1916). Diese Darstellung des Kriegserlebens wurde über eine Million Mal aufgelegt u. avancierte nicht nur zum erfolgreichsten Buch eines dt. Schriftstellers im Ersten Weltkrieg, sondern zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Bücher des 20. Jh. überhaupt. Für mindestens zwei Generationen deutscher Jugendlicher wurde es zum Kultbuch. Es begründete für F. den Rang eines Klassikers der Moderne, der bis 1945 unbestritten blieb. Es war außerdem in Deutschland prototypisch für das Genre der autobiografisch gefärbten Kriegserzählungen, die bis in die 1930er Jahre einen großen Teil des dt. Buchmarktes beherrschten. In seiner Rezeption ist es in diesem Zusammenhang deshalb nur mit den Werken Ernst Jüngers u. Erich Maria Remarques vergleichbar. F.’ Romanprojekt Wolf Eschenlohr (1917) blieb dagegen Fragment. F. setzte mit dem Wanderer zwischen beiden Welten seinem Kameraden u. Freund Ernst Wurche ein literar. Denkmal: dem geborenen Menschenführer, dem Wanderer zwischen Leben u. Tod, Diesseits u. Jenseits, bereit zum Opfer für das Heil des dt. Volkes. Solch religiös inspirierte, christl. Frömmigkeitsstrukturen aufgreifende u. bedienende Stilisierung samt ihrer homoerot. Tönung entsprang zunächst einmal F.’ ganz persönlichem Bedürfnis, seine traumat. Verlusterfahrung zu bewältigen. Die Literatur avancierte auf diese Weise zum Medium der Trauerarbeit, aber
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auch zu dem der – nationalistischen – Sinngebung des eigentlich als sinnlos Erkannten. Damit entsprach F. jedoch zgl. den lebensweltl. Erfahrungen u. emotionalen Bedürfnissen vieler Menschen im dritten Jahr des Ersten Weltkriegs, insbes. der durch Einflüsse der Jugendbewegung vorgeprägten Angehörigen der Frontsoldaten- u. KriegsjugendGeneration. Mit der zwischen expressionistischem Stakkato u. zarter Naturpoesie changierenden, zahlreiche lyr. Einschübe, Allusionen, Montagen u. innere Monologe enthaltenden Form des Buches kam er ihrem Geschmack auch stilistisch entgegen. F.’ Wanderer wurde so zu einem Bekenntnisbuch, sein darin enthaltenes Gedicht Wildgänse rauschen durch die Nacht zu einer Art Erkennungslied. F. kannte die Ängste, Nöte, Hoffnungen u. seel. Bedürfnisse seines Publikums aus eigener Lebenserfahrung, nahm sie ernst u. brachte sie in einer eingängigen, suggestiven, identifikatorisches Lesen erleichternden Sprache auf den Punkt. Totenkult u. sittlich verklärte, spirituell aufgeladene Volksgemeinschaftsmythologie, Adoration des charismat. Führers u. kulturrevolutionärer Sozialdarwinismus verbanden sich bei ihm zu einem zgl. modernisierten u. radikalisierten Nationalismus, dessen protofaschist. Züge ebenso unverkennbar sind wie seine religiöseschatolog. Dimension. Weitere Werke: Die Entwicklung des trag. Problems in den dt. Demetriusdramen v. Schiller bis auf die Gegenwart. Eisenach 1912 (Diss.). – Zwölf Bismarcks. Bln. 1913 (N.). – Klaus v. Bismarck. Bln. 1913 (D.). – Das Volk in Eisen. Lissa 1914 (L.). – Sonne u. Schild. Braunschw. 1915 (L.). – Vom großen Abendmahl. Mchn. 1915. – Im Felde zwischen Nacht u. Tag. Mchn. 1917 (L.). Die russ. Frühjahrsoffensive 1916. Oldenb. 1919. Ausgabe: Ges. Werke. 2 Bde., Mchn. 1925. Literatur: Johannes Klein: W. F., ein Deuter des Weltkrieges. Ein Beitr. zur literaturgeschichtl. Wertung dt. Kriegsdichtung. Marburg 1929. – Gert Sautermeister: Vom Werther zum Wanderer zwischen beiden Welten. Über die metaphys. Obdachlosigkeit bürgerl. Jugend. In: ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend. Hg. Thomas Koebner. Ffm. 1985, S. 438–478. – Justus H. Ulbricht: Der Mythos vom Heldentod. Entstehung u. Wirkungen v. W. F.’ ›Der Wanderer zwischen beiden Welten‹. In: Jb. des Archivs der dt. Jugendbewe-
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gung 16 (1986/87), S. 111–156. – K. Eckhard KuhnOsius: Ein konservatives Bild des Ersten Weltkriegs: W. F.’ ›Wanderer zwischen beiden Welten‹. In: Heinrich-Mann-Jb. 5 (1987), S. 189–215. – Raimund Neuß: Anmerkungen zu W. F. Die ›Ideen von 1914‹ in der dt. Lit. Ein Fallbeispiel. Schernfeld 1992. – Bernd Spiekermann: ›Willfährigkeit gegen das Göttliche u. Wehrhaftigkeit gegen das Menschliche‹. Religion u. Nation im Werk v. W. F. Münster 2000. – Markus Henkel: W. F. u. Erich Maria Remarque – ein Vergleich. Kriegsbild u. Kriegsverarbeitung in W. F.’ ›Wanderer zwischen beiden Welten‹ (1916) u. Erich Maria Remarques ›Im Westen nichts Neues‹ (1929). In: HeinrichMann-Jb. 19 (2001), S. 177–211. – Hans Rudolf Wahl: Die Religion des dt. Nationalismus. Eine mentalitätsgeschichtl. Studie zur Lit. des Kaiserreichs: Felix Dahn, Ernst v. Wildenbruch, W. F. Heidelb. 2002. – Hans Wagener: Wandervogel u. Flammenengel: W. F.: Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis (1916). In: Von Richthofen bis Remarque. Hg. Thomas F. Schneider. Amsterd. u. a. 2003, S. 17–30. – Lars Koch: Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken v. W. F. u. Ernst Jünger. Würzb. 2006. Hans Peter Bleuel / Hans Rudolf Wahl
Flinker, Robert, * 16.7.1906 Wiznitz/ Bukowina, † 15.7.1945 Bukarest (Freitod); Grabstätte: ebd. – Lyriker, Erzähler u. Romanautor.
werteten Nachlass fanden sich, neben einer autobiogr. Chronik der Jahre 1940–1944, Gedichte, Erzählungen u. zwei Romane. Die autobiogr. Aufzeichnungen wurden von seinem Bruder, dem Germanisten Ernst Maria Flinker, aus Angst vor dem rumän. Sicherheitsdienst verbrannt. Sie enthielten wichtige Hinweise auf die Lebensumstände F.s zu der Zeit, als er seine beiden Romane Der Sturz (Bukarest 1970) u. Fegefeuer (Bukarest 1968. Bern/Olten 1983; mit einem Nachw. v. Bernd Kolf. Aachen 2005) schrieb. Der Sturz handelt von einem Mitläufer, der Handlanger eines totalitären Regimes wird, ohne von ideologischen oder polit. Überzeugungen geleitet zu werden. Die einzige Möglichkeit der freien Willensbekundung sieht er im Freitod. Von moralischem Rigorismus zeugt auch F.s zweiter Roman Fegefeuer. Dem Protagonisten Gregor Husum wird überbracht, dass er von einem ihm unbekannten Gericht angeklagt worden sei. Die themat. Anlehnung an Kafkas Prozeß ist nicht zu übersehen. Doch anders als bei Kafka geht es nicht um eine ontolog. Schuld, sondern um tägliches Versagen. Literatur: Gerhardt Csejka: Die Quellen eines Vorurteils (zu: ›Fegefeuer‹). Im Zeichen der Eigenwilligkeit (zu: ›Der Sturz‹). In: Emmerich Reichrath: Reflexe. Krit. Beiträge zur rumäniendt. Gegenwartslit. Bukarest 1977, S. 122–128.
F. war der Jüngste in einer kinderreichen jüd. Klaus Hensel / Red. Familie aus Wiznitz, einem kleinen Ort im habsburgischen Kronland Bukowina. Er besuchte das Gymnasium in Czernowitz, um Flir, Alois (Cäsar Kasimir), * 7.10.1805 anschließend in Wien, u. a. bei dem NobelLandeck-Angedair/Tirol, † 7.3.1859 Rom; preisträger Wagner-Jauregg, Medizin zu stuGrabstätte: ebd., Kirche Santa Maria dieren. Nach Abschluss des Studiums arbeidell’Anima. – Erzähler, Dramatiker, Ästete F. als Nervenarzt zunächst in Deutschthetiker. land (1930–1932), dann im mittlerweile rumän. Czernowitz (1932–1936 sowie 1940/41), Der Sohn eines Müllers u. Krämers verlor in der Schweiz (1936–1940) u. zuletzt in Bu- während des Tiroler Freiheitskampfes von karest (1944–1945). 1809 seine Mutter. In Innsbruck belegte er F. veröffentlichte zahlreiche medizin. Ab- 1824–1826 den philosoph. Vorbereitungshandlungen, z.B. über Pellagra, über Psy- kurs, nahm anschließend eine Hofmeisterchopathologie u. über neuropsychiatr. Strö- stelle in Wien an u. studierte nebenbei Memungen in der rumän. Medizin. Im Berliner dizin, klass. Philologie u. Philosophie. Ange»Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank- regt durch eine Fastenpredigt des Konvertiheiten« erschien 1938 die Studie Jakob Harin- ten Emanuel Veit, entschloss sich F. 1829, ger. Eine psychopathologische Untersuchung über Priester zu werden; dem Theologiestudium Lyrik. Mit Hinweisen auf Hermann Hesse und Max in Wien u. am Priesterseminar Brixen folgte Hermann-Neiße. Im nicht vollständig ausge- 1833 die Priesterweihe. Zunächst als Hilfs-
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Literatur: Franz Anton Lanznaster: A. F. – Eine priester tätig, erhielt er 1835 die Professur für klass. Philologie u. Ästhetik an der Universi- biogr.-literar. Studie. Innsbr. 1899. – Friedrich tät Innsbruck. F.s stark von Schelling u. He- Drlicek: A. F. Ein Lebensbild. Diss. Wien 1952. – gel beeinflusste »christliche Philosophie« Josef Gelmi: Gesch. der Kirche im Tirol. Innsbr./ Wien/Bozen 2001. – Ekkart Sauser: A. Kasimir F. wurde zum Motor des Aufbruchs im Tiroler In: Bautz. Johannes Sachslehner / Red. Geistesleben vor 1848. Als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung setzte er sich 1848 erfolgFlitner, Wilhelm, * 20.8.1889 Bad Berka/ reich gegen die Entlassung »Welschtirols« Thüringen, † 21.1.1990 Tübingen. – Päaus dem Deutschen Bund zur Wehr. Nach dagoge. seiner Rückkehr nach Innsbruck zum akadem. Prediger ernannt, versuchte er weiter- F. entstammt einer thüringischen evang. hin, in monarchisch-konstitutionellen Verei- Handwerkerfamilie. Nach dem Abitur in nen politisch wirksam zu werden. 1852 Weimar studierte er in München u. Jena wurde F. beurlaubt u. nach Wien berufen, um Germanistik, Anglistik, Philosophie u. Gehier für das Unterrichtsministerium den schichte; 1912 promovierte er bei Herman Stand der österr. Universitätsreform zu ana- Nohl in Jena. Die Ausbildung zum Studienrat lysieren. 1853 wurde er vom Ministerium als wurde durch die Teilnahme am Ersten WeltPrediger an der dt. Nationalkirche St. Maria krieg unterbrochen. Von 1919 an beteiligte dell’Anima in Rom eingesetzt; als Rektor sich F. an Aufbau u. Leitung der VHS Jena u. betrieb er tatkräftig die Reorganisation dieser wurde Mitgl. des Hohenrodter Bundes (Laimittelalterl. Stiftung. Gleichzeitig wurde er enbildung. Jena 1921). Nach der Habilitation zum Mittelpunkt eines Künstler- u. Gelehr- 1923 im Fach Erziehungswissenschaft in Jena tenkreises in Rom. 1858 erfolgte die Ernen- lehrte F. von 1926 an zunächst an der Pädnung zum päpstl. Hausprälaten u. zum Au- agogischen Akademie Kiel, dann 1929–1958 an der Universität Hamburg, wo sein ditor der Sacra Rota Romana. Das Erstlingswerk F.s, das von Grillparzers Hauptwerk Allgemeine Pädagogik (Breslau 15 Ahnfrau angeregte Drama Alfred der Große, Kö- 1933. Ffm. 1980. Stgt. 1997) entstand. Nach dem Zweiten Weltkrieg war F. maßgeblich an nig von England, dürfte verloren gegangen sein. Die 1820 begonnene, 1845 fertigge- den Plänen zur Gymnasialreform beteiligt. stellte u. uraufgeführte Tragödie Regnar Die Theorie des Gymnasiums u. die histoLodbrog oder Der Untergang des nordischen Hei- risch-systemat. Begründung seines Bildenthums (Innsbr. 1865), ein Lesedrama, be- dungskanons in der europ. Geistes- u. Wishandelt den Machtkampf zwischen Norman- senschaftsgeschichte enthält F.s bedeutende nen u. Sachsen am Vorabend der Christiani- Aufsatzsammlung Grundlegende Geistesbildung sierung. Popularität erlangten seine Bilder aus (Heidelb. 1965. Dazu auch: Hochschulreife und den Kriegszeiten Tirols (Innsbr. 1846. Neuausg. Gymnasium. Heidelb. 1959. Die gymnasiale 1878), in denen F. anhand von Augenzeu- Oberstufe. Heidelb. 1961). Da F. in der NS-Zeit die Verantwortung für genberichten Ereignisse des Jahres 1809 schildert, sowie die Erzählung Die Manharter die Lehrerbildung in Hamburg entzogen (Innsbr. 1852). Darin verfolgt F. das Schicksal worden war, widmete er sich geistes- u. unieiner politischem u. religiösem Fanatismus versalgeschichtl. Studien. 1947 erschien Goehuldigenden Sekte, die ursprünglich in der the im Spätwerk (Hbg.). F. erfasste die innere Abwehr Napoleons entstanden war. Größere Einheit von Goethes Alterswerk im ZusamBeachtung fanden auch die Briefe aus Rom menhang von dessen religiöser u. ethischer (Innsbr. 1864) aufgrund ihrer kompromiss- Gesamtaussage u. zeigte zgl. die Verbindungslinien sowohl zu Goethes religiöser losen Sprache. Weitere Werke: Briefe aus Innsbruck, Frank- Jugendentwicklung als auch zu dessen Stelfurt u. Wien (1825–53). Innsbr. 1865. – Briefe über lung in der europ. Gesittungsgeschichte seit Shakespeare’s Hamlet. Innsbr. 1865. Erstdr. in der Renaissance u. Humanismus. Die Europäische Gesittung. Ursprung und Aufbau abendländischer Wochenschr. Phönix (1850/51).
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Lebensformen (Zürich 1961. U. d. T. Geschichte Flögel, Karl Friedrich, * 3.12.1729 Jauer/ der abendländischen Lebensformen. Mchn. 1967) Schlesien, † 7.3.1788 Liegnitz. – Philozeigt zum einen die antiken u. alteurop. Be- soph u. Literaturhistoriker. gründungen von Lebensformen, zum anderen die Aufklärungsbewegungen der Moder- Der Sohn eines Lehrers besuchte ab 1748 das ne als Geschichte der europ. Libertäten. Im Magdalenengymnasium zu Breslau u. nahm Zentrum steht die Frage, ob die Aufklärungs- 1752 das Theologiestudium in Halle auf, wo u. Zivilisationsgeschichte der Moderne in er bei Sigmund Jakob Baumgarten Theologie, gesittete Lebensformen einmünden könne. bei Christian Wolff Philosophie u. bei Georg F.s Europäische Gesittung ist der einzige be- Friedrich Meier, dem Schüler Alexander deutende Entwurf einer Zivilisations- u. Gottlieb Baumgartens, Philosophie u. Ästhetik hörte. Als cand. theol. kehrte F. 1754 in Kulturgeschichte als Bildungsgeschichte. seine Heimat zurück. Nach mehrjähriger Weitere Werke: Das Selbstverständnis der Erziehungswiss. Eine Studie über Hermeneutik u. Hofmeistertätigkeit wurde er 1761 Lehrer am Pragmatik, Sinnauslegung u. Normauslegung (mit Magdalenäum in Breslau, 1762 Prorektor u. einem Nachw. v. Ulrich Herrmann). Paderb. 1989. 1773 Rektor der Stadtschule in Jauer. 1774 – Biografisches: Selbstdarstellung in: Pädagogik in wurde er als Professor für Philosophie an die Selbstdarstellungen. Bd. 2, Hbg. 1976, S. 146–197. Ritterakademie Liegnitz berufen, wo er bis zu – Lebenserinnerungen 1889–1945. In: Ges. seinem Tod wirkte. Seit 1772 war er Beisitzer Schr.en. Bd. 11, Paderb. 1986. der Königlichen Gesellschaft der WissenAusgabe: Ges. Schr.en. Paderb. 1982 ff. (bisher schaften in Frankfurt/O. 11 Bde.). Im dt. 18. Jh. war F. Pionier einer HistoLiteratur: Klaus Heinen: Das Problem der riografie der nicht schönen u. nicht erhabeZielsetzung in der Pädagogik W. F.s. Bern 1973 nen Literatur- u. Kulturformen, des Komi(mit Primär- u. Sekundärbibliogr. S. 265–304). – schen, Grotesken u. Burlesken, der Parodie, Karl Erlinghagen: W. F. In: Gesch. der Pädagogik Travestie, Karikatur u. Satire, der Fratzen, des 20. Jh. Bd. 2, Stgt. 1978, S. 93–105. – Hans Scheuerl: W. F. In: Klassiker der Pädagogik. Bd. 2, Possen u. Zoten, der Maskerade u. des NarMchn. 1979, S. 277–289. – Hans Bernhard Kauf- rentums. Seine Geschichte der komischen Littemann (Hg.): Kontinuität u. Traditionsbrüche in der ratur (4 Bde., Liegnitz/Lpz. 1784–87. Neudr. Pädagogik. Im Gespräch mit W. F. u. Ulrich Herr- Hildesh./New York 1976. Mikrofiche-Ed. mann. Münster 1987. – Hermann Röhrs (Hg.): Mchn. u. a. 1990–94. Fortgeführt v. Friedrich Richtungsstreit in der Erziehungswiss. u. pädagog. Wilhelm Ebeling u. d. T. Geschichte der komiVerständigung. W. F. zur Vollendung seines 100. schen Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Lebensjahres am 20. Aug. 1989 gewidmet. Ffm. 3 Bde., Lpz. 1862–69. Neudr. Hildesh./New 1989. – Helmut Peukert (Hg.): W. F. u. die Frage York 1971. Zuletzt Hildesh. 1979) enthält nach einer allg. Erziehungswiss. im 20. Jh. Weinh. 1991. – Titus Keller: W. F.s Stereotyp v. ›Bildsam- neben einer poetolog. Abhandlung vom Komikeit‹ (1933 ff.) im Vergleich zum Bildsamkeitsge- schen oder Lächerlichen überhaupt eine biograbrauch u. -verständnis zwischen 1981 u. 2000. Re- fisch u. quellengeschichtlich angelegte Gegensb. 2001. – Kevin Nieberg: Der Begriff der schichte der Satire u. der Komödie von der ›Bildsamkeit‹. Ein Konstrukt ›Allgemeiner Päd- Antike bis ins 18. Jh. In den postum erschieagogik‹ bei Johann Friedrich Herbart u. W. F. Re- nenen Fortsetzungen seines Opus Magnum gensb. 2002. – Jürgen Osterloh: Identität der Er- steigt F. auf den Stufen des Komischen bis zu ziehungswiss. u. pädagog. Verantwortung. Ein dessen »allerniedrigsten«, derb-volkstüml. Beitr. zur Strukturdiskussion gegenwärtiger ErManifestationen, zur »Hefe und Grundsuppe ziehungswiss. in Auseinandersetzung mit W. F. der Sprache« hinab: Geschichte des Grotesk-KoBad Heilbrunn 2002. Ulrich Herrmann / Red. mischen. Ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit (Liegnitz/Lpz. 1788. Bearb., erw. u. fortgeführt v. Ebeling. Lpz. 1867. 51888. Neudr. Dortm. 1978. Neu bearb. u. nach der Ausg. von 1788 fortgeführt v. Max Bauer. 2 Bde., Mchn. 1914. Mikrofiche-Ed. Mchn. u. a.
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Fock
1990–94), Geschichte der Hofnarren (Liegnitz/ Fock, Gorch, eigentl.: Johann Kinau, Lpz. 1789. Neudr. Hildesh./New York 1977. * 22.8.1880 Finkenwerder bei Hamburg, Mikrofiche-Ed. Mchn. u. a. 1990–94), Ge- † 31.5.1916 in der Seeschlacht im Skaschichte des Burlesken (Hg. Friederich Schmit. gerrak; Grabstätte: Insel Steensholm/ Lpz. 1794). Der humorist. Literatur um 1800 Schweden. – Seeschriftsteller. (Jean Paul, Karl Julius von Weber) bot F.s Werk eine Fundgrube ersten Ranges. F. stu- F. war das älteste Kind einer Seefischerfamilie dierte im Komischen die Vor- u. Frühge- von Finkenwerder, ergriff aber seiner schichte der höheren Kultur u. den Ursprung schwächl. Natur wegen nicht den Beruf des der Literatur in der Folklore u. zählt so zu den Vaters, sondern wurde nach Ablauf der Vätern der Kultursoziologie u. Sittenge- Schulzeit Kaufmannslehrling in Geestemünde. 1904 nahm er in Hamburg eine Stelle bei schichtsschreibung des 19. Jh. Sein »Blick von unten«, seine Aufmerk- der Hamburg-Amerika-Linie an. 1915 wurde samkeit für die niedrige Herkunft alles Ho- F. zur Infanterie eingezogen u. kämpfte in hen, verrät die Nähe zur empir. Anthropolo- Serbien u. Russland, bis er im März 1916 auf gie der Spätaufklärung, die noch die sub- eigenen Wunsch zur Marine versetzt wurde. limsten Geistesfunktionen des Menschen auf In der Schlacht am Skagerrak ging er mit dem ihre soziolog. u. physiolog. Wurzeln hin er- Kreuzer »Wiesbaden« unter. F. erlebte die zu Ende gehende Epoche der forschte. In der frühen Geschichte des menschlichen Verstandes (Breslau 1765. Ffm./Lpz. Segelschifffahrt, der er in seinen Werken ein 3 1776. Neudr. Ffm. 1972. Mikrofiche-Ed. Denkmal setzen wollte. Obwohl er nur weWolfenb. 1996), seinem zu Lebzeiten be- nige eigene naut. Erfahrungen hatte, gilt er kanntesten Buch, hatte F. selbst eine Ein- als der bedeutendste dt. Seeschriftsteller. führung in eine auf empir. »Beobachtung« Einzelne seiner Werke, bes. die humoristigegründete »Naturgeschichte« des Geistes u. schen, sind niederdeutsch geschrieben, die eine viel gelesene Synopse des zeitgenössi- Mehrzahl aber hochdeutsch mit dialektalen Einsprengseln, Bildern, Redensarten u. schen anthropolog. Wissens vorgelegt. Weitere Werke: Einl. in die Erfindungskunst. niederdt. Dialogen. Sein bekanntestes Werk ist der Roman SeeBreslau/Lpz. 1760. – Krit. Gesch. des gegenwärtigen Zustandes der schönen Litt. in Dtschld. Jauer- fahrt ist not! (Hbg. 1913), eine heroisierende sches Schulprogramm 1771. – Übersetzung: Versuch Darstellung der Hochseefischer von Finkenüber den Geschmack v. Alexander Gerard, nebst werder. Der Held Klaus Mewes, genannt zwei Abh.en über eben die Materie v. Herrn v. Störtebeker, will um jeden Preis wie seine Voltaire u. Herrn v. Alembert. Breslau 1766. Vorfahren zur See gehen. Der Vater, sein Literatur: Karl Konrad Streit: Alphabet. Verz. großes Vorbild, unterstützt ihn darin u. bealler im Jahr 1774 in Schlesien lebenden Schrift- müht sich, auch gegen den Widerstand der steller. Breslau 1776, S. 43 ff. – Jördens 1, S. 551 ff. sich ängstigenden Mutter, aus dem Sohn eiu. 6, S. 100 f. – Schles. Lebensbilder. Hg. Friedrich nen Seemann zu machen. Charakteristisch 2 Andreae u. a. Bd. 3, Sigmaringen 1985, S. 185–190. – Wojciech Kunicki: Aufgeklärte für F. ist die detaillierte Darstellung der LeTheorie des Komischen [...]: zum Verhältnis v. J. G. benswelt seiner Personen, hingegen ist diffeSchummel u. K. F. F. In: Aufklärung in Schlesien. renzierte Charaktergestaltung weniger seine Hg. ders. Bd. 2, Breslau 1998, S. 55–64. – Ruth v. Stärke. Vater u. Sohn verkörpern das für F.s Bernuth: Über Zwerge [...] lacht man nicht. Zu K. Werk typische Ideal des mutigen, selbstbeF. F.s ›Geschichte der Hofnarren‹ v. 1789. In: Tra- wussten Mannes, der mit Lust lebt u. ohne verse 13 (2006), H. 2, S. 61–71. – Allgemein: Günter Furcht zu sterben versteht. Die Gefahren der Oesterle: Zur Intermedialität des Grotesken. In: Seefischerei werden nicht geleugnet, sondern Das Groteske. Hg. Wolfgang Kayser. Oldenb. 1957. im Gegenteil pathetisch heraufbeschworen. Nachdr. Tüb. 2004, S. VII-XXX u. XXXI-LII (BiDie Seeleute erfüllen dieses heldische Ideal, bliogr.). Wolfgang Riedel das mit markanten Hinweisen auf das Nibelungenlied u. den Untergang der Burgunder unterstrichen wird. Das Bild ungebrochener
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Mannhaftigkeit ist in seinem Pathos heid- Förster, Ernst, * 8.4.1800 Münchengosnisch geprägt. Verweise auf die german. My- serstädt/Sachsen, † 29.4.1885 München; thologie u. distanzierende Bemerkungen Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedüber das Christentum sind nicht selten u. hof. – Kunstschriftsteller u. Maler. zeigen die Nähe F.s zu dem seinerzeit verbreiteten Neuheidentum (vgl. auch die Er- Der Sohn eines auch literarisch tätigen Pfarzählung Helgoland u. die Tagebuchnotizen rers studierte Theologie u. Philosophie in von F.s Norwegenreise 1913 in: Sämtliche Jena (1818) u. Berlin (1819–1822). Künstlerischer Interessen wegen ließ er sich 1823 von Werke). Zu den Ursachen des großen Erfolgs, den F. Peter Cornelius für die Malerei gewinnen u. bes. auch im Nationalsozialismus hatte, ge- zur Übersiedelung nach München (1825) behörte neben der geschickten Verarbeitung wegen. Hier beteiligte sich F., der sich bald populärer Stoffe des Abenteuerromans auch als Historien- u. Allegorienmaler einen Nadie Übereinstimmung mit herrschenden men machte, an einem Illustrationsprojekt Zeitströmungen: Heimatliebe, Nationalis- für das Nürnberger Dürerfest 1828 u. mehmus, das martial. Männlichkeitsideal u. v. a. reren Großaufträgen (Ausschmückung der die wilhelmin. Begeisterung für Seefahrt u. Münchner Residenz 1833 u. a.). Das Gefühl malerischen Ungenügens, häufige kunsthisKriegsmarine. tor. Forschungsreisen nach Italien u. seine Weitere Werke: Schullengrieper u. Tungenknieper. Hbg. 1911 (E.). – Hein Godenwind, de Funktion als Nachlassverwalter Jean Pauls Admirol v. Moskitonien. Hbg. 1912 (D.). – Fink- seit 1826 (im selben Jahr heiratete er in erster warder Speeldeel: Cilli Cohrs. Hbg. 1914 (D.). – Ehe dessen älteste Tochter Emma) veranlassPlattdt. Kriegsgedichte. 4 Folgen. Hbg. 1914–15. – ten F. zu publizist. Aktivitäten, die ihn im Sterne überm Meer. Tagebuchblätter u. Gedichte. Urteil der Zeitgenossen zu einem der bedeuHbg. 1918. – Ein Schiff! Ein Schwert! Ein Segel! tendsten Kunstschriftsteller des Jahrhunderts Kriegs- u. Bordbuch des Dichters. Hg. Jakob Kinau werden ließen. u. Marie Luise Droop. Mchn. 1934. – Da steht ein Neben Künstlerbiografien (z.B. Raphael. 2 Mensch. Briefe v. G. F. an Aline Bußmann. Hg. Bde., Lpz. 1867 u. 1869), geschmacksbildenHugo Sieker. Hbg. 1971. – Hapag-Fahrt zu Odins den Reiseführern (Handbuch für Reisende in Thron. G. F.s Norwegenreise 1913. Tgb., Romanfragment, E. Hg. u. komm. v. Mathias Mainholz. Italien. Mchn. 1840 u. ö. München. Mchn. 1840 u. ö.) u. kunsthistor. Miszellen veröffentlichte Hbg. 1999 (mit Personalbibliogr.). Gesamtausgabe: Sämtl. Werke in 5 Bdn. Hg. F. bahnbrechende Kunstkompendien (Geschichte der deutschen Kunst. 5 Bde., Lpz. Jakob Kinau. Hbg. 1937. Literatur: Agnes Lilienthal: Komik u. Tragik in 1851–60. Denkmale deutscher Baukunst, Bildihren Wechselbeziehungen in G. F.s Erzählkunst. nerei und Malerei. 12 Bde., Lpz. 1858–70. GeRostock 1928. – Wilhelm Hengst: G. F.s Roman schichte der italienischen Kunst. 5 Bde., Lpz. ›Seefahrt ist not!‹ Lpz. 1929. – Jakob Kinau: G. F. 1869–75). Darin propagierte er klassizist. Ein Leben im Banne der See. Mchn. 1935. – G. F.: Formstrenge, den Wert nationaler KunstWerk u. Wirkung. Vorträge u. Diskussionen des schätze u. die Vorbildhaftigkeit der alten ital. Kolloquiums ›Mundartlit./Heimatlit. am Beispiel Meister. Den pathet. Ton dieser Werke teilen G. F.‹. Hg. Friedrich W. Michelsen. Hbg. 1984. – Reinhard Goltz: Der Gott der Heimat, der beste F.s patriot. Gedichte (Lpz. 1854). Trotz seiner Kamerad u. der geschaßte Gewerkschafter. Die misslungenen Jean Paul-Edition (Sämmtliche Schriftsteller Johann, Rudolf u. Jakob Kinau in der Werke. Zus. mit Otto Spazier. 65 Bde., Bln. Nazi-Zeit. In: Niederdeutsch im NS. Hg. Kay 1826–38 u. ö.) bildet F.s Auswahl aus dem Dohnke. Hildesh. 1994, S. 342–386. – Günter Nachlass (u. a. Denkwürdigkeiten aus dem Leben Benja: G. F. Poet mit Herz für die See. Erfurt 2005. von Jean Paul Friedrich Richter. 4 Bde., Mchn. Stephan Speicher / Red. 1863) noch heute eine unentbehrl. Materialquelle. Literatur: Thieme/Becker. – Matthias Mende: Die Transparente der Nürnberger Dürerfeier v. 1828. In: Anzeiger des German. Nationalmuseums
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487 1969, S. 177–209. – Uwe Schweikert: Jean Paul. Stgt. 1970, S. 1–9. – Metzler Kunsthistoriker Lexikon. Stgt./Weimar 1999. – Klaus Peterlein: FS zum 200. Geburtstag des Malers u. Kunsthistorikers Dr. E. F. Eckolstädt 2000. – Karin Hellwig: E. F. u. die Künstlerbiographik in der ersten Hälfte des 19. Jh. In: 200 Jahre Kunstgesch. in München. Hg. Christian Drude. Mchn. u. a. 2003, S. 68–81. – Heribert Kuchenbuch: Ausstellung zur Erinnerung an Friedrich u. E. F. aus Münchengosserstädt. In: Glaube u. Heimat 40 (2006), S. 7. Adrian Hummel / Red.
schen. Dresden 1813) zuteil. Aus F.s Herausgebertätigkeit sei der literaturhistorisch bedeutsame Almanach Die Sängerfahrt (Bln. 1818. Neudr. Heidelb. 1969) hervorgehoben, der Erzählungen, Gedichte, dramat. Szenen u. kunsthistor. Betrachtungen von Arnim, Brentano, Tieck u. a. zu einem repräsentativen Werk des Genres vereinigte. Literatur: Erwin Scheuch: Der Dichter u. Historiker F. F. Diss. Wien 1933 (Bibliogr.). – Siegfried Sudhof: Nachw. zu ›Die Sängerfahrt‹. Heidelb. 1969. Adrian Hummel / Red.
Förster, Friedrich (Christoph), auch: F. von der alten Burg, * 24.9.1791 Mün- Foerster, Friedrich Wilhelm, * 2.6.1869 chengosserstädt/Sachsen, † 8.11.1868 Berlin, † 9.1.1966 Kilchberg bei Zürich; Berlin. – Publizist, Historiker, Dramati- Grabstätte: ebd. – Sozialpädagoge u. Paker, Herausgeber. zifist. Wie sein jüngerer Bruder Ernst studierte F. 1809–1811 Theologie an der Universität Jena; die geistl. Laufbahn opferte er jedoch dem Freiheitskampf an der Seite seines Freundes Theodor Körner im Lützow’schen Freikorps (1813–1816). Publizistische Attacken gegen die einsetzende Reaktion kosteten ihn 1818 auch seine Anstellung als Lehrer u. die Anwartschaft auf eine Berliner Geschichtsprofessur. Danach war der eigenwillige, vielseitige u. oft zum »Hofdemagogen« (Eichendorff) abgestempelte F. als freier Schriftsteller u. beargwöhnter Zeitschriftenredakteur tätig (1821–1829). Erst Hegels Fürsprache ermöglichte seine Ernennung zum Hofrat u. Kustos der Königlichen Kunstkammer von Berlin (1829). F.s Forderungen nach einem Nationalstaat u. kompromittierende Herrscherkritik trugen ihm 1860 freilich weitere Sanktionen ein. F.s historiograf. Schriften sind um die popularisierende Vermittlung eines junghegelian. Geschichtsbilds bemüht (u. a. Preußens Helden im Krieg und Frieden. 7 Bde., Bln. 1849–60), sie genügen aber nur selten wiss. Ansprüchen; selbst vor durchsichtigen Fälschungen wie im seiner Edition vorangestellten Lebensabriss Körners (Bln. 1868) schreckte F. nicht zurück. Größere Anerkennung wurde unter seinen belletrist. Schriften, u. a. histor. Schauspiele wie Gustav Adolph (Bln. 1832), lediglich den Freiheitsliedern (z.B. Schlachtenruf [...] an die erwachten Teut-
F. studierte Philosophie, Ökonomie u. Sozialwissenschaft in Freiburg i. Br. u. Berlin. 1893 promovierte er mit einer Arbeit zur Ethik Kants. Wie schon sein Vater, Astronom u. Gründer der »Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur« 1892, war F. beeinflusst von Felix Adler, dem Begründer der »Internationalen Ethischen Bewegung«. Er setzte sich früh die Ausarbeitung einer angewandten Ethik, bes. für den Bereich der polit. Erziehung, als Lebensziel. Ein Artikel, der Wilhelms II. Ausgrenzung der Sozialdemokratie (»vaterlandslose Rotte«) als gefährlich für den sozialen Frieden kritisierte, trug ihm 1893 drei Monate Festungshaft wegen Majestätsbeleidigung ein. F. habilitierte sich in Zürich (für Ethik u. Pädagogik), kehrte 1914 nach Deutschland zurück u. erhielt einen Lehrstuhl in München. Wegen seines pazifist. Engagements u. seiner offenen Kriegsgegnerschaft war er bald heftigen Attacken rechter Studenten u. Professoren ausgesetzt. 1922 ging er in die Schweiz, dann nach Frankreich u. Amerika. Auch vom Ausland her versuchte er (durch Kontakte zu polit. Führern u. Publikationen), gegen den erstarkenden Militarismus u. die braune Flut in Deutschland anzukämpfen. Die Bedeutung F.s besteht darin, dass er in einer Zeit, als die Pädagogik in Deutschland von autoritären Konzeptionen beherrscht wurde, eine Erziehung zu polit. Mündigkeit forderte. Das Ziel der Pädagogik sah er in der Heranbildung
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von verantwortungsbewussten Staatsbürgern mit Zivilcourage u. Eigeninitiative. Erreicht werden sollte dies nicht durch Indoktrination, sondern durch prakt. Einübung in demokrat. Verhaltensmuster (z.B. durch Schülerselbstverwaltung). Weitere Werke: Jugendlehre. Bln. 1904. – Sexualethik u. Sexualpädagogik. Mchn. 1907. – Polit. Ethik u. polit. Pädagogik. Mchn. 1910. – Erlebte Weltgesch. 1869–1953. Nürnb. 1953. – Polit. Ethik. Recklinghausen 1956. – Polit. Erziehung. Freib. i. Br. 1959. Ausgaben: Briefw. v. 1935 bis 1954. F. W. F. u. Albert Einstein. Stgt. 2001. – Grundprobleme der Ethik. Eine Ausw. aus den Werken F. W. F.s. Hg. Pascal Max. Stgt. 2006. Literatur: Joseph Antz u. Franz Pöggeler (Hg.): F. W. F. u. seine Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart. Ratingen 1955. – Herbert Burger: Politik u. Ethik bei F. W. F. Bonn 1969. – Dietrich Hoffmann: Polit. Bildung 1890–1953. Hann. u. a. 1970. – Edgar Weiß: Der reformpädagog. Außenseiter F. W. F. Kiel 1993. – Pascal Max: Pädagog. u. polit. Kritik im Lebenswerk F. W. F.s (1869–1966). Stgt. 1999. – Ders.: Neuere Untersuchungen zur Sexualethik u. Sexualpädagogik F. W. F.s. Stgt. 2001. – Maria Hoschek: F. W. F. Mit bes. Berücksichtigung seiner Beziehungen zu Österr. Ffm. 2000. 3. durchges. Aufl. 2006. Peter König / Red.
Förster, Karl (August), * 3.4.1784 Naumburg/Saale, † 18.12.1884 Dresden. – Philologe, Übersetzer u. Lyriker. F.s Vater war Domprediger u. Schulinspektor in Naumburg, später Superintendent in Weißenfels, u. nahm, wie auch der Philologe Christian August Lobeck, F.s Onkel, starken Einfluss auf dessen Schul- u. Universitätsbildung. Nach dem Besuch des Naumburger Domgymnasiums studierte F. von 1800–1803 Theologie, Geschichte, Philosophie u. Philologie in Leipzig. 1805 wurde er Erzieher in der Familie des Leiters des Dresdner Kadettenkorps u. trat 1806 in das Korps ein, wo er 1807 als Professor für dt. Sprache u. Literatur sowie Moral wurde. Er war regelmäßiger Beiträger zu Taschenbüchern u. Zeitschriften der Zeit, verfasste seit 1814 zahlreiche Artikel für das Brockhaus-Conversationslexikon (u. a. zu Goethe u. zur Deutschen Literatur) u. übernahm 1828 die Herausgabe der von seinem
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verstorbenen Freund Wilhelm Müller begründeten Bibliothek deutscher Dichter des 17. Jahrhunderts (Bde. 11–14, Lpz. 1828–38). F.s weitläufiges literar. Wissen – der Abriß der allgemeinen Litteraturgeschichte (4 Bde., Dresden 1828–30) ist ein frühes Exempel der Weltliteraturgeschichten des 19. Jh. – u. seine eigenen lyrischen u. übersetzer. Arbeiten machten ihn zu einer treibenden Kraft der Dresdner Accademia Dantesca. Hier versammelte Prinz Johann von Sachsen, der unter dem Pseudonym Philalethes auch eine DanteÜbersetzung publizierte, Dichter, Übersetzer u. Philologen wie Wolf Heinrich Graf Baudissin, Eduard von Bülow, Carl Ludwig Carus, Eduard von Rumohr u. Ludwig Tieck u. a. um sich. Sie alle hatten wesentl. Anteil an den Bemühungen des frühen 19. Jh., die Klassiker der abendländ. Literatur zu einem Bestandteil einer »Weltliteratur in deutscher Sprache« zu machen. Neben F.s Lyrik, die an frühneuzeitl. Vorbildern u. der ital. Renaissance-Kunst orientiert war (so z.B. der Gedichtzyklus Rafael. Kunst und Künstlerleben in Gedichten. Lpz. 1827), haben v. a. seine umfangreichen übersetzer. Bemühungen bis heute ihre Spuren hinterlassen. Neben den Übersetzungen einiger Gedichte Torquato Tassos (Lyrische Gedichte. Zwickau 1821) u. Dantes Vita nova (Das neue Leben. Lpz. 1841) ist es v. a. die erstmals (Lpz./Altenburg) 1818/19 publizierte u. mehrfach überarbeitete Petrarca-Übersetzung, die lebens- wie wirkungsgeschichtlich als sein Hauptwerk angesehen werden kann. Ein Blick in die postum von seiner Frau Luise herausgegebenen Biographischen und literarischen Skizzen (Dresden 1846) zeigt, dass F.s gleichförmig verlaufendes Gelehrtenleben als gelebte petrarkist. Idylle konzipiert war. Auch in seinem lyr. Schaffen ist der dominante Einfluss Petrarcas merklich spürbar, sodass sein gesamtes Werk als spätromantischer Versuch einer Renaissance petrarkistischer ›virtù‹ zu charakterisieren ist. Weitere Werke: Gedichte. Hg. Ludwig Tieck. 2 Bde., Lpz. 1843. – Übersetzungen: Francesco Petrarca’s sämmtl. Canzonen, Sonette, Ballaten u. Triumphe. 2. verb. Aufl., Lpz. 1833. – Torquato Tasso: Auserlesene Gedichte. 2 Bde., Lpz. 1844.
489 Literatur: Goedeke 2. Aufl. Bd. 13 (1938), S. 114–117. – Jörg-Ulrich Fechner: Gelebte Idylle. Literarisierte Funktionen des Idyllischen im Alltag. Überlegungen im Hinblick auf den Dresdner Spätromantiker K. F. (1784–1841). In: Idylle u. Modernisierung in der europ. Lit. des 19. Jh. Hg. Hans Ulrich Seeber u. Paul Gerhard Klussmann. Bonn 1986, S. 60–80. – Peter Goßens: Der PetrarcaÜbersetzer K. F. In: Petrarca in Dtschld. Hg. Achim Aurnhammer. Bln. 2006, S. 467–485. Christian Schwarz / Peter Goßens
Förster-Nietzsche, Elisabeth, * 10.7.1846 Röcken bei Lützen, † 8.11.1935 Weimar; Grabstätte: Röcken. – Biografin u. Herausgeberin. Elisabeth u. Friedrich Nietzsche entwickelten nach dem Tod ihres Vaters, des protestant. Pfarrers von Röcken, im Jahr 1848 eine ungewöhnlich enge Beziehung. Zu diesem Zeitpunkt zog die Familie nach Naumburg um, wo F. bis zu ihrer Konfirmation Ostern 1861 zur Schule ging. In ihrer Rolle als Haushälterin des Bruders in den 1870er Jahren in Basel schloss sie durch ihn eine enge Freundschaft mit Cosima Wagner, mit der sie sich allerdings später zerstritt. Die Beziehung der Geschwister wurde in den späten 1870er Jahren schwächer, u. 1882 entstand eine tiefe Kluft, als F. sich nach Herzen bemühte, Lou Salomés Aufenthalt bei Nietzsche im Aug. 1882 zu sabotieren – Nietzsche vergab seiner Schwester ihre Rolle bei diesem Debakel nie. Vielleicht in einer Trotzreaktion konzentrierte F. sich nun auf die Suche nach einem Ehemann u. heiratete 1885 den Gymnasiallehrer u. Wagner-Anhänger Bernhard Förster. Nietzsche versuchte vergeblich, seine Schwester vom Bund mit diesem fanat. Antisemiten u. nationalist. Politiker abzubringen. Im folgenden Jahr reiste das neu verheiratete Paar nach Paraguay, um dort die rein dt. Kolonie »Neu-Germania« zu gründen. Nach Försters Tod 1889 kehrte F. nach Deutschland zurück, um ihrer Mutter bei der Pflege des Bruders zu helfen, der Anfang 1889 seinen Verstand verloren hatte. Später gründete sie die Nietzsche-Bibliothek, die ihr endgültiges Domizil in Weimar finden sollte (ihr Privathaus taufte sie »Nietzsche-Archiv«), nachdem sie 1897 nach
Förster-Nietzsche
dem Tod ihrer Mutter Franziska mit ihrem Bruder dorthin gezogen war. Über drei Jahrzehnte lang fungierte das »Nietzsche-Archiv« als ein Mekka für Nietzsche-Enthusiasten, obwohl Nietzsche bereits 1900 gestorben war. F. ist am bekanntesten für ihre Biografien Nietzsches – es war unvermeidlich, dass sie auch viel autobiogr. Material enthielten – u. für die Herausgabe der ersten Ausgabe von Nietzsches ges. Werken, der 15-bändigen Grossoktavausgabe (1895–1901), in der Der Wille zur Macht zum ersten Mal in den Bänden 9–15 erschien. Bei diesem »Werk« handelt es sich um eine postume Sammlung von Notizen Nietzsches, die bald nach seinem Tod unter der Redaktion seiner Schwester willkürlich arrangiert wurden. Weil F. ihren Lesern de facto suggerierte, dass es sich bei den Manuskripten um ein zusammenhängendes Ganzes handele, hat die Forschung erst in jüngster Zeit erkannt, dass Der Wille zur Macht als Buch eigentlich nicht existiert. F.s zahlreiche Publikationen legen zwar Zeugnis von ihrer Energie als Nietzsche-Archivistin ab; sie war sich aber nicht zu schade für Fälschungen u. Tatsachenmanipulationen, u. ihre Anbiederung an Hitler sowie ihre grenzenlose Bewunderung für Mussolini sollten auf den Nietzscheanismus selbst abfärben, mit dem Ergebnis, dass das öffentl. Missverständnis Nietzsches als Proto-Faschist immer noch nicht völlig ausgeräumt ist. Weitere Werke: Das Leben Friedrich Nietzsche’s. 2 Bde., Lpz. 1895–1904. – Der junge Nietzsche, Lpz. 1912. – Der einsame Nietzsche. Lpz. 1913. – Wagner u. Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft. Mchn. 1915. – Der werdende Nietzsche. Mchn. 1924. – Friedrich Nietzsche u. die Frauen seiner Zeit. Mchn. 1935. – Herausgeberin: Nietzsches Werke. 15 Bde., Lpz. 1895–1901. Literatur: Karl Schlechta: Der Fall Nietzsche. Mchn. 1958. – Heinz Frederick Peters: Zarathustras Schwester. Fritz u. Lieschen Nietzsche – ein dt. Trauersp. Mchn. 1983. – Carol Diethe: Nietzsches Schwester u. der Wille zur Macht. Biogr. der E. F. Hbg. 2001 (die engl. Originalfassung erschien erst 2003 in Urbana, USA: Nietzsche’s Sister and the Will to Power. A Biography of E. F.). Carol Diethe
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Follen, August (später: Adolf) Ludwig, eigentl.: A. Follenius, auch: Dietlieb Winnheim, Horsa, * 21.1.1794 Gießen, † 26.12.1855 Bern. – Lyriker, Epiker, Herausgeber, Übersetzer.
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mit Arnold Ruge u. Karl Heinzen markieren F.s polem. Sonette gegen den Atheismus der Junghegelianer (An die gottlosen Nichts-Wütheriche. Heidelb. 1845. Erw. u. d. T. Fliegendes Blatt von einem Verschollenen. Zürich 1846) die Trennlinie zwischen dem Bewusstsein des spätromant. Liberalismus u. dem des radikalen Vormärz.
Der Sohn eines Landrichters studierte in Gießen Philologie u. evang. Theologie. Im hess. Korps der freiwilligen Jäger beteiligte Weitere Werke: Torquato Tasso’s befreites Jesich F. 1814 am Feldzug gegen Frankreich. rusalem. Ffm. 1818 (Übers.). – Malegys u. Vivian. Zum Studium der Rechte ging er nach Hei- Konstanz 1829 (R.). – Ein schön u. kurzweilig Gedelberg, bevor er 1817 die Redaktion der El- dichte v. einem Riesen, gen. Sigenot. Konstanz berfelder »Allgemeinen Zeitung« übernahm. 1830 (Ep.). – Das Nibelungenlied im Tone unserer Als Wortführer der Burschenschaft wurde er Volkslieder. Zürich/Winterthur 1843. – Tristan’s zwei Jahre später in der Berliner Stadtvogtei Eltern. Gießen 1857 (romant. Ep.). – A. F. (Hg. u. inhaftiert. Nach seiner vorläufigen Entlas- Mitautor): Harfengrüße aus Dtschld. u. der sung 1821 emigrierte er in die Schweiz. Bis Schweiz. Zürich 1823. Literatur: Gottfried Fittbogen: Die Dichtung 1827 war er Professor für dt. Sprache u. Literatur an der Kantonsschule Aarau. Durch der Unbedingten. In: Euph. 26 (1925), S. 75–100. – Emil Ermatinger: Gottfried Kellers Leben. Zürich Heirat finanziell unabhängig geworden, hielt 8 1950, passim. – Erika Kanduth: Die Tasso-Versuer in Zürich, wo er 1832–1836 Mitgl. des che v. Grillparzer, Fridrich, F. u. Platen. In: TorGroßen Rats war, ein gastfreies Haus, das quato Tasso in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., zum Mittelpunkt eines literarisch-polit. Kunst u. Musik seit der Mitte des 18. Jh. Hg. Achim Kreises dt. Emigranten wurde. 1847 erwarb Aurnhammer. Bln./New York 1995, S. 520–536. – er das Gut Liebenfels im Thurgau, verarmte Edmund Spevack: A. Adolf L. F. (1794–1855). Political radicalism and literary Romanticism in Gerdann aber in den letzten Lebensjahren. F. gab die Freyen Stimmen frischer Jugend (Jena many and Switzerland. In: GR 71 (1996), S. 3–22. Hans-Rüdiger Schwab / Red. 1819) heraus, das Liederbuch der »Gießener Schwarzen«, des radikalsten Flügels der dt. Burschenschaft. Kennzeichnend auch für seine eigenen Beiträge ist ein vom jungen Follen, Karl, Charles, (Theodor Christian), Heine gerügtes »Kraftworterisieren«. Am li- eigentl.: K. Follenius, * 6.9.1796 Romrod/ terar. Manifest dieser Gruppe, dem melodra- Oberhessen, † 13.1.1840 Long Island mat. Großen Lied seines Bruders Karl von 1818, Sound/USA. – Lyriker, Burschenschafter war er ebenfalls beteiligt. Sein Bildersaal deut- u. Professor. scher Dichtung (2 Bde., Winterthur 1828/29), Gemeinsam mit seinem Bruder August nahm eine der ersten systematisch angelegten lite- F. 1814 am Feldzug gegen Frankreich teil. raturgeschichtl. Anthologien, fand in den Danach studierte er Jura an der Universität höheren Schulen der Schweiz häufige Ver- Gießen (Promotion 1818), war Anhänger der wendung. Bedeutsamer als seine Bemühun- von Friedrich Ludwig Jahn begründeten gen um die Erneuerung mittelalterl. Epen Turnbewegung u. entwarf den Ehrenspiegel oder seine Balladen u. Romanzen aus der der »Christlich-Teutschen Burschenschaft«. schweizerischen Geschichte erscheinen heute Als Führer der »Gießener Schwarzen« (in F.s Verdienste um die Förderung junger altdt. Tracht als Ausdruck der Verachtung des Dichter. Als Mentor Herweghs veranlasste er »welschen Tands«) erblickte er im nationalen den Druck der Gedichte eines Lebendigen (1841) u. sozialen Befreiungskampf Frankreichs ein beim kurz zuvor gegründeten »Literarischen Vorbild für die notwendige revolutionäre Comptoir« seines Freundes Julius Fröbel. Im Erhebung des eigenen Volks. Seine zusam»Deutschen Taschenbuch« erschienen, von F. men mit seinem Bruder ausgearbeiteten gesichtet u. korrigiert, 1845/46 dort auch die Grundzüge für eine künftige Reichsverfassung ersten Gedichtsammlungen Kellers. Im Streit (1818. Erstpublikation Bln. 1831) stellten das
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polit. Programm einer dt. Einheitsrepublik K./C. F.: Dt.-Amerikan. Freiheitskämpfer. Eine dar. Sein episch-lyrisches Großes Lied (zwei Biogr. Gießen 2004. Walter Grab † / Bernhard Walcher Abschnitte daraus als Flugblatt 1818. Erstpublikation Lpz. 1827) war eine Folge größerer Komplexe, bestehend aus Einzel-, Follenius, Emanuel Friedrich Wilhelm Wechsel- u. Chorgesang. Es rief zum VolksErnst, * 1773 Ballenstedt, † 5.8.1809 Insaufstand u. Tyrannenmord auf u. skizzierte terburg/Ostpreußen. – Unterhaltungsden erhofften Verlauf der künftigen dt. Re- schriftsteller. volution unter Führung opferbereiter Studenten. Charakteristisch für F.s Denkmodelle Der vom ehemaligen Kanzleigehilfen der ist eine Synthese von jakobinischem u. ro- Fürstlich Bernburgischen Kanzlei zu Ballenmant., aufklärerischem u. religiösem, kos- stedt zum Referendar beim Landes-JustizKollegium in Magdeburg u. später zum mopolit. u. nationalist. Ideengut. Seit 1818 Privatdozent in Jena, gründete F. Hofgerichtsrat in Insterburg aufgestiegene F. dort den Verein der »Unbedingten«, dem wurde einem größeren Publikum v. a. durch auch Karl Ludwig Sand angehörte. Als dieser ein Werk bekannt: Friedrich von Schiller’s GeisKotzebue ermordet hatte, beschuldigten die terseher. Aus den Memoiren des Grafen von O. Behörden F., geistiger Urheber des Attentats Zweiter u. Dritter Theil (anonym Straßb., recte zu sein. Er entzog sich der Verhaftung durch Lpz. 1796). Das Buch knüpfte freilich nur sehr oberFlucht. F. lehrte 1821–1824 an der Universiflächlich an das berühmte Vorbild an, indem tät Basel, veranlasste die Bildung eines revoes Namen, Personen u. Handlungsorte überlutionären »Männer- und Jünglingsbundes« nahm u. die schon bei Schiller fast ausufernde in Deutschland u. emigrierte nach dessen Intrigenhandlung zu einem Abschluss Entdeckung in die USA. Ab 1830 unterrichbrachte. Trotz der vielen Verweise auf Eintete er dt. Literatur in Harvard, trat aber für zelheiten in der Handlung bei Schiller macht die Abschaffung der Sklaverei ein u. verlor F. kein Hehl aus seinen ganz anders gelagerdeshalb seine Professur. Danach lebte er als ten Erzählabsichten. In einer Fußnote zum Schriftsteller u. unitarischer Prediger u. dritten Teil weist er darauf hin, dass es bei gründete die »Charles Follen Church«. In der ihm v. a. darauf ankomme, »doch eine geneueren Forschung (Mehring) wird auch F.s wisse Classe von Lesern [zu] berücksichtigen, Wirken in Amerika als Vermittler deutscher die blos Geschichte hören wollen«. Die Literatur u. Kultur (Deutsches Lesebuch für Anhandlungsstarke Geschichte ist in der Tat fänger. Cambridge 1826. Weitere Aufl.n 1831, eher am Vorbild der engl. Gothic Novel als an 1839, 1845) u. sein Eintreten für die MenSchiller orientiert u. trägt v. a. dem Unterschenrechte stärker ins Zentrum der Behaltungsbedürfnis des Publikums Rechnung. trachtung gerückt. F. kam bei einem Schiffs- Das zeigt sich bes. in der Klischeehaftigkeit u. unglück ums Leben. Austauschbarkeit der Sprachgestik, mit der Weitere Werke: Gedichte. In: Freie Stimmen die verschiedenen Erzählinstanzen über den frischer Jugend. Hg. August Follen. Jena 1819. – Fortgang der Handlung berichten. F. beThe Works. 5 Bde., Boston 1841/42. herrscht das Arsenal trivialromantischer UnLiteratur: Hermann Haupt: K. F. u. die Gie- terhaltungsliteratur, dem am Ende auch der ßener Schwarzen. Gießen 1907. – Richard Pregizer: Handlungsverlauf selbst angepasst wird: Das Die polit. Ideen des K. F. Ein Beitr. zur Gesch. des Gute siegt, u. der böse Armenier kommt Radikalismus in Dtschld. Tüb. 1912. – Günter entsprechend seiner Verworfenheit auf bes. Steiger: Aufbruch. Urburschenschaft u. Wartburgdelikate Weise ums Leben: »In seiner Kopffest. Lpz./Jena/Bln. 1967. – Walter Grab u. Uwe Friesel: Noch ist Dtschld. nicht verloren. Unter- wunde wuchsen nun Würmer und verzehrten drückte Lyrik v. der Frz. Rev. bis zur Reichsgrün- langsam das Gehirn, welches so voll Bosheit dung. [Mchn. 1970] Bln. 31980, S. 66–85. – Ed- war [...].« Allerdings darf er erst sterben, mund Spevack: Charles F.’s Search for Nationality nachdem er – auch das ein Zugeständnis an and Freedom. Cambridge 1997. – Frank Mehring: das vulgärrationalistisch an »Aufklärung«
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des Wunderbaren u. Fantastischen gewöhnte Publikum – die Tricks u. Zaubereien »erklärt« hat, mit denen er den Prinzen in seine Gewalt brachte u. sich selbst fast zum Herrscher über Venedig gemacht hätte. Dem Überwinder des »bösen« Armeniers ist der folgende Roman des Autors gewidmet: Johnson oder der edle Taschenspieler. Aus den Memoiren des Grafen von O. (Lpz. 1797). Weitere Werke: Die Milchbrüder Ferdinand u. Ernst oder Gesch. zweier Freunde. Bln. 1798/99. – Franz Damm, oder der Glückliche durch sich selbst. Lpz. 1799–1801. – Das silberne Glöckchen v. Frederico Ardenno. Bln. 1804. Literatur: Andreas Gottfried Schmidt: Anhalt’sches Schriftsteller Lexikon [...]. Bernburg 1830. Gerd Müller / Red.
