KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
K A R L H E I N Z D O B S...
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KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
K A R L H E I N Z D O B SKY
HEINRICH VON KLEIST
VERLAG
SEBASTIAN
MURNAU-MüNCHEN-
LUX
INNSBRUCK-BASEL
DER
ZERBROCHENE
KRUG
„Fällt der Stein auf den Krug, wehe dem Krug. Fällt der Krug auf den Stein, wehe dem Krug. Immer: wehe dem Krug." TALMUD Das Jahr 1777 ist für das krieggewohnte Europa endlich einmal ein Jahr ohne Schlachtenlärm und Schwertgeklirr. Nur aus der Neuen Welt jenseits des Atlantik kommen verwirrende Nachrichten vom amerikanischen Unabhängigkeitskampf und von einer „Erklärung der Menschenrechte" — was den Kurfürsten von HessenKassel freilich nicht davon abhält, auch weiterhin seine Untertanen an die englische Krone zu verkaufen. Auf Schloß Ermenonville in Frankreich verdämmert das Leben Jean Jacques Rousseaus, der einst sein „Zurück zur Natur" verkündet hatte; und in Salzburg erbittet der einundzwanzigjährige Hofkapellmeister Wolfgang Amadeus Mozart in zierlich verschnörkelten Worten seine Entlassung aus fürsterzbischöflichen Diensten. Auf der Mittelmeerinsel Korsika, die Frankreich erst kürzlich den Genuesen abgekauft hat, plagt sich der Abbate und Schulvorsteher Recco mit seinem ungebärdigsten Zögling, einem achtjährigen Advokatensohn. Der Junge heißt Napoleone Buonaparte — er sträubt sich heftig gegen das Erlernen der französischen Sprache, obwohl er sie später noch gut wird gebrauchen können. Der Großmeister dieser Sprache, Herr Franjois Marie Arouet, der sich Voltaire nennt, genießt den Lebensabend als wohlhabender Landedelmann auf seinem Herrensitz Ferney, flüchtig nur der zerbrochenen Freundschaft gedenkend, die ihn einst mit dem gekrönten Philosophen von Sanssouci verbunden. 2
„Die Alten müssen den Jungen Platz machen, damit jede Generation ihren Platz findet. . .", schreibt Friedrich der Große an die Schwester. Aber noch denkt er gar nicht daran, Platz zu machen seit dem Hubertusburger Frieden steht seine Armee in voller Kriegsstärke in den Garnisonen, und der preußische Ständestaat seufzt unter drückenden Steuerlasten. Während im Oder-, Wartheund Netzegebiet Axt und Pflugschar über neugerodetem Ackerland und neuerrichteten Bauernsiedlungen klirren, schleichen durch Preußens Städte, bespöttelt und verachtet, die königlichen „Kaffeeriecher", um die Bürgerhäuser nach zoll- und steuerpflichtigen Waren zu durchschnüffeln. Teuer erkauft sind Kriegsruhm und Siegeslorbeer — das Volk murrt gegen den Altersstarrsinn seines Großen Königs, der sich immer mehr in eisiger Einsamkeit verschließt. Seine Strenge erbittert die Offiziere und Soldaten, und in der Armee nehmen Selbstmorde und Desertionen überhand, zum Schrecken der Garnisonsstädte. Auch die fünfhundertjährige Oderstadt Frankfurt beherbergt Soldaten — das Regiment des Herzogs Leopold von Braunschweig, eines Neffen König Friedrichs. Im Jahre 1777 erhält das GarnisonKirchenbuch neben vielen anderen Beurkundungen auch folgende Eintragung: „Dem Herrn Joachim Friedrich von Kleist, Capitän des hochfürstlich Leopold von Braunschweigischen Regiments, wurde hierselbst von seiner Ehegattin Juliane Ulrike, geb. von Pannwitz, am 18. Oktober 1777 nachts um 1 Uhr ein Sohn geboren, welcher in der Heiligen Taufe am 27. Oktober die Namen Bernd Heinrich Wilhelm erhalten hat. Taufpaten waren Herr Obrist von Forcade, Herr Major von Kleist, Herr Major von Bonin, Herr Capitän von Manteuffel, Frau Obrist von Egloftstein, Frau Majorin von Burgsdorff, Frau Hauptmann von Kamke, Gräfin von Schmettau und Fräulein von Bork." Vierunddreißig Jahre später trägt ein gewissenhafter Beamter mit sauber gestochener Kurrentschrift ins Kirchenbuch von Stahnsdorf bei Berlin ein: „Am 21. November 1811 erschoß in der Klein-Machnower Heide, nahe an der Berliner Chaussee, Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist die Ehefrau des Generalrendanten der Kurmärkischen Feuersozietät und Landschaftsbuchhalters Herrn Friedrich Ludwig Vogel, Adolphine Sophie Henriette, geb. Keber, einunddreißig Jahre alt, und dann sich selbst in seinem vierunddreißigsten Jahr. Beide sind auf der Stelle, wo der Mord und Selbstmord geschah, in zwei Särge und in ein Grab gelegt worden." 3
Die Kleists sind ein altes Geschlecht, pommerscher Uradel, vermutlich slawischen Ursprungs. Mit den Bonin, den Manteuffel, den Burgsdorff und Schmettau gehören sie zu den großen preußischen Soldatenfamilien; als Feldmarschälle, Generale und Obristen glänzen sie in den Ranglisten vom Kurfürstlich Brandenburgischen Heer über königliche und kaiserliche Armeen bis zur Bundeswehr unserer Tage. Bemerkenswert sind auch die Beziehungen zu Physik und Mathematik — ein Georg von Kleist, der um 1748 als Dechant des Klosterkapitels von Cammin in Pommern gestorben ist, erfand gleichzeitig mit Cunäus und Musschenbroek die sogenannte „Leidener Flasche". Und „unter den Linden" von Frankfurt an der Oder errichteten Freimaurer im achtzehnten Jahrhundert ein Denkmal für den ersten Dichter, den das Geschlecht hervorgebracht: für Ewald Christian von Kleist, den Freund Lessings, der ihm in der Gestalt des Majors von Teilheim in „Minna von Barnhelm" ein noch unvergänglicheres Denkmal gesetzt hat. Dieser Kleist, Verfasser antikisierender Romane, arkadischer Naturschilderungen und zartlyrischer Gedichte, diente dem Großen König als Bataillonskommandeur und empfing in der unglücklichen Schlacht bei Kunersdorf am 12. August 1759 die Todes wunde, der er zwölf Tage später als Kriegsgefangener der Russen im feindbesetzten Frankfurt erlag.
Die Oderstadt ist zur Jugendzeit Heinrich von Kleists nicht nur Garnison, sondern auch eine blühende Handels- und Universitätsstadt. In der Oderstraße, nahe der Oberen Kirche, steht das Kleistsche Familienhaus, in dem Heinrich zusammen mit sieben Geschwistern aus des Vaters beiden Ehen aufwächst. Engere Beziehungen scheinen jedoch nur zu der drei Jahre älteren Stiefschwester Ulrike bestanden zu haben. Der Standessitte entsprechend obliegen Erziehung und erste Unterrichtung der Kinder einem Hauslehrer, dem späteren Rektor Martini, der sich Heinrichs als „eines nicht zu bändigenden Feuergeistes" erinnert und des einstigen Schülers bewundernswürdige Auffassungsgabe und lebhaften Wissenstrieb rühmt: „Er war der offenste, fleißigste und anspruchloseste Kopf von der Welt, freilich auch leicht erregbar, unstet und manchmal etwas exaltiert . . . " Die Lebenshaltung im Kleisthause ist von preußischer 4
Kargheit; den Gesprächsstoff bilden die väterlichen Erinnerungen an die glorreichen Schlachten des Siebenjährigen Krieges, und die militärische Trauerfeier nach König Friedrichs Tod ist das erste große Erlebnis des neunjährigen Heinrich. Zwei Jahre später tritt das Frankfurter Regiment wieder zur Trauerparade an — vor dem mit der schwarzweißen preußischen Flagge bedeckten Sarg des Capitäns Joachim Friedrich von Kleist. Am offenen Grabe des Vaters lauscht Heinrich dem Nachhall des Ehrensaluts.
