Jürgen Osterhammel
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Jürgen Osterhammel
Kolonialismus Geschichte – Formen – Folgen München 1995 Beck’sche Reihe Wissen 2002 Verlag C.H. Beck
I. „Kolonisation“ und „Kolonien“ Wenn heute in Kulturkritik und politischer Polemik von „Kolonialisierung“ – der Lebenswelt durch apparathafte Mächte, der Gesellschaft durch den Parteienstaat usw. – die Rede ist, werden, jedermann verständlich, Bedeutungselemente wie Fremdbestimmung, Usurpation und illegitime Aneignung angesprochen. Dahinter verbirgt sich die negative Beurteilung alles dessen, was mit „Kolonialismus“ zusammenhängt. Was aber ist unter „Kolonialismus“ in zunächst wertfreier Beschreibung zu verstehen? Welches sind die Merkmale von „Kolonialismus“, die dieses Phänomen aus der Menge der in der Weltgeschichte bekannten Herrschaftsbeziehungen und Expansionsprozesse hervorheben? Anders gefragt: Wie kann ein hinreichend trennscharfer historischer Begriff von „Kolonialismus“ aussehen? Wie situiert man den Begriff in Beziehung zu „Kolonisation“ und „Kolonie“, zu „Imperialismus“ und „europäischer Expansion“? Wie läßt sich die Besonderheit neuzeitlicher Kolonisierung und Koloniebildung in einem ersten Zugriff konzeptionell erfassen? Die Historiker sind von Einvernehmen über diese Fragen weit entfernt. Sie haben sich überhaupt wenig mit ihnen beschäftigt. Anders als zu „Imperialismus“ gibt es zu zeitgenössischen und modernen Vorstellungen von „Kolonialismus“ nur wenige begriffsgeschichtliche und dogmenhistorische Untersuchungen; unter die 119 „Geschichtlichen Grundbegriffe“ ist das Stichwort nicht aufgenommen worden.1 Nichts Vergleichbares existiert zu den lehrbuchmäßig kanonisierten „Imperialismustheorien“; und der scharfsinnigste begriffskritische Versuch stammt nicht etwa von einem Erforscher der europäischen Übersee–Expansion, sondern von dem Althistoriker Sir Moses Finley.2 Es ist gerade dieser Kenner der antiken Städtegründung und Reichsbildung, der für eine genaue begriffliche Bestimmung des spezifisch neuzeitlichen Kolonialismus plädiert und die Übertragung des Konzepts auf Altertum und Mittelalter für problematisch hält.3 Die unermeßliche Vielfalt jener Erscheinungen, die man auf den ersten Blick unter „Kolonialismus“ fassen kann, dämpft freilich jeden Willen zu terminologischer Genauigkeit. Irgendwann zwischen etwa 1500 und 1920 geriet die Mehrzahl der Räume und Völker der Erde unter die zumindest nominelle Kontrolle von Europäern: ganz Amerika, ganz Afrika, nahezu das gesamte Ozeanien und – berücksichtigt man auch die russische Kolonisation Sibiriens – der größere Teil des asiatischen Kontinents. Die koloniale Wirklichkeit war bunt, vielgestaltig, widerspenstig gegenüber anmaßenden imperialen Strategien, geprägt von den lokalen Besonderheiten der Verhältnisse in Übersee, von den Absichten und Möglichkeiten der einzelnen Kolonialmächte, von großen Tendenzen im internationalen System. Kolonialismus muß von all diesen Aspekten her gesehen werden, gerade auch aus der Warte der Beteiligten und Betroffenen an Ort und Stelle. Doch selbst wenn man es sich einfach macht und dem Lexikon in seiner konventionellen Gleichsetzung von Kolonialismus und (europäischer) Kolonialpolitik folgt – Kolonialismus sei die „auf Erwerb u. Ausbau von [überseeischen] Besitzungen ausgerichtete Politik eines Staates“4 –, verwirrt die Unübersichtlichkeit der kolonialen Arrangements. Nicht nur das umfassendste aller modernen Weltreiche, das britische Empire, war ein aus Improvisationen entstandener Flickenteppich von Ad–hoc–Anpassungen an besondere Umstände „on the spot“. Selbst über das dem eigenen Anspruch nach cartesianisch durchrationalisierte französische Kolonialimperium hat der Altmeister unter seinen Historikern sagen können: „In Wahrheit gab es ein 1 Vgl. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch– sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde., Stuttgart 1972–92, darin (Bd. 3, 1982, S. 171–236) aber ein Artikel über „Imperialismus“ von Jörg Fisch, Dieter Groh und Rudolf Walther. 2 Moses I. Finley Colonies: An Attempt at a Typology, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series, 26 (1976), S. 167–88.
So etwa William Y. Adams, The First Colonial Empire: Egypt in Nubia, 3200–1200 B. C., in: Comparative Studies in Society and History 26 (1984), S. 36–71; Joshua Prawer, The Crusaders’ Kingdom: European Colonialism in the Middle Ages, New York 1972. 3
4
Duden. Fremdwörterbuch, 3. Aufl., Mannheim 1974, S. 381.
koloniales System nur auf dem Papier.“5 Kolonisation ist mithin ein Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit.
Formen der Expansion in der Geschichte „Kolonisation“ bezeichnet im Kern einen Prozeß der Landnahme, „Kolonie“ eine besondere Art von politisch–gesellschaftlichem Personenverband, „Kolonialismus“ ein Herrschaftsverhältnis. Das Fundament aller drei Begriffe ist die Vorstellung von der Expansion einer Gesellschaft über ihren angestammten Lebensraum hinaus. Derlei Expansionsvorgänge sind ein Grundphänomen der Weltgeschichte. Sie treten in sechs Hauptformen auf: (1) Totalmigration ganzer Völker und Gesellschaften: Völkerwanderungen. Größere menschliche Kollektive, die ihrer Natur nach seßhaft sind, also im Normalfall keine mobile Lebensweise als Jäger oder Hirtennomaden praktizieren, geben ihre ursprünglichen Siedlungsräume auf, ohne Muttergesellschaften zu hinterlassen. Die Expansion ist meist mit militärischer Eroberung und Unterwerfung von Völkern in den Zielregionen verbunden, zuweilen auch mit deren Verdrängung. Ihre Ursachen sind vielgestaltig: Übervölkerung, ökologische Engpässe, Druck expandierender Nachbarn, ethnische oder religiöse Verfolgung, Verlockung durch reiche Zivilisationszentren usw. Dieser Expansionstyp des Exodus, auf allen Kontinenten bekannt, führte in der noch nicht nationalstaatlich formierten Welt oft zu neuen Herrschaftsbildungen von schwankender Dauerhaftigkeit. Es handelt sich dabei per definitionem nicht um Kolonien, da kein steuerndes Expansionszentrum zurückbleibt. Totalmigrationen sind in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts selten; als ein Sonderfall können die Deportationen, also Zwangsumsiedlungen, ganzer Völker unter dem Stalinismus Anfang der 1940er Jahre gelten. Ein relativ spätes Beispiel für eine freiwillige Kollektivmigration ist der Auszug der Kap– Buren ins Innere Südafrikas auf dem Großen Trek der Jahre 1836–1854 mit der folgenden Errichtung der beiden burischen Gemeinwesen Oranje–Freistaat und Transvaal: freilich kein reiner Fall, da die Mehrheit der Buren am Kap zurückblieb, ohne aber gegenüber den Trekburen als steuerndes Zentrum zu fungieren. (2) Massenhafte Individualmigration, die klassische „Auswanderung“ im weitesten Sinne. Dabei verlassen Individuen, Familien und kleine Gruppen aus vorwiegend wirtschaftlichen Motiven ohne Rückkehrabsichten ihre Heimatgebiete. Anders als bei der Totalmigration bleiben die entsendenden Gesellschaften strukturell intakt. Die Individualmigration erfolgt in der Regel als ein Expansionsvorgang zweiter Stufe innerhalb bereits etablierter politischer und weltwirtschaftlicher Strukturen. Die Emigranten schaffen keine neuen Kolonien, sondern werden in unterschiedlichen Weisen bestehenden multiethnischen Gesellschaften eingegliedert. Oft finden sie sich in „Kolonien“ im übertragenen Sinne zusammen: in identitätssichernden soziokulturellen Enklaven, deren entwickeltste Form das amerikanische Chinatown ist. Der Grad von Freiwilligkeit oder Erzwingung solcher Migration ist eine Variable innerhalb dieses Typus. Deshalb ist ihm nicht nur die transatlantische Auswanderung von Europäern während des 19. und 20. Jahrhunderts in die Neue Welt und in die übrigen Siedlungskolonien des britischen Empire zuzuordnen, sondern auch die durch den Sklavenhandel verursachte Zwangsmigration von Afrikanern nach Amerika sowie der „coolie trade“ mit chinesischen Arbeitskräften im pazifischen Raum und die Ansiedlung von Indern in Ost– und Südafrika. (3) Grenzkolonisation. Damit ist die in den meisten Zivilisationsräumen bekannte extensive Erschließung von Land für die menschliche Nutzung gemeint, das Hinausschieben einer Kultivierungsgrenze („frontier“) in die „Wildnis“ hinein zum Zwecke der Landwirtschaft oder der Gewinnung von Bodenschätzen. Solche Kolonisation ist naturgemäß mit Siedlung verbunden; es handelt sich, ökonomisch gesehen, um die Heranführung der mobilen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital an standortgebundene natürliche Ressourcen.6 Selten ist mit dieser Art von Kolonisation die Gründung von Kolonien im Sinne separater politischer Einheiten verbunden, da sie in der Regel am Rande 5
Henri Brunschwig, Noirs et blancs dans l’Afrique noire française, Paris 1983, S. 209.
Vgl. die theoretische Definition in John J. McCusker/Russell R. Menard, The Economy of British America, 1607–1789, Chapel Hill/ London 1985, S. 21. 6
bestehender Siedlungsgebiete erfolgt. Ein Beispiel ist die allmähliche Ausbreitung der han–chinesischen Ackerbauzone auf Kosten der Hirtenökonomie Innerasiens, wie sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Solche Kolonisation kann aber auch sekundär von überseeischen Neusiedlungskernen ausgehen. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Erschließung des nordamerikanischen Kontinents von seiner Ostküste her. Die industrielle Technik hat die Reichweite – und die naturzerstörende Wirkung – der Kolonisation enorm vermehrt. Besonders die Eisenbahn hat die Rolle des Staates in einem Prozeß gestärkt, der in der Geschichte meist durch nichtstaatliche Gemeinschaften organisiert wird. Die umfassendste staatlich gelenkte Eisenbahnkolonisierung war die Erschließung des asiatischen Rußland seit dem späten 19. Jahrhundert.7 (4) Überseeische Siedlungskolonisation. Sie ist eine Sonderform der Grenzkolonisation, die ihre erste Ausprägung in der Kolonisationsbewegung des griechischen Altertums (und zuvor schon der Phönizier) fand: die Anlage von „Pflanzstädten“ jenseits des Meeres in Gegenden, wo meist nur relativ geringe militärische Machtentfaltung erforderlich war. Nicht nur unter antiken, sondern auch noch unter frühneuzeitlichen Bedingungen machte die Logistik den entscheidenden Unterschied zur eigentlichen kontinentalen Grenzkolonisation aus. Die Distanz führte dazu, daß hier aus der Kolonisation tatsächlich Kolonien im Sinne nicht nur von Grenzsiedlungen, sondern von distinkten Gemeinwesen hervorgingen. Der klassische Fall sind die Anfänge der englischen Besiedlung Nordamerikas. Die Gründergruppen von Siedlungskolonien – „plantations“ im Sprachgebrauch der Epoche8 – versuchten, wirtschaftlich sich weitgehend selbst versorgende Brückenköpfe zu bilden, die weder auf Nachschub aus dem Mutterland noch auf Handel mit der einheimischen Umwelt existentiell angewiesen waren. Das Land wurde als „herrenlos“ betrachtet, die indigene Bevölkerung nicht, wie in Spanisch–Amerika, unterworfen und der Kolonie im Untertanenstatus eingegliedert, sondern trotz oft heftiger Gegenwehr gewaltsam zurückgedrängt. Die Lebensräume von Siedlern und Einheimischen waren territorial wie sozial getrennt. Die Europäer fanden in Nordamerika und später etwa in Australien nicht – wie etwa die Römer in Ägypten, die Engländer in Indien und z. T. auch die iberischen Mächte in Mittel– und Südmerika – leistungsfähige Ackerbausysteme vor, deren besteuerbare Überschüsse einen militärisch gestützten kolonialen Herrschaftsapparat hätten tragen können. Es war also nicht möglich, einen strukturell bereits vorhandenen Tribut von den Kassen der alten Machthaber in die der neuen Herren umzuleiten. Zudem war die indianische Bevölkerung zur zwangsweisen Arbeitsleistung in einer Landwirtschaft europäischer Art wenig geeignet. Aus diesen Umständen entwickelte sich Typ I, der „neuenglische“ Typ, von Siedlungskolonisation: Wachstum einer agrarischen Siedlerbevölkerung, die ihren Arbeitskräftebedarf aus der eigenen Familie und durch Rekrutierung von europäischen „Schuldknechten“ („indentured servants“) deckt und die ökonomisch für sie nutzlose, demographisch schwache einheimische Bevölkerung rücksichtslos vom Land verdrängt. Auf diese Weise waren um 1750 in Nordamerika – und in der gesamten außereuropäischen Welt bis dahin nur dort – sozial und ethnisch in hohem Maße homogene europäisierte Gebiete entstanden: die Kerne einer neo–europäischen Nationalstaatsbildung. In Australien unter den besonderen Bedingungen einer anfänglichen Zwangsmigration von Sträflingen und später auch, gegen besonders heftigen Widerstand der einheimischen Maori, in Neuseeland folgten die Briten ebenfalls diesem Kolonisierungsmodell. Ein zweiter Typ von überseeischer Siedlungskolonisation stellt sich dort ein, wo eine politisch dominante Siedlerminderheit – in der Regel mit Hilfe des kolonialen Staates – eine traditionell bereits ackerbautreibende einheimische Bevölkerungsmehrheit zwar vom besten Land vertreiben kann, aber auf ihre Arbeitsleistung angewiesen bleibt und in ständiger Konkurrenz mit ihr um knappen Boden steht. Anders als beim „neuenglischen“ Typ sind die Siedler bei diesem zweiten Typ, den man nach seinen wichtigsten modernen Ausprägungen (Algerien, Rhodesien, Kenia, auch Südafrika) den „afrikanischen“ nennen kann, von der indigenen Bevölkerung wirtschaftlich abhängig.9 Dies erklärt auch Vgl. Steven G. Marks, Road to Power: The Trans–Siberian Railroad and the Colonization of Asian Russia, 1850–1917, Ithaca/New York 1991, S. 196ff. 7
8
Vgl. Francis Bacon, Of Plantations [16251, in: The Essays, hrsg. v. John Pitcher, Harmondsworth 1985, S. 162–64.
Vgl. Paul Mosley, The Settler Economies: Studies in the Economic History of Kenya and Southern Rhodesia, 1900–1963, Cambridge 1983, S. 5–8, 237 (Anm. 1). 9
die Instabilität dieses zweiten Typus. Nur die europäische Kolonisation Nordamerikas, Australiens und Neuseelands ist irreversibel geworden, während es in den afrikanischen Siedlungskolonien zu besonders heftigen Dekolonisationskämpfen kam. Ein dritter Typ der Siedlungskolonisation löst das Problem der Versorgung mit Arbeitskräften nach der Vertreibung oder Vernichtung der Urbevölkerung durch Zwangsimport von Sklaven und deren Beschäftigung in einer mittel– bis großbetrieblich organisierten Plantagenökonomie. Nach dem Raum seiner deutlichsten Ausprägung sprechen wir vom „karibischen“ Typ; weniger dominant findet er sich auch in Britisch–Nordamerika. Eine wichtige Variable ist das demographische Verhältnis der Bevölkerungsgruppen. In der britischen Karibik machten um 1770 Schwarze etwa 90% der Gesamtbevölkerung aus, in den nördlichen Kolonien der späteren USA zur gleichen Zeit nur 22%, in den späteren „Südstaaten“ immerhin nicht mehr als 40%.10 (5) Reichsbildende Eroberungskriege: die klassische Form – die „römische“ Form – der Errichtung der Herrschaft eines Volkes über ein anderes. In diesem Falle bleibt ein imperiales Zentrum als letzte Quelle von Machtmitteln und Legitimität erhalten, auch wenn die militärische Expansion sich überwiegend aus Ressourcen speist, die im Verlaufe des Vordringens an Ort und Stelle mobilisiert werden. Nicht in allen Fällen bleibt jedoch ein zentralisiertes Einheitsreich bestehen: Die arabisch– muslimische Expansion des 8. Jahrhunderts führte rasch zu einem Polyzentrismus partikularer Gewalten; das mongolische Weltreich Dschingis Khans zerfiel nach zwei Generationen in mehrere Nachfolgegebilde; und selbst das moderne britische Empire bestand auf seinem Höhepunkt aus drei nur lose verknüpften Sphären: den „white Dominions“, den „abhängigen“ Kolonien („dependencies“) und dem „Kaiserreich“ Indien, dessen Regierung eigene „subimperialistische“ Interessen zu verfolgen vermochte. Militärische Reichsbildung ist in der Regel nicht durch Landnahme in „leeren“ Territorien erfolgt, sondern durch Unterordnung bestehender staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen, die den Bedürfnissen der Eroberer angepaßt, aber dabei nicht völlig zerstört wurden. Eine plötzliche und vollständige Vernichtung des früheren Herrschaftssystems, wie sie durch die spanische Invasion in Mexiko geschah, war eher die Ausnahme als die Regel. In der neuzeitlichen Expansionsgeschichte war die Eroberung oft ein langwieriger Prozeß, der aus anfänglichen Kontakten hervorging, in welchen die Europäer gleichberechtigte oder gar unterlegene Partner waren. Militärische Eroberer verhielten sich parasitär zur dominierten Wirtschaft; die Hauptfunktion der obrigkeitlichen Organe war neben der Sicherung der Ordnung und der Erleichterung des Fremdhandels die Abschöpfung von Tribut. Die Neuorganisation der Steuererhebung gehört daher regelmäßig zu den ersten Aktivitäten einer Kolonialmacht. Militärische Eroberung zog eher in Ausnahmefällen – Teilen des Römischen Reiches, Irland, Algerien – die Niederlassung von Siedlern nach sich und damit Landenteignungen großen Stils sowie die teilweise direkte Übernahme der landwirtschaftlichen Produktion durch Fremde. Das klassische und für die tropische Welt stilbildende neuzeitliche Produkt eines militärischen Imperialismus – Britisch–Indien – war niemals Siedlerterritorium. Insgesamt resultiert dieser Expansionstypus in Kolonialherrschaft ohne Kolonisation. Wir sprechen von Beherrschungskolonie. Eine besondere Variante findet sich in Spanisch–Amerika. Dort kam es zwar zu einer erheblichen Einwanderung aus Europa und, anders als in Kolonien vom indischen Typ, zur Herausbildung einer sich demographisch selbst reproduzierenden „kreolischen“ Bevölkerungsschicht. Im Unterschied zu Nordamerika war Siedlungskolonisation aber nicht der Hauptzweck der Koloniebildung; die meisten Einwanderer siedelten sich in den Städten an und bildeten zu keinem Zeitpunkt eine Bevölkerungsmehrheit: Um 1790, also gegen Ende der Kolonialzeit, machten Immigranten der ersten Generation und Kreolen spanischer Herkunft etwa ein Viertel der Bevölkerung Hispanoamerikas aus.11 Expansion durch Eroberungskriege führte zu unterschiedlichen Formen der Eingliederung unterworfener Gebiete in den jeweiligen Reichsverband. Im einzelnen hing dies von den politischen Traditionen der erobernden Macht ab. Charakteristisch für vormoderne Imperien war der Anschluß der neugewonnenen Gebiete an die bestehende Territorialregierung des Reiches, also ein Provinzialprinzip. Die neuzeitlichen Reiche kennen zumeist separate Kolonialbehörden in der Metropole, die die 10
Robert William Fogel, Without Consent or Contract: The Rise and Fall of American Slavery, New York 1989, S. 30f.
11
Mark A. Burkholder/Lyman L. Johnson, Colonial Latin America, New York/Oxford 1990, S. 106.
Verwaltung an der Peripherie beaufsichtigen. Dies gilt übrigens nicht allein für die europäischen Imperien: Auch die mandschurisch–chinesische Qing–Dynastie (1644–1911) ließ die in Innerasien (Mongolei, Tibet, Turkestan/Xinjiang) neu angeschlossenen Gebiete durch eine spezielles „Barbarenamt“ (Lifanyuan) regieren. Der amerikanische Diplomat Paul Reinsch hat in solchen Sonderbehörden das entscheidende politisch–formale Definitionsmerkmal für eine „Kolonie“ gesehen: Eine solche sei „eine auswärtige Besitzung eines Nationalstaates, die unter einem System verwaltet wird, das von der Regierung des nationalen Territoriums getrennt, aber ihr unterstellt ist“.12 (6) Stützpunktvernetzung. Diese Form der maritimen Expansion besteht in der planmäßigen Anlage von militärisch geschützten Handelsfaktoreien, von denen weder binnenländische Kolonisationsbestrebungen noch nennenswerte Impulse zu großräumiger militärischer Landnahme ausgehen (die Ausdehnung der britischen Macht in Indien von Kalkutta, Bombay und Madras aus ist zumindest vor 1820 untypisch). Der Zweck ist die Sicherung einer Handelshegemonie, so zuerst beim locker geknüpften Seereich der Republik Genua im Mittelmeer, dann bei den planmäßiger angelegten und strammer organisierten Kaufmannsimperien der Portugiesen (Mozambique, Goa, Malakka, Macau) und der Holländer (Batavia, Ceylon, Nagasaki) in Asien. Als im 18. Jahrhundert das Zeitalter der Weltpolitik beginnt, gewinnt die Anlage von miteinander vernetzten Stützpunkten bei der führenden Seemacht der Zeit, Großbritannien, über den Schutz von Handelsinteressen hinaus ein globalstrategisches Eigengewicht. Flottenstützpunkte (Bermuda, Malta, Zypern, Alexandria/Suez, Aden, Kapstadt, Gibraltar) und militärisch bedeutsame „Hafenkolonien“13 (Singapur, Hongkong) gehörten denn auch zu den langlebigsten und am zähesten verteidigten Komponenten des britischen Empire. Als einziger Kolonietypus ist der des militärischen Stützpunkts auf lange Sicht modernisierungsfähig. Er hat sich aus der Ära des Kanonenbootes in die der taktischen Luftwaffe weiterentwickeln können.
Kolonien: Eine Klassifikation Die Begriffe „Kolonisation“ und „Kolonie“ sollten – das folgt aus diesem Versuch typologischer Auffächerung – nicht zu eng miteinander identifiziert werden. Es gibt Kolonisation ohne Koloniebildung: die in der Geschichte vorwiegende Situation der Grenzkolonisation. Es gibt aber auch Koloniebildung, die nicht aus Kolonisation folgt, sondern ihre Ursache in militärischer Eroberung hat, die statt auf dem Pflug auf dem Schwert beruht. Zwischen beiden „idealtypisch“ reinen Fällen steht die Siedlungskolonisation „afrikanischen“ Typs (am deutlichsten ausgeprägt in Algerien), bei welcher die Eroberung die Voraussetzung für Siedlung in großem Stil schuf. Überhaupt darf nicht übersehen werden, daß auch Siedler bewaffnet sind; nur ist die Gewalt, die sie ausüben, zumindest in den Anfangsphasen der Kolonisation keine Staats–Gewalt. Eine für die Neuzeit gültige Definition von „Kolonie“, die sich aus diesen Überlegungen ergibt, muß eng genug sein, um historische Situationen wie vorübergehende militärische Okkupation oder die gewaltsame Angliederung von Grenzgebieten an moderne Nationalstaaten (z.B. Elsaß–Lothringen 1871–1918) auszuschließen. Der folgende Vorschlag soll dieser Bedingung genügen; seine gewissermaßen juristische Umständlichkeit ist ein Opfer, das der Genauigkeit geschichtswissenschaftlicher Sprachverwendung gebracht werden muß. Eine Kolonie ist ein durch Invasion (Eroberung und/oder Siedlungskolonisation) in Anknüpfung an vorkoloniale Zustände neu geschaffenes politisches Gebilde, dessen landfremde Herrschaftsträger in dauerhaften Abhängigkeitsbeziehungen zu einem räumlich entfernten „Mutterland“ oder imperialen Zentrum stehen, welches exklusive „Besitz“–Ansprüche auf die Kolonie erhebt. Folgende Haupttypen von Kolonien – so kann nun im Anschluß an die sechs Formen der Expansion resümiert werden –sind in der Neuzeit durch die Expansion der europäischen Staaten, der USA und Japans entstanden: 12
Paul S. Reinsch, Colonial Government: An Introduction to the Study of Colonial Iratitutions, New York 1902, S. 16.
Zum Sondertypus der Hafenkolonie vgl. immer noch Ernst Grünfeld, Hafenkolonien und kolonieähnliche Verhältnisse in China, Japan und Korea, Jena 1913. 13
(1) Beherrschungskolonien – meist Resultat militärischer Eroberung, oft nach längeren Phasen eines nicht landnehmenden Kontakts – Zwecke: wirtschaftliche Ausbeutung (durch Handelsmonopole, Nutzung von Bodenschätzen, Erhebung von Tribut, nicht: „farming“!), strategische Absicherung imperialer Politik, nationaler Prestigegewinn – zahlenmäßig relativ geringfügige koloniale Präsenz primär in Gestalt von entsandten, nach dem Ende ihrer Tätigkeit ins Mutterland zurückkehrenden Zivilbürokraten, Soldaten sowie von Geschäftsleuten, nicht: von Siedlern! – autokratische Regierung durch das Mutterland (Gouverneurssystem) mit Elementen paternalistischer Fürsorge für die einheimische Bevölkerung Beispiele: Britisch–Indien, Indochina (frz.), Ägypten (brit.), Togo (dt.), Philippinen (am.), Taiwan (jap.) Variante Spanisch–Amerika: europäische Einwanderung führt zu städtischer Mischgesellschaft mit dominierender kreolischer Minderheit. (2) Stützpunktkolonien – Resultat von Flottenaktionen – Zwecke: indirekte kommerzielle Erschließung eines Hinterlandes und/oder Beitrag zur Logistik maritimer Machtentfaltung und informeller Kontrolle über formal selbständige Staaten („Kanonenbootpolitik“) Beispiele: Malakka (port.), Batavia (holl.), Hongkong, Singapur, Aden (alle brit.), Shanghai (internat.). (3) Siedlungskolonien – Resultat militärisch flankierter Kolonisationsprozesse Zwecke: Nutzung billigen Landes und billiger (fremder) Arbeitskraft, Praktizierung minoritärer sozio– kultureller Lebensformen, die im Mutterland in Frage gestellt werden – koloniale Präsenz primär in Gestalt permanent ansässiger Farmer und Pflanzer – frühe Ansätze zur Selbstregierung der „weißen“ Kolonisten unter Mißachtung der Rechte und Interessen der indigenen Bevölkerung Varianten: (a) „neuenglischer“ Typ: Verdrängung, z. T. Vernichtung der ökonomisch entbehrlichen Urbevölkerung; Beispiele: die engl. Neuenglandkolonien, Kanada (frz./brit.), Australien (b) „afrikanischer“ Typ: ökonomische Abhängigkeit von einheimischer Arbeitskraft; Beispiele: Algerien (frz.), Südrhodesien (brit.), Südafrika (c) „karibischer“ Typ: Import von landfremden Arbeitssklaven; Beispiele: Barbados (engl.), Jamaica (engl.), St. Domingue (frz.), Virginia (engl.) ,Kuba (span.), Brasilien (port. ).
II. „Kolonialismus“ und „Kolonialreiche“ Kolonialismus: Eine Definition Was aber ist „Kolonialismus“? Wie kann man den Begriff weitgehend unabhängig von dem der Kolonie bestimmen? Der Afrikahistoriker Philip Curtin spricht sehr allgemein von „Beherrschung durch ein Volk aus einer anderen Kultur“.14 Diese Formulierung enthält die beiden entscheidenden Philip D. Curtin, The Black Experience of Colonialism and Imperialism, in: Sidney W. Mintz (Hrsg.), Slavery, Colonialism, and Racism, New York 1974, S. 23. 14
Elemente: „Herrschaft“ und „kulturelle Fremdheit“. Sie muß aber präzisiert werden. Nicht jede Herrschaft von Fremden in der Geschichte ist von den ihr Unterworfenen als illegitime Fremdherrschaft aufgefaßt worden. So stand Ägypten zwischen 1517 und 1798 als Provinz des Osmanischen Reiches unter einer durchaus eingreifenden Herrschaft der Türken, ohne daß dies eine allgemeine Anerkennung des Systems durch die einheimische arabischsprechende Bevölkerung verhindert hätte.15 Die sprachliche Fremdheit wurde in diesem Fall durch das gemeinsame Bekenntnis zum Islam und damit zur Verbindlichkeit islamischer Vorstellung von gerechter Regierung kompensiert. Um die historische Eigenart des neuzeitlichen – vielleicht kann man an dieser Stelle sagen: des modernen – Kolonialismus scharf zu profilieren, muß Curtins Grundformel um drei Komponenten ergänzt werden. Erstens ist Kolonialismus nicht ein beliebiges Verhältnis von Herren und Knechten, sondern ein solches, bei dem eine gesamte Gesellschaft ihrer historischen Eigenentwicklung beraubt, fremdgesteuert und auf die –vornehmlich wirtschaftlichen – Bedürfnisse und Interessen der Kolonialherren hin umgepolt wird. Daß Kolonialregierungen in der Praxis ein solch ehrgeiziges Ziel selten ganz erreicht haben, daß ihnen oft die Mittel fehlten, um es zu verwirklichen, ist im theoretischen Zusammenhang der Begriffsbestimmung fürs erste nebensächlich. Der moderne Kolonialismus beruht auf dem Willen, „periphere“ Gesellschaften den „Metropolen“ dienstbar zu machen. Zweitens ist die Art der Fremdheit zwischen Kolonisierern und Kolonisierten von großer Bedeutung. Charakteristisch für den modernen Kolonialismus ist der weltgeschichtlich seltene Unwille der neuen Herren, den unterworfenen Gesellschaften kulturell entgegenzukommen. Die europäische Expansion hat an keiner Stelle eine „hellenistische“ Kultursynthese hervorgebracht. Von den Kolonisierten wurde eine weitgehende Akkulturation an die Werte und Gepflogenheiten Europas erwartet, ohne daß es – mit gewissen Ausnahmen im portugiesischen Imperium – zu einer nennenswerten Gegen–Akkulturation der Kolonisatoren durch Übernahmen aus den beherrschten Zivilisationen kam. Im 19. Jahrhundert ist die Unmöglichkeit solcher Annäherungen durch die Existenz angeblich unüberwindlicher „rassischer“ Hierarchien begründet worden. Eine Kolonialismus–Definition muß diese mangelnde Anpassungswilligkeit der Kolonialherren berücksichtigen. Der dritte Punkt schließlich hängt mit dem zweiten eng zusammen. Moderner Kolonialismus ist nicht nur ein strukturgeschichtlich beschreibbares Herrschaftsverhältnis, sondern zugleich auch eine besondere Interpretation dieses Verhältnisses. Zu seinem Wesenskern gehört eine spezifische Bewußtseinshaltung; man hat sogar gesagt, er sei eine „ideologische Formation“.16 Seit den iberischen und englischen Kolonialtheoretikern des 16. Jahrhunderts ist die europäische Expansion grandios zur Erfüllung eines universellen Auftrags stilisiert worden: als Beitrag zu einem göttlichen Heilsplan der Heidenmission, als weltliches Mandat zur „Zivilisierung“ der „Barbaren“ oder „Wilden“, als privilegiert zu tragende „Bürde des weißen Mannes“ usw. Stets lag dem die Überzeugung von der eigenen kulturellen Höherwertigkeit zugrunde. Auch der US–amerikanische und der japanische Kolonialismus bedienten sich ausgiebig einer solchen sendungsideologischen Rhetorik. Traditionale Kulturen, etwa die chinesische, gingen wie selbstverständlich von ihrer eigenen zivilisatorischen Musterhaftigkeit und Unübertrefflichkeit aus, ohne sie aber ihren Nachbarn aufzuzwingen. Nur im modernen Kolonialismus nahm ein solcher ethnozentrischer Hochmut eine aggressiv–expansionistische Wendung, nur hier wurden die Vielen von den Wenigen unter ein „geistiges Joch“ gebeugt.17 Daher sind die kolonialistischen Abhängigkeitsstrukturen ohne den „Geist des Kolonialismus“, der sie beseelt, nur unvollständig charakterisiert. Dieser Geist (oder Ungeist) hat im übrigen die Realität des kolonialen Zeitalters überlebt. Man kann also definieren: Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum 15
Vgl. Michael Winter, Egyptian Society under Ottoman Rule 1517–1798, London/New York 1992, S. 30.
16
Edward W Said, Culture and Imperialism, London 1992, S. 8.
17
„A spiritual yoke“: Philip Mason, Patterns of Dominance, London 1970, S. 274.
anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen. Der Versuch, „Kolonialismus“ nicht aus dem zuerst definierten Begriff der „Kolonie“ herzuleiten, sondern ihn unabhängig davon zu definieren, führt zwangsläufig zu der abschließenden Frage, was beide Phänomene miteinander zu tun haben. Kolonien und Kolonialismus gehen normalerweise Hand in Hand. Es gibt aber Grenzfälle der Nicht–Kongruenz. Der eine ist der von Kolonien ohne Kolonialismus. Man findet ihn dort, wo innerhalb der kolonialen Gesellschaften einheimische Bevölkerungsmehrheiten fehlten, diese Gesellschaften also homogen „weiß“ waren. Auch den Zeitgenossen erschienen sie als „Pflanzstaaten“ europäischer Länder in „leerem“ Land. Dies trifft vornehmlich auf die Siedlungskolonien vom „neuenglischen“ Typ zu. Solche Kolonien betrieben ausgiebige (Grenz– )Kolonisation, also die agrarische Erschließung binnenländischer „Wildnisse“ und damit zugleich die Vernichtung des Lebensraumes einheimischer Jäger und Hirten. Mangels „eingeborener“ Untertanen konnten sie jedoch das für Kolonialismus konstitutive Herrschaftsverhältnis nicht aufbauen. Diese Gesellschaften sind deshalb auch nicht durch Entmachtung und Vertreibung der Kolonisten „dekolonisiert“ worden, wie es etwa in Algerien geschah. Ihre Unabhängigkeit als Nationalstaaten gewannen sie als Folge revolutionär–abrupter Sezession (die 13 Kolonien, die dann die USA bildeten) oder schrittweisen und weithin einvernehmlichen Abrückens (Kanada, Australien) vom europäischen Reichszentrum. Am anderen Ende des Spektrums muß mit der Möglichkeit von Kolonialismus ohne Kolonien gerechnet werden, das heißt mit Situationen, bei welchen sich Abhängigkeiten „kolonialistischer“ Art nicht zwischen „Mutterland“ und räumlich entfernter Kolonie einstellen, sondern zwischen dominanten „Zentren“ und abhängigen „Peripherien“ innerhalb von Nationalstaaten oder territorial zusammenhängenden Landimperien. Man hat sich für solche Fälle mit der theoretischen Konstruktion des „internen Kolonialismus“ zu helfen versucht, die vor allem am Beispiel der Beziehung zwischen England und dem „keltischen Rand“ der Britischen Inseln (Wales, Schottland, Irland) entwickelt wurde. Darüber, ob der Kolonialismus–Begriff hier nicht metaphorisch überstrapaziert wird, läßt sich streiten.18 Unproblematischer ist die Vorstellung von subkolonialen Beziehungen innerhalb hierarchisch geordneter Kolonialreiche: Das primäre kolonialistische Verhältnis besteht dann nicht zwischen einer Kolonie und der Metropole, sondern zwischen ihr und einer anderen Kolonie des Imperiums. So kann zu bestimmten Zeiten Angola als eine Subkolonie Brasiliens gelten, ebenso wie die Philippinen in mancher Hinsicht ein Ableger Mexikos waren. Indien war von einem ganzen Kranz von Satelliten umgeben, und die Tatsache, daß es während der 1920er Jahre in der Siedlungskolonie Kenia nicht zu einer Machtergreifung der weißen Siedler kam wie in Süd–Rhodesien, verdankt sich nicht unwesentlich der Tatsache, daß die Regierung Britisch–Indiens ihre schützende Hand über die indische Emigrantenbevölkerung in Ostafrika hielt.
