Dumm zu sein, das trifft jeder, die soziale Funktion eines Idioten hingegen ist das Ergebnis eines ernsten Willensaktes ...
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Dumm zu sein, das trifft jeder, die soziale Funktion eines Idioten hingegen ist das Ergebnis eines ernsten Willensaktes und einer dahin zielenden Erziehung. Die Idiotie ist ein Doktorat.
Tudor Arghezi
Kleine Prosa Unter den rumänischen Satirikern war Tudor Arghezi (Ion N. Teodorescu, 1880 - 1967) der bedeutendste. Von früh hat er sich der Polemik und dem Pamphlet verschrieben und sich auf die Seite der Unterdrückten und Erniedrigten geschlagen. So ist er gegen Ende des ersten wie des zweiten Weltkriegs verfolgt und verhaftet worden. Wie kein zweiter hat er den Kleinen genützt und den Großen geschadet.
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SV
Band 156 der Bibliothek Suhrkamp
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Tudor Arghezi Kleine Prosa
Suhrkamp Verlag 3
Deutsch von Edith Horowitz
Erstes bis viertes Tausend 1965 Deutsche Übersetzung: © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1965. Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany. Satz und Druck in Linotype Garamond beim Druckhaus Darmstadt. Bindearbeiten Karl Hanke, Düsseldorf maoi
n 2003
2003/III-1.0
Der Text folgt der Ausgabe des Suhrkamp Verlages seiten- und zeilenkonkordant; wiedergegeben in der Elegant Garamond BT.
Non-profit – Nicht zum Verkauf bestimmt.
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Kleine Prosa
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Mila
Ich besaß einen kleinen Buchladen in einem fremden, inmitten von Seen gelegenen Sommerkurort. Dort verbrachte ich als Student meine Ferien, indem ich die Bücher losschlug, die ich mir während des Jahres angeschafft hatte und zu ermäßigten Preisen andere erstand. Vier Koffer faßten meinen ganzen, auf zwei Büchergestellen eingeordneten und von einer Gruppe von Nippesfiguren belebten Laden. Heuer waren es ein aschgrauer Adler und ein Reh. Mila trug ein schwarzes, aus einem Stück geschnittenes Gewand, das wie ein langer Handschuh aussah und vom hohen Halsansatz bis zu dem über die Pantoffeln herabfallenden Saum mit Perlmutterknöpfen geschlossen war. Seit vier Jahren kam sie einmal wöchentlich, wählte ein Buch, las es aus und brachte es zurück. Die Bücher hatten sich an das Streicheln ihrer blonden Finger, ihrer rosenfarbenen Handfläche gewöhnt – doch eines Nachmittags blieb sie aus. Der Tag ging zur Neige, es wurde dunkel. Die Worte kamen wie von selber immer spärlicher über die Lippen, sie stockten wie mit Schattengarben beladene und von braven Ochsen gezogene Karren. Eine Lampe wurde in einem gegenüberliegenden Haus angezündet. Eine zweite Lampe leuchtete auf. Die Schaufenster erstrahlten. Gelbe Flitter schimmerten von den entferntesten herüber. Ich erwachte aus 7
tiefem Schweigen und fand mich wieder von Schweigen umgeben. Der Selcher von gegenüber, dem sein ziegelfarbener Schnurrbart um die Ohren flatterte, hielt ein langes Messer über einem Schinken gezückt und wartete auf die Angaben eines Lorgnons, um ihn anzuschneiden. Ebenso wie mein Nachbar wußte auch ich nicht, wo ich die dunkle Stille der Bücherbude anschneiden sollte. Eine Unterbrechung erfordert Nachdenken, und das Nachdenken bedarf des Stillschweigens wie der Schlaf. Im Schein einer anderen Lampe, die angezündet worden war und unerwartet ihre Strahlen in Milas blaue Augen warf, gewahrte ich die Tränen des Mädchens; seit langem schon liefen sie ihr über die Wangen, ohne daß ich es wußte. In die Maske der Hände, wie in das Becken eines Parkbrunnens gebettet, weinte ihr Antlitz lautlos wie eine Statue. Ich hätte das Weinen als die Klage der Zeit gedeutet, über die sich die Schatten legen, als das Aufschluchzen der Worte auf dem Bücherbord, die mit dem Fingernagel herausgerissen und – damit das geheime Weh keine Linderung erfahre – wie Vögel verwundet liegen gelassen wurden. Es weinten die Blumen, die Furchen und die Wälder, und es weinten wohl auch die schimmelgrauen Regen des Herbstes. Ein süßes Zirpen unsichtbarer Geigen erklang. Es schwankten auf zarten Stengeln um goldenen Kern die weißen Sonnen der wilden Kamille. Aus erdachten Bäumen glitten erdachte Blätter auf den samtenen, von einem verirrten Widerhall aufgewühlten Pfad herab. Ich hätte auf den Lichtknopf neben mir drücken kön8
nen, doch meine Hand war von einer linden Kraft umhüllt und ich fühlte, daß ich in eine tiefe, ruhig warme Woge untertauchte, aus der ich nicht wagte, die Arme in die Luft hinauszustrecken. Die Schatten verdichteten sich, bis es stockdunkel wurde, und über die Bücher und alle umliegenden Dinge schienen Gras, Gräser und Unkraut gewachsen zu sein. »Bald wird der Mond aufsteigen«, sprachen die Glühwürmchen im Laub. »Gewölbte Säulengänge und windschiefe Behausungen mit Hohlziegeldächern werden sich ringsumher aneinanderreihen«, sprachen die unsichtbaren Heuschrecken. »Ein von Röhricht umstandener, blauer See wird sich auftun.« »Die Hirsche werden sich, den Weiher durchwatend, zur Ruhe begeben. Sieh, die Hindinnen sind vom Ufer in die Flut gestiegen und lauschen dem ahnungsvollen Raunen des himmelentstiegenen Windes.« »Sie lauschen dem tiefen, wie von versunkenen Glokken hallenden Gesang der türkisfarbenen Frösche, die im Scheine des auf der zitternden Wasserfläche rudernden Mondes auftauchen.« Eine ganz ferne Posaune erdröhnte irgendwo an einem von Felsen eingeschlossenen Ort, zu dem Pfade voller Alpenveilchen führen. Ein Mann macht sich sachte und stumm mit Hunderten Schlüsseln an die eisernen Tore heran, und sein Schritt schlurft über hohe Stufen aus Filz. Ich weiß nichts inmitten all meiner Bücher, und Mila steht, ans Büchergestell 9
gelehnt, reglos da. Meine Zunge stockt wie der Pendel einer stehengebliebenen Uhr, und ich fürchte mich, das Ticken in Gang zu bringen. Welche Stunde mag wohl eine stehengebliebene Uhr im Dunkeln anzeigen? Die Augen sehen und sehen doch nicht. Milas Gesicht ist weiß, ist kalt. Ich strecke den Arm aus, um das Licht anzuknipsen, meine Hand stößt an ihre Schulter, die sich mir unbemerkt genähert hat, und die Hand des Mädchens tastet um meinen Kopf herum, als suchte sie einen Leuchter. Wenn die Sprache versagt, so finden die Hände die nötigen Worte und Gedanken. »Warum weinst du?« fragt Mila. »Warum weinst du?« »Ich kann gar nicht weinen.« Doch unmerklich weinten wir, Schiffbrüchige auf einer unbekannten Insel. Ein kurzsichtiger Kunde trat um sich tappend ein und rief uns in die Wirklichkeit zurück. »Verzeihung, ist jemand hier?… Ich möchte eine gute Abhandlung über allgemeine Philosophie haben …«
(1928)
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Eine Graue Eminenz
Von Zeit zu Zeit treffe ich einen »Freund«, der eigentlich gar nicht mein Freund ist, sich aber dennoch als solcher gebärdet. Eine vollkommene Höflichkeit kennzeichnet unsere Beziehungen, und wenn wir uns, wie dies in der Regel der Fall ist, lange nicht treffen, vergessen wir einander so gründlich, als wären wir beide gleichzeitig gestorben. Auch unsere Ansichten unterliegen dem gleichen Gesetz vollständiger Höflichkeit, und was mich betrifft, bin ich stets grundsätzlich mit all seinen Meinungen einverstanden. Er hält sich für einen Schriftsteller, ich lese ihn nicht, habe auch nicht vor, ihn zu lesen, dennoch bejahe ich ihn. Sagt er »wir«, so meint er Shakespeare, Dante, Goethe, Eminescu und sich selbst, natürlicherweise schließt dieses »wir« auch uns beide ein: also die gesamte literarische Sippschaft. Die Unterhaltung verläuft ungemein erfreulich. Er schreibt oder hat etwas geschrieben, doch hindern ihn die Umstände an der Herausgabe seines Werkes, und er wartet auf den günstigen Augenblick, der für manche Männer von überragendem Genie niemals kommt. Manchmal fehlt es an einem richtigen Verleger, ein andermal muß das Manuskript ergänzt werden, außerdem ist bald eine Regierung am Ruder, die er aus bestimmten Gewissensskrupeln zu schonen gedenkt, bald eine, die – wie er behauptet – völlig unmöglich
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ist. »Mein Freund«, der ein zurückhaltender, heikler Mensch ist, kann sich nicht jedem anpassen und kann sich nicht in jede Lage schicken. Nie wußte ich, woher er die Mittel nahm, um seinen Unterhalt zu bestreiten, und es wäre unzart gewesen, ihn danach zu fragen. Fragt jemand den Stieglitz, wie er sich sein Futter beschafft, wenn er mit seinem roten Hälschen auf dem Baum vor dem Fenster auftaucht, mit seinem Schnabel auf gläserne Tasten zu klopfen scheint und sich zwitschernd des Daseins freut? Gewiß ist mein Freund ein Mann, der bedeutenden Geschäften nachgeht. Im Schatten stehend, ist er an großen Unternehmungen und weitläufigen Projekten beteiligt gewesen, die immer wieder an einer lächerlichen Kleinigkeit scheiterten. Er erhebt deswegen keine Vorwürfe, er stellt die Tatsachen fest und lächelt wie ein Milliardär, dem es nicht gelungen ist, eine Eisenbahnlinie quer durch Afrika anzulegen und nun daran denkt, die Stahlgießereien in Utopien in Schwung zu bringen. Angeblich besaß er ein Gut, das ihm recht lästig war, oder sollte es künftighin erwerben, vielleicht war es auch nur eine Fabrik. Sooft ich ihn treffe, erfahre ich, daß er in aller Stille eine Reihe von Taten vollbracht hat, die zwar insgesamt fehlgeschlagen waren, aber dennoch seine persönliche Rolle als Teilnehmer an allen historischen Ereignissen ins richtige Licht setzten. Er ist ohne Zweifel ein politischer Geist ersten Ranges; die verantwortlichen Staatsmänner brachten ihm auch Verständnis entgegen, nur befolgten sie nicht 12
seine Ratschläge, wiewohl sie sich als richtig erwiesen. »Nun Herr Minister! Was habe ich Ihnen vor vier Monaten gesagt, als Sie der Ansicht waren, daß dies unmöglich sei?« »Ich bedauere, nicht auf Sie gehört zu haben. Nehmen Sie einen Kaffee?« Das hat sich unzählige Mal wiederholt. Wahrscheinlich ist mein Freund angesichts der Entwicklung des politischen Lebens mindestens sechs Monate zu früh zur Welt gekommen. Er hätte im Januar zur Welt kommen sollen, kam aber schon im vorhergehenden Juni, und die Sternbilder waren ihm ungünstig. Es gibt so astrologische Übereinstimmungen, die oft das Schicksal des Menschen entscheiden, wenn er es nicht aus eigener Kraft zu wenden versteht. Er steht mit vielen Politikern auf dem Duzfuß, hat alle besucht und mit allen, ohne Ausnahme, zusammengearbeitet. Ein eigenes Programm hat er zwar nicht, denn seine Ansichten stimmen in der Regel mit den ihren überein, doch erteilt er ihnen oft, natürlich ganz selbstlos, Ratschläge. »Unterlassen Sie diese Sache, Herr Minister, sie kann Folgen haben.« Aber der Herr Minister hat diese Angelegenheit bereits erledigt und ist nun betrübt, voreilig gehandelt zu haben. Nichts zu machen! Im politischen Leben gibt es eben auch schicksalhafte Wendungen: Manchmal war er auch in Gefahr geraten, eine extreme Haltung anzunehmen; das lag ihm zwar nicht, doch sah er sich 13
genötigt, einzugreifen, um dem Lauf der Handlungen, über die er unterrichtet war, seine eigene, persönliche Note »aufzuprägen«. Beim Abschied lächeln wir einander herzlich zu, den Hut in der Hand wie richtiggehende Gentlemen, die sich vor einem Staketenzaun auf einem Vorstadttrottoir, auf dem zerknülltes Papier herumliegt, wie Lords aufführen. Ich wußte gar nicht, daß es so spät ist. Wie schnell und angenehm doch die Zeit vergangen ist. Da schaute ich auf die Uhr: ich hatte zwei volle Stunden verloren. »Auf frohes Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen …«
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Akademische Betrachtungen Idiot und Nichtidiot Sie haben, lieber Herr, schreibt uns ein Leser, einem Säugling einen Zylinder aufgesetzt. Der Titel ist viel zu gelehrt für ein so einfaches Thema. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß »die Kunst, ein Idiot zu sein« eine Abhandlung von mehreren Bänden darstellt. Gestatten Sie mir, Ihnen ein Inhaltsverzeichnis vorzuschlagen. Es ist mein Wunsch, daß dieses Werk geschrieben und unter die Leute gebracht werde. Vorwort. Es muß in leicht faßlicher Form erklärt werden, daß »die Kunst, ein Idiot zu sein« zugleich auch »die Kunst, schwachsinnig zu sein« bedeutet, so daß beide Begriffe in einem einzigen Werk zu behandeln wären; auf diese Weise wird die Anzahl der Verleger, die darauf aus sind, grundlegende Werke herauszubringen, sich fühlbar vermindern. Es muß auch auf den wesentlichen Unterschied hingewiesen werden, der zwischen dem Idioten und seinem naturgegebenen Vorgänger, dem Dummkopf, besteht, dem gegenüber der Idiot eine höhere intellektuelle Stufe darstellt. Dumm zu sein, das trifft jeder, die soziale Funktion eines Idioten hingegen ist das Ergebnis eines ernsten Willensaktes und einer dahin zielenden Erziehung. Die Idiotie ist ein Doktorat. Niemals kann der Dummkopf ein Idiot werden, er bleibt dumm auf allen Stufen des Fortschritts, das heißt, er bleibt verehrungswürdig. Ja, um dahin
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zu gelangen, ein Idiot zu sein, dazu benötigt man sogar eine Spur von Intelligenz. Problemstellung: Kann ein Sprößling aus anerkannt vornehmem Hause, der deutliche Beweise von Intelligenz gibt (Arpeggien auf dem Klavier, Vortrag des Gedichtes »Rodica« im Alter von drei Jahren, Auflösung von Silbenrätseln im Alter von fünf Jahren, frühreife, im häuslichen Kreise bewunderte Theaterbegabung usw.) kann er – so frage ich – die Würde eines Idioten anstreben? Und zwar sobald er sich der Volljährigkeit erfreut und seinen Ehrgeiz dreinsetzt, Völker zu führen? Antwort: Wie denn nicht! Oder besser gesagt: Und ob! Jeder Jüngling, der seine Studien beendet hat, und dessen Wahlberechtigung feststeht, darf in seinem Busen das Ideal hegen, ein Idiot zu werden. Er wird um so sicherer ein Idiot werden, das will heißen, um so berechtigter dazu sein, als er in der Lage sein wird, eine längere, glänzendere, in der Staatsführung erfahrene Ahnenreihe aufweisen zu können. Nur vom Gesichtspunkt ihrer Heranbildung bleibt es geheimnisvoll, daß es vom Schicksal zur Lenkung des Staatsruders bestimmte Familien gibt, aus denen gleichlaufend die unveränderlichsten Geschlechterfolgen von Idioten hervorgehen. Grundsätzliches: Ohne Idioten wäre das soziale Leben eine schreckliche Kalamität. Es würde da die intelligente Schicht sich in Dinge einmengen, von denen sie nichts versteht; die wahre, leicht erregbare, feierliche, schwerfällige und allgemein anerkannte Autorität steht wie ein besonderer, persönlicher Takt oder 16
wie eine ererbte Eigenschaft ausschließlich der Gattung der Idioten zu. Stellen wir uns vor, daß ein Verwaltungsrat, ein Vollzugsausschuß, eine Gesellschaft von Wissenschaftlern aus den sogenannten intelligenten Wesen gebildet wären. Natürlich ist solch eine Katastrophe nicht zulässig, dem pflichte ich bei; ich stelle jedoch nur eine Hypothese auf. Wissen Sie, was da geschehen würde? Alle Mitglieder dieser Körperschaften würden, bevor sie zu Handlungen schritten, ihre nützlichste Zeit mit dem Nachdenken über ihr Vorhaben verlieren. Es würden alsgleich die sogenannten Ideen und Urteile in Erscheinung treten, die Ausschüsse und Verwaltungsbehörden würden zaghaft und unentschlossen werden, in der Ausübung ihrer Amtstätigkeit wären sie durch Fiktionen behindert als da sind: Skrupeln, Einwendungen, zusätzliche Erhebungen, Materialstudien usw., lauter Dinge, die wir Idioten nicht kennen. Da es doch im Staats- und Geschäftsleben soviel zu tun gibt, kann man sich leicht vorstellen, welch entsetzliche Folgen es nach sich ziehen würde, wenn Nichtidioten die treibenden Kräfte des Lebens wären. Zum Zwecke einer gehörigen Klassifizierung der schöpferischen Energien ist die Annahme einer richtigen Nomenklatur erforderlich: Es gibt Idioten und Nichtidioten, zu dieser letzten und großen Klasse, der die Elite der Vollidioten entstammt, gehört der ganze Abschaum der Gesellschaft, die Lahmen, die Stammler, die Buckligen und die Intelligenten. Die intelligente Spezies erwägt, zaudert, zergliedert, 17
und ist daher zweifellos minderwertig. Die Minister und die Ministerpräsidenten waren ihr nie gewogen. Die Intelligenz hat noch die abscheuliche Gewohnheit, niemandem die Antwort schuldig zu bleiben, sich nicht völlig einzuordnen und Raum für sich und ihr eingebildetes Denken zu fordern. Niemals soll man aus der Mitte dieser unheilvollen Hefe des Volkes seine Anhänger, seine Busenfreunde, seine Vertrauensmänner, Sekretäre, Buchhalter und Direktoren wählen. Sie verwehren einem den Weg zum Guten und Schönen, zum Idiotischen. Ein weiterer, unerträglicher Makel dieser Spezies ist ihr Anspruch auf Ehrlichkeit. Das ist ganz lächerlich. Die Ehrlichkeit gehört zur Gänze den Idioten. Denn was wäre die sogenannte Intelligenz anderes als Schlauheit, Durchtriebenheit, eine Schule des Taschendiebstahls? Was sonst ist dieses Erwägen, das Bedenken und Zaudern, das Wälzen von Problemen über Dinge der Natur, die Gott gerade und einfach erschaffen hat, wenn nicht Falschmünzerei, Mäklertum und Betrügerei? Wie vor Feuer hüte dich vor dem Menschen, der nach dem alten Wertmaßstab auch nur im entferntesten intelligent erscheint. In meiner Eigenschaft als Idiot ziehe ich dieser Liebedienerei der Persönlichkeit einen richtiggehenden Dummkopf vor. Ich empfinde das Bedürfnis, jemandem zu sagen, daß er ein tüchtiger, anständiger Mensch sei, und wähle mir die Menschen aus, welche diese besondere Auszeichnung verdienen. Die Intelligenz geht mir auf die Nerven, sie kompliziert und bauscht alles auf. Das Ziel liegt offen: ich will nicht 18
durch die Anwesenheit von Zeitgenossen, die sich für intelligent halten, beleidigt werden. Ihre Existenz ist eine Herausforderung. Mir gefallen anständige Leute und damit Punktum. Ich fühle ein brennendes Verlangen nach ihnen und habe auch meine Gründe dafür. Ich lege vor allem Gewicht auf die Ehrerbietigkeit der Leute, es gefällt mir, sie immer an der Tür zu finden, um mir dienstbereit den Überrock und die Schneeschuhe abzunehmen oder anzuziehen. Wo ist der anständige Mensch? Hier! Er ist immer vorhanden. Und mir gefällt auch seine ästhetische Elastizität, er begnügt sich nicht damit, aufrecht zu stehen, er bückt sich und windet sich, als wollte er sogar sein Gesicht verbergen. Potztausend, das paßt ihm aber gut! Der ehrerbietige Mensch erhebt sich vom Sessel, sooft er in meiner Abwesenheit meinen Namen ausspricht. Und wenn ich anwesend bin und ihn zum Sitzen auffordere, so nimmt er nur mit einem achtel Teil seines Allerwertesten Platz. In seiner Ehrerbietung scheint er zu sagen: sieben Achtel meines Allerwertesten halte ich in der Luft, ich widme sie Ihnen, das heißt Euer Gnaden. Welch zeremoniöse Form. Das gleiche gilt nicht nur in der Politik und in der Gesellschaft, sondern auch für jene Manifestationen, welche dem Individuum entspringen und seine Ausdehnung in dem Kulturraum darstellen. »Die Kunst, ein Idiot zu sein« ist universell. Ich vertrage es beispielsweise nicht, wenn ein Schreiber mich auf feine Weise zu umgarnen sucht, mir sogenannte subjektive Dinge, entartete Dinge erzählt, so aus seinem Kopf, 19
und es sich herausnimmt, mit eigenen Augen zu sehen und mit seinem Hirn alles zu durchdringen und zu zersetzen. Niemand, nur der Idiot hat ein Anrecht auf Hirn, denn er ist ein Konformist. Dies ist der Grund, weshalb ich die unverblümte Literatur vorziehe. Ich will Ihnen auch gleich ein Beispiel geben: Titel: »Die Kuh und ihre Hurenmutter, die weiße Büffelkuh.« Eines Tages kam Marin zum Brunnen und kniff die Cãtrina, Sie wissen schon wo. Cãtrina versetzte ihm eine Ohrfeige. »Du Schwein«, sagte ihm Cãtrina. »Du bist verheiratet, hast acht Kinder und denkst immer noch an verfluchte Schweinereien. Daß du es weißt, ich verpfeif dich bei deinem Weib.« »Und wenn du mich auch verpfeifst, du Großbusige, was ist schon dabei?« sagte Marin. »Mir wird nichts passieren. Reich mir lieber den Schöpfeimer, damit ich meine Kuh tränke.« Und so weiter und so fort. Das heißt richtig, geradeheraus und gesund schreiben.
