Jack Higgins Kopfjagd Roman
Emmeth Keogh, ehemaliger irischer Untergrundkämpfer, und Oliver van Horne, berüchtigter Ban...
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Jack Higgins Kopfjagd Roman
Emmeth Keogh, ehemaliger irischer Untergrundkämpfer, und Oliver van Horne, berüchtigter Bankräuber, haben sich auf ein Himmelfahrtskommando eingelassen: Um ihren eigenen Kopf vor dem mexikanischen Erschießungskommando zu retten, begeben sie sich auf die Jagd nach Tomas de la Plata, einem psychopathischen Banditen, der einen abgelegenen Landstrich Mexikos unter seine Schreckensherrschaft gebracht hat. Tot oder lebendig sollen sie den Verbrecher an die Polizei ausliefern…
Jack Higgins Kopfjagd Roman Titel der Originalausgabe: ›The Wrath of God‹ Aus dem Englischen von W. M. Riegel Umschlag: Design Team München © der deutschsprachigen Ausgabe 1988 by Wilhelm Goldmann Verlag, München ISBN 3-442-08480-6
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Das Buch Mexiko 1922 – ein Land, in dem menschliches Leben so gut wie nichts wert ist, und eine Zeit, die nur diejenigen überleben, die auch vor den härtesten und schmutzigsten Kämpfen nicht zurückschrecken. Emmet Keogh, ein ehemaliger irischer Untergrundkämpfer, und Oliver van Horne, ein als Priester verkleideter Bankräuber, werden wegen Waffenschmuggels von der Polizei gefaßt. Colonel Bonilla stellt sie vor die Wahl: entweder von einem mexikanischen Erschießungskommando hingerichtet zu werden oder Tomas de la Plata, einen berüchtigten Banditen Mexikos, der ganze Dörfer terrorisiert, aufzuspüren und ihn – tot oder lebendig – an die Polizei auszuliefern. Die Entscheidung fällt den beiden nicht schwer, aber Keogh und van Horne wissen, daß ihr Vorhaben selbstmörderisch ist…
Der Autor Jack Higgins (eigentlich Harry Patterson) wurde 1928 in Irland geboren. Er versuchte sich in mehreren Berufen: als Zirkushelfer, als Versicherungsvertreter und bei der Royal Horse Guard. Später studierte er Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität London. Heute lebt er mit seiner Familie auf der Insel Jersey. Sein Roman »Der Adler ist gelandet« brachte ihm Weltruhm und wurde auch verfilmt.
Roman
GOLDMANN VERLAG
Für David Godfrey in Dankbarkeit
MEXIKO 1922
1 An normalen Wochentagen ließ der Polizeichef üblicherweise gegen Mittag jemanden erschießen, eigentlich nur um die Bevölkerung aufzumuntern. Diese Tatsache gibt eine ganz gute Vorstellung davon, wie es zu dieser Zeit in manchen Teilen von Mexiko zuging. Das abgehackte Knattern der ersten Salve ließ meine Hand ganz automatisch, es war der reine Reflex, in meine Tasche fahren, ich hatte etwa die Hälfte des Weges vom Bahnhof auf den Hügel hinauf hinter mich gebracht. Die meiste Zeit konnte ich im Schatten gehen, aber als ich dann oben auf die Plaza Civica kam, überfiel mich die Sonne gnadenlos und brannte so auf mich nieder, daß mir der Schweiß aus jeder Pore rann. Die Exekutionen fanden immer im Hof der Polizeibaracken statt, aber die Tore standen dabei sperrangelweit auf, damit auch wirklich jeder, der allenfalls interessiert war, das Geschehen ungehindert beobachten konnte. Diesmal bestand das Publikum aus ein paar Dutzend Indios und Mestizen – eine durchaus passable Interessentenzahl, wenn man die Mittagshitze einrechnet und außerdem die Tatsache, daß eine solche Vorstellung ziemlich oft gegeben wurde. -6-
Hinter der bescheidenen Menge war ein Auto geparkt: ein Mercedes-Coupé mit offenem Verdeck. Das ganze Fahrzeug war mit einer feinen weißen Schicht überzogen, die von den staubigen Straßen in dieser Gegend stammte. Der Wagen war ein ziemlich exotisches Requisit in einem Städtchen wie Bonito zu jener Zeit. Noch auffälliger aber war sein Fahrer. Er stieg gerade aus, als ich ankam – ein Priester, freilich einer, wie ich außerhalb von Irland noch keinen gesehen hatte. Ein Bär von einem Mann, mit einem Schaufelhut, wie ihn die englischen Geistlichen tragen, und einem verschossenen Priesterrock. Er ignorierte die herumstehenden Gaffer völlig. Die meisten von ihnen waren freilich nicht wenig erstaunt, hier einen Priester auftauchen zu sehen. Der Neuankömmling holte sich aus einem dicken Lederetui ein Zigarillo und suchte seine Taschen nach einem Streichholz ab. Ich war schneller und zündete eines an und hielt es ihm hin. Er wandte sich mir zu und fixierte mich durchdringend. Das gab mir die Möglichkeit, ihn meinerseits zum ersten Mal genau anzusehen: struppiger, schon leicht angegrauter Bart, lebhafte blaue Augen und der unverwechselbare Wulst einer alten vernarbten Schußwunde an der Seite des Kopfs, direkt über dem linken Auge. Einer der glücklichen Überlebenden der Revolution, das war offensichtlich. Er nahm das Streichholz ohne ein Wort, und so standen wir schweigend nebeneinander, als eben drei Indios vom Gefängnistor quer über den Hof geführt wurden. Man stellte sie an die Wand. Dort lagen bereits ein halbes Dutzend Tote herum. Die Mauer war übersät mit Spuren von Einschüssen. Die drei Männer standen schicksalsergeben und regungslos da und warteten darauf, daß ihnen ein Sergeant die Hände auf dem Rücken zusammenband. »Passiert dies hier oft?« fragte der Priester. -7-
Er hatte spanisch gesprochen, aber mit einem Akzent, der deutlich verriet, daß er kein Mexikaner war. Ich antwortete ihm auf englisch. »Der Polizeichef sagt, das ist das einzige Mittel, das die Überfüllung des Gefängnisses verhindert.« Er warf mir unter leichtem Stirnrunzeln einen Blick zu. »Ire, hm?« »Wie’s irischer nicht geht, Pater.« »Sie sind weit weg von Ihrer Heimat.« Neuengland-Amerikaner, schätzte ich. Oder jedenfalls nicht weit davon. Wenn ich mich nicht sehr täuschte. »Ich dachte, die Revolution gilt als beendet?« sagte er und betrachtete sich wieder die Szene im Polizeihof. »Ein verdammtes Land.« Das war eigentlich eine ziemlich fromme Bemerkung, wie sehr sie auch der Wirklichkeit entsprach. Ich entgegnete: »Es gibt eben immer ein paar, die nicht genug kriegen können, Pater. Auch nach Revolutionen nicht. Wissen Sie, es gibt sogar welche in dieser Gegend, die glauben, daß auch die Jagd auf Priester noch immer offen ist.« »Wir sind alle in Gottes Hand«, knurrte er schroff. »Alle.« Darüber konnte man auch anderer Meinung sein, aber ich kam nicht mehr dazu, darüber zu diskutieren. Einer der Delinquenten im Hof an der Mauer begann plötzlich laut zu schreien und deutete auf uns, als der Sergeant ihm gerade die Hände fesseln wollte. Es entstand Unruhe auf dem Hof, und dann kam ein junger Offizier zum Tor und winkte den Priester zu sich. Er verließ mich ohne ein Wort und begab sich zu ihm. »Ob Sie’s glauben oder nicht, Pater, aber einer von den Schweinen will noch beichten«, hörte ich den Offizier sagen. Der Priester entgegnete nichts und holte einfach nur ein -8-
Brevier aus seiner Tasche. Er spuckte sein Zigarillo aus und ging durchs Tor in den Hof hinein. Als er an der Mauer angekommen war, waren alle drei Delinquenten bereits auf die Knie gefallen und erwarteten ihn. Ich wandte mich ab, denn – wie ich meinte, hatte ich schon genug Männer sterben sehen, und ging über den Platz ins Hotel Blanco auf der gegenüberliegenden Seite. Es war ein hohes schmales Gebäude, das die Regierungstruppen während des Krieges als Stützpunkt benützt hatten. Seine schon abbröckelnde Fassade war mit Schußnarben geradezu übersät. Im Hof plätscherte ein Brunnen, und das Wasser benetzte die knallroten Bodenplatten. Die dämmrige Kühle der Terrasse sah sehr verlockend aus. Der Hotelbesitzer saß neben der Windfangtür in einem Korbstuhl und fächelte sich mit einem Palmwedel Luft zu. Er hieß Janos und war, soweit ich das herausfinden konnte, Ungar, aber sein Englisch war hervorragend. Das Bemerkenswerteste an ihm war jedoch sein Umfang, bestimmt brachte er zweihundertdreißig Pfund auf die Waage – wahrscheinlich schwitzte er deshalb ständig. »Ah, Mr. Keogh. Heißer Tag heute. Trinken Sie ein Bier mit mir?« In einem Wassereimer an seiner Seite kühlte er mehrere Steinflaschen Lagerbier. Ich bediente mich und öffnete eine Flasche, fast gleichzeitig mit dem Plopp des aufspringenden Verschlusses – krachte drüben im Polizeihof wieder eine Gewehrsalve. Ich setzte mich auf das Geländer neben Janos. Drüben begann sich die Menge zu zerstreuen. »Ekelhaft«, sagte Janos, schaffte es aber, so zu klingen, als sei ihm das alles ziemlich egal. »Ja, wirklich«, antwortete ich ganz automatisch – ich achtete nicht auf Janos, denn der Priester kam in meine Sichtweite. Er schritt mit dem Offizier aus dem Tor des Polizeihofes. Der Offizier begleitete ihn bis zu seinem Mercedes. Dort blieben sie -9-
eine Weile stehen und unterhielten sich. Dann salutierte der Offizier, und der Priester stieg in seinen Wagen und fuhr davon. »Ein seltsamer Anblick«, bemerkte Janos. »Nicht nur ein Priester, sondern sogar ein Priester in einem Automobil.« »Das können Sie laut sagen«, bestätigte ich, trank mein Bier aus und stand auf. Er holte noch eine Flasche aus dem Eimer, sie tropfte noch vom Wasser, und hielt sie mir hin. »In Ihrem Irland zu Hause haben Sie solche Fahrzeuge wohl öfter gesehen. Hier sind sie nach wie vor eine Seltenheit. Sie können ja selbst fahren, wenn ich richtig informiert bin.« Diese Bemerkung ließ mich aufhorchen, und ich antwortete: »Es ist nicht besonders schwer.« »Ja, für einen intelligenten Menschen vielleicht. Aber diese Bauern…« Er zuckte mit den Schultern. »Sie sind unfähig, irgend etwas zu lernen, was über die allereinfachste Arbeit hinausgeht. Ich habe selbst einen Lastwagen. Den einzigen in ganz Bonito übrigens, ich brauche ihn in meinem Geschäft. Ich habe mir sogar einen Chauffeur, der gleichzeitig Mechaniker ist, aus Tampico engagiert. Aber was macht dieser Mensch? Geht hin und muß sich in die Politik einmischen!« »Das ist gefährlich in einem Land wie diesem.« Er wischte sich den Schweiß von seinem feisten Gesicht. »Er war unter den ersten, die sie heute früh erschossen haben. So ein Pech.« Er meinte damit, daß er selbst vom Schicksal getroffen wurde. Ich kümmerte mich nicht um seine Anspielung und erwiderte: »So geht’s im Leben, Mr. Janos. Er hätte sich raushalten sollen.« Mir war klar, daß ich mit diesen Worten nicht gerade besonderes Mitgefühl ausgedrückt hatte, man hatte mir schon vor geraumer Zeit beigebracht, in ähnlichen Situationen keine menschlichen Gefühle zu zeigen. Das alles hier ging mich nichts an, und außerdem hatte ich die Unterhaltung satt, sie paßte -10-
irgendwie nicht zu der Wirklichkeit. Es war heiß, ich war müde, und ich wollte nichts als ein Bad und ein paar Stunden Schlaf, ehe mein Zug ging. Ich stand wieder auf, und Janos sagte: »Ich habe eine ziemlich wichtige Fuhre nach Huila. Kennen Sie zufällig Huila?« Ich hatte natürlich schon begriffen, worauf er hinauswollte, aber es bestand kein Anlaß für mich, es ihm leicht zu machen. »Nein, eigentlich nicht.« »Liegt 200 Meilen nördlich von hier, Richtung amerikanische Grenze. Nur Schotterstraßen, aber in der trockenen Zeit gar nicht schlecht.« Mittlerweile war ich es wirklich leid, deshalb sagte ich ziemlich bestimmt: »Ich fahre mit dem Halbdrei-Uhr-Zug nach Tampico.« »Sie könnten morgen abend wieder hier sein«, sagte er. »Und dann können Sie übermorgen fahren.« »Ich würde aber das Schiff nach Havanna morgen abend verpassen«, entgegnete ich. »Und sie nehmen die Fahrkarte nicht zurück. Sie verfällt dann einfach.« »Wieviel hat sie gekostet? Zweiundvierzig amerikanische Dollar?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich zahle Ihnen fünfhundert, Mr. Keogh. Fünfhundert gute amerikanische Dollars. Und die sind leicht verdient, das müssen Sie zugeben.« Plötzlich wurde ich wach, denn nachdem ich meine Fahrkarte bezahlt hatte, waren mir gerade noch zwanzig oder dreißig Dollar übriggeblieben. »Das ist ein Haufen Geld für den Transport von ein paar Werkzeugen in den Norden hinauf«, bemerkte ich vorsichtig. Janos entschloß sich, mir reinen Wein einzuschenken. Sein großes glänzendes Gesicht überzog sich mit einem schmierigen Von-Mann-zu-Mann-Lächeln. »Gut, ich will offen sein, Mr. Keogh. Die Kisten in meinem Lastwagen enthalten guten -11-
schottischen Whisky. Weiß Gott, das wäre eine Entlastung für den Versorgungsengpaß hier in Mexiko! Aber dort oben jenseits der Grenze haben sie die sogenannte Prohibition, schon mal davon gehört? Und deshalb bekommt man dort wesentlich mehr dafür.« »Einschließlich fünf Jahren Knast, wenn man mit dem Zeugs erwischt wird«, stellte ich klar. »Das ist ein Risiko, das ein anderer trägt«, sagte er. »Nämlich der, der die Fracht in Huila übernimmt. Sie, mein Freund, verstoßen gegen überhaupt kein Gesetz. Jedenfalls nicht, solange Sie in Mexiko sind. Der Handel mit Alkohol ist in diesem Land hier völlig legal.« Das war allerdings richtig, und diese Tatsache erhöhte den Reiz der Sache für mich beträchtlich. Und außerdem – selbst wenn meine Fahrkarte verfiel, würde ich noch einen ansehnlichen Schnitt machen. Er sah, daß er mich schon in der Tasche hatte und gab der Geschichte noch den letzten Stups. »Ich sage Ihnen was, Mr. Keogh. Ich mach’ es fünfhundert und eine neue Fahrkarte dazu. Nun, Sir, ist das vielleicht nicht fair? Sagen Sie?« Er spielte den Gönner, aber das stand ihm gar nicht. Seine Augen, diese traurigen, grauen ungarischen Augen, blieben dabei starr und hellwach. Und eben dies, glaube ich, gab den Ausschlag für meine Entscheidung, ganz abgesehen von dem Umstand, daß ich keineswegs sehr sicher war, ob ich ihn besonders mochte. »Nein, danke«, sagte ich. »Der Preis ist zu hoch.« Das Lächeln verschwand auf der Stelle aus seinem Gesicht, seine Augen wurden noch ausdrucksloser. »Ich verstehe Sie nicht. Ich kenne doch Ihre finanzielle Situation. Es macht keinen Sinn, wie Sie sich verhalten.« »Natürlich nicht«, sagte ich. »Ich habe ja auch nicht vom Geld gesprochen, Mr. Janos. Ich sprach von Mexiko. Mir reicht -12-
es. Sechs Monate Hitze, Fliegen, Schmutz und Elend. Und nicht ein Tag, an dem sie nicht irgendwen erschossen haben. Nein, Sie müssen sich einen anderen suchen.« »Ich fürchte, Sie verstehen nicht ganz«, warf er behutsam ein. »Es gibt keinen anderen.« »Aber das ist nicht mein Problem, sondern Ihres.« Sein Palmwedel verharrte. Er saß stumm da und starrte mich an und doch wieder nicht. Schweiß floß ihm über das Gesicht. Er starrte mit seinen grauen Augen auf einen fernen Punkt hinter mir. Dann begann sich der Fächer wieder zu bewegen, ziemlich schnell sogar, und er wischte sich wieder den Schweiß ab, mit einem riesigen Seidentaschentuch. Und dann war plötzlich sein gönnerhaftes Lächeln wieder da. »Na gut, Sir. Dann kann ich Ihnen nur noch viel Glück wünschen und Ihnen die Hand schütteln.« Und er streckte seine Hand aus und ich nahm sie, denn es wäre albern gewesen, ihm das zu verweigern. Aber sein Händedruck war ganz und gar nicht das, was man von einem fetten Mann erwarten würde, der nur dasitzt und schwitzt. Er war fest und kräftig – sehr kräftig sogar. Und das machte mich ziemlich nachdenklich, während ich ging. Er hatte zu plötzlich und zu schnell aufgegeben… Vor der Revolution mußte das Hotel Blanco ziemlich luxuriös gewesen sein. Jetzt waren allerdings Risse in der Marmortreppe, und von den Wänden waren schon ganze Schichten des Verputzes heruntergefallen. Man konnte nahezu dabei zusehen, wie der ganze Bau langsam verkam. Die Tür meines Zimmers hatte kein Schloß mehr, aber sie mußte ohnehin immer einen Spalt offen sein, weil es im Raum brütend heiß war. Der Ventilator an der Decke hatte sich schon seit fünf Jahren nicht mehr bewegt, nämlich seit dem Sprengstoffanschlag auf das EWerk. -13-
Es gelang mir, die Fensterläden zu öffnen, wobei allerdings einige Leisten zerbrachen, und etwas warme Luft hereinzulassen. Ich triefte vor Schweiß und der Revolver im Schulterhalfter unter meinem rechten Arm hatte mich bereits wundgerieben. Ich zog die Jacke aus, legte den Halfter ab, das brachte einige Erleichterung, und warf alles aufs Bett. In früheren Zeiten war dies ein besonderes Zimmer gewesen, denn es hatte ein eigenes Badezimmer. Jetzt strahlte es diese heruntergekommene Billigkeit aus, die man in miesen Hotels in der ganzen Welt findet. Niemand schien jemals wirklich in ihm gewohnt zu haben. Aus irgendeinem nicht erklärbaren Grund sehnte ich mich wie wahnsinnig danach, wieder einmal etwas Kerry-Regen auf meinem Gesicht zu spüren. Mit offenen Augen nach oben blickend ihn auf mich herunterfallen zu sehen. Ihn in meinen offenen Mund rinnen zu lassen. Aber das war natürlich Illusion, ein Wunschtraum der schlimmsten Sorte. Das Badezimmer verfügte über die gleiche matte Eleganz wie das ganze Hotel. Italienische Fliesen, auf denen nackte Knaben zu sehen waren, die einander Trauben reichten, zierten die Wände und den Boden. Die Badewanne selbst hatte schon hundert Sprünge, aber sie war so groß wie ein halber Swimmingpool. Die meisten Armaturen waren freilich schon lange abmontiert worden, und aus dem vergoldeten Löwenmaul lief allenfalls noch lauwarmes bräunliches Wasser, wenn man den Hahn aufdrehte. Ich ging ins Zimmer zurück, zog den Rest meiner Kleider aus und schlüpfte in meinen alten Bademantel. Dann marschierte ich wieder ins Bad, nicht ohne den Revolver mitzunehmen. Alte Gewohnheiten gibt man nicht so leicht auf. Das Wasser war so schmutzig, daß ich den Grund der Wanne nicht mehr sehen konnte. Ich setzte mich trotzdem klaglos hinein und legte mich zurück und starrte die Decke an, die voller Risse war. -14-
Wie leicht sich doch die Dinge nach den eigenen Vorstellungen deuten lassen! Es war kein Problem, in der rissigen Mauer eine Landkarte zu entdecken. Einschließlich der Eisenbahnlinie, die sich durch Monterrey bis Tampico windet. Dann kommt die Schiffsroute quer durch den Golf nördlich der Halbinsel Yucatan bis Kuba und dort die Strecke bis Havanna. Schön, und was würde ich dort anfangen? Ich hatte eine Adresse, aber das war auch schon alles. Ein Mann, der mir vielleicht Arbeit geben könnte. Oder auch nicht. Und dann? Aber was gab es auf solche Fragen schon für Antworten. Jeden Tag geschah so oder so, was nun mal geschehen mußte. Plötzlich war in meinem Zimmer ein gedämpftes Geräusch zu hören. Ich sprang in ein und demselben Augenblick aus der Wanne und riß meinen Revolver an mich. Ich drückte mich gegen die Wand neben der Tür, um aus der Schußlinie zu sein, falls irgend jemand die Absicht haben sollte, sich den Weg hier herein freizuschießen. Ich angelte mir den Bademantel und schlüpfte mit dem schußbereiten Revolver in der Hand hinein, was gar nicht so einfach war, und horchte. Es war nichts zu hören, also tat ich, was das Normale zu sein schien, und öffnete die Tür zu meinem Zimmer. Was ich sah, erschreckte mich zutiefst. Der Mann, der an meinem Bett stand und meine Jacke durchsuchte, schien direkt vom Marktplatz zu stammen, er war einer von den Mestizen in Hose und Hemd, beides zerlumpt, und mit einem Palmenblatt als Sombrero. Er hatte eben meine Brieftasche aus der Jackentasche geholt. Also alles, was ich auf der Welt noch besaß. »Nein, heute nicht, compadre«, sagte ich. »Leg das schön aufs Bett, und zwar ein bißchen plötzlich.« Zuerst sah er so aus, als wolle er das auch anstandslos tun. Er ließ die Schultern hängen. Dann murmelte er verzweifelt: »Señor, meine Frau, meine Kinder. Haben Sie Erbarmen.« -15-
Besonders großen Eindruck machte er damit auf mich allerdings nicht. Ich fand, jeder Maler, der sich auf religiöse Themen spezialisierte, hätte ihn als perfektes Modell für einen Judas Ischariot nehmen können. Oder jedenfalls paßte der Vergleich bis zu einem gewissen Grad, denn als er dann plötzlich auf dem Absatz herumwirbelte, mir meine Jacke ins Gesicht schleuderte und davonlief, hatte er mich wirklich überrascht. Als ich die Tür erreichte, war er fast schon an der Treppe, und so hatte ich keine große Wahl, denn meine Brieftasche hielt er noch immer fest in der Hand. Ich verpaßte ihm also einen Schuß ins rechte Bein, was sonst hätte ich tun sollen? Er fiel, ohne einen Laut von sich zu geben, gegen das Treppengeländer, und ich hörte ihn zweimal an das Schmiedeeisen prallen. Als ich an der Treppe angekommen war, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem nächsten Treppenabsatz. Er warf mir über die Schulter einen wütenden Blick zu, und dann rutschte er, zu meinem blanken Erstaunen, plötzlich den ganzen Rest der breiten Marmorstufen hinunter, wie eine Schnecke eine Blutspur hinter sich herziehend. Dann passierten ein paar Dinge gleichzeitig. Janos kam von der Veranda auf seinen schwarzen Elfenbeinkrückstock gestützt herbeigehumpelt, und hinter ihm erschienen aus der Küche einige Leute vom Personal. »Um Gottes willen, Sir, was geht hier vor?« »Meine Brieftasche«, sagte ich. »Er hat meine Brieftasche gestohlen.« Der Dieb rutschte noch die letzten Stufen hinunter und blieb vor dem fetten Mann liegen. Janos beugte sich zu ihm hinunter und hantierte im Schatten herum. Als er sich wieder aufrichtete, war sein Gesicht ernst und vorwurfsvoll. »Brieftasche, Sir? Ich kann hier keine Brieftasche finden.« Jetzt sank mir das Herz in die Hose, denn mit einem Mal wurde mir klar, daß die leise Möglichkeit bestand, dies alles hier -16-
bedeute mehr als nur das, was man auf den ersten Blick erkennen konnte. Die Polizei kam auch eiligst, wie üblich bis an die Zähne bewaffnet, und sie stürmten zur Tür herein, als wollten sie alles über den Haufen schießen, was sich nur bewegte, obwohl der Sergeant von ausgesuchter Höflichkeit war und sich meine Geschichte mit der allergrößten Geduld anhörte. Der Lump am Boden, der bei dem ganzen Durcheinander überhaupt niemanden interessierte, hielt sich sein Bein. Zwischen seinen Fingern quoll das Blut heraus. Er verfluchte alle gringos und ihre Brut bis in die zehnte Generation. Er war unschuldig wie ein Kind und bei Señor Janos als Portier beschäftigt. Der Sergeant versetzte ihm mehr nebenbei einen kleinen Tritt in die Rippen, trug seinen Leuten auf, nach der Brieftasche zu suchen, und geleitete mich hinauf in mein Zimmer, damit ich mich ankleiden konnte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Señor«, beruhigte er mich, »der Mann ist ein amtsbekannter Dieb. Señor Janos hat ihm ehrliche Arbeit verschafft – aus purer Großmütigkeit, und das ist sein Dank dafür. Wir finden diese Brieftasche schon. Sie brauchen nichts zu befürchten, gegen Sie wird nichts unternommen.« Als wir dann freilich nach unten zurückkehrten und er feststellen mußte, daß seine Leute nichts hatten finden können – eine Tatsache, die mich kaum noch überraschte –, da nahm sein Gesicht einen eher melancholischen Ausdruck an. »Das ist natürlich ein schwieriger Fall, Señor«, gab er mir zu bedenken. »Versetzen Sie sich einmal in meine Lage! Wenn Sie auf diesen Mann geschossen haben, weil Sie ihn auf frischer Tat beim Diebstahl Ihrer Brieftasche ertappten, so ist das natürlich eine Sache…« »… aber einfach nur so auf ihn zu schießen, das ist eine ganz andere, das denken Sie doch?« -17-
»Ganz genau, Señor, in der Tat. Ich muß Sie wohl leider bitten, mit mir zum Polizeipräsidium zu kommen. Der Chef wird Ihnen zweifellos ein paar Fragen stellen wollen.« Seine Hand auf meinem Arm war plötzlich gar nicht mehr sanft, und als wir losmarschierten, sagte Janos mitfühlend mit bebenden Lippen: »Keine Angst, Sir, ich helfe Ihnen. Vertrauen Sie mir, Mr. Keogh.« Mit Versicherungen solcher Art abgeführt zu werden, ist auch nicht gerade beruhigend. Jenseits der Stadt flirrte die Sierra unter blauem Himmel, und das Flimmern der Hitze zog sich weit nach Norden in Richtung Grenze. Mehr konnte ich zwischen den Gitterstäben, an denen ich mich hochzog, um aus dem kleinen Guckfenster hinauszusehen, nicht erkennen. Man hatte mich in die sogenante allgemeine Aufnahmezelle gesteckt, einen Raum von etwa zwölf Quadratmetern mit rohen Steinwänden, der aussah, als sei er schon zu Zeiten von Cortez alt und heruntergekommen gewesen. Wir waren im Augenblick etwa dreißig Mann hier drin, mit anderen Worten: die Zelle war ziemlich belegt. Der Geruch, der herrschte, läßt sich kaum beschreiben. Er war eine feine Mischung aus Uringestank, Exkrementen und Schweiß, alles ungefähr zu gleichen Teilen. Jede Stunde, die man das ertragen mußte, war eine zuviel. Ein Indio erhob sich und erleichterte sich in einen bereits überquellenden Eimer. Ich machte, daß ich eilends in eine andere Ecke kam. Ich holte meine Packung Zigaretten aus der Tasche und steckte mir eine an. Die meisten anderen in der Zelle waren ebenfalls Indios mit platten, ausdruckslosen Gesichtern, einfache Leute aus dem Hinterland, die in die Stadt gekommen waren, um Arbeit zu suchen, sich aber jetzt im Gefängnis wiederfanden. Wahrscheinlich aus Gründen, die weder sie selbst kannten noch -18-
sonst irgendwer. Ihrer aller Interesse galt mir, sie waren neugierig, weil ich der einzige Europäer hier war – eine Tatsache, die an sich schon reichlich ungewöhnlich war. Einer von ihnen erhob sich von der Bank, auf der er saß, nahm seinen Stroh-Sombrero ab und bot mir mit solcher ungelenken Bauernhöflichkeit seinen Platz an, daß ich unmöglich ablehnen konnte. Ich setzte mich, zog wieder mein Zigarettenpäckchen heraus und bot es rundum an. Nur zögerlich und scheu bedienten sich die mir am nächsten Sitzenden, aber bald rauchten wir in Freundschaft vereint. Die leichten Zigaretten wanderten die Reihe durch von Mund zu Mund. Der Türriegel quietschte laut. Die Tür öffnete sich, und der Sergeant tauchte auf. »Señor Keogh, wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Ah? Da waren wir also wieder ganz die Höflichkeit selbst? Ich folgte ihm den weißgetünchten Korridor entlang, während die Tür hinter mir wieder ins Schloß fiel. Wir stiegen die Stufen hinauf in eine angenehmere, sauberere Welt und nahmen den Weg zum Verwaltungsgebäude der Polizeibaracken. Vor vier Monaten war ich schon einmal hier gewesen. Damals hatte ich eine Arbeitserlaubnis gebraucht. Man hatte mich ordentlich blechen lassen dafür; mit anderen Worten, der Polizeichef von Bonito hier war ebenso unbestechlich wie all die anderen Polizeichefs in dieser Gegend. Der Sergeant führte mich zu einer Bank in einem weißgetünchten Korridor unter den Augen zweier sehr militärisch dreinblickender Wachen, die zu beiden Seiten der Tür des Büros des Chefs standen. Sie hielten MannlicherGewehre in den Händen, wie sie die Deutschen im Krieg gehabt hatten. Die beiden ignorierten mich völlig. Nach einer Weile dann öffnete sich die Tür, und der Sergeant winkte mich hinein. Der Raum war nur sehr dürftig möbliert. Schreibtisch, -19-
Aktenschrank. Das war ungefähr alles. Abgesehen von einigen Stühlen, von denen einer von meinem fetten Freund aus dem Hotel Blanco besetzt war, der andere vom Polizeichef. Janos rappelte sich mühsam hoch und stand schließlich schwankend, schwer gestützt auf seinen Elfenbeinstock. Schweiß bedeckte sein sorgenvolles Gesicht. »Eine schlimme Geschichte, Mr. Keogh, aber Sie sehen mich an Ihrer Seite, Sir. Bis zuletzt.« Er sank wieder auf seinen Stuhl. Der Chef sagte: »Ich bin José Ortiz, Señor Keogh, Chef der Polizei in Bonito. Zunächst einmal entschuldige ich mich für Ihre bisherige Behandlung. Ein bedauerlicher Irrtum von seiten meines Sergeanten, der sich selbstverständlich dafür zu verantworten haben wird.« Der Sergeant schien über diese Eröffnung bemerkenswert wenig beunruhigt zu sein. Der Polizeichef öffnete eine vor ihm liegende Akte und begann sie zu studieren. Er war ein kleiner Mann mit olivenfarbener Haut, wohl um die Fünfzig und mit einem sorgfältig gestutzten Lippenbart. Wenn er den Mund aufmachte, sah man kaum etwas anderes als Goldzähne. Er blickte mich bedeutungsvoll an. »Eine sehr rätselhafte Geschichte, Señor Keogh. Sie sagen also, der Mann stahl Ihre Brieftasche?« »Richtig.« »Aber was hat er dann mit dieser gemacht, Señor? Wir haben die Treppe und das Hotelfoyer gründlich abgesucht.« »Er muß einen Komplizen gehabt haben«, gab ich zu bedenken. »Es haben sich zu der Zeit mehrere Personen in der Halle aufgehalten.« »Ja, tatsächlich«, mischte sich Janos wie erleichtert ein, »da könnten Sie recht haben. Das könnte die Erklärung für die ganze Angelegenheit sein!« Der Polizeichef nickte zustimmend. »Ja, das ist zweifellos -20-
eine Möglichkeit, und im großen und ganzen, Señor Keogh, bin ich auch geneigt, Ihrer Aussage zu glauben. Immerhin ist der Mann ein amtsbekannter Dieb.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, entgegnete ich langsam. »War viel in der Brieftasche?« »Zwanzig oder dreißig Dollar, einige Eisenbahn- und Schiffstickets, und mein Paß.« Seine Augenbrauen hoben sich. »Ach ja? Das ist allerdings interessant. Es war mehr, als ich dachte.« Er studierte wieder die Akte. »Ich ersehe hier aus Ihren Unterlagen, daß Sie als britischer Staatsbürger registriert worden sind. Trifft das zu?« Ich antwortete gleichmütig: »Ja, das stimmt.« »Das ist aber eigenartig. Ich dachte, die Iren hätten jetzt ihren Freistaat, seit der erfolgreichen Beendigung eurer Revolution?« »Es gibt noch immer einige Leute, die dies bezweifeln«, entgegnete ich. Das schien er nicht ganz zu verstehen, dann aber fiel ihm eine Erklärung ein. »Na ja, ihr habt natürlich jetzt euren Bürgerkrieg. Die Iren, die zuerst gemeinsam gegen die Engländer kämpften, bringen sich jetzt gegenseitig um. Wir hier in Mexiko haben ja dieselben Probleme gehabt.« Er vertiefte sich erneut in die Akte. »Sie könnten also ohne weiteres einen neuen Paß in Tampico vom Britischen Konsulat bekommen?« »Das nehme ich an, ja.« Er nickte. »Aber einige Wochen wird es wohl dauern, Señor, und was machen wir mit Ihnen in der Zwischenzeit? Wie ich hier sehe, haben Sie im Augenblick keine Arbeit.« »Nein. Ich war sechs Monate lang für die HermosaMinengesellschaft tätig.« »Die inzwischen bedauerlicherweise ihre Aktivitäten eingestellt hat, ja. Ich sehe da gewisse Schwierigkeiten, Señor.« »Ach, ich weiß nicht«, tat ich den Einwand ab. »Ich bin -21-
eigentlich sicher, daß Mr. Janos einige Vorschläge machen kann.« »Aber gewiß doch, Sir, das kann ich«, bestätigte Janos und klopfte mit seinem Stock auf den Boden. »Ich habe Mr. Keogh eine lukrative Stellung angeboten. Sehr lukrativ sogar. Und zwar für so lange, wie er will.« Das erleichterte Señor Ortiz sichtlich. Es war wirklich eine höchst gelungene Vorstellung. »Dann ist ja soweit alles in Ordnung, Señor Keogh. Wenn Señor Janos persönlich die Verantwortung für Sie übernimmt und ich seine verbindliche Zusage habe, daß Sie in einem sicheren Arbeitsverhältnis stehen, kann ich Sie auf freien Fuß setzen.« »Bestanden da denn jemals Hinderungsgründe?« fragte ich höflich. Er lächelte, klappte den Aktendeckel zu, erhob sich und streckte mir die Hand hin. »Stets zu Ihren Diensten, Señor Keogh.« »Stets zu Ihren, Señor«, erwiderte ich mit ausgesuchter Höflichkeit, machte kehrt und entfernte mich. Ich hörte noch ein leises Murmeln, dann kam auch Janos hinter mir her. »Ende gut, alles gut, nicht wahr, Mr. Keogh? Und ich stehe zu meinem Angebot, Sir. Ich will keinen Vorteil aus Ihrer Situation ziehen. Es bleibt dabei: fünfhundert Dollar und Ihre Schiffspassage. Wie ich es Ihnen angeboten habe. Ich zahle es Ihnen bar auf die Hand.« »Sie sind eben ein Gentleman«, sagte ich. »Jedermann kann es auf Anhieb sehen.« Ein herzliches Lachen schüttelte seinen massigen Körper. »Bei Gott, Sir, wir werden hervorragend zusammenarbeiten. Ganz famos.« -22-
Das war Ansichtssache, aber schließlich ist alles vorstellbar. In dieser schlechtesten aller möglichen Welten.