Kolonialreiche und „informal empire“ Die meisten Kolonien sind in der Neuzeit Teile von Kolonialreichen gewesen. Die Idee des Reiches schließt ein, daß dem Reichszentrum in einer sternförmigen Konfiguration mehrere „Peripherien“ zugeordnet sind, die in der Regel auch untereinander Beziehungen unterhalten, freilich solche, die schwächer sind als die jeweiligen Beziehungen zum Zentrum. In einigen Fällen reicht die „kritische Masse“ an Kolonialbesitz nicht aus, um von einem Kolonialreich sprechen zu können: Belgien kontrollierte nur zwei Kolonien: 1885–1960 Belgisch–Kongo (Zaire) und 1916–1962 Rwanda–Burundi im östlichen Zentralafrika. Die einzigen territorialen Kolonien der USA waren die Philippinen (1898– 1946) und Puerto Rico (1898–1952). Das einstmals weltumspannende spanische Kolonialreich wurde als Folge zuerst der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten, dann der Niederlage im 18 Vgl. zusammenfassend und kritisch kommentierend: Robert J. Hind, The Internal Colonial Concept, in: Comparative Studies in Society and History 26 (1984), S. 543–68. Sinnvoller dürfte es sein, von „innerer Peripherie“ zu sprechen: vgl. Hans– Heinrich Nolte (Hrsg.), Internal Peripheries in European History, Göttingen 1991.
spanisch–amerikanischen Krieg von 1898 auf eine Handvoll von Miniatur–Besitzungen in Nordafrika reduziert, so daß von einem spanischen „Imperium“ im 20. Jahrhundert nicht länger die Rede sein kann. In all diesen Fällen haben wir es mit Kolonialbesitz ohne Kolonialreich zu tun. Vielleicht kann man dies sogar vom Imperium der Niederländer sagen, das sich nach dem Verlust Ceylons (1796) und des Kaps der Guten Hoffnung (1794/1806) neben Surinam auf Niederländisch–Indien (Indonesien) beschränkte, freilich eine bevölkerungsreiche und für das Mutterland ökonomisch ungemein wichtige Kolonie. Die frühneuzeitlichen europäischen Übersee–Imperien waren ihrem Wesen nach in der Tat fast ausschließlich Kolonialreiche. Dies änderte sich seit dem späten 18. Jahrhundert mit dem zunehmenden Abstand an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zwischen den Wachstumsökonomien Europas und der überseeischen Welt, mit der Verdichtung weltwirtschaftlicher Beziehungen, mit der Verbesserung weltweit einsatzfähiger militärischer Interventionsmittel und mit dem Aufkommen eines politischen Denkens in globalstrategischen Größenordnungen. Vor allem für Großbritannien, die zwischen etwa 1815 und 1880 international führende Wirtschafts– und Flottenmacht, eröffnete sich nun neben der Aneignung von Kolonien ein vielfältiges Repertoire von anderen Möglichkeiten, um die eigenen wirtschaftlichen und strategischen Interessen zur Geltung zu bringen. Vielfach genügte dazu, politisch selbständig bleibende Staaten in Übersee zur Öffnung ihrer Märkte für die Produkte der britischen Industrie und zur rechtlichen und faktischen Garantie ausländischen Eigentums zu veranlassen (die lateinamerikanischen Staaten, China, Japan, Thailand, Persien, das Osmanische Reich usw.). Diesem Zweck dienten diplomatischer Druck, militärische Drohungen und allenfalls punktuelle Flotteninterventionen, etwa der „Opiumkrieg“, durch den das Chinesische Kaiserreich 1842 „geöffnet“ wurde. Koloniale Beherrschung wäre in all diesen Fällen zu teuer und mit unnötigen politischen Verantwortlichkeiten verbunden gewesen: Das Regieren überließ man englandfreundlichen einheimischen Machthabern, die jedoch selten enthusiastische „Kollaborateure“ waren. Diese Unterscheidung zwischen „formeller“ und „informeller“ Interessensicherung gegenüber militärisch schwächeren und wirtschaftlich – wie es nun hieß – „rückständigen“ Ländern, zwischen „formal empire“ und „informal empire“19 läßt sich nicht nur auf das britische Empire, sondern in großem Umfang mindestens auch auf die USA und auf Japan anwenden. Kuba zum Beispiel, bis 1898 eine spanische Kolonie, war zwischen 1902 und Fidel Castros Machtübernahme 1959 offiziell eine selbständige Republik, doch befand sich fast seine gesamte Wirtschaft in amerikanischer Hand, und die US–Regierung griff verschiedentlich massiv in die kubanische Innenpolitik ein. Kuba war also ein semi–souveränes Ausbeutungsgebiet der USA: ein klassischer Fall von „informal empire“. Die Japaner wiederum ergänzten ihr „formal empire“, das hauptsächlich aus den wirtschaftlich immens profitablen Kolonien Taiwan (1895–1945), Korea (1910–1945) und dem de facto kolonial beherrschten Marionettenstaat „Mandschukuo“ (den drei Nordostprovinzen Chinas, 1931–1945) bestand, seit 1905 um ein schrittweise erweitertes Einflußgebiet in China.20 Auch das Deutsche Reich hat vor 1914 in China, Lateinamerika und im Osmanischen Reich eine Politik des Aufbaus von „informal empire“ betrieben. Man kann zusammenfassend für das 19. und 20. Jahrhundert drei Grade der Interessensicherung von „Big Brothers“ gegenüber „little Brothers“ unterscheiden: (1) Koloniale Herrschaft (= formal empire): Einheimische Machthaber werden durch fremde ersetzt (z. B. ein malayischer Sultan durch einen britischen Gouverneur). Die vorkoloniale politische Ordnung hört auf zu bestehen oder zumindest unbehindert zu funktionieren. Vertreter der Kolonialmacht üben die Die grundlegenden Anregungen dazu haben die englischen Historiker Ronald E. Robinson und John A. Gallagher gegeben. Vgl. insbesondere Wm. Roger Louis (Hrsg.), Imperialism: The Robinson and Gallagher Controversy, New York 1976; R. E. Robinson, The Excentric Idea of Empire – with or without Imperialism, in: Wolfgang J. Mommsen/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Imperialism and After: Continuities and Discontinuities, London 1986, S. 267–89. Vgl. auch die wichtigen weiterführenden Überlegungen bei Michael W Doyle, Empires, Ithaca/London 1986, S. 19–47. 19
20 Vgl. die sich ergänzenden Bände Ramon H. Myers/Mark R. Peattie (Hrsg.), The Japanese Colonial Empire, 1895–1945, Princeton, N.J. 1984; Peter Duus u. a. (Hrsg.), The Japanese Informal Empire in China, 1895–1937, Princeton, N. J. 1989. Einen vorzüglichen Überblick gibt William G. Beasley, Japanese Imperialism 1894–1945, Oxford 1987.
zentralen Hoheitsfunktionen wie Besteuerung, Rechtsprechung, Polizei– und Militärgewalt aus. Die gesamten auswärtigen Beziehungen der Kolonisierten werden von der Kolonialmacht monopolisiert. Im übrigen gelten die oben vorgeschlagenen Definitionen von „Kolonie“ und „Kolonialismus“. (2) Quasi–koloniale Kontrolle (= informal empire): Der schwächere Staat bleibt als selbständiges Gemeinwesen mit eigenem politischem System bestehen. Er kann eine eigene Außenpolitik betreiben und die routinemäßigen inneren Angelegenheiten selbst regeln. Es gibt keine Kolonialverwaltung, zuweilen aber – besonders im Finanzbereich – ausländisch–indigene Mischbehörden (wie das Seezollamt im Chinesischen Kaiserreich). Dennoch ist der schwächere Staat nur eingeschränkt souverän. „Big Brother“ hat sich als Ergebnis von punktuell ausgeübtem Druck („Kanonenbootdiplomatie“) in „ungleichen Verträgen“ Privilegien verbriefen lassen. Deren Inhalt ist zumeist der Schutz ausländischer Staatsangehöriger vor der Geltung einheimischer Gesetze durch Konsularjurisdiktion und Extraterritorialität, die Festlegung eines Freihandelsregimes (niedrige Importzölle bei fehlender Zollhoheit), das Recht zur Stationierung fremder Truppen auf den Hoheitsgewässern und an vereinbarten Landpunkten. „Big Brother“ ist durch Konsuln, Diplomaten oder „Residenten“ vertreten, die „beratend“ in die einheimische Politik, besonders auch in Nachfolgekämpfe, eingreifen und ihrem „Rat“ notfalls durch Androhung militärischer Intervention Nachdruck verleihen. Im Extremfall sind die einheimischen Amtsträger willenlose Marionetten; normalerweise besitzen sie aber einen gewissen, oft sogar einen erheblichen Handlungsspielraum. Die ideale „Kollaborationselite“, auf der Informal Empire unweigerlich beruht, muß im Innern genügend Legitimität und Durchsetzungskraft besitzen, um im Interesse von „Big Brother“ wirksam werden zu können. Informal Empire ist selten strategisch oder durch Prestigegesichtspunkte motiviert. Meist ist es ein Mittel zum Zweck der Sicherung von oft bedeutenden Wirtschaftsinteressen (Handel, Direktinvestitionen, Anleihen), die oft ohne politische Unterstützung zustande gekommen sind. Anders als Kolonialismus (Formal Empire) setzt Informal Empire eine deutliche wirtschaftliche Überlegenheit von Big Brother voraus. Es muß das Potential zur „Durchdringung“ einer überseeischen Volkswirtschaft vorhanden sein. Anders als bei Formal Empire, wo Kolonialherrschaft über ein und dasselbe Territorium unteilbar und exklusiv ist, kann es bei Informal Empire mehrere „Big Brothers“ geben, die sich untereinander auf das Prinzip der „Offenen Tür“, also gleicher Chancen für alle, oder auf die Abgrenzung nationaler „Einflußsphären“ verständigen. (3) Nichtkolonialer „bestimmender“ Einfluß: Zwischen „Big Brother“ und „little Brother“ besteht in diesem Falle kein koloniales Herrschaftsverhältnis. Auch gibt es keine in „ungleichen Verträgen“ kodifizierten Sonderrechte. Die wirtschaftliche Überlegenheit des stärkeren staatlichen Partners bzw. seiner privatwirtschaftlichen Institutionen (z. B. multinationaler Konzerne) und/oder seine militärische Schutzfunktion verleiht ihm aber Einwirkungsmöglichkeiten auf die Politik des schwächeren Partners, die dessen „normale“ Nachbarn nicht besitzen. Dies ist ein typisches Beziehungsmuster internationaler Asymmetrie in der nachkolonialen Welt.
Imperialismus Das britische Empire des 19. und 20. Jahrhunderts und einige andere moderne Imperien gingen mithin in ihrem politischen und wirtschaftlichen Wirkungsradius über ihre koloniale Komponente im strikten Sinne hinaus. In einigen Teilen der Welt übten sie formelle koloniale Herrschaft aus, in anderen begnügten sie sich mit informellen Steuerungsmöglichkeiten und Absicherungen ihrer Interessen. Und zuweilen reichte es hin, ein starker Nachbar zu sein. Der entscheidende Punkt liegt darin, daß auf unterschiedlichen Wegen meist ähnliche Ergebnisse erzielt werden konnten. Auch machte es für die wirtschaftlichen Folgen der ausländischen Präsenz in einem überseeischen Land in der Regel keinen großen Unterschied aus, ob es eine Kolonie war oder ein quasi–koloniales nur nominell souveräner Staat, der fremde Wirtschaftsinteressen nahezu unbehindert gewähren lassen mußte und selbst keinen Einfluß auf zentrale binnen– wie außenwirtschaftliche Entscheidungen besaß. „Imperialismus“ ist der Begriff, unter dem alle Kräfte und Aktivitäten zusammengefaßt werden, die zum Aufbau und zur Erhaltung solcher transkolonialer Imperien beitrugen. Zum Imperialismus gehört auch der Wille und das Vermögen eines imperialen Zentrums, die eigenen nationalstaatlichen Interessen immer wieder als imperiale zu definieren und sie in der Anarchie des internationalen Systems weltweit geltend zu
machen. Imperialismus impliziert also nicht bloß Kolonialpolitik, sondern „Weltpolitik“, für welche Kolonien nicht allein Zwekke in sich selbst, sondern auch Pfänder in globalen Machtspielen sind. Die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bei den Großmächten beliebte Idee, Kolonien kompensatorisch – durch Tausch (z. B. Helgoland gegen Sansibar 1890), Anerkennung geopolitischer Ansprüche dritter Mächte, eigene „nachholende“ Kolonialforderungen, usw. – zum Austarieren der internationalen, vornehmlich der innereuropäischen, Machtbalance einzusetzen, ist typisch „imperialistisch“ und einem „kolonialistischen“ Denken fremd, das Kolonien als dauerhaft „erworben“ oder „anvertraut“ betrachtet. Imperialismus wird von den Staatskanzleien, Außen– und Kriegsministerien geplant und ausgeführt, Kolonialismus von Kolonialbehörden und „men on the spot“. Solche ereignisgeschichtlich faßbare Weltpolitik muß jedoch immer (a) vor dem Hintergrund der Herausbildung eines Weltstaatensystems und (b) im Rahmen langsam sich entwickelnder Strukturen der Ungleichheit im wirtschaftlichen Verkehr zwischen den Räumen der Erde gesehen werden. „Imperialismus“ und „Kolonialismus“ sind also nicht dasselbe. „Imperialismus“ ist in mancher Hinsicht der Begriff mit der umfassenderen Bedeutung, so daß „Kolonialismus“ geradezu als sein Spezialfall erscheint. In der Tat läßt sich dies für das britische Empire seit etwa 1780 mit guten Gründen behaupten. Da jedoch „Imperialismus“ die Möglichkeit weltweiter Interessenwahrnehmung und informell abgestützter kapitalistischer Durchdringung großer Wirtschaftsräume einschließt, wird man den Begriff für die frühneuzeitlichen Kolonialreiche, die derlei noch nicht vermochten, zögernd verwenden und nur mit Vorbehalt von „spanischem Imperialismus“ sprechen. Allein Großbritannien und die USA sind jemals in vollentfaltetem Sinne imperialistische Mächte gewesen, die USA freilich ein Fall von Imperialismus ohne Kolonialimperium. Frankreich, Deutschland, Rußland (bzw. die Sowjetunion) und Japan waren zu wechselnden Zeitpunkten Träger von Imperialismus in eingeschränktem Sinne: entweder nicht wirklich auf längere Sicht weltweit präsent oder (so die Sowjetunion auf dem Höhepunkt ihrer militärischen Stärke) wirtschaftlich zu schwach zur Durchdringung ferner Ökonomien. Kolonialimperien ohne Imperialismus waren der Regelfall während der frühneuzeitlichen Phase der europäischen Expansion; allein die Niederlande im 17. Jahrhundert könnte man möglicherweise als Ausnahme gelten lassen. Im 19. und 20. Jahrhundert sind es aber gerade die Niederlande, die diesen Fall besonders einleuchtend illustrieren. Zwischen den Weltkriegen war Holland nach Großbritannien und Frankreich ohne Zweifel die drittgrößte europäische Kolonialmacht. Es war aber gleichzeitig in kaum einem Sinne eine imperialistische Macht: ohne weltpolitische Ambitionen und Machtmittel, ohne die Möglichkeiten, jenseits der eigenen Kolonie Indonesien nennenswert „informell“ in Erscheinung zu treten.21 Die folgenden Kapitel dieses Buches behandeln Kolonialismus im Sinne der oben gegebenen Definition.
III. Epochen des Kolonialismus22 Probleme einer Geschichte des Kolonialismus Kurz nach dem Ersten Weltkrieg kam der französische Ökonom Arthur Girault zu dem Ergebnis, das Festland der Erde sei zu etwa der Hälfte von Kolonien bedeckt. Mehr als 600 Millionen Menschen, d. h. ungefähr zwei Fünftel der Weltbevölkerung, unterstünden kolonialer Herrschaft: 440 Millionen in Asien, 120 Millionen in Afrika, 60 Millionen in Ozeanien und 14 Millionen in Amerika.23 Kein einheitlicher und einliniger historischer Prozeß hatte während der vier Jahrhunderte, die seit der iberischen Landnahme in Mittel– und Südamerika vergangen waren, zu diesem weltgeschichtlichen 21 Vgl. J. van Goor, Imperialisme in de marge?, in: ders. (Hrsg.), Imperialisme in de marge: De afronding van Nederlands–Indie, Utrecht 1986, S. 9. 22 Die meisten der hier angesprochenen Entwicklungen werden eingehend dargestellt und analysiert in dem auch international unübertroffenen Standardwerk von Wolfgang Reinhard: Geschichte der europäischen Expansion, 4 Bde., Stuttgart 1983–1990. Zur Imperialismusproblematik, die bei Reinhard eher im Hintergrund bleibt, vgl. aus der deutschsprachigen Literatur insbesondere die Arbeiten von Wolfgang J. Mommsen und Gustav Schmidt (siehe „Literaturempfehlungen“). 23
Arthur Girault, Principes de colonisation et de législation coloniale, Bd. 1, 4. Aufl., Paris 1921, S. 17.
Maximum der Verbreitung kolonialer Verhältnisse geführt. Es gibt keine Geschichte des Kolonialismus, nur eine Vielzahl von Geschichten einzelner Kolonialismen. Die Geschichtsschreibung hat darunter lange ausschließlich die Geschichte der nationalen Kolonialreiche verstanden. Eine solche Sichtweise ist jedoch nur noch eingeschränkt haltbar. Dies aus drei Gründen: Erstens muß man kein Anhänger der Theorie von einer konsequenten und phasengenauen Evolution eines „modernen Weltsystems“ (Immanuel Wallerstem) sein, um zu erkennen, daß es gewisse Parallelen und Gleichklänge in der Entwicklung der kolonialen Imperien gibt, sogar in ihrer politischen Evolution. Zum Beispiel stellt sich in der Entwicklung eines jeden Kolonialimperiums unweigerlich die „Stunde der Bürokraten“ ein, der Moment, wo die Konquistadoren, Piraten und Siedlungspioniere der Frühzeit durch Funktionäre gebändigt oder ersetzt werden und an die Stelle des wilden Beutemachens die regelhafte Verwaltung und planmäßige „Inwertsetzung“ der jeweiligen Kolonie tritt. Dazu gehört dort, wo man auf einheimische Arbeitskräfte angewiesen ist, ein gewisser „Eingeborenenschutz“. Zweitens sind die Kolonialimperien der Neuzeit keine hermetisch abgeschotteten Einheiten gewesen. Schiffsmannschaften, Kolonialtruppen und Missionsgesellschaften waren aus vielen Nationalitäten zusammengewürfelt. Die Pflanzerklasse, die im 18. Jahrhundert die Zuckerinseln der Karibik beherrschte, war ihrem Ursprung und ihrem Weltbild nach paneuropäisch.24 Unter Bedingungen des Freihandels, wie er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in der kolonialen Welt weithin durchsetzte, verliefen Handels– und Anlagebeziehungen quer zu den politischen Grenzen, so daß etwa vor 1914 umfangreiche deutsche Kapitalien im britischen Empire investiert waren und die russische Expansion großenteils von französischen Geldgebern finanziert wurde. Einer der scharfsichtigsten, maßvoll pro– kolonialen Analytiker des Kolonialismus hat dies auf die Formel gebracht: „Die moderne Kolonisation ist eine Angelegenheit nicht von Menschen, sondern von Kapital, und Kapital kennt kein Vaterland.“25 Drittens – und dies ist der wichtigste Punkt – übersieht der Blick von der hohen Warte Madrids, Amsterdams oder Londons die Kontinuität der Erfahrungen der Kolonisierten. Nicht selten wechselten diese ihre kolonialen Herren, so etwa die Ceylonesen, die nacheinander Bekanntschaft mit Portugiesen, Holländern und Briten machten, oder die Philippinos, die nach spanischer die amerikanische Herrschaft kennenlernten. Was dabei gleich blieb, war die „koloniale Situation“: der unverwechselbare Komplex von Herrschaft, Ausbeutung und Kulturkonflikt in ethnisch heterogenen politischen Gebilden, die durch Einwirkung von außen entstanden waren.26 Die Herkunft der Kolonialherren war nicht unwichtig, aber doch von sekundärer Bedeutung. Eine nicht–eurozentrische Kolonialgeschichtsschreibung wird daher statt der Kolonialpolitik der europäischen Mächte den Aufstieg und Fall besonderer Gesellschaftsformen – spezifisch kolonialer Gesellschaften – zu ihrem Hauptthema machen. Umstritten ist dabei jedoch das Ausmaß, in welchem außereuropäische Regionen überhaupt durch den Kolonialismus beeinflußt wurden. Die ältere Kolonialgeschichtsschreibung hat wie selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Präsenz der Fremden der entscheidende Tatbestand in der Geschichte eines kolonisierten Landes sei. Die Geschichte Indiens im 19. Jahrhundert ist daher als die Geschichte der britischen Macht in Indien geschrieben worden. Für fast jede andere Kolonie finden sich ähnliche Beispiele. Stets ist das leitende Motiv solcher Darstellungen die Schaffung von Ordnung aus Chaos, von Kultur aus Natur durch den energischen Eingriff rational denkender und wohlmeinender Europäer.27 Die frühe nationalistische Geschichtsschreibung in den nachkolonialen Ländern der „Dritten Welt“, unterstützt von neo– marxistischen Theoretikern, übernahm vielfach die These von der Allmacht der Kolonialherren und polte nur ihre Bewertung um: Nun wurde ein dämonisierter Kolonialismus für alle Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht. Auf einer dritten Stufe trafen sich dann „südliche“ und manche „nördlichen“
24
David Lowenthal, West Indian Societies, New York 1972, S. 29.
25
J. S. Furnivall, Colonial Policy and Practice: A Comparative Study of Burma and Netherlands India, Cambridge 1948, S. 8.
Vgl. dazu die klassische Abhandlung von Georges Balandier, Die koloniale Situation: Ein theoretischer Ansatz [1952], in: Rudolf von Albertini (Hrsg.), Moderne Kolonialgeschichte, Köln/Berlin 1970, S. 106–24.
26
27
Vgl. Paul Carter, The Road to Botany Bay: An Exploration of Landscape and History, New York 1988, S. XVI.
Historiker in der Ansicht, der Kolonialismus sei weitgehend marginal geblieben, er sei in längerer historischer Perspektive nichts als eine Fußnote zur Geschichte Asiens, Afrikas und Amerikas. Auch das ist natürlich in solcher Allgemeinheit übertrieben. Doch ist damit die zentrale Frage nach dem Subjekt der Geschichte des Kolonialismus gestellt. Spezielle Forschungen, viele davon auf der Grundlage solcher einheimischer Quellen, die nicht von den Kolonialherren stammen, haben hier in jüngerer Zeit die Handlungsspielräume der Kolonisierten in einzelnen kolonialen Situationen im Detail ausgelotet. Einen sinnvollen Mittelweg zwischen Dramatisierung und Trivialisierung der Wirkungen kolonialer Herrschaft weist eine Formulierung des nigerianischen Historikers J. F. Ade Ajayi: „Obwohl die Europäer im allgemeinen die Herren der kolonialen Situation waren und über politische Souveränität ebenso wie über kulturelle und wirtschaftliche Vorherrschaft verfügten, besaßen sie kein Monopol der Initiative während der Kolonialzeit.“28 Zu fragen wäre also, wer wann und unter welchen Bedingungen jeweils die historische Initiative innehatte. Damit wird auch ein Fragezeichen hinter das lange Zeit verbreitete Aktions–Reaktions–Schema gesetzt (die angelsächsische Literatur spricht von „impact and response“). Ihm zufolge waren es stets die dynamischen Repräsentanten des „Westens“, die agierten, während den Einheimischen nur übrigblieb, darauf zu reagieren. In Wahrheit ist die koloniale Situation durch einen fortwährenden Kampf aller Beteiligten um Aktionsmöglichkeiten gekennzeichnet. Bei den Kolonisierten ist dies immer wieder auch ein Kampf um menschliche Würde gewesen.
Koloniale Neubildungen: Eine Periodisierung Ein grobes zeitliches Raster ist ein unentbehrlicher Behelf für eine Orientierung über die Vielfalt von Kolonialismen und Ausprägungen der kolonialen Situation während der letzten fünf Jahrhunderte. Kaum ein historisches Phänomen hat sich indes weiter und ungleichmäßiger über die Erde verteilt. Wohlweislich haben deshalb die meisten Historiker der europäischen Expansion auf das notwendig schematische Mittel expliziter Periodisierung verzichtet. Eine solche Periodisierung wird um so schwieriger, je weniger man der Aussagekraft der lexikonnotorischen Daten über Gründung und „Erwerb“ von Kolonien vertraut. Solche Ursprungsdaten sind häufig ereignisgeschichtlich unbestritten: Es ist zum Beispiel zweifelsfrei verbürgt, daß am 14. Juli 1884 der „Reichskommissar“ Dr. Gustav Nachtigal die deutsche „Schutzherrschaft“ über das Kamerungebiet proklamierte. Was aber sagen solche Daten aus? Dazu ein Beispiel: Der holländische Kolonialismus in Indonesien beginnt nach herkömmlichem Verständnis mit der Gründung der Stadt Batavia (Jakarta) im Jahre 1619, der französische in Marokko mit der Erklärung des Landes zum Protektorat 1912. Die beiden Länder scheinen also ganz verschiedenen Epochen der Kolonialgeschichte anzugehören. Der zeitliche Abstand schrumpft jedoch, fragt man nach dem Beginn einer tatsächlichen intensiven Prägung binnenländischer Gebiete durch exogene politische und wirtschaftliche Kräfte. Er läßt sich sowohl für Indonesien (genauer: Java) als auch für Marokko etwa auf das Jahr 1830 datieren. In Marokko war die „imperiale Machtergreifung“ der letzte Schritt in einem langen Prozeß informeller Durchdringung; in Indonesien blieben große Gebiete noch zwei Jahrhunderte nach der Ankunft der Holländer von äußeren Einflüssen nahezu unberührt.29 Die Geschichte der Kolonialismen ist also nicht nur – und vielleicht nicht einmal vorrangig – eine Geschichte des Eroberns, Erwerbens und Flaggehissens. Sie ist eine Geschichte des langsamen Aufbaus von Herrschaftsstrukturen und Gesellschaftsformen und ihrer räumlichen Ausdehnung oder auch Zurücknahme innerhalb nominell beanspruchter Gebiete. Stärker als die durchsiedelten modernen Nationalstaaten Europas, die gleichmäßig regiert werden, in denen die Staatsgewalt also im Prinzip innerhalb der Landesgrenzen allgegenwärtig präsent ist, waren Kolonien oft durch Zentrum– Peripherie–Strukturen gekennzeichnet. Überall gab es Berge und Wälder, Steppen und Wüsten, die sich der Kontrolle des Zentrums für lange Zeit oder für immer entzogen, schwer „pazifizierbare“ 28 J. R. A. Ajayi, Colonialism: An Episode in African History, in: Lewis H. Gann/Peter Duignan (Hrsg.), Colonialism in Africa 1870–1960, Bd. 1, Cambridge 1969, S. 505.
Das Beispiel bringt Clifford Geertz, Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien, Frankfurt a. M. 1991, S. 97 f. 29
Grenzwildnisse, wirtschaftlich für die Kolonialherren uninteressantes Ödland, das dennoch oft von Einheimischen besiedelt war. Der französische Kolonialismus sah in Algier anders aus als im Atlas, der spanische in Zentral–Mexiko anders als in Yucatán. Im Großen, also innerhalb der Imperien, fanden sich ähnliche Unterschiede zwischen wichtigen Besitzungen und kolonialen Hinterwäldern. Welten lagen zwischen einem Vizekönig von Indien und einem Gouverneur von Britisch–Honduras (Belize). In solchen „imperial backwaters“ erhielten sich bisweilen museumsartig Formen des Kolonialismus, die andernorts bereits verschwunden waren. Vieles erschwert also eine Periodisierung der kolonialen Erfahrung: die räumliche Vielfalt, die außerordentliche Verschiedenartigkeit der kolonisierten außereuropäischen Kulturen, die Pluralität der Kolonialmächte, die Abstände und Verschiebungen zwischen Kernen und Rändern. Im folgenden werden sechs Perioden unterschieden, die sich durch koloniale Neubildungen aus der Kontinuität der neuzeitlichen Expansionsgeschichte hervorheben. Die umfassenderen, nicht– kolonialen Aspekte der Entwicklung des modernen Weltsystems werden als Hintergrund nur grob skizziert.
(1) 1520–1570: Aufbau des spanischen Kolonialsystems in Mexiko Schon vor den iberischen Eroberungen in Amerika (1521 Aztekenreich, 1533 Inkareich) nahmen einige europäische Übersee–Experimente Elemente eines künftigen territorialen Kolonialismus vorweg: Venedig im östlichen Mittelmeer, die Portugiesen an der Guineaküste, die Spanier auf den Kanarischen Inseln. Erst in den Anfangsjahrzehnten des 16. Jahrhunderts aber ergab sich als Folge von Umständen, die für niemanden vorhersehbar gewesen waren, die simultane Aufgabelung der europäischen Expansion in – wie Adam Smith 1776 formulierte – ein „Handelsprojekt“ im Indischen Ozean und ein „Eroberungsprojekt“ in Amerika.30 Der Handel der Europäer in Asien war von Anfang an (ca. 1505) ein bewaffneter Handel. Sowohl die Portugiesen in der Phase ihrer kommerziellen Vorherrschaft als auch die Holländer, die sie seit etwa 1620 ablösten, und schließlich auch die Briten, die ab ungefähr 1740 zur wichtigsten europäischen Handelsmacht in den östlichen Meeren aufstiegen, schalteten sich als Kaufmannskrieger in bestehende asiatische Handelsverbindungen ein, die sie freilich erst langsam zu dominieren vermochten. Sie gründeten und verteidigten befestigte Küstenstützpunkte. Nur in begrenzten Ausnahmefällen entstand jedoch vor dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts daraus territoriale Kolonialherrschaft: auf Ceylon, Westjava, in der Mitte der philippinischen Insel Luzon. Während mehr als zweieinhalb Jahrhunderten nach Vasco da Gamas Entdeckungsreise gab es in Asien keine europäische Kolonialherrschaft über größere einheimische Populationen. Eines hatte das europäische Vordringen in der Alten und in der Neuen Welt gemeinsam: Hier wie dort wurden fortgeschrittene Verfahren bürokratischer Organisation angewandt und weiterentwickelt. Im Osten wurden die Ostindien–Kompanien, vor allem die der Holländer und Engländer, zu gigantischen Apparaten, die auf dem Höhepunkt ihrer Effizienz zu den modernsten Organisationen auf der Welt gehörten. Im Westen sah sich die spanische Krone als Ergebnis des raschen Zusammenbruchs des Azteken– und des Inkareiches vor unverhoffte Herausforderungen gestellt. „Bis zu diesem Augenblick“, urteilt der Oxforder Historiker John Elliott, „hatte niemals eine europäische Gesellschaft vor einer administrativen Aufgabe von solcher Größenordnung und Komplexität gestanden.“31 Waren die Eroberungen in Mexiko und Peru noch weithin vom ritterlich–feudalen Impuls der Reconquista, des Kampfes gegen die spanischen Mauren, getragen, so konnte sich der Aufbau einer kolonialen Territorialverwaltung, die zunächst wesentlich ein staatliches Instrument zur Zähmung der Konquistadoren und Kolonisten war, kaum auf mittelalterliche Vorbilder stützen. Das Ergebnis war eine in beispiellosem Maße verrechtlichte Herrschaftspraxis und „eine Regierung durch Papier, wie sie die europäische Geschichte bis dahin nicht gekannt hatte“.32 Auch wenn man den „rationalen“ Charakter der spanischen Kolonialbürokratie, jedenfalls über ihre Glanzzeit im 16. Jahrhundert hinaus, Adam Smith, An Inyuiry into the Nature and Causes of the Wealth o f Nations, hrsg. von R.H. Campbell/A.S. Skinner, Oxford 1976, Bd. 2, S. 564. 30
31
J.H. Elliott, Spain and Its World 1500–1700: Selected Essays, New Haven/London 1989, S. 13.
32
Ebd., S. 15.
nicht überschätzen sollte, so war ihr Aufbau doch eine bemerkenswerte Ordnungsleistung. In ihren Grundzügen hatten die vor etwa 1570 geschaffenen Herrschaftsstrukturen mehr als zwei Jahrhunderte lang Bestand.
(2) 1630–1680: Grundlegung der karibischen Plantagenökonomie Eine zweite in die Zukunft weisende Neuerung im Ibero–Amerika des 16. Jahrhunderts war die Einbindung kolonisierter Gebiete als Exportproduzenten in interkontinentale Handelsstrukturen. Amerika wurde, wie Immanuel Wallerstein erläutert hat, lange vor Asien zur ersten überseeischen „Peripherie“ der „European world–economy“, also zu einem abhängigen Ergänzungsraum, dem arbeitsteilig die Funktion der Erzeugung von Edelmetallen und tropischen Agrargütern zufiel.33 Entscheidend ist dabei zweierlei: daß erstens exportorientierte Produktionssektoren neu geschaffen wurden (und die Europäer nicht bloß, wie typischerweise in Asien, bereits existierende Quellen von Rohstoffen und Fertigwaren „anzapften“) und daß zweitens zu diesem Zweck Formen unfreier Arbeit eingeführt oder perfektioniert wurden. Man kann dies am Beispiel des peruanischen Silberbergbaus studieren und noch deutlicher am Fall der Zuckerproduktion im portugiesischen Brasilien, das 1500 entdeckt und nach einer frühen Periode des Faktoreihandels seit den 1530er Jahren allmählich von Ausländern besiedelt worden war. Nach 1570 verbreitete sich dort die Betriebsform der Plantage, auf der versklavte Importarbeiter aus Afrika Produkte für den europäischen Markt herstellten. Die Expansion von Holländern, Engländern und Franzosen in die zunächst von Spanien dominierte karibische Inselwelt hatte Ursachen in innereuropäischen Mächterivalitäten, war aber vor allem von dem Wunsch motiviert, den Erfolgskurs der Zuckerwirtschaft zu imitieren.34 Die Holländer, die 1637–1654 eine Kolonie im Norden Brasiliens besetzten (Pernambuco), trugen von dort die „Zuckerrevolution“ auf die Antillen. Auch im karibischen Raum begann die Kolonisierung mit einer „wilden“ Phase. Das dort zunächst dominierende Freibeutertum wurde aber seit den 1640er Jahren zurückgedrängt. Nacheinander gerieten die größeren Inseln in die Hände der Engländer (Barbados 1627, Jamaica 1655) oder der Franzosen (Guadeloupe und Martinique 1635, St. Domingue [der Westteil der Insel Hispaniola] 1664). Nur auf Kuba behaupteten sich die Spanier. Überall wurden Zuckerplantagen angelegt; um 1680 waren die technischen und sozialen Strukturen etabliert. Bis 1700 waren ca. 450 000 Afrikaner in die nicht– spanische Karibik zwangstransportiert worden, gleichzeitig 600 000 nach Brasilien. Im 18. Jahrhundert wurden die britischen, französischen und holländischen Karibikinseln zu den weltweit größten Sklavenimporteuren (ca. 3300000 Menschen).35 Durch Sklaven – auch in Britisch–Nordamerika südwärts von Virginia – produzierte Kolonialwaren dominierten den Welthandel des 18. Jahrhunderts. Jamaica und St. Domingue waren damals die mit Abstand ertragreichsten tropischen Besitzungen ihrer Mutterländer; St. Domingue allein soll um 1780 mehr Reichtum hervorgebracht haben als das gesamte Hispanoamerika.36 Vor dem mechanisierten Fabriksystem der industriellen Revolution kann die menschenverschleißende amerikanische Sklavenplantage als die wirtschaftlich effizienteste Form der großbetrieblichen Warenproduktion gelten. Zugleich waren die kolonialen Gesellschaften der Karibik, als traditionslose Kunstprodukte neu entstanden auf entvölkertem Land, das radikalste sozialtechnische Experiment der Epoche. Der weltgeschichtliche Schwerpunkt des Kolonialismus lag zwischen der Mitte des 17. und dem Ende des 18. Jahrhunderts in „Westindien“.
(3) 1760–1830: Anfänge europäischer Territorialherrschaft in Asien Diese Jahrzehnte waren eine Periode beispielloser globaler Kräfteverschiebungen und Strukturwandlungen. Im spanischen wie im britischen Amerika provozierte ein schärferer Zugriff der 33 Immanuel Wallerstein, The Modern World–System. Bd. 1: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World– Economy in the 16th Century, New York 1974, S. 336. 34 Grundlegend ist J. H. Galloway, The Sugar Cane Industry: An Historical Geography from its Origins to 1914, Cambridge 1989. Wirtschaftsgeschichtlich weniger verläßlich: Sidney W Mintz, Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers, Frankfurt a. M./New York 1987. 35
Die Zahlen nach Philip D. Curtin, The Atlantic Slave Trade: A Census, Madison, Wisc. 1960, S. 268 (Tab. 77).
36
Vgl. John E. McClellan, Colonialism and Science: Saint Domingue in the Old Regime, Baltimore/London 1992, S. 2.
