Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein
Herausgegeben von Hilge Landweer Ursula Renz
Walter de Gruyte...
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Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein
Herausgegeben von Hilge Landweer Ursula Renz
Walter de Gruyter
Klassische Emotionstheorien
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Klassische Emotionstheorien Von Platon bis Wittgenstein Herausgegeben von
Hilge Landweer und Ursula Renz unter Mitarbeit von Alexander Brungs
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-018865-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Einbandkonzept: ⫹malsy, Willich Satz und Layout: Nina Trcka Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Inhaltsverzeichnis Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien ............................... Hilge Landweer und Ursula Renz
1
Platon: Affekte und Wege zur Eudaimonie .............................................. Michael Erler
19
Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen .......................... Christof Rapp
45
Stoa und Epikur: Affekte als Defekte oder als Weltbezug? ................... Friedemann Buddensiek
69
Die antike medizinische Tradition: Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen ................................................................................................. Christopher Gill (übersetzt von Damian Caluori)
95
Plotin: Was fühlt der Leib? Was empfindet die Seele? ............................ 121 Damian Caluori Augustinus: Die Ambivalenz der Affekte zwischen Natürlichkeit und Tyrannei .......................................................................................................... 141 Johannes Brachtendorf Christliche Denker vor dem 13. Jahrhundert: Von der Askese zur Liebestheologie .............................................................................................. 163 Alexander Brungs Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele .............. 185 Martin Pickavé Wilhelm von Ockham: Die Passionen der zwei Seelen .......................... 205 Vesa Hirvonen (übersetzt von Johanna und Raino-Lars Albert)
VI
Inhaltsverzeichnis
Huarte de San Juan und Suárez: Lachen im spanischen Humanismus und in der Spätscholastik ............................................................................. 221 Robert Schnepf Montaigne und La Rochefoucauld: Emotionen in der Moralistik ........ 247 Markus Wild Descartes: Emotionen als psychophysische Zustände ............................ 269 Dominik Perler Hobbes: Furcht und Bewegung .................................................................. 293 Michael Hampe Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen ............................ 309 Ursula Renz Malebranche: Neigungen und Leidenschaften ......................................... 331 Tad Schmaltz (übersetzt von Ursula Renz) Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung ......................... 351 Angelica Baum und Ursula Renz Hutcheson: Leidenschaften und Moral Sense ............................................. 371 Aaron V. Garrett (übersetzt von Ursula Renz) Hume: Natur und soziale Gestalt der Affekte .......................................... 393 Christoph Demmerling und Hilge Landweer Smith: Sympathie, moralisches Urteil und Interesselosigkeit ................. 413 Christian Strub Rousseau: Die Transformation der Leidenschaften in soziale Gefühle ........................................................................................................... 435 Sidonia Blättler Kant: Vernunftgewirkte Gefühle ................................................................ 457 Birgit Recki
Inhaltsverzeichnis
VII
Schopenhauer: Emotionen als Willensphänomene ................................. 479 Dieter Birnbacher und Oliver Hallich Kierkegaard: Die existenzielle Bedeutung von Emotionen .................... 501 Romano Pocai Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte ............................................... 525 Werner Stegmaier James: Von der Physiologie zur Phänomenologie ................................... 547 Jan Slaby Whitehead: Kritik der Gefühle ................................................................... 569 Maria-Sybilla Lotter Scheler: Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann ................................................................................................................. 587 Kevin Mulligan Wittgenstein: Das Sprachspiel der Emotionen ......................................... 613 Gunter Gebauer und Anna Stuhldreher Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik ... 635 Barbara Merker Sartre: Emotionen als Urteile ...................................................................... 661 Jean-Pierre Wils Langer: Philosophie des Fühlens ................................................................ 681 Rolf Lachmann Zu den Autorinnen und Autoren ............................................................... 705
Detaillierte Inhaltsübersicht Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien ............................... Hilge Landweer und Ursula Renz 1. Philosophiegeschichte und Emotionsforschung .......................... 2. Zu den Ursprüngen antiker Affektenlehren .................................. 3. Emotionen im Banne christlicher Heilslehren .............................. 4. Emotionen in der frühen Neuzeit ................................................... 5. Philosophie, Vernunft und Emotionen .......................................... 6. Philosophische Emotionstheorie und Psychologie ...................... 7. Zum vorliegenden Band ................................................................... Platon: Affekte und Wege zur Eudaimonie .............................................. Michael Erler 1. Affekte als Störenfriede .................................................................... 2. Sokrates und die Affekte .................................................................. 3. Sokrates’ Partner und ihre Emotionen: Phaidon ............................ 4. Affekte der ‚anständigen Menschen‘ .............................................. 5. Affekt und Therapie .......................................................................... 6. Qualität der Affekte: Philebos ............................................................ Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen .......................... Christof Rapp 1. Bezeichnung und Begriff .................................................................. 2. Emotionen als Gegenstand von Dialektik und Naturphilosophie ............................................................................... 3. Zur Individuation von Emotionen ................................................. 4. Emotionen in der öffentlichen Rede und im Theater ................. 5. Tugenden, Charakterformung und emotionales Training ........... 6. Das gute Leben und die richtigen Emotionen .............................. Stoa und Epikur: Affekte als Defekte oder als Weltbezug? ................... Friedemann Buddensiek 1. Die Affekte bei den Stoikern ...........................................................
1 1 5 8 9 11 12 16 19 23 25 28 31 34 36 45 48 50 53 57 60 63 69 72
Detaillierte Inhaltsübersicht
IX
2. Probleme der stoischen Affekttheorie ............................................ 3. Therapie der Affekte ......................................................................... 4. Das Ideal der Affektlosigkeit: Die „guten Gefühle“ des Weisen .................................................................................................
79 85 90
Die antike medizinische Tradition: Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen ................................................................................................. 95 Christopher Gill (übersetzt von Damian Caluori) 1. Die hippokratische Medizin und verwandte Ideen in der klassischen griechischen Philosophie ............................................. 99 2. Galenische Medizin ........................................................................... 104 Plotin: Was fühlt der Leib? Was empfindet die Seele? ............................ 121 Damian Caluori 1. Die affektiven Zustände des Leibes ............................................... 124 2. Was empfindet die Seele? ................................................................. 130 Augustinus: Die Ambivalenz der Affekte zwischen Natürlichkeit und Tyrannei .......................................................................................................... Johannes Brachtendorf 1. Der hellenistische Kontext ............................................................... 2. Augustins Lehre von den passiones im Grundriss .......................... 3. Metaphysische Hintergründe der Affektenlehre ........................... 4. Der Mensch unter der Herrschaft der Affekte ............................. 5. Die Befreiung von der Herrschaft der Affekte ............................. 6. Affekttherapie am Beispiel der Traurigkeit .................................... 7. Das sexuelle Begehren ...................................................................... Christliche Denker vor dem 13. Jahrhundert: Von der Askese zur Liebestheologie .............................................................................................. Alexander Brungs 1. Die Bedeutung emotionaler Phänomene im Rahmen einer radikalen Wendung menschlichen Daseins ................................... 2. Platonisches Erbe .............................................................................. 3. Die ersten theoretischen Aufrisse einer christlichen Anthropologie und die Klassifikation der Gefühlsregungen ..... 4. Monastische Spiritualität und die affektive Neigung zu Gott ....
141 143 146 150 152 154 156 159 163 165 169 171 177
X
Detaillierte Inhaltsübersicht
Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele .............. Martin Pickavé 1. Was sind Emotionen? ....................................................................... 2. Emotion und Kognition ................................................................... 3. Die Grundklassifikation der Emotionen ....................................... 4. Verantwortlichkeit für Emotionen ................................................. 5. Nachwirkung ...................................................................................... Wilhelm von Ockham: Die Passionen der zwei Seelen .......................... Vesa Hirvonen (übersetzt von Johanna und Raino-Lars Albert) 1. Der Mensch und die Passionen ....................................................... 2. Sensorische Passionen ...................................................................... 3. Die Passionen des Willens ................................................................ Huarte de San Juan und Suárez: Lachen im spanischen Humanismus und in der Spätscholastik ............................................................................. Robert Schnepf 1. Lachen und Heiterkeit als Gegenstand der Affekttheorie ........... 2. Systematische Ansätze und literarische Form ............................... 3. Hintergründe: Der Mediziner und der Theologe ......................... 4. Metaphysik, Natur, Seele – der systematische Ort der Theorie menschlicher Gefühle ....................................................................... 5. Lachen und Heiterkeit bei Huarte und bei Suárez .......................
185 188 192 195 200 201 205 207 209 213 221 223 225 229 233 239
Montaigne und La Rochefoucauld: Emotionen in der Moralistik ........ Markus Wild 1. Wer und was sind die Moralisten? .................................................. 2. Montaigne: Der Zorn als exemplarische Emotion ....................... 3. La Rochefoucauld: Emotionen als Ausprägungen der Eigenliebe ........................................................................................... 4. Autonomie der Emotionen und Emotionen als Handlungen ....
247
Descartes: Emotionen als psychophysische Zustände ............................ Dominik Perler 1. Eine mechanistische Gefühlstheorie? ............................................. 2. Zwei Substanzen und ein komplexer Zustand .............................. 3. Der repräsentationale Gehalt von Emotionen .............................. 4. Die kognitive Steuerung von Emotionen ......................................
269
249 252 259 264
271 273 278 284
Detaillierte Inhaltsübersicht
Hobbes: Furcht und Bewegung .................................................................. Michael Hampe 1. Allgemeine Relevanz und Natürlichkeit der Gefühle bei Hobbes ................................................................................................ 2. Kausalgenese der Gefühle ................................................................ 3. Moralische Bewertung und Affektivität ......................................... 4. Affekte als Störungen ........................................................................ Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen ............................ Ursula Renz 1. Naturalismus, Ideenbegriff, individuelle Prägung ........................ 2. Die Primäraffekte oder warum Menschen Gefühle haben ......... 3. Sekundäraffekte oder die Vielfalt emotionalen Lebens ............... 4. Fazit: Von der Naturalisierung zur Therapie ................................. Malebranche: Neigungen und Leidenschaften ......................................... Tad Schmaltz (übersetzt von Ursula Renz) 1. Cartesische und augustinische Psychologie ................................... 2. Natürliche Neigungen ....................................................................... 3. Die Leidenschaften des menschlichen Geistes ............................. Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung ......................... Angelica Baum und Ursula Renz 1. Programm: Von den Affekten zum Gefühl .................................. 2. Quellen: Aristoteles, Stoa und Cambridge Platonism ....................... 3. Der Gefühlsbegriff als Grundlage der Tugendethik .................... 4. Der psychische Ursprung von Gefühlen und die Bedeutung der Antizipation von Ideen ................................................................... 5. Von der Ästhetik der Gefühle zum Criticism: Das implizite Bildungsprogramm der späteren Philosophie Shaftesburys ....... Hutcheson: Leidenschaften und Moral Sense.............................................. Aaron V. Garrett (übersetzt von Ursula Renz) 1. Affektionen und Leidenschaften ..................................................... 2. Historischer Hintergrund ................................................................. 3. Hutchesons Konzeption des moralischen Sinns .......................... 4. Das System der Gefühle ................................................................... 5. Die Arten der Leidenschaften nach Hutcheson ........................... 6. Fazit .....................................................................................................
XI
293 295 300 302 303 309 312 316 321 327 331 334 338 343 351 354 357 360 363 365 371 374 375 379 384 386 389
XII
Detaillierte Inhaltsübersicht
Hume: Natur und soziale Gestalt der Affekte .......................................... Christoph Demmerling und Hilge Landweer 1. Zur Topografie der Affekte ............................................................. 2. Indirekte Affekte ................................................................................ 3. Gefühlsresonanzen: Zur Rolle von Mitgefühl und Vergleich .... 4. Gefühle, Normen, Moral ..................................................................
393 396 399 404 408
Smith: Sympathie, moralisches Urteil und Interesselosigkeit ................. 413 Christian Strub 1. Sympathie und moralische Beurteilung .......................................... 416 2. Sympathie – diesseits von Eigen und Fremd. Nichtinvolviertsein in eine Situation ................................................................................. 420 3. Der moralische Standpunkt: Begehren nach Billigung durch den „unparteiischen Zuschauer“ ......................................... 424 Rousseau: Die Transformation der Leidenschaften in soziale Gefühle ........................................................................................................... Sidonia Blättler 1. Zivilisation der Leidenschaften und der Laster ............................ 2. Idylle der sozialen Gefühle ............................................................... 3. Die Norm der Autarkie und die Erziehung zur emotionalen Selbstübereinstimmung ....................................................................
435 438 443 449
Kant: Vernunftgewirkte Gefühle ................................................................ 457 Birgit Recki 1. Keine Theorie der Affekte – eine begründete Vernachlässigung ............................................................................... 460 2. Eine Theorie der Gefühle: Ihre Stationen und Elemente ........... 463 Schopenhauer: Emotionen als Willensphänomene ................................. Dieter Birnbacher und Oliver Hallich 1. Biografie und Persönlichkeit ............................................................ 2. Philosophie als expressive Beschreibung ....................................... 3. Primat des Affekts über die Vernunft ............................................ 4. Emotionen als Willensphänomene ................................................. 5. Emotionen – eine Quelle von Illusionen ....................................... 6. Emotionen in der Moral ...................................................................
479 481 482 485 487 494 495
Detaillierte Inhaltsübersicht
XIII
Kierkegaard: Die existenzielle Bedeutung von Emotionen .................... Romano Pocai 1. Erfahrung des Nihilismus ........................................................................ 2. Analyse der Schwermut ........................................................................... 3. Der Schwindel der Freiheit ..................................................................... 4. Theorie der Verzweiflung ........................................................................ 5. Zwischen Freiheit und Ausgeliefertheit ................................................
501
Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte ............................................... Werner Stegmaier 1. Das Feld und der Gang von Nietzsches Umwertung der Affekte ................................................................................................ 2. Experimentelle Erweiterungen der Umwertung in Nietzsches Notaten ............................................................................................... 3. Ideal eines dionysischen Zustands des Affekt-Systems ...............
525
504 508 510 516 522
528 537 541
James: Von der Physiologie zur Phänomenologie ................................... Jan Slaby 1. James über Gefühle – die Standard-Lesart .................................... 2. Die Rezeption der James-Lange-Theorie in Philosophie und Neurowissenschaft ............................................................................ 3. Der andere James – eine philosophische Theorie des affektiven Weltbezugs .........................................................................................
547
Whitehead: Kritik der Gefühle ................................................................... Maria-Sybilla Lotter 1. Whiteheads Metaphysik der Gefühle ............................................. 2. Philosophische Abenteuer ................................................................ 3. Die Kritik der Gefühle ...................................................................... 4. Wirklichkeit als Prozess des Fühlens .............................................. 5. Die Kultivierung der Emotionen ....................................................
569
Scheler: Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann ... Kevin Mulligan 1. Werterkenntnisse versus Gefühle ................................................... 2. Die Taxonomie des emotionalen Lebens ...................................... 3. Gefühlserkenntnisse .......................................................................... 4. Beurteilung ..........................................................................................
550 554 558
571 572 574 578 580 587 591 594 604 611
XIV
Detaillierte Inhaltsübersicht
Wittgenstein: Das Sprachspiel der Emotionen ......................................... Gunter Gebauer und Anna Stuhldreher 1. Wittgensteins Methode: Die übersichtliche Darstellung ............. 2. Wittgensteins Kritik: Das Privatsprachenargument ..................... 3. Überlegungen zur Philosophie der Psychologie ........................... 4. Schluss .................................................................................................
613 617 619 623 633
Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik ... Barbara Merker 1. Heideggers Theorie der Befindlichkeit ........................................... 2. Die Emotion der Furcht ................................................................... 3. Die Stimmung der Angst .................................................................. 4. Bollnows Heidegger-Kritik .............................................................. 5. Existenzphilosophie und Angst ...................................................... 6. Die Vielfalt der Stimmungen ...........................................................
635
Sartre: Emotionen als Urteile ...................................................................... Jean-Pierre Wils 1. Skizze der „Skizze“ ............................................................................ 2. Entdeckung der Phänomenologie ................................................... 3. Die Analyse des Bewusstseins ......................................................... 4. Handlung und Emotion: Der Weg in die Magie .......................... 5. Die Stellung des Körpers und die Emotion als Ersatzhandlung ..................................................................................
661
Langer: Philosophie des Fühlens ................................................................ Rolf Lachmann 1. Der philosophische Ansatz .............................................................. 2. Formen und Formbarkeit des Fühlens .......................................... 3. Kunst als Phänomenologie des Fühlens ........................................ 4. Fühlen als allgemeine Bewusstseinsform ....................................... 5. Die Dynamik lebendiger Aktivität .................................................. 6. Das Auftauchen des Fühlens ........................................................... 7. Sensibilität und Emotionalität ......................................................... 8. Fühlen und Verhalten ....................................................................... 9. Die Entkoppelung des Fühlens vom Verhalten ........................... 10. Die kulturelle Form des Fühlens ...................................................
681
638 646 649 652 653 654
663 664 669 672 676
683 686 688 689 691 693 694 695 698 700
Zu den Autorinnen und Autoren ............................................................... 705
Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien Einleitung
Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien Hilge Landweer und Ursula Renz 1. Philosophiegeschichte und Emotionsforschung Gefühle hatten Menschen schon immer. Manchmal waren sie glücklich, manchmal traurig, sie fürchteten sich, wenn Gefahr drohte, sie beneideten ihre bessergestellten Artgenossen, wenn sie sich nicht gerade über das Zusammensein mit ihnen freuten, und bisweilen empfanden sie Mitleid, wenn sie andere leiden sahen. Das ist auch heute noch so. Es hat ganz den Anschein, als ob mindestens gewisse emotionale Grundphänomene menschliches Leben und Erleben zu allen Zeiten prägen. Differenzen – und damit verbunden: die Notwendigkeit von Differenzierungen – setzen indes dort ein, wo sich die Frage stellt, welche Emotionen Menschen genau haben und wie man diese unterscheiden, beschreiben oder erklären will. Ist, was unsere Alltagssprache suggeriert, Eifersucht fast dasselbe wie Neid, oder besteht, wie man mit Aristoteles annehmen müsste, ein deutlicher, auch moralisch signifikanter Unterschied? Ist das Phänomen der Angst von dem der Furcht verschieden, wie es die neuere Philosophie seit Kierkegaard vorschlägt, ist eines eine Spezifikation des anderen, oder sind sie gar identisch? Bezeichnen heute veraltet anmutende Ausdrücke wie Kleinmut, Sanftmut, Erbarmen, Scheelsucht, Ehrgefühl, Reue reale Phänomene, die wir nur nicht mehr kennen, oder wissen wir einfach besser Bescheid? Ergreift uns heute immer noch Melancholie, oder leiden wir schlicht unter depressiven Verstimmungen? Es stellt sich die Frage, ob die Menschen vergangener Epochen Anderes fühlten oder ob es sich hier um bloße Übersetzungsprobleme handelt. Ähnliche Fragen tauchen angesichts der Begrifflichkeit auf, mit der wir Emotionen auf allgemeiner Ebene beschreiben. Auch hier gibt es signifikante Differenzen, die in unserem Vokabular noch präsent sind, auch wenn wir uns darüber selten Gedanken machen. Wenn wir etwa sagen, dass uns ein Affekt ergriffen habe, so unterstellen wir, dass wir es bei unseren Emotionen mit von außen induzierten Geschehnissen zu tun haben, die sich unserer ohne unser Zutun bemächtigen. Wenn wir hingegen von
4
Hilge Landweer und Ursula Renz
den Gefühlen eines Menschen sprechen, denken wir meistens, dass diese von innen kommen und zu dieser Person gehören. Ausdrücke wie „Charakter“ und „Haltung“ verweisen auf emotionale Dispositionen, die sich in akuten Gefühlen äußern können, aber nicht müssen. Unter Stimmungen schließlich verstehen wir erlebte und auf Situationen bezogene Gemütsverfassungen. Offensichtlich ist schon die alltägliche Nomenklatur des Emotionalen theoriegeladen (was nicht gleichbedeutend ist mit der These, dass auch unser Fühlen selbst theoriegeladen sei), und die Konzeptionen hinter unserer alltäglichen Rede von Emotionen haben einen ganz unterschiedlichen Zuschnitt. Welche Modelle hinter solchen Redeweisen stehen, zeigt der Blick in die Geschichte philosophischer Emotionstheorien. Nicht nur finden sich hier mehrere grundsätzliche Optionen möglicher Konzeptionen von Emotionen und im Einzelnen eine unerschöpfliche Vielfalt von Beobachtungen. Es zeigt sich überdies, dass hinter den verschiedenen Ansätzen oft bestimmte Erkenntnisinteressen – moralisch-praktische, politische, therapeutische oder rein theoretische – stehen, die je nach Kontext beträchtlich variieren können. Emotionstheorien aus verschiedenen Epochen sind deshalb nur bedingt miteinander vergleichbar. Martin Heideggers existenzphilosophische Betrachtungen der Gefühle und Stimmungen sind mit Thomas Hobbes’ mechanistischem Kalkül nicht ohne Weiteres in Verbindung zu bringen, obgleich sie beide darin übereinstimmen, dass sie der Angst eine zentrale Funktion im menschlichen Emotionshaushalt zubilligen. Differenzen im Ansatz schließen Parallelen in der Gewichtung und Bewertung einzelner Emotionen keineswegs aus. Solche oft überraschenden Vergleiche sind allerdings nur die Dreingabe einer Auseinandersetzung mit der Geschichte philosophischer Emotionstheorien. Entscheidender ist der Reichtum von Zusammenhängen, der dadurch in den Blick kommt. Schon der philosophische Ansatz eines Autors und seine Emotionstheorie können in unterschiedlicher Weise aufeinander abgestimmt sein. Manchmal ist die Entscheidung eines Philosophen für einen bestimmten Typus von Emotionstheorie weitgehend unabhängig von Phänomenen, die mit menschlichen Emotionen zu tun haben. Dann diktieren oft systematische Vorgaben, was in das Zentrum der entsprechenden Theorie gerückt wird und wie Emotionen konzeptualisiert werden. Manchmal bilden aber auch Annahmen über das menschliche Fühlen den Ausgangspunkt eines philosophischen Ansatzes. Wie sich die verschiedenen Ansätze zueinander verhalten, ist bisher kaum untersucht worden. Nur selten verlaufen die Fronten zwischen den
Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien
5
Theorien so eindeutig wie zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als die klassischen rationalistischen Affektenlehren durch die Moral-Sense-Theorien abgelöst wurden. Hier wurden Gefühle plötzlich anders beschrieben – nämlich als zumeist reflexiver Prozess im Inneren von Subjekten –, und es fand überdies eine grundlegende, auch moralische Aufwertung von Gefühlen statt. Jenseits solcher offensichtlichen Positionierungen ist das Verhältnis verschiedener Emotionstheorien allerdings meist weitgehend ungeklärt. Schließt, so fragt sich etwa, ein phänomenologischer Zugang zu Stimmungen naturalistische Erklärungen von vornherein aus? Nicht zwingend, müsste man sagen, wenn man sich etwa das Beispiel von Descartes’ Passions de l’âme vor Augen führt.1 Alte Texte legen oft ungewöhnliche Lösungen für gegenwärtig diskutierte Probleme nahe, auch wenn oft erst zu klären ist, wie konsistent diese Lösungen sein können. Insgesamt ist daher die Auseinandersetzung mit klassischen Emotionstheorien keine bloße Traditionspflege, sondern sie stellt wesentliche Hintergründe und Herausforderungen für die gegenwärtige philosophische Auseinandersetzung mit menschlichen Emotionen bereit. Ein historisch geschulter Blick sieht leichter hinter die Kulissen konzeptueller Kämpfe, er erkennt die praktischen Implikationen bestimmter emotionstheoretischer Weichenstellungen schneller und weiß eher um theoretische Untiefen und Abgründe bestimmter Auffassungen. Wer sich allerdings mit der Geschichte der Emotionstheorien befasst, wird keine eindimensionale Geschichte entdecken, und ebenso wenig wird er die aktuell diskutierten philosophischen Theorien ungebrochen wiederfinden. In der Folge möchten wir deshalb einige der wichtigsten Etappen der Entwicklung philosophischer Emotionstheorien kurz skizzieren. Zuvor allerdings bleibt uns festzuhalten, dass die Gefühle selbst vom Wandel der Theorien nur mittelbar tangiert sind. Dass wir bei der Interpretation von emotionalem Erleben mit kulturellen Grammatiken rechnen müssen, schließt epochenübergreifende Gemeinsamkeiten nicht aus.
2. Zu den Ursprüngen antiker Affektenlehren Es ist nicht ganz unproblematisch, im Blick auf die Philosophiegeschichte von Emotionstheorien zu sprechen. Denn dass Emotionen zum Gegenstand eines rein theoretischen, wissenschaftlichen Interesses werden, ist _____________ 1
Vgl. Dominik Perler in diesem Band.
6
Hilge Landweer und Ursula Renz
tendenziell eine neuere Erscheinung in der Philosophiegeschichte, die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht.2 Gerade die in der antiken Philosophie entwickelten Affektenlehren arbeiteten hingegen oft lebenspraktischen Anliegen zu. Aristoteles etwa kommt, obwohl er Emotionen als Widerfahrnisse der Seele begreift, am ausführlichsten in der Rhetorik auf sie zu sprechen und nicht etwa in der Seelenlehre. Diese Verortung mag aus heutiger Sicht erstaunen, zumal wenn man bedenkt, dass Gefühle seit der Romantik oft als Ereignisse begriffen wurden, die das authentische Erleben einer Person ausmachen – eine Überzeugung, an der erst die Sprachphilosophie in der Nachfolge Wittgensteins zu rütteln vermochte. Nicht so in der Antike. Lange bevor sich Philosophen für die Emotionen interessierten, wurden Gefühle in der Dichtung besungen, in Epen beschrieben, in Dramen inszeniert und in Gerichtsprozessen mobilisiert.3 Und noch bevor Philosophen darauf Bezug nahmen, hatte sich die Rhetorik als praktische Disziplin dieser Thematik angenommen.4 Die systematischen Voraussetzungen für das Interesse der Rhetorik an den Emotionen sind jedoch nicht sprachphilosophischer, sondern urteilstheoretischer Natur. Aristoteles geht von der Annahme aus, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen dem akuten Gefühlszustand eines Subjekts und den Urteilen, die es in diesem Zustand fällt. Und genau dieser Zusammenhang macht es aus, dass Menschen durch Gefühle in ihrem Urteil beeinflusst werden können. Ein weiterer Bereich, in dem in der Antike auf Gefühle reflektiert wurde, ist die Ethik. Auch dafür gibt es außerphilosophische Vorlagen und Quellen, wobei neben den schon genannten auch die antike Geschichtsschreibung zu erwähnen ist. So beruht etwa die Moral der Geschichte, welche Herodot am Schluss seiner Historien oder Thukydides im Peloponnesischen Krieg bei der Würdigung des Perikles anklingen lassen, auf Urteilen über bestimmte Affekte wie Habsucht, Ehrgeiz oder Kleinmut. Allerdings ist das Interesse der Ethik an den Gefühlen ein komplexes. Zum einen werden Emotionen entweder als unentbehrlich für moralisches oder zweckmäßiges Handeln oder aber als Störfaktor dafür beschrieben. Die Konsequenz ist in beiden Fällen dieselbe: Emotionen sind zu bearbeiten, damit sie den Handlungszielen angemessen oder moralisch wertvoll sein können. Zum anderen ist der Übergang von der ethischen _____________ 2 3 4
Vgl. dazu auch Moreau 2003. Vgl. für exemplarische Analysen etwa Theunissen 2000 und Williams 1993. Dazu Christof Rapp in diesem Band.
Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien
7
Analyse zur lebenspraktischen Unterweisung oft fließend. Gerade Emotionen und der Umgang mit ihnen sind vielfach Gegenstand von Lob und Tadel. Es fragt sich, auf welcher Basis Emotionen überhaupt moralisch beurteilt oder sogar verurteilt werden können. Bemerkenswerterweise war es in der Philosophiegeschichte keineswegs immer ausgemacht, dass Gefühle als natürliche Ereignisse anzusehen sind, für die wir im Prinzip nicht verantwortlich sind. Die Stoa etwa, welche den Emotionen im Unterschied zu Platon und Aristoteles keinen eigenen Seelenteil reservierte, begriff Affekte als Fehlurteile und Irrtümer des Verstandes, die eigentlich gegen die Ordnung der Natur verstoßen und letztlich Krankheiten der Seele darstellen. Dass gerade die Stoa auch vernünftige und mit der Natur in Einklang stehende Emotionen kennt, die constantiae oder eupatheiai,5 ist ein Gedanke, der in der Rezeption oft in den Hintergrund trat, auch wenn er für Shaftesburys historisch folgenreiche Aufwertung der Emotionen Pate gestanden hat.6 Der Antike verdanken spätere Emotionstheorien aber noch einen anderen Grundgedanken, der in der Philosophiegeschichte immer wieder aufgegriffen wurde und der in der Rede von den „Krankheiten der Seele“ reflektiert wird: Wer Emotionen als Krankheiten begreift, der wird mit Heilmitteln dagegen ankämpfen oder präventive Maßnahmen ergreifen wollen. Auch wenn die Unterschiede in der Konzeption solcher Maßnahmen sowie in der Bestimmung des Therapiezieles beträchtlich sind, so kennzeichnet es doch sämtliche antike Affektenlehren, dass sie die philosophische Reflexion auf menschliches Fühlen als therapeutische Praxis begreifen. Den Hintergrund dafür bildet die simple, aber existenziell bedeutsame Tatsache, dass kein Mensch in seinem Leben ausschließlich Glück empfindet. Jeder, auch der Glücklichste, leidet irgendwann an seinen Gefühlen, und wer fühlt, weiß darum. Unabhängig davon, wie man Emotionen beschreiben oder erklären will, ist deshalb die Frage, wie (manche) Affekte zu vermeiden oder doch mindestens in eine ‚bekömmliche‘ Form zu bringen sind, stets virulent. Damit kommen wir zu einer weiteren Quelle philosophischer Emotionstheorien, die in einer gewissen Konkurrenz zu den therapeutischen Ansätzen der Philosophie steht: die antike Medizin mit dem hippokratischen Korpus und den Schriften Galens. Wie die Philosophie verfolgt _____________ 5 6
Vgl. dazu Friedemann Buddensiek in diesem Band sowie Newmark 2008. Vgl. dazu Angelica Baum/Ursula Renz in diesem Band.
8
Hilge Landweer und Ursula Renz
auch die Medizin mit ihren diätetischen Schriften therapeutische Ziele, wobei physiologische Konzepte der Verursachung von Emotionen die Basis dafür bilden. Demgegenüber gingen die philosophischen Vorstellungen einer Therapie der Affekte von der Annahme psychischer, moralischer oder kognitiver Ursachen aus. Schon in der Antike findet man also ein Nebeneinander von – im weiten Sinne gesprochen – psychotherapeutischen und medizinischen ‚Heilungskonzepten‘. De facto sind die Grenzen zwischen den philosophischen Ansätzen und der Medizin in der Antike allerdings keineswegs trennscharf, es gibt wechselseitige Rezeptionen,7 und nicht zuletzt teilen Philosophie und medizinische Diätetik das Interesse an der Lebensform des Menschen.8 Während sich allerdings die Medizin der Lebensform aller Menschen widmete, errichteten die Philosophen verschiedene normative Ideale einer genuin philosophischen Lebensform, die zu leben nur wenigen gegeben war.
3. Emotionen im Banne christlicher Heilslehren Mit zunehmendem Einfluss des Christentums auf die Philosophie trat auch die Diskussion über Emotionen in eine neue Phase. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Christentum und Philosophie stellte sich auch im Bereich der Emotionstheorie, wobei die Antworten darauf sehr unterschiedlich ausfielen. Während die Lehren von Clemens von Alexandrien, Origines und Evagrius Ponticus stoische Askese mit christlichen Heilskonzepten verbinden, indem sie das stoische Ideal der Apathie auf eine platonische Seelenstruktur rückbeziehen,9 vereinigt der syrische Bischof Nemesius von Emesa in seinem einflussreichen Traktat De natura hominis platonische, aristotelische, stoische und schließlich sogar galenische Überlegungen unter einem anthropologischen Dach.10 Für diese beiden Ansätze stellt die Synthese von philosophischen Emotionstheorien und Christentum kein grundsätzliches Problem dar. Etwas anders sah das Augustinus, der einerseits die Emotionsfeindlichkeit der Stoa einer scharfen Kritik unterzog, andererseits die Frage _____________ Vgl. dazu Christopher Gill in diesem Band. Zur Lebensformorientierung der antiken Philosophie seit Platon siehe Hadot 1995, 91. 9 Vgl. für diese Ansätze auch Knuuttila 2004, 113–127 sowie Alexander Brungs in diesem Band. 10 Brungs 2000, 29; Knuuttila 2004, 103–110. 7 8
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nach einer Affekttherapie mit der christlichen Sündenlehre in Verbindung brachte. Man kann sich fragen, wie diese beiden prima facie widersprüchlich erscheinenden Tendenzen miteinander vereinbar sind, tatsächlich sind sie jedoch nicht voneinander zu trennen. So begründet Augustinus seine Kritik an der Stoa zwar unter Rückgriff auf die akademisch-peripatetische Auffassung maßgeblich damit, dass Affekte zur Natur des Menschen gehören und deshalb nicht überwunden werden können. Gleichzeitig hält er aber am Ideal einer nicht von Leidenschaften getriebenen Existenz fest, doch hat diese ihren Ort im Paradies oder im Jenseits. Dahinter steht die doppelte These, dass Menschen dieses Ideal nicht aus eigener Kraft erreichen können und dass der Wille, Herr seiner selbst zu sein, den Ursprung der Sünde respektive der Entzweiung von Vernunft und Leidenschaften bedeutet.11 Die Auswirkungen von Augustinus’ Ansatz und insbesondere seines Willlensbegriffs auf die Tradition philosophischer Emotionstheorien sind nicht zu unterschätzen. Nicht nur bildeten Augustin und der augustinische Platonismus bis ins 13. Jahrhundert, als unter dem Einfluss der arabischen Kommentatoren vermehrt aristotelische Seelenkonzeptionen in den Mittelpunkt traten, den wohl wichtigsten Referenzpunkt mittelalterlicher Seelenkonzeptionen.12 Auch in den Affektenlehren der frühen Neuzeit wirkte das augustinische Erbe an zahlreichen Stellen weiter, so nicht nur bei Luther, sondern insbesondere auch im Jansenismus, bei Pascal sowie bei Malebranche, dessen Recherche de la vérité die Geister spaltete und noch Hutchesons Emotionstheorie beeinflusste13.
4. Emotionen in der frühen Neuzeit Mit Beginn der frühen Neuzeit setzt in der Philosophie eine rege Auseinandersetzung mit Emotionen ein, die sich in zahlreichen und weit verästelten Affektkatalogen niederschlägt.14 Diese Diskussion ist grosso modo von drei Einflüssen geprägt. Erstens ist seit der Reformation wieder ein stärkerer Rückgriff auf augustinische Konzepte zu beobachten, was sich auch in der Konzeptualisierung von Emotionen niederschlägt. Zweitens _____________ 11 12 13 14
Vgl. zu Augustinus Johannes Brachtendorf in diesem Band. Vgl. dazu auch Brungs 2004, 40ff. Vgl. dazu Aaron Garrett in diesem Band. Siehe dazu Schmitter 2006, auch James 1997.
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werden mit der Renaissance auch die antike Rhetorik und vor allem die lateinischen Darstellungen der Stoa sowie – unter den ‚Libertins‘ – des Epikureismus wieder verstärkt rezipiert. Drittens hinterlassen auch die neue Wissenschaft und die mechanistische Naturphilosophie ihre Spuren. Letzteres ist nicht so sehr im Hinblick auf die metaphysischen Fragen der körperlichen oder seelischen Verursachung von Belang; denn eine Konkurrenz zwischen physikalistischen und mentalistischen Kausalerklärungen gab es schon seit der Antike. Fast wichtiger dürften die Folgen sein, welche die neue Physik für den wissenschaftlichen Anspruch philosophischer Affektenlehren hatte. So kann man beobachten, dass die Emotionen seit dem Rationalismus oft als theoretischer Gegenstand sui generis wahrgenommen werden und vor allem systematisch angelegte Affektenlehren nicht mehr primär Teil von praktischen Disziplinen sind.15 Dies schlägt sich allerdings in ganz verschiedener Weise nieder. Während Spinozas Ethik aufs Ganze gesehen durchaus therapeutische Absichten verfolgt,16 ist Hobbes’ Ansatz durch einen starken Szientismus geprägt: Wissenschaft, Technik und effiziente Herrschaft, nicht aber Reflexion tragen nach Hobbes zu einem guten Leben bei, und die Begriffe „richtig“ und „falsch“ gewinnen ihre Gültigkeit aus Regeln, die durch Sanktionen wirksam sind. Dagegen wendet sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts Shaftesbury mit der Prägung des Begriffs des moral sense. Damit bezeichnet er einen natürlichen Sinn für das moralisch Richtige, der sich sowohl in Urteilen über eigenes oder fremdes Verhalten als auch in den Motiven für Handeln niederschlagen kann. Dieser Sinn wird als natürliches Vermögen verstanden, das sich aber durch Bildung und philosophische Reflexion verfeinern lässt. Shaftesbury verfolgt daher ein therapeutisches Projekt, was ihn nicht zuletzt von den eigentlichen Moral-Sense-Theorien unterscheidet, die im Anschluss an ihn entwickelt wurden. Hutcheson will auf der Basis des Moral-Sense-Begriffs ein System der Ethik errichten, das moralisches Handeln stärker als die Naturrechtskonzeptionen des 17. Jahrhunderts auf intrinsische Motivation gründen lässt. Hume versucht, die experimentelle Methode des Denkens für eine Erfahrungswissenschaft vom Menschen fruchtbar zu machen, die konsequent auf Beobachtung gestützt ist. Dabei arbeitet er insbesondere auch die zentrale Rolle der Gefühle anderer für _____________ 15 16
Siehe dazu Moreau 2003. Dazu Ursula Renz in diesem Band.
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die Ausbildung eigener Emotionen heraus.17 Smith schließlich entwickelt die Einsicht in die Bedeutung der Gefühle anderer mit der Idee eines unparteiischen Beobachters weiter, sodass seine Theorie der moralischen Gefühle in eine Sozialtheorie mündet. Bei allen Unterschieden teilen allerdings alle mit dem Moral-Sense-Begriff operierenden Ansätze die These, dass wir es beim Gefühl mit einem potenteren moralischen Vermögen zu tun haben als bei der Vernunft. Kant wird in Reaktion auf diesen Zusammenhang versuchen, die Einsichten der Moral-Sense-Theorien mit denjenigen der eher rationalistischen Tradition zu verbinden und die Moral direkt nur noch auf Vernunft, nicht mehr auf das in seiner Sicht subjektive sinnliche Gefühl zu gründen.
5. Philosophie, Vernunft und Emotionen Das Verhältnis von Philosophie und Emotionen war zumeist ein gespanntes. Schon Platon begreift Philosophie als ein Mittel gegen den Einfluss, den Emotionen – konkret: die Angst vor dem Sterben – auf das eigene Handeln und Erleben haben. Dahinter steht die Annahme, zwischen philosophischem Denken und dem Erleben bestehe ein Zusammenhang derart, dass nicht nur das Erleben das Denken, sondern auch das Denken das Erleben präge. Auch Platons Schüler Aristoteles geht von einem solchen Zusammenhang aus, doch er analysiert ihn unter einer sozialphilosophischen Perspektive. Mit seiner Rhetorik, die als einer der Grundtexte der Tradition der Affektenlehren gilt, stellt er die menschlichen Emotionen in einen genuin intersubjektiven Zusammenhang. Die Erkenntnis der Funktionsweise der Emotionen ist für ihn ein Mittel, auf andere Menschen Einfluss zu nehmen und sich dank einer vernünftigen Steuerung der eigenen Affekte unerwünschten Einflüssen anderer zu entziehen. Der gemeinsame Fluchtpunkt der Philosophie von Platon und Aristoteles ist für die Geschichte der philosophischen Emotionstheorien von enormer Bedeutung: Philosophie gilt den Philosophen oft als Königsweg, um möglichst große Macht über sich selbst zu erlangen. Mittel dafür ist maßgeblich eine Klärung des eigenen emotionalen Selbstverhältnisses. Je nach Tradition wird diese Klärung entweder als Mäßigung bzw. Auslotung menschlicher Emotionalität zwischen schädlichen Extremen, als Über_____________ 17
Vgl. Christoph Demmerling/Hilge Landweer in diesem Band.
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windung der Affekte und Leidenschaften oder als Reflexion über ihre natürlichen Wirkungen und inneren Gesetzmäßigkeiten und damit als Selbstverständigung über Gefühle konzipiert. Ein herausragender Markstein im Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Emotionen ist zweifelsohne die praktische Philosophie Immanuel Kants. Sie prägt einen Autonomiebegriff, der als reines Selbstverhältnis des Denkens aufgefasst wird, womit die praktische Philosophie als eine von der Emotionstheorie unabhängige Disziplin begründet wird. Seit Kant scheint es wohl begründet, an den Emotionen vorbei praktische Philosophie zu betreiben. Jene philosophischen Ansätze in der Zeit zwischen Kant und Heidegger hingegen, die Emotionen zu ihrem Gegenstand machen, verstehen sich entsprechend zumeist als Gegenentwurf zu Kant. Die oft suggerierte These, die Emotionen in der Philosophiegeschichte seien marginalisiert worden, erweist sich so gesehen als falsch. Im Gegenteil, offensichtlich ist das Verhältnis zu den Emotionen für das Selbstverständnis der Philosophie auf vielfältige Weise prägend gewesen, und zwar oft selbst dort, wo es nicht explizit thematisiert wurde. Allerdings trifft zu, dass das Verhältnis von philosophischer Vernunft und Emotionen selten ein neutrales war. „Wie hältst du es mit den Emotionen?“ scheint eine der Gretchenfragen der Philosophie zu sein.
6. Philosophische Emotionstheorie und Psychologie Nicht alles, was Philosophen über Emotionen geschrieben haben, würde heute ohne weiteres der Philosophie im engeren Sinne zugeordnet werden. Aristoteles’ Rhetorik enthält Beobachtungen, die quasi soziologischer oder verhaltenstheoretischer Art sind. Manches von dem, was Descartes über die Leidenschaften der Seele schreibt, schließt eher an seine Physiologie als an seine Erkenntnistheorie an. Spinoza nimmt in seiner Affektenlehre entscheidende Einsichten der Psychoanalyse vorweg. Jean-Jacques Rousseau befasst sich mit Gefühlen u. a. im Kontext politiktheoretischer Problemstellungen. Adam Smiths Moralpsychologie, die auf der Sympathiekonzeption basiert, geht Hand in Hand mit der Entwicklung seiner Nationalökonomie. Kant stellt in seiner Anthropologie Überlegungen an, die in die Psychologie der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts passen würden. Kierkegaard denkt und schreibt sowohl als Theologe als auch als Philosoph.
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Eine solche Zuordnung bestimmter Aspekte von Emotionstheorien zu verschiedenen Einzeldisziplinen ist Ergebnis der historischen Ausdifferenzierung, im Zuge derer sich nach und nach die verschiedenen Geistesund Sozialwissenschaften aus der Philosophie ausgegliedert haben. Insbesondere die Psychologie, die im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin entsteht, trägt zur Entwicklung von Emotionstheorien bei, übernimmt dabei aber auch Fragestellungen, die vorher in der Philosophie verhandelt wurden. Es handelt sich dabei allerdings um einen mehrere Jahrzehnte dauernden Prozess, und auch wenn die dabei ausgebildeten einzelwissenschaftlichen Methoden die verschiedenen Disziplinen trennen, so lassen sich für diesen Zeitraum psychologische von philosophischen Emotionstheorien nicht immer scharf unterscheiden. Nicht nur sind die Fragestellungen oft ähnlich, sondern viele Philosophen, die sich mit Emotionen befasst haben, verstanden sich auch als Psychologen und umgekehrt, wie etwa William James und Wilhelm Wundt. Ein wichtiger Aspekt der Trennung von Philosophie und Psychologie ist der Anspruch auf empirische Abstützung wissenschaftlicher Aussagen. Auch dieser Unterschied lässt sich deutlich erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten. Beispielsweise wird die Emotionstheorie David Humes aus heutiger philosophischer Perspektive oft als „Psychologie“ bezeichnet, und zwar u. a. deswegen, weil sie sich unmittelbar für empirische Zusammenhänge interessiert. Wie schwierig es daher auch immer sein mag, Gegenstand und Methoden der Philosophie zu bestimmen, so zeichnet sich mindestens eine Differenz zu den übrigen Humanwissenschaften ex negativo ab: Philosophie versteht sich jedenfalls nicht als empirische Wissenschaft. Auf die Etablierung der Psychologie als empirischer Wissenschaft reagiert die Philosophie mit verschiedenen Varianten von Psychologismuskritik, die aber weniger gegen die Psychologie selbst als gegen psychologisierende Annahmen innerhalb der Philosophie gerichtet sind. Ein wesentlicher Kritikpunkt dabei ist die Verwechslung von Genesis und Geltung, etwa in Bezug auf die Funktionsweisen des Bewusstseins, innerhalb mancher psychologischer Theorien. Der Psychologismusvorwurf ist für die Auseinandersetzung mit Emotionen in mehrfacher Hinsicht von Belang. So wendet sich Husserl gegen die Auffassung, nach der die Logik eine psychologische Grundlage habe.18 Er unterscheidet die Genese einzelner Bewusstseinsakte von ihrer allge_____________ 18
Vgl. Husserl 1900/1901.
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Hilge Landweer und Ursula Renz
meinen Struktur und entwickelt zur Klärung des Wahrheitsbegriffs als Methode eine von empirischen Zufälligkeiten gereinigte Analyse von Bewusstseinsakten. Ob eine solche ‚reine‘, introspektiv vorgehende Phänomenologie des Bewusstseins methodisch und sachlich überhaupt möglich ist, muss hier offengelassen werden. Der husserlsche Intentionalitätsbegriff erweist sich jedenfalls für die weitere Entfaltung der Emotionstheorien als grundlegend. So legt ihn etwa Max Scheler seiner Emotionstheorie zugrunde, die zum ersten Mal wieder seit Humes Tableau der Affekte versucht, die Emotionen in eine Ordnung zu bringen – eine Theorie, die bei Scheler mit dem metaphysischen Anspruch auftritt, eine apriorisch geltende Ordnung von Werten und Gefühlen zu rekonstruieren. In der an Husserl und Scheler anschließenden Tradition der frühen oder „realistischen“ Phänomenologie entsteht eine Vielfalt von gründlichen Einzelanalysen von Gefühlen, so etwa von Else Voigtländer (1910), Willy Haas (1910), Moritz Geiger (1911), Edith Stein (1917) und Aurel Kolnai (1931; 1935).19 Auch allgemeine emotionstheoretische Überlegungen finden sich in dieser Tradition, außer bei Max Scheler vor allem bei Alexander Pfänder (1922), später bei Jean Paul Sartre (1939) und Otto Friedrich Bollnow (1941). Erst Hermann Schmitz verbindet in seinem „System der Philosophie“ (1964– 1980) phänomenologische Analysen von einzelnen Emotionen, Stimmungen und verwandten Phänomenen mit einem groß angelegten philosophischen Programm, in dessen Zentrum ausgearbeitete Begriffe von Gefühlen als „Atmosphären“ und von „Situation“ stehen. Diese neue Phänomenologie ist ebenfalls kritisch gegen den Psychologismus gerichtet, und zwar jetzt dezidiert gegen die Auffassung, wonach Gefühle im Wesentlichen innere Seelenzustände sind. Ganz andere Folgen zeitigt die Psychologismuskritik bei Hermann Cohen, in dessen Werk sich ebenfalls eine umfassende Auseinandersetzung mit Affekten und Gefühlen findet, insbesondere in der Ethik des reinen Willens und in der Ästhetik des reinen Gefühls. Cohen unternimmt im Grunde genommen eine Rehabilitierung der Emotionen unter dezidiert kantischen Vorgaben. Das Resultat ist zum einen eine Tugendlehre, wonach moralisches Handeln stärker als bei Kant durch Affekte motiviert oder getragen sein darf und sogar muss, aber in seiner Richtung gleichwohl durch den reinen Willen bestimmt wird. Zum andern schlägt sich
_____________ 19
Vgl. dazu Vendrell Ferran 2008.
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Cohens Antipsychologismus in einer Ästhetik nieder, deren Ziel darin besteht, Gefühlen historische Ursprünge zuzuweisen.20 Eine andere Weise, auf die Vorherrschaft empirischer und insbesondere naturwissenschaftlicher Emotionsforschung zu reagieren, findet man in der amerikanischen Philosophie bei Alfred North Whitehead und bei Susanne K. Langer. Da Whitehead und Langer von einem Kontinuum zwischen ‚Geist‘ und ‚Natur‘ ausgehen, können sie naturwissenschaftliche Resultate eher in ihre jeweilige Naturphilosophie integrieren als andere theoretische Schulen. Der für die jüngste Geschichte der Philosophie der Gefühle wohl wirkmächtigste Denker ist mit Ludwig Wittgenstein ein Philosoph, der zwar eine – ebenfalls antipsychologistisch inspirierte – Philosophie der Psychologie21, aber keine Emotionstheorie vorgelegt hat. Auf seine sprachphilosophischen Interventionen lässt sich zurückführen, dass die philosophische Auseinandersetzung mit Emotionen lange Zeit unterbrochen wurde, denn seine Kritik an der Privatsprache wurde so interpretiert, als könne subjektives Erleben kein legitimer philosophischer Gegenstand sein. Innerhalb der analytischen Philosophie dauerte es bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, bis Emotionen wieder philosophisch thematisiert wurden, und zwar von Kenny22. Allerdings wird auch dieser Autor erst seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts breiter rezipiert. Entsprechendes gilt für die in den verschiedenen Zweigen der phänomenologischen Tradition entwickelten Emotionstheorien, die – obwohl mit größerer Kontinuität entfaltet – ebenfalls bis in die 80er und 90er Jahre keine breite Resonanz erfahren. Welche Gründe für die dann einsetzende und immer noch anhaltende Konjunktur des wissenschaftlichen Interesses an den Emotionen verantwortlich sind, scheint uns, solange dieser Prozess anhält, nicht ausgemacht zu sein. Dies in einem selbstreflexiven Prozess und dabei insbesondere in interdisziplinärem Austausch auszuloten, scheint uns eine der vielen Aufgaben zukünftiger Forschung über Emotionen zu sein.
_____________ 20 21 22
Siehe dazu auch Renz 2002. Vgl. Rust 1996. Vgl. Kenny 1963.
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7. Zum vorliegenden Band Mit dem vorliegenden Band möchten wir zur Lektüre der wichtigsten emotionstheoretischen Texte der philosophischen Tradition anregen. Wir haben uns dabei an solche Ansätze gehalten, von denen wir meinen, dass sie auch heute noch lesenswert sind, sei es, um bestimmte historische Entwicklungen zu verstehen, sei es, weil sie in systematischer Hinsicht aufschlussreich sind. Dass es noch unzählige weitere interessante und wichtige Ansätze gibt, ist uns ebenso bewusst wie die Tatsache, dass Lücken bestehen, die eigentlich nicht bestehen sollten. Wir haben ferner bewusst darauf verzichtet, Emotionstheorien heute noch lebender Philosophen in diesen Band mit aufzunehmen, da die Konjunktur philosophischer, einzelwissenschaftlicher und interdisziplinärer Emotionstheorien immer noch ungebrochen anhält und sich noch nicht eindeutig abzeichnet, in welche Richtung diese neuesten Entwicklungen weisen. In der Abfolge der Beiträge haben wir uns weitgehend an die chronologische Reihenfolge der Geburtsjahre der behandelten Philosophen gehalten; Ausnahmen haben wir dort gemacht, wo entweder das Publikationsjahr der jeweiligen emotionstheoretischen Schriften oder Traditionszusammenhänge eine andere Reihung nahelegen. Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe und Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen. Ein großer Dank geht an Alexander Brungs, der uns bei der Konzeption mit seinen profunden Kenntnissen der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie zur Seite stand. Jürgen Frese † unterstützte in der ersten Phase unsere systematischen Überlegungen; wir verdanken ihm zahlreiche Hinweise. Dies gilt auch für Alois Rust. Bei Damian Caluori bedanken wir uns für seine Bereitschaft, in letzter Minute den Beitrag zur antiken medizinischen Tradition zu übersetzen. Für die äußerst aufmerksame, gründliche und geduldige redaktionelle Betreuung sowie für die tatkräftige Behebung sämtlicher technischer Probleme im Zusammenhang mit der Drucklegung und die Einhaltung eines zum Schluss äußerst knappen Zeitplans zeichnet Nina Trcka verantwortlich. Wir möchten ihr ganz herzlich dafür danken. Für finanzielle Unterstützung bei der technischen Erstellung sind wir dem Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin, dessen erstes Teilprojekt hiermit realisiert wird, und der Professur für theoretische Philosophie an der ETH Zürich zu Dank verpflichtet.
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Literatur Besnier, Bernard/Pierre-François Moreau/Laurent Renault (2003), Les Passions antiques et médiévales, Paris (PUF). Bollnow, Otto Friedrich (1941), Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. Brungs, Alexander (2000), Metaphysik der Sinnlichkeit. Das System der Passiones Animae bei Thomas von Aquin, Halle. Cohen, Hermann (1981, zuerst 1904), Ethik des reinen Willens, hrsg. von Helmut Holzhey mit einer Einführung von Steven S. Schwarzschild, Hildesheim [Nachdruck der 2. revidierten Auflage von 1907, Werke Bd. 7]. Cohen, Hermann (1982, zuerst 1912), Ästhetik des reinen Gefühls, hrsg. von Helmut Holzhey mit einer Einleitung von Gerd Wolandt, Hildesheim [Nachdruck der 1. Auflage von 1912, Werke Bd. 8 und 9]. Geiger, Moritz (1911), Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung, in: Bericht über den IV. Kongress für experimentelle Psychologie in Innsbruck vom 19. bis 22. April 1910, Leipzig, 29–74. Haas, Willy (1910), Über die Echtheit und Unechtheit von Gefühlen, Nürnberg. Hadot, Pierre (1995), Qu’est-ce que la philosophie antique?, Paris. Husserl, Edmund (1900/1901), Logische Untersuchungen in 2 Bdn, Halle. James, Susan (1997), Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford. Kenny, Anthony (1963), Action, Emotion, and Will, London. Knuuttila, Simo (2004), Emotions in Ancient and Medieval Philosophy, Oxford. Kolnai, Aurel (1931), Der Hochmut, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 44, 2. Heft, 153–331. Kolnai, Aurel (1935), Versuch über den Hass, in: Philosophisches Jahrbuch der GörresGesellschaft 48, 2/3. Heft, 147–187. Moreau, Pierre-François (2003), Les passions: continuités et tournants, in: Besnier et al., a. a. O., 1–12. Newmark, Catherine (2008), Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant, Hamburg. Pfänder, Alexander (1922), Zur Psychologie der Gesinnungen, Halle. Renz, Ursula (2002), Affektivität und Geschichtlichkeit: Hermann Cohens Rehabilitierung des Affekts, in: Achim Engstler/Robert Schnepf (Hg.), Spinozas Lehre im Kontext, Hildesheim, 297–319. Rust, Alois (1996), Wittgensteins Philosophie der Psychologie, Frankfurt. Sartre, Jean-Paul (1960, zuerst 1939), Esquisse d’une théorie des émotions, Paris. Schmitter, Amy M. (2006), 17th and 18th Century Theories of Emotions, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy: URL = http://plato.stanford.edu/entries/emotions-17th18th/index.html; letzter Zugriff 6. Januar 2008. Schmitz, Hermann (1964–1980), System der Philosophie in 5 Bänden, 10 Teilbände, Bonn. Stein, Edith (1917), Zum Problem der Einfühlung, Halle. Theunissen, Michael (2000), Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München. Vendrell Ferran, Ingrid (2008), Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin. Voigtländer, Else (1910), Über die Typen des Selbstgefühls, Leipzig. Williams, Bernard (1993), Shame and Necessity, Berkeley.
Platon (427–347 v. Chr.)
Platon: Affekte und Wege zur Eudaimonie Michael Erler Die Suche nach einer kohärenten Affekttheorie bei Platon ist infolge der dialogischen Gestaltung seines Werkes schwieriger, aber auch interessanter und facettenreicher als bei anderen Autoren. Affekte sind zwar bisweilen Gegenstand der Gespräche in den Dialogen, doch geschieht dies in unterschiedlichen Kontexten, bei denen keineswegs immer die Frage nach den Affekten, ihrer Bestimmung und ihrer Bewertung im Vordergrund steht. Doch steht die Frage nach Affekten und dem Umgang mit ihnen auch dann im Hintergrund, wenn es um die Bestimmung von Tugenden wie Tapferkeit im Laches, der Besonnenheit im Charmides oder der Gerechtigkeit in der Politeia geht.1 Denn diese Tugenden werden nicht zuletzt als vernunftgeleitete Fähigkeiten verstanden, mit emotionalen Zuständen, wie Furcht, Zorn oder Begierden, richtig umzugehen und sie von der Vernunft kontrollieren zu lassen.2 Wenn im Phaidon Sokrates und seine Freunde angesichts des Todes über die Unsterblichkeit der Seele und das Glück des Menschen diskutieren, spielen Affekte ebenso eine wichtige Rolle wie im Phaidros und Symposium, in denen es um das Wesen des Eros geht, im Philebos, der nach dem Rang von Lust und Wissen im menschlichen Leben fragt oder den Nomoi, in denen nach der Bedeutung von Affekten bei der Erziehung der ‚gewöhnlichen‘ Menschen gefragt wird3. Diese Vielfalt unterschiedlicher Kontexte vermittelt einen zunächst zwiespältigen, ja möglicherweise verwirrenden Eindruck. Die Beurteilungen der Affekte scheinen im Vergleich nicht immer kompatibel, ja bisweilen sogar widersprüchlich. Zu bedenken ist jedoch, dass unterschiedliche Nuancierungen möglicherweise dem jeweiligen argumentativen Kontext geschuldet sind und nicht ohne Weiteres auf den Autor projiziert werden _____________ 1 2 3
Zur Frage, ob Gerechtigkeit als Thema der Politeia anzunehmen sei, vgl. NeschkeHentschke 1990; Erler 2007b, 207f. Zu Tugend als Wissen vgl. z. B. Men. 87c; vgl. auch van Ackeren 2003, 339f.; allgemein vgl. Konstan 2007 (zu Platon kurz z. B. 67f., 253f.). Zur Rolle der Affekte in den Nomoi vgl. Görgemanns 1960 und Schöpsdau in Platon 1994, z. B. 228ff.
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dürfen.4 Versucht man, die jeweiligen Aussagen und Positionierungen immer situativ als Aussagen des Personals im dialogischen Kontext zu bewerten, dann erweist sich mancher Widerspruch als nur scheinbar. Die einzige Stelle im Œuvre Platons, an der Sokrates die Lust als etwas Gutes zu bezeichnen scheint (Prot. 351b–353b), erweist sich unter diesem Gesichtspunkt z. B. als punktuelle sokratische Argumentationsstrategie.5 Will man aufgrund des Facettenreichtums des Dialoggeschehens ein kohärentes Bild platonischer Affektbeurteilung zu zeichnen versuchen, kommt der Umstand zu Hilfe, dass Platon das Thema nicht nur abstrakt argumentativ behandeln lässt, sondern durch das Verhalten des agierenden Personals gleichsam illustriert und geradezu kommentiert. Wenn Echekrates im Dialog Phaidon den Erzähler des Dialoggeschehens, Phaidon, bittet (58c)6, nicht nur von Sokrates’ Worten, sondern auch von dessen Verhalten zu berichten, wirkt dies wie eine Leseanweisung Platons, die für alle Dialoge und nicht nur für das Verhalten des Protophilosophen Sokrates, sondern auch für das seiner Partner gilt. Auch bei der Frage nach Platons Affektverständnis lohnt es sich, neben der argumentativen die performative Ebene der Dialoge und neben Sokartes auch das andere Personal zu berücksichtigen. Denn bisweilen kommentiert sich der poeta doctus Plato selbst.7 Auch bei jenen emotionalen Zuständen, denen der Leser bei Sokrates und bei seinen Partnern begegnet, konvergieren Schilderungen von Anlass, Intensität und Auswirkung der Emotionen auf performativer Ebene nicht selten mit den Ergebnissen der argumentativen Analyse. Beides fügt sich zu einem differenzierten Gesamtbild dessen, was man wohl Platon als Auffassung von Affekt und Emotion zuschreiben darf.8
_____________ 4 5 6 7 8
Vgl. Blössner 1997, 8ff. (für Politeia-Interpretation). Vgl. Manuwald in Platon 1999 (Band VI.2: Protagoras), 378ff. (mit Diskussion unterschiedlicher Positionen). Zu Recht Gallop 2001, 279. Vgl. Gaiser 1959 und Erler 1992. Platon bietet keine Definition des Affektes (pathos); er verwendet das Wort pathos vielfältig, z. B. als Emotion, die mit Lust und Schmerz verbunden ist (vgl. Phileb. 35ef.).
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1. Affekte als Störenfriede Auch wenn bisweilen unterschiedliche Aspekte hervorgehoben werden, lässt sich in den Dialogen eine Grundhaltung gegenüber den Affekten erkennen, die sich durch Platons gesamtes Werk zieht. Platon bewertet Affekte durchgehend kritisch bis negativ, wenn es um das menschliche Streben nach Wahrheit und Glück geht. Wie Aristoteles und die hellenistischen Schulen nach ihm war auch Platon überzeugt, dass alle Menschen nach Glück im Sinne eines erfüllten Lebens streben (eudaimonia). Die Frage „Wie soll ich leben?“, damit ich glücklich bin, wird in der Politeia ebenso gestellt, wie im Gorgias (Gorg. 491e) und darf als ausgesprochenes oder unausgesprochenes Leitmotiv beinahe aller Dialoge gelten.9 Und hier ist die Antwort für Platons Sokrates eindeutig: Leitfaden für diese Glückssuche kann allein die Vernunft sein; nur wer sich an der Vernunft orientiert, kann erkennen, was wirklich zuträglich und gut ist; nur wer ihr folgt und alles meidet, was der Rationalität hinderlich ist, kann Glück erreichen. Im Kontext dieser Wahrheitssuche erweisen sich Affekte als Störfaktoren. Denn sie gelten Platon als Ursache dafür, dass man den wahren Charakter von Dingen und Sachverhalten verkennt und sich deshalb unangemessen verhält. Affekte geraten deshalb in Widerspruch zur Vernunft und können zu einem innerseelischen Zwiespalt führen.10 Als Quellen dieser irrationalen Störenfriede des Menschen werden von Platon unterschiedliche Instanzen angegeben. Im Phaidon lokalisiert Sokrates die das Streben nach Wahrheit und Glück behindernden Affekte im körperlichen Bereich. Sokrates folgert dies aus der Beobachtung, dass „in tausend Fällen“ „die Seele den körperlichen Bedürfnissen entgegentritt“ (Phaed. 94b–c, Übers. Frede) und mit Empfindungen des Körpers (94b–c) wie Hunger, Durst, Furcht und anderen Emotionen in Konflikt treten kann (94d; vgl. 66e); dafür spricht ebenfalls, dass sich Affekte auch durch körperliche Reaktionen wie Erröten oder Erbleichen manifestieren. Noch der Timaios stellt einen engen Zusammenhang zwischen Affekt und Körper her, wenn er dem sterblichen Teil der Seele, die den Körper belebt, „mächtige und unabweisbare Affekte“ zuspricht wie Lust, „des Schlechten stärksten Köder “ (Tim. 69c, Übers. Schleiermacher). _____________ Zur eudaimonistischen Ethik Platons vgl. Stemmer 1988. Zu Glück als Folge seelischer Harmonie und Kontemplation des Seins vgl. Rep. 443c–e, 519a–b; Phaed. 66bff.; Conv. 210aff.; Tim. 42eff. 10 Vgl. Rep. 603eff.; Lg. 644cff. 9
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Mit eben diesem Konflikt von Vernunft und Affekt argumentiert Platon dann auch in der Politeia11, wo er freilich nicht mehr den Körper, sondern die Seele selbst für Emotionen verantwortlich macht. Demnach sind irrationale Instanzen als Quelle der Affekte in der Seele selbst zu lokalisieren. Im Wunsch, eine dem Staatsgebilde analoge Seelenstruktur zu entwickeln, spricht Platon in der Politeia mit Blick auf unterschiedliche und einander widerstrebende Regungen oder Instanzen in der Seele und unter Berücksichtigung des Satzes vom Widerspruch von drei Seelenvermögen oder Instanzen (435aff.), dem vernünftigen (logistikon), dem aggressiven (thymoeides) und dem triebhaften (epithymetikon). 12 Diese Trennung der Seeleninstanzen ist freilich nicht in einem ausschließenden Sinne zu verstehen: Auch Affekten kommt nach Platon ein kognitives Element zu. Ansonsten ist nicht zu verstehen, wie die unteren Seeleninstanzen erkennen können, dass Vernunft bzw. Philosophenkönige herrschen und kontrollieren sollen.13 Konflikte entstehen, wenn Gefühle fehlgeleitet werden. Die Möglichkeit für solche innerseelischen Konflikte veranschaulicht Platon verschiedentlich durch Bilder; im Phaidros (246a– b), indem Sokrates die inneren Kräfte mit einem geflügelten Seelengespann, einem geflügelten Lenker und zwei geflügelten, ungleichen und deshalb schwer lenkbaren Pferden, vergleicht14, in der Politeia durch das Bild vom Ungeheuer (588b–590d), das Menschenverstand, Löwenmut und eine vielköpfige Hydra von Begierden besitzt, die kontrolliert werden müssen und in den Nomoi durch das sogenannte Marionettengleichnis (644d–645b), wobei die Menschen von goldenen Zugdrähten der Vernunft aber auch eisernen Drähten anderer Seelenkräfte gezogen werden15. Alle diese Bilder illustrieren, was in den Dialogen immer wieder anklingt: Platon sieht Emotionen und Vernunft in einem Konflikt miteinander, wobei Emotionen nur als Hindernis für rationales Handeln verstanden werden. Die Möglichkeit, dass Emotionen auch förderlich sein können, wird nicht in Erwägung gezogen. In diesem Zusammenhang wird zumeist empfohlen, dass die irrationalen Seelenregungen kontrolliert und _____________ Vgl. Rep. 439c–e. In anderem Kontext ist von zwei Instanzen in der Seele die Rede (z. B. Rep. 602e–603a); vgl. Blössner 1997, 240. 13 Platons Phaidros (243eff.) bietet eine positive Form des Wahnsinns, der zu Erkenntnis befähigt. 14 Dazu vgl. Heitsch in Platon 1997a, 96ff. 15 Zum Marionettengleichnis in den Nomoi (644d–645b) vgl. Schöpsdau in Platon 1994, 231ff. 11 12
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der Vernunft unterworfen werden sollen, will man Wissen und Glück erreichen (Rep. 590c–d). Die Dialoge bieten nicht nur theoretische Erörterungen, was Affekte sind und wo man sie zu lokalisieren hat. Sie reflektieren und illustrieren auch, wie Affekte menschliches Streben nach Wissen und Glück behindern (Rep. 588b–590d) und wie man mit ihnen umzugehen hat, um ihre schädliche Wirkung als Störenfriede rationaler Glücksuche zu minimieren, zu kontrollieren oder gar zu beseitigen, wobei bestimmte Haltungen bestimmten Emotionen zugeordnet werden wie Tapferkeit der Furcht, Besonnenheit der Begierde und Lust; Vernunft schließlich soll alle Affekte kontrollieren.
2. Sokrates und die Affekte Eine angemessene Einstellung zu den Affekten lässt Platons durch seinen Protagonisten Sokrates diskutieren und auch lebensweltlich vorführen. Dem Leser wird auf diese Weise eine bis zur Unterdrückung der Affekte reichende Kontrolle als möglich16 empfohlen. Denn in den Dialogen wird berichtet oder geschildert, dass und wie Sokrates seine Affekte in unterschiedlichen lebensweltlichen Situationen beherrschen, ja sich von ihnen geradezu befreien kann. In der Apologie weigert sich Sokrates ausdrücklich, an die Emotionen der Zuhörer zu appellieren.17 Im Dialog Symposium berichtet Alkibiades, wie äußerst tapfer sich Sokrates in den Schlachten von Potidaia und beim Delion verhalten habe.18 Darüber hinaus schildert Alkibiades, wie er als Liebhaber unter Sokrates’ Selbstbeherrschung in Liebesdingen zu leiden hatte (Conv. 217bff.). Eindrucksvollstes Dokument für Sokrates’ kontrollierten Umgang mit Emotionen ist der Dialog Phaidon, der Sokrates in seinen letzten Stunden vor der Hinrichtung zeigt und ihn dabei nicht zuletzt als Personifikation des Triumphes des Logos über menschliche Unzulänglichkeiten und Affekte vorstellt.19 Im Phaidon nämlich, in dem Platon beim Leser für sein neues Konzept von Philosophie wirbt, es von traditionellen Vorstellungen abgrenzt und als einzig angemessene Tätigkeit der rein rationalen menschlichen Seele _____________ 16 17 18 19
Zu Sokrates als Ideal der Selbstbeherrschung vgl. Kahn 1996, 331. Vgl. Apol. 35b; dazu Heitsch in Platon 2002, 143. Vgl. Conv. 220d–221b; Lach. 181b. Vgl. Erler 2007a.
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vorstellt, wird Sokrates zum Exemplum und gleichsam zum Beleg dafür, dass und wie der Mensch auch unter widrigsten Umständen sein Schicksal tragen und auch angesichts des Todes Zuversicht und Tapferkeit bewahren, ja sogar glücklich sein kann. Platons Sokratesfigur zeichnet eine geradezu heroische Selbstbeherrschung und nahezu vollständige Affektfreiheit aus. Sokrates verrät keinerlei innere Bewegung während der Diskussionen mit Kebes und Simmias oder als ihm Kriton ein Gespräch über seine Beerdigung aufdrängt (115c– 116a), unwillig wird und dabei zu erkennen gibt, dass er die gesamte Argumentation nicht verstanden hat. Ruhig und beherrscht bleibt Sokrates auch, als er schließlich den Giftbecher erhält und trinkt (116b–117c). Er zeigt sich unberührt von den Klagen anderer, tröstet vielmehr seinerseits seine Freunde, als sie von Trauer übermannt zu werden scheinen. Seine Frau, seine Kinder und seine Angehörigen schickt er fort, als sie auf eine Weise in laute Klage ausbrechen, die an entsprechende Szenen im Drama erinnert.20 Sokrates behält die Fassung, hadert nicht mit seinem Schicksal oder klagt über ungerechte Behandlung – aganaktein (unwillig sein) ist ein Stichwort in diesem Zusammenhang nicht nur im Phaidon, sondern auch in der Apologie und im Kriton21 –, sondern erweist sich auch in den letzten Stunden seines Lebens als glücklicher Mensch. Der affektfreie Sokrates verhält sich also ganz anders als die Helden in der Tragödie oder im Epos, in denen Hingabe an Affekte bei Helden wie Achill oder hemmungslose Klage bei Göttern wie etwa Zeus angesichts des Todes seines Sohnes Sarpedons (Rep. 387d–388c) oder auch Unwille und Zorn über das jeweilige Schicksal etwa bei Herakles in der letzten Szene des gleichnamigen euripideischen Stücks nicht ungewöhnlich sind.22 Dieser Kontrast in Sokrates’ Verhalten zum traditionellen Helden der Tragödie oder des Epos ist gewollt. Dies macht Platon, der Autor, selbst deutlich, indem er seinen Protophilosophen kurz vor seinem Tod als Fazit seiner Argumentationen nicht nur die Notwendigkeit betonen lässt, körperliche Lüste beiseite zu lassen und sich der Lust der Forschung hinzugeben (Phaed. 114e), sondern ausdrücklich eine tragische Weltsicht ablehnen lässt, die ihn die Umstände seines Todes anders, z. B. mit Unwillen, _____________ Vgl. Phaed. 59e–60a, 116a–b und Sophokles, Oidipous Tyrannos 1071ff.; Euripides, Alkestis 270ff. 21 Vgl. Phaed. 62d, 115cd; vgl. Apol. 35e, 41d. Darauf macht Szlezák 1985, 235ff. aufmerksam. 22 Vgl. Euripides, Herakles 1370ff. 20
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wie Kriton dies tut, bewerten ließe.23 „Hätte ich die Sichtweise eines tragischen Helden“ – so kommentiert er sein Verhalten –, „würde ich meine Situation ganz anders“ – also unphilosophisch, so muss man ergänzen – „einschätzen“ (115c, Übers. Schleiermacher). In der Tat verhält sich Platons Protagonist und antitragischer Held Sokrates, wie es Platon in der Dichterkritik in der Politeia von einer philosophische Tragödie verlangt. Wie dort vorgegeben beweist Sokrates vollständige Kontrolle über die Affekte und ist in jeder Hinsicht besonnen, ruhig und gegen Wechselfälle des Lebens immun, weil er menschliche Belange großen Ernstes nicht für Wert hält.24 Durch sein Verhalten illustriert Sokrates: Ein wirklicher Philosoph argumentiert nicht nur rein rational, adressatenbezogen und ergebnisorientiert. Er hat auch seine Affekte völlig unter Kontrolle und unterwirft sie dem Logos. Sokrates verzichtet auf Äußerungen und ein Verhalten, die auf Mitleid seiner Zuhörer und Freunde zielen, Affekte wecken oder diese gar verstärken könnten, wie es Platon beim traditionellen Drama beklagt.25 Schon in der Apologie hat sich Sokrates daran gehalten, indem er sich rhetorischer Strategien der Mitleidsweckung ausdrücklich enthält (Apol. 35b). Auf diese Weise wird Sokrates zum Exemplum für ein wahrhaft philosophisches, an Tugend orientiertes Leben (Lg. 732e) und zum Protagonisten der schönsten Tragödie, die das beste Leben nachahmt, von der Platon in den Nomoi spricht (Lg. 817b), und die er in Kallipolis, seinem Idealstaat, zulassen würde26. Die durch Sokrates’ Verhalten illustrierte antitragische Haltung im Umgang mit Affekten ist eindrucksvoll. Doch hat diese rigorose Haltung und Vorgabe für den wahren Philosophen, der einem Leitbild folgt, das in Emotionen nur einen fehlerhaften Charakter erkennen kann und deshalb nach Ausschaltung der Emotionen strebt, moderne Interpreten auch irritiert und bei ihnen Unbehagen hervorgerufen.27 _____________ 23
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Vgl. Phaed. 115a–c; dazu auch Halliwell 1984; ders. 2002, 106f.; vgl. auch Sokrates’ Erklärung, warum er die Frauen fortschickte: Phaed. 117de mit Rep. 387e und 605e. Vgl. Rep. 380e–381d, 387e, 604e, 605c–e. Vgl. Halliwell 2002, 112ff.; Giuliano 2005, 102ff., 122, 325. Vgl. Lg. 817b; dazu Görgemanns 1960, 66–69; Schöpsdau in Platon 1994, 596ff. Zu Platon und der Tragödie vgl. Kuhn 1941, 1942 und 1969; Gaiser 1984; Halliwell 1984, bes. 55f. Dies führt Martha Nussbaum (Nussbaum 1986, besonders das Kapitel „Plato’s anti tragic theatre“) dazu, Platons antitragischer Haltung ein Verkennen der Bedeutung von Scheitern und Macht des Irrationalen im menschlichen Leben vor-
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3. Sokrates’ Partner und ihre Emotionen: Phaidon Freilich ist diese Bewertung nur gerechtfertigt, wenn man sich allein an Platons Ideal des Philosophen und dessen Verkörperung durch Sokrates sowie seinem Streben nach Wahrheit und Glück orientiert. Dies mag in der Tat Platons Hauptintention bei der Gestaltung seiner Sokratesgestalt und der Schilderung des Dialoggeschehens entsprechen. Doch nicht erst in den späten Nomoi gibt Platon zu erkennen, dass er nicht nur zu Philosophen, sondern auch zu Menschen spricht (Lg. 732e, Übers. Schöpsdau). Das gilt für das Personal in den Dialogen, das gilt aber auch für die von ihm erwartete Leserschaft. Jedenfalls konfrontiert Platon schon in früheren Dialogen seinen Protagonisten Sokrates mit Partnern und rechnet offenbar mit ebensolchen Lesern, die ‚gewöhnliche‘, von Affekten ‚belastete‘ Menschen mit ‚tragischer Lebensperspektive‘ und deshalb anfällig für Emotionen sind und deren Möglichkeiten, Glück zu erwerben, er deshalb infrage stellt.28 Die dramatisch-dialogische Gestaltung erlaubt Platon, diese Affektanfälligkeit unter verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und auch beim Verhalten der gewöhnlichen Menschen mit ‚tragischer Weltsicht‘ Differenzierungen und Nuancierungen erkennen zu lassen, die eine graduelle Bewertung erlauben, ohne dabei die Präferenzen für das Ideal der Sokratesfigur aus dem Blick zu verlieren. Gerade unter diesem Aspekt ist der Dialog Phaidon ein wichtiges Zeugnis, obgleich dieser Dialog doch eigentlich an Nicht-Philosophen appelliert, Philosophen im Sinne Platons zu werden, und deshalb eine scharfe Trennlinie zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen, hinsichtlich ihres jeweiligen Umgangs mit Affekten und ihrer Chancen, Glück zu erlangen, zieht. Doch lässt gerade dieser platonische protreptikos zur Philosophie erkennen29, dass Platon neben dem Ideal auch mit anderen Möglichkeiten des Umgangs mit Affekten rechnet. Dieser Dialog deutet an, dass es nicht nur radikale Ablehnung der Affekte geben muss, sondern dass – im Rahmen der antitragischen Sichtweise des Lebens – Umgangsformen mit Affekten vorkommen, die das philosophi_____________ zuwerfen und diese Erkenntnis erst wieder Aristoteles und den hellenistischen Schulen zuzusprechen. Nimmt man jedoch Platons Haltung gegenüber ‚anständigen Menschen‘ und ihren Umgang mit Affekten, ergibt sich ein differenziertes Bild, das auf Aristoteles und den Hellenismus vorausweist; vgl. Gallop 2001, 279ff. 28 Zur Bedeutung des Denkniveaus vgl. Erler 1987, 280ff.; Blondell 2002; zum Phaidon vgl. Sedley 1995. 29 Zum protreptischen Charakter des Phaidon vgl. Blössner 2001.
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sche Ideal nicht ersetzen, jedoch das Leben der Menschen mit tragischer Perspektive im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch für Platon akzeptabel erscheinen lassen. Der Phaidon ist nämlich nicht nur Zeugnis des Triumphes des Verstandes über die Furcht, des Vertrauens auf den Logos und der konsequenten Anwendung seiner Folgerungen auf das eigene Verhalten. Er dokumentiert auch Missverständnisse gegenüber rationaler Argumentation30 infolge von Furcht und Misstrauen, Unwillen (aganaktein) über Sokrates’ Schicksal, und – besonders in der letzten Szene – Trauer über Sokrates’ Tod und den Verlust eines so wichtigen Freundes; offenbar genau das Gegenteil dessen – so scheint es –, was Platon von einer philosophischen Tragödie erhofft und bei einer traditionellen Tragödie tadelt. Ein Appell an die Emotionen, dem sich auch die Leser des Phaidon zu allen Zeiten kaum haben entziehen können.31 Betrachtet man Figuren wie Kebes und Simmias, Sokrates’ Frau, Kriton, Apollodoros oder Phaidon, aber auch den Wächter, dessen edle Trauer von Sokrates sogar gelobt wird, ergibt sich ein breites Spektrum emotionaler Reaktionen auf Sokrates’ Schicksal. Sokrates’ Frau und die anderen Frauen sind voll ungehemmter Trauer und Klagen über Sokrates’ bevorstehenden Tod. Sie, wie auch der Wächter, haben am philosophischen Gespräch nicht teilgenommen und deshalb keine Chance zu verstehen, warum Trauer und Klage über Sokrates’ Tod nicht berechtigt sind, warum der Anlass – Sokrates’ bevorstehender Tod – für ihn kein Übel ist. Etwas anders steht es mit Kriton. Er war Zeuge der Diskussion, hat aber offenbar dennoch nicht verstanden, dass die vernünftige Seele, nicht der Körper das wahre Selbst des Sokrates ist, das unsterblich ist. Deshalb sorgt er sich um Sokrates’ Beerdigung (Phaed. 115c) und ist und bleibt unwillig (aganagktein) über Sokrates’ Tod. Er hat nicht verstanden, dass Furcht vor dem Tod und Trauer bei Sokrates unangemessen sind. Nicht ganz so extrem steht es mit Sokrates’ Partnern Kebes und Simmias. Gewiss, Kebes und Simmias sind philosophisch interessiert, gebildet und vertraut im Umgang mit Argumenten. Sie wollen sich der Macht des Logos beugen und sich überzeugen lassen. Sie geben sogar schließlich zu, dass Sokrates schlüssig argumentiert. Doch ist auch ihr Verhältnis zum _____________ 30 31
Vgl. Dalfen 1994. Halliwells Folgerung freilich, „that Plato the tragedian has not been wholly supressed by Plato the metaphysician“ (Halliwell 1984, 58), berücksichtigt zu wenig, dass für Platon die gewählte literarische Darstellungsweise auch der agierenden Personen Teil der jeweiligen philosophischen Botschaft ist.
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Logos ambivalent, ist bisweilen geprägt von Misstrauen, Zurückhaltung und Unglauben.32 Eben diesem negativen Einfluss, diesem Misstrauen, sucht Sokrates mit seiner Argumentation zu begegnen. Aufmunterung und Trost möchte er bringen (paramuthia, 70b) und Vertrauen wecken. Und das heißt für ihn offenbar vor allem: Reinigung von Furcht und anderen Affekten bei seinen Partnern. Von den Beweisen verlangt er deshalb Plausibilität, nicht aber notwendig Vollständigkeit. Seine Partner scheinen zunächst die Argumentation und ihr Ergebnis zu akzeptieren. Doch zeigen sie sich dann wieder ungläubig (77e), obgleich sie zugeben, keinen Grund hierfür benennen zu können (91c–d). Kebes will also glauben, ist auch eigentlich überzeugt; aber es bleibt Misstrauen – denn es könnte noch anderes zu sagen sein (Phaed. 107b). Es ist, als sträube sich etwas in ihm, die Folgerungen aus den Argumentationen anzunehmen und zur Maxime eigenen Verhaltens zu machen – und das nicht nur, weil es bisweilen zu Ungereimtheiten kommt. Diesem ‚Etwas‘ als Quelle jener Furcht gibt Platons Sokrates im Phaidon einen Namen: Es wird als ‚Kind im Mann‘ bezeichnet (77d–e).33 Mit dem Bild vom Kind im Mann als unabhängige Quelle von Affekten und als Adressat einer Art rationaler Affekttherapie durchbricht Platon die strenge Seele-Leib-Dichotomie im Phaidon, indem er spielerisch eine weitere Quelle für Affekte im Inneren des Menschen einführt. Er weist damit auf das voraus, was in der Politeia dann argumentativ als eigene innerseelische Instanz für Affekte etabliert wird. Zugleich wird die Therapiefähigkeit von Affekten zumindest angedeutet, obgleich diese Kur bei Kebes und Simmias wenig erfolgreich zu sein scheint.34
_____________ 32 33 34
Zum Folgenden vgl. Erler 2004. Vgl. Erler 2004, 111ff. Die Dichotomie rational (= Seele) – irrational (= Körper) wird durch die Metapher vom Kind im Menschen als Quelle irrationalen Handelns gemildert und dadurch vorweggenommen, was in der Politeia entwickelt wird, vgl. Erler 2004. Offenbar ist dafür, dass ein Bild und kein Hinwies auf eine Seeleninstanz geboten wird, der Kontext (protrepse) verantwortlich, wie das für ein ähnliches Bild, „Kallikles in Kallikles“ im Gorgias, mit Recht angenommen wird (vgl. Rowe 2007). An die gleiche situative Argumentationsstrategie ist wohl in der Politeia zu denken, ehe man eine Änderung in Platons Denken oder eine Ablösung von Sokrates’ Intellektualismus erwägen sollte (dazu Cooper 1999, 76–117). Eine Änderung in Platons Haltung nimmt an: Rowe 2007.
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4. Affekte der ‚anständigen Menschen‘ Anders ist dies jedoch bei Phaidon, dem Erzähler des Geschehens (89a). Auch er ist nicht frei von Emotionen, empfindet Trauer, bei der philosophischen Diskussion (59a) kann er Tränen nicht zurückhalten (117d) und hat gemischte Gefühle aus Lust und Schmerz, weil er einen guten Freund zu verlieren hat. Doch sucht Phaidon seine Trauer zu verbergen und zurückzuhalten. Vor allem reflektiert er mit Erstaunen darüber, dass er kein Mitleid, keine Emotion empfunden habe, wie er es eigentlich erwartet hätte. Er führt dies darauf zurück, dass Sokrates glücklich gewesen sei und dies auch für das Jenseits erwatet habe (58e). Phaidon hat verstanden, dass der Tod nicht zu fürchten, deshalb für Sokrates kein Übel ist und dieser deshalb glücklich sein konnte. Sokrates’ emotionsfreies, sozusagen antitragisches Verhalten bewirkt bei Phaidon also keine Stärkung der Emotionen, was Platon beim Betrachten von Tragödien befürchtet. Vielmehr wird die rationale Seele Phaidons durch das ‚Schauspiel‘ gestärkt. Denn Phaidon schätzt die ‚vorgeführte‘ Situation im Sinne Platons also richtig ein und nutzt diese Analyse zur Kontrolle seiner Affekte. Genau einen solchen Umgang mit Emotionen aber empfiehlt Sokrates im Rahmen seiner Dichterkritik in der Politeia (603eff.). Trotz aller grundsätzlichen Kritik an Affekten konzediert Sokrates dort nämlich (604b)35, dass Menschen von Affekten nicht nur befallen werden können, sondern dass dies bei entsprechenden Verhaltensweisen nicht notwendig negativ gewertet werden muss. Folgende Vorgaben müssen aber beachtet werden: a) Man soll nicht mit Unglück und Schicksal hadern (aganaktein) (Rep. 604d )36, weil man ja nicht weiß, ob die Ursache des Affektes gut oder schlecht ist, d. h. man soll sich nicht verhalten wie Kriton im Dialog Phaidon; eine Forderung, der Sokrates im Phaidon, aber auch bei seiner Verteidigung vor den Richtern in der Apologie nachkommt (37b): „Wie kann ich an Stelle dessen, von dem ich nicht weiß, ob es gut ist oder schlecht ist – der Tod, etwas wählen, von dem ich genau weiß, dass es schlecht ist [sc. das Gefängnis]“ (Apol. 37b., Platon 2002, Übers. Heitsch). _____________ 35 36
Vgl. Rep. 605c, 606d; dazu Halliwell 2002, 112ff.; Giuliano 2005, 102ff., 325. Damit wird ein Leitmotiv des Phaidon in der Politeia an einschlägiger Stelle aufgegriffen.
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b) Weiterhin soll man generell (Rep. 604b–d) menschliche Belange nicht allzu ernst nehmen. c) Vor allem aber gilt es zu beachten, dass übermäßige Trauer einer vernünftigen Einschätzung der Situation und der Fähigkeit im Wege stehe, sich vernünftig auf die Situation einzustellen. Sokrates wünscht sich vielmehr, dass wir es nicht so machen wie die Kinder, die sich gestoßen haben und nun die schmerzende Stelle halten und fortwährend schreien. Sondern wir müssen die Seele allezeit daran gewöhnen , das Gefallene so schnell als möglich wieder aufzurichten […] und so durch die Heilkunst die Klagelieder zum Verstummen zu bringen (Rep. 604c–d, Übers. Schleiermacher).
Drei Hilfsmittel für einen richtigen Umgang mit Emotionen wie Trauer werden also empfohlen: übergreifende Einordnung des Schicksalsschlages in den allgemeinen Kontext menschlicher Existenz, vernünftige Analyse des Geschehens, wiederholte Übung zur Heilung und Wiederaufrichtung. Freilich richtet sich diese Aufforderung an einen bestimmten Adressatenkreis. Einem anständigen Mann (aner epieikes, Rep. 603e) konzediert Sokrates, Emotionen, z. B. Trauer beim Verlust eines lieben Angehörigen, zu empfinden. Sokrates behauptet, dass ein derartiger Mensch mit Affekten leichter bzw. besser umgehen kann als ein anderer, dass er Maß halten und dass er gegen Schmerzen ankämpfen wird, „wenn er von seinesgleichen gesehen wird, wie Vernunft [phronesis] und Gesetz bzw. Sitte [nomos] es verlangen“ (604b–c, Übers. Schleiermacher). Er kann mit Affekten umgehen, weil er beherzigt, was Sokrates verlangt: Gewöhnung, Maß, Vernunft, Übung, Situationsanalyse. Wer aber kann mit Affekten auf die gewünschte Weise umgehen? Kaum sind Philosophen wie Platons Protophilosoph Sokrates gemeint, der sich durch Affektfreiheit auszeichnet. Aber auch nicht einfach gewöhnliche Menschen. Sokrates selbst trennt derartige „anständige“ Männer von den anderen Menschen (603e5). Ein Hinweis Sokrates’ (603e 4–5) auf frühere Ausführungen im dritten Buch (387ff.) macht klar, dass es sich bei den Menschen um die Wächter, also die zweithöchste Klasse in Kallipolis handelt. Von diesen Wächtern verlangt Sokrates (375e) über Antrieb zum muthaften Verhalten zu verfügen, aber auch, Affekte wie Todesangst zu kontrollieren (387cff.) und es gelassen zu ertragen, wenn Angehörige sterben oder ein Unglück erleiden (387e). Diese bezeichnet er als anständige Männer (epieikeis andres) – oder Wächter. Sie zeichnen sich durch traditionelle Tugend aus, die auf Meinung beruht, „nahe dem Körper ist“ sowie durch Übung gestützt wird
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(519a, vgl. 429b, 430c) und entsteht, wenn die Affekte der Vernunft gehorchen (442c). Damit ist im idealen Fall die eigene Vernunft (logos) (441e), aber auch fremde Vernunft gemeint, etwa die von Vorbildern, Sitte (nomos) oder Bildung (paideia) (429c, 430a–b). Sie erlangen zwar kein vollkommenes Glück, wohl aber eine relative Eudaimonie.37 Wir haben es also mit einer Gruppe von Menschen zu tun, die sich durch Affektanfälligkeit auszeichnen, die Affekte aber kontrollieren können, wenn sie bestimmte Vorgaben erfüllen: Analyse der Ursache der Emotion, wobei diese nicht notwendig von ihnen selbst stammen muss; Bereitschaft, sich auf eine Situation einzustellen, Bereitschaft, sich Vorgaben durch nomos, Tradition oder Erziehung zu beugen. Genau davon aber berichtet Phaidon im gleichnamigen Dialog. Es geht Sokrates darin um die Analyse und um die Bewertung der Ursache einer Emotion angesichts des Todes; es geht um den Versuch, durch eine richtige Bewertung des Anlasses einer Emotion – den Tod – die entsprechende Emotion wenn nicht zu beseitigen, so doch zu kontrollieren: Ersteres gelingt Sokrates und zwar aus eigener Kraft – er besingt sich selbst, wie es heißt (Phaed. 114c); letzteres Phaidon, indem er nicht sich selbst, sondern sozusagen das Kind in sich (77e) vom Philosophen Sokrates mit Argumenten und Hinweisen auf den nomos überzeugen lässt. Die Differenz zwischen dem platonischen Protophilosophen Sokrates und Phaidon sowie ihrem jeweiligen Umgang mit Emotionen entspricht jenen Vorgaben, die Sokrates in der Politeia für die anständigen Menschen und den wahren Philosophen macht.38 Wenn sich Sokrates im Phaidon wie ein antitragisch-philosophischer Held verhält, dann Phaidon wie ein anständiger Mensch im Sinne der Politeia. Denn er hat erkannt, dass und warum Sokrates heiter in den Tod geht – weil nämlich der Tod für ihn kein Übel ist –, und empfindet deshalb keine Trauer oder Mitleid. Er weiß also, ob es gut oder schlecht ist, was bei anderen Trauer auslöst: Tod für Sokrates. Er hat sich auf die Situation eingestellt, ist zwar dennoch nicht frei von Emotionen, richtet sich aber wieder auf. Er kann also die Situation leichter ertragen als die Frauen, die – um mit der Politeia zu sprechen – „wie Kinder, die sich gestoßen haben und nun die schmerzende Stelle halten und fortwährend reiben“ _____________ Dass Nicht-Philosophen nicht glücklich sein können, ist die These von Bobonich 2002; zu Recht bestritten von Kahn 2004, bes. 351; Brisson 2005; vgl. Rep. 472d; (sowie 429c; 430a–b); meine Beobachtungen sprechen ebenfalls gegen die These. 38 Erler 2007a, 70ff. 37
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(604c, Üb. Schleiermacher), ihren Affekten ausgeliefert sind. Phaidon hat zwar nicht selbst die Lösung gefunden, hat sich aber durch das Spiel des antitragischen Helden Sokrates im Sinne Platons beeinflussen lassen.
5. Affekt und Therapie Für Platons Affektenlehre ergibt sich: Mit Blick auf den Protophilosophen Sokrates darf man von einem platonischen Konfliktmodell zwischen Affekt und Vernunft sprechen. Das Verhalten von Phaidon lässt jedoch erkennen, dass Platon auch der ‚tragischen Weltsicht‘ gewöhnlicher Menschen positive Aspekte abgewinnen kann und die Zerbrechlichkeit des Glücks bei seiner Analyse berücksichtigt.39 Die Politeia argumentiert und der Phaidon illustriert, dass auch Nicht-Philosophen auf einen Anteil am Glück hoffen dürfen, wenn sie mit ihren Affekten richtig umzugehen wissen. Unter den nicht-philosophischen Seelen können diejenigen als besonders glücklich gelten, die der gewöhnlichen Tugend mithilfe von Gewöhnung und Übung nachstreben (82a–b). Kebes vergleicht solche Menschen mit Ameisen oder Bienen.40 Ziel ist hier nicht Ausrottung oder Minimierung der Affekte, sondern Aufnahmebereitschaft für den Logos. Es geht um die Bereitschaft, Vernunft (logos) anzunehmen, um mit ihr Emotionen zu kontrollieren. Was der Phaidon andeutet, wird in der Politeia Teil jenes Programms, das Sokrates als Kern seines Paideiaverständnisses propagiert (401d–402a). Schönes und Richtiges soll man lieben lernen und annehmen, Falsches und Hässliches tadeln und dabei zu einer Harmonie mit dem Logos gelangen. Von zentraler Bedeutung für die paideia des gewöhnlichen Menschen wird daher der Aspekt der Gewöhnung, von dem im Phaidon in Form des Bildes vom „Besingen“ die Rede ist. Was der Dialog Phaidon über Pflege des irrationalen Selbst als praeparatio für Belehrung nur andeutet, was dann in der Politeia formuliert wird, das wird in den Nomoi zu einem wesentlichen Motiv der Erziehung. Dies kann kaum erstaunen. Denn in den Nomoi geht es gerade um die Erziehung gewöhnlicher Menschen für einen Staat, der von Gesetzen und nicht ausschließlich Philosophen beherrscht wird. Mit Recht hat man auf die Kontinuität dieses Aspektes der paideia bei Platon hingewiesen: Gewöhnung des vernunftlosen _____________ 39 40
Anders Nussbaum 1986. Vgl. Phaed. 82a–b.
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Kindes an den Logos mithilfe der paideia41 ist der Grundgedanke der Paideia-Konzeption auch in den Nomoi42. Denn es geht in den Nomoi vornehmlich um den affektbelasteten Normalmenschen (Lg. 732e) – verstanden als „Kind“ im übertragenen Sinne – und deshalb verstärkt um jene Pflege des irrationalen Selbst, die für die Aufnahmebereitschaft für den Logos notwendig ist.43 Denn nicht zuletzt dies macht beim Nichtphilosophen Tugend aus (653b). Kontinuität vom Phaidon bis zu den Nomoi hinsichtlich der Affekttherapie wird also deutlich, wenn man nicht nur auf Sokrates, sondern auch auf das übrige Verhalten des Personals der Dialoge achtet. Aus Sokrates’, aber auch Phaidons Umgang mit Affekten, wie der Dialog Phaidon sie illustriert und die Politeia sie erläutert, ergibt sich eine weitere Folgerung: Wenn Sokrates seine Affekte nahezu beseitigen, wenn Phaidon sein „Kind im Mann“ mit rationalen Argumenten besingen, d. h. unter Kontrolle bringen kann, wenn Sokrates generell erwartet, dass ein anständiger Mensch seine Affekte durch Analyse von Situation und Anlass beeinflussen kann, dann müssen die Affekte und ihre Quelle, die irrationalen Seeleninstanzen, rational beeinflussbar sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann Platon als Ziel der Erziehung vorgeben, die menschlichen Affekte der Vernunft gefügig zu machen. Anders als später die Stoa und das von stoischen Vorstellungen beeinflusste 18. Jahrhundert44 geht Platon also keineswegs von einer radikalen Dichotomie von Vernunft und Affekt aus, die eine Beeinflussung ausschließt45. Platon akzeptiert vielmehr die Existenz kognitiver Elemente in Affekten in der Überzeugung, dass eine gewisse Art von Erkenntnis dem Auftreten von Affekten vorausgehen muss:46 Auch ein homerischer Held muss bemerken, dass seine Ehre beschädigt wird, ehe er in Zorn gerät;47 ebenso muss man tragische Umstände zunächst als tragisch erkennen, um dann Trauer empfinden zu können. Wer Unrecht erleidet, verbindet damit eine Erkenntnis, die zu einem emotionalen Zustand und damit zur Behinderung vernünftiger Über_____________ 41 42 43 44 45 46 47
Zum Verhältnis der Nomoi zur Politeia unter diesen und anderen Gesichtspunkten vgl. Schöpsdau in Platon 1994, 126ff.; Erler 2007b, 207f. Zur paideia in den Nomoi vgl. Görgemanns 1960, 155ff. und Schöpsdau in Platon 1994 (Buch I–III), 253ff. Dazu Schöpsdau in Platon 1994, 255. Vgl. Abel 1978. Vgl. Cessi 1987, 127ff. Vgl. Schmitt 2003, 346. Vgl. Schmitt 2003, 395 (mit Blick auf Homer, Ilias 23, 566–611).
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legungen führen kann. Eine solche Störung ist Folge einer kognitiven Tätigkeit, die freilich nicht als bewusste Reflexion im modernen Sinn verstanden werden muss.48 Gleichwohl kann eben hier eine rationale Therapie ansetzen, welche Emotionen durch Analyse von Situation, Anlass und Disposition des Handelnden kontrollieren will, wie Sokrates es verlangt und in den Dialogen vorführt. Der Phaidros bestätigt dies. Denn in diesem Dialog analysiert Sokrates die Liebe zunächst als erotischen Wahn (243e–257b), der sich freilich dadurch auszeichne, dass er den Liebenden von dem geliebten Einzelnen im sinnlichen Bereich zum allgemein Geliebten im ewigen Bereich empor führt. Damit erhält der Affekt Eros eine kognitive Funktion, wie sie der Philosophie zukommt, indem sie vom phänomenal Einzelnen zur Erkenntnis des Geistigen hinaufführt. Platons Konzeption der Affekte konvergiert in dieser Hinsicht mit modernen Auffassungen49, die das kognitive, rational beeinflussbare Element im Bereich der Affekte betonen.
6. Qualität der Affekte: Philebos Platons kritische Bewertung der Affekte und seine Vorgaben für einen angemessenen Umgang mit ihnen orientiert sich zumeist an ihrer Quantität und zielt auf deren Kontrolle.50 Doch kommen bei der Beurteilung der Affekte auch andere, qualitative Aspekte zur Sprache.51 Ansätze hierfür finden sich schon im Phaidon in eben jenen Äußerungen Phaidons, mit denen er seine ungewöhnliche Emotionslage während der letzten Stunden des Sokrates kommentiert52, wonach er kein Mitleid (eleos), sondern nur eine ungewohnte Mischung von Schmerz und Lust (59a) angesichts der Tatsache empfunden habe, dass Sokrates bald sterben werde. Wir wiesen schon darauf hin, dass Phaidon einen Grund für seine besondere Gefühlsanlage in jenem untragischen Verhalten und Reden des Sokrates und in dessen Zuversicht sieht, nach dem Tod werde es ihm _____________ 48 49 50 51 52
Zur Problematik kognitiver Emotionstheorien mit Blick auf Aristoteles vgl. Rapp in Aristoteles 2002, bes. Bd. 2, 542ff., 559ff. Dazu vgl. Schmitt 1994, 585ff.; ders. 2003, 288ff. Vgl. die Messkunst der Lüste im Prot. 351b–358a. Vgl. dazu Frede 1992. Zum Folgenden vgl. demnächst Erler, Michael, Trauer und Lust. Emotion und Tragödie im Philebos (im Erscheinen).
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nicht schlecht gehen. Freilich, so analysiert Phaidon weiter, fröhlich sei er auch nicht gewesen, obgleich es sich im Gefängnis um die üblichen philosophischen Gespräche gehandelt habe. Wie seine Freunde empfindet Phaidon also Schmerz über die Trennung von Sokrates und hat nicht die gewohnte Freude am philosophischen Gespräch, zugleich aber auch Lust, die sich freilich wesentlich von der Art von Lust unterscheidet, von der sonst im Phaidon die Rede ist. Lust wird im Phaidon zumeist in Beziehung zum Körper gesetzt und deshalb als problematisch angesehen.53 Denn – wie Sokrates einmal erläutert – wird „in diesem Zustand die Seele am meisten von dem Leibe gebunden“ (83c, Übers. Schleiermacher). Körperliche Lust ist auch gemeint, wenn Sokrates auf dem Bett sitzend dezidiert bestreitet, dass Lust zugleich mit ihrem Gegensatz Schmerz beim Menschen vorkommen könne (60b; vgl. 83b–e). Allein gegen Schluss des Phaidon (114e) ist von einer Lust beim Lernen, also von einer seelischen Lust, die Rede, die der Seele angemessen und positiv zu bewerten sei, ein Aspekt, der später in der Politeia aufgegriffen wird, wenn es um die geistige Lust des Philosophen beim Wissenserwerb geht (580d–583a). Ansonsten bleibt es bei der grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber der Lust. Allein im Protagoras scheint Sokrates der Lust positive Züge abzugewinnen (351c). Doch wird dort die Lustthematik nur eingeführt, um Sokrates’ Argument zu stärken, dass Tugend Wissen sei. Die Akzeptanz der Lust in diesem argumentativen Kontext soll zeigen, dass sich selbst auf hedonistischer Grundlage die Notwendigkeit und der Vorrang des Wissens vor Lust erweist.54 Vor diesem Hintergrund ist Phaidons Selbstanalyse bemerkenswert. Zwar handelt es sich bei Phaidons Lust angesichts von Sokrates Tod ebenfalls um eine seelische Lust. Jedoch unterscheidet sich diese Lust von der beim Lernen durch einen wichtigen Aspekt. Denn anders als Lust beim Lernen begleitet die Lust Phaidons keine Tätigkeit, sondern resultiert aus der Erwartung, dass es Sokrates im Hades gut gehen werde, d. h. dass der Tod kein Übel für ihn ist. Diese Erwartung ist ursächlich verbunden mit Sokrates’ Tod und damit mit Trennungsschmerz. Sie bewirkt aber Lust, weil sie getragen wird von der von Sokrates vorgelebten und argumentativ begründeten Überzeugung, dass die Seele unsterblich ist, dass Gerechtigkeit im Jenseits belohnt wird und dass Sokrates deshalb im Jenseits so glücklich sein wird, _____________ 53 54
Vgl. Phaed. 66c, 83d, 94bc. Vgl. Manuwald in Platon 1999, 382.
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wie er es im Diesseits ist. Deshalb empfindet Phaidon trotz der Trennungsschmerzen also Lust als etwas Positives. Denn die ihr aufgrund philosophisch begründeter Überzeugung zugrunde liegende Erwartung scheint einlösbar. Deshalb überwiegt in der Mischung von Lust und Schmerz bei Phaidon das Element der Lust, wird der Trennungsschmerz gemildert und empfindet Phaidon kein Mitleid. Es zeigt sich, dass der Affekt hier nicht wie sonst unter quantitativen, sondern unter qualitativen Gesichtspunkten beurteilt wird; die Emotion wird verstanden und bewertet als Mischung von Schmerz und Erwartungslust; ihre Qualität wird bestimmt mit Blick auf Mischungsverhältnis und Anlass. Die Möglichkeit einer qualitativen Beurteilung von Affekten wird auch im Gorgias angedeutet, wenn Sokrates Kallikles eine inhaltliche Differenzierung zwischen qualitativ besseren und schlechteren Lüsten abzwingt, über die ein besonderes Wissen zu urteilen habe (Gorg. 494c–500a); sie liegt ebenfalls dem 9. Buch der Politeia zugrunde, wenn Sokrates dort die mit Philosophie verbundene Lust anderen Lüsten für haushoch überlegen erklärt.55 Vor allem aber wird der qualitative Aspekt bei Bewertung und Therapie von Affekten zum Thema im Dialog Philebos, wo die Lust als Erwartungshaltung verstanden und verlangt wird, dass das Lustreben sich in Eintracht mit Vernunft auf das Gute auszurichten hat (21d–23b, 66d– 67b). Affekte werden im Philebos als integraler Bestandteil des Lebensglücks angesehen und akzeptiert. Man kann sagen, dass Platon hier jene Perspektive auf das Leben des gewöhnlichen Menschen bei der Betrachtung der Affekte, jene ‚tragische‘ Lebensperspektive, zur Grundlage seiner Ausführungen macht, von der er sich im Phaidon distanziert. In der Tat spielt er an entscheidender Stelle auf eben diese Perspektivenwahl auch im Philebos an. Mit gutem Grund gilt die moralische Beurteilung von Emotionen, wie sie im Philebos diskutiert wird, als bedeutsam und zukunftsweisend.56 Zwar ist im Philebos von einer Behinderung und Störung der Vernunft durch irrationale Seelenteile keine Rede. Gleichwohl werden auch im Philebos die Affekte zumeist negativ bewertet und kritisch diskutiert: Dies geschieht freilich unter einem neuen Gesichtspunkt, der nicht zuletzt mit der Perspektive auf den gewöhnlichen Menschen zusammenhängt. Denn im Phi_____________ Es gibt demnach bessere und schlechtere Lust, vgl. Hermann 1972, 38ff.; Platon 1997b, 223ff. 56 Vgl. Frede in Platon 1997b, 290. 55
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lebos wird der Lust im Leben ein bestimmter Rang zugebilligt57 und die Gefühle werden als komplexe Gebilde verstanden, die sich durch eine Mischung von Lust und Schmerz auszeichnen. Um sie beurteilen zu können, muss der jeweilige Gehalt, die Art der Mischung und das jeweilige Objekt der Affekte untersucht werden. Es macht demnach einen Unterschied, worüber man sich ärgert oder freut, warum man trauert oder Schmerz empfindet und wovon man sich Hilfe oder Heilung erwartet. Anlass und Inhalt der Affekte werden zu Kriterien für ihre differenzierte Bewertung. Im Philebos (31b–59d) werden verschiedene Arten von Lust und Erkenntnis diskutiert. Dabei kommen seelische Emotionen wie Furcht, Zorn, Trauer und Wehklage zur Sprache. Sokrates’ Analyse ergibt, dass es sich um Mischungen von Schmerz und Lust handelt, die gegenüber reiner Lust negativ bewertet werden, und zwar auf differenzierte Weise (47d– 50e). Ausschlaggebend ist, dass bei Emotionen immer Schmerz mit Lust verbunden ist, sodass Emotionen grundsätzlich zwar negativ zu bewerten sind. Da jedoch der Anteil an Schmerz differiert, ergeben sich auch Differenzen in der Beurteilung. Kriterium für die Bewertung sind Anlass und Inhalt der Affekte, also die Frage, worüber man trauert, zornig ist oder wovor man Furcht hat. Sokrates erläutert dies am Beispiel des Zorns, den Achill in der Ilias empfindet (Il. 18, 108–9; Phileb. 47e). Achill ist zornig und erbittert über seine Kränkung durch Agamemnon, gleichzeitig aber fühlt er sich von Lust wie von süßem Honig erfüllt. Homer bestätig somit, was nach Sokrates bei Kränkung immer gilt: Der Schmerz über die erlittene Kränkung geht einher mit einer Lust, die aus der Erwartung entspringt, sich bald rächen zu können.58 Lust also als Folge einer Erwartung: Zunächst scheint dies nur ein für den Zorn spezifischer Mischungsaspekt zu sein. Doch gilt dies nach Platon auch bei anderen Affekten. Immer spielt Erwartungslust eine Rolle und ist für die Bewertung von grundlegender Bedeutung. Dies zeigt Sokrates am Beispiel emotionaler Erfahrungen von Zuschauern bei Komödien und Tragödien. Obgleich es auf den ersten Blick nicht plausibel zu sein scheint, insistiert Sokrates darauf, dass bei der Komödie die Zuschauer eine Mischung von Schmerz und Lust befällt (48b). Dabei geht er von einer negativen Grundstimmung als Konstante menschlichen Verhaltens aus: der Missgunst, die den Mitmenschen nichts _____________ Die beste Lebensweise ist die, welche Vernunft und Lust mischt (Phileb. 22a, 65a, 66d). 58 Vgl. Frede in Platon 1997b, 284. 57
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Gutes gönnt. An diese Missgunst, so argumentiert Sokrates, appellieren die Komödien. Sie sei eng verbunden mit und geradezu Voraussetzung für jene Lust, die sich einstellt, wenn – wie in der Komödie üblich – das Missgeschick und das törichte Verhalten schwacher Personen vorgeführt werde, die keine Schuld auf sich geladen haben (48dff.). Ob eine solche Analyse des Komödieneffektes beim Zuschauer plausibel erscheint, sei hier dahingestellt. Wichtig ist der Umstand, dass auch hier die Rezeptionshaltung des Komödienpublikums unter Hinweis auf eine Mischung von Emotionen beschrieben wird und dass für die Bewertung wiederum Anlass und Inhalt der Emotionen als Kriterien dienen. Jede Lust beim Betrachten einer Komödie hat eine negative Komponente, weil sie auf Missgunst beruht. Entscheidend ist jedoch, ob dieser Schmerz die Lust überwiegt oder von dieser ausgeglichen wird. In gleicher Weise wird Sokrates wohl Emotionen beim Betrachten einer Tragödie analysieren. Doch lässt Platon dies im Philebos mit der pauschalen Bemerkung offen (48a, Übers. Frede) „Du erinnerst dich aber doch auch an die Zuschauer in den Tragödien, wie sie sich zugleich freuen, während sie Tränen vergießen“? Vermutlich ist das Problem ein Thema der Gespräche der nächsten Tage (50de). Man darf annehmen,59 dass Platon auch bei den Rezipienten von Tragödien Emotionen beobachtet, die aus Schmerz und Lust gemischt sind, insofern Mitleid mit den Helden stets mit der Hoffung verbunden ist, dass sich für sie alles zum Besten wenden wird. Diese Hoffnung sorgt für die Lustkomponente bei den Emotionen, die beim Betrachten einer Tragödie auftreten. Ungemischten, reinen Schmerz gibt es nur, wenn für eine Erwartung auf Rettung keine Hoffnung besteht. Da nun bei traditionellen Tragödien die Erwartungen auf einen guten Ausgang immer enttäuscht werden, überwiegt bei den Zuschauern immer der Schmerz, und dies ist der Grund, weshalb Platon die traditionelle Tragödie aus Kallipolis verbannen lässt. Doch führt Platons Sokrates dies im Philebos eben nicht aus, überträgt vielmehr den gemischten emotionalen Zustand der Zuschauer von Tragödien und Komödien auf das Leben allgemein (50b): „Diese Überlegung zeigt uns aber auch“ – so beschließt er nämlich seine Analyse der gemischten Gefühle in der Seele –, „dass in der Trauer, in der Tragödie wie in der Komödie – nicht nur auf der Bühne, sondern auch in jeder Tragödie und Komödie des Lebens – Lust mit Unlust gemischt ist“ (Übers. Frede). Sokrates betrachtet im Philebos das Leben des Menschen also aus einer Art tragischer Perspek_____________ 59
Vgl. Frede in Platon 1997b, 285; vgl. auch 238.
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tive, wonach Leid und Schmerz offenbar von Natur aus zum Leben des Menschen gehören und dem Affekt immer eine negative Note verleihen. Wenn das Leben voller Tragödien ist, sind Affekte wie Trauer für die Menschen naturgegeben und unvermeidlich, ebenso aber die Lust, die sich aus der Erwartung ergibt, dass Trauer überwunden werden kann. Wird diese Erwartung erfüllt, wird die Trauer ausgeglichen, freilich nicht beseitigt.60 Kurz, es geht im Philebos um eine bestimmte Lebensform, die man tragisch nennen kann und zu der Affekte wie Zorn oder Trauer, also Störungen des emotionalen Haushaltes, gleichsam naturgegeben gehören. Ob diese tragische Lebensperspektive eine Alternative hat, wird im Philebos nicht gefragt oder diskutiert. Eben dies aber geschah im Phaidon, dort freilich aus anderer – antitragischer – Perspektive. Beide Aspekte ergänzen sich also und tragen dazu bei, dass Platons Konzept der Affekte facettenreich ist und sich nicht in einer starren, rein konfliktgesteuerten Dichotomie von Vernunft und Affekten erschöpft.
Literatur Platons Dialoge werden nach unterschiedlichen Übersetzungen zitiert. Hinweise auf Textstellen bei Platon erfolgen standardisiert unter Angabe von Siglen – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Apol. Conv. Gorg. Lach. Lg. Men. Phaed. Phileb. Prot. Rep. Tim.
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_____________ 60
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Aristoteles (384–322 v. Chr.)
Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen Christof Rapp Aristoteles setzt sich in seinen Schriften zur Ethik, zur Rhetorik, zur Dichtungstheorie, zur Psychologie und Naturphilosophie immer wieder mit den Phänomenen auseinander, die wir heute als „Emotionen“ oder „Affekte“ bezeichnen würden. Dennoch hat er keinen fest umrissenen Begriff von Emotionen; obwohl einige Beispielemotionen, wie der Zorn oder die Furcht, konstant wiederkehren, scheint er nirgendwo in dem erhaltenen Werk eine definitive Liste von Emotionen vorlegen zu wollen. Wir suchen auch vergeblich nach einer regelgerechten Definition der Emotionen, vielmehr führt Aristoteles das Phänomen der Emotionen meistens durch eine Liste von Beispielen in die Diskussion ein. Schließlich kann man auch nicht guten Gewissens von „der Emotionstheorie des Aristoteles“ sprechen, obschon die unterschiedlichen Kontexte jeweils aufschlussreiche Bausteine zu einer solchen Theorie der Emotionen liefern. Trotz dieser Einschränkungen steht außer Frage, dass die Behandlung der Emotionen bei Aristoteles einen wesentlichen Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung des Emotionsbegriffs hatte. Ganz abgesehen von dem unvergleichlichen Einfluss, den Aristoteles auf den Emotionsbegriff der mittelalterlichen Philosophen hatte, gelten seine Ausführungen z. B. auch noch verschiedenen Autoren des 20. Jahrhunderts als Vorbild für einen propositionalen und einen kognitiven Emotionsbegriff; viele sehen Aristoteles außerdem als das entscheidende Vorbild an, wenn es um die motivationale und diskriminative Rolle der Emotionen in der Ethik geht. Auch in der Geschichte der Rhetorik und der Dichtungstheorie nehmen aristotelische Theorien einen besonders wichtigen Rang ein: Für die Rede vor einem öffentlichen Publikum billigt Aristoteles die gezielte Stimulation von Emotionen beim Zuhörer als eine kunstgemäße Überzeugungstechnik, und in der Theorie der Dichtung steht Aristoteles’ Name für die Auffassung, dass die Tragödie durch ihren Handlungsverlauf
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und die dargestellten Charaktere eine bestimmte emotionale Reaktion der Zuschauer, nämlich Furcht und Mitleid, hervorrufen müsse.1
1. Bezeichnung und Begriff Was wir Emotionen nennen, fühlbare Episoden von Zorn, Furcht, Freude usw., fasst Aristoteles unter dem Begriff pathos (bzw. Plural: pathê) zusammen. Der griechische Ausdruck kommt von dem Verb paschein – „erleiden“ – und betont somit den passiven Charakter der entsprechenden Zustände, ähnlich wie in den Übersetzungen affectus, „Affektion“, „Widerfahrnis“ oder ursprünglich auch „Leidenschaft“. Das Problem mit dem Ausdruck pathos bei Aristoteles ist, dass es sehr vieles umfasst, nämlich praktisch alles, was einem Subjekt im wörtlichen oder übertragenen Sinn widerfahren kann, z. B. Schlafen, Wachen, Empfängnis, Haarausfall. Eine gewisse Präzisierung ist dann gegeben, wenn Aristoteles von „Widerfahrnissen der Seele“ – pathê tês psychês spricht; allerdings ist auch dieser Ausdruck noch ziemlich unspezifisch: Zum einen gelten z. B. auch alle Arten von Wahrnehmung als solche „Widerfahrnisse der Seele“, zum anderen meint dieser Begriff innerhalb der besonderen aristotelischen Seelentheorie keineswegs, dass die entsprechenden Zustände exklusiv der Seele zukommen würden, denn für Aristoteles sind alle Zustände der Seele letztlich Zustände des beseelten Körpers. In einigen Passagen verwendet Aristoteles den Ausdruck pathos jedoch für eine bestimmte Teilmenge von seelischen Zuständen, die sich von anderen solchen Zuständen auf signifikante Weise unterscheidet – und diese Verwendungsweise scheint im Hinblick auf die Emotionen relevant zu sein: In Nikomachische Ethik II, 4 z. B. unterscheidet Aristoteles die pathê sowohl von den Fähigkeiten (dynameis) als auch von den Haltungen, Eigenschaften oder Dispositionen (Habitus, hexeis). In diesem Zusammenhang erfahren wir über die pathê, dass wir, wenn wir sie haben, dafür weder gelobt noch getadelt werden können, d. h. dass wir sie nicht freiwillig haben, dass wir uns nicht dazu entscheiden, sie zu haben, und dass wir unseren pathê entsprechend als bewegt (kineisthai) bezeichnet werden, d. h. dass die pathê mit konkreten Veränderungen verbunden sind. – Aber auch in diesem besonderen Kontext, in dem Aristoteles tatsächlich so etwas wie _____________ 1
Für weiterführende Literatur vgl. Cooper 1996; Fortenbaugh 1975; Frede 1996; Halliwell 1992; Nussbaum 1996; Sherman 1995 und Striker 1996.
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die Emotionen im Blick zu haben scheint, ist der Ausdruck pathos allein noch nicht hinreichend deutlich; deshalb erläutert Aristoteles: „Unter ‚pathos‘ verstehe ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, freundschaftliches Wohlwollen, Hass, Sehnsucht, Eifer, Mitleid und überhaupt alles, das Lust und Schmerz zur Folge hat.“ (EN II, 4, 1105b21–23) Aristoteles führt die Emotionen also durch eine Liste von Beispielen ein, ohne sie wirklich zu definieren, und es ist auffällig, dass er auch in anderen Schriften (z. B. EE II, 2, 1220b12–14; DA I, 1, 403a16–18) nur solche Aufzählungen, aber keine Definition im technischen Sinn anbietet. Auch die Beispiellisten sind im Übrigen nicht konstant, wenngleich einige Emotionen, wie zum Beispiel der Zorn, immer ausdrücklich enthalten sind. Was einem definitorischen Merkmal in der hier zitierten Bemerkung am nächsten kommt, ist der Hinweis auf Lust und Schmerz, wenngleich Aristoteles hier, streng genommen, nicht sagt, dass alle Emotionen mit Lust und Schmerz verbunden sind, sondern umgekehrt, dass alles, was mit Lust und Schmerz verbunden ist, auch zu den hier gemeinten pathê gezählt werden kann. Dennoch ist die Verbindung mit Lust- und Schmerzempfindung natürlich ein wichtiges Merkmal der hier zur Frage stehenden seelischen Zustände. Tatsächlich enthalten so gut wie alle Einzelemotionen, die Aristoteles an anderen Stellen behandelt, in ihrer Definition einen Hinweis auf Lust oder Schmerz oder eine Abfolge von Lust- und Schmerzzuständen.2 Die Formulierung „was Lust und Schmerz zur Folge hat“, die nicht im Sinne der zeitlichen Abfolge, sondern einfach im Sinne von „wo Emotionen sind, da ist auch Lust oder Schmerz“ zu verstehen ist, bleibt recht unpräzise und lässt verschiedene Möglichkeiten zu, die Lust- oder Schmerzempfindung mit der Emotion zu kombinieren: Ob z. B. die Emotion selbst eine sich unter bestimmten Anlässen einstellende Lust- oder Schmerzempfindung darstellt, oder ob die Emotion eine Reaktion auf einen erlittenen Schmerz oder eine empfundene Freude ist, oder ob Lust und Schmerz in zeitlichem Abstand auf die eigentliche Emotion folgen usw. bleibt bei dieser Formulierung ganz offen. Wir wissen daher über den aristotelischen Emotionsbegriff bisher zunächst nur so viel: Bei einer Emotion handelt es sich um einen seelischen Zustand, der (i.) sich so verhält wie die allseits bekannten Emotionen, Zorn, Furcht usw., der (ii.) auf die eine oder andere Weise mit der Empfindung von _____________ 2
Eine in der Forschungsliteratur immer wieder diskutierte Ausnahme könnte der Hass sein. Vom Hassenden sagt Aristoteles nämlich ausdrücklich, er empfinde im Unterschied zum Zornigen keinen Schmerz (Rhet. II, 4, 1382a13).
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Lust und Schmerz verbunden ist, der (iii.) weder durch eine Entscheidung noch willentlich oder freiwillig herbeigeführt wird, sondern eher passiv – im Sinne des Wortes pathos – erlebt oder erlitten wird und der (iv.) mit einer Veränderung dessen verbunden ist, der sich in dieser Emotion befindet. Letzteres beinhaltet mit Sicherheit soviel, dass die Emotion immer auch eine körperliche Veränderung darstellt. So ist Aristoteles z. B. der Auffassung, dass man den Naturforscher, sozusagen den Physiologen, fragen müsse, wie die Auflösung bestimmter pathê vonstatten gehe. Offenbar denkt Aristoteles auch, dass es zu den verschiedenen Emotionen – oder zumindest zu einigen – spezifische körperliche Reaktionen gibt: Sein Standardbeispiel ist dies, dass der Zorn ein Sieden des Blutes rund um die Herzgegend sei; während der Zorn somit immer mit einer Erhitzung verbunden sei, gehört für Aristoteles die Furcht zu den ‚kalten‘ Emotionen, bei denen auch der Körper oder eine Stelle im Inneren des Körpers im wörtlichen Sinn abkühlt. Dieser Aspekt der körperlichen Veränderung ist auch interessant im Hinblick auf die Frage, ob Emotionen für Aristoteles eher Episoden oder eher Stimmungen oder Dispositionen sind. Zumindest was die für Aristoteles paradigmatischen Emotionen angeht, so scheint nämlich klar, dass sie mit außerordentlichen körperlichen Veränderungen verbunden sind und daher sicherlich als Episoden und nicht etwa als die Disposition zu einer bestimmten emotionalen Verhaltensweise angesehen werden müssen. Einschränkend muss man hier sagen, dass sich Aristoteles dabei an bestimmten paradigmatischen Emotionen, wie eben dem Zorn, orientiert, während dieselben Zusammenhänge nicht gleichermaßen auf alle Emotionen anwendbar sind: So behandelt Aristoteles in Rhet. II, 3 z. B. auch die Sanftmut als ein pathos, beschreibt dann aber die Sanftmut als die Beilegung von Zorn oder das Ausbleiben von Zorn in Situationen, in denen man eigentlich mit einer zornigen Reaktion gerechnet hätte. Zumindest Letzteres - das Ausbleiben von Zorn und der damit verbundenen Veränderung – lässt sich nur schwer im Sinne einer Episode verstehen.
2. Emotionen als Gegenstand von Dialektik und Naturphilosophie In einer bekannten Passage vom Beginn der Schrift De Anima wirft Aristoteles die Frage auf, ob allgemein die Widerfahrnisse der Seele (pathê tês psychês) allein der Seele oder immer zugleich auch dem Körper zukommen. Er entscheidet die Frage zugunsten der letzteren Möglichkeit und belegt
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dies am Beispiel der Emotionen: „Es scheinen auch die Widerfahrnisse der Seele alle mit dem Körper verbunden zu sein, Zorn, Sanftmut, Furcht, Mitleid, Zuversicht, ferner Freude und das Lieben und Hassen: denn gleichzeitig mit diesen erleidet der Körper etwas.“ (DA I, 1, 403a16–19) Die Körpergebundenheit der Emotionen illustriert er im Anschluss an die zitierte Passage unter anderem an Fällen, in denen wir durch kleine und unbedeutende Erlebnisse in den Zustand der Furcht oder des Zorns versetzt werden, weil der Körper sich schon in einem entsprechenden Zustand befindet, während wir sonst oftmals bei viel stärkeren Eindrücken keine Emotion erfahren. Aristoteles scheint hier an ein Phänomen zu denken, das dem der inertia, der Trägheit von Emotionen nicht unähnlich ist: Unter Letzterer versteht man das Phänomen, dass die körperliche Reaktion nach einer Emotion noch andauert, während der eigentliche Anlass, also z. B. die furchterregende Situation oder die empörende Handlungsweise, längst verschwunden ist. Ganz ähnlich besteht im vorliegenden Fall ein Missverhältnis zwischen dem Anlass zu einer Emotion bzw. der Wahrnehmung dieses Anlasses und der Intensität und Dauer der tatsächlich empfundenen Emotion, und ähnlich wie bei der inertia ist es die körperliche Reaktion, die für dieses Missverhältnis verantwortlich ist. – Aus diesen Überlegungen geht klar hervor, dass für Aristoteles die Emotionen einerseits wesentlich körperliche Veränderungen sind, andererseits aber auch mit einem bestimmten Anlass oder Erlebnis (egal ob wirklich erlebt oder nur eingebildet) korreliert sind. Dies bringt Aristoteles in folgendem Resümee zum Ausdruck: Wenn sich dies so verhält, ist klar, dass die pathê der Seele in Materie befindliche Begriffe/Erklärungen (logoi) sind, so dass ihre Definitionen von solcher Art sind wie ‚das Zürnen ist eine Art von Bewegung des so-und-so beschaffenen Körpers – oder Körperteils oder der (so-und-so beschaffenen) Fähigkeit – aufgrund dieser bestimmten Ursache um dieses bestimmten Zweckes willen‘. (DA I, 1, 403a24–27)
Demnach muss, wer eine bestimmte Emotion definieren will, einerseits die Art von Bewegung oder Veränderung erfassen, die der Körper bei der entsprechenden Emotion durchläuft und andererseits eine spezifische Ursache und einen spezifischen Zweck benennen. Konkret würde das z. B. so aussehen, dass man den Zorn in körperlicher Hinsicht als ein Sieden des Blutes in der Herzgegend definiert, als spezifische Ursache und Zweck aber hinzufügt, dass dies durch eine erlebte Erniedrigung oder eine vermeintliche Erniedrigung verursacht wurde und mit dem Streben nach Vergeltung einhergeht. Von dem ersten Teil der Definition sagt Aristote-
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les auch, es sei die Definition des Naturphilosophen, von dem zweiten, es sei die Definition des Dialektikers, wobei unter einem „Dialektiker“ in diesem Kontext einfach ein Philosoph zu verstehen ist, der die Dinge begrifflich oder definitorisch erörtert, ohne die materiellen Ursachen im Detail zu untersuchen. Aristoteles’ Tendenz scheint nun tatsächlich die zu sein, dass eine volle wissenschaftliche Erklärung von Emotionen und generell von körpergebundenen seelischen Zuständen beide Typen von Definition erfordert und dass die wohlverstandene Naturphilosophie nicht nur auf die materiell-körperlichen Vorgänge sieht, sondern z. B. auch darauf, aus welchem Grund und zu welchem Anlass sich eine solche Veränderung vollzieht. Dies muss man wohl vor dem Hintergrund der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre verstehen, der zufolge man neben den materiellen Ursachen auch die Bewegungsursache sowie die Form- und Zweckursache berücksichtigen muss. Was bedeutet dies nun konkret (a) für das Wesen von Emotionen und (b) für das Entstehen und Abklingen von Emotionen? Zu (a): Aristoteles’ Theorem von den zwei Definitionsarten könnte man leicht so verstehen, als bestünde eine Emotion gewissermaßen aus zwei Komponenten, einer körperlich-materiellen, auf die sich die naturwissenschaftliche Definition bezieht, und einer seelischen, auf die sich die dialektische Definition bezieht. Diese Zwei-Komponenten-Theorie stünde aber nicht nur im Widerspruch zu einigen fundamentalen Aussagen der aristotelischen Seelentheorie, es ist auch nicht genau das, was wir in den relevanten Texten finden. Außerdem ergäbe sich bei einer solchen Zwei-KomponentenTheorie das Problem, dass eine kausale Interaktion zwischen der seelischmentalen und der körperlich-materiellen Komponente stattfinden müsste; von einer solchen Interaktion ist bei Aristoteles jedoch gar nicht die Rede. Was Aristoteles zu meinen scheint, ist vielmehr, dass die Emotion zwar eine körperliche Veränderung ist und sich weder in Wirklichkeit noch in Gedanken von dieser materiellen Veränderung abstrahieren lässt, dass aber unter den relevanten Ursachen einer Emotion nicht nur materielle Ursachen, sondern auch andersartige Ursachen vertreten sind, wie beim Zorn ein konkreter Anlass, der mit (der subjektiven Erfahrung von) Erniedrigung, Beleidigung oder Geringschätzung zu tun hat, und ein Zweck oder Ziel, nämlich beim Zorn die angestrebte Vergeltung, zu der uns die Emotion antreibt. Zu (b): Wenn es demnach zwei Ursachenarten gibt, die für eine Emotion relevant sind, nämlich die materiellen Ursachen auf der einen, und die in der dialektischen Definition genannten Ursachen auf der anderen Seite, dann
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sind für das Entstehen und Abklingen einer Emotion offenbar beide Ursachenarten relevant. Was die körperlich-materiellen Ursachen von bestimmten Emotionen angeht, so kennen wir aus den aristotelischen Texten nur wenige Details. Aristoteles’ bevorzugte Beispiele sind wiederum Zorn und Furcht: Ersterer ist mit einer Art der Erhitzung, letztere mit einer Art der Abkühlung verbunden. Zu den notwendigen Voraussetzungen für das Zustandekommen einer dieser beiden Emotionen gehört daher in jedem Fall die Fähigkeit des Körpers, im entscheidenden Augenblick das entsprechende Temperaturniveau zu erzeugen. Diese Voraussetzung ist z. B. dann nicht gegeben, wenn sich der Körper gerade auf einem entgegengesetzten Temperaturniveau befindet – etwa unter dem Einfluss einer anderen Emotion oder unter dem Einfluss von Krankheit, Fieber, Alkohol usw. Allgemein scheint nach Aristoteles beim Körper älterer Menschen die Fähigkeit zu einer starken und nachhaltigen Erhitzung abzunehmen, weswegen ältere Menschen auch weniger zum Zorn disponiert sind oder nur einen schwachen und kurzzeitigen Zorn entwickeln können. Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum sich bestimmte Emotionen gegenseitig ausschließen: Man kann zur selben Zeit nicht eine ‚erhitzende‘ und eine ‚abkühlende‘ Emotion empfinden, obwohl es nichts Widersprüchliches an sich hätte, wenn man zur selben Zeit gegenüber Person A Furcht und gegenüber Person B Zorn empfände. – Dies ist die allgemeine Funktionsweise; viele Einzelheiten, die uns in diesem Zusammenhang interessieren würden – z. B. ob es wirklich für jede Emotion einen distinkten körperlichen Zustand gibt, ob sich dieser distinkte körperliche Zustand auch mit rein physiologischen Mitteln simulieren lässt usw. –, sind bei Aristoteles jedoch nicht näher beschrieben. Neben den körperlichen Ursachen sind für das Entstehen und Abklingen einer Emotion natürlich auch die in der dialektischen Definition genannten Ursachen wichtig. Mit diesen beschäftigen sich die folgenden beiden Abschnitte.
3. Zur Individuation von Emotionen Unser emotionales Vokabular kennt sehr viele Arten von Emotionen und sehr viele Differenzierungen, Schattierungen und Übergänge. Wenn Aristoteles in moralpsychologischen Kontexten über Emotionen spricht, dann scheint er sich dieser Vielfalt sehr wohl bewusst und bisweilen ist er sogar um eine Erweiterung und Differenzierung des gewöhnlichen Vokabulars bemüht. Im Rahmen der physiologischen Kategorien, die Aristoteles zur Verfügung stehen, wie z. B. Erhitzung und Abkühlung, lässt sich diese Viel-
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falt nur schwer modellieren – und wir wissen auch nicht, ob Aristoteles eine solche materielle Beschreibung aller emotionalen Unterschiede überhaupt anstrebte. Aus diesem Grund scheint für die Individuierung einzelner Emotionen der sogenannte „dialektische“ Beschreibungstyp sehr viel aufschlussreicher als der materiell-physiologische. In der Schrift Topik illustriert Aristoteles verschiedene formale Probleme des Definierens an Emotionen, woraus man schließen kann, dass diese sogar bevorzugter Gegenstand dialektischer Definitionsübungen waren. Die ausführlichste Auflistung solcher dialektischer Definitionen von verschiedenen Emotionstypen findet sich im zweiten Buch von Aristoteles’ Rhetorik; dort definiert Aristoteles die pathê Zorn, Sanftmut, Furcht, Zuversicht, Freundesliebe, Hass, Dankbarkeit, Scham, Schamlosigkeit, Neid, Entrüstung, Eifer, Schadenfreude, Verachtung sowie zwei namenlose Emotionen. Die Besonderheit dieser Definitionen verdeutlicht man sich am besten anhand einiger Beispiele: Zorn
„ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung für eine vermeintliche Herabsetzung einem selbst oder einem der Seinigen gegenüber von solchen, denen eine Herabsetzung nicht zusteht“ (II, 2, 1378a31–33)
Furcht
„eine Art von Schmerz oder Beunruhigung, herrührend aus der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzlichen Übels“ (II, 5, 1382a21–22)
Scham
„eine Art von Schmerz und Beunruhigung über diejenigen Übel, die einem ein schlechtes Ansehen einzubringen scheinen, seien sie gegenwärtig, vergangen oder zukünftig“ (II, 6, 1383b12–14)
Mitleid
„eine Art von Schmerz aufgrund eines vermeintlichen Übels, das verderblich oder schmerzlich ist, bei jemandem, der es nicht verdient hat, dass ihm derartiges widerfährt, und von dem man erwarten kann, dass man es selbst oder einer der Seinigen erleidet, und dies ist der Fall, wenn es nahe scheint“ (II, 8, 1385b13–16)
Neid
„eine Art von Schmerz über das vermeintliche Wohlergehen hinsichtlich der besagten Güter bei den Ähnlichen […] und zwar nicht, damit sich für einen selbst etwas Nützliches ergibt, sondern wegen jener“ (II, 10, 1387b23–25)
Tabelle: Dialektische Definitionen einiger Emotionstypen nach Aristoteles.
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Alle hier aufgeführten Emotionen werden als eine Art von Schmerz oder Beunruhigung definiert; die Individuierung der verschiedenen Emotionstypen erfolgt durch die Anlässe oder Ursache des Schmerzes und durch das Verhältnis des Betroffenen zu diesen Anlässen. In allen Fällen gibt es einen je verschiedenen Gegenstand, auf den sich die Emotion richtet. Einige Definitionen nennen neben dem Gegenstand der Emotion explizit auch Merkmale der Personen, die mit dem Anlass oder Gegenstand der Emotion in Verbindung stehen. Und diese Merkmale spezifizieren in den meisten Fällen auch ein besonderes Verhältnis zu dem von der Emotion Betroffenen: So müssen die Zielpersonen beim Neid dem Betroffenen ähnlich sein und die Zielpersonen beim Zorn müssen im Verhältnis zum Betroffenen eine Stellung innehaben, aufgrund welcher ihnen ein herabsetzendes Verhalten nicht zusteht usw. Festzuhalten ist daher zunächst, dass die Emotionen durch Bezug auf die Ursache oder den Anlass bzw. durch den Gegenstand, auf den sich die Emotion richtet, sowie durch das Verhältnis dieses Gegenstandes zu bestimmten Zielpersonen sowie zur Person des Betroffenen individuiert werden – und nicht etwa durch die Qualität des gefühlten Schmerzes. Dies schließt nicht aus, dass sich der Schmerz beim Neid anders anfühlt als, sagen wir, der Schmerz beim Mitleid, jedoch ist entscheidend, dass Aristoteles die Distinktheit der Emotionen nicht aus diesen phänomenalen Unterschieden, sondern auf die Beschreibung von Situationen und Gegenständen gründet. Der von einer Emotion Betroffene muss auf den jeweiligen Gegenstand irgendwie bezogen sein: Er muss eine Vorstellung von dem betreffenden Gegenstand haben oder muss der Meinung sein, dass der betreffende Gegenstand gegeben ist, oder muss den Gegenstand wahrnehmen oder sich ihn einbilden usw. Die Formulierungen „vermeintliche Herabsetzung“, „vermeintliches Übel“, „vermeintliches Wohlergehen“ zeigen an, dass es für das Zustandekommen der Emotion nicht darauf ankommt, dass der betreffende Gegenstand tatsächlich existiert bzw. der betreffende Sachverhalt tatsächlich vorliegt, sondern nur darauf, dass der Betroffene selbst den relevanten Gegenstand oder Sachverhalt für gegeben hält. In diesem Zusammenhang ist man versucht zu sagen, dass der Betroffene davon überzeugt ist, dass eine Herabsetzung vorliegt, oder urteilt, dass ein bestimmtes Verhalten eine solche Herabsetzung darstellt. Wenn man die Sache so formuliert, käme der aristotelische Ansatz einer urteilsbasierten Emotionstheorie oder sogar einer Urteilstheorie der Emotionen sehr nahe. Dies zu sagen, scheint in einem Sinn richtig, in einem anderen Sinn irreführend zu sein: Tatsächlich scheint Aristoteles mit der Urteilstheorie
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der Emotionen die Auffassung zu teilen, dass Emotionen durch Sachverhalte individuiert werden, die als Inhalt eines Urteils und einer Überzeugung formuliert werden können, z. B. ist Zorn durch das Urteil oder die Überzeugung bestimmt, dass jemand, dem es nicht zusteht, mich erniedrigend behandelt hat, Furcht durch das Urteil oder die Überzeugung, dass ein bedrohliches Übel nahe bevorsteht, Mitleid durch das Urteil oder die Überzeugung, dass jemand unverdientermaßen unglücklich ist. Irreführend ist jedoch die Gleichsetzung von Aristoteles mit den Urteilstheoretikern in folgenden Hinsichten: (i.) Wenn wir schon sagen wollen, dass es ein Urteil ist, das eine Emotion individuiert, dann müssten wir hinzufügen, dass dieses Urteil lediglich den Gegenstand der Emotion näher beschreibt, aber dass nicht jeder, der die betreffende Emotion hat, tatsächlich ein entsprechendes Urteil selbst gefällt haben muss: In einem bestimmten Sinn nämlich stellen Urteile eine relativ anspruchsvolle intellektuelle Operation dar, welche durchzuführen nicht jeder in der Lage ist; so scheinen nach Aristoteles gerade auch Kinder und selbst Tiere bestimmte Emotionen zu haben, obwohl sie selbst nicht in der Lage sind, ein Urteil (in jenem anspruchsvollen Sinn) zu fällen. Auch Erwachsene urteilen z. B. in Situationen der Überraschung nicht, dass etwas ein bedrohliches Übel sei, das nahe bevorsteht, und empfinden dennoch Furcht. Viele Emotionen kommen allein durch Wahrnehmung oder Einbildung (phantasia) zustande, bedürfen aber keiner höheren kognitiven Operation, also auch keines Urteils, falls darunter eine solche anspruchsvollere Operation verstanden wird. Schon daher ist es ratsam, Aristoteles keine allgemeine Urteilstheorie der Emotionen zu unterstellen, wenngleich unumstritten ist, dass die angeführten Emotionen zum Teil aufgrund von durchaus anspruchsvollen Einschätzungen zustande kommen können: Einige Emotionen setzen moralische Evaluationen voraus (verdient/ unverdient), andere prognostische Überlegung (wahrscheinlich, künftig, nahe bevorstehend) usw. (ii.) Schon weil für Aristoteles Emotionen Bewegungen oder Veränderungen des Körpers sind, stimmen die Emotionen nicht immer mit den Urteilen überein: Wenn jemand seinen Zorn gerade an einer Person ‚ausgelassen‘ hat, wird er einer zweiten Person, die eigentlich noch mehr Anlass zum Zürnen bietet, nicht in gleicher oder proportional stärkerer Weise zürnen, obwohl er urteilt, dass die durch die zweite Person erlittene Erniedrigung schwerer wiegt. Und ein älterer Mensch, der nicht mehr über die für starke Zornausbrüche erforderliche Körperhitze verfügt, wird ebenfalls nicht die Emotion empfinden, die eigentlich seinem Urteil entspräche. Schließlich ist die Kovarianz von Urteil und Emo-
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tion auch dann gestört, wenn sich der Körper bereits im Zustand einer Emotion, z. B. im Zustand des Zorns, befindet und wir deshalb aufgrund nichtiger Anlässe zu neuen heftigen Zornausbrüchen verleitet werden. (iii.) Wenn wir außerdem das Urteilen so verstehen, dass es jederzeit an uns liegt, ob wir ein Urteil fällen wollen oder nicht, dann besteht eine weitere Disproportionalität von Urteil und Emotion darin, dass es nach Aristoteles nicht in derselben Weise an uns liegt, ob wir eine Emotion empfinden oder nicht: Selbst wenn wir hier und jetzt urteilen, dass etwas verdient, unverdient, bedrohlich usw. ist, empfinden wir keine dem Urteil entsprechende Emotion, wenn wir dafür nicht zuvor eine entsprechende charakterliche Disposition ausgebildet haben (siehe dazu unten den Abschnitt 5: Tugenden, Charakterformung und emotionales Training); selbst wenn wir z. B. urteilen, dass uns jemand erniedrigend behandelt hat, werden wir keinen Zorn empfinden, sofern wir nicht zuvor eine dauerhaft positive Einstellung zu uns selbst (also so etwas wie Selbstachtung) entwickelt haben.
4. Emotionen in der öffentlichen Rede und im Theater Affekte oder Emotionen wie Zorn, Mitleid, Wohlwollen waren Gegenstand der antiken Rhetorik, lange bevor die Philosophie diese als Thema entdeckte. Der Sophist Thrasymachos soll beispielsweise eine Sammlung von fertigen Formeln erstellt haben, mit denen man offenbar bei jeder Gelegenheit und ungeachtet des konkreten Anlasses das Mitleid der Zuhörer auslösen konnte (Rhet. III, 1, 1404a14f.). In der konventionellen Rhetorik zur Zeit des Aristoteles hatten die Emotionen bereits einen standardisierten Ort: Im Proömium musste der Redner das Wohlwollen der Zuhörer wecken, und im Epilog war es üblich, entweder den Zorn gegenüber den Gegnern oder das Mitleid mit der eigenen Person zu erregen. Bereits auf der ersten Seite seiner Rhetorik wendet sich Aristoteles gegen diese Art von Praktiken. Er wirft den bisherigen Rhetoriklehrern ein kunstfremdes, d. h. unmethodisches Verfahren vor, da sie größtenteils über das außerhalb der Sache Liegende handelten, indem sie Empfehlungen zu Beschuldigung, Mitleid, Zorn und solchen Emotionen der Seele geben, während sie den für den sachbezogenen Überzeugungsprozess zentralen Faktor, den rhetorischen Beweis, vernachlässigten. Es sei auch nicht richtig, wenn man den Richter zu Zorn, Neid oder Mitleid verleitet und ihn auf diese Weise ablenkt und verwirrt und sein Urteil verdunkelt.
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Trotz dieser Kritik an den Vorgängern enthält auch Aristoteles’ eigene Rhetorik ausführliches Material zur kunstgerechten Erregung von Emotionen. Im Mittelpunkt der entsprechenden Schrift steht die Lehre von den drei kunstgemäßen Überzeugungsmitteln (pisteis): Eines davon ist der rhetorische Beweis, eines die Charakterdarstellung und eines die Emotionserregung; es bedeute nämlich, so führt Aristoteles aus, für das Überzeugen einen wichtigen Unterschied, in welchem emotionalen Zustand sich der Zuhörer befindet: Denn die Dinge scheinen für diejenigen, die lieben, und für diejenigen, die hassen, nicht dieselben zu sein, auch nicht für die, die zürnen, und die, die sich sanftmütig verhalten, sondern entweder erscheinen sie als durchweg verschieden oder als der Bedeutung nach verschieden: Dem Liebenden nämlich erscheint die Person, über die er das Urteil fällt, entweder gar kein oder nur ein geringfügiges Unrecht begangen zu haben, dem Hassenden jedoch erscheint das Gegenteil der Fall zu sein. (Rhet. II, 1, 1377b31–1378a3)
Ziel der rhetorischen Bemühung in der öffentlichen Rede ist stets das Urteil, das der Zuhörer fällen soll und im Gericht oder in der Volksversammlung ganz konkret durch seine Stimmabgabe kundtut. Von dieser Urteilsbildung nun sagt Aristoteles ganz illusionslos, dass sie nicht allein auf den vorgebrachten Beweisen, sondern auch auf anderen Faktoren beruht, auf die der Redner deshalb Rücksicht nehmen muss. Da nun, wie im obigen Zitat dargelegt, auch der emotionale Zustand einer dieser Faktoren ist, hat der Redner natürlich ein elementares Interesse daran, diese Gefühlslage des Zuhörers gezielt zu steuern. Wie soll das konkret vor sich gehen? Voraussetzung für die gezielte und kunstgemäße Emotionserregung ist ein Wissen vom Wesen der verschiedenen Emotionen, d. h. man muss zumindest die Art von Definition kennen, die wir weiter oben als die „dialektische“ Definition kennengelernt haben. Verfügt man über eine solche, dann kann man daraus leicht ableiten, über was für Dinge, gegenüber welcher Art von Personen und in welchem Zustand man eine bestimmte Emotion empfindet (Rhet. II, 1, 1378a22–26). In den Kapiteln II, 2–11 der Rhetorik buchstabiert Aristoteles diese drei Faktoren im Anschluss an die Definition jeder Emotion in detaillierten Listen aus. Der Redner, der sich dieser Listen bedient, muss nun nur noch den Zuhörer glauben machen, dass z. B. eine Beleidigung vorliegt, dass es der beleidigenden Person nicht zustand, sich so zu verhalten, und dass die Zuhörer sich ein solches Verhalten nicht bieten lassen müssen, um das Publikum in Zorn zu versetzen. Oder, wenn Furcht eine Beunruhigung in Anbetracht eines nahe bevorstehenden verderblichen Übels ist und man diese besonders im
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Zustand der eigenen Hilflosigkeit empfindet, dann muss der Redner, um die Zuhörer dazu zu bringen, dass sie sich z. B. vor ihren Grenznachbarn fürchten, lediglich zeigen, dass das Verhalten der Grenznachbarn bedrohlich ist, dass die eigene Stadt verwundbar ist und dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Ein bestimmtes Emotionspaar, nämlich die beiden sogenannten ‚tragischen Affekte‘, Furcht und Mitleid (phobos und eleos), sind nach Aristoteles’ Auffassung auch für die Wirkung der Tragödie signifikant: Nach seiner berühmten Definition handelt es sich bei der Tragödie um die Nachahmung (mimêsis) einer Handlung, die beim Zuschauer Furcht und Mitleid und eine Reinigung (katharsis) von solchen Emotionen bewirke (Poet. 6, 1449b27–28). Gegenüber einer prosaischen öffentlichen Rede verfügt das Theater natürlich über ganz andere Mittel und Möglichkeiten: Die Sprache der Tragödie bedient sich eines poetischen Stils und ist rhythmisch und melodisch durchkomponiert. Es kommt nicht nur auf den Text allein, sondern auch auf die Aufführung durch die Schauspieler und auf die Inszenierung an. Es ist wahrscheinlich, dass alle diese Faktoren einen gewissen Einfluss auf die emotionale Verfassung des Zuhörers haben können. Besonderen Wert legt Aristoteles allerdings auf den mythos, also die Handlung bzw. den Handlungsverlauf einer Tragödie. Dieser Handlungsverlauf soll so angelegt sein, dass sich die eigentümliche Wirkung der Tragödie, also auch Mitleid und Furcht, bereits dann einstellt, wenn man von den entsprechenden Geschehnissen bloß hört (Poet. 14, 1453b4f.). Man kann daher sagen, dass die in einer Tragödie dargestellten Geschehnisse selbst die maßgeblichen Emotionen auslösen sollen. Wie aber kann der Tragödiendichter wissen, ob ein bestimmtes Geschehen diese furcht- oder mitleiderregende Wirkung haben wird? Es scheint, als behandle Aristoteles dies ganz analog zur Emotionserregung in der öffentlichen Rede, denn er verweist für die emotionale Wirkung der tragischen Handlungsabläufe explizit auf die Verfahren des Redners (Poet. 19, 1456b2f.): Wenn man als Tragödiendichter weiß, über welche Art von Dingen die Menschen für gewöhnlich z. B. Mitleid empfinden, dann kann er solche Geschehnisse darstellen, bei denen ein eigentlich tugendhafter und dem Zuschauer nicht unähnlicher Protagonist in unverdientes Unglück verwickelt wird. Ähnlich wie bei der öffentlichen Rede wird die emotionale Reaktion dadurch stimuliert, dass man die Meinungen der Zuhörer oder Zuschauer über das Vorliegen von mitleidswürdigen oder furchterregenden Konstellationen beeinflusst. Der Unterschied zur Emotionserregung durch den Fachmann für Rhetorik besteht nur darin, dass
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dieser sagt oder zeigt, dass z. B. eine Person Merkmale aufweist, durch die sie unser Mitleid verdient, während in der Tragödie die dargestellten Handlungsabläufe selbst die mitleids- und furchterregenden Merkmale aufweisen müssen. Was hat dies alles schließlich mit einer Reinigung oder katharsis zu tun? Mitleid und Furcht stellen für sich genommen durchweg schmerzliche Emotionen dar. Was der Zuschauer im Theater erlebt, ist aber eher ein ‚Wechselbad der Gefühle‘, denn außer den schmerzlichen Emotionen Mitleid und Furcht erlebt er auch eine spezifische Art von Wohlgefallen oder Lust (Poet. 14, 1453b10–14). Aristoteles benötigt daher einen Begriff, der das besondere Wohlgefallen an der Tragödie mit den schmerzlichen Emotionen verknüpft, die die Tragödie definieren. Genau für diese Funktion scheint der Begriff der katharsis bestens geeignet, wird er doch auch an anderer Stelle von Aristoteles dazu gebraucht, die wohltuende Erleichterung zu beschreiben, die eben mit der Auflösung von starken, schmerzlichen Affekten verbunden ist (vgl. Pol. VIII, 7, 1342a11–15). Nicht zuletzt kann man in der Wahl des Terminus katharsis unschwer eine ironische Anspielung auf Platon erkennen, der katharsis als eine der Wirkungen von Philosophie verstand (z. B. in Phaidon, Sophistês), die Wirkung der Tragödie aber durchaus kritisch beurteilte (z. B. in Politeia).
5. Tugenden, Charakterformung und emotionales Training Das gute und glückliche Leben besteht für Aristoteles wesentlich in der Ausübung von Tugenden. Er unterscheidet zwischen Tugenden des Verstandes und Tugenden des Charakters. Eine Charaktertugend zu haben heißt, unter bestimmten Umständen und in einem bestimmten Bereich des Lebens die richtigen Dinge zu tun und dabei die richtigen und angemessenen Emotionen zu haben. Das wiederum impliziert, dass es für die Ausübung einer Tugend nicht ausreichend ist, richtig zu handeln bzw. das Richtige zu tun. Für die Tugend der Gerechtigkeit z. B. genügt es nicht, gerechte Taten zu vollbringen; um gerecht zu sein, muss man gerecht handeln und dabei die richtige emotionale Einstellung haben, d. h. man muss die gerechten Dinge gerne tun. Jemanden, der das Richtige tut, den es aber Überwindung kostet, das Richtige zu tun, nennt Aristoteles „beherrscht“. Beherrscht zu sein ist besser als unbeherrscht oder schlecht zu sein; noch besser als beherrscht zu sein ist es allerdings, tugendhaft zu sein, und dazu gehört eben – zusätzlich zu richtigen Handlungen – eine
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emotionale Einstellung, durch die man das Richtige gerne, bereitwillig und ohne sich dafür überwinden zu müssen tut. Der Unterschied zwischen der tugendhaften und der nur beherrschten Person ist für Aristoteles kein trivialer, denn es liegt nicht in ihrer Macht, die richtigen emotionalen Einstellungen, deren die nur beherrschte Person ermangelt, hier und jetzt zu erwerben. Welche Emotionen wir in einer Situation haben, hängt vielmehr davon ab, welchen Charakter und welche charakterlichen Dispositionen wir haben; und welche charakterlichen Dispositionen wir haben, ist nach Aristoteles keine Sache des Augenblicks, sondern hängt davon ab, wie wir von Kindheit an erzogen wurden und wie wir bis zum jetzigen Zeitpunkt gelebt haben. Außerdem nimmt Aristoteles an, dass man solche Dispositionen am einfachsten im Laufe der Kindheit und Jugend ausbilden kann, während es schwierig ist, seine charakterlichen Einstellungen als Erwachsener nochmals neu auszurichten. Deshalb sagt Aristoteles einmal: „Also bedeutet es keinen geringen Unterschied, ob man von Kindheit an so oder so gewöhnt wurde; es hängt aber viel davon ab, ja sogar alles.“ (EN II, 1, 1103b23–25) Zunächst sagt dieser Zusammenhang etwas Wichtiges über das Wesen der Emotionen bei Aristoteles aus: Der Umstand, dass es nicht in unserer Macht liegt, ob wir in einer Situation eine bestimmte Emotion haben oder nicht haben (siehe oben, Abschnitt 1), hängt damit zusammen, dass die Art und die Intensität der Emotionen, die wir haben, von unserem Charakter abhängig sind. „Charakter“ wiederum bedeutet bei Aristoteles so etwas wie die Summe der langfristigen Strebensdispositionen. Da sich unser Streben oder Meiden auf die Dinge richtet, die wir für gut oder schlecht halten, kommt in unserem Streben eine Evaluation zum Ausdruck. Insofern anerkennt Aristoteles indirekt, dass Emotionen langfristige evaluative Einstellungen zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel, das Aristoteles selbst einmal benutzt, ist das folgende: Man zürnt jemandem, der sich über Philosophie lustig macht nur dann, wenn man sich selbst bemüht hat zu philosophieren (Rhet. II, 2, 1379a34–37); d. h. das Zürnen bringt hier zum Ausdruck, dass die betreffende Person eine positiv evaluative Einstellung zur Philosophie einnimmt, denn ohne diese Einstellung wäre der Zorn nicht zu erklären. Ein anderes Beispiel ist das der sogenannten ‚knechtischen‘ Gesinnung: Eine solche liegt nach Aristoteles bei jemandem vor, der auch dann nicht zürnt, wenn er zürnen sollte, weil ihm an der für die Empfindung von Zorn erforderlichen Selbstachtung mangelt; auch die Selbstachtung stellt eine Art von evaluativer Einstellung, nämlich der eigenen Person gegenüber, dar. Wichtig ist nun, dass sich die-
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se Art von Einstellung nicht willentlich und nicht kurzfristig einnehmen, abstellen oder verändern lässt: Wer die Philosophie schätzt, der wird sich unwillkürlich über den ärgern, der sie herabzusetzen versucht. Und wer in der Vergangenheit keine Selbstachtung entwickelt hat, der wird nichts dabei empfinden, wenn andere an dieser zu kratzen versuchen. Alle diese evaluativen Dispositionen und Einstellungen sind durch eine ihnen eigentümliche Vorgeschichte geprägt worden und mit ihnen zusammen sind auch die emotionalen Reaktionen von dieser Vorgeschichte abhängig. Folgt man dieser Überlegung, dann wird nachvollziehbar, warum Aristoteles denkt, dass man die Entwicklung des Charakters nicht zufälligen Faktoren überlassen, sondern vielmehr versuchen soll, auf diese einen möglichst großen und günstigen Einfluss zu gewinnen. Auf die Frage, wie eine solche Charakterformung möglich sei, antwortet Aristoteles mit einem relativ simplen Modell: So wie wir handeln, so wird auch unser Charakter. Denn ebenso wie nur der ein guter Vierkämpfer wird, der sich im Vierkampf übt, könne nur der gerecht werden, der gerecht handelt und sich durch gerechtes Handeln an das Gerechtsein gewöhnt, und nur der tapfer werden, der sich gefährlichen Situationen aussetzt und sie zu meistern lernt, und nur der besonnen werden, der sich im Umgang mit Genüssen übt und sich ihrer zu enthalten lernt. Der Weg zur Tugend führt somit nur über eine Art von Training im Umgang mit den für eine Tugend typischen Situationen einerseits und den sie begleitenden Emotionen und Begierden andererseits. Eine Schwierigkeit bei diesem Modell der Charakterformung besteht darin zu beschreiben, wie genau der Übergang aussieht von den nur tugendanalogen Handlungen, die man ausführt, bevor man im Besitz der Tugend selbst ist, zu den im engeren Sinn tugendhaften Handlungen einer tugendhaften Person. Klar ist jedoch, dass dieser Übergang damit zu tun hat, dass sich von einem bestimmten Punkt der Charakterformung an die angemessenen emotionalen Reaktionen von selbst einstellen und dass somit die Emotionen und ihre motivationale Kraft das tugendhafte Handeln unterstützen. Natürlich besteht die skizzierte Verbindung von Gewöhnung, charakterlicher Einstellung und emotionaler Reaktion nicht nur auf Seiten der Tugend, sondern auch auf deren Gegenseite, nämlich bei der Untugend bzw. dem Laster. Wer sich daran gewöhnt, schlechte Dinge zu tun, wird eine entsprechende charakterliche Disposition dazu ausbilden und wird auch durch seine emotionalen Reaktionen zum Ausdruck bringen, dass er die Ziele der schlechten Menschen billigt und hochschätzt. Nur die Erziehung - sowohl die individuelle als auch die durch gute Gesetze – hält
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Menschen, deren Charakter noch formbar ist, dazu an, nicht die verwerflichen, sondern die richtigen Dinge zu tun, damit sie sich an die richtigen und tugendhaften Handlungsweisen gewöhnen können. Außerdem verstärkt sie durch Lob und Tadel sowie durch Belohnung und Sanktionierung die Erfahrung, dass das gute Handeln angenehm und das falsche unangenehm ist. Da die Moralerziehung bei Aristoteles daher immer auch auf die Formung der irrationalen Strebungen abzielt, indem sie das Tugendhafte mit dem Empfindungswert ‚angenehm‘ und das Gegenteil mit dem Empfindungswert ‚unangenehm‘ verknüpft, und da dieser Prozess seine nachhaltige Wirkung nur langfristig entfalten kann, spielt im aristotelischen Erziehungskonzept die Gewöhnung eine wichtige Rolle, wenngleich der Übergang vom vortugendhaften in den tugendhaften Zustand nicht durch Gewöhnung allein erklärt werden kann, sondern wesentlich ein Element der Anerkennung sowie spezifische intellektuelle Kompetenzen voraussetzt.
6. Das gute Leben und die richtigen Emotionen Im Rahmen der aristotelischen Ethik haben Emotionen eine vielfältige Bedeutung für das moralisch erfolgreiche Handeln und das gute Leben. Zunächst bedeutet es natürlich einen Unterschied für die Qualität unseres Lebens, ob in ihm die negativen, schmerzlichen oder die positiven Emotionen überwiegen. Das bedeutet nicht, dass das gute Leben nur im Haben von positiven Emotionen bestehen würde; jedoch nimmt Aristoteles an, dass das tugendhafte Handeln der tugendhaften Person auch mit angenehmen, lustvollen Empfindungen verbunden ist, und zumindest diese sind von nicht unwesentlicher Bedeutung für die Qualität des gelungenen Lebens. Emotionen können tugendhafte Handlungen motivieren und sie unterstützen. Der Zorn, den jemand demgegenüber empfindet, der z. B. seiner Familie oder seinen Freunden geschadet hat, kann den Betroffenen zu tapferen und nach landläufiger Ansicht lobenswerten Handlungen bewegen. Eine bestimmte Emotion, zêlos (Eifer, Amibition) hat sogar immer den Effekt, dass sie den Betroffenen motiviert, um edle und anerkennenswerte Güter in einem positiven Sinn zu wetteifern. Emotionen allgemein können auch dadurch das richtige Handeln befördern, dass sie einen dosierten Einfluss auf unsere Urteile und Entscheidungen gewinnen: Ein richtiges Maß an Furcht kann uns dazu bewegen, bei einer Abwägung
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oder Entscheidung umsichtiger vorzugehen, als wir es ohne Furcht getan hätten. Die Emotionen einer tugendhaften Person können diese sogar spontan zur richtigen Handlungsweise bewegen, wenn keine Zeit zur Überlegung bleibt: In einer plötzlichen Gefahrensituation beispielsweise kann die Furcht ein spontanes Zurückweichen bewirken, das den Betroffenen rettet. Außerdem setzen die Emotionen den Handelnden jederzeit in eine Beziehung zu früher gemachten Erfahrungen: Schlechte und gute Erfahrungen der Vergangenheit haben einen Einfluss darauf, wie wir ähnlichen Situationen in der Gegenwart begegnen. Schlechte Erfahrungen machen jemanden tendenziell furchtsamer und damit vorsichtiger, fortgesetzt gute Erfahrungen werden dazu führen, dass sich jemand immer mehr traut. Auf diese Weise helfen Emotionen eine gegenwärtige Situation im Lichte der früher gemachten Erfahrung zu bewerten, sie helfen u. a. zu entscheiden, welche Dinge zu schwierig für uns sind und welche wir meistern können. Eine bestimmte Emotion wiederum, die Scham, hilft uns nach Aristoteles, das Richtige und Tugendhafte zu tun, solange wir noch über keinen fest entwickelten Charakter verfügen. Da sich nämlich besonders die jungen Menschen schämen, wenn sie von tugendhaften Menschen dabei beobachtet werden, wie sie schändliche Dinge tun, werden sie aufgrund der Scham solche Situationen zu vermeiden suchen und sich an die Konventionen halten, auch wenn sie deren Sinn noch nicht verstehen. Emotionen können also im Rahmen der aristotelischen Ethik auf vielfältige Weise das richtige Handeln und die Ausübung von Tugenden unterstützen und so zum guten Leben beitragen. Damit scheint Aristoteles eine sehr viel günstigere Einschätzung der Emotionen und allgemein der irrationalen Antriebe vorzunehmen als beispielsweise Platon oder die Stoiker. Jedoch hat auch die Nützlichkeit der Emotionen für Aristoteles eine genau zu bezeichnende Grenze: Nützlich und dem guten Leben zuträglich sind die trainierten Emotionen einer Person mit wohlgeformtem Charakter. Dagegen können untrainierte Emotionen oder die Emotionen einer unbeherrschten oder lasterhaften Person sogar einen großen Schaden anrichten. Bei der unbeherrschten Person können emotionale Impulse das vernünftige Urteil zunichte machen oder sie können dazu führen, dass eine vernünftige Überlegung unmöglich wird. Wenn wir übertrieben furchtsam oder übertrieben wagemutig sind und wenn sich diese Emotionen nicht an den in Gefahrensituationen gemachten Erfahrungen orientieren, dann kann uns die Lenkung durch diese Emotionen leicht ins Verderben führen. Wenn unsere Anfälligkeit für Zorn nicht proportional zu
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einem realistischen Maß an Selbstachtung entwickelt wurde, werden wir überall vermeintliche Herabsetzungen und Vernachlässigungen vermuten, was zu vielfältigen Problemen im Umgang mit anderen führen kann. – Dies sind die Gründe, warum Aristoteles nicht den Emotionen als solchen einen Wert für das gute Leben zuschreiben möchte, sondern nur denjenigen Emotionen, die Ausdruck eines wohlgeformten, tugendhaften Charakters sind. Nur wer seine evaluativen Dispositionen und Einstellungen im Sinne der Tugenden geformt und entwickelt hat, kann sich auf seine Emotionen verlassen. Die tugendhafte Person ist daher für Aristoteles dadurch charakterisiert, dass sie die richtigen Emotion hat. An einer bekannten Stelle drückt er das so aus: Zum Beispiel kann man von Furcht und Zuversicht, Begierde, Zorn, Mitleid und überhaupt von Lust und Schmerz zu viel oder zu wenig haben, und in beiden Fällen ist es nicht richtig. Wenn man diese Dinge hingegen zum richtigen Zeitpunkt, mit Bezug auf die richtigen Objekte, gegenüber den richtigen Personen mit den richtigen Zielen fühlt, dann ist das die Mitte und das Beste, und das ist charakteristisch für die Tugend. (EN II, 5, 1106b18–23).
In dieser Passage formuliert Aristoteles das Ideal der richtigen oder angemessenen Emotionen. Ob eine emotionale Emotion angemessen ist oder nicht, bemisst sich demzufolge nach unterschiedlichen Parametern, dem Zeitpunkt, dem Anlass, der betroffenen Person usw. So kann sich ein Zuviel an Zorn ganz unterschiedlich äußern: wenn man jemandem aufgrund von nichtigen Dingen zürnt, wenn man jemandem zum falschen Zeitpunkt zürnt, wenn man einer Person zürnt, die eine solche Reaktion nicht verdient hat, wenn man zu heftig zürnt oder zu lange, wenn man sich vom Zorn zu übermäßigen Reaktionen hinreißen lässt u. a. m. Zuviel oder zuwenig von einer Emotion zu haben heißt nichts anderes, als dass eine bestimmte emotionale Reaktion in mindestens einer dieser Hinsichten unangemessen ist - und zwar entweder, indem sie hinter dem angemessenen Maß zurückbleibt oder darüber hinausgeht. Dies ist zugleich der Grundgedanke der Lehre von der Tugend als einer Mitte (die sogenannte Mesotês-Lehre): Bei allem, was kontinuierlich ist, gibt es diese zwei Weisen, das Richtige zu verfehlen, und genau in diesem Sinn ist die Tugend eine Mitte, nämlich die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, und das wiederum bedeutet, dass die Tugend nicht fehl geht, sondern das Richtige bzw. das richtige Maß trifft. Was bedeutet dies alles nun für den emotionalen Zustand einer tugendhaften Person? Einfacher ist es zu sagen, was es nicht bedeutet. Ers-
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tens bedeutet die Lehre von der Mitte nicht das, was man gemeinhin unter dem Ideal der ‚gemäßigten‘ Emotionen versteht, nämlich dass die tugendhafte Person nur durch mittelstarke bzw. gemäßigte Emotionen affiziert werden soll. Diese Auffassung wurde bisweilen unter dem Begriff der metriopatheia als das distinktive Merkmal der aristotelischen Tugendlehre gegenüber dem stoischen Ideal der apatheia, der vollständigen Abwesenheit von Emotionen, angeführt. Wenn Aristoteles jedoch den tugendhaften Zustand durch richtige oder angemessene Emotionen charakterisiert, geht es ihm nicht darum zu sagen, dass die Emotionen immer nur dosiert auftreten dürften: Unter Umständen wird das Ideal der angemessenen Emotionen nur durch eine sehr starke emotionale Reaktion erfüllt – nämlich dann, wenn die Situation eine heftige Reaktion erfordert. Zweitens ist die Formel von der Tugend als einer Mitte nicht als Verfahren zur Berechnung der richtigen Handlungsweise und der richtigen Emotion zu verstehen. Da nämlich die Mitte immer das richtige Maß meint und das Richtige in unterschiedlichen Situationen und für unterschiedliche Beteiligte ganz unterschiedlich aussehen kann, ist die hier zur Rede stehende richtige Mitte nicht dadurch zu finden, dass man sich immer im gleichen Abstand zu den beiden Extremen aufzuhalten versucht. Aristoteles illustriert dies einmal am Beispiel des im Training befindlichen Wettkämpfers, für den das richtige Maß an Nahrung natürlich ein anderes ist als für die untrainierte Person. Daraus schließt er, dass es auch bei der Tugend nicht um die Mitte in den Dingen, sondern um die Mitte ‚für uns‘ gehe (EN II, 5, 1106a29–b7). Im Hinblick auf die Emotionen bedeutet daher die Mesotês-Lehre nicht mehr und nicht weniger, als dass die tugendhafte Person die richtigen Emotionen hat. Jedoch verbirgt sich dahinter weder eine allgemeine Empfehlung zur Mäßigung der Emotionen noch ein Verfahren zur Bestimmung des richtigen Maßes an Emotionen. Welchen Sinn hat diese Lehre dann überhaupt? Die Antwort ist vermutlich in folgendem Zusammenhang zu suchen: Aristoteles charakterisiert die eudaimonia, das gute und glückliche Leben des Menschen, durch eine Ausübung der tugendhaften Dispositionen der Seele. Da nun die menschliche Seele über einen vernünftigen Seelenteil verfügt und über einen, der selbst unvernünftig ist, aber auf die Vernunft hören kann, gibt es auch zwei Arten von Tugend. Eine Art von Tugend, die Charaktertugend, bezieht sich auf den unvernünftigen Seelenteil und dessen Dispositionen, Einstellungen oder Haltungen; sind letztere gut, handelt es sich um einen tugendhaften Charakter. Doch wann sind die Dispositionen des unvernünftigen Seelenteils gut?
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Genau dann, wenn sich der unvernünftige Seelenteil so verhält, wie es die Vernunft, also der den Menschen auszeichnende Seelenteil, anordnen würde; und die Übereinstimmung mit dem vernünftigen Prinzip gilt wiederum als Maßstab für das, was als richtig gelten kann. Mit Blick die Emotionen bedeutet die Mesotês-Lehre daher Folgendes: Die Emotionen einer tugendhaften Person sind richtig oder angemessen, weil sie durch charakterliche Dispositionen und Haltungen bedingt sind, die in Übereinstimmung mit der Vernunft geformt und habituiert wurden. In der tugendhaften Person konvergieren daher die unvernünftigen Antriebe einschließlich der Begierden und Emotionen in einem bestimmten Sinn und bis zu einem bestimmten Punkt mit den Wünschen der Vernunft. Das heißt natürlich nicht, dass beim Tugendhaften das einzelne Vorkommen einer Begierde oder Emotion einer vernünftigen Überlegung entspringen würde – dies würde dem auch von Aristoteles hervorgehobenen Phänomen widersprechen, dass Emotionen typischerweise unwillentlich und plötzlich auftreten –, es heißt lediglich, dass die für das Zustandekommen einer Emotion mitverantwortlichen Charakterzüge den Zielen der Vernunft entsprechen (wobei der Erwerb solcher Charakterzüge in der Regel nur durch eine an den Maßstäben der Vernunft orientierte Lebensführung oder eine dementsprechende Erziehung möglich ist: siehe oben, Abschnitt 6). Beim Tugendhaften kommt es daher nicht zu einem grundsätzlichen Zielkonflikt zwischen vernünftigen und unvernünftigen Antrieben, und wenn solche Zielkonflikte ausgeschlossen sind – und nur dann, unterstützen die Emotionen nicht nur die tugendhafte und gelungene Lebensführung, sondern sind zum Teil sogar konstitutiv für das glückliche Leben.
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Christof Rapp
Literatur Aristoteles’ Schriften werden mithilfe von Siglen zitiert. Die Übersetzungen ins Deutsche stammen vom Verfasser. Die verwendeten Siglen sind: DA EE EN Poet. Pol. Rhet.
– De Anima – Eudemische Ethik – Nikomachische Ethik – Poetik – Politik – Rhetorik
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Stoa: Zenon (ca. 335–263 v. Chr.) Chrysipp (280–208 v. Chr.) Poseidonios (135–51 v. Chr.) Seneca (1 v. Chr.–65 n. Chr.) Epikur (341–270 v. Chr.)
Stoa und Epikur: Affekte als Defekte oder als Weltbezug? Friedemann Buddensiek Bei Aristoteles und auch bei Platon spielen bestimmte Affekte eine wichtige Rolle für die Ermöglichung des guten Lebens: Geeignet geformt, bilden sie den entscheidenden Antrieb für Aktivitäten, die das gute Leben unterstützen. Im Unterschied dazu findet sich in der Stoa (beginnend mit dem 3. Jh. v. Chr.) mit dem Ideal der Affektlosigkeit (apatheia) eine Konzeption des guten Lebens, die eine vollständige Verbannung von Affekten, wie wir sie kennen, vorsieht. Ein Grund für diese Verbannung könnte darin liegen, dass die äußere Welt, auf die die Affekte bezogen sind, im Hellenismus als unverfügbar angesehen wird, sowie in der Annahme, dass es der (von den Stoikern angenommenen) Natur des Menschen widerspricht, dass er sich in seiner Aktivität auf diese unverfügbare Welt bezieht. In diesem Kapitel soll vor allem die stoische Affekttheorie, die die Grundlage für diese Verbannung war, dargestellt werden, und zwar mit Schwerpunkt auf der Theorie Chrysipps und einigen ihrer besonderen Probleme. Die epikureische Theorie der Affekte kommt, kürzer, im Abschnitt zur Therapie der Affekte zu Sprache, die den Epikureern – wie auch den Stoikern – ein besonderes Anliegen war. In der epikureischen Affekttheorie werden Affekte vor dem Hintergrund des Glücksideals der Unerschütterlichkeit (ataraxia) behandelt, sie werden nicht grundsätzlich verbannt. Insgesamt wird die epikureische Theorie jedoch – falls bzw. soweit sie in systematisch interessanter Hinsicht über die allgemeinen Bestimmungen zu den Zentralbegriffen Lust und Schmerz hinausgeht – in den überlieferten Quellen nicht gut sichtbar. Ergiebiger sind die Quellen für die stoische Theorie. Diese Theorie ist (gerade in ihrer chrysippeischen Ausprägung) vor allem wegen ihrer stark kognitivistischen oder rationalistischen Affektauffassung von Interesse. Von besonderem Gewicht für die philosophie- und ideengeschichtliche Tradition ist, in Verbindung damit, das stoische Ideal der Affektlosigkeit. Und schließlich sind von Interesse für die gegenwärtige Diskussion –
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wie etwa die Arbeiten Martha Nussbaums zeigen – gerade auch die Ausführungen zum Umgang mit den Affekten bzw. zu ihrer Therapie, die wir bei den Stoikern und den Epikureern finden.
1. Die Affekte bei den Stoikern Die Stoa erörtert Affekte nicht aus einem selbstzweckhaften Interesse an ihnen, sondern deshalb, weil sie als Hindernisse für ein gutes Leben gelten. Kennzeichen eines guten Lebens ist das „in Übereinstimmung leben“ oder „das in Übereinstimmung mit der Natur leben“, und das heißt: leben in Übereinstimmung mit dem individuellen logos, welcher dem Menschen nach stoischer Meinung wesentlich eigen ist, und in Übereinstimmung mit dem logos, der die Welt insgesamt konstituiert. Affektlosigkeit ist für dieses „in Übereinstimmung leben“ eine wesentliche Voraussetzung, weil Affekte Defekte des logos sind. Kenntnis dessen, was Affekte sind, ist erforderlich, weil die Affekte – als Hindernisse für ein gutes Leben – zu therapieren, und das heißt: zu eliminieren sind. Damit ist nun nicht gemeint, dass für ein gutes Leben jede Art von Gefühl zu eliminieren wäre. Vielmehr wird auch der Glückliche, d. h. der stoische Weise – wenn es ihn irgendwann einmal geben sollte –, bestimmte Gefühle haben, nämlich die sogenannten „guten Gefühle“ (eupatheiai). Diese Gefühle unterscheiden sich aber von allen Gefühlen, die wir, d. h. die Nicht-Weisen, haben und kennen. Nur mit Blick auf diese Gefühle, d. h. die Affekte, vertreten die Stoiker die Forderung der apatheia. Voraussetzung für das Verständnis der stoischen Konzeption oder Konzeptionen der Affekte ist die stoische Auffassung von der Seele. Die Seele wird, allgemein in der Antike, als Prinzip der Selbstorganisation, der Selbstbewegung oder der Aktivitäten des Lebewesens verstanden. Platon und Aristoteles sprechen nun von mehreren Teilen, Bereichen oder Vermögen der Seele und ordnen die Affekte einem (unteren) arationalen Vermögensbereich zu, den logos einem anderen, rationalen Bereich. Demgegenüber vertreten die älteren Stoiker eine monistische Konzeption der Seele mit Blick auf Denken und Fühlen1: Die Seele wird in ihren kogniti_____________ 1
Für Chrysipp vgl. u. a. PHP 4.2.2. Im Gegensatz zur traditionellen Annahme, Monismus bedeute, dass das Führungsvermögen in genau einem Zustand ist, bedeutet Monismus Inwood 1985, 33 zufolge, dass das Vermögen sich zu jedem Zeitpunkt (wenn auch nicht notwendig über die Zeit hin) in interner Harmonie seiner verschiedenen Bereiche befindet.
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ven, motivationalen und handlungsrelevanten Aspekten mit dem rationalen „Führungsvermögen“ (dem logos des Einzelnen) identifiziert. Sie weist keinen abgetrennten affektiven Bereich auf. Vielmehr ist ein Affekt eine Zustimmung (synkatathesis) und ein Impuls (hormê) des Führungsvermögens (d. h. des individuellen logos) als ganzen,2 und genauer: Ein pathos ist eine bestimmte Überzeugung des Affizierten, dass etwas Bestimmtes der Fall ist, das für ihn gut bzw. schlecht ist, und dass darauf in bestimmter Weise zu reagieren ist.3 Allerdings wird aus den überlieferten Texten nicht klar, ob bzw. wie weit alle Stoiker dieser Definition selbst in dieser noch unspezifizierten Formulierung zugestimmt hätten.4 Dazu ein knapper Überblick: Für Zenon (ca. 335/3–263/1 v. Chr.) ist ein Affekt ein gegen die Natur des Menschen (d. h. seinen logos) gerichteter Impuls der Seele, der mit einer irrationalen Annahme über das gegenwärtige bzw. künftige Vorliegen eines Sachverhalts verbunden ist, den man selbst irrigerweise (und insofern irrationalerweise) für sehr vorteilhaft oder sehr schädlich hält. In diesem selbstverantworteten Abgewandt-Sein von der Vernunft geht der Af_____________ 2 3
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Plut. VM 441C (LS 61B9), 447A (LS 65G3); siehe auch Stob. 2.88.8–10 (LS 65A1), PHP 4.4.6. Die Frage, ob Affekte als Meinungen (bzw. Annahmen oder Überzeugungen) oder als Urteile (im Sinne von „Urteilsakten“) aufzufassen sind, wird von Vogt aufgeworfen und (für Chrysipp) zugunsten der ersten Option beantwortet (dies 2004, 81–85). Für die erste Option spricht als Beleg etwa TD 3.74f.; Ps.Andr. 1 (LS 65B); Plut. VM 447A (LS 65G3); PHP 4.2.1 (LS 65D1); Stob. 2.88.22–89.3 (LS 65C); evtl. PHP 4.5.24f. (LS 65L2). Für die zweite Option spricht als Beleg etwa DL 7.111; Plut. VM 447A (LS 65G3); PHP 4.1.17, 4.3.1–3. Der Sache nach benötigt Chrysipp für die Konzeption des Affekts eine Einstellung, die länger anhalten kann. Eine solche Einstellung kann oder kann nur durch einen Urteilsakt verursacht oder aktiviert werden (siehe auch Plut. VM 441D (LS 61B11)), ist aber selbst kein Urteilsakt. Andererseits wird die Meinung als schwache und falsche Zustimmung definiert (siehe SE AM 7.151 (LS 41C3); ferner Stob. 2.112.2–4 (LS 41G4)), sodass sich die Frage ergibt, wie sich Zustimmung und Urteil zueinander verhalten. Aus sachlichen Gründen sollte jedenfalls nicht die Entstehungsursache der Überzeugung (und des Affekts) mit der Überzeugung (dem Affekt) identifiziert werden. Für eine Identifizierung der Konzeption von Zenon und Chrysipp siehe Inwood 1985, 130f. („at most a verbal refinement“); für eine Unterscheidung siehe Sorabji 1998, 150 (unter Bezug auf PHP 4.2.4f., 4.3.1f., 5.1.4) und ders. 2000, 63–65. Für eine Unterscheidung der Konzeption von Chrysipp und Poseidonios siehe Sorabji 2000, 94 (und insgesamt Kapitel 6–8), für eine übereinstimmende AffektKonzeption bei Chrysipp und Poseidonios siehe Brennan 2002, 178.
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fekt über das Maß der Vernunft hinaus und gilt insofern als „exzessiv“.5 Galen zufolge sind die Affekte für Zenon nun aber nicht die Überzeugungen selbst, sondern Zusammenziehungen, Ausbreitungen, Anschwellungen oder Verkleinerungen einer materiell gedachten Seele, die mit den Überzeugungen mitentstehen (siehe PHP 4.3.2, 5.1.4, 5.6.42).6 Allerdings ist Galen in diesem Kontext kaum ein zuverlässiger Zeuge, und ob Zenon diese Unterscheidung tatsächlich getroffen hat, lässt sich nicht sicher feststellen.7 Eindeutig ist, dass für Chrysipp (280/76–208/4 v. Chr.) ein Affekt eine Überzeugung ist, nicht etwas, das nur in Verbindung mit der Überzeugung mitentsteht. (Seine Affekttheorie können wir in dieser Hinsicht als „kognitivistisch“ bezeichnen.) Ansonsten finden sich bei Chrysipp dieselben Elemente in der Charakterisierung des Affekts wie bei Zenon.8 Die Identifizierung der Affekte mit Überzeugungen hat unter anderem die Konsequenz, dass Kinder und vernunftlose Lebewesen keine Affekte haben können, und zwar deshalb nicht, weil nach stoischer Auffassung nur Lebewesen, deren logos ausgebildet ist, einschlägige Überzeugungen besitzen können.9 Kinder können für sie relevante Sachverhalte nicht so erfassen, wie es die Vernunft täte, und zwar deshalb nicht, weil sie die relevanten Sachverhalte prinzipiell, d. h. auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung _____________ 5
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Vgl. Cicero TD 3.75, 4.11, 4.47, Academica posteriora 1.38f.; DL 7.110; Stob. 2.39.4–9; Zenons Formulierung auch Stob. 2.88.8–10 (LS 65A1); Ps.-Andr. 1 (LS 65B). Ps.-Andr. 1 (LS 65B) führt die Definition von Schmerz als arationale Zusammenziehung („oder als frische Annahme der Gegenwart eines Übels, bei welchem man glaubt sich zusammenziehen zu müssen“) an; ebenso die Definition von Lust als arationale Anschwellung („oder als frische Annahme der Gegenwart eines Guts, bei welchem man glaubt anschwellen zu müssen“). Nussbaum führt DL 7.110f. und TD 3.74f. als „some evidence“ dafür an, dass „Zeno on occasion did identify passion and judgment“ (dies. 1994, 372 Anm. 31). Eine nähere Analyse der Texte bestätigt diese Evidenzannahme nicht. Der Affekt als Urteil (krisis): DL 7.111; als Urteil, nicht als etwas, das mit dem Urteil mitentsteht: PHP 4.1.17; der Affekt als unvernünftige, von der Vernunft abgewandte Bewegung: PHP 4.4.16f., 4.6.23, 4.4.32; Plut. VM 450D; als exessiver, der Vernunft nicht gehorchender Impuls: PHP 4.2.8, 16f., 4.4.24f., 4.5.13. Die Verschiedenheit der stoischen Definitionen von „pathos“ erklärt sich Vogt 2004, 70 zufolge durch die Verschiedenheit der je gewählten Perspektiven auf das zu Definierende. Siehe PHP 5.1.10; siehe auch SVF 3.477 = Origenes In Matthaeum 13.16.22–28, 46–55 (Klostermann).
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stehenden Fähigkeiten, noch nicht begrifflich fassen und in den relevanten Kontext einordnen können. Eine direkte Reaktion auf Chrysipps Affekt-Konzeption ist die Konzeption von Poseidonios (ca. 135–51 v. Chr.). Poseidonios zufolge kann Chrysipp vor allem das nicht erklären, wie ein Affekt ein exzessiver Impuls sein kann, d. h. ein Impuls, der über das Angemessene und Vernünftige hinausgeht, wenn doch – Chrysipp zufolge – wesentlich die Vernunft für das Entstehen und Vorliegen von Affekten verantwortlich ist.10 Chrysipp kann (Poseidonios zufolge) ferner nicht erklären, wie sich – bei gleichbleibender Überzeugung – Affekte mit der Zeit abschwächen können oder wie derselbe Eindruck bei verschiedenen Personen zu verschiedenen Affekten führt.11 Poseidonios selbst erklärt Affekte12 durch die Hinzunahme von „affektbezogenen Bewegungen“ (pathêtikai kinêseis), von denen er offenbar häufig sprach (siehe PHP 5.5.26). Solche vorvorhandenen, unwillkürlichen affektbezogenen Bewegungen beeinflussen uns darin, Sachverhalte als zuoder abträglich zu bewerten, ohne dass sie selbst die Überzeugung oder der Impuls wären, die für den Affekt konstitutiv sind.13 Eine Konsequenz aus der Einführung dieser Bewegungen ist unter anderem, dass Affekte, sofern sie sich den Bewegungen verdanken, nicht in unserer Macht liegen und auch nicht therapierbar sind. Dann aber liegt auch der Besitz von Tugend und das Weise-Sein nicht bei uns – eine für einen Stoiker unliebsame Konsequenz.14 _____________ 10
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Vgl. PHP 4.3.4, 4.3.8, 4.5.29, 4.5.41, 4.5.44, 4.7.19, 4.7.37, 5.6.4–6, 5.6.14. – Mit unserer Hauptquelle für Poseidonios als Kritiker Chrysipps, nämlich Galens PHP, sind erhebliche Probleme verbunden. Galen versucht durchwegs, Poseidonios als Platoniker gegen Chrysipp in Stellung zu bringen (vgl. Galens Referat zur platonischen Seelendreiteilung und zur Zuordnung der Affekte zu den arationalen Teilen bei Poseidonios, etwa PHP 4.3.3, 4.7.24, 5.1.5) – wohl, um die vermeintliche Unplausibilität der chrysippeischen Theorie durch den Nachweis dafür hervorzuheben, dass selbst Stoiker in entscheidenden Punkten von ihr abwichen. Zu Poseidonios’ Affekttheorie bzw. Chrysipp-Kritik siehe Cooper 1998; Tieleman 2003, Kap. 5; Halbig 2004, 52–56. Siehe Poseidonios’ Ausführungen und Kritik in PHP 4.5.33–41; vgl. aber für Chrysipp zur Veränderung des Affekts PHP 4.7.12–17, 4.7.25–27, 36. Vgl. Cooper 1998, 89f. Ferner setzt Poseidonios für das Entstehen von Affekten bildliche Repräsentationen des relevanten Sachverhalts voraus, siehe PHP 5.6.25, vgl. auch Cicero TD 4.12. Siehe Cooper 1998, 96–99.
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Ein weiteres Element stoischer Affekttheorie findet sich schließlich in Senecas (ca. 1 v. Chr.–65) Affektkonzeption (die ansonsten traditionell stoisch ausfällt), nämlich die Konzeption der propatheiai, d. h. bestimmter „voraffektiver“ Regungen.15 Kriterium für den Unterschied zwischen Affekten und nicht-affektiven Regungen ist für Seneca die Frage, ob die Regung willentlich ist, und das heißt für ihn: Ob sie bewusst ist und ob eine Zustimmung zur relevanten Vorstellung erfolgt. Nur wenn dies der Fall ist, sind solche Regungen durch uns kontrollierbar. Nur sie sind auch moralisch relevant. Eine Regung, die eine unwillkürliche Reaktion auf etwas Präsentiertes ist und für die die Kontrollierbarkeit nicht gegeben ist, gilt nicht als Affekt. Solchen nicht-kontrollierbaren Regungen ist auch der Weise unterworfen.16 Zu diesen Regungen gehören zum Beispiel einfache körperliche Reaktionen, aber etwa auch Mitlachen, Mittrauern, Mit-wütend-sein, Mitfürchten etwa bei Theateraufführungen sowie Erbleichen, Zittern oder Herzschlagen beim Sichwappnen für die Schlacht (Seneca De ira 2.2.1, 2.3.2f.). Für die Affekttheorie sind diese Regungen relevant, weil sie zwar sprachlich fassbar sind, dennoch aber nicht als rational gelten (eine Verbindung, die die ältere Stoa noch angenommen hätte). Eine rationale Regung (und somit ein Affekt) ist bei Seneca nicht schon dann gegeben, wenn der Gehalt einer Regung und unsere Reaktion auf ihn formulierbar ist.17 Seneca engt den Bereich dessen, was als Affekt gilt, ein, und zwar wohl deshalb, weil er so die traditionelle stoische Affekttheorie gegen Kritik (auch etwa vonseiten des Poseidonios) zu verteidigen können glaubte. Kommen wir nach diesem Überblick auf verschiedene Elemente der stoischen Affekttheorie zu sprechen, und hier vor allem auf die phantasia (den Eindruck): Ein Affekt ist eine Überzeugung, die zum einen eine bestimmte Zustimmung dazu involviert, dass sich eine Sache auch in Wirklichkeit so verhält, wie sie uns in dem Eindruck, den wir von ihr in der Seele haben, erscheint (zur phantasia als Eindruck vgl. Plut. CN 1084F (siehe LS 39F); SE AM 7.228; DL 7.46, 7.50); und zum anderen eine bestimmte Zustimmung dazu, dass es richtig ist, auf diese Sache, die sich so verhält, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Was ist genauer mit phantasia gemeint? _____________ Seneca ist die erste wichtige Quelle für die propatheiai, nicht aber ihr Entdecker (siehe Graver 1999; ferner Halbig 2004, 57–60). Für eine weitere Quelle zu den propatheiai siehe Epiktet, fr. 9 (bei Aulus Gellius Noctes Atticae 19.1.14–20; siehe LS 65Y). 16 Vgl. Seneca De ira 1.16.7, 2.2.1f., 2.3.4f., 2.4.1f., Ep. 57.3–6; Cicero TD 3.83; siehe auch Inwood 1993, 174–177. 17 Vgl. Inwood 1993, 166, 177, 179, 181. 15
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Die phantasia ist – Chrysipp zufolge – eine Affektion (pathos) der Seele,18 die sowohl sich selbst als auch das, was sie verursacht, dem, dessen phantasia es ist, bekannt macht (Aetius 4.12.1 (LS 39B1)). Sie kann infolge von Wahrnehmung wie auch infolge von Denken entstehen (DL 7.51). Sie kann der Welt angemessen oder unangemessen sein (DL 7.46). phantasiai vernünftiger Lebewesen sind stets vernünftige phantasiai (DL 7.51). Demnach sind auch alle unangemessenen phantasiai (eines vernünftigen Lebewesens) vernünftige phantasiai. Vernünftig ist eine phantasia genau dann, wenn – wie im Fall des vernünftigen Lebewesens – ihr Gehalt durch einen logos dargestellt werden kann: Eine solche phantasia ist der formulierbare Eindruck, dass etwas Bestimmtes der Fall ist.19 Als Affektion ist die phantasia als ein Widerfahrnis definiert:20 Bestimmte Eindrücke jedenfalls können wir, bei Gleichheit der Wahrnehmungsbedingungen, auf denen sie beruhen, nicht verändern. Dennoch sind wir in zwei Hinsichten für Eindrücke wesentlich mitverantwortlich. Zum einen können wir in vielen Fällen die Bedingungen und den Bereich der relevanten Wahrnehmung wählen. Zum anderen, und wichtiger, werden Eindrücke zu den Eindrücken, die sie sind, innerhalb eines Kontextes, zu dem vor allem auch das relevante Begriffssystem gehört.21 Für die Ausbildung dieses Kontextes, seiner Ausrichtung, Ausdehnung und inneren Dichte, sind wir wesentlich selbst verantwortlich. Wenn nun Affekte – den Stoikern zufolge – Überzeugungen sind, d. h. hier: Ergebnisse der Anerkenntnis der Angemessenheit bestimmter komplexer Eindrücke, dann sind wir schon auf einer frühen Ebene für unsere Affekte verantwortlich, nämlich dort, wo wir den Begriffsrahmen bilden. Die Abhängigkeit der Affekte von Eindrücken hat in anderer Hinsicht eine bestimmte systematische Konsequenz: Sie bedeutet, dass es keine Affekte ohne Objekte gibt. Die Objekte mögen sich in einer Weise präsentie_____________ Genauer: Die phantasia ist ein Aspekt des Führungsvermögens: vgl. Iamblich bei Stob. 1.368.16–20 (LS 53K2); siehe auch Plut. CN 1084A–B. 19 Vgl. SE AM 8.70: Die phantasia ist der (sprachlich formulierbare) Eindruck, den zum Beispiel ein Wahrgenommenes auf das Begriffssystem des phantasia-Trägers hat (so Brennan 2003, 261f., Anm. 8; siehe auch Frede 1986, 104). 20 Neben Aetius (siehe oben) finden wir, unter Zuschreibung an namentlich nicht genannte Stoiker, phantasia definiert als „pathos der Seele“ auch bei Nemesius De natura hominis 6 (172; 55.14–16 Morani). Die Mühe, die die Stoiker mit der Definition der phantasia hatten, wird in SE AM 7.228–2.41 durch die Modifikationen illustriert, die sie der Definition gaben. 21 Vgl. Calcidius ad Timaeum 220 (LS 53G7, 9); siehe auch Cicero Academica priora 2.21f. (LS 39C), 2.30f. (LS 40N). 18
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ren, die nicht den Tatsachen entspricht – gleichwohl handelt es sich um Objekte, zuallermindest um fingierte Objekte. Damit ist nun aber nur ein bestimmter Bereich seelischer Zustände abgedeckt. Ein anderer Bereich, nämlich der der Stimmungen, wird nicht mit erfasst. Dies jedenfalls dann nicht, wenn wir Stimmungen als etwas ansehen, das – für sich genommen – nicht objektbezogen ist. Nun könnte man meinen, dass dies die Stoiker nicht irritieren muss: Sie sagen eben nichts über solche seelischen Zustände, die kein Objekt haben. Allerdings könnten die Stoiker diese Hilfe nicht akzeptieren: Der Grund, weshalb sie sich für Affekte interessieren, ist der, dass Affekte unser Leben beeinträchtigen. Dann aber erwartete man, dass die Stoiker sich auch für solche Stimmungen, die nicht objektbezogen sind, interessierten. Einer eventuellen stoischen Erwiderung der Art, dass auch Stimmungen von einer bestimmten Perspektive auf die Welt abhängen, ließe sich wohl entgegenhalten, dass vielmehr umgekehrt die Perspektive von der Stimmung abhängt. Die stoische Theorie ist also, wie es scheint, insofern unvollständig, als sie Stimmungen nicht erfasst. Eine weitere Voraussetzung für das Vorliegen von Affekten – neben dem Vorliegen komplexer Eindrücke – ist die Akzeptanz des relevanten Eindrucks, d. h. die Zustimmung zu ihm. Diese Zustimmung erfolgt genau dann, wenn der Eindruck zu dem Gefüge unserer sonstigen gegenwärtigen oder gespeicherten Eindrücke, Begriffe und Theorien, d. h. zum selbstverantworteten Kontext des Eindrucks, passt. (Wir stimmen zum Beispiel dem Eindruck, ein halb ins Wasser getauchter Stock sei geknickt, deshalb nicht zu, weil dieser Eindruck nicht zu jenem Gefüge passt; für das Beispiel bei den Stoikern siehe SE AM 7.244). Zustimmung wie auch Verweigerung der Zustimmung liegt ausschließlich bei uns. Von den Eindrücken, denen wir zustimmen, sind nun einige impulsive Eindrücke (phantasiai hormêtikai), nämlich diejenigen, die uns einen Gegenstand als erstrebenswert oder als zu Vermeidendes, als für uns gut bzw. als für uns schlecht präsentieren. Ein solcher impulsiver Eindruck ist mit dem Eindruck, wie zu reagieren sei, unmittelbar verbunden bzw. identisch mit ihm. Die Zustimmung zu ihm bezieht sich, als Überzeugung, auf die dem relevanten Sachverhalt entsprechende Proposition. Der unmittelbar zugehörige Impuls bezieht sich, als Zustimmung, auf das Prädikat jener Proposition. Er ist Impuls bestimmter Strebensreaktionen oder er ist das, was den Impuls in Bewegung setzt (Stob. 2.88.1–6 (LS 33I), siehe auch 2.86.17f. (LS 53Q1); Brennan 2003, 266–268). Der Impuls wiederum verursacht direkt die entsprechende Handlung.
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2. Probleme der stoischen Affekttheorie Unter den Problemen, die mit stoischen Affektkonzeptionen verbunden sind, sticht das Problem der kognitivistischen Affektauffassung heraus, welches sich – vor allem – in Chrysipps These findet, Affekte seien durch Urteile verursachte Überzeugungen. In diesem Zusammenhang sind einige Teilprobleme auch dann von Interesse, wenn sich aus ihrer Erörterung kein systematisch befriedigendes Gesamtbild ergibt. Die Teilprobleme betreffen die Überzeugungsstruktur des Affekts, das Verhältnis von Überzeugung und Impuls in einer kognitivistischen Theorie, die Auffassung von Affekten als defekten Einstellungen und schließlich den Gefühlsaspekt der einzelnen Affekte. Binnenstruktur: Zur Anzahl der Überzeugungen in Chrysipps Affekten. Ein Affekt ist, Chrysipp zufolge, eine Überzeugung. Eine solche Überzeugung besteht in der Zustimmung zu einem gegebenen Eindruck. Nimmt Chrysipp nun neben der Überzeugung, etwas sei gut bzw. schlecht für uns (Sachverhaltsüberzeugung), noch eine weitere Überzeugung an, nämlich die Überzeugung, es sei angemessen, auf diese oder jene Weise zu reagieren (Reaktionsüberzeugung)? Haben wir es mit einer oder mit zwei Überzeugungen zu tun?22 Relevant ist diese Frage zum einen mit Blick auf das logische Verhältnis der Überzeugungen zueinander (falls es mehrere sind), zum anderen mit Blick auf die Therapie des Affekts. Wir haben keinen Text, in dem Chrysipp sich explizit zur Anzahl der involvierten Überzeugungen äußert. Für die Annahme, er habe zwei Überzeugungen im Fall des Affekts angenommen, könnte man eine Stütze in TD 3.76 sehen. Cicero referiert hier verschiedene Arten der Therapie der Affekte. So habe etwa Kleanthes empfohlen, dem Trauernden klarzumachen, dass das betreffende Übel kein Übel sei. Die Peripatetiker hätten empfohlen, ihm klarzumachen, dass es kein großes Übel sei. Die Epikureer hätten den Trauernden von der Fokussierung auf das Übel zur Fokussierung auf ein Gut gelenkt. Chrysipp zufolge aber gehe es beim _____________ 22
Dass der Fall nicht offensichtlich ist, zeigt ein Blick auf Cicero. Dort finden sich (in stoischem Kontext der Tusculanen) unter anderem folgende Annahmen: (1) eine Meinung von Gutem bzw. Schlechtem erregt eine Bewegung oder Leidenschaft: Die Leidenschaft ergibt sich aus (oder infolge) der Meinung oder durch eine Meinung. Die Ursache der Leidenschaft ist nichts anderes als diese Meinung (TD 3.24f., 3.61). (2) Der Schmerz ist die Meinung, ein großes Übel liege vor, und zwar so, dass Schmerz zu empfinden angemessen erscheint (TD 3.25).
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Trost zuallererst darum, dem Trauernden die Meinung zu nehmen, er erfülle mit der Trauer eine gerechte und geschuldete Pflicht. Aus diesem Referat könnte man nun schließen, dass Chrysipp die Therapie des Schmerzes auf die zweite von zwei im Schmerz involvierten Überzeugungen beziehe (nämlich die Reaktionsüberzeugung), und daraus wiederum, dass er zwei Überzeugungen annehme. Das aber geht aus dem Text nicht hervor. Es ist Ciceros Montage, die uns den Eindruck vermittelt, Chrysipp habe als Gegenstand der Therapie im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht die erste, sondern die zweite Überzeugung vorgesehen. Der Text sagt nur, dass Chrysipp die Therapie auf die Überzeugung zielen lässt, man müsse Schmerz empfinden. Wie Chrysipp das Verhältnis dieser Überzeugung zur Überzeugung, ein großes Übel sei gegenwärtig, bestimmt hat, sagt der Text nicht.23 Sorabji führt unter anderem folgende Gründe an, weshalb Chrysipp eine zweite Überzeugung („Reaktion F ist angemessen“) brauchte: (1) Chrysipp glaubte, dass es diese Überzeugung sei, die in der Therapie anzugehen sei. (2) Auch wenn die Überzeugung über das Vorhandensein von Gutem (bzw. Schlechtem) unverändert bleibt, kann der Affekt sich abschwächen.24 Zu (1) ließe sich jedoch erwidern, dass mit dem ausdrücklichen Bezug auf die Reaktionsunangemessenheit auch nur die Perspektive gemeint sein könnte, von der aus eine (einzige) Überzeugung zu modifizieren ist. Zu (2) ließe sich erwidern, dass – bei in bestimmter Hinsicht gleichbleibender Überzeugung – der Kontext der Überzeugung sich so ändern kann, dass eine Affektänderung eintritt. Vor allem diese zweite Erwiderung ist wichtig: Der als Grundlage für den Affekt dienende Eindruck ist immer ein Eindruck innerhalb des Systems von Begriffen und weiteren Eindrücken, die der Träger der phantasia hat. Von diesem System hängt wesentlich ab, welche Eindrücke wir haben. Der affektrelevante Eindruck steht im Zusammenhang von Eindrücken und Begriffen, die in einem umfassenden Sinn das betreffen, was wir sind und, davon abhängig, was es ist, das uns widerfahren ist: Der zentrale Eindruck kann nur als Teil dieses Systems identifiziert werden. Der Eindruck, der das betrifft, was wir sind, schließt aber alle unsere Wertschätzungen ein, d. h. alle Überzeugungen über das, _____________ Gleiches gilt für die zweite Erwähnung Chrysipps in diesem Zusammenhang (TD 3.79). Cicero erwähnt den Ansatzpunkt der Therapie ohne Nennung Chrysipps mehrfach, siehe TD 3.61, 3.68, 3.70, 3.77–78. 24 Siehe Sorabji 2000, 32f. (zu (1) siehe TD 3.76 und 3.79, zu (2) Verweis auf PHP 4.7.14). 23
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was für uns Gutes bzw. Schlechtes (vermeintlich) ist, aber auch alle Überzeugungen, die das Verhältnis betreffen, in dem wir zur Welt stehen und in das wir uns zur Welt setzen. Innerhalb dieses Gesamtnetzes von Begriffen, Annahmen und Eindrücken findet nun jener zentrale affektbegründende Eindruck samt Zustimmung einen ganz bestimmten Platz. Die Überzeugung über die angemessene Reaktion kann nun aber keinen davon verschiedenen logischen Platz einnehmen: Wenn sie die Reaktionsüberzeugung genau zu jener Sachverhaltsüberzeugung ist, muss sie dieselben Beziehungen aufweisen. Weil Überzeugungen über ihren Platz im Gesamtgefüge bestimmt werden, handelt es sich bei beiden Überzeugungen um ein und dieselbe Überzeugung. (Die Überzeugung über die Angemessenheit der Reaktion hat dieselbe „Bewertungsstelle“ wie die Sachverhaltsüberzeugung.) Diese eine Überzeugung ist dann eine Überzeugung zum Beispiel des Inhalts25, dass uns durch die Wegnahme von etwas ein Schaden zugefügt wurde, über den wir außer uns geraten sollten. Eine Veränderung des Affekts bei gleichbleibender Überzeugung wäre demnach wesentlich mit einer Veränderung des Überzeugungskontextes zu erklären, nicht mit der Annahme zweier Überzeugungen.26 Überzeugung und Impuls: Der Kognitivismus. Eine der besonders irritierenden Annahmen der chrysippeischen Theorie ist die Annahme, dass eine Überzeugung („so und so ist zu reagieren“) einen Impuls involvieren können soll. Diese Irritation bezieht sich auf jede Art von Motivation, also nicht nur auf die Motivation im Fall des Affizierten, sondern auch auf die im Fall des Weisen (welcher keine Affekte hat). Die Quellen für Chrysipps Begründung sind recht schmal. Vielleicht hätte er aber Folgendes angemerkt: Zum einen ist überhaupt nicht klar, inwiefern eine Verlagerung der affektiven Motivation oder des Impulses in einen arationalen Bereich eine Antwort auf die Frage, wie es zum affektiven Impuls kommt, sein können soll. Zum anderen (so eventuell Chrysipp) spricht alles dafür, dass Affekte begrifflich fassbar und insofern rational sind: Alles, was ein rationales We_____________ 25 26
So Nussbaum 1994, 375, siehe auch 382. Entsprechend lässt sich PHP 4.7.14f. einordnen, wo Chrysipp zitiert wird: „Fortzubestehen scheint mir eine Meinung von der Art, dass etwas Schlechtes gegenwärtig ist, doch wie sie älter wird, lässt die Kontraktion nach und, wie ich glaube, der Antrieb zur Kontraktion. Vielleicht besteht aber auch dieser Antrieb fort, doch was daran anschließt, entspricht ihm nicht [mehr], weil zusätzlich eine andere Disposition von bestimmter Beschaffenheit entsteht, die aus diesen Begebenheiten nicht schlüssig folgt.“ (Übers. Hülser, LS 65O2f., verändert).
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sen als solches tut, ist dank dieser Gefasstheit rational. Zum dritten (so Chrysipp) ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass der Mensch einer und nicht mehrere ist und dass die gesamte Ursache für sein Handeln ihm zugeordnet wird, und zwar insofern er ein rationales Wesen ist. Dies (so Chrysipp) ist eben der Grund für die kognitivistische Auffassung der Affekte: Die Vernunft ist so strukturiert, dass sie alle Handlungsmotivation aus sich selbst hervorbringt, es gibt keinen Platz für andere Quellen der Motivation.27 Unsere Irritation dürfte hier fortbestehen. Chrysipp würde dann aber wohl fragen, wonach wir eigentlich noch weiter suchen, wenn wir nach dem Impuls fragen. Vielleicht hat unsere Frage auch mit der Annahme zu tun, im Fall des Affekts würden wir in bestimmter Weise getrieben, oder mit der Annahme, der Affekt habe einen bestimmten Erlebnisaspekt. Die erste Annahme würde Chrysipp in der Behandlung der sog. „Exzessivität“ des Affekts aufnehmen, auf die zweite Annahme würde er (wie die Stoiker insgesamt) in Verbindung mit der Behandlung einzelner Affekte und ihrer materiellen „Verankerung“ eingehen. Affekte als Defekte: Die Exzessivität. Chrysipp zufolge sollen Affekte Überzeugungen (des logos) und zugleich Defekte (des logos) sein. Wie passt das zusammen? Chrysipp nimmt ausdrücklich auf die Standard-Definition Bezug, wonach ein Affekt eine vernunftlose, gegen die Natur gerichtete Bewegung ist und exzessiv ist (PHP 4.2.11). Mit „exzessiv“ ist gemeint, dass die Impulse das richtige innere Verhältnis (symmetria), das der eigentlichen Natur des Affizierten entspricht, verlassen (PHP 4.2.14). Dies illustriert er durch den Vergleich mit einer rennenden Person: Die rennende Person hat, im Unterschied zur gehenden Person, ihre Bewegung nicht unmittelbar unter Kontrolle, sondern wird von ihr, wie von einer ihr äußeren Kraft, fortgetragen (PHP 4.2.15–18; 4.4.24f., 30f., 4.5.13f., 4.6.35). Rational ist dieser exzessive, vom logos als Norm abweichende Zustand, und das heißt der Affekt, insofern, als schon der Eindruck, der dem Affekt zugrunde liegt, als Eindruck eines rationalen Wesens selbst rational ist. Es handelt sich bei ihm um einen (begrifflich vollständig fassbaren) Eindruck mit dem propositionalen Gehalt, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Die affekt-konstituierende Überzeugung ist insofern rational, als es die _____________ 27
Dieser letzte Punkt bei Cooper 1998, 78. – Der psychische Monismus, den man sonst als Grund für den Kognitivismus sehen könnte, ist tatsächlich nicht dessen Grund, sondern Folge.
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Zustimmung zu einem solchen Eindruck ist. Irrational ist dieser Zustand, weil er eine Abweichung von der eigentlichen, rationalen Natur des Affizierten ist. Chrysipp kann nun insofern davon sprechen, dass der Affizierte im Zustand des Affekts wie von einer ihm äußeren Kraft fortgetragen wird, als der Affizierte von etwas bewegt wird, das nicht seine eigene Natur ist, nämlich von einem Zustand, der aus dem richtigen Verhältnis geraten ist: Er lebt nicht mehr in Übereinstimmung mit der Natur und handelt in dieser Hinsicht nicht mehr rational (vgl. Tieleman 2003, 178; vgl. PHP 4.6.44): ‚er tritt aus sich heraus‘, ‚gerät außer sich‘, seine exzessiven Impulse besitzen Eigendynamik.28 Er wird, wenn auch selbstverantwortet, von diesen Zuständen getrieben, genauer: In diesen Zuständen treibt er sich selbst gegen sich selbst. In einem solchen Zustand ist es sehr wohl möglich (so etwa auch im Fall der „Willensschwäche“), dass der Affizierte in einem bestimmten, schwachen Sinn noch Kenntnis davon hat, welches die richtige Überzeugung oder die richtige Handlung ist. Klassisches, von Chrysipp selbst angeführtes und oft diskutiertes Beispiel hierfür ist Medea, die weiß, dass es nicht richtig ist, ihre Kinder dem sicheren Tod auszuliefern (sie hat insofern Zugriff auf den ‚richtigen‘ logos), es aber dennoch tut (ihr logos, der sich in defizientem Zustand befindet, wird handlungswirksam).29 Anders als bei Platon oder Aristoteles stehen hier nicht verschiedene Teile der Seele einander gegenüber, sondern es ist jeweils der ganze Mensch (d. h. das ganze Führungsvermögen), der sich entweder im Affekt oder im natürlichen Zustand befindet.30 Entsprechend wird innerer Konflikt, der im Fall der Willensschwäche vorzukommen scheint, als rascher Wechsel des Gesamtzustands einer Person verstanden (vgl. Plut. VM 441C (LS 61B9), 441F).
_____________ Vgl. Long 1999, 583. Die seelische Disposition zu solchen Zuständen ist zugleich eine physische Disposition zu Zuständen, in denen der Affizierte von etwas, das er selbst nicht ist, mitgerissen wird, ohne dies (als das, was er eigentlich ist) zu kontrollieren. Zum Verhältnis von Disposition und Affekt vgl. etwa Graver 2002, 148–156 (zu TD 4.23–33); siehe auch PHP 5.2.3–7, 5.2.14 und Tieleman 2003, 326. 29 Vgl. Euripides Medea 1078f., dazu PHP 3.3.16, 4.6.19; für die intensive Beschäftigung Chrysipps mit der Medea siehe auch DL 7.180. 30 Vgl. Gill 1983. 28
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Einzelne Affekte: Der Erlebnisaspekt. Der andere Aspekt, der uns in Chrysipps Affekt-Konzeption bisher zu kurz zu kommen scheint, ist der des Erlebnisaspekts des Affekts. Hierfür bietet sich nun ein Blick auf einzelne Affekte an. Die Stoiker liefern neben den allgemeinen Ausführungen zu Affekten auch Einteilungen und Beschreibungen der einzelnen Affekte. (Eine klassische Quelle für solche Einteilungen sind Ciceros TD, etwa ab 3.14.) Die Einteilungen gehen übereinstimmend von vier Affektgruppen oder Hauptaffekten aus. Diese werden eingeteilt einerseits danach, ob sie sich auf Gutes (Erwünschtes) oder auf Schlechtes (Unerwünschtes) beziehen, andererseits danach, ob sie sich auf Gegenwärtiges oder auf Zukünftiges beziehen. Auf ein gegenwärtiges Übel bezogen ist der Hauptaffekt Kummer oder seelischer Schmerz (lypê, aegritudo)31, d. h. Schmerz, der die oben erläuterte Überzeugungsstruktur aufweist. Auf ein künftiges Übel bezogen ist die Furcht (phobos, metus), auf ein anwesendes Angenehmes bezogen die Lust (hêdonê, voluptas gestiens, laetitia)32, auf ein künftiges Angenehmes bezogen die Begierde (epithymia, cupiditas, libido).33 Diese vier Hauptarten werden sorgfältig weiter unterteilt. Mit dieser Unterteilung müssen dann prinzipiell alle Affekte erfasst werden können (wenn auch die gegebenen Auflistungen keinen Vollständigkeitsanspruch haben), da die Therapie aller Affekte Voraussetzung für das gute Leben ist. Einzelne Affekte (wie auch ihre Therapie) stehen im Zusammenhang miteinander: Wen Schmerz befällt, den befällt in der entsprechenden Situation auch Furcht (nämlich vor dem künftigen Eintreten desselben Übels), Kleinmut, Niedergeschlagenheit, Furchtsamkeit und Feigheit (TD 3.14). Schmerz ist auch mit Zorn und mit Neid verbunden (3.19–20) und Furcht mit Hoffnung (Seneca Ep. 5.7). Insgesamt dürfte die Verbindung der Affekte direkt auf die Verbindung der Eindrücke, die für sie charakteristisch sind, und das Verhältnis ihrer jeweiligen logischen Orte zurückgehen.34 _____________ Nussbaum 1994, 386 übersetzt „distress“. Nussbaum 1994, 386 übersetzt „delight“. Für die vier Affektgruppen siehe etwa auch Ps.-Andr. 1 (LS 65B); Stob. 2.88.14– 21 (LS 65A3f.), 2.90.19–91.9 (LS 65E); DL 7.110; TD 3.24f., 4.11). Zu beachten ist (so auch Vogt 2004, 71), dass Lust bzw. Schmerz gerade nicht Definiens der Affekte sind (Begierde und Furcht werden als in bestimmter Weise vorgeordnet betrachtet, siehe Stob. 2.88.16–21 (LS 65A4)). Für die weitere Unterteilung siehe etwa TD 4.16–21; siehe auch Ps.-Andr. 2–5; DL 7.111–114; Stob. 2.90.19–91.9 (LS 65E). 34 Vgl. auch Nussbaum 1994, 386–389. – Cicero wählt für die Unterarten des Schmerzes das Bild von den verschiedenen Wurzeln desselben Stammes (TD 3.83f.). 31 32 33
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Die Definition einiger einzelner Affekte in dieser Unterteilung ist nun ein guter Beleg für das Interesse der Stoiker an der Gefühlsseite der Affekte, das über die elementare, eher physiologisch konnotierte Unterscheidung von „Anschwellungen“ und „Zusammenziehungen“ (des pneuma) im Fall der Hauptaffekte hinausgeht:35 Diese Gefühlsseite wird gerade nicht geleugnet, sie soll vielmehr durch die Identifizierung des Affekts mit einer bewertenden Überzeugung der materiell gedachten Seele erfasst sein.36 Bedrückung oder Bedrängnis etwa ist ein beschwerender, bedrückender Schmerz. „Belästigt-Sein“ ist ein beengender Schmerz, der uns das Gefühl verschafft, keinen Platz zu haben. „Bestürzung“ ist ein irrationaler Schmerz, der aufreibt („abschabt“) und verhindert, das Gegenwärtige zu überblicken. Nagender Schmerz ist ein eindringender und scharfer Schmerz, seelischer Schmerz kann eine bestimmte Art von Biss sein (DL 7.111f.; Ps.-Andr. 2; Plut. VM 449A; PHP 4.3.2).37 Offenbar haben auch für die Stoiker affektive Überzeugungen eine bestimmte Erlebnisqualität. Irritierend bleibt nur, dass Chrysipp sie auch mit dieser Qualität identifiziert.