Der Elfjährige kommt zur weiteren Ausbildung nach Berlin, ins Haus des protestantischen Predigers Catel. Nun zeigen sich auch schon die ersten „weißen Flecken" auf der Wanderkarte dieses Dichterlebens: nach seinen eigenen — allerdings nicht immer zuverlässigen — Aufzeichnungen hat der Knabe in diesen Jahren auch eine Zeitlang „am Rhein" gelebt; und in einer 1959 erschienenen Mozart-Biographie wird berichtet, daß der vierzehnjährige Heinrich von Kleist im August 1791 zu den Besuchern der letzten von Mozart selbst dirigierten „Don Giovanni"-Aufführung in Prag gehört habe. Überzeugender belegt ist das nächste Datum — der 1. Juni 1792, denn an diesem Tage tritt Heinrich gemäß der Familientradition in das vornehme Potsdamer „Garderegiment zu Fuß" ein. Er nimmt an der Belagerung von Mainz und an den Kämpfen in der Pfalz 1793—1795 teil und wird nach der Heimkehr zum Fähnrich, 1797 zum Sekondeleutnant befördert. Ohne sonderliche Begeisterung empfängt er den Offiziersdegen; er ist dem Soldatenstand „nie von Herzen zugetan gewesen" und fühlt sich auch in Potsdam „mehr als Student denn als Soldat". Doch bietet ihm die FridericusStadt mancherlei Freundschaft: hier lebt seine — sechzehn Jahre ältere — Kusine Marie von Kleist, hier begegnet ihm auch der Freiherr Friedrich de la Motte Fouque, gleich ihm Offizier und „heimlicher Dichter" und ein lebenslang treuer, hilfsbereiter Freund. Zu den Potsdamer Kameraden gehören auch Ernst von Pfuel, der spätere preußische Kriegsminister, und August Rühle von Lilienstern, den Goethes Herzog Karl August als Erzieher seines Sohnes nach Weimar holt. „Die größten Wunder militärischer Disziplin", 5
schreibt Kleist in jenen Tagen, „die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner sein mögen, sind die Ursache meiner herzlichsten Verachtung . . . Der Soldatenstand wird mir so verhaßt, daß es mir überaus lästig ist, zu seinem Zwecke mitwirken zu müssen . . . " Langsam reift der Entschluß, den ungeliebten Beruf aufzugeben. Halt und Hoffnung gibt ihm eine unsterbliche Heilerin — die Musik. „Ich betrachte diese Kunst als die Wurzel oder vielmehr, um mich schulgerecht auszudrücken, als die algebraische Formel aller übrigen, und so, wie wir schon einen Dichter (Goethe) haben — mit dem ich mich übrigens auf keine Weise zu vergleichen wage — der alle seine Gedanken über die Kunst, die er übt, auf Farben bezogen hat, so habe ich von meiner frühesten Jugend an alles, was ich über die Dichtkunst gedacht habe, auf Töne bezogen. Ich glaube, daß im Generalbaß die wichtigsten Aufschlüsse über die Dichtkunst enthalten sind. . . " Schon der Knabe spielte mit Leidenschaft und hoher Begabung „die zärtliche Flöte", später, als Potsdamer Offizier, spielt er in einem mit Freunden gegründeten „musikalischen Kränzchen" die Klarinette und komponiert für dieses Instrument auch einige Gavotten. Doch nicht die noch schlummernde Liebe zur Poesie — der Drang zur Wissenschaft, der Wunsch, sich „zum Gelehrten auszubilden", bestimmen ihn zur Aufgabe der militärischen Laufbahn. In dem berühmtgewordenen Bekenntnisbrief vom März 1799 an seinen ehemaligen Frankfurter Hauslehrer Martini begründet er — auch vor sich selbst — diesen Entschluß und bittet gleichzeitig um Rat und Hilfe, denn er ahnt schon die Widerstände seiner F a m i l i e . . . Nach ehrenvoller Verabschiedung wird der Sekondeleutnant a. D. Heinrich von Kleist Student der Volkswirtschaft und der Rechte an der Universität seiner Vaterstadt Frankfurt an der Oder.
Im Elternhaus herrscht seit dem Tode von Heinrichs Mutter (1793) die resolute Tante Massow; doch am meisten freut sich über des Bruders Heimkehr seine Stiefschwester Ulrike. „Sie ist -die einzige von meiner Familie, der ich mich ganz anzuvertrauen schuldig bin, weil sie die einzige ist, die mich ganz verstehen k a n n . . ." Die Stiefgeschwister sehen sich geradezu lächerlich ähnlich; beide haben, mit Clemens Brentanos Worten, „denselben erlebten, stumpfen, runden Kopf". Ans Heiraten denkt Ulrike kaum, es sind wohl auch keine Bewerber da. Der Bruder wird ihr noch hinreichend Gele6
ULRIKE VON KLEIST Heinrich von Kleists geliebte Stiefschwester stammte aus der ersten Ehe seines Vaters mit Caroline Elise von Wulffen. Sie überlebte den Bruder um achtunddreißig Jahre und starb als Fünfundsiebzigjührige, einsam und verlassen, in geistiger Umnachtung.
genheit geben, ihrer einzigen Leidenschaft — dem Reisen —• zu frönen, er wird sie auch noch um den Großteil ihres Vermögens erleichtern. „Eine weibliche Heldenseele" nennt er sie, „die von ihrem Geschlecht nichts hat als die Hüften." Zunächst einmal macht sie den Bruder Studiosus mit den neuen Nachbarn bekannt, die das Nebenhaus an der Oderstraße bezogen haben: Generalmajor von Zenge mit Gattin und sieben Töchtern, deren älteste Wilhelmine heißt, ein harmloses, gutherziges Geschöpf. Ihre Eltern sehen die beginnende Freundschaft mit Heinrich nicht gern, noch weniger die bald erfolgende Verlobung. Ein Student, ein Mann ohne Vermögen, ohne sichere Zukunft! Zwar die Familie ist einigermaßen akzeptabel — aber eben diese Familie von Kleist scheint selbst nicht ganz überzeugt zu sein von Heinrichs künftiger Karriere. Gewiß, er hat sich mit Feuereifer ins Studium gestürzt, aber schon nach drei Semestern ist seine so jäh entflammte Leidenschaft für die „Gelehrtenlaufbahn" wieder erloschen. Von Berlin aus, wo Kleist sich nun um eine Anstellung im Staatsdienst bemüht, gehen eigentümlich lehrhafte Briefe an die Braut nach Frankfurt. Er entwirft ihr einen „Katechismus für das Verhalten einer vorbildlichen Mutter", er schmiedet auch nach dem Vorbild Rousseaus Pläne für ein bäuerliches Landleben in der Schweiz, mit Wilhelmine als Gattin und Mutter vieler Kinder. Die Generalstochter ist ein wenig verwirrt, doch sie erfüllt gutmütig auch seine den Liebesbriefen meist angefügten Bitten um kleinere Darlehen. Von Geld ist auch in den Briefen Heinrichs an Ulrike immer die Rede, denn „Du weißt ja, daß mir das Sparen auf keine Weise gelingt . . ." Die Schwester leiht ihm im Sommer 1800 die Mittel zu einer Reise nach Würzburg; ein Unternehmen, das wie viele ähnliche im Leben Kleists von Rätseln und Geheimnissen umwittert ist. Wir haben gute Gründe dafür, hier nicht weiter zu fragen und zu forschen — wichtig sei allein, daß Heinrich auf dieser Reise seine dichterische Berufung erkannt hat. Mit Brockes, einem schnell gewonnenen und ebenso schnell wieder verlorenen Freund, sollte die Fahrt bis nach Wien oder Straßburg gehen, aber die schmale Reisekasse ließ die beiden nur bis Würzburg kommen, mit Kant und Rousseau als Reiselektüre. In der barocken Mainstadt kommt Kleist „zum erstenmal auf den Gedanken, bei der großen Mutter Natur in die Schule zu gehen . . .", an einem Tag, den er „den wichtigsten Tag seines Lebens" nennt. Und in einem Brief an Ulrike vom 11. Oktober gelingt ihm mit einer Beschreibung der abendlichen Stadt die erste reife Prosa: 8
„ . . . in der Tiefe, sage ich, liegt die Stadt, wie in der Mitte eines Amphitheaters. Die Terrassen der umliegenden Berge dienten statt der Logen, Wesen aller Art blickten als Zuschauer voll Freude herab und sangen und sprachen Beifall, oben in der Loge des Himmels stand Gott. Und aus dem Gewölbe des großen Schauspielhauses sank der Kronleuchter der Sonne herab, und versteckte sich hinter die Erde — denn es sollte ein Nachtstück aufgeführt werden. Ein blauer Schleier umhüllte die ganze Gegend und es war, als wäre der azurne Himmel selbst herniedergesunken auf die Erde. — Die Häuser in der Tiefe lagen in dunklen Massen da, wie das Gehäuse einer Schnecke, hoch empor in die Nachtfuft ragten die Spitzen der Türme, wie die Fühlhörner eines Insekts, und das Klingeln der Glocken klang wie der heisere Ruf des Heimchens — und hinten starb die Sonne, aber hochrot glühend vor Entzücken, wie ein Held . . ." Der verabschiedete Leutnant, der verkrachte Student war aufgebrochen zu dieser Fahrt — der Dichter Heinrich von Kleist kehrt zurück.