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Der Hauseigentümer
Schon mehrfach habe ich das Wesen »meiner Methoden« erläutert; zu Ihrem genaueren Verständnis führe ich hier einige ausführlich belegte Beispiele an. Sobald ich mir, wie es in der Spiritistensprache heißt, das taugliche Subjekt gewählt habe, den Mann, für den meine Lehre und mein Verfahren zugeschnitten sind, lasse ich nicht eher locker, als bis ich mein Ziel erreicht habe. In meiner Jugend bewohnte ich ein Zimmer auf einem langgestreckten Flur einer Pension. Nachdem ich einige Monate regelmäßig die Miete entrichtet hatte, erhöhte der Eigentümer, ein reichgewordener Schankwirt, ganz grundlos seine Ansprüche. Von den Nachbarn erfuhr ich, daß diese Mietzinserhöhung eine allgemeine Maßnahme war. Diese Sporteln, die er bei den zweiunddreißig Mietern während der zwölf Monate des Jahres einstrich, ergaben einen bedeutenden zusätzlichen Gewinn. Die Zahlungsverweigerung hätte eine Übersiedlung zur Folge gehabt, mit allem Durcheinander und den noch größeren Kosten, die ein Wohnungswechsel mit sich bringt. Dies ist der richtige Mann, sagte ich mir, der ist wie geschaffen für meine Methoden. An einem genau festgesetzten Tag begann ich mein Opfer in ein Netz von Schicksalsschlägen und dunkel raunenden Geschehnissen zu verwickeln. Auf dem
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Kalender verzeichnete ich nach Tagen mein Aktionsprogramm und prägte es mir in all seinen Einzelheiten ein. Die ersten Tage waren den unheilverkündenden Botschaften, den dunklen Prophezeiungen gewidmet: auf gelbe Papierfetzen schrieb ich mit flüchtiger Hand ein Urteil, faltete die Zettel vierfach und spielte sie in die Hände des Eigentümers und seiner Familie. »Was immer du auch tust, du bist des Todes: der Tod ereilt dich heute oder morgen, er naht unerbittlich.« Nichts kann einen Menschen, der in Wohlstand lebt und der, wie es in hochtrabenden und lächerlichen Worten heißt, ein gesichertes Dasein führt, mehr erschüttern als das Heraufbeschwören des Todes. Die Gastwirte und ganz besonders die Hausbesitzer haben sich die Illusion zurechtgezimmert, sie wären unsterblich und würden für ewige Zeiten ihren Kunden verwässerten Wein, Wohnungen und einen Aufzug bieten. Die Mehrzahl meiner Zettel begannen mit der Anrufung des Todes, und ich habe das Thema des Todes in ungefähr sechzig Zetteln behandelt, die von meinem Opfer unter dem Teller, unter der Serviette, unter der Bettdecke und sogar in der Brieftasche aufgefunden wurden. »Ich war vollgespickt, aber der Tod wird mich leeren.« Ein Monat dieses Feldzuges reichte hin, um den Hauseigentümer und seine Familie in schweigsame Eigenbrötler zu verwandeln. Der Mann rasierte sich immer seltener, die Krawatte hing ihm unordentlich um den Hals, und selbst bei schönem Wetter ging er mit Regenschirm und in Galoschen aus. Malt man den 22
Teufel täglich an die Wand, so kommt er schließlich. Gleichlaufend mit diesem Feldzug ergriff ich die Initiative zu einer Verseuchung des Hauses. Ich kannte einen Tschechen, der Zaubermacht über Ungeziefer besaß, und einen Polen, der geschlossenen Auges das von seinem geheimnisvollen Geflüster behexte Haus, von allen Mäusen und Ratten gefolgt, zu verlassen pflegte. Die beiden erfreuten sich hohen Ansehens. Der erste brachte mir an einem Sonntag in meine Wohnung 478000 Küchenschaben, Schwabenkäfer und anderes Ungeziefer, das eigens dazu erschaffen worden war, den Menschen das Leben zu vermiesen. Jeder Käfer vermehrte sich tausendfach, und in einer Woche wuchs die Zahl des Käfervolkes ganz außerordentlich. Die Mieter fanden sie in ihren Speisen und tranken sie aus ihren Gläsern. Des Nachts wurden die Käfer bei der zarten Berührung der geschlossenen Augenlider ertappt und dabei, wie sie von den Mundwinkeln der Schlafenden die Moleküle und Atome des Eigelbs fortfraßen. Sie nisteten sich in allen Gegenständen, die Öffnungen und Rohre hatten, ein, in die Zigarettenspitzen usw. Wie neue Durchreisende machten sich die Mäuse sehr bald in allen Zimmern der Pension breit. Für einen vorübergehenden Aufenthalt fanden sie genügend Platz in den Spalten und Ritzen der Mauern. Schwerer unterzubringen waren die Ratten, die schnurstracks ins Bettzeug und ins Schuhwerk flüchteten. Ein Mieter, der seinen Überrock anzog, entdeckte in seiner Tasche, wo die Handschuhe lagen, eine voll23
zählige Rattenfamilie. Ich betrat die Zimmer der Beamtinnen, die zu ihren Arbeitsstellen gegangen waren, drehte die Bilder mit der Vorderseite zur Wand um und verschob sie ein wenig. Ich legte die Zahnbürsten mit dem Stiel nach oben in die Gläser, die Scheren an die Stelle des Tintenfasses und das Tintenfaß auf den Kleiderschrank. Ich stellte die Sessel ans Fenster. Ich wälzte mich im Bett einer Englischlehrerin, um es in Unordnung zu bringen und stellte einen Aschenbecher voller Zigarettenstummel, den ich aus einem anderen Zimmer gebracht hatte, auf das Nachttischchen. Als die Lehrerin nach Hause kam, rief sie alle Mieter herbei, damit sie ihr Beistand leisteten. Den geladenen Revolver in der Hand, durchsuchte ein Boxer alle verdächtigen Winkel des Zimmers, ja er kroch sogar unters Bett. Die Hüte vom Zimmer No. 30 trug ich ins Zimmer No. 50, ich vertauschte Schirme und Kleider und brachte das Schuhwerk so durcheinander, daß in keinem Raum ein richtiges Paar Schuhe zu finden war. Mit einem Magnet fuhr ich einmal über die Zifferblätter der Taschenuhren und verdarb sie haufenweise. Mit einem Rasiermesser durchschnitt ich an einem anderen Tag alle Aufhänger der im Vorzimmer befindlichen Mäntel. Ich tat Harz auf die Angeln von ungefähr zehn Türen, die einige Tage und Nächte darauf schrecklich kreischten. Ich vertauschte die Schlüssel an den Türen, ich veränderte den Ton der Klingel, indem ich das Glöcklein festband, und in einer Mondnacht trat ich auf meinen Balkon in ein Leintuch gehüllt und stieg auf einen Sessel. Da waren 24
Dutzende von Schreien zu hören, und alles flüchtete von den Balkonen in die Zimmer. Nach zwei Monaten gab es in der Pension nur noch zwei Mieter; außer mir war noch ein Apotheker geblieben, der mich bei der Durchführung meiner Methoden unterstützte. Alle Mieter waren fortgezogen, und der Hausherr verzichtete endgültig auf jegliche Mietzinserhöhung. Da wir nun allein geblieben waren, stand der Durchführung meines Programmes nichts mehr im Wege. Ich verstopfte alle Wasserleitungshähne sowie die Kanäle und steckte Holz in die Schornsteine. Vom Mansardenfenster ließ ich alle zwei Minuten Steinchen hinunterrollen, die ich in einer Tüte mitgebracht hatte: sie konnten nur von den Sternen herabgefallen sein, wie Metallasche. Als auch ich schließlich, mit der Begründung, schon viel zu lange in einem so verdammten Haus gewohnt zu haben, übersiedelte, senkte der Hauseigentümer den Mietzins, ohne jedoch jemanden damit anlocken zu können. Dann ging ein Feldzug los, der drei Monate dauerte, und der in der Absendung von leeren Schachteln und unbeschriebenen Postkarten, auf denen nur die Adresse geschrieben war, bestand. Die letzte Sendung war eine große Kraftwagenkiste, in der sich ein Sarg und drin eine Perücke befand. Schließlich stiftete ich durch die Sendung von Blumensträußen und Bonbons Streit und Zwietracht zwischen den Gatten. Die beiden versöhnten sich, indem sie die Bonbonschachteln bis auf den Grund leerten; da gewahrten sie zwei Totenköpfe, die ich als Leitmotiv des ganzen Feldzugs aufgemalt hatte. Durch 25
List und Tücke, durch verleumderische Zettel, schuf ich in der öffentlichen Meinung des Viertels eine feindselige Stimmung gegen das »Gespensterhaus«, die sich in immer häufigeren Aufläufen vor diesem Hause kundtat. Die Kiste mit dem Sarg, die nicht durch das Eingangstor ging, stand einen Tag lang auf dem Bürgersteig und mußte schließlich auseinandergenommen werden; bei dieser Gelegenheit kam der Sarg vor den Augen einer empörten Zuschauerschaft zum Vorschein. Da die Hauseigentümer am Leben hingen und daher Widerstand leisteten, ließ ich einen feierlich geschmückten Leichenwagen, von Pferden mit Federbüschen und schwarzen, silberbesäumten Überwürfen gezogen, vorfahren. Die Leichenbestatter standen eine ganze Stunde lang vor dem Haus und starrten aufmerksam auf die Hausnummer. Es trat das genau vorausberechnete Ergebnis ein: die Hauseigentümer erhängten sich, der Mann im Vorzimmer und die Frau im Baderaum. Meine Methoden riefen in dem von mir berichteten Fall Angst und Entsetzen vor dem Unerklärlichen hervor. Der gleiche Seelenzustand kann übrigens auch durch einfachere Mittel erzielt werden …
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Der weiße Schatten
In den sechzehn Tagen, seit dieser letzte Krieg auf Erden währte, wurde kein Blutstropfen vergossen und kein einziger Schuß abgegeben. Die Gewehre, Maschinengewehre und Geschütze in den Waffenlagern und die an den Grenzen aufgebotenen Truppen wurden nicht im geringsten eingesetzt. In weiße Mäntel gekleidet, hatten unsere Generale weder Säbel noch Tressen noch Käppis, sie verrichteten ihr Werk vom Laboratorium aus wie Photographen oder Fabrikanten von Hustentabletten. Ihre weibliche, weiße, rosige Hand mit den sorgfältig polierten Nägeln mordete die Heere und Völker mittels eines Zauberspruchs, durch den Druck auf eine Klingel oder indem sie die Zeiger einer Waage in die richtige Lage brachten. Sie setzten einen Apparat in Tätigkeit, der wie eine Waage aussah, und dessen verheerende Kraft durch die Gleichgewichtsstellung seiner Platinspitzen ausgelöst wurde. Zur Bedienung dieser Vernichtungsmaschinen und -apparate ist keine größere Handfertigkeit erforderlich als zum Einfädeln einer Nadel und zum Annähen eines Knopfes. Es waren ausschließlich zwei Mittel, die, rings um unseren Planeten wie ein Schirm um eine Lampe angeordnet, an der Zerstörung Europas und wahrscheinlich auch aller anderen Erdteile zusammenwirkten:
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die Molekülzertrümmerungsmaschine und der Weiße Dampf. Die erstere ist von der lächerlichen Größe eines Grammophons, und kleinere Modelle können wie Feldstecher an Riemen getragen werden. Ihre teuflische Tätigkeit hat riesenhafte Wirkungen, sie macht alle großen Grundstoffe, die von den Menschen erfunden wurden und den Aufbau der Zivilisation und die Dauerhaftigkeit des Komforts ermöglichten, zu Staub. Der Stahl, die Bronze und das Aluminium, die vom unsichtbaren, vom Apparat ausgesendeten Strahl getroffen werden, geraten in einen Zustand der Verwirrung und der Unschlüssigkeit, die Seele und die Intelligenz, die der Mensch ihnen als Teile seines Wesens eingepflanzt hat, um ihnen eine Haltung und eine zweckdienliche Einheit zu verleihen, werden zu Opfern natürlicher Zweifel in bezug auf ihre Dauerhaftigkeit und verlassen die Materie, um irgendwohin in die magnetischen Bestände der Natur heimzukehren. Es ist ebenso schwer, eine Eigenschaft durch all ihre unwägbaren Bahnen zu verfolgen, wie eine Seele über Gräber und Jahrhunderte hinweg. Der Stahl, zum Beispiel, wird weich ohne Temperaturerhöhung, er fühlt sich wie schwammiges frisches Brot an, die Schrauben brechen, die Schraubenmütter fallen von den Gewinden ab, die Chrom-, Nickel- und Gußeisenmassen verlieren den Schall und geben bei der leisesten Berührung einen stammelnden Seifenton von sich. Die Flugzeuge, Kraftwagen und Panzerzüge des Feindes bleiben, sobald sie vom Strahl W2 getroffen werden, auf der Stelle 28
stehen; sie werden mit spielender, unvorstellbarer Leichtigkeit aufgehalten, so als stürze eine Lokomotive, die gegen ein quer über die Schienen gespanntes Spinngewebe stößt, kopfüber. In dem Strahl, von dem hier die Rede ist, verfangen sich die Expreßzüge und die Flugzeuge wie Fliegen. Vor siebzehn Tagen, als der Krieg erklärt wurde, zerfiel die gesamte Flotte des Atlantischen Ozeans unterwegs wie Butter in einer siedenden Brühe: in zwölf Minuten war nichts mehr zu sehen. Hätte ich einen Pinsel mit Tinte in ein Faß Wasser getaucht, so wäre dies immerhin sichtbar; das lautlose Verschwinden der Kriegsschiffe, der Zerstörer und Unterseeboote im Ozean hinterließ jedoch keinerlei Spur. Aus weichem Aggregatzustand geht das Metall in zerreibbare Konsistenz wie die von Kreide und Talk über und zerfällt schließlich in mehligen Staub, so daß die gesteigerten Degenerierungsformen der gewesenen Materie, die sich in den elektrischen Öfen in Berührung mit dem Mangan, dem Vanadium und der Kohlensäure auf einem einfachen Laboratoriumstablett kristallisiert, nach und nach aufgezeichnet werden können. Der Strahl W2, der die stärksten Materiale zersetzt hat, bleibt jedoch ohne jegliche Wirkung auf Pflanzen und das gesamte zoologische System. Warum? Das ist ein Mysterium, das in den Sternen, eher noch jenseits der Sterne gesucht werden muß. Mäusen gegenüber blieb der Strahl völlig wirkungslos, ebenso gegenüber den im Labor gezüchteten Schnecken. Die Quelle des Strahls zieht die Schmetterlinge an, welche sich mit dem gleichen 29
Heißhunger in sie stürzen wie ins Licht; aber welch seltsames Phänomen: statt, daß sie untergehen, wachsen sie, sie wachsen mit einer einzigartigen Geschwindigkeit und entgegen allen Gesetzen, denen sie ihr Dasein verdanken. Über die »Schlachtfelder«, um noch jenen alten Ausdruck aus der primitiven Kriegskunst des Blutes zu verwenden, ziehen riesige Scharen von Schmetterlingen, so groß wie Raben oder sogar wie Adler, und hinterlassen im Licht Spuren vielfältigen Staubes. Die Eisenbahnschienen barsten sofort und wurden ebenso wie die Telegraphendrähte gleich in der ersten Kriegsstunde im Wind zersprengt. Die Messer, die Säbel, die Geschütze, die Geschosse, die Helme verwandelten sich in eine schwammige Materie, falls sie nicht einfach zu Staub zerfielen. Zur Vernichtung durch Fernwirkung der menschlichen Wesen, deren Fleisch Eisen in zu kleinen Mengen enthält, reichte der Strahl des Apparates nicht aus, es wurde daher die Destillierblase mit milchiger Luft oder, richtiger gesagt, mit dem weißen Schatten in Tätigkeit gesetzt. Durch einen Asbesthahn von der Widerstandskraft des Ebonits wurde ein Giftfaden hervorgeschleudert, der sich nach einer Entfernung von so und so vielen Kilometern in Luftschaum verwandelte, bis zum Augenblick seiner Verwandlung jedoch ungefährlich blieb. Mit der zunehmenden Geschwindigkeit des Giftfadens und dem allmählichen Verstummen jedes Geräusches entfaltet dieser Schaum sich immer mehr, so daß das entwickelte Gas, das ursprünglich klein wie 30
ein Blumenkohl ist, sich bald über das ganze Firmament ausbreitet und es in eine Nebeldecke hüllt, unter der alles, was lebt, innerhalb weniger Sekunden den Atem aushaucht. So gingen Millionen Soldaten und Hunderte Millionen der Zivilbevölkerung zugrunde, an einem einzigen Atom Gas erstickt, das bis an den Rand der Welt ausströmte. Damit die Operation sicher und durchgreifend sei, muß sie bei Windstille unternommen werden. Der Wind zerstreut die Nebelschwaden, sobald sie aufsteigen und sich entfalten, vermengt das Gas rasch mit Sauerstoff und macht es auf diese Weise unschädlich für die Menschen, die es einatmen. Ein wiederholtes Niesen, und aus ist es mit der ganzen Panikstimmung. Daher wurde ein dritter Apparat gebaut, der ein Wunder an technischer Präzision darstellt: ein allerdings zweckloses Wunder, denn wem nützt es noch heutzutage? Diese Erfindung hätte in der Landwirtschaft angewendet werden können: die Staaten zogen es aber vor, sie für den Krieg zu verwenden. Und so haben sie ihren Lohn erhalten, denn es gibt keinen Staat mehr – und zum erstenmal ist die kostbare Saat der Staatsmänner nicht aufgegangen. Der wie ein Druckmesser aussehende Apparat mit zwei Zeigern, einem schwarzen und einem roten, die sich auf einem Zifferblatt bewegen, wird an einem fixen Standort gehalten wie ein Barometer. Der schwarze Zeiger steht in Verbindung mit einer Haarröhre aus Stalaktit, einer bei Seestürmen bewährten Materie mit nord-östlichen Affinitäten. Der rote Zeiger dissoziiert nach rechts hin die Temperaturwellen, 31
indem er jeden Wellenpunkt in eine Plus- und eine Minusziffer aufteilt, die, in verschiedenen Proportionen zusammenaddiert, alle Windarten, vom Zephir bis zum Sturmwind, Orkan und Zyklon ergeben. Es ist bekannt, daß im Weltraum die kalendermäßig festgesetzte Jahreszeit infolge der unvermuteten Verlöbnisse zwischen verschiedenartigen und entgegengesetzten Zahlen und Gattungsquantitäten ihre Ankunft versäumt. Die Zeiger des Windmanometers werden nach der sogenannten Tabelle des Heiligen Johannes, des Evangelisten, reguliert, deren Grundsätze in der Apokalypse enthalten sind, woher ihre Logarithmen entnommen, verglichen und errechnet wurden. Vom Nullpunkt aus, der das Neutrale, das Nichts darstellt, nach links gerichtet, verstärkt hingegen der rote Zeiger den Wind und kann augenblicklich aus der leichtesten Brise einen heftigen, gewaltigen Sturm von riesigen Ausmaßen entfesseln. Bei Ausbruch des Krieges standen alle Druckmesser der Kriegführenden auf Stillstand, so daß die Wogen weißen Schattens ihrer Bestimmung vollkommen gerecht werden konnten. Der Krieg begann auch diesmal mit Reden und Zeitungsartikeln. Da am Ende des vorausgegangenen Krieges einige neue Kaiserreiche entstanden waren, galt die erste Sorge der Wahl der Kaiser und der Ratgeber – und durch ein philosophisches internationales Übereinkommen des Wohlwollens genossen alle Staaten eine Gleichberechtigung, die im Innern dieser Länder jedoch nicht geduldet wurde. Das Volk der 32
»Hundsfotte«, die Nation der »Stammler«, die Rasse der »Weißen Brummbären« entdeckten in ihren Adern adeliges Blut aus heroischen Zeiten und dekretierten, daß sie echteren, reineren Ursprungs seien und größere Rechte hätten als jene Volker, die ihnen bei ihrer Entstehung und bei der Verfassung eines Alphabetes in ihrer Muttersprache geholfen hatten. Der Strahl W2 und der weiße Schatten haben ihren Hochmut zu Fall gebracht, vertilgten jedoch sowohl die einen als auch die anderen. Hungernd und völlig vereinsamt schreibe ich diese Aufzeichnungen in einer Kirche in Holland, wo nach dem Tode aller Einwohner nur die Tulpen am Leben blieben, wie runde Vögel aus Gold, auf ihren zarten Beinen in den Blumentöpfen erstarrt. Ich schlief in allen Wüsteneien, durch die ich mit meinem Fahrrad kam, und nährte mich von Speiseüberresten. Ich glaube, allein auf der ganzen Welt zu sein. Im Museum von Amsterdam, das ich offen fand, wurde ich von Hunden angefallen, welche die Herrschaft des Alls angetreten hatten. Die Rundfunkstationen senden nichts mehr. Europa gleicht einer unbewohnten Burg mit leeren Räumen. Ich fürchte einzutreten, und es graut mir davor, draußen zu bleiben. Ich breche auf, um eine Gattin und ein Rasiermesser zu suchen. Ich bin schmutzig und seit sechzehn Tagen unrasiert, und mein wandermüdes Gebein lechzt nach einem warmen Wannenbad.