Metropolen erfolgreiche Unabhängigkeitsbestrebungen kreolischer Kolonialeliten; die Bildung neuer Nationalstaaten veränderte jedoch die Art der Einbindung dieser Gebiete in die Weltwirtschaft nicht dramatisch. Hingegen beendeten die Sklavenrevolution in St. Domingue, die 1806 zur Gründung des Schwarzenstaates Haiti führte, sowie die schrittweise Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei im atlantischen Raum das goldene Zeitalter der westindischen Zuckerinteressen. Anders als Spanien und Frankreich konnte Großbritannien seine kolonialen Verluste kompensieren. Nicht erst durch seine Industrialisierung, sondern zuvor bereits durch den Aufbau eines „fiskal–militärischen Staates“37 war es zu weltweiter militärischer Intervention befähigt worden. Der Siebenjährige Krieg, den man durchaus als den ersten „Weltkrieg“ bezeichnen kann, hatte zum Zusammenbruch der französischen Position sowohl in Kanada wie in Indien geführt. Napoleons Ägypten–Expedition von 1798 hatte zwar außerordentlich aufrüttelnde Wirkungen in der muslimischen Welt, zog jedoch nicht die Gründung eines neuen französischen Orientimperiums nach sich; diese begann erst 1830 mit der Besetzung Algiers. Aus dem maritimen Wettlauf mit Frankreich während des „zweiten Zeitalters der Entdeckungen“ ging allein Großbritannien mit nennenswerten Territorialgewinnen hervor: Seit 1788 wurde Australien besiedelt, zunächst als Sträflingskolonie; die Eroberung und Besiedlung Neuseelands, das James Cook in den 1770er Jahren für die britische Krone beansprucht hatte, begann 1840. Die wichtigste koloniale Neubildung der Epoche war der Ausbau der britischen Position in Indien. Die britische East India Company (EIC) hatte zunächst von Hafenstützpunkten aus Handel betrieben und sich allmählich immer mehr in die indische Innenpolitik eingemischt, die in der Niedergangsphase des Mogulreiches von den Antagonismen regionaler Mächte bestimmt war. Anders als die Spanier in Mittelamerika verfolgten die Briten in Indien zunächst keine Eroberungs– und erst recht keine Missionierungspläne; auch waren sie von militärischen Vorteilen gegenüber den indischen Staaten bis etwa zur Jahrhundertmitte weit entfernt. In Bengalen, wo sich die britischen Handelsinteressen immer mehr konzentrierten, hatte man sich mit dem regionalen Fürsten, dem Nawab, zum wechselseitigen Nutzen zufriedenstellend arrangiert. Erst der durch ein Bündel von Ursachen ausgelöste Zusammenbruch dieser „Kollaboration“ ließ den Gedanken an Territorialherrschaft aufkommen. 1755 sprach Robert Clive, der spätere Eroberer Bengalens, das bis dahin Undenkbare aus: „Wir müssen selbst Nawabs werden.“38 Von da an verfolgten die Briten innerhalb des polyzentrischen indischen Staatensystems eine – in der Realisierung freilich immer wieder durch Phasen des Stillstands und der Konsolidierung unterbrochene – Strategie der Unterwerfung. Bis zum Ende der Kolonialzeit 1947 blieben Hunderte von schein–autonomen Fürstenstaaten bestehen, doch konnten sich die Briten seit 1818 als „paramount power“, als unbestrittene Vormacht, auf dem Subkontinent fühlen. Die East India Company fungierte weiterhin in ihrer Doppelrolle als Geschäftsunternehmen und Staatsmacht. Unter stetig strengerer Aufsicht durch die Regierung in London begleitete sie die militärische Ausweitung ihres Herrschaftsbereichs durch eine „innere Reichsbildung“, die, grob schematisch gesagt, eine charakteristische Folge von Schritten durchlief: (1) Sicherung eines effektiven Handelsmonopols, (2) Sicherung militärischer Dominanz und Entwaffnung der jeweilig unterlegenen einheimischen Mächte, (3) Sicherung der Steuereinnahmen, (4) Stabilisierung durch umfassende rechtliche Regelungen und den Aufbau einer bürokratischen Verwaltung, (5) reformerisch intendierte Eingriffe in die einheimische Gesellschaft. Dieses fünfte Stadium wurde Anfang der 1830er Jahre erreicht. – In Indien begann nicht nur das Zeitalter europäischer Herrschaft über „hochkulturelle“ asiatische Gesellschaften. Indien wurde zum Prototyp einer Beherrschungskolonie ohne Siedlerelemente, zu einem Modell für die britische Expansion in anderen Teilen Asiens und in Afrika.
(4) 1880–1900: Neue Koloniebildungen in der Alten Welt Die Zeit zwischen etwa 1830 und 1880 war keineswegs ein windstilles Intervall in der Geschichte der europäischen Expansion. Allein die einst so reiche Karibik wurde zu einem „vergessenen,
Vgl. John Brewer; The Sinews of Power: War, Money and the English State, 1688–1783, New York 1989; F.J. Cain/ A. G. Hopkins, British Imperialism, London/New York 1993, Bd. 1, S. 71–84. 37
38
Zit. in Percival Spear, Master of Bengali Clive and bis India, London 1975, S. 146.
heruntergekommenen Winkel der Erde“.39 Im Zeichen des „Freihandelsimperialismus“ wurden China, Japan, Siam (Thailand) und in größerem Ausmaß als zuvor auch das Osmanische Reich sowie das nunmehr de facto von diesem unabhängige Ägypten zur Öffnung ihrer Ökonomien gezwungen; ihnen wurden die für „informal empire“ charakteristischen Souveränitätsbeschränkungen auferlegt.40 Das nicht mehr koloniale Lateinamerika und das vom Sklavenhandel befreite, aber noch nicht kolonisierte Westafrika wurden als Exportproduzenten enger denn je in die Weltwirtschaft eingebunden. Auf Java, der Hauptinsel Holländisch–Indiens, begann nach 1830 der direkte koloniale Eingriff in die Landnutzung; die äußeren indonesischen Inseln wurden in der Folgezeit allmählich unterworfen. „Hinterindien“, also das kontinentale Südostasien, wurde seit etwa 1820 von den imperialistischen Mächten bedrängt. Zuerst fielen die küstennahen Tiefländer in fremde Hand: 1852–1853 Niederburma mit Rangun, 1857 Cochinchina mit Saigon. Um 1870 waren die späteren kolonialen Grenzen klar zu erkennen. Während der gesamten Periode drang das Zarenreich militärisch im Kaukasus und in Mittelasien vor, mit eher diplomatischen Mitteln auch im Fernen Osten. Damit verschärfte sich zusehends auch der lang andauernde „kalte Krieg“ zwischen den beiden asiatischen Großmächten Rußland und Großbritannien, das sogenannte „Great Game“. Trotz dieser Kontinuitäten europäischer Welteroberung und auch mancher Verbindungen zwischen der klassischen europäischen Diplomatie und derjenigen des „Hochimperialismus“ spricht einiges dafür, um 1870/80 eine Epochenzäsur anzusetzen. Die meisten der Gründe dafür finden sich im weiteren imperialistischen Umfeld des Kolonialismus, also in den Strukturwandlungen von Weltwirtschaft und Weltstaatensystem. Kolonialgeschichtlich gesehen ist die maßgebende Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die europäische Okkupation Afrikas gewesen: ein einzigartiger Vorgang der zeitlich konzentrierten Enteignung eines Kontinents. Das Stichwort dafür ist die „Aufteilung Afrikas“. Am Vorabend dieses Prozesses waren allein Südafrika (seit 1652) und Algerien (seit 1830) europäische Kolonisationsgebiete; punktuelle Einflüsse der Portugiesen (Angola, Mozambique), Franzosen (Senegal) und Briten (Sierra Leone, Lagos) kamen hinzu. Immerhin lebten um 1870 in Algerien über 270000 und in Südafrika (einschließlich der beiden Burenrepubliken) schon jeweils etwa 245 000 Weiße.41 Zur Okkupation Afrikas im letzten Quartal des Jahrhunderts gehörte auch der Ausbau dieser polaren Kolonisationskerne. Die Entdeckung von Diamantenvorkommen 1867 und von Goldlagerstätten 1886 löste eine Entwicklung aus, die Südafrika in ein kapitalistisches Wachstumszentrum, einen Magneten für internationales Kapital, verwandelte und zugleich die weiße Vorherrschaft noch weiter festigte. In Algerien wurde gleichzeitig unter fast rein agrarischen Bedingungen durch umfangreiche Landtransfers von den Einheimischen zu einer schnell wachsenden Siedlerbevölkerung dasselbe Ergebnis erreicht. Die eigentliche „Aufteilung“ Afrikas in den Jahren zwischen der Besetzung von Tunis durch die Franzosen 1881 und Ägyptens durch die Briten 1882 auf der einen, dem Burenkrieg der Jahre 1899– 1902 auf der anderen Seite war zunächst ein eher symbolischer Vorgang. Durch Verträge untereinander verpflichteten sich die europäischen Großmächte zur gegenseitigen Anerkennung von Kolonien, Protektoraten und Einflußsphären. „Paper partition“ wurde nur langsam und unvollständig in „partition on the ground“, in effektive Besitznahme, umgesetzt. Es wurden aber damals jene Grenzen gezogen, die bis heute diejenigen der unabhängigen afrikanischen Nationalstaaten geblieben sind.42 Für die Afrikaner bedeutete die sogenannte „Aufteilung“ ihres Kontinents gewiß nicht selten das Trennen von Zusammengehörigem, öfter aber noch das schiere Gegenteil: „einen rücksichtslosen Akt politischer Verschmelzung, der um die zehntausend [politische] Einheiten auf bloße vierzig reduzierte“.43 Vor allem im islamischen Nordafrika (Ägypten, Marokko, Tunesien, auch Algerien) und 39
Gordon K. Lewis, The Growth of the Modern West Indies, New York/London 1968, S. 63.
40 Am Beispiel Chinas ausführlich: Jürgen Osterhammel, China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, München 1989, S. 139–201.
Zahlen nach John Ruedy, Modern Algeria: The Origins and Development of a Nation, Bloomington, Ind. 1992, S. 69 (Tab. 3.1.); Jörg Fisch, Geschichte Südafrikas, München 1990, S. 144. 41
42
Vgl. H.L. Wesseling, Uerdeel en heers: De deling van Afrika 1880–1914, Amsterdam 1992, S. 18.
43
Ronald Oliver, The African Experience, London 1991, S. 184.
ebenso auch in Teilen Asiens (Vietnam, Korea, Burma) traf der Kolonialismus aber auf bereits komplexe Proto–Nationalstaaten. Hier wurde die Kolonialherrschaft in besonders hohem Maße als illegitim empfunden.
(5) 1900–1930: Entfaltung der kolonialen Exportökonomien Auch wenn das „Zeitalter des Imperialismus“ in vieler Hinsicht 1914 zu Ende ging: die kolonisierten Völker spürten davon zunächst wenig. Allein in Ägypten kam es in der Nachkriegszeit zu einem begrenzten Rückzug der Kolonialmacht. Ihm stand ein neuer Kolonisierungsschub gegenüber: die Unterstellung der früheren arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches unter französisches (Syrien, Libanon) bzw. britisches (Palästina, Transjordanien, Irak) Regiment. Auch keine der ehemaligen Besitzungen des Deutschen Reiches wurde unabhängig; sie wechselten bloß ihre kolonialen Herren. All dies geschah in der Rechtsform von „Mandaten“ des neu gegründeten Völkerbundes und unter Verpflichtung der Mandatare auf öffentliche Rechenschaftslegung. Durch beharrliche erzieherische Einwirkung auf die noch unmündigen Völker Außereuropas – „Völker, die unter den anstrengenden Bedingungen der modernen Welt zur Selbständigkeit noch nicht fähig sind“44 – sollte sich ein sanfter Kolonialismus in unbestimmter Zukunft selbst überflüssig machen.45 Die in der Tradition des „liberalen Imperialismus“ der Vorkriegszeit stehende Benevolenzrhetorik des Jahres 1919 konnte die kolonialistischen Realitäten allerdings nicht verschleiern. An der Grundhaltung der „weißen“ Großmächte hatte sich wenig geändert. Dies zeigt nichts so deutlich wie die Tatsache, daß die „farbige“ Großmacht Japan mit ihrer Forderung nach Aufnahme einer Klausel über rassische Gleichberechtigung in die Völkerbundsatzung scheiterte.46 Japan selbst praktizierte übrigens auf Taiwan, in Korea und später in China einen höchst rigiden Kolonialismus, in dessen Rechtfertigungsrepertoire rassistische Töne nicht fehlten. Besonders folgenreich war die Einrichtung von Mandaten im nahöstlichen Raum. Die späte Osmanenherrschaft hatte im großen und ganzen leicht auf den Völkern der Levante und des Zweistromlandes gelastet. Sie wurde nicht unbedingt als Fremdherrschaft empfunden. Auch sahen die politischen Eliten dieser Völker nicht ein, warum sie sich nicht selbst regieren sollten. In Syrien etwa bestand seit dem Oktober 1918 ein eigener Staat, dessen Existenz durch den Einmarsch der vom Völkerbund autorisierten Franzosen im Juli 1920 beendet wurde. Da Franzosen und Briten im arabischen Raum, inspiriert von grandiosen imperialistischen Wunschvorstellungen, auf die regionalen Bestrebungen und Empfindlichkeiten kaum Rücksicht nahmen und offen eine egoistische Interessenpolitik trieben, konnten sie niemals jene Legitimität erlangen, die der türkische Sultan stets besessen hatte.47 Zu einem explosiven Krisenherd im britischen Empire, dem noch vor Indien bedrohlichsten, sollte in den dreißiger Jahren das Mandatsgebiet Palästina werden. In den zwanziger Jahren erreichte die koloniale Welt das universalhistorische Maximum ihrer Ausdehnung. Der Extensivierung des Kolonialismus entsprach seine Intensivierung, die in vielen Gebieten schon um die Jahrhundertwende begonnen hatte und über den Ersten Weltkrieg hinaus fortgesetzt wurde. Die Kolonialmächte bemühten sich um Systematisierung, Methodisierung, gar „Verwissenschaftlichung“ ihrer Administrationen. Gewaltexzesse wurden eingeschränkt. Nach der Phase eines kämpferischen Imperialismus sollte nun die Epoche eines ruhigen Genusses der kolonialen Früchte anbrechen. Ein Ende des kolonialen Systems war für die meisten Politiker in den Metropolen und die eifriger denn je mit Empire–Propaganda traktierte Öffentlichkeit unvorstellbar. Die
44 Art. 22, Abs. 1 der Satzung des Völkerbundes von 1919, in: Ruth B. Henig (Hrsg.), The League of Nations, Edinburgh 1973, S. 186. 45 Vgl. Wm. Roger Louis, The Era of the Mandates System and the Non–European World, in: Hedley Bull/ Adam Watson (Hrsg.), The Expansion of International Society Oxford 1984, S. 201–13. 46 Vgl. Phillip Darby, Three Faces o f Imperialism: British and American Approaches to Asia and Africa 1870–1970, New Haven/London 1987, S. 84f.
Vgl. die große Studie von Philip S. Khoury: Syria and the French Mandate. The Politics of Arab Nationalism, 1920–1945, London 1989, bes. S. 27–94. 47
Prachtbauten und Stadtanlagen, die jetzt überall in der kolonialen Welt entstanden, waren offenkundig für die Ewigkeit angelegt. Die infrastrukturelle Erschließung vieler Kolonialgebiete wurde in dieser Zeit vorangetrieben. Auf das Zeitalter der großen Eisenbahnbauten folgte das der Landstraße und des Automobils. Damit änderte sich zum einen die Logistik kolonialer Herrschaftssicherung: Sicherheitskräfte konnten nun schneller und flexibler zu Unruheherden transportiert werden. Zusätzlich verbesserten und verbilligten sich die neuen technischen Möglichkeiten von „air policing“; Widerstandsbewegungen ließen sich nun aus der Luft aufspüren und angreifen.48 Zum anderen machte Lastwagenverkehr entlegene Gebiete zugänglich und schuf zugleich die Grundlagen für ein einheimisches Transportunternehmertum. Das vielleicht wichtigste Merkmal der Zeit zwischen dem Ende der Aufteilung der Welt um die Jahrhundertwende und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 war der Ausbau der kolonialen Exportwirtschaft.49 Neue Sektoren wurden entwickelt und bestehende Enklaven der Exportproduktion ins Binnenland hinein ausgeweitet. Europäische Konzerne von neuartiger Größe und Macht (z. B. Lever Brothers/ Unilever) bemächtigten sich beträchtlicher Teile des Außenhandels. Einige Bereiche, etwa die Kupferproduktion im Belgischen Kongo oder die Erdölförderung im Irak, standen, wie zuvor schon das Gold– und Diamantengeschäft in Südafrika, ganz unter der Kontrolle von Big Business. In Asien entwickelte sich der Typus einer ganz auf kapitalistische Exportproduktion abgestimmten tropischen Kolonialgesellschaft besonders markant in den britischen Besitzungen Ceylon und Malaya und auf der japanisch beherrschten Insel Taiwan. Die Große Depression der 1930er Jahre unterbrach fast überall den Exportboom. Sie machte formell beherrschten ebenso wie informell kontrollierten Ländern der Peripherie den neuen Grad ihrer externen Abhängigkeit dramatisch bewußt.
(6) 1945–1960: Die „zweite koloniale Besetzung“ Afrikas Die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht nicht im Zeichen kolonialer Neubildungen, sondern in dem der Dekolonisation. Gemeint ist damit das, was eigentlich als die dritte Welle des Abbaus von Kolonialherrschaft bezeichnet werden müßte.50 Die erste Dekolonisation wäre dann die nationale Emanzipation der meisten europäischen Besitzungen in der Neuen Welt zwischen 1776 und 1825, die zweite die 1839 in Kanada beginnende langsame Transformation der Siedlungskolonien „neuenglischen Typs“ in faktisch sich selbst regierende Staaten, „Dominions“ (wie es seit 1907 allgemein hieß) innerhalb des britischen Empire. Verfassungspolitisch wurde dieser Prozeß durch das Westminster–Statut von 1931 abgeschlossen; Kanada, Australien und Neuseeland wurden dadurch „so souverän, wie sie es wünschten“.51 Wann die dritte Dekolonisation begann, ist nicht eindeutig zu sagen. Man könnte die Durchsetzung von „Home Rule“ in Irland – jahrhundertelang so etwas wie eine englische Kolonie – im Jahre 1922 als den ersten großen kolonialen Befreiungsakt des 20. Jahrhunderts betrachten. Die Emanzipation der „farbigen“ Welt gelangte offiziell auf die historische Tagesordnung, als der amerikanische Kongreß 1933 den Philippinen ihre Unabhängigkeit nach einer zehnjährigen Übergangsperiode in Aussicht stellte. Der von Japan begonnene Pazifische Krieg vereitelte zwar diese Terminplanung, beschleunigte aber ansonsten das Ende der Kolonialreiche in Asien. Japans eigenes Imperium brach 1945 zusammen. Zwischen 1946 und 1949 wurden die Völkerbund/UN–Mandate im Nahen Osten aufgehoben; die amerikanischen, niederländischen und (mit Ausnahme Malayas und Singapurs) britischen Kolonien in Asien gewannen ihre Unabhängigkeit. Für Französisch–Indochina war die 1954 erlangte nominelle Selbständigkeit allerdings nur der Auftakt zu einer Phase neuer Interventionen, die erst mit Niederlage und Rückzug der USA 1975 endete.
48
Vgl. David E. Omissi, Air Power and Colonial Control: The Royal Air Force 1919–1939, Manchester 1990.
Viel Material dazu findet sich in Rudolf von Albertinis großem Panorama: Europäische Kolonialherrschaft 1880–1940, 3. Aufl., Stuttgart 1987. 49
50
Vgl. Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion (wie Anm. 22), Bd. 2, S. 203 f.
51
W. David McIntyre, The Significance of the Commonwealth, 1965–90, Basingstoke 1991, S. 15.
Die Dekolonisation Afrikas begann im italienischen Libyen 1951. 1956 führte die Suez–Krise zum Kollaps der militärischen Sonderrechte und wirtschaftlichen Interessen, die sich Großbritannien in Ägypten bewahrt hatte. Von jenem Jahr bis 1964 wurde der größere Teil Afrikas unabhängig. Portugal konnte seine Kolonien bis 1974/75 behaupten. In Rhodesien/ Zimbabwe erklärten 1965 die weißen Siedler einseitig ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone; erst 1980 wurde eine afrikanische Mehrheitsregierung erreicht. Die Dekolonisation mag im nachhinein wie ein Purzeln der Dominos erscheinen, wie ein unaufhaltsamer Prozeß. Das ist sie für viele Zeitgenossen keineswegs gewesen. Die Strategen des britischen Empire verschmerzten den Verlust des „Kronjuwels“ Indien, das der alten Kolonialmacht nach 1947 fürs erste wirtschaftlich eng verbunden blieb, relativ leicht. Bis zur Suezkrise von 1956 setzte man große Hoffnungen auf die Konsolidierung eines „informal empire“ im Nahen und Mittleren Osten. Danach blieb immerhin noch Afrika, dem man schon seit den vierziger Jahren eine immense Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Man kann hier von der letzten Phase innerer kolonialer Neubildung sprechen. Niemals vor 1945 war Afrika für die europäischen Mächte so wichtig gewesen wie in den anderthalb Jahrzehnten danach. Dies gilt in einem strikten wirtschaftlichen Sinne besonders für die älteste Kolonialmacht Afrikas: Portugal. In Frankreich wie in Großbritannien favorisierte man einen aktiven, erstmals öffentliche Investitionen größeren Ausmaßes nicht scheuenden Entwicklungskolonialismus im subsaharischen Afrika, der den Metropolen direkten Nutzen und den Afrikanern die für eine künftige Unabhängigkeit nötige „Reife“ bescheren sollte. Für Britisch–Afrika hat man sogar von einer „zweiten kolonialen Besetzung gesprochen“: einer einzigartigen Aufblähung der kolonialen Bürokratie und einer unerhörten Ausdehnung der Staatstätigkeit auch in lokale Belange hinein. Niemals zuvor kamen so viele Afrikaner in so unmittelbare Berührung mit Repräsentanten der Kolonialmacht wie in den allerletzten Jahren des Empire.52 Gerade diese späte koloniale Kraftanstrengung trug aber zum Untergang des ganzen Systems bei. Denn die Entwicklungsversprechungen weckten bei den Afrikanern Erwartungen, die niemals erfüllt werden konnten, zumal die wirtschaftliche Bedrängnis der britischen Inseln immer wieder handels– und währungspolitische Entscheidungen zu Lasten der Kolonien gerechtfertigt erscheinen ließ.53
IV. Eroberung und Widerstand Koloniale Herrschaft ist so gut wie nie durch blitzartige Überfälle auf vollkommen unvorbereitete Opfer zustande gekommen. Hernán Cortes’ Invasion des Aztekenreiches blieb eine große Ausnahme. Normalerweise hat Kolonialismus sich von „Entdeckung“ und Erstkontakt her allmählich aufgebaut. Der Geograph und Historiker Donald W. Meinig nimmt für Amerika modellhaft eine Abfolge von acht Phasen an: (1) Erkundung des unbekannten Terrains, (2) Sammlung von Ressourcen an der Küste, (3) Tauschhandel mit den Einheimischen, (4) Plünderungen und erste militärische Aktionen im Binnenland, (5) Stützpunktsicherung, (6) imperiale Inbesitznahme (durch symbolische Anmeldung von Herrschaftsansprüchen und die Stationierung erster offizieller Repräsentanten), (7) Ansiedlung erster nichtmilitärischer Immigranten und Gründung einer sich selbst tragenden Kolonie, (8) Aufbau eines kompletten kolonialen Herrschaftsapparates.54 Wie jedes idealtypische Modell, so erweist auch dieses seinen Nutzen dadurch, daß es erlaubt, Abweichungen in der historischen Wirklichkeit um so prägnanter herauszuarbeiten. Am ehesten trifft die Sequenz auf Brasilien, Nordamerika, Teile der Karibik und manche Südseeinseln zu. Für Asien und große Bereiche Afrikas wird man sie modifizieren müssen. Dort, wo Europäer wehrhaften Herrschern gegenüberstanden, wo ihre Ziele von Anfang an auf Handel beschränkt waren und wo Klima und 52 John D. Hargreaves, Decolonization in Africa, London/New York 1988, S. 108; D.A. Low, Eclipse of Empire, Cambridge 1991, S. 173–76. 53
Vgl. David K. Fieldhouse, Black Africa, 1945–1980: Economic Decolonization and Arrested Development, London 1986, S. 23.
D. W. Meinig, The Shaping of America: A Geographical Perspective on 500 Years of History, Bd. 1: Atlantic America, 1492–1800, New Haven/London 1986, S. 65 f.
54
Tropenkrankheiten eine Ansiedlung wenig ratsam erscheinen ließen, vergingen zwischen den Phasen (6) und (7) bzw. – im Falle der Bildung von Beherrschungskolonien – im direkten Übergang von (6) zu (8) oft lange Zeiträume. Sie wurden durch Zwischenphasen ausgefüllt, in denen die Europäer in der Regel einen friedlichen, oft durch Verträge besiegelten Modus vivendi mit den einheimischen Autoritäten suchten. Auch wenn, wie in den Fällen des portugiesischen und des niederländischen Einbruchs in den Indischen Ozean, die ersten Enklaven an den Rändern der asiatischen Reiche durch terroristisches Brigantentum in die Gewalt der Europäer kamen, entfiel die Notwendigkeit zum Einvernehmen mit der Umwelt nicht. In Teilen Asiens waren die Europäer geradezu auf die Duldung durch einheimische Machthaber angewiesen. 1662, auf dem Höhepunkt ihrer Stärke als Seemacht, wurden sogar die Holländer von der Insel Taiwan vertrieben: nicht einmal durch den chinesischen Kaiser, sondern durch den regionalen Warlord Zheng Chenggong (Koxinga). Taiwan blieb bis 1895 unkolonisiert.
Grenzergewalt und Militärinvasionen Die eigentliche Koloniebildung war bei Siedlungs– wie bei Beherrschungskolonien stets mit Gewaltanwendung verbunden. Im ersten Fall lassen sich aus dem kontinuierlichen offenen Gewaltverhältnis zwischen bewaffneten Kolonisten und „Eingeborenen“ entlang der Besiedlungsgrenze nur schwer besondere Phasen kriegerischer Auseinandersetzung herausschälen. Im Inneren Brasiliens, vorübergehend in Australien und vielfach auch an der nordamerikanischen Indianergrenze herrschte das ungezähmte Faustrecht. Im permanenten Verdrängungskampf gegen die „Wilden“ war Siedlern und paramilitärischen Killerkommandos (etwa den brasilianischen bandeirantes) bis hin zum Völkermord jedes Mittel recht. Die Verbrechen der spanischen Konquistadoren in der Neuen Welt, durch die „schwarze Legende“ der anti–spanischen Propaganda jahrhundertelang im historischen Bewußtsein lebendig gehalten, dürfen nicht verdecken, daß die strukturell gewaltsamste Form der europäischen Expansion die Siedlungskolonisation „neuenglischen“ Typs gewesen ist. Hier verbanden sich der Landhunger und das Desinteresse der Siedler an einheimischen Arbeitskräften, die Indifferenz der kolonialen Behörden gegenüber nicht besteuerbaren eingeborenen Untertanen und eine durch kein Naturrecht gemilderte schroffe Theologie der Erwählung und Verdammung, die den Indianer für nicht christianisierbar und zivilisierbar hielt, in einer brisanten Bereitschaft zu alltäglicher Gewaltsamkeit. Im ganzen war die spanische Auffassung von Kolonisation zumindest in der Theorie weniger inhuman als die englisch–puritanische: Ging es dieser um die Kontrolle über Grund und Boden, der gleichermaßen von Unkraut wie von „Wilden“ zu säubern sei, so jener um Herrschaft über die Bewohner des Landes, deren Arbeitskraft genutzt werden sollte.55 Bei der Entstehung von Beherrschungskolonien stand statt der wilden Brutalität anarchischer Frontkämpfer die in höherem Maße geregelte Gewalt der metropolitanen Staaten im Vordergrund. Deshalb kann man hier in Abwandlung von D.W. Meinigs Modell säuberlicher zwischen den drei Phasen (1) Erstkontakt bzw. Niederlassung, (2) Eroberung und (3) Konsolidierung unterscheiden. Die konkreten Unterschiede innerhalb solch breiter Kategorien sind jedoch erheblich. Besonders der Begriff „Eroberung“ kann extrem Verschiedenes bezeichnen. Während das Aztekenreich überrollt und zerstört wurde, machte sich das spanische Vordringen in den benachbarten Maya–Gebieten Yucatáns eher als langsame Infiltration bemerkbar. Große Teile des subsaharischen Afrika wurden nicht durch schulgerechte Militärkampagnen unterworfen, sondern durch punktuelle, sozusagen opportunistische Gewalt. Die frühe deutsche Eroberung in Ostafrika ist sogar als „eine Erweiterung von Stammeskriegen, bei denen sich die Deutschen an der Beute beteiligten“, bezeichnet worden.56 In wieder anderen Fällen, z. B. der großen französischen Expedition gegen Madagaskar 1895, wurde zwar rasch ein militärischer „Sieg“ errungen und durch Annexion besiegelt, doch schloß sich daran ein langwieriger Guerillakrieg an.
Vgl. John H. Elliott, The Seizure of Overseas Territories by the European Powers, in: Hans Pohl (Hrsg.), The European Discovery of the World and its Economic Effects an Pre–Industrial Society, 1500–1800, Stuttgart 1990, S. 51–54. 55
56
John Iliffe, A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1979, S. 117.
Während sich koloniale Eroberungskriege auf der einen Seite von außerstaatlicher Siedlergewalt abgrenzen lassen, unterscheiden sie sich andererseits von der innerhalb Europas praktizierten Kriegführung. Kolonialkriege hatten, wenn man von begrenzten „Strafaktionen“ (etwa gegen Ägypten 1840 und gegen China 1858–60) absieht, ein eindeutiges Ziel: den totalen Sieg, die dauerhafte Unterjochung der unterlegenen Bevölkerung und die Etablierung eines permanenten kolonialen Friedens. Sie waren, militärisch gesehen, keineswegs immer ein Spaziergang. Kolonialkriege wurden unter weniger kalkulierbaren Bedingungen ausgetragen als innereuropäische Kriege. Gefährlicher als der Feind war oft die Natur: Zwischen 1793 und 1798 starben in St. Domingue 15000 britische Soldaten am Gelbfieber und an anderen Tropenepidemien; 1895 erlagen in Madagaskar von 18 000 eingesetzten französischen Soldaten 25 den Waffen der Madegassen, 5750 der Malaria und anderen Krankheiten.57 Kolonialkriege waren meist „kleine Kriege“: klein im Sinne der „Guerilla“ oder ihrer Vorformen, mit der die Invasoren es oft zu tun bekamen, klein aber auch, weil die eingesetzten Mittel nicht selten recht begrenzt waren. Aufwendige und teure Feldzüge wie die britischen Eroberungskriege in Indien 1798–1819, die verschiedenen französischen Expeditionen in Algerien 1830–1854 oder Mussolinis Äthiopien–Invasion von 1935/36 fielen aus dem Rahmen. Gerade „kleine“ Kriege führten aber zu hohen Belastungen auch der nicht–gegnerischen Bevölkerung. Besonders in Afrika wurden einheimische Träger zu Zigtausenden in den Dienst der Invasoren gepreßt und als anonymes Menschenmaterial verschlissen. An Ort und Stelle ausgehobene Kolonialtruppen, die oft die Mehrheit der einfachen Soldaten stellten (so daß sich Inder, Kameruner und viele andere gleichsam selber eroberten), mußten besser behandelt werden, um nützlich zu sein. Jedes Imperium unterhielt farbige Elitetruppen, die reichsweit an Krisenherden eingesetzt wurden: im britischen Empire etwa Sikhs aus dem Panjab, nepalesische Gurkha und die Kings African Rifles, die meist aus dem Sudan stammten. Je mehr sich im 19. Jahrhundert ein sozialdarwinistisches Denken durchsetzte, desto mehr wurden Kolonialkriege als Kriege zur Verbreitung der „Zivilisation“ gegen Widersacher betrachtet, denen man zivilisierte Regeln des Umgangs nicht zugestehen mochte. Ein Kolonialkrieg, so definierte Sir Charles Callwell 1896 in einem vom britischen Kriegsministerium veröffentlichten Handbuch, sei eine Expedition „disziplinierter Soldaten gegen Wilde und halb–zivilisierte Rassen“.58 Gegenüber einem Feind, der nicht denselben kulturellen Code zu verstehen schien, galten auch Methoden der Kriegführung als legitim, die in Europa moralisch und rechtlich geächtet waren. Selbst Pazifisten fanden sich gelegentlich zur Rechtfertigung dieser „anderen“ Art von Krieg bereit. Da nahezu niemand in Asien und Afrika – die Urheber des deutschen Völkermordes an den Herero und Nama Südwestafrikas 1904–1907 waren eine extreme Ausnahme – an die planvolle Vernichtung ganzer Völker dachte, lag das Argument nahe, man sei zu „savage wars of peace“ (Rudyard Kipling) gezwungen, um friedliebende Wilde und Orientalen von einheimischen Despoten und Räubern zu befreien. Diese Auffassung hatte jedenfalls insofern einen wahren Kern, als die Europäer oft keineswegs in ruhige Idyllen einbrachen, sondern in Gesellschaften mit einem schon vorkolonial hohen Gewaltpegel. Der Vorwurf der „Unzivilisiertheit“ war selbstverständlich in jeder beliebigen Richtung anwendbar. Aus der Sicht der Azteken etwa, die ihre in Kriegsgefangenschaft geratenen indianischen Nachbarn rituell schlachteten, erschienen die Spanier des Cortes als Leute, die unfair kämpften, indem sie schlafende Dörfer überfielen, Emissäre mißhandelten und Hunger als Waffe einsetzten.59
Niederlagen und Widerstand Zuweilen mußten die Europäer Niederlagen hinnehmen: die Franzosen 1836 in Algerien, die Briten 1842 in Afghanistan und 1884/85 im Sudan, die Italiener 1896 in Äthiopien. Die Niederlagen häuften sich im 20. Jahrhundert bei dem zweiten Typ von Krieg, den der Kolonialismus hervorbrachte: dem nationalen Befreiungskampf. In der Regel erreichten die Eroberer jedoch ihre Ziele. Warum das so war, David Geggus, The Haitian Revolution, in: Franklin W. Knight/Colin A. Palmer (Hrsg.), The Modern Caribbean, Chapel Hill/London 1989, S. 39; Y. G. Paillard, The French Expedition to Madagascar in 1895: Program and Results, in: J. A. de Moor/H. L. Wesseling (Hrsg.), Imperialism and War: Essays an Colonial Wars in Asia and Africa, Leiden 1989, S. 183 f. 57
Zit. nach John M. MacKenzie, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Popular Imperialism and the Military 1850–1950, Manchester 1992, S. 7. 58
59
Vgl. Inga Clendinnen, The Aztecs: An Interpretation, Cambridge 1991, S. 267–73.
wird sich nicht pauschal beantworten lassen. Die waffentechnische Überlegenheit der Europäer spielte nicht immer eine so große Rolle wie 1898 bei der Schlacht von Karari (Omdurman), als die mit Schnellfeuerwaffen ausgestatteten Briten 49 und die Sudanesen ca. 11000 Mann verloren.60 Ein zweites heute oft genanntes Element der Erklärung ist die geschickte Manipulation einheimischer Symbole in einer kognitiv unbeweglichen Umgebung, gewissermaßen überlegene Ad–hoc–Propaganda, wie man sie vor allem bei Hernán Cortes gefunden hat.61 Dieser faszinierende, im Ansatz natürlich arg eurozentrische Gedanke dürfte nur schwer zu verallgemeinern sein. Wenige andere außereuropäische Zivilisationen waren so unzureichend auf fremde Eroberer eingestellt wie die Azteken, und nur wenige pflegten solch extravagante Vorstellungen wie die berühmte Erwartung „weißer Götter“, die sich die Spanier zunutze machten. Eine kulturelle Paralyse der Opfer, die vor dem Hypnoseblick der imperialen Schlange erstarrten, war eher die Ausnahme als die Regel. Die Maori auf Neuseeland etwa, „nackte Wilde“ nach den Kategorien viktorianischer Engländer, bewiesen eine außerordentliche Lernfähigkeit und Geschicklichkeit, die es ihnen erlaubte, sich zwischen 1845 und 1869 gegen eine immense materielle Übermacht militärisch zu behaupten.62 Im allgemeinen wichtiger als kulturelle Nachteile der überseeischen Völker dürften gewisse organisatorische Vorteile der Europäer gewesen sein: eine kompakte und strikt zielorientierte, also etwa von Prestigefragen absehende Heeresorganisation mit eindeutigen Kommandostrukturen, bei der jeder Kommandoposten augenblicklich neu besetzt werden konnte, sowie die im europäischen Staatensystem anerzogene „machiavellistische“ Bereitschaft und Fähigkeit zu taktischer, jederzeit Frontwechsel erlaubender Bündnispolitik innerhalb schnell durchschauter indigener Machtkonstellationen.63 So ist in Indien, aber nicht nur dort, die militärische Eroberung durch diplomatische Beteiligung der East India Company am einheimischen politischen Spiel vorbereitet worden. Uneinigkeit unter den potentiell Kolonisierten hat die Eroberung stets erleichtert, und solche Uneinigkeit war vor dem Entstehen eines Gefühls der Solidarität über den eigenen Staat, Stamm oder Klan hinaus eher die Regel als die Ausnahme. Niemand fühlte sich im 18. Jahrhundert als „Inder“ und kaum einer im 19. Jahrhundert als „Afrikaner“. Umgekehrt wurden die Europäer oft mit Hilfe jenes intellektuellen Repertoires wahrgenommen, das in mobilen Gesellschaften zur Erfassung des Fremden bereits vorhanden war. Das besonders Bedrohliche dieser neuesten Art von Fremden wurde nicht überall sogleich erkannt. Deshalb ist es auch problematisch, „Kollaboration“ und „Widerstand“ als prinzipielle, vielleicht sogar moralisch bewertbare Haltungen aufzufassen. Die jeweiligen Handlungsweisen ergaben sich aus der Art der Kontaktsituation und ihrer Deutung. Die jüngere Forschung hat sich in ihrem berechtigten Bemühen, die Opfer der Kolonialexpansion als Subjekte ihrer eigenen Geschichte zu ihrem Recht kommen zu lassen, ausführlich mit dem „primären“ Widerstand gegen koloniale Interventionen beschäftigt.64 Generell läßt sich aber sagen, daß weniger die militärische Eroberung selbst große, „traditionalistisch“ orientierte Widerstandsbewegungen auslöste als die spätere Erfahrung mit Repression, mit den Forderungen des kolonialen Staates nach Arbeitskräften, Soldaten und Steuern und mit der Bedrohung der angestammten Kultur durch Missionare. Diese Bewegungen brachen nicht selten unerwartet zu einer Zeit über die Kolonialherren herein, als man die „Pazifizierung“ schon gelungen glaubte. Ihre unweigerliche, meist sehr brutale Niederschlagung führte oft zur Neuorientierung imperialer Politik. So markiert die Erhebung der Sepoy–Truppen im Jahre 1857, die sog. „Indian Mutiny“, eine tiefe Zäsur in der britischen Politik in und gegenüber Indien. Auch nach dem Ende der großen überregionalen Widerstandsbewegungen blieb es in den meisten Kolonien unruhig. Protest schwelte unter der Oberfläche und entlud sich immer wieder in lokalen Aktionen. Da 60
P. M. Holt/M. W Daly, A History of the Sudan, 4th ed., London/New York 1988, S. 112.
61
Vgl. Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985, S. 69–151.