3. Therapie der Affekte Stoiker und Epikureer erörtern Affekte nicht aus einem Erkenntnisinteresse an Affekten als solchen. Vielmehr erörtern sie Affekte, weil Affekte auf die eine oder andere Weise ein zentrales Hindernis auf dem Weg zum guten Leben sind. Die Verwirklichung des guten Lebens ist das Hauptziel. Ein Mittel, dieses Ziel zu verwirklichen, ist die Therapie der Affekte, und genauer: die Therapie der Überzeugungen, die mit Affekten verbunden (oder mit ihnen identisch) sind. Diese Therapie (und die Verbesserung der menschlichen Seele) ist der Zweck von Philosophie. Da alle Menschen dieser Therapie bedürfen, muss sie jeweils so gefasst sein, dass sie ihnen gerecht werden kann.38 Die Auffassung dazu, wie die Therapie beschaffen _____________ Cicero TD 3.83; Ps.-Andr. 1 (LS 65B); PHP 4.2.5f., 4.3.2, 5.1.4; siehe auch 3.1.25, 3.5.43. 36 Vgl. auch Nussbaum 1994, 369; 2001, 56–63. 37 Diese Beispiele zeigen auch die erheblichen Schwierigkeiten, die sich uns für die phänomenale Erfassung des Affekts (und für seine Bestimmung und Benennung) stellen, der im antiken Text jeweils gemeint ist. Ist zum Beispiel angor Beklemmung, Sorge, Niedergeschlagenheit oder Pein (siehe TD 4.18)? 38 Zur Therapie als Philosophiezweck siehe Porphyrius Ad Marcellam 31 (LS 25C), ferner Seneca Ep. 16; zum allgemeinen Bedarf an Therapie siehe Seneca Ep. 16.3; zur Verbreitung der Grundzüge der Philosophie zum Zweck der Therapie bei 35
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sein muss, hängt wesentlich aber von der Auffassung darüber ab, worin ein gutes Leben besteht, und von der Auffassung darüber, was Affekte sind. Epikur weist, im Unterschied zu den Stoikern, Affekten – in gewissem Maß – eine positive Rolle für das Erreichen des guten Lebens zu. Affekte zeigen uns – als eines der „Wahrheitskriterien“ (wir würden vielleicht eher von „Angemessenheitskriterien“ sprechen) –, was zu wählen und zu meiden ist.39 Ihre Rolle soll offenbar darin bestehen, zu unserer Sicherheit beizutragen (zur Sicherheit als Ziel KD 6f., 14), indem wir zum Beispiel dank des Zorns auf eine Schädigung so reagieren, dass in weiterer Zukunft ein unerschüttertes Leben gesichert bleibt. Eine ähnliche Rolle haben Affekte, wenn sie therapierende Funktion haben. Dies ist etwa dort der Fall, wo sie gewissermaßen natürliche Reaktionen auf Widerfahrnisse sind und bei der Verarbeitung solcher Widerfahrnisse helfen. Diese Rolle weist Epikur ausdrücklich der Trauer etwa angesichts des Verlusts eines Menschen zu. Epikur vertritt nicht nur kein Ideal der Affektlosigkeit. Vielmehr sieht er den zentralen Effekt der Trauer hier darin, dass sie das Aufkommen von Zuständen vermeiden hilft, die weit schmerzhafter oder negativ folgenreicher sind.40 Trauer ist in diesem Fall nicht ein zu therapierender, sonder ein therapierender Affekt. Für Epikur ist nun Ziel der Therapie der Affekte, den Einzelnen zu jenem natürlichen Zustand zurückzuführen, in dem er nur natürliche, keine „leeren“, d. h. schädlichen (im Unterschied zu natürlichen oder lebensnotwendigen) Begierden hat,41 d. h. zu jenem Zustand der Begierden, der _____________ den Epikureern siehe Nussbaum 1994, 129; zur (für den Epikureismus ungewöhnlichen) Verbreitung dieser Grundzüge in der Öffentlichkeit siehe Diogenes von Oinoanda fr. 2, 3, 30, 119 (und Smith 1993, 122f.). 39 DL 10.31; KD 24; Hdt. 38, 82. Zum Kriterium siehe DL 10.34, Men. 129, Aristokles bei Eusebius, Praeparatio evangelica 14.21, 768d–769a (fr. 260 Usener). 40 Siehe Ep. ad Dositheum (bei Plutarch Non posse suaviter vivi secundum Epicurum (Contra Epicuri beatitudinem) 1101A–B, fr. 120 Usener). 41 Für die Einteilung siehe Philodem De ira 6.13–23, 37.24–38.8 und 42.22–34, sowie Annas 1989, 148. Dass Epikur einen Platz zum Beispiel für angemessenen nicht-leeren Zorn angenommen hat, ergibt sich für Procopé aus einem Zitat bei Seneca, in dem Epikur von „unmäßigem“ Zorn spricht (Seneca Ep. 18.4; Procopé 1998, 181, 187f.; vgl. auch Lukrez De natura rerum 3.312f. (siehe LS 14D5); der Preis der Zorn-Freiheit aus KD 1 bezieht sich auf die „Unsterblichen“); siehe auch den Zorn des Weisen: Philodem De ira 41.28–42.14, 44.9–22, 47.29–41. Annas 1992, 197f. zufolge unterscheidet sich der Zorn des Weisen von dem des Nicht-Weisen insofern, als der Weise Annahmen hat, die ihn zu anderen Konsequenzen führen (bei ihm führt Zorn vor allem zur Distanzierung). Procopé 1998,
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jenem gleicht, in dem sich der Mensch bei seiner Geburt befunden hat und den er infolge der Einwirkung von Umgebungseinflüssen verlassen hat.42 Es ist eine Rückführung zur Lust, wobei „Lust“ für Epikur die Abwesenheit von Schmerz bedeutet.43 Für diese Zurückführung sind leere Begierden oder Affekte – zum Beispiel Furcht vor dem Tod oder vor den Göttern – dem, der sie hat, als leer aufzuzeigen.44 Die Therapie erfolgt nur von außen her: Sie beruht auf einem LehrerSchüler-Verhältnis, in dem die Meinung des Lehrers als unangreifbar gilt.45 Eine Selbsttherapie, ein eigenständiges Auffinden der richtigen Überzeugungen, ist offenbar nicht vorgesehen. Die Therapie verlangt zunächst die Offenlegung der relevanten Annahmen des Schülers.46 Die Korrektur der Annahmen kann dann nach Bedarf auf verschiedenen Ebenen oder auf verschiedene Weisen erfolgen: durch behutsame Belehrung, aber auch durch scharfen Tadel oder (vermutlich) sogar öffentliche Bloßstellung der entsprechenden Annahmen bzw. ihres Vertreters.47 Zentrales Mittel dieser Therapie von außen her sind die Lehren Epikurs, die der Schüler zu verinnerlichen hat (da seine eigenen falschen Annahmen nicht alle an der „Oberfläche“ liegen), sei es auch nur in der Kurzversion von Zusammenfassungen (vgl. Epikur Hdt. 35f., 83; siehe auch Men. 135). Die Therapie ist insofern dogmatisch, als sie auf epikureischen Lehren über die Beschaffenheit der Welt und unserem Bezug zu ihr beruht.48 Mit diesem therapeutischen Verfahren durch Belehrung scheint nun ein zweites Verfahren zu konkurrieren, in dem es um eine Linderung von Affekten geht, nämlich das Verfahren der Ablenkung: In diesem Verfah_____________
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174–177, 183f. nimmt an, Philodem habe die (quasi-aristotelische) Position der angemessenen Affekte im Unterschied zu affekt-kritischeren und affekt-unkritischeren Epikureern vertreten. Nussbaum 1994, 107. Es finden sich hier vielfache Analogien zu Verfahren der Medizin, siehe dies. 1994, 116. Zur Therapie im Epikureismus ingesamt dies. 1994, Kapitel 4–7. Siehe etwa Epikur KD 3, 18–21; zur Abwesenheit von Schmerz als Lebensziel siehe Men. 128. Zum Tod und zur Furcht vor ihm siehe zum Beispiel KD 2, 20; Men. 124–126; zu den Göttern und der Furcht vor ihnen zum Beispiel Men. 123f., Hdt. 76f., 81f. Nussbaum 1994, 130. Siehe Philodem De ira 3.6–25. Wesentlich für die Offenlegung ist auch die Selbstoffenbarung des Schülers: Er muss von sich selbst erzählen (Philodem, De libertate dicendi 28, 40–42, 49, 51). Vgl. Philodem De libertate dicendi 64 und 83 (zusammen mit Nussbaum 1994, 126). Vgl. Nussbaum 1994, 129–133.
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ren wird Schmerz – Epikur zufolge – durch eine Ablenkung vom Gedanken an etwas Beschwerliches und durch eine Hinlenkung zur Betrachtung von lustbringenden Dingen gemildert (TD 3.32–38). Wenn dieses Verfahren aber nicht nur auf Symptome zu beziehen sein soll, sondern ebenfalls auf die Grundlage des leeren Affekts zielt, ist das dogmatische Verfahren als Teil der Therapie durch Ablenkung anzusehen, d. h. als langfristig angelegter Versuch, die Menge der affektrelevanten Annahmen zu verändern. Im Unterschied zur epikureischen Therapiekonzeption verstehen stoische Konzeptionen die Therapie wesentlich als Selbstheilung (oder als Anleitung dazu): Das Individuum ist nicht Objekt, sondern Subjekt der Therapie.49 Wesentliche Voraussetzung der Therapiekonzeption ist die Annahme, dass die Vernunft (alias Tugend) für den Menschen das einzige Relevante ist, d. h. das, worauf allein ein gutes Leben baut. Alles andere – seien es etwa Familie, Freunde, Besitz, der eigene Körper oder das eigene Leben – ist nach stoischer Meinung dem Menschen äußerlich und ohne Wert in sich. Nur die Vernunft hat mit ihm selbst zu tun und verdient Fürsorge, nur sie steht in seiner Macht, sie ist hinreichend und notwendig für ein gutes Leben.50 Die zu therapierenden Annahmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Unterscheidung zwischen Zugehörendem und Fremdem nicht oder nicht auf die richtige Weise machen: Ihr Fehler besteht darin, dass sie dem Menschen Äußerliches für relevant oder wesentlich für ihn halten. Der zentrale Ansatzpunkt für die Therapie besteht in der (Anleitung zur eigenen) Prüfung und Korrektur unseres Gebrauchs, unserer Einordnung oder Bewertung der phantasiai, d. h. dessen, wie die Welt uns erscheint (vgl. Epiktet Dissertationes 1.1.7, Encheiridion 1.5). Unter den Therapiemitteln sind – bei Chrysipp – das wichtigste die ‚gesunden‘ logoi (etwa über das, was tatsächlich gut ist). Nur wenn solche Argumente oder Theorien dem Affizierten (in seinem Zustand) nicht vermittelbar sind, verfährt die Therapie auch auf der Grundlage von Theorien, die dem Affizierten in seinem rational defizienten Zustand zugänglich sind.51 Hier besteht die Aufgabe der Therapie dann darin, dem Affizierten zu zeigen, dass seine Annahme, er müsse affektiv reagieren, nicht einmal zu seinen eigenen sonstigen Annahmen passt. (Dies ist vermutlich der Ort für den verkürzenden Bericht, Chrysipp zufolge ziele die _____________ 49 50 51
TD 3.6, 3.66f.; Seneca Ep. 8.2, 33.7–9, 41.1f.; Chrysipp in PHP 5.2.22–4. Vgl. Seneca Ep. 41.6–8; Epiktet Dissertationes 2.9.2f.; DL 7.102, 7.127. Vgl. SVF 3.474 = Origenes Contra Celsum 1.64 (67.5–11 Marcovich), 8.51 (566.16–28 Marc.); dazu Tieleman 2003, 166–169.
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Therapie auf die Angemessenheit der Reaktion; vgl. TD 3.76, 3.79.) In diesem Fall ist die geeignete Therapie auf die relevanten Umstände und Zustände des Einzelnen zugeschnitten.52 Weiteres Therapiemittel sind Beispiele, die – etwa durch die Relativierung der Größe individuellen Leids – dem Affizierten deutlicher machen, in welcher Situation er sich tatsächlich befindet (TD 3.56f., 3.59)53. Ein wesentliches Mittel der Affektprävention ist außerdem die gedankliche Vorbereitung auf zu erwartende Übel.54 Für ein letztes Therapiemittel ist schließlich der Umstand relevant, dass Affekte physische Zustände sind: Therapie der Affekte ist stets Therapie der Seele als materiellem Körper, zum Beispiel auch durch geeignete Diät.55 Im Unterschied zur epikureischen Therapie soll die stoische Therapie die Affekte, die wir, d. h. die Nicht-Weisen, haben, letztlich ganz beseitigen (Seneca Ep. 116). Dies gilt für Affekte jeder Intensität (jede noch so schwache Krankheit ist eine Krankheit) und für Affekte jeder Art (jeder Affekt ist eine Funktionsstörung des Ganzen, vgl. Cicero TD 3.82f.). Plausibel ist die vollständige Beseitigung insofern, als es sich bei Affekten generell um unangemessene Überzeugungen handelt, es also keinen Grund gibt, sie beizubehalten: Sie sind nicht arational, sondern irrational, sie sind niemals gerechtfertigt. Zum anderen sind Affekte – anders als die peripatetische Theorie dies sieht – nicht notwendig als Motivation für angemessenes Handeln (vgl. Seneca De ira 1.12.1f.), sie sind zudem unzuverlässig (1.16.6), schlecht oder nicht kontrollierbar (1.7.4), sie sind höchst unangenehm (1.1.3–5)56: Schmerz „zerfetzt und zerfrisst die Seele und zerstört sie ganz“ (Cicero TD 3.27). Er ist, wie Chrysipp meint, eine Auflösung (solutio) des ganzen Menschen (TD 3.61). Dies alles nähme man mit dem Affekt in Kauf, um sich auf etwas Externes zu beziehen, das, da von uns verschieden, ohnehin nicht in unserer Macht steht und uns nicht wesentlich ist.
_____________ Vgl. TD 3.76, 79, 4.59; Seneca De ira 1.6.2, Ep 38.1, 64.8f. Vgl. Nussbaum 1994, 338. Siehe TD 3.52; Galen PHP 4.7.7. Die Ablehnung des Verfahrens bei den Epikureern siehe TD 3.32–34. 55 Da die Seele für die Stoiker ein materieller Körper ist, ist ihre Therapie immer auch die Therapie eines solchen Körpers. Auf die erhebliche Relevanz dieses Sachverhalts (und entsprechend die Relevanz der Sorge um den Körper) unter anderem bei Chrysipp weist vor allem Tieleman 2003, Kap. 4 hin, vgl. ferner die Verkürzung dieser Perspektive bei Cicero TD 4.23, ihre Wiederaufnahme bei Seneca, etwa De ira 2.19f. 56 Siehe insgesamt Nussbaum 1994, 390–393. 52 53 54
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4. Das Ideal der Affektlosigkeit: Die „guten Gefühle“ des Weisen Im Unterschied zum Affizierten oder Affizierbaren ist der stoische Weise vollständig vernünftig. Er ist insofern affektlos, als er nicht die Affekte besitzt, die wir (d. h. alle Nicht-Weisen) besitzen: Von irrationalen Affekten ist er frei. Unsere Affekte sind Überzeugungen, die Gegenstände oder Sachverhalte als gut oder schlecht ansehen, die es nicht sind, und die uns affektive Reaktionen angemessen erscheinen lassen, die es nicht sind.57 Solche Überzeugungen hat der stoische Weise nicht. Allerdings besitzt er sogenannte „gute Gefühle“ (eupatheiai). Gut sind diese Gefühle insofern, als sie gut begründet (eulogos), d. h. rationale Emotionen sind: Emotionen einer vollständig rationalen Vernunft, deren Gefühle nicht durch falsche Annahmen über die Welt gefärbt sind. Die Rede von „guten Gefühlen“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei ihnen, wie Seneca sagt, um eine „ernste Sache“ handelt (Ep. 3.23.4), um eine ernste Freude an der gesamten und eigenen Natur, nämlich der Tugend, und um ein ernstes, unaufgeregtes Bemühen um sie. Gegenstand der guten Gefühle sind keine indifferenten Dinge (etwa herkömmliche vermeintliche Güter, wie zum Beispiel materielle Güter), sondern nur das, was tatsächlich gut und erstrebenswert ist, nämlich Vernunft, d. h. Tugend.58 Die guten Gefühle werden nach denselben Kriterien wie die Affekte eingeteilt: Bei den angenehmen guten Gefühlen ist das auf gegenwärtiges Gutes gerichtete Gefühl, bei dem die Seele durch Vernunft ruhig und beständig bewegt wird, die Freude (chara, laetitia), das auf künftiges Gutes gerichtete das Wollen (boulêsis, voluntas), das auf künftiges Schlechtes gerichtete die Vorsicht (eulabeia, cautio).59 Ein auf gegenwärtiges Schlechtes gerichtetes gutes Gefühl gibt es nicht, da es für den Weisen, der in jeder _____________ Der Nicht-Weise hat den Übergang vom vor-rationalen zum rationalen Zustand verpasst. Er hält (aus seiner vor-rationalen Zeit als Nicht-Erwachsener) das noch für bedeutsam, was nicht-rationale Wesen zu Recht für bedeutsam halten (vgl. Frede 1986, 108f.; zur Frage der Angemessenheit des Ideals der Affektlosigkeit in Abhängigkeit vom umfassenden Theorierahmen siehe Halbig 2004, 66–68). 58 Siehe hierzu Brennan 1998, 34–36, 54–57, 68f., auch gegen Nussbaum 1994, z. B. 399. Siehe aber auch die Diskussion bei Vogt 2004, 76–79, wo die Uneindeutigkeit der Text- und Sachlage hervorgehoben wird. 59 Cicero TD 4.12–14; Ps.-Andr. 6; DL 7.116. Diesen Arten von guten Gefühlen werden wiederum Unterarten zugeordnet, siehe DL 7.116. 57
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relevanten Hinsicht gut ist, solches Schlechtes tatsächlich nicht gibt. Schmerz über den gegenwärtigen Mangel an Tugend bei anderen muss er (so lässt sich spekulieren) deshalb nicht empfinden, weil er weiß, dass die Welt auch in diesem Detail bestmöglich eingerichtet ist. Dieser holistische Zug führt zu einer allgemeinen Schlussbetrachtung. Die Einschätzung der Plausibilität hellenistischer Affekttheorien hängt davon ab, ob Affekten ein Weltbezug zugeordnet werden kann und überdies ein Weltbezug, wie Epikur und wie etwa Chrysipp ihn den Affekten zuordnen, d. h. ein Bezug eines Individuums solcher Art auf eine Welt solcher Art, wie Epikur bzw. Chrysipp ihn annehmen. Jeder Auseinandersetzung mit und jede Kritik an hellenistischen Affekttheorien muss daher mindestens eine Diskussion zur Ebene dieser Kritik vorausgehen. Und vielleicht ist gerade der gesamtsystematische Anspruch, der mit jenen Theorien verbunden ist, eines ihrer auch heute noch interessanten Merkmale.
Literatur Die untersuchten Schriften antiker Autoren werden mithilfe von Siglen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Soweit vorhanden, werden unten nach der zitierfähigen Ausgabe auch Übersetzungen der Texte angeführt. Die verwendeten Siglen sind: DL – Diogenes Laertios, Vitae philosophorum Hdt. – Epikur, Ad Herodotum (DL 10.35–83) KD – Epikur, Kyriai doxai (Rata sententiae, DL 10.139–154) LS – Long/Sedley Men. – Epikur, Ad Menoeceum (DL 10.122–135) PHP – Galen, De placitis Hippocratis et Platonis (de Lacy) Plut. CN – Plutarch, De communibus notitiis; VM = De virtute morali Ps.-Andr. – Pseudo-Andronicus, De passionibus (Glibert-Thirry) SE AM – Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos Seneca Ep. – Ad Lucilium epistulae morales Stob. – Stobaeus, Anthologium (Wachsmuth/Hense) SVF – Stoicorum veterum fragmenta (v. Arnim) TD – Cicero, Tusculanae disputationes Annas, Julia (1989), Epicurean Emotions, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 30, 145–164. Annas, Julia (1992), Hellenistic Philosophy of Mind, Berkeley. Arnim, Hans von (Hg.) (1903–1924), Stoicorum veterum fragmenta, 4 Bde., Leipzig (=SVF). Brennan, Tad (1998), The Old Stoic Theory of Emotions, in: Sihvola/EngbergPedersen a. a. O., 21–70.
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Die antike medizinische Tradition: Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) Galen (129–216 n. Chr.)
Die antike medizinische Tradition: Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen Christopher Gill Emotionen und antike Medizin – haben diese zwei Dinge überhaupt irgendetwas miteinander zu tun? War die antike Medizin in der Lage, ohne Psychoanalyse, pharmazeutische Medikamente oder ein wissenschaftliches Verständnis der Arbeitsweise des Gehirns, eine angemessene Erklärung oder Behandlung der Emotionen zu bieten? Diese Fragen, obschon provokativ formuliert, zeigen einige ernsthafte Probleme auf. Die antike Medizin mit ihrem stark auf den Körper ausgerichteten Fokus ist nicht in erster Linie auf die menschliche Psychologie, einschließlich der Emotionen, ausgerichtet. Selbst wenn antike Ärzte ihre Aufmerksamkeit auf die Emotionen, oder allgemeiner auf die Psychologie, gerichtet haben, fehlte es ihnen an modernen wissenschaftlichen Ressourcen und Begriffen, welche zum Bestandteil der modernen Behandlung von psychischen Krankheiten geworden sind. Andererseits wurden in den antiken medizinischen Schriften verschiedene Wege erkundet, Emotionalität zu analysieren, zum Beispiel mit Bezug auf die natürliche Umwelt oder auf die Säftelehre, die beide im späteren europäischen Denken über Emotionen wichtige Elemente blieben. Vor allem in den Schriften Galens (129–ca. 216 n. Chr.) finden wir begrifflich ausgefeilte Fassungen dieser Art von Analyse. Wir finden bei Galen auch eine erstaunlich genaue Auffassung der Tätigkeiten des Gehirns und des Nervensystems und immerhin einen Versuch, diese Tätigkeiten mit psychologischen Funktionen, einschließlich der Emotionen, in Verbindung zu bringen. Jedenfalls ist die moderne Behandlung von psychischen Erkrankungen weit davon entfernt, eine exakte Wissenschaft zu sein – was nur allzu klar wird, wenn man sich ausgiebig mit den modernen medizinischen Antworten auf emotionale Störungen befasst. Es gibt Themen und praktische Probleme, die in der antiken und in der modernen Medizin analog auftreten, zum Beispiel was die Grenzen der körperbasierten Medizin und den Grenzbereich zwischen physiologischen und psychologischen Verfahren bei psychischen Krankheiten betrifft. Aus
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all diesen Gründen lohnt es sich, die antike medizinische Denkweise bezüglich der Emotionen in diesem Überblick zu untersuchen. Der Gegenstand ist für uns, wenigstens potenziell, von begrifflichem wie auch historischem Interesse.1 Gibt es in der Antike überhaupt eine genuin medizinische Betrachtungsweise von Emotionen, die vom antiken philosophischen Denken unterschieden werden kann? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten, als man meinen könnte. Zwar waren Ärzte vom 5. Jhd. v. Chr. an aus dem griechischen Gesellschaftsleben nicht wegzudenken, und es gab in einem gewissen Sinn medizinische Schulen, wenn die antike Medizin auch nie so institutionalisiert war wie die moderne. Außerdem sind zwei sehr umfangreiche Textcorpora antiker medizinischer Schriften erhalten, nämlich das hippokratische (vorwiegend aus dem 5. und 4. Jhd. v. Chr.) und dasjenige Galens (aus dem 2. Jhd. n. Chr.), in denen verschiedene Ansichten über Emotionen zum Ausdruck kommen. Aber beide Textcorpora enthalten ziemlich umfassende Auseinandersetzungen mit ihrem weiteren kulturellen Kontext oder Hintergrund. Allgemeiner gesagt blieben die Grenzen zwischen antiker Medizin und antiker Philosophie sehr durchlässig, und Untersuchungen der Natur (einschließlich der Physiologie) können in beiden Kontexten vorkommen. So lassen sich Beispiele für eine medizinische Betrachtungsweise von Emotionen in philosophischen Schriften finden und zumindest bei Galen auch das Bemühen, philosophische und medizinische Einsichten bezüglich der Psychologie zu kombinieren. Obwohl wir also gewisse wiederkehrende Themen in der antiken medizinischen Gedankenwelt zur Psychologie, einschließlich der Emotionen, unterscheiden können, muss der Bereich dessen, was als antike Medizin zählt, ziemlich großzügig interpretiert werden. Dieser Überblick besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil wird die körperbasierte Betrachtungsweise von Emotionen besprochen, die in den hippokratischen Schriften vorherrscht, und die man auch in einigen philosophischen Schriften aus dieser Zeit findet. Zwei wichtige Themen sind dabei der Einfluss der natürlichen Umwelt und der Körpersäfte auf die emotionale Veranlagung und Verfassung. Im zweiten Teil werden einige herausragende Merkmale aus Galens reichem und vielfältigem psychologischen Schriftcorpus, das auch Emotionen umfasst, untersucht. Einerseits _____________ 1
Über das Verhältnis zwischen antiker und moderner Behandlung von psychischen Krankheiten siehe Gill 1985; ders. (im Erscheinen), Kap. 6; Lloyd 2003, 242–246.
Die antike medizinische Tradition
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fasst Galen die körperbasierte Betrachtungsweise von Emotionen und von Psychologie im früheren medizinischen und philosophischen Denken zusammen. Andererseits betritt er Neuland, wenn er anatomische Untersuchungen und solche der physiologischen Funktionen mit den philosophischen Debatten über den Ort des herrschenden Teils der Psyche2 und über die Beziehung zwischen Vernunft, Emotionen und Begierden verknüpft. So beleuchtet Galen wichtige Verbindungen zwischen dem antiken medizinischen Denken und den philosophischen Theorien über Emotionen, die sonst in diesem Band besprochen werden.
1. Die hippokratische Medizin und verwandte Ideen in der klassischen griechischen Philosophie Das hippokratische Corpus besteht aus etwa sechzig Schriften, die von verschiedenen Autoren größtenteils zwischen 430 und 330 v. Chr. verfasst worden sind. Das Corpus reflektiert das Aufkommen der Medizin als eigenständiger sozialer Praxis und Verfahrensweise im Griechenland dieser Zeit. Die Methoden der hippokratischen Medizin (und zu einem großen Teil der antiken Medizin im Allgemeinen) waren überwiegend auf den Körper ausgerichtet und nicht auf den Geist. Obwohl chirurgische und andere körperliche Eingriffe vorgenommen wurden, lag der Schwerpunkt auf der Ernährung (einschließlich dem Gebrauch von nicht-pharmazeutischen Medikamenten) und auf der Lebensweise (diaita) im Allgemeinen, d. h. auf Aspekten, die wir mit der Präventivmedizin in Verbindung bringen. Die Einstellung gegenüber psychologischen Merkmalen (inklusive solchen, die Emotionen betreffen), die sich in den hippokratischen Schriften finden, geben diese Praxis wieder. Die Autoren machen sich daran, die – vorwiegend physischen – Faktoren zu identifizieren, welche langfristig die Konstitution formen und daher die Verfassung der Patienten beeinflussen, welche die Ärzte behandeln wollen.3 _____________ 2
3
Das griechische Wort psychê, das die Person als psychologischen Akteur meint, bleibt in diesem Kapitel üblicherweise unübersetzt und wird als „Psyche“ wiedergegeben. Zum hippokratischen Corpus siehe Potter 1988; Jouanna 1992; van der Eijk 2005. Zur Handhabung der Psychologie im Corpus siehe Pigeaud 1981, Kap. 1 und Gundert 2000. Zu einigen hippokratischen Schriften gibt es moderne Ausgaben in der Reihe Corpus Medicorum Graecorum, herausgegeben vom Akademie Verlag, Berlin (früher Teubner Verlag, Leipzig).
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Zu diesen Faktoren zählen das Klima und die natürliche Umwelt. In Über die Umwelt wird die These vertreten, dass dieser Faktor einen entscheidenden Einfluss auf die Erscheinung, die körperlichen Qualitäten, ebenso wie auf die psychologische Prägung der Einwohner verschiedener Regionen hat.4 Ein umfassender Gegensatz wird zwischen zwei Typen von Umwelt und Prägung gesehen, nämlich zwischen Asien und Europa.5 In Gebieten, wo es zwischen den Jahreszeiten keine starken Schwankungen gibt, das Land fruchtbar ist und sich in tiefen Lagen befindet, sind die Einwohner in die Breite gewachsen, fleischig, charakterlich träge und scheu, und es mangelt ihnen an Scharfsinn und Energie. Andererseits sind die Einwohner dort, wo es ausgeprägte jahreszeitliche Schwankungen gibt und es gebirgig und rauh ist, fleißig und mutig. Wo das Land trocken und unfruchtbar ist, sind die Leute zäh und stark, mutiger, sturer und unabhängig (Über die Umwelt 19 und 24).6 Diese Verschiedenheiten werden nicht im Detail erklärt, obwohl darauf Bezug genommen wird, wie die Umwelt die menschliche Fortpflanzung, die körperliche Entwicklung und die Art und Weise, wie Leute mental auf ihre Situation reagieren, beeinflusst (Über die Umwelt 16 und 23). Die Idee, dass Umwelteinflüsse körperliche und psychologische Eigenschaften bestimmen, kann man auch in späteren philosophischen Schriften regelmäßig finden.7 In Über die Umwelt und in einer anderen hippokratischen Schrift, Über die Diät (De Victu), werden soziale und politische Praktiken zusammen mit physischen Faktoren als Einflussfaktoren auf die körperliche und psychologische Verfassung erwähnt (Über die Umwelt 16, 23; Über die Diät (De Victu) 1, 28). Ein anderer Erklärungsansatz, der eine lange und einflussreiche Nachwirkung hatte, bezieht sich auf die Kernbestandteile des Körpers, die Elemente oder Qualitäten (heiß, kalt, trocken, feucht) und die Flüssigkeiten oder Säfte (chumoi), die als grundlegend für die Zusammensetzung des Körpers angesehen werden. Im hippokratischen Corpus als Ganzem fin_____________ 4
5 6 7
Zu den verwendeten Begriffen für psychologische Merkmale zählen êthos (Charakter), gnômê (Geist), orgê (Stimmung oder Disposition) und psychê (Geist oder Persönlichkeit). Zu dieser hippokratischen Diskussion siehe auch Jouanna 1992, 308–329; Gundert 2000, 19–20. Dieser Gegensatz findet sich in dieser Periode häufig und hat mit den Kriegen zwischen Persien und Griechenland im fünften Jahrhundert v. Chr. zu tun. Alle Referenzen auf antike Texte beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf Kapitel (oder gegebenenfalls auf Buch und Kapitel). Siehe z. B. Platon, Timaios 24c–d, Gesetze 747d–e; Aristoteles, Politik 7,7; Cicero, Über das Schicksal 8 (über die stoische Theorie).
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den wir eine große Vielfalt an Arten von Elementen, die als fundamental identifiziert werden. Insbesondere zwei Schriften illustrieren den Gebrauch der Säfte zur Erklärung des Aufbaus des Körpers und der emotionalen Reaktionen. In Über die Natur des Menschen wird eine recht systematische Erklärung der Säftelehre gegeben, und in Über die heilige Krankheit wird gezeigt, wie die Säfte dazu benutzt werden können, körperliche oder psychologische Störungen zu analysieren. In Über die Natur des Menschen sind die vier Säfte, die als Grundbestandteile des Körpers dargestellt werden, Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Ein gesunder Körperzustand zeichnet sich dadurch aus, dass es ein Gleichgewicht zwischen den vier Säften gibt, während eine Krankheit die Folge eines Ungleichgewichts ist. Jeder der Säfte stimmt mit einer bestimmten Mischung der Elemente überein und ist in bestimmten Jahreszeiten und bestimmten Lebensphasen vorherrschend. So wird Blut (das mit der Mischung von warm und feucht übereinstimmt) mit Frühjahr und Kindheit assoziiert, gelbe Galle (heiß und trocken) mit Sommer und Jugend, schwarze Galle (kalt und trocken) beherrscht den Herbst und die reifen Jahre des Lebens, Schleim (kalt und feucht) ist im Winter und im Alter vorherrschend (Nat. Hom. 4, 7, 12, 15).8 In dieser Schrift fehlen jedoch einige Merkmale, die man in späteren Fassungen der Säftelehre findet, z. B. die Idee, dass es Körpertypen gibt, die durch einen bestimmten Saft gekennzeichnet sind, oder die Idee, dass die Vorherrschaft eines spezifischen Saftes psychologische Merkmale erklärt. Die Schrift Über die heilige Krankheit geht allerdings weiter in diese Richtung. Eine der Hauptthesen dieses Werks besteht darin, dass das Gehirn, und nicht das Herz, der Sitz von Emotionen, aber auch von Wahrnehmung und Denken ist, und dass die Tätigkeit des Gehirns durch Störungen des körperlichen Gleichgewichts, einschließlich des Gleichgewichts der Säfte, beeinträchtigt wird. Ein Überschuss an Galle (die mit dem Herzen assoziiert ist) hat Furcht zur Folge und, in einer intensiven Form, eine aufgewühlte Form von Wahnsinn. Ein Überschuss an Schleim (mit Kälte assoziiert) hat Schmerzen, Übelkeit und eine mildere Form von Wahnsinn zur Folge, während ein Überschuss an Blut Alpträume zur Folge hat. Es werden auch diesbezügliche Abweichungen zwischen gallig und phlegmatisch beschaffenen Typen vermerkt (Über die heilige Krankheit 17–18).9 _____________ 8 9
Klibansky/Panofsky/Saxl 1964, 9–11 und Lloyd 1979, 92–94, 149–150. Der Unterschied zwischen einer intensiven, aufgewühlten Form von Wahnsinn (oft phrenitis genannt) und einer eher chronischen Form (mit schwarzer Galle verbunden) wird in der antiken Medizin zum Standard. Siehe Pigeaud 1981, 77–138.
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In den hippokratischen Schriften wird die Idee der Säfte nicht systematisch dazu verwendet, Emotionen (oder den körperlichen Zustand) zu erklären. Was für das Corpus eher charakteristisch ist, ist die Behandlung der Emotionen in Verbindung mit körperlichen Zuständen. Emotionen werden entweder als das Ergebnis von körperlichen Störungen verschiedener Art gesehen oder als etwas, das körperliche Nebenwirkungen hat, manchmal solche, welche die Aktivität von Säften oder Flüssigkeiten betrifft.10 Das Unterfangen, Emotionen mittels der Säftelehre zu erklären, wird jedoch in einer Schrift weitergeführt, die, Aristoteles zugeschrieben, aber wahrscheinlich von seinem Schüler und Nachfolger Theophrast (372–287 v. Chr.) stammt, nämlich Problemata Physica 30. Diese Abhandlung ist die erste, in der ein Saft (schwarze Galle, melainê cholê) als Grundlage für eine bestimmte Art von Natur (physis) mit einem bestimmten emotionalen Charakter (êthos) dient. Die Vorstellung einer Person, die ständig melancholisch ist, ist ziemlich paradox, weil es ein Zustand ist, der Leute unberechenbar und ihre Reaktionen unbeständig oder inkonsistent macht. In diesem Aufsatz wird versucht, das Auftreten dieses Zustands physiologisch zu erklären. Die schwarze Galle ist aktiv, indem sie Atem (pneuma) hervorbringt, der sehr heiß oder kalt werden kann, und der mannigfaltige emotionale Auswirkungen auf Leute mit unterschiedlicher Konstitution hat. Zum Beispiel werden die, in denen kalte Galle vorhanden ist, schlaff und stumpfsinnig, die aber besonders viel warme besitzen, werden rasend, gutmütig, liebeshungrig, leicht erregbar zu Zorn und Begierde […] diejenigen aber, bei denen die schwarze Galle hinsichtlich ihrer allzu großen Wärme auf das Mittelmaß gemildert ist, sind melancholisch, aber vernünftiger und weniger abnorm und in vielen Dingen überragend, in Bildung, Kunst und Politik. (Aristoteles, Problemata Physica 30, 954a30–b4)11
Der melancholische Zustand ist inhärent instabil, unterliegt Schwankungen in Wärme und Kälte und kann extreme Stimmungsschwankungen zwischen übertriebenem Selbstvertrauen und Depression, die wiederum zum Suizid führen kann, bewirken (954b28–39). Dieser Aufsatz ist bemerkenswert, weil in ihm durchgehend ein einziger Erklärungsansatz für einen komplexen und ungewöhnlichen psychologischen Zustand mit deutlichen emotionalen Auswirkungen gesucht wird, und zwar auf physio_____________ Zu diesen zwei Arten von Interaktion siehe Gundert 2000, 29–31. Emotionen selbst werden implizit als physikalische oder materielle Ereignisse verstanden, obschon dies nicht Thema der theoretischen Diskussion ist. Siehe Gundert 2000, 31–35. 11 Aristoteles 1962; Übersetzung Hellmut Flashar, leicht modifiziert von Gill/Caluori. 10
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logischer Ebene.12 Er ist außerdem bemerkenswert neutral, was moralische Urteile betrifft, und reflektiert so eine Haltung, die für die hippokratischen Schriften typisch ist.13 Dieser Aufsatz hatte eine enorme Nachwirkung und trug wesentlich dazu bei, die Idee der Melancholie als einen bestimmten Typ von Emotion oder als charakterlichen Zustand im späteren europäischen Denken zu verankern.14 Weder in den hippokratischen Schriften noch im Aufsatz über Melancholie werden die moralischen Folgen der physiologischen Erklärung von emotionalen Zuständen, einschließlich der abnormen, untersucht. Im Mittelpunkt steht zumindest in den hippokratischen Schriften der Versuch, den normalen Zustand des Patienten mit Blick auf die Heilung einer Krankheit zu verstehen. Diesen Folgen wird aber in einem bemerkenswerten Abschnitt in Platons Timaios (86b–89d) nachgegangen. In Platons Timaios, mindestens im hinteren Teil (69b–92c), wird ausgiebig auf das frühere griechische medizinische und physiologische Denken Bezug genommen. Im gerade angegebenen Abschnitt scheint Platon eine quasi-medizinische Haltung gegenüber emotionalen oder charakterlichen Schwächen einzunehmen. Platons Sprecher Timaios behauptet nämlich, psychologische Schwächen, einschließlich derer, die man normalerweise als moralische Untugenden ansieht, seien das Ergebnis von körperlichen Mängeln, die wenigstens teilweise angeboren sind. So wird z. B. ein übermäßiges Sexualleben (das als Form von Wahnsinn beschrieben wird, der durch intensive Lust und Unlust hervorgerufen wird) dadurch erklärt, dass man „übermäßigen und flüssigen Samen um das Mark“ hat. Schlechte Laune und Feigheit werden durch eine Ansammlung von „sauren und salzigen Schleimen“ oder „bitteren und galligen Säften“ erklärt, obgleich beide durch schlechte Erziehung und Bildung verstärkt werden können (Platon, Timaios 86c–87b, Übers. Caluori). Dieser Punkt steht mit der ebenfalls auffälligen Behauptung im Zusammenhang, dass, obwohl solche Eigenschaften üblicherweise als freiwillig und als Gründe für Tadel betrachtet werden, die Leute, die davon betroffen sind, eigentlich „krank“ sind. Wir sollten sie daher nicht dafür verantwortlich machen oder tadeln (Platon, Timaios 87d–e). Anstatt mit moralischer Kritik zu reagieren, sollten wir uns _____________ Siehe außerdem Flashar 1962, 1966 und Klibansky/Panofsky/Saxl 1964, 15–42. Das steht teilweise im Kontrast zu Aristoteles’ eher allgemeinen Bemerkungen zur Melancholie als Schwäche der körperlichen Beschaffenheit, die intensive Begierden fördert und daher den (teilweise) mangelhaften Zustand der akrasia (Willensschwäche) hervorbringt, Nikomachische Ethik 7, 13, 1154b11–15. 14 Siehe Klibansky/Panofsky/Saxl 1964, 67–74; Radden 2000, 3–19. 12 13
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auf die Therapie und die Förderung der psychischen Gesundheit konzentrieren, die eng mit der körperlichen Gesundheit verbunden ist, und die als Teil der Harmonie oder Übereinstimmung von körperlicher und psychischer Verfassung betrachtet wird (Platon, Timaios 87c–89d, vor allem 87d). Obgleich diese verurteilungsfreie Haltung mit der typisch sokratischplatonischen Idee, dass niemand freiwillig Schlechtes tut (Timaios 86d–e), in Zusammenhang steht, scheint Platon einer moralisch neutralen Haltung gegenüber emotionalen Abnormitäten, die typisch für die antiken medizinischen Schriften ist, Ausdruck zu geben.15
2. Galenische Medizin Das Corpus der überlieferten Werke Galens ist riesig und hatte bis zum Aufstieg der modernen wissenschaftlichen Praxis einen enormen Einfluss auf die spätere arabische und europäische Medizin.16 Galens Schriften decken medizinische und philosophische Ansätze ab und behandeln Emotionen von verschiedenen Standpunkten aus. Die folgende Diskussion konzentriert sich auf drei Aspekte von Galens Denken, nämlich (1) seine Formulierung der typisch medizinischen Ansicht, Emotionen basierten auf dem Körper, (2) seine Analyse der Emotionen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen menschlicher Psychologie und Physiologie und (3) sein Denken über die Therapie von Emotionen und ihre Beziehung zur medizinischen Therapie. Galens Ansichten über die Körperbasiertheit von Emotionen. Grob gesprochen bezieht sich Galens Denken über die körperliche Beschaffenheit auf drei Systeme: das der Elemente oder Qualitäten, das der Säfte und das der organischen Funktionen. Diese sind alle miteinander verbunden und auf je verschiedene Weise für seine Ansicht von den psychologischen Funktionen, einschließlich der Emotionen, relevant. In De Temperamentis stellt Galen in systematischer Form die Idee dar, dass menschliche Körper, wie andere natürliche Entitäten, unter dem Gesichtspunkt ihrer „Mischungen“ (kraseis) aus den vier Elementen oder Qualitäten heiß, kalt, trocken und feucht analysiert werden sollten. Er unterscheidet nicht nur verschiedene _____________ 15 16
Dazu weiter Gill 2000, 59–65 und 2006, 200–203. Für einen Überblick über die neuere Forschung zu Galen siehe Kollesch/Nickel 1994 sowie Hankinson (im Erscheinen). Einige wichtige Ausgaben finden sich in der Reihe Corpus Medicorum Graecorum, z. B. De Lacy 2005.
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Arten von körperlicher Konstitution, die von je einer gegebenen Qualität oder einer Kombination von Qualitäten beherrscht werden, sondern identifiziert auch den bestmöglichen körperlichen Zustand als eine ausgewogene Mischung aller vier Qualitäten, was zumindest die Grundlage für den bestmöglichen seelischen Zustand schafft. Die Qualitäten konstituieren in verschiedenen Kombinationen die vier Säfte: Blut (heiß und feucht), gelbe Galle (heiß und trocken), schwarze Galle (kalt und trocken) und Schleim (kalt und feucht). Die Säfte wiederum bilden Verbindungen, welche die körperliche Grundlage für die drei wichtigsten organischen Systeme liefern, die in Gehirn, Herz und Leber ihren Sitz haben (Temp. 1, 7–9 (K. I, 552–70)).17 Psychologische Tätigkeiten sind Teil eines größeren Zyklus von Abläufen, durch die das Lebewesen erhalten wird, und mittels derer es aktiv ist. Nahrung wird im Magen und in der Leber verdaut und in Säfte verwandelt, welche die organischen Systeme aufrechterhalten. Die Venen enthalten eine Saftmischung, in der das Blut vorherrschend ist. Durch diese Mischung wird das Gewebe ernährt. Luft wird in der Lunge und im Herzen verarbeitet, und dadurch wird das Lebenspneuma gebildet, das dem Körper durch die Arterien Energie zuführt. Im Gehirn wird ein Teil des Lebenspneumas zu seelischem Pneuma verarbeitet, das als Grundlage für die rationalen Tätigkeiten im Gehirn, für die Wahrnehmung und für die Bewegung, die vom Gehirn durch das Nervensystem geleitet wird, dient.18 Dieses Denkschema bezüglich der körperlichen Beschaffenheit liegt den vielfältigen Aspekten von Galens Denken über psychologische Abläufe, einschließlich der Emotionen, zugrunde. Ich beginne mit Galens Beitrag zur Säftelehre. Obwohl diese einen relativ unbedeutenden Platz in seinem Denken über die körperliche Basis der Psychologie einnimmt, gibt es wichtige Verbindungen zum hippokratischen Denken und zu späteren europäischen Ansichten über die Säfte. Wir finden in De Naturalibus Facultatibus die hippokratische Verbindung von Säften mit gewissen Mischungen der Elemente oder Qualitäten (heiß, kalt, trocken und feucht), außerdem mit verschiedenen Arten von Umwelt, Jahreszeit und körperlicher Beschaffenheit (Nat. Fac. 8 (K. II, 117– 118)). Sowohl in dieser Schrift als auch in De Locis Affectis beschäftigt sich _____________ Es ist üblich, sich auf Werke Galens mit Buch- und Kapitelnummer zu beziehen und in den meisten Fällen auch auf den Band und die Seitenzahl in Kühns (K.) Standardausgabe. Auf die Werke Galens bezieht man sich mit dem kanonischen lateinischen Namen oder der entsprechenden Abkürzung. 18 Zu diesem System siehe z. B. Galen, Nat. Fac. 2, 9 (K. II, 125–142), De Usu Partium 7, 8. Siehe auch von Staden 2000, 106; Knuuttila 2004, 94f. 17
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Galen hauptsächlich mit der physiologischen Rolle der Säfte. In letzterem Werk führt Galen die Unterscheidung zwischen schwarzgalligem Saft und schwarzgalligem Blut ein. Er behauptet, dass schwarzgallige Flüssigkeit im Gehirn, im Blut oder im Verdauungsapparat gebildet werden kann, und dass ihre Wirkung und Behandlung vom einschlägigen Ort abhängt. In kürzeren Kommentaren zu den psychologischen Auswirkungen der Säfte folgt er Hippokrates darin, Furcht und Verzagtheit als zwei hauptsächliche Auswirkungen der schwarzen Galle zu bestimmen, die sich in verschiedenen Formen unvernünftigen Verhaltens zeigen (Loc. Aff. 3, 10). In seinem Kommentar zum hippokratischen Traktat Über die Natur des Menschen erklärt Galen, dass drei der Säfte die Charakterbildung (êthos) beeinflussen, und stellt eine Verbindung zwischen den psychologischen Qualitäten und dem vorherrschenden Saft im Körper her. Scharfsinn und Intelligenz werden zum Beispiel mit dem Vorherrschen von gelber Galle verbunden, Beständigkeit und Charakterfestigkeit mit schwarzer Galle, Einfalt oder Torheit mit Blut. Nur beim Schleim wird kein spezifischer Einfluss auf den Charakter festgestellt (Hipp., Nat. Hom. 1, 40 (K. XV, 97)). Dieser Denkansatz hatte großen Einfluss auf das spätere antike und mittelalterliche Denken. Dort finden wir regelmäßig die Idee, dass es vier Temperamente gibt, d. h. vier Arten von körperlicher Beschaffenheit mit bestimmten Charakterzügen, die durch den vorherrschenden Saft bestimmt werden. Die spätere Typologie stimmt jedoch nicht genau mit der Galens überein. Im späteren Denken wird der sanguine Typ, bei dem das Blut vorherrscht, als fröhlich und ausgeglichen, nicht als töricht, der Typ, bei dem die gelbe Galle vorherrscht, wird als lieblos und gereizt, nicht als scharfsinnig und intelligent betrachtet. Obgleich es im mittelalterlichen Denken weiterhin Varianten in der Typologie gibt, entwickelt sich ein zumeist konsistentes Schema, in dem der phlegmatische Typ durch Trägheit und Lethargie und der melancholische Typ als ängstlich, schüchtern und deprimiert charakterisiert wird.19 Ein weitaus wichtigeres Thema in Galens Denken über die körperliche Beschaffenheit und ihre psychologischen Auswirkungen ist das der Mischung der Elemente oder Qualitäten. Diese Idee spielt eine besonders wichtige Rolle in einem Traktat, Quod Animi Mores, in dem Galen programmatisch erklärt, dass psychologische Zustände von körperlichen abhängen. Galen belegt diese Behauptung mit einer breiten Auswahl an Zitaten aus früheren medizinischen und philosophischen Schriften. Seine Aus_____________ 19
Siehe dazu Klibansky/Panofsky/Saxl 1964, 97–123.
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wahl an Passagen beinhaltet die meisten der Texte, die in diesem Kapitel bereits zitiert worden sind, sowie aristotelische Bemerkungen, gemäß denen die emotionalen Merkmale der verschiedenen Arten von Lebewesen auf ihrer körperlichen Beschaffenheit beruhen, vor allem auf der Mischung der Qualitäten in ihrem Körper.20 Galens Behauptung in dieser Schrift ist sehr allgemein gehalten. Er behauptet, dass physische Faktoren nicht nur emotionalen Dispositionen wie Feigheit oder Gefräßigkeit zugrunde liegen, sondern auch intellektuellen Qualitäten wie Schlauheit und Torheit. Diese Eigenschaften sind teilweise das Ergebnis der angeborenen natürlichen Beschaffenheit und teilweise von anderen, externen Faktoren, einschließlich der natürlichen Umwelt, von Gewohnheiten oder der Lebensweise (die Diät und Übungen mit einschließt). Galen analysiert die physiologischen Grundlagen der Vielfalt der emotionalen Dispositionen und der geistigen Fähigkeiten kaum. Aber er macht seine allgemeine Ansicht klar, dass diese Vielfalt als ein Nebenprodukt der Mischung von Qualitäten im Körper verstanden werden sollte, wie sie in De Temperamentis und anderswo analysiert worden ist (QAM Kap. 2 (K. IV, 768), 9 (K. IV, 807f.), 11 (K. IV, 821)).21 Galen argumentiert nicht nur für die These, dass psychologische Fähigkeiten und Qualitäten auf dem Körper basieren, sondern engagiert sich auch in intellektuellen Auseinandersetzungen, die mit dieser These in Zusammenhang stehen. So ist er nahe daran, sich einen physikalistischen Ansatz zur Natur der Psyche anzueignen, obschon er an anderen Stellen Themen dieser Art als eine Sache rein philosophischer Spekulation darstellt und nicht als medizinische Theoriebildung von der Art, wie er sie betreibt. Er folgt Aristoteles und der Stoa (in seiner Interpretation), indem er annimmt, dass die Substanz (ousia) der Psyche aus der Mischung der Grundelemente oder -qualitäten besteht. Er steht auch der von Platon in einigen seiner Werke und von anderen Platonikern vorgebrachten Meinung kritisch gegenüber, dass die Psyche, oder wenigstens ihr rationaler Teil, wesentlich nichtmateriell und von anderer Art als der Körper ist (QAM Kap. 3 (K IV, 774–777), 4 (K. IV, 782–784)).22 Er verfolgt außerdem die Frage der ethischen Konsequenzen der körperbasierten Ansicht vom menschlichen Charakter, die von Platon im oben zitierten Abschnitt _____________ Aristoteles, Teile der Tiere 2, 4, 650b–51a, zitiert in QAM, Kap. 7 (K. IV, 791–794). Über die Reichweite von Galens Thesen in diesem Werk siehe Lloyd 1988 und Jouanna (im Erscheinen). 22 Siehe auch De Propriis Placitis Kap. 7, 14–15. Siehe außerdem Hankinson 2006. 20 21
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aus dem Timaios (86b–89d) aufgeworfen wird.23 Obwohl er die These, dass unsere rationalen und emotionalen Dispositionen körperbasiert sind, vehement verficht, argumentiert er im Gegensatz zu Platon, dass dadurch fehlbare Leute nicht aus der moralischen Verantwortung entlassen und der Strafe enthoben sind. Er argumentiert außerdem mit Nachdruck gegen die stoische Ansicht, dass alle Menschen von ihrer Veranlagung her fähig sind, sich tugendhaft zu entwickeln, und behauptet, dass einige Leute angeborene, auf ihrem Körper basierende Schwächen haben, die es ihnen unmöglich machen, sich richtig moralisch zu entwickeln (QAM Kap. 11 (K. IV, 814–821)). Obwohl er sie mit Nachdruck verteidigt, ist es nicht klar, ob Galens Position vollständig konsistent ist: Seine Betonung der Schuldfähigkeit passt schlecht zu seiner Idee, dass die angeborene Natur unveränderlich ist. Der Traktat ist auch unklar in der Frage, ob die Kernbehauptung darin besteht, dass körperliche Faktoren psychologische Merkmale vollständig bestimmen oder sie nur beeinflussen.24 Das Werk stellt jedoch eine interessante Untersuchung der begrifflichen Implikationen der körperbasierten Betrachtungsweise von emotionalen Dispositionen und geistigen Fähigkeiten dar. Galens Denken über die Verbindung von Physiologie und Psychologie. Der wichtigste Text für diese Frage, aber auch für Galens psychologisches Denken im Allgemeinen, ist De Placitis Hippocratis et Platonis. In diesem grundlegenden Werk besteht der wichtigste Teil aus den Büchern 1–3, die vom Ort des herrschenden Teils der Psyche handelt, und aus den Büchern 4–5, in denen die Beziehung von Vernunft und Emotionen behandelt wird. Das ausdrückliche Ziel von PHP besteht darin, die Darstellungen der physiologischen und der psychologischen Funktionen oder Fähigkeiten, die in den hippokratischen Schriften und von Platon (vor allem im Staat und im Timaios) bereitgestellt worden sind, zu vereinigen. Tatsächlich ist Galens Ziel sogar noch umfassender und ehrgeiziger. Er macht sich daran, ein vollständiges Bild der körperlichen und psychologischen Funktionen bereitzustellen, das die von ihm als am wichtigsten befundenen Aspekte der früheren antiken Medizin und die Grundpfeiler des platonischen Denkens über die Psychologie integ_____________ Galen bezieht sich in QAM Kap. 6 (K. IV, 789–791) und 10 (K. IV, 812–813) auf diesen platonischen Abschnitt. 24 Siehe Lloyd 1988, 33–37; Hankinson 1993, 215–220 und Gill (im Erscheinen), Kap. 3. 23
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riert.25 Insbesondere will Galen die Implikationen einer ungemein bedeutenden Entdeckung für die Physiologie und Psychologie erkunden. Im 3. Jhd. v. Chr. haben zwei Ärzte, Herophilos und Erasistratos, die teilweise unter den Ptolemäern in Alexandrien in Ägypten – ohne Rücksicht auf die dadurch verursachten Qualen – menschliche Vivisektion betrieben haben, eine Erklärung für die Rolle des Gehirns und des Nervensystems gefunden, die im Wesentlichen mit dem modernen wissenschaftlichen Bild übereinstimmt.26 Die Frage nach dem Ort des herrschenden Teils der Psyche (was wir ‚Geist‘ (engl. mind) nennen mögen) war mindestens seit dem vierten Jahrhundert Gegenstand von Auseinandersetzungen unter Ärzten und Philosophen.27 Trotz der Entdeckungen der ptolemäischen Ärzte, deren Ergebnisse möglicherweise nicht weite Verbreitung fanden, lokalisierten einige Denker im Hellenismus, darunter die Stoa (wie Aristoteles zuvor), den herrschenden Teil weiterhin im Herzen und nicht im Gehirn. Galen unterstützte seine gehirnzentrierte Position mit einer Reihe von anatomischen Untersuchungen, von deren Methodologie behauptet worden ist, sie sei ein Vorläufer der modernen wissenschaftlichen Methode, und deren Ergebnisse mit dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Verständnis von den Funktionen des Gehirns übereinstimmen.28 Eines der Hauptziele von PHP 1–3, wie auch von Galens umfassender Analyse der Anatomie in De Usu Partium, bestand darin, dieses gehirnzentrierte Bild zu verbreiten. Damit verbunden war das Ziel, das konkurrierende herzzentrierte Bild von Aristoteles und den Stoikern zu kritisieren, und die These von der Übereinstimmung von Galens Erklärung mit Platons Darstellung der inkarnierten dreiteiligen Psyche im Timaios durchzusetzen.29 Es ist mein Ziel zu zeigen, daß nicht in einem einzigen Teil der Psyche und nicht mittels eines einzigen Vermögens von ihr sowohl Urteile als auch Emotionen auftreten, wie Chrysipp behauptete, sondern daß die Psyche eine Mehrzahl von Vermögen verschiedener Art und eine Mehrzahl von Teilen hat. Poseidonios und Aristoteles räumen ein, daß die Anzahl der Vermögen der Psyche drei ist und daß wir durch sie begehren, zornig werden und denken; daß sie aber auch räumlich getrennt voneinander sind und daß unsere Psyche nicht
_____________ Über den Gesamtaufbau und Plan von PHP siehe De Lacy 2005, 48–50. Solmsen 1961 und von Staden 1989; ders. 2000, 87–96. Im früher erwähnten hippokratischen Traktat Über die heilige Krankheit wird diese Frage bereits angesprochen und dafür argumentiert, den Geist im Gehirn zu lokalisieren. Über die Debatte vor Galen siehe Tieleman 2003a, 34–39. 28 Tieleman 2002; Rocca 2003. 29 Siehe Tieleman 1996, Einleitung und Teil 1; ders. 2003b. 25 26 27
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nur viele Vermögen enthält, sondern auch aus Teilen besteht, die der Art und der Substanz nach verschieden sind, das ist die Lehre von Hippokrates und Platon [die auch Galen übernimmt]. (Galen PHP 5, 4, 2–3 (K. V, 454f.))30
Hier fasst Galen die wichtigsten Behauptungen in PHP bezüglich der psychologischen Funktionen, einschließlich der Emotionen, zusammen.31 Er widersetzt sich der stoischen Ansicht, insbesondere in der von Chrysipp (ca. 280 – ca. 206 v. Chr.), dem wichtigsten stoischen Theoretiker, gegebenen Form, nach der Urteile und Emotionen Vermögen (dynameis) eines einzigen herrschenden Teils der Psyche sind, der im Herzen situiert ist. Galen geht auch weiter als Aristoteles (und, wie er behauptet, Poseidonios),32 dem zufolge die Urteile und Emotionen verschiedene Vermögen eines einzigen herrschenden Teils sind. Gemäß Galens These, die auf einem sehr selektiven Gebrauch von Hippokrates und Platon basiert,33 sind Urteile, Emotionen und Begehren verschiedene Vermögen verschiedener physischer Teile. Er verbindet die drei Arten von psychologischen Funktionen, die Platon im Staat und im Timaios voneinander abgegrenzt hat, nämlich Denken, Mut und Begehren, mit den drei primären organischen Systemen im Körper, die ihr Zentrum im Gehirn, im Herzen beziehungsweise in der Leber haben.34 Diese drei Organe werden als ‚Quellen‘ (archai) von drei autonomen Systemen dargestellt, die durch die Nerven, Arterien und Venen aktiv sind. Auf diese Weise zeigt Galen, wie er behauptet, die grundsätzliche Übereinstimmung der auf dem Gehirn basierenden Psychophysiologie, die aus den medizinischen Untersuchungen der Anatomie gewonnen worden ist, mit der dreiteiligen Darstellung der psychologischen Funktionen, die Platon entworfen hat und die sich Galen angeeignet hat.35 _____________ 30
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33 34 35
De Lacy 2005, S. 312, 25–34 (Seiten- und Zeilennummer beziehen sich auf De Lacy; Übersetzung Caluori/Gill, basierend auf De Lacy). Siehe auch PHP 7, 3, 2–3 (K. V, 600f.). Siehe Hankinson 1991a; Tieleman 1996, Kap. 3–4 und ders. 2003b. Poseidonios (ca. 135 – ca. 50 v. Chr.) ist ein späterer stoischer Denker, der nach Galens Darstellung das platonische Konzept der dreiteiligen Psyche angenommen hat. In der neueren Forschung wird die Ansicht vertreten, Galens Darstellung von Poseidonios sei hochgradig irreführend und parteiisch; siehe Fußnote 40 unten. Zu Galens Deutungen und anderen möglichen Interpretationen von Platons Theorie siehe Tieleman 1996, XXVIII–XXXV und Gill 2006, Kap. 5. Siehe vor allem Platon, Staat 435–441 und Timaios 69–72. In der neueren Forschung wird teilweise infrage gestellt, dass Galen die zwei Theorien erfolgreich kombiniert hat, und vermutet, dass Galens Versuch zu Inkonsistenzen in seinem Denken führt. So stellt die medizinische auf dem Gehirn
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Wie sollen wir Galens Verständnis der Beziehung zwischen Emotionen als psychologischen Zuständen oder Ereignissen einerseits und als Prozessen der physiologischen Organe und Systeme andererseits genau deuten? Identifiziert Galen wirklich Emotionen mit physiologischen Prozessen – d. h. vertritt er eine Position, die wir, in heutiger Terminologie, als „ontologischen Physikalismus“ oder als „token-identity-Physikalismus“ bezeichnen könnten? Wie früher bemerkt, unterlässt es Galen bewusst, sich in einer rein theoretischen Debatte über die Folgen seiner Analyse zu engagieren und stellt sich nur als jemand dar, der die Konsequenzen aus seiner auf Empirie basierenden medizinischen Untersuchungen zieht (siehe z. B. PHP 9, 9, 7–10 (K. V, 793f.)).36 Außerdem kombiniert er sowohl in PHP wie auch in anderen Schriften eine rein psychologische mit einer rein physiologischen Beschreibung, ohne eine durchgehend theoretische Erklärung der Beziehung zwischen diesen zwei Arten von Beschreibung zu liefern. Insofern Galen jedoch die Frage dieser Beziehung ausdrücklich anspricht, bringt er zwei alternative Arten von Analyse vor. Manchmal folgt er Aristoteles in der Meinung, psychologische und physiologische Beschreibungen seien gleichrangige Beschreibungen derselben Phänomene.37 An anderen Stellen versucht er, die zwei Arten von Beschreibung zu vereinigen, wobei er die psychologischen Aktivitäten des Organs von seinen anderen Funktionen (die er manchmal als ‚natürliche‘ Funktionen bestimmt) unterscheidet. Ein Beispiel der zweiten Art von Analyse ist das Folgende: [Die Aktivität des Herzens] besteht darin, die Spannung der Psyche konstant zu halten, unbeugsam in den Dingen, die die Vernunft befiehlt, und, wenn sie im Zustand des Affekts (pathos) ist, sozusagen das Kochen der inneren Hitze bereit zu stellen, da die Psyche dann wünscht, sich am vermuteten Übeltäter zu rächen,
_____________ basierende Theorie das Gehirn und das Nervensystem als einzigen Ort von psychologischer Aktivität dar, während Galen alle drei organischen Systeme auf diese Weise darstellt. Siehe dazu Mansfeld 1991; von Staden 2000, 105–116; Tieleman 2003b und Gill 2007, 108–118 sowie ders. (im Erscheinen), Kap. 3. 36 Siehe auch Hankinson 2006. 37 Siehe z. B. De Sanitate Tuenda 2, 9, 5–6. (K. VI, 138), wo er sich auf Aristoteles’ zweifache Definition des Zorns bezieht, einerseits die physiologische (als Kochen des Blutes um das Herz) und andererseits die philosophische (als Wunsch nach Vergeltung) (siehe Aristoteles, De Anima 1, 1, 403a29–b2), obgleich Galen die erstere Art von Beschreibung als grundlegender betrachtet. Siehe Tieleman 2003b, 156f. Siehe auch PHP 6, 8, 48–76 (K. V, 575–582) vor allem 6, 8, 72–75 (K. V, 581f.), wo platonische und hippokratische (d. h. psychologische und physiologische) Beschreibungen als miteinander im Einklang stehende Alternativen beschrieben werden.
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und dies nennt man Zorn. In Beziehung zu anderen Dingen besteht ihre Aufgabe darin, Wärmequelle für die verschiedenen Teile und Quelle für die pulsierende Bewegung der Arterien zu sein. (PHP 7, 3, 2 (K. V, 601))38
Abschnitte wie dieser illustrieren Galens Gesamtziel, physiologische und psychologische Dimensionen von Emotionen zu vereinigen, ohne die Natur dieser Beziehung auf vollständig theoretische Weise zu erklären. In PHP 4–5 diskutiert Galen die Beziehung von Vernunft, Emotionen und Begehren, ohne sie ausdrücklich mit Fragen der Physiologie in Zusammenhang zu bringen. Diese Diskussion ist ein Exkurs in der Hauptargumentation von PHP, der nicht unmittelbar Galens medizinisches Wissen oder seine anatomischen Untersuchungen heranzieht. Er trägt jedoch zu Galens Gesamtziel bei, indem darin die stoische Analyse der Emotionen (als Funktionen eines einheitlichen rationalen herrschenden Teils der Psyche) kritisiert und Platons dreiteiliges Bild der Psyche unterstützt wird. Die Bücher 4–5 von PHP sind äußerst wichtige Texte für die Geschichte der antiken Emotionstheorien, weil sie eine Hauptquelle für die stoische Emotionstheorie darstellen. Galen bringt allerdings eine äußerst kritische und in mancherlei Hinsicht irreführende Darstellung der stoischen Theorie vor. Er erklärt, Chrysipps Analyse der Emotionen sei durch logische Schwächen und Inkonsistenzen beeinträchtigt. Er behauptet außerdem, Chrysipps Theorie unterscheide sich wesentlich von der Zenons (334– 262 v. Chr.), des Gründers der Stoa, und er behauptet drittens, sie sei vom späteren Stoiker Poseidonios zurückgewiesen worden. Galens Darstellung von Chrysipp wird allgemein als sehr feindselig betrachtet,39 und in der neueren Forschung wird die Meinung vertreten, seine Darstellung von Poseidonios sei ausgesprochen irreführend.40 Galens Kritik an der stoischen Emotionstheorie muss im Licht seines Gesamtprojekts in PHP gesehen werden. Galens These, wie sie oben skizziert wurde, besteht darin, dass Vernunft, Mut und Begehren verschiedene und unabhängige Quellen der Motivation sind, die den drei großen organischen Systemen, die auf Gehirn, Herz und Leber basieren, entsprechen. _____________ De Lacy 2005, S. 438, 33–440, 3 (Seiten- und Zeilennummer bezieht sich auf De Lacy; Übersetzung Caluori/Gill, basierend auf De Lacy.) Über Galens Unterscheidung von psychologischen und natürlichen Prozessen, die man auch in früherem medizinischen und stoischen Denken findet, siehe von Staden 2000, 107– 109. 39 Siehe Inwood 1985, Kap. 5; Tieleman 2003a, Kap. 3; Gill 2006, 244–266. Dagegen akzeptiert Sorabji 2000, Teil 1 im Wesentlichen die Gültigkeit von Galens Darstellung. 40 Siehe z. B. Cooper 1998; Tieleman 2003a, Kap. 5; Gill 2006, 266–290. 38
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Galen legt in PHP 4–5 großen Wert auf Platons Argumente in Buch 4 des Staates (435–441), die davon handeln, dass Vernunft, Mut und Begehren unabhängige Motivationsquellen sind, die potenziell miteinander in Konflikt stehen können. Platons Argument liefert die logische Basis für Galens Fassung der dreiteiligen Theorie (PHP 5, 7, 1–82 (K. V, 480–501)).41 In der stoischen Theorie wird ein radikal verschiedener Ansatz vorgebracht, worin Galen ein Hindernis für die Anerkennung seiner eigenen Theorie sieht. Gemäß der stoischen Theorie basieren Emotionen von erwachsenen Menschen auf Überzeugungen und Urteilen. Die Stoiker vertreten also etwas, was in moderner Redeweise eine ‚kognitive‘ Ansicht von Emotionen genannt wird, eine Art von Ansicht, die oft auch Sokrates zugeschrieben wird.42 Wie andere psychologische Funktionen, einschließlich der des Denkens und der Wahrnehmung, werden auch die Emotionen im Stoizismus als Funktionen eines einheitlichen Zentrums gesehen. Galen erkennt nicht an, dass die stoische Theorie zwar eine abweichende, aber auch gültige und kohärente Art einer psychologischen Theorie sei. Stattdessen argumentiert er, die stoische Theorie, weil sie nicht seinen Erwartungen entspricht, sei inkohärent und psychologisch unplausibel. Er kritisiert außerdem aus ähnlichen Gründen die stoische Erklärung der moralischen Entwicklung (und des Misslingens der Entwicklung), die eng mit deren Emotionstheorie verbunden ist (PHP 5, 5, 1–40 (K. V, 459– 468)). Trotz des tendenziösen und polemischen Charakters der Schrift bietet Galen viele Zitate und Bemerkungen, die es der Forschung ermöglicht haben, ein kohärenteres und glaubwürdigeres Bild der Theorie zu konstruieren, als das Galens.43 Galens Denken über die Therapie der Emotionen und die Schnittstelle zur medizinischen Therapie. Wie oben angedeutet, bezieht sich die antike medizinische Behandlung grob gesprochen auf die Menschen als Körper, und es ist die Philosophie, die von sich behauptet, eine Therapie für Menschen als psychologische Akteure anzubieten. Diese Arbeitsteilung wird in programmatischer Form vom Stoiker Chrysipp beschrieben (Galen, PHP 5, 22–24 (K. V, 437)), aber die Unterscheidung wird von breiteren Kreisen anerkannt. Im Großen und Ganzen arbeitet Galen innerhalb dieser Unter_____________ Zu einigen Schwierigkeiten von Galens Deutung der platonischen Theorie siehe Gill 2006, 308–311. 42 Siehe Brennan 1998 und 2003. Nussbaum 2001 bringt eine moderne kognitive Theorie der Emotionen vor, die, wie sie ausdrücklich sagt, auf der stoischen Theorie beruht. 43 Siehe vor allem Tieleman 2003a, Kap. 3; und Gill 2006, 244–266. 41
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scheidung, obschon in seinen Schriften auch Grenzfälle oder Überschneidungen zwischen den zwei Bereichen beleuchtet werden, die wir unten diskutieren. Galen gehört aber zu den seltenen Ärzten, die auch zur philosophischen Seite der Therapie beigetragen haben. Sein kurzer Aufsatz De Animi Cuiuslibet Affectuum Dignotione et Curatione (Aff. Dig.) ist ein Beispiel für eine Anzahl von Traktaten über ethische Themen, die Galen geschrieben hat (die meisten davon sind verloren). Der Aufsatz ist nicht sehr eng mit Galens medizinischem Werk verbunden, aber er spiegelt eine Einstellung zur Emotionstheorie wider, die klar in PHP 4–5 vorhanden ist. Wenn man Galens allgemeine Einstellung zu Emotionen betrachtet, ist es tatsächlich überraschend festzustellen, dass Galen einen Aufsatz zur Therapie der Emotionen geschrieben hat. Dieses Genre ist eng mit der stoischen und der epikureischen Philosophie verbunden und spiegelt eine Reihe von Merkmalen wider, die typisch für deren Denken über Emotionen sind. Dazu zählen die Ideen, dass (die meisten) Emotionen Krankheitserscheinungen sind, dass Emotionen auf Überzeugungen basieren und dass schon allein eine Änderung in den Überzeugungen eine emotionale Veränderung bewirken kann. Diese Eigenschaften scheinen in Chrysipps ‚therapeutischem Buch‘ (Buch 4 seiner Schrift Über Affekte) einen prominenten Platz eingenommen zu haben, einem einflussreichen Werk, für das Buch 5 von Galens PHP eine wichtige, wenn auch kritische Quelle ist.44 Galens Aufsatz spiegelt in seinem Gesamtaufbau und teilweise in seiner Terminologie einige dieser Züge wider. Er kombiniert diese jedoch eher ungeschickt mit Aspekten, die typisch für die konkurrierende platonisch-aristotelische Erklärung der Emotionen sind, welche in Galens PHP 4–5 betrachtet wird. Zu diesen konkurrierenden Aspekten gehören das Ideal der Mäßigung der Emotionen (metriopatheia) anstatt des Ausmerzens oder der Abwesenheit von Emotionen (apatheia), welches das stoische Ideal ist, sowie eine Ansicht von der menschlichen Psychologie, die auf der Unterscheidung zwischen rationalen und nichtrationalen Teilen basiert. Galen nimmt außerdem an, dass eine erfolgreiche moralische Entwicklung von der richtigen Kombination von angeborener Natur (physis), richtiger Gewöhnung (ethos) und angemessenen Formen der rationalen Bildung (logos) abhängt. Daher ist die Idee der Selbstgewöhnung durch an_____________ 44
Für die Rekonstruktion von Chrysipps ‚therapeutischem‘ Buch, die hauptsächlich auf PHP 5 und Cicero, Tuskulaner Disputationen 3–4 beruht, siehe Tieleman 2003, Kap. 4. Zu den stoischen und epikureischen Ansätzen für eine Therapie der Emotionen siehe Nussbaum 1994 und ganz allgemein für antike philosophische Ansätze zur Therapie Sorabji 2000, Teil 2.
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gemessene Tätigkeiten, um die Entwicklung von gemäßigten Emotionen und Begierden zu fördern, zentral für Galen, was mit platonisch-aristotelischen Annahmen übereinstimmt.45 Obwohl Galens Aff. Dig. einen eher gemischten Zugang zum Thema bietet, überwiegt die platonischaristotelische Seite. In einem anderen galenischen Aufsatz, De Moribus, und in verwandten Schriften wie QAM Kap. 11, ist sie sogar vollständig beherrschend. Dort legt Galen großen Wert auf die Idee, dass charakterliche Dispositionen (êthê) angeboren sind, und dass sie zur nichtrationalen Seite der menschlichen Psychologie gehören.46 Dieser Schwerpunkt reflektiert eine anti-stoische Ansicht der menschlichen Psychologie und der moralischen Entwicklung, die anscheinend Teil von Galens Denken geworden ist, als er PHP 4–5 schrieb.47 Galens Beitrag zur Therapie der Emotionen (Aff. Dig.) nimmt im Verhältnis zu seinem Gesamtwerk einen eher geringen Platz ein. Welcher Spielraum bleibt für die Behandlung der Emotionen als Teil seines medizinischen Werks, worum es ihm natürlich hauptsächlich geht? Galen hat einen ausgefeilten und hochtheoretischen Zugriff auf die medizinische Diagnose und Behandlung, welche der wirkungsvollen Anwendung eines systematischen Wissensbestands eine entscheidende Rolle zuweist.48 Aber in seiner Behandlung von psychischen Störungen ist Galen nicht besonders innovativ, und seine Ansichten reflektieren die gewöhnliche medizinische Praxis und ihre Ideen. Wie oben gesagt, werden von den hippokratischen Schriften an hauptsächlich zwei Arten von psychischen Störungen anerkannt, Phrenitis, ein akuter Zustand, der durch Delirium und Halluzinationen gekennzeichnet ist, und Melancholie, ein instabiler und chronischer Zustand. Die medizinische Behandlung von diesen und anderen Arten von psychischen Störungen war zu einem großen Teil physisch und _____________ Siehe außerdem zu Aff. Dig. Donini 1974, 128–132; Hankinson 1993, 192–204; Knuuttila 2004, 93f. Eine ähnliche Kombination von Ansätzen findet sich in Plutarchs Aufsätzen zur Therapie der Emotionen, z. B. Über die Mäßigung des Zorns, Über die Gemütsruhe (vgl. Gill 1994), obschon Plutarchs allgemeine Ansichten platonisch-aristotelisch geprägt und anti-stoisch sind (Knuuttila 2004, 91–93; Gill 2006, 229–238). Über den Gegensatz zwischen der stoisch-epikureischen und der platonisch-aristotelischen Theorie der moralischen Entwicklung im hellenistischen und römischen Denken siehe Gill 2006, 129–145, 177–186. 46 Über Galens De Moribus siehe Mattock 1972; Walzer 1962, 142–174; zu Galens moralischen Schriften siehe Gill (im Erscheinen), Kap. 5. 47 PHP 4–5 wurde 162–166 n. Chr. geschrieben, Aff. Dig. nach 169 und De Moribus irgendwann zwischen diesen zwei Werken; QAM wurde nach 193 verfasst. 48 Siehe z. B. Hankinson 1991b, XXVI–XXXIII; Kudlien/Durling 1991. 45
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körperbasiert, und fußte auf der Anwendung von (nicht-pharmazeutischen) Medikamenten für einen akuten Zustand, sowie auf Ratschlägen zur Änderung der Diät und der Lebensweise für den langfristigen Zustand. Diese Methoden wurden durch Praktiken am Rande der medizinischen Fachkompetenz ergänzt, welche Musiktherapie und Ratgeberdialoge mit umfasste, vermutlich analog zu den philosophischen Schriften in der praktischen Ethik.49 Galens Reaktion auf psychische Krankheiten stimmt mit dieser Art von Zugang überein. Phrenitis wird von Galen als Dysfunktion des Gehirns behandelt, während Melancholie, wie zu erwarten ist, als Ungleichgewicht der Säfte betrachtet wird. Galens Behandlung besteht aus der Standardkombination von Medizin und Änderung der Lebensweise.50 Obwohl Galen einen philosophischen Aufsatz über die Therapie der Emotionen verfasst hat, gibt es keine Anzeichen dafür, dass er versucht hätte, medizinische und philosophische Typologien von psychischen Krankheiten oder Behandlungsarten zu vereinigen oder aufeinander zu beziehen.51 Es gibt einige Ausnahmen von dieser strikten Unterscheidung zwischen Arten der Typologie und Behandlung. In der Ars Medica, einem späten oder möglicherweise nachgalenischen Werk, werden sechs Faktoren erwähnt, welche die körperliche Gesundheit beeinflussen. Dazu zählen auch Emotionen wie Zorn, Trauer und Angst (Galen, Ars Med. Kap. 23–24 (K. I, 367.371.374)).52 Außerdem erkennt Galen in einem seiner Hippokrateskommentare sowohl an, dass die Lebensweise neben der Ernährung auch soziale und Freizeitaktivitäten umfasst, als auch die Rolle, welche die psychische Verfassung bei der Förderung der körperlichen Gesundheit spielt. Diese potenziell umfassende und ganzheitliche Einstellung zur Gesundheit, die eine Brücke zwischen mentalen und körperlichen Zuständen schlägt, wird nicht weiter erforscht (Galen, In Hippocratis Epidemiarum Libros VI).53 Ein weiterer Fall, in dem Galen versucht, die Grenzen zwischen medizinischen und philosophischen Ansätzen zu Emotionen und mentaler Gesundheit zu erweitern und zu modifizieren, findet sich in QAM. Wie oben erläutert, besteht Galens Hauptthese darin, dass psycho_____________ 49 50 51 52 53
Siehe Pigeaud 1981, Kap. 1, vor allem 107–112 über den Gebrauch des Dialogs bei Caelius Aurelianus und Gill 1985. Siehe Pigeaud 1981, 47–70 und 1988. Siehe Ballester 1988. Diese Faktoren werden in der mittelalterlichen Tradition standardmäßig als ‚sechs unnatürliche Dinge‘ bezeichnet. Siehe Ballester 1988, 147–152.
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logische Zustände, einschließlich dem emotionalen Zustand, das Ergebnis der Mischung von Elementen oder Qualitäten im Körper sind. In Übereinstimmung mit diesem Thema erklärt Galen auch, dass die Medizin vor allem bei der Betreuung der Lebensweise eine entscheidende Rolle spielt und eher dazu geeignet ist, Leute besser und emotional ausgeglichen zu machen als der moralische Unterricht der Philosophen (QAM Kap. 1 (K. IV, 768), Kap. 9 (K. IV, 807–808)).54 Galen fasst hier die Möglichkeit ins Auge, dass die Medizin einen Teil des Terrains erobert, das üblicherweise von Philosophen beansprucht wird, aber er zielt nicht darauf ab, die Grenzen zwischen medizinischer und philosophischer Behandlung radikal zu überdenken. Trotz seiner außerordentlichen Gelehrtheit in der medizinischen Theorie und seinem Engagement in der Philosophie bleibt Galens Ansatz gegenüber psychischen Krankheiten innerhalb des normalen Rahmens der antiken Medizin. Übersetzt von Damian Caluori.
_____________ 54
Siehe Jouanna (im Erscheinen).
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Literatur Einige der zentralen antiken Schriften werden in Form von Siglen zitiert. Textgrundlage ist De Lacy 2005 – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Galen : Aff. Dig. Ars. Med. Loc. Aff. Nat. Fac. PHP QAM Temp.
– De Animi Cuiuslibet Affectuum Dignotione et Curatione – Ars Medica – De Locis Affectis – De Naturalibus Facultatibus – De Placitis Hippocratis et Platonis – Quod Animi Mores – De Temperamentis
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Plotin (205/6–270 n. Chr.)
Plotin: Was fühlt der Leib? Was empfindet die Seele? Damian Caluori Plotin (205/6–270 n. Chr.) gilt als ein auf das Jenseits ausgerichteter Denker, der glaubt, der Mensch müsse dieser Welt, der Welt unserer alltäglichen irdischen Erfahrung, entfliehen, um sein wahres Glück, seine eudaimonia, zu erlangen. Dieses Bild ist nicht falsch – aber unvollständig. Tatsächlich glaubt Plotin, dass es in dieser Welt keine Güter gibt, d. h. Dinge, die für ein glückliches Leben konstitutiv sind. Der beste Zustand, in dem sich ein Mensch befinden kann und das einzige, was hinsichtlich eines guten Lebens anzustreben ist, ist das Nachdenken über die Wirklichkeit, die für Plotin, wie für die meisten Denker der späteren Antike, nicht aus der diesseitigen, sinnlich erfahrbaren Welt besteht, sondern aus einer Welt nur im Denken erfassbarer platonischer Ideen. In diesem Bild bleibt unberücksichtigt, wie Plotin gegen radikalere Platoniker argumentiert, dass auch das diesseitige, auf die Erfahrungswelt bezogene Leben des Menschen Sinn und Funktion hat.1 Es ist daraus auch nicht ersichtlich, dass sich Plotin in den meisten seiner Schriften mit der Situation und dem Leben des Menschen im Diesseits befasst und aus platonischer Sicht Antworten auf die grundlegenden Probleme sucht, die alle antiken Philosophenschulen beschäftigt haben und von denen viele auch heute noch zum Kernbestand der Philosophie zählen. Zu diesem Kernbestand gehören heute wie damals Fragen, die das Wesen und die Funktion von Emotionen betreffen.2
_____________ 1 2
Dazu z. B. Smith 1999; Schniewind 2003; Caluori 2005. Zu den klassischen Abhandlungen über Plotins Emotionstheorie zählen Kristeller 1929; Blumenthal 1971, Kap. 5; Igal 1979 und Emilsson 1998.
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1. Die affektiven Zustände des Leibes Wenn das Glück des Menschen im Jenseits zu suchen ist, dann scheint es zunächst nahe liegend, dass Affekte, d. h. Gefühle, mit denen wir auf Gegebenheiten und Ereignisse in der sinnlich erfahrbaren Welt reagieren, zu meiden sind. Gerade weil Affekte auf das Diesseits bezogen sind, scheint der Weise als Ideal des Menschen, der ein gutes und glückliches Leben führt, unter der oben skizzierten Voraussetzung am besten ganz ohne Affekte zu leben. Während wir uns über einen Kirschkuchen freuen oder zornig werden, wenn wir geschlagen worden sind, spielt all dies für ein auf das Jenseits bezogenes Leben keine Rolle. Solche Affekte mögen dafür sogar hinderlich sein. So scheint sich für Plotin eine Theorie der Affektlosigkeit (apatheia) nach dem stoischen Vorbild (mit seinem sprichwörtlichen stoischen Weisen) anzubieten. Eine Affektenlehre stoischen Typs würde sich nahtlos in die plotinische Konzeption des guten Lebens einfügen. Wenn man nun aber liest, was Plotin über Affekte zu sagen hat, wird schnell klar, dass es Platon ist, der bei Plotins Affektenlehre Pate gestanden hat. Dabei stellt sich die Frage, ob eine an Platon orientierte Affektenlehre mit dem stoischen Ideal der Affektlosigkeit überhaupt vereinbar ist. Die Frage stellt sich in besonderer Schärfe, weil die stoische Affektenlehre in bewusster Ablehnung der platonisch-aristotelischen Theorie entwickelt worden ist. Plotins Affektenlehre wird, wie mir scheint, am besten vor dem Hintergrund dieses Gegensatzes entwickelt. In der Antike hat die Affektenlehre ihren Platz in der Ethik und wird üblicherweise in Abhängigkeit von der jeweiligen Güterlehre ausgestaltet.3 Platoniker und Aristoteliker gehen im Allgemeinen davon aus, dass es körperliche Güter wie Leben, Stärke und Gesundheit sowie äußere Güter wie Besitz, Freunde und ein ehrenvolles Ansehen gibt.4 Entsprechend betrachten sie das jeweilige Gegenteil (z. B. Tod, Armut und Einsamkeit) als Übel. Auf Dinge, die gut oder schlecht sind (oder zu sein scheinen), beziehen sich nun die Affekte, weshalb die Affektenlehre von der Güterlehre abhängt. Affekte gelten als vernünftig oder natürlich, wenn sie mit der Vernunft übereinstimmen. Wenn zum Beispiel ein hungriger Tiger vor mir steht, bereit, über mich herzufallen, dann habe ich allen Grund, mich zu _____________ 3 4
Frede 1986. Neben körperlichen und äußeren gibt es auch seelische Güter. Darin sind sich Platoniker, Aristoteliker und Stoa einig, weshalb ich sie in diesem Kontext nicht weiter diskutiere.
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fürchten. Denn der Tiger ist drauf und dran, mich eines kostbaren Gutes (nämlich meines Lebens) zu berauben. Meine Furcht ist ein natürlicher oder vernünftiger Affekt, weil es für mich in dieser Situation vernünftig ist, mich zu fürchten. Wäre anstelle des Tigers ein Hase das Objekt meiner Furcht, wäre meine Furcht unnatürlich oder unvernünftig. Denn es besteht kein Grund anzunehmen, dass der Hase mich eines Gutes berauben oder mir ein Übel antun wird. Allgemeiner gesagt ist es vernünftig, sich zu Gütern hingezogen zu fühlen, sich an ihrem Besitz zu erfreuen und ihren Verlust zu fürchten bzw. zu bedauern und bei Übeln das jeweilige Gegenteil zu empfinden. Diese Affekte haben nun in der platonisch-aristotelischen Tradition ihren Platz in einem oder zwei irrationalen Seelenteilen, die zusammen mit der Vernunft die Seele konstituieren, und die – im Idealfall – so unter der Kontrolle der Vernunft stehen, dass alle Affekte, die auftreten, natürlich oder vernünftig sind.5 Bei Platon sind die irrationalen Seelenteile das Mutartige (thymoeides) und das Triebhafte (epithymêtikon). Gemäß der platonischaristotelischen Konzeption ist es Teil eines gelungenen Lebens, die den jeweiligen Lebenssituationen angemessenen vernünftigen Affekte zu haben und nie auf der Vernunft entgegengesetzte Weise affiziert zu werden, d. h. nie Affekte zu haben, für deren Auftreten es keinen vernünftigen Grund gibt. In der Antike wurde diese Verfassung als ‚maßvolle Affizierbarkeit‘ (metriopatheia) bezeichnet.6 Die Stoa hat die platonisch-aristotelische Güterlehre radikal abgelehnt, weshalb auch ihre Affektenlehre wesentlich verschieden ist. Die Stoiker behaupten nämlich, es gebe nur ein Gut, die Tugend und nur ein Übel, die Untugend – beides Eigenschaften der Seele. Es gibt also im Stoizismus weder äußere noch körperliche Güter oder Übel. Alles außer der Tugend und der Untugend ist weder gut noch schlecht, sondern indifferent (adiaphoron). Affekte, die vermeintliche äußere oder körperliche Güter oder Übel zum Objekt haben, sind zu meiden, und entsprechend ist der stoische Weise frei von ihnen (apathês). Dadurch verliert auch der platonischaristotelische irrationale Seelenteil seine Funktion. Die stoische Seele hat keinen irrationalen Teil – alle Affekte sind Affekte der Vernunft. Sie sind _____________ 5
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Ergänzend ist zu bemerken, dass bei Platon und bei Aristoteles auch der rationale Seelenteil Emotionen hat und von sich aus fähig ist, Handlungen zu motivieren. Siehe dazu Cooper 1984. Z. B. Alexander v. Aphrodisias, In Topica, 239, 6; Wallies und Porphyr, Sententiae, 32; dazu Dillon 1983. Für eine Abhandlung zum Thema Emotionen in der aristotelischen Tradition siehe Aspasios, In Ethica Nicomachea, 42, 27–47, 2.
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nämlich gemäß der intellektualistischen (oder kognitivistischen) stoischen Position nichts anderes als falsche Urteile. Wo steht nun Plotin in dieser Debatte? Wie bereits eingangs erwähnt, scheint der stoische Weise mit seiner Affektlosigkeit dem plotinischen Ideal besser zu entsprechen als der platonisch-aristotelische, der natürliche oder vernünftige Affekte empfindet. Von diesem Standpunkt aus mag es überraschen, dass Plotin von einem affektiven (pathêtikon) Teil der Seele spricht und ihm eine entscheidende Rolle in seiner Affektenlehre zuspricht.7 Zu diesem affektiven Teil gehören nun gemäß Plotin das Muthafte (thymoeides) und das Triebhafte (epithymêtikon), also zwei Vermögen, deren Entsprechungen bei Platon die irrationalen Seelenteile sind.8 Da nun die Seele einen affektiven Teil hat, würde man erwarten, dass selbst die Seele eines Weisen, wie in der platonisch-aristotelischen Tradition, Affekten unterliegt. Plotin diskutiert die Frage, ob sich dies so verhält, in einem Traktat mit dem Titel Über die Unaffizierbarkeit der unkörperlichen Dinge (Enn. III 6). Wie der Titel suggeriert, ist Plotin der Ansicht, dass nur Körper etwas erleiden können. ‚Erleiden‘ ist hier in einem sehr weiten Sinn gemeint (und nicht auf Affekte beschränkt), und der Traktat ist ein Beitrag Plotins zur antiken Diskussion von Tun (poiein) und Erleiden (paschein), zweier Begriffe, mit deren Hilfe Probleme erörtert wurden, die wir heute unter dem Stichwort ‚Kausalität‘ behandeln:9 Jede Veränderung hat zwei Aspekte, einen aktiven und einen passiven, und entsprechend gibt es etwas, das als Wirkursache fungiert, und etwas, an dem die Veränderung stattfindet (oder das die Veränderung erleidet).10 Plotins Behauptung ist nun die, dass nur Körper etwas erleiden, d. h. durch eine Wirkursache verändert werden können. Da die Seele bei Plotin, wie allgemein im Platonismus, unkörperlich ist, kann sie auch nichts erleiden. Zwar wird dasselbe griechische Wort, pathos, sowohl für den Begriff des Erleidens in kausalitätstheoretischen Diskussionen als auch für Affekte wie Freude oder Schmerz verwendet, daraus dürfen wir aber natürlich _____________ Enn. III 6, 4, 1ff. Von einem affektiven Teil der Seele ist bereits bei Aristoteles, Politika 1254b8, die Rede. 8 Platon führt die zwei erwähnten irrationalen Seelenteile in Staat IV ein. Vor Plotin fasst bereits Alkinoos, Didaskalikos, Kap. 24 die irrationalen platonischen Seelenteile in einem affektiven Seelenteil (pathêtikon) zusammen. 9 Die erste systematische Abhandlung dieses Themas ist wohl Aristoteles, De Generatione et Corruptione I 7. 10 Siehe z. B. Sextus Empiricus, Grundriss der pyrrhonischen Skepsis III 14 und Clemens von Alexandrien, Stromata I 17, 82, 3. 7
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nicht unmittelbar schließen, dass Affekte zum Erleiden zu zählen sind. Der Ausdruck ‚pathos‘ könnte auch homonym einerseits für Affekte und andererseits, in ganz anderer Bedeutung, für das Erleiden verwendet werden. Trotzdem scheint die Annahme, dass Affekte im Sinne von Emotionen einen passiven Aspekt aufweisen, der dem des Erleidens entspricht, gut zu unseren Intuitionen zu passen. Auch die Vertreter eines irrationalen Seelenteils scheinen dieser Meinung gewesen zu sein, was sich möglicherweise darin zeigt, dass sie annahmen, Affekte ließen sich nicht eliminieren, sondern bestenfalls von der Vernunft kontrollieren. Aber wie dem auch sei: Plotin jedenfalls versteht Affekte als eine Art von Widerfahrnis, wie seine Diskussion in Enn. III 6, 4 zeigt, und er besteht darauf, dass der Seele, da sie unkörperlich ist, nichts widerfährt. A fortiori gilt, dass sie keinen Affekten unterworfen ist. Selbst der affektive Teil der Seele wird von nichts affiziert und ist daher auch nicht das Subjekt solcher Affekte wie Freude, Trauer, Lust oder Schmerz (ebd.). Anstatt Affekte zu erleiden, hat dieser Teil der Seele bei der Entstehung von Affekten eine aktive Rolle zu spielen.11 Er ist – in einem gewissen Sinn – die Ursache der Affekte. In welchem Sinn? Plotin vergleicht den affektiven Teil der Seele mit dem Teil, der für das Wachstum des Körpers zuständig ist (ebd.). Dieser Teil ist dafür verantwortlich, dass der Körper wächst, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. Zu diesen Bedingungen zählen zum Beispiel, dass der Körper noch nicht ausgewachsen ist und dass ihm ausreichend Nahrung zugeführt wird. Entsprechend wird der affektive Teil der Seele dafür zuständig sein, dass, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, das Lebewesen entsprechende Affekte empfindet. Plotin diskutiert dieses Beispiel, um durch Analogie zu zeigen, dass ein Seelenteil durch das Bewirken einer bestimmten Veränderung nicht notwendigerweise selbst einer Veränderung unterliegt. Wie der Seelenteil, der Wachstum bewirkt, nicht selbst wächst, so wird der Seelenteil, der Affekte bewirkt, nicht selbst affiziert. Es ist aber auch klar, dass es etwas geben muss, dass der Veränderung, welche die Seele bewirkt, unterworfen ist. Beim Beispiel des Wachstums ist dies natürlich der Körper des Lebewesens. Veränderungen, die der affektive Seelenteil bewirkt, finden nun gemäß Plotin ebenso wie das Wachstum im Leib statt. Dass der Seelenteil, der für das Wachstum zuständig ist, und der affektive Seelenteil beide im Körper des Lebewesens aktiv sind, ist kein Zu_____________ 11
Zur Rolle des affektiven Seelenteils bei der Entstehung von Affekten siehe Emilsson 1998.
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fall. Plotin ist nämlich der Auffassung, dass es sich nicht um zwei verschiedene Seelenteile handelt, sondern nur um verschiedene Funktionen desselben Seelenteils. Diesen bezeichnet er oft mit den auf Aristoteles zurückgehenden Ausdrücken als zeugenden (gennêtikon) oder als vegetativen (phytikon) Seelenteil.12 Aristoteles verwendet diese Ausdrücke zur Bezeichnung der Seelenfunktionen, die für das Leben eines körperlichen Lebewesens grundlegend sind: Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung – also Funktionen, die für den Erhalt und die Reproduktion des Körpers besorgt sind. Nun ist es klar, dass Affekte nicht in jedem Körper auftreten. Stühle ärgert es nicht, wenn man sich auf sie setzt, und sie sind nicht erleichtert, wenn man wieder aufsteht. Sie empfinden gar nichts. Nur lebende Körper haben Affekte. Um den Unterschied zwischen Körpern von Lebewesen und solchen Körpern wie Steinen oder Stühlen klar zu markieren, verwendet Plotin für erstere den technischen Ausdruck „so-beschaffener Körper“ (toionde sôma). Wie bereits Theiler bemerkt hat, geht auch dieser Ausdruck auf Aristoteles zurück, ob dieser ihn nun auch bereits technisch verwendet hat oder nicht.13 Aristoteles bezeichnet in De anima einen Körper als so-beschaffen, wenn er über die grundlegenden Lebensfunktionen wie Selbsternährung und Wachstum verfügt. Auch bei Plotin ist ein sobeschaffener Körper einer, der über die grundlegenden Lebensfunktionen verfügt und in dem somit der vegetative Seelenteil aktiv ist. Wie oben gesagt, ist der affektive Seelenteil identisch mit dem vegetativen. Wir nennen den vegetativen Seelenteil affektiv, wenn wir von seinen affektiven Funktionen reden. Also ist in einem so-beschaffenen Körper, einem Leib, auch ein affektives Vermögen vorhanden. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass Affekte für Plotin Aktivitäten sind, die in den grundlegenden Funktionen des Leibes angelegt sind. Sie sind also für Plotin in doppeltem Sinne Affekte des Leibes: Sie treten im Leib auf und dienen dessen Erhaltung und Reproduktion. Hunger, Angst und Schmerz sind klare Beispiele dafür, wie wichtig Affekte für das Leben eines körperlichen Lebewesens sind. Wir sehen also bereits hier, wie Plotin die eingangs aufgestellte Aporie auflöst. Affekte sind zwar _____________ Die Ausdrücke kommen z. B. vor bei Aristoteles: Nikomachische Ethik 1102a32; De generatione animalium 735a17; bei Plotin: Enn. I 1, 8, 21; IV 4, 27,1f.; IV 4, 28, 16. Das Vermögen wird von Aristoteles in De anima II 4 diskutiert. 13 Aristoteles, De Anima 403a26; 412a11f.; 16f.; b11; 16; 27; 414a22. Theiler: Anmerkung zu Enn. II 3, 9, 12 in Plotin 1956–1971. 12
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nicht Teil eines guten Lebens, sie sind aber trotzdem notwendiger und nützlicher Bestandteil eines jeden leiblichen Lebens. In einem Exkurs in Enn. IV 4 (Kap. 28 und 29) diskutiert Plotin eine ganze Reihe von Affekten und klassiert sie unter das Mutartige (thymoeides) und das Triebhafte (epithymêtikon). Affekte treten in verschiedenen Teilen des Körpers auf. Plotin lokalisiert Affekte, die zum Mutartigen gehören, tendenziell im Bereich des Herzens und solche, die zum Triebhaften gehören, tendenziell im Bereich der Leber. Die Lokalisierung ist so zu verstehen, dass ein Affekt der jeweiligen Art in der Regel im jeweiligen Organ seinen Ursprung hat. So findet in der Leber der größte Teil der triebhaften und im Herzen der größte Teil der mutartigen Aktivität statt.14 Es gibt aber auch Affekte, die in anderen Körperteilen ihren Platz haben. So lokalisiert Plotin die sexuelle Lust in den Geschlechtsorganen (Enn. IV 4, 28). Schmerzen treten an den Stellen im Körper auf, die verletzt worden (oder erkrankt) sind. Der affektive Teil der Seele ist also nicht bloß auf die zwei Zentralorgane Herz und Leber beschränkt, sondern im ganzen Leib aktiv. Die Tatsache, dass alle Affekte solche des Leibes sind, impliziert nicht, dass sie rein physikalische Ereignisse sind. Die Idee, dass sich Körper von Lebewesen nicht prinzipiell von anderen Körpern unterscheiden, ist wohl erst cartesisch, die Folge eines bestimmten Verständnisses der Körperwelt, gemäß welchem alle körperlichen Veränderungen in gleicher Weise durch die Physik erklärt werden können.15 Dass zumindest Plotin weit davon entfernt ist, ein solch cartesisches Verständnis zu teilen, wird schon daraus klar, dass er, worauf ich bereits oben hingewiesen habe, auf den (wie er es sieht) fundamentalen Unterschied zwischen leblosen Körpern (wie Stühlen und Steinen) und belebten Körpern großen Wert legt. Dass Affekte aber durchaus auch physikalische Vorgänge und eng mit körperlichen Zuständen und Dispositionen verwoben sind, wird von Plotin nicht bezweifelt. Das zeigt seine Diskussion des Zorns in Enn. IV 4, 28: Das Blut und die Galle um das Herz kochen, wenn man zornig ist. Derselbe Mensch wird schneller zornig, wenn er krank oder hungrig, als wenn er satt oder gesund ist. Dass es aber auch Unterschiede zwischen
_____________ Die Lokalisierung der zwei Affektarten in Herz bzw. Leber entspricht Platon, Timaios 69c–72d. 15 Siehe vor allem Descartes’ Traité de l’Homme und La Description du corps humain et de toutes ses fonctions. Dazu und allgemein zur frühneuzeitlichen Idee des menschlichen Körpers als Maschine vgl. Giglioni 1995 und Des Chene 2001. 14
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den Menschen gibt, zeigt sich daran, dass Menschen mit wenig Galle milde sind und kaum in Rage geraten.16 Dem lebenden Körper ist aber nicht nur das Kochen des Blutes und der Galle als physiologischer Prozess zuzuschreiben, sondern auch das Gefühl des Zorns. Mit „Gefühl“ meine ich den qualitativen oder phänomenalen Aspekt des Affekts.17 Dass der Leib auch fühlt, ist eben gerade darin begründet, dass er nicht ein Körper wie ein Stuhl ist, sondern ein lebender Körper. Entsprechend sagt Plotin in Enn. IV 4, 19 über den Schmerz, dass, wenn der Körper bei einer Operation aufgeschnitten wird, die Gewebemasse (ogkos) geschnitten wird – aber eben nicht nur: Es findet auch eine Schmerzempfindung im Gewebe statt, denn das Gewebe ist lebendes Gewebe. Im selben Kapitel betont Plotin, dass, wenn man sagt, der Mensch habe am Finger Schmerzen, dies eine uneigentliche Art zu reden sei, wie wenn man (metonymisch) einen Menschen strahlend nennt, wobei eigentlich sein Gesicht strahlt. In Wahrheit, so Plotin, schmerzt der Finger. Es ist bemerkenswert, dass Plotin in seiner Rede von Affekten oft von deren Lokalisierung spricht. Der Grund dafür ist darin zu finden, dass Affekte – buchstäblich gesprochen – im Körper stattfinden. Sie sind aber keine rein physiologischen Ereignisse (in unserem modernen Sinn), sondern haben wesentlich auch einen qualitativen oder phänomenalen Aspekt. Das Gefühl ist vom physiologischen Vorgang nicht zu trennen: Beide zusammen konstituieren den Affekt.
2. Was empfindet die Seele? Vorerst eine terminologische Bemerkung. Um den Begriff der leiblichen von dem der seelischen pathê bei Plotin zu unterscheiden, nenne ich erstere „Affekte“ und letztere „Emotionen“. Das scheint mir gerechtfertigt, weil Plotin das Wort pathos, wie wir gleich sehen werden, entsprechend in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. _____________ Die Tatsachen, dass (a) dieselbe Person zu verschiedenen Zeiten vom selben Affekt verschieden affiziert werden kann, ohne dabei ihre Überzeugungen geändert zu haben, und (b) verschiedene Personen mit denselben Überzeugungen von demselben Affekt verschieden affiziert werden können, kann Plotin im Gegensatz zum klassischen (chrysippeischen) Stoizismus erklären. 17 Ich möchte terminologisch zwischen „Gefühl“, „Affekt“ und, wie wir sehen werden, „Emotion“ unterscheiden. 16
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Unsere bisherige Diskussion war ganz auf den Leib beschränkt. Die Seele, soweit wir sie bis jetzt betrachtet haben, hatte bloß die Funktion, durch den affektiven Teil Affekte im Leib zu bewirken. Was heißt das nun für die Seele? Ist sie ganz ohne Emotionen? Verfügt sie über eine andere Art von Handlungsmotivation oder ist ihre ganze Tätigkeit ausschließlich kognitiv? Auch zu den Affekten stellen sich weitere Fragen: Reichen die Affekte des Leibes aus, um den ganzen Reichtum menschlicher Emotionen zu erklären? Die letzte dieser Fragen ist vor allem vor dem stoischen Hintergrund von großer Bedeutung. Denn die Stoiker haben nachdrücklich betont, dass Emotionen kognitiven Gehalt haben: Sie sind ihnen gemäß Urteile der Vernunft. Es ist gerade dieser Aspekt, der die stoische Position für manche Philosophen heute wieder attraktiv macht.18 Nehmen wir zunächst an, Plotin habe die stoische Position rundweg abgelehnt und seine ganze Emotionstheorie auf eine Theorie der leiblichen Affekte beschränkt. Wäre dies der Fall, wäre jede Seele zu jedem Zeitpunkt frei von jeglichen Emotionen. Um zu klären, ob dies tatsächlich Plotins Position ist, wollen wir zunächst weiter untersuchen, welche Rolle die Seele bei Affekten spielt. Wie eingangs erwähnt, spielen Affekte traditionell für Handlungen eine entscheidende Rolle, weil ihre Objekte (wirkliche oder vermeintliche) Güter und Übel sind. Die meisten Menschen streben nach Dingen wie Ansehen, Gesundheit und Freunden, weil sie diese Dinge für Güter halten („zu Recht“, sagen traditionelle Platoniker und Aristoteliker – „zu Unrecht“, antworten Stoa und Plotin). Ist es nun ausschließlich der Leib, der uns dazu motiviert, nach solchen Dingen zu streben und ihr jeweiliges Gegenteil zu meiden? Falls ja: Welche Rolle spielt dann die Seele bei der Handlungsmotivation? Bei vielen der (scheinbaren) Güter, nach denen wir streben, erfordert schon allein der Versuch, sie zu erlangen, komplexe kognitive Aktivität, wenn er nicht ganz hoffnungslos sein will. Man muss planen, kalkulieren, diverse Faktoren in Betracht ziehen usw. Es ist klar, dass an solchen Handlungen die Seele als kognitives Vermögen beteiligt sein muss, schon allein deshalb, weil auch viele Überzeugungen in diejenigen Prozesse involviert sind, die zu einer Handlung führen. Außerdem wird es der Leib einer Person kaum alleine schaffen, zornig zu werden, wenn zum Beispiel _____________ 18
So bezeichnet z. B. Nussbaum 2001, 4 aus diesem Grund ihre eigene Position als „neo-Stoic“. Das stoische Ideal der Affektlosigkeit hingegen findet heute kaum noch Freunde.
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ein Witz auf ihre Kosten gemacht wird. Ihr Leib wird den Witz nicht verstehen und noch weniger, dass er auf sie gemünzt ist. Ohne kognitive Aktivität kocht in diesem Fall weder Blut noch Galle. Außerdem muss die Seele in der Lage sein, zur Kenntnis zu nehmen, in welchen affektiven Zuständen sich der Leib befindet. Denn es gehört zu den Aufgaben der Seele, sich um den Leib zu kümmern. Wenn der Leib zum Beispiel Nahrung braucht und somit im affektiven Zustand des Hungers ist, dann muss die Seele fähig sein, dies irgendwie zu bemerken. Damit sie sich um den Körper kümmern kann, muss sie bedenken können, was ihm in konkreten Situationen nützt und schadet – und dazu muss sie nicht nur die aktuelle Umgebung wahrnehmen (sind Beeren oder Tiger in der Nähe?), sondern auch den Zustand des Körpers (Braucht er Nahrung? Hat er sich verletzt?). In seiner Diskussion vom schmerzenden Finger sagt Plotin entsprechend, dass der Affekt zwar im Leib stattfinde, die Seele ihn aber zur Kenntnis nehme (Enn. IV 4, 19). Auch beim Auftreten einer Begierde im Leib wird die Seele mittels einer Vorstellung (phantasia) darüber informiert, wobei Plotin die Vorstellung der Begierde mit einer Wahrnehmung vergleicht (Enn. IV 4, 17).19 An anderen Stellen erklärt Plotin ausdrücklich, dass die Seele die Affekte des Leibes wahrnehme.20 Die Seele steht also auf diese Weise mit dem Leib in einer ähnlichen Beziehung wie mit der Außenwelt. Wie wir bereits im ersten Teil gesehen haben, kann die Seele mittels ihres affektiven Teils auf die affektiven Zustände des Körpers einwirken. Dies wird in Plotins Diskussion des Zorns in Enn. IV 4, 28 deutlich:21 Zorn kann seinen Ursprung im Leib haben, nämlich dann, wenn der Leib etwas erleidet, so dass, als Folge davon, das Blut und die Galle um das Herz erhitzt werden und das Gefühl des Zorns aufkommt. In diesem Fall, den wir oben schon betrachtet haben, nimmt die Seele den Zorn des Leibes wahr. Es gibt aber auch viele Fälle, bei denen wir zornig werden, obwohl dem Leib nichts geschehen ist. Wir zürnen z. B. über Dinge, die unseren Freunden zustoßen und überhaupt über ungebührliche Handlungen (ebd.). In solchen Fällen ist nicht der Leib der Ursprung des Zorns, sondern die Seele. Dabei nimmt die Seele wahr (oder zumindest scheint es der _____________ 19 20 21
Ich werde auf den Begriff der Vorstellung zurückkommen. Enn. I 1, 1, 6; Enn. III 6, 1, 2; Enn. IV 3, 26, 8. Für eine analoge Erklärung des Auftretens von Furcht siehe Enn. III 6, 4. Dazu Fleet in Plotinus 1995, 115–132 und Rehm 1997.
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Seele), dass ein Unrecht geschehen ist – auch ein Unrecht, welches nicht ihren Leib betrifft. Sie bringt den Leib in einen zornigen Zustand und macht ihn, wie Plotin sich ausdrückt, zu ihrem „Kampfgefährten“ (ebd.). Die Seele nimmt also die affektiven Zustände des Körpers wahr, kann diese aber auch bewirken. Auch diese Relation zwischen Seele und Leib findet eine Entsprechung im Verhältnis zwischen Seele und Außenwelt.22 Dass die Seele auf diese Weisen mit dem Leib interagiert, impliziert jedoch nicht, dass sie selbst Emotionen empfindet. Vielleicht ist das Engagement der Seele ausschließlich kognitiv, und sie selbst empfindet dabei keine Emotionen. Und es gibt eine Stelle bei Plotin, die man leicht auf diese Weise interpretieren kann. In Enn. IV 4, 18 wird nämlich gesagt, Schmerz und Lust des Körpers resultiere für die Seele in einer affektlosen Kenntnisnahme (eis gnôsin apathê). Nun kann aber die Ansicht, die Seele sei bloß kognitiv aktiv, nicht diejenige Plotins sein. Das wird aus seiner Diskussion der Konflikte zwischen Leib und Seele deutlich.23 Die Seele kann von den Begierden und Ängsten des Leibes überwältigt werden und sie sich zu eigen machen. Sie kann sich ihnen aber auch entgegenstellen, sodass man, obwohl einem angesichts eines leckeren Kuchens das Wasser im Mund zusammenläuft, seine Diät fortsetzt oder trotz zitternder Glieder und schwitzender Hände nicht davonrennt. Die Konflikte zwischen Leib und Seele können nicht erklärt werden, wenn die Seele nur kognitiv aktiv ist und selbst keine motivationale Kraft besitzt. Natürlich reicht das Zugeständnis, dass die Seele ihre eigene motivationale Kraft hat, noch nicht dafür aus, zu schließen, dass sie emotional berührt wird. Vielleicht nimmt sie die Freuden und Leiden des Leibes ja unbewegt zur Kenntnis und setzt sich dem Leib durch eine rein rationale Motivation entgegen. Wenn dies der Fall wäre, würde die Seele selbst dann unbewegt bleiben, wenn ihr Leib auf die Folterbank gespannt würde. Nach dieser Interpretation würden sich die Qualen des Leibes für die Seele bloß in einem desinteressierten, leidenschaftslosen Zurkenntnisnehmen erschöpfen. Vielleicht ist es problemlos, dies für die Seele eines Weisen anzunehmen. Tatsächlich scheint Plotin der Meinung zu sein, dass es ein Zeichen _____________ Plotins Diskussion der Interaktion zwischen Leib und Seele zeigt, wie weitgehend der Leib für die Seele der Außenwelt angeglichen ist, ohne jedoch – wie wir im ersten Teil gesehen haben – schon cartesisch etwas ganz Äußerliches zu sein. Der plotinische Leib-Seele-Dualismus ist vom cartesischen verschieden, trägt aber ähnliche Züge. 23 Enn. II 3, 9; Enn. III 1, 3, 24; Enn. IV 8, 1, 24ff. 22
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der Weisheit ist, klar zwischen den Angelegenheiten der Seele und denen des Leibes zu unterscheiden und sich letztere nicht zu eigen zu machen. In Enn. I 4, 4 sagt er, der Weise kümmere sich zwar um den Leib, der mit ihm verknüpft sei, dieser habe aber sein eigenes Leben, und das sei nicht das Leben des Weisen. Denn das Leben des Weisen ist das Leben seiner Seele. Der Weise mag also von den Kalamitäten, die seinen Leib befallen, emotional ganz unberührt bleiben. Aus denselben Stellen wird aber auch klar, dass dies für den Nichtweisen – und das heißt für uns alle – nicht gilt. Unsere Seele, im Gegensatz zu der des Weisen, wird bewegt oder gar erschüttert, wenn der Leib schmerzt, wenn Freunde sterben, wenn unsere Stadt niedergebrannt wird, wenn unsere Töchter von den Feinden verschleppt werden.24 Diese seelischen Erschütterungen und Leiden sind nach Plotin eben gerade darin begründet, dass wir glauben, es sei ein Übel, wenn einem solcherlei zustößt. Für unseren momentanen Zusammenhang ist aber nur wichtig zu sehen, dass Plotin durchaus der Meinung ist, dass wenigstens Seelen von Nichtweisen – und damit zumindest wir alle – Emotionen empfinden. Das wird auch aus Enn. I 1 klar. Die Schrift beginnt mit folgenden Worten: „Lust und Unlust, Furcht und Mut, Begierde und Abneigung, und der Schmerz, wer ist ihr Träger?“ Es stellt sich also die Frage nach dem Träger, dem Subjekt, von Emotionen. In der Folge ist die Diskussion in diesem Traktat aber nicht auf Emotionen beschränkt, sondern beschäftigt sich auch mit der Frage nach dem Träger von Wahrnehmungen, Meinungen und diskursivem Denken und geht davon aus, dass all diese Aktivitäten solche desselben Subjekts sind. Allein schon dieser Kontext macht es deutlich, dass Plotin nicht den Leib mit seinen Affekten im Auge hat, sondern die Seele. Denn Wahrnehmung, Meinungen und diskursives Denken gehören zweifellos zur Seele und nicht zum Leib. Da Emotionen zum selben Subjekt wie diese gehören, muss also auch die Seele Emotionen besitzen. Da Affekte zum Leib gehören, können Emotionen aber keine Affekte sein. Was sind sie dann? Um diese Frage zu beantworten, möchte ich auf die früher aufgestellte Behauptung zurückkommen, gemäß der die Seele die Affekte des Leibes wahrnimmt. Ich werde nun dafür argumentieren, dass es eine Klasse von Emotionen gibt, die eine bestimmte Art von Wahrnehmung sind. Bei solchen Emotionen geht die Gefühlsfärbung und die motivationale Kraft auf _____________ 24
Siehe Enn. I 4, 7.
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einen entsprechenden leiblichen Affekt zurück.25 Ich werde nicht behaupten, dass alle Emotionen zu dieser Klasse gehören und am Ende kurz auch auf Emotionen eingehen, die nichts mit dem Leib zu tun haben. In seinem grundlegenden Buch zu Plotins Wahrnehmungstheorie zeigt Emilsson, dass Plotin zwischen dem sinnlichen Affekt und der eigentlichen Wahrnehmung unterscheidet.26 Der sinnliche Affekt findet im Leib statt, während die eigentliche Wahrnehmung ein Wahrnehmungsurteil der Seele ist. Emilssons Interpretation gemäß bestimmt Plotin den sinnlichen Affekt als Anschauung (engl. sensation). Emilsson erklärt dies mit folgendem Beispiel:27 Nehmen wir an, ich sehe ein grünes Feld, hebe meine Augen und sehe den blauen Himmel. Der Wechsel vom Sehen des Feldes zum Sehen des Himmels involviert einen Wechsel von einem Wahrnehmungsurteil („Ich sehe das grüne Feld.“) zu einem anderen („Ich sehe den blauen Himmel.“). Emilsson argumentiert nun dafür, dass diesem Wechsel ein anderer Wechsel zugrunde liegt, bei dem ich ein rein passiver Rezipient bin. Wenn man jegliche Begrifflichkeit von meiner visuellen Erfahrung abzieht, bleibt immer noch etwas übrig. Emilsson vergleicht das, was übrig bleibt, mit der Erfahrung eines noch nicht der Sprache mächtigen Kleinkindes, das seine Augen vom grünen Feld zum blauen Himmel hebt. Was das Kleinkind wahrnimmt, kann man wohl als reine Farberfahrung bezeichnen – eine Erfahrung, die frei von jeglicher Begrifflichkeit ist. Auf diese Weise würde jedenfalls Plotin den eben beschriebenen Wechsel nach Emilssons Deutung erklären. Diese rein passive Erfahrung nennt Emilsson nun Anschauung (sensation) und identifiziert sie mit dem Affekt des Leibes. Auch hier ist also der Affekt nicht bloß ein physiologischer Vorgang, sondern auch ein phänomenaler: Das Kleinkind sieht (vorbegrifflich) Grün und Blau. Die eigentliche Wahrnehmung aber ist ein Urteil der Seele. Die Seele urteilt, dass das Feld grün ist und dass der Himmel blau ist. _____________ Das impliziert nicht, dass sich solche Emotionen ausschließlich auf leibliche Zustände beziehen, wie das obige Beispiel des Zorns zeigt. Ich kann nämlich zornig darüber sein, dass einem Freund ein Unrecht geschehen ist. Auch in solchen Fällen kommt jedoch die Gefühlsfärbung vom Leib. 26 Emilsson 1988. Für unseren Kontext sind vor allem Kap. IV und VII wichtig. Dass Plotin Anschauung (engl. sensation) und Wahrnehmung (engl. perception) unterscheidet, hat bereits Dodds (in seinem Kommentar zu Schwyzer 1960, 385) bemerkt, aber erst Emilsson hat den Unterschied systematisch ausgearbeitet. 27 Emilsson 1988, 83f. 25
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Wie bei der Stoa besteht also eine Wahrnehmung der Seele in einem Urteil. Gemäß der stoischen Erkenntnistheorie heißt das: in einer Zustimmung zu einer Vorstellung. Das ist nur möglich, wenn menschliche Vorstellungen propositionalen Gehalt haben. Eine Vorstellung zu haben heißt, dass sich einem ein Sachverhalt auf gewisse Weise darstellt. Wenn man sieht, dass die Magnolie vor dem Haus blüht, hat man den Eindruck oder die Vorstellung, dass die Magnolie vor dem Haus blüht (wobei „Die Magnolie blüht vor dem Haus.“ der propositionale Gehalt der Vorstellung ist). Die Tatsache, dass zwei Vorstellungen genau denselben propositionalen Gehalt haben, impliziert aber nicht, dass es genau dieselben Vorstellungen sind. Derselbe propositionale Gehalt kann mir nämlich ganz verschieden erscheinen. Die wahre Vorstellung, dass die Magnolie vor dem Haus blüht, ist eine andere, je nachdem, ob ich es mit eigenen Augen sehe, ob es mir jemand erzählt oder ob ich es geträumt habe. Außerdem wird das Herz eines Blumenfreundes höher schlagen, wenn er hört, dass die Magnolie vor dem Haus blüht, während derselbe Sachverhalt einer weit fortgeschrittenen Mystikerin ganz indifferent erscheinen mag. Entsprechend werden die Vorstellungen von Blumenfreund und Mystikerin trotz desselben propositionalen Gehaltes sehr verschieden sein. Während uns Vorstellungen unwillkürlich gegeben sind, liegt die Zustimmung zu ihnen in unserem Ermessen. Nur wenn wir eine Vorstellung akzeptieren, glauben wir, dass sich die Sache so verhält, wie wir sie uns vorstellen (oder: wie sie sich uns darstellt). Wir können aber auch Vorstellungen haben, denen wir nicht zustimmen. Der halb ins Wasser getauchte Stab erscheint einem immer noch als gebrochen, nachdem man sich überzeugt hat, dass er nicht gebrochen ist. Da einem in diesem Beispiel der Stab als gebrochen erscheint, hat man die Vorstellung, dass er gebrochen ist. Man wird dieser Vorstellung aber nicht zustimmen, wenn man sich davon überzeugt hat, dass sie falsch ist.28 Wie die Stoa hält auch Plotin menschliche Seelen für rational und entsprechend haben menschliche Vorstellungen propositionalen Gehalt. Eine Wahrnehmung ist die Zustimmung zu einer entsprechenden Vorstellung. Wenn wir nun Plotins Behauptung, Emotionen seien eine Art Wahrnehmung, ernst nehmen – und ich sehe keinen Grund, warum wir dies nicht _____________ 28
Sowohl in der stoischen Ethik und Erkenntnistheorie als auch in der plotinischen Ethik ist die Unterscheidung zwischen unwillkürlich gegebener Vorstellung und der Zustimmung zu ihr, welche allein in unserem Ermessen liegt, von entscheidender Bedeutung. Für die Stoa siehe Görler 1977, Arthur 1983 und Frede 1983.
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tun sollten –, dann trifft das, was eben zu Plotins Wahrnehmungstheorie gesagt wurde, auch auf solche Emotionen zu. Aufgrund der obigen Besprechung leiblicher Affekte ist klar, dass Affekte nicht bloß physiologische Veränderungen sind, sondern wesentlich auch Gefühle. Diese Gefühle entsprechen nun der Anschauung in der Sinneswahrnehmung. Die Seele hat nun unwillkürlich eine Vorstellung. Diese Vorstellung hat propositionalen Gehalt, nimmt aber in der Regel auch den Gefühlsaspekt des leiblichen Affekts auf – genauso wie die Vorstellung einer sinnlichen Wahrnehmung die farblichen (oder sonstigen qualitativen) Aspekte der Anschauung aufnimmt. Wenn der Finger schmerzt und die Seele dies wahrnimmt, wird sie also die Vorstellung haben, dass der Finger schmerzt. Diese Vorstellung hat propositionalen Gehalt – aber nicht nur: Auch das Schmerzgefühl ist Teil der Vorstellung. In Enn. VI 8, 3 erklärt Plotin genau dies: Je nachdem, in welchem Zustand sich ihr Körper befindet, hat die Seele verschiedene Vorstellungen.29 Dass es dabei nicht bloß um Propositionen geht, die den Zustand des Leibes wiedergeben, wird wieder aus Plotins Diskussion des Zorns klar. Wir haben bereits gesehen, dass Zorn sowohl von der Seele als auch vom Leib ausgehen kann. Wenn der Zorn im Leib seinen Anfang nimmt, dann „tritt eine Wahrnehmung ein und die Vorstellung gibt der Seele Anteil an der Disposition des so bestimmten Leibes […]“ (Übersetzung Harder). Wir erfahren im selben Abschnitt außerdem, dass der vom Leib ausgehende Zorn die Seele mittels einer Vorstellung auf seine Seite reißt. Die Tatsache, dass der leibliche Zorn die Seele mittels einer Vorstellung zu etwas hinreißen kann, zeigt, dass die Vorstellung nicht bloß eine Proposition ist, sondern auch einen motivationalen Aspekt aufweist: In der Vorstellung bleibt das Gefühl des Zorns erhalten, es wird aber begrifflich gefasst. Die Qualität der Vorstellung hängt also vom Affekt ab, von dem man eine Vorstellung hat. Dies ist nicht überraschend. Es ist aber wichtig zu sehen, dass sie nicht nur vom Affekt abhängt, sondern auch davon, wie sich die Seele zum Affekt verhält. Dies wiederum hängt von den Überzeugungen ab, welche die Seele hat. Wenn ich Schmerzen für ein Übel halte, dann wird sich mir die Tatsache, dass mich mein Finger schmerzt, anders darstellen als wenn ich Schmerz, wie ein Weiser, für etwas völlig Indifferentes halte. Der Weise und der Nichtweise haben ganz verschiedene Vorstellungen von denselben Dingen. Während Schmerz bei uns _____________ 29
Siehe auch Enn. IV 3, 32; VI 8, 18, 19.
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(mittels einer Vorstellung) die Seele in Aufruhr versetzen und so, wenn wir zustimmen, Handlungen auslösen kann, wird dies beim Weisen nicht der Fall sein.30 Denn der Weise weiß, dass Schmerz ein Affekt des Leibes ist. Er wird ihn zur Kenntnis nehmen, ohne aber selbst (d. h. in seiner Seele) emotional davon betroffen zu sein. Er wird also den Schmerz als Schmerz des Leibes und somit als äußerlich wahrnehmen. Bevor wir abschließend kurz zur Klasse von jenen Emotionen kommen, die keine leibliche Basis haben, seien zwei zentrale Aspekte von Plotins Emotionstheorie, soweit sie uns Nichtweise betreffen, betont. Da Emotionen bei Plotin wie bei der Stoa propositionalen Gehalt haben, findet sich auch bei Plotin ein Element, das vielen an der stoischen Position attraktiv erscheint. In dieser Hinsicht ist Plotins Emotionstheorie also kognitivistisch. Anders als die Stoa glaubt Plotin aber, dass die Emotionen der gewöhnlichen, nichtweisen Menschen ihre qualitative Basis in einem leiblichen Affekt haben, ohne jedoch auf solche Affekte reduziert werden zu können. Plotin kann so im Gegensatz zur Stoa den engen Zusammenhang zwischen leiblichen und emotionalen Zuständen einer Person erklären, ohne eine nichtkognitivistische Position einzunehmen. Dieser Punkt, mit dem er über die Stoa hinausgeht, scheint mir ein zweites attraktives Element an Plotins Emotionstheorie zu sein. Der Fokus unserer Diskussion lag auf den auf dem Leib basierenden Emotionen des gewöhnlichen Menschen. Wie steht es mit dem Weisen? Hat er, der von den Affekten des Leibes ganz unbeeinflusst bleibt, keine Emotionen? Wir wissen, dass die Stoa ihren Weisen nicht ohne Emotionen leben lässt.31 Die Emotionen des Weisen sind allerdings grundverschieden von denen der gewöhnlichen Leute – sie sind sogenannte gute Emotionen (eupatheiai). Plotins Auffassung ist ähnlich. Sein Weiser ist frei von Emotionen, die qualitativ auf leiblichen Affekten beruhen. Trotzdem schreibt auch Plotin dem Weisen Emotionen zu, Emotionen anderer Art allerdings. Die Emotionen des Weisen verdanken ihre motivationale Kraft und ihre Gefühlsfärbung nicht dem Leib, sondern der Vernunft. So beschert dem Weisen das Nachdenken über die Wirklichkeit höchste Befriedigung (Enn. IV 7, 30). Aber der Weise ist nicht nur in einem guten emotionalen Zustand, wenn er über _____________ Dazu, dass sich die Vorstellungen des Weisen fundamental von denen des Nichtweisen unterscheiden, siehe Enn. I 4, 7–8 mit Schniewind 2003, 148–150. 31 Frede 1986. 30
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die Wirklichkeit nachdenkt, sondern selbst dann, wenn er sich um die profanen irdischen Angelegenheiten kümmert: „Heiter aber ist der Weise immerdar, sein Zustand ist ruhevoll, seine Stimmung voll Zufriedenheit, und keines der angeblichen Übel kann sie erschüttern, wenn er wirklich ein Weiser ist.“32
Literatur Plotins Schriften werden nach der von Henry und Schwyzer besorgten Ausgabe Plotini Opera zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Alle Zitate werden in der Übersetzung von Harder (mit leichten Modifikationen des Verfassers) wiedergegeben. Üblicherweise ist die Ausgabe der Schriften Plotins in sechs Neunergruppen, sogenannten Enneaden, eingeteilt. Die Zahl in römischen Ziffern verweist auf die Enneade, die folgende Zahl in arabischen Ziffern auf die Stellung des Traktats innerhalb der Neunergruppe. Die verwendete Sigle ist: Enn. Arthur, E. P. (1983), The Stoic Analysis of the Mind’s Reactions to Presentations, in: Hermes 111, 69–78. Blumenthal, Henry J. (1971), Plotinus’ Psychology. His Doctrines of the Embodied Soul, Den Haag. Caluori, Damian (2005), The Essential Functions of a Plotinian Soul, in: Rhizai 2, 75– 93. Cooper, John (1984), Plato’s Theory of Human Motivation, in: History of Philosophy Quarterly 1, 3–24. Des Chene, Dennis (2001), Spirits and Clocks. Machine and Organism in Descartes, Ithaca. Dillon, John (1983), Metriopatheia and Apatheia: Some Reflections on a Controversy in Later Greek Ethics, in: John P. Anton/Anthony Preus (Hg.), Essays in Ancient Greek Philosophy II, Albany, 508–517. Emilsson, Eyjólfur Kjalar (1988), Plotinus on Sense-Perception: A Philosophical Study, Cambridge. Emilsson, Eyjólfur Kjalar (1998), Plotinus on the Emotions, in: Juha Sihvola/Troels Engberg-Pedersen (Hg.), The Emotions in Hellenistic Philosophy, Dordrecht, 339–363. Frede, Michael (1983), Stoics and Sceptics on Clear and Distinct Impressions, in: Myles Burnyeat (Hg.), The Skeptical Tradition, Berkeley, 65–93. Frede, Michael (1986), The Stoic Doctrine of the Affections of the Soul, in: Malcolm Schofield/Gisela Striker (Hg.), The Norms of Nature. Studies in Hellenistic Ethics, Cambridge, 93–110. Giglioni, Guido (1995), Automata compared: Boyle, Leibniz and the Debate on the Notion of Life and Mind, in: British Journal for the History of Philosophy 3, 249–278. Görler, Woldemar (1977), ˒ƲƧƤƬ̾Ʊ ƲƴƢƩƠƳ̻ƧƤƲƨƱ. Zur stoischen Erkenntnistheorie, in: Würzburger Jahrbücher für Altertumswissenschaft, N. F. III, 83–92. Igal, Jesús (1979), Aristóteles y la evolución de la antropología de Plotino, in: Pensiamento 35, 315–345. Kristeller, Paul Oskar (1929), Der Begriff der Seele in der Ethik des Plotin, Tübingen.
_____________ 32
Ich danke Sophie Caflisch und Magdalena Hoffmann herzlich für ihre hilfreichen Bemerkungen zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.
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Nussbaum, Martha C. (2001), Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge. Plotin (1956–1971), Plotins Schriften. Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, hrsg. von Richard Harder/Rudolf Beutler/Willy Theiler, Hamburg. Plotin (1964–1982), Plotini Opera, hrsg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer, Oxford (=Enn.). Plotinus (1995), Plotinus Ennead III.6. On the Impassivity of the Bodiless. Translation and Commentary by Barry Fleet, Oxford. Rehm, David (1997), The Structure of Emotions in Plotinus, in: American Catholic Philosophical Quarterly 71, 469–488. Schniewind, Alexandrine (2003), L’éthique du sage chez Plotin. Le paradigme du spoudaios, Paris. Schwyzer, Hans-Rudolf (1960), „Bewusst“ und „Unbewusst“ bei Plotin, in: Les sources de Plotin. Entretiens sur l’antiquité classique 5, Genève. Smith, Andrew (1999), The Significance of Practical Ethics for Plotinus, in: John J. Cleary (Hg.), Traditions of Platonism: Essays in Honour of John Dillon, Aldershot, 227– 236.
Augustinus (354–430)
Augustinus: Die Ambivalenz der Affekte zwischen Natürlichkeit und Tyrannei Johannes Brachtendorf 1. Der hellenistische Kontext Die Emotionen nehmen einen zentralen Platz in Augustins Lehre vom Menschen und seinem Lebensziel ein. Dies kommt bereits in der ikonografischen Tradition zum Ausdruck, die Augustinus als den Mann mit dem vor Liebe brennenden Herzen darstellt. In den Confessiones, Augustins bekanntestem Werk, spielen neben der Liebe weitere emotionale Zustände eine bedeutende Rolle, vor allem die Traurigkeit, aber auch die Demut und die von Tränen begleitete Reue. Oftmals spricht man sogar von einer christlichen Rehabilitation der Affekte, die Augustinus und seiner Kritik an der emotionsfeindlichen Stoa zu verdanken sei. Allerdings ist der Begriff „Emotion“ bei Augustinus nicht zu finden. Stattdessen verwendet er die zu seiner Zeit gängigen Ausdrücke wie perturbatio, affectio, affectus und vor allem passio (vgl. CD IX, 4), die zumeist mit „Leidenschaft“ übersetzt werden. Damit ist zugleich ein inhaltlicher Akzent gesetzt, denn während der moderne Begriff „Emotion“ sowohl lang anhaltende als auch kurze, impulsive Zustände bezeichnet und vielleicht sogar eher an letztere erinnert, interessiert Augustinus sich vor allem für Emotionen, insofern sie grundlegende charakterliche Dispositionen und letztlich sogar Lebensorientierungen erkennen lassen. Weiterhin lässt der moderne Begriff zunächst an unwillkürliche, naturhafte Vorgänge im Menschen denken, die einem einfachen Schema von Reiz und Reaktion folgen, während Augustinus (wie die antike Philosophie überhaupt) die Affekte zunächst aus ethischer Perspektive in den Blick nimmt. Demnach ist der Mensch grundsätzlich verantwortlich für sein emotionales Leben. Affekte sind Gegenstand moralischer Beurteilung und pädagogischer Bemühung. Gefragt wird hier: Sind die Affekte eines Menschen so beschaffen, dass sie seine charakterliche Ausrichtung auf das höchste Gut befördern oder verhindern? Alle großen Schulen – die platonische Akademie,
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der Peripatos, Epikur, die Stoa und der Neuplatonismus – waren übereinstimmend der Meinung, die Affekte bedürften der Therapie. Diesem Therapiekonzept zufolge befindet sich der Mensch zunächst in einem Zustand innerer Fehlhaltungen, der sich einerseits in Fehlorientierungen der Affekte manifestiert, und andererseits durch die fehlgehenden Affekte seinerseits perpetuiert wird. Wir freuen uns über Nichtiges, begehren Dinge, die in Wahrheit nicht begehrenswert sind, haben Angst vor letztlich Belanglosem und trauern, wo in Wahrheit nichts zu betrauern ist. Wer hingegen ein tugendhafter, ein glücklicher Mensch werden will – moderner gesagt: wer ein gelingendes Leben leben will – der muss sich auf jeden Fall einer Therapie der Affekte unterziehen. Dann wird er sich nur noch über wahrhaft Gutes freuen, über wahrhaft Schlechtes trauern und nur solches begehren, das wirklich begehrenswert ist. Trotz aller Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit einer Therapie bestand unter den antiken Schulen doch erheblicher Dissens darüber, was Therapie konkret bedeutet und bewirkt. Im Hintergrund des Streites stehen Divergenzen in anthropologischen Grundauffassungen. Die antike Literatur, insbesondere Cicero, auf dessen Disputationes in Tusculum Augustinus sich häufig bezieht, unterscheidet zunächst vier Hauptleidenschaften, je nachdem, ob der Affekt sich auf ein Gut oder ein Übel bezieht, und ob dieses Gut beziehungsweise Übel für die Zukunft erwartet wird oder bereits gegenwärtig ist. Begierde (cupiditas/libido) richtet sich auf ein erhofftes Gut, Freude (laetitia) genießt ein gegenwärtiges Gut, Angst (metus/timor) bezieht sich auf ein zukünftiges Übel und Traurigkeit (aegritudo/tristitia) auf ein gegenwärtiges Übel (DT IV, 14; vgl. auch CD XIV, 9). Die Hauptdiskussionslinie der Zeit verläuft zwischen der stoischen Auffassung und dem sogenannten akademisch-peripatetischen Konsens, einem philosophiegeschichtlichen Konstrukt, das angeblich gemeinsame Thesen Platons und Aristoteles’ zusammenfasst und vor allem durch Antiochos von Askalon, den Lehrer Ciceros und Varros, repräsentiert wird (DT, Buch IV). Die Stoiker vertreten eine radikale Position, derzufolge die Therapie der Affekte zur gänzlichen Befreiung von den Affekten führt. Weisheit ist für die Stoiker mit einem Zustand der Seelenruhe (Apathie) verbunden, in dem es keine Affekte mehr gibt. Dagegen rechnet die akademisch-peripatetische Schule die Affekte der Natur des Menschen zu. Daher könne die Therapie der Affekte nicht in ihrer Ausrottung bestehen, dies bedeutete ja eine Verstümmelung der Seele, sondern nur in ihrer Formung und Erziehung durch die Vernunft. Weisheit liege nicht darin, gar keinen affektiven Seelenbewegungen zu unterliegen, sondern sie zur
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rechten Zeit im rechten Maß zu empfinden. Dabei komme ihnen sogar eine die Tugend unterstützende Funktion zu. Zorn sei der Wetzstein der Tapferkeit, Begehren fördere das Erreichen großer Ziele, und Traurigkeit als Folge von Bestrafung halte wenigstens die Menge davon ab, Verbrechen zu begehen (DT IV, 38–43). Diese Unterschiede wurzeln in verschiedenen anthropologischen Grundauffassungen. Während die Akademiker und Peripatetiker, ebenso wie Augustinus selbst, neben der Vernunft einen eigenen Seelenteil als Ort der Emotionen ansetzen, der nicht beseitigt werden könne, kennen die Stoiker keine solche Seelenteilung. Emotionen sind für sie lediglich verfestigte Irrtümer der Vernunft, die sich restlos auflösen lassen, ohne dass dadurch ein Teil der Seele ‚amputiert‘ werden müsste. Allerdings ist der Gegensatz weniger deutlich als es zunächst scheint, denn man muss gegen ein verbreitetes Missverständnis festhalten, dass die Apathie der Stoiker nicht dumpfe Gefühllosigkeit bedeutet. Auch der stoische Weise verspürt noch Seelenregungen, nur nicht die genannten unvernünftigen, sondern ihre rein aus der Vernunft entspringenden Gegenstücke, die sogenannten constantiae oder griechisch: eupatheiai (DT IV, 14). Der Weise freut sich, begehrt und lässt Vorsicht walten, aber in einer rationalen Weise, die die Seelenruhe nicht gefährdet. Im Folgenden sei zunächst Augustins Lehre von den passiones im Grundriss dargestellt sowie seine Positionierung zwischen Stoa und Peripatos. Sodann sollen die metaphysischen Hintergründe erklärt werden, ohne die Augustins Auffassung unverständlich bliebe. Weiterhin wird anhand der Confessiones dargestellt, inwiefern sich der Mensch Augustinus zufolge unter der Herrschaft falscher Emotionen befindet und wie er von dieser Herrschaft befreit werden kann. Schließlich sollen zwei besondere Affekte näher untersucht werden, nämlich die Traurigkeit und das sexuelle Begehren. Am Beispiel der Traurigkeit zeigt Augustinus sehr konkret, wie sich ein falscher Affekt durch die Therapie in einen richtigen Affekt verwandelt. Das sexuelle Begehren spielt in Augustins Deutung des Menschseins eine hervorgehobene Rolle und wurde zudem für eineinhalb Jahrtausende kulturgeschichtlich bestimmend. Insgesamt liefert Augustinus sowohl grundsätzliche, bis in die Metaphysik hineinreichende Reflexionen zur Emotionalität des Menschen, als auch tiefgehende psychologische Analysen konkreter Fälle.
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2. Augustins Lehre von den passiones im Grundriss Augustinus entwickelt seine Affektenlehre in De civitate dei IX und XIV. Er setzt sich dabei hauptsächlich mit der Stoa, aber auch mit der akademischperipatetischen Position auseinander. Im neunten Buch kritisiert Augustinus zunächst die Stoiker. Er zitiert hier eine Geschichte aus den Attischen Nächten des Aulus Gellius1, in der Gellius erzählt, wie er einmal zusammen mit einem angesehenen stoischen Philosophen über See gefahren sei (CD IX, 4). Dabei gerät das Schiff in ein Unwetter, die Passagiere werden von Todesangst gepackt, beobachten aber trotzdem gespannt den Philosophen, um zu sehen, ob er in dieser Situation Apathie bewahren könne. Auch der Philosoph, so ist bald zu erkennen, wird blass vor Furcht. Doch das Unwetter zieht ab, und als die See wieder ruhig ist, befragt Gellius den stoischen Philosophen wegen dessen Angst. Dieser zieht ein Buch Epiktets aus der Tasche, dessen Inhalt mit den Lehren Zenons und Chrysipps, den Gründern der stoischen Schule, übereinstimme, und erläutert die auch von Seneca her bekannte Unterscheidung von affectus und passio.2 Die passio beruhe auf einer geistigen Zustimmung, das heißt einem Urteil der Vernunft, dass ein Gut oder Übel im Spiel sei. Dagegen stelle der affectus eine unwillkürliche Bewegung der Seele dar, verursacht etwa durch schreckliche Wahrnehmungen wie einen Seesturm. Angewendet auf das Beispiel des stoischen Philosophen im Schiff bedeutet dies: Dass er blass wurde, heißt nicht, dass er den Zustand der Apathie verloren habe. In seiner Vernunft hielt er vielmehr unbeirrt an der Einsicht fest, dass der Tod kein Übel sei, und somit blieb er frei von passiones. Gleichwohl löste das Unwetter in ihm einen affectus aus, der ihn erbleichen ließ, doch da er diesem affectus nicht zustimmte und niemals urteilte, dass ein Übel auf ihn zukomme, blieb er in Wahrheit apathisch. Ein Vergleich des Wortlautes der Geschichte bei Gellius mit der Wiedergabe Augustins zeigt sehr deutlich, welches Interesse Augustinus an dieser Geschichte hat.3 Letztlich will er zeigen, dass die stoische Behauptung, der Weise könne in diesem Leben bereits das vollkommene Glück erreichen, inakzeptabel ist. Wenn selbst ein vollkommener Mensch in einem Seesturm blass vor Furcht werde, dann stelle dies bereits ein Übel _____________ 1 2 3
Für Gellius vgl. ders. 1927, XIX, 1. Vgl. Seneca, De ira 2, 3, 1–4. Vgl. dazu im Detail Brachtendorf 1997. Vgl. auch die umfassende Studie von Colish 1990.
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dar, das die Behauptung, er sei glücklich, widerlege. Die Geschichte zeige, dass die Peripatetiker mit ihrer Behauptung von der Unvermeidlichkeit der passiones gegenüber den Stoikern im Recht seien. Zwar schließt Augustinus sich durchaus der stoischen These an, dass es moralisch gesehen einen großen Unterschied mache, ob jemand einer emotionalen Regung zustimmt oder nicht. Sein Interesse richtet sich aber auf das Ganze der conditio humana, zu der die Tatsache gehört, dass der Mensch selbst dann, wenn er nicht zustimmt, von vernunftlosen Seelenbewegungen heimgesucht und verwirrt wird. Vorurteilslos betrachtet beweise die Geschichte vom Philosophen im Seesturm, dass an ein vollkommenes Glück im irdischen Leben schon deshalb nicht zu denken sei, weil der Mensch seine Affekte eben nicht vollständig kontrollieren oder sogar ausrotten könne, sondern immer mit ihnen zu ringen habe. Was das irdische Leben betrifft, so argumentiert Augustinus eher akademisch-peripatetisch, nicht stoisch. Affekte gehören zur Natur des Menschen, daher ist es unmöglich, ihnen zu entfliehen. Allerdings sind sie durchaus nicht nur negativ zu sehen, sondern sie können entweder schädlich oder nützlich sein. Denn wenn die Gemütsbewegungen „aus gutem Willen und heiliger Liebe“ hervorgehen, „wenn sie sich in vernünftigen Bahnen halten und nur da, wo es angebracht ist, hervortreten“ (CD XIV, 9), dann werde man sie sicher nicht „sündige Leidenschaften“ (vitiosae passiones) nennen wollen. Ebenso wie die Peripatetiker ist Augustinus der Meinung, dass Freude und Begehren, Traurigkeit und Angst positiv sein können, wenn sie bei einem Menschen mit der richtigen Grundorientierung auftreten, wobei Augustinus diese Grundorientierung allerdings nicht schon in einem Leben gemäß der Vernunft sieht, sondern in einem Leben gemäß Gott, das seinerseits erst ein vernunfthaftes Leben ermöglicht. Augustinus geht eine Reihe von neutestamentlichen Texten durch, um zu zeigen, dass der bekehrte Mensch lobenswerte passiones besitze, so etwa wenn er die Verdammung fürchtet, das ewige Leben begehrt, wenn er trauert, weil das Himmelreich noch nicht da ist, und sich in Hoffnung auf es freut. Diese positiven Emotionen richten sich auch auf das Wohl des Mitmenschen, denn der Christ sorgt sich um das Glück des Nächsten, er weint über dessen Sünden, freut sich über dessen Rettung und begehrt, mit ihm im Himmelreich zu sein. Es gibt eben nicht nur eine tristitia mundi, sondern auch eine tristitia secundum deum4, nicht nur einen timor servilis, sondern auch einen timor castus, und so kritikwürdig die ersteren sind, so _____________ 4
Neues Testament, 2 Korinther 7, 8ff.
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schätzenswert sind die letzteren.5 Ob die passiones eine negative oder eine positive Gestalt annehmen, hängt für Augustinus davon ab, ob der Wille des Menschen auf Gott als höchstes Gut gerichtet ist, oder ob er ein anderes Gut zum höchsten erhebt. Liebt der Mensch Gott um Gottes willen und alles andere in Gott, dann ist sein Wille recht und seine passiones sind lobenswert. Liebt er hingegen sich selbst am meisten und alles andere um seiner selbst willen, dann ist sein Wille pervertiert und die passiones werden zu tadelnswerten Leidenschaften. Auch nach Augustinus bedürfen die Affekte der Therapie, und diese Therapie geschieht durch die Bekehrung des Menschen. Man spricht oft von einer christlichen Rehabilitation der Affekte bei Augustinus, insbesondere im Vergleich zu den Stoikern. Dies ist berechtigt, insofern Augustinus die passiones in ihrer positiven Form für pädagogisch förderlich hält, weil sie dem Menschen helfen, sein Leben auf Gott als höchstes Gut auszurichten beziehungsweise sogar Ausdruck eines auf Gott ausgerichteten Lebens sind. Und doch bedarf die Rede von der christlichen Rehabilitation der Affekte bei Augustinus der näheren Bestimmung, ja, der Eingrenzung und Relativierung. Augustinus schreibt über die positiven Emotionen: Man muß freilich gestehen: Auch wenn diese Gefühle recht und gottgemäß sind, gehören sie doch nur diesem, nicht etwa auch dem künftigen Leben an, auf das wir hoffen, und oft kommen sie auch gegen unseren Willen über uns. So weinen wir bisweilen, auch wenn wir es nicht wollen, obschon es nicht sündige Begierde, sondern reine Liebe ist, die uns bewegt. Wir unterliegen diesen Gefühlen infolge unserer menschlichen Schwäche. (CD XIV, 9)
Demnach sind die passiones im irdischen Leben grundsätzlich ambivalent, denn nicht nur die schlechten, sondern auch die guten können der „Vernunft widerstreiten und den Geist verwirren“ (CD XIV, 9). Obwohl die positiven Leidenschaften Ausdruck eines gottgemäßen Lebens sind, drohen auch sie aufgrund der Schwäche des Menschen überzuschießen und müssen von der Vernunft gezügelt werden. Augustinus hegt also auch ihnen gegenüber eine gewisse Skepsis, denn selbst in ihrer positiven Gestalt zeugen die passiones von einem Antagonismus zwischen Vernunft und Affekten in der Seele des Menschen. _____________ 5
Martin Heidegger erkennt den Affekten unter dem Namen der „Befindlichkeit“ eine welt- und selbsterschließende Funktion zu, die ursprünglicher ist als die des diskursiven Erkennens. Die ausgezeichnete Befindlichkeit sieht er in der „Angst“ im Gegensatz zur „Furcht“. Für diesen Gegensatz beruft er sich auf Augustins Unterscheidung von timor castus und timor servilis. Vgl. Heidegger 1979 (zuerst 1927), § 40, 190.
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Dieser Antagonismus, diese Uneinheitlichkeit und Bipolarität gehören nach Augustinus zur Natur des Menschen, wie wir ihn kennen. Doch ursprünglich war der Mensch anders. Erst der Sündenfall hat diese Situation bewirkt, erst durch ihn ist der Mensch so schwach geworden, dass sich selbst seine positiven Leidenschaften der Vernunftkontrolle entziehen können. Vor dem Sündenfall existierte dieses Problem noch nicht, und in der jenseitigen Vollendung wird es nicht mehr existieren. Im Blick auf das prälapsarische6 Leben im Paradies und auf die eschatologische Vollkommenheit sympathisiert Augustinus durchaus mit dem stoischen Gedanken der Apathie, sofern diese eben nicht als dumpfe Gefühllosigkeit verstanden werde, sondern im wahren stoischen Sinne als Seelenzustand, in dem die Gefühle grundsätzlich vernunftgemäß sind, niemals überzuschießen drohen und deshalb auch nicht gezügelt werden müssen. Apathie meint dann einen Zustand, in dem die Leidenschaften sich noch nicht von der Vernunft dissoziiert haben, in dem noch kein zweiter Pol im Menschen ausgebildet ist, ein Zustand also, in dem die passiones per se vernunftgemäß sind. Der Mensch im Paradies kannte freilich nicht alle vier Leidenschaften: Traurigkeit und Angst existierten nicht, weil es keine Übel gab; nur Freude und Liebe bestimmten das Leben der Menschen, und zwar Liebe zu Gott und zum anderen. Für die eschatologische Vollkommenheit gilt nach Augustinus ebenfalls das Apathie-Ideal. Auch im seligen Leben wird es keine Angst und keine Traurigkeit mehr geben, weil es keine Übel mehr geben wird, sondern nur noch Freude und Liebe. Augustinus kritisiert also die Stoiker mit den Peripatetikern und die Peripatetiker mit den Stoikern. Gegen die Stoa wendet er ein, dass das Apathie-Ideal, das sie für das irdische Leben aufstellten, hier gar nicht sinnvoll erstrebt werden könne, weil es – wie die Peripatetiker zu Recht geltend machten – der Natur des irdischen Menschen widerspreche, und sich folglich nur im Jenseits verwirklichen lasse. Die Peripatetiker hingegen seien zwar mit ihrer These von der Natürlichkeit und Unvermeidlichkeit der passiones im Recht, übersähen aber, dass selbst die guten Affekte für den Menschen eine Herausforderung und mitunter eine Beschwernis darstellen, die es im Urstand noch nicht gab und in der Vollendung nicht mehr geben wird.
_____________ 6
Prälapsarisch: Zustand des Menschen vor dem Sündenfall.
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3. Metaphysische Hintergründe der Affektenlehre Augustins Bewertung der Affekte, ihrer Rolle im Leben vor und nach dem Sündenfall sowie im Vollendungszustand beruht letztlich auf metaphysischen Grundlagen, nämlich auf der sogenannten Transzendentalienlehre und auch auf der Privationstheorie. Der Transzendentalienlehre zufolge stellt jedes Seiende eine Einheit dar. Ens et unum convertuntur, lautet die scholastische Formel. Zwar benutzt Augustinus diese Formel noch nicht, doch die Lehre von der Einheit, Wahrheit und Gutheit jedes Seienden ist bei ihm bereits voll entwickelt (vgl. DO II, 18,48; C VII, 11,17–16,22). Augustins Transzendentalienlehre zufolge ist nicht jedes Seiende gleichermaßen eines, wahr und gut, sondern es gibt verschiedene Grade von Einheit, entsprechend der Hierarchie des Seienden. An deren Spitze steht Gott, der – ganz platonisch gedacht – die höchste Einheit ist und zugleich die Einheit selbst und die Quelle aller Einheit, insofern er allem anderen Anteil an sich gewährt und ihm somit Einheit mitteilt. Darunter stehen die Engel als reine, unveränderliche Geistwesen, dann der Mensch mit seiner leiblich-geistigen Doppelnatur, dann die Tiere, Pflanzen und schließlich die leblosen materiellen Dinge bis hinab zur reinen Materie. Die Grade der Einheit sind auch Grade des Seins, der Wahrheit und der Gutheit. Je nach der Stufe, auf der ein Seiendes kraft seines Wesens steht, besitzt es einen entsprechenden Grad der transzendentalen Bestimmungen. Nach Augustinus gibt es aber auf jeder Stufe, die ein Seiendes kraft seines Wesens einnimmt, nochmals eine gewisse Variationsbreite. Beispielsweise erreicht ein gesunder, voll entwickelter Apfelbaum den höchsten Einheitsgrad, der für ihn als Apfelbaum möglich ist, während ein kranker, verkrüppelter Baum zwar immer noch auf der Stufe der Apfelbäume steht, aber dort sozusagen am unteren Ende. Letzterer leidet an einem Mangel an Einheit, Sein, Wahrheit und Gutheit oder auch an einer Privation, wobei diese Rede besonders deutlich macht, dass die volle Verwirklichung des Wesens, also das Optimum, die Norm darstellt, an der gemessen dem kranken Baum etwas fehlt, das er haben sollte. Krankheit ist für Augustinus Dysfunktionalität, also Verlust an organischer Einheit. Solche Phänomene von Dysfunktionalität und Privation sieht Augustinus nicht nur auf der leiblichen, sondern auch auf der geistigen Ebene, ja seine moralische Psychologie ist, ebenso wie diejenige Platons und vieler hellenistischer Schulen, geprägt von dem Gedanken, dass moralische Schlechtigkeit als eine Art geistige Krankheit auftritt, also als Dysfunktionalität der Seelenkräfte, die ebenso der Heilung bedarf wie die Krankheit
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des Leibes, nur natürlich mit anderer Medizin.7 Im Zustand der vollen Verwirklichung seines Wesens, also im Paradies, war der Mensch kognitiv, voluntativ und affektiv an Gott, der Einheit selbst, als höchstem Gut orientiert, denn er liebte Gott um seiner selbst willen und alles andere in Gott. Hier besaß der Mensch den höchsten ihm möglichen Grad an Einheit. Daher kannte der Leib keine Krankheit, es gab keinen Schmerz (als Indikator physischer Unordnung), und die Seele war so sehr eine Einheit, dass sie keinerlei Antagonismen aufwies. Für die passiones animae bedeutet dies, dass sie sich niemals gegen die Vernunft stellten, auch gar keine Tendenz dazu besaßen, weil sie konstitutionell in Harmonie mit der Vernunft standen, das heißt ihrem Befehl bedingungslos gehorchten. Zufolge seines hohen seelischen Einheitsgrades kannte der Mensch im Urstand nur vernünftige Affekte, nämlich – nach Augustinus – Freude und Liebe. Mit dem Sündenfall verlor der Mensch dieses Höchstmaß an Einheit und sank herab – natürlich nicht bis auf die Stufe des Tieres, denn auch der Sünder ist ja ein Mensch, aber bis an den unteren Rand des für den Menschen Möglichen. Diese Privation manifestierte sich in einer bisher ungekannten Schwäche des Leibes (Krankheit), des Zusammenhangs von Leib und Seele (Tod), und auch einer Lockerung der Einheit innerhalb der Seele, das heißt konkret des Bandes zwischen der Vernunft und den Affekten. Augustinus erläutert dies gern, indem er den paradoxen Effekt der Sünde hervorhebt. Der Mensch wollte nicht mehr Gott als seinem höchsten Gut dienen, sondern Herr seiner selbst sein, und erklärte sich daher selbst zu seinem summum bonum. Die willentliche Abwendung von der Quelle aller Einheit führte für den Menschen jedoch konsequenterweise zu einem Verlust an Einheit, und dies manifestierte sich unter anderem in einer Dissoziation innerhalb der Seele, derzufolge die Affekte nicht mehr bedingungslos im Dienst der Vernunft stehen, sondern gleichsam einen zweiten Pol bilden, der in Widerspruch zur Vernunft geraten kann. Das bedeutet: Der Mensch, der Herr seiner selbst sein wollte, verliert gerade die Herrschaft über sich selbst, weil sich die Affekte nun der Vernunftkontrolle entziehen können, was zuvor unmöglich war. Der Einheitsverlust in Form der Lockerung des innerseelischen Bandes schwächt den Menschen, sodass er nun die passiones zügeln muss, im Kampf mit ihnen oft unterliegt, ja als Sünder sogar grundsätzlich unterlegen ist.
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Vgl. etwa Platon, Politeia IV, 444a–e; IX 588b–591b.
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4. Der Mensch unter der Herrschaft der Affekte Augustinus sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Willen und den Emotionen, denn die Affekte sind für ihn gleichsam Typisierungen des Wollens in spezifischen Situationen. Daher geht die moralische Qualität des Wollens indirekt auf die Affekte über. Wessen Wille auf das Gute gerichtet ist, dessen Emotionen sind gut. Wessen Wille sich hingegen auf das Böse richtet, dessen Emotionen sind ebenfalls böse (CD XIV, 7). Wie schon gesagt, ist Augustinus mit der hellenistischen Philosophie insgesamt der Meinung, dass die Affekte des Menschen fehl gehen und der Therapie bedürfen. Den Grund dafür sieht er in einer Fehlorientierung des Willens bei allen Menschen, die er auf eine falsche Willensentscheidung des ersten Menschenpaares zurückführt. Adam und Eva besaßen zunächst eine richtige Orientierung des Willens auf ihr höchstes Gut hin, und somit waren auch all ihre Affekte gut. Dann kam jedoch ein pervertierter Wille (voluntas perversa) in ihnen auf, sie wendeten sich von Gott ab und suchten das höchste Gut in sich selbst. Mit diesem pervertierten Willen ist ein falscher Affekt verbunden, nämlich das Begehren (concupiscentia/libido) nach Selbstherrschaft, bzw. das Begehren, selbst Gott sein zu wollen. In der ersten Sünde sieht Augustinus nicht nur einen einmaligen moralischen Akt, sondern eine Entscheidung, die die Natur des Menschen in zwei Hinsichten modifiziert. Erstens tritt nun jene Lockerung des Bandes zwischen Vernunft und Affekt auf, von der bereits die Rede war, und zweitens ist der Mensch, da sein Wille pervertiert ist, von vornherein mit der schlechten concupiscentia/libido konfrontiert. Augustinus spricht von einer eisernen Kette, die den Willen des Menschen fesselt und ihn dazu zwingt, Böses zu tun. Diese Kette weist vier Glieder auf, nämlich zunächst die voluntas perversa und den mit ihr verbundenen Affekt der libido, dann die Gewohnheit (consuetudo), die entsteht, wenn der Mensch der libido wiederholt zustimmt, und schließlich die Notwendigkeit (necessitas) des Zustimmens, die sich aus der wiederholten Zustimmung ergibt (C VIII, 5,10). Im Resultat ist der Mensch Affekten ausgesetzt, denen er nicht widerstehen will und kann, die ihn aber in die falsche Richtung ziehen. Diese fehlgerichteten Affekte bestimmen von nun an sein Handeln. In vielen Einzelszenen der Confessiones zeigt Augustinus, wie sich die Affekte in den verschiedenen Entwicklungsstadien des Menschen auswirken. In der Anekdote von den beiden Milchbrüdern geht es um Kleinkinder, die noch keinen Vernunftgebrauch besitzen und sich somit in einer
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vormoralischen Lebensphase befinden (vgl. C I, 7,11.).8 Augustinus berichtet hier, wie das eine der beiden Kinder deutliche Zeichen des Zornes und der Eifersucht zeigt, als es sieht, dass die Amme das andere Kind zum Stillen anlegt. Obwohl das Leben dieses Kindes von der Milch abhängt, und obwohl die Amme genügend Milch für beide hat, versucht das andere Kind, dieses zu verdrängen und von der Nahrung auszuschließen. Augustinus zufolge ist das Verhalten des missgünstigen Kindes bereits von der falschen concupiscentia bestimmt, nämlich von einem auf sich selbst gerichteten Begehren, mit dem es sich selbst eine Herrschaftsstellung zuschreibt und dem Milchbruder die Anerkennung verweigert. In der Geschichte vom Birnendiebstahl berichtet Augustinus eine zunächst eher harmlose Begebenheit aus seiner Jugendzeit (vgl. C II, 4,9– 6,14). Gemeinsam mit einigen Kumpanen stiehlt er des Nachts Birnen aus dem Garten eines Nachbarn. Dem kurzen Bericht lässt er jedoch eine tiefgehende psychologische Analyse folgen, in der er das wahre Motiv seines Handelns sucht. Dieses habe nicht im Verlangen nach den Birnen gelegen, denn sie waren von so schlechter Qualität, dass er seine Diebesbeute sogleich wegwarf. Vielmehr sei es ihm um die Übertretung eines moralischen Gebotes als solche gegangen, denn dadurch habe er sich und seinen Freunden demonstrieren wollen, dass er solchen Geboten nicht unterworfen sei, sondern – gottgleich – über sie herrsche. Augustinus befindet sich nun bereits im moralfähigen Alter, sodass die Geschichte zeigt, wie er dem Begehren, selbst Gott sein zu wollen, innerlich zustimmt. Im Laufe seines weiteren Lebens vollzieht er diese Zustimmung wieder und wieder, bis sie sich zur Notwendigkeit verfestigt. Augustinus hebt die Rolle der öffentlichen Meinung und die Erwartungshaltung der Eltern und Lehrer hervor, die das falsche Streben nach Selbstbehauptung durch Ehre und Ruhm unterstützen. In den gleichen Zusammenhang gehört Augustinus zufolge das Streben nach sexueller Lust. Rückblickend wirft er seinen Eltern, besonders dem Vater Patricius, vor, der Sexualität des heranwachsenden Sohnes freien Lauf gelassen zu haben und sie in der Hoffnung auf eine spätere „gute Partie“ nicht gleich in die geordneten Bahnen einer Ehe gelenkt zu haben. Mit 32 Jahren gerät Augustinus in eine tiefe Lebenskrise, die ihn den Entschluss fassen lässt, seine bis dahin steil verlaufene Karriere als Rhetor aufzugeben, seine Ehrsucht abzulegen und ein zölibatäres Leben zu führen. In diesem Moment erfährt er den _____________ 8
Für eine ausführliche Interpretation der Confessiones vgl. Brachtendorf 2005. Im Folgenden wird die Übersetzung von Thimme benutzt, vgl. Augustinus 1992.
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Zwangscharakter, den das Streben nach Ehre und sexueller Lust in ihm angenommen hat. Zwar ist er kognitiv, nämlich durch die Lektüre neuplatonischer Schriften (vgl. C VII, 9,13–16,22), zu der festen Überzeugung gelangt, dass es sich hier in Wahrheit nicht um Güter, sondern um Übel handelt, aber der daraus folgende Entschluss zur Änderung der Lebensführung lässt sich praktisch nicht umsetzen (vgl. C VIII, 1,1). Der Affekt des Begehrens erweist sich als so stark, dass er dem Willen zur Neuausrichtung des Lebens gemäß erlangter Einsicht in das wirklich Gute widersteht. In Augustins gesamtem Leben hatten bis dahin die falschen Affekte bereits die Führungsrolle übernommen. Im Augenblick des Versuchs der Umkehr wird offensichtlich, dass die Vernunft ihnen gegenüber machtlos geworden ist. Augustinus kann nicht aufhören, nach Ehre und Lust zu streben, obwohl er nicht mehr nach solchen Dingen streben will. Genauer gesagt findet Augustinus nun in sich einen „neuen Willen“, der sich ganz auf Gott und die Weisheit als höchstes Gut richtet, aber auch noch den „alten Willen“. Der Liebe zu Gott steht die Liebe zur Ehre und Lust gegenüber. Der neue Wille ist zu schwach, weil der alte Wille immer noch besteht (vgl. C VIII, 5,10–12; 8,20–10,24).
5. Die Befreiung von der Herrschaft der Affekte Augustinus versucht sich durch Willensanstrengung aus der Situation der Willensspaltung zu befreien, was jedoch nicht gelingt und nicht gelingen kann. Entscheidend ist in diesem Moment Augustins Einsicht, dass selbst der Versuch, sich aus eigener Kraft zum Guten bekehren zu wollen, noch ein Ausfluss eines Narzissmus ist, in dem sich der Hochmut der Ursünde und das Begehren nach Selbstherrschaft manifestieren. Daher lässt er von diesem Versuch ab und bekennt seine moralische Schwäche und sein charakterliches Unvermögen. An die Stelle des Hochmutes tritt die Demut und das Eingeständnis, nicht Gott zu sein, sondern nur ein endliches Geschöpf. Dieser Umschwung in der existenziellen Grundhaltung ist stark emotional geprägt. Augustinus berichtet von einem inneren Sturm im Hin und Her zwischen neuem und altem Willen, von der Scham und dem Erröten über das eigene Unvermögen, von der bittersten Zerknirschung des Herzens und schließlich von Strömen der Tränen, die er im Eingeständnis
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der eigenen Schwäche vergießt (C VIII, 12,28.).9 In dieses Eingeständnis des eigenen Unvermögens hinein wirkt die Gnade Gottes, die Augustinus zum Guten bekehrt, indem sie den alten Willen aufhebt, die Situation der Willensspaltung beseitigt und die Notwendigkeit des Zustimmens zu den kritikwürdigen Emotionen auflöst (Vgl. C VIII, 12,29–30). Gott als das höchste Gut erscheint Augustinus nun begehrenswerter als Ehre und Lust. Die falsche Begierde nach Selbstherrschaft hat sich in das richtige Begehren nach Gott verwandelt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Augustinus vom Thema „Emotionen“ her eine Kritik an der Philosophie führt. Einerseits schätzt Augustinus die Philosophie hoch, insbesondere den Neuplatonismus, dem er vor allem in der Metaphysik zugesteht, die Wahrheit beispielsweise über Gott als immaterielles Wesen erkannt zu haben. Andererseits vermöge die Philosophie jedoch nur die Vernunft zu belehren, nicht aber den Willen zu bekehren. Dazu sei nämlich die Demutshaltung erforderlich, die den Neuplatonikern fehle. Die Philosophen vermittelten zwar ein akkurates Wissen um Gott, doch sie kennen die „Tränen des Bekennens“ (C VII, 21,27) der eigenen Schwäche nicht, ohne die es aber keine Therapie der Affekte geben könne. Philosophie ist nach Augustinus ein wertvolles aber bloß intellektuelles Unterfangen. Wer bei ihr stehen bleibt, wird nicht zum vollkommenen Menschsein gelangen. Bekehrung bedeutet für Augustinus nicht, dass der Mensch sogleich zu einer fraglosen Einheit von Vernunft und Emotionen zurückkehren könnte, denn die Wiederherstellung dieser Einheit ist dem Leben in der eschatologischen Vollendung vorbehalten. Dagegen bleibt das irdische Leben durchgängig geprägt von seelischen Antagonismen, denn die Lockerung des Bandes zwischen der Vernunft und den Affekten als Kennzeichen der Natur des Menschen wird durch die Bekehrung nicht aufgehoben. Das Ideal des antiken Weisen, dessen Emotionen stets von sich aus der Vernunft folgen10, hält Augustinus, solange es um den irdischen _____________ Die Vorstellung von den Tränen der Reue und der Zerknirschung, die die Einsicht in das Verfehltsein des eigenen Lebens begleiten, geht literarisch zurück auf die Figur des Alkibiades in Platons Symposion (215e–216c). Sie wird tradiert in Xenophons Memorabilia (IV, 2,23) und in Ciceros Disputationes in Tusculum (DT III, 77f.; IV, 61), von woher Augustinus sie vermutlich kennt. 10 Vgl. Platon, Politeia IV, 441c – 445b. Gerechtigkeit als charakterliche Vollendung wird hier geschildert als jener Zustand, in dem jeder Seelenteil das Seinige verrichtet im Blick auf Herrschen und Beherrschtwerden (443b). Die Vernunft räumt den Begierden nicht nur keine Herrschaft mehr ein, sondern die Begierden streben gar nicht erst danach, weil sie von sich aus der Vernunft folgen wollen. 9
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Menschen geht, für unerschwinglich und überfliegend. Seines Erachtens ist das menschliche Leben auch in seiner (diesseitigen) Bestform gekennzeichnet durch ein Ringen der Tugend mit den Leidenschaften, durch seelische Diskrepanzen und eine ständige Versuchbarkeit. Als Quelle der Versuchungen nennt Augustinus erstens die vom Leib her kommenden Begierden (concupiscentia carnis), vor allem Hunger, Durst und sexuelles Begehren, zweitens die Schaulust (concupiscentia oculorum) und dritten den Ehrgeiz, insbesondere in Form der Ruhmsucht und der Geldgier (ambitio saeculi). Zwar ist der zum wahrhaft Guten bekehrte Mensch frei von dem Zwang, diesen Impulsen zustimmen zu müssen, ja, er ist fest entschlossen, ihnen nicht nachzugeben, aber trotzdem ist er ständig der Versuchung durch sie ausgesetzt, wie Augustinus in Buch X der Confessiones anhand einer Selbstanalyse eindrucksvoll zeigt.11
6. Affekttherapie am Beispiel der Traurigkeit Besonders markant sind zwei parallel gestaltete Szenen des Trauerns, nämlich zum einen die Erzählung vom Tod des besten Freundes Augustins (vgl. C IV, 4,7–12,19), zum anderen die Sterbeszene seiner Mutter (vgl. C IX, 11,27–13,37). Beide Male verliert Augustinus eine geliebte Person, beide Male führt er eine eindringliche Analyse seiner affektiven Reaktion auf den Verlust vor. Allerdings finden sich auch kontrastierende Elemente. Der Verlust des Freundes ereignet sich vor Augustins Bekehrung, der Tod der Mutter jedoch nach der Bekehrung. Durch die parallele Anordnung der Szenen zeigt Augustinus, dass und wie sich seine emotionale Reaktion durch die neugewonnene Lebensorientierung ändert. Wir sehen _____________ Platon bezeichnet die Gerechtigkeit auch als Freundschaft der Seelenteile untereinander (vgl. Politeia IV, 442c). Der Gerechte ist demnach sein eigener Freund (Politeia IV, 443d; IX, 589b). Nach Augustinus vermag der irdische Mensch auch als Gerechter nicht über ein misstrauisch-wachsames Verhältnis zu sich selbst hinauszukommen. 11 Martin Heidegger ist wesentlich von Augustins Deutung des menschlichen Lebens als eines unaufhebbaren Antagonismus geprägt, wie seine frühe Vorlesung Augustinus und der Neuplatonismus zeigt (Heidegger 1995, 157–299), in der er das Buch X der Confessiones auslegt. Das Ideal der „Eigentlichkeit“, wie es in Sein und Zeit erklärt wird, geht auf die frühe Augustinusrezeption zurück. „Eigentlichkeit“ meint nicht einen Zustand vollkommener innerer Ruhe, sondern ein Sichsammeln in der ständigen Auseinandersetzung mit der Gefahr des Abgleitens und ein immer neu zu vollbringendes Sichbewahren vor dem Verfallen an die dingliche Welt.
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also hier einen Affekt vor und nach der Therapie, und erfahren zugleich, welche moralischen Ansprüche Augustinus an den emotionalen Umgang mit Leiderfahrungen stellt. Augustinus berichtet zunächst über seine Freundschaft mit einem gleichaltrigen jungen Mann, dessen Namen er allerdings nicht nennt. Über diese Freundschaft sagt er, sie sei ihm „so süß wie sonst nichts auf Erden“ (C IV, 4,7) gewesen. Doch der Freund stirbt an Fieber. Augustinus durchlebt Traurigkeit in ihrer gravierendsten Form: Wie wurde damals mein Herz von Gram verdüstert! Wohin ich auch blickte, überall begegnete mir der Tod. Die Vaterstadt ward mir zur Pein, das elterliche Haus zu unsagbarem Elend. Woran ich einst mit ihm gemeinsam mich gefreut, ohne ihn verkehrte es sich zur Folterqual. Überall suchten ihn meine Augen und fanden ihn nicht. Alles war mir verhaßt, weil er fehlte […] (C IV, 4,9).
Der Tod des Freundes stellt für Augustinus sogar das eigene Leben in Frage: „Ich wunderte mich, daß andere sterbliche Menschen noch lebten, da doch der eine gestorben war, den ich geliebt hatte, als könne er nie sterben, und noch mehr nahm’s mich wunder, daß ich selbst, sein anderes Ich, noch leben konnte, wo er tot war“ (C IV, 6,11). Diese Traurigkeit wirkt destruktiv, weil Augustinus seinen Freund nicht in der richtigen Weise geliebt hatte: „O Torheit, die nicht menschlich die Menschen zu lieben weiß! O wie töricht ein Mensch, der über menschliches Geschick maßlos trauert! So war ich damals“ (C IV, 7,12). Augustins Fehler lag darin, den Freund so zu lieben, als sei dieser kein Mensch und als müsste er niemals sterben. Er setzte den Freund nicht als das endliche Wesen, das er war, in Beziehung zu Gott, sondern behandelte ihn so, als wäre er das höchste, beseligende Gut. Augustinus hatte seinen Freund nicht in Gott, sondern eher als Gott geliebt. Doch die Wurzel dieser Fehlhaltung liegt noch tiefer. Wie schon erwähnt, ist Augustinus der Meinung, dass alle verkehrten Affekte nichts anderes seien als Konkretionen des verkehrten Willens, Gott zu sein. Stolz imitiere Gottes Erhabenheit; Ehrgeiz trachte nach Ruhm, wie er Gott gebührt; Grausamkeit wolle Furcht erwecken, wie Gott zu fürchten ist; Geiz wolle viel besitzen, wie Gott alles besitzt. Das gleiche gelte für die Traurigkeit: „Traurigkeit verzehrt sich in Gram über den Verlust der Güter, woran Begierde sich erfreute. Sie möchte sie nicht fahren lassen, aber nur dir allein kann nichts genommen werden.“ (C II, 6,13) Augustinus sieht das grundlegende Motiv für die verkehrte Trauer in seinem Wunsch, wie Gott zu sein. Diese Traurigkeit, die Augustinus die tristitia mundi nennt, lässt sich dann charak-
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terisieren als Ausdruck einer narzisstischen Kränkung, die Augustinus durch den Verlust erleidet. Im Abschnitt über den Tod der Mutter stellt Augustinus dar, wie an die Stelle der falschen tristitia mundi die richtige tristitia secundum deum tritt. Wie viele Jahre zuvor den Freund, so verliert Augustinus nun wiederum eine geliebte Person, doch aufgrund der Umorientierung seines Willens in der Bekehrung ändert sich auch die Art seines Trauerns. Den Prozess dieser Veränderung schildert Augustinus folgendermaßen: „Ich drückte ihr die Augen zu, und unsägliche Trauer brach über mein Herz herein. Sie wollte sich in Tränen ergießen, doch mit heftiger Willensanstrengung hielt ich ihren Strom zurück, so daß meine Augen trocken blieben, und in diesem Seelenkampf war mir gar elend zumute“ (C IX, 12,29). Gegenüber den umstehenden Freunden gibt Augustinus zunächst vor, keine Traurigkeit zu verspüren, doch in Wahrheit steht er unter enormem seelischem Druck. Erst am nächsten Tag, nachdem der heftigste Schmerz gewichen ist, beginnt er zu weinen: „Da tat es mir wohl, vor dir zu weinen, um sie und für sie, um mich und für mich. Ich ließ den Tränen, die ich zurückgehalten, freien Lauf. Mochten sie fließen, soviel sie wollten“ (C IX, 12,33). Augustinus kann nun die Tränen fließen lassen, weil er begriffen hat, wie der Mensch weinen soll, nämlich vor Gott. Als er um seinen Freund trauerte, weinte er sozusagen „vor sich selbst“. Beim Tod Monicas, der Mutter, hält er zunächst seine Tränen zurück, weil er die Neigung spürt, wiederum vor sich selbst zu weinen. Als er schließlich in Tränen ausbricht, tut er es vor Gott, d. h. er trauert nicht so, als hätte seine Mutter niemals sterben müssen, oder als hielte er sich selbst für Gott, dem nichts genommen werden kann. Vielmehr weint er im Bewusstsein, dass Monica ein sterbliches Wesen war. Bezeichnenderweise ist der Blickwinkel des Kummers um seine Mutter weiter als derjenige des Kummers um den Freund. Augustinus weint nicht nur „um“ seine Mutter, also über den Verlust, den er selbst erleidet. Vielmehr weint er „für“ sie, d. h. über die Hindernisse, die seine Mutter vom endgültigen Glück des Seins bei Gott trennen könnten. Denn nach Augustinus besaß Monica durchaus die richtige Ausrichtung des Willens auf Gott als das objektiv höchste Gut, doch es sei schwierig, diese Ausrichtung beizubehalten und nicht abzugleiten in das falsche Streben nach Vorläufigem. Augustinus weint nun „für“ seine Mutter, weil er sich darum sorgt, dass ihre wenn auch geringen Verfehlungen sie am Erreichen des Glücks hindern könnten. Der Blickwinkel der Traurigkeit ist nach der Therapie gegenüber demjenigen vor der Therapie noch in einer anderen
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Weise erweitert. Augustinus weint nun nämlich nicht nur um und für seine Mutter, sondern auch um und für sich selbst. Im Kummer um den Freund hatte er sich ja selbst so geliebt, als wäre er Gott. Auf dem Hintergrund seiner Bekehrung lehrt ihn die Erfahrung des Todes der Mutter, sich selbst als endliches, sterbliches Wesen zu sehen, das sich seine Existenz nicht selbst verdankt, und dessen Glück nicht darin liegt, wie Gott sein zu wollen, sondern darin, Gott als Gott anzuerkennen. Weil Augustinus nun auch sich selbst „in Gott“ liebt, vermag er „vor Gott“ für sich selbst zu weinen. Therapie der Affekte bedeutet für Augustinus offensichtlich nicht, emotionslos zu werden, aber auch nicht, sich den Emotionen kritiklos hinzugeben. Augustinus rehabilitiert wohl die Affekte, doch er stellt sie zugleich unter einen moralischen Anspruch. Richtige Affekte hat nur der Mensch, der die Selbstzentrierung des Seinwollens wie Gott aufgibt und folglich den anderen nicht von der eigenen Zentralstellung aus ins Auge fasst, sondern als den, der er wirklich ist. Freude und Trauer sollen sich nicht entzünden an dem, was der andere für mich ist, sondern an dem, was er in sich ist. Liebe den anderen um seiner selbst willen! Dies ist das moralische Gebot, dessen Einhaltung über Wert und Unwert der auf den anderen gerichteten Affekte entscheidet. Erfüllbar ist dieses Gebot nach Augustinus aber nur für denjenigen Menschen, der – dank göttlicher Hilfe – aufhören kann, selbst Gott sein zu wollen.
7. Das sexuelle Begehren Das sexuelle Begehren wird in der antiken Philosophie eher negativ gesehen.12 Augustinus stellt hier keine Ausnahme dar. Allerdings nimmt dieses _____________ 12
Platon äußert sich an vielen Stellen der Politeia skeptisch bis negativ über das sexuelle Begehren (vgl. I, 328d–329c; VIII, 559a–d; IX 573b–d). Sexuelles Begehren gilt wie Hunger und Durst als notwendige Begierde, im Gegensatz zu den nicht-notwendigen (z. B. Verlangen nach ausländischen Spezialitäten). Der oligarchische Mensch folgt den notwendigen Begierden, der demokratische dazu auch den nicht-notwendigen, und im tyrannischen Menschen gebärdet sich Eros als innerer Despot. Dies legt den Schluss nahe, dass der höherstehende timokratische und der aristokratische Mensch der sexuellen Begierde gar nicht folgen. Der Weise weiß jedenfalls, dass die vom Leib her kommende Lust eine bloße Befreiung von Schmerz darstellt und somit eine unechte Lust ist (vgl. IX, 584c), die von der auch qualitativ verschiedenen Lust der Erkenntnis weit übertroffen wird (vgl. IX, 585a–586c). Der Stufenweg des Aufstiegs zum Schönen selbst, wie er im
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Thema in seinem Denken wesentlich größeren Raum ein als bei jedem anderen antiken Autor zuvor. Zunächst ist für Augustinus das sexuelle Begehren eine Form der concupiscentia neben anderen wie Hunger, Durst, Ehrgeiz und Schaulust. Allerdings schreibt er ihr schon terminologisch einen gewissen Vorrang zu, denn wenn von concupiscentia bzw. libido schlechthin und ohne weiteren Zusatz die Rede sei, dann sei damit das sexuelle Begehren gemeint. Die Vorrangstellung erklärt sich dadurch, dass sich Augustinus zufolge im sexuellen Begehren der durch die Ursünde eingetretene Einheitsverlust der Seele besonders deutlich manifestiert. Stärker als alle anderen Affekte verselbstständigt sich das sexuelle Begehren gegenüber der Vernunft und tritt als handlungsbestimmende Instanz zu ihr in Konkurrenz. Augustinus schreibt: „Die [libido] nimmt den ganzen Leib, innerlich so gut wie äußerlich, in Anspruch und bringt […] den ganzen Menschen in Wallung, worauf jene Wollust folgt, mit der keine andere körperliche Lust zu vergleichen ist, die, auf ihrem Höhepunkte angelangt, fast alles Denken und Bewußtsein auslöscht.“(CD XIV, 16) Kein anderer Affekt vermag sich so sehr wie die libido der Vernunftherrschaft zu entziehen und diese phasenweise sogar ganz zu suspendieren. Auch in der Kontrolle der Körperbewegungen besitzt die libido die Macht, die Vernunftherrschaft aufzuheben. Augustinus weist darauf hin, dass Bewegungen des Kopfes, der Arme und der Beine auf Geheiß des Willens erfolgen, während die Bewegungen der Geschlechtsorgane nicht der Steuerung durch den Willen unterliegen, sondern von der libido gelenkt werden. Im sexuellen Begehren sieht Augustinus die deutlichste Manifestation des Verlustes innerer Einheit, wie der Mensch ihn zufolge der Ursünde erleiden muss. Nach Augustinus ginge Geschlechtsverkehr idealerweise vonstatten, ohne dass die concupiscentia die Herrschaft über den Menschen ergriffe. So habe es etwa im Vollkommenheitszustand des Menschen vor dem Sündenfall durchaus Sexualität gegeben, denn schließlich sei der Mensch als Mann und Frau erschaffen worden, doch sei dies eine vernunftbestimmte Angelegenheit gewesen, ähnlich dem Ausbringen des Saatgutes durch den Sämann, der über den Acker geht (vgl. CD XIV, 23). Erst nach dem Sün_____________ Symposion geschildert wird, legt ebenfalls nahe, dass die Liebe zu den schönen Leibern nicht nur motivational überschritten, sondern gänzlich zurückgelassen wird (vgl. Symp. 210a–212a). Alkibiades berichtet schließlich, wie er trotz aller Verführungskünste Sokrates nicht von der sexuellen Enthaltsamkeit abzubringen vermochte (vgl. Symp. 216d–219c). Vgl. auch Cicero, Hortensius 84, I–IV (Cicero 1990, 88–90). Augustinus beruft sich in Contra Julianum IV, 15, 72–76 auch allgemein auf die Stoiker.
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denfall sei die Fortpflanzung unlösbar an die Herrschaft der libido gebunden. Zwar ist die phasenweise Außerkraftsetzung der Vernunft durch die libido nach Augustinus ein Übel, aber dieses Übel kann und soll in Kauf genommen werden, da der Mensch unter dem Fortpflanzungsgebot steht13 und Kinderzeugung eben nur auf diesem Weg möglich ist. Verwerflich ist Geschlechtsverkehr nach Augustinus nur dann, wenn er nicht auf die Zeugung zielt, sondern um der Lust willen vollzogen wird, denn dann handelt es sich um jene Zustimmung zur concupiscentia, die zur Gewohnheit wird und sich schließlich zur Notwendigkeit verfestigt. Offensichtlich sieht Augustinus einen Zusammenhang zwischen dem Begehren nach Selbstherrschaft des Menschen, wie es in der Ursünde zum Durchbruch kam, und dem sexuellen Begehren des gefallenen Menschen. So meint er, dass die Privatisierung der Sexualität in einem Sichschämen des Menschen über seine Selbstentzweiung wurzele, das seinerseits als Scham über die Abwendung von Gott zu deuten sei. Die Beispiele der Confessiones hatten gezeigt, wie nach Augustinus die ursprüngliche concupiscentia mit einer illegitimen Selbstzentrierung des Menschen zusammenhängt, die zur Destruktion oder zumindest zur Funktionalisierung des anderen auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse hin führt. Augustinus deutet offenbar auch das sexuelle Begehren als Ausdruck dieser Selbstzentrierung. So sehr Augustinus sich hier wie auch sonst sowohl um eine metaphysische als auch um eine psychologische Vertiefung überkommener Themen bemüht und dabei über frühere Autoren hinaus gelangt, so stößt seine Deutung der concupiscentia doch an eine Grenze. Diese Grenze liegt darin, dass er menschliche Sexualität einspannt in die Alternative von Nachwuchszeugung und egoistischem Luststreben und damit – wie die gesamte antike Philosophie – die Dimension der gegenseitigen Zuwendung, der Intimität und der besonderen Nähe zum anderen ausblendet.
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Genesis 1,28.
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Literatur Die untersuchten Schriften des Augustinus und der antiken Autoren werden mithilfe von Siglen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Zu De civitate dei: Zitiert wird nach der Ausgabe von Bernhard Dombart und Alphons Kalb sowie nach der Übersetzung von Wilhelm Thimme, Zürich 1981. – Die verwendeten Siglen sind: C CD DO DT
– Augustinus, Confessiones – Augustinus, De civitate dei – Augustinus, De ordine – Cicero, Disputationes in Tusculum
Aurelius Augustinus (21990), Confessiones, hrsg. von Lucas Verheijen, Turnhout (=C). – (61992), Bekenntnisse, eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme, München. – (2005), Contra Julianum, St. Augustinus, der Lehrer der Gnade, Bd. 4,1: Schriften gegen die Plegianer, hrsg. von Thomas Gerhard Ring, übers. von Rochus Habitzky, Würzburg. – (1981), De civitate dei, übers. von Wilhelm Thimme, Zürich (=CD). – (51981), De civitate dei, hrsg. von Bernhard Dombart und Alphons Kalb, Stuttgart (=CD). – (1970), De ordine, hrsg. von W. Green, Turnhout (=DO). Brachtendorf, Johannes (1997), Cicero and Augustine on the Passions, in: Revue des Etudes Augustiniennes 43/2, 296–299. Brachtendorf, Johannes (2005), Augustins Confessiones, Darmstadt. Cicero (1990), Hortensius, übers., eingel. u. hrsg. von Laila Straume–Zimmermann, München. Cicero (71998), Disputationes in Tusculum, hrsg. von Olof Gigon, Düsseldorf (=DT). Colish, Marcia L. (1990), The Stoic Tradition from Antiquity to the Middle Ages, Leiden, 2 Bde. Gellius (1927), The Attic Nights of Aulus Gellius, With an English Translation by John C. Rolfe, 3 Bde, London. Heidegger, Martin (1995), Augustinus und der Neuplatonismus, Gesamtausgabe II. Abt., Bd. 60, 157–299. Heidegger, Martin (151979, zuerst 1927), Sein und Zeit, Tübingen. Platon (1991), Politeia, hrsg. von Karlheinz Hülser, Frankfurt. Platon (1991), Symposion, hrsg. von Karlheinz Hülser, Frankfurt. Seneca (51995), De ira, hrsg. von Manfred Rosenbach, Darmstadt. Xenophon (1987), Memorabilia, hrsg. von Peter Jaerisch, München.
Spätantikes und frühmittelalterliches Christentum: Origines (185–254) Evagrius Ponticus (346–400) Nemesius von Emesa († um 400) Johannes von Damaskus (um 675–749) Zisterzienser des 12. Jahrhunderts: Wilhelm von St.-Thierry (um 1080–1148) Ps.-Augustinus (Alcher v. Clairvaux?)
Christliche Denker vor dem 13. Jahrhundert: Von der Askese zur Liebestheologie Alexander Brungs 1. Die Bedeutung emotionaler Phänomene im Rahmen einer radikalen Wendung menschlichen Daseins So groß ist nämlich die Kraft des Kreuzes Christi: Wenn man es sich vor Augen stellt und es gläubig im Geist festhält, sodass das Auge des Geistes sich auf den Tod Christi richtet und ihn schaut, dann kann keine Begierde [concupiscentia] oder Zügellosigkeit [libido], kein Zorn [furor] oder Neid [invidia] den Sieg davontragen, vielmehr wird in seiner Gegenwart sofort das ganze Heer von Sünde und Fleisch […] in die Flucht geschlagen. […] Wenn wir also wissen, dass unser Leib [corpus] abgetötet werden und tot für die Sünde sein kann, dann besteht auch die Möglichkeit, dass die Sünde in ihm nicht herrscht. […] Denn ein Toter begehrt [concupiscit] nicht, noch wird er zornig [irascitur], er stiehlt nicht und raubt kein fremdes Eigentum. (CeR, 192ff.)
In diesem Abschnitt aus Origines’ etwa 243/244 n. Chr. entstandenem Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Römer1 kommt deutlich eine Einstellung zum Ausdruck, die manchem heutigen Leser antiquiert und „leibfeindlich“ erscheinen mag. Die für die paulinische Lehre zentrale Dichotomie von Geist (pneuma) und Fleisch (sarx) wird hier gemünzt auf eine rigorose Aufforderung zur Bekämpfung aller Regungen, die dem Menschen nicht in erster Linie als geistbegabtem, sondern als körpergebundenem Wesen zukommen. Obgleich das oben angeführte Zitat schnell als ein von gnostischen Strömungen mit einem Hang zum dualistischen Welt- und Menschenbild beeinflusster Text gedeutet werden könnte, übersähe man dabei doch einen für die langfristige Entwicklung _____________ 1
Origines’ Kommentar ist nur in der gekürzten, lateinischen Übersetzung des Rufinus überliefert, auf die sich auch die deutsche Übersetzung bezieht. Dieser Kommentar wurde zwar – aufgrund der Origines unterstellten Nähe zur Häresie und vielfacher Vernichtung seiner Schriften – im Mittelalter nicht rezipiert, kann aber dennoch als exemplarischer Versuch einer philosophisch untermauerten Klärung christlicher Lehren in Auseinandersetzung mit verschiedensten geistigen Strömungen der Spätantike gesehen werden.
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auch orthodoxer christlicher Lehren wichtigeren Aspekt: Die Wirkung der stoischen Popularphilosophie mit ihrem zentralen Anliegen einer tragfähigen Konzeption von personaler Autonomie in einer determinierten Welt auf die Konzeption und Praxis christlicher Askese. Origines hatte kein erkennbares Interesse daran, eine systematische Theorie der menschlichen Emotionen zu entwickeln, sondern verfolgte vielmehr die Strategie, ein von derlei Phänomenen, die per se nicht in der Macht des Menschen liegen, unberührtes Leben als realisierbares aufzuzeigen.2 Das platonische Modell einer dreistufigen Hierarchie von Seelenteilen, demzufolge die Vernunft Kontrolle über den eher folgsamen, doch ungestümen muthaften Teil sowie den grundsätzlich störrischen und unersättlichen begehrlichen Teil erlangen sollte, drängt sich als Grundlage eines solchen Vorhabens nicht direkt auf, da es hier nicht als überwindbarer Zustand, sondern als permanente Aufgabe der Vernunft betrachtet wird, die Regungen der beiden anderen Seelenteile zu überwachen, einzudämmen und zu lenken.3 Noch mehr gilt das für die aristotelische Lehre, derzufolge muthafte und begehrliche Regungen nicht allein der Kontrolle der Vernunft zugänglich sind, sondern sogar als solche zu moralisch angemessenem Handeln erforderlich sein können. Vielversprechend aber ist die stoische Auffassung vom Menschen und das damit verbundene Modell der Emotionslosigkeit des idealen Weisen. Diese Emotionslosigkeit (apatheia) ist nicht gedacht als ein Zustand, in dem vorhandene Affekte aktiv niedergehalten würden, sondern als ein Zustand, in dem solche Affekte nicht vorhanden sind. Der stoische Weise ist in keinerlei Hinsicht von ihm unverfügbaren (oder auch nur teilweise verfügbaren) Regungen affiziert,4 muss also auch nichts niederhalten. Ähnlich ließe sich der Zustand denken, in dem sich ein Christ befinden kann, wenn er sich denn in einer paulinischen Wendung aus einem dem Irdischen verhafteten, ‚fleischlichen‘ Dasein zum Leben im Geiste, das heißt einem von Gott getragenen und Gott zugewandten Leben, aufschwingen kann. Werden wir im ‚fleischlichen‘ Leben von nur schwer kontrollierbaren Regungen wie Begierden und Zorn geplagt, so verheißt das ‚Leben im Geiste‘ einen Zustand, in _____________ 2 3 4
Hierzu Knuuttila 2004, 121ff. Vgl. etwa Platon, Politeia IV, 442a–c. Zu beachten ist, dass es sich hierbei um Gefühle handelt, die Menschen typischerweise haben. Der Weise kann nach stoischer Lehre für ihn charakteristische, ‚gute‘ Gefühle haben (eupatheiai); vgl. den Artikel von Friedemann Buddensiek in diesem Band.
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dem das ‚Fleisch‘ als Basis dieser Regungen abgestorben ist und sie mithin nicht mehr auftreten werden. Origenes kann zur philosophisch-theoretischen Untermauerung seiner Konzeption der christlichen Askese auf verbreitete Formen eines popularisierten stoischen Menschenbildes zurückgreifen, das bereits für Paulus selbst einen wirkmächtigen doktrinären Hintergrund zu seinem Denken bildete5. Neben der im Gegensatz etwa zu verschiedenen esoterischen Strömungen oder neuplatonischen Lehren grundsätzlich nicht-elitären Ausrichtung steht dabei nicht der für die stoische Philosophie äußerst wichtige Gedanke einer zu erstrebenden völligen Autonomie – der christliche Asket konzentriert sich nicht auf sich als autonomes Selbst, sondern entwirft sich als von der Welt zu befreiendes Selbst auf Gott hin – im Vordergrund, sondern die Möglichkeit eines radikalen Wandels des Lebens. Wichtig ist die Beachtung der inneren Struktur eines solchen Wandels: Nicht die Unterdrückung von Regungen ‚des Fleisches‘ schafft die Basis für die Hinwendung zu Gott, sondern die Wendung des Geistes zu Gott, die Fokussierung der Aufmerksamkeit weg von der Zerstreuung über den Dingen der körperlichen Welt hin zu Gott entzieht vielmehr umgekehrt den Affekten den Nährboden. Wer sich auf die Bekämpfung der Affekte konzentriert, erweist sich eben dadurch als von ihnen beherrscht. Leibgebundene, emotionale Regungen sind in diesem Sinne vor allem ein Zeichen der Unvollständigkeit des Vollzugs dieses Wandels, ein Zurückgeworfensein auf den ‚fleischlichen‘ Zustand der Unerfülltheit vom Geist Gottes; nur jemand, der noch der Welt verhaftet ist, wird davon affiziert. „Lasst uns also wirklich umkehren, damit wir von den Leidenschaften befreit werden und die Vergebung der Sünden erlangen!“ (LA, 99), schreibt Maximus der Bekenner in seinem Liber asceticus6. Von Leidenschaften bewegt zu werden, heißt, nicht im Geiste Gottes zu leben. Über die von der stoischen Differenzierung zwischen durchschnittlichem Menschen und Weisem beeinflusste generelle Unterscheidung zwischen dem in weltliche Belange verstrickten und in diesem Sinne fremdbestimmten Menschen und dem von der Affektion durch die Welt freien Menschen hinaus lassen sich bezüglich der Emotionen in Schriften bedeutender Vordenker der christlichen Askese wie etwa des Anachoreten Evagrius Pontikus weitere Anklänge an stoische Doktrinen feststellen. _____________ 5 6
Zu dieser geistesgeschichtlichen Situation generell vgl. Engberg-Pedersen 2000. (Hervorheb. v. A. B.). Zu Maximus und seinem Denken vgl. Larchet 2003.
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Evagrius, ein als solcher auch angefeindeter Anhänger origenistischer Lehren, schreibt als erster Wüstenmönch praktische Anleitungen zum mönchischen Leben und widmet in diesem Rahmen besondere Aufmerksamkeit dem Umgang mit typischen, den Mönch schwer belastenden, von ihm ‚acht Gedanken‘ (logismoi) genannten Anfechtungen, welche auch zu den Grundkategorien der abendländischen Lehre von den Wurzel- oder Todsünden bzw. der Lasterkataloge werden sollten. In Entsprechung zur dargestellten grundsätzlichen Wendung von einem Leben in mentaler Befangenheit in der körperlichen Welt hin zu einem Leben in Aufmerksamkeit auf Gott, zum Sein im Geiste Gottes, beschreibt Evagrius die dem Mönch zusetzenden, weltlichen Gefühlsregungen und Charakterzüge in wesentlicher Hinsicht als kognitive Phänomene; für ihn sind Fresssucht, Wollust, Habgier, Zorn, Traurigkeit, Überdruss, Eitelkeit und Hochmut zunächst logismoi, also (falsche) Auffassungen bzw. Vorstellungen, was wiederum an die vor allem im Entwurf Chrysipps durch ihren Kognitivismus gekennzeichnete stoische Affektenlehre erinnert. Es ist nicht ganz klar, wie sich Evagrius das Verhältnis von Gedanken und Leidenschaften genau denkt – er weist auch darauf hin, dass es über die Frage des kausalen Zusammenhangs unterschiedliche Ansichten gibt (Praktikos, 37)7 –, doch wird deutlich, dass für ihn der Schlüssel zu emotionalem Geschehen im Haben oder Nicht-haben bestimmter Gedanken liegt8. Wie die späte Stoa mit der Unterscheidung von passio und propassio differenziert Evagrius zwischen unserer Verfügung (eph hemin) Entzogenem und in unserer Hand Liegendem: „Ob alle diese [Gedanken] die Seele belästigen oder nicht belästigen, liegt nicht in unserer Hand; ob sie sich dort aber halten [chronizein] oder nicht, ob sie Leidenschaft erregen [pathe kinein] oder nicht, liegt in unserer Hand.“ (Praktikos, 6)9 Ursprung emotionaler Phänomene sind (defiziente) Gedanken, die laut Evagrius entweder durch Wahrnehmung von Dingen der körperlichen Welt oder direkt durch Dämonen hervorgebracht werden; Letzteres vor allem ein Problem des Mönchs, der sich dem Einfluss _____________ 7 8
9
Hier spricht Evagrius von ennoia, was eine weitere Frage nach dem Verhältnis dieser zu den logismoi aufwirft. Insofern wird auch ein mögliches Verständnis der evagrianischen Leidenschaften als eher dispositionaler Phänomene, das vielleicht aufgrund von Evagrius’ Fokussierung auf heute meist im Sinne von Charakterdispositionen (Lastern) gedeuteten Wurzelsünden naheliegen mag, relativiert: Jedes Auftreten einer sündhaften Leidenschaft gründet nach Evagrius in einem neuen oder neu erinnerten Gedanken. Vgl. auch die kleine Schrift Über die acht Geister der Bosheit (De octo spiritibus malitiae), in: PG, Bd. 79, col. 1145–1164, dort Nilus zugeschrieben).
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der Dinge durch Rückzug in die Einsamkeit weitgehend entzogen hat. Lassen wir uns auf diese Gedanken ein, d. h. richten wir unsere Aufmerksamkeit auf sie und machen sie damit zu unseren Gedanken, entwickeln sich daraus Leidenschaften, die uns fortreißen. Ein gefestigter Geist wird während seines Gebets von keinerlei derartigen Vorstellung beschäftigt (Praktikos, 65), und die in seinem Körper während des Schlafes vorgehenden Veränderungen sind nicht von irgendwelchen Gedankenbildern begleitet. Tauchen solche im Schlaf auf, ist dies Zeichen von seelischer Krankheit (Praktikos, 55). Erstrebenswerter Zielzustand für den Mönch ist die apatheia, Leidenschaftslosigkeit, welche nicht Kampf gegen, sondern Freiheit von in der Bindung an die Welt auftretender emotionaler Verwirrung bedeutet: „Der Vollendete [teleios] übt sich nicht in Selbstbeherrschung, und der Leidenschaftslose [apathes] hält nichts stand, denn das Standhalten ist Sache des Verwundbaren, und die Selbstbeherrschung Sache dessen, der von etwas belästigt wird.“ (Praktikos, 68)10 Aus der apatheia, der „Blüte der Askese“ (praktike) schließlich erwächst die Liebe (agape) (Praktikos, 81; prol., 8), die im Sinne einer im Zustand der apatheia auftretenden Regung eben keine Leidenschaft ist, sondern die wohlwollende Zuneigung eines im Geiste Gottes Lebenden, ein Phänomen, das wiederum von der Art dessen ist, was man in der Stoa die eupatheiai des Weisen nannte. Über die Vermittlung vor allem durch die Schriften Johannes Cassians bleiben diese in stoischem Gedankengut wurzelnden, von Origenes ‚christianisierten‘ charakteristischen Motive einer an die asketische Praxis geknüpften Reflexion auf emotionale Phänomene der christlichen Welt in der Tradition mönchischer Spiritualität über die Jahrhunderte hin präsent, und bis zur Ausbildung einer systematischen, philosophischen Betrachtung von Mensch, Natur und Kosmos im 12. Jahrhundert dominieren sie das Verständnis des menschlichen Gefühlslebens im lateinischen Abendland.
2. Platonisches Erbe Die stoische Populärphilosophie ist allerdings nicht die einzige antikgriechische Inspirationsquelle für das Menschenbild früher christlicher Autoren wie des ägyptischen Wüstenmönchs Evagrius. Dieser bedient sich zwar in der Darstellung des Wesens von und des Umgangs mit Emo_____________ 10
Vgl. Joest 1993; Sorabji 2000, insb. 391–397.
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tionen bei der Stoa, greift aber durchaus auch – wie bereits Origines – auf die platonische Philosophie zurück, um den Ort der Genese dieser Emotionen in der Seele zu bestimmen. So klassifiziert er verschiedene Maßnahmen zur Vorsorge gegen und Abwehr von logismoi in drei Hauptgruppen: Einmal diejenigen gegen einen rastlos zerstreuten Geist (nous), dann die gegen brennendes Verlangen (epithymia), und schließlich die gegen erregten Zorn (thymos). (Praktikos, 15) Dies entspricht der bereits erwähnten platonischen Dreiteilung der Seele in eine leitende Vernunftseele, eine muthafte Seele und eine begehrende Seele. Der Ursprung der Leidenschaften (pathe) liegt in zweien dieser Seelen bzw. Seelenteile: Die Dämonen greifen mit ihren trügerischen Gedankenbildern den begehrenden (epithymetikon) oder den muthaften (thymikon) Teil der Seele an, sodass Leidenschaft entsteht (Praktikos, 54). In der gesunden Seele wiederum erstrebt der begehrende Teil die Tugend, und der muthafte kämpft um sie (Praktikos, 86). Evagrius’ Vermischung von stoischen und platonischen Motiven bereitet an dieser Stelle keine Schwierigkeiten, wenn wir davon ausgehen, dass mit ‚gesunder‘ Seele nicht der gleiche Zustand gemeint ist, wie der Zustand der apatheia des Vollkommenen. Wir müssen in hier relevanter Hinsicht wohl drei verschiedene Zustände unterscheiden: a) Der Zustand desjenigen, der sich auf die Vorstellungen weltlicher Dinge und die logismoi einlässt, sie zu seinen Gedanken und Vorstellungen macht, sie mithin anerkennt und ihnen in diesem Sinne ausgesetzt ist und von ihnen geplagt wird. Gedanken bringen Leidenschaften hervor, indem sie die Seele besetzen und umtreiben; der Zustand des Leidenschaftlichen ist also der Zustand eines Menschen, dessen Seele durch unkontrolliert von außen eindringende Gedanken okkupiert wird. In jenem Zustand ist die Seele krank. b) Der Zustand desjenigen, der zwar oben genannten Vorstellungen und Gedanken ausgesetzt ist, sie sich aber nicht zu eigen macht, sondern seine Aufmerksamkeit auf die Erringung der Tugend richtet, in diesem Sinne also kämpft. In jenem Zustand wird die Seele „gesund“ genannt.
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c) Der Zustand der Leidenschaftslosigkeit (apatheia), also der völligen Abwesenheit von störenden Vorstellungen und Gedanken in der Seele, welcher die Voraussetzung für die wahre Liebe zu Gott und der Schöpfung und der Erkenntnis derselben ist. Dies ist der Zustand des Vollkommenen. Die platonische, in die Seelenteillehre eingebettete Auffassung von Gefühlen lässt sich also mit der stoischen Unterscheidung von Menschen im allgemeinen auf der einen Seite und dem Weisen auf der anderen Seite verbinden, wenn Funktion und Tätigkeit des begehrenden und des muthaften Seelenteils auf die genannten Zustände a) und b) beschränkt werden. Solche Kombinationen von platonischen und stoischen Motiven finden außer in Anleitungen zur asketischen Lebenspraxis in der Tradition des christlichen Mönchtums auch Eingang in eher systematisch-theoretisch angelegte Darstellungen des menschlichen Gefühlslebens im Mittelalter.
3. Die ersten theoretischen Aufrisse einer christlichen Anthropologie und die Klassifikation der Gefühlsregungen Das mit einigem Recht häufig als erste systematische Darstellung einer christlichen Anthropologie in philosophischer Perspektive betrachtete, um das Jahr 400 herum entstandene Werk De natura hominis des Bischofs Nemesius von Emesa (das heutige Homs in Syrien) ist Resultat der Bemühung, die christliche Lehre vom Menschen vor dem Hintergrund der griechischen Philosophie der Spätantike argumentativ zu untermauern.11 Einflussreich für die Philosophie des Mittelalters wurde diese einzig bekannte Schrift des Nemesius durch die Übersetzungen des Alfanus von Salerno und vor allem des Burgundio von Pisa im 12. Jahrhundert, durch die sie unter den lateinischsprachigen Gelehrten Europas bekannt wurde.12 Die breite Rezeption ist dabei sicher nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass nicht Nemesius (den man nicht als Autorität kannte), sondern Gre_____________ Zu Nemesius und seiner Lehre vom Menschen allgemein vgl. Motta 2004; Kallis 1978. Kritische Ausgabe des griechischen Textes: Nemesius 1987, hrsg. von Moreno Morani. 12 Vgl. Nemesius 1917; Némésius d’Emèse 1975. Letzterer Text wird hier zugrunde gelegt, da er für die Rezeption in der Philosophie des Mittelalters die entscheidende Fassung ist. Zur Wirkungsgeschichte vgl. Dobler 2000. 11
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gor von Nyssa (bzw. in einigen Fällen „Remigius“) als Autor galt. Überdies hatten einige, insbesondere auch große Teile der für die Affektenlehre relevanten Passagen meist wörtlich Eingang gefunden in das gleichfalls von Burgundio ins Lateinische übersetzte Werk Über den rechten Glauben (Expositio fidei bzw. De fide orthodoxa) des Johannes Damascenus.13 Nemesius schöpfte aus verschiedenen Quellentexten unterschiedlicher philosophischer Schulen; neben platonischen bzw. neuplatonischen Doktrinen, die er generell bevorzugt (er zitiert sogar Porphyrios, der ein erklärter Gegner des Christentums war), bedient er sich aristotelischer und stoischer Lehrmeinungen sowie der medizinisch-naturphilosophischen Theorien Galens. Über einen bloßen spätantiken Eklektizismus hinaus zeigt sich bei Nemesius eine spezifisch christliche Perspektive, etwa wenn es um die Verfasstheit des Menschen als Wesen mit Seele und Leib oder um dessen Stellung im Gesamt der Schöpfung geht. Ohne selbst eine systematisch durchgeformte und konsistente Theorie des Verhältnisses von Seele und Leib im Menschen zu entwickeln, betont Nemesius einerseits die Eigenständigkeit der Seele als unkörperlicher Substanz, die zum ewigen Leben geeignet ist, andererseits die Notwendigkeit einer wirklichen Einheit von Leib und Seele, die über die Vorstellung eines die Seele bloß wie ein Gehäuse umschließenden Leibes hinausgeht. Einen strengen Leib-Seele-Dualismus lehnt Nemesius also ab; die Lehre Platons deutet er weniger ontologisch als Konzeption zweier allein funktional, doch nicht wesenhaft verbundener Substanzen, sondern eher im Sinne eines ethischen Leitbildes: Gerade darum weist er uns auf die Göttlichkeit und die Pflege der Seele allein hin, damit wir im Glauben, selbst die Seele zu sein, nur die Güter der Seele erstreben: die Tugenden und die Frömmigkeit; wir sollen nicht die körperlichen Begierden [corporis concupiscentias] lieben, weil sie nicht eines Menschen würdig sind, sofern er Mensch ist. (DNH, cap. 1, 5; Übersetzung Orth 6)
Gegenüber noetischen Erwägungen14 wie etwa der, dass die Seele durch ihre Bindung an den Körper an wahrhafter Erkenntnis gehindert werde, _____________ Griechische Textausgabe: Johannes von Damaskus 1973; deutsche Übersetzung: Johannes von Damaskus 1923; Edition der lateinischen Übersetzung: Johannes Damascenus 1955. 14 Interessant ist hier, nebenbei bemerkt, auch die Ablehnung der aristotelischen Intellektlehre, wie Nemsius sie – wohl aus doxografischen Werken – kennt. Aristoteles habe nämlich angenommen, dass der wirkende Intellekt etwas dem Menschen von außen her Zukommendes sei, über das nur wenige Philosophen (philosophantes) verfügten. Dieses Verständnis ist für den Bischof eindeutig unangemessen elitär. Vgl. DNH, cap. 1, 5. 13
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rückt Nemesius den ethisch-therapeutischen Aspekt in den Vordergrund – wir sollen uns wesentlich als Seelen begreifen, weil wir uns dadurch unsere besonderen Würde als Wesen vor Augen halten, die ihren körperlichen Bedürfnissen nicht einfach unterworfen sind, sondern sich zu diesen Bedürfnissen bewusst verhalten können; ein zentrales Motiv hellenistischer Populärphilosophie, wie es bereits oben geschildert wurde. Dementsprechend ergibt sich für Nemesius auch ein dem Menschen als demjenigen Geschöpf, das in der hierarchisch strukturierten, geschaffenen Welt an der Grenze zwischen vernunftfähigen und nicht-vernunftfähigen, zwischen körperlichen und unkörperlichen Naturen steht,15 eigentümliches Charakteristikum: Die Fähigkeit zur Reue und daraus resultierend wiederum die Möglichkeit der Vergebung. Wie nur dem Menschen die Fähigkeit zu lachen eigentümlich (proprium) sei, so auch die Möglichkeit, eigenes Verhalten zu bereuen und so gnadenhaft Vergebung zu erlangen. Im Gegensatz nämlich zu den Engeln, den reinen Verstandeswesen, werde der menschliche Geist durch sinnliche Bedürfnisse und Gefühlsregungen gegängelt (Necessitas autem animalis et passiones multotiens circumtrahunt mentem). Wenn er sich davon aber befreit und der tugendhaften Lebensführung zugewandt habe, könne er Verzeihung erlangen. (DNH, cap. 1, 15) Gerade durch die Betonung der Besonderheit von Reue und Vergebung wird deutlich, dass es – wie schon in der Darstellung von Evagrius’ Lehre festgestellt – nicht primär darum gehen kann, eine simple Niederwerfung emotionaler Regungen und radikale Unterdrückung des Gefühlslebens zu propagieren, sondern vielmehr darum, auf diejenige Möglichkeit aufmerksam zu machen, die unter allen Geschöpfen allein der Mensch hat: Das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten; die immer wieder mögliche Änderung des Verhaltens im Sinne bewussten Zu-eigen-machens oder Ablehnens von Wünschen, Gefühlen und Bedürfnissen. Wer nicht von seinen Gefühlen beherrscht werde, werde auch nicht von anderen Lebewesen beherrscht, wie uns der paradiesische Zustand vor dem Sündenfall, in dem die Tiere dem Menschen unschädlich und dienstbar waren, oder das Beispiel der heiligen Männer Daniel (der über den Löwen herrscht) und Paulus (der dem Natternbiss trotzt) zeigen könnten. _____________ 15
„Darum steht er auch gleichsam auf der Grenzlinie zwischen geistiger und sinnlicher Wesenheit [medius est intellectualis et sensibilis substantiae]; durch den Körper und die körperlichen Anlagen steht er mit den unvernünftigen und unbeseelten Wesen in Verbindung, dagegen durch die Vernunft mit den körperlosen Wesen“ (DNH, cap. 1, 6; Übersetzung Orth, 7).