Auf seiner nächsten Reise — im April 1801 — begleitet ihn Ulrike, die es für praktischer hält, gleich mitzukommen, als dem Bruder das benötigte Geld immer per Eilpost nachsenden zu müssen. Die erste Station ist Dresden mit seinen Kunstschätzen, mit Raffaels Sixtinischer Madonna und den kostbaren Kleinodien des „Grünen Gewölbes". In Halberstadt besuchen die Geschwister den zweiundachtzigjährigen „Vater Gleim", den Förderer vieler junger Dichter und Freund ihres Verwandten Ewald Christian von Kleist. Die Schwester weiß, was sie dem Namen der Familie schuldig ist: man reist in eigener Kalesche, mit Leibkutscher und zwei schon ein wenig klapprigen, aber wohlgepflegten Polenpferdchen. Über Mannheim und Straßburg geht es weiter — nach Paris; und hier kann sich Ulrike endlich erlauben, was ihr in Frankfurt verwehrt war: in Männerkleidern herumzulaufen, mit Spazierstöckchen und Zylinder. Das unhübsche Mädchen genießt das Vergnügen, von vielen für einen Mann gehalten zu werden — nur einer spricht sie unbeirrt mit „Madame" an, ein blinder Flötenspieler am Seinequai. „Es gibt kein Wesen in der Welt, das ich so ehre wie meine Schwester", schreibt der Dichter, „aber welchen Mißgriff hat die Natur 9
begangen, als sie ein Wesen schuf, das weder Mann noch Weib ist!" Später wird er Ulrike in einer seiner grandiosesten Gestalten — in der „Penthesilea" — ein bleibendes Denkmal stiften. Während die Schwester sich an dem festlichen Treiben der Riesenstadt zur Feier des 14. Juli begeistert, während Alexander von Humboldt die Kleists in die geistige und wissenschaftliche Welt einzuführen versucht, wendet Heinrich sich mit schaudernder Feindseligkeit von den Menschenmassen ab, die ihm als „Affen der Vernunft" erscheinen: „Ich kann Dir nicht beschreiben, welchen Eindruck der Anblick dieser höchsten Sittenlosigkeit bei der höchsten Wissenschaft auf mich machte. Wohin das Schicksal diese Nation führen wird — Gott weiß es. Sie ist reifer zum Untergang als irgendeine andere N a t i o n . . . Unser Leben ist jedem Raubtier ausgesetzt, eine Giftpflanze kann uns töten — und sobald wir in das Reich der Wissenschaft treten, sobald wir unsere Kenntnisse anwenden, um uns zu sichern und zu schützen — gleich ist der erste Schritt zum Luxus und mit ihm zu allen Lastern der Sinnlichkeit getan .. ." Auf Kleists Pariser Arbeitstisch liegen neben den Schriften von Voltaire, Moliere und Rousseau erste eigene dramatische Entwürfe. Während in dem düsteren Schicksalsdrama „Die Familie Schroffenstein", dessen Konzeption noch aus den Würzburger Tagen stammt, aus jeder Zeile unverkennbar das Vorbild Shakespeares leuchtet, werden in „Robert Guiskard" neben antiken Vorbildern — vor allem „König Oedipus" des Sophokles — auch stark beeinflussende Anregungen Schillers deutlich. In Schillers Zeitschrift „Die Hören" hatte Kleist die Geschichte vom Normannenherzog Robert Guiskard gefunden, als Stoff zu seinem „liebsten Trauerspiel", das nun über Jahre hinweg seine Arbeitskraft in Anspruch nimmt. „Der Gedanke, ich könnte sterben, ehe ich diese Arbeit vollendet habe, droht mich der Verzweiflung auszuliefern. .. Der Anfang meines Gedichts erregt die Bewunderung aller Menschen, denen ich es mitteile . . . Wenn ich es nur vollenden könnte! Diesen einzigen Wunsch soll mir der Himmel erfüllen; dann mag er tun, was er will . . .!r Er wird's nicht vollenden, nicht hier und jetzt, und nicht später. Das Ringen um den gewaltigen Vorwurf macht ihn nervös und reizbar, und die Briefe an seine Braut werden immer heftiger und verworrener, bis das verstörte Mädchen ihm behutsam zu verstehen gibt, daß sie die Verlobung als gelöst betrachtet. Der Pariser Aufenthalt endet in Zwietracht auch zwischen den Geschwistern, im November 1801 verlassen sie die Stadt, die sie mit so hochgespannten Erwartungen betreten haben. Heinrich begleitet Ulrike noch 10
bis Frankfurt am Main; dann wendet er sich, allein, auf den Spuren Rousseaus einem neuen Sehnsuchtsziel zu — der Freien Schweiz: „Es war eine finstere Nacht, als ich in das neue Vaterland trat. Ein stiller Landregen fiel hernieder. Ich suchte Sterne in den Wolken und dachte mancherlei; denn Nahes und Fernes, alles war so dunkel. Mir war's wie ein Eintritt in ein anderes Leben . . ." Statt der ersehnten Idylle findet er ein vom Kantönligeist beherrschtes, in innere Zwistigkeiten verstricktes Land. Ein Land, das sich nicht scheut, den Feind aller Freiheit, den „Allerweltskonsul" Bonaparte, um Vermittlung zu bitten . . . In Bern trifft Kleist den Schriftsteller und ehemaligen Frankfurter Privatdozenten Heinrich Zschokke und den Verleger Heinrich Gefiner, den Sohn des „dichtenden Ratsherrn" Salomon Geßner, den vor einem halben Jahrhundert Ewald Christian von Kleist zu seinen „Idyllen" angeregt hatte. Zum rasch gewonnenen Freundeskreis gehört auch Heinrich Geßners Schwager Ludwig Wieland, allgemein der „Leckerbub" genannt. Ludwig sonnt sich im Ruhme seines berühmten Vaters Martin Wieland, des Dichters des „Oberon" und der „Abderiten", der einst Erzieher von Goethes Herzog Karl August gewesen War und nun in behaglichem Ruhestand auf seinem Landgut Oßmannstedt bei Weimar lebt. Endlich einmal Gleichgesinnte, mit denen man sich aussprechen kann! Kleist liest ihnen seine „Schroffensteiner" vor und erntet Beifall und Ermutigung — in die schallende Heiterkeit der Freunde über einige allzu bombastische Wendungen und falsch angelegte Szenen seines Schauerdramas stimmt er fröhlich mit ein. „Ich bin jetzt bei weitem heiterer", schreibt er der Schwester, „und kann zuweilen wie ein Dritter über mich urteilen . .. Jetzt leb' ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluß des Thunersees, recht eingeschlossen von den Alpen. Ein kleines Häuschen hab' ich für sechs Monate gemietet, und bewohne es ganz allein .. ." Er hat für die „Schroffensteiner" dreißig Louisdors von Heinrich Geßner erhalten; das Stück findet nach seinem Erscheinen im Frühjahr 1803 die freundliche Zustimmung von Joseph Görres Tand Ludwig Ferdinand Huber, der es im „Freimütigen" eine „Wiege des Genies" nennt. In der stillen Zeit am Thunersee reifen auch Entwürfe eines „Leopold"-Dramas und ein dramatisches Fragment „Peter der Einsiedler", die beide verlorengegangen sind. Und immer wieder kreist des Dichters vergeblich Bemühen um den „Robert Guiskard .. ." Oft trifft man sich zu Leseabenden und feuchtfröhlichen Zechgelagen in Zschokkes Wohnung. Hier hängt ein hübscher alter Kup11
ferstich — wohl nach einem niederländischen Gemälde — mit der Unterschrift: Der zerbrochene Krug. Eine Gerichtsszene. Vor dem gravitätischen Dorfrichter steht als Klägerin ein altes Weib mit einem zerbrochenen Krug; angeklagt scheint ein junger Bauernbursche, während ein junges Mädchen als Zeugin aussagt. Das Bildchen regt die weinseligen Freunde zu einer Wette an, wer von ihnen den Vorgang am wirkungsvollsten literarisch behandeln könne. Zschokke macht eine kleine Erzählung daraus, bei Geßner wird's natürlich eine Idylle und bei dem Spötter Wieland eine geschliffene Satire. Für Kleist aber wird die launige Wette zur Geburtsstunde eines der schönsten Lustspiele deutscher Sprache: mit dem „Zerbrochenen Krug" — der allerdings erst viel später vollendet wird — gelingt ihm der erste „große Wurf", ein Meisterstück, dem gegenüber nach Hebbels schönem Wort „nur das Publikum durchfallen kann . . ." Kaum ein halbes Jahr währt die fruchtbare Schweizer Schaffenszeit. Im Juli 1802 wirft ein unerklärliches Leiden den Dichter aufs Krankenbett; über zwei Monate verbringt er als Patient im Hause des Doktor Wyttenbach in Bern. An Kleists Onkel, Herrn von Pannwitz in Frankfurt an der Oder, geht ein verzweifelter, alarmierender Brief: „Ich bitte Gott um den Tod — und Dich um Geld . . ." Der Onkel antwortet nicht einmal, aber die treue Schwester Ulrike, die sich erst vor wenigen Monaten in Unfrieden von Heinrich getrennt — diese unermüdliche Helferin macht sich sogleich auf den Weg: mit geliehenem Geld und wieder in ihrer geliebten Männerkleidung eilt sie in Tag- und Nachtreisen nach Bern, das von napoleonischen Truppen eingeschlossen ist. Mit List und Energie durchbricht die streitbare Amazone den militärischen Kordon und gelangt auch glücklich in die Stadt, zu Wyttenbachs Haus, wo sie erfährt, daß der Bruder längst wieder genesen ist. Wie schon oft und immer wieder regelt sie seine Geldangelegenheiten, ohne Frage, ohne Vorwurf, ohne ein böses Wort. Es ist ja auch nicht viel zu sagen. Heinrich macht sie mit seinen Freunden Zschokke und Geßner bekannt, auch mit Ludwig Wieland, der sich durch seine lose Zunge den Unwillen der Franzosen und franzosenfreundlichen Schweizer zugezogen hat. Der drohenden Verhaftung und Ausweisung will er sich durch eilige Flucht nach Oßmannstedt entziehen; er lädt die Geschwister Kleist ein, ihn auf das väterliche Landgut zu begleiten. Ulrike packt die wenigen Flabseligkeiten des Bruders zusammen — die Bündel mit Gedichten und Dramen, und mit den ersten Szenen vom „Zerbrochenen Krug." 12
PENTHESILEA „Was euch nicht angehört, Müsset ihr meiden, Was euch das Innre stört, Dürft ihr nicht leiden." GOETHE
„Wenn die Geister des Aeschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigten, eine Tragödie zu schaffen, so würde sie das sein, was Kleists ,Robert Guiskard', sofern das Ganze demjenigen entspräche, was er mich hören ließ. Von diesem Augenblick an war es bei mir entschieden, Kleist sei dazu geboren, die große Lücke in unserer dramatischen Literatur auszufüllen, die — nach meiner Meinung wenigstens — selbst von Goethe und Schiller noch nicht ausgefüllt worden ist. .." So urteilt der neunundsechzigjährige Hofrat Christoph Martin Wieland über den Freund seines Sohnes, seinen Gast, der in Oßmannstedt aufgenommen und behandelt wird, „als ob er zur Familie gehöre." Ulrike hat den Bruder nur bis Weimar begleitet; hier scheint es erneut zu einem Zerwürfnis zwischen den Geschwistern gekommen zu sein, so daß die Schwester allein nach ihrer Vaterstadt Frankfurt an der Oder weiterreist. Vergeblich hat sie den Bruder angefleht, ihr dorthin zu folgen — doch Heinrich schämt sich vor seiner Familie, der er erst als berühmter Mann, als anerkannter Dichter wieder unter die Augen treten will. Kleist ist ein angenehmer und bescheidene/, aber auch ein wenig sonderbarer Gast im Hause Wieland; er „hat das Air eines Menschen, der sich allein glaubt oder mit seinen Gedanken an einem anderen Ort oder mit einem ganz anderen Gegenstand beschäftigt ist." Bei Tische murmelt er oft Unverständliches vor sich hin, er leidet auch — von Kindheit an — unter merkwürdigen Sprachhemmungen: „Es fehlt an einem Mittel zur Mitteilung. Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache, taugt nicht dazu. Sie kann die Seele nicht malen, und was sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke. Deshalb habe ich jedesmal eine Empfindung wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll . . ." Das spürt auch der alte, weltweise Wieland: „Er scheint mich wie ein Sohn zu lieben, aber zu einem offenen und vertraulichen Benehmen ist er doch nicht zu bringen . .. Etwas Rätselhaftes, Geheimnisvolles, das tiefer 13
in ihm zu liegen scheint als daß ich es für Affektion halten könnte, hielt mich in den ersten Monaten unserer Bekanntschaft in Entfernung . . ." Mit dem nahen Weimarer Musenhof kommt Kleist kaum in Berührung — eine lange Zeit von der Literaturwissenschaft angenommene Begegnung mit Goethe und Schiller ist nicht nachzuweisen. So bleibt Wieland — auch von Goethe als einer seiner „echten Lehrer" anerkannt — der einzige, der sich fördernd, verstehend und aufmunternd des Fünfundzwanzigjährigen annimmt: „Nichts ist dem Genius der heiligen Muse, die Sie begeistert, unmöglich!" Unschuldiger Anlaß zu Heinrichs plötzlicher Abreise von Oßmannstedt wird Wielands spätgeborenes jüngstes Töchterchen, die dreizehnjährige Luise, die in dem „zauberischen Kleist" die Erfüllung ihrer Mädchenträume erblickt und ihre schwärmerische Neigung erwidert glaubt. Kleist aber trachtet nicht nach Liebesglück — er trachtet nach seinem Werke. Während Wieland den seltsamen Gast nur ungern scheiden sieht, erhält Ulrike wieder einen erschreckenden, aufwühlenden Bruderbrief: „Ich weiß nicht, was ich Dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen s o l l . . . Ich habe Oßmannstedt wieder verlassen — zürne nicht! Ich mußte fort, und kann Dir nicht sagen warum. Mit Tränen habe ich das Haus verlassen, wo ich mehr Liebe gefunden habe als die ganze Welt zusammen aufbringen kann — außer Dir .. ."