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Blut und Gold
»Das arbeitende Rumänien« berichtet über den Fall
des im Kriege von 1877 verwundeten Zugführers Marin Ionescu, der heute in einem Straßenwinkel von Bukarest die Tapferkeit und den Ruhm des Landes in seiner Eigenschaft als Bettler vertritt. Dieser Greis hatte bis vor kurzem sein Leben mit einer sogenannten Pension gefristet, deren Höhe durch offiziellen Entscheid auf zwanzig Lei herabgesetzt wurde, und die sich früher einmal, in guten Zeiten, auf fünfundzwanzig Lei belaufen hatte. Schließlich wurde das Privileg dieses Ruhegehaltes dem Alten völlig entzogen. Voll väterlichen Wohlwollens und im Gedenken daran, daß ein Trostwort, das einem Menschen im Unglück zuteil wird, wohltätiger Balsam sei, hat die Heerespensionskasse den Zugführer Marin vom zweiten Kavallerieregiment nicht ohne einen großherzigen Ratschlag ziehen lassen. »Sie sind doch noch ziemlich rüstig«, sagte man dem ehemaligen Zugführer. »An Ihrer Stelle würde ich Schuhputzer.« Das Herz des Veteranen Marin schlug um so höher, als ihm dieses Kompliment in der Pensionskasse von einer Dame gemacht wurde, von der wir nicht wissen, welchen Grad sie in unserer Armee hat. Für einen Kriegshelden, der für ein Ideal kämpft und um den Preis seiner Jugend und seiner geraden Glieder die Unabhängigkeit des Landes und des Volkes
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erringt, das von ebensolcher Tapferkeit erfüllt ist wie er, kann es kein passenderes Ende geben. Für jeden Diamanten, den er mit seiner Hand aus dem Blutmeer herausgefischt hat, um ihn auf die königliche Krone zu setzen, hatte er im Kugelregen standgehalten und es auf sich genommen, auf den Gebrauch eines von Gesundheit strotzenden Körpers zu verzichten, der der Hilflosigkeit anheimfiel. Wird man unserer Unabhängigkeit wieder einmal ein Standbild errichten, so wird der Bildhauer es ebenso wie in der Vergangenheit vorziehen, auf den Steinsockel einen Marin Ionescu zu stellen, so schmuck und schön wie ein Fräulein. Nach der Beschreibung, welche die sozialistische Zeitung von ihm gibt, gleicht der Sergeant Marin, der die Türken zu Pferde geschlagen hat, jedoch eher den Resten eines vom Zuge überfahrenen Rindes als einem menschlichen Wesen, und es scheint, daß er es zustande gebracht hat, der häßlichste Mensch im rumänischen Lande zu sein. »Um sprechen zu können« – schreibt die Zeitung – »muß der arme Alte sich ein Stück weichen Brotes in den Schlund stekken.« Sein Gesicht ist nur ein Entwurf eines menschlichen Antlitzes. Seine Augen liegen in zwei tiefen, dunklen Höhlen vergraben; die Nase fehlt ihm, seine Beine sind jenseits der Donau geblieben. Nur dank eines bewunderungswürdigen Gleichgewichtssinns kann der Zugführer sich heute auf Krücken fortbewegen. Aber vom Helden von 1877 ist lediglich soviel Mensch übriggeblieben, als man mit der Harke zusammenscharren und von den Splittern der 35
Granate reinigen konnte, die zu seinen Füßen explodierte. Die Erwägungen der Leute der Pensionskasse können wir leicht erraten. Die Pension von fünfundzwanzig Lei deckt die Bedürfnisse eines Achtels eines wohlbehaltenen Mannes. Aber wohin zielt die Ironie, die in dem Ratschlag enthalten ist, er möge sich eine Stelle als Schuhputzer suchen, da doch der Zugführer seit vollen sechsunddreißig Jahren keine Beine mehr »trägt«, und keineswegs Schuhzeug, das geputzt werden müßte. »Das arbeitende Rumänien« legt eine großherzige Gesinnung an den Tag und findet nicht genügende Worte der Empörung. Gewiß erscheinen aber all diese Proteste, die Schmerzensschreie und der Appell an die menschliche Solidarität in den Augen und im Empfinden »der zuständigen Stellen« ebenso unbedeutend wie das Geflunker, das im Parlament verzapft wird. Denn schließlich und endlich ist Marin Ionescu doch nichts als ein lächerlicher, verunstalter Bettler.
(1914)
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Der Patriot
»Meine Herren, Brüder, Bürger, Kameraden … Ein französischer Dichter hat gesagt, daß: Mont Goizer aus Metall parlã tutã le langã … Ich habe vergessen, wie der Kerl heißt … Bor … Bol … Bon … Bordeleu … aber macht nichts! / Eine Stimme aus dem Saal: Baudelaire … / Ja, danke … Bondãrel … So will auch ich, ohne »aus Metall« zu sein, um mich auf französisch auszudrücken – wir sind tapfere Helden aus Fleisch und Blut und nicht aus Blech, möge mir der Franzose verzeihen, den ich zitiere – jawohl, meine Herren / stürmische Applause /, ohne, wie ich gesagt habe, Franzose zu sein, denn vor allem bin ich Rumäne, meine Herren, ein waschechter Rumäne, rüstig wie eine Eiche, und der Rumäne geht nicht unter / Bravoooo! /, wie ich sagte … Wissen Sie … dieser da … jener / eine Stimme aus dem Saal: Take Ionescu. Eine andere Stimme aus dem Saal: Vasile Alecsandri. Stimmengewirr im Saal: Was für ein Take Ionescu, du Idiot! – Unglaublich, wer ist nur dieser Frechling? – Der muß ein Verräter sein. Nieder mit ihm, hinaus! /. Der Redner / mit sanfter Stimme /. Ich bitte euch, meine Brüder, verderbt nicht diese Stimmung, diese heiligsten Momente unserer nationalen Begeisterung … Der Zwischenrufer hat recht. Wir alle schätzen
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Herrn Take Ionescu, wir erweisen ihm allen Respekt, den wir einem so großen Mann schulden. / Stimmen: Er lebe hoch! / Aber Herr Take lonescu macht keine Gedichte … Somit, wenn es nicht Alecsandri ist, dann ist es Eminescu, es ist auch alles eins, wir haben uns hier nicht versammelt, um über Grammatik zu diskutieren … Aber ich will zum Ausgangspunkt meiner Rede, also zum Anfang zurückkehren. Ich sagte, daß ich Sie mit den Worten Herren, Brüder oder Bürger ansprechen kann, denn in den Augenblicken der Gefahr für das Vaterland sind wir alle Rumänen und sonst nichts mehr … Seht doch mich an … Der wahre Rumäne muß alles mögliche sein und in jeder Lage etwas anderes, um dem Augenblick zu entsprechen – für das Rrreich, meine Herren, und für das Volk. Ich kann es nicht dulden, daß Volk oder Land einen Angriff erdulden! Deswegen bin ich auf seiten der Partei, die sich an der Macht befindet, wenn … wenn, ich weiß nicht, wie es zu sagen … wenn / er gerät in Verwirrung. Eine Stimme aus dem Saal: Wenn, Sie verstehen mich doch … /. O nein, meine Herren, nein! Ich bin ein vermögender Mann, ich benötige nicht … / Eine Stimme aus dem Saal: Waggons! Eine andere Stimme: Zucker! Und wieder eine andere Stimme: Reis! /. Ich spreche von Grundsätzen, (lange Pause) von den heiligen Grundsätzen meiner Überzeugungen / Bravo! /. Aber ich bin gegen die Regierung, absolut gegen, wenn / Ein Herr auf der Tribüne: Ich bitte Sie, meine Herren, um Ruhe … / wenn das Land sich in schwerer 38
Lage befindet oder an einem historischen Wendepunkt … Und ich bin, wie es das Land fordert, Demokrat, Nationalist, Sozialist / undeutliches Murmeln /. Denn, nicht wahr, meine Herren, wer ist schon Sozialist in unseren Zeiten großen Wohlstandes? Und sogar Antisemit … obwohl ich eigentlich … / die lauten Zustimmungen übertönen rechtzeitig das vorgebrachte Argument /. Wenn Sie mich fragen, was ich heute bin, so sage ich Ihnen ohne alle Umschweife: ich bin Nationalist … / Stimmen: Er hat sich an Juden bereichert … Ich habe seinen Vater gekannt, der war Armenier … Lassen Sie nur, mein Herr, denn wir kennen Sie nur allzu gut, Sie geben sich für einen Mazedo-Rumänen aus /. Der Redner: Ich verstehe, meine Herren … In diesen Augenblicken europäischer Verwirrung gehen die Wogen der Leidenschaft hoch … Hier geht es jetzt nicht darum, was wir sind, oder was wir nicht sind. Ich bitte Sie, wir wollen eines wissen, stehen wir auf selten der Entente oder sind wir gegen sie – oder halten wir mit den Deutschen? … Das interessiert mich. / Stimmen: Nieder mit den Deutschen! Wir gehen mit der Entente /. Ich als Nationalist sage Ihnen nur soviel: ich habe zwölf Kinder / eine freche, unerzogene Stimme: Was für zwölf Kinder! Er lügt. Er ist ein Zwitter /. Pardon. Ich wollte sagen, wenn ich zwölf Kinder hätte – aber nicht zwölf, sondern wenn ich achtundvierzig Kinder hätte, meine Herren, ich würde sie in den Krieg schicken und ihnen sagen: Zieht los und 39
erobert Budapest und Wien. / Bravoo! Es lebe der große Europäer! /. Doch ich habe keine zwölf Kinder, meine Herren, ich habe kein einziges und deshalb habe ich Sie zu dieser großen nationalen Versammlung eingeladen, um es zu beklagen, daß ich keine hatte. Aber ihr, oh, ihr Bürger, habt alle zusammen nicht eine lächerliche Zahl von zwölf Kindern, ihr habt Tausende Kinder, meine Herren. Schicket sie in den Krieg, oh ihr, meine teueren Brüder und Bürger! Nehmt sie bei der Hand, zeigt ihnen die Karpaten und sagt ihnen: Seht mal, Jungens, mal feste druff!! … / Ein schwaches Bravo. Verdächtiges Schweigen /. Und dann wollte ich euch noch folgende Mitteilung machen: Ehe der Schnee hier bei uns in der BatişteStraße schmelzen wird, werden wir zu den Waffen greifen … / Eine Stimme: Jetzt wissen wir endlich, was die Glocke geschlagen hat! /. So ist es, meine Brüder. Nur Mut, ihr Brüder. Vorwärts mit Gott! Und schreibt mir nach Bukarest an die Zeitung, daß ihr euch tapfer geschlagen habt wie richtige Helden. Ich bedauere, daß ich nicht mit euch mitgehen kann, um mich mit euch zu freuen. / Er weint /. Ein Hoch für die Bürger der Hauptstadt und erinnert euch der Worte des … dieses … jenes … / Eine Stimme: Eminescu / … Nein! an die Worte unserer lateinischen Ahnen: Delendum Carthabos!
(1915) 40
Trennung
Der Seelenzustand eines Ministers, der abgeht, muß sonderbar sein. Nach einem Jahr, nach zwei, drei und manchmal nach vier Jahren, aber nie nach mehr, verläßt er das Kabinett, in dem er »gearbeitet«, in dem er allenfalls einige Stunden täglich verbracht hat. Die Schubfächer des Schreibtisches leeren sich, die Papiere werden in Koffer geworfen. Im Ministerium bewahrte seine Exzellenz alle Andenken, die man nicht mit der Familie zu teilen pflegt wie: Briefe, Porträts, Nippsachen. In einer Schublade: Zigaretten, Taschentücher, Kölnischwasser. In einer anderen: Bonbons. Eine Besucherin hat zwischen den Papieren oder unter dem Polster des Kanapees ihre Handschuhe mit der Nummer drauf gelassen, die am nächsten Tag in einer Schachtel mit anderen zwölf Paaren zurückgestellt werden. In den Schubladen wimmelt es von solch feinen Amuletten wie in der Seele eines Dichters; und während der Bittsteller mit einem tiefen Bückling eintritt, um den Minister zu ersuchen, ihm die Stelle eines beamteten Schreibers zu gewähren, sind gewichtige Akten auf dem Tische angehäuft, und seine Exzellenz zerknüllt nervös einen kleinen, unvorsichtigerweise neben dem Tintenfaß vergessenen Schleier. Der Bittsteller spricht mit vor Aufregung heiserer Stimme, sucht nach Worten, bringt seine Ergebenheit zum
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Ausdruck, räuspert sich und katzbuckelt, scharwenzelt um ihn herum, führt die Hand zum Mund wie eine Köchin – und der Minister sitzt da, die Augen zum Fenster gerichtet, die Hand in der Tasche, ohne zu wissen, was der Herr im steifen Kragen will, wann er zu reden begonnen, noch wann er geendet hat; denn lange bevor der Minister auch nur das Hüsteln des Eintretenden bemerkt hat, hat sich der vor Ehrfurcht Ersterbende auf leisen Sohlen fortgeschlichen. Doch kommen Ministerien zu Fall. Der Minister ist von der Höhe seiner Macht gestürzt. Langsam – langsam werden die Bündel geschnürt und wandern fort. Der Minister ist traurig: sein Kabinett fällt seinem Nachfolger zu, einem Gegner, sozusagen. Der Minister hat das Empfinden, vom Ufer eines Sees fort zu müssen, dessen Wellen ihn getragen und gewiegt haben und auf dem er sich geradezu glücklich gewähnt hatte; ihm ist’s, als wäre jetzt in jenem Haus unter den Akazien ein ihm naher Mensch gestorben. Beim Fortgehen wird eine Theaterszene aufgeführt. Der Minister versammelt die höheren Beamten in seinem Kabinett und hält ihnen eine Rede: »Meine Herren, Sie, die … Sie, denen … Mit Bedauern … Es war … Als ich … Es wird … die Pflicht … Als wir … Ich danke Ihnen …« Die Reden dieser Art haben den Vorteil, in einem herrlichen Ton vorgebracht zu sein. Nach mancherlei Auseinandersetzungen, nach lächerlichen Anfällen von Nervosität, nach gewalttätigen Auftritten, bei denen er Schriftstücke zerfetzt, den Leuten Akten und Beleidigungen an 42
den Kopf geworfen hat, dankt der Minister nun seinem Personal für den Geist hervorragender Pflichterfüllung. Und es ist eine Trennung, die den Einfältigeren Seufzer entlockt, wenn sie abends bei Tisch der Gattin erzählen, wie liebenswürdig der Herr Minister gewesen ist, – da nennen sie ihn zum erstenmal: Herr Minister. Doch die Wirkung dieser melancholischen Rede wird von der energischen Rede des neuen Ministers ausgelöscht. Dieser ist ein feuriger Idealist: er spricht mit ernstem Nachdruck von Grundsätzen, Ergebenheit, von der Bestimmung des Menschen, von Land und Staat. In seiner Stimme und in seinen Worten klingt eine Art von Erbitterung. Einige Tage lang schafft der neue Minister sich das Ansehen eines Titanen. Dann erschlafft der Eifer. Die Kammer, der Senat, die Presse, die Welt, die leeren Litaneien, die Enttäuschungen, der Ministerrat brechen den Elan: das Ministerium verlangsamt seinen Lauf, die Regierung »fällt«. Und die Szene wiederholt sich.
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Wiederholungen in wechselndem Abspielen
Ideen kommen in Umlauf. Mehrere Jahre lang war ich als einziger meiner Meinung und stelle nun mit Freuden fest, daß die Zahl meiner Gesinnungsgenossen sich vermehrt hat. Die Mitbrüder, die unbekümmert am Fenster meines Hauses vorübergegangen waren, beginnen allmählich, hier haltzumachen und die Treppe hinaufzusteigen. Einige traf ich sogar im oberen Zimmer, dessen Tür ich zehn Jahre sperrangelweit offen gehalten hatte. Daß sie mich noch nicht gefragt haben, was ich dort suche und woher ich hereingeschneit bin, ist lediglich darauf zurückzuführen, daß sie nicht den geeigneten Augenblick dafür fanden. Ihre Haltung von gestörten Besuchern, als ich, der rechtsgültige Mieter, nach Hause zurückkehrte und vier Mitbrüder in den Kissen wühlend und miteinander schäkernd, in meinem Bett antraf, nötigte mir Interesse ab. Ich bin zufrieden und werde übersiedeln. Das Wesentliche ist vollbracht: die Idee ist von Hagestolzen aufgegriffen worden. Es ergab sich jüngst die Notwendigkeit, in gegenständlicher Weise über Literatur und Schriftsteller zu sprechen, als über ein höchst aktuelles Thema, über Einstellungen in Fragen der Kultur, über eine ganze Reihe von Angelegenheiten, hinter denen die gleiche Sache steckt: eine alte unpopuläre Meinung. So leicht wird nicht mehr eine Woche verstreichen, ohne daß
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ein neuer Penkalà, die Feder hinter dem Ohr, auf dem Balkon erscheint. Klatschen wir also in die Hände, klatschen wir aber unauffällig, die Hände in Wollhandschuhe gekleidet, um keinerlei Empfindlichkeiten zu verletzen. Bald werden wir in Neuausgaben alles lesen können, was einst vergangene Zeiten bewegt hat und vom mangelnden Interesse der Nachwelt bedroht war. Dies ist ein Fortschritt. Die Vermehrung der gleichgesinnten Schriftsteller wird ihr engeres Bündnis zur Folge haben, sie werden in geschlossenen Reihen ihren Kampf führen. Rebellisch, intakt und undurchdringlich verharrt jedoch die Klasse der stummen Politiker, die immerwährend eingeladen wird, sich bei der Deutung von Taten durch schriftlich vorgebrachte Ideen taub zu stellen. Diese in jeder Hinsicht vollendete und unfehlbare Kaste liest nicht, denn sie verfügt über zuviel eigenen Verstand und hört auf keinen Rat oder Vorschlag. Ein Schriftsteller, der nicht einmal Abgeordneter der Majorität ist, kann nicht gelesen und schon gar nicht ernst genommen werden. Wenn der Hausknecht seinen Herrn aufmerksam macht, daß er die Galoschen verkehrt angezogen hat, so schenkt der Minister dem Bediensteten Gehör. Sagt aber ein Schriftsteller dem Minister, daß er seine Sache verkehrt angefaßt hat und daß es an der Zeit sei, einen richtigen Weg einzuschlagen, den ihm auch die Galoschen weisen, so verschließt er sein Ohr. Die Eigenschaft als Minister versetzt den glücklichen Inhaber dieses Titels in eine ganz außergewöhnliche Position. Der Minister ist wie das Knopfloch am Rockauf45
schlag, in das nie ein Knopf gezwängt werden kann, so sehr man sich auch bemühen wollte, es zu schließen: das Knopfloch erschließt sich nur der Rosette einer Dekoration und steht sonst leer und blind da. Bevor er Minister wird, ist der Durchschnittsmensch oder auch der Politiker ein Wesen, mit dem man sich verständigen kann, ein Wesen, das gewisse Interessen hat, beweglich ist Farbe bekennt und Temperament besitzt. Sobald er den Rang jener 12, 13, 15, 18 oder 24 erhält, was sich nach Gezeiten und der Zahl von Staatssekretariaten richtet, beginnt er, augenblicklich und vollständig in ein anderes Material, in ein diametral bizarres Plasma verwandelt, gleichsam den Abwesenden anzugehören, er wird zum Engel mit sechs Flügeln, ist entrückt und dem Auge nur noch als Gemälde oder Photographie zugänglich. Es bewahrheitet sich nicht bloß die Fabel »Der Ochs und das Kalb«1 an ihm, sondern eine Wesensveränderung geht in ihm vor. Du grüßt ihn: er sieht es nicht. Du beschimpfst ihn: er hört es nicht. Du bittest ihn um etwas: er bleibt unnahbar. Du kneifst ihn ins Ohr: er fühlt es nicht. Seine einzigen Sinne, die unbeschädigt geblieben zu sein scheinen und die ihn zuweilen von den Mumien aus den Pyramiden unterscheiden, sind: sein Tast- und Geruchsinn. Atmet der Minister den Duft von Weihrauch ein, so weiten sich seine Nasenlöcher, und das Weihwasser regt seinen TastDie in der rumänischen Literatur sehr bekannte Fabel von Gr. Alexandrescu geißelt die Emporkömmlinge, die kaum zu Amt und Würden gelangt, ihre Vergangenheit und ihre eigene Familie verleugnen. 1
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sinn an. Er erhält seine Sinne und insbesondere den sechsten, den Sinn für Takt nur zum Teile und in Pausen wieder: nämlich wenn sein Amt erlischt. Dann beginnt die Wiedererziehung des Lächelns und des Wohlwollens. Die Willkürherrschaft der Gleichgültigkeit ist die Apanage der Ministerkaste geblieben, der sich noch, sooft sie sich human und gefällig erweisen will, die wohltätige und inquisitoriale Einrichtung der Lüge gesellt. Es steht unanfechtbar und endgültig fest, daß Minister dieser Gattung und dieser Moralauffassung mit den kardinalen Kulturinteressen unvereinbar sind. Uns tut eine andere Art von Politikern und Ministern not. Wo aber findet man sie? Michelin stellt nur die Mäntel und Schläuche der Luftreifen her.