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Durch Beherrschung der passiones, durch ein Leben in Tugend und Frömmigkeit werde der Mensch Heim und Tempel Gottes, so Nemesius in seinem Lob des Menschen (DNH, cap. 1, 21f.).16 Im Sinne des ethischtherapeutischen Aspekts der Darstellung der passiones legt Nemesius auch Wert auf die Betrachtung der möglichen Ursachen ‚schlechter‘ Affekte sowie deren Behebung. Ein Grund für das Auftreten schlechter Affekte ist das, was wir umgangssprachlich ‚mangelnde Kinderstube‘ nennen: Manche seien ihren Gefühlswallungen ausgeliefert, weil eine defiziente Erziehung versäumt habe, ihnen kontrollierten Umgang mit Gefühlen beizubringen. Dies sei nur durch gute Gewohnheiten (consuetudine bona) zu beheben, wobei Nemesius uns eine genauere Erklärung schuldig bleibt, wie diese denn zu erreichen seien. Ein weiterer Grund liege in der Unwissenheit, die durch Lehre und Studium (doctrina et disciplina) beseitigt werden könne; wenn alle Gefühle Werturteile, d. h. die Einschätzung ihrer Bezugsgegenstände als Gut oder Übel, beinhalteten, müsse Unwissen, das falsche Urteile bewirkt, auch unangemessene Affekte hervorbringen. Der dritte mögliche Ursprung schlechter Affekte schließlich sei in der körperlichen Konstitution zu sehen; verantwortlich für die Neigung zum Zorn oder zu wollüstigem Begehren könne die individuelle Säftemischung (das ‚Temperament‘) sein, die wiederum durch gymnastische, diätetische oder pharmazeutische Maßnahmen auf eine gemäßigte Mischung (media crasis) hin reguliert werden könne (DNH, cap. 16, 95f.). Beherrscht werden können die passiones, insofern sie Regungen des vernunftlosen, doch der Vernunft zugänglichen Vermögens der Seele sind. Dieses vernunftgehorsame (oboediens rationem) Vermögen, das so heißt, weil seine Regungen im Falle des naturgemäß Lebenden der Vernunft unterworfen sind, gliedert sich in ein begehrendes (desiderativum) und ein muthaftes bzw. zornmütiges (irascitivum). Beiden Untervermögen sind in platonischer Tradition körperliche Organe zugeordnet, nämlich dem begehrenden die Leber und dem zornmütigen das Herz. Entsprechend der zentralen Bedeutung dieser Organe im Rahmen der galenischen Pneumalehre, die den physiologischen Hintergrund von Nemesius’ Anthropologie bildet,17 kann Nemesius erklären, dass jene Regungen für ein Sinnenwesen essenziell sind, weil kein solches Wesen ohne sie zu leben vermöchte.18 _____________ Zum Lobgesang auf den Menschen, der keineswegs den Makel der prinzipiellen Sündhaftigkeit leugnet, vgl. Kallis 1978, 93ff. 17 Vgl. Knuuttila 2004, 105ff. 18 „Sunt autem et hae passiones constituitivae animalis substantiae; sine his enim non est constare vitam.“ (DNH, cap. 15, 93) 16
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Genau bestimmt wird die passio schließlich als eine „wahrnehmbare Veränderung der begehrenden Kraft angelegentlich der Vorstellung eines Gutes oder eines Übels“ bzw. als „vernunftlose Veränderung der Seele aufgrund der Vorstellung eines Gutes oder eines Übels“19. Im Rückgriff auf die angeführten Merkmale der passiones ergeben sich für Nemesius die Kriterien einer grundlegenden Gliederung dieser Regungen in vier Arten. Zunächst erwähnt er einen Ansatz, der im begehrenden Vermögen die Regungen der Lust und die Regungen der Trauer voneinander scheidet: Das erfüllte Begehren nämlich bringe Lust hervor; das nicht erfüllte hingegen Trauer.20 Dies passt zu einer Bemerkung, die Nemesius im Rahmen der Begriffsbestimmung der passio bereits angebracht hatte, nämlich dass den passiones Lust oder Trauer folge.21 Unvermittelt wählt Nemesius jedoch einen anderen Gliederungsansatz, nämlich eine Kombination der Gegenstandsmerkmale gut/übel und zukünftig/gegenwärtig, woraus sich das stoische Schema der vier Primäraffekte Freude bzw. Lust (voluptas), Trauer (tristitia), Furcht (timor) und Begehren (desiderium) ergibt. Ist eine passio auf ein (noch) abwesendes Gut bezogen, so handelt es sich um eine Form des Begehrens, ist sie auf ein bereits gegenwärtiges Gut bezogen, so handelt es sich um Freude; entsprechend ist die auf ein noch nicht gegenwärtiges Übel bezogene passio eine Form von Furcht, die auf ein gegenwärtiges Übel bezogene eine Form von Trauer. Relevant für die Klassifikation als Gut oder Übel ist dabei unsere Einschätzung, entspreche diese nun den tatsächlichen Verhältnissen oder nicht (DNH, cap. 16, 95). Wir finden bei Nemesius keine konsistente Verbindung des stoischen Gliederungsschemas mit dem Gedanken, dass den passiones Lust oder Trauer folgen, sowie mit der platonischen Teilung von begehrendem und zornmütigem Vermögen (obgleich dies möglich wäre; vgl. etwa die Konzeption des Thomas von Aquin). Dies zeigt sich im weiteren Verlauf seines Aufrisses einer Affektenlehre unter anderem daran, dass – wesentlich gestützt auf gängige vergleichbare ‚Kataloge‘ stoischer Provenienz – in je eigenen kleinen Kapiteln diverse Unterarten der Lust, der Trauer, der Furcht, aber nicht des Begehrens, wie dem Vierer_____________ „passio est motus concupiscitivae virtutis sensibilis, in imaginatione boni vel mali“; „passio est irrationalis motus animae propter suspicionem boni vel mali“ (a. a. O.). 20 „desiderativum dividitur in duo: in voluptates et tristitias; potitum enim desiderium voluptatem facit, non potitum vero tristitiam.“ (DNH, cap. 16, 95) 21 „Est quidem communiter quidem et generaliter animalis passio, quam sequitur voluptas et tristitia.“ (DNH, cap. 15, 93) 19
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schema entsprechend zu erwarten wäre, sondern des Zorns besprochen werden.22 Im Kapitel über die Lust unterscheidet Nemesius traditionell zunächst die rein geistigen (die nach Ansicht einiger nicht wirklich Lüste seien) von den körperlich bedingten, sinnesabhängigen Lüsten. Diese wiederum sind gegliedert in natürliche und notwendige, wie die Lust an der Nahrungsaufnahme, natürliche, aber nicht notwendige, wie die Lust an legitimen (d. i. der Zeugung von Nachkommen mit dem Ehepartner dienenden) Sexualakten, und weder natürliche, noch notwendige, wie etwa die Lust an Trunkenheit und ausschweifendem Sexualleben. Bemerkenswert an diesem Abschnitt ist vor allem eine kurze Liste von Kriterien, deren Erfüllung laut Nemesius die Bewertung von Lüsten als „gute“ veranlasst: „Einfach aber ist die Einschätzung der Lüste als gute, die weder mit Traurigkeit verbunden sind, noch Reue hervorbringen, die weder Schaden verursachen, noch vom rechten Maß abweichen, die uns weder zu sehr von ernsthafter Tätigkeit abhalten, noch uns zu Sklaven machen.“23 Entscheidend neben dem Interesse an Schadensvermeidung ist hier wiederum der Gedanke, dass es besser ist, autonom zu agieren, die Kontrolle über sich selbst zu haben, als ein von möglicher Reue Geplagter oder gar wie ein Sklave bloß Getriebener zu sein. Allein die rein geistigen Lüste, die in erster Linie zu erstreben sind, entsprechen den Anforderungen voll und ganz: Hier handelt es sich eben nicht um die Behebung eines Mangels wie etwa im Falle der Nahrungsaufnahme; der geistigen Lust geht keine Form von Trauer voraus, und es folgt ihr auch keine Reue. Schließlich sind alle Gegenstände körper- und sinnengebundener Lust kontingent und veränderlich, sie entstehen und vergehen. Im Gegensatz dazu sei die Kontemplation (des Wahren) nicht im eigentlichen Sinne Veränderung, sie gleiche vielmehr der Tätigkeit Gottes, der als erster Beweger selbst auch keine Veränderung erfährt; mithin sei die Lust am Betrachten der Wahrheit die höchste aller Lüste. (DNH, cap. 17, 98ff.) Die Gliederung der Zorn-, Furcht- und Trauer-Regungen in Subspezies wiederum folgt weitgehend, oft bis hin zur Übernahme der griechi_____________ Diese Kapitel übernimmt Johannes Damascenus mit minimalen Abweichungen komplett in sein De fide orthodoxa (vgl. Johannes von Damaskus 1973, cap. 27–30 (bzw. lib. II, cap. 13–16), 80–83). 23 „Simpliciter autem existimandum est has esse bonas voluptates quae non sunt complexae tristitiae, neque paenitudinem faciunt, neque laesionis alicuius sunt generativae, neque a moderato secedunt, neque a studiosis operibus nos abstrahunt plurimum vel servos nos faciunt.“ (DNH, cap. 17, 97) 22
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schen Bezeichnungen der entsprechenden Phänomene, verbreiteten Affekt-Katalogen aus dem Bereich der stoischen Populärphilosophie, unter denen der fälschlich unter dem Namen des Andronicus von Rhodos überlieferte24 (auch ins Lateinische übersetzte) wohl der bekannteste ist. Spezifikationskriterien sind hier entweder die physiologischen Ursachen, die körperlichen Begleiterscheinungen und Auswirkungen, oder die Bezugsgegenstände der jeweiligen passiones, wobei die körperlichen Aspekte im Vordergrund stehen. Wir finden etwa klassische Definitionen wie die des Neids (invidia) als Trauer über ein Gut in fremder Hand (DNH, cap. 17, 101), der Scham (erubescentia) als Furcht vor Tadel (DNH, cap. 20, 103), oder des Zorns (ira) sowohl als Aufkochen des Blutes im Bereich des Herzens wie auch als Verlangen nach Vergeltung (DNH, cap. 19, 102). Dieses klassifikatorische Vorgehen mag unsystematisch erscheinen, und man mag sich auch fragen, welchen Erkenntnisgewinn eine derartige schematische Erfassung emotionaler Phänomene wohl einbringt. Berücksichtigt werden sollte aber wohl, dass der Zweck solcher Auflistungen vielleicht nicht in erster Linie die Befriedigung theoretischer Neugier, sondern die Erleichterung der Diagnose seelischer Krankheitszustände und -prozesse sowie die schnelle Auffindung entsprechender therapeutischer Maßnahmen war.
4. Monastische Spiritualität und die affektive Neigung zu Gott Platonische und stoische Elemente blieben für Anthropologie und Affektenlehre im lateinischen Abendland bis zur intensiven Rezeption der aristotelischen Naturphilosophie und Ethik ab dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts tragende Säulen neben der wie auch vermittelt durch die im Großen und Ganzen dominierende augustinische Lehre vom Menschen. Substanzielle Erweiterungen bzw. neue Entwicklungen im 12. Jahrhundert, das einen oft ‚Renaissance‘ genannten Aufschwung der Wissenschaften hervorbrachte,25 zeigten sich – abgesehen von einer intensiven Beschäftigung mit der Rolle der oben bereits angesprochenen Zustimmung26 – vor allem an zwei Aspekten: Zum einen ist eine ‚Physiologisie_____________ 24 25 26
Vgl. Pseudo-Andronicus de Rhodes 1977. Es sei hier nur verwiesen auf die wegweisende Studie von Haskins 1927. Zu nennen ist hier an erster Stelle Abaelard, der in seiner ethica die Zustimmung zum Dreh- und Angelpunkt der Güte bzw. Sündhaftigkeit von Akten (auch bloß mentalen) macht. Zu dieser Thematik vgl. Marenbon 1997, 251ff. Vorausgegan-
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rung‘ vieler Bereiche der Seelenlehre, eine intensive Durchdringung der philosophischen Anthropologie von medizinischem Lehrgut sowie der Seelenlehre Avicennas27 zu beobachten, die wesentlich auf das Wirken der vom arabischen Schrifttum geprägten salernitaner Medinziner zurückgeht – nicht zufällig ist es wohl Alfanus von Salerno, der als erster Nemesius’ De natura hominis mit der darin enthaltenen Kompilation spätantiken medizinischen Wissens ins Lateinische übersetzt –, zum anderen bildet sich eine über die bisherige asketische Praxis hinausweisende Lehre von der Praxis einer affektiven Hinwendung zu Gott und der göttlichen Wahrheit heraus. Ein Kristallisationszentrum dieser Entwicklungen ist das zisterziensische Milieu um die geistige Leitfigur Bernhard von Clairvaux28. Hier entstanden verschiedene Schriften zur Anthropologie (etwa Wilhelm von St. Thierry: De natura corporis et animae und De natura et dignitate amoris29; Isaak von Stella: Epistola de anima30; Aelred von Rievaulx: Dialogus de anima und De spiritali amicitia31), deren gefühlstheoretische Aspekte einen näheren Blick lohnen.32 Einer der auch außerhalb des Ordens besonders einflussreichen Traktate war der womöglich von Alcher von Clairvaux verfasste33, unter dem Namen des Augustinus verbreitete Traktat De spiritu et anima34; obgleich schon früh Zweifel an der Autorschaft Augustins aufkommen, wurde daraus noch bei den großen Theologen des 13. Jahrhunderts regelmäßig zi_____________
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gen war eine Differenzierung der Sündhaftigkeit anhand des stoischen Konzepts der Unterscheidung von propassio und passio etwa bei Anselm von Laon; vgl. Knuuttila 2004, 178f. Hierzu vgl. Hasse 2000. Ein zentraler Text Bernhards für das zisterziensische Menschenbild und das Thema der spirituellen Einung mit Gott sind die Sermones super Cantica Canticorum, Bernhard von Clairvaux 1957/1958; Bernhard von Clairvaux 2003, 2007. Zu Bernhards Auffassung der Liebe vgl. Enders 2000. Guillelmus a Sancto Theodorico 2003; der Text von De natura corporis et animae basiert auf der Edition von Michel Lemoine: Guillaume de Saint-Thierry 1988. PL, Bd. 194, col. 1875–1890. Aelredus Rievallensis 1971. Zu Aelreds Anthropologie und der zentralen Stellung der Affekte in der zisterziensischen Spiritualität insgesamt vgl. Boquet 2005. Zur Seelenlehre der Viktoriner vgl. etwa Ostler 1906 und Dumeige 1952; zu Abaelard Perkams 2001. Immer noch grundlegend ist das mehrbändige Werk von Lottin 1942–1960. Zur Autorfrage vgl. aber Raciti 1961. Vgl. PL, Bd. 40, col. 779–832.
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tiert, als ob es sich tatsächlich um eine echte Schrift Augustins gehandelt habe. In kompakter Form finden wir in diesem Werk die wesentlichen Elemente der platonischen Seelenteillehre und des stoischen Schemas der vier Primäraffekte kombiniert wieder: So gibt es nämlich eine vernünftige, eine begehrende und eine zornmütige Kraft. Durch die vernünftige Kraft [rationalitas] ist die Seele geeignet, erleuchtet zu werden, um etwas höheres oder niedrigeres, in ihr oder außerhalb ihrer selbst befindliches zu erkennen. […] Durch die begehrende [concupiscibilitas] und die zornmütige [irascibilitas] Kraft ist sie geeignet und in der Lage, etwas zu erstreben oder etwas zu fliehen, etwas zu lieben oder etwas zu hassen: Und daher rührt jedes Erfassungsvermögen [sensus] der Seele von der vernünftigen Kraft her, von den anderen jeder Affekt [affectus]. Der Affekt aber wird in vier Teile unterschieden; indem wir uns nämlich an dem, was wir lieben, bereits erfreuen oder aber uns zu erfreuen hoffen, und indem wir durch das, was wir hassen, bereits Schmerz leiden oder aber Schmerzen zu leiden fürchten. Daher entspringen der begehrenden Kraft die Freude und die Hoffnung und aus der zornmütigen Kraft der Schmerz und die Furcht. Diese vier Affekte der Seele sind gewissermaßen die Prinzipien und die gemeinsame Materie aller Laster und Tugenden.35
Im Unterschied zu Nemesius verbindet der zisterziensische Autor des De spiritu et anima das Modell der Seelenkräfte und das Viererschema der Affekte in konsistenter Weise – das begehrende Vermögen ist demgemäß auf als gut bzw. zuträglich bewertete Gegenstände, das zornmütige Vermögen auf als schlecht bzw. unzuträglich bewertete Gegenstände gerichtet. Die Unterscheidung der beiden Seelenvermögen nach ihrer Ausrichtung auf Gutes (erstreben, begehren, erfreuen) bzw. Übel (meiden, bekämpfen, fürchten) bleibt fortan Standardtheorie insbesondere bei den Franziskanern (Johannes von La Rochelle36, Alexander von Hales, Bonaventura); _____________ „Est siquidem rationalis, concupiscibilis et irascibilis. Per rationalitatem habilis est illuminari ad aliquid cognoscendum infra se et supra se, in se et iuxta se. […] per concupiscibilitatem et irascibilitatem habilis est affici ad aliquid appetendum vel fugiendum, amandum vel odiendum: et ideo de rationalitate omnis sensus oritur animae, de aliis omnis affectus. Affectus vero quadripartitus esse dignoscitur: dum de eo quod amamus, jam gaudemus, vel gaudendum speramus; et de eo quod odimus, jam dolemus, sive dolendum metuimus; et ob hoc de concupiscibilitate gaudium et spes, de irascibilitate dolor et metus oriuntur. Qui quidem quattuor affectus animae omnium sunt vitiorum et virtutum quasi quaedam principia, et communis materia.“ (PL 40, col. 781) Der Autor übernimmt hier einen fast gleichlautenden Abschnitt aus der Epistola de anima Isaaks von Stella, vgl. PL, Bd. 194, col. 1878. 36 Johannes, der auch für die einschlägigen Abschnitte der sog. Summa Halensis verantwortlich ist, verweist etwa bereits im Tractatus de divisione multiplici potentiarum 35
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nur Thomas von Aquin wird später andere, subtilere Gliederungskriterien wählen. Nicht eine konsistentere und systematischere Darstellung der dem Gefühlsleben zugrundeliegenden Seelenvermögen aber ist es, was die Lehre der Zisterzienser in diesem Bereich besonders auszeichnet. Wir können feststellen, dass der Autor des De spiritu et anima nicht nur vier, sondern genau besehen sechs emotionale Phänomene auflistet, nämlich neben Freude (bzw. Lust) und Hoffnung (bzw. Begierde), Schmerz (bzw. Trauer) und Furcht noch Liebe und Hass. Es wird an dieser Stelle nicht klar, ob er sich Liebe und Hass als gleichermaßen aus begehrendem bzw. zornmütigem Vermögen hervorgehend denkt, d. h. ob diese Phänomene auf der gleichen „klassifikatorischen Ebene“ angesiedelt sind wie Freude und Trauer, Begierde und Furcht, oder ob es sich um etwas in anderer Weise Grundlegendes handeln soll. Aus einem anderen Abschnitt geht jedoch eindeutig hervor, dass alle sechs gelisteten Gefühlsregungen von den beiden Seelenvermögen hervorgebracht werden sollen, also gleichermaßen Veränderungen dieser Vermögen sind, und dass sie in kausalen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen. Aus dem begehrenden Vermögen entspringt demnach die Liebe, daraus das Begehren und die Freude; aus dem zornmütigen Vermögen entsprechend der Hass und daraus Furcht und Schmerz (DAS, 45).37 Liebe und Hass sind folglich Gefühlsregungen wie die klassischen vier Primäraffekte im Sinne von Veränderungen bzw. Bewegungen des begehrenden oder zornmütigen Vermögens, doch darüber hinaus tragende Voraussetzungen für die jeweils weiteren Regungen des entsprechenden Vermögens. Ohne Liebe ist demnach kein Begehren und keine Lust denkbar, ohne den Hass als Umkehrung der Liebe keine Furcht und kein Schmerz. Die Liebe nimmt dann nicht nur eine tragende Rolle im Rahmen der Affektenlehre im engeren Sinne ein, sondern wird für die Zisterzienser (und andere) zum Fundament des Lebenswandels, zum Kern des Christseins als eines Lebens im Geiste überhaupt, denn die Liebe ist es, die den Menschen wie auch ein jedes Geschöpf an den in der Schöpfungsordnung zugemessenen Ort trägt und dort ruhen lässt. Ausgehend von einer auf den Neuplatoniker Iamblich zurückgehenden Sentenz Au_____________ animae, cap. 50, direkt auf den angeführten Passus des De spiritu et anima; vgl. Jean de la Rochelle 1964, 126. 37 Dieser Abschnitt basiert wesentlich auf Hugo von St. Viktor: De Sacramentis christianae fidei, 1.6, PL 176, Bd. 176.
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gustins38 beschreibt Wilhelm von St. Thierry die kosmologische Dimension der Liebe: Die Liebe ist ja die Kraft der Seele, die sie durch ein natürliches Schwergewicht zu ihrem Ort oder Ziel hin trägt. Denn jedes Geschöpf, sei es geistig oder körperlich, hat einen bestimmten Ort, zu dem es naturgemäß hingezogen wird, und ein natürliches Schwergewicht, das es dorthin treibt. Diese Schwere drückt […] nicht immer nach unten […] Auch den Menschen bewegt sein Schwergewicht und trägt seinen Geist naturhaft hinauf, seinen Leib hinab, ein jedes an seinen Ort oder sein Ziel.39
Durch den Sündenfall aber sind die Menschen ihrer natürlichen Orientierung beraubt; die Sehnsucht nach dem natürlichen, durch die Schöpfungsordnung vorgesehenen Ort, das vage Streben der Seele nach oben zu Gott ist zwar nach wie vor präsent, doch ist es verstellt und gestört durch ein unstimmiges Ducheinander verschiedenster, an die sinnlich wahrnehmbare körperliche Welt geknüpfter Gefühlswallungen. Obwohl die menschliche Seele nach oben hin zu Gott tendieren sollte, wendet sich der in der Lust des Fleisches Gefangene nach unten und macht sich den Tieren gleich. Es ist klar, dass es aus dieser Perspektive gesehen nicht mehr genug sein kann, den aus der monastischen Tradition bekannten Weg der Askese im Sinne eines Nicht-zu-eigen-Machens widernatürlicher und verdunkelnder Gefühlsregungen zu gehen. Die Elimination trügerischer Gedanken und das Nicht-Berührtsein von affektiver Verstrickung in die Welt hilft vielleicht, alle möglichen falschen Wege und Orte zu meiden, doch nicht, den einzig richtigen Ort zu finden und zu erreichen. Derjenige, der – um mit Paulus zu sprechen – ein Leben im Geiste führen will, muss das seiner Natur entsprechende, aktive Prinzip wiedergewinnen, das es ihm ermöglicht, zu Gott zu kommen. In stetiger Bemühung (und das heißt wohl für den Ordensangehörigen: in subtil gestalteter, spiritueller Praxis) müssen wir die Liebe, die uns zu unserem natürlichen Ort, hin zu Gott führt, erst wieder mühsam erlernen. Nicht, wie für manch anderen, die Logik, sondern die Kunst der Liebe ist für Wilhelm also ars artium, Kunst der Küns_____________ 38 39
Vgl. O’Brien 1983. „Est quippe amor uis animae naturali quodam pondere ferens eam in locum uel finem suum. Omnis enim creatura, siue spiritualis, siue corporea, et certum habet locum quo naturaliter fertur. Pondus enim […] non semper fert ad ima. […] Nam et hominem pondus agit suum, naturaliter spiritum ferens sursum, corpus deorsum, unumquodque in locum uel finem suum.“ (NDA, cap. 1; deutsche Übersetzung in: Wilhelm von St.-Thierry 1981, 125–183)
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te40. Die Wendung vom Leben im Fleisch zum Leben im Geist geschieht nicht durch theoretische Anstrengung, sondern durch eine Anstrengung des affectus. Oder, wie es später, ganz dieser Tradition verbunden, der Franziskanermagister Bonaventura in einem wesentliche seiner Gedanken zusammenfassenden Spätwerk formuliert: Niemand aber wird gesund, wenn er nicht die Krankheit und deren Ursache, den Arzt und die Medizin kennt. Die Krankheit aber ist die Verderbtheit des Gemüts [depravatio affectus]. […] Wir müssen nun beachten, dass allein die Liebe das Gemüt heilt. Die Liebe nämlich ist, wie Augustinus im Gottesstaat sagt, die Wurzel aller Gefühle. Also ist es notwendig, dass die Liebe geheilt werde, denn andernfalls sind alle Gefühle verbogen. […] Die Liebe also ist das Ziel und die Form aller Tugenden, und sie ist gegründet auf die Hoffnung aus reinem Herzen und den aufrechten Glauben.41
Literatur Die untersuchten Schriften werden mithilfe von Siglen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Wo nicht anders angegeben, stammen Übersetzungen ins Deutsche vom Verfasser. Soweit vorhanden, werden unten nach der zitierfähigen Ausgabe auch Übersetzungen der Texte angeführt. Die verwendeten Siglen sind: Collationes CeR DNH LA NDA PG PL Praktikos
– Bonaventura, Das Sechstagewerk, Collationes in Hexaemeron – Origenes, Commentarii in epistulam ad Romanos (Kommentar zum Brief an die Römer) – Nemesius von Emesa, De natura hominis – Maximus der Bekenner, Liber asceticus – Guillaume de Saint-Thierry, De natura et dignitate amoris – Patrologiae cursus completus, hrsg. von Jacques Paul Migne, Paris 1857– 1866 – Patrologiae cursus completus, hrsg. von Jacques Paul Migne, Paris 1844– 1855 – Evagrius Ponticus, Praktikos
_____________ „Ars est artium ars amoris, cuius magisterium ipsa sibi retinuit natura, et Deus auctor naturae.“ (NDA, cap. 1) 41 „Non sanatur autem aliquis, nisi cognoscat morbum et causam, medicum et medicinam. Morbus autem est depravatio affectus. […] Notandum autem, quod sola caritas sanat affectum. Amor enim, secundum Augustinum, de Civitate Die, radix est omnium affectionum. Ergo necesse est, ut amor sit sanatus, alioquin omnes affectus sunt obliqui […] Caritas ergo est finis et forma omnium virtutum et fundatur super spem de corde puro et fide non ficta.“ (Bonaventura Collationes, VII, 8–14) 40
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Thomas von Aquin (1224/1225–1274)
Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele Martin Pickavé Emotionen gehören ohne Zweifel zu den am meisten diskutierten Themen in der aktuellen philosophischen Literatur. Viele der Forschungsbeiträge beschäftigen sich dabei ganz allgemein mit der Frage, was Emotionen eigentlich sind. Zwar ist jeder von uns aus dem Alltag mit Emotionen vertraut, menschliche Existenz ist wesentlich durch Emotionen geprägt. Dennoch scheint es nicht so einfach, das Wesen von Emotionen genauer zu bestimmen. Der vorherrschende Trend in der zeitgenössischen Debatte besteht nun darin, die kognitive Dimension von Emotionen hervorzuheben, was aus forschungspsychologischer Perspektive nur allzu verständlich ist. In der neueren Philosophiegeschichte galten Emotionen lange Zeit als philosophisch suspekt; Emotionen und Vernunft wurden als einander ausschließend betrachtet. Um ein reales Bild von unserer Wirklichkeit zu erhalten, so die Vorstellung, müssen wir uns unserer Emotionen entledigen. Diese Vorstellung setzt offensichtlich voraus, dass Emotionen keine oder höchstens falsche Informationen über die Welt mit sich bringen. Wenn man nun zeigen kann, dass Emotionen selbst repräsentative mentale Akte sind, in denen eine wahrhafte Wahrnehmung und Erkenntnis über die Welt zum Ausdruck kommt, dann verschwindet auch der Gegensatz zur Vernunft, und nichts scheint mehr einer philosophischen Rehabilitierung von Emotionen im Wege zu stehen. Die Mehrheit der mittelalterlichen Philosophen hätte sich angesichts der starken Betonung der kognitiven Dimension von Emotionen, die sich heute überall ausmachen lässt, wahrscheinlich verwundert die Augen gerieben. Für Philosophen des Mittelalters sind Emotionen wie Liebe, Hass, Zorn, Hoffnung, Verzweiflung usw. primär motivationale Zustände.1 Da Motivation ohne Kognition unmöglich ist, stehen Emotionen zwar in einem Kausalzusammenhang mit Wahrnehmungen, Meinungen oder Urtei_____________ 1
Zu mittelalterlichen Emotionstheorien im Allgemeinen siehe Knuuttila 2004, bes. 177–286.
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len, aber an sich gehören Emotionen zu den menschlichen Strebevermögen und damit gerade nicht zu jenen Vermögen, die für Kognition zuständig sind. In dem vorliegenden Beitrag möchte ich Thomas von Aquins Theorie der Emotionen skizzieren, die eine Variante dieser Auffassung darstellt. Für Thomas sind die Emotionen nämlich im sogenannten sinnlichen Strebevermögen (appetitus sensitivus) angesiedelt, demjenigen Strebevermögen, welches sich auch bei anderen sinnenbegabten Lebewesen antreffen lässt.2
1. Was sind Emotionen? Da der Ausdruck „Emotion“ bzw. sein lateinisches Pendant dem Mittelalter unbekannt waren, nähert man sich der Frage, was Emotionen für Thomas von Aquin sind, am besten über die Phänomene selbst. Unter den Merkmalen, die Liebe, Hass, Zorn, Trauer, Zuversicht, Verzweiflung, Freude usw. gemeinsam haben, sticht sicherlich eines besonders heraus: Wir verfolgen keinen dieser Zustände aktiv, zum Beispiel als Gegenstand einer direkten Wahl. Kein Mensch entscheidet sich, zornig, verzweifelt oder traurig zu sein. Dies ist offensichtlich im Fall der negativen Emotionen, gilt allerdings auch für die positiven Regungen. Es wäre nur zu schön, wenn man Freude einfach wählen könnte. Und zu lieben, mag manchmal eine Entscheidung sein, es gibt allerdings häufiger Fälle, wo es die Objekte sind, die in uns ein Gefühl von Liebe auszulösen scheinen, beispielsweise wenn wir uns in einen anderen Menschen verlieben. Es sind diese letzteren Zustände, die wir als Emotionen bezeichnen. Natürlich hängt es auch von unseren Entscheidungen ab, in wen wir uns zum Beispiel verlieben. Wir haben gewisse Präferenzen, von denen einige wahrscheinlich (oder hoffentlich!) auf freier Wahl beruhen. Emotionen sind jedoch im Wesentlichen Ereignisse, in denen wir uns als passiv verstehen. Lässt sich die Passivität der Emotionen noch etwas genauer beschreiben? Oder gibt es sogar eine den Emotionen eigentümliche Passivität? Thomas beantwortet diese Fragen positiv, wobei er verschiedene Grade von Passivität hervorhebt.3 In einem weiten Sinne ist alles das passiv, was Rezeptivität einschließt. In dieser Hinsicht sind zum Beispiel auch unsere _____________ 2 3
Zu Thomas von Aquins Auffassung von den Emotionen siehe Brungs 2005; ders. 2002; Uffenheimer-Lippens 2003; King 2002; Jordan 1986. Für die folgende Analyse siehe STh I–II, q. 22, a. 1; III, q. 15, a. 4; In III Sententiarum, dist. 15, q. 2, a. 1, qua. 2; QDV, q. 26, a. 1 und a. 2.
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Erkenntnisvermögen passiv. Erkennen geschieht nämlich in gewisser Weise durch die Aufnahme der Form des Erkenntnisgegenstands in die Erkenntnisvermögen (Sinne und Verstand). Diese Art von Passivität ist jedoch offensichtlich nicht nur den Emotionen eigen. In einem eingeschränkteren Sinne ist alles das passiv, was neben Rezeptivität auch einen Verlust einschließt. Hier bewirkt die Aufnahme zugleich eine reale Veränderung im aufnehmenden Subjekt.4 Wenn diese Veränderung für das Subjekt den Verlust von etwas ihm normalerweise positiv Zuträglichen bedeutet, spricht man im eigentlichsten Sinn von Passivität. Es ist zum Beispiel dieser Sinn von Passivität, den wir zugrunde legen, wenn wir einen Kranken, d. h. jemanden, der seine Gesundheit verloren und eine Krankheit „bekommen“ hat, einen „Patienten“ nennen. Wenn wir Emotionen haben, sind wir für Thomas nun genau auf die beiden letztgenannten Weisen passiv. Alle Emotionen schließen eine wirkliche Veränderung ein, aber nur die sogenannten negativen Emotionen (wie Trauer, Hass) sind eine Veränderung hin zu etwas nicht Zuträglichem. Eine reale Veränderung, gleichgültig in welche Richtung, ist jedoch nur als körperliche Veränderung (transmutatio naturalis) möglich, und genau eine solche lässt sich ausmachen, wenn sich jemand in einem emotionalen Zustand befindet. Zorn zum Beispiel und heftige Liebe sind undenkbar ohne entsprechende körperliche Veränderungen (z. B. im Gesicht). Dies ist deutlich bei extremen Gefühlsregungen, gilt allerdings auch für die schwächeren. Emotionen sind demnach Bewegungen der Seele, die wesenhaft mit bestimmten Veränderungen des Körpers einhergehen. Auf diese Weise lässt sich auch der lateinische Ausdruck erläutern, mit dem Thomas Emotionen bezeichnet: Emotionen sind passiones animae, „Leidenschaften der Seele“, weil sie mit wirklicher Passivität einhergehen und nicht nur mit Passivität in einem weiteren Sinne. Aus der Bestimmung von Emotionen als Leidenschaften der Seele ergibt sich auch ein Hinweis auf dasjenige Seelenvermögen, das für das Auftreten von Emotionen verantwortlich ist. Wenn Emotionen wesentlich mit körperlichen Veränderungen einhergehen, dann müssen sie zu einem _____________ 4
Die Aufnahme eines Erkenntnisgegenstands in die Erkenntnisvermögen kann man zwar auch als Veränderung beschreiben, nach Thomas und Aristoteles besteht hier jedoch ein bedeutender Unterschied. Denn wenn unsere Erkenntnisvermögen eine Form des Erkenntnisgegenstands aufnehmen, dann verlieren sie dadurch nicht etwas, was sie vorher besessen haben. Hier sind mehrere Sinne von Veränderung zu unterscheiden. Für den aristotelischen Hintergrund dieser Unterscheidung siehe Burnyeat 2002.
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Vermögen gehören, dessen Akte ebenfalls wesentlich mit dem Körper verbunden sind. Dies schließt für Thomas unmittelbar aus, dass Emotionen zu den Vermögen der intellektiven Seele (Intellekt und Wille) gehören, da jene ohne eigene körperliche Organe tätig sind. Akte dieser Vermögen treten zwar de facto häufig zusammen mit körperlichen Veränderungen auf, es gibt jedoch keine wesentliche Verbindung zwischen ihnen und bestimmten körperlichen Regungen (siehe STh I, q. 76). Auf ähnliche Weise ist es nach Thomas auch ausgeschlossen, dass Emotionen zu den sinnlichen Wahrnehmungsvermögen gehören. Sinneswahrnehmung geht zwar stets mit körperlichen Veränderungen (der Sinnesorgane) einher, sie ist jedoch ebenfalls nicht wesentlich mit diesen verbunden. Bei akustischer Wahrnehmung zum Beispiel wird das Hörorgan durch die Schwingungen der Luft bewegt. Der eigentliche Akt des Hörens besteht für Thomas allerdings nicht in der Aufnahme dieser realen Qualität, sondern in der ‚spirituellen‘ Aufnahme einer Form, welche zeitgleich vonstattengeht.5 Nur die Akte des sinnlichen Strebevermögens sind wesentlich mit bestimmten Veränderungen des Körpers verbunden. Daher gehören unsere Emotionen zum sinnlichen Strebevermögen (appetitus sensitivus) der menschlichen Seele (STh I–II, q. 22, a. 1 und a. 2). Die Zugehörigkeit der Emotionen zu einem Strebevermögen kann man sich auch anhand einer weiteren Überlegung verdeutlichen. Wenn wir uns in einem emotionalen Zustand befinden, dann sind wir auf eine eigentümliche Weise im Banne des Gegenstandes, auf den sich die Emotion bezieht und der sich in diesem Fall wie ein Agens verhält. Thomas spricht davon, dass es zum Sinngehalt einer passio gehört, dass der „Erleidende zu dem, was zum Agens gehört, gezogen wird“ (STh I–II, q. 22, a. 2; siehe auch STh I–II, q. 23, a. 4). Und das scheint korrekt. Der Liebende etwa fühlt sich zum Objekt seiner Liebe hingezogen. Auch in negativen Fällen, so etwa beim Zorn, ist es besser, von einer negativen Attraktion zu sprechen, als von einem Fehlen eines solchen „ekstatischen“ Verhältnisses. Diese Ausrichtung der Emotionen entspricht ganz und gar dem Charakter der Strebevermögen. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Wahrnehmungsvermögen der menschlichen Seele durch eine gänzlich entgegensetzte Beziehung zu ihren Objekten aus, denn dort liegt eher eine Bewegung von den Objekten hin zur Seele vor.6 _____________ 5 6
Siehe Burnyeat 2001. Diese Überlegung führt schließlich ebenfalls zum sinnlichen Strebevermögen als dem eigentlichen Sitz der Emotionen. Denn wenn Emotionen im Willen, dem in-
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Wenn Emotionen für Thomas nichts anderes sind als Akte der sinnlichen Strebevermögen, die wiederum wesentlich mit Veränderungen des Körpers einhergehen, dann lassen sich Emotionen auch aus zwei Blickwinkeln beschreiben. Zum einen kann man sie als Akte des Strebevermögens beschreiben. Da sich Akte eines Vermögens durch die Objekte, auf die sich die Akte beziehen, unterscheiden, kann man zum Beispiel Zorn als Verlangen nach Vergeltung umschreiben. Zum anderen lassen sich Emotionen anhand ihrer körperlichen Dimension klassifizieren. Demnach ist Zorn eine Aufwallung des Bluts im Bereich des Herzens. Thomas betrachtet diese beiden Beschreibungsweisen als komplementär und spricht bisweilen davon, dass die eine den formalen Aspekt einer Emotion angibt, während die andere den materiellen Aspekt beschreibt. In einer kompletten Definition einzelner Emotionen müssen beide Aspekte berücksichtigt werden.7 Menschliche Emotionen haben für Thomas von Aquin also offensichtlich viel mit unserer Leiblichkeit zu tun. Zumindest aus theologischer Perspektive drängen sich hier jedoch einige Zweifel auf. Haben nicht auch immaterielle Wesen wie Engel Emotionen? Und spricht die Bibel nicht sogar von Emotionen Gottes, etwa wenn vom Zorn Gottes die Rede ist? Thomas kontert diese Fragen mit einer Unterscheidung. Von Emotionen im Sinne von Leidenschaften (passiones) können wir bei Gott und den Engeln in der Tat nicht sprechen. Aber da Gott und die Engel Willensakte haben, die formal den Akten der sinnlichen Strebevermögen bei Menschen entsprechen, können Gott und den Engeln manche Emotionen sogar in einem nicht nur metaphorischen Sinn zugesprochen werden (STh I, q. 20, ad 2; I, q. 59, a. 4 ad 2; I, q. 64, a. 3; ScG I, c. 89). Nach Thomas gibt es auch bei uns Menschen diese „höheren“ Emotionen, wie er oft am Beispiel der Liebe deutlich macht. Neben der Liebe als passio animae gibt es Liebe auch als Akt des Willens (siehe z. B. STh I, q. 82, a. 5 ad 1; I–II, q. 22, a. 3 ad 3; I–II, q. 31, a. 4).8 Es kann jedoch keinen Zweifel daran ge_____________
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tellektiven Strebevermögen, existierten, dann aller Voraussicht nach als Willensakte. Aber dann ist es schwer verständlich, warum wir Emotionen – wie oben dargelegt – nicht direkt durch eine Willensentscheidung hervorbringen können. Zu dieser hylemorphischen Auffassung von Emotionen siehe STh I, q. 20, a. 1 ad 2; I–II, q. 44, a. 1. Die Idee geht auf Aristoteles (De anima I, 1) zurück. In ScG I, c. 90 spricht Thomas sogar von Emotionen als zusammengesetzen Akten. Thomas reserviert den Ausdruck passiones animae aus offensichtlichen Gründen für die Emotionen im sinnlichen Strebevermögen und bezeichnet die höheren Emotionen als affectus oder schlichtweg als actus voluntatis.
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ben, dass Thomas in den Leidenschaften des sinnlichen Strebevermögens die eigentlichen menschlichen Emotionen erblickt. Denn es sind die letzteren, die unserem Leben und unserer Erfahrung Farbe geben und in denen unsere alltäglichen Gefühle zum Ausdruck kommen.
2. Emotion und Kognition An dieser Stelle könnte jemand einwenden, ich hätte kein Recht, Thomas von Aquins Leidenschaften der Seele (passiones animae) mit Emotionen gleichzusetzen. Diese Leidenschaften mögen zum appetitiven Seelenvermögen gehören und daher wesentlich nicht-kognitiv sein, aber Emotionen sind etwas grundlegend anderes. Deshalb können Leidenschaften nicht als Emotionen betrachtet werden. Diese Art von Bemerkung ist in der neueren Thomas-Literatur nicht selten. Shaun D. Floyd ist zum Beispiel der Meinung, „dass das, was wir Emotionen nennen, für Thomas eigentlich aus zwei Akten besteht: einem kognitiven Akt und einer Leidenschaft.“9 Es ist wenig verwunderlich, dass die Frage „Was sind Emotionen?“ unterschiedliche Antworten provoziert. Das Auftreten einer Emotion ist ein komplexes Ereignis, das mit Wahrnehmungen, bestimmten Handlungen, körperlichen Veränderungen, Gefühlen usw. einhergeht,10 und es ist nicht offensichtlich, in welchem dieser Elemente das Wesen von Emotionen besteht. Von einer Theorie der Emotionen wird daher auch gefordert, die Komplexität und Einheit emotionaler Episoden zumindest ansatzweise zu erklären. Aber gibt es vor diesem Hintergrund Gründe, Thomas eine Theorie der Emotionen zuzuschreiben, nach der Emotionen als komplexe Einheiten aus kognitiven Akten und Leidenschaften zu begreifen sind? Ich halte diese Art von Deutung nicht nur für höchst anachronistisch,11 sondern auch für schlichtweg falsch. Wie schon erwähnt, benutzt Thomas natürlich nie den Ausdruck „Emotion“ (bzw. sein lateinisches Äquivalent), sodass es keine textliche Basis gibt, um diese Frage zu beantworten. Wir schreiben Emotionen jedoch gewisse Funktionen und Rollen zu, die nach Thomas’ Auffassung von den passiones animae ausgefüllt wer_____________ 9 10 11
Floyd 1998, 160f. Übers. d. Verf. Dies betont zu Recht Goldie 2002, 12f. Sie setzt offensichtlich ein bestimmtes modernes Verständnis von Emotionen voraus.
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den. Wir sagen zum Beispiel, dass tugendhafte Personen im Hinblick auf ihre emotionalen Reaktionen in einer bestimmten Weise disponiert sind. Ein mutiger Mensch etwa hat nach allgemeiner Auffassung eine geringere Neigung zu ängstlichen Reaktionen. Außerdem nehmen wir an, dass Emotionen unsere Wahrnehmungen beeinflussen können. Dies sind lediglich Beispiele, aber wenn Thomas beide Fälle beschreibt, spricht er stets von passiones animae. Es sind die Bewegungen der sinnlichen Strebevermögen, die von den Tugenden moderiert werden (siehe z. B. STh I–II, q. 56, a. 3; In III Sententiarum, dist. 33, q. 2, a. 4, qua. 2), und es sind dieselben Regungen, die – durch ihre Verbindung mit dem Körper – so mit unseren Wahrnehmungsvermögen (bzw. deren Organen) interferieren, dass wir davon sprechen, unsere Wahrnehmungen und die daraus resultierenden Meinungen seien von Emotionen „gefärbt“ (STh I–II, q. 9, a. 2).12 Ich sehe daher keinen Grund, warum man Thomas’ Ausführungen zu den Leidenschaften der Seele (passiones animae) nicht als Aussagen über Emotionen betrachten sollte. Oder mit anderen Worten: Ich sehe keinen Grund, warum wir Thomas’ allgemeine Ausführungen über emotionale psychische Zustände wie Liebe, Hass, Zorn anders verstehen sollten, denn als Aussagen darüber, dass unsere Emotionen schlichtweg Leidenschaften (passiones) sind, d. h. in erster Linie Bewegungen des sinnlichen Strebevermögens – und keine Erkenntnisakte. Wenn wir als Interpreten von Beginn an ausschließen, dass ein Autor andersartige Auffassungen von Emotionen haben könnte, dann macht es auch kaum Sinn, sich überhaupt mit dessen Auffassungen zu beschäftigen. Der Versuch von Floyd und anderen Interpreten, Thomas eine kognitive Theorie der Emotionen zu unterstellen, verdunkelt zudem den Unterschied zwischen Thomas und denjenigen mittelalterlichen Autoren, die Emotionen in der Tat als kognitive Akte aufgefasst haben (wie z. B. Adam Wodeham). Damit stellt sich nun die Frage, wie Emotionen genau mit Wahrnehmungen und Meinungen zusammenhängen. Kognitive Akte haben nach Thomas die Funktion, Emotionen zu verursachen. Dass es nicht die Objekte selbst sein können, die Emotionen unmittelbar auslösen, kann man schon daran erkennen, dass wir emotionale Akte in Bezug auf Gegenstände haben können, die entweder nicht mehr (etwa Trauer) oder noch nicht (etwa Hoffnung, Verzweiflung) existieren. Nicht jede Wahrnehmung oder _____________ 12
Für Thomas von Aquin ist es daher nicht notwendig, dass Emotionen selbst höherstufige kognitive Akte sind, um – quasi in Kombination mit anderen Wahrnehmungen und Meinungen – zu emotional gefärbten Wahrnehmungen und Meinungen zu gelangen.
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Meinung führt zu einem emotionalen Akt, sondern nur eine solche, in der ein Gegenstand von den Sinnen als gut oder schlecht wahrgenommen wird. Dies ist es, was Thomas meint, wenn er den Gegenstand des sinnlichen Strebevermögens als ein „sinnenhaftes Gutes“ (bonum sensibile) bezeichnet (STh I, q. 80, a. 2). Nach Thomas können offenbar alle möglichen Sinneswahrnehmungen Emotionen auslösen (STh I, q. 81, a. 3 ad 2; I–II, q. 17, a. 7), bestimmte Emotionen setzen jedoch eine gewisse Komplexität des Wahrnehmungsapparates voraus. Thomas bezeichnet das Sinnesvermögen, durch das Emotionen im Menschen hauptsächlich ausgelöst werden, als das „kogitative Vermögen“ (vis cogitativa) bzw. als „partikulare Vernunft“ (ratio particularis). Ein ganz ähnliches Vermögen lässt sich auch bei höherstufigen Tieren ausmachen und wird dort „abschätzende Kraft“ (vis aestimativa) genannt. Es ist dort ebenfalls für Emotionen verantwortlich, denn nicht alle Emotionen der Tiere lassen sich durch die äußeren Sinne oder die Einbildungskraft erklären. Ein Schaf, so Thomas’ Beispiel, kann wie wir Menschen Angst haben, etwa wenn es einen Wolf erblickt. Aber die Eigenschaft des Wolfes, schädlich für das Schaf zu sein, ist keine Eigenschaft, die das Schaf durch seine äußeren Sinne oder die anderen inneren Sinne erfassen könnte. Man könnte das Vermögen, das in diesem Fall die Angst des Schafes bewirkt und das Tier damit zur Flucht bewegt, wohl mit Recht als Instinkt bezeichnen. Bei Menschen hat es auch deshalb einen anderen Namen, weil unsere Instinkte von der Vernunft beeinflusst werden können. Aber die Bezeichnung „partikulare Vernunft“ sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass dieses Sinnesvermögen ein Teil des intellektiven Seelenteils ist. Es moderiert vielmehr zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, zum Beispiel indem es ermöglicht, dass die Vernunft durch Einflussnahme auf die Wahrnehmung unsere emotionalen Reaktionen verstärkt oder abschwächt. Und in manchen Fällen erklärt es auch, warum höherstufige kognitive Akte des Menschen überhaupt Emotionen im niederen Seelenteil hervorbringen (STh I, q. 78, a. 4; I, q. 81, a. 3).13 Nach Thomas von Aquins Auffassung könnte man Emotionen in einem weiten Sinne als kognitive Phänomene bezeichnen, da sie von kognitiven Akten hervorgebracht sind und da sie, wie später noch deutlicher werden wird, durch unsere menschliche Vernunft beeinflusst werden _____________ 13
Das Schafbeispiel und überhaupt die gesamte Lehre von der vis aestimativa/cogitativa übernimmt Thomas von dem arabischen Philosophen Avicenna. Zum Hintergrund siehe Black 2000 sowie Hasse 2000.
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können. Für sich selbst genommen sind Emotionen jedoch keine kognitiven Akte. Dass nicht alle Thomas-Interpreten diese Schlussfolgerung ziehen, hängt wahrscheinlich auch mit dem Problem der Intentionalität der Emotionen zusammen. Emotionen sind zweifelsohne stets auf Objekte gerichtet; Emotionen sind intentionale Zustände. Ist man der Meinung, Kognition und Intentionalität seien zwei Seiten ein und derselben Medaille, dann kann dies zu dem Schluss verleiten, dass Emotionen auch irgendwie selbst kognitiv sein müssen. In Thomas’ Lehre von den Emotionen gibt es allerdings nichts, was uns zu diesem Schluss zwingen würde. Es scheint, als betrachte Thomas die Intentionalität der Emotionen einfach als etwas, das Emotionen von den sie verursachenden kognitiven Akten erben. Ein Aspekt von Emotionen, dem Thomas von Aquin nahezu keine Aufmerksamkeit schenkt, ist die Tatsache, dass Emotionen häufig von besonderen phänomenalen Qualitäten – „Gefühlen“ – begleitet werden. Wenn ich verliebt bin, fühle ich mich in einer bestimmten Weise; und dieses Gefühl unterscheidet sich von anderen Gefühlen, zum Beispiel dem Gefühl, welches Zorn oder Hass begleitet. Der Grund für Thomas’ mangelndes Interesse dürfte wohl darin liegen, dass er diese Qualitäten als Resultate einfacher Sinneswahrnehmungen betrachtet haben dürfte. Wenn Emotionen wesentlich mit Veränderungen des Körpers einhergehen, dann liegt es nahe, dass diese Veränderungen, je nach Stärke, unsere Sinne – vor allem den Tastsinn – affizieren, was zu bestimmten Wahrnehmungen führt. In dieser Hinsicht ist der „Gefühlsaspekt“ von Emotionen für Thomas etwas lediglich Zweitrangiges.
3. Die Grundklassifikation der Emotionen Ich habe beiläufig schon einige Emotionen aufgezählt: Liebe, Hass, Zorn, Zuversicht, Freude usw. Dies führt nun zu der Frage, ob es nach Thomas von Aquin eine feste Zahl von Basisemotionen gibt, aus denen alle weiteren Emotionen zusammengesetzt sind (wie z. B. für Descartes), oder ob Thomas annimmt, es gäbe mehrere allgemeine Klassen von Emotionen, unter die jeweils spezielle Emotionen fallen. Um diese Frage beantworten zu können, werde ich mich zunächst dem sinnlichen Strebevermögen zuwenden, dessen Akte ja Emotionen darstellen. In einem zweiten Schritt untersuche ich dann, wie sich die einzelnen Emotionen voneinander unterscheiden.
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Für Thomas lassen sich unsere Emotionen grob in zwei Hauptgruppen einteilen: in Emotionen des sogenannten begehrenden Strebevermögens (appetitus concupiscibilis) und in solche des sogenannten zornmütigen Strebevermögens (appetitus irascibilis). Das sinnliche Strebevermögen ist demnach nicht ein einziges, sondern besteht genau genommen aus zwei distinkten Vermögen, von denen jedes für eine der beiden Grundausrichtungen eines jeden natürlichen Gegenstands verantwortlich ist. Alle natürlichen Gegenstände sind nämlich sowohl auf das hin ausgerichtet, was für sie zuträglich ist, als auch auf die Abwehr dessen, was sie bezüglich der ersten Ausrichtung behindert. Thomas verdeutlicht dies am Beispiel des Feuers: Feuer hat eine natürliche Bewegung nach oben (erste Grundausrichtung) und eine weitere Bewegung, durch die es allem widersteht, was es daran hindert. Aufgrund dieser zweiten Grundausrichtung versucht das Feuer, durch seine Flamme alles es Behindernde zu zerstören. Die Existenz dieser beiden „Triebe“ reicht jedoch alleine noch nicht aus, um die Existenz zweier distinkter sinnlicher Strebevermögen zu etablieren. Thomas muss zudem zeigen, dass sie bei höheren Lebewesen nicht auf ein und dasselbe Strebevermögen reduziert werden können. Dass sie irreduzibel sind, kann man sich am besten anhand der folgenden Überlegung deutlich machen. Nehmen wir einmal an, dass ein Hund eine Wurst begehrt, an der sich gerade ein anderer Hund zu schaffen macht. Das Streben nach der Wurst kann als ein Streben nach etwas Gutem, Zuträglichem und Lustvollem verstanden werden. Wenn das Tier lediglich ein einziges Strebevermögen besäße, dann vermutlich nur eines, wodurch es solche Güter erstrebte. Dies würde allerdings auch bedeuten, dass alle Handlungen auf ein einfaches Lust-Unlust-Schema reduziert werden können. Dies ist jedoch kaum überzeugend. Der Hund muss nämlich kämpfen, um die Wurst zu erhalten, wodurch er Übel in Kauf nimmt. Übel eines bestimmten Ausmaßes würden nach dem Lust-Unlust-Schema dazu führen, dass der Hund die Wurst nicht mehr erstrebt, was nicht unbedingt einleuchtend klingt. Denn die Vorstellung ist nicht abwegig, dass das Übel, das der Hund für den Erhalt der Wurst in Kauf nimmt, sogar größer sein kann als die antizipierte Lust an ihrem Verzehr. Komplexes Tierverhalten legt die Existenz verschiedener Strebevermögen nahe, und daraus ergibt sich auch ein Hinweis auf deren distinkte Existenz in jenem Teil der menschlichen Seele, den wir mit den Tieren gemeinsam haben (siehe STh I, q. 81, a. 2; In III Sententiarum, dist. 26, q. 1, a. 2; QDV, q. 25, a. 2).14 _____________ 14
Zu der Unterscheidung der beiden sinnlichen Strebevermögen siehe auch Jaco-
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Obwohl das begehrende und das zornmütige Strebevermögen für Thomas distinkte psychologische Vermögen sind, sind sie dennoch nicht so voneinander verschieden wie zum Beispiel der Seh- und der Hörsinn, die beide unabhängig voneinander tätig sein können. Das zornmütige Strebevermögen ist nämlich auf das begehrende Strebevermögen hingeordnet, weil es dazu da ist, dem letzteren zur seiner Verwirklichung zu verhelfen. Dies lässt sich auch an Thomas’ Klassifikation der Grundemotionen ablesen. Die Grundlage seiner Einteilung ist der Aspekt der Bewegung, denn Emotionen haben mit Bewegungen des sinnlichen Strebevermögens zu tun. Einige Emotionen wie Freude (gaudium/delectatio) und Trauer (tristitia/dolor) verhalten sich wie der Endpunkt einer Bewegung, andere, wie Begierde (desiderium) und Aversion (aversio/fuga), wie der Beginn einer Bewegung. Man kann diese Einteilung getrost als eine Beschreibung der verschiedenen Stufen emotionalen Verhaltens lesen: Ein liebenswertes Objekt verursacht in uns Begierde, die im Falle eines positiven Ausgangs in Freude mündet. Auf ähnliche Weise löst ein negatives Objekt Abneigung aus, worauf Trauer folgt. Die Emotionen Liebe (amor) und Hass (odium) haben nur insofern mit Bewegung zu tun, als sie jeder emotionalen Bewegung vorausgehen, denn es sind Liebe oder Hass, die Begierden und Abneigungen in uns zuallererst hervorbringen. Soweit zu den Emotionen des begehrenden Strebevermögens. Alle Emotionen des zornmütigen Strebevermögens betreffen die Bewegung auf etwas hin (motus ad aliquid), d. h. die Stufe zwischen Begierde und Aversion auf der einen Seite und Freude und Trauer auf der anderen Seite, und sind somit in die Emotionen des begehrenden Vermögens eingebunden. Wenn das Objekt etwas als gut Befundenes ist, liegen entweder Hoffnung (spes) oder Verzweiflung (desperatio) vor, je nach dem, ob der Handelnde das Objekt für erreichbar hält oder nicht. Im negativen Fall haben wir es mit Wagemut (audacia) oder Angst (timor) zu tun (STh I–II, q. 23, a. 2 und q. 25). Aus der Beziehung zur Bewegung ergibt sich, dass Begierde, Aversion, Hoffnung, Verzweiflung, Wagemut und Furcht sich stets auf ein Zukünftiges richten, während Freude und Trauer von der aktuellen Anwesenheit des Objekts verursacht werden. Liebe und Hass sind weder auf ein Zukünftiges noch auf etwas Anwesendes gerichtet.15 Es dürfte auch deutlich sein, warum es keine zornmütige Emotion in Bezug auf ein präsentes Gut geben kann. Wir besitzen das zornmütige Strebevermögen in erster Linie, _____________ 15
bi 1998; Zimmermann 1986. Siehe hierzu Brungs 2002, 106f.
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um schwierige Vorhaben zu realisieren. Ein aktuell anwesendes Gutes ist jedoch nichts, was noch mit Schwierigkeit realisiert werden muss (STh I– II, q. 23, a. 4). In diesem Fall münden die zornmütigen Emotionen in die Emotionen des begehrenden Strebevermögens. Zorn (ira) hingegen ist die Emotion, die im zornmütigen Strebevermögen bei einem anwesenden Übel hervorgebracht wird. In mehrfacher Hinsicht ist Zorn für Thomas eine besondere Emotion. Zorn scheint zum Beispiel mehrere Emotionen zugleich einzuschließen: Zorn ist sowohl Trauer über ein erfahrenes Übel als auch das Verlangen nach Rache und Wiedergutmachung (STh I–II, q. 46).16 Nach Thomas von Aquin gibt es elf Grundemotionen (passiones principales), die er als elf Spezies von Emotionen verstanden haben möchte. Alle möglichen Regungen unserer Strebevermögen fallen unter eine dieser Kategorien (STh I–II, q. 23, a. 4). Thomas vertritt demnach keine Lehre von Basisemotionen, die in Kombination untereinander bestimmte besondere Emotionen ergeben. Auf der Ebene des sinnenhaften Seelenteils gibt es nur diese elf Emotionen. Auf den ersten Blick scheint es demnach, als stehe Thomas’ Einteilung in Opposition zur weitverbreiteten stoischen Lehre von den vier Grundemotionen Freude, Trauer, Hoffnung und Angst. Thomas sieht jedoch keinen wesentlichen Gegensatz zwischen seiner Klassifikation und jener der Stoiker.17 Die stoische Vierteilung basiert auf den Gegensätzen präsent/zukünftig und gut/böse. Freude und Trauer sind Emotionen bezüglich eines präsenten Guten oder Übels; Hoffnung oder Angst beziehen sich auf Zukünftiges. Freude und Trauer sind zudem Zustände, in die alle anderen Emotionsregungen münden. Deshalb wurden diese beiden Emotionen bereits von Aristoteles hervorgehoben.18 Die vier stoischen Grundemotionen bezeichnen nach Thomas ganz allgemein _____________ Für weitere Stellen, in denen Thomas eine Deduktion der Grundemotionen vornimmt, siehe In III Sententiarum, dist. 26, q. 1, a. 3; QDV, q. 26, a. 4. 17 Zum Folgenden siehe STh I–II, q. 25, a. 3; In III Sententiarum, dist. 26, q. 1, a. 4; QDV, q. 26, a. 5. 18 Auf diese Weise erklärt Thomas auch, warum Aristoteles Emotionen häufig durch eine Aufzählung umschreibt, die er mit dem Zusatz versieht „und welchen Freude und Trauer folgt“ (siehe Nikomachische Ethik II, 4, 1105b21–23; Rhetorik II, 1, 1378a21–22). Dies geschieht nach Thomas nicht mit dem Ziel, Freude und Trauer von den eigentlichen Emotionen auszuschließen oder Freude und Trauer gar als zwei Hauptklassen von Emotionen einzuführen (unter die alle anderen Emotionen subsumiert werden könnten), sondern mit dem Ziel, diejenigen emotionalen Zustände hervorzuheben, in die alle anderen Emotionsregungen münden. 16
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diejenigen Emotionen, auf die alle anderen Emotionen „vervollständigend“ (completive) hingeordnet sind, denn auch Hoffnung und Angst bezeichnen in gewisser Weise Regungen, in denen andere Emotionen (z. B. Verlangen und Aversion) in Bezug auf ein zukünftiges Gutes oder Übel „vervollständigt“ werden. Da die stoische Ordnung nach Thomas’ Auffassung nicht als eine Einteilung aller Klassen von Emotionen gedacht war, ergibt sich hier kein Gegensatz. Thomas’ Liste der Grundemotionen mag vielleicht auf einem klaren Ableitungsprinzip beruhen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sie vollständig ist. Neid und Eifersucht (invidia) zum Beispiel zählen zu den uns vertrautesten Emotionen, in Thomas’ Liste tauchen sie jedoch nicht auf. Wie ist das zu erklären? Die Antwort ist relativ einfach: Neid und Eifersucht fallen für Thomas schlichtweg unter Trauer; sie sind nichts anderes als spezielle Formen der Trauer (STh II–II, q. 36, a. 1). Auf entsprechende Weise lassen sich auch andere noch nicht genannte Emotionen in Thomas’ System integrieren. Bei ihm gibt es so auch einen Platz für die Emotion „Verwunderung“ (admiratio), die später bei Descartes eine so wichtige Rolle spielen wird (STh I–II, q. 32, a. 8).19 Der Vergleich von Neid und Eifersucht mit der Liste der elf Grundemotionen verdeutlicht zudem einen weiteren wesentlichen Punkt. Wir betrachten Neid und Eifersucht eindeutig als moralisch negative Emotionen, während die elf Grundemotionen an sich weder negativ noch positiv sind. Die Auffassung, dass die Grundemotionen – absolut betrachtet – moralisch neutral sind, geht mit Thomas’ Überzeugung einher, dass Emotionen ihre moralische Qualität nur in Vergleich mit demjenigen erhalten, was vernünftig geboten ist (STh I–II, q. 24).20 Trauer etwa ist nicht an sich schlecht, sonst wären alle Formen von Trauer moralisch verwerflich. Gegenstand von Tadel sind lediglich solche Formen von Trauer, die entweder nicht das richtige Maß treffen oder sich auf den falschen Gegenstand beziehen. Alle eindeutig positiven oder negativen Emotionen lassen sich demnach prinzipiell auf eine neutrale Grundemotion zurückführen und so in die Einteilung in elf Klassen integrieren.
_____________ 19 20
Siehe Descartes 1996, art. 53. Siehe auch STh I–II, q. 74, a. 3 und a. 4; QDV, q. 25, a. 5; q. 26, a. 6.
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4. Verantwortlichkeit für Emotionen Wir erfahren Emotionen als integralen Bestandteil unseres Lebens. Viele unserer Handlungen verdanken sich eher unseren Emotionen als ‚kaltblütigen‘ rationalen Entscheidungen. Wenn wir für unser Handeln verantwortlich sind, dann ist es nahe liegend, dass sich Verantwortlichkeit auch auf emotionale Handlungen und letztendlich auf Emotionen selbst erstreckt. Auf den ersten Blick scheint dies Thomas vor ein Problem zu stellen. Wenn Emotionen Leidenschaften der Seele sind, passive Widerfahrnisse, wie können wir dann für unsere Emotionen verantwortlich sein? Außerdem sind Emotionen für Thomas Bewegungen des sinnlichen Strebevermögens, eines Vermögens, das auf die sinnlichen Wahrnehmungsvermögen hingeordnet ist. Aber bedeutet dies nicht, dass Emotionen dann schlichtweg von den wahrgenommenen sinnenhaften Qualitäten der Gegenstände ausgelöst werden? Wie ist uns Menschen hier Kontrolle möglich?21 Wie aus dem oben Dargelegten hervorgeht, beruhen die letzten beiden Fragen auf einem einfachen Missverständnis. Nicht alle Emotionsregungen werden durch wahrgenommene sinnenhafte Qualitäten ausgelöst. Bei den Menschen werden die meisten Emotionen durch das kogitative Vermögen der sinnlichen Seele (vis cogitativa) hervorgebracht, durch ein Vermögen, das sich gerade nicht auf direkt wahrnehmbare sinnenhafte Qualitäten bezieht. Bei uns ist dieses Vermögen zudem „durchlässig“, d. h. es kann vom Intellekt beeinflusst und gesteuert werden.22 Wenn wir etwa einem an Liebeskummer leidenden Freund durch Argumente Aufmunterung verschaffen wollen, dann versuchen wir uns genau dieses Mechanismus zu bedienen. Die Abhängigkeit der Emotionen von den sie verursachenden kognitiven Akten stellt demnach eine (direkte) Möglichkeit dar, wie wir Kontrolle über unsere Emotionen ausüben können. Nicht alle Emotionen sind jedoch von uns auf die gerade beschriebene Weise dominierbar; manche Emotionen werden unmittelbar von Wahrnehmungen und der Vorstellungskraft hervorgerufen (STh I, q. 81, a. 3 ad 2; I– II, q. 17, a. 7). Gewisse Gegenstände sind für uns auf ganz natürliche Weise erstrebens- oder verachtenswert. Man denke nur an angenehme oder üble Gerüche oder Geschmackserlebnisse. In diesen Fällen steht uns nur eine in_____________ Für eine ausführlichere Untersuchung unserer Verantwortlichkeit in Bezug auf unsere Emotionen siehe Murphy 1999. 22 Für das Folgende siehe STh I, q. 81, a. 3; I–II, q. 9, a. 2; I–II, q. 10, a. 3; I–II, q. 17, a. 7; I–II, q. 77, a. 1 und a. 2; QDV, q. 25, a. 4. 21
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direkte Kontrolle der Emotionen offen.23 Emotionen können uns zwar zu Handlungen bewegen, es gibt nach Thomas jedoch stets die Möglichkeit, dass unser Wille interveniert und die Ausführung der Handlung stoppt. Emotionen sind letztendlich unserem Willen untergeordnet, auch wenn der Wille in vielen Fällen den Emotionen freie Bahn lässt. Unser Wille und unsere Vernunft können uns außerdem dazu bewegen, Situationen zu vermeiden, in denen wir zu gewissen Emotionsregungen neigen. Wenn mich romantische Hollywood-Filme traurig machen, kann ich mich dazu entscheiden, bestimmte Filme gar nicht erst zu sehen. Falls ich dann doch beim Sehen eines solchen Films traurig werde, bin ich indirekt für meine Traurigkeit verantwortlich, da mich meine freiwilligen Entscheidungen in diese Situation versetzt haben. Diese letztgenannte Art von Kontrolle über Emotionen ist auch in folgendem Szenario von Bedeutung: Es gibt extreme Fälle, in denen unsere Emotionen so stark sind, dass weder Vernunft noch Wille Kontrolle über sie ausüben können, weil letztere schlichtweg ‚ausgeschaltet‘ sind. Man denke an Medea und andere literarische Beispiele. Die Akte, die in solchen Situationen vollzogen werden, und die sie begleitenden Emotionen haben für sich betrachtet keinen moralischen Wert, da sie kaum als menschliche Akte bezeichnet werden können. Aber auch hier kann man unter Umständen von Verantwortlichkeit sprechen, nämlich da, wo die Ursache einer solchen Extremsituation von dem Handelnden hätte vermieden werden können. War die Ursache jedoch nicht in der Macht des Handelnden, etwa im Fall einer Krankheit, dann ist auch der darauf folgende Zustand nicht in seiner Verantwortlichkeit (STh I–II, q. 77, a. 7).
5. Nachwirkung Die Darstellung der Emotionen im zweiten Teil von Thomas von Aquins Summa Theologiae (I–II, qq. 22–48), auf die sich mein Beitrag maßgeblich gestützt hat, ist die ausführlichste Abhandlung über Emotionen, die wir in _____________ 23
Natürlich kann der Intellekt auch hier eingreifen und meine Wahrnehmung über das kogitative Vermögen beeinflussen. Der Intellekt könnte mir z. B. Argumente dafür beibringen, dass ein bestimmter Geruch nur Schein ist und daher gar nicht von den frisch gebackenen Kuchen stammt. Aber dann führt dies weniger dazu, dass die ursprüngliche Emotionsregung modifiziert wird, als dazu, eine neue schwächere Emotion hervorzubringen. Im Hinblick auf die erste präsente Emotion liegt hier also auch nur ein Fall von indirekter Einflussnahme vor.
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Antike und Mittelalter finden können. Die Bedeutung dieser Abhandlung liegt nicht so sehr in ihrer Originalität – viele mittelalterliche Autoren vertreten etwa die Auffassung, dass Emotionen Bewegungen der sinnlichen Strebevermögen sind –, als vielmehr darin, dass Thomas dort eine Zusammenführung und Systematisierung verschiedener philosophischer Quellen unternimmt.24 Viele spätere Autoren nehmen Thomas’ Behandlung der passiones animae daher als Ausgangspunkt für ihre eigenen Ausführungen. Ein herausragendes Beispiel für Thomas’ Einfluss ist Ägidius Romanus, der am Anfang des 2. Buches seines Kommentars zur Aristotelischen Rhetorik eine kurze Abhandlung über die Emotionen präsentiert, die sich bis in den Wortlaut an Thomas orientiert.25 In zwei Hinsichten geht Ägidius allerdings über Thomas hinaus: Zum einen versucht er eine kohärentere Ableitung der Grundemotionen (Ägidius bemängelt Thomas’ Ableitungen als inkonsistent), zum anderen ergänzt er die Liste der elf Grundemotionen um eine weitere Emotion: Sanftmut (mansuetudo, mitiditas). Diese Emotion bildet den Gegensatz zum Zorn, für den es – im Unterschied zu den anderen Grundemotionen – bei Thomas keine entgegengesetzte Emotionsbewegung gibt. Thomas’ Lehre von den Emotionen war jedoch auch Gegenstand heftiger Kritik. Manche Autoren, wie beispielsweise Petrus Aureoli, stimmen mit Thomas zwar darin überein, dass Emotionen Bewegungen der sinnlichen Strebevermögen sind, lehnen seine hylemorphische Auffassung von Emotionen jedoch ab. Für Aureoli sind Emotionen Leidenschaften, weil sie eine Veränderung im Körper verursachen, aber nicht, weil sie diese Veränderung selbst wie einen materialen Bestandteil in ihrem Wesen einschießen.26 Andere mittelalterliche Autoren, wie Johannes Duns Scotus, gehen weit über Aureoli hinaus und verneinen, dass menschliche Emotionen überhaupt zu den sinnlichen Strebevermögen gehören.27 Duns Scotus bestreitet nicht, dass es Leidenschaften in den sinnlichen Strebevermögen gibt, das Beispiel der Tiere zeigt dies nur zu eindeutig. Die dem Menschen eigentümlichen Emotionen sind jedoch im höheren Strebevermögen, im Willen, zu finden. Leidenschaften der Seele (passiones animae) sind Leidenschaften des Willens (passiones voluntatis). Duns Scotus folgt Aristoteles in _____________ Zu Thomas’ Quellen siehe insbesondere Meier 1912. Ägidius Romanus 1968, fols. 49–51. Siehe Marmo 1991. Aureoli 1605: In III Sententiarum, dist. 15, q. unica, a. 1, 439–442. In diesem Text setzt sich Aureoli auch mit anderen Aspekten von Thomas’ Lehre auseinander. 27 Vgl. den Beitrag von Vesa Hirvonen in diesem Band. 24 25 26
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der Auffassung, dass wir Tugenden und andere moralische Dispositionen erwerben können, welche die Aufgabe haben, unsere Emotionen zu moderieren. Die menschlichen Tugenden befinden sich nach Duns Scotus jedoch alle im Willen, weshalb auch die durch sie moderierten Emotionen im Willen angesiedelt sein müssen.28 Trotz der großen Anhängerschaft, die die skotistische Auffassung von den Emotionen im Spätmittelalter und darüber hinaus besaß, gelang es ihr nicht, Thomas’ Lehre zu ersetzen und deren Einfluss zu verdrängen. Die Anziehungskraft der thomasischen Auffassung dürfte dabei auf ihre naturalistischen Implikationen und Aspekte zurückzuführen sein, Aspekte, die den ‚entleiblichten‘ Emotionen der skotistischen Tradition weitgehend fehlen.
Literatur Thomas’ von Aquins Schriften werden nach den Opera Omnia zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die Übersetzungen stammen vom Verfasser. Die verwendeten Siglen sind: STh QDV ScG
– Summa Theologiae – Quaestiones disputatae de veritate – Summa contra Gentiles
Ägidius Romanus (1968), Commentaria in Rhetoricam Aristotelis, Frankfurt a. M. [Nachdruck der Ausgabe Venedig 1515]. Aristoteles (1894), Ethica Nicomachea, hrsg. von Ingram Bywater, Oxford. – (1956), De anima, hrsg. von William David Ross, Oxford. – (1976), Rhetorica, hrsg. von Rudolf Kassel, Berlin. Aureoli, Petrus (1605), Commentaria in tertium librum Sententiarum, Rom. Black, Deborah (2000), Imagination and Estimation: Arabic Paradigms and Latin Transformations, in: Topoi 19, 59–75. Brungs, Alexander (2002), Metaphysik der Sinnlichkeit: das System der Passiones Animae bei Thomas von Aquin, Halle/Saale. Brungs, Alexander (2005), Die passiones animae, in: Andreas Speer (Hg.), Thomas von Aquin: Die Summa Theologiae, Berlin, 198–222. Burnyeat, Myles (2001), Aquinas on „Spiritual Change“ in Perception, in: Dominik Perler (Hg.), Ancient and Medieval Theories of Intentionality, Leiden, 129–153. Burnyeat, Myles (2002), De anima II.5, in: Phronesis 47, 28–90. Descartes, René (1996), Les passiones de l’âme, Œuvres des Descartes, Bd. XI, hrsg. von Charles Adam/Paul Tannery, Paris. Floyd, Shaun D. (1998), Aquinas on Emotion: A Response to Some Recent Interpretations, in: History of Philosophy Quarterly 15, 160–175. Goldie, Peter (2002), The Emotions: A Philosophical Exploration, Oxford.
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Zu Duns Scotus’ Lehre siehe auch Knuuttila 2004, 265–274.
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Martin Pickavé
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Wilhelm von Ockham (1285–1349)
Wilhelm von Ockham: Die Passionen der zwei Seelen Vesa Hirvonen 1. Der Mensch und die Passionen In diesem Artikel sollen die Hauptzüge der Passionentheorie Wilhelms von Ockham erläutert1 und einige Aspekte von Johannes Duns Scotus’ Auffassungen der Passionen skizziert werden. Der Mensch setzt sich nach Ockham aus vier Teilen zusammen: Erstens aus der Materie und der forma der Körperlichkeit, die zusammen den Körper bilden, und zweitens aus der sensorischen (sensitiven) und der intellektiven forma, die man als Prinzipien des Lebens auch als Seelen bezeichnen kann.2 Die Pluralität der formae im Menschen war ein ziemlich weit anerkannter Gedanke bei den Franziskanern des Mittelalters, doch Ockhams Idee von den zwei Seelen im Menschen war es nicht.3 Laut Ockham befinden sich sowohl in der sensorischen als auch in der Verstandesseele (intellektiven Seele) zweierlei Vermögen (lat. potentiae) und Funktionen: kognitive und appetitive.4 Die Teilung der Seelenvemögen in kognitive und appetitive war in der Psychologie des Mittelalters gebräuchlich. Nach Peter King akzeptieren die Philosophen des Mittelalters, sich an Aristoteles anlehnend, die Trennung in zwei Vermögensapparate im Allgemeinen. Mit dem einen Vermögensapparat erwirbt und verarbeitet man Informationen aus der Welt. Dieses Vermögen wurde als kognitiv oder apprehensiv bezeichnet. Mit dem anderen Vermögensapparat bindet man sich an die Welt. Dieses Vermögen nannte man appetitiv.5 Oswald Fuchs nennt das appetitive Vermögen einen konativen Faktor, zu dessen Prozessen alle nicht-kognitiven Erfah-
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Umfassender über Ockhams Passionentheorie: Hirvonen 2004. Über Ockhams Anthropologie siehe Hirvonen 1999 und Hirvonen 2004, 23–46. Adams 1987, 664. Rep. II, q. 20; OTh V, 446: 16–19. King 1999, 101.
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Vesa Hirvonen
rungen gehören, die mit den Begriffen „feeling“, Wohlbehagen, Bestrebung, Anstrengung o. ä. verbunden sind.6 Die Passionen sind Teil der Funktionen des appetitiven Vermögens der Seelen. Seiner Gewohnheit entsprechend, nennt Ockham für den Terminus „Passion“ verschiedene Definitionen, aber in Quodlibet II, q. 17 stellt er seine eigene Auslegung vor. Er sagt, dass er mit dem Terminus „Passion“ Folgendes meine: […] alle jene in dem appetitiven Vermögen vorhandenen Formen, die die rechte Vernunft in die richtige Richtung zu steuern vermag, und die Kognition voraussetzen, um existent zu sein. Oder kurz gefasst, die Passion ist von der Kognition getrennte Form, deren Subjekt das appetitive Vermögen ist, und die eine aktuelle Kognition voraussetzt, um existent zu sein. (Quodl. II, q. 17; OTh IX, 186: 10–15)
Hieraus folgt, dass es nach Ockham Passionen sowohl in der sensorischen als auch in der Verstandesseele gibt, mit anderen Worten sowohl im an die Sinneswahrnehmung gebundenen Strebevermögen (appetitus sensitivus) als auch im Willen.7 Ockhams großes Interesse besteht darin, das „Rasiermesser“ im Sinne akzeptabler theoretischer Vereinfachung einzusetzen und die Passionen so weit wie möglich mit den appetitiven Akten (denen des appetitus sensitivus und denen des Willens) zu identifizieren. Die Passionen sind also ihm zufolge keine sich in den Seelen befindenden separaten Empfindungen oder Reaktionen, die sich von den eigentlichen verlangenden und verweigernden Seelenakten unterscheiden würden, sondern die verlangenden und verweigernden Seelenakte an sich sind die Passionen. Im Willen gibt es nach Ockham, genauso wie auch bei Scotus,8 jedoch einige Passionen, die getrennt von den verlangenden oder verweigernden Akten sind; aber in der sensorischen Seele braucht man solche Ockham zufolge nicht anzunehmen. Mit der Anschauung, dass man auch einige Phänomene des appetitiven Vermögens der Verstandesseele, des Willens, als Passionen bezeichnen kann, sind Ockham und vor ihm schon Scotus9 von der Tradition abgewichen. Traditionell hatte man angenommen, dass Passionen, in der eigentlichen Bedeutung des Terminus, nur im sensorischen Teil des Menschen vorkommen, da Passionen als essenziell mit körperlichen Veränderungen verbunden angesehen wurden. Warum waren Ockham und schon _____________ 6 7 8 9
Fuchs 1952, 49. Quodl. II, q. 17; OTh IX, 187: 20–25. Knuuttila 2004, 269. Ord. III, supplementum, dist. 33; John Duns Scotus 1986, 330f. Siehe auch Kent 1984, 400.
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einige Franziskaner vor ihm der Meinung, dass es Anlass gebe, auch einige Funktionen des Willens als Passionen zu bezeichnen? Zumindest nahm Ockham nicht an, dass die Passionen unbedingt mit dem Körper verbunden sind. Gott könne sie in seiner absoluten Macht doch einfach als solche existieren lassen.10 Ein anderer Grund mag sein, dass nach Ockham und anderen Franziskanern der Wille und seine Phänomene dem appetitus sensitivus und seinen Phänomenen ähneln. Scotus und Ockham dachten, dass die Kognitionen der Verstandesseele, die Teilursachen der Willensakte seien, sich nicht nur auf Universalobjekte bezögen, sondern auch Einzelgegenstände beträfen. Außerdem gingen sie davon aus, dass der Wille mit den Propositionen der Vernunft nicht verbunden sei.11 Einige Willensakte sind unvorhergesehene Reaktionen auf Ereignisse, und auch wenn der Verstand die Gelegenheit hätte, alternative Reaktionsmöglichkeiten abzuwägen, schlösse der Wille sich nicht unbedingt den Beurteilungen der Vernunft an. Obwohl die Reaktionen des sensorischen appetitus naturbedingt sind und die Reaktionen des Willens frei sein können, sind sie beide subjektive Reaktionen des Menschen.
2. Sensorische Passionen Nach Ockham entstehen die sensorischen Passionen normalerweise aus dem Zusammenwirken verschiedener Ursachen. Die zentralsten wirkenden Ursachen sind die Kognitionen. Auch wenn die Passionen real von den Kognitionsakten getrennt sind, herrscht zwischen ihnen eine enge Verbindung: Kognitionen sind meistens die wichtigsten Verursacher der Passionen. Welche Kognitionen verursachen Passionen in der sensorischen Seele? Sogar eine einfache intuitive Wahrnehmung von irgendeinem Objekt kann ausreichen, um eine Passion zu verursachen.12 In dem Falle genügt zum Beispiel schon das Wahrnehmen von Hitze, um eine ablehnende Passion zu verursachen, die wiederum zu einer körperlichen Reaktion führt. Oft wirken im Hintergrund der Passionen jedoch kompliziertere kognitive Prozesse. Auch wenn Ockham denkt, dass die einzelnen Kognitionsakte der sensorischen Seele nur einfache Objekte zum Ziel ha_____________ Rep. IV, q. 9; OTh VII, 155: 15–17. Hierüber im Folgenden mehr im Zusammenhang mit den Willenspassionen (Abschnitt 3). 12 Z. B. Rep. II, q. 16; OTh V, 364: 3–6 und Rep. II, q. 20; OTh V, 447: 2–7; Quaest. variae, q. 6, a. 9; OTh VIII, 252: 26–28; Quodl. III, q. 17; OTh IX, 270: 45–47, 49–54. 10 11
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ben können, ist er der Meinung, dass die sensorischen Kognitionen zusammen auch komplexe Objekte erfassen können. In der sensorischen Seele können mithilfe von Habitus13 gleichzeitig und nacheinander mehrere Akte stattfinden, und auf diese Weise kann in der sensorischen Seele so etwas wie komplexes Wissen entstehen. Hierauf beruhen gemäß Ockham die Urteile und Einschätzungen der Tiere von für sie Nützlichem und Schädlichem.14 Die sensorische Passion beginnt unbedingt, sobald eine bestimmte Kognition oder Gesamtheit von Kognitionen entsteht. Die von einer Kognition verursachte Passionsreaktion ist naturbedingt, und deshalb ist die sensorische Seele in ihren Reaktionen nicht frei.15 Auch wenn Ockham anzunehmen scheint, dass Passionen nach dem natürlichen Verlauf der Dinge ausreichende wirkende Ursachen für die sensorischen Passionen sind, ist er nicht der Meinung, sie seien immer die ganze Ursache der Passionen. Auch andere Teilursachen wirken anscheinend bei der Entstehung der Passionen mit. Nach Ockham zeigt die Erfahrung, dass zum Beispiel die Gewohnheiten ihren Beitrag zur Entstehung der Passionen leisten. Nachdem die Seele einmal in einer Art und Weise reagiert hat, ist sie geneigt, auch ein zweites Mal ähnlich zu reagieren. Ist es also so, dass in der sensorischen Seele von den früheren Passionen ein Habitus geblieben ist, der sie zu einer ähnlichen Reaktion bewegt, sie also ähnlich wie früher fühlen lässt? Zumindest in dem ‚reifen‘ Werk Quodlibeta ist Ockham der Meinung, dass im sensorischen Appetitus keine Habitus seien, die aus früheren Passionen entstanden sind. Solche Habitus braucht man nicht (und kann man auch nicht) voraussetzen. Was bringt denn die Seele dazu, früheren Reaktionen gemäß zu reagieren? Es sind die Qualitäten im Körper, wie Kälte und Hitze, die ausreichen, die betreffenden seelischen Empfänglichkeiten zu erklären. Passionen haben Einfluss auf die Qualitäten des Körpers, die wiederum durch die Sinneswahrnehmungen Passionen bewirken.16 Da diese betreffenden Qualitäten Relevanz für das moralische Verhalten haben, denkt Ockham, man könne sie als moralische Tugenden bezeichnen. Man muss sich allerdings vergegenwär_____________ Mit „Habitus“/habitus wird eine verfestigte Disposition der Seele im Sinne der aristotelischen hexis bezeichnet, z. B. eine Tugend im Bereich des Strebevermögens oder ein wissenschaftliches Fachwissen im Bereich des Verstandes. 14 Rep. IV, q. 14; OTh VII, 314: 18 – 315: 12; siehe auch Ord. I, d. 3, q. 2; OTh II, 410: 20 – 412: 18. 15 Quaest. variae, q. 7, a. 3; OTh VIII, 368: 622–624. 16 Quodl. II, q. 16; OTh IX, 183–186: 26–110. Noch in Rep. III, q. 12; OTh VI scheint Ockham Habitus im sensorischen appetitus anzunehmen. 13
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tigen, dass die Moralität der Körperzustände nur extrinsisch sein kann, das heißt, sie können nur im Zusammenhang mit dem Willen tugendhaft oder schlecht sein.17 Die sensorische Seele kann nach Ockham außerdem auch solche Passionen enthalten, deren Ursache überhaupt nicht die Kognition des Objekts der Passion ist. Solche Passionen kommen alleine aus den Qualitäten des Körpers zustande. Als Beispiel solcher Passionen erwähnt Ockham den Durst und das Hungergefühl der Neugeborenen.18 Es ist klar, dass eine Passion, die ohne Kognition ihres Objekts entstanden ist, schwer einem Passionentypus zuzuordnen ist, der nach den kognitiven Inhalten der Passionen definiert wird. Deshalb meint Ockham auch, dass im Fall der Neugeborenen nicht zwischen der Verlangenspassion und dem durch fehlende Ernährung hervorgerufenen Schmerz unterschieden werden könne.19 Auch die Willensakte gehören nach Ockham zu den Teilursachen der sensorischen Passionen. Sensorische Passionen sind ihm zufolge übliche Objekte der Willensakte (und Habitus), ähnlich wie die körperlichen Funktionen, die die Befehle des Willens ausführen.20 Die moralische Pflicht des Willens ist es, durch seine Akte (und seine Habitus) die übermäßigen sensorischen Passionen zu kontrollieren und die gemäßigten sensorischen Passionen zu fördern. Der tugendhafte Wille muss also gewährleisten, dass die Passionen der sensorischen Seele in jeder Situation gemäßigt bleiben.21 Die sensorischen Passionen können auch von Geburt an gemäßigt sein, aber moralisch tugendhaft sind sie nur unter der Kontrolle des tugendhaften Willens.22 Ockham glaubt nicht, dass alle sensorischen Passionen unbedingt Objekt des Willens sein und beherrscht werden können. Zumindest die unvermittelten, exzessiven und heftigen Passionen sind nicht vom Willen zu kontrollieren. Unvermittelte Passionen, zum Beispiel das Erschrecken, werden von der Wahrnehmung so _____________ Quodl. III, q. 18; OTh IX, 273: 14–23. Quaest. variae, q. 6, a. 9; OTh VIII, 260–261: 202–209. Quaest. variae, q. 6, a. 9; OTh VIII, 261–262: 217–236. Rep. III, q. 12; OTh VI, 411: 5–7, 8–14, 16–19; Rep. III, q. 12; OTh VI, 413: 13 – 414: 3; Rep. III, q. 12; OTh VI, 416: 3–5; Quodl. III, q. 18; OTh IX, 274–275: 28– 35, 49–51. 21 Rep. III, q. 12; OTh VI, 417: 1–3, 4–13; Quodl. II, q. 15; OTh IX, 180–181: 48– 49, 55–56, 74–76. 22 Rep. III, q. 11; OTh VI, 379: 15 – 380: 2; Rep. III, q. 12; OTh VI, 412: 4–6; Quodl. II, q. 15; OTh IX, 181: 63–70, 84–85; Quodl. II, q. 16; OTh IX, 182: 18–19, 20–25. 17 18 19 20
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schnell geweckt, dass die Person sie mit ihrem Willen nicht beherrschen kann.23 Die exzessiven und heftigen Passionen, wie zum Beispiel Furcht oder sexuelles Wohlbehagen, verhindern den Gebrauch der Vernunft – manchmal sogar in dem Maße, dass der Verstand und der Wille der Person überhaupt nicht funktionieren. Das ist deshalb möglich, weil die Passion diejenigen körperlichen Qualitäten beeinflusst, die gebraucht werden, damit Intellekt und Wille funktionieren können.24 Ganz offensichtlich lassen sich auch die unvermittelten und die exzessiven Passionen indirekt kontrollieren, indem man ihre Ursachen, also Kognitionen und körperliche Qualitäten, beeinflusst. Neben den Ursachen der Passionen berücksichtigt Ockham deren Wirkungen, u. a. das Verhalten und die körperlichen Zustände des Menschen. Die Philosophen im Mittelalter waren allgemein der Ansicht, dass die Passionen der sensorischen Seele eine bedeutende Rolle im Zustandekommen der menschlichen Lebensäußerungen spielen. Ockham scheint diese Anschauung als gegeben zu akzeptieren. Er verbindet auf traditionelle Art und Weise solche Äußerungsformen wie das Lachen mit Freude und das Weinen mit Schmerz.25 Ockham erwähnt auch solche Wirkungen der Passionen im Körper wie das Rotwerden oder Erbleichen.26 Genau diese Sichtbarkeit derartiger körperlicher Wirkungen führt dazu, dass Ockham die appetitiven Habitus innerhalb der sensorischen Seele selbst verwirft: Da es offensichtlich ist, dass solche körperlichen Qualitäten wie die Gesichtsfarbe sowie Hitze und Kälte den sensorischen Passionen folgen, ist nicht anzunehmen, dass in der sensorischen Seele selbst appetitive Habitus entstehen würden. Die Qualitäten des Körpers reichen als Erklärung für das aus, was früher mit den appetitiven Habitus der Seele erklärt wurde. Welche Passionen sind in der sensorischen Seele vertreten? Die Grundpassionen der sensorischen Seele sind nach Ockham folgende: Begierde (desiderium), die sich auf ein abwesendes gutes Objekt richtet, Freude (delectatio), die sich auf ein anwesendes gutes Objekt richtet, Ablehnung (fuga), die sich auf ein abwesendes schlechtes Objekt richtet und Schmerz _____________ Quodl. II, q. 17; OTh IX, 188: 52–57. Quaest. variae, q. 6, a. 9; OTh VIII, 262: 237–246; Quaest. variae, q. 7, a. 3; OTh VIII, 369–370: 665–668. 25 Exp. Periherm. Arist. I, c. 1; OPh II, 378: 25–27; SL I, c. 14; OPh I, 49: 55–56. 26 Exp. Praed. Arist., c. 14; OPh II, 277: 15–17; Exp. Praed. Arist., c. 14; OPh II, 280: 14. 23 24
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(dolor), der sich auf ein anwesendes schlechtes Objekt richtet.27 Anders als im Willen gibt es in der sensorischen Seele nicht Liebe (dilectio) und Hass (odium) als drittes Grundpassionenpaar. Aufgrund dessen könnte man vielleicht sagen, dass Ockham ein traditionelles stoisches Modell zur Darstellung der sensorischen Passionen akzeptiert, das viererlei Akte beinhaltet: positive und negative Akte, die sich auf ab- und anwesende Objekte richten. Dieses Modell war im Mittelalter allgemein bekannt. Zusätzlich zu diesen Grundpassionen, also den Passionen des begehrenden Vermögens (passiones concupiscibiles), scheint Ockham in verschiedenen Zusammenhängen auch solche Passionen wie Hoffnung und Furcht mit der sensorischen Seele zu verbinden, die traditionell als dem zornmütigen Vermögen zugeordnet galten (passiones irascibiles).28 Gleichwohl scheint er zu denken, dass die Phänomene der sensorischen Seele relativ elementar sind und für ihre Darstellung die einfache Vierteilung ausreicht. Ein nuancierteres emotionales Leben findet in dem appetitiven Vermögen der Verstandesseele statt, im Willen.
3. Die Passionen des Willens Wie schon die sensorischen Passionen, entstehen auch die Passionen des Willens häufig aus einem Zusammenwirken verschiedener Ursachen. Die Verstandeserkenntnisse werden von Ockham oft als Teilursachen genannt, aber eine besonders wesentliche Ursache ist der Wille selbst mit seinen Akten und Habitus. Wie eingangs festgestellt, befinden sich sowohl nach Scotus als auch nach Ockham im Willen zweierlei Passionen: die Akte (also Aktualisierungen eines Vermögens) und die, welche keine Akte sind. Ähnlich wie die als Akte verstandenen Passionen des sensorischen Appetitus brauchen auch jene des Willens im Allgemeinen eine Kognition, ohne die sie nicht entstehen können.29 Wie dargelegt, dachten Scotus und Ockham, dass die Kognitionen des Verstandes, ähnlich wie die sensorischen Kognitionen, auf Singularobjekte gerichtet sein können. Wie in der _____________ Quodl. III, q. 17; OTh IX, 268–269: 12–27. Siehe auch ibid., 271: 77–83 und Quaest. variae, q. 6, a. 9; OTh VIII, 252–256: 29–59, 108–116. 28 Siehe z. B. Ord. I, d. 3, q. 2; OTh II, 411: 4; Rep. III, q. 12; OTh VI, 409: 3–7; 413: 13 – 414: 3. Vgl. auch den Beitrag von Alexander Brungs in diesem Band. 29 Ord. I, prol., q. 9; OTh I, 263: 24 – 264: 1; Ord. I, d. 3, q. 10; OTh II, 566: 5–6; Quodl. II, q. 8; OTh IX, 146: 37–39. 27
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sensorischen Seele können solche Kognitionen auch in der Verstandesseele schon als Teilursachen einer Passion ausreichen.30 Oft wirken im Hintergrund der Passionen der höheren Seele jedoch weiterentwickelte kognitive Funktionen, als in der sensorischen Seele möglich sind. Anders als in dem sensorischen kognitiven Vermögen befinden sich im Verstand Akte, die auf ein komplexes Objekt, die Proposition, gerichtet sind.31 Auf solchen Akten basierend gibt es im Verstand ein Gedächtnis, das es in der sensorischen Seele nicht gibt.32 Ein wesentlicher Umstand beim Urteilsvermögen der Vernunft ist, dass sich der Wille in Ockhams Voluntarismus nicht unbedingt den Bewertungen der Vernunft anpasst. Sogar die Passionen des Willens sind also nicht unbedingt vernünftig.33 Der Wille als die Ursache seiner eigenen als Akte verstandenen Passionen ist eine ganz besondere Ursache, denn er ist frei (oder kann frei sein) im Sinne der Kontingenz.34 Die Kontingenz des Willens in Bezug auf seinen Akt bedeutet, dass der Wille frei ist, den fraglichen Akt zu verursachen oder unverursacht zu lassen, ohne dass eine Veränderung im Willen selbst, im Verstand, im Körper oder in irgendwelchen umliegenden Umständen vorausgesetzt wird. Der Wille ist also keinesfalls in Bezug auf den fraglichen Akt determiniert.35 Nach Ockham ist der freie Wille selbst jedoch keine direkte Teilursache aller in ihm vorkommenden Passionen. Die Ursache für viele als Akte verstandene Passionen (die vom Typus der Begierde oder der Ablehnung) ist der Wille durch seinen gleichzeitigen Akt. Zum Beispiel kann das freie Lieben eines Objekts sogar den Willen dazu bringen, etwas anderes zu wollen. Wenn zum Beispiel ein kranker Mensch sich selbst und seine Gesundheit liebt und weiß, dass er nur über _____________ 30
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Ord. I, d. 27, q. 2; OTh IV, 224: 23 – 225: 3; Rep. II, q. 16; OTh V, 364: 2–7; Rep. III, q. 5; OTh VI, 161: 8–10, 12–14; Quaest. variae, q. 7, a. 3; OTh VIII, 368: 636–639. Rep. IV, q. 14; OTh VII, 314: 21 – 315: 2. Rep. IV, q. 14; OTh VII, 297: 18 – 298: 4, 13 – 299: 2; Rep. IV, q. 14; OTh VII, 312: 4–16; Rep. II, q. 12–13; OTh V, 261: 13–18, 262: 5–6. Ord. I, d. 1, q. 6; OTh I, 503: 18–19; Rep. III, q. 11; OTh VI, 355: 15–17; Rep. IV, q. 16; OTh VII, 350: 22 – 351: 5. In Scriptum in librum primum Sententiarum, d. 1, q. 6 schreibt Ockham, dass die Freiheit auf drei verschiedene Weisen verstanden werden kann, aber wenn es um den Willen geht, bedeutet Freiheit dasselbe wie Kontingenz, siehe Ord. I, d. 1, q. 6; OTh I, 501: 13–24. Ord. I, d. 1, q. 6; OTh I, 501: 2–12. Rep. III, q. 11; OTh VI, 354: 11–12; Rep. IV, q. 16; OTh VII, 358: 4–7; Quodl. I, q. 11; OTh IX, 67–68: 41–47; Exp. Phys. Arist. II, c. 8; OPh IV, 319–320: 111–120.
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das Trinken einer bitteren Medizin genesen kann, ist sein Wille dazu gezwungen, die Medizin zu wollen. Wenn er die Medizin nicht will, will er auch nicht genesen.36 Für die Entstehung der Passionen Freude und Trauer, die vom Typus her keine Akte sind, ist der Wille keine direkte Ursache, eine indirekte aber doch. Diese Passionen werden von gleichzeitigen Akten des Willens verursacht. Zum Beispiel verursacht eine positive Passion, etwa die Liebe zu einem anwesenden Objekt, im Allgemeinen Freude, eine negative Passion wiederum Trauer. Ohne gleichzeitige als Akte verstandene Passionen zu einem Objekt kann es nach Ockham im Willen keine Freude oder keine Trauer über das fragliche Objekt geben.37 Hier unterscheidet er sich etwas von Scotus, der annimmt, dass im Willen manchmal auch von Natur aus Freude und Trauer ohne Akte des Willens vorkommen können.38 Auch die aus Willensakten entwickelten Habitus können Teilursachen der Willenspassionen sein, zumindest erleichtern sie das Auftreten bestimmter Willenspassionen.39 Ockham stellt sich die Frage, ob die Habitus des Willens diesen gar zu manchen Passionen zwingen können. Er beantwortet diese Frage manchmal mit nein40, manchmal mit ja41. Ähnlich erörtert Ockham die Rolle der Passionen der sensorischen Seele. Auch sie scheinen es zu erleichtern, etwas zu wollen, aber sie sind wohl nicht in der Lage, den Willen zu verpflichten.42 Als Voluntarist bemüht sich Ockham auf jeden Fall, die Willensfreiheit so weit wie möglich zu verfechten. Die Willenspassionen beeinflussen entscheidend das Verhalten des Menschen. Mithilfe des Willens kann der Mensch seine Lebensäußerungen kontrollieren, sowohl sein inneres Leben, zum Beispiel die Passionen der
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Ord. I, d. 1, q. 6; OTh I, 493: 17 – 500: 17; Quaest. variae, q, 6, a. 9; OTh VIII, 259: 168–173; Quaest. variae, q, 6, a. 11; OTh VIII, 302: 352–360. Siehe auch Rep. III, q. 7; OTh VI, 210: 18 – 211: 18. Ord. I, d. 1, q. 3; OTh I, 415: 17–22; Ord. I, d. 1, q. 3; OTh I, 421: 1–8; Quaest. variae, q. 6, a. 9; OTh VIII, 265: 297–298, 299-305; Quaest. variae, q. 6, a. 11; OTh VIII, 308–310: 486, 510–512, 525–527. Quaest. variae, q. 6, a. 9; OTh VIII, 265–266: 306–327. Quodl. III, q. 20; OTh IX, 284: 58–66, 73–77. Siehe auch Rep. III, q. 11; OTh VI, 357: 16 – 358: 14; 363: 1–19; 365: 3–23. Rep. II, q. 15; OTh V, 340: 22–23; Rep. III, q. 11; OTh VI, 357: 16–18. Rep. III, q. 7; OTh VI, 211: 21 – 212: 7. Siehe z. B. Quodl. II, q. 13; OTh IX, 175–176: 210–222.
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sensorischen Seele, als auch sein äußeres Verhalten.43 Ein tugendhafter Wille ist zu einer solchen Kontrolle verpflichtet.44 Die Willenspassionen motivieren die Handlungen des menschlichen Körpers,45 sie können nach Ockham aber auch verschiedene körperliche Zustände bewirken. Zum Beispiel kann das Gefühl der Freude die Gesundheit fördern.46 Welche Passionen zeigen sich im Willen? Duns Scotus geht explizit davon aus, dass die Teilung der Akte in begehrende (concupiscible) und zornmütige (irascible) außer im sensorischen appetitus auch im Willen vorgenommen werden könne.47 Auch wenn er es nicht offen sagt, betrachtet Ockham die Phänomene des Willens auch dieser Teilung entsprechend. Sein primäres Interesse richtet sich auf die begehrenden Passionen, auf die er viele Klassifizierungen oder Unterteilungen anwendet. Die erste Klassifizierung betrachtet die Passionen als solche. Mit ihrer Hilfe wird die Frage beantwortet, wie etwas gewollt oder nicht gewollt wird, oder wie jemand auf etwas reagiert. Ihre Elemente sind die Begierde (desiderium) und die Ablehnung oder das Fliehen (fuga), die sich nur auf ein abwesendes Objekt richten können; die Liebe (amor, dilectio) und der Hass (odium), die sich entweder auf ein an- oder abwesendes Objekt richten können, und die Freude (delectatio) und Trauer (tristitia), die sich auf ein anwesendes Objekt richten (bei Anwesenheit des Objekts können die auf es gerichtete Liebe oder der Hass Freude oder Trauer hervorrufen). Ockham bemüht sich sehr um den Beweis, dass man, anders als z. B. Petrus Aurioli dachte, im Willen, im Gegensatz zum sensorischen Appetitus, separat zu Freude und Trauer Liebe und Hass annehmen muss.48 Hier folgt Ockham Scotus, auch wenn er nur zwei von den acht Argumenten, die Scotus für seine _____________ 43
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Rep. III, q. 12; OTh VI, 411: 5–7, 8–14, 16–19; Rep. III, q. 12; OTh VI, 413: 13 – 414: 3; Rep. III, q. 12; OTh VI, 416: 3–5; Quodl. III, q. 18; OTh IX, 274–275: 28– 35, 49–51. Rep. III, q. 12; OTh VI, 417: 1–3, 4–13; Quodl. II, q. 15; OTh IX, 180–181: 48– 49, 55–56, 74–76. Rep. III, q. 11; OTh VI, 383: 2–4, 10–13; Rep. III, q. 12; OTh VI, 411: 5–6, 8–9; Rep. IV, q. 16; OTh VII, 358: 13–20. Ord. I, prol., q. 10; OTh I, 294: 22 – 295: 2; Ord. I, d. 30, q. 1; OTh IV, 302: 23 – 303: 1; Rep. IV, q. 14; OTh VII, 306: 8–9, 13–15, 16–17; Quaest. variae, q. 6, a. 9; OTh VIII, 271: 440–443; Quodl. IV, q. 13; OTh IX, 361: 31–34; Quodl. VI, q. 12; OTh IX, 631–632: 72–74. Ord. III, supplementum, dist. 33; John Duns Scotus 1986, 340–341. Siehe auch Knuuttila 2004, 265–267. Ord. I, d. 1, q. 3; OTh I, 407: 13 – 411: 24.
Wilhelm von Ockham: Die Passionen der zwei Seelen
217
Einordnung nennt, akzeptiert.49 Im ersten Argument handelt es sich um die Selbstliebe des bösen Engels: Er kann sich zwar selbst lieben, sich aber nicht freuen, also müssen Liebe und Freude getrennt voneinander existieren.50 Auch das zweite Argument berührt einen theologischen Fall. Dabei geht es um die wahrhafte und glühende Liebe eines Menschen zu Gott, der sich Gott allerdings nicht vollkommen hingibt. Es handelt sich um Liebe, aber freuen kann sich die Person nicht wirklich, also müssen Liebe und Freude getrennt sein.51 Mit der zweiten Klassifizierung wird die Frage beantwortet, warum etwas gewollt wird. Ihre Elemente sind die freundschaftliche Liebe (amor amicitiae) und die begehrende Liebe (amor concupiscentiae). Die freundschaftliche Liebe ist das Lieben eines Objekts an sich und um seiner selbst willen.52 Sie ist absolut in dem Sinne, dass sie keinen anderen Willensakt voraussetzt, um zu entstehen.53 Die begehrende Liebe wiederum ist das Lieben von etwas um einer anderen Sache willen. Um entstehen zu können, setzt sie einen anderen Akt, die freundschaftliche Liebe, zu einem anderen Objekt voraus.54 Mithilfe des dritten (von Augustinus angewendeten) Klassifizierungssystems wird unterschieden, ob etwas als das höchste oder als weniger hohes Gut geliebt wird. Ihre Elemente sind Genuss (frui)55 und Gebrauch (uti)56. Neben den begehrenden Grundpassionen (passiones concupiscibiles) befinden sich nach Ockham im Willen auch Passionen, die traditionell als „zornmütig“ (passiones irascibiles) bezeichnet wurden. Sie werden teils durch die Grundpassionen, teils durch eine Überzeugung im Verstand verursacht. Der Wille ist also gar keine direkte Ursache dieser Passionen, nur eine indirekte. Von diesen Passionen nennt Ockham _____________ 49 50 51 52 53 54 55 56
Quaest. variae, q. 6, a. 11, d. 4; OTh VIII, 308: 477–479. Zu Ockhams Diskurs mit Scotus siehe ibid., 297–307: 258–469. Quaest. variae, q. 6, a. 11, d. 4; OTh VIII, 297–299: 258–282. Quaest. variae, q. 6, a. 11, d. 4; OTh VIII, 299: 283–298. Rep. IV, q. 16; OTh VII, 359: 23-24. Quaest. variae, q. 4; OTh VIII, 137: 813–816. Quaest. variae, q. 4; OTh VIII, 137–138: 817–830. Siehe auch ibid., 140: 869–878; Ord. I, d. 1, q. 4; OTh I, 444: 16–20. Ord. I, d. 1, q. 2; OTh I, 396: 22 – 397: 6. Im Allgemeinen benutzt Ockham den Begriff „Genuss“ in dieser weiteren Bedeutung. Ockham unterbreitet zuerst zwei Möglichkeiten, „gebrauchen“ zu interpretieren (Ord. I, d. 1, q. 1; OTh I, 373: 18–23); später gibt er ihm jedoch die ‚eigentlichste‘ Bedeutung (Ord. I, d. 1, q. 1; OTh I, 374: 4–6, 9–13, 16–20; 375: 6–7). Er ist jedoch sorgfältig genug, um anzuführen, dass etwas nur gebraucht wird, wenn darauf nur ein propter-aliud-Akt gerichtet ist (Ord. I, d. 1, q. 1; OTh I, 393: 7–16).
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Vesa Hirvonen
besonders die Hoffnung (spes), die ein Akt ist, der sich auf ein kommendes Objekt richtet. Er entsteht aus dem Wollen des Objekts und der Überzeugung, dass das Objekt zu erreichen ist.57 Verzweiflung (desperatio) entsteht wiederum aus dem Wollen eines Objekts und der Überzeugung, dass es nicht zu erreichen ist.58 Furcht entsteht, wenn die Person etwas vermeiden will, aber annimmt, dass es unvermeidbar ist.59 Die Passionenlehren Wilhelms von Ockham wie auch die von Johannes Duns Scotus beinhalten keine vielfältigen Beschreibungen der Passionen und des Lebens mit ihnen, sondern sind streng sachliche Auseinandersetzungen über Ursachen, Wirkungen und Arten der Passionen. Nach Ockham und Scotus, anders als bei ihren meisten Vorgängern, hat der Mensch Passionen auch im Willen – und nicht nur in der unteren Seele oder im unteren Seelenteil. Übersetzt von Johanna und Raino-Lars Albert.
Literatur Die Schriften Wilhelms von Ockham und Johannes Duns Scotus’ werden mithilfe der Siglen für die Werkausgabe OPh (Opera Philosophica) und OTh (Opera Theologica) zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die Übersetzungen stammen vom Verfasser und seinen Übersetzern. Die verwendeten kursiven Siglen für Titel aus der Werkausgabe sind: Wilhelm von Ockham: Exp. Periherm. Arist. – Expositio in librum Perihermenias Aristotelis Exp. Phys. Arist. – Expositio in libros Physicorum Aristotelis Exp. Praed. Arist. – Expositio in librum Praedicamentorum Aristotelis Quaest. variae – Quaestiones variae Quodl. – Quodlibeta septem Rep. – Reportatio SL – Summa logicae Wilhelm von Ockham/Johannes Duns Scotus: Ord. – Ordinatio
_____________ Quodl. III, q. 9; OTh IX, 238–239: 15–25, 26–30, 35–38; Rep. III, q. 9, a. 2; OTh VI, 282: 15–18; Rep. III, q. 9, a. 2; OTh VI, 284: 10–17. 58 Rep. III, q. 9, a. 2; OTh VI, 284: 17–19; Rep. III, q. 9, a. 2; OTh VI, 283: 11, 15– 16. 59 Quodl. III, q. 9; OTh IX, 239: 32–35. 57
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Adams, Marilyn McCord (1987), William Ockham 1–2 (publications in medieval studies 26, 1–2), Notre Dame. Duns Scotus (1986), Duns Scotus on the Will and Morality, ausgew. und übers. mit einer Einleitung von Allan B. Wolter, Washington D. C. Fuchs, Oswald (1952), The Psychology of Habit According to William Ockham (Franciscan Institute Publications, Philosophy Series 8), Diss. St. Bonaventure, New York. Guillelmus de Ockham (1967–1988), Opera philosophica et theologica, St. Bonaventure (=OPh & OTh). Hirvonen, Vesa (1999), William Ockham on Human Being, in: Studia Theologica 53, 40–49. Hirvonen, Vesa (2004), Passions in William Ockham’s Philosophical Psychology, in: Studies in the History of Philosophy of Mind 2, Dordrecht. Kent, Bonnie Dorrick (1984), Aristotle and the Franciscans: Gerald Odonis’ Commentary on the Nicomachean Ethics 1–2, unveröffentl. Diss., Columbia University. King, Peter (1999), Aquinas on the Passions, in: Scott MacDonald/Eleonore Stump (Hg.), Aquinas’s Moral Theory. Essays in Honour of Norman Kretzmann, Ithaca, 101–132. Knuuttila, Simo (2004), Emotions in Ancient and Medieval Philosophy, Oxford.
Juan Huarte de San Juan (1529–1588) Francisco Suárez (1548–1617)
Huarte de San Juan und Suárez: Lachen im spanischen Humanismus und in der Spätscholastik Robert Schnepf 1. Lachen und Heiterkeit als Gegenstand der Affekttheorie Denkt man an Menschen, dann auch an Lachen und Heiterkeit. Das spezifisch Menschliche ist so eng mit Lachen und Heiterkeit verknüpft, dass in der mittelalterlichen Diskussion im Anschluss an Aristoteles das Lachen als ein proprium des Menschen galt, also als eine Eigenschaft, die zwar nicht das Wesen des Menschen ausmacht, aber gleichwohl notwendigerweise allem zukommt, was Mensch ist (und nur ihm).1 Ernst wurde aus dieser Bestimmung, wenn die Frage anstand, ob nicht auch Jesus Christus, der doch ganz Mensch sein sollte, gelacht habe. Dagegen sprach nicht nur der sogenannte Lentulus-Brief, eine Schilderung des Äußeren von Jesus, die dem Vorgänger von Pontius Pilatus zugeschrieben wurde, und in der behauptet wird, Jesus habe niemals gelacht. Vielmehr noch musste die unmittelbare Körperlichkeit das Lachen und die mit ihm verbundene Heiterkeit moralisch suspekt werden lassen. Mönchsregeln und theologische Schriften kannten deshalb genaue Unterscheidungen zwischen verwerflichen und akzeptablen Formen der Heiterkeit. Wie dem auch sei: Der Fähigkeit zu Lachen kommt eine Schlüsselfunktion zu, wenn es darum geht, die menschliche Affektivität zu analysieren. Lachen und Heiterkeit werden in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion nicht mit gleichem Ernst analysiert, obwohl der Humor und das Lachen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausführlich Gegenstand philosophischer Untersuchungen gewesen sind.2 Vielleicht lässt sich dieser Umstand damit erklären, dass mittlerweile die Psychologie als _____________ 1 2
Vgl. Le Goff 2004; Schmitz 1992 – die mittelalterliche Diskussion beruft sich beispielsweise auf Aristoteles, De partibus animalium 3, 10 (673a 2–13). Vgl. dazu z. B. Lipps 1898, der bereits auf eine ganze Fülle von psychologischer Fachliteratur eingeht. Interessant ist, dass in der Darstellung von Lipps einige dieser Theorien auf Vorläufer im 17. Jahrhundert zurückverweisen.
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Einzelwissenschaft menschliche Gefühle analysiert. Gleichwohl führt das Lachen noch heute ins Zentrum auch philosophischer Debatten: Die gegenwärtig umstrittenen systematischen Fragen einer Theorie menschlicher Gefühle lassen sich nämlich leicht am Beispiel der Heiterkeit und des Lachens illustrieren. So kann man an ihm gut das Problem des Verhältnisses von psychischem und physiologischem Ereignis oder Zustand diskutieren. Die Frage, ob man heiter sei, weil man lacht, oder aber lache, weil man heiter ist, ist geradezu klassisch. Ebenso kann man sich fragen, ob Heiterkeit ein andauernder Zustand oder nur eine kurze Episode ist, ob Heiterkeit stets auf einen Gegenstand oder ein Thema bezogen ist oder nur die emotionale Färbung und Disposition einer Person kennzeichnet, kurz, ob Heiterkeit eher ein Gefühl oder eine Stimmung ist.3 Dies soll im Folgenden anhand von zwei Autoren der spanischen Spätscholastik bzw. des spanischen Humanismus vorgeführt werden, die in gleichsam prototypischer Weise an das Phänomen des Lachens herangehen, deren Sichten darauf aber gleichwohl gegensätzlicher kaum sein könnten: der naturalistische Mediziner Juan Huarte de San Juan (ca. 1529– 1588) und der Jesuiten-Theologe und Philosoph Francisco Suárez (1548– 1617). Damit wird eine gewisse Bandbreite der Ansätze abgedeckt, die im Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts präsent waren. Juan Huarte verfolgt äußerlich ein bescheidenes Programm, wenn er danach fragt, welche Charaktere für welche Wissenschaften geeignet sind. Dass sich dahinter ein radikales Projekt versteckt, zeigt sich weniger an seinem Vorschlag strikter Bildungsempfehlungen durch staatliche Gutachtergremien oder an Spekulationen über eugenische Maßnahmen, als vielmehr daran, dass er sein Programm untermauert mit einer Theorie über die Determination aller geistigen Prozesse durch ihre physiologischen Grundlagen auf der Basis einer Vier-Temperamente-Lehre. Huarte nimmt die Schilderungen der Physiologie von Jesus im Lentulus-Brief zum Anlass, den Charakter von Jesus zu rekonstruieren und aus dessen körperlichen Eigenschaften naturalistisch zu erklären (vgl. Ex. XIV (XVI), 594ff./dt. 352ff.).4 Der Theologe Suárez verfolgt sein geradezu entgegengesetztes Programm angesichts solcher Positionen und Argumentationen. Seine Psychologie soll als Teildisziplin der Naturwissenschaft sowohl die Unsterb_____________ 3 4
Die Terminologie ist hier nicht immer einheitlich – vgl. z. B. Engelen 2007, 8ff. und Demmerling/Landweer 2007, 5. Jesus gilt ihm im Rahmen einer Untersuchung der für Könige notwendigen Charaktereigenschaften als Beispiel eines hombre templado (595), also eines Menschen, bei dem sich die Temperamente im optimalen Verhältnis befinden.
Huarte de San Juan und Suárez: Lachen im spanischen Humanismus
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lichkeit der Seele wie die erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundlagen seiner Philosophie und Moraltheorie sichern. Für ihn ist klar, dass die menschliche Seele als Form eines lebendigen Körpers zumindest in ihrem Kern eine immaterielle (unvollständige) Substanz ist. Seelische Ereignisse wie das Lachen und die Heiterkeit könnten deshalb nicht ausschließlich im Rückgang auf die körperlichen Grundlagen erklärt werden. Beide Autoren nehmen also das Phänomen des Lachens aufgrund ihrer systematischen Voraussetzungen ganz unterschiedlich in den Blick, sodass der vertraute Affekt, den wir mit ein und demselben Namen belegen, als etwas ganz Verschiedenes erscheint. Auf die oben kurz skizzierten Fragen der Affekttheorie geben sie entsprechend äußerst unterschiedliche Antworten.
2. Systematische Ansätze und literarische Form Schon die Titel und die literarische Form der Texte, in denen sich die Überlegungen zu Gefühlen finden, geben die Unterschiede zwischen Huarte und Suárez zu erkennen: Bei Suárez handelt es sich um den Traktat De anima, der posthum 1621 in Lyon publiziert worden ist, mittlerweile aber in einer kritischen Edition von Castellote Cubells vorliegt. Dieser Text – selbstverständlich im Latein der Scholastik – ist aus Vorlesungen über Aristoteles’ De anima hervorgegangen. Tatsächlich kommentiert Suárez – im Unterschied etwa zum De-anima-Kommentar von Franciscus Toletus oder dem Coimbricenser De-anima-Kommentar – nicht mehr einfach den aristotelischen Text.5 Vielmehr handelt es sich um einen frühen systematischen Traktat, der sich allerdings noch der mittelalterlichen Darstellungsform der quaestio bedient, um Thesen im Wettbewerb mit anderen Theorien plausibel zu machen. Der Traktat ist eingebettet in ein schier unüberschaubares Gesamtwerk philosophischer und theologischer Schriften, dessen aus heutigem Blickwinkel interessanteste und folgenreichste Teile die Disputationes metaphysicae und das rechtsphilosophische Werk De legibus ac Deo legislatore sind. Die Metaphysischen Disputationen gelten als erste systematisch dargestellte Metaphysik der frühen Neuzeit, die Rechtsphilosophie als epochaler Schritt hin zu modernen Rechts- und Staatstheorien.6 Argu_____________ 5 6
Vgl. zu Problemen der Textgestalt Castellote Cubells 1980, 140 sowie die Einleitung in seine kritische Edition: Suárez 1978–1991. Vgl. zur Metaphysik Bauer 2001; zur Rechtsphilosophie Kaufmann 2006.
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mentiert wird im Traktat De anima in erster Linie durch das vernünftige Abwägen von paradigmatischen Positionen, die in der Tradition als Thomismus, Scotismus oder Nominalismus vorgegeben sind, und unter Rückgriff auf Resultate, die sich aus dem Zusammenhang der anderen Schriften, vor allem der eigenen Metaphysik, ergeben. Das schließt gelegentliche Rückgriffe auf Erfahrungswissen nicht aus. Im Grunde unterscheidet sich dieser Typ von Argumentation überraschend wenig vom heute üblichen Argumentieren, das als paradigmatische Positionen etwa reduktionistische und mentalistische Positionen in der Philosophie des Geistes kennt, sie mit prominenten und qualitätsverbürgenden Namen markiert, ihre interne Kohärenz und ihre relative Plausibilität argumentativ abwägt und gelegentlich auch eine Beobachtung einfließen lässt – das kann auf hohem Niveau stereotyp oder äußerst fruchtbar sein. Suárez gehört zu den innovativeren Denkern. Huarte hat hingegen nur ein einziges Werk geschrieben, einen geradezu mitreißenden spanischsprachigen Traktat mit dem Titel Examen de ingenios para las sciencias. Das Buch hat eine verwirrende Geschichte, die aber auch ein Licht auf den Kontext wirft. Der Traktat erschien 1575. Bereits 1578 verfasste ein befreundeter Theologe, Diego Álvarez, in Briefform eine Gegenschrift, in der die vermeintliche oder tatsächliche Gefährlichkeit des Buches für die Theologie herausgearbeitet wurde.7 Kontrovers waren dabei vor allem die Konsequenzen für die Lehre von der Willensfreiheit und das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele. Huarte bestritt nämlich im 7. Kapitel der ersten Auflage, dass sich die Unsterblichkeit der Seele beweisen lasse. Weiterhin schien er die Determination aller mentalen Zustände und Aktivitäten durch korrespondierende Körperzustände zu lehren. Das Buch von Huarte wurde 1583 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt (die 5. Auflage war zu diesem Zeitpunkt bereits erschienen) und die Inquisition erstellte eine detaillierte Liste von Änderungsauflagen für jede weitere Ausgabe (darunter die komplette Streichung des 7. Kapitels).8 Huarte arbeitete bis zu seinem Tod 1589 an einer erweiterten und stark veränderten Neuauflage, doch konnte erst sein Sohn Luis Huarte 1594 die Manuskripte sammeln und zum Druck geben. _____________ 7 8
Zur Aniamdversión al Examen de ingenios von Diego Álvarez vgl. De Iriarte 1938, 46ff. und Read 1981, 28. Eine ganze Menge wurde von der Inquisition nicht beanstandet. Die oben erwähnte Auslegung des Lentulus-Briefes wurde beispielsweise nicht bemängelt und hat unverändert Eingang in die zweite Fassung gefunden.
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Auch der Argumentationsstil Huartes ist ein anderer als bei Suárez: Huarte stellt nicht zu jeder Detailfrage unterschiedliche Positionen vor, die er dann gegeneinander abwägt, sondern er beruft sich auf vorwiegend antike Autoren (Hippokrates, Galen, Platon und gelegentlich Aristoteles), aber auch auf die medizinischen Lehren und Experimente seiner Zeit, um entweder seine Position plausibel zu machen oder aber durch die Analyse von Beispielen im Rückgriff auf Erfahrungswissen eine Gegenposition aufzubauen. Da das Examen de ingenios sein einziges Buch ist, kann er seine Grundbegriffe nicht im Rückgriff auf andere Teile eines Gesamtwerks einführen. Argumentativ bleibt vieles skizzenhaft, einiges hängt in der Luft, doch ist das für den Zweck seines Buches nicht schlimm und die Innovationskraft bleibt ungemindert. Vielleicht lässt sich die Differenz zwischen den beiden Autoren auch so markieren: Während für Suárez Theologie und Metaphysik die Leitwissenschaften sind, an denen sich auch die Seelenlehre und die Affekttheorie zu orientieren haben, ist es für Huarte eine naturwissenschaftlich verstandene Medizin.9 Beide Bücher haben eine einflussreiche Wirkungsgeschichte entfaltet: Die Texte von Francisco Suárez fanden nicht nur Aufnahme in die Curricula der Jesuitenuniversitäten, sondern wurden auch an den protestantischen Universitäten intensiv studiert und rezipiert. Im Gegensatz dazu ist die Rezeption des Werkes von Huarte vor allem außeruniversitär verlaufen. Huartes Examen de ingenios wurde bereits 1578 ins Französische übersetzt, im selben Jahr erschien eine italienische Fassung und 1596 eine englische. Der erste lateinische Text, übersetzt von dem Hallenser Joachim Caesar, erschien 1622 in Leipzig. Auf eine deutsche Übersetzung musste das Publikum bis Lessing warten, der 1752 in Zerbst Juan Huarts Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften publizierte. In seiner Vorrede charakterisiert Lessing Huarte: „[…] er ist kühn, er verfährt nie nach den gemeinen Meinungen, er beurteilt und treibt alles auf eine besondere Art, er entdecket alle seine Gedanken frei und ist sich
_____________ 9
Dass die Medizin in der frühen Neuzeit zu einer auch in der Öffentlichkeit wirksamen Leitwissenschaft werden konnte, ist angesichts der hartnäckig ausbleibenden therapeutischen Erfolge eines der interessantesten Phänomene der Wissenschaftsgeschichte – vgl. dazu Stollberg 2004. Zum Stand der Medizintheorie in Spanien zur Zeit von Huarte vgl. Noreña 1972, 212ff.
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selbst sein eigener Führer.“10 Über Suárez hätte Lessing vermutlich nichts Vergleichbares geschrieben. Während Suárez, der Bekanntere, heute weitgehend abgetan zu sein scheint, wird Huartes Vorläuferschaft etwa für die differenzielle Psychologie oder für Versuche, mentalen Funktionen Gehirnregionen zuzuordnen, anerkannt.11 Gleichwohl hat auch Suárez seine Position angesichts und in Kenntnis dieser neuen Strömungen entwickelt und argumentativ verteidigt. Weil Suárez seine Position in einer Zeit entwickelte, die auch so provozierende und modern anmutende Denker wie Huarte hervorgebracht hat, musste er argumentativ auf diese Theorien reagieren und wiederholt nicht einfach nur Vergangenes. Angesicht damals neuester Medizintheorien, die physiologische Grundlagen geistiger Prozesse suchten, versuchte er eine Position zu behaupten, die am Begriff immaterieller Substanzen festhält. Dass eine Analyse des Lachens und der Heiterkeit auf die Auseinandersetzung zwischen eher reduktionistischen, an der Medizin orientierten Positionen und antireduktionistischen bzw. gar mentalistischen, an der Metaphysik und der Theologie orientierten Theorien führen kann, zeigt beispielhaft der Artikel VI der quaestio I des 13. Kapitels im 3. Buch des Coimbricenser De-anima-Kommentars. Die quaestio behandelt die Frage, ob das menschliche Streben von Aristoteles zu Recht in ein intellektuelles und ein sensitives oder sinnliches Streben unterteilt werde (appetitus intellectivus und appetitus sensitivus).12 Diese Differenzierung hängt davon ab, dass intellektuelle Vermögen gegenüber sinnlichen eine gewisse Eigenständigkeit haben. Artikel IV dieser quaestio enthält eine kurze „disputatio de risu“, ein kurzes „Streitgespräch“ über _____________ Lessing 1979, Bd. 8, 420. – Wenn M. Franzbacher in der Einleitung zu seiner Ausgabe der lessingschen Übersetzung schreibt: „Hier werden zum ersten Mal von dem jungen Lessing an einem Beispiel die Inhalte des Genies formuliert, das seiner Zeit und seiner Materie vorauslebt“ (XXXVf.), dann übersieht er, dass diese Charakterisierung nichts anderes als ein Zitat aus Lessings eigener Übersetzung ist, das er nun zur Charakterisierung Huartes verwendet, vgl. Huarte 1968 (zuerst 1752), dt. 89. 11 Vgl. Dieckenhöfer 1978. 12 Der Kommentar bezieht sich bei dieser Unterscheidung auf Aristoteles’ De Anima III, 10, 523: „Declarat quinam appetitus hominem moveat, aiens esse duplicem: superiorem, qui rationem sequitur, & inferiorem, qui phantasiae ductu agitur: id autem probat ex contrariis actionibus circa idem obiectum, quas eodem tempore elicimus.“ – Vgl. auch Toletus 1985 (zuerst 1615/1616), In Lib. III de anima III, q. 26 und 27. 10
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das Lachen. Die Coimbricenser Jesuiten eröffnen diese Disputation mit einem „schönen Zitat“ (pulcher locus) aus Ciceros De oratore (II, 235, 359): Was dabei die erste Frage angeht, was das Lachen an und für sich ist, wie es erregt wird, wo es sitzt, wie es entsteht und so plötzlich hervorbricht, daß wir auch wenn wir den Wunsch haben, nicht an uns halten können, und wie es zugleich den Körper, den Mund, die Adern, die Augen, die Miene ergreift, so mag Demokrit sich darum kümmern.13
Die Jesuiten beginnen also in humanistischer Weise mit einem CiceroZitat, das dem Materialisten Demokrit (den auch Huarte hoch schätzt) die Erklärungskompetenz für das Lachen zuschreibt. Sie fahren jedoch mit einer Auflistung der Umstände fort, unter denen man lacht, um am Ende zu antworten, dass das Lachen, das zwei unterschiedliche Arten der Heiterkeit anzeigen könne (nämlich gaudium und delectatio), zwei Typen von Streben (appetitus) zuzurechnen sei, weil delectatio dem sinnlichen Streben entspringe, gaudium aber mit einem freien Willen höhere intellektuelle Kompetenzen voraussetze. Lachen wird in diesem Kommentar als möglicher Einwand gegen die Einteilung in intellektives und sinnliches Streben Thema, weil es als einheitliches Phänomen gängige Einteilungen zu unterlaufen scheint – und zugleich ist es ein Symptom für die gewandelte Wertschätzung des Lachens, dass von den Coimbricenser Jesuiten gerade dieses Beispiel gewählt wird.
3. Hintergründe: Der Mediziner und der Theologe Theorien fallen nicht vom Himmel. Sie werden von Menschen in ihrem historischen Kontext entwickelt. Bei Juan Huarte de San Juan haben wir es mit einem Vertreter des spanischen Humanismus zu tun, dessen Leben von vielen Brüchen gekennzeichnet war. Man weiß nur wenig über ihn.14 Er stammte wohl aus San Juan del Pie del Puerto, einer Ortschaft in Navarra, doch wanderte die Familie aus Navarra, das an Frankreich fiel, aus und lebte in Huesca und schließlich in Linares (Jaen). In jungen Jahren verlor er also bereits seine Heimat und seine Sprache. Er studierte Latein und Philosophie in Baeza und wechselte dann an die damals berühmte Universität von Alacalá, um Medizin zu studieren. Die Ausbildung selbst war exzellent. Mit Cristóbal de Vega und Francisco Valles herrschte ein _____________ 13 14
Übers. Harald Merklin, vgl. Cicero 1976. Die nachfolgenden Informationen ziehe ich aus De Iriarte 1938, Kap. 1; Read 1981, Kap. 1, sowie García Vega 1998, 9ff.
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durchwegs erfahrungsorientierter Geist. Im Rahmen seiner Studien wurde Huarte auch mit der zeitgenössischen medizinischen Literatur bekannt, die an die Medizintheorie von Hippokrates und Galen anknüpft. Auch kannte Huarte mit großer Wahrscheinlichkeit Juan Luis Vives’ Buch De anima et vita, das umfangreiche Analysen der verschiedensten Affekte enthält. In seinen Analysen des Lachens und der Heiterkeit schließt Huarte zum einen an jene Tradition an, die therapeutisch heilsame Effekte des Lachens analysiert und in Anknüpfung an pseudo-hippokratische Briefe den Typus des Lachenden Philosophen Demokrit propagiert,15 zum anderen kennt er die neuesten anatomischen Untersuchungen, hat medizinische, insbesondere anatomische Praxis und hat sich die Technik genauen Beobachtens und Beschreibens angeeignet. Doch Lachen und Heiterkeit sind nicht nur Gegenstand seiner Theorie. Der Witz spielt auch eine argumentative Rolle bei Huarte. Er lässt seinen Humor spielen, während er sein Buch nochmals überarbeitet, d. h. nachdem sein Buch auf den Index gesetzt wurde und nachdem die Inquisition ihren Forderungskatalog aufgestellt hat: Huarte wurde von einem Professor der Theologie an der Universität Baeza, Alonso Pretel, denunziert.16 Dass Huarte die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele kritisierte, spielte vermutlich nur eine geringe Rolle. Wichtiger war wohl die persönliche Verletzung des Theologen durch Huartes Versuch, unterschiedlichen Wissenschaften unterschiedliche Charakterdispositionen und physiologische Grundausstattungen zuzuordnen. Pretel war allem Anschein nach darüber erbost, dass Huarte die positive Theologie dem Gedächtnis und nicht dem Verstand oder der Vernunft zugeordnet hat. Der Prozess kam letztlich aufgrund persönlicher Eitelkeit in Gang und hat mit der Korrekturliste auch einen vergleichsweise glimpflichen Ausgang gehabt.17 _____________ Vgl. beispielsweise Laurent Jouberts Traité du ris, contenant son essence, ses causes et se mervehleus effets von 1650. Bachtin 1995, 118 weist auf Joubert und die medizinische Forschung an der Universität Montpellier hin, an der die Lehre von der Heilkraft des Lachens in der Tradition Demokrits weiter verfolgt worden sei. Zu Huartes Rezeption des antiken Textes vgl. Rütten 1992, insbesondere 177ff. 16 Huarte wird das Verfahren gegen den Humanisten und Theologen Juan de Vergara (1492–1557), der eine Generation vor Huarte ebenfalls an der Universität von Alcalá gewesen war und dort auch gelehrt hatte, aus Erzählungen gekannt haben, das Homza zum Gegenstand einer eindringlichen Analyse all der kontingenten Faktoren gemacht hat, die dieses Verfahren ausgelöst haben (Homza 2000, Kap. 2). 17 Vgl. De Iriarte 1938, 48f. Ex. (II), 212 zeigt exemplarisch, wie ironisch Huarte auf den Inquisitionsprozess reagiert, während er die Liste getreu abarbeitet. 15
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Vielleicht liefert Huartes Erklärung des demokritischen Lachens zugleich die Erklärung für seinen eigenen Humor in unsicherer Lage: Nach seiner Meinung lachen nämlich Menschen von großem Verstand viel, „weil ein großer Verstand und eine große Einbildungskraft nicht zusammen zu seyn pflegen“ – was Huarte auch von sich selbst diagnostiziert hat.18 Falls die gelegentlich in der Forschung vertretene Auffassung zutrifft, dass Huarte aus einer Familie von conversos stammt (unter Zwang zum Katholizismus übergetretenen Juden), die sich schnell dem Vorwurf des geheimen „Judaisierens“ ausgesetzt sahen,19 war seine Situation hoch prekär – und sein Humor ist umso erstaunlicher. Francisco Suárez trug kein vergleichbares Risiko. Dennoch kennt auch seine Biografie Konflikte und gelegentlich hat auch er mit typischem Humor reagiert. Er studierte in Salamanca zunächst Rechtswissenschaften, dann Theologie. Nach seinem Studium war er in Segovia als Theologieprofessor tätig und bereitete einen Kommentar zu Thomas von Aquin vor. Die Schrift erregte Anstoß unter seinen Ordensbrüdern, weil die Thomas-Auslegung allzu frei und selbstständig war. Der Streit um die freie Lesart des Thomas eskalierte und wurde vor den Ordensgeneral nach Rom getragen. Ein Gutachten von Claudius Aquaviva bestätigte allerdings, dass keine der Thesen von Suárez der katholischen Lehre widersprach. Suárez wurde nach Rom an das Collegium Romanum berufen. Dort hielt er u. a. Vorlesungen über Naturphilosophie. Es ist deshalb anzunehmen, dass Suárez mit dem Stand der Debatten in der Naturphilosophie vertraut war.20 Die Selbständigkeit, die Anstoß erregt hatte, verdankt _____________ Übers. Lessing. Ex. VI, 369: „De aqui se infiere también que los hombres de gran entendimiento son muy risueños por ser faltos de imaginativa; como se lee de aquel gran Demócrito“. 19 Vgl. Read 1981, 19ff. Read nennt Indizien, beispielsweise einen frühen Kritiker Huartes. Jourdain Guibelet hatte Huarte vorgeworfen, in seiner Seele Spuren des Judentums zu haben und spürte im Examen – wie er meinte – „Judaismen“ auf. Die Zurückweisung von Wundern als Erklärungsersatz gilt Read ebenso als Indiz wie auch sein durch Tradition nicht vermittelter Zugriff auf Bibeltexte. Weiterhin werden sein Lob jüdischer Ärzte und seine Erklärung dafür, dass sich unter Juden besondere medizinische Begabungen fänden, als weitere Anzeichen angeführt. Am Beispiel von Juan Luis Vives lässt sich gut illustrieren, wie prekär der Status von conversos war: Als Vives 7 Jahre alt war, wurde sein Vater verhaftet, mehrere Familienmitglieder wurden von der Inquisition verurteilt und hingerichtet, sein Vater 1524, als Vives schon 31 oder 32 Jahre alt war. Seine Mutter, die 1508 gestorben war, wurde ebenfalls angeklagt, verurteilt, und ihr Leichnam wurde exhumiert, verbrannt und zerstreut (vgl. Noreña 1989, 6). 20 Zum jungen Suárez in Rom vgl. Giers 1958. 18
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sich dem Umstand, dass Suárez Theologie und Philosophie auf der Höhe der Zeit betreiben wollte. Das betrifft nicht nur seine politische Philosophie, sondern auch die Teile seiner Theologie, die zu erbittertem Streit geführt haben, also die Gnadenlehre. Suárez vertrat eine ähnliche Position wie Luis de Molina, der für einen radikalen Begriff der Willensfreiheit eintrat (was eben verknüpft war mit der Frage, wie die Gnade überhaupt wirksam werden könne).21 Auch der Katholizismus im Spanien des „goldenen Zeitalters“, das wie eine „geschlossene Gesellschaft“ erscheint, ist in sich heterogen und konfliktreich gewesen. Die feingliedrigen Argumentationen von Suárez berücksichtigen das ganze Spektrum an Positionen und Argumenten und sind nicht frei von ironischen Formulierungen. So zitiert er, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Autor, dessen Position er ausdrücklich nicht teilt, in einer Spezialfrage zustimmend, um ein Argument gegen ihn auf ihn selbst zu stützen (ohne das eigens zu erwähnen).22 Wer die Debatten kannte, wird hierbei geschmunzelt haben. Unterschiede und Gemeinsamkeiten des Humors und Witzes von Suárez und Huarte haben ihren Grund auch darin, dass jeder auf seine Weise eine Art Rationalitätspostulat vertritt: Für Suárez muss Wissenschaft bestimmten Rationalitätsstandards gerecht werden. Endliches, natürliches Seiendes steht einer Erkenntnis, die diesen Standards gerecht wird, prinzipiell offen. Wie zentral dieser Rationalitätsanspruch ist, zeigt sich daran, dass er die Metaphysik in seinen Disputationes Metaphysicae als unabhängig von der Theologie zu entwickelnde Disziplin ansah, die Grundbegriffe zu entwickeln und zu explizieren hatte, die beim Begreifen und Erforschen eines jeden Seienden um der Rationalität willen in Anschlag zu bringen sind (selbst wenn sich die Erkenntnisbemühungen im Fall Gottes auf ein Seiendes beziehen sollten, das sich letztlich entzieht).23 Hintergrund ist ein zum Teil vielleicht unbegründetes Grundvertrauen, dass die durchaus bedrohlich werdenden theologischen Streitigkeiten mit Gründen und Argumenten beigelegt werden können, wenn man die dabei verwendeten Be_____________ Ein Kernproblem bestand darin, dass Gott dem Menschen durch seine Gnade nicht den Glauben eingeben könne, wenn dieser denn tatsächlich in seinem Willen frei sei, da der Mensch dann diese Gnadengabe ablehnen können müsste. Umgekehrt scheint dann aber der Mensch in einem solchen Fall aus eigener Kraft (nämlich durch seinen Willen) Tugend und Heil erlangen zu können – was ebenso problematisch erschien. 22 Es ist Baltazar de Ayala, mit dem Suárez in einer kriegsrechtlichen Frage derartig ironisch umgeht – vgl. dazu Schnepf 2003, 341. 23 Vgl. einführend und mit weiterer Literatur Bauer 2001, 365ff. 21
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griffe hinreichend prüft und schärft. Die Methode und Argumentationsweise von Suárez mit ihrem ewigen Abwägen von Positionen und Argumentationen trägt diesem Rationalitätsverständnis Rechnung. Der scharfe und oft polemische Witz von Huarte ist demgegenüber einer tiefen Skepsis gegenüber allen metaphysischen Erklärungen getragen, die auf Übernatürliches zurückgreifen – eine Skepsis, die durch die Brüche seiner Biografie verstärkt worden sein dürfte. Für ihn ist klar, dass man sich primär an das in den empirischen Wissenschaften erworbene und durch eigenes, skeptisches Nachdenken bewährte Wissen zu halten habe, auch wenn es längst nicht so weit reichen mag, wie es die scholastische Theologie annahm. Hinter dem Humor von Huarte steht ein anderes Rationalitätspostulat, nämlich das des Skeptikers, der sich auf die (medizinischen) Einzelwissenschaften zurückgeworfen sieht.
4. Metaphysik, Natur, Seele – der systematische Ort der Theorie menschlicher Gefühle Die Rede von einem „Naturalismus“ oder einem „naturalistischen Reduktionismus“ ist zunächst so mehrdeutig wie der Naturbegriff. Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Programmen, die Suárez und Huarte jeweils verfolgen, mit solchen Begriffen genauer zu beschreiben, genügt es jedoch, dass „Natur“ einmal als Schöpfung im Unterschied zu Gott dem Schöpfer verstanden werden kann, zum anderen aber auch im Gegensatz zu „geistig“ oder „mental“. „Natürlich“ ist im ersten Sinn grob gesprochen alles, was von Gott geschaffen ist und aus der von Gott geschaffenen Natur erklärt und begriffen werden kann, ohne auf zusätzliche Eingriffe Gottes zu rekurrieren. Im zweiten Sinne gehört hingegen einiges, was im ersten Sinne „natürlich“ zu sein scheint, nicht mehr zur „Natur“ (etwa eine immaterielle Seele). Der „Naturalismus“ von Huarte wird dadurch geprägt, dass nicht die aristotelische Physik, sondern die hippokratische und die galenischen Medizintheorien seine Leitwissenschaft sind. Dabei ist schließlich zu berücksichtigen, dass der zentrale Begriff von „Natur“ in den vorliegenden Texten der der Natur einer Sache bzw. des Menschen oder seiner Seele ist. Diese „Natur“ natürlicher Dinge ist schlicht das interne Prinzip der Sache oder des Menschen, aus dem sich
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zu erklärende Phänomene (wie etwa das Lachen) als Reaktionen auf Umstände oder aber als spontane Hervorbringungen erklären lassen.24 Die unterschiedlichen Naturbegriffe bei Huarte und Suárez ergeben sich aus ihren Vorstellungen rationaler Erklärungen. Einig sind sie sich in der Ablehnung eines jeden (verfrühten) Rückgriffs auf Gott als Ursache zur Erklärung natürlicher Phänomene in der Seelenlehre. Uneinig sind sie sich darin, wie diese von Eingriffen Gottes unabhängige Natur genauer zu bestimmen ist und welche Formen adäquate Erklärungen deshalb annehmen müssen. Natürlich ist es für Huarte in einem von der Inquisition gestrichenen Absatz der „Pöbel“ (la gente vulgar), der bei außerordentlichen oder erstaunlichen Erscheinungen sofort Gott als Ursache vermutet. Die Naturforscher hingegen machen sich darüber lustig (burlan) und können sich mit solchen Erklärungen nicht zufriedengeben, sondern fragen nach den „natürlichen Ursachen“ (causas naturales).25 Die Streichung der Inquisition betrifft den Spott, nicht die Sache von Huarte. Das wird daran deutlich, dass die Begründung und die genauere Erläuterung dieser Behauptungen nicht beanstandet wurden. Eine solche Kritik wäre auch kaum möglich gewesen, bewegt sich Huarte doch damit faktisch auf einem gemeinsamen Boden mit Autoren wie Suárez. Huarte argumentiert nämlich, dass Gott als Erstursache die natürlichen Dinge als Zweitursachen geschaffen habe. Für den Naturforscher komme es darauf an, die Ordnung der Zweitursachen zu untersuchen, um ein Phänomen zu erklären. Der „Pöbel“ rede so, wie er redet, weil er nicht in der Lage ist, genau zu unterscheiden, welche Wirkung er natürlichen Zweitursachen und welche er unmittelbar Gottes Wirken zuschreiben muss. Man müsse aber davon ausgehen, dass Gott in den von ihm eingerichteten natürlichen Lauf der Dinge nur eingreife, wenn er seine Lehre bekräftigen und Ungläubige überzeugen will (also wenn er Wunder wirkt). Huarte versteht unter „Natur“ also nichts anderes als die von Gott eingesetzte Ordnung.26 Dass Huarte in _____________ Vgl. zum Hintergrund spätscholastischer Naturphilosophie und zur spätscholastischen Seelenlehre Des Chene 1996 und 2000. 25 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ex. II (IV), 234ff. – Zu Huartes „Naturalismus“ vgl. Noreña, 1972, der allerdings den Ausdruck eher unspezifisch verwendet. Den Versuch von De Iriarte 1938, die Rede von einem „Naturalismus“ bei Huarte zu vermeiden, halte ich für einen fehlgeschlagenen Entschärfungsversuch dieses radikalen Ansatzes. 26 Ex. II (IV), 240: „Naturaleza […] es el nombre del orden y concierto que Dios tiene puesto en la compostura del mundo para que sucedan los effectos que son necesarios para su conversación“, wobei sich Huarte auf Aristoteles bezieht. Es 24
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diesem Rahmen unkonventionelle Akzente setzt, zeigt sich daran, dass er sich auch auf Demokrit beruft, um sein Programm der Erforschung natürlicher Ursachen plausibel zu machen. Es ist der Bericht in den Briefen des Pseudo-Hippokrates über einen Besuch des Arztes beim als verrückt geltenden Lachenden Philosophen, auf den er dabei anspielt: Der Arzt wie der materialistische Philosoph machen sich über den Pöbel lustig, der jede Genesung dem unmittelbaren Wirken Gottes zuschreibt statt den natürlichen Ursachen.27 In diesem Rahmen sucht Huarte nach gesetzesartigen Zusammenhängen beispielsweise zwischen der Mischung der vier Säfte einerseits und bestimmten Charakterzügen andererseits. Der theologische Rahmen eröffnet und sichert so das Feld empirischer Forschung. Die spezifische Form des Naturalismus wie auch der implizite Determinismus ergeben sich bei Huarte aus seinem methodischen Ansatz, nicht aus grundlegenden philosophischen Argumentationen. Wie entfernt Huarte und Suárez sich in diesem gemeinsamen Rahmen sind, macht eine Formulierung deutlich, die sich bei beiden findet, und die geradezu konstitutiv für die Begründung autonomer Naturwissenschaften in theologischem Rahmen zu sein scheint.28 In einem späteren Kapitel schreibt Huarte: „[…] pero yo siempre tengo entendido que Dios se acomoda a los medios naturales quando con ellos puede hacer lo que quiere, y lo que falta la Naturaleza lo suple con su omnipotencia“ (Ex. XII (XIV), 512). Dass Gott sich seinen Mitteln (also den natürlichen Dingen) anpasst, bedeutet mit anderen Worten, dass nicht mit Wundern zu rechnen ist. Die Formel entspricht genau einer Passage aus den Disputationes Metaphysicae des Francisco Suárez, doch hat sie dort durch den veränderten Diskussionszusammenhang eine ganz andere Bedeutung. Suárez untersucht in der 22. Disputation, sec. 4 das Zusammenwirken zwischen Gott und den mit eigener Kausalität ausgestatteten natürlichen Dingen, und auch er behauptet eine Anpassung Gottes an die natürlichen Dinge: „Deus ita cum illis concurrit ut sese accomodet unicuique iuxtam eius indigentiam“
_____________ folgt ein Passus, in dem Huarte die naturrechtlichen Gesetze Gottes mit den Gesetzen vergleicht, mit denen er die Natur beherrscht. 27 Natürlich hat die Inquisition auch diesen Bezug beanstandet, allerdings geglaubt, ihn durch Kürzungen entschärfen zu können, ohne ihn ganz zu streichen. 28 Vgl. Des Chene 1996, 219, der knapp auf die Rolle hinweist, die ConcursusTheorien bei der Legitimierung relativ theologieunabhängiger Naturwissenschaften spielten.
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(DM XXII, sec. 4, nr. 8).29 Dabei ist es allerdings entscheidend, dass für einen Autor wie Suárez zu den natürlichen Umständen, denen sich Gott in seinem unterstützenden, Natur mitkonstituierenden Handeln anpasst, die menschliche Freiheit gehört. Freiheit ist aber für Suárez Willensfreiheit und setzt voraus, dass die Seele, deren eines Vermögen ein freier Wille ist, nicht vollständig durch Körperfunktionen und Verstandesüberlegungen determiniert wird. Im umfangreichen Prooemium seines De-animaTraktats begründet Suárez ausführlich, warum die Seelenlehre trotz der Immaterialität der vernünftigen Seelenteile der Physik bzw. Naturlehre zuzurechnen ist, und nicht der Metaphysik. Die gesamte Seele (einschließlich der Vernunft und des freien Willens) mache die eine Form des Körpers aus,30 wobei Suárez diesen Punkt am Beispiel des körperlichen Lachens illustriert, das eben auch aus der vernünftigen (immateriellen) Seele hervorgehe.31 Selbst wenn Huarte und Suárez ähnliche Formeln verwenden und sich der gleichen Strategie bedienen, um die Natürlichkeit der Schöpfung in ihrer relativen Autonomie zu denken, so gewinnen diese Formulierungen doch dadurch unterschiedliche Bedeutung, dass die so autonom gedachte Natur ganz anders begriffen wird – Demokrit hätte Suárez als Kronzeuge eher fern gelegen. Die Differenzen zwischen Huarte und Suárez in der Frage, wie die relativ autonome Natur zu denken und zu erkennen ist, werden noch deutlicher, wenn man sich ansieht, wie sie jeweils den Begriff der Natur eines Dinges bzw. der substanziellen Form bestimmen. Das entscheidende Argument findet sich bei Huarte unmittelbar im Anschluss an seine Überlegungen zum Naturbegriff im Allgemeinen. Unter der substanziellen Form verstehe man, so Huarte in Übereinstimmung mit der Tradition, dasjenige, das einer Sache ihr spezifisches Sein gibt und das Prinzip aller ihrer Handlungen oder Aktionen ist: „[…] que da ser a la cosa y es principio de todas su obras“ (Ex. II (IV), 224). In diesem Sinne sei die Natur des Menschen mit seiner rationalen Seele identifiziert worden. Im Kontext des von Huar_____________ Eine analoge Formulierung findet sich auch in Molinas Concordia, q. XIV, dist. xxvi, 157: „ […] ita se accomodare et quasi attemperare suum influxum atque ei modo auxilium ac iuuamen illis conferre […] ut operationibus et effectus essent proprii earum, quod in creaturarum dignitatem redundabat.“ (Molina 1953) 30 DA, Prooemium: „Ex quibus probatur intentum, nam homo est simpliciter ens naturale constans ex vera materia et forma, quae comprehenditur sub objecto Physicae; ergo et anima rationalis, quae est forma ipsius hominis, ut rationalis est.“ 31 Ibid.: „Item, ridere et huiusmodi passiones sunt materiales, et tamen procedunt ab anima rationali ut sic, quia non conveniunt nisi soli homini.“ 29
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te verfolgten Projektes sei dieser Begriff der substanziellen Form jedoch unnütz. Wenn man sich nämlich frage, worin die unterschiedlichen Begabungen einzelner Menschen für die Wissenschaften bestehen, dann genüge der Rückgriff auf die substanzielle Form nicht, weil die vernünftige Seele, für sich genommen, in allen Menschen gleich sei: Y, asi, el mesmo Aristótele buscó otra significación de Naturaleza, la cual es razón y causa de ser del hombre habil o inhabil, diciendo que el temperamento de las cuatro calidades primeras (calor, frialdad, humiad y sequedad) se ha de llamar naturleza, porque de ésta nacen todas las habilidades del hombre, todas las virtudes y vicios, y esta gran variedad que vemos de ingenios. (Ex. II (IV), 244)32
An die Stelle der vernünftigen Seele tritt das Temperament als die je individuelle Mischung von Hitze, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, um die Dispositionen eines Menschen einschließlich seiner Tugenden und Laster zu erklären. Die aristotelische Terminologie der Seelenteile wird von Huarte zwar noch verwendet, ihr kommt aber im Kontext kausaler Erklärungen menschlicher Dispositionen und Handlungen keine größere Bedeutung zu. Nicht nur der freie Wille ist damit unter der Hand verschwunden, mehr noch wird deutlich, dass es in diesem Ansatz keinen Sinn hat, nach dem Wesen der Seele zu fragen und von dieser Wesensbestimmung ausgehend die einzelnen Phänomene zu erklären.33 Huarte schließt darin an Juan Luis Vives an, der in De anima et vita erklärt hat, es käme nicht auf eine Erkenntnis des Wesens der Seele an.34 _____________ Die Sprengkraft dieser Formulierung hat die Inquisition deutlich gemacht, indem sie den Satz fast vollständig akzeptiert, aber auf einer Streichung der Worte „todas las virtudes y vicios“ bestanden hat. Zum einen sind Tugend und Laster in ihren Augen letztlich nicht aus den physiologischen Anlagen (der Temperierung) zu erklären, sondern nur im Rückgriff auf den freien Willen (sonst wäre ja Zurechnung nicht möglich); zum anderen bedürfen zumindest die theologischen Tugenden der göttlichen Gnade und sind aus der Natur des Menschen nicht zu erreichen. Es sind Einschübe wie dieser von der Inquisition beanstandete, in denen die Radikalität des Ansatzes von Huarte deutlich wird. 33 Huartes Position in diesen Fragen ist nicht einfach zu erkennen. In der zweiten Auflage fügte er ein Kapitel ein (Kap. V), das untersucht, inwieweit das Temperament die Klugheit und die Moralität der Menschen bestimmt. Hier wird offiziell die Position Galens, dass die Gewohnheiten und Vermögen der rationalen Seele den Temperamenten des Körpers entsprächen, mit aristotelischen Argumenten widerlegt. Doch nach dieser „Widerlegung“ setzt Huarte sein an Galens Thesen orientiertes Programm ungeniert fort – vgl. dazu Noreña 1972, 258ff. 34 Vgl. Vives, De Anima et Vita, Lib. I, 12 (ders. 1974): „Anima quid sit nihil interest nostra scire: qualis autem et quae eius opera permultum.“ Vgl. Sancipriano 1981, 64ff. 32
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Dieses Argument von Huarte – die Konzeption einer uniformen Vernunft könne die Individualität gar nicht erklären – ist isoliert genommen erschütternd schwach. Vertreter der Tradition könnten erwidern, gerade die Annahme eines freien Willens und einer immateriellen Vernunft ermögliche es, auch den Erwerb unterschiedlicher Habitus und damit unterschiedlicher Dispositionen für Wissenschaften zu erklären, insbesondere aber auch Tugenden und Laster. Wer aus freiem Entschluss eine Ausbildung abbreche oder ständige Übung verweigere, erwerbe eben nicht die personalen Kompetenzen, die für bestimmte Wissenschaften hinreichend sind. Die Voraussetzung dieses Gegenarguments besteht allerdings darin, dass Teile der Seele oder die Seele selbst eine Art Eigenaktivität entwickeln können, die sich des Körpers beispielsweise als Werkzeug oder Instrument bedient, ohne jedoch von körperlichen Vorgängen oder Zuständen ausgelöst zu sein. Ein Autor wie Suárez muss sich deshalb durch die Argumentation von Huarte nicht gezwungen sehen, seine Position aufzugeben. Doch hängt diese Reaktion auf Huartes Argumentation davon ab, ob es gelingt, eine plausible Konzeption der Seele zu verteidigen, in der beispielsweise ein freier Wille und eine entsprechend aktive Vernunft begriffen werden können. Es ist deshalb konsequent, wenn Suárez in der ersten disputatio von De anima die Frage nach der Seele im Allgemeinen ausführlich diskutiert und in der zweiten disputatio die drei Typen von Seelen – die vegetative, die sensitive und die rationale (dem Menschen eigene) – analysiert. Funktion dieser Eröffnungsdisputationen ist es nicht, die von Vives explizit und von Huarte implizit zurückgestufte Quid-sit-Frage in dem Sinn zu beantworten, dass die Erforschung empirisch nachweisbarer Regularitäten und Zusammenhänge überflüssig würde. Es geht vielmehr darum, den begrifflichen Rahmen zu etablieren, in dem empirische Daten vor dem Hintergrund einer Eigenaktivität der Seele interpretiert werden müssen.35 Suárez bedient sich dazu der aristotelischen Terminolo_____________ 35
Tatsächlich liegt die entscheidende Differenz zur Galen’schen Tradition, in der Huarte steht, noch tiefer, wie Suárez’ Behandlung der Frage „quid sit anima“ in der quaestio 1 der 1. disputatio (Utrum anima sit actus tamquam vera forma substantialis) deutlich macht: Suárez nennt dort neben den Thesen der atomistischen Vorsokratiker explizit Galens Ansatz („animam esse temperiem seu proportionem humorum“), der behauptet hat, die Seele sei keine Substanz sondern ein Akzidenz des Körpers. Suárez ordnet dieser Auffassung auch einige Autoren des Humanismus zu. Sein entscheidendes Argument ist, dass das Prinzip der vollkommensten körperlichen Operationen kein Akzidenz sein könne. Wichtig ist, das sich daraus kein strikter Substanzendualismus ergibt, sondern der Begriff der Seele als unvollständiger Substanz einer aus Körper und Seele zusammengesetz-
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gie, etwa wenn er definiert: „Anima est actus primus corporis physici organici potentiam vitam habentis“ (DA, D1, praef. – vgl. D1, q. 6). Dabei bestimmt er das Verhältnis zwischen diesem Akt, der die Seele ist, und dem Körper als ein instrumentelles, die Organe sind gleichsam die Instrumente des Körpers. Wie auch immer man diese Theorie im Einzelnen zu deuten hat, sie begründet eine tiefe Differenz zum Ansatz von Huarte: Die Seele erschöpft sich nicht in ihren organisch-physiologischen Manifestationen. Die funktionale Betrachtung, die Huarte in den Mittelpunkt stellt, reicht deshalb nicht hin, die Seele zu erfassen, weil die Seele (als Aktus) prinzipiell mehr ist als die Summe ihrer tatsächlichen Manifestationen in organischen Handlungen. Gelänge es Suárez, im Rückgriff auf die Metaphysik seiner Disputationes Metaphysicae das grundlegende Vokabular etwa von Akt und Potenz stabil zu rechtfertigen und dann überzeugend auf das Problem des Verhältnisses von Seele und Körper anzuwenden, hätte er einen theoretischen Rahmen, der es zwar gestattet, sämtliche empirischen Beobachtungen Huartes zu akzeptieren, ohne jedoch die problematischen Schlüsse im Blick auf die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens ziehen zu müssen.
5. Lachen und Heiterkeit bei Huarte und bei Suárez Vor diesem Hintergrund erschließen sich die Affekttheorien von Huarte und Suárez genauso wie ihre besonderen Analysen des Lachens und der Heiterkeit. Es ist aufgrund des methodischen Ansatzes nur konsequent, wenn Huarte – der an keiner Stelle eine Affektenlehre in ihrem systematischen Zusammenhang vorträgt – den ganzen Bereich der Gefühle und Emotionen primär im Blick auf die Disponiertheit zu bestimmten mentalen Ereignissen hin untersucht. Den Kern seiner Überlegungen zu Gefühlen und Stimmungen bildet seine Annahme, zwischen der Mischung der Temperamente und einer Geneigtheit, bestimmte Grundstimmungen zu haben bzw. in bestimmten Situationen bestimmte Affekte zu haben, bestehe ein statistischer Zusammenhang, wenn nicht gar eine strikte Regularität. Huarte macht an verschiedenen Stellen auf solche Zusammenhänge aufmerksam, etwa wenn er den Zusammenhang zwischen Trauer und Freude einerseits und Mangel an Einbildungskraft oder Verstand anderer_____________ ten vollständigen Substanz – eine analoge Auseinandersetzung mit der Galen’schen Tradition findet sich auch im De-anima-Kommentar von Franciscus Toletus, 2, c 1, q. 1; vgl. dazu Des Chene 2000, 69ff.
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seits untersucht. So schreibt er, dass die Anfechtung, die Traurigkeit, die Betrübnis das Gehirn und die Knochen austrocknen, wodurch der Verstand schärfer werde (Ex. V (VIII), 332f./dt. 77). Umgekehrt mache die Freude (alegría) das Gehirn feucht und den Verstand schwach (Ex. V (VIII), 333/dt. 78). Der Zusammenhang zwischen Stimmungen und intellektuellen oder kognitiven Kompetenzen wird ausschließlich über den physiologischen Zustand des betreffenden Menschen hergestellt. Huarte zieht daraus spöttisch die Konsequenz: So könne man erklären, warum Gelehrte, die lange Zeit in bitterer Armut traurig gewesen seien (was ihren Verstand geschärft habe), dann, wenn sie zu Amt und Würden gelangt seien, ihr Verhalten so auffällig änderten. Das komme daher, dass sich durch den neuen Lebenswandel die Mischung ihrer Säfte verändert habe (Ex. V (VIII), 333/dt. 78).36 Mit dem Anritt des Amtes hätten sie deshalb meist den Gipfel ihrer Leistungsfähigkeit überschritten. Heiterkeit (alegría) ist in diesen Zusammenhängen also als Ausdruck einer bestimmten Disposition zu verstehen, der eine Grundstimmung entspricht und die vollständig in einer organischen Basis, der Mischung der Temperamente, fundiert ist und in bestimmten Situationen unter bestimmten Umweltreizen fast automatisch aktualisiert wird. Die ausführlichste Analyse des Lachens (im Unterschied zur Heiterkeit als einer Disposition) findet sich in Kap. VI (Ex. VI (IX), 367ff./dt. 106). Der Ausgangspunkt ist hier, dass hinsichtlich der Ursachen des Lachens zwar alle darin übereinstimmten, dass das Blut derjenige der vier Säfte sei, der den Menschen zum Lachen anrege, die genaue Art und Weise, in der das geschehe, jedoch unklar geblieben sei. Huartes Kausalanalyse des Lachens geht nun davon aus, dass die Einbildungskraft (la imaginativa) einem passenden Eindruck zustimme.37 Die Einbildungskraft habe im Gehirn ihren Sitz, sodass ihre Handlungen oder Aktivitäten das Gehirn bewegen, letztendlich die Muskeln des gesamten Körpers. Indiz dafür sei beispielsweise das fast automatische zustimmende Nicken bei _____________ Noch deutlicher wird die fundierende Rolle der Physiologie bei einer kurzen Bemerkung zum Zorn: Wenn jemand eine Beleidigung erfahre, dann trete das Blut zum Herzen, reize das zornmütige Vermögen und gebe Feuer und Kraft, sich zu rächen (Ex. III (VI), 290/dt. 38). 37 Ex. V (VIII), 368: „La causa de risa no es otra, a mi parece, más que una aprobacíon que hace la imaginativa viendo y oyendo algún hecho o dicho que cuadra muy bien […]“. – Natürlich ist diese Passage extrem interpretationsbedürftig, insbesondere, was „Zustimmung“ (aprobación) und was „passend“ (cuadra) hier bedeuten sollen. 36
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scharfsinniger Rede. Eine ausgeprägte Einbildungskraft vergnüge sich (se contenta) nicht bei allen passenden Eindrücken gleichermaßen, weshalb Menschen mit großer Einbildungskraft nur selten lachten. Es bestehe deshalb ein Zusammenhang zwischen der Ausprägung der Einbildungskraft und der Häufigkeit des Lachens. Blut nun, weil es viel Feuchtigkeit habe, verderbe die Einbildungskraft, weshalb Sanguiniker so viel lachten. Zum einen nimmt Huarte also einen Kausalmechanismus an, der von Hirnbewegungen zu den Körperbewegungen führt, die das Lachen ausmachen (und die schon Demokrit analysiert hatte); zum anderen bestimmt die Mischung der Säfte, in welchen Situationen jemand lacht, und in welchen nicht. Die besondere Mischung der Säfte, von der auch die kognitiven Kompetenzen einer Person abhängen, entspricht im Großen und Ganzen derjenigen, die an anderer Stelle Heiterkeit als Disposition und Grundstimmung ausmacht. Fragt man sich, ob man (im Ereignissinn) nach Huarte heiter sei, weil man lache, oder lache, weil man heiter sei, wird man vermutlich sagen müssen, man sei heiter, weil man über eine bestimmte körperliche Disposition verfüge, die sich in bestimmten Situationen im Lachen und begleitenden Affekten äußere. Weil das Temperament, das den Verstand fördert, zugleich die Einbildungskraft schwächt, sodass ihm vieles als „passend“ erscheint, ergibt sich für Huarte durchaus folgerichtig, dass Menschen von großem Verstand häufig lachen – wobei Huarte wieder auf Demokrit verweist. Aufgrund der ganz anderen Voraussetzungen, analysiert Suárez die Phänomene von Lachen und Heiterkeit völlig anders. Der systematische Kontext ist dabei fast derselbe wie derjenige der Disputation De risu im Coimbricenser De-anima-Kommentar: Dort war die Einteilung des Strebens in einen appetitus sensitivus und einen appetitus intellectivus strittig; hier wird in der quaestio 2 der 11. Disputation der appetitus sensitivus genauer analysiert, und zwar seine spezifischen Handlungen („Quotnam sint et quales actus appetitus sensiviti“). Dabei bemerkt Suzárez, dass diese Handlungen allgemein „passiones“ genannt würden, sofern mit ihnen zeitgleich eine materielle passio im Körper auftrete.38 Gegen eine, durch den Ausdruck nahegelegte, abwertende Auffassung der Affekte betont er, dass der Ausdruck „passio“ zwar oft in negativer Bedeutung für schlechte und ungeordnete Affekte (perturbationes) verwendet würde, hier aber von ihm in einem hin_____________ 38
DA, D11, q. 2, nr. 1: „In qua re 10 notandum est huiusmodi actus communiter vocari passiones, quantum simul cum illis excitatur aliqua passio materialis in corpore, ut accesio illa sanguinis in cor.“
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sichtlich gut und schlecht indifferenten Sinn verwendet werde.39 Da Suárez die traditionelle Unterscheidung zwischen dem begehrenden und dem zornmütigen Vermögen des sensitiven Strebens aufnimmt, differenziert er konsequent auch zwei Typen von passiones. Unter die ersteren zählt er amor, desiderium, odium, fuga, delectatio et tristitia (DA, D11, q. 2, nr. 2).40 In diesem Kontext behauptet Suárez nun, dass die delectatio bzw. die Heiterkeit als Akt der Seele im Körper das Lachen verursache. Er beginnt seine Untersuchung des Lachens (wie schon der Coimbricenser Kommentar durch sein Cicero-Zitat) mit einer rein physiologischen Beschreibung des somatischen Phänomens als einer Muskelbewegung.41 Suárez wirft nun schlicht die Frage auf, ob die Heiterkeit genüge, um das Lachen zu verursachen. Diese Frage ist insofern relevant, als hier andere mögliche Faktoren als diejenigen des sinnlichen Strebens in Betracht gezogen werden müssten. Dabei setzt sich Suárez mit der medizinischen Fachliteratur auseinander: Er führt einerseits den Mediziner Valleriola an, der die These vertreten habe, dass die Heiterkeit eine hinreichende Ursache für das Lachen sei, und andererseits den Mediziner Francisco Valles, der die Gegenthese vertreten habe, dass neben der Heiterkeit noch ein Moment der Verwunderung (admiratio) notwendig sei. Franscisco Valles hat in Alcalá gewirkt und war dort zu Zeiten des Studiums von Huarte Professor für Medizin.42 Suárez versucht offenbar auf die medizinische Fachliteratur seiner Zeit einzugehen und dem aktuellen Stand der Forschung seiner Zeit Rechnung zu tragen. Die Kausalanalyse des Lachens ergibt sich bei Suárez also aus einer Auseinandersetzung mit der medizinischen Fachliteratur seiner Zeit. In scholastischer Manier diskutiert er Valleriolas Argumente für die These, Heiterkeit sei die adäquate und hinreichende Ursache für das Lachen. Die_____________ Vgl. beispielsweise zur Dimension der Affektivität im religiösen Erleben nach Suárez die Studie von Konermann 1966. 40 Suárez entwickelkt hier eine Art Schema der Leidenschaften, nach dem amor und desiderium auf ein zukünftiges Gut, gaudium und delectatio hingegen auf ein gegenwärtig genossenes bezogen seien: Daher seine Definition von gaudium und von delectatio: „Ex hoc autem amore oritur in appetitu motus quidam in rem amatam, quo appetit illi conjungi, et haec est desiderium. Habita autem re, in illa vitaliter et affectuose quiescit, et haec quies gaudium seu delectatio dicitiur“. 41 DA, D11, q. 2, nr. 8: „Circa risum est notandum illum proxime consistere in vibratione quzadamn septi transversi et musculorum thoracis et oris. Qui mutus causatur ex alique uinteriori animi motione.“ 42 Vgl. Read 1981, 15. Suárez verweist an dieser Stelle auf Valles’ Controversiarum medicarum et philosophicarum libri decem von 1556. 39
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ser hatte sich darauf berufen, dass das Kitzeln Heiterkeit und damit Lachen verursache. Dagegen spielt Suárez den weitgehend zutreffenden empirischen Befund aus, dass Kitzeln nur dann Lachen verursache, wenn es heimlich und überraschend erfolge, und damit nicht nur Heiterkeit, sondern auch Überraschung und Verwunderung über das plötzliche Neue verursache.43 Doch selbst damit begnügt sich seine Kausalanalyse nicht. Vielmehr versucht er eine Liste von insgesamt hinreichenden Bedingungen dafür aufzustellen, dass jemand in Lachen ausbricht. Neben admiratio und gaudium gehört zu diesen Bedingungen für Suárez auch, dass der Gegenstand, über den oder anlässlich dessen gelacht wird, ein witziger und leichter sei (de re iocosa et gracili) und dass die Verwunderung nicht zu vehement sei (weil sie sonst eher Erstarren als Lachen verursache) (DA, D11, q. 2, nr. 10). Die Schlüsselfrage, wie aus gaudium bzw. delectatio und admiratio das Lachen entstehe, beantwortet Suárez durch einen unscheinbaren, aber zentralen Begriff, den der natürlichen Zusammenstimmung der natürlichen Vermögen, nämlich der lebendigen und der rationalen.44 Die Verwunderung muss eine Handlung des rationalen Teils der Seele sein, die Heiterkeit ist hingegen ein Akt der sensitiven Seele. An dieser Antwort ist dreierlei wichtig: Zunächst, dass beide beteiligten Vermögen gemäß dem Naturbegriff von Suárez natürliche sind; dann, dass ihre Zusammenstimmung, die alleine die somatischen Ursachen des Lachens auslöst, ebenfalls eine natürliche ist; und schließlich, dass selbst das körperliche und impulsive Lachen in den Einzugsbereich der menschlichen Freiheit fällt.45 Damit fällt das Lachen in den Regelungsbereich der normativen praktischen Philosophie. Von hieraus erschließt sich, dass die scheinbar nur medizinische, empirisch zu beantwortende Frage, ob die Überraschung bzw. die Verwunderung zu den Ursachen des Lachens gehöre, in gewisser Hinsicht entscheidend ist: Wenn das empirische Argument stimmt, dass Überraschung zu den notwendigen Bedingungen für das Lachen gehört, und wenn ferner das theoretische Argument stimmt, _____________ Nur „weitgehend“, weil man ja manchmal in albernen Situationen schon dann in Lachen ausbricht, wenn man den anderen zum Kitzeln bereit auf sich zukommen sieht. 44 DA, D11, q. 2, nr. 10: „Queres, quomodo ex admiratione et gaudio sequatur motio in septo transverso, atque adeo risus. Respondetur id provenire ex naturali consensione istarum facultatum naturalium, vitalium et rationalium.“ 45 DA, D11, q. 2, nr. 10: „Ex quo colligitur passionem hanc animae esse liberam et depenentem a voluntate, aliquando vero esse tam vehementem ut vix cohiberi possit, vel ratione obiecti plurimum moventis ex levitate hominis qui facile movetur.“ 43
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dass admiratio ein Vermögen der rationalen Seele voraussetzt, die Willensfreiheit impliziert, dann kann Lachen nicht nur als notwendiges Resultat körperlicher Dispositionen und situativer Umstände verstanden werden – wie es die Analysen von Huarte nahegelegt haben. Der unterschiedliche methodische Zugriff, der die Analysen von Lachen und Heiterkeit bei Huarte und Suárez kennzeichnet, führt so am Ende zu einer weiteren Differenz: Während für Suárez das Lachen in den Bereich einer normativen Ethik fällt und Bemerkungen wie die, dass der Weise wenig lache, auch einen präskriptiven Charakter tragen, steht Huarte in der Tradition derer, die deskriptiv bestimmte Zusammenhänge zwischen Charakteren, Dispositionen und Lachen notieren. Das bedeutet freilich nicht, dass nur Suárez die Konsequenzen der Affekttheorie für die Ethik und die Sozialphilosophie im Auge gehabt hätte. Vielmehr zielt auch Huartes Projekt einer konsequenten Naturalisierung der Affekte auf praktische Konsequenzen, nämlich auf die Anerkennung auch des impulsiven Lachens als natürlicher Reaktionsweise und die Einsicht in den Zusammenhang zwischen Lebenswandel, Temperament und Verhalten. Praktische Fragen stellen sich ihm weniger unter normativem als vielmehr unter diagnostischem und therapeutischem Blickwinkel. Das ist vielleicht der Punkt, an dem die Bandbreite unterschiedlicher Ansätze, die bereits im Spanien des 16. Jahrhunderts entwickelt worden sind, am deutlichsten wird.
Literatur Die Schriften von Huarte und Suárez werden mithilfe von Siglen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Zu Huarte: Die römischen Ziffern geben das Kapitel aus dem Examen von 1574 (von 1594) an, die römischen Zahlen die Seiten. Ex. DM DA
– Huarte, Examen de ingenios para las sciencias – Suárez, Disputationes Metaphysicae – Suárez, De anima
Bachtin, Michail (1995), Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a. M. Bataillon, Marcel (1991), Èrasme et l´Espagne: Novelle édition en trois volumes, Genf. Batllori SJ, Miquel (1981), Joan-Lluís Vives in der Geschichte der aragonischkatalanischen Renaissance, in: August Buck (Hg.), Juan Luis Vives. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 6. bis 8. November 1980, Hamburg, 71–80. Bauer, Emanuel J. (2001), Franciscus Suárez (1548–1617): Scholastik nach dem Humanismus, in: Andreas Graeser (Hg.), Große Philosophen, Darmstadt, 362–377.
Huarte de San Juan und Suárez: Lachen im spanischen Humanismus
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Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592) François de La Rochefoucauld (1613–1680)
Montaigne und La Rochefoucauld: Emotionen in der Moralistik Markus Wild 1. Wer und was sind die Moralisten? Als „Moralisten“ werden eine Reihe französischer Schriftsteller und Philosophen des 16. bis 18. Jahrhunderts bezeichnet.1 Zu den klassischen Autoren der französischen Moralistik gehören Michel de Montaigne (1533– 1592), François de La Rochefoucauld (1613–1680), Blaise Pascal (1623– 1662) und Jean de La Bruyère (1645–1696).2 Die Moralisten gelten als Autoren je eines Buchs, das zugleich eine je neue literarische Form erschafft: Montaigne ist Autor und Erfinder der Essais (1580), La Rochefoucauld der Maximes (1665), Pascal der Pensées (posthum 1670) und La Bruyère der Charactères (1688). Äußerlich lassen sich die Moralisten an diesen literarischen Formen erkennen. Bei ihren Werken handelt es sich um Sammlun_____________ 1
2
Die Moralistik ist jedoch ein über den französischen Kontext hinausweisendes Phänomen, denn sie knüpft sowohl bei Denkern der Antike an, insbesondere bei den Stoikern, als auch bei Autoren der italienischen Renaissance wie Machiavelli oder Castiglione. Moralistische Autoren finden sich in Spanien – etwa in der Gestalt von Baltasar Gracián – oder in England, vertreten durch Francis Bacon; vgl. Balmer 1981, 69–85; Zimmer 1999, 24–35, 47–69. In Deutschland wurde diese moralistische Tradition durch Lichtenberg, Schopenhauer, Nietzsche sowie Canetti aufgenommen und weitergeführt; vgl. Kruse 2003, 246–262; Balmer 1981, 127–180; Zimmer 1999, 117–155. Die Tradition der Moralistik wurde in der französischen Aufklärung fortgesetzt, die literarischen Formen erweitert. Exemplarisch: Nicolas Chamforts Maximes et pensées, charactères et anecdotes (franz. zuerst 1796). Die Bezeichnung geht auf die 1820 erschienene Collection de Moralistes francais von Amaury Duval zurück. Eine neue Textsammlung ist Lafond 1992. Gesamtdarstellungen zur Moralistik bieten Balmer 1981, Stackelberg 1982, Zimmer 1999, Parmentier 2000. In French Moralists. The Theory of the Passions 1585–1649 (Levi 1964) behandelt Levi weitere und anders orientierte Autoren, als die klassischen Moralisten (etwa Franz von Sales, Jean-Pierre Camus, Nicolas Coëffeteau oder Marin Cureau de la Chambre), sodass seine Thesen die Moralistik im engeren Sinne aus den Augen verlieren.
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gen vorwiegend kurzer Textformen, die auf den ersten Blick unsystematisch und wie zufällig angeordnet wirken.3 Margot Kruse bringt wesentliche Züge der Moralistik auf den Punkt: Die französischen Moralisten sind nicht Moralphilosophen oder Schriftsteller, die die Moral ihrer Zeit in normativer Absicht kritisieren, sondern Autoren, die die Sitten der Menschen beobachten, ihr eigenes Verhalten und das ihrer Umwelt analysieren. Über das Wesen des Menschen und die Motive seines Handelns nachdenken und ihre Reflexionen in unsystematischer, dem Gegenstand der Beobachtung angemessener Form zur Darstellung bringen.4
Descartes zog es vor, eher im großen Buch der Welt als in Büchern zu lesen, Moralisten ziehen dem Bücher- das Menschenstudium vor.5 Im Fokus steht der Mensch in seinen Selbst- und Fremdverhältnissen.6 Moralisten hegen Zweifel am Bild des Menschen von sich selbst. Ohne große Abstriche kann auf sie jene Formel angewendet werden, die Paul Ricoeur auf Marx, Nietzsche und Freud angewendet hat: „Meister des Verdachts“.7 Das Bewusstsein der Menschen (von sich und anderen) wird als falsches Bewusstsein verdächtigt. Die Verdachtsmeister führen gleichsam den cartesischen Zweifel weiter. Am Anfang der Meditationen zweifelt Descartes an den Objekten der Außenwelt: Es könnte sein, dass die gesamte Außenwelt eine große Täuschung ist. Und es ist mit einiger Sicherheit so, dass die Objekte ganz anders beschaffen sind, als sie unseren Sinnen erscheinen. Die Moralisten nun wenden diesen Zweifel auf das Bild des Menschen von sich selbst an: Es könnte sein, dass dieses Bild Selbsttäuschung ist. Und es ist mit einiger Sicherheit so, dass wir uns ganz anders erscheinen, als wir tatsächlich sind. So sind Moralisten grundsätzlich skeptisch.8 Eine Tendenz zu demaskieren, zu decouvrieren und zu desillusionieren steht im Vordergrund.9 La Rochefoucauld etwa führt Charaktereigenschaften, Tugenden oder Leidenschaften auf das basale Faktum der Eigenliebe (amour-propre) zurück. Bei Montaigne erscheint der Mensch als _____________ 3 4 5
6 7 8 9
Zu den Textformen vgl. Parmentier 2000, 199–260. Kruse 2003, 1. Vgl. Descartes’ Einleitung zum Discours de la méthode. La Rochefoucauld schreibt: „Il est plus nécessaire d’étudier les hommes que les livres.“/„Es ist nötiger die Menschen zu studieren als die Bücher.“ (M 550) Vgl. Stackelberg 1982, 7; Balmer 1981, 11f. Ricoeur 1993 (franz. zuerst 1965), 45ff.; vgl. Campion 1998. Stackelberg 1982, 8. Das Motto von La Rochefoucaulds Maximes lautet: „Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés.“/„Unsere Tugenden sind häufig nichts als verkleidete Laster.“ Vgl. Balmer 1981, 89ff.; Clark 1994; Campion 1998.
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schwaches, eitles, unstetes Wesen, das seine Schwächen kompensieren muss und diese Kompensationen irrigerweise für Stärken ansieht. In beiden Fällen verhüllt der Mensch seine tatsächlichen Antriebe (Eigenliebe und Schwäche) vor sich und seinesgleichen. Das dabei entstehende Bild ist häufig wenig schmeichelhaft, erhebt aber den Anspruch eines augenöffnenden und von Selbsttäuschungen befreienden Realismus hinsichtlich der menschlichen Verhaltensweisen. Anders als Kruse meint, verfolgen die Moralisten also durchaus kritische Absichten. Im Zentrum der moralistischen Beobachtung steht der Mensch als ein Wesen, das sich selbst unter seinesgleichen beobachtet. Darin bilden die „passions“10 einen wichtigen Fokus, wobei im Vordergrund die Frage der Rolle von Emotionen in Selbst- und Fremdverhältnissen steht.11 Dabei treten genetische, systematische oder klassifikatorische Gesichtspunkte zurück hinter die Wandelbarkeit von Emotionen und deren Autonomie gegenüber kognitiven Zuständen. Das methodische Vorgehen der Moralisten besteht darin, dass sie von der Analyse komplexer Einzelfälle ausgehen und daran anschließend implizite Emotionstheorien entwickeln. Die Moralisten stehen im Gegensatz zu der in vielen gegenwärtigen Emotionstheorien vorherrschenden Tendenz zu einer „Überintellektualisierung“12 von Emotionen, der zufolge Emotionen als „kognitive Zustände“ aufgefasst, auf „Überzeugungen“ zurückgeführt und mit „Rationalität“ geadelt werden. Doch erstens können Emotionen mehr sein als rational oder irrational, sind sie doch (un-)angemessen, (un-)verhältnismäßig oder auch (un-)verständlich. Zweitens besteht das Charakteristische an Emotionen primär darin, dass sie sich auf eine bestimmte Weise anfühlen; sie haben einen phänomenalen Charakter.13 So suchen oder meiden wir bestimmte Emotionen, weil sie sich auf bestimmte Weise anfühlen. Dies bedeutet nicht, dass Emotionen keine kognitiven Aspekte hätten, sondern, dass der phänomenale Charakter für sie wesentlich ist.14 Moralisten wie Montaigne _____________ 10
11 12 13 14
Ich übersetze passion mit „Emotion“. „Leidenschaft“ wäre als Übersetzung angemessen, bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch jedoch entweder ein heftiges Gefühl oder ein intensives Hobby. Vgl. Levi 1964, 4. Der Ausdruck stammt von Goldie 2000, 3. Zur Kritik kognitiver Ansätze vgl. Griffiths 1997, 21–43. Vgl. Goldie 2000, 50–83. So auch David Hume, der Emotionen zuerst hinweisend über deren phänomenalen Charakter definiert, um dann die kausalen und kognitiven Elemente des Stolzes herauszuarbeiten; vgl. den Beitrag zu Hume in diesem Band.
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oder La Rochefoucauld heben den phänomenalen Charakter der Emotionen und deren Autonomie hervor. Im Folgenden kann es nicht darum gehen, die Emotionstheorien der vier klassischen Moralisten vorzustellen, deshalb werde ich mich auf zwei Exponenten beschränken. Montaigne gilt als Gründerfigur der Moralistik. In Abschnitt 2 wird exemplarisch seine Behandlung des Zorns vorgestellt. Abschnitt 3 widmet sich der „reinste[n] Verkörperung der Moralistik“15, nämlich La Rochefoucaulds Behandlung der Emotionen und ihrer Beziehungen zur Eigenliebe. Abschließend soll auf die Relevanz der Moralisten in der Geschichte der Emotionstheorien verwiesen und ein ihrer Betrachtungsweise der Emotionen impliziter theoretischer Vorschlag offengelegt werden, dem zufolge Emotionen so etwas wie Handlungen sind.
2. Montaigne: Der Zorn als exemplarische Emotion Montaigne wird mit Recht als Skeptiker betrachtet,16 denn in seinen Augen ist der Mensch ein „wahnhafter, widersprüchlicher und hin und her schwankender“ (E I, 1, 9/10) Gegenstand, über den sich keine festen Urteile fällen lassen. Dies drückt sich auch in der unsystematischen Form der Essais aus. Dieses Werk besteht aus 107 Einzelessays, deren Themen und Umfang beträchtlich variieren.17 Was hält dieses Buch zusammen? Montaigne erklärt: „Ich selbst, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs“ (E 3/5). Die Essais sind der Versuch einer Selbstdarstellung. Noch weniger als dem wechselhaften Gegenstand ‚Mensch‘ kann eine systematische Darstellungsform einem Einzelnen angemessen sein. Aus diesen Gründen liefert Montaigne auch keine Emotionstheorie. Dennoch können die wichtigen Punkte seiner Behandlung der Emotionen exemplarisch an einer Emotion aufgezeigt werden, der ein eigener Essay gewidmet ist: „Über den Zorn“ (E II, 31).18 _____________ Stackelberg 1982, 4. Wild 2006, 44–66. Die ersten beiden Bücher erscheinen 1580. In einer erweiterten Auflage von 1588 fügt Montaigne ein drittes Buch und Zusätze zu den bereits vorhandenen Texten hinzu. Bis zu seinem Tod ergänzt und verändert er seinen Text in seinem Handexemplar, dem sog. „Exemplaire de Bordeaux“. 18 Weitere Essays handeln von der Trauer (E I, 2), von der Macht der Emotionen (E I, 3), von der Suche der Emotionen nach neuen Objekten (E I, 3), von der Angst (E I, 18), vom Hochmut (E II, 17) und von der Reue (E III, 2). 15 16 17
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Um Montaignes Behandlung des Zorns zu verstehen, ist es jedoch erforderlich, Eckpunkte seiner moralphilosophischen Konzeption darzustellen. Worin besteht der philosophische Nutzen einer Selbstdarstellung? An einer berühmten Stelle schreibt Montaigne: Die anderen bilden den Menschen, ich bilde ihn ab […]. Ich führe ein Leben ohne Glanz und Gloria vor Augen [Je propose une vie basse et sans lustre] – warum auch nicht? Man kann alle Moralphilosophie ebensogut auf ein niedriges und namenloses wie auf ein reicher ausgestattetes Leben gründen: Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschen in sich [chaque homme porte la forme entiere de l’humaine condition]. (E III, 2, 804f./398f.)
Der Grundgedanke lautet, dass sich die ganze Form der menschlichen Lebensbedingungen in einem gewöhnlichen Individuum finden lasse, das gerade in seiner Gewöhnlichkeit exemplarisch sei. Wie ist das zu verstehen? Montaigne richtet sich gegen die perfektionistische Moral des Weisen, der Asketen, Märtyrer, Krieger und seiner adeligen Standesgenossen. Diese folgen einer „Ethik der inneren Regierung“, die gegenüber äußeren Umständen und inneren Anfechtungen die Kontrolle bewahrt. Selbstbeherrschung ist das Charakteristikum dieser Ethik.19 In dem wichtigen Essay „Über die Grausamkeit“ (E II, 11) findet eine Verschiebung des moralischen Fokus von der Selbstbeherrschung zu den Handlungsfolgen statt.20 Der zentrale Satz lautet: „Von Natur wie auch aus Vernunftgründen habe ich einen grausamen Hass auf die Grausamkeit, denn sie ist für mich das äußerste aller Laster.“ (E II, 11, 429/168) Dieser Essay beginnt mit der Betrachtung einer Ausprägung der Ethik innerer Regierung, nämlich des tugendhaften Lebens. Tugenden werden als Fähigkeiten zur Beherrschung von Emotionen oder Wünschen betrachtet. Sokrates und Cato d. J. sind Musterbilder tugendhaften Lebens. Ihnen unterstellt Montaigne Grausamkeit gegen sich selbst. Ist aber Grausamkeit das Schlimmste, sollte uns die gegen sich selbst grausame Selbstbeherrschung nicht als Vorbild dienen. Höchste Selbstbeherrschung ist einem „Leben ohne Glanz und Gloria“ nicht nur unangemessen, sondern sie ist moralisch verwerflich, eben weil sie Ausdruck von Grausamkeit gegenüber sich selbst ist. Mon_____________ Wie viele seiner Zeitgenossen denkt Montaigne hierbei an den durch Seneca vermittelten Stoizismus. Der einflussreiche Neostoiker Justus Lipsius (1547– 1606) fasst die Ethik der inneren Regierung als constantia und besimmt diese als „rechtmesige unnd unbewegliche stercke des gemüts/ die von keinem eusserlichen oder zufelligen dinge erhebt oder untergedrueckt wird.“ (De constantia I, 4, Lipsius 1965 (lat. zuerst 1583/84), 10) 20 Vgl. Hallie 1977, von dem der Ausdruck „Ethik der inneren Regierung“ (Inward Government Ethics) stammt. 19
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taigne verschiebt den Fokus von der inneren Regierung auf die Folgen für empfindungsfähige Lebewesen. Das Mitgefühl tritt an die Stelle der Selbstbeherrschung. Montaigne schreibt im Zeitalter der Religionskriege, inmitten exzessiver Gewalt und Grausamkeit. In diesem Kontext ist sein Plädoyer für die Einübung in das Mitgefühl zu sehen.21 Damit schreibt er auch unter den Bedingungen des Verlusts einer verbindlichen moralischen Grundlage des öffentlichen Lebens. Lebensformen und deren moralische Leitvorstellungen erweisen sich als Ergebnisse lokaler Gewohnheiten und Praktiken (vgl. E II, 23). Demzufolge sind moralische Leitvorstellungen keine göttlichen oder natürlichen Satzungen. Sie entstammen der Praxis und müssen sich an der Praxis bewähren. Die Regel lautet: Frage dich stets, ob sich einer moralischen Leitvorstellung gemäß überhaupt leben lasse und ob sie mit deinen gewöhnlichen Emotionen, Bedürfnissen und Überzeugungen vereinbar sei.22 Mit moralischen Leitvorstellungen werden Versuche angestellt. Diese dürfen subjektiv sein und sich auf die Selbstdarstellung konzentrieren, denn „chaque homme porte la forme entiere de l’humaine condition“ (E III, 2, 805/399). Damit ist nicht gemeint, dass jeder Mensch die Essenz des Menschen in sich trage, sondern dass jeder vergleichbaren Bedingungen ausgesetzt ist (der humaine condition). Die Lebensform, die sich bei jemandem ausprägt, ist subjektiv, aber deshalb nicht subjektivistisch, denn sie kann sich von den Bedingungen, in denen sich gewöhnliche Menschen finden, nicht allzu weit entfernen. Natürlich spielen nun Emotionen in diesem Bild eine wichtige Rolle. Schaut doch einmal, was die gewöhnliche Erfahrung uns zeigt: Da ist keiner, der, falls er sich ausforscht, nicht in sich eine ihm eigne Form entdeckte, eine Grundform [une forme sienne, une forme maistresse], die sich gegen die Erziehung und gegen den Ansturm all der Emotionen zu behaupten sucht, die ihr feind sind. (E III, 2, 811/402)
Im Rückgriff auf das Gesagte kann diese Rolle unter vier Aspekte gebracht werden: (i) In einer Ethik der inneren Regierung zielen moralische Leitvorstellung auf Emotionskontrolle. (ii) Emotionen sind ein wichtiger Bestandteil der gewöhnlichen condition humaine. (iii) Sie sind in die Struktur von Einzelleben eingewoben. (iv) Sie können gravierende Folgen für andere und für uns selbst haben. Insbesondere der letzte Punkt, die Folgen der Emotionen für den Selbstbezug, treiben Montaig_____________ Vgl. Quint 1998, 134: „Montaigne’s preference for clemency over justice […] is a dominant ethical strain in his book.“ 22 Vgl. Schneewind 1998, 44ff. 21
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nes Auseinandersetzung mit dem Zorn um. Von welchen Voraussetzungen geht Montaigne aus? Zorn ist seit Senecas De ira das Paradigma einer zu kontrollierenden Emotion. Im Anschluss an Aristoteles betrachtet Seneca den Zorn als Wunsch, erlittene Kränkungen zu rächen.23 Aristoteles bemerkt präziser, dass es sich um eine zu Unrecht erlittene Kränkung an einem selbst oder nahe stehenden Personen handelt, die den Wunsch nach Vergeltung weckt.24 Zorn ist eine komplexe kognitive und soziale Emotion, die Urteile und ein soziales Gefüge involviert. Zugleich bedroht der Zorn unser Urteilsvermögen und das soziale Gefüge und bedarf deshalb der Kontrolle. Zorn, so Seneca, darf keinesfalls Bestandteil einer philosophischen Lebensführung sein, er sollte ganz aus dem Leben der Menschen ausgemerzt werden. Anders als Seneca hält Aristoteles den Zorn nicht für ganz und gar schädlich, befördert er doch die Tapferkeit. Montaigne weist diese klassische Definition nicht ausdrücklich zurück, noch bestreitet er die Destruktivität des Zorns. Anders als die beiden antiken Autoren betont er aber die Autonomie der Emotion gegenüber ihren kognitiven und sozialen Aspekten. Betrachten wir Montaignes erstes Beispiel für den Zorn: Wenn ich zum Beispiel durch unsre Straßen ging und beobachtete, wie kleine Jungen von einem wutschnaubenden Vater, einer irrsinnig tobenden Mutter grün und blau geschlagen und zu Boden geprügelt wurden – wie oft packte mich da die Lust, mit bühnenreifem Donnerwetter dreinzufahren und den Ärmsten zu rächen [de dresser une farce, pour venger des garçonnetz]! Man sieht solche Eltern blitzenden Auges, ja geradezu feuerspeiend [sortir le feu et la rage des yeux] über ihre Sprößlinge herfallen […] und mit schneidender, weithin gellender Stimme auf ein Kind einbrüllen [à tout une voix tranchante et esclatante], das häufig gerade erst der Ammenbrust entwöhnt ist. (E II, 31, 714/353)
Das Beispiel könnte durchaus innerhalb der klassischen Definition des Zorns untergebracht werden: Der Beobachter der Misshandlung gerät in Rage, weil er glaubt, dem Kind werde unangemessen und unangebracht Übel mitgespielt. Es gibt jedoch Unterschiede, und gerade in diesen Unterschieden liegt, was für Montaignes Auffassung der Emotionen kennzeichnend ist. Ein erster Unterschied besteht darin, dass ein Kleinkind kein direktes Objekt der Vergeltung sein kann. Schwer vorzustellen, womit das Kind seine Eltern ungerechtfertigt gekränkt haben könnte, worauf deren Rachewunsch beruht. Der ungehemmte elterliche Zorn scheint un_____________ 23 24
Seneca, De ira 1, 3, 3. Aristoteles, Rhetorik II.2, 1378a, 31–33.
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angemessen und unverhältnismäßig, die Handlungsfolgen – die Kinder sind „körperlich und geistig zu Krüppeln geschlagen“ (ebd.) – gravierend. Sich selber setzt Montaigne als jemanden ins Bild, der über die Eltern in Zorn gerät und den Misshandelten rächen möchte. Doch der Junge ist ihm fremd, er steht ihm nicht nah. Über den elterlichen Zorn soll auch der Leser in Zorn geraten. Dies ist ein zweiter wichtiger Unterschied: der Zorn der Zeugen über den elterlichen Zorn entspringt keiner besonderen sozialen Beziehung zum Kleinkind, sondern einem generalisierten Mitgefühl. Ein dritter Aspekt, den Montaigne betont, liegt in dem Umstand, dass Zorn ansteckt. Dies wurde freilich bereits von Seneca betont, der darin eine der Hauptgefahren dieser Emotion erkannte. Montaigne fasst diesen Umstand jedoch stärker deskriptiv, nämlich als Bestandteil von Emotionen überhaupt. Die Ansteckung erfolgt nur teilweise über die Beurteilung der Situation, hier werde jemand unangemessen und unangebracht gemaßregelt. Wichtiger ist, was man „mimetische Übertragung“ nennen könnte. Sie erfolgt durch expressive, körperliche Manifestationen einer Emotion („Wutschnauben“, „das blitzende Auge“, die „schneidende, gellende Stimme“ usw. (E II, 31, 714/353)). Menschen neigen dazu, diese äußerlichen Manifestationen einer Emotion spontan zu imitieren, durch die körperliche Imitation wird die Emotion dann übertragen (oder eine Gegenemotion hervorgerufen). Nicht nur traurige, ekelerregende oder schockierende Dinge erwecken in uns Trauer, Ekel oder Schrecken, sondern auch ein trauriger, angeekelter oder schockierter Ausdruck vermag diese Emotionen hervorzurufen. Es scheint sogar so, als würden Emotionen in der Individualentwicklung auf diesem Weg übernommen und erlernt, bevor wir über traurige, eklige oder schockierende Dinge überhaupt Bescheid wissen. Auch in der Innenperspektive des Subjekts finden sich körperliche Manifestationen, jedoch qualitative (Hitze im Gesicht, Enge in der Brust, rasender Puls, kurz: innere Bewegung). Sowohl im sozialen Raum als auch im Subjekt wird eine Emotion durch ihre je spezifischen Manifestationen (die expressiven und qualitativen körperlichen Aktualisierungen) übertragen. Durch Manifestationen werden Emotionen wie der Zorn mimetisch übertragen.25 Dies führt uns zu einem begrifflichen Aspekt. Montaigne schreibt, Zorn sei _____________ 25
Montaigne beschreibt die Verbreitung und Übertragung von Angst in E I, 47, 285/144.
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[…] eine Leidenschaft, die an sich selbst Gefallen findet und sich immer weiter anspornt [qui se plaist en soy et qui se flatte]. Wie oft richten wir, wenn wir uns aus falschem Grund ereifert haben und man uns zum Beweis eine triftige Entschuldigung und Rechtfertigung vorbringt, unseren ganzen Ärger nun sogar gegen die Wahrheit und die Unschuld! (E II, 31, 717/354)
Anders als in der klassischen Definition kann der Zorn nicht auf Urteile (über soziale Kränkungen) und Wünsche (nach Vergeltung) zurückgeführt werden. Zorn ist durch expressive und qualitative körperliche Manifestationen bestimmt, er erhält sich in diesen Manifestationen über die Revision von Urteilen hinweg. Er hat ihnen gegenüber Autonomie. Dies bedeutet nicht, dass Zorn allein durch seine Manifestationen bestimmt wäre. Wie zu anderen Emotionen gehört zum Zorn ein (intentionales) Objekt. Ist er aber erst einmal entstanden, wird ihm das Objekt sozusagen gleichgültig. Die durch Manifestationen bestimmte Emotion sucht sich ein Objekt, auf das sie sich richten kann. Emotionen weiten den Objektbereich aus, sie schränken ihn nicht ein.26 Emotionen finden ein beliebiges Objekt, auf das sie sich richten können, wenn sie erst einmal entstanden sind. Dem Ängstlichen erscheint in der dunklen, abgelegenen, unbekannten Straße alles gefährlich, dem Übellaunigen in seinem Zimmer alles unnütz und widerspenstig. Im sozialen Raum erhalten sich Emotionen durch die mimetische Übertragung expressiver, im Subjekt durch die innere Übertragung phänomenaler Manifestationen und die Projektion auf äußere Gegenstände. Dennoch spricht sich Montaigne für Nachlässigkeit gegenüber zornigen Regungen aus. Eine Konsequenz seiner Zurückweisung der Ethik der inneren Regierung besteht nämlich darin, auch innere Konflikte zurückzuweisen.27 Es gibt keinen Konflikt zwischen Emotionen und Selbstbeherrschung, wenn die emotionalen Manifestationen gezielt zugelassen werden. Wie ist das zu verstehen? Montaigne verweist auf den „zornigsten Menschen Frankreichs“ (vermutlich Henry IV.), der sich aber stets beherrsche, und bemerkt: Ich für mein Teil wüsste keine Leidenschaft, die zu zügeln und im Zaum zu halten ich eine derartige Anstrengung unternehmen könnte [pour laquelle couvrir et soustenir je peusse faire un tel effort] – so teuer möchte ich mir die Weisheit nicht erkaufen! Ich sehe bei diesem Mann weniger darauf, was er tut, als darauf, wieviel es ihn kostet, nichts Schlimmeres zu tun. (E II, 31, 718f./355)
_____________ Anders als die in der gegenwärtigen Diskussion beliebte „Suchhypothese“, der zufolge Emotionen die Funktion zukommt, den Bereich möglicher Handlungsoptionen einzuschränken und die einzelnen Optionen zu gewichten; vgl. Evans 2002. 27 Vgl. Über die Reue (E III, 2). 26
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Es sei nicht empfehlenswert, sich innerlich zernagen zu lassen (se ronger interieurement), nur um den Anschein der Ruhe zu bewahren, man verleibe sich den Zorn sonst ein (on incorpore la cholere en la cachant). Besser sei es, seine Spitze nach außen zu richten, als in uns einzufalten (il vaut mieux que leur poincte agisse au dehors que de la plier contre nous) (ebd.). Montaigne zieht mithilfe von Metaphern wie „nagen“, „einverleiben“, „einfalten“ eine Konsequenz aus den Thesen der mimetischen Übertragung und der körperlichen Manifestationsweisen. Da die Emotion sich im Subjekt erhält, überträgt und nach neuen Objekten sucht, wird sie für das Subjekt schädlich. Wer den Zorn unterdrückt, zeitigt schädliche Folgen für sich und ist gegenüber sich selbst grausam. Wie gesagt, richtet Montaigne die moralische Aufmerksamkeit von der inneren Regierung auf die Handlungsfolgen und auf das Mitgefühl. Als keine durchwegs natürliche Einstellung, muss Mitgefühl eingeübt werden. Eine Einübung sieht Montaigne in der Zulassung von Emotionen, die uns überkommen und die deshalb als nicht zu uns gehörig erscheinen. Dennoch mag auf den ersten Blick Montaignes Plädoyer für eine gezielte Äußerung zorniger Regungen überraschen: Ich würde raten, lieber seinem Diener etwas zur Unzeit eine Backpfeiffe zu geben, als sich innerlich Zwang anzutun, nur damit man solch weises Gehabe [cette sage contenance] an den Tag legen kann. Ich zöge es jedenfalls vor, meine Leidenschaften offen hervorbrechen als zu meinem Schaden in mir schwelen zu lassen. Sobald sie sich Luft verschaffen und entladen, sinken sie kraftlos zusammen [elles s’alanguissent en s’esvantant et en s’exprimant]. (E II, 31, 719/355)
Sind hier nicht sowohl die Erhaltung der Emotion als auch die Handlungsfolgen und das Mitleid vergessen? Nein. Montaigne gibt den Folgen für das Subjekt des Zorns den Vorrang vor dem Opfer. Dass sich Emotionen in ihren Manifestationen erhalten, bedeutet nicht, dass sie nicht abklingen können, die gezielte Entladung unterbricht die Erhaltung und die unkontrollierte Übertragung. Im Anschluss an die zitierte Stelle erteilt Montaigne drei Ratschläge: Man solle mit Zornausbrüchen sparsam umgehen, sich direkt auf das Objekt des Zorns beziehen, sich bei triftigen Anlässen in Zurückhaltung üben. Schließlich weist er darauf hin, dass er um der Ordnung seines Hauswesens willen hin und wieder den Wutentbrannten spielt (E II, 31, 719f./355f.). Er plädiert für eine gezielte Zulassung von Emotionen (vgl. E III, 13). Die gezielte Zulassung der Emotionen ist mehr als ein bloßes Abreagieren, sondern eine geradezu instrumentelle Verwendung von emotionalen Zuständen. An dieser Stelle zeichnet sich ein Gedanke ab, den La Rochefoucauld aufnimmt, und den wir im
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vierten Teil dieses Essays explizieren werden: Emotionen weisen Parallelen mit Handlungen auf. In diesem gezielten und geradezu dramaturgischen Umgang mit Emotionen finden sich Reste der Ethik der inneren Regierung. Am Schluss seines Essays kritisiert Montaigne die aristotelische These, der Zorn befördere die Tapferkeit: Selbst wenn der Zorn uns Mut verleiht, so sind doch nicht wir es, die führen, wir werden geführt. Auch in dieser Kritik finden sich Reste der Ethik der inneren Regierung. Montaigne erweist sich hier in gewisser Weise als Schüler der Stoa, deren Emotionstheorie auf zwei Thesen pocht: Emotionen gehören zur rationalen Seele und die Seele ist eine Einheit.28 Für die meisten Stoiker sind Emotionen Urteile, mithin Handlungsgründe. Allerdings sind Emotionen schlechte Handlungsgründe, denn sie übernehmen gegen überlegte und bessere Handlungsgründe die Regierung. Wer sich von Emotionen leiten lässt, verrät Charakterschwäche. Diese These weist Montaigne zurück. Warum ist die zweite These, die Einheit der Seele, wichtig? Ihr zufolge gehören Emotionen keinem irrationalen Seelenteil an, der von der Vernunft verschieden wäre, sondern der ganzen Seele. Emotionen gehören zu uns, d. h. wir sind für sie verantwortlich. Die Stoiker wollen verhindern, dass wir Emotionen einem anderen Seelenteil zuschreiben, für den wir „nichts können“. Emotionen überkommen uns, reißen uns mit, machen uns zu schaffen, sie gehören gewissermaßen nicht zu uns. Dennoch wird die Verantwortung für Emotionen nicht aufgegeben, denn für Montaigne steht dieser Umstand der Verantwortung nicht entgegen, können wir doch auch Verantwortung für andere – Tiere, Kinder, Freunde oder Schüler – übernehmen. Diese Übernahme ist ein Rest der Ethik der inneren Regierung.
3. La Rochefoucauld: Emotionen als Ausprägungen der Eigenliebe Während Montaigne Emotionen in einen moralphilosophischen Rahmen einordnet, betrachtet La Rochefoucauld sämtliche Emotionen als Ausprägungen der Eigenliebe (amour propre). Dadurch hat La Rochfoucaulds Nachdenken über Emotionen eine stärker systematische Basis als das an Beispielen orientierte Vorgehen Montaignes. Auch La Rochefoucauld setzt sich kritisch mit der Ethik der inneren Regierung auseinander, jedoch _____________ 28
Annas 1992, 103–120.
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auf ganz andere Art und Weise, wie die folgende, wichtige Maxime zeigt: „Der Mensch fühlt sich oft führend, wo er geführt wird; und während er durch seinen Geist [esprit] zu einem Ziel strebt, zieht ihn sein Herz [coeur] unmerklich zu einem anderen.“ (M 43) Die innere Regierung ist eine der vielen Formen der Selbsttäuschung, um deren Entlarvung es den Moralisten geht.29 Sie ist lediglich eine Ausprägung der Eigenliebe. Was aber ist Eigenliebe? Sie sollte nicht mit Egoismus verwechselt werden. „Die Eigenliebe ist die Liebe zu sich selbst und zu allen Dingen für sich selbst.“ (M 563) In der Eigenliebe liebt sich das Subjekt und die anderen Dinge nur in Beziehung auf sich selbst. Diese Selbstbezüge sind jedoch nicht transparent, denn das Subjekt wird von der Eigenliebe geführt, wenn es sich zu führen glaubt. Die Eigenliebe ist ein anderes Subjekt (coeur) im Menschen, das Ziele verfolgt, die dem Geist (esprit) verborgen bleiben (M 102). Sie ist eine Schmeichlerin (M 2) und klüger als der klügste Mann (M 4). Sie ist eine zweite Person, die wir nicht kennen (M 3): „Man ist bisweilen von sich selbst so verschieden wie von anderen.“ (M 135).30 Die Eigenliebe treibt uns an und bleibt uns verborgen.31 Dies wurde mit Spinozas Conatus-Theorie verglichen.32 Der Vergleich ist hilfreich. Spinoza zufolge ist das Streben eines Dings, sich im Sein zu erhalten, dessen Wesen.33 Im Falle des Menschen ist dieses Streben die Begierde (appetitus) und Emotionen sind Hindernisse oder Steigerungen dieses Strebens.34 Wir können uns die Eigenliebe als ein Streben vorstellen, dass die Essenz des Menschen ausmacht. Die Interpretation, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, lautet, dass Eigenliebe das Streben ist, die Selbstachtung zu erhalten und zu steigern. Die Erhaltung der Selbstachtung aber fordert, dass dieses Streben sich teilweise vor sich selbst verbirgt, denn Beeinträchtigungen der Selbstachtung müssen unerkannt repariert werden, andernfalls würde dem Subjekt die Schädigung der Selbstachtung bewusst, was deren Erhaltung und Steigerung abträglich _____________ Vgl. Starobinski 1966. Vgl. die Deutung des Freudschen Unbewussten als zweite Person bei Rorty 1991. Zu dieser „Doppelfunktion“ Stackelberg 1982, 131f. Charles-Marc Des Granges: „Cet amour-propre, c’est ce que Spinoza appelera: la tendance de l’être a persévérer dans l’étre. C’est une condition de notre existence physique et morale […] elle est à l’homme ce qu’est la pesanteur ou l’attraction dans le monde physique: elle crée l’équilibre social.“ (Zitiert nach Stackelberg 1982, 133.) 33 Vgl. Spinoza, Ethik III p 7. 34 Vgl. den Beitrag zu Spinoza in diesem Band. 29 30 31 32
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wäre. Eigenliebe ist also das prä-reflexive Streben nach Erhaltung und Steigerung der Selbstachtung. Die Emotionen nun sind spezifische Ausprägungen der Eigenliebe: „Die Leidenschaften sind nichts als die verschiedenen Vorlieben [les divers goûts] der Eigenliebe.“ (M 531) Weil die Eigenliebe die Liebe zu sich ist, ist das Selbst das allgemeinste (intentionale) Objekt von Emotionen. Alle Emotionen sind somit Mischformen, denn stets gehört die Liebe zu sich selbst dazu. La Rochefoucauld zufolge generiert das Herz, Sitz der Eigenliebe, unablässig Emotionen. Auch La Rochefoucauld betont die Autonomie der Emotionen (M 5), wichtiger ist aber deren Wandelbarkeit. Die Zerstörung einer Emotion bedeutet die Entstehung einer neuen (M 10), und oftmals bringen Emotionen deren Gegenteil hervor (M 11). Die Wandelbarkeit von Emotionen nun dient der Erhaltung der Eigenliebe, d. h. die Funktion von Emotionen besteht in der Erhaltung und Steigerung der Selbstachtung. Der Aufbau der folgenden Maxime ist typisch für La Rochefoucauld: „Wir können nichts lieben, außer in Beziehung auf uns, und wir folgen nur unserer Vorliebe und unserem Vergnügen, wenn wir unseren Freunden uns vorziehen; nichtsdestotrotz kann die Freundschaft allein aufgrund dieser Bevorzugung wahr und vollkommen sein.“ (M 81) Die Liebe zu einer Person wird als Selbstbezogenheit charakterisiert. Liebe ist, wie alle Emotionen, primär ein Selbstverhältnis und Ausdruck der Eigenliebe. Der Bezug der Eigenliebe auf andere wird dadurch hergestellt, dass wir am anderen dasjenige lieben, was unseren „Vorlieben“ entspricht und uns „Vergnügen“ bereitet (M 88). Warum sollten wir ihn sonst auch lieben? Dies tun wir selbst dann und gerade dann, wenn wir den geliebten Freund uns gegenüber bevorzugen, beruht dies doch auf unseren Vorlieben. Der springende Punkt ist, dass in der Liebe zu einem Freund jene Qualitäten affirmiert werden, die wir an uns selbst achten. So ist Freundschaft eine Steigerung unserer Selbstachtung.35 Dies alles beruht _____________ 35
Hier liegt der Einwand nahe, dass wir an anderen doch auch Qualitäten achten können, die uns fehlen. Eine Antwort im Sinne La Rochefoucaulds lautet, dass wir die fragliche Qualität wünschen, sie aber nicht haben oder erwerben können, und sie deshalb am anderen schätzen. Der andere kompensiert unseren Mangel. Wie steht es jedoch mit Qualitäten, die wir einfach um ihrer selbst willen an einem anderen achten, ohne sie überhaupt zu wünschen? Hier handelt es sich in La Rochefoucaulds Sicht natürlich um Formen der Selbsttäuschung: Das Problem einer Qualität, die wir an anderen schätzen, die wir für uns jedoch wünschen, aber nicht haben, besteht für die Eigenliebe darin, dass sie unsere Selbstachtung herabsetzt. Eine Möglichkeit, dies vor uns zu verbergen, ist die Idealisierung der Quali-
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auf Gegenseitigkeit (M 83). Vielen Emotionen kommt eine soziale Rolle zu, d. h. wir sind in ihnen auf andere bezogen. Dieser Bezug ist stets Ausdruck der Eigenliebe. Nur durch die Bevorzugung jener Qualitäten am Freund, die wir an uns selbst schätzen, kann die Freundschaft „wahr und vollkommen“ sein. Allerdings muss die Eigenliebe verborgen bleiben, damit die Beziehung auf den anderen für das Subjekt erhalten bleibt. Betrachten wir zur Verdeutlichung dieses Aspekts eine weitere Emotion. Eine der heftigsten Formen der Traurigkeit ist die Trauer über den Verlust einer geliebten Person. Wir weinen, weil wir traurig über den Verlust sind, weil wir um den anderen trauern. In der Trauer beziehen wir uns auf ein Objekt (die Person) unter einem bestimmten Aspekt (Verlust) und die Spannung zwischen Objekt und Aspekt äußert sich in Tränen. La Rochefoucauld konterkariert dieses Bild der Traurigkeit mit dem Verdacht auf Heuchelei. Er unterscheidet vier Formen der Heuchelei (M 233): (1) Wir beweinen nicht den anderen, sondern bedauern das Verschwinden der guten Meinung, „die er von uns gehabt hat“ und die daraus folgende „Verringerung unseres Wohlergehens, unseres Vergnügens“. Dabei täuschen wir uns selbst über diese Motive. Aufgrund der Selbsttäuschung handelt es sich um Heuchelei. (2) Wir trauern nicht um den anderen, sondern nehmen den Verlust zum Anlass, uns eine neue Persona zu bilden. Laut La Rochefoucauld befällt diese Form der Heuchelei ehrgeizige Frauen, denen es verwehrt ist, Ruhm auf anderen Wegen zu finden. Sie stilisieren ihr Leben zum Schauspiel eines unüberwindlichen Verlusts und versuchen „in allen ihren Handlungen davon zu überzeugen, dass ihr Leid erst mit ihrem Leben enden wird“. (3) Wir weinen, um als zart zu gelten, um bemitleidet und beweint zu werden. (4) Wir weinen, um dem Vorwurf zu entgehen, nicht geweint zu haben. Dass wir uns traurig fühlen, steht außer Frage. Aber wir geben vor und glauben auch, die Motivation unserer Traurigkeit sei der Verlust einer Person. Die Trauer ist dem aktuellen Selbst- und Fremdbezug nachgeordnet, wobei für La Rochefoucauld die Eigenliebe ausschlaggebend ist: „Wel_____________ tät des anderen, von der wir uns sagen, dass wir sie einfach um ihrer selbst willen achten.
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chen Vorwand wir unserer Betroffenheit auch immer geben mögen, oft werden sie durch nichts als Eigennutz und Eitelkeit [l’intérêt et la vanité] verursacht.“ (M 232) Die Heuchelei hat Vorteile: Die Emotion behält die Ausrichtung auf den Verstorbenen oder auf das soziale Umfeld. In der Ausrichtung auf das soziale Umfeld dient die Trauer der kurzfristigen Erhaltung der Selbstachtung (4), der kurzfristigen Steigerung der Selbstachtung (3) oder der langfristigen Erhaltung und Steigerung der Selbstachtung (2). Was ist mit Fall (1)? Nun, wir bedauern den Verlust einer Quelle der Selbstachtung, da wir im Verstorbenen unsere an uns bevorzugten Qualitäten liebten. Es ist dieser Verlust, den das Subjekt um der Selbstachtung willen vor sich selbst verbergen muss. Es gibt Emotionen, die unserer Selbstachtung unmittelbar abträglich sind, wie der Neid. Man könnte einwenden, dass der Neid ein Gegenbeispiel zu der These darstelle, Emotionen hätten die Erhaltung und Steigerung der Eigenliebe zum Ziel, denn er fördere die Selbstachtung gerade nicht, führe er dem Neider doch einen seiner Mängel vor Augen, nämlich das Objekt des Neids. Aber auch für den Neid muss gelten, dass er der Eigenliebe entspringt, gerade weil seine Ursache in der Verletzung der Selbstachtung liegt. Und diese muss durch die Verwandlung des Neids mittels anderer und in andere Emotionen wiederhergestellt werden. Wie geht das? Neid ist „eine Raserei, die die Güter der anderen nicht erträgt.“ (M 28). Er ist unversöhnlicher als Hass (M 328) und erhält sich über das Objekt des Neides („das Glück dessen, den wir beneiden“) hinweg seine Autonomie (M 476). Tritt er offen zutage, droht uns gar die Verachtung anderer: „Man hausiert oft sogar mit den verbrecherischsten Leidenschaften, doch der Neid ist eine schüchterne und beschämende [timide et honteuse] Leidenschaft, die zuzugeben man sich nicht traut.“ (M 27) Wie kann der Neid verborgen und die Selbstachtung erhalten werden? Nun, er wird umgewandelt und dadurch die Selbstachtung erhalten. Neid auf die Güter arrivierter Personen wird zur freudigen Akklamation von Neulingen (M 280). Mäßigung ist eine Furcht vor dem Neid, den diejenigen auf sich ziehen, die sich an ihrem Glück berauschen (M 18). Stolz, der uns zu vielen neidischen Regungen veranlasst, versteht es zugleich, ihn zu mäßigen (M 281). Betrachten wir ein abstraktes Beispiel:36 A hat X und B möchte X. B verspürt Neid. Dieser Neid verletzt Bs Selbstachtung, denn B hat weniger als A und zudem ist der Neid eine „beschämende Leiden_____________ 36
In Anlehnung an Elster 1999, 98f., der sich an La Rochefoucauld und la Bruyère orientiert.