Die Schwester hat ihm ein wenig Geld geschickt, damit er in Leipzig „Unterricht in Deklamation bei einem gewissen Kerndörffer" nehmen kann. Dann geht es weiter, nach Dresden, wo er die Jugendfreunde Rühle und Pfuel wiedertrifft, ebenso de la Motte Fouque, der Kleist irrtümlich der „Wielandschen Schule" zurechnet. Ernst von Pfuel aber, „der vortreffliche Junge", widmet sich dem Dichter als unermüdlicher Reisebegleiter, Krankenpfleger und Sekretär; ihm diktiert Kleist in diesen Dresdener Märztagen 1803 einige Szenen des „Zerbrochenen Krug", der dann wieder bis zum Jahre 1806 als Fragment liegenbleibt. Pfuel ist ein energischer, lebenstüchtiger Mann — er lehnt des Freundes wiederholte Aufforderung zu gemeinsamem Freitod entrüstet ab und ermuntert den Dichter, der wieder einmal von schweren Depressionen heimgesucht wird, zu einer längeren Fußreise zu zweit. Über Bern, Mailand und Genf wandern die beiden nach Paris — und hier ringt Kleist noch einmal, zum 14
PENTHESILEA Die sagenhafte Amazonenkönigin im Kampf gegen Achill Griechische Vasenmalerei letztenmal, mit dem „Robert Guiskard", zu dessen Vollendung ihn Wieland in einem schönen und gütigen Brief anspornt: „. . . und wenn der ganze Kaukasus auf Sie drückt — den Guiskard m ü s s e n Sie fertigstellen!" Vergeblich Bemühen . . . Aufs höchste überreizt, an sich und der Welt verzweifelnd, überwirft sich der Unselige auch noch mit dem treuen Pfuel. In seinem Quartier in der Rue Soufflot verbrennt er das Manuskript des „Robert Guiskard" und viele andere unvollendete Arbeiten . . . 15
„Meine teure Ulrike. Was ich Dir schreiben muß, kann Dich vielleicht das Leben kosten — aber ich muß, ich m u ß es vollbringen: Ich habe in Paris mein Werk, soweit es fertig war, durchgelesen, verworfen und verbrannt; und nun ist es aus. Der Himmel versage mir den Ruhm, das größte der Güter der-Erde; ich werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen hin . . . Ich kann mich Deiner Freundschaft nicht würdig zeigen, ich kann ohne diese Freundschaft nicht leben; ich stürze mich in den T o d . . . Ich werde französische Kriegsdienste nehmen, das Heer wird bald nach England hinüberrudern. Unser aller Verderben lauert über dem Meer, ich frohlocke bei der Aussicht auf das unendlich prächtige Grab . . . " In diesen lodernden Herbsttagen bereitet der Erste Konsul Bonaparte im Lager von Boulogne den Angriff auf England vor. Kleist ist zu Fuß von Paris an die Kanalküste gewandert — er, der als preußischer Gardeoffizier beim Ausscheiden aus der Armee seinem König geschworen hatte, „ohne Dero Allerhöchsten Consens niemals in auswärtige Kriegs- oder Civildienste zu treten", will sich als Kriegsfreiwilliger dem „Allerweltskonsul" zur Verfügung stellen! Ein wahnwitziges Unterfangen, eine Verzweiflungstat, die er mit dem lebenslangen tiefen Mißtrauen seines Königs und der preußischen Behörden bezahlen wird . . . Der preußische Gesandte in Paris, Marchese Lucchesini, erhält den Auftrag, Kleist unauffällig überwachen zu lassen, und die Auskünfte lauten nicht günstig: Der „ p . p . Kleist" hat sich in Paris, in Boulogne und St. Omer in zweifelhaften Spelunken herumgetrieben, man munkelt von Alkohol- und Rauschgiftexzessen, von Zuständen völliger geistiger Umnachtung. Lucchesini läßt den Mittellosen erst einmal mit einem gültigen Paß und mit Reisegeld ausstatten und gibt ihm einen Marschbefehl — nach Potsdam. An dieser Heimreise bleibt wieder vieles dunkel und ungeklärt; Kleist taucht in Wiesbaden auf, liegt dann lange krank im Hause des Hofrats und Arztes Wedekind in Mainz, und will sich endlich bei einem biederen Tischlermeister in Koblenz verdingen — als Tischlerlehrling! Im Juni 1804 trifft er endlich wieder in Berlin ein, und schreibt, auf die vergangenen Monate zurückblickend: „Ich bin nicht imstande, vernünftigen Menschen einigen Aufschluß über diese seltsame Reise zu geben. Ich selber habe die Einsicht in ihre Motive verloren und begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere folgen konnten . . . " In Berlin beschwören ihn Schwester und Freunde zur Abkehr von seinem selbstzerstörerischen, ruhelosen Dasein. Also zurück in den Staatsdienst! Doch König Friedrich Wilhelm III. verweigert dem Dich16
ter die erbetene Audienz; er beauftragt nur seinen Generaladjutanten von Köckeritz, den „bewußten Kleist" einmal gründlich zu vernehmen und ihm ins Gewissen zu reden. Nach langwierigen Bemühungen erhält der ehemalige Sekondeleutnant einen subalternen Posten im Berliner Ministerium; im Mai 1805 wird er als „Diätar" an die Königsberger Domänenkammer versetzt. Ulrike begleitet ihn in die Kantstadt. Mit Genehmigung seiner vorgesetzten Dienststelle belegt Kleist hier wieder juristische und volkswirtschaftliche Vorlesungen an der Universität, an der als Nachfolger Kants der Professor Krug wirkt, der — Ironie des Schicksals! — jetzt mit Wilhelmine von Zenge verheiratet ist, Heinrichs ehemaliger Verlobten. In Krugs Haus sind die Geschwister Kleist ebenso gern- und oftgesehene Gäste wie im Hause des Oberpräsidenten von Auerswald und des Ministers Stein zum Altenstein. Obwohl schon die napoleonische Bedrohung über Preußen lastet, findet der Dichter endlich wieder Ruhe und Sammlung zu schöpferischer Arbeit: Der „Zerbrochene Krug" wird vollendet, die Pläne zur „Penthesilea" gewinnen Gestalt, und es entstehen die meisterlichen Novellen „Die Marquise von O." und „Michael Kohlhaas", die schon von Zeitgenossen wie Achim von Arnim und Wilhelm Grimm vorbehaltlos anerkannt wurden. „Das witzig-anmutvollste, das geistreichste, das tiefste und schönste Theater'spielwerk der Welt" nannte Thomas Mann — eir»hundertzehn Jahre nach Kleists Tod — die Komödie „Amphkryon",- ebenfalls eine köstliche-Frucht der schaffensreichen Königsberger Zeit. Erste Anregungen zu diesem Werk sind bis auf die Inselmonate am Thunersee zurückzuverfolgen, auf die Freundschaft mit Zschokke, der damals Molieres Werke ins Deutsche übertrug. Der französische Lustspieldichter hatte den Stoff bei seinem antiken Kollegen Plautus gefunden und fast unverändert übernommen. Unter Kleists Feder aber entsteht etwas ganz Neues — ein Hohes Lied der Gattenliebe, das freilich nach Goethes Urteil „auf eine Verwirrung des Gefühls hinausgeht", während der tolerantere Publizist Friedrich von Gentz das Stück „komisch und erhaben zugleich" nennt. Kaum daß der Dichter sich von ärgster Existenznot befreit glaubt — die preußische Königin Luise hat ihm einen jährlichen Ehrensold aus ihrer Privatschatulle bewilligt — zerrt er schon wieder an den lästigen Fesseln des Staatsamtes. Im August 1806 erhält er den erbetenen unbefristeten „Krankheitsurlaub". Wenige Monate später zerbricht der preußische Staat unter den Schlägen der Grande Armee, in Potsdam flattert die Kaiserstandarte überm Hauptquartier 17