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2 Als wir ins Hotel zurückkamen, führte mich Janos zu den Ställen im Hinterhof. Dort waren einige Boxen abgerissen worden, und dort stand auch sein Lastwagen. Es war ein Ford. Er sah aus, als habe er im großen Krieg an der Westfront ziemlich harte Zeiten durchgemacht. Der Laderaum hatte ein Planenverdeck. Er war bis obenhin mit mittelgroßen Kartons beladen. Ich besah mir die Reifen und entdeckte, daß sie völlig neu waren – das überraschte mich. Dann machte ich die Motorhaube auf und prüfte das Innere. Es sah sehr viel besser aus, als eigentlich zu erwarten gewesen wäre. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?« fragte er. »Sie haben heute morgen wirklich einen guten Mechaniker verloren.« »Ich weiß. Sehr unangenehm. Aber so geht es nun mal im Leben.« »Wann soll ich losfahren?« »Wenn Sie jetzt gleich losführen, könnten Sie bis zum Einbruch der Dunkelheit bereits die halbe Strecke geschafft haben. In Huerta gibt es eine Herberge – nicht gerade ein Luxushotel, aber ordentlich. In den alten Postkutschentagen war sie eine Raststation. Da könnten Sie übernachten. Und dann wären Sie morgen gegen Mittag in Huila. Würde Ihnen das passen?« Es war erstaunlich, wie höflich und zuvorkommend er mit mir umging. »Ganz hervorragend«, sagte ich, aber die Ironie in meiner Stimme schien ihm völlig zu entgehen. -24-
»Gut«, sagte er und nickte zufrieden. »Gehen wir hinein, damit wir die letzten Einzelheiten besprechen können.« Sein Büro lag direkt vor dem Innenhof an der Frontseite des Hauses. Es war ein kleiner unordentlicher Raum mit einem polierten Eichenschreibtisch und einer überraschend großen Anzahl Bücher. Mein Schulterhalfter und der Revolver lagen auf dem Schreibtisch. Er berührte ihn mit dem Ende seines Stocks. »Den werden Sie wohl wiederhaben wollen, nicht wahr? Es ist ja auch eine ziemlich rauhe Gegend da draußen, heutzutage.« Ich zog meine Jacke aus und schnallte mir den Halfter wieder um. Er sagte: »Sie scheinen ganz ungewöhnlich gut vertraut im Umgang mit dieser Art Gerät zu sein, Sir. Für einen Mann Ihrer offensichtlichen Bildung und Herkunft, meine ich.« »Das ist richtig«, sagte ich kurz angebunden und zog mir die Jacke wieder an. »Ist sonst noch was?« Er zog eine Schublade auf, nahm zwei Umschläge heraus und schob sie mir herüber. »Das eine ist ein Brief an Gomez, den Mann, dem Sie Ihre Fracht in Huila übergeben. Er hat übrigens Kraftstoffvorräte, so daß Sie vor der Rückfahrt auftanken können. Im anderen Umschlag ist eine Fahrtgenehmigung, ausgestellt von Capitan Ortiz. Für den Fall, daß die rurales Sie anhalten.« Ich steckte beide Umschläge in meine Brusttasche und knöpfte meine Jacke zu. Er wählte sorgfältig eine lange schwarze Zigarre aus einer Sandelholzkiste aus, zündete sie an und schob mir die Kiste über den Tisch zu. »Wollen wir noch ein Glas miteinander trinken, Sir? Zum Abschied?« »Wir werden ein Wort miteinander sprechen, wenn ich zurückkomme«, antwortete ich ihm. »Trinken Sie inzwischen mit dem Teufel.« Er lachte so herzlich, daß ihm die Tränen aus den Augen quollen, und der ganze Fleischberg von Mann zitterte wie ein -25-
Wackelpudding. »Nein, wirklich, Sir, Sie sind ein Mann ganz nach meinem Herzen, das sehe ich schon.« Er begab sich zu einem Büffet an der Wand, öffnete es und brachte eine Flasche und einige Becher zum Vorschein. Es war Brandy, und nicht gerade der schlechteste. Er stützte sich mit einem Ellbogen auf das Büffet und betrachtete mich mit ernster Miene. »Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben wollen, Sir, Sie scheinen sich aus nichts etwas zu machen. Aus überhaupt nichts. Da irre ich mich doch nicht?« Diese seltsame, ziemlich pedantische Art zu reden hatte einen ganz eigenartigen Effekt. Sie löste in einem den Wunsch aus, freundlich zu ihm zu sein. Ich sagte: »Sehen Sie, meiner Erfahrung nach lohnt es sich eben nicht, irgend etwas im Leben wichtig zu nehmen, Sir.« Ich hätte schwören können, daß bei diesen Worten eine echte Besorgnis in seinen Augen zu erkennen war. Obwohl mir andererseits durchaus klar war, daß das höchst unwahrscheinlich war, denn das wäre ein für Janos ganz ungewöhnlicher Gefühlsaufwand gewesen. »Nehmen Sie es mir nicht übel«, sagte er, »aber ich finde es beunruhigend, wenn so junge Leute wie Sie schon derartige Ansichten äußern.« Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß die Unterhaltung zu persönlich wurde, deshalb leerte ich mein Glas und stellte es auf das Büffet. »Ich mache mich jetzt lieber auf den Weg.« »Aber gewiß doch. Aber Sie brauchen auch noch etwas Geld.« Er holte seine Brieftasche hervor und zählte hundert Pesos in Zehn-Peso-Scheinen ab. »Wenn alles problemlos vonstatten geht, sollten Sie morgen abend wieder hier sein.« Jetzt sah er wieder ziemlich zufrieden mit sich selbst aus, und das stand ihm nicht besonders gut. Ich stopfte das Geld -26-
nachlässig in meine Jackentasche und sagte: »Mich, Mr. Janos, hat mein bisheriges Leben vor allem eines gelehrt: Alles, was passieren kann, passiert normalerweise auch.« Sein Gesicht nahm einen echten und augenblicklichen Ausdruck von Trauer an. Wie ich noch entdecken sollte, war seine einzige wirklich große Schwäche ein ausgeprägter Aberglaube. Ich lachte laut auf, drehte mich um und marschierte hinaus. Ein kleiner Sieg – möglicherweise – aber immerhin etwas. Ich war achtzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal Menschen sterben sah. Das war zu Ostern 1916, als ein beträchtlicher Teil Dublins in Flammen aufging. Eine Handvoll Freiwilliger hatte beschlossen, der britischen Armee mal tüchtig einzuheizen. Und ich, Emmet Keogh, war einer von ihnen. Noch lange nicht meinen Büchern am Chirurgenkolleg entwachsen, noch jung genug, um an eine Sache zu glauben – irgendeine Sache –, für die es sich sogar zu sterben lohnte. Den Kolben eines Martinikarabiners umklammernd, schwitzte ich in der schlechtsitzenden grünen Uniform und drückte mich an das Fenster eines Büros in Jacobs Keksfabrik. Ein wahrhaft heroischer Ort zum Sterben! Wir warteten auf die Tommies aus den Portobello Baracks, die uns finden sollten. Und das taten sie dann auch früh genug. Während einer kleinen Verschnaufpause in dem Unternehmen kam eine Millsbombe zum Fenster hereingeflogen und kullerte genau bis zur Mitte des Büros, in dem reger Betrieb herrschte. Wir waren sechs, die mit diesem Dings gemeinsam in die Luft fliegen sollten, aber es ging erst los, als ich es schon wieder zurückgeworfen hatte, mitten hinein in den Trupp, der sich ausgerechnet diesen Augenblick zum Sturm über den Hof ausgesucht hatte. Leben, oder auch der Tod, waren also immer nur reine Zufälle, so oder so. Es kam auf den Zeitpunkt und das nötige -27-
Glück an, auf sonst gar nichts. Meinetwegen. Es war zweifellos dieser Tag, an dem ich begann, nicht nur meine Handlungen, sondern auch mein Denken dieser Erfahrung anzupassen. Janos war, was mich anging, der Wahrheit näher gewesen, als er ahnen konnte. Die ersten paar Meilen außerhalb von Bonito war die Straße gar nicht schlecht. Sie war sogar irgendwann in letzter Zeit mit Blechplatten unterlegt worden. Die Strecke war nur nicht sehr lang, bald wurde wieder die übliche Hinterlandstraße daraus, so dreckig und staubig und voller Schlaglöcher, daß es unmöglich war, schneller als fünfundzwanzig Meilen zu fahren, wenn einem sein Leben und seine LKW-Achse lieb waren. In der Ferne waberten wieder die Sierras in der flirrenden Hitze des Nachmittags. Ich fuhr direkt auf sie zu, in sie hinein. In leicht nordwestlicher Richtung stieg eine große weiße Staubwolke vom lockeren Boden hoch und bedeckte alles mit einem feinen Schleier, mich eingeschlossen. Eine flache braune Ebene erstreckte sich zu beiden Seiten, soweit das Auge reichte. Sie war gesprenkelt mit Dornbüschen, Moskitoschwärmen und Akazien. Ich war mutterseelenallein weit und breit auf einer Straße ins Nichts, in einem Land, das von der Sonne ausgedörrt war und abgeschieden von allem seit Anbeginn der Zeiten. Lieber Gott, und da hatte es Zeiten gegeben, in denen ich für mein eigenes Land gelitten hatte, für das Meer und die Berge von Kerry mit grünem Gras, weichem Regen und fuchsienbewachsenen staubigen Hecken. Wir nannten sie die Tränen Gottes. Die ganze erste Stunde meiner Fahrt begegnete ich nichts Lebendigem. Dann wurde ein Punkt in der Ferne zu einer Ziegenherde, die ein alter Mann und zwei Knaben hüteten, barfuß, zerlumpt und so entsetzlich arm, daß selbst ihre Strohhüte schon in ihre Bestandteile zu zerfallen begannen. Sie -28-
standen da und glotzten mich an, mit leeren Gesichtern, ohne auch nur eine Bewegung zu machen oder ein Zeichen zu geben, einfach mit der düsteren Verzweiflung derer, die wahrhaft ohne jede Hoffnung sind. Eine oder zwei Meilen danach hielt ich an, um meine Jacke auszuziehen, die bereits schweißnaß war, und etwas zu trinken und mir Kopf und Schultern mit lauwarmem Wasser aus einem Fünfzehn-Liter-Krug zu waschen, den jemand fürsorglich vor den Beifahrersitz gebunden hatte. Danach wurde die Strecke dann so schlimm, daß ich mich nur noch auf das Fahren konzentrieren konnte. Zuweilen ging es kaum schneller voran als mit zehn oder fünfzehn Meilen. Die Hitze und der Staub waren schier unerträglich. Ich war inzwischen dreieinhalb Stunden unterwegs, hatte außer den Ziegenhirten keine Menschenseele gesehen und begann allmählich zu glauben, ich sei in dieser abgeschiedenen Welt das einzige Lebewesen überhaupt – und da traf ich den Priester. Sein Mercedes stand ein wenig abseits der Straße und hatte sich seinen Weg durch eine Gruppe Baumkakteen gebahnt. Er selbst stand am Straßenrand, sein Priesterkragen und sein breitkrempiger Hut waren staubbedeckt, und er hielt mich winkend an. Ich stieg auf die Bremse und kletterte hinunter. Er erkannte mich auf der Stelle und lächelte. »Ah, mein Freund aus Irland.« Sein Vorderreifen auf der uns zugewandten Seite war geplatzt. Das erklärte, warum er von der Straße abgekommen war. Aber das schlimmste war, daß er dabei erst zum Stehen gekommen war, als er mit der Hinterachse auf einen ziemlich großen Felsbrocken geknallt und dort hängengeblieben war. Und jetzt hatte er schon über eine Stunde lang vergeblich versucht, wieder flottzukommen. Das Problem war lächerlich einfach zu lösen. Ich sagte: »Wenn wir den Wagenheber benutzen und den Wagen -29-
hochwinden und dann kräftig schieben, müßte er eigentlich wegrollen.« »Mein Gott, aber natürlich«, sagte er. »Warum habe ich daran nicht selbst gedacht?« In den Docks von Dublin hätte er so etwas keinem erzählen können, aber ich entgegnete nichts weiter. Ich machte einfach nur seinen Kofferraum auf, der voller Fünf-GallonenBenzinkanister war, holte den Wagenheber heraus und machte mich an die Arbeit. »Das könnte ich schon selbst erledigen«, protestierte er müde, bestand aber gleichwohl nicht zu nachdrücklich darauf. Er zündete sich vielmehr eins dieser langen, schwarzen Zigarillos an, die er zu rauchen pflegte, und sah mir interessiert zu. Ich schwitzte mörderisch und mein Schulterhalfter behinderte mich ziemlich. Also nahm ich ihn ab und legte ihn auf den Rücksitz des Mercedes. Als ich einen Augenblick später zufällig den Blick hob, sah ich, daß er den Revolver – meine Enfield – in der rechten Hand hielt. »Vorsicht, Pater«, warnte ich, »das Ding ist dafür bekannt, daß es bei der kleinsten Berührung losgeht. Beim kleinsten Hauch.« »Wäre es nicht besser«, meinte er, »wenn vorsichtshalber die erste Kammer im Magazin leer wäre? Für alle Fälle, und damit nichts passiert?« Für einen Mann im geistlichen Gewand war dieser Gedanke recht bemerkenswert. »Sicher, das wäre prima. Falls man im Notfall Zeit hat, natürlich.« »Und die hat man wohl nicht.« »Selten.« Er stand da, noch immer mit dem Revolver in der Hand und dem Halfter in der anderen. »Sie waren wohl dicke drin?« fragte er. »Gegen die Engländer, meine ich.« -30-
Das war die Art Ausdrucksweise, wie sie zu jener Zeit die amerikanischen Zeitungen so liebten. Ich nickte. »Das können Sie laut sagen.« »Dieser Bürgerkrieg bei euch ist eine böse Sache.« Er schüttelte den Kopf. »Nach dem, was ich so in den Zeitungen lese, bringen sich die Iren gegenseitig um, und zwar grausamer als zu den Zeiten, da sie alle zusammen gegen die Engländer kämpften. Haben nicht überhaupt republikanische Schützen erst vor drei oder vier Monaten Michael Collins persönlich erschossen? Und es hieß doch immer, er habe mehr als irgendein anderer getan, um die Engländer aus dem Land zu jagen?« »Und sich dann mit kleinen Brötchen zufriedengegeben«, sagte ich. »Das reichte nicht.« »Da habe ich ja, wie ich sehe, einen eingefleischten Republikaner vor mir, wie?« Er wog die Enfield in der Hand und sagte: »Nicht, daß ich allzu viel von den Dingern verstehe. Aber besonders gut liegt sie nicht in der Hand, würde ich sagen.« »Kein Wunder«, sagte ich, »ich bin Linkshänder. Ich habe mir den Griff ändern lassen.« Er untersuchte die Waffe noch weiter. Offensichtlich erregten das Fehlen eines Visiers am Ende der blauschwarzen Revolvertrommel und die Art, wie der größte Teil des Schutzbügels über dem Abzug weggeschnitten war, seine Neugier. Ich konzentrierte mich auf den Hebel des Wagenhebers. Als sich die Achse vom Stein abzuheben begann, warf er den Halfter in den Mercedes zurück, raffte seine Soutane hoch und kniete sich neben mir nieder. »Was meinen Sie?« »Stemmen Sie sich mit der Schulter gegen den Kofferraum, dann sehen wir schon, ob es klappt.« Es brauchte unsere vereinten Kräfte und erhebliche -31-
Anstrengung. In einem bestimmten Moment dachte ich, es ginge nun nicht mehr weiter, aber dann kippte der Wagenheber um und der Mercedes rollte sich frei, auch wenn dabei der hintere Kotflügel am Felsen zerschrammt wurde. Der Priester verlor das Gleichgewicht und fiel auf Hände und Knie nieder, während ich nach vorn rannte und die Handbremse zog, bevor uns der Mercedes davonrollte. Als ich mich wieder umwandte, rappelte er sich gerade hoch, wischte sich den Staub aus dem Bart und grinste wie ein Schuljunge. »Ich könnte mir, zum Teufel, eine bessere Art vorstellen, den Nachmittag zu verbringen.« »Auch ich könnte mir angenehmere Dinge denken«, pflichtete ich bei. »An erheblich angenehmeren Orten.« Ich streckte mich, weil mein Rücken schmerzte, und blickte in die Wildnis. »Das ist der letzte Ort, den der liebe Gott gemacht hat.« Er war schon wieder dabei, sich ein neues Zigarillo anzustecken. Er hielt mit dem noch brennenden Streichholz in seiner Hand inne. Sein Gesicht war ernst und irgendwie erwartungsvoll. »Immerhin erweisen Sie ihm einigen Respekt, sogar hier.« »An einem Ort wie dem, Pater, ist es ziemlich schwierig zu behaupten, daß Gott nicht existiert.« Ich zuckte mit den Schultern. »Man kann’s ja versuchen, aber dann wird er einen vermutlich mit noch mehr Nachdruck an seine Anwesenheit erinnern.« »Das ist eine ziemlich alttestamentarische Art, die Dinge zu sehen, würde ich sagen«, sagte er. »Ein Gott des Zorns, statt der Liebe.« »Eine Ansicht über den Allmächtigen, die meinen Erfahrungen eher entgegenkommt«, sagte ich ohne Umschweife. Er nickte, sein Gesicht war nach wie vor ernst. »Ja, das Leben kann wohl sehr hart sein. Es ist schon nicht leicht, jeden Tag wie einen Akt des Glaubens zu leben, das weiß ich gut. Ich habe es -32-
neunundvierzig Jahre lang praktiziert, dennoch – es gibt keinen anderen Weg.« Ich hob den Wagenheber auf, ging zum Vorderteil des Mercedes und begann wieder zu arbeiten. Er hatte zwei Reservereifen dabei, was von vernünftiger Vorsorge zeugte. Ich brauchte nicht länger als fünf Minuten, um die Reifen zu wechseln. Der Priester machte keine Anstalten, mir zu helfen, und auch nicht, die Unterhaltung fortzuführen. Statt dessen ging er zu einer kleinen Anhöhe, die nicht weit entfernt war, und sah sich von dort oben aus um. Als ich ihn rief, schien er mich gar nicht zu hören. Ich ging ihm deshalb entgegen, wobei ich mir die Hände an einem alten Lumpen sauberwischte. Als ich ihm schon nahe war, wandte er sich abrupt um und sagte rauh: »Ja, mein Freund, Sie haben recht. An einem Ort wie dem hier muß es schwer sein, an irgend etwas zu glauben.« Ich war allerdings inzwischen an dieser Art Konversation nicht mehr interessiert. »Ich glaube«, sagte ich, »es ist jetzt wieder alles in Ordnung. Fahren Sie den Wagen auf die Straße zurück, dann sehen wir’s.« Der Mercedes hatte Startautomatik. Er sprang ohne Schwierigkeiten an, im Unterschied zu den meisten Autos, mit denen ich bisher umgegangen war. Ich sprang auf das Trittbrett, und er fuhr einen weiten Bogen, bis er ein paar Meter hinter meinem LKW auf die Straße kam. Ich holte meinen Halfter und die Enfield vom Rücksitz und schnallte sie mir wieder um. »Sehen Sie, Pater, alles regelt sich. Man muß es nur richtig machen.« Er lachte rauh, stellte den Motor ab und streckte mir die Hand entgegen: »Junger Mann, Sie gefallen mir, und ich soll verdammt sein, wenn das nicht stimmt. Ich heiße van Horne. Pater Oliver van Horne aus Altoona, Vermont.« »Keogh«, sagte ich. »Emmet Keogh. Ich schätze, in Vermont -33-
gibt es nicht viele Priester, die einen Kopfschuß abbekommen haben.« Seine Hand fuhr instinktiv zu der Narbe an seiner Schläfe. »Da mögen Sie wohl recht haben. Aber schließlich war ich meines Wissens auch der einzige Kaplan bei der Infanteriebrigade an der Westfront.« »Sind Sie nicht ein bißchen weit weg von zu Hause?« »Ich bin auf einer Art Informationsreise für meine DiözesanOberen. Wir haben davon gehört, daß sich hier im mexikanischen Hinterland die Kirche in großen Schwierigkeiten befindet, seit der Revolution. Ich bin hier, um festzustellen, wie und wo man helfen kann.« »Schauen Sie, Pater«, sagte ich, »ich habe keine Witze gemacht heute morgen, als ich Ihnen sagte, daß es in dieser Gegend Leute gibt, die glauben, die Jagd auf Priester sei hier noch immer offen. Ich kenne Orte, an denen man seit Jahren keinen mehr gesehen hat und auch gar nicht begierig darauf ist. Vor einem Monat hat ein junger französischer Priester in Hermosa die Kirche nach acht Jahren wieder zu öffnen versucht. Sie haben ihn wie eine Krähe an der Veranda des Ortshotels aufgehängt. Ich habe ihn da noch im Wind schaukeln sehen.« »Und Sie haben nichts unternommen?« »In meinem eigenen Land habe ich auch Priester gesehen, die sich allerlei tatenlos angesehen haben«, erwiderte ich. »Es ist ziemlich einfach, jemanden mit einem Gebetbuch in der Hand auf seinem letzten Weg zu begleiten, wenn der andere derjenige ist, der das Sterben übernimmt. Aber es ist verdammt schwer, sich hinzustellen und praktisch ohne Chance wirklich für das, woran man glaubt, zu kämpfen, glauben Sie mir das.« Ich wußte nicht genau, warum, aber ich war zornig. Es war unter den Umständen ziemlich unlogisch, und wahrscheinlich wußte ich das auch. Jedenfalls ging ich zu meinem Ford und -34-
drehte die Anlasserkurbel. Als der Motor ansprang, kam van Horne zu mir. »Ich habe Sie offensichtlich verärgert«, entschuldigte er sich. »Und das tut mir leid. Meine größte Sünde ist meine entsetzliche Neigung, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Predigten zu halten. Ich hoffe, auf dieser Straße hier durch die Sierras nach einem Ort namens Guayamas zu gelangen, an der Westküste. Wohin wollen Sie?« »Ich liefere eine Ladung Schmuggelwhisky nach Huila«, sagte ich. »Falls Ihnen das Benzin ausgeht, können Sie sich dort mit neuem Vorrat versorgen.« »Wollen Sie dort noch bis heute abend ankommen?« Ich schüttelte den Kopf. »Es gibt da eine kleine Ortschaft namens Huerta ungefähr zwanzig Meilen von hier. Eine alte Postkutschenstation.« »Vielleicht treffen wir uns da wieder.« Ich lächelte und kletterte auf meinen Führersitz im Ford. »Falls ja, Pater, dann fangen Sie dort, um Himmels willen, nicht mit der Religion an.« »Das werde ich wohl kaum schaffen«, sagte er. »Aber ich will tun, was ich kann. Gott befohlen.« Aber solche Redensarten hatten auf mich schon lange keine Wirkung mehr. Ich fuhr rasch davon. Ganz unvermittelt schien es später Abend zu sein. Die Sonne fiel geradezu hinter den Horizont der Sierras hinunter. Sie nahm die Hitze des Tages mit, die großen Berge waren pechschwarz vor dem Hintergrund von Gold, als ihr Feuer erstarb. Hinter mir gab es kein Anzeichen des Mercedes. Ich fragte mich, wo er wohl abblieb – eine eigenartige Type, natürlich hatten Priester, wie jedermann sonst, ein Recht auf Absonderlichkeiten. Ich fuhr über die Kuppe eines Hügels, kurz bevor es völlig -35-
Nacht wurde, und sah dann die Wegstation von Huerta unten im Tal liegen. Aus den Fenstern schimmerte fahles Licht. Die Station bestand aus einem kleinen Gebäude mit flachem Dach, das mindestens hundertundfünfzig Jahre alt sein mußte und das von einer Lehmziegelmauer umgeben war, die an der Straßenseite schon zum größten Teil zerbröckelt und zerfallen war. Der Himmel ringsum war wie geschmolzenes Gold. Die großen schwarzen Finger der Baumkakteen sahen wie ausgeschnittene Kulissen auf einer Bühne aus, als ich ihnen hügelab entgegenfuhr. Während ich in den Hof einfuhr und den Motor abstellte, vernahm ich Gelächter und Gesang. Draußen vor dem Haus waren mindestens ein halbes Dutzend Pferde an einem Geländer angebunden. Die Tür flog auf. Ein Mann kam heraus, ohne Hut, mit gekreuzten Patronengurten auf seiner verzierten Jacke, und einem Gewehr in der Hand. »Bleiben Sie stehen und sagen Sie, wer Sie sind«, rief er mir zu. Seine Aussprache war vom Alkohol etwas beeinträchtigt. Ich hätte ihn niederschießen, an meinem Steuer zurück und auf und davon sein können, ehe seine Freunde drinnen auch nur begriffen hätten, was los war. Aber dazu bestand eigentlich kein Anlaß, denn ich hatte bereits das unübersehbar an seiner rechten Brusttasche angebrachte Silberabzeichen bemerkt, das nur die rurales trugen, die Landpolizei, eine »Elite-Organisation«, deren Mitglieder bestens geeignet waren, jemandem die Kehle durchzuschneiden oder eine Frau zu vergewaltigen und doch immer ungeschoren davonzukommen. »Ich fahre Waren zu Gomez in Huila«, sagte ich. »Ich habe eine Transportgenehmigung von Capitan Ortiz, dem Polizeichef von Bonito.« »Kommen Sie ins Haus«, befahl er, »wo wir Sie anschauen können.« Das Lokal war dürftig von einer Ölfunzel erleuchtet, die von -36-
einem der Stützbalken an der niedrigen Decke hing. Sie saßen zu viert an einem langen Holztisch, zwei hatten die Pistolen im Anschlag, als ich eintrat. Sie trugen die gleichen litzenverzierten Jacken und gekreuzten Patronengurte wie der Mann hinter mir, und wären da nicht ihre amtlichen Silberabzeichen gewesen, hätte es einem niemand verdenken können, wenn man sie mit Männern auf der anderen Seite des Gesetzes verwechselt hätte. Sie sahen auf beunruhigende Weise alle gleich aus. Dichte Schnurrbärte, unrasierte Kinnpartien, finstere mißtrauische Blicke. Der einzige, der seinen Sombrero nicht auf hatte, schien das Kommando zu führen. »Wen haben wir denn da?« »Ich liefere Nachschub per LKW an Gomez in Huila.« Ich holte die Transporterlaubnis heraus und zeigte sie her. »Hier meine Papiere.« Er studierte sie und gab sie zurück. »Luis Delgado, zu Ihren Diensten, Sir.« »Zu Ihren«, gab ich höflich zurück. »Wollen Sie hier übernachten?« »Wenn es möglich ist, ja.« »Kein Problem. Was, Tacho?« Er blickte über die Schulter zu dem alten, weißhaarigen Mann, der hinter der kleinen Bar stand. »Der Señor wünscht Unterkunft. Kümmerst du dich darum?« Der alte Mann, der ausgesprochen besorgt aussah, nickte eifrig. Delgado kicherte. »Die springen, diese Hinterwäldlerschweine hier. Ich brauche nur mit der Peitsche zu knallen. Geben Sie mir die Ehre, etwas mit mir zu trinken, Señor?« Es war ratsam, diese Aufforderung nicht abzulehnen. Ich kippte das Glas Tequila, das er mir anbot, hinunter, wünschte ihm Gesundheit und begab mich zur Bar. Der alte Mann, Tacho, hatte offensichtlich Angst. Wirkliche Angst. In seinen Augen stand ein stummer Hilferuf, dem ich aber nicht entsprechen -37-
konnte, weil ich überhaupt nicht wußte, worum es hier eigentlich ging. Ich hatte damals noch keine Ahnung, daß diese Besuche von Delgado und seinen Leuten eine lange Vorgeschichte hatten. Delgado schlug mit der Hand heftig auf den Tisch. »Das Essen, du Miststück! Du Stück Scheiße, du, wo bleibt unser Fraß?« Tacho eilte ans andere Ende der Bar. Dort ging die Tür auf, und eine junge Frau aus der Küche erschien. Wie ich später erfuhr, hatte sie kurz zuvor ihren siebzehnten Geburtstag gehabt. Sie sah aber etwas älter aus, wie das bei Mischlingsfrauen meistens der Fall ist. Sie trug den üblichen knöchellangen Rock und eine indianische Bluse. Ihr schwarzes Haar hing in einem einzigen geflochtenen Zopf an ihrem Rücken hinunter. Sie war klein, denn ich war gut fünf Zentimeter größer als sie und bin selbst kaum einen Meter siebenundsechzig: dunkle, ganz dunkle Augen, hohe Backenknochen, breiter Mund, und eine Haut wie blassestes Oliv, die mich an meine eigene Mutter erinnerte – Gott hab’ sie selig. Sie war nicht schön. Trotzdem verspürte ich, nachdem ich mich abgewandt hatte, den Drang, sie noch einmal anzusehen. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie stellte das Tablett auf dem Tisch ab und wandte sich wieder zum Gehen, als sie Delgado am Handgelenk festhielt. »He, nicht so schnell, kleines Blümchen. Einem feinen Mann schmeckt sein Fraß erst, wenn er eine kleine Vorspeise gehabt hat.« Er faßte sie am Kragen ihrer losen Bluse und zog ihr diese über die Schultern, nur um zu entdecken, daß sie darunter ein Mieder trug. Er lachte donnernd. »Dame spielen, was? Das werden wir gleich haben.« Sie aber zog ihm die Fingernägel über die Wangen, daß er blutete. Er schlug sie so hart ins Gesicht, wie er es auch bei -38-
einem Mann getan hätte, dann legte er sie mit Gewalt übers Knie und grapschte mit einer Hand unter ihren Rock. Seine Freunde brüllten vor Vergnügen, und als der alte Tacho hinter der Bar hervorgerannt kam, um einzugreifen, erhielt er von einem von ihnen einen solchen Stoß, daß er bis zur Wand zurücktaumelte und zu Boden fiel. Das Mädchen wehrte sich verzweifelt, aber zwei andere der Kerle kriegten sie an den Handgelenken zu fassen und zogen sie so auf dem Rücken über den Tisch. Sie schrie nicht, sie zeigte auch keinerlei Furcht. Sie wehrte sich nur stumm und verbissen mit all ihrer Kraft, und sie würde sich zweifellos auch mit ihrer ganzen Seele bis zum letzten wehren, bis zum bitteren Ende, während sie keine Hilfe von irgend jemandem erwartete, nicht einmal von mir. Denn als sich unsere Augen trafen, sah sie durch mich hindurch, als sei ich gar nicht vorhanden. Solche Dinge passierten überall in diesem Land – jeden Tag. Nur machte diese Tatsache das Geschehen um keinen Deut erträglicher. Es ging mich zwar nichts an, gut – trotzdem zog ich meine Enfield und schoß die Tequilaflasche auf dem Tisch in Stücke. Die Wirkung war beträchtlich. Selten habe ich eine Gruppe Männer so schnell auseinanderstürmen sehen. Delgado war der einzige, der sich nicht einmal bewegte. Er sah mich träge an, immer noch das Mädchen im Griff, mit tückischen Augen, wachsam und ohne die kleinste Spur von Furcht. »Langsam, Señor, langsam«, sagte er. »Sie kommen ja auch noch dran.« »Die nächste bleibt Ihnen im Schädel stecken«, drohte ich. »Und jetzt los, an die Bar, alle, und zwar mit erhobenen Händen!« Sie kamen der Aufforderung zögerlich nach, finster, langsam rückwärts gehend, auf ihre Chance wartend. Die Reaktion des Mädchens war bemerkenswert. Sie kam ganz ruhig an meine -39-
Seite und blieb ganz dicht neben mir stehen. Sie klammerte sich an meine Jacke wie ein kleines Kind, das ein Familienmitglied in der Menge verloren und nun wiedergefunden hat. Tacho hatte sich mittlerweile wieder hochgerappelt und starrte mich sprachlos an, zitternd und benommen. Ich befahl ihm: »Nehmen Sie ihnen die Waffen ab, alter Mann. Einem nach dem andern. Sie brauchen keine Angst zu haben. Beim kleinsten Mucks, den irgendeiner macht, jage ich Delgado eine Kugel in den Bauch.« Er schien mich überhaupt nicht zu hören. Stand einfach nur da, von einer Seite zur anderen schwankend. Ich sprach zu dem Mädchen, ohne sie anzusehen. »Wie heißt du?« Sie antwortete nicht, klammerte sich dafür aber noch heftiger an meine Jacke. Delgado lachte roh. »Die ist keine große Hilfe, lieber Freund. Kleine Blume hat seit vielen Jahren kein Wort mehr von sich gegeben.« Ich griff nach der Hand, die sich an meiner Jacke festhielt und drehte das Mädchen so zu mir herum, daß ich ihm ins Gesicht sehen konnte, das gefaßt und aufmerksam wirkte. »Verstehst du mich?« Sie nickte. »Gut, dann nimm ihnen jetzt ihre Waffen ab und habe keine Angst. Ich schieße jeden nieder, der dir etwas tun will.« Tief in ihren Augen bewegte sich etwas, in ihrem Gesicht geschah etwas, obwohl es schwierig zu sagen war, was es zu bedenken hatte. Auf jeden Fall drehte sie sich um und ging auf die Männer an der Bar zu. In der Stille hinter mir klirrten Sporen. Ich begann mich umzudrehen und erinnerte mich zu spät daran, daß draußen am Geländer sechs Pferde angebunden gewesen waren, was bedeutete, daß einer von den rurales bisher nicht im Schankraum gewesen war. Da traf mich auch schon der Schlag. -40-
Ein schwerer Schlag irgendwo hinter dem rechten Ohr, der mich zu Boden schickte, ehe ich recht begriffen hatte, was los war. Die Enfield ging in dem Augenblick los, da sie auf dem Boden aufschlug, weil, wie ich schon erwähnte, ihr Abzug so empfindlich war, daß sie schier schon beim Anhauchen schoß. Es entstand Lärm und Durcheinander, und das nächste war ein dumpfer Schmerz in der Brust, verursacht von einem Stiefel, der dort hintrat. Ich wurde nicht direkt bewußtlos, aber es dauerte doch ein Weilchen, bis ich mich wieder auf den Knien fand. Allerdings mit auf den Rücken gebundenen Händen. Delgado war emsig damit beschäftigt, am Ende eines Sattellassos eine Schlinge zu knüpfen. Er tätschelte mir gütig das Gesicht, dann streifte er mir die Schlinge über den Kopf und warf das andere Ende des Lassos über einen der Deckenbalken. Zwei seiner Leute hielten das um sich schlagende Mädchen fest, die anderen drei griffen sich das Seil. Delgado lächelte. »Zuerst hängen wir Sie nur ein kleines bißchen, Señor. Dann vergnügen wir uns ein wenig mit Kleine Blume. Das zu beobachten sollte Ihnen viel Freude machen. Und danach na, wir werden sehen. Ich versuche mir etwas Spezielles auszudenken. Einem feinen Herrn wie Ihnen ist man das schuldig.« Das Seil unter meinem Kinn wurde ziemlich eng und begann zu spannen. Es zog mir den Kopf zurück und in die Höhe, bis ich auf Zehenspitzen vor ihm stand. Der alte Tacho duckte sich hinter einen Stuhl an der Wand, eine Hand vor dem Mund, die Augen aufgerissen. Selbst das Mädchen hörte auf, sich zu wehren, und auch ihre Bewacher lockerten ihre Griffe, um mich anzustarren. Und alles wartete. Und da ging die Tür auf. Und herein kam Pater van Horne. Er beugte seinen Kopf etwas, um durch die Tür zu kommen. »Guten Abend«, sagte er heiser. Er trug eine Gladstonetasche in der rechten Hand und stellte einen seltsam drohenden Anblick dar in seiner schäbigen, -41-
staubbedeckten Soutane und mit dem Priesterhut; dazu das bärtige Gesicht und eines seiner unvermeidlichen Zigarillos zwischen seinen Zähnen. »Man könnte direkt glauben, Sie befänden sich ein wenig in Schwierigkeiten, Mr. Keogh«, bemerkte er. Die Männer, die das Ende des Seils hielten, hatten es inzwischen etwas locker gelassen, so verwundert waren sie. Das gab mir die Chance, wieder etwas zu Atem zu kommen. »Sagen wir, es ist mir einfach langweilig geworden, untätig herumzustehen, Pater«, gab ich zur Antwort. Delgado hatte binnen einer Sekunde seine Pistole gezogen. Er griff nach dem Mädchen und schob sie aus dem Weg. »Wer sind Sie?« fragte er barsch. »Wir erwarten hier in dieser Gegend keine Priester. Davon müßte ich etwas wissen.« »Vermutlich«, sagte van Horne. »Würde es irgendeinen Sinn haben, wenn ich Sie aufforderte, diesen Mann hier freizulassen?« Delgado lächelte widerlich. »Sie können’s ja mal versuchen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß ich ziemlich wütend würde. Ich könnte mich daran erinnern, daß ich schon ziemlich lange keinen Pfaffen mehr aufgehängt habe. Und es könnte leicht sein, daß die Versuchung, Sie direkt neben diesem anderen gringo aufzuknüpfen, geradezu unwiderstehlich wird.« »Das wäre äußerst unangenehm«, erwiderte van Horne. »Für Sie vielleicht. Für mich nicht. Und jetzt Schluß damit. Zeigen Sie Ihre Papiere. Und ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf.« »Aber selbstverständlich, Señor.« Van Horne stellte seine Gladstonetasche auf den Tisch und holte einen Schlüssel dazu aus seiner Soutane. »Demütigung, Mr. Keogh«, sagte er währenddessen, »ist ein ausgezeichnetes Heilmittel für viele Leiden. Was ich damit sagen will: Es tut einem Mann ab und zu -42-
ganz gut, wenn er auf dem Bauche liegt und bereut. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Ich verstand es nicht. Jedenfalls nicht, bis er seine Gladstonetasche geöffnet hatte, eine Thompson-MP aus ihr her vorholte und Delgados Schädel in Stücke schoß.
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3 Alles war ziemlich schnell vorbei. Die Männer, die nur darauf gewartet hatten, mich an dem Seil zu dem Deckenbalken hinaufzuziehen, ließen dieses fahren und griffen nach ihren Revolvern, aber nicht schnell genug. Noch während ich mich nach vorne warf und dabei das Mädchen mit zu Boden riß, indem ich mit meiner Schulter direkt in ihre Kniekehlen stürzte, besorgte van Horne es allen dreien. Die Wucht der Garbe aus seiner MP riß die Männer bis an die Wand. Kein Zweifel, er verstand sein Geschäft. Er hatte eine runde Magazintrommel an seiner Thompson, und die ballerte er erst einmal leer, indem er einen weiten Bogen zog, dem nicht nur der Spiegel hinter der Bar zum Opfer fiel, sondern der auch den Fußboden hinter den beiden noch übrigen rurales, die in Richtung Küchentür losgerannt waren, in Mitleidenschaft zog. Der erste schaffte es, hauptsächlich deshalb, weil sein Gefährte ihm als Schutzschild diente und von den Kugeln durchlöchert buchstäblich durch die Tür flog. Seine Brokatjacke wurde dabei am Rücken nahezu durchtrennt und fing Feuer. Die Hintertür krachte zu, als der einzige Überlebende in die Dunkelheit hinausrannte. Van Horne verfolgte ihn. Das Mädchen rollte sich herum und setzte sich auf. Ich selbst kam etwas mühsamer hoch, wegen meiner noch immer gefesselten Hände. »Alles in Ordnung?« fragte ich sie. Sie nickte, rollte Delgado herum, zog ein Messer aus seinem Gürtel und schnitt meine Fesseln durch. Als ich die Seilschlinge von meinem Hals genommen hatte, bemerkte ich, daß die Haut aufgescheuert und an einer Seite abgeschürft war. Das Mädchen besah es sich. Ihr Gesicht war noch immer völlig ausdruckslos. -44-
Sie stand auf und rannte in die Küche. Draußen war plötzlich ein losgaloppierendes Pferd zu vernehmen und ein wilder Schrei, dem eine neue Salve aus der Tommy-MP folgte. Ich sprang auf und sah mich um. Überall war Blut und Gestank von Schießpulver und versengtem Fleisch. Ein wahrer Höllen-Schlächterladen. Tacho war hinter der Bar und schenkte sich mit zitternden Händen einen Tequila ein. Ich griff ebenfalls nach der Flasche und einem Glas und bediente mich. Es war das purem, reinem Alkohol Ähnlichste, was ich jemals getrunken habe, aber es brachte einen wieder auf die Beine, und das war im Augenblick das einzig Wichtige. »Gar nicht sehr gut, wie?« stellte ich fest. Tachos Gesicht war in völlige Verzweiflung und Ratlosigkeit verfallen. »Polizisten zu erschießen, selbst rurales, ist eine schlimme Geschichte«, stammelte er. »Und hier draußen zwischen hier und Huila gibt es eine Menge berittene Polizei. Hier in der Gegend war in letzter Zeit nämlich allerhand los.« Das Mädchen kam mit einem Steinkrug wieder, in dem eine Art Salbe war. Sie rieb davon ein wenig auf meine wundgescheuerten Stellen am Hals. Sie runzelte vor Anstrengung die Stirn. Ihre Finger waren sehr vorsichtig und leicht wie ein Vögelchen. Dann riß sie ein Stück von ihrem Unterrocksaum ab und wickelte es mir ein paarmal um den Hals. Ich tätschelte ihr das Gesicht. »Es ist schon sehr viel besser. Ich bin dir sehr dankbar.« Sie lächelte zum ersten Mal, sah dann Tacho unsicher an und ging in die Küche zurück. »Ihre Tochter?« Er schüttelte den Kopf. »Sie heißt Balbuena, Señor«, sagte er. »Victoria Balbuena. Ihr Vater besaß einmal eine Hazienda hier in der Gegend. Ich arbeitete damals für ihn. Aber vor fünf Jahren brannte sie völlig ab, das war während der Kämpfe hier. -45-
Und der patron und seine Frau kamen dabei um. Victoria sah alles mit an. Sie war damals zwölf, noch ein Kind. Da ist etwas mit ihr passiert, etwas höchst Seltsames.« »Was denn?« »Ach, da oben im Kopf, wissen Sie, Señor.« Er griff sich an die Stirn. »Seit dem Tag damals hat sie nie mehr auch nur ein Wort sprechen können.« Am Eingang wurden Schritte hörbar. Van Horne kam zurück. Das Zigarillo steckte noch immer zwischen seinen Zähnen. Die MP hatte er unter dem Arm. »Was war los?« fragte ich. »Er ist mir entkommen, das war los, verdammt.« Es war, als sei ein Vorhang weggezogen worden, hinter dem ein völlig anderer Mann zum Vorschein kam. Alles an ihm hatte sich verändert. Wie er sich bewegte. Wie er sprach. Seine Stimme war härter geworden, die Sprechweise abgehackt, der Tonfall scharf. Es war auf einmal etwas sehr Starkes, eine Art elementarer Kraft um diesen Mann, die er bisher aus offenkundigen Gründen verborgen hatte. Er warf die MP wütend auf die Bar und schnippte Tacho mit den Fingern. »Gib mir eine Flasche, schnell. Irgendwas. Ich muß nachdenken.« Meine Enfield steckte noch in Delgados Gürtel. Ich zog sie heraus, sah automatisch nach, ob sie noch geladen war, und schob sie in meinen Halfter zurück. Ich stieß den Toten mit den Zehen an und schob ihn etwas beiseite. »War das auch etwas, das Sie an der Westfront gelernt haben, Pater?« »Mein Sohn«, sagte er feierlich und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich muß eine Beichte ablegen. Es ist alles nicht so, wie es aussieht.« »Das ist es selten.« Er lachte, dieses eigenartige, rauhe Lachen, das ich von ihm -46-
schon kannte. »Erklärungen haben Zeit, bis die Gelegenheit passender ist. Jetzt ist da noch eine andere Geschichte zu erledigen. Hier sieht es ziemlich wüst aus. Wie lange kann es dauern, bis der Bursche, der uns entkommen ist, bei seinen Leuten ist?« »Tacho sagt, es wimmelt nur so von federales zwischen hier und Huila. In dieser Gegend war in letzter Zeit allerhand los. War das Ihr Ernst, als Sie sagten, Sie hofften durch die Sierras bis Guayamas durchzukommen?« »Ja. Ein Freund sagte mir, dorthin kommen laufend Handelsschiffe von den Pazifikinseln, mit Kopra-Ladungen. Schien mir eine gute Möglichkeit, sich heimlich, still und leise aus dem Staub zu machen.« »Sie sind also auf diese Art Passage angewiesen?« »So kann man es nennen, ja. Ich hole mal die Landkarte.« Er ging hinaus zu seinem Mercedes, und während er weg war, kam Victoria aus der Küche mit einer Kanne Kaffee auf einem Tablett und mehreren Tassen. Als sie einschenkte, fing sie bei mir an, was mich, ich wußte auch nicht recht warum, merkwürdig irritierte. Sie stand am Ende der Bar und betrachtete mich ernst. Sie erwiderte mein Lächeln nicht einmal. Sie wirkte wie ein Hund, der gehorsam und eifrig auf die Befehle seines Herrn wartet. Van Horne kam schnellen Schrittes wieder, er hatte eine Landkarte von Nordmexiko in großem Maßstab bei sich und breitete sie auf der Theke aus. »Norden, Süden und Osten kommen für mich wohl nicht in Frage«, stellte er fest. »Da können sie schnell telegrafische Nachrichten über uns verbreiten.« »Bleiben also lediglich die Sierras«, bestätigte ich und fuhr mit dem Finger die Straße nach Huila nach. »Dieser Weg ist wohl bei weitem der beste. In den Bergen gibt es eine Abzweigung, etwa vierzig Meilen vor Huila.« »So weit würden wir nie kommen. Wir würden mit Sicherheit -47-
Schwierigkeiten haben.« »Sie schließen mich da offenbar ein?« »Na, haben Sie etwa eine andere Wahl? Sie baumeln doch so oder so, falls sie Sie jemals in die Finger bekommen. Und bekanntlich sind zwei immer besser als einer, wenn es ein wenig stürmische See gibt.« Mit anderen Worten: er brauchte mich. Den wahren Grund für seinen Vorschlag begriff ich auch gleich danach, als er mit der Hand hart auf die Landkarte schlug. »O Gott, was für ein Schlamassel. Warum mußte ich meine Nase in Dinge hineinstecken, die mich überhaupt nichts angehen?« Das war eine Eigenschaft, die mir an ihm schon längst aufgefallen war. Aber ich sagte nichts. Statt dessen fing Tacho jetzt zu reden an, ebenfalls über die Karte gebeugt, kurzsichtig blinzelnd. »Es gibt da noch einen anderen Weg durch die Berge, über den Nonava-Paß. Eine ziemlich breite Straße. Sie wird nur selten benutzt. Während der Revolution haben die Yankeegringos auf ihr Waffen mit zwei LKWs von der Küste her transportiert. Aber seitdem ist sie nie mehr benützt worden, soviel ich weiß.« »Er könnte gar nicht so unrecht haben«, sagte van Horne. »Wenn das stimmt, was er sagt, werden sie uns nie im Leben auf dieser Straße suchen.« »Und wie ist es mit Benzin?« »Ich habe mit der Reserve noch immer an die fünfundzwanzig Gallonen im Tank, und im Kofferraum habe ich weitere fünfzig in Fünf-Gallonen-Kanistern. Das reicht leicht bis zur Küste.« Ich besah mir noch einmal die Karte. Wir mußten noch an die fünfzehn Meilen auf der Straße in Richtung Huila bleiben, da gab es keine andere Möglichkeit. Dann erst konnten wir die Abzweigung durch die Vorberge durch unwegsames Gelände -48-
nehmen, den Weg entlang, der offenbar lediglich ein alter Saumpfad war. »Da draußen könnten wir in der Dunkelheit Schwierigkeiten bekommen. Mit oder ohne Licht«, sagte ich. »Was sollen wir denn sonst machen? Hier auf unseren dicken Hintern sitzen bleiben, bis die Sonne aufgeht und die federales ankommen? Seien Sie nicht kindisch, Keogh. Selbstverständlich kann es uns passieren, daß wir in ein Loch hineinfahren oder direkt über die Böschung in einem Bachbett landen. Aber überlegen Sie sich einmal, was wir sonst für eine Wahl haben. Also, fahren wir los, kommen Sie.« Er faltete seine Karte zusammen, griff sich eine ungeöffnete Flasche Tequila und ging hinaus. Ich sagte zu Tacho: »Er hat ja recht. Es hat keinen Sinn, hier herumzuhängen.« Das Mädchen faßte mich am Arm, als ich mich eben abwandte. Sie versuchte mit ihren Augen zu sprechen, und ihr Mund ging dabei auf und zu. Ihr ganzes Gesicht arbeitete mit. »Was will sie?« fragte ich. »Ich glaube, Sie möchte mit Ihnen gehen, Señor«, sagte Tacho. Sie nickte eifrig, als ich mich ihr zuwandte. Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Nun sei nicht närrisch, Mädchen. Was soll ich mit dir anfangen? Wo könntest du schon hin? Kind, ich renne hier um mein Leben!« Sie packte mich nur um so fester an der Hand. Ihre Augen flehten noch immer. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Mädchen. Es geht nun einmal nicht.« Da fiel etwas in ihr zusammen, ich weiß nicht genau, was. Hoffnung vielleicht. Oder sonst etwas, was ihr möglicherweise noch wichtiger war. Irgend so eine Art vitaler Grundsubstanz, die in uns allen ist. Sie wandte sich ab. Ihre Schultern zuckten. »Wissen Sie«, erklärte Tacho, »in gewisser Weise rennt sie ja -49-
auch um ihr Leben. Für ihr Alter hat sie schon eine Menge Böses und Trauriges erlebt. Die Balbuenas, wissen Sie, waren hier in der Gegend jemand. Ihr Vater war ein richtiger Aristokrat. Aber er beging diese ganz unverzeihliche Sünde für einen Mann von vornehmen Blut: Er heiratete eine Indianerin. Und nicht nur das – eine Yaqui, eine Frau aus dem Land am Windfluß auf der anderen Seite der Berge. Das hat ihm seine Familie nie vergeben.« »Also hat sie niemanden?« »Nicht hier, Señor, aber drüben auf der anderen Seite der Berge, wo ihre Mutter geboren ist. Dort wäre es was anderes.« »Also gut«, sagte ich zu dem Mädchen und beugte mich dem Unausweichlichen. »Aber nur, wenn du deine Sachen in nicht mehr als zwei Minuten zusammengepackt hast.« Sie blickte mich voller Überraschung an und war schon in der Küche verschwunden. »Manchmal, Señor«, seufzte Tacho erleichtert, »schaut Gott durch die Wolken auf die Erde herunter.« »Aber nicht sehr oft, nach meiner Erfahrung«, antwortete ich. »Und wie steht’s mit Ihnen? Was werden die federales mit Ihnen machen?« »Ach Señor, ich bin doch nur ein unbeteiligter Zeuge gewesen, dem man selbst übel mitgespielt hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Und außerdem, wohin sollte ich schon? Ein alter Mann wie ich?« Draußen ertönte ungeduldig die Hupe des Mercedes. Im nächsten Augenblick war Victoria aus der Küche zurück, ein kleines Bündel unter dem Arm und einen schweren Wollschal um die Schultern gelegt. »Sie passen auf sie auf, Señor, ja?« rief mir Tacho nach, als ich sie zur Tür hinausdrängte. »Von jetzt an steht sie unter Ihrer Obhut.« -50-