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schaft“. Neid wird zu Demut und Scham. Um demgegenüber die Selbstachtung zu erhalten, wird der Neid umgedeutet. Dies geschieht z. B. dadurch, dass B die Relation zwischen X und A oder seine Emotion umdeutet. A hat X nicht verdient und B ist Stolz auf seine Entsagung; A hat sich X auf zweifelhaften Wegen verschafft, und B ist empört; A versteht es nicht, X zu nutzen, und B fühlt Überlegenheit. Stolz, Empörung oder Überlegenheit sind jeweils das Resultat von Umwandlungen zum Zweck der Erhaltung der Selbstachtung. Am Beispiel des Neids wird nicht nur deutlich, dass Emotionen der Eigenliebe entspringen, die Funktion haben, diese zu erhalten und zu steigern, und dass die entsprechenden Umwandlungen dem Subjekt verborgen bleiben müssen, sondern auch, dass sie mit anderen Emotionen, mit Überzeugungen und Wünschen interagieren.
4. Autonomie der Emotionen und Emotionen als Handlungen Jon Elster hat betont, dass bei den Moralisten die Emotionen als Objekte einer Theorie psychologischer Mechanismen in den Blick geraten. Er ist der Ansicht, die Moralisten hätten in der Geschichte der Emotionstheorien einen wichtigen Schritt genommen, indem sie sich auf die Rolle der Emotionen im sozialen Raum und im Subjekt konzentriert hätten. Mit seinem Ansatz habe etwa La Rochefoucauld einen theoretischen Rahmen für die Untersuchung der Interaktion zwischen verschiedenen Emotionen, Wünschen und Überzeugungen, d. h. deren gegenseitige Hervorbringung und Verwandlung, geschaffen.37 Was sind die Gründe dafür, dass dies bei den Moralisten geschieht? Pascal schreibt über die Form seiner Gedanken: „Ich erweise meinem Gegenstand zu viel der Ehre, wenn ich ihn auf ordentliche Weise behandle, denn ich will zeigen, dass er der Ordnung unfähig ist.“38 Wie bei Montaigne ist der unordentliche Gegenstand der Mensch. Beim Religionsphilosophen Pascal geht es jedoch nicht um den Menschen tout court, sondern um den Menschen ohne Beistand der christlichen Religion, dessen Darstellung eines der Hauptziele der anthropologischen Reflexionen der Pensées ist. Es sind vor allem die Emotionen, die in Unordnung sind und den Menschen in Unordnung halten, sie sind „tousjours [sic!] déreglées“, wie etwa Jean-François Senault (1599–1672) meint. _____________ 37 38
Vgl. Elster 1999, 76–107. Pascal 1991 (posthum zuerst 1670), 365 (Nummerierung Selliers 457). Übersetzung des Verfassers.
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Für Senault ist die Unordnung der Emotionen u. a. eine Folge des Sündenfalls. Ohne Gottes Gnade kann sie die Vernunft nicht befrieden und regulieren.39 Die neostoische Idee einer Kontrolle der Emotionen ohne göttliche Gnade, die verblendete Idee einer laizistischen Weisheit, ist nur ein anderer Ausdruck dieses deplorablen Zustands. Dieser religionsphilosophische Hintergrund spielt auch bei Montaigne und La Rochefoucauld eine gewisse Rolle. So verweist Montaigne darauf, dass er den Menschen beschreibt, wie er ohne göttlichen Beistand ist: nackt, unstet, und überheblich (E II, 12). La Rochefoucaulds Maximen enthalten zwar keinerlei Hinweise auf religiöse Kontexte, doch die zeitgenössischen Leser stellten solche Verbindungen umstandslos her.40 Wie auch immer man die Relation zwischen der Religion und den Emotionen bei Montaigne oder La Rochefoucauld verstehen möchte,41 wichtig ist, dass sie die Emotionen aus dem religiösen Kontext lösen und dadurch zu eigenständigen Objekten der Betrachtung machen. Wie eingangs gesagt, betrachten Moralisten Emotionen in Selbst- und Fremdverhältnissen, Autoren wie Montaigne und La Rochefoucauld gestehen einzelnen Emotionen nicht nur Autonomie relativ zu Überzeugungen oder Wünschen zu, sondern auf einer weiteren Ebene auch Autonomie relativ zu naturwissenschaftlichen oder metaphysischen und vor allem zu theologischen Projekten. Ein Grundzug gegenwärtiger Emotionstheorien besteht darin, Emotionen in Analogie zu anderen mentalen Vermögen zu betrachten. Man kann diese Theorien danach gruppieren, ob sie Emotionen eher wie Körperwahrnehmungen (Empfindungstheorien), wie Urteile (kognitive Theorien), wie Sinneswahrnehmungen (Wahrnehmungstheorien) oder wie Organe mit Funktionen (evolutionäre Theorien) behandeln.42 Lebewesen verfügen jedoch nicht nur über sensitive, perzeptive oder kognitive Vermögen, sondern auch über Handlungsfähigkeit. Der implizite Vorschlag der Moralisten lautet, Emotionen eher wie Handlungen zu betrachten. _____________ Senault 1987, 88–89; vgl. Levi 1964, 19. Vgl. Parmentier 2000, 67f. Die Eigenliebe wird bisweilen mit der augustinischen amor sui in Verbindung gebracht, mit der sündigen Selbstbezogenheit des Menschen, der Gott und darüber sein Heil vergisst. Doch die Eigenliebe entbehrt in den Maximes jedweder theologischen Einbettung. Zum theologischen Kontext vgl. Levi 1964, 203–233. Gegen die in Lafont 1977 vertretene These eines augustinischen La Rochefoucauld vgl. m. E. überzeugend Stackelberg 1982, 104–108; Clark 1994, 105–120. Anders Parmentier 2000, 65–72. 42 Vgl. de Sousa 2003. 39 40 41
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Wie ist dies zu verstehen? Wie wir gesehen haben, verweist Montaigne auf die Möglichkeit eines gezielten und dramaturgischen Umgangs mit Emotionen.. Er hebt bereits im Beispiel der zornigen Eltern eine gewisse „Theatralität“ des Zorns hervor, wenn es heißt, er wünschte, „mit bühnenreifem Donnerwetter dreinzufahren und den Ärmsten zu rächen“. Viele Emotionen haben eine dramatische Struktur. Wir führen sie gleichsam als Theaterstücke auf, etwa wenn wir mit einer Situation nicht zurechtkommen, wenn diese uns überfordert oder unsere Selbstachtung direkt oder über den Weg der Verachtung durch andere verletzt. La Rochefoucaulds Analysen der geheuchelten Trauer gehen in dieselbe Richtung, ebenso die Manöver zur Erhaltung der Selbstachtung im Neid. Emotionen sind also so etwas wie gespielte Handlungen. Diese Handlungen können kurz und komprimiert (ein Schlag auf den Tisch, ein tiefer Seufzer) oder lang und komplex sein, wie etwa Elternliebe oder Hass. Die Metapher einer dramatischen Handlung vermag unterschiedlichste Emotionen zu vereinen. Emotionen zeichnen sich jedoch auch durch körperlich expressive und phänomenale Manifestationen aus. Als Manifestationen unterscheiden sich Emotionen vom bloßen Theaterspiel, denn durch die Manifestationen sind wir unmittelbar affiziert. Deshalb glauben wir tatsächlich an die dramatische Handlung. Die mimetische Übertragung der expressiven Manifestationen bezieht andere in die dramatische Handlung mit ein. Darin gleichen Montaignes und La Rochefoucaulds Ansätze JeanPaul Sartres Emotionstheorie.43 Ihr zufolge sind Emotionen „eine Transformation der Welt“.44 Emotionen sind Reaktionen, durch die wir ein psychologisches Gleichgewicht herstellen, indem wir unsere Wahrnehmung einer Situation und nicht diese selbst ändern (sie transformieren). Sartre verweist zur Veranschaulichung auf La Fontaines Fabel der sauren Trauben: Wir wünschen uns die Trauben, können sie aber nicht erreichen, also ändern wir die Wahrnehmung der Trauben und murmeln: „Sie sind noch zu grün“.45 Ganz ähnlich schreiben wir im Zorn einer Person die Eigenschaft zu, verletzend oder hassenswert zu sein, weil sie der Befriedigung unserer Wünsche im Wege steht. Die Analogie wirft Probleme auf. Zuerst kann man darauf hinweisen, dass Handlungen eine teleologische Struktur haben weil sie Absichten ent_____________ Zur Analogie mit Handlungen vgl. Sartre 1997 (franz. zuerst 1939), 304f. Vgl. den Beitrag zu Sartre in diesem Band. 44 Sartre 1997, 294. 45 Sartre 1997, 295f. 43
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springen und Ziele verfolgen. La Rochefoucaulds These jedoch gibt den Emotionen die Erhaltung und Steigerung der Selbstachtung zum Ziel. Wie steht es jedoch mit den Absichten? Handlungen werden ja von jemandem ausgeführt, sie haben einen Urheber, dem sie zugerechnet werden. Etwas ist u. a. erst dann eine Handlung, wenn es die direkte Folge eines intentionalen Zustands eines Subjekts ist. Demgegenüber wären Emotionen jedoch Handlungen, die wir nicht aus-, sondern aufführen, so dass wir uns gar nicht als Urheber dieser Handlungen verstehen. Emotionen werden erlitten, man kann nicht beliebig aus ihnen heraus, es sind Passionen. La Rochefoucaulds Antwort lautet, wie wir gesehen haben, dass wir mit der Eigenliebe ein anderes Subjekt (coeur) postulieren müssen, das Ziele verfolgt, die dem Geist (esprit) verborgen bleiben. Sie ist eine Art zweiter Person, die wir nicht kennen. La Rochefoucaulds Antwort sollte man als Folge von Montaignes moralpsychologischer Idee betrachten, Emotionen als etwas uns Fremdes zu betrachten, das uns gleichsam überkommt, für das wir jedoch die Verantwortung übernehmen können, sodass uns Emotionen zugerechnet werden dürfen. Was auch immer man von diesem Vorschlag halten mag, er ist beachtlich, weil er eine Umkehrung des gewöhnlichen Verständnisses der Emotionen als Passionen bedeutet, und weil er einige Phänomene in unserem emotionalen Leben zu beschreiben vermag.
Literatur Die Essais werden nach Montaigne 1965 zitiert, mit Angabe von Buch, Essay, frz. Seite/dt. Seite (die Übersetzungen stammen von Hans Stilett, siehe Montaigne 1998). Die Maximes von La Rochefoucauld werden nach den Oeuvres complètes zitiert unter Angabe von M und der entsprechenden Nummerierung der Maxime. Die Übersetzungen stammen vom Verfasser. – Vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: E M
– Montaigne, Essais – La Rochefoucauld, Maximes
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René Descartes (1596–1650)
Descartes: Emotionen als psychophysische Zustände Dominik Perler 1. Eine mechanistische Gefühlstheorie? Stellen Sie sich vor, dass Sie gemütlich durch einen Wald schlendern und plötzlich einem Rottweiler gegenüberstehen. Der Hund ist nicht angeleint, knurrt bedrohlich und nähert sich Ihnen immer mehr. Sie erstarren vor Schreck, Schweiß läuft Ihnen plötzlich über die Stirn, und Sie sind derart von Furcht gepackt, dass Sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Doch dann reißen Sie sich zusammen und versuchen sich vorzustellen, dass der Rottweiler gut dressiert ist und ganz harmlos, wenn man ihn nicht reizt. Sie gehen gemäßigten Schrittes an ihm vorbei, ohne ihn anzuschauen, und Ihre Furcht lässt langsam nach. Furcht ist eine basale Emotion, die wir immer wieder erleben. Will man indessen nicht bloß das individuelle Erleben schildern, sondern im Rahmen einer philosophischen Theorie erklären, welche Struktur und Funktion eine Emotion aufweist, muss man sich mindestens drei Problemen widmen. Erstens muss man erläutern, in welchem Sinn eine Emotion sowohl den Körper als auch den Geist betrifft. Wie ist es zu verstehen, dass Sie beim Anblick des Hundes erstarren, einen Schweißausbruch haben und Furcht empfinden? Sind die körperlichen Zustände bloße Symptome? Oder sind sie konstitutive Bestandteile der Emotion? Zweitens gilt es zu erklären, welche Struktur eine Emotion hat. Ist die Furcht, die Sie erleben, ein reines Gefühl ohne jeden repräsentationalen und evaluativen Gehalt? Oder ist sie eine Repräsentation, die mit einer Wertung verbunden ist, etwa mit der Einschätzung, dass der Hund vor Ihnen ein bedrohliches Tier ist? Drittens schließlich gilt es zu untersuchen, in welchem Verhältnis eine Emotion zu einer Handlung steht. Löst die Furcht direkt eine bestimmte Handlung aus, nämlich das Stehenbleiben vor dem Hund? Und kann sie durch eine Überlegung derart kontrolliert oder gar neutralisiert werden, dass eine andere Handlung möglich wird, nämlich das langsame Weitergehen? Oder entzieht sich eine Emotion einer rationalen Kontrolle?
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Es scheint auf den ersten Blick, als suche man in Descartes’ Schriften vergeblich nach einer Antwort auf diese fundamentalen Fragen. In der Vorrede zu den Passions de l’Ame hält er programmatisch fest, er befasse sich mit den Emotionen „nur als Naturwissenschaftler“ (AT XI, 326), nicht als Redner oder Moralphilosoph. Dies erweckt den Eindruck, als wolle er lediglich die physiologischen Mechanismen untersuchen, die eine Emotion auslösen. Betrachtet man dann seine Analyse und Klassifikation der Emotionen, scheint dieser Eindruck bestätigt zu werden. Descartes geht von der Feststellung aus, dass es sechs grundlegende Emotionen gibt (Verwunderung, Liebe, Hass, Begehren, Freude, Traurigkeit; vgl. AT XI, 380) und dass alle diese Emotionen durch äußere Objekte hervorgerufen werden, die auf die Sinnesorgane einwirken und dadurch Nervenreizungen auslösen, die wiederum bestimmte Hirnzustände verursachen. Jeder einzelne Hirnzustand korreliert mit einem geistigen Zustand, d. h. mit dem geistigen Erleben einer Emotion. Will man die Genese und Beschaffenheit einer Emotion erklären, muss man den kausalen Mechanismus analysieren, der von der Nervenreizung bis zum Entstehen des jeweiligen geistigen Zustandes führt. Will man zudem die Unterschiede zwischen den sechs Emotionen erläutern, muss man die unterschiedlichen Objekte (z. B. angenehme oder unangenehme, häufig oder selten vorhandene) in den Blick nehmen und genauer analysieren, wie sie auf die Sinnesorgane einwirken und welche Hirnzustände sie dadurch hervorrufen. Mit dieser naturwissenschaftlichen, auf eine Analyse von Kausalrelationen abzielenden Methode sind nicht nur die sechs grundlegenden Emotionen zu untersuchen, sondern auch die auf ihnen beruhenden „besonderen Emotionen“, zu denen die Furcht gehört. Descartes hält fest, Furcht entstehe beispielsweise dadurch, dass beim Anblick eines wilden Tiers ein Reiz ausgelöst werde. Dieser werde an das Gehirn weitergeleitet, in dem durch die Bewegung sogenannter „Lebensgeister“, d. h. materieller Partikel, ein Bild entstehe, das die Gestalt des Tieres darstelle. „Wenn diese Gestalt außerdem sehr fremdartig und schreckenerregend ist, d. h. wenn sie viel Beziehung zu den Dingen hat, die früher schon dem Körper schädlich waren, ruft das in der Seele die Leidenschaft der Angst hervor […].“ (AT XI, 356; H 61) Wie der Zustand in der Seele mit körperlichen Symptomen zusammenhängt, wie er strukturiert ist, welchen Einfluss er auf Handlungen hat und wie er gegebenenfalls überwunden oder abgeschwächt werden kann, scheint Descartes kaum zu interessieren. In seiner Analyse konzentriert er sich bloß auf den kausalen Mechanismus, der vom visuellen Reiz bis zu einem geistigen Zustand führt. Es ist daher
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nicht erstaunlich, dass seine Emotionentheorie lange Zeit als eine primitive mechanistisch-physiologische Gefühlstheorie betrachtet wurde, die auf die zentralen philosophischen Fragen gar nicht eingeht, geschweige denn eine interessante Antwort bietet.1 Eine solche Einschätzung wäre jedoch verfehlt. Descartes erörtert die metaphysische Frage, um welche Art von psychophysischem Zustand es sich bei einer Emotion handelt, genauso wie die kognitionstheoretische Frage, welchen repräsentationalen und evaluativen Gehalt ein solcher Zustand hat, und die handlungstheoretische Frage, in welchem Verhältnis er zu einer Handlung steht. Alle drei Fragen erörtert er im Rahmen einer dualistischen Konzeption von Körper und Geist. Es gilt daher, näher zu betrachten, wie er seine Emotionentheorie in diesen Rahmen integriert und zu welchen philosophisch relevanten Antworten er gelangt.
2. Zwei Substanzen und ein komplexer Zustand Descartes geht in seiner Metaphysik bekanntlich von der These aus, dass Geist und Körper zwei real (nicht nur begrifflich) verschiedene Substanzen sind, die je eigene Zustände haben. Nervenreizungen, Hirnzustände, Schweißausbrüche und Bewegungen der Beine sind Modi, d. h. Zustandsformen, der körperlichen Substanz. Mathematische Gedanken, Wahrnehmungserlebnisse und viele andere geistige Zustände hingegen sind Modi der denkenden Substanz. Da die beiden Substanzen real verschieden sind, sind auch die körperlichen und geistigen Modi real verschieden.2 Dies hat unweigerlich zur Folge, dass eine Emotion entweder als ein rein geistiger Modus (z. B. als das Erleben von Furcht) oder als ein Konglomerat aus körperlichen und geistigen Modi (z. B. aus einer Nervenreizung, einem Hirnzustand und einem geistigen Erlebnis) aufzufassen ist. Auf jeden Fall kann eine Emotion kein einheitlicher psychophysischer Zustand sein. Doch genau dieser scheinbar eindeutigen Konsequenz aus dem dualistischen Programm widerspricht _____________ 1
2
So behauptet Kenny 1992, 51f., Descartes fasse Emotionen als „rein private mentale Zustände“ auf, die auf kontingente Weise mit körperlichen Zuständen verbunden sind. Deigh 1994, 825 ordnet die cartesische Auffassung jenen unbefriedigenden Theorien zu, die Emotionen als nicht-intentionale, durch körperliche Prozesse verursachte Gefühle bestimmen. Diese Auffassung ist von Alanen 2003a, 165–207, bereits ausführlich kritisiert worden. Vgl. Principia I, 60 (AT VIII–1, 28–29; W 65–67).
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Descartes ganz zu Beginn der Passions de l’Ame. Er betont dort, eine Emotion sei ein „Erleiden“ (passion), und präzisiert dann: Jedoch, um zu beginnen, stelle ich fest, dass alles, was geschieht oder sich ereignet, allgemein von den Philosophen ein Leiden genannt wird in Hinsicht auf dasjenige, dem es geschieht, und ein Tun in Hinsicht auf dasjenige, das macht, dass es geschieht; dergestalt dass, obgleich das Tätige und das Leidende oft sehr unterschiedlich sind, das Tun und das Leiden nicht aufhören immer ein und dieselbe Sache zu sein, die diese zwei Namen hat aufgrund der zwei verschiedenen Gegenstände, auf die man sie beziehen kann. (AT XI, 328; H 5)3
Das Standardbeispiel, das in der aristotelisch-scholastischen Tradition für diese zweifache Betrachtung eines Zustandes gegeben wurde, war der Vorgang des Schneidens. Mit Blick auf das Messer ist das Schneiden ein Tun. Es gibt aber kein Schneiden, ohne dass etwas geschnitten wird. Daher ist das Schneiden mit Blick auf den Gegenstand, auf den das Messer angesetzt wird, ein Erleiden. Tun und Erleiden sind gleichsam zwei Seiten einer Medaille.4 Wendet man dieses Modell auf emotionale Zustände an, heißt dies, dass eine Emotion mit Blick auf den Körper, der mit seinen Hirnzuständen auf den Geist einwirkt, ein Tun ist. Mit Blick auf den Geist hingegen, der durch die Hirnzustände affiziert wird und dadurch ein Erlebnis hat, ist sie ein Erleiden. Wir haben es hier mit zwei Seiten oder Aspekten eines Prozesses zu tun. Entscheidend ist dabei, dass beide Seiten in gleicher Weise berücksichtigt werden müssen. Eine Emotion kann weder auf einen rein körperlichen Vorgang (etwa auf die kausale Kette, die vom Sinnesreiz bis zum Hirnzustand führt) noch auf einen rein geistigen Vorgang (etwa auf das Entstehen eines Furchterlebnisses) zurückgeführt werden. Und sie lässt sich schon gar nicht auf einen einzigen körperlichen oder geistigen Zustand reduzieren. Nun taucht allerdings ein Problem auf. Wie kann Descartes behaupten, dass die aktive und die passive Seite ein und dieselbe Sache sind, wenn es sich dabei doch um real verschiedene Modi handelt? Wie auch immer der Körper auf den Geist einwirken mag, der Hirnzustand ist und bleibt ein körperlicher Modus, das Furchterlebnis hingegen ein geistiger. Ein körperlicher und ein geistiger Modus können nicht ein und dieselbe Sache sein, weil sie ja zu real verschiedenen Substanzen gehören. Wie kann Descartes _____________ 3 4
Im Brief an Hyperaspistes vom August 1641 (AT III, 428) stimmt er dieser Auffassung explizit zu. Vgl. zu diesem Beispiel, an das sich Descartes sehr wahrscheinlich anlehnt, Brown/Normore 2003, 89f.; zum aristotelischen Hintergrund vgl. James 1997, 29–46.
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an seinem Dualismus festhalten und gleichzeitig den psychophysischen Doppelaspekt einer Emotion betonen? In der Tat, so könnte man sogleich erwidern, liegen real verschiedene Modi vor. Bei einer Emotion handelt es sich ontologisch gesehen nicht um eine Sache, sondern um mehrere, die höchstens deshalb „ein und dieselbe Sache“ genannt werden können, weil sie kausal miteinander verbunden sind. Da Descartes jedoch betont, dass eine Emotion eine Perzeption ist, „die man allein auf die Seele bezieht“ (AT XI, 347; H 43), macht streng genommen nur der geistige Modus die Emotion aus. Die körperlichen Modi können höchstens Auslöser für diesen Modus oder Begleiterscheinungen sein.5 Konkret heißt dies: Zwar scheint uns, als gehörten zur Furcht ein Hirnzustand, Schweißausbruch und ein geistiges Erlebnis. Doch streng genommen besteht die Furcht allein aus dem geistigen Erlebnis. Der Hirnzustand ist nur dessen Ursache, und der Schweißausbruch stellt lediglich ein körperliches Symptom dar. Diese Interpretation löst zwar das ontologische Problem, vermag aber nicht zu erklären, warum Descartes körperliche und geistige Zustände als zwei Seiten einer Medaille auffasst. Wenn die körperlichen Zustände nämlich nur Ursachen oder Begleiterscheinungen darstellen, die von der Emotion real verschieden sind, können sie – zumindest prinzipiell – jederzeit von der Emotion abgetrennt werden. Ich könnte also Furcht erleben, ohne einen Hirnzustand zu haben, der durch ein furchteinflößendes Tier oder Ähnliches ausgelöst wurde, und ohne in Schweiß auszubrechen. Dies ist nicht nur kontraintuitiv (was sollte denn das „nackte Erleben“ sein?), sondern widerspricht auch Descartes’ Grundthese, dass jedes Erleiden im Geist immer mit einer Aktivität im Körper einhergeht. Wenn es hier tatsächlich zwei Seiten einer Medaille gibt, muss eine enge, nicht beliebig auflösbare Beziehung zwischen den körperlichen Zuständen und dem geistigen Erleben bestehen. Um diese Schwierigkeit zu beheben, könnte man eine zweite Interpretation vorschlagen und eine Emotion als einen besonderen Modus deuten, der sowohl im Körper als auch im Geist verankert ist und gleichsam eine Brücke zwischen beiden schlägt.6 Mit Blick auf seine Verankerung im _____________ 5 6
So versteht Kenny 1992, 51, die Struktur der Emotionen. Hoffman 1990, 313 schlägt diese Interpretation vor und spricht von „straddling modes“. In Hoffman 1986, 346 vertritt er sogar die These, es gebe eine umfassende Substanz, die sich aus Körper und Geist zusammensetzt. Genau in dieser komplexen Substanz sei der komplexe Modus angesiedelt. Auch Alanen 2003b, 108 spricht von „a third kind of individual thing or substance“.
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Körper ist er ein Handeln (der Hirnzustand wirkt auf den Geist ein), mit Blick auf seine Verankerung im Geist hingegen ist er ein Erleiden (der Geist erfährt einen Eindruck und hat dadurch ein bestimmtes Erlebnis). Da es sich um einen einzigen komplexen Modus handelt, ist natürlich die enge Verknüpfung von körperlicher Ursache und geistigem Erlebnis garantiert. So kann ich keine Furcht erleben, ohne in einem bestimmten Hirnzustand zu sein, und umgekehrt kann dieser Hirnzustand nicht ohne ein Furchterlebnis auftreten. Das Problem dieser Interpretation besteht freilich darin, dass sie einem Grundprinzip der cartesischen Metaphysik widerspricht. Ein Modus ist nämlich nichts anderes als die Art und Weise, wie eine Substanz zu einem bestimmten Zeitpunkt beschaffen ist und sich dadurch in einem bestimmten Zustand befindet.7 Es kann aber nicht einen einzigen Modus in zwei real verschiedenen Substanzen geben, sondern immer nur real verschiedene Zustandsformen dieser Substanzen. Zum Vergleich: Wenn die Glätte eines Gegenstandes die Art und Weise ist, wie seine Oberfläche beschaffen ist, kann es nicht eine einzige Glätte in zwei real verschiedenen Gegenständen geben. Jeder Gegenstand hat aufgrund seiner Oberflächenstruktur seine eigene Glätte. Ebenso haben Körper und Geist ihren je eigenen Modus. Damit bleibt das Grundproblem bestehen. Wie kann Descartes einerseits dualistisch argumentieren, dass real verschiedene Modi vorliegen, andererseits aber betonen, dass diese Modi im Falle einer Emotion lediglich zwei Seiten ein und derselben Sache sind? Diese Frage lässt sich beantworten, wenn die Einheit von Körper und Geist betrachtet wird, auf die Descartes bereits in der VI. Meditation hinweist. Er hält dort fest, sein Geist befinde sich nicht einfach in seinem Körper, wie ein Seemann in seinem Schiff anwesend ist, sondern sei „mit ihm sehr eng verbunden und sozusagen vermischt“ (AT VII, 81; S 223).8 Damit betont er, dass die körperlichen und die geistigen Zustände nicht einfach zufälligerweise oder nur gelegentlich zusammen auftreten. Wenn eine bestimmte Verletzung im Fuß besteht, geht damit im Normalfall eine Schmerzempfindung einher. Und wenn ein visueller Reiz von einem bedrohlichen Tier vorliegt, löst er im Normalfall Furcht aus.9 Descartes weist mit Nachdruck darauf _____________ 7 8 9
Vgl. Principia I, 56 (AT VIII–1, 26; W 61). Descartes widersetzt sich damit einem platonischen Modell. Vgl. ausführlich Rodis-Lewis 1990, 19–38; Rozemond 1998, 139–171; Perler 2002. Es ist zu betonen, dass dies nur für den Normalfall gilt, in dem keine gezielte Steuerung der emotionalen Reaktion erfolgt. Wie noch ausgeführt wird (vgl. Ab-
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hin, dass es „eine von Gott instituierte Ordnung der geschaffenen Dinge“ (AT VII, 80; S 223) gibt, die körperliche und geistige Modi einander zuordnet. Im Rahmen dieser Ordnung ist es ausgeschlossen, dass eine Furcht als isoliertes geistiges Erlebnis auftritt. Dass eine enge, durch eine natürliche Ordnung geregelte Verbindung zwischen diesen Modi besteht, betont Descartes auch in einem Brief an die Prinzessin Elisabeth, in dem er drei Grundbegriffe unterscheidet.10 Er erläutert, dass es erstens einen Begriff für den Körper und dessen Zustände gibt, zweitens einen Begriff für den Geist und dessen Zustände und drittens einen Begriff für die Körper-Geist-Einheit und alle Zustände dieser Einheit. Entscheidend ist dabei, dass der dritte Begriff nicht auf die beiden ersten zurückgeführt oder in sie aufgelöst werden kann, auch wenn es ontologisch gesehen nur zwei Arten von Substanzen gibt. Hier handelt es sich um einen Grundbegriff, der auf eine besondere Einheit anzuwenden ist, in der bestimmte Zustände einander zugeordnet sind. Will man diese Einheit verstehen und adäquat beschreiben, muss man die geistigen und körperlichen Zustände in ihrer kausalen Verknüpfung in den Blick nehmen. Angesichts dieser Betonung einer besonderen Einheit lässt sich nun erklären, wie geistige und körperliche Zustände real verschieden und trotzdem „ein und dieselbe Sache“ sein können. Sie sind ontologisch gesehen zwar real verschieden, aber nicht in dem Sinne, wie die Oberflächen zweier materieller Gegenstände real voneinander verschieden sind. Im Gegensatz zu den Oberflächen sind sie nämlich gemäß einer natürlichen Ordnung miteinander verknüpft und treten immer zusammen auf, solange die geltende Ordnung nicht gezielt verändert wird. Diese Verknüpfung erfolgt derart, dass der Modus im Körper ein Handeln ist (der Hirnzustand wirkt auf den Geist ein) und der Modus im Geist ein Erleiden (der Geist wird affiziert und hat dadurch ein Erlebnis). Descartes betont daher, „dass eine solche Verbindung zwischen unserer Seele und unserem Körper besteht, dass, nachdem wir einmal eine körperliche Tätigkeit mit einem Gedanken verbunden haben, sich uns später der eine von beiden nicht darbietet, ohne dass sich der andere auch darbietet“ (AT XI, 407; H 163). _____________ schnitt 4), berücksichtigt Descartes auch Fälle, in denen die Verknüpfung von körperlichem und geistigem Zustand willentlich verändert werden kann. Aber auch in diesen Sonderfällen wird die psychophysische Relation nicht einfach aufgehoben, sondern neu festgelegt. 10 Vgl. den Brief vom 21. Mai 1643 (AT III, 665); ausführlich dazu Alanen 1996 und Perler 1996b.
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Jemand kann also im Normalfall gar nicht Furcht erleben, ohne dass er auch einen Schweißausbruch und andere körperliche Zustände hat. Mit dieser Erklärung werden natürlich nicht alle Fragen beantwortet. Das grundsätzliche Problem, wie die Modi zweier unterschiedlich gearteter Substanzen überhaupt verknüpft oder gar kausal miteinander verbunden sein können, bleibt bestehen; der cartesische Dualismus wirft unweigerlich ein Interaktionsproblem auf.11 Doch zumindest ein Vorwurf, der immer wieder gegen die cartesische Theorie erhoben wurde, lässt sich zurückweisen. Descartes fasst Emotionen nicht als rein geistige Zustände auf, die lediglich kontingenterweise mit körperlichen Zuständen einhergehen. Gerade weil sie nur der Körper-Geist-Einheit zugeschrieben werden können, müssen sie als komplexe Zustände betrachtet werden, die geistige und körperliche Anteile haben.12
3. Der repräsentationale Gehalt von Emotionen Bislang ist zwar deutlich geworden, dass eine Emotion nicht auf einen rein geistigen Zustand reduziert werden kann. Die Struktur des geistigen Erlebnisses als einer Komponente des Gesamtzustandes bleibt aber noch unklar. Handelt es sich dabei – modern gesprochen – um einen rein phänomenalen Zustand, der sich auf eine bestimmte Weise „anfühlt“, jedoch nichts repräsentiert? Diese Annahme lässt sich sogleich zurückweisen. Descartes hält in der III. Meditation nämlich fest, dass alles, was im Geist ist, ein Gedanke (cogitatio) ist. Einige Gedanken sind „gleichsam Bilder von Gegenständen“, weil sie diese repräsentieren. Für andere gilt: Andere Gedanken haben aber außerdem gewisse andere Formen: zum Beispiel wenn ich will, wenn ich fürchte, wenn ich bejahe oder wenn ich verneine, erfasse ich zwar immer irgendeine Sache als den Gegenstand meines Gedankens, aber ich umfasse mit dem Gedanken auch noch mehr als eine Abbildung dieser Sache; und von diesen Gedanken werden die einen Willensakte oder Affekte, die anderen aber Urteile genannt. (AT VII, 37; S 105)
_____________ Darauf haben Kommentatoren immer wieder hingewiesen; vgl. eine Diskussion in Perler 1996a, 123–160, und Baker/Morris 1996, 50–58. Dieses Problem besteht freilich für alle geistigen Zustände, die durch Hirnzustände ausgelöst werden (z. B. Sinneswahrnehmungen und Empfindungen), nicht nur für Emotionen. 12 Brown 2006, 3, spricht daher zu Recht von einem „phänomenologischen Monismus“. Nur eine Person, in der bestimmte körperliche und geistige Zustände miteinander verknüpft sind, kann Emotionen haben. Ein solcher Monismus ist kompatibel mit einem metaphysischen Dualismus. 11
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Auch wenn ich mich fürchte, repräsentiere ich etwas, mein geistiger Zustand hat darüber hinaus aber noch eine „gewisse andere Form“. Was ist darunter zu verstehen? Sicherlich zielt Descartes damit nicht auf eine zusätzliche Repräsentation ab. Wenn ich mich vor dem Rottweiler fürchte, repräsentiere ich nicht den Hund und darüber hinaus noch einen weiteren Gegenstand. Ich repräsentiere auch nicht den auslösenden Hirnzustand; dazu müsste ich aufwendige neurowissenschaftliche Forschungen anstellen. Ebenso wenig habe ich eine Metarepräsentation, denn ich repräsentiere nicht meinen eigenen Zustand des Repräsentierens. Wenn Descartes auf eine „Form“ hinweist, betont er damit nur, dass es eine bestimmte Art des Repräsentierens gibt. So kann ich ganz gelassen an den Hund denken, aber auch aufgeregt, voller Freude oder in Furcht. In allen diesen Fällen ist das Objekt meiner Repräsentation genau gleich, doch die Art und Weise, wie ich es repräsentiere, ist jedes Mal verschieden. Es gilt daher in einer Analyse der Repräsentation nicht nur zu fragen, was repräsentiert wird, sondern auch wie etwas repräsentiert wird. Berücksichtigt man diese beiden Aspekte einer Repräsentation, wird deutlich, dass Descartes Emotionen keineswegs auf nicht-intentionale Erlebnisse reduziert. Zwar haben sie aufgrund der besonderen „Form“ einen Erlebnischarakter. Wer sich vor dem Rottweiler fürchtet, hat ja ein anderes Erlebnis als der Hundehalter, der sich über seinen Gefährten freut. Bei diesem Erlebnis handelt es sich aber nicht um einen nicht-intentionalen Zustand (etwa um pure Furcht oder Freude, die auf nichts bezogen wird), sondern um den phänomenalen Charakter des jeweiligen intentionalen Zustandes. Dieser lässt sich am besten mit einer adverbialen Wendung umschreiben. So kann man etwa sagen, dass man sich furchterfüllt oder freudig auf den Hund bezieht. Aber wie auch immer man sich auf ihn bezieht, man verfügt über eine geistige Repräsentation. Und das heißt für Descartes immer: Man verfügt über eine Idee, die eine „objektive Realität“ aufweist und dadurch auf ein Objekt verweist.13 Doch was genau wird repräsentiert? Man könnte vermuten, dass dies ganz einfach der Gegenstand ist, der auf den Körper einwirkt, Sinnesreize auslöst und dadurch den intentionalen Zustand hervorruft. Somit wird in der Furcht ganz einfach der Hund repräsentiert – die Ursache der Emotion ist gleichzeitig ihr Objekt. Eine solche simple Antwort entspricht indessen nicht Descartes’ Auffassung, und zwar aus drei Gründen. _____________ 13
Vgl. III. Med. (AT VII, 40–43); zur Repräsentationstheorie vgl. ausführlich Kemmerling 1996, 17–76; Perler 1996a und 2004; Hoffman 2002.
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Erstens ist zu beachten, dass Descartes die Emotionen von anderen geistigen Zuständen abgrenzt, indem er sie folgendermaßen charakterisiert: Die Wahrnehmungen, die man allein auf die Seele bezieht, sind diejenigen, deren Wirkung man als in der Seele selbst gegeben fühlt und von denen man gewöhnlich keinerlei nächste [Haupt]- Ursache, auf die man sie beziehen könnte, kennt. Dazu gehören die Freude, der Zorn und andere ähnliche Empfindungen […]. (AT VII, 347; H 43)
Gerade dadurch, dass die Emotionen auf die Seele bezogen werden, unterscheiden sie sich einerseits von den Sinnesempfindungen, die auf den Körper bezogen werden (z. B. wird das Hungergefühl dem Magen zugeschrieben), und andererseits von den Sinneswahrnehmungen, die auf äußere Gegenstände bezogen werden (z. B. wird die in der Wahrnehmung präsente Farbe einem materiellen Gegenstand zugeschrieben). Dies bedeutet freilich nicht, dass sich Emotionen ausschließlich auf die Seele beziehen und nur diese repräsentieren. Die Pointe liegt vielmehr darin, dass zwar ein äußerer Gegenstand repräsentiert wird, dieser aber immer in seiner Wirkung auf die Seele erfasst wird; genau die Wirkung wird auf die Seele bezogen und unmittelbar erlebt. Wenn ich also erstarrt vor dem Hund stehe, beziehe ich mich auf den Hund, insofern er mir bedrohlich erscheint und insofern er in mir Furcht auslöst. Diese Emotion unterscheidet sich von einem „kühlen“ Gedanken. Würde etwa ich als Preisrichter den Rottweiler auf einer Hundeausstellung betrachten, würde ich eine möglichst objektive Beschreibung seiner anatomischen Eigenschaften geben, aber ich würde mich keineswegs über die Wirkung, die er auf meinen Geist ausübt, auf ihn beziehen. Im Gegensatz zu dieser objektiven Repräsentation liegt in einer Emotion eine subjektive vor: Der äußere Gegenstand wird nicht so repräsentiert, wie er an sich ist, sondern wie er auf eine bestimmte Person wirkt. Aus diesem Grund gibt es in einer Emotion keine klare und deutliche Repräsentation. In einer solchen Repräsentation müsste der Gegenstand nämlich nur mit jenen geometrischen und kinematischen Eigenschaften erfasst werden, die er wirklich hat.14 Zudem müsste er von jeder Person in gleicher Weise repräsentiert werden. Dies ist bei einer Emotion aber nicht der Fall. Dem Gegenstand werden ja viele Eigenschaften zugeschrieben, die er nur in seiner Wirkung auf den jeweiligen Betrachter hat (z. B. wirkt der Hund nur auf mich bedrohlich und wird nur von mir so repräsentiert, nicht vom Hundehalter). Aus diesem Grund wäre es eine _____________ 14
Paradigmatisch dafür ist das Wachsbeispiel in der II. Med. (AT VII, 30–31; S 87–91).
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unzulässige Vereinfachung, einfach den äußeren Gegenstand als das Objekt der Repräsentation zu bestimmen. Das Objekt ist vielmehr dieser Gegenstand, insofern er von einer Person mit bestimmten Eigenschaften erfasst wird und dadurch eine Wirkung erzielt, mag er diese Eigenschaften nun objektiv gesehen haben oder nicht. (Wenn sich jemand vor einem kleinen Pudel fürchtet, mag dies lächerlich erscheinen. Trotzdem erscheint der Pudel dieser Person bedrohlich, und genau diese Repräsentation ist für die Entstehung der Furcht entscheidend.) Descartes gibt selber Beispiele für derartige subjektive Repräsentationen. So stellt er fest: „Aber wenn uns eine Sache als unserer Ansicht nach gut vorgestellt wird, d. h. als uns zuträglich, so bewirkt das, dass wir für sie Liebe empfinden […].“ (AT XI, 374; H 97) Es geht nicht darum, wie der Gegenstand objektiv gesehen ist, sondern wie er auf uns wirkt und wie er sich unserer Ansicht nach verhält. Ähnliches gilt für die Verehrung und Verachtung: „Wenn es [sc. ein Gut] uns aber als anderen Menschen zugehörig vorgestellt wird, können wir sie dessen würdig oder unwürdig erachten.“ (AT XI, 376f.; H 101f.) Auch hier lautet die entscheidende Frage nicht, ob ein bestimmtes Gut wirklich anderen Menschen gehört, sondern ob wir es so repräsentieren. Eng damit verbunden ist ein weiterer Punkt. Wenn wir in einer Emotion einen Gegenstand, einen anderen Menschen oder sogar uns selbst repräsentieren, evaluieren wir das Objekt auch: Wir bewerten es als gut oder schlecht, nützlich oder abträglich. Alle Beschreibungen, die Descartes von den einzelnen Emotionen gibt, sind Beispiele für evaluative Repräsentationen. So hält er fest, dass wir Freude empfinden, wenn wir etwas als gut betrachten, Trauer hingegen, „wenn es sich um ein Gut oder Übel handelt, dessen wir uns als teilhaftig ansehen“ (AT XI, 376; H 101). Und wir empfinden Selbstzufriedenheit, wenn wir uns vorstellen, dass wir selber etwas Gutes getan haben, Reue hingegen, wenn wir feststellen, dass wir Schlechtes bewirkt haben (AT XI, 377; H 103). Die gesamte Klassifikation, die Descartes für die Emotionen erstellt, beruht auf einer Unterscheidung verschiedener Evaluationen. Aus diesem Grund wäre es unzulässig, einfach die äußere Ursache einer Emotion als das Objekt der Repräsentation zu bezeichnen. Das Objekt ist vielmehr die äußere Ursache, die in ihrer Wirkung auf ein Subjekt erfasst und bewertet wird. Freilich gilt auch hier wieder, dass es keine Rolle spielt, ob die Bewertung korrekt oder angemessen ist. Es mag sein, dass jemand einen anderen Menschen verehrt, weil er fälschlicherweise meint, dieser habe ein ertrinkendes Kind aus den Fluten gerettet und deshalb Großartiges geleistet. Selbst wenn die Meinung und die darin enthaltene Bewertung falsch ist, macht sie den
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Kern der Verehrung aus. Man kann eine Emotion nur verstehen, wenn man analysiert, wie ein Gegenstand subjektiv erscheint (mag dies objektiv gesehen korrekt sein oder nicht) und wie er bewertet wird (mag dies objektiv gesehen gerechtfertigt sein oder nicht). Schließlich ist noch ein dritter Punkt zu beachten. Bislang wurde vorausgesetzt, dass die äußere Ursache einer Emotion auch das unmittelbare Objekt der Repräsentation und Evaluation ist. Dies ist tatsächlich häufig der Fall, aber keineswegs immer. Ursache und Objekt der Repräsentation sind nicht notwendigerweise identisch. Descartes gibt dafür ein amüsantes autobiografisches Beispiel.15 Er schreibt, er habe als Kind ein Mädchen gemocht, das geschielt habe. Wenn er dann später schielende Personen gesehen habe, habe er sich spontan zu ihnen hingezogen gefühlt, und zwar genau wegen dieser Auffälligkeit. Offensichtlich ist das Objekt seiner späteren Sympathie nicht mit der ursprünglichen Ursache identisch. Die Personen, die er später gesehen hat, haben die Emotion ja nicht verursacht, sondern nur reaktiviert. Hier liegt ein Übertragungseffekt vor. Das heißt: Die ursprüngliche Ursache wurde in bestimmter Hinsicht (nämlich als schielend) repräsentiert und als sympathisch bewertet. Alle späteren Personen, die in gleicher Hinsicht repräsentiert wurden, wurden dann gleich bewertet. Daher hatte Descartes ihnen gegenüber ebenfalls eine emotional positive Einstellung. Das Interessante an diesem Beispiel besteht darin, dass ein Repräsentations- und Evaluationsmuster entsteht, das von der ursprünglichen Ursache abgelöst und auf weitere Objekte übertragen werden kann. Entscheidend ist für das Entstehen einer Emotion dann nicht, dass die ursprüngliche Ursache immer noch präsent ist, sondern dass das Muster reaktiviert und auf ein bestimmtes Objekt angewendet wird. Dieses Objekt muss nicht selber eine bestimmte Repräsentation und Evaluation verursachen, sondern nur die Aktivierung des bereits bestehenden Musters auslösen. Angesichts dieser Präzisierungen lässt sich nun die Struktur genauer fassen, die Descartes den Emotionen zuschreibt. Betrachtet man von dem ganzen psychophysischen Zustand den Anteil im Geist, so ist eine Emotion ein Zustand, der (a) mit einer bestimmten Qualität erlebt wird, (b) einen äußeren Gegenstand in seiner Wirkung auf den Geist repräsentiert, (c) ihn evaluiert und (d) ein Repräsentationsmuster festlegt, das auf andere Gegenstände übertragbar ist. Mit dieser Charakterisierung vermeidet Descartes zwei einseitige Strukturbeschreibungen. _____________ 15
Vgl. den Brief an Chanut vom 6. Juni 1647 (AT V, 57).
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Einerseits distanziert er sich von einer rein physiologischen Theorie, die Emotionen einfach als nicht-intentionale, durch körperliche Prozesse hervorgerufene Gefühle versteht. Descartes misst den körperlichen Prozessen zwar eine wichtige Rolle bei und erläutert sie ausführlich im Rahmen der zu seiner Zeit neuen mechanistischen Physiologie.16 Doch er ist sich bewusst, dass die Frage nach der körperlichen Verursachung von Emotionen nicht mit der Frage nach ihrer Struktur im Geist verwechselt werden darf. Ihre Struktur kann man nur adäquat erfassen, wenn man sie als Zustände versteht, die Gegenstände – in den meisten Fällen Objekte in der materiellen Welt – darstellen und bewerten. Emotionen sind daher genuin kognitive Zustände. Freilich handelt es sich nicht um Zustände, die einen objektiven Zugang zur materiellen Welt ermöglichen. Emotionen zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie die Gegenstände so repräsentieren, wie sie subjektiv bewertet werden.17 Andererseits distanziert sich Descartes auch von einer rein kognitivistischen Theorie, die (wie etwa die stoische Theorie) Emotionen mit evaluativen Urteilen gleichsetzt. Eine solche Theorie übersieht, dass körperliche Zustände genauso zu einer Emotion gehören wie eine geistige Repräsentation, und zwar nicht nur als kontingente Begleiterscheinungen, sondern als unverzichtbare Ursachen und Symptome. Zudem lässt eine rein kognitivistische Theorie unberücksichtigt, dass eine Emotion eine besondere Erlebnisqualität hat, die nicht eliminiert oder auf den Gehalt einer Repräsentation reduziert werden kann. Diese facettenreiche Strukturbeschreibung erlaubt es Descartes, die Emotionen als Naturwissenschaftler zu beschreiben, ohne sie auf mechanistisch beschreibbare Vorgänge im Körper zu reduzieren. Weil sie Repräsentationen sind, müssen sie immer auch als geistige Zustände analysiert werden. Besonders deutlich zeigt sich sein Interesse an der geistigen Struktur der Emotionen in der Diskussion einer besonderen Klasse von Emotionen, die er „intellektuelle Emotionen“ nennt.18 So gibt es seiner _____________ Damit grenzt er sich von den Aristotelikern ab, die Emotionen einer sensitiven Seele zuschrieben, jedoch die körperlichen Prozesse nicht oder nur ungenügend beachteten. Vgl. dazu Hatfield 1992 und Kambouchner 1995, 129–205. 17 Daran wird deutlich, dass die Analyse von Emotionen nicht dem für die Meditationes kennzeichnenden Projekt einer „reinen Untersuchung“ dient, die auf eine objektive Erkenntnis der Welt abzielt (vgl. zu diesem Projekt Williams 1978). Descartes verfolgt spätestens in den Passions de l’Ame noch ein weiteres Projekt: Die psychophysischen Mechanismen, die dazu führen, dass die Welt individuell unterschiedlich repräsentiert wird, sollen aufgedeckt und erklärt werden. 18 Vgl. ausführlich Perler 1996b, 65f. 16
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Ansicht nach neben der Freude, die durch einen als gut und zuträglich bewerteten Gegenstand verursacht wird, auch noch die rein intellektuelle Freude, die „in der Seele allein durch ihre eigene Tätigkeit entsteht und die man eine angenehme Emotion, die in ihr selbst und durch sie selbst erregt wird, nennen kann, und die den Genuss von etwas Gutem enthält, das der Verstand als ihr zugehörig darstellt.“ (AT XI, 397; H 143) Konkret heißt dies: Ich kann nicht nur in den Zustand der Freude geraten, indem ich einen alten Freund plötzlich wiedersehe und ihn als mir wichtige, eng verbundene Person repräsentiere. Ich kann auch in seiner Abwesenheit an ihn denken und ihn ebenfalls als eine mir wichtige Person vorstellen. Durch diesen rein geistigen Vorgang gerate ich in den Zustand der Freude. Oder ich kann lange an einem mathematischen Problem herumbasteln. Wenn ich dann endlich die erhoffte Lösung finde und erkenne, dass es sich um eine wichtige Einsicht handelt, versetzt mich diese Erkenntnis in Freude. Wichtig ist hier, dass eine Emotion auch durch einen rein geistigen Prozess zustande kommen kann, ohne dass es eine körperliche Ursache gibt, ja sogar ohne dass es einen äußeren Auslöser für die Aktivierung eines bereits vorhandenen Repräsentationsmusters gibt. Ein bloßer Gedanke kann eine Emotion hervorrufen. Freilich gilt auch für diese Emotion, dass sie auf etwas bezogen ist (z. B. auf den Freund oder auf die mathematische Lösung) und somit etwas repräsentiert. Und auch diese Emotion bewertet das Objekt und repräsentiert es auf eine bestimmte Art und Weise (z. B. freudig und nicht etwa traurig). Die Tatsache, dass für die Entstehung einer solchen Emotion kein äußerer Gegenstand erforderlich ist, verdeutlicht aber, dass Descartes von einer Theorie Abstand nimmt, die eine Emotion einfach als innere Reaktion auf einen äußeren Reiz versteht. Entscheidend ist für eine Emotion eine kognitive Relation: Ein Gegenstand muss erfasst und bewertet werden. Wie diese Relation zustande kommt (durch unmittelbare äußere Reize oder durch bloßes Nachdenken), spielt eine untergeordnete Rolle.
4. Die kognitive Steuerung von Emotionen Bislang ist zwar deutlich geworden, wie eine Emotion entsteht und welche Struktur sie aufweist. Doch es ist noch unklar geblieben, wie sie das Verhalten einer Person beeinflusst oder gar steuert, und wie sie ihrerseits kontrolliert werden kann. Bewirkt die Furcht vor dem Hund, dass ich unmit-
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telbar erstarre? Und kann ich diese Furcht durch eine Überlegung, eine andere Emotion oder einen Willensentscheid irgendwie in den Griff bekommen? Descartes widmet sich eingehend diesen Problemen, auch wenn er keine ausgereifte Handlungstheorie vorlegt. Dabei geht er vom Grundsatz aus, dass Emotionen in der Tat einen Einfluss auf das Verhalten einer Person haben, weil sie in einer Kausalrelation zu körperlichen Zuständen stehen. Allerdings sind zwei Arten von Kausalrelationen zu unterscheiden. Die erste besteht zwischen einer Emotion und sogenannten äußeren Zeichen. Descartes nennt folgende: „Die hauptsächlichsten Zeichen sind die Bewegungen der Augen und des Gesichts, der Wechsel der Gesichtsfarbe, das Zittern, die Mattigkeit der Ohnmacht, das Lachen, die Tränen, das Jammern und die Seufzer.“ (AT XI, 411; H 171) Jede Emotion ist mit einem bestimmten äußeren Zeichen verbunden, ja löst es sogar aus. Descartes gibt eine detaillierte Beschreibung der physiologischen Prozesse, die durch eine Emotion ausgelöst werden. So behauptet er, die Trauer bewirke, dass das Blut in den Venen langsamer fließe, sodass weniger Blut in das Gesicht gelange und dieses immer bleicher werde (AT XI, 414; H 177). Die Freude bewirke gerade umgekehrt, dass sich die Herzklappen öffnen, das Blut schneller fließe und das Gesicht erröte (AT XI, 413; H 175). Entscheidend sind hier nicht so sehr die physiologischen Details, die natürlich einer mechanistischen Physiologie verpflichtet sind. Wichtig ist vielmehr die Grundthese, dass Emotionen unmittelbar – ohne willentliche Steuerung – bestimmte körperliche Zustände auslösen, die als äußere Zeichen den jeweiligen inneren Zustand anzeigen. Wenn ich also vor dem Hund stehe und mich vor ihm fürchte, kann ich im ersten Moment gar nicht anders, als bleich zu werden und zu erstarren. Genau dadurch ist für eine andere Person erkennbar, dass ich mich fürchte.19 Ich entscheide mich nicht, stehen zu bleiben, und ich werte auch nicht verschiedene Optionen aus. Meine Furcht ruft unmittelbar eine bestimmte Gesichtsfarbe und ein körperliches Verhalten hervor. Diese kausale Verknüpfung ist durch die bereits erläuterte natürliche Ordnung festgelegt: Gott hat Körper und Geist so aufeinander abgestimmt, dass bestimmte geistige Zustände bestimmte körperliche Zustände hervorrufen. Es wäre daher un_____________ 19
Daher spielt die kausale Verknüpfung für die Erkennbarkeit von Fremdpsychischem eine zentrale Rolle. Eine andere Person kann nicht unmittelbar meinen geistigen Zustand sehen, wohl aber das äußere Zeichen, das – zumindest im Rahmen der natürlichen Ordnung – eindeutig die Furcht anzeigt. Vgl. dazu Perler 1995 und Avramides 2001, 50–67.
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sinnig, hier nach einer willentlichen Steuerung zu suchen. Wo ein rein kausaler Mechanismus vorliegt und der Wille keine Rolle spielt, kann auch keine willentliche Steuerung erfolgen. Dies heißt freilich nicht, dass jede willentliche Steuerung ausgeschlossen ist. Es gibt nämlich noch eine zweite, komplexere Form von kausaler Verknüpfung. Descartes zufolge kann eine Emotion einen Willensakt auslösen, der wiederum einen körperlichen Zustand verursacht. Der besondere Nutzen vieler Emotionen besteht gerade darin, „dass sie die Seele veranlassen, das zu wollen, was die Natur uns als nützlich angibt, und in diesem Willen beharrlich zu sein […]. “ (AT XI, 372; H 93) Auch dafür gibt Descartes zahlreiche Beispiele. Die Bewunderung bewirkt, dass wir uns den bewunderten Objekten besonders zuwenden wollen und dazu gebracht werden, „mit Aufmerksamkeit die Objekte zu betrachten, die ihr [sc. der Seele] als selten und außerordentlich erscheinen.“ (AT XI, 380; H 109) Die Verwunderung dient dazu, „dass wir Dinge bemerken, die wir bis dahin nicht gewusst haben, und sie im Gedächtnis bewahren.“ (AT XI, 384; H 117) Das Wohlgefallen wiederum bewirkt, dass man etwas genießt und „äußerst brennend nach diesem Genuss verlangt.“ (AT XI, 395; H 139) Diese Aussagen mögen auf den ersten Blick trivial erscheinen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass sie alle auf ein kausales Vermögen der Emotionen innerhalb des Geistes verweisen, das Auswirkungen auf das Verhalten einer Person hat. Eine Emotion löst nämlich einen bestimmten Willensakt aus, der wiederum einen Hirnzustand und schließlich ein körperliches Verhalten bewirkt. Für das Hunde-Beispiel bedeutet dies: Meine Furcht bewirkt zwar im ersten Moment, dass ich erstarre, aber sie löst auch den Willensakt aus, dass ich dem Hund aus dem Weg gehen will. Dies wiederum hat zur Folge, dass ich mich langsam in Bewegung setze und am Rottweiler vorbeischleiche. Somit gibt es nicht nur ein spontanes, nicht steuerbares Verhalten (Erstarren, Erbleichen usw.), sondern auch ein gesteuertes Verhalten. Es ist ja gerade die Emotion, die den Willen aktiviert und dadurch ein gezieltes Verhalten ermöglicht. Allerdings könnte man sogleich einwenden, dass hier nur in eingeschränktem Maße von einer Steuerung des Verhaltens die Rede sein kann. Wenn ich mich vor dem Hund fürchte, löst dies nämlich automatisch die Entscheidung aus, dass ich verschwinden will, was wiederum automatisch zur Folge hat, dass ich mich in Bewegung setze. Würde eine willentliche Steuerung nicht voraussetzen, dass ich verschiedene Optionen erfasse und mich für eine entscheide? Müsste ich angesichts des bedrohlichen Hundes nicht zumindest die Wahl haben, mich für das Weggehen oder das Ste-
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henbleiben zu entscheiden? Solange meine Furcht nur einen einzigen Willensakt auslöst, lässt sich kaum von einer Steuerung sprechen. Dann liegt nur eine simple kausale Kette (Emotion Ⱥ Willensentscheid Ⱥ Verhalten) vor. In der Tat liegt in diesem Fall kaum eine gezielte Wahl eines bestimmten Verhaltens vor. Viele Emotionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine freie Wahl ermöglichen, sondern eine Person gleichsam zu einem bestimmten Entscheid drängen. So bewirkt die Bewunderung, dass man das bewunderte Objekt haben möchte; sie lässt nicht offen, ob man sich für oder gegen dieses Objekt entscheiden sollte. Und das Wohlgefallen bewirkt, dass man etwas genießen möchte; es lässt nicht offen, ob man sich für oder gegen den Genuss entscheiden sollte. Eine Pointe der cartesischen Theorie liegt gerade darin, dass sie auf diese determinierende Funktion der Emotionen aufmerksam macht: Wenn wir in einem bestimmten emotionalen Zustand sind, werden wir auf einen bestimmten Willensentscheid festgelegt. Wir würden einer Selbsttäuschung erliegen, wenn wir glaubten, wir seien in unserem Wollen vollkommen frei. Dies heißt freilich nicht, dass wir durch die Emotionen in unserem Wollen und Handeln vollständig determiniert sind. Descartes weist ausdrücklich darauf hin, dass eine theoretische Beschäftigung mit den Emotionen dem Ziel dient, „ihrer Herr zu werden“ (AT XI, 488; H 325). Wenn wir nämlich einsehen, dass Emotionen nicht nur unsere Willensentscheide festlegen, sondern dass umgekehrt auch unsere Überlegungen und Willensentscheide einige Emotionen abschwächen oder gar beseitigen können, werden wir uns bewusst, dass wir Emotionen auch kontrollieren können. Wie sieht aber eine solche Kontrolle aus? Eine mögliche Kontrolle ergibt sich aus der besonderen Struktur der Emotionen. Wenn Emotionen nämlich evaluative Repräsentationen sind, wie bereits dargestellt wurde, lassen sie sich korrigieren oder kontrollieren, indem den jeweiligen Repräsentationen durch einen Willensentscheid andere Repräsentationen entgegengesetzt werden: Wenn sie [sc. die Emotion] schließlich zu Handlungen anregt, die etwas betreffen, über das man notwendig auf der Stelle einen Entschluss fassen muss, ist es nötig, dass sich der Wille allein darauf richtet, die Gründe zu erwägen, die dem, was die Leidenschaft vorstellt, entgegenstehen, und ihnen zu folgen, auch wenn sie weniger stark erscheinen. (AT XI, 487; H 323)
Dies lässt sich leicht veranschaulichen. Angenommen, in meiner Furcht vor dem Hund repräsentiere ich ihn als ein gefährliches Tier, das sich gleich auf mich stürzt und mich zerfleischt. Um diese Emotion in den
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Griff zu bekommen, muss ich mich durch einen Willensentscheid dazu zwingen, andere Repräsentationen zu bilden, etwa indem ich mir den Hund als ein braves, gut dressiertes Tier vorstelle oder indem ich mir ausmale, wie nett ich mit ihm spielen könnte. Diese Gegenrepräsentation neutralisiert die ursprüngliche Repräsentation und führt dazu, dass die Furcht abgeschwächt oder gar durch eine andere Emotion – etwa durch Wohlgefallen oder Freude an dem Hund – ersetzt wird. Wie dieses Beispiel verdeutlicht, kann zur Kontrolle einer Emotion eine kognitive Therapie eingesetzt werden. Das Entscheidende an einer solchen Therapie liegt darin, dass eine Emotion nicht einfach durch einen souveränen Willensentscheid beseitigt wird.20 Ich kann mich ja nicht einfach dafür entscheiden, mich auf Kommando nicht mehr vor dem Hund zu fürchten. Solange ich ihn als ein bedrohliches Tier repräsentiere, muss ich mich fürchten. Die Furcht wird schrittweise abgebaut, indem ihr repräsentationaler und evaluativer Gehalt durch einen anderen ersetzt wird. Da diese Veränderung des Gehalts erfordert, dass bewusst eine alternative Repräsentation gebildet wird, liegt hier eine genuin kognitive Therapie vor. Eine solche Therapie ist natürlich nur möglich, wenn man sich dafür entscheiden kann, alternative Repräsentationen zu bilden und zur Neutralisierung der ursprünglichen Repräsentation einzusetzen. Dies wiederum setzt voraus, dass die Emotion nicht – wie es ursprünglich schien – darauf beschränkt ist, einen einzigen Willensakt auszulösen. Eine Emotion kann (zusammen mit der Disposition zur Bildung von Repräsentationen, die immer vorhanden ist) auch bewirken, dass die willentliche Entscheidung, alternative Repräsentationen zu bilden, getroffen wird. Für das Beispiel mit der Bewunderung heißt dies: Im ersten Moment löst diese Emotion in mir den Wunsch oder gar die Entscheidung aus, das bewunderte Objekt zu besitzen. Doch die Emotion veranlasst mich auch dazu, nachzudenken, was an dem Objekt vielleicht nicht bewundernswert oder gar abstoßend ist. Dies wiederum bringt mich dazu, mich gegen das Objekt zu entscheiden oder mich indifferent zu verhalten. Entscheidend ist _____________ 20
Dies gilt es mit Blick auf die häufig kritisierte These zu beachten, dass jede Seele „eine absolute Macht über ihre Leidenschaften erlangen kann“ (AT XI, 368; H 85). Descartes vertritt damit nicht die extreme voluntaristische Position, dass wir eine Emotion durch einen bloßen Willensentscheid unter Kontrolle bringen oder gar beseitigen können. Er tritt für die schwächere (und plausiblere) Position ein, dass man eine kognitive Therapie einsetzen kann, um eine Emotion abzuschwächen oder zu verändern. Ob die Therapie gelingt, hängt von der jeweiligen Situation ab.
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dabei, dass der spontane Willensakt korrigiert werden kann, und zwar durch eine kognitive Therapie, in der ich bewusst alternative Repräsentationen bilde. Freilich ist zu betonen, dass die ursprünglich determinierenden Faktoren durch eine solche Therapie nicht außer Kraft gesetzt oder mit einem Schlag beseitigt werden. Vor allem werden jene Faktoren nicht zum Verschwinden gebracht, die von Natur aus festgelegt sind. Wenn ich ein Objekt voller Bewunderung betrachte, kann ich gar nicht anders, als innezuhalten und mich ganz auf dieses Objekt zu konzentrieren. Und wenn ich mich vor dem Rottweiler fürchte, kann ich gar nicht anders, als zu erstarren und in Schweiß auszubrechen. Der entscheidende Punkt der kognitiven Therapie besteht nicht in einer Beseitigung dieser spontanen körperlichen Reaktionen, sondern in der willentlichen Erzeugung neuer Repräsentationen, die zu anderen Emotionen und damit auch zu anderen körperlichen Reaktionen führen. Erst wenn ich den Rottweiler nicht mehr als gefährlichen Hund repräsentiere, werde ich gelassen, was wiederum zur Folge hat, dass ich nicht mehr erstarre. Es ist daher wichtig, die Therapie als einen Prozess zu betrachten und genau zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkt dieses Prozesses zu unterscheiden. Ebenso wichtig ist es, die Therapie nicht als einen linearen Prozess aufzufassen, der zielstrebig auf einen einzigen Endpunkt hinsteuert. Meine willentliche Entscheidung, den Rottweiler anders zu repräsentieren, führt nicht zwangsläufig dazu, dass ich ihn als einen Spielkameraden repräsentiere und dadurch gelassen werde. Es kann auch sein, dass ich ihn dann als ein Tier repräsentiere, das nicht nur mich bedroht, sondern auch alle Menschen in meinem Umfeld und besonders kleine Kinder. Dann fürchte ich mich noch mehr vor ihm. Es kann sogar sein, dass ich konfligierende Repräsentationen habe (ich stelle mir den Hund gleichzeitig als Spielkameraden und als gefräßiges Tier vor) und dass ich dann konfligierende Emotionen habe. Descartes weist ausdrücklich auf diese Möglichkeit hin, indem er bemerkt, jemand könne sich gleichzeitig in Furcht und Hoffnung befinden. Dies könne geschehen, wenn „man sich zur gleichen Zeit verschiedene Gründe vorstellt“ (AT XI, 456; H 261), d. h. wenn man unterschiedliche evaluative Repräsentationen hat, die unterschiedliche Emotionen auslösen. Daher gibt es keine Garantie, dass eine Emotion durch eine Therapie nach und nach verschwindet. Es kann auch sein, dass die Therapie zu einem emotionalen Konflikt führt. Trotzdem ist sie ein zentraler kognitiver Ansatz, mit dem Emotionen schrittweise verändert werden können.
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Darüber hinaus verweist Descartes auf eine weitere Möglichkeit zur Kontrolle und Veränderung von Emotionen. Wie bereits erwähnt, ist es für ihn entscheidend, dass bei einer Emotion ein bestimmter Hirnzustand mit einem bestimmten geistigen Zustand verknüpft ist. Diese Verbindung ist zunächst von Natur aus gegeben. Dies schließt allerdings nicht aus, „dass man sie jedoch durch Gewohnheit mit anderen verbinden kann“ (AT XI, 368; H 85f.). Descartes illustriert dies mit folgendem Beispiel: Wenn ein Hund ein Rebhuhn sieht und gleichzeitig einen Gewehrschuss hört, bewirken diese Sinneseindrücke und die entsprechenden Hirnzustände, dass der Hund sofort flieht. Man kann ihn aber derart als Jagdhund dressieren, dass dieselben Sinneseindrücke und Hirnzustände bewirken, dass der Hund stehen bleibt (AT XI, 369f.; H 89). Die ‚Verdrahtung‘ der körperlichen Zustände kann gezielt verändert werden – nicht auf Anhieb, wohl aber durch einen kontinuierlichen Prozess. Ähnlich gilt für einen Menschen, dass die Verbindung von körperlichen und geistigen Zuständen verändert werden kann, und zwar nicht nur durch eine kognitive Therapie, sondern auch durch eine Art von Dressur – oder vorsichtiger ausgedrückt: durch eine Verhaltenstherapie. So kann man jemanden immer wieder mit dem Bild von einem Rottweiler konfrontieren, bis es in ihm nicht mehr Furcht, sondern Gelassenheit auslöst. Er hat dann nicht eingesehen oder sich bewusst vorgestellt, dass dieses Tier nicht bedrohlich ist, sondern er hat sich schlicht und einfach an das Bild gewöhnt. Die ‚Verdrahtung‘ von Hirnzustand und geistiger Reaktion ist dann in einem längeren Prozess verändert worden. Es ist somit nicht nur eine Veränderung von Repräsentationen, die eine Veränderung von Emotionen bewirken kann, sondern auch eine neue Verbindung von Hirnzuständen und geistigen Zuständen. Diese kann sowohl von einer fremden Person veranlasst werden (nämlich wenn jemand anderes mir immer wieder das Bild von einem Rottweiler vorsetzt) als auch von der betroffenen Person selbst (nämlich wenn ich mich immer wieder dazu zwinge, dieses Bild anzuschauen und mich daran zu gewöhnen). Dies ist mit Blick auf die bereits mehrfach erwähnte Zuordnung von körperlichen und geistigen Zuständen bemerkenswert. Obwohl es eine natürliche Ordnung gibt, die festlegt, welche Hirnzustände mit welchen geistigen Zuständen verbunden sind, ja im Normalfall verbunden sein müssen, handelt es sich dabei nicht um eine unverrückbare Ordnung. Nicht nur Gott, der jederzeit eine andere Ordnung wählen könnte, sondern auch wir Menschen können diese Ordnung partiell verändern, indem wir einigen Hirnzuständen andere geistige Zustände zuordnen und damit
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Schritt für Schritt unsere emotionalen Reaktionen transformieren. Wir sind keine Automaten, die gemäß einem festgelegten Programm immer wieder die gleichen emotionalen Zustände hervorbringen, sondern kognitive Lebewesen, die über diese Zustände nachdenken und sie durch eine geeignete Therapie zumindest teilweise in den Griff bekommen können. Gerade im therapeutischen Umgang mit unseren Emotionen zeigen wir, dass wir ein reflektiertes Verhältnis zu unseren psychophysischen Zuständen haben können und in der Lage sind, sie bis zu einem gewissen Grad zu verändern.
Literatur Descartes’ Schriften werden nach der französischen Ausgabe seiner Werke, Oeuvres, sowie nach ausgewählten deutschen Übersetzungen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Ältere Übersetzungen wurden an die neue Rechtschreibung angeglichen. Die verwendeten Siglen sind: AT H S W
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Thomas Hobbes (1588–1679)
Hobbes: Furcht und Bewegung Michael Hampe 1. Allgemeine Relevanz und Natürlichkeit der Gefühle bei Hobbes Die Hobbes’sche Auseinandersetzung mit den menschlichen Emotionen wird nur verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Hobbes zusammen mit Spinoza zu den wenigen Autoren seiner Zeit gehört, die nicht glaubten, die Welt sei für den Menschen eingerichtet. Teleologische Weltkonzeptionen gehen davon aus, dass Menschen in die Natur oder Welt „hineinpassen“ und die Affekte, die aus Leid entstehen, wie Unlust, Furcht und Hoffnung, sind in diesem Fall das Ergebnis eines „falschen“ Lebens, dem es nicht gelingt, die naturgemäße Einpassung in die Welt zu realisieren, oder in dem diese naturgemäße Einpassung absichtlich verlassen wird. Für Hobbes ist dagegen der Naturzustand des Menschen bekanntlich ein Kriegszustand, gekennzeichnet von beständiger „Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes“; in diesem Zustand ist das „menschliche Leben […] einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.“ (Lev. 89, dt. 96) Nach der stoischen Vorstellung eines Lebens gemäß der natürlichen Ordnung, ist eine Befreiung von denjenigen unliebsamen Affekten möglich, die diese Ordnung stören und durch falsche Konventionen oder Unwissenheit etabliert wurden.1 Für Hobbes gibt es keine vernünftige Naturordnung (vgl. Lev. 33, dt. 33) und deshalb auch nicht die Unterscheidung zwischen Affekten, die dieser Ordnung entsprechen und solchen, die aus ihr herausfallen. Sowohl für die Affektivität wie für die Rationalität des Menschen entfällt bei Hobbes ein normativer Naturbegriff. Das ist eine bis heute ungewöhnliche Haltung. Denn wir sagen ja immer noch, dass es beispielsweise „natürlich“ sei, nach dem Tod eines geliebten Menschen Trauer zu empfinden oder wegen einer Beleidigung in Wut zu geraten, und unterstellen damit, dass es angebracht oder mindestens normal ist, so zu reagieren.2 Auch _____________ 1 2
Vgl. dazu etwa Epiktet 1925, Erstes Buch, 11. Abschnitt, 78f. Zur Normativität des Naturbegriffs vgl. Birnbacher 2006.
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wenn heute kaum noch jemand – wie die Stoiker – einen explizit normativen Naturbegriff wird vertreten wollen, und niemand sagen würde, man solle die Natur nachahmen, um das menschliche Fühlen, Denken und Handeln zu regulieren, so gilt doch weiterhin, dass der psychophysische Doppelcharakter der Emotionen und ihr in der Regel spontanes Auftreten dazu führen, dass sie als etwas Natürliches eingestuft werden. Wer traurig ist, weint; das scheint so natürlich wie das Niesen, wenn man Schnupfen hat, man kann schwerlich etwas dagegen tun und es scheint im „natürlichen Gang der Dinge so angelegt“. Auch für Hobbes gibt es eine Natürlichkeit bestimmter Affekte, doch hat diese nichts mit natürlichen Normen zu tun, sondern mit der Hobbes’schen Fiktion eines Naturzustandes. Denn es gibt einen wichtigen Affekt, der das menschliche Leben im Naturzustand durch und durch prägt: die Furcht. Im dreizehnten Kapitel des Leviathan behauptet Hobbes, dass alle Menschen nach Körper- und Geisteskräften von Natur aus ungefähr gleich beschaffen sind. Alle streben ferner danach, sich selbst zu erhalten. Diese Selbsterhaltung ist nicht die Erhaltung eines wesentlichen Selbst, sondern die Fortsetzung der Bewegung des Lebens. Um sie zu erreichen, braucht es bestimmte Ressourcen, vor allem Nahrung. Weil die Ressourcen nicht unendlich sind, entstehen Konkurrenzsituationen. Auch der Stärkste kann durch ein Bündnis von Schwachen im Schlaf getötet werden. Deshalb gibt es niemanden, der in dieser Konkurrenzsituation ohne Furcht sein kann. Der Naturzustand ist als Kriegszustand aller gegen alle auch der Zustand der Furcht aller vor allen. Es ist diese Furcht vor dem baldigen Tod, die den Naturzustand nach Hobbes auch beendet und in den Staatszustand führt (vgl. Lev. 90, dt. 98). Doch im Staat, in dem die Überlebenswahrscheinlichkeit zwar größer ist als im Naturzustand, regiert nach Hobbes ebenfalls die Furcht. Denn die Macht der Staatsgewalt ergibt sich aus der Furcht vor dem Tod, die sie mit ihrem höchsten Gewaltmonopol, dem Recht, die Todesstrafe zu vollstrecken, in den Untertanen aufrechterhalten muss. Nur dadurch ist sie in der Lage, die Einhaltung der Gesetze zu garantieren und so den Naturzustand zu beenden: „Die Leidenschaft [passion], die die Menschen am wenigsten die Gesetze übertreten lässt, ist die Furcht [Fear]. Ja, sie ist – einige edelmütige [generous] Menschen ausgenommen – die einzige Kraft, die die Menschen zu ihrer Einhaltung bringt, wenn ein Vorteil oder Vergnügen durch Gesetzesübertretung in Aussicht steht.“ (Lev. 206, dt. 228) Die Furcht hat aber ein Doppelgesicht; auch im Staatszustand ist sie nicht nur Instrument der Gesetzesbewahrung, sondern auch ein Grund des Verbrechens: Wer sich vor seinem Mitmenschen fürchtet, könnte geneigt
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sein, ihn zu töten und das für Selbstverteidigung halten, wo er doch tatsächlich Ruhe hätte bewahren und die Staatsgewalt hätte rufen müssen (vgl. Lev. 206, dt. 228f.). Doch nicht allein die Furcht ist nach Hobbes eine mögliche Ursache des Verbrechens, sondern auch andere Leidenschaften: Zu den Leidenschaften [passions], die am häufigsten Ursache von Verbrechen sind, gehört einmal die Prahlerei [Vain-glory] oder ein krankhaftes Überschätzen des eigenen Wertes [foolish over-rating of their own worth] […] Gewöhnlich sind prahlerische Leute zornig [subject to Anger] – wenn sie nicht dazu noch ängstlich sind – da sie mehr als andere dazu neigen, die gewöhnlichen Freiheiten in einer Unterhaltung als Verachtung auszulegen, und es gibt wenige Verbrechen, die nicht aus Zorn begangen werden können. Welche Verbrechen aus Leidenschaften wie Hass, Lust, Ehrgeiz und Habgier [Hate, Lust, Ambition, and Covetousnesse] begangen werden können, weiß jeder auf Grund seiner Erfahrung und seines Verstandes genau, so daß darüber nichts gesagt werden muß, außer, daß es sich dabei um Schwächen [infirmities] handelt, die mit der menschlichen Natur und der aller anderen Lebewesen so fest verbunden sind, dass ihre Auswirkungen nur durch außergewöhnliche Vernunftanstrengungen oder eine ständige, strenge Bestrafung verhindert werden können. (Lev. 205f., dt. 227f.)
Die Tatsache, dass Hobbes die Furcht als sowohl den Natur- wie den Staatszustand beherrschend ansieht, dass sie in seinem System sowohl Ursache der Gesetzeseinhaltung wie des Gesetzesbruches ist, macht deutlich, welche fundamentale Relevanz die Passion der Furcht bei Hobbes hat. Diese Relevanz ist eine funktionale: Die Furcht treibt die Menschen in den Krieg aller gegen alle und sie treibt sie, wenn sie in diesem Krieg gewisse Erfahrungen gesammelt haben, in den Staat. Im Staat hört aber die Todesfurcht nicht auf; auch er braucht sie für die Erhaltung seiner Rechtsordnung. Diese funktionalen Beobachtungen haben nichts mit einer negativen Bewertung der Passionen im Allgemeinen und auch nicht mit der Furcht im Besonderen zu tun. Die Bewertung der Affekte als „Schwächen“ ist eine, die allein vor dem Hintergrund der in einem Staatswesen entstandenen Interessenszusammenhänge zu verstehen ist. An sich betrachtet sind nach Hobbes die menschlichen Leidenschaften gar nicht zu bewerten: Aber keiner von uns klagt […] die menschliche Natur an. Die Begierden und andere menschlichen Leidenschaften [Desires, and other Passions of man] sind an sich keine Sünde. Die aus den Leidenschaften entspringenden Handlungen sind es ebenfalls nicht, bis die Menschen ein Gesetz kennen, das sie verbietet: solange keine Gesetze erlassen werden, können sie dieses Gesetz nicht kennen, und es kann kein Gesetz erlassen werden, solange sie sich nicht auf die Person geeinigt haben, die es erlassen soll. (Lev. 89, dt. 97)
Hier zeigt sich Hobbes auf einer Linie mit den modernen Affekttheorien von Descartes und Spinoza, die in Abgrenzung zu den antiken Affektlehren
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und Rhetoriken, wie auch zu den christlichen Gefühlstheorien, das menschliche Emotionsleben weniger bewertend als neutral analysierend thematisieren.3 Der Anfang der oben zitierten Hobbes’schen Bemerkung über die Leidenschaften hat beispielsweise ein Echo im Proömium zum dritten Teil in Spinozas Ethica, wo Spinoza ebenfalls bemerkt, dass er keinen Grund sehe, die menschliche Affektivität als einen irgendwie gearteten „Fehler“ (vitium) aufzufassen.4 Hobbes und Spinoza betreiben zunächst eine funktionale Betrachtung des menschlichen Gefühlslebens, bevor sie die Kontexte entwickeln, in denen Bewertungen von affektiven Zuständen aus bestimmten Gründen möglich werden. Die Gefühle werden nicht von vornherein als so und so zu bewertende betrachtet, vor allem werden sie nicht einfach in dem Schema gesehen: Die Vernunft ist gut und die Affekte sind schlecht, auch wenn Hobbes Leidenschaften als mögliche Störungen des Vernunftgebrauchs ansieht. Denn nach Hobbes ist die Vernunft ebenso wie das staatliche Gesetz das Resultat von Konventionen. Die Bewertung von Affekten als disfunktional, als störend für das gesetzmäßige Leben im Staat oder für die Tätigkeit der Vernunft, betrifft also die Schwierigkeit, sie und ihre Handlungsfolgen in bestimmte konventionelle Ordnungszusammenhänge zu integrieren, die als hilfreich für das menschliche Streben nach Selbsterhaltung angesehen werden. Weil alle menschliche Vernunft nach Hobbes auf Konventionen beruht, mit denen sich Menschen aus dem affektiv unliebsamen, das grundlegende Selbsterhaltungsinteresse dauernd behindernden Naturzustand herauszubringen versuchen, gibt es eine Variationsbreite des Vernünftigen wie bei allen Konventionen (wenn auch nicht für die Gesetze des Naturrechts, die Hobbes im 14. Kapitel des Leviathan anführt). Daraus resultiert, dass es innerhalb des konventionellen Gesellschafts- oder Staatszustandes eine große Bandbreite von Bewertungen menschlicher Zustände gibt, die auch für die Bezeichnung und den evaluativen Charakter von Affekten relevant sind. So schreibt Hobbes etwa über Groß- und Kleinmütigkeit (Magnanimity, Pusillanimity): „Großmut im Gebrauch von Reichtum ist Freigiebigkeit. Kleinmütigkeit in derselben Sache ist Erbärmlichkeit und Geiz oder aber Sparsamkeit, je nachdem, ob es geschätzt oder verachtet wird.“ (Lev. 43, dt. 43) Hobbes behandelt hier nicht Tugenden und Untugenden, sondern Affekte und ihre Bewertung unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Konventionen. Die Bewertung von Gefühlen spielt, obgleich sie nur in Konventio_____________ 3 4
Vgl. Moreau 2003, 1–12, bes. 5f. Vgl. Spinoza 1980 (lat. zuerst 1677), Bd. 2, 256f.
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nen begründet ist, für ihre Habitualisierung bzw. Unterdrückung und damit für die Tugenden eine wichtige Rolle.5 Sowohl für den Natur- und Kriegszustand wie für den kulturellen Staatszustand, der Menschen eine gewisse affektive Beruhigung erlaubt, gilt nach Hobbes, dass ein höchstes Gut im Sinne der Glückseligkeit (makarios, beatitudo) nicht realisierbar, ja nicht einmal denkbar ist: Ständigen Erfolg im Erlangen der Dinge, die man von Zeit zu Zeit begehrt [desireth], das heißt ständiges Wohlergehen [prospering], nennt man Glückseligkeit [Felicity]. Ich meine dabei die Glückseligkeit in diesem Leben. Denn solange wir hienieden leben, gibt es so etwas wie beständigen Seelenfrieden [perpetuall Tranquillity] nicht, da das Leben nichts anderes als Bewegung [Motion] ist und deshalb nie ohne Verlangen und Furcht [Desire nor Feare] sein kann, ebensowenig wie ohne Empfindung [Sense]. (Lev. 46, dt. 48)
Wieder findet hier eine Zurückweisung stoischen Gedankenguts statt. Ataraxia, Seelenruhe, war das entscheidende Ziel der antiken Affekterziehung, das bis in die Neuzeit weiterwirkte. Vor dem Hintergrund des Hobbes’schen Lebensbegriffes, wonach Leben ständige Bewegung, und Ruhe nichts anderes als den Tod bedeuten kann, ist Seelenruhe als Zustand eines empfindenden Lebewesens nicht denkbar. Denn alle Bewegungen von Lebewesen müssen durch affektive Zustände verursacht werden (s. u.). Glückseligkeit wird von Hobbes deshalb auch, im Unterschied zur Seelenruhe, als dauernder Fortschritt (progressus) von einer Begierde zur nächsten definiert (vgl. De homine, 3, 77). Ein solcher progressus kann nie zu einem anderen Ruhezustand führen als dem des Todes, in dem jedoch nichts mehr empfunden wird. Die Idee, Menschen sei Glückseligkeit im Sinne der Seelenruhe möglich, kommt vor dem Hintergrund der Hobbes’schen Theorie dem Gedanken gleich, Menschen könnten zu unbewegten Bewegern werden:6 Sie könnten ein Leben führen, in dem sie etwas tun, jedoch sich selbst dabei nicht bewegen und Ressourcen verbrauchen müssen und in die aus der Knappheit resultierenden Affekte geraten würden. Vielleicht ist die Phantasie der Glückseligkeit eine solche Imagination des ruhenden, aber doch wirkenden Gottes. Normativ gesehen ist also die Seelenruhe als ein Ziel der normativen Affektenlehre für Hobbes nichts anderes als die Fiktion eines Lebens und Empfindens ohne Bewegung, ein Widerspruch in sich.
_____________ 5 6
Zum Verhältnis von Affekt und Tugend hinsichtlich eines anderen Beispiels vgl. Kemp 1982, 57–62 und Chwaszcza 1996, 83–107. Vgl. Tuck 1989, 45.
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2. Kausalgenese der Gefühle Hobbes’ Begriff des Lebens als ständiger Bewegung macht bereits deutlich, wie zentral für seine Philosophie der Bewegungsbegriff ist.7 Er steht auch im Zentrum seiner Theorie der Leidenschaften (passions) im sechsten Kapitel des Leviathan. Hobbes versteht den Menschen als Tier (animal), das, wie alle Tiere, durch zwei Arten von Bewegungen bestimmt ist:8 die vitalen (vitall) und die animalischen (animall). Die ersten sind die rhythmisch wiederkehrenden Bewegungen der Atmung, des Pulses, der Ernährung und Verdauung. Die zweiten sind die unregelmäßigen willentlichen Bewegungen wie Gehen und Sprechen. Eine scharfe Grenze besteht hier nicht, weil die willentliche Nahrungssuche durch die unwillkürlichen Verdauungsbewegungen beeinflusst ist und die Atmung zwar unwillkürlich abläuft, jedoch auch vom Willen beeinflusst werden kann. Die unregelmäßigen willentlichen Bewegungen entstehen als Reaktionen auf äußere Bewegungen, d. h. aufgrund von Sinneswahrnehmungen nach dem Prinzip, dass jeder Druck (conatus, pressure) einen Gegendruck erzeugt (De Corp. 3, 15, dt. III, 15), den Hobbes auch als Widerstand (resistance) bezeichnet (vgl. Lev. 13, dt. 11). Bei einer Sinneswahrnehmung treffen nach Hobbes Korpuskeln auf den menschlichen Körper und erzeugen in ihm eine Bewegung mit einer Orientierung in den Körper hinein. Gegen den daraus entstehenden Druck entwickelt sich im Körper ein Gegendruck aus dem Körper heraus, der zuerst eine verborgene Bewegung im Körperinneren hervorruft und schließlich in einer äußerlich wahrnehmbaren Körperbewegung resultiert. Jede äußerlich sichtbare Körperbewegung hat ihren Anfang also in einer verborgenen Körperbewegung im Leibesinneren, die von Hobbes als Streben (Endeavour) bezeichnet wird (vgl. Lev. 38, dt. 40). Sofern dieses Streben auf ein äußeres Objekt gerichtet gedacht wird – und nicht lediglich als die körperinnere Ursache einer Gesamtbewegung des Leibes – nennt Hobbes sie Trieb (Appetite) oder Verlangen (Desire). Betrachten wir dazu das folgende einfache Beispiel: Wenn in meinem Körper zu wenig Flüssigkeit ist und ich einen Bach sehe, dann entsteht in mir eine Bewegung, die schließlich dazu führt, dass ich zu dem Bach laufe und trinke. _____________ 7
8
Vgl. Zur Naturphilosophie von Hobbes allgemein: Brandt 1928; Esfeld 1995; Leijenhorst 2002. Zum Verhältnis von Naturphilosophie und Psychologie bei Hobbes siehe auch Lott 1982, 63–75; Gert 1996, 157–174. Zur Bedeutung von Harvey für diesen Gedanken bei Hobbes vgl. Chwaszcza 1996, 91.
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Diese Bewegung ist eine von vielen Körperbewegungen in meinem Inneren. Dass gerade sie eine äußerliche Bewegung nach sich zieht, hängt von der Stärke ihres conatus ab. Hobbes dachte sich, vor der Entwicklung des galileischen Kräfteparallelogramms, die Relation der Bestrebungen in einem Körper agonal, sodass nicht aus mehreren Bewegungen eine resultierende neue entsteht, sondern sich die „stärkste“ Bestrebung in der Realisierung einer Bewegung durchsetzt.9 Entscheidungskonflikte, die auch als ein affektives Schwanken „von Innen“ empfunden werden, sind in dieser Konzeption als ein innerer „Kampf“ zwischen Bestrebungen bzw. Trieben zu deuten. Wenn ich aufgrund des Anblicks des Wassers und meines Durstes zum Bach laufe, dann ist das Bestreben, das durch den Anblick des Wassers entsteht, eben gerade die stärkste von allen Bestrebungen, die gegenwärtig in meinem Körper entstehen.10 Es ist nicht die Bewegung im Inneren des Körpers als solche, die sie zu einem Trieb oder Verlangen macht, sondern ihr Bezug auf einen dem Körper externen Gegenstand, der durch das Zusammenspiel von Druck bzw. conatus und Gegendruck bzw. Gegen-conatus zustande kommt. Hobbes unterschiedet hier nicht zwischen der Orientierung einer Bewegung und der Intentionalität eines affektiven Zustandes oder anders gesagt: Er führt Letzteres auf Ersteres zurück.11 Hobbes unterscheidet zwischen inneren Bewegungen, die auf einen äußeren Gegenstand hin orientiert sind (in der resultativen äußeren Körperbewegung) und solchen, die von ihm wegführen. Daraus ergibt sich auch eine affektive Differenz : die emotionale Grundunterscheidung zwischen Begehren und Aversion. Werden nicht primär Bewegungen im Körperinneren thematisiert, sondern die Objekte, auf die sie gerichtet sind, so spricht man im Kontext des Hobbes’schen Systems davon, dass etwas geliebt oder gehasst wird (vgl. Lev. 38, dt. 40). Die Bezeichnungen der Elementaraffekte Liebe und Hass stehen also für den Komplex: innere Körperbewegung (Endeavour) – äußere Körperbewegung – Orientierungsobjekt. Immer haben dabei die animalischen Bewegungen eine bestimmte Richtung, Intensität und ein Zielobjekt. Nicht auf Objekte bezogene affektive Zustände wie Stimmungen müssten bei Hobbes wohl von den zirkulären vitalen Bewegungen her rekonstruiert werden, was nicht ganz unplausibel ist, sofern man einer Veränderung im Herzschlag, der Verdau_____________ 9 10 11
Vgl. dazu Hampe 1999, 82f. Vgl. Schnepf 2002, 60–78. Vgl. Hampe 2007, 52ff.
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ung oder Atmung eine Stimmung „zuordnet“, was Hobbes jedoch meines Wissens nirgends tut. Weil auf den Körper ständig Bewegungen oder genauer conatus einwirken, produziert er permanent Gegenbewegungen oder Gegen-conatus. Die interne Komplexität des menschlichen Körpers führt zu einer internen Bewegungskomplexität, der wiederum eine affektive Komplexität „entspricht“. Der Änderung des Bewegungszustandes entspricht ein Schwanken in der affektiven Lage: […] weil die Verfassung (constitution) des menschlichen Körpers sich fortwährend ändert, ist es unmöglich, daß alle Dinge in ihm immer die gleichen Neigungen und Abneigungen verursachen (cause in him the same Appetites, and Aversions). Noch viel weniger können alle Menschen in dem Verlangen (Desire) nach ein und demselben Objekt übereinstimmen. (Vgl. Lev. 39, dt. 40)
Am offensichtlichsten wird diese Überlegung am Beispiel des Verlangens nach Nahrung und der Liebe zu einer bestimmten Speise. Der dem Hunger entsprechende Bewegungszustand in einem Körper führt, wenn es zur Wahrnehmung der entsprechenden Speise kommt, zum Verlangen nach der Speise oder: Die Speise wird in diesem Moment geliebt. Die Einverleibung der Nahrung führt zu einer Änderung des Bewegungszustandes des Körpers, das Verlangen verschwindet und die Speise wird entweder verachtet oder gar gehasst (Ekel). Menschen in unterschiedlichen internen Bewegungszuständen haben entsprechend unterschiedliche Affekte angesichts einer Speise. Äquivalentes wäre zur Geschlechtlichkeit und für die Objekte und Affekte dieses Verlangens zu sagen. Affekte haben bei Hobbes also „Mikrogeschichten“ (wie die der Nahrungsaufnahme), aber auch Makrogeschichten: Manche sind angeboren, andere innerhalb der Lebensgeschichte eines Individuums durch Konditionierungen erworben (vgl. Lev. 29, dt. 29).
3. Moralische Bewertung und Affektivität Ähnlich wie Spinoza deutet auch Hobbes die Begriffe „gut“ und „böse“ relativ zu den Begehrungen und Abneigungen von Menschen. Etwas wird gut genannt, weil es begehrt wird und nicht umgekehrt begehrt, weil es gut ist.12 Bei Hobbes heißt die entsprechende Stelle: […] was immer das Objekt des Triebes oder Verlangens [Appetite or Desire] eines Menschen ist: Dieses Objekt nennt er für seinen Teil gut, das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung [Hate and Aversion] böse und das seiner Verachtung [Contempt]
_____________ 12
Vgl. die entsprechende Stelle in Spinozas Ethica: 3p9s.
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verächtlich und belanglos [vile, and inconsiderable]. Denn die Wörter ‚gut‘, ‚böse‘ und ‚verächtlich‘ werden immer in Beziehung zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts, das schlechthin und an sich so ist. (Lev. 39, dt. 41)
Weil Personen unterschiedliche Körperzustände durchlaufen, ist für sie Unterschiedliches gut, böse oder belanglos. Zwar streben alle Wesen nach Selbsterhaltung und deshalb scheinen alle Dinge, die Menschen als gut bezeichnen, eine „Stärkung […] der vitalen Bewegung [corroboration of vitall motion], die, die sie böse nennen, eine Störung und Behinderung [troubling and hindering] dieser Bewegungen“ (ebd.) mit sich zu bringen. Doch die Gefühle der Lust und des Vergnügens auf der einen und die der Unlust und Belästigung auf der anderen Seite (Pleasure and Delight, Displeasure and Molestation) variieren eben, je nachdem, was für die Selbsterhaltung eines Körpers, das heißt die Fortsetzung seiner vitalen Bewegungen, gerade dringlich ist. Nicht alle Menschen bedürfen zur selben Zeit der Nahrung, des Wassers, der Wärme oder der Kühlung, obwohl diese Dinge irgendwann im Leben eines Menschen einmal gut sind.
4. Affekte als Störungen Hobbes bezeichnet Affekte auch als „Störungen des Geistes“ (De homine, Kap. 12), weil sie Überlegungsprozesse behindern können. Doch wie tun sie das? Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass Prozesse des Überlegens (ratiocinatio) für Hobbes Rechenvorgänge (computationes) sind (vgl. De Corp. I, 1, 2). Wie weit die Anwendung seines Begriffs der Berechnung eigentlich geht, ist allerdings nicht einfach zu sagen und nach wie vor ein Desiderat der Hobbesforschung. In einem ersten Schritt kann man anachronistisch vielleicht sagen, dass Hobbes hier an so etwas wie die Bildung von Extensionsproportionen im Sinne einer Booleschen Algebra gedacht hat: Die Prädikate unserer Sprache sind Namen für Mengen von Gegenständen. Wenn wir überlegen, so setzen wir diese Mengen zueinander in Beziehung und schauen, wo sie sich berühren, überschneiden oder völlig außerhalb voneinander liegen. Eine solche extensionale Auffassung von Prädikaten ist nicht schwer nachzuvollziehen. Allerdings taugt sie nur insofern für die Erläuterung des Hobbes’schen Verständnisses von rationalem Denken, als man keinen Gedanken darauf verschwendet, welchen ontologischen Status diese Extensionen oder Mengen haben. Auch bei Quine (der eine ähnliche Konzeption vertritt) sind Mengen ja keine physi-
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kalischen, sondern abstrakte Gegenstände.13 Doch aufgrund seiner Vorstellung, dass mentale Prozesse auf Korpuskularbewegungen zu beziehen sind, wäre zu fragen, wie Korpuskularbewegungen, die Rechenvorgänge instantiieren können, von solchen unterschieden werden können, die nicht als Vorgänge des Überlegens zu begreifen sind. Wenn Hobbes Berechnungen im oben genannten Sinne als „Additionen“ und „Subtraktionen“ in einem weiten Sinne verstehen will, die sich auch und vor allem auf Begriffsumfänge beziehen, dann kann man sich zwar nach dem Modell einer Rechenmaschine, die ja ebenfalls Boolesche Algebren instantiiert, das Denken als Rechnen vorstellen,14 aber nicht so leicht die affektive Störung eines solchen Rechenvorgangs. Betrachten wir daher zwei Prozesse: Erstens eine syllogistische Überlegung der folgenden Art: (1) Sind Quallen Fische? Was sind Fische? Fische sind durch Kiemen atmende Wirbeltiere, die im Wasser leben. Haben Quallen Kiemen und Wirbel, leben sie im Wasser? Quallen leben im Wasser, doch erhalten Sie ihren Sauerstoff durch Diffusion und haben keine Wirbel. Also sind sie keine Fische. Diese Überlegung, bei der die Begriffsumfänge der Termini „Fische“ und „Quallen“ verglichen werden, unterscheidet sich von der folgenden: (2) Soll ich lieber diesen Fisch oder jenes Fleisch essen? Eigentlich habe ich eher Appetit auf Fleisch, doch dieses Fleisch sieht fett aus und ich bin zu schwer. Der Fisch sieht gut aus. Fisch soll auch allgemein gesünder sein als Fleisch. Ich will gesund sein und nicht noch schwerer werden, also esse ich Fisch. Auch bei dieser zweiten Überlegung geht es um die Betrachtung von Begriffsumfängen (wie „Fisch“ und „gesund“), doch im Unterschied zur ersten Überlegung spielen auch Affekte und Willenszustände eine Rolle: Ich habe Appetit auf Fleisch; ich will gesund bleiben. Dabei sind Bewertungen im Spiel: Wie erscheint mir etwas evaluativ („der Fisch sieht gut aus“)? Und was bedeutet dieses „Mir-Erscheinen“ vor dem Hintergrund dessen, was ich sonst noch will (z. B. „gesund bleiben“)? Der Vergleich dieser beiden Syllogismen macht klar, dass ein deutlicher Unterschied zwischen Überlegung mit Affekten – inklusive Willens_____________ 13 14
Vgl. Quine 1991 (amerik. zuerst 1981), Kap. 12. Vgl. Hungerland/Vick 1981.
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zuständen – besteht und Überlegung ohne. Die einfachste Charakterisierung in diesem Zusammenhang ist, dass es einmal um eine Überlegung geht, die Tatsachen oder das „Sein“ betrifft, das andere Mal um Bewertungen oder ein „Sollen“. Für die Bewertungen und das Sollen sind Affekte und Willenszustände relevant (die Hobbes, wie oben deutlich wurde, ja nicht voneinander unterscheidet). Inwiefern können diese Bewertungen oder Affekte jedoch eventuell „Störungen“ im Vergleich der Verhältnisse von Begriffsumfängen darstellen? Könnten Sie nicht auch positive Einflüsse sein? Grundsätzlich sind Willensakte bei Hobbes kein Ergebnis vernünftiger Überlegung, sondern Resultat eines „Machtkampfes“ von voluntativen Einzelbestrebungen. Unter einem Willen versteht er ja die „Neigung (Appetite), die beim Überlegen (Deliberating) am Schluß“ (Lev. 45, dt. 47) steht. Mit Schluss ist hier gemeint: die Neigung, die die letzte vor der und damit die Handlung auslösende ist. Ein reiner Überlegensvorgang wäre daher ein Vergleich von Extensionen, der ohne Neigungen (Appetite) geschieht. Eine praktische Überlegung ist dagegen eine, bei der Bewertungen oder Affekte miteinander konfligieren, eines sich durchsetzt und daraus eine bestimmte Handlung resultiert, wie die, dass ich den Fisch esse. Also stören sich die Affekte in diesem Kampf um „Durchsetzung“ im Handeln gegenseitig und nicht die Affekte das rationale Überlegen. Eine Störung eines Überlegensvorganges durch einen Affekt liegt nach Hobbes jedoch dann vor, wenn es zu einer Voreiligkeit im Handeln in dem Sinne kommt, das ein Gut, das als langfristig anzustreben schon anerkannt worden ist, nicht verfolgt wird, weil ein „sich gerade darbietendes Gut“ vorgezogen wird „ohne die Übel, welche ihm anhaften, vorherzusehen“ (De homine, Kap. 12, 1). Mit unserem Beispiel gesprochen: (3) Was esse ich, diesen Fisch oder dieses Fleisch? Ich mag lieber Fleisch, also esse ich dieses Fleisch. In Überlegung (3) ist die Neigung, Fleisch zu essen, so stark, dass sie die Abneigungen gegen nachteilige Wirkungen dieser Speise für das langfristige Interesse an der Selbsterhaltung überdeckt. (Die Gefahr des Übergewichts und seiner negativen Folgen wird in dieser Überlegung nicht mit vorhergesehen.) Es ist also nicht so, dass ein fehlerhafter Vergleich von Begriffsumfängen durch das Auftreten eines Affektes passiert. Die Störung des Überlegens durch die Affekte meint bei Hobbes vielmehr, dass der auf ein entferntes wichtiges Gut (wie Selbsterhaltung) bezogene Affekt im Handeln nicht berücksichtigt wird, weil ein Affekt, der ein nahes un-
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wichtiges Gut (den angenehmen Geschmack) betrifft, sich im Kampf der Affekte durchsetzt. Wenn aber die langfristige Selbsterhaltung ein höheres Gut ist als der kurzfristige Genuss eines Wohlgeschmacks, weil sie die Voraussetzung des Genusses von schmackhaften Dingen überhaupt ist, dann stört hier der Affekt der Neigung zum Fleisch eine Güterabwägung, jedoch nicht im Sinne eines Extensionsvergleichs von Begriffen. Dass Quallen keine Fische sind ist eine andere Feststellung als die, dass Fleisch nicht gesund ist. Der Kampf der Affekte kann von Hobbes gar nicht als ein Rechnen gedacht werden. Wenn in ihm die Selbsterhaltung „vernachlässigt“ wird, ist es nicht zu einem Rechenfehler im Sinne einer falschen Begriffsumfangsbestimmung gekommen, sondern ein auf einen vorhandenen Gegenstand bezogener Affekt hat sich gegenüber einem auf eine entfernte Gefahr bezogenen durchgesetzt. Ich kann durchaus wissen, dass Fleisch nicht zu den gesunden Speisen gehört und es trotzdem essen, weil der Affekt, der auf den Wohlgeschmack bezogen ist, so stark ist. Solche Prozesse scheint Hobbes als im menschlichen Leben verbreitet angesehen zu haben. Sie haben eine unmittelbare Plausibilität, auch wenn es nicht angemessen erscheint, sie als Störungen von rationalen Überlegungen aufzufassen. Die terminologische Unklarheit, die hier durch die Rede von Störungen ins Spiel kommt, ist vielleicht der Wirkungsmacht der Stoa geschuldet, die dieses Bild von den Affekten bis in die Neuzeit hinein verbreitet hat. Phänomenologisch ist die Hobbes’sche Analyse sehr überzeugend, denn das Phänomen des nahen kurzfristig angenehmen Affekts, der sich trotz seiner langfristig schädlichen Folgen, deren Erkenntnis offenbar keinen starken Affekt erzeugt, dürfte allen Menschen bekannt sein. Gewöhnlich wird dieses Thema unter der Überschrift „Willensschwäche“ und nicht als Konflikt zwischen starken und schwachen Affekten behandelt. Strategien, die die Erkenntnis zeitlich entfernter Wirkungen gegenwärtiger Handlungen affektiv stark machen, finden sich aber beispielsweise in der martialischen Anti-Tabak-Werbung der Gesundheitsministerien. Wie solche Strategien unter dem Beurteilungskriterium der Rationalität zu bewerten sind, wäre eine andere Diskussion.
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Literatur Hobbes’ Schriften werden nach den Opera Philosophica zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: De Corp. De homine Lev.
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Baruch de Spinoza (1632–1677)
Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen Ursula Renz Die Affektenlehre von Baruch de Spinoza (1632–1677) folgt einem Trend, den man im philosophischen Rationalismus des 17. Jahrhunderts allgemein beobachten kann: Leidenschaften, Gefühle und Stimmungen – kurz: Affekte – werden naturalisiert und entmoralisiert, um im Gegenzug den klugen Umgang mit ihnen zum Thema der Ethik zu machen. Schon Descartes folgt in seinen Passions de l’âme diesem Trend, wenn er in einem Brief an Picot vom 14. August 1649 klarstellt, er habe die Leidenschaften nicht als Redner oder Moralphilosoph, sondern als Physiker erläutern wollen.1 Dass er die Emotionen als geistig-seelische Ereignisse begreift, tut dem keinen Abbruch, denn Emotionen werden gleichwohl durch die Bewegung der als körperliche Partikel begriffenen Lebensgeister veranlasst, unterstützt und verstärkt.2 Noch durchschlagender ist diese Tendenz bei Thomas Hobbes, der die Leidenschaften zwar abwertend als „Störungen des Geistes“ taxiert, sie aber dennoch mechanistisch als Effekte von Bewegungsvorgängen zu erklären versucht.3 Welche Implikationen diese Naturalisierung für den klugen Umgang mit Emotionen hat, wird jedoch bei Descartes und Hobbes eher angedeutet als ausgeführt. Anders bei Spinoza. Seine im dritten Buch der Ethica entwickelte Affektenlehre bildet nicht nur die Basis für die metaethische Bestimmung des Guten und Schlechten,4 sondern der Umgang mit Emotionen ist auch einer der zentralen Gegenstände seiner moralphilosophischen Überlegungen. Und zwar ist er das in doppelter Hinsicht: Zum einen werden im vierten Buch der Ethica etliche praktische Regeln der Vernunft hergeleitet, die festlegen, wie mit der oft unkontrollierbaren Realität eigener wie frem_____________ 1 2 3 4
AT XI, 326. Zur Veränderung des philosophischen Diskurses über die Leidenschaften im 17. Jahrhundert vgl. auch Moreau 2003. AT XI, 349; H 47. Hobbes 1941 (lat. zuerst 1658), 29. So explizit in 4p8. Zur Metaethik Spinozas im Allgemeinen vgl. Schnepf 2008.
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der Emotionen klug umgegangen werden kann.5 Zum anderen entwickelt Spinoza auch eine Skizze einer Art Therapeutik der Emotionen, die zeigt, wie Affekte, zumal jene, unter denen wir leiden und die uns unfrei machen, überwunden resp. in eine zwar ebenfalls emotional gefärbte, aber angenehme und freie Grundstimmung der Zufriedenheit mit sich selber überführt werden können. Frappant an der Durchführung dieses moralphilosophischen Programms ist überdies, dass Prinzipien, die wir heute der Verhaltenstherapie zuordnen würden, mit solchen kombiniert werden, die psychoanalytische Einsichten vorwegnehmen. Es fragt sich, wie solches möglich ist. Unter welchen Bedingungen ist ein solcher Umgang mit den eigenen Emotionen überhaupt eine realistische Option? Die im dritten Buch der Ethica entwickelte Emotionstheorie kann als Antwort auf diese Frage begriffen werden. Die darin präsentierte Auffassung menschlicher Emotionen bringt drei Intuitionen zusammen, die wesentliche Voraussetzungen eines therapeutischen Umgangs mit Emotionen darstellen: 1. Emotionen sind Ereignisse, die natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgen und die wir daher nicht direkt, quasi per Willensdekret, steuern können, weswegen wir auch nicht für sie angeklagt werden dürfen. 2. Emotionen involvieren Ideen, d. h., sie sind eine Form des Erkennens, und genau deshalb können zukünftige Emotionen durch die Reflexion auf allgemeine oder besondere Ursachen von Emotionen beeinflusst werden. 3. Hinter den aktuellen Emotionen stehen körperliche und kognitive Dispositionen, die allerdings nicht einfach „gegeben“ sind, sondern kulturellen, semantischen, wissensgeschichtlichen oder biografischen Prägungen unterliegen, und die daher im Prinzip auch veränderbar sind. In der Folge soll zunächst etwas genauer ausgeführt werden, wie Spinoza diese drei Intuitionen begründet, bevor ich im zweiten und dritten Abschnitt einzelne Entstehungsprinzipien von Emotionen erörtern werde.
1. Naturalismus, Ideenbegriff, individuelle Prägung Spinozas Affektenlehre greift mehrfach auf Voraussetzungen zurück, die an sich betrachtet wenig mit seiner Emotionstheorie zu tun haben, aber für seine Beschreibung und Erklärung menschlicher Emotionalität gleichwohl entscheidend sind. Es sind dies: _____________ 5
Für die Begründung der sogenannten ‚dictamines rationes‘ siehe Bartuschat 1992, 179ff.
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a) Naturalismus. Wenn Spinoza sich im Rahmen einer Ethik mit den menschlichen Emotionen auseinandersetzt, so will er eines dezidiert nicht: Moralisieren. Im Gegenteil, in der Praefatio zum dritten Buch der Ethica grenzt er sich unmissverständlich von all jenen Philosophen (nach Spinoza sind es die meisten) ab, „die die Affekte und Handlungen der Menschen lieber verdammen oder verlachen als begreifen wollen“ (3praef, B 221), was Spinoza zufolge direkt damit zusammenhängt, dass sie die Affekte nicht wie „natürliche Dinge“ auffassten, „die den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen“, sondern wie „Dinge, die außerhalb der Natur liegen.“ (3praef, B 119) Demgegenüber hält Spinoza daran fest, dass Emotionen unbesehen ihrer scheinbaren Irrationalität natürliche Ereignisse sind, weswegen er sie auch nach derselben geometrischen Methode traktiert, mit der er zuvor schon die übrigen scheinbar außernatürlichen Entitäten Gott und Geist behandelt hatte. Spinozas Naturalismus steht somit ganz im Dienst der Versachlichung der Diskussion.6 Es wäre verfehlt, würde dieser Naturalismus einfach mit naturalistischen Ansätzen gleichgesetzt, wie sie im 20. Jahrhundert in der Philosophie des Geistes propagiert wurden. So läuft z. B. Spinozas Naturalismus im Unterschied zu jenem des eliminativen Materialismus keineswegs auf eine szientistisch begründete Leugnung der Realität des Mentalen hinaus. Spinozas Naturalismus richtet sich vor allem gegen die Annahme unbegreiflicher, transzendenter Ursachen und ist daher in erster Linie ein Ausdruck seiner radikal-rationalistischen These, dass alles Seiende im Prinzip intelligibel ist.7 Weder wurde daher die Welt von einem transzendenten Schöpfer geschaffen, noch steht hinter unseren geistigen Zuständen ein an sich unerkennbares Subjekt, noch unterliegen die Emotionen, die traditionell der Sphäre der voluntas zugeschrieben wurden, der menschlichen Willkür. Mit seinem Naturalismus verpflichtet sich Spinoza somit zwar auf eine deterministische Erklärung, doch er legt sich damit nicht auf eine physikalistische Ontologie der Emotionen fest. _____________ 6 7
Vgl. dazu auch ausführlicher Renz 2005, 335ff. Vgl. zu Spinozas Rationalismus auch Della Rocca 2003 sowie die drei klassischen französischen Kommentare von Matheron 1969, Gueroult 1968 und Deleuze 1967.
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b) Ideenbegriff. Spinozas Naturalismus geht einher mit einer begrifflichen Homogenisierung des Seienden. So unterscheidet er nur zwei uns bekannte Weisen, wie Seiendes existiert: Denken oder Ausdehnung. Einzeldinge sind demnach entweder Ideen oder Körper, wobei es sich hier nicht einfach um zwei Typen von Seiendem handelt, sondern eher um Ausdrucks- oder Manifestationsweisen, wie Seiendes ist. Als solche können Ideen und Körper nicht untereinander kausal interagieren, sondern höchstens ein und dieselbe Realität „ausdrücken“. Das ist nicht so unplausibel, wie es prima facie scheinen mag. Können doch z. B. mein beschwingter Schritt und meine Freude beide Ausdruck davon sein, dass ich soeben einen Sechser im Lotto gewonnen habe, ohne dass sie ihrerseits kausal interagieren müssten. Im Gegenteil, wenn mentale und körperliche Zustände, wie Spinoza im zweiten Buch der Ethica annimmt, verschiedene Seiten oder Aspekte ein und desselben Dinges oder Ereignisses sind, dann ist sogar ausgeschlossen, dass sie kausal interagieren.8 Denn nur ontologisch distinkte Dinge können aufeinander einwirken. Für die Konzeption von Affekten ist das in zweierlei Hinsicht entscheidend. Zum einen begreift Spinoza Gefühle weder als rein mentale Phänomene, noch als rein körperliche Zustände, sondern als Vorgänge, die beide Seiten involvieren.9 Zum anderen führt die erwähnte begriffliche Homogenisierung der Natur zu einer Aufweichung der kategorischen Unterscheidung zwischen Emotionalem und Kognitivem. Das bedeutet nicht, dass Spinoza jegliche Differenz zwischen Gefühlen und Erkenntnissen negiert. Doch wir haben es grundsätzlich bei beiden mit Ideen zu tun. Gefühle wie Erkenntnisse weisen einen intentionalen Gehalt auf, und beide verdanken sich der Tatsache, dass Menschen sich denkenderweise auf Dinge beziehen. Mit Blick auf das Glück, das dem fünften Buch zufolge mit adäquatem Erkennen einhergeht, kann man ferner schließen, dass nach Spinoza nicht nur dem Fühlen, sondern auch dem Erkennen ein qualitativer Erlebnisgehalt _____________ 8
9
Vgl. dazu 2p7s. Für die detaillierte Interpretation und kritische Diskussion dieses Scholiums vgl. vor allem Della Rocca 1996, 118f. sowie Jarrett 1991. Spinoza greift zu Beginn der Affektenlehre, in 3p2s, ausführlich auf dieses Scholium zurück. Vgl. dazu 3def3, B 223: „Unter Affekt verstehe ich Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen.“ (Hervorhebung U. R.)
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eigen ist. Gleichwohl unterscheiden sich Emotionen und Kognitionen voneinander, und zwar darin, wie – oder genauer: aufgrund welcher Funktionsprinzipien der Vorstellungs- oder Begriffsbildung – der intentionale Gegenstandsbezug zustande kommt. Und genau vor diesem Hintergrund kann Spinoza auch eine normative Differenz zwischen Erkennen und Fühlen ansetzen: Nur insofern der intentionale Gegenstandsbezug unserer Ideen auf eine rationale und uns durchsichtige Weise zustande kommt, wird er uns die Realität erkennen lassen, und nur insofern können wir uns auch auf unsere Ideen verlassen. c) Individuum und Konstitution. Spinozas Affektenlehre basiert schließlich auf einer weiteren ontologischen Voraussetzung, die für die therapeutische Dimension seiner Ethica enorm wichtig ist: Er nimmt an, dass die Art und Weise, wie Menschen im Einzelfall fühlen, beträchtlich variieren kann. Dies hält er in 3p57 explizit fest, wenn er sagt, dass sich der Affekt eines Individuums in dem Maße vom Affekt anderer Individuen unterscheide, wie sich die Essenz des einen von der Essenz des anderen unterscheidet (B 327). Es kann hier nun nicht im Detail erörtert werden, was mit der Essenz eines Menschen genau gemeint ist. Klar ist jedoch, dass Spinoza, wenn er von Individuen spricht, Dinge vor Augen hat, deren Form durch das Bewegungsgleichgewicht seiner Teile bestimmt ist, respektive, im Falle von Ideen, Ideenkomplexe, die durch das relationale Gefüge zwischen den einzelnen Ideen stabilisiert werden. Diese Form kann sich im Rahmen gewisser natürlicher Grenzen und in der Regel durch externe Störungen ausgelöst durchaus verändern.10 Das Wesen individueller Menschen ist keineswegs ein für alle Mal festgeschrieben oder gar durch eine Präformation im göttlichen Intellekt vorgegeben, sondern es ist eine von zahlreichen – physiologischen, kulturellen, sprachlichen, wissensgeschichtlichen aber auch biografischen – Faktoren bestimmte Größe. Die Rede vom Wesen von Individuen darf daher nicht zu essenzialistischen oder gar fatalistischen Interpretationen verleiten. _____________ 10
Wie Moreau 1994, 32 klarstellt, ist Spinozas Formbegriff auch im Zusammenhang mit dem Ausschluss jeglicher Metamorphose zu sehen. Zum Formbegriff bei Spinoza siehe ferner auch Zourabichvili 2003, vor allem 26ff.
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Wie jemand fühlt, hängt zwar von seinem Wesen ab, und dieses kann er nicht in quasi existenzialistischer Manier wählen. Doch man kann davon ausgehen, dass sich das Wesen oder die Form von Menschen kontinuierlich verändert und dass sie – in bestimmten Grenzen – durch ihr eigenes Denken und Leben mit dazu beitragen, wer sie später einmal sind. 11 Diese drei Voraussetzungen sind für die allgemeine Stoßrichtung von Spinozas Affektenlehre allesamt entscheidend: Menschliche Gefühle sollen als etwas begriffen werden, das wir nicht willkürlich steuern, auf das wir aber indirekt – sei es durch Manipulation oder Aufklärung, Selbsterkenntnis oder Verhaltenstraining – Einfluss nehmen können. Wie er das in seiner Emotionstheorie im Detail einholt, soll in den nächsten zwei Abschnitten gezeigt werden.
2. Die Primäraffekte oder warum Menschen Gefühle haben Wie es bis ins 18. Jahrhundert oft der Fall war, wird in der Ethica zwischen zwei Gruppen von Emotionen unterschieden: den sogenannten Grundoder Primäraffekten und den daraus abgeleiteten Sekundäraffekten. Diese Unterscheidung wird nur beiläufig erwähnt, und sie wird auch nur damit begründet, dass letztere aus ersteren entspringen (2p11s, B 245). Für die Affektenlehre ist diese Differenz gleichwohl wichtig, denn ihr korrespondiert eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen theoretischen Fragekomplexen. Während die Erörterungen über die Primäraffekte darüber Auskunft geben, warum Menschen überhaupt Emotionen haben bzw. was es heißt, dass sie Emotionen haben, führt die Herleitung der zahlreichen Sekundäraffekte vor, warum Menschen so vielfältige Emotionen haben und warum sie je nach Situation und damit einhergehenden Vorstellungen zu ganz bestimmten Gefühlen tendieren.12 Spinozas Antwort auf die erste Frage steht und fällt mit der Auslegung jenes Prinzips, das gleichsam zu einem Markenzeichen für Spinozas Affektenlehre geworden ist: dem Prinzip des conatus, demzufolge „jedes
_____________ 11 12
Vgl. Renz 2008. Vgl. dazu auch Renz 2007.
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Ding, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren“ strebt (3p6).13 Auf diese Annahme, dass alle Dinge oder genauer: alle endlichen Dinge über einen conatus verfügen, rekurriert Spinoza immer wieder, wenn es um die Erklärung menschlicher Emotionen geht. Doch was ist der conatus nach Spinoza genau? In der Literatur lassen sich zwei Interpretationstendenzen unterscheiden, eine biologische oder vitalistische und eine allgemein-ontologische. Erstere bringt Spinozas Conatus-Begriff in einen Zusammenhang mit der stoischen Oikeiosis-Lehre, der zufolge jedes Lebewesen aufgrund einer Zuneigung zu sich selbst danach strebt, sich zu erhalten und eine der Erhaltung förderliche Konstitution zu bewahren.14 Vor diesem Hintergrund wird der conatus als eine Art angeborener, biologischer Selbsterhaltungstrieb begriffen, der Subjekte dazu veranlasst, sich um ihre eigene Erhaltung zu kümmern und die entsprechenden Präferenzen – allen voran jene des Lebens vor dem Tod – zu entwickeln. Die zweite Interpretationstendenz zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass sie Spinozas ConatusBegriff aus dem Kontext der Diskussion über das physikalische Trägheitsprinzip heraus begreift.15 Sie fasst den conatus als relativ abstraktes ontologisches Grundprinzip auf, das besagt, dass alle Dinge dazu tendieren, in jenen Zuständen zu verharren, in die sie aus irgendwelchen Gründen geraten sind. Es ist nicht so einfach zu entscheiden, welche dieser Lesarten die richtige ist. Man kann davon ausgehen, dass Spinoza beide Diskussionskontexte kannte, und es haben auch beide Lesarten etwas für sich. So behauptet Spinoza einerseits an mehreren Stellen einen absoluten Vorrang bestimmter Zustände vor anderen, z. B. des Lebens vor dem Tod, und ein solcher ist nur sinnvoll, wenn der conatus mindestens auch ein biologisches Selbsterhaltungsstreben impliziert. Auch viele andere moralische Maximen aus dem vierten Buch wären haltlos ohne die Annahme einer solchen Präferenz des Lebens vor dem Tod. Das spricht für die vitalistische Lesart. Auf der anderen Seite sind die Ähnlichkeiten zwischen den Formulierungen, mit denen Spinoza den conatus beschreibt, und dem Trägheitsprinzip frappant, zumal wenn als Vergleichsbasis nicht Descartes’ Version dieses _____________ „Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.“ (Übersetzung von Jakob Stern, Spinoza 1977, 273) 14 Als Bezugstexte gelten Diogenes Laertius’ De vitis (siehe Pollock 1880, 132; Dilthey 1921 (zuerst 1893), 286 und Bittner 2002, 209) sowie Ciceros De finibus (Curley 1988, 114; sowie im Anschluss an ihn Cook 2006, 154). 15 Siehe u. a. Walther 1971, 102; Curley 1988, 107f.; sowie Della Rocca 1996/2, 196. 13
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Prinzips, sondern die Formulierung von Johannes Clauberg herangezogen wird.16 So bedient sich der oben zitierte Lehrsatz nicht nur der Wendung „unaquaeque res, quantum in se est“, die sich bei Descartes und Clauberg findet, sondern auch des Verbs „perseverare“, das Clauberg anstelle von Descartes’ „manere“ verwendet, und das später auch bei Newton in analogem Zusammenhang auftaucht.17 Noch wichtiger ist aber, dass Spinoza den conatus im dritten Teil an entscheidender Stelle auch heranzieht, um zu erklären, warum wir uns oft gerade nicht klug verhalten. Weshalb, so fragt sich, strebt der Geist nicht einfach danach, möglichst viele klare und deutliche Ideen zu haben, anstatt dass er, wie Spinoza in 3p9 festhält, in einem bestimmten Zustand verharrt, der genauso von verworrenen wie von klaren und deutlichen Ideen bestimmt ist?18 Oder anders gefragt: Wie ist zu erklären, dass Menschen Affekte, die ihnen nicht zuträglich sind, nicht einfach vermeiden, sondern darin quasi neurotisch gefangen bleiben? Dass solche ambivalenten Gefühlslagen überhaupt auftreten, ist nur plausibel, wenn man den conatus als ontologisches Prinzip auffasst, das sich als solches allgemein auf die Erhaltung von Zuständen bezieht, zugleich aber annimmt, dass dieses ontologische Prinzip neben anderem auch das Selbsterhaltungsstreben von Lebewesen erklärt. Genauso wie bewegte Körper in ihrem Bewegungszustand bleiben, so verharren eben Lebewesen im Zustand des Lebens, wenn sie nicht daran gehindert werden. Allerdings sind Lebewesen noch in unzähligen anderen Zuständen, in denen sie ebenfalls zu verharren streben. Als Körper befinden sie sich in einem bestimmten Bewegungszustand, und als Geister verharren sie in Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten. Und es erstaunt daher auch nicht, dass Lebewesen, obwohl sie stets auf Lebenserhaltung aus sind, längst nicht immer das tun, was ihrer Lebenserhaltung zuträglich ist. Ja, je komplexer Subjekte sind, umso mehr Zuständen unterliegen sie, und umso _____________ „Prima lex naturae: quod unaquaeque res quantum in se est, semper in eodem statu perseveret; sicque quod semel movetur, semper moveri pergat.“ „Das erste Naturgesetz [lautet]: dass jedes Ding, soviel an ihm liegt, immer im selben Zustand verharrt; und so wie es einmal bewegt wird, sich zu bewegen immer fortfährt.“ (Clauberg 1968 (zuerst 1691), Opera Omnia I, 102; Übersetzung U. R.) 17 Zum begriffsgeschichtlichen Hintergrund des „perseverare“, das im 17. Jahrhundert dem ursprünglich theologischen Ausdruck des „conservare“ Konkurrenz machte; vgl. Blumenberg 1996. 18 3p9, B 241: „Der Geist strebt, sowohl insofern er klare und deutliche, als auch insofern er verworrene Ideen hat, auf eine unbestimmte Dauer in seinem Sein zu verharren, und seines Strebens ist er sich bewußt.“ 16
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vielfältiger werden ihre Beharrungstendenzen sein. Gerade bei so komplexen Wesen wie dem Menschen kommt es daher öfters auch zu ziemlich ambivalenten Bedürfnislagen. Mit der Annahme eines conatus wird somit nicht einfach ein natürlicher Instinkt behauptet, sondern ein Prinzip eingeführt, dessen Funktion darin besteht zu plausibilisieren, warum Dinge, wenn sie einmal in bestimmten Zuständen sind, dazu tendieren, diese Zustände zu erhalten. Der conatus erklärt allerdings nicht, warum Dinge überhaupt in bestimmte Zustände kommen. Das gilt auch für den Zustand des Lebens: Die Annahme eines universalen conatus besagt, dass Dinge, wenn sie leben, dazu neigen, ihr Leben zu erhalten, doch sie erklärt nicht, wie Leben entsteht. Dass sie leben, ist Lebewesen vielmehr immer schon gegeben, und es gehört quasi zu ihrer ontologischen Grundausstattung, dass sie darüber nicht verfügen können.19 Mit der Behauptung eines conatus allein ist daher die oben aufgeworfene Frage, warum Menschen überhaupt Emotionen haben bzw. was es heißt, dass sie Emotionen haben, noch nicht geklärt. Im Gegenteil, es macht den Anschein, als wären wir von einer Beantwortung dieser Frage weiter weg denn je. An der Stelle ist erstens darauf hinzuweisen, dass beim Menschen noch ein zusätzliches Element zum conatus hinzukommt. Im Unterschied zu den meisten Dingen sind Menschen nämlich nicht nur vom Prinzip des conatus bestimmt, sondern sie haben auch ein Bewusstsein, conscientia, davon.20 Menschen merken, wonach ihnen ist und wohin es sie drängt. Konkret kommt das in der Ethica darin zum Ausdruck, dass der erste Primäraffekt, die cupiditas oder Begierde, als conatus plus conscientia definiert wird.21 Menschen haben also nicht nur (zahlreiche) Verharrungs_____________ Blumenberg 1996, 188 charakterisiert den conatus daher sehr treffend als ein „Ausschließungsprinzips von Fragen“. 20 Vgl. den in Anm. 19 schon zitierten Lehrsatz 3p9. Man könnte hier einwenden, dass 3p9 nicht vom Menschen, sondern vom Geist spricht und es darin nicht um ein menschliches Privileg geht. Wie ich jedoch andernorts gezeigt habe, wird der Terminus mens – anders als der Ausdruck anima – nur dort verwendet, wo entweder vom Menschen die Rede ist oder Seiendem in Analogie zum Menschen Geist zugesprochen wird (vgl. Renz 2006, 117). 21 Vgl. dazu 3p9s, wo es heißt: „Die Begierde ist der Trieb mit dem Bewusstsein davon.“ (Übersetzung U. R.) Der lateinische Ausdruck an der Stelle ist nicht conatus, sondern appetitus, was dahingehend missverstanden werden könnte, dass die cupiditas nur ein – quasi epiphänomenales – Bewusstsein der körperlichen Verharrungstendenzen sei. Dagegen ist festzuhalten, dass der Ausdruck appetitus nur eine Spezifikation des conatus ist und die Annahme einer conscientia in Lehrsatz 3p9 nicht bezogen auf den appetitus, sondern den conatus des Geistes hergeleitet wird, 19
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tendenzen, sondern sie sind überdies intentional darauf bezogen, und genau das ist einer der Ursprünge ihres Fühlens. Zweitens ist an der Stelle darauf hinzuweisen, dass Spinoza Emotionen wesentlich als transitorische Vorgänge begreift, und nicht einfach als Zustände, die sich so oder anders anfühlen. Dies geht zum einen aus 3def3 hervor, wo als Affekte jene Übergangsphänomene angesprochen werden, durch welche die Wirkungsmacht des Körpers eines Individuums vermehrt oder vermindert wird.22 Zum anderen bringt Spinoza dies auch bei der Definition von Freude und Trauer zum Ausdruck, welche er neben der Begierde als die einzigen Primäraffekte begreift. Und zwar bestimmt er die Freude, laetitia, als Übergang des Geistes zu größerer Vollkommenheit und die Trauer, tristitia, als Übergang desselben zu geringerer Vollkommenheit.23 Doch warum, so könnte man hier fragen, kommt es überhaupt zu solchen Übergängen, wenn doch Menschen aufgrund des conatus dazu tendieren, in den Zuständen zu bleiben, in denen sie nun einmal sind? Spinoza geht an keiner Stelle explizit auf diese Frage ein, doch vor dem Hintergrund seiner Ontologie liegt die Antwort auf der Hand: Menschen gehören als sogenannte ‚Modi‘ zu denjenigen Entitäten, deren Existenz von anderem Seienden fundamental abhängig ist. Diese Abhängigkeit kann bestenfalls minimiert, nie aber überwunden werden. Deshalb bleiben Menschen stets externen Einflüssen ausgesetzt, und ihr Selbsterhaltungsstreben ist daher mindestens potenziell zum Scheitern verurteilt.24 _____________ vgl. auch B 241f. Zum Terminus conscientia ist ferner anzumerken, dass er im 17. Jahrhundert meist noch Gewissen und nicht Bewusstsein bedeutete. Die Verwendung dieses Ausdrucks in 3p9 ist neutraler und allgemeiner, doch die Assoziation mit dem Gewissen schwingt an vielen Stellen noch mit. Vgl. zum Begriff der conscientia Balibar 1998; für Spinozas Umgang damit Renz 2009 und Balibar 1992. 22 Vgl. dazu die in Anm. 13 zitierte Definition. 23 Siehe 3p11s, B 245, sowie 3AD3, B 339. Im Anschluss werden auch Lust, titillatio, Heiterkeit, hilaritas, Unlust, dolor, sowie Schwermut, melancholia, als Formen der Freude oder der Trauer bestimmt; sie stellen aber nach Spinoza, obwohl selbst leibseelische Phänomene, Übergänge zu größerer oder geringerer körperlicher Vollkommenheit dar. 24 Vgl. dazu 4ax1, B 385: „Es gibt kein Einzelding in der Natur, in Bezug auf das es nicht ein anderes gäbe, das mächtiger und stärker ist. Welches auch immer gegeben sein mag, es gibt ein anderes, mächtigeres, von dem es zerstört werden kann.“ Dieses Axiom ist eine ontologische Reformulierung von Hobbes’ Diktum, wonach selbst der Schwächste stark genug sei, den Stärksten zu töten. Vgl. Hob-
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Menschliches Existieren ist also stets für Störung und Zerstörung anfällig, aber auch für Veränderungen in Richtung mehr Lebensfülle und Handlungsfähigkeit. Wenn es nun aber aufgrund von irgendwelchen externen Einflüssen zu einer Veränderung in die eine oder andere Richtung kommt, dann wird sich das im emotionalen Erleben des Subjektes notwendigerweise bemerkbar machen, und zwar je nachdem in Form von Freude oder Traurigkeit. Wir können somit festhalten, dass Spinoza mit seiner Bestimmung der drei Primäraffekte zwei verschiedene Ursprünge menschlicher Emotionalität ausweist: Affekte entspringen einerseits dem Bewusstsein der eigenen Verharrenstendenzen, andererseits der Wahrnehmung der Verminderung und Vermehrung der eigenen potentia agendi. Signifikanterweise führen diesen beiden Bestimmungen ontologische und kognitiv-psychologische Momente zusammen, sie tangieren beide grundlegende Bedingung der Existenz von endlichem Seienden, und sie hängen beide damit zusammen, was menschliche Subjekte von der Kontingenz ihrer Existenz mitbekommen. Als Fazit könnte man daher festhalten, dass Fühlen nach Spinoza sehr viel damit zu tun hat, wie Menschen ihr zwar auf Fortsetzung bedachtes, aber stets bedrohtes Sein erleben.
3. Sekundäraffekte oder die Vielfalt emotionalen Lebens Weitaus der größte Teil von Spinozas Affektenlehre befasst sich mit der Herleitung der Sekundäraffekte. Diese sind sehr zahlreich – Spinoza führt gegen fünfzig verschiedene Affekte an –, und die Liste ist nach oben offen. So schließt Spinoza seine definitorischen Bemühungen in 3p56 explizit damit ab, dass es so viele Arten von Affekten gäbe, wie es Arten von Gegenständen gebe (B 327).25 Die Auswahl der behandelten Phänomene verdankt sich im Grunde genommen nur der Tatsache, dass Spinoza sich hier an der Vorlage von Descartes’ Passions de l’âme bzw. deren lateinischer Übersetzung Passiones Animae abarbeitet,26 und sie ist daher relativ kontingent. Wie ferner zahlreiche Seitenhiebe zeigen, hält Spinoza diese Vorlage nicht etwa für besonders klug. Allerdings ist der Affektkatalog der Passiones _____________ bes 1996 (engl. zuerst 1651), 87. Die lateinische Version des Leviathan erschien 1668 in den Opera philosophica quae latine scripsit in Amsterdam. 25 Wer weiß, ob Spinoza, hätte er heute geschrieben, neben Schwelgerei, Trunksucht etc. auch auf Workaholismus, Chatsucht oder Messie-Syndrome zu sprechen gekommen wäre. Das satirische Potenzial dazu ginge ihm nicht ab. 26 Auf die Bedeutung von Descartes’ Passiones Animae hat Voss 1981 hingewiesen.
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Animae so umfassend angelegt, dass Spinoza an ihm die Tauglichkeit seiner eigenen Annahmen messen kann: Gelingt es ihm, sämtliche der fünfzig in den Passiones Animae unterschiedenen Emotionen aufgrund seiner eigenen Vorgaben herzuleiten, so kann seine Theorie auch in diesem Bereich als gelungen gelten.27 Im Zentrum steht die Einführung von sogenannten genetischen Prinzipien.28 Diese dienen einerseits der Spezifikation von Affekttypen, andererseits ihrer kausalen Erklärung. Es handelt sich also, genau genommen, um Gesetzmäßigkeiten, die zeigen, wie es kommt, dass bestimmte Affektgeschehnisse, die qua Primäraffekte den Charakter von Begierde, Freude oder Traurigkeit haben, als Liebe, Hass, Neid, Mitleid etc. erlebt werden. Konkret sind dabei vor allem folgende Prinzipien zu nennen: a) Kausalattribuierung. Wie schon aus der Definition der drei Primäraffekte hervorging, werden Emotionen meist als werthaft erlebt. Sie lassen uns entweder nach Dingen streben, von denen wir glauben, sie seien wertvoll und uns zuträglich oder aber sie drücken direkt die Verminderung oder Vermehrung der eigenen potentia agendi aus. Allerdings nehmen Menschen solche Veränderungen meist nicht einfach hin, sondern sie suchen nach Ursachen, und zwar vornehmlich solchen, die außerhalb ihrer selbst liegen. Menschen neigen, mit anderen Worten, zur Kausalattribuierung. Aus solchen Kausalattribuierungen entstehen gemäß Spinoza vor allem zwei Sekundäraffekte: Liebe und Hass. So wird Liebe definiert als „Freude unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache“, Hass als „Trauer unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache“ (B 343). Im Unterschied zur Freude und Trauer involvieren Liebe und Hass somit bestimmte kognitive Prozesse, weswegen sie auch einen viel spezifischeren intentionalen Objektbezug haben. Das jedoch heißt nicht, dass Liebe und Hass eine adäquate Erkenntnis der realen Ursache unserer Freude oder Trauer voraussetzen, sondern es reicht die bloße Vorstellung, etwas sei die Ursache unserer Freude oder Trauer. Kausalattribuierungen gehen daher oft mit den noch zu erörternden imaginativen _____________ Vgl. dazu ausführlicher Renz 2005, 344ff. Im Allgemeinen waren Klassifikationen in den Emotionstheorien im 17. Jahrhundert kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um Differenzen hinsichtlich der Erklärungsprinzipien zu erörtern. Siehe dazu auch Schmitter 2006. 28 Siehe dazu auch Moreau 2003, 4f. sowie derselbe 2006, 184. 27
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Mechanismen wie Affektassoziation etc. einher. Allerdings wird mindestens bei der Liebe auch nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass sie aus der wahren Erkenntnis der realen Ursache unserer Freude entstehen kann.29 Das ist für Spinozas Ansatz in zweierlei Hinsicht entscheidend. Zum einen wäre jenes Glück unmöglich, das Spinoza im amor Dei intellectualis anvisiert. Unabhängig davon, was genau Spinoza als intentionalen Gegenstand dieser Liebe begreift, ist klar, dass es sich um ein Gefühl handelt, das einer adäquaten Erkenntnis der Ursache unserer Freude entspringen muss. Ein solches Gefühl überhaupt in Aussicht zu stellen, ist aber nur dann konsistent, wenn es mindestens im Prinzip denkbar ist, dass Liebe einer rationalen Einsicht entspringt. Ferner ist auch wichtig, das als amor Dei intellectualis bezeichnete Gefühl von einer auf Aberglauben und Furcht oder Hoffnung basierenden Verehrung Gottes zu unterscheiden. Die Möglichkeit rational begründeter Liebe hat zum anderen auch sozialphilosophische Implikationen. Wie Spinoza im vierten Teil ausführt, sind vernünftige Menschen einander in höchstem Ausmaß nützlich.30 Wenn nun aber Liebe stets auf Irrtum basierte, dann wäre ausgeschlossen, dass Vernünftige einander überdies freundschaftlich zugetan sind. Das ist aber etwas, was Spinoza für durchaus möglich und äußerst erstrebenswert hält. Liebe, Zuneigung oder allgemeiner soziale Bindungen können grundsätzlich mehr oder weniger blind sein. b) Affektassoziation. Viele der von Spinoza erörterten Sekundäraffekte basieren auf einem Mechanismus, der in 3p14 wie folgt umschrieben wird: „Wenn der Geist einmal von zwei Affekten zugleich affiziert worden ist, wird er später, wenn er von einem von ihnen affiziert wird, auch von dem anderen affiziert werden.“ (B 249) Damit wird die bereits im zweiten Teil behauptete Annahme von Ideenassoziationen auf Affekte ausgeweitet. Spinoza hielt dort fest, dass Vorstellungen von externen Körpern reaktiviert werden, sobald wir an einen dritten externen Körper denken, der unseren Körper zusammen mit jenen affiziert hat (2p18, B 147). Und er il_____________ Im Fall des Hasses wird das später indirekt ausgeschlossen, vgl. etwa 4p45 sowie vor allem 4p64. 30 Vgl. dazu 4p35c1, B 433. 29
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lustriert das, indem er die Gedanken eines Soldaten, der Pferdespuren im Sand sieht, mit jenen vergleicht, die ein Bauer beim selben Anblick hat. Der Soldat „wird von dem Gedanken eines Pferdes auf der Stelle in den Gedanken eines Reiters und von diesem in den Gedanken von Krieg usw. verfallen. Ein Bauer dagegen […] in den Gedanken eines Pfluges, eines Ackers usw.“ (B 149) Diesen Mechanismus assoziativer Verkettung von Ideen macht sich Spinoza also in der Affektenlehre zunutze, um nicht nur Gedankenabfolgen, sondern auch scheinbar unmotivierte, absurde oder widersprüchlich anmutende Gefühle zu erklären. Vor dem Hintergrund des Beispiels vom Soldaten und vom Bauern ist klar, wie dies gehen soll: Erfasst den Soldaten beim Anblick von Pferdespuren in erster Linie die Furcht, so kommt beim Bauern eher Überdruss auf. Das Beispiel erhellt auch eine der wichtigsten Funktionen der Annahme eines solchen Mechanismus: So dürfte eine wesentliche Funktion darin liegen, individuelle Differenzen in der Wahrnehmung und im Fühlen von Dingen erklärbar zu machen. Darüber hinaus können aber auch widersprüchlich anmutende Gefühle auf Affektassoziationen zurückgeführt werden und so ihres Widersinns entkleidet werden. Dies weist auf einen weiteren Punkt hin: Assoziationen funktionieren, auch wenn das fühlende oder wahrnehmende Subjekt nichts von ihnen weiß. Denn es vollzieht den Schritt von einer Idee zur nächsten, meist ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, dass es damit letztlich nur einer Denkgewohnheit folgt, die zwar notwendigen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die in ihrer konkreten Ausprägung aber von einer letztlich kontingenten Affektgeschichte abhängig ist. Dies kann sich allerdings verändern: Menschen können Einsicht in die Ursachen ihrer Denkgewohnheiten gewinnen und an deren Stelle neue, rationalere Ideenverbindungen schaffen. Spinoza spricht in 5p10 davon, dass es „in unserer Gewalt“ stehe, „die Affektionen des Körpers gemäß einer Ordnung zu ordnen und zu verketten, die dem Verstand gemäß ist.“ Das gilt allerdings nur unter der Einschränkung, dass wir im Moment des Nachdenkens „nicht von Affekten bedrängt werden“ (5p10, B 547). Es liegt somit nicht in unserer Macht, unsere eigenen affektiven Reaktionen zu kontrollieren, wir können höchstens indirekt auf sie ein-
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wirken, indem wir das unser Handeln und Erleben steuernde Gedankengefüge mehr oder weniger rational gestalten. Ferner ist auch ausgeschlossen, dass wir alle assoziativen Verknüpfungen auf einmal durch rationale Ideenverbindungen ersetzen. Denn Assoziationen gehen auf einzelne Affektionsereignisse zurück und sie entfalten ihre Macht stets aufgrund der Koinzidenz der in der besonderen Situation zusammenkommenden Faktoren. c) Affektübertragung aufgrund von Ähnlichkeit. Viele Affekte, bei denen Assoziationen im Spiel sind, können allein aufgrund des Assoziationsgesetzes nicht erklärt werden. Wie kommt es beispielsweise, dass wir jemanden verabscheuen, der uns gar nichts angetan hat und dessen Tun uns auch in keiner Weise beeinträchtigt? Oder wie ist es zu verstehen, dass man Hass auf ganze Bevölkerungsgruppen haben kann, obwohl man nur einzelne Menschen kennt, die dieser Gruppe zugehören? Um solche Phänomene zu erklären, nimmt Spinoza einen weiteren Mechanismus der Affektgenese an, den man am besten als Affektübertragung aufgrund von Ähnlichkeit bezeichnet. Es ist in seiner einfachsten Form in 3p16 dargestellt: Wir werden ein Ding allein aus dem Grund lieben oder hassen, dass wir es uns als etwas vorstellen, das mit einem Gegenstand, der den Geist gewöhnlich mit Freude oder Trauer affiziert, irgendeine Ähnlichkeit hat, selbst dann, wenn dasjenige, worin das Ding dem Gegenstand ähnlich ist, nicht die bewirkende Ursache dieser Affekte ist. (B 253)
Dieser Mechanismus erklärt, weshalb Affektassoziationen auch in Fällen vorkommen, in denen die involvierten Dinge einander bloß ähnlich sind und wo wir möglicherweise sogar wissen, dass keinerlei kausaler Zusammenhang zwischen dem vorgestellten Gegenstand und dem, was seine Vorstellung in uns auslöst, besteht. Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine Projektion, die auf bloßer Ähnlichkeit beruht. Dabei ist durchaus offen, was uns ähnlich vorkommt. Wie das Adverb „allein“, solo, im oben zitierten Lehrsatz klarstellt, kann sogar ausgeschlossen werden, dass es ein inhaltliches Kriterium dafür gibt, wann die Vorstellung einer Ähnlichkeit unsere Haltung gegenüber bestimmten Dingen affektiv beeinflussen wird. Im Gegenteil, mutmaßliche Ähnlichkeit reicht völlig aus, um Affekte zu erzeugen. Auch diese Gesetzmäßigkeit hat einen enormen Erklärungswert. Sie erklärt zum einen jene Affekte, die sich nicht auf einzel-
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ne Individuen, sondern auf Gruppen und Typen von Menschen oder Gegenständen beziehen, wie z. B. Xenophobie etc. Zum anderen werden vor diesem Hintergrund auch Emotionen verständlich, die auf abwesende, etwa vergangene oder zukünftige Gegenstände, bezogen sind, wie z. B. Vorfreude und Nostalgie. d) Imitation von Affekten. Das wohl pikanteste Prinzip der Affekterzeugung ist jenes, das Spinoza als imitatio affectuum bezeichnet und das er in 3p27 mit folgenden Worten schildert: „Wenn wir uns ein uns ähnliches Ding, mit dem wir nicht affektiv verbunden gewesen sind, als mit irgendeinem Affekt affiziert vorstellen, werden wir allein dadurch mit einem ähnlichen Affekt affiziert werden.“ (B 269) Spinoza erklärt mithilfe dieses Lehrsatzes verschiedene Phänomene, in denen es zu Gefühlsansteckung kommt, aber auch Gefühle wie Mitleid oder aemulatio, was entweder mit Wetteifer oder mit Eifersucht übersetzt werden kann. Die Imitation von Affekten stellt in gewisser Weise das Gegenstück zur Übertragung aufgrund von Ähnlichkeit dar. Bei beiden spielt die Vorstellung einer Ähnlichkeit eine entscheidende Rolle, allerdings geht es bei der Übertragung aufgrund von Ähnlichkeit um die affektive Besetzung von an sich irrelevanten Gegenständen, wogegen der Mechanismus der Affektimitation erklärt, weshalb wir mit Menschen, mit denen wir an sich nichts zu tun haben und die wir womöglich nicht einmal persönlich kennen, wetteifern oder Mitleid haben können. Stärker noch als die bisherigen Prinzipien bedeutet die Annahme dieser Gesetzmäßigkeit eine Provokation für das Selbstverständnis vermeintlich rationaler Egoisten. Denn zum einen behauptet Spinoza damit indirekt, dass es zu unserer Natur gehört, sich in Gedanken um das Wohlergehen anderer zu kümmern, sei dies nun in positiver oder negativer Hinsicht. Zum anderen macht er damit indirekt klar, dass sich unsere Präferenzen keineswegs immer rationaler Überlegung verdanken. Wir lieben oft, was andere lieben, ob es uns in unserer Situation nun wirklich gut bekommt oder nicht. Mithilfe dieser vier Gesetzmäßigkeiten leitet Spinoza einen Großteil unserer Sekundäraffekte her. Dadurch wird das Bild, das seine Affektenlehre vom menschlichen Gefühlsleben zeichnet, um eine wesentliche Komponente be-
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reichert. Führte die Erörterung der Primäraffekte die allgemeine Unentrinnbarkeit von Emotionen vor Augen, so erweist sich unter der Perspektive der Erzeugung von Sekundäraffekten manches scheinbar zwingende Gefühl als Zufallsprodukt unserer Vorstellungskraft. Mag es daher absolut gesehen notwendig sein, dass wir Affekten unterliegen und an ihnen leiden – eine unentrinnbare Hölle ist unser Gefühlsleben nicht. Denn es hängt letztlich von individuellen und kulturellen Affektgeschichten ab, welche Emotionen wir haben und – damit verbunden – wie wir uns fühlen. Mögen daher unsere Emotionen aufgrund der mechanistischen Notwendigkeit, mit der sich bestimmte Affekte aus bestimmten Vorstellungen ergeben, auch dem direkten Einfluss unseres Willens entzogen sein, so können wir mindestens jene Ideen bearbeiten, die uns immer wieder in Aufruhr versetzen.
4. Fazit: Von der Naturalisierung zur Therapie Wir glauben oft, unsere Gefühle seien mehr oder weniger begründet oder mindestens irgendwie motiviert. Dies nehmen wir im Alltag sowohl zum Anlass, unsere Gefühle zu rationalisieren, als auch dazu, unter Rekurs auf Gefühle Handlungen zu rechtfertigen. Wir reden von irrationalen Ängsten oder davon, dass wir Grund zur Dankbarkeit haben. Gefühle, so scheint dieser Umgang nahezulegen, gehören zum Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen. Dieser Annahme sucht Spinoza in seiner Ethica den Boden zu entziehen. Zwar akzeptiert er, dass unser Handeln oft von unseren Gefühlen geleitet ist, ja, er attestiert ihnen eine enorme Macht über unser Tun und Lassen. Auch für ihn bildet daher die Auseinandersetzung mit den affektiven Grundlagen menschlichen Handelns und Leidens die entscheidende Basis sämtlicher moralphilosophischer Erwägungen. Der Tendenz, Gefühle zu rationalisieren – sei dies in unseren Alltagsdeutungen oder sei dies in moralphilosophischer Absicht – begegnet er gleichwohl mit Reserve. Wenn gezeigt wird, welchen emotionalen Episoden bestimmte Handlungsdispositionen, Wünsche oder Präferenzen entspringen, so nicht, um Gefühle zu rechtfertigen, sondern zu erklären. Wir meinen, Dinge zu mögen oder Personen zu lieben, weil sie gut seien. Spinoza behauptet, dass wir sie deshalb für gut halten, weil sie uns Freude bereiten. In seiner Darstellung werden somit aus Gründen natürliche Ursachen, womit auch die Möglichkeit der Rationalisierung hinfällig wird. Diese Haltung wurde im ersten Abschnitt als ein auf Versachlichung der Diskussion ausgerichteter Naturalismus charakterisiert. Schon dort wurde
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deutlich, dass Spinozas Naturalismus zwar mit einem Determinismus einhergeht, nicht aber mit einem Materialismus oder gar einem physikalistischen Reduktionismus, der kulturellen Determinanten keinen Raum ließe. Wie bei der Erörterung des Assoziationsgesetzes deutlich wurde, hat Spinoza durchaus eine Vorstellung, wo und wie kulturelle oder semantische Aspekte der Affektdetermination wirksam werden. Die Rekonstruktion des Begriffs conatus zeigte ferner, dass Spinoza auch die existenziellen Dimensionen der Emotionen im Blick hat. Fühlen hat viel damit zu tun, wie Menschen ihr Sein, aber auch Bedrohungen, Beeinträchtigungen und Bekräftigungen desselben erleben. Vor diesem Hintergrund gewinnen sowohl die moralphilosophischen Maximen des vierten als auch die therapeutischen Heilmittel des fünften Teils an Virulenz. Sie sind erstens möglich, weil unser Fühlen zwar notwendig determiniert und als allgemeines Faktum unhintergehbar, aber in seiner konkreten Ausprägung nicht etwa unveränderlich ist. Sie können zweitens wirken, weil sie den Affekten mit Mitteln begegnen, die den Mechanismen ähnlich sind, die diese erzeugt haben: An die Stelle falscher Kausalattribuierung tritt die adäquate Ursachenerkenntnis, an die Stelle imaginativer Assoziationen eine rationale Ordnung von Ideen, an die Stelle des omnipräsenten Konkurrenten im Kampf um die begrenzten Güter der potenziell Vernünftige, mit dem zu verbünden sich auch in emotionaler Hinsicht lohnen kann. Und drittens sind sie triftig, weil sie jene Dimension menschlichen Seins betreffen, welcher die Erfahrung von Not und Glück entspringt.
Literatur Verweise auf die Ethica folgen dem Schema: Die erstgenannte arabische Ziffer verweist auf den jeweiligen Teil, dann folgt ein Kürzel, das die Satzart genauer bestimmt (def=definitio, ax=axioma, p=propositio, praef=praefatio, c=corollarium, s=scholium, AD=Affectuum Definitiones) gefolgt von der Nennung der Zählung des Satzes. Deutsche Zitate werden, wo nicht anders angegeben, nach der Ausgabe von Wolfgang Bartuschat zitiert. Vereinzelt wird auf die Übersetzung von Jakob Stern zurückgegriffen. Descartes’ Schriften werden nach der französischen Ausgabe seiner Werke, Oeuvres, sowie nach ausgewählter deutscher Übersetzung zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: B AT H
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Nicolas de Malebranche (1638–1715)
Malebranche: Neigungen und Leidenschaften Tad Schmaltz Nicolas Malebranche (1638–1715) war ein französischer Priester und Mitglied der Kongretation der Oranier. Von Pierre Bayle als „der erste Philosoph unserer Zeit“ bezeichnet, wurde er 1699 in die Académie des sciences aufgenommen. Im Verlaufe seiner Karriere publizierte er mehrere wichtige Werke zu Fragen der Metaphysik, Theologie und Ethik sowie Studien zur Optik, zu den Bewegungsgesetzen und der Natur der Farben. Er ist bekannt für seine höchst originelle Synthesis der philosophischen Ansätze von Augustinus und Descartes. Diese Synthese führt ihn zu zwei Resultaten, die für die Rezeption seiner Philosophie bestimmend waren: erstens die Lehre, dass wir Körper durch Ideen in Gott erkennen, und zweitens die okkasionistische Schlussfolgerung, dass Gott die einzige reale Ursache sei. Darüber hinaus entwickelte Malebranche aber auch eine einzigartige Psychologie. Den Ausgangspunkt bildet eine Kombination der cartesischen These, wonach der Geist als denkende Substanz vom Körper real verschieden sei, mit der augustinischen Auffassung des menschlichen Willens als einer Art von Liebe, wobei für seine Theorie der Emotionen vor allem der augustinische Einfluss fundamental ist. Nach Malebranche gibt es zwei Typen von Emotionen: einerseits natürliche Neigungen, französisch ‚inclinations‘, welche der Geist unabhängig von seiner Beziehung zum Körper hat, und andererseits Leidenschaften, ‚passions‘, denen er aufgrund seiner Verbindung mit dem Körper unterliegt. Während die natürlichen Neigungen unserer Liebe zu Gegenständen entspringen, die eine größere Perfektion aufweisen als der Körper, namentlich zu unserem eigenen Geist, anderen geschaffenen Geistern und Gott, stammen unsere Leidenschaften von unserer Liebe zum Körper, mit dem der Geist verbunden ist. Beide Typen von Emotionen sind nach Malebranche Quellen von Sünde und moralischer Fehlbarkeit. Gleichzeitig betont er aber auch ihre positive Rolle, wenn es darum geht, jenes Glück zu erreichen, das letztlich das Ziel unseres praktischen Handelns ist.
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1. Cartesische und augustinische Psychologie Im Vorwort seines Hauptwerkes De la recherche de la vérité, welches erstmals in den Jahren 1674–75 in zwei Bänden veröffentlicht wurde, stellt Malebranche fest, dass „die Differenz zwischen Geist und Körper erst seit wenigen Jahren mit hinreichender Klarheit bekannt sei.“ (OCM 1, 20)1 Gegenstand dieser Anspielung ist Descartes’ Materiekonzeption, nach der die Natur lediglich in Ausdehnung besteht. Wie Malebranche ausführt, bedeutet dies, dass sekundäre Qualitäten wie Farben, Geschmack und Geruch, welche nicht auf Ausdehnung reduzierbar sind, demnach nur im Geist sein können. Insofern sie jedoch dort und insbesondere in der Wahrnehmung tatsächlich existieren, muss der Geist vom Körper getrennt sein. In dieser Weise, so Malebranche, lege Descartes’ Materiebegriff auch den Unterschied von Geist und Körper offen. Malebranche übernimmt neben dem Substanzdualismus noch weitere Grundannahmen seiner Psychologie von Descartes. So ist er etwa wie jener der Auffassung, dass der Geist mit dem Verstand und dem Willen zwei genuin verschiedene Fähigkeiten besitzt. Und auch darin folgt er Descartes, dass er das Urteil – anders als in der scholastischen Tradition, welche es nur dem Verstand zugerechnet hatte, – auch als Resultat eines Willensaktes begreift. Dies war für Malebranche deshalb von Belang, weil er, inspiriert von Descartes’ Erörterungen der vierten Meditation, die Auffassung vertritt, dass wir für unsere falschen Urteile verantwortlich sind, denn wir sind ja frei darin, ob wir eventuellen dunklen und vagen Perzeptionen unsere Zustimmung geben wollen oder nicht. Dennoch unterscheidet sich der psychologische Ansatz Malebranches in einigen Punkten von jenem Descartes’. So verdeutlicht er etwa den Unterschied zwischen Verstand und Willen anhand der Unterscheidung zweier körperlicher Fähigkeiten, wie man sie bei Descartes nicht findet. Der Unterschied zwischen den beiden geistigen Fähigkeiten werde „deutlicher und besser erkannt“, wenn das Verstehen in Analogie zum unterschiedliche Formen annehmenden Körper als Fähigkeit, Ideen – oder genauer: Modifikationen des Geistes, insofern sie von Ideen in Gott verschieden sind – anzunehmen begriffen werde, während der Wille in seiner Eigenschaft, bestimmte Neigungen zu empfangen, dem Körper, insofern er Bewegungen aufnehme, ähnlich sei (RV I.1, OCM 1, 41). _____________ 1
Die Übersetzungen der Zitate stammen von Ursula Renz.
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Diese Analogie hat ihre Grenzen, auf die Malebranche explizit aufmerksam macht. Wenn der Geist, wie mit Descartes angenommen werden muss, eine unteilbare und unausgedehnte Substanz ist, so kann er keine Eigenschaften haben, die wie jene der Form und der Bewegung räumliche Teilbarkeit voraussetzen. Im Falle des Willens, so hält Malebranche ferner fest, sei die Analogie darüber hinaus dadurch beschränkt, dass der Körper als ausgedehnte Substanz völlig passiv (toute sans action) sei und „über keine Kraft verfüge, seine Bewegungen anzuhalten, zu regeln oder in die eine oder andere Richtung zu lenken.“ Dagegen kann der Wille in gewissem Sinne als aktive Instanz begriffen werden, „insofern er nämlich die Neigungen oder die von Gott stammenden Eindrücke in verschiedener Weise lenken kann“ (OCM 1, 46). Malebranche behauptet nicht nur, dass die Analogie zum Körper kein volles Verständnis der Natur des Geistes erbringen kann, sondern auch dass wir kein Verständnis seiner Tätigkeit haben. Stattdessen haben wir nur ein verwirrtes inneres Gefühl (sentiment interieur), das sein Bestehen anzeigt. So beharrt er in der Réponse à la Dissertation von 1685 darauf, dass der Vergleich von geistigen Tätigkeiten mit körperlichen deren Natur nicht erfasst. Daher weist gerade die Tatsache, dass wir uns von den Tätigkeiten des Geistes nur mittels solcher Vergleiche eine Vorstellung machen können, darauf hin, dass wir keine „klare Idee der Seele“ haben (OCM 7, 568). Im Unterschied zur in der zweiten Meditation behaupteten Annahme Descartes’, „dass uns die Natur des Geistes besser bekannt sei als jene des Körpers“ (AT 7, 23), haben wir Malebranche zufolge kein klares Verständnis der Aktivitäten des Willens, und damit in der Tat auch nicht des Geistes im Allgemeinen. Dieser Unterschied zu Descartes ist auch Gegenstand des elften Eclaircissement zur Recherche, wo Malebranche argumentiert, dass die Thesen der Cartesianer über den Geist selbst zeigten, dass sie nur ein konfuses Verständnis seiner Modifikationen hätten (OCM 3, 163ff.). Ein weiterer Unterschied zu Descartes’ Psychologie zeigt sich in dem Akzent, den Malebranche auf die Verbindung zwischen Willen und Liebe setzt. Darin spiegelt sich der Einfluss seines anderen intellektuellen Mentors Augustin. In De Civitate Dei unterscheidet Augustin zwischen zwei Städten, die auf zwei unterschiedlichen Arten der Liebe gegründet seien. Während die Basis der säkularen Stadt, in der das Streben nach individuellem Genuss körperlicher und geistiger Güter dominiert, die Selbstliebe bildet, basiert die himmlische Stadt, welche durch den Wunsch nach einer
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Konformität mit dem göttlichen Willen geprägt ist, auf der Liebe zu Gott.2 Diese Unterscheidung beeinflusst offensichtlich Malebranches Definition des Willens. Er hält in der Recherche fest, dass „der Geist die Fähigkeit habe, verschiedene Güter zu lieben.“ Diese Fähigkeit zur Liebe wiederum wird allgemein als „Eindruck oder natürliche Bewegung“ definiert, „die uns in Richtung eines unbestimmten Guts drängt.“ (OCM 1, 46) Diese Liebe zum Guten ist schlicht unser Streben nach Glück. Malebranche nimmt nun an, dass es sich bei dieser Liebe zwar um eine willentliche Angelegenheit handelt, wir aber gleichzeitig unfähig sind, uns ihrer zu erwehren. Daher ist unser Streben nach Glück nicht frei, wir haben nicht die Kraft, ihm zu widerstehen. Hingegen liegt es, wie Malebranche betont, durchaus in unserer Entscheidung und Macht, ob wir unsere Liebe auf einzelne, von Gott verschiedene Güter lenken. Anders als unsere Liebe zum Guten ist unsere Liebe zu Gütern nicht nur Willenssache, sondern wir sind auch in ihr frei. Wie schon deutlich wurde, übernimmt Malebranche Descartes’ antischolastische Auffassung, dass der freie Wille ein Bestandteil wahrer Urteile ist. Anders als Descartes betont Malebranche aber gleichzeitig den Unterschied zwischen diesem gleichsam epistemischen Willensakt und dem in unserer Liebe zum Guten involvierten Willen. So behauptet er etwa in der Recherche, dass uns die Zustimmung zur Wahrheit nicht emotional affiziert, sie tangiert nur die Relationen zwischen Objekten. Dagegen geht uns die Zustimmung zum Guten auch emotional an, denn sie betrifft die Übereinstimmung von Objekten mit uns selbst.3 Diese Unterscheidung scheint prima facie nicht konsistent mit Malebranches Bestimmung des Willens als einer unfreien Liebe zum Guten, da sie einen Akt unterstellt, der auf das Wahre anstatt auf das Gute gerichtet ist. Der scheinbare Widerspruch verschwindet, wenn wir die Zustimmung zur Wahrheit selbst als durch die Liebe zum Guten motiviert begreifen und mithin annehmen, dass diese Zustimmung zum Wahren die Neigung, sich aufs Gute auszurichten, involviert. In der Tat wird das in einer Anmerkung zur soeben zitierten Passage angedeutet, wenn Malebranche sagt, dass „die Geometer nicht die Wahrheit, sondern die Erkenntnis der Wahrheit lieben, was immer auch sonst davon gesagt werden mag.“ (OCM 1, 53) Nicht die Wahrheit an sich veranlasst also die Geometer, geometrische Propositionen zu betrachten, sondern das Gut, welches _____________ 2 3
Augustinus 1928, XIV, 28. Siehe dazu vor allem RV I.2, OCM 1, 53.
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in der Erkenntnis der Wahrheit besteht, und somit wird auch das Verlangen nach Wahrheit durch die Liebe des Guten hervorgebracht. Das bedeutet allerdings, dass man diesem Verlangen nur dann vollständig gerecht wird, wenn der Verstand uns eine vollkommen evidente Repräsentation eines Objekts präsentiert. Die Liebe zum Guten ist also durchaus zentral für Malebranches psychologische Interpretation der vierten Meditation und insbesondere der dort vertretenen These, dass wir klare und deutliche Perzeptionen zwangsläufig bejahen werden, da „ein großes Licht im Intellekt von einer großen Neigung des Willens begleitet wird.“ (AT 7, 59) Der als Liebe zum Guten bestimmte Wille ist auch für Malebranches Theorie der Emotionen von zentraler Bedeutung. Er begreift sowohl die Neigungen als auch die Leidenschaften als Ausdruck des menschlichen Willens. Wie er in der Recherche deutlich macht, sind die menschlichen Neigungen und Leidenschaften überhaupt nur deshalb ein Thema, weil der menschliche Verstand bei der Wahrnehmung von Gegenständen vom Willen abhängt (RV IV.1, OCM 2,9). Nicht von ungefähr findet die systematischste Auseinandersetzung mit den menschlichen Emotionen im Rahmen der Recherche statt – derjenigen Schrift, in der Malebranche die Entstehung unserer Irrtümer im Blick auf das Gute und das Wahre mittels einer psychologischen Untersuchung der psychischen Quellen dieser Irrtümer zu verstehen sucht. So sind die ersten drei Bücher dieser Schrift denjenigen Fehlern gewidmet, die den perzeptiven Fähigkeiten – d. h. den Sinnen, der Einbildung und dem reinen Verstand – entspringen; die darauf folgenden zwei Bücher befassen sich mit den Irrtümern, die aus den voluntativen Aspekten des menschlichen Geistes hervorgehen; und das letzte, abschließende Buch entwickelt eine Methode, durch die Irrtümer zu vermeiden sind. Von den mit dem Willen befassten Büchern IV und V befasst sich eines mit den natürlichen Neigungen, über welche der Wille dank der Verbindung des menschlichen Geistes mit Gott verfügt, während das fünfte Buch die Leidenschaften thematisiert, die der Verbindung des Geistes mit dem Körper entspringen. Malebranche nimmt nun an, dass sich die Leidenschaften ähnlich parasitär zu den Neigungen verhalten wie die Sinne und die Einbildung zum Verstand. Genauso wenig wie der Geist Dinge sehen oder sich einbilden kann, ohne dass er über die Fähigkeit des reinen Verstandes verfügt, genauso wenig kann er Leidenschaften ohne natürliche Neigungen haben (RV V.1, OCM 2, 127). Darüber hinaus suggeriert Malebranche oft, dass natürliche Neigungen und Leidenschaften sich in ähnlicher Weise, wie es bei den Akten der Empfindung, Einbildung und des Verstehens der Fall
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ist, nur nach Graden unterscheiden. Empfindungen und Wahrnehmungen affizieren den Geist stark, Einbildungen schon weniger stark, und Verstehensakte sogar kaum (RV I.18, OCM 1, 177). Ebenso sagt Malebranche von den Leidenschaften, sie seien dasselbe wie die natürlichen Neigungen, mit dem Unterschied allerdings, „dass sie wegen der Verbindung des Geistes mit dem Körper lebendiger und stärker“ seien (RV V.3, OCM 2, 155f.). Allerdings sind Malebranches Aussagen diesbezüglich nicht eindeutig; so sagt er an anderer Stelle auch, dass sich der Verstand fundamental von der Wahrnehmung und der Einbildung unterscheidet, da er nichts mit den körperlichen Bildern zu tun habe (RV III.1, OCM 1, 380f.).4 Während nämlich die der Wahrnehmung und Einbildung entspringenden Irrtümer von unserer fehlenden Einsicht herrühren, dass diese Fähigkeiten uns die Natur der Körper, so wie sie an sich sind, nicht offenbaren können, sind die aus dem Verstand stammenden Irrtümer eine Folge davon, dass die Relation zwischen externen Körpern und unserem eigenen Körper dem Verstand nicht zugänglich ist. Ähnlich entbehren auch die Neigungen jener essenziellen Relation zum eigenen Körper, welche den Leidenschaften eignet. Während daher die den Leidenschaften entspringenden Irrtümer auf eine Unordnung in unserer Liebe zum eigenen Körper zurückgehen, sind die Irrtümer im Blick auf die natürlichen Neigungen eine Folge der Unordnung unserer Liebe zu höheren Dingen.
2. Natürliche Neigungen Das Vorwort der Recherche beginnt mit der Aussage, dass der menschliche Geist eine Mittelposition zwischen Gott und der materiellen Welt einnehme, insofern er nämlich mit einem bestimmten Teil der Materie, dem menschlichen Körper, vereint und von ihm abhängig und zugleich „in einer sehr intimen Weise“ mit Gott verbunden sei. Dieses doppelte Verbundensein mit dem Körper einerseits und Gott andererseits ist für das menschliche Streben nach Heil und Glück von entscheidender Bedeutung. Während nämlich die Verbindung mit seinem Körper den Menschen erniedrigt und Ursache seines Elends ist, erlangt der Geist durch seine Verbindung zu Gott „Leben, Licht und völlige Glückseligkeit.“ (OCM 1, 9) Diese Einheit mit Gott schlägt sich, wie Malebranche im vierten Buch der Recherche zeigt, in den natürlichen Neigungen nieder, d. h. in den natür_____________ 4
Vgl. Fußnote 13.
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lichen Impulsen unseres Willens, welche letztlich auf Gott gerichtet sind. Dies begründet er mit der These, dass Gottes Wille primär auf seine eigene Selbstliebe ausgerichtet sei. Da Gott letztlich um seines eigenen Ruhmes willen handle, müsse der Wille eines jeden von ihm geschaffenen Geistes über Neigungen verfügen, deren hauptsächliches Ziel die Liebe Gottes als „des Guten im Allgemeinen“ sei. (RV IV.1, OCM 2, 13) Es ist also durch diese natürlichen Neigungen, dass der menschliche Wille mit Gottes Willen vereint wird. Allerdings kann eines der untergeordneten Ziele von Gott durchaus in der Erhaltung seiner Geschöpfe, insofern sie an seiner Güte teilhaben, bestehen. Daher sind wir, genauso wie mit einer natürlichen Liebe zu Gott oder dem Guten im Allgemeinen, mit weiteren natürlichen Neigungen begabt, welche auf diese untergeordneten Ziele der Selbsterhaltung und der Erhaltung anderer Geister ausgerichtet sind. Auf der Basis dieser Argumentation kommt Malebranche zu der Feststellung, dass solche primären untergeordneten Neigungen nicht nur in den unkorrumpierten Seelen von Engeln und von Menschen vor dem Sündenfall vorkommen, sondern auch im Geist „gefallener“ Menschen. In all diesen Fällen liebt der Mensch aus freiem Willen sowohl das Gute im Allgemeinen, als auch sich selbst und andere Geister. Was hingegen den Geist „gefallener“ Menschen von den anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass ihm Gott als letztes Ziel seiner Willensentscheidungen abhanden gekommen ist. Der Haupteffekt der Sünde besteht also nach Malebranche darin, dass sie den Geist in seiner Entschlossenheit, das wahre Gut zu suchen, schwächt. So kommt es, dass ein sündiger Mensch, wann immer er vor einem partikulären Gut steht, das ihn reizt, eher dazu neigt, diesem nachzugehen, als dass er die anstrengende Auseinandersetzung auf sich nimmt, derer es bedarf, um in Gott den würdigen Gegenstand seiner Liebe zu erkennen. Malebranche zieht daraus den Schluss, dass wir Verantwortung tragen, wenn wir uns entscheiden, partikuläre Güter, die wir nicht als letztes Gut erkennen, um ihrer selbst willen zu lieben. An dieser Lehre von den natürlichen Neigungen sorgte vor allem ein Punkt für Kontroversen: die These, dass die Tendenz zur Selbstliebe der Neigung, das Gute im Allgemeinen und damit letztlich Gott zu lieben, von Natur aus untergeordnet sei. François Lamy, ebenfalls Oratorier und Nachfolger von Malebranche, zog daraus in seiner Schrift Connaissance de soi-même (1697) die quietistische Schlussfolgerung, dass wir durch geistige Übung den Zustand einer von Eigeninteressen völlig freien, reinen Liebe zu Gott erreichen können. Im wohl prominentesten Zeugnis eines solchen Quietismus, den im selben Jahr erschienenen Maximes des saintes des
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französischen Erzbischofs Fénélon, wird sogar die These vertreten, dass eine solche Liebe zu Gott so frei von jeglichem Eigeninteresse sei, dass die Seele sogar die eigene ewige Verdammung gut heißen würde, wenn sie Gottes Wille entspräche – eine These, der Lamy zustimmte. Fénélon und Lamy interpretierten also Augustins Kontrast zwischen Selbstliebe und Gottesliebe dahingehend, dass Gottesliebe mit keinerlei Eigeninteressen kompatibel sei. Malebranche selbst hingegen wehrte sich explizit gegen quiestische Interpretationen seiner Konzeption von Gottesliebe.5 In seinem erstmals 1697 erschienenen Traité de l’amour de Dieu (1697), deren spätere Ausgaben die Trois lettres et réponse générale au Lamy enthielten, warf er letzterem vor, die Passagen, die dieser zitiert hatte, falsch zu deuten. Er insistierte auf dem Grundsatz, dass „das Verlangen nach Glück oder Freude im Allgemeinen die Basis oder Essenz des Willens“ sei (OCM 14, 10). Und er schloss daraus, dass in diesem System, ebenso wie in demjenigen Augustins, „die Liebe zu Gott, selbst in ihrer reinsten Form, in diesem Sinne interessiert sei, dass sie von jenem natürlichen Eindruck hervorgerufen sei, den wir von der Perfektion und dem Glück unseres Seins haben, in einem Wort: der Freude im Allgemeinen oder von angenehmen Wahrnehmungen, die zur wahren Ursache, welche diese hervorruft, in Beziehung steht und uns veranlasst, diese zu lieben.“ (OCM 14, 23) Die Liebe zu Gott steht daher nicht zur Selbstliebe per se in einem Gegensatz, sondern eher
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Jean-Christophe Bardout 2000, 111–162 argumentiert demgegenüber, dass in Malebranches Denken eine Verschiebung weg von einer „metaphysischen“ hin zu einer „sensiblen“ Auffassung von Moralität stattgefunden habe. Während der Zweck von Moralität ursprünglich in abstrakte Begriffe von Perfektion gesetzt werde, bestimme Malebranche diesen Zweck später durch Rekurs auf die Ursache unserer Freude. Die Interpretation von Robinet 1965, 367–412 und 449–480, sowie von Dreyfus 1958, 300–351, begreift er als komplementär. Mir erscheint diese Verschiebung in der Entwicklung von Malebranches Denken weniger dramatisch als Bardout behauptet. Schließlich ist die Auffassung, dass Gott das wahre Gut ist, insofern er die einzige Ursache unserer Freude ist, bereits in der ersten Auflage der Recherche präsent (RV I.17, OCM 1, 172f.). Und obwohl Malebranche den Willen ursprünglich tatsächlich nicht im Hinblick auf unsere Freude bestimmt, betont er von Anfang an, dass unser Wille wesentlich auf unser Glück ausgerichtet ist. Das geht insbesondere aus seiner von der ersten Auflage der Recherche an vertretenen These hervor, dass wir das Gut im Allgemeinen nicht freiwillig lieben würden, denn „es liegt nicht in der Macht unseres Willens, nicht glücklich sein zu wollen“ (RV I.1, OCM 1, 47).
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zu jener gestörten Selbstliebe, welche geschaffene Güter für wichtiger hält als den Schöpfer, der diese möglich mache.6 Eine weitere Verwicklung von Malebranches Lehre der natürlichen Neigung entsteht durch die Behauptung, dass es unser freier Wille ist, der unseren Geist auf bestimmte Gegenstände lenkt und es mithin nicht in unseren natürlichen Neigungen selbst angelegt ist, welche Gegenstände wir lieben. Das scheint darauf hinauszulaufen, dass unsere Liebe zu konkreten Gegenständen ausschließlich unserem Willen entspringe. Nun ist Malebranche allerdings entschieden der Auffassung, dass unsere natürliche Neigung genau jenen Dingen gilt, die schon vor jeglichem Willensakt als unserem Glück zuträglich repräsentiert werden. So erwähnt er schon in der ersten Auflage des ersten Bandes der Recherche das Beispiel einer Person, die nach einer bestimmten Ehre strebe, und er hält fest, dass diese Person aus natürlicher Neigung und unabhängig von jeglicher freiwilligen Zustimmung auf diese Ehre gerichtet sei (RV I.1, OCM 1, 48). Und im Eclaircissement I, welches seiner Diskussion des Willens in der Recherche gewidmet ist, betont Malebranche, dass Gott uns ursprünglich zu allen partikulären Gütern führe, denn da „Gott uns zu allem, was gut ist, führt, so folgt notwendig, dass er uns auch zu partikulären Gütern führt, wann immer er deren Wahrnehmung oder Empfindung in unserer Seele hervorruft.“ (OCM 3, 18) Wenn wir also unsere Freiheit erfahren, so nimmt Malebranche in diesem Text an, dann nehmen wir keine „bloße Indifferenz oder Kraft, ohne physisches Motiv etwas zu wollen, wahr.“ Weil jeder Liebe, die wir für etwas Bestimmtes empfinden, eine Liebe zu Dingen, die wir als gut wahrnehmen, vorangeht, ist es unmöglich, dass unser Wille uns unabhängig macht „von Gottes Kontrolle über uns und über die durch ihn hervorgerufenen physischen Motive, durch die er uns erkennt, leitet und uns freiwillig all das tun lässt, was er will.“ (OCM 3, 29)7 Die Unterscheidung zwischen Liebe aus natürli_____________ 6
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Zugunsten von Lamy muss hier gesagt werden, dass Malebranche in seinen früheren Werken dazu tendierte, Liebe zu Gott und Selbstliebe einander gegenüberzustellen, und dass die Qualifikation der in Opposition zu Gott stehenden Selbstliebe als „gestört“ erst nach dem Austausch mit Lamy hinzugefügt wurde. Für eine ausführlichere Diskussion von Malebranches Verhältnis zum Quietismus siehe auch de Montcheuil 1947. Kritik an dieser dezidiert für Malebranche Position ergreifenden Interpretation des Briefwechsels mit Lamy übt dagegen Dreyfus 1958, 302–308 und 318–322. Hier lehnt Malebranche den von Descartes in der vierten Meditation formulierten Gedanken ab, dass ein Fall denkbar sei, in dem unsere Neigung für und jene gegen die Handlung einander vollständig aufwögen und wir etwas mit vollständiger Indifferenz wollen. Siehe AT 7, 57–58.
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cher Neigung und Liebe aus freiem Willen kann daher nicht auf die Tatsache zurückgreifen, dass letztere auf besondere Güter ausgerichtet ist, denn Malebranche macht das auch für erstere geltend. Die hauptsächliche Differenz betrifft eher die Frage, ob Gott oder unser Wille für die Bestimmung der Bewegung verantwortlich ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Anliegen der Recherche in der Untersuchung der in den mentalen Fähigkeiten des menschlichen Geistes angelegten Irrtumsquellen besteht. Nun können unter Umständen selbst die natürlichen Quellen von Irrtum sein. Malebranche behauptet im vierten Buch der Recherche, dass die erwähnten drei natürlichen Neigungen der Liebe zum Guten im Allgemeinen, der Selbstliebe sowie der Liebe zu anderen Geistern zwar den Zweck haben, uns zu größerer Vollkommenheit zu führen, doch das tun sie nicht immer, denn natürliche Neigungen können pervertiert werden. So kann uns Malebranche zufolge die Neigung der Liebe zum Guten im Allgemeinen dazu verleiten, dem Neuen und Außergewöhnlichen zu viel Wert beizumessen, sodass wir die unspektakuläre Suche nach unserem wahren Gut vernachlässigen. Die natürliche Neigung zur Selbstliebe kann in Hochmut und Eitelkeit resultieren, was Malebranche am Beispiel jener „falschen Gelehrten“ illustriert, welche eher mit ihrer antiquarischen Bildung zu beeindrucken suchen, als dass sie, wie Descartes, dem Vorbild der Naturphilosophen folgen und wahre Einsichten über die Welt zu gewinnen versuchen.8 Zudem, so vermutet Malebranche, war diese Neigung wahrscheinlich ein entscheidender Faktor in Adams Sündenfall, nämlich insofern sie ihn dazu verführte, sich auf die eigene Vollkommenheit zu kaprizieren, statt sich im Lichte der Vollkommenheit Gottes zu verstehen (vgl. RV I.V, OCM 1, 75; Ecl. IV, OCM 3, 45–48; sowie Ecl. VIII, OCM 3, 74f.). Die dritte der natürlichen Neigungen schließlich, die Liebe zu anderen Geistern, kann dazu führen, dass wir anderen schmeicheln und ihre Fehler loben, nur um ihre Freundschaft zu gewinnen. Die Lösung gegen die Perversion der natürlichen Neigungen ist nach Malebranche in allen drei Fällen dieselbe: Wir müssen unsere Liebe zur Erkenntnis, zu uns selbst und zu anderen Geistern der Liebe zu Gott – und damit dem einzigen Gut, das in uns vollkommenes Glück hervorrufen kann – unterordnen. _____________ 8
Wie Lennon 2003 gezeigt hat, war diese Attacke auf die antiquarische Bildung der Anlass für die systematische Kritik, die der französische Gelehrte Pierre-Daniel Huet in den Censura philosophiae cartesianae (1689) an den Ansichten Descartes’ und der Cartesianer übte.
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3. Die Leidenschaften des menschlichen Geistes Gegen Ende des vierten Buchs der Recherche weist Malebranche erstmals darauf hin, dass es neben den drei hauptsächlichen natürlichen Neigungen noch andere, spezifischere Emotionen wie „Liebe, Hass, Freude sowie sämtliche intellektuellen Leidenschaften“ gibt, die sich alle „in allgemeine und besondere sowie einfache und komplexe“ unterscheiden lassen (OCM 2, 124). Diese Annahme rein intellektueller Leidenschaften, die mit bestimmten Willensimpulsen identifiziert werden können, hat ein Vorbild bei Descartes. In einem wichtigen Brief an den französischen Botschafter in Schweden, Hector-Pierre Chanut, unterscheidet Descartes zwischen „derjenigen Liebe, die rein intellektuell oder rational ist und derjenigen, die eine Leidenschaft“ sei (AT 4, 601). Dabei bestehe die rationale Liebe schlicht darin, „dass unsere Seele, wenn sie ein Gut, sei es nun ab- oder anwesend, wahrnimmt und es als zur ihr selbst passend einschätzt, sich damit willentlich vereinigt, d. h. sie betrachtet sich selbst und das betreffende Gut als ein Ganzes, dessen einer Teil sie selbst, der andere das Gut ist.“ (AT 4, 601) Rationale Liebe wird in diesem Brief also bestimmt als „willentliche Bewegung“, durch welche die Seele sich selbst und ein ihr dienliches Objekt als ein Ganzes begreift.9 Jene nicht-intellektuelle Liebe hingegen, die eine Leidenschaft ist, beschreibt Descartes weder in diesem Brief noch in den Passions de l’âme als Willensbewegung, sondern vielmehr als eine besondere Art der Sinneswahrnehmung. So vertritt er im Brief an Chanut die Ansicht, dass die sinnliche oder sensitive Liebe schlicht ein konfuser Gedanke sei, ähnlich dem Durst, wo aufgrund der Empfindung, dass der Gaumen trocken sei, die Seele dazu disponiert werde, nach Trinken zu verlangen (AT 4, 602f.). Hier wird also explizit unterschieden zwischen dem konfusen Gedanken und dem voluntativen Verlangen, das zu einer Handlung führt. Auch in den Passions definiert Descartes die Leidenschaften im engeren Sinne als _____________ 9
In diesem Brief deutet Descartes auch an, dass sich die willentliche Bewegung eines in rationaler Liebe bestehenden Urteils in Freude verwandle, wenn sie mit dem Wissen über die Verfügbarkeit des dienlichen Objekts einhergehe; wenn dieses Urteil mit dem Wissen über die Abwesenheit des entsprechenden Guts verbunden sei, dann verwandle sich die zugehörige Willensbewegung in Trauer; und wenn sie schließlich mit dem Wissen darum, dass es gut sei, einen bestimmten Gegenstand zu erlangen verbunden sei, dann verwandle sie sich in Verlangen. Freude, Trauer und Verlangen sind demzufolge nur Manifestationen der rationalen Liebe (AT 4, 601f.).
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non-voluntative „Wahrnehmungen, Empfindungen, oder Emotionen [émotions] der Seele, welche mit ihr in Beziehung gebracht werden und die durch Bewegungen der Lebensgeister verursacht, erhalten oder verstärkt werden“. 10 (AT 11, 349) Diese Annahme, dass die Bewegungen der Lebensgeister die wahre Ursache unserer Leidenschaften sind, muss Malebranche aufgrund seines Okkasionalismus zurückweisen. Seiner Auffassung nach kann nur Gott die wahre Ursache sämtlicher Veränderungen in der Natur sein, einschließlich der durch Bewegungen der Lebensgeister hervorgerufenen Veränderungen in der Seele. Solche Bewegungen dienen also nur als natürliche Ursache oder Anlass, die bzw. der Gott dazu bringt, mittels seines „allgemeinen Willens“ gesetzmäßige Veränderungen zu bewirken (RV VI–2.3, OCM 2, 312).11 Dissens meldet Malebranche aber auch im Blick auf Descartes’ Auffassung an, dass die Leidenschaften sinnlich wahrgenommene Empfindungen seien, denen jeglicher voluntative Charakter abgeht. Malebranche zufolge sind die Leidenschaften körperlicher Subjekte genauso wie die natürlichen Neigungen, die der menschliche Geist mit unkörperlichen Wesen teilt, Modifikationen des Willens. So setzt Malebranche im fünften Buch der Recherche innerhalb des Willens einen ähnlichen Gegensatz an wie beim Verstand, wo er zwischen dem reinen, auf der Einheit mit Gott abstellenden Intellekt und der auf der Einheit des Geistes mit dem Körper basierenden Empfindung und Einbildung unterschieden hatte. Genauso ist auch zwischen den natürlichen Neigungen, die der Wille der Einheit mit Gott verdankt, und den Leidenschaften, die er aufgrund seiner Verbindung mit dem Körper hat, zu differenzieren, wobei die Leidenschaften „vom Schöpfer der Natur stammende Eindrücke sind, die uns geneigt machen, unseren Körper sowie alles, was uns für dessen Erhaltung von Nutzen sein kann, zu lieben.“ (RV V.1, OCM 2, 128) _____________ Interessanterweise steht diese in den Passions de l’âme vertretene Auffassung, wonach das Verlangen eine nicht-voluntative Leidenschaft sei (PA II.57, AT 11, 374f.), in einem Kontrast zur früheren Ansicht der Principia Philosophiae (PP, I, 32, AT 8, 17), dass Verlangen eher ein Modus des Willens als der Wahrnehmung sei. 11 Es mag den Anschein haben, dass ein Okkasionalist wie Malebranche nicht denselben Begriff von „Leidenschaft“ verwenden kann wie denjenigen, auf dem Descartes insistiert, wenn er darauf insistiert, dass eine Leidenschaft in der Seele ein und dasselbe Ding (une meme chose) sei wie die korrespondierende Handlung des Körpers (PA I.1, AT 11, 328). Für eine Diskussion über dieser Probleme siehe Bardout 1999. 10
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Für Descartes wäre es ausgeschlossen, die Leidenschaften als Modifikationen des Willens zu begreifen, denn er ging davon aus, dass diese Modifikationen ein Moment freier Handlung einschließen und daher von den passiven Wahrnehmungen einschließlich der Leidenschaften zu unterscheiden sind (PA I.18–19, AT 11, 342f.). Demgegenüber begreift Malebranche Leidenschaften deshalb als Aspekte des Willens, weil sie intentional auf das für den Körper Gute gerichtet sind. Ferner ist er der Auffassung, dass die Passivität der Leidenschaften nicht ausschließt, dass sie Willensmodifikationen sind, denn, wie wir gesehen haben, sind selbst die natürlichen Neigungen zugleich „in uns und ohne uns“, existieren sie doch dank unserer Einheit mit Gott.12 Leidenschaften sind nichts gänzlich anderes, sondern lediglich zusätzliche Bestimmungen unseres Willens und also genauso „in uns aber ohne uns“, nur verdanken sie sich der Einheit von Geist und Körper. Malebranche unterscheidet an den menschlichen Leidenschaften sieben verschiedene Elemente: 1. die verworrene oder distinkte Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes als hilfreich oder schädlich für den Körper, 2. die Bestimmung unserer natürlichen Neigung zu diesem Gegenstand, 3. eine Empfindung von Liebe, Aversion, Verlangen, Freude oder Traurigkeit, die aus der intellektuellen Wahrnehmung stammt, 4. eine neue Bestimmung des Flusses der Lebensgeister, 5. eine spürbare Emotion, die ein Gefühl dafür involviert, wie unsere Seele von diesem neuen Fluss der Lebensgeister bewegt wird, 6. eine Empfindung von Liebe, Aversion, Verlangen, Freude oder Traurigkeit, die dieser Neuorientierung des Flusses der Lebensgeister entspringt, 7. eine Empfindung von innerer Wonne, die unsere Seele dazu bewegt, den ausgelösten Emotionen zuzustimmen und im Einklang mit ihnen zu handeln (RV V.3, OCM 2, 142–146). _____________ 12
Der wesentliche Kontrast besteht hier gegenüber den freien Neigungen, die sich unserer freien Zustimmung verdanken. Siehe dazu z. B. Malebranches Bemerkungen im Traité de morale (1684) in OCM 11, 49f. Ob ein Okkasionalist wie Malebranche überhaupt eine Art von menschlicher Aktivität zulassen kann, ist natürlich eine wichtige Frage, die ich in Schmaltz 2005, insb. 48–52 erörtere.
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Nicht alle Leidenschaften müssen alle Elemente enthalten. Z. B. gibt es den speziellen Fall der Bewunderung, eine unvollständige Leidenschaft, die einzig in der fokussierten Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand an sich besteht. Sie involviert daher keine Neuorientierung des Flusses der Lebensgeister, durch welche der Körper dazu disponiert würde, das zu verfolgen, was als ihm nützlich erschiene oder das zu fliehen, was von ihm als schädlich wahrgenommen würde (RV V.7, OCM 2, 188f.). Wie Malebranche ferner bemerkt, gibt es Leidenschaften, die keine Wahrnehmung eines Objekts als schädlich oder nützlich einschließen, und die daher die ersten drei Elemente nicht enthalten (RV V.3, OCM 2, 146). Genau genommen sind die Leidenschaften nur mit dem fünften Element dieser Gruppe, nämlich der spürbaren Emotion, identisch. Die anderen Elemente hingegen sind nur okkasionelle Ursachen oder natürliche Begleitumstände dieser Emotionen. So dient die Wahrnehmung eines Objekts als nützlich oder schädlich (1) als okkasionelle Ursache der Bestimmung der Ausrichtung der natürlichen Neigung der Seele (2), diese wiederum führt nicht nur zur einer Reaktion in Form einer Empfindung (3),13 sondern hat auch die Neuausrichtung des Flusses der Lebensgeister (4) zur Folge. Diese schließlich ist die okkasionelle Ursache der Leidenschaft selbst (5), welche ihrerseits Anlass ist für eine weitere Sinnesempfindung (6), die allerdings nur aufgrund ihrer Stärke von der Sinnesempfindung differiert, welche die Reaktion auf die natürliche Neigung (3) darstellt. Im Falle jener Leidenschaften, denen die ersten drei Elemente fehlen, dient eine konfuse Schmerz- oder Lustempfindung, die sich auf ein Objekt bezieht, als okkasionelle Ursache der Neuausrichtung des Flusses der Lebensgeister (RV V.3, OCM 2, 155f.). Ich habe bereits auf Malebranches These hingewiesen, dass auch natürliche Neigungen uns auf Abwege führen können und diese wahrscheinlich auch die Triebfeder von Adams Sündenfall darstellten. Gleichwohl betont er in der Recherche, dass die Leidenschaften eine wichtige Irrtumsquelle bilden, da der Sündenfall es mit sich gebracht habe, dass der _____________ 13
Obwohl Malebranche die unter 3 figurierenden Zustände „Empfindungen“ nennt, weist er dennoch darauf hin, dass die ersten drei Elemente auch bei einem körperlosen Geist vorkommen können (RV V.3, OCM 2, 148). Malebranche macht ferner trotz der Tatsache, dass er in der Regel oft zwischen intellektueller Wahrnehmung und Empfindung differenziert, geltend, dass diese Zustände von den Empfindungen, welche zu den Leidenschaften gehören (6), nur darin unterschieden seien, dass sie weniger lebendig seien. Für eine Diskussion der Komplikationen, die mit Malebranches Begriff der intellektuellen Wahrnehmung verbunden sind, vgl. auch Schmaltz 1996, Kap. 3.
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menschliche Geist von dem Körper, mit dem er verbunden ist, dominiert wird. Und auch Adam war vor dem Sündenfall angewiesen auf die Leidenschaften, denn es hätte einen Umweg bedeutet, wenn er auf der Basis einer intellektuellen Wahrnehmung der verschiedenen körperlichen Konfigurationen hätte bestimmen müssen, was für seinen Körper nützlich oder schädlich ist (RV I.V, OCM 1, 74 und Ecl. VIII, OCM 3, 92). Es lag jedoch nach Malebranche in seiner Macht, die Bewegungen der Lebensgeister in seinem Gehirn anzuhalten, wodurch er verhindern konnte, dass diese Leidenschaften exzessiv von ihm Besitz ergriffen.14 Es ist die Macht der Kontrolle über den Körper, welche im Sündenfall verloren ging. Infolge der Erbsünde wird daher die menschliche Seele auch durch „Fleischeslust“ verleitet, sich zwanghaft mit den körperlichen Gütern zu befassen, auf welche die Leidenschaften uns ausrichten (RV V.4, OCM 2, 164).15 Die Situation unserer „gefallenen Seelen“, so nimmt Malebranche an, ist also derart, dass wir ohne die Hilfe der Gnade Gottes unfähig sind, den Lüsten zu widerstehen, welche den Leidenschaften entspringen. Humes späteres Diktum, dass die Vernunft der Sklave der Leidenschaften ist, trifft so gesehen genau auf diese Situation zu. Wir behandeln die Leidenschaften dann als primäre Quelle unseres Wissens darüber, was wahrhaft gut für uns sei. So geben wir z. B. Reichtümern den Vorzug gegenüber der Tugend, und zwar darum, weil der Gedanke an den Besitz von Reichtümern uns spürbar stärker bewegt als der Gedanke an eine tugendhafte Handlung (RV V.7, OCM , 198f.). Und im Allgemeinen kann der negative Effekt der Leidenschaften dahingehend erklärt werden, dass sie „das Herz gewinnen“ und uns dazu verführen, ihnen anstatt der Vernunft zu folgen (RV V.8, OCM 2, 204). Auf der anderen Seite, so haben wir im Zusammenhang mit dem Disput mit Lamy gesehen, verwirft Malebranche die Möglichkeit eines interesselosen Handelns, welches von jeglicher Besorgnis um den eigenen Genuss frei sei. Selbst Gnade kann Malebranche zufolge die Wirkungen _____________ Auffallenderweise charakterisiert Malebranche dieses Vermögen auch als Macht, „das Naturgesetz der Bewegungsübertragung aufzuheben“ (Ecl. VIII, OCM 3, 97). In den Entretiens sur la métaphysique et la religion von 1688 weist er darauf hin, dass vor dem Sündenfall ein Gesetz bestanden habe, das es dem menschlichen Willen erlaubt habe, die okkasionelle Ursache bestimmter Veränderungen im Gehirn zu sein, welche die Bewegung der Lebensgeister daran gehindert hätten, die für sie charakteristischen Wirkungen hervorzubringen, – ein Gesetz, das nicht mehr in Kraft sei (OCM 12, 102f.). Für eine weitere Erörterung dazu siehe Pellegrin 2006, 155–165. 15 Siehe auch RV I.5, OCM 1, 75–77; und Ecl. VIII, OCM 3, 72–75. 14
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der Leidenschaften nur deshalb aufwiegen, weil sie selbst eine Art der „hoffenden Freude“ ist. Es ist diese Freude, die es uns erlaubt, dem Drängen der Leidenschaften zu widerstehen, und die uns dazu motiviert, die Vernunft zu brauchen, um unser wahres Gut zu entdecken (RV I.5, OCM 1, 76 und Ecl. V, OCM 3, 49–51). Selbst dann schlägt Malebranche uns also nicht vor, dass wir unsere Leidenschaften einfach zurückweisen; im Gegenteil, er fordert stattdessen vielmehr, dass wir „der Bewegung unserer Leidenschaften immer folgen“ müssten (RV V.4, OCM 2, 161). Diese Forderung scheint seinem Rat zu widersprechen, dass wir den Leidenschaften widerstehen sollen.16 Sein Hauptanliegen ist aber, dass wir die Leidenschaften zwar brauchen und nützen müssen, „um unseren Körper zu erhalten und unser Leben zu verlängern“, dass wir aber gleichzeitig ein lebendiges Gespür dafür bewahren müssen, dass unser größtes Gut nicht im Genießen der damit verbundenen Freuden selbst liegt. So können wir also nach Malebranche die Neigung, unseren eigenen Körper zu lieben, anerkennen und sie zugleich jenen Neigungen, aufgrund derer wir höhere Güter und mithin Gott lieben, unterordnen. Übersetzt von Ursula Renz.
Literatur Descartes’ und Malebranches Schriften werden nach der französischen Ausgabe ihrer Werke, Oeuvres, sowie nach ausgewählten Ausgaben zitiert; die Übersetzungen zu Malebranche stammen von Ursula Renz – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Descartes: AT – Œuvres de Descartes (Adam & Tannery) PA – Die Leidenschaften der Seele (Les Passions de l’âme) PP – Prinzipien der Philosophie (Principia philosophiae) Malebranche: Ecl. – Eclaircissement sur la recherche de la vérité OCM – Œuvres complèts de Malebranche RV – De la recherche de la vérité
_____________ 16
Dafür argumentiert z. B. Hoffman 1991, 193. Dieser Artikel stellt einen hilfreichen Vergleich von Malebranches Zugang zu den Leidenschaften mit den Ansätzen von Descartes und Spinoza an.
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Augustinus, Aurelius (1928), Sancti Aurelii Augustini episcopi De civitate Dei libri XXII, Lipsiae [ Nachdruck der Ausgabe von 1877]. Bardout, Jean-Christophe (1999), Y a-t-il une théorie occasionaliste des passions?, in: XVIIe siècle 51, 347–366. Bardout, Jean-Christophe (2000), La vertu de la philosophie. Essai sur la morale de Malebranche, Hildesheim. Descartes, René (1981ff.), Œuvres, nouvelle présentation, hrsg. von Charles Adam & Paul Tannery, Paris (= AT). – (1984, franz. zuerst 1649), Die Leidenschaften der Seele, übers. von Klaus Hammacher, Hamburg (= PA). – (2005, lat. zuerst 1644), Prinzipien der Philosophie, übers. von Christian Wohlers, Hamburg (= PP). Dreyfus, Ginette (1958), La volonté de Malebranche, Paris. Hoffman, Paul (1991), Three Dualist Theories of the Passions, in: Philosophical Topics 19, 153–200. Lennon, Thomas (2003), Malebranche, Huet and The Birth of Skepticism, in: Gianni Paganini (Hg.), The Return of Skepticism: From Hobbes and Descartes to Hume, Dordrecht, 149–165. Malebranche, Nicolas (1958ff.), Œuvres complèts de Malebranche, hrsg. von André Robinet, Paris (=OCM). – (1958ff., zuerst 1674/75), De la recherche de la vérité, Œuvres complèts de Malebranche, Bd. 1–2, Paris (= RV). – (1958ff, zuerst 1678), Eclaircissement sur la recherche de la vérité, Œuvres complèts de Malebranche, Bd. 3, Paris (=Ecl.). de Montcheuil, Yves (1947), Malebranche et le quiétisme, Paris. Pellegrin, Marie-Frédérique (2006), Le système de la loi de Nicolas Malebranche, Paris. Robinet, André (1965), Système et existence dans l’œuvre de Malebranche, Paris. Schmaltz, Tad (1996), Malebranche’s Theory of the Soul: A Cartesian Interpretation, New York. Schmaltz, Tad (2005), Malebranche on Natural and Free Loves, in: Gabor Boros/Michael Moors/Herman De Dijn (Hg.), The Concept of Love in Modern Philosophy: Descartes to Kant, Brüssel, 41–52.
Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury (1671–1713)
Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung Angelica Baum und Ursula Renz Um die Jahrhundertwende zum 18. Jahrhundert taucht in der moralphilosophischen Debatte ein neuer Gefühlsbegriff auf, der eine Antwort auf die mit der Aufklärung entstandene Krise metaphysischer und religiöser Orientierung in Aussicht stellt. Zwei Diskurse prägen dabei die Diskussion: Der leitende politisch-geschichtsphilosophische Diskurs tritt für Freiheit und Gerechtigkeit ein und dafür, das Licht der Vernunft in der Menschheit zu verbreiten; ergänzend dazu beschäftigt sich ein moralischer Diskurs mit der Bestimmung des Menschen und der Frage nach dem individuellen guten Leben. Philosophische Gefühlslehren werden vorab im Kontext des zweiten Diskurses entwickelt. Dem Gefühl wird die Funktion einer Integration der Gemütsbewegungen zugeschrieben; dadurch wird es in den Dienst einer Therapeutik der Vernunft gestellt, die von ihrer Entfremdung von den ursprünglichen Motiven handelnder Subjekte geheilt und aus ihrer Ohnmacht befreit werden soll. Anders als in den Affektenlehren des 17. Jahrhunderts zielen also die Gefühlslehren des 18. Jahrhunderts nicht auf die Heilung von unseren Emotionen, sondern durch sie ab, oder genauer: durch das neu bestimmte Vermögen des menschlichen Gefühls oder Selbstgefühls. Antony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, ist für diese Verschiebung der Stichwortgeber. In seinen Schriften wird das Gefühl erstmals als ein einheitliches und eigenständiges Gemütsvermögen entdeckt und beschrieben. Er begreift Gefühle – anders sein Lehrer John Locke – nicht als aus sensations und reflections abgeleitet,1 sondern bestimmt sie als ein mentales Phänomen sui generis. Entscheidend ist dabei, dass er – im Unterschied zu den späteren Moral-Sense-Theorien von Francis Hutcheson und David Hume – nicht von einer Vielzahl von vorab reaktiven Affekten ausgeht, sondern ein einheitliches, aktives Gefühlsvermögen postu-
_____________ 1
Vgl. dazu Locke 1959 (engl. zuerst 1690), 303f. (Buch II, chap. XX).
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liert.2 Die Überlegungen, die zu diesem für die philosophische Auseinandersetzung mit Gefühlen folgenreichen Schritt führen, werden allerdings in Shaftesburys Werken nur unsystematisch entwickelt, geschweige denn argumentativ gerechtfertigt. Und auch die Terminologie, mit der er operiert, ist oft vage und in Veränderung begriffen. Eine entscheidende Voraussetzung von Shaftesburys Gefühlstheorie ist ferner, dass er sich von den Moralkonzeptionen christlicher Heilslehren wie auch von einer rationalistischen Auffassung menschlicher Tugend absetzt. Im Unterschied zur Idee des Heils der Seele im Jenseits, welche das Fundament christlicher Moralphilosophie bildet, im Unterschied aber auch zum Gedanken einer Selbstbefreiung des Menschen durch wahre Erkenntnis, betrachtet Shaftesbury die innerseelische Harmonie im Leben selbst als das Ziel philosophischer Selbstverständigungsprozesse. Shaftesbury begreift Philosophie daher nicht einfach als theoretische Erörterung über das gute Leben, sondern als eine kunstvolle Form der Selbsttherapie, als „einen Fall der Heilkunst“ (SE I/1, 43ff.).3 Dass der Reflexion auf Gefühle im Rahmen solcher Selbsttherapie eine zentrale Rolle zukommt, ist nicht erstaunlich. Denn die innerseelische Harmonie, auf die dieser therapeutische Prozess abzielt, ist genauso wie das Fehlen solcher Harmonie nur im Medium des Fühlens selbst erlebbar. Umgekehrt erklärt das bis zu einem gewissen Grad auch den Mangel an einer eindeutigen Begrifflichkeit, liegt doch das Ziel von Shaftesburys Reflexion auf Gefühle nicht einfach in der theoretischen Durchdringung derselben, sondern in der Herstellung eines innerseelischen Gleichgewichts. Wie in der Folge deutlich gezeigt wird, ist Shaftesburys Gefühlskonzeption gleichwohl nicht bar jeglicher begrifflichen Festlegungen und systematischer Überlegungen.
1. Programm: Von den Affekten zum Gefühl In seinen Miscellaneous Reflections von 1711 formuliert Shaftesbury zwei rhetorische Fragen, in denen das Programm seiner Neukonzeption des menschlichen Gefühls von Anfang an erkennbar ist: „Is there no natural Te_____________ 2
3
Obwohl Shaftesbury als Erster den Begriff des Moral Sense prägt, ist er daher nicht zu den sogenannten „Moral-Sense-Theoretikern“ zu rechnen. Siehe dazu auch Uehlein/Baum/Mudroch 2004, 65. Mit dem Problem des genauen Anspruchs seiner Philosophie befasst sich der ganze erste Teil der Soliloquy, sowie die leider noch nicht in der Standard Edition erschienenen Askemata.
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nour, Tone or Order of the Passions and Affections [in the mind]? No Beauty or Deformity in this moral kind?“ (SE I/2, 222) Und später: „[…] if instead of placing WORTH or EXCELLENCE in […] outward Subjects, we place it, where it is truest, in the Affection or Sentiments, in the governing Part and inward Character?“ (SE I/2, 240) Shaftesbury nimmt offenbar an, dass das Verhältnis unserer Affekte und Leidenschaften untereinander von einer natürlichen Ordnung oder gar Harmonie bestimmt ist und dass dieses Verhältnis seinen Grund in einem inneren Vermögen hat. Bei der näheren Charakterisierung der einzelnen Strebungen wie auch des sie ordnenden Vermögens gerät Shaftesbury jedoch in terminologische Nöte. Die Ausdrücke Affection und Sentiment werden nahezu gleichbedeutend verwendet, und auch die Einheit stiftende Instanz wird mit den Ausdrücken governing Part und inward Character eher umschrieben als bestimmt. Die Situation in anderen Texten ist vergleichbar: Einzelne Gefühlsereignisse werden promisk als Affections oder Passions, seltener als Appetites, Inclinations oder Sentiments bezeichnet.4 Im Blick auf die die einzelnen Gefühlsereignisse integrierende Gemütsdisposition ist entweder vage von Humour, Temper, natural Temper, Soul oder Heart die Rede oder aber – technischer und innovativer – von reflected Sense, natural Affection, natural Inclination resp. Affection oder Inclination im Singular.5 Nur in Randglossen kommen auch die Ausdrücke reflex Affection und moral Sense vor (SE II/2, 66 sowie 88). Diese terminologische Suchbewegung korrespondiert der historischen Situation von Shaftesbury. Zwar entbehrt seine Gefühlskonzeption nicht sämtlicher historischer Vorlagen,6 mit dem Versuch, die menschlichen Gefühle auf ein einheitliches Vermögen zu beziehen, betritt er dennoch philosophisches Neuland. Anders als die von der mechanistischen Naturphilosophie geprägten rationalistischen Affektenlehren des 17. Jahrhunderts, anders aber auch als es die empiristische Psychologie seines Lehrers John Locke nahe legt, sind Gefühle nach Shaftesbury nicht durch Bewegungen verursachte Regungen, sondern werden als ein umfassendes, sinnhaftes Geschehen begriffen. Dem entsprechend bezeichnet der Ausdruck affection bei Shaftesbury nicht einfach den Vorgang des Von-außen-Angestoßen-Werdens, sondern eine Empfindung, die bereits Struktur besitzt _____________ 4 5 6
Vgl. dazu v. a. die Inquiry concerning Virtue (fortan kurz Inquiry), z. B. SE II/2, 44 sowie 68. Vgl. z. B. die Soliloquy, SE I/1, 280 sowie die Inquiry SE II/2, 68; 98; 152ff.; 181; 198; 204 und 210. Vgl. dazu auch den nächsten Abschnitt.
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und dadurch Sinn erzeugt. Er wird daher am besten mit „Neigung“ oder „Gemüt“ übersetzt. Die Einheit des menschlichen Gefühlslebens, die Shaftesbury damit postuliert, kommt für die gesamte innerseelische Harmonie auf. Nicht nur die Affekte und Leidenschaften untereinander, sondern auch Vernunft, Gefühl und Sinnlichkeit stehen in einem geordneten Verhältnis zueinander, wobei das Gemüt als die Einheit stiftende Instanz einen aktiven Anteil an dieser Harmonie hat. Gefühle sind deshalb für Shaftesbury nicht einfach Zustände des Subjekts, in welchen dieses sich rezeptiv-leidend erfährt, sondern Regungen, in denen das Subjekt sich aktiv zu sich selbst verhält. Shaftesbury prägt in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck reflex Affection, am besten übersetzt als „reflexive Neigung“.7 Damit bezeichnet er ein von außen induziertes, aber im Gemüt stattfindendes Geschehen. Die reflexive Neigung ist kein bloß passiver Widerhall, sondern ein Geschehen durch das, indem man es an sich erfährt, Sinn erzeugt wird.8 Dem entsprechend beschränkt sich auch der Vorgang des Fühlens nicht auf das Wahrnehmen oder Empfinden von etwas. Schon der Zustand des Angerührt-Seins oder der Betroffenheit enthält ein kognitives Moment, durch das sich der Fühlende zum Ereignis verhält. Darin sind zwei Voraussetzungen angedeutet: Zum einen liegt dem so bestimmten Vorgang des Fühlens ein mit einem basalen Selbstverhältnis ausgestattetes Subjekt voraus, zum anderen wohnt jedem Fühlen ein Moment von Freiheit inne. Auch wenn wir also keine Macht darüber haben, was uns geschieht, können wir uns nach Shaftesbury trotzdem im Fühlen so oder anders dazu verhalten. Darin unterscheiden sich Shaftesburys Gefühle entscheidend von den Sinnesempfindungen Lockes sowie von den Begierden, Affektionen und Leidenschaften subsumierenden Affekten der Rationalisten des 17. Jahrhunderts. Sein Gefühlsbegriff verweist zwar noch in den Bereich eines Präreflexiven und Arationalen, dennoch ist bei ihm die Idee einer Reflexivität von Gefühlen schon angelegt. Deshalb ist bei Shaftesbury das Ge_____________ 7
8
Dieser Ausdruck bildet die Randglosse zu einem kürzeren Abschnitt, in dem er sich gegen die doppelte Annahme einer vollständigen Passivität des Subjekts sowie einer rein äußeren Verursachung von Gefühlen ausspricht, vgl. SE II/2, 66. Zu den Schwierigkeiten, die mit diesem Ausdruck verbunden sind, siehe Baum 2001, 183ff. Siehe dazu auch Baum 2001, 14ff.
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fühl – anders als es etwa bei Hobbes der Fall ist9 – auch kein Widerpart, sondern Komplement der Vernunft.10 Das Fühlen wird somit als genuin reflexive Seinsweise aufgefasst, die nur zugleich empfindenden und verständigen Lebewesen zukommt.11
2. Quellen: Aristoteles, Stoa und Cambridge Platonism Mit seiner Bestimmung des Gefühls als einem einheitlichen, aktiven und reflexiven Gemütsvermögen setzt sich Shaftesbury mit Nachdruck von den mechanistischen und rationalistischen Vorläufern des 17. Jahrhunderts ab. Gleichwohl entsteht sein Gefühlsbegriff nicht in einem konzeptionellen Vakuum, vielmehr ist er von einer intensiven Auseinandersetzung Shaftesburys mit vornehmlich antiken Quellen geprägt. Zu nennen sind vor allem folgende drei Traditionen: (1) Von zentraler Bedeutung für Shaftesbury ist erstens die aristotelische Frage, wie wir uns zu unseren Gemütsregungen verhalten sollen. Diese Frage ist Ausdruck eines praktischen Interesses: Es geht bei Aristoteles darum, wie Menschen auf ihre eigenen Emotionen – oder im Falle der Rhetorik oder der Politik auch diejenigen anderer Menschen – Einfluss nehmen können, und nicht, wie sich diese theoretisch erfassen lassen. Von diesem genuin praktischen Ansatz haben sich die rationalistischen Gefühlstheoretiker des 17. Jahrhunderts bewusst distanziert.12 Shaftesbury hingegen verortet die Auseinandersetzung mit den Affekten und Neigungen wieder im Bereich der Ethik sowie – im Anschluss an die antike Tragödienlehre – der Ästhetik. Gefühle sind ein zentraler Gegenstand der philosophischen Diskurse über Politeness, Criticism und die Frage eines Progress of manners. (2) Shaftesburys Ansatz schließt zweitens aber auch an die Stoa an, dies jedoch in einer Weise, die sich von der Stoa-Rezeption des Neostoizismus des 17. Jahrhunderts deutlich unterscheidet. Shaftesburys Bezugspunkt ist nicht die stoische Taxonomie der Affekte und das da_____________ Vgl. dazu v. a. Hobbes 1962ff. (lat. zuerst 1658), vol. II, 103ff. sowie deutsch in Hobbes 1994, 29. 10 Mehr dazu in Franke 1981, 131ff. 11 Vgl. auch im Folgenden (Seite 365ff.). 12 Vgl. dazu Moreau 2003, 7 sowie Renz 2005, 335ff. sowie dies. in diesem Band. 9
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mit verbundene Problem, die (eigenen) Emotionen zu beherrschen. Viel wichtiger ist für ihn die naturphilosophische Dimension der stoischen Affektenlehre sowie insbesondere die stoische Deutung des Herzens als einer Mitte (hegemonikon) des Menschen, welche sämtliche affektiven und vernünftigen Strebungen umfasst. Der Stoa zufolge sind Gefühle habituelle Dispositionen (hexis) in einem zugleich natürlichen und rational geordneten Kosmos, weswegen sie auch eine ursprüngliche Affinität zur Vernunft aufweisen. Von Bedeutung für Shaftesbury ist ferner der Begriff der oikeiosis, der am ehesten mit „Zueignung“ zu übersetzen ist. Dieser Begriff beschreibt die Grundverfassung von Lebewesen, dank derer diese sich ihrer selbst inne und mit sich vertraut sind und dank derer sie natürlicherweise genau nach dem streben, was für sie zuträglich ist.13 Die Oikeiosis-Lehre ist daher auch die Basis für die stoische Deutung der Neigungen, welche im Unterschied zu den Affekten, die in der Stoa als Fehlurteile und pathogene Irrtümer gedeutet werden, präreflexive Strebungen oder Weisen des Urteilens darstellen. Es ist diese Annahme eines bejahenden Selbstbezugs sowie die damit verbundene Auffassung, dass Menschen zu einer Integration ihrer Gemütsbewegungen fähig sind, die Shaftesbury von der Stoa übernimmt. Weniger bedeutsam ist für ihn die eigentliche Affektenlehre der Stoa, welche im Zentrum der rationalistischen Stoa-Rezeption des 17. Jahrhunderts gestanden hatte. (3) Eine dritte Inspirationsquelle von Shaftesburys Gefühlsbegriff bildet schließlich die Konzeption des inner Sense, wie sie im 17. Jahrhundert von den Cambridge Platonists unter Rückgriff auf Plotins Lehre von den Keimformen der Natur entwickelt worden ist. Hintergrund dieser Lehre ist die neuplatonische Vorstellung der Einheit der Natur und der Immanenz des Göttlichen. Diese Vorstellung ist vor allem in Plotins Lehre von den Keimformen der Natur dahingehend entwickelt worden, dass die Natur als Entfaltung eines ihr innewohnenden Prinzips bzw. Ausformung eines Geistigen zu begreifen sei. In den lebendigen Formen der Natur zeigen sich damit Vorstellungsbilder eines letztlich _____________ 13
So heißt es in der Überlieferung von Chrysipp: „Das erste Zueigene ist jedem Lebewesen seine eigene Verfassung und das Bewußtsein seiner Verfassung. […] So kommt es, daß es das Schädigende flieht und das Zugehörige liebend verfolgt“ (zit. nach Diogenes Laertius 1998, Buch VII, 85). Für eine systematische Darstellung der Oikeiosis-Lehre siehe Forschner 1981, 143–159.