Napoleons. Kleist leidet in diesen Tagen tiefster nationaler Erniedrigung unter der schwächlichen Haltung seines Königs; umsomehr aber bewundert er die Königin Luise: „Man sieht sie einen wahrhaft königlichen Charakter entwickeln . . . sie allein ist es, die das, was noch nicht zusammengestürzt ist, hält!" Im Januar 1807 begibt er sich von Königsberg nach dem besetzten Berlin, doch vor den Toren der Stadt wird er — wieder einmal ohne ordentliche Ausweispapiere — von französischen Soldaten unter dem Verdacht der Spionage verhaftet und nach Fort de Joux gebracht, einer Festungsanlage zwischen Neuchatel und Paris. Hier sperrt man ihn in die gleiche Zelle, in der vier Jahre zuvor der „Kaiser von Haiti", der Negergeneral Toussaint-Louverture, als Gefangener des Ersten Konsuls Bonaparte gestorben war (Vgl. Lux-Lesebogen 352, „Kaiser von Haiti"). „Ich bin derjenige von meinen Leidensgefährten", schreibt Heinrich der Schwester aus der Gefangenschaft, „der diese Gewalttat am leichtesten ertragen kann. Meine literarischen Arbeiten kann ich an allen Orten ausführen, gleichgültig wo es auch immer sei . . ." In Fort de Joux und später in Chälons-sur-Marne, wohin die Gefangenen im April verbracht werden, arbeitet er an der „Penthesilea". Zur gleichen Zeit erscheint in Dresden die erste Buchausgabe des „Amphitryon", dessen Manuskript der Dichter aus Not für ganze vierundzwanzig Louisdors an Rühle verkauft hatte. Zur gleichen Zeit bemühen sich in Berlin Ulrike und die Freunde bei dem französischen General Clarke um Kleists Freilassung und können endlich — in den ersten Augusttagen — den Heimkehrer wieder in Berlin begrüßen. Doch die feindbesetzte Stadt lockt ihn nicht zum Verweilen, schon nach wenigen Tagen zieht er weiter — nach Dresden, das noch von Kriegslärm verschont ist und im Gegensatz zu Preußens Hauptstadt ein reges kulturelles Leben entfalten kann. Nach den schweren Monaten der Gefangenschaft feiert Kleist das Wiedersehen mit der geliebten Stadt wie den „Eintritt in eine ganz neue Welt voll Schönheit". Zusammen mit Pfuel, der auch hier auftaucht, findet er gastfreundliche Aufnahme im Hause der Familie von Haza. Der Autor des „Amphitryon" wird in allen vornehmen Salons in „Elbflorenz" als gern gesehener und hochgeehrter Gast herumgereicht, die Stadt und ihre Menschen zeigen sich ihm von ihrer liebenswürdigsten Seite. Er kann in Ruhe die „Penthesilea" vollenden, und der österreichische Gesandte am Sächsischen Hof, Freiherr von Buol, veranstaltet in seinem Palais eine Liebhaberaufführung des „Zerbrochenen Krugs". Im Hochgefühl des ungewohnten Erfolgs sdireibt 18
Kleist an die Schwester: „Es erfüllt sich mir a l l e s , ohne Ausnahme, worauf ich gehofft habe . . . Nichts ist mir unangenehmer, als daß Du ganz abgesondert bist von der literarischen Welt, in dem Augenblick, da Dein Bruder zum zweitenmal darin auftritt.. ."
Nein — a l l e s erfüllt sich ihm nicht, aber viel. Eines Abends stürzt er tränenüberströmt in Pfuels Zimmer: „Sie ist tot — ach, sie ist tot!" Er meint Penthesilea, die Heldin des großen Trauerspiels, das er eben vollendet hat und von dem er sagt: „Mein innerstes Wesen liegt darin; der ganze Schmerz und der Glanz meiner Seele . . . " Was ihm beim „Robert Guiskard" versagt geblieben, die Vollendung — sie wird ihm geschenkt mit diesem Amazonendrama, dessen künstlerische Nachwirkung noch aufleuchtet in Hebbels „Judith", in Richard Wagners „Walküre" und in Hofmannsthals „Elektra". (Der Schweizer Komponist Othmar Schoeck schuf 1927 eine Oper nach Kleists „Penthesilea".) Im gleichen Jahr entsteht das „Große historische Ritterschauspiel: Das Käthchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe", von dem der Dichter schreibt: „Penthesilea und Käthchen gehören zusammen wie das Plus und Minus der Algebra. Wer das Käthchen liebt, dem kann die Penthesilea nicht ganz fremd s e i n . . . sie sind ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht . . . . Die Penthesilea ist das rücksichtslos herrschende Weib, Käthchen das dienende: ,Du wirst mich dir gehorsam finden . . . ' Die eine ist mächtig durch Hingabe, die andere durch Handeln." Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg! Im September 1807 erscheint Kleists Erzählung „Das Erdbeben von Chili" im „Morgenblatt" des berühmten Verlegers Cotta, der Goethes und Schillers Werk betreut. In der gleichen Zeitschrift wird „Amphitryon" begeistert begrüßt: „Willkommen sei, wer einen solchen Freiheitsbrief aus den Händen seiner geliebten Mutter Natur empfangen; willkommen, wer s o den göttlichen Beruf des Dichters beurkunden kann!" Im Palais Buol empfängt der Dichter einen goldenen Lorbeerkranz aus den „zwei niedlichsten kleinen Händen Dresdens"; sie gehören Julie Kunze, der Pflegetochter des Schillerfreundes Christian Gottfried Körner, mit dessen Kindern Theodor und Emma sie aufgewachsen ist. Eine zarte Liebesgeschichte spinnt sich an, nicht ohne Anregung und Einfluß auf das „Käthchen von Heilbronn". In Körners musenfreundlichem Haus gehört Kleist bald ebenso „zur Familie" wie bei 19
den Hazas, den Tiecks, den Rühles und den Buols — ja, der österreichische Gesandte nimmt ihn sogar mit nach Teplitz zu Friedrich von Gentz, der dem Dichter wertvolle Verbindungen nach Wien erschließt. Und bei Sophie von Haza begegnet er einem Manne, der ihm gleichermaßen Segen und Verhängnis bringen wird: Adam Müller. Obwohl zwei Jahre jünger als Kleist, ist dieser Adam Müller schon ein berühmter Mann, seit im Jahre 1804 sein philosophisches Werk „Die Lehre vom Gegensatz" erschien. Er gilt als der „Staatsphilosoph der Romantik", ist dazu ein weitgereister Weltmann, ein gesuchter Gesellschafter und glänzender Redner. Schlegel nennt ihn „einen göttlichen Menschen von unergründlicher Gelehrsamkeit", auch von Goethe liegen wohlwollende Äußerungen vor. Müller hat Kleists „Amphitryon" während der französischen Kriegsgefangenschaft des Dichters mit einem enthusiastischen Vorwort in Dresden herausgegeben — nun, da der Verfasser selbst in der Elbestadt wirkt, versucht er nach Kräften, ihn weiter zu fördern. In langen Gesprächen reift der Plan, gemeinsam eine Zeitschrift herauszugeben, die den Namen „Phöbus" tragen soll. Kleists Freunde Rühle und Pfuel sollen das Kapital dazu geben, und natürlich auch die gute Ulrike, die Heldenseele. Man hofft auf literarische Beiträge von Goethe, Wieland und anderen Großen, man will sich mit wertvollen Kunstdruckbeilagen für das Werk bedeutender Künstler einsetzen . . . Am 1. Januar 1808 erscheint das erste Heft des „Phöbus, ein Journal für die Kunst. Herausgegeben von Heinrich von Kleist und Adam H. Müller."