Ein Gedanke, der mir nicht sonderlich gefiel: wieder Verantwortung für jemanden zu haben, für einen anderen Menschen. Aber jetzt war es ohnehin zu spät, noch einen Rückzieher zu machen. Als wir beim Mercedes ankamen, nahm ich das Bündel des Mädchens und warf es auf den Rücksitz. Van Horne sagte: »Was, zum Teufel, soll das denn bedeuten, bitte?« »Ganz einfach, das Mädchen kommt mit uns«, antwortete ich. »Und darüber gibt es keinerlei Debatte.« »Ohne mich.« »Das ließe sich arrangieren«, sagte ich kurz angebunden. Ich wußte nicht, wie es nun weitergehen würde, und hatte in der Dunkelheit schon den Finger am Abzug der Enfield, aber da gab er ganz überraschend nach: »Also, in Gottes Namen, soll sie einsteigen, damit wir nur endlich hier wegkommen. Ihren Schädel kann ich Ihnen später immer noch einschlagen.« Ich schob das Mädchen auf den Rücksitz, setzte mich selbst vorne neben ihn, und er fuhr los. Die fünfzehn Meilen auf der Straße nach Huila fuhren wir problemlos in einer guten halben Stunde, was angesichts der Dunkelheit und des Zustands der Straße beachtlich war. Die Schwierigkeiten begannen erst, als wir an die Abzweigung kamen, an der wir die Straße verlassen mußten. Erstens brauchten wir schon einmal fast eine weitere halbe Stunde, um überhaupt den Anfang des Saumpfades zu finden, so schlecht war er markiert. Und als wir dann auf ihn einbogen, wußte ich, daß es eine Menge Probleme geben würde. Es war so gut wie nichts zu sehen, obwohl wir die Scheinwerfer eingeschaltet hatten. Und es ging durch eine Geisterlandschaft, die aus nichts als Dornbüschen und Baumkakteen zu bestehen schien. Da schlängelten wir uns eine -51-
Weile lang durch, im ersten Gang, die meiste Zeit gerade mit fünf oder höchstens zehn Meilen pro Stunde, und zweimal verdankten wir es nur van Hornes Reaktionsvermögen, daß wir nicht in ein trockenes Bachbett fielen. Schließlich trat er resigniert auf die Bremse und stellte Motor und Scheinwerfer ab. »Also schön, Sie haben recht gehabt und ich unrecht. Ich weiß nicht einmal, ob wir überhaupt noch auf dem Weg sind oder nicht. Wir warten bis zum ersten Tageslicht, ehe wir weiterfahren.« Ich wandte mich um. »Alles in Ordnung?« Das Mädchen griff nach meiner Hand und drückte sie innig. Van Horne sagte: »Dürfte ich jetzt vielleicht erfahren, aus welchem Grund, zum Teufel, Sie sie mitgenommen haben? Können Sie ohne sie nicht mehr leben, oder was?« »Die federales hätten sie von einem zum andern weitergereicht.« »Ja nun, und wenn es ihr hier nicht passiert, dann wird es ihr woanders passieren. Also, wo ist da der Unterschied?« »Die Verwandten ihrer Mutter leben auf der anderen Seite der Berge. Bei ihnen kann sie unterkommen und leben. Die können sich um sie kümmern. Bei den Yaquis gibt es starke Stammesund Familienbande. Die werden sie nicht fortschicken.« Er war schon wieder einmal dabei, sich ein Zigarillo anzuzünden. Er sah mich überrascht an, und das Streichholz flackerte zwischen seinen schützenden Händen. »Wie war das? Sie ist eine Yaqui?« »Ihre Mutter war eine. Ihr Vater war beste weiße Oberschicht. Er stammte aus einer der Großgrundbesitzerfamilien.« »Mein Sohn, das sagt, verdammt noch mal, gar nichts. Das ist wie ein Brandzeichen. Mein Lieber, diese Yaquis sind schlimmer als die Apachen, und das will etwas heißen, glauben Sie mir das. Die erste Nacht, die Sie ihr im Bett nicht gefallen, -52-
holt sie das Messer heraus und schneidet Ihnen etwas ab.« »Na, das ist dann immer noch meine Sache, nicht Ihre.« »Solange wir zusammen sind, geht es uns beide etwas an. Sie muß weg, verstanden? Und zwar sobald wir hier durch und auf der anderen Seite sind.« »Wir werden sehen.« »Das werden wir ganz sicher.« Und dann fügte er mit seiner Art, urplötzlich das Thema zu wechseln, die ich später noch so typisch für ihn finden sollte, hinzu: »Es wird vor dem Morgen noch ein ganzes verdammtes Stück kälter werden. Sie soll den Rücksitz hochheben, da liegen ein paar alte Autodecken.« Er drehte sich nach hinten um, als wäre er plötzlich verärgert, und wiederholte es auf spanisch. Das Mädchen stand auf und suchte in der Dunkelheit herum. Nach einer Weile reichte sie mir ein schweres Autoplaid. »Nein, für dich«, sagte ich. Van Horne lachte gezwungen. »Keogh, die wird sich wie eine Klette an Sie hängen. Sie werden noch an meine Worte denken.« Er schnappte sich das Ende der Decke, faltete sie auseinander und legte sie sich und mir über die Knie. »Sie erfriert schon nicht da hinten. Es sind noch zwei Decken da. Es sei denn, sie wollen mit ihr unter eine kriechen. Ich habe nichts dagegen.« Er legte es offensichtlich mit Absicht darauf an, mich zu reizen. Ich ging nicht darauf ein, sondern drehte mich um und sagte zu dem Mädchen: »Pack dich gut ein und schlaf ein wenig. Beim ersten Tageslicht fahren wir weiter.« Van Horne knipste das Licht am Armaturenbrett an, fand die Flasche Tequila, die er sich aus der Bar mitgenommen hatte, und entkorkte sie. Er nahm einen langen Zug und seufzte. »Was das Zeug der Leber antut, weiß nur der liebe Gott, aber es ist das einzige, was -53-
mich über diese Nacht hinwegbringen kann. Sie trinken am besten auch was.« Ich nahm einen Schluck und rang nach Atem, als mir der Fusel schier die Kehle verbrannte. Ich gab ihm die Flasche schnell zurück. »Das Zeug hat der alte Tacho anscheinend in seiner eigenen Waschküche gebraut.« »Das halte ich für durchaus möglich. Ich halte überhaupt so ziemlich alles in diesem verdammten Land hier für möglich.« Er schüttelte sich. »Gott, wenn man noch einmal anfangen könnte!« »Würden Sie dann alles anders machen?« Der Flaschenhals klickte an seinen Zähnen, er trank geräuschvoll, es war ein langer, langer Schluck. Dann seufzte er wieder. »Nein. Das wird eine lange, dunkle Nacht, Keogh, und wir sitzen am Ende der Welt, beide weit weg von zu Hause. Also können wir zur Abwechslung auch mal ehrlich sein.« »Nämlich?« »Die ewige, alte Frage.« Er lachte kurz. »Würden Sie mir glauben, Keogh, wenn ich Ihnen sagte, daß ich tatsächlich vier Jahre in einem Priesterseminar war? Daß ich tatsächlich Priester werden sollte?« »Jedenfalls haben Sie heute morgen bei der Hinrichtung dieser Leute in Bonito überzeugend einen gespielt.« Es war, als hätte ich eine offene Wunde berührt. Er reagierte scharf. »Sie hatten den Tod vor Augen, Keogh, nur noch Minuten zu leben. Das Sterben wurde ihnen leichter, weil sie glaubten, einen Priester bei sich zu haben. Ob der ein echter war oder nicht, spielt dort, wo sie jetzt sind, verdammt noch mal, keine Rolle.« »Sie meinen also wirklich, die seien jetzt an einem besseren Ort?« Eine alberne, unpassende Bemerkung, unter den gegebenen -54-
Umständen, zugegeben. Sie bekam auch sofort die gebührende Antwort. »Klugscheißer.« »Gut, gut, tut mir leid.« Er trank wieder einen langen Schluck aus der Flasche und reichte sie mir anschließend. »Was machen Sie, wenn Sie diese Soutane nicht tragen?« »Sagen wir mal so: Ich bin im Bankgeschäft.« Er lachte laut auf, und in diesem Lachen lag keine Spur von Betrunkenheit, obwohl er schon eine Menge intus hatte. »Ja, so ungefähr. Sehen Sie, ich lebte mal in einem kleinen Nest in Arkansas. Da verlangte die Polizei einen Waffenschein für einen Revolver, und wenn Sie einen wollten, mußten Sie einen Grund angeben, warum Sie einen brauchten.« »Und welchen haben Sie also angegeben?« »Ich sagte ihnen, ich trüge oft große Summen Geldes bei mir. Ich sagte allerdings nicht, daß es meistens das Geld anderer Leute war.« »Aha. Also Sie sind ein Dieb!« »Ich raube Banken aus, falls Sie das meinen. Sie dürfen mir glauben, daß man in dem Fach gut sein muß, wenn man nicht geschnappt werden will.« »Und aus eben diesem Grund sausen Sie hier in Mexiko herum und spielen den seriösen Priester?« »Genau deswegen, ja. Vor zwei Tagen habe ich ganz allein die National Bank in einem kleinen Kaff namens Brownville in Texas ausgenommen. Sehen Sie, es ist ganz komisch, aber Priestern und Nonnen mißtraut keiner. Ich klopfte bei denen, eine halbe Stunde bevor sie ihren Laden öffneten, an die Tür, und der Wächter machte anstandslos auf.« »Und wie viele Tote liegen auf Ihrem Weg?« »Tote?« Er schien überrascht zu sein. »Ich sage Ihnen doch, ein sauberes, ordentliches Ding. Was ich an diesem Tag auf -55-
meinem Weg hinter mir ließ, waren exakt vier Männer, die, Gesicht nach unten, mit auf dem Rücken gefesselten Händen – noch lebend – am Boden lagen, sowie ein leerer Panzerschrank.« Er beugte sich vor, als wollte er mir direkt ins Gesicht sehen. »Aber mal andersrum, Keogh: Mir scheint eher die Frage interessant, wie viele Tote auf Ihrem Weg liegen.« Eine sehr gute Frage, zweifellos. Aber hätte ich ihm die Zahl genannt, wäre das womöglich der Schock seines Lebens gewesen. »Einer zuviel.« »Das ist es immer. Selbst, wenn man glaubt, eine Ausrede zu haben. Wie beispielsweise Sie mit Ihrer Politik. Irgendwie sind wir beide uns ähnlich, Keogh, jeder auf seine persönliche Weise. Ich sage Ihnen auch, warum. Wir haben beide ganz einfach den Tod in unseren Seelen.« Etwas Schrecklicheres hatte meiner Erinnerung nach noch nie jemand zu mir gesagt. Es war deshalb so schrecklich, weil es eine dieser Bemerkungen war, die ausdrückten und damit wahr machen, was man immer schon verbergen wollte, vor anderen und sogar vor sich selbst. »Wie haben Sie das hier genannt?« sagte van Horne. »Den letzten Ort, den Gott erschaffen hat? Da können Sie sogar recht haben. Meine alte Dame würde sagen, es endet mit mir so, wie ich es verdient habe. Sie und mein Vater waren Holländer. Als sie nach Vermont zogen, machten sie einen kleinen Laden auf. Er und ihre Religion waren ihr Lebensinhalt. Glaub mir, Junge, niemand ist strenger als holländische Katholiken. Als ich wegen eines kleinen Flittchens, das mich sechs Monate später wieder sitzenließ, aus dem Priesterseminar davonlief, sagte meine Mutter genau diese Worte: Der Zorn Gottes und das Jüngste Gericht würden mich gleichzeitig treffen. Und genau das habe ich seither immer wieder zu spüren bekommen.« Er brabbelte in dieser Weise noch eine ganze Weile weiter, zwar nicht betrunken, aber trotzdem Zeug von der Art, das man -56-
von sich gibt, wenn man zu tief ins Glas geschaut hat. Schließlich begann es in großen, schweren Tropfen zu regnen, die schmerzten, wenn sie einen trafen. Wir stiegen eilends aus und zogen das Verdeck hoch, keine Minute zu früh, denn gleich darauf begann es zu schütten, was nur herunterkonnte. »Lieber Gott, das hat uns grade noch gefehlt«, stöhnte van Horne. Ich fragte mich, ob ihm wirklich klar war, was diese Wendung der Dinge bedeutete. Daß nämlich am Morgen, wenn wir weiterfahren wollten, der Regen den größten Teil des Weges in Schlick und Schlamm verwandelt haben würde und daß aus hundert ausgetrockneten Bachbetten völlig unpassierbare reißende Wasserläufe geworden sein würden. Aber es hatte wenig Sinn, jetzt davon zu reden. Es hätte sowieso nichts geändert. Also zog ich mir lediglich die Decke um die Beine gegen die aufkommende Kälte und schlug meinen Kragen hoch. Wie viele Tote liegen auf Ihrem Weg, Keogh? Diese Frage war eine großartige Einschlafhilfe. Ein grauer, bleicher Morgen dämmerte herauf. Immer noch regnete es heftig. Wir standen nahe einem ehemals trockenen Flußbett. Jetzt durchschoß es reißendes Wasser wie ein Moorbach zu Hause an einem Novembermorgen. Die Berge waren näher, als ich vermutet hatte. Wir holten die Karten hervor, und es gelang uns schließlich, unseren Standort einigermaßen zu bestimmen. Wir hatten noch etwa zehn oder zwölf Meilen offenes Land zu durchqueren, ehe wir den Pfad erreichen konnten, nach dem wir suchten: den, der uns zum Nonava-Paß führen würde. Er war deutlich auf der Karte eingezeichnet, zwischen zwei Bergen, von denen der eine mit einem Zuckerhut bedeckt war und der andere drei ausgeprägte Gipfelzacken hatte. Trotz des -57-
dichten Regens konnten wir beide in der Entfernung eindeutig vor uns ausmachen. Der unglaublich robuste Motor seines Mercedes sprang ohne jede Mühe sofort an, sobald van Horne nur den Anlasser betätigte. Er fuhr langsam los, sich beim Fahren den Weg suchend, weil auch der letzte Rest jeder Spur, der wir bisher gefolgt waren, von dem starken Regen verwaschen war. Es war noch immer bitter kalt. Victoria blieb in die beiden Wagendecken gewickelt, in die sie sich die Nacht über vergraben hatte. Sie blickte hinaus in den Morgen. Ihr Gesicht sah so ernst und nachdenklich aus wie immer. Ich fragte sie, ob es ihr gutgehe, und sie nickte und lächelte sogar, was bei ihr – wie ich inzwischen wußte – etwas heißen wollte. Van Horne sagte: »Wieso sprechen Sie eigentlich so gut spanisch?« »Meine Mutter stammt aus Sevilla.« »Tatsächlich? Ihr alter Herr muß sich ja umgetan haben. Ich habe die Sprache in Juarez gelernt. Da habe ich ein Jahr lang als Manager in einem kleinen Spielcasino gearbeitet. Weil ich für eine Weile von der Bildfläche hatte verschwinden müssen. Ich war nämlich aus Leavenworth ausgebrochen. Das ist das staatliche Zuchthaus von Texas.« »Warum waren Sie denn drin?« »Weil ich einen erschossen hatte, der mich hatte erschießen wollen. Nur, er hatte Freunde beim Gericht, und ich nicht.« Es war schon seltsam, wie er sich inzwischen verändert hatte. Diese ungestüm vertrauliche Art, und dazu diese Härte in seiner Stimme, als wollte er unentwegt etwas beweisen; wobei nicht eindeutig zu bestimmen war, ob mir oder sich selbst. Ich dachte über all dies nach, weil es sonst nichts gab, worüber ich hätte nachdenken können, während wir einige Minuten später über eine kleine Hügelkuppe fuhren. Und dort erblickten wir dann unten am Abhang die berittene Polizei. -58-
Sie waren zu Pferde und hatten sich in einem Kreis versammelt, als warteten sie jeden Augenblick auf ihre Befehle nach dem Abbruch des Lagers. Die Überraschung war beiderseitig. Das leise Schnurren des Motors wegen der langsamen Geschwindigkeit, mit der wir fuhren, zusammen mit dem heftigen Regen und seinem Geräusch waren die Erklärung, warum sie uns nicht kommen gehört hatten. Es gab einen einzigen, erregten Aufschrei, als sie uns bemerkten, und während van Horne das Steuer herumriß und hart aufs Gas trat, pfiffen bereits einige Kugeln durch die Luft. Wir rasten in einer großen Schleife den Hügel hinunter, mitten durch eine dreißig Zentimeter tiefe Wasserpfütze, und hinaus auf das letzte Stück Ebene, das zu den Bergen führte. Aber inzwischen hatte die Jagd aufs heftigste begonnen, und das Ende war keineswegs abzusehen, schon gar nicht unser Davonkommen, denn die federales hatten wie üblich ausgezeichnete Pferde. Und wenn van Horne auch sein möglichstes tat, gab es doch Strecken, wo er notgedrungen das Tempo erheblich verringern mußte. Wir hatten noch etwa zweihundert Meter Vorsprung, als er fluchte und auf die Bremse trat. Wir fuhren gerade über einen kleinen Hügel, und dahinter war der Weg von einem überfluteten Flußbett versperrt. Als wir zurückgestoßen und abgebogen waren, hatte sich unser Vorsprung bereits auf fünfzig Meter verringert. Wir rasten steil die Anhöhe hinauf, über eine breite Kuppe des Zuckerhutberges. Die Räder drehten auf dem losen Geröll häufig durch. »Wenn wir nur erst da oben sind, finden wir sicher auch diesen Pfad«, schrie van Horne. »Die haben nicht den Hauch einer Chance, uns einzuholen. Die Thompson ist unter deinem Sitz, Junge. Schreck sie ein bißchen ab.« Ich zog die berühmte Gladstonetasche hervor und fand die MP. Auf einem Stoß aus Dutzenden von Bündeln Banknoten, -59-
frisch aus der Druckerpresse. Eine interessante Entdeckung, aber ich hatte im Augenblick Wichtigeres zu tun. Ich lehnte mich hinaus und ließ, deutlich über die Köpfe unserer Verfolger, eine lange, ratternde Garbe los. Das zügelte sie zwar sichtlich, aber als ich die Demonstration zu wiederholen versuchte, hatte die Thompson Ladehemmung. Ausgerechnet! Aber das kam bei dieser Waffe ziemlich häufig vor. Die federales hetzten ihre Pferde den Hang hinauf, aber wir hatten den Berg im nächsten Moment schon passiert und sahen nun tatsächlich keine fünfzig Meter unter uns den Pfad ganz deutlich. Er war in sehr viel besserem Zustand, als ich je erwartet hätte, und in dem Augenblick, als wir ihn erreicht hatten und auf ihn einbogen, war mir klar, daß wir es geschafft hatten und ihnen entkommen waren. Van Horne drehte sich zu mir und grinste mich triumphierend an, während er bei der Einfahrt in eine Schlucht den Gang zurückschaltete. Dann aber, als er wieder nach vorn blickte, trat er mit einem plötzlichen Aufschrei wieder hart auf die Bremse. Ein ganzes Stück des Berges schien abgebrochen und in einer Lawine aus Gestein und Erde heruntergekommen zu sein. Vermutlich eine Folge des heftigen Regens der Nacht: ein Erdrutsch. Und der Pfad war für alle Zeiten von der Landkarte verschwunden. Er rammte den Rückwärtsgang ein und begann den Mercedes zu wenden. Aber es war zu spät. Etwa ein Dutzend federales kam bereits über die Bergkuppe galoppiert. Sie fluteten über uns herein wie die stürmische See. Die Enfield lag schußbereit in meiner Hand. Kein Zweifel, ein paar von ihnen hätte ich noch erledigen können, aber mehr hätte ich auch nicht erreicht. Und das schien unter den gegebenen Umständen sinnlos zu sein. Ich legte sie auf den Sitz und hob so demonstrativ, wie ich nur konnte, die Hände hoch.
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4 Die nächsten paar Minuten hätten gut meine letzten sein können. Ich bekam einen Stiefel zwischen die Schulterblätter, als ich aus dem Mercedes stieg, und ging von dem Stoß zu Boden. Und dort war auch nicht der beste Platz angesichts eines Dutzends wild herumtrampelnder Pferde, die ihr Bestes taten, mich in den Boden zu stampfen. Zweimal traf mich ein Huf, das zweite Mal so heftig, daß ich glaubte, man hätte mir eine Rippe buchstäblich herausgetreten. Dann spürte ich einen eisernen Griff am Kragen, der mich hochzog. Van Horne stützte mich mit der einen Hand, während er die andere zur Faust geballt, dem nächststehenden Pferd derart in die Seite hieb, daß es hochging und fast seinen Reiter abwarf. Jemand schlug mit einer beschlagenen Lederreitpeitsche auf ihn ein. Er wickelte sie sich um seinen Arm, dann zog er daran mit einem scharfen Ruck und holte den Reiter, der sie hielt, aus dem Sattel, scheinbar ohne große Anstrengung. Zum ersten Mal erlebte ich die schier unglaubliche Kraft dieses Mannes. Ein paar Augenblicke lang herrschte erhebliche Verwirrung, während die Soldaten hektisch versuchten, ihre Pferde wegzubekommen, damit diese ihren unglücklichen Kameraden nicht zertrampelten. Der eine oder andere zog bereits das Bajonett und es sah einen Moment lang ziemlich schlecht für uns aus. Dann aber krachte ein einzelner Pistolenschuß, und ein junger Offizier bahnte sich seinen Weg durch den um uns gezogenen Ring, um kurz vor uns sein Pferd scharf zu zügeln. Er hatte ein schmales, hageres Gesicht mit einem dunklen schmalen Schnurrbart. Er trug die silbernen Balken eines Leutnants. Anders als die meisten der Truppe trug er keinen -61-
dieser Gummi-Ponchos. Seine maßgeschneiderte Uniform war völlig regendurchnäßt. Er lächelte kalt und überlegen, beugte sich aus dem Sattel und drückte van Horne den Lauf seiner Pistole zwischen die Augen. »Groß oder klein, Señor, stark oder schwach, eine einzige Kugel genügt.« »Rufen Sie Ihre Hetzhunde zurück«, erwiderte ihm van Horne. »Wir kommen ganz friedlich mit.« »Das werden Sie in der Tat. Ich habe den Befehl, Sie möglichst lebend zu fangen. Aber mir wäre es an Ihrer Stelle wesentlich lieber, wenn ich diesem Befehl nicht Folge leisten würde. Sie sind eine Verhöhnung jeden Anstands. Ziehen Sie diese Soutane aus.« Van Horne blickte ihn mit den Händen in der Hüfte herausfordernd an. »Und wenn ich Sie auffordere, ›den Befehl‹ zu mißachten, Sie halbe Portion?« Der Leutnant stieg ab, warf die Zügel seines Pferdes einem seiner Leute zu und sah van Horne starr an. Seinen Revolver hielt er in Gürtelhöhe. Er zog sehr demonstrativ den Abzugsbolzen zurück. »Señor, aus ganz persönlichen Gründen, die Sie überhaupt nichts angehen, mag ich Sie nicht und auch nichts an Ihnen und um Sie. Ich versichere Ihnen jetzt ausdrücklich beim Grab meiner Mutter: Wenn Sie nicht genau das tun, was ich Ihnen sage, dann bekommen Sie, was Sie mehr als verdienen.« Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Aber bei genauem Hinsehen konnte man erkennen, daß die Waffe in seiner Hand etwas zitterte. Van Horne hob, wie zum Zeichen der Besänftigung, seine Hand und sagte: »In Ordnung, gut, gut, Junge. Was tut man nicht alles für ein ruhiges Leben.« Er knöpfte seine Soutane am Hals auf, zog sie sich über den -62-
Kopf und warf sie in den Mercedes. Er trug darunter eine sehr geistlich aussehende schwarze Kammgarnhose und ein weißes Hemd. Der Leutnant befahl: »Auch den Kragen, wenn ich bitten darf.« Van Horne nahm ihn ab und warf ihn ebenfalls in den Mercedes, zur Soutane. »Zufrieden?« forschte er. »Erst, wenn ich Sie hängen sehe, Señor«, spottete der Leutnant. »Sie werden nach meinen Anweisungen dieses Automobil den Weg zurückfahren. Der kleinste Ausreißversuch, und ich schieße Sie nieder. Klar?« »Sie kleiner Maulaufreißer«, sagte van Horne, »bloß weil Sie dieses Ding da in der Hand haben. Ach, Junge.« Er drehte sich um und stieg in den Mercedes. »Sie können zu Fuß gehen«, rief der Leutnant mir zu und folgte van Horne. »Und sie?« fragte ich mit einem Nicken auf Victoria, die völlig unnötigerweise von zwei Männern festgehalten wurde. »Können Sie sie nicht mit sich nehmen?« Er sah sie an und runzelte die Stirn. »Das ist die aus der Kneipe vom alten Tacho, nicht? Die nicht reden kann.« »Das stimmt. Haben Sie mit ihm gesprochen? Hat er Ihnen erzählt, was vergangene Nacht passiert ist?« »Nein, aber ich bin ausreichend informiert durch den Bericht des einzigen Überlebenden der rurales, die Sie massakriert haben.« »Sehr interessant«, entgegnete ich. »Hat er Ihnen auch erzählt, was sie mit dem Mädchen versucht haben? Hat er Ihnen auch erzählt, daß sie mich aufhängen wollten, weil ich ihr zu Hilfe zu kommen versuchte? Und daß sie das sicher auch getan hätten, wäre mein Freund da nicht noch rechtzeitig erschienen?« Er glaubte mir, und das war im Augenblick das einzig -63-
Wichtige. Sein Gesicht wurde noch bleicher, als es ohnehin schon war, und der Ausdruck in seinen Augen war furchterregend. »Dies ist eine schmutzige Welt, Leutnant«, sagte ich sanft. »Und dieses junge Ding da konnte nicht einmal um Hilfe schreien.« Er wandte sich wortlos ab, packte Victoria am Arm und schob sie auf den Rücksitz des Mercedes. Dann stieg er neben van Horne ein und bedeutete ihm, loszufahren. Van Horne brauchte eine Weile, bis er den Mercedes in die richtige Fahrtrichtung manövriert hatte, aber er schaffte es schließlich, und wir traten alle zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Dann marschierten wir den ganzen Weg zurück. Die Soldaten ritten, nur der kommandierende Sergeant, ein schmächtiger, dunkelhaariger Mann mit einem gewaltigen Schnurrbart, stieg ab und ging, eine Pistole in der Hand, neben mir. Ich zog ein Päckchen Artistas heraus. »Was dagegen, wenn ich rauche?« »Nein, nein. Geben Sie mir auch eine.« Ich gab ihm auch noch Feuer dazu, und er blies den ersten Lungenzug aus. »Da habt ihr ein großes Fest gehabt, gestern abend bei Tacho, wie, Sie und Ihr Freund da? Wie viele rurales habt ihr erledigt, fünf?« »Was passiert jetzt?« fragte ich. »Ach, unten wartet der Colonel auf euch. Colonel Bonilla. Er ist der Militärgouverneur hier in der Gegend. Er ist gestern früh mit uns Patrouille geritten, einfach so, weil er mal sehen wollte, wie es so aussieht. So ist er. Wir hatten unser Nachtlager bei einer alten rancheria in der Nähe der Hauptstraße aufgeschlagen, als dieser rurale dahergeritten kam. Der eine, den ihr bei Tacho habt entwischen lassen.« In seiner Stimme klang aufrichtige Bewunderung mit, als er hinzufügte: »Sie und -64-
Ihr Freund, ihr müßt Teufelsfahrer sein.« »Und wieso seid ihr hierhergekommen und nicht zu Tachos Kneipe geritten?« »Das war der Colonel.« Er legte den Finger an die Nase. »Der hat was drauf, der Mann. Er hat sich gesagt, ihr würdet selbstverständlich versuchen, so schnell wie möglich wegzukommen. Also hat er zu Tacho nur ein halbes Dutzend Leute mit einem Sergeanten losgeschickt, sicherheitshalber. Dann hat er sich zusammen mit dem Leutnant die Karte angesehen. Und dann sagte er, er selbst würde in eurer Lage versuchen, über den Nonava-Paß zu entkommen. Eben weil es das Unwahrscheinlichste zu sein scheint.« »Und er hat den Nagel damit auf den Kopf getroffen.« »Das tut er meistens. Er hat uns heute nacht ganz schön angetrieben. Er hielt erst an, als es wirklich schlimm zu regnen anfing. Aber er hatte auch da wieder recht. Wären wir nicht dagewesen, wo wir waren, wärt ihr durchgewesen, nicht?« Gar nicht schlecht, dieser Colonel Bonilla. Wir kamen an die Stelle, wo der Pfad wieder in die Wüste überging, und dort stand bereits der Mercedes am Eingang einer schmalen Schlucht. Sie hatten trotz des Regens bereits ein Feuer brennen, was aber angesichts der vielen Dornbüsche hier gar nicht so schwer zu entfachen war, und dessen Rauch kräuselte sich träge in der feuchten Luft. Van Horne stand neben dem Wagen, und ich bemerkte, daß jemand, vermutlich wohl der Colonel Bonilla, auf dem Rücksitz saß, bei offener Tür. Er war ein großer, gutaussehender Mann. Seine Koteletten waren vorzeitig ergraut, denn ich schätzte ihn auf kaum mehr als vierzig Jahre. Er machte in seinem Kavalleriemantel eine sehr stattliche Figur. Es war etwas sehr Intelligentes und Zynisches an ihm. Sein Gesicht war das eines Mannes, der alles gesehen hat, dem nichts Menschliches fremd geblieben ist und der deshalb an nichts mehr glaubt. An gar nichts mehr. -65-
Der Sergeant übergab mich dem Leutnant, und der führte mich den Rest des Weges. Bonilla betrachtete mich ruhig. »Ihr Name, Señor?« forderte er höflich. »Emmet Keogh. Ich bin britischer Staatsbürger.« »Keogh?« Er runzelte die Stirn. »Ein ungewöhnlicher Name, Señor. Ich habe ihn schon mal gehört. Waren Sie nicht der Sicherheitsmann in den Silberminen von Hermosa?« »Das stimmt. Sie scheinen überrascht zu sein.« »Sie habe ich mir ganz anders vorgestellt, Señor.« »Inwiefern? Mit zwei Hornern und einem Schwanz?« »Kann auch sein. Ihre Papiere bitte.« Ich holte meine vom Polizeichef in Bonito ausgestellte Transportgenehmigung hervor. »Ich habe nur das bei mir.« Er studierte sie mit ernstem Gesicht. »Sie sollen also eine LKW-Ladung mit Nachschub bei diesem Gomez in Huila abliefern?« »Das stimmt. Für Señor Janos, den Besitzer des Hotels Blanco in Bonito.« »Señor Janos zu kennen ist nicht gerade eine besondere Empfehlung, glauben Sie mir das. Dieser Mann hier« – er deutete auf van Horne – »hat mir soeben seinen eigenen Bericht über die Ereignisse der vergangenen Nacht an der Poststation gegeben. Ich bin gern bereit, mir den Ihren anzuhören.« Er nickte dem jungen Leutnant zu. »Führen Sie den da weg.« Der Leutnant versetzte van Horne einen nicht übermäßig sanften Stoß zum Zeichen, sich zu bewegen. Bonilla kicherte. »Ich fürchte, Leutnant Cordona hat nicht allzu viel für Ihren Freund übrig. Wissen Sie, er ist ein sehr korrekter junger Mann. Als er noch ein kleiner Junge war, hatten seine Eltern geplant, ihn Priester werden zu lassen, und er hat auch eine entsprechende Erziehung genossen. Sie werden ohne Mühe begreifen, daß für so jemanden ein Mann wie Ihr Freund, -66-
der sich als Priester ausgibt, obwohl er gar keiner ist…« Er holte ein silbernes Zigarettenetui hervor, wählte sich sorgfältig eine Zigarette aus, zündete sie an und blies den Rauch in den Regen hinaus. »Also gut, lassen Sie uns mal Ihre Version der Geschichte hören.« Ich berichtete ihm alles wahrheitsgemäß. Als ich fertig war, nickte er langsam. »Bemerkenswert, sehr bemerkenswert.« Er griff nach hinten und brachte die Gladstonetasche zum Vorschein. »Da drin sind dreiundfünfzigtausend Dollar, wußten Sie das?« »Ich habe van Horne gestern früh in Bonito zum ersten Mal in meinem Leben gesehen, als er drei Männern, die bei den Polizeibaracken öffentlich hingerichtet wurden, die Beichte abnahm. Er sah wie ein Priester aus. Er benahm sich wie ein Priester, und alle hielten ihn auch für einen, mich eingeschlossen. Als er am Abend plötzlich bei Tacho auftauchte, als die Geschichte dort mitten im Gange war, rettete er mich davor, an einem Strick hochgezogen zu werden. Und er rettete das Mädchen vor weiß Gott was… Das müßte ihm doch einige Pluspunkte einbringen, was immer sonst er gewesen sein mag.« »Na ja, aber fünf auf einen Streich, lieber Freund, das ist ein bißchen viel. Doch wir werden später noch einmal darüber reden, wenn meine andere Patrouille zurück ist.« Er schnippte mit dem Finger und alsbald war der Sergeant zur Stelle. »Schaff ihn zu seinem Freund, und bring mir das Frühstück.« Ich ging zu van Horne, der an einem Felsen lehnte. Sein Hemd klebte ihm am Leibe, und er zitterte vor Kälte. »Na, was haben Sie ihm erzählt?« fragte er. »Die Wahrheit, was sonst?« -67-
»Wunderbar.« Er lächelte schwach. »Nicht, daß es irgendeinen Unterschied macht. Es ist nur ein möglicher Weg, aus der Geschichte herauszukommen, Keogh.« »Vielleicht.« Ich sah mich um. »Was haben sie mit dem Mädchen gemacht?« »Sie haben sie arbeiten geschickt.« Sie trug einen der Gummi-Ponchos der Kavalleristen und eine Militärmütze, deshalb hatte ich sie zuerst gar nicht erkannt. Sie hockte am Feuer und briet frijoles in einer Bratpfanne. Sie bemerkte, daß ich sie ansah, goß Kaffee in einen Becher und kam auf uns zu. Cordona aber vertrat ihr den Weg, schlug ihr den Becher aus der Hand und schickte sie mit einem Stoß zurück zum Feuer. »Liebe Burschen wie den da«, kommentierte van Horne, »könnte ich wirklich zu hassen lernen.« »Das beruht auf Gegenseitigkeit. Er hat etwas gegen Leute, die sich als Priester ausgeben.« »Das bricht mir das Herz«, seufzte van Horne. In der Ferne war ein schwaches Kavallerietrompetensignal zu hören. Ein halbes Dutzend Soldaten, ein Sergeant vorneweg, kam durch den Regen auf uns zu. »Das werden wohl die Jungs sein, die er gestern abend noch zu Tachos Kneipe losgeschickt hat«, erklärte ich. Wir sahen zu, wie der Sergeant vortrat und seine Meldung machte. Bonilla warf dabei ab und zu Blicke zu uns her und schien den Mann dann eingehend zu befragen. Schließlich befahl er Cordona, uns zu ihm zu bringen. »Sagen Sie, Señor Keogh«, fragte er, »was war das für eine Fracht, die Sie da in Ihrem LKW transportierten?« »Whisky«, sagte ich. »Zur Lieferung an einen Mann namens Gomez in Huila. Wie ich Ihnen schon sagte.« »Aber dabei haben Sie vergessen, die Gewehre zu erwähnen.« -68-
»Gewehre?« Ich starrte ihn verständnislos an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Martini-Henry-Karabiner. Diese Kisten in Ihrem Laderaum sind voll davon. Jedenfalls nach dem, was mir mein Sergeant berichtet, und der ist üblicherweise zuverlässig.« »Da haben Sie aber liebe Freunde, Keogh«, stellte van Horne bitter fest. »Das, würde ich sagen, schlägt dem Faß den Boden aus.« »Warum, zum Teufel?« rief ich ärgerlich. »Der LKW gehört Janos, nicht mir. Ich bin nur angeheuert worden, das verdammte Zeugs zu fahren.« Ich wandte mich an Bonilla. »Sie haben meine Transportpapiere doch gesehen. Sie müssen sich doch an Janos halten. An ihn und den Polizeichef von Bonito, Capitan Ortiz.« »Das wird alles aufgeklärt werden, Mr. Keogh, alles zu seiner Zeit.« Er fuhr mit der Hand über die Rückenlehne des Fahrersitzes. »Dies ist wirklich ein sehr hübscher Wagen.« Er wandte sich an Cordona. »Haben Sie gewußt, Leutnant, daß ich Auto fahren kann? Das will an sich natürlich nicht viel heißen, aber es kann sehr vorteilhaft sein, wenn man sich einem Fahrzeug wie diesem da gegenübersieht. Jedenfalls, ich habe mich entschlossen, mir das kleine Vergnügen zu gönnen, in ihm die Fahrt nach Huila zurück zu machen. Stellen Sie zwei Männer zu meiner Eskorte ab. Ich möchte gern sobald wie möglich aufbrechen.« »Und was geschieht mit den Gefangenen, Colonel?« »Ach, die können laufen, denke ich. Diese Übung wird gut für ihre Gesundheit sein und ihnen auch sonst nützen. Ich erwarte Sie also morgen Nachmittag. Melden Sie sich gleich nach Ihrer Ankunft bei mir.« Er wandte sich ab, ohne uns weiter zu beachten, und Cordona schickte uns auf unsere Plätze zurück. Wir beobachteten die Vorbereitungen zu Bonillas Abfahrt. Zwei Soldaten, Karabiner -69-
umklammernd, stiegen hinten ein, und als Bonilla den Anlasser drückte, sprang der Mercedes für ihn genauso leicht und zuverlässig an wie für van Horne. Als er losgefahren und im Regen verschwunden war, sagte ich zu van Horne: »Nun, was meinen Sie?« »Meinen? Was, zum Teufel, soll ich dazu schon meinen?« Er blickte mich zornig an. »Seien Sie nicht kindisch, Keogh. Sie sind am Ende der Straße angelangt und sollten sich beizeiten daran gewöhnen.« Als wir aufbrachen und losmarschierten, wurde das Mädchen auf Anweisung von Cordona auf einen der Packesel gesetzt. Van Horne und ich jedoch mußten, beide an den Handgelenken an zehn Meter lange Seile gefesselt, zu Fuß gehen. Das heißt: gehen trifft die Sache nicht ganz genau. Es bedeutete, mit den Pferden Schritt zu halten, was auch kommen mochte. Wenn sie trabten, trabten wir ebenfalls, und wenn sie in Galopp fielen, mußten wir rennen, was das Zeug hielt. Es war ein verdammt harter Vormittag. Denn selbst noch, als der Regen aufgehört hatte, war es sehr mühsam zu gehen, und es geschah immer wieder, daß wir hinfielen und einige Meter mitgeschleift wurden. Wir rasteten mittags. Wieder wurde ein kleines Feuer gemacht, damit Kaffee gekocht werden konnte. Van Horne und ich lagen währenddessen müde am Boden und sahen zu. Alle außer uns bekamen Kaffee. Das Mädchen war darüber besonders betrübt. Sie sah immer wieder zu uns herüber. Einmal goß sie einfach einen Becher voll und zupfte Cordona bittend am Ärmel, aber er wehrte sie unwirsch ab. »Dieser Wurm hat beschlossen, uns fertigzumachen, ist dir das klar?« fragte van Horne. »So etwas in der Art ist mir in der Tat schon in den Sinn -70-
gekommen«, antwortete ich sarkastisch. »Wenn Sie nur wenigstens einen Methodisten gemimt hätten, Bruder. Vielleicht hätte ihm das nicht so viel ausgemacht.« Aus irgendeinem Grund fand er das furchtbar lustig und lachte laut los, und dies gefiel Cordona ganz und gar nicht. Er schoß uns wütende Blicke zu und befahl dann seinen Leuten den Aufbruch. Der Nachmittag lief ebenso ab wie der Vormittag. Mit anderen Worten, es war eine lange Leidenszeit, die nie mehr zu enden schien. Gegen Abend begann es wieder heftig zu regnen, und ich taumelte am Schluß der Kolonne, frierend, durchnäßt und völlig am Ende. Meine Beine waren so schwer, daß mir jeder Schritt, den ich doch noch tun konnte, wie ein kleines Wunder erschien. Als wir endlich spätabends in den Ruinen einer alten rancheria für die Nacht lagerten, fiel ich völlig erledigt zu Boden und kroch, als mich mein Aufseher und Seilführer losband, nur noch auf allen vieren in den Schutz einer Lehmziegelmauer. Wir hatten wohl etwa dreißig Meilen zurückgelegt und noch an die zwanzig vor uns. Ich öffnete müde die Augen und fand van Horne neben mir. »Ich werde alt, Keogh, so sieht’s aus.« Sein Gesicht war grau und von den Strapazen gezeichnet, aber er war noch immer imstande zu lächeln. »Soll ich dir was sagen? Ich habe beschlossen, daß ich unseren Freund auch nicht eine Spur mag.« Es brannten drei Feuer. Die Männer suchten im nahen Dickicht Holz und Reisig zusammen. Bald hing der Geruch von Kaffee und gebratenem Speck in der feuchten Luft. Nach einer Weile erschien das Mädchen mit einem Blechbecher voll Kaffee in der einen und einer Pfanne mit frijoles in der anderen Hand. Und schon kam Cordona wieder angerannt und schlug ihr den Becher aus der Hand. Er packte sie am Handgelenk und tat ihr dabei wirklich weh. -71-
»Ich habe doch gesagt, die beiden kriegen nichts, verdammt noch mal«, schrie er. Dann zögerte er, offensichtlich doch etwas verunsichert wegen der Anzeichen von Schmerz in ihrem Gesicht. »Fühlst du dich jetzt besser, Bubi?« fragte ihn van Horne. Cordona schoß mit geballter Faust herum, hielt sich aber doch zurück, wenn auch nur mit der größten Anstrengung. Dann packte er das Mädchen am Arm und zog sie mit sich zurück zum Feuer. Der Regen wurde noch stärker und mit ihm auch unser Elend, als es schnell dunkel wurde. Einige der Soldaten sahen ab und zu verstohlen zu uns herüber, wie wir uns im strömenden Regen zusammenkauerten. Cordona ignorierte uns. Er blieb einfach rauchend an seinem Privatfeuerchen sitzen und trank eine Tasse Kaffee nach der anderen. Schließlich stand Victoria sehr entschlossen auf, holte sich zwei Pferdedecken und kam damit zu uns herüber. Sie gab eine van Horne, beugte sich dann zu mir herunter und breitete die andere über sich und mich. Die Soldaten sahen verstohlen erst Cordona und dann einander an. Ich konnte ihr Gewisper hören, aber er machte trotzdem keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Er starrte nur vor sich hin. Sein Stolz verbot ihm, einen neuen Wutanfall zu zeigen. Ich zitterte wie Espenlaub, und meine Zähne klapperten. Aber allmählich wurde es mir jetzt doch wärmer, unter der Decke. Und auch, weil das Mädchen sich an mich preßte. Als das Zittern aber gar nicht aufhörte, zog sie mein Gesicht an ihre Schulter und die Decke über meinen Kopf. Dann begann sie mich sanft zu wiegen. Und ich vergaß ihr Alter und ihre Herkunft, und meine Augen fielen mir schläfrig zu. Sie war einfach eine Frau, die zur rechten Zeit das Richtige tat. Wie ja alle Frauen im Grunde weise geboren werden und fast immer die richtigen Mittel kennen. -72-
In der Nacht hörte es auf zu regnen, und der folgende Tag zog in blauer Wolkenlosigkeit herauf. Die Sonne stieg schon früh empor. Mitte des Vormittags war es bereits so heiß, daß schon wieder sämtliche Nässe aus diesem dürren Land gewichen war, und der Staub, den die Hufe der Pferde aufwirbelten, in einer dicken Wolke hochstieg. Van Horne und ich mußten mitten in dieser Wolke laufen. Das machte das ohnehin angestrengte Atmen nicht gerade leichter. Die Hitze war unerträglich. Als die Mittagsrast befohlen wurde, war ich am Ende meiner Kräfte. Ich war so oft hingefallen, daß die Kolonne ein übers andere Mal hatte anhalten müssen, und selbst Cordona hatte keine Einwände mehr erhoben, als man mir Wasser gab. Ich war schon lange nur noch mit meiner eigenen begrenzten kleinen Leidenswelt beschäftigt und konnte mich nicht mehr darum kümmern, wie van Horne die Sache durchstand. Als ich schließlich die Augen öffnete und ihn im Mittagslager neben mir liegen sah, schien es, daß es ihm keinen Deut besser erging als mir. »Ich lebe nur noch, weil ich dem Kerl zum Trotz nicht krepieren will«, lallte er kraftlos. »Ein schwacher Sieg, aber immerhin, es ist einer. Mein ganz persönlicher.« Ich rollte mich auf den Rücken, mein ganzer Körper glühte, und sah Victoria mit einer Kanne Wasser über mir knien. Sie sah ängstlich aus und zornig zugleich. Ich versuchte ein Lächeln, aber meine Lippen sprangen dabei nur auf, und das tat weh. Sie goß ein wenig Wasser in meinen Mund und dann auch über mein Gesicht. Cordona kam vom Feuer her, mit einem Becher Kaffee in der Hand, blieb stehen und sah auf uns herab. »Zufrieden?« lallte van Horne. »Oder sollen wir ganz krepieren?« Cordona wandte sich ab und ging zum Feuer zurück. -73-
Trotzdem, er wollte und wollte nicht nachgeben. Als wir weiterzogen, wurde ich zu einem der Packesel geschleift und meine Handgelenke über den hohen Holzknauf an dessen Packsattel gezogen. Der Sinn der Sache war, daß ich auf diese Weise nicht mehr ständig hinfallen konnte. Das war schon etwas. Aber ich mußte natürlich trotzdem weiterhin laufen. Van Horne bekam einige Meter vor mir dieselbe Behandlung, und auf diese Weise brachten wir also die letzten Meilen bis Huila hinter uns. In meinem Fall war es, genau gesagt, eher eine Sache des Dranhängens. Denn meine Füße schienen die meiste Zeit nur noch auf dem Boden zu schleifen. An den Einzug in Huila selbst habe ich keine klare Erinnerung mehr. Nur daran, daß ich plötzlich einen Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet bekam, worauf ich mich rücklings auf dem Boden liegend fand, während sich Cordona über mich beugte. »In Ordnung, Keogh«, sagte er. »Nehmen Sie sich jetzt zusammen. Wir sind da.« Ein paar Soldaten zerrten mich hoch und führten mich über einen Hof. Van Horne war vor mir, ebenfalls von zwei Soldaten geschleppt. So ging es durch eine große Eichentür in einen bestimmten Geruch hinein, der mir untrüglich sagte, daß ich mich wieder im Gefängnis befand. Die Zelle war nicht viel besser als eine Abortgrube, aber selbst das war Cordona noch nicht genug. Er mußte uns auch noch in Fußeisen legen lassen, ehe er uns verließ. Ich war weit jenseits der Grenze, wo ich mich darüber noch hätte aufregen können, und als die Tür zuknallte, war nichts mehr um mich als gnädiges, erlösendes Dunkel. Ich muß danach sechzehn oder siebzehn Stunden geschlafen haben. Ich kann mich erinnern, ein paarmal zwischendurch aufgewacht zu sein, um meine Notdurft zu verrichten, und van -74-
Horne schnarchend in der Ecke zu finden. Aber jedesmal fiel ich sofort wieder in tiefen Schlaf zurück – gleich nachdem ich die Augen wieder schloß. Als ich schließlich richtig erwachte, war es später Nachmittag am folgenden Tag und van Horne stand an dem kleinen vergitterten Fenster der Zelle und sah hinaus. Er wandte sich lächelnd zu mir um. »Na, wie geht’s?« »Schrecklich.« Ich legte eine Hand auf meinen Bauch, der sich anfühlte, als sei ein Loch darin. »Gibt es hier irgendwas zu essen?« »Dort in der Ecke steht ein Topf Wassersuppe mit so vielen Maden drin, daß ich zu zählen aufgehört habe. Ich warte auf deine kleine Freundin.« »Victoria.« Ich stand auf und stöhnte unwillkürlich auf, weil mein Körper immer noch schmerzte. »Wovon redest du denn?« »Sie war vorhin schon mal hier am Fenster. Ich habe ihr fünfzig Pesos gegeben, die ich noch in meinem Schuh hatte, damit sie uns ein paar Sachen besorgt.« Er brummte plötzlich. »Na, da kommt sie ja schon.« Ich lugte durch die Gitterstäbe auf den kleinen Hof hinaus. In der Mitte war ein Brunnen. Es schien weit und breit niemand zu sein. Das Tor zur Straße stand offen. Victoria blickte mit ernstem und fragendem Gesicht zu mir auf. Ich sagte sanft: »Du solltest so etwas nicht tun.« Sie lächelte und begann die Sachen durch das Gitter zu schieben, die sie besorgt hatte. Eine Flasche Wein, Brot, Oliven, einige lange Würste und zwei Päckchen Artistas samt Streichhölzern. »Guten Appetit, meine lieben Freunde«, sagte da Colonel Bonilla und trat aus dem Schatten des Bogendurchgangs rechts von uns, in dem er bisher gestanden und alles beobachtet hatte. »Lassen Sie es nicht an dem Mädchen aus, Bonilla«, bat ich, -75-
als er herankam. »Sie hat nur versucht, gut zu uns zu sein.« Sie sah ihn ängstlich an. Aber er tätschelte nur ihren Kopf und sagte: »Mach, daß du fortkommst, Kind, und halte dich von hier fern, sonst gibt es nur Scherereien.« Zu meiner Verblüffung lächelte sie ihn an, flüchtig zwar nur, aber es war doch da, dann schenkte sie mir noch einmal einen Blick, ehe sie davoneilte. Bonilla sagte: »Ja, liebe Freunde, es ist immer gut zu essen in diesem Leben, wenn man kann, denn man kann ja nie sicher sein, ob es nicht das letzte Mal ist.« Und nach dieser ermutigenden Bemerkung überließ er uns unserem Mahl und verschwand wieder im Schatten des Bogengangs, aus dem er gekommen war.