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unfassbaren intellektuellen Urgrundes. Ralph Cudworth, mit dessen philosophischem Hauptwerk The True Intellectual System of the Universe Shaftesbury vertraut war, prägt dafür den Begriff der Plastick Nature, der schöpferischen Natur.14 Damit bezeichnet Cudworth ein unkörperliches energetisches Prinzip, das sämtlichen Lebensvollzügen zugrunde liegen soll – eine Annahme, mit der er vor allem der mechanistischen Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts den Kampf ansagte. Diese plastische Natur zeigt sich allerdings nicht in den Dingen selbst und sie ist weder dem Verstand noch den Empfindungen direkt zugänglich. Hingegen ist sie im Erkennen selbst erfahrbar. Cudworth begreift nämlich Erkenntnis, aber auch Wahrnehmung nicht als Erfahrung von Äußerem, sondern wir verstehen oder erkennen Dinge durch intelligible Formen, die der Geist dank seiner inneren Energie antizipierend begreift.15 Im Erkennen ist daher unsere Seele als ursprünglich schöpferisches Prinzip tätig. Das wiederum ist eine zentrale Voraussetzung für die Ethik Cudworths, in welcher die sich selbst verstehende Seele als hegemonikon verteidigt wird.16 Dahinter steht folgende Intuition: Wer sich selbst umfassend versteht und seine Bedürfnisse wie Fähigkeiten genau kennt, der kann sich selbst eher in eine bestimmte Richtung entwickeln und verfügt mithin gleichsam über eine Kraft zur Selbstformung, „a self-forming and self-framing power“.17 Die von Shaftesbury initiierte Neuausrichtung der philosophischen Auseinandersetzung mit Gefühlen verdankt sich maßgeblich der Synthese und produktiven Aneignung dieser drei Vorlagen. Auf ihrer Basis entwickelt Shaftesbury eine Sicht auf das menschliche Gefühlsleben, die – im Unterschied zu den Affektenlehren des 17. Jahrhunderts – von jeglicher Versuchung frei ist, das menschliche Gefühlsleben per se zu pathologisieren oder als erkenntnistheoretisch minderwertig zu begreifen. Im Gegenteil, das Gefühl wird als ein kognitives Organon anerkannt, das für die Selbstverständigung von Individuen – und mithin für ihre ethische Orientierung – unabdingbar ist. _____________ Siehe dazu v. a. Cudworth 1977 (engl. zuerst 1678), vol. I, Book I, chap. III, XXXVII, 146–181. Eine ausführlichere Darstellung findet sich auch in Baum 2001, 114ff. 15 Vgl. dazu auch den posthum erschienen Treatise concerning Eternal and Immutable Morality in Cudworth 1979a (engl. zuerst 1731), vol. II/1, 126ff. sowie 185. 16 Siehe dazu A Treatise of Free-Will in Cudworth 1979b (engl. zuerst 1838), vol. II/2, 36f. 17 Ebd. 36f. 14
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3. Der Gefühlsbegriff als Grundlage der Tugendethik Shaftesbury entwickelt die Grundzüge seiner Gefühlslehre erstmals in der Inquiry concerning Virtue von 1699. Die Gesamtheit der emotionalen und affektiven Strebungen wird hier auf ein je nachdem als natural oder reflex Affection umschriebenes Vermögen zurückgeführt, und zwar unabhängig davon, ob sich dabei eher um spontane affektive Regungen oder eher um konstante und eventuell latente Gefühlsdispositionen oder Gemütszustände handelt. Dahinter steckt eine wichtige Grundannahme: All diesen Phänomenen liegt nach Shaftesbury ein Moment des Selbstbezugs zugrunde. Dem entsprechend sind Gefühle ihm zufolge zwar allesamt natürlichen Ursprungs, doch sie lassen sich nicht auf Instinkte wie etwa einen Selbsterhaltungs- oder Fortpflanzungstrieb reduzieren. Diese Annahme erfolgt im Rahmen eines ganz bestimmten ethischen Ansatzes: Shaftesbury verteidigt in der Inquiry weder eine am Begriff des Guten ausgerichtete Tugendkonzeption, noch befasst er sich mit der rationalen Begründung guter Handlungen, noch erörtert er gar bestimmte Handlungen im Hinblick auf ihre guten oder schlechten Folgen. Es geht ihm stattdessen eher um ein genaueres Verständnis der Beweggründe menschlichen Tuns: Es gilt zu klären, was Handlungen veranlasst und weshalb wir bestimmte Handlungsoptionen gegenüber anderen bevorzugen. Es ist klar, dass Emotionen dafür wichtig sind. Nach Shaftesbury besteht allerdings ihre Rolle nicht einfach darin, Auslöser oder „Trigger“ bestimmter Verhaltensweisen zu sein, vielmehr geben Gefühle den umfassenden sinnstiftenden Horizont menschlichen Handelns ab. Damit sie solches leisten können, müssen allerdings bestimmte Voraussetzungen gegeben sein: Erstens müssen Gefühle Handlungen nicht nur veranlassen und motivieren können, sondern zugleich die Gründe dafür bereitstellen, so oder anders zu handeln. Doch wie ist das möglich, wenn Gefühle weder auf eine transzendente Idee des Guten bezogen sind, noch aus einer rationalen Einsicht folgen? Shaftesbury löst dieses Problem, indem er zweitens voraussetzt, dass die verschiedenen Emotionen eines Menschen untereinander in einem Zusammenhang stehen, der mehr oder weniger harmonisch sein kann. Das menschliche Gefühlsleben kann somit von einer mehr oder weniger einheitlichen Gemütsverfassung, von mehr oder weniger Zerrissenheit bestimmt sein. Entscheidend ist schließlich eine dritte Voraussetzung: Shaftesbury gesteht Menschen die Möglichkeit zu, sich zu ihren einzelnen Gefühlen – und darüber vermittelt auch zu ihrer individuellen Gemütsverfassung – aktiv verhalten zu können. Dazu nimmt
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er an, dass sämtliche emotionalen Neigungen und Impulse einem einzigen Gemütsvermögen entspringen, das er je nachdem als reflected Sense, natural bzw. reflex Affection oder schlicht als Heart bezeichnet. Für das genauere Verständnis dieser letzten Annahme ist ein kurzer Ausblick auf die begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge von Shaftesburys Terminologie, insbesondere des Ausdrucks reflected Sense, aufschlussreich. Dieser Ausdruck taucht vor allem in der ersten Auflage der Inquiry häufig auf, wenn von diesem einheitlichen Gemütsvermögen die Rede ist. Zwei Anregungen kommen in ihm zusammen: Zum einen verrät dieser Ausdruck, welcher die dispositionale Komponente des Gemüts betont, noch deutlich den Einfluss von John Lockes Sensualismus. Shaftesbury nimmt offensichtlich an, dass Gefühle – ähnlich wie Lockes reflections – reflexive Phänomene sind. In einem Punkt ist dieser Ausdruck allerdings irreführend: Es handelt sich bei diesem Gemütsvermögen, das für die Gefühle aufkommt, nicht um ein Wahrnehmungsorgan. Gefühle sind nach Shaftesbury kein Fall von bloßen Empfindungen, sensations, auch nicht von reflektierten Empfindungen.18 Gefühle verweisen vielmehr auf einen Vorgang, der Aspekte von Reflexion, Wahrnehmung, Urteil und – wie es der in späteren Auflagen geprägte Ausdruck reflex Affection unterstreicht – Neigung umfasst.19 Der Terminus reflected Sense steht andererseits in einem Zusammenhang mit dem frühneuzeitlichen Begriff des common Sense, dessen Wurzeln seinerseits im stoischen Konzept der notiones bzw. notitiae communes liegen. Als notiones communes werden in der Stoa natürliche Einsichten bezeichnet, die allen Menschen gemeinsam sind und die oft in Existenzaussagen, wie z. B. in dem Satz „Es gibt Götter.“, formuliert werden. Notiones communes bilden somit quasi das erkenntnistheoretische Komplement der stoischen Oikeiosis-Lehre. Nun wird dieser Begriff schon bei Herbert von Cherbury in De Veritate subjektiv gewendet, derart, dass damit der Grundstein für den modernen Common-Sense-Begriff gelegt wird. An die Stelle von durch Gegenstände definierten, allgemeinen Einsichten treten bestimmte, _____________ Dies geht sehr klar aus folgender Stelle der Miscellaneous Reflections hervor: „The Affections, of which I am conscious, are either GRIEF, or JOY; DESIRE, or AVERSION. For whatever mere Sensation I may experience; if it amounts to neigther of these, ‘tis indifferent, and no way affects me.“ (SE I/2, 237) 19 Der Begriff reflex Affection ist allerdings seinerseits anfällig für rationalistische wie empiristische Missverständnisse. Vgl. Schrader 1984, 11 und 15. Darwall 1995, 185, interpretiert diesen Begriff überzeugend als reflective sensibility. 18
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meist der Selbsterhaltung dienende Fähigkeiten oder Dispositionen, und zwar konkret solche, die auf Selbsterhaltung bezogen sind.20 Diese Annahme eines ursprünglichen Sinns für das moralisch Wertvolle entwickelt Shaftesbury auf einer gefühlstheoretischen Ebene weiter, wenn er davon ausgeht, dass der Mensch mit einer reflexiven Neigung (reflex Affection) ausgestattet ist. In einem Punkt kommt es allerdings zu einer signifikanten Verschiebung: Anders als in der Stoa gehören Gefühle nicht nur einer natürlichen, sondern gleichzeitig auch einer sozialen und damit moralischen Ordnung an. Anders gesagt: Die Intentionalität von Gefühlen ist nicht bloß Ausdruck einer natürlichen Neigung, die den Dingen qua lex naturae eignet, sondern sie bezieht sich stets auf soziale und moralische Normen, derer sich das Subjekt in seinem Fühlen gewahr wird. Diese Wendung weg von einem rein teleologischen hin zu einem für normativ-moralische Fragen offenen Verständnis der Gefühle ist in einem größeren historischen Zusammenhang zu sehen. Shaftesbury reagiert damit auf drei Tendenzen, welche für die ethische Diskussion um 1700 insgesamt charakteristisch sind. Erstens sucht er den für die moralische Reflexion des 17. Jahrhunderts bestimmenden methodischen Egoismus zu überwinden. Shaftesburys Denken ist einer Idee praktischer Philosophie verpflichtet, die, anders als es sich etwa bei Thomas Hobbes beobachten lässt, nicht in politische Theorie einerseits und individuelle Klugheitsmaximen andererseits zerfällt. Mit der Zurückweisung des methodischen Egoismus geht zweitens eine Ablehnung der naturalistischen Prämissen jenes gefühlstheoretischen Rationalismus einher, wie er etwa von Hobbes, Spinoza oder La Rochefoucauld entwickelt wurde. Shaftesburys reflex Affection ist zwar durchaus auch Ausdruck natürlicher Neigungen, doch sie bewegt sich deshalb nicht jenseits jeglicher moralischer Kategorien. Im Gegenteil, sie bildet vielmehr die Schnittstelle, welche Natur und Ethik verbindet. Es sind daher konkret stets die Gefühle, welche zwischen den Forderungen der Natur und jenen der Freiheit vermitteln. Drittens entwickelt Shaftesbury mit seinem Gefühlsbegriff eine konzeptuelle Alternative zu einem rein vernunftorientierten Begriff menschlicher Tugend, wie er etwa bei Pierre Bayle vorliegt, einem für Shaftesbury neben John Locke und Ralph Cudworth ebenfalls sehr wichtigen Bezugs_____________ 20
Cherbury 1966 (lat. zuerst 1624), 49. Zur Rezeption Herbert von Cherburys bei Shaftesbury siehe Grean 1967, v. a. 39f. Den politischen Gehalt führt Shaftesbury in der Schrift Sensus Communis. An Essai on the Freedom of Wit and Humour von 1709 aus SE I/3.
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punkt unter den Zeitgenossen. Wie Bayle kreist auch Shaftesbury in seinen Werken immer wieder um das Problem einer von Religion unabhängigen Begründung von Tugend. Allerdings unterliegt der Mensch bei Shaftesbury nicht wie bei Bayle einer unüberwindbaren Diskrepanz zwischen Pflicht, Gewissen und vernünftigen Prinzipien einerseits und handlungsleitenden Affekten und Neigungen andererseits. Dadurch vermeidet Shaftesbury jenen pessimistischen Zwiespalt, in den Pierre Bayle vor diesem Hintergrund unweigerlich gerät.21 Muss der Tugendhafte bei Bayle die Leidenschaften überwinden, denen das Böse entspringt, so verortet Shaftesbury die Quelle von Tugend in den Gefühlen, oder genauer: in einer bestimmten Verfasstheit unseres gesamten Gefühlslebens. Insgesamt können wir festhalten, dass mit Shaftesburys Ansatz, demzufolge Gefühle Handlungen nicht nur motivieren, sondern auch über das moralisch Gebotene Aufschluss geben, eine ganz neue Sicht auf Fragen der Moral und ihrer Begründung eröffnet wird. Seine Gefühlskonzeption ist deshalb auch – trotz terminologischer Schwankungen und konzeptueller Vagheit – zu einem wichtigen Bezugspunkt für die praktische Philosophie des 18. Jahrhunderts geworden, und zwar namentlich für die MoralSense-Theoretiker, für Rousseau und – last, but not least – für Kant.
4. Der psychische Ursprung von Gefühlen und die Bedeutung der Antizipation von Ideen Die These, dass Gefühle einer einheitlichen und reflexiv-sensiblen Gemütskraft entspringen, hat für die psychologische Beschreibung von Gefühlen wichtige Implikationen. Entscheidend ist, dass Shaftesbury von Anfang an zwischen Empfindungen und Gefühlen trennt. Während das Vorliegen von Empfindungen stets voraussetzt, dass das Subjekt von außen affiziert worden ist, kommen Gefühle auch unabhängig von einem solchen Affiziertwerden vor. Selbst wo daher Emotionen ursprünglich durch äußere Eindrücke initiiert worden sind, können sie gemäß Shaftesbury nicht mehr nach dem Modell von Empfindungen beschrieben werden. Denn als Fühlender ist das Subjekt nicht nur von Affektionen betroffen, sondern es nimmt diesen gegenüber überdies stets die Position eines _____________ 21
Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in den Pensées diverses, Bayle 1966 (franz. zuerst 1683), 86–91.
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Betrachters ein. Im Fühlen empfinden wir nicht einfach, sondern wir reflektieren unser Empfinden. Gefühle sind also komplexere Ereignisse als Empfindungen. Sie sind Äußerungen oder besser: Organisationsformen empfindender und empfindend-vernünftiger Lebewesen (Inquiry SE II/2, 54). Diese lassen sich allerdings nicht rein physiologisch erklären, sondern sind nur aus einer phänomenologischen Perspektive vollends zugänglich. Der methodische Ansatz Shaftesburys ist damit zugleich anspruchsvoller und anspruchsloser als jener der Affektenlehren der Rationalisten des 17. Jahrhunderts oder der Empiristen des 18. Jahrhunderts. Ihm geht es nicht darum, sämtliche menschlichen Gefühle möglichst lückenlos in einer Taxonomie zu erfassen und auf einige wenige Konstitutionsprinzipien zurückzuführen, sondern er sucht Gefühle so zu beschreiben, dass sie im Kontext der affektiven Verfasstheit des menschlichen Gemüts verstanden und als Erscheinungsformen des Lebendigen begriffen werden können. Entscheidende Voraussetzung dazu ist ein bestimmter Begriff des Subjekts von Emotionen, welcher dieses weder als rein rezeptives Sinneswesen, noch als körperloses Vernunftwesen auffasst, sondern als Lebewesen, dessen Lebensvollzug sinnliche ebenso wie kognitiv-rationale Vorgänge umfasst. Shaftesbury spricht oft von sensible Creatures, wobei er darunter nicht einfach sinnlich affizierbare Wesen begreift, sondern sinnliche und zugleich verständige, zu rationalem Denken fähige Subjekte, Lebewesen also, die sowohl über Empfindungen und Wahrnehmung als auch über Vernunft und Urteilskraft verfügen (Inquiry SE II/2, 91). Nicht weniger voraussetzungsreich als sein Begriff fühlender Subjektivität ist Shaftesburys Konzeption des Gefühls selbst. Dahinter steht ein Gedanke, den Shaftesbury Cudworth verdankt: dass mentale Prozesse letztlich in der Fähigkeit zur Antizipation von Ideen gründen. Fühlen besteht Shaftesbury zufolge im Kern in einem Prozess der Antizipation. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen rein kognitiven Akt, sondern eher um eine quasi instinktive Vorwegnahme von Vorstellungen in der natürlichen Neigung. Gegenstand dieser Vorwegnahme sind nicht nur äußere Wahrnehmungen oder Empfindungen, sondern auch innere Bilder und Vorstellungen. Nun sind diese Bilder und Vorstellungen meist schon Resultat von früheren Vergegenwärtigungen. Im Prozess der Antizipation stellt sich das Subjekt die Ideen nicht als nur isolierte Momente vor, sondern es reflektiert sie im Lichte ihres Zusammenspiels und verdichtet sie zu inneren Bildern. Shaftesbury begreift diesen Prozess als einen der Einbildungs-
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kraft; die Rede ist von Imagination, anticipating Fancy sowie natural Anticipation (Inquiry SE II/2, 92; Miscellaneous Reflections IV, SE I/2, 258–260). In der Annahme einer Fähigkeit zur Antizipation von Ideen laufen daher platonistische und empiristische Intuitionen sowie Annahmen der mittelalterlichen Fakultätenpsychologie zusammen: Sensible rational Creatures haben zwar keine angeborenen Ideen, doch dank ihrer Fähigkeit zur Antizipation von Ideen sind sie grundsätzlich empfänglich für die Vorstellungen des Guten und Schönen.22 Diese Fähigkeit zur Antizipation von Ideen ist auch die Basis von Werturteilen oder besser: Wertgefühlen, in Shaftesburys Terminologie des Moral Sense bzw. des Sense of Right and Wrong. Dieser besteht nämlich nicht darin, dass der Wert von Handlungen gleichsam wahrgenommen wird. Gefühle sind keine moralischen Sinnesorgane, kraft derer Menschen die moralische Qualität von Handlungen gleichsam zu sehen vermöchten. Aufschluss über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Handlung gewinnen wir vielmehr erst dadurch, dass wir sie uns vorstellen und im Spiegel unserer natürlichen Neigung betrachten (Inquiry SE II/2, 92). Ethische Werturteile sind somit in Shaftesburys Ansatz letztlich nicht von ästhetischen zu unterscheiden. Bei beiden handelt es sich um einen Akt der Einbildungskraft, beide suchen ihren Gegenstand im Kontext einer vorgestellten Ordnung einzuschätzen, und schließlich bedürfen beide dazu einer inneren Harmonie des Gemüts.
5. Von der Ästhetik der Gefühle zum Criticism: Das implizite Bildungsprogramm der späteren Philosophie Shaftesburys Obwohl das menschliche Fühlen und Urteilen auf eine natürliche Anlage zurückgehen – Shaftesbury spricht auch von einer natural Affection –, unterliegen sie doch einem Bildungs- respektive Kultivierungsprozess. Worin dieser Prozess besteht und wohin er führt, ist Gegenstand etlicher ästhetischer und moralistischer Erwägungen, wie man sie vor allem in den späteren Werken Shaftesburys an zahlreichen Orten verstreut findet. Den Ausgangspunkt bildet die schon in der Inquiry formulierte Annahme, dass der Mensch in seinen Gefühlen in ein reflexives Verhältnis zu sich tritt. Er ist zugleich Akteur respektive fühlendes Subjekt und Betrachter dieses Prozesses. Dabei sind Fühlen und Schauen nicht etwa zwei gänzlich vonein_____________ 22
Vgl. zu diesem Punkt ausführlicher Baum 2001, 198–204.
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ander getrennte Vorgänge, sondern was ein Subjekt fühlt, ist seinerseits davon abhängig, wie es sich und die Welt wahrnimmt.23 Vor diesem Hintergrund erhalten die ästhetischen Kategorien Shaftesburys einen bildungstheoretischen Sinn. Der Grundgedanke ist, dass die Betrachtung von schönen Gegenständen in einer auch moralisch relevanten Weise auf das Subjekt derselben zurückwirkt. Dieser Zusammenhang wird allerdings von Shaftesbury eher umkreist als analysiert. Schon in den Miscellaneous Reflections schreibt er etwa dem Geschmack (Taste) eine zentrale Funktion für die ethische Orientierung zu, wobei sich Geschmack nicht nur im äußeren Benehmen, sondern auch in der moralischen Gesinnung niederschlägt (SE I/1, 218). Geschmack ist aber selbst keine rein natürliche Instanz. Shaftesbury hält fest: „Wir selbst erschaffen unseren Geschmack.“( SE I/1, 225) Damit unterliegt auch unser Sensorium für das, was moralisch richtig oder unrichtig ist, einem Kultivierungs- und Bildungsprozess. Dieser Prozess beschränkt sich nicht auf ein Erlernen sozialer Normen. Im Gegenteil, fast wichtiger ist für Shaftesbury das Moment der Schulung unseres Sinns für Schönheit oder genauer: für Formen, Harmonie, Ordnung und Symmetrie (SE I/1, 220). In der Inquiry spricht Shaftesbury in diesem Zusammenhang auch von einem allen gemeinsamen natürlichen Sinn für das Schöne und Erhabene in den Dingen.24 Im Zentrum steht somit ein Vorgang, der sich nicht auf soziale Konditionierung reduzieren lässt, sondern in einer Verfeinerung und Differenzierung dieser natürlichen Anlage besteht. Und genau diese Art der ästhetischen Bildung ist auch für den Umgang mit Gefühlen von Belang; denn derselbe ästhetische Sinn für Form und Ordnung, welcher unserer Wahrnehmung der Schönheit der Dinge zugrunde liegt, kommt auch in unserem Bemühen um eine innere Harmonie und um das eigene emotionale Gleichgewicht zum Tragen. Diese Dimension ästhetischer Bildung wird ausführlich in The Moralists thematisiert, dem dialogisch angelegten Hauptwerk aus dem Jahre 1709. Deutlicher denn je löst sich Shaftesbury in diesem Werk von den teleolo_____________ Dieser Zusammenhang zwischen Selbstgefühl und Wahrnehmung wird im Letter Concerning Enthusiasm sehr schön sichtbar. Shaftesbury zeigt hier nicht nur, dass religiöser – aber auch atheistischer – Fanatismus emotionale Wurzeln hat, sondern er führt vor, dass wir ihm genau dann verfallen, wenn wir in schlechter Stimmung über religiöse Gegenstände nachdenken. Dann, so Shaftesbury, können wir nämlich nicht mehr sauber zwischen unseren Leidenschaften und Eigenschaften Gottes trennen. Siehe z. B. SE I/1, 346f. 24 Vgl. dazu die zweite Auflage der Inquiry, Anm. 3 in SE II/2, 69. 23
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gischen Vorgaben der stoischen Naturphilosophie. An die Stelle der Behauptung einer metaphysischen Naturordnung tritt die Annahme, dass im Prozess der Naturerfahrung die innere Ordnung des Subjekts erschlossen wird. Die Betrachtung der Natur dient somit nicht der Naturerforschung, sondern ist eine ästhetische Erfahrung, deren Reflexion dann zu einem Medium von Selbsterkenntnis und Selbstbildung wird. Wie aus dem Naturhymnus, dem zentralen Stück der Moralists, hervorgeht, wird dabei die Natur sowohl als schön wie als erhaben erfahren (SE II/1, 273ff.).25 Der Betrachter wird dadurch in einen Gemütszustand der Ergriffenheit und Begeisterung versetzt; Shaftesbury spricht auch von Enthusiasmus (SE II/1, 309). Nun mag Enthusiasmus als Erfahrung wertvoll sein, doch er ist kein stabiles Fundament moralischer Einstellungen. Es bedarf darüber hinaus einer Bildung und Kultivierung des ästhetischen Urteils,26 und das wiederum macht eine Reflexion auf die Ursprünge der ästhetischen Erfahrung notwendig. Eine solche wird am Schluss von The Moralists exemplarisch vorgeführt. Dabei wird deutlich, dass das Schöne und Erhabene der Natur seinen Grund in der moralischen Schönheit der eigenen subjektiven Ordnung hat; es ist Ausdruck des „natürlichen Genius“ eines Individuums, von allem, was zusammen mit dessen „Empfindungen […], Entschließungen, Grundsätzen, Entscheidungen, Handlungen“ aus dessen „Erzeuger-Geist hergeleitet“ wird (SE II/1, 315). Ästhetische Naturerfahrung ist also für Shaftesbury kein Selbstzweck, sondern Anlass zur Entdeckung und Medium der Kultivierung des moralischen Selbst einer Person. Worauf dieser Kultivierungsprozess abzielt, wird in den Askemata, den erst 1900 erschienenen philosophischen Notizbüchern, deutlich. Es geht um die Einübung in eine Haltung, die Shaftesbury auch als Interesselosigkeit charakterisiert.27 Dieser Begriff lässt sich auf drei Weisen deuten. Der Interesselosigkeit zugrunde liegt erstens ein physiologischer Vorgang, nämlich eine Erweiterung des Herzens. Interesselosigkeit liegt zweitens vor, wo ein einzelnes Subjekt in ein Ganzes eingebettet wird und dadurch seine partikularen Anliegen relativiert werden. _____________ Vorbild des Naturhymnus ist der Zeus-Mythos des Kleanthes, wie er schon in Cudworths Intellectual System von 1678 rezipiert wird, vgl. Cudworth 1977, 432ff. 26 Auf die Notwendigkeit von Bildung und Kultivierung weist Shaftesbury mit Nachdruck hin, siehe SE II/1, 310. 27 Die Askemata [Exercises] sind bisher unvollständig ediert. Die kritische und vollständige Ausgabe soll 2009 erscheinen: Standard Edition II/1, 1–2. Angelica Baum hat die Manuskripte eingesehen PRO 30/24/27/10. Wir zitieren nach Rand 1991 (engl. zuerst 1900), 7. 25
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Shaftesbury spricht von der natürlichen Neigung jener vernünftigen Wesen, die fähig seien, die Natur zu erkennen und das Gute und Interesse des Ganzen im Auge zu behalten.28 Drittens meint Interesselosigkeit auch jene Offenheit und Vertiefung des Blicks, welche sich in Zuständen der Unbetroffenheit einstellt. Diese Haltung der Interesselosigkeit ist also nicht zu verwechseln mit moralischer Indifferenz oder gar Gefühlskälte. Im Gegenteil, erst der Interesselose ist frei, Anteil zu nehmen und aus seiner natürlichen Neigung heraus zu handeln. Denn, wie Shaftesbury explizit festhält, „true affection cannot be except where liberty is.“29 Es gehört daher zu den wesentlichen Aufgaben emotional-verständiger Lebewesen, Freiheit und Neigung in Übereinstimmung zu bringen. Diese Einsicht bringt Shaftesbury allerdings erst im Verlaufe seiner Entwicklung zur vollen Entfaltung. Ging es in den Inquiry erst noch um das bloße Absehen von Eigeninteressen, so steht in den Tagebüchern das Postulat der Universalisierung unserer Neigungen im Zentrum. „What is to have Natural Affection? Not that which is only towards Relations, but towards all Mankind“, lauten die ersten Sätze von Shaftesburys Philosophical Regimen.30 An diesem Punkt schließt sich der Kreis von Shaftesburys gefühlstheoretischen Überlegungen. Denn was diese humane Haltung einer Zuneigung und Wärme allen Menschen gegenüber überhaupt als plausible Option erscheinen lässt, ist nichts anderes als eine Gefühlskonzeption, die Emotionen nicht oder mindestens nicht nur als Angelegenheit unmittelbaren affektiven Betroffenseins begreift, sondern annimmt, dass es dem Fühlenden möglich ist, in eine reflexive Distanz zu seinen Affekten zu treten. Das Moment der Reflexivität unseres Fühlens, das Shaftesbury seit der Prägung der Ausdrücke reflected Sense und reflex Affection betont, erweist sich somit auch als wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit einer auf die Universalisierung von Gefühlen ausgerichteten ästhetischen Bildung. Es ist diese schon im Fühlen angelegte Reflexivität, welche jene interesselose Selbstbetrachtung ermöglicht, in der sich Individuen mit sich selbst und der Welt in ein Einvernehmen setzen. Es mag daher paradox erscheinen, doch nach Shaftesbury ist es durchaus möglich, zugleich zu fühlen und selbst unbetroffen, unconcerned, zu sein.31 _____________ 28 29 30 31
Rand 1991, 6. Rand 1991, 3. Rand 1991, 1. Rand 1991, 3.
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Literatur Shaftesburys Schriften werden nach der heute maßgeblichen Standard Edition zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendete Sigle ist SE. Shaftesburys The Philosophical Regimen wird zitiert nach Rand 1991. Baum, Angelica (2001), Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury, Stuttgart. Bayle, Pierre (1966, franz. zuerst 1683), Pensées diverses, écrites à und docteur de Sorbonne, à l’occasion de la comète qui parût au mois de décembre 1680, Oeuvres Diverses, Bd. III, hrsg. u. eingel. von Elisabeth Labrousse, Hildesheim. Cherbury, Herbert von (1966, lat. zuerst 1624), De Veritate, hrsg. von Günter Gawlick, Stuttgart [Faksimile-Neudruck der Ausgabe von London 1645]. Cudworth, Ralph (1977, engl. zuerst 1678), The True Intellectual System of the Universe, Stuttgart [Faksimile-Neudruck der Erstausgabe London 1678]. – (1979a, engl. zuerst 1731), A Treatise concerning Eternal and Immutable Morality, Collected Works, hrsg. von Bernhard Fabian, vol. II/1, Hildesheim. – (1979b, engl. zuerst 1838), A Treatise of Free-Will, Collected Works, hrsg. von Bernhard Fabian, vol. II/2, Hildesheim. Darwall, Stephen (1995), The British Moralists and the internal ‚ought‘ (1640–1740), Cambridge. Diogenes Laertius (1998), Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg. Forschner, Maximilian (1981), Die stoische Ethik, Stuttgart. Franke, Ursula (1981), Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Ingrid Cramer Ruegenberg (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl, Freiburg, 131–149. Grean, Stanley (1967), Shaftesbury’s Philosophy of Religion and Ethics. A Study in Enthusiasm, Ohio. Hobbes, Thomas (1962ff., lat. zuerst 1658), Opera Philosophica quae Latine scripsit, hrsg. von William Molesworth, Aalen. Hobbes, Thomas (1994), Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, hrsg. von Günter Gawlick, Hamburg. Locke, John (1959, engl. zuerst 1690), An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von Alexander Campell Fraser, New York. Moreau, Pierre-François (2003), Les passions: continuités et tournants, in: Bernard Besnier u. a. (Hg.), Les Passions Antiques et Médiévales, Paris, 1–12. Rand, Benjamin (1991, engl. zuerst 1900), The Life, Unpublished Letters and Philosophical Regime of Anthony, Earl of Shaftesbury, London. Renz, Ursula (2005), Der mos geometricus als Antirhetorik. Spinozas Gefühlsdarstellung vor dem Hintergrund seiner Gefühlstheorie, in: Paul Michel (Hg.), Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltungen und Lesbarkeit von Emotionen, Freiburg, 333–349. Schrader, Wolfgang (1984), Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung, Hamburg. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of (1981ff.), Standard Edition: Complete Works, Selected Letters and Posthumous Writings, hrsg., übers. und kommentiert von Wolfram Benda, Gerd Hemmerich, Friedrich A. Uehlein, Wolfgang Lottes, Erwin Wolff u. a. Stuttgart (=SE). Uehlein, Friedrich A./Angelica Baum/Vilem Mudroch (2004), Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, in: Helmut Holzhey/Vilem Mudroch (Hg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Grundriss der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, Bd. 1/1, völlig neu bearbeitete Auflage, 51–89.
Francis Hutcheson (1694–1746)
Hutcheson: Leidenschaften und Moral Sense Aaron V. Garrett Als Francis Hutcheson 1730 von Dublin an die Universität Glasgow zurückkehrte, hielt er seine Antrittsvorlesung zum Thema On the Natural Sociability of Mankind, worin er die Auffassung vertrat, dass soziale Leidenschaften, darunter insbesondere Wohlwollen, benevolence, äußerst wichtig für das politische und soziale Leben seien. Damit stellte er sich klar gegen die von Thomas Hobbes in De Cive und Samuel Pufendorf in De jure naturae et gentium libro octo vertretenen Ansätze, die nur die mit dem Eigeninteresse verbundenen Gefühle als Quelle moralischer Motivationen gelten ließen und andere Emotionen von dieser Funktion ausschlossen. Nach Hobbes und Pufendorf sind nur jene Leidenschaften natürliche Leidenschaften, die schon im Naturzustand vorkommen; allerdings begriffen sie den Naturzustand als einen verarmten Zustand (Pufendorf) bzw. als einen ‚Strudel‘ (Hobbes) und sie nahmen ferner beide an, dass er durch die Anerkennung und Etablierung eines Belohnung und Strafe nach sich ziehenden Naturrechts zu überwinden sei. Demgegenüber plädiert Hutcheson dafür, als natürliche Emotionen jene Gefühle anzusehen, die essenziell für unsere beste Natur sind und einen Teil von ihr ausmachen.1 Damit bezieht er sich auf ein Motiv, das von Hugo Grotius stammt und mit dem Hutcheson durch Richard Cumberland und Shaftesbury vertraut war. Nach Grotius gehört uneigennützige Geselligkeit genauso fundamental zur menschlichen Natur wie egoistische Interessen und – damit verbunden – nutzenorientierte Vergesellschaftung. Wenn daher, so Grotius, der menschliche Hang zur Geselligkeit mit den sozialen Leidenschaften gleichgesetzt wird, dann können diese als Basis der Moral begriffen werden. Auch nach Hutcheson sind wohlwollende Empfindungen der Stoff, aus dem Moralität gemacht ist, und zwar sowohl in ihrer Wahrnehmung durch den moralisch Urteilenden als auch in ihrer Verkörperung durch den Tugendhaften im Rahmen eines perfektionistischen Ansatzes. Unsere Emotionen führen also, wenn sie nur richtig ver_____________ 1
Siehe dazu Hutcheson 2006, 191–216.
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standen werden, zum Besten unserer Natur, und nicht zum Schlechtesten. Sie bilden einerseits die Grundlage ethischen Urteilens, andererseits sind sie ein Wegweiser zur Vervollkommnung tugendhaften Lebens.2
1. Affektionen und Leidenschaften Die entscheidende konzeptuelle Grundlage zu seiner Gefühlstheorie hatte Hutcheson schon zwei Jahre zuvor im Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections gelegt, als er noch in Dublin weilte. Zu Beginn dieses Textes bestimmt Hutcheson die menschlichen Affektionen und Leidenschaften als „jene Modifikationen oder Handlungen des Geistes, die auf eine Wahrnehmung eines Objekts oder Ereignisses folgen, in der der Geist im allgemeinen Gut oder Übel erfasst.“3 Und er ergänzt dies etwas später dahingehend, dass unter einer Leidenschaft im Unterschied zu einer bloßen Affektion eine „konfuse von heftigen körperlichen Bewegungen begleitete oder gar hervorgerufene Lust- oder Schmerzempfindung“ zu verstehen sei, „welche den Geist so stark und unter Ausschluss aller anderen Dinge in Anspruch nimmt und die Affektion bisweilen in einem solchen Ausmass verlängert oder steigert, dass jede abwägende Überlegung über unser Verhalten verhindert wird.“ (NCPA 30f.)4 In diesen kurzen Definitionen sind zahlreiche von Hutchesons Grundannahmen enthalten. Affektionen, so wird deutlich, involvieren einen Geist, resp. die Handlungen eines Geistes, welche auf die Auffassung oder Wahrnehmung von Gegenständen oder Ereignissen folgen, und zwar genauer auf jene Wahrnehmungen, die der Geist als gut oder schlecht be_____________ 2 3
4
Für den allgemeinen Hintergrund wie auch für eine sorgfältige Erörterung von Hutchesons Position siehe Schmitter 2006. „The Nature of human Actions cannot be sufficiently understood without considering the Affections and Passions; or those Modifications, or Actions of the Mind consequent upon the Apprehension of certain Objects or Events, in which the Mind generally conceives Good or Evil.“ (NCPA 15; Übersetzung ins Deutsche von U. R.) „When the Word Passion is imagined to denote any thing different from the Affections, it includes […] ‚a confused Sensation either of Pleasure or Pain, occasioned or attended by some violent bodily Motions, which keeps the Mind much employed upon the present Affair, to the exclusion of every thing else, and prolongs and strengthens the Affection sometimes to such a degree, as to prevent all deliberate Reason about our Conduct.‘“ Hutcheson verweist hier auf Malebranches Recherche de la Vérité, Buch V, Kap. 3. Ein genaues Zitat lässt sich allerdings nicht auffinden [Anm. v. U. R.].
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greift (im Unterschied zu solchen, die an sich gut oder schlecht sind). Mit anderen Worten: Affektionen sind Modi des Denkens, die auf eine Sinnesempfindung – d. h. entweder auf eine natürliche Erfahrung der fünf Sinne, des moralischen Sinns oder eines anderen Sinns – folgen. Mich erfasst beispielsweise die Affektion des Mitleids im Anschluss an eine komplexe moralische Wahrnehmung einer schlechten Handlung oder das Gefühl von Erhabenheit folgt auf die Betrachtung eines außerordentlichen Gemäldes. Hutchesons Definition von Affektion (affection) ist enger als unsere heutige alltägliche Rede von „Emotion“ oder „Gefühl“, denn Affektionen folgen immer auf die Wahrnehmung von Gutem oder Üblem. Der Begriff der Leidenschaften (passions) rundet die breitere Kategorie der Emotionen ab, doch seine Definition unterstreicht genauso wie die Definition von affection die Relevanz für kognitive Prozesse bzw. wie sie Affektionen und Überlegung verstärken. Überhaupt differenziert Hutcheson nicht konsistent zwischen Affektionen und Leidenschaften,5 allerdings kommt in der Differenz zum Ausdruck, dass die Gattung der Emotionen zwei Aspekte umfasst, nämlich einerseits Evaluation (im Falle der Affektionen) und andererseits jene positive wie destruktive Tendenz, unsere Verhaltensweisen und Absichten zu fixieren (im Falle der Leidenschaften). Nach Hutcheson können Leidenschaften unter der Führung des moral sense dazu eingesetzt werden, Reaktionen auf schwierige Situation einzuüben, so insbesondere auf solche Situationen, in denen Leidenschaften ruhigere Affektionen wie allgemeines Wohlwollen oder wohl erwogene Reaktionen verhindern. Das ist eine klassische stoische Technik, und Hutcheson braucht die Unterscheidung zwischen Affektionen und Leidenschaften, um zu erklären, wie sie funktioniert.
2. Historischer Hintergrund Hutchesons Denken über Affektionen und Leidenschaften verdankt sich zahlreichen historischen Einflüssen. Wie viele britische Philosophen seiner Generation war er tief beeindruckt von Nicolas Malebranche. Er war ein leidenschaftlicher Leser Ciceros und der klassischen stoischen Affektenlehren. Zusammen mit James Moor übersetzte er Marc Aurels Meditationes _____________ 5
Ich werde diese beiden Ausdrücke ebenfalls austauschbar verwenden, doch ich hoffe, die Bedeutungen werden vom Kontext her klar.
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ins Englische, und er wurde von seinen Zeitgenossen von David Hume bis hin zum Kalvinisten John Witherspoon als Stoiker wahrgenommen. Ferner begriff er Leidenschaften und Affekte nicht nur als einen moralischen Gegenstand, sondern als auf Sinnesempfindungen folgend; als weitere wichtige Einflüsse sind daher die Philosophien John Lockes und Shaftesburys zu nennen. Auf letztere möchte ich mich in der Folge konzentrieren. Hutchesons Definitionen stützen sich auf Lockes Ausführungen zum Begriff der Leidenschaft aus dem kurzen Kapitel „Of Modes of Pleasure and Pain“ (II.20) in dessen Essay Concerning Human Understanding: § 2. Demnach sind die Dinge nur in Beziehung auf Freude und Schmerz gut oder übel. […] Freude und Schmerz verstehe ich sowohl körperlich als auch im geistigen Sinne, wie sie gewöhnlich unterschieden werden, obwohl beide in Wahrheit nur verschiedene Verfassungen des Geistes sind, die bald durch körperliche Störungen, bald durch die Gedanken des Geistes veranlasst werden. § 3. Freude und Schmerz und ihre Ursache, das Gute und das Üble, sind die Angeln, in dem sich unsere Leidenschaften drehen. Wenn wir auf uns selber achten und beobachten, wie dieselben in verschiedener Richtung auf uns einwirken, welche Modifikationen oder Stimmungen des Geistes, welche inneren Sensationen (wenn ich es so nennen darf) sie in uns erzeugen, so können wir uns daraus die Ideen unserer Leidenschaften bilden.6
Wie Locke definiert auch Hutcheson Affektionen und Leidenschaften als mentale Ereignisse, die von körperlichen Zuständen veranlasst oder begleitet sein können, damit aber nur kontingente Verbindungen mit körperlichen Zuständen aufweisen. Das unterscheidet Hutchesons Ansatz von den mechanistisch inspirierten Affektenlehren von Hobbes, Spinoza und Pierre Gassendi, welche davon ausgingen, dass Leidenschaften entweder durch körperliche Bewegungen verursacht werden oder aber parallel zu diesen verlaufen. Anders als diese Philosophen, aber wie Pufendorf, un_____________ 6
Locke 41981, Bd. 1, 271f. „§ 2. Things then are Good or Evil, only in reference to Pleasure or Pain […] By pleasure and Pain, I must be understood to mean of Body or Mind, as they are commonly distinguished; though in truth, they be only different Constitutions of the Mind, sometimes occasioned by disorder in the Body, sometimes by Thoughts of the Mind.“ „§ 3. Pleasure and Pain and that which causes them, Good and Evil, are the hinges on which the Passions turn: and if we reflect on our selves, and observe how these, under various Considerations, operate in us; what Modifications or Tempers of Mind, what internal Sensations, (if I may so call them,) they produce in us, we may thence form to our selves the Ideas of our Passions.“ (Locke 1973 (zuerst 1690), 229f.)
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tersuchte Locke die Leidenschaften primär in ihrer Beziehung zu den mentalen Aspekten unserer moralischen Handlungen. Nun ist Lockes Beschreibung der Leidenschaften und Affektionen ausgesprochen dünn im Vergleich zu den ausführlichen Affektkatalogen von Descartes, Spinoza und Malebranche. Das hängt damit zusammen, dass Locke die moralischen Leidenschaften im Verhältnis zu folgendem Naturgesetz (a natural law) begreift: Leidenschaften bewegen uns dazu, Lust zu vermehren und Schmerz zu vermindern. Gewisse Weisen, wie wir das tun, sind gut, andere nicht. Allerdings setzt die ultimative Evaluation darüber, ob eine bestimmte Leidenschaft lobens- oder tadelnswert, gut oder schlecht ist, das Naturrecht (the natural law) voraus. In diesem Punkt stützt sich Locke auf Pufendorf, der eine ausführliche Taxonomie des Naturrechts vorlegte, das alle unsere Verpflichtungen, Aufgaben und Funktionen als dem Glück förderlich erklärte. Im Anschluss daran skizziert Locke eine Wissenschaft der Moral, die ein Set von selbstevidenten moralischen Sätzen festlegt, von denen zu hoffen ist, dass wir motiviert sind, sie zu befolgen. In der Konsequenz werden auch die Leidenschaften primär als mit moralischen Handlungen und Beurteilungen verbundene Motivationen oder Wünsche aufgefasst. Ihre Substanz oder ihr Inhalt entspringt also nicht dem emotionalen Erleben selbst, sondern ist von der Substanz oder dem Inhalt des durch die richtige Vernunft entdeckten Naturrechts abgeleitet, welchem Folge zu leisten uns die Leidenschaften und Wünsche motivieren. Diese auf das Naturrecht zurückgreifende Erklärung der Funktion unserer Emotionen wurde von Shaftesbury heftig kritisiert. Shaftesbury argumentierte, dass genuin soziale Gefühle die Wurzel von tugendhaften wie von politischen Handlungen seien und dass die menschlichen Tugenden und nicht das Naturrecht die Währung der Moral sei,7 – eine Argumentation, die von Hutcheson emphatisch aufgenommen wurde, wie folgende Bemerkung aus seiner Antrittsvorlesung zeigt: Dafür [für die Naturrechtsauffassung moralischer Motivation und Rechtfertigung, A. G.] hatte nicht nur Hobbes, sondern auch Pufendorf seine Strafe bezahlt zugunsten von so distinguierten Männern wie Titius, Barbeyrac, Cumberland, Carmichael, und allen voran dem genialen Grafen von Shaftesbury.8
_____________ 7 8
Zur Bedeutung dieser Themen für Shaftesbury siehe Rivers 2000. „For it [the natural law theory of motivation and justification, AG] long since, not only Hobbes but Pufendorf himself has paid the penalty at the hands of such distinguished men as Titius, Barbeyrac, Cumberland, Carmichael, and above all the most ingenious Earl of Shaftesbury.“ (Hutcheson 2006, 198f.; Übersetzung U. R.)
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Shaftesbury identifizierte in seiner Inquiry concerning Virtue Tugend und Interesse und argumentierte, dass die Übereinstimmung der beiden aus der Erkundung der Natur evident sei: Wenn durch die natürliche Konstitution jeder rationalen Kreatur dieselben Unregelmäßigkeiten des Begehrens, die ihn zum Feinde anderer machen, auch zum Feind seiner selbst machen; und wenn dieselbe Regelmäßigkeit des Begehrens, die ihn dazu bringt, in einem Sinn gut zu sein, ihn auch dazu bringt, im anderen Sinne gut zu sein; dann ist jene Güte, durch die er anderen nützlich ist, ein wirkliches Gut und von Vorteil für ihn selber. Und so können Tugend und Interesse letztlich übereinstimmen.9
Im Anschluss an diese stoische Theorie und in begründeter Absetzung zu von den Ansätzen Lockes und Pufendorfs wird also Tugend bei Shaftesbury mit dem besonderen Interesse und der Funktion eines Individuums assoziiert und nicht mit der Pflicht, die diesem aus seiner Beziehung zum Naturrecht und dessen Gesetzgeber entspringt. Shaftesbury bestimmt menschliches Interesse nicht wie Locke und Pufendorf aus einem engen hedonistischen Blickwinkel, sondern beschreibt es allgemeiner als das Gedeihen eines Individuums in Beziehung zu und im Zusammenleben mit vielen anderen Individuen. Leidenschaften schließlich sind nach Shaftesbury mit den Tugenden verbunden und implizieren, wenn sie gesund sind, alle Arten von sozialen Relationen. Sie werden nicht unter Rekurs auf ein allgemeines Naturrecht beurteilt, sondern im Hinblick auf das umfassende Glück, das Interesse und die Tugend der moralischen Gemeinschaft. Auf der Basis einer solchen Theorie wird natürlich Verpflichtung ein Problem: Worin ist die Verpflichtung, Versprechen zu halten, verankert? Hume wird diese Frage später mit seinem berühmten Beispiel des klugen Schurken zu einem zentralen Problem machen.10 Umgekehrt stellt eine solche Theorie Gefühle und Empfindungen ins Zentrum der moralischen wie der sozialen Erfahrung und stattet diese ferner mit einem so reichhaltigen phänomenologischen und handlungsleitenden Inhalt aus, dass Tugend und Interesse auch ohne Rekurs auf ein absolutes Gesetz oder einen externen Standard zusammenfallen können. _____________ „[I]f by the natural Constitution of any rational Creature, the same Irregularitys of Appetite which make him ill to Others, make him ill also to Himself; and if the same Regularity of Affections, which causes him to be good in one Sense, causes him to be good also in the other; then is that Goodness by which he is thus useful to others, a real Good and Advantage to himself. And thus Virtue and Interest may be found at last to agree.“ (SE II/2, 46; Übersetzung U. R.) 10 Hume 1975 (zuerst 1777), 281–284. 9
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Hutcheson übernahm diese Position Shaftesburys weitgehend (obgleich mit einem weniger starken Fokus auf dem Interessensbegriff) und benutzte sie, um Locke in einer viel tiefgreifenderen Weise zu kritisieren, als Shaftesbury dies getan hatte. Der Schlüssel dafür war ein Begriff, in dem sich Einflüsse von Locke mit jenen von Shaftesbury verbanden: der Begriff des moralischen Sinns.
3. Hutchesons Konzeption des moralischen Sinns Der junge Hutcheson schrieb noch in Dublin zwei wichtigere Werke, bevor er triumphierend nach Glasgow zurückkehrte: die Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue (1725) und den schon erwähnten Essay on the Passions with Illustrations on the Moral Sense (1728). Diese beiden Werke verfasste Hutcheson, als er Mitglied jenes Zirkels von jungen und progressiven Shaftesbury-Anhängern war, die Lord Molesworth um sich geschart hatte. Nicht alle teilten die Begeisterung für Shaftesbury, welche im Zirkel von Molesworth vorherrschte. Insbesondere Bernard Mandeville war äußerst kritisch gegenüber dem Zusammenfallen von Tugend und Interesse. Der berühmte Untertitel seiner Bienenfabel, Private Vices, Public Virtues, bringt Mandevilles Kritik auf den Punkt: Es kommt oft vor, dass öffentliches Gut Lastern, negativen Leidenschaften oder käuflichen Wünschen entspringt. Die von Shaftesbury vorgebrachte Koinzidenz von Tugend und Interesse war nicht annähernd so einsichtig, wie dieser behauptet hatte. Hutchesons Inquiry nimmt auf diese Kontroverse Bezug, wie der Untertitel ankündigt: In which the principles of the late Earl of Shaftesbury are Explain’d and Defended, against the Author of the Fable of the Bees. Hutchesons Antwort auf Mandevilles Herausforderung besteht darin, Lockes Theorie der Wahrnehmung und des Verstandes mit einer um den Begriff eines moralischen Sinns zentrierten Moraltheorie im Sinne Shaftesburys zu kombinieren – kein geringes Kunststück, wenn man weiß, dass Shaftesbury zu jener Zeit als Lockes potentester innativistischer Gegner galt. Hutcheson betonte allerdings die Wichtigkeit der Befriedigung von Interessen in einem viel geringeren Ausmaß als Shaftesbury. Die Inquiry ist unterteilt in zwei einigermaßen autonome Traktate. Der erste erläutert unter dem Titel An Inquiry concerning Beauty, Order, etc. die Relation zwischen der Schönheit und dem menschlichen Sinn für Schönheit, welcher über die Ordnung von Verschiedenem urteilt. In dieser Diskussion taucht erstmals der Begriff des moralischen Sinns auf, den Hutcheson
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dann im zweiten Traktat unter dem Titel An Inquiry concerning Moral Good and Evil ausführlicher erörtert. Gemäß Hutcheson ist der moralische Sinn, moral sense, einer von vielen internen Sinnen, inklusive des Sinns für Schönheit. Ein Sinn ist definiert als ein bestimmtes Set von Wahrnehmungen bzw. als Wahrnehmungsweise, so ist etwa der Gesichtssinn ein anderer Sinn als der Tastsinn. Diese beiden unterscheiden sich wieder vom Ehrgefühl, hingegen gibt es keinen Vernunftsinn, denn dieser wäre aktiv und nicht passiv, und daher handelt es sich nicht um Wahrnehmung. Daran anknüpfend definiert Hutcheson „moralisch gut“ als „unsere Idee einer in Handlungen wahrgenommenen Qualität, welche Zustimmung und Liebe zum Handelnden bewirkt durch jene, die keinen Vorteil von der Handlung haben“; und „moralisch schlecht“ als das Gegenteil.11 Wie im Falle der Begriffe affection und passion packt Hutcheson sehr viel in diese Eingangsdefinition hinein. Erstens, und das ist entscheidend, geht er davon aus, dass moralische Wahrnehmung uneigennützig ist; die Betrachter haben keinen Vorteil vom moralischen Gut. Damit entfernt er sich de facto von den hedonistischen und epikureischen Auffassungen über moralische Motivation, und darin unterscheidet er sich auch diametral von Locke und Pufendorf. Denn was diesen Auffassungen zufolge moralische Motivationen sind, kann nach Hutcheson gar nicht im eigentlichen Sinne moralisch sein, weil sie auf die Sanktionen bezogen sind, die mit einem Gesetz verbunden sind. Demgegenüber begreift Hutcheson die Uneigennützigkeit des Urteilens oder Wahrnehmens als allgemeines Charakteristikum jeden Sinns; wahrgenommene Inhalte können grundsätzlich nicht durch Interesse verändert oder beeinflusst werden (BV 95). Ich kann die Wahrnehmung von Rot nicht in eine Wahrnehmung von blau verändern, nur weil ich daran Interesse hätte. Und genauso wenig kann ich nach Hutcheson die Wahrnehmung von etwas Gutem in eine Wahrnehmung von etwas Schlechtem transformieren (was natürlich bestreitbar ist). Zweitens ist wichtig, dass das moralisch Gute als eine charakteristische Qualität repräsentiert wird, die vom moralischen Sinn wahrgenommen wird, so wie Farbe vom Gesichtssinn oder eine bestimmte Klangeigenschaft vom Gehör. Hutcheson wird an einer anderen Stelle behaupten, _____________ 11
„The Word Moral Goodness, in this Treatise, denotes our Idea of some Quality apprehended in Actions, which procures Approbation, and Love toward the Actor, from those who receive no Advantage by the Action. Moral Evil denotes our Idea of a contrary Quality, which excites Aversion, and Dislike toward the Actor, even from Persons unconcern’d in its natural Tendency.“ (BV 84)
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dass das moralisch Gute eine Charaktereigenschaft ist, d. h. eine Qualität, die wir als Teil des Charakters eines moralisch Handelnden auffassen. Die Wahrnehmung dieser Qualität führt auf der Seite des Zuschauers zu einer Leidenschaft oder einem Gefühl, nämlich zu Liebe oder Zustimmung. Schließlich ist festzuhalten, dass moralische Güte eine Qualität ist, die nicht notwendig einen direkten Zugang zu den Gedanken von anderen voraussetzt. Ich nehme eine Handlung, eine Person oder einen Gegenstand wahr, ich reagiere auf die Emotion, das Gefühl oder das Motiv, von dem ich annehme, es habe zur Handlung geführt, und nehme so quasi indirekt eine Qualität wahr.12 Nimmt man all diese Punkte zusammen, so ergibt allein diese eine Definition eine ziemlich ausgefeilte Theorie der moralischen Wahrnehmung. Sie kombiniert zentrale Einsichten von Lockes Konzeption der Ideen von Qualitäten, eine empiristisch begründete Auffassung moralischer Sensibilität (der zufolge wir Vorstellungen moralischer Qualitäten durch Beobachtung erwerben) und eine – im breiten Sinne verstanden – lockesche Auffassung von Sinneswahrnehmung mit dem gegen Locke gerichteten Moral-Sense-Konzept Shaftesburys.13 Hutcheson stützt sich auf die lockesche Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten, um die konstitutive Rolle von Affektionen und Empfindungen für das moralische Urteilen zu betonen. Die moralische Qualität der Handlung wird konstituiert durch die Emotionen oder die Leidenschaft des beobachteten Handlungssubjekts und resultiert in einer wohlwollenden Affektion im Beobachter bzw. in Liebe. Nach Hutcheson sind Liebe und Hass die beiden ursprünglichen Gemütszustände, von denen alle anderen abgeleitet sind (BV 102).14 Man sieht hier, _____________ Hume kritisiert das in seinem Brief an Hutcheson vom 17. September 1739: „[i]f there be no other Goods but Virtue, tis [sic] impossible there can be any Virtue; because the Mind woud [sic] then want all Motives to begin its Actions upon: And tis [sic] on the Goodness or Badness of the Motives that the Virtue of the Action depends. This proves, that to every virtuous Action there must be a Motive or impelling Passions distinct from the Virtue, & that Virtue can never be the sole Motive to any Action. You do not assent to this, tho’ I think there is no Proposition more certain or important“, siehe in Greig 1932, I, 35. Humes Kritik, dass bei Hutcheson Tugend, Handlung und Handlungsmotiv kollabieren, ist berechtigt. Für Hume wird das das zentrale Problem sein, das die künstlichen Tugenden darstellen: Diese mögen nützlich sein – doch was macht sie tugendhaft? 13 Oder um die Affiliationen hier genauer zu bestimmen: Der Terminus moral sense stammt zwar von Shaftesbury, doch was der moralische Sinn ist, wird in Analogie zu Lockes Analyse der Sinneserfahrung analysiert. 14 In diesem Punkt war Hutcheson wahrscheinlich von Malebranche beeinflusst. 12
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dass Hutcheson sich an Shaftesburys Szenario orientiert, wonach das moralisch Gute oder Schlechte einer Handlung nicht durch das Begehren und in Relation zu einem Naturgesetz beurteilt wird, sondern aufgrund der uneigennützigen moralischen Wahrnehmung einer Handlung. Allerdings ist der für Shaftesbury wichtige Akzent auf dem individuellen Interesse verschwunden. Bei Hutcheson hat das Vorliegen von Interessen eine Verminderung der moralischen Qualität zur Folge, und in der Konsequenz auch von Liebe und Wohlwollen gegenüber dem Handelnden seitens des Beobachters. Es ist das Gefühl von Wohlwollen, worin der Unterschied von natürlichen Gütern und Übeln gegenüber moralischen Gütern und Übeln gründet, ein Punkt, der im Zentrum von Hutchesons Kritik am Epikureismus steht. Natürliche Güter und Übel bestehen in reiner Lust und reinem Schmerz und sind eng verbunden mit Interessen und Abneigungen. Nach Hutcheson machen sich die Desire-Interest-Modelle von Locke und Pufendorf genau diese Interessen und Abneigungen als Antrieb zu moralischem Verhalten zunutze. Doch dadurch wird die moralische Anerkennung der Handlung geschwächt, und der moralischen Handlung wird nur wenig mehr Verdienst attestiert als einer Handlung, die unter Drohung ausgeführt wird. Im Resultat ist nicht mehr einsehbar, was moralisch sein soll an einem Verhalten. Das natürliche Gesetz ist zwar moral-konstitutiv, doch es bleibt ein Geheimnis, wie und warum. Es ist natürlich besser für uns alle, über natürliche Güter zu verfügen und natürliche Übel zu vermeiden, doch moralisch sind Güter und Übel nach Hutcheson nur, wenn sie „von wohlwollender Affektion oder der Intention eines absolut Guten für andere“ stammen (NCPA 36). In Abgrenzung zu Lockes und Pufendorfs Theorien der Motivation ist für Hutcheson (und Shaftesbury) nicht nur entscheidend, was man begehrt, sondern auch, wie man sich fühlt. Moralisch zu fühlen heißt, aus einem lobenswerten und ungezwungenen affektiven Zustand heraus zu handeln – aus Wohlwollen. Es geschieht also etwas ziemlich Revolutionäres bei Hutcheson: Moralität wird identifiziert mit einem charakteristischen und irreduziblen Wert, der wiederum mit einem bestimmten Gefühl assoziiert wird. Diese Zentrierung der Moralität auf das Wohlwollen hat als weitere, außergewöhnliche Konsequenz die Vereinigung aller moralischen Wahrnehmung und Verpflichtung in einem moralischen Gefühl oder in einer moralischen Affektion, wodurch der moralischen Verpflichtung ein charakteristischer Gehalt zuerkannt wird. Wenn wir eine Handlung als moralisch wahrnehmen, dann deshalb, weil sie Anteil hat an diesem in para-
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digmatischer Weise uneigennützigen Gefühl. Sowohl unser unparteiisches Urteil selbst als auch die uneigennützige moralische Anerkennung manifestieren somit Wohlwollen. An dieser Stelle ist auf einen weiteren Bezugsautor von Hutchesons Ansatz hinzuweisen. Sein Vorgänger in Glasgow, Gershom Carmichael, hatte Pufendorf dafür kritisiert, dass er zwischen Pflichten gegenüber Gott, sich selbst und anderen gegenüber unterschied. Er argumentierte gegen Pufendorf, dass Pflichten gegenüber anderen und gegenüber sich selbst alle in unseren Pflichten und dem Gefühl der Ehrfurcht gegenüber Gott enthalten sind.15 Carmichael entwickelte einen von seinen Vorgängern beträchtlich verschiedenen Ansatz der Leidenschaften, welcher z. B. die Freundlichkeit als „Führerin unter den gütigen Emotionen“ hervorhob,16 (während er zugleich davor warnte, dass sie in Frivolität umschlagen könnte). Hutcheson übernimmt Carmichaels Einsicht, stellt sie aber auf den Kopf. Anstatt von oben nach unten von der Ehrfurcht gegenüber Gott zur Ehrfurcht vor anderen zu kommen, gelangt er von unten nach oben: Als Herz aller Pflichten begreift er das Gefühl des Wohlwollens und fasst es zugleich als Paradigma für alle moralischen Gefühle auf.17
_____________ 15 16 17
Siehe Moore/Silverthorne 2002, 47. Ebd. Da die Theorie auf freiwilliges Wohlwollen fokussiert, welches vom moralischen Sinn unparteiisch anerkannt wird, besteht auch genau die umgekehrte Schwierigkeit in der Erklärung moralischer Verpflichtung wie bei den Naturrechtstheoretikern. Während es Letzteren ein Leichtes ist zu zeigen, dass und wie etwas bindend ist – Strafen und Belohnung werden aufgrund rationaler Entscheidung durch den naturrechtlichen Gesetzgeber verfügt –, hatten sie Schwierigkeiten zu zeigen, warum das moralisch ist. Dies war in der Tat ein Problem, auf das Carmichael mit seiner Betonung des spezifischen Gefühls des Wohlwollens reagierte. Für Hutcheson besteht die Schwierigkeit darin zu erklären, wie freiwilliges Wohlwollen bindend sein kann. Er versucht das Problem zu lösen, indem er argumentiert, dass das Gewissen moralische Empfindungen von Strafe, aber nicht von Belohnung bereitstellt, doch das scheint mit dem Gefühl zu konfligieren, dass wir die moralisch richtige Handlung vollziehen müssen, und es macht Verpflichtung primär zu etwas Negativem und Asymmetrischem (BV 176f.). Dieses Problem scheint sich natürlicherweise für eine auf Gefühlen und Leidenschaften basierende Tugendkonzeption zu ergeben, wenn sie mit grundlegenden Naturrechtsbegriffen wie Verpflichtung operiert.
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4. Das System der Gefühle In dem Werk, das auf die Inquiry folgte, dem Essay on the Nature and Conduct of the Passions, versuchte Hutcheson die Moral-Sense-Theorie weiterzuentwickeln, indem er die Verbindung zwischen den Leidenschaften und dem System betonte. Der Systembegriff ist eines der zentralen Konzepte Hutchesons und bezeichnet sowohl ein in sich zusammenhängendes Schema, als auch die Weisen, durch die Individuen in ihren Handlungen zu bestimmten Zwecken zusammengefasst werden (they act as a system), als schließlich auch das Resultat dieser Handlungen (they formed a system). Ein durch Wohlwollen konstituiertes System gilt Hutcheson als reales Ding, so real wie eine Person, der gegenüber wir Verpflichtungen haben. Hutchesons großes postumes Werk, das von seinen Vorlesungen stammt, heißt A System of Moral Philosophy, und der Titel ist durchaus im oben explizierten dreifachen Sinne gemeint – Schema der Moralphilosophie, die moralischen Wege, durch die Handelnde verbunden sind und das Resultat dieser moralischen Verbindungen.18 Erinnern wir uns nun an die Definition der Affektionen und Leidenschaften als „jene Modifikationen oder Handlungen des Geistes, die auf eine Wahrnehmung eines Objekts oder Ereignisses folgen, in der der Geist im allgemeinen Gut oder Übel erfasst.“19 Die Gegenstände oder Ereignisse müssen nicht individuelle Handlungssubjekte oder Handlungen sein, sondern können auch in einem größeren System von Handlungen wie z. B. einem Staat bestehen. Isoliert man ein Individuum vom System, dessen Teil es ist, so folgen darauf oft negative Affekte. Wenn ich z. B. meiner Mutter dafür zürne, dass sie mir meine Fernsehprivilegien weggenommen hat, weil ich eine schlechte Note in meiner Matheprüfung bekommen habe, dann ist mein Groll eine Modifikation meines Geistes, die meiner Wahrnehmung der Handlungsweise meiner Mutter als schlecht entspringt. Doch wenn ich fähig wäre einzusehen, dass dieser Akt Teil eines größeren Systems ist, welches in einem Nutzen resultiert, der durch einen unparteiischen Beobachter anerkannt würde, dann würde ich auch einsehen, dass jemand, der nicht so involviert ist, die Handlungsweise meiner Mutter als zuverlässiges Mittel ansähe, um einen guten Erwachse_____________ Ich konzentriere mich hier auf Hutchesons frühes Werk, da seine Darstellung der Leidenschaften während seiner Karriere im Wesentlichen dieselbe blieb. 19 Hutcheson lässt auch einen zweiten, körperlichen und konfusen Sinn von Leidenschaft oder Gefühl, im traditionellen Sinne also, zu. 18
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nen und Bürger aus mir zu machen. Nach Hutchesons Auffassung sind unsere negativen Leidenschaften wie Hass und Groll die Konsequenzen einer beschränkten Sichtweise (bzw. sie sind selbst solche verzerrten und beschränkten Sichtweisen). Ruhige, wohlwollende Leidenschaften hingegen wurzeln in umfassenderen Sichtweisen auf das System.20 Hutchesons Betonung des Zusammenhangs zwischen umfassenderen Sichtweisen, ruhigen Leidenschaften und dem System ist stoischer Herkunft, genauer: christlich-stoischer Herkunft, insofern nämlich das letzte Ziel nicht im Fehlen jeglicher Leidenschaft, apatheia, besteht, sondern eher in einem Zustand von ruhigem und umfassendem Wohlwollen und von Liebe, die unserer Bewunderung von Gottes (und Christus’) Wohlwollen und Liebe für das geschaffene System entspringt (NCPA 32). Sie hängt ferner mit einer weiteren Differenzierung zusammen, nämlich jener zwischen einzelnen liebenswürdigen Handlungen oder partikulärem Wohlwollen gegenüber bestimmten Personen einerseits und universalem Wohlwollen andererseits. Während einzelne wohlwollende Handlungen oder Wohlwollen gegenüber Einzelnen kein wirkliches Verständnis für das System implizieren müssen, setzt das ruhige universale Wohlwollen viel an rationaler Reflexion voraus. Dieses Wohlwollen kann im Prinzip unabhängig von bestimmten Affektionen gefühlt werden, doch in Wesen, wie wir es sind, entspringt es aus besonderen Emotionen.21 Wohlwollen ist in allen seinen Formen unabhängig von Interessen, denn „tugendhaftes Wohlwollen muss ein letztes Begehren sein, das unabhängig von jeglicher Hinsicht auf das eigene Gut subsistiert.“22 Dieses äußerste moralische Begehren, das allem individuellen Interesse entgegengesetzt ist und mit dem System zusammenhängt, ist die Ursache aller moralischen Affektionen, und sein Fehlen führt zu negativen und destrukti_____________ Hutchesons Gleichsetzung der Enge einer Sichtweise mit negativen Leidenschaften war wichtig für die Kritik von Bigotterie und Vorurteil, d. h. Engstirnigkeit, was charakteristisch ist für die liberale Prägung seiner gesamten Moralphilosophie. Engstirnig zu sein im Blick auf eine bestimmte Gruppe heißt, sich destruktive Leidenschaften zuzuziehen. Die Tendenz der schottischen Aufklärung und insbesondere von Hutchesons Student Adam Smith, zu betonen, dass gesellige Gefühle sich entwickeln wie die Gesellschaft sich entwickelt, ist eine Erbe Hutchesons. 21 Man kann hier einen der Ursprünge von Adam Smiths Auffassung von der Entstehung des unparteiischen Beobachters aus besonderen Emotionen sehen. Vgl. Christian Strub in diesem Band. 22 „The virtuos Benevolence must be an ultimate Desire, which would subsist without view to private Good.“ (NCPA 27; Hervorh. i. O.) 20
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ven Leidenschaften. Je umfassender und wohlwollender unser Begehren, so scheint Hutcheson anzunehmen, umso mehr sind wir in moralischer Weise aktiv; es bringt reale moralische Handlungen hervor, anstatt dass wir von bloß partikulären Leidenschaften bestimmt sind.
5. Die Arten der Leidenschaften nach Hutcheson Hutcheson unterscheidet zwischen fünf Arten von Leidenschaften (NCPA 48): Eine erste Gruppe bilden die Leidenschaften, die direkt dem moralischen Sinn oder dem Sinn für Ehre entspringen.23 Es sind jenes unmittelbare Verlangen oder jener unmittelbare Abscheu, die der Betrachtung von Gutem oder Schlechtem, respektive von ehrenwerten oder schändlichen Handlungen, Charakteren oder Eigenschaften entspringen. Davon unterscheidet Hutcheson zweitens den abstrakteren Wunsch nach Glück oder Tugend für abwesende oder sogar unbekannte Menschen. Vor dem Hintergrund der Begrifflichkeit des Sinns sind das allerdings seltsame Gefühle, denn sie setzen voraus, dass wir eine abwesende Person oder sogar eine Eigenschaft, die einer solchen abgeht, wahrnehmen können. Sie sind aber auch in sich betrachtet sonderbar, denn es ist schwierig, sich eine sinnvolle Vorstellung von so einem abstrakten Gefühl zu machen. Man kann sich vor diesem Hintergrund ausrechnen, warum Hume und Smith von der Idee abstrakter Gefühle abkamen und stattdessen dazu tendierten, die durchgehende Wirkung der Einbildungskraft in den moralischen Gefühlen bis hin zu den scheinbar abstrakten Affektionen zu betonen. Smiths Idee eines unparteiischen Beobachters sowie die Annahme, dass die Imagination selbst in unseren abstrakten moralischen Urteilen eine Rolle spielt, sind eine Reaktion auf dieses Problem. Eine dritte Gruppe von Gefühlen bilden die moralischen Gefühle für öffentliche Persönlichkeiten. Diese Klasse ergibt sich, wenn man die ersten beiden Arten von Gefühlen kombiniert. Es handelt sich um Gefühle, wie wir sie empfinden, wenn wir uns Tragödien ansehen. Hutcheson ist an diesen Emotionen besonders interessiert, weil sie – anders als die schwachen Gefühle, die wir im Allgemeinen gegenüber abstrakten Personen _____________ 23
Beeinflusst von Shaftesbury, diskutiert Hutcheson den Sinn für Ehre, sense of honor oder sense of the honestum, durch das ganze frühe Werk hindurch. Dieser Sinn für Ehre hängt eng mit der öffentlichen Sittlichkeit zusammen. Die Bedeutung von Ehre als einem distinkten Gut, bzw. des Sinns für Ehre als einem distinkten Sinn, nahm im Verlauf des 18. Jahrhunderts zusehends ab.
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empfinden – extrem stark und doch desinteressiert sind. Er bemerkt, dass wir entsetzt sind, wenn eine tugendhafte Persönlichkeit in einer Tragödie furchtbar leidet und ein schlechter Charakter triumphiert, was seiner Auffassung nach auch zeigt, dass das hedonistische einfache Interesse eine unangemessene Erklärung für viele unserer Affekte ist und desinteressierte Leidenschaften genauso heftig und stark sein können wie solche, die Interessen entspringen. Manche Leute sind sogar selbst mehr bewegt durch Kunst und leiden mehr mit bei fiktiven Figuren, als sie es bei ihnen nahestehenden und lieben Menschen oder sogar sich selber gegenüber tun. Und diese Gefühle haben wir nicht nur gegenüber Figuren in Dramen, sondern auch gegenüber historischen Persönlichkeiten und öffentlichen Figuren. Moralische Gefühle gewähren so gesehen auch Zugang zu den Vorstellungen der öffentlichen Moral. Die vierte Art von moralischen Gefühlen sind jene, mit denen wir auf die Beziehungen zwischen Figuren, die wir mögen, und solchen, die wir nicht mögen, reagieren. Hutcheson versucht hier einen Ersatz für die relationalen Aufgaben zu entwickeln, deren Definition das Kerngeschäft des Naturrechtsansatzes ausmacht. Es ist eine Stärke von Pufendorfs Ansatz, dass er nicht nur erklären kann, warum ich verpflichtet bin, meine Kinder anständig zu behandeln, sondern auch, warum ich ein Recht habe, sie zu schelten, um sie auf den rechten Weg zu bringen. Das leitet Pufendorf ab von der Aufgabe, die in diesem Fall die Eltern haben, sowie dem für die Erfüllung dieser Pflicht notwendigen Recht, wobei die gemeinsame Basis dieser Aufgabe und der Rechte der Eltern das natürliche Recht eines jeden auf Erziehung zur und durch Geselligkeit ist. Eine tugendorientierte Theorie hat im Gegensatz dazu große Schwierigkeiten zu erklären, warum ausgerechnet diese spezifischen Beziehungen bestehen sollen und nicht andere, zumal wenn Tugenden Gefühlen entspringen. Es stellt sich ihnen, mit anderen Worten, folgendes Problem: Wenn die vierte Klasse von Gefühlen „früheren natürlichen Banden oder guten Aufgaben“ (prior Ties of Nature or good Offices) (NCPA 62) entspringt, was macht ihre Erfüllung zu einer moralischen und nicht bloß natürlichen Angelegenheit? Zur fünften Klasse gehören all jene Leidenschaften, „in denen eine der vorigen Arten [von Leidenschaften] verbunden ist mit eigennützigen Affekten, wenn es unser Interesse betrifft.“24 Hutchesons Ziel war es zu _____________ 24
„The Passions of the last Class, are those in which any of the former Kinds [of Passions] are complicated with selfish Passions, when our Interest is concerned.“ (NCPA 64)
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zeigen, dass diese Leidenschaften Modifikationen moralischer Gefühle sind und nicht umgekehrt. Doch zusammen mit der vierten Klasse machen sie die Stärke von Humes Einwänden gegen Hutchesons Theorie nachvollziehbar. Wenn sich Rollen und Pflichten Interessen oder Nutzenerwägungen verdanken – z. B. die Rolle und die Pflichten des Polizisten dem Interesse einer Gesellschaft am Schutz vor Kriminellen –, tut dann die Tatsache, dass solche Rollen und Pflichten einem Interesse entspringen, in irgendeiner Weise ihrer moralischen Bedeutung Abbruch? In der Tat kann man sich fragen, ob denn durch und durch moralische Motive überhaupt je sauber von interessegeleiteten Konventionen getrennt werden können – eine Schwierigkeit, die Hume in seiner berühmten Erörterung über die Keuschheit illustriert. Für Hutcheson rochen solche Fragen nach Mandelville. In Abhebung von diesem und anders als später Hume wollte Hutcheson jedoch gerade zeigen, dass wir von Natur aus und unabhängig von irgendwelchen Konventionen tugendhaft wären, und es nur die verzerrende Gewalt enger Sichtweisen und Begehren ist, die uns davon abkommen lässt. Hutcheson treibt diese optimistische Auffassung auf die Spitze, wenn er argumentiert, dass wir kein Verlangen hätten, Nero zu schaden, wenn ihm seine Fähigkeit, anderen zu schaden, genommen würde. Damit will Hutcheson die folgende stoische Überlegung untermauern: Wo Tugend uns viel kostet, da sind ihre eigenen Freuden um so erhabener. Sie befördert die Freuden des Gemeinsinns, indem sie uns dazu bringt, das Glück der Allgemeinheit so weit als möglich voranzubringen; und Ehre ist ihr natürlicher und normaler Aufseher. Wenn sie die notwendigen Schmerzen auch nicht eliminieren kann, so ist sie doch die beste Unterstützung. Diese moralischen Freuden affizieren uns in einer intimeren Weise als irgendeine andere [Affektion]: Sie bereiten uns Vergnügen an uns selber und lassen uns Geschmack finden an unserer eigentlichen Natur. Dadurch empfinden wir innere Würde und Wert; und wir scheinen solche Freuden zu empfinden, wie sie oft der GOTTHEIT zugeschrieben werden, wodurch wir unsere eigene Vollkommenheit und jene von allem anderen Seienden genießen.25
_____________ 25
„Where Virtue costs us much, its own Pleasures are the more sublime. It directly advances the Pleasures of the publick Sense, by leading us to promote the publick Happiness as far as we can; and Honour is its natural and ordinary Attendant. If it cannot remove the necessary Pains of Life, yet it is the best Support under them. These moral pleasures do some way more nearly affect us than any other: They make us delight in our selves, and relish our very Nature. By these we perceive an internal Dignity and Worth; and seem to have a Pleasure like to that ascribed often to the DEITY, by which we enjoy our own Perfection, and that of every other being.“ (NCPA 107; Übersetzung U. R.)
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Wir müssen also fähig sein, so zu handeln, dass es unserem eigenen Interesse zuwiderläuft, und das kann im Gegenzug zu einem hehren, öffentlichen moralischen Vergnügen führen, das sich selber Belohnung ist. Unterstützt werden wir dabei durch die den Leidenschaften eigene Tendenz, Affektionen zu verlängern und zu verstärken. Dank dieser Eigenschaft können Leidenschaft dazu eingesetzt werden, um den Einfluss von partikulären Interessen zu bannen und den Geist auf öffentliche Empfindungen zu richten. Wenn wir sehen, wie tugendhafte Handlungen zum Nutzen für das Ganze führen, dann wird uns das dazu bewegen, unsere Aufmerksamkeit auf Ideen der Gottheit zu lenken. Doch wie zuvor schon angemerkt wurde, beansprucht Hutcheson keinen Zusammenhang zwischen Vergnügen und der Erfüllung von Interessen einerseits und dem Grad, in dem Vergnügen oder Interessen unsere Handlungen motivieren sollen, andererseits. Es ist eher so, dass wir das System als ein Ganzes sehen und Wohlwollen ihm gegenüber empfinden und dass das ein Gegengewicht bildet zu unseren kleinmütigen Wünschen. Wenn meine Mutter mich schilt für meine schlechten Noten, dann werde ich mich an diese Schelte erinnern, wenn ich im Garten herumlaufen möchte, anstatt drinnen zu studieren. Und Schritt für Schritt beginne ich über meinen Beitrag zur Gesellschaft nachzudenken und reflektiere auf die Wichtigkeit des ganzen Systems. In dieser Weise können unter der Führung des moralischen Sinns stehende Leidenschaften mit der Affektion kooperieren und unser Verhalten auf größere Güter hinlenken.
6. Fazit Der soeben beschriebene Prozess der Hinlenkung unserer Leidenschaften durch den moralischen Sinn auf größere Güter mündet in moralisches Vergnügen. Das Vergnügen, das Tugend bereitet, kann aber nicht die einzige Motivation sein. Tugend muss vielmehr ihr eigener Lohn sein. Die Affinitäten zu Kant sind an dieser Stelle unübersehbar, und generell treffen wir bei Hutcheson die gleiche Anstrengung wie bei Kant an, die Motivationen menschlichen Handelns mit dem uneigennützigen Charakter der Tugend zu versöhnen. Anders als diejenige Kants, ist die Theorie Hutchesons jedoch sowohl sentimentalistisch als auch rationalistisch. Das wird erreicht, indem beides betont wird, das Kognitive oder Rationale und die handlungsleitenden (oder -festlegenden) Aspekte der Affektionen, sowie die zentrale Rolle beider im moralischen Urteilen und im Guten des Sys-
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tems. In Hutchesons frühem Werk finden wir ferner ein instabiles Gleichgewicht zwischen sorgfältig systematisierten Ideen, die er von Shaftesbury übernimmt, und einem Naturrechtsansatz, auf den Hutcheson reagiert. Selbst wenn Hutchesons Ansatz nicht in allen Punkten überzeugend und der Kontext des Naturrechts, auf den er antwortet, für uns in gewisser Weise befremdlich ist, so waren doch das allgemeine Bild der Moral, das Hutcheson vermittelt, wie auch die besonderen Argumente dafür außerordentlich fruchtbar. Hutchesons Verknüpfung der Gefühle mit dem moralischen Sinn, die Betonung, die er auf den unterscheidenden qualitativen Wert moralischer Gefühle legt, die Verbindung positiver moralischer Gefühle mit Weitblick und von moralischer Schlechtigkeit mit Engstirnigkeit – all dies inspirierte die Arbeiten von Adam Smith, David Hume und vielen anderen. Übersetzt von Ursula Renz.
Literatur Hutchesons und Shaftesburys Schriften werden mithilfe von Siglen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die Übersetzungen von Hutcheson ins Deutsche stammen von Ursula Renz. Die verwendeten Siglen sind: BV NCPA SE II/2
– Hutcheson, An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue – Hutcheson, An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections – Shaftesbury, An Inquiry Concerning Virtue, or Merit (Standard Edition II, 2)
Greig, John Young Thompson (Hg.) (1932), The Letters of David Hume, Oxford. Hume, David (1975, zuerst 1777), An Enquiry Concerning the Principle of Morals, in: ders., Enquiries Concerning Human Understanding and the Principles of Morals, hrsg. von Lewis Amherst Selby-Bigge und Peter Nidditch, Oxford. Hutcheson, Francis (2003, zuerst 1728), An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections, with Illustrations on the Moral Sense, hrsg. und eingel. von Aaron Garrett, Indianapolis (=NCPA). – (2004, zuerst 1725), An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, hrsg. von Wolfgang Leidhold, Indianapolis (=BV). – (2006), Logic, Metaphysics and the Natural Sociability of Mankind, hrsg. von James Moore und Michael Silverthorne, Indianapolis. Locke, John (1973, zuerst 1690), An Essay concerning Human Understanding, hrsg. von Peter Nidditch, Oxford. Locke, John (41981), Versuch über den menschlichen Verstand, übers. v. C. Winkler, 2 Bde, Hamburg. Moore, James/Michael Silverthorne (Hg.) (2002), Natural Rights on the Threshold of the Scottisch Enlightenment: The Writings of Gershom Carmichael, Indianapolis.
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Rivers, Isabel (2000), Reason, Grace, and Sentiment: A Study of the Language of Religion and Ethics, Cambridge. Schmitter, Amy M. (2006), 17th and 18th Century Theories of Emotions, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy: URL = http://plato.stanford.edu/entries/emotions-17fh18th/index.html, letzter Zugriff 6. Januar 2008. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of (1981ff., zuerst 1699), An Inquiry Concerning Virtue, or Merit, Standard Edition II, 2, hrsg., übers. und kommentiert von Wolfram Benda, Gerd Hemmerich, Friedrich A. Uehlein, Wolfgang Lottes, Erwin Wolff u. a., Stuttgart (=SE II/2).
David Hume (1711–1776)
Hume: Natur und soziale Gestalt der Affekte Christoph Demmerling und Hilge Landweer Unter den Philosophen der Aufklärung gehört David Hume zu denjenigen, die überaus entschieden für eine Ausweitung der experimentellen Methode des Denkens auf die menschlichen Angelegenheiten und Dinge plädieren. Erfahrung lautet der Grundbegriff, der gegen metaphysische Spekulationen über den Menschen und die menschliche Welt aufgeboten wird. Zentrale Bestandteile seiner Erfahrungswissenschaft vom Menschen sind die Analyse der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten und Affekte. Affekte gehören zur Natur des Menschen, wobei viele Affekte ihre konkrete Gestalt erst im Rahmen von sozialen Prozessen entfalten. Die Realisierung seines Programms nimmt Hume in seinem Treatise of Human Nature (1739/1740) mit dem programmatischen Untertitel Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects in Angriff. Angekündigt hatte er das Programm einer empirischen Erforschung der Erkenntnisfähigkeit und Affekte bereits in dem kurzen autobiografischen Letter to a Physician (1734).1 Eine übersichtliche und geraffte Darstellung seiner Überlegungen zu Gefühlen, die gegenüber den Ausführungen im Traktat (Treatise) allerdings keine nennenswerten Ergänzungen enthält, findet sich in der dritten der Four Dissertations (1757) mit dem Titel Of the Passions.2 Der Frage nach der Rolle der Gefühle, insbesondere der Sympathie, für die Moral schließlich widmet sich nicht nur der Traktat, sondern auch Abschnitte der Schrift An Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751). Die folgenden Überlegungen stützen sich in erster Linie auf Humes Ausführungen im Traktat.
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Vgl. Hume 1932, Bd. 1, 12–18; vgl. auch Hume 1994 (zuerst 1734), 345–350. Hume 1991 (zuerst 1757).
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1. Zur Topografie der Affekte In Buch II seines Traktats über die menschliche Natur geht es Hume um nicht weniger als darum, „die Natur, den Ursprung, die Ursachen und die Wirkungen“ der Affekte aufzuzeigen (vgl. T II, 5). Dieses Ziel entspricht dem grundsätzlichen Anspruch, sich den menschlichen Dingen und Angelegenheiten mit den Mitteln einer experimentellen, erfahrungsbasierten Methode zu nähern. Humes überaus verzweigte Einteilung der Zustände des menschlichen Geistes und der Affekte umfasst drei Grundunterscheidungen: Er trennt erstens die „primären“ bzw. „ursprünglichen“ von den „sekundären“ bzw. „reflexiven“ Eindrücken, zweitens die „heftigen“ von den „ruhigen“ sowie drittens die „direkten“ von den „indirekten“ Affekten.3 Als allgemeiner Begriff für Bewusstseinsinhalte wird der Ausdruck „Perzeption“ verwendet. Bereits in Buch I des Traktats werden alle Bewusstseinsinhalte grundsätzlich in zwei Arten eingeteilt: Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas).4 Beide sollen sich durch ihre Stärke sowie ihre Lebendigkeit voneinander unterscheiden (vgl. T I, 9). Eindrücke sind intensiver und lebhafter als Vorstellungen, welche als schwächere Kopien der Eindrücke angesehen werden. Hume unterscheidet außerdem zwischen einfachen und komplexen bzw. zusammengesetzten Eindrücken und Vorstellungen. Ein Farbeindruck ist beispielsweise ein einfacher Eindruck, während der Eindruck eines unaufgeräumten Zimmers komplex ist, da er sich in Teile zerlegen lässt. Hume geht zudem von einer genauen Übereinstimmung zwischen einfachen Vorstellungen und einfachen Eindrücken aus. Alle einfachen Vorstellungen stammen von einfachen Eindrücken her, die sie in einem bestimmten Sinne ‚repräsentieren‘ (vgl. T I, 13). Diese Eindrücke werden im Gedächtnis ‚gespeichert‘ und können bei Bedarf als Erinnerung ‚abgerufen‘ oder auch mit den Mitteln der Einbildungskraft modifiziert werden. Affekte nun sind Eindrücke einer besonderen Art, was deutlich wird, wenn man sich Humes Unterscheidung zwischen Eindrücken der Sinneswahrnehmung und Eindrücken der Selbstwahrnehmung vergegenwärtigt. Eindrücke der Sinneswahrnehmung entstehen im menschlichen Geist durch den Gebrauch der Sinne, dadurch also, dass wir etwas sehen, hören, riechen oder betasten, aber auch dadurch, dass wir unseren Körper spüren. Man kann an Phänomene denken wie etwa an eine Wahrnehmung, an _____________ 3 4
Vgl. Fieser 1992. Vgl. dazu Broughton 2006.
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ein Stechen in der Brust oder ein Ziehen im Arm oder auch an den von Hume angeführten Gichtanfall (vgl. T II, 4). Entscheidend für Humes Einordnung dieser Phänomene in eine einzige Kategorie ist der Umstand, dass diesen Zuständen des menschlichen Geistes keine andersartigen Wahrnehmungen oder Perzeptionen vorhergehen, auf deren Grundlage sie sich aufbauen oder entstehen würden. Deshalb handelt es sich um primäre oder unmittelbare Eindrücke. Ihnen liegt nichts im engeren Sinne Geistiges zugrunde, vielmehr sind sie unmittelbar auf etwas in der Welt bezogen. Bei den sekundären Eindrücken bzw. den Eindrücken der Selbstwahrnehmung handelt es sich hingegen um Eindrücke, „die aus irgend einem primären Eindruck hervorgehen, entweder unmittelbar oder durch die Vermittlung der Vorstellung derselben“ (T II, 3f.). Hume nennt als Beispiele Kummer und Furcht, die nur unter Mitwirkung und auf der Grundlage anderer Eindrücke entstehen. So kann ein Stechen in der Brust als primärer Eindruck das sekundäre Gefühl des Kummers nach sich ziehen. Zu den sekundären Eindrücken bemerkt Hume: Ein Eindruck wirkt zunächst auf die Sinne ein und läßt uns Hitze oder Kälte, Hunger oder Durst, Lust oder Unlust der einen oder anderen Art empfinden. Von diesem Eindruck erzeugt der Geist ein Abbild, welches bleibt, nachdem der Eindruck aufgehört hat; dies Abbild nennen wir eine Vorstellung. Die Vorstellung der Lust oder Unlust ruft aber weiterhin […] neue Eindrücke – des Verlangens und der Abneigung, der Hoffnung und Furcht – hervor, welche im eigentlichen Sinne Eindrücke der Selbstwahrnehmung [Reflexion] genannt werden können (T I, 17).
Alle Affekte im engeren Sinne sind „sekundäre“ („reflexive“) Eindrücke, die auf primären Eindrücken oder Vorstellungen basieren oder diese voraussetzen. Anders als Hungergefühle, welche durch physiologische Veränderungen im Organismus oder durch sinnliche Reize, denen ein Organismus ausgesetzt ist, direkt hervorgerufen werden können, kann ein Affekt im engeren Sinne nur ausgebildet werden, wenn ihm ein Eindruck oder eine Vorstellung vorhergeht. Diese Verhältnisse zwischen Eindrücken und Vorstellungen einerseits und Affekten andererseits sind es, die im Traktat eingehend diskutiert werden, wobei insbesondere die Mechanismen erläutert werden, die zur Ausbildung von Affekten und zu ihrem Wechsel führen. Die wichtigste Unterscheidung, die Hume in diesem Zusammenhang trifft, ist jene zwischen direkten und indirekten Affekten. Direkt werden die Affekte genannt, sofern sie unmittelbar von angenehmen bzw. unangenehmen Erlebnissen hervorgerufen werden, und zwar auf der Grundla-
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ge eines von Hume „instinktiv“ genannten Vermögens des menschlichen Geistes, das Gute zu ergreifen und das Übel zu meiden. Die Beispiele Humes lauten „Begehren, Abscheu, Schmerz, Freude, Hoffnung, Furcht, Verzweiflung und beruhigende Gewißheit“ (vgl. T II, 5). Ein Gut erweckt Begehren, ein Übel Abscheu; ein gewisses oder wahrscheinliches Gut erweckt Freude, ein gewisses oder wahrscheinliches Übel führt zu Kummer und Traurigkeit, ein ungewisses Gut oder Übel nährt Hoffnung bzw. Furcht (vgl. T II, 178).5 Indirekt sind hingegen Affekte, die auf komplexeren Voraussetzungen basieren; als Beispiele werden unter anderem „Stolz, Kleinmut, Ehrgeiz, Eitelkeit“ genannt. Die indirekten Affekte verdanken sich komplexen Zusammenhängen zwischen Eindrücken und Vorstellungen (vgl. T II, 16). Die Überlegungen, die hinter der Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Affekten stehen, sind jenen nicht unähnlich, welche die Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Tugenden motiviert haben, die später in Buch III des Traktats entwickelt wird.6 Auffällig ist, dass die indirekten Affekte im Unterschied zu den direkten in ihrer Struktur Beziehungen zu anderen Personen und damit Vergesellschaftung voraussetzen. Beide Affektgruppen gehören für Hume genuin zur menschlichen Natur. Direkte und indirekte Affekte greifen auf vielfältige Weise ineinander. Begehren und Abscheu können in Verbindung mit bestimmten Vorstellungen beispielsweise zum indirekten Affekt des Stolzes führen, der wiederum eine Stabilisierung der direkten Affekte nach sich ziehen kann. Diese indirekten Affekte, die immer angenehm oder unangenehm sind, geben aber ihrerseits den direkten Affekten neue Stärke und vergrößern unser Begehren oder unseren Abscheu angesichts des Gegenstandes. So erregt ein schöner Anzug Freude vermöge seiner Schönheit und diese Freude erzeugt die direkten Affekte oder die Eindrücke des Wollens und Begehrens. Stellen wir uns vor, daß diese
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Es gibt allerdings auch direkte Affekte, die nicht in Verbindung mit einem Gut oder Übel entstehen, sondern – wie Hume sagt – „aus einem natürlichen Impuls oder Instinkt, der ganz unerklärlich ist“ (T II, 178). Er nennt in diesem Zusammenhang so heterogene Phänomene wie den Wunsch nach glücklichen Freunden, nach Bestrafung der Feinde sowie Hunger, Wollust und körperliche Begierden. Hier soll es sich um Affekte handeln, die nicht aus einem Gut oder Übel hervorgehen, sondern die ein solches erst erzeugen. Hume schwankt gelegentlich in seinen Einteilungen. So wird der Wunsch nach glücklichen Freunden einmal als direkter Affekt klassifiziert (vgl. T II, 178), während in einem anderen Zusammenhang erwogen wird, ob er nicht in Abhängigkeit von den indirekten Leidenschaften der Liebe und des Hasses gesehen werden muss (vgl. T II, 100f.). Aber das ändert nichts daran, dass die grundsätzliche Unterscheidung von direkten und indirekten Affekten durchaus stimmig ist.
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Kleider uns gehören, so erzeugt jener doppelte Zusammenhang das Gefühl des Stolzes, das ein indirekter Affekt ist, und die Freude, die diesen Affekt begleitet, wendet sich auf die direkten Affekte zurück und verleiht unserem Begehren und Wollen, unserer Freude und Hoffnung einen Zuwachs an Stärke (T II, 178).
Ein in systematischer Hinsicht ebenfalls von Hume diskutiertes Kriterium zur Einteilung der Affekte ist deren Intensität. Hume unterscheidet zwischen ruhigen Affekten wie dem „Gefühl der Schönheit und Häßlichkeit“ zum Beispiel einer Handlung oder eines Gegenstandes und den heftigen Affekten wie Liebe, Hass, Stolz oder Niedergedrücktheit (vgl. T II, 4ff.). Diese Unterscheidung mag problematisch erscheinen, denn auch ein Gefühl der Schönheit kann von großer Intensität sein, während man Stolz durchaus in milder Form verspüren kann. Außerdem ist fraglich, ob die Schönheit einer Handlung oder eines Gegenstandes im engeren Sinne ‚gefühlt‘ werden kann. Hume spricht jedoch sehr vieles, was im menschlichen Geist vor sich geht, als Gefühl bzw. Affekt an. Selbst die Vernunft im Sinne des Vermögens, Schlüsse zu ziehen, wird in die Nähe von Affekten gerückt. So erläutert er die Unterscheidung zwischen Vernunft und Gefühl mithilfe der Differenzierung von ruhigen und heftigen Affekten: Was wir gewöhnlich unter Affekt verstehen, ist eine heftige und spürbare Gefühlserregung im Geiste […]. Unter Vernunft verstehen wir Gemütsbewegungen, die gleicher Art sind, wie die Affekte, die aber ruhiger wirken und keinen Aufruhr in der Gemütsverfassung hervorrufen. Diese Ruhe verleitet uns zu einem Irrtum über ihr Wesen, d. h. sie läßt uns dieselben als reine logische Leistungen unserer intellektuellen Vermögen erscheinen (T II, 176).
Folgt man Humes Wortgebrauch, muss alles dasjenige, was uns in irgendeiner Weise angeht, was uns in irgendeiner Form ‚durch den Kopf geht‘, als Affekt oder Bewegung unseres Gemüts angesehen werden.
2. Indirekte Affekte Hume führt zahlreiche Analysen zu indirekten Affekten durch.7 Paradigmatisch sind seine Überlegungen zum Stolz. Hume betrachtet den Stolz (pride) in einem engen Zusammenhang mit einem Gefühl, für welches heute der Begriff des Minderwertigkeitsgefühls zur Verfügung steht. Humes _____________ 7
Humes Ausführungen über indirekte Affekte betreffen Stolz und Niedergedrücktheit (T II, 3ff.) sowie Liebe und Hass (T II, 60ff.), Wohlwollen und Zorn (T II, 99ff.), Mitleid (T II, 103ff.), Schadenfreude und Neid (T II, 106ff.), Mischungen dieser Gefühle (T II, 116ff.) und abschließend Achtung und Verachtung (T II, 126ff.).
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Ausdruck lautet humility, der in geläufigen Übersetzungen ins Deutsche mit dem Begriff „Niedergedrücktheit“ wiedergegeben wird. Da Hume humility dem Stolz konträr gegenüberstellt, ist damit wohl eine spezifischere Bedeutung verbunden als diejenige, die mit dem Ausdruck „humility“ üblicherweise einhergeht. Die spezifische Form von „Niedergedrücktheit“, die Hume beschreibt, hat jedoch stets mit der Erfahrung der Minderwertigkeit der eigenen Person zu tun. Während man die eigene Person im Stolz aufwertet, erfährt man den Wert der eigenen Person in der Niedergedrücktheit im Sinne Humes, im Minderwertigkeitsgefühl also, als gering. Hume differenziert überdies zwischen dem Objekt der Gefühle, welches im Fall von Stolz und Minderwertigkeitsgefühl stets die eigene Person ist, und der Ursache, anlässlich derer sich diese Gefühle einstellen. Alle von der Person positiv bewerteten Eigenschaften und Gegenstände, über welche die Person verfügt, oder auch eigene Leistungen können als Vorstellungen zur Ursache dieses Gefühls werden. Zu Gefühlen gehören allerdings nicht nur Objekte und Ursachen. Zu ihnen gehören ebenfalls Empfindungen. Von Belang ist insbesondere auch die Art und Weise, in der Gefühle leiblich gespürt werden.8 Eine Besonderheit der Affekte gegenüber anderen Perzeptionen des Geistes bestehe, so bemerkt Hume, „in der Empfindung, die sie uns geben oder in den besonderen Gefühlserregungen, die sie in der Seele hervorrufen, und die eben ihr Sein und Wesen ausmachen“ (T II, 16). Hume geht zwar davon aus, dass Affekte komplexe Zustände des Geistes sind, welche unterschiedliche Aspekte wie Ursache, Objekt und Empfindungsqualität (Lust/Unlust) aufweisen, diese Aspekte sind jedoch nicht voneinander abtrennbar, sondern gehören von vornherein zusammen. Sie stellen – wie alles dasjenige, was zu den Inhalten des menschlichen Geistes gehört – ein engmaschig miteinander verknüpftes Netz dar, das nur analytisch in seine einzelnen Bestandteile zerlegt werden kann. Hume nennt die notwendigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn ein bestimmtes Gefühl vorliegt, und nur alle zusammen sind hinreichend für die jeweilige Emotion. Insofern ist seine Theorie, will man sie auf die Etikettierungen beziehen, die in der Gegenwartsdiskussion verwendet werden, weder als „kognitivistisch“ noch als „Empfindungs-“ oder „Mehrkomponententheorie“ zu bezeichnen, da dann einzelne Komponenten isolierbar wären und ihre Beziehung zeitlich oder kausal definierbar sein müsste. _____________ 8
Zum Begriff und Phänomen des leiblichen Spürens äußern wir uns ausführlicher in Demmerling/Landweer 2007, 20ff.
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Das ist aber bei den Ingredienzien, die Hume für jedes einzelne Gefühl bestimmt, nicht der Fall: Sie können in einer anderen Kombination vorkommen, weshalb sie analytisch unterscheidbar sind, aber es ist nicht so, dass ein einzelner Bestandteil notwendig einen anderen nach sich zöge. So ist das, was Hume als „Ursache“ des Affekts des Stolzes bezeichnet, etwa eine angenehme Eigenschaft oder ein angenehmer Gegenstand, nicht notwendigerweise Auslöser dieses Gefühls, sondern sie bzw. er könnte auch bloße Freude bewirken. Umgekehrt lässt sich allerdings vom Stolz als einheitlichem Phänomen darauf schließen, dass ein angenehmer Gegenstand ihn veranlasst haben muss. Außerdem gehören weitere Situationsbedingungen wie der Objektbezug dazu und, um vorzugreifen, auch der Vergleich mit anderen Personen. Im Rahmen von Humes Analyse des menschlichen Verstandes nehmen Überlegungen zur Frage der Verbindung bzw. Verknüpfung unterschiedlicher Bewusstseinsinhalte bzw. Vorstellungen einen breiten Raum ein (vgl. T I, 20ff.). Leitend in seinen Überlegungen ist der Gedanke, dass durch die Verstandestätigkeit als theoretischem Vermögen die Verknüpfung unterschiedlicher Vorstellungen durch Assoziationsprinzipien wie Ähnlichkeit, raumzeitliche Nähe und Kausalität geleistet wird. Hume entwickelt nun die Auffassung, dass nicht nur Vorstellungen, sondern auch Eindrücke durch Assoziation in einen Zusammenhang gerückt werden, der nicht kontingent ist. Anders als bei der Verknüpfung der Vorstellungen fungiert bei derjenigen der Eindrücke aber die Ähnlichkeit als einziges Prinzip.9 Alle ähnlichen Eindrücke hängen zusammen; sobald einer lebendig wird, folgen gleich die übrigen. Schmerz und Enttäuschung erzeugen Ärger, Ärger Neid, Neid Bosheit, und Bosheit wieder Schmerz, bis der ganze Kreis durchlaufen ist. Ähnlich wendet sich unsere Stimmung, wenn sie durch Freude gehoben ist, naturgemäß zur Liebe, zur Großmut, zum Mitleid, zu Mut, Stolz und anderen ähnlichen Gemütsbewegungen (T II, 12f.).
Schließlich macht Hume in einem weiteren Schritt darauf aufmerksam, dass die Assoziation von Vorstellungen und die Assoziation von Eindrücken sich wechselseitig verstärken. Ein Mensch, der dadurch, daß ein anderer ihm Schaden zugefügt hat, sehr erregt und außer Fassung gebracht ist, findet leicht hundert Gegenstände für Unzufriedenheit, Ungeduld, Furcht und andere unlustvolle Affekten, vor allem dann, wenn er diese Gegenstände an oder in Verbindung mit der Person entdeckt, die Ursache seines ersten Affektes war. Die Faktoren, die den Übergang von Vorstellungen zu Vorstellungen befördern, treffen hier zusammen mit de-
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Die folgende Rekonstruktion verdankt Alanen 2006, 186ff. wesentliche Impulse.
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nen, die [in analoger Weise] auf die Affekte wirken; die Vereinigung beider zu einer einzigen Wirkung gibt dem Geist einen doppelten Impuls (T II, 13).
Dieser doppelte Impuls ist im Zusammenhang mit Gefühlen ein ganz entscheidendes Element.10 Ein Gefühl wie Stolz entsteht, wenn eine Vorstellung, beispielsweise die eines prächtigen Hauses, mit dem Objekt des Gefühls (das als Besitzer des Hauses der Stolze selbst ist) assoziiert wird, und wenn die Vorstellung einiger herausragender Merkmale des Hauses angenehme Eindrücke verschafft, die über die Ähnlichkeitsrelation zu angenehmen Eindrücken bezogen auf den Besitzer des Hauses führen. Die gefühlte Qualität (eine angenehme Empfindung), gehört in ein Netzwerk von anderen Vorstellungen und Eindrücken, mit denen sie von vornherein verknüpft ist. Gefühle sind Bestandteile eines Ganzen von Eindrücken und Vorstellungen, die zusammengehören und durch welche wir uns gemäß den Prinzipien und Mechanismen der Assoziation bewegen. Besonders eindringlich lässt sich das Zusammenspiel der Gefühle sowie der Eindrücke und Vorstellungen, die mit diesen zusammenhängen, am Beispiel der vier von Hume am ausführlichsten untersuchten indirekten Affekte Stolz, Niedergedrücktheit, Liebe und Hass verfolgen. Hume selbst bemerkt, dass diese Affekte ein „Quadrat“ bilden und expliziert die vielfältigen Bezüge, in denen sie zueinander stehen: Wir haben vier Affekte, die gewissermaßen ein Quadrat bilden, regelmäßig miteinander verbunden sind und in gleichen Abständen voneinander stehen. Die Affekte des Stolzes und der Niedergedrücktheit, und ebenso die der Liebe und des Hasses, hängen durch die Identität ihres Objektes zusammen; dasselbe liegt für das erste Affektpaar im eigenen Selbst, für das zweite in irgend einer anderen Person. Diese beiden Verbindungen oder Zusammenhänge bilden zwei entgegengesetzte Seiten des Quadrates. Ferner sind Stolz und Liebe angenehme Affekte, Haß und Niedergedrücktheit unangenehme. Die Gleichheit des Gefühls bei Stolz und Liebe einerseits und bei Niedergedrücktheit und Haß andererseits ergibt eine neue Verbindung; und diese beiden Gleichheiten können vorgestellt werden als die beiden anderen Seiten des Quadrates. Zusammengefaßt: Stolz steht mit Niedergedrücktheit, Liebe mit Haß durch ihre Objekte oder Vorstellungen in Zusammenhang, Stolz mit Liebe, Niedergedrücktheit mit Haß durch die Art der Gefühle oder Eindrücke, die sie erregen (T II, 64).11
_____________ Zum doppelten Impuls vgl. auch T II, 116: „Um den Übergang der Affekte zu ermöglichen, bedarf es eines doppelten Zusammenhanges, nämlich von Eindrücken und von Vorstellungen: ein einfacher Zusammenhang genügt nicht, um diese Wirkungen hervorzubringen.“ 11 Zum Zusammenhang der Gefühle und zu ihren Beziehungen untereinander vgl. auch Baier 1982. 10
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Es gibt Gefühle wie beispielsweise Liebe und Hass, die in dem Sinne einander entgegengesetzt sind, als dass man sie nicht gleichzeitig erleben kann, jedenfalls nicht, sofern sie auf dasselbe Objekt (eine ganz bestimmte andere Person) bezogen oder durch dieselben Ursachen erzeugt (die Vorstellung bestimmter Eigenschaften dieser Person) sein sollen. Andere Relationen zwischen Gefühlen entstehen dadurch, dass sie sich ein Objekt teilen wie Stolz und Niedergedrücktheit oder Liebe und Hass oder eine gemeinsame Qualität aufweisen wie Stolz und Liebe auf der einen und Niedergedrücktheit und Hass auf der anderen Seite. Betrachten wir nun die anderen indirekten Affekte, die Hume nicht als Bestandteile des von ihm so genannten Quadrats nennt, die er aber auch im Zusammenhang mit den vier diskutieren Affekten erläutert. Wohlwollen, Zorn, Mitleid, Schadenfreude, Neid, Achtung und Verachtung – alle diese indirekten Affekte hängen Hume zufolge mit Liebe und Hass, zum Teil auch mit Stolz und Niedergedrücktheit zusammen. Wohlwollen und Zorn können den Affekten Liebe und Hass folgen, da sich Wohlwollen als ein in der Regel mit Liebe verbundener Wunsch nach dem Glück des anderen, Zorn sich in der Regel als mit dem Hass verbundener Wunsch nach dem Unglück des anderen auffassen lässt (vgl. T II, 100). Auch im Mitleid, welches ein Bedauern über das Unglück anderer ist, zeigen sich Spuren der Liebe (T II, 103), während sich in der Schadenfreude als einer Freude über das Unglück anderer Spuren des Hasses finden (vgl. T II, 106). Auch Neid lässt sich im Zusammenhang mit diesem Tableau thematisieren, da Schadenfreude und Neid als ein „entgegengesetztes“ Mitleid gelten können, weil diese Emotionen den Gefühlen dessen, über dessen Schaden man sich freut oder den man beneidet, genau entgegengesetzt sind (vgl. T II, 110). Hume entwickelt die Auffassung, dass Mitleid, Wohlwollen und Liebe bzw. Schadenfreude, Zorn und Hass in Form einer Kette miteinander verbunden sind (vgl. T II, 117). Achtung und Verachtung schließlich sollen auf ganz eigentümliche Weise mit Liebe und Hass zusammenhängen, da Hume die Achtung als ein Gemisch aus Liebe und Niedergedrücktheit, die Verachtung als ein Gemisch aus Hass und Stolz charakterisiert (vgl. T II, 126).12 Wenn wir die Eigenschaften und die Lage anderer betrachten, so können wir dabei von unterschiedlichen Gesichtspunkten ausgehen. Wir können sie daraufhin ansehen, wie sie für sich genommen sind, oder aber wir können sie mit unseren Lebensverhältnissen und Eigenschaften verglei_____________ 12
Vgl. dazu auch Demmerling/Landweer 2007, 38ff.
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chen, und schließlich können die beiden Perspektiven miteinander verbunden werden. Hume nimmt nun an, dass die guten Eigenschaften anderer für sich betrachtet Liebe hervorrufen. Im Vergleich mit unserer eigenen Lage und unseren eigenen Verhältnissen können sie zu Minderwertigkeitsgefühlen führen, wenn wir unsere Lage als schlechter und weniger vorteilhaft ansehen. Achtung rufen andere hervor, sofern beide Gesichtspunkte – Liebe wegen der guten Eigenschaften anderer, Niedergedrücktheit wegen des Mangels dieser Eigenschaften bei einem selbst – miteinander kombiniert werden. Achtung wird in diesem Tableau als eine Mischung aus Liebe und Minderwertigkeitsgefühl konzipiert. Wenn schlechte Eigenschaften aus den genannten drei Perspektiven betrachtet werden, so erzeugen sie Hass, Stolz oder Verachtung. Hume geht davon aus, dass Achtung mit Minderwertigkeitsgefühlen verbunden ist und Verachtung mit Stolz, und dass diese Mischung aus einem stillschweigenden Vergleich der geachteten oder verachteten Person mit uns selbst hervorgeht. Derselbe Mensch könne vermöge seiner Stellung und Begabung entweder Achtung, Liebe oder Verachtung erwecken, je nachdem, ob derjenige, der das Gefühl hat, unter, neben oder über ihm stehe. Das Vergleichen spielt allerdings nicht allein im Zusammenhang mit Achtung und Verachtung eine Rolle, sondern ebenfalls im Kontext der Gefühle der Schadenfreude und des Neides (vgl. T II, 110). Auch deren Entstehung hängt eng damit zusammen, dass Lage und Lebenssituation anderer Menschen mit der jeweils eigenen verglichen werden. Vergleichbarkeit ist eine notwendige Bedingung dafür, beispielsweise Neid empfinden zu können. Menschen in ähnlicher Lage werden eher beneidet als solche, die sich in ganz anderen Umständen befinden. – Humes Überlegungen zur Rolle von Vergleichen machen einmal mehr deutlich, dass Affekte in einen sozialen Raum gehören, der ihnen ihr Gepräge verleiht und zentralen Anteil an ihrer Erzeugung und ihrem Verlauf hat.
3. Gefühlsresonanzen: Zur Rolle von Mitgefühl und Vergleich Nach der Grundunterscheidung zwischen Ursache und Objekt eines Gefühls differenziert Hume weiter die „direkte“ Ursache eines Affekts von dessen „sekundärer Ursache“ (vgl. T II, 47). Die sekundären Ursachen für Affekte sind sozialer Natur, es sind die Überzeugungen, Meinungen, aber auch die Gefühle anderer Menschen. Gefühle, die jemand hat, werden in einem nicht unerheblichen Ausmaß auch durch die Meinungen und Ge-
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fühle anderer geformt, indem letztere erstere verstärken, abschwächen, in Frage stellen oder aufrufen können. So ist es Hume zufolge beispielsweise für unseren Stolz wichtig, dass auch andere Menschen die Güter und Eigenschaften, die uns zum Stolz veranlassen, schätzen und begehrenswert finden. Ist man stolz auf etwas, was von anderen nicht geschätzt oder begehrt wird, wird das Gefühl gemindert, unter Umständen wird es ganz aufhören. Stolz ist derjenige, der insgesamt einen guten Ruf genießt und bei anderen in gutem Ansehen steht: Unser Ruf, unser Rang, unser Name, das sind schwer wiegende und bedeutsame Gründe für den Stolz; ja die anderen Ursachen des Stolzes, Tugend, Schönheit und Reichtum, haben wenig Wirkung, wenn die Meinungen und Anschauungen anderer ihnen nicht Vorschub leisten (T II, 47 f.).
Mit der These, dass die Meinungen und Überzeugungen anderer unsere je eigenen Gefühle beeinflussen, siedelt Hume die Affekte von vornherein in einem sozialen und intersubjektiven Raum an. In der Bewertung von Eigenschaften wie Tugend oder Schönheit folgen wir den Urteilen anderer, aber auch ihren Gefühlen, die sie den genannten Eigenschaften entgegenbringen: Nun ist uns aber nichts natürlicher, als daß wir hinsichtlich dieser Eigenschaften die Meinung anderer uns innerlich aneignen. Dies geschieht sowohl durch Mitgefühl, durch das uns alle fremden Gefühle nahe gebracht werden, als auch durch Überlegung, die uns ein fremdes Urteil als eine Art von Beweis für das, was behauptet wird, ansehen läßt. Fast alle unsere Ansichten werden durch diese beiden Prinzipien, das der Autorität und das des Mitgefühls, beeinflußt (T II, 52).
Gefühlstheoretisch von besonderem Interesse ist die Behauptung, nicht nur die Überzeugungen anderer, sondern vor allem auch deren Gefühle hätten Einfluss auf unsere je eigenen Gefühle. Möglich wird dies auf der Grundlage von sympathy (Mitgefühl). Das Mitgefühl verbindet die Menschen miteinander und ist eng auf den Umstand bezogen, ein wechselseitiges Interesse aneinander zu nehmen und sich als einander ähnliche Wesen wahrzunehmen. Sympathy bereitet den Weg zum Verstehen der Gefühle anderer, indem sie uns – folgt man Hume – im Grunde genommen den Zugang zu deren Gedanken und Gefühlen verschafft. Die Ausdrücke „Mitgefühl“ bzw. „Sympathie“ werden also in Humes Philosophie nicht nur in der heute maßgeblichen Bedeutung verwendet, der zufolge Mitgefühl einen Beitrag dazu leistet, auf die Gefühle anderer mit eigenen Gefühlen zu antworten und in diesem Sinne mit ihnen zu fühlen. In einer der Bedeutungen, in denen Hume den Begriff „sympathy“ gebraucht, führt dieses Prinzip zunächst einmal nur dazu, die Gefühle anderer zu verstehen, indem man sich eine Vorstellung von ihnen macht, um diese in einem
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weiteren Schritt in einen (lebhafteren) Eindruck zu verwandeln (vgl. T II, 52). So kann Sympathie als eine Art von Mechanismus bezeichnet werden, der die „leichte Mitteilbarkeit der Gefühle zwischen einem denkenden Wesen und einem anderen“ ermöglicht (T II, 96). Sie fungiert als ein Instrument der Kommunikation, vermöge dessen Menschen sich ihre Gefühle wechselseitig zu erschließen vermögen. Der Umstand, dass man die Gefühle anderer versteht, hat nun seinerseits einen starken Einfluss auf die je eigenen Gefühle: Die Menschen verhalten sich in ihrem Innern zueinander wie Spiegel. Und dies nicht nur in dem Sinne, daß sie ihre Gefühlsregungen wechselseitig spiegeln; sondern es werden auch die Strahlungen der Affekte, Gefühle, Meinungen wiederholt hin- und zurückgeworfen (T II, 98f.).
Man muss allerdings nicht notwendigerweise dieselben Gefühle haben wie derjenige, dessen Gefühle man versteht. Die soziale Dynamik, welche durch das Mitgefühl und die sozialen Verbindungen der Menschen entsteht, ist komplexer. Hume bezieht sich mit dem Ausdruck der Sympathie auf die Wirkungen, welche die Gefühle anderer auf die jeweils eigenen Gefühle haben, und er bemerkt lapidar: Affekte hätten keine Macht, „sähen wir bei ihnen gänzlich von den Gedanken und Gefühlen anderer ab“ (T II, 97). Es kann zwar sein, dass wir die Lust dessen teilen, der sich an seinen Reichtümern erfreut, anlässlich der Freude des anderen an seinen Reichtümern können sich jedoch auch ganz andere Gefühle einstellen, je nach der Lage, in welcher wir uns selbst befinden. Die Lust eines Reichen an seinen Besitztümern muss nicht Lust, sie kann auch Neid erregen; seine Lust kann auch Niedergedrücktheit in uns hervorrufen, wenn wir uns etwa aufgrund eines Mangels an Besitztümern, verglichen mit der beneidenswerten Lage des Reichen, klein und armselig vorkommen. Neben der Sympathie im Sinne der Fähigkeit, die Gefühle anderer zu verstehen, ist es das Prinzip des Vergleichs, welches einen maßgeblichen Einfluss auf unser Gefühlsleben hat. Erst beide Prinzipien zusammen erlauben eine Prognose, welches Gefühl aufgrund der Struktur der Situation wahrscheinlich ist. Das Vergleichsprinzip ist ein fundamentales Prinzip der menschlichen Natur, welches in ganz verschiedenen Zusammenhängen zur Anwendung kommt. Auch unser Sinn für uns selbst, unser Selbstwertgefühl, hängt mit Vergleichen zusammen.13 Dies ist beim Stolz bereits deutlich geworden. Neben Gegenständen und Handlungen als Ursachen werden ebenfalls die Reaktionen anderer Menschen auf die betreffenden Gegenstände und _____________ 13
Vgl. Postema 2006, 378. Zur Rolle von Sympathie und Vergleich siehe James 2005.
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Handlungen wahrgenommen, und es spielt für die eigenen Affekte eine Rolle, wie andere reagieren. Die Gefühle anderer wandern in die eigenen Reaktionen ein und beeinflussen so auch die Selbstwahrnehmung. Nun ist Hume kein ausgemachter Sozialtheoretiker des menschlichen Geistes, dem zufolge das Gesamtgefüge des Geistes sich ausschließlich aus intersubjektiven Beziehungen ergäbe. Die Konstitution des Geistes gründet in der Natur, was von Hume vielfach akzentuiert wird und auch für Gefühle gilt. Dies wird insbesondere in den Passagen des Traktats deutlich, in denen Hume sich mit Gefühlen bei Tieren beschäftigt, etwa mit Stolz und Niedergedrücktheit, Liebe und Hass bei Tieren (vgl. T II, 56–59, 133– 135). Verständlicher wird das, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Hume den Tieren nicht nur Affekte, sondern auch Vernunft zuschreibt (vgl. T I, 237–240) und dass seine Beobachtungen zu Tiergefühlen außerordentlich anthropomorph sind (vgl. T II, 57). Die Überlegungen zu Gefühlen bei Tieren sprengen nicht die sozialtheoretische Ausrichtung der Gefühlstheorie, sie sind vielmehr Humes grundsätzlicher Option für eine im weitesten Sinne ‚naturalistische‘ Sicht der Dinge geschuldet.14 Der Mensch ist ein Teil der Naturordnung und wie die Tiere durch diese Ordnung bestimmt. Die Bestimmtheit durch die Natur und deren Ordnung drückt sich unter anderem in den jeweiligen affektiven Dispositionen von Menschen, aber auch von anderen Organismen aus, in bestimmten Situationen so und so zu reagieren. Aber dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass Gefühle erst im Rahmen sozialer Beziehungen ihre vollständige Ausbildung erfahren. Denn Affekte können als die innere Organisationsform eines Wesens gelten, welches in seiner Natur durch soziale und kommunikative Beziehungen bestimmt wird. Sympathie und Vergleich müssen für die Gestaltungen der je eigenen Gefühle als maßgebliche Faktoren angesehen werden. Als natürliche Phänomene gehören diese von vornherein in einen sozialen Rahmen und ergeben sich nicht allein auf der Grundlage externer kausaler Einflüsse oder innerpsychischer Mechanismen. Stattdessen erhalten Gefühle als gestalthafte Ganzheiten erst im Rahmen sozialer und intersubjektiver Praktiken ihre endgültigen Konturen. Dies zeigt sich auch in Humes moralphilosophischen Überlegungen, die eng mit seiner Konzeption der Affekte zusammenhängen.
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Smith 1905.
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4. Gefühle, Normen, Moral Humes Analysen zu den Affekten in Buch II des Traktats lassen sich als Beiträge zu einer philosophischen Psychologie betrachten, sie können jedoch auch im Kontext seiner Handlungstheorie gelesen werden, die in Buch III entwickelt wird. Hume erkennt Gefühlen eine besondere Rolle im Zusammenhang mit Fragen der Handlungsmotivation zu. Außerdem hängen moralische Urteile wie beispielsweise jene des Billigens und Tadelns eng mit Gefühlen zusammen, Hume spricht sogar explizit von den Gefühlen der Billigung und des Tadels (vgl. T II, 331). Tugendhafte Handlungen werden beispielsweise mit Gefühlen wie Stolz und Liebe gebilligt, während lasterhafte Verhaltensweisen oder Eigenschaften mit Gefühlen wie Hass und Niedergedrücktheit getadelt werden. Hume zufolge unterliegen unsere gefühlsmäßigen Reaktionen auf Umstände, Situationen, Eigenschaften oder Handlungen normativen Kriterien, die letztlich auch das Reich der Moral betreffen. In der Tradition von Shaftesbury und Hutcheson bezeichnet Hume die Quelle dieser Kriterien als „sittlichen Geschmack“ (T II, 334). Wer Geschmack besitzt, der urteilt und fühlt, wie man urteilen und fühlen sollte.15 Lassen sich die Kriterien dessen, der über Geschmack verfügt, seinerseits noch einmal rechtfertigen? Woher stammen diese Kriterien? Das ist ein Problem, welches sich Hume im Grunde genommen nicht stellt. An keiner Stelle im Traktat – und auch nicht in anderen Schriften – verfolgt er ein Rechtfertigungsprogramm für Normen, die dem Geschmack zugrunde liegen. Geschmack, so könnte man seine Idee erläutern, ist eine Art von impliziter Übereinkunft innerhalb einer Gruppe. Allen Gruppen gemeinsam ist, dass sie überhaupt einen moralischen Sinn (moral sense) ausbilden, und dass dieser auf der sozialen Struktur (Vergleich und Sympathie) zumindest aller indirekten Affekte beruht. Ohne diese gesetzmäßigen und deshalb natürlichen Beziehungen zwischen einzelnen Affekten besäße der moralische Sinn keine Verankerung in der menschlichen Natur, und genau diese ist es, die allzu große Abweichungen in der Ausbildung des moral sense verhindert. Anders als andere Philosophen sucht Hume nicht nach einem Beurteilungsprinzip für moralische Handlungen (wie nach ihm etwa Kant) oder nach Rechtfertigungsgründen der Moral (wie vor ihm zum Beispiel Hutcheson), die sich von der konkreten Motivationslage eines Individuums _____________ 15
Vgl. zum Folgenden auch Klemme 2007, 120ff.
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loslösen lassen. Gerechtfertigt sind moralische Urteile und Gefühle dann, wenn sie im Rahmen sozialer Beziehungen von anderen als angemessen angesehen werden. Gefühle (und Wünsche) motivieren uns zu unseren Handlungen und benötigen keine im engeren Sinn externen Instanzen zur Prüfung ihrer Richtigkeit oder Angemessenheit. Hume geht schlicht von der Beobachtung bestimmter Regelmäßigkeiten aus. So wie Regen regelmäßig dazu führt, dass die Straße nass wird, so rufen herausragende Besitztümer bei demjenigen, der sie besitzt, regelmäßig Stolz hervor, bei den anderen Bewunderung, Achtung oder Neid. Tugendhafte Handlungen werden regelmäßig gebilligt und mit Wohlwollen betrachtet, lasterhafte Handlungen werden verabscheut und missbilligt. Die Gleichförmigkeit solcher Reaktionen hängt Hume zufolge mit sozialen Bedingungen zusammen. Bereits unsere scheinbar unmittelbaren Eindrücke und Gefühlsreaktionen setzen Werte voraus, die auf der Grundlage der menschlichen Natur in einer sozialen Gemeinschaft erzeugt, stabilisiert und geteilt werden.16 Man kann beispielsweise Situationen, in denen es angemessen ist, Stolz zu empfinden, von solchen unterscheiden, in denen das Gefühl des Stolzes unangemessen ist. Diese Unterscheidung lässt sich treffen, zunächst einmal ganz unabhängig von der Frage, welche Kriterien der Unterscheidung zugrunde liegen und wie sich diese Kriterien gegebenenfalls begründen lassen. Nehmen wir an, jemand empfindet große Lust beim Essen von Rinderrouladen. Nehmen wir weiter an, er selbst ist in der Lage, ein außerordentlich gutes Rouladengericht zuzubereiten. Die Lust beim Essen der Roulade führt ihn zu angenehmen Empfindungen, die auf ihn selbst bezogen sind, da er das Rouladengericht ja selbst gekocht hat. Er ist stolz darauf, die Rouladen zubereitet zu haben. Sollten Gäste zum Essen anwesend sein, die das Gericht loben, vielleicht sogar begeistert sind, wird dies dazu führen, den Stolz des Kochs zu verstärken. Bereits bei der Beurteilung einfacher Geschmacksempfindungen spielen Werte eine Rolle, die im Rahmen sozialer Kontexte zum Teil erzeugt, zum Teil stabilisiert werden. Ein Negativtest bestätigt dies. Sind andere der Meinung, das Rouladengericht sei kaum genießbar, empfinden sie vielleicht sogar Ekel, würde sich der Stolz des Kochs eigentümlich ausnehmen. Wahrscheinlich würde er in seinem Stolz irritiert werden und sein Gefühl revidieren. _____________ 16
Die entscheidende Anregung verdankt unsere Rekonstruktion Jessica Spector 2003.
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Damit Dinge oder Eigenschaften zum Anlass für Stolz werden können, müssen sie auch von anderen geschätzt werden. Welche Dinge und Eigenschaften im Einzelnen geschätzt werden und Stolz auslösen können, hängt von den Werten ab, die innerhalb eines bestimmten sozialen Milieus geteilt werden: Dabei stecken in der Gefühlsreaktion bereits Werte. Wenn jemand Stolz empfindet, weil er gerade durch eine Prüfung gefallen ist, würde dies allerorten auf Unverständnis stoßen; schlimmstenfalls würde diese Emotion als Ausdruck eines psychischen Defekts angesehen. Dass man durch eine Prüfung fällt, ist nichts, was den Stolz rechtfertigt. Es passt nicht in das sozial etablierte System der Werte, die Gefühlsreaktionen angemessen oder unangemessen machen. Stolz als angenehmes Gefühl bezogen auf sich selbst ist nur dann angemessen, wenn die Qualität des Objekts oder Sachverhalts, das bzw. der auf einen bezogen ist, erfreulich ist. Stolz auf etwas, das unerfreulich ist, ist strukturell nicht möglich. Der Umstand, dass alltagssprachlich einfachste Gefühlsregungen als „richtig“ bzw. „falsch“ bezeichnet werden können, deutet darauf hin, dass zumindest minimale normative Gesichtspunkte im Zusammenhang mit Gefühlsregungen relevant sind, auf deren Basis sich dann auch der „sittliche Geschmack“ etabliert. Was für den Stolz gilt, trifft selbstverständlich auch für andere Gefühlsreaktionen zu, eben auch für diejenigen, die, wie die moralischen Reaktionen, mit dem Billigen und Tadeln von Handlungen und Verhaltensweisen einhergehen. Da alle Gefühlsreaktionen, insbesondere auch die Lust und Unlust, die durch die Billigung und Missbilligung von Handlungen entstehen, in ihrer Abhängigkeit von sozialen Umständen erörtert werden, drängt sich die Vermutung auf, Humes Konzept der Moral sei durch und durch relativistisch. Für Hume gibt es allerdings klare Grenzen der geografischen oder auch historischen Relativität der emotionalen Reaktionen von Menschen. Die Beantwortung der Frage nach der Angemessenheit von Gefühlen bedarf zwar eines sozialen Rahmens, die Gefühlsreaktion als solche ist allerdings eine natürliche Reaktion. [W]enn es je etwas gab, das […] natürlich genannt werden könnte, so sind dies unsere sittlichen Gefühle, denn es hat niemals ein Volk […] gegeben, das ganz ohne dieselben gewesen wäre […]. Diese Gefühle wurzeln so tief in unserem Wesen und in unserem Gemüt, daß sie ohne gänzliche Vernichtung des menschlichen Geistes durch Krankheit oder Wahnsinn nicht ausgerottet und zerstört werden können (T II, 216).
Es ist gerade der im weitesten Sinne ‚naturalistische‘ Einschlag der Überlegungen Humes, der ihn zu allgemeinen Annahmen über das Wesen des
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Menschen nötigt. Die Natur sorgt dafür, dass die Menschen weitgehend gleich, auf jeden Fall aber ähnlich sind. Gefühlsreaktionen im Allgemeinen sind ebenso wie moralische Gefühlsreaktionen keine kontingenten Zustände, sondern sie sind wesentlich mit der Unterstellung verbunden, dass andere mit unseren eigenen Reaktionen übereinstimmen, dass sie in Anbetracht einer bestimmten Handlung oder Verhaltensweise in der gleichen Weise wie wir mit denselben Gefühlen wertend Stellung beziehen. Der „moralische Sinn“, von dem Hume spricht, kann deshalb als eine Art Sinn für Angemessenheit bezeichnet werden, und er ist – ebenso wie die Emotionen im engeren Sinne – notwendig an einen sozialen Rahmen gebunden, der seine jeweils spezifische inhaltliche Prägung hervorbringt. Aber innerhalb dieses Rahmens unterstellen wir wenigstens im Prinzip ähnliche Urteile, und selbst, wenn sie im Einzelnen strittig sein mögen, so ist eine Auseinandersetzung darüber doch nur möglich auf der Basis geteilter Gemeinsamkeiten – anderenfalls wäre Verständigung und Argumentation prinzipiell sinnlos. Die oft aufgeworfene Frage, ob Hume als Relativist oder als Universalist zu bezeichnen ist, ist eigentlich falsch gestellt, denn es geht Hume nicht um eine Geltung oder Rechtfertigung moralischer Urteile außerhalb der Situation, auf die sie bezogen sind. Er verteidigt weder einen relativistischen noch einen universalistischen Standpunkt in der Moralphilosophie; im Traktat lassen sich aber sowohl Belege dafür finden, dass moralische Urteile abhängig von der sozialen und kulturellen Situation sind, in der sie gefällt werden, als auch dafür, dass kulturelle Differenzen nur auf der Basis der Ähnlichkeit aller Menschen und der Gemeinsamkeit der menschlichen Natur verständlich sein können. Daraus folgt, dass kulturellen Varianten bestimmte Grenzen gesteckt sind. Um den Gedanken einer Übereinkunft in den Gefühlsreaktionen zu stützen, bemüht Hume ein weiteres Mal den Begriff der Sympathie. Eine Funktion der Sympathie besteht darin, Sachverhalte in einer allgemeinen Perspektive zu betrachten und von eigenen Partikularinteressen abzusehen. Die allgemeine Perspektive ist zwar nicht unbedingt die Perspektive aller, aber doch zumindest die Perspektive vieler, was Hume dadurch zum Ausdruck bringt, dass er die Figur eines „gerechten Betrachters“ einführt, der vor allem diejenigen Handlungen billigt, die das „Wohl der Menschheit“ befördern (vgl. T II, 334). Der Sache nach handelt es sich hierbei um jenen „unparteiischen Beobachter“, der in der Moraltheorie von Adam Smith eine zentrale Rolle spielt. Bei Smith17 soll diese Fiktion ermöglichen, _____________ 17
Vgl. den Beitrag von Christian Strub in diesem Band.
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moralische Urteile kontextunabhängig zu treffen. Auch bei Hume hat die Figur des „gerechten Betrachters“ die Funktion, die mögliche Subjektivität von Urteilen, die auf Gefühlen basieren, abzumildern hin zu der Idee eines gemeinsamen Interesses aller oder doch vieler. Trotz Humes Einsicht in die soziale Relativität von Werten, die damit zusammenhängt, dass Gefühlsreaktionen sich im Rahmen sozialer Praktiken etablieren, ist von vornherein eine gegenläufige Tendenz in seine Überlegungen eingearbeitet, die sich aus der Gleichförmigkeit von Gefühlsreaktionen ergibt und sich der menschlichen Natur verdankt.
Literatur Humes Treatise of Human Nature wird zitiert nach der deutschen Ausgabe Ein Traktat über die menschliche Natur, übersetzt von Theodor Lipps und herausgegeben von Reinhard Brandt – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendete Sigle ist T. Alanen, Lilli (2006), The Powers and Mechanisms of the Passions, in: Saul Traiger (Hg.), The Blackwell Guide to Hume’s Treatise, Oxford, 179–198. Baier, Annette (1982), Hume’s Account of our Absurd Passions, in: The Journal of Philosophy LXXIX, 643–651. Broughton, Janet (2006), Impressions and Ideas, in: Saul Traiger (Hg.), The Blackwell Guide to Hume´s Treatise, Oxford 2006, 43-58. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge (2007), Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart. Fieser, James (1992), Hume’s Classification of the Passions and Its Precursors, in: Hume Studies VIII, 1–17. Hume, David (1985, zuerst 1739/1740), Treatise of Human Nature, hg. von Lewis Amherst Selby-Bigge/Peter H. Nidditch, Oxford. – (1978, engl. zuerst 1739/1740), Ein Traktat über die menschliche Natur, übers. von Theodor Lipps und hg. von Reinhard Brandt, Hamburg (=T). – (1991, zuerst 1757), Four Dissertations and Essays on Suicide and the Immortality of the Soul, Bristol. – (1994, zuerst 1734), A Kind of History of my Life, in: David Fate Norton (Hg.), The Cambridge Companion to Hume, Cambridge, 345–350. – (1932), The Letters of David Hume, 2 Bde, hg. von John Y.T. Greig, Oxford 1932. James, Susan (2005), Sympathy and Comparison: Two Principles of Human Nature, in: Marina Frasca-Spada/P. J. F. Kail (Hg.), Impressions of Hume, Oxford, 107–124. Klemme, Heiner F. (2007), David Hume zur Einführung, Hamburg. Norton, David Fate (Hg.) (1994), The Cambridge Companion to Hume, Cambridge. Postema, Gerald J. (2006), Whence Avidity? Hume’s Psychology and the Origins of Justice, in: Synthese 152, 371–391. Smith, Norman (1905), The Naturalism of Hume, in: Mind 54, 149–173, 335–347. Spector, Jessica (2003), Value in Fact: Naturalism and Normativity in Hume’s Moral Psychology, in: Journal of the History of Philosophy 41/2, 145–163. Traiger, Saul (Hg.) (2006), The Blackwell Guide to Hume’s Treatise, Oxford.
Adam Smith (1723–1790)
Smith: Sympathie, moralisches Urteil und Interesselosigkeit Christian Strub Adam Smiths Reflexionen über Gefühle finden sich in seinem Werk Theorie der moralischen Gefühle (Theory of Moral Sentiments).1 Im Folgenden werden drei Themenkomplexe behandelt, die nicht nur für Smiths gefühlsethischen Ansatz, sondern auch für eine allgemeine Theorie der Gefühle zentral sind: Wie verhält sich ein Gefühl zu seiner Beurteilung (1); was heißt es, an Gefühlen anderer Anteil zu nehmen (2)?; nach welchen Kriterien kann man ein Gefühl als der Situation, auf die es Bezug nimmt, angemessen oder unangemessen beurteilen (3)? Auf den smithschen Ansatz bezogen geht es (1) darum, dass er zwischen Sympathie mit und moralischer Beurteilung von einem Gefühl trennen muss; (2) um sein Konzept der Sympathie als Mitgefühl mit jeder Art von Affekten;2 (3) um sein Konzept des unparteiischen Zuschauers.3 _____________ 1
2
3
Die Theory of Moral Sentiments erschien zuerst 1759; in der 6., von Smith selbst noch revidierten Auflage 1790. Über das Verhältnis der Auflagen zueinander geben erschöpfend Auskunft Raphael und Macfie in der Introduction zu ihrer kritischen Ausgabe von TMS 34–46 und Walther Eckstein in seiner deutschen Übersetzung 277–281; die Abweichungen der verschiedenen Auflagen voneinander sind sowohl im englischen Text der kritischen Edition als auch bei Eckstein mittels Anmerkungen angegeben. Ich benutze im Folgenden die Ausdrücke „Gefühl“ und „Affekt“ ohne Bedeutungsdifferenz, weil sie auch in der deutschen Übersetzung so benutzt werden. Dies ist Smiths undifferenziertem Gefühlsvokabular geschuldet. Am häufigsten benutzt er feeling, es folgen passion, affect, affection, emotion. Die Auswahl sollte für jemanden, der auch nur oberflächlich mit TMS vertraut ist, keine Überraschung sein. Die systematische Verbindung der drei Themenkomplexe habe ich freilich so zu gestalten versucht, dass implizit klar wird, worin sich Smiths Theorie von der ihr ähnlichsten, der seines Lehrers Hutcheson, unterscheidet. Smiths Argumente gegen Hutcheson finden sich in TMS VII.iii.13 und 14. Er stellt Hutchesons Theorie in VII.ii.3.3–14/503–506 und VII.iii.3.4– 11/535–540 dar. Mohr 2005 hat Smiths Theorie aus dieser Perspektive rekonstruiert. – Smith wurde „vielleicht der bedeutendste [Ethiker] seit Aristoteles“ genannt (Falke 2006, 38); zumindest, was die Vielfalt der von ihm diskutierten
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1. Sympathie und moralische Beurteilung (1.) Gegenstand moralischer Billigung und Missbilligung, kurz: moralischer Beurteilung ist eine – über einzelne Situationen hinausgehende – konstante „Gemütsverfassung“ und „Art des Verhaltens“ (TMS VII.i.2/ 448) eines Menschen, also sein „Charakter“. Zu Beginn von TMS erhält man eine andere Antwort: Gegenstand moralischer Beurteilung ist die einzelne emotionale Bezugnahme einer Person 1 auf eine Situation s, in die sie involviert ist. Es widerspricht zunächst dem smithschen Ansatz nicht, Charakter als die typische Summe aller einzelnen emotionalen Bezugnahmen auf verschiedene Situationen zu bestimmen (siehe aber unten (16.)). (2.) Hinsichtlich des Prozesses, an dessen Ende die moralische Beurteilung einer solchen emotionalen Bezugnahme auf Situation s steht, beginnt Smith seinen Text mit einer starken These über das Interesse von Personen an dem, was anderen Personen widerfährt. Jeder Mensch, so Smith, nimmt von Natur aus Anteil am Schicksal anderer. Als Beispiel führt er „das Erbarmen oder das Mitleid“ an; an ihm soll klar werden, dass ausnahmslos jeder Mensch – auch „der ärgste Rohling“ – an dem, was anderen Menschen widerfährt, Interesse nimmt. Anhand dieses Beispiels beschreibt Smith in I.i.1.2 und I.i.1.3/2–4 die Prozedur, die notwendig ist, um mit anderen Sympathie zu empfinden (siehe unten Abschnitt 2). Das Schlüsselwort für die Definition der Sympathie taucht in der unthematischen Ersetzung von „pity or compassion“ durch „fellow feeling for the misery of others“ in I.i.1.3 auf. Zu Beginn von I.i.1.4 wird die entscheidende Verallgemeinerung vorgenommen, die den ersten Satz des Kapitels legitimiert: Gleichgültig, welches Gefühl in einer Person erregt wird, „stets wird in der Brust eines jeden aufmerksamen Zuschauers [siehe dazu Abschnitt III, C. S.] bei dem Gedanken an die Lage des anderen eine ähnliche Gemütsbewegung entstehen“. Allgemein gilt: (S) „Bei allen Affekten, deren das menschliche Gemüt fähig ist, entsprechen die Gemütsbewegun_____________ Themen angeht, steht er Aristoteles nicht nach. Die hier behandelten drei Themen sind zwar für die Charakterisierung der smithschen Theorie sicher unverzichtbar (und im Einzelnen auch in der Forschung schon oft behandelt worden), ihre Behandlung gibt aber keinen Eindruck vom Reichtum von TMS insgesamt; hier hilft nur eigene Lektüre. Zur Orientierung können dem deutschen Leser die Überblicksdarstellungen in Ballestrem 2001, 57–94 und Ballestrem/Brühlmeier 2004, 559–561, 568–575 empfohlen werden. Der sehr gute Sammelband von Fricke/Schütt 2005 behandelt die wesentlichen Themen von TMS, setzt aber die eigene Lektüre voraus; vgl. Strub 2007. Überblicke über die neuere Literatur geben Darwall 1999 und Reitz 2002.
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gen des Zuschauers immer dem Bilde, das dieser sich von den Empfindungen des Leidenden macht, indem er sich in dessen Fall hineindenkt.“ (I.i.1.4/4) Die Definition von Sympathie ist damit sehr einfach: Sie ist ein „Mitgefühl mit jeder Art von Affekten“ (fellow-feeling with any passion whatever) (I.i.1.5/4). Smith unterscheidet ferner zwischen „vollkommener“ und „unvollkommener“ Sympathie: Die gleichsam natürliche Sympathie ist „unvollkommen“; „vollkommen“ ist sie erst dann, wenn man die „Ursachen“ der Affekte, mit denen man sympathisiert, kennt, wenn man weiß, welche Faktoren in der Welt diesen Affekt ausgelöst haben. Die Gesamtheit der Faktoren, die bei einer Person einen Affekt bewirken, nennt Smith „Situation“. Deshalb gilt: „Sympathie entspringt also nicht so sehr aus dem Anblick des Affekts, als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die den Affekt auslöst“ (I.i.1.9 und 10/6f.).4 Nach (S) müsste jede emotionale Bezugnahme von Person 1 auf Situation s, in die sie (Person 1) involviert ist (im Folgenden: E-1), kausal einen entsprechenden sympathetischen Affekt, ein fellow-feeling bei Person 2 (im Folgenden: E-2) erzeugen – und dies nicht nur im Fall der unvollkommenen Sympathie, bei der man die Ursachen von E-1 nicht (genau) kennt, sondern auch bei genauer Ursachenkenntnis. Dies ist freilich doch eine zu „mechanistische“ Theorie.5 Wie würde eine alternative Theorie aussehen? (3.) Wenn die ursprünglichen Affekte desjenigen, der durch ein Ereignis in erster
Linie betroffen wird [=E-1], mit den sympathetischen Gemütsbewegungen des Zuschauers [=E-2] in voller Übereinstimmung stehen, dann werden sie notwendig diesem letzteren als richtig und schicklich und als ihren Anlässen angemessen erscheinen; und umgekehrt, wenn dieser sich in den Fall hineinzudenken sucht und dabei findet, daß diese Affekte nicht mit dem übereinstimmen, was er selbst fühlt, dann erscheinen sie ihm notwendig als unrichtig und unschicklich und als den Ursachen unangemessen, die sie hervorrufen. (I.i.3.1/14)
Person 2 muss also herausfinden, ob ihre eigenen Affekte hinsichtlich Situation s die gleichen sind wie die der unmittelbar betroffenen Person 1. _____________ 4 5
Haakonssen 1981, 45f. sieht hier die wesentliche Erweiterung gegenüber Hume. Vgl. auch deutlich Rolf 2005, 39. Vgl. Sugden 2005, 73. Smith weist auf Fälle hin, in denen eine solche Kausalität nicht existiert: 1. Es geht nicht um die reale Emotion von Person 1, sondern um die Emotion, die wir als situationstypisch erlernt haben und deshalb bei dieser Person voraussetzen dürfen; ob sie diese wirklich hat oder nicht, ist sekundär (I.i.1.10/7). 2. Wir sympathisieren auch mit Toten, d. h. stellen uns ihr elendes Leben vor (I.i.1.13/8f.); vgl. Haakonssen 1981, 46.
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Hier kann der Begriff der Sympathie ersetzt werden durch „direkte emotionale Bezugnahme auf dieselbe Situation“. Ob der materiale Gehalt dieser emotionalen Bezugnahme E-2 derselbe ist wie der von E-1 oder nicht, ist dabei offen. Man kann zwar sagen, dass Person 2 E-2 nicht gehabt hätte, wenn nicht Person 1 E-1 (geäußert) hätte; aber keinesfalls hat die Art und Weise, wie Person 1 sich emotional auf eine Situation s bezieht, irgendeinen direkten Einfluss darauf, wie Person 2 sich emotional auf diese Situation bezieht; man muss also eine Unabhängigkeit beider Bezugnahmen ansetzen. Wenn Person 2 feststellt, dass sie die gleiche emotionale Bezugnahme auf Situation s entwickelt wie Person 1 (wenn also E-1= E-2), dann billigt sie die emotionale Bezugnahme von Person 1; wenn sie feststellt, dass sie nicht die gleiche emotionale Bezugnahme entwickelt, dann missbilligt sie diese emotionale Bezugnahme von Person 1. Das einzige Person 2 zur Verfügung stehende Kriterium, um über die Angemessenheit und Unangemessenheit von E-1 urteilen zu können, ist ihr eigener Affekt E-2; es gibt keine affekttranszendente Bezugnahme auf eine Situation (vgl. I.i.3.10/19).6 (4.) Aus der Gegenüberstellung von (2.) und (3.) ergibt sich ein Problem. Nach (3.) muss die Instanz des Billigens und Missbilligens vollständig von der emotionalen Instanz der Sympathie getrennt werden: Es gibt zwei Arten von emotionaler Bezugnahme auf eine Situation s, aus deren Vergleich durch Person 2 deren moralisches Urteil erwächst. Dann ist aber die Eigentümlichkeit des smithschen Ansatzes, wie er in (2.) beschrieben wurde, nämlich von vornherein zwischen zwei verschiedenen Typen von emotionalen Bezugnahmen zu unterscheiden, dem direkten Affekt für eine Situation s (durch Person 1) und dem sympathetischen Affekt für diesen direkten Affekt (durch Person 2), verloren: Es gibt nur noch eine Klasse von emotionalen Bezugnahmen auf Situationen, und zwischen zwei Exemplaren dieser Klasse wird durch Person 2 verglichen; Ergebnis dieses Vergleichs ist das moralische Urteil von Person 2. Umgekehrt ist aus (2.) nicht zu ersehen, wo eine Beurteilung von E-1 durch Person 2 herkommen sollte: Entweder stammt sie aus einer Instanz, die unabhängig vom sympathetischen Affekt ist, dann wäre man wieder bei Fall (3.), oder aber sie ist dem sympathetischen Affekt gleichsam implizit – dann müsste aber die Struktur dieses sympathetischen Affekts so beschrieben werden können, dass er sowohl billigend als auch missbilligend sein kann. Nach _____________ 6
Dies gegen Haakonssen 1981, 47, der die Situationsbeurteilung für notwendig „open to the public view“ hält; vgl. richtig Rühl 2005, 179.
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(2.) scheint es aber, dass Sympathie und Billigung zusammenfallen; Missbilligung kann hier keinen systematischen Ort haben.7 Smith kann also nicht ausreichend zwischen Sympathie und moralischer Beurteilung (und damit der Differenz zwischen Billigung und Missbilligung im moralischen Urteil) unterscheiden. Die Billigung bzw. Missbilligung darf dem, woraus sie entspringt, also dem sympathetischen Nachvollzug von E-1 durch Person 2, weder völlig fremd noch zu nahe sein. Um das Problem zu lösen, soll folgende, erst einmal recht formelhafte These vertreten werden: Die vergleichende Bezugnahme auf E-1 und _____________ 7
Als erster hat wohl Haakonssen 1981, 51 auf das Problem aufmerksam gemacht; für mich völlig unbefriedigend „löst“ er dieses Problem in typisch analytischer Manier durch die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen von „Sympathie“. Sehr dezidiert ist hier Rolf 2005, der behauptet, „dass im Gefühl der Sympathie ein Urteil über die Angemessenheit dieser Reaktion enthalten ist“ (39): „Mit den Affekten eines anderen zu sympathisieren heißt (!), diese Affekte zu billigen, nicht mit ihnen zu sympathisieren heißt, sie zu missbilligen.“ (40, vgl. 41: „Billigung, die im Gefühl der Sympathie gegeben ist“). Sugden 2005, 76 hat das Problem genau gesehen: „Für Smith ist die Psychologie des Mitgefühls und der Übereinstimmung von Empfindungen eng mit derjenigen der Billigung und Missbilligung verbunden.“ Leider spielt er die Brisanz des Problems für den gesamten smithschen Ansatz herunter, wenn er umstandslos davon spricht, dass Smith mit „Sympathie“ immer nur eine „partielle Identifikation“ mit dem anderen gemeint habe – die dann Luft zum eigenen Urteil lasse: „Wenn Joe in seiner Vorstellung den Platz mit Jane tauscht, nimmt er genügend eigene Charaktereigenschaften mit, um sich fragen zu können, ob seine Gefühle in Janes Situation dieselben wären wie ihre. Missbilligung ist nur möglich, weil die Antwort hierauf negativ sein kann.“ (77, vgl. 78 Anm. 7) Das Folgende ist der Versuch, eine solche „partielle Identifikation“ nicht einfach als Faktum anzunehmen (vgl. Sugden 2005, 79), sondern ihre Notwendigkeit als dem smithschen Sympathiekonzept inhärent zu erweisen. Gelänge dies, ergäben sich weitreichende Konsequenzen für die smithsche Auffassung von Vernunft und Gefühl. Wie Rühl 2005 richtig sieht, ist Smith einerseits abhängig von Humes Konzept der Vernunft als Diener der Affekte: Vernunft kann Affekte explizieren, niemals aber ein eigenständiger Faktor im Kampf der Affekte selbst sein (vgl. Hume, Treatise on Human Nature II,3,3); das Sympathiegefühl ist bei Smith dann ein „Korrekturaffekt“, der „die Stelle ein[nimmt], deren Platz bei Platon, Aristoteles und Stoa die Vernunft einnimmt“: „Gemäß seinen humeschen Prämissen kann aber immer nur ein Affekt einen anderen Affekt hemmen. Dieser Affekt ist die Sympathie“ (Rühl 2005,176f.). Andererseits aber scheint Smith – und das übersieht Haaakonssen 1981, 45–52 völlig, wenn er Smiths Sympathiekonzept nur als Erweiterung des humeschen begreift – Sympathie so auffassen zu wollen, dass sie der Affekt ist, der, wohl als einziger, distanzierende Kraft hat – und damit die Möglichkeit der wohlwollenden Nichtidentifikation mit den Affekten anderer, d. h. der Missbilligung. Insofern ist Sympathie, in klassischer Terminologie gesprochen, ein Zwitter aus Emotion und Vernunft.
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auf dessen sympathetischen Nachvollzug in E-2 darf weder so beschrieben werden, dass das Verglichene zum Objekt, zum Thema des Vergleichenden gemacht wird, noch so, dass eines der beiden Verglichenen, nämlich E-1, das Ergebnis des Vergleichs determiniert. Man kann also nicht mit jemandem sympathisieren und das, womit man sympathisiert, also E-1, auch nicht billigen bzw. missbilligen. Eine moralische Bezugnahme ist eine Bezugnahme, die in eins mit etwas sympathisiert und sich zu dem, womit sie sympathisiert, beurteilend verhält. Das sympathetische Gefühl muss zunächst einmal indifferent gegenüber Billigung und Missbilligung sein – aber so, dass es eines von beiden erzwingt.8 Die Frage, wie die Differenz zwischen Sympathie und Billigung bzw. Missbilligung zu denken ist, soll durch die Erläuterung des smithschen Sympathiekonzepts beantwortet werden.
2. Sympathie – diesseits von Eigen und Fremd. Nichtinvolviertsein in eine Situation (5.) Der Sympathisierende muss sich, so Smith, bemühen, so sehr er kann, sich in die Lage des anderen zu versetzen und jeden noch so geringfügigen Umstand des [Glückes oder] Unglückes nachzufühlen, der möglicherweise jenem begegnen kann. Er muß die ganze Angelegenheit seines Gefährten mit allen ihren noch so unbedeutenden Zwischenfällen gleichsam zu seiner eigenen machen und trachten, jenen in der Phantasie vollzogenen Wechsel der Situation, auf welchen sich seine Sympathie gründet, so vollständig als möglich zu gestalten. (I.i.4.6/23)9
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Lohmann 2005, 91f. spricht treffend vom „impliziten Urteilsgehalt des sympathetischen Billigens“ (und man sollte hinzufügen: „Missbilligens“). Zum Verhältnis von Gefühl und Urteil vgl. auch gut Falke 2006, 43–48. Diese smithsche Beschreibung der Sympathie schließt einen Ansatz wie den von Darwall 1998 aus, der – dem aktuellen common sense folgend (vgl. Sugden 2005, 70–72) – von einer strikten Trennung zwischen Empathie und Sympathie ausgeht: „Empathy can be consistent with the indifference of pure observation or even the cruelty of sadism. It all depends on why one is interested in the other’s perspective. Sympathy, on the other hand, is felt as from the perspective of ‚onecaring‘.“ (261) Entgegen Darwalls Behauptung 262 geht es weder bei Smith noch bei Hume um „empathy“ im definierten Sinn, sondern immer nur um „sympathy“. Vgl. richtig Rühl 2005, 178: „Sympathie im Sinn von Smith ist demgegenüber immer ein Mitgefühl des Betrachters in Harmonie mit dem ursprünglichen Gefühl des Betroffenen.“ Das Problem, mit dem ich mich – behauptend, dass es auch Smiths zentrales Problem ist – hier beschäftige, ist nicht, wie bei Darwall, die Frage, was sich kategorial ändern muss, damit aus einer empathischen eine
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Smith warnt uns, was „die ganze Angelegenheit zu seiner eigenen machen“ nicht heißen kann: Wenn ich mit dir Beileid empfinde, weil du deinen einzigen Sohn verloren hast, und ich deinen Kummer nachzufühlen trachte, dann überlege ich nicht, was ich, ein Mensch von dieser bestimmten Stellung und diesem bestimmten Beruf, erdulden würde, wenn ich einen Sohn hätte und dieser unglückseligerweise stürbe, sondern ich überlege, was ich erdulden würde, wenn ich wirklich du wäre, und ich tausche nicht nur meine Verhältnisse mit den deinen, sondern ich tausche auch die Person und die Rolle mit dir. Ich empfinde darum meinen Kummer durchaus nur um deinetwillen, nicht im mindesten um meinetwillen. (VII.iii.1.4/528f.)
Dennoch kann Sympathie nicht eine Art Verdoppelung der emotionalen Bezugnahme von Person 1 auf Situation s, also E-1 sein. Am Anfang von TMS macht sich Smith Gedanken über unsere Sympathie mit dem Unglück von Geisteskranken, Kindern und Toten (I.i.1.11–13/7–9). Dies sind für ihn Fälle, in denen klar wird, dass unsere Sympathie mit E-1 nur daraus entspringen kann, dass wir unsere eigenen Affekte nicht aufgeben, sondern sie sozusagen in die Person, mit der wir sympathisieren, hineinlegen (I.i.1.13/9). Mit Sympathie kann also nicht die Verdoppelung von E-1 in uns selbst gemeint sein; aber der Sympathisierende kann auch nicht Gefühle haben, die daraus erwachsen, dass er sich vorstellt, wie er in der gleichen Situation s, in der der andere sich befindet, mit seinen Affekten gehandelt hätte – dies wäre gleichsam eine rückwirkende Verdoppelung von E-2. (6.) (5.) versuchte eine Bestimmung der Sympathie entlang des Begriffspaars von „eigen“ und „fremd“ zu geben: Wie viele eigene Affekte dürfen in der Sympathie eine Rolle spielen und wie viele fremde Affekte müssen übernommen werden?10 Mit Smith sollte man hingegen zu denken versuchen, dass die Begriffe „eigen“ und „fremd“ gegenüber dem Sympathiekonzept sekundär sind. Man kann mit diesem Begriffspaar allerdings per negationem beschreiben, was Sympathisieren heißt: Es heißt, von sich selbst vollständig absehen und trotzdem die Vielfalt und Komplexität seiner eigenen Affekte ohne Rückhalt ins Spiel bringen. Oder: Sympathisieren heißt, nur den anderen mit der ganzen Vielfalt und Komplexität seiner Affekte in den Mittelpunkt stellen und dies trotzdem so tun, dass klar ist, dass es neben den Affekten des anderen auch die eigenen gibt. _____________ sympathische Bezugnahme auf andere Personen wird, sondern, wie sympathische Bezugnahmen so beschrieben werden können, dass sie nicht zu fürsorglich werden. Gleichwohl sind Darwalls Ausführungen systematisch äußerst anregend für die folgenden Überlegungen gewesen. Siehe auch unten Anm. 19. 10 Vgl. Haakonssen 1981, 48f. und Sugden 2005, 77–79.
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(7.) Im Anschluss an (4.) soll das Sympathieproblem nochmals unter dem Begriffspaar von Objekt und Subjekt, Thema und Bezugnahme reformuliert werden. Es ist der Vorteil der Formulierung des Sympathiekonzepts mittels der Thematisierungsrelation, dass in ihr klar zwischen zwei Personen getrennt wird, ohne dass die eine oder die andere verschwände: Person 2 bezieht sich auf ein deutlich von ihr Getrenntes, nämlich E-1; E-1 ist ihr Objekt, ihr Thema. Völlig unbefriedigend ist dabei freilich, dass die Thematisierung des Affekts eines anderen zwar vielleicht im Modus eines neuen Affekts von Person 2 vonstatten geht – wie es ja für den sympathetischen Affekt zu fordern ist –, aber nicht klar ist, dass dieser Modus einer des fellow-feeling sein muss. Deshalb ist zu fordern, dass die Bezugnahme auf den Affekt von Person 1 ein intrinsischer Teil des sympathetischen Affekts von Person 2 sein muss – aber so, dass diese Bezugnahme nicht als Thematisierung verstanden werden darf. (8.) Die entscheidende Differenz zwischen einer Person 1, die sich unmittelbar auf eine Situation s bezieht und damit in diese Situation verstrickt, involviert ist und E-1 erzeugt, und Person 2, für die dies nicht der Fall ist, wird von Smith schon gleich zu Beginn von TMS eingeführt. Da wir keine unmittelbare Erfahrung von den Gefühlen anderer Menschen besitzen, können wir uns nur so ein Bild von der Art und Weise machen, wie eine bestimmte Situation auf sie einwirken mag, dass wir uns vorzustellen versuchen, was wir selbst wohl in der gleichen Lage fühlen würden. (I.i.1.2/2)
Smith beginnt I.i.4.6 nochmals mit dem Gebot, sich in den anderen hineinzuversetzen, fährt dann aber in I.i.4.7 mit einem „indessen“ fort: „Der Gedanke, daß sie [die nicht in die Situation Involvierten, C. S.] selbst sich in Sicherheit befinden, der Gedanke, daß sie selbst nicht wirklich die Leidenden sind, drängt sich ihnen immer wieder auf.“ Schließlich heißt es: „[D]enn das geheime Bewußtsein davon, daß doch der Wechsel der Situationen, aus dem das Sympathiegefühl entspringt, nur ein eingebildeter ist, muß das Mitgefühl nicht nur dem Grade nach herabsetzen, sondern es auch in seiner Art verändern und ihm eine ganz andere Beschaffenheit verleihen.“ (24) Das Dilemma zwischen Ähnlichkeitsbehauptung und kateogrialer Differenz ist hier ganz offensichtlich: Werden beide Gefühle zu ähnlich, kollabieren sie tendenziell in eine Identität, werden sie als kategorial verschieden gedacht, ist nicht zu sehen, wie sie so zusammenhängen sollen, dass aus ihnen eine moralische Beurteilung entstehen kann. (9.) Die Schwierigkeit, aber auch die Raffinesse des smithschen Ansatzes liegt darin, dass er die Eigenschaft der Distanziertheit der Sympathiegefühle nicht als ein pures Faktum beschreibt, das auch von jemand Drit-
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tem zu bemerken wäre, sondern als eine Eigenschaft, die zunächst einmal nur derjenige, der sympathisiert, kennt. Dies ist dann nicht mehr trivial, wenn man den Begriff des Interesses ins Spiel bringt. In I.i.4 unterscheidet Smith zwischen zwei grundlegend verschiedenen Arten von Bezugnahmen auf Gegenstände und Situationen der Welt: [E]rstens, wenn die Gegenstände, welche diese Gefühle hervorrufen, an sich betrachtet werden und ohne Rücksicht auf die Beziehung, in welcher sie zu uns oder zu der Person stehen, deren Empfindungen wir beurteilen, oder zweitens, wenn sie gerade mit Rücksicht darauf betrachtet werden, wie sie den einen oder anderen von uns beiden berühren (I.i.4.1/19).
Im ersten Fall geht es um einen „theoretischen“ Bezug auf die Welt – nicht um einen emotionslosen, aber einen solchen des ästhetischen Geschmacks und der Urteilsfähigkeit; es geht um die „allgemeinen Objekte der Wissenschaft und des Geschmackes“ (I.i.4.2/20). Hier ist, wie Smith ausdrücklich betont, keine Sympathie mit anderen Personen, die einen Gegenstand oder eine Situation beurteilen, im Spiel, sondern hier geht es allein um die Angemessenheit des Urteils der anderen Person. Deshalb hat auch die Tatsache, dass es zwischen zwei Personen Diskrepanzen in der theoretisch-ästhetischen Beurteilung gibt, keine Auswirkungen auf die Einschätzung der entsprechenden Person als Person durch die andere Person – oder sollte sie jedenfalls nicht haben (I.i.4.5/22f.). Anders verhält es sich im zweiten Fall, „wenn [die Gegenstände] gerade mit Rücksicht darauf betrachtet werden, wie sie den einen oder anderen von uns beiden berühren“. In diesem Fall wünschen wir als Betroffene aus ganzem Herzen nicht nur die Sympathie anderer, sondern auch die moralische Billigung unserer E-1 durch andere. Dieser Wunsch ist aber trivialerweise nur erklärlich, wenn wir um die Möglichkeit wissen, dass andere Menschen unsere E-1 eben auch nicht billigen können (vgl. I.i.4.5/23). (10.) Smith erklärt uns die Möglichkeit einer Beurteilung11 von E-1, die nicht einfach billigende Verstärkung der Sympathie (E-2) ist, nicht. Der folgende Gedankenschritt ist also als eine Art „Konjektur“ zu betrachten. Der Modus der emotionalen Distanziertheit scheint eine weitergehende Schlussfolgerung zuzulassen. Personen müssen sich bei Bezugnahmen, in denen Situationen „mit Rücksicht darauf betrachtet werden, wie sie den einen oder anderen von uns beiden berühren“ (I.i.4.1/19), immer interessengebunden auf etwas richten. Täten sie es nicht, befänden sie sich nicht im Bereich der Moral, sondern in dem der Theorie bzw. Ästhetik. Wenn ein interessege_____________ 11
Ich lasse das Prädikat „moralisch“ für die hier zu besprechende Beurteilung aus gleich einleuchtenden Gründen weg.
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bundener Bezug auf eine Situation s mit Interessen anderer Personen zuammentrifft – und das tut der sympathisierende Bezug E-2 per definitionem, denn er bezieht sich notwendigerweise auf einen anderen interessegebundenen Bezug auf eine Situation s, nämlich E-1 – dann sind zwei Interessen im Spiel. Wenn das Interesse von Person 2 wirklich ein ernsthaftes Interesse ist, dann hat Person 2 in eins damit ein Interesse, sich dieses Interesse nicht von dem Interesse von Person 1 durchkreuzen zu lassen, d. h. das Interesse, die Chancen auf Erfüllung des eigenen Interesses durch das Interesse des anderen bestenfalls zu steigern, keinesfalls aber hinzunehmen, dass die Chance der Erfüllung des eigenen Interesses gemindert wird. Die eigenen ernsthaften Interessen sind jemandem immer näher als die Interessen anderer. Genau der Ausdruck dieser prinzipiellen Interessenwahrung geschieht in der Beurteilung von E-1, d. h. dem Billigen oder Missbilligen. Die Beurteilung von E-1 ist zunächst einmal nichts anderes als ein Instrument der Stärkung bzw. Verhinderung der Schwächung der Erfüllungschancen der eigenen Interessen. Deswegen fällt sie entweder billigend – nämlich für den Fall, in dem das Eigeninteresse durch das sich in E-1 bekundende Interesse bestärkt wird – oder missbilligend – für den entgegengesetzten Fall – aus. Womit erklärt wäre, wie die faktisch notwendige Zusammengehörigkeit, aber die analytisch mögliche Trennung von Sympathie und Beurteilung möglich ist, und auch erklärt wäre, warum es zwei Typen von Beurteilungen, nämlich Billigung und Missbilligung gibt. Die Distanz dessen, der mit der emotionalen Bezugnahme von Person 1 auf Situation s, also E-1, sympathisiert, muss wirklich so gedacht werden, dass sie die Bedingung der Möglichkeit für ein billigendes oder missbilligendes Urteil ist. Erst sie lässt den Raum, sich auf eigene Interessen zu besinnen. Interessen hat natürlich auch schon der, der sich direkt emotional auf eine Situation s bezieht, in die er involviert ist; aber er hat keine Möglichkeit, sie mit den Interessen anderer zu vergleichen. Das hat erst derjenige, der sich in Distanz zur Situation s befindet. Und erst aus einem solchen Vergleich erwächst die Notwendigkeit des Urteils.
3. Der moralische Standpunkt: Begehren nach Billigung durch den „unparteiischen Zuschauer“ (11.) Personen nehmen bis jetzt nur ihre eigenen Interessen wahr und gleichen sie mit denen anderer Personen ab; Vorbedingung dafür ist wechselseitige Sympathie. Noch kein moralischer Standpunkt, aber wenigstens seine
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über den wechselseitigen Interessenabgleich hinaus notwendige Vorbedingung kommt in dem Moment ins Spiel, in dem man sich der neben der Voraussetzung der allgemein menschlichen Sympathiefähigkeit der zweiten anthropologischen Voraussetzung Smiths zuwendet: dem Bedürfnis – nicht nach Sympathie, sondern – nach Billigung der eigenen emotionalen Bezugnahmen auf Situationen durch andere Menschen. Jemand, der sich bemüht hat, eine Gesellschaft zu unterhalten, wird sich ungemein kränken, wenn er nachher um sich blickt und sieht, daß niemand über seine Scherze lacht als er selbst. Umgekehrt wird ihn die Heiterkeit der Gesellschaft höchst angenehm berühren und er wird diese Übereinstimmung ihrer Empfindungen mit seinen eigenen als den größten Beifall betrachten. (I.i.2.1/10)
Wenig später spricht Smith davon, „daß diese Übereinstimmung der Empfindungen anderer Menschen mit unseren eigenen uns Vergnügen und das Fehlen derselben uns Mißvergnügen bereitet“ (I.i.2.2/11). Nach dem bisher Gesagten kann das Begehren nach der Billigung durch andere Menschen nur so verstanden werden, dass diese die gleichen Interessen haben sollen wie man selbst. Nicht, dass in eins mit diesem Begehren direkt schon eine Art Universalismus gesetzt wäre. Das Bedürfnis einer Person, ihre direkten emotionalen Bezugnahmen auf Situation s von anderen Personen gebilligt zu sehen, heißt zunächst nicht, sie von allen anderen Personen gebilligt zu bekommen – sondern nur von denen, mit denen sie es de facto lebensweltlich zu tun hat. Also führt auch das Begehren nach Billigung nicht zu einem moralischen Standpunkt, sondern nur zu einem Standpunkt, der versucht, die eigenen Interessen dadurch zu festigen und zu stärken, dass man Personen in seinen Umkreis zieht, die genau die gleichen Interessen haben wie man selbst.12 (12.) Es ist allerdings völlig unplausibel, Grenzen für die Gruppe derjenigen anzugeben, mit denen es eine Person in ihrem Leben einmal potenziell zu tun bekommen wird – denn es kann aus prinzipiellen Gründen kein Argument dafür geben, dass es irgendwelche menschlichen Wesen auf der Welt gibt, mit denen sie es nicht zu tun bekommen kann. Deshalb formuliert Smith ein weiteres Postulat – und dies ist das eigentlich entscheidende, um zu einem moralischen Standpunkt zu ge_____________ 12
Das Bedürfnis von Personen, in ihren emotionalen Bezugnahmen auf Situation s gebilligt zu werden, wäre am besten wohl durch eine entsprechende Clanmoral zu befriedigen – eine Möglichkeit, die viele Personen durchaus realisieren: Sich nur noch mit den Menschen zu umgeben, die ihnen schmeicheln. Die von Smith so scharf kritisierte mandevillesche Moraltheorie behauptet genau dies, vgl. VII.ii.4.6–14/513–523, VII.iii.1/525–529.
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langen: das Postulat eines generellen Heilmittels für eine partielle Frustriertheit. Er formuliert dieses Postulat am klarsten in einer Passage, die er für die 6. Auflage von TMS gestrichen hat: Aus der Tatsache, dass eine Person es nicht jedem, mit dem sie es lebensweltlich zu tun hat, recht machen kann, d. h. jedermanns Billigung für ihre emotionalen Bezugnahmen auf Situation s erhalten kann, zieht sie nicht den Schluss, sich zu bemühen, diese anderen davon zu überzeugen, dass ein Interessenabgleich durchaus möglich (und auch für diese anderen wünschenswert) ist. Sie erfindet sich vielmehr eine Instanz, auf deren Billigung sie sich unter ganz bestimmten Umständen verlassen kann, den „unparteiischen Zuschauer“: Wenn wir in die Welt eintreten, dann gewöhnen wir uns aus einem natürlichen Verlangen, allen anderen zu gefallen, daran, unser Augenmerk darauf zu lenken, welches Betragen all den Menschen, mit denen wir umgehen, also unseren Eltern, unseren Lehrern, unseren Gefährten angenehm sein dürfte. Wir wenden uns an jeden einzelnen und verfolgen eine Zeitlang den törichten Plan, die Zuneigung und Billigung eines jeden Menschen zu gewinnen. Erfahrung lehrt uns jedoch bald, daß diese allgemeine Billigung für uns durchaus unerreichbar ist. Sobald wir einmal wichtigere Angelegenheiten zu verwalten haben, dann bemerken wir, daß wir immer, wenn wir dem einen gefällig sind, dadurch fast mit Sicherheit einen anderen beleidigen, und daß wir oft, wenn wir uns nach den Launen eines einzelnen richten, dadurch eine große Anzahl von Menschen ärgern. Das gerechteste und billigste Vorgehen muß in vielen Fällen den Interessen [interests]13 einzelner Personen zuwiderlaufen oder ihren Neigungen in die Quere kommen und diese werden selten genügend Unparteilichkeit besitzen, um die Beweggründe unseres Handelns als sittlich richtig zu empfinden oder um einzusehen, daß unser Vorgehen, so unangenehm es auch für sie gewesen sein mag, doch unserer Situation durchaus angemessen war.
Der Mensch lernt deshalb, sich auf sich selbst zu verlassen, indem er sich vom Urteil anderer mit guten Gründen distanzieren kann: Wir lernen aber bald in unserer eigenen Seele einen Richter zwischen uns und den Menschen unserer Umgebung aufzustellen, um so uns selbst gegen solche parteiischen Urteile verteidigen zu können. Wir stellen uns vor, daß wir unter den Augen eines ganz unparteiischen und gerechten Menschen handeln, der weder zu uns, noch zu denjenigen, deren Interessen durch unser Vorgehen berührt werden, in irgendeiner näheren Beziehung steht, der weder uns noch ihnen Vater, Bruder oder Freund ist, sondern der für uns alle nichts anderes ist, als schlechthin ein Mensch, ein unparteiischer Zuschauer, der unser Verhalten mit derselben Gleichgültigkeit betrachtet, mit welcher wir dasjenige anderer Leute ansehen. Wenn wir uns in die Lage eines solchen Menschen versetzen, und wenn uns dann unsere Handlungen in einem angenehmen Licht erscheinen, wenn wir fühlen, daß ein solcher Zuschauer nicht umhin könnte, alle die Beweggründe gutzuheißen,
_____________ 13
Smiths Gebrauch des Interessenbegriffs mag als schwache Legitimation meiner „Konjektur“ von Smiths Überlegungen in (10.) gelten.
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die unser Verhalten bestimmen, dann mögen die Urteile der Welt noch so ungünstig sein, wir müssen doch mit unserem Betragen zufrieden sein und uns trotz des Tadels unserer Gefährten als würdigen und schicklichen Gegenstand der Billigung ansehen. // Wenn uns umgekehrt der Mensch in unserem Innern verurteilt, dann erscheint uns auch der lauteste Beifall der Menschen nur als ein törichtes, unwissendes Lärmen und wir können dann, sofern wir die Rolle dieses unparteiischen Richters übernehmen, nicht umhin, unsere Handlungen mit der gleichen Unzufriedenheit zu betrachten wie er. (Anm. r zu III.2.31, 128ff./297f.)
Der „unparteiische Zuschauer“ ist also keine Projektion einer alles akzeptierenden vertrauten Person – einer Person, die umstandslos nicht nur mit jeder emotionalen Bezugnahme einer Person sympathisiert, sondern sie auch noch billigt. Das wäre als Extrapolation einer Frustrationserfahrung kein moralischer, sondern ein nicht nur parteiischer, sondern auch noch regressiver Standpunkt, der das Problem, aus dem die Extrapolation entsteht, nicht produktiv bearbeitet, sondern zum Vorwand für Realitätsflucht macht. Der „unparteiische Zuschauer“ muss deshalb eine Figur sein, in welche die imaginierten strukturell gleichen Frustrationserfahrungen anderer und deren Erfindung des „unparteiischen Zuschauers“ miteingegangen sind. Dessen (vorgestellte) Billigung bzw. Missbilligung muss deshalb so beschaffen sein, dass sie nicht nur einen selbst, sondern auch andere Personen davon überzeugen kann, ihre Billigungen und Missbilligungen von emotionalen Bezugnahmen nach dem zu richten, was er, der „unparteiische Zuschauer“, billigt bzw. missbilligt. Darüber hinaus aber müssen sie auch ihre direkten emotionalen Bezugnahmen auf Situationen, also ihre E-1, nach der vorgestellten Billigung bzw. Missbilligung des „unparteiischen Zuschauers“ richten. Denn wenn diese direkten emotionalen Bezugnahmen auf Situationen so sind, wie man sich vorstellt, dass der „unparteiische Zuschauer“ sie billigen würde, ist natürlich die Chance, sie von anderen, die sich ebenfalls den „unparteiischen Zuschauer“ imaginieren, gebilligt zu bekommen, entsprechend höher.14 Deshalb muss der „unparteiische Zuschauer“ als eine letzte und _____________ 14
Vgl. Gibbard 2005, 295f.: „Ich denke, Smith hat recht mit der These, dass Einschätzungen der Angemessenheit und Unangemessenheit einer Emotion direkte Auswirkungen auf eben diese Emotion haben – nicht unausweichlich, aber oft.“ Diese These ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für eine allgemeine Theorie der Gefühle, besagt sie doch, dass in jeder emotionalen Bezugnahme schon die Möglichkeit der Selbstdistanzierung steckt, die es letztlich ermöglicht, dass das Gefühl sich selbst eine Instanz erschafft, die es auf Angemessenheit hin kritisch befragt. Wir halten also nicht nur die Gefühle anderer für angemessen/unangemessen, weil wir, wenn wir es nicht täten, für den „unparteiischen Zuschauer“ nicht mehr billigenswert wären, sondern auch unsere eigenen. Die
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höchste Urteilsinstanz gedacht werden, nach der sich alle diejenigen, mit denen man es jemals zu tun haben wird oder könnte (also tendenziell alle Menschen) freiwillig richten. (13.)Worin unterscheidet sich die Urteilsinstanz des „unparteiischen Zuschauers“ von unseren normalen Urteilen des Billigens und Missbilligens? Offensichtlich darin, dass seine Urteile nicht durch persönliche Interessen verzerrt sind. Der „unparteiische Zuschauer“ ist eine Chiffre für die Einstellung, die jeder vertreten würde, wenn er denn frei von seinen eigenen Interessen eine emotionale Bezugnahme auf Situation s beurteilen würde. Der moralische Standpunkt wäre damit der „allgemeine Standpunkt“, ausgedrückt in der Formel: „angenommen, jeder Mensch würde eine direkte emotionale Bezugnahme auf Situation s in unparteiischer, d. h. interesseloser Weise beurteilen“. Es ginge um einen Zustand der Welt, in dem alle Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten, und sowohl emotionale Bezugnahmen anderer Menschen auf Situation s unparteiisch beurteilen – d. h. zunächst mit deren emotionalen Bezugnahmen sympathisieren und sie dann billigen oder missbilligen –, als auch umgekehrt ihre eigenen emotionalen Bezugnahmen in dieser Weise beurteilt bekommen. In dieser Weise urteilen könnten sie genau dann, wenn sie keine eigenen Interessen hätten, und in dieser Weise beurteilt würden sie von Menschen, die keine Interessen hätten. Das, was alle Menschen begehren, wäre also ein Modus der Interesselosigkeit, in dem ihre Billigung bzw. Missbilligung der emotionalen Bezugnahmen anderer Personen stattfinden soll. Der „unparteiische Zuschauer“ wäre dann jemand, der billigt und missbilligt, obwohl er keine eigenen Interessen hat. Eine solche Beurteilung wäre keine Thematisierung der emotionalen Bezugnahme von Person 1 auf Situation s mehr, sondern deren Nachvollzug _____________ Billigung unserer Gefühle als angemessen/unangemessen durch andere, unsere Billigung der Gefühle anderer als angemessen/unangemessen und die Billigung unserer eigenen Gefühle müssen von demselben Kriterium abhängen: der Billigung des „unparteiischen Zuschauers“. Wenn man Smith diese These unterstellen kann, hätte das allerdings gravierende Konsequenzen für seine gesamte Theorie insofern, als der Modus der Involviertheit in eine Situation vollständig anders beschrieben werden müsste als oben geschehen: Die in eine Situation s involvierte Person ist dann nicht mehr vollständig unfähig zu einem eigenen Urteil; man könnte sich dann durchaus den Fall vorstellen, dass jemand auf eine Situation s emotional so Bezug nimmt, dass er diese Bezugnahme im gleichen Moment missbilligt. Dann ist aber nicht zu sehen, wie die Differenz zwischen dem Urteil der in die Situation involvierten Person 1 und dem Urteil der Person 2, die E-1 von Person 1 beurteilt, als kategoriale beschrieben werden kann.
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in einem anderen Modus, nämlich dem der Interesselosigkeit. Person 1 und Person 2 blieben strikt getrennt, und dennoch würde Person 2 keine eigene Bezugnahme entwickeln, sondern die Bezugnahme von Person 1 noch einmal wiederholen – aber in dieser Wiederholung mit einer kategorialen Differenz, nämlich in einem anderen Modus, dem der Interesselosigkeit. (14.) Dass ein solcher „unparteiischer Zuschauer“ ein Mensch ist, ist schlichtweg undenkbar. Menschliche Wesen ohne eigene Interessen gibt es nicht. Ein billigendes oder missbilligendes Urteil setzte ja nach dem bisher Gesagten immer die Existenz eines eigenen Interesses voraus. Der „unparteiische Zuschauer“ ist deshalb insofern unwirklich, als er mit der direkten emotionalen Bezugnahme von jemandem auf eine Situation s sympathisieren und diese Bezugnahme beurteilen kann, ohne ein eigenes Interesse, aus dem ja erst die Notwendigkeit zu urteilen erwächst (siehe oben (10.)), zu haben. Eine solche Person ist Gott als regulatives Ideal der Moral: das Ideal einer mit allen maximal sympathisierenden Person, die maximal interesselos die emotionalen Bezugnahmen von Personen beurteilt, d. h. billigt oder missbilligt.15 Dass Menschen das regulative Ideal eines maximal sympathisierenden und maximal interesselosen Zuschauers haben, heißt, dass sie darum wissen, dass ihr eigenes Urteil über die emotionalen Bezugnahmen anderer de facto immer interessegesteuert ist – und deshalb auch verzerrt. Menschen können, zumindest wenn sie moralisch urteilen, den Konnex zwischen billigendem bzw. missbilligendem Urteil und Interesse nicht aufbrechen. Dem menschlichen Urteil ist die Verzerrung intrinsisch; interesselose Urteile von Menschen gibt es nur im theoretisch-ästhetischen Bereich, nicht im moralisch-praktischen (siehe oben (9.)). (15.) Man muss dann aber wenigstens beschreiben können, was dieses regulative Ideal eines maximal sympathisierenden interesselosen Gottes in der Bezugnahme von Personen 2 auf die direkten emotionalen Bezugnahmen von Personen 1 bewirkt. Interesselosigkeit ist ein graduierbarer Begriff; man kann also eine Skala der Interesselosigkeit entwerfen. Die _____________ 15
Mit dieser Deutung des „unparteiischen Zuschauers“ widerspreche ich meiner in Strub 2005, bes. 37–39 vorgetragenen Deutung. Dort hatte ich Gott als letzten Kandidaten für den „unparteiischen Zuschauer“ ausgeschlossen, weil ich ihn nicht paradox denken wollte, also als jemanden, der ohne Interessen urteilt. Jetzt nehme ich das Paradox in Kauf, weil es mir der „Instanzentheorie des ‚unparteiischen Zuschauers‘“ in TMS adäquater zu sein scheint. In TMS ist ganz eindeutig der höchste „unparteiische Zuschauer“ Gott (und das Gewissen ein „Halbgott“) (III.2.32–33/194–197).
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Person, die in eine Situation involviert ist, kann sie als involvierte per definitionem nicht billigend oder missbilligend beurteilen; denn da ein Urteil immer ergebnisoffen, d. h. entweder billigend oder missbilligend ist, müsste der Fall vorstellbar sein, dass eine Person emotional auf eine Situation s Bezug nimmt und gleichzeitig genau diese Bezugnahme missbilligt. Diese Vorstellung ist aber absurd.16 Am interessiertesten ist deshalb eine Person 2, die genau in die Situation, in die Person 1 involviert ist, nicht involviert ist, aber in so gut wie alle anderen Situationen, in die auch Person 1 involviert ist; sie hat zumindest die Möglichkeit, für diese eine Situation s das Interesse von Person 1 mit ihrem eigenen Interesse zu vergleichen. Extreme Interesselosigkeit bestünde darin, in keine einzige lebensweltliche Situation verwickelt zu sein, in die die beurteilte Person 1 verwickelt ist oder sein könnte – was nichts anderes heißt, als prinzipiell niemals in eine lebensweltliche Situation verwickelt zu sein; denn für Menschen, die in lebensweltliche Situationen verwickelt sind, kann es niemals von vornherein ausgeschlossen werden, dass sie in eine lebensweltliche Situation geraten, in die eben auch Person 1 gerät. Daraus wäre für Menschen als moralisches Postulat abzuleiten, so viel Interesselosigkeit wie möglich, d. h. wie nach der entsprechenden Situationsgebundenheit für eine Person machbar, walten zu lassen. Deshalb ist es moralisch unbillig, von den Eltern eines Mordopfers in der moralischen Beurteilung des Mörders dieselbe Interesselosigkeit zu fordern wie von einem professionellen Richter. Und deshalb ist auch die Figur des „unparteiischen Zuschauers“ kein Symbol für ein Rollentausch- oder Verallgemeinerungsverfahren (das von jedem vollständig erlernt werden könnte), sondern benennt eine paradigmatische Person.17 (16.) Bis jetzt wurde versucht, das Postulat der Figur des göttlichen „unparteiischen Zuschauers“ als regulativen Ideals moralischer Beurteilungen letztlich aus der Frustrationserfahrung einzelner Personen mit ihrer lebensweltlichen Umgebung plausibel zu machen: Der göttliche „unparteiische Zuschauer“ ist die Figur, welche die menschliche Sehnsucht, nicht _____________ 16 17
Vgl. allerdings Anm. 14. Diese Idee scheint mir hinter Nussbaums Unterscheidung zwischen der „heuristischen“ und der „konstitutiven“ Lesart des smithschen „unparteiischen Zuschauers“ zu stecken (Nussbaum 1990, 344f.), vgl. Griswold 1999, 145f. und Strub 2005, 41f., Anm. 8. Rühl 2005, 208 mit Anm. 45 sieht genau die kontrafaktische Idealität des „unparteiischen Zuschauers“, sieht jedoch kein Problem darin, weiter von Rollentauschverfahren zu sprechen; ein Rollentausch ist jedoch nicht graduierbar und schon gar nicht als regulatives Ideal denkbar.
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unter der partikularistischen Perspektive der anderen zu leiden, wenigstens regulativ ernst nimmt. Smith kennt noch einen anderen, viel direkteren Weg, die partikularistische Perspektive einzelner Personen zu übersteigen: Er ‚implementiert‘ dem Menschen schon im ersten Satz von TMS neben den egoistischen Interessen ein Interesse, das ihn dazu bestimmt, „an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und d[as] ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis [macht], obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein“ (I.i.1.1/1). Mir scheint ein solches Postulat philosophisch weniger interessant zu sein als die in (12.) skizzierte Herleitung.18 Allerdings kann mit ihm geklärt werden, wie das Urteil eines tendenziell interesselosen „unparteiischen Zuschauers“ material beschaffen ist. Ist ein durch die Interessen des Urteilenden nicht verzerrtes Urteil nicht eines, das die emotionalen Bezugnahmen, über die es urteilt, nur noch verdoppelt? Würde im regulativen Ideal des maximal sympathisierenden Gottes nicht genau die Koinzidenz von Sympathie und Billigung wieder auferstehen, die zu bekämpfen war? Schiere Interesselosigkeit reicht auch für Gott nicht aus; es bedarf eines positiven Interesses am Glück derer, deren emotionale Bezugnahmen auf Situation s beurteilt werden. Andernfalls ist nicht zu sehen, wie – über das recht formale Postulat eines maximal sympathisierenden interesselosen, aber urteilenden Gottes hinaus – die „Verdoppelungsfalle“ nicht doch wieder zuschnappen sollte. In (1.) wurde eine Stelle erwähnt, an der als Gegenstand der moralischen Beurteilung nicht einzelne emotionale Bezugnahmen auf Situation s, sondern der „Charakter“ einer Person genannt wird. Dann wäre vielleicht zu sagen, dass auf einer ersten Ebene auch für den maximal sympathisierenden göttlichen Zuschauer Sympathie nicht Billigung erzwingen muss, weil dieser Zuschauer die einzelnen emotionalen Bezugnahmen einer Person immer auf dem Hintergrund ihres gesamten Charakters beurteilen muss: Die wahre Sympathie ist nicht die mit einzelnen emotionalen Bezug_____________ 18
Es handelt sich nicht um zwei verschiedene mögliche Herleitungen eines und desselben Sachverhalts: Die Entwicklung eines nicht-partikularistischen Standpunkts aus Not ist etwas ganz anderes als seine Realisierung aus Freude. Wenn man daraus einen philosophisch interessanten Punkt machen wollte, müsste man von der Verstärkungsfunktion der Solidarität mit den Gefühlen anderer für beide Seiten ausgehen, die Smith in I.i.2/9–14 einführt: Meine Freude wird verstärkt, wenn ich merke, dass andere sich freuen, und die Freude der anderen wird verstärkt, wenn sie merken, dass ich mich freue. Mir scheint aber, dass dieser Verstärkungseffekt, wenn er denn wirklich existiert, nicht für die Entwicklung eines universellen Standpunktes hinreicht.
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nahmen einer Person auf Einzelsituationen, sondern mit ihr in Hinblick auf das Ganze ihrer vorgestellten glückenden persönlichen Biografie. Und da kann es natürlich durchaus sein, dass hinsichtlich des Gesamtcharakters einer Person bestimmte ihrer einzelnen emotionalen Bezugnahmen missbilligt werden müssen.19 Darüber hinaus wäre es leicht, bei moralischen Beurteilungen einzelner emotionaler Bezugnahmen auf Einzelsituationen die Berücksichtigung des Glücks nicht nur einer einzelnen Person, sondern des Gesamtsystems zu fordern – wie es Smith de facto getan hat (vgl. VII.iii.3.16/544). (17.) Bei Smith selbst findet sich, um dieses Problem bezüglich des Urteils des „unparteiischen Zuschauers“ zu lösen, eine andere Redeweise, die mir allerdings systematisch unbefriedigend erscheint: Für ihn gibt es so etwas wie emotional richtige bzw. falsche Bezugnahmen auf Situationen, die von einer Person 1 eingenommen werden können oder nicht. Diese Art von Bezugnahmen nennt Smith „angemessen“ bzw. „unangemessen“ (I.i.3.6/17f.). Smith erklärt allerdings nicht weiter, was die „suitableness to its object“ einer emotionalen Bezugnahme von Person 1 auf eine Situation s, in die sie involviert ist, also eine angemessene E-1, ist. Postuliert Smith einen moralischen Objektivismus dergestalt, dass der „unparteiische Zuschauer“ eine Person 1 danach beurteilt, wie jeder Mensch auf diese Situation s emotional Bezug nehmen müsste, wenn er nicht durch partikulare, seiner jeweiligen Biografie geschuldete Interessen an einer unverzerrten Sicht gehindert wäre? Aber wie soll man herausfinden, wie „jeder Mensch“ auf eine Situation s emotional Bezug nimmt? Jedenfalls bedürfte es dazu seitens des „unparteiischen Zuschauers“ der Sympathie nicht; denn die Sympathie kam ja gerade nicht ohne die ganz partikularen einzelnen Interessen der sympathisierenden Person 2 aus. Ein „jedermann-Verfahren“ ist bei Smith also auszuschließen: Man findet nicht heraus, was die angemessene emotionale Bezugnahme auf eine Situation s ist, wenn man sich überlegt, wie denn jeder Mensch, entkleidete man ihn sozusagen seiner Biografie und damit auch seiner Interessen, emotional auf diese Situation Bezug nehmen würde.20 Der „unparteiische Zuschauer“ ist kein Symbol für ein Verfahren, sondern bleibt eine paradigmatische Person – freilich als für Menschen unerreichbares regulatives Ideal. _____________ Weiterführend sind hier die abschließenden Überlegungen von Darwall 1998, 274–279. 20 Villiez 2005 spricht deshalb geglückt (74 u. 84) von einem „dichten“ Konzept des „unparteiischen Zuschauers“ – und davon, dass Smith sich genau damit von traditionellen „Unparteilichkeitsmodellen“ abhebe. Vgl. auch Sugden 2005, 81. 19
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Literatur Smiths Theory of Moral Sentiments wird zitiert nach der heute maßgeblichen Critical Edition – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendete Sigle ist TMS. Der Text wird nach der standardisierten Zählung der 6. Auflage von 1790 und in deutscher Übersetzung zitiert. I.ii.3.5 bedeutet: Erster Teil, zweiter Abschnitt, 3. Kapitel, 5. Absatz. Da diese Zählung in Ecksteins Übersetzung noch fehlt, wird, getrennt durch einen Schrägstrich, die Seitenzahl der deutschen Übersetzung angegeben. Der englische Originaltext ist mittels der Standardnummerierung leicht zu finden. Ballestrem, Karl Graf (2001), Adam Smith, München. Ballestrem, Karl Graf/Daniel Brühlmeier (2004), Adam Smith, in: Helmut Holzhey/Vilem Mudroch (Hg.), Der neue Überweg: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Basel, 559–575. Darwall, Stephen (1998), Empathy, Sympathy, Care, in: Philosophical Studies. An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 89, 261–282. Darwall, Stephen (1999), Sympathetic Liberalism: Recent Work on Adam Smith, in: Philosophy and Public Affairs 28, 139–164. Falke, Gustav (2006), Mozart oder über das Schöne, Berlin. Fricke, Christel/Hans-Peter Schütt (Hg.) (2005), Adam Smith als Moralphilosoph, Berlin. Gibbard, Allan (2005), Angemessenheit und Mittelmaß – Wie Gefühle und Handlungen aufeinander abgestimmt werden, in: Fricke/Schütt a. a. O., 277–303. Griswold, Charles L. (1999), Adam Smith and the Virtues of Enlightenment, Cambridge. Haakonssen, Knud (1981), The Science of a Legislator. The Natural Jurisprudence of David Hume and Adam Smith, Cambridge. Haakonssen, Knud (Hg.) (2006), The Cambridge Companion to Adam Smith, Cambridge. Lohmann, Georg (2005), Sympathie ohne Unparteilichkeit ist willkürlich, Unparteilichkeit ohne Sympathie ist blind. Sympathie und Unparteilichkeit bei Adam Smith, in: Fricke/Schütt a. a. O., 88–99. Mohr, Georg (2005), ‚Moral Sense‘ – Zur Geschichte einer Hypothese und ihrer Kritik bei Adam Smith, in: Fricke/Schütt a. a. O., 304–330. Nussbaum, Martha (1990), Steerforth’s Arm: Love and the Moral Point of View, in: dies., Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, Oxford, 335–364. Otteson, James R. (2002), Adam Smith's Marketplace of Life, Cambridge. Raphael, David D. (2007), The Impartial Specatator: Adam Smith’s Moral Philosophy, Oxford. Reitz, Tilman (2002), Die Ethik der Marktgesellschaft. Moralphilosophie und Sozialtheorie bei Adam Smith, in: Philosophische Rundschau 49, 245–254. Rolf, Bernd (2005), Selbstliebe und Sympathie. Zur Theorie der ethischen Gefühle von Adam Smith, in: Ethik und Unterricht H. 3, 38–45. Rühl, Ulli F. H. (2005), Moralischer Sinn und Sympathie. Der Denkweg der schottischen Aufklärung in der Moral- und Rechtsphilosophie, Paderborn. Smith, Adam (1976, zuerst 1759), Theory of Moral Sentiments, critical edition, hrsg. von David D. Raphael/Alexander L. Macfie, Oxford (=TMS). Smith, Adam (1994, engl. zuerst 1759), Theorie der ethischen Gefühle, nach der Auflage letzter Hand übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Walther Eckstein, Hamburg [Nachdruck der Ausgabe von 1926 mit erneut erweiterter Bibliografie von Günter Gawlick] (=TMS). Strub, Christian (2005), Gastfreundschaft für den freundlichen Fremden. Selbstschätzung im Ausgang von Adam Smiths Konzept des ‚unparteiischen Zuschauers‘, in:
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Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)
Rousseau: Die Transformation der Leidenschaften in soziale Gefühle Sidonia Blättler Gefühle führen ins Zentrum von Rousseaus Sozialphilosophie. Deshalb sind seine intensiven Beschreibungen einzelner Gefühle und ihrer Rolle im gesellschaftlichen Leben nicht nur für die Theorie und die Geschichte der Affekte von Interesse. Sie zeigen vielmehr, dass die Auseinandersetzung mit den Gefühlen in den Kernbereich von Sozialphilosophie und politischer Theorie gehört und diesbezüglich das Erbe der antiken Tugendlehre unverzichtbarer Bestandteil auch moderner Theoriebildung ist. Gefühle – Leidenschaften, heftige Affekte, ruhige seelische Gestimmtheiten – bestimmen das Verhältnis zwischen Individuen ebenso wie ihr Selbst- und Weltverhältnis. Die soziale Welt konstituiert Gefühle, und Gefühle bilden den Grund alles Sozialen. Kennzeichen beider ist eine unaufhebbare Ambivalenz. Als Voraussetzung einer humanen Existenz, die mit ihrer intersubjektiven Verfassung und der Ausbildung von Gefühlen anhebt, bilden diese zugleich das Potenzial ihrer gänzlichen Zerstörung. Die zivilisatorische Realität seiner Zeit ist für Rousseau geprägt von destruktiven Leidenschaften und Lastern, die den ohnedies prekären Zusammenhang moderner Gesellschaften gefährden (1). Ein erfülltes soziales und emotionales Leben ist in ihr nicht denkbar, sondern hat seinen Ort in einer rückwärtsgewandten utopischen Idylle (2). Da Emotionalität und Sozialität jenes schwankende Entweder-oder strukturieren, das die Schriften Rousseaus so durchgängig charakterisiert, ist eine gesicherte Norm gelungener Existenz, die das Fundament seines umfassenden Erziehungsprogramms zu bilden vermag, nur in einem Jenseits von Emotionalität und Sozialität zu gewinnen, in einer Sphäre, die Rousseau selbst als Fiktion bezeichnet und die sowohl den Fluchtpunkt der Sehnsucht nach Erlösung als auch deren Unmöglichkeit bezeichnet (3).
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1. Zivilisation der Leidenschaften und der Laster Bereits seine erste theoretische Schrift, die Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, enthält die sozialdiagnostische Grundintuition, die Rousseau in seinem sozialphilosophischen, politiktheoretischen und literarischen Werk entfalten, klären und systematisieren wird. In der Vorrede zu seinem Theaterstück Narcisse, dessen Veröffentlichung Rousseau zum Anlass nimmt, auf die von seiner preisgekrönten Abhandlung ausgelöste Kontroverse zu reagieren,1 wiederholt und verschärft er seine Diagnose: Das Fortschreiten der Zivilisation ist gekennzeichnet durch eine Verdichtung und Ausdifferenzierung der Interaktionsverhältnisse, durch Mehrung der Güterproduktion, Steigerung der Handelsbeziehungen, Akkumulation des Wissens und eine Verfeinerung der Künste. Mit der Mehrung der Güter mehren sich die Bedürfnisse, der Bedeutungszuwachs des Handels erzeugt Wettbewerb, die Entfaltung der Wissenschaften und der Künste führt zu Konkurrenz, die soziale Differenzierung erzeugt ein unablässiges Verlangen nach Distinktionsgewinnen, die Funktionalisierung der sozialen Beziehungen spaltet das Individuum in Rollen, die Anonymität der Städte versetzt es in die Unruhe einer unablässigen Selbstdarstellung, die Sein und Schein2 auseinandertreten lässt. Die Menschen sind gefangen in den Erwartungshaltungen anderer und befinden sich dadurch in einer allseitigen Abhängigkeit. Diese Verstrickung in äußere und innere Abhängigkeiten, für die die Sozialphilosophie den Begriff der „Entfremdung“ prägen wird,3 bedeutet eine fundamentale Verunsicherung der eigenen Existenz. Sie geht einher mit einer Entfesselung von Leidenschaften und Lastern: Argwohn, Ehrgeiz, Eifersucht, Eitelkeit, Furcht, Habgier, Neid, Hass, Stolz. „Unsere Seelen“, so lautet das Fazit mit Bezug auf die wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen der Zeit, „sind in dem Maße verdorben, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste vollkommener geworden sind.“ (WK 37) Schon ihre Entstehung, deren Fortschritte die Metropole feiere, sei einzig den Lastern geschuldet: „Die Astronomie entstand aus dem Aberglauben; die Beredsamkeit aus dem Ehrgeiz, dem Hass, der Schmeichelei und der Lüge; die Meßkunde aus dem Geiz; die Naturlehre aus einer eitlen Neugierde; alle, und selbst die Moral, aus dem _____________ 1 2 3
Vgl. Spaemann 1992 (zuerst 1980), 44–47. Vgl. Spaemann 1992, 39ff. Vgl. Honneth 1994, 19; Jaeggi 2005. Für Barth 1959 ist der Begriff der Entfremdung die zentrale, den inneren Strukturzusammenhang bildende Kategorie des Rousseau’schen Werks.
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menschlichen Stolz.“ (WK 45) Die glänzenden Erfolge der Wissenschaften ebenso wie die Verfeinerung der Künste und Sitten breiteten sodann „Blumenkränze“ über diese Leidenschaften aus (WK 34), deren Unwesen vom „einförmigen und betrügerischen Schleier der Höflichkeit“ verdeckt werde (WK 36; vgl. N 153).4 Wissenschaften, Künste und die Norm der Höflichkeit verbergen aber nicht nur die sie antreibenden Leidenschaften und Laster. Indem sie das „Verlangen, sich zu unterscheiden“ (N 154) steigern, vervielfältigen sie vielmehr die Situationen, die Anlass zu heftigen Affekten geben, welche sich durch dauernde Wiederholung zu Dispositionen verfestigen5 und als Laster habitualisieren. „Der blöden Eitelkeit, der niedrigen Eifersucht und allen übrigen Leidenschaften“ (N 160) sei im modernen Stadtleben kaum noch zu entraten. In Übereinstimmung mit der neuzeitlichen, antiaristotelischen politischen Philosophie begreift auch Rousseau die moderne Gesellschaft als ein soziales und politisches Institutionengefüge, dessen Aufgabe es ist, die friedliche Koexistenz von Individuen zu sichern, die aufgrund der veränderten ökonomischen Verhältnisse primär durch ihr Selbstinteresse bestimmt sind. Anders jedoch als die fortschrittsoptimistischen Autoren seiner Zeit, die von einem positiven Effekt der Tauschbeziehungen ausgehen und eine heimliche Konvergenz der konkurrierenden Interessen unterstellen, betont Rousseau deren destruktive Folgen. Dass die „Künste, der Handel, die Gesetze und die anderen Bande, welche unter den Menschen den Knoten der Gesellschaft durch das persönliche Interesse knüpfen“ und „sie in eine wechselseitige Abhängigkeit voneinander bringen“ (N 157) ein gemeinsames Interesse hervorbringen und zum Wohl aller beitragen sollen, dies ist für Rousseau eine verderbliche Fiktion. Zum einen verkennt sie die Realität. Sie täuscht über die Unmöglichkeit hinweg, unter Bedingungen der Konkurrenz und Interessenkollisionen „miteinander zu leben, ohne sich gegenseitig zu beschuldigen, beiseite zu drängen, zu täuschen, zu verraten und zu vernichten“ (N 157). Zum anderen trägt sie, indem sie ihrerseits sozial wirksam wird, zur Lockerung jener Bande bei, welche nicht durch das Selbstinteresse, sondern „durch Achtung und gegenseitiges Wohlwollen gebildet werden“ (N 157, Fußnote). _____________ 4
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Ihre verderbliche Wirkung liege vor allem darin, den „Lastern eine angenehme Färbung und ein gewisses ehrenhaftes Aussehen zu geben, was uns hindert, Schrecken davor zu empfinden“ (N 153). Zur Unterscheidung von akutem Gefühl und Gefühlsdisposition, zwischen denen Rousseau selbst begrifflich nicht differenziert, die sich aber seinen Beschreibungen entnehmen lässt, vgl. Demmerling/Landweer 2007, 25.
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Inbegriff einer Welt des täuschenden Scheins und der ungezähmten Leidenschaften ist für Rousseau das Theater. In seinem Brief an d’Alembert, in dem er gegen die Errichtung eines Theaters in der Republik Genf anschreibt, bildet die Bühne das urbane Leben hyperbolisch ab. Da das Theater ausschließlich vom Rollenspiel lebt, ist es der Ort des Unauthentischen schlechthin. Auf der Bühne erreicht die „Kunst, sich zu verstellen, einen anderen als den eigenen Charakter anzunehmen und anders zu erscheinen, als man ist“ (BA 414), ihren Höhepunkt. Da solche verstellende Selbstdarstellung, nicht anders als im gewöhnlichen Leben, letztlich für Geld und Ruhm geschehe, mache sie Männer zu Betrügern und, schlimmer noch, Frauen zu Prostituierten (BA 425). Dieser „Handel mit sich selbst“ (BA 414), auch wenn er sich in der Sprache der Galanterie, der hohen Leidenschaften und der Gelehrsamkeit zur Erscheinung bringe (BA 382), habe stets „etwas Kriecherisches und Gemeines“ (BA 414). Wie vom Schein, so lebt das Theater von Affekten. Es inszeniert „ein Gemälde der menschlichen Leidenschaften, dessen Urbild in allen Herzen ist“ (BA 350). Um erfolgreich zu sein, müssen sich Stücke an den Bedürfnissen des Publikums orientieren und „seine Neigungen begünstigen“. Die „stark gereizten Leidenschaften“ dürften, so Rousseaus Vermutung, weit eher in „Laster entarten“ (BA 352), denn eine Mäßigung erfahren (BA 350). Das einzige Mittel, die evozierte „Erregung, Verwirrung und Rührung“, jene „Aufwallungen von Lust und Freude“ (BA 353), zu kontrollieren, wäre die Vernunft (vgl. BA 353). Die aber lässt sich nicht effektvoll dramatisieren. Ein Stoiker auf der Bühne wäre unerträglich langweilig oder lächerlich (vgl. BA 350f.). Gegen die der aristotelischen Poetik entnommene und im Anschluss an Corneille (Discours de la tragédie, 1660) von der zeitgenössischen Theaterkritik viel diskutierte Idee der Katharsis, wonach das Durchleiden von Furcht und Mitleid zu einer Läuterung der Leidenschaften und einer Hinwendung des Willens zur moralischen Pflicht führt, vertritt Rousseau die These einer machtvollen Verschwisterung aller Affekte, der die Vernunft, selbst wenn sie sich in Szene setzen ließe, kaum gewachsen ist. Durch ihre wechselseitige Verwobenheit affiziert jede Leidenschaft weitere Leidenschaften. Zustände der affektiven Erregung führen aus sich heraus nicht zum Wunsch nach einer Kontrolle der Affekte, sondern zu einem Verlangen nach Steigerung und Vervielfältigung. Deshalb wird auch das Durchleben von Qualen angesichts zerstörerischer Leidenschaften nicht in Mäßigung münden, sondern allenfalls das Bedürfnis nach angenehme-
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ren Gefühlszuständen wecken. Leidenschaften lassen sich nicht mit Leidenschaften bekämpfen.6 Selbst die Inszenierung erhabener Gefühle bietet keinen Ausweg aus der Verstrickung in die Leidenschaften, von denen das Theater im Übrigen ja lebt: Da „alle Leidenschaften untereinander verschwistert sind“, so Rousseau, und „eine einzige genügt, um tausend andere zu erregen“, ist die Strategie, „eine mit der anderen bekämpfen zu wollen, nur ein Mittel […], das Herz für alle empfänglicher zu machen“ (BA 353). Das Problem ist also nicht, dass das Theater mit Vorliebe verbrecherische Leidenschaften und Laster zur Darstellung bringt, die aufgrund ihrer Bösartigkeit eine verderbliche Wirkung auf die Zuschauer haben könnten. Das Problem liegt vielmehr in der Darstellung von Leidenschaftlichkeit und Emotionalität an sich, die das Publikum in Affektzustände versetzt, es für Gefühle auch im Leben empfänglich macht, den Widerstand gegen die Leidenschaften bricht und eine tugendhafte Disziplinierung der Gefühle verhindert (vgl. BA 385–391).7 Unter den Leidenschaften, die Rousseau thematisiert, kommt der Liebe – sowohl im Brief an d’Alembert wie in seinen anderen Schriften – eine besondere Bedeutung zu. Die Liebe, diese „gefährliche Leidenschaft“ (BA 380), die alles „verdunkelt […], was um sie herum ist“ (BA 398), teilt sich in eine „ehrbare“ und eine „verbrecherische“ (BA 389)8 _____________ 6
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Diese Sicht auf die Leidenschaften bleibt in Rousseaus Werk nicht unwidersprochen. Rousseaus Erziehungskonzept, wie er es im Emil entwickelt, beruht im Gegenteil auf einem – allerdings vom Lehrer strategisch kontrollierten – Einsatz von Leidenschaften: „Über Leidenschaften gewinnt man nur durch Leidenschaften Macht; durch ihr Regiment muß man ihre Tyrannei bekämpfen“ (E 351). Das Konzept einer Lenkung der Affekte durch Leidenschaften ist zudem zentral für die Idee einer Erziehung der Männer durch eine geliebte Frau, die insbesondere Rousseaus Darstellung der Beziehung zwischen Emil und Sophie sowie des Verhältnisses von Julie und St. Preux zugrunde liegt. „Man wird dadurch träge und verzagt, unfähig, gleichermaßen dem Schmerz wie den Leidenschaften zu widerstehen“, heißt es beispielsweise in der Vorrede zu Narcisse (N 155). Im Zweiten Diskurs (UU 155) unterscheidet Rousseau im Gefühl der Liebe den Aspekt des „Geistig-Seelischen“ (le moral) und den Aspekt des „Physischen“ (le physique). Während das „Physische“ ein allgemeines sexuelles Begehren bezeichnet, lenkt und fixiert das „Geistig-Seelische“ dieses Begehren auf einen bevorzugten Gegenstand. Diese Differenz konvergiert nicht mit der Unterscheidung zwischen verbrecherischer und ehrbarer Leidenschaft im Brief an d’Alembert, da das allgemeine Begehren an dieser Stelle auf den Mann im Naturzustand bezogen wird, dem jedes Differenzierungsvermögen abgeht und für den deshalb „jede Frau […] gut ist“ (UU 155). Während das natürliche Begehren nicht gewertet wird, weil es einer gesellschaftsfernen und damit wertfreien Sphäre angehört, er-
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und führt in eben dieser Spannung ins „Reich der Frauen“ (BA 380), dessen allgemeinstes Kennzeichen in Rousseaus Schriften die Ambivalenz ist. Als eine physische, mit sexuellem Begehren aufgeladene Leidenschaft, entwickelt die Liebe eine affizierende und transgressive Gewalt, welche die Integrität sowohl der personalen Identität wie der sozialen Ordnung nachhaltiger zerstört als jede andere Leidenschaft: „Unter den Leidenschaften, die das Herz des Menschen bewegen“, schreibt Rousseau im Zweiten Diskurs, „gibt es eine glühende, ungestüme, die ein Geschlecht dem anderen notwendig macht, eine schreckliche Leidenschaft, die allen Gefahren trotzt, alle Hindernisse überwindet und in ihrer Raserei geeignet erscheint, das Menschengeschlecht zu zerstören“ (UU 153). Die leidenschaftliche Liebe entzieht sich der Kontrolle durch Sitte, Gesetz und Vernunft.9 Sie versklavt Männer wie Frauen, indem sie sie von einem Affekt in den andern (Furcht, Wut, Trauer, Verwirrung, Niedergeschlagenheit, Schmach) treibt.10 Von ihr erfasst, nehmen sie jede Untat in Kauf. Wer von „dieser zügellosen und brutalen Wut gepeinigt“ wird, jede „Scham“ und jede „Zurückhaltung“ verliert (UU 153), verfällt, wie Julie in ihrem dramatischen Konversionsbrief an St. Preux schreibt, einem Zustand des gänzlichen Selbstverlustes und der Selbsterniedrigung, der auch das Verbrechen nicht ausschließt (NH 370). In einem anderen Licht erscheint die Liebe dagegen im fünften Buch des Emil sowie in der Beschreibung der Gemeinschaft von Clarens im Briefroman Julie oder Die Neue Héloïse einerseits, in den politischen Schriften, in denen sie als patriotische Liebe zum Gemeinwesen diskutiert wird, anderseits. In diesen Gemeinschaftskonstruktionen bildet die Lie_____________ scheint die moralische, also gerichtete Liebe vorwiegend in einem negativen Licht. Da sie auf die Werte des „Verdienstes“ und der „Schönheit“ reagiert, unterstützt sie die Dynamik der sozialen Differenzierung und damit Neid, Eifersucht und andere Laster. Zudem bietet sie den Frauen als Objekten der Liebe ein Mittel der Macht: Das „Geistig-Seelische in der Liebe“ sei „ein künstliches Gefühl […], aus der Gewohnheit der Gesellschaft entstanden und von den Frauen mit viel Geschick und Sorgfalt gepriesen, um ihre Herrschaft zu begründen und das Geschlecht dominant zu machen, das gehorchen sollte.“ (UU 155) Diese Äußerung steht nun wieder ganz im Einklang mit den Ausführungen über weibliche Laster und weibliche Tugenden im Brief an d’Alembert. 9 „Blendwerk der Leidenschaften, so bezauberst du die Vernunft, betrügst du die Sittsamkeit und veränderst die Natur, ehe man es wahrnimmt. Man vergißt sich einen einzigen Augeblick im Leben […]: Sogleich zieht uns ein unvermeidlicher Hang fort und bringt uns zu Fall.“ (NH 367) 10 Vgl. NH III, 18. Brief, 353–381.
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be die entscheidende – wenngleich stets ambivalente – motivationale Ressource des sozialen Zusammenhalts. Verschwistert ist sie hier mit den positiv bewerteten sozialen Gefühlen der gegenseitigen Achtung und Güte.
2. Idylle der sozialen Gefühle Die Gegenwelt zur modernen Stadt bildet die ländliche Gemeinschaft. Theatralisch inszeniert Rousseau diesen Gegensatz von Stadt und Land als einen Gegensatz von Laster und Tugend, Elend und Glück, am Ende des vierten Buches des Emil, wenn er Lehrer und Zögling Abschied von Paris nehmen lässt (vgl. E 364), um sie in eine Provinz fernab des zivilisatorischen Lärms zu führen. Ihre Reise, an deren Ende sie Sophie finden, ist zugleich eine Zeitreise zurück in ein goldenes Zeitalter.11 Im Haus von Sophies Eltern werden die beiden „fahrenden Ritter“ (E 449) vom Hausherrn „wie Telemach und Mentor auf der Insel der Kalypso“ empfangen. Durch die Anspielung des Lehrers auf die „Reize der Eucharis“ wird Sophie ein erstes Mal in die Szene einbezogen (E 453). Wenig später fühlt sich Emil in „den Garten des Alkinoos“ (E 461) versetzt. Die ländliche Idylle ist geprägt von Einfachheit, Maß und Ruhe. Ihre Bewohner sind leidenschaftslos, doch nicht ohne Gefühle. Im Gegenteil: Gefühle sind die eigentliche vitale Antriebskraft dieses zurückgezogenen häuslichen Lebens, in dessen Mittelpunkt die Frau als Liebesobjekt steht. Sophie nimmt den Platz jenes Ideals ein, auf das Emil, nach dem Plan des Erziehers, all sein Begehren richten soll.12 Seine Integration in die Gemeinschaft erfolgt _____________ Die Zeitreise, so Steinbrügge 1992, 77ff., endet im Mikrokosmos der um die Frau zentrierten Familie, die ein vorzivilisatorisches Entwicklungsstadium repräsentieren und als solche den Ausgangspunkt einer alternativen moralischen, sozialen und politischen Entwicklung bilden soll, die Konkurrenz und Entfremdung ausschließt. 12 Zwar sei die Liebe nichts weiter als „Sinnestäuschung, Lüge, Einbildung“ (E 354), so der Erzieher Emils. Doch gerade als eine Illusion, die gezielt ins Werk gesetzt werde, erfülle sie die Funktion, den jungen Mann an seine Normen und Werte zu binden und ihnen seine unmittelbaren Triebe zu opfern: „Fragt Euch selbst, ob er mir gehören wird, wenn ich ihm das Mädchen schildere, das ich für ihn bestimmt habe; ob ich imstande bin, ihm die Eigenschaften, die er lieben soll, lieb und teuer zu machen, ob ich alle seine Empfindungen auf das zu lenken verstehe, was er suchen oder vermeiden soll.“ (E 353) Vgl. Wingrove 2000, 70ff., deren Interpretation den politischen Aspekt der Unterwerfung unter die Autorität 11
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über ein heterosexuelles Arrangement, das durch Liebe motiviert ist.13 Clarens zeigt eine vergleichbare Konstellation. Das Leben auf dem Gut ist durchdrungen vom Geist Julies, der idealen Gattin und Mutter, die zur Erzieherin ihres einstigen Geliebten St. Preux wird. Die Gefühle, die die Idylle beleben, sind durch mindestens drei grundlegende Merkmale bestimmt, die sie von den Leidenschaften unterscheiden und denen sie ihre positive Bewertung als „moralische Gefühle“ verdanken. Gefühle unterliegen einer mäßigenden Kontrolle (1), sie sind sozial (2) und sie sind auf ein Ideal hin orientiert (3). (1) „Alle Gefühle, die wir beherrschen, sind erlaubt; alle, die uns beherrschen sind sträflich“ (E 490), so fasst der Mentor seine Belehrungen über den richtigen Umgang mit den Affekten zusammen. Daraus ergibt sich sein Ratschlag: „Sei Mensch! Halt dein Herz in den Grenzen, die dir dein Menschtum steckt!“ (E 491) Während Leidenschaften durch unkontrollierte Heftigkeit und Grenzenlosigkeit charakterisiert sind, die den Menschen einem wilden irrationalen Treiben unterwerfen und ihn ins Elend stürzen,14 verschaffen Gefühle einen unaufgeregten Zustand der Lust, den Rousseau mit Adjektiven wie „süß“, „köstlich“, „ruhig“, „zufrieden“, „reizvoll“, „rührend“, „angenehm“, „harmonisch“, „friedlich“, „bewegt“, „lebhaft“, „zärtlich“, „wehmütig“ beschreibt.15 Die mäßigende Instanz kann die Vernunft sein, ein Gefühl von Scheu und Scham (pudeur) oder ein in der öffentlichen Meinung repräsentiertes Ethos. Diese Instanzen verteilen sich im Rahmen des von Rousseau nach Geschlechtern differenzierten Tugenddiskurses unterschiedlich auf Mann und Frau. Während der Mann, klassisch aristotelisch, seine Gefühle durch die Vernunft kontrollieren soll, behauptet Rousseau für die Frauen ein natürliches Gefühl der Zurückhaltung: Gott wollte das Menschengeschlecht in allen Dingen ehren: gab er dem Mann Neigungen ohne Maß, gibt er ihm zur gleichen Zeit das Gesetz, das sie zügelt, damit er frei sei und sich beherrsche! Lieferte er ihn maßlosen Leidenschaften aus, so verbindet er sie mit der Vernunft, um sie zu beherrschen. Lieferte er die Frau unbegrenzten Begierden aus, so verbindet er sie mit der Scham, um sie in Schranken zu halten. (E 387)
_____________ des Erziehers und seiner Gesetze hervorhebt, der das Begehren und das Idealbild der Geliebten für seine Zwecke instrumentalisiert. 13 Zur Verteidigung der Liebesehe als Norm vgl. E 437. 14 Zum Beispiel B 77. 15 Vgl. zum Beispiel B 77, 167, 169, 170, 171, 172, 453.