Wenn der Geheimrat Goethe in Weimar den Namen Kleist hört, kommt ihm der unselige Reinhold Lenz in ärgerliche Erinnerung, der „unglückliche Poet", der im Jahre 1771 als Hofmeister zweier Herren von Kleist in Straßburg aufgetaucht war. Richtig — und da war doch auch etwas zwischen diesem Lenz und Friederike aus Sesenheim . . . Kleist! Man probt zur Zeit ein Lustspiel von ihm im Weimarischen Hoftheater, „Der zerbrochene Krug"; im März soll die Erstaufführung sein. Und nun kommt, im Januar 1808, ein Brief von diesem Kleist aus Dresden: „Ew. Exzellenz habe ich die Ehre, in der Anlage gehorsamst das erste Heft des ,Phöbus' zu überschicken. Es ist ,auf den Knieen meines Herzens', daß ich damit vor Ihnen erscheine; möchte das Gefühl, 20
das meine Hände ungewiß macht, den Wert dessen ersetzen was sie darbringen . . . Mit der innigsten Verehrung und Liebe Ew. Exzellenz gehorsamster Heinrich von Kleist." Die Exzellenz antwortet umgehend: „. .. erlauben Sie mir zu sagen, daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll . . . Mit der ,Penthesilea' kann ich mich noch nicht befreunden . . ." Und zu Johannes Falk sagt Goethe über die „Penthesilea": „Die Tragödie grenzt in einigen Stellen völlig an das Hochkomische . . . Einem gereiften Verstand ist es unmöglich, in die Gewaltsamkeit solcher Motive, wie Kleist sich ihrer als Dichter bedient, mit Vergnügen einzugehen . . . " Doch immerhin — er gibt sich Mühe mit Kleist; er bearbeitet selbst den „Zerbrochenen Krug" für die Weimarer Aufführung, bearbeitet ihn allerdings nicht sehr glücklich. Die Premiere wird denn auch ein eindeutiger Mißerfolg: „Wegen des Schauspielers Becker", berichtet ein Zeitgenosse, „der den Dorfrichter Adam zu breitspurig anlegte, pfiff ein herzoglicher Beamter das Stück aus. Herzog Karl August bog sich über die Brüstung und schrie herunter: ,Wer untersteht sich hier, in Gegenwart meiner Gemahlin zu pfeifen — Husaren, nehmt den frechen Menschen fest!'" Am nächsten Tage befiehlt er Goethe zu sich und äußert sehr ungnädig sein Mißfallen. Nach der Audienz bemerkt Goethe: „Jener Pfeifer im Parkett mag gar nicht so Unrecht gehabt haben — ich hätte auch gepfiffen, wenn es der Anstand und meine Stellung erlaubt hätten." Die Aufführung des „Käthchens von Heilbronn" in Weimar lehnt Goethe rundweg ab: „Ein wunderbares Gemisch von Sinn und Unsinn. Die verfluchte Unnatur! Das führe ich nicht auf, und wenn halb Weimar danach verlangt. . ." Selbstverständlich denkt er auch gar nicht daran, am „Phöbus" mitzuarbeiten, worum ihn Müller und Kleist gebeten hatten. Noch einige höflich-nichtssagende Zeilen, dann bricht die Verbindung zwischen Weimar und Dresden ab — für immer. Nur einmal noch erwähnt Goethe den Namen Kleist, in einem Gespräch mit Johannes Falk: „Ich habe ein Recht, Kleist zu tadeln, weil ich ihn geliebt und gehoben habe; aber sei es nun, daß seine Ausbildung, wie es jetzt bei vielen der Fall ist, durch die Zeit gestört wurde, oder was sonst für eine Ursache zugrunde liegt; genug, er hält nicht, was er zugesagt. . . " 21
Die mißglückte Aufführung des „Zerbrochenen Krugs" in Weimar, die Ablehnung des „Käthchens" und der „Penthesilea" durch Goethe und dessen Weigerung, das „Phöbus"-Unternehmen zu unterstützen, reißen Kleist aus allen Himmeln beginnender Siegeszuversicht in den Abgrund tiefster Verzweiflung. Die Liebe und Verehrung, die er Goethe „auf den Knieen seines Herzens" dargebracht, waren echt und stark gewesen und wandeln sich nun, zurückgestoßen, in verzehrenden Haß. Er fühlt sich verschmäht und verkannt, er wütet in blindem Zorn gegen den Großen in Weimar, dem er „den Kranz von der Stirne reißen will". Er verliert auch das Interesse an seiner Zeitschrift, die ihm nur noch willkommene Gelegenheit bietet, haßerfüllte, sorgfältig vergiftete Epigramme gegen Goethe abzuschießen •— Epigramme, die Kleists unwürdig sind und die wir deshalb mit Schweigen übergehen wollen. So hat auch der hochherzige alte Staatsrat Körner gehandelt, der Kleist wie einst Schiller in seinem Hause gastlich aufgenommen und mit nachsichtiger Güte gefördert hatte — als er im „Phöbus" jener Epigramme ansichtig wurde, rollte er die Zeitschrift schweigend zusammen und warf sie in den brennenden Kamin. Der feinnervige, überempfindsame Kleist spürt sofort die ablehnende Kühle, die ihm von nun an im Hause Körner, und nicht nur in diesem, entgegenweht. Auch der Sonnenwagen des „Phöbus" rollt nun bergab; die Zeitschrift erscheint, weil die Geldmittel aufgebraucht sind, nur noch unregelmäßig und mit großer Verspätung und enthält statt der versprochenen Beiträge weltberühmter Männer meist eigene Arbeiten der Herausgeber. Auch viele Werke Kleists sind hier — wenigstens in Teilabdrucken, zum erstenmal veröffentlicht; so ein „Guiskard"-Fragment, eine Abschrift ungeklärter Herkunft von dem in Paris vernichteten Manuskript, ferner die „MichaelKohlhaas"-Erzählung, die „Penthesilea" und vieles andere. Das drohend-lockende Bewußtsein der Möglichkeit, seinem Leben mit eigener Hand ein Ende bereiten zu können — dieses Bewußtsein hat Kleist von Kindheit an beherrscht: „Sterben — das ist, als ob wir aus einem Zimmer in das andere gehen . . . " In Gesprächen mit Freunden kommt er immer wieder auf das Thema des Freitodes zurück, und nun, in diesem dunklen Herbst 1808, ist er der unseligen Tat näher als jemals zuvor. Man findet ihn eines Tages wie leblos in seinem Zimmer, von einer tödlichen Dosis Opium des Bewußtseins beraubt, und nur rasche ärztliche Hilfe gibt ihn — noch einmal — dem ungeliebten Leben zurück.
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DAS
LETZTE
LIED
Er Er An An
war ein Dichter und ein Mann, wie Einer; brauchte selbst dem Höchsten nicht zu weichen • Kraß sind wenige ihm zu vergleichen, unerhörtem Unglück, glaub' ich, keiner.
Er stieg empor, die Welt ward klein und kleiner, Und auf der Höhe, die wir nicht durch Schleichen, Die wir nur fliegend oder nie erreichen, Ward über ihm der Himmel immer reiner. Doch als er nun die Welt nicht mehr erblickte, Da hatte sie ihn längst nicht mehr gesehen Und frech ihm selbst das Dasein abgesprochen! Nun mußt' er darben, wie er einst erstickte, Ihm blieb nichts übrig, als zurückzugehen — Doch lieber hat er seine Form zerbrochen. HEBBEL Es wird still und einsam um Heinrich von Kleist. Er kümmert sich wenig um seine Freunde; er vernachlässigt auch sein Äußeres, und trifft sich in dieser Neigung mit einem Manne, dessen Kunst ihm viel bedeutet: mit dem Maler Caspar David Friedrich, in dessen Werkstatt er in den letzten Monaten seines Dresdener Aufenthaltes häufig zu Gast ist. Der Meister zauberischer Landschaften empfängt den Dichter — wie alle seine wenigen Gäste — in einem langen grauen Reisemantel, und jeder weiß, daß er darunter weiter nichts anhat. Ein wilder Bart umlodert das schöne, herbe Gesicht, den Hals „ziert ein zarter Reif aus Schmutz", denn der große Künstler hat eine unüberwindliche Abneigung gegen Wasser und Seife. Das ist ganz nach Kleists Geschmack; auch er wechselt nur ungern das Hemd, zumal Ulrike nicht in der Nähe ist, die früher so sorgsam den Bruder umhegte. Der Dichter hat Friedrichs Werk im „Phöbus" oft gewürdigt und gegen ungerechte Angriffe verteidigt, er wird sich auch später in seinen „Berliner Abendblättern" noch für ihn einsetzen. Nun aber, in des Malers Werkstatt, liest er aus einem neuen Drama vor, das ihn zur Zeit ganz ausfüllt und beansprucht: „Die Hermannsschlacht". Maler und Dichter finden sich auch in ge23
Nach dem Versmaß von Schillers „Hymne an die Freude" schrieb Kleist in den Prager Tagen sein Kampflied „Germania an ihre Kinder".
meinsamem Haß gegen Napoleon, dem in der „Hermannsschlacht", diesem „ersten Tendenzdrama der deutschen Literatur", die Rolle des Bedrückers Varus zugeschrieben ist. Das Werk hat damals begreiflicherweise keinen Verleger gefunden — den deutschen Buchhändlern stand das Schicksal des ermordeten Palm nur zu deutlich vor Augen — und es ist auch nur wenigen Freunden und Eingeweihten bekanntgeworden. In Caspar David Friedrichs karger Stube aber strömen dem Dichter die aufwühlenden und mitreißenden Verse machtvoll von den Lippen und finden Bildgestalt in einigen von Friedrichs Gemälden: in den „Abgestorbenen Eichen" und vor allem im „Grab des Arminius". Um die Jahreswende 1808/09 erweckt der spanische Aufstand erste — trügerische — Hoffnungen auf eine Befreiung Europas vom französischen Joch. Napoleon muß einen Großteil seiner Truppen aus dem besetzten Preußen abziehen und nach Spanien werfen; von Österreich weiß man, daß es im stillen eine vergrößerte und schlagkräftige Streitmacht aufstellt. Kleist bietet seine „Hermannsschlacht" dem Wiener Burgtheater zur Aufführung an; aber noch ist die Zeit nicht reif, noch ist die Furcht zu groß vor dem dämonischen Korsen, den die österreichische Kriegserklärung wie einen Sturmwind wieder auf die Schlachtfelder Bayerns und Österreichs fegt. In diesen Tagen schreibt Kleist sein rasendes Haßlied gegen Napoleon „Germania an ihre Kinder" mit den berühmtgewordenen Schlußzeilen: „Schlagt ihn tot! Das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht . . ." Der Dichter hofft, daß Österreichs Vorbild auch Preußen zur Erhebung gegen die französische Fremdherrschaft ermutige; doch er hofft, wie viele gleich ihm, vergebens. Nun treibt's ihn nach Wien, in die vermeintliche „Stadt des Widerstandes". In dem jungen Historiker Friedrich Dahlmann, der wie Kleist „in dieser Napoleonischen Welt nichts mit sich anzufangen wußte", findet er einen willigen Reisegefährten, und am 29. April verlassen die beiden Dresden. Über Teplitz und Prag erreichen sie am 23. Mai das Schlachtfeld von Aspern, auf dem tags zuvor Napoleon seine erste Niederlage erlitt. Und wieder einmal gerät Kleist — nicht ohne eigenes Verschulden — in den Verdacht der Spionage: mit einigen unbedachten Fragen, vielleicht auch mit französischen Worten, erregt er das Mißtrauen der im Siegestaumel schwelgenden österreichischen Soldaten. „Da machte es mich nun wahrhaft ingrimmig", erinnert sich Dahlmann, „als Kleist auch noch seine Gedichte hervorzog. Die tapferen Österreicher betrachteten jedes politische Gedicht als eine unberufene vorwitzige Einmischung, und als sie nun vollends hinter Kleists 25