Folz, Hans, * um 1435/1440 Worms, † Januar 1513 Nürnberg. – Verfasser von Meisterliedern, Fastnachtspielen, Reimpaardichtungen. Als Handwerkerdichter u. als Drucker wie Verleger seiner eigenen Werke zählt F. in der zweiten Hälfte des 15. Jh. zu den markantesten literar. Persönlichkeiten Nürnbergs. Als Babierer (gelernter, nichtakad. Wundarzt) erwarb er dort 1459 das Bürgerrecht, 1486 urkundet er als Meister, 1489 als Geschworener Meister der Wundarznei u. des Barbierhandwerks. 1479 ist er als Hausbesitzer bezeugt, 1493 erwarb er mit seiner Frau Agnes († 1499) das Erbrecht an einem Haus. 1509 gestattete ihm der Rat einen Altersheimplatz. Innerhalb der Stadt gehörte F. zur oberen Mittelschicht. Der Augsburger Medailleur Hans Schwarz scheint ihn in einer Kohlezeichnung porträtiert zu haben. F. besaß für einen Handwerker eine bemerkenswerte Bildung. Er verfügte über Lateinkenntnisse, über ein ungewöhnl. Wissen auf dem Gebiet der akad. Medizin (auch der Alchimie) u. der Theologie; die literarische Bildung lässt sich an einer autografen Sammelhandschrift u. an seinen Werken ablesen. Deren herausragende Vielfalt dokumentieren 90 Meisterlieder, zwölf Fastnachtspiele, 48 Reimpaardichtungen u. zwei Prosaschriften; bei weiteren Texten ist seine Autorschaft offen. Einzigartig in seiner Zeit ist, dass er mit
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Ausnahme fast aller Meisterlieder den größten Teil seiner literar. Produktion in einer eigenen Offizin zwischen 1479 u. 1488 selbst gedruckt u. verlegt hat. Die Gestaltung dieser Broschüren mit qualitätsvollen Holzschnitten u. mit knappen Buchtiteln zielten werbewirksam auf das Käuferinteresse. Durch das Verbreiten des literar. Werks in autorkontrollierten Drucken u. nicht über unkontrollierbare Abschriften beschritt F. neuzeitl. Distributionswege. F. betrieb seine Schriftstellerei, die bis in die erste Hälfte der 1490er Jahre reichte, u. seine Offizin, die er vielleicht aus finanziellen Gründen aufgeben musste, zwar nur als Nebenbeschäftigung, er scheint sich damit aber auch eine zusätzl. Einnahmequelle erschlossen zu haben. Seine ökonom. Einstellung lässt sich vielfach greifen. Nicht nur die Form der Kleindrucke, auch seine Werke, die auf Lebenspraxis, Erbauung u. Unterhaltung zielen, orientieren sich – ohne Preisgabe eines hohen literar. Anspruchs – absatzfördernd an den Bedürfnissen des städt. Publikums, das sich über Nürnberg hinaus in einer vielschichtigen, teils postumen Rezeption nachweisen lässt. F. versuchte auch (vergebens) ein Zuschauerentgelt bei Fastnachtspielen einzuführen. Der Publikationstermin seines gedruckten Beichtspiegel-Gedichts (Nr. 25) in der vorösterl. Zeit ist geschickt gewählt. Für Jacob Bernhaubt Schwenter, einen Genannten des Größeren Rats der Stadt, hat er gegen Bezahlung ein Meisterlied (Nr. 49) zum Vortrag (1496) verfasst; von diesem wurden zahlreiche F.-Meisterlieder gesammelt, die der Autor in der Form handschriftl. Broschüren vertrieb. Für den Ehrbaren Anton Haller schrieb F. 1482 ein Pestregimen in Prosa (Nr. 45); durch ihn könnte F. in Kontakt mit dem bibliophilen Nürnberger Arzt Hartmann Schedel (Hallers Schwiegersohn) getreten sein. Jedenfalls standen in beider Bibliotheken viele F.-Drucke. Mit seiner emsigen literar. u. verlegerischen Tätigkeit förderte F. sein Ansehen als Dichter, das ihm – wie die freundschaftl. Beziehungen zu Haller u. Schwenter zeigen – Anerkennung auch in der gehobeneren Gesellschaft der Stadt einbrachte. Dazu passt seine konservative, ratskonforme Haltung,
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die in den Werken auf tagespolit. Stellungnahmen verzichtete oder aber (etwa in der auffallenden antijüd. Polemik) die Meinung des städt. Rats vertrat. Auf diese Weise sicherte er als Neubürger gegenüber dem strengen Regiment der Stadt die eng begrenzten literar. Freiräume (Meistergesang, Fastnachtspiel) u. erweiterte sie erfolgreich durch das Novum gedruckter Reimpaardichtung. Postume Nachdrucke seiner Werke (1520 durch Peter Stuchs in Nürnberg. 1593 letzter bekannter Nachdr.) bezeugen den Erfolg des eingeschlagenen Wegs. F. begann seine literar. Produktion in Nürnberg spätestens zu Beginn der 1470er Jahre mit Meisterliedern; ob er diese Kunst bereits in Worms erlernte, ist ungewiss. Er schloss sich damit einem bereits etablierten städt. Literaturbetrieb an, aber er setzte gegen heftigen Widerstand von Anfang an den Gebrauch neuer Töne durch, da ein Festhalten an der Tönetradition der Alten Meister unweigerlich zu einer Verkrustung dieser Kunstübung führe. Ihren Niederschlag fand diese Auseinandersetzung in den programmat. Liedern Nr. 89–94 wie in der pointierten Verwendung eigener Töne gerade in der Frühzeit seines Schaffens. Selbst in der Spätphase bevorzugte F. Töne zeitgenöss. Meistersinger. Neu ist auch, dass er drei seiner Lieder (Nr. 95–97) zum Druck brachte. Dieser Liberalität in der Formgebung steht in den 90 für ihn zweifelsfrei gesicherten Liedern auch hier ein betonter Konservativismus bei deren Inhalten gegenüber. Das Zentrum bilden geistl. Themen (Trinität, Inkarnation, Maria), die schon früh u. wiederum in Auseinandersetzung mit seinen Nürnberger Kollegen durch eine energ. Abwehr theolog. Spekulationen u. ein Beharren allein auf Bibel u. Glauben charakterisiert sind, die auf die Reformation vorausweisen. Weltliche Lieder (Nr. 68 lobt die Erfindung Gutenbergs) sind selten. F. erwarb sich auf diese Weise ein hohes Ansehen unter den Nürnberger Meistersingern. Hans Sachs pries ihn als »durchleuchtig deutsch poet«, zählte ihn zu den zwölf alten Meistern der Nürnberger Singschule u. zeichnete viele seiner Lieder in einer Sammlung Nürnberger Meisterlieder auf. Einige der 17 von F. geschaffenen Töne leb-
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ten in Meistersingerhandschriften des 16. u. 17. Jh. weiter. Ebenfalls früh in den 1470er Jahren beteiligte sich F. mit eigenen Fastnachtspielen an der zweiten literar. Institution der Stadt. Auch hier bemühte er sich um eine Erneuerung: Dem traditionellen Typ des revuehaften Reihenspiels setzte er Stücke mit geschlossener Handlung u. vornehmlich geistl. Thematik entgegen (etwa Nr. 106, Kaiser Constantinus, mit einer christlich-jüd. Glaubensdisputation). Im Herzog von Burgund (Nr. 20) wurde die antijüd. Agitation mit dem Motiv der Judensau auf die Spitze getrieben u. gleichsam auf eine imperiale Ebene gehoben. Mit der Verarbeitung literar. Stoffe (Nr. 60: Von König Salomon und Markolf) könnte F. das literarisierte Fastnachtspiel bei Hans Sachs angeregt haben. In späterer Zeit wendet sich F. jedoch – wohl im Blick auf das Publikum – wieder dem traditionellen Typ der Nürnberger Fastnachtspiele zu. Sie bilden den Hauptteil der zwölf ihm sicher zuweisbaren Stücke (andere Texte führen zumindest in seinen Umkreis). Erstmals brachte er auch eigene Spiele zum Druck. Mit dem Betrieb seiner Offizin hängen die 48 Reimpaardichtungen unmittelbar zusammen. Nicht nur quantitativ – F. ist der produktivste bekannte Märenautor – im Zentrum stehen während der zweiten Phase der Druckerei die 18 (Schwank-)Mären, unter denen sich die besten Gaunergeschichten des MA finden. Sein Verlagsprogramm eröffnete F. jedoch geschickt mit geistl. Erzählungen u. Reimpaarreden. Ihnen schloss sich eine Vielfalt ganz unterschiedl. Gattungstypen an: Minnereden, komische Reden (darunter Nr. 33, Spottrezepte eines griechischen Arztes, als Warnung vor Scharlatanen), aber mit der Lastertrias Der Buhler, Der Spieler, Der Trinker (Nr. 28–30) auch weltlich-didakt. Reden als Zeugnis stadtbürgerl. Ethik. Bei den drei historisch-polit. Reden enthielt sich F. aktueller Themen. Das gilt selbst für König Maximilian in Nürnberg (Nr. 38) mit der Schilderung des geselligen Zeitvertreibs beim Aufenthalt des Monarchen im Jahre 1491. Eine Ausnahme macht der Jüdische Wucher (Nr. 37) von 1491, in dem die Bamberger Judenvertreibung (1478) als »götlich werck« gepriesen
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wird. Diese antijüd. Polemik unterstützte die Fontana, Oskar Maurus, * 13.4.1889 Forderung des Nürnberger Rats (seit 1473), Wien, † 4.5.1969 Wien. – Lyriker, Dradie Juden aus der Stadt zu vertreiben (von matiker, Erzähler, Essayist u. TheaterkriMaximilian 1498 zugestanden). tiker. Sein berufl. Wissen ließ F. in eine Reihe F. wuchs als Sohn eines Weingutbesitzers in fachliterar. Reimpaargedichte einfließen: in Knin/Dalmatien dreisprachig auf, studierte sein mehrfach nachgedrucktes Pestregimen in in Wien Kunstgeschichte u. TheaterwissenVersen (Nr. 44) u. in seine diätet. Schriften (Nr. schaften u. arbeitete ab 1909 als Theaterre41, Konfektbüchlein zum rechten Umgang mit zensent – eine Tätigkeit, die er fast 60 Jahre Gewürzen, Nr. 42, Branntweinbüchlein) u. in lang ununterbrochen ausübte (Das große ein Bäderbüchlein (Nr. 43) als Anleitung zu Welttheater. Theaterkritiken 1909–1967. Wien Badekuren. Sein Hausratbüchlein (Nr. 40), das 1976). Er wandte sich gegen die impressioEinrichtung u. Führung eines Haushalts benist. Theaterkritik u. plädierte für eine »hömittelterer Schichten vorstellt, erfuhr bis here geistige Ordnung«, die der Kritiker in 1520 vier Neuauflagen. Neben dem schon sich tragen müsse. genannten Pestregimen in Prosa veröffentlichte F. war mit Oskar Kokoschka u. Albert EhF. als Einblattdruck noch einen Parodistischen renstein bekannt u. gab 1915 die expressioAlmanach (Nr. 46) als Prosawerk, in dem sich nist. Lyrikanthologie Die Aussaat. Prosa und F. von der verbreiteten astrolog. Literatur Verse einer neuen Jugend (Konstanz) heraus. Vor distanzierte. u. im Ersten Weltkrieg, an dem er als Offizier Vielseitigkeit u. Produktivität zeichnen F. teilnahm, schrieb er Essays u. Lyrik für zahlals einen hervorstechenden Autor innerhalb reiche, v. a. expressionist. Wiener Zeitschrifder deutschsprachigen Literatur des 15. Jh. ten. Erst 1965 kamen 50 seiner Gedichte aus. Vor allem seine autorkontrollierte Veru. d. T. Meldegänger in der Spur der Sterne (Wien) breitung der eigenen Werke weisen deutlich heraus. 1917/18 edierte F. in Wien zus. mit in die Neuzeit. Alfons Wallis »Das Flugblatt« (Heft 1–5, Ausgaben: Die Meisterlieder des H. F. Hg. Au- 1917/18. Neudr. Nendeln 1975) mit Gedichgust L. Mayer. Bln. 1908. – Adelbert v. Keller: ten u. Prosatexten österr. Expressionisten. Fastnachtspiele aus dem 15. Jh. Tle. 1–3, Stgt. 1853 F. war ein wesentl. Vertreter des expres(Nr. 1, 7, 20, 38, 43–44, 51, 60, 105–106, 112, 120. sionistischen österr. Dramas. Seine Komödie Neuausg. in Vorb.). – Die Reimpaarsprüche. Hg. Die Milchbrüder (Bln. 1912) wurde von BertHanns Fischer. Mchn. 1961. hold Viertel 1914 in der Wiener Volksbühne Literatur: Johannes Janota: H. F. In: VL (ältere Lit.) u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Fritz uraufgeführt. Später grenzte sich F. von einer Langensiepen: Tradition u. Vermittlung. Bln. 1980. kollektivist. Sichtweise der Gesellschaft ab u. – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen arbeitete aus einer christlich-sozialen HalHeinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. Bd. 1, Mchn. tung heraus u. mit der Gründung der Wiener 1983, S. 295–350. – RSM. – Ingeborg Spriewald: Volksbühne an der Verwirklichung einer DeLit. zwischen Hören u. Lesen. Bln./Weimar 1990, mokratisierung von Kunst. Diese sollte als S. 56–116. – Edith Wenzel: ›Do worden die Judden Vermittlung u. Erhaltung allgemeingültiger alle geschant‹. Mchn. 1992, S. 189–265. – Rüdiger Werte »gesteigerter Sinn des Lebens« sein. Krohn: H. F. In: Füssel, Dt. Dichter, S. 111–124. – Von seinen Romanen war Die Erweckung Ursula Rautenberg: Das Werk als Ware. In: IASL 24 (1999), S. 1–40. – Gert Hübner: H. F. als Märener- (Lpz. 1919. Neuausg. u. d. T. Die Türme des Beg zähler. In: GRM 54 (2004), S. 265–281. – John L. Begouja. Mit Zeichnungen v. Alfred Kubin. Flood: H. F. zwischen Handschriftenkultur u. Wien 1946) sein erster großer Erfolg. Robert Buchdruckerkunst. In: Texttyp u. Textproduktion Müller nannte ihn ein »psychologisches in der dt. Lit. des MA. Hg. Elizabeth Andersen u. a. Epos« vom »leidenschaftlichen südslawiBln./New York 2005, S. 1–27. – J. Janota: Fides u. schen Menschen«. Die Errungenschaften des ratio. Die Trinitätsspekulationen in den Meister- techn. Fortschritts beschreibt F. in Der Weg liedern des H. F. In: Wolfram-Studien 20 (ersch. durch den Berg. Ein Gotthard-Roman (Bln./Wien/ 2008). Johannes Janota Lpz. 1936. Bln. 1947). Der zunächst als Dra-
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ma geplante exot. Roman Insel Elephantine M. F. (1889–1969). In: LuK 403/404 (2006), (Mchn. 1924. In erw. Fassung u. d. T. Kata- S. 101–109. Sabine Scholl / Red. strophe am Nil. Wien 1947) schildert am Beispiel eines Hotels am Nil den Niedergang der Fontane, Theodor, eigentl.: Henri ThéoZivilisation im Zusammenstoß mit Naturdore F., * 30.12.1819 Neuruppin, † 20.9. kräften. 1898 Berlin; Grabstätte: ebd., Friedhof Von den Unterzeichnern der Resolution der Französisch-Reformierten Gemeinde, des österr. PEN-Clubs gegen das nationalsoLiesenstraße. – Romancier, Erzähler, Lyzialist. Deutschland ging F. neben Rudolf riker, Journalist, Reiseschriftsteller, Jeremias Kreutz als Einziger nicht ins Exil, Kunst- u. Theaterkritiker. sondern führte seine journalist. Arbeit während des nationalsozialist. Regimes in Öster- F.s Leben u. Denken war, im Für u. Wider, reich weiter. 1940–1944 war er als Kritiker u. stark auf Preußen fixiert. In der Mark BranFeuilletonist für die »Kölner Zeitung« tätig. denburg u. in Berlin verbrachte er den größNach dem Krieg hatte F. als Kritiker des ten Teil seines Lebens. Auch die Geschichte »Wiener Tag« u. des »Neuen Österreich« be- seiner Familie war eng mit der Preußens trächtl. Einfluss auf das Geistesleben der Be- verwoben. Seine Eltern stammten von Husatzungszeit. 1951–1958 war er Erster Thea- genotten ab, die nach der Aufhebung des terkritiker der Wiener »Presse«. 70-jährig Edikts von Nantes (1685) Frankreich verlasübernahm er die Leitung eines Seminars für sen u. in Berlin Zuflucht gefunden hatten. Theaterkritik am Institut für Theaterwissen- Sein Großvater väterlicherseits war Zeichenschaften der Universität Wien, von 1959 bis lehrer der Kinder Friedrich Wilhelms II. u. 1964 war er Präsident des Österreichischen Kabinettssekretär der Königin Luise gewesen. Schriftstellerverbands. Als Chronist des Wie- Sein Vater hatte in den Befreiungskriegen als ner Theatergeschehens verfasste F. Schau- Freiwilliger gedient, war Apotheker geworspielerporträts, u. a. Wiener Schauspieler von den u. hatte sich in F.s Geburtsjahr in NeuMitterwurzer bis Maria Eis (Wien 1948); er gab ruppin angekauft. In dieser Provinzstadt die Werke von Johann Nestroy heraus (Mchn. verlebte F. die frühe Kindheit. 1827 siedelte 1962). die Familie in die weltoffene Hafenstadt Weitere Werke: Das Märchen der Stille. Bln. Swinemünde über, wo F. fünf glückl. Jahre 1910 (D.). – Marc. Lpz. 1918 (D.). – Empörer. Lpz./ verbrachte, die er in seinem Alterswerk Meine Wien/Zürich 1920 (N.n). – Wir sind Gefangene. Ein Kinderjahre (Bln. 1894) beschrieb. Hier gibt er Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. Mchn 1927. – auch ein prächtiges Porträt seines leichtlebiGefangene der Erde. Bln. 1928 (R.). – Der Sommer gen u. liebenswürdigen Vaters, dem er sein singt sein Lied. Wien 1949 (R.). – Der Engel der frühes Interesse an polit. Journalen u. eine Barmherzigkeit. Roman der Menschenliebe. Wien Vorliebe für anekdotenhaft erzählte Ge1950. – Der Atem des Feuers. Roman der Gasenerschichte verdankte. gie. Wien 1955. – Hans Moser. Wien 1965 (Biogr.). F.s Schulbildung, die oberflächlich u. lü– Paula Wessely. Bln. 1965 (Biogr.). ckenhaft blieb, begann 1827 an der StadtLiteratur: Alexandra Reininghaus: O. M. F. Das Profil eines österr. Journalisten. Diss. Wien 1983. – schule in Swinemünde, die er nach drei MoWolfgang Rothe: O. M. F.: Die Erweckung. In: naten verließ, um erst zu Hause vom Vater u. Spiegel im dunklen Wort. Hg. Winfried Freund dann in einer kleinen Privatschule unteru. a. Ffm. 1983, S. 219–232. – Annette Daiger: richtet zu werden. 1832 wurde der ZwölfCsokor, F., Musil u. die Kritik. In: Robert Musil jährige auf das Gymnasium nach Neuruppin and the literary landscape of his time. Hg. Hannah geschickt u. ein Jahr später nach Berlin, wo er Hickman. Salford 1991, S. 112–133. – Peter Roess- 1833–1836 die Klödensche Gewerbeschule ler: Humanismus des Kompromisses? O. M. F.s mehr schwänzte als besuchte, die Stadt u. ihre Theaterpublizistik. In: Lit. der ›Inneren EmigratiUmgebung, die er durchstreifte, zu seiner on‹ aus Österr. Hg. Johann Holzner u. Karl Müller. Schule machte u. doch das Examen, das ihn Wien 1998, S. 313–336. – Evelyne Polt-Heinzl: O. zum einjährigen Militärdienst berechtigte, bestand. Obgleich sein Interesse mehr der
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Geschichte u. der Dichtung galt, absolvierte er 1836–1840 in Berlin eine Apothekerlehre u. arbeitete anschließend als Apothekengehilfe in Burg bei Magdeburg (1840), in Leipzig (1841/42), in Dresden (1842/43), in der Apotheke des Vaters in Letschin im Oderbruch (1843/44) u., nach einjährigem Militärdienst 1844/45, wieder in Berlin. Nachdem er 1847 sein Staatsexamen abgelegt u. 1848/ 49 am Krankenhaus »Bethanien« zwei Diakonissinnen in Pharmazie unterrichtet hatte, gab er im Okt. 1849 den ungeliebten Beruf auf u. versuchte, vom Schreiben zu leben. 1845 hatte er sich mit Emilie Rouanet-Kummer verlobt. Als er, nach einem Hungerjahr als freier Schriftsteller, 1850 eine journalist. Anstellung bei der preuß. Regierung bekam, heiratete er u. musste fortan eine Familie mit vier Kindern (George geb. 1851; Theodor geb. 1856; Martha geb. 1860; Friedrich geb. 1864) ernähren, was nur durch ständige zusätzl. schriftsteller. Arbeit u. durch zeitweilige Hauslehrertätigkeit möglich war. Auch seine Berufung zum preuß. Presse-Beauftragten in England (1852 u. 1855–1859), wo er wertvolle Erfahrungen sammelte, änderte an seiner schlechten Finanzlage wenig. 1860 trat er als Verantwortlicher für den »englischen Artikel« in die Redaktion der »Neuen Preußischen Zeitung«, der sog. »Kreuz-Zeitung«, ein, der er bis 1870 angehörte. In dieser Zeit begann er seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg u. bereiste als Berichterstatter 1864, 1866 u. 1870/71 die Schauplätze der preuß. Kriege in Schleswig-Holstein u. Dänemark, Böhmen u. Thüringen/Hessen sowie in Frankreich. 1870 begann er bei der »Vossischen Zeitung« seine 20-jährige Tätigkeit als Theaterkritiker für das Kgl. Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt, in der er durch sein fundiertes, oft witzig-plaudernd vorgetragenes Urteil u. durch sein Eintreten für Ibsen u. die jungen dt. Naturalisten, bes. Gerhart Hauptmann, großen Einfluss gewann. 1874 u. 1875 bereiste er Italien. 1876 ließ er sich zum letzten Mal auf eine staatl. Anstellung ein: Im März wurde er Erster Sekretär der Akademie der Künste in Berlin u. kam im Mai schon um seine Entlassung ein; der Posten war nicht mehr als eine für ihn unzumutbare Schrei-
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berstelle. Die Zeit ungestörter, allerdings vielfach von Krankheiten beeinträchtigter Produktivität, in der in schneller Folge die Romane entstanden, begann erst jetzt. 1872 hatte er seine letzte Wohnung, im dritten Stock der Potsdamer Straße 134 c, bezogen, in der er als fast 80-Jähriger starb. Trotz der Ehrungen des letzten Jahrzehnts (1891, gemeinsam mit Klaus Groth, Schillerpreis; 1894 Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität) wurde seine überragende Bedeutung für die dt. Literatur erst nach seinem Tod erkannt (u. a. durch Thomas Mann). Seitdem ist seine Wirkung ständig intensiver geworden u. hat in der zweiten Hälfte des 20. Jh., selbst unter den Bedingungen der dt. Teilung u. speziell auch in Frankreich u. England, zu reger Forschungs- u. Editionstätigkeit geführt (»Fontane-Renaissance«). Das 1935 gegründete Theodor Fontane-Archiv in Potsdam gibt seit 1965 die »Fontane-Blätter« heraus. 1990 wurde die Theodor Fontane-Gesellschaft gegründet. Um F.s umfangreiches u. vielgestaltiges Werk, das trotz der verdienstvollen Bemühungen von Nymphenburger, Hanser u. Aufbau in keiner der bisherigen Editionen vollständig erfasst worden ist, übersichtlich zu machen, versuchte es die Forschung zeitweise mit einer Dreiteilung in Früh-, Mittelu. Spätphase, die ungefähr auch seine polit. Denkweisen gliedert, für die die Geschichte Preußens Zäsuren setzte. Denn dass die Ereignisse von 1848 u. 1871 an dem politisch stets aufgeschlossenen u. zeitweilig auch politisch tätigen F. nicht spurlos vorbeigingen, ist selbstverständlich, genauso aber, dass die Zusammenhänge, die hier bestehen, kompliziert u. nicht immer durchschaubar sind. Neuerdings legt man kaum noch Wert auf diese problematische Einteilung u. versteht stattdessen Leben u. Werk als eine zwar widerspruchsvolle, aber letztlich komplexe Einheit. F.s schriftstellerischer Beginn, der etwa auf die Zeit von 1840 bis Mitte der 1850er Jahre zu datieren ist, wurde, was den bleibenden dichter. Ertrag betrifft, v. a. von den Balladen bestimmt. Zwar zeigte der Anfänger schon die Breite seines, noch epigonalen, Könnens,
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als er mit einer sentimental-romant. Erzählung (Geschwisterliebe. Bln. 1839) debütierte u. mit spät-romant. Naturlyrik, mit einem satir. Epos (Burg. Verf. 1840. 1. vollst. Druck Bln. 1929), mit polit. Gedichten, mit einem Romanzenzyklus (Von der schönen Rosamunde. Dessau 1850), mit Nachdichtungen aus dem Englischen (darunter Verse der sozialkrit. Chartisten), polit. Korrespondenzen u. Aufsätzen auftrat. Doch erreichte er nur mit den Balladen (Männer und Helden. 8 Preußenlieder. Bln. 1850. Balladen. Bln. 1861), deren Stoffe er der preußischen u. der englisch-schott. (später auch der nord.) Geschichte entnahm, wirkl. Originalität. Da einige von ihnen, wie Der alte Zieten (1847) oder Archibald Douglas (1854), bald in die Schullesebücher Eingang fanden u. F. auch im Alter noch Balladen schrieb, die nun aber keine Kriegshelden mehr besangen (Gorm Grymme. 1864. Die Brück’ am Tay. 1880. John Maynard. 1886. Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. 1889), gründete sich sein Ruhm lange auf diese u. beschattete andere Teile seines Werks. Das trifft bes. auf seinen Beitrag zur VormärzLyrik u. auf seine radikal-demokrat. Aufsätze von 1848/49 zu. In seinem autobiogr. Alterswerk Von Zwanzig bis Dreißig (Bln. 1898) hat er seine Revolutionsbegeisterung ironisiert u. bagatellisiert u. damit auch den Bruch kaschiert, der ihn in den späten 1850er Jahren zunehmend konservative Überzeugungen artikulieren ließ. Enttäuschung u. Resignation trugen dazu sicher genauso bei wie ein durch seine Notlage erzwungener Opportunismus, der ihn in die Abhängigkeit einer staatl. Anstellung trieb. Auch die literar. Vereinigung »Tunnel über der Spree«, der F. seit 1844 angehörte, beeinflusste ihn in konservativem Sinn. Ihre Mitglieder, zu denen bedeutende Autoren wie Geibel, Heyse u. Storm nur kurzzeitig gehörten, waren v. a. Beamte u. Offiziere, die in Literatur dilettierten, u. einige von ihnen (wie Wilhelm von Merckel, der das Gegen Demokraten helfen nur Soldaten reimte) unterstützten F. tatkräftig, wenn er in Schwierigkeiten war. Wichtiger als die literar. Anregungen des »Tunnels« (u. seiner späteren Abzweigungen »Ellora« u. »Rütli«) waren für F. die sozialen Kontakte, die ihm Einblicke in die Gesellschaft der Re-
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sidenzstadt verschafften, was später den Romanen zugute kam. 1848 war F. als Wahlmann für die Demokraten aufgetreten, 1862 kandidierte er, ebenso erfolglos, für die Konservativen. Die Veränderung in seinem polit. Denken war also radikal; was aber konstant blieb, war sein preußischer Stoff. Im Vormärz hatte er als vorbildl. Männer der Tat die preuß. Feldherren um Friedrich II. besungen, u. seine Mitarbeit an der demokrat. »Dresdner Zeitung« war daran gescheitert, dass man seine Verherrlichung Alt-Preußens nicht gelten ließ. Die aber machte ihm den Übergang zu konservativen Positionen leicht, u. sie erhielt sich auch, mit Abschwächungen u. Differenzierungen, noch im Alter, als er die Entwicklung Preußen-Deutschlands immer kritischer sah. »Die Fridericus-Rex-Leute«, heißt es noch im Stechlin, »die haben alle Herz und Verstand auf dem rechten Fleck.« F.s Schaffensperiode, die 1855 mit dem dreieinhalbjährigen (dritten) England-Aufenthalt begann u. 1876 mit dem Entschluss, sich in Unabhängigkeit dem Romanschreiben zu widmen, endete, wird oft die »Wanderungs«-Zeit genannt. Denn die Wanderungen durch die Mark Brandenburg (5 Tle., Bln. 1862–89), deren Pläne in England reiften, standen hier eindeutig im Mittelpunkt, obwohl die Reisebücher über England (Ein Sommer in London. Dessau 1854. Jenseits des Tweed. Bln. 1860. Aus England. Stgt. 1860), die Kriegserlebnisse in Frankreich (Kriegsgefangen. Bln. 1871. Aus den Tagen der Occupation. 2 Bde., Bln. 1871) u. die detaillierten Beschreibungen der drei Kriege, die als Nebenarbeiten gedacht waren u. sich zu Riesenunternehmungen auswuchsen, die Wanderungen an Masse überwogen. Diese sind oft als Vorstufe der Romane betrachtet worden; sie haben aber auch ihren Wert in sich selbst: als Dokument einer krit. Heimatliebe, das eine arme, wenig beachtete Landschaft genau beschreibt u. partiell verklärt, u. als Meisterleistung in der künstlerisch-journalist. Form des Reisefeuilletons, das plaudernd belehrt, atmosphärisch erzählt u. Gegenwärtiges durch Historie belebt. Das trifft aber nicht auf alle Teile der Wanderungen zu; denn ein einheitliches Gebilde sind diese in Jahrzehnten entstandenen Bände nicht. Es gibt gestaltete u. ungestalte,
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langweilige u. interessante Kapitel; auf Reportage u. beste Erzählkunst folgt reine Faktenhäufung; der Plauderton gelingt nicht immer, u. manchmal ist F. von der Trockenheit, die er den Regionalhistorikern vorwarf, nicht weit entfernt; freilich sind mitunter gerade solche nüchternen Aufzählungen u. Inventarverzeichnisse heute die einzige Quelle für Untergegangenes u. Zerstörtes. Zur Information über die Mark sind alle Teile der Wanderungen zu gebrauchen, zu einem Lesegenuss, der nicht unbedingt auf Belehrung aus ist, werden aber nur die, in denen neben dem Landschafts- u. Vergangenheitsbeschreiber auch der Menschengestalter zu Wort kommt. Die Arbeit an den Wanderungen ging der an den Romanen voraus, endete aber nicht mit diesen, sondern setzte sich in der Erzählerphase fort. Der vierte Band, Spreeland, erschien erst 1882, die mehr historisch-referierenden Fünf Schlösser 1889, u. noch in seinem letzten Lebensjahr arbeitete F. an einem weiteren Band, der Das Ländchen Friesack heißen sollte. Er kehrte damit am Ende seines Lebens zu seinen »alten Göttern«, dem Landadel, den er bes. in den ersten Bänden der Wanderungen liebevoll geschildert, später aber immer kritischer betrachtet hatte, zurück. »Denn wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich.« Dieses Urteil F.s über seinen Vater trifft, wie Thomas Mann schon bemerkte, auch auf ihn selbst zu. In seiner Spätphase erst entfaltete er seine ganze Größe, u. wenn er den preuß. Stoff zum Gegenstand seiner Romane machte, ging es skeptischer u. kritischer zu. Mit zunehmendem Alter wurde er demokratischer u. im letzten Jahrzehnt, in der wilhelmin. Zeit, radikaler. Stärker als in den Romanen u. den bekenntnishaften Altersgedichten, in denen seine Entfremdung vom »offiziellen Preußen« sich heiter-resignativ manifestierte, kommt das in den Briefen zum Ausdruck, bes. in denen an Georg Friedlaender (Hg. Kurt Schreinert. Heidelb. 1954. Neu hg. v. Walter Hettche. Ffm. 1994). Vom »Haß gegen alles, was die neue Zeit aufhält« ist da die Rede, »Unsinn und Lüge drücken zu schwer«. Das moderne Preußentum, das er »Borussismus« nannte, verachtete er, ohne sich dadurch den Blick auf
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sein verklärtes Alt-Preußen trüben zu lassen; den gegenwärtigen Adel beschrieb er als selbstsüchtig u. antiquiert; das Volk, meinte er, sei den Regierenden über; er kritisierte den Kaiser u. die imperialist. Politik – aber zu polit. Traktaten wurden seine Briefe doch nie. Sie sind, im Alter zunehmend, von Augenblickseinfällen u. launigen Übertreibungen bestimmt u. deshalb auch von Widersprüchen nicht frei. (»Ein Brief soll keine Abhandlung, sondern der Aus- und Abdruck einer Stimmung sein«, schrieb er an Storm.) Durch ihren Anekdotenreichtum, ihren Humor, ihren »Bummelton« u. ihre essayist. Abschweifungen werden die Briefe zu literar. Kostbarkeiten, die gleichberechtigt neben den anderen Werken stehen (sie sind freilich auch der Ort, wo er sein ambivalentes Verhältnis zur »Judenfrage« erörtert). Die Briefform hat F. auch oft an entscheidenden Stellen seiner 17 Romane u. Novellen verwendet, auch schon in Vor dem Sturm (4 Bde., Bln. 1878), einem breit angelegten histor. Gemälde aus der Zeit kurz vor den Befreiungskriegen 1813. Die Verwandtschaft mit den Wanderungen, in denen stofflich schon vieles vorgebildet war, kann dieses Anfängerwerk eines fast 60-Jährigen, der sich in liebevoller Schilderung märkischer Landschaft u. Geschichte nicht genug tun kann, nicht verleugnen, aber die Kunst der Menschengestaltung u. die stilist. Sicherheit, bes. in den Dialogen, lassen die lockere Komposition vergessen u. geben dem Buch einen eigenartig behäbigen Reiz. Das große Thema, die patriot. Erhebung, wird durch die Detailmalerei (vielleicht ungewollt?) verkleinert; statt vaterländischem Pathos entsteht so realist. Provinzialität. Knapper, kühner, kritisch direkter wird preuß. Historie in der Novelle Schach von Wuthenow (Lpz. 1883) dargestellt. Die Geschichte einer Verführung, einer befohlenen Heirat u. eines darauf folgenden Selbstmordes, vorwiegend in geistreichen Gesprächen erzählt u. beurteilt, enthüllt die Hohlheit des für den preuß. Offizier zentralen Begriffs der Ehre – u. lässt am Schluss (durch resümierende Briefe) doch auch andere, auf individuelle Tragödie zielende Bedeutungen zu. Der Preußen-Kritiker Bülow (wie fast alle Personen dieser Novelle
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nach histor. Vorbildern gestaltet) gibt zwar weitgehend die Meinung des Autors wieder, aber seine Einseitigkeit u. Selbstsicherheit macht F., der immer das Einerseits-Andererseits sieht, nicht mit. Das letzte Wort gibt er nicht Bülow, sondern Victoire, der betrogenen Witwe, die der kalten Verurteilung menschliches Verständnis entgegensetzt. Dieser interpretatorisch offene Schluss, den manche Kritiker als misslungen ansahen, erhöht nur den Zauber der Novelle: Beim Suchen nach den Gründen menschlicher Schicksale bleibt immer ein unauflöslicher Rest. Wie Vor dem Sturm ist auch Schach von Wuthenow eine Vorabend-Geschichte: Nicht Preußens Niederlage von 1806 wird geschildert, sondern die Zeit kurz davor, die deutlich macht, wie es zu dem Desaster kam. Die Verführungsszene wird dialogisch vorbereitet u. dann ausgespart, u. auch den Selbstmord erlebt der Leser nur durch den Wortwechsel der Diener mit. Nicht die großen Begebenheiten, die Katastrophen u. Leidenschaften reizen F. zur Gestaltung, sondern deren Voraussetzungen u. Folgen, das Davor u. Danach, das dialogisch, also nie einseitig, gestaltet wird. Das ist auch so, wenn F. die Vergangenheit verlässt u. die großartigen Gesellschaftsromane seiner Gegenwart schreibt, in denen Menschen an einem Ordnungsgefüge leiden oder zerbrechen, das sie durch starre Regeln an ihrer freien Entfaltung hindert. Die Frage nach der Notwendigkeit u. Berechtigung der gesellschaftl. Konventionen bleibt dabei in der Schwebe, u. nur die menschl. Tragödien, die sie erzeugen, klagen sie an. Über die starren, verlogenen Moralauffassungen seiner Zeit in Bezug auf Liebe u. Ehe ist F. dabei erhaben; sein Urteil ist nie konventionell, immer menschlich; wenn er das Sexuelle auch meidet, ist er doch fern jeder Prüderie. In L’Adultera (Breslau 1882), seinem ersten Berliner Gesellschaftsroman, in dem der Ehebruch einer Frau im Mittelpunkt steht, bemüht F. sich um einen idyll. Schluss; in Cécile (Bln. 1887) dagegen schickt er die Titelgestalt in den Tod, weil die Gesellschaft ihre Jugendsünden nicht vergessen kann. »Wer mal drinsitzt, gleichviel mit oder ohne Schuld, kommt nicht wieder heraus«, so umriss F. selbst (in einem Brief an
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Paul Schlenther) seine Absichten in diesem Buch. Er meinte die Frauen damit, die, wie Cécile, für die von starren Ehrbegriffen besessenen Männer nur Objekte u. Opfer sind. In Irrungen, Wirrungen (Bln. 1888), der traurigen Liebesgeschichte, die, weil die Beteiligten sich in die Verhältnisse fügen, nicht tragisch endet, entgeht Lene Nimptsch dem GeopfertWerden, weil sie die Kraft zur Entsagung hat. Sie, die aus kleinen Verhältnissen kommt, ist dem Adligen an Verstand u. Charakter weitaus überlegen. Während er dazu neigt, sich Illusionen zu machen, bewahrt sie sich auch im Glück ihren klaren Blick. Seine Schwäche, die sie an ihm liebt, macht es der Familie leicht, ihn an seine Standespflichten wieder zu fesseln. Lene, die Verliererin, die die Verhältnisse, die sie anerkennt, unglücklich machen, ist moralisch die Siegerin. Die Ordnung hat ihre Intaktheit bewiesen, aber sie ist durch das Leid, das sie zu ihrer Existenzsicherung braucht, diskreditiert. Kräftige Frauengestalten aus unteren Schichten, die den Männern an prakt. Lebenssinn u. oft auch an Charakterfestigkeit überlegen sind, hat F. noch mehrfach in den Mittelpunkt von Romanen gestellt. In Stine (Bln. 1890), einem Pendant zu Irrungen, Wirrungen, aber mit tödlichem Ausgang, ist es nicht die blasse Titelfigur, die entzückt, sondern deren Schwester, die proletar. Witwe Pittelkow, von deren kräftigem Porträt das schwache Handlungsgerüst lebt. Während das erst postum erschienene, nicht gänzlich fertiggestellte Lebensbild einer Aufsteigerin, Mathilde Möhring (Hg. Josef Ettlinger. Bln. 1907. Erstmals in authent. Version hg. v. Gotthard Erler. Bln. 1968), ganz im muffigen Kleinbürgermilieu verbleibt, führt der ironisch-krit. Roman Frau Jenny Treibel (Bln. 1893) in die Welt der neureichen Bourgeoisie, in der Besitz u. Bildung auseinanderklaffen u. die Phrase die Moral ersetzt. Die anrührendste Gestalt der Ehe- u. Gesellschaftsromane, anlässlich derer Otto Brahm vom »tiefsten Wunder jugendlicher Greisenkunst« gesprochen hat, ist Effi Briest (Bln. 1896). Die junge Adlige, die, fast ein Kind noch, an den viel älteren Baron von Innstetten verheiratet wird, begeht aus Langeweile, fast gegen ihren Willen, einen Ehe-
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bruch. Ihr Mann erfährt erst Jahre später davon, tötet den Liebhaber im Duell u. verstößt Effi, womit er nicht nur sie, sondern auch sich selbst unglücklich macht. Die im menschl. Sinne unvernünftige u. grausame Handlungsweise, die aber im Sinne adliger Konventionen konsequent u. notwendig ist, wird von F. direkt nicht verurteilt; doch wird, indem er der Person Innstettens Gerechtigkeit widerfahren lässt, die Anklage gegen das überpersonale Gesetz, das Menschenopfer fordert, verstärkt. In dem Bestreben, nicht die Person, sondern die Verhältnisse schuldig zu sprechen, geht F. so weit, dass die sterbende Effi ihrem Verderber verzeiht: »Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur, und er war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.« Effi Briest war F.s einziger Roman, der zu seinen Lebzeiten wirklich erfolgreich war; sein letzter dagegen, Der Stechlin (in Buchform postum Bln. 1899), wurde anfangs wenig geschätzt; heute zählt man ihn zu den besten Romanen F.s. Der handlungsarme, ganz auf Konversation gestellte Roman, der auf engem Raum innerhalb eines halben Jahres spielt u. doch Geschichte u. Welt mit einbezieht, ist nach F.s eigener Bekundung ein politischer Zeitroman. Das preuß. Thema wird hier wieder aufgegriffen, aber ins Allgmeine gewendet: in die Problematik der alten u. neuen Zeit. Scheinbar beiläufig kreisen alle Gespräche um diese Frage, alle Haupt- u. Nebenpersonen haben in ihr Positionen, u. vielen Dingen wird ein Symbolwert gegeben, der auf Veränderung u. Revolutionierung verweist sowie auf Toleranz u. Weltoffenheit: »Wie dumm ist es, sich zu überheben; hinterm Berge wohnen auch immer Leute.« Der Stechlinsee, an dem der alte Herr von Stechlin lebt, plaudert u. stirbt, steht der Sage nach mit aller Welt in Verbindung, u. wenn es irgendwo Vulkanausbrüche oder Erdbeben gibt, steigt ein Wasserstrahl oder »ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein«. Der stille Winkel der Mark wird also von Umbrüchen nicht verschont (was für den europaerfahrenen u. weltpolitisch interessierten Märker F. selbstverständlich ist). Das Rittergut ist verschuldet; bei den Wahlen siegen die Sozialdemokraten; der Pastor, der
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auch Erzieher des jungen Stechlin ist, vertritt einen Sozialismus mit christlicher Prägung; u. das alles wird von dem Gutsherrn, der die Gabe der Selbstironie besitzt u. hinter alles ein Fragezeichen macht, toleriert. Durch ihn, der das alte Preußen, das nie wiederkommt, für das beste hält, wird der Stechlin ein Buch des Abschieds, das aber auch vom Werden im Vergehen, also vom Neubeginn weiß. Wenn der alte Stechlin, der auch viel von seinem Autor hat, zu Grabe getragen wird, sagt der Pastor über ihn, u. es ist, als spräche er vom alten F.: »Sah man ihn, so schien er ein Alter, auch in dem, wie er Zeit und Leben ansah; aber für die, die sein wahres Wesen kannten, war er kein Alter, freilich auch kein Neuer. Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz [...] Er war recht eigentlich frei.« Weitere Werke: Briefe u. Tagebücher: Briefe an seine Familie. Hg. K. E. O. Fritsch. 2 Bde., Bln. 1905. – Briefe. 2. Slg. An seine Freunde. Hg. Otto Pniower u. Paul Schlenther. 2 Bde., Bln. 1910. – Briefw. mit Wilhelm Wolfsohn. Hg. Wilhelm Wolters. Bln. 1910. – Briefw. mit W. Wolfsohn. Hg. Christa Schulze. Bln. 1988. – T. F. u. W. Wolfsohn – eine interkulturelle Beziehung. Briefe, Dokumente, Reflexionen. Hg. Hanna Delf v. Wolzogen u. Itta Shedletzky. Tüb. 2006. – 89 bisher ungedr. Briefe u. Hss. Hg. Richard v. Kehler. Bln. 1936. – Heiteres Darüberstehen. Familienbriefe. N. F. Hg. Friedrich Fontane. Bln. 1937. – Hermann Fricke: Emilie Fontane. Mit unveröffentl. Gedichten u. Briefen v. Theodor u. Emilie Fontane. Rathenow 1937. – T. F. u. Bernhard v. Lepel. Ein Freundschaftsbriefw. Hg. Julius Petersen. 2 Bde., Mchn. 1940. – T. F. u. Bernhard v. Lepel. Der Briefw. Hg. Gabriele Radecke. 2 Bde., Bln./New York 2006. – Briefe an seine Freunde. Letzte Auslese. Hg. Friedrich Fontane u. Hermann Fricke. 2 Bde., Bln. 1943. – Briefe aus den Jahren 1856–98. Hg. Christian Andree. Bln. 1975. – Briefe an Friedrich Paulsen. In 500 Faks.-Drucken. Bern 1949. – Briefe in 2 Bdn. Hg. Gotthard Erler. Bln./Weimar 1968. 31989. Mchn. 1980. – Briefe. Hg. Kurt Schreinert u. Charlotte Jolles. 4 Bde., Bln. 1968–71 (= Propyläen-Ausg.). – Briefe an Hermann Kletke. Hg. Helmuth Nürnberger. Mchn. 1969. – Briefe an Julius Rodenberg. Hg. Hans-Heinrich Reuter. Bln./Weimar 1969. – Der Briefw. zwischen T. F. u. Paul Heyse. Hg. G. Erler. Bln./Weimar 1972. – Briefe an Wilhelm u. Hans Hertz 1859–98. Hg. Kurt Schreinert u. Gerhard Hay. Stgt. 1972. –
501 Briefe. Hg. Otto Drude, H. Nürnberger u. a. 6 Bde. Mchn. 1976–97 (= Hanser-Ausg., 4. Abt. mit je einem Bd. Register u. Komm.). – Theodor Storm u. T. F. Briefw. Hg. Jacob Steiner. Bln.1981. – Die Fontanes u. die Merckels. Ein Familienbriefw. 1850–70. Hg. G. Erler. 2 Bde. Bln. 1987. – Briefe an den Verleger Rudolf v. Decker. Hg. Walter Hettche. Heidelb. 1988. – Tage- u. Reisetagebücher. Hg. G. Erler u. a. 2 Bde., Bd. 3 in Vorb. Bln. 1994 (= GBA). – T. F. u. Friedrich Eggers. Der Briefw. Hg. Roland Berbig. Bln./New York 1997. – Der Ehebriefw. Hg. G. Erler unter Mitarb. v. Therese Erler. 3 Bde., Bln. 1998 (= GBA). – T. F. u. Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Hg. Regina Dieterle. Bln./New York 2002. – Weitere Einzelwerke: Gedichte. Bln. 1851. 51898. – Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864. Bln. 1866. Nachdr. Bad Langensalza 2005. – Der dt. Krieg v. 1866. 2 Bde., Bln. 1870/71. Nachdr. Bad Langensalza 22004. – Der Krieg gegen Frankreich 1870–71. 2 Bde. in je 2 Halbbdn., Bln. 1873–76. Nachdr. 3 Bde., Bad Langensalza 2004. – Grete Minde. Bln. 1880 (E.). – Ellernklipp. Bln. 1881 (E.). – Graf Petöfy. Dresden 1884 (R.). – Christian Friedrich Scherenberg u. das literar. Berlin v. 1840–60. Bln. 1885. – Unterm Birnbaum. Bln. 1885 (R.). – Quitt. Bln. 1891 (R.). – Unwiederbringlich. Bln. 1892 (R.). – Von, vor u. nach der Reise. Plaudereien u. kleine Gesch.n. Bln. 1894. – Die Poggenpuhls. Bln. 1896 (R.) – Schr.en zur Lit. Hg. Hans-Heinrich Reuter. Bln. 1960. – Schr.en u. Glossen zur europ. Lit. Hg. Werner Weber. 2 Bde., Stgt./Zürich 1965–67. – Aufzeichnungen zur Lit. Ungedrucktes u. Unbekanntes. Hg. H.-H. Reuter. Bln./Weimar 1969. – William Shakespeare: Hamlet. Hg. Joachim Krueger. Bln./Weimar 1966. Zürich 1989 (Übers.). – Reisebriefe vom Kriegsschauplatz Böhmen 1866. Hg. C. Andree. Ffm./Bln./Wien 1973. – Der Dichter über sein Werk. T. F. Hg. Richard Brinkmann. 2 Bde., Mchn. 1977. – T. F. Unechte Korrespondenzen 1860–70. Hg. Heide Streiter-Buscher. 2 Bde., Bln./New York 1996. – Gedichte. Hg. Joachim Krueger u. Anita Golz. 3 Bde., Bln/Weimar 1989. 21995 (= GBA). – Herausgeber: Dt. Dichter-Album. Bln. 1852. – T. F. u. Franz Kugler: Argo. Belletrist. Jb. Dessau 1854. – T. F. hat es ausgeschrieben gans allein ... F.s erstes ›Geschichten Buch‹. Hg. H. u. Elisabeth Nürnberger. Bln. 1995. – Abednego der Pfandleiher. 1843. (Übers. v. Catherine Gore: The Money-lender). – Die Likedeeler. F.s letzter Romanentwurf. Hg. Hermann Fricke. Rathenow 1938. – Theaterkritiker: Plaudereien über Theater. Hg. T. u. Friedrich F. Bln. 1926. – Parkettplatz 23. T. F. über Theaterkunst, Dichtung u. Wahrheit. Hg. Ehm Welk. Bln. 1949. – Causerien über Theater. Hg. Edgar Gross u. a. 3 Bde., Mchn. 1964–67.
Fontane Ausgaben: Ges. Romane u. Novellen. 12 Bde., Bln. 1890/91 (= Dominik-Ausg.). – Ges. Werke. 21 Bde. in 2 Serien, Bln. 1905–10. – Ges. Werke. Jubiläumsausg. Einl. Paul Schlenther u. Ernst Heilborn. 2 Reihen zu je 5 Bdn., Bln. 1919/20. – Werke in Einzelausg. Hg. Christfried Coler. 16 Bde., Bln. 1955–63. – Sämtl. Werke. Hg. Kurt Schreinert u. Edgar Gross. 24 Bde. in 3 Abt.en, Mchn. 1959–75 (= Nymphenburger Ausg.). – Werke, Schr.en, Briefe. Hg. Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger. 22 Bde. in 4 Abt.en, Mchn. 1962–97 (= Hanser-Ausg.). – Der junge F. Dichtung, Briefe, Publizistik. Hg. Helmut Richter. Bln./Weimar 1969. – Romane u. Erzählungen. Hg. Peter Goldammer, Gotthard Erler u. a. Bln./Weimar 1969. 41993 (= Aufbau-Ausg.). – Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Hg. G. Erler u. Rudolf Mingau. 7 Bde., Bln./Weimar 1976–91. 41994. Erw. 8 Bde., Bln. 1997, als Tb.Ausg. Bln. 2005 (= Aufbau-Ausg.). – Autobiogr. Schr.en. Hg. G. Erler u. a. 4 Bde., Bln./Weimar 1982 (= Aufbau-Ausg.). – Große Brandenburger Ausg. Hg. G. Erler. Bln. 1994 ff. (= GBA). Literatur: Bibliografien, Kataloge, Forschungsberichte: Joachim Schobeß: T. F. Hss, Briefe, Gedichte ... Potsdam 1962. – Ders.: Lit. v. u. über F. Potsdam 2 1965. – Walter Migge (Hg.): T. F. 1819–1969. Marbach 1969. – T. F. 30.12.1819. Zum 150. Geburtstag. Ausstellungskat. Hg. Hans-Werner Klünner. Bln. 1969. – T. F. 1819–98. Ausstellung des Archivs der Akademie der Künste. Bln. 1969. – Charlotte Jolles: T. F. Stgt. 1972. 41993. – T. F. Dichtung u. Wirklichkeit. Ausstellungskat. Hg. Udo Ropohl u. Christa Tebbe. Bln. 1981. – Wolfgang Paulsen: Zum Stand der heutigen F.-Forsch. In: JbDSG 25 (1981), S. 474–508. – Domenico Mugnolo: Vorarbeiten zu einer krit. F.-Ausg. Bln. 1985. – Die Briefe T. F.s. Verz. u. Register. Hg. Charlotte Jolles u. Walter Müller-Seidel. Mchn. 1988. – F. u. die bildende Kunst. (Ausstellungskat.). Hg. Claude Keisch u. a. Bln. 1998. – F . u. sein Jh. (Ausstellungskat.). Hg. Stiftung Stadtmuseum Berlin. Bln. 1998. – Goedeke Forts. (Werkverz.). – Vermisste Bestände des T. F. Archivs. Hg. Manfred Horlitz. Potsdam 1999. – Helen Chambers: T. F.s. Erzählwerk im Spiegel der Kritik. Würzb. 2003. – Wolfgang Rasch: T. F. Bibliogr. Werk u. Forsch. 3 Bde., Bln./New York 2006. – Gesamtdarstellungen, Biografien: Conrad Wandrey: T. F. Mchn. 1919. – Mario Krammer: T. F. Bln. 1922. – Georg Lukács: Der alte F. In: Ders.: Dt. Realisten des 19. Jh. Bln. 1952. – Hermann Fricke: F. Chronik seines Lebens. Bln. 1960. – Jost Schillemeit: T. F. Geist u. Kunst seines Alterswerks. Zürich 1961. – Herbert Roch: F., Berlin u. das 19. Jh. Bln. 1962. Ffm. 1966. Düsseld. 1985. – Fritz Martini: T. F. In: Ders.: Dt.
Forberger Lit. im bürgerl. Realismus. Stgt 1962. 41981. – Karl Richter: Resignation. Eine Studie zum Werk F.s. Stgt./Bln. 1966. – Richard Brinkmann: T. F. Mchn. 1967. 21977. – Helmuth Nürnberger: Der frühe F. Hbg. 1967. Mchn. 1971. – Ders.: T. F. Reinb. 1968. 27 2007. – Hans-Heinrich Reuter: F. 2 Bde., Bln. u. Mchn. 1968. Neu hg. v. Peter Görlich. Bln./Bayreuth/Zürich 1995. – Wolfgang Preisendanz (Hg.): T. F. Darmst. 1971. 21985. – Hans-Erich Teitge u. J. Schobeß (Hg.): F.s Realismus. Bln. 1972. – Walter Müller-Seidel: T. F. Soziale Romankunst in Dtschld. Stgt. 1975. 21980. – Hans Scholz: T. F. Mchn. 1978. – Hugo Aust (Hg.): F. aus heutiger Sicht. Mchn. 1980. – Charlotte Jolles: F. u. die Politik. Bln./Weimar 1983. 21988. – W. Paulsen: Im Banne der Melusine. T. F. u. sein Werk. Bern u. a. 1988. – Edda Ziegler unter Mitarbeit v. Gotthard Erler: T. F. Lebensraum u. Phantasiewelt. Eine Biogr. Bln. 1996. Als Tb. Bln. 2002. – H. Nürnberger: F.s Welt. Bln. 1997. Neuausg. 2007. – Wolfgang Hädecke: T. F. Mchn./Wien 1998. – Christian Grawe: F.-Chronik. Stgt. 1998. – Roland Berbig: T. F. im literar. Leben. Ztg.en u. Ztschr.en, Verlage u. Vereine. Bln./New York 2000. – Ders. u. H. Nürnberger (Hg.): F.-Hdb. Stgt. 2000. – G. Erler: Das Herz bleibt immer jung. Emilie Fontane. Biogr. Bln. 2002. 22002. Als Tb. 2003. 22005. – Regina Dieterle: Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane. Mchn./Wien 2006. – H. Nürnberger u. Dietmar Storch: F.-Lexikon. Namen – Stoffe – Zeitgesch. Mchn./Wien 2007. – Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte: Gertrud Herding: T. F. im Urteil der Presse. Diss. Mchn. 1945. – Herbert Knorr: T. F. u. England. 2 Bde., Diss. Gött. 1961. – Hans-Martin Schorneck: F. u. die Franzosen. Diss. Gött. 1966. – Rainer Bachmann: T. F. u. die dt. Naturalisten. Diss. Mchn. 1968. – Karsten Jessen: T. F. u. Skandinavien. Diss. Kiel 1975. – Karin Liesenhoff: F. u. das literar. Leben seiner Zeit. Bonn 1976. – Ulrike Tontsch: Der ›Klassiker‹ F. Ein Rezeptionsprozeß. Bonn 1977. – T. F. Am Ende des Jahrhunderts. Hg. Hanna Delf v. Wolzogen u. a. Würzb. 2000. – ›Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst‹. Erinnerungen an T. F. Hg. W. Rasch u. Christine Hehle. – Gattungen und Themen: Hans Rhyn: Die Balladendichtung F.s. Bern 1914. Neudr. 1970. – Hans F. Rosenfeld: Zur Entstehung F.scher Romane. Groningen 1926. – Ernst-Lothar Reich: F. als Historiker. Diss. 2 Bde., Innsbr. 1948. – Joachim Biener: F. als Literaturkritiker. Rudolstadt 1956. – Peter Demetz: Formen des Realismus: T. F. Mchn. 1964. 2 1966. – Peter Wruck: Preußentum u. Nationalschicksal bei F. Diss. Bln. 1967. – Vincent J. Günther: Das Symbol im erzähler. Werk F.s. Bonn 1967. – Hubert Ohl: Bild u. Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes u. F.s. Heidelb. 1968. – Ingrid
502 Mittenzwei: Die Sprache als Thema. Zu F.s Gesellschaftsromanen. Bad Homburg 1970. – Kenneth Attwood: F. u. das Preußentum. Bln. 1970. – Bruno Hillebrand: Mensch u. Raum im Roman. Studien zu Keller, Stifter, F. Mchn. 1971. – Dietrich Sommer: Ideolog. Gehalt u. Struktur der Romane F.s. Diss. Halle 1972. – Cordula Kahrmann: Idyll im Roman: T. F. Mchn. 1973. – Katharina Mommsen: Gesellschaftskritik bei F. u. Thomas Mann. Heidelb. 1973. – Heinz E. Greter: F.s Poetik. Bern/Ffm. 1973. – Hugo Aust: T. F. ›Verklärung‹. Zum Ideengehalt seiner Romane. Bonn 1974. – Karlheinz Gärtner: T. F. Lit. als Alternative. Studie zum ›poet. Realismus‹. Bonn 1978. – Ulrike Haß: T. F. Bürgerl. Realismus am Beispiel seiner Gesellschaftsromane. Bonn 1979 – Norbert Frei: T. F. Die Frau als Paradigma des Humanen. Königst. 1980. – Hanni Mittelmann: Die Utopie des weibl. Glücks in den Romanen F.s. Bern/Ffm. 1980. – Gisela Wilhelm: Die Dramaturgie des ep. Raumes bei F. Ffm. 1981. – Gerhard Friedrich: F.s preuß. Welt. Herford 1988. – Michael Fleischer: ›Kommen Sie, Cohn‹. F. u. die ›Judenfrage‹. Bln. 1998. – Udo Wörffel: F. im Riesengebirge. Husum 2000. – F.s ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europ. Reiselit. Hg. H. Delf v. Wolzogen. Würzb. 2003. – Jan Pacholski: Das ganze Schlachtfeld. T. F. als Kriegsberichterstatter. Breslau/Görlitz 2005. – Renate Böschenstein: Verborgene Facetten. Studien zu F. Würzb. 2006. – Einzelne Werke: Julius Petersen: F.s Altersroman [›Der Stechlin‹]. In: Euph. 29 (1928). – Pierre-Paul Sagave: F.s ›Schach von Wuthenow‹. Dichtung u. Wirklichkeit. Ffm. 1966. – Peter-Klaus Schuster: T. F.: ›Effi Briest‹ – Ein Leben nach christl. Bildern. Tüb. 1978. – Walter P. Guenther: Preuß. Gehorsam. F.s ›Schach v. Wuthenow‹. Mchn. 1981. – Gunter H. Hertling: F.s ›Stine‹: eine entzauberte Zauberflöte? Bern/Ffm. 1982. – Karla Bindokat: ›Effi Briest‹. Erzählstoff u. Erzählinhalt. Ffm./Bern 1984. – Elsbeth Hamann: T. F.s ›Effi Briest‹ aus erzähltheoret. Sicht. Bonn 1984. – Christian Grawe: F.s ›Effi Briest‹. Ffm./ Mchn./Bln. 1985. – Eda Sagarra: T. F.: ›Der Stechlin‹. Mchn. 1986. – Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenet. Studie zu F.s ›L’Adultera‹. Würzb. 2002. Günter de Bruyn / Gotthard Erler
Forberger, Georg, auch: Sader, Villanus, Acronius, * um 1543 Mittweida/Sachsen, † nach 1604. – Herausgeber u. Übersetzer. Nach Schulbesuch in Grimma (1556–1562) u. Erlangen der Magister-artium-Würde an der Universität Wittenberg (1562–1566) hielt
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Forbes-Mosse
Weitere Werke: Gelegenheitsgedicht. In: Basisich F. in Basel (um 1569–1574), Sachsen (bis 1577) u. wieder in Basel auf (1578/79). Statt lius Valentinus: Triumphwagen Antimonii. Hg. ein in Basel (1573/74) u. Leipzig (1574/75) Johann Thölde. Lpz. 1604. – Briefe: Zwei Briefe an aufgenommenes Medizinstudium abzu- Kurfürst August v. Sachsen. In: Dresden, Landeshauptarchiv, Loc. 4418, Bl.483r-484r (Annaburg, schließen, stellte er seine literar. Fähigkeiten 16.11.1574): Loc. 4519, Bl. 171 (Annaburg, in die Dienste des Basler Verlegers Peter Perna 18.1.1575). u. ließ sich zeitweilig von Kurfürst August Literatur: Rudolph Zaunick: Der sächs. Paravon Sachsen als »Translator« besolden celsist G. F. Mit bibliogr. Beitr. zu Paracelsus, (1575–1577). Aufgrund seiner alchemopara- Alexander v. Suchten, Denys Zacaire, Bernardus celsistischen Neigungen unterhielt F. nähere Trevirensis, Paolo Giovio, Francesco Guicciardini u. Beziehungen mit Adam von Bodenstein (Ba- Natale Conti. Hg. Hans-Heinz Eulner u. Kurt sel), Johann Scultetus Montanus (Striegau), Goldammer. Wiesb. 1977 (mit Textproben). – CP II, Michael Toxites (Straßburg) u. Johann Thöl- S. 237–239, 241. Joachim Telle de. Seine letzten Lebensjahrzehnte liegen weitgehend im Dunkel. Das publizist. Wirken F.s besaß einen Forbes-Mosse, Irene (Anna Maria MagSchwerpunkt in der Übersetzung von Ge- dalena Gisela Gabriele), auch: Didi, * 5.8. schichtswerken (Paolo Giovio, Francesco 1864 Baden-Baden, † 26.12.1946 VilleGuicciardini, Natale Conti). Einen weiteren neuve/Genfer See. – Lyrikerin u. ErzähleSchwerpunkt bildeten die Veröffentlichun- rin. gen von paracelsischen Schriften, die sich aus lat. Übersetzungen (Liber Paramirum. Basel Die Enkelin von Achim u. Bettine von Arnim 1570. De natura rerum. Basel 1573. Opera latine u. Schwester Elisabeth von Heykings heirareddita. Basel 1575) u. Ausgaben (Von den Tar- tete 1884 ihren Vetter Roderich Graf von tarischen oder Steinkranckheiten. Basel 1574. Li- Oriola, von dem sie sich 1895 scheiden ließ. ber de narcoticis aegritudinibus. Basel 1575. 1896 heiratete sie einen engl. Offizier, mit Kleine Wundartznei. Basel 1579) zusammen- dem sie bis zu dessen Tod 1904 in Florenz setzten. Hinzu gesellten sich Übersetzungen lebte. Ein lyr. Grundton kennzeichnet das Geeiner Schrift Alexander von Suchtens (De secretis Antimonii. Basel 1575) u. alchemischer samtwerk der Autorin des Gedichtbands Werke (Denys Zecaire: Von der natürlichen Mezzavoce (Bln. 1901) u. der Erzählungen 7 Philosophia. Halle 1609. Bernardus Trevi- Berberitzchen und Andere (Bln. 1910. 1924). Als sanus: Antwort auf das Schreiben des Thomas von Familienerbe darf man die hohe Musikalität Bononia. Bln. 1733. Vom Stein der Weisen. In: ihrer Sprache u. die Einfühlsamkeit der Charakterzeichnung im Prosawerk ansehen. Dresden, Landesbibl.: Ms. J 348 misc. 2). F. machte wider die Lateiner den Werk- Unter den Nationalsozialisten erhielt F. zeugcharakter aller Sprachen geltend Schreibverbot. Weitere Werke: Peregrina’s Sommerabende. (»weißheit und kunst ist an keine sprach nicht gebunden«) u. forderte »sonderliche« Lieder für eine Dämmerstunde. Lpz. 1904. – Das Schulen, in denen »die gemeine Jugend alle Rosenthor (mit Zeichnungen v. Heinrich Vogeler). gute Künst Teutsch studieren möge«, sodass Lpz. 1904 (L.). – Laubstreu. Stgt. 1923 (L.). – Kathinka Plüsch. Stgt. 1930 (R.). – Ferne Häuser. Hg. auf ihn der Glanz eines Vorläufers von WolfIna Seidel. Stgt. 1953 (E.en). gang Ratke u. Johann Balthasar Schupp, den Literatur: Ina Seidel: I. F. als Erzählerin. In: reformpädagogischen Anwälten einer »reaDie schöne Lit. 28 (1927), S. 337 ff. – Ingeborg listischen Bildung«, fällt. F.s Übersetzungen Zeggert: I. F. Eine Spätgestalt der dt. Romantik. förderten den Aufstieg des Deutschen zu ei- Diss. Freib. i. Br. 1955. – Adalbert Elschenbroich: I. nem anerkannten Medium der Wissenschaf- F. In: NDB. – Herward Sieberg: Bettinas Enkelin: ten; seine umfangreichen Übersetzungs- u. Die Dichterin I. F. In: Dies Buch gehört den KinRedaktionsarbeiten zum Werk Hohenheims dern. Achim u. Bettine v. Arnim u. ihre Nachfahsicherten F. unter den Paracelsisten seiner ren. Hg. Ulrike Landfester. Bln. 2003, S. 519–546. Eda Sagarra / Red. Zeit eine achtbare Stellung.
Forel
Forel, Auguste Henri, * 1.9.1848 La Gracieuse bei Morges/Kt. Waadt, † 27.7.1931 Yvorne/Kt. Waadt. – Psychiater u. Insektenforscher.
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für die Basis sittl. Verhaltens. In seinem erfolgreichsten Buch Die sexuelle Frage (Mchn. 1905. Neubearb. Zürich 171942) setzte er sich u. a., wie auch außerhalb seiner sexualwiss. Untersuchungen, für die Gleichberechtigung der Frau ein. F. war seit 1914 in der pazifist. Bewegung aktiv u. trat 1916 der Sozialdemokratischen Partei bei.
Der Sohn eines Gutsbesitzers wuchs abgesondert von anderen Kindern auf u. erhielt calvinistisch orientierten Privatunterricht. Er studierte 1866–1871 Medizin in Zürich u. Weitere Werke: Ges. hirnanatom. Abh.en. Wien bei dem Hirnanatomen Theodor Mey- Mchn. 1907. – Le monde social des fourmis [...]. 5 nert u. promovierte 1872 in Zürich. Bde., Genf 1921–23. Dt.: Die Welt der Ameisen. 1872–1878 war F. Assistenzarzt Bernhard Zürich 1948. – Rückblick auf mein Leben. Zürich von Guddens an der psychiatr. Universitäts- 1935. – Briefe. Bern 1964. klinik in München. Daneben veröffentlichte Literatur: Eugen Bleuler: A. F. In: Ztschr. für er 1874 sein erstes Buch über Die Ameisen der die gesamte Neurologie u. Psychiatrie 1/2 (1918), Schweiz (Dübendorf 1915) u. habilitierte sich S. 1 f. – Annemarie Wettley: A. F. Salzb. 1953. – 1877 mit einer hirnanatomischen Arbeit, in Anton Leist (Hrsg.): A. F. – Eugenik u. Erinneder er seine Entdeckung des Ursprungs des rungskultur. Zürich 2006. Angela Schrameier / Red. Gehörnervs bekannt gab (in: Archiv für Psychiatrie u. Nervenkrankheiten 7, 1877, S. 393–495). 1879 übernahm F. die Leitung der psychiatr. Klinik »Burghölzli« – wo Eu- Forkel, Johann Nikolaus, * 22.2.1749 gen Bleuler sein Schüler wurde – u. die damit Meeder bei Coburg, † 20.3.1818 Grone verbundene Professur für Psychiatrie an der bei Göttingen; Grabstätte: ebd. – MusikUniversität Zürich (bis 1898). Seine letzte gelehrter u. Journalist. große hirnanatomische Arbeit, in der die Der musikalisch begabte Sohn eines SchuhNeuronenlehre begründet wird, schrieb er machers u. Zöllners wurde nach Unterricht 1887. am Lüneburger Johanneum 1767 Präfekt am F.s Wende von der medizin. Physiologie Domchor zu Schwerin. Vom dortigen Herzog zur Psychologie zeigt sein Werk Der Hypno- Friedrich Franz I. unterstützt, nahm F. 1769 tismus, seine Bedeutung und Handhabung (Stgt. das Rechtsstudium an der Universität Göt1889), in dem er den therapeut. Zweck der tingen auf. Hier bekleidete er in der Folgezeit Hypnose – in dieser Zeit entweder zu mysti- mehrere musikal. Ämter, so ab 1770 für drei scher Geistsuche verwandt oder vom Stand- Jahre das des Universitäts-Organisten, ab punkt der exakten Naturwissenschaft aus 1779 das Amt des Universitäts-Musikdirekverworfen – wissenschaftlich begründete. tors, das die Erteilung von musiktheoretiDamit legte F. den Grundstein der modernen schem u. Orgel-Unterricht einschloss. Eine Psychologie sowohl der Schweizer Schule um Bewerbung (1788) um die Nachfolge Carl Bleuler als auch der Wiener Schule um Sig- Philipp Emanuel Bachs als hamburgischer mund Freud. In den nächsten Jahren enga- Kirchenmusikdirektor hatte keinen Erfolg. gierte sich F. zunehmend gesellschaftspoli- F.s 1781 mit Margaretha Sophia Wedekind, tisch. So zog er – in der Schweiz wurde das der Tochter des Ordinarius für Theologie, Bürgerliche Gesetzbuch geschaffen – die geschlossene Ehe wurde 1793 geschieden. F. Rechtmäßigkeit jeder Strafe in Zweifel, da er blieb zeitlebens in Göttingen, wo er als Unidie Ursachen für Verbrechen in biologischen versitätsdozent, Schriftsteller u. Komponist u. sozialen Gegebenheiten sah. Vor allem aber wirkte. setzte er sich für die Abstinenzlerbewegung F. steht geistesgeschichtlich zwischen der ein; zunächst, weil für ihn nur die Totalab- Aufklärung u. der Göttinger universalhistor. stinenz eine wirksame Therapie des Alkoho- Schule. Trotz aller hieraus später erwachselismus versprach; später aus allgemeiner eth. nen Kritik, so z.B. vonseiten August Wilhelm Überzeugung: Er hielt die Alkoholabstinenz Schlegels, gilt er als der Begründer der mo-
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dernen Musikwissenschaft. Seine Hauptwerke, wie die Allgemeine Geschichte der Musik (2 Bde., Lpz. 1788 u. 1801; unvollendet) u. die Allgemeine Litteratur der Musik (Lpz. 1792), die erste musikwiss. Bibliografie überhaupt, bildeten den Grundstock für weiterführende Arbeiten des 19. Jh.; F.s Bach-Biografie Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Lpz. 1802. Nachdr. Kassel/Bln. 1999) löste die Wiederbeschäftigung mit Bachs Werk im 19. Jh. aus; der Versteigerungskatalog von F.s Nachlass (Gött. 1819) weist zudem viele heute verschollene Werke Bachs nach. Weitere Werke: Über die Theorie der Musik. Gött. 1777. – Musikalisch-krit. Bibl. 3 Bde., Gotha 1778/79. – Musikal. Almanach für Dtschld. Lpz. 1782–84. – Gesch. der italiän. Oper. Lpz. 1789. Literatur: Franz Peters-Marquardt u. Alfred Dürr: F. In: MGG 4. – Vincent Duckles: F. In: The New Grove, Bd. 6 (1980), S. 706–708. – Martin Staehelin (Hg.): Musikwiss. u. Musikpflege an der Georg-August-Univ. Göttingen. Gött. 1987. – Michael Kassler (Hg.): The English Bach Awakening. Aldershot 2004. Erich Tremmel / Red.
Forster, Friedrich, eigentl.: Waldfried Burggraf, * 11.8.1895 Bremen, † 1.3.1958 Bremen. – Verfasser von Dramen u. Nachdichtungen. Der Sohn eines Geistlichen begann mit 17 Jahren eine Schauspielerkarriere am Theater in Meiningen. Nach dem Krieg, an dem er als Soldat teilnahm, setzte er seine Tätigkeit als Schauspieler am Stadttheater in Würzburg fort. Als Spielleiter u. Dramaturg wirkte er fünf Jahre in Nürnberg; von 1933 an war er Direktor des Bayerischen Staatsschauspiels u. Intendant der Bayerischen Landesbühne. Eine Führungskrise veranlasste F., das Staatsschauspiel vorzeitig zu verlassen. Seit 1938 lebte er zurückgezogen als freier Schriftsteller. Es gelang ihm jedoch nicht mehr, an seine früheren Erfolge anzuknüpfen, da seine Dramen als bühnenuntauglich galten. Seinen Durchbruch als Autor erzielte er mit der Schülertragödie Der Graue (Lpz. 1931), für die er den Preis des Wiener Volkstheaters erhielt (Urauff. Köln, Lpz., Bremen 1931). Den
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zweiten großen Erfolg brachte ihm das Drama Robinson soll nicht sterben (Urauff. Lpz. 1932. Als Erzählung Stgt. 1954). Es handelt von Daniel Defoe, dem Autor des Robinson Crusoe, der sich, erblindet u. durch die Verschwendungssucht seines Sohnes verarmt, nicht dagegen wehren kann, dass ihm dieser zuletzt auch noch das Manuskript seines Romans entwendet. Einer Bande von Kindern gelingt es, ihm seinen Besitz zurückzugeben u. die Unterstützung des Königs zu verschaffen. F. bevorzugte Nachdichtungen von Märchenstoffen u. berühmten Vorlagen, z.B. von Gozzi, Goldoni, Voltaire. Praktische Bühnenerfahrung prägt seine Werke. Mit den Märchen u. Lustspielen schuf er naive u. sentimentale Stücke. Viele seiner Dramen – bes. aus der Zeit seiner Intendanz in München – zeigen in Sprache u. Thematik eine starke Affinität zur nationalsozialist. Ideologie. Weitere Werke: Alle gegen Einen, Einer für alle. Lpz. 1933. – Der Sieger. Lpz. 1934. – Die Weiber v. Redditz. Lpz. 1935. – Die Liebende. Mchn. 1949. – Die beste aller Welten. Mchn. 1951. – Zwerg Nase. Mchn. 1951. – Wunschpeter. Mchn. 1954. – Bergkristall. Weinheim 1955. Waltraud Müller / Red.
Forster, Georg, auch: Georgius Tinctoris, * um 1510 Amberg/Oberpfalz, † 12.11. 1586 Nürnberg. – Komponist, Liederbuchherausgeber. Mit elf Jahren kam der Sohn eines Färbers an die kurfürstl. Kantorei nach Heidelberg; an der dortigen Universität wurde er 1528 zum Baccalaureus artium promoviert. Zu seinen Kommilitonen gehörten Caspar Othmayr, Jobst von Brandt u. Stephan Zirler, die alle unter ihrem Lehrer Laurentius Lemlin entscheidende Anregungen zu musikal. Praxis sowie Sammel- u. Herausgebertätigkeit erfuhren u. einen lebenslangen Freundschaftsbund schlossen. 1531 nahm F. in Ingolstadt das Medizinstudium auf, das er 1534 als Stipendiat in Wittenberg fortsetzte. Er hörte u. a. bei Melanchthon u. wurde in die Tischgemeinschaft Luthers aufgenommen, der ihn zu einigen Bibelvertonungen anregte. Nach
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der Approbation zog F. als kurpfälz. Hof- Erwin Kraus: Die weltlich gedr. Notenliederbücher leibarzt im klevisch-frz. Krieg bis an die v. Erhard Öglin (1521) bis zu G. F.s fünftem LieMarne. Nach der Promotion zum Dr. med. derbuch. Ffm. 1980. – Kurt Gudewill: Drei lat.-dt. 1544 in Tübingen u. einem zweijährigen Liedbearb.en v. Caspar Othmayr. In: FS Martin Ruhnke 1986. – Albrecht Classen: G. F.s LiederPraktikum in seiner Heimatstadt wurde F. bücher. Letzte Blüte u. Ausklang einer Epoche. 1547 als Leibarzt in der freien Reichsstadt Rezeptionsgeschichtl. Untersuchungen zum spätNürnberg vereidigt, wo er bis zu seinem Tod mittelalterl. Lied. In: Lied u. populäre Kultur. Jb. blieb. des Dt. Volksliedarchivs Freiburg 48 (2003), In die Literaturgeschichte ging F., der auch S. 11–47. – Harald Haferland: Frühe Anzeichen Ausgaben von Motetten u. Psalmen besorgte, eines lyr. Ichs. Zu einem Liedtyp der gedr. Liederals Herausgeber der Frischen Teutschen Liedlein slg.en des 16. Jh. In: Dt. Liebeslyrik im 15. u. 16. Jh. ein (5 Bde., Nürnb. 1539–65), deren Einzel- Hg. Gert Hübner. Amsterd./New York 2005, bände noch zu Lebzeiten F.s bis zu fünf S. 169–200. – Horst Brunner: Die Liebeslieder in G. Auflagen erfuhren. Sie sind eines der reprä- F.s ›Frischen Teutschen Liedlein‹ (1539–56). Ebd. S. 221–234. sentativsten Beispiele früher gedruckter LieSabine Wienker-Piepho / Wilhelm Kühlmann derbücher mit Melodie, in denen das sog. »deutsche Tenorlied« im mehrstimmigen Satz erscheint, u. zählen – nicht zuletzt weForster, (Johann) Georg(e) (Adam), * 27.11. gen ihres Umfangs u. des vielseitigen Inhalts 1754 Nassenhuben bei Danzig, † 10.1. – trotz der gelegentlich sehr freien künstler. 1794 Paris; Grabstätte: ebd., unbekannt. Eingriffe zu den für die Singsituation des 16. – Naturwissenschaftler (Botaniker, AnJh. aufschlussreichsten Quellen: F. fixierte als thropologe), Philosoph u. Essayist; Übereiner der Ersten, kaum zensiert u. unter setzer. Einschluss derber u. obszöner Elemente, Text u. Ton nicht nur von Kunstliedern, höf. u. Im damals poln. Nassenhuben bei Danzig kirchl. Liedgut, sondern v. a. auch einer gro- geboren, hat das aufgeweckte Kind eine ßen Anzahl der mündlich umlaufenden Ausbildung nur durch seinen Vater, den »Bergkreyen«, »Gassenhawer« oder »Reut- Pfarrer wider Willen u. nachmaligen Philosophen u. Naturhistoriker Johann Reinhold terliedlin«. F.s Liedlein gelten als ergiebigste Quelle der Forster, erhalten – lediglich ein halbes Jahr großen Sammlungen sog. »Volkslieder« wie hat F. einmal eine Schule (in Petersburg), nie etwa Arnims u. Brentanos Wunderhorn (1806), eine Universität besucht. Doch wurde so ein Uhlands Volkslieder (1844/45) u. Ludwig immenses, freilich noch wenig strukturiertes Wissen angelegt. Der Vater tat dies nicht ganz Christian Erks Liederhort (1856. 21893). Ausgaben: G. F.s Frische Teutsche Liedlein [...] uneigennützig: Auf allen Forschungsreisen nach den ersten Ausg.n [...] mit den Abweichungen begleitete ihn der Sohn u. half ihm durch der späteren Drucke. Hg. M. Elisabeth Marriage. Schriftstellerei schon im Jünglingsalter, die Halle/S. 1903. – Gesamtausgabe: Frische Teutsche Familie zu ernähren. So kam das frühreife Liedlein. Hg. Kurt Gudewill, Horst Brunner u. a. Kind bereits mit zehn Jahren durch Russland, Tle. 1–5, Wolfenb. 1942–97. – Weitere Werke, ältere 1765/66 auf einer Expedition an die Wolga zu Drucke u. muskalische Reproduktionen: Vgl. Rebecca den neu angelegten dt. Siedlungen (Saratow) Wagner Oettinger. In: MGG. Personenteil 6 (2001), u. ans Kaspische Meer, 1766 dann von St. Sp. 1501–1505. Petersburg nach England, wo der SprachbeLiteratur: Hans Kallenbach: G. F.s ›Frische gabte als 13-Jähriger seine erste Übersetzung teutsche Liedlein‹. In: Gießener Beiträge zur Phi(aus dem Russischen ins Englische) veröflologie 29 (1931), S. 1–60. – Maximilian Weigel: fentlichte, u. nahm – immer mit dem Vater – Dr. G. F. aus Amberg. In: Verhandlungen des Histor. Vereins v. Oberpfalz u. Regensb. 87 (1937). – als Zeichner an Cooks zweiter ErdumsegeCarl Philipp Reinhardt: Die Heidelberger Lied- lung teil, der seinerzeit ergiebigsten u. meister des 16. Jh. Kassel 1939. – Heinz Rölleke: F.s längsten Forschungsreise (1772–1775). Deren ›Frische Teutsche Liedlein‹ u. ›Des Knaben Wun- Beschreibung A voyage round the world (London derhorn‹. In: LitJb N. F. 12 (1971), S. 351–358. – 1777. Dt. Bln. 1778/80) hatte ursprünglich
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F.s Vater abfassen sollen. Als diesem jedoch nach einem Streit mit der brit. Admiralität die Veröffentlichung untersagt wurde, übernahm F. die Arbeit u. schrieb nach dessen Aufzeichnungen, jedoch im Stil ganz selbständig, die engl. Version, die er gleich danach gemeinsam mit Rudolf Erich Raspe ins Deutsche übertrug. Dieses Jugendwerk zeigt insbes. in seiner philosoph. Grundhaltung einen an Linné, Rousseau u. Buffon geschulten Beobachter von Mensch, Gesellschaft, Natur u. Landschaft. Es dürfte daher noch ganz unter dem Einfluss des Vaters gestanden haben, vergleicht man es mit dessen späteren Observations. Freilich legte das Werk, das von der Kritik begeistert aufgenommen wurde, schon durch die schwungvolle Sprache den Grundstein für F.s literar. Ruhm u. seine wiss. Existenz zgl.: Nicht der Vater, dessen Forscherleistung es war, sondern F., dessen nachgerade poet. Darstellungsweise neue Wege in der Gattung Reisebeschreibung bahnte u. die Naturdichtung des Zeitalters unmittelbar beeinflusste, wurde künftig als der »Weltumsegler« angesehen. Auf der Suche nach einer Professur für den Vater (der aufgrund von Schulden England nicht verlassen durfte) bereiste F. Norddeutschland, besuchte die Höfe zu Kassel, Braunschweig, Dessau u. Berlin u. unterwegs die Universität Göttingen, überall begeistert aufgenommen u. gefeiert (beim Aufenthalt in Göttingen z.B. wurde er ehrenhalber zum Magister promoviert). Für den Vater brachte das zwar erst 1780 eine Professur in Halle, für F. aber gleich 1779 eine für »Naturgeschichte« am Collegium Carolinum zu Kassel. Den dortigen, mit zehn Abhandlungen meist völkerkundl. Inhalts u. 27 Rezensionen an sich nicht unproduktiven, Aufenthalt füllten vorwiegend Studien. Jedoch vergeudete F., zgl. Mitgl. der Kasseler Freimaurerloge »Zum gekrönten Löwen«, ihn auch mit Absonderlichkeiten wie der Teilnahme am Rosenkreuzerwesen u. deren Versuchen, Gold zu machen – er löste sich aber alsbald ernüchtert davon. 1784 nahm er einen Ruf an die Universität Wilna an, der ihn zunächst von seinen Schulden befreite u. ihm dadurch erlaubte,
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die hochbegabte Tochter des Altphilologen Christian Gottlob Heyne u. nachmalige Schriftstellerin Therese Heyne zu heiraten. 1786 wurde als erstes von vier Kindern die nach der Mutter benannte Tochter geboren (»Röschen«, † 1861), die spätere Herausgeberin seiner sämtl. Schriften. Die intellektuelle Verbannung, die ihm Polnisch-Litauen bald werden sollte, förderte eine zwar quantitativ geringe (da er nicht für Geld schreiben musste), qualitativ aber höchst bedeutende Produktion: außer einigen botan. Arbeiten (Auswertung der Weltreise) v. a. die für ihn höchst charakterist. Polemik Noch etwas über die Menschenracen (in: Werke in zwei Bänden. Bd. 2, Bln./Weimar 1968), mit der er in die Kontroverse zwischen Herder u. Kant gegen den Letzteren eingriff. Bei aller Subjektivität u. Leichtigkeit der Darstellung nämlich, mit der er (neben Lichtenberg) den populären wiss. u. philosoph. Essay in Deutschland begründete, verlangte er immer strikte Empirie, beharrte er auf dem Vorrang der Tatsache vor der Spekulation. 1787 wurde F. zum Leiter einer russ. Forschungs-Weltreise berufen. Von seinen poln. Verbindlichkeiten durch die Zarin Katharina II. losgekauft, verließ er Polen, um in Deutschland diese Reise vorzubereiten – sie kam indes nicht zustande. F., vor die Wahl gestellt, Lehrer beim Kadettenkorps in Petersburg zu werden oder auf Vermittlung des Historikers Johannes von Müller als Universitätsbibliothekar nach Mainz zu gehen, entschied sich 1788 für die Aufklärungsuniversität im despotisch regierten geistl. Kurstaat. Hier entstanden die Ansichten vom Niederrhein (3 Bde., Bln. 1791–94. Neudr. hg. v. Ulrich Schlemmer. Darmst. 1989), durch prosarhythm. Meisterschaft, Beobachtungsenergie u. philosoph. Verbindung von Darstellung u. Folgerung F.s reifstes Werk, das Lichtenberg in Begeisterung versetzte u. Alexander von Humboldt zu F.s Schüler werden ließ. Hier übertrug F. auch die Sakontala des Inders Kalidasa (Mainz u. Lpz. 1791, aus einer engl. Übers.) u. regte mit dem in seiner Übersetzung auch von Goethe, Schiller u. Herder hoch geschätzten Werk die beiden Schlegels zu ihren Indien-Studien an.