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Ausführlich beschäftigt sich Rousseau mit dem Gefühl der Scham und speziell der „geschlechtlichen Scham“ im Brief an d’Alembert.16 Die Scham erscheint hier als eine komplexe, für die Gattung überlebenswichtige sexualökonomische Funktion. Indem sie das Begehren zwischen den Geschlechtern in ein geordnetes Spiel von Aktivität und Passivität, Angriff und Verteidigung, Eroberung und Unterwerfung lenkt, reguliert sie es so, dass es einerseits nicht erlahmt, anderseits den Mann nicht in die physische Erschöpfung treibt.17 Weiter schützt sie den Mann vor narzisstischen Verletzungen.18 Und schließlich trägt sie zur Aufrechterhaltung der männlichen Genealogie bei.19 Rousseau ist bemüht, die weibliche Scham als ein instinktäquivalentes natürliches Gefühl auszuweisen. Als eine innerliche Disposition der Frauen leistet es, was äußerlich durch die soziale Norm der Häuslichkeit hergestellt wird. Die Scham, die der Frau den Blick und das Wort sowie alles andere, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken könnte, verbietet, macht sie unsichtbar wie das Haus, in dem sie verschwindet.20 Die Scham darf das Begehren jedoch nicht auslöschen, denn die Frau muss ihre erregenden Reize um ihrer Antriebsfunktion willen durchaus bewahren. Die Scham selbst, die als ein Zeichen von Naivität, Schwäche und widerstrebender Verführbarkeit zur Mäßigung der sexuellen Gier auffordert, ist es, die sie zugleich anstachelt.21 Der Reiz des Errötens und _____________ BA 418–423; vgl. auch E 386f. Vgl. auch E 387. Zum Beispiel BA 419; E 386. E 390. Im Lob auf die Republik Genf werden Scham und Häuslichkeit explizit miteinander verknüpft. Die sittliche Verfassung des vorbildlichen Gemeinwesens beruhe auf dem Grundsatz, „daß es für die Frauen außerhalb eines zurückgezogenen und häuslichen Lebens keine guten Sitten gibt, […] daß die Würde ihres Geschlechts in seiner Bescheidenheit liegt, daß Scheu und Scham bei ihr nicht von Ehrbarkeit zu trennen sind, daß sie sich bereits von den Männern verführen läßt, wenn sie ihre Blicke sucht, und daß jede Frau sich entehrt, die sich zur Schau stellt“ (BA 417f.). Zum Zusammenhang von Scham und Häuslichkeit vgl. Kofman 1986, 25f., die in ihrem Essay vor allem die paranoiden Strukturen in Rousseaus Diskurs über die Scham herausarbeitet. Den Übergang „von der Forderung nach Zurückhaltung der Frauen zu ihrem Rückzug […], von ihrer ‚Reserviertheit‘ zu ihrer ‚Reservierung/Reservathaltung‘“ liest Kofman überzeugend als ein Zugeständnis an die von Rousseau bestrittene gegnerische Position, nach der die Norm der Scham lediglich einem kulturellen Vorurteil entspricht. Implizit werde „damit anerkannt, daß im Übergang von der einen zur anderen Aufforderung eine ganze Prozedur sozialer, männlicher Herrschaft interveniert“ (25). 21 Zum Beispiel: „Das Verlangen, das mit Scham bedeckt wird, wird dadurch um so verführerischer, die Scham entflammt es, indem sie es hemmt“ (BA 419). 16 17 18 19 20
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der hilflosen Verwirrung soll zudem durch eine kulturelle Praxis, die den Schleier der Scham kunstvoll in Szene setzt,22 intensiviert werden. Bemerkenswert ausführlich beschäftigt sich Rousseau mit Fragen der passenden Kleidung und der von Kindheit an einzuübenden Haltung der Anmut,23 die beide im Dienst der weiblichen Bestimmung stehen, „zu gefallen und sich zu unterwerfen“ (E 386). Das gesellschaftliche Korrelat zur „natürlichen“ Scham bildet – ein geordnetes Gemeinwesen vorausgesetzt – die öffentliche Meinung. Als eine soziale Praxis der permanenten Überwachung24 kontrolliert sie die Leidenschaften auch dann, wenn die „Sprache der Natur“ (E 306) – die Vernunft des Mannes und das Schamgefühl der Frau – als Regulativ ausfällt, weil sie vom zivilisatorischen Entfremdungsprozess, der haltlosen Reflexion und einer permanenten Inszenierung des Scheins, zum Verstummen gebracht wird. (2) Im Gegensatz zu den egozentrischen und wechselhaften Leidenschaften, die den sozialen Zusammenhang zerstören, sind die Gefühle, welche die ideale Gemeinschaft prägen, harmonisch, konstant und am Wohl der _____________ 22 23 24
Zur „Ökonomie des Schleiers“ vgl. Garbe 1992, 98–103. Zum Beispiel E 395–406. Dem Zwang der öffentlichen Meinung sind primär die Frauen unterworfen. Der Mann, dessen Ideal Rousseau im Emil entwickelt, hat gelernt, die öffentliche Meinung gründlich zu verachten und seine Autonomie eben dadurch zu beweisen, dass er sowohl intellektuell wie emotional unabhängig von ihr ist. „Ein rechtschaffener Mann hängt nur von sich selbst ab und kann der öffentlichen Meinung trotzen. Eine rechtschaffene Frau hat damit nur die Hälfte ihrer Aufgabe gelöst: das, was man über sie denkt, ist nicht weniger wichtig als das, was sie wirklich ist. Daraus folgt, daß ihre Erziehung in dieser Hinsicht das Gegenteil von unserer sein muß. Die öffentliche Meinung ist für die Männer das Grab ihrer Tugend, für die Frauen aber deren Thron.“ (E 394) Anders verhält es sich in den Schriften, deren Erziehungsprogramm nicht auf ein einzelnes außerordentliches Individuum, sondern auf die Menge zugeschnitten ist. In der Abhandlung über die Regierung Polens oder der Abhandlung über die Politische Ökonomie beispielsweise unterstehen Männer wie Frauen der Kontrolle der öffentlichen Meinung (vgl. Blättler 1999, 999–1001). Auch im Brief an d’Alembert, in dem auf die Kontrolle der Frauen besonderes Gewicht gelegt wird, übernimmt die öffentliche Meinung ein „Zensorenamt“ (BA 442), dem beide Geschlechter unterliegen: „Wenn unsere Sitten in der Zurückgezogenheit unseren eigenen Gefühlen entspringen, so entspringen sie in der Gesellschaft der Meinung der anderen. Wenn man nicht in sich selbst, sondern in den anderen lebt, dann sind es ihre Urteile, die alles bestimmen“ (BA 401).
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Mitmenschen orientiert.25 Sie leiten sich, so Rousseau, aus einem natürlichen Empfinden her, was sie – gleich der Scham – zu spezifisch weiblichen Gefühlen macht. Durch eine weibliche Sozialisation, die im Schonraum der Privatsphäre die Entwicklung des abstrakten Denkens ebenso hemmt wie die Entfaltung der Leidenschaften, sollen Frauen die sinnliche Erkenntnis eines natürlichen sowohl ästhetischen wie moralischen Geschmacksempfindens (goût) und eine unmittelbare Mitmenschlichkeit bewahren. Frauen fühlen sich intuitiv in ihre Mitmenschen ein und reagieren auf sie mit einer ursprünglichen Güte (bonté).26 Im Gegensatz zum Mann, der aufgrund von Weltkenntnis und Vernunfteinsicht tugendhaft handelt, handeln Frauen „aus Lust und Liebe“ (des goûts) (E 398). Analog zur Unterscheidung zwischen instinkthafter Güte und moralischer Tugend verwendet Rousseau, wenn er von den Tätigkeiten Sophies spricht, konsequent den Ausdruck „Besorgungen“ (soins) und nicht das Wort „Arbeit“ (travail),27 das – wie die Tugend – einen Aspekt der Leistung beinhaltet und dem Mann vorbehalten bleibt. Rousseaus Sprachgebrauch lässt sich als ein weiterer Hinweis darauf lesen, dass die Sphäre des Privaten als Sphäre der Frauen jenseits der modernen, auf dem Grundsatz des individuellen Selbstinteresses beruhenden Konkurrenzgesellschaft mit ihren sozialen Entfremdungsphänomenen angesiedelt ist.28 Diese Lesart wird dadurch bestärkt, dass sowohl Sophie als auch – nach ihrer Konversion – Julie Frauengestalten ohne sexuelles Begehren sind. Mehr noch: Mit dem Zeitpunkt ihrer Verheiratung hat Julie überhaupt aufgehört, von sich _____________ Vgl. beispielsweise Julies Belehrungen an St. Preux, NH 388ff. Zum spezifisch weiblichen Geschmacksempfinden (goût) als einer Form der sinnlichen Erkenntnis vgl. Steinbrügge 1992, 70ff.; zur ursprünglichen Güte (bonté) als einer vormoralischen und deshalb im Gegensatz zur Tugend (vertu) verdienstlosen Disposition, Gutes zu tun, Fetscher 1990 (zuerst 1960), 88ff. 27 Darauf hat Ehrich-Haefeli 1995, 129ff. hingewiesen und dargelegt, dass darin die historisch relativ neue ökonomische Abhängigkeit der Frauen von männlicher Arbeit zum Ausdruck kommt, die Rousseaus Modell eines komplementären Geschlechterverhältnisses zugrunde liegt, in welchem die Tätigkeiten der Frauen auf Fürsorge und Gefälligkeit, die Schaffung einer zärtlich-empfindsamen Geselligkeit und die Entfaltung „angenehmer Talente“ (E 406) wie Tanzen, Singen und Zeichnen beschränkt werden. 28 Friederike Kuster 2005 versteht Rousseaus Konzept des Privaten als eine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Als Sphäre affektiven Gleichklangs, „transparenter, unverzerrter Kommunikation und Interaktion“ (21) bilde das Private eine Gegenwelt zu Staat und Gesellschaft, die von Rousseau nach ihrer „Abkoppelung“ in die weitere Perspektive einer – von ihr ambivalent bewerteten – „Refamilisierung des Politischen“ (24) überführt werde. 25 26
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selbst zu sprechen. Solche, von der feministischen Forschung vielfach und differenziert analysierte Selbstlosigkeit der Frauen scheint die Bedingung jener ursprünglichen menschlichen Güte zu sein, die den inneren Zusammenhang der Familie und des idealen Gemeinwesens sichert. Auf dem Landgut von Clarens entfalten sich die sozialen Gefühle im Rahmen einer geschlossenen, ökonomisch autarken Gemeinschaft, deren selbst erwirtschafteter Reichtum mit den natürlichen Bedürfnissen seiner Mitglieder übereinstimmt. Die Begrenzung sowohl der Produktion wie der Bedürfnisse ermöglicht eine konkurrenzfreie Kooperation, in der das individuelle Interesse in der Orientierung am Gemeinwohl aufgehoben ist. Dieser Harmonie in der Welt der Arbeit und des Konsums entspricht ein offenes und konfliktfreies Miteinander in der Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Norm einer unbedingten Transparenz verhindert das Auseinandertreten von Sein und Schein, wodurch Verstellung und Verdächtigung, Täuschung und Misstrauen aus dem Gemeinwesen verbannt sind.29 (3) Das auf Prinzipien der Gerechtigkeit und der klugen Organisation beruhende Gemeinwesen hat sein Zentrum in einer unanfechtbaren Autorität, die das Leben der Gemeinschaft reguliert. Wolmar, der Hausherr von Clarens, der sich selbst zu dem gemacht hat, was er ist, verkörpert die alles durchdringende Vernunft in ihrer sowohl moralischen wie strategischen Dimension. Wie der Lehrer Emils und der Gesetzgeber des Gesellschaftsvertrags ist er in das Geschehen, das er lenkt, emotional nicht involviert. Seine „größte Neigung […] ist das Beobachten“ (NH 386). In ihrer Autonomie sind die lenkenden Autoritäten wie die Gesetze, die sie repräsentieren, zwar gottähnlich, doch wenig angenehm. Von Herrn von Wolmar sagt Julie: Anders als die gewöhnlichen „Gefühlsmenschen“ ist er „niemals lustig oder traurig“. „Er lacht nie; er ist ernsthaft“ (NH 386); „er sucht niemanden und geht niemandem aus dem Wege“ (NH 385). Die Welt der Vernunft wäre nicht nur kalt (vgl. NH 389), sondern auch ohne bindende Kraft, würden ihre Gesetze nicht, wie Rousseau am Ende des zweiten Buches des Gesellschaftsvertrags mit Bezug auf die politische Sphäre schreibt, „in die Herzen der Bürger eingegraben“ (GV 116) und durch Gefühle be_____________ 29
Transparenz, so zeigt Jean Starobinski im fünften Kapitel seiner Rousseau-Studie (ders. 2003 (franz. zuerst 1971), 123–182), das der Analyse der Neuen Héloïse gewidmet ist, ist das bestimmende Merkmal der sozialen Idylle, in der moralisches Gefühl und unmittelbares Glück sinnlicher Empfindung eine Einheit bilden.
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lebt.30 Die sozialen Gefühle setzen wohlgeordnete private und öffentliche Verhältnisse voraus. Zugleich sind sie, an den Normen des wohlgeordneten Gemeinwesens orientiert, das vitale Moment, das diesen Normen Wirksamkeit verleiht. Die Domestizierung der Leidenschaften zu sozialen Gefühlen31 durch die Kontrolle der Vernunft oder der öffentlichen Meinung ist deshalb das wichtigste Erziehungsziel in Rousseaus Schriften, die ihr normatives Zentrum im Gedanken der Freiheit – dem inneren Frieden und einer harmonischen Koexistenz – haben. Dass dieses Domestizierungsprogramm sowohl aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse wie aufgrund der Macht der Leidenschaften ein unwahrscheinliches Unterfangen darstellt, betont Rousseau allenthalben. Dramatisiert hat er seine Skepsis in den Frauengestalten Julie und Sophie, die am Ende ihren Leidenschaften erliegen, damit den sozialen Zusammenhang gefährden beziehungsweise ruinieren und deshalb von Rousseau in den Tod geschickt werden.
3. Die Norm der Autarkie und die Erziehung zur emotionalen Selbstübereinstimmung Clarens und die Welt Sophies beschreiben einen unentfremdeten Zustand des inneren Friedens, der Transparenz und der Harmonie. Als vormoderne Idyllen verwirklichen sie unter Bedingungen der Vergesellschaftung jenes Ideal der Selbstübereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner Welt, das Rousseau aus der Konstruktion des fiktiven Naturzustandes im Zweiten Diskurs gewonnen hat. Der Urzustandsbewohner, eine sprachlose solitäre Existenz, die seinesgleichen kaum begegnet und ohne jede Bindung zu ihnen ist, lebt in psychischer Autarkie. Auf sich gestellt, in sich zentriert und sich selbst genug, gehorcht er allein dem Drang nach Selbsterhaltung (amour de soi). Seine Bedürfnisnatur weist, anders als bei Machiavelli oder Hobbes, nicht über die Notwendigkeit der Selbsterhaltung hinaus, sondern ist in ihr begrenzt. Selbst die Sexualität beschränkt sich auf den Zweck der Arterhaltung. Emotionslos, weil ohne zwischenmenschliche Beziehungen und damit frei von ich-bezogenener Reflexion, atme er nur „Ruhe und Freiheit“. Selbst „die Ataraxie des Stoikers“ errei_____________ Zur Bedeutung einer Vermittlung von Vernunft und Gefühl vgl. Nagl-Docekal 1994, 585ff.; Fetscher 1990, 83ff. 31 Dies das Programm, das Nicole Fermons (1997) Analysen untersuchen. 30
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che nicht „seine tiefe Gleichgültigkeit jedem anderen Objekt gegenüber“ (UU 267). Die Ataraxie des Stoikers, wie sie der savoyische Vikar im vierten Buch des Emil ersehnt,32 unterscheidet sich von der Autarkie des Naturzustandbewohners, der nichts von sich weiß, dadurch, dass sie von einem intensiven Selbstgefühl – Glück – begleitet ist. Vollendetes Glück als eine zustandhafte Lust ist denkbar jedoch nur unter der Voraussetzung vollkommener Selbstgenügsamkeit und deshalb Gott vorbehalten: „Ein wahrhaft glückliches Wesen ist einsam. Gott allein genießt absolutes Glück.“ (E 222) Zwar ist vollkommenes Glück eine Realität, die jenseits menschlicher Erreichbarkeit liegt. Als solches bezeichnet es ein Ideal. Dieses Ideal jedoch wird von Rousseau als Bildungs- und Kulturaufgabe dem Menschen überantwortet. Sowohl das Erziehungsprogramm des Emil als auch der politische Entwurf des Gesellschaftsvertrags sind darauf hin angelegt. Glück, verstanden als ein lebendig empfundener Zustand der inneren und äußeren Harmonie, bildet nicht nur das Ziel individueller und kollektiver Selbstvervollkommnung, sondern hat bei Rousseau im Menschen auch seinen Ursprung. „Die Quelle von Einheit und Ganzheit“, so Charles Taylor, „die Augustin nur in Gott ausmacht, ist nun innerhalb des Selbst zu finden.“33 Was Menschen zu menschlichen Wesen macht, ist ihre gegenseitige Abhängigkeit. Das ist ihre Schwäche und zugleich die Bedingung ihrer Fähigkeit, Gefühle auszubilden, die in sich die Möglichkeit glückhafter Erfahrung enthalten: Liebe, Wohltätigkeit und Güte (vgl. E 222). Diese Gefühle der Zuwendung haben ihren Ursprung in einer angeborenen Disposition zur Empathie, die Rousseau in Gestalt des Mitleids (pitié) bereits dem Menschen im Naturzustand zuschreibt. Rousseau betont in diesem Zusammenhang, der Logik seiner Naturzustandskonstruktion folgend, vor allem die negative Sozialität des Mitleids: Eine instinkthafte Abneigung (répugnance), seine Artgenossen leiden zu sehen, begrenzt im Konfliktfall den Antrieb der Selbsterhaltung und ermöglicht so jenes reibungslose Nebeneinander, das das eigentliche Kennzeichen des Naturzustands bildet. Indem Rousseau jedoch auf die „Zärtlichkeit der Mütter für ihre Jungen“ selbst im Tierreich und die „Gefahren […], denen sie trotzen, um sie vor diesen zu beschützen“, verweist (UU 143), führt er in die Beschreibung _____________ „Ich sehne mich nach dem Augenblick, in dem ich […] ohne Einschränkung und ohne Teilung ich sein werde und nur meiner selbst bedarf, um glücklich zu sein.“ (E 309) 33 Taylor 1996 (amerik. zuerst 1989), 631. 32
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ein positives Gefühl ein, das (wie überhaupt jedes Gefühl) seiner Konstruktion des Menschen im Naturzustand, der zwar Objektbeziehungen, aber keine intersubjektiven Beziehungen kennt, widerspricht. Dieser Widerspruch zeigt sich auch in seiner schwankenden Terminologie. Einmal nennt er das Mitleid eine „reine Regung der Natur“ (pur mouvement de la nature) (UU 144f.), „die jeder Reflexion vorausliegt“, ein andermal eine „Tugend“ (vertu) – eine „natürliche“ Tugend (UU 142f.). Am Ende seiner Ausführungen schließlich bezeichnet er das Mitleid als ein „natürliches Gefühl“, das „uns […] zur Unterstützung derer“ veranlasst, „die wir leiden sehen“, und das im Naturzustand funktionsäquivalent „die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend“ vertritt (UU 151).34 Als eine angeborene Disposition kann das Mitleid im Zustand der Vergesellschaftung durch die Ausbildung von Einbildungs- und Urteilskraft differenziert und in Tugenden habitualisiert werden.35 Wahrscheinlicher jedoch ist, dass es unter nicht-idealen Bedingungen von Konkurrenz, gesellschaftlicher Anonymität36 und ungehemmter Reflexion37 unterdrückt wird, sich auflöst und ab_____________ Für eine Rekonstruktion des vielschichtigen Begriffs des Mitleids bei Rousseau vgl. Schiemann 2007, der sowohl die widersprüchlichen Momente des Begriffs wie dessen ambivalente Beurteilung (auch durch Rousseau selbst) herausarbeitet. 35 Die „Großmut, die Milde, die Menschlichkeit“ seien nichts anderes, so Rousseau im Zweiten Diskurs, als „das auf die Schwachen, die Schuldigen oder die menschliche Art im allgemeinen angewandte Mitleid“. Dasselbe gelte für das „Wohlwollen und selbst die Freundschaft“. Auch sie seien „Erzeugnisse eines konstanten, auf einen besonderen Gegenstand fixierten Mitleids“ (UU 147). Zur Beziehung zwischen den Tugenden der Großmut, Güte und Freundschaft und einer angeborenen Disposition zum Mitleid, die sich im Werk Rousseaus komplexer gestaltet, als die hier zitierte Passage unterstellt, vgl. Fetscher 1990, 75–78; Schiemann 2007, 200; Strong 1994, 42. 36 Zum Beispiel PÖ 28: „Anscheinend verdunstet und schwächt sich die Menschheitsliebe ab, während sie sich über die ganze Welt ausbreitet […]. In gewissem Maß muß man das Interesse und das Mitleid begrenzen und zusammenpressen, um sie zu aktivieren.“ 37 Zum Beispiel UU 149: Unter dem Fenster des Philosophen könne man „seinen Mitmenschen […] ungestraft umbringen; er braucht sich nur die Ohren zuzuhalten und sich ein paar Argumente zurechtzulegen, um die Natur, die sich in ihm empört, daran zu hindern, ihn mit dem zu identifizieren, den man meuchlings ermordet.“ Oder N 156: „Der Geschmack an der Philosophie lockert alle Bande der Achtung und des Wohlwollens, die die Menschen an die Gesellschaft binden […] [D]adurch, daß der Philosoph über die Menschheit nachdenkt, dadurch, daß er die Menschen beobachtet, lehrt er, sie nach ihrem wahren Wert zu schätzen, und es ist schwer, Zuneigung für das zu empfinden, was man verachtet. […] Die Familie und das Vaterland werden für ihn sinnleere Worte; er ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch, er ist Philosoph.“ 34
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stirbt. Am ehesten findet man es daher noch bei einfachen Menschen und den Frauen. Aufgrund ihrer fehlenden intellektuellen Bildung und ihrer zurückgezogenen Lebensweise sind sie den instinkthaften Empfindungen noch näher. Ihre Mitmenschlichkeit ist nicht eigentlich eine Tugend, sondern verdankt sich unmittelbarer Einfühlung und spontaner Fürsorglichkeit.38 Das ist ihre für den sozialen Zusammenhang unverzichtbare Stärke, aber auch ihre Schwäche, wie Rousseau am Beispiel Sophies im Fortsetzungsfragment Emil und Sophie oder Die Einsamen demonstriert: Außerhalb des geschützten Raumes eines geordneten Gemeinwesens und ohne das Regulativ eines lenkenden Wissens, sind sie zum Scheitern verurteilt. Es fehlt ihnen die vernunftvermittelte Moral, die sie, auf sich selbst gestellt, vor Korruption und vor den stets lauernden Leidenschaften schützen könnte. Neben dem Mitleid kennt Rousseau ein weiteres Gefühl, das den Menschen als soziales Wesen auszeichnet, eine Grundlage der ethischen Ordnung bildet und ebenfalls in einer angeborenen Disposition wurzelt: das Gewissen (conscience).39 Eindeutiger als das unmittelbare Wohlwollen geht das Gewissen aus der Selbstliebe hervor. Im Naturzustand wie im Kindesalter antwortet das „Gefühl für Recht und Unrecht“, das „dem Menschenherzen eingeboren ist“ (E 43), lediglich auf Verletzungen des eigenen Willens, weshalb Rousseau in diesem Zusammenhang noch nicht vom „Gewissen“ spricht. Es bedarf einer umfassenden emotionalen wie intellektuellen Erziehung, die den kindlichen Narzissmus überwindet, um das aufgrund seiner Selbstbezüglichkeit und Maßlosigkeit ambivalente Gefühl in jene „unsterbliche und himmlische Stimme“ (E 306) zu transformieren, die den Menschen dazu anhält, dem „Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend“ (E 303) zu folgen.40 Obwohl das Gewissen seinen Handlungsimpuls nur entfalten kann als ein leidenschaftliches Begehren des _____________ Vgl. dazu jene Szene im Emil, die Sophie in der elenden Hütte armer Leute am Krankenbett des alten Mannes zeigt und die von Emils Ausruf beschlossen wird: „Das ist die Frau.“ (E 487) 39 Ob das Gewissen ein Gefühl sei, ist in der Rousseau-Forschung umstritten. Ernst Cassirer beispielsweise, der generell gegen eine Einordnung von Rousseaus Moralphilosophie in die Tradition der Gefühlsmoral argumentiert, versteht das Gewissen als eine „Unmittelbarkeit […] nicht des Gefühls, sondern […] der Vernunft“. Das Gewissen, das den Einzelnen befähigt, die „wahren Prinzipien des Sittlichen […] intuitiv [zu] erfassen“, bezeichnet er als eine „‚eingeborene‘ Erkenntnis“ (Cassirer 1995 (zuerst 1932, 62f.)). Für eine Diskussion dieser grundlegenden Frage vgl. Marks 2006, 565–567 und die hier angegebene Literatur. 40 Zur Gewissensbildung als zentralem Thema des Emil vgl. Marks 2006. 38
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Guten – Liebe –, ist es umgekehrt von den Leidenschaften stets bedroht. Nur „wenn die Leidenschaften schweigen“, sei seine Stimme zu vernehmen (WK 60). Als „Stimme der Natur“ (E 304) droht es in der künstlichen und verfälschenden Kultur eines lasterhaften Jahrhunderts zu ersticken. Als „Stimme der Vernunft“ (E 304) ist es Gegenstand des Wissens und der Erkenntnis und also für Reflexion und Irrtum anfällig. Selbst wenn man die guten Absichten der Menschen, sich von den Prinzipien der Gerechtigkeit lenken zu lassen, voraussetzen könnte, wäre es unter allen nicht-idealen Bedingungen wenig wahrscheinlich, dass sie auch fähig wären, diese richtig zu erkennen und adäquat in die Praxis umzusetzen. Das gilt für den Einzelnen, und erst recht gilt es für ein Kollektiv. Pessimistisch heißt es im Gesellschaftsvertrag in Vorbereitung auf die Einführung des Gesetzgebers, der eben deshalb notwendig wird: „Von sich aus will das Volk immer das Gute, aber von sich aus erkennt es das Volk nicht immer. Der Gemeinwille hat immer recht, aber das Urteil, das ihn führt, ist nicht immer erleuchtet.“ (GV 99). Rousseaus praktische Philosophie enthält unterschiedliche Erziehungsprogramme, doch verfolgen sie das gleiche Ziel: die Bildung der Menschen zur Freiheit, die negativ als Unabhängigkeit von fremder innerer wie äußerer Willensbestimmung, positiv als Selbstbestimmung verstanden wird. Vor dem Hintergrund seiner gesellschaftskritischen Diagnose der Selbstentfremdung des modernen Menschen, die ihn der Willkür blinder und widerstreitender Leidenschaften ausliefert, entwirft er einen idealen Zustand, in dem die ruhige Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seine Übereinstimmung mit den Normen des Gemeinwesens konvergieren, individuelle Lebensform und öffentliche Tugend sich völlig verschränken, die Identifikation mit dem ethischen Ganzen die Entfaltung eines guten Lebens ermöglicht. Unter nicht-idealen Bedingungen der Entzweiung verlangt das Programm ihrer Überwindung die Vereinseitigung: Entweder soll das Individuum, wie Emil im Fragment Emil und Sophie oder Die Einsamen, die Fähigkeit erlangen, am Rande der Gesellschaft seinem eigenen, vom Gewissen geleiteten Willen zu folgen, oder es soll, so sehen es beispielsweise die Erziehungspläne für das Volk in den Betrachtungen über die Regierung Polens vor, systematisch dem Willen des Kollektivs unterworfen werden.41 Die dabei verwendeten Methoden sind denen der Mädchenerziehung im Sophie-Kapitel vergleichbar. Sie ergeben sich aus dem strukturell analogen Erziehungsziel: Wie die Frau ihre Be_____________ 41
Zum Folgenden vgl. Blättler 1999, 999–1001.
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stimmung ausschließlich im Mann findet, so der Bürger und/oder Untertan ausschließlich im Gemeinwesen. Der individuelle Wille muss deshalb ausgelöscht und ersetzt werden. Erneut spielen die Leidenschaften, insbesondere die Liebe, eine konstitutive Rolle. Doch anders als im Fall Emils oder der sozialen Idylle, wird die Liebe nun nicht durch Vernunft gemäßigt und in soziale Gefühle transformiert, sondern entfesselt und vom Selbst auf das Vaterland (la patrie), das als „gemeinsame Mutter“ (PÖ 32) imaginiert wird, umgelenkt (vgl. PÖ 34).42 Erziehung soll „Patrioten aus Neigung, aus Leidenschaft, aus Notwendigkeit“ (P 578) schaffen. Die leidenschaftliche Identifikation des Patrioten macht dann „sein ganzes Sein aus; er sieht nur das Vaterland, lebt nur dem Vaterland; sobald er allein ist, ist er nichts; sobald er kein Vaterland mehr hat, hört er auf zu sein.“ (P 578) Patriotische Identifikation teilt mit der stoischen Indifferenz die Auslöschung der Ambivalenz, die Vernichtung jener Differenz, die einerseits Beziehungen, Reflexivität und wechselvolle, lebendige Gefühle ermöglicht, anderseits aber stets die Gefahr der Entfremdung und Entzweiung in sich trägt, die den Menschen im Chaos der Leidenschaften versinken lassen.
Literatur Rousseaus Schriften werden nach unterschiedlichen Ausgaben und Übersetzungen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: B BA E GV N NH P PÖ UU WK
– Bekenntnisse – Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel „Genf“ – Emil oder Über die Erziehung – Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts – Vorrede zu „Narcisse“ – Julie oder Die neue Héloïse – Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform – Abhandlung über die Politische Ökonomie – Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen – Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat
_____________ 42
Vgl. Wingrove 2000, 163–168.
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– (1995, franz. zuerst 1758), Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel „Genf“ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten, Schriften, Bd. 1, hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt a. M., 333–474 (= BA). – (21995, franz. zuerst 1762), Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Politische Schriften, Paderborn, 59–208 (= GV). Schiemann, Gregor (2007), Ambivalenzen und Grenzen des Mitleids bei Jean-Jacques Rousseau, in: Hilge Landweer (Hg.), Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 14), 199–217. Spaemann, Robert (21992, zuerst 1980), Rousseau – Bürger ohne Vaterland. Von der Polis zur Natur, München. Starobinski, Jean (2003, franz. zuerst 1971), Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt a. M. Steinbrügge, Lieselotte (21992), Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Stuttgart. Strong, Tracy (1994), Jean-Jacques Rousseau: The Politics of the Ordinary, Thousand Oakes, CA. Taylor, Charles (21996, amerik. zuerst 1989), Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. Wingrove, Elizabeth Rose (2000), Rousseau’s Republican Romance, Princeton/NJ.
Immanuel Kant (1724–180)
Kant: Vernunftgewirkte Gefühle Birgit Recki Kants Theorie der Emotionen – wenn man denn in vereinheitlichendem Zugriff die verschiedenen historischen Phasen und systematischen Stränge seines Nachdenkens so nennen will – ist von Anfang an auf die Bedeutung der Gefühle für ein vernünftiges Selbstverständnis konzentriert. Es ist diese Zuspitzung, die auch eine interne Ausdifferenzierung im zunächst unspezifischen Begriff des Gefühls mit sich bringt. Eine Zeitlang – nachweislich in den Jahren zwischen 1764 und 1766 – ist der vielen nur als rigoroser Rationalist geläufige Kant Moralsensualist gewesen. Schon in dieser Zeit des methodischen Anspruchs an ein allgemeinmenschliches Gefühl für die Schönheit und die Würde der menschlichen Natur, das er als das moralische Gefühl auszeichnet (GSE), geht es ihm um dessen kognitive und praktische Funktion. Wenn er auch diese im emphatischen Anschluss an die schottischen Aufklärer – Shaftesbury, Hutcheson und Hume – bezogene Position zugunsten einer rationalen Begründung der Moral rasch wieder aufgegeben hat, so bleibt doch in seiner vernunftkritischen Philosophie auch mit der Grundlegung der Moral im guten Willen als der reinen praktischen Vernunft von seiner frühen Orientierung mehr als nur eine Reminiszenz. Die anhaltende Auseinandersetzung mit Status und Funktion des Gefühls bringt Kant zu der Einsicht, dass zur Erörterung der Leistungen und Grenzen der Vernunft auch die des reflektierten Gefühls gehört – ein theoretisches Unternehmen mit doppeltem systematischem Ertrag: Das Gefühl wird nachhaltig befreit vom generellen Verdacht des Irrationalismus, und die Vernunft selber wird begriffen als Ursprung von Gefühlen, der Vernunftbegriff mithin erweitert um die Dimension der Emotionalität. Indem das Gefühl als integrales Moment der Vernunft ausgewiesen wird, wird es zugleich mit Blick auf seine vernünftigen Funktionen spezifiziert: Nicht jede x-beliebige Empfindung von Lust und Unlust, sondern solche Gefühle, deren Ursprung als in Prozessen der Reflexion einsichtig gemacht werden kann, bilden das Thema der Vernunftkritik als Gefühlstheorie. In Kants Theorie findet mit dieser Engführung eine Qualifizierung solcher Gefühle statt, denen kognitive und praktische Funktionen zukommen.
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1. Keine Theorie der Affekte – eine begründete Vernachlässigung Aus demselben Grunde, der Kant dazu bringt, im Zuge seiner Vernunftkritik auch eine Theorie der Gefühle zu entwickeln, sucht man bei ihm nach einer vergleichbar elaborierten Theorie der Affekte vergebens: Es ist das Interesse an der philosophischen Artikulation des vernünftigen Selbstverständnisses, das ihn bei der Theoriebildung die Gewichte verteilen lässt. Dabei erfolgt die Differenzierung der Begriffe vom Emotionalen erst im Zuge der Ausbildung der Vernunftkritik, in der sich auch der Fokus des Interesses auf die reflektierten Gefühle richtet. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)1 bedenkt Kant seit Beginn der 70er Jahre unter dem Genus proximum eines „Gefühls der Lust und Unlust“ ebenso die Affekte – als diejenigen Gemütsbewegungen, deren Quelle die sinnliche Natur des Menschen ist –, wie andere „Gefühle“, deren Begriff ihm hier noch mit dem später überwiegend spezifisch davon abgesetzten der Empfindung kongruiert. Er unterscheidet hier von den Affekten solche sinnlichen Gefühle, die durch die Einbildungskraft bzw. den Geschmack ausgelöst sind, und das davon abgesetzte „intellektuelle“ Gefühl der Lust, das aus Begriffen oder Ideen entspringt. Im beiläufig eingeführten, nicht näher erläuterten Begriff der „Motion“ als einer innerlichen Bewegung (des Gemüts) (ApH 232) dürfte die Wirkung aller Gefühle der Lust und Unlust zusammengefasst sein. Der Affekt, so definiert Kant hier, ist „das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subject die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt“ (ApH 251). Er besteht nämlich in einer „Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüths […] aufgehoben wird.“ (ApH 252) Schon daran wird deutlich: Die Affekte kommen für Kant nur als defiziente Modi des menschlichen Zustandes, ja als Störfaktoren in Betracht. Prägnant wird diese Einschätzung in der Rede von den „Affecten, als Gefühlen der Lust und Unlust, die die Schranken der inneren Freiheit im Menschen überschreiten“ (ApH 235) – enthält _____________ 1
Kant hat 1772 mit seinen Vorlesungen zur Anthropologie begonnen und diese bis zur Erstellung des Manuskripts 1796 für die Druckfassung 1798 in regelmäßigen Abständen immer wieder gehalten. Die Anthropologie dokumentiert so, um den Preis einer bisweilen mangelnden Synchronisierung mit den Errungenschaften der vernunftkritischen Analysen, Kants umfassendes Interesse an den menschlichen Leistungen über fast drei Jahrzehnte hinweg.
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doch diese (textchronologisch erste) Bestimmung den entscheidenden Hinweis darauf, wieso sich der Autor einer Vernunftkritik, als deren vornehmstes Ziel sich mit zunehmender Deutlichkeit die Qualifikation der inneren Verbindung von Vernunft und Freiheit erweist, für die Affekte nicht sonderlich interessiert: „Wem der Affect wie ein Raptus anzuwandeln pflegt, der ist, so gutartig jener auch sein mag, doch einem Gestörten ähnlich“ (ApH 253). Daraufhin muss es praktisch vor allem darum gehen, mit den Affekten fertig zu werden. Kein Wunder also, dass Kant auch theoretisch mit ihnen schnell fertig ist – und dabei auch keine weitere Vorstellung davon entwickelt, wie wir praktisch mit ihnen fertig werden können. Während andere Gefühle der Lust und Unlust, die aus bloßer Sinnlichkeit (sinnlichen Begierden und ihrer Befriedigung) entspringen, wenigstens der Sublimierung fähig sind,2 ist der Affekt als das Andere der Vernunft der vernünftigen Kontrolle nicht zugänglich. Kant veranschaulicht den Affekt und seine Wirkung in ständiger spezifischer Unterscheidung von der auf Pathos beruhenden Leidenschaft, die er als eine „durch die Vernunft des Subjects schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung“ (ApH 251) definiert. Während die Leidenschaft einem Strom vergleichbar ist, „der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt“, wirkt der Affekt „wie ein Wasser, was den Damm durchbricht“; die Leidenschaft wirkt wie die Schwindsucht oder Auszehrung, der Affekt dagegen wie ein Schlaganfall;3 der Affekt ist wie ein Rausch, die Leiden_____________ 2
3
Siehe dazu den denkwürdigen Appell: „Junger Mann! versage dir die Befriedigung (der Lustbarkeit, der Schwelgerei, der Liebe u. d. g.), wenn auch nicht in der stoischen Absicht, ihrer gar entbehren zu wollen, sondern in der feinen epikurischen, um einen immer noch wachsenden Genuß im Prospect zu haben. Dieses Kargen mit der Baarschaft deines Lebensgefühls macht dich durch den Aufschub des Genusses wirklich reicher, wenn du auch dem Gebrauch derselben am Ende des Lebens großentheils entsagt haben solltest. Das Bewußtsein, den Genuß in deiner Gewalt zu haben, ist wie alles Idealische fruchtbarer und weiter umfassend als Alles, was den Sinn dadurch befriedigt, daß es hiemit zugleich verzehrt wird und so von der Masse des Ganzen abgeht.“ (ApH 165). Zur Interpretation der Stelle siehe Recki 2006, 109f. – Im Lob auf die Arbeit nicht allein als Mittel der Disziplinierung, sondern auch als Ursprung eines im Lustaufschub erworbenen „Capital[s] von Zufriedenheit“ gibt Kant an einer späteren Stelle eine aufschlussreiche Präzisierung (ApH 237). – Es ist als grundsätzliche Reflexion solcher Überlegungen zur vernünftigen Kontrolle der Begierden anzusehen, wenn Kant am Beispiel einer scheinbar unwiderstehlichen „wollüstigen Neigung“ die Frage, ob einer sich ihr auch in der Aussicht hingeben würde, unmittelbar nach dem Genuss am Galgen zu enden, zuversichtlich verneint; siehe KpV 30. Kant spricht wörtlich von „Abzehrung“ und „Schlagfluß“: a. a. O., 252.
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schaft wie ein Wahnsinn (ApH 252f.). Wir sehen an dieser Anordnung der Vergleiche, dass hier zwei vernunftwidrige oder mindestens nichtvernünftige Arten der Handlungsmotivation im Hinblick auf ihre kurzfristige oder nachhaltige, spontane oder habituelle Wirkungsweise unterschieden werden. Auf der Grundlage der Einschätzung, dass der Affekt mit seinem nur „augenblicklichen Abbruch an der Freiheit“ (ApH 267) etwas Vorübergehendes sei, mag man dann noch im Hinblick auf die situativ wünschenswerte Wirkung etwa eines reinigenden Gewitters oder einer disziplinierenden Einschüchterung wie Sokrates abwägen, „ob es nicht auch manchmal gut wäre zu zürnen“ (ApH 253). Man mag sich sogar im Sinne der naturteleologischen Deutung, die Kant seinen Überlegungen insgesamt zugrundelegt,4 auf die naheliegende Frage bringen lassen, wieso denn die Natur die Anlage zu solchen Anwandlungen in uns gepflanzt habe; und Kant sieht sich hier zu der entwicklungspsychologischen Konzession gehalten, in den gutartigen Affekten handle es sich um ein „einstweiliges Surrogat der Vernunft“, durch das ein pathologischer Anreiz zum Guten dort gegeben sei, wo die Vernunft noch nicht „zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen“. Man mag hier schließlich Einsatzstellen wahrnehmen für eine systematische Revision. Für Kants Beurteilung spielt all dies keine Rolle, denn da ist entscheidend, dass der Affekt „für sich allein betrachtet, jederzeit unklug“ ist (ApH 253). Apodiktisch gilt: „Affecten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüths; weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt.“ Deshalb findet Kant auch, das „Princip der Apathie“ als das der „Affectlosigkeit“ sei ein „ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule“ (ApH 251–253). In dieser Auffassung liegt der Grund dafür, dass wir in Kants Anthropologie zwar einige rationalitätstheoretisch wie moralphilosophisch naheliegende Bemerkungen über die Affekte im Allgemeinen wie im Besonderen finden,5 aber keine Theorie der Affekte. Eine kognitive oder praktische Funktion der Affekte ist schlechterdings nicht absehbar. Hilfreich für das Verständnis dieser Aussparung ist bereits die Vergewisserung, worum es in einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht eigentlich geht: Betrachtet werden die Anlagen des Menschen unter dem Gesichtspunkt dessen, was _____________ 4 5
Siehe exemplarisch die Deutung des Schmerzes: A. a. O., 235. So etwa deren Einteilung in die auf die Gegenwart bezogenen Affekte von Freude und Traurigkeit, Zorn, Bangigkeit und Scham, Fröhlichkeit und Wehmut – und die auf die Zukunft bezogenen der Hoffnung und Furcht.
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er im Umgang mit ihnen „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“ (ApH 119) Es ist mit anderen Worten ein von vornherein auf die vernünftige Praxis als Medium der Selbstentfaltung bezogenes Interesse wirksam,6 und damit auch eine – wenngleich nicht zwangsläufig und nicht immer prägnant als moralisch artikulierte – normative Vorgabe. In einer intern als Grundlegung der menschlichen Freiheit ausgelegten Kritik der Vernunft können die Affekte nur als Faktoren der Heteronomie wirken und verdienen insofern keine extensive Beschäftigung. Kurz und gut: Kant behandelt die Affekte so, wie man es von einem am Primat des Praktischen orientierten Vernunftkritiker nicht anders erwarten konnte.
2. Eine Theorie der Gefühle: Ihre Stationen und Elemente Verfeinerte Empfindungen – die moralsensualistische Episode der sechziger Jahre. Eine Zeitlang ist Kant Moralsensualist gewesen. Im Bewusstsein des Ungenügens einer kognitivistischen Begründung der Moral auf der Suche nach deren Prinzip, schien ihm der Beitrag der Schottischen Aufklärung vielversprechend. Die vorkritischen Schriften der sechziger Jahre zeigen Kant auf dem Wege zu seiner eigenen Moralbegründung im Spannungsfeld zwischen kognitivistischer Perfektionsethik und Moral-Sense-Theorien7 – unentschieden zwischen dem rationalen, formalen Bezug der Moral auf ein höchstes Prinzip und ihrer materialen Begründung aus einem verfeinerten Gefühl. In der Preisschrift von 1762/48 findet sich die erste markante Stellungnahme, ersichtlich _____________ 6
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In seiner dritten Kritik macht Kant eine wenig beachtete Implikation seiner bis dahin entwickelten praktischen Philosophie geltend, indem er „die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)“ als „die Cultur“ bestimmt (KU § 83). Die Stelle dokumentiert nicht nur Kants Festhalten an einem grundlegenden moralneutralen Begriff von Freiheit – sie erweitert den Begriff der praktischen Vernunft auch ausdrücklich um die Dimension der Poiesis. Die selbstverständliche Verknüpfung von Vernunft, Freiheit und Kultur läuft auf einen Begriff der Kultur hinaus, in dem es um all das geht, was der Mensch unter Nutzung seiner besten Kräfte aus sich selbst in seinen vorgefundenen Verhältnissen macht. Kant fügt damit seiner Vernunftkritik ebendie Dimension des Pragmatischen, die der Anthropologie-Vorlesung ihren Titel gegeben hat, als den Bereich kultureller Lebensgestaltung hinzu. Siehe Henrich 1963, 404–431. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat, Akademie-Ausgabe Bd. II.
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im Sinne einer kognitiven Funktion des Gefühls, indem er das Vermögen, „das Gute zu empfinden“, als „ein unauflösliches Gefühl“ bestimmt. „[D]as Urtheil: dieses ist gut“ ist für ihn „völlig unerweislich, und eine unmittelbare Wirkung von dem Bewußtsein des Gefühls der Lust mit der Vorstellung des Gegenstandes“.9 Auch die erste gefühlstheoretische Schrift, die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 und insbesondere die Bemerkungen, die Kant in sein eigenes Handexemplar dieses ästhetisch-ethischen Erstlings eingetragen hat,10 dokumentieren bei allen wechselhaften Gewichtungen und Inkonsistenzen, dass der „vorkritische“ Kant über einen beträchtlichen Zeitraum eine moralsensualistische Konzeption vertreten hat.11 Im Rahmen einer kleinen Phänomenologie der verfeinerten Empfindungen untersucht er hier die Beteiligung von sympathetischen Regungen wie Mitleid und Gefälligkeit sowie der Ehrliebe an der moralischen Orientierung und kommt zu dem abgrenzenden Befund, dass das „allgemeine moralische Gefühl“ – die einzige Basis für wahre Grundsätze – nur im „Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur“ liege (GSE 217). Noch in der Metaphysik der Sitten, als Kant längst nicht mehr das Prinzip der Moral, sondern nur noch deren Triebfeder im Gefühl zu erkennen vermag, wird er in ähnlicher Weise das Spektrum der an der moralischen Orientierung beteiligten Gefühle umschreiben und hier das Gewissen, die Nächstenliebe und die Selbstachtung samt dem moralischen Gefühl der Achtung unter dem Titel einer „Ästhetik der Sitten“ fassen (MS 406). Im Jahr 1765 kündigt er zunächst nach seiner ersten essayistischen Annäherung eine eigene Theorie an, in der die unvollendeten „Versuche“ von Shaftesbury, Hutcheson und Hume lediglich „Präcision und Ergänzung“ erfahren sollen.12 Doch dieses Projekt hält genau so lange, bis ihm in seinen experimentellen Reflexionen auffällt, dass das Gefühl, von dem ein anderer als der empirisch-psychologische Begriff ihm bei aller Behauptung seiner anthropologischen Dignität – es handle sich im Falle des moralischen Gefühls um ein allgemeinmenschliches –- nicht zu Gebote steht, nicht den Charakter der Invariante mitbrachte, den wir vom Prinzip der Moral erwarten müssen.13 _____________ A. a. O., 299; Hervorh. teilw. v. B. R. BEM 199. Siehe die eingehende Darstellung bei Ming-Huei 1994. Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765/66, Akademie-Ausgabe Bd. II, 311. 13 Zu den Stationen in der moralsensualistischen Vorgeschichte der kritischen Ethik siehe Recki 2001, 11–41. 9 10 11 12
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Eine vernunftkritische Theorie der Gefühle I: Das moralische Gefühl der Achtung. In der kritischen Ethik hält ihn die Frage nach dem Gefühl weiterhin in Bann. Es wird sich zeigen, dass die klare Antwort auf die Grundlegungsfrage, die Exposition eines Rationalismus, der kein Kognitivismus ist, nicht schlechthin die Verabschiedung des Gefühls aus dem Bereich der Vernunft impliziert. Die Anstrengung, die es bedeutet, dem Gefühl in der Moral den Ruch des Heteronomen, des Wechselhaften, Flüchtigen und Unzuverlässigen zu nehmen, führt Kant zu einem Begriff des Gefühls als einer Weise der Reflexion. Das Gefühl verliert damit nicht den Charakter der Emotion und auch nicht den der sinnlichen Empfindung. Deren Ursprung aber wird in der Vernunft verortet: Kant spricht von einem vernunftgewirkten oder auch von einem „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirkte[n] Gefühl“ (GMS 401). Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut sey, so fehlet noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilet habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, daß ich die Handlung thue, so ist es das Moralische Gefühl. Das kann und wird auch niemand einsehen, daß der Verstand eine bewegende Kraft haben sollte, urtheilen kann der Verstand zwar freylich, allein diesem Urtheile Kraft geben, daß es eine Triebfeder, den Willen zur Ausübung einer Handlung zu bewegen, werde, dieses einzusehen ist der Stein der Weisen. (MM 1428)
So hatte er 1770 in der Moral Mrongovius ausgeführt. Doch auch noch 1785, in der ersten vernunftkritischen Schrift zur Moral, hat sich daran nichts geändert: Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen. (GMS 460)
Es geht an der frühen Stelle unter den Begriffen von bewegender Kraft und Triebfeder wie an der späteren unter dem Begriff einer Kausalität zur Bestimmung der Sinnlichkeit um das Problem, das wir uns angewöhnt haben, als das Motivationsproblem anzusprechen;14 und es ist, wie an der Überlegung deutlich wird, dass es zum Handeln erst dann verlässlich kommen kann, wenn das Urteil des Verstandes durch das Gefühl ergänzt werde, erst das Motivationsproblem, durch dessen Behandlung der Begriff der praktischen Vernunft vollständig exponiert ist. Denn erst mit der Motiva_____________ 14
Zum Motivationsproblem bei Kant siehe ausführlicher meinen Beitrag sowie die Beiträge verschiedener anderer Autoren in dem Band Motivationen des Selbst, hrsg. von Anne Tilkorn 2009 [in Vorbereitung].
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tion wird der Übergang von der bloßen Verstandesleistung zum Handeln als dem eigentlich praktischen Vollzug geleistet. Ebenso wird deutlich: Das Motivationsproblem will Kant durch das Postulat eines Gefühls lösen, das uns zum Handeln bewegen müsse. Auch nach der konzeptuellen Überwindung des Moralsensualismus, den Kant in seiner Suche nach dem Prinzip der Moral im Ungenügen am Kognitivismus der Aufklärungsethik bis Mitte der 60er Jahre ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, sieht er somit noch einen systematischen Ort für das Gefühl in der Moral vor. Das Gefühl taugt zwar nicht als Grundlage der Moral, doch es muss als die bewegende Kraft dafür sorgen, dass wir die im Verstandesurteil als gut eingesehene Handlung auch tun. Schon in der Moral Mrongovius hatte es zu Beginn der eingangs zitierten Stelle geheißen: „Das Moralische Gefühl ist eine Fähigkeit, durch ein Moralisches Urtheil afficirt zu werden.“ In der Grundlegung wird dies ebenso bekräftigt wie die unlösbare Schwierigkeit, die in der Metapher vom Stein der Weisen zum Ausdruck gebracht ist: „Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe“ (GMS 460). Warum muss es der bloße Gedanke sein, der die fragliche, als Triebfeder taugende Empfindung der Lust und Unlust hervorbringt? Weil nur so zu gewährleisten ist, dass die moralische Autonomie, die Vernunftautonomie, nicht durch eine Heteronomie der nichtvernünftigen Sinnlichkeit aufgehoben werde. Wenn daran festgehalten werden soll, dass Vernunft das Prinzip der Moralität ist, dann darf es außer der Vernunft selber keine Antriebe zum moralischen Handeln geben – bewegende Kraft, Triebfeder, Motivation muss ihrerseits aus der Vernunft kommen. Es muss dann überzeugend dargetan werden können, dass die Vernunft selber diese Triebfeder ist. In der Funktion des bloßen Urteils, des bloßen Gedankens sieht Kant dies nicht gewährleistet. Drei Jahre später, in der Kritik der praktischen Vernunft, macht Kant geltend, diesen Stein der Weisen gefunden zu haben. Das Kapitel Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft gibt die Analyse der Achtung fürs Gesetz so, dass daran zweierlei deutlich werden soll: In der Achtung fürs Gesetz haben wir das moralische Gefühl, das als missing link der Motivation zum Handeln gesucht wurde; und in diesem Gefühl erweist sich die „Causalität der [Vernunft], die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen“: Die Vernunft motiviert in einem „selbstgewirkten Gefühl“. Wir können uns mit anderen Worten das Entstehen und die Verfassung dieses Gefühls a priori begreiflich machen. Wir können uns vorstellen, wie ein bloßer
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Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe, durch die er bewegende Kraft zum Handeln freisetzt. Erst damit ist die Bedingung der Möglichkeit dargetan, den moralischen Gesetzen „Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen“ (GMS 389). Wie geht nun Kant in seiner Analyse vor? In der Schilderung dieses Gefühls als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft ist deutlich eine erste Ebene rein formaler Bestimmung zu unterscheiden, die den Anspruch auf den apriorischen Charakter erhärten soll, und auf der Kant den transzendentalen Aktivismus der Vernunfttätigkeit durch das mechanische Modell von Druck und Gegendruck im Bild der „Wegschaffung eines Gegengewichts“ ergänzt. Er macht zunächst rein formal die „negative Wirkung“ des moralischen Gesetzes auf die Sinnlichkeit geltend: „Denn alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl.“ (KpV 72f.) Solche Wirkung tut aber das moralische Gesetz durch seinen kategorischen Anspruch, die Neigungen unter eine verallgemeinerungsfähige Maxime zu bringen. Durch diese Beschränkung möglicher Bestimmungsgründe, die den Einfluss des moralischen Gesetzes auf die Maximen des Handelns erschweren können, wird umgekehrt diesem Einfluss freie Bahn verschafft, indem dadurch, daß die Vorstellung des moralischen Gesetzes der Selbstliebe den Einfluß und dem Eigendünkel den Wahn benimmt, das Hinderniß der reinen praktischen Vernunft vermindert und die Vorstellung des Vorzuges ihres objectiven Gesetzes vor den Antrieben der Sinnlichkeit, mithin das Gewicht des ersteren relativ (in Ansehung eines durch die letztere afficirten Willens) durch die Wegschaffung des Gegengewichts im Urtheile der Vernunft hervorgebracht wird. (KpV 75f.)
„Und so“, das heißt im Blick auf eine solche Dialektik reiner Selbstbezüglichkeit der Vernunft, kann Kant die Achtung fürs Gesetz als ein Moment im Bewusstsein des Sittengesetzes bestimmen, und zwar als ein unabdingbares: Sie ist ihm „die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet“ (KpV 76). Diese elementaren und abstrakten Bestimmungen bilden die intelligible Struktur der Geschichte. Bliebe es allein dabei – wir hätten freilich Schwierigkeiten bei der Vorstellung, dass es hier wirklich um ein Gefühl gehen soll. Doch auf einer zweiten Ebene bemüht sich Kant, den Effekt dieses Gefühls auch anschaulich überzeugend zu machen. Dazu dient ihm eine Beschreibung am Leitfaden einer Psychologie der inneren Machtverhältnisse. Im Bewusstsein des moralischen Gesetzes wird „unser pathologisch be-
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stimmbares Selbst“, durch das „unsere Natur als sinnlicher Wesen“ ihre Ansprüche geltend macht, „gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte“ (KpV 74), auf diese Weise in seine Schranken verwiesen: Die permissive Einstellung zu den eigenen Neigungen in der Selbstliebe wird „nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze“ eingeschränkt (KpV 73), der selbstgefällige Eigendünkel erfährt „unendlichen Abbruch“ (KpV 74). Indem das moralische Gesetz unsere Neigungen in Schranken weist, bewirkt es ein Gefühl von „Unannehmlichkeit“ (KpV 75), von „Schmerz“ (KpV 73), also: eine markante „Empfindung der Unlust“ (KpV 78). Wir erfahren eine Demütigung „in unserem Selbstbewußtsein“ (KpV 74), die sich gleichsam durch ein Gesetz der Anerkennung des Stärkeren zwangsläufig in einem Gefühl der Achtung für ihre Ursache auswirkt. Diese Achtung ist aber insofern zugleich ein „positives Gefühl“, als „die Demüthigung auf der sinnlichen Seite, eine Erhebung der moralischen, d. i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellectuellen“ ist, an der das Selbst in seiner übersinnlichen Existenz teilhat (KpV 79). Der Kränkung unserer Selbstliebe (vgl. KpV 74) entspricht durch die Beförderung der reinen Vernunfttätigkeit, also dadurch, dass dem Gesetz Eingang in die Maximen verschafft wird, eine Erhebung in der Selbstachtung. Im Gefühl der Achtung beschränkt das Gesetz das pathologisch bestimmbare und entgrenzt das eigentliche Selbst. Aufgrund der Ambivalenz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, in der das Subjekt steht, ist es weder reine Unlust noch reine Lust, was in der Achtung empfunden wird, sondern es ist eine Dynamik der Lust durch Unlust, die sich aufgrund einer Erhöhung durch Unterwerfung ergibt. Das Subjekt fühlt sich im Gedanken an die Größe und den Anspruch des Gesetzes schwach und stark zugleich. Es fühlt sich klein, nichtig, ja nichtswürdig in dem, worin es dessen Anspruch nicht entspricht, und es fühlt sich zugleich groß und mächtig im Blick auf seine eigene Fähigkeit, alle nichtswürdigen Kleinlichkeiten seiner empirischen Privatperson, also alle individuellen Neigungen dem übergeordneten Gesichtspunkt des Gesetzes zu unterwerfen und seiner Rationalität mit der eigenen Vernunft zu entsprechen. Es ist eine Lust durch Unlust – ein Gefühl, dessen Dynamik sich ganz in Analogie zu der später in der dritten Kritik entwickelten Ästhetik des Erhabenen verstehen lässt (siehe unten Seite 474f.).15 Zum besseren Verständnis dieses vernunftgewirkten Gefühls trägt die Überlegung am Ende des ersten Buches bei: Wenn Kant in der Kritischen Be_____________ 15
Zur Analogie der Lehre vom Gefühl der Achtung mit der Analytik des Erhabenen siehe genauer Recki 2001, 187–220, 279–302.
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leuchtung der Analytik der Grundsätze auf die Berechtigung der Perspektive reflektiert, aus der das Subjekt „im Bewußtsein seiner intelligibelen Existenz“ (KpV 98) „transcendentale Freiheit“ des Handelns beansprucht (KpV 96f.), kommt dem Hinweis auf das Schuldbewusstsein angesichts von Handlungen, die es besser unterlassen hätte, die Rolle eines persuasiven Arguments zu. In der Beschreibung „desjenigen wundersamen Vermögens in uns, welches wir Gewissen nennen“, das sich in der „Reue über eine längst begangene That“ als „eine schmerzhafte, durch moralische Gesinnung gewirkte Empfindung“ kundgibt (KpV 98), stellt Kant aber nichts anderes vor als die Form der Achtung fürs Gesetz in der retrospektiven Beurteilung. Schon in der Grundlegung hatte er in der Erwähnung der „Selbstverachtung und innern Abscheu“ (GMS 426) im Grunde auf diese Modifikation der Achtung im Fall der Abweichung hingewiesen. Wenn man sich also unter der Achtung vor dem Gesetz nichts vorzustellen vermöchte, dann hätte man im schlechten Gewissen – sowohl in der Reflexion auf mögliche wie auf „längst begangene“ Handlungen – einen angemessenen lebensweltlichen Anknüpfungspunkt. So erläutert Kant in der Metaphysik der Sitten gänzlich in Analogie zum Gefühl der Achtung, der „Schmerz“ von „Gewissensbissen“ sei im „Ursprung moralisch“, in der Wirkung „physisch“ (MS 394) und gibt damit eine Paraphrase dessen, was ihm in der Kritik der praktischen Vernunft ein vernunftgewirktes Gefühl heißt.16 Eine vernunftkritische Theorie der Gefühle II: Eine „sehr merkliche Lust“ an der Erkenntnis. In der Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft findet sich eine ebenso singuläre wie überraschende Reflexion: […] so ist andrerseits die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetze unter einem sie beide befassenden Princip der Grund einer sehr merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung, selbst einer solchen, die nicht aufhört, ob man schon mit dem Gegenstande derselben genug bekannt ist. Zwar spüren wir an der Faßlichkeit der Natur und an der Einheit ihrer Abtheilungen in Gattungen und Arten, wodurch allein empirische Begriffe möglich sind, […] keine merkliche Lust mehr: aber sie ist gewiß zu ihrer Zeit gewesen, und nur weil die gemeinste Erfahrung ohne sie nicht möglich sein würde, ist sie allmählig mit dem bloßen Erkenntnisse vermischt und nicht mehr besonders bemerkt worden. (KU 187; Hervorh. v. B. R.)
_____________ 16
In der Religionsschrift wird es dann heißen: „Man könnte das Gewissen auch so definiren: es ist die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft; nur würde diese Definition noch einer vorhergehenden Erklärung der darin enthaltenen Begriffe gar sehr bedürfen.“ (RGV 186)
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Überraschend ist diese Reflexion schon als eine der wenigen, in denen wir Kant bei einer genealogischen Argumentation antreffen. Quer zu seiner methodischen Konzentration auf eine funktional auf den zeitlosen Akt der Erkenntnis bezogenen Analyse macht er hier geltend: Als die systematische Erkenntnis noch in ihren Anfängen stand, da waren ihre Erträge mit einer merklichen Lust, oft sogar Bewunderung, verbunden. Angesichts der lakonischen Kürze der Überlegung dürfen wir produktiv mitdenken: Die Lust, von der hier die Rede ist, ist als Überraschungslust am kairos des kognitiven Erfolgs und Erwerbs zu begreifen. Sie bezieht sich auf gelingende Erkenntnis und ist daher mit der rein sinnlichen Lust am Angenehmen nicht zu verwechseln, sondern der Einteilung in der Anthropologie entsprechend eine intellektuelle, durch Begriffe oder Ideen hervorgerufene Lust. Mit dieser Lust, die kein interesseloses Wohlgefallen sein kann, weil Erkenntnis mit Interesse einhergeht, kann sich aber ferner, wie es die Erwähnung sogar einer Bewunderung (selbst einer solchen, die mit der Gewöhnung nicht abnimmt) anzeigt, eine andere Art von Gefallen verbinden, das in die Nähe des interesselosen Wohlgefallens fällt oder mit diesem kongruiert. Es sieht so aus, als hätte dieses eine besonders günstige Voraussetzung gerade darin, dass das Gelingen der Erkenntnis nicht schon habitualisiert ist, wodurch die darauf bezogene Lust nicht mehr besonders bemerkt würde. Deshalb liegt es nahe, hier zu extrapolieren, dass solche Lust immer dann, wenn die Erkenntnis noch neu ist, auch eigens bemerkt werden kann. Aufschlussreich ist die zitierte Überlegung somit nicht allein als Dokument einer genealogischen Perspektive in Kants Vernunftkritik, sondern durch die Möglichkeit der systematischen Verknüpfung von Erkenntnis mit einem eigentümlichen Gefühl der Lust: Darin aber liegt der Hinweis auf eine rein kognitive Funktion des Gefühls – von der die Kritik der reinen Vernunft noch nichts weiß und für deren Aufspüren es offensichtlich der geschärften Aufmerksamkeit auf die bis dahin noch nicht untersuchte Funktion der reflektierenden Urteilskraft bedurfte. Insofern aber diese mit der Entdeckung verbundene Lust zugleich als heuristisches Moment der Orientierung im Erkenntnisprozess gedeutet werden darf, ist mit der kognitiven Funktion des Gefühls seine praktische verbunden. Wir dürfen diese Stelle erstens als grundlegend ansehen für eine Wertschätzung der Gefühle, die mit der Entdeckung von deren Ursprung in der Reflexion der Vernunft nicht länger in Frage gestellt ist; zweitens als exemplarisch für ein Verständnis der kognitiven und der praktischen Funktion von Gefühlen, wie sie im Gefühl der Achtung fürs Gesetz als Form des Selbstbewusstseins und als Motivation, wie sie schließlich in den ästhetischen Gefühlen des Schönen und des Erhabenen als Urteilsformen untersucht werden.
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Eine vernunftkritische Theorie der Gefühle III: Die ästhetischen Gefühle. In der kritischen Vernunftlehre Kants hat das Gefühl, so wie es moralischen Handlungen inhärent ist, kognitive und praktische Funktion. Es stellt sich aber heraus, dass der Begriff von diesem Gefühl der Achtung noch in einem anderen Sinne als der Erklärung der Motivation zum moralischen Handeln den „Stein der Weisen“ darstellt. Die Entwicklung eines Begriffs vom „vernunftgewirkten Gefühl“, zu der sich Kant im Interesse der Moralität genötigt sieht, hat nämlich auch direkte Auswirkungen auf seine systematische Wertschätzung derjenigen Gefühle, die in ästhetischer Einstellung wirksam sind. In der gleichen Einschätzung, die er seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre gegen den Begriff eines moralischen Gefühls geltend zu machen wusste, hatte er es in der Kritik der reinen Vernunft auch für ausgeschlossen erklärt, ein allgemeines Vernunftprinzip des Ästhetischen ausweisen zu können. Bis 1787, noch bis zur Arbeit an der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, hatte er an der Auffassung festgehalten, dass die ästhetischen Gefühle, denen er sich noch als vierzigjähriger eleganter Magister ganz im Geiste des Zeitalters und mit erkennbarem Sinn für die Phänomene zugewendet hatte (GSE), im Rahmen einer Kritik der Vernunft nicht theoriefähig wären. Da hatte Kant es als eine „verfehlte Hoffnung“ angesehen, „die kritische Beurtheilung des Schönen unter Vernunftprincipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben“ – weil die Quellen dieser Regeln „bloß empirisch“ wären (KrV, 2. Auflage 1787, 50f.; B 35f. Anm.). Es war also dasselbe Argument vom bloß empirischen Charakter des Gefühls, mit dem Kant das Gefühl als Prinzip moralischen Handelns und als zureichenden Grund für moralisches Urteilen verworfen hatte: Auch der Geschmack schien als Gefühl dazu verurteilt, bloß psychologisch von Interesse zu sein. Mit der Analyse der Achtung fürs Gesetz, in der Kant das moralische Gefühl als emotionale und zugleich vernünftige Triebfeder einsichtigen Handelns zu qualifizieren sucht, liegt das theoretische Szenario schlagartig in einem anderen Licht. Hier hat Kant mit einemmal ein vernunftgewirktes Gefühl, und von hier aus lässt sich trefflich extrapolieren. Wie der erste Teil der Kritik der Urtheilskraft, die Analytik des Schönen, zeigen wird, heißt dies, dass Kant die Aufnahme des ästhetischen Gefühls in die Vernunftkritik von seiner apriorischen und damit von seiner epistemischen Verfassung abhängig macht: Entscheidend ist hier die Antwort auf die „Frage: ob im Geschmacksurtheile das Gefühl der Lust vor der Beurtheilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe“, die Kant im § 9 der Kritik der Urtheilskraft durch die Analyse eines durch die Reflexion des Urteils
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gewirkten Lustgefühls gibt (KU 216ff.). Auf diese Weise ist zu zeigen: Auch im Erleben des Schönen wirken Kräfte, die nicht empirisch erklärbar sind, sondern ihrerseits am Ursprung der Erfahrung wirken. Es sind der Verstand als das Vermögen der Begriffe und die Einbildungskraft als das Vermögen der Anschauungen, die im ästhetischen Urteil als einem freien Spiel der Erkenntniskräfte zusammenwirken, als dessen Effekt das Gefühl der Lust entspringt, das Kant im Begriff des Wohlgefallens abspricht. Kant fasst diese Erkenntniskräfte in ihrem Zusammenwirken unter dem neuen Funktionstitel einer ästhetisch reflektierenden Urteilskraft und greift in der Sache damit auf, was die Zeitgenossen den Geschmack nennen. Es sind aber zwei Gefühle, die Kant nach dem Modell des Gefühls der Achtung im Blick auf ihre apriorischen Bedingungen analysiert: das Gefühl des Schönen und das Gefühl des Erhabenen. Das Gefühl des Schönen schildert Kant als ein interesseloses, das heißt durch keinerlei Bedürfnis abgenötigtes, insofern freies Wohlgefallen an einem Gegenstand. Über diesen lässt sich nichts weiter sagen, als dass er unserem Vorstellungsvermögen irgendwie ansprechend entgegenkommt – in einem ‚Irgendwie‘, das sich prinzipiell nicht in Eigenschaften fixieren lässt, weil das ästhetische Urteil, in dem dieses Gefühl entsteht, kein Erkenntnisurteil und „Schönheit […] kein Begriff vom Object“ ist (KU 290). Schönheit ist kein Prädikat, sondern ein Reflexionsbegriff. Angesichts eines Gegenstandes, oder wie Kant sagt: angesichts einer „Vorstellung der Einbildungskraft“, die uns viel zu denken gibt, „ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter […] Begriff adäquat sein kann“, als Effekt also einer Reflexion stellt es sich ein, dieses Gefühl. Kant nennt diese Reflexion ein freies Spiel der Erkenntniskräfte, die im Prinzip unendlich ist, da sie auf kein bestimmtes Ziel aus ist, und es ist ebendieser unbestimmte, spielerische Umgang mit dem Gegenstand, durch den das Lustgefühl ausgelöst wird. Denn wir werden uns in dieser durch keinen Zweck beschränkten spielerischen Einstellung auf den Gegenstand jener Zweckmäßigkeit bewusst, mit der unsere Erkenntniskräfte wie zu jeder Erkenntnis überhaupt, hier aber ohne den Zweck der Erkenntnis zusammenwirken. Im Bewusstsein dieser zweckfreien Zweckmäßigkeit besteht die ästhetische Lust. Kant spricht mit Blick auf den Effekt eines Lustgefühls aus einem Reflexionsprozess ausdrücklich von „Lust […] durch reflectirte Wahrnehmung“ (KU 190f.). Und er spricht, von vielen Lesern unbemerkt, ausdrücklich vom „Lebensgefühl“ des Subjekts (KU 204).
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Die ästhetische Reflexion, das freie Spiel der Erkenntniskräfte, bewirkt ein Gefühl, in welchem dem erlebenden Subjekt die eigene Lebendigkeit bewusst wird.17 Dieses Lebensgefühl ist zugleich ein Gefühl der Harmonie, zunächst jener internen Harmonie im zweckmäßigen Zusammenspiel unserer Erkenntniskräfte, aber da wir – ohne über dessen Eigenschaften dadurch etwas ausmachen zu können – dieses Erleben im Blick auf den Gegenstand haben, ist es auch ein Gefühl der Harmonie mit den äußeren Bedingungen: Im Blick auf das Schöne, in dem Gefühl, das dieser Blick in uns auszulösen vermag, haben wir unweigerlich die Intuition, dass die Dinge uns entgegenkommen – sie scheinen geradezu wie für die Aufnahme durch uns gemacht. Kant sagt es genauer: Das Schöne, angesichts dessen sich das freie Spiel der Erkenntniskräfte einstellt, dessen Effekt jenes Gefühl der Lust ist, ist so, als hätten wir es selbst zum Zweck der Wahrnehmung gemacht. „Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe“.18 Wir erleben bei ihrem Anblick im Gefühl des Schönen eine Entsprechung: eine Angemessenheit unserer sinnlichen und intellektuellen Verfassung an die Verhältnisse der äußeren Welt. Der wichtigste Ertrag von Kants Analyse des Schönen aber dürfte in einer Spekulation liegen, die er erst am Ende der Kritik der ästhetischen Urtheilskraft in § 59 anstellt. Das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten – mit dieser Einsicht überrascht uns hier am Ende des Buches ausgerechnet der Denker, der mit dem Anspruch aufgetreten ist, mit seiner Analyse des ästhetischen Urteils das Ästhetische als autonom zu bestimmen. Es stellt sich jedoch heraus, dass mit der Formel vom Schönen als dem Symbol der Sittlichkeit das Ästhetische keineswegs auf den Geltungsanspruch der Moral zurückgeführt wird. Das Sittlichgute, das ist für Kant die Freiheit des Willens, sich selbst das Gesetz des Handelns zu geben, und Symbolisierung besteht in nichts anderem als in analogischer Reflexion. Im Schönen, das weder in einem Gegenstand noch in einer Substanz, noch in einer Eigenschaft besteht, sondern in einer lustvollen Reflexionsbewegung, vollziehen wir mit anderen Worten eine analogische Reflexion auf den Charakter der Freiheit – es ist der Charakter der freien Reflexion selbst, durch den sich dieser Bezug auf die Freiheit einstellt. Auf diese Weise wird schließlich die zentrale Vernunftidee, von der Kant in der praktischen Philosophie hatte zugeben müssen, dass von ihr keine Erkenntnis als Erfahrung und damit kein Beweis möglich ist, doch noch zum Thema einer _____________ 17 18
Siehe dazu Recki 2002, 195–219. Kant 1914, Refl. 1820a (Akademie-Ausgabe Bd. XVI, Nachlass: Logik), 127.
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Darstellung. Diese Darstellung erfolgt nicht durch irgendein einzelnes Ding oder Bild, sondern durch das Gefühl selbst. Das Schöne ist darin das Symbol des Sittlichguten, dass die an ihm erlebte Freiheit der Gefühlsreflexion auf die Idee der Freiheit verweist.19 Im Prinzip das gleiche ist für das Gefühl des Erhabenen zu behaupten. Im Gefühl des Erhabenen erleben wir nach Kants Analyse keine reine Lust, es ist ein gemischtes Gefühl. Das Erhabene hat nicht wie das Schöne etwas Entgegenkommendes für unsere Vorstellungskraft, es hat vielmehr für unsere Einbildungskraft – und damit aufgrund von beider Zusammenwirken im freien Schematisieren der ästhetischen Reflexion auch für den Verstand – etwas Überwältigendes. Der Gegenstand ist zu groß, als dass wir ihn in einem Akt der Anschauung darstellen könnten (das Mathematisch-Erhabene), oder er ist von einer so bedrohlichen Übermacht und Gewalt, dass wir ihm nicht in ruhiger Betrachtung standhalten könnten (das Dynamisch-Erhabene). Kant beschreibt das Gefühl des Erhabenen als den klassischen Fall einer Faszination, als wechselweise Abstoßung und Anziehung, und in diesem Wechselbad der emotiven Regungen, in deren Dialektik gerade besteht das Gefühl. Vermögenstheoretisch rekonstruiert er diese Widerspruchsdynamik als das Scheitern von Einbildungskraft und Verstand, eine Erschütterung, die aber aufgehoben wird in einer Gegenbewegung unseres Gemüts, indem die Vernunft als das Vermögen zu schließen, das Vermögen also der gedanklichen Totalitätsstiftung, gleichsam einspringt. Anders als im Verhältnis zum Schönen ergibt sich hier keine spielerische Reflexion zwischen Einbildungskraft und Verstand, sondern eine agonale Reflexion zwischen der Einbildungskraft und der Vernunft, die den unbewältigten Eindruck auf ihre totalisierenden Vorstellungen bezieht. Angesichts einer enormen Größe – etwa des bestirnten Himmels – beziehen wir die Vorstellung der Einbildungskraft auf die Idee des unendlich Großen; angesichts einer gewaltigen Übermacht, die uns unsere eigene physische Zerbrechlichkeit vor Augen führt – etwa des gewaltigen Ozeans im Aufruhr eines Gewitters –, auf die Idee unserer übersinnlichen Freiheit. Wir sind auf diese Weise hin- und hergerissen zwischen Schaudern und Beglückung, oder zwischen Bestürzung und Versicherung, denn wir werden uns gerade angesichts der abgründigen Herausforderung unserer Einbildungskraft, wie Kant sagt, eines „Vermögen[s] zu widerstehen von ganz anderer Art“ bewusst (KU 261). Von dieser durch Bedrohung _____________ 19
Siehe die eingehenden Interpretationen in Recki 2001, 155–177 und dies. 2008 [in Vorbereitung].
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und Schrecken ausgelösten Widerstandsregung einer Vergegenwärtigung des übersinnlichen Moments unserer Bestimmung sagt Kant ausdrücklich: Wir haben das „Gefühl, daß wir reine, selbstständige Vernunft haben“ (KU 258; Hervorh. v. B. R.). Wir erleben dabei, nur eben angesichts eines sinnlichen Eindrucks und in ästhetischer Distanz, ganz ähnlich vorstellbar wie beim Gefühl der Achtung fürs Gesetz, eine Dynamik der Lust durch Unlust, die sich aufgrund einer Erhöhung durch Erniedrigung ergibt. Wie im Gefühl des Schönen aber wird uns bei aller spezifischen Differenz im Medium dieses Gefühls unsere Freiheit bewusst. Es ist im Prinzip dieselbe Freiheit, auf die uns das Gefühl des Schönen und das Gefühl des Erhabenen aufmerken lässt; doch im einen Fall werden wir uns ihrer bewusst als des praktischen Universalmediums der Erschließung der Welt, im anderen als dessen der agonalen Auseinandersetzung mit der Welt. Wo uns die Dinge wie im Eindruck des Erhabenen anzuzeigen scheinen, dass der Mensch nicht in die Welt passe, da wird uns bewusst, dass er doch das Vermögen hat, sie sich notfalls passend zu machen. Hier, da die Welt einem nicht in ansprechenden Gestalten entgegenzukommen scheint, sondern eher den Eindruck der Feindlichkeit macht, da wir uns der Kehrseite der Harmonie im agonalen Charakter unseres Weltverhältnisses bewusst werden müssen, ist das Subjekt erfüllt von einem „Geistesgefühl“, durch dessen formale Verfassung als einer Variante der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft unter Mitwirkung der Vernunftideen ein helleres Licht auf die Analyse des moralischen Gefühls der Achtung fällt. ****************************** Anders als es ein gängiges Vorurteil über die kantische Vernunftkritik geltend macht, läuft diese Theorie der reinen Vernunft keineswegs darauf hinaus, den Menschen als ein reines Vernunftwesen zu begreifen. Es geht Kant vielmehr um einen verlässlichen Begriff von den vernünftigen Leistungen, und der lässt sich nur ermitteln in einer Analyse, die zugleich die Grenzen der Vernunft bestimmt, welche in uns selber als nicht allein durch Vernunft bestimmten Wesen liegen. Eine der Pointen dieser Kritik der Vernunft besteht von daher in der Einsicht: Die Vernunft, von deren Leistungen wir hier sprechen, ist die Vernunft eines zugleich sinnlichen und von daher nicht rein vernünftigen Wesens. Im episodischen Hinweis auf eine sehr merkliche Lust an der überraschenden Erkenntnis bekräftigt Kant ausdrücklich, was er in der Abgrenzung des menschlichen als eines endlichen Verstandes im Kontrast zu einem göttlichen intellectus archetypus in der Kritik der reinen Vernunft bereits exponiert hatte. Die Theorie der Ge-
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fühle ist insofern gerade mit Blick auf die kritische Absicht, die Grenzen der Vernunft eines endlichen Vernunftwesens zu bestimmen, ein tragendes Lehrstück. Doch es ist die Erörterung des Gefühls insbesondere außerhalb der Erkenntnistheorie, die uns dies klarmachen kann, denn wie weit wir in irgendwelchen abstrakten Gedankenexperimenten auch darin kommen mögen, uns die Funktionen einer reinen Vernunft vorstellen zu können – spätestens das Gefühl muss uns an die Grenze solcher sterilen Spekulation bringen: Fühlen kann nur ein sinnliches und damit körperliches Wesen. Der Begriff des vernunftgewirkten Gefühls, in den beiden Instanzen des moralischen Gefühls der Achtung und des ästhetischen Gefühls eingehend belegt, birgt im Gegenzuge aber auch die vernunfttheoretische Pointe, das Gefühl, das ohne das Element der Sinnlichkeit nicht möglich wäre, als Element der Vernunft, genauer: als deren spezifische Leistung zu fassen.
Literatur Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe seiner Gesammelten Schriften zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: ApH BEM GMS GSE KpV KrV KU MM MS RGV
– Anthropologie in pragmatischer Hinsicht – Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen – Kritik der praktischen Vernunft – Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage 1787) – Kritik der Urtheilskraft – Moral Mrongovius – Metaphysik der Sitten – Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Bartuschat, Wolfgang (1984), Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit, in: Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hg.), Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt a. M., 69–93. Cassirer, Ernst (1918), Kants Leben und Lehre, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 8, hrsg. von Birgit Recki, Hamburg. Gerhardt, Volker (2002), Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart. Henrich, Dieter (1963), Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion, in: KantStudien 54, 404–431. Kant, Immanuel (1903/1911, zuerst 1785), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. IV, Berlin (=GMS). – (1904/1911, 21787), Kritik der reinen Vernunft, Gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Bd. III, Berlin (=KrV).
Kant: Vernunftgewirkte Gefühle
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– (1905/1912, zuerst 1764), Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Berlin (=GSE). – (1905/1912, zuerst 1765/1766), Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in de Winterhalbenjahre von 1765/66, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Berlin. – (1905/1912), Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Berlin. – (1907/1914, zuerst 1793), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. VI, Berlin (=RGV). – (1907/1914, zuerst 1796), Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Bd. VI, Berlin (=MS). – (1907/1917, zuerst 1798), Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. VII, Berlin (=ApH). – (1908/1913, zuerst 1788), Kritik der praktischen Vernunft, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. V, Berlin (=KpV). – (1908/1913, zuerst 1790), Kritik der Urtheilskraft, Gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Bd. V, Berlin (=KU). – (1914), Logik, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. XVI (Nachlass), Berlin. – (1978), Moral Mrongovius, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 27/II, Berlin (=MM). – (1991), Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, neu hrsg. u. komment. von Marie Rischmüller, Hamburg (=BEM). Ming-Huei, Lee (1994), Das Problem des moralischen Gefühls in der Entwicklung der Kantischen Ethik, Taiwan. Recki, Birgit (2001), Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. – (2002), „Lebendigkeit“ als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin, 195–219. – (2004), Die Idee der Kultur. Über praktisches Selbstverständnis im Kontext, in: Wolfram Hogrebe/Joachim Bromand (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen (XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, 23.–27. September 2002 in Bonn, Vorträge und Kolloquien), Bonn, 564 – 573. – (2006), Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant, Paderborn. – (2008), Kommentar zu den §§ 55–60, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant – Kritik der Urtheilskraft (Reihe Klassiker auslegen), Berlin [in Vorbereitung]. Schmucker, Josef (1961), Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim am Glan. Tilkorn, Anne (Hg.) (2009), Motivationen des Selbst [in Vorbereitung]. Zammito, John H. (2002), The Genesis of Kant´s Critique of Judgment, Chicago.
Arthur Schopenhauer (1788–1860)
Schopenhauer: Emotionen als Willensphänomene Dieter Birnbacher und Oliver Hallich 1. Biografie und Persönlichkeit „In meinem 17ten Jahre […] wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte.“ (HN IV/1, 96) – Diese Notiz Schopenhauers aus dem Handschriftlichen Nachlaß macht deutlich, dass für ihn Emotionen und Affekte nicht nur Gegenstand theoretischer Beschäftigung, sondern Teil seiner unmittelbaren Lebenserfahrung waren. Es sind vor allem das Gefühl des Leidens und die Empfänglichkeit für das Leiden des anderen, die das Movens seiner Philosophie bilden und sich, wenn wir seinem Selbstzeugnis Glauben schenken, erstmals auf einer Europareise kundtaten, die ihm sein Vater zur Belohnung für seine Einwilligung in eine (dann doch abgebrochene) Kaufmannslehre schenkte. Eine solche unmittelbare Betroffenheit über das Elend des Daseins, nicht etwa ein abstraktes Erkenntnisinteresse, ist die Keimzelle des schopenhauerschen Pessimismus. Auch von seiner Persönlichkeit her bietet Schopenhauer das Bild eines stark emotionsbestimmten Menschen.1 Seine Affekte schien er selbst nur mit Mühe kontrollieren zu können. Die in seiner Ethik als Ziel eines Heilswegs figurierende Emotionslosigkeit und Gelassenheit gegenüber den Übeln und Wirrnissen der Welt waren ihm selbst nicht gegeben. Weit entfernt von stoischer Gelassenheit zog er über seinen Erzfeind Hegel her, wurde ausfällig gegen seinen Verleger Brockhaus, sobald dieser seinen starren Terminvorstellungen nicht aufs Genaueste entsprach, und verschonte in dieser Hinsicht selbst seinen eifrigsten Jünger, Frauenstädt, nicht. Angriffslust und ein Hang zur Cholerik, extremer Stolz, ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und äußerste Empfindlichkeit gegenüber _____________ 1
Zur Darstellung der Persönlichkeit Schopenhauers vgl. z. B. Spierling 1998, 15– 34; Fleischer 2001, 9–53 und insbesondere die Schopenhauer-Biografie von Rüdiger Safranski 1987.
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Kränkungen – das waren Züge seiner Persönlichkeit, die ihm selbst wiederholt zum Nachteil ausschlugen. Sein Jähzorn trug ihm – als Folge der Tatsache, dass er eine Näherin, als diese ihn störte, etwas zu energisch, nämlich unter Einsatz körperlicher Gewalt, des Raumes verwiesen hatte – einen Prozess wegen Körperverletzung ein (den er verlor), und die Provokationen und Wutausbrüche gegen Hegel waren seinem akademischen Erfolg vermutlich ebenso abträglich wie seine schroffe Art dem Erfolg bei Frauen, um den er sich zumindest in seiner Jugend bemühte. Es mag sein, dass Schopenhauer, der auch Sexualität primär als Gefährdung innerer Unabhängigkeit und als Demütigung erlebte, eigene Gefühle und Affekte vor allem als bedrohlich empfand. Seine Philosophie mit ihrem dezidierten Bemühen um Rationalität erscheint jedenfalls in manchem auch als Versuch, dieses Ausgeliefertsein an die eigenen Gefühle reflektierend zu bewältigen.
2. Philosophie als expressive Beschreibung Die besondere Nähe von Schopenhauers Philosophie zu den Emotionen zeigt sich nicht nur in seinem hochemotionalen Schreibstil, sondern auch in denjenigen Teilen seines Werks, in denen er über Natur und Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen oder (wie im Schlusskapitel des zweiten Bands von Welt als Wille und Vorstellung) über sein eigenes höchstpersönliches Philosophieren nachdenkt. Die Modelle, die Schopenhauer dabei von seinem eigenen Philosophieren entwirft, lassen sich nicht leicht auf einen einheitlichen Nenner bringen. Aber zumindest eines dieser Modelle ist das einer Philosophie, die nichts anderes sein will als das, was man „expressive Beschreibung“ nennen könnte: die Beschreibung der Erfahrungswelt in ihren für das Individuum bedeutsamen Aspekten. „Bedeutsam“ heißt dabei: emotional bedeutsam. Die Aufgabe der Philosophie bestehe darin, die Welt nicht zu erklären, sondern in ihren für den Menschen existenziell wichtigen Zügen zu beschreiben. Damit rehabilitiert Schopenhauer die Metaphysik vor dem Hintergrund der kantischen Metaphysikkritik. Er folgt Kant einerseits in der Kritik des rationalistischen Verständnisses von Metaphysik als einer reinen Begriffswissenschaft. Andererseits wirft er ihm vor, fälschlich anzunehmen, dass Metaphysik notwendig a priori sein müsse. Dagegen setzt Schopenhauer seine Konzeption von Metaphysik als Erfahrungswissenschaft – wobei sich dieserart Erfahrungswissenschaft allerdings von wissenschaftli-
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chen Beschreibungen in mehreren Hinsichten unterscheidet: Erstens soll es nicht um einzelne Erfahrungen gehen, sondern um das „Ganze und Allgemeine aller Erfahrung“ (W II, 204). Zweitens soll die Philosophie nicht nur die Oberfläche der Erscheinungen nachzeichnen, sondern den inneren Zusammenhang der Erscheinungen aufspüren. Sie soll die Welt als sinnhaftes Ganzes deuten, ihren verborgenen Sinn wie den einer Geheimschrift entziffern: Das Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefaßt und an die äußere die innere Erfahrung geknüpft wird; so muß es aus sich selbst gedeutet, ausgelegt werden können. (W II, 202f.)
Dieses Konzept einer hermeneutischen Metaphysik legt die Frage nahe, wie die auf diesem Wege gewonnenen Interpretationshypothesen bestätigt oder widerlegt werden können. Offensichtlich bedarf es, soll eine sich als Daseinshermeneutik2 verstehende Metaphysik den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten können, eines Kriteriums, das bestimmte Deutungshypothesen als wahr ausweist und von anderen, nicht zutreffenden Interpretationshypothesen abgrenzt. Dieses Kriterium ist für Schopenhauer – erstaunlicher-, aber angesichts der Prämissen seiner Philosophie auch konsequenterweise – in letzter Instanz ein Gefühl. Dieses Gefühl richtet sich auf das Leiden der Welt. Es ist das von Schopenhauer so wortreich ausgemalte Entsetzen darüber, dass die Welt so ist, wie sie ist: voll Leid und Elend, ein „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen“ (W II, 667), die zwischen Ewigkeiten des Nichtseins ein sinnloses und von Leiden geprägtes kurzes Dasein verbringen. So schreibt etwa Schopenhauer, die Tatsache, dass die Natur Wesen entstehen und nach einer kurzen Spanne Zeit wieder zu nichts werden lasse, sei etwas so augenscheinlich Absurdes, daß es nimmermehr die wahre Ordnung der Dinge seyn kann, vielmehr bloß eine Hülle, welche diese verbirgt. […] Ja, das ganze Seyn und Nichtseyn selbst dieser Einzelwesen, in Beziehung auf welches Tod und Leben Gegensätze sind, kann nur ein relatives seyn: die Sprache der Natur, in welcher es uns als ein absolutes gegeben wird, kann also nicht der wahre und letzte Ausdruck der Beschaffenheit der Dinge und der Ordnung der Welt seyn. (W II, 543)
Das „Absurde“, von dem hier die Rede ist, ist keine logische, sondern eine moralische Absurdität.3 Sie wird nicht festgestellt, sondern empfunden. _____________ 2 3
Zur schopenhauerschen Konzeption von Metaphysik als Hermeneutik des Daseins vgl. Safranski 1987, 313–332 (Kapitel 15), insbesondere 320. Vgl. hierzu Hauskeller 1998, 21–27.
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Das Leben ist nach Schopenhauer – dies steht für ihn vor jeder philosophischen Reflexion fest – ein moralischer Skandal. Und die Rationalität eines philosophischen Systems bemisst sich ihm zufolge daran, ob sie dem Gefühl des Entsetzens über diesen Skandal gerecht wird. Daher wird die Nichtübereinstimmung mit diesem Gefühl als Argument gegen „optimistische“ metaphysische Konzeptionen, vor allem diejenige Leibniz’, herangezogen, die den Vorwurf des Zynismus eben deswegen auf sich ziehen, weil sie der primär emotionsbasierten negativen Bewertung der Welt nicht gerecht werden, sie nicht philosophisch bestätigen können und „dem laut schreienden Zeugnis einer ganzen Welt voll Elend zum Trotz“ (W II, 665) aufgestellt werden. Schopenhauer schreibt zur Bekräftigung dessen bewusst expressiv und emotional: Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist […] – dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität ist schreiend. (W II, 667)
Es ist diese Übereinstimmung mit dem moralischen Gefühl des Entsetzens, den Affekten der Empörung und des Zorns über die Übel der Welt, die Schopenhauer in letzter Instanz als Verifikationskriterium seiner daseinshermeneutischen Hypothesen über das Wesen der Welt gilt. Drittens soll die Philosophie das beschriebene Leiden an den Widrigkeiten der Welt auch ausdrücken. Wie die Kunst soll die Philosophie nicht nur belehren, sondern auch ins Herz treffen: Auch darf es dabei, so sehr auch der Kopf oben zu bleiben hat, doch nicht so kaltblütig hergehen, daß nicht am Ende der ganze Mensch, mit Herz und Kopf, zur Aktion käme und durch und durch erschüttert würde. (P II, 9)
Die Philosophie soll die Tragödie, die die Welt nach Schopenhauer darstellt, nicht nur in abstrakten Begriffen benennen, sondern auch lebendig und nachfühlbar machen, gewissermaßen auf die philosophische Bühne bringen. So erklären sich die vielfach ausgesprochen drastischen zur Illustration herangezogenen Beispiele, etwa – im Zusammenhang mit der Grausamkeit gegen Tiere – die Praxis der Vivisektion (P II, 396f.) oder das sadistische Zu-Tode-Peitschen vor dem unbeweglichen Steinkarren (E 162). Die Schockwirkung dieser Beispiele ist beabsichtigt, das über die Kantische Moral in diesem Punkt ausgestoßene „Pfui!“ (ebd.) nicht nur echt empfunden, sondern genuiner Teil von Schopenhauers Philosophie. Der Zorn und die Empörung über das, was die Welt und die Menschen dem Einzelnen antun, sind dieser Philosophie wesentlich.
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3. Primat des Affekts über die Vernunft In § 11 der Welt als Wille und Vorstellung – der einzigen Passage seines Werkes, in der Schopenhauer den Gefühlsbegriff explizit zum Gegenstand macht – untersucht Schopenhauer die Verwendung des Ausdrucks „Gefühl“.4 „Gefühl“, so Schopenhauer, werde landläufig als kontradiktorischer Gegenbegriff zu „Wissen“ verwendet und würde eben daher so höchst Disparates wie z. B. Gefühle der Wollust, moralische Gefühle, körperliche Gefühle und Gefühle der Schande und des Abscheus umfassen: Der Begriff, den das Wort Gefühl bezeichnet, hat durchaus nur einen negativen Inhalt, nämlich diesen, daß etwas, das im Bewußtseyn gegenwärtig ist, nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntnis der Vernunft sei: übrigens mag es seyn, was es will, es gehört unter den Begriff Gefühl, dessen unmäßig weite Sphäre daher die heterogensten Dinge begreift […]. (W I, 61)
Für diese auch noch moderne Gefühlstheorien beschäftigende semantische Unbestimmtheit des Gefühlsbegriffes offeriert Schopenhauer im Folgenden eine interessante Diagnose: Die Ausdehnung des Gefühlsbegriffs, der – eben weil es sich um einen Begriff handelt und die Vernunft für die Ausbildung von Begriffen zuständig ist – selbst ein Produkt der Vernunft ist, führt Schopenhauer auf einen Fehler der Vernunft zurück, auf eine „Einseitigkeit“ (W I, 62), die sich „die Vernunft selbst zu Schulden kommen [läßt], indem sie unter den einen Begriff Gefühl jede Modifikation des Bewußtseyns befaßt, die nur nicht unmittelbar zu ihrer Vorstellungsweise gehört, d. h. nicht abstrakter Begriff ist“ (ebd.). Ursache dieser „Einseitigkeit“ der Vernunft sei, dass der Vernunft „ihr eigenes Verfahren […] nicht durch gründliche Selbstkenntniß deutlich geworden“ sei (ebd.), d. h. dass es keinen externen Standpunkt gebe, von dem aus die Vernunft als Vermögen der Begriffsbildung auf die Ursachen dieser Begriffsbildung selbst reflektieren könne. Schopenhauer kritisiert also die gängige Verwendung des Gefühlsbegriffs mit dem – Nietzsches genealogische Kritik des Intellekts vorwegnehmenden – Argument, dass die Vernunft als das für die Begriffsbildung zuständige Vermögen keine Letztinstanz ist, sondern ihrerseits auf die einer bestimmten Begriffsbildung zugrunde liegenden Motive befragt werden kann und muss. Schon die Verwendung des _____________ 4
Vgl. hierzu Ruffing 2001, 59f.
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Ausdrucks „Gefühl“ für alles nicht der Vernunft Zugehörige ist eine Selbsttäuschung der ihrer selbst nicht bewussten Vernunft. Damit ist eine Aufwertung des emotionalen Moments des menschlichen Weltzugangs vorbereitet, die dann im zweiten Buch der Welt als Wille und Vorstellung explizit vollzogen wird. Hier wird dem Wissen gegenüber der affektiven Dynamik des Willens eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Dem Willen wird der Primat über die Vernunft zugesprochen, die ihrerseits nur eine „Objektivation“ des Willens sei: Die Erkenntniß überhaupt, vernünftige sowohl als bloß anschauliche, geht also ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern Stufen seiner Objektivation, als eine bloße mechané, ein Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes. Ursprünglich also zum Dienste des Willens, zur Vollbringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch fast durchgängig gänzlich dienstbar. (W I, 181)
In radikaler Abweichung von der rationalistischen wie auch von der kantischen Philosophie vertritt Schopenhauer eine Art „Funktionalismus der Vernunft“, nach dem die Vernunft nichts anderes ist als eine Funktion des auf seine Selbsterhaltung abzielenden metaphysischen Willens.5 Während in der jüngeren Emotionstheorie im Anschluss an Kenny vor allem die Rationalität der Gefühle und die Möglichkeit, Gefühle als vernünftig oder unvernünftig zu beurteilen, im Zentrum der Auseinandersetzung steht, betont Schopenhauer umgekehrt die emotionale Prägung des Kognitiven: Statt dass Vernunft als Korrektiv der Gefühle gilt, steuert das Affektive unsere Kognitionen – Affekte und Wille verhalten sich, so Schopenhauer in einem einprägsamen Bild, zur Vernunft wie „der starke Blinde, der den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt.“ (W II, 233) Dies hat zur Folge, dass für Schopenhauer auch die scheinbar nüchternsten kognitiven Tätigkeiten emotional imprägniert sind. Objektivität – die Befreiung des Kognitiven vom Emotionalen – ist nach Schopenhauer eine seltene Ausnahme von der Regel. Von dieser Außerkraftsetzung des Emotionalen ist sowohl in der Ästhetik als auch in der Ethik die Rede. In der Ästhetik deutet Schopenhauer die kontemplative Betrachtung des Kunstobjekts als Stillstellung des Willlens: Das betrachtende Subjekt ist kurzzeitig „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß.“ (W I, 210f.) Die durchgängige Hemmung des Willens durch den Intellekt ist hingegen „die ganz exceptionelle […], die man als Genie bezeichnet“ (W II, 247). In der Ethik ist für _____________ 5
Zum Funktionalismus der Vernunft bei Schopenhauer vgl. Schnädelbach 1992, 24.
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Schopenhauer die Abgeklärtheit des von seinen Emotionen befreiten Asketen und Heiligen die letzte Stufe des Heilswegs zur Willensverneinung. Auch sie ist eine nur wenigen vorbehaltene Ausnahmeerscheinung.
4. Emotionen als Willensphänomene Bezeichnend für Schopenhauers Gefühlstheorie ist die Beschreibung der Gefühle als Willensphänomene. Lapidar definiert Schopenhauer „Affekte und Leidenschaften“ als „Affektionen des […] Willens“ (E 11). Allerdings legt Schopenhauer dabei einen ungewöhnlich weiten Willensbegriff zugrunde. „Wille“ fungiert als ein Sammelbegriff für alle psychischen Phänomene, die entweder Willensregungen als Anteile haben oder mit Willensregungen direkt oder indirekt verbunden sind. Zu den ersteren rechnet Schopenhauer neben den eigentlichen Willensregungen und Willensakten Strebungen, Begehrungen und Handlungen; zu den letzteren Wünsche, Hoffnungen und Ängste, aber auch das Erleiden von Schmerz und Gefühle von Lust und Unlust. Die von Schopenhauer in demselben Zusammenhang genannten Emotionen Liebe, Freude, Zorn, Hass und Trauer lassen sich dabei zwanglos der ersten Kategorie zurechnen. Sie sind in der Regel mit (positiven und negativen) Strebungen und Verhaltensimpulsen verbunden, augenfällig insbesondere bei heftigen Emotionen, bei denen das Subjekt in Gefahr steht, die Kontrolle über sein Verhalten zu verlieren. Schopenhauer reserviert den Terminus „Affekt“ im Allgemeinen für diese heftigeren Emotionen, auch wenn er gelegentlich Affekte und Emotionen gleichsetzt. Wenn er von „Affekten“ spricht, meint er in der Regel ausgeprägt „heftige und stürmische“ emotionale Zustände, während Emotionen wie Freude und Trauer durchaus „sanft und leise“ sein können (E 11). „Affekte“ in diesem Sinn sind regelmäßig mit entsprechend heftigen Willensregungen verknüpft. Aber auch bei den „calm passions“, wie Hume sie genannt hat, legt Schopenhauer auf den Hinweis Wert, dass sie im Allgemeinen zumindest mit Wünschen einhergehen, die Schopenhauer ebenfalls unter seinen weiten Willensbegriff subsumiert. Auch Wünsche sind für Schopenhauer Willensphänomene, nämlich „Bewegungen des entweder gehemmten, oder losgelassenen, befriedigten, oder unbefriedigten […] Willens“ (E 11). Schopenhauer lässt keinen Zweifel daran, dass der Willensbegriff, von dem er ausgeht, wenn er Emotionen, Begehrungen und Lust- und Unlustempfindungen als „Willensphänomene“ bezeichnet, vom üblichen Sprach-
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gebrauch abweicht – mag er auch zu Recht darauf hinweisen, dass bereits Augustinus einen ähnlich weiten Willensbegriff verwendet und ebenfalls Emotionen wie Freude und Trauer als Willensphänomene bezeichnet hat (E 11; W II, 225f.). Das zeigt sich u. a. daran, dass er das Wollen im umgangssprachlichen Sinn als „eigentlichen Willensakt“ von den übrigen Willensphänomenen absetzt (W II, 225f.) und an anderer Stelle präzisiert, dass „alle anderen Erregungen des Willens“, die nicht in diesem eigentlichen Sinn als Willensakte bezeichnet werden können, „Vorbereitungen“ zu Willensakten sind (W II, 421). Die Frage stellt sich dennoch, warum Schopenhauer mit diesem extrem weit gefassten Willensbegriff riskiert, dass die Konturen der darunter subsumierten Phänomene verschwimmen. Müsste eine angemessene Emotionstheorie nicht gerade im Gegenteil bemüht sein, die Besonderheiten der Emotionen herauszuarbeiten und diejenigen Merkmale benennen, die Emotionen von Empfindungen, Strebungen, Einstellungen, Motiven usw. unterscheiden? Schopenhauer hat mehrere Gründe, Emotionen mit so vielen anderen Phänomenen zusammen unter dem umbrella term „Wille“ zu fassen und damit die volitiven und motivationalen Aspekte von Emotionen gegenüber den übrigen (kognitiven, sensorischen, somatischen, expressiven) Aspekten hervorzuheben. Erstens möchte er die leicht als selbstverständlich geltende, aber bei näherem Zusehen erklärungsbedürftige Tatsache erklären, dass Emotionen, gleichgültig ob heftig oder ruhig, Willensregungen darin verwandt sind, dass sie bestimmte positive oder negative Einstellungen gegenüber einem wie immer gearteten Gegenstand beinhalten. Emotionen sind Prooder Con-attitudes, sie bewerten ihren Gegenstand mit positivem oder negativem Vorzeichen. Ähnlich wie Willensakte haben sie unterschiedliche Valenzen. Positiv getönte Emotionen wie Freude oder Dankbarkeit bewegen sich auf ihren Gegenstand zu, negativ getönte wie Ärger oder Angst von ihm weg. Auch wenn Freude und Dankbarkeit keine Begierden sind, haben sie die Hinwendung zu ihrem Objekt mit der Begierde gemeinsam, so wie Ärger und Ängste die Abwendung von ihrem Objekt mit der Abscheu gemeinsam haben. Wenn Schopenhauer von „Wille“ oder „Wollen“ spricht, lässt sich dies also am treffendsten mit „Bewertung“ übersetzen. In der Tat: Für alle psychischen Phänomene, die Schopenhauer dem „Willen“ zuschlägt, ist ein Moment von Bewertung charakteristisch. Zweitens haben starke und schwache Emotionen, gefühlshafte Einstellungen, Begierden, Abneigungen und Lust- und Unlustempfindungen nach Schopenhauer eine gemeinsame Quelle: ein unbewusstes Agens, das
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Schopenhauer ebenfalls „Wille“ nennt, aber von dem als die Gesamtheit der wertenden psychischen Phänomene verstandenen Willen sorgfältig unterschieden werden muss (was Schopenhauer nur stellenweise tut). Soweit „Wille“ diese Quelle meint, ist er mit „Trieb“ oder „psychische Energie“ zu übersetzen. In diesem Sinn entspricht „Wille“ Spinozas conatus und Freuds Es. Dieser „Wille“ ist nur begrenzt steuerbar. Er manifestiert sich nicht nur im bewussten Wollen und der rationalen Handlungsplanung, sondern gerade auch in Gefühlen, Lust- und Unlustempfindungen und spontanen Verhaltensweisen, also in psychischen Phänomenen, die wir nicht oder nur teilweise in der Hand haben. Zwar ist auch immer dann, wenn wir etwas wollen, dieser „Wille“ beteiligt. Aber er zeigt sich auch in vielem, was uns schlicht widerfährt, unter anderem in unseren für uns selbst gelegentlich befremdlichen Emotionen. Der unbewusste „Wille“ ‚will‘ dann etwas, was wir unserem Selbstverständnis nach nicht wollen. Nicht wir wollen, sondern es ‚will‘ in uns. Er verfolgt ‚Absichten‘, die nicht die unseren sind, etwa infolge eines im Unbewussten liegenden Verdrängungsmechanismus, der verhindert, dass diese ‚Absichten‘ ins Bewusstsein treten: Der Intellekt bleibt von den eigentlichen Entscheidungen und geheimen Beschlüssen des eigenen Willens so sehr ausgeschlossen, daß er sie bisweilen, wie die eines Fremden, nur durch Belauschen und Ueberraschen erfahren kann, und ihn auf der That seiner Aeußerungen ertappen muß, um nur hinter seine wahren Absichten zu kommen. […] Oft wissen wir nicht, was wir wünschen, oder was wir fürchten. Wir können Jahre lang einen Wunsch hegen, ohne ihn uns einzugestehn oder auch nur zum klaren Bewußtseyn kommen zu lassen. (W II, 234f.)
Diesen unbewusst wirkenden „Willen“ meint Schopenhauer, wenn er das Wesen der Emotionen (aber auch das Wesen von Lust- und Unlustempfindungen) so charakterisiert, dass sie „als ein dem Willen Gemäßes, oder ihm Widerwärtiges, unmittelbar ins Selbstbewußtsein treten.“ (E 12) Die Valenz der Emotion bestimmt sich dabei danach, ob der zugrunde liegende Trieb befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, ungehemmt fließen kann (Schopenhauer sagt: „losgelassen“ wird) oder gehemmt wird. Fließt er ungehemmt, äußert sich das in einer positiven, wird er gehemmt, in einer negativen Qualität der Empfindung, des Strebens oder der Emotion. Nicht erst Freud, sondern bereits Schopenhauer geht von einem ‚hydraulischen‘ Modell der Triebenergie aus: Der Trieb bewegt sich in einem „beständigen Ebben und Fluten“ (E 12). Sein ungehindertes Fließen ist die Quelle von Lust, seine Hemmung die Quelle von Unlust – wobei, wie Schopenhauer richtig sieht, Lust oder Unlust sich gelegentlich auch mi-
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schen können, etwa dann, wenn „wir einen wichtigen, entscheidenden Brief erwarten und er ausbleibt“ (P II, 627). Ein dritter Grund für Schopenhauer, Emotionen als Willensphänomene einzustufen, liegt darin, dass er den für seine Philosophie grundlegenden Kontrast zwischen dem Erkennen und dem Wollen und seinen Erscheinungsformen so scharf wie möglich herausarbeiten möchte, ohne diesen Kontrast durch genauere Differenzierungen innerhalb der Willensphänomene zu schwächen. Dieser Kontrast ist eng verbunden mit der ethisch-soteriologischen Zwecksetzung seiner Philosophie. Ähnlich wie Spinoza setzt sich Schopenhauer das Ziel, den Menschen nicht nur über die Bestimmungsfaktoren seines Daseins ins Licht zu setzen, sondern ihm auch den Weg zur Überwindung der dadurch bedingten Unfreiheiten und Nöte zu weisen. Das Ziel ist nicht nur Wissen, sondern auch – oder sogar in erster Linie – Erlösung.6 Wie Spinoza sieht auch Schopenhauer diese Erlösung allein in der Erkenntnis, wobei allerdings Erkenntnis für Schopenhauer die Überwindung nicht nur der negativen (passiven) Affekte, sondern die Befreiung von sämtlichen Erscheinungsformen des Willens verlangt, eine ‚Selbstverneinung des Willens‘. Das geeignete Mittel, zu einer solchen Erkenntnis zu gelangen, ist – unter anderem – die Befreiung von allen Emotionen – nicht nur von den heftigen, sondern auch von den schwachen. Denn schlechthin alle Emotionen und emotionalen Einstellungen wirken sich Schopenhauer zufolge verzerrend auf unsere Wahrnehmung der realen Verhältnisse aus. Wahre Objektivität ist nur unter der Bedingung erreichbar, dass es gelingt, jede werthafte Besetzung von unserer Wahrnehmungswelt abzuziehen. Da die Verzerrung der Realität durch die Emotionen unbewusst stattfindet, wirkt sie sich nicht nur darauf aus, wie wir die Dinge beurteilen, sondern bereits darauf, wie wir sie erleben: Um einzusehn, daß eine rein objektive und daher richtige Auffassung der Dinge nur dann möglich ist, wann wir dieselben ohne allen persönlichen Antheil, also unter völligem Schweigen des Willens betrachten, vergegenwärtige man sich, wie sehr jeder Affekt, oder Leidenschaft, die Erkenntniß trübt und verfälscht, ja, jede Neigung oder Abneigung, nicht etwan bloß das Urtheil, nein, schon die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt. Man erinnere sich, wie, wann wir durch einen glücklichen Erfolg erfreut sind, die ganze Welt sofort eine heitere Farbe und eine lachende Gestalt annimmt; hingegen düster und trübe aussieht, wann Kummer uns drückt. […] Nur wann der Wille, mit seinen Interessen, das Bewußtsein geräumt hat und der Intellekt die objektive Welt abspiegelt, dabei aber doch, obwohl von keinem Wollen ange-
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Zu Schopenhauers Erlösungslehre vgl. insbesondere Malter 1991, 335–448.
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spornt, aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Thätigkeit ist, treten Farbe und Gestalt der Dinge in ihrer wahren und vollen Bedeutung hervor. (W II, 426f.)
Eine Konsequenz von Schopenhauers Einordnung der Emotionen in die Gesamtheit der Willensphänomene ist, dass es nicht immer leicht ist, diejenigen seiner Lehrmeinungen zu isolieren, die spezifisch Emotionen zum Gegenstand haben und bei denen nicht zugleich auch andere psychische Phänomene (Strebungen, Motive, Lust- und Unlustempfindungen) mitgemeint sind. Klar ist, dass Schopenhauer in den Affekten im engeren Sinne, d. h. in den mit physischen Erregungszuständen einhergehenden Emotionen, die prägnantesten und eindeutigsten Ausprägungen derjenigen Merkmale sieht, die er allen Willensphänomenen zuschreibt. In den Affekten zeige sich das Wesen des (unbewussten) Willens am unverwechselbarsten. Der Affekt lüftet den Schleier, den ansonsten Vernunft und Besonnenheit über die menschlichen Motive werfen und sie damit den Blicken anderer, aber auch den Blicken des Individuums selbst, entziehen (P II, 616). Nur im Affektausbruch tritt die letztlich auch dem besonnenen und rationalen Verhalten zugrunde liegende Triebdynamik hervor, weshalb sie, wie Schopenhauer meint, auch ohne Mühe „Glauben“ findet (ebd.) und für echt gehalten wird (wobei er offensichtlich übersieht, dass schauspielerisch begabte Hysteriker Leidenschaften auch vortäuschen können). Nur in der Leidenschaft spricht sich das wahre Wesen des Menschen aus, der kein anderer als der „innerste Kern alles Lebenden“ ist (P II, 616). Genau deshalb seien die Leidenschaften „das Hauptthema der Dichter und das Paradepferd der Schauspieler“ (P II, 617). Wie ist dieser „innerste Kern alles Lebenden“, der in den (heftigen) Emotionen zutage tritt, näherhin bestimmt? Hierzu lassen sich vier für Schopenhauers Anthropologie charakteristische Thesen unterscheiden: 1. Die Allgegenwärtigkeit des Emotionalen. Emotionale oder emotional getönte Zustände haben in unserem tagtäglichen Erleben den Primat: Bewertende, billigende oder missbilligende, appetitive oder aversive, annehmende oder ablehnende Akte und Einstellungen dominieren alle anderen und insbesondere die wertmäßig neutralen und rein erkennenden Zugänge zur Welt. Gefühlshaft gestimmt sind wir (nahezu) immer; erkennend verhalten wir uns nur zeitweilig: Der Intellekt ermüdet; der Wille ist unermüdlich. – Nach anhaltender Kopfarbeit fühlt man die Ermüdung des Gehirnes, wie die des Armes, nach anhaltender Körperarbeit. Alles Erkennen ist mit Anstrengung verknüpft: Wollen hingegen ist unser selbsteigenes Wesen, dessen Aeußerungen ohne alle Mühe und völlig von
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selbst vor sich gehen. Daher, wenn unser Wille stark aufgeregt ist, wie in allen Affekten, also im Zorn, Furcht, Begierde, Betrübniß u. s. w., und man fordert uns jetzt zum Erkennen, etwan in der Absicht der Berichtigung der Motive jener Affekte, auf; so bezeugt die Gewalt, die wir uns dazu anthun müssen, den Uebergang aus der ursprünglichen, natürlichen und selbsteigenen, in die abgeleitete, mittelbare und erzwungene Thätigkeit. (W II, 236)
Das – um es mit Freud zu sagen – „Unbehagen in der Kultur“ mit ihrem Zwang zur Triebregulierung ist für Schopenhauer das wichtigste Indiz dafür, dass unser ‚eigentliches‘ Wesen dasselbe ist wie das der höheren Tiere, in denen sich der Trieb unzensiert und unverstellt auslebt. Im Unterschied zum Menschen, der seine Motive fortwährend hinter einer Oberfläche der Verstellung verstecken muss, ist das Tier „wahr und aufrichtig, indem es sich unverhohlen giebt als Das, was es ist, und sich äußert, wie es sich fühlt“ (P II, 617). 2. Das Überwiegen negativer Emotionen. Kurz und kaufmännisch gesagt: Emotionen lohnen letztlich den Aufwand nicht, da die negativen am Ende stets überwiegen. Zwar sei „unser praktisches, reales Leben […] wenn nicht die Leidenschaften es bewegen, langweilig und fade; wenn sie aber es bewegen“, so Schopenhauer, werde „es bald schmerzlich“ (P I, 360). Sobald der Wille (und damit die gesamte Emotionalität) den Intellekt dominiert, dominiert auch die mit unerfüllten Wünschen und Strebungen einhergehende Frustration und Unruhe. Das Bewusstsein wird beherrscht von „Wünschen, Affekten, Leidenschaften, Sorgen“ (W II, 421), wobei Schopenhauer, was die Wünsche betrifft, durchweg voraussetzt, dass sie so weit über die real verfügbaren Befriedigungsmöglichkeiten hinausschießen, dass sie überwiegend enttäuscht werden oder zumindest die Freude über ihre Erfüllung das Leiden an ihrer temporären Unerfülltheit nicht aufwiegt. Auch die Affekte und Leidenschaften schätzt er so ein, dass diese ganz überwiegend negativ getönt sind und Kummer, Sorgen und Ängste die Glücksgefühle weit überwiegen. Insofern ist für den Hypochonder Schopenhauer „Geistesruhe“ – die serene Gelassenheit jenseits der Erschütterung durch Emotionen – nicht nur „ein großer Bestandteil des Glücks“, sondern „eigentlich sogar die Bedingung und das Wesentliche desselben“ (P I, 525). 3. Emotionen beinhalten körperliche Prozesse. Für alle Erscheinungsformen des unbewussten „Willens“ gilt für Schopenhauer nicht nur, dass sie mit bestimmten leiblichen Veränderungen einhergehen. Er geht sogar noch weiter und sieht den Körper als eine Erscheinungsform des „Willens“. Berechtigt sieht er sich zu dieser engen Kopplung von Körper und „Wille“
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aufgrund der zumal bei den heftigen Emotionen unübersehbaren Korrelation von psychischen und physischen Abläufen. Dass „der Willensakt und die Aktion des Leibes […] Eines und das Selbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben“ sind (W I, 143) und der Körper nichts anderes ist „als mein sichtbar gewordener Wille“ (W I, 128), sieht Schopenhauer u. a. dadurch bestätigt, dass alle starken Affekte den Körper „und dessen inneres Getriebe erschüttern“ und „den Gang seiner vitalen Funktionen stören“ (W I, 121). Freude und Zorn beschleunigen den Blutfluss und die Atmung (P II, 176), wobei die physischen Wirkungen zugleich ihrerseits die heftigere Emotion – zumindest die damit verbundene psychische Seite der Erregung – verstärken können: Zorn macht „schreien, stark auftreten und heftig gestikulieren: eben diese körperlichen Aeußerungen aber vermehren ihrerseits den Zorn, oder fachen ihn, beim geringsten Anlaß, an“ (P II, 618). 4. Emotionen dienen der biologisch sinnvollen Verhaltenssteuerung. Trotz seines Bekenntnisses zum transzendentalen Idealismus treten insbesondere beim späteren Schopenhauer naturalistische Ansätze zur Erklärung der Willensphänomene in den Vordergrund. Während der idealistische Schopenhauer dazu neigt, die mit Emotionen einhergehenden Vorgänge im menschlichen Körper als Ausdrucksformen desselben unbewussten Willens zu deuten, der sich in den entsprechenden Bewusstseinsprozessen manifestiert, neigt der naturalistische Schopenhauer dazu, die psychischen Erscheinungsweisen der Emotionen als Ausdrucksformen körperlicher Prozesse zu deuten (die er dann mit dem Willen identifiziert) und diesen eine biologische Rolle zuzuschreiben: Der Mensch ist zu dem, was er ist, durch einen evolutionären Ausleseprozess geworden, in dem verschiedene Organismen um knappe Überlebensund Fortpflanzungschancen konkurrieren.7 Die psychische Ausstattung des Menschen ist für ihn – wie für die moderne Evolutionstheorie – im Wesentlichen ein Mittel der blinden Natur (die Schopenhauer ebenfalls „Wille“ nennt) zur Gewährleistung der Erhaltung und Fortpflanzung ihrer Wesen. Emotionen unterstützen die Organismen in ihrem ziellosen Streben nach Selbsterhaltung vermöge ihrer motivierenden Funktion: Sie sichern die Selbsterhaltung und die Fortpflanzung der Gattung, indem sie das Individuum auch unter schwierigsten Bedingungen zur Nahrungs- und Partnersuche anreizen und es instinktiv den Geschlechtspartner finden lassen, der das Überleben der Gattung am ehesten sicherstellt. Was sich für das einzelne Individuum als roman_____________ 7
Vgl. hierzu z. B. Spierling 1984, 19–23.
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tische Liebe darstellt, ist aus dieser Sicht letztlich nichts anderes als eine List der Natur zur Überwindung des ansonsten grenzenlosen Egoismus des Menschen zur Hervorbringung von Nachkommenschaft. So erklärt Schopenhauer in seinem Essay Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe die besondere Macht und Unwiderstehlichkeit des erotischen Rausches sowie die überragende Bedeutung und den Ernst, die die Menschen (insbesondere in Schopenhauers Zeit) Liebe und Sexualität zuschreiben, damit, dass es aus der Sicht der Natur um das Allerwichtigste geht: um das Überleben der Gattung. Während die Natur dem Individuum vorspiegelt, es gehe in der Liebe um die Schönheit des oder der Geliebten, geht es der Natur allein um die in der romantischen Liebe charakteristischerweise ausgeblendete physische Vereinigung: Daß es […], so objektiv und von erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erscheinen mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgesehen ist auf die Erzeugung eines Indivduums von bestimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch bestätigt, daß nicht etwan die Gegenliebe, sondern der Besitz, d. h. der physische Genuß, das Wesentliche ist. Die Gewißheit jener kann daher über den Mangel dieses keineswegs trösten; vielmehr hat in solcher Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen nehmen stark Verliebte, wenn sie keine Gegenliebe erlangen können, mit dem Besitz, d. i. dem physischen Genuß, vorlieb. (W II, 612).
5. Emotionen – eine Quelle von Illusionen Damit ist das Thema der durch starke Emotionen wie die Verliebtheit bedingten Selbsttäuschung angeschlagen, dem Schopenhauer in seiner Anthropologie breiten Raum gibt: Da die menschliche Emotionalität von Natur (bzw. dem ‚Weltwillen‘) aus primär biologische Funktionen zu übernehmen hat, kommt es bei ihr primär auf die Zuverlässigkeit an, mit der sie ihre verhaltenssteuernden Funktionen erfüllt und nicht auf die Adäquatheit der mit diesen Emotionen einhergehenden oder durch sie bedingten Vorstellungen. Solange diese Vorstellungen nicht ihrerseits das Überleben und die Fortpflanzung beeinträchtigen, gibt es ‚aus Sicht der Natur‘ keinen Anlass, emotional bedingte Illusionen zu korrigieren, mögen diese auch noch so widervernünftig sein. Beispiele für Illusionen dieser Art sind für Schopenhauer die mit der romantischen Liebe verbundenen Idealisierungen des geliebten Partners, aber auch die Religionen, die den Einzelnen über die Zumutungen des Lebens hinwegtrösten und ihn die Geborgenheit und Sicherheit seiner Kindheit wiederfinden lassen. Weil sie in emotionalen Bedürfnissen wurzeln, ist es für Schopenhauer nicht weiter überraschend, wie sehr die Menschen an
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diesen Illusionen hängen.8 Diese Emotionen sind stammesgeschichtlich sehr viel älter als die Vernunft und funktionieren bereits deshalb sehr viel zuverlässiger – was sich u. a. an der für ein animal rationale immer wieder erstaunlichen Hartnäckigkeit zeigt, mit der viele ihre Illusionen gegen die Stimme der Vernunft verteidigen. Schopenhauer geht aber auch hier noch einen Schritt in Richtung Freud weiter: Der Verteidigung der Illusionen bedarf es zumeist gar nicht, da unser psychischer Apparat (der auf der Ebene des Unbewussten agierende „Wille“) dafür sorgt, dass Vernunftgründe, die unseren affektiv bedingten Vorurteilen gefährlich werden können, gar nicht erst ins Bewusstsein gelangen: Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. Manche Irrthümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewußten Furcht, die Entdeckung machen zu können, daß wir so lange und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. – So wird denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung bethört und bestochen. (W II, 244)
Interessanterweise wendet Schopenhauer diese „tiefenpsychologische“ Diagnose auch auf die Philosophie selbst an. Aus der Sichtweise des durchgängigen Primats des Affektiven über das Kognitive erweisen sich viele der sogenannten „großen Themen der abendländischen Metaphysik“ als Scheinprobleme, die nur deswegen als Probleme gelten, weil sich das Interesse gegen die bessere Einsicht sträubt und Fragen offenhält, die, ginge es ausschließlich um die Sache, längst erledigt wären. Die Freiheit des Willens, die Möglichkeit von Unsterblichkeit, die Existenz eines dem Menschen objektiv vorgegebenen Sittengesetzes, die Existenz eines persönlichen Gottes und der mögliche Sinn der Geschichte wären seit langem keine Probleme mehr, gäbe es nicht den tiefempfundenen, hochemotionalen und mehr oder weniger unausrottbaren Wunsch nach Freiheit, Unsterblichkeit, Sittengesetz, Gott und Sinn in der Geschichte. Alle diese Hypothesen kommen wichtigen menschlichen Bedürfnissen entgegen. Ob sie mehr als Wunschdenken und Lebenslügen sind, ist eine andere Frage.
6. Emotionen in der Moral Schopenhauers Ethik, wie er sie vor allem in der Preisschrift über die Grundlage der Moral entwickelt hat, steht in der Tradition der angelsächsischen Gefühlsethiken, insbesondere derjenigen Humes. Ähnlich wie Hume, der _____________ 8
Zur Rolle der Illusionen bei Schopenhauer vgl. auch Birnbacher 1996, 45–48.
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seine Gefühlsethik mit dem Argument begründet, dass der Handlungsbezug moralischer Äußerungen nur durch ein Gefühl, nicht aber durch die in Bezug auf Handlungen indifferente Vernunft erklärt werden könne, plädiert auch Schopenhauer dafür, dass das Phänomen moralischen Handelns nur durch den Hinweis auf ein Gefühl, nicht durch den Hinweis auf eine abstrakte Einsicht, wie etwa die Übereinstimmung einer Handlung mit dem Sittengesetz, verständlich gemacht werden kann. Mit dieser These grenzt er sich im Eingangsteil der Preisschrift von Kant ab, dessen Ethik er einen „Mangel an realen Gehalt“ (E 143) vorwirft: Kants Ethik des Kategorischen Imperativs könne nicht erklären, wieso wir überhaupt zu moralischem Handeln motiviert sein könnten. Als ein „apriorische[r] Kartenhäuserbau“ (ebd.) schwebe sie „in der Luft, als ein Spinnengewebe der subtilsten, inhaltsleersten Begriffe, ist auf nichts basirt, kann daher nichts tragen und nichts bewegen“ (ebd.). Das Gefühl, das es nach Schopenhauer allein ermöglicht, diesem Vorwurf einer blutleeren und abstrakten Ethik aus dem Wege zu gehen, ist das Mitleid. Wenn Schopenhauer dabei vom Mitleid als einer Grundlage der Moral spricht, ist mit dem Ausdruck „Grundlage“ nicht eine Rechtfertigungsgrundlage, sondern eine Erklärungsgrundlage moralischen Handelns gemeint. Es geht Schopenhauer, der das Ziel philosophischer Ethik nicht in der Begründung eines Sollens, sondern darin sieht, „die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen“ (E 195), primär darum, mit dem Hinweis auf das Mitleid die moralpsychologische Frage nach der Motivationsgrundlage moralischen Handelns zu beantworten. Die Frage, welche Handlungen als moralische einzustufen sind, wird dabei mit Hinweis auf den obersten Grundsatz der Moral – Neminem laede, imo omnes, quantum potes, iuva („Schädige niemanden, vielmehr hilf allen, soviel du kannst“) – beantwortet, über den sich „alle Ethiker eigentlich einig“ (E 137) seien. Er wird also von Schopenhauer mit dem schlichten Hinweis auf den moralischen common sense, der seinerseits nicht weiter hinterfragt wird, begründet. Neben der Funktion, moralisches Handeln zu erklären, kommt dem Mitleid in Schopenhauers Ethik aber auch noch eine zweite Funktion zu, da Schopenhauer es auch zum Kriterium von Handlungen mit moralischem Wert erklärt: Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen. (E 208f.)
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Die Argumentation, auf der diese These beruht, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Handlungen, die dem obersten Grundsatz der Moral entsprechen, also Handlungen der Nichtschädigung bzw. des Wohltuns, haben moralischen Wert. Motivationsgrundlage, und zwar einzige Motivationsgrundlage für solche Handlungen, ist, wie Schopenhauer nachgewiesen zu haben glaubt, das Mitleid. Wenn also jede Handlung, der wir moralischen Wert zusprechen, auf Mitleid basiert, dann gilt – per Kontraposition –, dass eine Handlung, die nicht aus Mitleid entspringt, keinen moralischen Wert hat, und insofern kann Mitleid auch zum Kriterium einer Handlung von moralischem Wert erklärt werden, wobei „Kriterium“ hier bedeutet: notwendige (nicht hinreichende) Bedingung. Obwohl Schopenhauer Mitleid als „ganz unmittelbare, ja instinktartige Theilnahme am fremden Leiden“ (E 227) charakterisiert, handelt es sich für ihn durchaus nicht um einen bloß unwillkürlichen Affekt. Wenn Schopenhauer von der Möglichkeit spricht, „Mitleid mit der kommenden Generation“ (P II, 319) zu empfinden, oder als Beispiel für eine mitleidsmotivierte Handlung den für sein Vaterland in den Tod gehenden Soldaten nennt (E 273), so wird deutlich, dass die Wirksamkeit des Mitleids nicht an unmittelbar vorhandenes Leiden und die unmittelbare affektive Bezugnahme auf das Leiden des anderen gekoppelt ist. Daher kann Schopenhauer nicht nur Handlungen der Menschenliebe, sondern auch solche der Gerechtigkeit – die ja im Allgemeinen gerade nicht unmittelbar emotional motiviert sind, sondern vielmehr auf einer Fähigkeit zur Distanzierung von unmittelbaren Affekten wie persönlichen Loyalitäten und der Bevorzugung Nahestehender beruhen – auf das Mitleid zurückführen. Mitleid ist also für Schopenhauer im Sinne der Rücksichtnahme auf die Leidensfähigkeit existierender und potenzieller Lebewesen ein Dispositionsbegriff: Jedoch ist keineswegs erforderlich, daß in jedem einzelnen Fall das Mitleid wirklich erregt werde; wo es auch oft zu spät käme: sondern aus der Ein für alle Mal erlangten Kenntniß von dem Leiden, welches jede ungerechte Handlung nothwendig über Andere bringt, […] geht in edlen Gemüthern die Maxime neminem laede hervor […]. (E 214)
Mit dieser Bestimmung des Mitleidsbegriffes nähert sich Schopenhauer einer negativ-utilitaristischen Ethik an, die den Wert einer moralischen Handlung in ihrer unparteilich bemessenen Auswirkung auf das Leiden der davon Betroffenen sieht. Wie genau ist dieses Mitleidsphänomen zu beschreiben? Schopenhauer versteht Mitleid als Identifikation des Mitleidenden mit dem Bemit-
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leideten, genauer: mit dessen Leiden. Auf die Frage, wie es möglich sei, dass das Leiden des anderen unmittelbar mein Motiv werde, antwortet er: Offenbar nur dadurch, daß jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin: also dadurch, daß ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar wie sonst nur das meinige. Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mit leide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgendeine Weise mit ihm identifiziert sei, d. h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. (E 208)
Mitleid soll also ausdrücklich nicht verstanden werden als Leiden des Bemitleidenden, sondern als Übernahme der Leiden des anderen. Damit sieht sich Schopenhauer vor das Problem gestellt, wie angesichts der Tatsache, dass „ich nun aber doch nicht in der Haut des anderen stecke“ (E 208), dieser Identifikationsvorgang beschrieben werden kann. Die Antwort hierauf lautet, dass die angenommene Identifikation nur durch eine Erkenntnis vollzogen werden kann. Diese Erkenntnis, die den Mitleidsvorgang überhaupt erst verständlich und plausibel macht, kann nach Schopenhauer nur als Erkenntnis einer metaphysischen Wesensidentität alles Seienden verstanden werden. Der Mitleidende erkennt, dass der Unterschied zwischen ihm und dem anderen ein scheinbarer ist. Als das ‚Ansich‘ seiner eigenen und der fremden Erscheinung erkennt er beider Identität als Objektivationen ein- und desselben metaphysischen Prinzips, des Willens. Die konsistente Beschreibung des Mitleidsphänomens selbst ist also letztlich an die Willensmetaphysik zurückgebunden. Dies gilt für die Rolle des Mitleids im Kontext der Willensmetaphysik, aber auch für die nur scheinbar metaphysikfreie Argumentation der 1844 entstandenen Preisschrift über die Grundlage der Moral, der Schopenhauer eine „Zugabe“ hinzufügt, die eine metaphysische Auslegung des Mitleidsphänomens enthält und in der es heißt: Gehört demnach Vielheit und Geschiedenheit allein der bloßen Erscheinung an, und ist es Ein und das selbe Wesen, welches in allem Lebenden sich darstellt; so ist diejenige Auffassung, welche den Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich aufhebt, nicht die irrige: vielmehr muß die ihr entgegengesetzte dies seyn. […] Jene erstere Ansicht ist es, welche wir als dem Phänomen des Mitleids zum Grunde liegend, ja, dieses als den realen Ausdruck derselben gefunden haben. Sie wäre demnach die metaphysische Basis der Ethik, und bestände darin, daß das eine Individuum im andern unmittelbar sich selbst, sein eigenes wahres Wesen wiedererkenne. (E 270)
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Nur diese willensmetaphysische Fundierung macht letztlich das Mitleidsphänomen verständlich. Im Rahmen der Willensmetaphysik allerdings erweist sich Mitleid als bloße Vorstufe zur Willensverneinung. Gerechtigkeit und Menschenliebe – also jene Handlungsweisen, deren Motivationsgrundlage nach Schopenhauer das Mitleid ist – werden als „Beförderungsmittel der Verneinung des Willens zum Leben“ (W II, 696), die „zur Resignation hinleiten“ (ebd.) angesehen. Die moralischen Tugenden sind bei Schopenhauer „nicht der letzte Zweck, sondern nur eine Stufe zu demselben“ (W II, 698), nämlich der Erlösung von allem Wollen, ohne dass allerdings ganz klar würde, wieso das Durchschauen des Individuationsprinzips, also das Erkennen der Scheinhaftigkeit von Raum und Zeit, über die mitleidsbasierte Teilnahme am Leiden des anderen hinaus zu jener Indifferenz führen sollte, die für Schopenhauer das Signum des Heiligen darstellt. Der philosophische Heilige bleibt, nachdem er das Wollen überwunden hat, nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt übrig. Ihn kann nichts mehr ängstigen, nichts mehr bewegen […]. Er blickt nun ruhig und lächelnd zurück auf die Gaukelbilder dieser Welt, die einst auch sein Gemüth zu bewegen und zu peinigen vermochten […]. Das Leben und seine Gestalten schweben nur noch vor ihm, wie eine flüchtige Erscheinung […]. (W I, 462)
Anders als für den moralischen Menschen ist für den Heiligen kennzeichnend, dass er sich auch auf die Leiden des anderen nur noch anschauendkontemplativ bezieht. Sofern er überhaupt Handlungen ausführt, sind es solche, die zur Mortifikation des eigenen Willens beitragen. Den Leiden der anderen gegenüber ist er indifferent. Ziel- und Fluchtpunkt des von Schopenhauer im Hauptwerk geschilderten Heilswegs ist nicht das moralische Handeln, nicht das Gefühl des Mitleidens mit dem anderen, sondern die völlige Emotionslosigkeit.
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Literatur Schopenhauers Schriften und der handschriftliche Nachlass werden zitiert nach der von Arthur Hübscher besorgten Ausgabe seiner Sämtlichen Werke – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: E HN P W
– Die beiden Grundprobleme der Ethik – Der handschriftliche Nachlaß – Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften – Die Welt als Wille und Vorstellung
Birnbacher, Dieter (1996), Schopenhauer als Ideologiekritiker, in: ders. (Hg.), Schopenhauer in der Philosophie der Gegenwart (Beiträge zur Philosophie Schopenhauers 1), Würzburg, 45–58. Fleischer, Margot (2001), Schopenhauer, Freiburg. Hauskeller, Michael (1998), Vom Jammer des Lebens. Einführung in Schopenhauers Ethik, München. Malter, Rudolf (1991), Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens, Stuttgart. Ruffing, Margit (2001), Philosophische Erkenntnis bei Schopenhauer, in: SchopenhauerJahrbuch 82, 51–63. Safranski, Rüdiger (1987), Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie, München. Schnädelbach, Herbert (1992), Zur Rehabilitierung des animal rationale, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a. M., 13–37. Schopenhauer, Arthur (1966–1975), Der handschriftliche Nachlaß, 5 Bde, hrsg. von Arthur Hübscher, Frankfurt a. M. (= HN). – (71988, zuerst 1841), Die beiden Grundprobleme der Ethik. Behandelt in zwei akademischen Preisschriften: 1. Preisschrift über die Freiheit des Willens, 2. Preisschrift über die Grundlage der Moral, Sämtliche Werke, Bd. 4, hrsg. von Arthur Hübscher, Mannheim, 149ff. (= E). – (71988, zuerst 1819/1844), Die Welt als Wille und Vorstellung, Sämtliche Werke, Bd. 2 und 3, hrsg. von Arthur Hübscher, Mannheim (= W). – (71988, zuerst 1851), Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, Sämtliche Werke, Bd. 5 und 6, hrsg. von Arthur Hübscher, Mannheim (= P). Spierling, Volker (1984), Die Drehwende der Moderne. Schopenhauer zwischen Skeptizismus und Dogmatismus, in: ders. (Hg.), Materialien zu Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“, Frankfurt a. M., 19–23. Spierling, Volker (1998), Arthur Schopenhauer. Eine Einführung in Leben und Werk, Leipzig.
Sören Kierkegaard (1813–1855)
Kierkegaard: Die existenzielle Bedeutung von Emotionen Romano Pocai Kierkegaard, der Pionier der modernen Wissenschaften von der Seele und Begründer der Existenzphilosophie, hat selbst keine allgemeine Theorie der Emotionen vorgelegt. Es sind vielmehr einzelne Affekte und Stimmungen, denen er sich in den wenigen Jahren, die zwischen seinen philosophischen Anfängen und seinem systematisch bedeutendsten Werk Die Krankheit zum Tode liegen, intensiv zugewandt hat: Schwermut, Angst und Verzweiflung. Den Horizont und Zusammenhang dieser Trias messen seine wichtigsten Schriften so aus, dass in ihnen jeweils eines der Phänomene im Vordergrund steht: Schwermut im Erstling Entweder–Oder von 1843, Angst ein Jahr später in der Schrift, die diesen Begriff thematisiert, Verzweiflung schließlich im Hauptwerk von 1849. Allerdings thematisiert Kierkegaard die Phänomene nicht um ihrer selbst willen, sondern umwillen und im Rahmen einer Theorie der grundlegenden Existenzstrukturen, auf die das Gelingen ebenso wie das Scheitern des menschlichen Lebensvollzugs zurückgeht. Den Emotionen kommt dabei in inhaltlicher und in methodischer Hinsicht eine zentrale Bedeutung zu. Kierkegaard hebt mit dem Negativen an, dem Scheitern, das sich in Schwermut, Angst und Verzweiflung ausprägt, um auf diese Weise zugleich die Möglichkeitsbedingungen für das Überwinden des Scheiterns zu erschließen.1 Kierkegaards Beitrag zu einer Theorie der Emotionen kann somit nur angemessen bestimmt werden, wenn man diesen übergreifenden konzeptuellen Rahmen möglichst genau rekonstruiert. Affekttheoretisch relevant ist außerdem eine weitere methodische Besonderheit dieses Denkens. Kierkegaard bringt sein philosophisches Projekt so in Gang, dass er sich zunächst um eine möglichst phänomengerechte Darstellung der vorherrschenden Welt- und Selbsterfahrung seiner Zeit bemüht. Zu diesem Zwecke hebt er – in den sogenannten „Di_____________ 1
Deshalb ist Kierkegaards Denken zu Recht als „negativistisch“ bestimmt worden. Vgl. Theunissen 1991.
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apsalmata ad se ipsum“ – mit der individuellen, tagebuchartig in der Form von Aphorismus und Fragment gehaltenen Selbstaussprache eines von der Romantik geprägten Künstler-Subjekts an. Indem Kierkegaard bei der Binnenperspektive eines Schwermütigen ansetzt, die er im Modus einer literarischen Selbstbeschreibung präsentiert, entspricht er einem zentralen Merkmal seines Gegenstandes. Literarische Beschreibungen sind nämlich dort unverzichtbar, wo es gilt, die existenzielle Dimension von Emotionen zu thematisieren, die sich als individuelle dem Maßstab einer Sprache alltäglicher Kommunikation immer auch entzieht.2 Nun ist der Weg nach Entweder–Oder ein Weg der Systematisierung. Kierkegaard entwickelt in Der Begriff Angst und vor allem in Die Krankheit zum Tode das zentrale Theoriestück seiner Philosophie, die Bestimmung der menschlichen Existenz als einer „Synthese“ gegenstrebiger Momente, die es je zu vollziehen gilt. Der Ausgangspunkt seiner Denkbewegung gibt dabei zugleich den internen Maßstab vor, um zu klären, inwieweit es Kierkegaard tatsächlich gelingt, die phänomenale Basis seines Ansatzes systematisch einzuholen.
1. Erfahrung des Nihilismus Schon einer oberflächlichen Lektüre der Diapsalmata entgeht nicht, dass der Horizont und das leitende Thema, das sich durch all ihre Äußerungen und Reflexionen hindurchzieht, die schwermütige Erfahrung von Sinnlosigkeit, des Nihilismus, ist. Der dezidiert literarischen Darstellung zum Trotz ist es möglich, die Konstellation der wichtigsten Phänomene, die der fiktive Verfasser A selbst unter den Titeln der Sinnlosigkeit, Leere und Schwermut versammelt, in systematischer Absicht zu rekonstruieren. Die für das thematische Feld des Nihilismus basale Erfahrung ist das Erleiden der Sinnlosigkeit im Modus einer Schwermut, der ein Moment von Angst mitgegeben ist. Meine Seele ist so schwer, daß kein Gedanke mehr sie zu tragen vermag, kein Flügelschlag mehr sie aufheben kann in den Äther. Bewegt sie sich, so streicht sie lediglich dicht über den Boden hin, gleich dem tiefen Flug der Vögel, wenn ein Gewitter in der Luft ist. Über meinem Wesen brütet eine Beklommenheit, eine Angst, welche ein Erdbeben ahnt. (31)
Die Angst bringt das Leiden an der Schwere zum Ausdruck und lässt sie so unmittelbar als etwas, das nicht sein soll, erscheinen. Es ist wichtig, von der schwermütigen Erfahrung der Leere ihren negativen Fluchtpunkt zu _____________ 2
Vgl. Pocai 2000, 155ff.
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unterscheiden, ein totalisiertes Erleiden der Sinnlosigkeit, dem jeglicher Widerstand abhanden gekommen ist: das Phänomen einer reflexiv gewordenen Langeweile, die Grenzgestalt eines ,leidlosen‘ Leidens (vgl. 40). Im Unterschied zur eigentlichen Schwermut ist die vollendete Langeweile als „Grauen“, als das potenzierte Leiden eines Lebens beschrieben, das „den Tod stirbt“, dem also der Charakter des Lebendigen, der vitale Impuls, abgeht, selbst derjenige eines unwillkürlichen körperlichen Schmerzes. Es herrscht die vollkommene Untätigkeit eines existenziellen Stillstands vor, jenseits jeder Perspektive einer Überwindung der Sinnlosigkeit. Der „grauenhaften“ Langeweile fehlt die Bewegung, die im Leiden des Prometheus, dem von A verwendeten Beispiel, noch vorliegt: die ewige Wiederkehr des Gleichen. Dem Grauen dieser Wiederkehr des Schmerzes wohnt immerhin noch ein, wenn auch irrealer, Fluchtpunkt seiner Überwindung inne. Dieser geht jedoch endgültig verloren, sobald die Zeitlichkeit der Existenz ganz von der leeren Gegenwart des Stillstands durchherrscht ist. Die Affektgestalt eines nihilistischen „Grauens“ lässt sich präziser als bislang geschehen bestimmen, wenn man darauf achtet, dass beide Phänomene dieselbe Grunderfahrung aufweisen, den Verlust des Möglichkeitscharakters der Existenz. „Meine Seele hat die Möglichkeit verloren. Sollt’ ich mir etwas wünschen, ich würde mir nicht Reichtum wünschen oder Macht, sondern die Leidenschaft der Möglichkeit, das Auge, welches ewig jung und ewig glühend überall die Möglichkeit erblickt“ (45). Während jedoch die Schwermut das Schwinden des Möglichkeitscharakters bezeugt, artikuliert die totalisierte Langeweile dessen vollständigen Verlust. Die vollendete Sinnlosigkeit erscheint damit als das Resultat derjenigen Bewegung, die der klassische Verzweiflungsbegriff desperatio zum Ausdruck bringt: der Bewegung eines Verlustes von Hoffnung, deren Ausgangspunkt in der Schwermut liegt. In dieses genealogische Grundgerüst lassen sich nun Phänomene eintragen, die der Schwermut so entspringen, dass sie versuchen, ihren negativen Fluchtpunkt, die drohende Verzweiflung, abzuwehren. Die genealogisch erste Form ist der Versuch, die Erfahrung der Sinnlosigkeit durch Affirmation zu transzendieren. Dem Verlust der Sinnperspektive wird die Möglichkeit abgewonnen, ungebunden und in diesem Sinne absolut zu leben. Das berühmte „Entweder-Oder“ A’s affirmiert zynisch eine grundlegende Sinnlosigkeit allen Handelns und Unterlassens, Wollens und Wünschens, der nicht zu entkommen sei. „Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust
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beides“ (41): Diese Struktur einer ausweglosen Nichtigkeit, die A am Verhältnis zur Welt (über deren Narrheit lachen oder weinen), zum anderen (einem Mädchen trauen oder nicht) und zu sich selbst, an der Frage des Suizids (sich aufhängen oder nicht) durchbuchstabiert, erweist sich ihm als „aller Lebensweisheit Inbegriff“ (42). Damit ist eine Existenzweise gegeben, deren einzige Devise „anything goes“ lautet: Sobald alle Handlungen als gleich sinnlos erachtet werden, gibt es kein Kriterium mehr, die eine vor der anderen auszuzeichnen. Erlaubt ist demnach, was je gefällt. Als zynisch reflektierter Hedonismus scheitert dieser affirmative Nihilismus3, weil er von seinem Erfahrungsgrund je aufs Neue wieder eingeholt wird. Die im Hedonismus selbst lauernde Schwermut erfährt A mit aller Macht. A sieht jedoch eine weitere Möglichkeit, die Schwermut durch Affirmation zu transzendieren. Sie besteht darin, das Leiden selbst zu bejahen und in den Grund einer sinnerfüllten Existenz zu verwandeln. „Mein Leid ist meine Ritterburg“: So lautet das Motto der Existenzmöglichkeit, die A in seinen „Papieren“ nicht nur beschreibt, sondern auch tatsächlich vollzieht, die des romantischen Dichterphilosophen. Die intendierte Grundstimmung A’s ist die einer „geliebten“, narzisstischen Schwermut, die „Ja“ zum Leiden sagt, um dem Erleiden zu entgehen. Dieser Überwindungsversuch des Nihilismus besteht darin, die Unmöglichkeit einer sinnerfüllten, innerweltlich fundierten Existenz zum Ausgangspunkt für den Entwurf einer eigenen, künstlerisch gestalteten Gegen-Welt zu nehmen (vgl. 45f). Das Leiden in und an der Lebenswelt stellt den Erfahrungsgrund bereit, aus dem der Künstler seine Werke schafft, um ihn auf diesem Wege zu transzendieren. Dies geschieht mittels einer reinigenden Idealisierung der Wirklichkeit. „Alles, was erlebt ist, tauche ich unter in die Taufe des Vergessens zum ewigen Leben der Erinnerung. Alles Endliche und Zufällige ist vergessen und getilgt“ (45). Eine Wirklichkeit, aus deren Negativität der Künstler seine Werke zu formen vorgibt, wird jedoch durch ihre bloße Idealisierung abgedrängt und nicht etwa verarbeitet. Damit wiederholt sich das Scheitern von A’s Strategie der Affirmation auf der reflektierteren Ebene einer idealistisch bestimmten Kunstpraxis. Neben im Wesentlichen deskriptiv ausgerichteten Textstücken enthalten die Diapsalmata aber auch primär deutende Passagen, in denen sich die Tiefendimension der nihilistischen Erfahrung meldet, ihre strukturalen Grundlagen. Es lassen sich dabei zwei unterschiedliche Begründungsper_____________ 3
Mit Nietzsche könnte man auch von einem „aktiven Nihilismus“ sprechen. Zum Verhältnis Kierkegaard-Nietzsche vgl. Fink-Eitel 1994, 299ff.
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spektiven freilegen. Eine erste, dominierende, begreift die Erfahrung der Sinnlosigkeit als Ausdruck der Faktizität des Gesetztseins. „Niemand kehrt von den Toten zurück, niemand ist in die Welt eingegangen außer mit Weinen, niemand fragt einen, ob man hinein will, niemand, ob man hinaus will“ (27). Von einem unverfügbaren Grund bestimmt zu sein, ist für A eine Quelle des Leidens. Das zukunftsgerichtete Leben wird nicht als aktiver Vollzug, sondern als passives Getriebensein erfahren, das in der Dasshaftigkeit dieses Lebens gründet – einer „Folgerichtigkeit, die hinter mir liegt“ (25). Die Deutung, wonach das Leiden an Sinnlosigkeit auf die zur condition humaine gehörige Ohnmacht des Gesetztseins zurückgeht, reicht jedoch an die harte Materialität konkreter innerweltlicher Sinnverluste nicht heran und erweist sich deshalb als unzureichend. Weitaus angemessener scheint es hingegen zu sein, umgekehrt diese nihilistischen Welterfahrungen als Grund für das Leiden am Gesetztsein zu begreifen. Denn nachvollziehbar ist es, dass derjenige die Unverfügbarkeit über das „Dass“ seines Lebens als etwas Negativwertiges wahrnimmt, der sein Leben in der Welt als sinnlos erfahren hat. Es ist diese geschichtlich-gesellschaftliche Perspektive, die sich in den Diapsalmata, wenn auch zaghafter und weniger durchdacht, als ein zweiter Deutungsansatz antreffen lässt: A nimmt eine umfassende Nivellierung menschlicher Existenzmöglichkeiten wahr, die der Logik der kapitalistischen Ökonomie folgt, dergemäß Qualitäten quantifiziert, also ihres Eigenwertes beraubt, und qualitative Differenzen eingeebnet werden (vgl. 36). Dieser Prozess einer einebnenden Sinnentleerung wird jedoch mehrheitlich gar nicht als ein solcher wahrgenommen. Deshalb steigert sich die Erfahrung der Sinnentleerung zur Sinn-, weil Ausweglosigkeit. Sofern ihr das ökonomische Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt, kommt in A’s Erfahrung der Sinnlosigkeit ein reaktiver Nihilismus zum Ausdruck.4 Thematisch wird damit also gerade nicht die Ohnmacht gegenüber dem uneinholbaren Grund unserer Existenz, sondern diejenige, die den innerweltlichen Lebensvollzug betrifft: die Faktizität einer Geworfenheit in eine je gegebene Welt.
_____________ 4
Zur Frage nach einer gesellschaftskritischen Dimension der Diapsalmata vgl. Pulmer 1982.
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2. Analyse der Schwermut Im Horizont seiner allgemeinen Theorie „ästhetischer“ als hedonistisch bestimmter Existenzweisen5 begreift B, der fiktive Verfasser des zweiten Teils von Entweder–Oder, den Nihilismus als strukturellen Fluchtpunkt des Hedonismus. Eine ästhetisch-hedonistische Existenzweise trägt den Nihilismus strukturell bereits in sich, weil ihre Erfüllung bloß punktuell und diskontinuierlich ist, ihr Dauerzustand, die umfangreichen Phasen zwischen den Lustmomenten, aber als sinnentleert wahrgenommen wird. Am Beispiel des römischen Kaisers Nero weist B überzeugend nach, dass ein konsequent gelebter Hedonismus, auch und gerade derjenige, der über schier unbegrenzte Machtbedingungen verfügt, sich selbst aufhebt. Denn die Leere dringt zuletzt in die Lustmomente selber ein und zerstört damit das Sinnresiduum des Hedonisten. Am Endpunkt seiner Analyse ästhetischer Existenz, sobald sich B mit der spezifischen Lebensform A’s auseinandersetzt, modifiziert er jedoch seine Theorie des Ästhetischen. Denn basal für A’s Existenz sei eine gedankliche Antizipation der Sinnlosigkeit. B’s Grundbestimmung für die Existenz A’s ist die einer „Verzweiflung in Gedanken“. Damit kehrt B das für seine Theorie der ästhetischen Existenz allgemeingültige Verhältnis von Hedonismus und Nihilismus um: Der Hedonismus samt seiner nihilistischen Konsequenzen erweist sich als bloße Folge eines basaleren Nihilismus. „Dein Gedanke ist voraus geeilt, Du hast durchschaut, daß alles eitel ist, aber du bist nicht weitergekommen. Gelegentlich tauchst Du darin unter, und indem Du Dich für einen einzelnen Augenblick dem Genießen hingibst, nimmst Du es gleichzeitig in Dein Bewußtsein auf, daß es eitel ist“ (207). Das eigentliche Defizit von B’s Analyse der Existenzweise A’s betrifft nicht das Verhältnis von Nihilismus und Hedonismus, sondern die Bestimmung des Nihilismus. B fehlinterpretiert A’s Verzweiflung als reines Produkt des Denkens. Die Verzweiflung, die er A zuschreibt, ist eine ‚Verzweiflung‘, ein totalisierter Zweifel. Pointiert fasst B die Differenz zwischen einer bloß gedanklichen und einer erfahrungsgesättigten Verzweiflung: „Zweifel ist des Gedankens Verzweiflung, Verzweiflung ist der Persönlichkeit Zweifel“ (225). Im Rahmen seines Ansatzes vermag B alle Leidensäußerungen A’s – von der grundlegenden Schwermut bis zur vollendeten desperatio – nur un_____________ 5
Vgl. dazu im Einzelnen Greve 1990.
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angemessen, lediglich als Sekundärphänomene zu begreifen, hinter denen die basale Aktivität eines allumfassenden Zweifels steht. Auf diese Weise bekommt er weder die geschichtliche Ebene der konkreten innerweltlichen Lebensbedingungen noch die diesen entsprechende strukturale Ebene einer mundanen Faktizität in den Blick. B’s Deutung greift einzig A’s Orientierung an der Unverfügbarkeit des „Dass-Grundes“ der Existenz (Ernst Bloch), an der Faktizität des Gesetztseins, auf, indem er sie in ein Gesetztsein als Geist verwandelt. B entwickelt diesen zentralen Gedanken im Rahmen seiner Phänomenologie des Hedonismus. Die entscheidende These seiner Analyse lautet, dass die schwermütigen Attacken, denen sich der Hedonist hartnäckig ausgesetzt sieht, in letzter Konsequenz auf eine Abdrängung der Bestimmung des Menschen als bzw. zum „Geist“ zurückgehen. Den Geistbegriff verwendet B in praktischer Absicht, zur Kennzeichnung einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen „ethischen“ Existenz, die dem Menschen aufgegeben sei. B setzt dabei die Geist-Bestimmung des Menschen nicht einfach positiv voraus. Der Geist meldet sich in der Unmittelbarkeit ästhetischen Existierens nicht als Geist – denn er ist das Andere der Unmittelbarkeit und setzt damit deren Überschreitung voraus –, sondern als Angst (vgl. 198f). Diese Geistesangst wird unter ästhetisch-hedonistischen Vorzeichen je aufs Neue verdrängt und dabei in Schwermut verwandelt. Ex negativo, in Gestalt einer perennierenden Schwermut, erfährt der Hedonist seine Bestimmung zum Geist (vgl. 201). Kierkegaard greift dabei auf die theologische Tradition der Acedia zurück und bestimmt die Schwermut unumwunden als „die Sünde, nicht tief und innerlich zu wollen“ (201).6 B legt nun diese geistphilosophische Analyse des Hedonismus seiner Deutung der Existenzweise A’s zugrunde. Auch dessen reflektierte „Verzweiflung in Gedanken“ erscheint in der Tiefe als Versuch einer Abdrängung der Geist-Bestimmung. Die bleibende Schwermut indiziere jedoch das Scheitern dieses Versuches und die auf Dauer gestellte Krise der Existenz A’s. B’s Analyse erreicht ihren Kulminationspunkt in der These, A möge in einem eigentlichen, nicht mehr nur gedanklichen, sondern existenziellen Sinne verzweifeln – die Verzweiflung „wählen“ – und auf diesem Wege zu sich selbst, zur Realisierung der eigenen Geistbestimmung gelangen – sich selbst „wählen“, sich „in seiner ewigen Giltigkeit“ (224).7 Dieser Gedanke _____________ 6 7
Zur Tradition der Acedia vgl. Theunissen 1996. Zur Analyse der Selbstwahl vgl. Greve 1990, 81ff.
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ist durchgängig defizitär. Ein solcher Ratschlag kann nur erteilt werden, wenn man von der grundlegenden Verzweiflung abstrahiert, die sich in den Diapsalmata artikuliert. Evidentermaßen lässt sich zwar in Gedanken, also in einem uneigentlichen Sinne, aktiv verzweifeln, d.h. grundlegend an der Möglichkeit einer sinnerfüllten Existenz zweifeln, nicht aber willentlich der Verlust von Sinn erleiden. Indem er die Verzweiflung nurmehr als eine Sache des angemessenen voluntativen Selbstverhältnisses begreift, abstrahiert B von den objektiven nihilistischen Verhältnissen, die A immerhin noch zur Sprache bringt. Während sich Kierkegaard von diesen Verzerrungen des Verzweiflungsphänomens nie ganz befreien wird, lässt er im direkten Anschluss an Entweder–Oder die Konzeption einer „Selbstwahl“ fallen, wonach die Bestimmung des Menschen vermittelt über ein konsequentes Verzweifeln selbstmächtig realisiert werden könne.8
3. Der Schwindel der Freiheit In Der Begriff Angst greift Kierkegaard den Gedanken, wonach das Phänomen der Angst die Erfahrung einer grundlegenden Freiheit und Geistbestimmtheit bereitstellt, so auf, dass er dabei die Anthropologie aus dem zweiten Teil von Entweder–Oder revidiert: Er bestimmt diese Freiheitserfahrung als das unvordenkliche Geschehen einer Menschwerdung des Menschen, die immer schon hinter uns liegt. Der Mensch ist im Ursprung ein geist-, weil freiheitsbestimmtes Wesen, er wird dies nicht erst im Vollzug einer „Wahl“ des Selbst. Damit sind gegenüber Entweder–Oder II an sich auch die konzeptuellen Grundlagen dafür geschaffen, den Zusammenhang nihilistischer Erfahrungen aus den Diapsalmata angemessener zu rekonstruieren und auf den Begriff zu bringen, d. h. zunächst einmal: jenseits jeder vermeintlichen Unmittelbarkeit zu verorten. Dennoch reicht die Angstabhandlung an die Selbstbeschreibungen und rudimentären Deutungen A’s nicht heran, da ihr Horizont frühzeitig auf das Selbst- und Gottesverhältnis des Menschen eingeengt wird. Die für A’s Negativitätserfahrungen basale Dimension einer mundanen Faktizität bleibt unberücksichtigt. _____________ 8
Auch wenn B die Selbstwahl ausdrücklich von einer puren Selbstsetzung abgrenzen möchte, gerät er dennoch in das Fahrwasser dieser Konzeption, indem er den fiktiven Zustand einer vorgeisthaften Unmittelbarkeit des Menschen unterstellt (vgl. 227).
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Der berühmte, mit dem Buch gleichnamige § 5 von Der Begriff Angst ist sicherlich neben dem systematischen Trommelwirbel am Anfang von Die Krankheit zum Tode das anspruchsvollste Textstück des Kierkegaardschen Oeuvres. An anderer Stelle habe ich bereits eine genauere Analyse vorgelegt.9 In diesem Kontext konzentriere ich mich auf die affekttheoretisch wichtigsten Passagen: auf die Bestimmung der Unschuld als Angst und auf die Konzeption des sogenannten „qualitativen Sprungs“ aus der Unschuld in die Schuld. Kierkegaard bestimmt die Unschuld, den Zustand des Menschen vor der eigentlichen Menschwerdung, dem Sündenfall im biblischen Sinne, wesentlich als Angst.10 Nur scheinbar knüpft er an das gewöhnliche Verständnis von Genesis 3 an, wonach dieser Zustand ein solcher von „Friede und Ruhe“ sei, einer unmittelbaren Einheit von Seele und Leib, des emotionalen und des vitalen Lebens. In möglichst großer Annäherung an die Binnenperspektive der sogenannten Unschuld wird die gängige Bibelauslegung und damit grundsätzlich jede Konzeption eines positiv vorgegebenen Zustandes von Unschuld bzw. Unmittelbarkeit subvertiert, als scheinhaft entlarvt. In diesem Zustand ist Friede und Ruhe; aber da ist zu gleicher Zeit noch etwas Anderes, welches nicht Unfriede und Streit ist; denn es ist ja nichts da, damit zu streiten. Was ist es denn? Nichts. Aber welche Wirkung hat Nichts? Es gebiert Angst. Das ist die tiefe Heimlichkeit der Unschuld: sie ist zugleich Angst. Träumend spiegelt der Geist seine eigene Wirklichkeit hin, aber diese Wirklichkeit ist Nichts, aber dieses Nichts sieht die Unschuld fort und fort außerhalb ihrer. (39f.)
Die Unschuld ist kein selbstgenügsamer, sondern erweist sich als ein Zwischen-Zustand. Sie ist schon immer nicht mehr, was sie niemals war: pure, animalische Einheit von Körper und Seele, und sie ist noch nicht, was zu realisieren ihr aufgegeben ist: geistbestimmte Existenz. Der Geist ist noch nicht verwirklicht, sondern bloß „träumend“, und die manifeste Zwietracht von Körper und Seele, ihr „Unfriede und Streit“ in Form ihrer Entgegensetzung und Extremierung, steht ihr allererst noch bevor. Es gibt also ‚am Anfang‘, so Kierkegaards Pointe, gar keine reine, ungetrübte Unschuld. Unser Ursprung ist vielmehr ein Zwischenzustand, eine Bewegung, die auf den Übergang in eine schuldbestimmte Existenz zielt. Die Erfahrung und damit auch das eigentliche Sein dieses „Zwischen“ ist Angst. _____________ Vgl. Pocai 1999, 95ff. Ich greife im Folgenden auf die Analysen dieses Aufsatzes zurück. 10 Er grenzt die Angst als eine zunächst ungerichtete Stimmung von dem eindeutig gegenstandsbezogenen Furchtaffekt ab (vgl. 40). 9
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Kierkegaards Darstellung konstruiert die Binnenperspektive eines „unvordenklichen“ Ursprungs, um dessen gewöhnliche Verklärungen zu unterwandern. Dabei affirmiert er jedoch nicht einfach diese Binnenperspektive, sondern stellt sie kritisch dar. Von einer expliziten Selbsterfahrung der vermeintlichen Unschuld als Angst kann nämlich keine Rede sein: Der fiktive Ur-Mensch befindet sich nicht nur noch ‚diesseits von Gut und Böse‘, auch weiß er nicht um sich selbst als Angst. Die Angst ist nicht nur in ontologischer, sondern auch in bewusstseins- bzw. erkenntnistheoretischer Hinsicht „die tiefe Heimlichkeit der Unschuld“: Sie ist ihr Wesen, um das sie zugleich nicht weiß. Vielmehr verkennt die Unschuld als ein rein äußerliches „Nichts“, was in Wahrheit die eigene Bestimmung ist. In diesem Verkennen liegt jedoch zugleich ein erstes vorreflexives, ahnendes Innewerden dieser Bestimmung. Dass der Geist vor seiner Selbstsetzung seine eigene Wirklichkeit „hinspiegelt“, meint eben nicht nur: er verkennt sie, indem er sie nach außen projiziert, sondern auch: er antizipiert seine eigene Realisation, er projektiert sich selbst. Und auch darin, dass die Unschuld ihre eigene Bestimmung bzw. deren Realisation als eine äußere, fremde Instanz auslegt, liegt ein Wahrheitsmoment. Denn der Geist ist nicht einfach nur die Bestimmung des Individuums, er ist zugleich die übersubjektive Bestimmung des Menschen, eine Dimension mithin, welche die Differenz von Welt und Selbst umgreift.11 Hierin allein liegt der Ansatzpunkt dafür, dass man die Angst der Unschuld als Einheit von Weltangst und ‚selbstischer‘ Freiheitsangst begreifen kann.12 Die Binnenperspektive des Sichängstens angesichts eines Nichts, der radikalen Fremdheit dessen, was eigentlich zu uns gehört: der Welt, in der wir leben, fließt in den Traum des Geistes mit ein, der damit auch ein Alptraum ist. Das Nichts der Angst wird so zum Vorschein radikaler Weltfremdheit. Daran ließe sich die Perspektive festmachen, wonach Kierkegaards Subversion von Unschuld und Unmittelbarkeit nicht zuletzt von der Intention motiviert ist, die eigene Zeit auf den Begriff zu bringen. Die Negativität der Moderne, so könnte man ansetzen, eröffnet allererst den Blick auf ein ursprüngliches „Nichts“. Eine solche Perspektive ist aber gänzlich im Rücken Kierkegaards angesiedelt: Er selbst lässt sie unergriffen, indem er die Fremdheitserfahrung gerade nicht als Erfahrung von Welt gelten _____________ Als wahrhaft übersubjektive Bestimmung gedacht, kann die Dimension des Geistes nicht – wie dies explizit am Anfang von KT geschieht – mit der des Selbst gleichgesetzt werden: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst“ (KT 8). 12 Dies ist die These von Schulz 1979, 347ff. 11
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lässt, sondern in diejenige der individuellen Freiheit auflöst. Angst ist für Kierkegaard im Wesentlichen „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“ (40). Sie gilt ihm als unrealisierte, aber gleichwohl wirkliche Freiheit: Sie ist Freiheit als reines Vermögen noch vor jeder Realisation und damit auch schon „Möglichkeit zu jeder Konkretion“ (61). „Möglichkeit“ bedeutet also in dieser Wesensbestimmung der Angst zum einen reines „Vermögen“, „Können“, „Macht“, zum anderen den Spielraum der realisierbaren Handlungsmöglichkeiten, in Kierkegaards Worten: die „selbstische Unendlichkeit des Möglichen“ (61). Kierkegaard begreift jenen Traum des Geistes so, als sei er nichts als der utopische Traum, das Wunschbild des Selbst. Wenden wir uns dem zweiten zentralen Gedankengang der anthropologischen Grundlegung in Der Begriff Angst zu, der entscheidenden Annäherung Kierkegaards an den sogenannten „qualitativen Sprung“ aus der Unschuld in die Schuld einer geist-, d. h. freiheitsbestimmten Existenz und damit in den Zustand, der allererst die conditio humana ausmacht. Während dabei der Zustand nach dem Sprung eindeutig als Schuld bestimmt werden muss, steht die Schuld am Sprung aufgrund der Zweideutigkeit der Angst, zugleich lustvolles Trachten und ohnmächtiges Erleiden zu sein, gerade infrage (vgl. 41), also wegen der ambivalenten Struktur, die Kierkegaard in der Bestimmung, Angst sei „eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie“ (40), zum Ausdruck bringt. Die entscheidende Klärung der Problematik erfolgt im Rahmen der Deutung eines bekannten Phänomens von ambivalenter Angst: der Höhenangst. Kierkegaard stellt einerseits den Schuldcharakter heraus, der in der Aktivität des „Springens“, der Realisation von Freiheit im Vollzug einer konkreten Handlung besteht, indem er die ‚unschuldige‘ Höhenangst als Freiheitsangst deutet, das heißt aber als Verhältnis des Menschen zu seinem Freiheitsvermögen. Denn als Grund des angsthaften „Schwindels“ erscheint letztlich die Abgründigkeit der Freiheit selbst, keine äußere Macht. Aber andererseits verschafft er hier der Erfahrung von Ohnmacht Geltung: Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigene Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zusammen. […] Den gleichen Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder aufrichtet, sieht sie, daß sie schuldig ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat oder erklären kann. (60f.)
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Es ist wichtig zu beachten, dass Kierkegaard den Sprung zwischen zwei Augenblicken veranschlagt, dem des Zusammensinkens und dem des Sichwiederaufrichtens. Der Sprung kann also nicht damit gleichgesetzt werden, dass die Freiheit „die Endlichkeit packt sich daran zu halten“. Eine solche Deutung ist deshalb ausgeschlossen, weil der Akt, sich an der Endlichkeit festzuhalten, ein Moment des Geschehens vor dem Sprung darstellt, einen Pol des „Schwindels“ ausmacht, in dem die Freiheit zusammensinkt: Die Freiheit blickt sympathetisch in ihre eigene Möglichkeit, die Unendlichkeit ihrer Realisationsmöglichkeiten, vor der sie sich antipathetisch, im Ergreifen der Endlichkeit, zurückzieht. Der „Schwindel“, in dem die Freiheit zuletzt zusammensinkt, ist somit ein potenzierter „Schwindel“, ein „Schwindel“ zweiter Ordnung: Er kennzeichnet die Rotationsbewegung zwischen dem „Schwindel“ erster Ordnung, also der Wahrnehmung des unendlichen Möglichkeitsspielraums sowie der Möglichkeit, Freiheit zu realisieren, und dem antipathetischen Zurückweichen zur Endlichkeit der leibseelischen Bestimmtheit. Das Gesamtgeschehen ist somit dasjenige der Angst als einer potentiell unendlichen Umschlagsbewegung zwischen „sympathetischer Antipathie“ und „antipathetischer Sympathie“. Die Pointe, auf die Kierkegaard hinausmöchte, scheint mir die zu sein, dass gerade die Unendlichkeit der Rotationsbewegung auf eine entscheidende Asymmetrie der beiden Momente verweist. Es ist nämlich nur auf eine Weise möglich, der Kreisbewegung zu entgehen: indem man dem sympathetischen Moment nachgeht und Freiheit im Vollzug einer konkreten Handlung, welcher, spielt dabei keine Rolle, aktualisiert. Es ist gerade nicht möglich, sich vor dem Sprung dauerhaft an der Endlichkeit festzuhalten, ohne immer wieder mit dem Horizont der Freiheit und damit mit der Möglichkeit ihres Vollzuges konfrontiert zu werden. Es ist diese Asymmetrie, mit der Kierkegaard ein Moment von Unschuld, Ohnmacht am Sprung zugesteht: Weit entfernt davon, zwar nicht nur, aber eben auch Friede und Ruhe zu sein, ist die Unschuld an dieser Stelle nichts weiter als die heillose Rotationsbewegung einer in sich, wie es heißt, „gefesselten Freiheit“, purer Zwang. Die Aktualisierung der Freiheit ist somit ein Akt der Befreiung von diesem Zwang.13 Kierkegaard zeichnet im weiteren Verlauf des Buches eine Geschichte der Angst nach, die von der Unfreiheit schuldhafter Selbstverfehlung zur Freiheit eines „in kraft des Glaubens“ gelingenden Existenzvollzugs ver_____________ 13
Zur näheren Bestimmung des Zustandes nach dem Sprung als Schuld vgl. Pocai 1999, 101.
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läuft. Wir können dem hier im Einzelnen nicht mehr nachgehen. Nur thesenartig soll die Konsequenz aufgezeigt werden, die aus Kierkegaards grundsätzlicher Perspektive auf die Angst als Phänomen der Selbstbeziehung für seine Deutung moderner Sinnlosigkeitserfahrungen folgt. Das umfangreiche vierte Kapitel des Buches ist der eigenen Zeit gewidmet. Grundlegend und vorherrschend zugleich sei eine „Angst vor dem Guten“, die Kierkegaard auch „das Dämonische“ nennt. „[D]as Dämonische ist vielleicht noch nie so weit verbreitet gewesen wie in unsern Zeiten, nur daß es heutzutage sich besonders in den geistigen Bereichen zeigt“ (141). Die dämonische Angst bildet den negativen Höhepunkt einer unfreien Existenz, denn sie richtet sich – im Unterschied zur „Angst vor dem Bösen“14 – explizit gegen das im Grunde Gesollte, die eigene Bestimmung (vgl. 127). Die existenzielle Defizienz geht, wie schon in Entweder–Oder, auf eine Aktivität des Individuums zurück und erweist sich als selbstverschuldet, auch wenn sich diese Aktivität keinem eigenmächtigen, sondern einem von Gott eingesetzten Existenzvollzug entgegenstellt. Damit wird Kierkegaard jedoch der Phänomenologie des Nihilismus aus Entweder–Oder I auch in Der Begriff Angst nicht gerecht. Die umfangreiche Analyse des Dämonischen versammelt zwar unter der Bestimmung des „Langweiligen“ die wichtigsten Merkmale, mit denen die Diapsalmata am Phänomen einer „grauenhaften“ Langeweile das potenzierte Leiden an der Sinnlosigkeit zum Ausdruck gebracht haben (vgl. EO I, 40): Kierkegaard bestimmt das „Langweilige“ als „Untötbarkeit“, als „Zusammenhang im Nichts“ (138)15 und spricht von „der grauenhaften Öde und Inhaltsleere“ des Dämonischen (ebd.). Die entscheidenden Bestimmungen der ursprünglichen Erfahrung werden zitiert, aber gerade nicht als Merkmale eines Leidensphänomens. Das Leiden fällt vielmehr der Dämonisierung zum Opfer: Die der „Angst vor dem Guten“ eigentümliche Leere lässt sich entweder ethisch verurteilen – oder metaphysisch belächeln. Sobald die Leere nur noch als der Gedanke des Leeren und also nicht mehr als grauenhafte Leere wahrgenommen wird, kann sie als eine substanzlose Trivialität erscheinen, die uns bestenfalls zum Lachen anregt (vgl. 138). Vom Negativen abstrahiert auch der affirmative Zielpunkt des Buches, die Gestalt einer „Angst als das kraft des Glaubens Erlösende“. Als „Mög_____________ Die Anfangsgestalt der Angst nach dem Sprung richtet sich als „Angst vor dem Bösen“ gegen die Unfreiheit. 15 Dieser der eigentlichen Kontinuität entgegengesetzte nihilistische Zusammenhang drängt sich, so Kierkegaard weiter, „der Vorstellung“ auf, „wenn man einen Menschen sieht, der aussieht, als sei er vor langer Zeit gestorben und begraben“ (138). 14
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lichkeit der Freiheit“ und „kraft des Glaubens“ – als Selbstverhältnis, das sich zugleich zu Gott verhält – sei die Angst „bildend“ – führe sie den Menschen zur Verwirklichung seiner Bestimmung –, „indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, alle Täuschungen an ihnen entdeckt“ (161) – also von Welt befreit. Nur in prinzipieller Gegenstellung zur Welt vermag der Einzelne seine Bestimmung zu realisieren. Die Unwahrheit dieses Ansatzes tritt jedoch am Endpunkt von Der Begriff Angst deutlich genug zum Vorschein. Denn die Absage an „alle Endlichkeiten“ zugunsten einer Freiheit zu sich und zu Gott schlägt zuletzt in die Affirmation der Verhältnisse um. Der vermeintliche Bildungsprozess „Angst“ besteht nämlich darin, angesichts einer unendlich steigerbaren Möglichkeit des Negativen „Ja“ zur gegebenen Wirklichkeit zu sagen. Wer solcherart „aus der Schule der Möglichkeit hervorgeht“, so die erstaunliche Wendung, „er wird die Wirklichkeit preisen, und sogar wenn sie schwer auf ihm lastet, wird er daran denken, daß sie gleichwohl weit leichter ist als es die Möglichkeit gewesen“ (162f). An dieser Stelle rächt sich die strukturelle Abwertung des Mundanen. Sie verführt Kierkegaard dazu, die Macht der herrschenden Verhältnisse zu unterschätzen.
4. Theorie der Verzweiflung Grundlegend für Kierkegaards Analyse der Verzweiflung in Die Krankheit zum Tode ist die konzeptuelle Differenz zwischen dem ersten, strukturalen, und dem zweiten, genealogischen Gang.16 Während der erste Durchgang mit der These steht und fällt, die er zugleich begründet: dass der Mensch eine „Synthese“ entgegengesetzter und gegenstrebiger Momente – „von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit“ (8) – ist und zu sein hat, steckt die anfängliche Definition von Verzweiflung als „Krankheit im Selbst“ (8), als Phänomen eines voluntativ bestimmten Selbstverhältnisses, den Horizont der genealogischen Analyse ab. Angeleitet von seiner Grundthese nimmt der erste Durchgang augenfällige Existenzformen radikaler Vereinseitigung in den Blick, die bei aller zum Teil gegensätzlichen Ausrichtung doch darin übereinstimmen, dass sie auf jeweils einen der beiden Grundpole der menschlichen Existenz festgelegt sind, die sich in ihrer Quintessenz als Differenz zwischen einem _____________ 16
Meine Deutung von KT ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Theunissen 1993.
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zukunftsbestimmten „Können“ und einem vergangenheitsbestimmten „Müssen“ fassen lassen. Während z. B. der Lebensvollzug des Spießers auf den Horizont des jeweils Vorliegenden eingeschränkt ist, zielt der Phantast umgekehrt ganz auf die offenen Möglichkeiten des Existierens. Somit verabsolutiert dieser das „Können“, jener das „Müssen“; beiden gemeinsam ist, dass sie von dem je anderen Moment abstrahieren – und damit von dem Ganzen der Existenzstruktur. Bezogen auf den ersten Durchgang besitzt die These von einer „negativistischen“ Methode Kierkegaards17 ihre volle Überzeugungskraft. Denn der Gedanke, dass der Mensch eine (von Gott) gesetzte „Synthese“ ist, leitet zwar die Analyse des ersten Durchgangs an, aber er begründet sie nicht. Vielmehr ist es umgekehrt die Analyse der Existenzformen abstrakter Einseitigkeit, welche die Synthese erschließt, und zwar als die strukturale Möglichkeitsbedingung dieser Formen einerseits, als die eigentliche Aufgabe des Existierens: die gegenstrebigen Momente zusammenzuhalten, andererseits. Die im ersten Durchgang analysierten Existenzformen erscheinen primär im Lichte dieser Grundthese, weniger in dem des Verzweiflungsphänomens. Dass die als Formen von Vereinseitigung begriffenen Existenzweisen allesamt angemessen als „Verzweiflung“ zu bezeichnen sind, lässt sich phänomenologisch gerade nicht begründen.18 Gleichwohl besitzt der erste Durchgang ein kaum zu unterschätzendes affekttheoretisches Potential. Denn Kierkegaards Analyse thematisiert an zentraler Stelle, unter dem Titel einer „Verzweiflung der Notwendigkeit“, das Verzweiflungsphänomen schlechthin, ebenjenen Verlust von Möglichkeit, auf den der klassische Verzweiflungsbegriff zielt. Die Synthesentheorie stellt dabei den konzeptuellen Rahmen bereit, um „Verzweiflung“ als Ausdruck eines reaktiven Nihilismus begreifen zu können, deckt doch der Begriff der „Notwendigkeit“ die Dimension einer mundanen Faktizität ab. Im Gegensatz dazu ist der zweite, auf den ersten Blick konkretere Durchgang von einem phänomenverzerrenden Verzweiflungsbegriff durchherrscht, den der Vorspann des Hauptteils umreißt: Verzweiflung wird als eine „Krankheit im Geist, im Selbst“ bestimmt, deren Grund im _____________ 17 18
Vgl. Theunissen 1991. Hier macht sich das Überbordende des Verzweiflungsbegriffs von KT bemerkbar, das der problematischen These von der „Allgemeinheit dieser Krankheit“ geschuldet ist (vgl.18–24).
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Willen des Einzelnen liegt, sei es, dass man „verzweifelt nicht man selbst sein“ will, sei es, dass man „verzweifelt man selbst sein“ will (8). Der gesamte zweite Durchgang ist von diesem Dualismus bestimmt, prozessualisiert er doch das Verhältnis der beiden Formen, indem er es als Weg von der „Schwachheit“ zum „Trotz“ reformuliert. Die pejorativen Begriffe indizieren in wünschenswerter Klarheit, dass Kierkegaard Verzweiflung als defizitäre Form willentlichen Handelns begreift und dem Verzweifelten die volle Verantwortung für das Verzweifeltsein zuschreibt. Damit überformt er die basale Erfahrung, die phänomenale Basis und den wesentlichen Charakter der Verzweiflung: das Erleiden, den Verlust von Hoffnung, den der klassische Begriff der desperatio indiziert. Den Fluchtpunkt dieser Überformung bildet die sündentheologische Deutung der Verzweiflung im zweiten Abschnitt der Schrift. „Sünde“, so heißt es dort, „ist […] die potenzierte Schwachheit oder der potenzierte Trotz“ (75). Einen phänomenologisch angemessenen, zunächst einmal unverzerrten Begriff von Verzweiflung stellt neben der Analyse der „Verzweiflung der Notwendigkeit“ der Schlussabschnitt des ersten Kapitels unter dem Titel „Verzweiflung ist: ‚die Krankheit zum Tode‘“ bereit. Kierkegaard erläutert die in der Überschrift gesetzte These durch zwei Bestimmungen: Erstens grenzt er die Verzweiflung sowohl von körperlichen Krankheiten mit tödlichem Ausgang als auch von einem christlichen Existenzverständnis ab, in dem der Tod „nicht das Letzte“, sondern „selber ein Durchgang zum Leben“ ist (13). In der Verzweiflung hingegen fungiert der Tod als definitiver lebensimmanenter Horizont, als Sterben in Permanenz. Zweitens bestimmt Kierkegaard die darin liegende „Qual“ (13), indem er Verzweiflung als „die Hoffnungslosigkeit, noch nicht einmal sterben zu können“ (14), definiert, mithin als desperatio. Die fehlende Perspektive einer Erlösung vom Leiden erscheint als der Kern des Phänomens. In ihrer Einheit bringen die beiden Bestimmungen den „qualvollen Widerspruch“ zum Ausdruck, der die Verzweiflung ausmacht: „ewig zu sterben, zu sterben und doch nicht zu sterben, den Tod zu sterben. Denn sterben bedeutet, daß es vorüber ist, aber den Tod sterben bedeutet das Sterben zu erleben; und läßt sich dies einen einzigen Augenblick erleben, so heißt das, es damit auf ewig erleben“ (14). Kierkegaard bezieht sich hiermit auf einen zentralen Aphorismus der Diapsalmata zurück, der die quälende Leere eines existenziellen Stillstands zum Ausdruck bringt, dem selbst die monotone ewige Wiederkehr eines identischen Leidens als unerreichbarer Wunsch erscheint, und der in einem „Ich sterbe den Tod“ (EO I, 40) kulminiert. Der Rückgriff auf die Diapsalmata, dieses nicht ge-
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kennzeichnete Selbstzitat, ist ein phänomenologisch-systematischer Höhepunkt von Die Krankheit zum Tode, denn hier gelingt tatsächlich, was die Schrift durchgängig zu leisten bloß beansprucht: Die Erfahrung der Verzweiflung wird auf den Begriff gebracht. Unter dem Titel „Die Verzweiflung der Notwendigkeit ist, der Möglichkeit zu ermangeln“ führt Kierkegaard in der Sache den Ansatz bei einer Phänomenologie der Verzweiflung als desperatio fort. Die „Möglichkeit“, um deren Verlust es hier geht, ist dabei nicht einfach mit dem der Notwendigkeit entgegengesetzten Pol der Synthese gleichzusetzen. Die praktischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen werden in einer ganz bestimmten Bedeutung aufgerufen, als Synonym für „das Rettende“. Verzweiflung als desperatio erscheint als Verlust des Rettenden (vgl. 35f). Wiederum bezieht sich Kierkegaard in der Sache auf die Diapsalmata zurück, auf einen Aphorismus, in dem der schwermütige A die Beschreibung seines Zustandes der Mattheit und Desillusioniertheit in der Wendung: „Meine Seele hat die Möglichkeit verloren“ kulminieren lässt (EO I, 45). Der Fortschritt von Die Krankheit zum Tode gegenüber Entweder–Oder I springt ins Auge: Während dort bei aller Nähe zur Erfahrung der Schwermut die Rede von einem Verlust „der Möglichkeit“ jenseits des Horizonts hedonistischen Strebens unbestimmt bleibt, gewinnt sie hier in phänomenologischer und konzeptueller Hinsicht Profil, wird der Verlust doch als die grundlegende Dimension der Verzweiflungserfahrung aufgewiesen. Der gleichzeitigen Präzision und Weite, die dem Möglichkeitsbegriff in seiner Bedeutung als „das Eine, was rettet“ (35) zukommt, ist es zu verdanken, dass die Analyse der „Verzweiflung der Notwendigkeit“ als Keimzelle einer angemessenen Genealogie der Verzweiflung gelesen werden kann, derzufolge Verzweiflung als ein mehrphasiger Prozess zu verstehen ist, der von einem basalen Erleiden über den Verlust des Vertrauens in das Menschenmögliche hin zum Verlust oder Scheitern des Glaubens an einen Gott, bei dem alles möglich ist, zum vollendeten Untergang verläuft. Die entscheidende Passage lautet: Denk dir einen Menschen, welcher mit dem ganzen Schauder einer erschreckten Einbildungskraft sich das eine oder andre Grauenhafte vorgestellt hat als unbedingt nicht auszuhalten. Nun widerfährt es ihm, eben dies Grauenvolle widerfährt ihm. Menschlich gesprochen ist sein Untergang das Gewisseste von allem […]. Mithin ist Rettung menschlich gesprochen das Allerunmöglichste; aber alles ist möglich bei Gott! Dies ist der Kampf des Glaubens, welcher, wenn man so will, verrückt für Möglichkeit kämpft. Denn Möglichkeit ist das Eine, was rettet. (35)
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Verzweiflung wird so als eine Bewegung begreifbar, die als konkrete Widerfahrnis anhebt und in vollendete Hoffnungslosigkeit einmündet. Dazwischen liegt der Kampf des Verzweifelnden um die Möglichkeit einer Rettung. Diese Lesart muss allerdings als subversiv bezeichnet werden, denn sie unterläuft Kierkegaards eigenes Verständnis von der Prozessualität der Verzweiflung, das in der Alternative zum Ausdruck kommt, ob der Verzweifelnde verzweifeln oder glauben will. Kierkegaard begreift den Prozess der Verzweiflung als Kampf im Verzweifelnden zwischen Verzweiflung und Glauben, also nicht als Kampf des Verzweifelnden gegen die Verzweiflung. Dementsprechend bestimmt er den Prozess, der nicht beim Glauben anlangt, nicht als Versuch einer Eigenrettung, sondern als ein Verzweifeln-Wollen, nicht als Kampf gegen das Grauen, den Untergang, sondern als „bequemen Weg“ (35). Dass Verzweiflung ein Prozess ist, ist der Wahrheitsgehalt des genealogischen Ansatzes von Die Krankheit zum Tode. Ein angemessenes Verständnis davon, wie sie dies im Einzelnen ist, liefert er allerdings gerade nicht. Nicht zuletzt das Weiterwirken der Diapsalmata schärft jedoch den Blick auf das genealogische Potential des synthesentheoretischen Durchgangs, demzufolge die „Verzweiflung der Notwendigkeit“ als Prozess zu begreifen ist, der mit der Erfahrung des Sinnverlustes anhebt und in vollendete Hoffnungslosigkeit einmündet. Die Kryptogenealogie der Diapsalmata wird damit ihrerseits im Grundriss bestätigt und begrifflich präzisiert. Diese Perspektive lässt sich zum Abschluss bringen, indem man einerseits die Widerstandsphänomene aus Entweder–Oder I mit den begrifflichen Mitteln von Die Krankheit zum Tode genauer bestimmt. Dies erlauben die Analysen der „Verzweiflung der Möglichkeit“ und der – dieser entsprechenden – Gestalten des „Trotzes“ aus dem zweiten Durchgang. Andererseits lässt sich jene Kryptogenealogie durch die Überlegungen zum „Determinismus“ bzw. „Fatalismus“ aus der Analyse der „Verzweiflung der Notwendigkeit“ ergänzen. An aktueller Stelle müssen wir uns auf einen knappen thesenartigen Ausblick beschränken. Das Phänomen eines „handelnden“ Trotzes führt das plastische Bild näher aus und präzisiert es begrifflich, mit dem Kierkegaard die Verzweiflung der Möglichkeit charakterisiert: dass die Möglichkeit „die Notwendigkeit über den Haufen [läuft]“ (32). Der Trotz ist der Versuch des Individuums, absolut eigenmächtig zu leben: Es will „über sich selbst verfügen, […] sich selbst erschaffen“, „konstruieren“ (68). Dieser Wunsch ist gegeben in dem, was Kierkegaard „die abstrakteste Form, die abstrakteste Möglichkeit des Selbst“ oder
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auch die „unendliche Form des negativen Selbsts“ (ebd.) nennt. Damit ist die Möglichkeit einer reinen Selbstbeziehung negativer Freiheit bezeichnet, die den Einzelnen aus allen Bindungen löst bzw. zu lösen scheint. Es ist nur unschwer zu erkennen, dass Kierkegaard hiermit die Haltung des nihilistischen „Entweder-Oder“ A’s („Heirate, du wirst es bereuen, heirate nicht, du wirst es auch bereuen“ usw.) auf den Begriff bringt. Umgekehrt jedoch erschließt sich allererst von den Diapsalmata her der „handelnde“ Trotz als erste Widerstandsform gegen das Verzweifeln. Mit dem Umschlag des „handelnden“ in den „leidenden“ Trotz wird das Leiden selbst zum Triebgrund des Trotzes. Das Individuum erfährt, dass es sein Leiden, den „Grundschaden“, aus eigener Kraft nicht beheben kann (vgl. 70), lehnt jedoch jede fremde Hilfe ab – sei diese menschlicher oder göttlicher Natur – und affirmiert die Grenze seiner Macht, indem es mit aller Unbedingtheit an diesem Leiden festhält (vgl. 71f). Kierkegaard begreift im Horizont seiner expliziten Genealogie das Phänomen eines „leidenden“ Trotzes als potenzierte Affirmation von Verzweiflung und reformuliert auf diese Weise seine Theorie des „Dämonischen“ aus Der Begriff Angst (vgl. 72–74). Aus der Perspektive unserer, an der Phänomenkonstellation von Entweder–Oder I und der Synthesentheorie von Die Krankheit zum Tode orientierten Genealogie des Widerstandes erscheint das Phänomen dagegen als Versuch, dem Leiden, auf das der „handelnde“, aktiv-nihilistische Trotz zurückgeworfen wird, nicht durch Verdrängung, sondern durch Affirmation zu entgehen, also indem der Verzweifelnde das Gesetztsein als Leidendsein auslegt. Aber auch dieser reflektiertere Versuch einer Eigenrettung scheitert, weil die fragile Freiheit eines Widerstandes durch Affirmation der Kontingenz innerweltlichen Leidens ausgesetzt bleibt. Der „leidende“ Trotz stellt den Endpunkt des Widerstandes gegen die desperatio dar. Mit dessen Scheitern und dem Verlust aller Hoffnung auf Rettung erfüllt sich der Verzweiflungsprozess, und zwar in einer Existenzform, die der Faktizität der herrschenden Verhältnisse zur Gänze erliegt, im „Determinismus“ bzw. „Fatalismus“, den Kierkegaard selbst als konkrete Ausgestaltung der „Verzweiflung der Notwendigkeit“ bestimmt (vgl. 37). Das Bestehende erscheint dem Fatalisten als unaufhebbarer Zwangszusammenhang, den man als solchen immer schon erlitten hat und innerhalb dessen kein gelingendes Leben mehr möglich ist. Als Fatalist, der das Grauen der Leere, des existenziellen Stillstands, reflektiert und damit abgestützt, gleichsam noch einmal stillgestellt, hat, versucht der Verzweifelte nur noch zu überleben. Die Stimmung der Gleichgültigkeit einer „grauenhaft langweiligen“ Langeweile ist der Ort, an dem sich der Überlebensimpuls ansiedelt – und ständig in Frage
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gestellt bleibt. Denn ob diese Mimesis an die vermeintliche Notwendigkeit der herrschenden Verhältnisse die Minimal-Existenz bloßen Überlebens sichert, bleibt eine offene Frage.
5. Zwischen Freiheit und Ausgeliefertheit Kierkegaards Perspektive auf die existenzielle Bedeutung von Emotionen – und allein darauf kommt es ihm in affekttheoretischer Hinsicht an – bewegt sich im Spannungsfeld zweier grundlegender Erfahrungen: der Freiheitserfahrung und der Erfahrung einer basalen Ausgeliefertheit an Welt. Dabei orientiert sich Kierkegaard jedoch einseitig an der Freiheitserfahrung: Emotionen sind für ihn im wesentlichen Phänomene der Willensfreiheit, ambivalente voluntantive Selbstverhältnisse. Demgegenüber marginalisiert er ihren basalen Leidenscharakter und dessen Grund, die innerweltliche Ohnmacht des Menschen. Diese Phänomenverzerrung kommt vor allem dadurch zustande, dass Kierkegaard die Differenz zwischen den Emotionen selbst und den Modi des Sich-Verhaltens zu ihnen einebnet. Die zunehmende Radikalität, mit der er die Erfahrung einer basalen Ausgeliefertheit an Welt abdrängt, verweist auf den eigentümlichen Sachverhalt, dass seine moderne existenzphilosophische Perspektive gleichwohl der traditionellen sündentheologischen Deutung von Emotionen verhaftet bleibt. Die Prägung seines Freiheitsbegriffs vom christlichen Bewusstsein der Sünde lässt eine differenzierte und ausgewogene Sicht auf die beiden grundlegenden Pole eines affektiven Verstehens nicht zu. Die Ablösung vom sündentheologischen Diskurs in der Nachfolge Kierkegaards hat allererst das abgedrängte emotionstheoretische Potential seines Ansatzes freigesetzt. Auch wenn in Heideggers Analyse der Angst aus Sein und Zeit wiederum die Freiheitserfahrung im Vordergrund steht, geht sein genuiner Entwurf einer Theorie der Befindlichkeit in entscheidender Hinsicht über Kierkegaard hinaus: Indem Heidegger Stimmungen als präreflexive „Erschlossenheit“ unseres Welt- und Selbstverhältnisses begreift19, vermag er gerade auch jene Dimension einer mundanen Faktizität zu denken, auf die Kierkegaard zielte, als er noch A war.
_____________ 19
Vgl. Pocai 1996.
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Literatur Kierkegaards Schriften werden zitiert nach der von Emanuel Hirsch übersetzten und gemeinsam mit Hayo Gerdes besorgten Ausgabe seiner Gesammelten Werke – vollständige Angaben siehe unten. Alle Nachweise erfolgen am Ort durch Seitenzahlangabe, im Zweifelsfall werden zusätzlich die Siglen verwendet. Die verwendeten Siglen sind: BA EO I EO II KT
– Der Begriff Angst – Entweder–Oder, Erster Teil – Entweder–Oder, Zweiter Teil – Die Krankheit zum Tode
Fink-Eitel, Hinrich (1994), Die Philosophie und die Wilden, Hamburg. Greve, Wilfried (1990), Kierkegaards maieutische Ethik, Frankfurt a. M. Kierkegaard, Sören (21982, dän. zuerst 1849), Die Krankheit zum Tode, übers. von Emanuel Hirsch, Gütersloh (= KT). – (21985, dän. zuerst 1843), Entweder–Oder, übers. von Emanuel Hirsch, Erster Teil, Bd. 1, Gütersloh (= EO I). – (1980, dän. zuerst 1843), Entweder–Oder, übers. von Emanuel Hirsch, Zweiter Teil, Bd. 2, Gütersloh (= EO II). – (31991, dän. zuerst 1844), Der Begriff Angst, übers. von Emanuel Hirsch, Gütersloh (= BA). Pocai, Romano (1996), Heideggers Theorie der Befindlichkeit. Sein Denken zwischen 1927 und 1933, Freiburg/München. – (1999), Der Schwindel der Freiheit. Zum Verhältnis von Kierkegaards Angsttheorie zu Schellings Freiheitsschrift, in: István M. Fehér/Wilhelm G. Jacobs (Hg.), Zeit und Freiheit, Budapest. – (2000), Philosophische Deutung literarischer Beschreibungen von Gefühlen, in: Studia philosophica 59, 155–173. Pulmer, Karin (1982), Die dementierte Alternative, Frankfurt a. M. Schulz, Walter (1979), Die Dialektik von Geist und Leib bei Kierkegaard, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt a. M. Theunissen, Michael (1991), Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode, Frankfurt a. M. – (1993), Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a. M. – (1996), Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters, Berlin/New York.
Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900)
Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte Werner Stegmaier Nietzsche teilt nicht mehr die traditionelle Scheu der Philosophen vor den Affekten. Seine Neubewertung oder, in seiner Sprache, „Umwertung“ der Affekte greift tief. Ihm wird eben das fragwürdig, woran die philosophische Tradition im Kern nahezu ungebrochen festgehalten hatte: die Herrschaft der Vernunft, die eine Herrschaft über die Affekte war und damit das Ideal eines von Affekten ungetrübten ‚reinen‘ Wissens, Handelns und Lebens. Stattdessen erkennt er an, dass menschliches wie tierisches Leben weitgehend von Affekten lebt und versucht darum den Gedanken, dass auch die Vernunft, die Moral, die Religion und die Kunst sich ihnen verdanken. Er redet darum nicht einer Enthemmung der Affekte das Wort, sondern im Gegenteil einem furchtlosen und souveränen Umgang mit ihnen, der ihre Wirkung noch steigern kann. Das Thema ist in seinem Werk ständig gegenwärtig, ohne dass es ihm nötig schien, eine eigene Abhandlung darüber zu verfassen. Er hat die Affekte auch nicht definiert. 1880 notiert er: Wenn man noch so genau den Bewegungen siedenden Wassers mit den Augen folgt, man begreift damit das Motiv des Siedens um nichts mehr. So auch bei Handlungen, wenn man das heftig bewegte Netz von Vorstellungen sich klar macht, welche uns dabei überhaupt bewußt werden. Es sind alles Wirkungen, welche auf ein verborgenes Feuer rathen lassen: aber es ist lächerlich, es definiren zu wollen. (N 1880, 6[305], 9.276)
Hat man einem „noch so complicirten Trieb“ aber einmal einen Namen gegeben (wie den des Affekts), so gilt er „als Einheit und tyrannisirt alle Denkenden, die nach seiner Definition suchen.“ (N 1881, 11[115], 9.482) Alle Begriffe, schreibt Nietzsche dann in der Genealogie der Moral, „in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.“ (GM II, 13) Im Willen zu Definitionen auch von so schwer Fassbarem wie einem Affekt scheint Nietzsches stärkster Antipode Kant zu sein, der den Affekt in unnachahmlicher Nüchternheit bestimmt hatte als eine „Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüths (animus sui compos) aufgehoben wird“, als das, was „im Subject die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob
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man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt“, so „einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst“ bewirkt und „die Herrschaft der Vernunft ausschließt“.1 Der Sache nach versteht Nietzsche den Affekt auch so. Er stimmt auch darin mit Kant überein, dass Affekte als „einstweiliges Surrogat der Vernunft“ zur augenblicklichen Handlungsanleitung lebensnotwendig und, soweit sie die „moralischen Triebfedern zum Guten“ beleben, selbst auch gut sind,2 ferner darin, dass der Verstand in der empirischen Erkenntnis auf Vorstellungen der Sinnlichkeit angewiesen ist, die ihn „affizieren“, wörtlich ‚anmachen‘, und schließlich darin, dass das Schöne und das Erhabene Verstand und Vernunft zur lustvollen Entdeckung dessen anregen, was ihnen als Vermögen der Regeln und Prinzipien verschlossen bleibt. So hatte schon Kant den Weg zu Nietzsches Umwertung der Affekte gebahnt.3 Nietzsche setzte seine Aufklärung in einer Aufklärung der Aufklärung fort – mit einer Umwertung auch der Vernunft.4
1. Das Feld und der Gang von Nietzsches Umwertung der Affekte Nietzsches Umwertung der Affekte5 setzt bei der Musikästhetik an. Nachdem die griechisch-christliche Tradition Europa nachhaltig auf argwöhnische Distanz zu den Affekten gebracht hatte, blieb, neben der Religion, _____________ 1 2 3 4 5
Kant 1968 (zuerst 1798), 251f., 267 (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Vom Begehrungsvermögen, § 73). Ebd., 253. Zum Orientierungssinn der Affekte und ihrer neurobiologischen Basis vgl. Stegmaier 200, 255–257. Vgl. Simon 2004 und Stegmaier 2004. Das Wort „Affect“‚ „Affekt“ ist, eingeschlossen verbale und adjektivische Formen und Zusammensetzungen, in Nietzsches Schriften vielhundertfach belegt; der Begriff spielt in seinem Denken eine maßgebliche Rolle. Dennoch erhielt er weder im Nietzsche-Handbuch (Ottmann 2000) noch im Nietzsche-Wörterbuch (van Tongeren/Schank/Siemens 2004) ein eigenes Stichwort; im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Sp. 89–100 (Lanz 1971) werden Nietzsches Umwertung von J. Lanz nur wenige periphere Zeilen gewidmet. Auch die Nietzsche-Forschung hat sich Nietzsches Affektenlehre bisher nicht eigens angenommen. Marco Brusottis monumentale Monografie Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra (Brusotti 1997) führt „Affekt“ nicht im Sachregister; Marco Vozza 2006 handelt vor allem von Heideggers Nietzsche-Rezeption.
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nur die Musik, um ihre Wirkung legitim zu genießen. Zu Nietzsches Zeit war Richard Wagner gekommen, die Musik auf unerhörte Weise sinnlich und erotisch zu machen und mit ihr zugleich, wie vormals die christliche Religion, vom Rausch der Sinne zu erlösen. Zum Letzteren hatte er die Rechtfertigung in Schopenhauers Metaphysik der Musik als Erlösung vom Willen zum Dasein gefunden. Die Begegnung mit Schopenhauers Philosophie und mit Wagner in Person wurden zu Nietzsches stärksten Erfahrungen in seinen philosophischen Anfängen. Dennoch hielt er es schon früh für einen Irrtum, in der Musik Affekte zu suchen. Es sei nicht, wie man nun gerne glaube, der Affekt, der die Musik mache: „Der kunstohnmächtige Mensch“, schrieb Nietzsche in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, „träumt sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um Gesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob je der Affect im Stande gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen.“ (GT 19, 1.123f.) In seinen vorbereitenden Notaten wird er noch deutlicher:6 „Der _____________ 6
Nietzsches nachgelassene Notate werden gerne und oft als Zeugnisse seines eigentlichen Denkens angesehen. Martin Heidegger etwa, der nach Nietzsches wesentlichen „Lehren“ und deren „systematischer“ Einheit fragte und sich dabei auf Elisabeth Förster-Nietzsches und Peter Gasts Kompilation Der Wille zur Macht stützte, erklärte die von Nietzsche selbst veröffentlichten Schriften für bloßen „Vordergrund“ und die nachgelassenen Notate für seine „eigentliche Philosophie“ (Heidegger 1961, Bd. 1, 17). Aber wie zu erwarten, hat Nietzsche seine Notate für sich, nicht für ein Publikum notiert, und dies um so mehr, je weniger er sich vom Publikum verstanden sah („Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser schreiben? … Aber ich notire mich, für mich.“ N 1887, 9[188], 12.450) und vom Publikum verstanden werden wollte („Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden.“ FW 381). Man wird mit den Notaten darum sehr behutsam umgehen müssen (vgl. Stegmaier 2007, bes. 90–94). Nietzsche hat in seinen Notaten zum einen seine veröffentlichten Werke vorbereitet, indem er Gedanken und Gedankenreihen zunächst erprobte. Insoweit sind sie hilfreich zum Verständnis seiner Werke; vor allem lassen sich dort Kontexte und Hintergründe seiner Gedanken, die er später tilgte, oft noch besser erkennen. Nietzsche veröffentlichte seine Notate jedoch kaum so, wie er sie notiert hatte, sondern transformierte und seligierte die Gedanken bis zuletzt, oft noch im Druckmanuskript. Nur die veröffentlichte Gestalt seiner Gedanken ist jedoch von ihm autorisiert. Nietzsche hat zahlreiche Gedanken und Gedankenreihen aber auch ganz oder weitgehend seinen Notaten vorbehalten, sei es, weil sie ihm nicht ausgereift schienen, sei es, weil ihm das Publikum nicht reif für sie erschien. Sie können als experimentelle Gedankenfolgen — Nietzsche spricht in einem Notat (und wiederum nur hier) von seiner Philosophie als einer „Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe“ (N 1888, 16[32], 13.492) – sehr aufschlussreich sein, aber nicht als seine „Lehre“ gelten. Wir werden die Notate im Folgenden einerseits zur Erläuterung der veröf-
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Ton wird sofort als Affektsprache verstanden. Die rein musikalische Wirkung ist sogleich depotenzirt zu einer Affektwirkung.“ (N 1871, 9[126], 7.321)7 Für Nietzsche ist „rein musikalisch“ die „absolute“ Musik, die in ihren „höchsten Offenbarungen“, etwa in Beethovens späten Streichquartetten, hervortritt und „die Roheit jeder Bildlichkeit und jedes zur Analogie herbeigezogenen Affektes […] völlig beschäm[t]“ (N 1871, 12[1], 1.366).8 Nietzsche steht hier selbst noch in argwöhnischer Distanz zu den Affekten. Im Zuge seiner Lösung von Schopenhauer und Wagner geht er eben diesem Argwohn nach und gibt die Distanz auf. Er studiert Eugen Dührings Der Werth des Lebens9 und notiert sich dazu: „Das Spiel der Affekte macht alle Lebensäußerungen bis zur Produktion der abstraktesten Ideen begreiflich.“ (N 1875, 9[1], 8.138). Im menschlichen Leben werden wie im tierischen alle Vorstellungen affektiv als angenehm und unangenehm, zuträglich und abträglich, anregend und gefährlich bewertet, und so werden auch in schwer übersehbaren Situationen vor allen bewussten und reflektierten Entscheidungsprozessen augenblickliche Handlungsentscheidungen möglich. Auch Menschen könnten anders nicht überleben; auch ihre Affekte überlassen bewussten Reflexionen nur einen Bruchteil der Entscheidungen und Unterscheidungen. Affekte greifen auch und gerade moralischen Entscheidungen und Unterscheidungen vor, moralische Scheidungen setzen weitgehend nur die affektiven fort. Darum ist die Distanz zu den Affekten, welche die Moral im Namen der Vernunft behauptet, eine Selbsttäuschung: „die Besiegung des schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemeisterung eines Affectes“, die als „der Gipfel des Moralischen“ gilt, entspringt ihrerseits einem Affekt, einem, der augenblicklich stolz macht (MA I, 138). Darum hat die christliche Moral, so sehr sie die Affekte bekämpft hat, sie klugerweise auch bestärkt – indem sie Gegenaffekte herausforderte, „sich in ihrer äussersten Stärke und Pracht zu offenbaren: als Liebe zu Gott, Furcht vor Gott, als fanatischen Glauben an Gott, als blindestes Hoffen auf Gott.“ (M 58) Wissenschaftliche Redlichkeit zwingt darum zu einer „übermoralischen“ (JGB 257) Bejahung der Affekte. Nietzsche notierte für sich dazu: _____________ 7
8 9
fentlichten Werke heranziehen und ihnen dort, wo Nietzsche in ihnen besondere Wege geht, besondere Abschnitte widmen. Vgl. N 1871, 9[137], 7.325: „Die Wortmusik soll zunächst auf die Affekte des Zuhörers wirken, als deklamirtes Wort: die Musik ist auf den Nichtmusiker berechnet, der ihr nur mit Affekten beikommt.“ Vgl. Bruse, 1984; Böning 1986 und Landerer/Schuster 2002. Dühring 1865.
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Das schönste leiblich mächtigste Raubthier hat die stärksten Affekte: sein Haß und seine Gier in dieser Stärke werden für seine Gesundheit nöthig sein, und wenn befriedigt, diese so prachtvoll entwickeln. Selbst zum Erkennen brauche ich alle meine Triebe, die guten wie die bösen und wäre schnell am Ende, wenn ich nicht gegen die Dinge feindlich mißtrauisch grausam tückisch rachsüchtig und mich verstellend usw. sein wollte. Alle großen Menschen waren durch die Stärke ihrer Affekte groß. Auch die Gesundheit taugt nichts, wenn sie nicht großen Affekten gewachsen ist, ja sie nöthig hat. Große Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung. Gewiß sind sie oft Anlaß, daß man zu Grunde geht – aber dies ist kein Argument gegen ihre nützlichen Wirkungen im Großen. (N 1881, 11[73], 9.469f.)
Das Ideal einer reinen Vernunft und einer auf sie gestützten autonomen Moral wird so von Grund auf fragwürdig. Nietzsche empfiehlt ihre Kritik am „Leitfaden des Leibes“,10 also eben dessen, dem die Affekte zugeschrieben werden. Alles, was am Leib einfach scheint, ist höchst „complicirt“,11 und man muss, in einer Aufklärung der Aufklärung, den komplizierten Hintergründen nachgehen, die die scheinbare Einfachheit des Erkennens und moralischen Handelns ermöglichen. Nietzsche nimmt dazu die Perspektive der „Physio-Psychologie“ ein, um dort, wo „die Gewalt der moralischen Vorurtheile“ die affektiven Prozesse des Seelenlebens der Beobachtung entzieht, sie zu „errathen“. Die geltende Moral zu hinterfragen – „wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest Moralität“ -, ist schwer gerade für einen moralischen Menschen, wie Nietzsche es selbst war: „Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat ‚das Herz‘ gegen sich“. Und wer „gar die Affekte Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte“ nimmt, „als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, – der leidet an einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit.“ (JGB 23) Dem physiopsychologischen Blick auf die Affekte eröffnet sich, dass Moralen, die die Affekte beherrschen sollen, ihrerseits ganz unterschiedlichen und charakteristischen Affekten (oder was wir so nennen) entspringen können: _____________ 10 11
Vgl. N 1885, 36[35], 11.565, u. ö. Vgl. N 1872/73, 19[118], 7.457: „Der Mensch kommt erst ganz langsam dahinter, wie unendlich complicirt die Welt ist. Zuerst denkt er sie sich ganz einfach, d. h. so oberflächlich als er selbst ist. / Er geht von sich aus, von dem allerspätesten Resultat der Natur, und denkt sich die Kräfte, die Urkräfte so, wie das ist, was in sein Bewußtsein kommt.“
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Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie ,es giebt in uns einen kategorischen Imperativ‘, kann man immer noch fragen: was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an’s Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: ‚was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, – und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!‘ – kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte. (JGB 187)
Affekte äußern sich für uns charakteristisch, in Zeichen, und zu diesen Zeichen gehören für den physiopsychologischen Blick auch die Moralen. Für den ärztlich-therapeutischen Blick sind sie Rezepte gegen eben die Affekte, denen sie entspringen. Nietzsche hat unter diesem Gesichtspunkt selbst eine kleine Typologie und Geschichte der Affektenlehre geschrieben: Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres ‚Glückes‘, wie es heisst, – was sind sie Anderes, als Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss zum Grade der Gefährlichkeit, in welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt; Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten; kleine und grosse Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter Hausmittel und Altweiber-Weisheit; allesammt in der Form barock und unvernünftig – weil sie sich an ‚Alle‘ wenden, weil sie generalisiren, wo nicht generalisirt werden darf –, allesammt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt, vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor Allem ‚nach der anderen Welt‘: Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und noch lange nicht ‚Wissenschaft‘, geschweige denn ‚Weisheit‘, sondern, nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit, – sei es nun jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten; oder auch jenes Nichtmehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der Moral; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um Gotteswillen – denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt dass …..; zuletzt selbst jene entgegenkommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-leibliche licentia
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morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und Trunkenbolde, bei denen es ‚wenig Gefahr mehr hat‘. Auch Dies zum Kapitel ‚Moral als Furchtsamkeit‘. (JGB 198)
Wird Moral als Ausdruck von Affekten verstanden, wird sie aus einer Gegeninstanz zu den Affekten zu ihrer Unterinstanz, und ‚Affekt‘ wird aus einem Gegenbegriff zur Moral zu ihrem Oberbegriff. Das gilt auch für die Vernunft, die Instanz der Moral seit Sokrates. Versucht man einmal zu denken, so Nietzsche, „dass nichts Anderes als real ‚gegeben‘ ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ‚Realität‘ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe“, dann wird auch das Denken als bloßes „Verhalten dieser Triebe zu einander“ denkbar (JGB 36); es wird dann, wie die Moral, zu einem bloßen „Regulativ“.12 So gesehen, hatte die europäische Tradition einen moralischen Begriff des Denkens und einen intellektuellen Begriff der Moral, die beide die „‚Realität‘“ nicht erreichen. Das hatte, so Nietzsche, unfreiwillig schon Spinoza deutlich gemacht, als er lehrte, die Affekte, wenn sie schon nicht zu tilgen seien, intellektuell so zu durchdringen, dass sie unschädlich werden („Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben“), um auf diesem Weg zu einem reinen „intelligere“ zu kommen: Indessen: was ist diess intelligere im letzten Grunde Anderes, als [ein] Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-, Verwünschen-wollens? Bevor ein Erkennen möglich ist, muss jeder dieser Triebe erst seine einseitige Ansicht über das Ding oder Vorkommniss vorgebracht haben; hinterher entstand der Kampf dieser Einseitigkeiten und aus ihm bisweilen eine Mitte, eine Beruhigung, ein Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art Gerechtigkeit und Vertrag: denn, vermöge der Gerechtigkeit und des Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein behaupten und mit einander Recht behalten. Wir, denen nur die letzten Versöhnungsscenen und Schluss-Abrechnungen dieses langen Processes zum Bewusstsein kommen, meinen demnach, intelligere sei etwas Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes; während es nur ein gewisses Verhalten der Triebe zu einander ist. (FW 333)
Doch auch die Rede von Affekten, das ist Nietzsche völlig deutlich und er notiert es mehrfach für sich, erreicht nicht die „‚Realität‘“, sie „bleibt eine Bilderrede“ (N 1881, 11[128], 9.487). Jede Rede von Ursachen, also auch die Rede von Affekten als Ursachen der Moral und der Vernunft, ist eine „Construktion des Intellekts, eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht giebt“. Wir haben es auch hier nur mit einem Glauben, einem „Glaube[n] an ‚Affekte‘“, zu tun (N 1883/84, 24[20], 10.657). Wir legen sie uns als Ur_____________ 12
Vgl. N 1880, 7[154], 9.348: „Moral als ein Regulativ im Verhalten der Triebe zu einander“.