(1928)
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Warten Sie nur, ich will es Ihnen erklären …
Ich habe einen Freund, der allwissend ist, und der vor allem überzeugt ist, daß er alles weiß. Ohne den Anspruch darauf zu erheben, ein Enzyklopädist im strengen Sinne dieses Wortes zu sein und ohne die inneren Zusammenhänge der Dinge zu kennen, was erst ihre Aufteilung auf die verschiedenen Wissenschaftszweige ermöglicht, besitzt er eine weit umfassendere und edlere Kenntnis. Er kommt den Dingen auf den Grund, findet für alles eine Erklärung. Jegliche Naturerscheinung, jegliches Ereignis oder auch nur banale Geschehen ist eine Schale, in deren Innern die versteckte Ursache wie ein Glockenschwengel bimmelt, einzig dem intellektuellen Ohr vernehmbar. Es gibt kein noch so versiegeltes Mysterium, in das der Schlüssel des Geistes meines Freundes nicht eindringen könnte; eine Umdrehung und das Geheimnis ist gelüftet. Er bietet es dir enthüllt und lächelt: »Das ist des Pudels Kern.« Alle Welt leidet an einem intellektuellen Tätigkeitsdrang. Da trommeln sie stundenlang mit den Fingern auf den Tisch und finden an der eintönigen Musik Vergnügen; sie streicheln ihre Schnurrbärte und fahren sich zehnmal in der Minute mit der Hand über die Nase. Sie reihen gleiche Gegenstände aneinander, zählen die Häuser, die Droschken, die Laternen, die Schritte.
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Mein Freund leidet an dem aristokratischen Tätigkeitsdrang der Erklärung. Er hat in der Jugend Hochschulstudien betrieben, um die akademische Laufbahn einzuschlagen, und seit damals fühlt er sich verpflichtet, nicht nur den Dingen auf den Grund zu kommen, sondern seine Forschungsergebnisse auch sofort bekanntzugeben. Daher hat sein Geist das Leben in Geheimnisse gehüllt; das gesamte Weltall ist für sein Auge mit lauter dunklen Fragezeichen bevölkert, unter die je ein leuchtender Stern gesetzt ist, und die bald in ein Gewand nach ihrem Maß gekleidet sind, bald das täuschende Aussehen eines Phänomens oder einer Pflanze annehmen. Gleich einem hungrigen Wolf, der nach Nahrung fahndet, lebt mein Freund Teofil nur, um sich selber Fragen zu stellen und sie zu beantworten. Beginnt jemand etwas zu erzählen, so fällt er dem Sprecher gleich in dozierendem, geheimnistuerischem Ton ins Wort: »Warten Sie nur, ich will es Ihnen erklären …« In den meisten Fällen ist seine Erklärung überflüssig, denn es gab einfach nichts zu erklären, und er hat sich nur aus Eitelkeit eingemengt. Seine Selbstgefälligkeit ruft nichts als Mißbehagen hervor, was ihm aber nur Gelegenheit zu neuerlicher Selbstzufriedenheit bietet, denn während sein Geist mit der angekündigten Erläuterung beschäftigt ist, erklärt er sich selbst die Ursache, weshalb der Sprecher, dem er ins Wort gefallen war, und die Zuhörer über die Unterbrechung ungehalten sind: es ist ihr Neid. 49
»Ich bin klüger als alle miteinander«, sagt sich der Kommentator. Seine kürzeste Erklärung dauert mindestens eine Viertelstunde; so läßt das Interesse am Gespräch nach, einige erheben sich und gehen fort, andere gähnen, andere zucken mit der Achsel, offenbar nur aus Neid: das Auge des Erläuterers sieht alles, merkt sich alles. »Als ich in Paris war, fühlte sich meine Frau während eines Spazierganges durch die Champs Elysées plötzlich nicht wohl. Sie taumelte, ich fing sie in den Armen auf, führte sie zu einer Bank, Passanten sammelten sich an …« »Warten Sie nur, ich will es Ihnen erklären … Wieviel Kilometer beträgt die Entfernung von Bukarest nach Paris und wieviel Telegrafenstangen gibt es auf dieser Strecke? Rechnen Sie selbst nach, zwei Tage ständigen Hinausblickens durchs Fenster während der Fahrt reichen hin, um eine Neurasthenie hervorzurufen und jenen nervösen Zustand des Magens, den man zu Schiff als Seekrankheit bezeichnet …« Die Gattin des Erzählenden befand sich einfach im vierten Monat der Schwangerschaft. »Ich weiß nicht, woran es liegt, daß ich seit einiger Zeit in der Früh so schwer aufstehe. Ich stelle den Wecker, lasse mich vom Diener aufrütteln, aber alles vergebens.« »Warten Sie nur, ich will es Ihnen erklären … Sie gehen mit vollem Magen zu Bett.« »Ich bin faul, mein Lieber, stinkfaul, wissen Sie, was Faulheit ist? …« 50
»Gewiß weiß ich das, es ist ein krankhafter Zustand des Organismus.« »Quatsch, mein Lieber.« »Faulheit ist jedenfalls kein normaler Zustand.« »Ein sehr normaler, mein Lieber, wenn man vom Klub kommt und sich um vier Uhr früh schlafen legt.« »Sie haben mir nicht gesagt, daß Sie spät schlafen gehen.« Der Kommentator hat in allen Fällen recht; ihm war nur ein wichtiger Begleitumstand unbekannt geblieben. »Habt ihr heute nacht den Knall gehört?« Niemand hat etwas vernommen. Der Erklärer lächelt verlegen, zum Zeichen, daß er den Knall gehört hat. »Ich will es Ihnen, erklären … Eine Explosion in der Pyrotechnik; dort wird nämlich mit Dynamit gearbeitet.« »Die Dinge haben eine primitivere Erklärung, mein Lieber, ich hatte Ohrensausen.« Gelächter und Scherze verstimmen Teofil. Ernste Dinge will er ernst erklären. Er duldet es nicht, daß man sich über ihn lustig macht, erbleicht, wird ausfällig, und die Gesellschaft begibt sich zu Tisch. »Das Suppenfleisch«, stellen alle Gäste fest, »ist zäh.« »Ich will es Ihnen erklären«, sagt der Erklärer … »Es ist nicht gar gekocht. Mit dem Fleisch verhält es sich gerade umgekehrt wie mit den Eiern …« Mit anderen Worten, der Erklärer kennt die Psychologie der Dinge, obwohl er nichts erfunden hat, seitdem die Entdeckung gemacht wurde, daß es kalt ist, weil es nicht warm ist, und daß ein Ding grün ist, 51
weil es nicht scharlachrot ist. Doch geht er bei der Ergründung der letzten Ursachen mit so viel wissenschaftlichem Takt und so feierlichem Ernst vor, daß er überall Eindruck macht und geduldet wird. Das große Wort aber führt er in einer Distriktspräfektur, wo er auf Grund seiner hervorragenden akademischen Titel zum Direktor ernannt worden ist; dort gelten seine Erklärungen als absolutes Gesetz. Wohl wissen seine Untergebenen noch nicht alles, aber dank den Erklärungen Herrn Teofils wissen sie zumindest von allem ein gut Teil. Er rekonstruiert die Verbrechen unbekannter Täter bis in die kleinste Einzelheit, weiß, wie sich alles zugetragen hat, welchen Verlauf das Drama genommen hat, entdeckt sofort durch logische Folgerungen auch die Mörder, holt sie wie aus der Tasche aus ihren vier Wänden hervor, läßt sie ohne jeden Verzug verhaften und hält sie hinter Schloß und Riegel, bis die wahren Täter entdeckt werden. Trägt aber der Zufall nicht zu deren Entdeckung bei, so beenden Teofils Häftlinge ihr Leben im Gefängnis. »Wie seltsam«, erzählte mir eines Tages mein Freund Teofil, »man hat entdeckt, daß die Mörder von Costina andere sind als jene, die ich vor fünf Jahren eingeliefert hatte. Wie erklären sie sich das?« – ?… »Ich will Ihnen das erklären«, sagte mein Freund mit ironischer Herablassung. »Meine Gegner wollten mir einen Streich spielen. Aber bei mir, wissen Sie, verfangen solch abgeschmackte Dummejungenstreiche nie.«
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Ein kleiner Wohltäter
Ich bin ein berechnender Mann. Wäre ich es nicht gewesen, so würde ich vor die Hunde gekommen sein, denn das einzige väterliche Erbteil war für uns Kinder die Berechnung. Mein erster Grundsatz ist es, mich nicht zu beeilen. Ich denke nicht übereilt, noch laß ich mich so bald ins Bockshorn jagen. Liegt ein Anlaß zum Ärger vor, so sage ich mir: »Warte ein wenig, du wirst sehen, daß du dich schließlich nicht ärgern mußt.« Mit anderen Worten, ich habe zwischen Ursache und Wirkung eine Fälligkeitsfrist eingeschoben, und dies habe ich vom Wechsel gelernt. Mein liebster Beruf, denn ich habe mehrere Berufe, je nach den Umständen, ist Geldverleihen. Ich war, wie man so zu sagen pflegt, ein frühreifes Geschäftsgenie. Als ich klein war – jetzt zähle ich dreiundsechzig Jahre, mögen mir doch noch recht viele vergönnt sein! – schenkte mir mein Vater jeden Sonntag fünfzig Bani als Taschengeld. Und was tat ich? Ich ersparte die fünfzig Bani und gab sie auf Borg. Gab am Montag fünf Bani und bekam am Donnerstag zehn zurück. Dieser Kniff lehrte mich, wie man sein Kapital verdoppelt. Um aber sicher zu sein, daß ich mein Kapital samt Zinsen fristgerecht erhalten würde, verlangte ich das »Chemiebuch« oder »Die lateinische Grammatik« und bewahrte sie bis Donnerstag
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in meinem Ranzen auf. Diese Operation lehrte mich das Wesen der Garantie und machte mich mit den Begriffen Klient, Frist und Zinsen vertraut – gleichzeitig lernte ich auch die Bedeutung der Fälligkeit kennen. Denn kassierte ich am bestimmten Donnerstag mein Geld nicht ein (siehe den Begriff: einkassieren, Inkasso), so verkaufte ich am nächsten Tag, also am Freitag, »Die lateinische Grammatik« im Antiquariat, erlöste für sie einen Leu und gab nichts zurück. Auch diese Operation war für mich lehrreich, ich erfuhr die wichtigste Sache aus dem Finanzleben: wie rasch nämlich das Kapital ohne Neuinvestierungen wächst. Im Alter von zwanzig Jahren besaß ich folgerichtig ein Kapital, das mir ermöglichte, mein Leben auf eine gesicherte wirtschaftliche Grundlage zu stellen und mich mit großen Schritten den Millionen zu nähern. Ich verleihe Geld, streiche Zinsen ein, kaufe und verkaufe und lebe. Was meinen Beruf so verklärt, ist die Ware: kann es etwas Schöneres und Reineres geben als Banknoten, und was kann leichter getragen werden? Man braucht keine Lagerhäuser, nichts verdirbt, nichts wird feucht, man ist nicht an eine Saison gebunden. Und ich habe auch keinen Laden, keine Fässer, Maschinen, ich brauche nicht auf Regen zu warten, benötige keine schmutzigen Kohlen. Meine Fabrik ist im Kopf und meine Ware in der Tasche. Ich bin ein Intellektueller. Meine Kundschaft ist groß. Kommt da eine Dame mit einer Brillant- und Perlenbrosche. »Ich brauche das nicht«, sage ich. »Nehmen Sie es«, bittet sie mich, 54
»ich bin in großer Geldverlegenheit.« »Nun«, antworte ich, »da Sie behaupten, Kinder zu haben, lassen Sie mal sehen; was verlangen Sie dafür?« »Ich habe hunderttausend Lei für den Schmuck gezahlt«, beteuert die Dame. »Sehr wohl, doch ist er viel weniger wert, sagen Sie selbst, wer kauft das bei mir, wenn Sie, Gott bewahre, das Pfand nicht auslösen können?« »Ich werde es bestimmt auslösen, es ist ein Familienandenken.« Und ich mache mich anheischig, ihr zwanzigtausend Lei zu geben. Sehen Sie bloß, wie glatt und schön sich alles abwickelt. Ich gebe ihr zwanzigtausend Lei, sie gibt mir die Brosche und einen Girowechsel, ich ziehe ihr die Zinsen für ein Jahr ab: siebentausend Lei. Das arme Weib nimmt dreizehntausend Lei bares Geld, und so ist auch ihr geholfen. Hätte ich Weizen gesät, so müßte ich ein Jahr lang warten, um etwas einzukassieren. Mit dem Pfand in der Hand, kassiere ich im voraus ein: haben Sie den Unterschied begriffen? Und immer verkaufe ich das Pfand, ebenso wie »Die lateinische Grammatik«, denn in geschäftlichen Dingen ist es nicht üblich, zwei Tage nach Ablauf der Frist zu warten – und wieder vermehre ich mein Kapital, und so entsteht aus kleinem Kapital das große Kapital. Ich sagte schon, daß ich ein berechnender Mensch bin und mich niemals ärgere. Könnte ich auch anders sein in meinem Beruf, der einem auferlegt, ausnahmslos allen Leuten Wohltaten zu erweisen? Ich tue Gutes in jeglicher Weise, mit Geld und ohne Geld. Verleihe ich Geld, so berechne ich einen kleinen Zinsfuß von fünfunddreißig Prozent, denn das Risiko ist 55
groß, und ich brauche Deckung. Rücke ich nicht mit Geld heraus oder verzichte ich auf Deckung für ein Darlehen, das ich nicht erteile, so gewähre ich Ratschläge und freundlichen Zuspruch. Meine Dienstboten beklagen sich, daß ich sie ohne Lohn entlasse, daß ich sie halte, ohne ihnen so viel Fressen vorzusetzen wie den Viehstücken, aber welcher meiner Nachbarn gibt ihnen so viele gute Lehren und scherzt mit ihnen wie ich? Sie wissen doch, daß Menschlichkeit mehr wiegt als Geld, und daß ein gutes Wort mehr sättigt als teuere Speisen. Was mich betrifft, so verzehre ich wenig, denn wer auf Essen Wert legt, ist ein Materialist. Ich habe einen Jungen, einen Jungen so scheu wie ein Mädchen. Mit seinen achtzehn Jahren weiß er alles, was ich gelernt habe, und als gewissenhafter Sohn wandelt er getreulich meine Bahnen sowohl in bezug auf die Kapitalserhöhung als auch in bezug auf Kurzfristigkeit der Darlehen und den Verfall der Pfänder. Er hat ein kleines Gebrechen – aber wer hätte nicht ein kleines Gebrechen? – er schielt ein wenig, doch obwohl er nur auf seine Nasenwurzel schaut, sieht er alles. Ich habe ihn in die literarische Welt eingeführt, damit er den Horizont seiner Kenntnisse und Geschäfte erweitert: er verfaßt, vorläufig unentgeltlich, die Theaterberichterstattungen für ein angesehenes Blatt. Dafür hat er mir einige Kundschaften vom Theater gebracht. Einer will für drei Monate sein Gehalt im voraus, eine andere wünscht ein elegantes Kleid; die Künstler haben allerhand phantastische Träume. Die ganze Familie geht gratis 56
ins Theater, wir haben Logensitze, und eines Abends saß ich sogar neben der königlichen Loge. Sie dürfen nicht bös sein, daß ich Sie liegend empfange. Seit zwölf Tagen hüte ich das Bett, doch glaube ich, mich jetzt etwas besser zu fühlen … Ein toller Kunde! Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist; das ist mir zum erstenmal in meiner langen Laufbahn zugestoßen. Es ist ein völlig unvorhergesehener Begriff, eine moderne Neuheit. Er hat mich eine halbe Stunde lang mit allem geschlagen, was ihm unter die Hand kam, mit einem Stock, mit einem Felleisen und mit den Füßen. Und wo, glauben Sie, hat diese Schurkentat sich ereignet? Just im Justizpalast! Und, was dem Ganzen die Krone aufsetzt, niemand kam uns zu Hilfe: sie hatten Angst vor dem Fausthelden … Sie sind gekommen, um den Wechsel zu erneuern? Ich pflege das sonst nicht zu tun, aber für Sie mache ich eine Ausnahme: haben Sie die Zinsen gebracht? Sie wissen doch, der Zinsfuß hat sich bei mir verdoppelt, seit die Nationalbank ihn herabgesetzt hat: die Börse, der Markt … »Und wie geht es Ihrem Sohn?« Er ist im Zimmer nebenan … Auch er liegt im Bett. Ein verrenkter Ellbogen und zwei gebrochene Rippen. Er war nämlich übel dran: er fiebert.
(1928)
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Der Kabinettchef
Vor Zeiten wußte keiner von uns, was ein Kabinettchef sei, und alle suchten wir vergeblich, uns über diesen mysteriösen Begriff klar zu werden. Die Kabinettchefs scheinen vor dem Krieg konservativen Geschlechtern angehört zu haben und die bürgerlichen Nachfahren jener aristokratischen und fürstlichen Würdenträger gewesen zu sein, die bei Hof eine Mittelstellung zwischen Eunuch und Page eingenommen hatten. Der Zugang zu den Ministerien der drei Wahlkollegien war schwierig, so daß sich niemand eine genaue Idee über die Amtsbefugnisse des Kabinettchefs machen konnte. Da lächelte uns das Glück: die Eingangstüren wurden demokratisiert, und der gegenwärtige aristokratische Geist von oben ergoß sich über den gesamten Verwaltungsapparat. Heute gibt es keinen Beamten ohne Kabinettchef mehr, was auch uns gewöhnlichen Sterblichen, die wir nur an Stubenmädchen und Köchinnen gewohnt waren, ermöglicht hat, die bedeutende Rolle des Kabinettchefs im Leben der Nation zu ermessen. Die Erfahrung ist entscheidend. Ist man einmal mit der Institution der Kabinettchefs in Berührung gekommen, so wird man von Staunen erfaßt und dem entmutigenden Bedauern, daß man diese Einrichtung nicht schon um vieles früher ins Leben gerufen hat
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– und der erste Gedanke, der sich einem mit unabwendbarer Notwendigkeit aufdrängt, ist: Wie stelle ich es an, auch einen Kabinettchef zu haben? Man empfindet es sogleich, daß man zur Not alle Welt entbehren könnte, aber daß einem ein Kabinettchef völlig unerläßlich sei. Worin der Aufgabenkreis eines Kabinettchefs eigentlich besteht, ist bis auf weiteres unwichtig zu wissen: seine Befugnisse werden sich folgerichtig und automatisch von selbst ergeben; wichtig ist, daß man ihn hat, daß man ihn für sich gewinnt. Denn vorderhand ist es angenehm. Der Kabinettchef muß sehr jung sein, es empfiehlt sich daher, ihn aus dem Gymnasium herauszuholen und ihm unverbrüchlich die Reife- und Staatsprüfung auf Grund eines einfachen Telefonanrufs sicherzustellen. Mit diesen Kleinigkeiten werden sich der Direktor des Gymnasiums, aus dem Sie ihn herausgeholt haben, und der Dekan der Fakultät voller Freuden beschäftigen. Sowohl was seine Aussichten auf die Zukunft als auch die Untadeligkeit seines Dienstes anlangt, empfiehlt es sich, den künftigen Kabinettchef der Reihe der sitzengebliebenen Schüler zu entnehmen. Die Wiederholung einer Klasse hat ihr Temperament bestimmt, und sobald Ihr Kabinettchef im Dienst ist, wird er tausendmal im Tag dasselbe Wort und dasselbe Lächeln wiederholen können, ohne darunter im mindesten zu leiden. Andererseits, je öfter er durchgefallen ist, um so schneller wird er imstande sein, unter den verschiedenen ernsten Aufträgen, die ihm winken, ein Abgeordnetenmandat zu erhaschen. 59
Zum Kabinettchef taugt nur derjenige Jüngling, der mit oder ohne Grund »mon cher« und »tu sais« und beim Abschied »au revoir« sagt. Legt man sich einen Kabinettchef zu, so muß man sich auch eine Aktentasche aus feinem Leder anschaffen. Ein Auto, ein eigener Fahrer, eine Aktentasche und ein Kabinettchef ermöglichen einem den Zutritt in das Höhendasein. Man benötigt ferner eine Mappe mit elegantem Briefpapier und zwei gespitzte Bleistifte, einen roten und einen blauen. Drei Monate lang bin ich mit allerlei Vehikeln kreuz und quer durch die Stadt gefahren, um überall die Tätigkeit der Kabinettchefs zu beobachten, denn ich hege für diese neue und allgemein gebilligte Gattung männlicher Vestalinnen oder städtisch gekleideter Diakone eine Bewunderung, die mich veranlaßt, sie offenen Mundes anzustarren und, tief beeindruckt sowohl von ihrer Höflichkeit als auch von ihrem berechtigten Hochmut, mich aus ganzem Herzen an ihnen zu freuen. Alle Kabinettchefs tragen um so längeres Haar je kürzere Zeit es her ist, daß sie ihr Abgangszeugnis von der Volkshochschule erhalten haben, und der Zuschnitt ihres restlichen Aussehens ist eine zarte Huldigung, die unseren guten, ehemaligen glattrasierten Kutschern erwiesen wird; ein Umstand, der es diesen gestattete, zum Zeichen ihrer Energie und Bündigkeit die Lippen wie die großen Staatsmänner des Westens zusammenzukneifen. Ihre Frühreife steht nur noch jener der Musikanten nach. Wenn ein großer Pianist hinreichende Beweise seines Genies im Alter von vier 60
Jahren gibt, so zeigt sich ein guter Kabinettchef schon im Alter von sechzehn – siebzehn Jahren. Sobald er dieses Alter überschreitet, tritt eine Wandlung ein, er schlüpft in die auserlesene Erscheinungsform eines Generalsekretärs oder eifert dem Typus eines Staatssekretärs nach. Ich fand überall, und wo ich es am wenigsten erwartet hatte, Kabinettchefs an, was deren große Nützlichkeit verrät. Einen Kabinettchef hat der Minister, der im allgemeinen mehrere haben müßte, wie ein richtiger Raucher elf Pfeifen besitzt; einen Kabinettchef hat der Generalsekretär, einen Kabinettchef hat der Generaldirektor, dann der Direktor, schließlich der Archivar; es scheint, daß nur noch die Schreiber und Türsteher ohne Kabinettchefs geblieben sind. Doch welchen Tag schreiben wir heute? Sonntag. Bis Donnerstag kriegen auch die ihre Kabinettchefs. Wir sind auf dem besten Wege, ganz unvermutet eine große soziale Reform zu verwirklichen, dergestalt, daß jeder von uns, der im Staatsdienst in irgendeinem Amt tätig ist, je einen Kabinettchef erhält, wobei die Tendenz vorherrscht, jedem von uns auch noch eine Maschinenschreiberin zur Verfügung zu stellen. Es gibt nur dreihunderttausend Staatsbeamte, ihre Zahl muß so rasch als möglich auf neunhunderttausend steigen, denn die Arbeiten haben sich angehäuft und tragen gleichlaufend zum Fortschritt der Architektur und zur Erweiterung der Ministerbank bei. Wir benötigen weitere achthundertvierzig Monumentalbauten und siebenundvierzig neue Portefeuilles. 61
Was Cocò anbelangt, so sucht er dringend einen Kabinettchef, der Lawn-Tcnnis spielen und schön pfeifen kann.