62
Vgl. James Belich, The New Zealand Wars and the Victorian Interpretation of Racial Conflict, Auckland 1986, S. 291 ff.
63 Vgl. die Fallstudie Stig Förster, Die mächtigen Diener der East India Company. Ursachen und Hintergründe der britischen Expansionspolitik in Südasien 1793–1819, Stuttgart 1992.
Vgl. die Synthese bei Catherine Coquery–Vidrovitch Africa: Endurance and Change South of the Sahara, Berkeley/Los Angeles/London 1988, S. 168–210. 64
der koloniale Staat viele herkömmliche Flucht– und Widerstandsformen gerade der ländlichen Bevölkerung verschloß, schien oft keine Alternative zur verzweifelten Konfrontation zu bleiben.65 Die kolonialen Eroberungen setzten ihr Potential erst langsam frei. Ihre Folgen waren nicht sogleich ersichtlich. Sogar in Mexiko, dem Musterfall für einen schnellen Zusammenbruch eines besiegten Staates, dauerte es vier oder fünf Jahrzehnte, bis sich im Erfahrungshorizont der Indios verhärtete koloniale Strukturen bemerkbar machten.66 In Indien trennte etwa derselbe Zeitabstand die Spätphase der Eroberung vom großen Sepoy–Aufstand. Wenn Kolonialherrschaft in fast allen Regionen, in denen sie längere Zeit bestehen blieb, eine soziale Revolution hervorrief, so war dies keineswegs sogleich nach der Eroberung ersichtlich. Systematische Eingriffe in einheimische Gesellschaften waren den anfänglich meist schwach besetzten kolonialen Staatsorganen kaum möglich. Man brauchte Ruhe und eine tragfähige Steuerbasis. Überall waren die königlichen oder sonstigen staatlichen Repräsentanten darauf erpicht, ungeduldige Konquistadoren und beutelüsterne „Nabobs“ an die Kandare zu nehmen. Dabei griff man zum Teil bewußt auf vorkoloniale Ordnungsformen zurück. So wurde in Bengalen in den 1790er Jahren die traditionelle Trennung zwischen Handel und öffentlichen Funktionen wiederhergestellt und die Gesellschaft durch die Neuordnung des Steuersystems konservativ stabilisiert. Das Ende der Eroberungsphase, wenn es denn im Einzelfall einigermaßen exakt zu datieren ist, bedeutete auch eine Selbst–Pazifikation der Eroberer: die Bezwingung von Kriegs– und Terrorinstinkten. Die klassisch gebildeten unter ihnen mochten sich an die Einsicht eines Kollegen, des in Britannien tätigen Kolonialgouverneurs Gnaeus Julius Agricola, erinnern, die ihm sein Schwiegersohn Tacitus zuschreibt: „daß Waffengewalt wenig auszurichten vermöge, wenn Ungerechtigkeit in ihrem Gefolge sei“.67
V. Der koloniale Staat Staatsformen und Herrschaftspraxis Koloniale Herrschaft kleidete sich in eine Vielzahl organisatorischer Gewandungen. Kein einziges modernes Imperium war administrativ homogen. Trotz ihres Rufes strenger Zentralisierung war die Imperiale Republik Frankreich ein noch chaotischeres Sammelsurium juristischer Arrangements als das bekanntermaßen planlos zusammengestückte britische Empire, das immerhin den symbolischen und rechtlichen Konzentrationspunkt der Krone kannte. Das Empire war uneinheitlich genug. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterschied man im britischen Kolonialrecht mehr als vierzig Statusarten überseeischer Gebiete, deren Kontrolle sich auf drei Ministerien verteilte: Colonial Office, India Office und Foreign Office. In Rhodesien und dem unzugänglichen Nordborneo (heute Sabah, ein Gliedstaat Malaysias) gab es die bereits aus den Frühzeiten britischer Expansion vertraute Einrichtung der privaten, vom Monarchen privilegierten Chartered Company, ein Instrument, das übrigens auch Bismarck bevorzugte. Direkt dem Kolonialministerium unter einer Gouverneursverfassung unterstellt waren die „Kronkolonien“, z. B. zahlreiche der karibischen Besitzungen, Hongkong, die Falkland– Inseln, Sierra Leone, die Goldküste (Ghana) und vor allem Ceylon, das in vieler Hinsicht als die tropische Musterkolonie schlechthin galt. Kenia, Uganda, Somaliland, Nigeria, Njassaland (Malawi), Aden u. a. waren „Protektorate“. Sie wurden „indirekter“ regiert als die Kronkolonien (oder im französischen Imperium „colonies incorporées“), in welchen die Kolonialmacht die volle Souveränität übernommen hatte. Den oft ungenau verwendeten Begriff der „indirekten Herrschaft“ (indirect rule) sollte man für drei Ordnungsformen reservieren, denen gemeinsam ist, daß unter dem Schirm kolonialstaatlicher Oberherrschaft einheimische Herrscher demilitarisierter Fürstentümer oder Stammesgebiete in Autoritätspositionen belassen wurden: (1) Die etwa 40 großen und über 500 kleinen „Princely States“ So die These bei Michael Adas, From Avoidance to Confrontation: Peasant Protest in Precolonial and Colonial Southeast Asia, in: Nicholas B. Dirks (Hrsg.), Colonialism and Culture, Arm Arbor, Mich. 1992, S. 112.
65
66 Vgl. Charles Gibson, The Aztecs under Spanish Rule: A History o f the Indios of the Valley of Mexico, 1519–1810, Stanford, Cal. 1964, S. 404.
„[...] doctus per aliena experimenta parum profici armis, si iniuriae sequerentur“: Tacitus, Leben des Julius Agricola. Lateinisch und Deutsch von Rudolf Till, 5. Aufl., Berlin 1988, S. 32/33. 67
der Maharajas, Nizame und wie sie immer heißen mochten, waren in das Territorium Britisch–Indiens eingesprengselt. Es handelte sich um wirtschaftlich für die Kolonialmacht wenig interessante Gebiete. Sie durften keine eigene Außenpolitik betreiben und sogar untereinander keine Beziehungen unterhalten. Über jedem von ihnen schwebte die permanente Interventionsdrohung der Indischen Armee. „Residenten“ in „beratender“ Diplomatenrolle sorgten an den Höfen dafür, daß eine stabilisierende Politik des inneren Status quo betrieben wurde.68 (2) Eine direktere Variante von Indirect Rule bestand darin, daß Agenten der Kolonialmacht, denen meist ein kleiner britischer Stab zur Hand ging, hinter einer Fassade dynastischer Herrschaft alten Stils die politischen Alltagsgeschäfte mehr als nur beratend mitbestimmten.69 Dies war so in Malaya, Sansibar und Uganda, aber auch in nichtbritischen Kolonialreichen, vor allem in Teilen von Niederländisch–Ostindien sowie in den französischen „Protektoraten“ Annam, Kambodscha und Laos. (3) Im britischen tropischen Afrika schließlich wurde Indirect Rule in den 1920er und 1930er Jahren zu einer – selten erfolgreich praktizierten – Doktrin, die verlangte, innerhalb eines bereits bestehenden Rahmens direkter Kolonialherrschaft Häuptlingen und anderen „native authorities“, die von den schädlichen Einflüssen der modernen Welt abzuschirmen seien, allmählich wachsende Vollmachten zuzubilligen und ihnen Erfahrungen in lokaler Verwaltung zu ermöglichen. Die Absicht war teils humanitär, teils sozialromantisch, aber auch in dem Sinne konservativ, daß durch die Stärkung traditionaler Autoritäten den neu auf den Plan tretenden nationalistischen „Agitatoren“ in den Städten das Wasser abgegraben werden sollte. Von Indirect Rule dieser Art versprach man sich, jedenfalls bis zur Aufgabe dieses Programms nach 1942, eine sichere nicht–nationalistische Grundlage für die politische Entwicklung Afrikas. Indirect Rule war eher eine Herrschaftsmethode als eine staatsrechtliche Form. Wie wenig die formale Oberfläche manchmal über die tatsächlichen Machtverhältnisse aussagte, zeigte sich etwa in Nordostafrika. Der Sudan wurde seit 1899 als „Kodominium“ von Großbritannien und Ägypten gemeinsam verwaltet, war aber in Wirklichkeit ganz in britischer Hand, da Ägypten selbst eine besonders listig verpackte britische Besitzung war: Das Land war 1882 nach einem nationalistischen Offiziersputsch gegen das mit England und Frankreich weitherzig zusammenarbeitende Regime des dynastischen Herrschers, des Khediven, von britischen Truppen besetzt worden. Diese „Okkupation“ sollte ursprünglich eine vorübergehende Maßnahme sein, dauerte aber de jure bis 1922 und mit ihren letzten Ausläufern de facto bis 1954. Unter der einzigartigen Fiktion eines „verschleierten Protektorats“ (veiled protectorate) wurde Ägypten seit 1883 hinter der Fassade der fortbestehenden Monarchie und eines ägyptischen Kabinetts von einem britischen Statthalter dominiert, dessen bescheidener Titel „Generalkonsul“ mit Rücksicht auf die europäischen Großmächte seine beinahe allumfassende Machtfülle verbarg. England regierte, so wurde damals gesagt, nicht Ägypten; es regierte die Regierung Ägyptens. Obendrein betrachtete der Sultan in Konstantinopel weiterhin, aber ohne jede praktische Konsequenz, alle Ägypter als seine Untertanen. Ein anderer, allerdings eindeutigerer verfassungsrechtlicher Sonderfall war Indien. Bis 1858 unterstanden die britisch beherrschten Teile des Subkontinents nicht der Krone, sondern nominell der im Jahre 1600 gegründeten altehrwürdigen East India Company. Dann wurden sie eine besonders kompliziert organisierte Kronkolonie. 1876 ließ sich Queen Victoria zur „Kaiserin von Indien“ proklamieren: ein Akt von eher symbolischer als praktischer Bedeutung, der die britischen Monarchen als Erben der Mogul–Kaiser stilisieren sollte. Die Macht lag zwischen 1858 und 1921 unbeschränkt, danach mit gewissen Begrenzungen in der Hand des Generalgouverneurs (zugleich „Vize–Königs“): der „höchsten Autorität, bei der sich die Verantwortung für alle Akte ziviler wie militärischer Regierung konzentriert“.70 Aus Statusgründen wurde der Generalgouverneur aus den Reihen der Aristokratie berufen. Vgl. jetzt grundlegend Michael H. Fisher, Indirect Rule in India: Residents and the Residency System 1764–1858, Delhi 1991. Für die folgende Zeit vgl. Ian Copland, The British Raj and the Indian Princes: Paramountcy in Western India, 1857–1930, Bombay 1982.
68
69
Vgl. J. M. Gullick, Rulers and Residents: Influence and Power in the Malay States 1870–1920, Singapur 1992.
70
Report of the Indian Statutory Commission. Cmd. 3568 (Simon Report), London 1930, S. 112.
Die Formen des kolonialen Verfassungsrechts waren für den politischen Alltag nur sehr vermittelt von Belang; wichtig wurden sie vor allem in der Phase der Dekolonisation. Man kann nicht, wie das Beispiel Ägypten am besten zeigt, von einer formal sehr indirekten Herrschaftsstruktur auf eine in der Realität wenig eingreifende Herrschaftsweise schließen. Es lebte sich in einem Protektorat nicht unbedingt besser als in einer Kronkolonie. Unterhalb der konstitutionellen Oberfläche verbergen sich, wenn man den historischen Horizont des British Empire jetzt wieder übersteigt, einige herrschaftssoziologische Grundtypen, die ungefähr den Kategorien der Koloniebildung entsprechen. Sieht man von dem Fall der neo–europäischen Siedlungskolonien „neuenglischen“ Typs ab, die früh mit Parlamenten und im nächsten Schritt dann mit parlamentarisch verantwortlichen Regierungen ausgestattet waren und bei denen von Kolonialismus als Fremdherrschaft über indigene Mehrheiten ohnehin nur ausnahmsweise die Rede sein kann, so bleiben drei Formen: das minoritäre Siedlerregime, der bürokratisch–patrimoniale Staat und die prokonsularische Autokratie. (1) Das minoritäre Siedlerregime ist charakteristisch für Siedlungskolonien sowohl vom „karibischen“ Sklavenhalter – wie vom „afrikanischen“ Farmer–Typus. Vor etwa 1830 existierte auf Jamaica und den anderen britischen Karibikinseln eine ungehemmte Pflanzerdiktatur. Die versklavte Mehrheit und die Zwischenschicht der Freigelassenen waren politisch vollkommen rechtlos; von London ging, anders als von Paris gegenüber den französischen Antillen, keinerlei wirksame Kontrolle der herrschenden Kaste aus. Diese „Plantokratie“ exekutierte die Gesetze, die sie sich selbst gegeben hatte, kontrollierte die Finanzen und das Gerichtswesen und mißachtete ungestraft die Vertreter des Königs.71 Siedlerregimes in Afrika genossen nur dann einen ähnlich unbeschränkten Willkürspielraum, wenn sie sich vom Empire lösten. Das geschah in Südafrika mit dem Beginn des Großen Treks 1835 (und dann ein zweites Mal moralisch–kulturell mit dem Machtwechsel von 1948 und dem folgenden Aufbau des Apartheidstaates) sowie in (Süd–)Rhodesien zwischen 1965 und 1979. In Südrhodesien, wo 1939 insgesamt 63000 Europäer lebten,72 war jedoch seit dem Beginn britischer Präsenz 1889 die Politik mit minimaler Einmischung Londons von britischen Privatleuten gemacht worden. Deren Zugewinn an politischen Freiheiten – 1923 erhielten die Siedler „responsible government“ – war mit einer wesentlich schlechteren politischen und zivilen Rechtsstellung der Afrikaner verbunden als in den britischen Kronkolonien und Protektoraten. Selbst maßvolle verfassungspolitische Zugeständnisse, wie sie in Westafrika das Kolonialregime in seinen letzten Jahren milderten, blieben aus. Quasi–autonome, landhungrige Siedler, nicht die kolonialstaatliche Obrigkeit, erwiesen sich auch hier wieder als die ärgsten Widersacher der einheimischen Bevölkerung. Dies bestätigt sich in Algerien. Unter der Dritten und der Vierten Französischen Republik schritten Paris oder seine Statthalter kaum je gegen die rigorose Interessenpolitik der Siedler ein. Durch familiäre und sonstige soziale Bande sowie politisch durch die Vertretung des „weißen“ Algerien im hauptstädtischen Parlament waren die nordafrikanischen Siedler viel fester in ihr metropolitanes System eingeknüpft als die Siedler in Südafrika, Rhodesien oder Kenia. Abgesichert durch die algerische Lobby in Paris (zu der es kein britisches Äquivalent gab), konnten die „colons“ in Algerien ein rassistisches Regime festigen, das die Algerier rechtlich und in der Folge vor allem politisch und kulturell extrem benachteiligte. Französische Staatsbürgerrechte standen allen Algeriern offen – sofern sie dem Islam entsagten, ein nach muslimischem Recht todeswürdiges Verbrechen. Nur wenige machten davon Gebrauch. Die französische Staatsmacht ist in Algerien, anders als etwa vorübergehend die britische in Kenia oder auch in der südafrikanischen Kapkolonie, niemals als „Schiedsrichterin“ zwischen den Bevölkerungsgruppen aufgetreten. (2) Der bürokratisch–patrimoniale Staat. Spanisch–Amerika ist auch im Hinblick auf die Organisation von Herrschaft ein kolonialgeschichtlicher Fall sui generis. Wie innovativ die Royalisierung der anfänglichen Konquistadorenmacht und der Aufbau einer zentralisierten, durchsetzungskräftigen und juristischen Formalregeln folgenden Bürokratie von Berufsbeamten in den kolonialen Kernzonen des spanischen 71
Vgl. William A. Green, British Slave Emancipation: The Sugar Colonies and the Great Experiment 1830–1865, Oxford 1976, S. 94.
72
Dane Kennedy, Islands of White: Settler Society and Culture in Kenya and Southern Rhodesia, 1890–1939, Durham, N. C. 1987, S.
1.
Reiches war, zeigt der Vergleich mit dem portugiesischen und dem frühen englischen Überseereich, wo dergleichen fehlte.73 Spanien, derart ausgestattet, griff mit einer Vehemenz in Gesellschaft und Kultur der unterworfenen Völker ein, die spätere Kolonialmächte selten planmäßig und über längere Zeiträume aufbrachten. Portugal hingegen, auf einer älteren Stufe der Staatsformierung im Übergang zur Neuzeit verharrend, ließ in Asien die einheimischen Autoritätsstrukturen weitgehend unbehelligt. Dennoch zögert man, die spanische Kronverwaltung in Amerika als den ersten rundum modernen kolonialen Staatsapparat zu bezeichnen. Auf jeden Fall war sie nicht die unmittelbare Ahnherrin der kolonialen Herrschaftsorganisationen des 19. und 20. Jahrhunderts, von denen sie sich in vier Punkten unterschied. Einzigartig blieb, erstens, die Instrumentalisierung einer ganz der weltlichen Macht unterstehenden Kirche für die Zwecke kolonialer Politik. Der Klerus wurde zum vermutlich wirkungsvollsten Instrument der spanischen Durchdringung Amerikas. Zweitens war das System seit dem frühen 17. Jahrhundert einer allmählichen Kreolisierung, also einer inneren Infiltration und äußeren Begrenzung durch kolonialspanische, meist städtische Oligarchien, ausgesetzt, die dadurch ihren lokalen „Siedler“–Interessen zunehmend gegenüber den imperialen Gesichtspunkten Madrids Geltung verschaffen konnten. Nie wieder wurde eine ursprünglich weithin autonome Kolonialbürokratie in solcher Weise zur Beute lokaler Kräfte. Damit war, drittens, ein Anwachsen der Korruption verbunden, die angesichts des Widerspruchs zwischen der niedrigen Besoldung von Beamten auf allen Rängen und den Konsumerfordernissen einer Gesellschaft, die sozialen Status und sichtbaren Aufwand aufs engste verknüpfte, schon von Anfang an strukturell angelegt war. Ein weiteres Moment, das ebenfalls modernen „rationalen“ Verwaltungen fremd ist, war der Ämterverkauf, der dem meritokratischen Karriere– und Leistungsprinzip diametral entgegensteht. Viertens schließlich war das spanische Kolonialsystem trotz der bis dahin beispiellosen Zentralisierung der Weisungsstrukturen durch ein extrem umständliches System der „checks and balances“, der Aufteilung von Amtsbefugnissen und der Beaufsichtigung durch „Räte“ und andere Kollegialorgane, gekennzeichnet. Das spanische Kolonialsystem war also nur oberflächlich „absolutistisch“, tatsächlich war in ihm die Macht – selbst an der Spitze – in hohem Maße fragmentiert.74 Die spanische Kolonialverwaltung war, im ganzen gesehen, frühmodern. (3) Die prokonsulariscbe Autokratie. Keiner der imperialen Herrschaftsapparate des 19. und 20. Jahrhunderts erfuhr eine ähnliche innere Auflösung wie der langfristig instabile spanische. Der Staat in den neueren Kolonien war am Vorabend der Dekolonisation in der Regel handlungsstark und funktionstüchtig. Auch wenn die Briten in Indien seit dem Ersten Weltkrieg manche Regierungsaufgaben auf indische Körperschaften übertragen und den Weg zur Parlamentarisierung Indiens geöffnet hatten, so erwiesen sie sich 1942 – auf dem Tiefpunkt des Zweiten Weltkriegs! – als fähig, den großen Massenaufstand der Quit–India–Bewegung zu unterdrücken. Die politischen Systeme in den meisten Besitzungen der modernen Kolonialmächte waren durch eine nahezu allmächtige Exekutive gekennzeichnet, wie es sie in Europa nur noch in Rußland gab. Daß man in der Praxis die Macht oft „indirekt“ ausübte und zum Teil an einheimische Autoritäten delegierte, daß auch in einigen Fällen (z. B. im italienischen Libyen) der Aufbau eines starken Staatsapparates unterblieb,75 ändert nichts am Tatbestand einer prinzipiell durch Gegenkräfte im Lande selbst unbeschränkten Herrschaftsform, bei der sich die Macht im Amt des Gouverneurs konzentrierte. Man kann deshalb, römische Assoziationen riskierend, von „prokonsularischer Autokratie“ sprechen.76 Wichtig ist, daß es sich meist um rechtlich gebundene, wenn nicht gar rechtsstaatliche Herrschaft handelte, also selten um willkürliche Despotie. Vgl. den vergleichenden Überblick bei G. V Scammell, The First Imperial Age: European Overseas Expansion c. 1400–1715, London 1989, S. 141–68. 73
74 Vgl. John H. Elliott, Spain and America before 1700, in: Leslie Bethell (Hrsg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. 1, Cambridge 1984, S. 74. Vgl. auch die Hinweise zur „patrimonialen Beamtenverwaltung“ bei Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 652 f. 75
Vgl. Lisa Anderson, The State and Social Transformation in Tunisia and Libya, 1830–1980, Princeton, N. J. 1986, S. 185 ff., 251
ff. In etwas speziellerer Bedeutung: C. A. Bayly, Imperial Meridian: The British Empire and the World 1780–1830, London/New York 1989, S. 194ff. 76
Die prokonsularische Autokratie ging im späten 18. Jahrhundert aus der Krise des frühmodernen Bürokratismus hervor, genauer: aus der Krise von dessen beiden in der kolonialen Welt verbreiteten Ausprägungen: der spanischen Patrimonialverwaltung und der quasi–staatlichen, mittlerweile zu Großorganisationen aufgeblähten Chartered Companies. Diese entscheidende Phase kolonialer Staatsbildung begann gleichzeitig, doch ohne direkte wechselseitige Beeinflussung in den beiden damals maßgebenden Imperien. In Spanisch–Amerika stärkten die bourbonischen Reformen, die in den 1780er Jahren ihren Höhepunkt erreichten, die Exekutive, die durch Korruption zersetzt und weithin zur Handlangerin von Partikularinteressen geworden war. Nahezu gleichzeitig kam es zu einer Zunahme des Staatseinflusses auf die East India Company und, 1786–93 unter Generalgouverneur Lord Cornwallis, zur Grundlegung der modernen indischen Zivilverwaltung. In beiden Fällen wurde den eingesessenen Eliten der Zugang zur Macht beschnitten, dort den kreolischen Oligarchien, hier den Indern, denen die neue Kolonialbürokratie verschlossen blieb. In Indien war eine solche Politik durchsetzbar, in Amerika nicht mehr. Die unabhängigen Regierungen Lateinamerikas führten indessen dort die Linie des bourbonischen Staates fort, wo dieser den Zugriff auf die indianische Bevölkerung verstärkt hatte.77 Die „Emanzipation“ der spanischen Kolonien war nur die ihrer weißen Oberschichten. So entstand die prokonsularische Autokratie als die klassische politische Form von Beherrschungskolonien. Ihr Muster war Britisch–Indien; ihre weitere Ausprägung fand sie in den britischen Kronkolonien; übernommen wurde sie in den tropischen Kolonien anderer Mächte, etwa in Französisch–Indochina oder in Holländisch–Ostindien. Selbst dort, wo in Systemen der „indirekten Herrschaft“ Teile der politischen Macht an einheimische Autoritäten delegiert wurden, änderte sich nichts am Gewaltmonopol des Staates und am autokratischen Gesamtrahmen. Es ist daher gerechtfertigt, den „kolonialen Staat“ im engeren Sinne mit der prokonsularischen Autokratie zu identifizieren.
Funktionen und Organe des kolonialen Staates Der koloniale Staat war keine einfache Ausdehnung des metropolitanen politischen Systems auf die überseeischen Besitzungen, sondern eine politische Form sui generis. Er war es selbst dann, wenn das beherrschte Gebiet zum „integrierenden Teil des nationalen Territoriums“ erklärt wurde, eine Möglichkeit, die erstmals in der französischen Verfassung von 1791 vorgesehen war und die 1848 auf Algerien angewandt wurde. Die freiheitlichen Errungenschaften Europas blieben den Kolonisierten vorenthalten. Nur in Teilen des „farbigen“ britischen Empire wurden unter der Parole der „Doppelherrschaft“ (dyarchy) zuerst gewählte Repräsentationsorgane und danach mitunter sogar parlamentarisch verantwortliche Ministerien eingeführt, denen die Gouverneursexekutive im Rahmen ihrer eigenen Generalkompetenz bestimmte Zuständigkeitsbereiche überließ. Der koloniale Staat mußte die Kontrolle über die unterworfenen Völker sichern und die Rahmenbedingungen für die ökonomische Nutzung der Kolonie schaffen. Dies waren seine beiden Hauptzwecke. Wie groß die Handlungsfreiheit eines Gouverneurs im Einzelfall gegenüber seinem vorgesetzten Ministerium auch sein mochte: der koloniale Staat war nach außen hin den politischen Instanzen des Mutterlandes untergeordnet, im kolonialen Binnenraum aber „seinem Wesen nach autokratisch“.78 Solche Autokratie konnte ein breites Spektrum der Herrschaftspraxis einschließen: von einem gewaltarmen Patriarchalismus, wie in Deutsch–Samoa 1900–1911 unter Gouverneur Wilhelm Solf oder auf den Philippinen nach dem Ende des blutigen Eroberungskrieges im Jahre 1902, bis zu brutalen Knebelregimes wie dem japanischen in Korea. Meist legten die Repräsentanten des kolonialen Staates Wert auf ihre Rolle als strenge „Erzieher“ unmündiger Eingeborener und als Schiedsrichter über den Einzelinteressen.79 Zwischen ihnen und solchen Siedlergruppen, wie es sie oft auch in Nicht– Vgl. Nancy M. Farriss, Maya Society under Colonial Rule: The Collective Entenprise of Survival, Princeton, N. J. 1984, S. 355, 366– 75.
77
78
A.D.A. de Kat Angelinn, Le Problème colonial, Bd. 1, La Haye 1931, S. 67.
Vgl. auch die marxistisch inspirierte Analyse bei Bruce Berman/John Lonsdale, Unhappy Valley: Conflict in Kenya and Africa, Bd. 1, London 1992, S. 80f.
79
Siedlungskolonien gab, bestand daher ein struktureller Gegensatz. Die Administrationen vermieden es, zumindest in der Theorie, sich zu Werkzeugen einzelner Interessengruppen machen zu lassen. So bewahrte sich die französische Staatsmacht in den westafrikanischen Kolonien einen wesentlich größeren Handlungsspielraum gegenüber den dortigen „colons“ als in der Siedlungskolonie Algerien. Seine Schiedsrichterrolle versuchte der koloniale Staat auch gegenüber den ethnischen Einheiten und sozialen Kräften unter den Kolonisierten zur Geltung zu bringen. Nicht selten wurde daraus eine Politik des Ausspielens von Volksgruppen oder „Stämmen“ gegeneinander, eine Taktik des „divide et impera“, die manchmal den nachkolonialen Staaten ein schweres Erbe ethnischer Entzweiung hinterließ. Der Zersplitterung der Macht an der Basis des politischen Systems entsprach ihre Konzentration an der Spitze. Der koloniale Staat kannte de facto keine Trennung von Exekutive und Legislative und keineswegs eine unabhängige Justiz. Er war, welche Formalien auch jeweils beachtet werden mochten, eine Regierung des administrativen Dekrets durch den Gouverneur, seinen Rat und seinen Apparat. Oft besaß der Distriktbeamte, also der Repräsentant des kolonialen Staates, der auf der untersten Verwaltungsebene mit den Untertanen in tägliche Berührung kam, als „König des Buschs“ nahezu unumschränkte Vollmachten als Steuereinnehmer, Polizeichef und zum Teil auch als Richter. Vergleichbar sonst nur noch dem Moment nach einer siegreichen Revolution, bot die koloniale Situation mitunter enorme Spielräume für politisch–gesellschaftliche Umwälzungen „von oben“. Mexiko im 16. Jahrhundert ist das deutlichste Beispiel. Indien war eine Zeitlang ein Experimentierfeld für Anhänger der philosophischen Richtung des Utilitarismus und bestimmter Doktrinen der Politischen Ökonomie. Die koloniale Expansion schien neue Betätigungsfelder für einen „aufgeklärten Absolutismus“ zu öffnen, wie er in Europa selbst kaum mehr möglich war. Mehrere Merkmale charakterisieren also den kolonialen Staat: sein Doppelcharakter als gleichzeitig untergeordnet und nahezu allmächtig; seine autokratische Zentralisierung der Macht an der Spitze bei gleichzeitiger „Teile–und–herrsche“–Politik an der Basis; sein Selbstbild als neutrale Instanz über den Parteien; nicht zuletzt auch die Tatsache, daß sich zwischen Herrschern und Beherrschten in der Regel eine unüberbrückbare kulturelle Kluft öffnete. Was den kolonialen Staat – selbst wenn er sich im Einzelfall um gerechte Herrschaftsausübung bemühte – langfristig instabil, wenn nicht gar illegitim machte, war der Umstand, daß seine fundamentale Loyalität außerhalb seines Tätigkeitsfeldes lag. Das Gemeinwohl, das er zu vertreten vorgab, war letztlich nicht das des politischen Gebildes, dem er vorstand, sondern das des Imperiums. Dekolonisation bedeutete deshalb gleichsam die Nostrifizierung von politischer Herrschaft.80 Die wichtigste Aufgabe, die dem kolonialen Staat von seinen Urhebern gestellt war, bestand darin, auch nach dem Abschluß der Eroberungs– und „Pazifikations“–Periode und nach der Entwaffnung der Einheimischen Recht und Ordnung zu verbürgen. Auch wenn nur wenige koloniale Systeme unbarmherzig repressive Polizeiregimes waren, so reagierte der koloniale Staat doch unweigerlich nervös und mit Härte auf jede Regung von Opposition. Es galt das Prinzip, sich nie die Initiative entreißen zu lassen, nie das Gesicht zu verlieren. Stets mußte der Staat das letzte Wort behalten; jede Provokation war mit Vergeltung zu ahnden. Nicht allein offen antikoloniale Proteste wurden daher unterdrückt, sondern zunehmend auch wirtschaftlich motivierte Streiks unter der städtischen Arbeiterschaft.81 Erstaunlich viele Kolonialregimes sind dazu bis kurz vor dem Ende ihrer Existenz durchaus in der Lage gewesen. Der Aufbau umfangreicher und professionell funktionierender kolonialer Polizeiapparate erreichte seinen Höhepunkt überhaupt erst seit den 1920er Jahren, in Afrika gar erst nach etwa 1950. Die Loyalität oder Illoyalität der zu diesem Zweck rekrutierten einheimischen Polizisten sollte sich bald als wichtiger Faktor im Dekolonisationsprozeß erweisen. Zu den
Vgl. Clifford Geertz, The Judging of Nations: Some Comments on the Assessment of Regimes in the New States, in: Archives européennes de sociologie 18 (1977), S. 250. 80
81
Vgl. die wichtige Fallstudie David Arnold, Police Power and Colonial Rule: Madras 1859–1947, Delhi 1986, bes. S. 148, 235.
Hinterlassenschaften der Kolonialmächte an die Nachfolgerstaaten gehörten fast überall geschulte und sich ihrer politischen Rolle bewußte Sicherheitskräfte.82 Wenn „order“ durchgesetzt wurde, dann nicht immer zugleich auch „law“. Überhaupt stellte sich die Frage, welche Gesetze angewandt werden sollten. Die Kolonialherren täuschten sich natürlich, wenn sie glaubten, in rechtsfreie Räume vorzustoßen. Fremdes Recht wurde nicht ohne weiteres als solches erkannt, vor allem dann, wenn es nicht verschriftlicht war. Oft auch war die „Rechtlosigkeit“, die die Europäer beseitigen wollten, gerade eine Folge der Zerrüttung einheimischer rechtlicher Regulierungsmechanismen durch die Invasion. In anderen Fällen, besonders im islamischen Bereich, traf man auf unverkennbar festgefügte und resistente Rechtstraditionen. Über kaum einen Bereich sind generelle Aussagen so schwierig wie über den des kolonialen Rechts. Allgemein auffällig ist jedoch ein „Widerstreben, die Rechtsprechung über unterworfene Populationen zu übernehmen“.83 Dies trifft besonders auf das Zivilrecht zu sowie auf das Strafrecht in Fällen, in denen Ausländer nicht unmittelbar betroffen waren. Die Verbreitung des europäischen Rechts war nicht wie diejenige des christlichen Glaubens ein Ziel der europäischen Expansion. Mutterland und Kolonie blieben getrennte Rechtsgebiete. Eine komplette Europäisierung der Rechtssysteme in den Beherrschungskolonien kam nicht in Frage. Der koloniale Staat griff im allgemeinen nur dann regulierend in solche Bereiche der einheimischen Gesellschaft ein, die seine eigenen Interessen nicht unmittelbar berührten, wenn er von Missionaren oder humanitären Aktivisten dazu gedrängt wurde oder die inkriminierten Praktiken europäischen Auffassungen radikal widersprachen. Ein Beispiel dafür ist das Verbot des sati, der Witwenverbrennung in Indien, 1829/30. Auch die meisten Formen von Sklaverei wurden unterdrückt, ebenso Polygamie, Kindertötung, Kinderheirat usw. Die Aufspaltung des kolonialen Rechts in solches für Ausländer und solches für Einheimische bedeutete im Extremfall eine unverblümte Rassenjustiz. Dies war oft so in Siedlungskolonien, etwa in Algerien, wo für die Algerier ein besonders harscher und entwürdigender „code de l’indigénat“galt, aber mitunter auch in Beherrschungskolonien wie dem japanischen Taiwan.84 In anderen Fällen wurde den Kolonisierten nicht ein fremdes Sonderrecht aufgezwungen, sondern ihr eigenes Recht gelassen. Dies war oft mit einer romantisch inspirierten Suche nach dem „Recht des Volkes“ verbunden, das kodifiziert und purifiziert werden sollte. In diesem Prozeß wurde das einheimische Recht aber unvermeidbar verändert, oft bis zur Unkenntlichkeit; faktisch entstanden Mischformen aus einheimischen und europäischen Elementen. Wichtiger als der jeweilige Inhalt der Rechtsnormen dürfte die Tatsache gewesen sein, daß sich der koloniale Staat zwar des Rechts als eines Instruments der Herrschaftssicherung bediente, dabei aber eine in vorkolonialer Zeit unbekannte Verrechtlichung von Sozialbeziehungen bewirkte, die sich über den Kolonialismus hinaus als irreversibel erweisen sollte.85 Der Gang zum Gericht ersetzte nun ältere Formen der Konfliktregelung. Er wurde attraktiv, sobald ein elementar rechtsstaatliches Verfahren, ein „due process of law“ einschließlich der Möglichkeit der Appellation, gewährleistet war. Der Advokatenberuf, der davon profitierte, wurde besonders in den britischen und französischen Kolonien zu einem Mittel sozialen Aufstiegs und politischer Bewußtwerdung. Wachsende Vertrautheit mit verfahrensmäßiger Rechtsgleichheit nährte auch das Verlangen nach substantieller Gleichberechtigung. So barg die Teileuropäisierung des kolonialen Rechtswesens ein Emanzipationspotential, das über den Kolonialismus hinauswies.
82 Vgl. für das britische Empire David M. Anderson/David Killingray (Hrsg.), Policing and Decolonisation: Politics, Nationalism and the Police, 1917–65, Manchester 1992. 83 Jörg Fisch, Law as a Means and as an End: Some Remarks on the Function of European and Non–European Law in the Process of European Expansion, in: Wolfgang J. Mommsen/J.A. de Moor (Hrsg.), European Expansion and Law: The Encounter of European and Indigenous Law in 19th and 20th–Century Africa and Asia, Oxford/New York 1991, S. 23. 84
Vgl. Chou Whei–ming, Taiwan unter japanischer Herrschaft 1895–1945, Bochum 1989, S. 178 f.