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Die Ideen der Französischen Revolution von 1789 begeisterten auch F. Zunächst beschränkte sich das auf Vorreden u. kleine Abhandlungen (z.B. Über historische Glaubwürdigkeit, 1791; Über den gelehrten Zunftzwang, 1792). Als dann aber der Mainzer Kurfürst 1792 vor der frz. Armee flüchtete u. Custine die Stadt einnahm, wurde F. zum Revolutionär. Anfangs dürfte es eher Mitläufertum gewesen sein, doch wandelte er sich zum rückhaltlosen Bekenner der revolutionären Idee, gab damit aber zgl. seine bürgerl. Existenz auf. 1792 trat F. dem Jakobinerclub bei, zu dessen Präsidenten er 1793 gewählt wurde; Pathos u. Rhetorik, die schon seine Rosenkreuzerreden in Kassel u. seine philosoph. Schriften kennzeichneten, stellte er von nun an in den Dienst der Revolution. Er wurde zum Abgeordneten u. anschließend zum Vizepräsidenten des »Rheinisch-deutschen Nationalkonvents« gewählt, der ihn 1793 mit zwei weiteren Deputierten nach Paris sandte. Seine Frau hatte sich zuvor schon von ihm getrennt u. sich dem gemeinsamen Freund Ludwig Ferdinand Huber angeschlossen, den sie bald nach F.s Tod heiratete. Einmal hat sich das Ehepaar noch an der Schweizer Grenze für ein paar Tage getroffen – ganz unglücklich scheint F. über diese Wendung, die ihn aus der Pflicht für die Familie entließ, nicht gewesen zu sein. In Paris arbeitete er in verschiedenen Missionen bis zu seinem frühen Tod publizistisch für die Ideen der Französischen Revolution; hier entstanden die Parisischen Umrisse u. die nicht mehr vollendete apologet. Darstellung der Revolution in Mainz. F. war Mitgl. von mehr als einem Dutzend gelehrter Gesellschaften, u. a. der Royal Society u. der Göttinger Sozietät der Wissenschaften (beide seit 1777), der Hallischen Leopoldina (1780) u. der Berliner Akademie (1786). Selten schwankt das Urteil über einen dt. Schriftsteller so sehr wie das über F.: Restaurativ gesinnte Biografen (Peter Adolf Winkopp, Karl Klein, Alfred Dove) von seinem Tod an bis ins 20. Jh. haben ihn verfolgt, ja verteufelt u. dabei auch sein Werk herabgewürdigt; liberale u. sozialistisch orientierte
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(Friedrich Schlegel, Georg Gottfried Gervinus, Jakob Moleschott, Friedrich Engels, Gerhard Steiner) ihn in den Himmel erhoben. Beide Positionen verkennen offenbar die Autonomie des Werkes von der Gesinnungsnote. Vielmehr dürfte doch Schlegel, der umgekehrt allerdings auch wieder die Qualitäten von F.s Werk auf sein Leben applizieren möchte, am ehesten Recht behalten: F. ist vielleicht der erste Künstler philosophischer Prosa in dt. Sprache, deren Klang u. Rhythmus er wie wenige andere zu nutzen verstand. Ausgabe: Akademie-Gesamtausg. der Werke, Tagebücher, Briefe in 18 Bdn. Bln. 1958 ff. Literatur: Horst Fiedler: G. F.-Bibliogr. Bln. 1971. – Gerhard Steiner: G. F. Stgt. 1977. – Eberhard Berg: Zwischen den Welten. Über die Anthropologie der Aufklärung u. ihr Verhältnis zur Entdeckungs-Reise u. Welt-Erfahrung mit bes. Blick auf das Werk G. F.s. Bln. 1982. – Michael Neumann: Philosoph. Nachrichten aus der Südsee. G. F.s Reise um die Welt. In: Der ganze Mensch. Anthropologie u. Lit. im 18. Jh. Hg. Hans-Jürgen Schings. Stgt./Weimar 1994, S. 517–544. – Weltbürger, Europäer, Deutscher, Franke. Ausstellung zum 200. Todestag v. G. F. Kat. hg. v. Rolf Reichardt u. Geneviève Roche. Mainz 1994. – ClausVolker Klenke, Jörn Garber u. Dieter Heintze (Hg.): G. F. in interdisziplinärer Perspektive. Bln. 1994. – Klaus Harpprecht: G. F. oder Die Liebe zur Welt. Eine Biogr. Reinb. 1990. – Astrid Schwarz: G. F. (1754–94). Zur Dialektik v. Naturwiss., Anthropologie, Philosophie u. Politik in der dt. Spätaufklärung. Kontinuität u. Radikalisierung seiner Weltanschauung vor dem Hintergrund einer ganzheitl. Werkinterpr. Diss. Univ. Fribourg. Aachen/Mainz 1998. – J. Garber (Hg.): Wahrnehmung – Konstruktion – Text : Bilder des Wirklichen im Werk G. F.s. Tüb. 2000. – Helmut Peitsch: G. F. A history of his critical reception. New York u. a. 2001. – Ludwig Uhlig: G. F. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–94). Gött. 2004. – Ulrike Bergmann: G. u. Therese F. Düsseld. 2007. – Reihe: G.F.-Studien. Hg. im Auftr. der G.-F.-Gesellsch. v. Horst Dippel u. Helmut Scheuer. Bln. 1995 f. / Kassel 1997 ff. u. Beih.e. Ulrich Joost
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Forster, (Johann) Reinhold, * 22.10.1729 Dirschau, † 9.12.1798 Halle/Saale. – Naturwissenschaftler, Philosoph u. Schriftsteller. Der von schott. Emigranten (Anhängern Karls I.) abstammende Bürgermeisterssohn aus Westpreußen sollte Jura, wollte Medizin studieren – u. wurde Theologe. Nach seinem Studium in Halle übernahm er nach zweijähriger Kandidatur in Danzig 1753 die Pfarre im nahe gelegenen Nassenhuben, wo bald nach seiner Heirat mit Justine Elisabeth, geb. Nicolai, der Sohn Georg als ältestes von sieben Kindern geboren wurde. Mehr als die Pfarre lockten ihn naturkundliche u. philosoph. Studien. Streit mit der Obrigkeit diente ihm zum Anlass, 1765 mit einjährigem Urlaub in Russland einen Forschungsauftrag im Gebiet von Saratow an der Wolga zu übernehmen. Da nach dessen Abschluss u. Auswertung eine dauerhafte Anstellung nicht erfolgte, ging er 1766 (zunächst nur mit Georg, die Familie folgte später) nach England, wo die beiden als Übersetzer, Schriftsteller u. Lehrer arbeiteten. F. wurde Nachfolger von Priestley an der Dissenter-Akademie in Warrington, musste, wieder im Streit mit Vorgesetzten, diese Stelle bald aufgeben – wie überhaupt sein ungezügeltes u. unbeugsames Naturell ihn lebenslang in berufl. Dingen erheblich behindert u. persönlich isoliert hat. Sein wiss. Rang hingegen wurde nie im Ernst bezweifelt; er war Mitgl. zahlreicher Akademien. 1772–1775 wurde er Begleiter von Cook auf dessen zweiter Entdeckungsreise. Da die brit. Admiralität den Streitsüchtigen hernach mit Schreibverbot belegt hatte, übernahm sein Sohn Georg die Niederschrift der Forschungsergebnisse. Hoch verschuldet, zumal da er nicht mit Geld umzugehen verstand, erlangte F. 1780 die rettende Berufung nach Halle, die ihm auch noch einige Entfaltung seiner wiss. Talente ermöglichte. F.s Stil ist ungemein trocken u. nüchtern bis zur Rechthaberei; den Vorzug der Eleganz vor ihm würde seinem Sohn niemand absprechen. Aber im Unterschied zu diesem waren seine naturhistor. Einsichten ungleich
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bedeutender u. origineller. Es steht heute außer Frage, dass ein beachtlicher Teil der Erkenntnisse auf Cooks Reise ihm zu verdanken ist – sogar in den Aufzeichnungen des Kapitäns selber. Bemerkenswert sind zumal die Universalität u. method. Strenge: Z.B. applizierte er Linnés System auf die Sammlung u. Verzeichnung der unbekannten Objekte, u. er erkannte offenbar als Erster die sprachl. Gemeinsamkeiten u. Unterschiede zwischen Polynesiern u. Melanesiern. Bedeutender aber, gerade auch in ihrer Wirkung auf den Sohn Georg, war die Bemühung um eine einheitl. Erkenntnis der physikal. Beschaffenheit der Erde aus der method. Grundhaltung eines genetisch-ganzheitl. Naturdenkens. Weitere Werke: Flora Americae septentrionalis. London 1771. – Observations made during a voyage round the world. London 1778. Neudr. Honululu 1996. Dt. v. Georg Forster u. d. T. Beobachtungen während der Cookschen Weltumseglung, 1772–75. Bln. 1783. Neudr. mit einer Einf. v. Hanno Beck. Stgt. 1981. – Zahlreiche Übers.en (zumeist Auftragsarbeiten). Literatur: Alfred Dove: F. In: ADB. – Michael Edward Hoare: The tactless Philosopher. J. R. F. (1729–98). Melbourne 1976. – Edeltraud DobnigJülch u. Hans Jürgen Höller: F., J. R. In: Bio-bibliogr. Hdb. zur Sprachwiss. des 18. Jh.: die Grammatiker, Lexikographen u. Sprachtheoretiker des deutschsprachigen Raums mit Beschreibungen ihrer Werke. Hg. Herbert E. Brekle. Bd. 3, Tüb. 1994, S. 114–122. – Gundolf Krüger: Die Dokumentation der Göttinger Cook/F.-Slg. im histor. Überblick: ein Interimsber. In: TenDenZen 3 (1994), S. 29–37. – Heike Heklau: Zum 200. Todestag v. J. R. F. (1729–98). In: 300 Jahre Botan. Garten der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg: 1698–1998. Hg. Fritz Kümmel. Halle/S. 1998, S. 125–133. – Regina Mahlke u. Ruth Weiß: Faszination Forsch.: J. R. F. (1729–98). Wiesb. 1998 (Ausstellungskat.). – Michael Pantenius: ...der Alma Mater halensis zur Zierde: J. R. F. (1729–98), Theologe, Naturforscher u. Weltreisender. In: Ders.: Gelehrte, Weltanschauer, auch Poeten...: literar. Porträts berühmter Hallenser. Halle/S. 2006, S. 74–77. Ulrich Joost
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Forte, Dieter, * 14.6.1935 Düsseldorf. – Verfasser von Bühnenstücken, Hör- u. Fernsehspielen sowie Romanen. Nach dem Kriege, dessen Bombenangriffe ihn traumatisierten, absolvierte F. eine kaufmänn. Lehre, hospitierte 1960/61 am Düsseldorfer Schauspielhaus unter Karlheinz Stroux u. gewann im NDR (1962/63) u. WDR (1964) Erfahrungen als Lektor u. Regieassistent. Mit Die Wand (WDR 1965), Porträt eines Nachmittags (Radio Bremen 1967, beide gedr. Stgt. 1973) u. Bergerstr. 8 (Rias Bln. 1967) begann F.s bis 1994 fortgesetzte Produktion von Hörspielen, denen sich ab 1970 fünf Fernsehfilme (darunter Nachbarn, ZDF 1970) anschlossen (vier Fernsehspiele in: Fluchtversuche. Ffm. 1980; dazu Durzak 1989). Als Nachfolger Friedrich Dürrenmatts wurde er 1970 als Hausautor an das Basler Theater berufen. Mit dem Geschichtsdrama Luther & Thomas Münzer oder die Einführung der Buchhaltung (Urauff. Basel 1970. Erstdr. Bln. 1971) gelang F. hier ein in viele Sprachen übersetztes, kontrovers diskutiertes, mittlerweile eher verblasstes Erfolgsstück. Das in seinem parabol. Reduktionismus an Brechts CäsarRoman erinnernde Skandalwerk greift Züge des Dokumentartheaters auf – wie wenige Jahre zuvor Hochhuths Stellvertreter. Nach Maßgabe eines manchmal recht kruden Seminarmaterialismus u. Antikapitalismus werden die Protagonisten der ihrer theolog. Dimensionen entledigten Reformation destruiert: Luther schrumpft zum Fürstenknecht (ängstlich u. autoritär, feige, gewinnsüchtig u. unzuverlässig), die Fürsten gebärden sich als gedankenlose Machtmenschen, der Papst u. die Kurie enthüllen sich als zyn. Opportunisten, Münzer wird zum einsamen Opfer seines Mitleids mit den Unterdrückten, alle aber stehen im Bann u. in der Abhängigkeit von der Macht des skrupellos akkumulierten, im Großkaufmann Fugger repräsentierten Finanzkapitals, das mit frommen Formeln abgesegnet wird. Auch die folgenden Dramen zeigen F. als bühnenversierten Interpreten einer misslungenen Geschichte von Aufklärung u. Humanität, darunter Kaspar Hausers Tod (Urauff. u. Druck 1979), auffälligerweise auch eine Bearbeitung des Ce-
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nodoxus des Barockjesuiten Jacob Bidermann (Urauff. Salzb. 1972), bes. aber Jean Henry Dunant oder Die Einführung der Zivilisation (Urauff. 1978. Gedr. Ffm. 1978). Der Gründer des Roten Kreuzes endet hier als verarmter Clochard, nachdem seine Mittel erschöpft sind u. seine Ideen als Ergänzung der techn. Kriegsführung missbraucht wurden. Seit etwa 1989 wandte F. fast seine ganze Kraft auf ein imponierendes u. zu Recht gerühmtes, allmählich zu einer Romantrilogie heranwachsendes Meisterwerk, das die nationalen u. mentalen Grenzscheiden Europas bewusst überspielt (Das Muster. Ffm. 1992. Der Junge mit den blutigen Schuhen. Ffm. 1995. In der Erinnerung. Ffm. 1995. Alle auch als Tb.; zus. in: Das Haus auf meinen Schultern. Ffm. 1999). In der 800 Jahre zurückreichenden, in sinnlicher Detailfreude, vielfacher Erzähltönung u. wechselnden narrativen Tempi, in eiserner epischer Distanz u. wechselseitiger Spiegelung konsekutiv erzählten Geschichte zweier denkbar verschiedener, doch im Migrantenschicksal kongruenter u. schließlich – in Düsseldorf – eng verbundener Familien wird des Autors eigene Herkunft, zuletzt auch die private Erfahrungswelt seiner Jugend verarbeitet. Der wohlhabenden Seidenweberfamilie Fontana aus Lucca bei Florenz, die wegen ihres hugenott. Glaubens über Lyon endlich nach Düsseldorf auswandert, kontrastiert die aus östlicher Sumpflandschaft schließlich ins Ruhrgebiet verschlagene Bergmannsfamilie Lukacz. Wie genau u. ganz ohne die holzschnittartigen Urteilsraster seines Frühwerkes F. in farbigen Genrebildern u. einer Fülle nunancierter Figurenporträts das Milieu u. die Alltagspsyche der Essener Bergarbeiter evoziert, ist überaus frappierend. Die Literaturkritik hat sich freilich v. a. in bisweilen überflüssigen Diskussionen (Zeitpunkt u. Legitimität deutscher »Bewältigungs«-Literatur) der im zweiten u. dritten Teil der Trilogie vergegenwärtigen Schreckenswelt der Nazizeit, des Luftkrieges (das brennende Düsseldorf) u. der frühen Nachkriegsjahre angenommen. F. hat allerdings diese Jahre immer wieder als lebensbestimmend u. als schwierige Herausforderung einer nur mühsam zur Sprache findenden Erinnerungsarbeit angesprochen. Der
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bislang letzte Roman (Auf der anderen Seite der Welt. Ffm. 2004) führt am latent autobiogr. Faden in die fünfziger Jahre u. rückt die Zeit des »Wirtschaftswunders« in die Perspektive eines Helden, der in einem Lungensanatorium auf einer Nordseeinsel nicht nur den eigenen Tod zu bedenken hat, sondern dabei auch die großen Vorbilder der Romanliteratur (unter ihnen Joyce, Thomas Mann, Döblin) lesend ins Gedächtnis ruft. F. wurde mit zahlreichen Preisen geehrt (s. u. zu den Dankesreden); in Düsseldorf wurde eine Schule nach ihm benannt. Weitere Werke: Rate mit im Rätselzoo. Freib. i. Br. 1970. 1981 (Kinderbuch). – Sonntag. 1975 (Fernsehsp.). – Achsensprung. 1977 (Fernsehsp.). – Blick über einen zersplitterten Spiegel. In: Die dt. Bühne 49 (1978), H. 12, S. 12 f. (Ess.). – Gesundheit. 1979 (Fernsehsp.). – Der Aufstieg. Ein Mann gehrt verloren. 1980 (Fernsehsp.). – Sprachspiel. WDR 1980 (Hörsp.), in: NR 92 (1981), H. 4, S. 5–24. – Das Modell u. seine Diener. Ess. In: Vom dt. Herbst zum bleichen Winter. Hg. Heinar Kipphardt. Mchn. u. a. 1981, S. 126–135. – Wach auf, wach auf, du dt. Land. SFB 1983 (Hörsp.). – Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt. Urauff. Basel 1983. Gedr. Ffm. 1983 (D.). – Warum histor. Stücke? In: TheaterZeitSchrift 1984, H. 7, S. 5–13 (Ess.). – Schalltoter Raum. WDR 1984 (Hörsp.). – Die eingebildet Gesunden oder Vor den Wäldern sterben die Menschen. WDR 1985 (Hörsp.). – Reise-Gesellsch. oder Die Fahrt nach Jerusalem. WDR, SWF 1987 (Hörsp.). – Der Artist im Moment seines Absturzes. Urauff. Kassel 1991 (D.). – Das endlose Leben [szen. Bilderbogen zum Düsseldorfer Stadtjubiläum]. WDR 1994 (Hörsp.) – Schweigen oder Sprechen [Ess.s u. Gespräche]. Hg. Volker Hage. Ffm. 2002. – Äußerungen, Reden, Interviews: Der Dramatiker u. das Fernsehen. Gespräch mit D. F. In: Manfred Durzak: Lit. auf dem Bildschirm. Tüb. 1989, S. 29–49. – Gedanken zu Basel. Dankesrede zur Verleihung des Basler Literaturpreises 1992. In: Holger Hof 1998 (s. u.), S. 140–144. – Weggehen um Anzukommen. In: Literar. Schreiben aus regionaler Erfahrung. Hg. Wilhelm Gössmann u. Klaus-Hinrich Roth. Paderb. u. a. 1996, S. 412–416. – Dankrede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises 1999. In: Die Verleihung des Bremer Literaturpreises. Laudationes u. Reden. o. O. u. J. – Dankesrede für die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellsch. In: HeineJb 42 (2003), S. 219–223. – ›Es ist schon ein eigenartiges Schreiben...‹ Gespräch mit Matthias Kußmann. In: NR 116 (2005), H. 2, S. 115–126. – Über Lit. u. den
Forte Untergang der Welt. Dankesrede zum Erhalt des Grimmelshausen-Preises am 13. Okt. 2005. In: NR 116 (2005), H. 4, S. 121–124. Literatur: Werk- u. Forschungsbibliografie: Holger Hof (Hg.): Vom Verdichten der Welt. Zum Werk v. D. F. Ffm. 1998. – Michael Töteberg in: KLG. – Thomas Kraft in: LGL. – Weitere Titel: Erwin Mülhaupt: Falsch-Müntzerei oder Die Karikatur der Reformationsgesch. in F.s Stück ›Martin Luther [...]‹. Karlsr. 1971. – Franz Norbert Mennemeier: D. F.: ›Martin Luther & Thomas Münzer [...]‹. Versäumte Vermittlung. In: Gesch. als Schauspiel. Hg. Walter Hinck. Ffm. 1981, S. 371–379. – Guy Stern: F.s play ›Luther, Münzer, and the bookkeepers of the reformation‹ – or the difficulties of writing historical truth. In: Michigan Germanic Studies 10 (1984), S. 205–220. – Sjaak Onderdelinden: Das Luther-Bild D. F.s. Überlegungen zu ›Martin Luther & Thomas Münzer [...]‹. In: LutherBilder im 20. Jh. Hg. Ferdinand van Ingen u. Gerd Labroisse. Amsterd. 1984, S. 207–222. – Jürgen Baurmann: ›Martin Luther und Thomas Münzer [...]‹. Eine Analyse zu D. F.s Theaterstück. In. Martin Luther. Annäherungen u. Anfragen. Hg. Willigis Eckermann u. Edgar Papp. Vechta 1985, S. 145–168. – Manfred Durzak: Erfolg ist ein Aberglauben. Über die Fernsehspiele v. D. F. In: Ders.: Lit. auf dem Bildschirm (s. o.), S. 51–67. – Sjaak Onderdelinden: Gesch. auf der Bühne. Die Gattung des dokumentar. Theaters u. ihre Innovationsfähigkeit. D. F.s ›Luther/Münzer‹ u. Heinar Kippardts ›Bruder Eichmann‹. In: Neoph. 76 (1992), S. 256–274. – M. Durzak: Die drei Leben des D. F. Zum Abschluß seiner Romantrilogie. In: NR 110 (1999), H. 2, S. 145–152. – W. Hinck: Keine Zeit für ep. Helden. D. F.s Düsseldorfer Romantrilogie. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Hg. Rüdiger Zymner. Köln 2000, S. 95–100. – Jens Oliver Müller: Das kollektive Selbst als ein anderer. Geschichtsbild u. Identitätsdiskurs in der Romantrilogie v. D. F. In: Konstrukte nat. Identität. Hg. Michael Einfalt u. a. Würzb. 2002, S. 189–209. – Klaus Michael Bogdal: Erhofftes Wiedersehen. D. F.s Romantrilogie ›Das Haus auf meinen Schultern‹. In: Lit. u. Leben. Hg. Günter Helmes u. a. Tüb. 2002, S. 305–318. – M. Durzak: D. F.s Weg in die Lit. Eine Laudatio. In: HeineJb 42 (2003), S. 224–233. – Elena Agazzi: D. F. Tradition, Gedächtnis u. Erinnerung. Die Trilogie ›Das Haus auf meinen Schultern‹. In: Dies.: Erinnerte u. rekonstruierte Gesch. Gött. 2005, S. 47–68. – Joachim Kersten: In einem zerbrochenen Spiegel. D. F. zum 70. Geburtstag. In: NR 116 (2005), H. 4, S. 109–120. Wilhelm Kühlmann
Fortunatus
Fortunatus, erstmals gedruckt 1509. – Frühneuzeitlicher Prosaroman. Der Roman von Fortunatus u. seinen Söhnen wurde in einer mit Holzschnitten versehenen Ausgabe zuerst 1509 bei Johann Otmar in Augsburg gedruckt: als erster Prosaroman, der nicht nach einer älteren oder fremdsprachigen Vorlage entstand. Der unbekannte Verfasser ist aufgrund seiner Kenntnis lokaler Gegebenheiten u. städt. Handels wahrscheinlich in einem der merkantilen Zentren des süddt. Raums (Augsburg oder Nürnberg) zu suchen. Die Geschichte handelt von dem zypriot. Bürgersohn F., der, nachdem vom Vater alles Vermögen verschleudert ist, mit 18 Jahren auszieht, sein Glück zu machen. Er dient einem flandr. Grafen, dann einem Londoner Kaufmann u. findet sich, nach Missgunst u. Enttäuschungen knapp dem Tod entronnen, in einem wilden Forst wieder, wo die Jungfrau des Glücks vor ihn hintritt u. ihm die Wahl lässt zwischen sechs Gütern: Weisheit, Reichtum, Stärke, Gesundheit, Schönheit u. langes Leben. Spontan fällt die Entscheidung für den Reichtum, repräsentiert durch ein unerschöpflich Geld hervorbringendes Glückssäckel. F. verwendet dieses dazu, auf weitgespannten Reisen Erfahrungen zu sammeln, heiratet dann, nach Zypern zurückgekehrt, eine Grafentochter u. zieht nach zwölf Jahren Ehe erneut aus, diesmal um auch noch die heidn. Gebiete, Indien u. das Land, wo der Pfeffer wächst, kennenzulernen. In Alexandria raubt er dem Sultan ein Wunschhütlein, das – ein Pendant zum Glückssäckel – die Fähigkeit verleiht, im Nu an jedem Ort sein zu können, u. kehrt schließlich dauerhaft nach Zypern zurück. Bei seinem Tod übergibt er Säckel u. Hütlein den Söhnen Andolosia u. Ampedo u. trägt ihnen auf, die Wunderdinge nie zu trennen. Das Gegenteil geschieht: Schon auf seiner ersten Ausfahrt lässt sich Andolosia, fixiert auf den eigenen Lustgewinn, das Glückssäckel abluchsen u. verliert beim Versuch, es wiederzugewinnen, auch noch das Wunschhütlein. Zwar bringt er listig dann doch beide nach Zypern zurück, hier jedoch fällt er der Habgier heruntergekommener Adliger zum Opfer: Er wird gefoltert
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u. ermordet, sein Bruder Ampedo, der im Ärger das Wunschhütlein zerstört hat, stirbt aus Gram. Der F.-Roman kombiniert biogr. Muster mit solchen des Reiseromans. Geschildert wird die Geschichte dreier Generationen, die zgl. je neue Wendungen des namengebenden Fortunamotivs verkörpern. Mit ihm verbindet sich eine neue Beweglichkeit – in räumlicher wie ständ. Hinsicht. Der alte Adel pflegt die höf. Konventionen u. folgt zgl. ökonom. Prinzipien; umgekehrt orientiert sich das Bürgertum an adligen Mustern, um den eigenen Status zu nobilitieren. Dem Moment des Herkommens tritt das der Erfahrung zur Seite, dem des Traditionswissens das der Neugier, dem des Schicksals (»fortuna«) das der Gelegenheit (»occasio«): F. begegnet ihr in topischer Waldesumgebung, ergreift sie – u. bleibt doch der Kontingenz, die alles ird. Geschehen prägt, ausgeliefert. Die Welt zeigt sich als unübersichtliche. Vorstellungen von ständischer Moral, sozialen Normen u. eth. Werten verlieren an Durchschlagskraft angesichts der alle Bereiche durchdringenden Macht des Geldes. Dieses ist das Medium, das, indem es Handlungsspielräume eröffnet, zgl. Vereinzelungen befördert. Es bringt Eigennutz u. Selbstsucht mit sich, ermöglicht aber auch universale Konvertibilität u. Verknüpfung – schon das Glückssäckel besitzt die auffällige Eigenschaft, Geld immer in festen Einheiten u. in Landeswährung auszugeben. Auch die Kleinodien, als Turnierpreise, Schmuckstücke u. Geschenke omnipräsent, werden nach ihrem nominellen u. monetären Wert taxiert. Das Fegfeuer des Patrizius, das F. auf seiner Europareise aufsucht, erweist sich als lukrativer Touristenmagnet. Das Wunschhütlein potenziert das ökonom. Phantasma unerschöpflicher Geldvermehrung durch die Verheißung, Risiko u. Langsamkeit des Reisens zu vermindern; eingesetzt wird es indes von Andolosia nicht zu kaufmänn. Zwecken, sondern um das verlorene Glückssäckel wiederzugewinnen. Dass bei den Aktionen des Sohnes magische u. märchenhafte Elemente eine größere Rolle spielen als bei denen des Vaters, verweist auf die kontrastive Anlage des Romans: F. lernt
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sich in gewaltbestimmten Gesellschaften be- nerar weitgehend wörtlich übernommen haupten, er entwickelt emotionale u. ratio- wird). Die geschickte Verfugung der vernale Verhaltensweisen im Umgang mit dem schiedenen Bestandteile sicherte dem Roman Glückssäckel, er schafft es, Welterfahrung auf nachhaltige Wirkung. Er gehörte mit rd. 40 Reisen u. familiären Wohlstand in der Hei- Auflagen bis ins 18. Jh. hinein zu den bemat auszubalancieren. Die Söhne hingegen liebtesten Werken deutschsprachiger Bellelassen vita activa u. vita contemplativa aus- tristik, wurde zum Volksbuch u. in mehr als einander treten: hier naiv-extrovertierte Ge- ein Dutzend Sprachen übersetzt. nusssucht (Andolosia), dort ängstlich-zuAusgaben: F. Hg. Hans-Gert Roloff. Stgt. 1981. rückhaltende Sesshaftigkeit (Ampedo). Doch 1996 (Studienausg. mit umfangreichen Materialieine eindeutige Lehre über richtiges u. fal- en, S. 323–358: Bibliogr.). – Romane des 15. u. 16. sches Verhalten ergibt sich aus diesem Kon- Jh. Hg. Jan-Dirk Müller. Ffm. 1990, S. 383–585, trast nicht. Andolosia scheitert nicht in der 1159–1225. Literatur: Marjatta Wis: F. In: VL. – Hans-JürFremde, sondern in der Heimat – u. wird in seinem Scheitern zum »frommen« Andolo- gen Bachorski: Geld u. soziale Identität im F. Göpp. sia; am Ende erhält er ein fürstliches Be- 1983. – Detlev Kremer u. Nikolaus Wegmann: Geld u. Ehre. In: Germanistik – Forschungsstand u. gräbnis. F. seinerseits entgeht nur durch Perspektiven. Hg. Georg Stötzel. Tl. 2, Bln./New Glück dem Tod u. steht mit seiner Skrupel- York 1985, S. 160–178. – Hannes Kästner: F. Perelosigkeit gegenüber dem Sultan moralisch im grinator Mundi. Welterfahrung u. Selbsterkenntnis Zwielicht. Zwar bereut er mehrfach, nicht im ersten dt. Prosaroman der Neuzeit. Freib. i. Br. Weisheit statt Reichtum gewählt zu haben, u. 1990. – Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Biauch der Erzähler betont in einer Nachbe- bliogr. der dt. Drucke. Tl. 1: Drucke des 15. u. 16. merkung, im Gefolge von Weisheit u. Ver- Jh. Baden-Baden 1991, S. 420–436; Tl. 2: Drucke nunft würden sich auch Besitz u. Wohlstand des 17. Jh. Baden-Baden 1994, S. 113–117. – Anna einstellen. Doch die Geschichte selbst erweckt Mühlherr: ›Melusine‹ u. F. Verrätselter u. verweiden Eindruck, es könne durchaus auch um- gerter Sinn. Tüb. 1993. – Jan-Dirk Müller: Die Fortuna des F. In: Fortuna. Hg. Walter Haug u. gekehrt gehen u. Weisheit nicht als bibl. Burghart Wachinger. Tüb. 1995, S. 216–238. – H.-J. »sapientia«, sondern als zeitkonforme Bachorski: Die Ubiquität des Geldes. Frz., engl., Schlauheit zu verstehen sein – die schließlich niederländ. u. dt. Adaptionen des F.-Romans v. auch Mörder unter bestimmten Umständen 1509 im 17. u. 18. Jh. In: Colportage et lecture straflos bleiben u. skrupellose Königstochter populaire. Hg. Roger Chartier u. Hans-Jürgen zu angesehenen Königinnen werden lässt. Lüsebrink. Paris 1996, S. 331–363. – Manuel Der F.-Roman entwirft eine experimentelle Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Tüb. 2001, Konstellation: Von vornherein zählt zu den S. 52–103. – Ralf-Henning Steinmetz: WelterfahAuflagen, die die Übergabe des Glückssäckels rung u. Fiktionalität im F. In: ZfdA 133 (2004), begleiten, eine Beschränkung von dessen S. 210–225. – Burkhard Hasebrink: Die Magie der Präsenz. Das Spiel mit kulturellen DeutungsmusWirkung auf maximal zwei Generationen. tern im F. In: PBB 126 (2004), S. 434–445. – A. Indem ihnen ähnlich wie im Melusineroman Mühlherr: F. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – eine »Anschubfinanzierung« gewährt wird, Detlef Roth: Negativexempel oder Sinnverweigerichtet sich das Interesse des Romans auf eine rung? Zu neueren Deutungsversuchen des F.-RoBeobachtung der Bedingungen, unter denen mans. In: ZfdA 136 (2007), S. 203–230. die Protagonisten mit ihren Chancen umgeChristian Kiening hen. So wie dabei die Wechselfälle der Handlung eine Pluralisierung der Welt Fouqué, Caroline (Auguste) de la Motte, sichtbar machen, so manifestiert sich auf der auch: Serena, * 7.10.1775 Gut NennhauEbene des Textes eine Pluralisierung von sen bei Rathenow, † 20.7.1831 Gut Bewertungsmöglichkeiten, verbunden mit Nennhausen bei Rathenow. – Erzählerin einer Kombination ökonomischer, ständ. u. u. Publizistin. moral. Diskurse sowie historiograf. u. literar. Traditionen (z.B. Mandevilles Reisen u. Rieter- Als einziges Kind des märk. Gutsbesitzers Tuchers Palästina-Reisebericht, dessen Iti- Philipp von Briest auf dem elterl. Gut erzo-
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gen, wurde F. frühzeitig mit literarischen, ten (Fragmente aus dem Leben der heutigen Welt. philosoph. u. religiösen Fragestellungen ver- Bln. 1820). Im Unterschied zu ihren Essays traut. Eine erste Ehe mit dem altadligen fanden der überschwänglich-empfindsame Friedrich von Rochow (1789–1799) scheiter- Stil u. die wenig natürl. Charaktere ihrer te; noch vor der Scheidung erschoss er sich belletrist. Werke nach 1820 kaum mehr Anwegen Spielschulden. 1803 heiratete sie den klang. geschiedenen Baron Friedrich de la Motte Weitere Werke: Briefe über Zweck u. Richtung Fouqué. Obwohl als temperamentvoll u. do- weibl. Bildung. Bln. 1810. – Frauenliebe. 3 Bde., minant bekannt, empfing F. die Anregung zu Nürnb. 1818 (R.). – Mitherausgeberin: Tb. der Sagen ihrer literar. Produktion von ihm. Gesell- u. Legenden. 2 Bde., 1812–17. – Für müßige schaftliche Position u. schriftsteller. Erfolge Stunden. Vjs., 7 Bde. (1816–21). Ausgaben: Gesch. der Moden, vom Jahre 1785 des Ehepaars ermöglichten ihr vielfältige Kontakte zu bedeutenden Vertretern des li- bis 1829. Als Beytr. zur Gesch. der Zeit. Nachdr. terarischen u. öffentl. Lebens (August Wil- ausgew. aus dem ›Journal des Luxus und der Moden‹ 1786–1827. Hg. Dorothea Böck. Bln. 1988. – helm Schlegel, Karl u. Rahel Varnhagen von Ausgew. Werke. Nachdruckausg. Hg. Petra Kabus. Ense, E. T. A. Hoffmann, Eichendorff, Fichte, 4 Bde., Hildesh. 2003 ff. – Texte zur Stellung der Großherzog Georg von Mecklenburg-Strelitz Frau in der Gesellsch., zu ihrer Erziehung u. Bilu. a.). dung. Nachdr. der Ausg.n Bln. 1811, 1813 u. 1826. Neben Reise- u. Stadtbeschreibungen, etwa Hg.dies. Hildesh. 2005. in Reiseerinnerungen (zus. mit ihrem Mann, 2 Literatur: Jean T. Wilde: The Romantic Realist, Bde., Dresden 1823) u. den Briefen über Berlin C. de la M. F. New York 1955 (Bibliogr.). – Karin (Bln. 1821), publizierte F. bevorzugt Romane Baumgartner: She passes judgment as would a u. Erzählungen. Schon ihr Frühwerk (Drei man. Political discourse in the novels of C. d. l. M. Mährchen. Bln. 1806. Roderich. 2 Tle., Bln. F. Ann Arbor 2000. – Elisa Müller-Adams: ›daß die 1806/07) oszilliert zwischen klassizistischen, Frau zur Frau redete‹. Das Werk der C. d. l. M. F. als romant. u. prärealist. Gestaltungstendenzen Beispiel für weibl. Literaturproduktion der frühen Restaurationszeit. St. Ingbert 2003. – Thomas u. verweigert sich eindeutiger KlassifizieNeumann: Der C. d. l. M. F. Emanzipation im rung. Vor allem ihre autobiogr. Romane (Die Oktavformat? In: Aus dem Antiquariat 2005, 4, Frau des Falkensteins. 2 Bde., Bln. 1810. Feodora. S. 258–267. Gerda Riedl / Red. 3 Bde., Lpz. 1814) entwerfen Strategien zur Emanzipation u. Lebensbewältigung. Ungeachtet einzelner Rückgriffe auf das triadische Fouqué, Friedrich (Heinrich Carl) Baron Geschichtsmodell (so in Briefe über die griechide la Motte, auch: Pellegrin, A. L. T. sche Mythologie für Frauen. Bln. 1812) verfesFrank, Baron Wallborn, * 12.2.1777 tigte sich jedoch F.s Überzeugung von der Brandenburg/Havel, † 23.1.1843 Berlin; Notwendigkeit einer autoritären Ordnung Grabstätte: ebd., Garnisonskirchhof. – »göttlicher und weltlicher Dinge«. Diese Romancier, Erzähler, Dramatiker, LyriAuffassung führte zu einer wohlwollenden ker, politischer Publizist, Herausgeber u. Stellungnahme Goethes zum Anti-RevolutiÜbersetzer. onsroman Die Magie der Natur (Bln. 1812). Auch ihre übrigen Romane mit zeitge- F. entstammte einem emigrierten hugenott. schichtlichem Kolorit, wie Der Spanier und der Adelsgeschlecht aus der Normandie. ZuFreiwillige in Paris. Eine Geschichte aus dem hei- nächst schlug er die Militärlaufbahn ein. ligen Kriege (Bln. 1814), spiegeln F.s ideelle 1794–1803 diente er als Offizier der preuß. Konzeption u. restaurative Ansichten wider. Armee im Kürassierregiment unter Herzog Von der gesellschaftlichen u. polit. Entwick- Karl August von Sachsen-Weimar. 1798 heilung nach den Befreiungskriegen zeigte sich ratete er Marianne von Schubaert, die ScheiF. dennoch enttäuscht. Das Scheitern der nat. dung erfolgte bereits 1802. 1803 nahm er Wiedergeburt, die Verflachung des literar. Abschied vom Militär u. heiratete die Diskurses u. die allg. Lethargie beklagte sie in Schriftstellerin Caroline Auguste von RoBeiträgen zu Journalen u. in zeitkrit. Schrif- chow, geb. von Briest.
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Die entscheidende Prägung als Schriftsteller erfuhr er von August Wilhelm Schlegel. Den Kontakt hatte F.s Hauslehrer Friedrich August Hülsen hergestellt. Schlegel vermittelte F. nicht nur versifikatorische Gewandtheit, sondern gab dem Dichter – nach eigenem Bekunden kein theoretischer Kopf – auch Einsicht in die philosoph. Grundlagen frühromantischer Programmatik. Auf Veranlassung Schlegels beschäftigte sich F. auch mit nordischer Mythologie u. erlernte mehrere Fremdsprachen. Seine Sprachkenntnisse erlaubten ihm u. a. Übersetzungen aus dem Spanischen (Cervantes: Numancia. Bln. 1809), Englischen (Shakespeare: Coriolan, 1809; Thomas More: Lalla Rukh. Bln. 1822), Schwedischen (Clas Livijn: Pique-Dame. Berichte aus dem Irrenhause in Briefen. Bln. 1825), Italienischen (Manzoni: Der fünfte May. Bln. 1828), Französischen (Racine: Athalia, 1830) u. Dänischen (Andersen: Bilderbuch ohne Bilder. Bln. 1842). F.s Frühwerk, bis 1808 unter dem von Schlegel angeregten Pseudonym »Pellegrin« veröffentlicht, zeigt experimentellen Charakter. In der Lyrik (Romanzen vom Thale Ronceval. Bln. 1805. Gedichte 1. Band: Gedichte aus dem Jünglings-Alter. Stgt. 1816) erprobt F. die Formenvielfalt antiker u. v. a. romanischer Versformen, mit denen er auch in seinen von Schlegel herausgegebenen Dramen spielt (Dramatische Spiele von Pellegrin. Bln. 1804). Sein dramatisches Schaffen orientiert sich an den romant. Universaldramen Ludwig Tiecks, etwa dessen Kaiser Octavianus. Mit dem atmosphärisch gelungenen Roman Alwin (Bln. 1808) erweist sich F. auch auf der Höhe der romant. Romankunst u. beschreibt die poet. Initiation des Titelhelden nach erotischen u. kriegerischen Abenteuern. Mit dem ersten Teil der Trilogie Der Held des Nordens (komplett erschienen Bln. 1810) gelang dem nun unter eigenem Namen schreibenden F. 1808 der Durchbruch. Die erste poetisch-dramat. Bearbeitung des Nibelungenstoffes seit Hans Sachs strebt eine Neubelebung deutscher Dramatik aus der nord. Mythologie an. Dazu bedient sich F. auch der Stabreimtechnik u. wird so in Stoff u. Behandlung zum Vorläufer von Richard Wagners Opernlibretti. Weitere Dramen belegen die intensive Beschäftigung mit dem nor-
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disch-german. Sagenkreis (Heldenspiele. Stgt./ Tüb. 1818. Der Jarl der Orkney-Inseln. Prag 1829). Parallel dazu arbeitete F. auch an der dramatisch-epischen Erfassung nationaler Geschichtsstoffe (Altsächsischer Bildersaal. 4 Bde., Nürnb. 1818–20) u. stellte sein Schaffen in den Dienst der antinapoleon. Kriegsbegeisterung (Vaterländische Schauspiele. Bln. 1811. Dramatische Dichtungen für Deutsche. Bln. 1813). 1813 beteiligte er sich auch militärisch an den Befreiungskriegen. Nach schwerer Krankheit erfolgte noch im gleichen Jahr der endgültige Abschied vom Militär, u. F. widmete sich wieder der Schriftstellerei. Mit seinen Dramen u. Romanen schrieb sich F. in der Außenwahrnehmung an die Spitze der romant. Schule; den größten Erfolg als Romancier feierte er mit dem Roman Der Zauberring (Nürnb. 1812), der ein stark idealisiertes Bild des Rittertums zeichnet. F. gestaltet seine ritterl. Helden oft als positives Gegenbild zur romant. Problemnatur. Ihr naives Handeln veranlasste Heines Diktum über den Helden Sigurd, den Schlangentöter: »Er hat so viel Mut wie hundert Löwen und so viel Verstand wie zwei Esel« (Die romantische Schule. 1835), u. führte zu polem. Gleichsetzungen des Dichters mit seinen donquichottesken Figuren. Dabei übersah man die anderen epischen Helden F.s, die sich als problemat. Naturen einer von dämonisch-chaot. Kräften durchwobenen Welt ausgesetzt sehen (das Epos Corona. Stgt./Tüb. 1814, der Roman Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen Alethes von Lindenstein. Lpz. 1817). Vor allem in den Erzählungen dominiert das Fantastisch-Dämonische. Mit der Erzählung Undine (Bln. 1811) schuf F. sein Meisterwerk: die Erzählung wurde in fast alle europ. Sprachen übersetzt. Populär wurde der Stoff auch in der Musik. F. selbst arbeitete die Erzählung für E. T. A. Hoffmann zum Libretto um (komponiert 1813/14), später verwandte Albert Lortzing den Stoff für seine gleichnamige Zauberoper (1845). Als erfolgreicher Schriftsteller förderte F. befreundete Autoren; so gab er Chamissos Peter Schlemihl (Nürnb. 1814) heraus, bevorwortete Joseph von Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart (Nürnb. 1815) u. beteiligte sich 1808–1810 als Beiträger an den Zeitschriften
Fouqué
Heinrich von Kleists u. Adam Müllers. Seine Popularität lässt sich auch an der Vielzahl der Almanache u. Zeitschriften ablesen, die er allein oder mit anderen herausgab (»Taschenbuch für Freunde der Poesie des Südens«. Bln. 1809. »Die Jahreszeiten«. Bln. 1811–14. »Die Musen«. Bln. 1812–14. »Taschenbuch der Sagen und Legenden«. Bln. 1812 u. 1817. »Für müssige Stunden«. Hildburghausen u. Jena 1816–20). Seit 1808 (Gespräch zweier Preußischen Edelleute über den Adel. Bln. 1808. Auch ein Wort über die neueste Zeit. Bln. 1815. Etwas über den deutschen Adel. Hbg. 1819) betätigte sich F. auch als politischer Publizist u. beteiligte sich an den polit. Diskussionen der von Arnim u. Müller gegründeten »Christlich-Deutschen Tischgesellschaft«. Zum Zwecke der Restitution eines christl. Ständestaats nach mittelalterlicher Prägung, den auch andere romant. Schriftsteller wie Friedrich Schlegel oder Müller als Ideal beschrieben, übertrug F. die idealisierten Vorstellungen seines Ritterbildes auf den preuß. Militarismus, was nach 1819 seiner Popularität zunehmend schadete. Ludwig Börne u. Heinrich Laube warfen F. Weltfremdheit vor. Während der Dichter mit seinen konservativen Ansichten öffentlich immer mehr ins Abseits geriet, fand er Unterstützung am preuß. Hof; v. a. König Friedrich Wilhelm IV. verehrte ihn, wie viele seiner Zeichnungen bezeugen, die von F.s Werken inspiriert sind. Bereits 1819 klagt F. über Schwierigkeiten, einen Verleger zu finden. Einige späte Dramen u. episch-dramat. Mischformen blieben zu Lebzeiten unveröffentlicht (Der Parcival, 1831/32. Gedr. Hildesh. 1997. Belisar, 1837. Gedr. Ffm. u. Bern 1985. Belagerung von Byzanz, 1838 [D.]. Gedr. Hildesh. 2004) oder wurden bis heute nicht gedruckt (Andreas Hofer, 1832 [D.]. Druck in Vorb. Graf Ludwig von Thüringen, 1834 [episch-dramatisch]). F. blieb seinen Themen u. Stoffen treu, auch wenn er formal stets nach neuen Ausdrucksmitteln suchte. Im bedeutendsten Spätwerk, dem Parcival, den er 1831 nach dem Tod seiner zweiten Frau begann, huldigt F. noch einmal dem kindlich-naiven Ritter in einem virtuos alle episch-dramat. Mittel ausschöpfenden Gedicht. In imaginären Dialogen, die
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der Dichter mit Wolfram von Eschenbach führt, parallelisiert F. die eigene Zeit u. Lebenssituation mit dem mittelalterl. Sagenstoff. Die religiöse Tendenz des Spätwerke zeigt sich v. a. im umfangreichen lyr. Schaffen (Geistliche Lieder, 1823. Erhörung. Sechs Psalme, 1827. Christlicher Liederschatz, postum 1862). F. wandte sich auch immer mehr der Historiografie zu u. verfasste Biografien preußischer Militärs (Lebensbeschreibung des Generals Heinrich August Baron de la Motte Fouqué. Bln. 1824. Ernst Wilhelm von Rüchel. Militairische Biographie. Bln. 1828) sowie eine biogr. Skizze des für sein Schaffen wichtigen Jakob Böhme (Ein biographischer Denkstein. Greiz 1831). Eher legitimierende Funktion hat das autobiogr. Schrifttum (Lebensgeschichte. Aufgezeichnet von ihm selbst. Halle 1840. Eines deutschen Schriftstellers Halbjahrhundert. postum Bremen 1930). Darin stilisiert sich F. seinen literarisch-polit. Fiktionen getreu als Ritter u. Sänger, zeigt aber kein Gespür für die geschichtl. Dimensionen seiner Zeit u. seines Handelns. In Göthe und Einer seiner Bewunderer (Bln. 1840) verteidigt sich F. gegen Goethes Kritik, die Johann Peter Eckermann in seinen Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1836 veröffentlicht hatte. F.s dritte Frau Albertine, geb. Tode, die er 1832 geheiratet hatte, gab postum neben einigen Gedichten, Romanen u. Erzählungen (Abfall und Buße oder Die Seelenspiegel. 3 Bde., Bln. 1844. Joseph und seine Geige. Kaiser Karls V. Angriff auf Algier. Potsdam 1845) eine Briefsammlung heraus, die F.s einflussreiche Stellung im literar. Leben seiner Zeit bezeugt (Briefe an F. B. d. l. M. F. Bln. 1848). Weitere Werke: Der gehörnte Siegfried in der Schmiede. In: Europa 2 (1803), S. 123–128 (D.). – Zwei Schauspiele. Bln. 1805. – Die Zwerge. Lpz. 1805 (D.). – Historie vom edlen Ritter Galmy. 2 Bde., Bln. 1806 (D.). – Schillers Todtenfeier Bln. 1806 (Prolog mit Bernhardi). – Eginhard u. Emma Nürnb. 1811 (D.). – Der Todesbund. Halle 1811 (R.). – Über den sog. falschen Waldemar. Bln. 1811. – Kleine Romane. 6 Bde., Bln. 1812–19. – Alboin, der Langobardenkönig. Lpz. 1813 (D.). – Dt. Dichterwald. Tüb. 1813 (hg. mit J. Kerner u. a.). – Schauspiele für Preußen. Bln. 1813. – Gedichte vor u. während dem Kriege 1813. Bln. 1813. – Jahrbüchlein Dt. Gedichte auf 1815. Bln./Stettin 1815 (mit H. Löst u. a.). – Auch ein Wort über die neueste
517 Zeit. Bln. 1815. – Die Fahrten Thiodolfs, des Isländers. 2 Bde., Hbg. 1815 (R.). – Sintram u. seine Gefährten Wien 1815 (R.). – Tassilo. Bln. 1815 (D.). – Karls d. Großen Geburt u. Jugendjahre Nürnberg 1816 (hg. v. F. Horn) (Ep.). – Die Pilgerfahrt. Nürnb. 1816 (D.). – Sängerliebe. Stgt./Tüb. 1816 (R.). – Kinder-Märchen. 2 Bde., Bln. 1816/17 (mit E. W. Contessa u. E. T. A. Hoffmann). – Gedichte. 5 Bde., Stgt./Tüb. 1816–27 (L. u. D.). – Abendunterhaltungen. Wien 1817 (mit H. Zschokke u. a.). – Liebesrache. Lpz. 1817 (D.). – Wunderbuch (Bd. 3, hg. v. F. Laun u. F.). Lpz. 1817. – Die zwei Brüder Stgt./Tüb. 1817 (D.). – Aus der Geisterwelt. Gesch.n, Sagen u. Dichtungen. 2 Bde., Erfurt 1818. – (Hg.) A. Fresenius: Hinterlassene Schr.en. Ffm. 1818. – Romant. Dichtungen. Karlsr. 1818 (mit J. Kerner u. J. P. Hebel). – Gefühle, Bilder u. Ansichten 2 Bde., Lpz. 1819. – Hieronymus v. Stauf. Bln. 1819 (D.). – Jäger u. Jägerlieder. Hbg. 1819 (D.). – Der Mord August’s v. Kotzebue. Freundes Ruf an Dtschlds. Jugend. Bln. 1819. – (Hg.) A. v. Blomberg: Hinterlassene poet. Schr.en. Bln. 1820. – Der Leibeigene Bln. 1820 (D.). – Wahrheit u. Lüge. Eine Reihe politisch-militär. Betrachtungen in Bezug auf den Wendeékrieg. Lpz. 1816 (komm. Übers.). – Bertrand Du-Guesclin 3 Bde., Lpz. 1821 (Ep.). – (Hg.) S.C. Pape: Gedichte. Tüb. 1821. – Der Verfolgte. 3 Bde., Bln. 1821 (R.). – Betrachtungen über Türken, Griechen u. Türkenkrieg. Bln. 1822. – Ritter Elidouc. 3 Bde., Lpz. 1822 (R.). – Don Carlos, Infant v. Spanien Danzig 1823 (D.). – Feierlieder eines Preußen im Herbste 1823. Bln. 1823. – ReiseErinnerungen. 2 Bde., Dresden 1823 (mit Caroline de la Motte Fouqué). – Wilde Liebe. 2 Bde., Lpz. 1823 (R.). – Der Bischof u. die Ritter. Bln. 1824 (R.). – Die Fahrt in die Welt. Lpz. u. a. 1824 (Mitverf.) – Der Refugié oder Heimath u. Fremde. 3 Bde., Gotha 1824 (R.). – Sophie Ariele. Bln. 1825 (N.). – Erdmann u. Fiametta. Bln. 1826 (N.). – Gesch. der Jungfrau v. Orleans. 2 Bde., Bln. 1826. – Die Sage v. dem Gunlaugur, genannt Drachenzunge u. Rafn dem Skalden. 3 Bde., Wien 1826 (R.). – (Einl. zu) B. S. Ingemann: Tasso’s Befreiung. Lpz. 1826. – Mandragora. Bln. 1827 (N.). – M. G. Saphir u. Berlin. Bln. 1828 (mit F. W. Gubitz u. W. Alexis). – Der Sängerkrieg auf der Wartburg. Bln. 1828 (D.). – Der Mensch des Nordens u. der Mensch des Südens. Bln. 1829 (Aufs.). – Fata Morgana. Stgt. 1830 (N.). – Sendschreiben an den Verf. der Betrachtungen über die neuesten Begebenheiten in Dtschld. Bln./Posen 1831. – Erzählungen u. Novellen. Danzig 1833. – Die Welt-Reiche in den Jahren 1835–40. 6 H.e, Halle 1836–41 (L.). – B. S. Ingemann: Drei Erzählungen. Halle 1837 (Übers.). – Von der Liebes-Lehre. Hbg. 1837. – Der Geheimrath. Wernigerode 1838 (E.). – Preuß. Trauersprüche u. Huldigungs-
Das Fräulein von Britannien grüße für das Jahr 1840. Halle 1840. – (Mithg.) Ztg. für den dt. Adel. Lpz. 1840–42. – Denkschr. über Friedrich Wilhelm III., König v. Preußen. Nordhausen/Lpz. 1842. – Der Pappenheimer Kürassier. Nordhausen/Lpz. 1842 (D.). – Novellen-Mappe. Bln. 1843 (mit F. W. Gubitz u. a.). Ausgaben: Ausgew. Werke 12 Bde., Halle 1841 (Ausg. letzter Hd.). – Werke. Hg. Walter Ziesemer. 3 Bde., Bln. 1908. Nachdr. Hildesh. 1973. – Romant. Erzählungen. Hg. Gerhard Schulz. Mchn. 1977. – Sämtl. Romane u. Novellenbücher. Hg. W. Möhrig. 16 in 19 Bdn., Hildesh. 1989 ff. – Ausgew. Dramen u. Epen. Hg. Christoph Lorenz. 7 in 11 Bdn., Hildesh. 1994–2006. – Lebenszeugnisse u. Briefe. Hg. Tilman Spreckelsen u. Claudia Stockinger. 8 Bde. (in Vorb.). Literatur: Bibliografie: Stephan Reuthner u. Daniel Betz: F.-Bibliogr. 1900–2000. In : Jb. der F.Gesellsch. 2 (2000), S. 61–86. – Weitere Titel: Arno Schmidt: F. u. einige seiner Zeitgenossen. [1958/60] Zürich 31994. – Frank Rainer Max: Der ›Wald der Welt‹. Das Werk F.s. Bonn 1980. – Christa Elisabeth Seibicke: F. d. l. M. F. Krise u. Verfall der Spätromantik im Spiegel seiner historisierenden Ritterromane. Mchn. 1985. – Katja Diegmann-Hornig: ›Sich in die Poesie zu flüchten, wie in unantastbare Eilande der Seeligen.‹ Analysen zu ausgew. Romanen F.s. Hildesh. 1999. – Claudia Stockinger: Das dramat. Werk F. d. l. M. F.s. Ein Beitr. zur Gesch. des romant. Dramas. Tüb. 2000. – Wolf Gerhard Schmidt: F. d. l. M. F.s Nibelungentrilogie ›Der Held des Nordens‹. Studien zu Stoff, Struktur u. Rezeption. St. Ingbert 2000. – Periodikum: Jb. der F.Gesellsch. 1999 ff. Gerhard Schulz / Peter Haischer
Das Fräulein von Britannien, bald nach 1491. – Historische Ballade. Ein Skandal von reichspolitischer Tragweite bildet den Kern der seit 1544 in niederdeutschen wie hochdt. Fassungen viermal überlieferten anonymen Ballade. Ihre schon vor 1533 bezeugte, mehrfach für histor. Lieder benutzte Melodie beweist, dass die Lieddichtung zeitnah enstand u. zunächst wohl mündlich umlief. Das Ereignis: Die 14-jährige Anna von Bretagne war dem dt. Kaiser Maximilian durch einen Prokurator bereits angetraut, als der frz. König Karl VIII. seine langjährige Verlobung mit Margarethe von Österreich, Maximilians Tochter, löste u. mit seinen Truppen in die Bretagne einfiel, um die Herzogin u. Erbin der Bretagne zu eheli-
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chen (6.12.1491). Die Ballade stellt nicht die polit. Ränke, sondern die emotionalisierte Braut ins Zentrum, die auf ihrer Brautfahrt zu Maximilian vom ungeliebten frz. König abgefangen u. zur Ehe gezwungen wird. Der Casus schlug politisch u. publizistisch hohe Wellen: Noch im Jahre 1491 schrieb Hans Ortenstein eine Reimrede (282 Vv.), die in drei Drucken aus dem Jahre 1492 erhalten ist. Er fokussiert die religiöse u. kirchenrechtl. Dimension des Vorgangs, den er – in ein Mariengebet inseriert – als doppelten Ehebruch des frz. Königs anprangert. Auch Jakob Wimpfeling ergriff Partei u. lieferte sich in Briefen u. Carmina eine publizist. Fehde mit dem frz. Humanisten Robert Gaguin. Ausgaben: Rochus v. Liliencron (Hg.): Die histor. Volkslieder. Bd. 2, Lpz. 1866. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 179 u. 180, S. 292–302. – Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Die ›Darfelder Liederhandschrift‹ v. 1546–65. Münster 1976, Nr. 73. – Jakob Wimpfeling: Briefw. Hg. Otto Herding u. Dieter Mertens. Bd. 1, Mchn. 1990, S. 172–197. Literatur: Willy Krogmann: Vom Fräulein aus Britannia. Anna v. der Bretagne im dt. Lied. Halle/ S. 1940. – Rolf Wilhelm Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jh. Bd. 1, BadenBaden 1975, S. 133–174. – Ders.: D. F. v. B. In: VL. – Frieder Schanze: Ortenstein, Hans. In: VL. Karina Kellermann
Frahm, (Heinrich Friedrich) Ludwig, * 25.7.1856 Timmerhorn/Stormarn, † 1.6. 1936 Poppenbüttel. – Heimatschriftsteller u. Lyriker. F., das einzige Kind eines Landwirts, unterrichtete an mehreren Schulen in Holstein, zuletzt in Rethwischfeld bei Bad Oldesloe u. (seit 1890) in Poppenbüttel bei Hamburg. Bereits als junger Lehrer begann er, Sagengut, Gedichte u. Erzählungen seiner Heimat zu sammeln. Seine überwiegend niederdt. Humoresken u. Gedichte veröffentlichte er anfangs in führenden norddt. Zeitungen, später auch in Regionalperiodika (»Moderspraak«, »Jahrbuch des Alster-Vereins« u. a.). Im Zentrum von F.s Schnurren, aber auch seiner hochdt. Dichtungen (Heimatgrüße aus Deutschlands Norden. Bad Oldesloe 1885. Auf Heimatpfaden. Poppenbüttel 1888) stehen lie-
bevoll gezeichnete Natur u. Mitwelt. Seine Lyrik schildert das Alltägliche, Episoden v. a. aus seiner Jugendzeit; in den Kriegsgedichten Leewer dod, as Slav! (Hbg. 1914) griff F. zeittyp. Themen auf. Daneben widmete er sich der Altertumsforschung. Die Ergebnisse seiner archäolog. Ausgrabungen u. seiner Studien zur Vorgeschichte Holsteins legte er in zahlreichen wiss. Abhandlungen vor. Weitere Werke: As noch de Trankrüsel brenn’. Hbg. 1910. – Wenn de Scharrnbulln brummt. Hbg. 1916. – Minschen bi Hamborg rüm. Hbg. 1919. – Kumm rin – kiek rut. Hbg. 1929. Literatur: L. F. Gedenkbuch. Jb. des Alstervereins 35 (1956). – Annemarie Lutz: L. F. u. Detlev v. Liliencron – eine Dichterfreundschaft. In: Jb. des Alstervereins 74 (2000), S. 40–51. – F. Ferdinand Ziesche. Wer war eigentlich L. F.? In: AlstertalMagazin (2006), 10, S. 37–39. Reinhard Tenberg / Red.