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5 Mein Vater, ein überzeugter irischer Fenier bis zu dem Tag, an dem er in einem englischen Gefängnis an Tuberkulose starb, überließ mich der Fürsorge meines Großvaters Mickeen Bawn Keogh aus Stradballa in der Grafschaft Kerry. Dazu muß man wissen, daß Mickeen Bawn kleiner weißer Michael bedeutet, eine Beschreibung, die mir freilich nie recht einleuchten mochte. Denn wenn auch sein Haar schon seit seiner Knabenzeit schlohweiß gewesen war, war er doch einsfünfundneunzig groß. Ein sanfter Riese von einem Mann, vom Trinken einmal abgesehen. Ich habe ein halbes Dutzend harte Männer, die selbst keine Winzlinge waren, vor ihm davonlaufen sehen, wenn er betrunken war. In seiner Jugend war er nämlich, neben manchem anderen, auch ein Preisboxer gewesen. Das war die Umgebung, in der ich aufwuchs, auf einer KerryFarm, wo es die besten Pferde Irlands gab. Und das will besagen, daß weder die ganze Welt noch irgend etwas, das sie zu bieten hat, sich jemals mit jenen Tagen messen konnte. Ein Hinterland, das so still war, daß man die Hunde aus der nächsten Grafschaft bellen hören konnte. Süßduftende Morgen und Sonnenuntergänge zum Schwärmen. Kein Anfang, kein Ende, die Zeit ein Kreis. Bis mein Großvater beschloß, daß ich, weil ich was im Kopf hätte, zu den Jesuiten nach Knockbree auf die Schule gehen sollte, um dort ein gelehrter Mann und womöglich eines Tages sogar ein Gentleman zu werden. Als ich dann ins chirurgische College aufgenommen wurde und später auch an die Universität, gab es keinen stolzeren Mann weit und breit als mich. Aber trotz alledem sind wir -77-
Menschen immer nur, was wir unserer Herkunft nach sind, und daraus gibt es kein Entrinnen. Ich ging nach Dublin, um mehr über die Heilkunst zu lernen, und dort traf ich einen Mann namens Michael Collins, der eine andere Verwendung für mich hatte. Nach den Osterunruhen ging ich auf seine Weisung zur Universität zurück und saß dort meine Zeit ab. Blieb auch während der folgenden Jahre dort. Medizinstudent tagsüber – ein besseres Alibi konnte es nicht geben – und Mitglied der Geheimarmee in der Freizeit. Emmet Oge Keogh – kleiner Edmund Keogh. Seine starke rechte Hand, so pflegte er mich zu nennen. Und weiß Gott, ich tötete oft genug in jenen Tagen für ihn oder für Irland, je nachdem, wie man das sehen will. Über einige dieser Dinge sprach ich in den ersten drei Tagen unserer Gefangenschaft mit van Horne. Denn ich mochte diesen Mann tatsächlich, vermutlich weil er mich so sehr an meinen Großvater erinnerte. Und davon abgesehen gab es ohnehin nicht viel anderes zu tun, als miteinander zu reden, denn man gab uns auch keine Arbeit oder irgend sonst etwas zu tun während dieser ersten Tage. Wir mußten uns auch mit der Wassersuppe bescheiden, die man uns jeden Mittag in einem alten Emaileimer brachte, weil uns Victoria nicht mehr mit Essen aus der Stadt versorgen konnte. Seit dem ersten Abend, als Bonilla aufgetaucht war, stand draußen vor dem Fenster ein Wachtposten. Das ging drei Tage lang so, und es waren drei Tage zuviel, zumal unsere Nerven zu zerreißen begannen. Ich erinnere mich, wie van Horne am Fenster stand, es war kurz vor der Abenddämmerung, und ein wenig Luft zu schnappen versuchte. Plötzlich wirbelte er herum und schoß wütende Blicke durch den Raum, als suchte er jemanden, den er prügeln könnte. »Ich habe gelesen, daß ihr nie mehr als zehntausend Mann gegen die Engländer gehabt habt. Wo war denn der Rest?« -78-
Er versuchte mich offensichtlich zu provozieren, weiß Gott, warum. Ich war mir über seine Stimmung im klaren, aber ich wollte nicht auf dieses Spiel eingehen. »Für mehr Leute hatten wir keine Waffen.« »Ach, komm, Keogh, komm!« Er lachte rauh und wischte sich mit einem alten Fetzen den Schweiß vom Gesicht. »Weißt du, was ich glaube? Kerle wie du und alle, die da mitgemacht haben, ihr wart eben solche, die Spaß dran hatten, Leute umzubringen. Es hat euch Spaß gemacht, die ganze Geschichte. Ein Schuljungenspiel war das für euch, aber mit echten Waffen.« »Da könntest du gar nicht so unrecht haben«, gab ich lachend zu und holte die letzte Zigarette aus meinem zerkrumpelten Päckchen Artistas. Aber das paßte ihm auch nicht, und er knurrte verdrossen: »Und ich habe doch auch gelesen, daß es mit der Schießerei so überhand nahm, daß sie ein Gesetz erlassen mußten, wonach jeder, der auf der Straße an einem Polizisten vorbeikam, die Hände hochzunehmen hatte.« »An einigen Orten war das so, glaube ich.« »Selbstverständlich war es so.« Er war mittlerweile völlig in Rage. »Und wie viele also hast du ins Jenseits befördert, Keogh, im Namen deiner verdammten Sache?« »Tja, Mr. van Horne, so viele eben, wie ich mußte«, beschied ich ihn gleichgültig. Und da stand er da und starrte mich an und war wirklich zornig. Wie ein großer, gereizter Stier, der gleich angreifen wird. Was als nächstes passiert wäre, mag dahingestellt bleiben, denn der Ablauf der Dinge wurde durch einen im Schloß rasselnden Schlüssel unterbrochen. Leutnant Cordona, wie aus dem Ei gepellt, in frisch gebügelter Khakiuniform und mit blitzblank polierten Stiefeln, die im düsteren Licht der Zelle geradezu spiegelten, erschien. -79-
»Sieh an, wenn das nicht unser kleiner Soldat ist«, sagte van Horne. »Uns werden doch nicht zu guter Letzt noch Gefälligkeiten erwiesen?« »Sie kriegen mehr als Ihnen lieb ist, glauben Sie mir das«, antwortete Cordona kühl und befahl uns, mit ihm zu kommen. Er führte uns über den Hof, und ein halbes Dutzend Soldaten eskortierte uns. Wir hatten noch immer die rasselnden Eisen an den Füßen. Wir gingen durch ein Tor in einen abgeschlossenen Patio und kamen schießlich in einen kleinen, ummauerten Garten mit einem Brunnen und einem in voller Blüte stehenden Feuerbaum. Mittendrin ließ es sich Colonel Bonilla in einem Korbstuhl auf der Terrasse wohl sein. Wie Cordona trug er eine tadellos maßgeschneiderte Uniform und spiegelblank polierte Stiefel. Er sah überhaupt sehr korrekt und militärisch aus. Er befahl Cordona, uns nach drinnen zu bringen, erhob sich und schritt gravitätisch durch die offene Glasflügeltür voran. Der Raum war nur sehr karg möbliert und diente ihm offenbar als Büro. Es gab einen Schreibtisch und einen Stuhl, verschiedene Generalstabskarten an der Wand, ein Feldbett in einer Ecke, und das war schon so ziemlich alles. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und steckte sich eine Zigarre in den Mund, für die ihm Cordona Feuer reichte. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, musterte uns beide ausgiebig und begann dann zu sprechen. »Ja, auf vielerlei Weise könntet ihr euch gar nicht besser ergänzen, ihr beide. Wirklich ganz bemerkenswert. Zwei Gauner zusammen.« »Ach, so würde ich das nicht sagen«, wandte van Horne ein. »Ach nein, Pater? Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Sie auch weiterhin so nenne?« »Von mir aus nennen Sie mich, wie, zum Teufel, Sie wollen«, -80-
erklärte ihm van Horne gutmütig. »Wenn das so ist, habe ich ja eine ziemliche Auswahl. Mörder? Ja, mehrfacher sogar. Dieb?« Bonilla wandte sich mir zu. »Würden Sie mir glauben, Señor Keogh, wenn ich Ihnen erzählte, daß er selbst die Finger eines toten Mannes abgeschnitten hat, nur um an die Ringe zu kommen, die daran steckten? Völlig ohne Skrupel oder Ehrgefühl. In mindestens zwei Staaten in den USA warten Todesurteile auf ihn.« »Jedermanns schlimmer Bube, das bin ich«, sagte van Horne, »und?« »Und in hervorragender Gesellschaft, Pater, wie ich Ihnen versichern kann. Ich habe hier eine hochinteressante Mitteilung aus Mexico City vom Geschäftsträger des Irischen Freistaates. Besagter Emmet Keogh ist ein sehr gefährlicher Mann. Ein irischer Terrorist, war mehrere Jahre lang Mitglied der sogenannten Squad, das ist eine Organisation, die der irische Patriotenführer Michael Collins als seine Hauptwaffe im offenen Terrorismus gegen England einsetzte. Señor Keogh hat eine solche Menge Menschen getötet, daß er selbst nicht mehr weiß, wie viele.« »Das ging nicht anders, ich war Soldat der IRA, der Irish Republican Army«, protestierte ich. »Sehr nobel. Haben Sie auch für Irland gekämpft, als Sie für die Minengesellschaft von Hermosa als Aufräumer tätig waren, Señor? Wie viele Leute haben Sie dort oben während der Unruhen erschossen? Vier? Oder waren es fünf?« »Sie hatten einen Priester aufgehängt, wie Sie verdammt genau wissen«, entgegnete ich. »Ich tat meine Arbeit, für die ich bezahlt wurde.« Er ignorierte mich total. »Ja, ein gefährlicher Mann, dieser Señor Keogh. Ein Fanatiker. Nicht genug damit, daß er mitgeholfen hat, die Engländer zu verjagen, machten sich er und seine Freunde schließlich über ihre eigenen Anführer her und -81-
stürzten ihr Land in einen Bürgerkrieg, wie er sich schlimmer nicht denken läßt. Nur falls es Sie interessieren sollte: Die irische Regierung ist überaus interessiert daran, Sie zurückzubekommen, wenn auch nur, um Sie vor ein Erschießungskommando zu stellen. Die Unterlagen, die ich erhalten habe, beziehen sich ganz speziell auf einen Vorfall in der Stadt Drumdoon vor vier Monaten, als Sie ein Attentat auf ein Gebäude verübten, in dem sich vier hohe Offiziere des Freistaates Irland befanden, die bei diesem Anschlag alle umkamen.« Mein Herz schien stehenbleiben zu wollen. Meine Kehle war trocken. Alles, was ich die ganze Zeit schon tief in mir vergraben halten wollte, drängte jetzt ans Licht. »Und wie es scheint, war einer davon Ihr älterer Bruder, der Colonel Sean Keogh.« Ich fühlte van Hornes entrüsteten Blick, schwankte etwas nach vorn und stützte mich gerade noch an der Ecke des Schreibtisches auf, während die Wände Wellen bekamen. »Scheren Sie sich zur Hölle, Sie Bastard«, sagte ich zu Bonilla. »Nein, das ist eher Ihre Richtung, lieber Freund. Sie und dieser gute Pater hier sind heute nachmittag von einem Militärgericht zum Tode verurteilt worden. Sie werden morgen früh erschossen.« Er stand auf und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Ich blieb schwer auf die Ecke des Schreibtisches gestützt und rang nach Luft. Dann spürte ich eine Hand unter meinem Ellbogen. Van Horne sagte ruhig: »Alles in Ordnung? Wird’s gehen?« »Kein Mitleid nötig«, antwortete ich. »Das Wort kommt in meinem Vokabular nicht vor.« Als ich, mich umwandte und ihn ansah, überzog ein Lächeln dieses zerfurchte, verbrauchte Gesicht; so ein Lächeln hatte ich auf dieser Erde noch nicht gesehen. Es bestand aus Mut und Stärke. -82-
Aus echter Stärke und aus unbegrenztem Mitgefühl. »Wir gehen jetzt wieder, Señores«, hörte ich Cordona sagen, zum ersten Mal höflich, wenn auch nur, weil wir bereits wandelnde Tote waren. »Du gehst jetzt hier raus«, sagte van Horne sanft zu mir, »aufrecht auf deinen zwei Beinen und lächelnd. Hast du mich verstanden, Junge?« Da war er wieder, wie er leibte und lebte: mein Großvater. Aber er hatte recht und sollte weiterhin recht haben. Ich würde meinen Namen weder heute nacht noch irgendwann entehren. Ich holte tief Atem, um mich wieder ins Gleichgewicht zu bringen, und ging als erster zur Glasflügeltür hinaus. Es war kalt in der Zelle, bitter kalt, und der Gestank, der in ihr herrschte, erschien uns nach dem kurzen Ausflug in die Welt draußen noch schlimmer denn je. Ich stand am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Nach einer Weile quietschte der Schlüssel im Schloß wieder, die Tür ging auf, erneut erschien Cordona. Er brachte einige Pakete Artistas und eine strohumhüllte Flasche Tequila. Er legte alles auf den Boden und entfernte sich ohne ein Wort. Van Horne sagte: »Da will ich doch verdammt sein, sogar dieser Bastard hat ein Herz. Da, nimm einen Schluck.« Er reichte mir die Tequilaflasche. Wie ich schon sagte, habe ich mir aus dem Zeug noch nie etwas gemacht, aber zumindest wärmte es einen auf, wenn schon sonst nichts. Ich trank einige Schlucke und gab sie ihm zurück. Er sagte: »Möchtest du darüber reden?« Es war schon sehr seltsam. Ich hatte ihn als den, der einen Priester spielt, kennengelernt. Nach der Schießerei bei Tacho hatte ich ihn dann als einen völlig anderen Mann erlebt. Und jetzt war dieser ruhige, lebenskluge, mitfühlende Mann noch ein -83-
dritter Mensch in der gleichen Person. Selbst seine Sprechweise hatte sich verändert. »Wie viele Personen stecken eigentlich noch in dir, um Himmels willen?« fragte ich. »Ach, es macht mir nur Spaß, die Leute zu verwirren. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.« »Na gut«, sagte ich. »Aber viel zu reden gibt es da eigentlich nicht. Mein Bruder war sechs Jahre älter als ich. Er ging 1914 zu den Dubliner Füsilieren und zog für die Engländer in deren Krieg. Eine Gewohnheit, von der Iren nur schwer loskommen. Draußen im Feld wurde er Offizier, und als Invalide Anfang 1918 im Rang eines Captain entlassen.« »Habt ihr politisch die gleiche Einstellung gehabt?« »Würde ich sagen, ja. Trotz seines kaputten rechten Beines übernahm er ein Kommando bei den Fliegern. Erst über den Vertrag mit England entzweiten wir uns. Er war wie Collins einer von denen, die der Ansicht waren, wir hätten genug gelitten. Und daß der Spatz in der Hand besser sei als die Taube auf dem Dach.« »Und du warst ein eingefleischter Republikaner?« Ich konnte in der Dunkelheit sein Gesicht nicht erkennen, und das war vielleicht ganz gut so. Ich sagte: »Ich hatte keine Ahnung, daß er in diesem Wagen saß, an dem Tag in Drumdoon. Wir hatten den Divisionskommandeur erwartet.« »Im Krieg passieren solche Sachen nun mal.« »Ich habe ihn umgebracht«, sagte ich. »Ich habe sie alle vier sauber und flott aus einem Fenster im oberen Stock der Cohan’s Select Bar mit einer Thompson niedergemäht. Es regnete zu der Zeit heftig, und es war keine Menschenseele auf der Straße. Sie wußten schon, warum. Der Zweck des Terrorismus ist das Terrorisieren, pflegte Mick Collins immer zu sagen, und ich hatte ihm geglaubt. Am Ende war es dann zu spät, sich noch zu -84-
ändern. Selbst nach Drumdoon. Was konnte ich schon tun, als mich aus dem Staub zu machen?« »Es ist niemals zu spät für irgend etwas im Leben.« »Vorsicht, du spielst schon wieder den Priester.« Und da veränderte er sich wieder, von einer Sekunde zur anderen. »Verdammt noch mal, du hast ja recht, Keogh, daß das alles nichts mehr nützt. Man muß eben zu dem stehen, was war, selbst am Ende. Andernfalls war das ganze Leben nichts wert.« »Das paßt auf mich«, sagte ich. »Perfekte Beschreibung.« »Ach, ich weiß nicht. Und was ist mit der kleinen Indianerin? Du hast ihr doch ihren kleinen Arsch gerettet, dort bei Tacho, oder nicht? Das wird doch auch etwas zählen.« Darin lag wirklich eine Art Trost. Ich dachte einen Moment an sie. An die dunklen, ruhigen Augen, die Olivenhaut, die Wärme ihres Körpers, als sie mich im Arm gewiegt hatte, neulich in der Nacht in dem wolkenbruchartigen Regen. »Nun«, sagte ich, »sie verdankt dir mindestens ebensoviel wie mir. Wenn du nicht gerade noch rechtzeitig in das böse Spielchen eingegriffen hättest…« »Mach nicht den Fehler, Keogh, mir Motive zu unterschieben, die gar nicht existierten.« Seine Stimme war wieder rauh, wieder ganz die des alten Zynikers. »Ich hatte überhaupt nichts im Sinn, als ich an diesem Abend in Tachos Kneipe kam. Das ganze Zusammentreffen war nichts als der reine, bloße Zufall. Und in meinem Amoklauf war nicht die Spur von Überlegung oder Methode. Und jetzt habe ich genug gequatscht. Ich gehe schlafen.« Er erleichterte sich in den Eimer in der Ecke und legte sich dann auf seine Strohmatratze. Als er sich zurechtlegte, klirrten seine Fußeisen. Ich blieb am Fenster stehen, umklammerte die Gitterstäbe und starrte hinauf in den kalten Nachthimmel, zu den Sternen, die -85-
älter waren als die Zeit selbst und die auch morgen noch da sein würden, wenn der kleine Emmet Keogh schon längst nicht mehr da war. Gott steh mir bei, aber auf das zurückzublicken, was alles gewesen war, auf diesen Lumpenfetzen meines Lebens war doch nur eine jämmerliche Zeitverschwendung. Der Wachsergeant brachte uns um sieben Kaffee, aber nichts zu essen, wogegen unter den gegebenen Umständen nicht viel einzuwenden war. Danach ließ man uns für gut zwei Stunden in Ruhe. Van Horne hatte nichts mehr zu sagen. In dem kalten Morgenlicht sah er älter aus, als er war. Sein Bart war struppig, sein Gesicht schmutzig. Ich kann nicht sehr viel besser ausgesehen haben, und ich fühlte mich verständlicherweise deprimiert. Die Geräusche des draußen im Hof sich wie üblich abspielenden Lebens halfen auch nicht viel. Dann kam das Treten marschierender Soldatenstiefel näher, ein oder zwei laute Befehle hallten über den ganzen Hof. Van Horne erhob sich und ging ans Fenster. Im Gebäude und im Hof entstanden Bewegung und Unruhe, und Stimmengewirr war zu hören. Plötzlich zerriß ein hoher schriller Schrei die Luft. »Was ist da draußen los?« fragte ich. »Na, sie holen irgend so einen armen Teufel zum Erschießen, und er verkraftet das nicht so gut.« Ich ging auch ans Fenster und spähte ebenfalls durch die Gitterstäbe. Vor der gegenüberliegenden Hofmauer stand ein Holzpfahl, und der Gefangene, den sie daran festbanden, wehrte sich wie ein Berserker. Vier Soldaten waren nötig, ihn zu überwältigen. Als sie dann weggingen und er stehend am Pfosten angebunden war, konnte ich sein Gesicht sehen. Ich konnte ein kurzes, ironisches Lachen nicht unterdrücken. »Wie sagte der alte Tacho? Gott sieht manchmal sogar durch die Wolken zu uns herunter.« -86-
»Kennst du ihn?« Ich nickte. »Capitan José Ortiz. Chef der Polizei in Bonito.« »Gott verdamm mich«, sagte van Horne. »Dieser Bonilla räumt aber auf, wie? Wo der hinhaut, wächst kein Gras mehr.« Ortiz konnte sich nicht mehr unehrenhaft aufführen. Sie hatten ihn auch noch mit einem alten Taschentuch geknebelt und ihm die Augen verbunden. Cordona befehligte das Erschießungskommando. Ich blieb am Fenster, um aus irgendeinem perversen Grund zuzusehen. Aber schließlich hatte ich schon eine Menge Menschen auf diese Art sterben sehen, und es hatte alles keine rechte Realität. Ein kurzes scharfes Kommando, ein abgehacktes Knattern, und die bejammernswerte, an den Pfahl gebundene Kreatur hatte aufgehört zu existieren. Es lag keinerlei Befriedigung in einem solchen Anblick, und ohnehin kamen sie auch bereits, als ich mich abwandte, zu uns. Der Sergeant und ein halbes Dutzend Soldaten führten uns wieder durch den Zellenblock und über einen kühlen, weißgetünchten Korridor, der so hohe Fenster hatte, daß man nicht hinaus in den Hof sehen konnte. Der Sergeant holte einen Schlüssel hervor und nahm uns die Fußeisen ab. Dann warteten wir. Nach einer Weile ging die Tür hinter uns auf, und am Klirren von Fußeisen auf dem Boden war zu hören, daß noch ein weiterer Gefangener gebracht wurde. Ich blickte unauffällig über die Schulter nach hinten, und der Anblick verschaffte mir den Schock meines Lebens. Da stand, zwischen zwei Wachtposten, Janos. Sein Leinenanzug war unbeschreiblich verschmutzt, und von seinem großen fetten Gesicht perlte der Schweiß in Strömen. Seine Augen weiteten sich, und er sagte ohne die leiseste Spur von Verlegenheit: »Mr. Keogh, Sir! So sieht man sich wieder!« Angesichts der Unverfrorenheit dieses Menschen konnte ich -87-
nicht anders – ich mußte lachen. »Darf ich dir meinen guten Freund Mr. Janos aus Bonito vorstellen«, sagte ich zu van Horne. »Ach, der gute Mann, der Whisky mit Gewehren verwechselt?« murrte van Horne und lächelte ihn grimmig an. »Zumindest geben Sie ein ansehnliches Ziel für die Schützen ab, lieber Freund.« Janos ging nicht darauf ein. Sie hatten ihm bis hierher seinen Stock gelassen, und mit ihm humpelte er vorwärts, nachdem sie ihm die Fußeisen abgenommen hatten. »Mr. Keogh, ich bedaure diese ganze Entwicklung der Dinge außerordentlich. Es war mein Fehler, Sir. Glauben Sie mir, wenn ich nur könnte, ich würde alles wiedergutmachen. Vielleicht ist es Ihnen eine Genugtuung, daß wir das gleiche Schicksal erleiden.« »Nein, überhaupt keine Genugtuung«, erwiderte ich. Die Tür ging auf, und Leutnant Cordona trat ein. Er hatte einige Blatt Papier in der rechten Hand und nickte dem Sergeanten zu. Dieser nahm Janos am Arm und führte ihn nach vorne. »Paul Janos«, verlas Cordona vom ersten Blatt, »neunundfünfzig Jahre alt, vormals Graf Rakossy und Oberst der Österreichischen Kaiserlichen Garde.« »Muß das wirklich alles aufgeführt werden?« fragte Janos verdrossen. »Gegen Sie ist vor einem Militärgericht wegen der Anklage des Hochverrats verhandelt worden. Sie wurden für schuldig befunden. Das Urteil des Gerichts lautet, daß Sie erschossen werden sollen.« »Dann schlage ich vor, daß wir dies so rasch wie möglich hinter uns bringen.« Cordona salutierte förmlich und öffnete das Tor. Janos wandte sich noch einmal um und sagte niedergeschlagen: »Es tut mir -88-
wirklich leid, Mr. Keogh, daß Sie in all das mit hineingezogen worden sind. Das müssen Sie mir glauben. Es ist die Wahrheit, Sir. Viel Glück.« Eine derartige Impertinenz gab es wohl nicht noch einmal. Und selbst, als er nun durch das Tor hinausging, war es, als geleite er die Soldaten und nicht umgekehrt diese ihn. Es war schnell vorbei. Ein gerufener Befehl, die Salve, ein einzelner Revolverschuß hinterdrein, und keine paar Minuten danach ging das Tor wieder auf, und Cordona kam mit seinen Leuten zurück. Sie nahmen van Horne in die Mitte. Der Sergeant und das halbe Dutzend Soldaten umringten ihn ganz dicht, ehe wir recht begriffen, was vorging, also ahnten sie Schwierigkeiten. Als sie ihn durch das Tor stießen, wandte auch er sich noch einmal zu mir um und sagte: »Kopf hoch, Keogh.« Ich hatte augenblicklich einen faustgroßen Kloß im Hals. Ich schloß die Augen und wartete, und eisige Kälte durchlief mich. Daran, daß der Tod unausweichlich ist, denken nur wenige, denn wenn man es täte, würde das ganze Leben unerträglich. Aber mir war in diesem Moment erschreckend bewußt, daß ich den Tod vor Augen hatte. Daß ich nur noch wenige Minuten leben würde. Draußen knatterten die Gewehre, und ich stand hier, mit geschlossenen Augen, und horchte auf die Marschtritte, die wieder näher kamen. Als ich die Augen wieder öffnete, stand Cordona vor mir und hielt das letzte Blatt Papier in der Hand. »Emmet Keogh, sechsundzwanzig Jahre alt, britischer Staatsbürger…« Seine Stimme leierte weiter, und ich blickte über ihn hinweg zur Terrasse auf der anderen Seite des Hofes hinüber, wo in der Morgensonne die harten schwarzen Schatten der Säulen wie Eisenstäbe über die Bodenplatten fielen. Und dann marschierten wir durch das Tor und quer über den Hof bis zum Holzpfosten -89-
mit dem frischen Blut am Boden auf den Pflastersteinen. Ich stand völlig still, als sie mich an den Fußfesseln, an der Hüfte und über der Brust festbanden. Cordona sagte ernst: »Ich bedaure, Señor, daß kein Priester anwesend sein kann. Sie müssen Ihren Frieden mit Gott allein machen.« Dann verbanden sie mir mit einem Tuch die Augen und entfernten sich. Alles in mir schien wie eingefroren. Es war, als passierte dies alles einem anderen, nicht mir. Ich verspürte nicht einmal mehr Angst, und es fiel mir kein Gebet ein, das es wert gewesen wäre, gesprochen zu werden. Seine Stimme kommandierte die Feuerbereitschaft. Es kam noch ein einziger atemberaubender Augenblick, in dem ich meinen Bruder um Vergebung bat, und dann krachte die knatternde Salve, als sie feuerten. Ich lebte immer noch, so viel war klar. Ich war nicht einmal getroffen worden, und das ergab alles überhaupt keinen Sinn. Einen Augenblick war Stille, dann näherten sich Schritte. Die Binde wurde von meinen Augen genommen, und ich blinzelte in die plötzliche Helligkeit der Sonne. Cordona war bleich, aber ruhig. »Kommen Sie jetzt mit mir, Señor«, sagte er ohne Gemütsbewegung. Der Sergeant kümmerte sich darum, daß ich losgebunden wurde. Ich feuchtete mir die Lippen an und krächzte: »Was, um Gottes willen, wird hier gespielt, Leutnant?« Er wandte sich wortlos um und entfernte sich quer über den Hof. Der Sergeant drückte die Mündung seines Gewehrlaufes sanft, aber energisch in meinen Rücken und bedeutete mir, dem Leutnant zu folgen. Wir gingen durch den Bogengang und wieder in diesen kleinen umschlossenen Garten. Von Bonilla war keine Spur zu sehen, aber Oliver van Horne und Janos standen bereits an der Mauer, bewacht von drei Soldaten. -90-
Ich blieb unwillkürlich stehen und starrte sie verblüfft an. Janos rief: »Sie kennen doch Alice im Wunderland, Sir? ›Kurios‹ war doch das Wort, das sie immer benutzt, falls ich mich recht erinnere.« Van Horne sagte nichts. Sein Gesicht war finster wie das eines Raubtiers, das Gefahr wittert. Wir hatten auch keine Gelegenheit zu weiterer Unterhaltung, denn Cordona ging direkt durch die Glasflügeltür, und der Sergeant drängte uns drei hinterdrein. Colonel Bonilla saß hinter seinem Schreibtisch und verzehrte mit Behagen ein spätes Frühstück. Er sah kurz auf, wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und nickte Cordona zu, der den Sergeanten und seine Leute hinauswies und sich dann ans Fenster zurückzog. »Ein unangenehmer Beginn des Tages, meine Herren«, bemerkte Bonilla. »Aber so drastisch, daß ich sicher bin, es ist Ihnen nun völlig klar, wie vollkommen ich Sie in der Hand habe.« Van Horne brach als erster das Schweigen. »Also schön, worum geht es? Wie heißt das Spiel?« »Nicht schlecht ausgedrückt«, sagte Bonilla. »Paßt gar nicht schlecht. Es ist wirklich ganz einfach. Sie, Señor van Horne, sollen wieder den Priester spielen. Für die Rolle haben Sie ja bekanntermaßen nicht wenig Talent.« Van Horne starrte ihn verblüfft an. »Wie war das?« »Und Señor Janos gibt einen ausgezeichneten Geschäftsmann ab. Er hat die Statur dafür. Er sieht seriös aus, also werden die Leute glauben, daß er es in jeder Hinsicht ist.« »Ich fühle mich sehr geehrt«, gab Janos mit unüberhörbarer Ironie von sich. Bonilla ignorierte ihn. »Und was Sie betrifft, Señor Keogh, Ihre Aufgabe ist die einfachste von allen. Sie könnte geradezu -91-
erdacht sein für einen Mann mit Ihren speziellen makabren Talenten.« Er lächelte bedeutungsschwer. »Sie haben nichts weiter zu tun, als jemanden für mich zu töten.«
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6 »In dem Jahr, das seit der Revolution vergangen ist, hat es viel Unruhe und viel Gewalt in vielen Teilen Mexikos gegeben, aber nirgends so viel wie hier in dieser Gegend. Und hier wieder ist es am allerschlimmsten in Mojada in den nördlichen Vorbergen der Sierra Madre.« Bonilla zeigte uns den Ort auf der großen Wandkarte mit dem Ende seiner Reitpeitsche. Ich sah mir die Karte genauer an. Mojada lag etwa dreißig bis vierzig Meilen von Huila entfernt und war wohl einer jener Orte, die vor ein paar Jahrhunderten entlang der alten Saumpfade über die Berge entstanden waren. »Schön, und worum geht es nun?« fragte van Horne. »Das ist schnell erzählt, Señor. Ich bin der Militärgouverneur für diese ganze Gegend hier, deren Mittelpunkt Huila ist. Und dennoch herrschen keine dreißig Meilen von hier Zustände, die nicht nur ohne Recht und Ordnung sind, sondern die pure Anarchie, und zwar in einem Maße, daß keiner meiner Vorgänger ihrer auch nur annähernd Herr werden konnte.« Ich sagte: »Aber dafür haben Sie doch Ihre Truppen!« »Ich habe zweihundert Mann für die polizeiliche Überwachung meines gesamten Kommandobereiches. Aber um die Situation in Mojada in den Griff zu bekommen, würde eine ganze Armee nicht ausreichen. Die paar Leute, die ich bisher immer dorthin abstellen konnte, haben schlichtweg nichts ausgerichtet. Sehen Sie, meine Herren, der Schlüssel zu der ganzen Geschichte liegt in der Person eines einzigen bemerkenswerten Mannes: Tomas de la Plata, einst Major unter meinem eigenen Kommando, bis er abtrünnig wurde.« Diese letzte Bemerkung sagte er in einem Ton, als bedeute -93-
ihm dies wirklich äußerst viel. Dann fuhr er fort: »Die de la Platas waren hier einst Großgrundbesitzer. Alles, was davon heute noch übrig ist, ist eine mehr und mehr herunterkommende Hazienda außerhalb von Mojada, dazu ein paar Morgen Land und eine alte Silbermine, die vor zehn oder zwölf Jahren stillgelegt worden ist.« »Und lebt noch irgend jemand dort?« wollte ich wissen. »Sein Vater Don Angel de la Plata und seine Schwester Chela.« »Und Tomas? Wo ist er?« »Gott allein weiß, wo er sich jetzt oder morgen aufhält. Letzten Monat hat er mit seinen Leuten den Nachtexpreß nach Madera ausgeraubt. Und das hat ihm noch nicht genügt, also hat er auch noch den Lokomotivführer erschossen und den Zug sich selbst überlassen – gerade vor einer starken Gefällstrecke. Er entgleiste nach fünf Meilen. Es gab über dreißig Tote und viele Verletzte.« »Und trotzdem hat er noch immer Anhänger?« fragte van Horne. »Die Geschichte meines Landes besteht seit vielen Jahren aus Tod und Leiden, Señor. Es ist für uns fast schon Teil des normalen Lebens geworden. Drei Millionen Tote hat allein die Revolution gefordert. Was sind da noch weitere dreißig?« »Ja, was schon«, bemerkte ich. »Aber ich habe von diesem Mann noch immer keine klare Vorstellung. Was ist er eigentlich? Ein unzufriedener Revolutionär oder einfach nur ein Bandit?« »Das weiß Gott allein – und Tomas selbst.« Bonilla steckte mit Sorgfalt eine Zigarette in eine schwarze Elfenbeinspitze. »Als ich ihn kennenlernte, kam er gerade frisch von der Universität – der vollkommene Idealist. Folglich war alles falsch, und alles mußte geändert werden.« -94-
»Das kann ihm natürlich bei den Leuten seiner eigenen Klasse schwerlich besondere Popularität eingetragen haben«, warf Janos ein. »Nein. Er machte sich sogar ausgesprochen unbeliebt, weil er sich so vollständig dem einfachen Volk und seiner Sache widmete. Sein eigener Vater enterbte ihn offiziell.« »Aber es kümmerte ihn nicht«, vermutete ich. »Alles für die Sache. Das hört sich ziemlich bekannt an.« Bonilla lächelte eher traurig. »Nach meiner Erfahrung neigen Idealisten dieser Sorte zu blindem Fanatismus. Sie können sich mit nichts außer dem abfinden, was sie für vollkommen halten – sowohl, was die Sache betrifft, für die sie kämpfen, wie das Verhalten ihrer Mitstreiter.« »Vollkommenheit ist in dieser Welt schwer zu bekommen«, merkte van Horne an. »Das ganze Leben ist nichts als ein ständiger Kompromiß zwischen dem, was wir möchten, und dem, was wir bekommen können. Tomas war nie fähig, diese Art Zugeständnis zu machen.« »Also, was genau ging am Ende schief?« fragte ich. »Das ist das große Geheimnis. Nach der erfolgreichen Beendigung der Revolution wurde Tomas wegen seiner speziellen Vertrautheit mit dieser Region nach Huila versetzt und zum Stellvertreter des Militärgouverneurs ernannt. Das war damals ein gewisser Colonel Varga. Sie scheinen nicht besonders gut miteinander ausgekommen zu sein.« »Gab es einen besonderen Grund dafür?« »Varga war ein Stier, ein Bauer, der sich die Karriereleiter hochgedient hatte. Ein rauher Soldat eben, aber ein guter. Aber er hatte nach wie vor die Angewohnheit, mit den Fingern zu essen. Wenn Sie verstehen, was ich meine. Eines Morgens fand man ihn im Bett mit durchschnittener Kehle, von einem Ohr -95-
zum andern. Und außerdem hatte man ihn seiner Männlichkeit beraubt. Eine makabre Zutat, um es mal so zu nennen.« »Und Tomas de la Plata?« »Verschwunden, Señor, wie vom Erdboden verschluckt. Um dann einen Monat später als der Anführer von zwanzig oder dreißig Banditen wieder aufzutauchen, die eine Militärkolonne auf dem Weg hierher überfielen und ausraubten. Und das war nur die erste vieler gesetzloser Taten.« »Und woher bekommt er seine Leute?« fragte van Horne. »Nach jeder Revolution gibt es Unzufriedene, wie Señor Keogh aus seinem eigenen Land besser als irgend jemand von uns weiß.« Das war wieder einer seiner Tiefschläge. »Genauso, wie es stets welche gibt, die sich jeder Art Autorität widersetzen, wenn es nur geht. In der Gegend von Mojada genießen die Leute völlige Freiheit und sind sozusagen außerhalb der Staatskontrolle. Es brauchen keine Steuern bezahlt zu werden, weil sich dort kein Steuereinnehmer blicken lassen kann. Es gibt kein Gesetz, und es gibt keine Polizei, weil sich kein Polizist dort halten kann. Selbst die Kirche haben sie abgeschafft. In den letzten achtzehn Monaten waren drei Priester die Opfer der Bande. Zwei wurden ermordet, den dritten fand man in der Wüste umherirrend, ohne Kleider und halb zu Tode geprügelt. Er hatte den Verstand verloren.« Zu meiner Überraschung enthielt sich van Horne jeden Kommentars dazu. Dafür sagte Janos: »Soll das heißen, daß de la Plata sein Hauptquartier in Mojada aufgeschlagen hat, und das mit aktiver Unterstützung der Bevölkerung?« »Sagen wir so : Er ist die meiste Zeit in der dortigen Gegend anzutreffen und gelegentlich auch in Mojada selbst. Und es ist kein Geheimnis, daß sich stets einige seiner Anhänger dort offen zeigen, nur um sicherzustellen, daß die allgemeine Bevölkerung die Anwesenheit der Bande auch gebührend zur Kenntnis nimmt.« -96-
»Also sind die meisten Leute keine besonders glühenden Verehrer von ihm?« fragte ich. »Sie fürchten ihn, Señor. Ich persönlich habe dem Ort dreimal Besuche abgestattet. Ich habe auch einmal einen Monat lang Truppen dort einquartiert, aber wir stoßen nur auf eine Mauer des Schweigens.« »Also gut, Colonel«, sagte van Horne. »Kommen wir endlich zum eigentlichen Punkt. Worauf läuft das alles hinaus?« »Zehn Jahre Krieg, Gentlemen, drei Millionen Tote, eine ruinierte Wirtschaft. Mein Land hat genug gelitten. Was wir jetzt brauchen, ist Stabilität und Ruhe, und ein Ende des Tötens. Es ist kein Platz mehr für Männer wie Tomas de la Plata. Je länger er lebt, desto mehr werden sich alle Unzufriedenen um ihn scharen, und das kann einfach nicht hingenommen werden. Ich will seinen Kopf.« »Und den sollen wir Ihnen bringen?« fragte van Horne. »Wenn Sie das tun, Señor, dann können Sie sowohl Ihre Freiheit wie eine gewisse Gladstonetasche wiederhaben. Señor Janos kann sein Hotel zurückbekommen, das andernfalls vom Staat konfisziert würde.« »Und ich?« fragte ich. »Was ist mit mir?« Er musterte mich nachdenklich und seufzte dann. »Nun, Señor Keogh, Sie können sich dann ungehindert Ihren eigenen Weg zur Hölle suchen.« Diese Aussichten fand ich nicht so besonders lustig. Janos wies auf den offensichtlich kritischsten Punkt hin. »Und wer oder was hindert uns daran, Sir, uns schlicht aus dem Staub zu machen, sobald wir einmal hier weg sind? Aus welchem Grund sollten wir überhaupt nach Mojada gehen?« »Weil Sie sonst nirgends hin können, deshalb, Señores. Keiner von Ihnen. Wie weit kämen Sie? Hundert Meilen? Zweihundert? Und das nächste Mal gäbe es keine Chancen mehr -97-
für Sie. Ich habe Sie alle drei nicht nur den Klauen des Todes entrissen. Ich biete Ihnen die Möglichkeit, normal weiterzuleben, und zwar gar nicht so schlecht. Ich halte Sie alle drei für intelligente Männer, was immer Sie außerdem noch sein mögen.« Van Horne wandte sich fragend mir zu, dann auch Janos. Nach einer Weile sagte er: »In Ordnung, Colonel, wir machen es. Wie sieht der Plan aus?« Bonilla zeigte keinerlei besondere Begeisterung über unsere Entscheidung. Denn wie sehr bald klarwurde, hatte die Möglichkeit unserer Ablehnung in seinen Überlegungen niemals auch nur die geringste Rolle gespielt. »Ich habe bereits die Silbermine auf dem Land der de la Platas erwähnt. Seit einiger Zeit schon versucht der Alte, eine Minengesellschaft nach der anderen an einer Partnerschaft an dem Betrieb zu interessieren, um ihn wieder in Gang zu bringen. Er braucht dringend Geld.« »Hilft ihm da Tomas nicht?« »Er hat sich nie mit ihm ausgesöhnt, obwohl er regelmäßig auf die Hazienda kommt, um seine Schwester Chela zu besuchen. Zu ihr hatte er schon immer ein sehr enges Verhältnis.« »Und was genau hat diese Minengeschichte zu bedeuten?« forschte van Horne. »Wegen der völlig ungeklärten Lage in der Gegend zeigt niemand Neigung einzusteigen. Ich weiß es, weil sämtliche Post nach Mojada über Huila geht und ich mir die Freiheit genommen habe, einige Briefe zu lesen. Ich habe vorgestern beschlossen, das Spiel selbst mitzuspielen und an den alten de la Plata einen Brief geschrieben. In Ihrem Namen, Señor Janos.« »In meinem? Um Gottes willen«, rief Janos. »Es wird Sie interessieren, daß Sie die Herrera Mining -98-
Company aus Mexico City vertreten und in den nächsten Tagen zum Zwecke der Inspektion der Anlagen in Mojada eintreffen werden, zusammen mit Ihrem Assistenten. Ihre Erfahrungen auf diesem Sektor, Mr. Keogh, sollten dabei nützlich sein.« »Sie denken aber auch an alles«, murrte ich. »Das muß ich, mein Freund, das muß ich. Ich bin ein alter Soldat. Da wird einem die Überlebensvorsorge zur Gewohnheit.« Van Horne beugte sich über den Schreibtisch und bediente sich mit einer Zigarre aus der Schachtel neben Bonillas Ellbogen. »Meinen Part haben Sie sich für zuletzt aufgespart, Colonel. Da muß es wohl etwas Besonderes sein.« Cordona machte einen schnellen, unwirschen Schritt nach vorne, aber Bonilla winkte ab, riß ein Zündholz an und gab van Horne zuvorkommend Feuer. »Die Leute in Mojada brauchen sehr dringend einen Priester, Pater. Ich glaube, Sie wären der ideale Mann dafür.« Van Hornes Gesicht blieb außerordentlich ruhig. »Zwei Priester tot und einer verrückt, das war doch Ihr Zustandsbericht, oder?« »Genau. Aber eben dies gibt Ihnen ein ideales Motiv, dort zu erscheinen, und das ist von besonderer Wichtigkeit. Fremde hält man normalerweise für Regierungsspitzel und behandelt sie entsprechend. Aber ein Priester und zwei Minenfachleute, die Don Angel auf dessen eigenen Wunsch besuchen, haben eine gewisse Überlebenschance, besonders da sie alle drei gringos sind. Als eine Art Unterstützung für den Notfall schicke ich Leutnant Cordona mit zwanzig Mann nach Huenca, das liegt etwa fünfzehn Meilen von Mojada entfernt in den Vorbergen. Wir benützen die verlassene rancheria häufig als Stützpunkt für Patrouillen in der Gegend. Die Anwesenheit der Leute wird also keine außergewöhnliche Aufmerksamkeit erregen.« Ich sagte: »Und Tomas? Wann wird er auftauchen?« -99-
»Es wird nicht mehr als ein paar Stunden dauern, bis er von Ihrer Anwesenheit und dem Zweck Ihres Besuches bei seinem Vater weiß. Ich glaube, wir können ohne weiteres von der Annahme ausgehen, daß er ohne großes Zögern auf der Hazienda auftauchen wird, um selbst herauszufinden, was vorgeht. Denn immerhin hat auch er kein geringes Interesse daran, daß die Silbermine wieder arbeitet.« »Und warum die ganzen Umstände, Colonel? Warum schicken Sie uns nicht schlicht und einfach hinaus, um ihn zu erledigen, und basta? Das geht direkt in Mojada genauso«, warf ich ein. »Zum Teufel damit«, unterbrach mich van Horne. »Die Sache hängt von uns ab und von sonst niemandem. Lieber Gott, Junge, hast du es nicht mit der ganzen verdammten britischen Armee aufgenommen und sie mit ihren eigenen Waffen geschlagen? Mich, sage ich dir, wird keine Bande von fetten Bauern mit raushängenden Ärschen unter den grünen Rasen bringen. Colonel, ich gehe für Sie nach Mojada. Ich spiele Ihnen sogar noch mal den Priester. Aber wer auch immer versuchen sollte, mir an den Kragen zu gehen, kriegt von mir die härteste Predigt, die er je gehört hat. Ist das klar?« »Vollkommen.« Bonilla stand auf. »Ich hätte Tomas de la Plata lieber lebendig, aber ich nehme ihn auch tot, vorausgesetzt, Sie bringen mir seine Leiche mit. Ich muß für die Bevölkerung ein deutliches Zeichen setzen.« Er wandte sich an Janos. »Sie können den Mercedes benutzen. Das macht sich für Ihre Rolle gut, und wenn Sie einen armen Priester, der dasselbe Reiseziel hat wie Sie, mitnehmen, ist das nur ein Akt von Entgegenkommen und Freundlichkeit, an dem niemand etwas aussetzen kann.« »Wirklich sehr freundlich, Colonel«, bemerkte van Horne mit einiger Ironie. »Jedermann kann sehen, daß Sie das Herz auf dem rechten Fleck haben.« -100-
»Leutnant Cordona wird Sie in etwas angenehmere Quartiere bringen. Er wird sich auch um Ihre sonstigen Bedürfnisse kümmern. Ich wünsche Ihnen Glück, Gentlemen.« Das war eine nicht unelegante Art, uns zu entlassen. Und indem er sich nun setzte und sich angelegentlich mit irgendwelchen Papieren zu beschäftigen begann, war dies endgültig und unmißverständlich klar. Cordona führte uns also ein weiteres Mal durch die Glasflügeltür hinaus in den Garten. Dort entließ er den Sergeanten und die Soldaten und marschierte weiter, ohne sich auch nur mit einem Blick zu vergewissern, ob wir ihm folgten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens führte ein Tor in einen ruhigeren Garten mit einer überdachten Terrasse auf drei Seiten und einem Brunnen, der die blauen und weißen Fliesen in der Mitte besprengte. Es war hier kühl, angenehm und ruhig. Die Geräusche des Lebens in der Stadt hinter der Mauer hätten auch aus einer anderen Welt stammen können. Das klingt etwas übertrieben, aber der Kontrast zwischen dem hier und den Verhältnissen, denen ich in den letzten Tagen ausgesetzt gewesen war, hätte nicht größer sein können. Später fand ich heraus, daß unsere Zimmer rund um diesen Innenhof Offiziersquartiere waren, und Cordona gar nicht glücklich war, daß sie um zur Verfügung gestellt wurden. Genau gesagt, er hielt seinen Zorn nur mit größter Mühe zurück, ganz besonders, was van Horne betraf. Van Horne und ich hatten ein Zimmer, Janos bezog das nebenan, aber sie waren beide völlig gleich. In jedem standen zwei Betten und dazu nur das Allernötigste an Einrichtung. »Am Ende des Gebäudes ist ein Bad«, sagte Cordona. »Wenn Sie es benützen wollen, wird jemand dafür sorgen, daß Sie heißes Wasser bekommen, und was Sie sonst noch benötigen.« »Wenn das so ist«, sagte van Horne, »dann benötige ich eine Frau. Nicht zu jung. Vielleicht um die dreißig. Schwarzes Haar, mit ausreichender Erfahrung.« -101-
Mit dieser Bemerkung wollte er nichts weiter als Cordona provozieren, denn mir war aufgefallen, daß er während der ganzen Zeit, die wir uns kannten, sich nie besonders interessiert am anderen Geschlecht gezeigt hatte. Seine Herausforderung hatte Wirkung. Cordonas Gesicht wurde sehr, sehr bleich und seine Hand fuhr an seinen Revolvergriff. Aus irgendeinem perversen Grund, den ich nicht erklären konnte, tat er mir leid. Der explosionsgeladene Augenblick verging. Dann holte er tief Atem. »Kleider und andere verschiedene persönliche Dinge, die Sie benötigen könnten, sind bereitgestellt, und für Sie, Señor«, sagte er zu van Horne, »noch etwas extra.« Dieses Extra war die, wie dem ersten Hinsehen nach zu schließen war, gewaschene und gebügelte Soutane, die van Horne bis zu unserer Gefangennahme getragen hatte. Sie lag auf seinem Bett, der Priesterhut obendrauf. Auch die Gladstonetasche war da, obgleich sie, wie sich zeigte, lediglich die Thompson-MP samt Munition enthielt, während das Geld fehlte. Auf dem Boden stand eine schwarze Schiffskiste, die Cordona mit dem Fuß kurz anstieß. »Wir hatten hier seit Monaten keinen Priester mehr. Der letzte starb am Schwarzwasserfieber. Das hier war seine Kiste mit seinen persönlichen Habseligkeiten, den Meßgewändern und den anderen Sachen, die Sie brauchen werden, um Ihre Rolle überzeugend zu spielen.« »Welche Sie nicht gutheißen, wie ich wohl annehmen darf?« »Señor«, erwiderte Cordona ruhig, »wenn es nach mir ginge, würden Sie längst in der Hölle braten, anstatt sich jetzt an dieser Kiste zu vergreifen, die einem guten und freundlichen Menschen gehörte. Einem Gottesmann, der im Dienste seiner Mission starb.« Er wandte sich abrupt um und marschierte hinaus. Van Horne blieb stehen und sah ihm nach. Er starrte auf die Tür, die hinter dem Leutnant zugefallen war, und auf seinem Gesicht war ein -102-
seltsam starrer Ausdruck. Dann aber lachte er und schlug sich auf den Schenkel. »Und wir haben angenommen, daß heute unser letztes Stündlein geschlagen hätte! Meinst du nicht auch, Keogh, daß das Leben das verrückteste Spiel ist, das es gibt?« So konnte man es wohl sehen. Ich trat an mein Bett und fand dort nicht nur meine Enfield samt Halfter, sondern auch die beiden Koffer, die ich in meinem Zimmer im Hotel Blanco in Bonito gelassen hatte. Janos sagte: »Mich, Gentlemen, interessiert im Augenblick nur eines. Das Bad und das heiße Wasser, von dem die Rede war.« »Meinen Sie nicht, wir sollten erst ein wenig über die ganze Sache sprechen?« sagte ich. »Was, zum Teufel«, warf van Horne ein, »gibt es da zu reden, möchte ich wissen? Wenn wir erst in Mojada sind, kann alles mögliche passieren, und es wird vermutlich ganz schön brenzlig. Vielleicht knallen sie uns ab, sobald wir auftauchen. Diese Art Spielchen, Keogh, sind dem Pokern sehr ähnlich. Man spielt die Karten so aus, wie sie verteilt sind.« »Dem kann ich nur beipflichten«, seufzte Janos. »Ich denke doch, daß wir heute morgen eine bewundernswerte Lektion darüber bekommen haben, wie absurd es ist, über das nachzudenken, was morgen geschehen könnte. Aber die Wonnen des Bades rufen, Gentlemen. Wir sehen uns später.« »Ich könnte darauf verzichten, Dicker«, knurrte van Horne. Wie der Blitz hatte der Ungar sechzig Zentimeter Stahl aus dem Innern seines schwarzen Elfenbein-Gehstocks herausgezogen und die Spitze van Horne an die Kehle gedrückt, ehe dieser wußte, wie ihm geschah. »Sie haben natürlich nur Spaß gemacht, Sir, nicht wahr?« lächelte Janos gutmütig. -103-