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sachen zurecht, um mit unseren Analysen irgendwo Halt machen zu können, um überhaupt mit ihnen zu Ende zu kommen. Aber Affekte sind ihrerseits etwas undurchschaubar „Complicirtes“, das nur einfach scheint, weil es „mit Einem Wort bezeichnet wird“ (N 1880, 5[45], 9.191).13 Wenn Affekte ins Bewusstsein treten, werden sie sogleich als Einheit, Kraft, Trieb „interpretirt“ (N 1883/84, 24[20], 10.657), ohne dass wir je bewusst beobachten könnten, was sich da vor unserem Bewusstsein abgespielt hat. Damit schließt Nietzsche den oben zitierten Aphorismus: Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft; ich meine aber, diese Triebe, die hier mit einander kämpfen, werden recht wohl verstehen, sich einander dabei fühlbar zu machen und wehe zu thun –: jene gewaltige plötzliche Erschöpfung, von der alle Denker heimgesucht werden, mag da ihren Ursprung haben (es ist die Erschöpfung auf dem Schlachtfelde). Ja, vielleicht giebt es in unserm kämpfenden Innern manches verborgene Heroenthum, aber gewiss nichts Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes, wie Spinoza meinte. Das bewusste Denken, und namentlich das des Philosophen, ist die unkräftigste und desshalb auch die verhältnissmässig mildeste und ruhigste Art des Denkens: und so kann gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des Erkennens irre geführt werden. (FW 333)14
Auch Affekte und ihre Einheit und Selbständigkeit bleiben vorläufig nur unterstellt, Nietzsches Rede von ihnen ist lediglich kritisch gegen die dogmatische Rede von der Vernunft und der Moral gerichtet, die Einheit und Selbständigkeit für sie behauptet. Nietzsches Rede von Affekten ist weniger eine Lehre von Affekten als eine Kritik dogmatischer Lehren von der Beherrschung der Affekte.15 Wie ‚Affekt‘ ist auch ‚Wille zur Macht‘ nur ein vorläufiger Name für eine Einheit, die keine Einheit ist, jedenfalls keine immer gleiche. Nietzsche gebraucht für die Affekte, nachdem er ihn eingeführt hatte, auch den Namen vom Willen zur Macht.16 In den berühmten Aphorismus Nr. 36 _____________ Vgl. N 1881, 11[115], 9.482 (s. o.), ferner N 1885, 34[46], 11.434: „Die wahre Welt der Ursachen ist uns verborgen: sie ist unsäglich complicirter. Der Intellekt und die Sinne sind ein vor allem vereinfachender Apparat.“ und N 1887, 5[56], 12.205: „Alles, was als ‚Einheit‘ ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer complizirt: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit.“ 14 Vgl. auch schon FW 11 und 110 und N 1885, 34[249], 11.505; 38[1], 11.595. 15 Vgl. Stegmaier 1995. 16 Die Wendung „Wille zur Macht“ taucht zuerst in N 1876/77, 23[63], 8.425, im Zusammenhang mit den Affekten („Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv) erklären unsere starke Rücksicht auf die Meinungen der Menschen.“), im veröffentlichten Werk in Za II, Von der Selbst-Ueberwindung, 4.146, als Gegensatz 13
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aus Jenseits von Gut und Böse, den er in seinen Notizen mit dem dogmatisch und metaphysisch anmutenden Satz „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ (N 1885, 38[12], 11.611), in der veröffentlichten Fassung aber mit einer bloßen Hypothese enden ließ („Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem.“), hat er zudem die Rede von den Affekten eingefügt, die er zunächst nicht enthielt. Auch „die sogenannte mechanistische (oder ‚materielle‘) Welt“, formulierte er zuletzt, könnte „vom gleichen Realitäts-Range“ sein, „welchen unser Affekt selbst hat“. Sie wäre dann „als eine primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt und abschwächt –), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind“, kurz, „als eine Vorform des Lebens“ zu verstehen. Und da es (im Sinne von Ockhams ‚Rasiermesser‘) methodisch geboten sei, mit möglichst wenig Prinzipien auszukommen, müsse man „die Hypothese wagen“, dass alles Geschehen aus dem Wirken von „Willen“ resultiere, die ihrerseits wie Affekte wirken – sich augenblicklich durchsetzen wollen und das meist unbewusst tun. Das hieße, dass „überall, wo ‚Wirkungen‘ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt“ – oder Affekt auf Affekt (JGB 36). Die Stärke eines Willens, eines Affekts, zeigt sich aber erst in der Auseinandersetzung mit anderen Willen oder Affekten, sie steht nie fest, und darum sind diese Willen ihrerseits nichts Festes, Gegebenes, sondern Willen „zur Macht“, die sich wohl stets durchzusetzen suchen, jedoch immer nur bedingt durchsetzen können.17 Auch zum Wollen hatte Nietzsche schon, gegen Schopenhauer gewandt, vorausgeschickt, dass es „etwas Complicirtes“ sei, „Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist“: [I]n jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem ‚weg‘ und ‚hin‘ selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir ‚Arme und Beine‘ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir ‚wollen‘, sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen und zwar
_____________ zum „Willen zur Wahrheit“ der „Weisesten“ auf – „auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Werthschätzungen.“ 17 Vgl. Stegmaier 1992, 304–311.
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vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken; – und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem ‚Wollen‘ abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando’s. (JGB 19)
Danach ist der Affekt zuletzt das „Commando“, der „Befehl“, das Sichdurchsetzen-, Übermächtigen-Wollen und „was ‚Freiheit des Willens‘ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt“ (JGB 19): Der „Affekt des Befehls“ ist „das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft“ (FW 347). Als Affekt kann der Wille mehr oder weniger frei sein, und er ist um so freier, je stärker er ist, je leichter er sich durchsetzen kann. Das wiederum kann er um so mehr, je weniger er von anderen abhängt, nur auf andere reagiert. Nietzsche unterscheidet darum in der Genealogie der Moral „aktive“ von „reaktiven Affekten“ (GM II, 11)18 und entwickelt mit dieser Unterscheidung seine Moralkritik weiter. Affekt wird damit erneut als Oberbegriff herausgestellt – alle Moral bedarf der Affekte, um zu wirken. Doch die eine Moral sucht die Affekte „reaktiv“ einzudämmen oder zu tilgen und bringt sich, weil sie sich dadurch an sie bindet, um so mehr unter ihre Herrschaft; ihren Typus nennt Nietzsche provozierend „Sklavenmoral“. Die andere aber lässt die Affekte wirken und sucht sie noch zu steigern – und dadurch zu beherrschen; diesen Typus nennt Nietzsche, ohne dabei noch auf gesellschaftliche Stände abzuheben, die „Herrenmoral“; sie ist Herrin der Affekte im souveränen Umgang mit ihnen.19 Das heißt für Nietzsche: Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits –. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel: – man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. (JGB 284)
Im Denken von Affekten aus wird so zuletzt auch eine neue und realistischere Konzeption von „‚Objektivität‘“ möglich, letztere nicht als ‚interesselose Anschauung‘ verstanden (als welche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss. Hüten wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein ‚reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss‘ angesetzt hat, hüten wir uns vor
_____________ Deleuze 1985 (zuerst 1962) hat die Unterscheidung von aktiven und reaktiven Kräften seiner gesamten Nietzsche-Interpretation zugrunde gelegt. 19 Vgl. Stegmaier 1994, 21f., 120f. 18
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den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe wie ‚reine Vernunft‘, ‚absolute Geistigkeit‘, ‚Erkenntniss an sich‘: – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Unbegriff von Auge verlangt. Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein. Den Willen aber überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt castriren? … (GM III, 12)
2. Experimentelle Erweiterungen der Umwertung in Nietzsches Notaten In seinen Notaten hat Nietzsche die Genealogie des Moralischen, Religiösen und Ästhetischen aus den Affekten versuchsweise noch weitergetrieben. Erst auf der Ebene der Affekte, setzt er dort ein, seien zeitgemäße wissenschaftliche Erklärungen des Moralischen zu erwarten: „Moral ist eine vorwissenschaftliche Form, sich mit der Erklärung unserer Affekte und Zustände abzufinden. Moral verhält sich zu einer einstmaligen Pathologie der Gemeingefühle, wie Alchemie zu Chemie.“ (N 1882, 3[1]373, 10.98) Affekte aber sind für uns, die wir auf sie in unserer gesamten Orientierung angewiesen sind, nicht wieder aus Ursachen jenseits der Affekte zu erklären. Ursachen von Affekten sind die Anlässe, die sie auslösen: „Man spricht von den Ursachen der Affekte und meint ihre Gelegenheiten.“ (ebd., 3[1]408, 10.103) Wir dürfen auch nicht vorauszusetzen, dass wir über unsere Affekte verfügen und die Affekte in diesem Sinn unsere Affekte sind: „Im Affekt enthüllt sich nicht der Mensch, sondern sein Affekt.“ (ebd., 3[1]415, 10.103) Ein Mensch ist, wenn man ihn von den Affekten aus zu Ende denkt, seinerseits eine Einheit nur im Sinn eines mehr oder weniger ausgeglichenen Zusammenspiels von Affekten oder als ein „Affekt-System“ (N 1883, 7[121], 10.283). Ein solches System zeichnet sich dadurch aus, dass es ‚außen‘ und ‚innen‘ unterscheiden kann; es kann mithilfe ‚innerer‘ Verteilungsmechanismen Kräfte akkumulieren, um mit ihnen gesammelt ‚nach außen‘ zu agieren, und sich mithilfe von Ausgleichsmechanismen Spielräume schaffen, um auf Anregungen ‚von außen‘ zu reagieren oder nicht; es gewinnt auf beiden Seiten Freiheiten in der Kommunikation mit anderen Affekt-Systemen: „Der Mensch eine
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Atomgruppe vollständig in seinen Bewegungen abhängig von allen KräfteVertheilungen und -Veränderungen des Alls – und andererseits wie jedes Atom unberechenbar, ein An-und-für-sich. / Bewußt werden wir uns nur als eines Haufens von Affekten: und selbst die Sinneswahrnehmungen und Gedanken gehören unter diese Offenbarungen der Affekte.“ (N 1882/83, 4[126], 10.150) Folgt man diesem Gedanken, sind es, soweit wir überhaupt davon sprechen können, die Affekte selbst, die Systeme bilden, Systeme, mit denen das Bewusstsein sich dann eben so weit identifiziert, wie es dieses System, in dem es selbst nur ein auslegender Affekt ist, zu beherrschen glaubt. Die Affekte strukturieren sich, so Nietzsche, indem sie erfolgreiche Handlungen gegenüber nicht erfolgreichen bestärken, und seligieren so auch einander: die Affekte zu nicht erfolgreichen Handlungen werden im Folgenden zurückgehalten, kommen weniger zum Zug. So ergeben sich mit der Zeit feste Strukturen, über die ‚wir‘ nicht verfügen, sondern die ‚uns‘ ausmachen. Was ‚wir‘ als fest an uns erfahren, ist das „feste Gehäuse“, zu dem sich ‚unsere‘ Affekte strukturiert haben, und die festen Absichten, die wir zu hegen meinen, sind die, die in diesem Gehäuse zu Hause sind: Unsre Handlungen formen uns um: in jeder Handlung werden gewisse Kräfte geübt, andre nicht geübt, zeitweilig also vernachlässigt: ein Affekt bejaht sich immer auf Unkosten der anderen Affekte, denen er Kraft wegnimmt. Die Handlungen, die wir am meisten thun, sind schließlich wie ein festes Gehäuse um uns: sie nehmen ohne Weiteres die Kraft in Anspruch, es würde anderen Absichten schwer werden, sich durchzusetzen. – Eben so formt ein regelmäßiges Unterlassen den Menschen um: man wird es endlich Jedem ansehn, ob er sich jedes Tags ein paarmal überwunden hat oder immer hat gehn lassen. – Dies ist die erste Folge jeder Handlung, sie baut an uns fort – natürlich auch leiblich. (N 1883, 7[120], 10.282f.)
Die Annahme von Affekt-Systemen, die in ständigem Austausch miteinander sind und sich darin ständig verändern, lässt dann auch einen Wandel der Moralen denken: Vollkommen abgesehen von allen Mitmenschen giebt es eine fortwährende Veränderung im Werthe des Menschen, ein Besser- oder Schlechterwerden: 1) weil jede Handlung an seinem Affekt-Systeme baut 2) weil die mit jeder Handlung verbundene Taxation an ihm baut und wieder die Ursache der späteren Handlungen wird. (N 1883, 7[121], 10.283)
Was man „Seele“ nennt oder mit metaphysischen und theologischen Hypotheken lange so genannt hat, ist auf diese Weise besser „als Vielheit der Affekte, mit Einem Intellekte, mit unsicheren Grenzen“ zu verstehen (N 1884, 25[96], 11.33) und der „Intellekt“ selbst als „eine Art Magen aller
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Affekte (welche ernährt werden wollen.)“ (N 1884, 25[185], 11.64).20 Es ist, so Nietzsche, weiterhin weniger verführerisch, die „Einheit“, „in der Denken Wollen und Fühlen und alle Affekte zusammengefaßt sind“, als „Seele“ statt als „Bewusstsein“ zu bezeichnen:21 „ersichtlich ist der Intellekt nur ein Werkzeug, aber in wessen Händen? Sicherlich der Affekte: und diese sind eine Vielheit, hinter der es nicht nöthig ist eine Einheit anzusetzen: es genügt sie als eine Regentschaft zu fassen.“ (N 1885, 40[38], 11.647) Denn das Denken ist, notierte Nietzsche im Vorgriff auf JGB 187, „ebenfalls nur eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten“ (N 1885/86, 1[28], 12.17): „Die Gedanken sind Zeichen von einem Spiel und Kampf der Affekte: sie hängen immer mit ihren verborgenen Wurzeln zusammen“ (N 1885/86, 1[75], 12.29). Was aber die Logik betrifft, wie sie seit Aristoteles bearbeitet wird, so sieht sie entschlossen von allen Affekten ab: „Hier wird ein Denken erdichtet, wo ein Gedanke als Ursache eines anderen Gedankens gesetzt wird; alle Affekte, alles Fühlen und Wollen wird hinweg gedacht.“ So ist diese Logik das „Muster einer vollständigen Fiction“ (N 1885, 34[249], 11.505).22 Im Blick auf die Affekte und Affekt-Systeme, ohne die auch das menschliche Leben sich nicht erhalten könnte, wird schließlich das „Subjekt“ fragwürdig, auf das die Philosophie der Moderne so sehr gesetzt hat und das allem Erkennen ‚zugrunde liegen‘ sollte. Nietzsche hat, durch die Aporie aller Subjekt- und Erkenntnistheorien belehrt (in der Erkenntnis seiner selbst muss sich das Subjekt selbst schon voraussetzen), das Erkennen in ein Interpretieren zurückgenommen. Aber auch dann stellt sich noch die Frage, „wer“ denn interpretiert. Seine Antwort ist – wieder ein Affekt: „Man darf nicht fragen: ‚wer interpretirt denn?‘ sondern das Inter_____________ Schon Augustinus, Confessiones X, 14, hat die memoria, das ‚Innere‘ des Menschen, in das er alles ‚verinnerlicht‘, um es dann bei passenden Anlässen wieder zu ‚erinnern‘, mit dem Magen oder Bauch (venter) verglichen, der alles, was in ihn eingeht, auf seine Weise verdaue: Das Erinnern (recordari) gebe es wie eine Art Wiederkäuen (ruminari) wieder. An derselben Stelle unterscheidet Augustinus auch die Affekte, die er perturbationes, „Aufwühlungen“, nennt, in Begierde, Freude, Furcht und Trauer – und auch sie hole man aus jenem Magen hervor (de memoria profero), auch von ihnen habe man schon ‚verdaute‘ Begriffe. 21 Vgl. JGB 12: „Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nöthig, ‚die Seele‘ selbst […] los zu werden […]. Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie ‚sterbliche Seele‘ und ‚Seele als Subjekts-Vielheit‘ und ‚Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte‘ wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben.“ 22 Vgl. Stegmaier 2000. 20
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pretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein ‚Sein‘, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt.“ (N 1885/86, 2[151], 12.140) Das Interpretieren ist als bloßer „Prozeß“, als bloßes „Werden“ die Funktion eines Affekt-Systems, das, worin sich ein Affekt-System äußert. Wir können nicht anders als alles, was uns begegnet, augenblicklich so zu interpretieren, dass wir etwas ‚damit anfangen‘ können, und in jeden Akt und Augenblick dieses Interpretierens gehen alle bisherigen Interpretationserfahrungen als Vorentscheidungen ein. In einem weiteren Notat zum Problem formuliert Nietzsche darum als Antwort auf die Frage „Wer legt aus? – Unsere Affekte.“ (N 1885/86, 2[190], 12.161) Zu seinen letzten Publikationsplänen notiert er: „An Stelle der ‚Erkenntnißtheorie‘ eine Perspektiven-Lehre der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört)“ (N 1887, 9[8], 12.342), „Ableitung aller Affekte aus dem Einen Willen zur Macht“ (N 1887, 10[57], 12.490). Er wollte zuletzt seine ganze „Psychologie“ als „Affektenlehre“ oder „Morphologie des Willens zur Macht“ fassen unter der Leitthese, dass „der Wille zur Macht die primitive AffektForm ist, daß alle anderen Affekte nur seine Ausgestaltungen sind“ (N 1888, 13[2], 13.214, u. 14[121], 13.300). Aber dazu kam es nicht mehr. Nietzsche gibt darum nicht schon Freiheit und Verantwortung bloßen Affekten anheim, im Gegenteil: Freiheit und Voraussetzung wachsen beim Rückgang auf die Affekte. Je mehr man wissen oder doch vermuten kann, wie sehr man auf Affekte angewiesen und durch sie gebunden ist, um so mehr ist man herausgefordert, verantwortlich mit ihnen umzugehen, um so mehr wächst die Verantwortung für das eigene Handeln. Die Freiheit zu dieser Verantwortung oder, wie Nietzsche sagt, die „Verantwortlichkeit“23 ist jedoch ihrerseits nicht schon vorauszusetzen; man kann im Blick auf die Affekte ebenso eine „Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes“ wie eine „Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung Jedermannes“ begründen – und beide sogar unter Berufung auf den „Stifter des Christenthums“ (MA II, WS 81). Die „Härte der eigensten Verantwortlichkeit“ (MA II, Vorrede [1886] 4) muss man sich in jeder Situation neu erwerben – mit den einen Affekten gegen die anderen Affekte. Das kann mehr oder weniger gelingen. Die Verantwortlichkeit, diese „seltene Freiheit“ als „Macht über sich und das Geschick“, ist darum nicht selbstver_____________ 23
Vgl. schon N 1870/71, 7[144], 7.196 und 7[149], 7.197; im veröffentlichten Werk MA I, 39 und 107.
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ständlich, sondern, wie Nietzsche in der Genealogie der Moral schreibt, ein „ausserordentliches Privilegium“. „Souverain“, allen Herausforderungen gerecht wird sie, wenn sie ihrerseits „zum Instinkt geworden [ist], zum dominirenden Instinkt“, also einem – Nietzsche gebraucht den Begriff hier nicht – zuverlässig leitenden Affekt. Der im Umgang mit seinen Affekten „souveraine Mensch“ aber wird das, was ihm zuverlässig sagt, was er zu tun hat, was ihn aus eigener Verantwortung entschieden das Richtige tun lässt, in moralischer Sprache „sein Gewissen“ nennen (GM II, 2).
3. Ideal eines dionysischen Zustands des Affekt-Systems Im veröffentlichten Werk hat Nietzsche den Sinn des Affekts für das menschliche Leben zuletzt noch einmal im Rückgriff auf seine alte Unterscheidung des „Apollinischen“ und „Dionysischen“ gedeutet – nun jedoch ohne die schopenhauer-wagnersche „Artisten-Metaphysik“ (GT, Vorrede [1886] 2): Was bedeutet der von mir in die Aesthetik eingeführte Gegensatz-Begriff apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen? – Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig – Musik, wie wir sie heute verstehn, ist gleichfalls eine Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses residuum des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. Trotzdem ist Das der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen. (GD, Streifzüge 10)
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Im Sehen ist das Affekt-System nur teilweise erregt. Gesteigert wird aber auch das Sehen zum „apollinischen Rausch“, in dem es die „Kraft der Vision“ zum Schaffen von Gestalten gewinnt, wie sie die Bildende Kunst und die erzählende Literatur hervorbringen. Ihre Gestalten bleiben stehen, das Auge kann sich an sie halten, und sie halten es ihrerseits fest, fesseln, faszinieren es. Sie halten es in jenem belebten und lustvollen Zustand, in dem nach Kant die Erkenntnisvermögen in anregende Einstimmung miteinander kommen und das Sehen schöpferisch wird. „Rausch“, wie Nietzsche den Zustand nennt, verbindet sich in seiner Sprache mit „Überreichtum“, „Überfülle“ und „Überfließen“: Wer aus Überfülle an Kräften überfließt, muss von ihnen abgeben, anderen davon mitteilen (und seine Überfülle an „Weisheit“ bringt Zarathustra zu seinem „Untergang“ unter die Menschen). Im „apollinischen Rausch“ ist die Mitteilung noch gebändigt, noch begrenzt auf das Unterscheiden und Festhalten von Gestalten. Im „dionysischen“ Rausch werden auch diese Grenzen noch übersprungen. In ihm entstehen Gestalten in Bewegung, aus dem „Darstellen“ und „Nachbilden“ in der Bildenden Kunst wird ein „Transfiguriren“ und „Verwandeln“ in der Darstellenden Kunst, der Mimik, der Schauspielerei und vor allem der Musik. Hier wird gerade die Wandlungsfähigkeit, das Aufnehmen auch der leisesten Anregungen wesentlich. Die beweglichste und bewegendste Kunst aber, die Musik, ist nicht mehr dem Sehen, sondern dem Hören zugänglich. Nietzsche nimmt darum das Hören und Anstimmen von Musik als Bild für den „dionysischen Menschen“, von dem er zuerst in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik gesprochen hatte (GT 7 und 8). Der dionysische Mensch, so Nietzsches apollinische Vision, folgt seinen Affekten und beherrscht seine Affekte mit tänzerischer Geschmeidigkeit, er geht in der Musik auf, er lebt sie.24 In der griechischen Antike gab die Musik die Kraft, „die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern – und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers, – das war das Recept dieser Heilkunst.“ Mit Musik „nahm man auch die wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Cur. Zuerst dadurch, dass man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer Affecte auf’s Höchste trieb, also den Rasenden toll, den Rachsüchtigen rachetrunken machte: – alle orgiastischen Culte wollen die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal ent_____________ 24
Zur „Musik des Lebens“ (FW 372) und zur „Musik des Vergessens“ (FW 367) vgl. Stegmaier 2004a.
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laden und zur Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und ruhiger fühle und den Menschen in Ruhe lasse.“ (FW 84) Diese dionysische Dimension ist dem europäischen Menschen, aus dem inzwischen, wie Nietzsche sich notiert, „ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos“ geworden ist (N 1887/88, 11[31], 13.17), verloren. Auch die zeitgenössische Musik der Wagner, Brahms und Bizet, die Nietzsche hoch schätzte, gibt gegenüber der „Musik“ der griechischen Tragödie, die Dionysos feierte, den Gott des rauschhaft immer neu zugrundegehenden und wiedererstehenden Lebens, nur noch ein blasses Bild. Sie ist vergleichsweise affektarm geworden, redet kaum mehr „zu unsern Muskeln“ (GD, Streifzüge 10), nötigt den Hörer ruhig zu sitzen und lässt ihn nicht mehr tanzen. In Vorstufen zur Götzen-Dämmerung hatte Nietzsche notiert: „Musik ist gleichsam nur eine Abstraktion jenes weit volleren Ausdrucks der Affekt-Entladung […]. Im dionysischen Rausch ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust eingerechnet; sie fehlt nicht im apollinischen“ (14.425, N 1888, 14[46], 13.240).25 Auch hier spinnt Nietzsche den Gedanken in seinen Notaten noch weiter. Die Kunst derart gesteigerter Affekt-Systeme mit einem „Überreichtthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen“, notiert er, ist eine Kunst für ebenfalls gesteigerte Affekt-Systeme, „sie redet immer nur zu Künstlern“.26 Ein Austausch, eine Kommunikation unter solchen Systemen ist „der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen.“ Denn das „Sichhineinleben in andere Seelen ist urspr<ünglich> nichts Moralisches, sondern eine physiologische Reizbarkeit der Suggestion: […] Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurück gelesen werden …“ (N 1888, 14[119], 13.296f.) Stärker als der Affekt des Schmerzes ist nach Nietzsche, wie er schon seinen Zarathustra künden lässt,27 der Affekt der Lust. Am stärksten aber _____________ Vgl. N 1888, 14[117], 13.295: „das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung (zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast wunderlich coordinirt […]) / Musik machen ist auch noch eine Art Kindermachen“. 26 Vgl. FW, Vorrede (1887) 4: „Nein, wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andre Kunst – eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler!“ 27 Za III, Das andere Tanzlied 3, 4.286: „Lust – tiefer noch als Herzeleid“. 25
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ist, so denkt er seine Affektenlehre zu Ende, die Liebe. Sie nennt er jedoch nicht mehr nur „Affekt“, sondern, wo sie zum künstlerischen Rausch wird, das „größte Stimulans zum Leben“: Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit die Transfigurationskraft des Rausches geht? Die ‚Liebe‘ ist dieser Beweis, das, was Liebe heißt, in allen Sprachen und Stummheiten der Welt. Der Rausch wird hier mit der Realität in einer Weise fertig, daß im Bewußtsein des Liebenden die Ursache ausgelöscht und etwas Andres sich an ihrer Stelle zu finden scheint – ein Zittern und Aufglänzen aller Zauberspiegel der Circe … Hier macht Mensch und Thier keinen Unterschied; noch weniger, Geist, Güte, Rechtschaffenheit … Man wird fein genarrt, wenn man fein ist, man wird grob genarrt, wenn man grob ist: aber die Liebe, und selbst die Liebe zu Gott, die Heiligen-Liebe ‚erlöster Seelen‘, bleibt in der Wurzel Eins: als ein Fieber, das Gründe hat, sich zu transfiguriren, ein Rausch, der gut thut, über sich zu lügen … Und jedenfalls lügt man gut, wenn man liebt, vor sich und über sich: man scheint sich transfigurirt, stärker, reicher, vollkommener, man ist vollkommener … Wir finden hier die Kunst als organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt des Lebens: wir finden sie als größtes Stimulans des Lebens, – Kunst somit, sublim zweckmäßig auch noch darin, daß sie lügt… Aber wir würden irren, bei ihrer Kraft zu lügen stehen zu bleiben: sie thut mehr als bloß imaginiren, sie verschiebt selbst die Werthe. Und nicht nur daß sie das Gefühl der Werthe verschiebt… Der Liebende ist mehr werth, ist stärker. Bei den Thieren treibt dieser Zustand neue Stoffe, Pigmente, Farben und Formen heraus: vor allem neue Bewegungen, neue Rhythmen, neue Locktöne und Verführungen. Beim Menschen ist es nicht anders. Sein Gesammthaushalt ist reicher als je, mächtiger ganzer als im Nichtliebenden. Der Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu. Er wagt jetzt, wird Abenteurer, wird ein Esel an Großmuth und Unschuld; er glaubt wieder an Gott, er glaubt an die Tugend weil er an die Liebe glaubt: und andrerseits wachsen diesem Idioten des Glücks Flügel und neue Fähigkeiten und selbst zur Kunst thut sich ihm die Thüre auf. Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort die Suggestion jenes intestinalen Fiebers ab: was bleibt von der Lyrik und Musik übrig?… L’art pour l’art vielleicht: das virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpfe desperiren… Den ganzen Rest schuf die Liebe… (N 1888, 14[120], 13.299f.).
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Literatur Nietzsches Schriften und der handschriftliche Nachlass werden zitiert nach der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgten Ausgabe seiner Sämtlichen Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA] mit Siglen und Aphorismen-Nummern der Werke und ggf. von Band und Seite der KSA. Der Nachlass (N) wird mit Montinaris Datierung und Nummerierung sowie stets mit Band und Seite der KSA zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: FW GD GM GT JGB M MA N Za
– Die fröhliche Wissenschaft – Die Götzen-Dämmerung – Zur Genealogie der Moral – Die Geburt der Tragödie – Jenseits von Gut und Böse – Morgenröthe – Menschliches, Allzumenschliches (mit MA II, VMS = Vermischte Meinungen und Sprüche und MA II, WS = Der Wanderer und sein Schatten) – Nachlass – Also sprach Zarathustra
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Werner Stegmaier
– (1980, zuerst 1872/1886), Die Geburt der Tragödie, Sämtliche Werke [KSA], Bd. 1, München (=GT). – (1980, zuerst 1886), Jenseits von Gut und Böse, Sämtliche Werke [KSA], Bd. 5, München (=JGB). – (1980, zuerst 1881), Morgenröthe, Sämtliche Werke [KSA], Bd. 3, München (=M). – (1980, zuerst 1878/1879), Menschliches, Allzumenschliches, Sämtliche Werke [KSA], Bd. 2, München (=MA). – (1980, zuerst 1901), Nachlass, Sämtliche Werke [KSA], Bd. 7–13, München (=N). – (1980, zuerst 1883–1885), Also sprach Zarathustra, Sämtliche Werke [KSA], Bd. 4, München (=Za). Ottmann, Henning (Hg.) (2000), Nietzsche-Handbuch, Stuttgart 2000. Simon, Josef (2004), Der Begriff der Aufklärung bei Kant und Nietzsche, in: Renate Reschke (Hg.), Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der KantForschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom 15. –17. Mai 2003 in Weimar, Berlin, 113–122. Stegmaier, Werner (1992), Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen. – (1994), Nietzsches ‚Genealogie der Moral. Werkinterpretation, Darmstadt. – (1995), Philosophieren als Vermeiden einer Lehre. Inter-individuelle Orientierung bei Sokrates und Platon, Nietzsche und Derrida, in: Josef Simon (Hg.), Distanz im Verstehen. Zeichen und Interpretation II, Frankfurt a. M., 214–239. – (2000), Nietzsches Zeichen, in: Nietzsche-Studien 29, 41–69. – (2004), Nietzsches und Luhmanns Aufklärung der Aufklärung: Der Verzicht auf ‚die Vernunft‘, in: Renate Reschke (Hg.), Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom 15.–17. Mai 2003 in Weimar, Berlin, 167–178. – (2004a), „Philosophischer Idealismus“ und die „Musik des Lebens“. Zu Nietzsches Umgang mit Paradoxien. Eine kontextuelle Interpretation des Aphorismus Nr. 372 der Fröhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien 33, 90–128. – (2007), Nach Montinari. Zur Nietzsche-Philologie, in: Nietzsche-Studien 36, 80–94. – (2008), Philosophie der Orientierung, Berlin. van Tongeren, Paul/Gerd Schank/Herman Siemens (Hg.) (2004), Nietzsche-Wörterbuch, Berlin 2004. Vozza, Marco (2006), Nietzsche e il mondo degli affetti, Torino.
William James (1842–1910)
James: Von der Physiologie zur Phänomenologie Jan Slaby Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1841–1910) spielt eine wichtige Rolle sowohl für das philosophische Nachdenken über Emotionen als auch für die naturwissenschaftliche Erforschung der menschlichen Affektivität im 20. Jahrhundert. Dabei hat sich eine Deutung seiner Ansichten etabliert, die denkbar einfach ist und an der sich die Geister scheiden. Dieser Deutung zufolge vertritt James eine physiologisch basierte Empfindungstheorie, nach der Emotionen nichts anderes sind als die Empfindungen automatisierter Körperzustandsveränderungen, die durch das reflexhafte und als solches noch unbewusste Wahrnehmen äußerer Stimuli ausgelöst werden. Vor allem aus dem Bereich phänomenologischer oder analytischer Ansätze einer Philosophie der Emotionen, die den Weltbezug (Intentionalität) der menschlichen Gefühle betonen und ihren kognitiven Charakter in den Mittelpunkt stellen, ist diese James zugeschriebene Sichtweise eine willkommene Zielscheibe kritischer Angriffe: Die physiologistische Empfindungstheorie verfehle ausgerechnet die entscheidende Charakteristik zumindest der menschlichen Gefühle, bei denen es sich um Erfahrungen von oder gar Urteile über bedeutsame Begebenheiten in der Welt handele.1 Aus einer ganz anderen Richtung kommt hingegen klare Zustimmung für das von James Vorgetragene: Vertreter der jungen Disziplin der affektiven Neurowissenschaften, allen voran die medienwirksamen Wortführer Antonio Damasio und Joseph LeDoux, feiern James retrospektiv als Wegbereiter ihrer eigenen physiologischen Gefühlstheorien.2 Neurowissenschaftlich orientierte naturalistische Philosophen wie Jesse Prinz knüpfen ebenfalls in konstruktiver Weise an die Standard-James-Lesart an. Bei näherer Betrachtung dessen, was James tatsächlich über Gefühle und ihr Verhältnis zum Denken und zur Kognition geschrieben hat, zeigt sich, dass die Standard-Lesart der Komplexität und dem philosophischen _____________ 1 2
Vgl. Solomon 1993 (zuerst 1976); Nussbaum 2001. Damasio 1994; LeDoux 1996.
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Gehalt der James’schen Theorie nicht gerecht wird. Zieht man zudem auch spätere Schriften von James zu Rate, in denen er seine umfassendere pragmatistische Philosophie entwickelt, wird klar, dass wir es hier mit einer Emotionstheorie zu tun haben, die bereits wichtige Einsichten der Phänomenologie und auch einige aktuell in der Philosophie der Emotionen verhandelte Themen und Thesen vorwegnimmt. Der Vorwurf, James vertrete eine reine Empfindungstheorie, lässt sich im Lichte dieser Neubetrachtung nicht aufrechterhalten. Statt dessen wird unmittelbar die Anschlussfähigkeit seiner zentralen Gedanken an aktuelle Diskussionskontexte deutlich: Fühlen und Denken sind eng verwoben – Gefühle, vor allem die eher unauffälligen, die den stets präsenten Hintergrund bewusster Erfahrung bilden, sind entscheidend an der Strukturierung und Vorauswahl des kognitiven Weltbezugs beteiligt –, Gefühle fundieren zudem in wichtiger Weise die Einstellungen, Überzeugungen und Wertungen einer Person. Dies ist ein interessanteres und vor allem anschlussfähigeres Bild der James’schen Gefühlstheorie. Der vorliegende Text gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst soll anhand einer Betrachtung des bahnbrechenden Mind-Artikels What Is An Emotion? von 1884 die klassische James-Lesart rekonstruiert und in ihrer (beschränkten) Berechtigung ausgewiesen werden (Abschnitt 1). Anschließend erfolgt eine kurze Betrachtung der Wirkung dieser einfachen Sichtweise auf die Philosophie der Emotionen sowie die affektive Neurowissenschaft – die Kritiker und Verfechter der James’schen Theorie kommen hier gleichermaßen zu Wort (Abschnitt 2). Schließlich wird der verkürzten Standard-Deutung eine alternative Lesart der James’schen Gefühlstheorie gegenübergestellt. James erscheint nun als ein phänomenologisch orientierter, sich dem kruden Gegensatz Gefühl/Kognition entziehender und insgesamt philosophisch weitaus ergiebigerer Autor als es nach Maßgabe der Standard-Deutung der Fall ist. Die alternative Lesart wird durch Textbelege gestützt und als an aktuelle Debatten anschlussfähig erwiesen (Abschnitt 3).
1. James über Gefühle – die Standard-Lesart James, ein kosmopolitischer Intellektueller aus gutem Hause und Bruder des Schriftstellers Henry James (1843–1916), hatte an der Harvard Medical School Medizin studiert und dort anschießend Anatomie und Physiologie unterrichtet, ehe er 1876 eine Assistenzprofessur in Psychologie und ab
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1881 auch eine Assistenzprofessur in Philosophie übernahm. Ab 1985 war er schließlich full professor of philosophy – und das, obwohl er weder Psychologie noch Philosophie jemals offiziell studiert hatte. James verblieb seine gesamte akademische Karriere über an der Harvard University. Allerdings führten ihn viele Reisen nach Europa; zudem pflegte er intensive Korrespondenzen mit zahlreichen Größen in Wissenschaft, Philosophie und Literatur seiner Zeit (u. a. Emerson, Peirce, Twain, Santayana, Mach, Dewey, H. G. Wells, Bergson, Freud). Philosophische Bekanntheit erlangte er vor allem als Vertreter des amerikanischen Pragmatismus. James’ Beschäftigung mit den Emotionen fällt in den Bereich seiner psychologischen Untersuchungen, deren Ergebnisse ausführlich in dem zweibändigen Werk The Principles of Psychology (1890) niedergelegt sind. Die erste und am meisten beachtete Phase, in der sich James mit den Emotionen befasst hat, sind die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts. Allerdings finden sich auch in späteren Phasen seines Schaffens immer wieder detaillierte Bemerkungen zu Gefühlsphänomenen3 – unter anderem auch solche, die für eine Gesamteinschätzung seiner Gefühlstheorie von zentraler Bedeutung sind William James’ Emotionstheorie erscheint in ihrer ersten und berühmtesten Fassung in dem 1884 in Mind publizierten Aufsatz What Is An Emotion? und bildet in erweiterter aber inhaltlich nahezu identischer Form das 15. Kapitel von The Principles of Psychology (Band 2). Auf den ersten Blick handelt es sich um eine klassische Instanz dessen, was in der Philosophie der Gefühle als eine Empfindungsstheorie bezeichnet wird: Konstitutives Element einer Emotion sei ein spezifischer Typus von Empfindung, also das Quale, die Art und Weise, wie sich die Emotion anfühlt. James versucht diese These mit einem hypothetischen Gedankenexperiment zu plausibilisieren. Stellten wir uns eine starke Emotion vor und versuchten dann, uns alle Empfindungen der mit der Emotion einhergehenden körperlichen Symptome wegzudenken, so bliebe von der Emotion nichts übrig – „no ‚mind-stuff‘ out of which the emotion can be constituted“ – lediglich ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung (E 193). Noch bemerkenswerter als die Tatsache, dass James die Essenz von Emotionen in ihrer spezifischen gefühlten Qualität erblickt, ist die Art und Weise, wie James die Entstehung dieser Gefühle erklärt. Er dreht dazu die gewöhnliche Auffassung emotionaler Episoden an entscheidender _____________ 3
So etwa in The Sentiment of Rationality (1879) und in The Varieties of Religious Experience (1902). Einige wichtige Hinweise lassen sich auch dem Spätwerk Pragmatism (1907) entnehmen. Vgl. auch unten, Abschnitt 3.
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Stelle um: Es sei nicht so, dass wir nach einem Verlust zunächst Trauer empfänden und dann, als Ausdruck dieser Trauer, zu weinen begännen; und ebenso wenig erzeuge das Auftauchen eines Bären zunächst Furcht, welche dann wiederum zum Auslöser oder Motivator unserer Flucht werde. Stattdessen löse der Stimulus – also in diesen Fällen der Verlust sowie das Auftauchen des gefährlichen Bären – unmittelbar, ohne bewusste kognitive Vermittlung die körperlichen Reaktionen (Weinen bzw. Flucht) aus. Und diese Reaktionen würden erst dann, gleichsam als letzter Schritt in der Kausalkette, in Form der charakteristischen Gefühlszustände Trauer und Furcht wahrgenommen. So kommt James zu seinen so bekannten wie paradoxen Behauptungen: „We feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble […].“ (E 190) Aufgrund ihrer Wichtigkeit und Zentralität für die James’sche Theorie sei die Schlüsselpassage in ihrer Gesamtheit zitiert: Our natural way of thinking about these coarser emotions is that the mental perception of some fact excites the mental affection called the emotion, and that this latter state of mind gives rise to the bodily expression. My theory, on the contrary, is that the bodily changes follow directly the perception of the exciting fact, and that our feeling of the same changes as they occur is the emotion. Common-sense says, we lose our fortune, are sorry and weep; we meet a bear, are frightened and run; we are insulted by a rival, are angry and strike. The hypothesis here to be defended says that this order of sequence is incorrect, that the one mental state is not immediately induced by the other, that the bodily manifestations must first be interposed between, and that the more rational statement is that we feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble, and not that we cry, strike, or tremble, because we are sorry, angry, or fearful, as the case may be. (PP 449f.)
Ein Problem dieser Theorie besteht darin, wie bestimmte Stimuli unmittelbar charakteristische körperliche Reaktionen auslösen können; wie sie, ohne von der fühlenden Person bewusst gedanklich verarbeitet zu werden, gleichwohl die entsprechenden emotionalen Reaktionen einleiten können sollen. James ist in dieser Hinsicht ein Anhänger Darwins und verweist auf die Evolutionstheorie: Organismen seien mit zahlreichen adaptiven Prädispositionen zu bestimmten Reaktionen auf wiederkehrende und überlebensrelevante Umweltfaktoren ausgestattet. Es ließen sich viele Beispiele geben für Fälle, bei denen bestimmte typische Gegenstände oder Situationen unweigerlich gewisse mentale und körperliche Reaktionen hervorrufen, und zwar noch bevor irgendein bewusster Denkoder Urteilsakt sich auf sie bezieht (vgl. E 190). An die Stelle einer bewussten Auffassung der Stimuli tritt also laut James eine Art automatische
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Verschaltung, welche sich unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten als adaptiv betrachten lässt. Den nahe liegenden Einwand, dass sich so aber nur emotionale Reaktionen auf evolutionsgeschichtlich stabile biologische Stimuli erklären lassen, versucht James dadurch zu entkräften, dass er die Einstellungen, welche die anderen Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft der fühlenden Person gegenüber einnehmen, als eine Art „Superstimulus“ ins Spiel bringt. Da für einen Menschen nichts wichtiger sei als die Art und Weise, wie er von seinen Mitmenschen eingeschätzt und daraufhin in die soziale Gemeinschaft integriert werde, sei zu vermuten, dass bei den kulturell geprägten und mit verschiedenen sozialen Umgebungen variierenden Stimuli solche zwischenmenschlichen Anerkennungs- und Ablehnungsaussichten im Hintergrund stünden (vgl. E 195). James weist auf eine wichtige Implikation seiner Theorie hin: Ein willentliches Herbeiführen der charakteristischen Manifestationen einer Emotion müsste die Emotion selbst auslösen. Ebenso müsste umgekehrt gelten: „Refuse to express a passion, and it dies.“ (E 197). So gibt James den folgenden Ratschlag hinsichtlich der Affektkontrolle: Um unliebsame emotionale Tendenzen in uns zu beseitigen, sollten wir entschlossen und zunächst im Zustand kühlen Blutes willentlich die äußeren Manifestationen der gegenteiligen Emotionen, die wir in uns kultivieren möchten, hervorrufen (ibid.) – ein Ratschlag, der in mancherlei Variationen Eingang in zahlreiche populäre Manifeste zur psychologischen Lebenshilfe gefunden hat. Als Fazit seiner Erwägungen weist James darauf hin, dass wir anhand der Emotionen deutlicher als je zuvor erkennen könnten, wie sehr unser mentales Leben mit unserem Körper verwoben sei (E 201); entsprechend sei ein enger Zusammenhang von komplexeren Emotionen wie Entzücken, Liebe, Ehrgeiz, Entrüstung und Stolz – verstanden als Gefühle – mit groben körperlichen Empfindungen wie Freude und Schmerz zu konstatieren (ibid.). Die vermeintlich rein intellektuellen Emotionen, also solche, die mit keinerlei körperlichen Reaktionen einhergehen und daher ein Gegenbeispiel zu seiner Theorie darzustellen scheinen, versucht James durch eine Trennung des rein kognitiven Urteils, dass etwas richtig oder gelungen sei, von den dieses Urteil möglicherweise begleitenden Gefühlen in seine Theorie zu integrieren (E 201f.). Die begleitenden Gefühle hätten körperliche Manifestationen und passten also in den Rahmen seiner Theorie, bei den Urteilen hingegen handele es sich überhaupt nicht um Emotionen, sie
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fallen folglich aus dem Gegenstandsbereich der Theorie heraus. Der Preis für diese Auffassung scheint die aus heutiger Sicht nicht mehr selbstverständliche klare Trennung zwischen Emotion und Kognition zu sein. Doch dieser oberflächliche Eindruck, der bei der Lektüre von What Is An Emotion? mitunter entstehen kann, täuscht – in Wahrheit ging auch James von einer engen und sogar konstitutiven Verschränkung von Fühlen und Denken, Empfinden und Erkennen aus, wobei sich diese Sichtweise allerdings erst in seinen späteren Schriften deutlicher herauskristallisiert (vgl. unten, Abschnitt 3). Der physiologische Ablauf eines emotionalen Prozesses sieht nach James schließlich wie folgt aus: -
Ein Objekt affiziert ein Sinnesorgan und wird vom entsprechenden kortikalen System registriert, jedoch ohne dass dieser Vorgang bereits mit Bewusstsein einhergeht.
-
In Sekundenbruchteilen laufen anschließend Nervenimpulse durch ihre charakteristischen Kanäle, wodurch sich die Zustände von Haut, Muskulatur und inneren Organen auf jeweils typische Weise verändern.
-
Diese körperlichen Veränderungen, die, wie schon der externe Stimulus, in bestimmten Arealen des Kortex registriert werden, werden schließlich ‚im Bewusstsein‘ mit der Wahrnehmung des jeweiligen Objekts verbunden. So wird aus einem lediglich neutral aufgefassten Objekt (an object-simply-apprehended) ein emotional empfundenes Objekt (an object-emotionally-felt; vgl. E 203).
2. Die Rezeption der James-Lange-Theorie in Philosophie und Neurowissenschaft Von der James’schen Emotionstheorie ist in der Literatur häufig unter dem Titel „James-Lange-Theorie“ die Rede. Der dänische Arzt und Psychologe Carl Georg Lange (1834-1900) hatte in etwa zur gleichen Zeit und unabhängig von James eine ganz ähnliche Emotionstheorie entwickelt, in der er sogar – anders als der in diesem Punkt vorsichtigere James – Emotionen direkt mit vasko-muskulären Veränderungen identifizierte. In The Principles of Psychology zitiert James bereits ausgiebig und weitgehend zustimmend aus Langes Abhandlung Über Gemütsbewegungen (1887). In der
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empirischen Affektforschung und der Philosophie der Gefühle im 20. Jahrhundert gab die James-Lange-Theorie zunächst eine dankbare Zielscheibe für Kritik ab. Ein erster einflussreicher Kritiker war der USPhysiologe Walter Cannon (1871–1945), der neben einem umfassenden Katalog von Gegenerwägungen auch eine Alternativtheorie konzipierte, die das berühmte Schema der James-Lange-Theorie auf den Kopf stellte: Laut Cannon kommt zuerst die emotionale Reaktion auf ein auslösendes Objekt und erst anschließend die physiologische und verhaltensmäßige Reaktion.4 Allerdings konnte sich Cannons Modell weder in der Psychologie noch anderswo nachhaltig durchsetzen. Mehr Erfolg beschieden war den amerikanischen Psychologen Stanley Schachter und Jerome Singer, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ein denkbar einfaches Experiment ausführten: Sie injizierten Versuchspersonen Adrenalin und setzten dann verschiedene Gruppen ihrer Probanden unterschiedlichen emotionsrelevanten Stimuli aus. Das Ergebnis: Bei gleicher physiologischer Erregung resultierten ganz unterschiedliche emotionale Zustände – je nach Art der auslösenden Stimuli. Das veranlasste Schachter und Singer zur Formulierung einer Zwei-Komponenten-Theorie: Neben der physiologischen Erregung bestünden Emotionen aus einer kognitiven Einschätzung der auslösenden Situation.5 Damit wurde ihre Theorie zur Vorläuferin der kognitiven bzw. Appraisal-Theorien, dem bis zum heutigen Tage in Philosophie und Psychologie dominierenden Ansatz. Sowohl bei Schachter und Singer als auch bei den (später sogenannten) Kognitivisten liegt damit das zentrale Versäumnis von William James in einem Verkennen der kognitiven Funktion von Emotionen. Dies ist vor allem in der Philosophie oft betont worden. Dabei erwies sich insbesondere ein Argument als sehr einschlägig: Während die menschlichen Gefühle offenkundig ein äußerst facettenreiches und heterogenes Spektrum bilden und sich zahllose unterschiedliche Gefühlstypen sprachlich präzise unterscheiden lassen, scheint es nahezu unmöglich, derart viele subtile Unterscheidungen auch im Bereich der Empfindungen von Körperzustandsveränderungen vorzunehmen. Das körperliche Empfinden ist weitaus diffuser und unspezifischer als das Alphabet der sprachlich unterscheidbaren Emotionstypen. Dies ist das sogenannte Individuierungsproblem, das lange als die maßgebende gegen James und Lange sprechende Erwägung galt. Meist wird es von Philosophen gleich in Ver_____________ 4 5
Vgl. Cannon 1972. Schachter/Singer 1962.
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bindung mit der favorisierten Alternativauffassung ins Spiel gebracht: Nur eine Theorie der Emotionen, die den intentionalen Gehalt der affektiven Zustände in den Mittelpunkt rückt, könne das Individuierungsproblem lösen. Vor allem die kognitiven Theorien, welche Emotionen als Bewertungen von bedeutsamen Situationen beschreiben, leisten dies – der jeweilige Bezug auf eine aus Sicht des Fühlenden irgendwie relevante Situation wird zum maßgebenden Unterscheidungskriterium unterschiedlicher Emotionstypen. Bei James und Lange hingegen wird die Intentionalität stiefmütterlich behandelt – das jedenfalls legt die Standard-Lesart nahe. Die Kognitivisten beschreiben folglich die zahlreichen verschiedenen Weisen eines evaluativen Weltbezugs in der emotionalen Erfahrung: So erschließt Furcht eine Gefahr, Trauer einen Verlust, Ärger ein fremdverschuldetes vermeidbares Übel, Scham einen von anderen wahrgenommenen ‚Defekt‘ der eigenen Person nach Maßgabe anerkannter normativer Standards, Stolz eine Leistung oder einen Vorzug der eigenen Person im Lichte der Anerkennung durch relevante Andere etc. Wie es bei oberflächlicher Lektüre scheint, blendet James diese zentrale Dimension des menschlichen Gefühlslebens komplett aus und behauptet stattdessen, das einzige wirkliche ‚Objekt‘ der emotionalen Erfahrung sei der eigene Körper und das Spektrum seiner physiologischen Veränderungen. Kognitivisten wie Robert Solomon und Martha Nussbaum haben James aus diesen Gründen zu ihrem Lieblingsgegner erklärt und wiederholt auf die eben beschriebene Weise kritisiert. Doch James hat nicht nur Opponenten unter den zeitgenössischen Emotionsforschern. Der Neurophysiologe Antonio Damasio6, der mit seinem publizistischen Engagement großen Anteil an der Popularisierung der Emotionsforschung in den letzten Jahren hat, entwirft eine Theorie, die in Grundzügen exakt dem James’schen Schema entspricht. Für Damasio sind Emotionen selbst nichts anderes als Körperzustandsveränderungen. Wenn diese Körperzustandsveränderungen zudem bewusst registriert werden, entstehe ein Gefühl. Damasio betont mehrfach die Wichtigkeit von James’ Theorie als Vorläufer der eigenen Konzeption. Dies knüpft nahezu eins zu eins an die von James in schönen Worten vorgetragene Idee an, wonach der Körper als das sounding board, als das Klangbrett für verschiedene äußere und innere Affektionen fungiere (E 202). Durch bestimmte Stimuli werde dieser Klang-Körper gleichsam zum Schwingen gebracht, und die subjektive Wahrnehmung dieser Schwingungen seien die Gefühle. Nach Ansicht von _____________ 6
Damasio 1994 und 1999.
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Damasio und ebenso auch Joseph LeDoux7 bestätige die moderne affektive Neurowissenschaft dieses Prozessmodell, wenngleich in einer weitaus komplexeren Weise als es James damals vorschwebte. Auch aus Reihen der Philosophie der Emotionen, deren Vertreter Damasio gerne für seine Vernachlässigung der emotionalen Intentionalität kritisieren, ist zuletzt wieder vermehrt Anerkennung für die ursprüngliche Einsicht von James zu hören. Am deutlichsten knüpft Jesse Prinz an die James-Lange-Theorie an, wenn er seine sogenannte embodied appraisal theory entwickelt.8 Dabei ist Prinz explizit bestrebt, sowohl an James zentraler Einsicht festzuhalten, als auch andererseits die vermeintlich zentrale Schwäche der Theorie zu eliminieren. Dies sagt schon der Titel embodied appraisal theory: Es ist der Versuch, eine körperbasierte aber gleichwohl hinreichend kognitivistische Gefühlstheorie zu formulieren, welche in dieser Hinsicht direkt an die in der gegenwärtigen Emotionspsychologie führenden sogenannten Einschätzungstheorien9 anknüpft. Prinz beschreibt Emotionen als evolutionär entstandene körperliche Mechanismen, die von gewissen für den Organismus relevanten Umweltbegebenheiten ausgelöst werden und die, ganz so wie bei James und Lange, in Form von körperlichen Empfindungen bewusst wahrgenommen würden. Gleichzeitig kombiniert er dies mit einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentationen. Im Rahmen dieser Theorie könnten die James’schen Körperempfindungen zugleich als intentionale Zustände mit einem evaluativen repräsentationalen Gehalt aufgefasst werden, wodurch die Einschätzungskomponente der Emotionen ihren angemessen Ort in der Theorie erhielte. Entscheidend für Prinz ist ein kausal-evolutionäres Verständnis von Information: Wenn ein bestimmter Stimulus beständig als Ursache eines mentalen Zustands auftrete und wenn sich die Existenz dieses mentalen Zustands überdies als evolutionäre Adaptation im Hinblick auf besagten Stimulus erklären lasse, dann könne dieser mentale Zustand als Repräsentation des Stimulus gelten. Genau so verhalte es sich mit den emotionalen Mechanismen und ihren Empfindungen, wie ja schon James wusste: Emotionale Mechanismen sind evolutionäre Adaptationen, die als prototypische Reaktionen auf bestimmte überlebensrelevante Stimulusklassen gleichsam maßgeschneidert sind. Mit Prinz’ repräsentationaler Theorie im Hintergrund lässt sich dann von jenen vermeintlich rein körperbezogenen _____________ 7 8 9
LeDoux 1996. Prinz 2004. Vgl. z. B. Scherer 1984, Reisenzein 2000.
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Empfindungen sagen, dass sie sich bewertend auf die sie auslösenden Objekte oder Situationen beziehen. Wie es scheint, ist damit der zentrale Vorwurf der kognitivistischen Kritiker entkräftet, ohne dass die Jamesche Grundeinsicht hätte aufgegeben werden müssen. Prinz und Damasio gründen ihre positiven Einschätzungen von James’ Theorie in etwa auf dieselbe recht oberflächliche Lesart, die von den philosophischen Kognitivisten kritisiert wird. Insofern herrscht in diesen Kreisen ein vager Konsens bezüglich des Gehalts der James’schen Theorie und gestritten wird lediglich über den Wahrheitsgehalt dieser Auffassung. Es gibt jedoch eine ganz andere Lesart, welche weder eine so dankbare Zielscheibe für kognitivistische Kritik abgibt, noch eine umstandslose Integration in neurobiologische oder philosophisch-naturalistische Emotionstheorien ermöglicht. Vielmehr erscheint James darin als Verfechter einer komplexen philosophischen Theorie des menschlichen Weltbezugs, für den die Emotionen eine zentrale Rolle spielen.
3. Der andere James – eine philosophische Theorie des affektiven Weltbezugs Ein erstes Versäumnis vieler Kritiker von James’ Emotionstheorie liegt darin, dass übersehen wird, welche Rolle das Emotionsverständnis im Rahmen einer umfassenden philosophischen Konzeption spielt. Gelegentlich entsteht gar der Eindruck, als erschiene James seinen Kritikern überhaupt nicht als ein philosophisch orientierter Autor, sondern lediglich als ein Psychophysiologe mit den in diesem Feld beschränkten Mitteln des späten 19. Jahrhunderts. Dieser Eindruck kann vor allem dann entstehen, wenn ausschließlich die beiden klassischen Emotionstexte von 1884 und 1890 und nicht ebenso die späteren philosophischen Schriften betrachtet werden. In den beiden frühen Texten geht es in der Tat vornehmlich um die physiologischen Abläufe, allerdings sind auch hier bereits darüber hinausgehende Aspekte zu erkennen. Im Folgenden soll die in den späteren Schriften verstreut sichtbar werdende umfassende philosophische Emotionstheorie von James in den Grundzügen rekonstruiert werden. Von dort
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wird dann auch ein verändertes Licht auf die klassischen Emotionstexte fallen, sodass eine alternative Lesart plausibel erscheint.10 Schon in What Is An Emotion? und in dem Emotionskapitel von The Principles of Psychology wird deutlich, dass James seine Ansichten über Gefühle in den Kontext eines praktischen Verständnisses der Weltorientierung von Lebewesen einbettet. Wenn es dort in Anlehnung an den Darwinismus heißt, dass „peculiarly conformed pieces of the world’s furniture will fatally call forth most particular mental and bodily reactions, in advance of, and often in direct opposition to, the verdict of our deliberate reason concerning them“ (E 190), dann vertritt James hier die These des Primats eines vorreflektiven praktischen Weltbezugs auf evolutionärer Grundlage. Er redet von „most particular mental and bodily reactions“ und meint damit ein breites Spektrum automatisierter Reaktionen, sowohl mentaler als auch behavioraler Art. Die Emotionen werden als Paradebeispiele solcher in der Ökonomie des Organismus effektiven, einen unmittelbaren Weltbezug herstellenden Mechanismen thematisiert. Dieses Verständnis arbeitet James im Zuge der Entwicklung seiner pragmatistischen Philosophie weiter aus. Was von Vertretern der Standard-Interpretation nicht hinreichend betont wird, ist allein schon diese Einbettung der Emotionsthematik in den Kontext einer evolutionär basierten Theorie der praktischen Weltorientierung. Bereits von dieser Überlegung aus können sich erste Zweifel melden an der Angemessenheit der üblichen Kritik, wonach bei James wie bei anderen Empfindungstheoretikern die affektive Intentionalität, also der wertende Weltbezug der Gefühle, nicht oder nicht hinreichend thematisiert werde. Nur wenn man eine strikt mentalistische Konzeption der Intentionalität ansetzt, wonach der intentionale Weltbezug allein eine Angelegenheit von Bewusstseinszuständen im engen Sinne ist, trifft diese Deutung zu. Sieht man hingegen das Ausmaß, in dem sich James bereits früh von einem solchen cartesianischen Mentalismus emanzipiert, entstehen Zweifel an dieser Lesart. Könnte es nicht sein, dass für James wie für andere Pragmatisten und später auch für Heidegger die primäre Vollzugsform der Intentionalität ein praktischer Umgang mit der Welt und nicht ein distanziertes Vorstellen oder Urteilen über die Welt ist? Und wäre es nicht möglich, dass auch die Emotionen ihren intentionalen Gehalt aufgrund ihrer Rolle _____________ 10
Im Folgenden orientiere ich mich zum Teil an Überlegungen, die Matthew Ratcliffe entwickelt und publiziert hat (vgl. Ratcliffe 2005a und 2008). Ich danke Ratcliffe für erhellende Gespräche über James’ Emotionsverständnis.
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in diesem praktischen, handlungsorientierten Geschehen und nicht aufgrund der in ihnen liegenden Vorstellungs- oder Urteilskomponenten erhalten? Um diese Fragen zu beantworten, ist es sinnvoll, James’ Ansichten zum Verhältnis von Kognition und Emotion bzw. von Denken und Fühlen näher zu betrachten. An manchen Stellen von What Is An Emotion? entsteht der Eindruck, als ginge James wie die Tradition und wie viele seiner Zeitgenossen von einem strikten Gegensatz zwischen Fühlen und Denken aus. Beispielsweise bei seiner Betrachtung der ruhigeren Gefühle, etwa der ästhetischen, als eines vermeintlichen Gegenbeispiels zu seiner Emotionstheorie: Auf die Frage, ob die zahlreichen ‚sanfteren‘, also ohne spürbare körperliche Aufwallung ablaufenden Gefühle nicht gegen seine Auffassung von der Körperlichkeit aller Gefühle sprächen, unterscheidet James klar zwischen solchen Fällen, bei denen es sich lediglich um schwache Gefühle (mit entsprechend geringfügigen Körperzustandsveränderungen) handelt, und solchen Fällen, bei denen es sich überhaupt nicht mehr um Gefühle, sondern um kognitive Zustände handelt – etwa um Werturteile, welche distanziert und ohne affektive Anteilnahme gefällt werden. Im Zusammenhang mit diesen Erläuterungen stehen einige Bemerkungen, die so interpretiert werden könnten, als halte James an der klassischen Kognition-Emotion-Trennung fest: In every art, in every science, there is the keen perception of certain relations being right or not, and there is the emotional flush and thrill consequent thereupon. And these are two things, not one. In the former of them it is that experts and masters are at home. The latter accompaniments are bodily commotions that they may hardly feel, but that may be experienced in their fullness by Crétins and Philistines in whom the critical judgment is at its lowest ebb. (E 202f.)
Die kognitive Einschätzung und der emotional flush and thrill seien zwei unterschiedliche Dinge, und nicht etwa dasselbe. Allerdings relativiert James seine Ansicht im Zuge derselben Diskussion bereits wieder durch das Zugeständnis, dass Gefühle weit häufiger im Spiel seien als gemeinhin angenommen. Das bodily sounding board schwinge oftmals auch dann, wenn es bei oberflächlicher Introspektion scheine, als läge lediglich ein gefühlsneutrales Urteil vor (vgl. E 202). Zudem diskutiert James die Zustände einer nicht affektiven, rein intellektuellen Wertung, wie sie etwa bei einem abgebrühten Kunstkritiker auftreten, in einer despektierlichen Weise, was zumindest als ein implizites Parteiergreifen für die affektbasierten Einschätzungen gegenüber den distanziert-intellektuellen gelesen werden kann: „A sentimental layman would feel, and ought to feel, horrified, on
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being admitted into such a critic’s mind, to see how cold, how thin, how void of human significance, are the motives of favor and disfavor that there prevail.“ (E 202) Außerdem zeigt das Beispiel des expert critic, dass es nach James einer langen Gewöhnung und gleichsam einer Art Abstumpfung bedarf, ehe in Geschmacksfragen rein kognitiv und intellektuell geurteilt werden kann. Damit ist klar, dass James den Gefühlen eine zentrale Rolle im gewöhnlichen, nicht-routinierten Bewerten zuweist. Insofern dürfte auch die Deutung der James’schen Emotionen als reine Empfindungen ohne wertende Funktion als zu einseitig erwiesen sein. Später vollzieht James dann explizit den Schritt, der sich in den früheren Texten nur andeutete. In seinem Aufsatz The Will to Believe bezeichnet er die Gefühle als entscheidende Faktoren beim Entscheiden und beim Erlangen von Überzeugungen: Our passional nature not only lawfully may, but must, decide an option between propositions, whenever it is a genuine option that cannot by its nature be decided on intellectual grounds; for to say, under such circumstances, ‚Do not decide, but leave the question open‘, is itself a passional decision, - just like deciding yes or no, - and is attended with the same risk of losing the truth. (WB 11)
Auch wenn es James hier vornehmlich um solche Fälle geht, bei welchen ein zunächst erfolgendes rationales Erwägen aller Optionen und aller Gründe kein Ergebnis bringt, weist sein Befund darüber hinaus auf eine allgemeine kognitive Funktion der Emotionen. Ähnlich wie später Damasio, de Sousa11 und viele Vertreter kognitivistischer Theorien sieht James Emotionen als wichtige Bewertungs- und Entscheidungshilfen, ohne die zentrale kognitive Prozesse nicht so ablaufen würden, wie sie es de facto tun. Das belegt vollends die folgende Passage aus The Varieties of Religious Experience (1902), in der James ein anschauliches Gedankenexperiment aus den frühen Emotionstexten wieder aufgreift: Conceive yourself, […], suddenly stripped of all the emotion with which your world now inspires you, and try to imagine it as it exists, purely by itself, without your favorable or unfavorable, hopeful or apprehensive comment. It will be almost impossible for you to realize such a condition of negativity and deadness. No one portion of the universe would then have importance beyond another; and the whole collection of things and series of its events would be without significance, character, expression, or perspective. Whatever of value, interest, or meaning our respective worlds may appear endued with are thus pure gifts of the spectator’s mind. (RE 150)
_____________ 11
De Sousa 1987.
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Offenkundig ist der affektfreie Zustand hier ein höchst pathologischer und folglich keineswegs der Normalzustand. Nun betrachtet James die Gefühle als eine Art kontinuierlichen evaluativen Hintergrund des Weltbezugs. Eine gefühlsfrei betrachtete Welt erscheint als bedeutungsentleerte Wüste ohne Relevanz und ohne Anregungen für mögliche Aktivitäten. Wie sehr er damit in die Nähe zu dem rückt, was einige seiner schärfsten kognitivistischen Kritiker später als vermeintliche Gegenposition verteidigen, zeigt die folgende Passage aus Robert Solomons Buch The Passions: I will analyze the emotions as constitutive structures of our world. Through our passions, we constitute our (subjective) world, render it meaningful and with it our lives and Selves. The passions are not occurences but activities; they are not ‚inside‘ our minds but rather structures we place in our world. My anger […] is my projection into the world, my silent indictment of someone who has wronged me, my judgment of the offensive state of the world.12
Natürlich steckt in Solomons komplexer und kontroverser Auffassung mehr als nur die These, dass Emotionen unserer Welt ihren Wert, ihre Bedeutsamkeit und damit ihre Handlungsrelevanz verleihen – so etwa die kontraintuitive Behauptung einer aktivischen Natur der Emotionen –; auffällig bleibt jedoch die überraschende Parallele zu James in einem zentralen Aspekt. Was oftmals als diametraler Gegensatz emotionstheoretischer Positionen aufgefasst wurde, liegt also gar nicht so weit auseinander.13 Nun wird auch die Bedeutung der von James in What Is An Emotion? eher beiläufig geäußerten Vermutung evident, wonach das „bodily sounding board“ viel häufiger und vielleicht sogar nahezu kontinuierlich aktiv sei und nicht lediglich dann, wenn ein besonders emotionsrelevantes Objekt wahrgenommen werde. Offenkundig geht James von einer beständigen affektiven Tönung der Erfahrung aus, ganz ähnlich wie sie nahezu zeitgleich von Husserl und einige Jahrzehnte später von Heidegger beschrieben wird.14 _____________ Solomon 1993 (zuerst 1976), 108. Ratcliffe folgert: „So it seems as though James and Solomon have been talking about the Morning Star and the Evening Star; a unitary phenomenon has been miscast as two quite different things“ (Ratcliffe 2005b, 59). 14 Dies sieht auch Ratcliffe so, wenn er James’ Sichtweise folgendermaßen zusammenfasst: „Indeed, given his depiction of depression as a crippling absence of world-orienting affect, it seems that bodily feelings provide a near constant background field, whose absence or diminuition constitutes a dramatic deficit in our world experience. Feelings are integral to the structure of all experience, rather than an occasional accompaniment to the perception of certain objects or situa12 13
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Weit entfernt von einem ‚intentionalitätsverarmten‘ und damit inadäquaten Emotionsverständnis bietet James die Ansätze zu einer Theorie, welche die essenzielle Verstricktheit von affektiven und kognitiven Faktoren beim intentionalen Weltbezug betont. Vermutlich sind es nur einige unglückliche Formulierungen in den frühen Texten und der Umstand, dass die Intentionalitätsthematik für James nicht explizit auf der philosophischen Agenda stand, die für einen falschen Eindruck gesorgt haben. Nimmt man noch James’ praktisches Verständnis des Weltbezugs hinzu, das bereits an die Überwindung der strikten Subjekt-Objekt-Entgegensetzung durch Heidegger erinnert, erscheint James mit einem Mal sogar als ein auch hinsichtlich der Intentionalität äußerst kreativer und anschlussfähiger Autor. Das praktische Verständnis des Weltbezugs beschränkt sich dabei nicht auf die Betonung des Primats des Handlungsvermögens, sondern auch auf die Art und Weise, wie James die Welt versteht, auf die Personen sich in ihren praktischen Vollzügen beziehen. James versteht die Welt nicht, wie in der philosophischen Tradition üblich, als dem erkennenden Subjekt statisch vorgegeben, sondern als etwas, das zum Teil erst in der Interaktion mit dem Subjekt entsteht – das sich auf die Welt beziehende Subjekt konstituiert insofern erst seine Welt. Diese Abkehr von den gängigen Korrespondenztheorien der Erkenntnis und Hinwendung zu einer interaktionistischen Konstitutionstheorie spielt für James’ Pragmatismus eine zentrale Rolle. Die Emotionen sind an der Weltkonstitution entscheidend beteiligt: „[T]he practically real world for each one of us, the effective world of the individual, is the compound world, the physical facts and emotional values in indistinguishable combination. Withdraw or pervert either factor of this complex resultant, and the kind of experience we call pathological ensues.“ (RE 151) Hier kommt sowohl die enge Verschränkung von emotionalen und kognitiven Prozessen zum Ausdruck als auch die unentwirrbare Verwobenheit von Faktoren, die traditionell als ‚subjektive‘ und ‚objektive‘ betrachtet wurden. In diesem fortschrittlichen Bild können auch die Emotionen nicht länger als strikt ‚subjektive Zustände‘ ihren objektiven ‚Auslösern‘ entgegengesetzt werden. Stattdessen ist ihre Rolle in der Erfahrung so grundlegend, dass sie jeder Subjektiv-objektiv-Unterscheidung noch _____________ tions.“ (Ratcliffe 2005a, 189f.) James’ eindrucksvolle und durchaus „phänomenologisch“ zu nennende Beschreibung der Depression findet sich in The Varieties of Religious Experience, Lectures VI und VII.
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vorausliegt. Insofern bestehen in der Tat auffällige Parallelen zu dem, was Heidegger in Sein und Zeit unter dem Titel „Befindlichkeit“ abhandelt, und auch zu weiteren Aspekten von Heideggers anti-cartesianischer Philosophie. Die Befindlichkeit, die nach Heidegger „die Weltoffenheit des Daseins“ bzw. dessen „Angänglichkeit“ für Seiendes konstituiere15, eröffnet die jeweilige Signatur der konkreten Situation, in welcher sich die fühlende Person aktuell „befindet“. Der Situationsbezug ist stets hinsichtlich der Bedeutsamkeit der vorliegenden Umstände gegliedert – was eine Situation ist, ist von vornherein nur als ein Gefüge von spezifischen, für die in ihr stehende Person bedeutsamen Umständen verständlich. Die Emotionen (bzw. Stimmungen), kraft ihres Charakters als allgemeine Sensitivität für Bedeutsamkeit, ermöglichen der fühlenden Person die adäquate Erschließung von Situationen. Entsprechend ziehen Ausfälle oder Veränderungen der Emotionalität weitreichende Einbußen in der Fähigkeit, die Bedeutsamkeit der vorliegenden Umstände zu erfassen, nach sich. Was hingegen nicht möglich ist, ist eine nachträgliche Aufspaltung und Aufteilung der Erfahrungsgehalte in objektive und subjektive Faktoren – insbesondere die Gefühle, in denen Person und Situation gleichsam verschmolzen sind, lehren, dass ein solches Unterfangen hoffnungslos ist. Ebenfalls durchaus auf der Linie der Phänomenologie liegt eine weitere von James’ Ansichten, die sich direkt aus dem Bisherigen ergibt: Die Emotionen seien aufgrund ihrer bedeutsamkeitserschließenden und -konstituierenden Funktion auch an zahlreichen vermeintlich ‚höheren‘ kognitiven und konzeptuellen Leistungen entscheidend beteiligt. James appliziert diese Annahme konsequent auf das philosophische Denken selbst. Auch der Philosoph erschließe sich die Welt, die er zu verstehen trachtet, vor dem Hintergrund seiner die Erfahrung vorstrukturierenden Affektivität. Er tritt keineswegs neutral und nüchtern an die Welt heran – dies ist dem Philosophen, wie allen anderen Menschen mit einem intakten Gefühlsleben, unmöglich. So spricht James vom Sentiment of Rationality (so der Titel seines Textes von 1879). Dabei sei es, wie beim affektiven Weltbezug insgesamt, nicht so, dass die emotionale Disponiertheit des Denkers lediglich die Tendenzen und Geneigtheiten zu bestimmten Ideen und Denksystemen gegenüber möglichen Alternativen auspräge. Vielmehr reiche die affektive Prägung bis direkt in die Gehalte des jeweils Gedachten hinein – in _____________ 15
Heidegger 1927, 137. Heidegger spricht in seinen Erläuterungen der Befindlichkeit meist von Stimmungen. Es ist aber offenkundig, dass er auch Emotionen als Erscheinungsformen der Befindlichkeit betrachtet. Das geht z. B. aus seiner Furcht-Analyse hervor (vgl. ders. 1927, § 30).
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Form einer gefühlten Harmonie und spürbaren Kohärenz des jeweils philosophisch Vertretenen. Im Kontext dieser meta-philosophischen Überlegungen findet sich die folgende Bekundung, die sich nahezu wie ein Fazit der James’schen Überlegungen zur Rolle der Gefühle liest: „Pretend what we may, the whole man within us is at work when we form our philosophical opinions – Intellect, will, taste, and passion cooperate just as they do in practical affairs.“ (WB S92) So wie die Weltorientierung des Menschen insgesamt von einem affektiven Grundton getragen sei, werde auch eine philosophische Position von einem starken Gefühl „der Sicherheit, des Friedens und der Ruhe“ stabilisiert (WB 63, Übers. d. Verf.). Das erkläre auch die oftmals eigenartig emphatische und nicht selten emotional aufgeladene Weise, in der Philosophen Gedanken und Positionen ablehnen, die den eigenen Überzeugungen widersprechen – ein Gedanke, den James in der Schrift Pragmatism (1907) einige Jahre später im Kontext einer Diskussion des Temperaments zum Ausdruck bringt. Ein Philosoph vertraue bei der Entwicklung und Ausarbeitung seiner jeweiligen Position auf sein Temperament – was durchaus mit seiner affektiv-emotionalen Disponiertheit gleichgesetzt werden kann – und suche oder entwickle die dazu passende philosophische Position. Anderen Denkern, die seine eigenen Ansichten nicht teilen, begegne er mit Gefühlen des Befremdens – sie scheinen ihm inkompetent und gedanklich nicht auf der Höhe (vgl. P 8). Wenn sich die Welt-konstituierenden Einflüsse der Gefühle selbst in einer (vermeintlich) so rationalen und begrifflichen Sphäre wie der Philosophie nachhaltig bemerkbar machen, dann dürfte außer Zweifel stehen, dass für James das begriffliche Denken, das Erlangen von Überzeugungen und die Festlegung auf Einstellungen aller Art in wichtiger Weise von Gefühlen abhängen. Von einer reinen, die Intentionalität ausklammernden Empfindungstheorie der Emotionen kann keine Rede sein. Die StandardKritik an James ist folglich unberechtigt. Im Gegenteil erweist sich nun ein zentraler Aspekt der James’schen Gefühlstheorie als große Stärke dieser Position: die Körperlichkeit der Gefühle. In diesem Punkt ‚schwächeln‘ viele kognitivistische Theorien, weil sie dem körperlichen Empfinden keine angemessene Rolle im emotionalen Geschehen zuweisen. James hingegen gründet seine Theorie geradezu auf den körperlichen Empfindungen. Auch das in seinen späteren Schriften zu den Gefühlen Geäußerte steht nach wie vor im Kontext der Idee, dass gewisse Umweltbegebenheiten körperliche Veränderungen auslösen, welche von der fühlenden Person in Form von charakteristischen
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Empfindungen wahrgenommen werden. Sobald sich zeigen lässt, dass es just diese körperlichen Empfindungen sind, die zugleich auch den affektiven Weltbezug herstellen, dann ist eine Theorie gewonnen, die sowohl unseren Alltagsintuitionen bezüglich der Körperlichkeit des Affektiven, als auch den wichtigen theoretischen Erwägungen zur Intentionalität der Gefühle genüge tut. Dass sich dies in der Tat zeigen lässt, hat der kurze Streifzug durch James’ spätere Schriften dokumentiert. Damit erweist sich seine Theorie als höchst anschlussfähig an aktuelle Debatten zur Natur des Affektiven, in denen das Verhältnis von Intentionalität und Körperlichkeit der Gefühle zunehmend als ein äußerst enges bestimmt wird.16
Literatur James’ Schriften werden nach den amerikanischen Ausgaben seiner Werke zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: E P PP RE WB
– What Is An Emotion? – Pragmatism – The Principles of Psychology – The Varieties of Religious Experience – The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy
Cannon, Walter Bradford (1927), The James-Lange Theory of Emotion: A Critical Eexamination and an Alternative Theory, in: American Journal of Psychology 39, 106– 124. Damasio, Antonio R. (1994), Descartes’ Error, New York. Damasio, Antonio R. (1999), The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, San Diego. Heidegger, Martin (1927), Sein und Zeit, Tübingen. James, William (1879), The Sentiment of Rationality, in: Mind 4, 317–346. – (1884), What Is An Emotion?, in: Mind 9, 188–205 (= E). – (1890), The Principles of Psychology, Volume II, New York (= PP). – (1902), The Varieties of Religious Experience, New York (= RE). – (1956, zuerst 1897), The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, New York (= WB). – (1981, zuerst 1907), Pragmatism, Indianapolis (= P). Landweer, Hilge (2004), Phänomenologie und die Grenzen des Kognitivismus. Gefühle in der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (3), 467–486. LeDoux, Joseph (1996), The Emotional Brain: The Mysterious Underpinnings of our Emotional Life, New York.
_____________ 16
Vgl. Landweer 2004; Ratcliffe 2005b und 2008; Slaby 2007 und 2008; sowie Slaby/Stephan 2008, die allesamt für eine angemessene Integration des gespürten und spürbaren Körpers (bzw. Leibes) in die emotionale Erfahrung plädieren.
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Nussbaum, Martha C. (2001), Upheavals of Thought, Cambridge. Prinz, Jesse (2004), Gut Reactions: A Perceptual Theory of Emotion, New York. Ratcliffe, Matthew (2005a), William James on Emotion and Intentionality, in: International Journal of Philosophical Studies13, 179–202. – (2005b), The Feeling of Being, in: Journal of Consciousness Studies 12, (8-10), 43–60. – (2008), Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry, and the Sense of Reality, Oxford. Reisenzein, Rainer (2000), Einschätzungstheoretische Ansätze in der Emotionspsychologie, in: Jürgen H. Otto/Harald A. Euler/Heinz Mandl (Hg.), Handbuch der Emotionspsychologie, Weinheim, 117–138. Schachter, Stanley/J. Singer (1962), Cognitive, Social and Physiological Determinants of Emotional State, in: Psychological Review 63, 379–399. Scherer, Klaus (1984), On the Nature and Function of Emotion: A Component Process Approach, in: Klaus R. Scherer/Paul Ekman (Hg.), Approaches to Emotion, Hillsdale, 293–318. Slaby, Jan (2007), Affective Intentionality and the Feeling Body, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences: (OnlineFirst, 14.12.2007): URL = http://www.springerlink.com/content/63141102u80r8451/fulltext.pdf (letzter Zugriff: 24.04.2008). Slaby, Jan (2008), Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neoexistentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn. Slaby, Jan/Achim Stephan (2008), Affective Intentionality and Self-Consciousness, in: Consciousness & Cognition (im Erscheinen bei Elsevier). Solomon, Robert C. (1993, zuerst 1976), The Passions, New York. Sousa, Ronald de (1987), The Rationality of Emotion, Cambridge/MA.
Alfred North Whitehead (1861–1947)
Whitehead: Kritik der Gefühle Maria-Sibylla Lotter 1. Whiteheads Metaphysik der Gefühle Alfred North Whitehead hat sein metaphysisches Hauptwerk Process and Reality als eine „Kritik der reinen Gefühle“1 (PR 113) bezeichnet. Dem verbreiteten Bild vom Erfahrungssubjekt, das vor seinen Emotionen existiert und ihr Urheber ist, stellt er eine Beschreibung der Subjektivität entgegen, die aus Emotionen entsteht, und zwar Emotionen, die in der Welt selbst verankert sind: „The basis of experience is emotional. Stated more generally, the basic fact is the rise of an affective tone originating from things whose relevance is given.“ (AI 176) Nicht das Subjekt macht seine Erfahrungen und fügt ihnen Emotionen hinzu, sondern Erfahrungen entstehen aus Emotionen und bilden ein Subjekt. Für die moderne Subjektivitäts- und Moralphilosophie ist dies eine fremdartige Perspektive, und ihr Abstand zu den scheinbar notwendigen Voraussetzungen unserer moralischen Existenz wie dem der Erfahrung und den Gefühlen zugrunde liegenden erkennenden und handelnden Subjekt ist mitunter als ein Mangel betrachtet und darauf zurückgeführt worden, dass Whitehead als Mathematiker und Physiker im Grunde mehr an natürlichen Prozessen interessiert gewesen sei.2 Whiteheads ungewöhnliche Beschreibung von Erfahrungsprozessen ist jedoch nicht subjektivitätstheoretischer Naivität geschuldet, sondern seinem Verständnis von Philosophie: In seinen Augen ist es nicht die Aufgabe der Philosophie, unser gewöhnliches (oder das in der Philosophie verbreitete) Verständnis von uns und der Welt zu rechtfertigen oder ihm zusätzliche Beweisgründe unterzulegen, indem gezeigt wird, dass wir (angeblich) aus logischen, erkenntnistheoretischen, moralischen oder welchen Gründen auch immer so und so denken müssen oder sollten, sondern zu untersuchen, wie ein solches _____________ 1 2
Die Ausdrücke „Gefühle“ und „Emotionen“ werden im Folgenden synonym verwendet. Vgl. Rapp 1990.
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Verständnis zustande kommt, welchen Bereich der Wirklichkeit es erhellt, welchen es verstellt, und es in einen weiteren Rahmen einzubetten, in dem sein Verhältnis zu anderen Prozessen deutlich wird. Bevor ich Whiteheads Darstellung der Rolle der Emotionalität für die Erfahrung rekonstruiere, werde ich daher zunächst die methodischen Grundentscheidungen dieses vor dem Hintergrund der Gegenwartsphilosophie so fremdartig wirkenden Ansatzes erläutern.3 Anschließend wird an einigen Beispielen untersucht, wie sich Whiteheads Gefühlstheorie auf die Wahrnehmung klassischer moralischer Probleme auswirkt.
2. Philosophische Abenteuer Nach Ansicht der sprachkritischen philosophischen Tradition, die sich zu Whiteheads Zeit gerade entwickelte, unterscheidet sich das Vorgehen der Philosophie grundlegend von dem der Naturwissenschaften: Diese analysieren nicht nur bestehende Meinungen und Theorien über die Natur, sondern verfügen darüber hinaus über empirische Daten, die anderen Quellen entstammen und geeignet sind, in Widerspruch zu den Vormeinungen und Theorien zu treten. Die Naturwissenschaften können uns daher mit genuin Neuem konfrontieren – sie lehren uns, die Wirklichkeit auf eine ganz andere Weise zu betrachten als gewohnt. Die Philosophie hingegen verfügt nach diesem Bild nicht über eine solche externe Kontrollinstanz. Ihre Aufgabe liegt darin, gegebene Meinungen anhand des Sprachgebrauchs zu analysieren und evtl. Widersprüche und Inkohärenzen zwischen unterschiedlichen Auffassungen zu klären. Whitehead führte diese Haltung auf eine „Fallacy of the Perfect Dictionary“ (MT 173) zurück, auf den Glauben, es gäbe einen bestimmten, gegen begriffliche Neuerungen abgeschlossenen Bereich der Alltagssprache, über den die Philosophie nicht hinausgehen dürfe. Demnach wäre die Philosophie nicht befugt, die Kate_____________ 3
Hier konzentriere ich mich weitgehend auf Whiteheads Spätphilosophie, d. i. sein Denken seit den Gifford Lectures von 1927–1928, die zwei Jahre später unter dem Titel Process and Reality veröffentlicht wurden. Während das Hauptwerk Process and Reality die Terminologie eines eigens konstruierten Kategoriensystems (und eine weitere spezielle erkenntnistheoretische Terminologie) verwendet, stellen die beiden anschließenden Bücher Adventures of Ideas (zuerst 1933) und Modes of Thought (zuerst 1938) weniger starke Ansprüche an den Leser, vermitteln allerdings auch nur kursorisch Einblick in das System.
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gorisierung der Wirklichkeit, die in unserer Alltagssprache angelegt ist, infrage zu stellen. Whitehead empfand dieses Verständnis von Philosophie als einen unfruchtbaren Konservativismus, der die Möglichkeit der Erweiterung unseres Horizonts dem Sicherheitsbedürfnis opfert: The critical school confines itself to verbal analysis within the limits of the dictionary. The speculative school appeals to direct insight, and endeavours to indicate its meanings by further appeal to situations which promote such specific insights. It then enlarges the dictionary. The divergence between the schools is the quarrel between safety and adventure. (MT 173)
In diesem Punkt trifft sich Whiteheads Auffassung von der Aufgabe der Philosophie mit vielen Ansätzen, die zum amerikanischen Pragmatismus gerechnet werden:4 Wie John Dewey und William James verstand Whitehead die Aufgabe der Philosophie praktisch; sie sollte dazu beitragen, begriffliche Hindernisse abzutragen, die den Austausch zwischen ver-schiedenen Erfahrungsbereichen wie denen des Alltagslebens und denen der Einzelwissenschaften behindern.5 Und wie die Wissenschaften hat sie eine experimentelle und empirische Seite, nur dass ihre Daten nicht durch eigene Messungen gewonnen werden. Ihre empirischen Daten sind die vielen verschiedenen Begrifflichkeiten, die sie vorfindet: die sogenannten Meinungen des gesunden Menschenverstandes, der philosophischen und religiösen Tradition, sowie die Theorien und Ergebnisse der vielen Einzelwissenschaften. Philosophie muss daher nach Whitehead konstruktiv und spekulativ sein; ihre Aufgabe liegt darin, durch Konstruktion neuer Begrifflichkeiten eine neue Sicht der Erfahrungswirklichkeit zu erzeugen. Philosophische Begriffe übernehmen bei Whitehead die Funktion von Arbeitshypothesen.6 Es geht darum, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die Phänomene oder Zusammenhänge sichtbar macht, die mit der gewohnten Begrifflichkeit nicht genügend erfasst werden können. Whitehead war davon überzeugt, dass diese Aufgabe letztlich nur durch die Konstruktion metaphysischer Schemata geleistet werden kann, da das Denken auf niedrigeren Ebenen der Abstraktion zu wenig Anleitung hat, um Distanz zu den geläufigen Vorurteilen partikularer Kontexte zu gewinnen. Unser Denken bewegt sich in alltäglichen, aber auch in vielen ästhetischen und wissenschaftlichen Bereichen in den Bahnen meta_____________ 4 5 6
Zur Methode vgl. insbesondere das Kapitel I aus Process and Reality sowie das Kapitel XV aus Adventures of Ideas. Vgl. Dewey 1958 (zuerst 1925). Vgl. AI 222.
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physischer Kategorien, die festlegen, was wir beispielsweise unter einem Einzelwesen, unter Leib und Geist, einer Wahrnehmung, einem Gefühl oder einem Gedanken zu verstehen haben. Um solche Denkbahnen als Einengungen des Denkens wahrnehmen zu können, muss man sie im Lichte hypothetischer Alternativen betrachten können. Dabei geht es für Whitehead nicht in erster Linie um die Frage, welche Beschreibung „zutrifft“; eine abstrakte, konventionelle und langweilige Beschreibung kann ebenso auf unsere Erfahrung „zutreffen“ wie eine, die als „Köder“ zur Entwicklung neuartiger Erfahrungen dienen kann. Wahrheit bzw. Anwendbarkeit von Ideen auf Erfahrung ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung philosophisch relevanter Begriffe. Der Wert philosophischer Begriffe ist nach Whitehead vor allem daran zu bemessen, wie viel Neuland des Denkens und Fühlens sie uns erschließen.
3. Die Kritik der Gefühle Whitehead entwirft in Process and Reality eine Ontologie und Erkenntnistheorie, mit der er sowohl natürliche Prozesse als auch die Phänomene der Subjektivität beschreiben kann. Die methodischen und begrifflichen Entscheidungen des eigens dafür konstruierten Kategoriensystems hat er leider nur sporadisch erläutert. Im Gegenzug zu einem verbreiteten Bild von der Rolle der Emotionen in der Erfahrung, wonach die Erfahrung mit einfachen, klaren und deutlichen Sinnesdaten beginnt, die dann vom Subjekt zu Vorstellungen von komplexen Gegenständen verbunden, beurteilt und bewertet werden und schließlich subjektive Emotionen auslösen, betont Whitehead die leitende Funktion von Emotionen auf allen Ebenen der Erfahrung. Offenkundig übernimmt der Begriff Gefühl (feeling) hier nicht die Rolle, die er in der Alltagssprache spielt, sondern dient als grundlegender Terminus zur Beschreibung aller Elemente und Faktoren von Erfahrungsprozessen, die gleichzeitig als Modell für die Binnenstruktur natürlicher Prozesse dienen. Whitehead assoziiert den Ausdruck „Kritik der Gefühle“ mit der philosophischen Position Kants (PR 113), beansprucht jedoch tiefer zu gehen als dieser, nämlich die Voraussetzungen von dessen Kritiken – insbesondere die Voraussetzungen der sinnlichen Anschauung – zu untersuchen. Tatsächlich bedeutet Kritik in seinem Zusammenhang Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie mit dem Ziel einer Rekonstruktion der Metaphysik. Whitehead will zeigen, das die Transzendentalphilosophie nicht auf
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einer sicheren und unhinterfragbaren erkenntnistheoretischen Basis aufbaut, von wo aus sie die Möglichkeiten und Grenzen von Metaphysik bestimmen kann, sondern vielmehr auf durchaus fragwürdigen methodischen Vorentscheidungen und metaphysischen Annahmen. Gleichzeitig bedeutet sein Ansatz aber auch einen Bruch mit einem modernen Verständnis von Kritik, das vor allem darauf zielt, Grenzen zwischen dem Bereich dessen, was auf argumentativem Wege geklärt werden kann, und einem Bereich des bloß Spekulativen zu ziehen. Für Whitehead gibt es keinen guten Grund, metaphysische Fragen abzuweisen, weil sie nicht endgültig entscheidbar sind. Er plädiert dafür, auf Gewissheitsansprüche zu verzichten und sich mit dem hypothetischen Charakter aller Erkenntnis – auch der metaphysischen – anzufreunden. Das bedeutet keine Rückkehr zu einer sogenannten „dogmatischen“ Metaphysik, sondern zu einer Metaphysik, die ihre eigenen Voraussetzungen methodisch mitreflektiert und keine Gewissheitsansprüche erhebt. Whitehead verbindet mit der spekulativen Metaphysik vor allem das intellektuelle Bedürfnis, Zusammenhang in unser Denken und unsere Erfahrung zu bringen, die zwischen der Alltagserfahrung, den wissenschaftlichen Theorien, sowie religiöser und ästhetischer Erfahrung vielfach aufgespalten sind. Wie Leibniz geht er von der Annahme aus, dass Denkweisen, denen viele Menschen anhängen, zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten müssen. Die Frage kann daher nicht lauten, ob eine Denkweise als solche wahr oder falsch ist, sondern für welchen Bereich sie gilt und wo die Grenzen ihrer Anwendung liegen. Die Analyse vorherrschender Meinungen zielt darauf, Missverständnisse hinsichtlich der Reichweite und des Abstraktionsgrades gegebener Auffassungen aufzude-cken und zu korrigieren. Sie erfordert eine Rekonstruktion des Grades an Konkretion und Abstraktion sowohl der Gefühle als auch der Theorien über sie. So rekonstruiert Whitehead mit seiner „Kritik der reinen Gefühle“, auf welchen Abstraktionen eine verbreitete Auffassung vom Aufbau unserer Erfahrung basiert, die den Ausgangspunkt der modernen Erkenntnistheorie von Locke bis Kant bildet. Es sind vor allem drei Annahmen, die Whitehead an der modernen Erkenntnistheorie als Fallacies of Misplaced Concretenes, als Verwechslungen von Abstraktionen mit wirklichen, konkreten Erfahrungssituationen kritisiert: Erstens die Vorstellung, Erfahrung begänne mit etwas Einfachem, Klarem und Deutlichem, nämlich deutlich unterscheidbaren Erfahrungselementen wie rot oder sauer, die als solche universalen Charakter haben. Zweitens die Vorstellung, dass diese einfachen
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Gegebenheiten auf eine zunächst emotional neutrale Weise erfasst würden (zu der dann erst später emotionale Reaktionen des Subjekts hinzukommen), als sei die Wahrnehmung ein bloßes Abspiegeln von einzelnen Universalien.7 Und drittens das Verständnis des Wahrnehmungssubjekts als eines Hypokeimenons, eines der Erfahrung immer schon zugrunde liegenden Wesens, das schon unabhängig von seiner Erfahrung über eine feste Ausstattung an intellektuellen und moralischen Fähigkeiten verfügt, die dann in der Erfahrung lediglich zur Anwendung kommt. Im Gegenzug zu den drei genannten Kritikpunkten möchte Whitehead mit seinen eigenen Kategorien vor allem auf folgende Aspekte der Erfahrung aufmerksam machen: Erstens, dass ein Erfahrungsprozess nicht mit der klaren und deutlichen Unterscheidung von Universalien beginnt, sondern mit undeutlichen und komplexen Emotionen, die zunächst in keiner Weise der Kontrolle eines Subjekts unterliegen. Zweitens, dass es sich nicht um eine emotionsneutrale Erfassung handelt, sondern um einen ursprünglich emotionalen Vorgang, aus dem sich dann durch komplexe innere Prozesse der Erfahrungsanalyse und -transformation so etwas wie Bewusstsein von einzelnen Gegebenheiten entwickelt. Und drittens versteht Whitehead das Erfahrungssubjekt nicht als ein Wesen außerhalb und unabhängig von seiner jeweiligen Erfahrung. Es ist nichts anderes als seine jeweilige Erfahrung, gedacht als ein Prozess, in dem viele Emotionen zusammenkommen und dabei eine je einzigartige momentane Erfahrungseinheit bilden, die weiter in die Zukunft wirkt. Gefühle sind bei Whitehead nicht nur – als primitive physical feelings – die ursprünglichen Elemente der Erfahrung; sie spielen auch eine wegweisende und orientierende Rolle auf weiteren Erfahrungsstufen bis hin zum emotional gestalteten Bewusstsein. Als unerlässliche „affektive Tönung“ aller Erfahrungselemente übernehmen sie die Rolle des ständigen Begleiters, die Kant und Locke dem Selbstbewusstsein zugeschrieben hatten. In Whiteheads Metaphysik treten also Subjektivität und Bewusstsein, die in den modernen Erkenntnislehren mit Ausnahme der Leibniz’schen nahezu synonym waren, weit auseinander. Gefühle sind notwendige Voraussetzungen von Bewusstsein, aber Bewusstsein ist keine Voraussetzung des _____________ 7
Whitehead hat hier vor allem neuzeitliche Autoren wie Locke und Hume im Sinne; allerdings scheint sich heute die von ihm vertretene Vorstellung, dass den bewussten und komplexen Emotionen primitive, nichtkognitive Formen von Emotionen zugrunde liegen, sogar bei Vertretern einer kognitivistischen Theorie der Emotionen durchgesetzt zu haben; vgl. Solomon 2003, 2.
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Fühlens, sondern ein Sonderfall: „Consciousness is the crown of experience, only occasionally attained, not its necessary base.“ (PR 267) Whiteheads Analyse der Rolle von Stimmungen und Gefühlen in der Erfahrung geht – nicht ganz unähnlich der nahezu gleichzeitig entwickelten Existentialontologie Martin Heideggers – von der Überlegung aus, dass der Erfahrungsbegriff des modernen Empirismus nicht weniger als der sogenannte Rationalismus viel zu abstrakt ist, um konkrete Erfahrung zu beschreiben. Erfahrung ist nach Whitehead gar nicht zu begreifen, wenn wir unter Gefühlen primär komplexe Gefühle wie Scham oder Missgunst verstehen, die kognitive Einschätzungen von Situationen und Werturteilen voraussetzen, und gegenüber denen Sinneswahrnehmung und primäre Formen des Begreifens viel primitivere Erfahrungsweisen darzustellen scheinen. Damit werde die Erfahrung auf den Kopf gestellt: Wir nehmen die Welt ursprünglich weder durch reine Sinnesempfindungen, noch durch Vernunftschemata wahr, sondern durch basale Formen der Emotionalität, auf denen dann alle weiteren Formen aufbauen. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von der „Stimmung“, die uns ursprünglich die Welt erschließt: „Ein reines Anschauen, und dränge es in die innersten Adern des Seins eines Vorhandenen, vermöchte nie so etwas zu entdecken wie Bedrohliches.“8 Und ebenso wie Heidegger versteht Whitehead die basale Emotionalität nicht als einen „Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt“9. Es ist umgekehrt: „[The] basic fact is the rise of an affective tone originating from things whose relevance is given.“ (AI 176) Wenn Whitehead sagt, die Emotion ginge ursprünglich nicht von uns, sondern von den Dingen aus, so ist dies durchaus wörtlich gemeint. Whitehead versteht die Gefühle nicht als rein geistige, mit unserer menschlichen Natur verbundene innerpsychische Funktionen. Primary physical feelings sind mehr von den Dingen bewirkt als selbstgestaltet. Whitehead bezieht sich hier vor allem auf unbewusste Emotionen. Phänomenal können wir uns dies wohl am ehesten am Beispiel einer Emotion vor Augen führen, bei der nicht wie im Falle von Scham oder Empörung ein Werturteil und somit die geistige Reflexion die entscheidende Rolle zu spielen scheint, sondern ein körperlicher Vorgang, der uns mit der Außenwelt verbindet. Ein typischer Fall ist die Angst, die bei einem Erdbeben entstehen kann, noch bevor die Person überhaupt auf die Idee kommt, dass ihr _____________ 8 9
Heidegger 1958 (zuerst 1927), 138. Heidegger 1958, 137.
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Zustand Ursachen hat, und dass diese Ursache ein Erdbeben ist. So kommt es beispielsweise in Erdbebengebieten vor, dass jemand nachts mit einem wachsenden Angstgefühl erwacht, das immer unerträglicher wird, bis ihm erst Minuten später durch leichte Erschütterungen deutlich wird, dass es sich um ein Erdbeben handelt. Für Whitehead stellen solche Emotionen keinen Sonderfall dar, sondern sind eher typisch für das, was die Masse unserer emotionalen Erfahrung ausmacht. Dass sie als Sonderfälle erscheinen, liegt nur daran, dass sie selten die alles überflutende Aufdringlichkeit annehmen, die typisch für die Angst vor einem Erdbeben ist und die schließlich dazu führt, dass wir eine sehr deutliche Vorstellung von der Angst selbst entwickeln. Nun sind wir gewohnt, ein Erdbeben als ein „physikalisches“ Ereignis anzusehen, das keinerlei Ähnlichkeit mit einem „mentalen“ Ereignis wie einem Gefühl der Angst aufweist. Das wirft die Frage auf, wie sich die Qualität unserer Angst zu den physikalischen Qualitäten des Erdbebens verhält, und wie überhaupt die Beziehung von Ereignissen wie meinem Angstzustand zu physikalischen Vorgängen zu verstehen ist.
4. Wirklichkeit als Prozess des Fühlens Schon in seinen früheren Schriften10 hatte Whitehead den Anspruch erhoben, die Common-Sense-Auffassung von der Natur in einen Zusammenhang mit jener der Naturwissenschaften zu bringen, d. h. die Röte des Feuers in Relation zu den Molekülen und Elektronen der Naturwissenschaften zu beschreiben und dadurch die Aufteilung der Natur in einen objektiven Bereich, der der mathematisch verfahrenden Physik zugänglich ist, und einen „nur“ subjektiven Bereich, der durch die menschlichen Sinne, Emotionen und Wertungen entsteht, zu überwinden. Whitehead versucht dieses Problem auch noch in Process and Reality mit dem hochkomplexen metaphysischen Kategoriensystem zu lösen, das im Unterschied zu den naturphilosophischen Schriften wesentlich auf einer Subjektivitätstheorie aufbaut. Seine komplexe Mikrowelt der „Fühlungen“ und „Erfassungen“ bewegt sich ungefähr auf derselben spekulativen Abstraktionsebene wie die Leibniz’sche Monadologie; sie ist ihr auch insofern ähnlich, als mit ihr die gesamte Natur einschließlich des Menschen im Ausgang von Innenperspektiven der Erfahrung beschrieben werden kann. Letzte Einhei_____________ 10
Vgl. Whitehead 1919, 1920 und 1922.
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ten sind sogenannte actual occasions oder Elementarereignisse, die Whitehead als Prozesse des Fühlens beschreibt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass seine Verwendung der Ausdrücke emotion (Emotion) und feeling (Gefühl) nicht ganz dem deutschen Sprachgebrauch entspricht. Während wir den Ausdruck „Emotion“ eher für den komplexen Prozess verwenden, der auf verschiedenen physischen und psychischen Ebenen ablaufen kann, steht der Ausdruck Gefühl mehr für die subjektiven Aspekte dieses Vorgangs: wie sich eine solche Emotion für jemanden anfühlt. Whitehead hingegen verwendet den Begriff feeling synonym zu positive prehension. Neben den feelings gibt es auch negative prehensions, durch die etwas von der Wahrnehmung ausgeschlossen wird. Feelings haben in seiner Metaphysik sowohl eine objektive als auch eine subjektive Seite. D. h. ich kann denselben Vorgang sowohl als Einwirkung eines Ereignisses auf mich, als auch als meine Wahrnehmung von etwas beschreiben, so wie ich die Angst gleichzeitig als einen physischen Erregungszustand und als eine spezielle Gefühlsqualität, die ich wahrnehme, beschreiben kann. Whitehead kehrt hier unsere gewohnte Vorstellung vom Subjekt und seinen Erfahrungen auf viel radikalere Weise um, als dies bei Heidegger geschieht, der in seiner Konzentration auf die Perspektive des jeweiligen Daseins immer noch stark in den Bahnen der modernen Subjektivitätsphilosophie verharrt. Er bestreitet nicht nur, dass es ein vor seinen Gefühlen existierendes Subjekt gibt, das dann Wahrnehmungen „hat“, die in Kombination mit verschiedenen Urteilen Emotionen auslösen. Tatsächlich entsteht das Subjekt bei Whitehead erst aus den Gefühlen seiner unmittelbaren sozialen Umgebung, in dem es diese symbolisch transformiert: „My process of being myself is my origination from my possession of the world.“ (PR 81) Subjekt sein bedeutet also nicht, etwas der Erfahrung zugrunde liegendes zu sein – ein Hypokeimenon bzw. eine Substanz. Zwar hängt mein je gegenwärtiges Erfahren kausal mit meiner Vergangenheit als Person zusammen, aber daraus folgt nicht, dass die gewohnten Weisen der Person, auf ihre Umwelt zu reagieren, stets andere kausale Einflüsse dominieren. Subjektivität wird weder durch allgemein-menschliche Fähigkeiten, noch durch die wirkliche historische Personalität vorentschieden. Ein je gegenwärtiges Ereignis ist Subjekt, insofern es als Ganzes auf seine Teile zu-
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rückwirkt und dabei eine Möglichkeit zu sein realisiert, die nicht in den Teilen als solchen enthalten war. 11 Whiteheads Subjekt ist damit keine bloße Addition von feelings, sondern ein komplexer Prozess ihrer Synthese und Transformation. Dabei unterscheidet er zwischen einem physischen und einem mentalen Pol des Ereignisses. Mit „physisch“ ist nicht das Körperliche im Unterschied zum Geistigen gemeint, sondern das faktisch Vorgegebene schlechthin. Der physische Pol bezeichnet die Wirksamkeit der Vergangenheit in dem je gegenwärtigen Ereignis, das stets an ein früheres Geschehen anschließt und durch dieses in seinen Möglichkeiten weitgehend, aber nie vollständig, vorentschieden ist. Unter dem mentalen Pol hingegen versteht Whitehead den Bezug des Ereignisses zu Möglichkeiten des Seins, die nicht in der unmittelbaren Vergangenheit vorgegeben sind. Als Ich-hier-jetzt-Ereignisse sind Subjekte nie rein selbstbezogen. Indem sie einen bestimmten Charakter annehmen, entwerfen sie stets eine bestimmte Zukunft.
5. Die Kultivierung der Emotionen Whiteheads Metaphysik kann als eine Naturalisierung der Subjektivität verstanden werden, geht jedoch auch auf ethische, religionsphilosophische und kulturtheoretische Quellen zurück. Einige Kritiker haben moniert, Whiteheads Ansatz würde zu wenig von dem enthalten, was wir mit Subjektivität verbinden – Moralität, freier Wille, Autonomie, Distanzierungsfähigkeit etc.12 Tatsächlich weist die Person in Whiteheads Metaphysik nur eine relativ schwache Identität über die Zeit auf, und sie stellt auch nur eine Grundlage des Subjekts – des momentanen Zusammenwachsens (concres_____________ Hier steht Whiteheads Subjektbegriff in der Tradition von Lockes Substanzkritik und den Ansätzen von William James und Ernst Mach um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert: „Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen) […] Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, daß das Element Grün in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt … Aus den Empfindungen baut sich das Subjekt auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfindungen reagiert … Genügt uns die Kenntnis des Zusammenhangs der Elemente (Empfindungen) nicht, und fragen wir, ‚wer hat diesen Zusammenhang der Empfindungen, wer empfindet?‘, so unterliegen wir der alten Gewohnheit, jedes Element (jede Empfindung) einem unanalysierten Komplex zuzuordnen […].“ (Mach 1991 (zuerst 1886), 19ff.) 12 Vgl. Bennett 1973; Gentry 1944; Pols 1967; Rapp 1990. 11
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cence) von Emotionen – dar, dessen Erfahrung auch von weiteren sozialen Faktoren geprägt wird. Zudem werden die moralischen Vermögen, die wir uns zuzuschreiben gewohnt sind, unter whiteheadschen Gesichtspunkten nicht als selbstverständliche Grundausstattung menschlicher Subjekte thematisiert. Der Spielraum an Autonomie, der einem individuellen Erfahrungsereignis zur Verfügung steht, ist für jedes Ereignis anders. Die Rolle, die in der auf Augustinus zurückgehenden Tradition der freie Wille übernimmt – das Richten der Aufmerksamkeit auf einen Gedanken oder eine Wahrnehmung – übernehmen bei Whitehead die Emotionen selbst. Mit Blick auf die internen Prozesse der Reflexion und Transformation der Gefühle spricht Whitehead gleichwohl vom subject-superject als Träger von moralischer Verantwortung: [Since] the subject is what it is in virtue of its feelings, it is only by means of its feelings that the subject objectively conditions the creativity transcendent beyond itself. In our own relatively high grad of human existence, this doctrine of feelings and their subject is best illustrated by our notion of moral responsibility. The subject is responsible for the consequences of its existence because they flow from its feelings. (PR 222)
Wie kann jedoch ein Subjekt für einen Prozess verantwortlich sein, in dem es als bestimmtes Wesen überhaupt erst entsteht? Es repräsentiert sozusagen nach außen das Gelingen oder Misslingen eines Prozesses, dessen subjektives Ziel darauf ausgerichtet ist, die verschiedenen Gefühle so zu integrieren, dass eine intensive, aber zugleich reichhaltige und differenzierte Erfahrung möglich ist: „The subjective aim, whereby there is origination of conceptual feeling, is an intensity of feeling (a) in the immediate subject, and (b) in the relevant future.“ (PR 277) Whitehead formuliert diese Aufgabe auch als eine der möglichst differenzierten Erfassung der Umgebung, indem die anfänglichen Emotionen (primary physical feelings) hinsichtlich ihrer Qualitäten und Werte (der in den subjective forms implizierten eternal objects) analysiert (conceptual valuation), in Beziehung gesetzt und evtl. transformiert werden (category of transmutation). Jede einzelne Erfahrung, so Whitehead, ordnet die erfahrene Umgebung gemäß ihrer Wichtigkeit: Feeling is the agent which reduces the universe to its perspective for fact […] we are aware of grading the effectiveness of things about us in proportion to their interest. In this way, we put aside, and we direct attention, and we perform necessary functions without bestowing the emphasis of conscious attention. (MT 10f.)
Der Prozess des Fühlens hat die Aufgabe, Werte zu erfassen und sie in eine Proportion zu setzen, die es erlaubt, das Wichtigere vom Unwichtigen zu unterscheiden und entsprechend zu handeln. Dies kann durch
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Elimination aller Bestimmungen geschehen, welche der Konzentration auf die Qualitäten und Werte gewisser momentan dominanter Emotionen im Wege stehen. So wird der leichte Schmerz, den die Gegenstände in den Wahrnehmungsorganen auslösen, vom Bewusstsein ausgeschlossen, das das visuelle Bild eines einfachen Gegenstandes vorstellt, der durch bestimmte Sinnesqualitäten charakterisiert ist. Durch die Einengung der Aufmerksamkeit steigert sich die Erfahrungsintensität. Reichhaltiger hingegen wird sie dadurch, dass verschiedene Bestimmungen in Kontrast zueinander gesetzt werden. So muss ich zwar vom Schmerz in den Augen absehen, um mich auf den visuellen Gegenstand zu konzentrieren, kann jedoch die Schmerzempfindung evtl. durch meditative Praktiken ins Bewusstsein zurückrufen. Auch auf der Ebene des Empfindens finden Prozesse der Verfeinerung und Differenzierung durch Kontrastbildung statt, wie bei einem Weintrinker, der einen noch ungewohnten Wein erst nur als trocken empfindet und nach einer Weile viel mehr Nuancen differenzieren kann. Auf der Fähigkeit zur intensiven, aber auch zur differenzierten Wahrnehmung basiert das moralische Leben. Whitehead hat sich zu moralischen Fragen kaum direkt geäußert, aber sein Kategoriensystem ist auf sie in derselben Weise anwendbar wie auf erkenntnistheoretische Probleme. Normative Fragen des guten oder schlechten Lebens und Handelns müssen sich im whiteheadschen Rahmen jeweils auf einen Kontext und die in diesem Kontext überhaupt möglichen Ideale beziehen. Ihre subjektive Dimension kann einerseits als Problem der emotionalen Sensibilität in der Analyse erlebter Emotionen, andererseits als Problem ihrer Kultivierung erörtert werden. Dabei geht Whitehead nicht von einer an und für sich bestehenden Ordnung der relativen Wichtigkeit von Werten aus, sondern bezieht sie auf das, was einem Wesen überhaupt emotional und kognitiv erfassbar ist – er nennt dies sein subjektives Ziel. Dieses fällt nicht mit dem zusammen, was das momentane Ereignis tatsächlich realisiert, sondern stellt ein Ideal dar, das über die Wirklichkeit hinausreicht – das jeweilige Optimum an kultivierter Erfahrung, das unter gegebenen Bedingungen für es realisierbar ist. Hier ist der Einfluss der individualistischen Religionsphilosophie von Williams James deutlich spürbar, der den Grad an Autonomie und Kreativität für jedes Individuum anders ansetzt: „There are higher and lower limits of possibility set to each personal life.“13 _____________ 13
James 1982 (zuerst 1902), 239.
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In subjektiver Hinsicht geht Whitehead nicht von einem speziell moralischen Vermögen aus, sondern fragt eher nach den Voraussetzungen dafür, konkrete Situationen so wahrzunehmen, dass sie moralische Probleme aufwerfen. Wie Spinoza verzichtet er ganz auf die Annahme eines Vermögens der Willensfreiheit und führt stattdessen eine Begrifflichkeit ein, die geeignet ist, die moralisch relevanten Dimensionen des Gefühlslebens zu erfassen: Das Entstehen von Emotionen, der Zwang, der von ihnen auf das je gegenwärtige Subjekt ausgeübt wird, die Möglichkeiten des Subjekts, darauf zu reagieren, und die Folgelasten der entsprechenden Strategien. Gutes und schlechtes Handeln ergibt sich aus der Wahrnehmung von Emotionen bzw. von Prozessen der Integration von Emotionen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die negative Prehension, die Ausblendung von Gefühlen aus der bewussten Erfahrung bis hin zur totalen emotionalen Betäubung. Negative Prehensionen haben in allen Erfahrungsprozessen eine unerlässliche Funktion der Vorselektion, denn würde die gesamte Umgebung in allen Details wahrgenommen werden, hätte man keine Erfahrung, sondern nur eine triviale Vielheit ohne Ordnung und ohne Möglichkeit, die Aufmerksamkeit zu fixieren. Wenn umgekehrt zu viel negativ erfasst wird, entsteht das umgekehrte Problem einer zwar geordneten, aber engen Erfahrung, die nur einen extrem einseitigen Zugang zu Tatsachen und Werten erlaubt. Das Problem der Kultivierung der Gefühle liegt vor allem darin, Konflikte nicht durch negative Prehensionen, sondern durch Kontrastbildung zu lösen, sodass auf den höheren und bewussteren Erfahrungsebenen nicht nur einzelne dominante Themen, sondern verschiedene Erfahrungselemente in ihrer relativen moralischen und ästhetischen Bedeutung erfasst werden können. Betrachten wir beispielsweise drei Personen, die U-Bahn fahren und einen Sitz ergattert haben, während andere stehen müssen. Einer davon nimmt das gar nicht wahr. Ein anderer, der zufällig aufschaut, stellt fest, dass vor ihm eine Frau mit zwei sehr vollen Einkaufstüten steht.14 Dass die Frau sehr müde ist und sich in der schaukelnden Bahn sehr anstrengen muss, damit die Taschen nicht umfallen, bemerkt er jedoch nicht. Für den dritten Passagier ist ihre schwierige Situation jedoch auffällig, sogar so sehr, dass er etwas spürt, das ihn veranlasst aufzublicken. Dass die ersten beiden Personen nichts tun und die dritte ihren Platz anbietet, ergibt sich nicht aus einem unabhängig von der konkreten Wahrnehmungssituation _____________ 14
Es handelt sich hier um eine veränderte Version eines Beispiels von Blum 1994, 31ff.
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gut oder schlecht eingestellten Willen, sondern folgt aus ihren Wahrnehmungen. Die ersten beiden haben nichts wahrgenommen, während für die dritte die missliche Lage der Frau so auffällig war, dass sie sich direkt auf ihr eigenes Verhalten auswirkte. Das erfordert eine bestimmte Art des „Fühlens“; es geht nicht nur um die Erfassung situativer Gegebenheiten wie: Frau, ca. 35 Jahre alt, Einkaufstaschen; diese Details hatte auch die zweite Person wahrgenommen, ohne dass sie ihr „etwas sagten“. Sie hatte offenbar die Qualität des Unbehagens, das von der Frau ausging, negativ erfasst und die Wahrnehmung so transformiert, dass lediglich gewisse emotional neutrale Sinnesdaten (in Whiteheads Terminologie der Modus der presentational immediacy) zu Bewusstsein kommen. Deshalb kann sich die Frage, ob es „richtig“, „gut“ oder angebracht wäre, den eigenen Platz anzubieten, in dieser Situation gar nicht stellen – eine Frage, welche die allermeisten Moralphilosophien zu beantworten suchen. Solche Beispiele zeigen, dass zum Verständnis auch der moralischen Dimension von Handlungen und Unterlassungen die Fähigkeit berücksichtigt werden muss, affiziert zu werden und die eigenen Emotionen differenziert wahrzunehmen. Es geht daher aus whiteheadscher Perspektive an dem eigentlichen moralischen Problem vorbei, die Frage, ob ein Wesen oder eine Handlung gut oder böse ist, auf den sogenannten Willen der Person zurückzubeziehen; das Problem fängt nicht erst mit dem bewussten Wollen an, sondern viel früher mit der Kultivierung bzw. Integration der Emotionen.15 Für Whitehead liegt das Schlechte oder Böse nicht in dem Haben von Emotionen oder Gefühlen, die „an sich“ schlecht wären, sondern in der Ausblendung von Wertvollem, wenn es nämlich nicht gelingt, konfligierende Emotionen so weit zu transformieren, dass sie beide wahrgenommen und in ihrer relativen Wichtigkeit differenziert erfasst werden können. Nun wäre es nicht ganz angebracht, auf die mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit der U-Bahnfahrer den starken Begriff des Bösen anzuwenden. Was Whitehead meint16, lässt sich vielleicht am besten am Beispiel von Unterlassungen verständlich machen, denen ein Konflikt von Normen zugrunde liegt, der schlecht gelöst wird, nämlich indem eine Emotion, die wichtige normative Ansprüche vermittelt, aufgrund ihres Konfliktes mit einer anderen momentan dominanten Emotion ausgeblendet _____________ 15 16
Vgl. Lachmann 1994, 136. Whitehead verwendet den Begriff des Bösen allerdings nicht einheitlich. Zu den verschiedenen Aspekten vgl. Hauskeller 1994, 150f.
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wird. Im Unterschied zu dem obigen Beispiel, wo eine bestimmte Emotion, die man empfängt, schon in einem frühen Stadium des Erfahrungsprozesses „negativ prehendiert“ wird, liegt das Böse in der relativen Gewichtung und Bewertung von Anliegen, die durchaus bewusst wahrgenommen, aber in ihrem Wertgehalt nicht adäquat repräsentiert werden. Erinnern wir uns an die berühmten Experimente des Psychologen Stanley Milgram in den sechziger Jahren. Am Beispiel von Menschen, die durch eine wissenschaftliche Autorität angewiesen werden, anderen schmerzhafte bis lebensgefährliche Stromstöße zu versetzen, die angeblich für wissenschaftliche Forschungen erforderlich seien, hatte dieser gezeigt, dass das Verhalten von Personen in bestimmten sozialen Kontexten nicht dem entspricht, was sie selbst aus einer reflektierten Beobachterperspektive für richtig halten würden. Die Werte der Kooperation und der Einlösung von Verpflichtungen werden von uns zweifellos für weniger wichtig gehalten als das Tabu, andere Menschen zu quälen oder gar lebensgefährlich zu verletzen. Aus einer Beobachterperspektive ist der Normenkonflikt also leicht zu lösen. In der Situation dominierten jedoch offenbar der emotionale Einfluss, der mit der Autorität des Versuchsleiters und den von ihm repräsentierten wissenschaftlichen Werten verbunden war, sowie die sozialen Normen der Kooperativität und Pflichterfüllung über das von den Teilnehmern durchaus wahrgenommene und auch emotional mitempfundene Leiden der Opfer. Der höhere und wichtigere normative Anspruch kam also durchaus zu Bewusstsein, wurde aber in der Situation aufgrund des dominanten Einflusses nicht als höherer und wichtigerer Anspruch geltend gemacht.17 Fassen wir zusammen: Moralische Fragen erscheinen im Whiteheadschen Rahmen nicht primär als Fragen nach der allgemeinen Geltung von Normen bzw. ihren Begründungen, sondern als Fragen der emotionalen Sensibilität und der emotionalen Kultiviertheit, relativ zu den Möglichkeiten eines bestimmten sozialen Umfeldes. Das moralische Ziel liegt vor allem darin, Emotionen nicht andere Emotionen einfach verdrängen zu lassen, sondern sie mit Blick auf ihre eternal objects, ihre jeweiligen idealen Gegenstände (Werte, Qualitäten) zu analysieren, damit sie in Beziehung gesetzt und in ihrer relativen Bedeutung bewertet werden können. Wer davon überzeugt ist, dass es in der Moral wesentlich um die Geltung unpersönli_____________ 17
Bezeichnenderweise hing das Verhalten der Versuchspersonen auch stark von der relativen Nähe und Ferne zum Versuchsleiter und zum Opfer ab.
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cher Regeln oder Pflichten ginge, wird hiermit wenig anfangen können. Wenn wir hingegen unsere Erfahrung im Lichte der whiteheadschen Kategorien interpretieren, dann kommt es in der Ethik weniger auf die intellektuelle Einsicht in das Gute oder seine Begründung an, sondern auf die deutliche Erfassung, Aneignung und relative Gewichtung der Emotionen im Lichte der Wertordnung, die durch das jeweilige subjektive Ziel ausgedrückt wird.
Literatur Whiteheads Schriften werden, mit Ausnahme von Process and Reality, nach den amerikanischen Ausgaben zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: AI PR MT
– Adventures of Ideas – Process and Reality – Modes of Thought
Bennett, John B. (1973), A Whiteheadian Theory of the Agent Self, in: Philosophy Today, XVII. Blum, Lawrence (1994), Moral Perception and Particularity, Cambridge. Dewey, John (1958, zuerst 1925), Experience and Nature, New York. Gentry, George (1944), The Subject in Whiteheads Philosophy, in: Philosophy of Science XI. Hauskeller, Michael (1994), Alfred North Whitehead zur Einführung, Hamburg. Heidegger, Martin (1958, zuerst 1927), Sein und Zeit, Tübingen. James, William (1982, zuerst 1902), The Varieties of Religious Experience, New York. Lachmann, Rolf (1994), Ethik und Identität, Freiburg. Mach, Ernst (1991, zuerst 1886), Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Darmstadt. Pols, Edward (1967), Whiteheads Metaphysics. A Critical Examination of Process and Reality, Illinois. Rapp, Friedrich (1990), Das Subjekt in Whiteheads kosmologischer Metaphysik, in: Helmut Holzhey/Alois Rust/Reiner Wiehl (Hg.), Natur, Subjektivität, Gott. Zur Prozessphilosophie A. N. Whiteheads, Frankfurt a. M, 143–168. Solomon, Robert C. (2003), What is a „Cognitive Theory of the Emotions“, in: Anthony Hatzimoysis (Hg.), Philosophy and the Emotions, Cambridge, 1–18. Whitehead, Alfred North (1978, amerik. zuerst 1929), Process and Reality. Entwurf einer Kosmologie, Gifford Lectures (1927–28), New York (= PR). – (1961, zuerst 1933), Adventures of Ideas, New York (= AI). – (1966, zuerst 1938), Modes of Thought, New York (=MT).
Max Scheler (1874–1928)
Scheler: Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann Kevin Mulligan Schelers Anatomie des Herzens ist, neben derjenigen seines Zeitgenossen Shand, die gründlichste, die das zwanzigste Jahrhundert vorzuweisen hat. Sie ist aufs Engste mit einer Ontologie, einer Metaphysik, einer Erkenntnis- und Wahrnehmungslehre, einer Wert- und Normenlehre, einer Analyse des Strebens, Überlegens, Wählens und Handelns, einer Sozialphilosophie und einer Anthropologie verwachsen. Aufgrund der deskriptiven Klarheit und Vielfalt, die sie über weite Strecken, wenn auch nicht durchwegs, auszeichnet, kann sie aber auch unabhängig von diesen Verbindungen betrachtet werden. Zu den Hauptkapiteln von Schelers Anatomie des Emotionalen gehören analysierende Beschreibungen von Achtung, Angst, Appetit, Aufmerksamkeit, Bedauern, Befriedigung, Demut, Ehrfurcht, Eigenliebe, Einsfühlung, Ekel, Erbarmen, Freude, Fremdliebe, Fühlen, Furcht, Gegenliebe, Genuss, [das] Glauben an, Glück, Hass, Heiterkeit, Hochmut, Interesse, Interesse nehmen, Kitzelempfindungen, Leid, Lust, Menschenliebe, Mitgefühl, Nachfühlen, Ressentiment, Reue, Rührung, Scham, Schamgefühl, Schmerz, Schuldgefühl, Selbstliebe, Sehnen, Seligkeit, Sorge, Staunen, Stolz, Sympathie, Traurigkeit, Überraschung, Unglück, Verachtung, Verlegenheit, Verwunderung, Verzweiflung, Vorfühlen, Vorziehen, Widerhass, Wollust und Zorn. Es gibt eine bekannte Auffassung, wonach Gefühle psychologische oder geistige Episoden sind, an denen sich zwei Seiten unterscheiden lassen, eine affektive und eine intellektuelle oder wahrnehmungs-, erinnerungs- oder erwartungsmäßige, wobei die affektive Seite die intellektuelle oder wahrnehmungsmäßige voraussetzt. Dieser Auffassung zufolge ist z. B. Sams Bewunderung für Marias Tat eine affektiv gefärbte Wahrnehmung ihrer Tat oder ein affektiv gefärbtes Urteil darüber. Was er bewundert ist das, was seine Wahrnehmung vor- oder sein Urteil darstellt. Ungefähr diese Auffassung von Gefühl findet man bei Brentano und vielen
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seiner Erben (Husserl, Meinong, Stumpf), in der analytischen Philosophie des Geistes und in der Psychologie. (Diese Auffassung wird manchmal die „kognitive“ Gefühlstheorie genannt.) Eine Variante dieser Auffassung betrachtet nicht nur Episoden als Gefühle, sondern auch oder vor allem die Dispositionen zu solchen Episoden. Meistens wird überdies angenommen, dass Gefühle, (vielleicht) zusammen mit Gefühlsempfindungen und Stimmungen, das emotionale Leben ausmachen. Diese Auffassung lehnt Scheler ab. Er gliedert das „emotionale Leben“ (GW 2, 267, 332) in zwei Kategorien: die erste umfasst Liebe, Hass, Fühlen und eine bestimmten Art von Vorziehen, die zweite die Gefühle. Dabei hängt, was zur zweiten Kategorie gehört, auf verschiedene Arten und Weisen von dem ab, was zur ersten Kategorie gehört. Die fundamentale Scheidung zwischen diesen zwei Kategorien bildet die Grundlage für Schelers Philosophie der Person, des Geistes, des Ethos und der Gesinnung, sowie seiner Analyse des Verhältnisses zwischen theoretischer und praktischer Rationalität. Die erste dieser Kategorien zeichnet sich gegenüber der zweiten dadurch aus, dass sie eine innige und vielfältige Beziehung zur Erkenntnis hat. Schelers Vorliebe für Pascals „Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît point“ kann in die Irre führen. Wer heute über Gründe und Rechtfertigungen philosophiert, meint nicht immer, dass jemandes Erkenntnisse die besten oder alleinigen Gründe seines Glaubens, Begehrens, Handelns oder Bewunderns bilden. Dies ist aber die Meinung Schelers und anderer Phänomenologen. Auch wer diese Meinung teilt, wird selten glauben, es gäbe eine spezifische affektive Art, Werte zu erkennen. Genau dies jedoch glaubt Scheler. Für ihn stellen sowohl das Fühlen als auch das apriorische Vorziehen einen kognitiven Zugang zu den Werten und zu den Werteigenschaften von Gegenständen und Sachverhalten dar. Gefühle aber sind nie Werterkenntnisse und auch keine Wertwahrnehmungen. Im Folgenden soll Schelers Auffassung des Werterkennens, des Zusammenhangs zwischen Liebe und Erkenntnis, der Gefühle und der Gefühlswahrnehmung erläutert werden. Der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und dem Herzen ist auch der Schlüssel zum Verständnis von Schelers ausführlichsten Detailanalysen – von Scham, Ehrfurcht, Leid, Ressentiment, Sympathie und Reue – worauf hier nicht eingegangen wird.1 _____________ 1
Zur Scham: GW 10, 65–154. Vgl. dazu Bollnow 1947, 83ff.; Rutishauser 1969; Landweer 1999. Zur Ehrfurcht: GW 3, 26–32. Vgl. dazu Bollnow 1947. Zum Leid: GW 6, 36–72. Vgl. dazu Diederichs 1930. Zum Ressentiment: GW 3, 33– 148. Vgl. dazu Ranulf 1938. Zur Sympathie: GW 7. Vgl. dazu Michalski 1997.
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1. Werterkenntnisse versus Gefühle Das Werterkennen (GW 2, 105, 178) oder die Werterfahrung (GW 2, 329) ist entweder eine Art von Fühlen oder eine Art von Vorziehen. Im ersten Fall werden Wertqualitäten und Werte gefühlt. Ein solches Fühlen ist kein Wahrnehmen, kein Urteilen, kein begriffliches Erfassen, sondern ein prälogisches Erfassen, das in verschiedenen Graden von Adäquatheit vorkommen kann (GW 2, 182, 87). Das Fühlen eines Wertes ist aber auch nicht zu verwechseln mit dem Fühlen eines Gefühls. Da es sich nicht um Urteilen handelt, ist Täuschung im Wertfühlen kein Irrtum (GW 2, 88). Das apriorische Vorziehen bezieht sich demgegenüber auf die Beziehungen zwischen Werten und Wertqualitäten. Diese stehen zueinander in inneren Beziehungen des Höher- und Niedrigerseins, so wie Farben und Farbqualitäten in inneren Beziehungen der Helligkeit stehen. Im apriorischen Vorziehen erkennen wir das Höhersein eines Wertes in Bezug zu einem anderen. Im empirischen Vorziehen ziehen wir ein Gut einem anderen vor. Ein apriorisches Vorziehen „umspannt immer zugleich ganze (unbestimmt große) Güterkomplexe“ (GW 2, 105; vgl. GW 2, 265f., GW 1, 384f., GW 10, 366). So wie es eine Täuschung im Fühlen geben kann, kann es sie auch im Vorziehen geben (GW 2, 105). Heute wird das Vorziehen meistens als eine Beziehung zwischen Personen einerseits und Handlungen, Sachverhalten oder Ergebnissen von Handlungen (outcomes) andererseits aufgefasst. Schelers apriorisches und empirisches Vorziehen dagegen sind Beziehungen zwischen Personen und Gegenständen. Das Wählen zwischen einem Tun und einem anderen Tun sei überhaupt kein Vorziehen (GW 2, 105; GW 7, 156), das apriorische Vorziehen sei kein Wählen (GW 2, 265, 57, 62; GW 7, 156). Das Fühlen von Werten ist im Vorziehen, respektive Nachsetzen, fundiert (GW 2, 106f.; Scheler behauptet aber auch das Gegenteil – vgl. GW 2, 265). Zum Fühlen und Vorziehen sagt Scheler: „Alles Verhalten _____________ Zur Reue: GW 5, 27–60. Zu Schelers Gefühlslehre vgl. Rutishauser 1969. Viele Erben von Brentano haben Gefühlsanalysen vorgelegt, Nicht-Phänomenologen wie Stumpf, Marty, Meinong, Ehrenfels, Stephan Witasek, Robert Saxinger, Ernst Schwarz, Nicolai Hartmann und Karl Duncker und Phänomenologen wie Husserl, Pfänder, Reinach, Ingarden, Else Voigtländer, Moritz Geiger, Edith Stein, Dietrich von Hildebrand, José Ortega y Gasset, Kurt Stavenhagen, Aurel Kolnai, Otto Friedrich Bollnow, Kurt Reizler. Die Analysen der Phänomenologen sind oft stark von Scheler beeinflusst. Für eine ausgezeichnete Übersicht und Bewertung der phänomenologischen Emotionsanalysen einschließlich der schelerschen Lehre vgl. Vendrell Ferran 2008.
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zur Welt überhaupt […] ist […] primär ein emotionales und wertnehmendes Verhalten“ (GW 2, 206). Das Wertfühlen und das apriorische Wertvorziehen sind keine Urteile, sondern anschauliche Zugänge zu einer Vielfalt von material verschiedenen sittlichen und nicht-sittlichen Wertqualitäten sog. thick values – wie z. B. angenehm, vornehm, großmütig, gerecht usw.: [E]in Kind spürt der Mutter Güte und Sorge, ohne irgendwie die Idee des Guten erfaßt zu haben und mit zu erfassen – sei es auch so vag wie immer. Und wie häufig fühlen wir an einem Menschen, der unser Feind ist, eine schöne sittliche Qualität, während wir in der Bedeutungssphäre bei unserer alten negativen Beurteilung seiner bleiben – so daß die Erscheinung jener schönen Qualität, ohne unsere intellektuelle Überzeugung über ihn zu ändern, vorüberflieht. (GW 2, 176)
Wie verhalten sich nun das Fühlen eines Wertes und die intentionale Beziehung zum Träger des Wertes zueinander, das Fühlen der Eleganz einer Geste zum Erfassen der Geste? Scheler schreibt: Wir kennen ein Stadium der Werterfassung, wo uns der Wert einer Sache bereits klar und evident gegeben ist, ohne daß uns die Träger dieses Wertes gegeben sind. So ist uns z. B. ein Mensch peinlich und abstoßend oder angenehm und sympathisch, ohne daß wir noch anzugeben vermögen, woran dies liegt. (GW 2, 40; vgl. 41).
Dass wir oft nicht angeben können, welche Eigenschaften etwas zum Träger einer Wertqualität macht, ist unstrittig. Oft hängt dies damit zusammen, dass solche Eigenschaften nicht wahrnehmungsmäßig unterscheidbar sind und gedanklich nicht von uns erfasst werden. Daraus können wir aber höchstens schließen, dass uns der Träger einer gefühlten Wertqualität nicht so „voll“ gegeben ist wie die Wertqualität selbst oder dass der Träger nur gedanklich, inadäquat oder indirekt erfasst wird. Manchmal scheint jedoch Scheler eine stärkere These zu vertreten: „Oft habe ich […] nur den Wert einer Sache gegenwärtig, ohne daß die begriffliche Bedeutung oder ein Bildinhalt ihrer da ist“ (GW 10, 284; vgl. GW 2, 265, 176; GW 3, 298f.). Zu den Trägern von Werteigenschaften gehören auch Gefühle. Schelers These der Priorität der Wertgegebenheit erlaubt ihm, eine bekannte Tatsache zu erklären: Es ist nicht möglich, die eigenen Gefühle zu beobachten, zu beachten oder zum Gegenstand der Aufmerksamkeit zu machen, ohne sie zu modifizieren. Dies ist oft behauptet worden.2 Scheler meint: „[W]ir [können] nicht im selben Sinne ein Gefühl ‚beobachten‘ wie etwa ein Erinnerungsbild oder ein Phantasiebild“, weil wir zuallererst den _____________ 2
Vgl. Wittgenstein 1971, II, ix.
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Wert des Gefühls fühlen (GW 2, 206; vgl. 205). Es ist, als ob unser Bewusstsein des Wertes/Unwertes eines Gefühls uns erblinden ließe. Allerdings wird das sinnliche Gefühl am wenigsten durch Zuwendung der Aufmerksamkeit geschädigt (GW 2, 337f.). Diese Priorität des Wertfühlens erklärt die zuvor erwähnte Unfähigkeit, die Züge eines Wertträgers zu beschreiben (GW 2, 204f.).3 Wie wir weiter unten sehen werden, sollen Gefühle durch das Fühlen von Werten motiviert werden. Um aber das Verhältnis zwischen dem Wertbewusstsein und dem Wollen oder Handeln zu verstehen, hilft das Wertfühlen nicht. Den Wert zukünftiger Sachverhalte kann man nicht fühlen, sondern nur vorfühlen. Wird die Lust an einer Speise zu einem Ziel, dann nur, weil ein Wert (z. B. das Angenehme der Lust) oder ein Unwert (z. B. die Sündigkeit der Lust) vorgefühlt wird (GW 2, 56f.; vgl. GW 10, 166; GW 2, 148f.). Das Vorfühlen eines Wertes gehört zur selben Familie wie das Wieder-Hören, das Wieder-Sehen und das Wieder-Fühlen in der Erinnerung oder wie das Nachfühlen von Werten; hier wird vergegenwärtigt, „ohne daß das so Gegenwärtige Wirklichkeitscharakter als Gegenwärtiges hat“ (GW 10, 284). Liebe und Hass spielen eine zentrale Rolle beim Werterfassen, obwohl sie keine Arten von Erkenntnis sind. Dank Liebe und Hass erfährt das dem Fühlen und dem apriorischen Vorziehen einer Person zugängliche Wertreich „eine Erweiterung resp. Verengung“ (GW 2, 266). Während der Hass „die Augen des kognitiven Vorziehens und Fühlens […] stumpf und blind“ macht (GW 7, 157), gehört es zur „entdeckerischen“ Rolle der Liebe, dass in ihr „noch völlig unbekannte Werte aufleuchten und aufblitzen“ (GW 2, 267). Die Liebe erweitert aber nicht nur den Bereich zugänglicher Werte, sondern ist auch die Voraussetzung apriorischen Vorziehens (GW 7, 156). Wie aber kann man entdecken ohne zu erkennen? Wie können Werte sich in der Liebe „erschließen“ ohne ein Erkennen? Die Beredsamkeit, mit der Scheler diese Rollen der Liebe besingt, variiert umgekehrt proportional zur Klarheit seiner Antwort auf solche Fragen. Wie verhalten sich Fühlen und apriorisches Vorziehen zu den Gefühlen? Gefühle sind Antworten, Reaktionen auf die Werte und Unwerte von Gegenständen und Sachverhalten, auf die Werte/Unwerte, die uns im Fühlen und im Vorziehen gegeben sind oder auf die Inhalte von Täuschungen im Fühlen und im Vorziehen. Gefühle sind unsere Reaktionen _____________ 3
Vgl. Wittgenstein 1984, I, § 919.
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auf diese (vermeintlichen) Erkenntnisse. Wenn Sam Marias Tat bewundert, dann ist seine Bewunderung eine Reaktion auf einen von ihm (vermeintlich) verspürten Wert ihrer Tat oder auf ein von ihm gefälltes Werturteil. Von diesen zwei Möglichkeiten ist die erste die fundamentalere. Das fühlende Wertauffassen ist unabhängig von Gefühlen und von ihrem Ausdruck (GW 2, 182f.), nicht jedoch umgekehrt.
2. Die Taxonomie des emotionalen Lebens Scheler klassifiziert die von ihm beschriebene emotionale Vielfalt mithilfe einer komplexen Unterteilung, die nur zum Teil der natürlichen Sprache folgt. Er unterscheidet zuerst Affekte, Dränge, Emotionen, Fühlen, Funktionsgefühle, Gefühle, Gesinnungen, Leidenschaften und Triebe voneinander. Dann unterteilt er nach den Kategorien Akte, Antwortsreaktionen, Bewegungen, Empfindungen, Funktionen, Verhaltensweisen, Haltungen, Reaktionen, Regungen, Tendenzen, Zustände und schließlich nach der materialen Vierteilung sinnlich, leiblich (vital), seelisch (psychisch) und geistig, die seine Philosophie des Geistes, der Seele, des Leibes und der Sinnlichkeit wiederspiegelt. Kombinationen dieser Begriffe ergeben Termini wie sinnliche Gefühlszustände, Gefühlsempfindungen, affektive Verhaltungsweise, seelische Liebesgesinnung, Liebeshaltung, Liebesregung. Nach Scheler ist das Fühlen von Werten eine Funktion, das apriorische Vorziehen und Nachsetzen hingegen sind Akte; auch Lieben, Hassen und Wollen sind Akte. Die Begriffe der Gesinnungen und des Ethos werden mithilfe dieser Kategorien erklärt: „In jeder Seele herrscht im ganzen und in jedem Augenblick eine personale Grundrichtung des Liebens und des Hassens, des Wertvorziehens und -nachsetzens: Sie ist ihre Grundgesinnung“ (GW 10, 264). Die Gesinnung einer Person umfasst „alles ethische Werterkennen, auch Vorziehen, Lieben und Hassen und das Wollen“ (GW 2, 566). Gesinnungen weisen Qualitäten auf: Sie können wohlwollend, liebevoll, rachsüchtig, misstrauisch oder vertrauensvoll sein (GW 2, 129; vgl. 148f.). Eine Gesinnung ist nicht der Charakter einer Person. Ein Charakter ist eine Disposition, die nur durch Schlüsse erkannt werden kann. Eine Gesinnung hingegen ist keine Disposition, sondern etwas Dauerhaftes, das anschaulich gegeben ist (GW 2, 133). Variationen des Wertfühlens, des Vorziehens, des Liebens und Hassens sind Variationen eines Ethos (GW 2, 303). Funktionen sind sinnlich, seelisch oder vital, aber nicht geistig, Akte hingegen sind geistig, aber nicht seelisch, vital oder
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sinnlich – an diesen Bestimmungen hält Scheler oft, aber keineswegs immer fest, wie wir sehen werden. Schelers Taxonomie des emotionalen Lebens dreht sich um die Vielfalt des Fühlens. Man kann vieles fühlen und es auf sehr verschiedene Art und Weise fühlen, man kann sogar, wie wir gesehen haben, vorfühlen und nachfühlen. Wir gehen also am besten von der Vielfalt des Fühlens aus, um Schelers Taxonomie zu verstehen. Das Fühlen ist entweder ein Wertfühlen oder ein Fühlen von Gefühlszuständen oder ein Fühlen „von gegenständlichen Stimmungs-Charakteren“, wie Trauer in einer Landschaft, „in denen zwar emotionale qualitative Charaktere vorliegen, die auch als Gefühlsqualitäten gegeben sein können, aber darum doch nie und nimmer als ‚Gefühle‘, d. h. ichbezüglich erlebt sind“. Gemäß Scheler sind alle drei Arten des Fühlens intentional, nur die erste hat jedoch eine „kognitive Funktion“ (GW 2, 263). Weshalb die zweite und dritte Art des Fühlens nicht kognitiv sein sollen, erklärt er nicht. Das Fühlen eines sinnlichen Schmerzes oder einer sinnlichen Lust kann in seinen Funktionalqualitäten oder Modi variieren: Man kann einen Schmerz erleiden, ertragen, dulden, genießen. Sinnliche Schmerzen und Lust können sogar vorhanden sein, wenn sie kaum oder überhaupt nicht gefühlt werden (GW 2, 261f.; GW 6, 37). Sie werden Gefühlsempfindungen (manchmal auch Empfindungsgefühle, sinnliche Gefühle oder Gefühlszustände, vgl. GW 2, 334) genannt und schließen alle Arten von Schmerz, Gefühlen der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit (von Speisen, Getränken, Berührungen), Kitzelempfindungen (GW 2, 334; GW 10, 106) und die Gefühlsempfindungen der geschlechtlichen Wollust (GW 7, 177) ein. Gefühlszustände können nicht von „den zugehörigen Empfindungsinhalten in der Aufmerksamkeit“ losgelöst sein und sind nicht „objektlos“, da es nie zweifelhaft sein kann, „welche Gruppe von solchen Inhalten zu [ihnen] gehört“, weisen aber trotzdem keine Intentionalität auf. Sie sind nicht einfach Zustände, sondern sind als Zustände von Teilen eines Leibes gegeben und so nur indirekt auf das Ich bezogen (GW 2, 335f.). Sie sind als ausgedehnt und lokalisiert gegeben (GW 2, 122, 261, 335; GW 3, 230; GW 6, 39). Das Wertfühlen ist entweder sinnlich, vital oder geistig. Sinnliches Fühlen von Angenehmem, Unangenehmem und vielleicht auch von Nützlichem (GW 2, 112; vgl. dagegen GW 7, 170) weist die Modi des Genießens und Erleidens auf. Sinnliches Fühlen und seine Modi sind nicht zu verwechseln mit den Gefühlsempfindungen.
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Vitales Fühlen von vitalen Werten ist ein Fühlen von Edlem (Tüchtigem) und von Gemeinem (Schlechtem), und offenbar auch von den dazugehörigen konsekutiven Werten des Wohles und des Unwohles (GW 2, 123). Die Vitalgefühle sind entweder Leibgefühle oder Lebensgefühle. Zu den Lebensgefühlen gehören Behaglichkeit, Unbehaglichkeit, Mattigkeit, Frische, Gesundheits- und Krankheitsgefühle, Alters- und Todesgefühl. Sie werden auch als Modi des Lebensgefühls bezeichnet. Unklar bleibt, ob diese Gefühle Modi des vitalen Wertfühlens sind. Dass ich mich matt oder krank fühle, ist ein Leibgefühl. Leibgefühle sind Zustände, Lebensgefühle sind Funktionen (GW 2, 334f.) und Zustände (GW 2, 124). Scheler scheint der Meinung zu sein, Funktionen seien sowohl im Lebensgefühl als auch im Leibgefühl am Werk. In einem Leibgefühl wird ein Zustand durch die Funktion des nicht-kognitiven Fühlens erfasst. In einem Lebensgefühl soll ein vitaler Wert wie der Unwert der Mattigkeit durch die kognitive Funktion des vitalen Fühlens erkannt werden. Eine ähnliche Rolle spielt das vitale Vorfühlen: Der ganze Sinn und die ganze Bedeutung [der einfachsten Erscheinungen von Angst, Furcht, Ekel, Scham, Appetit, Aversion, vitaler Sympathie und vitalem Abgestoßensein gegenüber Tieren und Menschen, das Schwindelgefühl] besteht ja eben darin, daß sie den Wert von Kommendem, nicht den Wert von Vorhandenem anzeigen, und daß sie in gewissem Sinne sowohl räumliche als zeitliche Ferngefühle sind, im Gegensatz zu den räumlichen und zeitlichen Kontaktgefühlen, welche die sinnlichen Gefühle darstellen. (GW 2, 343f.)
Manchmal wird von einem Gefühl behauptet, es sei ein Vorgefühl: Der Ekel z. B. soll ein „Vorgefühl für Schädigungen“ (GW 10, 84) sein. Heißt das, dass Ekel ein Vorfühlen von Schädigungen einschließt, so wie Furcht und Angst ein Vorfühlen von Gefahren (mit einer Vorstellung der gefährdenden Dinge und Vorgänge im ersten Fall und ohne diese Vorstellung im zweiten Fall (GW 10, 88; vgl. GW 6, 202–210)), oder dass die vitale Scham als Vorgefühl ein „Vorgefühl eines Kommenden“ einschließt (GW 10, 115)? Bei Letzterem ist unklar, wie sich ein solches Vorfühlen zur Anzeichen- oder Signalfunktion von Gefühlen verhält. Das Anzeigen ist keine intentionale Beziehung, aber „die Fungierbarkeit eines Gefühlszustandes als ‚Anzeichen von etwas‘ (z. B. bei den Arten des Schmerzes) ist hierbei immer schon durch ein intentionales Fühlen vermittelt – beruht also nicht auf bloßer assoziativer Verbindung, die nur objektiv zweckmäßig wäre“ (GW 2, 269). Ist das hier erwähnte Fühlen das Fühlen eines Gefühls, das als Anzeichen fungiert, oder das Vorfühlen eines Wertes? Sinnliche Gefühle – z. B. die verschiedenen Arten von Schmerzen – können kein Vorfühlen von Werten einschließen. Indem sie gefühlt werden, wer-
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den sie einfach zu „Anzeichen für lebensfördernde und lebenshemmende Vorgänge innerhalb des Organismus aufgrund von Erfahrungsassoziation“ (GW 2, 343). Die Lebensgefühle dagegen indizieren die vitale Wertbedeutung von Ereignissen und Vorgängen, indem sie ein Wertvorfühlen einschließen (GW 2, 343; GW 6, 36f., 332; GW 15, 202–205). Das Vorfühlen, das zu einigen Gefühlen gehört, hat eine wichtige Steuerungsfunktion. Die Korrelate von Appetit und Ekel sind Wertqualitäten wie „einladend“, „anziehend“, „ekelhaft“, „abstoßend“. Im vitalen Fühlen und Vorfühlen sind diese Qualitäten gegeben. Appetit und Ekel variieren unabhängig vom Drang des Hungerns und bestimmen die Impulse des Essens und des Widerstehens. Sie entscheiden, zu welchen sinnlichen Gefühlszuständen es kommt und zu welchen nicht (GW 2, 252f.; GW 10, 84, 107).4 Wie Appetit zu Hunger verhält sich die vitale Liebe zu den Triebimpulsen der Libido (GW 10, 107), die Geschlechtsliebe oder Liebesleidenschaft zum Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb (GW 10, 118f.) und das geschlechtliche Schamgefühl zum Geschlechtstrieb (GW 10, 85). Das geistige Fühlen ist ein Fühlen von geistigen Werten des Schönen und Hässlichen, des Rechten und Unrechten und der Erkenntnis (GW 2, 124f.). Das geistige Wertfühlen ist eine Funktion (GW 2, 124), einige geistige Gefühle hingegen sind zuständlich und erscheinen als Ich-Zustände (GW 2, 125; GW 10, 106). Zu den geistigen Gefühlen gehören geistige Wehmut, Freude und Trauer (im Unterschied zum vitalen Froh- und Unfrohsein). Scheler scheint der Meinung zu sein, man freue sich geistig, weil man geistige Werte fühle, doch als „geistige Antwortsreaktionen“ nennt er Gefallen, Missfallen, Billigen, Missbilligen, Achtung, Missachtung, geistige Sympathie und Vergeltungsstreben (im Unterschied zum vitalen Racheimpuls), nicht aber geistige Freude und Trauer (GW 2, 125). Zusätzlich zu den sinnlichen, vitalen und geistigen Gefühlen gibt es auch seelische Gefühle, z. B. seelische Trauer oder Wehmut (GW 6, 39; GW 2, 344f.). Wie sich seelische Gefühle zu geistigen Gefühlen verhalten, z. B. seelische Wehmut zu geistiger Wehmut, bleibt unklar.5 Schelers langer Liste der Arten des Fühlens kann wohl deshalb kein seelisches Wertfühlen hinzugefügt werden, weil in seiner Wertlehre keine seelischen Werte vorkommen. _____________ 4 5
Vgl. Katz 1932. Vgl. dazu Ehrl 2001, 79f.
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Die Werte des Heiligen und des Unheiligen, deren Träger Personen sind, werden nach Scheler nicht gefühlt (GW 2, 125f.). Aber im Verhältnis zwischen geistiger Liebe und Hass einerseits und diesen Personenwerten andererseits ortet er den Ursprung von geistigen Gefühlen wie Seligkeit und Verzweiflung (GW 2, 126), die er auch als „Heilsgefühle“ (GW 6, 39) bezeichnet. Zu den Heilsgefühlen gehören auch Geborgenheit, Gewissensqual, Friede, Reue (GW 6, 39). Seligkeit, Verzweiflung, gewisse Formen der Heiterkeit (serenitas animi) sowie Seelenfrieden sind laut Scheler niemals zuständlich (GW 2, 344), obwohl sie verharren und dauern (GW 2, 109), also Zustände sind (GW 2, 126). Vermutlich ist Scheler der Ansicht, dass sie keine Ich-Zustände seien (GW 2, 344). In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich von den zuvor erwähnten geistigen Gefühlen der geistigen Freude und Trauer. Sie unterscheiden sich aber noch in einer zweiten Hinsicht. Geistige Freude und Trauer kommen über das Wertfühlen zustande. Diejenigen geistigen Gefühle, die Scheler auch Heilsgefühle nennt, verhalten sich jedoch ganz anders zum Werterkennen. Man kann nicht „im selben Sinne ‚über etwas‘ verzweifelt […] wie über etwas unfroh […] und unglücklich“ sein: „Erst da ist Seligkeit im prägnanten Sinne gegeben, wo uns kein besonderer Sach- und Wertverhalt außer uns oder in uns zu dieser Seligkeitserfülltheit fühlbar motiviert […]“ (GW 2, 345). Handelt es sich hier um eine Ausnahme zur These, dass es kein Gefühl ohne (vermeintliche) Werterkenntnis gebe? Vielleicht nicht. Seligkeit und Verzweiflung können sich aus Erlebnissen ergeben, die durch Werterkenntnisse motiviert sind. „Sind sie aber einmal da, so lösen sie sich von dieser Motivkette eigenartig los und erfüllen gleichsam vom Kern der Person her das Ganze unserer Existenz und unserer ‚Welt‘“ (GW 2, 345). Von einer solchen Seligkeit könnte man sagen, dass sie ihren Ursprung in einer Motivation hat, ohne motiviert zu sein. Scheler stellt aber auch die Seligkeit und die Verzweiflung als Zustände dar, die ihren Ursprung in geistiger Liebe und geistigem Hass haben. Das Verhältnis von Liebe und Hass zu den für sie zentralen Werten ist jedoch kein Werterfassen. Wie auch immer Seligkeit und Verzweiflung zustande kommen, sie sind die am wenigsten reaktiven Gefühle (besser: Emotionen, vgl. GW 2, 339).6 In einem engeren Sinne des Wortes „Gefühl“ sind Liebe und Hass keine Gefühle. Sie gehören also nicht zu den sinnlichen, vitalen, seelischen _____________ 6
Scheler nennt diese Phänomene nicht „Stimmungen“. Dieses Wort verwendet er für nicht-geistige Gefühle, bei denen unklar ist, was sie verursacht hat (GW 2, 262; für Schelers Analysen der Angst und auch der Sorge vgl. GW 9, 254–342).
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oder geistigen Gefühlen, auch nicht zu den Heilsgefühlen. Scheler verwendet aber das Wort „Gefühl“ manchmal auch in einem weiteren Sinn und spricht dann von Liebe als einem Gefühl. (Manchmal drückt das Wort „Gefühl“ den Oberbegriff für alles Emotionale aus, was vielleicht damit zusammenhängt, dass Scheler eher „emotional“ und „das Emotionale“ als „Emotion“ (vgl. aber GW 2, 358) verwendet). Die geistigen Akte des Liebens und Hassens sind „am weitesten von allem Zuständlichen entfernt“ (GW 2, 266). Hier können wir nicht, wie im Falle der geistigen Heilsgefühle, sagen, es handle sich um Zustände, die keine IchZustände sind. Lieben und Hassen sind keine Antwortsreaktionen (GW 2, 266) auf gefühlte Werte: Liebe nicht, weil sie wertentdeckend ist und eine „Intention auf […] noch mögliche höhere Werte, als diejenigen sind, die bereits da und ergeben sind“ hat (GW 7, 156); Hass nicht, weil er „ein Hinblicken auf möglichen niedrigeren Wert“ (GW 7, 156) darstellt. Wer liebt oder hasst, fühlt Werte/Unwerte der geliebten oder gehassten Person, aber Lieben und Hassen sind nicht Reaktionen auf diese Werte/Unwerte. Sie sind spontane Akte (GW 2, 266), Bewegungen (GW 7, 155). Die Intention auf höhere Werte, die der Liebe wesentlich ist, weist eine eigenartige Unbestimmtheit auf. Die Liebe ergreift ihren Gegenstand auf einer Stufe des Seins, „auf der sein Sosein sowohl seinem existentialen Sein, als seinem Wertsein nach noch unbestimmt ist“; diese Stufe des Seins „ist eben die nach dem Gegensatz Wertsein – existentiales Sein noch indifferente Schicht des Seins […]“ (GW 5, 307). Die Liebe ist unabhängig vom Streben (GW 15, 289), obwohl die Bewegungsnatur, die zum Streben gehört, auch zur Liebe gehört, die eine Bewegung auf einen positiven Wert hin ist (GW 7, 146) oder eine Bewegung, die vom Geliebten ausgeht („Locken“ siehe GW 7, 147). Scheler sagt aber auch, dass die Liebe „ruht“ und „wächst“ (GW 6 ,84). Den Hass nennt Scheler „eine Reaktion gegen ein irgendwie falsches Lieben“. Hier liegt kein Widerspruch vor. Wer hasst, muss schon geliebt haben. So mag man zwar eine einmal geliebte Person hassen oder eine Person, die einen Unwert aufweist, wobei der entsprechende Wert schon geliebt wurde (GW 10, 368f.). Der Hass ist aber nicht eine Reaktion auf gefühlte Unwerte der gehassten Person, sondern eher eine Bewegung in Richtung auf noch niedrigere mögliche Unwerte dieser Person. Die drei Formen der Liebe sind die vitale Liebe (Leidenschaftsliebe), die seelische Liebe eines Ich-Individuums und die geistige Liebe der Person; sie sind alle Bewegungen in Richtung auf mögliche höhere Werte. Die vi-
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tale Liebe z. B. ist eine „Bewegung in der Richtung der Werterhöhung vom Gemeinen zum Edlen“ (GW 7, 179). Die drei Formen der Liebe entsprechen den drei Akttypen: vitale Akte, psychische bzw. Ichakte und geistige bzw. Personenakte (GW 7, 170). Mutterliebe, kindliche Liebe, Heimatliebe, Vaterlandsliebe, Geschlechtsliebe sind Arten der Liebe, die „als besondere Qualitäten der Gemütsbewegung selbst für uns fühlbar“ sind, „ohne daß wir auf die wechselnden Objekte […] hinzusehen brauchen“ (GW 7, 172). Sie weisen verschiedene qualia auf. Unakzeptable Wortbildungen wie „Staatenliebe“, „Kunstliebe“ sowie die Äquivozität von „Vaterliebe“ zeigen, dass wir es hier mit Arten der Liebe zu tun haben, die sich nicht phänomenal unterscheiden lassen (GW 7, 172f.). Die Formen und Arten der Liebe gehen verschiedene Verbindungen mit Verhaltungsweisen und Mitgefühlserlebnissen ein: Güte, Wohlwollen, Neigung, Zuneigung, Liebenswürdigkeit, Zärtlichkeit, Freundlichkeit, Dankbarkeit u. a. (GW 7, 174f.). Schelers Unterscheidung zwischen vitalen, psychischen und geistigen Akten in seiner Lehre von den Formen der Liebe scheint seiner Aktlehre zu widersprechen, der zufolge alle Akte geistig sind (GW 2, 388), also weder psychisch noch vital noch sinnlich. Zu diesen (geistigen) Akten gehören Vorstellen, Wahrnehmen, Erinnern, Erwarten, Vorziehen, Wollen, Nichtwollen, Lieben, Hassen, Urteilen (GW 2, 390), Ideendenken, Anschauung, Reue, Ehrfurcht und geistige Verwunderung (GW 9, 32) – was das Urteilen betrifft, hat Scheler seine Meinung geändert (siehe GW 3, 234f.). Auch das Wertfühlen wird, obwohl meistens als Funktion erklärt, manchmal als geistig beschrieben (GW 2, 390, 149). Auf jeden Fall ist sich Scheler bewusst, dass seine Annahme einer geistigen Liebe und eines geistigen Hasses sowie die These, dass das Vorziehen geistig sei, mit vier einflussreichen Traditionen bricht: Einmal mit der Tradition, wonach der Geist ausschließlich intellektuell sei; zweitens mit der Ansicht, der Geist sei nur intellektuell und volitiv, das Affektive aber gänzlich psychisch oder vital; drittens mit der Auffassung, dass das Geistige weniger wertvoll sei als das Psychische oder das Vitale und schließlich mit der Assimilation von Geistigem und Psychischem im Begriff des „Mentalen“ (GW 2, 388; vgl. Mulligan 2006). Scheler behauptet oft, Akte seien punktuell und zeitlich nicht ausgedehnt (GW 10, 297; vgl. dagegen GW 2, 462). In jedem Akt variiert die ganze Person, im „Begriffe der ‚Variation‘ als dem puren ‚Anderswerden‘ liegt aber noch nichts von einer das Anderswerden ermöglichenden Zeit“ (GW 2, 384; vgl. aber GW 10, 297). „Akte entspringen
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aus der Person in die Zeit hinein“ (GW 2, 387). Einige der von Scheler (und Adolf Reinach7) erwähnten Beispiele für punktuelle Akte, z. B. Wahrnehmen und Urteilen, sind in dem Sinne punktuell, dass sie mittels Verben zugeschrieben werden, die keine Verlaufsform zulassen. Wie aber soll man die These verstehen, dass Lieben ein punktueller Akt sei, wenn im erlebten Werte des „Liebesaktes“ und im Werte der geliebten Person – wie Scheler doch selber sagt – „das Phänomen der Dauer und darum auch der ‚Fortdauer‘ dieser Werte und dieses Aktes eingeschlossen“ liegen soll (GW 2, 109)? Sich vielleicht der Dunkelheit seiner Auffassung der Liebe als Akt bewusst, sagt Scheler einmal, Liebe sei „die Tendenz oder je nachdem der Actus […], der jedes Ding in die Richtung der ihm eigentümlichen Wertvollkommenheit zu führen suche – und führe, wo nicht Hemmungen sich einstellen“ (GW 10, 355). Eine solche Tendenz kann keine Disposition sein oder einschließen8, da Scheler – wie wir im Fall der Gesinnungen gesehen haben – geistige Dispositionen ablehnt. Er könnte also nicht mit Ehrenfels einverstanden sein, wenn dieser gegen die brentanistische Auffassung der Liebe einwendet: „Liebe und Hass bedeuten nach dem Sprachgebrauch meistenteils nicht aktuelle psychische Phänomene, sondern Dispositionen hierzu“9. Er könnte auch nicht mit Wittgensteins Behauptung, Liebe könne keine kurze Dauer haben, einverstanden sein. Scheler meint, man könne sich durchaus einen Dante vorstellen, der sich in seine Beatrice verliebt und sie dann nur drei Minuten lang liebt, bis er umgebracht wird. Eine Gesinnung kann nur einen Augenblick währen, aber sie dauert (GW 2, 132).10 Wie verhalten sich Liebe und Hass (vital, seelisch oder geistig), sinnliche Gefühle, vitale Gefühle und geistige Gefühle (Heilsgefühle oder keine Heilsgefühle) zueinander? Scheler spricht in diesem Zusammenhang wie Dilthey und Krueger gerne von einer Schichtung bzw. von tieferen und weniger tiefen Schichten des emotionalen Lebens. Liebe und Hass liegen tiefer als Seligkeit und Verzweiflung, diese liegen tiefer als seelische Gefühle, welche wiederum tiefer liegen als vitale Gefühle, die ihrerseits tiefer liegen als sinnliche Gefühle. Was tiefer liegt, kann das, _____________ 7 8 9 10
Reinach 1989, 100, 102–105. Zur Kategorie der vitalen Tendenzen vgl. GW 2, 414; GW 7, 185. Ehrenfels 1982, 229; vgl. Wittgenstein 1984, 246; ders. 1982, 90–92 Zur Idee, dass man Liebe erproben, dass sie sich bewähren kann und dass man so zwischen wahrer (echter) und falscher (unechter) Liebe unterscheiden kann vgl. Scheler GW 9, 213f.; Wittgenstein 1967, § 504.
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was weniger tief liegt, erklären. Hass zum Beispiel kann bestimmte seelische Gefühle erklären. Ist die Behauptung, die Liebe liege tiefer als die Gefühle, in denen sie sich äußert, nicht bloß ein Bild?11 Zweifelsohne. Kann man ohne das Bild auskommen? Wenn es eine Schichtung des emotionalen Lebens gibt, dann muss man zuerst erklären, was es heißt, zu verschiedenen Schichten zu gehören. Scheler betrachtet deswegen das Phänomen der Koexistenz von positiven und negativen Emotionen zum selben Zeitpunkt. Nichts ist leichter vorstellbar als jemand, der gleichzeitig verzweifelt ist, jemanden (geistig) bewundert, (seelisch) unglücklich über eine Nachricht, aber (vital) froh ist und dabei noch (ein wenig) an Schmerzen in seinem linken Fuß leidet. Seine positiven Gefühle vermischen sich nicht, noch verschmelzen seine negativen Gefühle miteinander. Ein paar negative (oder positive) Gefühle, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht vermischen, gehören verschiedenen Schichten an. Ein paar negative (oder positive) Gefühle, die sich zu einem Zeitpunkt zu einem Gefühl vermischen – man ist traurig und wehmütig – gehören zur selben Schicht (GW 2, 333f.). Ähnlich argumentiert Scheler auch für drei verschiedene Stufen der Liebe: Wir vermögen einen Menschen z. B. tief zu lieben, ohne daß er uns doch eine ‚leidenschaftliche Zuneigung‘ einflößte, ja es kann uns gleichzeitig seine ganze vitale Erscheinung aufs Äußerste zurückstoßen. Ebenso kommt es vor, daß jemand eine starke Liebesleidenschaft […] für einen anderen hegt, ohne daß darum auch seine seelische Existenz, seine Art zu fühlen, seine geistigen Interessen […] Liebe einflößte (GW 7, 171).
Jede Gefühlsschicht ist entweder tiefer oder peripherer als eine andere Schicht. Was heißt das? Scheler erläutert dieses Verhältnis, indem er die Beziehungen der Gefühle zum Wollen heranzieht. Kein Gefühl ist dem Wollen in der Weise direkt unterworfen, wie z. B. Handbewegungen direkt dem Wollen unterworfen sein können. Aber Gefühle lassen sich mithilfe der Relation, mehr oder weniger indirekt dem Wollen unterworfen zu sein, ordnen. Die sinnlichen Gefühle sind am leichtesten lenkbar, während die Heilsgefühle der Seligkeit und der Verzweiflung „jeglicher Willensherrschaft entzogen“ sind; die vitalen Gefühle sind schwieriger zu kontrollieren als die sinnlichen Gefühle, aber leichter zu lenken als seelische Gefühle (GW 2, 338f.). Es gibt nicht nur mehr oder weniger tiefere Gefühlsschichten, sondern auch mehr oder weniger tiefe Befriedigungen, die mit dem mehr oder weniger vollen Fühlen von mehr oder weniger hohen Werten korrelieren _____________ 11
Vgl. Wittgenstein 1984, II, § 115.
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sollen. Diese Befriedigungen haben mit Lust nichts zu tun, obwohl Lust aus ihnen folgen kann (GW 2, 113, 336). Eine solche Befriedigung „ist von dem Erfüllungserlebnis z. B. bei der Realisierung des Gewünschten oder bei dem Eintreten eines Erwarteten noch verschieden, wie sehr dies auch Spezialfälle davon sind“ (GW 2, 113; vgl. 356). Die Akte der Liebe und des Hasses und die verschiedenen Gefühlsfamilien sind nicht zu verwechseln mit Affekten (GW 10, 373; zum Affektverlauf vgl. GW 4, 290), Leidenschaften (GW 10, 373; vgl. GW 2, 342), Trieben oder Instinkten. Zu den emotionalen Verhaltungsweisen gehören Antwortsreaktionen und spontane Akte (GW 2, 118) wie Liebe und Hass (GW 10, 369; GW 2, 264). Zu den Antwortsreaktionen zählen triebhafte wie Mut, Angst, Racheimpulse und Zorn (GW 2, 124) sowie die gefühlsmäßigen – vitales Sichfreuen und Sichbetrüben (GW 2, 124), seelische (und geistige?) Gefühle wie Freude über etwas, geistiges (und seelisches) Gefallen und Missfallen, Achtung und Missachtung, Vergeltungsstreben, geistige Sympathie, Billigung und Missbilligung (GW 2, 125). Billigung und Missbilligung sind Akte, in denen die Identität der Werte einer Werterkenntnis und eines auf die Realität von Werten gerichteten Eigen- oder Fremdwollens „zur unmittelbar anschaulichen Identifizierung kommt“ (GW 2, 149). Glaube, Unglaube, Ehrfurcht, Anbetung und analoge Haltungen sind Antwortsreaktionen auf die Werte des Heiligen (GW 2, 126). Antwortsreaktionen sind weder Akte (mit der Ausnahme von Billigung und Missbilligung) noch Funktionen. Wenn Gefühle Antworten auf (vermeintlich) gefühlte Werte sind, kann man zwischen berechtigten und unberechtigten Gefühlen unterscheiden, denn „Wertqualitäten fordern von sich aus gewisse Qualitäten […] emotionaler ‚Antwortsreaktionen‘“ (GW 2, 264). Es gibt z. B. berechtigten und unberechtigten Enthusiasmus, (un)berechtigte Entrüstung (GW 2, 182) und (un)berechtigte Ruhmliebe (GW 2, 555). Allerdings gibt es nach Scheler keine (un)berechtigte Liebe, da die Liebe für ihn keine Reaktion auf Werte ist (GW 7, 151f.; vgl. dagegen GW 2, 544; GW 10, 367f.). Eine der wichtigsten Thesen Schelers zur Struktur des emotionalen Lebens betrifft eine Abhängigkeit zwischen der Gesinnung einer Person – Wertfühlen, apriorisches Vorziehen, Liebe, Hass, Wollen – und ihren episodischen Gefühlen und Affekten. Aus dieser Abhängigkeit folgert er eine kognitive These: Die zuständlichen (wertblinden) Gefühle – die einfachsten dieser Vorgänge – sind in ihrem Auftreten und Vergehen ebensowohl von den Liebes- und Haßakten, als meist auch von den Akten des Strebens und Wollens abhängig, nicht aber
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ebenso unmittelbar und direkt von den Vorstellungen und ihren Gegenständen. Sie zeigen stets an, welches Verhältnis zwischen den in Liebes- und Haßakten intendierten Wert- und Unwertqualitäten und der (nur innerseelischen oder realen) Verwirklichung dieser Werte durch das Streben und seine Arten je besteht (GW 10, 370f.; vgl. GW 2, 357).
3. Gefühlserkenntnisse Wie weiß man, wie einem oder einem anderen zumute ist? Wie weiß Sam, dass Maria leidet, dass sie Schmerzen hat oder dass sie liebt? Wie weiß Sam, dass er leidet, Schmerzen hat oder liebt? Scheler stellt und beantwortet solche Fragen im Rahmen seiner Lehre der Gefühlswahrnehmung. Diese zeichnet sich durch fünf Eigentümlichkeiten aus, die mit fünf bekannten Voraussetzungen brechen: Erstens genießt die Selbstwahrnehmung keinen privilegierten Status gegenüber der Fremdwahrnehmung. Zweitens nimmt Scheler eine innere Selbst- und Fremdwahrnehmung an. Drittens gibt es eine direkte Gefühlswahrnehmung. Viertens wird der epistemische Zugang zu Schmerzen, Leiden und Liebe unterschiedlich behandelt. Schließlich hat die Lehre zudem eine soziologische Dimension. Wie erkennt Sam, dass Maria leidet? Falls Marias Leiden ein seelisches Gefühl ist, gehört es zu den Erlebnissen, die sich automatisch ausdrücken. Zwischen den Qualitäten von seelischen Erlebnissen und den Qualitäten von Ausdrucksphänomenen, die immer in einem Ausdrucksfeld vorkommen, gibt es innere, symbolische Beziehungen. Diese symbolischen Beziehungen sind also nicht äußere Beziehungen des Anzeigens. Ausdrucksphänomene sind nicht Anzeichen oder, wie man später sagen wird, „Symptome“ (GW 7, 21f.; vgl. GW 8, 279) von inneren Zuständen. Zu den Ausdrucksphänomenen gehört auch das Verhalten: „[E]s gibt kein Innerseelisches, das sich nicht im Verhalten unmittelbar oder mittelbar ‚ausdrückt‘“ (GW 9, 17). Wenn Sam solche symbolischen Beziehungen versteht, also nicht aufgrund von Anzeichen auf Marias Leiden schließt, wird er die Qualität ihres Leidens nachfühlen können. Was heißt also „nachfühlen“ – dieses schwer übersetzbare deutsche Wort? Betrachten wir zuerst eine nicht unplausible These Schelers zur Rolle von Nachfühlen und Nachstreben in den von Reinach so genannten „sozialen Akten“ des Versprechens, Befehlens und Fragens sowie in der Kundgabe von Wünschen. Nach Reinach sind soziale Akte „vernehmungsbedürftig“; ohne das, was Austin später uptake nennt, kommen sie nicht zustande. Worin aber besteht dieses Vernehmen? Handelt es sich
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dabei bloß um ein Wortverständnis? Durch eine Äußerung der Form „Ich befehle dir, …“ gebe ich unmittelbar meinen Willen kund. Kundgabe ist aber nicht einfach Ausdruckgeben, denn Befehlen ist ein willkürlicher Akt. Wer befiehlt, will den Willen des anderen bewegen, sein Streben bestimmen: Und nicht ein Akt gegenständlicher Auffassung meines Wünschens, Strebens ist es, der dieses Bewegen und Bestimmen des fremden Wollens vermittelt, sondern ein unmittelbares ‚Nachfühlen‘ und ‚Nachstreben‘, das sich unmittelbar auf das Wortverständnis der Kundgabe aufbaut. (GW 2, 179)
Das Steuern von anderen im Zusammenhang von willkürlichen Wunschäußerungen und sozialen Akten kommt also durch Nachfühlen und Nachstreben zustande. Scheler führt das Nachfühlen eines Gefühls mit einem Vergleich ein: „Die Gegebenheit eines fremden Gefühls ist hier ganz analog der Gegebenheit, die z. B. eine Landschaft hat, die wir im Erinnerungsbewußtsein subjektiv ‚sehen‘, […] [D]as Vergangene ist nur ‚vergegenwärtigt‘“ (GW 7, 20). Das Nachfühlen gehört zur selben Familie wie Nacherleben und Nachleben. Es gehört „zur Sphäre des erkennenden Verhaltens“ und ist eine Art Fühlen (GW 7, 20). Scheler spricht in diesem Zusammenhang auch von Erfassen, Auffassen, innerer Wahrnehmung, Verstehen, „nachfühlendem Verstehen“ (GW 7, 19–23) und von einem „erkennenden, verstehenden Nachfühlen“ (GW 7, 63). Wenn Sam Marias Leiden nachfühlt, ist das nachgefühlte Gefühl intentional gerichtet auf einen Unwertverhalt (GW 7, 68). Unklar bleibt, ob Sam Marias Wertfühlen auch nachfühlt. Was Sam nachfühlt, ist die Qualität von Marias Leiden. Die Qualität von Marias Leiden ist aber nicht mit ihrem Leiden identisch (obwohl Scheler manchmal seine eigene Unterscheidung vergisst). Worin unterscheidet sich das Leiden von der Qualität des Leidens? Will Scheler nur darauf hinweisen, dass „x drückt y aus“ „es gibt einen y der x ausdrückt“ nicht impliziert, dass Marias Gesicht selbst dann Leiden ausdrücken kann, wenn sie nicht leidet? Seine Unterscheidung reicht noch weiter und geht dahin, dass Nachfühlen höchstens die Qualität, nicht aber die Realität eines Gefühls erschließt. (So können wir ja z. B. die Qualitäten der Leiden und Freuden von Romanpersonen nachfühlen.) Erst das Mitgefühl soll Sam die Realität von Marias Leiden erschließen (GW 7, 107). Widerspricht dies aber nicht Schelers wichtiger Einsicht, dass Mitgefühl eine Wahrnehmung des Mitgefühlten voraussetzt? Nein, denn Scheler unterscheidet ein Mitgefühl, das auf „einzelne reale Gefühle und Wertnehmungen der Mit-Wesen gerichtet ist“ von einem Mitgefühl, das auf „echte Washeit von Werten und Gefühlen“ gerichtet ist (GW 7, 69). „Erst die im Mitgefühl erfolgende
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Erfassung der Gleichwertigkeit des Menschen als Menschen“ hat zur Folge, dass Maria und ihre Leiden Realität und nicht bloß „schattenhaftes Dasein“ haben (GW 7, 70f.; vgl. 107, 20, 229).12 Wie erkennt Sam, dass Maria liebt? Marias Liebe ist ein geistiger „Akt“ oder eine geistige Tendenz, nicht ein seelisches Gefühl. Sie kann also laut Scheler von Sam nicht nachgefühlt werden, obwohl er die seelischen Gefühle, die Marias Liebe begleiten, nachfühlen kann. Nur Gegenstände können demnach wahrgenommen und nachgefühlt werden, das Geistige hingegen ist nicht gegenstandsfähig. Scheler, der ständig das Geistige beschreibt, ist offenbar der Meinung, das Geistige könne nicht gegeben werden; davon gibt es kein knowledge by acquaintance (Russell). Sams Zugang zum Sosein der Liebe Marias und des Gegenstandes dieser Liebe besteht ausschließlich im Verstehen. Sein Zugang zum Dasein ihrer Liebe besteht ausschließlich im Mitlieben (GW 7, 219f., GW 2, 386). Warum die unterschiedliche Behandlung von seelischen Gefühlen und Liebe? Seelische Gefühle drücken sich spontan aus. Auch wenn ihr Ausdruck kontrolliert – vielleicht unterdrückt – wird, wird etwas ausgedrückt. Geistige Akte wie Liebe und Wollen können verschwiegen werden. Es liegt im „freien Ermessen“ einer Person „sich vernehmbar zu machen und sich zu erkennen zu geben – oder nicht“ (GW 7, 220; vgl. 110). Dieses Schweigen ist nach Scheler nicht zu verwechseln mit dem Unterdrücken von Ausdrücken. Doch auch hier, wie im Falle von seelischen Gefühlen, wird zwischen Dasein und Sosein unterschieden (GW 5, 331f.; vgl. GW 10, 186).13 Beim Verstehen der inneren, symbolischen Beziehungen zwischen den Qualitäten seelischer Erlebnisse und den Qualitäten von Ausdrucksphänomenen, Beziehungen, die für die direkte Wahrnehmung von seelischen Erlebnissen konstitutiv sind, gibt es eine größere oder geringere „(In)adäquatheit von Erlebnis und Ausdruck“. Es gibt eine automatische bedingte oder willkürliche „Trennung“ des „symbolischen Zusammenhangs“, die wahrgenommen werden kann (GW 7, 254; vgl. 233). So kann ich z. B. wahrnehmen, dass jemand zu fühlen nur vorgibt, was er gar nicht fühlt, daß er das mir bekannte Band zwischen seinem Erleben und dessen ‚natürlichem‘ Ausdruck zerreißt und eine andere Ausdrucksbewegung an die Stelle setzt, wo sein Erleben ein bestimmtes Aus-
_____________ Diese These hat weitreichende Konsequenzen für Schelers These, dass Mitgefühl das Fühlen voraussetzt (GW 7, 17–159); vgl. Michalski 1997; Mulligan 2008a. 13 Vgl. Wittgenstein 1984, II, § 568; I, § 928. 12
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drucksphänomen fordert. So vermag ich sein Lügen […] unmittelbar […] selbst wahrzunehmen (GW 7, 255).
Scheler könnte Wittgenstein zustimmen, wenn dieser schreibt: „Ich kann den echten Blick der Liebe erkennen, ihn vom verstellten unterscheiden“14 – allerdings nur, wenn es sich dabei um vitale, nicht um geistige Liebe handelt (vgl. aber GW 2, 133). Scheler meint auch, wie Wittgenstein, dass ein Bericht wie „Ich merkte, er war verstimmt.“ ein Bericht über ein Benehmen und einen Seelenzustand sei, aber „nicht im Nebeneinander, sondern vom einen durch das andere“15: „Sicher ist es wohl, daß wir im Lächeln die Freude, in den Tränen das Leid […] des anderen, in seinem Erröten seine Scham […] direkt zu haben vermeinen (GW 7, 254; vgl. 21).“ Wie weiß Sam, dass Maria Schmerzen hat? Er kann ihre in ihrem linken Fuß lokalisierte Schmerzen nicht nachfühlen, wohl aber ihr Leiden daran. Ihre Gefühlsempfindungen kann er höchstens „reproduzieren“ (GW 7, 249; vgl. 59; GW 2, 111; GW 2, 247). Wie weiß Sam, dass er leidet? Seine Selbstwahrnehmung der eigenen leiblichen und seelischen Gefühle kommt auf dieselbe Art und Weise zustande wie seine innere Wahrnehmung von Marias Leiden: „Ein Eigenerlebnis kommt zu gesonderter Wahrnehmung erst in dem Maße, als es sich in Bewegungsintentionen und (zum mindesten) in Ausdruckstendenzen entlädt“ (GW 7 245; vgl. 246). Jeder kann „das Erleben der Mitmenschen genau so unmittelbar (und mittelbar) erfassen […] wie sein eigenes“ (GW 7, 250). Scheler könnte Wittgenstein zustimmen, wenn dieser schreibt, die Sicherheit der ersten und die Unsicherheit der dritten Person seien nur scheinbar.16 Wie weiß Sam, dass er Schmerzen hat? Wie wir oben gesehen haben, kann Sam seine Schmerzen fühlen, aber ein solches Fühlen hat nach Scheler keine kognitive Funktion. Vielleicht kann Sam die Qualität des eigenen Schmerzes nachfühlen. Es ist unklar, ob Sam wissen kann, dass er Schmerzen hat, wenn man ihm das nicht erzählt. Aufgrund des Fühlens seiner Schmerzen kann er diese jedoch sprachlich äußern oder kundgeben. Wie weiß Sam, dass er liebt? Er verhält sich zu seiner Liebe – seiner Selbst- oder Fremdliebe – genauso, wie er sich zu Marias Selbst- oder Fremdliebe verhält. Er versteht die eigene Liebe, indem er mitliebt (GW 7, 168f., 220; GW 2, 470; vgl. dagegen GW 2, 483). Dieses geistige Mitlieben _____________ 14 15 16
Wittgenstein 1982, 472, III § 937; vgl. auch Wittgenstein 1971, II, xi, 365–367. Wittgenstein 1971, II, v, 285. Wittgenstein 1982, 473, III § 951.
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kann kein reaktives Mitgefühl sein, da man nach Scheler nicht mit sich mitfühlen kann (GW 7, 153; vgl. dagegen GW 9, 272). Glücklicherweise ist Sam nicht ganz auf sich selbst angewiesen. Indem Maria mit Sams Liebe mitliebt, kann sie ihm zu einem Verständnis seiner Liebe verhelfen (GW 2, 483, 327). Viele Philosophen meinen, man müsse sich ein für allemal für eine der folgenden Ansichten über die Fremdwahrnehmung entscheiden: Entweder ist die Fremdwahrnehmung eine Art Einfühlung oder eine Art Schluss oder eine direkte Wahrnehmung oder eine Simulation. Diese Voraussetzung teilt Scheler nicht, und zwar deswegen, weil eine Philosophie der Fremdwahrnehmung, die nicht zu einer Sozialphilosophie gehört, zu einer einseitigen Diät und damit zu Vereinfachungen verurteilt ist. Laut Scheler funktioniert die direkte Wahrnehmung von seelischen Gefühlen durch das Nachfühlen auf der soziologischen Ebene der Gemeinschaft, in der grundloses Vertrauen herrscht. Es gibt aber auch eine Fremdwahrnehmung, die nicht ohne Schlüsse und Analogien auskommt. Eine solche Fremdwahrnehmung ist vor allem auf der soziologischen Ebene der Gesellschaft anzutreffen, in der grundloses Misstrauen an der Tagesordnung ist. Schließlich ist die Lipps’sche Theorie der Fremdwahrnehmung als Einfühlung auf der soziologischen Ebene der Masse, die durch Gefühlsansteckung zusammengehalten wird, „annähernd richtig“ (GW 7, 216). Das Nachfühlen ist nicht zu verwechseln mit dem vorgestellten Nachfühlen und Gefühle sind nicht zu verwechseln mit vorgestellten Gefühlen: „Denn ein nie erlebtes seelisches Gefühl kann ich mir gefühlsmäßig vor die Seele führen, kann ein nie faktisch so Gefühltes (phantasiemäßig) durchfühlen“ (GW 2, 336f.). Scheler ist also mit Husserl und Meinong einverstanden, die für die Kategorie der Fantasiegefühle plädierten. Es gibt „eine Phantastik des Fühlens selbst, die nicht erst in der Phantastik des Vorstellungslebens als Lebens in ‚Bildern‘ erwacht, sondern ursprünglich ist und jenes häufig erst führt. Das ist z. B. gegeben, wo wir spielend noch nie tatsächlich erlebte Gefühle ‚durchfühlen‘ und kombinieren“ (GW 3, 266). Diese Unterscheidung zwischen Gefühlen und ihren fantasiemäßigen Gegenstücken, den „als-ob-Gefühlen“, spielt eine wichtige Rolle in Schelers nie ausgearbeiteter Lehre der Gefühlsillusionen und wirft Fragen nach der Stabilität vieler seiner Unterscheidungen auf. An einer Stelle behauptet er, wie wir gesehen haben, dass die Qualitäten der Leiden und Freuden von Romanpersonen nachgefühlt werden können (GW 7, 107). An anderer Stelle sagt er aber auch, dass ein fantasiemäßiges Durchfühlen zum Verständnis eines Romans gehört (GW 2, 337). Doch wenn ernstes Nach-
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fühlen eine kognitive Funktion haben soll, muss es sich von fantasiemäßigem Durchfühlen unterscheiden. Scheler behauptet, dass es in der emotionalen Sphäre echte Analogien zu Vorstellung, Erinnerung und Erwartung gebe (GW 2, 336). Im Gegensatz zu Vorstellungen sind Erinnerungen aber Erkenntnisse. Scheler meint, ich könne mich „heiteren Sinnes“ „großer Schmerzen und tiefer Trauer ‚erinnern‘, indem ich diese Gefühle ‚vorstellig‘ fühle“ (GW 3, 266). Unklar bleibt dabei, wie aus einer Fantasie eine Erkenntnis werden soll. Solange die kognitive Natur des ernsten Nachfühlens unklar bleibt, bleibt auch unklar, was man von Schelers Einwand gegen die Einfühlungstheorie von Lipps halten soll, demzufolge die Einfühlung keine Kenntnisnahme der seelischen Fremdgefühle sei (GW 7, 235–238). Unklar bleibt auch die Beziehung zwischen der Theorie des Nachfühlens und (älteren und gegenwärtigen) Theorien der Fremdwahrnehmung, die Simulation und make-believe-Gefühle miteinbeziehen. Ähnlich unklar ist das Verhältnis zwischen dem oben erwähnten Wertvorfühlen und der Fantasie. Scheler verwendet oft die Kategorie der Gefühlsillusionen (GW 10, 401; GW 7, 153), die er mithilfe der Kategorie des vorstelligen Fühlens beschreibt. Wir unterscheiden, wie er schreibt, ‚wirkliche‘ Freundschaft von ‚eingebildeter‘, ‚echte‘ Gefühle von ‚unechten‘, […]; ferner die wahren und wirklichen Motive unseres Tuns von den eingebildeten Motiven, die um ihres moralischen Wertvorzuges wir zu haben bloß wähnen. Wirklichkeit wie Echtheit bewähren sich eben erst im Standhalten gegen Versuche, die, vom bewußten Wollen und der willkürlichen Aufmerksamkeit ausgehend, das Erlebnis auszuschalten oder es umzuändern versuchen […] [H]andelt ein Mensch zum Beispiel nicht auch freundlich gegen einen, den er zu lieben behauptet, so werden wir im gemeinen Leben zunächst die ‚Wirklichkeit‘ und ‚Echtheit‘ dieses Gefühls bestreiten. Es ist durchaus festzuhalten daran, dass es neben den realen Gefühlen, […] auch Gefühlsphantasien gibt, neben den realen Wollungen auch Scheinwollungen, die man wirklich gar nicht will, neben den wirklichen Motiven auch Scheinmotive. (GW 9, 213f.)
Auch wenn das vorstellige Fühlen für die Gefühlsillusionen notwendig ist, kann es nicht hinreichend sein. Scheler deutet an, dass Gefühlsillusionen Fantasiegefühle sind, die man für wirkliche Gefühle hält: „So halten wir in der ‚Sentimentalität‘ bloß vorstellig gefühlte Gefühle für wirkliche und reale“ (GW 3, 247).17 Scheler baut seine Analyse der Illusion (im Gegensatz zu seiner Analyse der Täuschung und des Irrtums) nicht weiter aus und es bleibt unklar, wie die Analyse der emotionalen Illusionen als vorstellig gefühlte _____________ 17
Vgl. Mulligan 2008.
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Gefühle, die für wirkliche gehalten werden, sich zur Theorie der Werttäuschungen verhalten soll. Wie wir bereits gesehen haben, gibt es neben Gefühlserkenntnissen, Gefühlstäuschungen und Gefühlsillusionen auch Wertfühlen und Werttäuschungen. Doch worin besteht eine Werttäuschung? Aus Schelers Lehre von Täuschung geht hervor, dass dem Wert-Getäuschten – z. B. für den Ressentimentmenschen, der das Wertvolle für wertlos hält – das Wertvolle nicht verloren ist; die positiven Werte sind überdeckt von den Täuschungswerten, durch die sie nur schwach, gleichsam ‚transparent‘ hindurchscheinen. Diese ‚Transparenz‘ der wahren, objektiven Werte durch die Scheinwerte hindurch, welche die Ressentimentsillusion ihnen entgegensetzt, dieses dunkle Bewußtsein, in einer unechten Scheinwelt zu leben, ohne Macht, durch sie hindurchzudringen und zu sehen, was ist, bleibt ein unaufhebbares Bestandstück des ganzen Erlebniszusammenhangs. (GW 3, 51)
Auf die Frage aber, wie Illusionen sich zu Täuschungen verhalten, gibt Scheler keine Antwort. Schelers Lehre der Gefühlserkenntnisse, die einen Teil seiner Lehre der Erkenntnis vom Eigen- und Fremdpsychischen darstellt, lässt sich mithilfe einer zusammenfassenden Bemerkung Wittgensteins zusammenfassen: „Wenn man aber sagt: ‚Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‘, so sage ich: ‚Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen‘.“18 Wenn „meint“ hier soviel wie „urteilt“ bedeutet, oder wenn „meint“ durch „leidet“ ersetzt wird, ergibt sich daraus je eine schelersche These, da ja Leiden und Urteilen keine geistigen Akte sein sollen. Das Meinen selber ist nach Scheler ein geistiger Akt und somit nicht gegenstandsfähig. Sams Zugang zu Marias Meinen, dass p, besteht in seinem Mitvollziehen ihres Meinens, in seinem Mitmeinen oder Miterfassen des Sachverhalts, dass p (GW 3, 179; vgl. GW 2, 471; GW 10, 404). Was psychisch ist, muss hingegen ein öffentlicher und reidentifizierbarer Gegenstand sein – dies meinen sowohl Wittgenstein als auch Scheler (GW 7, 217; GW 10, 387, 393). Laut Scheler gibt es allerdings private Entitäten, und zwar sinnliche Gefühle, die keine psychischen Phänomene sind.
_____________ 18
Wittgenstein 1971, § 504.
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4. Beurteilung Schelers Gefühlsanalysen zeichnen sich, wie seine sonstige Philosophie, durch eine merkwürdige Kombination aus scharfen (ein Lieblingswort Schelers), einleuchtenden Unterscheidungen und Argumenten einerseits und aus Schlamperei und ungehemmten Spekulationen andererseits aus. In seinen Schriften offenbart sich die kommende Katastrophe der Phänomenologie, aber auch und noch viel mehr, was sie in ihren brillanten, realistischen Anfängen war. Diese Kombination ist oft bemerkt worden. Stumpf, der Altmeister der Gefühlspsychologie, meint zu Schelers Ausführungen über Sympathie, sie seien zwar „in vielen Punkten sachlich wohlbegründet“, aber zum Teil „für eine naturwissenschaftlich orientierte Erkenntnistheorie unannehmbar“, erinnerten an Plotin und gehörten den „der Psychologie abgewandten romantisch-mystischen Kreisen der heutigen Philosophie“19 an.20
Literatur Schelers Schriften werden nach der Ausgabe seiner Gesammelten Werke zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendete Sigle ist: GW. Alle Nachweise erfolgen am Ort durch Angabe des Bandes und der Seitenzahlen. Bollnow, Otto Friedrich (1947), Die Ehrfurcht, Frankfurt a. M. Diederichs, Nicolaas (1930), Vom Leiden und Dulden, Berlin. Ehrenfels, Christian von (1982), Werttheorie, Philosophische Schriften 1, hrsg. von R. Fabian, München. Ehrl, Gerhard (2001), Schelers Wertphilosophie im Kontext seines offenen Systems, Neuried. Katz, David (1932), Hunger und Appetit. Untersuchungen zur medizinischen Psychologie, Leipzig. Landweer, Hilge (1999), Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen. Michalski, Mark (1997), Fremdwahrnehmung und Mitsein. Zur Grundlegung der Sozialphilosophie im Denken Max Schelers und Martin Heideggers, Bonn. Mulligan, Kevin (2006), Geist (and Gemüt) vs Life – Max Scheler and Robert Musil, in: R. Calcaterra (Hg.), Le Ragioni del Conoscere e dell’Agire. Scritti in onore di Rosaria Egidi, Milano, 366–378. – (2008), Was sind und was sollen die unechten Gefühle?, in: Ursula Amrein (Hg.), Das Authentische. Zur Konstruktion von Wahrheit in der säkularen Welt, Zürich. – (2008a) Selbstliebe, Sympathie usw., in: Kevin Mulligan/A. Westerhoff (Hg.), Robert Musil – Ironie, Satire und falsche Gefühle, Paderborn.
_____________ 19 20
Stumpf 1939, I, 371; vgl. 199. Mein Dank geht an Ingrid Vendrell Ferran, Anita Konzelmann, Reinhild Mulligan und Ursula Renz für Hilfe und Kritik.
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Ranulf, Svend (1938), Moral Indignation and Middle Class Psychology. A Sociological Study, Copenhagen. Reinach, Adolf (1989), Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in 2 Bänden, hrsg. von Karl Schuhmann/Barry Smith, München. Rutishauser, Bruno (1969), Max Schelers Phänomenologie des Fühlens. Eine kritische Untersuchung seiner Analyse von Scham und Schamgefühl, Bern. Scheler, Max (1954–1985; 1985ff.), Gesammelte Werke, hrsg. von Maria Scheler und Manfred S. Frings, 15 Bde, Bern, dann Bonn (=GW). Shand, Alexander (1914), The Foundations of Character, London. Stumpf, Carl (1939), Erkenntnislehre, 2 Bde, Leipzig. Vendrell Ferran, Íngrid (2008), Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin. Wittgenstein, Ludwig (1967), Zettel, hrsg. von E. Anscombe, Oxford. – (1971), Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. – (1982), Wittgenstein’s Lectures, Cambridge 1932–1935, hrsg. von A. Ambrose, Oxford. – (1984), Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Frankfurt a. M.
Ludwig Wittgenstein (1889–1951)
Wittgenstein: Das Sprachspiel der Emotionen Gunter Gebauer und Anna Stuhldreher Ludwig Wittgenstein nimmt innerhalb der Debatte um die Emotionen eine Sonderstellung ein. Sein Interesse scheint ausschließlich von Kritik bestimmt zu sein: Kritik zum einen im Kant’schen Sinn, insofern er nach den Bedingungen der Möglichkeit fragt, unter denen Emotionen Gegenstand von vernünftiger Reflexion sein können. Seine Antwort enthält zum anderen eine Kritik im Sinne eines destruktiven Wegräumens aller Theorien über Emotionen, die aus dem Rahmen fallen, der von diesen Bedingungen gezogen wird. Mit dieser scharfen Argumentation gibt Wittgenstein der philosophischen Diskussion über Emotionen eine dramatische Wende: Allen Theorien, die Methoden der unmittelbaren Erfassung von inneren Zuständen, Ereignissen und Vorstellungen einsetzen, wird durchweg die Grundlage entzogen. Ein sinnvolles Sprechen über wirkliche, d. h. vom sprechenden Subjekt erfahrene, gefühlte Emotionen ist, wenn sein Argument stichhaltig ist, nicht möglich. Damit scheint er der Debatte über Emotionen keinen Raum mehr zu lassen. Aber wie weit reicht sein Argument? Worüber redet man, wenn man über eigene Emotionen spricht? Und worüber, wenn man sich auf die Emotionen anderer bezieht? Wer diese Fragen nur als Provokationen versteht – und sich darin mit großen Teilen der Wittgensteinforschung einig weiß –, übersieht die konstruktiven Anstrengungen, die sich in den Philosophischen Untersuchungen und in den Reflexionen der letzten Lebensjahre in großer Zahl finden. In diesen entwirft Wittgenstein das Konzept eines Sprachspiels über Empfindungen, das gewiss nicht hinter seine Kritik zurückfällt, aber doch einen Weg zeigt, wie über Emotionen sinnvoll gesprochen werden kann. Eine Beschäftigung mit Fragen der Emotionen findet sich erst im späteren Werk Wittgensteins. Während er in seiner ersten Philosophie, im Tractatus, psychischen Phänomenen keinen Platz einräumt, beginnt er sich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts der Philosophie der Psychologie zuzuwenden. Seine Reflexionen zu diesen Problemen lassen sich in zwei Phasen gliedern. In seinen Überlegungen bis 1939, die in dem von ihm
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vorbereiteten Manuskript von Teil I der Philosophischen Untersuchungen angeordnet sind, wendet er sich kritisch gegen die mentalistische Annahme von direkt erfassbaren innerpsychischen Phänomenen. Mit dem „Privatsprachenargument“ entwickelt er eine scharfe Kritik an der Vorstellung, Empfindungen könnten vom fühlenden Subjekt in innerer Erfahrung erkannt und mithilfe von Begriffen beschrieben werden. In den letzen Lebensjahren nimmt er das Problem der Überwindung des Innen-AußenDualismus wieder auf, nun aber in stärker konstruktiver Absicht. Seine Überlegungen aus den Jahren 1947 bis 1949 befassen sich mit Problemen psychologischer Begriffe und ihrer Verwendung in der Sprache. Sie wurden postum unter dem Titel Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie und Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie veröffentlicht. Immer wieder verweist Wittgenstein dort auf William James, einen der Begründer des Pragmatismus. In unserer Darstellung von Wittgensteins Reflexionen zu philosophischen Problemen der Emotionen folgen wir der Entwicklung seines Denkens. Nach einer kurzen Einführung in die Methode seines Philosophierens werden wir seine Argumentation gegen die Möglichkeit einer privaten Sprache darstellen. Es scheint sich dabei zwar nur um ein einfaches Argument zu handeln; tatsächlich aber ist es eine komplexe Folge verschiedenster Überlegungen, deren Richtung und Reichweite in der Philosophiegeschichte außerordentlich umstritten ist. Die in diesem Kontext gestellten Fragen des Regelfolgens, des philosophischen Skeptizismus, des Leib-Seele-Dualismus usw. werden wir nicht einmal streifen können. Unsere Darstellung wird sich weitgehend auf die Kritik der Introspektion beschränken, die für Wittgensteins Konzept der Emotion bedeutsam ist. Der zweite Teil unserer Ausführungen wird sich mit seinen letzten Schriften befassen. Auch hier ist eine Vorbemerkung angebracht: Wittgensteins Überlegungen haben keinen systematischen Charakter; sie sind in der Reihenfolge veröffentlicht, die sich in seinen Notizbüchern vorfindet, und das heißt, mit vielen Überschneidungen und Wiederholungen, ohne Zentrum, von dem aus die Notizen organisiert sind. Hier sind wir darauf verwiesen, selbständig eine gedankliche Ordnung und Abfolge der Reflexionen herzustellen.
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1. Wittgensteins Methode: Die übersichtliche Darstellung Um Wittgensteins philosophische Konzeption von Emotionen verständlich zu machen, muss zunächst sein methodologisches Vorgehen erläutert werden, das sich von jenem der Emotionstheorien stark unterscheidet. In den Jahren 1930/31 entwickelt Wittgenstein eine philosophische Methode, die von Goethes Morphologie beeinflusst ist. Es geht in dieser nicht um eine Suche nach Ursprüngen und kausalen Verbindungen, sondern um die Beschreibung des Gegebenen. Nichts soll hinter den Phänomenen vermutet werden; Goethe ist der Meinung, ,,daß alles was sey sich auch andeuten und zeigen müsse“.1 Mit der morphologischen Methode will Goethe eine Wissenschaft begründen, die zu den Naturwissenschaften gehört, aber keinen erklärenden, sondern darstellenden Charakter hat. Goethe will nicht verallgemeinern und Theorien aufstellen, sondern den einzelnen Fall als Glied einer Kette von aneinandergereihten Phänomenen beschreiben.2 Auch Wittgensteins philosophische Methode zielt darauf, Tatbestände zu beschreiben und übersichtlich darzustellen. Grundgedanke seiner Konzeption der ,,übersichtlichen Darstellung“ ist, dass mit deren Hilfe ,,Zwischenglieder“ der Sprachgebräuche gefunden werden sollen, so dass es möglich wird, die Vielfalt der Sprache zu erfassen und gleichzeitig ihre innere Ordnung zu überblicken (GB 45f.). Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘. Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern. (PU § 122)
Gegenstand von Wittgensteins Untersuchungen ist die menschliche Sprache und ihre Grammatik, nicht die Wirklichkeit psychologischer Erscheinungen selbst. Ähnlichkeiten und Unterschiede der psychologischen Begriffe sollen herausgearbeitet werden (PU § 655); mithilfe einer übersichtlichen Darstellung sollen jene philosophischen Probleme gelöst werden, die durch Verwirrungen des Sprachgebrauchs zustande kommen. Von der „Oberflächengrammatik“ wird eine Gleichheit der Begriffsverwendungen vorgetäuscht. Die tatsächlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Begriffen sind hingegen in der ,,Tiefengrammatik“ zu erkennen. So verwenden wir die Ausdrücke ,,ich glaube“, ,,ich weiß“ und ,,ich sehe“ auf die gleiche Weise, ohne uns der Unterschiede hinsichtlich ihrer Funktion im _____________ 1 2
Siehe Goethe 1993, § 2.70.1, 205. Vgl. ebd., § 1.295, 46.
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menschlichen Leben und ihres Verflochtenseins mit kulturellen, sozialen und individuellen Umständen bewusst zu sein (PU § 664; BPP I, § 494), obwohl es sich um jeweils verschiedene Sprachspiele handelt. Das Charakteristische psychologischer Ausdrücke ist, dass sie auf vollkommen andere Weise gebraucht werden als wissenschaftliche Begriffe. Im Gegensatz zu beispielsweise physikalischen und chemischen Begriffen, die eigens für den wissenschaftlichen Gebrauch konstruiert werden, entspringen Ausdrücke wie ,,fühlen“, ,,denken“, ,,glauben“ oder ,,wissen“ einem alltäglichen Handeln und Sprechen. Sie sind daher viel stärker in den Kontext menschlicher Praxis eingebunden als wissenschaftliche Begriffe (BPP II, § 62). Wittgenstein geht es nicht um die Angabe allgemeiner Strukturen der Sprache und ihrer Verwendung, sondern um eine möglichst genaue Darstellung der unterschiedlichen Begriffe und ihrer Gebrauchsweisen. Die Beschreibung der Sprache mithilfe von übersichtlichen Darstellungen macht die Ähnlichkeiten, die zwischen einzelnen Sprachspielen bestehen, erkennbar; Wittgenstein nennt sie ,,Familienähnlichkeiten“. Mit diesem Konzept gibt er den Gedanken auf, dass Begriffe durch eine klar begrenzte Menge genau bestimmbarer Merkmale definiert werden können. An die Stelle von Wesensmerkmalen setzt Wittgenstein die Vorstellung von Ähnlichkeiten, die zwischen verschiedenen Erscheinungsformen des gleichen Sprachspiels bestehen. Die Ähnlichkeiten innerhalb derselben Familie können von Fall zu Fall unterschiedlich sein; in den meisten Fällen gibt es kein einzelnes Merkmal, das die Ähnlichkeiten zwischen allen Mitgliedern derselben Familie bestimmt: ,Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. – Und ich werde sagen: die Spiele bilden eine Familie. (PU § 67)
Mithilfe der übersichtlichen Darstellung will Wittgenstein die Probleme lösen, die durch das ,,Anrennen an die Grenze der Sprache“ (PU § 119), also durch eine philosophische Anstrengung, entstehen, die nach Lösungen außerhalb menschlicher Erkenntnismöglichkeiten sucht. Mit einem Bild ausgedrückt, will er mit seiner philosophischen Methode der ,,Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen“ (PU § 309). Durch sein behutsames philosophisches Vorgehen vermeidet er, eine neue Theorie der Emotionen aufzustellen, vielmehr gibt er Beschreibungen davon, wie diese in die Sprache aufgenommen und in dieser verwendet werden. Sein Vorhaben ist durchaus nicht anspruchslos; dies drückt sich in seiner
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Bemerkung aus, dass durch die Anwendung seiner Methode ,,eine ganze Wolke von Philosophie […] zu einem Tröpfchen Sprachlehre“ kondensiert (PU II, 565).
2. Wittgensteins Kritik: Das Privatsprachenargument Wittgensteins Beschreibungsprogramm entsteht nicht durch freiwilligen Verzicht auf die Kraft erklärender Theorien, sondern aus der theoretischen Einsicht, dass innerpsychische Ereignisse nicht durch direkte Introspektion kognitiv erfasst und sprachlich benannt werden können. Diese Überlegung entwickelt er in den Philosophischen Untersuchungen in einer begriffslogisch geführten Argumentation, im „Privatsprachenargument“. Mit diesem Argument weist er die Annahme zurück, dass es möglich sei, die Realität psychischen Geschehens unabhängig von der Sprache und von äußeren Ausdrucksformen oder Verhaltensweisen zu erkennen. Wenn eine solche Realität prinzipiell unerkennbar bleibt, ist es sinnlos, deren unabhängige Existenz zu postulieren. Mehr noch: Es ist systematisch irreführend, weiterhin an diesem Gedanken festzuhalten. Die private Sprache. Was Wittgenstein als „Privatsprache“ bezeichnet, ist eine fiktive Sprachauffassung, die es in der von ihm beschriebenen Form wohl nie gegeben hat. Zu den definierenden Merkmalen einer solchen Sprache gehört nach seinen Angaben, dass sie nur von einer Person verwendet werden kann. Es ist also nicht einmal vorstellbar, dass ein anderer als ihr Benutzer sie verstehen könnte. Mit dieser Definition wird ausgeschlossen, dass sich die Privatsprache auf objektiv beobachtbare Gegenstände bezieht; sie bezeichnet Objekte, die nur einer „unmittelbaren Erkenntnis“, einer Art „innerem Sinn“ oder „innerer Erfahrung“ zugänglich, die also selbst privat sind. Wenn das Subjekt beispielsweise seine Aufmerksamkeit auf einen Sinneseindruck richtet und diesen mit Bedeutung belegt, ist es die einzige Person, die diesen Akt einsehen kann. „Das Wesentliche am privaten Erlebnis ist eigentlich nicht, daß Jeder sein eigenes Exemplar besitzt, sondern daß keiner weiß, ob der andere auch dies hat, oder etwas anderes.“ (PU § 272) In der Privatsprache können nur solche Erfahrungen sprachlich ausgedrückt werden, die ausschließlich dem Sprecher selbst zugänglich sind. „Inwiefern sind meine Empfindungen privat? – Nun, nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der andere kann es nur vermuten.“ (PU § 246)
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So exzentrisch die Konzeption der Privatsprache auch klingen mag, enthält sie doch die grundsätzliche Annahme, die jede Geistphilosophie (im Sinne Wittgensteins) macht: Das Subjekt und nur dieses selbst kann sich bei seinem Empfinden, Denken und seinen bewussten Akten beobachten und diese aus der unmittelbaren Anschauung beurteilen. Einer Sprachregel kommen nach dieser Auffassung zwei Funktionen zu: Sie bringt regelhafte Handlungen hervor und übt während dieser Tätigkeit zugleich eine richterliche Funktion aus, die über richtig und falsch der Regelanwendung entscheidet. Auch diese Beurteilung geschieht im Innenraum des Geistes. Im Zentrum von Wittgensteins Diskussion steht also eine besondere Auffassung des Zusammenspiels von Sprachregel und Subjekt: Wenn die Regel fähig sein soll, innere Zustände und Vorgänge wie Empfindungen und Denken anzuleiten und zu beurteilen, befindet sie sich selbst im inneren Raum des Subjekts, in dessen Privatheit, wo sich diese abspielen. Sie bildet eine subjektive Repräsentation der für die Sprachgemeinschaft verbindlichen Regel. Ihre Anwendung geschieht selbst als ein privater Vorgang. In diesem Sinne verstanden, bedeutet „Regelfolgen“, dass man sich auf eine Instanz beruft, die selbst nicht mehr Teil des Sprachspielgeschehens ist, eine Behauptung, die auch weit weniger extreme philosophische Konzepte erheben. Von der Kritik an der Privatsprache würde also, wenn sie ihr Ziel erreichte und die Unmöglichkeit privater Akte generell nachweisen würde, das Konzept der Regel als einer privaten Repräsentation gleich in zweierlei Hinsicht getroffen werden: Zum einen würde sich zeigen, dass der Anwendungsbereich von Regeln nicht über das Sprachspiel hinaus ausgedehnt werden, dass es also keine Sprache über private Gegenstände geben kann. Zum zweiten würde diese Kritik die Konzeption der Regel als mentale Repräsentation treffen, denn diese ist ja nichts anderes als ein privates Objekt und ihre Anwendung ein innerer Vorgang. Wittgensteins argumentatives Vorgehen. Verfolgen wir Wittgensteins Vorgehen bei seiner Kritik der Privatsprache in seinen einzelnen Schritten. Als erstes ist zu prüfen, ob es möglich ist, außerhalb von Sprachspielen befindliche Entitäten zu erfassen. Nehmen wir an, es gebe solche privaten Objekte, wir könnten selbst ein solches in unserem Inneren spüren und würden jetzt versuchen, dieses sprachlich zu erfassen, indem wir es mit einem Namen versehen.
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„Stellen wir uns diesen Fall vor: Ich will über das Wiederkehren einer gewissen Empfindung ein Tagebuch führen. Dazu assoziiere ich sie mit dem Zeichen ‚E‘ und schreibe in einen Kalender zu jedem Tag, an dem ich die Empfindung habe, dieses Zeichen.“ Nur ich allein habe Zugang zu dieser Empfindung, das Zeichen „E“ bezeichnet einen eigenartigen Gegenstand. Die Definition von „E“ hat privaten Charakter: „Ich will zuerst bemerken, daß sich eine Definition des Zeichens nicht aussprechen läßt. – Aber ich kann sie doch mir selbst als eine Art hinweisende Definition geben! – Wie? kann ich auf die Empfindung zeigen? – Nicht im gewöhnlichen Sinne. Aber ich spreche, oder schreibe das Zeichen, und dabei konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf die Empfindung – zeige also gleichsam im Inneren auf sie […]. Dadurch präge ich mir die Verbindung des Zeichens mit der Empfindung ein.“ Bewirkt dieser Vorgang, daß ich mich in Zukunft „richtig an die Verbindung erinnere“? „Aber in unserem Fall habe ich ja kein Kriterium für die Richtigkeit. Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ‚richtig‘ nicht geredet werden kann.“ (PU § 258)
In meiner inneren Erfahrung sind das Richtige und alles, was ich nur für richtig halte, nicht voneinander unterscheidbar. „Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ‚privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“ (PU § 202) Der Fehler meines Vorgehens liegt darin, dass sich dieses ausschließlich in meinem Inneren, also außerhalb von Sprachspielen abspielt und in diesen selbst nicht erscheint. Man macht sich eine falsche Vorstellung von Empfindungen, wenn man sie für Gegenstände der inneren Erfahrung eines isolierten Subjekts hält. Wittgensteins Kritik der üblichen Auffassungen über die Empfindungssprache öffnet zugleich einen Weg, auf dem ein Sprechen über Empfindungen entworfen werden kann. In den Paragraphen über die Empfindungsausdrücke zeigt er, wie mithilfe von Kriterien über Gefühle gesprochen werden kann. Die Frage, wie Empfindungen selbst in Worte gefasst werden können, tritt hier noch nicht auf. In den Philosophischen Untersuchungen geht es Wittgenstein um eine Kritik der Behauptung, diese könnten direkt erfasst werden. Wenn man eine solche Möglichkeit annimmt, konstruiert man eine Grammatik, die Empfindungen in einen Raum außerhalb von Sprachspielen auslagert: in das Innere der Psyche, das nur der empfindenden Person selbst zugänglich ist. Was Wittgensteins Leser begreifen soll, ist die Falschheit der Vorstellung, die wir uns normalerweise von dem Verhältnis zwischen Innen und Außen machen. In seinem Denken nach 1939 richtet Wittgenstein seine Bemühungen darauf, große Gebiete des Subjektiven, insbesondere der Empfindungen und mentalen Vorgänge, in das Innere von Sprachspielen zu holen. Es geht
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ihm keineswegs darum, diese aus der Philosophie auszuschließen, sondern er will ihre Beiträge mithilfe ihrer Rolle in Sprachspielen begründen. Das Innen und das Außen. Das Besondere an den Sprachspielen über Empfindungen ist, dass äußere, von allen Teilnehmern einsehbare Merkmale auf innere Vorgänge oder Zustände bezogen werden. An objektiv erkennbaren Merkmalen zeigt sich das Innere von Personen; Wittgenstein nennt sie „Kriterien“. Die Mitspieler sehen die im Sprachspiel auftretenden Kriterien als den zeigenden Teil eines inneren Geschehens an. Was sich hingegen im Inneren der Personen tatsächlich abspielt, lässt sich weder im Sprachspiel noch von den Personen selbst sprachlich erfassen und kennzeichnen. Es ist für die Bedeutungsfunktion der Sprache ohne Belang. Offen bleibt die Frage, ob es nicht doch auf irgendeine und sei es auch auf eine diffuse Weise, in das Sprachspiel eintritt. Mit der Formulierung „was sich im Inneren tatsächlich abspielt“ wird auf die Vorstellung eines Inneren hingewiesen, dem ein autonomer Status und eine dinghafte Form der Existenz zugeschrieben wird. Nach Wittgensteins Argument ist das Innere des Subjekts jedoch ausschließlich im Inneren von Sprachspielen, also nicht in einer besonderen Seinsweise erfassbar. Mithilfe von Kriterien können spezielle Sprachspiele über Empfindungen, über innere Zustände und Vorgänge ausgebildet werden, die das Sprechen über diese strukturieren, erkennbar und beschreibbar machen. Kriterien bilden die öffentliche Seite von inneren Akten. Alle Versuche, diese zu strukturieren und zu gestalten, setzen bei diesen an und gehen nicht über sie hinaus. Die Sprachspiele über das Innere von Personen funktionieren nicht nach dem Modell des hinweisenden Lernens und der Bezeichnung von Gegenständen. „Aber Du wirst doch zugeben, daß ein Unterschied ist, zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen.“ – Zugeben? Welcher Unterschied könnte größer sein! – „Und doch gelangst Du immer wieder zu dem Ergebnis, die Empfindung selbst sei ein Nichts.“ – Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will.“ (PU § 304)
An diesem Zitat erkennt man, wie vorsichtig Wittgenstein vorgeht: Er hat nicht die Absicht, ein Modell des Psychischen zu konstruieren, sondern er will zeigen, dass, wenn man eine falsche Grammatik, jene der Denotation von Gegenständen, auf psychische Ereignisse anwendet, diese selbst für irrelevant erklären muss. Involviert in diesem Gedanken ist, dass Empfindungen tatsächlich nicht irrelevant sind; dies gilt aber nur unter der Vor-
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aussetzung, dass man die richtige Grammatik einsetzt. Wie diese beschaffen ist, stellt Wittgenstein erst in den Überlegungen seiner letzten Lebensjahre genauer dar. Neuartig am Konzept der Sprachspiele über Empfindungen ist, dass eine Klasse äußerer Merkmale, „Kriterien“, auf innere Vorgänge oder Zustände bezogen wird. Das Innere wird im Äußeren, in besonderen Sprachspielen, gleichsam aufgeführt. Es entsteht dabei ein in seinem Darstellungsaspekt eingeschränktes Sprachspiel: Es gibt darin nichts wie ein Ding, das vorgezeigt oder auf das Bezug genommen wird. Die Aufführung ist ein Sich-Zeigen anhand von Kriterien. Die Sprachgemeinschaft nimmt das Sprachspiel der Kriterien für die äußere Seite eines inneren Geschehens.
3. Überlegungen zur Philosophie der Psychologie Wittgenstein und William James. Bei Wittgensteins Überlegungen zur Philosophie der Psychologie in seiner letzten Lebensphase spielt die Lektüre der Schriften von William James eine wichtige Rolle.3 Mit James’ The Varieties of Religious experience und den Principles of Psychology hat er sich während seines ganzen wissenschaftlichen Lebens auseinandergesetzt. Nachdem sich Wittgenstein ab 1929 erneut der Philosophie zugewandt hat, beschäftigt er sich mit den Principles und entwirft in Auseinandersetzung mit diesen seine philosophischen Gedanken über Empfindungen und Emotionen. Allerdings zitiert er James meistens in kritischer Absicht. Eine genaue Lektüre der James’schen Schriften offenbart eine Reihe von Gemeinsamkeiten; sie zeigt, dass Wittgenstein in diesen nicht nur Anregungen zur Auseinandersetzung findet, sondern dass er Konzepte, Begriffe und Gedanken von James in seine eigene Philosophie aufnimmt. Von James übernimmt Wittgenstein den Gedanken, dass Emotionen mit ihrem Körperausdruck verknüpft sind. _____________ 3
Der James’sche Einfluss auf die Philosophie Wittgensteins wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass Wittgenstein ihn in den BPP neunmal erwähnt. Vgl. Goodman 2002, 3ff. Dieser Einfluss wird gerne übersehen. So behauptet Joachim Schulte zum Beispiel: ,,Doch so zahlreich die Anspielungen auf James auch sind, meines Erachtens hatte James keinen ‚Einfluß‘ auf Wittgenstein im eigentlichen Sinne des Wortes; er regte ihn an, lieferte ihm Beispiele und gefiel Wittgenstein wohl nicht zuletzt wegen seines eher erzählenden, untheoretischen Stils der Darstellung.“ (Vgl. Schulte 1987, 19)
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William James identifiziert die Emotion mit einem Gefühl der Körperveränderungen, das unmittelbar auf ein wahrgenommenes Objekt eintritt. Hierbei dreht er die übliche Auffassung von der Reihenfolge der Geschehnisse bei einem emotionalen Vorgang um und behauptet, dass die Emotion nicht auf das Objekt und darauf eine Reaktion wie Weinen oder Lachen, sondern dass der emotionale Ausdruck unmittelbar auf das Objekt erfolgt. Demnach lachen wir nicht, weil wir uns freuen, sondern wir freuen uns, weil wir lachen. Die Emotion ist gemäß dieser Theorie an die Existenz von Empfindungen und deren Körperausdrücke gebunden. Körperempfindungen werden als notwendige Bedingung für das Entstehen einer Emotion aufgefasst. Zentrales Moment der James’schen Theorie ist der Körperausdruck der Empfindung, der unmittelbar auf ein Objekt eintritt und die Emotion ausmacht.4 Das körperliche Emotionsverhalten bezeichnet James als ,,instinktive Reaktion“, die aller Erfahrung vorangeht. Instinktive Reaktionen können aufgrund ihrer Ursprünglichkeit nicht willentlich hervorgerufen werden.5 Vielmehr sind sie als Funktionen des Nervensystems Voraussetzung dafür, dass ein selbstbestimmtes und absichtliches Handeln überhaupt möglich ist. Erst nach dem wiederholten Erleben einer instinktiven Reaktion kann dieses Verhalten auch willentlich hervorgerufen werden. Körperliches Verhalten ist daher eine Bedingung der Möglichkeit von bewussten, mentalen Willensakten.6 Das James’sche Verständnis der Emotion als etwas, das durch Körperempfindungen und deren Ausdruck verursacht wird, veranlasst Wittgenstein zu einer ausführlichen Unterscheidung zwischen Empfindungen und Emotionen (BPP II, § 148). Im Gegensatz zu Empfindungen haben Emotionen einen zeitlichen Verlauf, aber keinen Ort. Zwar kann jemand sagen, wann und wie lange er traurig war, aber er kann keine Körperstelle für die Trauer angeben, während eine Schmerzempfindung durchaus lokalisierbar ist. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist, dass, während Empfindungen Informationen über die Außenwelt liefern, wie beispielsweise ein Geschmackserlebnis uns über das Vorhandensein einer schmackhaften Mahlzeit in Kenntnis setzt, Emotionen keine Hinweise auf diese geben. So kann ich zwar im Dunkeln von einer Tastempfindung auf einen Gegenstand schließen, nicht aber durch meine Angst. Eine Empfindung _____________ 4 5 6
Vgl. PP II, 442ff. Vgl. ebd., 383f. Vgl. ebd., 486ff.