Francisci, Erasmus, auch: Christian Minsicht, E. C. Minsicht, Der Erzählende, Freundlieb Ehrenreich von Kaufleben, Theophil Anti-Scepticus, Der Unpartheyische, Gottlieb Unverrucht, Theophilus Urbinus, Gottlieb Warmund, eigentl.: E. von Finx, * 19.11.1627 Lübeck, † 20.12. 1694 Nürnberg. – Polyhistor. Der früh verwaiste Sohn des adeligen Juristen Franciscus von Finx besuchte zu Lüneburg das Gymnasium sowie das unter Daniel Cramer zu hohem Ansehen gelangte Stettiner Paedagogium. Nach einigen Jahren jurist. Studiums an mehreren dt. Universitäten verdingte sich F. als Hofmeister bei der Familie von Wallenrodt u. unternahm in dieser Stellung eine peregrinatio academica durch Italien, Frankreich u. die Niederlande. Seine kränkl. Konstitution ließ ihn den Dienst quittieren u. um 1657 im Nürnberger Verlagshaus der Endter die Position eines Korrektors annehmen, die seinen Vorstellungen u. Fähigkeiten so sehr entsprach, dass er sie bis zu seinem Tod behielt u. ehrenvolle auswärtige Berufungen ablehnte. Seine Position im Endterschen Verlag, einem der größten u. bedeutendsten Unternehmen der Branche zu seiner Zeit, rückte ihn an eine zentrale Stelle des literar. Markts in Deutschland. Sie ver-
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mittelte F. Kontakte u. Lektüremöglichkeiten, die ihn zus. mit seinen Sprachkenntnissen, seiner Belesenheit u. einem staunenswerten Fleiß zu einem äußerst produktiven u. einem der meistgelesenen Autoren der zweiten Hälfte des 17. Jh. machten. Die kaum übersehbare Fülle von F.s Œuvre brachte ihm bald den Ruf eines Polyhistors ein. Bei einer durchschnittl. Schreibleistung von etwa 2000 Druckseiten pro Jahr verfasste er Werke zur Naturwissenschaft, Völkerkunde, Geografie, Historiografie, Zeitgeschichte u. Politik sowie Gebrauchs-, Erbauungs- u. Unterhaltungsliteratur. Umfang u. inhaltl. Spannweite seines Œuvres erklären sich zum einen aus der kompilatorischen Arbeitsweise F.s; die meisten seiner Bücher sind aus mehreren Vorlagen zusammengeschrieben, wobei F. ergänzte, überarbeitete u. umformulierte. Zum andern hat F. seine Stoffe in vielen Fällen mehrfach ausgebeutet; so erzählt er die kriegerischen Auseinandersetzungen in den ind. Königreichen Brama u. Pegu, also jenen Stoff, den später Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen seiner Asiatischen Banise zugrunde legte, in wenigstens vier Büchern (Die lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten. Nürnb. 1663. Der Hohe Traur-Saal / oder Steigen und Fallen grosser Herren. Nürnb. 1665. Ostund West-Jndischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Carten. Nürnb. 1668. Neu-polirter Geschicht- Kunst- und Sitten-Spiegel ausländischer Völcker. Nürnb. 1670). Schließlich haben auch andere Personen – wie F.s Frau Maria Hedwig Sibylla, geb. Friedrich, verwitwete Mänhof, deren Mitarbeit im Verzeichniß meiner / Erasmi Francisci / bißhero gedruckter Schrifften (Nürnb. 1691) erwähnt wird, oder sein Sekretär Wolfgang Christoph Deßler – Beiträge zu seinem Œuvre geliefert. Im Gegensatz zur akadem. Gelehrsamkeit humanist. Prägung ist der Polyhistorismus F.s auf ein breiteres Publikum zugeschnitten: auf die gebildeten Laien, deren gesellschaftl. Position es zuließ, dem Bedürfnis nach Unterhaltung u. Belehrung nachzugehen. Seine Werke schließen an Vorgänger wie Harsdörffer u. Martin Zeiller an. F. verwandte durchgängig die dt. Sprache, bemühte sich um eine gefällige, an höf. Standards ausgerichtete Diktion, setzte häufig die Form ge-
Francisci
bildet-unterhaltsamer Konversation ein, reihte gemäß dem Stilideal der variatio einigermaßen unsystematisch seine Themen aneinander, wobei die inhaltl. Offenheit auch die Einbeziehung mündlicher u. volksläufiger Überlieferung ermöglichte, u. ließ viele seiner Werke mit ansprechenden Illustrationen ausstatten, die in den Erbauungsschriften überwiegend an die Emblematik angelehnt sind. Der Erfolg, der sich in den zahlreichen Neuauflagen seiner Werke spiegelt, zeigt, dass F. den Geschmack u. die Bedürfnisse seines Publikums richtig eingeschätzt hat. Wie schnell er sich an neue Entwicklungen u. Vorgaben des literar. Marktes anpassen konnte, tritt in jenen Jahren zutage, in denen spektakuläre militär. oder naturgeschichtl. Ereignisse die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen: Behende u. geschickt reagierte F. – mit zumeist mehreren Publikationen – auf den Türkenkrieg von 1664/65, auf die polnisch-schwed. Auseinandersetzungen von 1666, auf den Kometen von 1680 oder auf die Belagerung Wiens im Jahr 1683. Die Wirkung F.s war erheblich. Seine erweiternde Übersetzung des Emblembuchs Pia desideria des Jesuiten Hermann Hugo, die u. d. T. Die Geistliche Gold-Kammer Der I. Bußfertigen / II. Gott-verlangenden / und III. JesusVerliebten Seelen (Nürnb. 1668) erschien, wurde etwa von den Emblembuchautoren Johann Georg Albinus, Quirinus Moscherosch u. Lucas Heinrich Thering benutzt. Der in mehreren Fortsetzungen publizierte Hohe Traur-Saal diente als Quelle zahlreicher barocker Trauerspiele. F.s Zusammenstellung merkwürdiger u. fremdartiger Dinge u. Begebenheiten, sein Interesse am Exotischen weisen voraus auf die dem »Curieusen« gewidmete Literatur am Ende des 17. (Eberhard Werner Happel) u. in der ersten Hälfte des 18. Jh. Die Sammlung einschlägiger Geister- u. Gespenstergeschichten im Höllischen Proteus / oder Tausendkünstigen Versteller (Nürnb. 1690) wirkte bis in die Romantik. Die period. Erscheinungsweise wie auch der belehrend-erbaul. Charakter der »Monatsgespräche«, mit denen F. ein Werk des verstorbenen Johann Rist zu Ende führte, weist ebenso wie sein späterer Beitrag zu den »Monatlichen Un-
Franck
terredungen« Wilhelm Ernst Tentzels auf die Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung voraus. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 1514–1549. – Weitere Titel: Helmut Sterzl: E. F. In: Fränk. Klassiker. Hg. Wolfgang Buhl. Nürnb. 1971, S. 337–348. – Gerhard Dünnhaupt: Das Œuvre des E. F. u. sein Einfluß auf die dt. Lit. In: Daphnis 6 (1977), S. 359–364. – Dietmar Peil: Zur ›angewandten Emblematik‹ in Protestant. Erbauungsbüchern. Heidelb. 1978. – Michael Schilling: Der rechte Teutsche Hugo. In: GRM 70 (1989), S. 283–300. – Roswitha Kramer: Gespräch und Spiel im ›Lustgarten‹. In: Geselligkeit u. Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. Wolfgang Adam. Wiesb. 1997, S. 505–529. – Ina Timmermann: ›Löbliche Conversation‹ als ›Einübung ins Räsonnement‹. In: Simpliciana 21 (1999), S. 15–40. – Jörg Wesche: Die Leibhaftigkeit der Gespenster. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 32 (2005), S. 69–90. Michael Schilling
Franck, Hans, * 30.7.1879 Wittenburg/ Mecklenburg, † 11.4.1964 Frankenhorst bei Wickendorf/Mecklenburg. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker Der Sohn eines Dachdeckermeisters in ärml. Verhältnissen besuchte das Lehrerseminar in Neukloster u. war 1901–1911 Volksschullehrer in Hamburg. 1910 erschien F.s erster Roman Thieß und Peter (Bln. Umgearbeitet u. d. T. Tor der Freundschaft. Lpz. 1929) über die Geschichte einer Freundschaft zweier Jungen. Unmittelbar folgend wurden seine ersten Dramen Der Herzog von Reichstadt (1910; Text verschollen) u. Herzog Heinrichs Heimkehr (Bln. 1911) in Stuttgart bzw. Altenburg uraufgeführt. Popularität erlangte F. mit seinen Novellen u. Kurzgeschichten, die von 1918 an erschienen (u. a. Das Pentagramm der Liebe. Mchn. 1918. Die Südseeinsel. Stgt. 1923). Bereits 1914 hatte ihn Louise Dumont als Leiter der neu gegründeten Hochschule für Bühnenkunst, (Chef-)Dramaturg des Schauspielhauses u. Herausgeber der Theaterzeitschrift »Die Masken« nach Düsseldorf gerufen. 1921 erwarb F. das Landgut Frankenhorst am Ziegelsee bei Schwerin, wo er bis zu seinem Tod gleichsam die Bilderbuch-Existenz eines »völkischen« Dichters führte: »Der Morgen gehört der Arbeit am Schreibtisch. Der
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Nachmittag verbleibt der Arbeit in Garten und Feld, den Gästen, dem See.« (in: Wesen und Wirken. Autobiographisches Nachwort zu: Fort damit. Lpz. 1933). F.s Bibliografie weist über 100 selbständige Titel auf, die zu ihrer Zeit eine treue Gemeinde von Stammlesern fanden u. häufig mehrere Auflagen bis weit über 100.000 erreichten. Dennoch wird F. in Lexika u. literaturgeschichtl. Arbeiten kaum erwähnt, auch nicht in solchen, die sich speziell mit der Literatur im Faschismus beschäftigen. Dies mag daran liegen, dass das riesige Œuvre inhaltlich u. qualitativ recht unterschiedlich ist u. sich eindeutigen Zuordnungen geschickt entzieht. Zgl. ist es kaum originell oder wenigstens markant, sondern typisch für die bürgerl. Literatur unter der Herrschaft u. im Bündnis mit dem Faschismus: Wie zahlreiche zu Lebzeiten viel gelesene Autoren zwischen künstlerischem Epigonentum u. politischer Anpassung greift F. die Themen Heimat, Freundschaft, Liebe, Volk, kulturelle Überlieferung u. Religion auf. Seinen Lesern erschien dies als der ersehnte »Rückweg zum Absoluten« (unter dieser Überschrift behandelt Paul Fechter in seiner Literaturgeschichte Paul Ernst, Wilhelm von Scholz, F. u. Emil Strauß). Die klass. Themen werden nun aber so deformiert, dass sie jeden realitätskrit. Aspekt verlieren u. zu Fluchtträumen für eine tragische u. grüblerische Innerlichkeit werden; vgl. hierzu den viel zitierten u. typ. Untertitel über den religiösen Schwarmgeist Sebastian Franck (1499–1543): Sebastian. Gottsucher-Roman (Gütersloh 1949). Politisch zählte F. zunächst zu den National-Konservativen, zeigte aber schon zu Beginn der 1930er Jahre seine Sympathie für den Nationalsozialismus (Das Dritte Reich. Ein nationalsozialistisches Glaubensbekenntnis. Heilbr. 1922. Hitler. Ein Volks- und Jugendbuch. Wiesb. 1934), ohne dass das Regime ihm dies durch größere öffentl. Anerkennung gedankt hätte. Das Jahr 1945 brachte in seinem Leben u. Schaffen keinen erkennbaren Bruch. Festzustellen ist nur, dass sein Stil nun mehr ins Harmlos-Heitere geht, er sich inhaltlich fast ausschließlich im Bereich der Biografie u. Kulturgeschichte bewegt (Ernst Barlach. Stgt. 1961) u. mit den Jahren der Ausdruck meta-
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phys. Geborgenheit zunimmt. So konnte F. einer der wenigen in der DDR lebenden Autoren bleiben, die ohne Schwierigkeiten in beiden dt. Staaten veröffentlichten. Zu seinen letzten Werken gehört Ein Dichterleben in 111 Anekdoten (Stgt. 1961). Sie sollen die »achtzig Jahre [s]eines Dichterlebens [...] in seiner ungehemmten Fülle umfangen« (in: Vorbemerkungen), sind aber nur banale Geschichtchen über ihn selbst, den er »aus künstlerischen Gründen hier [...] HF nennt«. Bemerkenswert ist allein die Konsequenz, mit der er jede Stellungnahme zu den polit. Umständen seines Lebens vermeidet u. jede Spur der Gegenstände von allgemeinem histor. Interesse aus seiner Lebensdarstellung getilgt hat. Weitere Werke: Godiva. Mchn. 1919 (D.). – Meta Koggenpoord. Heilbr. 1925 (R. über P. Modersohn-Becker). – Mein Leben u. Schaffen. Chemnitz 1929. – Reise in die Ewigkeit. Bln. 1934 (R.). – Annette. Hann. 1937 (R. über A. v. DrosteHülshoff). – Enden ist Beginn. Stgt. 1964 (L.). Ausgabe: Leben ist Liebe. Briefe v. u. an H. R. Hg. Werner Stockfisch. Rostock 2006. Literatur: Friedrich Weissinger. Das ep. Werk H. F.s. In: Der Hochwart, 5. Jg. (1935). – Herzgeschenk. Festg. zu H. F.s 75. Geburtstag. Hg. Heinz Grothe. Hann. 1954 (mit Werkbibliogr.). – Anita Bernstetter: H. F. In: Bamberger Dichterkreis. Hg. Wulf Segebrecht. Ffm. 1987, S. 146–155. – Rüdiger Bernhardt: Im Streit um das Drama. H. F.s Kampf gegen Gerhart Hauptmann. In: Maske u. Kothurn 40 (1998), H. 1, S. 49–68. Walther Kummerow † / Red.
Franck, Frank, Francke, Johann, * 1.6.1618 Guben, † 18.6.1677 Guben. – Jurist; Lyriker, Kirchenlieddichter. Der aus einer Gubener Patrizierfamilie stammende F. besuchte die Gymnasien zu Guben, Cottbus, Stettin u. Thorn u. studierte ab 1638 Jura in Königsberg. Simon Dach beeinflusste ihn nachhaltig. 1640 kehrte F. nach Guben zurück, ließ sich 1645 als Anwalt nieder, wurde 1648 Ratsherr, 1661 Bürgermeister u. 1670 auch Landesältester der Niederlausitz. F.s erste selbständige Publikation war die Hundert-thönige Vater-unsers-Harffe (Wittenb. 1646), eine Sammlung von 100 Paraphrasen
des Vaterunsers nach bekannten Kirchenliedmelodien. Dieses Werk erweiterte F. ständig, bis es 1674 333 Kontrafakturen umfasste. Eine erste Sammlung weltlicher Lieder (in 5 Büchern) erschien 1648 in Frankfurt/O. u. d. T. Poetischer Wercke erster Theil (Titelaufl. Frankf./O. 1659). Einige geistl. Lieder wurden zunächst in verschiedenen evang. Gesangbüchern gedruckt. Ein episches Gedicht mit 1904 Versen, In deutsche Tracht verkleidete [...] Susanna (Frankf./O. 1658) fand wie die erweiterte Vater-unsers-Harffe Aufnahme in der Sammlung Geistliches Sion Das ist: Neue geistl. Lieder, und Psalmen [...] wie auch [...] Irdischer Helicon [...] (Guben 1674), die die 110 geistl. Lieder vollständig enthält, doch statt der früheren neue weltl. Gedichte bietet. Ein bes. Rang wird nur den geistl. Liedern zugesprochen, die F. in der Geschichte des dt. Kirchenlieds einen Platz nahe dem vermutlich mit ihm befreundeten Paul Gerhardt sichern. F. erreicht oft denselben einfachen Liedton, ist aber in der Sprache affektgeladener u. zeigt manchmal eine ausgeprägte rhetor. Bildlichkeit sowie Anklänge an die Christus-Mystik. Einige seiner Lieder, wie Jesu, meine Freude oder Schmücke dich, o liebe Seele, finden sich noch in modernen evang. Gesangbüchern (EKG 113, 157, 293, 393). Die Vertonung durch bekannte Komponisten wie Johannes Crüger, Zeichen der Hochschätzung bei Zeitgenossen, dürfte zum Erfolg der Lieder beigetragen haben. F.s weltl. Lyrik, die deutlich in der Opitz-Nachfolge steht u. Anklänge an die erste schles. Schule zeigt, verlor hingegen bald an Ansehen; schon Erdmann Neumeister kritisierte 1695 ihre Überfrachtung mit antiker Mythologie. Ausgaben: Geistl. Lieder. Hg. Julius Leopold Pasig. Grimma 1846. – Fischer-Tümpel 4, S. 66–115. Literatur: Bibliografien: Heiduk/Neumeister, S. 35, 167 f., 341 f. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 1551–1554. – Weitere Titel: Hugo Jentsch: J. F. v. Guben. Quellenmäßige Beiträge zu der Gesch. seines Lebens u. seiner Dichtungen. Guben 1872. – Käte Lorenzen: J. F. In: NDB. – DBA 336,313–333. – Alexander Völker: J. F. 1618–1677. In: Musik u. Kirche 47 (1977), S. 157–163. – Martin Petzoldt: J. S. Bachs Bearbeitungen des Liedes ›Jesu, meine
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Freude‹ v. J. F. In: Musik u. Kirche 55 (1985), S. 213–225. – Günter Balders: ›Jesu, meine Freude‹. In: Ich singe dir mit Herz u. Mund. Liedauslegungen, Liedmeditationen, Liedpredigten. Hg. Christian Möller. Stgt. 1997, S. 219–235. – Markus Rathey: J. F. In: MGG 2. Aufl. Bd. 6, Sp. 1618 f. – Traute Maass Marshall: J. F. In: The New Grove 2. Aufl. Bd. 9, S. 185 f. – Judith P. Aikin: The ›Vaterunser‹ in all shapes and sizes: a poetical-musicaldevotional exercise in the works of J. F. and Caspar Stieler. In: Gebetslit. der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen u. Formen in Dtschld. u. den Niederlanden. Hg. Ferdinand van Ingen u. Cornelia Niekus Moore. Wiesb. 2001, S. 207–226. Dietmar Peil / Red.
Franck, Julia, * 20.2.1970 Berlin/DDR. – Prosaautorin. In Ostberlin geboren, reiste F. 1978 mit Mutter u. Schwestern in den Westen aus. Nach acht Monaten im Aufnahmelager Berlin-Marienfelde siedelte die Familie nach Schleswig Holstein über. F. kehrte mit 13 Jahren nach Berlin zurück. Dort studierte sie Alt-Amerikanistik, Philosophie u. Neuere deutsche Literatur, unterbrochen von Aufenthalten in den USA, Mexiko u. Guatemala. Zunächst als Journalistin tätig, lebt F. heute als freie Schriftstellerin in Berlin. Für ihre Prosa erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Alfred-Döblin-Stipendium (1998), den 3Sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb Klagenfurt (2000), den Marie Luise Kaschnitz-Preis (2004) u. für ihren Roman Die Mittagsfrau (Ffm. 2007) den Deutschen Buchpreis (2007). Bereits in ihrem Debütroman Der neue Koch (Zürich 1997) klingen die Themen u. Techniken an, die F.s Werk bestimmen: Das Buch erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich in der Umgebung eines geerbten Familienhotels gegen tradierte Strukturen u. vermeintl. Intrigen behaupten muss. Nur scheinbar naiv u. antriebslos, entpuppt sich die Protagonistin als rücksichtslose, bösartige Figur. Ähnliche Protagonistinnen verwendet F. im Roman Liebediener (Köln 1999) u. der Kurzgeschichtensammlung Bauchlandung (Köln 2000). Stets erschwert die konsequent durchgehaltene Ich-Perspektive die Sicht auf
persönl. Abgründe u. Konflikte der Figuren, statt diese zu offenbaren. Dadurch wird die Leseerwartung der Rezipienten gezielt unterlaufen. Die Abgründigkeit der Figuren enthüllt sich in lakon. Randbemerkungen, die so gravierend sind, dass sie radikal veränderte Lesarten der vorhergehenden Handlung herausfordern. Intensiv gelingt F. diese Erzählart in Liebediener, der virtuosen Geschichte einer obsessiven Liebesbeziehung zwischen der jungen Beyla u. ihrem Nachbarn Albert, den sie für den Tod der Nachbarin Charlotte verantwortlich macht. Beylas Verdächtigungen u. Nachforschungen, angestoßen u. a. durch die erotischen, manipulativen Erzählungen Alberts, münden in dessen Selbstmord; auch hier hängen die Ereignisse anders zusammen, als die Erzählung zunächst suggeriert. Ob Albert tatsächlich Selbstmord begeht oder dies nur in Beylas Fantasie geschieht, lässt der Text offen. Wie in vielen Texten der Jahrtausendwende ist der Schauplatz Berlin in Liebediener Symbol der gesellschaftl. Verfassung Deutschlands nach 1989, zeigt in seiner Leere aber nur das Auseinanderfallen des urbanen Raums, die Unbehaustheit der Figuren. F.s Roman Lagerfeuer (Köln 2003) unternimmt einen thematischen u. narrativen Neuansatz. Im Aufnahmelager Berlin-Marienfelde suchen vier Figuren in den späten 1970er Jahren nach Orientierung. Neben der Jüdin Nelly Senff, die mit ihren Kindern ausgereist ist, sind dies ein der Stasi-Mitarbeit verdächtiger Schauspieler, ein amerikan. CIA-Offizier u. Vietnam-Veteran sowie eine ältere Polin, die als Einzige den Neuanfang schafft. F. sucht mit Lagerfeuer eine Lücke in der literar. Aufarbeitung dieser Zeit zu füllen. Die Geschichten der Figuren sind miteinander verwoben; durch die Verwendung von vier Ich-Erzählern ergibt sich ein multiperspektivischer Blick, der die westl. Gesellschaft der 1970er Jahre als den Flüchtlingen gegenüber gleichgültig, die ostdt. Flüchtlinge demgegenüber als lethargisch zeigt. Weiteres Werk: Mir nichts, dir nichts. Gesch.n. Köln 2006. Literatur: Wiebke Eden: Keine Angst vor großen Gefühlen. Die neuen Schriftstellerinnen. Bln. 2001, S. 23–32. – Thomas Kraft: J. F. In: LGL. –
523 Anke S. Biendarra: Genderation Next: Prose by J. F. and Judith Hermann. In: Studies in Twentieth and Twenty-First Century Literature. Bd. 28 (2004), S. 211–239. – Helga Meise: Mythos Berlin. Orte u. Nicht-Orte bei J. F., Inka Parei u. Judith Hermann. In: Fräuleinwunder literarisch. Lit. v. Frauen zu Beginn des 21. Jh. Hg. Christiane Caemmerer u. a. Ffm. u. a. 2005, S. 125–150. – Oliver Georgi: J. F. In: KLG. Stefan Höppner
Franck, Michael Erich, auch: Melisso, getauft am 17.10.1691 Schalkau/Kreis Sonneberg, † 17.6.1721 Ahorn bei Coburg. – Verfasser galanter Romane.
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tor. Gattungstyp am weitesten angenähert hat (Fleurie u. Rifano), die hohe Liebe mit einer Liebe ohne jeden eth. Anspruch. Überhaupt stellt er fast ausschließlich die egoistische u. daher destruktive Seite der Liebe dar (bes. Salinde u. Rapymo). Der implizite Entwurf einer »galanten Conduite« (Adelphico u. Salinde) erscheint daher als der Versuch, die eigene, von der literar. Utopie des Barockromans abweichende Erfahrung einer affektiven, die Sozialordnung gefährdenden Gewalt der Liebe mit den Regeln eines »bürgerlichen« Standes literarisch in Einklang zu bringen, für den die Lebens- u. Literaturformen des Adels noch vorbildhaft waren.
Der Sohn eines Pfarrers wuchs nach 1694 in Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, Ahorn auf. In den Jahren 1709–1713 besuchte S. 1555–1557 (Bibliogr.). – Herbert Singer: Der er das Gymnasium Casimirianum in Coburg. galante Roman. Stgt. 21966. – Josef Erhard u. Adolf Zwischen 1713 u. 1716 studierte er in Jena u. Haslinger: Wer ist Melisso, der Autor des ›AdelAltdorf (Immatrikulation 11.10.1714 als phico‹? Zur Verfasserfrage u. zum Gattungspro»Stud. jur.«), erhielt 1716 die Doktorwürde blem eines galanten Romans. In: Europ. Tradition u. dt. Literaturbarock. Hg. Gerhart Hoffmeister. u. wurde 1717 zum Hochfürstlich Sächsisch Bern/Mchn. 1973, S. 449–469. – J. Erhard: M. E. F. Weymarischen Amtsadvokaten ernannt. Er Ein coburg. Romanautor zwischen Barock u. Ropraktizierte in Oldisleben/Unstrut. koko. In: Jb. der Coburger Landesstiftung 20 F. schrieb während seiner Studienzeit fünf (1975), S. 27–66. – Heide Zorkóczy: Melisso u. der Romane: Des glückseeligen Ritters Adelphico Le- galante Liebesroman. Vorw. zu ›Die rachgierige bens- und Glücks-Fälle (Erlangen 1715. Nachdr. Fleurie‹. Ffm. 1975. – Ernst Weber u. Christine Ffm. 1970), Die rachgierige Fleurie (Ffm./Lpz. Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1715. Nachdr. Ffm. 1975), Die in dem Grabe 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – Alan Menerlangte Vermählung der beeden Verliebten Rapymo hennet: The ›galant‹ novel as a school for lovers: M. und Sithbe (Lpz. 1717), Die galante und liebens- E. F.’s Rachgierige Fleurie. In: German Life and Letters 36 (1983), S. 266–276. – HKJL (1991), Sp. würdige Salinde (Ffm./Lpz. 1718. 21744. Dres1285 f. – Olaf Simons: Zum Korpus ›galanter‹ Ro3 den 1747), Der unglücklich-glückselige epirotische mane zwischen Bohse u. Schnabel, Talander u. Graf Rifano (Nürnb. 1720. 1722). Sie alle zei- Gisander. In: Das Werk Johann Gottfried Schnabels gen die Merkmale der »galanten« Variante u. die Romane u. Diskurse des frühen 18. Jh. Hg. des Barockromans: Auflösung des heliodor- Günter Dammann. Tüb. 2004, S. 1–34. schen Handlungsschemas zugunsten einer Ernst Weber / Red. Reihung lose miteinander verbundener Geschichten, Mischung von hohem u. niederem Franck, Franc, Franke, Salomon, auch: CleStil, Reduktion des Stoffs auf Liebesgeander, getauft am 6.3.1659 Weimar, beschichte u. autobiografisch geprägte Bilder graben am 14.6.1725 Weimar. – Lieder- u. aus der Standeswelt der Autoren, vornehmKantatendichter. lich dem Studentenmilieu. Man kann den galanten Roman als literar. Herkunft u. Schulausbildung F.s sind unbeProtest einer jungen Generation verstehen, kannt. Seit dem Wintersemester 1670 studie sich weder mit dem Rollenangebot des dierte er Jura u. vermutlich auch Theologie in polit. Romans für eine der Staatsräson ange- Jena, wo er sich am 1.10.1677 ein zweites Mal passte Lebensgestaltung noch mit den meta- immatrikulierte. Ab 1683 war er in Arnstadt phys. Normen des höfisch-histor. Romans u. 1697–1701 in Jena Staatsbeamter. Dann identifizieren wollte. So kontrastiert F. gera- wurde er in Weimar Konsistorial-, bald darde in den Romanen, die er dem höfisch-his- auf Oberkonsistorialsekretär. Er betreute die
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herzogl. Bibliothek u. das Münzkabinett. F. ringen. Weimar 1950, S. 120–134. – Anneliese war als »der Treumeinende« Mitgl. der Bach: S. F. als Verf. geistl. Dichtungen. Ebd., S. 135–139. – Alfred Dürr: Über Kantatenformen in Fruchtbringenden Gesellschaft. Als Lieder- u. Kantatendichter gelangte F. den geistl. Dichtungen S. F.s. In: Musikforsch. 3 (1950), S. 18–26. – Ders.: Studien über die frühen zu einer gewissen Berühmtheit, weil seine Kantaten J. S. Bachs. Lpz. 1951. – Lothar HoffTexte von namhaften Komponisten wie Ge- mann-Erbrecht: S. F. In: NDB. – Ferdinand Zanorg Philipp Telemann u. Johann Sebastian der: Die Dichter der Kantatentexte J. S. Bachs. In: Bach vertont wurden. Mindestens 20 Kanta- Bach-Jb. 54 (1968), S. 9–64. – Harald Streck: Die tentexte F.s setzte allein Bach in Weimar Verskunst in den poet. Dichtungen zu den Kantazwischen 1714 u. 1717 in Musik. Die große ten J. S. Bachs. Hbg. 1971. – Klaus Hofmann: Neue Zahl solcher Vertonungen lässt sich aller- Überlegungen zu Bachs Weimarer Kantaten-Kadings auch damit erklären, dass F. als Haus- lender. In: Bach-Jb. 79 (1993), S. 9–29. – Konrad dichter des Weimarer Hofs von kaum einem Küster: Der junge Bach. Stgt. 1996. – Die Welt der Bachkantaten. Hg. Christoph Wolff. 3 Bde., Stgt./ dort wirkenden Komponisten übergangen Kassel 1996–99 (Register). – Michael Kohlhäufl: F. werden konnte. Andererseits eigneten sich In: Bautz. – SL [Alfred Dürr]: S. F. In: MGG 2. Aufl. seine künstlerisch anspruchslosen u. formal Bd. 6, Sp. 1635–1637. – Joshua Rifkin u. Konrad gewandten Texte zur musikal. Verarbeitung Küster: S. F. In: The New Grove 2. Aufl. Bd. 9, im Stil der Zeit. Noch in Bachs Matthäus- S. 190. Rainer Wolf / Red. Passion wirken sie nach. Drei Kantatentexttypen, an denen die Wandlung von der Kantate »alten« Stils bis hin zur »Neumeister- Franck, Sebastian, * um 1500 DonauKantate« bes. deutlich wird, lassen sich bei F. wörth, † Okt. 1543 Basel. – Verfasser hisfeststellen: 1. der aus Bibelwort u. Strophen- torischer, geografischer, politischer u. relied bestehende Typus; 2. der sich aus Arien, ligiöser Schriften; Sprichwortsammler. frei gedichteten Rezitativen u. Chören zusammensetzende Typus; 3. der in der Regel Der einer Weberfamilie entstammende F. nur aus Rezitativen u. Arien bestehende, an studierte ab 1515 in Ingolstadt (Baccalaureus artium 1517), ab 1518 am DominikanerkolErdmann Neumeister orientierte Typus. leg in Heidelberg. Dort wurde er am Weitere Werke: De modis acquirendi dominii 26.4.1518 wohl Zeuge von Luthers Disputanaturalibus (Resp.: S. F.). In: Peter Müller (Praes.): Iurisprudentia elementaris ad ordinem Institutio- tion. Nach 1520 war er Hilfsgeistlicher im num imperialium directa et LIII. disputationibus Bistum Augsburg; nach Einführung der Re[...] ventilata. Jena 1682, S. 129–136. – Geistl. formation versorgte er als Frühmesser zwei Poesie. Weimar 1685. – Evang. Seelen-Lust über die Ämter in der Umgebung von Nürnberg. Am Sonn- u. Festtage durchs gantze Jahr. o. O. 1694. – Bauernkrieg beteiligte er sich nicht. Ohne die Madrigal. Seelen-Lust über das hl. Leiden unsers Obrigkeit zu verteidigen, lehnte er Aufruhr Erlösers. Arnstadt 1697. – Das eröffnete Cabinet der zeitlebens ab. durchlauchtigen Secretariat-Kunst. Jena 1710. – 1527 heiratete F. Ottilie, eine Schwester der Geist- u. weltl. Poesien. 2 Tle., Jena 1711 u. 21716. – »gottlosen Maler« Sebald u. Barthel Behaim, Teutsch-redender Phädrus [...]. Jena 1716. – Evang. die wohl über ein ausgedehntes täuferisches Sonn- u. Fest-Tages-Andachten. Weimar/Jena 1717. u. humanist. Beziehungsnetz verfügte. 1528 – Helicon. Ehren-, Liebes- u. Trauer-Fackeln. Weimar/Jena 1718. – Epistol. Andachts-Opffer, in zog F. nach Nürnberg u. lebte hier von seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Da er sich in geistl. Cantaten [...]. Weimar/Jena 1718. Ausgaben: Geistl. Lieder in einer zeitgemäßen Nürnberg wegen seiner heterodoxen GesinAusw. Hg. Johann Karl Schauer. Halle 1855. – J. S. nung beargwöhnt fühlte, ging er 1531 nach Bachs Kantatentexte. Hg. Rudolf Wustmann. Lpz. Straßburg. Hier erlernte er das Buchdru1913 (v. Bach vertonte Texte). – Sämtl. v. J. S. Bach ckerhandwerk. Die Publikation seiner Chrovertonte Texte. Hg. Werner Neumann. Lpz. 1974. – nica zeytbuch unnd geschicht bybell (Straßb. 1531. EKG 74, 301. Neudr. Darmst. 1969) führte noch 1531 zu Literatur: Lothar Hoffmann-Erbrecht: Bachs seiner Einkerkerung u. Vertreibung. Für Weimarer Textdichter S. F. In: J. S. Bach in Thü- kurze Zeit betrieb er in Esslingen eine Sei-
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fensiederei; 1534 erhielt er eine Zuzugserlaubnis in Ulm, wo er als Buchdrucker tätig war. Gegen Anfeindungen Bucers u. des Münsterpfarrers Martin Frecht behauptete er sich zunächst; 1539 musste er nach von Melanchthon ausgehenden Angriffen nach Basel fliehen. Hier arbeitete er mit dem Drucker Nicolaus Brylinger zusammen; Provozierendes publizierte er nicht mehr unter eigenem Namen. Zu Reichtum gelangt, konnte er sich in die Safranzunft einkaufen. F.s Werke, fast sämtlich Kompilationen, Übersetzungen u. Paraphrasen mit umfangreichen eigenen Zutaten, zgl. geistreich u. leicht lesbar, fanden großen Erfolg bei einem breiten Publikum. F. verstand sich als Schüler des Erasmus. Wie dieser sammelte er Sprichwörter, forderte zu Frieden u. Toleranz auf u. versuchte die »Philosophie Christi« zu finden. Als Theologe entfernte er sich bald von seinen luth. Anfängen u. vertrat konsequent einen jede äußerl. Kirche ablehnenden Spiritualismus. Bereits in seinen ersten Schriften – der Übersetzung der Diallage Andreas Althamers (1528), der Temperenzschrift Von dem grewlichen laster der trunckenheit (o. O. [Augsb.] 1528) u. der Übersetzung einer sozialkrit. Schrift Simon Fishs (Klagbrieff oder supplication der armen dürfftigen in Engenlandt. Nürnb. 1529) – fand F. zu der für ihn charakterist. Sprache: direkt u. deutlich, aber nicht vulgär, geprägt von Gegensatzpaaren u. Aufzählungen, aber nicht überschwänglich. Seine spätere Theologie deutet sich in diesen Luther verpflichteten Werken lediglich an: Althamers Diallage richtete sich gegen den Spiritualismus Hans Dencks, den F. ab 1529 selbst vertrat. Eine tolerante Gelassenheit aus myst. Geschichtsphilosophie u. eine eschatologisch erregte Eindringlichkeit der Ermahnung, die nur noch in F.s pazifist. Werken wiederkehren sollte, prägen die 1530/31 entstehenden Schriften. Die Verbindung von politisch-kritischer Unerbittlichkeit mit theolog. Leidenschaftslosigkeit ist für F.s gesamtes Werk charakteristisch. In der Einleitung zur Chronica und Beschreibung [...] der Türkey (o. O. [Augsb.] 1530), ebenfalls einer Übersetzung, gab F. sich als Gegner jedes kirchl. Christentums zu erken-
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nen. Er erwartet eine »unsichtpar geystlich kirchen in eynigkeit des geysts un- glaubens versamlet, under allen Völkern, un- allein durchs ewig unsichtbar wort, von Got on eynich eusserlich mitel regiert«. Knappsten Ausdruck findet F.s Ablehnung sowohl der alten Kirche wie der neuen Konfessionsbildungen in dem Lied Von vier zwieträchtigen Kirchen (in: Wackernagel 3, S. 817 ff.). Unverstellt formulierte F. seine Gesinnung in einem Brief an Johannes Campanus (4.2.1531. In einer frühnhd. Übers. von 1563 gedr. in: Quellen zur Geschichte der Täufer. Bd. 7, Gütersloh 1959, S. 301–325): Er stimmt dem Antitrinitarismus Michel Servets zu u. beruft sich v. a. auf Johannes Bünderlin. Gott bedürfe der Werke u. der Frömmigkeit des Menschen nicht. Die äußerl. Kirche sei nach der Apostelzeit durch den Einbruch des Antichristen »in den Himmel aufgefahren«; die Wahrheit der Sakramente bleibe dem Geist der Gläubigen gegeben. Gott habe sein Licht in die Herzen aller Menschen, auch der Heiden u. Muslime, gegossen. Chronica zeytbuch unnd geschicht bybell, F.s berühmtestes Werk, wurde bis ins 17. Jh. nachgedruckt. Es ist v. a. eine große Kompilation, die bes. an die Schedelsche Weltchronik anschließt. Vorreden, Ein- u. Überleitungen sowie aktuelle Partien verfasste F. selbst. Aus dem theolog. Geist der Toleranz soll die Wahrheit der Geschichte offenbart werden. Die Vorrede vom Adler unterzieht alle Herrschaft einer ironisch-höhnischen Kritik; die Vorrede der Ketzerchronik bezeichnet die »Ketzer«, zu denen F. auch Erasmus u. die Reformatoren zählt, als die einzigen wahren Christen. Das Weltbuch: Spiegel uun- bildtniß des gantzen erdbodens (Tüb.: Ulrich Morhart 1534), ein Vorläufer von Sebastian Münsters Kosmographie, behandelt im Sinne der geschicht bybell die Geografie. Seine Vorrede ist F.s bedeutendster geschichtsphilosoph. Text. In Ulm entstanden F.s wichtigste theolog. Werke. Nach Das Gott das ainig ain [...] sey (o. O. [Stgt.] 1533) zunächst die vier sog. Kronenbüchlein: Übersetzungen des Lobes der Torheit des Erasmus u. des Buchs De vanitate scientiarum Agrippas von Nettesheim sowie zwei eigene theolog. Traktate (Ulm 1534). Die 280
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Paradoxa (Ulm 1534. Neuausg. v. Siegfried Wollgast. Bln. 1966. 2., neu bearb. Aufl. 1995), die als großer geistl. Sprichwörterkommentar gelesen werden können, sprechen F.s myst. Theologie am deutlichsten aus. Sie fasst Gott pantheistisch auf u. handelt von einer Welt, in der grundsätzlich Schein u. Sein im Widerspruch liegen. Die Welt ist ein »Fastnachtsspiel Gottes«, ihre Verkehrtheit so durchgehend, dass alle Gelehrten dumm, alle Berühmten schädlich, alle Herrschenden willenlos u. alle Unterdrückten heilig sind. Überall gilt: Das ausgesprochene Wort ist gerade unwahr. Die Guldin Arch (Augsb. 1538) ist ein Handbuch von Zitaten aus der Bibel, aber auch aus Schriften von Kirchenvätern u. heidn. Philosophen, die in ihrer Widersprüchlichkeit dargestellt werden sollen. Das verbüthschiert mit siben Siegeln verschlossen Buch (Augsb. 1539. Neudr. Ffm. 1975) stellt sich widersprechende Bibelzitate zusammen. Der Leser soll erkennen, dass theolog. Aussagen nur in mystisch-geistl. Weise verstanden werden können. Die pseudonym erschienene Friedensschrift Kriegbüchlin des Friedes (Tüb. 1539. Neudr. Hildesh./New York 1975) schließt an die Querela pacis des Erasmus an, übertrifft sie in ihrer Ablehnung jedes Krieges u. der Forderung nach uneingeschränkter religiöser Toleranz jedoch an Radikalität. Gewaltigen Erfolg hatte F.s letztes großes Werk Spruchwörter, schöne, Weise, Herliche Clugreden (Ffm. o. J. [1541]. Neudr. Darmst. 1972). Im Anschluss an Erasmus, Murmellius, Tunnicius, Tappe u. a. stellt F. darin eine große Zahl antiker u. volksläufiger Redensarten zusammen u. versieht sie mit Kommentaren. Die Sammlung steht im Dienst der Pflege der dt. Sprache: »Sihe, wol reich seind wir teutschen für all Zungen! wann wir nun unser eygen sprach koenden redten, schreiben und recht appliciren, so moecht kein zung so vil varietet und Formulas zu reden haben.« Breitere Nachwirkung fanden F.s Schriften nur in den Niederlanden. Einige myst. Traktate F.s sind nur in niederländ. Drucken überliefert; auch eine lat. Paraphrase der Theologia deutsch blieb in Amsterdam erhalten. Direkt oder vermittelt flossen die Lehren F.s
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auch im dt. Sprachraum in den Strom des kirchenkritischen spiritualist. Denkens ein. Wahrscheinlich rezipierte Valentin Weigel Schriften F.s; auch bei Jacob Böhme, Johann Arndt u. Angelus Silesius finden sich Motive F.s. Im Pietismus (Gottfried Arnold), in der Aufklärung (Lessing) u. im Historismus (Ranke, Oncken) wurde F. wiederentdeckt. Die Forschung des 20. Jh. erkannte in ihm einen der konsequentesten u. vielseitigsten Vertreter des »linken Flügels der Reformation«. Weitere Werke: Des grossen Nothelffers u. Weltheiligen St. Gelts oder St. Pfennings Lobgesang. Ulm 1537. – Wie man Beten u. Psallieren soll. Ulm 1537. – Germaniae Chronicon. o. O. [Ffm.] 1538. – Was gesagt sei, der Glaube tuts alles. Tüb. 1539 (pseud.). – Übersetzungen: Filippo Beroaldo: Ein Künstl. höflich Declamation. Nürnb. 1531. – Sebastian Münster: Sechshundert dreizehen Gebot [...] der Juden. Ulm 1537. Neudr. Ann Arbor 1980. – Johannes Trithemius: Chronik v. der Franken Ankunft. Ulm 1539. Ausgaben: S. F. Krit. Ausg. Hg. Hans-Gert Roloff. Bisher ersch.: Bd. 1, bearb. v. Peter Klaus Knauer. Bern 1993. Bd. 4, bearb. v. dems. Bern 1992. Bd. 11, bearb. v. dems. Bern 1993. Kommentarbd. 1, bearb. v. Christoph Dejung. Stgt.-Bad Cannstatt 2005. Literatur: Bibliografie: Klaus Kaczerowski: S. F. Bibliogr. Wiesb. 1976. – Bibliotheca Dissidentium. Hg. André Séguenny. Bd. 7, Baden-Baden 1986. – Weitere Titel: Alfred Hegler: Geist u. Schrift bei S. F. Freib. i. Br. 1892. – Eberhard Teufel: ›Landräumig‹. Neustadt/Aisch 1954. – Heinold Fast (Hg.): Der linke Flügel der Reformation. Bremen 1962 (mit Übers. des Briefs an Campanus). – Horst Weigelt: S. F. u. die luth. Reformation. Gütersloh 1972. – C. Dejung: Wahrheit u. Häresie. Zürich 1980. – Jan-Dirk Müller: Buchstabe, Geist, Subjekt. Zu einer frühneuzeitl. Problemfigur bei S. F. In: MLN 106 (1991), S. 648–674. – Ders. (Hg.): S. F. Wiesb. 1993. – Bruno Quast: S. F.s ›Kriegbüchlin des Frides‹. Studien zum radikalreformator. Spiritualismus. Tüb./Basel 1993. – Peter Klaus Knauer: Der Buchstabe lebt. Schreibstrategien bei S. F. Bern u. a. 1993. – Patrick Hayden-Roy: The Inner Word and the Outer World. A Biography of S. F. New York u. a. 1994. – Wilhelm Kühlmann: Auslegungsinteresse u. Auslegungsverfahren in der Sprichwortslg. S. F.s (1541). In: Kleinstformen der Lit. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1994, S. 117–131. – Beitr. zum 500. Geburtstag v. S. F. Hg. S. Wollgast. Bln. 1999 (mit Bibliogr.). –
527 Ralph Häfner: Kompositionsprinzip u. literar. Sinngehalt v. S. F.s Florilegium ›Die Guldin Arch‹ (1538). In: Euph. 97 (2003), S. 349–378. Christoph Dejung
Francke, August Hermann, * 22.3.1663 (= 12.3.1663 alten Stils) Lübeck, † 8.6.1727 Halle/Saale; Grabstätte: ebd., Stadtgottesacker. – Begründer des Halleschen Pietismus; Verfasser homiletischer, theologischer u. pädagogischer Schriften; Sozialreformer. F. wuchs in Gotha auf, wohin sein Vater Johannes Francke von Herzog Ernst dem Frommen als Hof- u. Justizrat zur Mitarbeit an einem umfangreichen kirchl. u. schul. Reformprogramm gerufen worden war, u. besuchte das berühmte Gothaer Gymnasium (1676/77). Er studierte mit Hilfe der von seinem Onkel Anton Heinrich Gloxin verwalteten Schabbel-Stiftung (womit er auf eine wissenschaftlich-theolog. Laufbahn festgelegt wurde) in Erfurt u. Kiel 1679–1682 Philosophie u. Theologie u. 1682 bei dem Hamburger Privatgelehrten Esra Edzardus Hebräisch. In Leipzig habilitierte er sich 1685 mit einer Dissertatio philologica de grammatica hebraica u. hielt dort biblisch-philolog. Vorlesungen. Auf Anregung Johann Benedikt Carpzovs II. übersetzte er den Guida spirituale des quietistischen Mystikers Miguel de Molinos vom Italienischen ins Lateinische. Zus. mit seinem Freund u. späteren Kollegen an der Universität Halle, Paul Anton, gründete er 1686 ein Collegium philobiblicum, das sich auf Rat Philipp Jacob Speners, mit dem F. später in intensiven persönl. u. geistigen Austausch trat, von einer zunächst rein exeget. Ausrichtung zu einer existentiellen Bibelinterpretation mit erbaulichem Zweck hin entwickelte. Für F. selbst führte das zu einer religiösen Identitätskrise. In Lüneburg erfuhr er 1687 bei der Vorbereitung einer Predigt über Joh 20,31 seine Bekehrung. Seine Vorlesungen 1689 in Leipzig u. die Einführung erbaulicher Collegia biblica lösten eine Erweckung unter den dortigen Studenten aus, die auf Bürger u. Handwerker übergriff u. zum Beginn der von Spener u. F. geprägten Erneuerungs- und Frömmigkeitsbewegung
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wurde. In dem darüber entstandenen Streit mit der luth. Orthodoxie u. der theolog. Fakultät wurde – pejorativ – das Wort »Pietist« geprägt. Die Auseinandersetzungen führten 1690 zum Verbot der Collegia biblica in Leipzig; 1691 verlor F. seine kurz zuvor angetretene Pfarrstelle in Erfurt. Spener verschaffte ihm jedoch im selben Jahr eine Professur für Griechisch u. oriental. Sprachen an der neuen, dem Pietismus offenstehenden Universität Halle sowie eine Pfarrstelle in der Vorstadtgemeinde Glaucha. 1698 erhielt F. erstmals eine Professur an der theolog. Fakultät in Halle. Der 1690/91, drei Jahre nach seinem Bekehrungserlebnis niedergeschriebene autobiogr. Lebenslauf (in: Peschke: Werke, S. 4–30) ist sowohl aus literaturgeschichtlicher u. psycholog. als auch aus theolog. Sicht bedeutsam geworden. F.s religiöse Autobiografie diente nach den pietist. Streitigkeiten der Selbstvergewisserung, ist gleichzeitig aber der in der Tradition der augustinischen Confessiones stehende neue Versuch einer bekenntnishaften Bekehrungsgeschichte, wobei sich F. des Zeugnischarakters seiner Schrift für andere bewusst war. Sein Lebenslauf gipfelt u. endet im Bekehrungsbericht. Dabei enthält die ausführl. Vorgeschichte zwar Elemente der Ende des 17. Jh. übl. Form der Gelehrtenu. Berufsbiografie, stellt sie aber kontrastierend ganz in den Bezugsrahmen der Bekehrung. F. bemüht sich, die psycholog. Abläufe vor, in u. nach seinem Bekehrungserlebnis sowie Stufen seiner Entwicklung zu beschreiben, wobei die letzte Phase des kurzen, heftigen Gebetskampfes u. des plötzl. »Durchbruchs« der Gnade eine dramat. Konzentration des Kerngeschehens ermöglicht. Die originelle, von myst. Bildern beeinflusste Darstellung seiner Bekehrungserfahrung veranlasste viele Leser, nach eigener Bekehrung u. Selbstreflexion zu streben, u. wurde zum Vorbild vieler serieller pietist. Lebensläufe. Die Geschichte der dt. Autobiografie ist ohne diese Anfänge im Pietismus nicht darzustellen. In einem anderen Selbstu. Glaubenszeugnis F.s von den Fußstapffen Des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen GOTTES (in: Peschke: Werke, S. 31–55) ist die gnädige Führung Gottes das prägende
Francke
Element. Von hier entwickelte sich gattungsmäßig ein weiterer Strang der Bekenntnisliteratur des Pietismus. Der Zentralbegriff von F.s Theologie ist nicht wie bei Spener »Wiedergeburt«, sondern »Bekehrung«. Sie ist ein Prozess des Heranreifens existentieller Glaubensgewissheit u. Entschiedenheit, u. zwar aus der Erfahrung persönlicher Gottesbegegnung als Wende von einem bloß traditionellen »Kopfglauben« zu einer »Ubergabe des Hertzens an Jesum« (Sonn- Fest- und ApostelTags-Predigten. 3. Tl., Halle 31746, S. 27–52) u. aus der Wiedererneuerung des Taufbundes (Die noethige Pruefung sein selbst. Halle 51782). Die theolog. Reflexion der Bekehrung orientiert sich in Auseinandersetzung mit einem staatskirchl. Traditionschristentum u. der Aufklärung an zwei Polen: an F.s eigener Bekehrung u. an einer existentiellen Interpretation der Hl. Schrift. Greifbar wird die Bekehrungstheologie in F.s Lebenslauf sowie in seinen zahlreichen veröffentlichten Predigten (Buß-Predigten. 2 Tle., Halle 1699–1706. Catechismus-Predigten. Halle 1726. Predigten ueber die Sonn-und Fest-Tags-Episteln. Halle 21729. Sonn- und Fest-Tags-Predigten. Halle 31740). Darin hat F. auch eine Pastoral der Bekehrung zur Erneuerung der Kirche entwickelt, die – allerdings nicht ohne Verengungen (Bekehrungsmethodismus) – im Pietismus bis heute wirksam geblieben ist. F. gründete die erste evang. exeget. Monatsschrift (»Observationes biblicae«. 1695), in der er eine Revision der Lutherbibel forderte, u. das Collegium orientale theologicum (1702) zur Förderung des Studiums der oriental. Sprachen. Als einer der Ersten erkannte F. die Bedeutung der bibl. Philologie für eine Reform des evang. Theologiestudiums. Zeichen seines weiten seelsorgerl. Wirkens sind etwa 40.000 erhaltene Briefe u. erbaul. Schriften, die eine nur den Flugschriften der Reformationszeit vergleichbare Auflage von bis zu 500.000 erreichten. F.s Bekehrung war zgl. Impuls zur Erneuerung der Kirche u. zur Generalreformation der Welt aus christl. Verantwortung. Im Großen Aufsatz (in: Otto Podczeck, Hg.: A. H. F.s Schriften. Bln./DDR 1962) brachte F. seine Reformideen, über die er auch mit Leibniz
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korrespondierte, programmatisch zum Ausdruck. Dabei lag der Schwerpunkt auf der Erziehung der Jugend, wie v. a. seine von der Gothaer Schulreform angeregten Pädagogischen Schriften (Hg. Hermann Lorenzen. Paderb. 1957) u. die Franckeschen Stiftungen zeigen. Er gründete in Glaucha 1695 ein Waisenhaus u. eine Armenschule, aus der sich ein Schulsystem entwickelte, das von der Elementarschule bis zur Hochschulreife führte. Dabei durchbrach F. das bestehende Bildungsprivileg der höheren Stände u. wurde zgl. wegweisend für eine höhere Mädchenschulbildung. Die Schulen hatten bei F.s Tod 2300 Schüler, davon 40 Prozent Mädchen. Neben einem ausgedehnten Religionsunterricht wurde bes. Wert auf den Unterricht in dt. Sprache, die naturwiss., techn. u. prakt. Fächer gelegt sowie auf die Erziehung zu einer arbeits- u. pflichtbezogenen Lebensweise. Für die in den Schulen gegen einen Freitisch unterrichtenden Universitätsstudenten entstand die erste systemat. Lehrerausbildung. F.s pädagog. Konzept wurde von seinen in- u. ausländ. Schülern u. durch F.s ökumenische, missionarische u. wirtschaftl. Kontakte in ganz Europa u. Amerika verbreitet u. hat den Aufbau eines höheren Schulwesens in Russland bestimmend beeinflusst. Unter dem Einfluss F.s führte Friedrich Wilhelm I. 1717 die allg. Schulpflicht in Preußen ein. Die Franckeschen Stiftungen umfassten neben den Schulen die Ostindische Missionsgesellschaft (1705) u. die von Cansteinsche Bibelanstalt (1710). Wirtschaftlich getragen wurden sie weniger von Spenden u. staatl. Vergünstigungen als von den angeschlossenen Großunternehmen, wie dem Waisenhausverlag (1697), der zu einem der bedeutendsten literarischen Unternehmen Deutschlands wurde u. neben wiss. Werken v. a. erbaul. Literatur in hohen Auflagen zu niedrigen Preisen herausgab, von der Buchhandlung (1699), die den Beginn des evang. Buchhandels im engeren Sinne markiert, der Druckerei, der Waisenhausapotheke (1701) usw. Nach F.s Tod wurden die Stiftungen von seinem Sohn Gotthilf August u. seinem Schwiegersohn Johann Anastasius Freylinghausen geleitet u. 1946 in die Universität Halle eingegliedert. Seit 1992 exisitieren die
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Franckeschen Stiftungen wieder selbstständig als Stiftungen öffentlichen Rechts. Weitere Werke: Ungedruckte Quellen: Archive der F.schen Stiftungen Halle. – F.-Nachlass der Preuß. Staatsbibl. zurzeit in der Universitätsbibl. Tüb. – Archiv der Schabbelschen Stiftung in der Lübecker Staatsbibl. – Gedruckte Werke: Schrifftmaeßige Lebens-Regeln. Bremen 1696. – Oeffentl. Zeugniß v. dem Dienste Gottes. Halle 1703. – Lectiones Paraeneticae. 7 Tle., Halle 1726 ff. – Epicedia. Halle 1727. – Gustav Kramer (Hg.): Beiträge zur Gesch. A. H. F.s. Halle 1861. Enthält: Anfang u. Fortgang der Bekehrung A. H. F.s v. ihm selbst beschrieben, S. 29–55. Lebensnachrichten über A. H. F. v. ihm selbst zusammengestellt, S. 56–79. Briefw. zwischen A. H. F. u. Philipp Jacob Spener, S. 193–475. – Selbstzeugnisse A. H. F.s. Hg. Erich Beyreuther. Marburg 1963. – A. H. F. Pädagog. Schr.en. Paderb. 1964. – A. H. F. Werke in Ausw. Hg. Erhard Peschke. Bln. 1969. – A. H. F. Streitschr.en. Hg. ders. Bln. 1981. – Schr.en zur bibl. Hermeneutik. Hg. ders. Bln. u. a. 2003. Literatur: Gustav Kramer: A. H. F. 2 Bde., Halle 1880–82. – Herbert Stahl: A. H. F. Der Einfluß Luthers u. Molinos’ auf ihn. Stgt. 1939. – Erich Beyreuther: A. H. F. Marburg 1956. Neuaufl. 1987. – Ders.: A. H. F. u. die Anfänge der ökumen. Bewegung. Lpz. 1957 (mit Bibliogr.). – Ders.: F. In: RGG 3. Aufl. Bd. 2 (1958). – Erhard Peschke: Studien zur Theologie A. H. F.s. 2 Bde., Bln. 1964–66. – Friedrich de Boor: Erfahrung gegen Vernunft. Das Bekehrungserlebnis A. H. F.s als Grundlage für den Kampf des Hallischen Pietismus gegen die Aufklärung. In: Der Pietismus in Gestalten u. Wirkungen. Hg. Hermann Bornkamm. Bielef. 1975, S. 120–138. – Ders.: F. In: TRE. – Erhard Peschke: Bekehrung u. Reform. Ansatz u. Wurzeln der Theologie A. H. F.s. Bielef. 1977. – Petra Kurten: Umkehr zum lebendigen Gott. Die Bekehrungstheologie A. H. F.s als Beitr. zur Erneuerung des Glaubens. Paderb. 1985 (mit Bibliogr.). – Erich Beyreuter: A. H. F. Zeuge des lebendigen Gottes. Marburg 1987. – Literaturwissenschaft: Werner Mahrholz: Dt. Selbstbekenntnisse. Bln. 1919. – Ingo Bertolini: Studien zur Autobiogr. des dt. Pietismus. Diss. Wien 1968. – Klaus-Detlef Müller: Autobiogr. u. Roman. Tüb. 1976. – Günter Niggl: Gesch. der dt. Autobiogr. im 18. Jh. Stgt. 1977. – Magdalene Maier-Petersen: Der ›Fingerzeig Gottes‹ u. die ›Zeichen der Zeit‹. Pietist. Religiösität auf dem Weg zu bürgerl. Identitätsfindung. Stgt. 1984. – Pädagogik: Wolf Oschlies: Die Arbeits- u. Berufspädagogik A. H. F.s. Witten 1969 (mit Zeittafel u. Bibliogr.). – Juliane Dittrich-Jacobi: Pietismus u. Pädagogik im Konstitutionsprozeß der bürgerl.
Franckenberg Gesellsch. Diss. Bielef. 1976. – Peter Menck: A. H. F., ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik? Lüneb. 1991. Petra Kurten
Franckenberg, Frankenberg, Abraham von, auch: A. Franc, de Monte S., Amadeus von Friedeleben, Franciscus Montanus, der AVFgerichtete, * 24.6.1593 Gut Ludwigsdorf bei Oels/Niederschlesien (Bystre, Kreis Oles´nica), † 25.6.1652 Gut Ludwigsdorf; Grabstätte: ebd., Schlosskirche. – Verfasser mystisch-naturphilosophischer Schriften; Herausgeber; Biograf Jacob Böhmes. Nach Besuch des Gymnasiums in Brieg u. Studien in Leipzig (1612), Wittenberg (1613) u. Jena (1613/14) verzichtete F. unter mystisch-asket. Impulsen 1617 auf eine universitäre Ausbildung u. lebte zurückgezogen auf dem väterl. Gut. Seine Hinwendung zur myst. Tradition entfremdete ihn der luth. Amtskirche; Konflikte mit dem Oelser Hofprediger Georg Seidel, aber auch Kriegsunbilden bewogen F. 1641, Ludwigsdorf zu verlassen u. sich acht Jahre in Danzig bei Martin du Pré als Hauslehrer u. bei dem Astronomen Johann Hevelius aufzuhalten. 1649 kehrte er nach Ludwigsdorf zurück, wo er bis zu seinem Tod v. a. mit Angelus Silesius, dem Erben eines Teils seiner Bibliothek, vertrauten Umgang pflegte. Zu F.s Freunden zählten Johann Theodor von Tschesch, Hans Siegmund von Schweinichen u. Daniel Czepko, zu seinen vielen Briefpartnern gehörten der Utopist u. Comenius-Förderer Samuel Hartlib (London), der Böhmist Abraham Willemszoon van Beyerland (Amsterdam), Joachim Polemann, Joachim Morsius, Johannes Bureus (Uppsala), der Apokalyptiker Johann Permeier (Wien), Athanasius Kircher (Rom) u. Paul Felgenhauer. An Gottfried Sturm richtete F. seinen bekannten Brief »über der deutschen Sprache Natur und Eigenschaft« (Danzig, 16.8.1644). Maßgeblich geprägt wurde F. durch Austausch u. persönl. Begegnung mit Jacob Böhme. F. verurteilte die luth. Orthodoxie als »Schlangen- und Otterngezücht aus der Synagoga des Teufels und seines Adjudanten
Franckenberg
Aristoteles«, opponierte wider alle »Mauerkirchen« seiner Zeit u. begriff sich als »Herz aller Religionen« (»ego sum religionum COR, i.e. Catholicae, Orthodoxae, Reformatae«), sodass ihm Gottfried Arnold in seiner Kirchenund Ketzerhistorie einen Ehrenplatz zuwies. F. erblickte zeitweilig in dem Separatisten Ludwig Friedrich Gifftheil den »lebendig eingefleischten salvator mundi«, anerkannte in Böhmes Theosophie eine Hauptsäule »wahren Christentums« u. verband seinen myst. Spiritualismus mit radikalpazifistischen, transkonfessionalistischen, subtilchiliastischen u. philojudaist. Positionen. Akademisches Gelehrtentum u. aristotel. Schulwissenschaft galten F. als »unnütze Schwätzund subtile Spitzkunst«. Stattdessen vertrat er ein Frömmigkeit u. Weisheit vereinigendes Ideal u. machte sich zum Anwalt einer allen Welthändeln abgekehrten Lebensführung, die auf eine innige Vereinigung des Menschen mit Gott, auf innere Erneuerung u. Wiedergeburt, auf eine Aufhebung von Zeit u. Ewigkeit zielte. Manche Züge der Gedankenwelt F.s entstammen der mittelalterl. Mystik (Johannes Tauler, Jan van Ruysbroeck) u. der kath. Neumystik; auch Sebastian Franck, Johann Arndt u. Valentin Weigel gehörten zu den zahlreichen Berufungsinstanzen F.s. Seine Naturanschauungen gründete F. auf paracelsist. Fundamente; sowohl die »hermetische« Tradition, am fasslichsten in F.s Rezeption Francesco Patrizis, als auch manche Lehren Nikolaus Kopernikus’ u. Giordano Brunos stellte F. in die Dienste seines naturmyst. Strebens. F. unterstützte die Drucklegung von Schriften Böhmes in den Niederlanden u. gab Werke von Johann Beer (Gewinn und Verlust. 1639), Bartholomäus Sclei (Pater noster. 1639), Guillaume Postel (Absconditorum a constitutione mundi clavis. Amsterd. 1646) u. die Trias mystica (Amsterd. 1650) heraus. Manche Franckenbergiana erschienen pseudonym, andere postum; die Echtheit einiger mit F.s Namen verknüpfter Werke ist umstritten. Das F.-Korpus umfasst u. a. die bekannte Hymne Christi Tod ist Adams Leben (1649), Lieder (Beht-Gesänglin. Oels 1633), die Conclusiones (1625. Gedr. 1646), Auseinanderset-
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zungen mit dem orthodoxen Luthertum (Jordanssteine. 1636. Gedr. Ffm./Lpz. 1684) u. eine Böhme-Biografie (Zweitfassung 1651). Zu den Hauptwerken zählen Mir nach! (1637/39. Gedr. Amsterd. 1675), die Via veterum sapientum (1637/39. Gedr. Amsterd. 1675) u. der Oculus sidereus (Danzig 1644), in dem F.s Kopernikus- u. Bruno-Rezeption ihren wohl markantesten Niederschlag fand. F. hinterließ ferner ein Werk über die »Geheimnisse der Zahlen« (Saephiriel. 1631); an seine alchemomedizin. Neigungen erinnern insbes. eine paracelsistisch-theosoph. Gesundheitslehre (Raphael oder Artzt-Engel. 1638/39. Gedr. Amsterd. 1676) u. eine Schrift über F.s Lichtund Lebensbalsam zur Pestbekämpfung (Hg. Christian Maximilian Spener. o. O. [Bln.?] 1709). Die Überlieferungsgeschichte seiner Schriften zeigt, dass F.s Natur- u. Gotteserkenntnis verschränkende Theosophie im protestant. Separatismus lebendig blieb u. insbes. unter böhmist. Dissidenten in Ansehen stand. Diese Wertschätzung F.s in der naturmystisch inspirierten Heterodoxie der frühen Neuzeit macht auch ein Pseudo-F.Korpus kenntlich, das u. a. Nosce teipsum (Ffm. 1675), den (von Paul Kaim stammenden?) Oculus aeternitatis (Amsterd. 1677), Christoph Hirschs Gemma magica (Amsterd. 1688 u. ö.) u. eine Collectanea curiosa de bismutho (Dresden/ Lpz. 1718) einbegreift. F. figuriert in Walter Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994). Ausgaben: Gründl. [...] Ber. v. dem Leben u. Abschied des [...] Jacob Böhmes. In: Schr.en Jacob Böhmes. Ausgew. u. hg. v. Hans Kayser. Lpz. 1920, S. 19–52. – Raphael oder Artzt-Engel. Eingel. v. Heinrich Schneider. Wolfenb. 1924 (Faks. einer Abschr. v. 1729). – Raphael oder Artzt-Engel. Amsterd. 1676. Faks.-Ausg. Bad Oldesloe o. J. [1926]. – Nosce Teipsum. Ffm. 1675. In: Das Zeitalter des Barock. Texte u. Zeugnisse. Hg. Albrecht Schöne. Mchn. 1963, S. 71–74 (Auszug). – Briefw. Eingel. u. hg. v. Joachim Telle. Stgt.-Bad Cannstatt 1995. Literatur: Bibliografie: János Bruckner: A. v. F. A bibliographical catalogue with a short-list of his library. Wiesb. 1988. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 1558–1577. – Weitere Titel: Hubert Schrade: Beiträge zu den dt. Mystikern des 17. Jh. 2. A. v. F. Diss. Heidelb. 1923 (mit Werkverz.). – Georg El-
531 linger: Angelus Silesius. Breslau 1927, S. 50–74. – Peter Poscharsky: F. In: NDB. – Theodoor Cornelis van Stockum: Zwischen Jacob Böhme u. Johann Scheffler: A. v. F. (1593–1652) u. Daniel Czepko v. Reigersfeld (1605–60). Amsterd. 1967. – Will-Erich Peuckert: Gabalia. Bln. 1967, S. 470–497 (zur ›Gemma‹ Pseudo-F.s). – Ders.: Das Rosenkreutz. Bln. 21973, S. 217–318. – John Bruckner: A Bibliography of A. v. F.: Problems and Propositions. In: GLL 36 (1983), S. 213–218. – Ders.: Dichtung u. Erbauungslit.: A. v. F., Johann Scheffler u. J. T. v. Tschesch in einem ›Quacker-Buche‹ (1680). In: Lit. u. Volk im 17. Jh. Hg. Wolfgang Brückner u. a. Tl. 2, Wiesb. 1985, S. 574–588. – Saverio Ricci: Un commento secentesco al ›De Immenso‹ di Giordano Bruno: ›Oculus Sidereus‹ di A. v. F. In: Nouvelles de la République des Lettres 1 (1985), S. 49–65. – John Bruckner: Die ›Bibliotheca Eusebiana‹ A. v. F.s. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 13 (1986), S. 66–70. – Friedrich Ohly: Die Welt als Text in der ›Gemma magica‹ des Ps.-A. v. F. In: FS Heinrich Lausberg. Stgt. 1987, S. 253–264. – Siegfried Wollgast: Philosophie in Dtschld. zwischen Reformation u. Aufklärung 1550–1650. Bln. 1988. – Konrad Gajek: Georg Philipp Harsdörffers Brief vom 30. Mai 1652 an A. v. F. In: Studien zur Lit. des 17. Jh. Gedenkschr. für Gerhard Spellerberg. Hg. Hans Feger. Amsterd. 1997, S. 403–412. – Johann Anselm Steiger: ›Er ist Gott vnd wir Kott‹. Ein Trostbrief des Theosophen A. v. F. (1593–1652). In: Iliaster. Lit. u. Naturkunde in der frühen Neuzeit. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Wolf-Dieter MüllerJahncke. Heidelb. 1999, S. 261–274. – Maria Paola Scialdone: ›Aller Heilsamste MumIah‹. ›Lebensbalsam‹ (pseudo-)paracelsiano e ›Selbsterlösung‹ nel ›Raphael‹ di A. v. F. In: Studi Germanici 39 (2001), S. 7–35. – Sibylle Rusterholz: Jakob Böhme u. seine Anhänger. In: Ueberweg Bd. 4, S. 61–102, hier S. 85–95, S. 136 f. – Carlos Gilly: A. v. F. u. die Rosenkreuzer. Zur Datierung der Tabula Universalis Theosophica Mystica et Cabalistica v. 1623. In: Rosenkreuz als europ. Phänomen im 17. Jh. Hg. ders. u. Friedrich Niewöhner. Amsterd. 2002, S. 212–232. – S. Rusterholz: Elemente christl. Kabbala bei A. v. F. In: Christl. Kabbala. Hg. W. Schmidt-Biggemann. Ostfildern 2003, S. 183–197. – Jaumann Hdb. – S. Rusterholz: A. v. F.s Verhältnis zu Jacob Böhme – Versuch einer Neubestimmung der Textgrundlagen aufgrund krit. Sichtung. In: Kulturgesch. Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber. Bd. 1, Tüb. 2005, S. 205–241. Joachim Telle
François
François, (Marie) Louise von, * 27.6.1817 Herzberg/Sachsen, † 25.9.1893 Weißenfels; Grabstätte: ebd., Friedhof III. – Erzählerin. Die Majorstochter F., die väterlicherseits einer frz. Hugenottenfamilie, mütterlicherseits dem dt. Bürgertum entstammte, wuchs in Weißenfels auf. Sie blieb unverheiratet; ihre Verlobung mit einem Offizier löste sie 1837 nach Entdeckung der Veruntreuung des väterl. Erbes durch ihren Vormund. 1848–1855 lebte F. bei ihrem Onkel, einem Generalleutnant, in Minden, Halberstadt u. Potsdam. Wieder in Weißenfels, begann sie auf Anregung Fanny Tarnows zu schreiben, um durch die Einkünfte die Pflege der kranken Mutter u. des Stiefvaters zu sichern. Erste Erzählungen erschienen ab 1855 in Cottas »Morgenblatt für gebildete Leser« u. Prutz’ »Deutschem Museum«. 1868 publizierte sie in zwei Bänden Ausgewählte Novellen (Bln.), darin Judith, die Kluswirthin (Separatausg. Stgt. 1883 u. ö.). Erst Freytags glänzende Kritik ihres Romans Die letzte Reckenburgerin (2 Bde., Bln. 1871. 51895), der in der Epoche der 48er-Revolution spielt, brachte ihr den literar. Durchbruch. Die Besprechung ihrer Werke in den führenden literar. Zeitschriften, namentlich in Rodenbergs »Deutscher Rundschau«, eröffnete ihr den Zugang zu einem kunstkrit. Publikum. 1872 folgte der stofflich dichte Roman aus der Frühzeit des dt. Nationalismus Frau Erdmuthens Zwillingssöhne (2 Bde., Bln.), in dem – wie auch sonst bei F. – die Auswirkung weltanschaulicher Gegensätze aus der dt. Geschichte auf das Lebensschicksal nah verwandter Menschen dargestellt wird. In den Mittelpunkt des Geschehens stellt F. zumeist die starke, lebenstüchtige Frau, deren heldenhaftes Verhalten in Krisenzeiten die Hilfe eines männl. Partners überflüssig macht bzw. im Gegensatz zum willensschwachen Mann steht (so etwa auch im Lustspiel Der Posten der Frau. Stgt. 1881). Durch ihre durchkomponierte Fiktionalisierung jener Epochen u. histor. Landschaften des nord- u. mitteldt. Raums, mit denen sich ihr großbürgerl. Lesepublikum im Zeitalter des Spätliberalismus u. der dt. Reichsgründung bes. verbunden fühlte, erhielten F.’