Van Horne hob eine Hand. »Mehr wollte ich nicht wissen, Graf Wie-immer-Sie-heißen.« Janos stieß seinen Degen in den Gehstock zurück und kicherte. »Lieber Gott, Sir, Sie sind eine Type. Ich sehe schon, wir werden prächtig miteinander auskommen.« Wieder einer, den Janos ganz auf seine Weise behandelte. Er entfernte sich, alles an ihm wabbelte, und van Horne bemerkte: »Das ist einer, den man lieber auf seiner Seite weiß als auf der gegnerischen.« Er kniete sich hin und öffnete die Schiffskiste. Das erste, was er hervorholte, war ein Chorhemd in verschossenem Grün, das aussah, als habe es schon viele Meßjahre hinter sich. Es war eines für den Alltagsgebrauch, aber es gab auch ein anderes in Mattgold für hohe Festtage und ein drittes in vorschriftsmäßigem feierlichen Schwarz für Totenmessen. Außerdem waren in der Kiste ein silberner Kelch, in ein Stück einer alten Decke eingewickelt, ein Ziborium mit Hostie, eine silberne Monstranz an einer Kette, Salböle in kleinen Silberphiolen, ein Rauchfaß und Weihrauch. Zuletzt entdeckte er auch noch eine Heiligenfigur, die sehr sorgfältig in mehrere Schichten wollenen Tuches eingepackt war. Sie war etwa sechzig Zentimeter hoch und offensichtlich sehr alt, aus Holz geschnitzt und handbemalt, vom künstlerischen Standard durchaus bemerkenswert. Van Horne betrachtete sie sich eine ganze Weile stumm. »Wen stellt das dar?« fragte ich. »Ich weiß auch nicht genau, vielleicht St. Martin de Porres. Das ist der einzige farbige Heilige, der mir im Moment einfällt. Er war ein illegitimes Kind. Der Sohn einer Indianerin und eines Konquistadors. Wenn es jemals einen Heiligen für die Armen und Elenden gab, dann war er es, würde ich sagen.« Es war seltsam, wie bei diesen Worten plötzlich meine ganze Knabenzeit vor meinem geistigen Auge auftauchte. Knockbree -104-
und die scharlachroten Meßgewänder und die weißen Ministrantenkutten, die anzuziehen ich so gehaßt hatte, und die Abneigung gegen die Einteilung zu den Wochentagsmessen. Ich war niemals besonders religiös gewesen. Und wenig förderlich für meine Einstellung zur christlichen Kirche war obendrein die Tatsache, daß mein Großvater in seinen alten Tagen – zum großen Skandal der ganzen Grafschaft – seiner Religion abgeschworen und sich den Plymouth-Brüdern angeschlossen hatte, die einem das Leben, wie er mir zu versichern nicht müde wurde, bedeutend angenehmer machten. Indessen hatte ich schon seit langem aufgehört, an irgendeinen gütigen Gott zu glauben. Der einzige Gott, den ich je gekannt hatte, war einer des Zorns, der Gewalt und Bösartigkeit brachte und die Menschen strafte, aber keine Güte zeigte, und diesen konnte ich sehr gut entbehren. Van Horne legte die Figur in den Koffer zurück, schloß langsam den Deckel und sah auf. »Sieht so aus, als sei ich wieder im Geschäft, wie?« höhnte er, aber er lächelte nicht dabei. Ich verbrachte nach Janos eine halbe Stunde in der Badewanne. Das Wasser war so heiß, daß es mir schier die Haut abzog. Dann ging ich mit einem Handtuch um die Hüfte zu unserem Zimmer zurück und zog mir saubere Kleider an, dank meiner Koffer, die Bonilla so fürsorglich hatte herbeischaffen lassen. Anschließend gesellte ich mich zu Janos, der an einem großen, runden Tisch auf der schattigen Terrasse an der anderen Hofseite saß. Ein Indio tänzelte servierend herum, und der Tisch war voll von guten Sachen. Tortillas, frijoles, eine große Platte Anchovis, grüne Oliven – die ich nie besonders gemocht hatte – und in Butter gerösteter Mais. Auch frisches Obst und mehrere Flaschen Rotwein fehlten nicht. Janos aß überraschend wenig, trank aber dafür eine Menge -105-
und schien einem Gespräch nicht abgeneigt. Ich hatte wenig Zweifel daran, daß es mir möglich war, ganz überzeugend einen Mineninspektor zu spielen, und sagte ihm das, und er schien mit mir zufrieden zu sein. Wir besprachen, daß er die Rolle des nicht besonders fachkundigen Finanziers spielen sollte, der ausschließlich an der wirtschaftlichen Seite der Sache interessiert sei, mit einem Wort, die Rolle eines guten, soliden Geschäftsmanns. Er war mittlerweile schon bei der zweiten Flasche Wein und erheblich gesprächiger. »Ein gefährliches Unternehmen, Sir. Ein sehr gefährliches Unternehmen. Aber wir werden das schon schaffen, keine Angst. Ihr Freund van Horne ist offensichtlich ein vielseitig begabter Mann, und Sie, Sir… nun, Sie erinnern mich immer wieder an meine eigene Jugendzeit. Quecksilber.« Weiß der Himmel, wie ich es fertig brachte, nicht laut aufzulachen, als er sich nun vorbeugte und mit vollem Ernst sagte: »Die Drüsen, Sir, die Drüsen. Der Fluch der Natur, seit meinem einunddreißigsten Lebensjahr. Bis dahin war ich so normal wie jeder Mann, ein ausgezeichneter Kavallerieoffizier, Träger eines alten Namens. Und jetzt – alles weg, alles vorbei.« Er schnaubte wie ein alter Bulle, und zu meiner Verblüffung standen Tränen in seinen Augen. Und dann fiel ihm das Kinn auf die Brust, und er fing zu schnarchen an. Ich störte ihn nicht weiter, zündete mir eine Zigarette an und ging ein wenig spazieren. Der Garten vor Bonillas Büro war menschenleer, und auch im großen Haupthof war niemand zu sehen – dort, wo heute morgen noch Exekutionen, echte und vorgetäuschte, stattgefunden hatten. Ich schlenderte hinüber zu dem Pfosten, an den ich gebunden gewesen war, betrachtete mir die mit Einschüssen übersäte Mauer dahinter und fragte mich, nicht zum ersten Mal, was es mit dem Leben eigentlich auf sich habe. Jedenfalls war es wohl eine Angelegenheit, über die nur wenige Menschen wirklich selbst bestimmen konnten. -106-
Ich wandte mich ab und bummelte weiter bis zum großen, mächtigen Haupttor, das aus dicken Eisenstäben bestand. Es war jetzt geschlossen. Ich konnte aber durch die Gitterstäbe auf die Straße sehen. Erst, als ich ganz nahe war, bemerkte ich, daß ein Posten, lässig auf sein Gewehr gestützt, in der Nische der dicken Mauer des Bogengangs stand, die als Postenhäuschen diente. Er machte seine halbgeschlossenen Augen auf, blinzelte, als ich näher kam, und nahm andeutungsweise Haltung an. Ich nickte, wünschte ihm Guten Abend und blickte ohne besondere Aufmerksamkeit nach draußen. Die Straße war leer. Nur zwei Indios saßen an der Lehmziegelmauer eines Hauses gegenüber. Der Mann trug Ledergamaschen und ein rotes Flanellhemd. Sein schulterlanges Haar war mit einem Streifen des gleichen Stoffes zusammengebunden. Im Schoß hielt er eine alte Winchesterflinte. Die Frau hatte rabenschwarzes Haar, das wie ein dunkler Vorhang über ihre Schultern fiel, und mit einem scharlachroten Band aus der Stirn gehalten wurde. Ihr Hemd war voller schöner Indiostickerei und ebenfalls scharlachrot, ein silberbeschlagener Gürtel raffte den schwarzen Rock in der Taille zusammen, der gerade über ihre Knie reichte. Als sie aufstand, sah ich, daß sie darunter Naturlederstiefel anhatte. Sie kam über die Straße gerannt, streckte mir die Hände durch die Gitterstäbe entgegen und griff nach meiner Hand. Ich brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, daß diese stolze, barbarische kleine Schönheit Victoria Balbuena war. Ich hielt sie fest und spürte die Woge der Gefühle in mir, die ich mir selbst nicht erklären konnte, während ich in ihre Augen sah, die für die Stimme zu sprechen versuchten. »Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Es geht mir gut. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« -107-
Da schob mich der Wachtposten plötzlich mit einer schnellen, unerwarteten Bewegung zur Seite und schlug mit seinem Gewehrkolben so brutal nach diesen kleinen braunen Händen, daß sie zweifellos zerschmettert gewesen wären, hätte er sie getroffen. Aber sie zog ihre Hände gerade noch rechtzeitig zurück, und während sein Gewehrkolben statt dessen gegen die Gitterstäbe des Tors krachte, hatte ich ihn schon an der Kehle und drückte sie ihm in aufwallendem blinden Zorn so zu, daß ich ihn fast erwürgte. Es gab aufgeregtes Geschrei. Ich bemerkte den Indio mit dem weißen Haar an Victorias Seite. Der Abzug seiner Winchester klickte, als er sie durchlud, plötzlich stand van Horne zwischen mir und dem Posten und trennte uns. Der Posten taumelte gegen die Mauer und stürzte zu Boden. Er wollte gerade sein Gewehr anlegen, als Cordona angerannt kam und es ihm aus der Hand schlug. Der unglückliche Wachtposten versuchte aufzustehen, ging aber sofort wieder zu Boden, als ihn des Leutnants Faust mitten ins Gesicht traf. Ich half dem armen Teufel wieder auf die Füße und lehnte ihn an die Mauer, aber als ich mich danach wieder umwandte, waren Victoria und ihr Begleiter verschwunden. »Wo ist sie hin?« Ich umklammerte die Stäbe des Tors. »Hast du gesehen, wer das war?« Van Horne nickte. »Ich hab’ dir alles über die Gewohnheiten der Yaquis gesagt, Junge. Sie hat die Lebensumstände ihres Stammes wieder angenommen. Sie ist zurück zu ihrem Volk gegangen.« Cordona nickte dazu. »Der Mann, der bei ihr war, ist Nachita, der Stammesälteste der Windfluß-Yaqui – ihre Mutter war eine von ihnen. Er kommt zweimal im Jahr hierher nach Huila. Er führt einen Packzug über die Berge. Diese Transporte wagen heute nur noch Yaquis.« -108-
»Aber was macht sie bei ihm? Warum ist sie so angezogen?« »Er hat sie neulich hier vor dem Tor sitzen sehen, sie als Yaqui erkannt und ausgefragt. Für dieses Volk sind Familienbande alles, und er und dieses Mädchen sind eben vom selben Blut. Ihre Mutter war seine Cousine. Ich habe gestern mit ihm darüber gesprochen.« Sie hatte also wirklich trotz aller Ereignisse zu ihren eigenen Leuten gefunden. Ich fragte bedächtig: »Ist sie bei diesen Leuten gut aufgehoben?« »Das Mädchen gilt als reine Yaqui, weil es das Indianerblut von ihrer Mutter hat. Victorias Großvater war der Häuptling des Stammes, aus diesem Grund genießt sie ein besonderes Ansehen. Der Stamm ist glücklich, daß die Enkeltochter des Häuptlings zurückgekehrt ist. Glauben Sie mir, ich kenne diese Leute. Dieser Nachita und alle Männer seines Stammes würden sich jeden vornehmen, der Victoria auch nur schief ansieht.« »Wie ich dir sagte, Keogh«, ergänzte van Horne. »Diese Yaqui sind schlimmer als die Apachen.« Ich aber wandte mich ab und ging schnell weg, denn ich konnte mir diesen seltsamen, unlogischen Schmerz in meinem Innern nicht erklären. Es hatte doch so und so keinen Sinn – wirklich überhaupt keinen. Als ich mich auf mein Bett legte und die Augen schloß, sah ich ihr Gesicht vor mir, und es ließ mich nicht mehr los. Es war nicht schön, und es war doch schöner als jedes andere, das ich je in meinem Leben gesehen hatte. Ich schlief drei oder vier Stunden und wachte erst kurz vor zehn Uhr auf, jedenfalls zeigte der alte Blechwecker, der neben dem Bett stand, diese Zeit. Keine Spur von van Horne. Als ich die Tür öffnete und auf den Hof blickte, sah ich ihn zusammen mit Janos an einem Tisch sitzen. Sie spielten im diffusen zitronenfarbenen Schein einer Öllampe Karten. -109-
Ich fühlte mich rastlos und war ein wenig deprimiert ganz bestimmt war mir nicht nach Gesellschaft. Also lief ich einmal um den Hof herum und blieb im Schatten, bis ich in den Garten kam. In Bonillas Büro brannte kein Licht, und so hatte ich den ganzen Ort für mich allein. Die Luft war nach der Hitze des Tages frisch, eine Brise zerstäubte silbern das Wasser des Springbrunnens, und in einer schwarz gegen den Sternenvorhang stehenden Zypresse hing ein nahezu voller Mond. Es war sehr friedlich. Draußen vor der Mauer spielte irgendwo eine Gitarre, und jemand sang leise dazu. BilderbuchMexiko, wie es die Touristen erwarten. Die Brise schüttelte die Zypresse, aber es bewegte sich noch etwas mit ihr, ein dunkler Schemen, der wie durch Zauberei plötzlich einen Arm um meinen Hals hatte. Vor meinen Augen blitzte matt die Klinge eines Messers. Die Stimme klang wie das abendliche Rascheln trockenen Laubs in einem Wald. »Seien Sie vernünftig, Señor. Sie haben nichts zu fürchten.« Aus dem Schatten trat Victoria Balbuena. Der Arm ließ mich los, und sie streckte mir die Hände entgegen. Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das die Nacht sonnenhell machte. Sie wollte mich in den Schatten ziehen, aber ich wehrte mich dagegen. »Augenblick, Augenblick, wohin gehen wir?« Ihre Augen waren beredt genug, aber es war Nachita, der für sie sprach. »Wir gehen weg von hier, Señor, wir verlassen Huila heute nacht. Beim Morgengrauen werden wir schon in den Bergen sein. Dort kann kein federale dieser Welt einen Yaqui fangen. In vier Tagen sind Sie im Land des Windflusses und in Sicherheit.« »Aber warum wollen Sie mich dorthin bringen?« »Weil meine Dame es so wünscht.« -110-
Mit dieser Redewendung versuchte er mir Victorias Rang deutlich zu machen, und er zeigte mir zugleich, was das für ihn bedeutete. Cordona hatte also gewußt, wovon er sprach. Ich hielt Victorias Hand sehr zart und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht möglich.« Nachita fuhr fort: »Heute morgen sahen Sie an dem Pfahl dem Tod ins Auge, aber Sie sind noch immer am Leben. Die Dinge haben ein gutes Ende genommen.« Er hatte ein bemerkenswertes Gesicht, und ich glaube, nach diesen Worten nahm ich ihn eigentlich zum ersten Mal richtig wahr, als wir uns in diesem Augenblick direkt gegenüberstanden: gerade Nase, dünne Lippen, sehr hellbraune Haut. Er wirkte stark, intelligent und auf ruhige Art stolz. Ich war um so mehr von ihm beeindruckt, als ich später erfuhr, daß er bereits zweiundsiebzig Jahre alt war. Ich erwiderte: »Drei Leben für eines. Colonel Bonilla schenkte mir und meinen beiden Gefährten das Leben für das eines Mannes namens Tomas de la Plata.« Er entgegnete ruhig: »Aber de la Plata ist noch immer am Leben, jedermann weiß das.« »Deswegen fahren wir ja morgen nach Mojada, um das zu ändern.« »Dann werden Sie ein schlimmes Schicksal erleiden«, urteilte er ohne weitere Umschweife. Victoria hielt mich mit eisernem Griff fest. Ich beugte mich näher zu ihr und sagte entschlossen: »Es ist Ehrensache. Van Horne hat uns beide bei Tacho gerettet, dich genauso wie mich. Soll ich ihn etwa jetzt im Stich lassen?« Gott allein mag wissen, warum ich hier und jetzt mit diesem Argument kam, aber Victoria nahm es ernst, nickte und schob dabei ihre Hände in meine. Ich versuchte, sie auf die Wange zu küssen, aber sie wich aus und küßte mir statt dessen die Hand. -111-
Sie trug ein handgearbeitetes indianisches Silberamulett an einer Lederschnur um den Hals. Sie nahm es nun mit einer plötzlichen schnellen Bewegung ab und legte es mir um. Dann richtete sie sich auf und küßte mich auf europäische Art, wandte sich ab und verschwand in der Dunkelheit. Nachita sagte: »Ich kenne Mojada, Señor. Es ist ein Grab, in dem noch viele Platz haben. Denken Sie noch einmal darüber nach.« »Es ist ein weiterer Schritt auf meinem Weg, mein Freund«, erklärte ich ihm. »Ich ändere niemals meine Entschlüsse. Kümmern Sie sich um sie.« Er verschwand, verschmolz mit dem Schatten und der Dunkelheit, als sei er niemals hiergewesen, und ich stand da, betastete das Silberamulett, dessen Bedeutung ich nicht kannte. Plötzlich überfiel mich eine tiefe Traurigkeit, und ich fühlte mich einsam und verlassen.
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7 Wir fuhren um sechs Uhr los. Der Morgen war so grau und trübe, wie man ihn sich nur denken kann. Ein schlechtes Omen, dachte ich. Van Horne, der sich bis in die frühen Morgenstunden mit den Karten und dem Wein beschäftigt hatte, sah aus, als wäre er ungefähr hundert Jahre alt, und bei Janos war es kaum anders. Cordona war zu unserer Verabschiedung erschienen, wieder makellos in Uniform und Stiefeln, jeder Zoll ein perfekter Soldat, selbst zu einer Tageszeit wie dieser. Er erklärte uns, er würde später, im Laufe des Tages, mit seiner Patrouille zu der rancheria in Huanca losmarschieren, und wünschte uns in seiner üblichen knappen und reservierten Art Glück. Es war offensichtlich, daß er nicht erwartete, uns jemals lebend wiederzusehen – besonders ermutigend, wenn man unter solchen Umständen in ein Unternehmen zieht. Ich fuhr, van Horne saß neben mir, und so konnte sich Janos hinten auf den Rücksitzen breit machen. Er brauchte ohnehin Platz für zwei. Die Straßen von Huila waren zu dieser Stunde noch völlig unbefahren. Es herrschte starker Bodennebel, der – obwohl er zwischendurch ab und zu einmal aufriß – die Sicht sehr stark beeinträchtigte. Etwa fünf Meilen außerhalb von Huila begann er sich etwas zu heben, und ich bemerkte, daß sich vor uns etwas bewegte. Als wir näher kamen, erkannten wir einen Packzug von einem guten Dutzend oder mehr schwerbeladenen Maultieren. Die Nachhut bildete der Yaqui Nachita, die Winchester in der rechten Hand, den Kolben auf seinen Schenkel gestützt. Über -113-
den Zug verteilt waren noch drei weitere Indios, harte, gefährlich aussehende Burschen mit Kopfbändern und roten Flanellhemden, die fast wie Uniformen aussahen. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet und machten den Eindruck, als wollten sie die ganze Welt erobern. Victoria Balbuena ritt der Kolonne voran. Sie war genauso angezogen, wie ich sie zuletzt im Garten gesehen hatte, nur hatte sie jetzt zusätzlich noch eine Art Umhang gegen die Kälte um die Schultern, der aus irgendeiner Art Pelz bestand. Ich fuhr sehr langsam an ihnen vorbei. Nachita hob die Winchester etwas hoch zum Zeichen des Grußes. Aber Victoria starrte geradeaus, ohne sich auch nur das geringste anmerken zu lassen, eine stolze kleine Königin, die das gemeine Volk nicht beachtet. Dies zumindest machte nun van Horne lebendig. »Verdammt noch mal«, fluchte er. »Ich hab’ dir ja gesagt, daß sie zu ihrer Sippe zurückgekehrt ist. Aber sie benimmt sich wirklich albern.« Fünfzig Meter weiter fuhr ich von der Fahrbahn herunter und stellte den Motor ab. »Was wird das nun wieder?« fragte er. Ich gab ihm keine Antwort, sprang heraus und rannte durch den Nebel zurück. Victorias Pferd hatte eine Schmuckglocke um den Hals, die hörte ich, bevor ich sie in dem Nebel erkennen konnte. Sie zeigte keinerlei Überraschung oder Emotion, als sie mich vor sich stehen sah. Der Mann neben ihr trieb sein Pferd vorwärts. Nachita rief ihm in ihrer Sprache scharf etwas zu. Victoria ritt einfach weiter, immer noch geradeaus starrend, obwohl ich mir ihren Steigbügel griff und neben ihr herlief. Als wir bei unserem Mercedes ankamen, ließ ich los, und sie ritt weiter, ohne mir auch nur einen Blick zu gönnen. Der Packzug, mit Nachita am Ende, verschwand wieder im -114-
Nebel. Janos fragte: »Was war denn los?« Ich setzte mich wieder ans Steuer. Als ich mich nach vorn beugte, fiel das Silberamulett, das sie mir gegeben hatte, aus meinem Hemd. Van Horne griff danach und besah es sich. »Hat sie dir das gegeben?« »Und wenn?« Er lachte abschätzig. »Ich muß dir offenbar noch mehr über die Yaqui erzählen, Junge. Bei einigen ihrer Stämme haben die Frauen das Sagen, sie suchen sich ihre Männer selbst aus. Jedes Mädchen bekommt bei der Geburt ein Silberamulett, das ihre Kraft und ihre Abstammung symbolisiert. Wenn ein Mädchen einen Ehemann will, legt sie ihm einfach dieses Amulett um den Hals. Will sie die Scheidung, verlangt sie es zurück.« Irgendwie fand er die ganze Sache zum Lachen. »Es ist verdammt komisch, Keogh. Du warst am Traualtar und hast es nicht einmal gewußt!« Er lachte so heftig, daß ich befürchtete, er könnte gar nicht mehr aufhören, und Janos tat es ihm gleich. Mir war überhaupt nicht zum Lachen zumute. »Und?« knurrte ich. »In einem oder zwei Tagen bin ich so und so Fraß für die Aasgeier. Und ihr auch.« Das wirkte,… ihr Gelächter brach schlagartig ab. Ich fuhr wieder los. Nach einer Stunde hatte sich der graue Himmel geöffnet, der Nebel hatte sich aufgelöst, und die Sonne brannte vom Himmel. Die wüstenähnliche Ebene, durch die wir fuhren, zog sich wie bräunlicher Dunst hinauf in die Berge, deren Canyons in schwarzem Schatten lagen. Wenn es jemals irgendwo einen Landstrich gegeben hat, der nicht geeignet war, mit dem Auto befahren zu werden, dann war -115-
es dieser. Und obwohl der Mercedes stabil wie ein Panzer gebaut und offensichtlich eine Menge auszuhalten imstande war, bestand kein Grund, Pannen herauszufordern. Ich fuhr also den Großteil der Strecke mit äußerster Vorsicht. Es passierte öfter, besonders am Anfang der Auffahrt in die Berge, daß wir anhalten und erst große Felsbrocken aus dem Weg räumen mußten. Janos war dabei selbstverständlich überhaupt keine Hilfe und blieb auch immer hinten sitzen, dicke Zigarren paffend und uns laut bemitleidend. Zu meiner Verblüffung nahm van Horne dies alles ohne Klagen auf sich. Er wurde sogar immer umgänglicher. Ungefähr zehn Meilen vor Mojada machten wir eine Rast und hielten ein Picknick; man hatte uns einen ganzen Korb voll Nahrungsmittel mitgegeben: kalten Braten, Anchovis, Oliven und frisches Brot, dazu einige Flaschen Rotwein. Es war sehr gemütlich, und Janos hob sogar sein Glas in Richtung Mojada: »Wir, die Todgeweihten, grüßen dich!« »Sehr schön«, bemerkte van Horne, »du brauchst aber nicht zu glauben, daß ich mich schon aufgegeben habe. Und wie ist es mit dir, Keogh?« »Es kommt alles, wie Gott es will«, murmelte ich achselzuckend. »So sagen doch die Stierkämpfer, ehe sie die Arena betreten, oder nicht?« Das rührte etwas tief in ihm an, wie ich heute – im Rückblick auf diese Zeit – weiß. Denn seine Wandlung, glaube ich, hatte schon damals begonnen, obwohl es im Leben immer schwierig ist zu sagen, wann und wo etwas beginnt oder endet. Ganz sicher hatte ihn sein unbefangener Humor schon verlassen. Sein Blick war fremd und fern, als er so dastand und zu den Bergen hinaufblickte. »Das ist ein merkwürdiger Gedanke, Keogh«, flüsterte er, »ein verdammter Gedanke.« Er schüttelte sich und zwang sich -116-
zu einem Lächeln. »Merkwürdig, wie kalt der Wind selbst in der prallen Sonne sein kann.« Und dabei wehte gar kein Wind. Reiter tauchten in den Bergen auf, als wir uns Mojada näherten. Janos machte mich auf sie aufmerksam. Sie waren noch weit entfernt, hoch über uns, und es war unmöglich auszumachen, was sie vorhatten. Sie hielten genau mit uns Schritt und verschwanden erst völlig aus unserer Sicht, als wir über den letzten Paß fuhren und unten im Tal Mojada vor uns liegen sahen. Es war wenig mehr als ein Dorf, umgeben von einer etwa drei Meter hohen bröckeligen Lehmziegelmauer, die ein Überbleibsel aus den Tagen war, als hier noch die ständige Bedrohung durch die Indios herrschte. Der Zugang zum Ort bestand in einem Tor. Innerhalb der Mauer gab es dann dreißig oder vierzig casas aus Lehm, eine kleine windschiefe Kirche mit einem Glockenturm, der aussah, als sei er gerade getüncht worden. Außerdem ließ sich noch vermuten, daß eines der Häuser das Hotel war, das Cordona erwähnt hatte. Ich wich einer Schafherde aus, deren drei Hirten uns verwundert anstarrten, und fuhr durch das große Tor in den Ort. Kaum angekommen, wurden wir von einem Dutzend lumpiger und barfüßiger Kinder belagert, die hinter uns her rannten. Janos warf ihnen etwas Kleingeld hinaus, um sie loszuwerden, während ich vor das Hotel fuhr. Es war eine ziemliche Bruchbude. Die Fassade war ziemlich abgebröckelt, und es war offensichtlich, daß seit Jahren kein Mensch etwas dagegen getan hatte. Ein Schild über der Tür nannte es Casa Mojada. Ich stieg aus und öffnete die hintere Tür für Janos. Die Kinder standen in einem schweigenden Halbkreis in respektvoller Distanz um uns herum und wichen nur sehr zögernd zurück, als die vier oder fünf Frauen, die aus den umliegenden Häusern -117-
herbeigekommen waren, sie wegdrängten. Im Schatten der Hotelveranda saßen drei oder vier Männer mit den Rücken an der Wand. Typische Bauern, armselig gekleidet und mit den müden, zerfurchten Gesichtern der vorzeitig Gealterten. Männer, die seit ihrer Kindheit wie die Pferde geschuftet hatten, nur um Leib und Seele zusammenzuhalten. Sie hatten mit nichts begonnen, und sie würden auch mit nichts enden. Innen war es kühl und dunkel. Der Boden war gefliest, zwei oder drei Tische mit Stühlen standen herum, und es gab eine Bar, deren Theke sehr sauber geschrubbt war. Dahinter standen Flaschen in einer Reihe. Es war nicht ein Gast zu sehen und auch kein Personal. Janos hämmerte mit seinem Stock auf die Theke und ließ sich dann auf einen Stuhl fallen. Schon rann ihm wieder der Schweiß vom Gesicht. Ein plötzlicher überraschter Laut war zu vernehmen. Ich drehte mich um. Im offenen Eingang links von der Bar stand eine Frau. Sie war vielleicht vierzig und wirkte, als hätte sie unser Anblick zu Tode erschreckt. Sie war hochschwanger, und es stand zu befürchten – wie ich nach meinem vierjährigen Medizinstudium urteilte – daß die Geburt jeden Augenblick beginnen könnte. Hinter ihr erschien ein Mann, der sich gerade die Jacke anzog, groß und hager, in mittleren Jahren, eisengraue Haare und ein Schnurrbart von der gleichen Farbe. Er murmelte der Frau etwas zu, schob sie dann zur Tür hinaus und kam näher. »Zu Ihren Diensten, Señores.« »Und wer sind Sie wohl?« fragte Janos. »Rafael Moreno, Señor. Mir gehört das Hotel. Ich bin außerdem auch Bürgermeister von Mojada.« »Tatsächlich?« fragte Janos und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Ich heiße Janos, und dies hier ist mein Assistent, Señor Keogh. Wir sind von Don Angel eingeladen worden, -118-
seine Mine zu besichtigen.« Moreno schien nicht fähig zu sein, irgend etwas zu erwidern, was Janos veranlaßte, in scharfem Ton hinzuzufügen: »Wir benötigen eine Unterkunft, Mann, kapieren Sie das nicht? Zwei Zimmer.« In diesem Augenblick betrat van Horne das Hotel, und der Ausdruck von Schock und Verblüffung auf Morenos Gesicht war nicht zu beschreiben. Er machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten und bekreuzigte sich flüchtig. »Dieser gute Mann da ist Pater van Horne. Er bat mich, ihn mitzunehmen, als er in Huila von meiner Fahrt hierher hörte«, fuhr Janos fort. »Vielleicht sind Sie so gut und zeigen ihm den Weg zum Pfarrhaus.« »Zum Pfarrhaus?« Moreno sah ihn völlig entgeistert an. »Aber hier gibt es doch gar kein Pfarrhaus, Señor. Wir haben in Mojada keinen Priester.« »Jetzt haben Sie einen, mein Sohn«, unterbrach van Horne mit verblüffender Sanftheit die Unterhaltung. »Sie haben eine Kirche. Und jetzt haben Sie auch wieder einen Priester.« Auf Morenos Gesicht zeichnete sich ein Ausdruck echten Schreckens ab. »Wir haben keinen Priester, Pater, weil es nicht erlaubt ist.« Er warf die Arme wild in die Luft. »Es gibt auch keine Zimmer. Das Hotel ist voll, verstehen Sie? Sie müssen wieder abreisen, alle. Und Sie, Pater«, wandte er sich van Horne zu, »Sie vor allem.« Dann ließ er uns einfach stehen, ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Es entstand ein verständlicherweise bedrücktes Schweigen. Ich ging hinter die Bar, nahm drei Gläser und füllte sie mit Bier aus einem Krug, der zur Kühlung in einem Eimer mit Wasser stand. »Man könnte fast meinen, er sei gewarnt worden, daß wir kommen«, sagte ich. »Wahrscheinlich«, meinte van Horne, trank ein wenig von seinem Bier und nickte, »wurde er tatsächlich gewarnt. Das alles -119-
ist offenkundig kein Zufall.« »Was also, wenn ich fragen darf, fangen wir nun an?« fragte Janos. »Was vorgesehen war. Wir spielen alle unsere Rollen wie geplant. Ihr beide bringt mich zur Kirche mit meinen Sachen, was nur höflich erscheint, und dann fahrt ihr zu der Hazienda und erzählt Don Angel eure Leidensgeschichte. Dann nimmt er euch vermutlich bei sich auf.« »Und du bist hier dann dir selbst überlassen.« Er lächelte versonnen und hob seine linke Hand, in der er die Gladstonetasche trug. »Nicht, solange ich das hier habe«, entgegnete er. »Und jetzt los.« Als wir die Vorhalle der Kirche betraten, überfiel uns sogleich der Gestank von Abfall und Fäulnis. Die Tür war nicht verschlossen. Der Grund dafür bestand darin, daß ihr Schloß zerschlagen war. Van Horne stieß sie mit dem Stiefel auf und ging uns voraus ins Innere. Es sah schlimm aus. Die Holzbänke waren umgeworfen oder zertrümmert, an die weißgetünchten Wände waren mit Kohlestiften obszöne Worte geschmiert. Überall Exkremente, und keineswegs alle stammten von Hunden, auch Menschen hatten es gewagt, den geheiligten Ort zu verunreinigen. Nicht einmal den Altar, der aus einem einzigen Block grauen Steines bestand und der sehr alt aussah, hatten sie verschont. Die obszönste Zeichnung eines Sexualaktes, die ich je gesehen habe, war auf seine Vorderfront geschmiert worden. Van Horne besah sich das eine ganze Weile lang schweigend, dann streckte er die Hand aus und berührte mit ihr die Tischfläche des Altars leicht. »Diese armen unwissenden Narren«, sagte er. »Ich frage mich wirklich, ob sie wußten, was sie tun. Das ganze Haus muß nach so etwas neu geweiht werden.« -120-
Er öffnete eine Tür an der Seite und ging wieder voraus. Offensichtlich war dies die Sakristei. Es stand ein Schreibtisch darin und ein alter Schrank, und selbst ein schmales Eisenbett in einer Ecke war da, wenn auch die Matratze so aussah, als seien in ihr die Erreger sämtlicher der Menschheit bekannten Krankheiten versammelt. »Das reicht für mich«, sagte van Horne. »Helft mir, meine Sachen hereinzutragen, danach könnt ihr euch dann euren Aufgaben widmen.« Wir schleppten ihm den Schiffskoffer herein und setzten ihn in einer Ecke ab. Ich fragte skeptisch: »Aber du weißt genau, was du tust, ja?« »Üblicherweise ja. Ich hole mir noch eine Decke aus dem Auto und werde mir von Moreno eine Matratze und eine Lampe ausborgen. Das wird er mir wohl nicht verweigern können.« Er schien völlig in seiner Aufgabe aufzugehen, seine Augen wanderten ständig rastlos in der winzigen Kirche umher, wobei sich seine großen Hände nervös ballten und wieder öffneten. Ich sah Janos fragend an, aber der zuckte nur ratlos mit den Schultern, und also ließen wir ihn in Ruhe und gingen hinaus. »Unser Freund spielt seine Rolle ja sehr lebensecht und völlig ernst«, bemerkte Janos, während er auf den Rücksitz des Mercedes kletterte. »Meinen Sie?« Ich hob meinerseits die Schultern hoch. »Ich weiß nicht so recht. Was sie mit dieser Kirche gemacht haben, ist ja nun wirklich schlimm genug. Mir selbst war auch nicht gerade zum Lachen zumute. Ich weiß nicht so recht.« Aber eigentlich war ich auch unsicher, denn ich hatte schließlich van Hornes Augen beim Anblick dieser Entweihung des Altars gesehen. In ihnen konnte man für kurze Zeit so etwas wie einen inneren Kampf beobachten. Und auch seine Stimme hatte sich wieder verändert. Vielleicht war das das deutlichste Anzeichen überhaupt. -121-
Die Hazienda lag drei Meilen jenseits von Mojada, jedenfalls der Landkarte nach. Aber schon nach einer Meile waren wir an der Stelle, an der hinter einem großen Torbogen, der sich über eine Seitenstraße spannte und ein Wappen mit dem in Stein gemeißelten Namen De la Plata trug, Don Angels Land begann. Ich fuhr weiter durch eine wellige gelbbraune Grasebene. Da und dort standen in kleine Gruppen zusammengetriebene Kühe, die meisten im Schatten von Baumwolldickichten. Eine Meile hinter dem Einfahrtstor knallte ein Schuß durch die warme Luft, und drei Reiter kamen aus einer Talmulde neben der Straße, die mehr ein Feldweg war, herangaloppiert. Ich fuhr ohne Zögern einfach weiter. Darauf legte der Anführer der Reiter sein Gewehr auf uns an und feuerte nochmals. Und nur ein paar Meter von uns entfernt spritzte Erde auf. Ich tat, was unter diesen Umständen vernünftig war, und hielt an. »Falls es Sie interessiert«, sagte Janos ruhig, während die Reiter herankamen, »ich habe von Cordona einen Revolver bekommen, bevor wir abfuhren, und wenigstens meine Fähigkeit, gradeauszuschießen, haben die Veränderungen meiner Drüsen in keiner Weise beeinträchtigt.« »Das wird sich vermutlich noch rausstellen«, erwiderte ich. »Versuchen wir’s aber lieber zuerst auf anständige Art.« Die drei Reiter waren wie arbeitende Vaqueros gekleidet, mit Strohsombreros und Ledergamaschen. Der mit dem Gewehr, der offensichtlich das Kommando hatte, war etwa so groß wie van Horne, mit einem harten, brutalen Gesicht und den größten Händen, die ich jemals an einem Menschen gesehen hatte. »Was fällt euch ein?« donnerte ihn Janos an. »Dies hier ist Privatgrund«, knurrte der andere mit einer Stimme, die schon viele Jahre lang unter ungesunder Lebensweise und Alkohol gelitten hatte. -122-
»Ich bin hier auf ausdrückliche Einladung von Don Angel de la Plata, dem Besitzer dieses Landes«, informierte Janos ihn kühl. »Sie lügen schlecht, Señor. Ich bin Raul Jurado, Don Angels Verwalter. Ich wäre der erste, der etwas von einem solchen Besuch erfahren würde.« Er hob seinen linken Arm und damit die Mündung seines Gewehrs, das darauflag. Meine Finger waren bereits am Abzug meiner Enfield, aber es bestand keine Notwendigkeit, mehr zu unternehmen. Janos sagte: »Sie werden vielleicht bemerkt haben, mein Freund, daß ich meine Hand in der Jackentasche habe. Sie hält dort einen geladenen Revolver. Sie sind ein ziemlich großer Mann, und ich würde wohl auf diese Entfernung einige Mühe haben, Sie zu verfehlen.« Der Kolben des Gewehrs vibrierte nicht einmal, und auch Jurados Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Ich habe keine Ahnung, wie es wohl weitergegangen wäre, aber die Spannung der Situation löste sich, weil noch jemand kam. Eine Stimme rief: »Jurado, was, zum Donnerwetter, tust du da?« Eine junge Frau kam über den Hügel auf uns zugaloppiert. Sie hatte Herrenstiefel mit Sporen an, trug spanische Reithosen aus schwarzem Leder, ein weißes, am Hals offenes Seidenhemd und einen Cordobahut mit nach vorn gebogener Krempe, um das blasse, ovale Gesicht vor der Sonne zu schützen. »Was geht hier vor?« forschte sie und schlug Jurados Gewehrkolben zur Seite. »Fremde«, sagte er mürrisch. »Eindringlinge.« Da setzte sich Janos gravitätisch aufrecht und brachte eine angedeutete Verbeugung zuwege. »Señora, erlauben Sie mir, mich vorzustellen.« Was immer man gegen ihn sagen konnte, Stil hatte er. »Ich bin Paul Janos, Bevollmächtigter der Herrera Mining Company. Und dies ist Señor Emmet Keogh, ein -123-
Mineningenieur. Ich bin hier auf ausdrückliche Einladung von Don Angel de la Plata. Dessenungeachtet hat es dieser seltsame Mensch hier für angemessen gehalten, auf uns zu schießen.« Das Gesicht der jungen Frau wurde plötzlich sehr zornig. Ihr Arm mit der Lederreitpeitsche fuhr hoch, und sie zog sie Jurado mitten durchs Gesicht. »Du Tier!« schrie sie ihn an. »Was fällt dir eigentlich ein?« Er hatte einen Arm gehoben, um den Schlag abzuwehren. »Ich hatte meine Anweisungen, Señorita.« »Anweisungen?« Sie spie das Wort aus wie etwas, das einem nicht schmeckt. »Ich erteile hier die Anweisungen, nicht mein Bruder! Und jetzt geh mir aus den Augen. Nimm mein Pferd mit!« Sie schwang sich vom Pferd und warf ihm mit einer eleganten Bewegung die Zügel zu. Einen Augenblick lang glaubte ich, daß er widersprechen würde, aber dann führte er seine Hand stumm zur Krempe seines Sombreros. Er riß sein Pferd herum und jagte davon, das Pferd der Señora mitziehend, während seine beiden Begleiter hinter ihm herjagten. Sie nahm ihren Hut ab. Jetzt war sogleich zu erkennen, daß sie älter war, als ich anfangs geglaubt hatte. Sie war mindestens dreißig. Ihre Haut war so bleich, daß sie fast durchsichtig erschien. Ihre großen dunklen Augen schienen bereits alle Tragödien dieser Welt gesehen zu haben. »Chela de la Plata, zu Ihren Diensten, Señores«, stellte sie sich vor. »Wenn Sie erlauben, daß ich zu Ihnen einsteige, zeige ich Ihnen den Weg zum Haus meines Vaters.« Der Besitz bestand aus einem ganzen Komplex von Stall-, Wirtschafts- und Wohngebäuden aller Art, von denen allerdings die meisten im Zustand fortgeschrittenen Verfalls waren. Die eigentliche Hazienda lag dahinter, vor einer Zypressenreihe. Es -124-
war ein Bau im alten Kolonialstil aus verwittertem braunen Stein, nur eingeschossig, und vorne mit einer Kolonnade. Als ich den Mercedes direkt vor der steinernen Eingangstreppe zum Halten brachte, war das erste, was ich bemerkte, die Spuren von Kugeleinschlägen an den Säulen und an der Wand dahinter. Hier ist bestimmt einmal sehr hart gekämpft worden. Wir folgten Chela de la Plata die Treppen hinauf und in eine kühle, dunkle Eingangshalle, in der einige präparierte Stierköpfe an der Wand hingen. Die große Eichentür, die sie an der linken Seite öffnete, wies ebenfalls Spuren von Kugeln auf, aber davon abgesehen führte sie in einen wirklich angenehmen Raum mit schweren schwarzen spanischen Eichenmöbeln aus dem 18. Jahrhundert und einem Holzfußboden, auf dem als lebhafter Farbtupfer ein Indioteppich lag. Außerdem gab es noch einen großen steinernen Kamin, der im Augenblick aber ohne Feuer war. »Ich hole Ihnen meinen Vater, Señores. Bitte warten Sie hier«, sagte sie und verließ uns. »Die Leute müssen einst auf sehr großem Fuß gelebt haben«, stellte Janos fest, sank in einen bezogenen Sessel und blickte sich voll Bewunderung um. Ich ging zu dem großen Fenster auf der anderen Seite und sah hinaus. Man blickte auf einen Garten, der von einer Mauer eingesäumt war. Er mußte einmal sehr prächtig gewesen sein, aber auch er war jetzt völlig verwahrlost. Ein vernachlässigter Garten ist einer der traurigsten Anblicke der Welt. Die Tür ging auf, und Chela kam herein, einen Rollstuhl vor sich her schiebend. In ihm saß ein gebrechlicher, krank aussehender Mann, dessen graues Haar so lang war, daß es ihm fast bis auf die Schultern reichte. Sein Gesicht hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem ihren. Es war lang und ziemlich hager, mit tränenden braunen Augen, die mit Unverständnis und Furcht auf -125-
den Zustand der Welt zu blicken schienen. Er hatte eine Decke um die Beine gewickelt und machte den Eindruck, um es ganz direkt zu sagen, als machte er es nicht mehr allzulange auf dieser Welt. »Señores, mein Vater, Don Angel de la Plata.« Er streckte Janos müde seine Hand entgegen. »Señor Janos? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erfreut ich war, Ihren Brief zu erhalten. Sehr erfreut. Es ist alles für Sie vorbereitet. Ich lasse seit einigen Wochen wieder in der Mine arbeiten. Einige Wochen. Ich habe keinen Zweifel, daß Sie alles mehr als zufriedenstellend finden werden.« Er brabbelte auf diese Art noch eine ganze Weile weiter und machte kaum einmal eine Pause zum Atemholen, in der Janos mich hätte vorstellen können. Er wiederholte sich unaufhörlich und sprach ständig in diesem scharfen, rechthaberischen Altweiberton, der alles andere als normal klang. Seine Tochter schaffte es schließlich, ihn so lange zum Schweigen zu bringen, daß sie uns zum Essen bitten konnte. Ich schob galant den Rollstuhl für sie, damit sie vorangehen konnte, hinaus in die Eingangshalle und in den rückwärtigen Teil des Gebäudes, wo auf einer Terrasse, die auf den verwachsenen Garten hinausging, ein Tisch gedeckt war. Zwei Indiofrauen mit dunklen, freudlosen Gesichtern servierten. Sie sprachen die ganze Zeit nicht ein Wort, sondern erschienen und verschwanden nur und taten ihre Arbeit. Es gab Rotwein in verschwenderischen Mengen, aus Gläsern, die eher Karaffen waren als Weingläser, und sooft ich ausgetrunken hatte, war schon wieder eine der Indiofrauen zur Stelle und füllte nach. Die Mahlzeit – ebenfalls ziemlich reichlich bemessen – war einfach und bekömmlich. Eine typische Bewirtung auf einem Landgut. Es gab frijoles mit viel Chili. Die gebratenen Steaks waren so groß wie die Teller und einen feineren Ziegenkäse als den, den ich hier angeboten bekam, -126-
habe ich meiner Lebtage nicht gegessen. Der alte Mann stocherte allerdings nur in seinem Teller herum und aß nichts. Er brachte es tatsächlich fertig, nichts zu sprechen, und überließ es seiner Tochter, die Konversation allein zu führen. »Hatten Sie eine einigermaßen angenehme Reise von Huila hierher?« erkundigte sie sich. »Ganz vortrefflich«, antwortete ihr Janos. »Das Automobil ist natürlich eine große Erleichterung. Der Priester war überaus beeindruckt. Nicht wahr, Keogh?« »Priester?« fragte sie verblüfft. »Wir trafen ihn in Huila. Er suchte nach einer Transportgelegenheit nach Mojada. Pater van Horne, Amerikaner. Soweit ich ihn verstanden habe, ist er in diese Pfarrei entsandt worden. Wir haben ihn in der Kirche zurückgelassen, die sich allerdings, wie ich gestehen muß, in einem beklagenswerten Zustand befand.« »Da haben Sie wohl recht.« Ihr Stirnrunzeln war kräftig. »Señor, ich würde Sie sehr gerne nach Mojada zurückbegleiten, um mit diesem Mann zu sprechen. Würde Ihnen das etwas ausmachen?« »Aber mit Vergnügen, Señorita.« Er räusperte sich. »Es gibt da allerdings, wenn ich offen sein darf, eine kleine Unannehmlichkeit. Im Hotel hat man uns gesagt, man könne uns unmöglich unterbringen.« Sie entgegnete ganz ruhig: »Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich werde mit Moreno, dem Besitzer, sprechen. Das geht schon in Ordnung.« »Und wann können wir die Mine besichtigen, Señorita?« fragte ich dazwischen. »Nun«, sagte sie zu Janos, »ich würde vorschlagen, gleich morgen früh, wenn Ihnen das recht ist. Sie ist etwa drei Meilen von hier entfernt. Ich glaube nicht, daß Ihr Automobil dorthin -127-
durchkommen wird. Aber Sie können einen Pferdewagen haben, wenn Ihnen das nichts ausmacht, Señor.« Er deutete wieder eine leichte Verbeugung an. »Ganz wie Sie wünschen, Señorita. Da ist nur noch eine Sache.« »Nämlich?« Er räusperte sich neuerlich umständlich. Ich mußte zugeben, daß er eine ausgezeichnete Vorstellung gab. »Um ganz offen mit Ihnen zu sein, Señorita, der Militärgouverneur in Huila, ein Colonel Bonilla, nahm mit mir Kontakt auf und riet mir nachdrücklich von einem Besuch bei Ihnen ab. Er brachte zum Ausdruck, mein Mitarbeiter und ich würden uns hier sogar in Lebensgefahr begeben.« »Eine solche Gefahr besteht nicht«, erwiderte sie tonlos. »Colonel Bonilla ist nicht über alles genau informiert.« »Señorita«, bat er geduldig, »Sie müssen mir nachsehen, wenn ich auf diesem Punkt noch etwas beharre. Es wurde mir zu verstehen gegeben, daß Ihr Bruder, der bedauerlicherweise im Konflikt mit den Behörden steht, sich in unsere Geschäfte einmischen könnte.« »Señor, hier bestimme ich, in meines Vaters Namen und Auftrag.« Sie erhob sich. »Mein Bruder hat keine Vollmachten. Ich bin sogleich wieder bei Ihnen, und dann können wir fahren, wenn es Ihnen recht ist.« Sie ging hinaus. Ich sah Janos fragend an. Er schüttelte nur andeutungsweise den Kopf und zündete sich eine Zigarre an. Der alte Mann, der solange schweigend dagesessen hatte, blickte plötzlich auf, starrte uns böse an und kreischte: »Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?« Wir standen beide langsam auf, aber hinter uns ging bereits wieder die Tür auf, und Chela de la Plata kam zurück. Der alte Mann begann, übrigens in bemerkenswert obszöner Weise, monoton vor sich hin zu keifen. Sie hielt uns weit die Tür auf, -128-
und wir gingen hinaus. Wir gingen zum Mercedes. Während ich Janos in den Rücksitz half, sagte er aus dem Mundwinkel heraus, mit einem Anflug von Lächeln: »Und warum hat Bonilla diese kleine Nebensächlichkeit nicht erwähnt?« Das war genau, was ich mich selbst bereits gefragt hatte. Aber wir konnten die Unterhaltung nicht weiter fortsetzen. Chela kam und setzte sich vorne auf den Beifahrersitz. Sie lächelte herzlich. »Können wir, Señor?« Einfach so. Ohne auch nur den Versuch jeder weiteren Unterhaltung. Ich fuhr los und dachte die ganze Zeit darüber nach, warum der gute Bonilla so zielstrebig und konsequent dieses kleine, wenn auch höchst wichtige Detail zu erwähnen unterlassen hatte: daß der alte Don Angel verrückt war. Völlig hinüber. Warum wohl?