(1928)
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Der Traum der politischen Mutter Gottes
Sobald Cocò das Schreiben erlernt hatte, verfaßte er für jene Papageien, die Lesen und Schreiben lernen wollen, einige Büchlein, eine Reihe von handlichen Bänden, in ihrer Größe seinem Büchergestell und seinem Schreibtisch auf der Drehorgel angepaßt. Die Sammlung führt den in der Buchhandlung nur bezüglich des Formates ungewohnten Titel »Der Traum der Mutter Gottes«, wobei erst das zugefügte Wort einen Hinweis auf den Inhalt gibt. Wegen der Zensur wandern die Broschüren, deren Dimensionen in Berücksichtigung der geheimen, unerlaubten Propaganda zwanzig auf zehn Millimeter betragen, subversiv von Hand zu Hand, von Pfote zu Pfote. Es ist, zum Beispiel, unerlaubt, Vergleiche zwischen den Zeitläuften anzustellen, und es gilt als Unverfrorenheit, aus diesen Vergleichen ungünstige Schlußfolgerungen für den Zeitpunkt, in dem wir leben, zu ziehen, der unter allen vorstellbaren geschichtlichen Momenten der denkbar glücklichste ist. Nicht gering ist die Zahl jener, die sich zur Behauptung versteigen, daß die Leute früher einmal zufriedener und ihre Lebensmöglichkeiten besser waren, und die den Glauben hegen, das soziale Ideal müßte vom Irrtum eines behaglichen Daseins auch für andere Kategorien von Tieren ausgehen, als nur für diese, deren Einkünfte sich auf mindestens eine Million belaufen. Der Höhe-
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punkt der Glückseligkeit ist erreicht und vielleicht auch schon überschritten worden; der Rhythmus der Existenz, einen Augenblick lang durch große Ereignisse verlangsamt, pulst wieder normal im Gleichmaß mit den automatischen Kraftwagen, mit der nationalen Produktion von Lippenstiften und mit der Geschwindigkeit von 45 Pferdestärken und 125 Stundenkilometer. Keine Begeisterung bekunden, bedeutet Verrat an der Epoche, in der man unentgeltlich das Licht der Sonne und das städtische Gehrecht über Pfützen und asphaltierte Straßen genießt. Nach den optimistischen Grundsätzen, die von der Regierung und dem Finanzministerium angenommen wurden, ist es normal, daß jeder gesund denkende und der liberalen Partei zugetane Bürger täglich von dem unwiderstehlichen Enthusiasmus eines Reitpferdes erfaßt wird, sich in Trab setzt, wiehert und frohen Herzens im unaufhörlichen Wirbel einer fröhlichen Hora tanzt, zusammen mit den Fliegen und den Stechmücken, die sich unter allen Umständen in patriotischer und moralischer Hinsicht als eines Sinnes mit den von Gott gewählten Führern erwiesen haben. Nie zuvor war es so gut, niemals wird es so gut sein wie im gegenwärtigen Augenblick. Reißt Blätter von den Bäumen für das ganze Jahr, damit es auch für den Winter langt, blast gefühlvoll auf dem Blatt, ruft, so oft ihr an der Präfektur oder an der Polizeidirektion vorüberkommt: »Es lebe die Regierung!« und vergesset nicht, daß ihr die Jauchzer eurer immerwährenden Freude auch unter den Straßenlater64
nen ausstoßen könnt, denn diese großen Leuchtkörper sind gleichfalls behördliches Eigentum, sie gehören der Gemeinde. Ein guter Bürger ruft »Hurra« auch vor dem Zeitungsstand, in dem die Regierungsblätter verkauft werden, und wir, die wir durch Ehe und Taufe unseren Trauzeugen und Paten, den Abgeordneten, als Wähler am nächsten stehen, flöten in den süßesten Tönen: »Prosit« und »Hoch soll er leben!«, sobald wir einer Inschrift zur Wahrung des öffentlichen Wohls, wie »Im Schritt fahren« oder »Das Beschmutzen ist unter Prügelstrafe verboten«, ansichtig werden. Der gute Bürger empfängt die Steuerzettel, die den Papageienorakeln nachgemacht sind, mit der gleichen religiösen Inbrunst wie die Heilige Jungfrau Maria die Verkündigung des Engels; er faltet sie sorgfältig zusammen, trägt sie unter dem Futter seines Hutes als ein glückbringendes Amulett und hinterläßt sie seinen Erben als Adelstitel. Das Mirakel der Globalsteuer und die Wohltat der Gehaltssteuer sind unglaubliche Errungenschaften der Kultur, der Seele und des Wohlstandes. Sie werden den politischen Sinn der Nachfahren schärfen und sie lehren, niemals die Aufhebung dieser Steuern zu dulden, sondern durch die steigende Erhöhung unserer süßen Pflichten des Gehorsams unsern Staat zu einem Goldbrunnen und unsere Gemeinde zu einer unausschöpflichen Schatzkammer von Geldmitteln zu machen. Einer unserer noch unausgesprochenen Herzenswünsche ist es, unsere Führer mit Gütern und Villen in allen Kurorten wohl versorgt zu sehen; mögen ihnen zahl65
reiche politische Reisen in alle Staaten vergönnt sein, mit denen wir freundschaftliche Beziehungen pflegen müssen, und zwar vor allem mit den einflußreichen Tänzerinnen und den Jockeis. Wird sein gepfändetes Bett versteigert, so lacht und tanzt der treue Bürger. Er wird nicht aufbegehren, um solcherart den an den Grenzen lauernden Feind zu ermutigen. Wollte jemand ihn ausholen: »He, was hast du bloß?« Er würde mit dem Stolz des römischen Bürgers erwidern: »Ich bin glücklich und eile, um mich in die liberale Partei einzutragen.« Cocò geht diese Würde ab, er ist ein eingefleischter Internationalist, der alle Sprachen spricht, und wir können von ihm keine übertriebenen Empfindungen der Ehrfurcht und Ergebenheit dem Staat, Bezirk, der Gemeinde und Vorstadt gegenüber erwarten. In Griveis Hundehütte, die in der Calea Moşilor als Bibliothek diente, legte ich Hand auf einige seiner politischen und literarischen Arbeiten, die unter den gefiederten Kunden reißenden Absatz fanden. Wir werden der Reihe nach Cocòs zersetzende und ordnungswidrige Ideen veröffentlichen, der aller Wahrscheinlichkeit nach ein Jude sein dürfte – doch haben wir vorderhand die erforderlichen Maßnahmen getroffen, um ihn außerstand zu setzen, die gesunden Ideen zu gefährden. Im geheimen wurde der soziale Aufstand der Hühner vorbereitet, und eine allgemeine Verschwörung verband die Gänse mit den Truthähnen. 66
Cocò ist in Jilava1, und Makmak wird auf der Staatsanwaltschaft verhört.
(1928)
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Gefängnis in der Nähe von Bukarest.
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Eine einfache wahre Begebenheit
Zwei Kraftwagen stoßen zusammen. Die Schuld liegt mehr auf seiten des einen Fahrers. Beide werden auf ein Polizeiamt in Bukarest gebracht. Die Untersuchung wird von einem Unterkommissär geführt. Der eine Wagen gehört einem Industrieunternehmer, der andere einem belanglosen kleinen Mann, der keine Firma besitzt und auf das Denken des Unterkommissärs keinerlei Faszination ausübt. Es ist ein Uhr nachts. Der Unterkommissär zieht es vor, kein Protokoll ohne vorherige Unterredung aufzusetzen; er zieht es ferner vor, von den beiden Autobesitzern bloß den vermutlich reicheren zu rufen. Ein Telefonanruf. Vorladung. Der Direktor des Industrieunternehmens erscheint. Der wirklich Schuldige war nicht der Fahrer der Firma; Beweis: das Corpus delicti: Der Wagen der Firma war von der Schnauze des andern Wagens in die Flanke gestoßen worden. Der Unterkommissär: »Nein, ich glaube, daß der da schuldig ist. Er hat den Wagen gewendet, als der andere ankam.« Der Direktor: »Ich verstehe nicht, weshalb Sie mich gerufen haben, da Sie doch mit den Fahrern die Sache ins reine bringen konnten, und schon gar nicht verstehe ich, weshalb Sie nur mich gerufen haben.« Der Unterkommissär: »Die Sache ist ernst.«
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Der Direktor: »Er hat meinen Wagen beschädigt, ich habe seinen Wagen beschädigt. Die Lösung ist einfach: ich lasse in den Werkstätten des Unternehmens beide Wagen auf meine Rechnung reparieren. Morgen kommen beide Wagen in die Werkstatt und der Konflikt ist aus der Welt geschafft. Somit können Sie die beiden Fahrer gehen lassen.« Der Unterkommissär (unwillig): »Da ist noch ein Haken.« Der Direktor: »Dann schicken Sie die Fahrer fort, und das Übrige besprechen wir miteinander.« (Der Unterkommissär zögert. Der Direktor wiederholt seine Worte.) Der Unterkommissär (seiner Sache sicher): »Ihr könnt gehen.« (Die Fahrer gehen ab.) Der Unterkommissär: »Die Sache ist ernst. Der Fahrer hat seinen Ausweis nicht bei sich gehabt. Ich werde ein Protokoll aufnehmen müssen.« Der Direktor: »Er hat die praktische Prüfung bestanden, und es wurde ihm gestattet, einige Tage ohne Ausweis zu fahren.« Der Unterkommissär: »Die Strafe beträgt …« Der Direktor: »Herr Unterkommissär, wie hoch kann die Strafe des Jungen schon sein? Sagen wir fünfhundert Lei. Bitte, da sind fünfhundert Lei.« Der Unterkommissär (tut höchst erstaunt): »Fünfhundert Lei?… (Er geht ins Nebenzimmer und bringt das Gesetzbuch.) »Das Gesetz lautet wörtlich: Geldstrafe von fünftausend bis dreißigtausend Lei und Gefängnis bis zu drei Monaten. Haben Sie gehört? Drei-ßig-tau-send Lei …« 69
Der Direktor: »Herr Unterkommissär, hier sind fünfhundert Lei vom Jungen. Ich schieße fünfhundert seitens der Firma bei und wir zahlen … eine Strafe von tausend Lei …« Der Unterkommissär: »Statt drei-ßig-tau-send?…« Der Direktor (als Kaufmann überzeugt, daß er gewonnenes Spiel hat): »Ich will Sie anders fragen: wieviel kostet die Sache?« Der Unterkommissär (feierlich): »Herr Direktor, ich bin ein redlicher Mensch und wende das Gesetz strenge an! (Vertraulich.) Aber ich befinde mich momentan in einer großen finanziellen Klemme: also sagen wir zweitausend Lei …« Der Direktor (unnachgiebig): »Als Direktor der Firma habe ich nicht das Recht, über größere Beträge als tausend Lei zu verfügen. Morgen früh komme ich vorbei und bringe Ihnen das Geld. Um welche Zeit finde ich Sie hier?« Der Unterkommissär: »Ich bleibe bis neun Uhr.« Der Direktor: »Um halb neun werde ich bei Ihnen sein. Rechnen Sie aber nicht auf mehr; es ist ausgeschlossen. Im besten Falle tausend Lei.« Der Unterkommissär (zum Rückzug blasend): »Schließlich und endlich kann ich das Protokoll auch morgen früh aufsetzen.« Der Direktor: »Guten Abend, Herr Unterkommissär.« Der Unterkommissär:» Guten Abend, Herr Direktor.« (Pause des Aufbrechens. Bei der letzten Ausgangstür nähert sich der Unterkommissär dem Direktor.) Der Unterkommissär: »Aber Sie sind morgen früh hier, nicht wahr, Herr Direktor? Um halb neun.« 70
Der Direktor: »Wie, Sie zweifeln noch daran? Ich habe es Ihnen doch zweimal gesagt.« Am nächsten Morgen um halb neun. Der Direktor (zieht die Tabaksdose): »Sie rauchen?« Der Unterkommissär: »Danke, ja.« Der Direktor (linkisch): »Die haben auch den Bãlan1 erwischt.« Der Unterkommissär (dem Direktor auf die Finger sehend. Ausweichend): »Ich glaube.« Der Direktor (zurückhaltend): »Schönes Wetter heute!« Der Unterkommissär (beredt aufs Ziel losgehend): »Sie haben Wort gehalten, es ist genau halb neun.« Der Direktor (holt ermutigt ein Päckchen vorbereiteter Banknoten aus der Westentasche und steckt sie dem Unterkommissär unauffällig zu): »Ich habe Wort gehalten.« Der Unterkommissär (entfaltet ohne alle Scheu die Geldscheine und zählt langsam nach): »Tausendfünfhundert?« Der Direktor: »Ja, das ist alles, was sich tun ließ.« Der Unterkommissär steckt das Geld ein. Der Direktor nimmt seinen Hut. Lächeln des Abschieds. Händedrücken. Der Direktor kommt bis zur Tür. Der Unterkommissär (mit bewegter Stimme): »Herr Direktor, noch ein Wort. Ich bin in großer Geldverlegenheit. Geben Sie mir, bitte, noch hundert Lei …«
(1928) 1
Berüchtigter Mörder.
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Ein schwieriger Fall
Nachdem ich den Mord nach allen Regeln der Kunst vollbracht hatte, nahm ich mit meinen künftigen Anwälten Fühlung. Wohl hatte ich alle gehörigen Maßnahmen getroffen, um nicht entdeckt zu werden, sagte mir aber, daß die Polizei mich dennoch erwischen könnte und daß sich daher Vorsicht empfehle. Schon hatten einige Geheimagenten angefangen, sich an meine Fersen zu heften. Los, Junge, wappne dich mit Mut und halte Umschau nach einigen Juristen, am ehesten nach Doktoren der Rechtswissenschaft und, wenn es geht, nach solchen aus Brüssel. Das gleiche Recht haben schließlich jene studiert, die mich anklagen, und diese, die mich verteidigen werden: es kommt nur auf die sachkundige Auslegung des Gesetzes an. »Herr Doktor«, sprach ich zum Rechtsanwalt, »ich wende mich an Sie als an eine Leuchte der Rechtswissenschaft. Ich sehe voraus, daß man mich in einen schweren Prozeß verwickeln wird. Es ist möglich, daß ich auch verhaftet werde: in diesem Lande ereignen sich ja allerhand Dinge!« »Sind Sie etwa Kommunist, so lehne ich jegliche Rechtshilfe ab. Jetzt ist nicht die Zeit für Aufruhr und Unordnung. Die Gesellschaft braucht Ruhe und Sammlung, und da hat jeder hergelaufene Tollkopf eine Losung und eine Idee, die den großen Geboten
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des Augenblicks nicht entsprechen. Die Kette dieser ›Augenblicke‹ reißt nicht ab und der gegenwärtige ist der peinlichste. Ich kann nichts für Sie tun. Suchen Sie sich einen andern Advokaten, bitte, gehen Sie, mich erwarten meine Klienten.« Ich ließ ihm keine Zeit, sich zu erheben und mich zu verabschieden. »Ich bin einer anderen Sache wegen gekommen, Herr Doktor.« »Sagen Sie: Meister. Doktor nennt man nur die Geburtshelfer.« »Herr Meister, hören Sie nun, in welcher Angelegenheit ich zu Ihnen gekommen bin.« »Meister wird nicht in Verbindung mit Herr gebraucht, der letztere Begriff ist im ersten enthalten«, bemerkte mein künftiger Advokat. »Betrügerische Zahlungseinstellung?« »Nein, Meister, etwas anderes.« »Geldfälschung? Haben Sie einen Zwanziger, einen Hunderter, einen Tausender gefälscht? Nehmen Sie Platz.« »Auch das nicht.« »Sie sind ein interessanter Fall. Haben Sie Geld unterschlagen? Wieviel?« »Ich habe gemordet!« sagte ich. Der Meister runzelte die Brauen, er hielt mich für einen Mörder aus Eifer- oder Rachsucht. »Zum Teufel auch, daß ihr aus Liebe immer wieder solche Dinge anstellt! Sie werden im Zuchthaus landen! (Der Meister war ein Verfechter der Frauenrechte.) Hat nicht auch die Frau – ergriff der Meister 73
wieder das Wort – das Recht, euch einmal zu betrügen, ohne daß ihr gleich zum Revolver greift?« Der Meister war vor Zeiten ein großer Frauenjäger gewesen, zählte jedoch seines Alters wegen nicht mehr als Mann, sondern gehörte schon längst dem sächlichen Geschlecht an. »Verehrter Meister«, entgegnete ich schlicht und einfach mit monotoner Stimme. »Ich habe meine Tante umgebracht und ihre Mutter, allerdings auch meine Frau, aber nicht aus den Gründen, die Sie vermuten.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Familienzerwürfnisse? Unüberwindbare Charaktergegensätze? Begründete Wut?…« »Nein, Meister, Geld!« »Wieso Geld? Drücken Sie sich genauer aus«, forschte der Meister mit wachsendem Interesse. »Um Geldes willen, Meister …« Und weil ich fühlte, daß der Meister schlechter Laune wurde, da er mich für einen gewöhnlichen Mörder hielt, der tötet, um ein Handtäschchen zu rauben, brachte ich sein Herz wieder auf den richtigen Fleck. »Um sehr viel Geld, Meister«, sagte ich ihm. »Um zwölf Millionen. Ein Vermögen … eine Erbschaft.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« sprach der Meister. »Kommen Sie näher, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie. Ein Kaffee gefällig? Bitte, hier ist eine Zigarette! Sie haben sich wohl an mich gewendet, weil Sie meinen Ruf als angesehenen und erfahrenen Strafrechtler kannten, nicht wahr?« »Gewiß, Meister. Sagen Sie aber, bitte, niemandem, 74
daß ich gemordet habe, das vertraue ich nur Ihnen persönlich an.« »Bei Gericht werden wir das Ding schon drehen. Nirgends werden die Dinge so verdreht wie bei Gericht. Wie haben Sie die Sache geschmissen?« »Die eine hab ich von hinten angefallen und sie erwürgt und der anderen einige Magentropfen verabreicht. Um schneller fertig zu werden, habe ich der dritten während des Schlafs mit einer Axt den Schädel eingeschlagen.« »Sind Sie Alleinerbe?« fragte mich der Meister sachkundig. »Jawohl.« »Ohne nähere oder entferntere Miterben?« »Ohne.« »Kann ich die Akten sehen?« fragte der Meister und klemmte sich das Monokel ins Auge. Nach Prüfung der Akten sagte der Rechtsanwalt: »Das wird Sie zweihundertfünfzigtausend Lei kosten … Und vielleicht sogar etwas mehr. Der Fall ist schwierig.« Ich empfand eine seelische Befriedigung. Mein Mord wurde zu einem »Fall« gestempelt, und um in seinem Fahrwasser zu bleiben, hatte der Meister für meine Tat einen juristischen Ausdruck gefunden. »Schwieriger Fall«, das klang sogar besser, es verlieh meinem Mord einen politischen Sinn. Von einem bangen Gefühl, das in meiner Seele aufstieg, einigermaßen in Unruhe versetzt, wagte ich die Frage: »Was ist Blut im juristischen Sinne, Meister?« »Ein Corpus delicti«, sprach der Meister. 75
»Und die Axt, Meister?« »Im juristischen Sinne ist es keine Axt«, sprach der Meister – »und selbst wenn von einem scharfen oder stumpfen Gegenstand die Rede ist, so gehen wir darüber hinweg. Solch gegenständliche Bezeichnungen gehören dem Wortschatz des Untersuchungsrichters und des Staatsanwaltes an, die nicht zählen … Wir diskutieren vom rein abstrakten Gesichtspunkt.« »Ist zweihundertfünfzigtausend Lei nicht etwas viel?« fragte ich leicht gekränkt. »Bei einem Streitgegenstand von zwölf Millionen? Rechnen Sie selber aus, welch einen geringen Prozentsatz das Honorar ausmacht. Es ist ein Pappenstiel.« Der Meister hatte grundsätzlich recht, aber wenn man zwölf Millionen besitzt, so fällt der Verzicht auf jeglichen Prozentsatz schwer. »Und ich werde Ihre Verteidigung so führen, daß sie dieses erhabenen Begriffes würdig sei. Meine Hypothese ist kategorisch: Sie sind nicht schuldig und können gar nicht schuldig sein. Wissen Sie, wer der Schuldige ist? Der Staatsanwalt. Die Justiz ist schuldiger als jeglicher Verbrecher …« »Das höre ich gern, Meister«, sagte ich geschmeichelt. »Und ich bin sicher, Sie haben auch noch andere Pfeile im Köcher.« »So viele Sie wollen, mein Lieber«, sprach der Meister. »Unsere Höflichkeit gilt nur den Angeklagten, den Arrestanten und den Untersuchungshäftlingen. Selbst wenn Sie eingesperrt und für schuldig befunden werden, sind Sie immer noch nicht endgültig ab76
geurteilt, denn Sie können noch Berufung einlegen, und dann bleiben Sie noch Jahre lang ein Rekurswerber. Und in zwei Jahren vergißt alle Welt, vergessen auch Sie und vergessen wir alle die ganze Geschichte.« »Können Sie nicht dennoch etwas nachlassen?« fragte ich noch einmal. »Davon kann keine Rede sein. Die Rechtsangelegenheit ist schwierig.« Ich war also zur Hauptperson einer Rechtsangelegenheit geworden und machte mich frohen Mutes auf den Weg. »Jetzt können die mich sogar hoppnehmen«, sagte ich mir in Gedanken. Da ich kein Bargeld bei mir hatte, gab ich dem Meister ein Pfand als Vorschuß: ein Paar große Perlenohrgehänge meiner Tante. Ich hatte sie, ohne sie auch nur zu öffnen, der Alten mitsamt dem Fleisch aus den Ohrläppchen gerissen, nachdem sie zu Boden gefallen war, und so klebte vielleicht sogar noch Blut an ihnen, als ich sie dem Meister in die Hand legte. Der sprach ironisch: »Rühren am End’ auch diese Ohrgehänge von dem Raub her?« Und er schloß sie in eine Schublade ein. »Wo denken Sie nur hin, Meister? Das wäre doch eine ausgesprochene Schweinerei meinerseits.« »Ich scherze nur«, sprach der Meister, »bringen Sie morgen das Geld.« Was mir an dem Rechtsanwalt, den ich gewählt habe, vor allem gefällt, ist seine Hilfsbereitschaft. Er leistet Hilfe, wenn er eine viertel Million bekommt, aber 77
er versagt seinen Beistand auch nicht, wenn er nur zehntausend Lei erhält, er kümmert sich nicht darum, ob einer ein Räuber, ein Betrüger oder ein berüchtigter Taschendieb ist. Er ist ein Kenner der Seele, und sein Urteil ist daher unparteiisch und großzügig. Er ist ein Berufener, er ist berufen, die Menschheit zu verteidigen und zu retten; ein wahrer Erlöser. Mit einer bewunderungswerten Seelenruhe hört er die widerlichsten Geständnisse an, wühlt in blutigen Decken und eitrigem Verbandszeug mit der Heiterkeit eines lächelnden Engels. Er stand auf der Treppe zu seiner schönen kubistischen Wohnung, die von der ganzen Hefe der Zuchthäuser besetzt war und empfing jeden mit dem gleichen Mitleid und dem gleichen Wohlwollen. Er teilte mit dem Falschmünzer, mit dem Pferdedieb, mit dem Einbrecher, und wenn er nicht die Hälfte nahm, so steckte er zumindest ein Viertel vom Blutlohne dieser Unglückseligen, die das Strafgesetz übertreten haben, ein. Der Meister ist nicht wählerisch, wissen Sie? Man kann nicht sagen, daß er das Opfer einem Mörder vorziehe, oder daß er sich weigern würde, einen Prozeß zu übernehmen unter dem Vorwand, die Sache sei faul, sie stinke zum Himmel. Er ist ebenso wie der Arzt der Ansicht, daß man an alle Geschwüre das Messer ansetzen kann, ob sie sich nun im Mund oder im Darm befinden. Er sieht das als seine moralische Pflicht, als ein heiliges Gebot an. Lediglich jene Fälle, die kein Geld eintragen, enttäuschen seine juristischen Erwartungen und seinen Glauben an das humane Ideal, Fälle von armen, 78
dummen Klienten, die, nachdem sie eine ganze Familie im Schlaf erstochen, nicht in der Lage waren, für die Auslegung des Gesetzes und des Rechtes auch nur hunderttausend Lei als Honorarvorschuß aufzutreiben.