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Werke viel Zeitkolorit. Sie verstand es, in Neuausg. Zürich o. J. [1954]. – Uta Scheidemann: L. historisierendem, jedoch humorvoll-iron. v. F. Ffm. 1987. – Thomas C. Fox: L. v. F. u. ›Die Stil, der Wieland u. Jean Paul einiges ver- letzte Reckenburgerin‹. New York 1989. – Goedeke dankt, sowie oft durch den Einsatz einer ge- Forts. – Caroline Bland: Der Posten der Frau. Lustpiel in 5 Aufz. (1881). In: Lexikon deutschschwätzig-gutmütigen Erzählerfigur Gesprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen meinschaft zwischen Erzähler, Erzähltem u. (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Leser zu stiften. Doch distanziert sich ihr et- Pailer. Tüb. 2006, S. 137–139. – Dies.: Die letzte was altväterl. Rationalismus mit seinem Reckenburgerin (1870). Ebd., S. 139 f. – Dies.: Frau schwer abgerungenen Sieg des Gewissens Erdmuthens Zwillingssöhne (1872). Ebd., über den Anspruch auf Glück entschieden S. 140–142. – Barbara Burns: The Prose Fiction of von der Fortschrittsgläubigkeit ihrer Zeitge- L. v. F. (1817–93). Oxford 2006. Eda Sagarra nossen wie Freytag, Spielhagen u. Franzos: »Denn«, wie es in Judith heißt, »mitten Frank, Anne, eigentl.: Anneliese Marie F., durchs Herz bohrt die Achse, deren Erdenpol * 12.6.1929 Frankfurt/M., † März 1945 Ehre heißt und der gen Himmel deutet – das Bergen-Belsen; Grabstätte: ebd., anonyGewissen«. Trotz der Tendenz ihrer Erzähl- mes Massengrab; Gedenkstein in der Gewerke zur Typisierung nationaler, regionaler denkstätte. – Verfasserin eines Tagebuchs. u. konfessioneller Gegensätze weist die gläubige Protestantin F., in ähnlicher Weise F. stammte aus einer wohlhabenden, gebilwie nach ihr Fontane in Vor dem Sturm, in deten Familie jüdisch-dt. Herkunft. Sie versympath. Porträts etwa frz. Offiziere oder brachte ihre ersten Lebensjahre in Frankfurt/ Katholiken auf die Mehrschichtigkeit des M. u. folgte 1934 mit Mutter u. Schwester geschichtl. Erbes der Deutschen. Exakte Zeit- dem Vater ins Amsterdamer Exil. Nach der u. Ortsangaben u. ihre unpathet. Vermittlung dt. Besetzung der Niederlande verbarg sich von Mentalitätsgeschichte durch Gestik u. die Familie vor der drohenden Deportation Gegenstandsbeschreibung bringen dem heu- im Anbau des väterl. Geschäfts. In diesem tigen Leser das – in Emil Staigers Worten – Versteck, das später noch drei weiteren Ver»so wenig bekannte« 19. Jh. um vieles näher. folgten Unterschlupf bot, entstand F.s TageNach der Novelle Der Katzenjunker (Bln. 1879) buch. Die Eintragungen in niederländischer schrieb sie nichts mehr. Seit 1880 bzw. 1881 Sprache beginnen am 12.6.1942 u. brechen war sie mit Marie von Ebner-Eschenbach u. am 1.8.1944 ab. Am nächsten Tag wurde F. Conrad Ferdinand Meyer freundschaftlich verhaftet. Über das Sammellager Westerbork verbunden. In ihren letzten Lebensjahren führte ihr Weg nach Auschwitz-Birkenau. Im wurde sie zu den führenden Schriftstel- Okt. 1944 nach Bergen-Belsen verlegt, starb ler(inne)n der Zeit gezählt. So wundert es ein sie im März 1945 an Typhus. Einziger Überlebender der Familie war der wenig, dass die neuere u. neueste LiteraturVater Otto Frank; er wirkte maßgeblich an wissenschaft mit wenigen Ausnahmen relativ der Überführung der Aufzeichnungen seiner geringes Interesse an dieser hochbegabten Tochter in die Form des Tagebuchs mit. Autorin zeigt. F. skizziert die Lebensbedingungen der Weitere Werke: Hellstädt. 3 Bde., Bln. 1874 Verfolgten in ihrem Versteck: Sie schildert die (E.en). – Natur u. Gnade. 3 Bde., Bln. 1876 (E.en). – Stufenjahre eines Glücklichen. 2 Tle., Lpz. 1877 familiären u. polit. Verhältnisse. Durch ge(R.). – Das Jubiläum. Stgt. 1886 (E.en). – Briefe: naue Beobachtungs- u. Darstellungsfähigkeit Marie v. Ebner-Eschenbach, ein Briefw. mit L. v. F. gelingt ihr eine unverstellte Zeichnung der In: Biogr. Blätter 5 (1900), passim. – M. L. v. F. u. C. Lage u. der Charaktere der Leidensgenossen. F. Meyer. Ein Briefw. Hg. Anton Bettelheim. Bln. Ihre Schreibweise lässt Ambitionen u. Bega1905. bung gleichermaßen erkennen. Bald nach Erscheinen der niederländ. Ausgabe: Ges. Werke. Hg. Karl Weitzel. 5 Bde., Lpz. 1918. Erstausgabe (Het Achterhuis. Amsterd. 1947) Literatur: Emil Staiger: L. v. F. u. ihr Roman erlangte das Tagebuch weltweite Verbreitung ›Frau Erdmuthens Zwillingssöhne‹. Vorw. zur als erschütterndes Dokument der Zeitge-
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schichte. Es wurde 1956 für die Bühne bear- Frank, Bruno, * 13.6.1887 Stuttgart, beitet u. 1958 verfilmt; 1987 folgte eine † 20.6.1945 Beverly Hills/Kalifornien. – Verfilmung für das brit. Fernsehen. Lyriker, Dramatiker, Erzähler, DrehEine erste dt. Übersetzung erschien 1950; buchautor. die Breitenwirkung in Deutschland setzte allerdings erst mit der Taschenbuchausgabe F. entstammte einer großbürgerlichen jüd. 1955 ein. Immer wieder wurde jedoch, meist Familie; sein Vater war Bankier. Nach Schulaus politisch rechtsstehenden Kreisen, die besuch in Stuttgart u. einer thüring. LandAuthentizität des Tagebuchs bezweifelt. Um schule studierte er Jura in Tübingen, Mündieses Gerücht endgültig zu widerlegen, er- chen, Straßburg, Heidelberg, Leipzig u. arbeitete das Niederländische Staatliche In- Freiburg i. Br. u. promovierte 1912 mit einer stitut für Kriegsdokumentation 1986 eine literaturwiss. Dissertation in Tübingen (Gustextkrit. Ausgabe. Diese liegt in der Überset- tav Pfizers Dichtungen). Danach unternahm er zung von Mirjam Pressler seit 1988 in dt. ausgedehnte Reisen im Mittelmeerraum. Nach der freiwilligen Teilnahme am Ersten Sprache vor. Weltkrieg lebte er in Oberbayern, ab 1924 in Weitere Werke: Weet je nog? Verhalen en sprookjes. Amsterd. 1949. – Verhalen rondom het München als Nachbar Thomas Manns, dessen achterhuis. Amsterd. 1960. Deutsch: Gesch.n u. enger Freund er war. Am 28.2.1933, dem Tag Ereignisse aus dem Hinterhaus. Ffm. 1960. 2003. nach dem Reichstagsbrand, verließ F. Deutschland u. ging mit seiner Frau u. deren 2005 u. ö. Literatur: Ernst Schnabel: A. F. Spur eines Mutter, der Operettendiva Fritzi Massary, in Kindes. Ffm. 1957. – Genevieve Duhamelet: A. F., die Schweiz; er lebte zunächst abwechselnd la petite fille de la maison du fond. Brügge/Paris in Frankreich, London u. im Salzburgischen, 1959. – A.-F.-Stiftung (Hg.): A. F. Eine Dokumen- bis er 1937 endgültig in die USA emigrierte, tation. Amsterd. 1979. – Miep Gies: Meine Zeit mit wo er zum Kreis dt. Emigranten in HollyA. F. Bern/Mchn./Wien 1988. – Melissa Müller: Das wood gehörte. Mädchen A. F. Die Biogr. Bln. 1998 (hierauf basieDer u. a. von Mörike beeinflusste Lyriker rend der Film: A. F. – Die wahre Gesch. 2001). – F., der 18-jährig seinen ersten Gedichtband Willy Lindwer: A. F. Die letzten sieben Monate. Ffm. 2000. – Carol Ann Lee: A. F. Die Biogr. Mchn. (Aus der goldenen Schale. Heidelb. 1905) veröf2000. – Sharon Marcus: A. F. and Hannah Arendt, fentlichte, bevorzugte nach dem Ersten universalism and pathos. In: Cosmopolitan geo- Weltkrieg das histor. Erzählen (novellistisch graphies. Hg. Vinay Dharwadker. New York 2001, u. als Roman) sowie das Schauspiel u. bes. die S. 89–131. – Walburga Freund-Spork: Erläuterun- (Boulevard-)Komödie. gen zu A. F. Das Tgb. der A. F. Hollfeld 2001. – Die im Dez. 1918 vor dem »Politischen Rat Matthias Heyl: A. F. Reinb. 2002. – Emma Johnson: geistiger Arbeiter« in München gehaltene A. F. London 2002. – Melissa Müller: Das Mädchen Rede Von der Menschenliebe (Mchn. 1919) zeigt A. F. Die Biogr. Mchn. 2003. – Marion Siems: A. F. Tgb. Erläuterungen u. Dokumente. Stgt. 2003. – sein nicht nur für den schriftsteller. LebensInge Hansen-Schaberg (Hg.): Als Kind verfolgt. A. weg charakterist. Anliegen: Gerechtigkeit als F. u. die anderen. Bln. 2004. – Jacqueline van höchste moral. Kategorie u. eine pazifist. Maarsen: Ich heiße A., sagte sie, A. F. Erinnerun- Grundhaltung als zukunftsweisendes Pringen. Aus dem Niederländischen v. Stefanie Schäfer. zip. Literarisch zeigte F. dies meist an histor. Ffm. 2004. – Rudolf Wolff: Der Alltag des Grauens. Gestalten, deren moral. Integrität u. VerantA. F.s Leben. Bad Schwartau 2005. – Ruud van der wortung gegenüber der Gesellschaft ihm Rol u. Menno Metselaar: Die Gesch. der A. F. Aus Maßstab sind. Sein Interesse konzentriert dem Niederländischen v. Waltraud Hüsmert. Hbg. sich über viele Jahre auf die Gestalt Friedrichs 2005. – David Barnouw u. Gerrold P. van der Stroom: Wer verriet A. F.? Aus dem Niederländi- des Großen, der erstmals in drei Erzählungen schen v. Simone Schroth. Münster 2005. – Jose- (Tage des Königs. Bln. 1924) im Mittelpunkt steht. Neben dem psycholog. Einblick in die phine Poole: A. F. Oud-Beijerland 2005. Werner Klän / Red. menschl. Tragik des aufgeklärt-absolutistischen preuß. Königs, dessen verklärte u. trivialisierte Darstellung in den 1920er Jahren
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populär war, geht es F. auch um die soziale u. polit. Dimension der geschichtl. Epoche, um Friedrichs humanitäre Staatsidee. Kritischer ist F.s Sicht im Roman Trenck (Bln. 1926), in dem die Tragödie des Herrschers die eigentl. Geschichte der legendären Titelfigur, des gestürzten u. verfolgten ehemaligen Günstlings des Königs, dominiert. Der große Bühnenerfolg Zwölftausend (Bln. 1927) stellt noch einmal die Humanität Friedrichs gegen die voraufklärerische Inhumanität eines Feudalherrn, welcher der engl. Krone Söldner für den Einsatz im amerikan. Unabhängigkeitskrieg verkaufen will. Mit der Politischen Novelle (Bln. 1928. Stgt. 1956) gelingt F. ein unmissverständlicher, politisch-aktueller Text, ein Aufruf zum Pazifismus, zur dt.-frz. Verständigung u. zum Europa-Gedanken. »Die repräsentative Novelle der Stresemann-Jahre« (Grimm) wurde vom Nationalsozialismus entsprechend attackiert. Ebenfalls als aktuelle Stellungnahme zu verstehen ist die auch heute noch gespielte Komödie Sturm im Wasserglas (Mchn. 1930) um einen skrupellosen polit. Karrieristen in einer Kleinstadt. Der zu Beginn des Exils entstandene historisch-biogr. Roman Cervantes (Amsterd. 1934. Mchn. 1980) um den Dichter des Don Quijote zeigt F. als hervorragenden Vertreter des in der Exilliteratur so häufig anzutreffenden histor. Romans: F. lässt in diesen anspielungsreichen, auf die Gegenwart hin orientierten u. stark autobiografisch geprägten Künstlerroman seine ersten Erfahrungen nach der Emigration einfließen. Was hier teilweise verdeckt gesagt wird, das schildert Der Reisepaß (Amsterd. 1937. Mchn. 1980) als Zeitroman direkt: Das Schicksal von Menschen, die wie F. selbst zur Emigration aus dem faschist. Deutschland u. zum Leben im Exil gezwungen wurden. Auch in seinem letzten Roman Die Tochter (Mexiko 1943. Mchn. 1985) bearbeitete F. die unmittelbare Vergangenheit, wobei hinter dem Bild der zerstörten kulturellen Symbiose des polnischgaliz. Judentums die Anklage u. Geißelung des Antisemitismus steht. Die literar. Entwicklung F.s führte ihn von einem an Turgenjew u. Flaubert orientierten Erzählen zu autobiografischen, von polit.
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Aussagewillen durchdrungenen Werken, im histor. Genre wie im Zeitroman; dabei ist Kolportagehaftes nicht zu übersehen. Bes. seine im Exil entstandenen Werke, unter denen sich auch Essays u. Drehbücher (z.B. zum Film Der Glöckner von Notre Dame) befinden, wurden von der Exilforschung ins Bewusstsein gebracht. Weitere Werke: Die Nachtwache. Heidelb. 1907 (R.). – Flüchtlinge. Mchn. 1911 (N.n). – Der Schatten der Dinge. Mchn. 1912 (L.). – Die Fürstin. Mchn. 1915 (R.). – Strophen im Krieg. Mchn. 1915. – Der Himmel der Enttäuschten. Mchn. 1916 (N.n). – Die treue Magd. Bln. 1916 (Kom.). – Die Schwestern u. der Fremde. Mchn. 1918 (Schausp.). – Ein Abenteuer in Venedig. Mchn. 1919 (N.). – Die Trösterin. Mchn. 1919 (Schausp.). – Bigram. Mchn. 1921 (E.en). – Leidenschaften, Schicksale u. Abenteuer. Wien 1921. – Der Magier. Mchn. 1929 (N.). – Sechzehntausend Francs. Amsterd. 1940. – Die Monduhr. Mchn. 1979 (E.en). Ausgabe: Ausgew. Werke: Prosa, Gedichte, Schauspiele. Mit Gedenkworten v. Thomas Mann als Einl. Hbg. 1957 u. ö. Literatur: Bibliografien: Virginia Sease in: Dt. Exillit. Bd. 1, Tl. 2, S. 36–39. – Klaus Ulrich Werner: Dichter-Exil u. Dichter-Roman. Ffm. 1987, S. 261–265. – Weitere Titel: Harold v. Hofe: German Literature in Exile – B. F. In: GQ 18 (1945), S. 86–92. – Reinhold Grimm: B. F., Gentlemanschriftsteller. In: Views and Reviews of Modern German Literature. FS Adolf D. Klarmann. Mchn. 1974, S. 121–132. – Martin Gregor-Dellin: B. F. – Gentleman der Lit. In: Ders.: Im Zeitalter Kafkas. Mchn. 1979, S. 62–85. – Konrad Umlauf: Exil, Terror, Illegalität. Ffm. 1982, S. 106–123. – Aleksandra Lukomska-Woroch: Das histor. Prosawerk v. B. F. In: Studia Germanica Posnaniensia 14 (1990), S. 34–47. – Joseph Albrecht: Carl Zuckmayer – B. F. In: Portraits (mehrbändiges Werk). Aus dem Engl. übers. u. mit einem Nachw. v. Rüdiger Völkers. Aachen 1993. – Ulrich Müller: Schreiben gegen Hitler. Vom histor. zum polit. Roman. Untersuchungen zum Prosawerk B. F.s. Diss. Mainz 1994. – R. Grimm: Drei bis vier polit. Novellen. Notizen zu B. u. Leonhard F., Johannes Weidenheim, Thomas Mann u. Gottfried Benn. In: Ders.: Versuche zur europ. Lit. Bern 1994, S. 93–123. – Sascha Kiefer: Novellenbegriff u. Zeitbezug. B. F.s ›Politische Novelle‹ (1928) u. Thomas Manns ›Mario und der Zauberer‹ (1930). In: Jb. zur Kultur u. Lit. der Weimarer Republik 9 (2004), S. 89–128. Klaus U. Werner / Red.
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Frank, Leonhard, * 4.9.1882 Würzburg, † 18.8.1961 München. – Autor von Romanen, Erzählungen u. Dramen. F. wuchs als viertes Kind des Schreiners Johann Frank u. seiner Frau Marie, geb. Bach, in Würzburg auf. Um ihren Sohn finanziell zu unterstützen, schrieb F.s Mutter unter dem Pseudonym Marie Wegrainer den autobiogr. Lebensroman einer Arbeiterfrau (Mchn. 1914). Nach qualvoller Volksschulzeit u. Schlosserlehre ging F. 1905 nach München, wo er Malerei studierte, vorübergehend gefördert durch ein Stipendium der Siligmüllerschen Stiftung, Würzburg. Von seinen bildnerischen Neigungen zeugt die Mappe Fremde Mädchen am Meer und eine Kreuzigung (Mchn. 1913). Zu seinen Bekannten in der Münchner Boheme gehörten der Dichter Johannes R. Becher, mit dem er zeitlebens befreundet blieb, u. der Psychiater Otto Gross, dem er umfassende literar. Anregungen verdankte. Nachdem F. 1910 nach Berlin übergesiedelt war, veröffentlichte er erste Erzählungen u. erzielte mit dem Roman Die Räuberbande (Mchn. 1914) den Durchbruch. 1915 floh der radikale Kriegsgegner nach Zürich. 1918 kehrte er wieder zurück nach Berlin, bis er 1933 zum zweiten Mal emigrierte. Von seiner Ausbürgerung erfuhr er 1934 in Zürich. Weitere Station seines Exils war Frankreich, von wo er 1940 nach zweimaliger Internierung über Portugal in die USA flüchtete. Ein »Lebensrettungsvertrag« von Warner Brothers als Drehbuchautor führte ihn nach Hollywood. Ab 1945 lebte er in New York. 1950 kehrte er nach Würzburg zurück, wo sein Werk jedoch auf zwiespältige Reaktionen stieß. Bis zu seinem Tod lebte er dann in München. 1914 erhielt F. für Die Räuberbande den Fontane-Preis, 1920 den Kleist-Preis für die Erzählsammlung Der Mensch ist gut (Zürich 1917). In den 1950er Jahren erhielt er neben weiteren Auszeichnungen den Nationalpreis 1. Klasse der DDR, das Große Bundesverdienstkreuz u. die Ehrendoktorwürde der Ost-Berliner Humboldt-Universität sowie 1960 die Tolstoi-Medaille der UdSSR. F. sah seine Kunst vorwiegend als Medium eigener psych. Befreiung an. So fließt Auto-
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biografisches bes. nachhaltig nicht erst in die als Roman deklarierte Autobiografie Links wo das Herz ist (Mchn. 1952) ein. Die nostalg. Bindung an Würzburg einerseits, die hasserfüllte Abkehr von dieser Stadt bzw. Deutschland andererseits u. die vorgestellte oder tatsächl. Rückkehr, die Konstellation von Heimat u. Fremde im Allgemeinen, prägen sein Gesamtwerk, exemplarisch schon Die Räuberbande. F.s Alter Ego Michael Vierkant wird durch die leidvollen Erlebnisse in Schule, Familie u. Lehre aus Würzburg in die Fremde getrieben; dort, als Kunststudent in München, begeht er Selbstmord. Die Daheimgebliebenen aber, die anderen Mitglieder seiner Knabenbande, die sich lediglich weggeträumt haben, machen immerhin ihr bescheidenes Glück. Als Würzburg lässt sich die Heimatstadt identifizieren, in die ein Dichter in der Erzählung Die Ursache (Mchn. 1915) reist, um seinen ehemaligen Lehrer zu ermorden. Im Roman Das Ochsenfurter Männerquartett (Lpz. 1927), das die erwachsenen »Räuber« gegründet haben, führen bittere Würzburger Erfahrungen nochmals zu Reiseplänen. Sie werden aber aufgegeben, weil sich zu Hause noch eher ein Auskommen finden lässt. Zwei ehemalige »Räuber« u. ein Schneider – Arbeitslose – brechen in Von drei Millionen Drei (Bln. 1932) nach Südamerika auf. Einer geht zugrunde, zwei kehren desillusioniert zurück. In seinem vierten Würzburg-Roman, Die Jünger Jesu (Amsterd. 1949), stellte sich F. im Exil die zerbombte Stadt vor: Die Einwohner, im Zentrum wiederum eine Jugendbande, bleiben darin verwurzelt, trotz der nachwirkenden NS-Vergangenheit, die F. anprangert. Wollte F. in Der Mensch ist gut gegen den Ersten Weltkrieg seinen uneingeschränkten Pazifismus propagieren, so macht er in dem Roman Mathilde (Amsterd. 1948) einen Engländer, der gegen das nationalsozialist. Deutschland ins Feld zieht, zur Sympathiefigur. Hier wie in Der Mensch ist gut u. in der Kriegsheimkehrererzählung Karl und Anna (Bln. 1926) setzt er dem Militarismus die Liebe entgegen. Liebe, abgegrenzt von bloßer Sexualität, lebensphilosophisch im Zusammenhang alles Organischen angesiedelt, ist ein Kernthema F.s. Eingebunden sind darin
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alle anderen Themen: sein Interesse an Geisteskrankheit u. deren Ursachen in Herkunft u. Erziehung; religiöse Beiklänge, die mit scharfer Kritik an Bigotterie einhergehen, u. nicht zuletzt sein Bekenntnis zum Sozialismus. Sein Hang zur bildenden Kunst bestimmt den Stil des Schriftstellers F. Er möchte, konzentriert auf Wesentliches, das Dargestellte optisch vergegenwärtigen. Bezeichnend dafür sind auch seine Aufgeschlossenheit für den Film u. seine Versuche als Schauspielautor. Die Bühnenfassung von Karl und Anna (Lpz. 1929) ist nur eines von mehreren Beispielen, in denen F. eigene Erzählprosa dramatisiert. Stilistische Experimente allerdings lagen ihm ebenso fern, wie er an den immergleichen Themen festhielt. Weitere Werke: Der Bürger. Bln. 1924 (R.). – Die Schicksalsbrücke. Bln. 1925 (E.en). – An der Landstraße. Bln. 1925 (E.). – Im letzten Wagen. Bln. 1925 (N.). – Der Streber u. a. E.en. Bln. 1928. – Die Ursache. Lpz. 1929 (D.). – Bruder u. Schwester. Lpz. 1929 (R.). – Die Entgleisten. Bln. 1929 (Filmnovelle). – Hufnägel. Lpz. 1930 (Schausp.). – Traumgefährten. Amsterd. 1936 (R.). – Der Außenseiter. Basel 1937 (Kom.). – Maria. Amsterd. 1939 (Schausp.). – Dt. Novelle. Mchn. 1954. – Ruth. Mchn. 1960 (D.). – Sieben Kurzgesch.n. Bln. 1961. – ›Wir sind um Janka sehr besorgt...‹. Briefe v. Katia Mann u. L. F. In: NDL 44 (1996), H. 2, S. 42–61. Ausgaben: Ges. Werke in Einzelausg.n. Amsterd. 1936. – Ges. Werke. 6 Bde., Bln. 1957. – Schauspiele. Bln. 1959. – Erzählende Werke. Mchn. 1959. Literatur: Bibliografie: Maritta Rost u. Rosemarie Geist: L. F. Auswahlbibliogr. zum 100. Geburtstag. Lpz. 1981. – Weitere Titel: Gustav Schröder: Die Darstellung der bürgerl. Gesellsch. im Werk L. F.s. Diss. Potsdam 1957. – Reinhold Grimm: Zum Stil des Erzählers L. F. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 21 (1961), S. 165–195. – Martin Glaubrecht: Studien zum Frühwerk L. F.s. Bonn 1965. – Otto F. Best: L. F. In: Dt. Exillit. Bd. 1, Tl. 1, S. 371–382. – Peter Cersowsky: L. F.: ›Die Räuberbande‹. In: Hdb. der Lit. in Bayern. Hg. Albrecht Weber. Regensb. 1987, S. 401–411. – Christian Schmeling: L. F. u. die Weimarer Zeit. Ffm./ Bern 1989. – Gerhard Hay: L. F. In: Dt. Dichter. Hg. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 7, Stgt. 1989, S. 218–226. – P. Cersowsky: ›Nicht ohne Verwandtschaft mit Faust‹. L. F.s ›Deutsche Novelle‹ u. Thomas Manns ›Doktor Faustus‹. In:
536 JbDSG 34 (1990), S. 349–363. – Werner Dettelbacher: L. F.s Zürcher Exil 1915–18. Würzb. 1993. – R. Grimm: Drei bis vier Novellen. Notizen zu Bruno u. L. F., Johannes Weidenheim, Thomas Mann u. Gottfried Benn. In: Ders.: Versuche zur europ. Lit. Bern 1994, S. 93–123. – Elisabeth LutzKopp: mitten entzweigebrochen. Nebenprodukt u. Lebensretter. Der Film in Leben u. Werk L. F.s. Gerolzhofen 1995. – Judit Hetyei: Hat über ihn Hitler gesiegt? Ein vergessener Schriftsteller, L. F. In: Jb. der ungar. Germanistik (1995), S. 253–264. – Hans Steidle: ›Wie eine große Liebe kann man Rache nicht aufschieben‹. Zum Motiv der gerechten Rache bei L. F. u. Jehuda Amichai. Würzb. 1996. – Walter Fähnders: Gedanken zur Gerechtigkeit im Werk L. F.s. Würzb. 2000. – W. Dettelbacher: L. F.s Hungerjahre in München u. Berlin. 1904–14. Würzb. 2001. – Ders.: L. F. u. Thomas Mann im kaliforn. Exil. In: 20 Jahre L.-F.-Gesellsch. Würzb. 2002, S. 16–23. – Sulamith Sparre: ›Sechzehntausend Kilometer Leichen! Zivilisation!‹. Die Darstellung des Krieges im Werk L. F.s. Würzb. 2003. – P. Cersowsky, Hannes Schwenger u. H. Steidle: Neue Beiträge zu L. F. Würzb. 2003. – W. Dettelbacher: Beiträge zur Biogr. L. F.s. Würzb. 2003. – S. Sparre: Größenwahn u. Seelenschmutz. Das Bild des Künstlers im Werk L. F.s Würzb. 2004. – H. Steidle: Von ganzem Herzen links. Die polit. Dimension im Werk L. F.s. Würzb. 2005. – S. Sparre: Der wandernde Schreibtisch. Erfahrung, Bewältigung u. Folgen des Exils bei L. F. Würzb. 2005. Peter Cersowsky / Red.
Frank, Martin, * 26.9.1950 Mundartdichter, Erzähler.
Bern.
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F. arbeitet als Teilhaber eines Architekturbüros in Zürich. Sein erster Roman ter fögi ische souhung (Zürich 1979) ist Rollenprosa in Berner Mundart aus der Perspektive eines Strichjungen. Beni beginnt als »Grupi« eines drogenabhängigen Rockmusikers, wird von diesem zum sexuell hörigen Sklaven abgerichtet u. als Strichjunge eingesetzt. »I bruchene bueb wo seit: i bi di hung, chasch mi töde wens ter past.« Ungeschminkte Schilderungen homosexueller Praktiken wirken in der Sprache des Milieus nicht pornografisch. Die Perspektive zwingt den Leser zur Identifikation mit Beni u. zur Auseinandersetzung mit dessen vielschichtiger Gefühlswelt. In La Mort de Chevrolet (Zürich 1984) ist die Darstellungsperspektive die des Sklavenhalters, der seinen »Hund« im sexuellen Rausch
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umbringt. Der Bewusstseinsstrom ist allerdings so konsequent durchgehalten, dass Realität u. Traum oft nicht unterscheidbar sind: »Auso forane häti fasch kabu gmach pi so geil xi nime si schwanz [...] mache touge zue [...] gschpüre wisi buch ufen u abe geip frese mitem töff irgendwo am gothard oder sambärnhartino xemi säuber wini bloche fare fou dür tweid« (S. 55). Geschult an linguist. Techniken der Transkription mündlicher Rede, entwickelt F. eine Schreibweise, die den Begriff »Dialektliteratur« nachhaltig verändern könnte: Sprache wird als Kontinuum aufgefasst u. vereinfacht phonemisch notiert. Dies erlaubt die Wiedergabe aller Nuancen der Dialekte u. Soziolekte u. erbringt überraschende typograf. Bilder, die den Leser ästhetisch in Bann schlagen u. zu lautem Lesen zwingen. Weitere Werke: Sechs Liebesgesch.n. Zürich 1999. – Blinde Brüder. Zürich 2000 (E.n). Rudolf Käser / Red.
Franke, Herbert W., auch: Sergius Both, * 14.5.1927 Wien. – Science-Fiction-Autor, Fachpublizist. F. studierte an der Universität Wien Physik, Chemie u. Philosophie (Promotion 1950). 1951–1956 war er bei der Firma Siemens in Erlangen tätig, seit 1956 ist er Fachpublizist u. freier Autor. Seine wiss. Interessen gelten der experimentellen Fotografie, der Computergrafik u. kybernet. Ästhetik, der Höhlensowie der Zukunftsforschung. Er hatte Lehraufträge für kybernet. Ästhetik inne, veranstaltete internat. Fachausstellungen u. schrieb Fachbücher wie Phänomen Kunst (Mchn. 1967), Computergraphik – Computerkunst (Mchn. 1971), Apparative Kunst (zus. mit Gottfried Jäger. Köln 1973), In den Höhlen dieser Erde (Hbg. 1978) u. Vorstoß in die Unterwelt. Abenteuer Höhlenforschung (Mchn. 2003). F. gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der dt. Science-Fiction-Literatur. Seine ersten Kurzgeschichten erschienen bereits ab 1953 in der Wiener Kulturzeitschrift »Neue Wege«. 1960 überraschte er mit einer Sammlung offener, parabelhafter, utop. Skizzen (Der grüne Komet. Mchn. 1960), der Romane folgten (Das Gedankennetz. Mchn.
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1961. Der Orchideenkäfig. Mchn. 1961. Zone Null. Mchn. 1970 u. 2006). F. hat einen knappen, prägnanten u. funktionellen Stil entwickelt u. legt seine Romane zumeist auf mehreren Realitätsebenen an. Wiederkehrendes Thema ist die Manipulation des Menschen, v. a. durch neue Illusionstechniken zur Erzeugung imaginärer Wirklichkeiten. Im Hintergrund steht stets die Frage nach dem Wesen der Realität. F.s Werke erschienen übersetzt in zahlreichen europ. Sprachen. Neben mehreren Auszeichnungen für seine wiss. Tätigkeit erhielt er 1989 den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar. Weitere Werke: Romane: Die Glasfalle. Mchn. 1962. – Die Stahlwüste. Mchn. 1962. – Planet der Verlorenen (Pseud. S. Both). Mchn. 1963. – Der Elfenbeinturm. Mchn. 1965. – Ypsilon minus. Ffm. 1976. – Sirius Transit. Ffm. 1979. – Schule für Übermenschen. Ffm. 1980. Mchn. 2007. – Tod eines Unsterblichen. Ffm. 1982. – Transpluto. Ffm. 1982. – Die Kälte des Weltraums. Ffm. 1984. – Endzeit. Ffm. 1985. – Hiobs Stern. Ffm. 1988. – DEA ALBA. Ffm. 1988. – Zentrum der Milchstraße. Ffm. 1990. – Spiegel der Gedanken. Ffm. 1990. – Die Glasfalle. Ffm. 1993. – Sphinx 2. Mchn. 2004. – Cyber City Süd. Mchn. 2005. – Auf der Spur des Engels. Mchn. 2006. – Flucht zum Mars. Mchn. 2007. – Erzählsammlungen: Einsteins Erben. Ffm. 1972 u. 1996. – Zarathustra kehrt zurück. Ffm. 1977. – Paradies 3000. Ffm. 1981. – Der Atem der Sonne. Ffm. 1986. – Die Zukunftsmaschine. Wetzlar 2007. – Wissenschaftliches: Animation mit Mathematica. Bln. 2002. Literatur: Helga Abret: Schreibend die Notwendigkeit v. Veränderung demonstrieren. In: Polaris 5. Hg. Franz Rottensteiner. Ffm. 1981, S. 17–37. – F. Rottensteiner (Hg.): Polaris 6. Ein Science-fiction-Almanach. H. W. F. gewidmet. Ffm. 1982. – Hans Esselborn: L’image à l’ère cibernétique. Les modèles symboliques de H. W. F. In: Le livre et l’image dans la littérature fantastique et les œuvres de science-fiction. Hg. Françoise DupeyronLafay. Aix-en-Provence 2003, S. 207–218. – Ders. (Hg.): H. W. F.s Romane zwischen Antiutopie u. Virtualität. In: Utopie, Antiutopie u. Science-Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jh. Hg. Hans Esselborn. Würzb. 2003, S. 133–149. – Andrea Gál: Utop. Züge der virtuellen Welten v. William Gibson, H. W. F. u. Jake Smiles. In: Vom Zweck des Systems. Hg. Árpád Bernát. Tüb. 2006, S. 171–181. Franz Rottensteiner / Red.
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Franke, (Curt) Manfred, * 23.4.1930 Haan/ Der Frankfurter, Franckforter, spätes 14. Rheinland. – Rundfunkredakteur, Hör- oder frühes 15. Jh. – Titel eines mystispielautor, Essayist u. Erzähler. schen Traktats, auch bekannt als Theologia Deutsch. Nach dem Studium der Volkskunde, Germanistik, Neueren Geschichte u. Philosophie promovierte F. 1957 mit einer volkskundl. Monografie über das Thema Der Schinderhannes in der deutschen Volksüberlieferung (Ffm. 1958). Ab 1957 arbeitete er als Spielleiter beim Süddeutschen Rundfunk, seit 1963 als (ab 1969 leitender) Redakteur beim Deutschlandfunk. F. lebt heute in Marburg. 1962 debütierte F. mit seiner »Montage von vier Geschichten«: Der 10. September 1961 (Radio Bremen 1962). Für diesen Dokumentarbericht wurde er im gleichen Jahr mit dem Feature-Preis von Radio Bremen ausgezeichnet. 1967 erschien seine Erzählung Ein Leben auf Probe (Stgt.). F. recherchiert hier die Reaktionen der Eltern auf die Krankheit ihres neugeborenen Kindes. In dem teilweise autobiogr. Roman Bis der Feind kommt (Stgt. 1970) wird aus der Perspektive eines 14-jährigen Jungen in Episoden das Alltagsleben vor u. nach dem 7.3.1945 in der rheinischen Kleinstadt Hilden erzählt. F. gelingt eine atmosphärisch dichte Schilderung der einzelnen Erlebnisse. Mordverläufe (Darmst. 1973. Hbg. 1997) ist eine Protokollmontage der Reichskristallnacht in Hilden. Anhand von Zitaten aus den Akten wird ein fiktionaler Verlauf konstruiert, dessen »Detailgenauigkeit den Schrecken noch einmal« dokumentiert. Seinen Prototyp hat diese Technik in Heissenbüttels D’Alemberts Ende. 2003 veröffentlichte F. eine detailliert recherchierte Studie, in der er den Schriftsteller Erich Wiechert, seine Position u. sein Verhalten während des Dritten Reiches kritisch beleuchtete (Jenseits der Wälder. Köln).
Weitere Werke: Pogrom. SR 1971. – Die letzten Tage in Treblinka. Deutschlandfunk 1973. – Das kurze, wilde Leben des Johannes Bückler, neu erzählt nach alten Protokollen, Briefen u. Zeitungsber.en. Düsseld. 1984 (Biogr.). – Leben u. Roman der Elisabeth v. Ardenne. Fontanes Effi Briest. Düsseld. 1994. 21995. Literatur: Norbert Schachtsiek-Freitag: M. F. In: KLG. Andreas Gierth / Red.
Bezeugt wird der Titel nur von der Frankfurter (früher Bronnbacher) Handschrift (»Hie hebet sich an der franckforter«); wahrscheinlich wurde er dem – in vier der acht noch erhaltenen Handschriften überlieferten – Prolog entlehnt, der einen Frankfurter Deutschordensherrn als von Gott eingesetzten Verkündiger, jedoch nicht als autonomen Verfasser des Werkes geltend macht. Vermutlich wurde diese kurze Einführung dem F. im Nachhinein hinzugefügt. Zu immenser Popularität gelangte der Traktat im 16. Jh., nachdem Martin Luther ihn gleich zweimal – 1516 (fragmentarisch) u. 1518 (vollständig) – herausgegeben hatte. Der prägnante Titel Theologia Deutsch stammt indessen nicht von Luther, sondern von dem Augsburger Drucker Silvan Otmar. Nach Auskunft des Prologs will der F. seine Leser dazu befähigen, zwischen »warhafftigen, gerechten gotis frundt« u. »vngerechten, falschen, freyen geiste« zu unterscheiden. Im Hintergrund steht hier der Kampf gegen die – historisch nur schwer fassbare – »Häresie des Freien Geistes«, als deren Vertreter vornehmlich die bereits auf dem Konzil von Vienne (1311–1313) verurteilten Beginen u. Begarden angesehen wurden. In der literar. Auseinandersetzung mit dieser ketzer. Gruppierung entwickelte sich im 14. Jh. eine in zahlreichen Schriften fassbare Häretikertypologie, auf die auch der F. zurückgreift. In 53, 54 oder 56 (je nach Textzeuge) zumeist sehr kurzen Kapiteln umkreist er die zentrale Frage, wie der Mensch in der Hinwendung zu Gott zur Vollkommenheit gelangen kann. Virulent für den F. ist dabei insbes. das Problem einer »deificatio« des Menschen, die jede Grenze zwischen Schöpfer u. Geschöpf aufhebt. Den »Freigeistern« wird vorgeworfen, mittels des »falschen Lichts« ihrer natürl. Vernunft die Einheit mit Gott bzw. mit dem auferstandenen Christus erreichen zu wollen. Neben dieser geistigen Dimension spielt auch die körperl. Komponente eine wichtige Rolle: Nach Auskunft des F. nehmen die Häretiker
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für sich in Anspruch, mit einem Auferstehungsleib versehen zu sein, der sie Leid u. Schmerz gegenüber unempfindlich macht. Die gesellschaftlich relevante Folge dieses fehlgeleiteten Vollkommenheitsstrebens sind Gewissenlosigkeit sowie Missachtung jeder kirchl. u. sozialen Ordnung. Die »wahren Gottesfreunde« sind dagegen dadurch gekennzeichnet, dass sie die »Imitatio Christi« als Leidensnachfolge begreifen, sich also das ird. Leben des Gottessohnes zum Vorbild nehmen. Die rigorose Abkehr von allem Geschaffenen u. allem »Eigenen« (vom F. als »ichtheit« oder »selbheit« bezeichnet) geht einher mit einer Haltung der Passivität, die allein die Überformung durch das Göttliche u. damit eine »Vergottung« des Menschen ermöglicht. Die im F. greifbare Diskussion um die richtige Bestimmung des Verhältnisses von Gott u. Mensch in der Auseinandersetzung mit den freigeistigen Häresien verankert ihn in den aktuellen Debatten insbes. des 14. Jh. Terminologisch, aber auch konzeptuell fassbar ist v. a. der Einfluss Meister Eckharts. Das neuplaton. Gedankengut des F. – etwa die letztlich auf Proklos zurückgehende Lehre vom »unum animae« – könnte u. a. durch Johannes Tauler (der einmal auch namentlich zitiert wird) vermittelt worden sein. Trotz dieser Einbettung in den literar. Kontext der dt. Mystik kommt dem Traktat aufgrund seiner theolog. u. philosoph. Argumentation eine Sonderstellung zu. Auffallend ist nicht nur die Dichte der Christus- u. Paulus-Zitate, während Ps.-Dionysius – sonst eine Leitgestalt mystischer Traktate – nur einmal namentlich erwähnt wird u. Augustinus, eine weitere Standardautorität, nicht berücksichtigt wird. Auch die radikal negative Anthropologie des F. hebt ihn deutlich aus seinem literar. Umfeld hervor: Er verwirft nicht etwa nur die unzulässige Konzentration des Menschen auf sein empirisches »Ich«, sondern ihm gilt die menschl. Natur überhaupt als teuflisch. Die Erlösung des Einzelnen erfolgt dadurch, dass Gott sich in ihm »vermenscht«. Dies dient indessen nicht nur dem Wohl des Geschöpfes, sondern auch der Vervollkommnung Gottes: Immer wieder betont der F., dass Gott auf die Kreatur angewiesen ist, um
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sich wirkend entfalten zu können. Die theolog. Sonderpositionen des Traktats könnten für seine geringe Rezeption im Spätmittelalter mitverantwortlich sein. Dies änderte sich grundlegend nach der Entdeckung des F. durch Martin Luther, der ihn in das unmittelbare literar. Umfeld Johannes Taulers einordnete u. ihn als mit der Bibel u. Augustinus übereinstimmende Lehrschrift pries. Letzteres ist insofern bemerkenswert, als der Traktat Augustinus überhaupt nicht erwähnt (s. o.). Es scheint jedoch, dass Luther zwischen den antipelagian. Schriften des Kirchenvaters u. der Lehre von der genuinen Verdorbenheit des Menschen im F. eine innere Verbindung hergestellt hat. Der Zuspruch, den der F. fortan fand, war enorm: Allein für die erste Hälfte des 16. Jh. sind über 20 dt. Ausgaben nachweisbar. Mit einer Übertragung ins Flämische nahm im Jahre 1521 eine breit gefächerte Übersetzungstätigkeit ihren Anfang. Die Liste bekannter Rezipienten reicht von Ludwig Hätzer u. Sebastian Franck über Kaspar Schwenckfeld, Valentin Weigel, Johann Arndt u. Philipp Jacob Spener bis hin zu Arthur Schopenhauer. Dass Calvin u. die Reformierten den Traktat ablehnten u. die kath. Kirche ihn 1612 als »libellus iste pestilentissimus« auf den Index setzte, tat seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Sicherlich darf der F. als eines der wichtigsten theolog. Originalwerke des MA in der Volkssprache gelten. Ausgaben: D. F. Hg. Wolfgang v. Hinten. Mchn. 1982 (maßgebl. krit. Ausg.). – Weitere Ausg.n zusammengestellt bei Georg Baring: Bibliogr. der Ausg. der ›Theologia Deutsch‹ (= ›T. D.‹). BadenBaden 1963. Literatur: Georg Baring: Neues v. der ›T. D.‹ u. ihrer weltweiten Bedeutung. In: ARG 48 (1957), S. 1–11. – Ders.: Ludwig Hätzers Bearb. der ›T. D.‹ Worms 1528. In: ZKG 70 (1959), S. 218–230. – Alois M. Haas: Die ›T. D.‹. In: Freiburger Ztschr. für Philosophie u. Theologie 25 (1979), S. 304–350. – Wolfgang v. Hinten: Der F. In: VL. – Martin Brecht: Randbemerkungen in Luthers Ausg. der ›T. D.‹. In: Lutherjb. 47 (1980), S. 10–32. – Alois M. Haas: ›T. D.‹, Meister Eckhart u. Luther. In: FS Hans F. Haefele. Sigmaringen 1985, S. 321–328. – Luise Abramowski: Bemerkungen zur ›T. D.‹ u. zum ›Buch v. geistl. Armut‹. In: ZKG 97 (1986), S. 85–104. – Elisabetta Zambruno: La ›T. D.‹ o la via
Frankfurter per giungere a Dio. Mailand 21991. – Henrik Otto: Die Herkunft der Vorlage zu Luthers Ed. der ›T. D.‹. In: ZfdA 128 (1999), S. 434–443. – Hans Schneider: Zur Herkunft einer Vorlage für Luthers Ed. der ›T. D.‹. In: ZfdA 133 (2004), S. 80–93. Lydia Wegener
Frankfurter, Franckfuerter, Philipp, Villip, * um 1450, † vor 1511 Wien. – Schwankdichter. F. ist als Autor des Schwankromans des pfaffen geschicht vnd histori vom Kalenberg (Druck Augsb. 1473) belegt. Dort heißt es gegen Ende: »So redet Villip Franckfuerter / czu Wien in der loblichen stat, / der das zu reimen gemacht hat« (V. 2178 ff.). Die histor. Daten über ihn sind jedoch spärlich. Er ist vermutlich identisch mit dem Bürger gleichen Namens, der 1486 u. 1507 als Haus- u. Grundbesitzer in Wien urkundlich belegt u. 1511 als verstorben erwähnt wird. Die Annahme, dass der in einem Haus nahe St. Tibold in der Wiener Vorstadt ansässige F. seinen Lebensunterhalt vom Kauf u. Verkauf durch Brand zerstörter Häusern bestritt, ist spekulativ, da sie sich nur auf zwei Objekte bezieht; welchem Beruf F. nachging, ist daher nicht bekannt. Er war verheiratet mit der um 1500 verstorbenen Katharina Frankfurter, mit der er zwei (Adoptiv-)Kinder u. spätere Erben aufzog. An der Mundart der geschicht ist erkennbar, dass F. gebürtiger Wiener war; der Name besagt, dass seine Familie ursprünglich aus Frankfurt kam – schon im 14. Jh. sind mehrere Personen gleichen Namens nachgewiesen. Im Schwankroman, seinem einzigen bekannten dichter. Werk, bezeichnet F. sich als »vngelart« (V. 2175), weist jedoch theologische u. liturg. Kenntnisse auf. F. hat die vermutlich mündlich zirkulierenden Schwänke des Pfarrers von Kalenberg (Maschek) in einer gereimten Schwankbiografie von 2180 Versen verschriftlicht u. bei J. Pflanzmann mit 37 einfachen Holzschnitten in den Druck gegeben. Protagonist ist ein Student, der als Lohn für die einfalls- u. risikoreiche Unterhaltung des Herzogs im Eingangsschwank die Pfarre des Kahlenbergerdorfes bei Wien erhält. Die nun folgenden närrischen Inszenierungen des »Pfarrers«
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sind auf drei Handlungsräume (Dorf, Bischofshof in Passau, Fürstenhof in Wien) verteilt u. dienen der eigenen ökonom. Absicherung, der Behauptung gegen die klerikale Obrigkeit u. der »delectatio« der Hofgesellschaft. Als Vorbild der literarischen Figur gilt der historisch nachweisbare Gundaker von Thernberg († 1350), der ca. 1330–1339, d.h. zur Zeit Herzog Ottos des Fröhlichen († 1339), Pfarrer in Kalenberg war u. gemeinsam mit Neithart Fuchs als Spaßmacher Ottos genannt wird. Die Schwänke vollziehen sich zum großen Teil auf der Grundlage einer profanierenden Parodie kirchlicher u. höf. Rituale u. sind mit zahlreichen umgangssprachl. u. zotig-erot., die Sexual- u. Fäkalsphäre betreffenden Wendungen u. Metaphern versehen. Die »Ostentation des Obszönen« (Röcke) dient der Satire auf Laster u. Sündhaftigkeit des Klerus. Gattungstypologisch bedeutsam ist der hohe Grad an sukzessivlogischer Verzahnung der einzelnen Schwänke (Strohschneider) u. die Schaffung einer bis ins 17. Jh. populären Schwankfigur, deren literar. Ausgestaltung auf die Narrenliteratur eine große Wirkung hatte. Erwähnt wird der Kalenberger in Brants Narrenschiff, Bebels Fazetien u. im Eulenspiegelbuch (hier mit explizitem Verweis als Vorläufer), bei Luther, Murner u. Scheidt, der ihn im dt. Grobianus als »groben Heiligen« bezeichnet. Der Pfarrer vom Kalenberg war somit einer der ersten komischen Helden der dt. Literatur. Die Rezeption des Schwankromans entfaltete sich im europ. Kontext: Die älteste niederdt. Ausgabe erfolgte 1497 mit dem Titel Kerckhere van dem Kalenberge, daraus entstanden 1501 die niederländ. Übersetzung u. 1520 die engl. Übersetzung The Storie of the Parson of Kalenborow. Möglicherweise ist die frz. Bezeichnung »Calembourg« (komische Wortverdrehung) auf den Kalenberger zurückzuführen. Ausgaben: Felix Bobertag (Hg.): Narrenbuch. Stgt./Bln. 1884, S. 7–86. – Karl Schorbach (Hg.): Die Gesch. des Pfaffen v. Kalenberg. Halle/S. 1905. – Viktor Dollmayr (Hg.): Die Gesch. des Pfarrers v. Kalenberg. Halle/S. 1906. Literatur: Edward Schröder: Pfarrer v. Kalenberg u. Neithart Fuchs. In: ZfdA 73 (1936),
541 S. 49–56. – Hermann Maschek: Die Gesch. des Pfarrers v. Kahlenberg. In: ZfdA 73 (1936), S. 33–46 (Ergänzung: ZfdA 75, 1938, S. 25–27). – Richard Perger: P. F. In: Wiener Geschichtsblätter 24 (1969), S. 455–460. – Hellmut Rosenfeld: F. In: VL. – Frieder Schanze: ›Volksbuch‹-Illustrationen in sekundärer Verwendung. In: AGB 26 (1986), S. 239–257. – Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Mchn. 1987, S. 154–212. – Peter Strohschneider: Schwank u. Schwankzyklus, Weltordnung u. Erzählordnung im ›Pfaffen von Kahlenberg‹ u. im ›Neithart Fuchs‹. In: Kleinere Erzählformen im MA. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Paderb. 1988, S. 151–171. – Hans Rudolf Velten: Text u. Lachgemeinschaft. Zur Funktion des Gruppenlachens bei Hofe in der Schwanklit. In: Lachgemeinschaften. Hg. ders. u. W. Röcke. Bln./New York 2005, S. 125–143. Hans Rudolf Velten
Frankfurter Dirigierrolle, Anfang 14. Jh. – Spätmittelalterliches geistliches Spiel. Unter den geistl. Spielen des dt. MA ist die F. D. in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. In ihr ist nicht nur das älteste bislang bekannte mehrtägige Passionsspiel im dt. Sprachgebiet überliefert, sondern zgl. einer der ersten mischsprachigen Texte überhaupt. Außerdem verkörpert die F. D. das älteste bekannte Regiebuch. Auch die Art u. Weise der Aufzeichnung ist ungewöhnlich: Es handelt sich um eine aus mehreren Pergamentstücken zusammengesetzte, 4,36 m lange u. 18–20 cm breite Rolle, die an ihren beiden Enden mit Holzstäben versehen ist, um so dem Spielleiter das Auf- u. Abrollen der gerade benötigten Textpartien zu ermöglichen. In vergleichbarer Form ist sonst nur noch ein weiteres Spiel überliefert, das Osterspiel von Muri. Während dies jedoch die vollständigen Sprechtexte aufzeichnet, verfährt die als Regiebuch angelegte F. D. anders u. gibt lediglich die lat. Regieanweisungen u. den jeweils ersten, manchmal auch zweiten Vers der dt. Texte oder der lat. Gesänge an (480 Zeilen). Rasuren, über die ein z.T. grundlegend veränderter Text geschrieben wurde, sowie verschiedene nachträgl. Randbemerkungen zeigen, dass die F. D. mehreren Inszenierungen als Grundlage gedient haben muss. Die Rolle befand sich mit Sicherheit seit dem 15. Jh. im
Frankfurter Dirigierrolle
Besitz des Frankfurter Bartholomäusstifts, doch legen ein Eintrag im Katalog der dortigen Bibliothek (datiert 1360) u. die neu aufgefundenen, textlich in enger Beziehung zur F. D. stehenden Fragmente eines Frankfurter Oster- oder Passionsspiels aus dem Anfang des 14. Jh. es nahe, dass sie selbst ebenfalls in Frankfurt entstanden ist u. von Anfang an bei dortigen Aufführungen Verwendung fand. Eine Vielzahl von Spielnachrichten aus dem 15. Jh. u. der aus der F. D. schöpfende Text des Frankfurter Passionsspiels von 1493 weisen jedenfalls auf eine lange Tradition solcher Spiele in Frankfurt hin. Auch textlich ist die F. D., die in der Folgezeit weitere hess. Spiele maßgeblich beeinflusste (z.B. das Alsfelder Passionsspiel, die Friedberger Dirigierrolle), von großem Interesse. Das zweitägige Spiel beginnt mit Prophetenauftritten u. führt anschließend »Szenen« aus dem öffentl. Leben Jesu vor, denen Passion, Kreuzigung, Grablegung, ein Osterspiel u. Christi Himmelfahrt folgen. Beendet wird der zweite Spieltag mit einem Disput zwischen Ecclesia u. Synagoga, in dessen Anschluss sich die auf der Bühne anwesenden Juden taufen lassen. Diese letzten beiden »Szenen«, die sich im geistl. Theater des MA erstmals in der F. D. finden, sind – anders als in späteren Spielen – noch ohne judenfeindl. Zielsetzung u. dienen v. a. der Vermittlung christl. Glaubensinhalte u. theolog. Ansprüche (Wenzel). Ausgaben: Richard Froning: Das Drama des MA. Tl. 2., Stgt. 1891/92. Neudr. Darmst. 1964. Tokio 1973, S. 370–374. – Die hess. Passionsspielgruppe. Ed. im Paralleltext. Hg. Johannes Janota. 3 Bde. u. Erg.-Bd., Tüb. 1997–2004. Literatur: Julius Petersen: Aufführungen u. Bühnenplan des älteren Frankfurter Passionsspieles. In: ZfdA 59 (1922), S. 83–126. – Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 141–161. – Rolf Bergmann: Studien zu Entstehung u. Gesch. der dt. Passionsspiele des 13. u. 14. Jh. Mchn. 1972, passim. – Hansjürgen Linke: F. D. In: VL. – R. Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Bd. 1, Mchn. 1987. – Helmut Lomnitzer: Ein Textfund zur F. D. In: Dt. Hss. 1100–1400. Hg. Volker Honemann u. Nigel F. Palmer. Tüb. 1988, S. 590–608. – Edith Wenzel:
Frankfurter Passionsspiel ›Do worden die Judden alle geschant‹. Rolle u. Funktion der Juden in spätmittelalterl. Spielen. Mchn. 1992. – Klaus Wolf: Für eine neue Form der Kommentierung geistl. Spiele. Die Frankfurter Spiele. In: Ritual u. Inszenierung. Geistl. u. weltl. Drama des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. HansJoachim Ziegler. Tüb. 2004, S. 273–312. Bernd Neumann / Red.
Frankfurter Passionsspiel, 1493 aufgezeichnet. – Spätmittelalterliches geistliches Spiel. Das zweitägige F. P. (4408 Verse; fragm.) ist in wesentl. Bestandteilen der Tradition der Frankfurter Dirigierrolle aus dem frühen 14. Jh. verpflichtet, doch hat sein Bearbeiter in Text u. Handlungsführung eine Vielzahl von Änderungen vorgenommen. Wie die Frankfurter Dirigierrolle beginnt auch das F. P. mit einem Prophetenspiel, hat diesem aber den von den »angeli« gesungenen Hymnus »veni, sancte spiritus« vorgeschaltet, der in der Frankfurter Dirigierrolle fehlt. Andererseits verzichtet das F. P. auf sämtl. lat. Gesänge, die in der Dirigierrolle in dieser »Szene« folgen. Diesem Prinzip der Texterweiterung u. -verkürzung lat. u. dt. Passagen, das sich durch das gesamte Spiel verfolgen lässt, korrespondiert die Umgestaltung verschiedener Handlungsteile: So werden einzelne Episoden der Frankfurter Dirigierrolle, wie z.B. das gesamte Johannesspiel (Geschichte Johannes des Täufers) eliminiert, andere »Szenen« hingegen, die in der Hauptsache den Gegensatz zwischen Christus u. den Juden hervorheben, neu eingefügt; stumme Handlungen der Frankfurter Dirigierrolle finden sich im F. P. oft in Dialogform umgesetzt. Ein Novum ist auch die Kommentierung aller wichtigen Geschehnisse durch den Kirchenvater Augustinus. Didaktische Erwägungen, das Bestreben, die Leiden Christi zum Mittelpunkt des Gesamtgeschehens zu machen, u. auch der Wunsch nach möglichst anschaulicher Darstellung dürften den Bearbeiter zu einem solchen Vorgehen veranlasst haben. Wie in der Frankfurter Dirigierrolle folgen im F. P. nach dem Prophetenspiel »Szenen« aus dem öffentl. Leben Jesu (Jüngerberufung, Heilungen, Wunder). Mit der Gefangennahme u. der Hinführung zu Annas endet der erste Teil.
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Der zweite Tag greift die Handlung an eben diesem Punkt auf u. setzt sie mit dem Verhör vor Annas fort. Das weitere Passionsgeschehen wird von dem Gedanken bestimmt, dem Publikum Christi Leiden eindringlich vor Augen zu führen. Mit einer Klage der Marien am Kreuz, der Grablegung u. der Bemerkung »conclusor concludit« schließt der Text. Aufgezeichnet wurde das F. P. 1493 vom Frankfurter Gerichtsschreiber Johannes Kremer, einem der beiden Spielleiter der Frankfurter Passionsaufführung von 1492. Vermutlich entspricht der vorliegende Text dieser Aufführung; verschiedene Randbemerkungen deuten aber darauf hin, dass die Handschrift auch noch bei späteren Aufführungen Verwendung gefunden hat (eventuell 1498 oder 1506). Selbst die im Jahr 1515 geplante, dann jedoch vom Rat untersagte Inszenierung wollte möglicherweise auf Kremers Abschrift zurückgreifen (vgl. Neumann, Nr. 1545). Inwieweit sich im F. P. der Textbestand vergangener Aufführungen widerspiegelt (1467; 1470 geplant, aber verboten; 1480), lässt sich nicht mehr feststellen, da diese Texte ebenso verschollen sind wie jene der Jahre 1493 ff. Ausgaben: Richard Froning: Das Drama des MA. Tl. 2, Stgt. 1891/92. Neudr. Darmst. 1964. Tokio 1973, S. 375–534. – Die hess. Passionsspielgruppe: Ed. im Paralleltext. Hg. Johannes Janota. 3 Bde. u. Erg.-Bd., Tüb. 1997–2004. Literatur: Rolf Steinbach: Die dt. Oster- u. Passionsspiele des MA. Köln/Wien 1970, S. 141–161. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann: Geistl. Schausp. im Zeugnis der Zeit. Bd. 1, Mchn. 1987. – Edith Wenzel: ›Do worden die Judden alle geschant.‹ Mchn. 1992. – Dorothea Freise: Got, dem barmherczigen, zu lobe und czu eren und allen andechtigen, fromen christenmenschen czu reyßunge und besserunge wes lebens. Die Frankfurter Passionsspiele im ausgehenden MA. In: Archiv für Frankfurts Gesch. u. Kunst 66 (2000), S. 228–247. – Ursula Schulze: Schmerz u. Heiligkeit. Zur Performanz v. ›Passio‹ u. ›Compassio‹ in ausgew. Passionsspieltexten (Mittelrhein., F., Donaueschinger Spiel). In: Forsch.en zur dt. Lit. des SpätMA. Hg. Horst Brunner. Tüb. 2003, S. 211–232. – Klaus Wolf: Für eine neue Form der Kommentierung geistl. Spiele. Die Frankfurter Spiele. In: Ritual u.
543 Inszenierung. Geistl. u. weltl. Drama des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Joachim Ziegler. Tüb. 2004, S. 273–312. – Jutta Eming: Gewalt im Geistl. Spiel. Das Donaueschinger u. das F. P. In: GQ 78 (2005), S. 1–22. Bernd Neumann / Red.
Franz S. 45–61. – Herlinde Aichner: Die Revolution v. 1848 u. die Frage der jüd. Nationalität: L. A. F. u. M. Rappaport. In: Bewegung im Reich der Immobilität. Hg. Hubert Lengauer u. a. Wien/Köln 2001, S. 333–361. Johannes Sachslehner / Red.
Frankl, Ludwig August, Ritter von HochFranz, Agnes, eigentl.: Louise Antoinette wart (seit 1876), * 3.2.1810 Chrást/BöhEleonore Konstanze Agnes Franzky, * 8.2. men, † 12.3.1894 Wien. – Lyriker u. Epi1794 Militsch/Schlesien, † 13.5.1843 ker. Breslau. – Lyrikerin, Erzählerin u. KinF. stammte aus einer alteingesessenen jüd. derbuchautorin. Familie, besuchte das Piaristengymnasium in der Prager Neustadt u. studierte ab 1828 in Wien u. Padua Medizin; 1837 promovierte er zum Dr. med. Als Sekretär der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (ab 1838) widmete sich F. in der Folge seinen literarischen u. publizist. Interessen. Nach der Revolution von 1848 übernahm er weitere öffentl. Ämter: 1851 wurde er Direktor des Wiener Musikvereins u. zum Professor für Ästhetik ernannt; er war Gründer der Jüdischen Blindenanstalt in Wien u. Präsident der SchillerStiftung. Bekannt wurde F. mit der Balladensammlung Das Habsburglied (Wien 1832); es folgten die histor. Epen Christophoro Colombo (Stgt. 1836) u. Don Juan de Austria (Lpz. 1846). Herausragende Bedeutung innerhalb der Wiener Vormärzpublizistik kommt seiner von 1842 bis 1848 herausgegebenen Zeitschrift »Sonntagsblätter« zu, die einen betont liberalen Kurs verfolgte. 1848 erschien F.s Gedicht Die Universität als erstes zensurfreies Flugblatt in Österreich. Er verkehrte u. a. im Salon von Karoline Pichler u. war enger Freund von Nikolaus Lenau u. Anastasius Grün, dessen Gesammelte Werke er 1877 (5 Bde., Bln.) herausgab. Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1840. – Ein Magyarenkönig. Gedicht in Balladen. Lpz. 1850. – Zu Lenaus Biogr. Wien 1854. – Nach Jerusalem. Lpz. 1858 (Reiseber.). Ausgabe: Ges. poet. Werke. 3 Bde., Wien 1880. Literatur: Eugen Wolbe: L. A. F. Der Dichter u. Menschenfreund. Ffm. 1910. – Stefanie Dollar: Die Sonntagsblätter v. L. A. F. Diss. Wien 1932. – Goedeke Forts. – Sigurd Paul Scheichl: Die vaterländ. Balladen des österr. Biedermeier. Zu L. A. F.s ›Habsburglied‹. In: The Biedermeier and beyond. Hg. Ian F. Roe u. John Warren. Bern/Bln. 1999,
F.’ Vater amtierte in Militsch als Regierungsu. Hofrat. Sein früher Tod (1801) veranlasste die Familie zur Übersiedlung nach Steinau; 1807 führte ein Unfall zu bleibender körperl. Behinderung (Rückgratverkrümmung). Nach 1811 wohnte F. in Schweidnitz u. auf dem Rittergut ihres Onkels, Oberarnsdorf. Ein Aufenthalt in Dresden 1821 ermöglichte ihr den persönl. Kontakt mit dem Kreis um Friedrich Kind u. Theodor Hell, der sie zu Veröffentlichungen in seiner »Dresdner Abendzeitung« ermutigte. Nach dem Tod der Mutter (1822) lebte F. bei ihrer verheirateten Schwester in Siegburg u. 1830–1837 in Brandenburg; danach ließ sie sich in Breslau nieder. Die Erziehung der vier verwaisten Kinder einer ihrer Schwestern († 1840) u. ihre Tätigkeit als Vorsteherin der Breslauer Armenschule dokumentieren ihr karitatives Engagement. F.’ belletrist. Schriften lassen eine entschiedene Vorliebe für literar. Kleinformen erkennen. Neben dramat. Einzelszenen (Stundenblumen. Essen 1833) verfasste sie Eine Lebensskizze (postum Breslau 1846), novellist. Erzählungen (Glycerion. Breslau 1824), lehrhafte Prosa (Parabeln. Wesel 1829 u. ö.) u. Sagen ihrer Heimat (Volkssagen. Wesel 1830 u. ö.). Ihre Gedichte (2 Bde., Hirschberg 1826. 2 1836) orientierten sich nicht ohne Erfolg an Schillers Gedankenlyrik u. Gessners Idyllen: Das Kurzepos Der Sonnenhold (in: Urania 1821) wurde preisgekrönt, ein religiöses Gedicht (Wie könnt’ ich ruhig schlafen in der Nacht) in das schles. Kirchengesangbuch aufgenommen. Die vorbehaltlose Gläubigkeit der Autorin bestätigen auch ihre pädagogisch ausgerichteten Kinderbücher (Kinderschatz. Breslau 1841. Vermächtniß an die Jugend. Breslau 1841)
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u. der pietistisch gefärbte, altertümlich anmutende Briefroman Angela (4 Bde., Essen 1831). Prägende Konstanten ihres literar. Werks sind biedermeierlich-restaurative Grundhaltung, religiös-empfindsame Metaphorik u. klassizist. Themenwahl (bevorzugt in Verbindung mit Entsagungsmotivik). Weitere Werke: Cyanen. Essen 1833 (E.en). – Gedichte. Neu. 2 Bde., Essen 1837. – Kindertheater. Breslau 1841. – Litterar. Nachl. Hg. Julie v. Großmann. 4 Bde., Bln. 1845. Literatur: Arno Lubos: Gesch. der Lit. Schlesiens. Bd. 1, Mchn. 1960. – Margarete Arndt: Schles. Herztöne. In: Schlesien 31 (1986), S. 198–204. – Henk J. Koning: A. F. Eine vergessene schles. Schriftstellerin. In: Jb. der Schles. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 36/37 (1995/96), S. 441–453. Gerda Riedl / Red.
Franzetti, Dante Andrea, * 21.12.1959 Zürich. – Verfasser von Romanen, Erzählungen, Reportagen u. Essays. Der italienisch- u. deutschsprachig aufgewachsene Schweizer Autor, der als Journalist für Rundfunk u. Zeitungen arbeitet, wird seit seiner ersten Erzählung Der Großvater (Zürich 1985) überregional wahrgenommen. Ihr Protagonist ist ein 1885 im ital. Dorf Limoli geborener Maurer, ein eigenwilliger u. unabhängiger Mann, dessen Beobachtungs- u. Erzähltalent außerordentlich ist. Sein Enkel – der Ich-Erzähler, der Fakten u. Mutmaßungen, Träume u. Visionen zu einer imaginären Anrede an den Großvater verdichtet – schildert in einem in einfachen Sätzen gehaltenen, bisweilen ins Beschwörend-Magische übergehenden Prosamosaik das durch Arbeit, Familie, Freunde u. Regionalgeschichte geprägte Leben dieses Mannes. Aus erinnerten Episoden, Fotos u. einzelnen Wörtern gewinnt der Enkel seine eigenen Wurzeln u. damit seine Geschichte zurück. Cosimo und Hamlet (Zürich 1987) ist ein von zahllosen literar. Zitaten u. Anspielungen durchwebtes, Themen, Motive u. auch Sprachen durcheinanderwirbelndes, oft beinahe pointillistisch wirkendes Porträt der Kinder ital. Migranten, die in den Sechziger- u. Siebzigerjahren in Zürich aufwachsen u. ihre sich erst ausbildende Identität mit der Frage nach ihrer
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(auch sprachl.) Herkunft u. Heimat unlösbar verbunden sehen. Der multiperspektivische Prosatext Die Versammlung der Engel im Hotel Excelsior (Zürich 1990) spielt in einem Grandhotel aus der Gründerzeit, in das der dort als Sohn des Barkellners u. der Wäscherin aufgewachsene Sergius noch einmal zurückkehrt, ehe es verkauft u. umgebaut wird. Der melancholisch-zweifelnde Ich-Erzähler sucht seinen Vater u. mit ihm die Gewissheit des Vertrauten – u. taucht behutsam u. hellwach ein in die Welt seiner vielfach gebrochenen Erinnerung. Eine Kindheit wird besichtigt, indem den Dingen ihr Geheimnis u. ihre Sprache entlockt werden, u. doch gewinnt das Dunkle, Unabgegoltene der Vergangenheit immer mehr Macht. Das Funkhaus (Mchn. 1993) schildert im Stil eines gesellschaftskritischen, vor Klischees nicht zurückschreckenden Kriminalromans das von Macht u. Interessen bestimmte, von Korruption, Zynismus u. Lüge durchsetzte Intrigenspiel im imaginären Funkhaus von Laville, wo man die geistige Auseinandersetzung mit der Zeit schon längst aufgegeben hat u. an der Abschaffung von Politik u. Kultur arbeitet. Der Essay Die Sardinennacht (Baden-Baden/Zürich 1996) bietet Dreißig Fernsehschnitte aus dem Zeitalter Berlusconis (Untertitel) u. wirft bitterböse Blicke hinter die Kulissen des Medienbetriebs. Im Roman Liebeslügen (Zürich 1996) stehen zwei Paare um die Dreißig im Mittelpunkt, die sich aus alten Bindungen, Ordnungen u. Lügen lösen u. eine neue, den Unwägbarkeiten des Lebens sinnlich u. heiter vertrauende Phase beginnen. Liebeslügen ist als moderne Variation von Goethes Wahlverwandtschaften gedeutet worden, wobei F.s Roman allerdings mit einem munter-frivolen Schlusstableau endet. In der Prosasammlung Curriculum eines Grabräubers (Zürich 2000) dominiert der Ton des Beiläufigen, Unpathetischen u. Spielerischen. Der Leser wird anhand von elf anekdotenhaft erzählten Biografien in eine fantastisch-abgründige Sphäre zwischen Realität u. Traum entführt, in der die Metallfigur auf dem Dom von Orvieto ebenso ihren Platz hat wie ein Grabräuber u. Fälscher von etrusk. Gefäßen, ein merkwürdiger Stasi-Doppelagent sowie allerlei Reporter, Mörder oder Selbstmörder.
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Die Identitäten der Figuren sind unsicher, D. A. F. In: Schweizer Monatsh.e 5–6 (2006), S. 50 verschwimmend u. vielfach gespiegelt; keine (zu ›Passion‹). Klaus Hübner kann dem Netz der Erinnerungen u. der Gefangenschaft in der Vergangenheit entflieFranzobel, eigentl.: Franz Stefan Griebl, hen. In der offenen Form zwangloser Prosa* 1.3.1967 Vöcklabruck/Oberösterr. – notizen präsentiert F. in Passion. Journal für Schriftsteller, Dramatiker, Dichter, HerLiliane (Innsbr. 2006) eine »Geschichte der ausgeber. zerschellten Zukunft und der gescheiterten Liebe« – einen hochpoet. Versuch über die F. studierte ab 1986 Germanistik u. GeSchwierigkeit, letztlich Unmöglichkeit, einer schichte an der Universität Wien u. schloss Liebesgeschichte u. dem Leben in einer Fa- 1994 mit einer Diplomarbeit über visuelle milie mit zwei Kindern Dauer zu verleihen. Poesie ab. Bis 1991 arbeitete er als bildender Die große Liebe ist bereits zu Beginn des Künstler mit den Schwerpunkten Malerei u. Textes Vergangenheit, u. F.s leidenschaftlich Konzeptkunst. Seit 1989 ist er als Schriftleidender 44-jähriger Held Nerbal umkreist steller u. Herausgeber tätig. in einem bisweilen obsessiv wirkenden BeAusgangspunkt für F.s Schreiben ist der wusstseinsstrom äußerst sensibel, fulminant Unterschied, der zwischen der Wirklichkeit belesen u. hoch reflektiert die Kreuzungs- u. u. ihrer sprachl. Darstellung besteht. F. lässt Wendepunkte seines Lebens u. des Lebens sich unter dem Schutz seines Pseudonyms auf seiner früheren Frau. die Macht der Sprache ein u. erschafft aus »Als literarische Formen der Mnemonik, ihren Möglichkeiten eine Vielfalt von Welten als poetische Memoria an vergangene und u. Identitäten. Zgl. wahrt er Distanz zu seijüngste Zeiten, als Epitaphe auf kleine, pri- nen sprachl. Schöpfungen, führt diese als vate und große Geschichte kann die Prosa künstliche u. konstruierte vor u. stellt daDante Andrea Franzettis gelesen werden« durch die Wirklichkeit, ihre Wahrnehmung (Ruf). Die in Passion sichtbare Hinwendung zu u. die Sprache selbst in Frage. F. spielt in intimeren, subjektiv-impressionist. Sujets u. seinen Werken mit den Formen u. Techniken die kaleidoskopartig-gebrochene, äußerst re- der modernen u. experimentellen Literatur, flektierte Erzählweise wird der Autor in sei- kommentiert sie u. entwickelt sie weiter. nem Romanprojekt Die Frauen (2007) weiter- Seine Vorbilder sind u. a. der Lyriker u. Esführen. Für sein literarisches Schaffen wurde sayist Reinhard Priessnitz sowie die MitglieF. vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem der der Wiener Gruppe, v. a. Konrad Bayer u. Friedrich-Hölderlin-Förderpreis, dem Con- Oswald Wiener, die ähnlich vielseitig, interrad-Ferdinand-Meyer-Preis u. dem Adelbert- textuell u. kooperativ arbeiteten. F. teilt mit von-Chamisso-Preis. ihnen zudem die Vorliebe für Groteskes, Literatur: Oliver Ruf: D. A. F. In: KLG. – Gino Makabres u. Possenhaftes. Auffälligstes StilChiellino: Carmine Abate u. D. A. F. oder Die merkmal seiner frühen Werke ist das Aufzweite Generation auf der Suche nach ihrer Ver- einandertreffen von strengen formalen Kongangenheit. In: Ders.: Lit. u. Identität in der zepten u. einem spontanen, assoziativen, Fremde. Zur Lit. ital. Autoren in der Bundesrepu- rhythm. u. klangmaler. Einsatz der Sprache. blik. Kiel 1985/89, S. 121–136 (zu ›Der Großvater‹). Die Erzählung Die Krautflut (Mit einem – Wilhelm Solms: Gespräch mit D. A. F. u. Flurin Nachw. v. Thomas Eder. Ffm. 1995) themaSpescha. In: Gesch.n aus einem ereignislosen Land. tisiert bereits im Titel die Überflutung der Schweizer Literaturtage in Marburg. Hg. ders. Marburg 1989, S. 167–181 (zu ›Cosimo u. Ham- Ereignisse durch eine sich selbst in Gang let‹). – Beatrice v. Matt (Hg.): Antworten. Die Lit. haltende, scheinbar unkontrollierte Bedeuder deutschsprachigen Schweiz in den achtziger tungsflut der sprachl. Metaphern, welche alJahren. Zürich 1991 (zu ›Der Großvater‹ u. ›Cosimo les mit allem in Beziehung setzt. Die Handu. Hamlet‹). – Nicola Bardola: D. A. F. In: LGL. – lung, nahezu symmetrisch in einen Prolog u. Klaus Hübner: Zerschellte Zukunft. Prosakunst v. sechs Kapitel aufgeteilt, in denen jeweils zwei der vier Hauptfiguren aufeinandertreffen u. die weitgehend stereotypen Handlungsele-
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Literatur: Friedrich W. Block: F. In: KLG. – mente von Liebes- u. Kriminalgeschichten erleben, liefert die Folie, vor der sich die Thomas Eder: F. In: LGL. Robert Steinborn Verschmelzung der gesprochenen Alltagssprache mit der Reflexion des Sprachsystems Franzos, Karl Emil, * 25.10.1848 im ruszu einem eigenständigen literar. Stil vollsischen Gouvernement Podolien, † 28.1. zieht. F. gewann mit dieser Erzählung 1995 1904 Berlin; Grabstätte: ebd., Jüdischer den Ingeborg-Bachmann-Preis u. wurde darFriedhof Weißensee. – Erzähler, Reiseaufhin einem größeren Publikum bekannt. schriftsteller u. Publizist. Neben weiteren konzeptuell geprägten Werken wie Das öffentliche Ärgernis (Prosa, Der Sohn einer assimilierten jüd. Familie Klagenf. 1993) u. Hundshirn (Prosa, Linz/Wien wuchs in Czortkow/Ostgalizien u. ab 1859 in 1995) verfasst er seit 1998 Romane, die sich Czernowitz auf. Dem mittellosen Studenten deutlicher an epischen u. inhaltl. Kriterien blieb nur das mit der Promotion 1871 abgeausrichten. Kennzeichnend für Scala Santa schlossene jurist. Studium in Wien u. Graz, oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt (Wien das allerdings sein literarisches u. öffentl. 2000) u. die nachfolgenden Romane ist ihre Wirken nachhaltig prägte: so umspielt die Fragmentierung durch die Vielfalt der Figu- Thematik des gebeugten Rechts das gesamte ren u. Erzählperspektiven sowie die Kon- Erzählwerk. Seiner offen vertretenen deutschfreundl. frontation bzw. Vermischung unterschiedlichster Themen aus allen Lebensbereichen. Haltung wegen verzichtete F. auf den Besonderes Gewicht legt F. auf die Darstel- Staatsdienst u. erschrieb sich den Lebensunlung der Abgründe der (österr.) Psyche; se- terhalt als Journalist u. Korrespondent (u. a. xualistisches u. faschistoides Verhalten, für die Wiener »Neue Freie Presse« u. »Neue psych. u. körperl. Gewalt sowie menschl. Illustrierte Zeitung«), dann als freier SchriftSchwächen wie Dummheit u. Bosheit haben steller, nach dem Erzählband Die Juden von einen festen Platz in F.s Erzählkosmos. In Barnow (Stgt./Bln. 1877, Teile bereits 1874 seinem bisher umfangreichsten Roman Das veröffentlicht) mit großem, auch finanzielFest der Steine oder Die Wunderkammer der Ex- lem Erfolg. Geringeres Interesse fanden, bis zentrik (Wien 2005) ist gegenüber früheren auf den Roman Ein Kampf ums Recht (Breslau Erzählwerken eine Entwicklung der Figuren 1882), seine Erzählungen mit dt. Thematik. von Marionetten u. Sprachmasken hin zu Von den Schwierigkeiten eines Lebens als wandlungsfähigen Charakteren festzustellen. Deutscher u. Jude spricht F. in seinem Beitrag Seit seinem ersten Theaterstück Das Beu- zu der Essaysammlung Die Geschichte des Erstschelgeflecht (In: Das Beuschelgeflecht. Bibapoh. lingswerks (Lpz. 1894) mit aller Deutlichkeit. Zwei Stücke. Ffm. 1996. Urauff. Wien 1996 Seine Entscheidung für die dt. Kultur u. die bzw. Wien 1998) schreibt F. regelmäßig für Hoffnung auf ihre produktive Rückwirkung das Theater; seine Stücke werden vorwiegend im osteurop. Raum gehörte zu den lebensin Österreich gespielt. F. erhielt für sein er- länglich praktisch u. ideell vertretenen zählerisches u. dramat. Werk zahlreiche Grundüberzeugungen, allen gesellschaftl. Preise. Die 2003 erschienene Gedichtsamm- Ernüchterungen zum Trotz. Mit Publikatiolung Luna Park. Vergnügungsgedichte (Wien nen wie Deutsches Dichterbuch aus Österreich 2003) belegt, dass auch die Auseinanderset- (1883) u. der Halbmonatsschrift »Deutsche zung mit Lyrik eine Konstante in F.s Schaffen Dichtung« (1886–1904) schuf F. ein konservativ bestimmtes Forum zeitgenössischer Lidarstellt. teratur, das ihn als Förderer u. Entdecker Weitere Werke: Die Musenpresse. Klagenf. auswies. Seit 1867 hatte er alle Energie daran 1994 (R.). – Böselkraut u. Ferdinand. Ein Bestseller von Karol Alois. Wien 1998 (R.). – Phettberg. Eine gesetzt, Georg Büchner bekannt zu machen Hermestragödie. Klagenf. 1999. Urauff. Wien u. »rettete« mit der Edition von Büchners 1999. – Lusthaus oder Die Schule der Gemeinheit. Sämmtlichen Werken und handschriftlichem Wien 2002 (R.). – Hunt oder Der totale Februar. Nachlaß (Ffm. 1879) den für die Moderne wichtigsten dt. Autor. Zeitgleich mit der Weitra 2006. Urauff. Wolfsegg 2005.