Vgl. als Überblick Kristin Mann/Richard Roberts, Introduction: Law in Colonial Africa, in: dies. (Hrsg.), Law in Colonial Africa, London 1991 S. 3–58. 85
Der bürokratische Interventionsstaat Der koloniale Staat war auch dann kein Nachtwächter–Staat, als in den Mutterländern die Doktrin der minimalen Staatsintervention obwaltete. Nicht nur durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Polizei wirkte er auf die koloniale Gesellschaft ein. Wann immer das Interesse an einer Kolonie von Handel und Räuberei zur planvollen Ausbeutung ihrer Ressourcen überging, mußte der koloniale Staat durch Infrastrukturprojekte (Eisenbahnen, Kanäle, Straßen, Telegraphennetze), durch Landerschließungsprogramme, durch Zoll– und Währungspolitik oder durch städtebauliche Initiativen privaten Geschäftsinteressen den Weg bahnen.86 Daß es dabei häufig auch zu Spannungen mit solchen Interessen kam, steht auf einem anderen Blatt. Selten konnte der koloniale Staat deren Forderungen uneingeschränkt erfüllen. Finanznot war sein ständiges Problem, da die metropolitanen Regierungen in der Regel von den Kolonien erwarteten, sich fiskalisch selbst zu tragen. Ausnahmsweise bildeten Privatinteressen geradezu einen Staat im Staate und nahmen nicht nur die Ressourcenerschließung, sondern auch Bereiche der laufenden Administration in eigene Regie. Das vielleicht beste Beispiel dafür ist die meist unter dem Stichwort „Paternalismus“ abgehandelte Rolle des Kupferkonzerns Union Minière du Haut–Katanga im Belgischen Kongo seit den 1920er Jahren. In den frühen Phasen von Eroberung und „Befriedung“ machte sich der koloniale Staat punktuell vielfach am stärksten bemerkbar. Auch seine unmittelbaren Forderungen an die Unterworfenen in Gestalt von Steuern und Arbeitsdiensten waren zu dieser Zeit besonders hoch. Das Maximum seiner flächigen Wirksamkeit erreichte er jedoch erst in seiner letzten Periode. Vor allem in Afrika mutierte der koloniale Staat im Zeichen der „zweiten kolonialen Besetzung“ zu einem embryonalen Sozialstaat. Schon in früheren Jahrzehnten waren Kolonialregierungen zuweilen wirksamer gegen Hungerkrisen eingeschritten, als vorkoloniale Machthaber dies getan hatten. Im britischen Empire gaben dann 1937 Elendsaufstände in der Karibik Anlaß zu Überlegungen, die Wohlfahrt der Untertanen zu einer kontinuierlichen Aufgabe der Kolonialmacht zu erheben. Sie machten sich nach 1945 vornehmlich in Afrika bemerkbar. Der spätkoloniale Interventionsstaat bedeutete natürlich einen Höhepunkt an Fremdbestimmung. Aus der Sicht einer beträchtlichen Zahl von Afrikanern brachte die Periode der Fürsorge87 jedoch konkrete Vorteile mit sich, vor allem eine Verbesserung der Erziehungschancen und der medizinischen Versorgung. Am weitesten gingen die französische und die belgische Politik: Für eine afrikanische Arbeiteraristokratie wurden Unfall– und Krankenversicherung, Mutterschutz, Familienunterstützung und Ruhestandsrenten eingeführt. Der koloniale Staat war seinem Wesen nach bürokratisch. Man könnte sogar mit der These spielen, das Fortschreiten der Bürokratisierung in Europa selbst habe wichtige Impulse von der Peripherie empfangen. Ohne Zweifel wies während des 16. Jahrhunderts die spanische Regierungsform in Amerika einen komplexeren Organisationsgrad auf als die der iberischen Halbinsel; und im britischen Mutterland gab es bis zum Aufbau des Wohlfahrtsstaates nach 1945 keinen bürokratischen Apparat, der sich nach Umfang wie Professionalität mit der Administration Indiens, dem Indian Civil Service (ICS), hätte messen können. Der ICS war das Muster für alle modernen Kolonialbürokratien. Er ist zudem der reinste Ausdruck des kolonialen Staates als prokonsularer Autokratie und bürokratischem Absolutismus. Bis in die 1780er Jahre hinein – während der „Nabob“–Periode – wurde in Indien kaum zwischen staatlicher Herrschaft und privatem Geschäft unterschieden. Danach begann der allmähliche Aufbau einer staatlichen Verwaltung, die aber noch lange von Patronage nicht frei war. Erst nach der Aufhebung der East India Company und der Übernahme der Regierung Indiens durch die Krone im Jahre 1858 erreichte der Indian Civil Service als moderne Leistungsbürokratie seine volle Ausprägung. Die Angehörigen des ICS wurden seit 1853 durch kompetitive Prüfungen unter Absolventen englischer Public Schools und Universitäten (vor allem Oxford und Cambridge) rekrutiert, pauschal gesagt, aus den Reihen der oberen Mittelschicht Großbritanniens. Sie sollten „Generalisten“ sein: Mathematik, 86 Vgl. Martin J. Murray, The Development of Capitalism in Colonial Indochina (1870–1940), Berkeley/Los Angeles/London 1980, S. 21–27. 87 Man hat auch von „compassionate period“ gesprochen: John Iliffe, The African Poor: A History Cambridge 1987, S. 171. Vgl. zum Hintergrund Herward Sieberg, Colonial Development. Die Grundlegung moderner Entwicklungspolitik durch Großbritannien 1919–1949, Stuttgart 1985.
Griechisch und Latein waren die wichtigsten Examensfächer. Nach der Einstellung kam dann in Indien ein Training in Jurisprudenz und in indischen Sprachen hinzu. Die hochbezahlten, aber am Landerwerb in Indien gehinderten Beamten des ICS besaßen ein Monopol aller höheren Verwaltungspositionen; häufige Versetzungen von einem Amt zum nächsten sollten den Dienst in Schwung halten und die Einwurzelung regionaler Patronagemißbräuche verhindern. Nur der Chef dieser Exekutive, der Generalgouverneur, wurde vom Kabinett in London ernannt. ICS–Stellen gehörten zu den attraktivsten und begehrtesten Positionen, die der britische Staat zu vergeben hatte. Der ICS kultivierte den Korpsgeist einer omnikompetenten, über den Interessen schwebenden, dem Gentleman–Ideal verpflichteten Aristokratie der Besten. Die Indische Republik hat den ICS als Indian Administrative Service fortgeführt. In Afrika waren es nicht die Briten, sondern Belgier und Franzosen, die ihr höheres Kolonialpersonal durch Prüfungen rekrutierten. Anders als ihre britischen Kollegen wurden sie auch in Kolonialakademien auf ihre Aufgaben vorbereitet. Den besten Ruf in Afrika hatten die belgischen, den schlechtesten die oft unfähigen und korrupten portugiesischen Administratoren.88 Die kolonialen Staatsapparate unterschieden sich auch darin, ob sie Einheimische zuließen oder nicht. Daß man für niedrige und lokale Aufgaben in großer Zahl Einheimische beschäftigte, ist selbstverständlich: bei der Eisenbahn, im Post– und Telegraphenwesen, als Sekretäre, Dolmetscher, Boten, schließlich auch bei der Polizei und im Militär. Entscheidend war der Zugang zu den bürokratischen Eliteposten. Im subsaharischen Afrika war er äußerst beschränkt, selbst dann, wenn, wie in den französischen und portugiesischen Besitzungen, keine rechtliche Rassenschranke bestand. Der Indian Civil Service, in dem es niemals eine offizielle „colour bar“ gegeben hatte, wurde nach etwa 1919 langsam indisiert. 1939 war ungefähre Parität erreicht: 589 indische neben 599 europäischen Spitzenbeamten.89 Eine solche Absorption loyaler einheimischer Funktionäre in den kolonialen Staat war dort politisch besonders bedeutsam, wo (anders als in Indien, Ceylon oder Burma) bis in die späteste Kolonialzeit hinein repräsentative Parlamente fehlten. In den britischen Territorien in Malaya etwa begann um 1910 die langsame Indigenisierung der niederen Verwaltung. Dies führte zur Herausbildung einer neuen Schicht, die teils aus deklassierten Aristokraten, teils aus sozialen Aufsteigern bestand; sie unterhielt enge Bindungen zur alten Elite und war zugleich mit der Kolonialmacht mannigfach verbunden.90 Ähnliches läßt sich in Niederländisch–Ostindien und auf den Philippinen beobachten.
Einheimische Kollaboration Mitte der 1930er Jahre beschäftigte das japanische Kaiserreich 52000 japanische Zivilbeamte, um 22 Millionen Koreaner zu kontrollieren.91 Etwa gleichzeitig gab es auf allen Rängen des zivilen öffentlichen Dienstes – vom Gouverneur bis zum Lokführer – in ganz Indien, einem Land von etwa 340 Millionen Einwohnern (die Fürstenstaaten mitgerechnet), 12000 Briten.92 Hier also ein Verhältnis 1:28 000, dort eines von 1:420. Indien kam dem Durchschnittsfall näher: In Französisch–Westafrika lag das Verhältnis bei 1:27000, in Nigeria gar bei 1:54000.93 Die ungemein dichte administrative Okkupation Koreas erklärt sich nicht nur aus der Absicht Japans, die Kolonie innerhalb kürzester Zeit maximal für die Bedürfnisse der heimischen Wirtschaft auszubeuten. Sie ist auch das Ergebnis eines kolonialen Herrschaftsstils, der auf „Kollaboration“ mit Elementen der kolonisierten Gesellschaft fast vollkommen verzichtet. Dergleichen hat es in der neuzeitlichen Kolonialgeschichte sonst selten gegeben. Seit Cortes’ Bündnis mit dem aztekischen Vasallenvolk der Totonaken im Jahre 1519 haben koloniale Eroberer immer 88 Vgl. Michael Crowder, The White Chiefs of Tropical Africa, in Lewis H. Gann/Peter Duignan (Hrsg.), Colonialism in Africa, 1870–1960, Bd. 2, Cambridge 1970, S. 324. 89
B. B. Misra, The Bureaucracy of India: An Historical Account o f Development up to 1947, Delhi 1977, S. 291.
90
Vgl. Khasnor Johan, The Emergence of the Modern Malay Administrative Elite, Singapur 1984, S. 1–5.
91
Andrew C. Nahm, Korea: Tradition and Transformation. A History of the Korean People, Elizabeth, N. J. 1988, S. 226, 229.
Report o f the Indian Statutory Commission (wie Anm. 70), S. 46. Gesamteinwohnerzahl nach Dharma Kumar (Hrsg.), The Cambridge Economic History of India, Bd. 2, Cambridge 1982, S. 488 (Tab. 5.7.). 92
93
William Malcolm Hailey, An African Survey: A Study of the Problems Arising in Africa South of the Sahara, London 1938, S. 226.
wieder Antagonismen unter ihren Gegnern ausgenutzt und an Ort und Stelle Hilfstruppen und Lastträger mobilisiert. Vollends nach Abschluß der Eroberung erwies sich „Kollaboration“ als unerläßlich. Koloniale Systeme haben sich so gut wie nie allein aus mutterländischen, also importierten Machtressourcen speisen können. Sofern die Herrschaft kleiner, fremder Funktionärsgruppen über große überseeische Populationen längeren Bestand hatte, beruhte sie auf einem je spezifischen „Mix“ aus fünf Faktoren:94 (1) der Androhung und Anwendung von Gewalt durch die kolonialen Sicherheitskräfte, (2) der Übernahme traditioneller Herrscherrollen und ihrer Symbolik durch die höchsten Repräsentanten des kolonialen Staates, (3) einem „Kommunikationsimperialismus“: der systematisch betriebenen und im Zentrum zusammenlaufenden Sammlung und Verarbeitung von Informationen über die kolonisierte Gesellschaft, (4) einer kalkulierten Strategie des „divide et impera“, (5) einem durch die Kolonialmacht genährten Interesse maßgebender Segmente der kolonisierten Gesellschaft am Fortbestehen des kolonialen Systems: der Voraussetzung von „Kollaboration“. Kollaboration ist somit einer von mindestens fünf Faktoren eines Erklärungsbündels: vielleicht der am häufigsten kommentierte und dennoch der bislang am wenigsten geklärte dieser Faktoren. Der Begriff „Kollaboration“ für das, was genauer als eine Interessenkonvergenz zwischen kolonialem Staat und einzelnen Gruppen bzw. Schichten der kolonisierten Gesellschaft gefaßt werden könnte, hat sich weithin durchgesetzt, ist aber unglücklich gewählt. Unvermeidlich erinnert er an die verräterische, ihren Landsleuten zurechenbaren Schaden verursachende Zusammenarbeit von Individuen und kleinen Cliquen mit einem beim gesamten Rest der unterworfenen Bevölkerung verhaßten militärischen Besatzungsregime während des Zweiten Weltkriegs. Im kolonialen Kontext sind nur wenige Fälle denkbar, auf die eine solche Analogie zutreffen könnte: vor allem der Denunziant, Spitzel oder einheimische Angehörige der Sicherheitskräfte, der in einer Situation unzweideutiger antikolonialistischer Polarisierung willentlich der Kolonialmacht zu Diensten ist. Eine solche klare Freund–Feind–Situation und mit ihr überhaupt die Möglichkeit eines Verratsbewußtseins entsteht erst mit dem Aufkommen eines antikolonialen Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert. Bis dahin ist die Herrschaft von Fremden keineswegs notwendig als illegitime Fremdherrschaft aufgefaßt worden. Auch kann durchaus nicht vorausgesetzt werden, daß, um es prägnant zu formulieren, die Deutschen in Togo 1913 in einer ähnlichen Weise allgemein verhaßt waren wie die Deutschen 1943 in den Niederlanden, und es wäre gewiß kühn zu behaupten, die Mehrheit der Inder habe die britische Herrschaft als volksfremde Tyrannei betrachtet. Wie also kann ein von der Konnotation des Verrats befreiter, übertragener Begriff der „indigenen Kollaboration“ im kolonialen Zusammenhang hinreichend präzise gefaßt werden? Als erstes wäre zu unterscheiden zwischen Kollaboration in einem Klientelverhältnis und Kollaboration in einem Herrschaftsverhältnis. Ein Klientelverhältnis besteht dann, wenn der schwächere Partner vom stärkeren abhängig ist, ohne ihm ausgeliefert zu sein und unmittelbar prokonsularischer Herrschaft zu unterstehen. Das Römische Reich umgab sich mit einem Kranz von semi–autonomen Klientelstaaten und –Stämmen, die es nicht zu beherrschen brauchte, da es sie manipulieren konnte.95 Diese Manipulation war möglich, weil die Klientelherrscher ihren eigenen Vorteil mit dem des Imperiums zu verknüpfen verstanden und beides gegenüber der einheimischen Gesellschaft durchsetzen konnten. In diesem Sinne ist König Herodes I. Anregungen zu folgendem aus: D. A. Low, Lion Rampant: Essays in the Study of British Imperialism, London 1973, S. 28; Bernard Cohn, Representing Authority in Victorian India, in: ders., An Anthropologist among the Historians and Other Essays, Delhi 1987, S. 632–82; C. A. Bayly, Knowing the Country: Empire and Information in India, in: Modern Asian Studies 27 (1993), S. 3–43.
94
Vgl. die für jede politische Imperialismusinterpretation aufschlußreiche Analyse bei Edward N. Luttwak, The Grand Strategy of the Roman Empire: From the First Century A. D. to the Third, Baltimore/ London 1976, S. 21–40. 95
von Judäa der vielleicht bekannteste Kollaborateur der Weltgeschichte. „Informal Empire“, wie es oben in Kapitel 2 charakterisiert wurde, beruht ebenfalls auf dieser Art der Kollaboration, die den Imperien als billige und verantwortungsfreie Form der Interessensicherung in der Regel höchst willkommen ist. Die chinesische Qing–Dynastie zwischen etwa 1860 und 1900, die Khediven von Ägypten vor 1879, die weltmarktorientierten Oligarchien in den unabhängigen lateinamerikanischen Staaten des 19. Jahrhunderts, bei weiter Fassung des Begriffs selbst die aus der internationalen Defensive und in partieller Kooperation mit den Westmächten ihre Länder modernisierenden Machtgruppen in Siam seit 1851 und in Japan seit 1868 waren in diesem Sinne Kollaborationseliten bzw. –regimes innerhalb eines Klientelverhältnisses. Auch der frühneuzeitliche Asienhandel und die Lieferung von Sklaven durch afrikanische Herrscher an europäische Sklavenhändler beruhten auf Interessenkonvergenzen, die man vielleicht als „Kollaboration“ bezeichnen kann, wenngleich der Begriff dadurch bis an seine Grenzen in Anspruch genommen wird. Kollaboration in einer Kolonie, also in einem Herrschaftsverhältnis, wird von Abhängigkeiten anderer Art bestimmt. Sie stellt sich ein im Begegnungsfeld unterschiedlicher Absichten: Auf der einen Seite sucht der koloniale Staat nach Wegen, durch Benutzung vorhandener Mechanismen einheimischer Politik seine Ziele mit möglichst geringem Aufwand zu erreichen. Auf der anderen Seite finden sich alle Gruppen und Klassen der unterworfenen Gesellschaft mit der Notwendigkeit konfrontiert, Überlebensstrategien im Angesicht eines machtpolitisch dominanten neuen Regimes zu entwickeln. Dies gilt für niemanden mehr als für die vorkolonialen Eliten. Sie sehen ihre politische Legitimität, ihren sozialen Status oder sogar ihre physische Existenz fundamental bedroht. Die Kolonialmacht sucht in der Eroberungsphase militärische Verbündete. Sie werden oft fallengelassen, sobald sie ihre Rolle gespielt haben. In der darauffolgenden Konsolidierungsphase erstrebt der koloniale Staat oft, aber nicht immer stabilere Allianzen mit einheimischen Gruppen. Diese Gruppen haben nichts miteinander gemeinsam als ihre Funktion: dem kolonialen Staat bei der Beschaffung von Informationen und Ressourcen (vor allem Steuern und Arbeitsdiensten) behilflich zu sein. Läßt sich eine Zusammenarbeit dieser Art auch nicht gesinnungsethisch als freiwilliger Verrat interpretieren, so kann sie doch nicht völlig erzwungen werden. Koloniale Kollaboration setzt ein gewisses Tauschgeschäft voraus: Die Kollaborateure hoffen auf eine Erhöhung ihres persönlichen Status, auf Bereicherung oder darauf, den Schutz des kolonialen Staates gegenüber ihren Rivalen zu genießen. Was von der einer. Seite her als Anbiedern an den kolonialen Staat erscheint, kann sich von der anderen als traditionelle Suche nach Patronage darstellen. Kollaborateure sind auch, so definieren wir jedenfalls, halbautonome Agenten, also keine bestallten Funktionäre, keine Rädchen im kolonialen Getriebe. Sie stehen vielmehr am Relaispunkt zwischen kolonialem Staat und kolonisierter Gesellschaft. Sie sind Mittelsmänner, haben einen Fuß in jedem der beiden Lager. Deshalb geht es zu weit, den indischen Sepoy–Soldaten in britischem Sold oder den senegalesischen Telegraphisten als „Kollaborateur“ zu bezeichnen. Schließlich muß Kollaboration einigermaßen effektiv, nicht bloß dekorativ sein: Einheimische Marionettenherrscher, die man bloß pro forma im Amt ließ, erfüllten nichts als einen symbolischen Zweck. Auf welche Weise welcher Typ von kollaborativer Beziehung zustandekommt, hängt von den Absichten der Invasoren und von der Art der einheimischen Gesellschaft ab. Ganz grob lassen sich drei Falltypen unterscheiden: (1) In hierarchisch geordneten Gesellschaften haben Kolonialmächte nicht selten nur die Spitzen des Ancien Régime gekappt und danach Teile der alten grundbesitzenden Oberschicht durch Erteilung von Privilegien im Austausch für voraussehbare Steuereinkünfte stabilisiert, wenngleich selten dauerhaft. So geschah es etwa mit den Zamindars in Bengalen.96 (2) Ein drastischerer Fall konnte eintreten, wenn die alte herrschende Klasse sich der Eroberung besonders heftig widersetzt hatte oder aus anderen Gründen als Kollaborationselite nicht in Betracht zu kommen schien. Sie wurde dann, wie es u. a. in Algerien, Burma und Vietnam (besonders in dessen südlichem Teil, Cochinchina) geschah, in toto entmachtet. Kollaborationsbeziehungen mußten während einer Vgl. P. J. Marshall, Bengali The British Bridgehead. Eastern India 1740–1828, Cambridge 1987, S. 120–7. Für das benachbarte Bihar ähnlich Anand A. Yang, The Limited Raj: Agrarian Relations in Colonial India, Saran District, 1793–1920, Berkeley/Los Angeles/London 1989, S. 70–78, 226f.
96
Phase direkter fremder Herrschaft mit neuen gesellschaftlichen Kräften „von unten“ herauf aufgebaut werden. Diese Rolle spielten in Vietnam vielfach die neu missionierten Katholiken.97 (3) Bei Gesellschaften, deren Autoritätsstrukturen den Eroberern unverständlich waren, ergab sich das Problem, wie ein hierarchisches koloniales Herrschaftssystem sich an eine nicht klar hierarchisch gestaffelte Gesellschaft anklammern könne. Diese Schwierigkeit trafen die Briten im nordwestindischen Panjab an, wo es keine offensichtliche lokale Herrenschicht analog zu den bengalischen Zamindars gab und man recht hilflos nach „Stammes–“ und „Klanführern“ suchte, bis man schließlich durch rechtliche Regelungen eine Art von Landadel geradezu „erfand“.98 Zahlreiche andere Beispiele der Kreation von „Königen“, „Häuptlingen“ und sonstigen Ansprech– und Verhandlungspartnern durch die Kolonialmächte finden sich in Afrika. Eine solche Fixierung neuartiger, wenngleich von den Kolonisierern oft als „typisch afrikanisch“ mißverstandener Autoritätsstrukturen war Teil der Revolution, die der Kolonialismus gerade in Afrika oft bedeutete. Die Entwaffnung der Einheimischen und die Durchsetzung des kolonialstaatlichen Gewaltmonopols verschob die politischen Koordinaten in einer Weise, die alle vorkolonialen Maßstäbe entwertete. In der Sicht der afrikanischen Bevölkerung war der weiße Gouverneur der wahre Erbe der früheren Krieger–Häuptlinge. Den alten Autoritäten wurden ihre Machtmittel und ihr Herrschercharisma entzogen. Die Häuptlinge, ob durch Erbfolge traditionell legitimiert, ob künstlich installiert, wurden rasch zu Werkzeugen des kolonialen Staates, wenn dieser mangels eines „petit personnel blanc“ momentan auf ihre Dienste angewiesen war, um Arbeitskräfte zu mobilisieren, Steuern einzutreiben oder Landabtretungen zu organisieren. Gerade dann, wenn der europäische Distriktoffizier als Gegenleistung die Augen vor Machtmißbräuchen seiner einheimischen Partner verschloß, setzten diese ihre verbliebene Legitimität bei der Bevölkerung aufs Spiel – und damit eventuell auch ihre Nützlichkeit als Stützen des kolonialen Systems. Hier lag der fundamentale Widerspruch jeder Kollaborationsbeziehung: Die Fähigkeit des einheimischen Häuptlings oder Dorfältesten, die Forderungen des kolonialen Staates zu erfüllen, beruhte auf einer eigenständigen Respektsposition, die durch eben jene Forderungen unterminiert wurde. Der völlig diskreditierte Kollaborateur war wertlos. Er hatte seine Schuldigkeit getan.
Territorialer Verwaltungsstaat und Nation Der Kolonialismus trug zur Universalisierung des europäischen Staatskonzepts bei. Dies war eine seiner folgenschwersten Wirkungen. Nur im Falle zentralisierter Autokratien, etwa dem indischen Mogulreich, läßt sich vorkolonial von einem Staat in annähernd modernem Sinne sprechen. Sonst war politische Herrschaft in Asien und Afrika informell, personal, kultisch–religiös eingebettet, instabil, formbar, zwischen Machtgruppen flexibel aushandelbar: eher ein Geflecht von Gefolgschaftsbeziehungen als ein Gefüge solider Institutionen. Der koloniale Staat des 19. und 20. Jahrhunderts war das Gegenteil: ein säkularisierter, militärisch gestützter Verwaltungsstaat. Er wurde zum Geburtshelfer seiner postkolonialen Nachfolger. Überall hat er Formen bürokratischer Herrschaft verbreitet, die in der Verbindung mit vorkolonialen, aber nun ihrer religiösen Sanktionierung beraubten Traditionen der Selbstherrschaft und gelegentlich auch mit der Idee der „sozialistischen“ Parteidiktatur zur Herausbildung autoritärer Systeme in Asien und Afrika beitrugen. Wo, wie in Indien, spätkoloniale Ansätze repräsentativer Demokratie nach der Unabhängigkeit prononciert weitergeführt wurden, fehlte vielfach eine Unterfütterung durch politische Ideen und politische Kultur. Es behauptete sich auch im Gehäuse demokratischer Institutionen „das Modell des Staates, der um seiner selbst willen existiert“.99 Der koloniale Staat setzte überall das Territorialprinzip durch. In Weltgegenden wie Afrika und Südostasien war die Festlegung von Staatsgrenzen eine der folgenreichsten Tätigkeiten der Europäer. Daß solche Grenzen, wie oft gesagt wird, „willkürlich“ gezogen wurden, hat ihre weitgehende Respektierung durch die unabhängigen Staaten nicht verhindert. Oft sind die Grenzen sogar erst in Vgl. Carl A. Trocki, Political Structures in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Nicholas Tarling (Hrsg.), The Cambridge History of Southeast Asia, Bd. 2, Cambridge 1992, S. 91. 97
98
Vgl. David Gilmartin, Empire and Islam: Punjab and the Making of Pakistan, Berkeley/Los Angeles/London 1988, S. 18–26.
99
Paul R. Brass, The Politics of India since Independence, Cambridge 1990, S. 20.
nachkolonialer Zeit tatsächlich durchgesetzt worden. Wenn der koloniale Staat Territorialstaat war, so ist er durchaus nicht auch Nationalstaat gewesen. Die Idee der Nation war vielmehr eine Waffe im antikolonialen Kampf. Die Emanzipationsführer, denen der bürokratische Territorialstaat schließlich zufiel, interpretierten ihn dann als Nationalstaat, oft sogar als Staat der Mehrheitsnationalität. Aus dieser getrennten Genealogie des territorialen und des nationalen Prinzips, aus ihrem Mangel an Kongruenz erklären sich nicht wenige der ethnisch–religiösen Konflikte der Gegenwart. Hatten die europäischen Kolonialmächte – wie alle Verwalter von Imperien – die Buntscheckigkeit von „plural societies“ geduldet oder im Sinne des „Divide–et–impera“–Prinzips sogar gefördert, so übernahm die postkoloniale Politik vielfach die homogenisierenden Ausschließlichkeitsansprüche des europäischen Nationenkonzepts: „ein Staat – eine Nation“. So entstanden Nationalstaaten, die nicht durch „gewachsene“ Nationen gefüllt und getragen waren.
VI. Koloniale Wirtschaftsformen Selbst dann, wenn die Aneignung einer Kolonie ursprünglich nicht überwiegend ökonomisch motiviert war, sind tiefgreifende Wirkungen auf die Wirtschaft der jeweiligen Region niemals ausgeblieben. Die Errichtung kolonialer Herrschaft war eines der wichtigsten Mittel, um jenem interkontinentalen Tauschzusammenhang, den erst das neuzeitliche Europa schuf, frische Quellen von Naturreichtum und menschlicher Arbeitskraft dauerhaft zu erschließen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Kolonialismus auf die Peripherie waren freilich nach Zeit und Raum außerordentlich verschieden: anders in West– als in Ostafrika, anders auf Sumatra als auf Java. In Amerika bahnte die Eroberung dem Anschluß an das Weltwirtschaftssystem den Weg. In der Alten Welt war es umgekehrt. Nur küstenferne bzw. menschen–und ressourcenarme Gebiete Asiens und Afrikas blieben von vorkolonialen Außenhandelskontakten unberührt. Schon lange vor ihrer Unterwerfung unter koloniale Herrschaft standen große Teile Afrikas zunächst über den transatlantischen wie den orientalischen Sklavenhandel, später über den „legitimen“ Warenhandel (etwa mit Palmprodukten) in intensivem Kontakt zu anderen Kontinenten; die neuen Bereicherungschancen an der Küste wurden zu einer wichtigen Quelle innerafrikanischer gesellschaftlicher Dynamik. Nach 1890 setzten die Kolonialherren z. B. in Westafrika einfach nur ältere Entwicklungstendenzen der Exportökonomie fort.100 Ebenso unverkennbar sind Kontinuitäten über die verschiedenen Dekolonisationen hinweg. Wie schon das Beispiel des post–kolonialen Lateinamerika nach 1825 beweist, zieht das Ende eines kolonialen Herrschaftsverhältnisses keineswegs die Beseitigung weltwirtschaftlicher Abhängigkeit nach sich. Jene Länder der späteren „Dritten Welt“ schließlich, die politisch selbständig blieben, haben mit Ausnahme Japans kein prinzipiell anderes Entwicklungsschicksal erfahren als die Kolonien. Kolonialismus ist also nur eine unter vielen Facetten der umfassenderen Geschichte ökonomischer Nord–Süd–Beziehungen.101 Von kolonialer Wirtschaft kann man sprechen, wo immer ein kolonialer Staat in Handel und Produktion eingreift.
Imperiale und koloniale Wirtschaftspolitik Auf die koloniale Eroberung folgte in vielen Fällen eine Phase der anarchischen Beutewirtschaft, des ungehemmten, ökonomische und ökologische Verwüstung in Kauf nehmenden Raubbaus an leicht zu gewinnenden Ressourcen. Erst die Festigung kolonialer Staatsstrukturen schuf die Voraussetzungen für eine planvollere wirtschaftliche Nutzung; die französische Kolonialtheorie sprach von „Inwertsetzung“ (mise en profit). Kolonialwirtschaft bedeutet überall – und dies ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner ihrer mannigfaltigen Ausprägungen – die Übernahme der Steuerhoheit sowie der Kontrolle über Außenhandel und Währung durch Fremde. So wurden die Selbstfinanzierung des kolonialen Staates und die Anbindung der Kolonie an externe Märkte ermöglicht. Vor allem in den Beherrschungskolonien wurde teils die direkte Besteuerung von Grund und Boden, teils eine Kopf– 100
Vgl. A. G. Hopkins, An Economic History of West Africa, London 1973, S. 126.
Vgl. den Überblick bei Catherine Coquery–Vidrovitch, Les conditions de la dépendance: Histoire du sous– développement, in: dies./Alain Forest (Hrsg.), Décolonisations et nouvelles dépendances, Lille 1986, S. 25–48.
101
oder Hüttensteuer zur finanziellen Basis des Systems. Später kamen indirekte Konsumsteuern hinzu, deren Erhebung in Asien oft an Privatleute verpachtet wurde, z. B. in Form von Opiummonopolen.102 Die Bedeutung von Zolleinnahmen wuchs mit dem Umfang des Außenhandels. Die kolonialen Steuern waren nicht unbedingt höher als die Tribute der vorkolonialen Zeit. Sie wurden aber mit größerer Regelmäßigkeit und Effizienz erhoben, ohne Rücksicht auch auf die Zahlungsfähigkeit des Steuerschuldners, der in der vorkolonialen „moralischen Ökonomie“ in Krisenzeiten oft auf Nachsicht hatte rechnen können. Die koloniale Besteuerung führte zur Verbreitung von Geldwirtschaft und Marktbeziehungen. Sie konnte ein wirksames Instrument sein, um Arbeitskräfte ohne außerökonomischen Zwang zu mobilisieren: Wollten sie Bargeld verdienen, um ihre Steuern zahlen zu können, so mußten sie den geschlossenen Kreis der Subsistenzwirtschaft verlassen.103 Traditionale Gemeinschaftsstrukturen konnten zerstört werden, indem man nicht länger das Dorf oder ein anderes Kollektiv veranlagte, sondern den Einzelhaushalt. Die Abwicklung des Außenhandels von Kolonien lag durchweg in den Händen fremder Geschäftsleute, waren sie nun Kronbeamte, Chartered Companies, spezialisierte Kolonialagenturen oder multinationale Konzerne. Die politische Kontrolle reservierte sich der koloniale, man sollte hier genauer sagen: der imperiale Staat. Formen und Intensität wandelten sich: Auf die frühneuzeitliche Ära der Monopole folgte etwa zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre ein Zeitalter des Freihandels (nahezu unbeschränkt in den britischen, niederländischen und belgischen, weniger konsequent in den französischen Kolonien), dann eine Spätphase der „managed economy“. Jedes dieser Handelsregime war am Vorteil der Kolonialmacht orientiert, nicht an der wirtschaftlichen Eigenständigkeit der einheimischen Bevölkerung. Die festesten ökonomischen Bande innerhalb der Imperien wurden auf monetärem Gebiet geknüpft. Vor allem Afrika erhielt durch den Kolonialismus erstmals Währungen im modernen Sinne. Am weitesten beim Aufbau eines monetär einheitlichen und dabei flexiblen Kolonialimperiums ging Frankreich. Dieses System erwies sich für die Kolonien als immerhin so günstig, daß nach der Unabhängigkeit die frankophonen Staaten Afrikas ihre engen Währungsbeziehungen zu Frankreich aufrechterhielten. Die meisten ehemaligen britischen Kolonien optierten hingegen für monetäre Autonomie. Da seit der Bindung der indischen Rupie an das Pfund Sterling im Jahre 1893 das Währungsmanagement im britischen Empire ungewöhnlich stark ausgeprägt war, wurden dort monetäre Fragen in besonders hohem Maße auch Ansatzpunkte für Kontroversen zwischen der Kolonialmacht und nationalistischen Kritikern ihrer Politik. In der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre trat die Verflechtung der Kolonien in internationale Geld– und Währungsbeziehungen mit besonderer Drastik zutage. Wenn die Freisetzung von Exportpotentialen der wichtigste wirtschaftliche Zweck des kolonialen Staates war, so hat er ihn durch Infrastrukturprojekte am unmittelbarsten verfolgt. Nahezu nirgends haben sich Exportsektoren ohne umfassende Regierungsinvestitionen entwickeln können. In Indien, auf Java und in Teilen Afrikas existierten am Vorabend des Ersten Weltkriegs leistungsfähige Eisenbahnsysteme. Man hat den Bau der indischen Eisenbahnen „das monumentalste Projekt des kolonialen Zeitalters“ genannt.104 Kaum weniger aufwendig waren die Urbarmachung von Land durch Kanalbau im Norden und Westen Britisch–Indiens und die französischen Bewässerungsanlagen in Vietnam, die das Mekong–Delta zu einem der ertragreichsten Reisanbaugebiete der Welt machten. Auch durch den Ausbau von Hafenanlagen schuf der koloniale Staat Bedingungen für den privatwirtschaftlichen Aufschwung des kolonialen Außenhandels. Die Dampfschiffahrt zu den Kolonien und der Ausbau von Telegraphennetzen – um die Jahrhundertwende waren alle größeren
102
Vgl. z. B. Norman Miners, Hong Kong under Imperial Rule, 1912–1941, Hongkong 1987, S. 207–77.
103 Vgl. Catherine Coquery–Vidrovitch u. a., L’Afrique occidentale au temps des français: Colonisateurs et colonisés, c. 1860–1960, Paris 1992, S. 107–10.
Daniel R. Headrick, The Tools of Empire: Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century, New York/Oxford 1981, S. 181. Vgl. auch ders., The Tentacles of Progress: Technology Transfer in the Age of Imperialism, New York/Oxford 1988, S. 49–96, sowie allgemein Clarence B. Davis/Kenneth E. Wilburn, Jr. (Hrsg.), Railway Imperialism, New York 1991.
104
kolonialen Zentren von London oder Paris aus per Kabel erreichbar – wurden von den nationalen Regierungen subventioniert.