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Ein ganz besonderes Opfer
Ein Großkaufmann, den wir alle kennen, gab sich für einen kleinen Händler mit dem unscheinbaren Jahreseinkommen von ungefähr zwei bis drei Millionen aus, soviel also wie zwanzig – dreißig Unseresgleichen, die wir Intellektuelle genannt werden, insgesamt verdienen. Wohl ist es wahr, daß er Pflaumenschnaps und geräucherte Zungen verkauft, und das kann nicht mit unseren subjektiven Waren verglichen werden. Um aber drei Millionen zu verdienen, hätte er sich geopfert, behauptet der in Rede stehende Kaufmann – Eigentümer eines großen Wirtshauses im Innern der Stadt –, in dem bei Gericht eingebrachten Gesuch, in welchem er einen Zahlungsaufschub und eine Herabsetzung seiner Schulden verlangte. »Meine Rechtsstudien«, begründet der Schankwirt sein Ansuchen, »hätten es mir ermöglicht, einen glänzenden Beruf zu ergreifen, eine intellektuelle Drohne zu werden, doch habe ich’s schon von Kind auf vorgezogen, den dornigen Weg des Handels mit geistigen Getränken und belegten Brötchen einzuschlagen und habe mich für dieses unglückselige Ideal aufgeopfert, wodurch ich mir ein Vermögen von hundert Millionen Lei aufhalste. Aber diese Opfer brachte ich nicht alle auf einmal, sondern ›stufenweise‹ als ein praktischer und vorsorglicher Märtyrer. Blutenden Herzens machte ich
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zuerst einen Laden auf. Dann kaufte ich seufzend das Haus, in dem sich der Laden befand. Nachher erstand ich, zu Tränen gerührt, das Haus von nebenan und häufte Leid über Leid, indem ich vierzig Millionen Lei für die Instandsetzung dieser Häuser verausgabte. Allmählich erwarb ich mir ein Haus auf dem Boulevard Fache, ein Haus auf der Sfintul Stefan und eine Villa in Buşteni, in der ich Zuflucht suchte, um in der Kühle des Gebirges über die Unglücksschläge zu klagen, die mich so häufig trafen. Von den anderen Sorgen, die ich mir ganz überflüssigerweise auf mein unglückseliges Haupt geladen, wie Grundstücke in Sinaia, Predeal und Techirghiol – überall hatte mich einzig und allein mein Drang nach Selbstaufopferung getrieben –, gar nicht zu reden. Ebenso wie Jesus Christus bin ich mit der Leidenschaft, mich kreuzigen zu lassen, zur Welt gekommen. Übrigens unterhalte ich zu Jesus vertraute Beziehungen: ich habe stets einen Bischof als Tischgast, und ehe er zu königlichen Würden aufstieg, tafelte auch der Patriarch in meinem Paradies, in dem unten im Laden der Wein Seiner Eminenz verkauft wird. Ihr werdet euch wohl erinnern, daß ich meine Weinstube im Stile einer erzbischöflichen Residenz umbaute und ihr ein dementsprechendes Aussehen verlieh, und daß zur Eröffnung der gnadenreiche Patriarch höchstselbst in meinem erhabenen Wirtshaus die Einsegnung vornahm: ›Nehmt und esset, dies ist mein Körper; trinket, denn dies ist mein Blut.‹ (Achtzig Lei der Liter.) Ich wollte mich bestrafen, und ich geißelte mich selbst 81
aus Leibeskräften. Warum sollte ich bloß eine Million verdienen und nicht zwei? Warum sollte ich nur zwei Millionen verdienen und nicht drei? Warum drei und nicht fünf? Warum fünf und nicht zwanzig? Und so geschah es, daß das Maß meines Unglücks übervoll wurde. Was verlange ich von Ihnen, meine Herren Richter? Eine Kleinigkeit, und auch die entspricht ganz dem Geiste meiner Märtyrertugenden. Ich verlange von Ihnen, daß ich meine Schulden nicht mehr zur Frist zahle, daß ich von der Entrichtung der Zinsen befreit werde, daß ich nach Tunlichkeit überhaupt nichts zahle, und daß ich mit dem bleibe, was mir Gott beschert hat: mit meiner Weinstube, dem Haus, in dem sie sich befindet, mit dem Hotel nebenan, mit dem Haus auf Pache, dem Haus auf der Sf. Stefan, der Villa in Buşteni, mit meinen tragischen Bauparzellen in Sinaia, Predeal und Techirghiol. Überlaßt mich der Last all dieser Leiden, die mich erdrücken und die mir jährlich nicht mehr als zehn Millionen Lei abwerfen, und seht zu, daß ich meine Schulden nicht mehr zahle. Muß ich zahlen, so kostet mich das einen Haufen Geld; während, wenn Sie, meine Herren, entscheiden, daß ich nicht zu zahlen habe, das weder Sie noch mich einen roten Heller kostet; gestatten Sie mir darum, den Dornenweg, den ich schon von Kind auf eingeschlagen habe, fortzusetzen. Ich habe auch andere Opfer gebracht. Ich wurde Senator und trug einen Zylinderhut und Dekorationen im Wagen, der mich anläßlich der Antwort auf die Thronrede, unter Geleit der königlichen Leib82
garde, zum Palast brachte. Ich nahm an der gesetzgeberischen Tätigkeit teil und habe dem Land gute Gesetze gegeben, die es gar nicht verdiente. Es fehlte nicht viel, und ich wäre Regent geworden wie mein großer Kollege von der Kirche. Wenn Sie mir den vorläufigen Zahlungsaufschub gewähren, dann würde ich Zeit gewinnen und könnte auch noch dieses neue, unermeßliche Opfer bringen (etwa über drei Millionen jährlich). Zahlen und zeitgerecht zahlen, das ist beim Pöbel üblich und bei meiner Kundschaft. Für die Bezahlung des Pflaumenschnapses und der Mastixliköre, die bei mir konsumiert werden, habe ich die Einrichtung der Kellner und Zahlkellner geschaffen. Was bedeutet jedoch ein Geldstück angesichts einer Million und Hunderter Millionen? Millionenzahlungen werden mit einiger Schwierigkeit geleistet, und was mich betrifft, so würde ich vorziehen, sie überhaupt nicht zu zahlen. In unseren Zeiten der Verderbnis und des Mangels an Anstand könnten meine Opfer als eine verdienstvolle Tat, ja als eine nationale Tat angesehen werden, die als seelische Belohnung sittlicher Werte in natürlicher Weise meine Befreiung von jeder Zahlung zur Folge haben müßte. Ich bin ein Apostel. Glaubt nicht, meine Herren Richter, daß es gut sei, reich zu sein. Mein ganzes Leben war ich bemüht, ein Angestellter zu werden, und es gelang mir nicht. Aus ganzem Herzen beglückwünsche ich all jene, die nicht hundert Millionen im Strumpf versteckt und sich eine so große Last aufgeladen haben. Selig derjenige, der weder Hotel noch Weinstube besitzt, denn er 83
wird errettet werden, sagt mit vollem Recht der Psalmist. Und ich bin nicht der einzige Märtyrer dieses Landes. Es gab auch noch andere, darunter ein Großkaufmann, der mit Vorhängen und Teppichen handelte, ein Tuchwaren-Großhändler und andere, die sich selbst aufopferten. Der erstere – der Unglückliche ist vielleicht etwas zu dick – war auch Minister, er wurde, ein Expert gleich mir, als großer Wirtschaftsfachmann berufen, um den Staat und die bürgerlichen Freiheiten zu verwalten. Um sich nicht über alle Maßen zu langweilen, schaffte er sich Rennpferde an und mühte sich so auch beim Trabrennen, und nicht nur auf seinen beiden Beinen, ab. Er wollte an den Freuden des Landes mit möglichst vielen Füßen teilnehmen, auch mit den behuften, und zum allgemeinen Aufblühen der Wirtschaft durch die Tätigkeit eines Gestüts von Stuten und Hengsten beitragen. Diesen meinen Vorgängern habt ihr in den Sattel geholfen, helft nun auch mir. Ich beneide, ich wiederhole es Ihnen, die glückliche Armut und segne Gott, der rings um mich die Zahl der Menschen vermehrt, deren einzige Nahrung in einem Brot und einer Zwiebel besteht. Was gäbe ich nicht darum, an ihrer Stelle zu sein, doch ist es zu spät! Ich habe schlechte Gewohnheiten angenommen, meine Herren Richter. All mein Lebtag habe ich auf Daunenmatratzen geschlafen und mich mit einer Seidendecke zugedeckt. Ich aß Hummern, Roquefort und Brie, französisches Wildbret, Fasane, Kaviar. Ich trank Sauterne und Veuve Cliquot und beschloß mein Mahl mit Chartreuse. Würde ich meine Diät 84
ändern und zu gekochtem Maismehl und Fisolen zurückkehren, so würde ich mir ein Magenleiden zuziehen. Das darf einem der leitenden Männer des Staates nicht widerfahren, der genau unsere Nieren, Leber und Urinblase zu überwachen hat. Wozu haben ein Stefan der Große, ein Tudor Vladimirescu und ein Horia gelebt, wenn die Regierung und die Justiz das gute Funktionieren unserer wesentlichsten Organe außer acht lassen sollte? Wofür habe ich mich aufgeopfert, wenn ich auch noch die hundert Millionen zahlen muß? Ich bin auch ein vorbildlicher Mann, ein musterhafter Gatte, ein vorbildlicher Vater, ein musterhaftes Familienoberhaupt; ich bitte Sie, das nicht zu vergessen. Ich habe den Waisen geholfen und ihnen fünfundsiebzig Prozent meiner Einkünfte zukommen lassen, ich habe die Witwen unterstützt, ich habe Kranke geheilt, ich habe Bettler um mich gesammelt und ihren Hunger gestillt. Mein Hotel ist ebenso wie meine anderen Häuser – wie leicht festgestellt werden kann – ausschließlich von armen Leuten bewohnt. Erscheint der Inkassant eines Blattes, das ich zwei Jahre lang, Tag für Tag erhalten habe, so jage ich ihn fort, aber nur aus Zerstreutheit, ebenso wie ich nur aus Zerstreutheit einen Hungrigen, der sich an die Güter meiner Weinstube heranwagt, der Polizei übergebe. Wer aber ist nicht zerstreut, wer weilt nicht mit seinen Gedanken in höheren Sphären? Der vorläufige Zahlungsaufschub würde mir die Möglichkeit eröffnen, mich abzuquälen, um andere Dutzende von Millionen zusammenzuraffen und 85
so ein nützliches und unerläßliches Element dieser meiner Epoche der reizenden Bankerotteure und Schwindler zu werden.«
(1929)
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Einfache Erzählungen
Es spricht ein aus dem Balkan heimgekehrter Offizier: Ich befand mich in Gesellschaft von mehreren Oberleutnants, Hauptleuten und einem Major – erzählt er uns – wir bestiegen eine Schaluppe und unternahmen eine Donaufahrt längs des bulgarischen Ufers. Da wir zwei freie Tage hatten und uns recht gut unterhalten wollten, nahmen wir auch unsere Frauen und Kinder an Bord. Ruhig und gefügig gab die Donau unserer sanft dahingleitenden Schaluppe den Weg frei, und so gelangten wir bis nach Samlãu und Gãureni. Das bulgarische Ufer war zum Teil überschwemmt. Konnten wir auch da und dort an Land gehen, so war unser Steg doch bald von einem Sumpfarm unterbrochen oder verlor sich im frischen Schlamm eines über Nacht entstandenen Weihers. Um unseren Weg fortzusetzen, mußten wir zur Schaluppe zurückkehren, weiter rudern und dann wieder auf den feuchten, weichen Strand hinuntersteigen. Eine Strecke lang war die Küste ziemlich öde, und in der Ferne erhob sich über sanften Hügeln das Land der Bulgaren oder duckte sich plötzlich unter dem Gewölbe der Wolken, die auf dem schweren, trüben Flußbett der undurchsichtigen Wogen schaukelten. Rechts von Samlãu hatte die anstürmende Donau voller Wucht eine Vertiefung gegraben, aus der sie
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sich dann zurückzog und im Ufer eine große, nach oben hin offene, zum Fluß zu freie und hinten vermauerte Schlucht zurückließ. Es war eine tiefe Einbuchtung, die einem halbeingefallenen Keller glich, von dem bloß zwei Wände und der rückwärtige Winkel noch aufrecht standen. Wir hatten das Empfinden, daß in der Enge der schlammigen Vertiefung etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Sachte wurde unsere Schaluppe dorthin gelenkt. Durchs Fernglas blickend, nahmen wir vom Deck aus eine Bewegung wahr, als wallte und brodelte die Erde des in die Böschung gebohrten Golfes selbst. Dann entfärbte sich der Schlamm, und man unterschied immer deutlicher die grünlichen und feldgrauen Uniformen unserer Truppen. Ungefähr sechzig Soldaten tummelten sich in der Tat eifrig hin und her, doch waren wir noch nicht nahe genug, um genau zu erkennen, was sie dort trieben. Sie schienen damit beschäftigt zu sein, die Donau aus der Vertiefung auszuschöpfen, den Fluten Einhalt zu gebieten und sie zu vertreiben. Die einen lagen auf dem Bauch, als versuchten sie das Flußbett aus den Fugen zu heben. Manche standen aufrecht. Andere schienen zu knien. Als wir die Ferngläser beiseite legten, mit freiem Auge Ausschau halten konnten und auch unsere Schaluppe ihre Fahrt verlangsamte, machten wir halt und blickten aufmerksam dorthin. Es war ein isoliertes Lager von Cholerakranken … Das Gros der Truppen hatte in großer Entfernung von ihnen auf dem höhergelegenen, trockenen Teil der Ebene sein Quartier aufgeschlagen. Ganz weit 88
am Himmelsrand konnte man durchs Fernglas die Umrisse von Zelten wahrnehmen. Ungefähr zwei Kilometer von der Einbuchtung entfernt, stand eine Reihe von Wachtposten, und um sie zu sehen, krochen die Kranken die eingefallene Böschung hinauf, steckten die Köpfe aus der Grube hervor und spähten hinüber zu ihren gesunden Brüdern. Sie warfen nur hie und da einen verstohlenen Blick hinüber, denn die weittragenden Gewehre der Wachtposten bargen im Schlund ihrer eisernen Rohre tödliche Kugeln. Und in den Augen der Ausgestoßenen war die Sehnsucht nach Freundschaft und Güte zu lesen, ein Aufbegehren, ein letzter, den Kameraden zugedachter Gruß. Einer, der, sich mit den Fingern an die Dornsträucher klammernd, mit schwerer Müh bis an den Rand der Grube geklettert war, fiel kopfüber in die Grube zurück, und seine Gefährten gaben durch Zeichen zu verstehen, daß er gestorben war. Flüchten konnte keiner. Vor ihnen lag die unermeßliche Donau, hinter ihnen standen die Wachtposten mit geladenen Gewehren. Sie mußten auf dem schlammigen Grund der Grube ihr Leben beenden. Und von unserer Schaluppe konnten sie sich keine Hilfe erhoffen, weil wir gesund waren, sie aber an der Cholera litten … Und dann, du begreifst doch … es hieß Disziplin wahren, und wir mußten an unsere Kinder denken … Sie machten uns Zeichen, daß sie an unseren Freuden teilhaben, daß sie essen und ausruhen wollten, doch wir wußten ihnen darauf keine Antwort zu geben, taten so, als verstünden wir sie einfach nicht. Den89
noch bemächtigte sich unser eine immer quälendere Unruhe, wir fanden keine Worte, um ihr trauriges Los zu beklagen, blickten einander an, von Schauer ergriffen und von Trauer erfüllt wie nie zuvor in unserem ganzen Leben, flüsterten ab und zu miteinander, und ein wilder Haß überwältigte unser Soldatenund Menschenherz. Es ging uns nicht ein, wie man diese Kranken ohne Kameraden, ohne Ärzte, ohne Zelte in einer lehmigen Schlucht wie auf einer schauerlichen Insel ausgesetzt hatte, wo sie bei jedem größeren Anschwellen der Donau wie in einer Flasche zu ertrinken drohten. Wem mag bloß der Einfall für diese letzte Zufluchtsstätte von Schiffbrüchigen gekommen sein? Wer wird das Unglück dieser sechzig jungen und schönen Männer verantworten, die Grausamkeit, mit der sie lebendigen Leibes in die Tiefe der mörderischen Donau geworfen wurden? Wie kann man das verantworten? So wie die Toten schuldig sind, gestorben zu sein, so sind diese daran schuld, daß sie an der Cholera erkrankten. Der Major – ein Reservist – wandte sein ergrautes Haupt von uns ab, führte plötzlich seine Hand zu den Augen und brach in ein ersticktes, langanhaltendes Schluchzen aus. Da konnten auch wir alle, die Zeugen dieses schrecklichen Anblickes waren und bisher das Weinen unterdrückt hatten, unsere Tränen nicht mehr zurückhalten. Als die vielen kranken Soldaten ihre Arme unserer Schaluppe entgegenstreckten, blickten wir erbittert zu Boden und suchten unsere heißen Tränen hinter den Mützenschirmen zu verbergen. 90
Von den Ruderern der Schaluppe erfuhren wir Näheres über das Elend dieser Cholerakranken. Einmal des Tages brachte man ihnen Nahrung. Das Essen wurde zweihundert Meter weit von der Schlucht abgesetzt, und erst nachdem es diejenigen, die es gebracht, dort gelassen und sich entfernt hatten, verkündigte ein Wachtposten mit seiner Trompete den Kranken, daß sie es holen durften. Da erklommen, die noch bei Kräften waren, auf Knien und Ellenbogen die Böschung, kletterten aus der Grube heraus, holten das Brot und den Käse und kehrten mit ihrer Last heim. Eines Tages dürfte, als die Trompete geblasen wurde, niemand mehr herausgekommen sein, um das Brot zu holen, oder wenn es manchen auch noch gelungen war, sich bis dorthin zu schleppen, so dürften sie nicht mehr imstande gewesen sein, umzukehren … Das Leben in dieser Grube war seltsam und makaber. Die Soldaten, die ihre Glieder noch bewegen konnten, bückten sich über diejenigen, die mit dem Rücken auf dem Schlamm ausgestreckt lagen, und versuchten sie zu pflegen und ihnen Mut zuzusprechen, als wären sie ihre Eltern; sie umarmten die Kameraden und küßten sie auf die Stirn, während auch ihnen allmählich der Todesschauer durch Mark und Bein ging. In der Zeit, da unsere Schaluppe in der Nähe dieser dem Untergang geweihten Menschen hielt, starben zwei von den Soldaten. Und da wohnte ich einem außergewöhnlichen Schauspiel bei, das ich dir weder in seiner Erhabenheit noch in seiner Schauerlichkeit beschreiben könnte. Die Kranken schickten sich an, inmitten ihrer Grube je ein Grab für die beiden Toten 91
zu schaufeln, und sie, die vielleicht morgen selber sterben sollten, begruben ihre Kameraden, die der Tod gerade ereilt hatte. Statt Erde schaufelten sie jedoch Haufen von Schlamm hervor, und so wurden die Gefährten, die soeben die Augen geschlossen hatten, mitten in den flüssigen Schlamm gebettet – und kein Pfarrer war dabei, um sein Gebet zu sprechen, nur Gottes kaltes Auge warf ab und zu einen leeren Blick über das frische Grab. Ich werde dir auch andere Dinge erzählen, mein Lieber, die wissenswert sind. Unsere Schaluppe kehrte um, und die Schlucht blieb an ihrer Stelle, von Wellen umspült, von Posten bewacht.