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8 Rauch in dichten Schwaden trieb mit der Luft des späten Nachmittags auf uns zu, als wir uns dem Ort näherten. »Da scheint es irgendwo zu brennen«, stellte Janos kühl fest. »Hoffentlich nicht in der Kirche.« Chela de la Plata sagte leise und bedrückt: »Fahren Sie schnell, Señor, ich bitte Sie.« Aber die Kirche stand noch immer, als wir über den Berg kamen und den Ort unten im Tal erblickten. Der Rauch schien von jenseits des Glockenturms zu kommen. Dreißig oder vierzig Menschen standen in einem weiten Halbkreis und blickten uns schweigend entgegen, als wir ankamen. Aus der Kirche war ein splitterndes Geräusch zu hören, dann tauchte van Horne mit bloßem Oberkörper auf der Veranda auf. Er trug einige Bretter auf der Schulter. »Großer Frühjahrsputz, Pater?« rief ich ihm entgegen. Er lachte. »So ähnlich.« Ich folgte ihm um die Kirche herum auf die Rückseite und sah dort das Feuer. Es war nicht klein, und er warf seine Bretter mitten hinein, ehe er sich umwandte. »Ich habe behalten, was nur einigermaßen ging. Einige der Kirchenbänke lassen sich noch verwenden. Wenn das hier erledigt ist, braucht es vor allem eine gründliche Reinigung und eine neue Tünche für die Wände.« »Du siehst aus, als würde dir das Spaß machen.« Er ignorierte diese Bemerkung, und ich fügte schnell hinzu: »Ich erzähle dir später alles über de la Plata. Seine Tochter ist mitgekommen.« -130-
Er sah über meine Schulter zu ihr hin und lächelte. »Guten Tag, Señorita.« Als ich mich umwandte, stand sie gar nicht weit entfernt und beobachtete uns. Auch Janos humpelte herbei, sich schwer auf seinen Stock stützend. »Eine heiße Arbeit, Pater, wie? Gestatten Sie mir, Ihnen Señorita de la Plata vorzustellen. Señorita, dies ist Pater van Horne, der mit uns aus Huila gekommen ist.« Chela de la Plata trat rasch vor, sie stellte sich direkt vor van Horne auf. Ihr Gesicht war jetzt sehr bleich, ihre Augen wie große dunkle Höhlen. »Sie können hier nicht bleiben, Pater, Sie dürfen nicht. Man muß Sie doch gewarnt haben!« »Vor einer Menge Dinge sogar, Señorita.« Er lächelte höflich. »Mein Platz ist jetzt hier, und daran wird sich nichts ändern. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.« »Priester werden hier ermordet, Pater«, rief sie erregt. »Man wird gewiß keinen Grund sehen, mit Ihnen anders zu verfahren. Und ich werde mitschuldig sein. Ich bin beteiligt, ohne es zu wollen, aber ich habe keine Wahl. Und ich bin es leid, Pater. Ich bin dieser Last überdrüssig.« Van Horne ging auf die offensichtliche Resignation, die sich in ihren Worten und ihrer Stimme ausdrückte, auf eine höchst verblüffende Weise ein. Er nahm eine ihrer Hände sanft in die seinen und strich ihr mit der anderen das Haar aus der Stirn. Sein Gesicht war ernst und seine Stimme fest und freundlich. »Das hier ist nichts für Sie, Kind«, sagte er. »Das sind Dinge, die Sie nichts angehen. Verstehen Sie?« Sie sah völlig verblüfft zu ihm auf und drückte dann seine Hand so stark, daß ihre Knöchel weiß wurden. Sie schloß für einen Moment die Augen. Ein tiefer, zittriger Seufzer entrang sich ihr. Als sie die Augen wieder öffnete, schien sie die Anstrengung überwunden zu haben. »Die Leute hier werden Ihnen nicht helfen, Pater. Sie haben zuviel Angst.« »Das weiß ich.« -131-
»Vor meinem Bruder«, fügte sie sachlich dazu. »Der alles haßt.« Van Horne lächelte und ließ sanft ihre Hand los. »Gehen Sie jetzt mit Gott, Señorita. Ich habe hier zu tun. Vielleicht besuchen Sie mich wieder, wenn die Dinge sich etwas normalisiert haben.« Sie ging zum Auto zurück. Ich sah van Horne stirnrunzelnd an, aber er beachtete mich nicht, nahm wieder ein Brett und warf es ins Feuer. Ich war für ihn überhaupt nicht mehr vorhanden. Ich wandte mich um und ging ebenfalls zum Mercedes zurück. Chela de la Plata rannte an mir vorbei, zurück zu van Horne. Ich half Janos wieder beim Einsteigen und stellte einen Fuß auf das Trittbrett. »Was meinen Sie?« fragte ich ihn. »Eine bemerkenswerte Vorstellung. Sieht so aus, als glaubte er das alles selbst schon.« »Und wenn? Was dann?« Janos kicherte heiser. »Bei Gott, Sir, das wäre eine schöne Ironie.« Das war einigermaßen untertrieben, aber ich hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn Chela kam genau in diesem Augenblick zurück, zusammen mit van Horne. »Ich habe Pater van Horne eingeladen, morgen die Hazienda zu besuchen«, verkündete sie. »Ich möchte ihn gern meinem Vater vorstellen. Wären die Herren vielleicht so nett, ihn mitzunehmen?« »Aber mit Vergnügen, Señorita«, sagte Janos, »stets zu Ihren Diensten! Das hier muß einmal eine hübsche Kirche gewesen sein.« »Sie ist über zweihundert Jahre alt«, erklärte sie. »Ursprünglich war sie dem heiligen Martin de Porres geweiht, der hier in der Gegend stets sehr verehrt worden ist. Er hatte eine Indio-Mutter, wissen Sie.« -132-
»Davon habe ich gehört«, sagte ich. »Pater van Horne hat uns erst gestern von ihm erzählt. Er besitzt sogar eine recht interessante Figur dieses Heiligen.« Van Horne hob die Brauen. Der Grund dafür war mir im Augenblick nicht ganz klar, obwohl ich heute weiß, daß er in der Wende, die die Dinge genommen hatten, mehr vermutete als einen bloßen Zufall. »Sie meinen, diese Kirche ist St. Martin de Forres geweiht?« »Aber das haben Sie doch sicherlich gewußt, Pater?« Sie schien etwas zu zögern. »Könnte ich diese Figur vielleicht sehen?« »Aber selbstverständlich.« Er warf uns einen Blick zu und nahm sie am Arm. »Wenn es den Herren nichts ausmacht, etwas zu warten?« Sie gingen in die Kirche, und Janos fluchte: »Also, jetzt schlägt’s aber dreizehn!« »Eines ist sicher«, antwortete ich ihm, »sie hängt fest und sicher an der Angel.« »Sieht so aus, ja. Für uns kann das nur von Vorteil sein. Er hat aber auch eine Art, unser Freund…« »Das nächste wird sein, daß sie eine Beichte ablegt.« Janos schnitt mit einem kleinen silbernen Taschenmesser erst sorgfältig das Ende einer Zigarre ab, ehe er weitersprach. »Stört Sie das etwa?« »Sollte es vielleicht nicht?« »Er kam hierher, um eine Rolle zu spielen. Es scheint Ihnen plötzlich nicht mehr recht zu sein, daß er sie ganz vorzüglich spielt.« Letzteres stimmte natürlich. Trotzdem wollte die seltsame, unlogische Kälte, die ich in meinem Magen verspürte, nicht weichen. Ich hatte das Gefühl, daß sich die Dinge inzwischen völlig anders zu entwickeln begonnen hatten, als wir vorausgesehen hatten. -133-
Während sie wieder in die Sonne heraustraten, blickte van Horne ernst und nachdenklich drein, und Chela de la Plata war noch blasser. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und segnete sie. Dann ging er wieder hinein. »Hat Ihnen die Figur gefallen, Señorita?« wollte Janos wissen, als wir losfuhren. Aber sie antwortete ihm nicht. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte sie ihn nicht einmal gehört. Sie starrte nur geradeaus ins Leere und sah wohl nur, was tief in ihr selbst verschlossen war. Als wir vor dem Hotel ankamen, schien sie wieder in die Wirklichkeit zurückgefunden zu haben. Sie lief rasch die Eingangstreppen hinauf. Ihre Sporen klirrten. Moreno stand hinter der Bar und wusch Gläser. Als sie eintrat, kam er ihr einigermaßen unsicher entgegen, während er sich die Hände an einem Handtuch abtrocknete. »Zu Ihren Diensten, Señorita.« »Diese Herren hier verhandeln mit meinem Vater in Geschäften, Rafael. Zwei Tage, vielleicht drei. Ihre besten Zimmer werden genügen.« Auf seinem Gesicht war derselbe verschreckte Ausdruck wie vorhin, als er van Horne zum ersten Mal erblickt hatte. »Aber Señorita«, flüsterte er, »wie soll ich das denn machen? Es ist nicht erlaubt.« »Sagen Sie mir, mein Freund«, fragte sie ihn kalt, »wem gehört das hier?« »Nun, Ihrem Vater natürlich, Señorita.« »Dann ist ja wohl alles klar. Entweder folgst du meinen Anweisungen, oder du kannst hier sofort abziehen – mit Sack und Pack. Möchtest du das?« Er wand sich hilflos wie eine Fliege im Spinnennetz. »Meine -134-
Frau, wie Sie wissen, ist im Moment nicht in der Verfassung…« »Eben.« Ihre keinen Widerspruch duldende Schärfe und Entschlossenheit war nur zu deutlich. »Dies ist meine Sache, Rafael, nicht die deine. Du hast davon nichts zu befürchten.« Er gab augenblicklich nach. »Selbstverständlich, Señorita, wie Sie befehlen. Ganz wie Sie wünschen.« Sie wandte sich mit einem schnellen, dünnen Lächeln des Triumphes ab. Das war, glaube ich, das erste Mal, daß ich den Gedanken hatte, sie und ihr Bruder seien doch wohl in vielerlei Hinsicht einander sehr ähnlich. Wir ließen unser Gepäck bei Moreno, damit er es auf die Zimmer schaffte, und verzichteten darauf, ihn dabei zu kontrollieren, denn Chela de la Plata mußte zur Hazienda zurückgefahren werden. Sie sprach den ganzen Weg über kein einziges Wort. Erst, als wir schon fast angekommen waren, erklärte sie abrupt: »Es kann sein, Señor Keogh, daß Sie nach Ihren Maßstäben die Mine ziemlich primitiv finden. Aber es wird schon seit vielen Jahren nicht mehr richtig in ihr gearbeitet. Ich hoffe, daß Sie dies in Kauf nehmen.« »Wenn sie Silber in wirtschaftlich vertretbaren Mengen enthält, Señorita, ist dies das einzige, was zählt. Ausrüstung und Material können wir jederzeit selbst mitbringen.« »Ja, sicher.« Sie lehnte sich in ihren Sitz zurück und sagte, übergangslos das Thema wechselnd: »Pater van Horne ist ein höchst bemerkenswerter Mann, finden Sie nicht auch?« »Ich kenne ihn leider nicht gut genug, um mir ein Urteil über ihn erlauben zu können. Aber es ist richtig, er sieht so aus, als könne er mit allen Widrigkeiten fertig werden.« »Wie Sie, Señor.« Sie faßte das Silberamulett um meinen Hals kurz an. »Sehr ungewöhnlich für einen Mann wie Sie, so -135-
etwas zu tragen. Darf ich fragen, wo Sie es gekauft haben?« »Es ist ein Geschenk«, murmelte ich. »Ein Freundesgeschenk.« Sie zog die Augenbrauen etwas hoch. Sie schien sich ein wenig von mir zurückzuziehen, um es einmal so auszudrücken. In diesen Dingen waren sie wohl alle gleich. Reines Blut oder mestizo, alle verachteten sie die Indios. Auf bestimmte Weise, schien mir, betrachtete sie mich nun als verdorben. »Habe ich da einen plötzlichen Kälteeinbruch entdeckt? fragte Janos, als ich gewendet hatte und auf dem Rückweg war. Ich wandte mich zu ihm um und faßte kurz an das Amulett. »Ich habe den Eindruck, daß ich mir da nichts Gutes eingehandelt habe.« »Das fürchte ich auch«, stimmte er zu. »In Texas oder Arizona würde man Sie einen Squaw-Bubi nennen und Sie in den nächsten abfahrenden Zug setzen – einer der etwas zivilisierteren Beiträge dieser großen Nation zur Kultur des Westens. Würde es Ihnen gefallen, Keogh, im Land am Windfluß zu leben?« »Das kann ich nicht sagen. Ich war noch nie dort.« »Ich war mal kurz in der Gegend, als ich in dieses Land kam. Es ist ziemlich anders als Ihr Irland, das können Sie mir glauben. Eine wilde und unfruchtbare Gegend. Ein Alptraum von einer Landschaft aus platten Ebenen und Bergen, Lavafeldern und bizarren Wäldern aus Stein. Das Leben dort kann nur ein einziger Kampf sein, Tag für Tag.« »Klingt sehr interessant«, mokierte ich mich. »Die Apachen sind als jedermanns Feinde bekannt«, fuhr er fort. »Aber selbst sie fürchten noch die Yaqui. Über vierhundert Jahre, seit die Spanier zum ersten Mal Anspruch auf dieses Land erhoben haben, haben diese gegen die Eindringlinge gekämpft, und mit erheblichem Erfolg, wenn Sie es genau wissen wollen. -136-
Viele Jahre hat die frustrierte Regierung eine Ausrottungspolitik gegen sie geführt. Es ist ein grausames und barbarisches Volk, Keogh. Sie verstümmeln die Leiber ihrer Feinde.« »Das ist nicht nur die Spezialität der Yaquis. Ich habe die Ergebnisse von Mills-Bomben gesehen, die, was das betrifft, auch einiges fertiggebracht haben.« Ich trat mit Macht auf die Bremse, als vor uns ein Reiter über einen Hügel kam und sein Pferd mitten auf der Straße herumriß. Ich wußte sofort, wer dieser Mann war. Es kam sonst niemand in Frage. Da saß er also, schlank und aufrecht in seinem Sattel, mit schwarzer Jacke und eng anliegender schwarzer Reithose, und es war kein einziger Silberknopf an ihm zu entdecken, der seine düstere Erscheinung etwas aufgehellt hätte. Das Gesicht unter dem schwarzen Sombrero war das eines gefallenen Engels, eines von der Hitze der Wildnis bis auf die Knochen versengten heiligen Antonius. Die wäßrigblauen Augen waren völlig ausdruckslos. Es war weder Liebe in ihnen noch Grausamkeit – nichts. Er sagte ganz ruhig: »Tomas de la Plata zu Ihren Diensten, Gentlemen.« »Zu Ihren, Señor«, erwiderte Janos mit Höflichkeit. »Mein Name ist…« »Ich weiß, wer Sie sind, und ich weiß, warum Sie hier sind. Wegen dieses Traums meines Vaters. Der Narretei eines alten Mannes. Nicht wahr?« Auf den ersten Blick schien er unbewaffnet, aber als er sich nun leicht vorbeugte, sah ich doch, daß er einen Revolver in einem Halfter unter dem Arm trug. »Das können wir schlecht beurteilen«, sagte ich, »solange wir die Mine nicht gesehen haben.« Er nickte bedächtig und blieb eine Weile, ins Leere starrend, stumm sitzen. Sein Gesicht war unbewegt, als warte er auf etwas. Ich würde wohl niemals mehr eine bessere Gelegenheit -137-
bekommen, ihn zu töten. Ich konnte ihn hier und jetzt erledigen. Über uns auf dem Hügel schwirrten die Vögel verschreckt aus den Baumwollsträuchern auf. So eine Szene hatte ich schon einmal erlebt, genau so. Das war in der Nähe eines Dorfes in der Grafschaft Clare gewesen, ganz zu Beginn des Bürgerkriegs. Ein verdammter Schurke hatte uns dorthin geführt und uns und die anderen aufeinandergehetzt. Die aus den Buchen neben der Straße zornig lärmend aufschwirrenden Krähen hätten mich warnen sollen. Aber zu dem Zeitpunkt war es ohnehin zu spät gewesen, weil bereits die erste MG-Garbe jeden einzelnen Mann im ersten CrossleyBegleitwagen wegmähte. Wir lernen aus unseren Fehlern. Ich sagte höflich: »Ihre Schwester, Sir, hat uns eingeladen, die Mine morgen früh zu besichtigen.« Scharf und unvermittelt herrschte er uns an: »Zwei Tage, mehr nicht, verstanden? Und dann seid ihr wieder weg. Und ich möchte Ihren Bericht sehen. Ist das klar?« Er hob die Hand, und aus den Baumwollsträuchern tauchten Reiter auf, ein halbes Dutzend etwa, jeder mit einem Gewehr in der Hand. Sie versammelten sich um unseren Mercedes. Eine gefährlich aussehende Truppe. Die meisten waren wie arbeitende Vaqueros gekleidet, und alle bis an die Zähne bewaffnet. »Und was diesen Pfaffen angeht, den ihr da mitgebracht habt«, fuhr Tomas de la Plata fort, »so könnt ihr den gleich wieder mitnehmen. Und auch das nur, weil ich großzügig bin. Richten Sie ihm das von mir aus. Und wenn er bis dahin die Leute von Mojada bekehren will, dann tut er das auf eigene Gefahr. Keine Messen, keine religiöse Propaganda irgendwelcher Art. Ich dulde das hier nicht.« Janos räusperte sich. »Wir sind nicht seine Hüter, Señor.« »Ist es Ihnen vielleicht lieber, ihn zu betrauern?« Er lächelte -138-
sanft. »Der Mann hat keine Wahl, Señores. Keiner vor ihm hat die gehabt. Bleibt er, so stirbt er.« Er gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte davon, seine Leute hinter ihm drein. Janos seufzte schwer. »Eine Zeitlang habe ich befürchtet, Sie würden versuchen, ihm jetzt schon den Garaus zu machen. In diesem Falle wären wir ja jetzt wohl Krähenfutter, wie? Wußten Sie, daß die da waren?« »Sie hätten aufpassen sollen«, sagte ich, »daß sie die Vögel nicht aufscheuchen.« Er lachte leise. »Lieber Gott, Sir, ich sehe schon, Sie verstehen Ihr Geschäft.« Als ich weiterfuhr, spürte ich, wie der Schweiß durch mein Hemd und sogar durch die Jacke drang. Meine Hände zitterten. Ich ließ Janos an der Casa Mojada zurück, damit er sich auf sein Zimmer begeben konnte, und schlenderte durch die Straßen. Ich rauchte eine Zigarette und grüßte jeden, der mir begegnete, obwohl nicht ein einziger meinen Gruß auch nur mit einem Murmeln erwiderte. Das waren arme Leute hier, und ihr Leben war genauso elend wie vor der Revolution, deren Ideale dies hier zur Lächerlichkeit verurteilte. Es stimmte schon: Nichts auf dieser Welt änderte sich je wirklich. Mitten durch eine Straße floß ein Rinnsal, das tatsächlich nichts als ein offener Abwasserkanal war. Und kleine Kinder spielten in dieser Umgebung, wo der Gestank nach Urin und Unrat niemanden verschonte. Die Brühe lief zu einem kleinen Platz, in dessen Mitte ein Brunnen stand. Eine alte Frau, die so alt war, daß es ein Wunder schien, daß sie überhaupt noch lebte, mühte sich mit einem irdenen Wasserkrug. Ich nahm ihn ihr trotz ihrer Proteste ab und trug ihn ihr nach, als sie in eine der gegenüberliegenden Katen entfloh. Ich mußte mich bücken, um durch die Tür zu treten, was einen Eindruck von der Größe dieser Behausung geben mag, wenn man -139-
bedenkt, daß ich nicht unbedingt ein Riese bin. Der Gestank im Innern nahm mir fast den Atem. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte ich, daß es ein völlig fensterloser Raum war. Und die einzige Einrichtung, wenn man so sagen konnte, waren einige indianische Decken in der Ecke als Lagerstatt. Die alte Frau kauerte ängstlich am glimmenden Feuer. Ich stellte den Wasserkrug ab, drückte ihr ein Fünfpesostück in die Hand und entfernte mich eilends wieder. Als ich herauskam, sah ich van Horne auf der Veranda der Kirche stehen und zu mir herüberblicken. Er trug wieder seine Soutane und den Priesterkragen. »Guten Abend, Pater«, rief ich ihm laut entgegen, während ich zu ihm hinüberging. »Mr. Keogh«, sagte er, wandte sich um und ging voran in die Kirche, »was haben Sie da gemacht? Die Armen besucht?« »Dort hinein«, sagte ich, »würde ich nicht einmal den schlimmsten Köter sperren wollen. Weiß Gott, ich habe in meinem Leben schon Armut gesehen, aber noch der schlimmste Slum in Dublin müßte diesen Leuten hier wie der reine Palast vorkommen.« »Das ist ein hartes Land hier«, seufzte er. »Ich habe es dir gesagt, doch was war auf der Hazienda los?« Ich erzählte ihm alles, vom ersten Zwischenfall mit Jurado bis zu der letzten Konfrontation mit Tomas de la Plata. Als ich fertig war, setzte er sich auf die Ecke des Sakristeitisches und starrte mit gerunzelter Stirn vor sich hin. »Zwei Tage also«, wiederholte er schließlich. »Das läßt uns nicht viel Zeit.« »Warum, glaubst du wohl, hat Bonilla sich einen Hinweis darauf verkniffen, daß der Alte nicht mehr richtig im Kopf ist? Er muß es gewußt haben. Er weiß doch, verdammt noch mal, auch alles andere über diese Familie.« -140-
Er sah mich mit hochgezogenen Brauen an. »Anscheinend hast du darauf bereits deine eigene Antwort gefunden, wie?« »Also gut«, sagte ich. »Wenn du’s unbedingt wissen willst. Ich glaube, du spielst in der ganzen Geschichte eine viel größere Rolle, als Bonilla uns glauben machen wollte. Ich bin sicher, sein Plan war, daß du der eigentliche Köder bist.« »Du meinst, ich sollte ihn aus den Bergen locken, damit du ihn dann gut vor Kimme und Korn kriegst?« Er zuckte mit den Achseln. »Bitte, ich habe nichts dagegen, Junge. Ich werde ihn sogar persönlich abknallen, und zwar bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Darauf kannst du wetten.« »Du willst also die Warnung, die er ausgesprochen hat, nicht beachten?« »Ich bin schließlich nicht hierhergekommen, um von ihm Befehle entgegenzunehmen, Keogh. Ich bin gekommen, um ihn unter die Erde zu bringen, und nach dem, was ich so höre, würde ich damit der Allgemeinheit einen ziemlich großen Dienst erweisen.« »Und was ist mit der Schwester? Was ist das für ein Spiel, das du da mit ihr spielst?« »Was meinst du damit?« Er war echt verwirrt. »Ich spiele hier den Priester, Junge, und folglich muß ich ja wohl handeln wie einer. Oder stört dich das in irgendeiner Weise? Ich hatte eigentlich den Eindruck, daß religiöse Überzeugungen nicht das sind, was dich besonders beschäftigen würde.« »Tun sie auch nicht«, konterte ich. »Es ist nur, weil du plötzlich wieder ein ganz anderer zu sein schienst.« »Das mußt du schon etwas näher erklären. Ich kann dir nicht folgen.« »Um Himmels willen, Mann. Ich selbst habe dich wieder für einen Priester gehalten, wie du so mit ihr gesprochen hast. Wie du dich benimmst, wie du sprichst – ich meine nur, du solltest -141-
dich vielleicht selbst nicht zu ernst nehmen.« Ich ging aus der Sakristei in die Kirche hinüber. Aus irgendeinem Grund zitterten mir die Knie. Er folgte mir, hielt mich am Arm, und drehte mich mit seiner Bärenkraft ganz leicht herum. »Ich bin ein Mörder, Keogh, und ein vielfacher Dieb. Für jemanden wie mich existiert Gott nicht. Es kann ihn für mich gar nicht geben.« »Wenn das stimmt«, sagte ich, »wenn es ihn also nicht gibt, warum beschäftigt dich dann, was du getan hast, so sehr?« Und nun geschah es das erste und einzige Mal, daß ich ihm bis ins Herz sehen konnte. Sein Gesicht oder zumindest die Maske, die sein Gesicht war, schmolz dahin, und darunter kam ein gequälter Mensch zum Vorschein, wie ich noch keinen erlebt hatte. Er streckte die Arme aus und faßte mich an den Aufschlägen meines Mantels. Ich hatte noch nie eine derart reine, elementare Kraft erlebt. Er hob mich hoch wie einen Gummiball, und ich glaubte schon mein letztes Stündlein für gekommen. Aber dann schien ihn eine Art Lähmung zu überfallen, und er ließ mich wieder los. »Und du?« fragte er. »Ein Mann, der für nichts lebt und an nichts glaubt, nicht einmal mehr an sich selbst. Da ist doch kein Funken Gefühl mehr in dir. Weder Liebe noch Haß. Eine wandelnde Leiche, Keogh, das bist du.« Er drehte sich um, marschierte in die Sakristei und machte die Tür hinter sich zu. Ich stand da und spürte das blanke Entsetzen in mir. Denn er hatte nahezu Wort für Wort nur ausgesprochen, was ich selbst über Tomas de la Plata gedacht hatte. Ich wollte weg, blieb aber doch noch einmal stehen, weil mir diese letzte Szene, wie ich nun bemerkte, schier den Atem nahm. Die obszöne Kreidezeichnung an der Wand vor dem Altar war entfernt worden, auf dem Altar stand ein kleines hölzernes Kruzifix, das sich bei den Sachen im Schiffskoffer -142-
befunden hatte. Der Christus war aus Silber, und eben fiel genau einer der Strahlen der untergehenden Sonne, der durch das schmale Fenster hereinkam, auf ihn. Ich wandte mich ab und floh, als wären alle Hunde der Hölle hinter mir her. Die Zimmer im Hotel waren genauso spartanisch, wie zu erwarten gewesen war. Weißgetünchte Wände, alte Messingbetten und Möbel, die aussahen, als hätte sie hier im Hause irgend jemand zusammengezimmert, jedenfalls aber kein gelernter Handwerker. Janos saß am offenen Fenster neben seinem Bett. Er hatte ein Tuch auf den Knien liegen und war mit der Reinigung seines Revolvers beschäftigt, einer 38er Smith and Wesson. »Waren Sie bei van Horne?« fragte er. Ich nickte. »Ja, ich war bei ihm.« »Und Sie haben, ihrer Miene nach zu schließen, gestritten.« »So etwa, ja, aber es ist nicht weiter von Bedeutung. Ich habe nur einen Augenblick in einen Spiegel gesehen. Es gefiel mir nicht, was ich sah.« »Fruchtlose Unternehmungen, mein Freund. Das habe ich schon vor langer Zeit entdeckt. Lassen Sie uns lieber versuchen, ob wir von unserem zurückhaltenden Gastgeber nicht etwas zu essen bekommen können, und vielleicht auch einen Drink oder zwei. Danach fühlt man sich besser.« Zurückhaltend war Moreno in der Tat, obwohl er immerhin arrangierte, daß wir in einem Hinterzimmer essen konnten und von seiner Frau bedient wurden, die freilich schon offensichtliche Mühe hatte, sich mit ihrem großen, dicken Bauch zu bewegen. Ich war nahe daran, Moreno deswegen zurechtzuweisen, aber letzten Endes ging mich die Sache nichts an, und außerdem waren hier die Frauen, jedenfalls auf dem -143-
Land, schon vom Tag ihrer Geburt an Dienerinnen. Ich sah ihr nach, wie sie sich am Ende unserer Mahlzeit hinausschleppte, und Janos stellte fest: »Übermäßig gesund sieht sie nicht aus.« »Das ist leicht untertrieben«, sagte ich. »Wenn sie so weitermacht, wird sie wirkliche Schwierigkeiten bekommen.« »Aber natürlich!« rief er. »Ich habe das ja völlig vergessen. Sie haben ja Medizin studiert. Aber ohne Abschluß, glaube ich?« »Ein Jahr hätte ich noch machen müssen.« »So etwas ist immer schade. Haben Sie je daran gedacht, noch einmal zurückzugehen und fertig zu studieren?« »Nach Dublin?« Ich lachte laut auf. »Da hätte ich nur eine sehr kurze Galgenfrist, glauben Sie mir. Kommen Sie, schauen wir, was in der Bar geboten wird.« Das war nicht die schlechteste Art, die Konversation abzubrechen – es gab schlechtere. Und er wußte das. Ein schlauer Vogel, kein Zweifel, das war er. Moreno war nicht in der Bar, als wir eintraten. Zum Glück, in gewisser Hinsicht, denn als ich mich umsah, um mich selbst zu bedienen, entdeckte ich ein Depot schottischen Whiskys bester Sorte. Ich konnte mir denken, für wen der hier auf Lager war, aber das scherte mich nicht. Ich nahm mir eine Flasche und suchte zwei Gläser. Und im gleichen Moment kam auch schon Moreno herein. Es schien zuerst, als wollte er protestieren, aber dann ließ er es doch sein. »Wünschen Sie sonst noch etwas, Señores?« »Ein Kartenspiel vielleicht oder besser gleich zwei.« Janos sah mich hoffnungsvoll an. »Sie spielen nicht zufällig Besique?« »Nein, aber ich habe mal zwei Monate lang mit dem Bein in Gips in einem Bauernhaus in Connemara zusammen mit einem -144-
englischen General zugebracht, den wir als Geisel festhielten, und der lehrte mich ein teuflisches kleines Spiel namens Piquet.« Ein Ausdruck vollständigen und äußersten Entzückens erhellte sein Gesicht. »Mein Gott, Sir, ich dachte nicht, daß ich jemals noch den Tag erleben würde, ein Spiel für Gentlemen zu spielen.« Er gab mir eine Zigarre und nahm sich auch eine, und während wir sie uns anzündeten, kam Moreno mit den Karten wieder. Er legte sie auf den Tisch und sagte unterwürfig: »Vielleicht möchten sich die Señores lieber in ein Privatzimmer zurückziehen, wo sie es bequemer haben? Hier wird es später ein wenig voll werden.« »Wir sind ganz zufrieden, wo wir sind, Mann«, knurrte Janos ungehalten. Er war bereits mit den Karten beschäftigt. »Lassen Sie uns jetzt in Ruhe.« Ich hätte wissen müssen, daß Janos nur gut sein konnte, aber sogar von ihm ausgenommen zu werden war das reine Vergnügen. Es lenkte mich wohltuend von all den anderen Dingen ab, und zwar so vollständig, daß ich ausgesprochen überrascht war, ein Dutzend oder fünfzehn Männer um uns herum zu erblicken, als wir nach einer Stunde eine erste Pause machten. Wir waren natürlich Eindringlinge, das war sehr deutlich zu spüren, aber sie saßen fast alle schweigend da und starrten uns nur träge an, während sie gelegentlich tranken oder in leisem Geflüster miteinander sprachen. Sie waren alle Männer aus dem Ort, einfache Bauern, ihrer Kleidung nach zu schließen, von denen nichts zu befürchten war. Wir spielten weiter, und ich gab eben das dritte Spiel dieser Partie, als die Tür aufflog und Raul Jurado sporenklirrend hereinkam, mit zwei Begleitern, die wie er Vaquerokleidung trugen und Pistolen in den Gürteln stecken hatten. Einer von -145-
ihnen war bei unserer Begegnung mit Tomas de la Plata in dessen Begleitung gewesen. Jurado blickte finster um sich und starrte auch uns einen Augenblick an. Von seinem linken Handgelenk baumelte eine Lederreitpeitsche. Es wäre ihm eine echte Freude gewesen, uns hier hinauszuwerfen oder uns auch Schlimmeres anzutun, aber dieses Verfahren war ihm ja nun durch das Wort des Mannes, der offensichtlich sein wirklicher Herr war, verwehrt. Er begab sich zur Bar und verlangte Tequila für sich und seine beiden Männer von Moreno, der total verschreckt aussah. Und wieder einen Augenblick danach ging die Tür auf, und Oliver van Horne trat ein. Es herrschte augenblicklich absolute Stille. Das Erstaunen auf den Gesichtern aller mußte man gesehen haben. Van Horne sagte mit unbefangener Freundlichkeit: »Guten Abend.« »Guten Abend, Pater«, antwortete ich ihm als einziger. Er trug seinen Priesterrock und seinen Schaufelhut und hatte ein in eine Wolldecke gewickeltes Bündel unter dem Arm. Er ging zur Bar und sprach Moreno an. »Señor, es tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände mache, aber ich benötige dringend ein paar Dinge und dachte, Sie könnten sie mir vielleicht besorgen.« Moreno starrte ihn wie versteinert an, und Jurado drehte sich ihm zu, um alles genau zu beobachten. In seinen Augen glitzerte es tückisch und böse. »Eine Matratze für mein Bett«, fuhr van Horne mit unverändert sanfter Stimme fort, »eine Öllampe, und so viel Kalktünche, wie Sie entbehren können. Samt Pinselbürsten.« »Für Sie gibt’s hier nichts«, herrschte Jurado ihn an. »Gehen Sie.« -146-
Van Horne blieb unerschütterlich mild: »Ich bin ein armer Mann und kann nicht bar bezahlen, ehe mein Geld nicht hier eingetroffen ist. Da dachte ich mir, ob Sie dies hier vielleicht solange als Pfand nehmen würden.« Und er wickelte die Heiligenfigur aus der Decke und stellte St. Martin de Porres auf die Theke. Es gab mehrere unterdrückte Laute der Verwunderung, und ein Stuhl fiel krachend um, als ein Gast unvermittelt aufsprang. Zwei Männer fielen auf die Knie, und die meisten anderen bekreuzigten sich. »Barmherziger Himmel«, stammelte Moreno, und sein Gesicht war voller Ehrfurcht, »woher haben Sie die Statue, Pater?« »Erkennst du sie?« »Natürlich.« Moreno bekreuzigte sich mit so viel Frömmigkeit, wie man sich nur denken kann. »Der Heilige gehört hierher, Pater, hier in unsere Kirche, wo er schon, seit es die Kirche gibt, in der Seitenkapelle stand. Seit zweihundert Jahren, Pater! Er gehört uns. Uns, den Leuten dieses Ortes. Als er während der Revolution verschwand, nahm er auch unser Glück mit sich.« »Er wird euch wieder gehören, mein Freund«, lächelte van Horne. »Und er wird wieder an seinem alten Platz in der Kapelle stehen, sobald die Kirche gereinigt und neu geweiht ist.« »Ich hole Ihnen jetzt die Sachen, die Sie brauchen, Pater«, sagte Moreno. »Wenn Sie mit mir kommen wollen.« Jurados Peitsche fuhr zwischen ihnen auf den Tresen nieder. »Und ich sage nein!« Van Horne baute sich vor ihm auf. »Mit welchem Recht sagen Sie das?« »Genügt Ihnen dieses, Señor Pfaffe?« rief Jurado und zog seine Pistole, streckte seinen Arm aus und drückte die Mündung van Horne in den Bauch. -147-
Ich hatte meine Hand bereits in der Tasche, um zu ziehen, aber dazu bestand keine Notwendigkeit. Van Horne schob die Pistole einfach gelassen zur Seite. »Keine fairen Bedingungen, Señor, wenn ich unbewaffnet bin. Ich dachte, Sie seien ein Ehrenmann.« Jurado war dumm genug, darauf hereinzufallen. Er starrte van Horne an, sah sich im Lokal um, und steckte die Pistole tatsächlich ein. »Sie meinen, Sie wollen so eine Art Wettbewerb vorschlagen?« »Warum nicht?« fragte van Horne. »Eine kleine harmlose Unterhaltung, die niemandem schadet. Ein Kräftemessen vielleicht. Wenn ich gewinne, müssen Sie zulassen, daß mir Moreno die Sachen gibt, die ich brauche.« »Und wenn Sie verlieren?« Van Horne zuckte mit den Achseln. »Das liegt dann bei Ihnen, Señor.« Jurado lachte und schlug dem ihm am nächsten stehenden seiner Begleiter gegen die Brust, daß er durchs halbe Lokal taumelte. »Kräftemessen? Mit mir? Das finde ich lustig. Das ist sogar das Lustigste, was ich je gehört habe.« Er wandte sich wieder van Horne zu. »Also, wie hätten Sie’s gern?« »Ringen auf Indio-Art«, sagte van Horne. Jurados Mund stand offen. »Was? Das ist ein Spiel für Kinder.« Er sah zornig aus. Er vermutete, man wollte sich über ihn lustig machen. Aber van Horne erklärte: »Ich habe eine Variation, die das Ganze etwas interessanter macht. Ich zeige es Ihnen.« Hinter der Bar brannten auf einem Leuchterarm mehrere Kerzen. Er bat Moreno um zwei von ihnen und stellte sie sorgfältig auf einen Tisch. Wie die meisten anderen auch, erkannte ich sofort den Zweck des Unternehmens. Das Indio-148-
Ringen besteht im bekannten Armdrücken. Die Gegner sitzen einander gegenüber mit aufgestütztem Ellbogen und ineinander verschränkten rechten Händen. Das Ziel ist es, des anderen Hand nach unten auf den Tisch zu drücken. Van Homes Variation bedeutete zusätzlich eine böse Verbrennung für den Verlierer. Jurado lachte und griff sich einen Stuhl. »He, das gefällt mir. Gefällt mir sogar sehr gut. Aber ich warne Sie, Señor, ich könnte vergessen, auszulassen.« Van Horne setzte sich ihm gegenüber. Sie stellten beide ihre Ellbogen auf den Tisch und verschränkten ihre Hände ineinander. Jurado grinste und fletschte die Zähne. Was van Horne tat, konnte ich nicht sehen, da er mir den Rücken zuwandte. In Jurados Gesicht zuckte ein Muskel, sein Lächeln war jetzt etwas angespannter, als ihm klarwurde, daß er sich auf mehr eingelassen hatte, als er eigentlich wollte. Van Hornes Arm bewegte sich langsam, aber sicher und stetig, nach unten auf die Flamme zu. Der Triumph auf Jurados Gesicht war sichtbar für alle. Er lachte laut auf, aber dieses Lachen zerstob sehr rasch, als seine Hand plötzlich wieder aufwärts ging, das Lot überschritt und sich dann auf der anderen Seite nach unten senkte, auf die andere Kerze zu, in einer einzigen kontinuierlichen glatten Bewegung, die allen klarmachte, daß van Horne bisher nur mit ihm gespielt hatte. Van Horne hielt Jurados Hand über der Flamme fest, und Jurados Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. Auf seiner Stirn standen große Schweißtropfen. Aber er gab dennoch keinen Laut von sich. Seine Zähne waren aufeinandergepreßt. Schließlich ließ van Horne los und stand auf. »Ein großer französischer König hat einmal gesagt, jeder, der behauptet, noch nie Furcht gehabt zu haben, soll nur einmal -149-
versuchen, eine Kerzenflamme mit Daumen und Zeigefinger zu löschen. Es kommt dabei allein darauf an, wie man es macht.« Er feuchtete sich den Finger an seiner Zunge an und löschte beide Kerzenflammen mit einem schnellen Griff. Jurado starrte ihn stumm an. Sein Gesicht war noch immer schmerzverzerrt. Er hielt sich die Hand mit der Brandwunde. Dann machte er abrupt kehrt und stampfte hinaus, seine beiden Freunde wieder hinter ihm drein. Van Horne nahm die Figur des heiligen Martin de Porres, wickelte sie in der völligen Stille, die ihn umgab, wieder sorgfältig in die Decke, und ging zur Tür hinaus, die ihm Moreno aufhielt. Und dann löste sich die allgemeine Spannung in wild durcheinandergehende Unterhaltungen. Ich beugte mich vor und fragte Janos: »Was, zum Teufel, hat er denn nun schon wieder vorgehabt?« »Weiß der Himmel. Aber nächstes Mal braucht er ein Schießeisen.« Er schob die Karten zusammen. »Ich habe genug Aufregung für einen Abend gehabt. Ich bin für Schlafengehen.« Ich sah ihm nach, stand dann auch auf und ging auf die Veranda. Dort saßen ein paar Männer, die bei meinem Erscheinen abrupt verstummten. Als ich an der Treppe war, wurde das Geräusch von Rädern auf dem Kopfsteinpiaster hörbar. Ein Handkarren kam vom hinteren Gebäude in Sicht. Moreno zog ihn. Van Horne ging an seiner Seite. Ich lief die Stufen hinunter und sprach ihn an. Er blieb stehen, bedeutete dann Moreno, weiterzufahren und fragte: »Was willst du?« »Was für eine Vorstellung war das da drinnen?« sagte ich. »Ich wollte meine Autorität beweisen, weiter nichts. Als die Frau heute morgen die Figur erkannte und mir ihre Geschichte erzählte, wußte ich sofort, daß ich einen großen Trumpf in der -150-
Hand halte, aber der mußte auch entsprechend ausgespielt werden. Ich glaube, daß ich das ganz gut gemacht habe, oder? Wir sehen uns also morgen früh.« Und er ging in die Dunkelheit davon, hinter Morenos Handkarren her. Ich blieb stehen und fragte mich wieder einmal, welcher denn nun der echte Oliver van Horne sei. Aber das war wohl ein Rätsel, das ich niemals lösen würde. Ich fühlte mich ruhelos und unwohl und auf keinen Fall in der Stimmung, schlafen zu gehen. Also lief ich noch etwas herum, die Hauptstraße mit dem Gestank von dem offenen Abwasserkanal hinunter. Ich entfernte mich rasch zum Haupttor in der Stadtmauer. Draußen war die Luft frisch und gut. Der Nachthimmel funkelte bis hin zum Horizont voller Sterne, der Schnee auf den Gipfeln glitzerte im Mondschein. Weiter oben auf den Baumwollhügeln am Wasser flackerte ein Feuer in der Nacht in der Mitte eines kleinen Lagers. Pferde und Packesel waren angebunden und grasten friedlich. Ich hörte das leise Bimmeln einer Schelle um den Hals eines der Tiere. Alles war sanft und friedlich in dieser Nachtbrise, und mein Herz schien zu schlagen aufgehört zu haben. Ich kam an einem Wachtposten vorbei und dann noch an einem zweiten, aber keiner beachtete mich. Ein Mann schlief in eine Decke gerollt neben einem Feuer. Nachita saß mit gekreuzten Beinen auf der anderen Seite und rauchte eine Pfeife. Seine Winchester lag wieder über seinen Knien. Sein Gesicht schien in dem flackernden Feuerschein alterslos zu sein. Er sah mir entgegen. Aber es wirkte doch nicht so zeitlos wie das ihre, als sie den Zelteingang öffnete und mich ruhig erwartete. Sie war in diesem Augenblick so alt wie die Zeit selbst. Alle Frauen, die es jemals gegeben hatte, schienen in dieser vereint zu sein. Und ich konnte auf einmal die Menschen gut verstehen, die in alten Zeiten eine Göttin statt eines Gottes verehrt hatten. -151-
Sie lächelte, und dieses Lächeln war allein für mich, und ich betrat nach ihr das Zelt. Sie schloß das Zelt und damit die Welt aus und kniete sich nieder. Ich kauerte mich vor sie hin und sah im Schimmer einer kleinen Windlampe zu, wie sie geschickt ihre Zöpfe löste, bis ihr Haar wie ein dichter Vorhang über ihre Schultern hing. Dann tat sie etwas Überraschendes. Sie öffnete eine flache Holzdose, holte einen Notizblock und einen Bleistift heraus und schrieb schnell etwas auf. Es war natürlich auf spanisch, und in vorzüglicher Handschrift. Es war eine schlichte Feststellung: Dachtest du wirklich, ich würde dich jemals verlassen? Was sollte man darauf erwidern? Aber eine Antwort war gar nicht nötig. Sie stand auf und blies das Licht aus.