Namen kamen, machten sie ihn mit einer unglaublichen Geringschätzung der preußischen Waffentaten geradezu die Übergabe von Magdeburg durch seinen Verwandten (den General von Kleist) persönlich zum Vorwurf." Als Gefangene werden die beiden Verdächtigen ins österreichische Hauptquartier gebracht; dort erst klärt sich der Irrtum auf und auf Anraten eines Grafen Hiller kehren sie wieder zurück nach Prag. In der Goldenen Stadt trifft der Dichter seinen alten Dresdener Gönner wieder, den Baron Buol, der ihn in die Prager Gesellschaft einführt. Im Palais Kolowrat entwickelt Kleist wieder einmal den Plan einer neuen Zeitschrift; „Germania" soll sie heißen und „der erste Atemzug der deutschen Freiheit sein. Sie soll alles aussprechen, was während der drei letzten, unter dem Druck der Franzosen verseufzten Jahre in der Brust wackerer Deutscher hat verschwiegen bleiben müssen: alle Besorgnis, alle Hoffnung, alles Elend und alles Glück . . " Er verfaßt für die geplante Zeitschrift — die nie das Licht der Welt erblicken sollte — einen „Katechismus der Deutschen" und andere Aufsätze und versucht auch, Friedrich Schlegel zur Mitarbeit zu gewinnen. In die mit Feuereifer vorangetriebenen Pläne trifft die Schreckenskunde von der Schlacht bei Wagram, von der österreichischen Niederlage, die alle Hoffnung auf eine europäische Erhebung wieder zunichte machte. „Noch niemals, meine teure Ulrike", schreibt er nach Hause, „noch niemals bin ich so erschüttert gewesen wie jetzt. Nicht sowohl über die Zeit — denn das, was eingetreten ist, ließ sich auf gewisse Weise vorhersehen — als darüber, daß ich bestimmt war, es zu überleben." Enttäuschung und Daseinssorge stürzen ihn wieder in eine schwere, rätselvolle Krankheit, von der wir nur wissen, daß er im Kloster der Barmherzigen Brüder in Prag mehrere Monate hindurch liebevolle Pflege und langsame Genesung findet. Noch auf dem Krankenlager beschäftigt er sich mit politischen Aufsätzen, mit Gedichten und Erzählungen. Ja, mit Erzählungen, obwohl Kleist, dieser größte deutsche Erzähler, sich nach Tiecks Eindrücken nur „widerwillig und zähneknirschend" zum Erzähler „herabgelassen" hat, denn er fühlt sich ganz als Dramatiker. Auf den Tag genau ein volles Jahrhundert später wird hier in Prag ein anderer wieder den Gipfel deutscher Prosakunst erreichen — Franz Kafka, auf dessen Werk Kleist einen außerordentlichen Einfluß nimmt und dessen „Prozeß" aufschlußreiche Parallelen zu „Michael Kohlhaas" zeigt. Nach der Genesung wendet sich der Dichter wieder nach Preußen. Zum erstenmal seit langer Zeit taucht er vorübergehend auch in 26
seiner Vaterstadt auf, in Frankfurt an der Oder — aber die er sucht, die treue Schwester Ulrike, trifft er nicht an. Sie hat einen Großteil ihres bescheidenen Vermögens dem Bruder geopfert und muß nun, um ihr Leben zu fristen, zeitweilig untergeordnete Stellungen auf den Gütern befreundeter Familien annehmen, als Gesellschafterin, als „Hausdame" oder wie man halt in ihren Kreisen den Broterwerb taktvoll verbrämt. Kleists Frankfurter Elternhaus ist noch im Familienbesitz, aber sein eigener Anteil daran scheint schon mehrmals verpfändet und überlastet gewesen zu sein, so daß er nun bei der endgültigen Veräußerung kaum noch nennenswerte Mittel in die Hand bekommt. Zu Beginn des Jahres 1810 begibt er sich in die Stadt, die zur letzten Station seiner unruhvollen Lebensreise werden soll — nach Berlin.
„Der Phöbus Kleist", so berichtet Clemens Brentano in diesen Tagen an Görres, „dieser Kleist, der von Adam Müller schon für tot gehalten wurde, ist von Prag wieder hier in Berlin angekommen. Und nachdem ich nun seine übrigen im ,Phöbus' zerstreuten Arbeiten, besonders den Anfang des ,Käthchens von Heilbronn' und der schönen Erzählung .Michael Kohlhaas' gelesen, war ich recht erfreut, ihn lebendig zu wissen und zu sehen. Er ist ein sanfter, ernster Mann von zweiunddreißig Jahren, ungefähr von meiner Statur; sein letztes Trauerspiel ,Arminius' (Die Hermannsschlacht) darf nicht gedruckt werden, weil es zu sehr unsere Zeit betrifft. Er war Offizier und Kammerassessor, kann aber das Dichten nicht lassen Und ist dabei arm . . . " Der „sanfte, ernste Mann" findet Unterkunft bei der Familie Müller in der Mauerstraße 53, nahe der Wohnung von Brentano und Achim von Arnim. Auch Adam Müller, der einstige Dresdener Mitherausgeber des „Phöbus", ist in Berlin, er hält hier Vorlesungen über Friedrich den Großen und betätigt sich als — stets von einem Kranz schöner Frauen umgebener — Salonlöwe. Er führt Kleist auch bei den bedeutendsten, Berliner Verlegern ein, bei Johann Daniel Sander und Julius Eduard Hitzig, der jetzt die Schriften Adam Müllers, de la Motte Fouques und anderer namhafter Zeitgenossen veröffentlicht. Kleist ist nicht mit leeren Händen nach Berlin gekommen; in seinen Mappen sind viele noch ungedruckte Arbeiten, die er bei Adam Müller (der mit der gemeinsamen Freundin Sophie von Haza aus Dresden verheiratet ist), bei Sander und 27
Hitzig sowie im Palais Radziwill nicht ohne freundlichen Beifall und Erfolg zur Vorlesung bringt. Im Hause des Staatsrates Stägemann, der Kleist schon von der Königsberger Zeit her kennt, kommen auch Szenen aus des Dichters neuem Trauerspiel zur Vorlesung, das sein letztes und größtes Werk werden soll: „Der Prinz von Homburg." Was Heinrich von Kleist bisher weder im Leben noch im Dichten beschieden war — die Selbstüberwindung — hier wird's Ereignis, in erschütternder Reife und Vollendung, die hier wie immer auch ein Ende bedeutet. Man vergesse nicht: Niemals hat Kleist eines seiner Dramen oder Lustspiele auf der Bühne gesehen; niemals war es ihm vergönnt, das „Technische", das Theatergerechte und Bühnenwirksame aus eigenem Erleben zu erfahren und zu erlernen — und doch ist dieser „Prinz von Homburg" mit Richard Wagners Worten „das allervortrefflichste Bühnenwerk". Wie sinnund bedeutungsvoll, daß gerade Richard Wagner dieses Werk so liebt und ehrt: der Erzmusikant erspürt intuitiv die hohe Musikalität, die diesem wie fast allen Werken Kleists innewohnt — dieses Dichters, der die Musik als die Wurzel aller übrigen Künste betrachtet und alles, was er über die Dichtkunst gedacht, auf Töne bezogen hat — im Gegensatz zur Farbenbezogenheit des visuellen Goethe. (Eine der stärksten Begabungen unserer Gegenwart, die Lyrikerin Ingeborg Bachmann, hat aus Kleists „Prinz von Homburg" behutsam und respektvoll das Textbuch zu Werner Henzes gleichnamiger Oper gewonnen, die am 22. Mai 1960 in Hamburg mit großem Erfolg uraufgeführt wurde und von der Musikkritik zu den bedeutendsten Opernwerken unserer Tage gerechnet wird.) Nach dreijähriger unfreiwilliger Abwesenheit sind Ende 1809 auch der König und die Königin von Preußen wieder in ihre Hauptstadt zurückgekehrt; und am 10. März 1810 erlebt Kleist die Genugtuung, seiner verehrten Gönnerin ein Huldigungsgedicht überreichen zu dürfen, das sie zu Tränen rührt. Doch es ist ihr letzter Geburtstag — mit dem Tode der unglücklichen Herrscherin am 9. Juli verliert der Dichter auch den ihm von Luise seit sechs Jahren bewilligten Ehrensold. In Zeiten der Not — und wann war Kleist nicht in Not? — waren ihm diese jährlichen sechzig Louisdors, die allerdings unregelmäßig und oft mit großer Verzögerung ausgezahlt wurden, die letzte rettende Hilfe gewesen. Nun ist's auch damit zu E n d e . . . Honorare hat Kleist nicht zu erwarten; und Ulrike, die zuverlässige Helferin durch Jahrzehnte, lebt jetzt selbst in Armut. Die nackte Daseinsnot, die Sorge ums tägliche Brot treibt den Dichter in ein neues Unternehmen: Eine Zeitung. 28