Bäuerliche Landwirtschaft105 Die große Mehrheit der Menschen in den kolonisierten Gesellschaften gewann ihren Unterhalt aus den Erträgen des Bodens und bewegte sich soziokulturell in einer bäuerlichen Lebenswelt. Dies mußte nicht bedeuten, daß man ausschließlich Subsistenzlandwirtschaft betrieb. In den Zivilisationszentren Asiens war die Produktion für nähere und fernere Märkte vorkolonial hochentwickelt, und auch die Landwirtschaft im dünner besiedelten Afrika hatte da und dort begonnen, auf Marktstimuli zu reagieren. Die koloniale Eroberung machte sich in doppelter Weise bemerkbar: Zum einen bemächtigte sie sich gewaltsam der bäuerlichen Produktionsmittel, zum anderen trieb sie die agrarische Kommerzialisierung voran. An vielen Stellen der überseeischen Welt suchten die Eroberer zunächst nach Wegen, die indigene Landbevölkerung für sich arbeiten zu lassen. Fast nie kam es für längere Zeit zur vollständigen Versklavung der Einheimischen, fast überall aber zu anderen Formen unfreier Arbeit. Charakteristisch für Spanisch–Amerika im 16. Jahrhundert war die Zuteilung indianischer Arbeitskräfte an Privatpersonen durch die Krone (encomienda), vor allem in der Anfangszeit ein System, das an Zwang und Brutalität der Sklaverei nicht nachstand. Mit der Zeit gerieten die Encomienda–Rechte immer mehr unter staatliche Kontrolle; von den Indianern wurden schließlich vor allem Natural– und Geldtribut, immer weniger indessen Arbeitsleistungen gefordert. Unter dem Nachfolgesystem des repartimiento (in Peru mita genannt) mußte jede indianische Gemeinschaft in regelmäßigen Abständen einen Teil ihrer männlichen Mitglieder für den auswärtigen Arbeitsdienst abstellen. Diese Praxis erreichte das Höchstmaß an Bedrückung im Silberbergbau von Potosí in Peru. Während sie dort bis zum Ende der Kolonialzeit bestand, waren in Zentralmexiko spätestens um 1800 die indianischen Arbeitskräfte frei von außerökonomischem Zwang.106 Sklaverei gab es bis zur großen Abolitionsbewegung des 19. Jahrhunderts in allen frühneuzeitlichen Imperien. In der alten Welt spielte sie als Form landwirtschaftlicher Produktion jedoch nirgendwo eine größere Rolle. Der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, der mitunter (etwa in Ostafrika) aus dem Vorgehen gegen orientalische Sklavereiformen seine eigene Rechtfertigung herleitete, verzichtete freilich nicht auf unfreie Arbeit. Die brutalen Exzesse im Kongo–Freistaat, der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II., waren untypisch. Überall in Afrika aber gab es bestimmte Formen von unbezahlter und bezahlter corvée und von zwangsweisen Trägerdiensten; auch der Einsatz afrikanischer Soldaten an den Schauplätzen der beiden Weltkriege gehört in diesen Zusammenhang. Der letzte Versuch vor der japanischen Raubwirtschaft während des Zweiten Weltkrieges, in Asien in großem Stil Arbeitszwang durchzusetzen, war das niederländische „Kultursystem“ der Jahre 1830–1870, bei welchem vor allem javanischer Kaffee für den Staatsexport unter einem repartimiento–ähnlichen Regime der kommunalen Arbeitsmobilisierung erzeugt wurde. Eine in der neueren Kolonialgeschichte mindestens ebenso häufige Erfahrung wie Zwangsarbeit war der Verlust des Zugangs zum Boden: fast unweigerlich eine Ursache irreversibler Pauperisierung. Sie war der Normalfall in Siedlungskolonien „neuenglischen“ Typs, wo die verdrängten Einheimischen freilich selten Ackerbauern waren. Zu Landentfremdungen großen Umfangs kam es mit direkter Hilfe des kolonialen Staates, der freilich in vielen Fällen wenig mehr als ein Instrument der Siedler war, in Algerien und Südafrika, daneben auch in Kenia, Rhodesien und Neuseeland; die hochwertigsten Böden gelangten dabei in fremde Hand. Westafrika hingegen blieb, geschützt durch eine andere Art von kolonialer Politik, „peasant country“. Die mexikanischen Indianer verloren große Teile ihres Landes paradoxerweise, nachdem die Last des Arbeitszwanges von ihnen genommen war. In der späten Kolonialzeit begann ein Prozeß, der sich bis ins frühe 20. Jahrhundert nahezu ungebremst fortsetzte: 105 Die im folgenden verwendete Typologie agrarischer Betriebsformen folgt z.T dem klassischen Aufsatz von Arthur L. Stinchcombe, Agricultural Enterprise and Rural Class Relations, in: American Journal of Sociology 67 (1961/62), S. 165–76.
Vgl. Charles Gibson, Indian Societies under Spanish Rule, in: Leslie Bethell (Hrsg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. 2, Cambridge 1984, S. 403–5. 106
die territoriale Ausdehnung großbetrieblicher Haciendas in das Land von Dorfgemeinschaften und Kleinbesitzern hinein und damit deren Marginalisierung zu Landarbeitern, Halbpächtern oder Wanderarbeitern.107 Nicht mit dem frühkolonialen Arbeitszwang, der die indianische Gemeinschaft im Prinzip intakt ließ, sondern erst mit dem Landraub durch die semi–kapitalistischen Haciendas verloren die mexikanischen Indios die Kontrolle über ihre eigene Lebensführung.108 Wenn der koloniale Staat in Indien oder Westafrika auch nicht die Arbeitskraft der Bauern requirierte oder ihnen ihren Boden nahm, so spann er sie doch überall in das feine Netz seiner Aufsicht ein. Wo bis dahin Gewohnheiten, Traditionen und lose Absprachen genügt hatten, verbreiteten sich nun Kataster, Flurabgrenzungen, Steuerveranlagungen, Eigentumstitel und unzählige Vorschriften. Auch Agrar– oder Bauerngesellschaften selbst sind in gewisser Weise Geschöpfe des Kolonialismus.109 Im Zuge jener umfassenden Hinwendung zur Produktion für den Weltmarkt, die in Asien im letzten Drittel des 19. und in Schwarzafrika im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begann und mit der Extensivierung wie Intensivierung der Bodenkultur verbunden war, realisierte sich das ökonomische Prinzip des entwickelten Kolonialismus: „die Umverteilung von Ressourcen innerhalb des agrarischen Sektors von einer Vielzahl nichtagrarischer Tätigkeiten (z. B. Hausgewerbe) zur Spezialisierung auf Exportprodukte“.110 Viele hochspezialisierte Cashcrop–Regionen konnten sogar ihren Nahrungsmittelbedarf nicht mehr aus eigener Erzeugung decken. Mit zunehmender Arbeitsteilung und innerer Differenzierung wurden diese Gesellschaften in mancher Hinsicht „moderner“, zugleich aber auch eindeutiger auf ihren agrarischen Charakter festgelegt. Die Exportproduktion im Rahmen bäuerlicher Familienwirtschaften hatte in Burma und Vietnam, in Westafrika und Niederländisch– Ostindien recht unterschiedliche Auswirkungen auf jeweils spezifische Agrarsysteme. Im allgemeinen bildete sich eine deutlichere und stabilere soziale Schichtung mit größeren Unterschieden zwischen Arm und Reich heraus; der Erfahrungsbereich der Menschen überstieg nun den lokalen Raum; Dorfstrukturen wurden sichtbarer, zumal fast alle Kolonialmächte das Amt des Dorfvorstehers stärkten oder überhaupt erst schufen; unstetes Nomadentum wurde zurückgedrängt. Während in manchen westafrikanischen Ländern tatsächlich der kleine bäuerliche Familienbetrieb, der sich der Marktlage geschickt anzupassen verstand, Nutzen aus dem Exportboom zog, profitierte bei einem hierarchisierten Grundherrensystem, wie es etwa in Cochinchina, also im Süden Vietnams, bestand, nur eine winzige Schicht parasitärer „absentee landlords“; die Masse der hochverschuldeten Pachtbauern konnte weiterhin nur eine mühsame Existenz fristen.111
Kapitalistische Produktion Zwei extrem gegensätzliche Betriebsformen, der Bauernhaushalt und die Plantage, waren (und sind) die leistungsfähigsten Träger der agrarischen Exportökonomie. Der Bauernhaushalt bewirtschaftet mit Familienmitgliedern und vielleicht einer kleinen Zahl von Lohnarbeitern eigenes und/oder gepachtetes Land. Die Plantage ist ein oft entlegen situierter Großbetrieb, zu dessen Errichtung erhebliche Kapitalinvestitionen in Land, Maschinen und Pflanzen erforderlich sind und der unter der Leitung eines (ausländischen) Managements von niedrig qualifizierten Lohnarbeitern in Gang gehalten wird. Plantagen befinden sich oft im Besitz ausländischer Kapitalgesellschaften, die auch die Weiterverarbeitung und Vermarktung der Produkte in eigene Regie nehmen. Die Plantage kann mit Vorbehalt als „kapitalistisch“ bezeichnet werden, ohne daß sie a priori eine „rationalere“ Betriebsform als der marktorientierte Bauernhaushalt wäre. Die moderne tropische Plantage hat in Afrika hauptsächlich in Kamerun vorübergehend eine zentrale Rolle gespielt; in hochentwickelter Form 107 Vgl. Hans Werner Tobler, Die mexikanische Revolution. Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch, 1876–1940, Frankfurt a. M. 1984, S. 70 f.
Farriss, Maya Society under Colonial Rule (wie Anm. 77), S. 366–75, 382; vgl. auch Gibson, The Aztecs under Spanish Rule (wie Anm. 66), S. 406f.
108
109 Zum Konzept der „peasantisation“ vgl. C. A. Bayly, Indian Society and the Making of the British Empire, Cambridge 1988, S. 136–68; ders., Creating a Colonial Peasantry: India and Java c. 1820–1880, in: Mushirul Hasan u. a., India and Indonesia from the 1830s to 1914: The Heyday of Colonial Rule, Leiden 1987, S. 93–106. 110
Thomas B. Birnberg/Stephen A. Resnick, Colonial Development: An Econometric Study, New Haven/London 1975, S. 254.
111
Vgl. Pham Cao Duong, Vietnamese Peasants under French Domination, Lanham/New York 1985, S. 38–61.
verbreitet war sie hingegen in Südostasien (Kautschuk, Zucker, Tabak, Kaffee, Kopra) und auf Ceylon (Kaffee, Tee). Die asiatische Kautschukplantage, die ihre Prosperität der Verbreitung des Automobils verdankte, folgte in den Grundzügen ihrer Organisation der karibischen Zuckerplantage, jener avanciert kapitalistischen Institution der frühen Neuzeit. Philip Curtin charakterisiert die voll ausgeprägte atlantische Plantage des 17. und 18. Jahrhunderts durch sechs Merkmale: (1) Sklavenarbeit, (2) demographische Insuffizienz: ständige Neurekrutierung von Arbeitskräften, (3) großbetriebliche Organisation mit 50 bis 500 Arbeitern und strikter Zeiteinteilung der Produktionsprozesse, (4) „feudale“ Hoheitsgewalt des Plantagenherrn, manchmal über Leben und Tod, (5) Bedienung einer überseeischen Exportnachfrage, (6) politische Kontrolle des Systems von Europa her.112 Bis auf das erste treffen alle diese Merkmale auch auf die Plantagen zu, die seit dem späten 19. Jahrhundert entstanden. Die Arbeitsverhältnisse auf den Plantagen von Ostsumatra um 1920 unterschieden sich nicht grundlegend von denen auf Jamaica oder St. Domingue zwei Jahrhunderte zuvor. Die Arbeiter wurden nicht an Ort und Stelle rekrutiert, sondern auf der Nachbarinsel Java oder gar in Südchina (auf den Plantagen in Malaya arbeiteten ebenfalls „Ausländer“, vorwiegend Inder): nicht nur Kapital und Management, sondern auch die Arbeitskräfte mußten also importiert werden. Das harsche, durch und durch rassistische Arbeitsregiment und der schiere Ausbeutungsdruck standen ebenfalls dem Zustand legal sanktionierter Sklaverei wenig nach.113 Farmen unterscheiden sich von Plantagen in vier Punkten: Die angebauten Kulturen sind weniger arbeitsintensiv; der Betrieb wird nicht von angestellten Managern und Agenten, sondern von der dauerhaft ansässigen Eigentümerfamilie geführt; es wird nicht ausschließlich für den Export, sondern teilweise auch für einheimische Märkte produziert; Farmen werden meist nicht als Enklaven in entlegenen Gegenden oder, wie die Kautschukplantagen von Sumatra, in ausgesprochenen Grenzwildnissen eingerichtet, sondern dort, wo zu indigenen Bauern ein „Null–Summen“–Verhältnis der Konkurrenz um knappe Landressourcen besteht. Wie Plantagen, so beschäftigen auch Farmen Lohnarbeiter, wenngleich in viel geringerer Proportion am Gesamtaufwand. Farmen sind in Afrika, analog zu den noch stärker Herrengewalt über abhängige Arbeitskräfte ausübenden lateinamerikanischen Haciendas, die wichtigsten Verursacher von Landentfremdungen gewesen. Dies resultiert teils aus der extensiven Wirtschaftsweise (Viehzucht, Mais, Tabak), teils aus der Vorstellungswelt europäischer Kolonisten, deren ideales Afrika ein Afrika ohne Afrikaner gewesen wäre. Während die Plantage nämlich auf der Kombination von hohem Kapitaleinsatz und Ausbeutung billiger fremdrassiger Kuli– oder Tagelöhnerarbeit beruht, wird der reine Typus der kolonialen Farm mit Hilfe eingewanderter europäischer Arbeitskräfte bewirtschaftet, wie es etwa in Nordamerika unter dem System der Schuldknechtschaft (indentured service) geschah. In Afrika war aber meist qualifizierte einheimische Arbeit zu niedrigen Löhnen verfügbar, so daß der Arbeitsmarkt keinen Raum für eine weiße Landarbeiterschicht ließ. Zumindest in Ostafrika befanden sich außerdem Handwerk und Kleinhandel unter der Kontrolle überaus effizient wirtschaftender asiatischer (meist indischer) Immigranten. Es fehlten also in Afrika, zumindest südlich der Sahara, die Bedingungen für strukturell komplette Kolonistengesellschaften, gleichsam für ein „neues Australien“.114 Ökonomisch standen die afrikanischen Siedlerfarmen prekär zwischen einheimischer Konkurrenz, die sich etwa in Kenia zu einer Art von ländlicher Bourgeoisie mauserte, auf lokalen und dem Wettbewerb von Großproduzenten anderer Kontinente auf internationalen Märkten. Ihre wirtschaftliche Schwäche konnten die Siedler nur durch ihren privilegierten Zugang zum kolonialen Staat ausgleichen.115 Die afrikanische Farm ist niemals ein solcher Wachstumsmotor geworden wie die kapitalistischen Agrarbetriebe in Nordamerika oder wie die tropische Plantage. 112
Philip D. Curtin, The Rise and Fall of the Plantation Complex: Essays in Atlantic History, Cambridge 1990, S. 11–13.
113 Vgl. Ann Laura Stoler, Capitalism and Confrontation in Sumatras Plantation Belt, 1870–1979, New Haven/London 1985, S. 14–46, und vor allem Jan Breman, Koelies, planters en koloniale politiek, 2. Aufl., Dordrecht 1987, Kap. 3–5.
Vgl. C. C. Wrigley, Aspects of Economic History, in: Andrew D. Roberts (Hrsg.), Tbe Cambridge History of Africa, Bd. 7, Cambridge 1986, S. 108 f.
114
115
Vgl. Ralph A. Austen, African Economic History: Internal Development and External Dependency, London 1987, S. 173, 175 f.
Weltwirtschaftlich bedeutsam ist Afrika seit dem späten 19. Jahrhundert nicht als Agrarproduzent, sondern als Bergbaukontinent (Gold, Diamanten, Kupfer u. a.) gewesen,116 grob vergleichbar der Rolle Perus, später Mexikos in der Silberförderung. In Asien hat, abgesehen von der Petroleumgewinnung, der Bergbau für den Export selten eine wirklich signifikante Position erlangt: malayisches Zinn und die Kohleproduktion in der japanisch kolonisierten Mandschurei waren Ausnahmen. Der hochkapitalisierte afrikanische Bergbau rief überall in seinem näheren Umfeld außerordentliche sozialgeschichtliche Veränderungen hervor.117 Hohe wirtschaftliche Wachstumsraten erzielte vorübergehend der rohstoffreiche Belgische Kongo (Zaire). Doch blieben die Wachstumsenklaven, die überwiegend unter der Kontrolle großer ausländischer Konzerne standen, von der bäuerlichen Umwelt isoliert. Als Folge nicht zuletzt von postkolonialer Mißwirtschaft ist Zaire heute eines der ärmsten Länder der Welt. Spuren von Industrialisierung fanden sich nach dem Ersten Weltkrieg in Französisch–Westafrika. Nur in Südafrika gelang aber, unter den immensen sozialen Kosten einer stetig sich verschärfenden Rassendiktatur, der Übergang zu einer vom Goldbergbau angeschobenen Industrialisierung. Diese Entwicklung begann in den 1920er Jahren, also nach der 1910 de facto erreichten gesamtstaatlichen Unabhängigkeit. Auch für Asien gilt, daß die europäischen Kolonialmächte Industrialisierung zwar nicht explizit verhinderten, sie aber auch nicht nennenswert unterstützten.118 Allein Indien verfügte zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit über einen ausbaufähigen industriellen Sektor, der auch Schwerindustrie einschloß. Er verdankte sich sowohl indischer als auch britischer privatwirtschaftlicher Initiative.119 Ein eigenartiger Sonderfall war das japanische Imperium. Japan war die einzige Imperialmacht, die in ihrem Kolonialreich ebenso wie in den Zonen informeller Penetration planmäßig eine industrielle Kolonialwirtschaft aufbaute: Kohle, Eisen und Stahl in Korea und der Mandschurei, Zucker auf Taiwan, Baumwollverarbeitung in Shanghai und Nordchina. Sie sollte die Ökonomie der rohstoffarmen japanischen Inseln ergänzen und dem geplanten von Japan dominierten asiatischen Großraum zu arbeitsteiliger Autarkie verhelfen. Obwohl der japanische Kolonialismus das repressivste Kolonialregime der neueren Geschichte gewesen sein dürfte und die unterworfenen Völker nicht den mindesten Anlaß zur Dankbarkeit gegenüber ihren Unterdrückern haben, war deren materielle und strukturelle Hinterlassenschaft eine wichtige Grundlage für die weitere industrielle Entwicklung in Korea, Taiwan und Teilen von China.120 Zwei Eigenschaften weist der koloniale Kapitalismus in allen seinen agrarischen und industriellen Varianten auf (vielleicht mit Ausnahme der indischen Industrie): Zum einen entstand er als Ergebnis nicht von Kapitalakkumulation an Ort und Stelle, sondern von ausländischen Investitionen. Dies bedeutete, daß er stets in mancher Hinsicht fremdgesteuert blieb und daß zu dem Konflikt zwischen Unternehmern und einer kaum je gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft der Gegensatz der Hautfarben verschärfend hinzutrat. Zum anderen waren die Arbeitsformen, die der koloniale Kapitalismus mit sich brachte, niemals ganz mit „freier Lohnarbeit“ im modernen westlichen Sinne zu vergleichen. Die fremden Unternehmer machten sich die Spielarten außerökonomischen Zwanges, wie es sie in den vorkolonialen Gesellschaften meist gab, zunutze; Löhne wurden weiterhin teilweise natural gezahlt; und trotz der umrahmenden Rechtsstaatlichkeit vor allem in Beherrschungskolonien verfügte die Kapitalseite aus eigener Kraft oder mit Hilfe des kolonialen Staates über Instrumentarien der Arbeiterdisziplinierung, die im metropolitanen Kapitalismus nicht anwendbar waren.
116
Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion (wie Anm. 22), Bd. 4, S. 110.
Vgl. vor allem Charles van Onselen, Studies in the Social and Economic History of the Witwatersrand 1886–1914, 2 Bde., Johannesburg 1982.
117
118
So die Formel bei David K. Fieldhouse, Colonialism 1870–1945: An Introduction, London/Basingstoke 1983, S. 89, 95, 102.
119 Vgl. ausführlich: Dietmar Rothermund, Indiens wirtschaftliche Entwicklung. Von der Kolonialherrschaft bis zur Gegenwart, Paderborn 1985, S. 68–83 und passim.
Am besten ist diese These bisher für Korea untermauert. Vgl. Dennis L. McNamara, The Colonial Origins of Korean Enterprise, 1910–1945, Cambridge 1990; Carter J. Ecken, Offspring of Empire: The Koch’ang Kims and the Colonial Origins of Korean Capitalism, Seattle 1991.
120
VII. Koloniale Gesellschaften Amerika war nicht nur eine für Europäer neu entdeckte, sondern auch eine gesellschaftlich von ihnen neu gestaltete Welt. Die nordamerikanischen Kolonien begannen als Ableger Europas, und obwohl sie in ethnischer Hinsicht neo–europäisch blieben, entwickelten sich in ihnen doch soziokulturelle Lebensformen, die ihre Ursprünge weit hinter sich ließen.121 Alexis de Tocqueville hat dies in „De la démocratie en Amérique“ (1835/40) unübertrefflich deutlich gemacht. In den drei europäisch geprägten Kulturräumen des amerikanischen Südens – Brasilien, der Karibik, dem hispanoamerikanischen Festland bis hinunter nach Paraguay – entstanden Gesellschaften eines ganz anderen Typs, die sich noch viel weiter von europäischen Vorbildern entfernten: ethnisch und kulturell heterogene, aus indianischen, europäischen und afrikanischen Elementen kombinierte Mischgesellschaften.122 Dem ethnisch exklusiven Norden stand ein ethnisch inklusiver Süden gegenüber. Obwohl der gesellschaftliche Hauptwiderspruch im Süden die weiße Herrenschicht vom Rest der Bevölkerung trennte, bildete sich in der Praxis innerhalb etwa des ersten Jahrhunderts nach der Conquista vor allem im kolonialspanischen Raum eine fein abgestufte Hierarchie der Hautfarbe heraus, die von reinblütigen Spaniern bis zu den indianischen Massen reichte.123 Diese „Pigmentokratie“ wurde durch zweierlei kompliziert: Zum einen korrelierten „Rasse“ und „Klasse“ meist, aber durchaus nicht immer; so gab es eine wachsende Zahl armer Weißer, während zugleich eine in sich weiter differenzierte Mittelschicht aus Mestizen und freigelassenen schwarzen Sklaven entstand.124 Zum anderen war nicht selten die kulturelle Nähe zum Spaniertum, wie sie sich etwa in Sprache, Kleidung und Verhalten ausdrückte, wichtiger als der physische Grad der Hauttönung. Im späten 18. Jahrhundert wurde für reiche und gebildete Mulatten sogar ein rechtlicher Weg zur „Weißheitserklärung“ geöffnet. Ob in Mexiko, wenn auch nirgendwo sonst in Lateinamerika, tatsächlich ein weltgeschichtlich neuer Typus von „Mestizo–Gesellschaft“ entstand, der etwas deutlich anderes war als eine koloniale Gesellschaft,125 wird umstritten bleiben. Zweifellos verwischten sich aber die Grenzen zwischen Kolonisierern und Kolonisierten immer mehr. Der einzige eiserne Grundtatbestand über die Jahrhunderte hinweg blieb die materielle und kulturelle Deprivation der Indios. In den karibischen und brasilianischen Zentren der Plantagensklaverei, wo man eine unmißverständliche Zweiteilung der Bevölkerung in eine weiße Herrenkaste und schwarze Sklavenmassen vermuten würde, waren die Verhältnisse ebenfalls alles andere als eindeutig. Da sämtliche Sklavereiregimes von Anfang an die Freilassung von Sklaven vorsahen, gab es überall – jedoch in den scharf rassistischen Kolonien der Franzosen, Engländer und Holländer schwächer ausgeprägt als in den iberischen Territorien – den dritten Faktor der „farbigen Freien“.126 Der große Sklavenaufstand auf St. Domingue, der 1791 begann, richtete sich nach der Ermordung oder Flucht der weißen Pflanzer vor allem gegen die kleine Schicht wohlhabender „brauner“, also mulattischer Plantagenbesitzer, die bis dahin selbst Opfer juristischer Diskriminierung gewesen waren. In der
121 Diesen Prozeß untersucht eine riesige Literatur. Herausragend: David Hackett Fischer, Albions Seed: Four British Folkways in America, New York/Oxford 1989.
Das kontinentale Nord– und Südamerika (ohne Brasilien) vergleicht übersichtlich: Magnus Mörner, Labor Systems and Patterns of Social Stratification in Colonial America: North and South, in: Wolfgang Reinhard/Peter Waldmann (Hrsg.), Nord und Süd in Amerika, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1992, S. 347–62.
122
Dieses System der „castas“ hat Alexander vom Humboldt um 1800 beobachtet und in seiner großen Soziologie Mexikos beschrieben: Essai politique sur le royaume de la Nouvelle–Espagne, 2e ed., Bd. 1, Paris 1825, S. 451–67. 123
124 Um ethnische und sozialökonomische Schichtungskriterien kombinieren zu können, verwenden einige Forscher heute das Konzept von „social race“. Vgl. John E. Kicza, The Social and Ethnic Historiography of Colonial Latin America: The Last Twenty Years, in: William and Mary Quarterly 45 (1988), S. 468 f.
So die These bei Colin M. MacLachlan/Jaime E. Rodriguez O., The Forging of the Cosmic Race: A Reinterpretation of Colonial Mexico, Berkeley/Los Angeles/London 1980.
125
Die einzelnen Kolonien vergleicht Herbert S. Klein, African Slavery in Latin America and the Caribbean, New York/Oxford 1986, S. 217–41.
126
gesamten Karibik hat sich über das Ende der Sklaverei und der Kolonialzeit hinaus ein Sinn für feine Farb–Distinktionen erhalten.
Ethnisch–kulturelle Abgrenzung in der Alten Welt Nirgends in der Alten Welt – vielleicht mit Ausnahme Südafrikas – entstanden als Folge der europäischen Expansion Gesellschaften, von denen sich sagen ließe, sie seien wie die karibischen Sklavereigesellschaften „künstliche und neuartige Konstrukte“.127 In der Alten Welt haben die Kolonialismen keine Gesellschaften geschaffen. Sie haben nur bestehende „traditionale“ Gesellschaften umgeformt: manchmal partiell und oberflächlich wie in Kambodscha, manchmal radikal wie im benachbarten Cochinchina. Innerhalb der territorialen Grenzen asiatischer und afrikanischer Kolonien entstanden keine europäisch–einheimischen Mischgesellschaften, die über die Unabhängigkeit hinaus lebensfähig gewesen wären. Als kleine Bürokraten– und Soldatengruppen in den Beherrschungskolonien wie als größere Kolonistengemeinschaften in den Siedlungskolonien „afrikanischen“ Typs hielten sich die Fremden von der einheimischen Bevölkerung fern. Sexuelle Kontakte blieben natürlich nicht aus: Die sexuelle Ausbeutung einheimischer Frauen war an der Tagesordnung, und die sinnlichen Verlockungen in Übersee mögen sogar ein starker Antrieb kolonialer Abenteuerlust gewesen sein,128 doch wurden interrassische Liaisons aller Spielarten zunehmend als illegitim betrachtet. Neben einem gesteigerten, von wachsamen Missionaren gehüteten Moralbewußtsein war die Ursache dafür die Vorstellung, ein Mangel an sexueller Distanz würde das „rassische Prestige“ der weißen Herren beeinträchtigen und damit ihre Machtmagie als unkorrumpierbare Herrenkaste schwächen.129 Die Mischlingsbevölkerung erreichte nirgends ein hinreichendes demographisches Gewicht, um politisch unumgehbar zu werden. Status und Lebenschancen von mestizischen „Eurasiern“ in der asiatischen Kolonialwelt verschlechterten sich im Übergang zum 19. Jahrhundert und wurden deutlich ungünstiger als die von Euro–Afrikanern in den karibischen Besitzungen nach dem Ende der Sklavereiepoche. In den asiatischen und afrikanischen Kolonien bildete sich keine trotz aller Gegensätze integrierte koloniale Gesellschaft mit einer verhältnismäßig homogenen Elite und einer weithin verbindlichen Kultur. Das bis zur Trivialität abstrakte Grundmodell kolonialer Soziologie sieht vielmehr so aus: Innerhalb des vom kolonialen Staat errichteten und aufrechterhaltenen Herrschaftsverhältnisses treffen die majoritäre, zunächst „traditionale“ Gesellschaft der Einheimischen und die minoritäre Gesellschaft der Kolonialherren und Siedler, die nichts als ein soziokultureller Brückenkopf der Metropole ohne eigene „kreolische“ Identität ist, als distinkt bleibende soziale Gebilde aufeinander. Zwischen beiden bildet sich das Überlappungsfeld der eigentlichen kolonialen Gesellschaft heraus, in dem neue, intermediäre soziale Rollen angeboten werden: die des Missionars (den es in der Metropole allenfalls in der übertragenen Form der „inneren Mission“ gibt), die des Dolmetschers im weitesten Sinne, die zahlreichen Rollen für Handelsvermittler und politische „Kollaborateure“ usw. Aber auch dieser Bereich in der Schnittmenge zwischen metropolitaner und einheimischer Gesellschaft ist durch soziale und ethnische Distanz geprägt. Das erklärt, warum bei der Dekolonisation von Beherrschungskolonien in der Regel kaum eine soziale Entflechtung erforderlich war. Die europäischen, amerikanischen und japanischen Kolonialherren packten ihre Sachen und verschwanden; sichtbar ließen sie nur architektonische Hülsen zurück – öffentliche Gebäude, Villen, monumentale Friedhöfe, Denkmäler, ganze Stadtbilder – sowie Landschaften, an denen der aufmerksame Betrachter teils die Ergebnisse ökologischer Verwüstung, teils die Erfolge früher Konservierungsbemühungen ablesen kann.130 Siedler verteidigten ihre auf immobilem Besitz beruhende Position hartnäckiger als 127
Franklin W. Knight, The Caribbean: The Genesis of a Fragmented Nationalism, 2nd ed., New York 1990, S. 179.
128
Vgl. Ronald Hyam, Empire and Sexuality: The British Experience, Manchester 1990.
Vgl. Kenneth Ballhatchet, Race, Sex and Class under the Raj: Imperial Attitudes and Policies and Their Critics, 1793–1905, London 1980, S. 144 und passim.
129
Vgl. Richard H. Grove, Colonial Conservation, Ecological Hegemony and Popular Resistance: Towards a Global Synthesis, in: John M. MacKenzie (Hrsg.), Imperialism and the Natural World, Manchester 1990, S. 15–50; vgl. auch den thematischen Überblick bei Jacques Pouchepadass, Colonisations et environnement, in: Revue française d’histoire d’outre–mer 81 (1993), S. 5–22.
130
Administratoren. Doch nicht allein wegen dieses heftigeren Widerstandes verlief die Emanzipation von Siedlungskolonien oft gewalttätiger als die von Herrschaftskolonien. Die Kolonistengesellschaft und die einheimische Gesellschaft waren in Fällen wie Algerien dichter miteinander verzahnt. Ihre Trennung war ein buchstäblich schmerzhafterer Prozeß. Soziale Distanz innerhalb des Kolonialverhältnisses war eine historisch veränderliche Größe. Ein weiteres Kriterium solchen Abstands neben dem der sexuellen Beziehungen ist der Grad der „Gegen– Akkulturation“, der Anpassung der Kolonisierer an die Kolonisierten: So kam es etwa zu einer teilweisen „Afrikanisierung“ der Trekburen, in entlegenen ländlichen Gebieten Amerikas zur „Indianisierung“ von Spaniern, die schon in der zweiten Generation Spanisch als Muttersprache verloren, zur Durchdringung europäischer Vokabularien mit einheimischen Wörtern131 oder gar zur Herausbildung von Kreol– und Pidginsprachen, zur Übernahme „barbarischer“ Gewohnheiten wie der des Betelkauens durch die feinen holländischen und halbholländischen Damen von Batavia. Solche Gegen–Akkulturation erfaßte aber nur in wenigen individuellen Ausnahmefällen den Kern kultureller Identität: Kaum je traten Europäer aus freien Stücken zu nichtchristlichen Religionen über. Es ist nun charakteristisch für die Sozial– und Kulturgeschichte des neuzeitlichen Kolonialismus, insbesondere in Asien, daß die Distanz zwischen den beiden im Kolonialverhältnis verklammerten Gesellschaften seit dem späten 18. Jahrhundert zunahm. Während sich die Statusskala im iberischen Amerika zusehends verfeinerte und dabei rassische Kriterien vielfach mit neuem Nachdruck betont wurden, verschärfte sich in Asien und Afrika die Dualisierung der kolonialen Soziallandschaft. Nur im portugiesischen Asien kam es dank der aufgeklärten Politik der Krone unter dem Marquis de Pombal in den 1760er und 1770er Jahren zu einer bedeutenden Verbesserung vor allem der Stellung eines einheimischen Klerus.132 Die Abschließung der europäischen Gemeinschaften gegenüber der einheimischen Umwelt hat viele Ursachen, die in jeweils besonderen Kombinationen wirksam wurden: (1) Hatten besonders Portugal und die Niederlande zunächst Heiraten von Europäern mit asiatischen Frauen offiziell gefördert und die anderen Kolonialmächte sie stillschweigend geduldet, so erhöhte die Immigration europäischer Frauen die sexuelle Autarkie der Kolonistengesellschaften. (2) Der Übergang von Handel zu Herrschaft und z. T. zur direkten Produktion mit abhängigen Arbeitskräften verwandelte das „Zeitalter der Partnerschaft“133 in eines der Unterordnung. (3) Gewaltsamer Widerstand der Einheimischen verstärkte das Sicherheitsbedürfnis der weißen Minderheiten und ihren Entschluß zur Selbstabkapselung: so das indianische Massaker an Kolonisten in Virginia 1622 oder der indische Aufstand von 1857/58. (4) Die aus dem christlichen Eurozentrismus der frühen Begegnungen hervorgehende Auffassung von der generellen zivilisatorischen Überlegenheit Europas über den Rest der Welt ließ enge und gleichberechtigte Beziehungen zu Nicht–Europäern und ein kulturelles Entgegenkommen ihnen gegenüber in immer höherem Maße als „unzumutbar“ erscheinen. (5) Nach der schrittweisen Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei lebte rassistisches Denken in weniger krassen, sich aber nunmehr „wissenschaftlich“ legitimierenden Formen fort. Rassismus darf aber nur mit Vorsicht als unabhängige Erklärungsvariable verwendet werden; oft ist er eine Rechtfertigungsideologie, die praktizierter Segregation nachgeschoben wird.134 Ethnisch–soziale Distanzierung war ein Phänomen des gesellschaftlichen Verhaltens, keineswegs immer durch diskriminierende Gesetze gestützt. Ein gutes Beispiel ist Batavia, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die bevölkerungsreichste und prächtigste europäisch regierte Stadt in Asien. Dort formierte sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine auf Haussklaverei und der Ausweitung „kreolischer“ Familien– und Patronagenetze beruhende Mischgesellschaft mit relativ großer Toleranz gegenüber interrassischen Familienbeziehungen, eine Gesellschaft, die viele Ähnlichkeiten zu Mexiko und mehr noch zur portugiesischen Kolonisation in Asien (Goa) aufwies und die in den Lebensformen Ein wundervolles Dokument dafür ist Henry Yule/A. C. Burnell (Hrsg.), Hobson–Jobson: A Glossary of Colloquial Anglo– Indian Words and Phrases ..., Kalkutta 1886 (Neuausgabe 1990). 131
132
Vgl. C. R. Boxer, The Portuguese Seaborne Empire 1415–1825, London 1969, S. 256–58.
133
Vgl. Blair B. Kling/M.N. Pearson (Hrsg.), The Age of Partnership: Europeans in Asia before Dominion, Honolulu 1979.
134
Vgl. Fisch, Geschichte Südafrikas (wie Anm. 41), S. 288–90.
ihrer Oberschicht von der javanischen Umwelt kaum weiter entfernt war als vom heimatlichen Holland. Hier begann mit dem britischen Interregnum der Jahre 1811–1816 eine deutliche Abgrenzung zwischen der europäischen und der asiatischen Sphäre. Die batavischen Holländer waren in den Augen der Briten in skandalöser Weise asiatisch „infiziert“. Ihnen wurde nun eine Art von kultureller Entkontaminierung verordnet. Die Weißen in der Stadt und ihre mestizischen Angehörigen sollten fortan eine Identität als zivilisierte Europäer entwickeln und in ihrem Auftreten vor der javanischen Öffentlichkeit demonstrativ an den Tag legen.135 In Indien hatten sich die Engländer immer schon von der einheimischen Umwelt ein wenig ferner gehalten als die Niederländer in Indonesien. Hier verschärfte sich die Isolierung, sichtbar etwa am Statusverlust der eurasischen Anglo–Inder, allmählich seit den 1780er Jahren, obwohl noch um 1830 einige einflußreiche Indienpolitiker zum letzten Mal von einem rassisch gemischten Indien nach mexikanischem Vorbild träumen konnten.136 Zum Mittelpunkt des britischen geselligen Lebens in Indien und den anderen asiatischen Kolonien wurde während der viktorianischen Epoche der Club. Hier blieb man, von einheimischem Personal bedient, als Gentlemen unter sich: In Kuala Lumpur wurden vor 1940 ganz wenige, in Singapur überhaupt keine Nichteuropäer zugelassen; die großen Clubs von Kalkutta blieben Indern bis 1946 verschlossen.137 Diese Art der „colour bar“ war besonders schmerzlich, denn sie schloß ausgerechnet jene – sogar indische Angehörige des Indian Civil Service – von sozialer Anerkennung aus, die ihre Selbstanglisierung am weitesten getrieben hatten und die loyal zur britischen Herrschaft standen.138 Die koloniale Periode in den meisten Regionen Afrikas begann erst zu einer Zeit, als exklusionistisches Denken und Handeln auf seinem Höhepunkt stand. Es gab hier meist keine Vorgeschichte der interkulturellen Nähe, die durch Abschließung hätte beendet werden können. Die Europäer fühlten sich mit vollem Bewußtsein als Fremd–Herrscher, die durch einen Abgrund von den afrikanischen Kulturen getrennt waren, sogar von der gewiß nicht „primitiven“ des Islam, den man aber für historisch überlebt hielt. Die Rassenschranken waren jedoch unterschiedlich hoch, am niedrigsten in Westafrika, am höchsten in den Siedlungskolonien des hohen Nordens und des tiefen Südens. Ein Vorgang von großer symptomatischer Bedeutung war die Zurückweisung jener von der frühen Mission berührten, hochgebildeten Westafrikaner, die sich am Vorabend der kolonialen Machtübernahme Hoffnungen auf eine Modernisierung und Zivilisierung Afrikas als europäisch–afrikanisches Gemeinschaftsprojekt gemacht hatten.139 Sie fanden sich nun im Zeichen des hochimperialistischen Rassismus als verachtete „weiße Neger“ zwischen allen Stühlen.