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hat kein Objekt, auf das sie sich bezieht. Eine Emotion hingegen richtet sich auf ein Objekt, das nicht mit einer Ursache zu verwechseln ist. Im Gegensatz zu Empfindungen beeinflussen Emotionen das Denken. Das Charakteristischste an Emotionen ist, dass es spezifische Weisen gibt, sie auszudrücken. Diese Eigenschaft haben sie mit der Schmerzempfindung gemeinsam ( BPP I, § 836; BPP II, §§ 148, 153). Der Ausdruck der Emotion. In seinen Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie richtet sich Wittgenstein explizit gegen drei Emotionstheorien: Gegen die Annahmen der mentalistischen, behavioristischen und physiologischen Interpretation von Emotionen7 führt er diese auf „primitive Reaktionen“ zurück. Als solche erfahren sie durch den Gebrauch in der Sprache eine Verfeinerung. Die emotionale Körperreaktion ist nach seiner Auffassung Voraussetzung dafür, dass ein differenziertes sprachliches Emotionsverhalten überhaupt entstehen kann. Eine entscheidende Differenzierung ist die zwischen sprachlichen Äußerungen in der ersten und in der dritten Person Präsens. Bei emotionalen Begriffen in der dritten Person handelt es sich um eine Mitteilung oder eine Beschreibung des emotionalen Verhaltens anderer Menschen. In der ersten Person hingegen wird (jedenfalls im einfachen, untheoretischen Wortgebrauch) die Emotion selbst ausgedrückt; es wird also keine Beschreibung des eigenen Zustandes gegeben, sondern der sprachliche Ausdruck ist so etwas wie ein unvermittelter Ausruf. Die Worte: ,,Ich bin traurig“ resultieren nicht aus einer Beobachtung des eigenen Verhaltens oder vermeintlich innerer Zustände, sondern sind eine unmittelbare Reaktion auf ein Objekt. Die Beschreibung des Verhaltens oder, wie Wittgenstein in diesem Fall sagt, des „Benehmens“ wird im Kontext eines anderen Sprachspiels als der emotionale Ausdruck in der ersten Person gebildet (PU II, 498). Eine der Folgen der unterschiedlichen Sprachspiele ist, dass die Beschreibung der Emotionen eines anderen in der dritten Person bezweifelt wird, während ich unmöglich mein eigenes emotionales Empfinden anzweifeln kann. Während es sich in der dritten Person um verifizierbare psychologische Ausdrücke handelt, kann in der ersten Person von einem Wissen über Emotionen nicht die Rede sein, insofern es sich nicht um verifizierbare Gegenstände handelt (LS II, 92). Mit _____________ 7
In der folgenden Darstellung sprechen wir der besseren Lesbarkeit des Textes wegen (bis auf eine ausdrücklich gekennzeichnete Ausnahme) nur von „Emotionen“ und „emotionalem Ausdruck“ und fassen darunter auch „Schmerzempfindungen“ und deren Ausdruck.
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dieser Unterscheidung richtet sich Wittgenstein einerseits gegen den mentalistischen Erklärungsansatz, andererseits gegen die behavioristische Theoretisierung von Emotionen. Gegen die mentalistische Emotionstheorie. Bei emotionalen Ausdrücken in der ersten Person handelt es sich um unmittelbare, reaktive Handlungen, denen eine Gewissheit des Körpers zugrunde liegt. Ich muss mir selbst nicht beweisen, dass ich Kummer empfinde – über meine Gefühle kann ich nicht im Zweifel sein. Beim Sprachspiel psychologischer Begriffe greift die Grammatik des Sprachspiels des Wissens mit ihrer Möglichkeit des rationalen Infragestellens nicht (PU § 571). Anders als beim Sprachspiel der Wissenschaften geht es beim Sprachspiel der Emotionen nicht um einen Gegenstand im Inneren, der beschrieben werden kann. Der Ausdruck der Emotionen bezieht sich nicht direkt auf seelische Zustände, sondern auf das Sprachspielgeschehen. Er ist nicht wie eine Fassade, hinter der geistige Kräfte wirken (LS I, § 978). Wittgenstein betrachtet psychologische Begriffe nicht bezogen auf psychologische Erscheinungen oder Gegenstände, sondern als Ausdrücke für Handlungen, die in der Sprache geschehen, als Ausdrücke des Sehens, Denkens, Fühlens, Glaubens und Wollens (BPP I, § 287). Von den Emotionen kann man nur kontextabhängige Ausdrucksformen und bestimmte Weisen des Benehmens erfassen. Eine Untersuchung kontextinvarianter psychischer Zustände hält Wittgenstein für unmöglich. Sein Ansatz ist ein ,,grammatischer“ und ,,logischer“ (LS I, § 256), kein phänomenologischer. Mit dem Versuch einer Introspektion würde man nicht psychologische Phänomene erkennen, sondern nur etwas über denjenigen aussagen, der die Introspektion vornimmt (BPP I, § 212, 446). Das innere Empfinden ist nicht verborgen, sondern zeigt sich an bestimmten körperlichen Ausdrucks- und Verhaltensweisen, die in interner Beziehung zu ihm stehen (PU II, 562). Verborgene innere Vorgänge haben immer eine körperliche Seite, durch die sie sich offenbaren. Das Innere wird am Äußeren sichtbar. Daher kann Wittgenstein sagen: ,,Der Mensch ist das beste Bild der menschlichen Seele“ (BPP I, § 281). Emotionen sind am menschlichen Körper, insbesondere am Gesicht, exemplifiziert. Wittgenstein leugnet nicht „seelische“ Vorgänge, sondern nur deren Existenz unabhängig von menschlichem Verhalten und dessen Kontext. Auch bei Beschreibungen des emotionalen Ausdrucks in der dritten Person handelt es sich nicht um ein epistemisches Wissen über die inneren Vorgänge selbst, sondern auch bei diesen gibt es einen Aspekt des di-
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rekten Verstehens, das im unmittelbaren Wahrnehmen emotionaler Zustände besteht und das die Überzeugung einschließt, dass der andere eine Seele hat. Wittgenstein negiert zwar das Innere als Ursache von Emotionen, doch deutet er das menschliche Verhalten und Sprechen in der Weise, dass Menschen an eine Innerlichkeit ihres Gegenübers glauben. Dies ist keine rationale Hypothese, die durch Beweise be- oder entkräftet werden könnte, sondern der Glauben an eine Seele im anderen. Wittgenstein meint damit eine grundlegende Einstellung dem anderen gegenüber, die nicht rational begründet werden kann (LS I, § 324). An unserem Handeln und Sprechen lässt sich erkennen, dass wir uns der Seele anderer Menschen gewiss sind. Mit den Sprachspielen über Emotionen und Empfindungen entwickelt sich gleichzeitig eine Einstellung zur fremden Seele und damit zum anderen (LS I, § 947). Gegen die behavioristische Emotionstheorie. Wittgensteins Argumentation gegen den Behaviorismus richtet sich gegen die Annahme, psychologische Phänomene seien ausschließlich mit Rekurs auf menschliche Verhaltensweisen zu erklären (PU § 304). Nach behavioristischer Annahme werden die Aussagen über emotionale Zustände sowohl in der ersten als auch in der dritten Person als Beschreibungen aufgefasst. Dies trifft nach Wittgenstein auf die Äußerungen in der ersten Person nicht zu. Der Ausdruck ,,ich fürchte mich“ resultiert nicht aus dem Beobachten meines Verhaltens. Ich beobachte mich nicht, wie ich andere beobachte, um meine Gefühle zu kennen. Ich habe sie. Ich schließe nicht von meinen Ausdrücken und Handlungen auf meine Emotionen, da ich mich zu mir selber nicht beobachtend verhalte (LS II, 20ff.). Daher ist die Möglichkeit des Verifizierens psychologischer Ausdrücke in der ersten Person nicht gegeben. Ich kann meine emotionalen Ausdrücke nicht anzweifeln oder vor mir selbst begründen (LS II, 24). Mit dieser Konzeption wird deutlich, dass Wittgenstein keine behavioristische Auffassung vertritt. Nach Überzeugung des Behaviorismus besteht eine kausale Beziehung zwischen dem Reiz und der emotionalen Reaktion, also eine gesetzesmäßige Relation zwischen physischen Gegenständen. So nimmt Rudolf Carnap an, dass sich psychologische Begriffe auf eindeutige, spezifizierte physische Bewegungen beziehen, die bei der Wahrnehmung durch einen interpretierenden, rationalen Vorgang als Fremdpsychisches erkannt werden.8 Für Wittgenstein ist jedoch die Emotion weder ein innerer _____________ 8
Vgl. Carnap 2004, 17ff.; Hark 2004, 129.
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noch ein äußerer Gegenstand. Sie ist kein durch Bezug auf Inneres oder Äußeres aufweisbares Objekt. Vielmehr ist sie auf äußerst komplexe Weise im menschlichen Leben eingebettet und weist eine vollkommen andere Regelstruktur als physikalische Gegenstände auf – eine Emotion ist „kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts“ (PU § 304). Gegen die kausalistische Annahme stellt Wittgenstein seine Konzeption des emotionalen Verhaltens als „Muster“, das von einer Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensweisen in je spezifischen Kontexten gebildet wird (s. u. den Abschnitt „Muster und Lebensformen“). Muster sind im Unterschied zu Kausalverhältnissen durch Beweglichkeit und Vielfältigkeit des emotionalen Ausdrucks gekennzeichnet (BPP II, §§ 627, 672). Sie sind die Bedingung für unmittelbares Verstehen des emotionalen Verhaltens. Auch die Annahme, beim Erkennen von Fremdpsychischem finde, wie Carnap annimmt, eine Interpretation statt, weist Wittgenstein zurück. Bei der Beschreibung von emotionalen Ausdrucksweisen eines anderen, also bei Aussagen in der dritten Person, wird nicht dessen Verhalten interpretiert, sondern seine Gefühlen werden anhand äußerer Kriterien erfasst, in einer unmittelbaren Wahrnehmung seiner Gefühlsäußerungen (BPP II, § 170). Kriterien sind allerdings keine notwendigen Bedingungen für das Vorhandensein von Emotionen. Eine rote Gesichtsfarbe mag ein sicheres Kriterium für Fieber sein, aber Lachen ist nicht notwendiges Kriterium für Freude (BPP I, § 292); in bestimmten Fällen kann es ein Zeichen für Unsicherheit oder Zynismus sein. Kriterien haben auch nicht die Funktion von Symptomen oder Indizien, die etwas beweisen oder Zweifel an der Aufrichtigkeit von emotionalem Verhalten eines anderen begründen können (BPP I, § 137). Jeder Mensch drückt Freude, Trauer und Zorn auf seine Weise aus. Die Unbestimmtheit des emotionalen Ausdrucks, der aus der Individualität und Verschiedenheit der Menschen und ihrem kulturellen Hintergrund resultiert (PU II, 576), ist unaufhebbar. Gegen eine physiologische Emotionstheorie. Auch die physiologische Theorie, wie sie James vertritt, lehnt Wittgenstein ab. Für ihn ist die Emotion nicht mit ihrem körperlichen Ausdruck gleichzusetzen. Der physiologische Ausdruck geht mit der Emotion einher, ist jedoch nicht dessen Ursache. Weder verweist der emotionale Ausdruck auf einen inneren Prozess noch auf einen physiologischen Ursprung: „Ist, die Mundwinkel hinunterziehen, so unangenehm, so traurig, und sie hinaufziehen, so angenehm? Was ist es, was so schrecklich an der Furcht ist? Das Zittern, der schnelle Atem, das Gefühl in den Gesichtsmuskeln? – Wenn
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du sagst: „Diese Furcht, diese Ungewißheit ist schrecklich!“ – könntest du fortsetzen: „Wenn nur dieses Gefühl im Magen nicht wäre!“ (BPP I, § 728)
Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Emotion und der Stellung der Mundwinkel oder anderen körperlichen Anzeichen. Zwar gehen Emotionen mit bestimmten Körperausdrücken einher, doch sind diese nicht eine notwendige Bedingung für Emotionen. Zwar lässt die menschliche Sprache oft einen physiologischen Ursprung vermuten, wenn wir von einem Denken ,,im Kopf“, Liebeskummer ,,im Herzen“ und Wut ,,im Bauch“ sprechen, aber diese Wortverwendungen sind lediglich Ausdruck des Wunsches nach Erklärung (BPP I, §§ 347ff.). Wittgenstein gibt zu, dass Emotionen zwar in einigen Fällen durch körperliches Verhalten beeinflusst werden können, doch lehnt er eine Kausalverknüpfung von Körperempfindungen und Emotionen ab. Oftmals empfinden wir emotional, ohne uns des Ausdruckes bewusst zu sein (BPP I, § 925). Auch die Imitation von Emotionsausdrücken allein ruft nicht die nachgeahmte Emotion hervor. Würde emotionales Empfinden durch Beeinflussung des Körperausdrucks unserem Willen unterliegen, wäre wohl kaum jemand mehr traurig. Der emotionale Ausdruck deutet weniger auf einen somatischen Ursprung als vielmehr auf ein Objekt hin: ,,Der Ausdruck ‚Diese Angst ist schrecklich!‘ ist ähnlich einem Aufstöhnen, einem Schrei. Gefragt ‚Warum schreist du?‘ – würden wir aber nicht auf den Magen, die Brust, etc. zeigen, wie im Falle des Schmerzes; sondern vielleicht auf das, was uns Angst macht.“ (BPP I, § 729) Der Bezug auf ein Objekt ist für Wittgenstein hauptsächliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Emotionen und Empfindungen. Er ist aber nicht deren Ursache: Durch das Hervorheben der Rolle des Objekts für eine Emotion bei gleichzeitiger Negation einer kausalen Verursachung durch dieses Objekt richtet sich Wittgenstein gegen ein physiologisches Kausalverständnis von Emotionen (BPP I, § 800). Die primitive Reaktion. Im Gegensatz zur Mitteilung ist der Ausdruck einer Emotion einem Schrei vergleichbar, der sich einem Menschen infolge eines starken Schmerzes ,,entringt“ (LS I, § 549). Er ist eine Reaktion auf ein Objekt, die unmittelbar und ohne Absicht geschieht. Im Sprachspiel der Emotionen machen Intentionen und Willensakte keinen Sinn. Emotionen sind unabhängig vom Wollen und Beabsichtigen (BPP I, § 840). Das Sprachspiel der Emotionen folgt anderen Regeln als Sprachspiele, in denen Wille, Absichten oder Befehle ausgedrückt werden. Ein emotionaler Ausdruck ist eine Handlung, in die man „sich findet“, ohne dass diese geplant werden könnte (BPP I, § 874).
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Den Ausdruck und das Verständnis einer Emotion oder eines Schmerzes nennt Wittgenstein „primitiv“ (LS I, § 45). Mit dem Verweis auf die primitive Natur emotionaler Ausdrücke unterstreicht er den ursprünglichen und vorsprachlichen Charakter emotionalen Benehmens. „Primitive Reaktionen“ sind der Ausgangspunkt des Sprachspiels über Emotionen. ,,Was aber will hier das Wort ‚primitiv‘ sagen? Doch wohl, daß die Verhaltungsweise vorsprachlich ist: daß ein Sprachspiel auf ihr beruht, daß sie das Prototyp einer Denkweise ist und nicht das Ergebnis des Denkens.“ (Z § 541) Eine primitive Reaktion ist in zwei Hinsichten ein unmittelbares Geschehen: als emotionale Verhaltensweise desjenigen, der Emotionen hat, und als deren Verstehen durch eine andere Person. Im Kindesalter wird der primitive Ausdruck durch einen sprachlichen ersetzt. Die Funktion dieses neu erlernten Schmerzbenehmens ist keine deskriptive, sondern eine expressive: Der verbale ersetzt den primitiven Ausdruck und beschreibt ihn nicht (PU § 244). Wittgenstein spricht von einer ,,Verfeinerung“ des primitiven Benehmens durch die Sprache (VB 493). Im Zuge des Spracherwerbs erfährt das primitive Verhalten einen ,,Ausbau“ (Z § 545), sodass auch unabhängig von der jeweiligen Situation differenziert über eigene und fremde Emotionen gesprochen werden kann. Der primitive Ausdruck kann eine Geste, ein bestimmter Gesichtsausdruck, aber auch ein Wort sein (PU II, 559). Wichtig an der wittgensteinschen Konzeption der primitiven Reaktionen als Fundament von Sprachspielen über Emotionen ist nicht so sehr deren nonverbaler Charakter, sondern in erster Linie die Tatsache, dass sie unmittelbare körperliche Reaktionen sind. Auch das Verstehen emotionalen Verhaltens geschieht unmittelbar, ohne interpretierende oder andere erkenntnismäßige Vorgänge. Wir deuten das emotionale Verhalten anderer nicht, sondern sehen unmittelbar, dass jemand Freude, Leid oder Zorn empfindet (BPP II, § 570). Mit seinem Begriff der primitiven Reaktion stellt sich Wittgenstein nicht zuletzt gegen die Sichtweise, dass emotionales Verhalten durch Analogieschlüsse verstanden wird.9 Wittgensteins Konzeption des Sprachspiels der Emotionen liegen zwei Hauptgedanken zugrunde: erstens die logische Feststellung, dass die primitive Reaktion als letzte Instanz keiner Rechtfertigung bedarf (PU II, 529f.), und zweitens die anthropologische Feststellung, dass diese der _____________ 9
Säätelä 2002, 51f.
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„instinktiven“ menschlichen Natur entspringt.10 Instinktive oder primitive Reaktionen sind die Voraussetzung für das Entstehen von Sprache über Emotionen. Die „animalische“ Natur des Menschen ist es, die bestimmte Sprachspiele ermöglicht: Ich will den Menschen hier als Tier betrachten; als ein primitives Wesen, dem man zwar Instinkt, aber nicht Raisonnement zutraut. Als ein Wesen in einem primitiven Zustande. Denn welche Logik für ein primitives Verständigungsmittel genügt, deren brauchen wir uns auch nicht zu schämen. Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen. (ÜG § 475)
Die Vernunft spielt erst in dem Moment eine Rolle, in dem einfache primitive Sprachspiele bereits existieren. Sprache beginnt mit körperlichen Handlungen; erst danach entwickeln sich die spezifischen Leistungen des menschlichen Denkens, wie Begründen und Bezweifeln (BPP II, § 689). Rationales Abwägen hat zwar seinen Ursprung im instinktiven Verhalten (BPP II, § 632), kann aber auf dieser Stufe selbst nicht gerechtfertigt werden (ÜG § 359). Mit dem Begriff des Instinktes deutet Wittgenstein eine menschliche Handlungsweise, die vollkommen sicher geschieht, ohne einer rational deutenden Beschreibung zugänglich zu sein. Jeglicher Versuch, instinktives Verhalten zu erklären, mündet in irreführenden Annahmen. Im instinktiven Handeln zeigt sich eine menschliche Sicherheit, die nicht in einer rekonstruierbaren Regelhaftigkeit verankert ist: ,,Es wäre doch sehr wohl denkbar, daß Einer sich genau in einer Stadt auskennt, d. h., von jedem Ort der Stadt zu jedem andern mit Sicherheit den kürzesten Weg fände, – und dennoch ganz außer Stande wäre, einen Plan der Stadt zu zeichnen. Dass er, sobald er es versucht, nur gänzlich Falsches hervorbringt. (Unser Begriff vom ‚Instinkt‘).“ (BPP I, § 556)
„Primitive Reaktionen“ bedürfen keiner Rechtfertigung (PU II, 529f.). Hier ist das Ende der Untersuchung erreicht. Das primitive Sprachspiel ist als letzte und unbegründbare Instanz dem Handeln vorgegeben (BPP II, § 543). Muster und Lebensformen. Mit der Verfeinerung des Emotionsverhaltens verändert sich die Verwendung der entsprechenden Begriffe und damit auch deren Bedeutungen (LS I, § 899). Nach Wittgenstein ist die Bedeutung eines Wortes die Art und Weise, wie es gebraucht wird (PU § 43). Mit der Einführung neuer, feinerer Sprachspiele verändert sich auch die Bedeutung der emotionalen Ausdrücke. Auf diese Weise erfährt das Emotionsverhalten insgesamt eine Differenzierung und einen Bedeutungswandel. In den Sprachgebräuchen wird das emotionale Verhalten zu bestimmten _____________ 10
Hertzberg 1992, 25f.
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,,Mustern“ geordnet, die innerhalb eines bestimmten Kontextes auftreten. Die Muster stellen eine Art Bild her, das aus Gesten, Verhaltensweisen, Körperhaltungen, Gesichts- und Sprachausdrücken zusammengefügt wird. Jedes Muster steht für eine bestimmte Emotion; jede Emotion kann sich in einer Fülle unterschiedlicher Muster zeigen. Der Ausdruck einer Emotion ist variabel und kann sich in unterschiedliche Muster anderer dazu passender emotionaler Ausdrücke einfügen. Es gibt keine festgelegten Kombinationen von Ausdrücken, Handlungen und Gesten, die ein Handlungsmuster ausmachen. Beweglichkeit und Unregelmäßigkeit sind charakteristisch für Emotionsbegriffe (LS I, § 211).11 Die Muster der Sprache über Emotionen sind in menschliche Handlungszusammenhänge eingebettet; sie gehören als „Lebensmuster“ zu einer „Lebensform“. Auf den einfachen Sprachspielen bauen die komplizierteren auf, beispielsweise Sprachspiele, in denen Täuschung und Zweifel entstehen. Auf der Ebene des instinktiven Sprachhandelns, der untersten Stufe des Sprachgebrauchs, handeln die Sprecher jedoch mit Gewissheit. Dem cartesianischen Zweifel setzt Wittgenstein eine körperliche Gewissheit entgegen, die sich in der Handlungspraxis herstellt. Erst auf dieser Grundlage sind Täuschung und Zweifel möglich. Wittgenstein beschreibt die Gewissheit als einen Glauben, der durch Beweise weder gestützt noch entkräftet werden kann. Mit seinen Handlungen tritt das Kind in ein Sprachspiel ein und erwirbt hier seinen Glauben an die Tätigkeit seiner Sinne, seines Körpers, an die Existenz von anderen und von sich selbst (LS I, § 873). Gewissheit und Glauben gehören für Wittgenstein in den Zusammenhang eines ,,Weltbilds“ oder ,,Hintergrunds“. Darunter versteht er ein Gewebe aus Überzeugungen, selbstverständlichen Annahmen und Glaubenssätzen, die eine Voraussetzung für die Möglichkeit von Sprachspielen jeglicher Art sind. Das „Weltbild“ besteht weder aus einem begründbaren Wissen noch aus gegebenen Wahrheiten; es kann je nach Kultur und Zeitalter unterschiedlich gebildet werden kann. In ihren Gewissheiten stimmen die Menschen überein – eine Übereinstimmung, die aus ihrer jeweiligen „Lebensform“ entsteht (PU § 241). In eine „Lebensform“ wächst der Mensch seit seiner frühesten Kindheit gleichsam hinein und nimmt sie an, ohne sie zu hinterfragen. Zu den Gewissheiten der Lebensform gehören _____________ 11
Michel ter Hark verweist darauf, dass die Idee der Beweglichkeit und Variabilität, die in dem wittgensteinschen Begriff des ,,Musters“ mitgedacht wird, von Darwin beeinflusst worden ist. Vgl. Hark 2004, 125ff.
Wittgenstein: Das Sprachspiel der Emotionen
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Annahmen, die wir niemals bezweifeln, wie jene, dass ich einen Körper habe, dass ich auf dem Planeten Erde lebe, dass ich so und so alt bin und so und so heiße. Sie sind ein unbegründbares ,,Hinzunehmendes“ (PU II, 572). Freilich sind sie keine feststehenden Wahrheiten, sondern können in manchen Fällen, in denen sich grundlegend neue Situationen ergeben haben (z. B. durch technologische Innovationen wie Raumfahrt, Einführung des Fernsehens, Gentechnologie), durch andere ersetzt werden. Insofern sie den Sprachspielen vorausliegen und Teil der menschlichen „Lebensform“ sind, bezeichnet Wittgenstein sie als etwas ,,Animalisches“ (ÜG § 358f.). Gesellschaftliche und kulturelle Differenzen sind zwar auf dieser Stufe nicht ausgeschlossen – einen „Nullpunkt“ menschlicher Entwicklung nimmt Wittgenstein nicht an –, aber sie haben einen, in diesem Sinne eingeschränkten, universalen Charakter. Sie gehören zur „Naturgeschichte“ der Menschen (PU § 25). Mit der Annahme, dass es ein allgemeines Fundament der Praxis gibt, lässt sich von Wittgenstein her die Möglichkeit eines zwischenmenschlichen Verstehens unabhängig von Erziehung, Gesellschaft und Kultur entwerfen.
4. Schluss Wittgensteins Überlegungen zur Emotion und ihrem Ausdruck liegen außerhalb des Bereichs wissenschaftlicher und philosophischer Theorien über diesen Gegenstand. Gemäß seiner Methode der „übersichtlichen Darstellung“ beschreibt er die Grammatik und den Gebrauch der Sprache über Emotionen. Mit dem Argument gegen die Privatsprache weist er drei Merkmale zurück, die gewöhnlich als konstitutiv für das Sprechen über Inneres und damit über Emotionen angesehen werden: die Gegenständlichkeit des Inneren, eine eigene Sprache für dessen Beschreibung und die Möglichkeit, das Innere direkt zu erkennen. Hingegen hält er eine Beschäftigung mit den Emotionen in der geregelten Praxis eines Sprachspiels nicht nur für möglich, sondern gibt auch genau an, wie dies möglich ist: Er konstruiert das Modell eines Sprachspiels über Emotionen, das ausgehend von „primitiven Reaktionen“ die Erfassung von „Mustern“ des emotionalen Verhaltens beschreibt.
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Gunter Gebauer und Anna Stuhldreher
Literatur Wittgensteins und James’ Schriften werden unter Angabe von Siglen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Wittgenstein: BPP – Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie GB – Bemerkungen über Frazers „The Golden Bough“ LS – Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie PU – Philosophische Untersuchungen ÜG – Über Gewissheit VB – Vermischte Bemerkungen Z – Zettel James: PP
– The Principles of Psychology
Carnap, Rudolf (2004), Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysische Schriften, Hamburg. Goethe, Johann Wolfgang von (1993), Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, Sämtliche Werke, Bd. 13, Frankfurt a. M. Goodman, Russell B. (2002), Wittgenstein and William James, Cambridge. Hark, Michel ter (2004), ‚Patterns of Life‘: A Third Wittgenstein Concept, in: Danièle Moyal-Sharrock (Hg.), The Third Wittgenstein, Padstow/Cornwall, 125–143. Hertzberg, Lars (1992), Primitive Reactions – Logic or Anthropology?, in: Midwest Studies in Philosophy, Bd. XVII, Notre Dame/Indiana, 24–39. James, William (1950, zuerst 1890), The Principles of Psychology, Bde I–II, New York (=PP). James, William (1971, zuerst 1902), The Varieties of Religious Experience, London. Säätelä, Simo (2002), Perhaps the Most Important Thing in Connection with Aesthetics. Wittgenstein on Aesthetic Reactions, in: Revue internationale de Philosophie 1/2002, nr. 219, 49–72. Schulte, Joachim (1987), Erlebnis und Ausdruck. Wittgensteins Philosophie der Psychologie, München. Wittgenstein, Ludwig (1975), Bemerkungen über Frazers „The Golden Bough“, in: Rolf Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Sprachphilosophie, Frankfurt a. M., 37–57 (=GB). – (1984), Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. (=PU). – (1990, zuerst 1984), Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie I und II, Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. (=BPP). – (1990, zuerst 1984), Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie I, Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. (=LS I). – (1984), Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. (=VB). – (1984), Zettel, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. (=Z). – (1984), Über Gewissheit, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. (=ÜG). – (1993, zuerst 1992), Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Das Innere und das Äußere 1949–1951, Frankfurt a. M. (=LS II).
Martin Heidegger (1889–1976) Otto Friedrich Bollnow (1903–1991)
Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik Barbara Merker In der Geschichte der Philosophie sind Emotionen, Affekte, Gefühle zumeist im Kontext allgemeiner philosophischer Annahmen über die Seele und ihre Beziehung zum Körper und zur Welt betrachtet worden. Auch die Theorie der Befindlichkeit, die Martin Heidegger 1927 in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit entwickelt, ist in solche philosophische Überlegungen eingebettet. Allerdings setzt sich Heidegger in drei Hinsichten von der philosophischen Tradition ab. Erstens besteht Sein und Zeit zum größten Teil in einer Kritik der Tradition der Ontologie, Psychologie und Erkenntnistheorie und im Entwurf einer Alternative dazu. Zweitens behandelt Heidegger neben den Emotionen bzw. Affekten auch Stimmungen als eine Weise der Befindlichkeit und macht zudem auf einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen Stimmungen und Emotionen1 aufmerksam. Und drittens interessiert er sich nicht für die Mannigfaltigkeit von Stimmungen und Emotionen. Die Befindlichkeit hat zum einen eine methodische Funktion bei seiner Suche nach dem Sein des Daseins als Sorge, zum anderen ist sie als Moment dieser Sorgestruktur relevant. Mit Blick auf diese beiden Interessen hält er die Analyse von nur einer Stimmung, der Angst, und einer Emotion, der Furcht, für hinreichend. Im Folgenden möchte ich zunächst Heideggers Theorie der Befindlichkeit in ihrer Gabelung in Stimmungen und Emotionen darstellen. Anschließend wende ich mich den Untersuchungen von Otto Friedrich Bollnow zu, der in Anlehnung an Heidegger, doch auf der Basis seiner eigenen methodischen Alternative, die Vielfalt der Stimmungen untersucht und gegen Heidegger die existenzielle Bedeutung auch der positiven Stimmungen betont. _____________ 1
Heidegger selbst verwendet statt des heute gebräuchlicheren Ausdrucks „Emotion“ in der Regel den Ausdruck „Affekt“; an einer Stelle allerdings schreibt er der Emotion der Furcht einen „Stimmungs- und Affektcharakter“ zu (SuZ 341).
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1. Heideggers Theorie der Befindlichkeit Heideggers Konzeption der Befindlichkeit hat eine doppelte Funktion. Zum einen finden wir sie im Kontext seiner Entfaltung der Struktur des Seins des Daseins. Er möchte zeigen, wie wir uns, gegen die Dominanz eines unpersönlichen, instrumentellen und verdinglichenden Selbstverständnisses2, im Alltag und in der Philosophie angemessen verstehen sollten. Ein erster Höhepunkt seiner Ausführungen dazu besteht in der Explikation unseres Seins als Sorge. Dass wir Sorgende sind, bedeutet für ihn, dass es uns in unserem Sein immer um unser Sein geht. Der Ausdruck „Sorge“ ist eine Art Kürzel für einen komplexen Strukturbegriff, den Heidegger im § 41 als „Sich-vorweg-schon-sein-in3 (der Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“ und „Mitsein“ (mit Anderen) entfaltet. Das Moment des Sich-vorweg bezeichnet er auch als Entwurf oder Existenzialität oder Worum-willen. Gemeint ist damit vor allem, dass wir existieren, indem wir in der Gegenwart immer schon zukünftige Möglichkeiten unseres Seins erschlossen haben. In diesem Sinne sind wir Möglich-sein und Sein-können. Das Moment des Schon-seins bezeichnet er auch als Geworfenheit oder Faktizität. Gemeint ist damit unter anderem, dass wir uns faktisch und ungefragt immer schon in der Welt der Gegenwart befinden, von der und deren Möglichkeiten aus wir die Möglichkeiten unseres Seins entwerfen müssen. In diesem Sinne sind wir notwendig Möglich-sein. Die Momente des Seins-bei (innerweltlich Seiendem) und Mit-seins (mit Anderen) werden als Verfallenheit charakterisiert. Heidegger bevorzugt die Metapher der Verfallenheit gegenüber dem durch Franz Brentano und Edmund Husserl wieder in die philosophische Diskussion eingebrachten Begriff der Intentionalität, weil sie anschaulich sowohl die innere zeitliche Bewegtheit des Daseins zum Ausdruck bringt als auch ei_____________ 2
3
Eine solche Selbstverdinglichung des Menschen versucht Heidegger nicht nur dem alltäglichen Leben und der Philosophie nachzuweisen. In alten Mythen, wie sie in Platons Phaidros und Politeia dargestellt werden, im Neuplatonismus, in der Gnosis und in den Dogmen des Christentums sieht er in verdinglichter Gestalt, nämlich als Geschehen in Raum und Zeit, eine Bewegung des Abfalls vom und der Rückkehr zum Ursprung dargestellt, die ursprünglich und eigentlich ein inneres Geschehen des Daseins ist. Auch der zeitgenössischen Kulturphilosophie und Kulturkritik (Klages, Spengler, Ziegler, Dilthey, Jaspers, Scheler, Cassirer) liegt ihm zufolge ein verdinglichtes Verständnis des Daseins zugrunde. Näher untersucht habe ich dies in Merker 1989 und 2002; zur „Grundttäuschung“ auch Merker 1988, 74ff. Das „Sich“ impliziert dabei selbst immer schon die gesamte Sorgestruktur.
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ne folgenschwere asymmetrische Gerichtetheit oder Einseitigkeit der Intentionalität: Es ist konstitutiv für unsere „natürliche Einstellung“, dass wir „zunächst und zumeist“ nicht bei uns selber, sondern bei innerweltlich Seiendem sind. Das alltägliche instrumentelle Selbstverständnis und das verdinglichende Selbstverständnis des Menschen in der Tradition der Philosophie haben ihm zufolge beide ihren Ursprung in dieser „Verfallenheit“. Die Struktur der Einheit von Geworfenheit, Entwurf und Verfallenheit ist ebenso wie die Welt als Ganze durch zwei gleichursprüngliche Weisen des In-Seins erschlossen: zum einen durch die Befindlichkeit, die im Folgenden das Thema sein wird; zum anderen durch das Verstehen.4 Damit meint Heidegger nicht nur im engeren Sinne den Zugang zu mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, sondern die praktische Fähigkeit des Umgangs mit Zuhandenem aller Art zur Verwirklichung von Zwecken. Als Verstehende und Gestimmte haben wir immer schon die Welt als ein Ganzes von Bedeutungen und Bedeutendem erschlossen, bevor wir an Einzelnes in ihr verfallen, indem wir bestimmtes Zeug besorgen, zum Beispiel einen Nagel in die Wand schlagen, oder uns in bestimmten Emotionen befinden, zum Beispiel den sich nähernden Tiger fürchten. Heideggers Versuch, die existenzialen Grundbestimmungen des Daseins von den kategorialen Bestimmungen des innerweltlich Seienden abzugrenzen, betrifft die modalen Bestimmungen des Möglich-, Wirklich- und Notwendigseins ebenso wie die lokalen und temporalen Bestimmungen. „Da-sein“ bezeichnet sozusagen nur die existenzielle, persönliche, leibgebundene Perspektive des Menschen,5 die in der existenzialen Analytik zum Thema wird. Um diesen Einsichten in die Besonderheit des Menschen als Dasein auch sprachlich gerecht zu werden, entwickelt Heidegger eine neuartige Terminologie. Er unterscheidet die Seinsweisen der Zuhandenheit (des Zeugs), der Vorhandenheit (der Dinge), der Existenz (des Daseins und Mitseins) sowie der diesen korrespondierenden Weisen des Zugangs dazu: die Umsicht und Vorsicht, die Durchsicht und die Rück- und Nachsicht. Im Unterschied zur philosophischen Tradition, die sich nur für das allgemeine Wesen des Menschen interessiert hat, betont Heidegger auch noch _____________ 4 5
Als dritte Weise des In-seins unterscheidet Heidegger noch die Rede, die als Artikulation des Verstehens und Befindens diese beiden bestimmt. „Dasein“ ist ein Seiendes – nach Heidegger „wir je selbst“ –, für das es wesentlich und konstitutiv ist, in einer solchen existenziellen Perspektive zu existieren, eben „da“ zu sein (SuZ 41, 196).
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die Jemeinigkeit dieses Wesens und damit die prinzipielle Unvertretbarkeit und Unaustauschbarkeit beim Existieren. Die Befindlichkeit ist also, neben dem Verstehen, zum einen ein „fundamentales Existenzial“ und konstitutives Moment der Sorgestruktur. Zum anderen hat ein bestimmter Modus der Befindlichkeit, nämlich die Stimmung der Angst, eine zentrale methodische Funktion. An ihr nämlich kann, wie Heidegger glaubt, die komplexe Struktur des Seins des Daseins als Sorge, die er zunächst sukzessiv und getrennt in ihren einzelnen Momenten untersucht hat, auf einen Schlag vereinfacht und vereinheitlicht zugänglich werden. Konturen gewinnt die Stimmung der Angst als eigentlicher Modus der Befindlichkeit noch dadurch, dass er sie zur Emotion der Furcht als einem uneigentlichen Modus der Befindlichkeit (SuZ 189, 341) in vergleichende Beziehung setzt. Andere Stimmungen und Emotionen erwähnt er nur beiläufig, da sie keine genuine Funktion im Rahmen seiner existenzial-ontologischen Untersuchungen haben.6 Heideggers auf den ersten Blick nicht gerade erhellenden Beispiele für Stimmungen sind „der ungestörte Gleichmut“ und der „gehemmte Mißmut“ des alltäglichen Besorgens; weiter „Verstimmungen“, in denen das Dasein „ihm selbst gegenüber blind“ wird, „die besorgte Welt“ sich „verschleiert“ und die „Umsicht des Besorgens“ das Dasein „mißleitet“; und schließlich die „oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit“, in der „das Dasein ihm selbst überdrüssig wird“ und das Sein als „Last offenbar geworden“ ist, nämlich eine Stimmung der „Gleichgültigkeit“, die „mit einer sichüberstürzenden Geschäftigkeit zusammengehen kann“, _____________ 6
Eine Untersuchung der Vielfalt von Phänomenen der Befindlichkeit gehört für ihn nur zu einer noch fehlenden „Psychologie der Stimmungen“ und sei im Wesentlichen von Aristoteles bereits geleistet worden. Er weist darauf hin, dass aufgrund seiner ausschließlich fundamentalontologischen Interessen „die verschiedenen Modi der Befindlichkeit und ihre Fundierungszusammenhänge nicht interpretiert werden“ können. Außerdem erwähnt er Stationen in der Geschichte der Philosophie der Affekte von Aristoteles über die Stoa, die patristische und scholastische Theologie, Augustin und Pascal bis hin zu Scheler. Heidegger behauptet von der ontologischen Interpretation der Affekte, dass sie seit Aristoteles keinen nennenswerten Schritt vorangekommen sei. Kritisch betrachtet er die zeitgenössische Einordnung von Affekten und Gefühlen in die, neben Vorstellen und Wollen, dritte Klasse psychischer Phänomene und ihr Herabsinken zu bloßen „Begleitphänomenen“. Ausdrücklich lobt er dagegen Aristoteles’ Untersuchung der Affekte im zweiten Buch der Rhetorik und die darin enthaltene Charakterisierung des Redners als einer Person, die ein Verständnis der Stimmungen entwickelt haben muss, um Stimmungen und Meinungen bei dem Auditorium zu wecken und zu lenken (SuZ 138ff.).
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welche „an nichts hängt und zu nichts drängt und sich dem überläßt, was je der Tag bringt, und dabei in gewisser Weise doch alles mitnimmt“, ein „Dahinleben, das alles ‚sein läßt‘, wie es ist“.7 Eine solche „Gleichgültigkeit“ möchte er vom „Gleichmut“ scharf trennen ebenso wie vom ruhigen Verweilen bei als Stimmung der reinen theoretischen Einstellung. Weitere Stimmungen, die er erwähnt, aber nicht weiter erläutert, sind Überdruß, Traurigkeit, Schwermut, Verzweiflung, „niederdrückende Bangigkeit“ und – als einzig positive Stimmung – die Heiterkeit (SuZ § 29, 345). Außerdem unterscheidet er dazugehörige Weisen des Übergangs von einer Stimmung zur anderen: das „Hinübergleiten“, das „Ausgleiten“, das „Verdorben werden“ und das „Umschlagen“. Indirekt lässt sich dem noch entnehmen, dass Stimmungen entweder unbezogen aufeinander sich sukzessive ablösen oder, wie die Verstimmungen, auf ihre Vorgänger reaktiv bezogen sind. Im § 68 erwähnt er als Beispiele für Emotionen noch Hoffnung, Freude, Begeisterung.8 Wesentlich ist nach Heidegger, dass unser Verstehen immer schon gestimmt ist und die Befindlichkeit immer schon verstehend und damit Bedeutungszusammenhänge erschließend. Konstitutiv für die Befindlichkeit (wie für das Verstehen) ist ihr universal erschließender Charakter. Unsere Stimmungen betreffen unbestimmt alles. Dabei ist das „gestimmte Sichbefinden“ eine Seinsweise, in der Selbst und Welt, Innen und Außen gar nicht explizit unterschieden sind. Zu dem befindlichen Erschließen gehören weiter eigene „Evidenzen und Gewißheiten“, die denen des theoretisch-reflexiven Erkennens nicht nur nicht unterlegen und nicht durch sie ersetzbar, sondern sogar vorausgesetzt für diese sind. Das, was die Befindlichkeit erschließt, hat Heidegger in drei Charakterisierungen der Befindlichkeit zusammengefasst: erstens erschließt die Befindlichkeit „das Dasein in seiner Geworfenheit und zunächst und zumeist in der Weise der ausweichenden Abkehr“; zweitens ist sie eine Weise der „gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, weil _____________ 7 8
Vgl. die kritischen Einzelanalysen von Pocai 1996, 27ff. Die sprachliche Formulierung macht nicht immer klar, ob es sich um eine Stimmung oder um eine Emotion handelt. Begeisterung und Traurigkeit z. B. können intentional auf bestimmtes Einzelnes bezogen sein, aber auch auf das unbestimmt Allgemeine der Welt als Ganzer. Das gibt auch einen Hinweis auf die permanente Möglichkeit eines Umschlags von Stimmungen in Emotionen und umgekehrt. Die Stimmung, die Heidegger „gehemmter Missmut“ nennt und die neben dem „ungestörten Gleichmut“ eine Stimmung des alltäglichen Besorgens ist (SuZ 134), lässt sich z. B. so deuten, dass der Ärger über die Störung bei einer Tätigkeit zu einer sich auf alles beziehenden Stimmung erweitert wird.
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diese selbst wesenhaft In-der-Welt-sein ist“; und drittens erschließt sie unsere „Angewiesenheit auf die Welt, aus der her Angehendes begegnen kann“ (SuZ 136ff). Gemeinsam ist der ersten und dritten Charakterisierung der Befindlichkeit die Betonung der Passivität, Abhängigkeit und Ohnmacht als der einen Seite des Daseins – neben der Aktivität des verstehenden Entwurfs als der komplementären Seite. Strukturierend für alle Weisen der Befindlichkeit und alle anderen Weisen der Erschlossenheit ist nun ein Wesenszug, der in der Tradition der Psychologie als „Enge des Bewußtseins“ bezeichnet worden ist. Diese besteht unter anderem darin, dass nicht alles, was erschlossen wird, auch mit gleicher Ausdrücklichkeit und Aufmerksamkeit erschlossen werden kann. Auf die dadurch erforderlichen Beschränkungen und Verlagerungen der Aufmerksamkeit hat auch die traditionelle Bewusstseinstheorie hingewiesen, vor allem Husserl mit seiner Unterscheidung von Horizont-Intentionalität und attentionaler Intentionalität. In diesem Sinne wurde zum Beispiel behauptet, dass Bewusstsein der Welt und Selbstbewusstsein zwar immer zusammen auftreten, aber niemals gleichzeitig gleichermaßen thematisch sein können. Vielmehr sind wir in der natürlichen Einstellung des Bewusstseins thematisch, ausdrücklich, aufmerksam auf Dinge der Welt gerichtet, während das Bewusstsein selbst unthematisch im Hintergrund bleibt; in der reflexiven Einstellung dagegen sind wir thematisch, ausdrücklich, aufmerksam auf das Bewusstsein bezogen, während die Welt horizonthaft im Hintergrund bleibt. Und weiter können wir innerhalb der natürlichen Einstellung nur selektiv auf bestimmte räumliche Dinge oder Ereignisse und innerhalb der reflexiven Einstellung nur selektiv auf bestimmte Bewusstseinszustände ausdrücklich und aufmerksam gerichtet sein. Das jeweils andere bleibt dabei wohl mitbewusst, aber unthematisch und unausdrücklich im Hintergrund der Aufmerksamkeit. Die Schwierigkeiten, Horizonte in ihrer Weite als solche thematisch zu machen, und die von Heidegger immer wieder angeführte Gefahr ihrer Verdinglichung gehen auf die natürliche „Enge des Bewußtseins“ und die „Verfallenheit“ zurück.9 Zwar hat Heidegger die in solchen Theorien zugrundegelegte Dominanz theoretischer Intentionalität und Reflexion kritisiert, wohl aber sich den Gedanken zu eigen gemacht, dass wir nicht allem gleichzeitig mit gleicher Ausdrücklichkeit zugewendet sein können. Vor allem drei unterschiedliche Arten der existenziellen Beschränkung und Verlagerung der Ausdrück_____________ 9
Vgl. dazu Merker 1988, 75ff.
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lichkeit sind für Heideggers Suche nach dem Sein des Daseins von Belang: erstens die ‚natürliche‘ Verlagerung der Aufmerksamkeit auf das innerweltlich Seiende; zweitens die Verlagerung der Aufmerksamkeit vom innerweltlich Seienden weg auf den Horizont der Welt; und drittens die Verlagerung der Ausdrücklichkeit vom innerweltlich Seienden oder der Welt weg und hin zum Selbst im engeren Sinne – zur Geworfenheit, zum Entwurf oder zur Verfallenheit. Der ‚Rest‘ des Erschlossenen bleibt dabei jeweils unausdrücklich im Hintergrund der Aufmerksamkeit. Strukturierend für Heideggers Theorie der Befindlichkeit ist dieser Gedanke „wechselnder Ausdrücklichkeit“ (SuZ 141), insofern von ihm auf dieser Basis zum einen eine interne Gliederung der Befindlichkeit in Stimmungen und Emotionen und der innere Zusammenhang des so Gegliederten aufgewiesen wird. Zum anderen ist eine solche Verlagerung der Aufmerksamkeit auch konstitutiv für eine Einteilung der Stimmungen in positive „gehobene“ und negative „bedrückte“ Stimmungen. Stimmungen erschließen Heidegger zufolge zwar immer schon das Ganze der Sorgestruktur und konstituieren die „Weltoffenheit“ (SuZ 137) des Daseins; aber sie erschließen primär die Passivität des Daseins, seine Angewiesenheit auf die Welt und seine Geworfenheit oder Faktizität: dass es ist und zu sein hat. Darin sieht Heidegger die „Last“ des Daseins, die es nicht ablegen oder weitergeben kann, weil es selber diese Last ist, die es unvermeidlich zu übernehmen hat. Das gilt selbst dann, wenn es diese Last durch einen Akt der Selbsttötung endgültig loszuwerden versucht. Diesen Lastcharakter der Geworfenheit, die das Dasein als „gestimmtes Sichbefinden“ immer schon „primär“ erschlossen hat, erschließt es nun entweder nur unausdrücklich – in der Weise der „Abkehr“, des „Abdrängens“ und „Ausweichens“ – oder es erschließt ihn ausdrücklich – in der Weise des „sich vor die Geworfenheit Bringens“, als sich an ihr „Kehren“ und ihr „Nachgehen“ (SuZ 134). Die gehobenen Stimmungen wie Heiterkeit, Fröhlichkeit, Zufriedenheit, die Heidegger fast völlig ignoriert10, lassen sich so verstehen, dass sie sich nicht ausdrücklich an dem Lastcharakter des Daseins kehren, sondern sich vielmehr im Gegenzug von ihm ab- und der Welt zukehren. Nur in den gedrückten Stimmungen wird die Geworfenheit „ausdrücklich“ und als Last erschlossen. _____________ 10
Im § 68, wo er auch die positive Stimmung der Heiterkeit erwähnt und die Begeisterung, sofern diese nicht als Emotion verstanden wird, verweist er darauf, dass „gehobene, besser hebende Stimmung“ eine ontologisch negative Stimmung zur Voraussetzung hat.
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In seinen allgemeinen Ausführungen zur Befindlichkeit im § 29 geht es Heidegger aber nicht nur um das Wesen der Stimmungen, sondern auch um deren Verhältnis zu den Emotionen. Die Befindlichkeit in Form der Stimmungen erschließt zwar immer schon das ganze In-der-Welt-sein, aber sie erschließt ausdrücklich jeweils nur bestimmte Momente darin. In Form der positiven Stimmungen erschließt sie ausdrücklich die Welt und (vielleicht auch), sozusagen optimistisch unternehmungslustig, den aktiven Entwurfscharakter des Daseins, in Form der negativen Stimmungen das passive Moment seiner Faktizität und Geworfenheit als Last. Die Stimmungen erschließen zugleich die Angewiesenheit des Daseins auf die Welt als Voraussetzung dafür, dass innerweltlich Seiendes in der Verfallenheit begegnen und uns etwas angehen kann.11 Wichtig für ein Verständnis des systematischen Zusammenhangs von Stimmungen und Emotionen in der Theorie der Befindlichkeit ist nun der Umstand, dass Emotionen als die zweite Form der Befindlichkeit eine Weise der ausdrücklichen Verfallenheit an das innerweltlich Seiende darstellen. Heideggers Behauptung, dass die Befindlichkeit als eine Weise des In-Seins immer schon die gesamte Sorgestruktur als In-der-Welt-sein und verfallendes Sein bei innerweltlich Seiendem und Mitsein mit Anderen erschlossen hat, erfordert also aus systematischen Gründen ihre Gabelung in Stimmungen, die das In-der-Welt-sein als Ganzes mit unterschiedlichen Akzentuierungen erschließen, und „verfallende“ Emotionen, in denen ausdrücklich das innerweltlich Seiende begegnet. Die Befindlichkeit betrachtet Heidegger weiter als Voraussetzung dafür, dass wir uns von solchem innerweltlich Seienden überhaupt „betreffen“ lassen und „Sinn“ für es haben, dass wir uns überhaupt etwas „uns angehen lassen“, dass unsere Sinne durch etwas „gerührt“ und wir von etwas „berührt“ werden. „Affektion“ hat für ihn insofern immer einen doppelten Sinn. Als Beispiele für existenziell relevante Eigenschaften des innerweltlich Seienden, die nur durch Emotionen zugänglich werden, erwähnt er nicht nur die Bedrohlichkeit, die durch Furcht zugänglich wird, sondern auch die „Undienlichkeit“ und „Widerständigkeit“, von denen nicht gesagt wird, welches die ihnen korrespondierenden Emotionen sind, die sie zugänglich machen sollen (SuZ 137).12 Solche Seinsweisen des Zu_____________ 11 12
Zur „Angänglichkeit“ als „affektive Disposition“ vgl. Tugendhat 1979, 205. Auf den ersten Blick erscheint es so, dass die ‚Eigenschaften‘ der Undienlichkeit und Widerständigkeit durch Störungen bei der Realisierung unserer Zwecke zugänglich werden. Aber Heideggers Hinweise darauf, dass unser Verstehen und Auslegen, alle Weisen des Besorgens immer schon befindliche sind, deuten dar-
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handenen kann jedenfalls nur ein Wesen entdecken, dem es in seinem Sein um sein Sein geht. Sie drücken sozusagen die existenzielle Relevanz des innerweltlich Seienden aus: in welcher störenden oder auch fördernden Beziehung es zum Dasein steht. Die Befindlichkeit insgesamt ist ein Ausdruck der Bedeutung, die etwas für das „jemeinige“ Dasein hat. Stimmungen, behauptet Heidegger, haben „je schon das In-der-Weltsein als Ganzes erschlossen und machen ein Sich-richten-auf... allererst möglich“ (SuZ 137). Eine solche bedingende, fundierende Funktion der Stimmungen lässt sich auf mehrfache Weise verstehen: Einmal kann damit gemeint sein, dass Stimmungen Voraussetzungen dafür sind, dass uns überhaupt etwas innerweltlich Seiendes in den Sinn kommen, dass es uns etwas bedeuten, dass uns an ihm etwas liegen und es uns etwas angehen kann. Es kann weiter bedeuten, dass es von den konkreten Stimmungen, die jeweils das Ganze des In-der-Welt-seins erschließen, abhängt, was uns als innerweltlich Seiendes überhaupt in den Sinn kommen und somit begegnen kann. Bestimmte Stimmungen zum Beispiel machen uns „blind“ für bestimmtes innerweltlich Seiendes. Und schließlich könnte es auch bedeuten, dass die Weise wie, in welchen Eigenschaften uns innerweltlich Seiendes betrifft, von unseren Stimmungen nicht unabhängig ist. Auf diese Weisen ließe sich Heideggers Behauptung interpretieren, dass unsere emotionale „Angänglichkeit“ durch Stimmungen „vorgezeichnet“ sei (SuZ 137). Konkret würde dies bedeuten, dass zum Beispiel in bestimmten düsteren Stimmungen freudige Emotionen und die durch sie erschließbaren positiven Eigenschaften des innerweltlich Seienden ganz und gar unmöglich wären. An zwei Beispielen – an der Emotion der Furcht und an der eminenten Stimmung der Angst – verdeutlicht Heidegger die allgemeine Struktur der Befindlichkeit, die selber wiederum ein Moment der formalen Sorgestruktur darstellt. Die Struktur der Befindlichkeit ist dreigliedrig. Sie besteht erstens in der je spezifischen Weise der Befindlichkeit, in dem Worin, zweitens in dem Wovor13 und drittens in dem Worum. Diese allgemeine _____________ auf hin, dass Undienliches und Widerständiges uns nur deswegen „betroffen“ machen und „stören“ können, weil wir uns immer schon in bestimmten Befindlichkeiten befinden. Schon unsere Zwecksetzungen finden auf dem Boden unserer jeweiligen Befindlichkeiten statt. 13 Da Heidegger nur Furcht und Angst ausführlich behandelt, wird nicht deutlich, dass das „Wovor“ zwar eine sinnvolle Frage an diese beiden, aber nicht an die Emotionen der Freude, Hoffnung, des Neides oder an die Stimmung der Heiterkeit ist. Insofern müsste das „Wovor“ noch um das „Worauf“ und „Worüber“ ergänzt werden.
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Struktur der Befindlichkeit wird aber in den Stimmungen und in den Emotionen auf zwei unterschiedliche Weisen konkretisiert. Die Stimmungen erschließen das In-der-Welt-sein als Ganzes, wobei die positiven Stimmungen ausdrücklich die Welt, die negativen Stimmungen ausdrücklich die Last der Geworfenheit erschließen. Die Emotionen als eine Weise des Verfallenseins entdecken dagegen ausdrücklich das innerweltlich Seiende14, verdecken aber die Momente der Sorgestruktur, die das Verfallensein an das innerweltlich Seiende ermöglichen; diese bleiben, obgleich immer miterschlossen, nur unausdrücklich und unthematisch im Hintergrund der Aufmerksamkeit.
2. Die Emotion der Furcht Heidegger beginnt seine Untersuchung der beiden Weisen der Befindlichkeit im § 30 mit der Emotion der Furcht. Emotionen sind für ihn die Weisen der Befindlichkeit, die Innerweltliches erschließen. Von anderen, auch gegenwärtigen Emotionstheorien unterscheiden sich seine Ausführungen positiv durch mehrere Behauptungen oder Implikationen: erstens dadurch, dass er Emotionen als eigenständige Phänomene betrachtet, die nicht auf andere existenzielle Phänomene wie Wünsche, Überzeugungen, Werturteile, Lust oder Unlust oder Kombinationen von diesen reduziert werden können;15 zweitens durch seine Aufmerksamkeit auf verschiedene _____________ Unberücksichtigt lässt Heidegger dabei anscheinend die Möglichkeit von MetaEmotionen, in denen Emotionen sich auf eigene oder fremde Emotionen beziehen, und die Möglichkeit, dass sich Emotionen auf andere Seinsweisen des Daseins beziehen. 15 Nussbaum 2004 und Solomon 2004 etwa reduzieren Emotionen auf evaluative Urteile, Searle 1987 (amerik. zuerst 1983) oder Green 1992 auf ein WunschÜberzeugungspaar. Aus naturwissenschaftlicher Perspektive werden Emotionen, zum Beispiel bei LeDoux 2001 (amerik. zuerst 1996) oder Damasio 1999, häufig mit bestimmten zerebralen oder viszeralen Erregungszuständen gleichgesetzt (dazu SuZ 190). Die frühen Empiristen reduzieren Emotionen auf nicht-intentionale (Lust-/Unlust-) Empfindungen, für Goldie 2004 handelt es sich um intentionale Gefühle. Andere wiederum vertreten, wie de Sousa 1997, eine Komponententheorie, der zufolge, in unterschiedlichen Kombinationen, mehrere Komponenten eine Emotion konstituieren. Die Theorien unterscheiden sich basal auch dadurch, ob sie Emotionen, wie bei Goldie, aus der Perspektive des persönlichen emotionalen Erlebens beschreiben, oder, wie bei Damasio und LeDoux oder den Komponententheoretikern, aus einer externen oder intern-extern gemischten Perspektive. Eine gute Übersicht bietet Green 1992. 14
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Arten sozialer Emotionen; drittens durch seine penible Analyse des „Wovor“ der Furcht; viertens durch seine Charakterisierung des Fürchtens; und fünftens durch die Betonung des zumeist ignorierten „Worum“ der Emotionen. Wie an allen Modi der Befindlichkeit lassen sich an der Emotion der Furcht drei Aspekte unterscheiden: das Wovor, das Worin und das Worum. Das Wovor der Furcht ist etwas „innerweltlich Begegnendes von der Seinsart des Zuhandenen, Vorhandenen oder Mitdaseins“ (SuZ 140): etwas Furchtbares. Heidegger orientiert sich hier implizit an der Auffassung, dass jede Emotion mit einer emotionsangemessenen Eigenschaft des Objektes, auf das die Emotion gerichtet ist, in einem Sinnzusammenhang steht: die Freude mit dem Erfreulichen, der Neid mit dem Beneidenswerten, die Furcht mit dem Furchtbaren.16 Diese Auffassung lässt sich auch auf die Ausdrücke ausweiten, die verwendet werden können, um Ausdrücke wie „Erfreuliches“, „Beneidenswertes“, „Furchtbares“ zu erläutern. Genau dies versucht Heidegger am Beispiel des Furchtbaren als dessen, wovor man sich fürchtet, wenn man sich fürchtet. Erhellend an dieser Analyse des Furchtbaren ist zunächst die Unterscheidung des Bedrohlichen von dem bloß Abträglichen. Zwar ist alles Bedrohliche auch abträglich, aber nicht alles Abträgliche ist auch bedrohlich. Ein Tiger, der im Dschungel oder hinter Gittern sitzt, ist zwar abträglich, aber bedrohlich, also existenziell relevant, wird er erst, wenn er, aus dem Dschungel oder dem geöffneten Käfig kommend, sich meinem Schreibtisch nähert und auch bereits in dessen Nähe ist. Weiter macht Heidegger aufmerksam auf einen Sachverhalt, der in den gängigen Emotionstheorien ebenfalls unterbelichtet bleibt, nämlich darauf, dass das Bedrohliche nicht kontextfrei erscheint, sondern aus einer bestimmten „Gegend“ kommt, die deswegen sozusagen mitgefürchtet wird. Sie ist nicht „geheuer“ (SuZ 140). Und schließlich verweist er auf die für die Furcht konstitutive Ungewissheit des Eintreffens des Furchtbaren: ob der Tiger mich verletzt und tötet oder ob ich noch einmal davonkomme. Wenn das Abträgliche droht und es uns treffen kann oder nicht, wird es zum Furchtbaren. Entdeckt wird dieses aber erst durch das Sich-fürchten. Das Fürchten selbst ist eine Weise, in der das Dasein sich befindet. Heidegger erläutert sie als das „sich-angehen-lassende Freigeben des so _____________ 16
Zu dieser Theorie des „formalen Objekts“ vgl. Kenny 1963, 189ff; de Sousa 1997, 204ff; interne Differenzierungen nimmt Goldie 2002, 11ff. vor; zu „emotion-proper properties“ siehe Goldie 2004, 94.
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charakterisierten Bedrohlichen“ (SuZ 141). Darin, dass wir das Bedrohliche uns etwas angehen lassen, unterscheidet sich das Fürchten von einem zum Beispiel nur theoretischen, unbetroffenen Konstatieren des Bedrohlichen. Mit dem Freigeben des Bedrohlichen ist das Sich-nähern-können gemeint, das die existenziale Räumlichkeit des Daseins voraussetzt. Das Worum der Furcht ist das Dasein selber. Heidegger betont hier, dass eine Voraussetzung des Fürchtens die Sorge des Daseins ist, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht. Insofern erschließt die Furcht nicht nur als eine Weise der Verfallenheit das innerweltliche Wovor des Fürchtens, sondern, obgleich unausdrücklich und „vorwiegend in privativer Weise“, „gleichursprünglich“ auch das Dasein selber als Gefährdetes und Bedrohtes. Heidegger gehört zu den wenigen Philosophen, die auch eine bestimmte soziale Form der Emotionen thematisiert haben. Er hat dabei fruchtbare Differenzierungen eingeführt, wenn auch leider, im Unterschied zum Beispiel zu Max Scheler, nicht alle ausgeführt.17 Bezogen auf den konkreten Fall des Fürchtens unterscheidet er das Fürchten für jemanden als eine Weise der Mitbefindlichkeit von dem Sich-mitfürchten und dem Miteinanderfürchten (SuZ 141f.). Leider überlässt Heidegger die Interpretation dieser letzten beiden sozialen Weisen des Fürchtens der Leserin.18 Der Ausgangspunkt seiner Diskussion ist die Beobachtung, dass das Worum der Furcht nicht zwingend nur das sich jeweils fürchtende Dasein selber sein muss, sondern durchaus auch ein anderes Dasein (Mitdasein) sein kann. Wenn ich nicht um mich selber, sondern für einen anderen fürchte, ist dies aber erstaunlicherweise kompatibel damit, dass ich mich nicht fürchte, dass ich ihm die Furcht nicht abnehmen kann und dass auch er sich selbst nicht fürchtet – im Gegenteil fürchten wir oft gerade deshalb für jemanden, weil er sich selbst nicht fürchtet und „tollkühn dem Drohenden sich entgegenstürzt“ (SuZ 141f.). In seinen anschließenden Überlegungen revidiert Heidegger diese Auffassung scheinbar, wenn er behauptet, dass genau besehen das Fürchten für jemanden doch auch ein Sich-fürchten ist. Allerdings ist dies nur in einem abgeleiteten Sinne der Fall. Wer sich für jemanden fürchtet, fürchtet, dass etwas Furchtbares dessen Wohl bedroht. Von dieser Bedrohung ist der Fürchtende zwar selber _____________ 17 18
Scheler 1976 (zuerst 1913). Schelers Unterscheidung von Miteinanderfühlen und Anteilnahme an den Gefühlen des anderen in Sympathie, Mitleid oder Mitfreude bilden hier anscheinend den hilfreichen Hintergrund, Scheler 1976, 17ff.; vgl. Krebs 2007.
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nicht direkt betroffen, wohl aber indirekt mitbetroffen, falls sein eigenes Wohl von dem Wohl des Anderen berührt wird. Wovor er sich fürchtet, ist dann zum Beispiel, dass der Andere ihm „entrissen“ werden könnte; und das Worum seiner Furcht wäre in diesem Fall das zum Sein des Daseins hinzugehörende Mitsein mit dem Anderen.
3. Die Stimmung der Angst Heideggers Analyse der Furcht als Beispiel für die emotionale Seite der Befindlichkeit dient der abgrenzenden Konturierung der Stimmung der Angst, hat aber keine eigenständige methodische Funktion. Das unterscheidet sie von der Angst. Nachdem er in den ersten fünf Kapiteln von Sein und Zeit die Grundbestimmungen des Daseins einzeln eingeführt und erläutert hat, sucht er im sechsten Kapitel nach einem „einheitlichen phänomenologischen Blick“ auf die „phänomenale Vielfältigkeit der Verfassung“ des Daseins und zwar nach einer „Weise des Erschließens, in der das Dasein sich vor sich selbst bringt“, und zwar so, dass es sich „vereinfacht“ zugänglich wird (SuZ 182). Die Stimmung der Angst hält er für geeignet, diese Funktion zu erfüllen und ausgehend von ihr die Sorgestruktur zu gewinnen, die die bislang einzeln entfalteten Grundbestimmungen des Daseins in einen einheitlichen Zusammenhang bringt. Diese Auszeichnung der Angst vor anderen Stimmungen basiert zum einen auf Heideggers phänomenologischer Methodologie, zu der die Forderung gehört, philosophische Einsichten stets an vorphilosophische zu binden. Die phänomenologische Interpretation [muss] dem Dasein selbst die Möglichkeit des ursprünglichen Erschließens geben und es gleichsam sich selbst auslegen lassen. Sie geht in diesem Erschließen nur mit, um den phänomenalen Gehalt des Erschlossenen existenzial in den Begriff zu heben (SuZ 139f.).
Verhindern möchte er so die Fehler der traditionellen Methode psychologischer Reflexion, die eine verdinglichende und „künstliche Selbsterfassung des Daseins“ zur Folge hat (SuZ 182). Da das Dasein in der Angst „ihm selbst in ausgezeichneter Weise erschlossen ist“, ist sie besonders geeignet für die methodische „Möglichkeit, im interpretierenden Mit- und Nachgehen innerhalb eines befindlichen Verstehens zum Sein des Daseins vorzudringen (SuZ 185)“.
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Zum anderen spielt die „Grundbefindlichkeit“19 der Angst als „Stimmung der Unheimlichkeit“ eine Rolle, insofern sie die „Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens“ bietet, „weil sie vereinzelt“ (SuZ 187). Als Sich-Ängstigende machen wir, im Gegensatz zur Furcht und anderen Emotionen, die Erfahrung, dass das einzelne innerweltlich Seiende und die öffentlichen Bedeutsamkeiten – Normen, Regeln, Rituale, Moden, Prioritäten, Institutionen, Zuhandenheiten – ihre „Vertrautheit“ und persönliche Bedeutung für uns verloren haben. Eine solche Situation des „Unzuhause“, in der uns nichts Innerweltliches mehr betrifft und ergreift, uns nichts mehr etwas sagt und bedeutet, uns nichts mehr etwas angeht und berührt, nennt Heidegger „Vereinzelung“. Vereinzelung ist die erlebte Diskrepanz von öffentlicher Bedeutsamkeit und existenzieller Gleichgültigkeit. Es ist das Thema der späteren Analysen des eigentlichen Verstehens und der eigentlichen Rede, dass das in der angstvollen Vereinzelung liegende „Freisein“ von den öffentlichen Bedeutungen im Sinne ihrer persönlichen, existenziellen Unbedeutsamkeit als Chance für die „Freiheit“ des eigentlichen Entwerfens von Existenzmöglichkeiten begriffen werden kann. Aufgrund der Passivität und Ohnmacht der Befindlichkeit ist es aber fraglich, ob die auf die Angst folgende Aktivität der Selbstentwürfe das Problem der existenziellen Irrelevanz lösen kann – zum Beispiel durch eine partielle Veränderung der Welt, durch die Bemühung um ihre persönliche Zu- und Aneignung oder durch das Ausschöpfen übersehener Möglichkeiten. Heidegger interessiert sich aber nicht für dieses existenzielle Grundund Grenzproblem und seine Lösung, sondern für die methodische Möglichkeit, das in der eigentlichen Stimmung der Angst existenziell Erschlossene existenzial auf den Begriff der Sorge zu bringen. Weil „das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende“, die „Welt“ und das „Mitdasein Anderer“ dem Ängstigenden „nichts mehr zu bieten“ vermögen, kann er sich nicht mehr verfallend „aus der ‚Welt‘ und der öffentlichen Ausgelegtheit“ verstehen (SuZ 187). Diese „völlige Unbedeutsamkeit“ von Innerweltlichem und Welt ermöglicht es aber, dasjenige existenziell ausdrücklich zu erschließen, was eigentlich und primär bedeutsam ist, aufgrund der Verfallenheit an die öffentlichen Bedeutsamkeiten aber in _____________ 19
Die Formulierungen Heideggers implizieren, dass es mehrere solcher ausgezeichneten Stimmungen gibt; er begründet nicht, warum er unter ihnen speziell die Angst auswählt. An anderen Stellen scheint er die Grundstimmung der Langeweile zu bevorzugen (GM 89ff., 117ff., 235–248; KPM 251; WM 110ff.). Zur Deutung der Langeweile vgl. auch Ferreira 2002, 188ff.
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den Hintergrund der Aufmerksamkeit gedrängt wird: dass es uns letztlich um unser Sein selbst geht, dass wir sind und zu sein haben. Diese existenzielle Situation, in die der existenziale Interpret sich hineinversetzt und in der das Worin, Wovor und Worum der Angst als eigentlichem In-derWelt-sein(-können) zusammenfallen, gibt ihm die Möglichkeit, das in der Angst implizit verstandene Sein des Daseins als In-der-Welt-sein und Sorge explizit zu machen. 20 Die eigentliche Angst ist also geeignet zur Gewinnung der formalen Sorgestruktur, sie gehört als einzige konkrete Befindlichkeit aber auch zum Wesen des Menschen und durchzieht als „Grundstimmung“ der metaphysischen Heimatlosigkeit und Fremdheit in der Welt, mit der er unauflöslich verbunden ist, latent immer schon alle Seinsweisen des Daseins. Dass wir nicht immer nur aufmerksam auf uns selbst bezogen sind, sondern uns in der natürlichen Einstellung, zum Beispiel in der Emotion der Furcht, „zunächst und zumeist“ auch ausdrücklich und verfallend auf das innerweltlich Seiende beziehen, interpretiert Heidegger daher nicht nur als eine Verlagerung der Aufmerksamkeit, wie sie für endliche Wesen aufgrund der „Enge des Bewußtseins“ nun einmal notwendig ist, sondern als „Flüchten“, „Ausweichen“, „Abblenden“ der in der Angst latent immer schon erschlossenen „Unheimlichkeit“ (SuZ 188f.).21 Entgegen seinen Beteuerungen, die verschiedenen Seinsweisen des Daseins nicht zu bewerten, charakterisiert Heidegger die „verfallene“ Emotion der Furcht als „uneigentlich“, die selbstbezügliche, individuierende Stimmung der Angst dagegen als „eigentlich“,22 mit der Suggestion, dass Eigentlichkeit die bessere Seinsweise ist.23 Was aber ist „Eigentlichkeit“? Seine Beispiele legen nahe, dass ausschließlich ausdrückliche Weisen der Selbstbezüg_____________ Vgl. Merker 2001, 122f. Mit dieser „Verdrängung“ der Angst soll es auch zusammenhängen, dass die Angst als Grundbefindlichkeit zwar immer „da“, doch zumeist „latent“, „verborgen“ bleibt, nur „selten“ als „Angstphänomen“ manifest wird, zumeist „existenziell unverstanden“ bleibt und „noch seltener“ existenzial-ontologisch interpretiert wird (SuZ 190). 22 Da die Angst eine „Grundbefindlichkeit“ ist und als solche allen Stimmungen und Emotionen zugrunde liegt, und da Heidegger nur den speziellen Fundierungszusammenhang von Angst und Furcht hervorhebt, ist es unklar, ob er nur die Furcht oder auch alle andere Emotionen als „an die ‚Welt‘ verfallene, uneigentliche und ihr selbst verborgene Angst“ charakterisiert (SuZ 190). 23 Ausgeschlossen ist allerdings, aufgrund der Unabsichtlichkeit, Unverfügbarkeit und Passivität sowohl der Stimmungen als auch der Emotionen, dass es sich um eine moralische Bewertung von Seinsweisen handelt, für die wir verantwortlich sind. 20 21
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lichkeit eigentlich sind, alle verfallenen (emotionalen, besorgenden) Weisen des Seins bei bedeutsamem innerweltlich Seienden dagegen uneigentlich. Dass er kein Beispiel für eine eigentliche „Verfallenheit“ und „durchschnittliche Alltäglichkeit“, für ein eigentliches „Mitsein“ und für eine eigentliche Emotion angibt,24 könnte aber auch darauf zurückzuführen sein, dass für sein Interesse an der Gewinnung der Sorgestruktur die ausdrücklich selbstbezüglichen Seinsweisen methodisch geeigneter sind. Insofern lässt sich über die Möglichkeit eigentlicher Weisen der Verfallenheit nur selbständig weiterdenken.
4. Bollnows Heidegger-Kritik In seinem 1941 erschienen Buch Das Wesen der Stimmungen hat Otto Friedrich Bollnow Heideggers „existenzial-apriorische Anthropologie“ (WS 183) und vor allem seine Theorie der Befindlichkeit einer ausführlichen Kritik unterzogen. Diese Kritik bezieht sich nicht auf die inhaltlichen Analysen der Emotion der Furcht und der Stimmung der Angst und auch nicht auf die Unterscheidung von Emotionen – Bollnow nennt sie „Gefühle“ – und Stimmungen. Bollnows Kritik gilt vielmehr der von Heidegger skizzierten und praktizierten Methode. Diese begeht in seinen Augen nämlich einen ähnlichen Fehler wie die traditionelle Anthropologie, die das Wesen des Menschen in der Vernunft erblickte, sowie die zeitgenössische Anthropologie, die jeweils eine einzige Bestimmung des Menschen – als Bündel von Trieben, als soziales Wesen, als lachendes Wesen, als Mängelwesen usw. – zu seinem Wesen erklärt hat. Gegen solche dogmatischen Reduktionen und Einseitigkeiten wendet sich Bollnow mit seiner methodischen Alternative. Er wählt ein Verfahren, das nicht als „metaphysische Voraussetzung“, sondern als „hypothetischer Leitfaden“ verstanden werden soll. Er möchte den Menschen und das menschliche Leben wie einen Text behandeln, der nur verständlich wird, wenn man ihn als ein „Sinnganzes“ betrachtet, in dem alles, was dazugehört, „einsehbar“ für das Ganze etwas bedeutet. Dazu gehört die Hypothese, dass jede Untersuchung einzelner Eigenschaften des Menschen das Verständnis seines Wesens verwandelt und nicht nur eine inhaltliche Ergänzung und Erweiterung eines bereits entdeckten formalen Wesens ist. _____________ 24
Tugendhat gehört zu den wenigen, die die Alternative uneigentlicher und eigentlicher Verfallenheit überhaupt erwägen (ders. 1970, 315f.).
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Weiter ist er sich mit Heidegger zwar einig in der methodischen Kritik der Psychologie. Auch er betont die Gefahr der Unzuverlässigkeit und Vorurteilsbelastetheit absichtlicher Selbstbeobachtung und Reflexion. Aber im Unterschied zu Heidegger vertraut er auch nicht auf ein „Hineinversetzen“ in solche und ein auf den Begriff bringen solcher „ausgezeichneten“ Existenzweisen wie der Angst. Seine Alternative dazu besteht in dem Rekurs auf Texte von Dichtern und Denkern, in denen Stimmungen unbefangen durch die Absicht, eine Theorie der Stimmungen zu entwickeln, dargestellt werden (WS 19ff.). Mit dieser Konzeption einer empirisch umfangreichen Methode philosophischer Anthropologie sieht sich Bollnow im Gegensatz sowohl zur Methode der Existenzerhellung von Jaspers als auch zur existenzialen Analytik Heideggers, die beide die Möglichkeit einer solchen Anthropologie mit entgegengesetzten Argumenten bestreiten. Dem einen ist sie begrifflich bereits zu fest, dem anderen begrifflich zu unbestimmt. Bollnow wiederum kritisiert als ungerechtfertigt Heideggers Auffassung, der zufolge wie alle Wissenschaften so auch die Anthropologie einer (fundamental) ontologischen Begründung bedürfe. Und er kritisiert vor allem das Verfahren, am Beispiel einer einzigen Stimmung, der Angst, das Wesen der Stimmungen und zugleich das formale Wesen des Menschen zu erkennen. Die Annahme einer solchen formalen Grundstruktur des menschlichen Daseins, die von möglichen inhaltlichen Füllungen unberührt bleibt, hält er für empirisch nicht haltbar. Seine Aufgabe sieht er dagegen darin zu zeigen, dass jede Stimmung zur Wesensbestimmung des Menschen etwas Neues hinzufügt.
5. Existenzphilosophie und Angst Bollnow honoriert die existenzphilosophische Entdeckung der Bedeutung der Stimmungen für den Menschen und insbesondere der Bedeutung der Angst als einer „entscheidenden Grenzsituation“. Zuvor wurde Angst lange als eine dem menschlichen Wesen äußerliche und fremde Stimmung verstanden. Sie galt als (auch ethischer) Mangel, der durch wissenschaftliche Erforschung ihrer Ursachen und möglicher Therapien und durch die daran orientierte Praxis von Erziehern und Ärzten überwunden werden müsse. Demgegenüber habe die Existenzphilosophie erkannt, dass Angst ein „sinnvolles und notwendiges Glied in der Gesamtorganisation des Menschen“ sei und für diesen auch eine „positive“ Wirkung habe, indem
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sie nicht nur die gegenständliche Unbestimmtheit der Welt, sondern das „Nichts“ der Unheimlichkeit und Ungeborgenheit erschließe, von allen vertrauten Bedeutungen und Bezügen loslöse und damit eine notwendige Bedingung der Freiheit sei (WS 71). Bollnow möchte nun zeigen, dass die Einsichten in das Wesen des Menschen und sein Verhältnis zur Welt, die von der Angst aus gewonnen werden können, einseitig sind. Erst ein Vergleich von Einsichten, die an vielen Stimmungen gewonnen worden sind, bietet ihm zufolge eine hinreichende Grundlage für eine stets vorläufige philosophische Anthropologie, die er mit seinem Buch vorbereiten möchte. Er sieht in Heidegger selber eine Widersprüchlichkeit, insofern dieser einerseits betont, dass von jeder Stimmung aus die formale Grundstruktur des Daseins erkannt werden könne, andererseits aber die Angst vor anderen Stimmungen auszeichnet, insofern nur sie voll entfalte, was in anderen Stimmungen verdeckt sei. Auch über eine solche Alternative lässt sich nach Bollnow nicht apriori entscheiden (WS 68). Die Absicht seines Buches besteht also darin, zum einen die Vielfalt der positiven und negativen Stimmungen zu untersuchen, zum anderen auf genuine Einsichten und Konsequenzen der gehobenen Stimmungen aufmerksam zu machen.
6. Die Vielfalt der Stimmungen Wie viele romantische, neohegelianische und lebensphilosophische Autoren, wie eine Reihe zeitgenössischer Psychologen25 und wie Heidegger so bedient sich auch Bollnow eines Schichtenmodells der Seele. _____________ 25
Zu ihnen gehören Palagyi, Ewald, Höffding, Schneider, Reichardt, Odebrecht, Lersch, Schröder und viele andere. Sie alle diskutieren, zum Teil mit Berufung auf Klages, Scheler, Krüger die seelischen Leistungen des Menschen im Gegensatz zu dessen höherstufigen geistigen Leistungen oder als Fundierung für sie. Sie unterscheiden zwischen leiblichen Gefühlen, die auch Teil von Emotionen sein können, und Gefühlen, die Emotionen sind, sowie verschiedenen Arten von „gehobenen“ und „gedrückten“ Grundstimmungen, Stimmungen und Verstimmungen, die sie „Lebensgefühle“, „Vitalgefühle“ nennen. Im Hintergrund vieler dieser Überlegungen steht Carl Gustav Carus’ Werk Psyche von 1846, das in Anlehnung an Hegels Anthropologie basale Weisen des Bewusstwerdens des unbewussten Organismus beschreibt und eine Geschichte der Freude und Trauer, der Liebe und des Hasses verfasst. Die Bedeutung der Stimmungen und Gefühle ist insbesondere auch von Psychiatern zur Grundlage ihrer Arbeit gemacht worden; Heideggers Theorie der Befindlichkeit hat auf den Psychiater Binswanger u. a. Einfluss gehabt. Hans Lipps hat 1941 die Verlegenheit, das Schamgefühl, Stimmun-
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Auf der untersten Stufe siedelt er die Stimmungen an als „Lebensgefühle“ und einfachste und ursprünglichste Form, in der das Leben seiner selbst in bestimmter Färbung, Wertung und Stellungnahme inne wird. Alle höheren Leistungen des Geistes, auch die Emotionen, sind in den Stimmungen verwurzelt und von ihrem selektiven und evaluativen Charakter beeinflusst, wenn auch nicht gänzlich bestimmt. Wie Heidegger betont auch Bollnow, dass Menschen immer schon gestimmt sind und dass Stimmungen in ihrer Passivität dem menschlichen Wesen nicht äußerlich, sondern notwendig und konstitutiv für es sind. Weiter unterscheidet er „Grundstimmungen“ oder „Lebensstimmungen“ (Schwermut, Heiterkeit, Verdrossenheit), die aufgrund von Naturanlagen oder Lebensschicksalen einen beharrlichen „Untergrund“ bilden oder sich immer wieder durchsetzen, von wechselnden Stimmungen, die durch jene gefärbt sind. Beide unterscheidet er von den rein leiblichen Gefühlen (Hunger, Durst, Müdigkeit), in denen wir unseres Leibzustandes gewahr werden und die auch, wie die Emotionen, auf die Stimmung zurückwirken. Und er kritisiert die „Stimmungsmache“ ebenso wie, als „Kitsch“, die „unfruchtbare“ Instrumentalisierung, die Stimmungen erfahren, wenn sie absichtlich gesucht und genossen werden und so ihren angemessenen Ort im „Untergrund“ verlassen und zum Vordergrund werden (WS 151ff.). Neben diesem Schichtenmodell sind musikalische, klimatische und räumliche Charakterisierungen weitere Versuche, sich sprachlich einem seelischen Bereich zu nähern, für den unsere „verfallene“ Sprache nicht besonders geeignet ist. In dem Ausdruck „Stimmung“ sieht Bollnow „eine gleichnishafte Übertragung eines musikalischen Begriffs auf die menschliche Seele“. Ein Instrument bezeichnen wir als gestimmt, wenn es auf ein anderes oder auf eine bestimmte Norm abgestimmt ist, sodass es nur in einem solchen gestimmten Zustand seine Leistung erbringen kann. In diesem Sinne sprechen wir auch davon, dass wir „in Stimmung“ zu etwas sind. Ebenso gehört zur Stimmung eine „Übereinstimmung“ des ganzen Menschen, der in seinen seelischen Zuständen, in seinem Verhältnis zur Welt und in dem Stil und Rhythmus seiner leiblichen Ausdrucksweisen gleichmäßig auf einen einheitlichen Ton gestimmt ist. Weiter werden Stimmungen mit demselben Vokabular charakterisiert, mit dem wir auch das Wetter, das Klima und die Atmosphäre beschreiben, die die Stimmungen mit beeinflussen. Sie sind heiter, sonnig, hell oder düster, dunkel und _____________ gen, Platzangst, Pedanterie, Geiz, Eifersucht, Hass sowie den Spieler und Abenteurer untersucht.
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umwölkt. Und schließlich werden Stimmungen in den räumlichen Kategorien „oben“ und „unten“ beschrieben, die den von Heidegger betonten Lastcharakter augenfällig machen. Positive Stimmungen sind hoch und gehoben, negative sind gesenkt, gedrückt, flach, niedergebeugt, tief. Dem korrespondiert der leibliche Ausdruck der Stimmungen: der gehobene Kopf mit dem weiten Blick oder die gebückte Haltung mit gesenktem Kopf und eingeengter, nach unten gewandter Sicht. Bollnows Versuch einer Klassifikation der Vielfalt der Stimmungen ist dreiteilig. Zunächst basiert diese auf der polaren Einteilung der Stimmungen in gehobene und gedrückte, wobei zwischen den extremen Polen Rausch und Angst/Verzweiflung oder, etwas weniger extrem, Fröhlichkeit und Traurigkeit, „zwischen denen das menschliche Leben in regelmäßigerem oder unregelmäßigerem Wechsel schwankt“ (WS 49), nicht nur Gradunterschiede, sondern auch verschiedene Stimmungsarten anzusiedeln seien. Zwischen diesen beiden Gruppen der gehobenen und gedrückten Stimmungen sieht er dann noch eine „mittlere“ Lage der Stimmungen, in der die Erregungen der einen wie der anderen Seite sich gelegt haben. In diese Gruppe, die sich auch den gehobenen oder gedrückten Stimmungen zuneigen kann, zählt er die Stimmungen der ausgeglichenen Ruhe, der Sicherheit in der gegenwärtigen Lebenslage oder der Gelassenheit, die die Dinge an sich herankommen lässt und sie „in ihrer Mitte“ sieht (WS 50). Weitere Klassifikationsgesichtspunkte innerhalb dieser Trias sind: die „Tiefe“ oder „Oberfläche“ der seelischen Schichten, die von den Stimmungen betroffen sind – zum Beispiel Formen der gezwungenen Lustigkeit oder Albernheit und Ausgelassenheit, „die den Menschen nur an der Oberfläche befriedigen und darum meist auch einen faden Nachgeschmack hinterlassen“ (WS 44) –, die Lautstärke, Intensität und Dauer, mit denen sie verbunden sind – die extremen Zustände sind intensiv, aber in der Regel transitorisch –, und die Altersspezifität der Stimmungen – Ausgelassenheit und Albernheit sieht er eher bei der Jugend, mürrische Verdrossenheit oder heitere Gelassenheit eher bei Älteren. Im Einzelnen untersucht Bollnow die gedrückten Stimmungen der Angst, Verzweiflung und Langeweile26 als besondere Formen, sowie Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit, Verzagtheit, Melancholie, Depression, _____________ 26
Die Langeweile nimmt für Bollnow, wie die Extreme der Angst und Verzweiflung, eine Sonderstellung innerhalb der gedrückten Stimmungen ein, weil sie „als eine quälende Gleichgültigkeit den Menschen durchzieht und alle Anteilnahme an den Menschen und den Dingen erstarren läßt, so daß der Mensch wie abgestorben erscheint“ (WS 48).
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Wehmut, Resignation, Schicksalsergebenheit, Verärgerung, Gereiztheit, Feindseligkeit, Besorgtheit, Trübsinn, Schwermut, Missmut, Verbitterung, Verkümmerung, mürrische Verdrossenheit und verschiedene Formen des Unglücks. Besonders gelegen aber ist ihm an den gehobenen Stimmungen: religiöse, heroische oder erotische Formen ekstatischen Rausches als extremer Gegenpol zur Angst, Heiterkeit, Frohsinn, Fröhlichkeit, Leichtsinn, Lustigkeit, Ausgelassenheit, Albernheit, Übermut, Liebe und verschiedene Formen des Glücks. Ein Grund für Bollnows Betonung dieser gehobenen Stimmungen und ihrer Bedeutung für das menschliche Leben und Wesen ist seine Kritik an Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit menschlicher Existenz. Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Verfallenheit und Uneigentlichkeit interpretiert er Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit als ausschließlich bezogen auf die „ausgezeichneten“ und allein wesensgemäßen Zustände der Angst, des Rufes des Gewissens und des Vorlaufens zum Tode. Demgegenüber möchte Bollnow zeigen, dass erstens die gehobenen Stimmungen gleichermaßen wesentlich für den Menschen sind; dass sie zweitens genuine Einsichten verschaffen, die ohne sie nicht gewonnen werden könnten; und dass sie drittens praktische Konsequenzen haben, die wertvoll sind und ihre eigene Wichtigkeit im menschlichen Leben haben. Nur einige Aspekte dieser Thesen möchte ich abschließend noch kurz skizzieren. In den gedrückten Stimmungen, die Einsichten in die prekäre Lage der sozusagen metaphysischen Heimatlosigkeit des Menschen vermitteln, verschließen wir uns vor der Umwelt und den Mitmenschen. Eine solche Distanz und soziale Isolierung findet ihren leiblichen Ausdruck in gebückter, zusammengekauerter Haltung. Emotionale Konsequenzen sind die Neigung zu Hass, Neid, kleinlicher Gesinnung, fehlende Freude an der Arbeit und die Unfähigkeit zur emotionalen Teilnahme an den Mitmenschen. Praktische Konsequenzen der Bedürftigkeit sind die Unmöglichkeit der Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und kreativer Tätigkeit, eine egoistische Dauerbeschäftigung mit sich selbst und das ungehemmte Hervorbrechen primitiver elementarer Eigenschaften. Man wird und wirkt abweisend. Eine positive Funktion der gedrückten Stimmungen, neben ihrer Einsicht in die metaphysische Heimatlosigkeit des Menschen, liegt in ihrer kritischen und korrigierenden Haltung zu der in gehobenen Stimmungen zugänglichen Realität und überschwenglichen Kreativität. Die gehobenen Stimmungen dagegen wirken mit an einer Veränderung des emotionalen Lebens, der Einsichten, der Praxis, des Gemein-
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schaftsbewusstseins, Realitätsbewusstseins und Zeitbewusstseins27. Sie sind die Zeichen eines unterschiedlich umfassenden „vitalen Wohlbefindens“ und einer „allgemeinen Steigerung des Lebensgefühls“ (WS 90). In ihnen öffnen wir uns der Welt und den Mitmenschen. Im Gegensatz zur distanzierenden und isolierenden Angst erleben wir, zugespitzt in ihrem anderen Extrem, den verschiedenen Formen des Rausches und der Ekstase, eine Einheit oder doch Nähe mit dem, was uns umgibt. Leiblichen Ausdruck finden solche weltzugewandten Stimmungen in aufrechter, geöffneter Haltung, erhobenem Kopf und offenem Blick. Sie erlauben uns Einsichten, die uns in den gedrückten Stimmungen verborgen bleiben, und ein schnelleres Begreifen umfassender Zusammenhänge. Sie machen sensibel für die Schönheiten der Welt und die Besonderheit der Dinge und Menschen. Sie verdrängen oder eliminieren negative Emotionen wie Hass oder Neid, aber auch die Furcht vor dem Tod. Sie sind Bedingungen für Geselligkeit und die Formierung von Gemeinschaften und gemeinsamer Arbeit. Sie erlauben fruchtbare, berührende und anteilnehmende Beziehungen zu unseren Mitmenschen, drängen zur Mitteilung und ziehen andere Menschen an. Sie geben ein Kraft- und Machtgefühl, das praktisch zur Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und zu freudvoll gelingender (kreativer) Arbeit führt. Und sie sind eine Basis für das Vertrauen in eine grundsätzlich fördernde und tragende Realität. Nur dank der Vielfalt der Stimmungen, so Bollnows Fazit, können wir unser menschliches Wesen voll entfalten und zugleich Zugang zum Reichtum der Wirklichkeit finden.
Literatur Heideggers und Bollnows Schriften werden unter Verwendung von Siglen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Heidegger: GM – Grundbegriffe der Metaphysik KPM – Kant und das Problem der Metaphysik SuZ – Sein und Zeit WM – Wegmarken Bollnow: WS – Das Wesen der Stimmungen
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Dem veränderten Zeitbewusstsein in den gehobenen Stimmungen hat Bollnow fast die Hälfte seines Buches gewidmet.
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Jean-Paul Sartre (1905–1980)
Sartre: Emotionen als Urteile Jean-Pierre Wils Jean-Paul Sartres im Jahre 1939 erschienene Abhandlung Esquisse d’une théorie des émotions gehört zu den (zu Unrecht) weitgehend vergessenen Texten der Philosophiegeschichte des vorigen Jahrhunderts. Die „Skizze“ könnte man als eine Übung feinster philosophischer Phänomenologie betrachten, die sich programmgemäß von einem naiven psychologischen Empirismus fernhält und trotz aller Distanz zur (damaligen) Psychoanalyse sich gleichwohl in deren Nähe wagt. Sartre richtet sich aber ganz und gar auf den Entwurf einer „Idee“ bzw. eines Konzeptes von Emotionen, das ihre gültige Struktur, ihre Erscheinungsweise zu beschreiben versucht. In die unmittelbare Umgebung dieses Theorieentwurfs gehören Werke wie La transcendance de l’Ego (1936), L’imaginaire (1940) und der Roman La nausée (1938). Die „Skizze“ gehört zu jenen Texten, die man als Teil einer Vorgeschichte der neueren Forschung über Emotionen betrachten sollte. Genauso wie Sartres frühe Beiträge zu einer Theorie des Bewusstseins heute in ihrer Tragweite häufig unterschätzt werden, hat auch seine Theorie der Emotionen dieses Schicksal ereilt. Beide – Bewusstseins- und Emotionstheorie – gehören systematisch und phänomenologisch jedoch eng zusammen, sodass das Verschwinden beider aus dem aktuellen philosophischen Diskurs kein Zufall ist.1
1. Skizze der „Skizze“ Ganz im Geiste der Phänomenologie bemüht sich Sartre in der Einleitung, die er der genaueren Darlegung seiner Theorie als allgemeine Positionsbestimmung voranstellt, um eine scharfe Trennung von der Psycholo_____________ 1
Diese Aussage gilt mit einer großen Einschränkung. Manfred Frank hat sich unermüdlich um die Einbindung Sartres in die neuere Bewusstseinsdiskussion bemüht.
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gie. Deren Kennzeichnung geschieht in wenigen rudimentären Zügen: Die Psychologie, so Sartre, befasst sich nur mit Fakten und unterlässt es, ihren Gegenstand – in diesem Falle also die Emotionen – überhaupt zu konzeptualisieren. Sie besitzt keinen Begriff der Emotionen, weil sie keinen Begriff vom Menschen besitzt. Ein solcher Begriff aber lässt sich nur gewinnen, wenn man zu einem gewissen „Apriori“ bereit ist: Eine Emotion lässt sich demnach nur verstehen als Teil des Menschen überhaupt, als Äußerung einer konstitutiven Struktur, die jeder besonderen Emotion gleichsam transzendental zugrunde liegt. Mit Blick auf Heidegger geht Sartre davon aus, dass wir das „Dasein“, die „menschliche Wirklichkeit“ in ihrer Wesenheit zunächst erfassen müssen, weil die Emotionen nicht zufällige Ereignisse sind, die man von außen beobachten kann, sondern Elemente, Erscheinungsweisen dieser Wirklichkeit als solcher. Infolgedessen will die Skizze untersuchen, „unter welchen Bedingungen eine Emotion möglich ist“. Sie will nicht auf naive Weise darauf vertrauen, bereits zu wissen, was eine Emotion sei, sondern sich mit der Frage konfrontieren, „ob nicht die Struktur der menschlichen Wirklichkeit die Emotionen ermöglicht und wie sie diese ermöglicht“ (E 11/259).2
2. Entdeckung der Phänomenologie Diese erklärtermaßen transzendentale Annäherung wird sich der von Sartre damals gerade entdeckten Phänomenologie Husserls bedienen. Die Anleihen bei Husserl sind jedoch weniger methodischer Natur als vielmehr motivischer Art. Sartre will zunächst in einer möglichst deskriptiven Analyse zu bestimmten Strukturmerkmalen aller Emotionen durchdringen, um sodann zu einer allgemeinen Theorie zu gelangen. In diesem Zusammenhang sollten die körperlichen Reaktionen, die Verhaltensweisen und die eigentümlichen Bewusstseinszustände, die mit Emotionen zusammenhängen, beschrieben werden. Das Richtmaß dieser Beschreibung stellt jedoch der „Prozess der Emotionen selber“ dar. Deren Realität ‚sui generis‘ gilt es zu erfassen. Und damit wir uns nicht in einer zufälligen Kollektion verschiedenster Emotionen verzetteln, sollte die neue Theorie sich „die Er_____________ 2
Die Zitate aus der „Abhandlung“ weichen in meiner Übersetzung teils nicht unerheblich ab von der von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener besorgten deutschen Übersetzung der frühen Essays Jean-Paul Sartres. In den Klammern hinter der Sigle steht daher zunächst die Seitenzahl des französischen Originals, dahinter die Seitenzahl der deutschen Übersetzung von Aumüller u. a.
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fahrung von Essenzen und Werten“, „die Essenz der Emotion“ (E 12/261) zum Gegenstand ihrer Erforschung machen. Mit einer nahezu emphatischen Dankbarkeit gegenüber Edmund Husserl bedient Sartre sich im Folgenden der „phänomenologischen Reduktion“, die darin besteht, die Mannigfaltigkeit der realen Emotionen „einzuklammern“ und sich auf deren Essenz zu richten – auf „die transzendentale Essenz der Emotion als eines geordneten Bewusstseinstypus“ (E 13/262). Die Analyse geht demnach von der menschlichen Wirklichkeit als meiner Wirklichkeit aus. Sie lässt sich als eine „Hermeneutik der Existenz“ begreifen, die sich nicht scheut, zu einer Art transzendentaler Anthropologie durchzustoßen. Die Weise, wie die Emotionen sich in ihrem Prozess zeigen, ihre Erscheinungsweise oder ihr Phänomencharakter also, steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Weder die empirische Registrierung noch eine Theorie normativen Typus kann demnach Gültigkeit beanspruchen, sondern nur die genaue Analyse der Emotionen als Modi der menschlichen Existenz als solcher. Dabei wird Sartre sich im Laufe der Analyse immer wieder mit der Frage des menschlichen Bewusstseins befassen, denn die Emotion wird sich gewissermaßen als ein privilegierter Zugang zu diesem Bewusstsein erweisen. Bewusstsein und Emotion klären sich gewissermaßen gegenseitig über ihren besonderen Status auf. Solchermaßen wird der Phänomenologe die Emotion über das Bewußtsein und über den Menschen befragen; er wird die Emotion nicht bloß fragen, was sie ist, sondern auch was sie uns über ein Wesen lehrt, zu dessen Eigenschaften es gehört, einer Emotion fähig zu sein. Und umgekehrt wird er das Bewußtsein, die menschliche Wirklichkeit über die Emotion befragen: Wie muss ein Bewusstsein verfasst sein, damit die Emotion möglich ist oder gar, damit die Emotion notwendig ist? (E 15/264)
Sartre interessiert sich demnach zunächst weniger für einzelne Emotionen als vielmehr für die Beschaffenheit von Emotionen als solchen, weil sie uns über die Beschaffenheit der menschlichen Wirklichkeit in ihrer synthetischen Ganzheit aufklären. Wer die Emotion versteht, versteht auch das Ganze, weshalb es sinnvoll oder gar notwendig erscheint, „die Bedeutung der Emotion [la signification de l’émotion] zu untersuchen“ (E 16/265). Die „Skizze“ lässt sich deshalb mit Fug und Recht als eine kleine Hermeneutik der Emotion bezeichnen, denn sie versucht zu verstehen, was es heißt, sich im Zustand einer Emotion zu befinden. Emotionen lassen sich aber gerade nicht als Teile der Wirklichkeit in dieser Wirklichkeit beobachten. Die Wirklichkeit des Menschen darf nicht als Behälter heterogener Erfahrungen verstanden werden, der sich eines zentrierten Bewusstseins bedient, damit diese Erfahrungen nicht diffun-
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dieren und ihr Subjekt gleichsam auseinanderfällt. Emotion und Bewusstsein sind – zumindest in gewisser Hinsicht – vielmehr eins. Die Emotion bedeutet auf ihre Weise [à sa manière] das Ganze des Bewußtseins oder, wenn wir uns auf das Niveau der Existenz begeben, der menschlichen Wirklichkeit [la réalité-humaine]. Sie ist nicht zufällig, denn die menschliche Wirklichkeit ist nicht eine Summe von Fakten; in einer bestimmten Hinsicht bringt sie die menschliche synthetische Totalität in ihrer Vollständigkeit zum Ausdruck. Und darunter sollten wir nicht verstehen, daß sie die Folge [l’effet] der menschlichen Wirklichkeit darstellt. Sie ist die menschliche Wirklichkeit selbst, die sich realisiert in der Gestalt der Emotion. Es ist nicht länger möglich, die Emotion wie eine psycho-physische Störung aufzufassen. Sie hat ihre eigene Essenz, ihre eigenen Strukturen, ihre Weisen des Erscheinens, ihre Bedeutung. […] Im Gegenteil – es ist der Mensch, der seine Emotion akzeptiert und infolgedessen ist die Emotion eine geordnete Form der menschlichen Existenz. (E 16f./266)
Bereits hier stoßen wir auf markante Kennzeichen der Emotion: Sie betrifft das Ganze des Bewusstseins und ist nicht bloß ein Element des Empfindens, auf das sich das Bewusstsein gleichsam separat richten kann. Von daher kann man sagen, die Emotion okkupiere bis zu einem gewissen Grad das Bewusstsein, sie fülle es aus. Im Prozess der Emotion hat sich die Wirklichkeit in eine Emotion-Wirklichkeit verwandelt. Darüber hinaus gehört die Emotion (und mit ihr das Selbstgefühl, das im Zustand der Emotion besonders erfahrbar wird) zu den qualitativen Äußerungen des Bewusstseins und der Wirklichkeitserfassung. Sie lässt sich nicht abqualifizieren als das Geringere des Bewusstseins, als die Eintrübung seiner Realität. Solche Kennzeichnungen verstellen vielmehr den Zugang zu der Bedeutung des Phänomens. Zu sagen, die Emotion sei ein physischer, ein körperlicher Zustand, wäre angesichts ihres Bewusstseinscharakters eine leere Aussage. Natürlich ist die Emotion auch ein Körperzustand, aber was es bedeutet, Freude zu empfinden oder zu verstehen, wie die Welt sich im Zustand der Scham oder des Ekels verwandelt, lässt sich nur erfassen, wenn wir die Emotion als Zustand des Bewusstseins, als bedeutungsvolle Bezogenheit auf die Welt auffassen. Für Sartre ist die Emotion interessant als „die Erscheinung, insofern sie bezeichnet [le phénomène en tant qu’il signifie]“ (E 18/268). Man kann sich bereits hier fragen, ob Sartre sich nicht allzu schnell von der Psychologie verabschiedet hat und nicht im Kleide der Phänomenologie zu einer Variante der Psychologie zurückkehrt, die lediglich Empiriedistanz angesichts ihrer positivistischen Schwestern zu behaupten vermag. Immerhin nennt er selbst seine Skizze „ein Experiment mit der phänomenologischen Psychologie“ (E 18/268). Aber man sollte nicht unter-
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schätzen, wie sehr eine solche Annäherung dazu beiträgt, die Innenwelt der Emotionen zu beschreiben. „Wir werden den Versuch unternehmen, uns auf das Feld der Bedeutung zu begeben und die Emotion als eine Erscheinung [phénomène] zu behandeln.“ (E 19/268) Was sich dann zeigt, eröffnet eine neue Perspektive – die Emotion ist kein verworrener Zustand, keine bloße Störung des Bewusstseins, sondern eine Bewusstseins- und Weltqualität. Sie hat uns etwas Wichtiges zu sagen. Sartre wird nicht müde, dies zu betonen. Die Emotion „hat einen Sinn, sie bedeutet etwas“ (E 22/270). Aber wie sieht die „Skizze“ (nach dieser Einleitung) nun aus? Was fügt Sartre einer herkömmlichen Theorie hinzu? Die „Skizze“ behandelt die psychologischen Theorien, von denen sie sich absetzt, nur im Vorübergehen. Von einer „Skizze“ sollte man auch keine ausführliche Darlegung und Kritik erwarten dürfen. Wie bereits in der „Einleitung“ angedeutet, wehrt Sartre sich vor allem gegen die Auffassung, Emotionen seien im ansonsten geordneten Ablauf der Existenz vor allem als Störfaktoren aufzufassen. Wenn aber die Emotion eine hauptsächlich physische Störung ist, die mental abgewehrt werden soll, lässt sich kaum mehr erklären, weshalb Menschen Emotionen als durchaus organisierte Formen ihrer Existenz erfahren können. Emotionen verfügen über eine Art eigener Logik, das Verhalten, das sie auslösen, kann nicht von vorneherein als irrational oder widervernünftig bezeichnet werden. Sartre leugnet nun keineswegs, dass manche psychologische Theorie (Köhler, Lewin) den Aspekt des Verhaltens oder des Handelns, der mit einer Emotion verbunden ist, gewürdigt hat. Emotionen erfüllen demzufolge eine funktionale Rolle, indem sie angesichts einer Realität, die die betreffende Person auf eine bestimmte Art nicht bewältigen kann, gewissermaßen als funktionale Äquivalente auftreten: Wut oder Selbstzerknirschung können Ersatzhandlungen, Surrogate sein, weil die Primaranforderung angesichts einer bestimmten Situation nicht bewältigt werden kann. Als Ersatz für eine fehlende andersartige Bewältigung der Situation sucht demzufolge die Person Zuflucht zu einer Emotion. Überraschenderweise scheint Sartre diese Deutung von Emotionen keineswegs abzulehnen und am Ende seiner Skizze wird er in seiner Verwendung des Konzepts der „Magie“ diese Auffassung sogar weitgehend bestätigen. Was ihn hier lediglich zu stören scheint, ist der Sachverhalt, dass die psychologischen Theorien, die lediglich gestreift werden, sich nicht um eine adäquate Erklärung dieses Verhaltens bemühen. Ihnen fehlt offenbar ein zentrales Element – eine Theorie des Bewussteins.
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Zweierlei Fragen drängen sich bereits hier auf. Wenn man die funktionale Rolle der Emotionen (ihr Charakter als eigentümliches Ersatzverhalten angesichts einer spezifischen Realitätsbewältigung) und die Erklärung dieser Rolle unterscheidet, wird man sich fragen müssen, ob die Funktionalisierung zutreffend und ob die Erklärung hinreichend ist. Nebenbei bemerkt – angesichts des ausgeprägten Interesses von Sartre an bewusstseinsphilosophischen Sachverhalten in den dreißiger und vierziger Jahren kann man sich während der Lektüre der „Skizze“ des Eindrucks nicht immer erwehren, dass die Theorie der Emotionen immer wieder als Illustration der Bewusstseinstheorie fungiert. Diese Beobachtung könnte den doch auffällig einseitigen Funktionalismus und den fehlenden Versuch, eine gehaltvollere Theorie der Emotionen zu konstruieren, in Sartres „Skizze“ erklären. Auch in jenem Abschnitt, in dem Sartre sich der psychoanalytischen Theorie zuwendet, geht er von einem solchen Funktionalismus aus. Die „Bedeutung“ (signification) der Emotion läge, so mutmaßt er, in einer „funktionalen Ordnung“ (ordre fonctionnel) (E 33/282). Aber auch hier, beim schnellen Streifzug durch die Psychoanalyse, laufen alle Überlegungen auf die Hervorhebung des Stellenwertes des Bewusstseins zu. Sartre widerspricht der Annahme, Emotionen seien Abwehr- oder Zensurmechanismen, mit denen das Bewusstsein sich vor der Enthüllung des wahren Gehaltes der Situation schützt. Das „Bedeutete“ wird vom Bewusstsein, dem „Bedeutenden“ verdrängt, so lautet ihm zufolge die psychoanalytische Interpretation. Gegen diese Aufspaltung wird aber entschiedener Widerstand geleistet. Die Emotion sollte als integraler Bestandteil des Bewusstseins oder – besser – als Bewusstseinsphänomen an sich verstanden werden. Zu behaupten, die Emotion habe eine Bewusstseinsstruktur, hat zwar nicht zur Folge, dass ihre Bedeutung komplett offengelegt werden kann, aber zeitigt die für Sartre schwerwiegende Konsequenz, die Emotion nicht von außen als Spielball eines Wechselspiels zwischen Bewusstsein und Unbewusstem zu betrachten, sondern als intrinsischen Zustand des Bewusstseins als solchen. „Das Bewusstsein ist selbst ein Sachverhalt, eine Bezeichnung/Bedeutung [la signification] und das Bezeichnete/das Bedeutete [le signifié], wenn das cogito möglich sein soll.“ (E 36/286) Das Bewusstsein ist nicht ein Gefäß, worin sich Emotionen befinden, die sich gegebenenfalls als Puffer gegen eine verdrängte Bedeutung einsetzen lassen, sondern das Bewusstsein macht sich selber zu einem Emotion-Bewusstsein.
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3. Die Analyse des Bewusstseins Die Prominenz, mit der das Bewusstsein immer wieder auf den Plan tritt, nötigt uns spätestens jetzt, kurz bei Sartres frühem Bewusstseinskonzept stehen zu bleiben. Wenn das Bewusstsein in der Tat die „Seinsdimension des Subjekts“ (BS 6) ist, dann müsste seine Erläuterung auch einen wesentlichen Aufschluss über eine andere „Seinsdimension des Subjekts“ geben, nämlich über dessen Emotionen. Sartre geht in all seinen Schriften über das Bewusstsein davon aus, dass dieses primär kein wie immer geartetes Zentrum darstellt, keinen Kern des Subjekts, keine Positioniertheit, mittels derer die Welt (und das Selbst) gleichsam in reflexive Augenschau genommen wird. Es ist weder ein Inneres noch ein Element der Welt neben anderen Weltgegebenheiten. Beide – sowohl die klassische Reflexionstheorie als auch eine naturalistische Rekonstruktion, die das Bewusstsein als ein In-der-Welt-Gegebenes auffasst – müssen es verfehlen. In seiner kleinen Eloge auf Husserls Entdeckung der „Intentionalität“ wird dies unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. „Das Bewusstsein hat kein ‚Drinnen‘; ist nichts als das Draußen seiner selbst [le dehors d’ellemême], und diese absolute Flucht, diese Weigerung, Substanz zu sein [ce refus d’être substance], konstituieren es als ein Bewußtsein.“ (PH 35) Intentionalität heißt nicht nur, dass das Bewusstsein gerichtet ist. Das ist es natürlich auch. Intentionalität heißt primär ebenso wenig, dass das Bewusstsein über eine Subjekt-Objekt-Struktur verfügt. In einer bestimmten (und späteren) reflexiven Gestalt lässt sich eine solche Struktur selbstverständlich feststellen. Aber auch hierin liegt nicht der Kern der Behauptung, Bewusstsein sei wesentlich Intentionalität. Zur Umschreibung dieser Intentionalität kann man besser einen (für Sartre) äquivalenten Begriff verwenden, den Begriff der Transzendenz. Das Bewusstsein ist immer schon über sich hinaus. Alle Theorien, die das Bewusstsein ausgehend von einer wie immer grundgelegten Egologie rekonstruieren, gehen demzufolge am Wesentlichen vorbei. Gegen diese Auffassung steht die Aussage, „dass das Ego weder formal noch material im Bewusstsein ist: es ist außerhalb, in der Welt; es ist ein Sein der Welt, wie das Ego anderer.“ (TE 39) Das Bewusstsein ist weder das Haus eines Ego, das in ihm wohnt, noch ist es ein Sein in der Welt neben anderem Seienden. Sartre formuliert hier präzise, wenn er sagt, es sei ein Sein der Welt. Es ist ein bestimmter Zustand der Welt, kein Zustand in der Welt. Wenn jedoch das Bewusstsein ein Zustand der Welt ist, dann ist es immer schon früher da als die sekundäre Reflexion und erst recht früher als die Selbstreflexion. Das Bewusst-
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sein ist nicht nur eine besondere Art von Wissen, von Selbst-Wissen; es ist keine sublime Art der Selbsterfassung noch vor der Welterfassung. Es ist vielmehr schon immer bei der Welt. Das folgende Zitat macht Sartres Sichtweise unmissverständlich deutlich und weist auf die Verbindung mit seiner „Theorie der Emotionen“ hin. Für Husserl und die Phänomenologen jedoch beschränkt sich das Bewußtsein, das wir von den Dingen gewinnen, keineswegs auf deren Erkenntnis. Die Erkenntnis oder reine ‚Vorstellung‘ [représentation] ist nur eine der möglichen Formen meines Bewußtseins ‚von‘ diesem Baum; ich kann ihn auch lieben, fürchten, hassen, und diese Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst, die man ‚Intentionalität‘ nennt, findet sich in der Furcht, dem Hass und der Liebe wieder. Einen Anderen hassen ist ebenfalls eine Art und Weise, zu ihm hin zu zerbersten, sich plötzlich einem Fremden gegenüber zu finden, bei dem man zunächst die objektive Qualität ‚hassenswert‘ erlebt und erleidet. Da sieht man, wie mit einem Mal jene berüchtigten ‚subjektiven‘ Reaktionen, Hass, Liebe, Furcht, Sympathie, die in einer übelriechenden Lauge des Geistes trieben, sich davon losreißen; sie sind lediglich Weisen, die Welt zu entdecken. Es sind die Dinge, die sich uns plötzlich als hassenswerte, sympathische, entsetzliche, liebenswerte enthüllen. Es ist eine Eigentümlichkeit jener japanischen Maske, furchterregend zu sein, eine unerschöpfliche, unreduzierbare Eigentümlichkeit, die ihre Natur selbst konstituiert – und nicht die Summe unserer subjektiven Reaktionen auf ein Stück geschnitztes Holz. Husserl hat das Entsetzen und den Reiz wieder in die Dinge hineinversetzt. (PH 36)
In diesem Zusammenhang könnte man getrost von einem Versuch sprechen, das Bewusstsein zu exterritorialisieren. Es lässt sich als ein bestimmter Welt-Zustand bezeichnen, als eine Art Selbsterhellung oder – vielleicht besser – als Erhellt-Sein der Dinge. Seine reflexiven Strukturen und erst Recht seine selbstreflexiven Momente sind gewissermaßen sekundär. Das Bewusstsein ist weder ein Beobachtungsposten, von dem aus wir die Welt in Augenschau nehmen, noch ein Hort der Innerlichkeit, der uns jederzeit als Rückzugsmöglichkeit von dieser Welt zur Verfügung steht. Und es ist ebenso wenig das Theater, auf dem sich das Spiel der Emotionen ereignet. Letztere – die Emotionen – sind vielmehr eine bestimmte Weise der Existenz des Bewusstseins. In der unmittelbaren Umgebung des Zitats kündigt Sartre an, mit Husserls neuer Sichtweise auf die Intentionalität ließe sich auch eine ganz neue Abhandlung über die Leidenschaften (un nouveau traité des passions) entwickeln. Die Abhandlung über die Emotionen kann als eine (kleine) Ausarbeitung dieser Ankündigung gelten. An dieser Stelle können wir uns jedoch nicht näher mit der Beziehung zwischen Sartres Bewusstseinstheorie und seiner Emotionentheorie befassen. Seine Weigerung, die Emotionen gleichsam vom Bewusstsein zu separieren und sie als einen getrennten Seinsbereich zu betrachten, hat aber sowohl für eine (gehalt-
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volle) Theorie des Bewusstseins als auch für ein phänomennahes Verständnis der Emotionen eine weitreichende Bedeutung. Sie hat die Bewusstseinstheorien aus der Sackgasse der Reflexionstheorien befreit3 und den Emotionen gleichsam als substanziellen Weltzuständen ihre Würde zurückgegeben. „Das nicht-thetische Bewußtsein ist genau die Seinsweise, die bestimmtes Seiendes [êtres] hat, das man Vergnügen, Zorn, Schmerz usw. nennt.“ (BS 37) Wenn Emotionen eine ihnen eigene Bedeutung besitzen und eine Modifikation der Welt, eine Einfärbung der Welt hervorbringen, lässt sich auch behaupten, dass sie eine Interpretation darstellen, eine Art Hermeneutik der Dinge. Emotionen verleihen den Dingen eine Bedeutung und erlangen im gleichen Vorgang von diesen Dingen ihre Bedeutung. Die Art, wie diese Dinge dem Bewusstsein gegenwärtig sind, verdanken sie der Emotionen-Existenz, der emotionalen Ausprägung dieses Bewusstseins. Aber gleichzeitig hätten die Emotionen keinen Anhalt in der Welt, wenn sie nicht bereits von den Dingen ihren Gehalt erhalten hätten. Bevor Sartre einen Ausblick auf eine solche alternative Theorie der Emotionen gibt, wird dieses (überaus komplexe) Programm noch einmal unmissverständlich umrissen: Eine Theorie der Emotion, die davon ausgeht, daß die Sachverhalte der Emotion einen bezeichnenden Charakter besitzen, muss diese Bedeutung im Bewußtsein selber suchen. Oder anders ausgedrückt: Es ist das Bewußtsein, das sich zu Emotion-Bewußtsein macht aufgrund der Erfordernisse einer inneren Bedeutung [signification interne] (E 37/287).
Aber wie sieht nun diese alternative Theorie aus? Sartre deutet in der Skizze zunächst nur an, wie das Emotion-Bewusstsein verfasst ist. Jedenfalls ist es kein Bewusstsein, das mit einem reflexiven oder gar selbstreflexiven Kern oder Pol ausgestattet wäre. Egologische Elemente oder Ich-Zentrierungen liegen ihm fern. Es ist weder fokussiert, noch auf ein wie immer geartetes Selbst bezogen. Es ist in jeder Hinsicht Teil der Welt. Das Emotion-Bewußtsein [la conscience émotionelle] ist primär irreflexiv [d’abord irréfléchie] und kann auf diesem Niveau lediglich auf eine nichtpositionale Weise [sur le mode non-positionnel] Bewußtsein-von-sich sein. Das Emotion-Bewußtsein ist vor allem Bewußtsein von der Welt. (E 38f./288f.)
Genauso wenig wie hier ein von der Welt gelöstes Bewusstsein vorhanden ist, kann auch von einer Emotion gesprochen werden, die nicht Teil der Welt wäre. Ohne ihr „Objekt“ wäre die Emotion gewissermaßen nichts. Emotionen ziehen sich nicht in sich zurück, nachdem sie sich gleichsam _____________ 3
Vgl. Frank 1988, 1991 und 2002.
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an einem Objekt, an einem Sachverhalt oder an einer Situation entzündet haben. Entgegen der Ansicht, dass Emotionen lediglich in Korrelationen mit Objekten treten, sodass sie auch ohne diese beschrieben werden könnten, beharrt Sartre darauf, dass diese Auffassung lediglich das Ergebnis einer mangelhaften phänomenologischen Beschreibung darstellt. Für ihn ist vielmehr klar, „daß die Emotion in jedem Moment zum Objekt zurückkehrt und sich von ihm nährt“. Diese schöne Metapher legt nahe, dass die Emotion ohne ihre ganz und gar weltliche bzw. objektbezogene Ausfüllung ein leeres Gebilde wäre, gleichsam ein Gerippe ohne Gehalt und Empfindung. Die Emotion fügt deshalb auch der Welt nichts Neues hinzu. Sie kann nicht als die Einfärbung einer ansonsten neutralen Welt oder eines gleichsam kalten Objektes verstanden werden. Im Gegenteil – sie ist ihrerseits eine Weise, die Welt zu verstehen. Denn – das Subjekt der Emotion, das emotionalisierte Subjekt, und das emotionalisierende Objekt „sind in einer unverbrüchlichen Synthese vereint. Die Emotion ist eine bestimmte Weise, die Welt zu verstehen [une certaine manière d’appréhendre le monde].“ (E 39/289)
4. Handlung und Emotion: Der Weg in die Magie Im Folgenden konzentriert sich Sartre auf eine bestimmte Modifikation des Bewusstseins – auf seine handelnde Anwesenheit in der Welt. Die Emotion ist nämlich kein Zustand, den man ohne seine praktische Bewandtnis begreifen kann. Sartre zufolge ist die Emotion so etwas wie die Kehrseite unserer Handlungen. Die Emotion, so könnte man formulieren, ist Ausdruck der Qualität unserer Handlungen, Ausdruck ihres Gelingens und Misslingens. So ruft eine Handlung, die misslingt, beispielsweise Wut hervor. Zwischen der Handlung, die uns enttäuscht, und unserer emotionalen Reaktion, die in der Wut oder in der Verzweiflung sich Gehör verschafft, ist allerdings keine reflexive Zwischenphase geschaltet. Die Emotion hat nicht erst den Umweg über eine Reflexion nehmen müssen, um uns mit der Qualität des Misslingens zu konfrontieren. Sie ist die Handlung im Modus ihres Misslingens (oder Gelingens). Und ebenso wie im Falle des Bewusstseins die Analyse der Emotion uns mit einer besonderen Form dieses Bewusstseins konfrontierte – mit seiner primären Irreflexivität –, konfrontiert sie uns im Falle der Handlung erneut mit einer spezifischen Verfasstheit vieler Handlungen: Zahllose Handlungen erreichen kaum das Niveau der Reflexion, sie spielen sich in einem vorreflexiven Milieu ab. Es
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sind die Emotionen, die bereits lange, bevor wir uns unserer Handlungen bewusst werden, als Elemente eines vorreflexiven Bewusstseins die Qualität unserer Handlungen gleichsam präsentieren. Emotionen lassen sich demnach verstehen als die Atmosphäre unserer Handlungen, eben als ein spezifisch getöntes Milieu, als die qualitative Umgebung, in der sich diese Handlungen ereignen. Erst spät (und manchmal nie) findet der Übergang zur reflexiven oder thetischen Vergegenwärtigung statt. Letztere stellt nur die Spitze des Eisbergs dar. Offenbar findet also bereits auf der vorreflexiven, auf der emotionalen Ebene unserer Handlungen eine Orientierung in der Welt statt. Die Emotionen berichten gewissermaßen über den Stand der Dinge. Ihre Meldungen gelten einem Bewusstsein, das noch kein Bewusstsein seiner selbst ist und noch nicht als Ich-Zentrale wirksam geworden ist. Es gilt demnach zu verstehen, wie die Handlung als spontanes, irreflexives Bewußtsein so etwas wie eine existentielle Schicht [une certaine couche existentielle] in der Welt konstituiert und daß man sich seiner selbst als eines Handelnden nicht bewußt sein muß, um handeln zu können – ganz im Gegenteil. Zusammengefasst: ein irreflexives Verhalten ist kein unbewußtes Verhalten, sondern ein nicht-thetisches Bewußtsein seiner selbst, und seine Art und Weise, sich seiner selbst thetisch bewußt zu sein, besteht in seiner Selbst-Transzendenz [de se transcender] und im Sich-Ergreifen in der Welt als Eigenschaft der Dinge [qualité des choses] (E 42/292f.).
Allerdings ist immer noch nicht deutlich, wie sich die Sphäre der Reflexion zu der Sphäre des irreflexiven Bewusstseins und somit auch zu der Sphäre der Emotionen verhält. Es könnte beispielsweise sein, dass wir es mit einer Steigerung oder Intensivierung, mit einem wachsenden Selbstbewusstsein als Folge der ebenso wachsenden Reflexivität zu tun haben: Die Emotion wäre dann nur eine Vorstufe der Reflexion. Aus allem bisher Gesagten geht aber deutlich hervor, dass die Authentizität der Emotion auf diese Art und Weise verletzt wäre. Aber worin liegt dann der originäre Beitrag der Emotion? Wir haben gerade gesehen, dass Sartre im Zusammenhang mit den Emotionen von „Handlungen“ spricht. Allerdings verwendet er in jenem Zusammenhang einen Handlungsbegriff, der in signifikanter Weise abweicht von unserem Alltagsverständnis: Handlungen fassen wir normalerweise als wissentlich-willentliche Tätigkeiten auf, die meistens (obzwar nicht immer, wie im Falle der moralischen Handlungen im strikten Sinne) eine Zweck-Mittel-Relation aufweisen. Im Zusammenhang mit den Emotionen hatte Sartre bisher Handlungen jedoch als eine Weise vorreflexiver, praktischer Anwesenheit in der Welt aufgefasst. Im Folgenden führt er eine Differenzierung ein, die diesem Unterschied Rechnung trägt: Es gibt
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die „normalen und angepassten/passenden Handlungen“ (l’action normale et adapté), die uns in einer „schwierigen“ Welt mittels der Wahl angemessener Mittel zu einem Ziel führen (E 42/292f.). In dieser Welt voller Bedürfnisse, Wünsche und Handlungen müssen wir uns zurechtfinden. Auch an dieser Stelle weist Sartre darauf hin, dass das Prädikat „schwierig“ nicht unbedingt eine reflexive Stellungnahme impliziert. „Schwierig“ ist die Welt als „noematisches Korrelat der Aktivitäten, die wir begonnen haben oder planen“ (E 43/293). Allerdings hat diese Schwierigkeit der Welt zur Folge, dass unsere Handlungen in ihr oftmals scheitern. Wir empfinden dann eine gewisse Ausweglosigkeit. Wenn unsere Handlungen jedoch an der Schwierigkeitsklippe der Welt scheitern bzw. zu stranden drohen, können wir eine Art Ersatzhandlung initiieren: Wir modifizieren die Welt. Niklas Luhmann würde hier von einer „Reduktion von Komplexität“4 sprechen. Und nun heißt es bei Sartre: „Wir können uns nun ein Bild von einer Emotion machen. Sie ist eine Transformation der Welt.“ (E 43/294) Wenn unsere „normalen und angepassten Handlungen“ in der Welt nicht zum Erfolg führen, könnte dieser Erfolg sich dennoch einstellen, indem wir die Welt-Komplexität reduzieren. Wir tun dann, als ob unsere Handlungen in der Welt nicht aus lauter Zweck-Mittel-Relationen bestehen bzw. als ob kein Determinismus in ihr vorherrscht, sondern sie sich unseren Bedürfnissen gleichsam hingibt. Wir erleben die Welt, als wäre sie zugänglich für „Magie“. Wir tun so, als ließe sich die Welt anders verstehen – nicht nur als zweckorientierter Handlungszusammenhang, sondern als ein uns entgegenkommender, uns sich anschmiegender Erfahrungshorizont. Wenn die Welt sich nicht ändern lässt, ändert sich das Bewusstsein. „Das Bewußtsein transformiert sich, damit das Objekt transformiert werden kann.“ (E 43/294) Erneut sei darauf hingewiesen, dass dieser Vorgang alles andere als reflexiv ist. Und ebenso wenig lässt er sich als ein bloßes Spiel begreifen. Er ist Sartre zufolge geradezu notwendig. In der Emotion kompensieren wir, so könnte man es formulieren, die relative Unzugänglichkeit der Welt für unsere Handlungsabsichten und schaffen einen neuen Bewandtniszusammenhang, ein neues Erleben. Erneut mit Niklas Luhmann könnte man hier von einem Rückgang des „Handelns“ in die Sphäre des „Erlebens“ sprechen.5 Diese Interpretation des Wesens der Emotion als Magie hat jedoch etwas Doppeldeutiges. Auch wenn der Weg von der Handlungskompetenz _____________ 4 5
Luhmann 1979, 37. Luhmann 1979, 31ff.
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in die Erlebniskompetenz der Emotion nicht unbedingt als Regression gedeutet werden muss, so haftet dieser Interpretation doch eine seltsame Resignation an: Mangels erfolgreichen Wirkens in der Welt transformieren wir letztere in einen Bewandtniszusammenhang, der zumindest unserem emotionalen Erleben zugänglich ist. Das emotionale Verhalten versucht aus eigener Kraft und ohne daß das Objekt in seiner realen Struktur verändert wird, diesem Objekt eine andere Eigenschaft zu verleihen, eine geringere Existenz (oder eine größere Existenz usw.). Mit einem Wort – in der Emotion verändert der durch das Bewußtsein angeleitete Körper seine Bezüge zur Welt, damit die Welt ihre Eigenschaften ändert. (E 44/295)
Nun braucht man keineswegs zu bestreiten, dass Emotionen eine bestimmte Art des Sich-Einrichtens in der Welt bedeuten können. In der Tat kann die Emotion ein Handeln, das sich nicht realisieren lässt, kompensieren. Dieses Phänomen ist allzu bekannt. Aber allzu leichtfertig macht Sartre aus der Emotion überhaupt ein sekundäres Etwas. Dabei wäre der magische Aspekt der Interpretation – auch wenn man vielleicht eine bessere und weniger missverständliche Formulierung hätte wählen sollen – durchaus dazu angetan, die Welt der Emotion als eine Welt sui generis zu beschreiben. Man wundert sich geradezu, dass ein solch genauer Beobachter wie Sartre an der Möglichkeit vorbeigegangen ist, die Welt der Emotion als eine authentische Welt der Orientierung zu beschreiben, die der Handlungswelt nicht nur nach-, sondern oftmals auch vorgelagert ist bzw. einen substanziellen Bestandteil von ihr ausmacht. Stattdessen haftet dieser Welt bei ihm etwas Erfolgloses an. Ganz anders dagegen fasst Richard Wollheim die Rolle der Emotionen zusammen: Die Rolle der Emotionen besteht genau darin, den […] Menschen Orientierung und eine Einstellung zur Welt zu verschaffen. Wenn die Überzeugungen uns eine Karte unserer Welt bilden und unsere Wünsche bestimmen, wohin die Reise gehen soll, dann wird diese Welt durch Emotionen bunt – lebhaft oder düster, je nachdem.6
Die Orientierung, die Sartre den Emotionen zubilligen würde, wäre eher eine negative: Sie führen (kurzfristig) aus den Sackgassen der normalen Handlungswelt heraus, indem sie das Feld der Auseinandersetzung verschieben. Am Beispiel der passiven Angst beschreibt Sartre die Ohnmacht, die durch ein angreifendes wildes Tier ausgelöst wird, als „Fluchtverhalten“. Weil die angegriffene Person der Gefahr nicht entkommen kann, hat sie diese „geleugnet“. Die Angst (und ihre körperliche Folge) haben die reale Welt der Gefahr, der „nicht auf normalen Wegen und durch deterministi_____________ 6
Wollheim 2001, 31; vgl. Solomon 1993, 180ff.
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sche Verknüpfungen“ (E 45/296) ausgewichen werden konnte, gleichsam aufgehoben in eine Welt außerhalb der realen Welt. Aber auch diese Strategie der Emotion ist letztlich wirkungslos: Die Ohnmacht führt die Wirkungslosigkeit schroff vor Augen. Das angreifende Tier lässt sich bestimmt nicht durch sie beeindrucken. „Hier liegen die Grenzen meines magischen Einwirkens auf die Welt: ich kann sie [die Gefahr] als Objekt meines Bewußtseins aufheben, aber ich kann das nur, wenn ich das Bewußtsein seinerseits aufhebe.“ (E 45f./297)
5. Die Stellung des Körpers und die Emotion als Ersatzhandlung Aber auch an anderer Stelle wird in dieser Abhandlung deutlich, wie sehr Sartre die Emotion als eine Kompensation auffasst. Am Beispiel der Freude unterscheidet er das „Gefühl“ von der „Emotion“: Die Freude als Gefühl (la joie-sentiment) repräsentiert einen „Gleichgewichtszustand“, während die Freude als Emotion (la joie-émotion) als ein Unruhezustand beschrieben wird. Im Falle der Freude-Emotion ist das Objekt nicht in Reichweite, wenn man so will, weshalb die Welt in der Emotion so hergerichtet wird, als wäre das Objekt in Reichweite. Die Freude als Emotion will „zum Erschaffen einer magischen Welt beitragen, indem sie unseren Körper als ein Mittel der Beschwörung benutzt“ (E 50/302). Allerdings wird dieser Als-ob-Charakter nicht gewusst. Immer wieder betont Sartre, dass wir die Emotion glauben: Wir sind überzeugt. Die Emotion ist nämlich ein intensiver körperlicher Zustand. Die körperliche Erschütterung liefert gleichsam den Beweis, dass wir die Emotion ernst nehmen. Sie garantiert deren Echtheit. „[D]ie Emotion erscheint als ein Körper, der außer Fassung [bouleversé] ist und ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt.“ (E 53/305) Insofern lässt sich dann auch behaupten, dass die Emotion nicht ein Teil unserer körperlichen Verfasstheit ist, sondern ein bestimmter Modus leiblichen Existierens. Aus diesem Grund fällt es auch so schwer, der (akuten) Emotion etwas entgegenzusetzen. Sie okkupiert unser Körper-Bewusstsein. Wesentlich zum Verständnis der Emotion ist deshalb ein genaues Verstehen des Körpers. In dem nun folgenden Zitat wird auf durchaus eindrucksvolle Art und Weise gezeigt, welche zentrale Rolle der Körper hier spielt, auch wenn Sartre nun wiederum die kompensatorische Funktion der Magie hervorhebt. Um ausgehend vom Bewußtsein ein deutliches Bild von dem emotionalen Prozeß zu erlangen, sollten wir uns an den doppelten Charakter des Körpers erinnern,
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der einerseits ein Objekt in der Welt darstellt und andererseits das unmittelbar Erlebte des Bewußtseins. Dann können wir das Wesentliche erfassen: Die Emotion ist ein Phänomen der Überzeugung/des Glaubens [croyance]. Das Bewußtsein begnügt sich nicht damit, affektive Bedeutungen in die Welt zu projektieren, die es umgibt: Es erlebt die neue Welt, die es gerade erschaffen hat. Es erlebt die Welt unmittelbar, es interessiert sich für die Welt, es erleidet die Eigenschaften, die die Verhaltensweisen bereits angedeutet haben. Das bedeutet, daß das Bewußtsein, weil alle Auswege versperrt sind, sich ganz und gar in die magische Welt der Emotion stürzt und sich solchermaßen degradiert: Es ist ein neues Bewußtsein angesichts einer neuen Welt, die es mit dem Intimsten/dem Innersten, was es hat, erschafft, mit jener abstandslosen Selbstgegenwart, mit der es die Welt wahrnimmt. Das Bewußtsein, das emotionalisiert/erregt ist, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bewußtsein, das einschläft. Dieses wie auch jenes wirft sich in eine neue Welt und verändert den Körper als eine synthetische Ganzheit solchermaßen, daß es die neue Welt mittels des Körpers erleben und verstehen kann. Anders ausgedrückt – das Bewusstsein wechselt den Körper [change de corps] oder, wenn man so will, der Körper im Sinne einer Aussicht auf die Welt, die dem Bewußtsein unmittelbar inhärent ist, stellt sich auf die Ebene der Verhaltensweisen. (E 53f./305f.)
Zentral in diesem Textabschnitt ist natürlich die phänomenologisch höchst adäquate Auffassung, dass der Körper nicht nur als ein Gegenstand in der Welt der übrigen Gegenstände aufgefasst werden darf, sondern (als Leib) als „das unmittelbar Erlebte des Bewußtseins“. Der Körper ist die Einheit von Bewusstsein und Welt, erst recht (aber nicht nur) auf der vorreflexiven Ebene. Mangels einer Differenz zwischen Bewusstsein und Emotion, aber auch mangels einer Differenz zwischen Bewusstsein und Körper im unmittelbaren Erleben schließen sich in der Emotion das Bewusstsein und die Welt zusammen. Denn als „Objekt in der Welt“ ist der Körper gleichzeitig „das unmittelbar Erlebte des Bewußteins“. Wie in der jeweiligen Emotion die Welt gleichsam als Totalität bewohnt wird, wie jene sich in einer neuen – und im Moment der Emotion – gleichsam alternativlosen Welt einrichtet, kann man dieser wunderbaren Passage entnehmen. In Sartres frühem Roman Der Ekel finden sich zahlreiche Stellen, die diese Theorie veranschaulichen. Immer wieder wird die Totalität des Ekels beschrieben und die Unfähigkeit, zwischen der Welt der Dinge und dem Bewusstsein zu unterscheiden. Zunächst sei die berühmte Stelle zitiert, wo der Protagonist einen Kieselstein in die Hände nimmt und sich ekelt. Obwohl die Objekte der Welt eine Funktion haben – beispielsweise ihre Nützlichkeit – verwandelt sich im Ekel die Grenze zwischen ihnen und der Person, die den Ekel erlebt. Der Ekel ist geradezu ein Zustand, eine
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Emotion, in der die Kontaktaufnahme mit den Dingen zwingendaufdringlich geschieht. Die Gegenstände, das dürfte einen nicht berühren, denn das lebt ja nicht. Man bedient sich ihrer, man stellt sie wieder an ihren Platz, man lebt mitten unter ihnen: Sie sind nützlich, mehr nicht. Aber mich, mich berühren sie, das ist unerträglich. Ich habe Angst, mit ihnen in Kontakt zu kommen, als wären sie lebendige Tiere. Jetzt begreife ich; ich entsinne mich besser an das, was ich neulich am Strand gefühlt habe, als ich diesen Kiesel in der Hand hielt. Das war eine Art süßliche Übelkeit. Wie unangenehm das doch war! Und das ging von diesem Kiesel aus, ich bin sicher, das ging von dem Kiesel in meine Hände über. Ja, das ist es, genau das ist es: eine Art Ekel in den Händen. (N 23)
Der Ekel ist nicht bloß im Magen, er ist in den „Händen“, was so viel heißt wie – er ist in den Dingen, er ist in der Welt, denn die Hände sind das vorzüglichste Mittel, die Dinge der Welt zu halten. Zwischen Emotion und Gegenstand lässt sich nicht mehr sinnvoll unterscheiden. Der Ekel ist gewissermaßen externalisiert, er überflutet die Welt. Eine ebenso interessante Passage findet man wenig später. Beim Anblick des Cousins Adolphe, der die Wirtin des Cafés vertritt, wenn diese abwesend ist, heißt es: Sein Hemd aus blauer Baumwolle hebt sich fröhlich von der schokoladenfarbenen Wand ab. Auch das verursacht den Ekel. Oder vielmehr: das ist der Ekel. Der Ekel ist nicht in mir: ich spüre ihn dahinten auf der Wand, auf den Hosenträgern, überall um mich herum. Er ist eins mit dem Café, und ich bin in ihm. (N 36)
Und genauso wie der Ekel das Totale, das Umfassende ist, worin die erlebende Person als separate Entität verschwindet, können auch die anderen Emotionen als Weisen eines totalen Welterlebens verstanden werden. Auf dem Hintergrund dieser zwei Beispiele ist man aber um so mehr überrascht, dass Sartre ein seltsam anmutendes, zwiespältiges Verhältnis zu den Emotionen zeigt. Denn einerseits werden sie als eine eigenständige und umfassende Welt für sich gedeutet. Andererseits kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Welt der Emotionen doch eine sekundäre Welt darstellt, eine Welt, in der die Person ihre Souveränität weitgehend eingebüßt hat. Und trotz aller Emphase, mit der die Existenz eines irreflexiven Bewusstseins geradezu beschworen wird, scheint ihm im entscheidenden Moment, nämlich anlässlich der Beschreibung und Analyse einer seiner exponiertesten Äußerungen – anlässlich der Emotion – die Anerkennung versagt zu bleiben. In der Emotion, so hieß es gerade, scheine das Bewusstsein „einzuschlafen“. Und Sartre fügt hinzu: „Aus diesem Grund ist der Ursprung der Emotion eine spontane und erlebte Degradierung des Bewußtseins angesichts der Welt [une dégradation spontanée et vécue de la conscience en face du monde]“ (E 54/306).
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Gerade der Schluss der Abhandlung unterstreicht diesen nun eigentümlich schwachen Charakter eines Bewusstseins, das sich angesichts der Übermacht der normalen Welt in die Ersatzwelt der Emotion zurückgezogen hat. Offenbar liegt Sartre mehr daran, den Status der Irreflexivität dieses Bewusstseins hervorzuheben, als dass er um eine ausgewogenere Analyse und Wertung der Emotion bemüht wäre. Geradezu drastisch werden gegen Schluss seiner Analyse die Metaphern, die zur Charakterisierung des Emotion-Bewusstseins benutzt werden. Das Bewußtsein ist das Opfer seiner eigenen Falle. Und genau deshalb, weil es das neue Aussehen der Welt erlebt, indem es daran glaubt, ist es verstrickt in seinen eigenen Glauben wie in einen Traum oder in eine Hysterie. Das EmotionBewußtsein ist ein gefangenes Bewußtsein, aber das sollte man nicht so verstehen, als wäre da etwas außerhalb, das das Bewußtsein gefangen hält. Es ist der Gefangene seiner selbst [captive d’elle-même]. (E 54f./307)
Wie bereits erwähnt – nicht die Beschreibung einer Bewusstseinsstellung der Emotion bzw. die Darlegung der eigentümlichen Verfasstheit des Emotion-Bewusstseins als eines totalen Welterlebens, das sich von unserem gewohnten Handeln und seiner reflexiven Welteinstellung unterscheidet, ist problematisch, als vielmehr die Herabstufung der Emotion zu einer Ersatzhandlung. Offenbar ist die Emotion ein Zustand, der nach Befreiung schreit: Die magische Welt zeichnet sich ab, nimmt Form an, legt sich um das Bewußtsein und umschlingt es: Es fehlt ihm der Wille, zu entkommen, es kann den Versuch unternehmen, zu fliehen, aber zu fliehen hieße, ihm eine noch stärkere magische Realität zu geben. Und selbst diese charakteristische Befangenheit erfährt das Bewußtsein nicht als solche, es bezieht diese auf die Objekte, es sind die Objekte, die gefangen halten, fesseln, sie haben sich seiner bemächtigt. Die Befreiung muß von einer reinigenden Reflexion kommen [une réflexion purifiante] oder von einem totalen Verschwinden der emotionalisierenden Situation. (E 55/308)
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Literatur Sartres frühe Essays werden teilweise zitiert nach der von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener besorgten deutschen Übersetzung, die unter dem Titel Die Transzendenz des Ego erschien – vollständige Angaben siehe unten. Alle Nachweise erfolgen am Ort durch Angabe von Sigle, Seitenzahl des französischen Originals gefolgt von der Seitenzahl der o. g. Übersetzung. Die verwendeten Siglen sind: BS E N PH TE
– Bewusstsein und Selbsterkenntnis – Esquisse d’une théorie des émotions/Skizze einer Theorie der Emotionen – Der Ekel – Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität – Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung
Frank, Manfred (1988), Subjekt, Person, Individuum, in: ders. (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt a. M., 7–28. – (Hg.) (1991), Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt a. M. – (2002), Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas (1979), Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M., 25–100. Sartre, Jean-Paul (1973, franz. zuerst 1948), Bewusstsein und Selbsterkenntnis, Reinbek bei Hamburg (= BS). – (1981, franz. zuerst 1938), Der Ekel, Reinbek bei Hamburg (= N). – (1982), Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, übers. von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener, Reinbek bei Hamburg. – (1982, franz. zuerst 1936/1937), Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, Reinbek bei Hamburg, 39–96 (= TE). – (1982, franz. zuerst 1939), Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, Reinbek bei Hamburg, 33–38 (= PH). – (1960, zuerst 1939), Esquisse d’une théorie des émotions, Paris (= E). – (1982, franz. zuerst 1939), Skizze einer Theorie der Emotionen, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939, Reinbek bei Hamburg, 255–322 (= E). Solomon, Robert C.(1993), The Passions. Emotions and the Meaning of Life, New York. Wollheim, Richard (2001, amerik. zuerst 1999), Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle, München.
Susanne K. Langer (1895–1985)
Langer: Philosophie des Fühlens Rolf Lachmann 1. Der philosophische Ansatz Susanne K. Langers philosophisches Werk kann in seinen wesentlichen Konturen durch folgende drei Positionen charakterisiert werden: Es entwickelt eine symboltheoretische Konzeption, die nicht nur die hochentwickelten Formen menschlichen Denkens und Wissens umfasst, sondern die gesamte Sphäre menschlichen Fühlens und Verstehens mit einbezieht; es entwickelt eine Auffassung des Menschen, die auch die biologischen Grundlagen und die lebendige Natur seiner Existenz bedenkt; es beinhaltet eine philosophische Herangehensweise, die die Ideale der größtmöglichen begrifflichen Klarheit und der Phänomenangemessenheit zu verbinden sucht. Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Hauptströmungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts und einem intensiven Gespür für die vernachlässigten Dimensionen des scheinbar Irrationalen, des Nicht-Diskursiven und der Kunst entwickelt Langer in mehreren Etappen eine Konzeption des menschlichen Geistes, in deren Mittelpunkt der Begriff des Fühlens steht. Seine Zentralstellung zeigt sich darin, dass er im Titel zweier ihrer wichtigsten Werke verwendet wird, im Titel ihres Hauptwerks zur Philosophie der Kunst Feeling and Form (1953) und im Titel ihres Spätwerks Mind: An Essay on Human Feeling (1967–1982), das einen neuen Zugang zu den Wissenschaften vom Menschen eröffnen soll. Vorausgegangen war als ihr erstes einflussreiches Werk Philosophie auf neuem Wege (1942), das ein symboltheoretisches Verständnis des menschlichen Denkens entwickelt. Ausgehend von den Konzeptionen Alfred North Whiteheads, Ernst Cassirers, Charles Sanders Peirce’s, den Erkenntnissen der Gestaltpsychologie und Sigmund Freuds Theorie der Traumdeutung sucht Langer zu belegen, dass die geistige Verarbeitung bereits in der Wahrnehmung beginnt. In den daran anknüpfenden sprachlichen aber auch nichtsprachlichen Symbolisierungsformen der Bilder, Rituale, Magie, Mythen, Märchen, Gesten und der Kunst werden Erfahrungen verarbeitet und Verständnisse artikuliert. Der gesamte Umfang
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menschlicher Verstehensformen kann als – durch unterschiedliche kulturelle Artefakte vermittelte – Symbolisierung interpretiert werden. Langers naturalistische Position, nach der menschliches Denken und Fühlen in natürlichen Prozessen entsteht, führt sie allerdings nicht zur Annahme eines bloß graduellen Unterschieds zwischen Tier und Mensch. Nur wenige Tierarten erreichen die Schwelle der Symbolisierungsfähigkeit, eine echte Sprachkompetenz wird von keiner Art erreicht. Diese Fähigkeiten sind so zentral und die Differenz zu den Lebewesen, die sie nicht haben, so gravierend, dass sie zur Bestimmung der besonderen Natur des Menschen herangezogen werden kann. Der Symbolgebrauch transformiert seine gesamte Natur. Insbesondere führt er dazu, dass ein neues, spezifisch menschliches Bedürfnis entsteht, ein „Bedürfnis der Symbolisierung“. Der Mensch ist für Bedeutungen hoch empfänglich und ständig auf der Suche nach Symbolen. In dem Scheitern, Erfahrungen durch ihre Symbolisierung zu verarbeiten, werden wir in den Grundlagen unserer Existenz erschüttert. In Anlehnung an William James’ Begriff des „Bewusstseinsstroms“ charakterisiert sie die geistige Situation des Menschen als permanenten, sogar noch bis in unsere Träume reichenden „Symbolstrom“ (PS 50). „Die Bildung von Symbolen ist eine ebenso ursprüngliche Tätigkeit des Menschen wie Essen, Schauen oder Sichbewegen. Sie ist der fundamentale, niemals stillstehende Prozeß des Geistes.“ (PNW 49) Wichtig für das Verständnis von Langers Philosophie ist die von ihr eingeführte Unterscheidung zwischen der „diskursiven“ und der „präsentativen Symbolisierung“. Die Grundbedeutung des Begriffs „diskursiv“ ist die des Auseinanderziehens und Zerlegens eines komplexen Sachverhalts, so wie dies für die sprachliche Symbolisierung charakteristisch ist. Die Grundbedeutung des Begriffs „präsentativ“ ist die der sinnlichen Anschaulichkeit, der wahrnehmbaren und konkreten Präsentation, so wie sie etwa in Bildern stattfindet. Der Unterschied zwischen der diskursiven und der präsentativen Symbolisierung beruht darauf, dass die einzelnen Elemente der (ideal-)sprachlichen Artikulation definierte Symbole sind, die eine konventionell festgelegte Bedeutung haben. Da die sinnliche Manifestation eines definierten Symbols für die Bedeutung des Symbols ohne Belang ist, besteht keine interne Verbindung zwischen der sinnlichen Realisierung und ihrer Bedeutung. Dies unterscheidet die diskursive Artikulation von präsentativen Artikulationen. Die Elemente dieser Artikulationen (z. B. Farb- und Formeigenschaften) haben keine feststehenden Eigenbedeutungen. Es gibt kein Vokabular von Bildele-
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menten: Ein schwunghafter Bogen, der in dem einen Bild eine Welle bedeutet, bedeutet in einem anderen Bild vielleicht ein Blatt. Was der Bogen im Einzelfall bedeutet, hängt von seiner Situiertheit im Gesamtzusammenhang aller anderen Formelemente ab. Weil die Artikulation nicht auf konventionellen Bedeutungen basiert, ist sie von dem sinnlichen Material, in dem sie realisiert ist, nicht ablösbar.1 Präsentative Symbole, zu denen neben Bildern auch Rituale, Mythen und Kunstwerke zählen, sind anschauungsnahe Symbolisierungen. Sie dominieren die Anfangsphase unseres Verstehens und bilden die Anfänge jeder Erkenntniserweiterung. Bevor wir einen Sachverhalt klar verstehen, d. h. auf der Grundlage einer Analyse seiner wesentlichen Eigenschaften, Faktoren und Beziehungen eine diskursiv paraphrasierbare Artikulation geben können, verwenden wir eine anschauungsnahe Artikulation, um dem anfänglich vage verstandenen Zusammenhang überhaupt eine erste symbolische Artikulation zu geben. Mit diesem Ansatz gelingt es Langer, eine von herkömmlichen Verständnissen abweichende Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität bzw. Emotionalität zu ziehen. Während etwa für den Logischen Empirismus alles, was nicht logisch oder empirisch verifiziert werden kann, als sinn- und bedeutungslos gilt, sieht Langer den Umfang menschlichen Verstehens und Erkennens durch die Reichweite der Symbolisierung definiert. Dabei gewinnen manche Artikulationen den Anschein von Irrationalität nur deswegen, weil sie sich ihrer Definition in diskursiven Symbolisierungen entziehen (PS 90–91). Dennoch handelt es sich bei Bildern, Ritualen, Mythen, Kunstwerken oder Gesten um genuine Formen des Verstehens, weil durch sie Gefühle, Haltungen oder subjektive Erfahrungen objektiviert, angeschaut und vorgestellt werden.
_____________ 1
Langer hat diese in PNW eingeführte Unterscheidung, die weithin rezipiert worden ist (vgl. etwa Lorenzer 1970; Gaube 1978; Fellmann 1991), möglicherweise wegen ihrer begrenzten Reichweite (vgl. dazu Lachmann 2000, 62–78) anschließend nicht mehr verwendet. Aufgegriffen und zum Ausgangspunkt genauerer Analysen wurde sie (in kunstphilosophischer Absicht) von Nelson Goodman 1995 (zuerst 1968).
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2. Formen und Formbarkeit des Fühlens Dieser Ansatz bildet die Grundlage einer durch eingehende Studien der einzelnen Kunstformen entwickelten Philosophie der Kunst.2 Nach Langers Auffassung findet in der Kunst nicht lediglich ein Ausdruck eigener Gefühle statt. Vielmehr werden in Kunstwerken Gefühlsdynamiken anschaulich objektiviert. Kunstwerke fungieren daher als Symbolisierungen und stellen genuine Formen menschlichen Verstehens dar. „Kunst ist die Erzeugung von Formen, die menschliches Fühlen symbolisieren.“ (FF 40) Da künstlerischer Ausdruck auch Aspekte der organischen Grundlagen des Fühlens objektiviert, bezeichnet Langer den Ausdrucksbereich der Kunst als Aspekte des „inneren Lebens - des physischen wie geistigen“ (PNW 225). Der Grundgedanke ist, dass genau das, was einerseits als Nachteil und Irrationalität der präsentativen Symbole angesehen werden kann, nämlich ihre diskursiv nicht eindeutige Definier-, Analysier- und Übersetzbarkeit, andererseits ihre besondere Leistungsfähigkeit ausmacht: Wir hören nämlich in der Artikulation etwa eines Musikstücks die dynamische Interaktion der einzelnen Elemente. Das, was einzelne Töne oder melodische Elemente bedeuten, ist nicht stabil, sondern entsteht und verändert sich durch die wechselseitige Bestimmung der Elemente im Gesamtgefüge aller anderen Elemente. Die Formbeziehungen werden nicht äußerlich und additiv gebildet, sondern im dynamischen Wechselspiel. Genau diese Eigenschaft macht diese Symbolisierungsform nach Langer so geeignet, die wechselvolle Dynamik unseres Fühlens ausdrücken. Diese Auffassung kann durch folgende Hinweise verdeutlicht und erklärt werden: Zunächst erleben wir auch unser Fühlen als ein fließendes und dynamisches Phänomen. Zugleich weist jedes Fühlen – auch wenn wir es als chaotisch, unaussprechlich oder irrational empfinden – Strukturen, Formen oder Muster auf, die sich insbesondere in seinem Verlauf zeigen. So wie etwa eine anfängliche Unruhe und Spannung, die in eine dramatische Eskalation übergeht, schließlich umschlägt und in einer ausgleichenden Beruhigung enden mag, hat jedes Gefühl eine spezifische Verlaufsform. Diese Formen sind sprachlich zwar nur schwer artikulierbar, sie haben aber eine typische Charakteristik. Schließlich basiert nach Langers _____________ 2
Bereits in PNW wird der symboltheoretische Ansatz für die Musik ausgedeutet und es ist auch diese Kunstform, in der Langers Ansatz sehr stark rezipiert wurde, vgl. etwa Kivy 1989; Budd 1992; Epperson 1967. Die voll entfaltete Philosophie der Kunst enthält Langers Schrift Feeling and Form.
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Auffassung jeder symbolisch vermittelte Verstehensakt auf dem spontanen Erkennen von Formentsprechungen. Wir haben ein außerordentlich direktes Gespür für formale Analogien, durch die wir eine Form in einer anderen entdecken und sie dadurch auch verstehen. Vermittels dieses Erkennens von Formentsprechungen verstehen wir die artikulierten musikalischen Muster spontan als Ausdruck von Gefühlen. Dies unterstellt, wird deutlich, wieso man davon sprechen kann, dass die Musik in großer anschaulicher Genauigkeit Fließen, Rhythmik, Entwicklung, Anwachsen, Umschlagen und Ausklingen unseres inneren Lebens artikuliert. Dabei sind es nicht einzelne Gefühle, etwa der Traurigkeit oder der Freude, die in Kunstwerken symbolisiert werden, sondern ihre Formen und Dynamiken, die auch in unterschiedlichen Gefühlen identisch sein können. Langer bezeichnet den Gegenstand der Kunstwerke daher auch als die „Morphologie des Gefühls“ (PNW 234). Allerdings ist mit dieser Position keine einfache Abbildtheorie verbunden. In präsentativen Symbolen gewinnt das, was durch sie ausgedrückt wird, eine distinkte Erkennbarkeit, die es vorher und unabhängig davon nicht hat. Ein Symbol hebt Aspekte hervor und bringt sie zur klaren Anschaulichkeit, die unabhängig von diesem Symbol kaum besteht. Zur Bezeichnung dieser Funktion von Symbolen spricht Langer von der „formulativen Funktion“ (PA 149). Symbole haben aber nicht allein diesen verständnisbegründenden Wert. Sie haben auch eine praktische Bedeutung. Diese haben sie bereits in einem ganz elementaren Sinne deswegen, weil jede Symbolisierung eine Aktivität ist, die etwas Erfahrenes oder Gefühltes im Lichte einer anderen Form versteht und dadurch immer einen einseitigen, selektiven und konstruierenden Charakter hat. Über diesen elementaren kognitiven Gestaltungssinn hinaus organisieren die Symbole unser Verstehen und Fühlen. Sie prägen unsere Existenz bis in unsere Phantasien und unser Gefühlsleben hinein. Neben der formulativen Funktion haben Symbolisierungen daher stets auch einen formbildenden und „formativen Einfluß“ (PS 88). Dadurch wird unser Erleben strukturiert und unter Umständen auch neu gestaltet. Aufgrund dieser tiefgreifenden Wirkungen der Symbolisierung gibt es den Menschen als ein geistiges und kulturelles Wesen. Langer weist auf die anthropologische Notwendigkeit dieser Funktion der Symbolisierung hin. Ohne eine Formgebung unseres Lebens bleibe es haltlos und inkohärent (FF 400).3 _____________ 3
Vgl. dazu Reimer 1993.
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3. Kunst als Phänomenologie des Fühlens Langer geht nun einen Schritt weiter und beginnt auf der Grundlage dieser Kunstauffassung – sie spricht auch von der Kunst als einer „Phänomenologie des Fühlens“ (FF 57) – eingehende Studien mit dem Ziel, einen neuen Zugang für die Wissenschaften vom Menschen zu entwickeln. Dies erscheint umso mehr plausibel, als in den Kunstwerken auch die Muster der organischen Grundlagen des Fühlens artikuliert werden. Bereits in ihrer Ästhetik spricht sie strukturelle Eigenschaften der organischen Dynamiken an, so zum Beispiel in ihrer Erörterung der Musik. In der Musik entsteht das artikulierte Fühlen aus dem kontinuierlichen Auf- und Abbau von Spannungen, durch die Einheiten gebildet werden. Die Einheiten haben einen Anfang, wachsen in Richtung eines höchsten Intensitätspunktes, lösen sich dann auf und münden in einen ausklingenden Verbrauch. Mit ihrem Ausklang bauen sie neue Ausgangsspannungen auf und bereiten damit den Boden für das Entstehen neuer Einheiten. Die Einheiten sind daher keine singulären und isolierten Vorkommnisse, sondern interagieren vielfältig miteinander. Diese Einheiten haben eine charakteristische Aktivität und Effektivität. Sie bilden keine leere Sukzession isolierter Vorkommnisse, sondern stehen in relationalen und sich wechselseitig bestimmenden Zusammenhängen. Die Aufeinanderfolge der Einheiten hat den Charakter eines vieldimensionalen Geflechts. Die Einheiten überlappen sich, laufen auseinander und vereinigen sich wieder. Einige Einheiten rücken − vielleicht nur für eine gewisse Zeit − in den Vordergrund, während andere in den Hintergrund treten aber dort dennoch eine massive Aktivität entfalten. Eine weitere Charakteristik der musikalischen Artikulation ist die Organisation der Einheiten in einer „rhythmischen“ Form. Dabei ist es für einen Rhythmus unwesentlich, ob die ihn bildenden Einheiten gleichartig sind. Ein Rhythmus hat die wesentliche Eigenschaft, dass mit dem Ausklingen einer Einheit zugleich die Ausgangsspannung, der Impuls für eine neue Einheit gebildet wird. Wenn entweder die vorhergehende Einheit durch eine völlig neue abgebrochen wird, oder die Einheiten aufgrund einer Überlastung ihre Integration verlieren, so verschwindet der rhythmische Charakter. Auch durch die Wiederaufnahme und Wiederholung von Einheiten entsteht in der Musik der Eindruck von Lebendigkeit. Dadurch wird der auch für lebendige Vorgänge charakteristische Sachverhalt zum Ausdruck gebracht, dass sich die Einheiten oft nicht einfach verlieren, sondern - manchmal in verkürzter oder leicht variierter Form – wieder
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aufgenommen, noch einmal durchlaufen werden. Sie werden reproduziert und bleiben als Faktoren des Geschehens auch in späteren Phasen eines Verlaufs präsent (FF 129). Aufgrund dieser und anderer Prinzipien kann ein Musikstück eine hohe Expressivität von „Lebendigkeit“ und „organischer Entwicklung“ erlangen. Langer bezeichnet das Entstehen dieses Eindrucks eines vitalen Geflechts in der Musik als „musikalische Matrix“ (FF 120) oder auch als „musikalischen Organismus“ (FF 130). Leben erscheint in dieser Perspektive als ein durch und durch prozessuales, aber zugleich integriertes Geschehen. Dadurch, dass in einem Musikstück diese organische Matrix erzeugt wird, kann es die Grundlage eines darin auftauchenden und sich entwickelnden Fühlens werden. Die Kunst kann daher als Heuristik für die Entwicklung einer Begrifflichkeit der strukturellen Verhältnisse lebendiger Organisation und des in lebendigen Prozessen entstehenden Fühlens dienen. Ergänzt um den Arbeitsschritt einer Konfrontation mit empirischen und wissenschaftlichen Befunden kann ein neuer Zugang für die Wissenschaften vom Menschen angebahnt werden. Dies ist der Ansatz des dreibändigen Werks Mind: An Essay on Human Feeling (1967–1982). Langer beschreitet dieses Projekt vor dem Hintergrund des vorherrschenden Positivismus und Behaviorismus, der für die Wissenschaften vom Menschen eine völlig untaugliche Perspektive beinhalte. Die Entwicklung einer neuen, sowohl am Phänomen menschlichen Fühlens und Denkens entwickelten als auch an den Ergebnissen der Wissenschaften orientierten Begrifflichkeit soll einen Beitrag für die Wissenschaften vom Menschen liefern. Als Mittel der Phänomenerschließung dient ihr die Kunst, die sie gegenüber der phänomenologischen Methode Edmund Husserls für überlegen hält, insbesondere deswegen, weil sie – allerdings in einer präsentativen Form – anschauungsnahe Objektivationen der Strukturen menschlichen Fühlens und sogar ihrer organischen Grundlagen liefere.4
4. Fühlen als allgemeine Bewusstseinsform Der durch ihre kunstphilosophische Position fokussierte Begriff des Fühlens erweist sich nicht nur deswegen als fruchtbar, weil Langer durch ihn den gesamten Umfang des inneren Erlebens – einschließlich der durch unsere höheren intellektuellen Funktionen transformierten Gefühlswelt – _____________ 4
Vgl. dazu Lachmann 2000, 136–138.
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bezeichnen kann. Er bildet für eine naturalistische Philosophie des Geistes auch insofern einen hervorragenden Ausgangspunkt, als er die entwicklungsgeschichtliche Ausgangssituation des bewussten Lebens, also eine erste und ursprüngliche Bewusstseinsform zu bezeichnen vermag. The problems of semantics and logic seem to fit into one frame, those of feeling into another. But somewhere, of course, mentality has arisen from more primitive vital processes. Somehow they belong into one and the same scientific frame. I am scouting the possibility that rationality arises as an elaboration of feeling. (PA 124)
Im Vorwort von Mind: An Essay on Human Feeling formuliert Langer ausdrücklich die These, dass die höheren Formen bewusster Vollzüge einschließlich derer des menschlichen Denkens das Ergebnis einer Entwicklung und Ausdifferenzierung einer primitiven Bewusstseinsform sind. Geist ist das Ergebnis einer „[…] riesigen und speziellen Evolution des Fühlens in der menschlichen Entwicklung.“ (M I, xvii) Vor dem Hintergrund dieser Auffassung stellt sich die Aufgabe so, zu zeigen, wie die ersten Formen des Fühlens so transformiert werden, dass sie beim Menschen die Form des Denkens annehmen. Obwohl der Begriff des Fühlens diese Perspektive ausdrücklich anbahnen soll, wird er in Langers Philosophie nicht auf diesen Aspekt begrenzt. Der Begriff des „Fühlens“ als Grundbegriff ihrer Philosophie des Geistes wird so definiert, dass durch ihn der gesamte Umfang dessen, was von uns gefühlt werden kann − angefangen von einzelnen Empfindungen, Schmerz- und Lustgefühlen, dem Spüren von Vitalität und Stimmungen bis hin zum Gefühl eigener Identität, komplexen Emotionen, intellektuellen Spannungen und unserem bewussten Denken − bezeichnet wird. Er soll den gesamten Umfang dessen, was wir fühlen und empfinden einschließlich der höchsten intellektuellen Tätigkeiten bezeichnen und ist damit ein Synonym für „Bewusstsein“.5 Durch den Begriff des Fühlens soll die mit dem Bewusstseinsbegriff verbundene Fixierung auf die höchsten Formen des Denkens und menschlicher Intellektualität vermieden werden. Zugleich sollen die mit dem Bewusstseinsbegriff verbundenen statischen und dinglichen Assoziationen einem prozessualen Verständnis des Denkens und Fühlens weichen. Schließlich betont der Begriff des Fühlens, dass der gesamte Umfang dessen, was uns bewusst wird – so auch unser Denken – stets eine affektive Charakteristik hat. _____________ 5
Langer verweist in ihrer Einführung des Begriffs vom Fühlen nur auf William James, der ihn ebenfalls zur Bezeichnung aller verschiedenen Formen des Bewusstseins verwendet.
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5. Die Dynamik lebendiger Aktivität Fühlen entsteht in der spezifischen Existenzform lebendiger Prozessualität, die Langer – unter Berücksichtigung der Heuristik der Kunst – genauer zu konzeptualisieren sucht.6 Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Natur lebendigen Geschehens zeigt, dass dieses, angefangen von den biochemischen Prozessen bis hin zu den Verhaltensabläufen nicht amorph ist, sondern in unterscheidbare Einheiten zerfällt. Langer bezeichnet diese Einheiten als „Akte“. Akte sind raum-zeitliche und energetische Naturabläufe wie andere chemische Prozesse auch. Sie werden durch eine Ausgangsspannung initiiert und verbrauchen diese Spannung. Man kann sie als sich über einen gewissen Zeitraum erstreckende Entladungsvorgänge begreifen. Akte haben verschiedene Phasen: Sie beginnen in einem „Impuls“, gehen dann in eine Beschleunigungsphase über, erreichen einen Höhepunkt und münden in eine Phase des Verbrauchs und Ausklingens. Akte sind Einheiten. Ihre Einheit beruht darauf, dass sie die Ausgangsspannung verbrauchen, durch die sie initiiert werden. Ein Akt endet damit, dass seine Energie verbraucht ist und damit seine Aktivität abbricht. Langers These ist, dass alle Formen lebendigen Geschehens - von den metabolischen Vorgängen bis hin zum Herzschlag und der Motorik - Akte sind oder zumindest auf Akte als ihre elementaren Prozesseinheiten zurückgeführt werden können. Leben ist aber nicht lediglich Prozessualität. Ein zentrales Charakteristikum lebendiger Aktivität besteht darin, dass die Prozesse in einem sich selbst aufrechterhaltenden Geschehen stehen. Als Grundbegriff einer Theorie des Lebendigen muss der Aktbegriff dieses Charakteristikum mit in seine Definition aufnehmen. Langer spricht daher erst dann von Akten, wenn Prozesse in einem prozessualen Geschehen anderer Akte entstehen und zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Akte werden durch andere Akte erzeugt und führen zur Bildung neuer Akte. Dadurch entstehen konstante Rhythmen und Aktivitätsmuster. Es formiert sich ein „Boden“ permanenter Aktivität, eine „Matrix“. Akte stehen daher in sich wechselseitig erzeugenden und bedingenden Beziehungen. Mit ihrer Aktualisierung verändern sie die Situation, aus der sie hervorgegangen sind und beeinflussen _____________ 6
In dieser Konzeption zeigt sich auch der Einfluss von Alfred North Whiteheads Prozessmetaphysik (vgl. Whitehead 1978 (zuerst 1929)) und eine große Nähe zur Systemtheorie. Langer und Ludwig von Bertalanffy haben ihre Arbeiten wechselseitig rezipiert und an sie angeschlossen (vgl. von Bertalanffy 1965).
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das Entstehen der folgenden Akte. Akte können mit anderen Akten verschmelzen und zu größeren massiveren Akten integriert werden. Auf diese Weise entsteht eine bis in das Verhalten hinein sich aufbauende Differenzierung und Schichtung der Akte. Ein Lebewesen ist eine riesige Verkettung und Verflechtung von Akten, die sich reproduzieren, wechselseitig stützen, beeinflussen, zu größeren Einheiten integrieren oder auch blockieren. Das komplexe Zusammenspiel der wechselseitig aufeinander bezogenen Akte, bestimmt den Organismus in allen Hinsichten. Die Entstehung von Akten ist ein natürlicher Kausalvorgang. Allerdings ist er von einer solch großen Komplexität, dass für sein Verständnis einfache Kausalvorstellungen völlig unzureichend sind. Zur Bezeichnung der besonderen Form der Aktverursachung führt Langer den Begriff der „Motivation“ ein. Die Besonderheit der organischen Verursachung besteht darin, dass jeder Akt aus einer komplexen „Situation“ voranschreitender Akte, der Matrix, hervorgeht. Die Situation ist die Gesamtheit der Myriaden sich im Verlauf befindender und zum Abschluss gekommener Akte, die die Determinanten der Umgebung jedes Aktes sind. Jeder Einfluss, der einen Akt erzeugt, wird daher durch die Matrix vermittelt. Zwar besteht eine abgestufte Relevanz von Akten entsprechend der Wirkungsmächtigkeit anderer Akte für einen besonderen Akt, aber in einem strikten Sinne gehen in die Erzeugung jedes Aktes alle anderen Akte der Matrix mit ein. (M I, 381) Durch die Aktkonzeption entwickelt Langer eine konsequente Prozesstheorie des Lebens. Die Einheiten des Lebens sind nicht die Zellen oder Gene oder andere statisch gedachte Entitäten, sondern Prozesseinheiten. Gene, Zellen und Zellverbände sind lediglich die biochemische Grundlage von Akten. Auch die konstanten Zustände von Organismen sind niemals statisch oder passiv beharrend, sondern Ergebnisse ihrer fortwährenden Reproduktion. Organismen sind nie passiv, auch wenn sie sich in einem relativen Ruhezustand befinden. Ein Ruhezustand ist ein temporäres dynamisches Gleichgewicht von Akten. Langer vollzieht damit in ihrer Konzeption dieselbe Perspektivenumkehrung, wie sie Alfred North Whitehead in seiner organismischen Philosophie durchführt. Akte, auch die integrierten makroskopischen Akteinheiten, die wir als Handlungen bezeichnen, werden nicht als die Ausführungen von Agenten verstanden, die ihnen zugrunde liegen. Zwar sind Akte dadurch definiert, dass sie in einer Matrix anderer Akte entstehen. Aber die Matrix hat keine Eigenexistenz, die aus etwas anderem, als eben aus einer Vielzahl anderer Akte besteht. Sie ist kein erfahrungsjenseitiges
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und unveränderliches Subjekt. Agenten sind durch Akte zu erklären und lediglich die Bezeichnung der konkreten Akt-Entwicklungsgeschichte. Agenten unterliegen daher auch einem permanenten Wandel.
6. Das Auftauchen des Fühlens Durch diesen Ansatz nimmt das Leib-Seele-Verhältnis die Frage an, wie es verstanden werden kann, dass in bestimmten Akten oder Aktverbänden Fühlen entsteht. Der Ausgang von der Aktkonzeption hat verschiedene Implikationen. (1) Zunächst beinhaltet − wie bereits ausgeführt − die Akttheorie ein prozesstheoretisches Verständnis des Fühlens und des menschlichen Denkens. (2) Ferner sieht Langer in der energetischen Natur der Akte den Anknüpfungspunkt für die Erklärung des Entstehens von Fühlen in bestimmten Akten: Es sind solche Akte einer besonders intensiven Aktivität, in denen Bewusstsein als ein neuer Aspekt auftaucht. (3) Zuletzt wird durch die Aktkonzeption eine enge Verbindung zwischen dem Empfindungsvermögen und einer besonderen Form von Akten, dem Verhalten, hergestellt. Ein Hauptstrang der Evolution des Fühlens besteht darin, dass es eine Funktion für die Steuerung des Verhaltens gewinnt. Nach Langer ist es unzutreffend von einem allgemeinen Leib-SeeleProblem zu sprechen. Diese Bezeichnung unterstellt nämlich, dass es sich hierbei um zwei eigenständige „Bereiche“ handelt, die in eine spezifizierbare Beziehung treten können. Fühlen ist aber weder eine strikt getrennte Eigenwirklichkeit, noch ist es ein „Produkt“ physiologischer Geschehnisse. Vielmehr ist Fühlen eine Qualität, die in bestimmten Akten auftaucht und mit ihnen wieder verschwindet. Langer spricht davon, dass in bestimmten Akten eine „psychische Phase“ (M I, 21) entsteht. Mit dieser Konzeptualisierung des Leib-Seele Verhältnisses richtet sich Langer gegen dualistische Verständnisse, deren Ursache sie in der verdinglichenden Vorstellungsrichtung unserer Sprache sieht. Unsere Sprache tendiert dahin, allen Verhältnissen einen substanziellen, dinghaften Ausdruck zu geben. Dies ist für viele Erfahrungsbereiche zwar wenig problematisch, aber es behindert ein angemessenes Verständnis prozessualer Phänomene, als die Leben und Fühlen zu begreifen sind. Langer wendet sich ebenfalls gegen die epiphänomenalistische Auffassung, nach der das Psychische lediglich eine kausal irrelevante Randerscheinung physischer Prozesse ist. Ferner widerspricht sie der zum Teil in der wissenschaftli-
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chen Literatur verwendeten Vorstellung einer „Konvertierung“ physiologischer in psychische Prozesse. Hinsichtlich der physiologischen Grundlagen formuliert Langer die Hypothese, dass das Entstehen einer psychischen Phase wesentlich mit dem energetischen Charakter der Akte zusammenhängt. Demnach „brechen“ neurophysiologische Akte ab einer bestimmten Intensitätsschwelle in die psychische Phase „durch“ und werden gefühlt. Das Auftauchen der psychischen Phase ist allerdings kein punktuelles Ereignis, sondern ein allmähliches Anschwellen, für das man keinen isolierten Grenzwert bestimmen kann. Langer spricht von einer „fluktuierenden Empfindungsgrenze“. (M I, 22) Auch hängt es von der biologischen Organisation eines Lebewesens ab, welche Akte in die psychische Phase übergehen. Möglicherweise fühlen manche Tiere Vorgänge, die uns vollständig unbewusst bleiben.
7. Sensibilität und Emotionalität Die psychische Phase ist keine in sich homogene Bewusstseinssphäre. In Abhängigkeit von den zugrunde liegenden physiologischen Prozessen gibt es etwa hinsichtlich der Grade an Intensität, Distinktheit, Qualität oder des Richtungscharakters ganz heterogene Strukturen des Fühlens. Das, was gefühlt wird, sind die physiologischen Prozesse, in denen eine psychische Phase entsteht, selbst. Zur Bezeichnung dieser bezüglichen Natur des Fühlens spricht Langer von „gefühlt werden“ (M I, 21). Deswegen steht die spezielle Form der Empfindung (z. B., ob es eine Farb-, Geruchs- oder Tastempfindung ist) in direkter Beziehung zu den physiologischen Prozessen, in denen sie entsteht. Die entwicklungsgeschichtlich ersten in eine psychische Phase durchbrechenden Akte wiesen noch keine erlebbare Unterscheidung hinsichtlich ihrer internen oder externen Motivation auf. Langer nimmt an, dass an den Grenzzonen von Organismen durch externe Einflüsse zum ersten Mal Akte von solcher Intensität entstanden, dass sie in eine psychische Phase durchbrachen. Später entstand Fühlen auch aufgrund von inneren Spannungen und eigeninduzierten Akten des Organismus. In jedem Fühlen wird stets auch die dynamische Struktur seines Entstehens mitempfunden. In dieser Hinsicht besteht ein charakteristischer Unterschied zwischen der äußeren oder inneren Motivation von Fühlen. Zum einen gibt es Empfindungen, die ohne jede Vorbereitung in unsere bewusste Ge-
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genwart hineinbrechen. Fühlen solcher Art geht typischerweise aus extern verursachten Einflüssen hervor. Hier haben wir auch den Eindruck eines Fremden, uns Überfallenden. Es handelt sich um ein Bewusstsein des „Fühlens als Einwirkung“. Auf der anderen Seite gibt es ein Fühlen, das allmählich anschwillt und als ein stetes Anwachsen empfunden wird. Solches Fühlen empfinden wir nicht als fremd, sondern als ein Eigenes, aus uns selbst Erwachsendes. Es hat den Charakter eines „Fühlens als autogene Aktion“ (M I, 23). Aufgrund dieser unterschiedlichen Entstehungsdynamiken bilden sich die Bereiche der Sensibilität und der Emotionalität aus, die letztlich die Grundlage für die Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem darstellen.
8. Fühlen und Verhalten Eine Richtung der Evolution höherer Lebewesen besteht in der aufeinander bezogenen Differenzierung von Empfindungsvermögen und Verhalten. Die „Verhaltensnähe“ des Fühlens ist ja theoretisch dadurch angebahnt, dass die psychische Phase in Akten entsteht. Fühlen entsteht innerhalb von Aktivitäten und mündet auch wieder in Aktivitäten hinein. Es kann daher zu einem verhaltensverändernden Faktor werden. Dass die Evolution des Fühlens gerade mit der Evolution derjenigen Lebewesen verbunden ist, die sich selbst bewegen können, hängt mit der für diese Lebewesen massiv zunehmenden Gefährdung zusammen. In dem Augenblick, wo Lebewesen in radikaler Weise ihre Platzierung in der Umgebung verändern können, müssen sie neue Reaktionsmodi ausbilden, um die entstehenden Gefahren bewältigen zu können. Der entscheidende Schritt in der Evolution des Fühlens besteht darin, dass es für das Verhalten eines Organismus eine Leitfunktion gewinnt. Grundsätzlich ist das tierische Wahrnehmungsbewusstsein in seiner Einbettung in die organischen Rahmenbedingungen zu verstehen. Die im Gehirn zum Bewusstsein kommenden Impulse werden aufgrund ihrer Abhängigkeit von der intraorganischen Motivation wesentlich durch hormonelle Zyklen bestimmt. Je nach der Jahreszeit und der aktuellen unmittelbareren physiologischen Situation (z. B. Hunger), sind Tiere für ganz spezifische Reize sensitiviert. Die schwankenden hormonellen Zyklen aktivieren verschiedene Verhaltensformen und führen zu einer verschiedenen „Bewertung“ des Wahrgenommenen (M II, 128). Als zentrale Hypothese zur Interpretation tierischen Wahrnehmungsbewusstseins entwickelt
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Langer die Vorstellung, dass die tierische Wahrnehmung vollständig in die Struktur ihres Verhaltens integriert ist. Die Wahrnehmungen von Tieren stehen in direkter Abhängigkeit von ihrem je gerade in der Entstehung oder im Verlauf befindlichen Verhalten. Dies zeigt das Beispiel der Raumwahrnehmung. Tiere sind in der Regel nicht in der Lage, einen Raum durch bloßes Betrachten kennenzulernen. Ihre Raumkenntnis ist daran gebunden, sich in dem Raum zu bewegen. Ihr Raum existiert nur als Verhaltensraum. Nach Langers Auffassung nehmen Tiere ihre Umgebungen nicht hinsichtlich ihrer individuellen perzeptiven Eigenschaften wahr. Das tierische Wahrnehmungsbewusstsein bleibt in einer dem distinkten Form- und Eigenschaftswahrnehmen vorausliegenden Phase der pragmatischen Aufmerksamkeit. Wahrnehmungen fungieren allein in ihrer pragmatischen Relevanz, als Werte des Verhaltens (M II, 55). Der Wahrnehmungsprozess, der bei der menschlichen Wahrnehmung hin zum Auffassen der distinkten Eigenschaften führen kann, bricht im tierischen Wahrnehmungsbewusstsein aufgrund seiner pragmatischen Einbettung bereits vorher ab. Tierische Wahrnehmung verbleibt in der primären Phase der Werterfassung, weil die Einbindung in die Motorik so stark ist, dass ihre Aufmerksamkeit sofort auf neue Verhaltenskonstellationen bezogen wird. Daher haben Tiere kein unserem Wahrnehmungsbewusstsein ähnliches Wahrnehmen klar unterschiedener Eigenschaften. Langer untermauert die These vom „Wertcharakter“ der tierischen Wahrnehmung durch Erkenntnisse aus der menschlichen Wahrnehmungsforschung. So ist der Sachverhalt gut erforscht, dass der bewussten Wahrnehmung eine voraufmerksame Phase der Bewertung vorausgeht. Tachistoskopische Studien belegen, dass etwa das Verständnis von Wörtern durch ihre positive oder negative, passende oder unpassende Bedeutung, die voraufmerksam wahrgenommen wird, beeinträchtigt wird. Dies ist ein Indiz dafür, dass der Wert einer Wahrnehmung bereits vor dem bewussten und distinkten Erkennen der Form- und Bildeigenschaften gegeben ist. Möglicherweise ist die Phase der voraufmerksamen Wahrnehmung in der tierischen Wahrnehmung sogar sehr viel stärker ausgeprägt als beim Menschen, weil diese Phase beim Tier nicht wie die menschliche Wahrnehmung von einer neuen Phase der distinkten Wahrnehmung abgelöst wird. Während die Wertwahrnehmung beim Menschen ein stark reduziertes Durchgangsstadium darstellt, haben Tiere möglicherweise eine sehr viel ausgeprägteres Erfassen verhaltensfunktionaler Werte. Situationsbewältigungen stellen sich nach diesem Verständnis nicht als Ergebnis
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„expliziter Beurteilungen“, sondern als Ergebnis des Erfassens pragmatischer Qualitäten dar.7 Auch das tierische Sozialbewusstsein hat eine andere Struktur als die des Menschen. Zur terminologischen Fixierung der differenten Struktur führt Langer die Unterscheidung zwischen Empathie und Sympathie ein. Der Begriff der „Empathie“ bezeichnet die direkte emotionale Ansteckung zwischen Artgenossen. Besonders dort, wo Tiere in Sozialverbänden zusammenleben, kommt es zu einer spontanen Übertragung der subjektiven Befindlichkeit, bei der die individuelle Separatheit des Fühlens durchbrochen wird. Die plötzlich ausbrechende Panik beim Auftauchen eines Angreifers ist eine solche empathische Reaktion, die sich spontan und ohne jede symbolische Vermittlung auf alle Tiere einer Gruppe ausbreitet. Während empathische Reaktionen beim Menschen nur noch rudimentär vorhanden sind, sieht Langer darin eines der dominanten Prinzipien der Organisation des tierischen Soziallebens. Für den Menschen ist der Zugang zur subjektiven Befindlichkeit anderer in der Regel symbolisch vermittelt. Menschen erfahren die emotionale Befindlichkeit anderer durch die Vorstellung der Befindlichkeit eines anderen, durch „Sympathie“. Wir wissen von den Emotionen anderer nicht „direkt gefühlt“, sondern „vorgestellt und imaginativ verstanden“ (M I, 89). In dieselbe Richtung geht Langers Unterscheidung zwischen „Kommunion“ und „Kommunikation“. Kommunion ist die Sammelbezeichnung für die zahlreichen Formen gegenseitiger Aufmerksamkeit, Kontaktsuche und Nähebedürfnisse (M II, 202). Viele Formen des tierischen Sozialverhaltens können so gedeutet werden, dass Artgenossen durch olfaktorische oder akustische Reize in naher Verbindung bleiben und dadurch ihren emotionalen Spannungszustand reduzieren. Nach Langers Auffassung findet das tierische Sozialleben ohne jede Form von Kommunikation, d. h. einer intendierten und vorstellungsbegleiteten Vermittlung von Ideen oder Informationen, statt. Wirkliche Kommunikation, d. h. die wechselseitige Mitteilung über etwas Abwesendes, Erinnertes oder Vorgestelltes wird erst durch die Fähigkeit des Sprachgebrauchs möglich und ist die Besonderheit des Menschen.
_____________ 7
Vgl. dazu auch Lachmann 1999.
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9. Die Entkoppelung des Fühlens vom Verhalten Die eng an die Sprachentstehung gekoppelte Menschwerdung vollzog sich ausgehend von verschiedenen Entwicklungen, bei denen die Freisetzung der Hände eine große Rolle spielte. Daneben schreibt Langer gerade der Steigerung der Emotionalität eine zentrale Bedeutung zu. Die Spezialisierung und Differenzierung der Hand und anderer Sinnesorgane allein führt nicht zum menschlichen Geist. Es ist die ausgeprägte Emotionalität unserer Vorfahren, die die grundlegende Reorganisation unserer Wahrnehmung und unseres Bewusstseins einleitete, which entails a corresponding increase of perceptive functions, not necessarily by virtue of better receptor organs, but of increasing values imposed on what anciently developed senses convey. (M II, 140)8
Im Rahmen ihrer historischen Rekonstruktion der Menschwerdung räumt Langer dem Phänomen des Träumens eine Schlüsselstellung ein. Der Traum ist nach Langers Auffassung deswegen ein plausibler Ansatzpunkt, weil sich hier erstmals die für menschliches Vorstellen und Denken charakteristische Unabhängigkeit des Fühlens von unmittelbaren Verhaltensbezügen entwickeln kann. Im Traum stehen die Bewusstseinsgegebenheiten in keinem Zusammenhang mit einem aktuellen Verhalten. Daher können sich hier nicht-praktische Verweisungsverhältnisse überhaupt zum ersten Mal entwickeln. Die Notwendigkeit des Träumens entsteht daraus, dass im Verlauf der Gehirnentwicklung die sensorische Rezeptivität weit über das für das praktische Verhalten erforderliche Maß anstieg. Daneben geht Langer − wie gesagt − von einer überaus hohen Emotionalität unserer Vorfahren aus. Im alltäglichen Verhalten müssen alle Impulse, die das Handeln beeinträchtigen, zurückgedrängt werden. Aber die zurückgedrängten Impulse stauen sich auf und bilden einen massiven Hintergrund von „Tagesresten“9, die auf ihre Aktualisierung drängen. Gelegenheiten zur Verarbeitung dieser Reste bieten sich in Ruhephasen, in denen die Konzentration auf die unmittelbare Situationsbewältigung den Verdrängungszustand nicht länger aufrechterhält und vor allem im Schlaf. Im Schlaf werden die blockierten sensorischen und die emotionalen Impulse aktualisiert, die dann, wenn sie eine bildhaft-halluzinative Phase haben, Träume sind. _____________ 8 9
Vgl. dazu auch den Aufsatz Emotion and Abstraction in PS 66–82. Langer übernimmt diesen Begriff aus Sigmund Freuds Traumdeutung.
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In der Regel werden die Träume nach dem Erwachen schnell vergessen. Allerdings können sich Traumfolgen zu Traumbildern verdichten: Ein einziges Bild kann den gesamten emotionalen Gehalt eines Traums in sich enthalten. Solche Bilder zeichnen sich durch eine hohe Emotionalität und fesselnde Expressivität aus. Daher haben solche Bilder einen physiognomischen, expressiven Charakter. Solche Bilder können über einen längeren Zeitraum erinnert werden und uns auch im Wachbewusstsein für einen längeren Zeitraum präsent bleiben. Als Ergebnis einer so rekonstruierbaren Entwicklung werden Dinge und Situationen − und zwar in einem nicht-praktischen, sondern in einem rein emotionalen Sinn − ausdrucksvoll. Ein Stein wird etwa als bedrohlich, ein Baum als traurig, ein Bach als spielerisch und lustig wahrgenommen. Einer der Effekte der Wahrnehmung von hoher Expressivität besteht darin, dass wir davon gleichsam gefesselt werden. Während die tierische Wahrnehmung an vage gefühlte Wertbeziehungen gebunden bleibt, entsteht damit für den Menschen die Fähigkeit, die distinkten phänomenalen Eigenschaften von Dingen bewusst wahrzunehmen. Anders als das Tier kann der Mensch Dinge in ihrer anschaulichen Individualität wahrnehmen und sich ihre konkreten Eigenschaften zum Bewusstsein bringen.10 Mit dieser Fähigkeit der Eigenschaftswahrnehmung ist eine elementare Leistung der Symbolisierung bereits angebahnt: die Öffnung für eine nicht-praktische Wahrnehmung. Wann immer dies zum ersten Mal stattfindet, bleibt das aktuelle Wachbewusstsein nicht ausschließlich auf die handlungsrelevanten Bezüge fokussiert, sondern beinhaltet zugleich Bezüge zu gegenwartsfernen Erfahrungen. Solange die sensorischen und emotionalen Empfindungen aufgrund der Verhaltensrelevanz miteinander verknüpft sind, bleiben sie auf die aktuell präsenten Existenzbedingungen bezogen. Mit dem Erfassen nicht-praktischen Ausdrucks findet die − wenn auch zunächst nur partielle − Ablösung der menschlicher Orientierungen von den aktuellen Umständen, in denen wir uns jeweilig befinden, statt. Die Folge ist, dass die Wahrnehmungsstruktur des Menschen komplexer wird. Zwar bleibt die Wertstruktur die Basis der menschlichen Wahrnehmung. Aber mit dem Entstehen von expressiven Traumbildern und einer Empfänglichkeit für ausdrucksvolle Gestalten gewinnt das menschliche Bewusstsein auch Bilder, die ihre Bedeutung in sich selbst haben. Es öffnet sich die Sphäre symbolischer „Bedeutung“. Hier liegen die rudimentären Anfänge des bewussten Erinnerns, Vorstellens und _____________ 10
Vgl. dazu Meuter 2008.
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Denkens, die in der nun beginnenden kulturhistorischen Entwicklung zum Ausgangspunkt eines „motivationalen Denkens“ (M III, 9), einer „empathetischen Magie“, ritueller Praktiken und Mythen werden.
10. Die kulturelle Form des Fühlens Obwohl menschliches Fühlen durch die sich kulturgeschichtlich entfaltenden Symbolisierungsformen transformiert wird, bleiben Grundbestände des tierischen Fühlens (der Wertcharakter der Wahrnehmung, Empathie usw.) beim Menschen wirksam. Auch ist der Prozess der Menschwerdung nicht ohne Rückfälle. Als einen solchen – um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen – deutet Langer die weltweit nachweisbaren Befunde von Kannibalismus. Dieser taucht an einem solchen Punkt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit auf, in der die empathischen Reaktionen zwischen den Menschen in Auflösung begriffen sind. Die Empathie besitzt im Tierreich unter Artgenossen wesentliche Koordinationsund Schutzfunktionen. Mit dem Entstehen der symbolischen Existenzform und dem damit einhergehen Verlust instinktiver Reaktionen schwindet der Einfluss der Empathie. So lange diese Entwicklung noch nicht durch eine neue Errungenschaft kompensiert wird, verlieren die Menschen auch einen Schutz gegenüber ihren Mitmenschen. In der weiteren kulturellen Entwicklung tritt die Sympathie, das imaginativ vermittelte Verstehen von Gefühlen, an die Stelle der Empathie. Die Zeitspanne, die zwischen dem Verlust der Empathie und ihrem Ersatz durch das Entstehen der Sympathie besteht, kann sehr lang sein. Nach Langer kann es an dem Punkt zum Kannibalismus kommen, wo die Empathie in Auflösung begriffen ist, sympathetische Reaktionen aber noch nicht an ihre Stelle getreten sind. Als kulturelles Wesen bedarf der Mensch, für den die natürlichinstinktive Formbestimmung seines Handelns weitgehend aufgelöst ist, einer Formgebung seines Fühlens durch Symbole. Gerade die präsentativen Symbolisierungen haben für die Ausbildung kulturspezifischer Muster des Fühlens eine entscheidende Bedeutung. Langer verweist etwa auf die Rolle von Ritualen, die nicht bloßer Gefühlsausdruck sind, sondern „komplexe, permanente innere Haltungen“ (PNW 155) erzeugen. Ein deutlicheres Medium, um diese innere Haltung zu erkennen, als die formalisierte Gebärde gibt es nicht; in dieser kryptischen Form wird sie erkannt und gewährt dem Stamm oder der Gemeinde ein starkes Gefühl von Zusammengehö-
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rigkeit, Rechtlichkeit und Sicherheit. Ein regelmäßig geübter Ritus bedeutet die ständige Wiederholung von Empfindungen gegenüber den ‚ersten und letzten Dingen‘. (PNW 155)
Es sind alltägliche und kulturtragende Geschichten, Märchen, Mythen und Rituale, die individuell und kollektiv orientierungsstiftend sind. Aus diesem Grund liefert Langer ein Plädoyer dafür, unserem alltäglichen Leben auch durch Gesten und Rituale eine sinnhafte Form zu geben. Auch die Kunst hat in der Verbindung von Formartikulation, Formgebung und Formveränderung eine ausgezeichnete kulturelle Bedeutung. Kunstwerke können nicht nur dazu führen, Strukturen und Dynamiken des Fühlens zu artikulieren und dadurch auch zum anschaulichen Verständnis zu bringen. Sie ist auch entscheidend an dem Prozess der tatsächlichen Ausprägung der kulturellen Muster des Fühlens beteiligt. Langers Hochschätzung der bildenden Bedeutung der Kunst geht so weit, dass sie in Bezug auf die zeitgenössische Debatte über die Krisenerscheinungen die Einseitigkeit der vorherrschenden Erklärungsmuster: veränderte ökonomische Bedingungen und Familienbeziehungen bemängelt und demgegenüber auf den Einfluss „korrupter Kunst“ hinweist. In der formierenden und erzieherischen Bedeutung der Kunst bestehe eine Verwandtschaft zur Religion. Art is a public possession, because the formulation of ‚felt life‘ is the heart of any culture, and molds the objective world for the people. It is their school of feeling, and their defense against outer and inner chaos. (FF 409)
Die Entwicklung einer neuen Kunst oder eines neuen künstlerischen Stils ist oft zugleich die Formulierung einer neuen kulturellen Phase. Langer geht so weit zu behaupten, dass die Kunst die Speerspitze der individuellen und der kulturellen Entwicklung ist (PS 82). Jedes individuelle Leben bildet einen „individuellen Stil“ aus, der sich in allen Aspekten des Menschen − seinem Verhalten, Sprechen und selbst in seiner Körperhaltung − zeigt. Ganz analog, wenn auch nicht mit demselben Grad an Eindeutigkeit und Homogenität hat jede Kultur einen bestimmten Stil, eine „Grundströmung des Fühlens“ (PS 95). Diese Grundströmung des Fühlens ist die Weise, auf Dinge oder Ereignisse bewertend zu reagieren. Sie ist der Rhythmus, in dem sich das alltägliche Leben bewegt, der Stil, in dem Menschen miteinander leben und umgehen. Darin drückt sich die Bereitschaft aus, bestimmte Tatsachen − etwa die der eigenen Sterblichkeit − zu leugnen, anzuerkennen, heroisch oder auch niedergeschlagen darauf zu reagieren. Der Stil bestimmt, was auf welche Weise überhaupt in das Blickfeld unserer Aufmerksamkeit gelangt und welches Gewicht es für un-
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sere Handlungen gewinnt (PS 99). Auch das Handeln − ob in militärischen, akademischen, feierlichen, religiösen Zusammenhängen oder in unserem alltäglichen Sozialverhalten − hat immer eine expressive Bedeutung. Als einzelne Individuen wachsen wir in solche etablierten Formen hinein und werden durch sie akkulturiert. Indem bestimmte Symbole eine vorherrschende Stimmungslage nicht nur zum Ausdruck bringen, sondern auch neue Formen des Fühlens artikulieren oder tatsächlich formen haben sie einen wesentlichen Einfluss auf den kulturellen Prozess. Die „formative Funktion“ der Symbolisierung ermöglicht die spezifische Form menschlicher Freiheit, die im Erleben einer sinnerfüllten Existenz besteht. Der elementare Sinn menschlicher Freiheit besteht nicht in der Abwesenheit äußerer Zwänge oder in der praktischen Beherrschung der belebten und unbelebten Natur. Vielmehr ist Freiheit zunächst die innere Sicherheit und Orientiertheit, mit der Menschen handeln und leben, und aufgrund der konfrontierende Ereignisse als sinnhaft erfahren werden können. Freiheit besteht in der Festigkeit und in dem inneren Überzeugtsein von den eigenen Orientierungen, in der Formsicherheit des eigenen Lebens, die durch ein wechselseitig sich stützendes und anschaulich beglaubigtes Gewebe von Meinungen und Bewertungen entsteht. Diese Freiheit wird unter anderem durch eine Stilbildung errungen, durch die die verschiedenen Erfahrungen und Interpretationen sich zu einem konvergenten „Muster des Fühlens“ fügen.
Literatur Langers Schriften werden nach einer deutschen Ausgabe sowie nach den amerikanischen Publikationen zitiert – vollständige Angaben siehe unten. Alle Zitate aus denjenigen Schriften Langers, für die keine Übersetzungen vorliegen, stammen von Rolf Lachmann. Die verwendeten Siglen sind: FF M I–III PA PNW PS
– Feeling and Form – Mind: An Essay on Human Feeling, Bd. I–III – Problems of Art – Philosophie auf neuem Wege – Philosophical Sketches
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Zu den Autorinnen und Autoren ANGELICA BAUM, geb. 1956, studierte Klavier und Orgel am Konservatorium Biel und in Genf, anschließend Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft an der Universität Bern und in Berlin. Promotion in Zürich bei Prof. Dr. H. Holzhey: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ästhetik und Ethik bei Shaftesbury (2001). Sie unterrichtet Philosophie, Ethik und Deutsch an der Kantonsschule Solothurn (CH). DIETER BIRNBACHER, geb. 1946, studierte Philosophie, Anglistik und Allgem. Sprachwissenschaft in Düsseldorf, Cambridge und Hamburg. Von 1993 bis 1996 Professor für Philosophie an der Universität Dortmund, seit 1996 in Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Angewandte Ethik, Anthropologie. Vizepräsident der Schopenhauer-Gesellschaft. Veröffentlichungen u. a.: Verantwortung für zukünftige Generationen (1988); Tun und Unterlassen (1995); Analytische Einführung in die Ethik (2003); Bioethik zwischen Natur und Interesse (2006); Natürlichkeit (2006). SIDONIA BLÄTTLER, geb. 1959, promovierte in Zürich in Philosophie, war dort und an der FU Berlin wiss. Assistentin, bevor sie 2006 als wiss. Referentin ans Institut für Sozialforschung in Frankfurt a. M. ging. Veröffentlichungen u. a.: Der Pöbel, die Frauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts (1995); Nation und Geschlecht im philosophischen Diskurs der politischen Moderne, in: Feministische Studien (2/2000); Die Rechte von Frauen zwischen Universalismus und kultureller Selbstbestimmung. Exitoption und der Zugang zur Staatsbürgerschaft, in: S. Zurbuchen (Hg.), Bürgerschaft und Migration. Einwanderung und Einbürgerung aus ethisch-politischer Perspektive (2007). JOHANNES BRACHTENDORF, geb. 1958, promovierte 1992 in Tübingen in Philosophie und habilitierte sich dort 1998. Seit 2004 lehrt er das Fach Philosoph. Grundfragen der Theologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Fichtes Lehre vom Sein (1995); Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus (2000); Augustins Confessio-
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nes (2005); Augustinus, De libero arbitrio. Einleitung und Übersetzung (2006). Er ist (mit V. Drecoll) Hauptherausgeber der lateinisch-deutschen Gesamtausgabe der Werke Augustins: Augustinus. Opera – Werke. ALEXANDER BRUNGS, geb. 1966, studierte Philosophie, Amerikanistik und Buchwissenschaft in Göttingen, Erlangen und Rom. Seit 2001 ist er am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und seit 2007 auch an dem der Universität Freiburg i. Br. wiss. Mitarbeiter. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Metaphysik, Sprachphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Metaphysik der Sinnlichkeit. Das System der passiones animae bei Thomas von Aquin (2002). FRIEDEMANN BUDDENSIEK, geb. 1967, studierte Philosophie, Alte und Neuere Geschichte, Slawistik und Griechisch in Erlangen und Oxford. Seit 2007 ist er Professor für Antike Philosophie an der Universität Frankfurt a. M. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Antike, Metaphysik. Veröffentlichungen u. a.: Die Modallogik des Aristoteles in den Analytica Priora A (1994); Die Theorie des Glücks in Aristoteles’ Eudemischer Ethik (1999); Die Einheit des Individuums. Eine Studie zur Ontologie der Einzeldinge (2006). DAMIAN CALUORI, geb. 1970, studierte Philosophie, altgriechische Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Mathematik in Zürich und Oxford und promovierte dort 2007 über Plotins Seelenlehre. Er ist wiss. Mitarbeiter an der Universität Zürich beim Neuen Ueberweg. Veröffentlichungen u. a.: Aristoteles über Leiber und Leichen, in: Studia Philosophica 62 (2003); The Essential Functions of a Plotinian Soul, in: Rhizai 2 (2005); Franciscus Sanchez, Daß nichts gewußt wird (Quod nihil scitur), Ed. und Übersetzung (in Zusammenarb. mit Kaspar Howald und Sergei Mariev; 2007); The Scepticism of Francisco Sanchez, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 89 (2007). CHRISTOPH DEMMERLING, geb. 1963, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik in Konstanz und Florenz, wo er 1992 promovierte. Er habilitierte sich 1998 in Dresden. Professor für Philosophie in Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Sprache und Verdinglichung. Wittgenstein, Adorno und das Projekt einer Kritischen Theorie (1992); Grundprobleme der analytischen Sprachphilosophie. Von Frege zu Dummett (zus. mit Th. Blume; 1998); Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zu Sprachphilosophie und Hermeneutik (2002); Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn (gem. mit Hilge Landweer; 2007).
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MICHAEL ERLER, geb. 1953, studierte Klass. Philologie und Philosophie in Köln und London und promovierte 1977 in Köln. Er habilitierte sich 1985 in Konstanz. 1989 Professor für Klass. Philologie (Schwerpunkt Latein) in Erlangen, 1992 o. Professor für Klass. Philologie (Schwerpunkt Griechisch) in Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons (1987); Epikur – Die Schule Epikurs – Lukrez, in: Die Philosophie der Antike Bd. 4/1 (1994); Römische Philosophie, in: Einleitung in die lateinische Philologie, hg. von F. Graf (1997); Platon (2006); Platon. Die Philosophie der Antike Bd. 2/2 (2007). AARON V. GARRETT, geb. 1965, studierte Philosophie an der Universität Chicago und an der New School for Social Research. Er ist derzeit Associate Professor an der Boston University. Arbeitsschwerpunkt: Geschichte der modernen Philosophie. 2003 erschien von ihm Meaning in Spinoza’s Method. Er ist Herausgeber von Francis Hutchesons Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections (2002) sowie des Routledge Handbook of 18th-Century Philosophy (2008). GUNTER GEBAUER, geb. 1944, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Linguistik und Sportwissenschaft in Kiel, Mainz und Berlin, promovierte 1969 an der TU Berlin und habilitierte sich 1975 an der TU Karlsruhe. 1978 Ruf an die Freie Universität Berlin, derzeit am Institut für Philosophie. Er ist Mitbegründer und Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Histor. Anthropologie. Arbeitsschwerpunkte: Histor. Anthropologie, Sprachtheorie und Sozialphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Der Einzelne und sein gesellschaftliches Wissen (1981); Mimesis (zus. mit Ch. Wulf; 1992); Spiel – Ritual – Geste (zus. mit Chr. Wulf; 1998). CHRISTOPHER GILL, geb. 1946, studierte Altphilologie in Cambridge und Yale. Er lehrte in Yale, Bristol und an der University of Wales in Aberystwyth. Seit 1997 ist er Professor für Ancient Thought an der Universität Exeter. Arbeitsschwerpunkte: Antike Psychologie und Ethik, mit Blick auf Konzepte von Charakter, Personalität und Selbst. Veröffentlichungen u. a.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy: The Self in Dialogue (1996); The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought (2006); Naturalistic Psychology in Galen and Stoicism (im Erscheinen) sowie Galen and the World of Knowledge (hg. mit T. Whitmarsh und J. Wilkins; im Erscheinen).
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Zu den Autorinnen und Autoren
OLIVER HALLICH, geb. 1968, studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik in Hamburg, wo er 1995 promovierte. 2007 Habilitation an der Universität Düsseldorf. Zur Zeit Vertretungsprofessor für Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Metaethik, Angewandte Ethik, Politische Philosophie, Antike Philosophie, Klassischer Empirismus. Veröffentlichungen u. a.: Die Rationalität der Moral. Eine sprachanalytische Grundlegung der Ethik (2008). MICHAEL HAMPE, Professur für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Arbeitsgebiete: Geschichte der Philosophie in der frühen Neuzeit (vor allem Hobbes, Spinoza und Hume), Philosophische Probleme der Biologie und Psychologie. Veröffentlichungen u. a.: Erkenntnis und Praxis. Studien zum Pragmatismus (2006); Die Macht des Zufalls (2006); Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs (2007). VESA HIRVONEN, geb. 1964, studierte Theologie und Philosophie in Helsinki, wo er 2002 promovierte. Seit 2002 ist er Forscher in der philosoph. Spitzenforschungseinheit der Akademie von Finnland. Arbeitsschwerpunkte: Wilhelm von Ockhams Philosophie und Theologie, spätmittelalterliche philosoph. und theolog. Theorien der Geistesverwirrungen, moderne lutherische Ethik. Veröffentlichungen u. a.: Passions in William Ockham’s Philosophical Psychology (2004); Mind and Modality. Studies in the History of Philosophy in Honour of Simo Knuuttila (Hg. mit Toivo J. Holopainen und Miira Tuominen 2006). ROLF LACHMANN, geb. 1959, studierte Philosophie in Marburg, an der Georgetown University, Washington D.C., und in Düsseldorf. 1990 Promotion in Philosophie. Wiss. Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin und dort 1998 Habilitation. Forschungsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Ethik und angewandte Ethik, philosophische Anthropologie. Veröffentlichungen u. a.: Ethik und Identität (1994); Medizinische Gerechtigkeit (1997), Susanne K. Langer (2000). HILGE LANDWEER, geb. 1956, studierte in Kiel und Bielefeld Philosophie, Literaturwissenschaft, Linguistik und Geschichte und wurde 1989 in Bielefeld promoviert. Sie habilitierte sich 1998 und ist Professorin an der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte: Praktische Philosophie, Philosoph. Anthropologie, Phänomenologie. Veröffentlichungen u. a.: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls (1999);
Zu den Autorinnen und Autoren
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Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn (gem. mit Christoph Demmerling; 2007); Gefühle – Struktur und Funktion (Hg. 2007). MARIA-SIBYLLA LOTTER, geb. 1961, studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Ethnologie in Deutschland und den USA und promovierte an der TU Berlin. Sie lehrt derzeit in Konstanz. Veröffentlichungen u. a.: Die metaphysische Kritik des Subjekts. Eine Untersuchung von Whiteheads universalisierter Sozialontologie (1996); Zur Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit: Subject-Superject, in: Natur, Subjektivität, Gott. Beiträge zur Philosophie A. N. Whiteheads, hrsg. v. H. Holzhey/R. Wiehl/A. Rust (1990); Erfahrung und Natur. Von der Philosophie der Naturwissenschaft zur pragmatistischen Metaphysik der Erfahrung, in: Die Gifford Lectures und ihre Deutung. Materialien zu Whiteheads „Prozeß und Realität“ 2, hg. v. M. Hampe/H. Maaßen (1991). BARBARA MERKER ist Professorin für Philosophie in Frankfurt a. M. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Politische Philosophie; Sprachphilosophie, Metaphorologie; Phänomenologie. Veröffentlichungen u. a.: Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls (1988); Angemessenheit. Zur Rehabilitierung einer philosophischen Metapher (Hg. 1998; zus. mit G. Mohr, L. Siep); Subjektivität und Anerkennung. Beiträge zu Hegels Philosophie des Geistes (Hg. 2003 zus. mit G. Mohr, M. Quante). KEVIN MULLIGAN, geb. 1951, Studium der Philosophie am Trinity College, Cambridge und in Tübingen, Promotion 1980 in Manchester, seit 1986 o. Professor für analytische Philosophie an der Universität Genf. Veröffentlichungen u. a. zur analytischen Metaphysik, zur Philosophie des Geistes und zur Geschichte der österreichischen Philosophie von Bolzano bis Wittgenstein. Gemeinsam mit A. Westerhoff (Hg.), Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle (im Erscheinen). DOMINIK PERLER, geb. 1965, ist nach Lehrtätigkeiten in Oxford und Basel seit 2003 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen historisch in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Philosophie, systematisch in der Philosophie des Geistes und Erkenntnistheorie. Veröffentlichungen u. a.: Repräsentation bei Descartes (1996), Theorien der Intentionalität im Mittelalter (2002), Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter (2006).
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Zu den Autorinnen und Autoren
MARTIN PICKAVÉ, geb. 1971, studierte Philosophie, Mittellateinische Philologie und Germanistik in Freiburg und Köln und promovierte dort 2003. Seit 2004 ist er Assistant Professor für Philosophie und Mittelalterstudien an der University of Toronto. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der mittelalterlichen Metaphysik und Philosophie des Geistes. Zur Zeit arbeitet er an einer Monografie zu mittelalterlichen Emotionstheorien. Veröffentlichungen u. a.: Nicomachean Ethics 7.3 on Akratic Ignorance (gem. mit J. Whiting; 2008); Heinrich von Gent über Metaphysik als erste Wissenschaft (2007). ROMANO POCAI, geb. 1961, studierte Philosophie, Germanistik und Italianistik in Heidelberg und Berlin, wo er 1994 promovierte. Von 1994–2000 war er wiss. Assistent am Institut für Philosophie der FU Berlin, von 2001–2004 wiss. Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zum Verhältnis von Philosophie, Kunst und Kunstkritik. Er arbeitet seit 2005 an einer Abhandlung zum Kunstbezug der philosophischen Moderne. Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik, Anthropologie, Ästhetik. Veröffentlichungen u. a.: Heideggers Theorie der Befindlichkeit (1996); Der Sinn der Zeit (hg. mit E. Angehrn u. a.; 2002). CHRISTOF RAPP, geb. 1964, studierte Philosophie, Griechisch, Logik und Wissenschaftstheorie in Tübingen und München. Er wurde 1993 in München promoviert und habilitierte sich 2000 in Tübingen. Er lehrte in Tübingen, Berkeley, Basel und Oxford und ist seit 2001 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie der Antike und Gegenwart an der HumboldtUniversität zu Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Philosophie der Antike. Veröffentlichungen u. a.: Vorsokratiker (1997, 22007); Aristoteles zur Einführung (2001, 32008), Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4: Rhetorik (2002). BIRGIT RECKI, geb. 1954, ist seit 1997 Professorin an der Universität Hamburg und Leiterin der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle (Edition der Werke Cassirers). Ihre Arbeitsgebiete liegen in der Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie/Anthropologie. Veröffentlichungen u. a.: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno (1988); Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant (2001); Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (2004); Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu I. Kant (2006).
Zu den Autorinnen und Autoren
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URSULA RENZ, geb. 1968, ist seit 2008 Associate Professor an der Roskilde University bei Kopenhagen. Sie studierte Philosophie, Germanistik und Didaktik in Zürich und war als wiss. Assistentin an der Universität und an der ETH in Zürich tätig. Veröffentlichungen u. a.: Die Rationalität der Kultur. Kulturphilosophie und ihre transzendentale Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer (2002), Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes (2009). TAD M. SCHMALTZ, geb. 1960, studierte Philosophie in Kalamazoo (USA) und wurde 1988 an der Universität Notre Dame (USA) promoviert. Seit 1989 ist er Professor für Philosophie an der Universität Duke (USA). Seit 2003 ist er Herausgeber des Journal of the History of Philosophy. Veröffentlichungen u. a.: Malebranche’s Theory of the Soul: A Cartesian Interpretation (1996); Radical Cartesianism: The French Reception of Descartes (2002); Descartes on Causation (2008). ROBERT SCHNEPF, geb. 1963, ist wiss. Angestellter am Seminar für Philosophie der Universität Halle-Wittenberg. Er promovierte 1993 in Heidelberg und habilitierte sich 2001 in Halle. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Metaphysik und Metaphysikgeschichte, Erkenntnistheorie, Rechtsphilosophie und deren Geschichte. Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch über Probleme des Erklärens in den Geschichtswissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Die Frage nach der Ursache – systematische und problemgeschichtliche Untersuchungen zum Kausalitäts- und zum Schöpfungsbegriff (2006). JAN SLABY, geb. 1976, studierte Philosophie, Soziologie und Anglistik in Berlin und wurde 2006 an der Universität Osnabrück promoviert. Er ist wiss. Mitarbeiter im VW-geförderten Forschungsprojekt animal emotionale am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück und arbeitet vor allem über Gefühle, Personalität sowie zu philosophischen Fragen im Umfeld der Neurowissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Gefühl und Weltbezug (2008). WERNER STEGMAIER, geb. 1946, Gründungsprofessor des Instituts für Philosophie der Universität Greifswald, Lehrstuhl für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie, Mitherausgeber und Schriftleiter der Nietzsche-Studien und der Monographien und Texte der Nietzsche-Forschung. Veröffentlichungen u. a.: Substanz. Grundbegriff der Metaphysik (1977); Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche (1992); Nietzsches „Genealogie der Moral“.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Werkinterpretation (1994); Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition (Hg., 2000); Lévinas (2002); Philosophie der Orientierung (2008). CHRSITIAN STRUB, geb. 1960, promovierte 1989, war als wiss. Mitarbeiter in Freiburg und als wiss. Assistent in Hildesheim tätig. Er habilitierte sich dort 2000 und ist seit 2007 apl. Prof. Seit 1995 Redakteur d. Allgem. Zeitschrift für Philosophie; 2002–2003 Leo-Baeck-Institute London; 2003– 2006 DFG-Projekt zu Peirce. Seit 2007 ist er Gymnasialreferendar. Spezialgebiete: Normentheorie, Metaphorologie, Editionen. Veröffentlichungen u. a.: Kalkulierte Absurditäten (1991); Sanktionen des Selbst. Zur normativen Praxis sozialer Gruppen (2005); Vom freien Umgang mit Gepflogenheiten. Eine Perspektive auf die praktische Philosophie nach Wittgenstein (2005). ANNA STUHLDREHER, geb. 1978, studierte Philosophie und Alte Geschichte in Düsseldorf und Berlin. Von 2000 bis 2001 arbeitete sie am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf an der elektronischen Erfassung antiker griechischer Münzen aus Kleinasien. Gegenwärtig schreibt sie an einer Promotion bei Gunter Gebauer über das Thema Emotionen beim späten Wittgenstein. MARKUS WILD, geb. 1971, ist wiss. Assistent am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte 2004 mit Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume (2006). Ein Arbeitsschwerpunkt ist die Philosophie der frühen Neuzeit. Publikationen: Sehen und Begreifen. Wahrnehmungstheorien in der frühen Neuzeit (mit D. Perler; 2008); Unsicheres Wissen. Formen des Skeptizismus und Theorien der Wahrscheinlichkeit in der frühen Neuzeit (mit C. Spoerhase u. D. Werle; im Erscheinen). JEAN-PIERRE WILS, geb. 1957, studierte Philosophie und Katholische Theologie in Leuven und Tübingen, wo er 1987 promovierte und sich 1990 habilitierte. Nach Professuren in Ulm, Freiburg und Tübingen ist er seit 1996 Ordinarius für Kulturtheorie der Moral unter bes. Berücksichtigung der Religion an der Radboud Universiteit Nijmegen (NL), wo er z. Z. Gründungsdekan der Fakultät der Religionswissenschaften ist. Veröffentlichungen u. a.: Nachsicht (2006); Lexikon der Ethik (hg. zus. mit Ch. Hübenthal; 2006); Gotteslästerung (2007); Ars moriendi. Über das Sterben (2007).