hJj-, fm j h a t K l e i s t dem Berliner „Theaterkönig" August Wilml I a n d seine Bühnenwerke zur Aufführung angeboten. Der r ff1™* lle ber seine eigenen Stücke; er schickt das „Käthchen von Heilbronn" und andere ihm eingesandte Werke mit einigen nichtssagenden Zeilen zurück. Kleist rächt sich an ihm in ähnlich bitterer und nicht ganz würdiger Art, wie er sich seinerzeit an Goethe mit häßlichen Epigrammen gerächt hatte. Also denn nicht! Nun muß die Zeitung her. Am 1. Oktober 1810 erscheint die erste Nummer der „Berliner Abendblätter" — die erste täglich in Berlin erscheinende Zeitung überhaupt und das Urbild unserer heutigen „Boulevard-Zeitungen". Ein Sensationsblatt, das als einzige Berliner Zeitung jeden Abend (außer Sonntag) die mittags von den Behörden freigegebenen Pqlizeiberichte bringt. Der Polizeipräsident Grüner ist Kleist wohlgesinnt: er läßt ihm unmittelbar die neuesten und interessantesten Meldungen über Mord und Totschlag, über Raub, Brand und Plünderung zukommen. Das lesen die Leute — damals wie heute — am liebsten; die „Berliner Abendblätter" finden reißenden Absatz. Als „Spediteur" zeichnet der Verleger Hitzig, als Herausgeber seit Ende Oktober Heinrich von Kleist, der seinen Namen in den ersten Nummern noch schamhaft verschwiegen hatte. Man darf sich die „Abendblätter" allerdings nicht in der großformatigen, drucktechnisch hervorragenden Aufmachung unserer heutigen Zeitungen vorstellen; es sind kümmerliche, kleinformatige und schlecht gedruckte Blättchen auf billigstem rauhem Papier. Aber was tut's — die Berliner reißen sich um das Sensationsblättchen und bald macht „der außerordentliche Andrang von Menschen" den Umzug der Redaktion in ein neues, größeres Lokal nötig. Die Damen schlagen natürlich zuerst die Modeseite auf, die so aufregende Mitteilungen bringt wie diese: „Schwarze Strohhüte, mit einem Diadem von schwarzen Federn, einem bunten Futter und einem vorschießenden Rande, sind sehr zahlreich . . . " Stets willkommen sind auch solche Nachrichten: „Bei einem Bäcker in der Prenzlauer Allee hat heute früh ein Schornstein gebrannt, ist aber sogleich gelöscht worden . . . " oder: „Auf dem Spittelmarkt hat eine Gärtnerin sich heute verbotswidrig über einen offenen Kohlentopf gesetzt, welcher in Beschlag genommen worden ist." Lieber Lesebogenfreund: nun halt' einen Augenblick inne und bedenk': Solche und ähnliche Meldungen sind verfaßt und stilisiert von Heinrich von Kleist, den die Literaturgeschichte den größten deutschen Tragiker nennt. Und wenn Du fragst, warum er das tat, dann bedenk': Hunger tut w e h . . . Mögest Du es nie am eigenen Leibe erfahren müssen! 29
Natürlich bleibt nun auch „die liebe Konkurrenz" nicht untätig. Die Spenersche Zeitung, die Vossische Zeitung beobachten sorgsam und tückisch den genialen Außenseiter, der sich da in ihr eigenstes Jagdrevier gewagt hat. Auch Ernst Litfaß, ein verlegerischer Geschäftemacher, wie sie es immer gab und geben wird, jener Litfaß, der die heute noch beliebten „Plakatsäulen" erfand, bringt in seinem Wochenblättchen „Der Beobachter an der Spree" eine gehässige Parodie auf die „Abendblätter" mit der Überschrift: „Auszüge aus den Krähwinkeischen merkwürdigen Tagesblättern . . ." Doch Konkurrenzneid und häßliche Angriffe bekümmern Kleist weniger als die Gesinnungen eines Mannes, dessen Name von nun an dunkel drohend über des Dichters Leben und Ende steht: Es ist Carl August Freiherr von Hardenberg. Im Juni 1810 ist Hardenberg anstelle des auf Wunsch Napoleons entlassenen Freiherrn vom Stein Staatskanzler des Königs von Preußen geworden. Ein Grandseigneur alter Schule, ein an allen Höfen Europas berühmter Frauenfreund und Schuldenmacher, als Diplomat ebenbürtig dem Grafen Metternich — und darüber hinaus der Vertraute der Königin Luise, die noch auf dem Sterbebett ihren Gatten beschworen hat, sich niemals von Hardenberg zu trennen. Er ist — was der naive Kleist allerdings nicht wissen kann — ein glühender Patriot und Todfeind Napoleons; in aller Stille schafft er mit an den Voraussetzungen des Befreiungskampfes, in scheinbarer Gefügigkeit täuscht er die Franzosen. Ja, und nun kommt da ein gewisser Monsieur de Kleist und möchte in seinem Blättchen auch „Politische Nachrichten" aufnehmen. Unmöglich! Hardenberg hat alle Hände voll zu tun, die Franzosen nicht mißtrauisch zu machen, er kann jetzt weder unbedachte Äußerungen noch Skandale gebrauchen. Ist nicht in diesen „Abendblättern" ein heftiger Angriff gegen ihn und seine Reformpläne erschienen? Der Aufsatz stammt von Adam Müller, Kleists gefährlichem Freund, seinem „Mephisto", wie ihn viele Kleistbiographen etwas übersteigert nennen. Hardenberg hat es nicht einmal nötig, die Zensurbehörden auf Kleists Blättchen zu hetzen — das haben schon die Franzosen getan. Auch der Polizeipräsident Grüner wird plötzlich kaltgestellt, und damit verliert der Dichter eine unersetzliche Nachrichtenquelle. Was nützt es, daß statt der Aktualitäten nun in den „Abendblättern" Kleists herrliche Erzählungen erscheinen und seine großartig geschliffenen Anekdoten — das Publikum interessiert sich weniger für das „Bettelweib von Locarno" oder das unsterbliche Gespräch „Ober das Marionettentheater" — es will die neuesten Kriminal- und Klatschgeschichten 30
lesen; und die kann ihm Kleist nicht mehr bieten. Seine Zeitung verschwindet ebenso plötzlich, wie sie gekommen war; in der Nummer vom 30 März 1811 sieht sich Kleist „aus Gründen, die hier nicht angegeben werden können", genötigt mitzuteilen, daß die „Berliner Abendblätter" ihr Erscheinen einstellen. Damit schwindet seine letzte Existenzgrundlage dahin. Die Freunde berichten, daß Kleist in den letzten Monaten seines Lebens kaum noch das Haus verlassen habe. Man wundert sich über seine Marotte, auch tagsüber im Bett liegen zu bleiben, und keiner kommt auf den wahren, bitteren Grund. Der Dichter hat nur noch einen leidlich intakten Anzug, und im Bett spürt man auch den Hunger nicht so sehr wie unterwegs . . . Ulrike lebt ärmlich, dem Bruder entfremdet, auf Landgütern befreundeter Adelsfamilien oder in Frankfurt. Marie von Kleist aber, die Kusine, hat sich nach der Scheidung ihrer Ehe im April 1811 auf ein mecklenburgisches Gut zurückgezogen. Es gehen liebevolle, aufmunternde Briefe hin und her, doch scheint Marie über die katastrophale wirtschaftliche Lage Heinrichs nicht unterrichtet gewesen zu sein. Immerhin: sie, die gute Beziehungen zum Hofe hat und mit der verstorbenen Königin Luise befreundet war, setzt sich nun für den jüngeren Vetter in einem würdigen und mutigen Appell beim König von Preußen ein: „Mein König vergesse nicht, daß ein Dichter seines Namens unter die Ersten Helden des Vaterlandes g e h ö r t . . . " Im September 1811 erhält der Dichter ein königliches Handschreiben, das ihm seine Wiederaufnahme in die Preußische Armee allergnädigst zu verkünden geruht. So schließt sich der Kreis. .. Als Offizier des Königs von Preußen braucht man eine Gala-Uniform, eine Feld-Uniform, Degen und Diener — und das alles muß man selber bezahlen. Heinrich von Kleist hat kein Geld. Er bittet Hardenberg erst um Unterstützung, dann um ein Darlehn. Aber der Staatskanzler hat in diesen Monaten wahrhaftig anderes zu tun als derlei Gesuche zu beantworten. Bleibt nur eine letzte Hoffnung: Ulrike. In den ersten Oktobertagen erscheint er, unangemeldet, im Elternhaus in Frankfurt. Die Schwester erschrickt bei seinem Anblick: Da steht ein verwahrloster, verkommener Mann an der Tür, und dieser Mann ist ihr Bruder, dem sie Jahre ihres Lebens, dem sie Vermögen und Ansehen geopfert hat. Zum erstenmal — aber in einer entscheidenden Schicksalsstunde — versagt Ulrike von Kleist, diese treueste aller Schwestern. Sie kann ihm nicht helfen. Sie will auch- nicht mehr. Wie von Furien gejagt flieht der Dichter aus dem Hause, in dem einst seine Wiege stand. 31
Da ist doch diese Henriette Vogel in Berlin, eine verlassene Freundin Adam Müllers. Ein armes Wesen, hysterisch, krebskrank, dem frühen Tod anheimgegeben. Mit ihr zusammen, die eine blendende Singstimme hat und meisterlich Klavier spielt, flüchtet sich Kleist in seinen letzten irdischen Tagen zu der unsterblichen Heilerin, die einst schon den Knaben tröstete und erhob — zur Musik. Die beiden finden sich nicht nur in ihrer Leidenschaft zur Musik, sie finden sich auch in der Sehnsucht zum Tode. Bei solcher Sehnsucht ist der Schritt zur Tat nicht weit — wir wollen nicht fragen noch sagen, wie es vorbereitet und endlich getan ward. Wir wollen nur noch einen Blick werfen auf Heinrich von Kleists letzten, schönsten Brief an Ulrike, den er „am Morgen seines Todes" schrieb: „Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter wie ich bin, mit der ganzen Welt und somit auch vor allen anderen mit Dir, meine teuerste Ulrike, versöhnt zu haben . .. Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in den Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war . .." Was dann geschah, kann, wer will, noch einmal nachlesen in der Stahnsdorfer Kirchenbucheintragung am Anfang unserer Geschichte. Wie heißt es in des Dichters „Letztem Lied": „...schließt er sein Lied. Er wünscht mit ihm zu enden, und legt die Leier tränend aus den Händen." „Keiner von denen, die ihn jetzt tadeln, hätte ihm auch nur zehn Taler gereicht. . ." schreibt die große Jüdin Rahel Varnhagen zu Kleists Tod. Der Staatskanzler von Hardenberg aber, über dem schon die Fürstenkrone unsichtbar schwebt, kann endlich, endlich das Darlehnsgesuch des lästigen Dichters mit der erledigenden Randbemerkung versehen: „Zu den Akten, da der p. von Kleist nicht mehr lebt."
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky. Das Bildnis Heinrich von Kleists auf der Umschlagseite 2 stammt vermutlich von Wilhelmine von Zenge L u x - L e s e b o g e n 3 5 5 (Dichtung) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte. — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.
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