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9 Jahrelang hatte ich ein Leben geführt, in dem alles, aus schierer Notwendigkeit, unserer Sache untergeordnet sein mußte. Für Ehre oder Freundschaft, Liebe oder irgendeine sonstige Art menschlicher Beziehungen, die als Schwäche hätten gelten können, hatte es da keinen Platz gegeben. Ich war an die Bindungen und die Verantwortung, die sich daraus ergeben, nicht gewöhnt. Ich war ein Einzelgänger von Natur aus und damit auch ganz zufrieden, hauptsächlich weil ich so viele Jahre lang nicht erwartet hatte, länger als bis allenfalls übermorgen zu leben. Aber jetzt gab es plötzlich Victoria. Und sie hatte sich schon im ersten Augenblick in mein Leben geschlichen, als ich sie in Tachos Kneipe gesehen und sie sich an meine Seite gestellt hatte, sich wie ein verirrtes Kind, das in der Menge einen geliebten Menschen erkennt, an meine Jacke klammerte. Sie sind jetzt für sie verantwortlich, Señor. Tachos Worte kamen mir wieder in den Sinn, aber ich begann mich zu fragen, ob es nicht tatsächlich umgekehrt war. Sie hatte sich erheblich verändert, seit sie die Seiten gewechselt hatte. Sie war eine ganze Yaqui geworden. Van Horne hatte einmal gesagt, sie würde mit einem Messer zu mir ins Bett kommen, wenn sie einmal nicht mehr mit mir zufrieden sei. Aber seit der vergangenen Nacht schien mir viel wahrscheinlicher, daß sie mit dem Messer auf jeden losgehen würde, der mir etwas zuleide täte. Kurz, ich dachte an nichts als an sie, als ich am folgenden Morgen den Mercedes zum Tor hinaus chauffierte. Neben mir saß van Horne, Janos wie üblich hinten, und als wir an dem -153-
noch nicht abgebrochenen Lager am Wasser vorbeikamen, wo noch immer der Rauch des Feuers aufstieg, war ich völlig erfüllt von einem Gefühl echter und bewußter Freude. Sie stand am Feuer, über einen Kochtopf gebeugt. Nachita sprach mit ihr, und sie legte die Hand gegen die blendende Morgensonne über die Augen und sah hoch. Dann tat sie etwas Seltsames. Sie rannte zum nächsten Pferd, schwang sich auf das ungesattelte Tier und galoppierte los. Sie konnte sich nur am Halfterstrick des Pferdes festhalten, aber es zeigte sich, daß sie ganz hervorragend ritt. Im Nu war sie neben uns und wandte sich mir zu. Sie lachte. Vielleicht aus reiner Lebensfreude an einem Morgen wie diesem. Obwohl ich eher glaubte, meinetwegen. Ich winkte ihr zu, und als wir weiterfuhren, wendete sie ihr Pferd und ritt im Bogen zurück zu ihrem Lager. Van Horne sagte: »Ich hab’ dir ja gesagt, daß du die nie wieder loskriegst, Keogh.« »Hab’ ich jemals gesagt, daß ich das möchte?« Er schien überrascht zu sein, bemerkte aber nur: »Jeder fährt auf seine Art zur Hölle, Junge.« »Genau«, ließ Janos von hinten verlauten. »Und könnten wir jetzt vielleicht darüber reden, wie wir vorgehen?« »Die Sache ist ganz einfach«, erwiderte van Horne. »Ich bin hierhergekommen, um de la Plata zu kriegen, wie auch immer, so, wie es Bonilla vorschlug, aber nicht, um Selbstmord zu begehen.« »Ich hätte ihn gestern kriegen können«, erzählte ich. »Nur hätten seine Leute anschließend dafür gesorgt, daß ich als Vogelfutter zurückgeblieben wäre.« »Er wird meistens jemanden bei sich haben, deshalb müssen wir ihn zu einer direkten Konfrontation zwingen, entweder allein oder höchstens mit so viel Begleitschutz, daß wir mit -154-
ihnen fertig werden können.« »Und wie machen wir das?« »Indem wir die Augen offen halten und hoffen. Ihr macht, wie vorgesehen, heute vormittag eure Mineninspektion, erklärt dann der Tochter und dem Alten, daß ihr euch über die Tatsachen schlüssig werden müßt und heute nachmittag einen ersten Bericht verfassen werdet. Und sie wird euch einladen, am Abend die Dinge gemeinsam durchzusprechen, das ist sicher.« »Und Sie meinen, Tomas wird dabei auftauchen?« fragte Janos. »Dort oder im Hotel. Er wird wissen wollen, was in dem Bericht steht. Was meinst du, Keogh?« Ich nickte bedächtig. »Alles andere wäre überraschend. Die Frage ist nur: Wird er persönlich aufkreuzen?« »Das wird sich herausstellen.« Er zündete ein Zigarillo an, lehnte sich zufrieden zurück, holte ein Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Es war Der Gottesstaat von Augustinus; auf lateinisch. Aber bei van Horne wunderte mich schon lange nichts mehr. Während wir auf den Hof fuhren und vor der Eingangstreppe hielten, erschien bereits Chela de la Plata am Haustor. Sie trug Reitkleidung wie gestern, Lederbreeches und Stiefel samt dem Cordobahut mit der über die Augen gebogenen Krempe. Die Reitpeitsche in ihrer Hand klatschte nervös an ihr Bein, und sie sah etwas übermüdet und angegriffen aus. Die blasse Haut spannte sich stark über den Wangenknochen. Sie kam herunter, um uns zu begrüßen. In der anderen Hand hielt sie einen Aktendeckel, der mit einem roten Band zugebunden war. Sie reichte ihn mir. »Darin finden Sie die Berichte über die Probeschürfungen der letzten fünf Jahre, in denen die Mine voll in Betrieb war, zusammen mit anderen -155-
Informationen, die Sie benötigen werden.« Janos zog den Hut. »Darf ich mich nach dem Befinden Ihres Herrn Vaters heute morgen erkundigen?« »Es ist leider nicht besonders gut. Er muß das Bett hüten.« Sie zögerte und wandte sich dann an van Horne. »Er ist leider nicht in der Verfassung, Besucher zu empfangen, Pater. Es tut mir leid, daß Sie auf diese Weise Ihre Zeit verschwendet haben.« »Aber das verstehe ich vollkommen«, versicherte er ihr und wieder war da für einen Moment diese seltsame Intimität zwischen den beiden spürbar, die ich schon gestern bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Kirche bemerkt hatte. Ihr Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Aber wenn Sie uns vielleicht in die Mine begleiten wollen? Viele Leute aus dem Ort arbeiten dort zur Zeit. Ich könnte mir denken, daß Sie das interessiert.« »Sogar sehr.« »Können Sie reiten, Pater?« »Ich war mal dafür bekannt.« Sie lächelte auf eine Art, wie sie, ich hätte mich schon sehr irren müssen, wohl schon sehr lange nicht mehr gelächelt hatte. Ganz merkwürdig, aber die beiden sprachen miteinander, als seien Janos und ich überhaupt nicht mehr vorhanden. Der Weg war mühsam, weil das Terrain schon von Natur aus sehr schwierig war; und die jahrelange Vernachlässigung des Pfades tat noch ein übriges. Sollte die Mine jemals wieder voll in Betrieb genommen werden, mußte hier als erstes etwas getan werden. Van Horne und ich ritten hintereinander hinter Chela her und ließen unsere Reittiere sich ihren Weg selbst suchen. Janos kam langsam in einem mit zwei Pferden bespannten und von einem Bauern von der Hazienda gelenkten Wagen hinterdrein. -156-
Wir gelangten in eine Gegend zerklüfteter Hügel und enger, gewundener Wasserläufe. Die Berge waren mit Maquis und niedrigen Sträuchern bedeckt, und als wir höher hinauf kamen, fanden sich auch gelegentlich pinones in dem kargen Boden, die ihre spitzen Wipfel in den Morgen reckten. Der Pfad führte über eine Hügelkuppe auf ein kleines Plateau. Dort erwarteten uns bereits ein Dutzend Männer. Sie versperrten uns den Weg. Alle hatten sie auf die gleiche Weise die Zügel in der linken, das Gewehr in der rechten Hand. Die Formation wirkte militärisch, aber schließlich, wie ich mich erinnerte, war Tomas de la Plata ja Armeeoffizier gewesen. Er trat aus den pinones auf uns zu. Eine düstere, in seiner dunklen Kleidung beinahe wie ein Kleriker wirkende Gestalt. Chela war zornig und erschrocken zugleich. »Was ist los?« rief sie. »Was willst du? Du hast mir doch dein Wort gegeben. Du hast uns zwei Tage zugebilligt!« Einer seiner Männer ritt nahe heran, griff in meine Jacke und zog die Enfield aus dem Schulterhalfter. Es war ihm offensichtlich schon vorher genau gesagt worden, wo er sie finden würde. »Tomas!« rief Chela, mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme. »Ich habe mein Wort gegeben«, sagte er. »Reite jetzt weiter zur Mine. Deine Freunde werden nachkommen, wenn ich mit ihnen fertig bin.« Sie kannte ihn, nahm ich an, gut genug, um zu wissen, daß jedes weitere Argumentieren sinnlos war. Aber ihr Gesicht war bleich vor Zorn, als sie ihr Pferd wütend herumriß und davonritt. Der Pferdewagen war noch ein ganzes Stück weiter unten, und Janos war noch weit weg von den Geschehnissen. Tomas schob seinen Hut zurück, so daß er ihm nach hinten um den Hals hing, und sah eine Weile stumm auf uns herab. Sein strähniges Haar war sehr hell – ungewöhnlich für einen Mexikaner, ebenso -157-
wie die blauen Augen. Das durchaus gutgeschnittene Gesicht war ruhig und leer. Ja, leer war ein sehr zutreffender Ausdruck. »Kommen Sie hier herauf, Señor Keogh«, befahl er. »Und bringen Sie den Priester mit.« Wir taten wie geheißen, wir hatten eigentlich auch keine andere Wahl, stiegen ab und kletterten den Hang hinauf, wo er an einem Baum lehnte und eine Zigarette rauchte. Anfangs tat er so, als sei van Horne gar nicht vorhanden. »Wann werden Sie sich eine Meinung über die Mine gebildet haben?« »Das kann ich nicht sagen«, antwortete ich. »Ich muß sie mir erst einmal ansehen, dann auch die Zahlen studieren, die mir Ihre Schwester heute morgen gegeben hat, und dann erst kann ich den Bericht vorbereiten.« »Sind Sie mit ihr und meinem Vater für heute abend verabredet?« »Nein, man sagte mir, es ginge ihm nicht gut. Er muß das Bett hüten.« »Ich will den Bericht sehen, sobald er fertig ist, ist das klar?« Da mischte sich van Horne völlig ruhig ein: »Ich war eigentlich der Meinung, daß dies unter den gegebenen Umständen die Angelegenheit Ihrer Schwester ist, nicht die Ihre.« Und Tomas de la Plata entgegnet nicht minder ruhig, aber seine Stimme war gefährlich, erschreckend emotionslos: »Ich erinnere mich nicht, daß ich Ihnen zu sprechen erlaubt hätte. Aber da Sie jetzt schon einmal hier sind, lassen Sie mich eines klarstellen. Ich erlaube Ihnen auf das Drängen meiner Schwester hin, noch zwei Tage hier zu bleiben, aber auch nur dann, wenn Sie alles Predigen, jeden Versuch der Beeinflussung der Leute und überhaupt jeden Pfaffentrick unterlassen. Zwei Tage, und dann sind Sie wieder weg. Wenn Sie auch nur eine meiner Bedingungen nicht einhalten, sind Sie sofort ein toter Mann.« -158-
»Und würde Ihnen das dann irgendeine Befriedigung verschaffen?« fragte van Horne. »Nicht mehr, als wenn ich einen Käfer unter meiner Schuhsohle zerträte.« Er wandte sich um und sah mich eindringlich an. »Sie haben mit Colonel Bonilla in Huila gesprochen? Und er hat Sie davor gewarnt, hierherzukommen?« »Ja, das stimmt.« »Und was hat er Ihnen über mich erzählt?« »Er sagte, die Leute hätten ihre Revolution nun gehabt. Was das Land jetzt brauche, sei Stabilität und Ordnung, mit anderen Worten, daß es fortan keinen Platz mehr für Leute wie Sie geben könne.« Warum ich das gesagt habe, und noch dazu in dieser Art, weiß ich nicht. Jedenfalls war es gesagt und nicht mehr ungeschehen zu machen. Es war auch egal, denn er schien von allem nur einen einzigen Punkt registriert zu haben. Er wandte sich mir voll zu und blickte mich an, und seine Augen schienen die Farbe gewechselt zu haben. Sie glitzerten wie Eiszapfen in seinem blassen Gesicht. »Die Leute?« fragte er. »Sie erzählen mir hier etwas über die Leute? Soll ich Ihnen mal etwas über sie verraten? Der Unrat dieses Landes, das sind sie. Ich bin für sie ins Gefängnis gegangen, ich habe drei Jahre in einer Strafkolonie für politische Gefangene im Dschungel von Yukatan zugebracht. Ich habe jede nur denkbare Entwürdigung erlitten. Ich habe mein Leben dem Kampf gewidmet, dessen einziges Ideal es war, ihnen die Freiheit zu erkämpfen. Und Freiheit haben sie sich genommen, ja. Die Freiheit zu morden, zu schänden, zu brandschatzen, und dieses Land in ein einziges Leichenhaus zu verwandeln.« »Sie sind sehr lange Zeit gewaltsam unterdrückt und beherrscht worden«, erinnerte ich ihn. »Da ist eine solche Reaktion praktisch unvermeidlich.« »Ach ja, meinen Sie?« Es schüttelte ihn, als sei ihm plötzlich -159-
kalt. Er starrte zu den gegenüberliegenden Bergen und sprach weiter, als redete er eigentlich nur mit sich selbst. »Ich denke anders darüber, Señor. Ich habe zehn Jahre lang für diese Leute gekämpft, nur um dann nach Hause zu kommen und einen Vater vorzufinden, der ein gebrochener alter Mann ist und seinen Verstand verloren hat, und eine Schwester, die schon schreit, wenn ein Mann sie nur im Vorbeigehen mit dem Ärmel streift.« Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Nur der Hauch einer Brise wehte durch die pinones. Einen Augenblick lang war es sogar so still, daß man die Räder des Pferdewagens unten knirschen hörte. »Sie kamen in mein Haus, eines Nachts, in den letzen Monaten des Krieges. Soldaten der Armee der Revolution, voran ihr kommandierender Offizier, ein Vieh namens Varga, seines Zeichens Militärgouverneur der Region hier. Sie schlugen meinen Vater halbtot. Sie glaubten sogar, er sei wirklich tot und ließen ihn so liegen, nicht ohne noch auf ihn, wie er da lag, buchstäblich geschissen zu haben, Señor. Meine Schwester hat sich der große Varga persönlich vorgenommen und sie auf jede nur denkbare Weise erniedrigt und mißbraucht, um sie dann hinterher auch noch seinen Leuten zu überlassen.« Das war nun eine alltägliche Geschichte – das eben war das Schreckliche an ihr. Ich hätte sie aus meinen Erfahrungen noch mit allerlei zusätzlichen Details ausschmücken können, die noch abstoßender waren. Aber es war wieder van Horne, der nun etwas sagte, mit rauher Stimme und voll Zorn. »Und niemand griff ein, um das zu verhindern? Niemand, der ihnen beistand?« »Die Leute von Mojada hockten wie geprügelte Hunde zu Hause, und für ihren damaligen Priester, ihren geistlichen Ratgeber, existierten überhaupt nur zwei Dinge im Leben. Mindestens eine Flasche Tequila und das stinkende Bett der -160-
Witwe, die seine Haushälterin war. Ein wahrer Hirte seiner Gemeinde, wie Sie sehen.« »Und deshalb haben Sie der ganzen Welt den Krieg angesagt?« »Ich habe einmal an Vernunft und Intelligenz geglaubt, Señor, aber ich bin eines Schlechteren belehrt worden. Ich habe den wahren Wert der Menschen kennengelernt. Ich habe Varga mit eigener Hand die Kehle durchgeschnitten, und ich habe den Priester aufgehängt und auch den, der nach ihm kam. Und was die Leute angeht… Die würden ihren eigenen Dreck fressen, wenn ich es ihnen befehlen würde.« »Und das macht Sie glücklich?« fragte van Horne. Tomas de la Plata starrte ihn an. Seine Augen schienen sich zu weiten und wurden dunkler. Als er zwei Finger seiner Hand ausstreckte, war nicht zu übersehen, daß diese Hand zitterte. »Zwei Tage, Pfaffe! Zwei Tage!« Er drehte sich um und fügte, noch im gleichen Atemzug hinzu: »Und Sie, Señor, werden zu gegebener Zeit von mir hören. Gehen Sie jetzt.« Während wir den Hang hinunterstiegen, kamen seine Leute auf ihren Pferden herauf, um sich zu ihm zu gesellen. Ein kurzes Geraschel, und sie waren in den pinones verschwunden. Die Enfield lag auf einem Felsblock. Ich hob sie sorgfältig auf, prüfte das Magazin und steckte sie in den Schulterhalfter zurück. Van Hornes Gesicht war grau. Er sagte: »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mich hat er zu Tode erschreckt. Der Typ ist jenseits von Gut und Böse.« »Ziemlich weit jenseits sogar.« Mittlerweile kam endlich der Pferdewagen über den letzten Hügel und hielt bei uns. Janos rief: »Ich dachte, Sie wären inzwischen schon längst bei der Mine. Was ist los? Gab es Probleme?« -161-
»So kann man das wohl nennen, ja«, knurrte ich. Van Horne begann zu lachen, aber es war ein schmales, dünnes, mickriges Lachen. Ohne Saft und Kraft. Unser Ziel war ein kleines Plateau, das vor dem Felsabfall des Berges gelegen war. Chela de la Plata ritt uns entgegen und lenkte nun ihr Pferd neben das von van Horne, der vorausritt. Ich hörte nicht, was sie zu ihm sagte, aber er griff nach ihrer Hand und lächelte zuversichtlich. »Es ist alles in Ordnung. Bestimmt. Er hat keinerlei Absicht, sein Wort zu brechen.« Die Erleichterung auf ihrem Gesicht konnte jedermann sehen. Sie galoppierte etwas voraus, um uns den Rest des Weges zum Plateau zu führen. Dort zügelte sie ihr Pferd und stieg ab. Es war der Eingang eines Minenstollens. Er bestand in einem großen Loch in der Felswand. Nebenan puffte eine alte Dampfmaschine, die offenbar die Hauptenergiequelle war, Rauch in die stille Luft. An mehreren Stellen wurde Wasser, das in vielen Rinnsalen aus dem Berg trat, gesammelt und von diesen Sammelbecken wieder in einen offenen Holzkondukt geleitet, der in einem großen, schon ziemlich baufälligen Schuppen endete. Er war an beiden Enden offen, und in ihm wurde das Erz ausgewaschen. Es herrschte überall lebhafter Betrieb. In regelmäßigen Abständen kamen Loren aus dem Stollen. Schweißüberströmte Bauern mit bloßen Oberkörpern schoben sie. Die Loren rollten dann auf den rostigen Gleisen eine kurze Strecke bergab bis zu dem Schuppen. Die einzige Maschine in diesem Schuppen war ein Zerkleinerungsapparat mit Dampfantrieb. Die Hitze, die sein Kessel abstrahlte, machte die Arbeitsbedingungen in seiner Nähe fast unerträglich. Das ankommende Wasser lief in einen mit Ton abgedichteten Tank. In diesem waren die üblichen Waschtröge und Siebe installiert. Etwa ein halbes Dutzend -162-
Leute arbeiteten hier, alle mit bloßen Oberkörpern. Ein Junge war nur dazu da, die Arbeiter mit Wasser abzugießen, wenn er gerufen wurde. »Sie sehen ja selbst«, sagte Chela, »nach dem Standard, den Sie gewöhnt sind, arbeiten wir hier mit primitiven Methoden.« »Das läßt sich leicht ändern«, behauptete Janos. »Wenn wir feststellen, daß sich der Abbau lohnt und die Mine wirtschaftlich interessant ist, wird es unsere erste Sorge sein, moderne Maschinen und Ausrüstung zu installieren.« »Welche speziellen Probleme sind aufgetreten, seit die Arbeit wiederaufgenommen wurde?« fragte ich. »Steinschläge. So viele, daß ich zu zählen aufgehört habe.« »Dann muß die Konstruktion der Stollen mangelhaft sein«, sagte Janos. »Aber das ist natürlich nach so vielen Jahren Stillegung und fehlender Wartung nur normal. Beschäftigen Sie irgendwelche Fachleute?« »Viele der Ortsbewohner haben hier gearbeitet, als die Mine noch in vollem Betrieb war. Rafael Moreno vom Hotel war als junger Mann Schichtvorarbeiter und außerdem ein erfahrener Sprengmeister. Er beaufsichtigt die Felsarbeit für uns. Jurado ist zuständig für die Arbeiter selbst.« Auf Drängen ihres Bruders, vermutlich. Aber Janos ging nicht weiter darauf ein und lächelte Sympathie heischend. »Señorita, ich muß Ihnen etwas gestehen. Seit meiner Kindheit habe ich eine klaustrophobische Abneigung gegen geschlossene Räume. Ich weiß, daß das für jemanden mit meinen Geschäftsinteressen erstaunlich ist. Aber auch deshalb beschäftige ich Fachleute wie Mr. Keogh, um mich ihrer Kenntnisse zu bedienen.« »Mit anderen Worten, Sie bleiben hier draußen sitzen und rauchen eine gute Zigarre, während ich im Schacht meine Inspektion vornehme?« fragte ich. »Genau.« Er lächelte ziemlich selbstgefällig, und das -163-
entsprach ja genau seinem Charakter. »Das Privileg nicht nur des Alters, sondern auch der Stellung, Mr. Keogh. Ich werde mich hier auf einen Felsen in die Sonne setzen, mich an der außergewöhnlichen Aussicht erfreuen und ständig an Sie dort unten im tiefen Dunkel denken.« Chela de la Plata lächelte. »Wenn ich dann also vorangehen darf, Señor Keogh? Kommen Sie mit, Pater?« So ließen wir Janos allein in der hellen Sonne zurück und begaben uns in die Dunkelheit. In der Hermosa-Mine war ein ziemliches Potential an kriminellen Arbeitern versammelt. Da waren einmal die Häftlinge aus dem örtlichen Staatsgefängnis. Und der Rest der Arbeiter bestand aus Leuten, die erst vor kurzem aus der Revolutionsarmee entlassen worden waren. Die Mine war ein beständig brodelnder Topf kurz vor dem Überlaufen. Die Firma handelte wie eh und je nach dem alten Motto, daß man die Arbeiter schuften lassen müsse, bis sie umfielen. Aber eine unerläßliche Bedingung war die ausreichende Belüftung der Stollen, für die man ständig Sorge tragen mußte. Denn in den Schächten unter der Erde heißt es atmen oder sterben. Jetzt tat ich nur einen Schritt in den Schacht, und die Hitze fuhr mir an die Kehle wie ein Raubtier. Das gab mir eine gute Gelegenheit, den echten Mineningenieur zu spielen. »Was stimmt denn hier mit der Ventilation nicht?« »Der Hauptluftschacht ist vor einer oder zwei Wochen durch einen Steinschlag verschüttet worden. Moreno meint, daß es ein ziemlicher Aufwand wäre, ihn wieder zu öffnen, also haben wir es vorläufig beim jetzigen Zustand belassen.« »Er hat Ihnen aber doch sicher gesagt, wie gefährlich das werden kann?« »Es fehlt uns an allem, Señor, an Zeit wie an Geld, und wir -164-
mußten möglichst schnell so viel Erz, wie’s ging, fördern, um Geld aufzutreiben. Es ist ein Teufelskreis.« Wir bogen in einen Seitenschacht ab, und das Licht wurde fahler. Wir waren in einem Korridor, in dem flackernde Kerzen Schatten und Lichtstreifen an die Felsnischen warfen, die in regelmäßigen Abständen in den Berg getrieben waren. Wir traten zur Seite und preßten uns eng an die Felsen, als eine Lore auf den Schienen dahergerollt kam, geschoben von einigen müden, staubbedeckten Männern, die alle aussahen, als seien sie kurz vor dem Zusammenbrechen. »Sie sehen ja selbst, diese Arbeit zehrt die Leute stark aus. Mehr als eine Stunde oder höchstens zwei halten sie es in der Hitze nicht aus. Dann müssen sie wieder hinaus ins Freie, um sich zu erholen.« »Das, nehme ich an«, ließ sich van Horne hilfreich vernehmen, »ließe sich mit einem funktionierenden Lüftungssystem vermutlich vermeiden, wie Mr. Keogh anregt.« Wir kamen an eine Weggabelung. Chela blieb stehen. »Es gibt zwei Hauptstollen«, erklärte sie. »Wollen Sie einen bestimmten sehen?« »Ich möchte mit Mr. Moreno sprechen«, sagte ich. »Dann müssen wir es in dem Stollen versuchen, den wir Alte Frau nennen. Dort ist er normalerweise.« An einem Haken hing eine Lampe. Sie nahm sie herunter, ging voran und duckte sich, als der Schacht nun niedriger wurde. Es war eine eigenartige, summende Vibration im Felsen, ein sicheres Zeichen, daß nicht allzu weit entfernt die Hauer am Werk waren. In der Ferne erblickten wir auch sehr bald ein Licht und gelangten schließlich in eine niedrige Kaverne, die von einer Anzahl Grubenlampen erleuchtet wurde. Ein Dutzend oder auch fünfzehn Männer arbeiteten hier direkt am Fels mit kurzstieligen Pickeln. Drei oder vier andere beluden Körbe mit dem Geröll, die sie dann in die Loren entleerten. Man -165-
bekam kaum Luft vor Hitze und Staub. Einer der Männer stand auf und kam uns entgegen. Trotz des Schweißbandes um seine Stirn und der dichten Staubschicht auf seinem Gesicht erkannte ich ihn. Es war Moreno. »Señorita.« Er nickte. »Beantworten Sie Señor Keogh alle Fragen, die er stellt«, trug sie ihm auf. Er wandte sich, offenbar unsicher, mir zu. In einer Ecke rutschte plötzlich etwas Erde und Gestein nach und einer der Männer sprang schnell beiseite. »Die Verstrebung könnte besser sein«, stellte ich fest. Moreno holte ein Taschenmesser heraus, öffnete die Klinge und schnitt ein Stück vom nächsten Holzpfahl. Mühelos brach ein großer, brüchiger Span ab. »Sehen Sie? Das Holz ist alt und morsch und so trocken, daß es sich fast schon auflöst. Es kann nicht mehr lange dauern, dann bricht der ganze Berg auf uns herunter. Es braucht nur einer zu husten und schon fällt wieder Gestein.« »Benützen Sie deshalb keine Maschinen hier unten?« Er nickte. »Die Vibrationen würden dem Ganzen den Rest geben.« Ich stellte ihm noch zwei oder drei einigermaßen sinnvolle Fragen, über Erzproben und so etwas, dann kehrten wir den ganzen Weg, den wir gekommen waren, bis zur Schachtgabelung zurück. »Möchten Sie jetzt auch den anderen Stollen sehen?« fragte Chela. »Den nennen wir übrigens den Verrückten Mann.« Es war natürlich nötig, sich so fachmännisch wie möglich zu verhalten, obwohl es mir lieber gewesen wäre, so schnell wie möglich wieder an die frische Luft zu kommen. Ich sagte also: »Nur einen kurzen Blick, Señorita, nur ganz kurz, das verspreche ich Ihnen.« -166-
Sie wandte sich an van Horne. »Der Tunnel zum Verrückten Mann ist stellenweise nur einszwanzig hoch. Für Sie ist das wohl sehr mühselig, und es ist eigentlich auch nicht nötig, daß Sie uns begleiten.« »Dann warte ich hier auf Sie«, sagte er. Ich konnte es ihm wirklich nicht verdenken, denn mit seiner Größe war er wirklich nicht sehr geeignet für die Umstände, die wir tatsächlich vorfanden. Er hatte sich bereits im anderen Stollen auf dem Weg mehr als einmal den Kopf angeschlagen. Wir ließen ihn also zurück und begingen den zweiten Tunnel, der in vielen dem anderen glich, einmal davon abgesehen, daß er rascher niedriger wurde, als ich trotz ihrer Ankündigung erwartet hatte. Wieder war das gleiche Vibrieren im Gestein von den hauenden Pickeln zu spüren. Wir drückten uns erneut wegen einer herauskommenden Lore eng an die Wand. Sie stieß oben fast an die Tunneldecke. Als sie vorbei war, gingen wir weiter, auf das trübe Licht weit hinten zu. Eine Menge zorniges Geschrei war zu hören. Es hallte in dem niedrigen und engen Stollen unangenehm laut. Als wir in der Kaverne angekommen waren, wo sich der Vortrieb befand, entdeckte ich auch den Grund für den Lärm. Der Schreihals war Jurado, die Lederpeitsche in der Hand. Sein Gesicht war nur noch eine Maske aus Staub und Schweiß. Er ließ die Peitsche auf die Fersen der Männer niedersausen, die die Körbe mit Erz beluden. »Los, du fauler Sack! Schneller!« Wie van Horne war er nicht für diese Art Arbeit gebaut und sein gewaltiger Brustkasten war hier in dieser Enge zweifellos fehl am Platze und ein Grund für ihn, sich unwohl zu fühlen. Sein Zorn und seine Frustration standen auch sehr deutlich in seinen Augen. Er nickte Chela zu, mich jedoch ignorierte er vollständig. Chela sagte: »Möchten Sie irgend etwas wissen, Señor Keogh?« -167-
»Ich glaube nicht«, erwiderte ich. »Es sieht hier ja ziemlich ähnlich aus wie drüben in der Alten Frau.« Sie wandte sich an Jurado. »Ist alles in Ordnung?« »Das wäre es, wenn dieses elende Pack sich etwas mehr anstrengen würde.« »Das liegt doch wohl vor allem daran, daß die Arbeitsbedingungen nicht optimal sind«, warf ich ein. »Ich möchte doch annehmen, daß die Peitsche eine nur begrenzte Wirkung hat.« »Sie kennen die Leute nicht so wie ich. Außer der Peitsche verstehen sie nichts.« Einer der Männer, die das Erz sammelten, wuchtete seinen Korb auf den Rand der Lore und hielt kurz inne, um Atem zu schöpfen. Dabei entglitt ihm der Korb und fiel zu Boden, das Gestein rollte heraus. Jurado sprang vor und fing an, den Mann mit dem beschlagenen Griff der Peitsche zu traktieren. Chela de la Plata fiel ihm in den Arm und rief: »Lassen Sie das sein, Jurado. Ich befehle es Ihnen!« Er hatte aber bereits so sehr die Beherrschung verloren, daß er sie mit der geballten Faust ins Gesicht traf. Sie taumelte und sank in meine Arme. Im gleichen Augenblick versuchte der arme Arbeiter, der die eigentliche Ursache und das Ziel des Schlags gewesen war, auf und davon zu rennen. Jurado wollte ihn sich greifen, stolperte jedoch und fiel donnernd gegen einen der Holzstützpfosten. Mit seinem Gewicht riß er ihn bei dem heftigen Anprall weg. Aus dem Dunkel von oben ging ein Hagel von Gestein und Kies herunter. Die Männer, die an der Abbauwand gearbeitet hatten, sprangen auf, stießen Warnschreie aus und waren bereits auf dem Weg zum Tunnel. Aber es war trotzdem zu spät. Es knackte deutlich, als ein sechseinhalb Meter hoher Deckenstützbalken wie ein Streichholz einknickte. Und dann kam der halbe Berg auf uns herunter. -168-
Die Luft bestand nur noch aus Lagen dicken, durcheinander wirbelnden Staubs und war nicht mehr zu atmen. Ich fand mich auf dem Rücken liegend wieder. Und die erschreckendste Entdeckung war, daß ich meine Beine nicht bewegen konnte. In wilder Panik begann ich zu zerren und zu strampeln. Tatsächlich gelang es mir, sie aus einem Berg von Schutt und Erde zu ziehen. Ich tastete mich blind durch den Staubvorhang vorwärts zu einem am Boden schwach glimmenden Punkt. Es war eine halbverschüttete Grubenlampe. Ich drehte sie schnell auf, damit sie heller wurde, und hielt sie hoch über meinen Kopf. Chela kauerte benommen und verschreckt am Boden. Ein kleines Blutrinnsal auf ihrer Wange sickerte durch die Staub schicht auf ihrer Haut. Auf den ersten Blick schienen auch die meisten der Bergarbeiter mehr oder minder wohlbehalten zu sein. Jurado stand an den Fels gelehnt, und sein Gesicht hatte einen Ausdruck absoluter Verständnislosigkeit. Er sah aus, als könnte er nicht begreifen, daß ausgerechnet ihm so etwas widerfahren konnte. Als ich die Lampe hochhielt und damit die Kaverne bis in die entfernteste Ecke ausleuchtete, brummte er zornig und kletterte auf den Schutt- und Geröllberg, der jetzt den Tunneleingang völlig zugeschüttet hatte. Er begann oben mit bloßen Händen zu graben. Einige der Arbeiter kamen ihm zu Hilfe und buddelten mit. Sie husteten keuchend, weil sie in der staubigen Wolke fast erstickten. Chela erhob sich wieder. Sie stand da und schwankte etwas, als könne sie das Gleichgewicht nicht ganz halten. Ich reichte ihr meine Hand, um sie zu stützen, aber sie wich heftig zurück. Sie konnte es also tatsächlich nicht einmal in einer Situation wie dieser ertragen, von einem Mann berührt zu werden. Ihr Bruder hatte ihre Ängste wirklich zutreffend beschrieben. Ehe jedoch sonst noch etwas geschehen konnte, stieß Jurado nun einen heiseren Schrei aus. -169-
Ich kletterte mit der Lampe zu ihm hinauf und sah, daß dort bereits ein deutlicher Spalt zwischen der Decke des Tunnels und dem herabgebrochenen Gestein entstanden war, durch den ein stetiger Luftzug hereinkam. Mehr brauchten wir vorläufig nicht. Die Männer arbeiteten nun weiter wie die Biber. Ich ging zurück zu Chela und faßte sie fest am Arm. Sie wollte wieder heftig reagieren und sich losreißen. Aber ich ohrfeigte und schüttelte sie heftig. »Werden Sie mir jetzt, verdammt noch mal, zuhören? Kein Grund zur Panik. Es wird alles gut. Wir kommen raus.« Sie hörte mit ihrer Abwehr auf und starrte mich an, als verstünde sie gar nichts. Und genau das war der Augenblick, in dem der Berg noch einmal ein paar Tonnen Geröll in die andere Ecke herunterwarf. Sie stürzte sich unwillkürlich in meine Arme und preßte sich an mich. Kurz danach rief Jurado mich wieder zu sich. Behutsam führte ich Chela an die Felswand und kletterte wieder auf die Geröllhalde zu den anderen hinauf. Der Spalt war jetzt fast schon einen halben Meter breit und von der anderen Seite fiel Licht herein. Stimmen waren zu hören. Ich war keineswegs überrascht, als erstes das Gesicht von Oliver van Horne zu mir hereinblinzeln zu sehen. Es brauchte noch eine knappe Stunde harter Arbeit von beiden Seiten, bis auf der heruntergestürzten Gesteinshalde ein Loch von etwa drei Metern Länge und sechzig Zentimeter Breite gebuddelt war, das gerade reichte, damit wir nacheinander vorsichtig hinauskriechen konnten. Übrigens nicht zu früh, denn der Berg stöhnte und knackte schon wieder bedenklich über unseren Köpfen, und die Deckenstützpfähle knarrten beunruhigend, als ob sie gegen die schwere Last, die sie zu tragen hatten, protestieren wollten. Chela war die zweite, die hinauskroch, und das nur deshalb, -170-
weil sich Jurado im gleichen Augenblick, da der Durchgang möglich war, auch schon hinausquetschte – mit, man kann nur sagen, unanständiger Eile. Ich bildete die Nachhut. Draußen erwartete mich Moreno mit zwei oder drei Männern als Hilfestellung, um mich durchzuziehen. »Pater van Horne ist mit der Señorita bereits vorausgegan gen«, berichtete er mir. »Sie sah ziemlich verstört aus.« Diese Bemerkung war wohl die Untertreibung des Tages, aber ich mußte mich jetzt um andere Dinge kümmern. Das betraf in erster Linie die Notwendigkeit, an die frische Luft zu kommen. Als ich endlich wieder ins helle Sonnenlichts hinausstolperte, waren alle schon da. Und nicht nur die Arbeiter. Sondern auch Tomas de la Plata mit seinen Leuten. Er kauerte neben seiner Schwester, die am Boden saß und sich gegen sein Knie lehnte. Er hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt. Einer seiner Männer hatte einen Eimer Wasser angeschleppt, feuchtete darin ein Tuch an und gab es ihm. Und er wischte Chela damit sanft den Schmutz vom Gesicht. Wie ich erfuhr, hatte ihn die Alarmglocke herbeigerufen, die in einem Dreifuß vor dem Erzwaschschuppen hing und immer geläutet wurde, wenn etwas passiert war. Mitten in alledem stand van Horne mit bloßem Oberkörper, was allen seine Muskulatur sichtbar machte, die jedem Schwergewichtsringer zur Ehre gereicht hätte. Nicht weit von ihm befand sich Jurado, der an der Katastrophe die Schuld trug. Er wußte nicht recht, was er tun sollte, deshalb blickte er wenigstens finster drein. Tomas de la Plata sah auf, als ich kam. Sein Gesicht war bleich und zornig. »Also, Señor Keogh, jetzt wissen Sie ja wohl, wie es hier aussieht, und können sich Ihren offiziellen Bericht schenken. Ich will fortan nichts mehr von all diesem Unsinn hören, der mir fast meine Schwester genommen hätte.« Ich fand die Art, wie er sich ausdrückte, sehr bemerkenswert: -171-
Er sprach nur von seinem möglichen Verlust, aber mit keinem Wort von ihrem. Wenn es einen Zeitpunkt gab, Jurado den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen, dann jetzt. Aber zu meiner Überraschung sagte Chela, die Augen öffnend, nur: »Bring mich nach Hause, Tomas.« Er murmelte leise etwas, was nur für sie bestimmt war, küßte sie auf die Stirn und hob sie in seinen Armen hoch. Er setzte sie zu sich auf den Sattel und entfernte sich. Seine Leute ritten hinterdrein, und alle Zurückbleibenden sahen ihnen schweigend nach. Janos war der erste, der wieder etwas sagte, und es war eine für ihn wirklich typische Bemerkung. »Bei Gott, Mr. Keogh, Sie haben ein ausgeprägtes Talent, in allen nur denkbaren Lagen zu überleben!« »Man tut, was man kann. Die Decke fiel uns noch immer weiter auf den Kopf, als wir schon rauskrabbelten.« Ich brachte ein müdes Lächeln für van Horne zustande. »Ich hätte nie gedacht, daß mich mal Ihr Anblick so entzücken würde.« Ich ging zu einem Wassertrog in der Nähe, tauchte Kopf und Schultern hinein und legte mich dann auf den Boden und hielt das Gesicht in die Sonne. Es war ein gutes Gefühl, immer noch am Leben zu sein. Moreno kam mit ernstem Gesicht auf mich zu. Er war unter den Arbeitern herumgegangen und hatte sie gezählt. »Señor, ein Mann fehlt«, berichtete er. Ich setzte mich müde auf. Van Horne, der sich ebenfalls gerade am Wassertrog wusch, drehte sich sofort zu uns um. »Sind Sie sicher?« »O ja, Señor. Es ist José Jardona, der Sprenger in diesem Stollen. Gar keine Frage.« Jurado, der verdrossen am Boden gesessen hatte und sich an eine Wand des Schuppens angelehnt hatte, stand auf und kam -172-
herbei. »Er ist inzwischen bestimmt schon tot.« »Da kann man nicht sicher sein«, widersprach ich. »Wir müssen nachsehen.« »Seien Sie kein Narr«, sagte er. »Überlegen Sie doch, wie lange wir da drin waren. Mindestens eine Stunde. Hat irgend jemand in dieser Zeit vielleicht etwas gehört?« Er wandte sich um Zustimmung heischend an die Arbeiter, die im Halbkreis um uns herumstanden und zuhörten. Keiner antwortete, und er richtete sein Wort wieder an mich. »Er ist bestimmt schon gleich beim Einsturz umgekommen.« Ich fragte Moreno: »Kommen Sie mit?« Auf seinem Gesicht war Furcht, echte Furcht. Er war ja auch schließlich nicht mehr jung. Er holte tief Luft und verbeugte sich linkisch vor mir. »Wie Sie wünschen, Señor, aber sonst niemand. Nicht unter diesen Umständen.« Das war kein angenehmer Gedanke, aber er hatte ja recht. Wir gingen auf den Mineneingang zu, doch Jurado faßte mich an der Schulter. »Lassen Sie das doch sein. Der Berg arbeitet noch immer!« Tatsächlich hatte er aber mehr Angst um sich selbst als um mich. Ich machte mich los und lief hinter Moreno her. Als ich bei ihm war, hatte er bereits zwei Grubenlampen angezündet. Er gab mir eine, und wir gingen los. Van Horne stieß zu uns, als wir gerade an der Weggabelung waren. Ich habe wirklich schon angenehmere Dinge in meinem Leben getan, als durch diesen Bergsturz zurückzukriechen, durch einen Tunnel, der so niedrig war, daß ich gelegentlich mit dem Rücken oben anstieß. Obendrein war das drohende Rumpeln und Rollen herunterfallenden Gesteins vor uns in der Dunkelheit zu hören. -173-
Als ich wieder in die Arbeitskaverne hineinkroch, fand ich dort ein noch größeres Chaos vor. Offensichtlich war mittlerweile, erst vor kurzem, ein erneuter Steinschlag erfolgt. Der so hereindrückende Berg hatte alles auf die Hälfte der einstigen Größe zusammengequetscht. Weitere Deckenstützbalken und Pfähle waren eingeknickt, und ragten nun kreuz und quer in die Luft. Sich da hindurchzubewegen, war allein schon eine Gefahr, aber es war unvermeidlich, denn das unaufhörliche leise Stöhnen von jemandem, der große Schmerzen haben mußte, führte uns in eine Ecke, auf welche die ganze Wucht des ersten Abbruchs heruntergekommen war. Jardona war unter einer guten Tonne Gesteins begraben. Nur sein Kopf und seine Schultern und ein Arm lagen frei. Das staubbedeckte Gesicht glänzte vor Schweiß. Ich kann nur vermuten, daß er während der Zeit, in der wir uns den Weg freigruben, bewußtlos war und dort in der Ecke lag, und erst wieder zu sich kam, als er schon allein war. Moreno begann vorsichtig mit den Händen zu graben und ihn behutsam mit den Fingern freizulegen. Nach einer Weile sah er mich an und schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn mehr. José Jardona lag im Sterben. Es war ein Wunder, daß er bisher überhaupt noch gelebt hatte. Er öffnete die Augen und starrte uns ausdruckslos an. Dann geschah etwas – eine Art Wunder. Seine Lippen bewegten sich, und er sagte klar und deutlich: »Sind Sie das, Pater?« Van Horne war neben mir. Er war nackt bis zur Hüfte, sein Gesicht eine Maske aus Staub. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, wie um sie abzuwischen, und beugte sich vor. »Ich habe Sie bei der Kirche gesehen«, sagte Jardona. »Als Sie das Feuer schürten.« Er schloß die Augen, der Schmerz ließ ihn erbeben. Dann öffnete er sie wieder und sagte leise: »Ich -174-
werde sterben, Pater, und ich habe so viele schlimme Dinge getan. Ich dachte nicht, daß es mir etwas ausmachen würde, aber das tut es.« Über uns polterte es plötzlich wie ferner Donner, und ich duckte mich mit den Armen über dem Kopf, weil wieder Stein und Geröll auf uns herunterkamen. In Jardonas Mund war Blut. Er spuckte es aus und murmelte schwach: »Verlassen Sie mich nicht, Pater.« Van Horne nahm seine Hand. In der anderen Ecke knickte wieder ein Deckenstützbalken ein und sackte weg. Er blickte über die Schulter und sagte: »Hat keinen Sinn, wenn ihr beide hierbleibt.« Moreno, der arme Teufel, sah drein, als stehe er jeden Augenblick seinem Schöpfer gegenüber. Aber dennoch erlaubte ihn ein störrischer Rest seines Ehrgefühls nicht, davonzulaufen. »José ist mein Vetter, Señor.« Er lächelte entschuldigend. »Das hier ist Familiensache, verstehen Sie?« Ich hielt die Lampe hoch und sagte: »Ein kleines Licht in der Finsternis, Pater. Machen Sie weiter.« Van Horne verschwendete keine weitere Zeit mit Argumentieren. »Lege jetzt dein Reuebekenntnis ab, mein Sohn. Sprich mir nach: Oh, mein Gott, der du in deiner unendlichen Güte…« Jardona, der nahezu an seinem eigenen Blut erstickte, sprach ihm stockend nach, voller Schmerzen, gebrochen, jedes Wort sein persönlicher Kreuzweg. Langsam absolvierte van Horne die Sterberiten. Seine Stimme schwankte nicht ein einziges Mal, und für eine Weile schien selbst der Berg Ruhe zu geben. Es herrschte Stille. Dann brach ein letzter Blutstoß aus Jardonas Mund, und seine Augen schlossen sich. Moreno bekreuzigte sich und begann sich rückwärts kriechend zu entfernen. »Gott sei mit dir, José«, rief er leise. -175-
Ich faßte van Horne an der Schulter. Er ignorierte mich, beugte sich über den Sterbenden, horchte, und in der Stille hörte ich leises, unregelmäßiges Atmen. Jardona klammerte sich noch immer an das Leben. Aus dem Dunkel rieselte dünn und schwach Erde auf uns nieder. Van Horne beugte sich vor, um Jardonas Körper davor zu schützen, und begann die Sterbegebete zu sprechen. »Gehe, christliche Seele, aus dieser Welt im Namen des allmächtigen Vaters, deines Schöpfers; im Namen Jesu Christi, des Sohnes des lebendigen Gottes, der für dich litt; im Namen des Heiligen Geistes…« Mit einem gewaltigen Donnern, einem Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte, rumorte der Berg erneut und warf wieder Gestein auf uns herab. Moreno schrie in Panik vom Tunneleingang her. Ich packte van Horne an der Hand und zog ihn mit all meiner Kraft zurück. José Jardona entschwand für immer unseren Blicken, und ich rannte dem Ausgang zu wie ein verschrecktes Tier, das sich ein Fluchtloch sucht. Ein durch die Luft polternder Stein traf meine Lampe. Ich ließ sie fallen und kroch im Dunkeln über rauhes Gestein, und dann war Moreno da, hielt die Lampe über den Kopf und streckte mir eine rettende Hand entgegen. Ich fiel auf die Knie, rappelte mich aber in Todesangst wieder hoch. Ich drehte mich um, und als tatsächlich van Hornes Kopf und Schultern erschienen, konnte ich es kaum glauben. Moreno und ich packten ihn jeder an einem Arm und zogen ihn durch den Spalt, und wir rannten alle drei um unser Leben, während der Berg sich über uns wieder schüttelte. Ich glaube, keiner von den draußen Wartenden hielt es für möglich, daß wir aus der großen Staubwolke, die sich vor dem Mineneingang ballte, lebend zurückkämen. Aber als es dann -176-
geschah, gab es einen allgemeinen ungläubigen Aufschrei, und sie umringten uns alle. Ich bahnte mir einen Weg durch das Gedränge, ließ mich neben dem Wassertrog zu Boden sinken und tauchte meinen Kopf in das kühle Wasser. Dann rollte ich mich zur Seite auf den Rücken und japste heftig nach Luft, mit geschlossenen Augen. Als ich sie wieder öffnete, stand Janos über mir. »Bei Gott, Sir, jetzt ist es aber wirklich genug«, donnerte er. »Ich hatte schon begonnen, mich in diesem seltsamen Landstrich völlig allein zu fühlen.« »Der Mann, mit dem Sie reden sollten«, antwortete ich, »ist van Horne. Er ist es, der so eine Art Todessehnsucht hat, wenn Sie mich fragen. Entweder das, oder er ist lebensmüde.« Er fragte mich, was passiert war, und ich erzählte es ihm in gedrängter Form. Sein Gesichtsausdruck, als ich geendet hatte, war nachdenklich, was für ihn einigermaßen un wohnlich war. »Also spielt er seine Rolle schon wieder mit vollem Ernst?« »Wenn es ihn überkommt.« »Und Sie?« Ich blickte ihn verblüfft und fragend an. »Auch Sie sind da noch einmal hineingegangen, Mr. Keogh. Sie hätten umkommen können, Sir. Und wofür?« Die Frage war berechtigt. Ich stand auf. Van Horne kam auf uns zu. Er schob die Leute sanft, aber bestimmt aus dem Weg, die sich dennoch eng an ihn drängten. Viele bekreuzigten sich. Er goß sich Wasser über Kopf und Schultern und lächelte. »Wir haben schon unsere Auftritte, was, Keogh?« Aber das Lächeln war flüchtig, und darunter wurde eine ganz neue Ernsthaftigkeit sichtbar. Er griff nach seinem Hemd, während Moreno näher kam, hinter sich die drängende Menge der anderen. Nur Jurado, bemerkte ich, hielt sich abseits. Er wollte offensichtlich abwarten, wie es weiterging. Ich kümmerte -177-
mich im Augenblick nicht weiter um ihn, weil ich auch neugierig war, was geschehen würde. Moreno fing mit bebender Stimme zu sprechen an: »Was Sie dort drinnen getan haben, Pater… für meinen armen Vetter… wie Sie es ihm leicht gemacht haben, unter diesen schrecklichen Umständen… das war eine großartige Tat. Wir stehen alle in Ihrer Schuld, alle. Wenn wir irgend etwas für Sie tun können…« Van Horne betrachtete die Menge schweigend. In seiner Hand baumelte noch das Hemd, das er wieder anziehen wollte, von Kopf und Schultern perlten ihm noch Wassertropfen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er strahlte eine ganz merkwürdige Ruhe aus. Er sagte mit fester Stimme: »Den Tod eines Mannes zu betrauern, wäre undankbar gegen Gottes Barmherzigkeit angesichts dessen, daß so viele andere gerettet wurden. Ich werde heute nachmittag um halb drei Uhr einen Dankgottesdienst in der Kirche halten. Und ich hoffe, alle, die wirklich dankbar sind, dort zu sehen.« Selbst Janos war nach diesen Worten konsterniert. Und bestürztere Gesichter als die von Moreno und seinen Freunden habe ich selten gesehen. Jurado galoppierte bereits davon, um die frohe Botschaft seinem Herrn zu überbringen.