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Tausendundein schuldbeladener fauler Zauber Das Durchblättern der Zeitungen ist manchmal lehrreich. In ihren Spalten findet man täglich die Vielfalt des öffentlichen Irrsinns zusammengedrängt und vom mörderischen Zickzack der großen sozialen Unordnung und Entartung durchquert. Der Leser, der abends die Zeitungen zusammenfaltet und eine geistige Überprüfung der Grundbegriffe vornimmt, legt sich voller Entsetzen schlafen. Kein wegweisender Gedanke verflicht die nur schmarotzerhaft auftretenden Erscheinungsformen der Tätigkeit; es fehlt an einem Ziel, an einer Vereinheitlichung, an Richtlinien. Der Welt mangelt es an einem Gebieter, an einem Ideal, und insbesondere, was nicht verschwiegen werden darf, ist dies im rumänischen Lande der Fall. Jeder von uns ergreift plötzlich eine überraschende Initiative, als wäre er vom Gedanken besessen, die Erdkugel, die in unserem Innern kreist und nach Taten heischt, mit einem notdürftigen Gleichgewicht abzuspeisen und das Pflichtgefühl mit kleiner Münze zu beschwichtigen. Unsere Pflichten kennen wir alle, die wir Zeitgenossen einer erfahrenen Generation sind, aber wir besitzen die Muße nicht oder wollen sie uns nicht nehmen, die Umsetzung in die Tat dieser Pflichten tiefer ins Auge zu fassen, wir sind entsetzt über das einfache Walten der Aufrichtigkeit und bleiben An-
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hänger des Ersatzes von Taten, der wohlfeilen Ausgleiche. Wir können als Beispiel anführen, daß die grauenhafte Armut der Bevölkerung und das Mietgesetz nebeneinander laufen mit der Vertreibung der Mieter aus den Häusern, die der Straßenregulierung zum Opfer fallen. Erfüllt von tollwütigem Schönheitssinn, vergißt das Bürgermeisteramt der Baulinie zuliebe Vororte, die im Sumpf begraben liegen, reißt, als wollte es mit den großen Erdbeben im Balkan in Wettstreit treten, die Häuser von Bukarest nieder, wirft zahlreiche Familien auf die Straße und läßt sie obdachlos. Die höckerigste Baulinie, die gegenüber dem Suáu-Hochhaus, die täglich das Auge des bürgermeisterlichen Künstlers verletzt, wird von diesem Auge dennoch übersehen, und dies aus zwei Gründen: erstens weil die Regulierung dieser Linie nicht bloß irgendwelche ästhetische Skrupeln befriedigen, sondern vielmehr einem unbedingten Bedürfnis des Verkehrs entsprechen würde, und zweitens weil dieser höckerige Straßenvorsprung von einem Gebäude besetzt ist, das einem »Großen Bürger Von Hohem Ansehen« gehört. Den armen Kindern ist es gestattet, auf dem Bürgersteig zu erfrieren, doch der Pelz und der Spazierstock »Eines Wichtigen Würdenträgers« darf nicht der Kälte ausgesetzt werden. Ein bezeichnendes Ereignis, mit dem sich seit einigen Tagen die Presse ausführlich beschäftigt, ist die feierliche Eröffnung eines großen Banklokals just im Augenblick einer beispiellosen Krise und inmitten eines Friedhofs von wirtschaftlichen Zusammenbrü94
chen. Zehntausende von Arbeitern sind ohne Arbeitsplatz, und Angestellte, die aus Handel und Industrie entlassen wurden, konnten die Berichte der Zeitungen über die Schönheiten dieses Banklokals lesen, die in einer lobhudelnden Sprache voller intellektueller, an Herausforderung grenzender Hysterie geschildert wurden. Vom Kellergeschoß bis zum Giebel wurden die kostbarsten Baumaterialien verwendet. Marmor, Erz und Kristall, die in den Zeiten des siegreichen Glaubens in den Kathedralen Verwendung fanden, besingen jetzt im gleißnerischen Glänze den Sieg des entwerteten Leus, der auf den Wänden dieser Bank die Augen weit aufreißt, und die Anleihe mit dem vierzigprozentigen Zinsendienst. Voller ausgetüfteltem Feinsinn wurden die uralten Rezepte zur Herstellung des Zementes hervorgeholt, damit der Verputz an Ägypten gemahne, Analogien mit dem Parthenon aufweise und Erinnerungen an den Vatikan wachrufe. Und was das Blut der Sklaven anlangt, welche auf ihren Rücken die Steinblöcke der Pyramiden trugen, glauben wir, daß die Bank keinen zu großen prozentuellen Mangel litt, und wahrscheinlich wurde sogar das Wasser, das man zum Löschen des Kalkes verwendete, in Flaschen vom Euphrat importiert oder vielleicht dienten dazu die Tränen der Witwen aus den Reihen der Kundschaft der Bank. Die Decken, so berichten uns die Zeitungen, wurden aus Italien gebracht und von alten Gebäuden aus der Renaissance abgehoben. Das Bildnis des Gründers dieser Bank dürfte angesichts der fabelhaften Ausmaße der tiefsinnigen Geistestätigkeit, die 95
beim Bau dieses Lokals eingesetzt wurde, auf nichts anderem gemalt worden sein als auf dem Tuch, mit dem sich Christus den blutigen Schweiß abwischte, als er den Kalvarienberg hinaufstieg, und der Rahmen dieses Bildnisses muß aus dem Holz des heiligen Kreuzes gehobelt und geschnitzt worden sein. Diese bedauerliche Greueltat hat sich in Bukarest ereignet. Wir wollen nicht behaupten, daß wir nicht Sinn für Stil haben, schätzen es, selbst wenn er in einfachen Handelsdokumenten angewandt wird, aber der gesunde Menschenverstand muß uns verhindern, den Überfluß in Laster zu verwandeln, am hellen Tag dem Laster zu fröhnen und so die Sitten des Volkes zu untergraben, wenn die unermeßliche Arbeit der Fibel, des Ackerbaus, des Soldatenhandwerks und des Geistes es für die Freuden abstrakten Glücks heranzuziehen bestrebt ist. Die feierliche Einweihung einer solchen Geldwechslerstube in einer solchen Zeit fordert die Geduld heraus, schlägt ihr ins Gesicht und verhöhnt das Opfer. Es ist ein Gelage mit Zigeunermusik, unter Darbringung verwesender Trankopfer in einer Gruft gefeiert.
(1928)
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Eine politische Zeitschrift
Dem Politiker liegt das Wohl seines Landes gewiß am Herzen, nichts ist ihm jedoch heiliger als seine eigenen Interessen. Viele Politiker hegten, solang sie in der Opposition waren, die Hoffnung auf ein Ministerium, sie waren überzeugt, daß ihr unersetzlicher Wert ausschließlich in dieser Form in Erscheinung treten könnte. Sonst hätten sie nie die reinen Grundsätze einer bestimmten Partei als die ihrigen angesehen, sondern hätten es vorgezogen, eine Ehe mit den jungfräulichen Grundsätzen einer anderen Partei einzugehen. Die Politik gleicht der Ehe, sie wird in Gedanken geschlossen, und eine Mitgift ist die Voraussetzung; wenn der Schwiegervater nicht Wort hält und aus Furcht, du könntest das Vermögen beim Kartenspiel durchbringen, Ausflüchte gebraucht und dir nicht das versprochene Geld in die Hand drückt, so läßt du dich scheiden und heiratest von neuem. Der Politiker kann ebenso wie der Wähler immer von neuem heiraten, er kann von der Blonden zur Braunen flattern und von der Mageren zur Dicken. Wozu hat der Minister übrigens auch ein Portefeuille? Damit es leer bleibt, wenn seine Partei zur Regierung gelangt? Zuerst kauft man die Aktentasche, dann feuert man in sie das Ernennungsdekret, das man sich doch nicht in das Futter des Hutes steckt. Ein Politiker muß es sich schon gefallen lassen, von
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seinen Parteivorsitzenden zwei-, dreimal an der Nase herumgeführt zu werden. Irgend jemand muß schließlich genasführt werden, denn es gibt eben nicht so viele Ministerien als Anwärter auf Ministerposten. Damit sie nicht ganz um ihre Hoffnungen betrogen werden, ernennt man einige zu Unterstaatssekretären, für andere aber ersinnt man Provinzen und Verwaltungsbezirke, man bietet ihnen Ministerstellen ohne Portefeuille an, was soviel bedeutet, als einem Mann ohne Geld und Taschen einen großen, leeren Beutel schenken. Es ist ein Titel ohne Mittel, eine Grafschaft, die es nur auf dem Papier gibt, ohne Boden, ohne Getreide, ohne Viehstücke; an Bedeutung und an Ansehen entspricht diese Stelle dem Titel, den vor Zeiten der Erzbischof der Ungro-Walachei trug. Stellvertreter einer Abstraktion mit dem Namen Capadochia und Nutznießer der theoretischen Exherrschaft über das Hochgebirge. Würde ein mit der Regierungsbildung betrauter Parteiführer es sich angelegen sein lassen, alle Minister der Partei zu wirklichen Ministern zu machen, so müßte er für jeden Bezirk einen Minister ernennen, und wenn die Bezirke nicht ausreichen sollten, so müßten alle Gemeinden von mindestens achthundert Seelen je einen Ressortminister erhalten; der Parteiführer kann aber nicht alle seine Anhänger zu Ministern ernennen, er verweigert ihnen alle rechtmäßigen priesterlichen Titel und will sie nicht einmal zu Ministern für die kalten Quellen, die Tannen von fünfundachtzig Zentimetern Durchmesser aufwärts, die Reiher des Deltas und die Sonnenblumen ernen98
nen. Da empören sich die Anwärter auf Ministerposten und setzen, wie es in der politischen Sprache heißt, die Regierung unter Druck. Je nach Temperament, Erziehung und Einkünften, lassen sie in Kaffeehäusern Beleidigungen gegen die Regierung laut werden, treten mit großem Radau von ihren Würden zurück oder geben eine Zeitung heraus. Und das Erscheinen der Zeitung wird mit roten Buchstaben auf weißen Plakaten angekündigt. Eine ungewohnte Bewegung geht im Haus des Ministers ohne Ministerium vor sich. Die sonst hier nicht vorhandene Gattung der Zeitungsschreiber tritt jäh in Erscheinung, erhält Telefonanrufe und wird zu Tisch geladen. Ein Direktor, ein Hauptschriftleiter und der gesamte Stab der Schriftleitung wird ernannt. Für die Verwaltung des Blattes hat der Politiker einen »außergewöhnlichen Jungen« bereit. »Am Anfang müssen wir Sparmaßnahmen treffen, späterhin werden wir ein größeres Personal anstellen: wir haben ein Ideal, wir opfern uns. Das Land leidet, das Volk wird unterdrückt, die Verfassung mit Füßen getreten. Wird eine Million ausreichen? Sie, mein Herr, führen eine elegante Feder, Sie werden nach meinen Anweisungen über außenpolitische Fragen schreiben: mir gefällt, zum Beispiel, nicht, wie Frankreich mit Italien umspringt. Sie, mein Herr, werden ferner über Fragen der Innenpolitik schreiben; selbstverständlich werden Sie täglich meinen Rat einholen. Wurden alle Maßnahmen getroffen? Gut. Kommen Sie, bitte, nach sieben Tagen zu mir. Das Blatt erscheint am zehnten des Monates.« 99
In diesen für den Staat, der imstande war, Persönlichkeiten von so hohem Wert zurückzuweisen, ungemein schweren Augenblicken erhält der Politiker nicht genau jenes Amt, das er wollte: aber ungefähr halb so viel als er erstrebt hatte. »Ich bin wegen der Zeitung gekommen, Herr Minister.« »Ich begreife nicht, was für eine Zeitung?« »Die Zeitung, die Sie so dringend herausbringen wollten.« Der Politiker begreift zunächst nicht, worum es sich handelt, dann aber dämmert ihm allmählich die Erinnerung auf, und er verabschiedet den Zeitungsschreiber mit einem kräftigen Händedruck. »Warten wir noch, mein Lieber, einige Tage. Ich beabsichtige in der Tat, eine große Kulturzeitschrift herauszugeben. Bedenken Sie aber, daß unsere geliebten Dorfbewohner noch nicht das Lesen erlernt haben … Kommen Sie unbedingt am Donnerstag. Sie sind doch pünktlich? Lassen Sie mich nicht warten! Auf Wiedersehen!«
(1928)
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Prinzenbriefe
Liebe Tatiana, ich bin von der Lektüre Deines Berichtes aufs tiefste erschüttert. Der Kaiser ist also verschwunden, und in Verbannung oder verschwunden sind die Prinzen, die Prinzessinnen, die Großfürsten, die Fürsten, die Grafen, die Marquis, die Barone – lauter für ein ordnungsgemäßes Leben unerläßliche Organe. Welch unglückliches Volk! Und alle Formeln des Herrschens und des Regierens sind usurpiert worden. Wer durfte es in der Vergangenheit wagen, ohne kaiserliche Zustimmung Verhaftungen und Pfändungen vorzunehmen, Anklagen zu erheben, Strafen zu verhängen und zu vollziehen; Blutbäder, Deportierungen gehörten zu den kaiserlichen Vorrechten, und nicht jedem ungewaschenen Lümmel stand es frei, zu henken oder zu erschießen. Solches wurde unter Einhaltung genauer Regeln vollzogen, auf Grund eines heiligen Befehls, der von oben, von sehr hoch oben, vom Palast, kam. Ich beklage es, liebe Tatiana, daß Deine Güter, Bergwerke, Herden und Gestüte den Banditen in die Hände gefallen sind, die das Reich von unterst zu oberst gekehrt und es den Habenichtsen aufgeteilt haben. Du kannst von Glück reden, daß Du mit einem Sack voller Brillanten und Schmuck entkommen bist. Ich erfahre, daß andere Persönlichkeiten des Reiches die Grenze nur mit dem, was sie gerade
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anhatten, überschreiten konnten, und daß sie jetzt – stelle Dir die Niedertracht vor – gezwungen sind zu arbeiten, in den Restaurants Teller zu waschen. Es will mir nicht in den Sinn, daß die Hand, die auf Gold und Diademen geruht und von den Metallen und den Edelsteinen ihren Mondglanz empfangen hat wie die Stirnen der Heiligen in Kontakt mit den Lichtkronen des Himmels, Waschlappen und Teller anfassen soll. Würden sie wenigstens unsereins bedienen! Reichten sie einem Prinzen das Tablett oder dem Kaiser die Tasse, so könnte ich das noch hinnehmen. Aber Großherzogin Olga, sagte man mir, versieht die Dienste eines Bierjungen in einem allgemein zugänglichen Wirtshaus und wird von kleinen Bankangestellten, welche die Kundschaft bilden, beim Vornamen, einfach »Olgachen«, gerufen. Ich danke Dir für die Absicht, mich in meinem Land zu besuchen, das in keiner Weise dem Euren gleicht, die Ihr ohne Mission, ohne Thron und ohne Szepter geblieben seid. Sollten Dir Land und Leute gefallen, so können wir für Dich eine Stelle als Herzogin in Reserve scharfen und Dir einen Rahmen bieten, ohne den wir dahinwelken. Spanne Deine Erwartungen nicht zu hoch, alles, was wir Dir aus dem Budget des Staates bieten können, ist bescheiden, aber immerhin sicher: ein Schloß, einen Wald als Jagdrevier, einen See zum Fischen, fünf Kraftwagen und zehn Millionen jährlich. Ich anerkenne wohl, es ist wenig, für den Augenblick aber müßte es reichen. Bis zur Wiederherstellung des Reiches und der Wiedereinsetzung der Verbannten in ihre Rechte müssen 102
wir mit kleinen Portionen vorliebnehmen. Bist Du dann wieder in den Besitz der Macht gelangt, so bleibt es abzuwarten, ob Du in fünf oder in zwanzig Jahren unser Land mit Krieg überziehst. Welch himmelweiter Unterschied! Die Völker ebenso wie die Menschen gleichen einander nicht, sie sind so widersprechend. Unser Land ist die reine Goldgrube, das kann ich Dir versichern! (Ich weiß nicht mehr wie Goldgrube auf englisch heißt.) Wir haben nicht genügend Nachwuchs und nicht genug Verwandte, denn hier könnten Tausende von Prinzen und Adeligen leben, ohne daß es fühlbar würde. Es ist das Land der Sommerfrische für alle Ex-Könige. Alle Adelsfamilien mit den berühmtesten Wappenschildern Europas hätten, wenn sie nur wollten, in unserem vorzüglichen Land und Budget Platz. Die gesamte autochthone gute Gesellschaft bemüht sich, uns, Freude zu bereiten und unseren Wünschen zuvorzukommen. Ich spreche von der guten Gesellschaft, doch, weißt Du – im Vertrauen gesagt – ist ihre gute Gesellschaft samt und sonders niederer Herkunft: vom Lande oder so halb und halb vom Lande. Es genügt, daß wir ihnen auf französisch »merci« sagen, und schon fühlen sie sich geschmeichelt und geben auch ihr letztes Hemd vom Leibe. Hat man Getreide im Überfluß, so verschenkt man es mit vollen Händen. Mehrmals wurde unsere Zivilliste verdoppelt und verdreifacht, ohne unser Zutun, einfach aus Ergebenheit, aus Pflichtgefühl – und niemand ist dagegen aufgetreten. Es ist ein Land, in dem die Abgeordneten soviel als möglich bei allen Unternehmungen der Wähler zu 103
verdienen trachten, da kommt es auf ein paar hundert Millionen nicht an, die für die Hebung des prinzlichen Ansehens bestimmt sind und die für Reisen und andere Kosten draufgehen. Es herrscht eine besondere Art von Überfluß. Die Staatsmänner haben nie mit dem Notwendigen geknausert und uns freudigen Herzens jeden Luxus gewährt. Ist von Sparmaßnahmen die Rede – ein tristes Wort, das in Umlauf gekommen ist – so wissen sie schon, in welcher Weise diese zu treffen sind, und damit sie oben die Bedürfnisse decken, runden sie diese unten ab. Was das Volk anlangt, will ich Dir sagen, daß es von einer Gutmütigkeit ist, die häufig bis zur Selbstlosigkeit geht und manchmal fast störend wirkt. Das Volk mengt sich in nichts ein, und je brennender sein Interesse sein müßte, um so größer ist seine Gleichgültigkeit. Kein Geheul, kein Geschrei, keine aufrührerischen Haufen, keine Drohungen. Nichts. Unser Festzug jagt im Rattern der Motore dahin und führt uns von einem unserer zahlreichen Paläste zum andern, vom Meer ins Gebirge, von den Bergen zu anderen Bergen und in die Ebene, überall erwartet uns ein vollzähliger Stab von Dienstpersonal, und niemand sieht uns, niemand hört uns, niemandem fallen wir zur Last: es ist ein Volk von einer manchmal übertriebenen Diskretion. Auf Entfernungen von Hunderten von Kilometern wird kein Hut gelüftet. Bloß die Bauern – ganz interessante Typen; wenn du kommst, wirst Du sie sehen – schrecken zusammen, wenn unsere Limousinen mit äußerster Geschwindigkeit an ihren Ochsen vorbeiflitzen, und hüpfen zur 104
Seite wie Heuschrecken. Sie nehmen die Mütze ab, spucken auf den Boden, kratzen sich den Kopf und sagen: »Hol euch der Teufel!« Auf Wiedersehen und schreibe mir, wann wir Dich erwarten sollen.