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Entzifferung dieser Manuskripte entstanden erlebens zog sich F. aus der literar. Öffentdie Berichte über östl. Völker u. bes. über die lichkeit zurück. Sein Nachlass befindet sich in Lebenswelt der Juden des Ostens (Aus Halb- der Wiener Stadtbibliothek. Asien. Kulturbilder aus Galizien, der Bukowina, Weitere Werke: Der Präsident. Breslau 1884 Südrußland und Rumänien. 2 Bde., Lpz. 1876. (D.). – Die Reise nach dem Schicksal. Bln. 1885 (E.). Forts.en Vom Don zur Donau: Neue Kulturbilder – Trag. Novellen. Stgt. 1886. – Die Schatten. Stgt. aus Halb-Asien. 2 Bde., Stgt./Bln. 1877. Aus der 1888 (E.). – Der Wahrheitssucher. 2 Bde., Jena 1893 großen Ebene: Neue Kulturbilder aus Halb-Asien. 2 (R.). – Dt. Fahrten: Reise- u. Kulturbilder. 2 Bde., Bde., Stgt./Bln. 1888). 1887 verlegte F. seinen Bln. 1903. Stgt./Bln. 1905. Literatur: Wolfgang Martens: ›Deutsche DichLebensmittelpunkt von Wien ins wirtschafttung‹: Eine literar. Ztschr. 1886–1904. In: AGB 1 lich prosperierende Berlin, kam aber auch (1956–58), S. 465–482. – Egon Schwarz u. Russell hier in ein spezifisch antisemitisches Klima. A. Bermann: K. E. F.: Der Pojaz (1905). Aufklärung, Seine Bücher, z.T. zuerst als Fortsetzungsro- Assimilation u. ihre realist. Grenzen. In: Romane u. mane, erschienen ab 1895 im eigenen Verlag, Erzählungen des bürgerl. Realismus. Hg. Horst konnten aber nicht mehr an seinen früheren Denkler. Stgt. 1980, S. 378–392. – Fred Sommer: Erfolg anknüpfen, obwohl bis 1933 Nach- ›Halb-Asien‹. German Nationalism and the Eastern drucke u. Neuauflagen anderer Verlage er- European Works of F. Stgt. 1984. – Sybille Hubach: schienen. 1877 hatte er Ottilie Benedikt ge- Galiz. Träume. Die jüd. E.en des K. E. F. Stgt. 1986. heiratet, die unter dem Namen F. Ottmer – Andrea Wodenegg: Das Bild der Juden Osteuroselbst literarisch tätig war; die Ehe blieb pas. Ffm. u. a. 1987. – Horst Sendler, K. E. F. (1848–1904) – Ein Kämpfer ums Recht. In: Neue kinderlos. jurist. Wochenschr. (40. Jg.) H. 23 (1987), Im Gegensatz zu den materialreichen ReiS. 1361–1369. – Goedeke Forts. (Werkverz.). – sereportagen sind die Erzählungen, die jüd. ZweiGeist. K. E. F. Ein Lesebuch v. Oskar Ansull. Lebensmöglichkeiten betreffen, gestaltete Potsdam 2005. Sybille Hubach Literatur. Sie arbeiten in Thematik u. Personal mit durchgängiger Schematisierung u. verstecken in den Geschichten eine Fülle an Frapan, Ilse, geb. Elise Levien, auch: I. Information zu Brauchtum u. Religion. Der Frapan-Akunian (ab 1901), * 3.3.1849 überscharfen Kritik am innerjüd. FundaHamburg, † 12.12.1908 Genf. – Erzählementalismus entspricht bei den Juden von rin, Dramatikerin. Barnow der Appell, sich der Welt zu öffnen. Die Romane aber (Moschko von Parma. Lpz. Die Tochter eines Instrumentenmachers war 1880. Judith Trachtenberg. Breslau 1891) er- als Volksschullehrerin tätig, bevor sie 1883 zählen keine Erfolgsgeschichten von Eman- mit der eng befreundeten Emma Mandelzipation u. Assimilation, sondern handeln baum zur weiteren Ausbildung nach Stuttvon den Ambivalenzen dieses Säkularisie- gart ging, wo sie bei Vischer Literaturvorlerungsprozesses, von Glaubenszweifel u. sungen besuchte (vgl. Vischer-Erinnerungen und Identitätsverlust. In der Dialektik von Verlust -Worte. Stgt. 1889). Seit 1887 als Autorin u. Gewinn korrigieren die Romane den Per- volkstüml. Novellen u. Dramen literarisch fektibilitätsglauben ihres Verfassers, bes. im hervorgetreten, lebte sie ab 1892 in Zürich, postum veröffentlichten Pojaz (als Sender wo sie als freie Mitarbeiterin für mehrere Glatteis 1894 in russ. Sprache veröffentlicht Zeitschriften tätig war, Naturwissenschaften im »Wosschod«. Dt. Stgt./Bln. 1905), der studierte u. 1898 den armenischen Schriftdeutlich das Vorbild jiddischer Literatur er- steller Akunoff kennenlernte, mit dem sie ab kennen lässt. Eine düstere Geschichtspro- 1901 in Genf lebte u. dessen Namen in der gnose beschließt den letzten Roman (Leib armenischen Form sie annahm. Für sein unWeihnachtskuchen und sein Kind. Bln. 1895), der terdrücktes Volk setzte sich F. nach einer gebei aller Realistik nicht zuletzt sinnbildlich meinsamen Reise in den Kaukasus öffentlich gelesen werden will. Mit diesem Abgesang ein. Sie verarbeitete den eigenen, schwer erauf die Welt des östl. Judentums, aber auch kämpften Bildungsweg in einer Anzahl von auf die Ideen am Beginn seines Schriftstell- Novellen u. Romanen mit frauenemanzipa-
Frau Ava
tor. Anspruch: Auf den im Zürcher studentischen Milieu spielenden Roman Die Betrogenen (Bln. 1898) folgte der behutsam provokante, jedoch als Dekonstruktion der »progressiven« Universität Zürich zu lesende Roman Wir Frauen haben kein Vaterland. Monologe einer Fledermaus (Bln. 1899. Bln. 1983). Es folgten der Novellenband Schreie (Bln. 1901) u. der Roman Arbeit (Bln. 1903), in denen selbstbewusst das Recht auf Selbstentfaltung der Frau unterstrichen wird; sie erfuhren kontroverse Aufnahme. In ihrem bitter-ironischen, der Arbeiterdramatik verpflichteten Stück Die Retter der Moral (Lpz. 1905. Urauff. Hbg. Ernst-Drucker-Theater 1905) wusste F. »ungeheuerlich[e]«, das expressionist. Theater antizipierende Effekte zu erzielen. Zum Lebensunterhalt auf den Verkauf ihrer Schriften angewiesen, publizierte sie bis zuletzt auch populäre Unterhaltungsliteratur. Unheilbar krank, starb sie im Selbstmordpakt mit Emma Mandelbaum. Weiteres Werk: Phitje Ortens Glück. Eine dt. Komödie in 4 Akten. Bln. 1902 (Urauff. Altonaer Stadttheater 1902). Literatur: Christa Kraft-Schwenk: I. F. Eine Schriftstellerin zwischen Anpassung u. Emanzipation. Würzb. 1985. – Michaela Giesing: Verhältnisse u. Verhinderungen – deutschsprachige Dramatikerinnen um die Jahrhundertwende. In: Frauen, Lit., Gesch. Schreibende Frauen vom MA bis zur Gegenwart. Hg. Hiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann. Stgt./Weimar 1999, S. 271 f. – Inge Stephan: Die Betrogenen. Roman (1898). In: Lexikon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autorinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 144 f. – Dies.: Wir Frauen haben kein Vaterland. Monologe einer Fledermaus (1899). Ebd., S. 145–147. Eda Sagarra
Frau Ava ! Ava Frau Tugendreich. – Prosaerzählung aus der Zeit Kaiser Maximilians I. (1459–1519). Der nur in einer Handschrift (St. Gallen, Cod. 959) überlieferte, 20 Kapitel unterschiedlicher Länge umfassende Text entstand zwischen 1518 u. 1521, dem Jahr der Niederschrift der Handschrift. Der Autor stellt sich als »ich ungenant« (1, 3 f.) vor. Eingerahmt
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wird die Erzählung durch ein Streitgespräch zwischen Magister u. Schüler: Der Magister verurteilt die Frauen als schlecht, der Schüler will ihm durch das Exempel der F. T. beweisen, dass er unrecht habe. Tugendreich besitzt alle von einer Frau geforderten Tugenden. Kaiser Maximilian I. (1493–1519) hört von ihren Vorzügen u. lädt sie an seinen Hof ein. Dort verliebt sich Glückwart in sie. Von einem weiteren Verehrer, Fridfrey, erhält sie einen Heiratsantrag, lehnt aber ab. Auch ihr Vater weist Fridfrey zurück, da dieser seinen Oheim erschlagen hat. Auf einem Hoffest tritt die Rivalität zwischen den beiden Bewerbern zutage, als sie beide um Tugendreichs Kranz bitten. Ein Kampf soll die Entscheidung bringen. Glückwart unterliegt, Fridfrey erhält den Kranz, aber nicht das Eheversprechen. Als Maximilian gegen den Papst u. Venedig in den Krieg zieht, folgen ihm die beiden Rivalen. Glückwart fällt. Aber auch Fridfrey erreicht sein Ziel nicht: Der Vater Tugendreichs hat diese mit einem anderen Mann verheiratet, um die Verbindung mit Fridfrey zu verhindern. Der Fortgang der Geschichte ist aufgrund des Verlustes einiger Blätter nicht bekannt. In der Erzählung finden sich deutl. Hinweise auf Ereignisse unter Maximilian I. u. seine Hofhaltung sowie Anspielungen auf Augsburg u. Kempten. Historische Vorbilder für die Haupthandlung sind bis jetzt nicht nachgewiesen. Die Verschlüsselung von Namen u. Ereignissen verbindet F. T. mit den Dichtungen Maximilians I. Neu ist jedoch die Verwendung eines in der Gegenwart spielenden Stoffs, der keine literar. Vorbilder hat. F. T. nimmt dadurch eine wichtige Stelle in der Entwicklung des dt. Prosaromans ein. In der Frauenschelte der Rahmenerzählung finden sich zwar mittelalterl. Gemeinplätze; eine einheitl. Quelle aber lässt sich nicht nachweisen. Der Text ist wohl hauptsächlich als Frauenspiegel, d.h. als Anleitung zu richtigem Verhalten der Frauen, zu lesen. Der höf. Hintergrund lässt an die gehobenen Stände als Adressaten denken. Ausgaben: Elisabeth Lienert: ›F. T.‹ Eine Prosaerzählung aus der Zeit Kaiser Maximilians I. Ed. u. Untersuchungen. Mchn./Zürich 1988.
549 Literatur: Kurt Ruh: F. T. In: VL. – E. Lienert, a. a. O. – Albrecht Classen: Ein Frauenschicksal im frühen 16. Jh. Der Frauen(?)roman ›F. T.‹. In: Germanic notes 22 (1991), S. 61–67. – Carla Winter: Zur literar. Behandlung der Mädchenerziehung im MA u. in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Erzählung ›F. T.‹. In: Röllwagenbüchlein. FS Walter Röll. Hg. Jürgen Jaehrling. Tüb. 2002, S. 153–164. Elisabeth Wunderle / Red.
Frau von Weißenburg, zweite Hälfte des 13. Jh. – Ballade.
Frauenlist Ausgabe: Dt. Volkslieder mit ihren Melodien. Bd. 1: Balladen, 1. Tl. Hg. John Meier. Bln./Lpz. 1935, Nr. 30, S. 301–314. Literatur: John Meier: Die Ballade v. der F. v. W. In: Jb. für Volksliedforsch. 3 (1932), S. 1–34. – Fred Quellmalz: Die älteren Melodien zur Ballade v. der F. v. W. Ebd. 4 (1934), S. 74–79. – Ders.: Die Melodien zur Ballade v. der F. v. W. Nachtr. u. Ergänzungen. Ebd. 8 (1951), S. 116–127. – Selma Hirsch: Das Spielmannslied v. der F. zur W. (1939). In: Dies.: Das Volkslied im späten MA. Bln. 1978, S. 30–45. – Tom Cheesman: Moritat. In: EM. Claudia Händl / Red.
Aufgrund sprachlicher, stilist. u. metr. Merkmale der anonymen Ballade nimmt man Frauenlist, um 1300. – Schwankhafte eine Entstehung in der zweiten Hälfte des 13. Versnovelle. Jh. an. Das Lied erzählt, wie die Herrin auf Schloss Weißenburg ihren Gatten von ihrem Die im Rheinfränkischen wohl um 1300 entGeliebten Friedrich auf der Jagd töten lässt u. standene schwankhafte Märendichtung, die wie dieser sich nach vollbrachter Mordtat von in zwei Handschriften überliefert ist, erzählt ihr abwendet. in rd. 600 Versen von der Werbung eines Die erzählte Begebenheit ist vielleicht auf schönen u. redegewandten, aber sozial niedein historisches Ereignis zurückzuführen. rig stehenden Studenten um eine Dame, die 1085 wurde Pfalzgraf Friedrich von Goseck, ihm ihre Liebe erst nach einem langen, in Urkunden mehrfach Herr auf Weißenburg kunstreichen Überzeugungsgespräch genannt, auf der Jagd ermordet; seine Witwe schenkt. Ihr Ehemann wird misstrauisch, Adelheid heiratete nach Ablauf der Trauer- nachdem er den Studenten dreimal von seiner zeit Ludwig den Springer von Thüringen. In Frau hat kommen sehen. Da er aber nicht in Chroniken u. Annalen des 12. u. 13. Jh. wer- der Lage ist, Beweise für den Ehebruch zu den als Mörder drei Vasallen Ludwigs be- erbringen, gelingt es der Frau, seinen Verzeichnet, die auf dessen Befehl gehandelt dacht abzuwehren. hätten. Eine Chronik berichtet von einem Die Handlung besteht fast ausschließlich Liebesverhältnis zwischen Adelheid u. Lud- aus Dialogen. Im Werbungsgespräch geht es wig u. stellt den Mord als von der Frau ver- der Dame darum, die Ehrlichkeit des Stuanlasst hin. Trotz einiger Unstimmigkeiten – denten zu überprüfen: Da sie sich als in der im Lied trägt der Mörder, nicht der Ermor- höf. Liebeswerbung gut bewandert erweist u. dete den Namen Friedrich; er verlässt die von sich selbst behauptet, auf der Schule geGeliebte, statt sie zu heiraten – hält man ei- wesen u. der minnen buoch (hier vermutl. Ovid) nen Zusammenhang zwischen dem ge- gelesen zu haben, könne sie sehr wohl zwischichtl. Ereignis u. dem Balladeninhalt für schen schöner Rede u. tatsächl. Absichten wahrscheinlich. unterscheiden. Der Student überzeugt sie Die Ballade ist in mehreren Fassungen un- erst, als er ihr freistellt, mit ihm zu tun, was terschiedlicher Länge u. inhaltl. Akzentuie- sie wolle, auch wenn es seinen Tod bedeute. rung überliefert. Als ältester dt. Textzeuge Doch bevor sie seinem Willen schließlich gilt ein um 1550 entstandenes Nürnberger nachgibt, ist noch ein Zwiegespräch mit ihFlugblatt; bei einer im Antwerpener Lieder- rem Herzen nötig, das ihr dazu rät. buch 1544 aufgezeichneten niederländ. FasIm Kontrast zu dem kunstvollen Dialog, sung scheint es sich bereits um eine Über- der höf. Verhalten musterhaft vorführt, steht setzung aus dem Deutschen zu handeln. Von das Gespräch zwischen der Dame u. dem der Beliebtheit der Ballade v. a. im dt. u. ös- misstrauischen, polternden Ehemann. Im terr. Raum zeugt die bis ins 20. Jh. reichende Gegensatz zum Studenten kann dieser den Überlieferung. Wahrheitsgehalt seiner Behauptung nicht
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belegen u. muss sich von seiner Frau durch ein Gleichnis belehren lassen: Wie dem Spiegelbild im Wasser sei dem Augenschein nicht zu trauen. Die Dialoge verraten rhetor. Schulung des Autors, der höf. Traditionen stets mit leichter Ironie zitiert. Die Gegenüberstellung von höfischer Minne u. Wirklichkeit in den Rollen des Werbers u. der Dame einerseits u. des betrogenen Ehemanns andererseits zeigt die Paradoxie des literarisch-höf. Verhaltens: Die eigentl. Wahrheit ist die des schönen Scheins, den zu wahren v. a. die Frau – einem Geschlechterrollenmodell der Textgruppe gemäß – durch Täuschungshandlungen imstande ist. Ausgaben: Heinrich Niewöhner (Hg.): Neues Gesamtabenteuer. Bd. 1, Bln. 1937. Neudr. Dublin/ Zürich 1967, S. 87–95. – Dt. E.en des MA. Übers. v. Ulrich Pretzel. Mchn. 1971, S. 164–175 (nhd. Übers.). Literatur: Karl-Heinz Schirmer: Stil- u. Motivuntersuchung zur mhd. Versnovelle. Tüb. 1969 (Register). – Frauke Frosch-Freiburg: Schwankmären u. Fabliaux. Göpp. 1971, S. 221 f., 226. – Stephen L. Wailes: Students as Lovers in the German Fabliau. In: Medium Aevum 46 (1977), S. 196–211. – K.-H. Schirmer: F. In: VL. – Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mären im Kontext v. Minnereden, Bispeln u. Romanen. Mchn./Zürich 1985 (Register). Ulla Williams / Corinna Laude
Frauenlob, eigentl.: Heinrich von Meißen, † 29.11.1318 Mainz (Grabinschrift). – Lyriker des Spätmittelalters. Der Künstlername »Frauenlob« bezieht sich auf den traditionellen Preis der Frau, den der Autor zu seinem Hauptthema machte u. entscheidend vertiefte. Sein Herkunftsort ist Meißen, die Sprache nach dem Ausweis der Reime mitteldeutsch. F.s Schaffen dürfte gegen 1290 eingesetzt haben. Den Reaktionen von Dichterkollegen (z.B. Hermann Damen) ist zu entnehmen, dass F. jung u. mit der Aura eines Wunderkindes die literar. Bühne betrat. Urkundlich ist F. im Dienst Herzog Heinrichs von Kärnten bezeugt, der ihm 1299 eine größere Geldsumme zum Kauf eines Pferdes schenkte. Im Übrigen ist der Lebensgang des Dichters aus Hinweisen in seinem Werk nur andeutungsweise zu erschließen.
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Die Namen der Mäzene lassen die Geografie seiner Wanderungen durch Deutschland erkennen. F. dichtete für Herren höchsten Ranges, für König Rudolf von Habsburg, König Wenzel II. von Böhmen, einen König (Erik Menved?) von Dänemark, Fürst Wizlav von Rügen, Erzbischof Giselbert von Bremen u. a. Dem Rostocker Ritterfest von 1311 widmete er eine Spruchreihe. Zuletzt lebte F. in Mainz. Sein Protektor war dort wahrscheinlich Peter von Aspelt, Erzbischof der Stadt seit 1306; der frühere Leibarzt König Rudolfs, der Kanzler u. Pronotar König Wenzels II., dürfte F. früher schon in den Prager literar. Zirkeln kennengelernt haben. Die Umstände von F.s Tod flossen ein in das Bild seiner Dichterpersönlichkeit. Auf dem Sterbebett soll er, nach dem Empfang der Sakramente durch den Erzbischof, die Strophe im Langen Ton gedichtet haben, die in den Sammlungen meist sein Spruchwerk einleitet. Dies wird auf biogr. Fehllesung des Textes beruhen. Von dem Begräbnis berichtet die Chronik des Matthias von Neuenburg (für 1317): Frauen hätten seinen Körper zur Grabstätte getragen; man hörte ihr Klagen »wegen des unendlichen Lobes, das er dem ganzen weiblichen Geschlecht in seinen Gedichten gewidmet hatte«. In das Grab gossen sie Wein, der durch den ganzen Kreuzgang strömte. F.s Beisetzung im östl. Kreuzgang des Mainzer Doms war zweifellos eine hohe Ehre. Der Grabstein wurde 1774 bei Bauarbeiten zerstört u. neun Jahre später ersetzt. F.s Gedichte gehen sofort in die großen Lyriksammlungen des 14. Jh. ein, in die Große Heidelberger Liederhandschrift (erstes Drittel) u. die Jenaer Liederhandschrift (um 1350, mit Melodien). Später erscheinen sie in den Meisterlied-Korpora des 15. Jh., z.B. der Weimarer u. der Kolmarer Liederhandschrift. Echtes Gut ist hier von der Flut der F.-Nachahmungen nur schwer zu sondern, die neuere Forschung interessiert sich v. a. für F.s historisches Autorprofil in der Überlieferung. Die Texte, häufig nur unikal überliefert, zeigen sich oft heillos entstellt, was angesichts ihrer esoter. Dunkelheit kaum verwundert. Der philolog. Rekonstruktion sind so Grenzen gesetzt, die in der Göttinger Ausgabe (1981) vorbildlich abgesteckt wurden.
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Das Œuvre umfasst drei Leichs, die metrisch-musikalisch u. thematisch anspruchsvollste lyr. Großform des MA, ein stroph. Streitgespräch u. (in der Neuausgabe) 320 Sangsprüche in neun Tönen sowie sieben Minnelieder. Die nach den Echtheitskriterien von Thomas (1939) ausgeschiedenen Strophen sind im zweibändigen Supplement zur Ausgabe ediert (2000). Der Marienleich setzt ein mit der Vision des Apokalyptischen Weibes als schwangerer Gottesmutter. Sie wird vom Dichter in vielfältig wechselnden Rollen angeredet (v. a. aus dem Hohenlied, daher die Bezeichnung des Leichs auch als »Frauenlobs Canticum Canticorum«). Dann ergreift die Braut selbst das Wort. Sie rühmt sich in kühner Klitterung der Bilder ihrer göttl. Liebschaft, die den Fluch von Adams Sünde nahm. Der Geliebte erscheint z.B. als »Schmied von Oberland. Er warf seinen Hammer in meinen Schoß« (I, 11). Oder er ist der weltschöpfende »Schneider«, der sich mit dem verfertigten Gewand, dem Leib Marias, in der Inkarnation selbst bekleidet (I, 14). Maria identifiziert sich mit der Schöpfungsinstanz der Sapientia Salomonis, nimmt teil am vorzeitl. Erlösungsrat Gottes u. beansprucht kosm. Funktionen. Gelehrte Elemente (wie aristotel. Kategorien, Tier- u. Edelsteinlisten) durchsetzen die Textabschnitte u. werden mariologisch metaphorisiert. Der Minneleich reiht an einen dreifachen Preis der Frau drei Evokationen des Weiblichen: kurz die bibl. Esther, dann die personifizierte Göttin Natur nach dem Vorbild des Theologen u. Allegorikers Alanus ab Insulis († 1203) u. schließlich, als Vision des Magiers Selvon (wohl nach alchemist. Quellen), ein androgynes Bild der Minne, welches die Verschmelzung der Geschlechter darstellt u. die Liebenden körperlich zueinanderführt. Ein zweiter Teil verherrlicht die Süße des Weibes (»wîp«), dessen Name akrostichisch als »Wunne-Irdisch-Paradis« aufgeschlüsselt wird. Daneben beschreibt die Begriffstrias »maget« – »wîp« – »vrowe« in eigenwilliger Begrifflichkeit die Stadien der Frau von der Jungfrau über die Geliebte zur Gebärerin u. deren jeweilige Wirkung auf den Mann. Der Leich endet mit dem Preis der Frau als
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höchstem Wert im ird. Kosmos u. der Andeutung ihrer geistl. Überhöhung in Maria, auf die mit Esther bereits präfigurativ angespielt war. Der Kreuzleich zeichnet einen heilsgeschichtl. Bogen in mehreren Anläufen. Aus dem Lob des trinitarisch sich entfaltenden, in die Schöpfung emanierenden Gottes entwickelt sich – mit einer Andeutung von Engelssturz u. menschlichem Sündenfall – der Gang der Heilsgeschichte. Der Leich verweilt bei den Propheten des Alten Bundes, der Inkarnation Christi u. leitet zur Passion über. Ein weiteres Modell der Ankunft Christi wird mit den »sieben Sprüngen« eingeführt. Der Advent der zweiten göttl. Person ereignet sich in der trinitar. Artikulation, im Schöpfungswort, in der Inkarnation, der Kreuzigung, Höllenfahrt u. Himmelfahrt u. schließlich in der Niederkunft in die Herzen der Gläubigen. Die Stationen werden verschachtelt weiter ausgesponnen. Mit dem Kreuzzeichen u. der Eucharistie kommt die Erlösungstat in der Gegenwart der Gläubigen zu ihrem Ziel. Das Streitgespräch zwischen Minne und Welt ist nur einmal u. spät überliefert, doch kann seine Echtheit angesichts der Querverbindungen zu F.s authentischem Werk als gesichert gelten. Es folgt dem Typus des vorentschiedenen Streites. Das Interesse gilt der Entwicklung u. Konfrontation der Argumente u. so der gedankl. Füllung der beiden überkommenen Personifikationen. Es sind dies fortwirkende Schöpfungsmächte höchsten Ranges. Die Welt verwaltet das endl. Universum, das den Naturgesetzen unterliegt. Die Minne dagegen definiert sich im Hinblick auf den göttl. Ursprung, auf die trinitar. Person des Hl. Geistes u. den vorgeschichtl. Schöpfungsgedanken Gottes, der den Kosmos auch weiterhin trägt u. erhält. F. greift hier auf das platonistische Konzept der Weltseele zurück, das im 12. Jh. in der sog. »Schule von Chartres« aktualisiert wurde. In diesem Rahmen gibt F. der volkssprachl. Bestimmung von Minne als Geschlechterliebe eine neue Dimension. Er scheidet die ambivalenten Aspekte der Liebespassion aus u. gliedert in ein theologisch-kosmologisches Konzept die ethisch fördernden Aspekte des höf. Minnemodells ein.
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Das Spruchwerk enthält die in der Gattung vorgeprägten Typen. Die geistl. Sprüche umkreisen v. a. Trinität u. Jungfrauengeburt sowie das Verhältnis Gott-Natur u. weisen damit zahllosen Meisterliedern die Richtung. Die moraldidakt. Sprüche arbeiten an der Restauration der »alten Norm« ritterlicher Werte. Sie greifen programmatisch Formulierungen der mhd. Klassik auf, doch suchen sie die Tradition theoretisch neu zu fundieren. Einzelne, zu Bars zusammengefasste Strophenreihen nehmen traktatartigen Charakter an. Die Spruchserie zu den Namen »wîp« u. »vrowe«, die auch mehrere Gegnerstrophen (u. a. von Regenbogen) enthält, nimmt die von Walther von der Vogelweide aufgebrachte These von der Überlegenheit der allg. Geschlechtsbezeichnung »wîp« über die Standesbezeichnung »vrowe« auf u. kehrt sie um. Den höchsten Rang erhält nun die »vro«-»we«, die als Mutter das Froh der sexuellen Lust u. das Weh der Geburt erfahren hat. Moralische u. mariologisch-geistl. Argumente kommen dazu, um in den Namen Wertbedeutungen aufzubauen. Literarhistorisch herausragend sind F.s Beiträge zu Themen der Sprachtheorie u. der Ästhetik. Er reflektiert die Verweisleistung des Sprachzeichens (V; 38). Seine Polemik gegen die alten Meister wie Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach u. Reinmar (von Zweter), die vom Kessel der Kunst nur den Schaum geschöpft hätten, während er auf den Grund gehe (V, 115), wurde als maßlose Überheblichkeit ausgelegt, auch als Parodie eines Gegners F. abgesprochen. Sie formuliert jedenfalls ein artistisches Kunstbewusstsein, das »wissenschaftliche« Erkenntnisse u. raffinierte kunsthandwerkl. Techniken in den Sangspruch einbringen will. Die Minnelieder gestalten klass. Konstellationen neu; sie wurden neuerdings als Auseinandersetzung mit dem lyrischen Gattungsrepertoire u. als poetolog. Versuchsanordnungen erkannt. F.s Sprachkunst ist ein herausragendes Beispiel für den sog. »geblümten Stil«. Der überreiche rhetor. Schmuck, die Bilderfülle u. syntakt. Extravaganz machen seine Lieder zu Paradigmen bewusst produzierter poet. Dunkelheit. F.s Sprache entfaltet ein komplexes Anspielungsfeld, das bis in die Details
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gedanklich fundiert ist u. überraschende Verbindungen schlägt. Das Bild vom Dichter, der auf ein »Meer der Fünde« (V, 38, 13) ausfährt, beschreibt das Verfahren, das durch Umsemantisierung u. Umcodierung des Vorliegenden sprachlich u. gedanklich Neues entdeckt. Auch als Komponist seiner Melodien wirkte F. innovativ. Von den Zeitgenossen wurde F. teilweise polemisch aufgenommen, doch sind die Zeugnisse eines »Sängerkrieges« weniger persönlich-biografisch als im Rahmen der agonalen Tradition der Gattung zu sehen. Im Meistersang hatte F. einen Platz unter den »zwölf alten Meistern«. Seine außerordentl. Nachwirkung in Themenwahl u. Stil, auch die überlieferungsgeschichtl. Umformungen des F.-Bildes sind ein Schwerpunkt neuerer Untersuchungen. Produktive Rezeption auf hohem Niveau findet sich v. a. bei Heinrich von Mügeln. Johann von Neumarkt, der Kanzler Karls IV., bezeichnete F. als »vulgaris eloquentiae princeps« u. verzeichnete die lat. Übersetzung eines Spruchs. Teile des Marienleichs sind in lat. Bearbeitung erhalten. Entgegen dieser Wertschätzung war das Urteil der germanist. Forschung seit dem 19. Jh. vernichtend. F. wurde nicht nur ästhetisch abqualifiziert, sondern allen Ernstes für geisteskrank erklärt. Die Umwertung vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh. parallel zur philolog. Erschließung des Werkes. Als Ästhet in neuzeitlicher Optik erscheint F. im Buch der Sagen und Sänge von Stefan George (1895): »Nur zarte hände reine und hehre / Dürfen ihn zum münster tragen zum gewölb und grab / Mit königlicher ehre / Den toten priester ihrer schönheit zu verklären.« Ausgaben: F. (Heinrich v. Meißen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund der Vorarbeiten v. Helmut Thomas hg. v. Karl Stackmann u. Karl Bertau. 2 Bde., Gött. 1981. – Wörterbuch zur Göttinger F.-Ausg. Unter Mitarb. v. Jens Haustein redigiert v. K. Stackmann. Gött. 1990. – Sangsprüche in Tönen F.s. Supplement zur Göttinger F.-Ausg., unter Mitarb. v. Thomas Riebe u. Christoph Fasbender, hg. v. J. Haustein u. K. Stackmann. 2 Bde., Gött. 2000. – Ausgew. Lieder mit Übers. u. Komm. in: Lyrik des späten MA. Hg. Burghart Wachinger. Ffm. 2006.
553 Literatur: Helmut Thomas: Untersuchungen zur Überlieferung der Spruchdichtung F.s. Lpz. 1939. – Karl Bertau: Sangverslyrik. Über Gestalt u. Geschichtlichkeit mhd. Lyrik am Beispiel des Leichs. Gött. 1964. – Karl Stackmann: Bild u. Bedeutung bei F. In: FMSt 6 (1972), S. 441–460. – Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Mchn. 1973. – Christoph Huber: ›Wort sint der dinge zeichen‹. Mchn./Zürich 1978. – K. Stackmann: F. In: VL. – RSM, Bd. 3 (1986). – B. Wachinger: Von der Jenaer zur Weimarer Liederhs. Zur Corpusüberlieferung v. F.s Spruchdichtung. In: Philologie als Kulturwiss. FS K. Stackmann. Hg. Ludger Grenzmann u. a. Gött. 1987, S. 193–207. – Thomas Bein: ›Sus hup sich ganzer liebe vrevel‹. Studien zu F.s Minneleich. Ffm./Bern/Las Vegas 1988. – C. Huber: Die Aufnahme u. Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mhd. Dichtungen. Mchn./Zürich 1988, S. 136–199. – Werner Schröder (Hg.): Wolfram-Studien 10. Cambridger ›F.‹-Kolloquium 1986. Bln. 1988. – B. Wachinger: F.s ›Cantica canticorum‹. In: Lit., Artes u. Philosophie. Hg. Walter Haug u. ders. Tüb. 1992, S. 23–43. – Johannes Rettelbach: Abgefeimte Kunst: F.s ›Selbstrühmung‹. In: Lied im dt. MA: Überlieferung, Typen, Gebrauch. Chiemsee-Colloquium 1991. Hg. Cyril Edwards u. a. Tüb. 1996, S. 177–193. – K. Stackmann: Mittelalterl. Texte als Aufgabe. Kleine Schr.en 1, hg. v. Jens Haustein. Gött. 1997. – Achim Diehr: Mediale Doppelgestalt. Text u. Melodie in F.s ›Minneleich‹. In: Jb. der Oswald v. Wolkenstein-Gesellsch. 10 (1998), S. 93–110. – Beate Kellner: Vindelse. Konturen v. Autorschaft in F.s ›Selbstrühmung‹ u. im ›wipvrowe-Streit‹. In: Autor u. Autorschaft im MA. Kolloquium Meißen 1995. Hg. Elizabeth Andersen. Tüb. 1998, S. 255–276. – Ruth Finckh: Minor mundus homo. Studien zur Mikrokosmos-Idee in der mittelalterl. Lit. Gött. 1999. – Susanne FritschStaar: Androgynie u. Geschlechterdifferenz. Zu F.s Minneleich. In: ZfG 9 (1999), S. 57–71. – Gert Hübner: Lobblumen. Studien zur Genese u. Funktion der ›Geblümten Rede‹. Tüb. u. a. 2000. – Christina Kreibich: Der mhd. Minneleich. Ein Beitr. zu seiner Inhaltsanalyse. Würzb. 2000. – Margreth Egidi: Höf. Liebe. Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literar. Verfahrensweisen v. Reinmar v. Zweter bis F. Heidelb. 2002. – J. Haustein u. Ralf-Henning Steinmetz (Hg.): Studien zu F. u. Heinrich v. Mügeln. FS K. Stackmann. Freiburg/Schweiz 2002. – Bernhard D. Haage: Selvons ›visio‹. In: Medizin in Gesch., Philologie u. Ethnologie. Hg. Dominik Groß u. Monika Reininger. Würzb. 2003. S. 245–255. – Susanne Köbele: F.s Lieder. Parameter einer literarhistor. Standortbe-
Frauenstädt stimmung. Tüb. u. a. 2003. – Walter Röll: Zweimal F. In: Archiv. Bd. 242, Jg. 157 (2005), S. 117–129. Christoph Huber
Frauenstädt, (Christian Martin) Julius, * 17.4.1813 Bojanowo/Posen, † 13.1.1879 Berlin. – Philosoph u. Publizist. F. studierte 1833–1837 in Berlin Theologie u. Philosophie u. promovierte zum Dr. phil. Er wurde Mitarbeiter mehrerer Zeitschriften (»Hallische Jahrbücher«, »Vossische Zeitung«, »Blätter für literarische Unterhaltung«) u. beteiligte sich an der Diskussion über Glaube, Theologie u. Philosophie, die v. a. von Hegel u. seinen Schülern (Strauß) ausging, so in Die Menschwerdung Gottes nach ihrer Möglichkeit, Wirklichkeit und Nothwendigkeit (Bln. 1839). Ab 1841 war F. Hauslehrer in Adelsfamilien. Seine philosophie- u. literarhistor. Bedeutung beruht v. a. auf seiner Vermittlung der Philosophie Schopenhauers, die erst nach 1848 von breiteren Schichten des Bildungsbürgertums rezipiert wurde; so las auch Raabe F.s Schopenhauer-Interpretationen. Sein Einsatz für Schopenhauer (zuerst in Studien und Kritiken zur Theologie und Philosophie. Bln. 1840) führte 1846 zu einer persönl. Begegnung, aus der sich ein intensiver Arbeitskontakt entwickelte. Der Philosoph kommentierte fortlaufend die Arbeiten seines »Erzapostels«, den er aber auch mit der ihm zu Gebote stehenden robusten Sprache abkanzelte. F. setzte die Hauslehrertätigkeit bis 1852 fort, unterbrochen lediglich durch den nur während der Revolutionszeit erfolgreichen Versuch, in Berlin ein »Lesecabinet« zu führen. Von Schopenhauer zum Erben seiner wiss. Manuskripte sowie der Handexemplare u. der Verlagsrechte eingesetzt, konnte F. seine materielle Existenz nach 1860 auf eine festere Basis stellen. Mit Arbeiten wie Ästhetische Fragen (Dessau 1853) u. Briefe über die Schopenhauer’sche Philosophie (Lpz. 1854) – wo schon im Titel an eine dt. Tradition der Vermittlung philosophischer Systeme angeknüpft wird – gelang es F., das System Schopenhauers mit der zeitgenössischen ästhet. u. erkenntnistheoret. Diskussion zu verknüpfen. Dabei wurden auch zentrale Begriffe (»Wille«, »Geschich-
Frauentreue
te«) einer gewissen Vereinheitlichung u. Glättung unterzogen (vgl. Neue Briefe über die Schopenhauersche Philosophie. Lpz. 1876). F. veröffentlichte auch Auswahlen (u. a. Aus Schopenhauers handschriftlichem Nachlaß. Lpz. 1864) sowie die erste Gesamtausgabe (6 Bde., Lpz. 1873/74). Weitere Werke: Lieber das wahre Verhältniß v. Vernunft zur Offenbarung. Prolegomena zu jeder künftigen Philosophie des Christenthums. Darmst. 1848. – Die Naturwiss. in ihrem Einfluß auf Poesie, Moral u. Philosophie. Lpz. 1848. – Briefe über die natürl. Religion. Lpz. 1858. – Lichtstrahlen aus Schopenhauers Werken. Lpz. 1862. 71891. – Blicke in die intellektuelle, phys. u. moral. Welt. Lpz. 1869. – Schopenhauer-Lexikon. Lpz. 1871. Literatur: Hermann Berger: J. F. Diss. Rostock 1911. – Georg Jäger: Die Gründerzeit. In: Realismus u. Gründerzeit. Manifeste u. Dokumente der dt. Lit. 1848–80. Hg. Max Bücher u. a. Stgt. 1976, S. 96–160. – Arthur Schopenhauer: Ges. Briefe. Hg. Arthur Hübscher. Bonn 1978. 21987. Joachim Linder / Red.
Frauentreue, Ende 13. Jh. – Höfisches Märe. Der Verfasser der etwa 400 Reimpaarverse umfassenden F. ist nicht bekannt. Das Märe aus dem mitteldt. Sprachraum ist in vier vollständigen Handschriften u. zwei Fragmenten überliefert, die stark voneinander abweichen. Erzählt wird ein extremer Minnekasus, der die konfligierenden Ansprüche von höfischem Minnedienst u. »bürgerlicher« Ehe demonstriert u. mit dem Minnetod der Frau endet. Der missverständl. Titel bezieht sich nicht auf die eheliche Treue der Frau, sondern definiert die Norm der »triuwe« als formale Verlässlichkeit, als Bereitschaft zur Korrespondenz von erwiesenem Dienst u. gewährtem Lohn. Der Erzähler leitet das Märe mit dem Wunsch ein, dass es auch heute noch eine so unverbrüchl. Liebe geben möge wie die, von der er nun berichten werde, u. gibt einen knappen Handlungsausblick, bevor er mit der eigentl. Erzählung beginnt (vv. 1–22). Ein im Frauendienst bewährter Ritter kommt in eine fremde Stadt u. verliebt sich am Kirchweihtag bei einer sog. Frauenschau vor der Kirche in die Frau eines Bürgers. Sein Min-
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newerben bleibt der Frau, die über äußere wie innere Vorzüge verfügt, nicht lange verborgen. Der Ritter beginnt einen radikalen Minnedienst u. tritt ohne Rüstung im bloßen Hemd zu einem Turnierkampf an, bei dem er verwundet wird. Um äußerste Zurückhaltung bemüht, sucht die treue Ehefrau erst auf Drängen ihres Mannes den Ritter am Krankenlager auf, der die Verletzung zur Minnewunde stilisiert u. allein von seiner Minnedame Heilung erfahren will. Sie zieht die in seiner Seite steckende Lanzenspitze zögernd heraus u. ermöglicht so seine Genesung. Kurz darauf dringt der verzweifelte Ritter nachts heimlich ins Schlafgemach des Bürgerpaars ein. Als er die abweisende Geliebte heftig umarmt, bricht die Wunde wieder auf u. er verblutet. Erst jetzt wird sich die Frau, die die Leiche heimlich in die Herberge des Ritters schafft, seiner großen Liebe bewusst. Sie überwindet ihre Scham, bringt dem in der Kirche aufgebahrten Ritter ein dreifaches Kleideropfer dar u. stirbt dann, bis aufs Hemd entblößt, den bereits im Prolog (vv. 19 f.) angekündigten Treuetod. Der Ehemann liefert, indem er das Verhalten der Frau gutheißt u. beide in einem Grab beisetzen lässt, eine Reflexionsebene, die zum »triuwe«-Lob im Epilog überleitet. Die Erzählhandlung verläuft geradlinig u. ohne Abschweifungen, der Rezipient erhält keinen Einblick in die Figurenpsychologie, stattdessen finden innere Regungen oftmals in äußeren Handlungen ihren Ausdruck. Der Liebesbeweis der Frau bricht so scheinbar unerwartet in die Erzählung ein, erlangt jedoch über eine Struktur analoger Motivik log. Konsequenz: Die Kirche als Ort der ersten u. letzten Begegnung der Liebenden ermöglicht Frauenschau u. Totenschau; beide Protagonisten demonstrieren ihre Minnebindung mit öffentl. Liebesbeweisen (Auftreten im Hemd); die Treue des Ritters wird mit dem Treuetod der Frau belohnt. Eine unmittelbare Vorlage der F. u. bestimmende stilist. Einflüsse sind nicht feststellbar, Übernahmen im Schlussteil beweisen die Kenntnis des Märe Der Schüler von Paris C. Hinzu treten motivische Berührungen mit den Erzählungen Trois chevaliers et del chainse
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u. Friedrich von Auchenfurt sowie Boccaccios Decamerone (IV, 8). Ausgaben: Kurt Burchardt: Das mhd. Gedicht v. der F. Diss. Lpz. 1910, S. 1–46. – Novellistik des MA. Hg., übers. u. komm. v. Klaus Grubmüller. Ffm. 1996, S. 470–491. Literatur: Karl-Heinz Schirmer: Stil- u. Motivuntersuchungen zur mhd. Versnovelle. Tüb. 1969, S. 157–174 u. ö. – Kurt Ruh: Zur Motivik u. Interpr. der F. In: PBB 95 (1973), Sonderh. FS Ingeborg Schröbler, S. 258–272. Wieder in: Ders.: Kleine Schr.en. Bd. 1, Bln./New York 1984, S. 157–169. – Ders.: F. In: VL. – Christa Ortmann u. Hedda Ragotzky: Zur Funktion exemparischer triuwe-Beweise in Minne-Mären: ›Die treue Gattin‹ Herrands v. Wildonie, ›Das Herzmäre‹ Konrads v. Würzburg u. die ›F.‹. In: Kleinere Erzählformen im MA. Hg. Klaus Grubmüller u. a. Mchn. u. a. 1988, S. 89–109. – Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im MA: Fabliau – Märe – Novelle. Tüb. 2006, S. 158–165. Claudia Händl / Sandra Linden
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seine publizist. Aufgabe akzentuiert u. sich zum Sprachrohr des »gemein man« macht mit scharfen Invektiven gegen den Erzbischof von Mainz. Beide Lieder kritisieren die adligen Machtkämpfe angesichts der hussit. Gefahr. Ausgaben: Rochus v. Liliencron (Hg.): Die histor. Volkslieder. Bd. 1, Lpz. 1865. Nachdr. Hildesh. 1966, Nr. 67, S. 328–332; Nr. 73, S. 355–362. – Cramer, Bd. 1 (1977), S. 212–227. Literatur: Cramer 1977 (s. o.), S. 454–456. – Ulrich Müller: Untersuchungen zur polit. Lyrik des dt. MA. Göpp. 1974, passim. – Ders.: F. In: VL. – Stefan Hohmann: Friedenskonzepte. Köln u. a. 1992, S. 372–380. – Karina Kellermann: Abschied vom ›historischen Volkslied‹. Tüb. 2000, S. 349, 359. Karina Kellermann
Frege, Friedrich Ludwig Gottlob, * 8.11. 1848 Wismar/Mecklenburg, † 25.7.1925 Bad Kleinen/Mecklenburg. – Mathematiker, Logiker, Verfasser von Arbeiten mit Frauenzucht, gen. Bernkopf. – Verfasser besonderer Wirkung auf die Entwicklung historisch-politischer Ereignislieder aus der analytischen Philosophie. den 30er Jahren des 15. Jh. Bernkopf bzw. Frauenzucht (Identität der Person gesichert durch Eberhard Windeck) nennt sich der Dichter zweier polit. Lieder, die in sieben bzw. acht Handschriften von E. Windecks Denkwürdigkeiten überliefert sind. Das erste (26 Strophen) berichtet von der Schlacht bei Bulgneville im Juli 1431, dem krieger. Höhepunkt des Erbfolgekriegs um das Herzogtum Lothringen, die mit der Niederlage des von dt. Kontingenten unterstützten Herzogs René von Anjou u. dessen Gefangennahme durch Graf Anton von Vaudement endete. Das zweite (39 Strophen) thematisiert die Fehde zwischen dem Würzburger Bischof Johann II. von Brunn († 1440), der vom Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach unterstützt wurde, u. Graf Michel von Wertheim († 1440). Das Lied ist kurz nach dem besungenen Ereignis, der Einnahme des Wertheimer Schlosses Schweinburg (Juni 1437), zu datieren. Der sonst nicht hervorgetretene, wohl in Mainz beheimatete Verfasser beklagt im ersten Lied v. a. die Kriegsopfer unter den Deutschen, während er im zweiten
F. war der erste Sohn einer in Wismar wirkenden Lehrerfamilie. Sein Vater, Carl Alexander Frege, beschäftigte sich intensiv mit dem Lehrfach Deutsch u. verfasste ein Hülfsbuch zum Unterrichte in der deutschen Sprache für Kinder von 9 bis 13 Jahren (Wismar u. a. 31862), dessen Grundsätze entscheidenden Einfluss auf F.s Sprachverständnis hatten. 1854–1869 besuchte er die Große Stadtschule mit gymnasialem Abschluss in Wismar u. schrieb sich 1869 als Student der Mathematik an der Universität Jena ein. Der Physiker u. Mathematiker Ernst Abbe, Mitbegründer der CarlZeiss-Werke, erkannte die besondere mathemat. Begabung F.s u. bewegte ihn zur Beendigung seines Studiums in Göttingen. F. habilitierte sich 1874 als Privatdozent im Fach Mathematik. F. lieferte mit seiner Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens (Halle 1879), der Geburtsurkunde der mathemat. Logik, einen Beitrag zur mathemat. Grundlagenforschung, für die Zeitgenossen nur vergleichbar mit der durch Boole in England begründeten u. in Deutschland von Schröder weitergeführten
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Algebra der Logik. Die in der Begriffsschrift entwickelte Prädikatenlogik ist ihm method. Hilfsmittel zum Nachweis einer Zurückführung der Arithmetik auf log. Axiome u. damit einer Begründung der auf Arithmetik aufbauenden Mathematik auf Logik. Diese Aufgabenstellung ist unter der Bezeichnung »logizistisches Programm« in die Geschichte der neueren Mathematik eingegangen. Dass sich von den natürl. Zahlen ausgehend alle anderen Zahlenarten definieren lassen, hatte Hankel in seiner 1867 erschienenen Theorie der complexen Zahlensysteme demonstriert. Das stückweise genet. Definieren der Zahlen widerspricht aber der mit dem axiomat. Aufbau verbundenen Forderung einer allgemeinen, von vornherein alle Zahlenarten einschließenden Zahldefinition. F.s Hauptproblem wurde die Suche nach einer solchen Definition, die auch mit einer Vertiefung der methodolog. Anforderungen an eine Definition verbunden waren (vgl. § 33 seiner Grundgesetze der Arithmetik. Bd. 1, Jena 1893, oder auch die Begründung meiner strengeren Grundsätze des Definierens, in: G. F. Nachgelassene Schriften. Hg. Hans Hermes, Friedrich Kambartel u. Friedrich Kaulbach. Bd. 1. 2., rev. e u. erw. Aufl. Hbg. 1983). In seiner Studie Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl (Breslau 1884) schlug er als Ergebnis einer Kritik gängiger Anzahldefinitionen vor, die Anzahl, welche einem Begriff F zukommt, mit dem Umfang des Begriffes »gleichmächtig mit F« gleichzusetzen. Damit war der Zugang zur Logik eröffnet, das Ziel aber nicht erreicht, denn die Gleichmächtigkeit bezieht Gegenstände aufeinander, die in der Regel außerlog. Natur sind. Im 1. Band seiner Grundgesetze der Arithmetik setzt F. den Umfang eines Begriffs mit dem Wertverlauf gleich, denn ein Begriff ist eine einstellige Funktion, die für jedes Argument genau einen der Wahrheitswerte wahr bzw. falsch hat. Ein Wertverlauf ist ein log. Gegenstand. Das 5. Axiom legt fest, dass man bei einem scharfen Begriff (d.h. einem Begriff, der so bestimmt ist, dass von jedem beliebigen Gegenstand feststeht, ob er unter ihn fällt oder nicht) zu seinem Wertverlauf übergehen kann. Dieses, F. immer bedenkl. Axiom, erwies sich als logisch unhaltbar,
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denn es sind aus ihm zwei einander widersprechende Aussagen (eine sog. Antinomie) ableitbar. Russell hatte die Antinomie der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, gefunden u. F. davon Mitteilung gemacht. F. selbst fand, dass sie aus dem 5. Axiom ableitbar ist u. erklärte daraufhin, dass sein Versuch der Zurückführung der Arithmetik auf Logik gescheitert sei. Im Nachwort zum 2. Band seiner Grundgesetze (Jena 1903), in dem er bei der Deduktion der Zahlaussagen aus dem log. Axiomensystem bis zu den rationalen Zahlen kam, versuchte er zwar einen Ausweg, gab ihn aber später auf, u. es ist auch nachgewiesen worden, dass er tatsächlich die Ableitung einer Antinomie nicht verhindert. Das Mengenbildungsaxiom in Cantors Mengenlehre hatte dieselbe antinom. Konsequenz, was eine sogar als »Grundlagenkrise« bezeichnete Verunsicherung über die log. Tragfähigkeit der Mengenlehre als mathemat. Grundlagentheorie auslöste. Die Bemühungen um eine sichere Grundlegung der Mathematik haben noch zu anderen Wegen geführt, zusammengefasst unter der Bezeichnung formalistisches u. intuitionistisches (konstruktivistisches) Verständnis von Mathematik. Das Antinomieproblem ist zwar über einen eingegrenzten Rahmen hinausgeschoben, grundsätzlich aber nicht gelöst, mehr noch, es ist bis heute nicht gelungen, F.s Axiomensystem widerspruchsfrei zu fassen. Auch über seine Zahldefinition ist man in der Sache nicht hinausgekommen. So ist sein Lebenswerk noch immer eine aktuelle Aufgabe in der mathematisch-log. Grundlagenforschung. Franz von Kutschera gibt in seinem Buch Gottlob Frege (Bln./New York 1989) eine Übersicht über die Leistungen F.s. Als von ihm zuerst entwickelt oder präzisiert zählt er u. a. auf (S. 194 ff.): den Funktionsbegriff, die Hierarchie der Funktionen u. das Verständnis von Begriffen als spezielle Funktionen, den Begriff der Wahrheitsfunktion u. des aussagenlog. Operators, die Analyse eines syntaktisch exakten Aufbaus von Kunstsprachen, den Aufbau eines vollständigen Systems der Aussagenlogik, die Einführung von Quantoren, die Entwicklung einer Theorie der
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Identität, den Aufbau des ersten vollständi- (Carnap) u. dann mit den Diskussionen um gen Systems der Prädikatenlogik u. des ersten Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus exakten Kalküls der klass. Mengenlehre, eine verbunden. Wittgenstein hat F. mehrfach Theorie der Kennzeichnungen, seine log. besucht. Weiter zurück liegt seine philosoBegründung der Arithmetik, verbunden mit phiegeschichtlich bedeutsame Rezension von der Theorie der reellen Zahlen als Größen- Husserls Philosophie der Arithmetik (in: Ztschr. verhältnisse, die erste systemat. Definitions- für Philosophie u. philosoph. Kritik 103, theorie u. eine tief gehende Analyse der im- 1894), die zur antipsychologist. Wende Husserls führte. Für F. war der Psychologismus, pliziten Definitionen. F. versuchte, in einer Reihe von Artikeln d.h. die Heranziehung psycholog. Argumendas Verständnis seines Ansatzes zu vermit- te als letzten Erklärungsgrund, in der Logik teln, teils in krit. Auseinandersetzung, teils in u. Mathematik ebenso unakzeptabel wie der Verteidigung seiner zweidimensionalen Formalismus. 1878 wird F. der Lehrauftrag für analyt. Symbolik, teils auch in systemat. Darstellung seines eigenen Programms. Gegen den For- Mechanik erteilt u. 1879 wird er zum a. o. malismus in der mathemat. Begriffsbildung Prof. berufen. Durch Vermittlung Abbes gerichtet sind z.B. seine Aufsätze Über die for- übernimmt 1896 die Carl-Zeiss-Stiftung die male Theorie der Arithmetik (Jenaische Ztschr. Finanzierung seiner dadurch erst ermöglich19, 1886, Suppl.), der 1908 in den Jahresbe- ten Honorarprofessor. 1903 wird F. zum richten (Bd. 17) der Deutschen Mathemati- Hofrat ernannt, 1918 in den Ruhestand verker-Vereinigung erschienene Artikel Die Un- setzt, nachdem er zuvor schon immer häufimöglichkeit der Thomaeschen formalen Arithmetik ger krankheitshalber von seiner Lehrveraufs Neue nachgewiesen, die ein Kabinettstück pflichtung befreit werden musste. F.s Ehe mit literar. Polemik darstellende Arbeit Über die Margarete Lieseberg, sie starb 1904, blieb Zahlen des Herrn Schubert (Jena 1899) u. v. a. kinderlos. 1908 übernahm F., angeregt durch seine Kritik an Hilberts formalist. Aufbau der J. von Lüpke, Pastor in Thalbürgel bei Jena u. Geometrie (Über die Grundlagen der Geometrie I- mit ihm verwandt, die Vormundschaft über III in: Jahresber. der Dt. Mathematiker-Ver- Toni u. Alfred Fuchs, den er 1921 adoptierte einigung 15, 1906). Er liefert eine präzise u. trotz eigener Verarmung zum Studium an Beurteilung des formalist. Programms, dem der TU Berlin führte. Politisch bewegt sich F. er durchaus auch wertvolle Aspekte, wie etwa vom Nationalliberalen zum Rechtsradikalen die Modellmethode beim Beweis der Wider- in den Intentionen der Deutschen Volksparspruchsfreiheit, zuerkennt. Mit sachl. Feh- tei. lern (z.B. der Nichtunterscheidung von EleLiteratur: Christian Thiel u. Michael Beaney: ment- u. Enthaltenseinsrelation) beschäftigt F.’s Life and Work. Chronology and Bibliography. sich sein Artikel Kritische Beleuchtung einiger In: G. F. Critical Assessments of Leading PhilosoPunkte in E. Schröders Vorlesungen über die Algebra phers. Hg. M. Beaney u. Erich H. Reck. Bd. 2: F.’s der Logik (Archiv für systemat. Philosophie 1, Philosophy of Logic. New York 2005. Lothar Kreiser 1895). In Rücksicht auf die Ausarbeitung seines Vorhabens sind F.s Aufsatz Funktion und Begriff, Über Begriff und Gegenstand (Vjs. für Freher, Dionysius Andreas, * 12.9.1649 wiss. Philosophie 16, 1892) u. bes. seine StuNürnberg, † 5.12.1728 London. – Evandie Über Sinn und Bedeutung (Ztschr. für Phigelischer Theologe, Kommentator Jacob losophie u. philosoph. Kritik 100, 1892) zu Böhmes. nennen. Sie v. a. ist es, in der die analyt. Philosophie ihr Anliegen nicht bloß als ein Vor- F. studierte Theologie in Altdorf (Immatriläuferanliegen, sondern wie in einem Grün- kulation am 30.6.1663) u. ab 1667 in Heidungsdokument ausgesprochen sieht. delberg, wo er die Prüfungen zum Theologus Die erste Rückbesinnung auf F. mit Folge- pro Ministerio ablegte. 1677 reiste F. mit dem wirkung erfolgte auch in der Philosophie u. moskowit. Leibarzt von Amsterdam nach war zunächst mit dem log. Positivismus Archangelsk u. kam nach Moskau, wo er sich
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bis 1684 aufhielt. 1685 kehrte er nach Nürn- Der Einfluß Jacob Böhmes auf die engl. Lit. des 17. berg zurück, begab sich aber bald über Hol- Jh. Bln. 1936. – Nils Thune: The Behmenists and to the study of land nach London, wo er von nun an als Pri- the Philadelphians. A contribution th th vatgelehrter lebte u. mit führenden Mitglie- english mysticism in the 17 and 18 century. Uppsala 1948. – Charles Arthur Muses: Illuminadern der pietistisch gefärbten Philadelphian tion on Jacob Boehme. The work of D. A. F. New Society, Dr. Francis Lee u. Jean Lead, in Ver- York 1951. – E. Lewis Evans: Boehme’s contribubindung kam. tion to the english speaking world. Diss. Kiel 1956. F. widmete sich in London bes. dem Stu- – Serge Hutin: Les disciples anglais de Jacob dium der Werke Jacob Böhmes, zu denen er Boehme. Paris 1960. – Marsha Newman: ›Milton’s umfangreiche Kommentare in dt. u. engl. Track‹ revisited: visual analogues to Blake’s vortex Sprache schrieb, die als Manuskripte im in the ›Law edition‹ of Boehme. In: InterdiscipliBritish Museum u. in der Dr. William’s Lib- nary literary Studies 5 (2004), S. 73–93. Roland Pietsch / Red. rary aufbewahrt werden. In England haben seine Schriften v. a. den Mystiker William Law beeinflusst, der die emblemat. ZeichFreher, Marquard jun. (1588 geadelt), nungen, die J. D. Leuchter für F. angefertigt auch: Weyrich Wettmann, * 26.7.1565 hat, z.T. auch für seine Böhme-Ausgabe verAugsburg, † 13.5.1614 Heidelberg. – Juwendete. Diese Emblematik beeinflusste rist, Texteditor u. Verfasser historischer u. auch die Böhme-Deutung Franz von Baaders. juristischer Schriften. Christopher Walton veröffentlichte in den Notes and materials for an adequate biography of Der Sohn des gleichnamigen Juristen ent[...] William Law (London 1854) größere Aus- stammte einer seit 1502 in Augsburg ansässigen Familie von Ärzten u. Juristen. Ab züge aus F.s Werken. Weitere Werke: Serial elucidations of the 1575/76 ist F. als Student der Universität principles of philosophy and theology of Bohemius. Altdorf belegt; hier trat er 1577 mit einer 1699–1712 (im British Museum u. d. T.: Funda- Festrede u. vier Jahre später als Disputant mit menta Mystica Jacobi Bohemii Teutonici). – Hie- einem jurist. Thema hervor. 1581/82 setzte F. roglyphica sacra, or divine emblems in thirteen seine Studien in Bourges fort (u. a. bei Jacques figures with explanations. 1703. 1710. – Three ta- Cujas), wo er 1585 zum Lic. iur. civ. promobles with explanations. 1703. 1710 (dt. Version: viert wurde; den Doktorgrad erwarb er verDrei Tafeln. 1717). – Thirty propositions. 1703. – mutlich erst 1595. Bereits am 12. April 1587 Immanuel. 1704. – Three conferences between a hatte Pfalzgraf Johann Casimir, der ihm auch german theosophist and an english divine. 1710. – A dialogue between A and B concerning the modern die Verteidigung der Vormundschaft des doctrine of predestination. 1714–16. – Some con- Kurprinzen Friedrich IV. übertrug, ihn zum ferences between Adam, Blessed, and Constantine. Rat ernannt. Sein Lehramt als Professor 1716. – Paradoxa, emblemata, aenigmatica, hiero- codicis an der Heidelberger Universität übte glyphica, de uno, toto, puncto, centro. 1717–20. F. wegen starker Beanspruchung als Rat nur Auszüge in: The Jacob Boehme Society Quarterly I kurz aus (1596–1598). Diplomatische Mis(1953/54) u. 6 (1958/59) – Wider die Lehre v. der sionen führten ihn u. a. nach Warschau u. Wiederbringungen der Teuffel u. Verdammten. Krakau (1602/03), zu dem Wormser Bischof 1718. – Von Gut u. Böse. 1720. – Briefe. nach Ladenburg (1605), ferner nach Speyer Ausgaben: The ›Key‹ of Jacob Böhme. Translated (1611) u. Aachen (1612). Ab 1606 wirkte F. by William Law. With ›An illustration of the deep auch als Vizepräsident des Heidelberger principles of Jacob Behmen‹ by D. A. F. With an Hofgerichts. introductory essay by Adam McLean. Edinburgh In Auseinandersetzungen um die Kurwür1981. Nachdr. dieser Ausg. Grand Rapids 1991. – de trat er publizistisch mit verschiedenen The paradoxical emblems of D. A. F. Edited from Ms. Add. 5789 in the British Library with an in- Schriften hervor, ab 1612 auch speziell gegen den bayer. Rat Christoph Gewold (De electoratu troduction by Adam McLean. Edinburgh 1983. Literatur: John Byrom: Shortland Journal. [...] Ad [...] Christophorum Gewoldum [...] epistola Manchester 1854. – Ann Judith Penny: Studies in responsoria [...]. Heidelb. 1612. Ad [...] ChristoJacob Boehme. London 1912. – Wilhelm Struck: phori Gewoldi [...] epistolam monitoriam [...].
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Heidelb. 1614). Seine Origines Palatinae Chroniken zur Landes- u. Stadtgesch. Hg. ders. (Heidelb. 1599. Erw. Fassung ebd. 1612/13) Marburg 2003, S. 147–184, bes. S. 151–154, machten F. zum Begründer der pfälz. Lan- 171–184. – Die dt. Humanisten. Dokumente zur desgeschichtsschreibung. Sein reiches editor. Überlieferung der antiken u. mittelalterl. Lit. in der Frühen Neuzeit. Abt. I: Die Kurpfalz. Bd. I/1: M. F. Œuvre überwiegend mittelalterlicher QuelHg. u. bearb. v. Wilhelm Kühlmann, Volker Hartlen, bisweilen mit jurist. Einschlag, lässt mann, Susann El Kholi. Turnhout 2005 (mit ausdeutlich starke histor. Interessen erkennen. führl. Bibliogr.). – Nachlass: BSB München, s. dazu: Die 33 Editionen (sieben postum erschienen), Die schriftl. Nachlässe in der Bayer. Staatsbibl. darunter auch Erstausgaben wie Peter von verzeichnet v. Karl Dachs. Bd. 4/5. Wiesb. 1970, Andlau (Straßb. 1603) u. die Straßburger Eide Register s. v. – Weitere Quellen befinden sich im ([Heidelb.] 1611), bieten überwiegend lat. Universitätsarchiv Heidelb. S. dazu Dagmar Drüll: Texte, jedoch auch byzantin. Quellen sowie Heidelberger Gelehrtenlexikon 1386–1651. Bln. Althochdeutsches u. Altenglisches. Bes. her- u. a. 2002, S. 160. Susann El Kholi vorzuheben sind die Kompendien zur deutschen (Germanicarum rerum scriptores. Bd. 1–2, Frei, Bruno, auch: Karl Franz, eigentl.: Ffm. 1600–02, Bd. 3, Hanau 1611), russ. (Re- Benedikt Freistadt, * 11.6.1897 Bratislava rum Moscoviticarum avctores [...]. Ffm. 1600), (damals dt.: Pressburg), † 21.5.1988 böhm. (Rerum Bohemicarum antiqvi scriptores Klosterneuburg. – Journalist, Verfasser [...]. Hanau 1602), sizilian. (De regibus Siciliae et kritischer Reportagen u. Essays. Apvliae [...]. Hanau 1611) u. frz. Geschichte (Corpus Francicae historiae [...]. Hanau 1613). Der Eindruck der russ. Oktoberrevolution u. Lange Nachwirkung war der Ausgabe der des sozialen Elends nach dem Ersten WeltOpera historica des Johannes Trithemius (2 krieg führte den jungen Wiener PhilosoBde., Ffm. 1601) u. einer von Johannes phiestudenten, der aus einer kleinbürgerliLeunclavius erstellten Sammlung griechisch- chen jüd. Familie stammte, zu einem stark byzantinischer Rechtstexte (vom Tod Justi- gefühlsbetonten Sozialismus. Seit 1919 arnians bis zum Fall von Konstantinopel, Ius beitete F. in der linksgerichteten Wiener Graeco-Romanum [...]. 2 Bde., Ffm. 1596) be- Zeitung »Abend« mit, für die er nach Abschieden, die zuletzt 1966 bzw. 1971 Nach- schluss des Studiums (1922 Dr. phil.) als drucke erlebten. Eine sehr starke Rezeption Korrespondent in Berlin u. danach als Auserfuhren u. a. F.s Edition des Constitutum landsberichterstatter in Wien tätig war. AusConstantini (zuerst in Melchior Goldast: Sta- druck immer entschiedenerer Parteinahme tuta et rescripta imperialia. Ffm. 1607) sowie für einen revolutionären Sozialismus waren Quellen zur Ehescheidung Ludwigs IV. des u. a. seine Reportagen über den lange totgeBayern (zuerst separat Heidelb. 1598) u. zur schwiegenen österr. Flottenaufstand im Febr. Exkommunikation Sigmunds von Österreich 1918 (Die roten Matrosen von Cattaro. Wien (zuerst separat Ffm. 1607), welche auch in 1927. Neubearb. Bln. 1963) u. seine Reise in Sammlungen Melchior Goldasts eingingen. die Sowjetunion (Im Lande der roten Macht. Bln. Vorreden u. Beigaben weisen F. als Mitgl. ei- 1929). Von 1929 an gab er das auf eine breite nes Zirkels von Gelehrten aus, zu dem neben Leserschicht zugeschnittene Blatt »Berlin am anderen Paul Melissus Schede u. Janus Gruter Morgen« heraus, in dem viele Autoren des linken Spektrums zu Wort kamen. Nach dem gehörten. Reichstagsbrand emigrierte er nach Prag, wo Werke: Vollständiges Werkverz. s. Kornexl 1967 er seine journalist. Arbeit mit der Herausgabe (s. u.). des antifaschist. Organs »Der Gegen-Angriff« Literatur: Franz Xaver v. Wegele: F. In: ADB. – weiterführte. 1934 in die KPD aufgenommen, Peter Fuchs: F. In: NDB. – Dietrich Kornexl: Studien zu M. F. (1565–1614). Leben, Werke u. ge- siedelte F. 1936 nach Paris über, um dort an lehrtengeschichtl. Bedeutung. Bamberg 1967 der Herausgabe des Volksfront-Organs (Diss.). – Birgit Schwan: Das jurist. Schaffen M. F.s »Deutsche Informationen« mitzuwirken. Bei (1565–1614). Darmst. 1984. – Gerhard Menk: Die Kriegsausbruch wurde er im berüchtigten Chronistik als polit. Kampfinstrument. In: Hess. Pyrenäen-Lager Le Vernet interniert, über das
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er einen sehr persönlich gehaltenen Tatsachenbericht veröffentlichte (Die Männer von Vernet. Bln./DDR 1950. Neuausg. Hildesh. 1980). Ein Visum ermöglichte ihm 1941 die Ausreise nach Mexiko. Dort gehörte er dem Emigrantenkreis um die von ihm mitbegründete Zeitschrift »Freies Deutschland« an. Nach der Rückkehr nach Wien (1947) entfaltete F. ungeachtet der Enttäuschungen über die polit. Entwicklung im Nachkriegsösterreich ein breites publizist. Wirken (u. a. Herausgabe des »österreichischen Tagebuchs« zus. mit Ernst Fischer). 1972 erschien seine Autobiografie Der Papiersäbel (Ffm.), in der er wichtige Stationen seines dem krit. Journalismus gewidmeten Lebens rekapitulierte, aber auch – nach der Erfahrung des sowjet. Einmarsches in die Tschechoslowakei – erstmals manche Parteinahme als zeitbedingt vorsichtig in Frage stellte. Weitere Werke: Das Elend Wiens. Soziale Studie. Wien 1921. – Hanussen. Ein Ber. Mit einem Vorw. v. Egon Erwin Kisch. Straßb. 1934 (Biogr.). U.d.T. Der Hellseher. Köln 1980. – Der große Sprung. China heute. Bln./DDR 1959. – Zur Kritik der Sozialutopie. Ffm. 1973. – Carl v. Ossietzky. Bln./DDR 1966. 2., veränderte u. erw. Aufl. Bln./ DDR 1978. Volker Schindler / Red.