Koloniale Städte und „plural societies“ Die ethnische und soziale Distanz, die den soziologischen Kern des Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert ausmacht, läßt sich nirgendwo besser studieren als in der kolonialen Stadt.140 Koloniale Städte hatten ihre unvermeidlichen Merkpunkte: Kirchen, Regierungsgebäude und Konsulate, das Zollhaus, den Bahnhof, die Kasernen, im britischen Empire die Pferderennbahn und manchmal auch den Golfplatz. Ihr räumliches Grundmuster bestand in der teils naturwüchsigen, teils politisch 135 Vgl. Jean Gelman Taylor, The Social World of Batavia: European and Eurasian in Dutch Asia, Madison, Wisc. 1983, S. 96ff., bes. 102, 113.
Vgl. Evelyn Abel, The Anglo–Indian Community: Survival in India, Delhi 1988, S. 15 ff.; P. J. Marshall, British Immigration into India in the Nineteenth Century, in: P.C. Emmer/M. Mörner (Hrsg.), European Expansion and Migration, New York/Oxford 1992, S. 192. 136
137 Vgl. John G. Butcher, The British in Malaya 1880–1941: The Social History of a European Community in Colonial South East Asia, Kuala Lumpur 1979, S. 80–83; Rajat Kanta Ray, Social Conflict and Political Unrest in Bengal 1875–1927, Delhi 1984, S. 22. 138
Vgl. die Oral–History–Aussagen in Zaneer Masani, Indian Tales of the Raj, Berkeley/Los Angeles 1987, S. 51–70.
139 Vgl. A. Adu Boahen, African Perspectives on Colonialism, Baltimore 1987, S. 17–26; Imanuel Geiss, Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt a. M. 1968, S. 83 ff.
Weltweite Daten zur kolonialen Urbanisierung stellt zusammen: Paul Bairoch, De Jericho à Mexico: Villes et économie dans l’histoire, Paris 1985, S. 490–546. Vgl. auch die Kurzporträts britischer Kolonialstädte in Andrew N. Porter (Hrsg.), Atlas of British Overseas Expansion, London 1991, S. 218–37.
140
herbeigeführten Segregation der Wohngebiete nach rassischen Kriterien. In Kalkutta, einer britischen Gründung, wuchsen im 18. Jahrhundert eine „white town“ und eine „black town“ ziemlich ungeplant nebeneinander. In der alten Mogul–Stadt Delhi siedelten die Briten zunächst innerhalb der Stadtmauer, schufen sich aber seit den 1870er Jahren separate Wohnbezirke. In Kingston (Jamaica) war der Rückzug der Weißen aus gemischten Wohngebieten etwa um dieselbe Zeit abgeschlossen. Seit den 1880er Jahren wurde die räumliche Trennung auch im französischen Afrika nachdrücklicher propagiert. Am einfachsten konnte sie in Städten realisiert werden, die man frühzeitig neu und systematisch anlegte: Dakar, Nairobi, Singapur oder die prachtvollen neuen Residenzen Rabat und New Delhi. Die europäischen Stadtteile waren weiträumig, mit einer Villen– oder Bungalowarchitektur lose bebaut; sie lagen, wenn möglich, erhöht, wurden mit fortschrittlichen Kanalisationsanlagen ausgestattet und waren aus diesen Gründen gesünder als die engen, oft tiefer und in Wassernähe lokalisierten einheimischen Viertel. Gelegentlich, etwa in Bombay, führte sozialreformerische Privatinitiative von Medizinern und Ingenieuren aber zu beachtlichen Verbesserungen der sanitären Verhältnisse auch in den einheimischen Quartieren. Die ökonomische Geographie war häufig geprägt durch den Gegensatz zwischen Bazar und Kontor. Es wäre indessen eine arge Vergröberung, koloniale Städte ausschließlich als „dual cities“141 zu interpretieren. Eine feinsinnige Stadtplanung wie in Delhi seit seiner Erhebung zur indischen Hauptstadt im Jahre 1912 entwarf vielmehr engschrittig gradierte Hierarchien von Anrechten und Bedürfnissen.142 Im allgemeinen muß die koloniale Stadt als „plural“ charakterisiert werden, als Lebensraum für mehr als zwei ethnische Gruppen.143 Nicht erst solch legendäre Metropolen wie Shanghai oder Casablanca waren kosmopolitische Schmelztiegel und Hexenkessel. Schon im alten Batavia gab es neben Holländern und (in sich wieder nach Herkunft differenzierten) Indonesiern Tausende von Chinesen und immerhin Hunderte von seßhaften Arabern. In der Reißbrettstadt Singapur wurden 1823 jene „ethnic ghetto concentrations“ eingeführt, die noch in der heutigen Stadtlandschaft Spuren hinterlassen haben. Für Chinesen, Inder, Bugis, Araber (mit Moschee) und Europäer waren jeweils eigene Zonen im städtischen Raum vorgesehen. Charakteristisch war, daß sich die Europäer mit wachsendem Wohlstand seit etwa 1840 vom dichtbebauten Ufer zurückzogen und ihre Villen inmitten von Parks landeinwärts errichteten.144 Der „plurale“, multiethnische Charakter vieler Kolonien war in deren städtischen Zentren am offensichtlichsten ausgeprägt, jedoch nicht auf diese beschränkt. Er hatte zwei Ursachen: einmal die erstmalige Zusammenfassung kleinerer gesellschaftlich–ethnischer Gruppen im Gehäuse eines territorial definierten Staates, dann aber auch Migrationsbewegungen, die zwar nicht immer vom Kolonialismus ausgelöst, doch stets von ihm intensiviert wurden. Im Rückblick auf die Geschichte der neuzeitlichen Kolonisation und Koloniebildung mag sogar deren menschenmobilisierende Wirkung als ihr profundestes Erbe erscheinen. Dies trifft nicht nur auf Amerika und Ozeanien zu, sondern auch auf Asien und Afrika. So begann etwa die Ausbreitung von Chinesen in alle Regionen Südostasiens schon unter der Tang–Dynastie (7.–10. Jahrhundert), wurde aber erst infolge der neuen wirtschaftlichen Chancen, die die Kolonialökonomie des 19. Jahrhunderts eröffnete, zu einem demographisch bedeutsamen Massenphänomen. Inder ließen sich zu Hunderttausenden in Burma, Malaya, Ost– und Südafrika und auf einigen der Antilleninseln nieder. Innerhalb Afrikas waren definitive Abwanderung und die Bildung ethnischer Diasporas seltener; Wanderarbeiter, meist junge Männer, verließen ihre Dörfer in der Hoffnung auf Rückkehr. Doch stieg auch hier der Mobilitätspegel seit dem frühen 20. Jahrhundert ganz erheblich, und es kam zu Polarisierungen zwischen armen Entsenderregionen, etwa
141 Janet Abu–Lughod, A Tale of Two Cities: The Origins of Modern Cairo, in: Comparative Studies in Society and History 7 (1965 ), S. 429. 142
Vgl. Anthony D. King, Colonial Urban Development: Culture, Social Power and Environment, London 1976, S. 231–75.
143
So David Prochaska, Making Algeria French: Colonialism in Bône, 1870–1920, Cambridge/Paris 1990, S. 18.
Vgl. Susan Abeyasekere, Jakarta: A History, rev. ed., Singapur 1989, S. 60–67; Teo Siew–eng/Victor B. Savage, Singapore Landscape: A Historical Overview of Housing Image, in: Ernest C. T Chew/Edwin Lee (Hrsg.), A History of Singapore, Singapur 1991, S. 314–17 (Zitat S. 317)
144
Mozambique oder Njassaland/Malawi, und den Beschäftigungsmagneten in Bergbau und exportorientierter Landwirtschaft. In vielen Kolonien wurden immigrierte Minderheiten zu kommerziellen Vermittlerschichten. Schon den europäischen „Entdeckern“ Asiens war die ethnische Vielfalt der Kaufmannsgruppen in Hafenstädten wie Calicut oder Malakka aufgefallen. Unter dem modernen Kolonialismus ergaben sich dann in „ethnischen Nischen“ neue unternehmerische Möglichkeiten: So wurde die Zinnindustrie von Malaya von Chinesen aufgebaut und die Batik–Textilien–Produktion auf Java von Chinesen übernommen; die eher religiöse als ethnische Minderheit der Parsen stand am Beginn der indischen Baumwolltextilindustrie. In der Regel gab es nicht nur einen Exodus der Europäer aus einheimischen Nachbarschaften; koloniale Regierungen legten auch Wert auf die Separierung der nicht–weißen Bevölkerungsgruppen voneinander. Dies hatte teils mit ausbalancierender Herrschaftstechnik zu tun, teils mit der Projektion neuartiger westlicher Kriterien von Ethnizität auf Gesellschaften, deren Studium nun zur Aufgabe von Ethnologen und Anthropologen wurde. Was die Wissenschaft anhand linguistischer und sozialwissenschaftlicher Kriterien unterschied, sollte auch praktisch getrennt werden. Schon die britische „indirect rule“, in der theoretischen Form, die ihr um die Jahrhundertwende Sir Frederick Lugard gab, und die segregationistische „politique des races“ einiger seiner französischen Zeitgenossen hatte einen solchen völkerkundlichen Hintergrund.145 Eine Theorie von hohem Anspruch, die seither von M.G. Smith verfeinert wurde, ist die Lehre von der „plural society“, die der britische Kolonialbeamte John S. Furnivall vor allem am Beispiel Burmas entwickelte. Unter „plural society“ verstand Furnivall „eine Gesellschaft, in der zwei oder mehr Elemente oder soziale Ordnungen nebeneinander innerhalb ein und derselben politischen Einheit leben, ohne sich zu vermischen“.146 In der Plural Society verfolge jedes der Elemente eigene Wertvorstellungen und Ziele; es fehlten übergeordnete, etwa religiöse, Bande; die Gesellschaft besitze keinen gemeinsamen sozialen Willen; zusammengehalten werde sie allein durch die Macht des kolonialen Staates und durch gewisse gemeinsame ökonomische Interessen; der Markt sei der einzige Begegnungsraum aller ihrer Bestandteile. Eine solche Gesellschaftsform sei naturgemäß instabil. M. G. Smith, der die britische Karibik als empirisches Anschauungsobjekt nahm, verstärkte die kulturelle Dimension der Theorie auf Kosten der ökonomischen und fügte den Gedanken einer starken Tendenz zur kulturellen Dominanz einer der Gruppen über die anderen hinzu.147 Das Neue an Furnivalls Theorie war, daß er den Zwangscharakter des kolonialen Staates nicht leugnete, zugleich aber die Europäer als ein ethnisch–kulturelles Element in der kolonialen Gesellschaft neben anderen auffaßte. Damit ging er schon früh über simple Dichotomien – Kolonisierer versus Kolonisierte, Imperialisten versus Nationalisten – hinaus. Furnivall betonte auch bereits, was später ein wichtiges Motiv der radikalen Kolonialismuskritik werden sollte: daß nämlich kein Segment der pluralen Kolonialgesellschaft authentisch und in sich abgerundet sei, daß die Individuen „inkomplette“ soziale Existenzen führten. Der Europäer zum Beispiel „arbeitet in den Tropen, aber er lebt dort nicht“.148 Die bemerkenswerte Theorie von Furnivall (und Smith) ist nicht unkritisiert geblieben. Man hat ihr, sicher teilweise zu Recht, die Ausklammerung von Politik, die Unterschätzung der Rolle von Eliten und die Unterbewertung sowohl von Konsensmöglichkeiten als auch von Konfliktpotentialen vorgeworfen.149 Die widersprüchliche Dynamik pluraler Gesellschaften, wie sie sich in vielen ethnisch–religiösen Auseinandersetzungen der Gegenwart manifestiert, ist aber vielfach erst im eigentlichen Dekolonisationsprozeß, nach dem Ende der Kolonialherrschaft und gar erst nach einer post–
145
Vgl. Gerard Leclerc, Anthropologie und Kolonialismus, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1976, S. 67–81.
J. S. Furnivall, Netherlands India: A Study of a Plural Economy, Cambridge 1944, S. 446. Vgl. auch ders., Colonial Policy and Practice (wie Anm. 25), S. 303–12.
146
147
Vgl. M. G. Smith, The Plural Society in the British West Indies, Berkeley/Los Angeles 1965.
148
Furnivall, Colonial Policy and Practice (wie Anm. 25), S. 306.
149
Vgl. Donald L. Hornwitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley/Los Angeles/London 1985, S. 135–39.
emanzipatorischen Übergangsphase virulent geworden. Für die Soziologie des Kolonialismus selbst besitzen Furnivalls Einsichten immer noch eine beträchtliche Attraktivität.
VIII. Kolonialismus und einheimische Kultur „Der koloniale Mensch, in welcher Gesellschaft auch immer“, so hat V. S. Naipaul, der westindische Schriftsteller, formuliert, „ist das Produkt einer Revolution, und diese Revolution findet im Bewußtsein statt.“150 Angestoßen wurde eine solche Revolution durch den Kontakt mit der expansiven westlichen Zivilisation. Dieser Kontakt führte selten zum völligen Zusammenbruch vorkolonialer Kosmologien und Lebenswelten, überall aber zu ihrer „Destrukturierung“ in Fragmente151 oder zumindest zur Infragestellung kultureller Selbstverständlichkeiten. Die individuelle und kollektive Revolutionierung des Bewußtseins bestand in der Wahrnehmung dieser Erschütterung und im Versuch, sich darauf einzustellen. Meist waren die Reaktionen in irgendeiner Weise kreativ. Die westliche Zivilisation hat sich kaum jemals ungebrochen durchgesetzt. Innerhalb des globalen Prozesses der Verwestlichung bildet die Kolonialzeit eine wichtige Etappe. Der Prozeß begann freilich vielerorts (besonders deutlich etwa in Ägypten) schon vor der Kolonisierung; er betraf auch Gesellschaften wie Japan, die niemals unter Fremdherrschaft fielen; und er setzte sich nach der Unabhängigkeit fort. Vieles spricht dafür, daß die weltweite Ausbreitung von Massenmedien und westlichen Konsumangeboten in den letzten Jahrzehnten außereuropäische Zivilisationen stärker verändert hat als Jahrhunderte kolonialer Prägung. Der Urheber solcher Prägung war zunächst der koloniale Staat. Er hat, mit sehr unterschiedlicher Intensität, in indigene Kulturen eingegriffen. Dies war hauptsächlich eine Frage von Absicht und Strategie der Kolonisierung. Die Extreme konnten nahe beieinanderliegen.152 Auf den Philippinen – wie selbstverständlich auch in Amerika – betrieben die Spanier schon seit dem 16. Jahrhundert eine energische Verwestlichungspolitik, während die Holländer in Indonesien während des 17. und 18. Jahrhunderts eifrig ihren Geschäften nachgingen, ohne sich in ihre kulturelle Umwelt einzumischen. Spanisch wurde denn auch zur kolonialen Umgangssprache, Holländisch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein aber nicht. Die wichtigste unterscheidende Variable war die Rolle der christlichen Mission. Im iberischen Bereich war die katholische Kirche seit Anbeginn ein integraler Bestandteil des Expansionsprojekts. In der Neuen Welt diente sie dem Staat als machtvolles Instrument kultureller Durchdringung. Auf den Philippinen übertraf die Macht der Mönchsorden die der weltlichen Staatsfunktionäre. Als einziges Gebiet Asiens wurde die dezentrale philippinische Inselwelt zum Ziel einer gründlich ins Werk gesetzten christlichen Invasion.153 Weltweit kam die katholische Mission nach der Aufbruchszeit des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dann aber nur noch zögernd voran. In Amerika verlor sie ihren Schwung und degenerierte vielfach zu einer drückenden Priestertyrannei, in Japan scheiterte sie an politischem Widerstand, in China und Afrika blieben ihre Erfolge minimal. Im gesamten Kolonisationsbereich der frühneuzeitlichen protestantischen Mächte verzichtete man auf Christianisierung und „Zivilisierung“ der Einheimischen. Die seelsorgerischen Energien wurden auf die Glaubensfestigkeit der Kolonisten konzentriert. Dies galt nicht nur für das holländische Imperium. Die englische East India Company beachtete in ihrem Herrschaftsbereich bis 1813 die Maxime strikter Nichteinmischung in religiöse Fragen. Und die Puritaner Neuenglands hatten die indianischen Ureinwohner als „Kinder Satans“ ohnehin niemals für missionisierungswürdig gehalten. Der Ursprung
150
V. S. Naipaul, The Overcrowded Barracoon and Other Articles, London 1972, S. 37.
151 Nathan Wachtel, The Vision of the Vanquished: The Spanish Conquest of Peru through Indian Eyes, 1530–1570, Hassocs, Sussex 1977, S. 85. 152 Vgl. Denys Lombard, Le carrefour javanais: Essai d’histoire globale, Bd. 1, Paris 1990, S. 79–81. Dieses große Werk analysiert meisterhaft die (begrenzte) Verwestlichung einer asiatischen Soziallandschaft.
Vgl. John L. Phelan, The Hispanization of the Philippines: Spanish Aims and Filipino Responses, 1565–1700, Madison, Wisc. 1967. 153
der neueren protestantischen Mission lag dann in der evangelikalen Erweckungsbewegung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die mit der Antisklavereibewegung eng zusammenhing.154 Die Mission des 19. und 20. Jahrhunderts kann nicht pauschal als Werkzeug des Kolonialismus verurteilt werden.155 Am ehesten war sie es bis zum (und häufig trotz dem) Laizismus der III. Republik im französischen Fall, ob nun die Missionare auf Kriegsschiffen herantransportiert wurden oder ob umgekehrt ihre Hilferufe willkommene Anlässe zur Intervention boten. Es kam auch vor (etwa in der Südsee), daß listige einheimische Herrscher die Missionare als Verbündete im innenpolitischen Machtkampf für ihre eigenen Zwecke einspannten. Im allgemeinen unterstützten die Missionare aller Konfessionen und Nationalitäten die koloniale Annexion, bejahten prinzipiell das koloniale System und teilten die kulturelle Arroganz ihrer weltlichen Landsleute, die sich bis zu rabiater Aggression gegen außereuropäische Lebensformen steigern konnte. Es gab aber auch immer wieder Vertreter einer missionarischen „Linken“, die sich gegen Exzesse kolonialistischer Herrenwillkür wandten und nach dem Ersten Weltkrieg früher als andere die unaufhaltsame Tendenz zur Emanzipation erkannten, der sie durch Indigenisierung des Klerus Rechnung zu tragen suchten. Die protestantische Mission war in einer Vielzahl von Gesellschaften organisiert, die sich in ihren Zielen und Methoden voneinander unterschieden und von denen manche aus nichtkolonialen Ländern stammten. Sie waren auch außerhalb regulärer kolonialer Konstellationen tätig: etwa amerikanische Missionare in China. Die von Wolfgang Reinhard herausgestellte „Dialektik des Kolonialismus“, also die Verselbständigung unbeabsichtigter Neben– und Rückwirkung,156 läßt sich an der Mission besonders deutlich erkennen. Denn deren Wirksamkeit erweist sich letztlich nicht nur, und vielleicht nicht einmal vorrangig, an ihrem Bekehrungserfolg, sondern auch an ihrer Erziehungs– und Wohlfahrtstätigkeit und überhaupt an der Vermittlung säkularer westlicher Kulturwerte: eher Nebenprodukte der primären Christianisierungsabsicht. Angesichts solcher Unschärfen empfiehlt es sich, nicht so sehr nach Akteuren – hier kolonialer Staat, dort Mission – zu differenzieren als nach Feldern der interkulturellen Berührung und Auseinandersetzung. Die wichtigsten waren Religion und Erziehung.
Religion Kolonialregime und Missionsträger sind mit wechselndem Eifer gegen einheimische Kulte und Glaubensüberzeugungen vorgegangen, während sich diese wiederum in sehr unterschiedlichem Grade resistent zeigten. Aus dem Zusammentreffen dieser Vektoren gingen, grob klassifiziert, vier mögliche Ergebnisse hervor. So gut wie ausgeschlossen war dabei, daß Importe und das authentisch Eigene, „Modernität“ und „Tradition“ unvermittelt aufeinanderprallten oder sich mechanisch addierten. Immer entstand etwas irgendwie Neues. (1) Unterdrückung der einheimischen Kulte und Durchsetzung eines staatlich gestützten christlichen Religionsmonopols. Der klassische Fall dafür war Mexiko. Hier wurde durch Zerstörung der Tempelanlagen und durch Verfolgung der Priesterkaste dem aztekischen „Götzendienst“ das organisatorische Rückgrat gebrochen. Das Land wurde mit einer dichten Kirchenorganisation überzogen. Vor allem im Landesinnern gelangten die Indios unter den „schrecklichsten Despotismus“ der Mönche.157 Mit der monotheistischen christlichen Religion wurde das kulturelle Gepäck des frühneuzeitlichen Europa transportiert: ein individualistischer Personenbegriff, das Ideal der Kleinfamilie, eine „zivilisierte“ Auffassung von Körper und Sexualität, eine lineare Zeitvorstellung, die Verschriftlichung der Erinnerung usw. Die indianische Religion lebte jedoch in Praktiken, Bildern und Symbolen bruchstückhaft fort, die das Christentum „unterwanderten“ und zu „synkretistischen“ Mischformen 154
Vgl. Horst Gründer, Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit, Gütersloh 1992, S. 315 ff.
155 Zu diesem Thema ist über den behandelten Fall hinaus bedeutsam: Holger Bernt Hansen, Mission, Church and State in a Colonial Setting: Uganda 1890–1925, London/Ibadan/Nairobi 1984, S. 456ff. 156
Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion (wie Anm. 22), Bd. 4, S. 204 f.
Alexander von Humboldt, Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution. Eine Anthologie von Impressionen und Urteilen. Aus seinen Reisetagebüchern zusammengestellt und erläutert von Margot Faak, Berlin 1982, S. 143. 157
führten. Auch auf außerreligiöse Elemente der europäischen Vorstellungswelt reagierten die Indios mit durchaus kreativen Anpassungs– und Interpretationsleistungen.158 Ähnliches geschah auf den Philippinen: ein Widerspiel kultureller Assimilationsleistungen. (2) Selbst–Christianisierung und Übergang zu einheimischen Kirchen. So könnte man überspitzt die Entwicklung im protestantischen Einflußbereich Afrikas umreißen. Auch hier spielte Synkretismus eine große Rolle, aber anders als in Amerika. Die anfänglichen europäischen Missionsimpulse der Jahre nach ca. 1860, die weniger rigide staatlich forciert wurden als in den spanischen Kolonien, wurden in einer zweiten Phase von den Afrikanern selbst aufgegriffen. Die Missionare bauten die Kirchenorganisationen auf, das Predigen und Bekehren übernahmen dann großenteils einheimische Helfer. In einer dritten Phase entstanden afrikanische Kirchen. Die christliche Botschaft eilte also ihren europäischen Verkündigern voraus. Sie wurde zu einer wichtigen Inspiration der Entkolonialisierung. (3) Stimulierung nichtchristlicher Gegenbewegungen. In einer breiten Skala von Fällen führte die Konfrontation der Weltbilder nicht zu einer lokal angepaßten Christianisierung, sondern umgekehrt zur – oft unbewußten – Aufnahme westlich–christlicher Elemente in religiöse Vorstellungswelten, die im Kern nichtchristlich blieben. In einer kulturellen Orientierungskrise wurden einheimische Religionen umformuliert – oft, um ihre Widerstandskraft zu stärken. Wo dies durch Rückgriff auf Magie geschah, wie im ostafrikanischen Maji–Maji–Aufstand von 1905–1907 oder bei den anti–missionarischen chinesischen „Boxern“ der Jahre 1898–1900, konnte es fatale Folgen haben: Europäische Gewehrkugeln ließen sich eben nicht magisch „verflüssigen“. Größeren Erfolg versprachen sozioreligiöse Reformbewegungen, die sich um die Wiederbelebung, Erneuerung oder Reinterpretation älterer Traditionsbestände bemühten und dabei in der Regel an Gewohnheiten religiöser Abweichung anzuknüpfen vermochten. Ironischerweise reflektierte diese Suche nach der eigenen „Authentizität“ manchmal eine Obsession des westlichen Orientalismus, etwa der im frühen 19. Jahrhundert aufkommenden Religionswissenschaft, mit unverfälschten kulturellen „Substanzen“, wie es sie in der religiösen Gemengelage Asiens eigentlich gar nicht gab. So sind Begriff und Sachverhalt des „Hinduismus“ als eindeutig identifizierbare und doktrinal beschreibbare „Weltreligion“ dem vorkolonialen Indien fremd: „Hinduismus“ ist nichts „als eine von der europäischen Wissenschaft gezüchtete Orchidee“.159 Indem sich Strömungen innerhalb des indischen Neo–Hinduismus auf eine solche Grundlage stellten, vollzogen sie einen entschiedeneren Bruch mit der Vergangenheit, als ihre Programme ihn vorsahen. Auf willkürlich oder unwillkürlich „erfundenen“ religiösen und nationalkulturellen Traditionen beruhten viele Spielarten eines antikolonialistischen „Solidartraditionalismus“.160 Es darf aber nicht übersehen werden, daß die Auseinandersetzung mit dem Westen nicht allein zur Neubetonung des partikular Eigenen bis hin zum Fundamentalismus führte, sondern in allen asiatischen Zivilisationen auch universalistische Denkströmungen anregte, die religiöse und philosophische Synthesen von Ost und West entwarfen. Schließlich gab es Fälle eines unverdeckt fabrizierten traditionslosen Synkretismus, etwa die 1926 gegründete vietnamesische Sekte der Cao Dai, die Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus, Spiritismus, Freimaurertum und manches andere vermengte und mit einer quasi–katholischen Kirchenorganisation verband. In der Politik verhielt sie sich opportunistisch. (4) Selbstbehauptung oder gar Stärkung der bestehenden Ordnung. Der Islam unterschied sich von allen anderen Religionen, mit denen Missionare und Kolonisten in Berührung kamen, dadurch, daß er erstens selbst missionierte und expandierte, zweitens eine viel intensivere Geschichte des Kontakts mit dem Christentum besaß und drittens dabei von jeher gegenüber Christianisierungsbemühungen im wesentlichen immun geblieben war. Die Haltung der Kolonialmächte war widersprüchlich: Einerseits 158 Dazu grundlegend: Serge Gruzinski, La colonisation de l’imaginaire: Sociétés indigènes et occidentalisation dans le Méxique espagnol, XVIe–XVIIIe siècles, Paris 1988.
Heinrich von Stientencron, in: Hans Küng/H. von Stietencron, Christentum und Weltreligionen: Hinduismus, 2. Aufl., Gütersloh 1991, S. 26. Zur Fluidität der religiösen Formen in Indien vgl. jetzt die große Untersuchung von Susan Bayly, Saints, Goddesses and Kings: Muslims and Christians in South Indian Society 1700–1900, Cambridge 1990, S. 71 und passim. 159
Vgl. Dietmar Rothermund, Nationalismus und sozialer Wandel in der Dritten Welt: Zwölf Thesen, in: Otto Dann (Hrsg.), Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978, S. 193 f., 195 f. 160
standen sie in der alten Kreuzfahrertradition des christlichen Anti–Islamismus, andererseits waren muslimische Eliten, vor allem im mittleren Afrika, in Indien und in Malaya, besonders geschätzte Partner bei Indirect Rule: Sie hatten ihre hierarchisch geordneten lokalen Gesellschaften unter berechenbarer Kontrolle. Wo nicht, wie in Algerien, der koloniale Staat mit Brachialgewalt gegen Religion, Recht und Erziehungswesen der Muslime vorging, bewahrte die islamische Lebensform in hohem Maße ihre Integrität. In Malaya etwa reagierte eine Mehrheit der Bevölkerung auf kulturellen Druck und (für einige) die Verlockungen eines westlichen Lebensstils durch die nach außen kaum sichtbare Festigung einer Identität als Mitglieder der islamischen Gemeinschaft und den Ausbau subbürokratischer islamischer Institutionen. Nicht Verlust der einheimischen Kultur war hier die Folge des Kolonialismus, sondern deren Bekräftigung.161 Auch der Islam veränderte sich natürlich. Keine andere Religion hat sich seit dem 19. Jahrhundert ähnlich obsessiv und mit ähnlich divergenten Ergebnissen (im Spektrum zwischen Liberalismus und Fundamentalismus) mit ihrem Verhältnis zum Westen beschäftigt. Obwohl sich viele Muslime als Opfer des europäischen, später des amerikanischen und zionistischen Kolonialismus betrachtet haben, bleibt die Tatsache einer ungewöhnlichen Resistenz des Islam gegen die von den Kolonialmächten importierten Kulturwerte.
Erziehung162 Vermittler solcher Kulturwerte waren an vorderer Stelle die Schulen, die teils von Missionaren, teils vom Staat betrieben wurden, sich teils auch in nichtmissionarischer privater Hand befanden. Frankreich bevorzugte ein öffentliches Unterrichtswesen, während Großbritannien, Belgien und Deutschland die Missionen gewähren ließen und sie allenfalls subventionierten. Da Erziehung in der Regel kein bevorzugtes Feld der hohen Kolonialpolitik war, gab es eine unüberschaubare Menge lokaler Varianten. Was im einzelnen unter einer kolonialen „Schule“ zu verstehen war, schwankte zwischen einer Dorfversammlung, der ein einheimischer Postdolmetscher das Alphabet beizubringen versuchte, und reformpädagogischen Mustergymnasien in einigen der großen Städte. Verhältnismäßig am besten ausgebaut wurde meist (wie auch in der europäischen Bildungsgeschichte der frühen Neuzeit) das sekundare Schulwesen. Die Hauptnutznießer seiner Einrichtungen waren die Söhne der einheimischen städtischen Mittelschichten. Sie sollten zu Kadern in den unteren Rängen der Verwaltung und zu Angestellten europäischer Firmen ausgebildet werden. Schulgeld regelte die Eintrittschancen. Dieselbe Wirkung wie eine rassische Zugangsbarriere zum höheren Kolonialdienst hatte die verbreitete Bestimmung, daß dafür ein metropolitanes Bildungsdiplom erforderlich sei. Ein Schul– oder Universitätsbesuch in Frankreich oder England war aber nur für winzige Oberschichten erreichbar. Jawaharlal Nehru etwa, der erste Ministerpräsident des unabhängigen Indien, wurde als Sohn eines reichen Rechtsanwalts auf einer vornehmen englischen Privatschule und an der Universität Cambridge erzogen. Eine breite Primarerziehung auf dem Lande fehlte fast überall in der kolonialen Welt; besonders die Briten maßen ihr bis in die späteste Kolonialzeit keine höhere Bedeutung bei. Selbst bei besten Absichten verhinderte Finanzknappheit die Verwirklichung von Massenerziehungsprogrammen. In Französisch–Westafrika, einer eher überdurchschnittlich mit Bildungseinrichtungen ausgestatteten Region, lag die Einschulungsquote in den 1930er Jahren bei weniger als 4 Prozent. Universitäten wurden nur in den Imperien Spaniens, Englands und Frankreichs gegründet, in Indonesien in den 1920er Jahren spezielle Hochschulen für Technik, Recht und Medizin. Die wenigen, die die Chance erhielten, Universitäten in Paris oder Oxford, Leiden oder Lissabon zu besuchen, machten die Erfahrung, daß sie in Europa in der Regel gut aufgenommen wurden, sich aber nach der Rückkehr in die koloniale Heimat dort wieder auf den inferioren Status des „Eingeborenen“ zurückgestuft fanden. Ein notorischer Streitpunkt war die Unterrichtssprache: Sollte die „hochkulturelle“ Sprache der Kolonisatoren oder eine der Umgangssprachen verwendet werden? Afrikanern Französisch Vgl. J. M. Gulick, Malay Society in the Late Nineteenth Century: The Beginnings of Change, Singapur 1987, S. 296; Michael G. Peletz, A Share of the Harvest: Kinship, Property and Social History Among the Malays of Rembau, Berkeley/Los Angeles/London 1988, S. 93.
161
Kolonialgeschichtliche Gesamtdarstellungen behandeln das Erziehungswesen meist nur kursorisch. Eine Ausnahme sei daher ausdrücklich erwähnt: Denise Bouche, Histoire de la colonisation française, Bd. 2, Paris 1991, S. 243–73. 162
beizubringen würde die Verständigung mit ihnen erleichtern und war nahezu unvermeidlich für ihre Verwendung im Staatsdienst, würde ihnen aber auch den Zugang zu subversiven Ideen eröffnen und ihnen falsche Vorstellungen von ihrer eigenen Gleichrangigkeit mit den Kolonisierern suggerieren. So war etwa in Indonesien in solchen Situationen, wo die rassische Kastenordnung symbolisch unterstrichen werden sollte, Einheimischen der Gebrauch der holländischen Sprache verboten, obwohl man sie ihnen sonst in den Oberschulen beibrachte. Vor allem Siedler neigten dazu, die Erziehung der Einheimischen minimal und auf lokale Sprachen beschränkt zu halten. Das Problem wurde oft dadurch entschieden, daß überhaupt nur Missionare sich die Mühe machten, „Eingeborenensprachen“ zu erlernen, um in ihnen unterrichten oder Lehrer ausbilden zu können. Traditionelle Unterrichtsformen, etwa Koranschulen, wurden manchmal unterdrückt (Algerien), manchmal weithin unbehelligt gelassen (Malaya). Wo immer man eine Erziehung für die Dorfbevölkerung propagierte, dachte man an nicht mehr als praktisches Landwirtschaftswissen, Bibelkenntnis und elementare europäische Zivilisationstechniken. Die Grundidee war, daß der Horizont des Landkindes auf das Dorf beschränkt sei und es auch bleiben solle. Hinter dem Sprachenproblem stand die Frage nach dem Bildungswert der einheimischen Tradition. Frankreich betonte in einer Art von kulturellem Chauvinismus unter der Parole der „Assimilierung“, jedenfalls in der Theorie, schon früh den Primat des Französischen, richtete aber später verschiedentlich auch Mischformen ein. Die Lyzeen von Hanoi und Saigon, in denen neben Franzosen auch eine Minderheit von Vietnamesen unterrichtet wurden, erlaubten sogar, Latein und Griechisch durch klassisches Chinesisch zu ersetzen. Im frühen 19. Jahrhundert fand in Indien eine große Debatte statt zwischen den romantischen Freunden der einheimischen Kultur, den „Orientalisten“, und der vom anti–romantischen Utilitarismus beeinflußten Gruppe der „Anglizisten“. Daß sich das Englische im höheren Unterrichtswesen und als Medium öffentlicher Kommunikation durchsetzte, war gewiß Ausdruck europäischer Kulturhegemonie – und dennoch nicht bloß das Ergebnis eines kolonialistischen Diktats: Unter den Indern regte sich ein steigendes Bedürfnis nach Teilhabe an europäischer Bildung, nicht allein als Voraussetzung für eine Karriere im Staatsdienst. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Nachfrage so stark geworden, daß sie in den großen Städten ein prosperierendes privates Schulwesen trug. Auf den Philippinen griffen die amerikanischen Eroberer das starke Bildungsstreben, das sie dort registrierten, mit anspruchsvollen Erziehungsprogrammen auf. Man hoffte nicht zuletzt, abweichend von der üblichen distanzierten Vorsicht der Kolonialherren, nicht nur die Elite, sondern auch die Masse der Einheimischen durch kulturelle Assimilation an Amerika zu binden. Keine andere Kolonialmacht machte die Volkserziehung so sehr zu ihrer Aufgabe wie die USA. 1939 konnte ein Viertel der philippinischen Bevölkerung englisch sprechen, während 1930 in Indonesien, wo seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts nicht unbeachtliche Bildungsanstrengungen unternommen worden waren, die Rate der holländisch Lesenden bei 0,32 Prozent der Gesamtbevölkerung lag.163 In Afrika findet sich ein früh erwachtes Bildungsbedürfnis, zum Beispiel beim Volk der Fanti an der Goldküste, das sogar schon vor der kolonialen Okkupation Pläne für ein öffentliches Schulwesen westlichen Zuschnitts entwickelte.164 Europäisches Wissen und die Instanzen seiner Verbreitung übten also schon früh auf kleine Gruppen in Außereuropa – etwa auch im abgeschlossenen Japan – eine Anziehung aus, die sich nicht unmittelbar aus einem kolonialen Herrschaftsverhältnis erklären läßt. In der späten Kolonialzeit erwies sich dann das Mißverhältnis zwischen Bildungserwartungen und den quantitativ wie qualitativ begrenzten Mitteln zu ihrer Befriedigung als ein weiterer Grund der Unzufriedenheit mit dem kolonialen System. Der entwickelte Kolonialismus brachte im Bildungsbereich durchweg eine Mißachtung der indigenen Kulturen mit sich, für die missionarische und andere Lehrer meist wenig Interesse zeigten. Der berühmte Vorwurf, junge Algerier und Annamiten paukten sinnlose Lektionen über „unsere Vorfahren, die Gallier“, muß freilich in seiner Ambivalenz gesehen werden. Man kann ihn als Anklage gegen einen 163
M. C. Ricklefs, A History of Modern Indonesia, c. 1300 to the Present, London/Basingstoke 1981, S. 152.
Vgl. Christel Adick, Die Universalisierung der modernen Schule. Eine theoretische Problemskizze zur Erklärung der weltweiten Verbreitung der modernen Schule in den letzten 200 Jahren mit Fallstudien aus Westafrika, Paderborn 1992, S. 181 ff. 164
bornierten Kulturimperialismus verstehen, aber auch – und so war er ursprünglich gemeint – als Mahnung, die beschränkte Auffassungskraft „niederer Rassen“ nicht zu sehr zu strapazieren. Den Kampf um die eigene Geschichte, ihre literarische Darstellung und ihre Lehre im Unterricht hat man in Asien und Afrika meist erst nach der Unabhängigkeit führen können. Er stand und steht im Spannungsfeld zwischen dem Widerstand gegen die Arroganz mancher Wissenschaftler des Nordens und nationalhistorischer Mythenbildung in teils therapeutischer, teils manipulativer Absicht. Der Versuch, jungen Nationen einen nationalgeschichtlichen Identitätskern zu geben, kann freilich den Ruch des Artifiziellen niemals ganz vermeiden. Dafür gibt es auch genügend europäische Beispiele aus dem 19. Jahrhundert. Das Problem der Sprache war den meisten Menschen näher und war auch politisch brisanter als das historischer Sinnstiftung. Sprachpolitik wurde bewußt zur Identitätsvergewisserung benutzt. Dies war um so wichtiger, je fragmentierter in regionaler und sozialer Hinsicht (manche asiatischen Sprachen waren in sich „feudal“ hierarchisiert) die linguistische Landschaft sich ausnahm. Mit Unterstützung der amerikanischen Kolonialmacht wurde schon 1939 auf den Philippinen, einer ethnisch und sprachlich sehr komplexen Inselwelt, das regionale Tagalog als Nationalsprache eingeführt:165 ein Vorgriff auf die Politik in manchen anderen Ländern nach der Unabhängigkeit. Unter dem weitaus weniger großmütigen französischen Regiment in Vietnam war nach etwa 1920 die Arbeit an der Verschriftlichung und Modernisierung der von mehr als vier Fünfteln der Bevölkerung gesprochenen Umgangssprache ein kulturell–politisches Projekt, das Nationalisten und „Kollaborateure“ zusammenführte und der Konsensfindung der Nation den Weg ebnete.166 Wo es, wie in Indien und weiten Teilen Afrikas, keine von der Mehrheit verstandene Sprache gab, hielten auch nationalistische Aktivisten am Idiom der Kolonialherren fest. Die universelle Verwendung des Englischen schuf erst die Grundlage für die Koordinierung des indischen Freiheitskampfes über den gesamten Subkontinent hinweg. Sie erlaubt es heute „zwei Indern in einer Sprache miteinander zu reden, die keiner von beiden verabscheut“.167 Die koloniale und auch noch die nachkoloniale Kultur steht in der Spannung zwischen Bestätigung des Eigenen und Anverwandlung des Fremden. Mochte der Kolonialismus zunächst alte Traditionen zerstört oder aus dem Gleichgewicht gebracht haben, so verselbständigten sich seine kulturellen Angebote schon nach zwei oder drei Generationen. Die Sprachen der Kolonisatoren verwandelten sich in Medien der Kolonialismuskritik. Der mütterlicherseits aus königlichem Inkahaus abstammende Garcilaso de la Vega, ein überwiegend in Spanien lebender Christ, schuf mit seinen im edelsten Humanistenspanisch geschriebenen „Comentarios reales de los Incas“ (1609) ein bedeutendes Werk der Geschichtsschreibung, das zwar die spanische Eroberung nicht offen verdammte, aber sie doch durch die Beschwörung des alten Peru in ein kritisches Licht rückte. Die wirkungsvollsten Werke späterer Kritik am Kolonialismus sind ebenfalls von außereuropäischen Autoren direkt in den Sprachen der Kolonisatoren geschrieben worden. Während in der Neuen Welt neben Spanisch, Portugiesisch, Englisch und Französisch kaum noch Raum für verschriftlichte indigene Idiome blieb, kam es in Asien und später auch in Afrika zu dem doppelten Prozeß der Aneignung der importierten Sprache und der Neubesinnung auf die überkommenen Ausdrucksmöglichkeiten. Manchmal vereinigte sich beides in einer Person. So übersetzte der große bengalische Dichter Rabindranath Tagore, der 1913 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, manche seiner Werke selbst ins Englische; sein berühmter Roman „The Home and the World“ (1910) erschien sogar unter diesem Titel sechs Jahre vor der Originalfassung in Bengali. Der bekannteste Schriftsteller Kenias, Ngugi wa Thiong’o, schreibt seine Werke in Englisch wie auch in Kikuyu und Swahili. Andere, besonders indische und afrikanische Autoren haben sich eindeutig für Englisch oder Französisch entschieden und in diesen Sprachen 165 Vgl. Reinhard Wendt, Sprachenvielfalt und Nationalsprache auf den Philippinen während Kolonialzeit und Unabhängigkeit, in: Dagmar Hellmann–Rajanayagam/Dietmar Rothermund (Hrsg.), Nationalstaat und Sprachkonflikte in Süd– und Südostasien, Stuttgart 1992, S. 201. 166
Vgl. David G. Marr, Vietnamese Tradition on Trial, 1920–1945, Berkeley/Los Angeles/London 1981, S. 137f.