(1928)
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Ein ärztlicher Strauchdieb
Ein Freund Cocòs ist mit dem Titel eines Doktors der Chemie in die Heimat zurückgekehrt. Während er seiner Laboratoriumsarbeit nachging, ließ sich der junge Student zugleich von der Natur selbst über die Folgerichtigkeit und Einfachheit ihrer Mittel belehren und stellte, gewissenhaft und redlich, wie er nun einmal war, seine Apparate und Phiolen in den Hilfsdienst der reinen medizinischen Wissenschaften. Irgendwo, unter einer beliebigen Wohnadresse und Fernsprechnummer, brachte der junge Gelehrte seine aus Kristall und Nickel gefertigten Präzisionskleinodien unter Dach und Fach und gab, um einem elementaren Bedürfnis nachzukommen, der Öffentlichkeit in einer offenherzigen und angemessen abgefaßten Zeitungsannonce bekannt, unter der angeführten Anschrift habe sich ein neuer Fachmann niedergelassen, der sich die Überprüfung und Analyse des Blutes und der Sekretion unseres mit Vernunft ausgestatteten Körpers angelegen sein ließe. Doch stellten sich keine, oder doch zumindest nur sehr wenige Patienten ein. Der Chemiker aber mußte leben. Ein Kollege riet ihm, den Herren Ärzten seine Aufwartung zu machen, und zwar sonderlich jenen, die über eine große Klientel verfügten, aufgeblasen wie Zigeunermusikanten waren, Patienten nur mit Voranmeldung empfingen und an der Tür den An-
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schlag: »Eine Visite – tausend Lei« angebracht hatten. Den Kranken sind aus den mannigfaltigsten Arten ihrer Abfassung, die es mitunter nicht nur an Takt, sondern auch an der Kenntnis der elementarsten grammatikalischen Regeln fehlen lassen, die Empfehlungsschreiben zur Einführung bei einer Reihe angesehener Ärzte, großer Spezialisten, bekannt. Sie sind kostspielig wie Frauen, die ihre Reize feilbieten, sind nur bei Nennung einer runden Summe zu haben, und lassen sich im voraus bezahlen. Der Schacher der Doktortitel tragenden Huren männlichen Geschlechts läßt lediglich die Einrichtung der unter dem Namen Bordellmutter bekannten Gönnerschaft vermissen, die bei manchen Wundertätern mit Staatsmonopol die Form eines Sekretariats angenommen hat. Streicheln der Prostata: 100 Lei. Das Ohr an die Brust legen: 1000 Lei. Doch dies sind banale Behandlungen. Die Preisleiter steigt ganz wie beim Leichenbestatter und Erzpriester, die ihre Vitamine, gleich den großen Ärzten, den Zutaten des Totenkuchens entnehmen. Ein Tod unter der Chloroformmaske: 100000 Lei. Der junge Chemiker überschritt die Schwelle eines solchen Sachwalters des öffentlichen Gesundheitswesens. Die Sekretärin fragte ihn, woran er leide, und machte ihn darauf aufmerksam, daß es heute erst Dienstag sei, der zwischen Irrigatoren und Instrumenten waltende Ölgötze ihn jedoch nicht vor Sonnabend empfangen könnte; er müsse warten, bis die Reihe an ihn kommen würde. Der Chemiker gab zur Antwort, daß er an Patientenmangel leide, und bat 107
sie, dem Abgott dort drinnen hinter dem Vorhang auszurichten, daß er gekommen sei, ihn um seinen Beistand anzugehen. Die geheimnisvolle glatzköpfige Puppe im »Sprechzimmer« kniff ein Auge zu und verlangte, daß dem Chemiker Einlaß gewährt werde. Der Chemiker trat ein. Das Interieur war mit jenen unzähligen völlig zwecklosen Instrumenten ausgestattet, welche die erfindungsreiche Industrie den Artisten in »Hippokrates'« Zirkus täglich zur Verfügung stellt. Flöten aus glänzendem Metall mit je sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei Löchern oder auch nur einem Loch, in mit Glastüren versehenen Schränken aus Metall hübsch aneinander gereiht, um dem Auge des Patienten als Blickfang zu dienen. Pickelflöten aus Glas, Entenschnäbel, gezahnte Scheren, stumme Orchester gewundener Röhren, Gestelle mit bauchigen Flaschen darauf, Lampen, Pfannen, Büchsen, Stühle, Wasserhähne – alles im Lichte strahlend. Ein beabsichtigter Terror beherrschte diese Gesundheitsfabrik des Arztes, in die dennoch durch die Düfte von Jod, Karbol und Äther hindurch ein höchst unwissenschaftlicher Geruch von Krautwickeln aus der Küche drang. Der Chemiker konnte sich angesichts dieses Strauchdiebarrangements nicht eines Lächelns erwehren und schätzte die Ziffer der vielen hunderttausend Lei ab, die sich wie permanganathaltiges Wasser im Halbschatten der vom Glasermeister erhandelten Berufswürde dauernd erneuern. Die Unterredung mit dem Eigentümer dieses Flaschenlagers stand auf höchst mittelmäßigem Niveau, da sich die große Persönlich108
keit auf geistigem Gebiete als aufgeblasen und dämlich erwies. »Sie wollen Patienten?« sagte der Arzt. »Ich schicke Ihnen, so viele Sie nur wünschen. Unter einer einzigen Bedingung: Die Reaktion muß positiv sein.« Der Gauner enthüllte sein wahres Gesicht. Er verlangte, mit anderen Worten, vom Chemiker nicht mehr und nicht weniger, als daß sämtliche von ihm vorgenommenen Blutanalysen der eingebildeten Kranken eindeutig auf Syphilis hinweisen. Wurden sie handelseinig, so hatte der Chemiker nun seinerseits auf die Laboratoriumstür ein Schildchen: »Die Analyse – zweitausend Lei« zu hängen und konnte getrost einer einträglichen Karriere entgegensehen. Der Chemiker war einfach starr! Da er seinen Revolver nicht zu sich gesteckt hatte – das einzige Werkzeug, das diesem Rohling von Arzt gegenüber durchaus angemessen gewesen wäre – begnügte er sich, die Tiire schallend zuzuschlagen und das Haus des großen Heilkünstlers zu verlassen. Während er Cocò seine Fühlungnahme mit einem patentierten Strauchdieb erzählt, fragt sich der Chemiker mit vollem Recht, welches Vertrauen die Leute einem Laboratorium für Analysen entgegenbringen können, das von einem Chemiker geleitet wird, der sich noch keinen Namen erworben hat, und er erwägt, wie viele tausende Zwischenstufen von gesund zu krank von Ärzten vom Schlage des von ihm aufgesuchten im Durchschnitt ausgebeutet werden. Der Arzt, an den sich der mit Cocò befreundete 109
Chemiker gewendet hatte, behandelt all seine Kranken auf Syphilis, indem er ihnen zu verschiedenen theoretischen Stärken in die Venen und Muskeln destilliertes Wasser einspritzt.
(1928)
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Maria Nichifor
Von ihren Herrschaften des Diebstahls bezichtigt, betrat die Oltenierin Maria Nichifor, mit dem kühnen Stolz einer Dame, in schwangerem Zustande das Zuchthaus. Ohne daß Beweise vorlagen, und nur weil ihre natürliche Verschwiegenheit, die Verschwiegenheit eines siebenfach versperrten Schlosses, als Verdachtsmoment gewertet wurde, sah sich Maria unvermutet in »der Frauenabteilung« wie ein Fohlen inmitten einer Herde von kotbespritzten Büffelkühen. Mit geballter Faust, als wollte sie zu einem Schlage ausholen, wich sie beim Eintreten einen Schritt zurück. Sachte stieß der Wärter sie in den Gefängnishof der Frauen, sie aber zögerte einzutreten, stand dicht an den Lattenzaun gelehnt wie auf dem engen Ufer eines Sumpfes, auf dem der Schritt behutsam gesetzt werden muß. »Na, komm nur näher, du Scheinheilige!« forderten sie die Zuchthäuslerinnen auf. »Wenn du dich nicht geschämt hast zu stehlen, hier ist die Schande überflüssig. Da, hau dich nieder und laß mal hören, wie du das Ding gedreht hast …« Vom Gestüt der Frauen, die beim Bohnenputzen im Hofe angereiht dasaßen, und deren abstoßendes Äußere alle Abstufungen von zwitterhafter Farblosigkeit bis zur ausgesprochenen Vertiertheit aufwies, in die Enge getrieben, reichte Maria ihr Bündel der
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Wärterin. In dem Bund hatte sie ihre Gorjer Tracht mit dem flachsseidenen Schleier zusammengepackt, der ihr am Sonntag das Aussehen einer aus dem Reiche der Rehe und Eber in den Ausgangstag der Mägde von Bukarest herabgestiegenen Kaiserin verlieh. Und sie schickte sich an, die Bohnen von den Schoten zu lösen, als ließe sie die Perlen eines Rosenkranzes durch ihre Finger gleiten. So wurden denn alle Bohnen aus den Hülsen geschält, bis ihre Zeit um war und das Kraut an die Reihe kam, die Tomaten, das Einsäuern der Gurken; sooft für den Winter Gemüse geputzt oder eingelegt werden mußte, ging Maria herzhaft an die Arbeit. »Hast du geklaut oder nicht, Maria?« fragte ab und zu die eine oder die andere. »Deine Dienstgeber haben sich beklagt, du hättest ihnen irgendwelche Kleider gestibitzt.« »Kleidungsstücke, ich? Mögen sie zu Staub zerfallen!« fluchte Maria und bekreuzigte sich. Und so verstrich der ganze Herbst. Und so verstrich der ganze Winter. Im Frühling des folgenden Jahres brachte Maria ein Kind zur Welt, und es war das erste Kind, das im Kerker geboren wurde. Die Mutter befand sich seit sieben Monaten in Untersuchungshaft und war zu keiner einzigen Verhandlung vorgeladen worden. Die Kunde, daß ein Menschensohn im Kerker das Licht des Tages erblickt hatte, versetzte die Seelen der achthundert Diebe, dieser Gefangenen der Gerechtigkeit, in eine noch nie gefühlte Erschütterung. Es gab unter ihnen gefürchtete, an Händen und Füßen gefesselte Räuber, die 112
ihre eiserne Last seit vielen Jahren in wiegendem Schritt einherschleppten und sich Prometheus gleich vom Salzfels erhoben hatten. Berüchtigte Einbrecher, Mörder, Taschendiebe, Gauner, Falschmünzer und Hühnerdiebe, in Sträflingskleidung mit Käppi und gestreiftem Kittel, sie alle fühlten, als dieses schuldlose Kind auf so seltsame Weise mitten unter ihnen zur Welt gekommen war, wie es ihnen warm ums Herz wurde; sie sahen in diesem Wesen einen hilfreichen Boten Gottes, der mit seinem Lächeln ihren finstern Grimm zu mildern ausgesandt war. Die Taufe wurde feierlich in der Klosterkirche des Gefängnisses vorgenommen, und die vollzählig versammelten Diebe beteten die Litanei mit und sangen mit samtenen Stimmen den Lobgesang »Heiliger Gott und Heilige Mutter Gottes erbarme Dich unser«. Lediglich der Vorstadtpfarrer war ein freier Bürger, er war aus der Stadt in die Kirche gekommen; alle übrigen: die Chorsänger, die Küster, die Vorbeter, die Kirchensänger und das Publikum waren zu Strafen von einem Jahr Gefängnis bis zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, alle Bestimmungen des Strafgesetzes hatten auf sie Anwendung gefunden. Das Kind wurde mit zahlreichen Gaben beschenkt. Es erhielt im Zuchthaus geschnitzte Holzlöffel, Eierbecher mit eingebrannten Verzierungen, Rosenkränze aus blondem Frauenhaar und Perlen aus Brotkrumen, mit der durch die Rinnen herabgetropften Farbe der Dächer bemalt. Der Zigeunermusikant Miticã schenkte ihm eine wohlklingende Geige, die er 113
zu Ehren des Neugeborenen gebaut hatte. Mãrãcineanu schenkte ihm eine Zigarettenspitze und einen Leuchter, und ein Falschmünzer verehrte ihm als Amulett ein echtes Silberstück, an dem eine glückbringende Quaste befestigt war. Infolge der Zweifel, die die Verwaltung bezüglich ihrer Schuld hegte, wurden Maria Nichifor gewisse Rechte eingeräumt, und um die Osterzeit durfte sie wie eine Madonna, den Säugling an der Brust, im Gefängnishof umherwandeln. Eine sorgenvolle Ehrfurcht vor ihrer Mutterschaft weckte die Aufmerksamkeit der Behörde, und die Diebe überkam eine Scheu, die ihnen ihr Instinkt eingab, sooft Maria auf der Rasenfläche erschien. Eineinhalb Jahre vergingen, und ein ganzes Leben hätte verstreichen können, hätte nicht die Gefängnisdirektion auf langen Amtswegen den Archivaren ins Gedächtnis zu rufen versucht, daß sich im Zuchthaus eine nicht abgeurteilte Frau und ein Kind ohne Haftbefehl befänden. Diesmal wurde Maria Nichifor eiligst vorgeladen, ihr Fall wurde verhandelt, und da aus den Akten nichts hervorging, wurde sie zu fünfzehn Tagen Gefängnis verurteilt. Es war in der Tat schwierig, eine Frau, die des Diebstahls verdächtigt worden war, einfach auf freien Fuß zu setzen. Und nach ihrer Verurteilung stellte es sich heraus, daß ihre Dienstgeber die abhandengekommenen Kleidungsstücke längst in einem Schrank gefunden, in den sie sie an einem Tanzabend aus Zerstreutheit gesteckt hatten. Maria vernahm den Urteilsspruch, die Augen auf 114
ihre Brust geheftet, an der ein gut entwickelter pausbäckiger Junge mit tiefblauem Blick voller Genuß und schnalzend saugte; sie war froh, nach vierzehn Tagen ihr Kind der Liebe aus den Gefängnisgewölben mit den schweren Schlössern hinaustragen zu können. Am fünfzehnten Tage nahm sie Abschied von den Diebinnen und Dieben, stützte den Kopf des Kindes gegen ihre Schulter, die ein seidenbesticktes Hemd bedeckte, nahm ihr Bündel mit dem zarten Schleier in Empfang und begab sich zur Kanzlei. »Frau, dein Haftentlassungsbefehl ist noch nicht herabgelangt!« sagte ihr der Beamte. »Warte ein wenig, er muß gleich kommen.« Maria wartete noch eine Stunde, sie blieb auch noch über Mittag. »Ist jenes … wie nannten Sie es bloß, noch immer nicht da?« »Nein, es ist noch nicht gekommen.« Und so blieb Maria bis zum Abendbrot, sie blieb noch einen Tag und blieb weitere zwölf Tage, bis das Kind, das inzwischen erkrankt war, starb. Am dreizehnten Tag verließ der Säugling allein die Anstalt; im Totenwagen, von einem Pferd gezogen, wurde er auf den Friedhof gebracht, und Maria blieb mit ihrem Bündel und den Geschenken des Kindes im finstern Kerker zurück. Am vierzehnten Tag traf endlich auch der Entlassungsbefehl ein. Wieder war sie vergessen worden. Am großen Gefängnistor angelangt, zögerte Maria Nichifor fortzugehen, bleich und unfähig, einen Schritt zu tun. Vor den Gefängnismauern blieb sie stehen: über den Türmen, in denen die Posten Wache hielten, erhoben sich die Kirch115
türme und noch höher oben ragte der große Turm des weißen Herbsthimmels empor. Jenseits der Straße sah man in einiger Entfernung den Friedhof. Rechts führte der Weg zur Stadt hinab … Zur Hauptstadt. (1930)
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Die Stufenleiter der Abgaben
Der Generaldirektor heimst von allen Direktoren und Buchhaltern der einzelnen Gefängnisse ein. Die Direktoren und die Buchhalter heimsen von den Lieferanten ein. Die Direktoren heimsen auch noch vom Ersten Gefängniswärter und vom Pförtner ein, der für seine Stelle ebenso wie der »Erste« blechen muß. Der »Erste« hebt Zehnte ein von den zwanzig Prozenten, die den jeweiligen Wärtern bei den Dieben von den Gewinnen beim Karten- und Würfelspiel zukommen. Der »Erste« hebt überdies noch von einem Dieb, der fachkundige Arrestanten ausbeutet, einen Pachtschilling ein für die Erteilung des Alleinrechtes für Schuhreparatur, Schuhputzen und Rasieren. Hauptkonzessionär ist der Häftling Anghel, Chiranas Sohn. Der »Erste« heimst auch noch fünfundzwanzig Bani von den Aufsehern ein, die von unerfahrenen Dieben eine Schlafgebühr von fünfzig Bani pro Bettstelle einheben; dies ist vornehmlich ein Winterunternehmen. Betrügerischerweise werden den Häftlingen auch beim Verkauf des im Gefängnis hergestellten Brotes vier, fünf und sechs Lei abgeknöpft. Ein Beamter der Einkaufsstelle ist Geschäftsteilhaber des Häftlings Botez, eines Urkundenfälschers, der im Gefängnis eine Advokaturskanzlei führt. Botez setzt die Gesuche auf, zwei Lei und fünfzig Bani das Stück, und vermehrt seinen Gewinn, indem er jedes Gesuch
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in drei bis vier Exemplaren anfertigt, die angeblich in der Kanzlei überreicht werden müssen. Jedes Gesuch, das vor den Beamten der Einlaufstelle gelangt und das vom Häftling selbst geschrieben ist, wird als »schlecht« abgewiesen; der Häftling wird zu Botez geschickt. Der Urkundenfälscher Botez ist auch ein Pfandverleiher, er ist der Bankier des Gefängnisses. Der Zinsfuß beträgt zwei Lei von zwanzig für eine Woche. Botez verkauft auch Postkarten, Stempel und Briefumschläge. Der Pförtner vom zweiten Eingangstor verkauft Papier und »Gesuchsformulare«. Der Wärter Nuáu, der Schwager des Buchhalters, verkauft Tabak und Zigaretten zu erhöhten Preisen. Der Erste Wärter streicht noch von allen »wohlhabenden« Häftlingen ein Monatsgehalt ein, das einer Miete gleichkommt. Sobald neue Häftlinge ankommen, wird ihre Auswahl getroffen. Aber auch die »Wohlhabenden« werden zusammen mit der ganzen Herde zur Entlausung geschickt; Bad, Haarschneiden mit der Maschine, Enthaarung der Achselhöhlen und des Bauches und Desinfektion. Auf dem Weg zur Desinfektion wird der verzweifelte »wohlhabende« Neuling mit dem Wächter handelseinig. Diesen Vorgang nennt man »mit den Ohren wackeln«. Sobald er die »Reinigung« überstanden hat, muß der Neuling für ein Bett mit Matratze und eine entsprechende Umgebung Sorge tragen, sonst ist er genötigt, in der »Quarantäne« zu schlafen, auf Brettern und in Gesellschaft von Taschendieben und Berufseinbrechern, die ihn über 118
Nacht gänzlich ausbeuteln. »Wackelt er mit den Ohren«, so erhält er, was er fordert. Treffen die neuen Arrestanten spät ein – der Weg ist lang und der Staub tief – so fallen sie in die Hände des diensthabenden »Ersten«, der sie einer Leibesdurchsuchung unterzieht. Die Sachen und die Beträge, die sich dabei auf dem Tisch häufen, werden – wie man erzählt – auf halbpart geteilt. Diejenigen, die vorgeben, nichts zu besitzen, die aus Geiz oder aus Schüchternheit mit nichts herausrücken, haben dennoch etwas versteckt. Die werden den wohlinstruierten Aufsehern überantwortet. Für die Stelle eines Aufsehers – die mit der Befreiung von schwerer Arbeit, dem Wohlwollen der Behörde und der Aufsicht über einen Schlafraum verbunden ist, muß geblecht werden. Von Zeit zu Zeit wendet sich der Direktor an einen wohlhabenden Häftling und erleichtert ihn unter dem Vorwand einer Anleihe um einige Tausend Lei. Ein andermal verhilft die Drohung, einen freigebigen Häftling in das Zuchthaus abzuschieben, zum gleichen Ergebnis. Kommen die Drohungen von der Generaldirektion, so werden sie »bestimmte Aufträge« genannt, und außerhalb der Mauern des Gefängnisses, an unbekanntem Ort, erledigt. Genug, daß der bestimmte Auftrag bis zu neuen Entscheidungen »aufgehoben« wird. Der Kantinenwirt verkauft schlechte Ware um das Zehnfache des Preises, der im freien Handel für Ware bester Qualität gefordert wird – und kommt so im Durchschnitt auf tausend Lei im Tag. Der Milchhändler erzielt einen Umsatz von einigen hun119
dert Lei im Tag. Außer der Generaldirektion sind am Verdienst in absteigender Reihenfolge der Direktor, der »Erste« usw. beteiligt. Gegen diese täglichen Lieferanten gibt sich keinerlei Unzufriedenheit kund, keine Beschwerde wird gegen sie erhoben, nie Skandal geschlagen. Der Magazineur schlägt Gewinn aus den Anzügen, den Hemden und den wenigen Gegenständen, die sein Magazin liefern kann. Der Petroleumhändler zahlt für seine Stelle und das Recht, frei im Gefängnis zu zirkulieren; in der Regel ist diese Stelle den Chauffeuren vorbehalten, die Fußgänger umgefahren und getötet haben. Die Diebe ihrerseits fertigen Subskriptionslisten an, ebenso wie die Beamten, bei denen in regelmäßigen Abständen Familienmitglieder das Zeitliche segnen. Die Wärter kassieren das Dreifache des Preises für einen Lampenzylinder, einen Docht, einen Besen, eine Schachtel Schuhwichse, ein Stück Seife, einen Topf Milch, eine Tüte Zucker oder Kaffee ein, und erwarten überdies ein Trinkgeld von mindestens fünf Lei für jeden aus der Stadt gebrachten Gegenstand. Dafür verringern sie die Preise der Waren, die sie den Beamten bringen, und bestreiten häufig die Kosten aus eigener Tasche, wenn die Beamten ans Zahlen vergessen. Das ist das Leben eines Gefängnisses, wo Strafen im Namen der Gerechtigkeit und der Rechtsgrundsätze ausgeteilt werden, um die Gesellschaft vor Übeltätern zu bewahren und um diese zu bessern.
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Mila 7 Eine Graue Eminenz 11 Akademische Betrachtungen 15 Der Hauseigentümer 21 Der weiße Schatten 27 Blut und Gold 34 Der Patriot 37 Trennung 41 Wiederholungen in wechselndem Abspielen 44 Warten Sie nur, ich will es Ihnen erklären … 48 Ein kleiner Wohltäter 53 Der Kabinettchef 58 Der Traum der politischen Mutter Gottes 63 Eine einfache wahre Begebenheit 68 Ein schwieriger Fall 72 Ein ganz besonderes Opfer 80 Einfache Erzählungen 87 Tausendundein schuldbeladener fauler Zauber 93 Eine politische Zeitschrift 97 Prinzenbriefe 101 Ein ärztlicher Strauchdieb 106 Maria Nichifor 111 Die Stufenleiter der Abgaben 117
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