Frei, Otto, * 15.3.1924 Steckborn, † 15.7. 1990 Bursinel/Kt. Waadt. – Erzähler u. Romanschriftsteller.
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tierte. Bei allem Humor u. Sinn für das Gemüthafte vermeidet F. jedoch jedes bloße Idyllisieren. Zum einen steht der Schilderung der kleinstädt. Kindheit in der Bedrohung durch das faschist. Deutschland unentwegt ein düsterer Kontrapunkt gegenüber; zum andern bewahrt ihn sein Sprachstil, der durch kurze, lapidare, oftmals dialekt-gefärbte, sinnlich bildhafte Sätze u. durch einen raschen, flüssigen Erzählduktus gekennzeichnet ist, vor Sentimentalität u. Beschaulichkeit. Dies gilt auch für die weiteren Teile des Steckborner Zyklus, die Romane Beim Wirt zum ›Scharfen Eck‹ (Zürich 1976), Zu Vaters Zeit (Zürich 1978), Bis sich Nacht in die Augen senkt (Zürich 1982) u. Rebell (Frauenfeld 1987). Immer stärker treten dabei thematisch der Tod, das Sterben-Müssen, die Vergänglichkeit in den Vordergrund u. erreichen in Bis sich Nacht in die Augen senkt eine erschütternde existentielle Dimension. Eine stetige Steigerung u. Intensivierung erfährt auch die zentrale Problemstellung von F.s Schaffen: die Auseinandersetzung mit der überstarken Vaterfigur. Im letzten, seiner Expressivität u. Radikalität nach überraschend modern anmutenden Roman Rebell erlebt dieser Kampf in weitem zeitgeschichtlichem, auch das Problem des Nationalsozialismus einbeziehenden Kontext seinen Höhepunkt. Außerhalb des Steckborner Zyklus stehen der am Genfer See spielende Roman Dorf am Rebhang (Zürich 1974), die Erzählungen Berliner Herbst (Zürich 1979), worin das Berlin zur Zeit des Mauerbaus gespiegelt ist, Abschied in Zermatt (Zürich 1980) sowie der surreale Text Du wirst noch tausend Jahre leben (Frauenfeld 1983). F. erhielt zahlreiche Literaturpreise, darunter 1980 den Bodenseepreis der Stadt Überlingen. Charles Linsmayer
F. besuchte das Gymnasium in Frauenfeld u. studierte in Basel, Paris u. Zürich Germanistik u. Geschichte. 1949 promovierte er mit einer Arbeit über Thomas Bornhauser zum Dr. phil. Für die »Neue Zürcher Zeitung« war er 1951–1966 Auslandskorrespondent in Berlin u. Rom, 1966–1989 Welschlandredakteur in Bursinel. Im Zentrum seines Erzählens, das sich mit autobiografischer Fragestellung ganz bewusst vom journalist. Freiberg, Siegfried, * 18.5.1901 Wien, Metier abhebt, steht das Bodenseestädtchen † 5.6.1985 Veghel/Holland; Grabstätte: Steckborn, wo F. 14 Jahre seiner Kindheit u. ebd. – Lyriker, Romancier, Dramatiker, Jugend verbrachte. Diese Welt im Kleinen, Essayist. geprägt durch eine Reihe liebevoll u. scharf charakterisierter Käuze u. Originale, bildet Nach dem Studium von Germanistik, Gebereits Thema u. Schauplatz der Erzählung schichte u. Kunstgeschichte in Wien arbeitete Jugend am Ufer (Zürich 1973. Lengwil 1998), F. als Bibliothekar, zuerst an der Hochschule mit der F. als 49-Jähriger literarisch debü- für Welthandel in Wien u., nach Kriegsdienst
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u. Gefangenschaft 1943–1945, an der dorti- Freiburger Spiele. – Frühneuzeitliche gen Akademie der bildenden Künste. Er ge- geistliche Spiele. hörte zu jener Gruppe österr. Schriftsteller, Aus der in Freiburg seit der zweiten Hälfte die kurz vor dem Krieg Adolf Hitler im Bekenntnisbuch österreichischer Dichter (Wien 1938) des 15. Jh. bezeugten Fronleichnamsprozeshuldigten. 1950 wurde F. Direktor der Bi- sion mit Darstellungen verschiedener Ereigbliothek u. des Kupferstichkabinetts der nisse aus dem AT u. NT in Form lebender Bilder hat sich spätestens zu Beginn des 16. Akademie. F.s frühe Gedichtbände Die vierte Tafel. So- Jh. ein umfangreiches dramat. Spiel entwinette an die Eltern (Wien 1928) u. Elegien und ckelt. Aufführungen des Freiburger FronleichOden (Wien 1935) sind deutlich beeinflusst namsspiels lassen sich mit Sicherheit ab 1533 vom Spätwerk Rilkes. Seine großen Romane nachweisen, doch sind die beiden noch vorSalz und Brot (Wien 1935), Die harte Freude handenen Spieltexte wesentlich jüngeren (Salzb. 1938) u. Die Liebe, die nicht brennt (Wien Datums (1599, 1604, 1606). Während die äl1940) umfassen den Zeitraum von 1870 bis tere Handschrift (A) als Aufführungsmanu1930. Mit den Schicksalen einfacher Men- skript angelegt wurde u. eine Fülle von Korschen werden zgl. der Erste Weltkrieg u. der rekturen u. Nachträgen zeigt – an der TextUntergang der Donaumonarchie beschrie- redaktion waren drei Schreiber beteiligt –, ist ben. In dem Drama Das kleine Weltwirtshaus bei der zweiten Handschrift (B) eher an eine (Wien 1951), für das F. den UNESCO-Litera- Reinschrift zu denken, die jedoch ebenfalls in turpreis erhielt, werden lebende Täter u. tote einem engen Aufführungszusammenhang Opfer des NS-Regimes einander gegenüber- gestanden haben muss. Neben diesen beiden gestellt. Andererseits zeigt der teils auto- Textzeugen haben sich zwei Prozessionsordbiogr. Roman Wo der Engel stehen sollte (Wien nungen (15. Jh.; 1516) erhalten, aus denen 1948) F.s durchaus zwiespältige Haltung im – ersichtlich wird, dass die verschiedenen Darrestaurativen – Umgang mit der Vergangen- stellungen der Freiburger Tradition zunächst von den zwölf Zünften, dann aber, als man heit. F., der auch Reisebücher schrieb, erhielt den Umgang erheblich erweitert hatte (späzahlreiche nationale u. internat. Auszeich- testens 1516), auch von anderen Gruppierungen der Bürgerschaft übernommen wurnungen. Weitere Werke: Nebuk, eine Storchengesch. den. Mit dem Hinzutreten von Dialogen zur Wien 1942. – Félice. Schicksal im Biedermeier. stummen Handlung u. dem Übergang zum Wien 1948 (N.). – Sage des Herzens. Ges. Gedichte. Bühnenspiel gewannen die Freiburger AufWien/Bln./Stgt. 1951. – Abseits der großen Straßen. führungen offensichtlich an Bedeutung: In Von der Lust des Reisens. Wien 1954. – Der Dichter den städt. Archivalien findet sich seit diesem in unserer Zeit. Wien 1955 (Ess.). – Adieu Nicolette. Zeitpunkt eine Vielzahl von Nachrichten über Drei E.en. Wien 1958. – Der Grasel. Volksstück in die F. S. Zusätzliche Informationen lassen fünf Akten. Krems 1963. – Zwischen Freiheit u. sich schließlich noch aus einem Rollenbuch Jenseits. Wien 1973 (Dramen). – Abschied ohne des Pfarrherrn (frühes 16. Jh.) bzw. der MaWiederkehr. Wien 1980 (R.). – Fisch im Netz. Wien lerzunft (um 1550) u. einem Darstellerver1980 (R.). zeichnis der Bäckerzunft (1574) gewinnen. Literatur: Albert Mitringer u. Walter Ritzer: S. Die F. S. sind durch die Verbindung von F. zum 60. Geburtstag. Eine Bibliogr. der Werke u. Zeitschriftenbeiträge. In: Biblos 10 (1961). – Robert Umgangs- u. Bühnenspiel zweigeteilt. WähBlauhut: Ein österr. Romancier: S. F. In: Welt u. rend die eigentl. Passions- u. Osterhandlung Wort 26 (1971), S. 239–243. – Heinz Wittmann: S. auf dem Freiburger Münsterplatz auf einer F. In: Ders.: Gespräche mit Dichtern. Wien 1976, Bühne zur Aufführung kam u. auch das abS. 45–62. Bernhard Fetz / Red. schließende Jüngste Gericht in gleicher Weise inszeniert werden sollte, wurden die übrigen Szenen von den dafür vorgesehenen Darstellergruppen vor u. nach dem Bühnenspiel im Kontext des Prozessionswegs durch die
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Stadt aufgeführt. Gezeigt wurden dabei ausgewählte Ereignisse u. Personen des AT u. NT (Sündenfall, Kain u. Abel, Opferung Isaaks, Moses, Josua; Verkündigung Mariae, Weihnachtsszenen, Christi Einzug in Jerusalem). Nach dem Passions- u. Osterteil schloss die Prozession mit Darstellungen aus dem Leben verschiedener Heiliger (Sebastian, Georg, Ursula) u. dem o. g. Weltgerichtsspiel. Ausgaben: Ernst Martin: Freiburger Passionsspiele des 16. Jh. In: Ztschr. der Gesellsch. für Beförderung der Geschichts-, Altertums- u. Volkskunde v. Freiburg 3 (1873/74), S. 1–206. – Wolfgang F. Michael: Die Anfänge des Theaters zu Freiburg i. Br. In: Ztschr. des Freiburger Geschichtsvereins 45 (1934), S. 1–90 (S. 71: Rollenverz. zum Weihnachtsteil; S. 72: Rollenbl. der Malerzunft). – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Bd. l, Mchn. 1987 (Nr. 1564: Freiburger Prozessionsordnung des 15. Jh.; Nr. 1568: Prozessionsordnung v. 1516; Nr. 1631: Spielerverz. der Bäckerzunft). Literatur: Sebastian Wieser: Das Passionsspiel der Freiburger Zünfte. Ffm. 1924. – Oskar Sengpiel: Die Bedeutung der Prozessionen für das geistl. Spiel des MA. Breslau 1932. – Neil C. Brooks: Processional Drama and Dramatic Procession. In: JEGPh 32 (1932), S. 141–171. – Wolfgang F. Michael, a. a. O. – Ders.: Die geistl. Prozessionsspiele in Dtschld. Baltimore/Gött. 1947. – Elizabeth Wainwright: Studien zum dt. Prozessionsspiel. Die Tradition der Fronleichnamsspiele in Künzelsau u. Freiburg u. ihre textl. Entwicklung. Mchn. 1974. – Hansjürgen Linke: F. S. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Bernd Neumann, a. a. O., Nr. 1563–1688. – Dorette Krieger: Die mittelalterl. deutschsprachigen Spiele u. Spielszenen des Weihnachtsstoffkreises. Ffm. u. a. 1990, passim. – Ralph J. Blasting: Die Dramaturgie des Spielleiters in den dt. Fronleichnamsspielen. In: Mittelalterl. Schauspiel. FS Hansjürgen Linke. Hg. Ulrich Mehler u. Anton H. Touber. Amsterd./Atlanta 1994, S. 79–91. Bernd Neumann / Red.
Freidank, † 1233. – Spruchdichter. Mit über 200 Überlieferungszeugen zeigen die Sprüche von F.s Bescheidenheit eine ungewöhnlich breite Präsenz auf unterschiedl. Feldern des Textgebrauchs vom 13. bis ins 16. Jh. (s. Marburger Repertorium der FreidankÜberlieferung).
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Die Person F.s ist nur schwach u. z.T. unsicher bezeugt. Der Übername (Frîdanc, Frîgedanc, lat. Fridancus) meint den unabhängig Denkenden, die Werkbezeichnung Bescheidenheit der bis zu 4000 Verse umfassenden Spruchsammlung bedeutet »Urteilskraft« (lat. discretio) u. entstammt wie die früheste Namensnennung F.s der Vorrede (1,1–4). Verlässlich scheint die Nachricht vom Tod F.s in den Annalen des Zisterzienserstifts Kaisheim (Schwaben) zum Jahr 1233; sie notieren nach der Erwähnung eines Kriegszugs König Heinrichs (VII.) gegen Herzog Otto II. von Bayern: »Fridancus magister moritur.« Die Annalen der Colmarer Dominikaner erwähnen neben anderen Dichtern (Heinrich von Basel, Konrad von Würzburg, Hugo Primas) auch F., bezeichnen ihn als Fahrenden u. loben seine Verse: »Frydancus vagus fecit rithmos Theutonicos gratiosos.« Ein Grabmal mit einem Wandgemälde (»imago depicta«) entdeckt Hartmann Schedel 1465/66 während seines Studiums in Italien am Dom von Treviso; in seinem Opus de antiquitatibus (1507) teilt er mit, Kaufleute hätten F. wegen seiner geistreichen Sprüche (»lepida dicta«) nach Venedig eingeladen, u. er notiert die »literis ac sermone theotonico« abgefasste Grabschrift: »Hye leit Freydanck gar on all sein danck der alweg sprach und nie sanck.« Aus persönl. Anschauung scheinen die (weitgehend top.) Kirchenkritik der Rom-Sprüche (148,4–154,17) sowie die Kreuzzugskritik der Akkon-Sprüche (154,18–164,2) formuliert zu sein u. auf einen Aufenthalt F.s in Rom u. im Heiligen Land, etwa anlässlich des Kreuzzugs von 1228/29, zu deuten. Sichere Auskunft gibt das Werk indes über die geistig-intellektuelle Physiognomie des Autors: Auf eine Ausbildung in einer Dom- oder Klosterschule verweisen die zahlreichen Bezüge zur gelehrt-lat. Bildungswelt u. zur aktuellen theolog. Diskussion in den Sprüchen F.s, den die Quellen auch wohl deshalb als Gelehrten (»meister«, »magister«) bezeichnen. Die Bedeutung des Autors u. seiner Person tritt weitgehend zurück einerseits hinter der von ihm geschaffenen pointierten Sentenz als sich bald verselbständigendem Formtyp (»ein Freidank«), andererseits hinter der Vielfalt
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der Sammlungs- u. Gebrauchstypen, in denen F.-Sprüche erscheinen. Die kategoriale Verbindung von Autorschaft u. Werk wird dadurch mehr oder minder außer Kraft gesetzt. Das von F. maßgeblich geprägte u. in der Folgezeit wirksame formale Muster ist der aus zwei (auch erweitert auf vier oder mehr) vierhebigen, gereimten Versen bestehende Spruch, der sich stellenweise zur thematisch ausgerichteten Spruchkette weitet. Direkte Handlungsanweisungen sind relativ selten; vielfach wird ein allg. akzeptierter Sachverhalt benannt, dessen lebensprakt. Relevanz u. aktuelle Kontextualisierbarkeit sich erst durch die intellektuelle Deutungsleistung des Rezipienten einstellt: »Diu nezzel schiere wirt erkant / der sî nimt in blôze hant.« (»Die Nessel fühlt man sofort, wenn man sie in die bloße Hand nimmt.«; 135,14 f.). Oder: »Swem gaehes boten nôt geschiht, / der endarf des snecken niht.« (»Wer einen schnellen Boten nötig hat, kann eine Schnecke nicht brauchen.«; 146,19 f.). Oder: »Sô junc ist nieman noch sô alt, /daz er sîn selbes habe gewalt.« (»Niemand ist so jung oder so alt, dass er über sich selbst [und seine Natur] Gewalt hätte.«; 52,14 f.). Die von F.s Sprüchen vermittelte Weltdeutung ist christlich-religiös ausgerichtet u. gegründet auf die Bibel u. die Lehre der Kirche: »Gote dienen âne wanc / deist aller wîsheit anefanc.« (»Gott unverbrüchlich zu dienen, das ist der Anfang aller Weisheit.«; 1,5 f.). Dabei treten abstrakte Aussagen zurück hinter einer moral. Pragmatik, die sich unmittelbar auf das Handeln des Menschen in alltägl. Situationen u. gegenüber dem Mitmenschen bezieht. Themen sind u. a. die göttl. Ordnung der Welt, Recht u. Unrecht, menschl. Laster (Hochmut, Geiz, Habsucht, Neid, Zorn, Lüge, Spiel- u. Trunksucht) u. Tugenden, die Ordnung der Gesellschaft, das Verhältnis von Mann u. Frau, Armut u. Reichtum, Weisheit u. Dummheit, Tod u. Vergänglichkeit. Die in der zeitgenössischen dt. Literatur vorherrschende Orientierung auf den Laienadel als Adressaten ist weitgehend aufgegeben. Argumente wie das des Tugendadels (»Swer tugent hât, derst wol geborn / ân tugent ist adel gar verlorn.«; 54,6 f.) öffnen die Per-
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spektive auf eine den Menschen in allen gesellschaftl. Situationen, arm u. reich/mächtig, weltlich oder geistlich, betreffende u. durch Lehre vermittelte Lebenshilfe. Insofern sind die heute noch erhaltenen Handschriften als Speicher eines Wissens anzusehen, dessen eigentlicher Ort das menschl. Gedächtnis war, aus dem es je situationsbezogen abgerufen u. argumentierend eingesetzt werden konnte. F.s Bescheidenheit präsentiert sich in der Überlieferung nicht als fest umrissenes Korpus. Die jeweils in sich abgeschlossenen u. selbständigen Sprüche bilden eine additive Werkstruktur aus, die offen ist hinsichtlich Anzahl, Auswahl u. Anordnung. Das zeigen schon die umfangreicheren Sammlungen mit rd. 2000 bis 4000 Versen. Teils sind sie thematisch, jedoch durchaus unterschiedlich geordnet wie etwa die Handschriften A, B, J u. N, teils lassen sie keine inhaltsbezogene Ordnung erkennen wie Handschrift a (Siglen nach Bezzenberger). Mehrfach sind kleinere Korpora in Kleinepikhandschriften oder andere Sammlungszusammenhänge wie die Carmina Burana integriert. Einzelne Sprüche finden sich auch als argumentativ belehrende Stützen in andere Texte integriert, zahlreich u. markant im Renner Hugos von Trimberg, aber auch etwa in der Fabelsammlung Boners oder im Kommentar zum Landrecht in zwei Handschriften des Schwabenspiegels. Ein ästhetisch anspruchsvolles Spiel mit der Tradition ist der strophisch-sangbare, aus F.-Versen gebildete Cento Oswalds von Wolkenstein »Wer hier umb dieser welde lust / sein ewig freud dort geben will« (um 1440; Klein Nr. 115). Eine bes. Form der Berufung auf F. als Garanten spruchhaft vermittelter Wahrheit bilden die im Spätmittelalter sich ausbildenden Autoritätensammlungen. Sie weisen bibl. Namen (Paulus, Petrus), solchen der Antike (Aristoteles, Seneca, Cato) oder Kirchenvätern (Augustin, Gregor der Große) bestimmte Dicta zu. Unter den mittelalterl. Autoritäten findet sich auch F., oft ohne dass seine Autorschaft an einem Spruch nachweisbar wäre oder so, dass echte Freidanksprüche anderen Namen wie Daniel, Josua, Salomo oder Bernhard (von Clairvaux) zugewiesen sind (Heiser 2006).
Freidank
Wohl dem ausgehenden 13. Jh. entstammt eine anonyme Übersetzung einer Auswahl von rd. 1000 F.-Versen in lat. Hexameter, die teils nur lateinisch (11 Hss; Walther, Initia carminum 9168), teils mit den dt. Versen gemeinsam (34 Hss., eine davon aus dem Besitz Hartmann Schedels, dazu ein Leipziger Druck um 1490) überliefert werden u. in den Wirkungsraum der mittelalterl. Lateinschule sowie – im 15. Jh. – des universitären Studiums gehören. In der Gattung Predigt ist bis in die Barockzeit u. darüber hinaus die Möglichkeit genutzt worden, Sprichwörter u. Sentenzen argumentativ einzubauen oder gar zum Ausgangspunkt einer Predigt zu machen. Im Spätmittelalter sind neben den Cato-Sentenzen auch lat. u. dt. F.-Sprüche so verwandt worden (Klapper; Heiser 2006, S. 184–222). Nachgewiesen sind elf Handschriften mit Predigtzyklen, in denen ein Spruch F.s als Ergänzung der (lat.) Perikope erscheint oder Thema, Gliederung u. Rahmen für eine Predigt abgibt. Bemerkenswert ist schließlich die spätmittelalterl. Präsenz von F.-Sprüchen in der auf öffentl. Wahrnehmbarkeit zielenden Gattung der Inschriften (Heiser 2002/03; Abb.: Heiser 2006, S. 109–145), wenngleich hier mit einer hohen Verlustquote zu rechnen ist u. manches in den bereits publizierten Inschriften noch nicht identifiziert ist. Mit dem Ende des 15. Jh. endet die Vielfalt der Überlieferung, die zwar nahezu durchgängig die kurzen Spruchtexte mit dem Namen F.s verbindet, für deren Beurteilung aber die Kategorien von Autorschaft u. Werk nur bedingt anwendbar sind. Die F.-Wirkung im 16. Jh. ist ausschließlich von der Textredaktion durch Sebastian Brant bestimmt. Seine Druckausgabe von 1508 umfasst knapp 3000 Verse u. ist, vergleichbar dem Narrenschiff (1494 u. ö.), mit thematisch auf den jeweiligen Kapitelinhalt bezogenen Holzschnitten ausgestattet; lat. Marginalnotizen, vergleichbar der Anlage der Stultifera navis (1497 u. ö.), stellen Bezüge zur Bibel u. anderem Bildungsgut her. Mehrfach redigiert, erweitert u. protestantisch akzentuiert, erscheint diese Bearbeitung, stets durch die
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Autorität Brants empfohlen, in sechs weiteren Ausgaben, die letzte von 1583. Die Bedeutung F.s u. seiner Sprüche ist von den Zeitgenossen u. in der Folgezeit uneingeschränkt anerkannt worden. Rudolf von Ems resümiert um 1235 F.s Anliegen, Torheit zu tadeln, Gott zu lieben, das Heil der Seele u. ebenso irdisches Ansehen zu gewinnen mit den Mitteln dichterischer Kunst (»kunstlîche«), weswegen er das Prädikat »klug und scharfsinnig« (»sinnerîche«) erhält (Alexander, v. 3229–3238; vgl. ebd. v. 20.632 ff.). Hugo von Trimberg zieht im Renner (um 1300) die öfter als treffend gekennzeichneten Sprüche F.s zur Verstärkung seiner eigenen lehrhaften Aussage heran. Die gesamte F.-Überlieferung rühmt, wo sein Name erwähnt wird, die Prägnanz, Treffsicherheit u. umfassende Geltung seiner Verse. Spätestes Zeugnis der fortdauernden Geltung F.s ist am Ende des 16. Jh. die »Literaturgeschichte des Meistergesangs«, die der gelehrte Cyriacus Spangenberg († 1604) verfasste u. die sein Sohn Wolfhart († 1636), leicht umgestaltend, fortführte. Unter den von ihm hochgerühmten Autoren befindet sich auch F., dessen Werk er aus Brants Ausgabe kennt. F. gilt ihm als »Der Gottselige vnnd Tugendreiche Reimer vnnd Tichter, vnnd Künstliche MeisterSenger«; er »hatt mit wenig wortten vil feiner lehren Kurtz fassen khönnen.« (Von der Musica, S. 126). Es scheint, als hätte allein die literar. Bedeutung von F.s Spruchdichtung Spangenberg dazu veranlasst, ihn in die Reihe der alten Meister der Gattung Meistergesang einzureihen. Die Wiederentdeckung F.s ist dann Sache der Philologen des ausgehenden 18. (Myller) u. des 19. Jh., insbes. Wilhelm Grimms, der die erste wiss. Ausgabe vorlegt. Ausgaben: Fridankes Bescheidenheit. Hg. H. E. Bezzenberger. Halle 1872. Neudr. Aalen 1962. – Fridangi discrecio. F.s bescheidenheit lat. u.dt. aus der Stettiner Hs. hg. v. Hugo Lemcke. Stettin 1868 (F.-Sprüche lat.-dt.). – Klapper (F.-Predigten). – Heiser 2002/03 (s. u., F. in Inschriften). – Heiser 2006 (s. u., S. 52–63: F.-Nennungen in Autoritätenslg.en). – Die F.-Ausg. Sebastian Brants. Hg. Barbara Leupold. Wiesb. 2007. – Überlieferung: Marburger Repertorium der F.-Überlieferung
Freigius
565 (MRFD): mrfd/.
http://web.uni-marburg.de/hosting/mr/
Literatur: Hermann Paul: Über die urspr. Anordnung v. F.s ›Bescheidenheit‹. Sitzungsber. der Kgl. bayer. Akademie der Wiss. Philosoph.-philolog. u. histor. Classe. Mchn. 1899, S. 167–294 (mit Ausg. der Hs. Berlin SBB PK Ms. germ. fol. 20 [Sigle a]). – Joseph Klapper: Die Sprichwörter der Freidankpredigten. Breslau 1927 (dazu Heiser 2006, S. 124–218). – Samuel Singer: Sprichwörter des MA. Bd. 2, Bern 1946, S. 155–187. Bd. 3, Bern 1947, S. 9–110 u. 113–119. – Albert Leitzmann: Studien zu F.s ›Bescheidenheit‹. Bln. 1950. – Friedrich Neumann: F.s Herkunft u. Schaffenszeit. In: ZfdA 89 (1959), S. 213–241. – Günter Eifler: Die eth. Anschauungen in F.s ›Bescheidenheit‹. Tüb. 1969. – Christoph Petzsch: F.-Überlieferung im Cgm 811. In: ZfdA 98 (1969), S. 116–125. – Ders.: Reimpaare F.s bei Oswald v. Wolkenstein. In: Werk – Typ – Situation. Hg. Ingeborg Glier. Stgt. 1969, S. 281–304. – Christoph Huber: ›Wort sint der dinge zeichen‹. Untersuchungen zum Sprachdenken der mhd. Spruchdichtung bis Frauenlob. Mchn. 1977 (Register). – Berndt Jäger: ›Durch reimen gute lere geben‹. Untersuchungen zu Überlieferung u. Rezeption F.s im SpätMA. Göpp. 1978. – Jutta Goheen: Societas humana in F.s ›Bescheidenheit‹. In: Euph. 77 (1983), S. 95–111. – Lutz Rosenplenter: Zitat u. Autoritätenberufung im ›Renner‹ Hugos v. Trimberg. Ein Beitr. zur Bildung des Laien im SpätMA. Ffm./Bern 1983, S. 423–443 u. ö. – Nikolaus Henkel: Dt. Übers.en lat. Schultexte. Mchn. 1988, S. 89–92, 253–255 u. ö. – Hans Ulrich Schmid: Verse F.s u. des Marners in einer lat. Predigtslg. aus Oberaltaich. In: ZfdA 118 (1989), S. 176–180. – Klaus Grubmüller: F. In: Kleinstformen dt. Lit. Hg. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tüb. 1994, S. 38–55. – Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-german. MA. 13 Bde., Bln./New York 1995–2002. – Manfred Eikelmann: Sprichwörterslg.en. In: VL. – Ines Heiser: F.-Inschr.en (I/II). In: ZfdA 131 (2002), S. 488–493. Forts. in: ZfdA 132 (2003), S. 239–248. – F. Neumann: F. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Franz-Josef Holznagel: Vorüberlegungen zu einer neuen F.-Ausg. In: Dt. Texte des MA zwischen Handschriftennähe u. Rekonstruktion. Hg. Martin J. Schubert. Tüb. 2005, S. 159–172. – Stefanie Hein u. a.: Mittelalterphilologie im Internet. Noch einmal: Das Marburger Repertorium der F.-Überlieferung. In: ZfdA 134 (2005), S. 411–413. – I. Heiser: Autorität F. Studien zur Rezeption eines Spruchdichters im späten MA u. in der frühen Neuzeit. Tüb. 2006. – Barbara Leupold: Die Freidankausg. Sebastian Brants u.
ihre Folgedrucke. Untersuchungen zum Medienwechsel einer spätmittelalterl. Spruchslg. an der Schwelle zur frühen Neuzeit. Diss. Marburg 2007 (im Druck). Nikolaus Henkel
Freigius, Freig, Freige, Frey, Johannes Thomas, * 1534 Freiburg i. Br., † 1583 Basel. – Reformierter Philosoph u. Jurist. F. studierte in Freiburg, wo er 1559 den Magistertitel erwarb. Dort lehrte er zuerst Grammatik, ging aber 1567 aus religiösen Gründen nach Basel, wo er 1568 zum »doctor iuris« promovierte. In Basel lernte er Petrus Ramus kennen. Als überzeugter Anhänger der ramist. Methode ging F. 1570 nach Freiburg zurück u. erhielt eine Professur für Ethik u. Logik. Hier kam es aber bald zu Uneinigkeiten mit dem akadem. Senat, u. F. wurde 1575 entlassen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Basel, wo er im Verlagshaus des Sebastian Henricpetrus wirkte, wurde er 1576 nach Altdorf als Rektor des Gymnasium illustre berufen. 1582 kehrte er nach Basel zurück, wo er an der Pest starb. Die Schriften F.’ wurden von den biogr. Erlebnissen u. v. a. von der Begegnung mit Ramus stark geprägt. Nach den Hauptabschnitten seines Lebens können seine Werke in drei Gruppierungen eingeteilt werden. Der wiss. Ruhm von F. ist mit den jurist. Werken der ersten Periode in Basel verbunden, in denen er die Materien des röm. Rechtes durch die dichotom. Anordnung der ramist. Methode gestaltete. Inhaltlich lehnte er sich in den Partitiones iuris utriusque (Basel 1571) an die Darstellungen von Ulrich Zasius u. Konrad Lagus an. Derselbe method. Ansatz wurde zuletzt ausführlich in den De logica iureconsultorum libri duo (Basel 1582. 21590) dargestellt. Die Werke aus der Altdorfer Periode umfassen eine vollständige Darstellung aller artes liberales nach ramist. Prinzipien, während die Ausgabe der Schriften des Ramus die letzten Jahre in Basel in Anspruch nahm. Weitere Werke: Trium artium logicarum, grammaticae, dialecticae et rhetoricae, breves succinctique schematismi. Basel 1568. – Quaestiones Iustinianeae. Basel 1578. – Historiae synopsis. Basel
Freiligrath 1580. – Paedagogus. Basel 1582. – Paratitla seu synopsis Pandectarum iuris civilis. Basel 1583. Literatur: VD 16. – Roderich Stintzing: J. T. F. In: ADB. – Ders.: Gesch. der Dt. Rechtswiss. Abt. 1, Mchn. u. Lpz. 1880, S. 440–449. – Walter J. Ong S.J.: Ramus, method, and the decay of dialogue. Chicago u. a. 1958. Neudr. 1983. 2004 (Register). – Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 1, Stgt.Bad Cannstatt 1964 (Register). – Wilhelm SchmidtBiggemann: ›Topica universalis‹. Eine Modellgesch. humanist. u. barocker Wiss. Hbg. 1983, S. 52–59. Merio Scattola
Freiligrath, (Hermann) Ferdinand, * 17.6. 1810 Detmold, † 18.3.1876 Cannstatt bei Stuttgart. – Lyriker, Übersetzer, Nachdichter, Herausgeber. Der Sohn eines Elementarschullehrers wuchs in einfachen Verhältnissen u. nach dem Tod seiner Mutter 1817 als Halbwaise auf. Mit 15 Jahren verließ er vorzeitig das Gymnasium in Detmold u. trat auf Geheiß des Vaters eine Kaufmannslehre im Kolonialwarengeschäft eines Onkels in Soest/Westfalen an. Dabei konnte er sich in Fremdsprachen wie Englisch, Französisch, Italienisch, aber auch Latein u. Griechisch weiterbilden u. fand Gelegenheit zu ausgedehnter Lektüre v. a. der modernen in- u. ausländ. Literatur. In wachsendem Maße entdeckte F. hier auch den Reiz einer produktiv-schöpfer. Beziehung zur Literatur. Es entstanden erste Gedichte, meist in epigonaler Manier u. noch ohne klar erkennbare Richtung, die er ab 1829 teilweise auch in westfäl. Lokalblättern veröffentlichen konnte. Seit Anfang der 1830er Jahre fand F., angeregt von Entwicklungen v. a. in der neueren engl. u. frz. Lyrik, etwa bei Byron, Scott, Coleridge, Lamartine oder Béranger, immer mehr zu einer eigenständigen Dichtungsmanier. Zum Schlüsselerlebnis wurde dabei die Begegnung mit Victor Hugos Orientales, den exot. Gedichten. F. fühlte eine unmittelbare Wahlverwandschaft. Er erkannte nun für sich die Möglichkeit, poetisches Neuland zu betreten u. den selbst gestellten Anspruch höchstmöglicher Stilisierung u. Poetisierung zu erfüllen u. idealerweise mit der Wirkung des bilderreichen u. bizarr-extraordinären Stoffes zu verbinden.
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Mit der Übersiedlung nach Amsterdam im Januar 1832, wo F. eine Stelle im Überseehandlungshaus Sigrist antrat, verstärkte sich der begonnene literar. Trend eines romant. Exotismus weiter. Erste Erfolge stellten sich ein. F. hatte seinen lyr. Stil weitgehend gefunden. Mit den 1834 einsetzenden Veröffentlichungen seiner Gedichte im renommierten »Deutschen Musenalmanach« von Chamisso u. Schwab wurde er bekannt. Wüsten, Wälder, Ozeane, ferne Welten bildeten das Tableau der meisten seiner Gedichte, in denen sich archetyp. Traumbilder u. Visionen latenter Triebmomente mit dem Reiz des Schaurig-Unbekannten in oft pathetischer Sprachüberhöhung, forciertem Rhythmus u. Klangfülle zu einer unerhörten Art künstlerischer Imagination verbanden. Gedichte wie Wär’ ich im Bann von Mekka’s Thoren, Der Scheik am Sinai, Der Mohrenfürst, Löwenritt oder Die Auswanderer verweisen schon auf den Charakter von F.s später selbst so genannter Periode der »Wüsten- und Löwenpoesie«. Im Frühjahr 1838 erschien F.s erster eigenständiger Lyrikband mit einer Auswahl seines bisherigen Schaffens unter dem schlichten Titel Gedichte im Stuttgarter Cotta-Verlag, dem führenden dt. Literaturverlag der Zeit. Obwohl die Hälfte des Bandes lediglich aus Übersetzungen englischer u. frz. Lyrik bestand, war der Erfolg spektakulär. Jedes Jahr erschien mindestens eine Nachauflage, insg. fast 40 bis zu F.s Tod 1876. F. war schon im Juni 1836 nach Soest zurückgekehrt u. bekleidete von Mai 1837 bis Ende 1838 wieder eine Kommissstelle im Großhandelshaus von Eynern in Barmen. Gestützt auf seinen literar. Ruhm, versuchte F. von 1839 an, als freier Schriftsteller zu leben. Im Sept. 1839 siedelte er sich im rhein. Unkel an, heiratete die Weimarer Professorentochter Ida Melos (1841) u. scheiterte 1841/42 mit dem Projekt einer Zeitschrift für engl. Literatur, »Britannia« in Darmstadt, woraufhin er an den Rhein, nach St. Goar zurückkehrte. Versuche, einen literar. Neuanfang im Zeichen der populären lyr. Rheinromantik zu starten, misslangen weitgehend. F. stand nun aber in engem Kontakt mit berühmten Dichterkollegen seiner Zeit wie Immermann, Auerbach, Dingelstedt oder
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Geibel. Seit 1842 bezog er eine Dichterpension des preuß. Königs Friedrich Wilhelm IV. Zur gleichen Zeit entzündete sich über eine literar. Kontroverse mit dem ebenfalls sehr erfolgreichen Lyriker Georg Herwegh der so genannte »Parteienstreit« um die Aufgaben u. die Funktion zeitgemäßer Dichtung. F., der darin anfangs noch den Standpunkt strikter Unvereinbarkeit von parteinehmendem polit. Engagement u. Poesie vertrat (»Der Dichter steht auf einer höhern Warte / Als auf den Zinnen der Partei«. In: Aus Spanien. 1841), änderte aber im Verlauf der öffentl. Debatte seine Einstellung. Wachsende Enttäuschung über den zunehmend restriktiven Kurs preußischer Politik führte F. schließlich ab 1843 an die Seite einer gemäßigt liberalen Opposition u. zur polit. Zeitdichtung. Es entstand die Gedichtsammlung Ein Glaubensbekenntniß, die im Frühjahr 1844 in 8000 Exemplaren im Verlag von Zabern in Mainz erschien (Nachdr. Mainz 1994) u. trotz Verbots umgehend vergriffen war. Die Gedichte artikulierten aktuell-polit. Forderungen der bürgerl. Oppositionsbewegung nach nationaler Identität u. Einheit (Zwei Flaggen, Von acht Rossen), nach konstitutioneller Verfassung (Die weiße Frau, Vom süßen Brei) u. nach polit. Freiheit (Trotz alledem, Die Freiheit! Das Recht!). Nachdem F. auf seine kgl. Dichterpension verzichtet hatte, emigrierte er im Sommer 1844 aus Furcht vor Repressalien vonseiten Preußens nach Belgien, zunächst nach Ostende u. dann nach Brüssel, wo er u. a. Radikaloppositionelle wie Karl Marx u. Karl Heinzen kennenlernte. Im März 1845 ging F. dann in die Schweiz. Er lebte anfangs in Rapperswyl u. ab Herbst in Hottingen bei Zürich in einer dt. Emigrantenkolonie (u. a. mit Arnold Ruge, Wilhelm Schulz, August Wilhelm Follen, Hermann Püttmann, Julius Fröbel) u. geriet so in den Bannkreis der hier ausgetragenen politisch-ideolog. Richtungskämpfe um die Meinungsführerschaft zwischen radikal-demokratischen, sozialist. u. kommunist. Positionen. Ohne sich offen einer der verschiedenen Gruppierungen anzuschließen, entwickelte F. eine sehr weitgehende revolutionär-demokrat. Haltung, die ihn auch mit kommunist. Ideen sympathisieren ließ. Ausdruck dessen war die Samm-
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lung C¸a ira! (Herisau 1846). Die neu gewonnene Überzeugung von der Notwendigkeit einer Volksrevolution u. der unmittelbare Appell daran durchzieht in meist allegorischer Metaphorik diesen Zyklus von sechs Gedichten (Wie man’s macht!, Von unten auf). Im Juli 1846 nahm F. wieder eine Kaufmannsstellung, diesmal im Handelshaus Huth & Co. in London, an, um die wachsende Familie zu ernähren (sechs Kinder zwischen 1845 u. 1852). Unter dem unmittelbaren Eindruck der revolutionären Ereignisse im Febr./März 1848 in Frankreich u. Deutschland entstand in kurzer Folge eine Reihe von emphatischen, die revolutionäre Entwicklung kommentierenden Gedichten (Die Republik, Schwarz-RotGold, Berlin), die F. auch als Flugblattdrucke verbreiten ließ. Im Mai 1848 kehrte F. nach Deutschland, ins Rheinland zurück, um sich aktiv am revolutionären Kampf zu beteiligen. Im Juli schrieb F. sein wohl wirkungsvollstes Revolutionsgedicht, Die Toten an die Lebenden, das ihm, in 9000 Flugblättern verbreitet, Verhaftung wegen des Vorwurfs des Hochverrats eintrug, von dem er aber unter dem Druck der öffentl. Meinung im Okt. in Düsseldorf frei gesprochen wurde. Kurz darauf wurde F. von Karl Marx in die Redaktion der »Neuen Rheinischen Zeitung« in Köln berufen, wo er für die Auslandsberichterstattung mitverantwortlich war, aber v. a. durch seine zahlreichen mitreißenden Revolutionsgedichte wirkte (Wien, 24. Juni-24. November, Abschiedswort der Neuen Rheinischen Zeitung), die ihm auch die Bezeichnung »Trompeter der Revolution« eintrugen. Nach der Niederlage der Revolution im Frühjahr/Sommer 1849 verblieb F. zunächst in Köln u. fungierte als Mittelsmann des bereits exilierten Marx für die Zentralbehörde des »Bundes der Kommunisten«, dem F. inzwischen beigetreten war. Im Herbst 1848 veröffentlichte F. im Selbstverlag in Köln die Sammlung Neuere politische und soziale Gedichte. Erstes Heft u., nachdem er im Juni 1850 nach Bilk bei Düsseldorf übergesiedelt war, deren Fortsetzung, Zweites Heft (Düsseld. 1851), mit allen wichtigen Revolutionsgedichten (Blum, Am Birkenbaum, Die Revolution), um damit noch ein-
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mal seine ungebrochen revolutionäre Gesinnung zu dokumentieren. Nach einem weiteren Haftbefehl flüchtete F. schließlich im Mai 1851 erneut nach London u. arbeitete wieder als Kontorist im Handelshaus J. Oxford. Anfangs stellte er sich als Dichter wie als Person noch in den Dienst der kommunist. Bewegung um Marx (An Joseph Weydemeyer). Es setzte aber relativ rasch ein Entfremdungsprozess ein, der bis zum Ende des Jahrzehnts zur endgültigen Lossagung von der organisierten Arbeiterbewegung u. zum Bruch mit Marx führte. 1856 wechselte F. noch einmal die Stelle u. wurde Filialleiter der General Bank of Switzerland in London. Ein poet. Neuanfang gelang F. in seinem zweiten Londoner Exil nicht mehr. Vor allem die Übersetzertätigkeit, der F. von Anfang seiner literar. Karriere an immer verbunden geblieben war (Victor Hugo: Sämmtliche Werke. 18 Bde. Bd. 9: Oden und vermischte Gedichte; Bd 11: Herbstblätter. Dt. v. F. F., Ffm. 1836), u. einige Herausgeberprojekte sowie gelegentl. Kritiken für die engl. Kunstzeitschrift »Athenäum« verbanden ihn noch mit der Literatur. F. übersetzte v. a. neuere englischsprachige Autoren wie Hemans, Longfellow, Coleridge, Southey, Keats oder Tennyson u. entdeckte in den späten 1860er Jahren Bret Harte u. Walt Whitman für das dt. Publikum. Speziell mit der engl. Anthologie The Rose, Thistle and Shamrock (Stgt. 1853) sowie mit der eigenwilligen Sammlung zur dt. Lyrik- u. Poetologiegeschichte Dichtung und Dichter (Dessau 1854) erwarb er sich bleibende Verdienste um die Popularisierung von Literatur. Nachdem F. 1865 seine Anstellung verlor, initiierten Freunde in Deutschland eine einzigartige Nationaldotation, durch deren Hilfe F. 1868 nach Deutschland zurückkehren konnte. Dies wie die anschließenden vielfältigen Ehrungen in der Heimat galten einer eigentlich schon historisch gewordenen Persönlichkeit, dem Dichter der 1830er u. 1840er Jahre. Die Dotation ermöglichte F. einen sorgenfreien Lebensabend in Stuttgart u. ab 1874 im nahe gelegenen Cannstatt. Nur einmal noch, in der kurzen Phase der nat. Aufbruchstimmung in Deutschland während des dt.-frz. Krieges u. der sich anschließenden
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Reichseinigung, konnte F. seinen lyr. Impetus wiederbeleben. In Stil, Sprache u. Metaphorik stark an seine Revolutionsgedichte von 1848/49 erinnernd, gestaltete F. in Gedichten wie Die Trompete von Gravelotte, An Deutschland oder auch Hurra, Germania! v. a. den Zwiespalt zwischen patriotischem Bekenntnis u. den abverlangten Opfern des Krieges. Weitere Werke: Rhein. Jb. für Kunst u. Poesie. Jg. 1 u. 2., Köln 1840/41 (Hg. u. Autor). – Das maler. u. romant. Westphalen. Zus. mit Levin Schücking. Barmen 1841. – Karl Immermann. Blätter der Erinnerung an ihn. Stgt. 1842 (Hg. u. Autor). – Zwischen den Garben. Eine Nachlese älterer Gedichte. Stgt./Tüb. 1849. – Neue Gedichte [postum hg. v. Ida Freiligrath]. Stgt. 1877. – Ein Dichterleben in Briefen. Hg. Wilhelm Buchner. 2 Bde., Lahr 1882. – Gedichte. Hg. Dietrich Bode. Stgt. 1964 u. ö. – Briefw. mit Marx u. Engels. Hg. Manfred Häckel. 2 Teilbde., Bln. 1968. 21976. – Übersetzungen: Victor Hugo. Lyr. Gedichte. Ffm. 1845. – Engl. Gedichte aus neuerer Zeit. Stgt. 1846. – William Shakespeare: Venus u. Adonis. Düsseld. 1849. – Henry Wadsworth Longfellow: Der Sang v. Hiawatha. Stgt. 1857. Ausgaben: Sämmtl. Werke. 6. Bde., New York 1858/59. – Ges. Dichtungen. 6 Bde., Stgt. 1870. – Sämtl. Werke. Hg. Ludwig Schröder. 10 Bde., Lpz. 1907. – Werke in 6 Tln. Hg. Julius Schwering. Bln. u. a. o. J. [1909]. Neudr. Hildesh. 1974. – Werke in einem Band. Hg. Werner Ilberg. Bln./Weimar 1962 u. ö. Literatur: Bibliografien: Klaus Nellner, (ab 2001) Julia Hiller v. Gaertringen: F.-Bibliogr. In: GrabbeJb. 1 ff. Emsdetten 1982/87, Bielef. 1988/93, Detmold 1994/2002, Bielef. 2003 ff. – Ernst Fleischhack: Bibliogr. F. F. 1829–1990. Bielef. 1990. – Goedeke Forts. – Weitere Titel: Erwin Gustav Gudde: F.s Entwicklung als polit. Dichter. Bln. 1922. Neudr. Nendeln 1967. – Meno Spann: Der Exotismus in F. F.s Gedichten. (Diss.) Marburg 1928. – Erich Kittel: F. F. als dt. Achtundvierziger u. westfäl. Dichter. Lemgo 1960. – Josef Ruland u. Peter Schoewaldt (Hg.): F. F. 1876–1976. RemagenRolandseck 1976. – Konrad Hutzelmann: Exotik u. Politik. F. F.s Werk u. seine Zeit. In: Lipp. Mitteilungen aus Gesch. u. Landeskunde 45 (1976), S. 158–208. – Winfried Hartknopf: F. F. Ein Forschungsber. o. O. [Düsseld.] 1977. – Jörg-Christoph v. Forster: Phantasie. Phrasen u. Fanatismus im Vormärz. Eine histor. Untersuchung v. Leben u. Werk der Dichter F. F. u. Georg Herwegh im Spiegel der Lit. Nürnb. 1978. – Kurt Roessler: F. F.
569 über die Schulter geschaut. Neues aus Briefen u. Manuskripten 1839–44. In: Grabbe-Jb. 14 (1995), S. 64–114. – Thorsten Unger: Funktionen v. Übers.en in der exot. u. polit. Lyrik F. F.s. In: Weltlit. in dt. Versanthologien des 19. Jh. Hg. Helga Eßmann u. a. Bln. 1996, S. 537–584 – Volker Giel: F. F. Eine poetolog. Biogr. In: Grabbe-Jb. 16 (1997), S. 15–54. – Ders.: F. F. Briefe. Krit. u. komm. Gesamtverz. Repertorium mit Regesten: www.ferdinandfreiligrath.de (1998). – Ders.: Dichtung u. Revolution. Die Lyrik F. F.s u. Georg Herweghs in der Revolution v. 1848/49. Ein analyt. Vergleich. In: Grabbe-Jb. 19/20 (2001), S. 324–350. Volker Giel
Freinsheim, Freinshemius, Freinsheimer, Johannes Caspar, * 16.11.1608 Ulm, † 31.8.1660. – Historiker, Philologe u. Bibliothekar.
Freisinger Ordo Rachelis
Gustav Adolf schrieb er ein ausladendes panegyr. Epos auf Bernhard von Weimar: Teutscher Tugentspiegel von den Stammen und Thaten des Alten und Newen Teutschen Hercules (Straßb. 1639). Das mit reichen histor. Marginalien versehene Werk dokumentiert die nat. Adaption humanistischer Formen u. die Rückwendung zu »altdeutscher« Literatur (humanist. Tacitusexegese, Otfrid, Freidank). Weitere Werke: Orationes cum quibusdam declamationibus. Ffm. 1655 u. 1662. – Briefw. zwischen Matthias Bernegger u. J. F. Hg. Edmund Kelter. In: FS zur 48. Versammlung dt. Philologen. Hbg. 1905, S. 4–72. Literatur: Bibliografie: B. Löw: F. In: Svenskt biogr. Lex. 16 (1964/66). – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 1578–1588. – Weitere Titel: Carl Bünger: Matthias Bernegger. Straßb. 1893, S. 320–331. – Christian Callmer: Königin Christina, ihre Bibliothekare [...]. Stockholm 1977, S. 43–45. – Paul Gerhard Schmidt: Supplemente lat. Prosa in der Neuzeit. Gött. 1964, S. 17–36. – Monika Bopp: Die ›Tannengesellschaft‹. Studien zu einer Straßburger Sprachgesellsch. v. 1633 bis um 1670. Ffm. u. a. 1998, S. 53–59. – Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen ›politischer‹ Größe in Lit. u. Traktatistik des 17. Jh. Tüb. 2002, S. 250–260.
Nach Studien an den Universitäten Marburg (1625), Gießen u. Straßburg (1627) lebte F. als Mitarbeiter im Haus Matthias Berneggers, dessen Tochter Elisabeth er heiratete. Während dieser Zeit widmete er sich philologischen u. editor. Arbeiten: Ausgaben des Publius Annius Florus, (Straßb. 1632) u. – mit Wilhelm Kühlmann eigenen Ergänzungen – des Curtius Rufus (Straßb. 1639) sowie einer Tacitusparaphrase (Straßb. 1641). Vorübergehend stand er im Freisinger Ordo Rachelis. – MittellateiDienst des frz. Rates Michel Marescot (Paris, nisches Weihnachtsspiel des 12. Jh. Metz, Nancy 1633–1635). 1642 folgte er einem Ruf an die schwed. Universität Uppsala Das knapp 100 lat. Verse umfassende Stück ist (Professor für Politik u. Rhetorik) u. wurde in einem um 1200 geschriebenen Lektionar 1647 von Königin Christina zum Hofbiblio- aus Freising überliefert. Da die Handschrift thekar u. Hofhistoriografen (1648–1650) er- neumiert ist, wird es sich um eine Auffühnannt. Neben bibliothekar. Arbeiten verfasste rungsvorlage gehandelt haben. Im MittelF. in diesen Jahren umfangreiche Supple- punkt des Stücks stehen nicht die Weihmente zu den verlorenen Büchern des Livius nachtsereignisse, sondern der bethlehemit. (Stockholm 1649. Forts. Straßb. 1654. Ge- Kindermord. Es wird mit der Anbetung des samtausg. Paris 1679). Nach Deutschland Kindes durch die Hirten eröffnet, der die zurückgekehrt (1652), lebte F. an wechseln- Flucht nach Ägypten folgt. Die Handlung den Orten u. wirkte seit 1656 als Honorar- wird fortgesetzt am Hof des Herodes, der von professor an der Universität Heidelberg. einem »internuntius« erfährt, dass die Hl. F. gehörte zu den bedeutendsten Vertre- Drei Könige seine Pläne durchkreuzt haben u. tern der durch Bernegger repräsentierten auf dem Weg in die Heimat sind. Ein Treffen Straßburger Historikerschule. Regen Anteil der Magi mit Herodes gehörte nicht zu dem nahm er an dem kulturpatriot. Aufschwung Stück. Der »internuntius« schlägt dem wüder dt. Dichtung; er gehörte zu den Mitglie- tenden Herrscher den Kindermord vor. Eine dern der 1633 von Rompler von Löwenhalt als »armiger« bezeichnete Figur wird mit der gegründeten Straßburger Tannengesell- Tötung beauftragt, die dann offenbar pantoschaft. Neben Gelegenheitsgedichten u. a. auf mimisch ausgeführt wurde. Es folgt die Klage
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der Rachel, die, auf Mt 2, 18 (bzw. Ier 31, 15) zurückgehend, hier alle Mütter Bethlehems repräsentiert. Ihr schrecklicher Schmerz wird durch die »consolatrix«, eine in Weihnachtsspielen häufig vorkommende Figur, mit dem Hinweis auf die Märtyrer gelindert. Das 13–15 Darsteller erfordernde Stück wurde wohl am Festtag der Unschuldigen Kinder aufgeführt, vermutlich am Ende der Matutin. Der Text dürfte im monast. Umfeld verfasst worden sein (vielleicht in einer Klosterschule), wie Anleihen bei Autoren wie Notker Balbulus, Sedulius u. Sallust nahelegen. Ausgaben: Karl Weinhold: Weihnachts-Spiele u. Lieder aus Süddtschld. u. Schlesien. Graz 1853. Neudr. 1967, S. 62–65. – Richard Froning: Das Drama des MA. Stgt. 1892. Neudr. 1964, S. 871–874. – Karl Young: O. R. Madison 1919, S. 42–45. – Ders.: The Drama of the Medieval Church. Bd. 2, London 1933. Neudr. 1962, S. 117–120. Literatur: Heinrich Anz: Die lat. Magierspiele. Lpz. 1905, S. 69–78. – Martin Böhme: Das lat. Weihnachtsspiel. Lpz. 1917. – Karl G. Fellerer: Beitr. zur Musikgesch. Freisings. Freising 1926, S. 48–50. – Theo Stemmler: Liturg. Feiern u. geistl. Spiele. Tüb. 1970. – Hansjürgen Linke: F. O. R. In: VL. – Bernd Neumann: Geistl. Schauspiel im Zeugnis der Zeit. 2 Bde., Mchn. 1987. Werner Williams-Krapp / Red.
Frenssen, Gustav, * 19.10.1863 Barlt/ Dithmarschen, † 11.4.1945 Barlt/Dithmarschen; Grabstätte: Wodansberg bei Windbergen/Dithmarschen. – Erzähler. Der Tischlersohn F. studierte Theologie in Tübingen, Berlin u. Kiel u. wirkte 1890–1892 als Diakon in Hennstadt, danach als Pastor in Hemme; aus dieser Tätigkeit gingen die populären volkspädagog. Dorfpredigten (3 Bde., Gött. 1899–1902) hervor. Ab 1902 lebte er als freier Schriftsteller zunächst in Meldorf, ab 1906 in Blankenese, von 1920 bis zu seinem Tod in Barlt. 1903 erhielt er den Doktortitel h. c. der Heidelberger Universität, 1933–1945 war er Mitgl. der Deutschen Akademie der Dichtung in der Preußischen Akademie der Künste, bekam 1936 den Raabe-Preis verliehen, war Ehrensenator des »Reichsverbands Deutscher Schriftsteller«, Mitgl. (neben Al-
fred Rosenberg, Heinrich Himmler, Baldur von Schirach) der nationalsozialist. »Nordischen Gesellschaft« sowie 1936 Gründungsmitgl. des völkischen »Eutiner Dichterkreises«; 1938 erhielt er die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft. F. gehört zu den erfolgreichsten dt. Schriftstellern der ersten Hälfte des 20. Jh. mit einer Gesamtauflage von rd. drei Mio. u. Übersetzungen in 16 Sprachen (bis 1945). Der literarische u. ökonom. Durchbruch gelang ihm mit dem Roman Jörn Uhl (Bln. 1901. Nachdr. der Ausg. Bln. 1913: St. Peter-Ording 1982, bis 1902 bereits über 140.000 Ex.e) über einen jungen norddt. Bauern im Kampf um seine Unabhängigkeit. Es folgten mehrere publikumswirksame, geschickt Zeitthemen aufgreifende Erzählungen u. Romane: u. a. Hilligenlei, eine aktualisierte, freidenkerische Christus-Adaption (Bln. 1905), Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht (Bln. 1906. Windhoek 1998), ein Beitrag zur Kolonialliteratur, u. Klaus Hinrich Baas (Bln. 1909) über den Aufstieg eines holstein. Bauernsohnes zum Hamburger Großkaufmann. Aufsehen erregte F. mit einer betont realitätsnahen Biografie Bismarcks in Form eines Versepos (Bismarck. Bln. 1914). F.s Werk wird der »Heimatkunst« zugerechnet. Als seine literar. Vorbilder nannte er selbst u. a. Storm, Keller, Freytag, Fontane, Raabe u. Hamsun, allen voran aber Dickens. Während er den größten Erfolg mit seinem frühen Jörn Uhl erzielte, dem Musterbeispiel eines trivialen, den Erwartungshorizont eines ländlichen kleinbürgerl. Lesepublikums bestätigenden Heimatromans, wurden seine anspruchsvolleren literar. Werke der 1920er Jahre weniger rezipiert. Nach den dokumentarischen, auch dt. Zeitgeschichte kritisch spiegelnden Briefen aus Amerika (Bln. 1924) als Ergebnis eines halbjährigen Aufenthalts in den USA 1922, folgte als Opus Magnum der u. a. von Hamsun gelobte u. später von Arno Schmidt »wiederentdeckte« Roman Otto Babendiek (Bln. 1926. Recklinghausen 1996). Es handelt sich um die (autobiografisch motivierte) Geschichte eines Schmiedsohnes, der Dichter wird. Mit diesem formal epigonalen, auch von Sprachklischees geprägten Entwicklungsroman gelang F. ein formal diffe-
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renziertes, figurenreiches Sittengemälde der Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. RegionaZeit zwischen Wilhelminismus u. den ersten lismus u. Moderne im Roman. Königst. 1982, Krisenjahren der Weimarer Republik, ideo- S. 113–128. – Klaus Uhde: G. F.s literar. Werdelogiekritisch gewertet »ein exemplarischer gang bis zum Ersten Weltkrieg. Eine kritisch-monograph. Studie zur Entstehung völkischer Lit. Text literarischer und gesellschaftlicher AntiDiss. Mchn. 1983. – Helga Esselborn-Krumbiegel: Moderne« (Mecklenburg). Der ›Held‹ im Roman. Formen des dt. EntwickF., 1896–1903 Mitgl. des »National-Sozia- lungsromans im frühen 20. Jh. Darmst. 1983, len Vereins« Friedrich Naumanns, verfolgte S. 27–78. – Uwe K. Ketelsen: Lit. in der Industridie Bestrebungen der frühen Sozialdemo- alisierungskrise der Jahrhundertwende. Eine hiskratie zeitweise mit Sympathie, lehnte aber tor. Analyse des Erzählkonzepts v. G. F.s Roman später den Weimarer Verfassungsstaat ab. Im ›Jörn Uhl‹. In: Jb. d. Raabe-Gesellsch. 1984, Laufe der 1920er Jahre wandelte er sich vom S. 173–197. – Uwe K. Ketelsen: Lit. u. Drittes Reich. Repräsentanten eines kulturellen u. sozialen 2., durchges. Aufl. Vierow 1994. – Kay Dohnke u. zum Anhänger eines nationalistisch-völk. Dietrich Stein (Hg.): G. F. in seiner Zeit. Von der Massenlit. im Kaiserreich zur Massenideologie im Protestantismus. 1936 vollzog er in Der NS-Staat. Heide 1997 (mit Bibliogr.). – Lawrence D. Glaube der Nordmark (Stgt.) seinen endgültigen Stokes: Der Eutiner Dichterkreis u. der NS Abfall vom traditionellen Christentum u. die 1936–45. Eine Dokumentation. Neumünster 2001. Hinwendung zu einem »altgermanischen«, – Jan Süselbeck: ›Arse=tillery + Säcksualität‹: Arno heidn. Glauben. Die Autobiografie Lebensbe- Schmidts Auseinandersetzung mit G. F. Bielef. richt (Bln. 1940) weist F. als kulturkonserva- 2001. – Andreas Crystall: G. F.: Sein Weg vom tiven u. völk. Heimatschriftsteller aus, dessen Kulturprotestantismus zum NS. Gütersloh 2002. Werk von Fremden- u. GroßstadtfeindlichWilhelm Haefs keit, Antiintellektualismus, von Rassismus u. einem vulgärdarwinist. Biologismus (er propagierte auch den nationalsozialist. Züch- Frentzel, Johann, * 8.5.1609 Annaberg tungsgedanken – zuletzt in Lebenskunde. Bln. (Erzgebirge), † 24.4.1674 Leipzig. – 1942) geprägt ist. F., überzeugter Anhänger Evangelischer Theologe; Dichter von des Nationalsozialismus, stand schließlich Kirchenliedern u. Gelegenheitsgedichten. für einen massiven Antisemitismus u. lieferte auch eine Rechtfertigung der Judenverfol- Nach dem Besuch der Fürstenschule in Meigung (Recht oder Unrecht – Mein Land. Bln. ßen studierte F. seit 1636 in Leipzig (Bacc. art. 16.6.1638, Magisterpromotion 30.01.1640) 1940). Weitere Werke: Die Sandgräfin. Bln. 1896 (R.). u. wurde dort 1658 Professor der Poesie. 1659 – Der Untergang der Anna Hollmann. Bln. 1911 wurde er Vikar am Domstift zu Magdeburg u. (E.). – Die Brüder. Bln. 1917 (R.). – Grübeleien. Bln. Kanonikus am Stift zu Zeitz. 1662 heiratete F. 1920 (Ess. mit 3 Fortsetzungsbdn.). – Der Pastor v. Margarethe Elisabeth, die Tochter des AltenPoggsee. Bln. 1921 (R.). – Lütte Witt. Bln. 1924 (E.). burger Hofmeisters Karl Herold. – Dummhans. Bln. 1929 (R.). – Der brennende Der Poeta laureatus (1650) verfasste eine Baum. Bln. 1931 (E.). – Meino der Prahler. Bln. große Zahl von Gelegenheitsgedichten in lat. 1933 (R.). – Die Witwe v. Husum. Bln. 1935 (E.). u. dt. Sprache, die er vielfach mit Wort- u. Ausgaben: Briefw. mit Marie v. Ebner-Eschen- Buchstabenspielen (Anagrammen) ausstattebach. Hg. Anton Bettelheim. Bln. 1917. – Ges. te. Diese Gedichte wurden häufig in Form Werke. 6 Bde., Bln. 1943. – Texte. Hg. Otto Jordan. von illustrierten Widmungsblättern verbreiBohmstedt 1978. tet. Die Widmungsadressen belegen, dass F. Literatur: Arno Schmidt: Ein unerledigter Fall. für den Adel, die kath. u. evang. Geistlichkeit Zum 100. Geburtstag G. F.s. In: Ders.: Die Ritter sowie die Leipziger Obrigkeit gearbeitet hat vom Geist. Von vergessenen Kollegen. Karlsr. 1965, u. auch Kontakte zu zeitgenöss. Gelehrten S. 90–165. – Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung u. Heimatroman. Stgt. 1975. – Rita (z.B. Johann Praetorius) u. Literaten (z.B. JoThalmann: Protestantisme et Nationalisme en hann Rist) pflegte. Daneben sind drei geistl. Allemagne (de 1900 à 1945). Paris 1976, S. 67–179. Werke u. einige religiöse illustrierte Flug– Otto Jordan: G. F. Bibliogr. Bohmstedt 1978. – blätter zu den Themen der Passion Christi,
Frenzel
des »memento mori« u. der »vanitas« überliefert. Weitere Werke: Lob-Gedicht der wahren u. ungefärbten Gottesfurcht. Auf anacreont. Reim-Art abgesungen. Lpz. 1648. – Triga sermonum sacrorum, quorum I. vulnera, II. sanguinem, III. mortem Jesu Christi repraesentat. Lpz. 1651. – Zehen andächtige Busz-Gesänge [...]. Lpz. 1655. – Phoenix, ex magni genitoris corde renascens. Das ist: Unsterbl. Sachsen-Phoenix, an [...] Johann-Georgen dem Andern [...]. Lpz. 1657. Ausgaben: Fischer-Tümpel 4, S. 55–63. – Flugbl., Bd. 3, Nr. 18, 127, 158, 195–197, 200–201. Literatur: VD 17. – Weitere Titel: Ehel. Verbündniß [...] J. F.s. [...] mit [...] Margarehten Elisabehten [...] in Leipzig angestellet, am 17. Juni, des 1662. Jahrs. o. O. 1662 (mit Beitr. u. a. v. Johann Rist). – Georg Lehmann: Die völlige Erlösung aus allem Leiden [...] Hr. M. J. F. [...] am Tage seiner letzten Beehrung, war der 29. April des 1674sten Jahres [...]. Lpz. 1675 (Leichenpredigt). – Ein Stammbuch aus vier Jh.en. Hg. Johannes Hofmann. Lpz. 1926. – Heiduk/Neumeister, S. 36, 169, 343. – DBA 342,365–375. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 597–599. Eva-Maria Bangerter-Schmid / Red.
Frenzel, Frentzel, Carl (Wilhelm Theodor), * 6.12.1827 Berlin, † 10.6.1914 Berlin; Grabstätte: ebd., Invalidenfriedhof. – Publizist u. Erzähler. F., Sohn eines Restaurators, der ihm eine gründl. Ausbildung finanzierte, schloss seine Studienzeit in Berlin als Dr. phil. 1853 ab. Bereits vor der Revolution hatte er im »Berliner Figaro« kleinere Arbeiten veröffentlicht; während der Märztage 1848 nahm er als Mitherausgeber von »Der Freischärler« unmittelbar am polit. Tagesgeschehen teil. Gutzkow holte ihn als Redakteur 1853 zu seiner Familienzeitschrift »Unterhaltungen am häuslichen Herd«. F.s erfolgreichste Periode setzte ein, als er 1862 das Feuilleton der Berliner »National-Zeitung« übernahm. Die Objektivität seines Urteils sicherte ihm ein Publikum, dessen Geschmack er bis etwa 1890 nachhaltig beeinflusste. Als ihn Julius Rodenberg 1874 für das Amt des Literatur- u. Theaterkritikers der »Deutschen Rundschau« gewann, geriet er in Konkurrenz zu Fontane u. Paul Lindau, der ihm in der Lesergunst den Rang ablief. Die naturalist. Bewegung sah in
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F., der dem poet. Realismus verpflichtet war, einen Vertreter überlebter Kunstauffassung. Mit seinen – bisher wissenschaftlich allerdings kaum beachteten – Essays sowie v. a. mit seinen zahlreichen Romanen u. Novellen, die sich sowohl historischer als auch Gegenwartsstoffe annahmen, eroberte sich F. trotz deren zeitweiliger Beliebtheit nicht die Anerkennung, die er als einflussreicher nationalliberaler Journalist (u. a. aktiv im Verein Berliner Presse) in Preußen über Jahrzehnte genoss. Weitere Werke: Dichter u. Frauen. Studien. 3 Bde., Hann. 1857–66 (Ess.s). – Melusine. Breslau 1860 (R.). – Novellen. Ffm. 1860. – Die drei Grazien. 3 Bde., Breslau 1862 (R.). – Büsten u. Standbilder. Hann. 1864 (Ess.s). – Charlotte Corday. Hann. 1864 (R.). – Papst Ganganelli. 3 Bde., Bln. 1864 (R.). – Watteau. Hann. 1864 (R.). – Auf heimischer Erde. 2 Bde., Hann. 1866 (N.). – Freier Boden. Wien 1867. Hann. 1868 (R.). – Dt. Fahrten. Bln. 1868. – Neue Studien. Bln. 1868. – Im goldenen Zeitalter. 4 Bde., Hann. 1870 (R.). – La Pucelle. 3 Bde., Hann. 1871 (R.). – Geheimnisse. 2 Bde., Lpz. 1871 (N.). – Dt. Kämpfe. Hann. 1873 (Ess.s). – Lucifer. Ein Roman aus der Napoleonischen Zeit. 5 Bde., Lpz. 1873. – Lebensräthsel. 2 Bde., Lpz. 1874 (R.). – Silvia. 4 Bde., Lpz. 1875 (R.). – Renaissance u. Rococo. Studien. Bln. 1876. – Berliner Dramaturgie. 2 Bde., Hann. 1877. – Frau Venus. 2 Bde., Stgt. 1880 (R.). – Die Geschwister. 4 Bde., Bln. 1881 (R.). – Die Uhr. Aufzeichnungen eines Hagestolzen. Lpz. 1881 (N.). – Der Hausfreund. Lpz. 1883 (N.). – Die Kunst u. das Strafgesetz. Bln. 1895. – Neue Novellen. 2 Bde., Bln. 1886. – Dunst. Bln. 1887 (R.). – Erinnerungen u. Strömungen. Lpz. 1890. Ausgabe: Ges. Werke. 6 Bde., Lpz. 1890–92. – ›Ihm war nichts fest und alles problematisch‹. K. F.s Erinnerungen an Karl Gutzkow. Mit einigen ungedr. Briefen Gutzkows an F. Hg. Wolfgang Rasch. Bargfeld 1994. Literatur: Goedeke Forts. (Werkverz.). – Wilmont Haacke: Hdb. der Zeitungswiss. Bd. 1, Lpz. 1940, Sp. 1178–1180. – Ders.: F. In: NDB. – Hartmut Eggert: Studien zur Wirkungsgesch. des dt. histor. Romans 1850–75. Ffm. 1971, passim. – Hartmut Baseler: Gerhart Hauptmanns soziales Drama ›Vor Sonnenaufgang‹ im Spiegel der zeitgenöss. Kritik. Diss. Kiel 1993. – Nina Peters: ›Sie kennen dies Gebiet wie die Friedrichstrasse‹. Der Schriftsteller K. F. u. seine Beziehung zu Karl Gutzkow. In: Berliner H.e zur Gesch. des literar. Lebens 6 (2004), S. 85–104. Roland Berbig / Red.