Salman Rushdie, „Commonwealth Literature“ Does not Exist, in: ders., Imaginary Homelands: Essays and Criticism 1981– 1991, London 1992, S. 65.
167
Weltliteratur geschaffen. Salman Rushdie etwa sieht keinen Sinn mehr in der nachkolonialen Debatte über das Für und Wider der Verwendung von Englisch in Indien: „Was meiner Ansicht nach geschieht, ist, daß die Völker, die einst von der [englischen] Sprache kolonisiert wurden, sie heute neu gestalten, ihren Zwecken anpassen und immer gelassener mit ihr umgehen [...]. Den Kindern des unabhängigen Indien erscheint Englisch nicht als durch seine koloniale Herkunft unrettbar kontaminiert. Sie benutzen es als eine indische Sprache, als eines der Werkzeuge, die sie zur Hand haben.“168
IX. Kolonialistisches Denken Im Unterschied zu anderen „Ismen“ ist der Kolonialismus dogmengeschichtlich überaus ungriffig. Seit der großen Amerikadebatte der spanischen Spätscholastik haben alle Kolonialismen wechselnde Rechtfertigungsdoktrinen und imperiale Visionen hervorgebracht. Sie sind jedoch selten als verbindliche Lehren anerkannt worden und in der Praxis tatsächlich wirksam gewesen. Wohlbekannte Programme wie die britische „indirect rule“ und die französische „assimilation“ wurden niemals ganz im Sinne ihrer Erfinder umgesetzt. Sie sind Utopien eines wohlgeordneten Kolonialismus geblieben. Sinnvoller als nach zeitgenössischen „Theorien“ zu suchen, scheint es zu sein, weiter auszugreifen und auch nach den Mentalitätslagen zu fragen, die sich mit der kolonialen Situation verbanden. Die neueste Forschung spricht gerne von einem „kolonialen Diskurs“, dem sie in einer großen Palette von Quellentypen nachspürt: Missionarsberichten und Verwaltungsakten, Memoiren, Reisebeschreibungen und fiktionaler Literatur, Presse, Propagandaschriften und wissenschaftlichen Untersuchungen aus Fächern wie Geographie, Völkerkunde und den orientalischen Philologien. Nur wenn man extreme Vergröberung riskiert, kann man indessen über Räume, Zeiten und nationalkulturelle Einstellungen hinweg zu Verallgemeinerungen über die Weltsicht der Träger von Kolonisation und Kolonialherrschaft gelangen. Zwei zusätzliche Schwierigkeiten kommen hinzu. Zum einen waren nicht alle „Weißen“ in einer Kolonie sogleich auch Kolonialherren: In einer einflußreichen Analyse des Kolonialismus hat der tunesische Schriftsteller Albert Memmi 1957 darauf hingewiesen, daß nicht jeder „Kolonisator“ auch zum „Kolonialisten“ werde; es gebe den „Kolonisator mit guten Absichten“, der sich Situationen krasser Machtausübung zu entziehen versuche oder gar das koloniale System bekämpfe.169 Ein Beispiel dafür ist der Schriftsteller George Orwell, der in jungen Jahren zwischen 1922 und 1927 Polizeioffizier in Burma war und seine Erfahrungen in mehreren scharf kolonialismuskritischen Texten verarbeitete (vor allem „Burmese Days“, „Shooting an Elephant“ und „A Ranging“). Zum anderen muß mit dem Dichter Aimé Césaire und dem Psychoanalytiker Oscar Mannoni ein wichtiger psychologischer Aspekt der kolonialen Situation festgehalten werden: die Einsicht, daß in einem durch ethnische Fremdheit geprägten Herr–Knecht–Verhältnis auch der Herr und die Herrin Deformationen ihrer Persönlichkeit erleiden und „dehumanisiert“ werden.170 In diesem Lichte wären Äußerungen von Kolonisierern nicht nur ideologiekritisch, sondern gleichsam auch sozialpathologisch zu lesen. Ohne Rücksicht auf derlei Differenzierungen lassen sich drei Grundelemente kolonialistischen Denkens, besonders in seiner reifen Spätform, identifizieren: die Idee der unversöhnlichen Fremdheit, der Glaube an die höheren Weihen der Kolonisation und die Utopie der reinigenden Verwaltung. (1) Anthropologische Gegenbilder: die Konstruktion von inferiorer „Andersartigkeit“. Im Zentrum kolonialistischen Denkens steht die Vorstellung, die Bewohner außereuropäischer Regionen seien grundsätzlich anders beschaffen als Europäer; ihre andersartige Ausstattung mit geistigen und körperlichen Gaben befähige sie nicht zu solch maßstäblichen Kulturleistungen und Heldentaten, wie einzig das neuzeitliche Europa sie aufzuweisen habe. Dieses Grundmuster einer prinzipiellen Differenzannahme konnte unterschiedlich gefüllt werden: theologisch als heidnische Verworfenheit, technologisch als 168
Ebd., S. 64.
169
Vgl. Albert Memmi, Portrait du colonisé, Neuausgabe Paris 1973, S. 49.
Zwei Schlüsseltexte des Antikolonialismus, Césaires Discours sur le colonialisme und Mannonis Psychologie de la colonisation, erschienen beide im Jahre 1950. 170
Minderkompetenz in der Beherrschung der Natur, umweltdeterministisch als Prägung durch ein die menschliche Konstitution schwächendes tropisches Habitat, biologisch als Reduktion auf unveränderliche Rasse–Eigenschaften. Die jeweils dominanten Vorstellungen folgten in etwa dieser Reihenfolge aufeinander. Rassismus war also die späteste und schroffste Fassung des Differenzaxioms. Mindestens während der drei oder vier Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg wurde sie von Europäern und Amerikanern nahezu sämtlicher politischer Überzeugungen unbefragt als evident richtig betrachtet. Was allerdings unter „Rassismus“ in sich wandelnder historischer Bedeutung und im wissenschaftlichen Urteil zu verstehen sei, kann keineswegs als geklärt gelten. Den Kern des vielgestaltigen Rassedenkens hat mit nachdrücklicher Zustimmung ausgerechnet der seinerzeit als Liberaler und Humanist berühmte englische Altertumswissenschaftler Gilbert Murray im Jahre 1900 formuliert: „Es gibt in der Welt eine Hierarchie der Rassen [...] Jene Nationen, die mehr verzehren, höhere Ansprüche stellen und besseren Lohn erhalten, werden die anderen anleiten und beherrschen, und die niedrige Arbeit in der Welt wird auf lange Sicht von den niederen Menschenrassen [the lower breeds of men] getan werden. Dies dürften wir Angehörige der herrschenden Hautfarbe als selbstverständlich betrachten.“171 Murrays Aussage trifft auch insofern ins Zentrum rassistischen Denkens, als er die für fast allen Rassismus, mit Ausnahme des Antisemitismus, konstitutive Verbindung zur Ausbeutung von Arbeitskraft herstellt.172 Fanden derlei Scheinweisheiten, die durch Biologie und Anthropologie zweifelsfrei abgesichert zu sein schienen, auch allgemeinen Beifall, so zogen keineswegs alle Kolonialpraktiker daraus aggressive herrenmenschliche Konsequenzen. Sucht man einen noch allgemeineren Nenner für kolonialistisches Denken auch in seiner Spätphase nach etwa 1920, als unverblümter biologischer Determinismus wissenschaftlich allmählich aus der Mode kam, so bietet sich die noch heute verbreitete Vorstellung an, es gebe einen afrikanischen, orientalischen, indischen (oder welche kollektive Einheit auch immer gewählt wird) „Charakter“, der die Nichteuropäer für einen gleichberechtigten Umgang mit Europäern disqualifiziere. Die alltäglich angewandte und nach dem Mechanismus der „self–fulfilling prophecy“ stets aufs neue bestätigte Laienpsychologie von Kolonialherren beruhte auf solchen charakterologischen Verallgemeinerungen: die „Eingeborenen“ seien faul, verschlagen, grausam, verspielt, naiv, sittenlos, doppelzüngig, unfähig zu abstraktem Denken, impulsiv, usw.173 Aber auch seriöse Wissenschaft operierte mit wertenden Entgegensetzungen. Das, was man „Orientalismus“ genannt hat, verdankt sich der Denkfigur der distanzierenden Verkehrung: „der Orient“ sei in jeder Hinsicht das Gegenbild Europas – statisch, geschichtslos, unfähig zur Selbstreflektion, zum Subjekt der Geschichte wie der Forschung nicht geeignet, usw.174 Auch die lange einflußreiche Theorie der „dualen Wirtschaft“, die in einer kolonialen Ökonomie die Koexistenz eines trägen, traditionalen Subsistenzsektors und eines dynamischen, modernen Exportsektors, der unter ausländischer Regie steht, zu erkennen glaubt, ging in ihren frühen Formulierungen von einfachen wirtschaftsanthropologischen Annahmen über das Verhalten einheimischer Produzenten aus: Der Asiate sei kein „homo oeconomicus“ und dürfe, ja, müsse daher zu seinem arbeitsamen Glück gezwungen werden. (2) Sendungsglaube und Vormundschaftspflicht. Wer von Natur aus unselbständig oder gar unmündig ist, dies ergibt sich zwangsläufig aus dem Differenzaxiom, bedarf der Führung. Solche Führung muß in einer hierarchischen Ordnung der Rassen und Zivilisationen automatisch den Höherstehenden zufallen. Die im Kolonialismus des 19. und des 20. Jahrhunderts bis hin zum Mandatsgedanken des Völkerbundes überwiegende Legitimierung kolonialer Herrschaft bestand nicht im Pochen auf dem Herrenrecht des Eroberers, sondern in dem Anspruch, als Befreier von Tyrannei und geistiger Finsternis eine weltgeschichtliche Mission zu erfüllen.175 Man berief sich auf die doppelte moralische Pflicht, zum einen den Bewohnern der Tropen die Segnungen der westlichen Zivilisation zu bescheren, zum anderen die „brachliegenden“ Produktivkräfte in Übersee für den allgemeinen Nutzen der Weltwirtschaft zu 171
Zit. nach Michael Banton, Racial Theories, Cambridge 1987, S. VII.
172
Vgl. auch Robert Ross, Reflections on a Theme, in: ders. (Hrsg.), Racism and Colonialism, Den Haag 1982, S. 7 f.
173
Vgl. als Studie über Südostasien: Syed Nussein Alatas, The Myth of the Lazy Native, London 1977, bes. S. 112 ff.
174
Edward Said, Orientalism, London 1978.
175
Vgl. Raoul Girardet, L’idée coloniale en France de 1871 à 1962, Neuausgabe Paris o. J. [1979], S. 136–38.
aktivieren. Lord Lugard formulierte dies 1922 in seiner berühmten Theorie vom „doppelten Mandat“. Vormundschaft der entwickelten Länder bzw. „höheren Rassen“ sei, so hieß es nicht nur bei Lugard, auf allen Gebieten erforderlich: politisch, da die Afrikaner zur Selbstregierung noch unfähig und die Asiaten erst langsam ihrer despotischen Traditionen zu entwöhnen seien; wirtschaftlich, da beiden Arbeitsmoral und Marktrationalität erst anerzogen werden müßten; und kulturell, da sie sich nicht aus eigener Kraft und Einsicht von ihren gewohnten Unsitten, „abergläubischen“ Vorstellungen und moralischen Fehlhaltungen befreien könnten. Zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren bestehe daher kein Verhältnis der Ausbeutung, sondern eines der Komplementarität: jede Seite bedürfe der anderen. Immer wieder wurde die „Verantwortung“ betont, welche die höherstehende Minderheit der Menschheit gegenüber der rückständigen Mehrheit trüge („die Bürde des weißen Mannes“). Kolonialherrschaft wurde als Geschenk und Gnadenakt der Zivilisation verherrlicht, als eine Art von humanitärer Dauerintervention. Die Last der Aufgabe sei dermaßen gewaltig, daß an eine schnelle Erfüllung nicht zu denken sei. Deshalb erlagen selbst die liberalsten europäischen Vertreter eines wohlwollenden Erziehungskolonialismus bis zum Vorabend der Dekolonisation einer Illusion der Permanenz. Diese Illusion war übrigens relativ jungen Datums. Bis mindestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts rechneten große Teile der politischen Eliten in den kolonisierenden Ländern nicht mit einer länger andauernden Herrschaft über farbige Völker. (3) Utopie der Nicht–Politik. Die sendungsideologische Rechtfertigung des kolonialen Projekts begann mit der iberischen Landnahme, erreichte ihren modernen Höhepunkt etwa zwischen 1880 und 1914 und trat nach dem Ersten Weltkrieg in ihre von „Vormundschaft“ zu „Treuhandschaft“ geläuterte Spätphase ein, in der sich manche Kolonialtheoretiker sogar Träumen von einer abend– und morgenländischen Kultursynthese hingaben. Was über die Zeiten hinweg gleichblieb, war die kolonialistische Utopie des politikfreien Verwaltens. Die Europäer glaubten, „Chaos“ vorzufinden, dem sie eine Ordnung auferlegen müßten. Diese Ordnung war nie ganz gesichert, die niedergezwungene Anarchie und Triebhaftigkeit nie verläßlich gebannt. Siedler wie hohe Kolonialbürokraten wurden heimgesucht von der Furcht vor dem Chaos: ein Moment der Schwäche würde Unruhestifter ermutigen, den „Negeraufstand“ provozieren.176 Das Ordnen begann schon vor der eigentlichen Kolonisation mit dem Benennen und dem Klassifizieren: „Indem sie Gebiete auf einer Landkarte festhielten und einheimische Vokabeln auf Listen verzeichneten, legten die Entdecker die ersten und tiefsten Fundamente kolonialer Macht.“177 Die organisatorische Erneuerung und Durchformung der Kolonien erschien dann zunächst als säubernde Beseitigung von Mißbräuchen, später als Herausforderung an die Künste bürokratischer Geometrie, unbehindert vom Tumult der Parteien und Interessenvertreter. Dies galt vor allem für Beherrschungskolonien, während in Siedlungskolonien die handgreifliche Rivalität zwischen Kolonisten und Einheimischen den Spielraum für administrative Manöver beschnitt. Es war eines der Erfolgsgeheimnisse der großen europäischen Prokonsuln, daß sie – wie man es von Lord Cromer, der obersten Autorität in Ägypten zwischen 1883 und 1906, gesagt hat – „dazu neigten, die Politik zu entpolitisieren und alle menschlichen Angelegenheiten auf Fragen der ordentlichen Verwaltung zurückzuführen“.178 Cromer hat denn auch in seinem Werk „Modern Egypt“ (1908), der geschlossensten Darlegung hochimperialistischen britischen Kolonialdenkens, die Regierung Ägyptens immer wieder als „Maschine“ beschrieben, die allein vom imperialen Willen in Gang gehalten werde. Deshalb vor allem begegnete der koloniale Staat selbst harmlosen und loyalen Versuchen, westliche Politikformen einzuführen, mit Irritation und Widerstreben. Nichts sollte die Ruhe effizienten Administrierens stören. Umgekehrt finden sich in Zeugnissen der Kolonisierten ständig Klagen über „die erdrückende Last der Langeweile“179 in solchen Gesellschaften, denen die Rückkehr zu 176
Vgl. brillant zur paranoiden Mentalitätslage von Siedlerminderheiten: Kennedy, Islands of White (wie Anm. 72), S. 128–48.
Johannes Fabian, Language and Colonial Power: The Appropriation of Swahili in the Former Belgian Congo, 1880–1938, Cambridge 1986, S. 24.
177
P. J. Vatikiotis, The History of Egypt: From Muhammad Ali to Sadat, 2nd ed., London 1980, S. 173. Vgl. auch Timothy Mitthell, Colonising Egypt, Cambridge 1988, S. 154–60, sowie allgemein A. P. Thornton, Imperialism in the Twentieth Century London/Basingstoke 1978, S. 38–70. 178
179
Nirad C. Chaudhuri, Thy Hand, Great Anarch! India: 1921–1952, London 1987, S. 13.
traditionellen Politikformen abgeschnitten und zugleich der Zugang zu moderner Politik verwehrt war. Diese Lähmung gelöst zu haben machte für viele die Attraktivität der nationalistischen Bewegungen aus. Kolonialistisches Denken ist ebensowenig auf die Kolonisierer beschränkt geblieben, wie umgekehrt alle Kolonialismuskritik von den Opfern des Systems ausging. Die Stereotype, die die Europäer von den Menschen anderer Zivilisationen schufen, fanden durch Erziehung, Gewohnheit, Mangel an Alternativen und eine Art von Identifikation mit dem Aggressor oft Eingang in deren eigenen psychischen Habitus. Viele Inder etwa akzeptierten das britische Vorurteil, sie seien von Natur aus „schwach“, oder suchten es durch besonders heftige Anstrengungen, zum Beispiel im Sport und anderen männlichen Bewährungsriten, kompensatorisch zu entkräften.180 Ein Gefühl des Ungenügens gehört zur mentalen Grundbefindlichkeit eines jeden kolonisierten Volkes. Es war überall in der kolonialen Welt in jenen verwestlichten Milieus besonders spürbar, wo heroische Anstrengungen, die europäische Kultur zu meistern, dennoch nicht zur vollen Anerkennung durch die Angehörigen der „imperial race“ führten. Unweigerlich kam aber der historische Moment, in dem eine schwache und abhängige einheimische Intelligenzschicht den Bann durchbrach und den Kampf um die kulturelle Hegemonie aufnahm. Dem kolonialistischen Denken wurden fortan nicht nur gestärkte, wiederbelebte oder erfundene einheimische Traditionen entgegengesetzt, sondern auch jene philosophischen, juristischen und ästhetischen Ideen Europas, vor denen der Kolonialismus nicht bestehen konnte.
X. Dekolonisation Die Dekolonisation Asiens, Afrikas und der Karibik erscheint im Rückblick als eine abgeschlossene Epoche.181 Zeremonielle Übergaben der Regierungsgeschäfte von europäischen Gouverneuren an einheimische Führer der neuen Nationen gehören der Vergangenheit an. Die Inauguration Zimbabwes, des früheren Rhodesien, am 17. April 1980 dürfte zum letzten Mal jenen Überschwang des Neubeginns symbolisch zum Ausdruck gebracht haben, der für viele Machtablösungen nach dem Zweiten Weltkrieg charakteristisch war. Weit in historische Tiefen entrückt erscheinen heute auch die großen theoretisch– programmatischen Entwürfe der afro–asiatischen Emanzipation: Nie wieder hat der „Süden“ – mit der einzigen Ausnahme von Theologie der „Befreiung“ und Ökonomie der „Dependenz“ im Lateinamerika der sechziger und siebziger Jahre182 – den „Westen“ derart tiefenscharf und breitenwirksam herausgefordert wie in den nun schon klassischen antiimperialistischen Lehren und Polemiken der Kampfperiode: bei Gandhi und Jawaharlal Nehru, Mao Zedong und Ho Chi Minh, Jamal ad–din al– Afgani und Frantz Fanon, Kwame Nkrumah und Leopold Sedar Senghor.183 Jede koloniale Situation fand ihr Ende und ihren Übergang zu nachkolonialen Zuständen in einer je besonderen Weise. Die historische Analyse des Einzelfalles muß deshalb eine reichhaltige Mixtur von Faktoren berücksichtigen. Stets sind dabei sechs Dimensionen zu bedenken: (1) die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Kolonie, (2) Träger, Ziele, Aktionsformen und Stärke der anti– kolonialen Befreiungsbewegung(en), (3) die Gewaltbereitschaft von Kolonialregimes und Siedlern, (4) kolonialwirtschaftliche Interessen und kolonialpolitische Entscheidungen in den Metropolen, (5) der Einfluß dritter Mächte (insbesondere der USA und der UdSSR), (6) weltwirtschaftliche Konstellationen.
Vgl. Judith E. Walsh, Growing Up in British India: Indian Autobiographers on Childhood and Education under the Raj, New York/London 1983, S. 60f. 180
Vgl. zum Stand der Forschung: Jürgen Osterhammel, Spätkolonialismus und Dekolonisation, in: Neue Politische Literatur 37 (1992), S. 404–24.
181
182 Einen Überblick gibt Nikolaus Werz, Das neuere politische und sozialwissenschaftliche Denken in Lateinamerika, Freiburg i. Br. 1991, Kap. 4 und 6.
Vgl. Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 2, Göttingen 1982, S. 322–37, 575–626; Bassam Tibi, Politische Ideen in der „Dritten Welt“ während der Dekolonisation, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München 1987, S. 361–402.
183
Die Dekolonisation – genauer: die dritte Phase des Rückzugs kolonialer Herrschaft, die sich in der neueren Weltgeschichte identifizieren läßt184 – wurde am deutlichsten sichtbar als Prozeß der Neustrukturierung des internationalen Systems. Der Zweite Weltkrieg hatte die europäischen Kolonialreiche schwer getroffen, sie aber nicht unmittelbar zum Einsturz gebracht. Briten, Franzosen und Holländer waren in Asien mit amerikanischer Hilfe schnell bei der Hand, das durch den Zusammenbruch des japanischen Militärimperiums entstandene Vakuum zu füllen; die europäische Position in Afrika und im Mittleren Osten schien ohnehin ungefährdet zu sein. 1946 war die politische Weltkarte fast noch ähnlich gefärbt wie auf dem Höhepunkt europäischer Weltbeherrschung. Gestützt auf Ressourcen und Prestige ihrer immensen Imperien erhoben Briten und Franzosen Anspruch auf weltpolitische Gleichrangigkeit mit den maßgebenden Siegermächten des Weltkriegs, den USA und der UdSSR. Nur zwei Jahrzehnte später war das französische Kolonialreich nahezu verschwunden, die französische Politik durch Charles de Gaulle entschlossen auf Europa zentriert worden.185 Der britische Rückzug verlief zögerlicher, wurde auch viel weniger als der französische von nationalen Befreiungskriegen beschleunigt.186 Aber auch er war zwei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit und Teilung Indiens (1947) so gut wie abgeschlossen. Die wirtschaftliche Schwäche des imperialen Zentrums spielte hier eine besonders große Rolle: Sie wurde – ausgerechnet unter einer durchaus empiretreuen und weltpolitisch ehrgeizigen Labour–Regierung – drastisch in der Sterlingkrise vom November 1967 offenbar.187 Fortan verabschiedeten sich auch die letzten Empire–Enthusiasten von der Idee eines „imperial Britain“. Der Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Gemeinschaft im Jahre 1973 besiegelte das Ende britischer Überseeorientierung. Holland hatte Indonesien bereits 1949 aufgeben müssen; die Belgier waren 1960 aus ihrer Kongo–Kolonie geflohen. Allein Portugal konnte sein „drittes“ Überseereich (nach dem kurzlebigen Handelsimperium in Asien und der stabileren Präsenz in Brasilien) bis 1975 erhalten.188 Die Dekolonisation, als Phänomen der internationalen Politik betrachtet, war Teil des Übergangs zu einer neuen Ordnung des Weltstaatensystems. Diese war bis zum großen Umbruch der Jahre 1989– 1991 gekennzeichnet durch (1) die weltweite Konfrontation zweier hochgerüsteter Blöcke, (2) die Re– Europäisierung der (west–)europäischen Großmächte, (3) die Entstehung zahlreicher postkolonialer neuer Nationen, die zumeist in Klientelbeziehungen entweder zu den USA oder zur UdSSR traten, (4) die, verglichen mit der Zeit vor 1945, Stärkung internationaler Organisationen, vornehmlich der UN, (5) die allgemeine ideologische Ächtung von „Kolonialismus“ bei vielfach fortdauernder rassischer Diskriminierung in der internationalen Praxis.189 Die wirtschaftliche Dekolonisation läßt sich nur dann einigermaßen genau charakterisieren, wenn man sie als Folge der politischen versteht: Die postkolonialen Nationen waren im Prinzip wirtschaftspolitisch souverän. Sie konnten über ihre Währungen, Finanzen und Rechtsordnungen nun selbst bestimmen und, wenn sie wollten, die ausländischen Schlüsselstellungen in der einheimischen Wirtschaft beseitigen – im Extremfall durch Enteignung fremder Firmen und Vertreibung von Siedlern. Daß dies selten – etwa in Algerien – in voller Radikalität geschah, steht auf einem anderen Blatt. Den Herrn im eigenen Hause zu spielen bedeutete noch keineswegs, sich aus den Vernetzungen und Abhängigkeiten der Weltwirtschaft zu befreien, die sich in langen Prozessen gebildet hatten. Kein einziger postkolonialer Staat besaß die Voraussetzungen für „autozentrierte“ Entwicklung abseits internationaler 184
Zu den drei Phasen siehe oben Seite 44.
Vgl. Guy Perville, De l’Empire français à la decolonisation, Paris 1991; Raymond E Betts, France and Decolonisation 1900–1960, Basingstoke 1991.
185
Vgl. John Darwin, Britain and Decolonisation: The Retreat from Empire in the Post–war World, Basingstoke 1988; ders., The End of the British Empire: The Historical Debate, Basingstoke 1991; A. N. Porter/A.J. Stockwell, British Imperial Policy and Decolonization 1938–64, 2 Bde., Basingstoke 1987/89.
186
187 Vgl. David Reynolds, Britannia Overruled: British Policy and World Power in the Twentieth Century, London/New York 1991, S. 226–34.
Vgl. Gervase Clarence–Smith, The Third Portuguese Empire, 18251975: A Study in Economic Imperialism, Manchester 1985, S. 192 ff.
188
189
Vgl. Paul Gordon Lauren, Power and Prejudice: The Politics and Diplomacy of Racial Discrimination, Boulder/London 1988.
Verstrickungen. Sobald wirtschaftspolitische Handlungsfreiheit erreicht war, sah sich daher jede der postkolonialen Regierungen in dem Dilemma zwischen nationalistischer Selbstisolation und der demütigen Wahrnehmung peripherer Marktchancen, oft durch Vermittlung multinationaler Konzerne. Die Dekolonisation gab den Ex–Kolonien Handlungsfreiheit, aber selten den Spielraum, sie zum eigenen Vorteil zu nutzen. Wird Kolonialismus als ein zweiseitiges Verhältnis aufgefaßt, so muß es auch eine Dekolonisation der Kolonisierer geben. Politisch schmerzhaft war sie nur in Frankreich, wo das politische System der IV. Republik durch den Indochina–Krieg schwer erschüttert und 1958 durch den Algerien–Krieg zerstört wurde. Britische Siedler, Lobbyisten und Kolonialoffiziere hatten in der heimischen Politik viel weniger Einfluß, und die Entscheidungen über das Empire wurden innerhalb eines gefestigten Parteiensystems von einem Konsens der maßgebenden Kräfte getragen.190 Wirtschaftlich haben die europäischen Kolonialmächte den Verlust ihrer Imperien besser verkraftet, als einerseits die Verteidiger des kolonialen Status quo, andererseits die Verfechter der These vom Angewiesensein kapitalistischer Ökonomien auf koloniale Ausbeutung vorausgesagt hatten. Die relative Schwäche der britischen Nachkriegswirtschaft, die wesentlich zur Lockerung des Griffs auf das Empire beitrug, war ihrerseits nicht primär durch die Erosion kolonialer Wirtschaftsbeziehungen bedingt. Frankreich hatte auf dem Höhepunkt der Dekolonisation viel größeren Anlaß zur Sorge: Der imperiale Kollaps in Nordafrika und Indochina erforderte die Repatriierung von mehr als 1,5 Millionen Überseefranzosen innerhalb weniger Jahre.191 Die befürchteten Probleme blieben jedoch aus. Nachdem allen früheren Kolonialmächten, auch dem Nachzügler Portugal, die Umorientierung vom spätkolonialen Neo– Merkantilismus zum europäisch–atlantischen Freihandel gelungen war, erschienen die Imperien im nachhinein eher als rechtzeitig abgelegte Bürden denn als Gegenstände nostalgischer Verklärung. Mit dem Ende der überseeischen Kolonialreiche sind allerdings nicht alle Verhältnisse verschwunden, auf welche die – mit Bedacht eng gefaßte – Definition von „Kolonialismus“, wie sie im zweiten Kapitel entwickelt wurde,192 angewendet werden kann. In welcher Weise Konzepte von Kolonialismus und Dekolonisation zur historischen Deutung des Vielvölkerstaates Sowjetunion und seines militärisch unterworfenen Satellitenkranzes beizutragen vermögen, ist bisher kaum mit hinreichender Sorgfalt diskutiert worden.193 Die vergleichende Kolonialismus– und Imperialismustheorie steht hier vor ihrer größten Herausforderung. – Die offensichtlichsten Fälle kolonialer Beherrschung finden sich in den 1990er Jahren nicht länger im residualen europäischen Kontrollbereich, sondern innerhalb der „Dritten Welt“: China praktiziert in Tibet auf der Grundlage historisch fragwürdiger Ansprüche eine nahezu lupenreine Kolonialpolitik einschließlich Siedlerinvasion und sendungsideologischer Rechtfertigung.194 Auch die indonesische Herrschaft in Osttimor, die gegen den Protest des UN–Sicherheitsrates 1975 an die Stelle eines jahrhundertealten portugiesischen Regiments gesetzt wurde,195 und die – um einiges weniger brutale – Politik Marokkos in der West–Sahara sowie diejenige Israels in den 1967 besetzten Gebieten mit palästinensischer Bevölkerungsmehrheit196 weisen Merkmale von Kolonialismus auf, ohne daß von vollentfalteten Systemen kolonialer Herrschaft gesprochen werden könnte.
Vgl. Miles Kahler, Decolonization in Britain and France: The Domestic Consequences of International Relations, Princeton, N. J. 1984.
190
191
Vgl. Charles–Robert Ageron, La décolonisation française, Paris 1991, S. 160f.
192
Siehe oben Seite 21.
Zur inneren Struktur des russisch–sowjetischen Reiches vgl. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992; Uwe Halbach, Das sowjetische Vielvölkerimperium. Nationalitätenpolitik und nationale Frage, Mannheim 1992. Beide Autoren meiden den Begriff des Kolonialismus. 193
194 Über die historischen Hintergründe unterrichtet Sabine Dabringhaus, Machtkämpfe auf dem Dach der Welt. Tibet zwischen chinesischem und britischem Imperialismus, in: Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Asien in der Neuzeit. Sieben historische Stationen, Frankfurt a. M. 1994, S. 65–81. 195
Vgl. John G. Taylor, Indonesia’s Forgotten War: The Hidden History of East Timor, London 1991.
Vgl. die abgewogene Beurteilung in Emma Playfair (Hrsg.), International Law and the Administration of Occupied Territories: Two Decades of Israeli Occupation of the West Bank and Gaza Strip, Oxford 1992.
196
Umgekehrt geben die letzten europäischen und US–amerikanischen Besitzungen in Übersee, deren Zahl etwas über vierzig beträgt, selten Anlaß zu kolonialismuskritischen Vorwürfen. Hongkong, Weltstadt und Wachstumszentrum par excellence, wird altmodisch, liberal und undemokratisch als britische Kronkolonie regiert, doch ist es nunmehr nicht die Kolonialmacht, sondern die Volksrepublik China, die jede Erweiterung von politischer Partizipation vor dem für 1997 vereinbarten Anschluß ans Mutterland sabotiert, ohne den Bewohnern Hongkongs die Aufrechterhaltung ihres durchschnittlichen Lebensstandards garantieren zu können.197 Enger als Hongkong sind die französischen Départements et territoires d’outre–mer (Guadeloupe, Martinique, Réunion, Neu–Kaledonien u. a.) in die Strukturen der Metropole eingebunden: Die „DOMTOMs“ beziehen beträchtliche Zuwendungen aus der Pariser Staatskasse, ihre etwa 1,5 Millionen Bürger besitzen alle politischen und zivilen Rechte von Franzosen, dürfen sich ungehindert in Frankreich niederlassen und kommen in den Genuß der meisten Leistungen des französischen Wohlfahrtsstaates. Anders als im Falle Hongkongs steht eine Statusänderung nicht in Aussicht. Die politische Öffentlichkeit Frankreichs lehnt sie mehrheitlich mit teilweise offen nationalistischen Argumenten ab; die überseeischen Nutznießer der „subventionierten Konsumentenwirtschaft“198 zeigen ihrerseits wenig Interesse an staatlicher Unabhängigkeit. Der Kolonialismus als Ausdrucksform europäischer Weltbeherrschung hat im dritten Quartal des 20. Jahrhunderts seinen historischen Zyklus abgeschlossen. Obwohl die heutige Krise des Südens, besonders des afrikanischen Kontinents, nicht pauschal der europäischen Kolonialherrschaft angelastet werden darf und die besondere Zurechnung von Wirkung und Ursache oft extrem schwierig ist, bleiben die Folgen des Kolonialismus, auch seine positiven, doch allgegenwärtig. Die postkoloniale Welt kennt freilich Formen von Fremdbestimmung, Ausbeutung und kultureller Enteignung, für die der alte Begriff seine Nützlichkeit verloren hat.
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198
Robert Aldrich/John Connell, France’s Overseas Frontier: Départements et territoires d’outre–mer, Cambridge 1992, S. 245.
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