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Fresenius, August, * 25.4.1789 Friedberg/ Hessen, † 8.12.1813 Homburg/Höhe. – Dramatiker u. Lyriker.
Freud Krit. Studienausg. Hg. Burghard Dedner. Ffm. 1987, S. 335 f. E. Theodor Voss / Red.
Der jüngere Sohn des hessisch-homburgi- Freud, Sigmund (eigentl. Sigismund schen Hofbeamten u. Dramatikers Johann Schlomo), * 6.5.1856 Freiberg/Mähren, Christian Fresenius begann 1811 ein Theo- † 23.9.1939 London; Grabstätte: ebd., logiestudium in Gießen, wo er enge Freund- Krematorium Golder’s Green. – Begrünschaft mit Friedrich Ludwig Weidig schloss, der der Psychoanalyse. dem späteren Mitverfasser des »Hessischen Nach übereinstimmender Auskunft seiner Landboten«. Im gleichen Jahr ging F. nach Biografen führte F. eine äußerlich undramaHeidelberg, wo die alten Sprachen u. die tische Existenz als Arzt u. Gelehrter, die er schönen Wissenschaften ins Zentrum seines mit einer »geradezu aggressiven Diskretion« Interesses rückten. Schon während des Stu(Ludwig Marcuse) gegen neugierige Blicke diums als Hauslehrer tätig, wurde er 1813 abschirmte. Gleichwohl ist die Nachwelt Schulrektor in Homburg, verstarb aber bald dank einer Fülle von primären Quellen u. an »Nervenfieber«. Zeugnissen, nicht zuletzt einer (bis heute Neben einem Band Gedichte (Darmst. 1812) nicht vollständig veröffentlichten) umfangverfasste F. die literarhistorisch bedeutsame reichen Korrespondenz, über F.s Leben ausTragödie Thomas Aniello, eine der (seit Chrisgezeichnet informiert. Sein Vater Kallamon tian Weise) zahlreichen Behandlungen Jacob F., der aus Galizien ins ostmähr. FreiMasaniellos, der Hauptfigur im neapolitan. berg (heute Prˇ ibor) übergesiedelt war, betrieb Volksaufstand von 1647. F. stützte sich ofeinen eher bescheidenen Handel mit Textilfenbar auf die Darstellung August Gottlieb waren. In zweiter oder dritter Ehe – was bis Meißners von 1784, wurde aber möglicherheute ungeklärt ist – hatte er Amalia Naweise auch angeregt durch Gespräche mit thanson, F.s Mutter, geheiratet, die wie Jacob Weidig. Als »Revolutionsstück eines jung aus einer jüd. Kaufmannsfamilie stammte. verstorbenen, mit Weidig befreundeten hesObwohl gänzlich unreligiös, bekannte sich F. sischen Dichters« wurde das Drama später zeitlebens selbstbewusst zu seinem Judenwiederholt Büchner zugeschrieben. Kein Getum – als ein »gottloser Jude«. Nach einer ringerer als Börne bemerkte in F.’ FreiheitsZwischenstation in Leipzig (1859) zog die drama »eine große, obzwar noch wilde unFamilie 1860 nach Wien um, wo F. bis zu gezähmte Kraft« u. gar »Shakespearegeist«. seiner erzwungenen Emigration (1938) 78 Das 1811 entstandene, teils in Prosa, teils in Jahre lebte. 5-füßigen Jamben gehaltene, durch häufige Nach dem Besuch des humanist. GymnaSzenenwechsel u. derbe Volksszenen an siums studierte F. von 1873 an Medizin. Zu Sturm u. Drang-Dramen erinnernde Stück seinen Lehrern gehörten der Zoologe Carl wurde 1818 auf Veranlassung von Heinrich Clauss u. der renommierte Physiologe Ernst Voss d.J., F.’ akademischem Lehrer, als erster Wilhelm von Brücke, an dessen Institut er Band der nicht weitergeführten Hinterlassenen von 1876 bis 1882 arbeitete. Die Erfahrungen Schriften (Ffm.) von Fouqué aus dem Nachlass am Brücke’schen Institut waren für den junherausgegeben. gen F. bes. wichtig, da er hier die neue antiLiteratur: Robert Niederhoff: A. F. Ein Fried- vitalist. Physiologieschule Hermann Helmberger Dichter. In: Friedberger Geschichtsbl. 11 holtz’ u. Emil Du Bois Reymonds kennen(1934), S. 179–188. – Edith S. Gilmore: The Masalernte, die F.s psychologisches Denken – die niello Theme in German Literature. Diss. Yale 1950 (Mikrofilm), S. 58 ff. – Arno Schmidt: Fouqué u. Annahme der funktionellen Abhängigkeit einige seiner Zeitgenossen. Darmst. 1958, S. 407 f. seelischer Vorgänge von den Reizleitungen – E. Theodor Voss: Arkadien in Büchners ›Leonce des Nervensystems u. die Idee eines »psychiund Lena‹. In: Georg Büchner. ›Leonce und Lena‹. schen Apparats« – maßgeblich prägte. Zgl. diente F. die bei Brücke kultivierte Erfahrungs- u. Beobachtungswissenschaft dazu,
Freud
etwaige Neigungen zu philosophischer Spekulation entschieden einzudämmen; F. verdankt seine lebenslange antimetaphys. Einstellung der frühen Begegnung nicht nur mit den Lehren der Helmholtz-Schule, sondern auch mit denen des Darwinismus, die schon den Gymnasiasten beeindruckt hatten. Da ihm eine weitere wiss. Karriere am BrückeInstitut versperrt war, sah sich F. aus Gelderwerbsgründen genötigt, eine Tätigkeit am Wiener Allgemeinen Krankenhaus aufzunehmen. Nebenher studierte er im Laboratorium des Hirnanatomen Theodor Meynert das menschl. Zentralnervensystem, womit seine Spezialisierung zum Neuropathologen vorgezeichnet war. In diese Zeit (1884) fallen auch F.s Experimente mit Kokain. 1885 wurde er zum Privatdozenten ernannt, im selben Jahr erhielt er ein Stipendium, das es ihm erlaubte, ein halbes Jahr an der Pariser Salpêtrière bei dem berühmten Psychiater Jean-Martin Charcot zu lernen. Um finanziell auf eigenen Füßen zu stehen, eröffnete F. 1886 eine neurolog. Privatpraxis, zumal er in diesem Jahr nach vierjähriger Verlobungszeit Martha Bernays geheiratet hatte, mit der er sechs Kinder (Mathilde, Jean-Martin, Oliver, Ernst, Sophie, Anna) haben sollte. In der Folgezeit entdeckte er, gemeinsam mit dem Arzt Josef Breuer – dessen Patientin »Anna O.« (Bertha Pappenheim) F.s Anteilnahme u. wiss. Interesse weckte –, auf dem Weg der Hypnosebehandlung den für die Psychoanalyse zentralen Unterschied zwischen bewussten u. unbewussten seel. Vorgängen. 1895, als die Phase ihrer engen Kooperation bereits vorüber war, publizierten F. u. Breuer ihre Studien über Hysterie (Wien), ein Buch, »von dem die Psychoanalyse ihren Ausgang nahm« (K. R. Eissler), gewissermaßen das »Urbuch der Psychoanalyse« (Ilse Grubrich-Simitis). Erstmals formulierte F. hier seine Idee des sexuellen Ursprungs hysterischer Erkrankungen, die Breuer nicht zu teilen vermochte. Im wiss. Austausch mit dem Berliner Hals-Nasen-Ohren-Arzt Wilhelm Fließ, mit dem er in den 1890er Jahren eine intime Korrespondenz pflegte, entwickelte F. zwischen 1896 u. 1899 die Grundzüge der Psychoanalyse, d.h. die Lehre vom Unbewussten, von Verdrängung u. Wider-
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stand, die schließlich in der Traumdeutung (Lpz./Wien 1900) ihren gültigen Ausdruck fand. In diesem Grundlagenwerk formulierte F. seine wesentl. Erkenntnisse vom unbewussten Seelenleben, die er später zwar im Detail modifizierte u. ausbaute, aber im Ganzen beibehielt. In der Traumdeutung demonstrierte F., dass die scheinbar sinnlosen, chaot. Produktionen, die der Traum hervorbringt, durchaus einen »Sinn« haben, freilich einen, der ihm auf spezif. Weise abgelesen werden muss. Indem F. die Gesetze der Traumarbeit entzifferte, machte er den Traum einer Deutung zugänglich, die den vermeintl. Un-Sinn als unbewussten Sinn begreift. Mit seiner neuen Psychologie blieb F. zunächst relativ isoliert. Ab 1902 konnte er erste Anhänger um sich versammeln, die sich als »Psychologische Mittwochs-Gesellschaft« wöchentlich in F.s Wohnung in der Berggasse 19 einfanden u. der Psychoanalyse in ärztlichen wie nichtärtztl. Kreisen allmählich Reputation verschafften. Währenddessen publizierte F. in dichter Folge eine Reihe von Schriften, die das Fundament seiner Lehre wesentlich erweiterten. 1901 erschien Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Bln.), in der F. gewöhnl. Zufallshandlungen u. Fehlleistungen wie Vergessen, Versprechen, Verschreiben im Sinne eines unvollkommen verdrängten psych. Materials deutete. 1905 veröffentlichte er zwei weitere grundlegende Werke, die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Lpz./Wien) u. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (Lpz./Wien). Akzentuierte ersteres die Rolle des sexuellen Wunsches, des Lustprinzips u. der Unlustvermeidung für die psychophys. Entwicklung des Individuums von frühauf, so wies letzteres nach, dass der Lustgewinn, den der Witz bietet, aus jener psych. Hemmungsersparnis resultiert, die das infantile Lusterleben charakterisiert. Mit diesen Arbeiten, die gleichsam den orthodoxen Fundus der Psychoanalyse bilden, gelang es F., bedeutende Parteigänger zu gewinnen. Ernest Jones, F.s späterer Biograf, bekannte sich ebenso zu F.s Lehre wie die Schweizer Psychiater Eugen Bleuler u. Carl Gustav Jung (der sich allerdings nach wenigen Jahren von der F.-Schule trennte u. eige-
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ne Wege ging), die Österreicher Alfred Adler u. Otto Rank, der ungar. Arzt Sándor Ferenczi u. die Deutschen Karl Abraham, Max Eitingon u. Hanns Sachs sowie die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé. Neben der wiss. Fortentwicklung seiner Psychologie widmete F. sich mit Geschick u. Tatkraft organisatorischen u. institutionellen Problemen: 1908 wurde die »Wiener Psychoanalytische Vereinigung« gegründet, im selben Jahr tagte der erste »Internationale Psychoanalytische Kongreß« in Salzburg. 1910 folgte die Gründung der »Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung«. Eine Vortragsreise in die USA, die F. 1909 in Begleitung von Ferenczi u. Jung absolvierte, machte die Psychoanalyse auch in der Neuen Welt bekannt, ja schon bald populär. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs veröffentlichte F. nicht nur einige seiner berühmtesten Fallgeschichten – Bruchstück einer Hysterie-Analyse (Bln. 1905) u. Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (in: Jb. für psychoanalyt. u. psychopatholog. Forsch. 1, 1909, S. 1–109) –, sondern auch eine Reihe von Arbeiten zur sog. angewandten Psychoanalyse, die sich mit Gegenständen der bildenden Kunst u. Literatur beschäftigen, so die Schriften Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹ (Lpz. 1907), Der Dichter und das Phantasieren (in: Neue Revue 10, 1908, S. 716–724), Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (Lpz. 1910) u. Der Moses des Michelangelo (anonym in: Imago 3, 1914, S. 15–36). Auch scheute sich F. nicht, mit populären sexualaufklärer. Beiträgen, etwa Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (in: Mutterschutz, N. F., 4, 1908), in aktuelle zeitgenöss. Debatten über vor- u. außerehel. Sexualität einzugreifen. Mit dem Erscheinen von Totem und Tabu (Wien 1913), einem Werk, in dem F. anhand von ethnologischem Material eine psycholog. Deutung der Urgesellschaft versuchte u. die historischgesellschaftl. Ubiquität des sog. Ödipuskomplexes (»Vatermord«) behauptete, etablierte sich der Psychologe des Unbewussten endgültig als Kulturtheoretiker. Der Krieg, der F. anfangs als k. u. k. Patrioten sah, bedeutete eine tiefe Zäsur in sein Leben u. Werk. Je länger der Krieg dauerte –
Freud
seine Söhne standen im Feld –, desto drängender beschäftigte F. die Frage nach den psych. Ursachen menschlicher Aggression. In der Schrift Zeitgemäßes über Krieg und Tod (in: Imago 4, 1915, S. 1–21) wagte er sich erstmals an die Frage, warum trotz des kulturell geforderten Tötungsverbots (»Du sollst nicht töten«) immer wieder individuelle u. kollektive Tötungshandlungen durchbrechen. Seine Antwort lässt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig: Aus Überlebensgründen ist die Kultur zwar notwendig, aber sie ist immer nur ein fragiler »Überbau«, der in sich zusammenfällt, sobald starke menschl. Triebe u. Leidenschaften wie Liebe, Hass u. Aggression ins Spiel kommen. In der Folge sah sich F. daher genötigt, sein ursprüngl. Triebmodell – den Dualismus von Sexual- u. Ich- bzw. Selbsterhaltungstrieben – durch einen neuen Triebdualismus zu ersetzen, weil er erkannt zu haben glaubte, dass er Existenz u. Wirkung der Aggression bis dahin zu wenig bedacht hatte. In der Arbeit Jenseits des Lustprinzips (Lpz./Wien/Zürich 1920) stellte er den lebenserhaltenden Trieben, einschließlich der sexuellen Triebstrebungen, explizit einen Todestrieb gegenüber, dessen stumme Tätigkeit darin bestehe, alles Lebendige in den Zustand des Anorganischen zurückzuführen. Mit seinem Buch Das Ich und das Es (Lpz./Wien/Zürich 1923) leistete F. seinen letzten großen theoret. Beitrag zum Verständnis seelischer Vorgänge, indem er das ältere topograf. Modell – die Einteilung der Psyche in Bewusstes, Vorbewusstes u. Unbewusstes – durch das Strukturmodell von Es, Ich u. Über-Ich ersetzte. Zuvor schon hatte F. in einer Reihe kleinerer Arbeiten die fundamentale u. begrifflich abstrakteste Zusammenfassung (»Metapsychologie«) seines Verständnisses einer Psychologie des Unbewussten vorgelegt. Die späten Werke F.s, so die religionskrit. Studie Die Zukunft einer Illusion (Lpz./Wien/ Zürich 1927) u. Das Unbehagen in der Kultur (Wien 1930), in dem F. die menschl. Existenz als vom Kampf der Antagonisten Eros u. Thanatos determiniert sieht, dokumentieren eindrucksvoll seinen langen Weg von einer streng naturwissenschaftlich geprägten Medizin u. Psychologie zu Philosophie, Sozial-
Freud
psychologie u. Kulturtheorie. F.s Alterswerk sucht Antworten auf die großen Fragen der Menschheit, wovon etwa der Briefwechsel mit Albert Einstein (Warum Krieg? Paris 1932) u. der »historische Roman« Der Mann Moses und die monotheistische Religion (Amsterd. 1939) zeugen. Obwohl F., darin der pessimist. Willensmetaphysik Arthur Schopenhauers u. den vernunftsubversiven Einsichten Friedrich Nietzsches folgend, den Anstrengungen u. Absichten der Ratio höchst skeptisch begegnete, blieb er, der Bewunderer Lessings, Goethes u. Heines, ein Mann der Aufklärung. Der von ihm diagnostizierten Götterdämmerung der Vernunft zum Trotz bekannte sich F. zum »Gott Logos«. Gegen die Vergötzung des Irrationalismus, wie er in den 1920er u. 1930er Jahren um sich griff, war F. gründlich gefeit. Seine Schriften – Dokumente eines um gedankliche u. begriffl. Klarheit bemühten Denkens – wurden am 10.5.1933 von den Nationalsozialisten dem Scheiterhaufen überantwortet. Nach dem gewaltsamen »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 wurden F. u. seine Familie zur Emigration gezwungen. Der Schöpfer der Psychoanalyse starb ein Jahr später im Londoner Exil an den Folgen eines langjährigen Krebsleidens. Nach F.s Tod hat sich die Psychoanalyse vielfältig weiterentwickelt u. differenziert. In den USA erlangte sie v. a. als Ich-Psychologie u. Narzissmustheorie große Wirkung. In Europa erschlossen F.s Tochter Anna u. ihre Mitarbeiter mit der Kinder- u. Entwicklungspsychologie der Psychoanalyse neue Anwendungsfelder. Von F.s Schüler Sándor Ferenczi erhielt die psychoanalyt. Objektbeziehungstheorie entscheidende Anregungen. Ähnliches gilt für das Werk Melanie Kleins, das bes. sog. frühe Störungen in den Blick nimmt. In Frankreich sorgt die in vielem heterodoxe F.-Lesart Jacques Lacans unter dem Motto »Zurück zu F.« für lebendige u. kontroverse psychoanalyt. Debatten. Im deutschsprachigen Raum hat sich noch am ehesten der Traditionsstrang der F.’schen Kulturtheorie erhalten. Insg. existiert rd. 70 Jahre nach F.s Tod eine Vielzahl psychoanalytischer Schulen u. Richtungen, die um ein je
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eigenes Profil bemüht sind. Über den Kreis der praktizierenden u. wissenschaftlich forschenden Psychoanalytiker hinaus haben psychoanalyt. Erkenntnisse u. Methoden längst Eingang in Soziologie u. Politologie, in Pädagogik, Ethnologie u. Religionswissenschaft, in Literaturwissenschaft u. Philosophie gefunden. Man kann feststellen, dass F. heute international seinen stärksten Auftritt in den Kulturwissenschaften hat, wozu nicht zuletzt die Entdeckung beigetragen hat, dass F. ein großer Prosaschriftsteller war. Weitere Werke: Über Coca. Wien 1885. – Zur Auffassung der Aphasien. Lpz./Wien 1891. – Die infantile Cerebrallähmung. Wien 1897. – Über Psychoanalyse. Lpz./Wien 1910. – Vorlesungen zur Einf. in die Psychoanalyse. 3 Tle., Wien 1916/17. – Massenpsychologie u. Ich-Analyse. Lpz./Wien/Zürich 1921. – Hemmung, Symptom u. Angst. Lpz./ Wien/Zürich 1926. – Die Frage der Laienanalyse. Lpz./Wien/Zürich 1926. – Neue Folge der Vorlesungen zur Einf. in die Psychoanalyse. Wien 1933. – Briefe: S. F.: Briefe 1873–1939. Ffm. 1960. – S. F. – Oskar Pfister: Briefe 1909–39. Ffm 1963. – S. F. – Karl Abraham: Briefe 1907–26. Ffm. 1965. – S. F. – Lou Andreas-Salomé: Briefw. Ffm. 1966. – S. F. – Arnold Zweig: Briefw. Ffm. 1968. – S. F.: Brautbriefe. Ffm. 1968. – S. F. – Georg Groddeck: Briefw. Wiesb. 1970. – S. F. – Edoardo Weiss: Briefe zur psychoanalyt. Praxis. Ffm. 1973. – S. F. – C. G. Jung: Briefw. Ffm. 1974. – S. F.: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ffm. 1986. – S. F.: Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–81. Ffm. 1989. – S. F. – Ludwig Binswanger: Briefw. 1908–38. Ffm. 1992. – The Complete Correspondence of S. F. and Ernest Jones 1908–39. Cambridge/London 1993. – S. F. – Sandor Ferenczi: Briefw. 3 Bde. in 6 Tln., Wien/ Köln/Weimar 1993–2005. – S. F.: Unser Herz zeigt nach dem Süden. Reisebriefe 1895–1923. Bln. 2002. – S. F. – Max Eitingon: Briefw. 1906–39. Tüb. 2004. – S. F. – Minna Bernays: Briefw. 1882–1938. Tüb. 2005. – S. F. –Anna F.: Briefw. 1904–38. Ffm. 2006. Ausgaben: Gesamtausgaben: Ges. Werke (chronolog. geordnet). 18 Bde. u. ein nicht nummerierter Nachtragsbd. Bde. 1–17, London 1940–52. Bd. 18, Ffm. 1968. Nachtragsbd., Ffm. 1987. – The Standard Edition of the Complete Psychological Works of S. F. 24 Bde., London 1953–74. – Teilausgaben: Ges. Schr.en. 12 Bde., Wien 1924–34. – Studienausg. 10 Bde. u. ein nicht nummerierter Erg.-Bd., Ffm. 1969–75. Literatur: Bibliografien: Bibliographie des écrits de F. En français, allemand et anglais. Paris 1973. –
577 The Standard Edition (s. o.). Bd. 24, London 1974. – Ingeborg Meyer-Palmedo u. Gerhard Fichtner: S. F. Konkordanz u. Gesamtbibliogr. Ffm. 1999. – Gesamtwürdigungen: Alfred Schöpf: S. F. Mchn. 1982. – Hans-Martin Lohmann: F. zur Einf. Hbg. 1986. – Ders.: S. F. Reinb. 1998. – Ders. u. Joachim Pfeiffer (Hg.): F.-Hdb. Leben – Werk – Wirkung. Stgt. 2006. – Biografien: Ernest Jones: Das Leben u. Werk v. S. F. 3 Bde., Bern/Stgt./Wien 1960–62. – Max Schur: S. F. Leben u. Sterben. Ffm. 1973. – S. F. Sein Leben in Bildern u. Texten. Mit einer biogr. Skizze v. Kurt R. Eissler. Ffm. 1976. – Ronald W. Clark: S. F. Ffm. 1981. – Siegfried Bernfeld u. Suzanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der F-Biographik. Ffm. 1981. – Peter Gay: F. Eine Biogr. für unsere Zeit. Ffm. 1989. – Jürg Kollbrunner: Der kranke F. Stgt. 2001. – F.s Library. A Comprehensive Catalogue./F.s Bibl. Vollst. Kat. Bearb. u. hg. v. J. Keith Davies u. Gerhard Fichtner. London/Tüb. 2006. – Geschichte: Edward Glover: F. or Jung. New York 1956. – Ludwig Binswanger: Erinnerungen an S. F. Bern 1956. – Henry F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. 2 Bde., Bern/Stgt./Wien 1973. – Protokolle der Wiener Psychoanalyt. Vereinigung. 4 Bde., Ffm. 1976–81. – Tilman J. Elliger: S. F. u. die akadem. Psychologie. Weinheim 1986. – Estelle Roith: The Riddle of F. Jewish Influences on his Theory of Female Sexuality. London 1987. – Sander L. Gilman: F., Identität u. Geschlecht. Ffm. 1993. – Eli Zaretsky: F.s Jahrhundert. Die Gesch. der Psychoanalyse. Wien 2006. – Wirkungen: Philosophie: Herbert Marcuse: Eros u. Kultur. Ein philosoph. Beitr. zu S. F. Stgt. 1957. – Paul Ricœur: Die Interpr. Ein Versuch über F. Ffm. 1969. – Marthe Robert: S. F. zwischen Moses u. Ödipus. Mchn. 1975. – Frank J. Sulloway: F. Biologe der Seele. Köln 1982. – Adolf Grünbaum: The Foundations of Psychoanalysis. Berkeley 1984. – Odo Marquard: Transzendentaler Idealismus, Romant. Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln 1987. – Soziologie: Helmut Dahmer: Libido u. Gesellsch. Studien über F. u. die F.sche Linke. Ffm. 1973. – Michael S. Roth (Hg.): F. Conflict and Culture. New York 1998. – José Brunner: Psyche u. Macht. F. politisch lesen. Stgt. 2001. – Religionswissenschaft: E. Jones: Zur Psychoanalyse der christl. Religion. Ffm. 1970. – Yosef Hayim Yerushalmi: F.s Moses. Endl. u. unendl. Judentum. Bln. 1992. – Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Mchn./Wien 1998. – Richard J. Bernstein: F. u. das Vermächtnis des Moses. Bln./Wien 2003. – Literaturwissenschaft: Marie Bonaparte: Edgar Poe. Eine psychoanalyt. Studie. 3 Bde., Wien 1934. – Kurt R. Eissler: Goethe. Eine psychanalyt. Studie 1775–86. 2 Bde., Basel/Ffm. 1983–85. – Kunstwissenschaft: Meyer Schapiro: Leonardo and F. An Art-Historical
Freudenleere Study. In: Journal of the History of Ideas 17 (1956), S. 147–178. – Kurt R. Eissler: Leonardo da Vinci. Psychoanalyt. Notizen zu einem Rätsel. Basel/Ffm. 1992. – Ilse Grubrich-Simitis: Michelangelos Moses u. F.s ›Wagstück‹. Eine Collage. Ffm. 2004. – Weitere Titel: Marthe Robert: Die Revolution der Psychoanalyse. Ffm. 1967. – Walter Schönau: S. F.s Prosa. Elemente seines Stils. Stgt. 1968. – Walter Muschg: F. als Schriftsteller. Mchn. 1975. – Patrick Mahony: Der Schriftsteller S. F. Ffm. 1989. – I. Grubrich-Simitis: Zurück zu F.s Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Ffm. 1993. – Georges-Arthur Goldschmidt: Als F. das Meer sah. F. u. die dt. Sprache. Zürich 1999. – Paola Traverso: ›Psyche ist ein griechisches Wort...‹ Rezeption u. Wirkung der Antike im Werk v. S. F. Ffm. 2003. Hans-Martin Lohmann
Der Freudenleere. – Verfasser eines spätmittelalterlichen Versschwanks aus dem letzten Drittel des 13. Jh. Von dem Dichter, der sich mit dem Heischegestus des Fahrenden im Prolog seiner Erzählung Der Wiener Meerfahrt den sprechenden Namen »der F.« beilegt, ist nur dieses eine schwankhafte Märe überliefert. Sein Gedicht – 706 Verse in Abschnitten zu neun bis 29 Reimpaaren, welche immer mit einem Dreireim schließen – dürfte zwischen 1271 u. 1291 in der böhmisch-österr. Literaturlandschaft als Satire auf die neuadligen u. neureichen Wiener Patrizier für ein Publikum gedichtet worden sein, das dem alten, böhmisch-österr. Landadel angehörte. Der Dichter, der die Geschichte von einem adligen Gewährsmann – wohl Hermann von Döben/ Dewin aus dem Geschlecht der Starkenberger – übernommen haben will, stellt zunächst in der Tradition der topischen Zeitklage der positiven Vergangenheit die negative Gegenwart gegenüber, in der Gut über Ehre u. Knauserei über rechte Lebensart gingen. Als Beispiel für das schändl. Wohlleben der Geizigen erzählt er dann von der Wiener Meerfahrt. Auf das satirisch-iron. Lob des reichen Wien u. die Schelte erbarmungsloser Habgier der Wiener Gastwirte folgt die Neugestaltung eines schon im Anekdotenschatz der Antike nachweisbaren Exempels: Einst fanden sich reiche Wiener Bürger auf dem Söller eines Wirtshauses zu einem Ess- u. Trinkgelage
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zusammen. Man brüstet sich mit Reiseabenteuern – da kommt einer auf den weinseligen Gedanken, eine Pilgerfahrt ins Hl. Land anzuregen. Schon wird der Söller zum Schiff. Man stattet sich reichlich mit Speise u. Trank aus, singt das Pilgerlied »In Gottes Namen fahren wir« u. ergeht sich bei fortschreitender Trunkenheit in rührselig-frommen Betrachtungen. Als keiner mehr aufrecht stehen oder sitzen kann, scheint den Zechern ein Seesturm ausgebrochen zu sein, Schiffbruch zu drohen. Man meint, in einem volltrunken am Boden liegenden Kumpan einen Toten zu erkennen, den man, um das Meer zu besänftigen, ungeachtet aller Gegenwehr über Bord, d.h. vom Söller auf die Straße wirft, wo er sich Arm u. Bein bricht. Erst nach drei Tagen erkennen die Ausgenüchterten den Schaden u. müssen mit saurer Miene dem Geschädigten eine Buße leisten, welche die Kosten einer wirkl. Fahrt ins Hl. Land übersteigt. Von der Moral der Geschichte, welche vor übermäßigem Weingenuss warnt, nimmt der F. ironisch den Geizigen aus, der sich allenfalls im Weinrausch zur Freigebigkeit bewegen lasse. Der Erzähler ist v. a. bedacht auf die komische Darstellung des Rausches u. des durch ihn bedingten Realitätsverlustes der zechenden Wiener Bürger. Sprachwitz u. die den Text durchziehende Verkehrung religiöser Vorstellungen können als seine spezif. Leistung bei der Anverwandlung des antiken Exempels gelten. Ausgaben: Hans Lambel (Hg.): E.en u. Schwänke. Lpz. 21883, S. 225–250. – Richard Newald (Hg.): Der Wiener Meerfahrt. Heidelb. 1930. Literatur: Hans-Friedrich Rosenfeld: Der F. In: VL. – Fritz Peter Knapp: ›Der Wiener Meerfahrt‹ v. dem F.: eine böhm. Satire auf das Wiener Ritterbürgertum? In: ›Ze hove und an der strâzen‹. Die dt. Lit. des MA u. ihr ›Sitz im Leben‹. Hg. Anna Keck u. Theodor Nolte. Stgt./Lpz. 1999, S. 61–70. Ernst Hellgardt / Corinna Laude
Freumbichler, Johannes, * 22.10.1881 Henndorf/Wallersee, † 11.2.1949 Salzburg. – Erzähler. F., Großvater von Thomas Bernhard, entstammte einer im Salzburgischen ansässigen Familie von Bauern u. Kaufleuten. Spielten
Menschen u. Sprache dieser Landschaft in seinem Werk eine bestimmende Rolle, so verlief sein Leben in scharfem Kontrast zu den überlieferten Werten der bäuerl. Welt. Früh fühlte er sich zum Schriftsteller berufen. Der Besuch des Technikums in Ilmenau u. Basel u. gelegentl. Berufstätigkeit blieben Episode: F. führte das Leben eines freien Schriftstellers (u. a. in Bozen, München, Wien u. Seekirchen), freilich unter schwierigsten Umständen. Mangelnder Erfolg machte ihn zeitlebens von der Unterstützung Angehöriger abhängig. Seine Situation verbesserte sich auch nicht durchschlagend, als ihm der nach Fürsprache Carl Zuckmayers veröffentlichte Roman Philomena Ellenhub (Wien 1937. Bln. 4 1982) den Österreichischen Staatspreis eingetragen hatte. In diesem »Salzburger Bauernroman« schilderte F. – fernab der gängigen Klischees von Heimatidylle u. der ideolog. Verklärung des bäuerl. Lebens – anhand der Entwicklung einer Magd die Lebensverhältnisse auf dem Land in der Zeit um 1848. Auch die in der Folge veröffentlichten Werke – so etwa der in der Tradition Gottfried Kellers stehende Bildungsroman Auszug und Heimkehr des Jodok Fink (Tüb. 1942. Stgt. 6 1950) – lagen zu weit ab von zeitgenöss. Strömungen, um nachhaltigere Wirkung zu erzielen. Das konsequente Einzelgängertum F.s findet sich dokumentiert in den autobiogr. Schriften seines Enkels Thomas Bernhard, der sich stark vom Großvater beeinflusst sah. Weitere Werke: Eduard Aring. Bln. 1918 (R.). – Atahuala oder Die Suche nach einem Verschollenen. Wien 1938 (R.). – Gesch.n aus dem Salzburgischen. Wien 1938. – Die Reise nach Waldprechting. Mühlacker 1942 (E.). – Rosmarin u. Nelken. Salzb. 1952 (Mundartgedichte). Literatur: Bernd Seydel: Die Vernunft der Winterkälte. Würzb. 1986. – Caroline Markolin: Die Großväter sind die Lehrer. J. F. u. sein Enkel Thomas Bernhard. Salzb. 1988. – Louis Huguet: Chronologie. J. F., Thomas Bernhard. Übers. v. Renate Langer. Hg. u. Vorw. v. Hans Höller. Weitra 1996. – C. Markolin: F. – Bernhard. Versuch einer Inszenierung. In: Bernhard-Tage (Ohlsdorf 1996). Hg. Franz Gebesmair. Weitra 1998, S. 13–49. – Manfred Mittermayer (Hg.): Thomas Bernhard, J. F., Hedwig Stavianicek. Bilder, Dokumente, Ess.s. Linz 1999. – Ders. u. F. Gebesmair (Hg.): Bernhard-
579 Tage Ohlsdorf. ›In die entgegengesetzte Richtung‹. Thomas Bernhard u. sein Großvater J. F. Weitra 2000. – Jerker Spits: ›Die Großväter sind die Lehrer‹. Thomas Bernhard über den Schriftsteller J. F. In: Künstler-Bilder. Hg. Hans Ester u. Guillaume van Gemert. Amsterd. u. a. 2003, S. 105–127. – Bernhard Judex: Überlegungen über den literar. Nachl. J. F.s. In: Thomas-Bernhard-Jb. (2003), S. 169–184. Volker Schindler / Red.
Freundlich, Elisabeth, auch: Elisabeth Lanzer, * 21.7.1906 Wien, † 25.1.2001 Wien. – Journalistin, Schriftstellerin. Die Tochter eines sozialdemokrat. Advokaten, der bis 1934 Mitgl. des Verfassungsgerichtshofs u. Präsident der Arbeiterbank war, studierte in Wien Germanistik, Romanistik u. Theaterwissenschaft u. wurde 1931 zum Dr. phil. promoviert (Clemens Brentano und die Bühne). Sie arbeitete bei Theater u. Film, war 1932 Regieassistentin bei Georg Wilhelm Pabst in Berlin, schrieb u. a. für »Die Wiener Weltbühne« u. engagierte sich seit 1934 politisch im Rahmen einer internat. Friedensinitiative. 1938 emigrierte F. nach Paris u. war dort Mitgründerin der »Liga für das geistige Österreich« (»Ligue de l’Autriche vivante«), zu der prominente Künstler u. Schriftsteller wie Joseph Roth, Franz Werfel u. Alfred Polgar zählten. 1940 floh sie über Spanien in die USA. In New York gab F., die nach einem bibliothekswiss. Studium an der Columbia University (1943 Master of Arts) als Sachbearbeiterin am Metropolitan Museum of Art arbeitete, die Literaturbeilage der »Austro American Tribune« heraus. Für diese Emigrantenzeitschrift gewann sie Autoren wie Bertolt Brecht, Hermann Broch, Berthold Viertel u. Günther Anders, ihren späteren Mann, als ständige Mitarbeiter. Sie war auch Dozentin für Deutsch an der Princeton University u. nach Kriegsende am Wheaton College (Massachusetts). 1950 kehrte F. nach Wien zurück, arbeitete 1953–1978 als Kulturkorrespondentin für den »Mannheimer Morgen«, schrieb für die »Frankfurter Hefte«, war für verschiedene Rundfunkanstalten tätig, übersetzte u. a. Stücke von Sean O’Casey u. berichtete über die NS-Prozesse. Aus dieser Arbeit entstand
Freundlich
ihre in den 1960er Jahren abgeschlossene Dokumentation über die NS-Vernichtungspolitik in Polen, Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau (Wien 1986). F.s Texte, auch die literarischen, sind immer politisch, wollen aufklären, Haltungen bewusst machen, wie etwa ihre zwischen 1944 u. 1966 geschriebenen Erzählungen Finstere Zeiten (mit einem Nachw. v. Werner Fuld. Mannh. 1986), die die Widerstandsbewegung in ihrer Heimat u. die Bewusstseinslage Österreichs nach dem Krieg zum Thema haben, oder wie ihr schon nach dem Krieg entstandener Roman Der Seelenvogel (Wien/Hbg. 1986), die Geschichte einer kleinbürgerlichen österreichisch-jüd. Familie – zgl. das Porträt ihrer eigenen Familie – u. deren sozialer Aufstieg zu Beginn des 20. Jh. F.s Prosa mystifiziert nicht, sie ist analytisch. In ihrem Erzählduktus erinnert sie bisweilen an Joseph Roth; von ihren Geschichten geht eine Mischung aus Heiterkeit u. Melancholie aus. Als F. nach Österreich zurückkehrte, waren viele ihrer Manuskripte schon abgeschlossen oder wenigstens begonnen. Doch blieben die meisten bis in die 1980er Jahre unveröffentlicht. Mit ihren Themen u. ihrer Haltung in der Zeit des Kalten Krieges in Ungnade gefallen, fand sie erst im Zuge des wachsenden Interesses an Exilliteratur eine späte Anerkennung. 1982 wurde F. der Berufstitel Professor verliehen. 1992 erschienen ihre Erinnerungen Die fahrenden Jahre (hg. u. mit einem Nachw. v. Susanne Alge. Salzb.). Weitere Werke: Invasion Day (Pseud. E. Lanzer). Überlingen 1948 (E.). – Der eherne Reiter. Wien/Hann./Basel 1960. Überarb. Fassung Ffm. 1982 (R.). – Sie wußten, was sie wollten. Lebensbilder bedeutender Frauen aus drei Jahrhunderten u. sechs Ländern. Freib. 1981. Literatur: Susanne Schneider-Alge: Abschied u. Wiederkehr. Zum Rezeptionsverlauf des Werks der österr. Exilschriftstellerin E. F. Diss. Univ. Salzb. 1992. – Susanne Alge: E. F. In: Dt. Exillit. Bd. 4, S. 466–478. – Patrizia Guida-Laforgia: A Political Writer: E. F. In: Dies.: Invisible Women Writers in Exile in the U.S.A. New York u. a. 1995, S. 67–75. – Viktoria Hertling: Exil u. Post-Exil: E. F.s Erinnerungsbuch ›Die Fahrenden Jahre‹. In: MAL 30 (1997), Nr. 1, S. 102–116. – S. Alge: E. F. In: Dt. Exillit. Bd. 3, Tl. 1, S. 109–130. – Ingrid
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Walter: Dem Verlorenen nachspüren. Autobiogr. Verarbeitung des Exils deutschsprachiger Schriftstellerinnen. Taunusstein 2000, S. 28–60. – Thomas Kraft: E. F. In: LGL. Jutta Freund / Bruno Jahn
Frey, Adolf, * 18.2.1855 Aarau, † 12.2. 1920 Zürich. – Germanist, Lyriker, Epiker, Dramatiker.
zersagen. Lpz. 1881. – Johann Gaudenz v. SalisSeewis. Frauenfeld 1889 (Biogr.). – Totentanz. Aarau 1895 (L.). – Ahasvers Erwachen. Dichtung. Lpz. 1904. – Festkantate zur Universitätsweihe in Zürich. Zürich 1914. – Schweizer Dichter. Lpz. 1914. – Blumen. Ritornelle. Zürich 1916. – Albert Welti. Zürich 1919 (Biogr.). – Stundenschläge. Letzte Gedichte. Lpz. 1920. – Lieder u. Gedichte. Hg. Gottfried Bohnenblust. Lpz. 1922. – Aus Lit. u. Kunst. Unveröffentlichtes oder Unzugängliches aus dem Werk v. A. F. Hg. Lina Frey-Beger. Frauenfeld 1932. – Ausgew. Gedichte. Aarau 1938.
Der Sohn des Volksschriftstellers Jakob Frey († 1875) studierte in Bern u. Zürich GermaLiteratur: Lina Frey-Beger: A. F. 2 Bde., Lpz. nistik (Dr. phil. 1878). 1879–1882 bildete F. 1923 u. 1925. – A. F. – Hugo Marti. Aarau 1957. sich in Leipzig u. Berlin weiter u. übernahm Charles Linsmayer / Red. anschließend eine Lehrstelle am Aarauer Gymnasium. 1883 heiratete er Lina Beger. Als Frey, Alexander Moritz, * 29.3.1881 MünNachfolger Jakob Bächtolds wurde er 1898 an chen, † 24.1.1957 Zürich. – Romanautor die Universität Zürich berufen. Seine persönl. u. Publizist. Bekanntschaft mit Gottfried Keller u. Conrad Ferdinand Meyer ermöglichte es ihm, sich Der Sohn des Malers, Galeriedirektors u. biografisch u. editorisch mit den beiden Professors Wilhelm Frey studierte Jura in Dichtern zu befassen. Wichtigste Früchte Heidelberg, Freiburg i. Br. u. München, jedieser Tätigkeit sind die Erinnerungen an doch ohne Abschluss. Im Ersten Weltkrieg als Gottfried Keller (Lpz. 1892), C. F. Meyer. Sein Sanitäter an der Westfront eingesetzt, diente Leben und seine Werke (Stgt. 1900) sowie die er im selben Regiment wie Adolf Hitler u. der zweibändige Ausgabe der Briefe Meyers (Stgt. spätere Präsident der Reichspressekammer, 1908). Daneben pflegte F. auch das Werk Max Amann. Nach Kriegsende kehrte F. nach seines Vaters, das er 1885 in fünf Bänden München zurück. Politisch engagierte er sich edierte. Zu Carl Spitteler stand er lange Zeit nicht, leugnete aber auch seine antifaschistiin einem freundschaftl. Beraterverhältnis (s. sche u. humanist. Gesinnung nicht. Hitlers dazu den Briefwechsel, hg. v. Lina Frey-Be- Angebot, Feuilletonchef des »Völkischen Beger. Frauenfeld 1933). Von F.s Beschäftigung obachters« zu werden, lehnte er ab. Seine mit der bildenden Kunst zeugen seine Bio- Bücher waren im Dritten Reich verboten. grafien Arnold Böcklin (Stgt. 1903), Der Tier1933 emigrierte F. nach Salzburg u. flüchmaler Rudolf Koller (Stgt. 1906) u. Ferdinand tete 1938 nach dem »Anschluss« Österreichs Hodler (Lpz. 1922). Als Dichter hatte F. mit in die Schweiz. Er lebte in ärml. Verhältnissen einem Band Gedichte (Lpz. 1886) debütiert u. in Basel u. bestritt seinen Unterhalt als Remit seinen schweizerdt. Versen Duss und un- zensent. Nach 1945 verbesserten sich seine derm Rafe (Frauenfeld 1891) der (von ihm Lebensbedingungen: Einige Werke aus der selbst nicht weiter gepflegten) Mundartlyrik Exilzeit konnten erscheinen. mächtig Auftrieb gegeben. Von seiner patriot. Die ersten Veröffentlichungen des begeisGesinnung zeugen Festspiele, z.B. Festspiele terten Meyrink- u. Sternheim-Lesers erschiezur Bundesfeier (Aarau 1891), u. die histor. nen seit 1908 in Anthologien u. literar. ZeitTragödie Erni Winkelried (Frauenfeld 1893). F. schriften, z.B. im »Simplicissimus«. Noch vor erreichte damit aber nie die erstrebte volks- seiner Einberufung schrieb F. einen Antitüml. Popularität. Eher akademisch wirken kriegsroman u. die pazifist. Novelle Der Paß auch seine beiden großen histor. Romane Die (1915). Jungfer von Wattenwil (Stgt. 1912) u. Bernhard Sein fantastischer Roman Solneman der UnHirzel (Zürich 1918). sichtbare (Mchn. 1914. Neuaufl. 1984. Ffm. Weitere Werke: Albrecht v. Haller u. seine Be- 1990), der sich, wie auch seine anderen Werdeutung für die dt. Lit. Diss. Lpz. 1879. – Schwei- ke, keiner literar. Epoche oder Strömung zu-
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ordnen lässt, wurde von der Literaturkritik positiv aufgenommen (z.B. von Kurt Tucholsky in der »Weltbühne«). In seinem dokumentarisch-autobiogr. Roman Die Pflasterkästen (Bln. 1929. Neuaufl. 1984. Ffm. 1986), einem der bedeutendsten Antikriegsromane der Weimarer Republik, verarbeitet F. rückhaltlos seine Erlebnisse an der Front. Zu den bevorzugten Themen F.s gehören bizarr-groteske Situationen, skurril-fantast. Bilder u. eine metaphor. Auseinandersetzung mit Zivilisationsphänomenen wie Aggression u. Gewalt. Treffsicher gestaltet er Tagesereignisse u. persönl. Erfahrungen zu UtopieEntwürfen (Robinsonade zu Zwölft. Mchn. 1925) u. kulturpessimist. Weltbildern; amüsante Parodien u. hintergründiger Humor (Das abenteuerliche Dasein. Bln. 1930) finden sich ebenso wie spannend erzählte, surreale Handlungssequenzen (Spuk auf Isola Rossa. Zürich 1945). Ästhetische Sensibilität u. Literaturkenntnis beweist er in seiner FaustTravestie Verteufeltes Theater (Wiesb. 1957). Große literar. Erfolge hatte F. nicht, obwohl zwischen 1913 u. 1930 insg. 17 Bücher von ihm erschienen u. er über 800 Rezensionen verfasste. Weitere Werke: Hölle u. Himmel. Zürich 1945. Ffm. 1988. – Spuk des Alltags. Mchn. 1920. Windeck 2004. Literatur: Katrin Hoffmann-Walbeck: A. M. F. Ffm./Bern 1984. – Hans-Albert Walter: Der Meisterzeichner v. Nachtstücken u. Traumgesichten A. M. F. – wiederzuentdecken. Ffm. 1988. – Signe Kirde: A. M. F. – Nachtstücke des Unbewußten. Psychologie u. Motivation des entfesselten Ichs. In: Traumreich u. Nachtseite. Hg. Thomas Le Blanc u. Bettina Twrsnick. Bd. 2, Wetzlar 2001, S. 114–144. Nicolai Riedel / Red.
Frey, Jakob, * um 1520 Straßburg, † um 1562 Maursmünster/Elsass. – Schwankautor u. Dramatiker. Über F.s Leben ist nur bekannt, dass er 1545–1562 Notar u. Stadtschreiber in Maursmünster war. Mit seinem Hauptwerk, Ein new huebsches und schimpffliches Buechlein, genant die Garten Gesellschafft, darinn viel froeliche Gespraech, Schimpffreden, und sonst kurtzweilige Bossen, von Historien und Fabulen, gefunden werden [...] (o. O. 1556 [VD16 ZV 6172].
Straßb. 1557 u. ö. Neuausg. hg. u. eingel. v. Johannes Bolte. Tüb. 1896), will F. ein stadtbürgerliches Publikum von der Melancholie befreien, von der es bei geselligem Beisammensein ergriffen werde. Dazu bearbeitet er aus den Sammlungen von Bebel, Johannes Pauli, Poggio, Adelphus Muling u. Dedekind insg. 129 Schwankerzählungen, die immer wieder um dieselben Themen kreisen: rollenwidriges Verhalten von Geistlichen u. Laien, aber auch von Männern u. Frauen, das Verlachen – bisweilen aber auch befreiendes Lachen – provoziert; naives oder schelmenhaftes Nichtverstehen sozialer u. ideolog. Normen, das deren selbstverständl. Gültigkeit in Frage stellt; die über die Versuche einer Reglementierung triumphierenden Bedürfnisse des Leibes; v. a. aber geht es um erotisches Begehren u. Erobern, sexuelle Lust u. Potenz, ehel. Treue u. Untreue. Die Garten Gesellschaft reiht sich damit in die Schwanksammlungen des 16. Jh. ein; in ihnen versucht die frühbürgerl. Stadtbevölkerung, im komischen Diskurs eine soziale u. ideolog. Identität herauszubilden. So wie F. von Wickrams Rollwagenbüchlein beeinflusst war u. eine Reihe von Vorläufern ausgeschrieben hat, so wurde auch er selbst fortgesetzt u. ausgeschrieben, bearbeitet u. übersetzt: von Montanus, Valentin Schumann, Mahrhold, Hulsbusch u. a. Weitere Werke: Ein andaechtig, biblisch, schoen, u. lustig spiel, wie Abraham Isaac seinen su8 n, aufopffern solte [...]. Straßb. o. J. [um 1560]. – Von dem armen Lasaro u. dem Reichen mann. Straßb. o. J. – Ein schoenes u. kurtzweilges Fasznacht spil [...] v. einem Kraemer oder Triackers mann u. zweyen Maegdten, deren die ein mit eim Kind gienge, u. die ander die faul kranckheit hett. o. O. u. J. [um 1560]. – Ein schoen Gespraeche v. einem waldtmann, Philalethes geheissen, welchem die Junckfraw Veritas [...] begegnet [...]. Straßb. 1555 (Übers. eines Dialogs des Maffeo Vegio). – Von den drey u. viertzig alten, noht vesten u. starcken helden [...]. Straßb. 1562. Literatur: VD 16, F 2697, 2698, V 476, ZV 756, 6172, 15514, 15897, 19721, 22440. – Bodo Gotzkowsky: ›Volksbücher‹. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen u. Schwankbücher. Bibliogr. der dt. Drucke. 2 Tle., Baden-Baden 1991–94, Tl. 1, S. 502–510, 535; Tl. 2, S. 154 f. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Über-
Frey s.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1 (2 Teilbde.), Tüb. 1992, Nr. 1131. – Weitere Titel: Helmut Rosenfeld: J. F. In: NDB. – Erich Straßner: Schwank. Stgt. 21978, S. 67 f. – Max Wehrli: Gesch. der dt. Lit. vom frühen MA bis zum Ende des 16. Jh. Stgt. 1980, S. 1129–1135. – Michael Waltenberger: ›Einfachheit‹ u. Partikularität. Zur textuellen u. diskursiven Konstitution schwankhaften Erzählens. In: GRM 56 (2006), S. 265–287. Hans-Jürgen Bachorski † / Red.
Frey, Jakob, auch: J. Reif, F. Kühn, F. Imhoof, J. A., * 13.5.1824 Gontenschwil/Kt. Aargau, † 30.12.1875 Bern. – Verfasser von Dorfgeschichten, Publizist.
582 schau 27 (1926), S. 265–268. – Werner Günther: J. F. In: Ders.: Dichter der neueren Schweiz. Bd. 1, Bern 1963, S. 86–153. – Goedeke Forts. Rémy Charbon / Red.
Freyer, Paul Herbert, * 4.11.1920 Crimmitschau/Sachsen, † 13.8.1983 Berlin/ DDR. – Dramatiker, Autor von Romanen, Erzählungen u. Fernsehspielen. Der Matrose F. schrieb während des Zweiten Weltkriegs unterhaltende Texte für verschiedene Zeitungen, wurde 1947 Dramaturg am Theater seiner Heimatstadt, 1953 Chefdramaturg am Gorki-Theater in Berlin u. 1956 Generalintendant der Städtischen Theater in Karl-Marx-Stadt. Parallel zu seiner Theaterarbeit verfasste F. in den 1950er Jahren Zeitstücke in der Manier des Agit-Prop-Theaters (Auf verlorenem Posten. Halle 1953). Politische Aufklärung u. Agitation werden darin verbunden mit spannender Rahmenhandlung. F. gestaltete Alltagsprobleme während der Aufbauphase der DDR in Landwirtschaft u. Industrie für die Bühne (Der Dämpfer. In: P. F.: Gegenwartsdramatik. Lpz. 1953. Kornblumen. Bühnenmanuskript. Bln./DDR 1954), arbeitete mit dokumentar. Methoden in seinem Roman Der Tod auf allen Meeren (Bln./DDR 1984) u. strebte in episodenhaften Dramatisierungen histor. Stoffe u. Figuren Volkstümlichkeit an (Karl Marx. Bln./DDR 1960).
Der Sohn eines kinderreichen Bergbauern absolvierte das Gymnasium in Aarau (1840–1844) u. studierte Geschichte, Philosophie u. Literatur in Tübingen (bei Friedrich Theodor Vischer), München u. Zürich (Promotion Tübingen 1849). Als Redakteur verschiedener Zeitungen u. Zeitschriften (des von Heinrich Zschokke gegründeten »Schweizerboten« bis 1856, der radikalen »Berner Zeitung« bis 1861, des »Volksnovellisten« bis 1862, der »Schweiz« bis 1865 u. des Sonntagsblatts zum Berner »Bund« 1874/ 75) u. freier Schriftsteller verfasste F., von materieller Not gezwungen, eine Vielzahl von Erzählungen, meist Dorfgeschichten (Der Alpenwald. In: Schweizerbilder. Erzählungen aus Weitere Werke: Das grüne Ungeheuer. Urauff. der Heimat. 2 Tle., Aarau 1864), oder Prosaepik mit historischer Thematik (Die Waise von 1964 (Film). – Sturmvögel. Bln./DDR 1974 (R.). – Holligen. Basel 1863), in denen er für die sozial Fernsehspiele: Fahndungssache V. Urauff. 1962. – Benachteiligten eintrat. 1858 schlug der ge- Tscheljuskin. Urauff. 1972. – Das Kinderheim. Urauff. 1979. meinsam mit seinem Dichterfreund Eduard Heidemarie Stegmann-Meißner / Red. Dössekel unternommene Versuch F.s fehl, die Schweizer Schriftsteller zum ZusammenFreylinghausen, Johann Anastasius, schluss zu bewegen. Weitere Werke: Zwischen Jura u. Alpen. E.en u. Lebensbilder. 3 Bde., Lpz. 1858 u. Basel 1863. – Neue Schweizerbilder. Aarau 1877 (E.en). – E.en aus der Schweiz. Hg. Adolf Frey. Stgt. 1985. – Ges. E.en. Hg. u. mit einer Biogr. v. dems. 5 Bde., Aarau 1897 (mit Bibliogr. der Erstdrucke). – Ausgew. E.en. Mit Einl. v. Jakob Bosshart. 3 Bde., Wiesb. 1906. – Aus schlimmen Tagen Hg. Carl Günther. Aarau 1927 (E.en). – Ausgew. E.en. Hg. Karl Günther. 3 Bde., Aarau 1930–36. Literatur: R. F. (= Robert Faesi?): Ein unbekannter Schweizerdichter. In: Schweizer. Rund-
* 2.12.1670 Gandersheim, † 12.2.1739 Halle/Saale. – Liederdichter u. -komponist. Als Theologiestudent von Johann Arndt u. Philipp Jacob Spener beeinflusst, wurde F. bes. von August Hermann Francke geprägt, in dessen Haus er seit seiner Übersiedlung nach Glaucha/Halle (1695) lebte, dessen Mitarbeiter an den sich herausbildenden Glauchaschen Anstalten (1695) u. lange Zeit unbezahlter Pfarradjunkt (1696), dessen
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Schwiegersohn (1715) u. dessen Nachfolger gan 1987. – Suvi-Päivi Koski: Geistreiches Geim Pfarramt u. in der Direktion der vor den sangbuch vuodelta 1704 pietistisenä virsikirjana Toren Halles entstandenen pädagogischen u. (Das Geistreiche Gesangbuch aus dem Jahre 1704 sozialen Einrichtungen (1727) er wurde. Er als ein pietist. Gesangbuch). Diss. Univ. Helsinki 1996. – ›Geist-reicher‹ Gesang. Halle u. das pietist. hielt zahlreiche Predigten, die auch im Druck Lied. Hg. Gudrun Busch u. Wolfgang Miersemann. erschienen, u. wurde von der theolog. Fa- Tüb. 1997. – RGG 4. Aufl. Bd. 3, Sp. 357. – MGG 2. kultät mit der Leitung der homilet. Übungen Aufl. Bd. 7, Sp. 98–101. – Pietismus u. Liedkultur. betraut. Er verfasste das erste Religionslehr- Hg. W. Miersemann u. G. Busch. Tüb. 2002. – J. A. buch für Gymnasien u. war bemüht, die F. Lebenslauf eines pietist. Theologen u. Gesangwörtlich verstandene Bibel ungebildeten buchherausgebers. Ausstellungskat. Hg. W. MierChristen nahezubringen. Am bekanntesten semann. Halle 2004. – ›Singt dem Herrn nah und wurde F. durch seine zweiteilige Sammlung fern‹. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. geistlicher Lieder: Geistreiches Gesangbuch, den Hg. ders. u. G. Busch. Tüb. 2008. – Matthias Paul: J. Kern Alter und Neuer Lieder [...] in sich haltend [...] A. F. als Theologe im hallischen Pietismus (Arbeitstitel einer vor dem Abschluss stehenden Diss., (Halle 1704 u. ö. Neued. der 4. Ausg. von 1708 Univ. Halle). Tüb. 2004 u. 2006) u. Neues Geistreiches GeHeimo Reinitzer / Wolfgang Miersemann sangbuch [...] (Halle 1714 u. ö. Neued. in Vorb.). Gotthilf August Francke vereinte die beiden Teile 1741 zum »vollständigen FreyFreytag, Gustav, * 13.7.1816 Kreuzburg/ linghausischen Gesangbuch« (Halle), das Schlesien, † 30.4.1895 Wiesbaden; Grab1581 Liedtexte u. 594 Melodien enthält. An stätte: Gotha, Alter Sieblebener Friedhof. den Gesang Mosis u. des Lammes erinnernd, – Romancier, Kulturhistoriker u. Publisind alte u. neue Lieder in Auswahl vereint zist. zum Bekenntnis der singenden Kirche, zum Nutzen u. zur Erbauung der Gläubigen, die Als Sohn eines Arztes u. Kreuzburger Bürauf das Reich der Gnade u. auf das künftige germeisters entstammte F. einer Honoratiorenfamilie. Nach Gymnasialjahren in Oels u. Leben warten. F. komponierte vermutlich einige der Philologiestudium in Breslau bei Hoffmann häufig arienartigen neuen Melodien seines von Fallersleben u. in Berlin bei Lachmann Gesangbuches u. dichtete 44 formal oft ge- (Dissertation 1838: De initiis scenicae poesis künstelte, thematisch ganz dem Pietismus apud Germanos) war er 1839–1847 Privatdoverhaftete Lieder, u. a. Ein Kind ist uns geboren zent in Breslau u. habilitierte sich über die heut; Mein Herz, gib dich zufrieden; Herr und Gott Poetik Hrotsvits von Gandersheim. Gleichder Tag und Nächte u. Wir Menschen sind in Adam zeitig erschienen seine ersten dramat. Werke, so das Lustspiel Die Brautfahrt oder Kunz von den schon (EG 356, Str. 1). Weitere Werke: Grundlegung der Theologie, Rosen (Breslau 1844) u. das bürgerl. Sittengedarin die Glaubenslehren aus göttl. Wort deutlich mälde Die Valentine (Lpz. 1847). F.s Übervorgetragen u. zum tätigen Christentum wie auch nahme der Schriftleitung (im Revolutionsjahr evang. Trost angewendet werden. Halle 1703. 1848) der von Ignaz Kuranda 1841 begrünNachdr. Hildesh. 2005. – Compendium oder kurzer deten Leipziger Zeitschrift »Die GrenzboBegriff der ganzen christl. Lehre [...]. Halle 1705. – ten«, die zum führenden nationalliberalen Predigten über die Sonn- u. Festtagsepisteln. Halle Organ Deutschlands bis zur Zeit der Reichs1707. – Bußpredigten. Halle 1734. – Katechisgründung wurde, markierte den Beginn seimuspredigten. Halle 1734. – Evangelienpredigten. ner öffentl. Wirksamkeit als Journalist. Hier Halle 1735. – J. A. F.s geistl. Lieder. Hg. Ludwig wie auch in der 1871–1873 mit Alfred Dove Grote. Halle 1855. redigierten Zeitschrift »Im neuen Reich« Literatur: Wohlverdientes Ehrengedächtnis des Herrn J. A. F. Halle 1740. – August Walter: strebt er nach dem Vorbild der gehobenen Leben J. A. F.s. Bln. 1864. – Friedrich Wilhelm viktorian. Zeitschriftenpresse eine Erziehung Bautz: F. In: Bautz. – Dianne M. McMullen: The seines Publikums zum liberal u. national Geistreiches Gesangbuch of J. A. F. (1670–1739): A denkenden Staatsbürgertum an. Durch sein German Pietist Hymnal. Diss. University of Michi- öffentliches Auftreten wie durch seine krit. u.
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fiktionalen Arbeiten wurde F. für die bildungsbürgerl. Schichten zum Inbegriff eines dt. Liberalen u. zum einflussreichen Verfechter der Idee eines kleindt. Einheitsstaats unter der Führung Preußens. Anfang der 1850er Jahre gewann er die Freundschaft des regierenden Herzogs Ernst II. von SachsenCoburg u. Gotha, eines Exponenten des Nationalliberalismus, der ihm 1854 den Hofratstitel verlieh. 1867–1870 wirkte F. als Abgeordneter eines thüring. Wahlkreises im Reichstag des Norddeutschen Bundes, zog sich aber enttäuscht durch die Politik Bismarcks vom polit. Leben zurück. 1870/71 nahm er auf Vorschlag Herzog Ernsts als Berichterstatter im Hauptquartier des preuß. Kronprinzen am dt.-frz. Krieg teil. Seinen ersten literar. Erfolg erzielte F. mit dem bühnenwirksamen, das zeitgenöss. Pressewesen humorvoll karikierenden Lustspiel Die Journalisten (Lpz. 1854. Neudr. Gött. 1966), das nach einer Karlsruher Inszenierung Eduard Devrients von 1853 die dt. Bühne eroberte u. bald zum festen Repertoirebestand zählte. 1855 erschien Soll und Haben (3 Bde., Lpz. 541901. Neuausg.n Mchn. 1977. Kehl 1993. Lpz. 2002). In der Tradition des Entwicklungsromans verfolgt F. hier die kontrastierenden (u. an markanten Schnittstellen zusammengeführten) Lebensbahnen des rechtschaffenen u. fleißigen Kleinbürgersohns Anton Wohlfart, dessen Arbeitsethos mit beruflichem Erfolg u. sozialem Ansehen belohnt wird, u. des von unlauterem Ehrgeiz schließlich in den Untergang getriebenen Juden Veitel Itzig. Ziel des Romans war, mit einem als Motto gebrauchten Zitat Julian Schmidts, »das deutsche Volk [...] in seiner Tüchtigkeit [...], nämlich bei seiner Arbeit« zu schildern. Der Roman verdankte den immensen Erfolg seiner »affirmatividentifikatorische[n] Grundtendenz«, der »Prozesse bürgerlicher Mentalitätsprägung und Identitätsbildung« inszeniert u. reflektiert (Barkhoff 188 f.). In seiner Verherrlichung des aufstrebenden Bürgertums wirkte der Roman richtungweisend für die Zukunft des Standes, der die Adelsherrschaft ablösen sollte. Die Stereotypisierung der Judenfiguren hat diesem »meistgelesenen Roman des 19. Jahrhunderts« (Franz Mehring) einen
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nachhaltigen, unrühml. Einfluss auf die Prägung antisemitischer Vorurteile im Lesepublikum gesichert. Die dieser Erzählgattung zugesprochene propagandistische Aufgabe der Bildung einer liberal-bürgerl. Identität wurde in der Folgezeit zum Leitbild vieler dt. Schriftsteller. Prägend für das Geschichtsbild mehrerer Generationen von Lesern wurde F.s Darstellung der dt. Historie unter nationalliberaler Perspektive: Bilder der deutschen Vergangenheit (5 Bde., Lpz. 1859–67), die noch heute kulturgeschichtlich sehr informativ sind. Er verwertete dafür wie für seinen vaterländ. Romanzyklus Die Ahnen (6 Bde., Lpz. 1872–80), der die Genese des dt. Bürgertums anhand von Familienschicksalen aus mehreren Jahrhunderten aufzeigen sollte, Geschichtsquellen aus seiner berühmten Flugblattsammlung (heute in der Stadt- u. Universitätsbibliothek Frankfurt/M.). 1863 war das später viel zitierte Werk Die Technik des Dramas (Lpz. Neudr. Darmst. 1975) erschienen. In Karl Mathy. Geschichte seines Lebens (Lpz. 1869) gelang ihm eine Lebensdarstellung des badischen liberalen Politikers in der Tradition der engl. polit. Biografie. Die 48er-Revolution war für F. ein entscheidendes polit. Erlebnis gewesen, bes. der, wie es in Die Ahnen heißt, »widerliche Karneval der Gasse«, die Straßenkämpfe in Breslau, Dresden u. Berlin. In den Aufsätzen An den Bauern Michael Mross (1848) u. Die Juden in Breslau (1849 anonym in den »Grenzboten« erschienen) kritisierte F. die Vorstellung einer demokrat. Gesellschaftsordnung auf naturrechtlicher Basis. Die Juden in Breslau enthielt antisemitisches Gedankengut, das er aber in dem gegen Richard Wagner gerichteten Aufsatz Der Streit über das Judentum (1869) revidierte: Deutsche u. Juden müssten gemeinsam streben, die Gettostruktur zu zerstören u. eine Integration der Juden in ihre dt. Umwelt herbeizuführen. In dem Abschnitt Jesuiten und Juden aus den Bildern, dem wohl die Figur des Naphta in Thomas Manns Der Zauberberg einiges verdankt, kontrastierte F. die unerbittliche jesuit. Feindschaft gegenüber dem dt. Volk mit der Bereitschaft des gebildeten u. bildungsbeflissenen Juden, dem Wohl der dt. Nation zu dienen. Seit dem
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Erscheinen der Bilder wurde F. allmählich auch im jüd. Lesepublikum zu einem respektierten Schriftsteller. F., dessen dritte Frau Anna Strakosch Jüdin war, bekämpfte offen den aufkommenden rassist. Antisemitismus der 1880er Jahre u. trat dem 1890 gegründeten »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« bei. Bis ins zweite Drittel des 20. Jh. blieb F. einer der meistgelesenen dt. Autoren. Weitere Werke: Die verlorene Handschrift. 3 Tle., Lpz. 1864 (R.). – G. F. u. Heinrich v. Treitschke im Briefw. Hg. Alfred Dove. Lpz. 1900. – Vermischte Aufsätze aus den Jahren 1848–94. Hg. Ernst Elster. 2 Bde., Lpz. 1901–03 (mit Werkverz.). Ausgabe: Ges. Werke. 22 Bde., Lpz. 1886–88. – Briefe: G. F.s Briefe an Albrecht v. Stosch. Stgt. 1912. – G. F.s Briefe an die Verlegerfamilie Hirzel. Hg. Margret Galler u. Jürgen Mantoni. Bd. 1–3, Bln. bzw. Heidelb. 1994–2000. – Mein theurer Theodor: G. F.s Briefe an Theodor Molinari, 1847–67. Nach den Hss. hg. u. komm. v. Izabela Surynt u. Marek Zybura. Dresden 2006. Literatur: Hartmut Eggert: Studien zur Wirkungsgesch. des dt. histor. Romans 1850–75. Ffm. 1971. – Hartmut Steinecke: ›Soll u. Haben‹ (1855). Weltbild u. Wirkung eines dt. Bestsellers. In: Romane u. E.en des Bürgerl. Realismus. Hg. Horst Denkler. Stgt. 1980, S. 138–152. – Michael Schneider: Apologie des Bürgers. Zur Problematik
Freytag v. Rassismus u. Antisemitismus in G. F.s Roman ›Soll u. Haben‹. In: JbDSG 25 (1981), S. 385–413. – Goedeke Forts. – Martin Gubser: Literar. Antisemitismus. Untersuchungen zu G. F. u. anderen bürgerl. Schriftstellern des 19. Jh. Gött. 1998. – Volker C. Dörr: Idealist. Wiss. Der bürgerl. Realismus u. G. F.s Roman ›Die verlorene Handschrift‹. In: ›Realismus‹? Zur dt. Prosalit. des 19. Jh. Hg. Norbert Oellers u. Hartmut Steineke. Bln. 2001, S. 3–33. – Eugeniusz Klin: Kulturhistor. Einsichten anhand v. G. F.s Roman ›Marcus König‹. In: Ders: Tradition u. Gegenwart. Studien zur Lit. Schlesiens. Würzb. 2001, S. 26–32. – Hannah Burdekin: The Ambivalent Author. Five German Writers and their Jewish Characters, 1848–1914. Oxf. 2002. – Italo Michele Battafarano: Juden u. Jesuiten in Dtschld. G. F.s ›Bilder aus der deutschen Vergangenheit‹. In: Morgen-Glantz 14 (2004), S. 387–406. – Elystan Griffiths: A nation of provincials? German identity in G. F.’s novel cycle ›Die Ahnen‹. In: Monatshefte 96 (2004), H. 2, S. 220–233. – Alyssa A. Lonner: Mediating the Past. G. F., progress, and German historical identity. Oxford u. a 2005. – Florian Krobb (Hg.): 150 Jahre ›Soll u. Haben‹. Studien zu G. F.s kontroversem Roman. Würzb. 2005. – Jürgen Barkhoff: ›Eigentlich u. bei Lichte besehen sei doch jeder Geschäftsmann ein Gauner‹: Zur Intertextualität v. F.s ›Soll u. Haben‹ u. Thomas Manns ›Buddenbrooks‹. In: Krobb 2005 (s. o.), S. 186–208. Eda Sagarra