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10 Van Horne gab uns keine Chance, über die Dinge mit ihm auch nur zu diskutieren, und erklärte lediglich, er habe sich entschlossen, sogleich nach Mojada zurückzureiten. Er brach sofort auf. Fünfzehn oder zwanzig der Bergarbeiter, die ihre eigenen Pferde oder Maulesel hatten, begleiteten ihn, auch Moreno. Die anderen stiegen auf ein großes Fuhrwerk, das von vier Mauleseln gezogen wurde. Janos und ich fuhren in dessen Pferdewagen hinterher. Er war alles andere als glücklich über die Entwicklung, die die Dinge genommen hatten. »Sagen Sie, ist dem da drin vielleicht ein Stein auf den Kopf gefallen, oder was?« »Nicht nur einer.« »Das dachte ich mir. Sein Gehirn hat gelitten. Eine andere Erklärung für diese Verrücktheit kann ich mir nicht denken. De la Plata kann doch eine solche Herausforderung an seine Macht nicht ungestraft durchgehen lassen. Es wäre für ihn der Anfang vom Ende.« »Ich vermute, daß van Horne nichts anderes beabsichtigt als eine offene Konfrontation.« »Aber das hätte doch nur Sinn, wenn de la Plata allein erschiene, und das wird er in diesem Fall sicher nicht tun. Wenn er während des Gottesdienstes in der Kirche erscheint hat er mit Sicherheit mindestens ein Dutzend Leute bei sich.« »Van Horne scheint irgend etwas vorzuhaben«, sagte ich. »Er veranstaltet diesen Zirkus mit Sicherheit nicht einfach nur, damit de la Plata einen guten Vorwand hat, ihn aufzuhängen.« »Es ist noch etwas anderes denkbar«, meinte Janos. »Kann es -179-
nicht einfach sein, wie ich schon sagte, daß er schlicht nicht widerstehen kann, den wirklichen Priester zu spielen?« Das war in der Tat ein unangenehmer Gedanke, und ich versuchte ihn zu verscheuchen. »Das würde keinen Sinn ergeben.« »Dann erklären Sie mir mal den Sinn seiner Taten von heute vormittag, wenn Sie können. Er ging zusammen mit Ihnen und Moreno wieder in die Mine und blieb bei diesem armen Teufel, der vom Steinschlag begraben worden ist. Er erteilte ihm, wie Sie mir geschildert haben, auf die professionellste Weise die Absolution, und machte ihm das Sterben leicht. Warum, möchte ich wissen? Warum setzt er ohne wirkliche Not sein Leben aufs Spiel?« Bei diesen Worten wurde mir in einem Moment der Erleuchtung plötzlich bewußt, daß van Horne dort drinnen in der Dunkelheit auch für mich selbst ein Priester gewesen war, es zumindest für kurze Zeit gewesen sein mußte, so absurd das klingen mochte. Ich sagte ohne Überzeugung: »Ich weiß auch nicht. Ich bin ja schließlich selbst dringewesen, oder?« »Na ja.« Er lächelte. »Sehen Sie, Sir, Sie sind Ire. Wer hat jemals schon gehört, daß sich einer dieser Rasse, gleich wann und wo und wie, logisch verhielte oder das täte, was man erwartet?« Damit endete die Unterhaltung vorläufig, denn wir waren an der Hazienda angekommen, wo uns jedoch ein paar von de la Platas Männern, die im Hof Wachtposten bezogen hatten, den Zugang zum Haus verwehrten. Sie hatten allerdings nichts dagegen, daß wir mit dem Mercedes weiterfuhren. Janos döste auf dem Rücksitz, und ich fuhr verdrossen nach Mojada, um Oliver van Horne zur Räson zu bringen, den Mörder und Räuber, der nicht gezögert hatte, in diese ganze Sache hineinzuschlittern, als er in Tachos Kneipe auftauchte und -180-
meinen Kopf rettete. Wie ich jetzt wußte, konnte er gar nicht anders. Ganz abgesehen von allem anderen hatte er mich auch dazu gebracht, mit erhobenem Kopf dem bevorstehenden Tod entgegenzugehen, und war in die Dunkelheit und äußerste Gefahr gekrochen, nur um einem Sterbenden die Hand zu halten und ihm das Hinscheiden zu erleichtern, durch Gebete, für die er gar keine Legitimation hatte, obwohl ich glaubte, daß man darüber ja wohl streiten könne. Die volle und ganze Wahrheit war, daß in alledem eben kein Sinn zu entdecken war. Im Hotel fand ich eine plötzliche und sehr entschiedene Verbesserung des Service vor. Als wir in die Bar kamen, stand Moreno bereits hinter der Theke. Er mußte inzwischen auch schon gebadet haben, denn keine Spur von Schmutz war an ihm zu entdecken. Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Er stellte uns eine Flasche seines speziellen Scotch und drei Gläser hin und sagte linkisch: »Wenn die Herren ein Glas mit mir trinken wollten, wäre das eine große Ehre für mich.« »Sehr anständig von Ihnen«, sagte Janos, und wir gingen zu ihm. Moreno füllte die Gläser und hob das seine zu einem angedeuteten Toast. »Señor Keogh, ich danke Ihnen dafür, was Sie für meinen Vetter getan haben. Ich danke Ihnen auch im Namen meiner ganzen Familie.« Ich murmelte etwas passend Bescheidenes, weil ich wußte, welche überragende Bedeutung die Familie für diese Leute hatte. Dann fragte Moreno vorsichtig: »Señor… Glauben Sie, Pater van Horne wird… das tun?« »Tomas de la Plata hat ihn davor gewarnt, irgendwelche Gottesdienste zu halten«, erwiderte ich. »Das ist alles, was ich weiß.« -181-
»Es geht uns auch eigentlich nichts an«, fügte Janos hinzu. »Glauben Sie, daß es Schwierigkeiten geben wird?« fragte ich Moreno. »Don Tomas wird ihn töten, wenn er diese Messe liest, Señor – nichts ist sicherer als das –, und auch jeden, der daran teilnimmt. Ich habe das Pater van Horne auf dem Rückweg von der Mine zu erklären versucht, aber er hat es einfach abgelehnt, über das Thema zu reden.« »Mit Ihnen vielleicht, aber nicht mit uns«, knurrte Janos. Er leerte sein Glas und sah mich an. »Verdammt noch mal, Mr. Keogh, wir können nicht zulassen, daß der Bursche sich für nichts und wieder nichts aufhängen läßt, oder?« »Wohl nicht«, stimmte ich zu und spielte mit. »Machen Sie sich keine Sorgen, Moreno«, sagte Janos munter. »Wir reden ihm das schon aus.« Moreno zeigte sich darüber geradezu überschwenglich dankbar. Er geleitete uns hinaus, hielt Janos die hintere Autotür auf und half ihm hinein. Vermutlich wollte er einfach nur, in seiner Eigenschaft als Bürgermeister von Mojada, keine unnötigen Schwierigkeiten haben. Andererseits hatte van Horne seine Absicht deutlich klargemacht, daran konnte es keinen Zweifel geben. Ich fuhr durch den Ort bis zur Kirche – keine Spur von van Horne. Als ich jedoch bremste und anhielt, klapperten Pferdehufe über den steinigen Boden, und als ich mich umwandte, sah ich niemand anderen als Victoria heranpreschen und ihr Pferd vor mir zügeln, hinter ihr war Nachita. Sie rannte mir mit besorgtem Gesicht entgegen und betastete mich an einem Dutzend verschiedener Stellen, wie um sich zu vergewissern, daß alle meine Knochen noch ganz waren. Ich sagte zu Nachita: »Habt ihr davon gehört, was in der Mine passiert ist?« -182-
»Ich war im Laden, um Vorräte zu kaufen, Señor. Sie reden dort von nichts anderem.« Ich nahm Victorias Hände in die meinen. »Ich habe jetzt mit dem Priester etwas zu erledigen. Ich komme später zu eurem Lager hinunter.« Sie zog die Stirn kraus, als sei sie sich nicht sicher oder traue mir nicht, deshalb küßte ich sie auf den Mund, obwohl wir nicht allein waren. »Und jetzt geh, oder ich binde dich auf dein Pferd!« Sie lächelte belustigt, schwang sich mit einem Satz in den Sattel, trieb das Pferd voran, um zu wenden, und galoppierte so schnell davon, daß Nachita zu tun hatte, sie wieder einzuholen. »Wenigstens tut sie, was man ihr sagt«, bemerkte Janos. »Nur manchmal.« Ich half ihm heraus, und als wir uns nun der Kirche zuwandten, stand van Horne schon auf der Veranda, in Soutane und Priesterkragen, auf dem Kopf ein schwarzes Birett, das sich wohl auch in der Schiffskiste befunden haben mußte. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es noch dauern würde.« Er ging zum Mercedes und hob das Rücksitzpolster hoch. Unter diesem lag ein großes Stück Filz. Er nahm es weg. Darunter war nur noch das blanke Metall. Er fingerte daran herum und hob eine Platte hoch. Darunter kam eine Blechkiste zum Vorschein. Sie war khakibraun gestrichen und auf dem Deckel stand in schwarzer Farbe United States Army Ordnance. Er hob sie mit beiden Händen heraus. »Ihr kommt besser mit hinein. Und«, fügte er zu Janos gewandt hinzu, »vergessen Sie die Zigarre nicht.« Der Ungar seufzte und warf die Zigarre zögernd weg. »Meinen Sie nicht, daß Sie das alles ein bißchen zu weit treiben?« Van Horne ignorierte diese Bemerkung völlig und ging uns -183-
voran. Die schlimmsten der Schmierereien an den Wänden waren inzwischen entfernt. Der Gestank von Schmutz und Abfall, den ich hier noch gestern so penetrant gerochen hatte, war fast verschwunden. Am Altar blinkte das Kruzifix, links und rechts von ihm brannte eine Kerze, und es herrschte friedvolle Ruhe. Es war wieder eine Kirche. Van Horne stellte die Blechkiste auf eine Bank und öffnete sie. Janos sagte: »Keogh und ich wüßten gerne, was gespielt wird. Sie sind hier doch nicht allein, und es wird Zeit, daß Sie sich daran erinnern!« Van Horne sah mich fragend an. Ich sagte: »Es wird keiner kommen. Keiner riskiert das.« »Tomas de la Plata wird kommen«, widersprach er. »Und nur darauf kommt es an. Er wird kommen, um sich an meinem Mißerfolg zu weiden, und höchstwahrscheinlich auch, um mich zu töten.« »Aber nicht allein, Mann!« brüllte Janos ungeduldig und drängend. »Warum sollte er auch?« Van Horne fuhr fort: »Zwei Tage hat er uns gegeben, mehr nicht. Nach dem Fiasko in der Mine heute vormittag wird er keine Neigung zeigen, uns noch länger ungeschoren zu lassen. Und deswegen muß es jetzt zur Entscheidung kommen, zu unseren Bedingungen.« »Er geht niemals irgendwohin, ohne daß mindestens ein Dutzend Leute bei ihm sind«, gab ich zu bedenken. Van Horne lief durch das Kirchenschiff und stieg auf die Kanzel. Von dort sah er auf uns herunter. Er hielt sich mit beiden Händen an einem kleinen Holzpult fest, auf welchem ich eine Bibel liegen sah. »Wenn er und seine Leute hereinkommen, werden sie mich hier finden und nie erfahren, was sie getroffen hat.« -184-
Seine Hand verschwand kurz und tauchte dann mit der MP wieder auf. Der Himmel sollte uns beistehen, aber er sah dort oben wie der leibhaftige Todesengel aus. Und es würde funktionieren, das war mir sofort klar. Ich sah Tomas de la Plata und seine Leute in die leere Kirche hereinkommen, hörte das Klirren ihrer Sporen und ihre Spötteleien. Schließlich hatte ich van Horne schon einmal in Aktion erlebt. Ich wußte nur zu gut, was eine Thompson in seinen Händen im Handumdrehen anrichten konnte. Tomas de la Plata und seine Begleiter würden tot sein, ehe sie begriffen, was geschah. Einen problematischen Punkt sah ich jedoch, und es war Janos, der ihn auch aussprach: »Und was, Sir, wenn er einige seiner Leute draußen warten läßt?« »Dafür sind Sie und Keogh zuständig. Sie sind auf dem Glockenturm, in sieben Meter Höhe. Dort haben Sie freies Schußfeld.« »Womit?« fragte ich. »Schau in die Kiste.« In der Blechkiste lagen ein Dutzend Mills-Bomben, eine Zwillingsflinte mit abgesägtem Lauf, ein WinchesterRepetiergewehr, mindestens tausend Schuß Munition, und eine weitere Thompson-MP wie seine eigene. Ich fuhr Janos zurück zum Hotel, ließ ihn dort aussteigen und verließ den Ort zu Fuß. Ich wollte nachdenken. Van Hornes Plan war bestechend. Ein gefährlicher, blutrünstiger Hinterhalt, der alle Chancen hatte, zu klappen, ganz wie er es voraussah. Mit zwei MPs und einer oder zwei dieser Handgranaten war es mehr als wahrscheinlich, daß wir sie innerhalb von Sekunden ohne Ausnahme erledigten oder jedenfalls zu Krüppeln schossen. Letzten Endes freilich hing alles davon ab, daß sich Tomas de -185-
la Plata so verhielt, wie wir es erwarteten, und das war wohl der kritischste Punkt der ganzen Geschichte. Ich hatte schon zu oft erlebt, daß man im Hinterhalt liegt und eigentlich nichts schiefgehen kann – außer, daß der, den man erwartet, nicht auftaucht, oder auf einem anderen Weg, und daß dann die Jäger schnell die Gejagten waren. Die Packpferde und die Maultiere waren fort. Das war das erste, was ich wahrnahm, als ich mich dem Yaqui-Lager näherte. Aber das Zelt stand noch immer neben dem Feuer, und in der Nähe grasten vier Pferde. Auf einer Decke am Feuer lag ein ledergebundenes Buch. Ich hob es auf und öffnete es. Es war Don Quixote auf spanisch. Ein Geräusch, das freilich kaum lauter war als ein kleiner Luftzug im Gras, ließ mich aufhorchen. Als ich aufblickte, stand bereits Nachita da und beobachtete mich. »Ein schönes Buch, Señor.« »Gehört es dir?« »In meiner Jugend verbrachte ich einige Zeit bei den padres in Nacozari. Eine Weile lang redeten sie davon, mich zum Priester zu machen, aber meine eigene Stimme sagte mir andere Dinge, und so kehrte ich zu meinem Volk zurück. Man hat nur ein einziges Leben.« Ich warf das Buch wieder auf die Decke. »Wo sind die anderen?« »Fort, Señor. Über die Berge, mit den Packtieren.« »Und du bist dageblieben?« Er lächelte, oder jedenfalls bewegte es sich in seinem Gesicht, so daß es einen Ausdruck bekam, der immerhin die Andeutung eines Lächelns darstellte. »Sie wartet am Teich auf der anderen Seite der Baumwollsträucher, Señor.« Er ließ sich mit graziöser Leichtigkeit zu Boden nieder, griff -186-
sich den Don Quixote und schlug ihn auf. Ich überließ ihn den Freuden der großen Literatur und begab mich auf die Suche nach anderen Freuden. Es war ein herrlicher Platz. Ein Wasserfall stürzte sieben oder zehn Meter tief in einen kleinen Tümpel zwischen großen, verstreuten Felsbrocken. Sie saß auf einer alten Pferdedecke, die Knie ans Kinn hochgezogen und starrte vor sich hin, in ihre eigenen Gedanken versunken. Aber trotzdem wußte sie sofort, daß ich es war, und war beim ersten Schritt, den sie hörte, auf den Beinen. Sie erwartete mich voller Zurückhaltung, als hoffe sie auf irgendein sichtbares Zeichen, wenn ich auch keine Ahnung hatte, welches das sein sollte. Ich sagte ruhig: »Schön, dich zu sehen. Schön, allein mit dir zu sein.« Sie lächelte ernst, und doch war eine kleine Falte auf ihrer Stirn, als sei sie mit etwas konfrontiert, das sie nicht ganz verstand. Über uns zogen die Wolken aus den Bergen heraus und verdunkelten immer wieder kurz die Sonne. Es war still und friedlich hier am Wasser unter den Bäumen, stiller und friedlicher, als ich mir vorgestellt hätte. Und es war kalt. Ich zitterte plötzlich heftig, aber etwas noch Kälteres schnitt wie ein Schwert in mein Innerstes. Dies hatte ich schon mehr als einmal erlebt – immer, ehe gefährliche Dinge passierten. Und sie, Gott segne sie, wußte es, spürte es auf irgendeine nur ihr bekannte Art. Sie ergriff meine Hände und zog sie heftig an ihre Brüste. »Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe Angst. Es passiert auch den Besten. Selbst dem kleinen Emmet Keogh, Emmet von der guten linken Hand.« Sie zog die Brauen fragend hoch, aber ich drängte sie hinunter auf die Decke und küßte ihre Lippen. »Edmundo. Edmundo Keogh. Möchtest du etwas über ihn hören?« -187-
Sie nickte, halb lächelnd, halb abwartend. »Ich hatte in Irland einen Großvater. Der hätte den Tag gesegnet, wenn er dir begegnet wäre«, erzählte ich ihr. »Er pflegte stets zu sagen, Gottes größtes Geschenk für einen Mann sei eine schöne Frau, die ein Geheimnis in ihrem Herzen bewahren kann.« Das gefiel ihr, jedenfalls machte ihr Lächeln dies klar. Und ob nun hier oder anderswo, ich konnte meine Beichte ablegen. Also begann ich zu reden, den Monolog aller Monologe zu halten, das persönliche Testament des kleinen Emmet Keogh zu sprechen. Eine Geschichte, die fast alles enthielt, und ich drückte mich um nichts herum. Sie erhielten alle ihre ehrenvolle Erwähnung. Big Mick Collins und all die Männer, die ich, aus guten oder schlechten Gründen, um ihr Leben gebracht hatte, einschließlich meines eigenen Bruders. Als ich fertig war, wußte sie auch alles, was es über unseren Handel mit Bonilla zu wissen gab, und kein Jota weniger über van Horne und Janos, als ich selbst wußte. Das alles erzählte ich ihr, weil ich diese seltsame Vorahnung hatte, daß van Hornes Plan eben doch nicht aufgehen würde. Ich wußte es, wenn ich auch keinen plausiblen Grund dafür angeben und es nicht beweisen konnte. Aber die Ahnung war da. Ich lag still mit meinem Kopf in ihrem Schoß, endlich in Frieden. Alles, was zu sagen war, war gesagt. Ich blickte in den endlos blauen Himmel. Ihre Finger strichen mir sanft über die Stirn und schläferten mich ein. Ich war sicher, daß dies ihre Absicht war, und sie hätte mich dann auch schlafen lassen, aber ich schreckte beim ersten Schlag der Kirchenglocke hoch. Van Horne hatte gesagt, er würde sie eine halbe Stunde vor Beginn seiner Messe läuten. Victoria versuchte nicht, mich aufzuhalten, und ich küßte sie auch nicht zum Abschied. Die Situation war zu ernst dafür. Ich sah sie lediglich länge und wie zum letzten Mal an. Dann drehte ich mich um und ging unter den Bäumen davon, dem entgegen, was auch immer in der Hitze dieses Nachmittags auf mich warten mochte. -188-
Janos befand sich auf der Veranda vor dem Hotel und kam mir aufgekratzt entgegen. Er schlug einen Spaziergang vor, aber diese Bemerkung war sichtlich für Moreno bestimmt, der auf einem Rohrstuhl saß und überaus besorgt dreinsah. »Er scheint sich nicht sehr wohl zu fühlen«, bemerkte ich. Janos lächelte. »Soviel ich gehört habe, liegt seine Frau in den Wehen. Obwohl ich nicht weiß, was ihm im Augenblick mehr Sorgen macht, sie oder van Horne.« Er blies mit einem zufriedenen Seufzer den Rauch seiner Zigarre in die Luft. »Wirklich, ein ganz herrlicher Nachmittag. Es ist eine Freude, zu leben.« Ich hatte es nie geschafft, bei ihm zu erkennen, was nur Geschwätz war und was nicht, aber trotzdem, alles in allem, neigte ich doch der Ansicht zu, daß seine Nonchalance nicht einstudiert, sondern echt war. Die einfache Wahrheit ist, daß er wohl einer von diesen seltsamen Leuten war, die vollständig und stets im Hier und Jetzt leben und denen die Zukunft und ihre Aussichten wenig Angst machen, einfach deshalb, weil sie für sie nicht existiert. Wir schlenderten gemächlich an der Ostmauer durch den Ort, wobei wir schließlich hinter der Kirche anlangten, wo uns van Horne zur Hintertür einließ, die direkt in die Sakristei führte. Er trug ein weißes Leinenchorhemd über seiner Soutane und legte jetzt auch noch eine grüne Stola an, die er unter seinem Gürtel kreuzte, zum Zeichen von Christi Leiden und Tod, wenn ich mich korrekt erinnerte. Dann kam noch das grüne Meßgewand darüber, und er war fertig. »Ich muß schon sagen, echt sehen Sie aus«, sagte Janos. »Das muß ich, verdammt, ja wohl auch«, erwiderte van Horne grimmig. »Wir haben noch etwa eine Viertelstunde Zeit. Je eher ihr beiden also oben auf dem Turm seid, desto besser.« Er führte uns in die Kirche und öffnete eine kleine Holztür hinter der Kanzel, die ich jetzt überhaupt zum ersten Mal wahrnahm. Dahinter war eine steinerne Wendeltreppe. -189-
»Alles, was ihr braucht, ist schon oben«, erklärte er. »Aber denkt daran, erst schießen, wenn ich schieße. Keine Eigenmächtigkeiten, wie günstig es von dort oben auch immer aussehen mag! Wir wollen die Sache schließlich mit einem einzigen Schlag erledigen.« Die Tür fiel zu, und ich stieg im dämmrigen Licht nach oben hinter Janos her, der sich derart durch die enge und steile Treppe quetschen mußte, daß ich gezwungen war, durch Drücken und Schieben nachzuhelfen. Schließlich waren wir oben in einem kleinen Raum von nur ein paar Quadratmetern mit langen, schmalen Fensterluken auf drei Seiten, die fast bis zum Boden reichten. Wie van Horne uns versichert hatte, lag alles bereit, sauber auf einer Decke ausgebreitet. Die Flinte mit Munition, die Winchester, mehrere Mills-Bomben, und die Thompson-MP mit einem halben Dutzend Trommelmagazinen, die in einem sauberen Stapel daneben aufgeschichtet waren. Janos ließ sich schwer nach Atem ringend auf eine Holzbank fallen. Wie üblich, rann ihm der Schweiß übers Gesicht. Er holte eine flache Flasche aus seiner Brusttasche, schraubte sie auf und nahm einen langen Schluck, während ich mir die Lage besah. Einen kritischen Punkt gab es. Die Fensterluken in der Mauer auf der Seite, auf die es ankam, lagen so, daß es unmöglich war, von ihnen aus in den Ort selbst hineinzusehen, es sei denn, man lehnte sich hinaus. Die unmittelbare Umgebung der Vorveranda der Kirche allerdings war durch sie gut im Blickfeld; sieben Meter unterhalb und leicht seitlich. Ich machte Janos, der sich wieder einigermaßen erholt hatte, auf diese Situation aufmerksam, und er nickte kurz. »Mit anderen Worten, wir können ihn nicht kommen sehen. Also müssen wir ständig bereit sein.« Ich schob eine Bank vor die Mauer an der Fensterluke, damit Janos sich bequem setzen konnte, und zwar so, daß er außer -190-
Sicht war, aber dennoch den Platz vor der Kirchenveranda im Blickfeld hatte. Ich gab ihm die Thompson, und er legte sie sich über die Knie. Zwischen den Zähnen hatte er seine unvermeidliche Zigarre. Mein Plan war, ihn mit einer oder zwei sorgfältig gezielten Mills-Bomben zu unterstützen, und notfalls auch noch mit der Enfield oder der Winchester. Die Flinte schien mir wegen des kurzen abgesägten Laufes nicht besonders nützlich zu sein. In der Wand ohne Fensterluken gab es einen einzigen schmalen Schlitz, vielleicht zwanzig Zentimeter breit. Als ich durch ihn lugte, sah ich direkt auf die Kanzel und in den Kirchenraum. Von van Horne war nichts zu sehen. Aber dann öffnete sich die Sakristeitür, und er kam heraus, mit der Thompson-MP in der Hand. Er wandte sich der Kanzel zu, was bedeutete, daß er nun vor dem Altar stand, und ich sah, wie er leicht das Knie beugte, sich automatisch bekreuzigte und dann mit bewegungslosem Gesicht auf die Kanzel stieg. »Und was, lieber Sir, halten Sie nun davon?« flüsterte mir Janos ins Ohr. Van Horne legte die Thompson auf ein schmales Regalbrett, wo er sie schnell zur Hand haben konnte, setzte sich auf einen Schemel und öffnete die Bibel. Ich richtete mich auf und schüttelte den Kopf. »Weiß Gott«, sagte ich und meinte das ernst, »ich habe aufgehört zu versuchen, seine Beweggründe zu verstehen. Ich nehme ihn einfach so, wie er ist.« Es war sehr still und viel zu heiß. Janos wischte sich den Schweiß vom Gesicht und seufzte. »Ich bin solchen Sachen nicht mehr recht gewachsen.« »Aber Sie waren es einmal.« Das war eine Feststellung, keine Frage – eine einfache Bemerkung. »Als ich nach Mexiko kam, war ich anfangs Kavallerieberater -191-
bei einer Bundeseinheit, die die Yaqui in den Bergen auszurotten versuchen sollte, nördlich von hier. Das war eine schwere Arbeit, obwohl es Prämien gab. Hundert Pesos für jedes Ohr eines kämpfenden Yaqui.« »Es muß ihnen wirklich viel daran gelegen haben, sie loszuwerden.« »Die Regierung wollte ihr Land, ganz einfach. Das ist ja auch der Grund, warum die restlichen Überlebenden jetzt am Windfluß leben, in einer Gegend, in der sonst niemand existieren könnte. Das war alles in den schlechten alten Zeiten unter Diaz.« »Und danach?« »Zu Beginn der Revolution diente ich bei Francisco Madero und war bei der Eroberung von Ciudad Juarez dabei. Damals gab es dort viele wie mich. Man nannte uns die Fremdenlegion. Das waren Leute wie beispielsweise der Neffe des großen Garibaldi, Giuseppe. Guter Soldat.« »Sie müssen allerlei erlebt haben.« »In der Tat. Aber dann ist Madero ermordet worden. Oder jedenfalls ist das meine eigene Interpretation der Dinge. War zu gut für diese Welt, der arme Mann. Er hätte härter gegen die Elemente, die es verdient hätten, vorgehen müssen. Das waren düstere Zeiten, Sir. Man wußte nie recht, mit wem man es halten sollte.« Auf den Pflastersteinen der Straße war Pferdegetrappel zu hören, rechts von uns. Durch die warme Luft drang Gelächter zu uns herauf und das Klirren von Pferdegeschirren. Als sie in unser Sichtfeld ritten, erkannte ich, daß wir alle die Lage beklagenswert falsch vorausgesehen hatten. Sie waren mindestens zwei Dutzend. Ein jeder ein stattliches Waffenarsenal für sich. Tomas de la Plata war in ihrer Mitte, eine dunkle und düstere Figur wie immer. Und der größte Schock überhaupt war, daß seine Schwester zu seiner Rechten ritt. -192-
11 Er hatte sie mitgebracht, damit sie van Hornes Demütigung mitansehen konnte, und sonst aus keinem anderen Grund, urteilte ich. Denn sie sah bleich und angegriffen aus und stieg mit erkennbarem Widerwillen vom Pferd, als er ihr dazu die Hand entgegenstreckte. Er nahm sie am Arm und ging mit ihr auf die Kirchenveranda. Sieben oder acht seiner Leute folgten ihm. »Und was nun?« flüsterte Janos. Ich huschte zu dem Schlitz in der Mauer und spähte in die Kirche hinunter. Van Horne saß noch immer dort, nur hatte er jetzt die Thompson über den Knien liegen. Sporengeklirr und Gelächter wurden hörbar, und dann trat de la Plata, den Arm um Chelas Schulter gelegt, ein. »Geht nicht so gut, das Geschäft heute, wie, Pater?« rief er. Van Horne legte die Thompson sehr vorsichtig auf das Regalbrett zurück und stand auf. »Es sieht so aus. Bereitet Ihnen das Genugtuung?« »Zu entdecken, daß Gesindel sich vorhersehbar verhält? Ach nein, nicht besonders.« De la Plata sah auf seine Schwester herunter, die er immer noch fest an sich gedrückt hielt. »Bereitet es dir eine Genugtuung, meine Liebe?« In der ganzen Szene war etwas Ungutes, etwas unter der Oberfläche, das besser nicht vorhanden gewesen wäre. Sie versuchte sich von ihm freizumachen, aber er hielt sie fest. »Sie müssen Nachsicht mir ihr haben, Pater. Sehr merkwürdig, unter den Umständen, aber sie wollte einfach nicht mitkommen. Ich mußte sie mit allen Mitteln überreden.« -193-
Hinter ihm hatten sich seine Leute in einer Reihe aufgestellt, die Gewehre nachlässig im Arm, jeder ein perfektes Ziel, aber van Horne würde natürlich jetzt noch nichts unternehmen. Nicht, solange die Frau dastand. Und wenn ich entgegen seinen Anweisungen versuchte, de la Plata herauszupicken, dann mußte das Gegenfeuer seiner Leute erwidert werden, und dann war Chela genau mittendrin. Ich konnte van Hornes Gesicht nicht sehen, aber seine Stimme war sehr ruhig, als er sagte: »Was wollen Sie von mir, Señor? Meinen Tod?« »Nicht nötig.« Tomas de la Plata schüttelte den Kopf. »Sie werden einfach gehen, Pfaffe. Morgen werden Sie auf dem gleichen Weg, den Sie hergekommen sind, mit denen, die Sie hergebracht haben, wieder abreisen. Ich würde Sie mit Vergnügen aufhängen, aber bedauerlicherweise gab ich meiner Schwester mein Wort. Und wenn sie das ihre hält, halte ich das meine auch.« Er drehte sich um und ging rasch hinaus. Noch immer hielt er seinen Arm fest um die Schulter seiner Schwester, und seine Männer zogen wieder hinter ihm her. Der letzte spuckte auf den Boden. Van Horne stieg die Treppen hinunter und eilte hinter ihm her. Ich war gerade zur rechten Zeit wieder an der Fensterluke, um Tomas de la Plata an der Seite seiner Schwester aufsitzen zu sehen. Seine Begleiter versammelten sich um sie und dann begannen sie alle davonzureiten. Aber da erschien van Horne auf der Veranda und rief ihm hinterher: »Señor de la Plata! Auf ein Wort!« Don Tomas zügelte sein Pferd und wandte es um, die anderen folgten ihm sofort. »Was wollen Sie?« Van Horne sprach sehr deutlich, damit es auch alle gut hören konnten. »Ich habe in meinem Besitz die Statue des heiligen St. Martin de Porres, die aus dieser Kirche während der Revolution -194-
entfernt wurde. Es ist unter solchen Umständen, ehe eine derartige Reliquie wieder an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehrt, üblich, sie zuvor in einer Prozession durch den Ort zu tragen.« Nur das nervöse Stampfen der Pferde durchbrach die Stille, in der alle auf das warteten, was nun folgen würde. »Ich beabsichtige, diese Prozession morgen früh um halb zehn Uhr durchzuführen, hier von der Kirche aus!« Chela gab einen kurzen, entsetzten Ausruf von sich, den ihr Bruder augenblicklich unterbrach. »Es wird in diesem Ort nicht eine einzige Seele geben, die Sie dabei begleitet.« »Dann gehe ich allein.« Wie der Blitz zog Tomas de la Plata unter seiner Jacke die Pistole hervor. Im gleichen Moment aber hatte auch ich mir von Janos die Thompson geschnappt, um feuerbereit zu sein, wenn es nötig sein sollte. Chela oder nicht, und selbst wenn van Horne jetzt zu nahe war, um sich in Sicherheit bringen zu können. Chela schrie auf und legte ihre Hand auf den Arm ihres Bruders, und ich glaube, in diesem Augenblick standen die Dinge auf des Messers Schneide. Er stieß die Waffe wieder in den Schulterhalfter zurück. »Ich halte, was ich verspreche, Pfaffe«, sagte er. »Sie haben Zeit bis morgen mittag, um von hier zu verschwinden. Aber was Ihre Prozession anlangt: Wenn Sie auch nur den Versuch dazu machen, schieße ich Sie persönlich nieder.« »Allein oder zusammen mit den anderen, die Sie da hinter sich haben?« Tomas de la Platas Augen glitzerten. Sein Gesicht war bleich wie weißes Feuer, aber er sagte kein Wort mehr, son dern gab das Signal, und die ganze Gruppe entfernte sich. Ich riskierte es und streckte den Kopf zur Fensterluke hinaus, um ihnen nachzusehen, aber da erkannte ich, daß in etwa -195-
fünfzehn oder zwanzig Metern Entfernung Leute her umstanden, und zog mich eiligst wieder zurück. »Er scheint Zuschauer gehabt zu haben.« »Bei Gott, Sir, ich glaube allmählich alles«, stöhnte Janos. Ich stieg die Wendeltreppe hinab, Janos folgte beträchtlich langsamer nach, und eilte zum Haupteingang, hielt aber in der Vorhalle an und spähte vorsichtig durch das scheibenlose Fenster hinaus. Die Menge draußen begann sich zu zerstreuen. De la Plata und die Seinen ritten bereits zum Tor hinaus. Van Horne kam raschen Schrittes durch die Vorhalle und eilte an mir vorbei, als sei ich gar nicht vorhanden. Er zog sich das Meßgewand über den Kopf und warf es auf die nächste Bank. Dann legte er auch das Chorhemd ab. »Toller Auftritt«, sagte ich, während sich auch Janos zu uns gesellte. Van Horne sah mich an, in seinen Augen standen Zorn und Enttäuschung zugleich. »Und was hättest du an meiner Stelle getan, Keogh? Die Frau umgebracht?« »Mach dir nichts draus«, wich ich einer Antwort aus. »Aber was soll dieser andere Unsinn? Diese Prozession mit der verdammten Figur? De la Plata hat recht. Nicht einer, kein Mann, keine Frau und kein Kind in diesem Ort, werden es wagen, mit dir mitzugehen.« »Dann trage ich sie allein.« »Und du hoffst, daß dir de la Plata persönlich in den Weg tritt? Darauf geht er doch nicht ein!« Er gab mir keine Antwort. Aber in seinem Kiefer arbeitete ein Muskel heftig, und seine großen Hände ballten sich mehrmals. Etwas stand zwischen uns. Etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ. Mir war das klar, und ich denke, ihm ebenso. Ich trat nahe an ihn heran und sagte mit gedämpfter Stimme: -196-
»Warum, van Horne? Warum?« »Verdammt, Keogh, ich weiß doch die Antwort selbst nicht!« Er warf das Chorhemd von sich, drehte sich um und lief in die Sakristei. Es gab nichts mehr zu sagen. Janos und ich gingen. Wir schlenderten zum Hotel zurück. In der Bar war nichts von Moreno zu sehen. Wir traten deshalb hinter die Theke und bedienten uns selbst mit Whisky. »Und was nun?« fragte Janos. »Fragen Sie mich nicht. Fragen Sie ihn!« Er seufzte grämlich. »Wissen Sie was, mein Freund? Es sieht nicht gut aus. Es sieht überhaupt nicht gut aus.« Er griff nach der Flasche und goß sich noch einen Drink ein. Ich ließ ihn damit allein und ging in den hinteren Hof, in dem der Mercedes stand. Ich fuhr mit ihm den Berg hinauf zur Kirche. Die im Kirchturm zurückgelassenen Waffen waren mir eingefallen. In seiner jetzigen Stimmung könnte auch van Horne sie vergessen, und es war schon besser, sie an einen sicheren Ort zu bringen. Aber wahrscheinlich war der eigentliche Beweggrund für meine Fahrt zur Kirche mein Bedürfnis, noch einmal mit van Horne zu sprechen, aber ich hätte mich deshalb gar nicht zu bemühen brauchen – van Horne kam mir am Berg entgegen. Ich holte trotzdem die Waffen vom Turm. Ich verpackte sie wieder in die Blechkiste, trug diese zum Mercedes und legte sie in ihr Versteck unter den Rücksitz. Ich ging noch einmal in die Kirche zurück, setzte mich auf eine Bank und sah zum Altar. Natürlich, ich konnte schon lange ohne Gott auskommen, aber trotzdem herrschte hier im Halbdunkel mit der leicht flackernden Kerze am Altar ein tiefer Friede. -197-
Im Eingang erschien Victoria Balbuena. Sie blieb stehen, sah mich forschend an, und bedeckte sich automatisch den Kopf mit einem kleinen Tuch, das sie unter dem Kinn zusammenband. Ich nahm ihre Hände und zog sie lächelnd zu mir herunter. »Siehst du? Ich überlebe alles.« Wir konnten nicht weiter sprechen. Draußen rief jemand, Laufschritte waren zu hören, und dann stand van Horne in der Tür. In meiner Hand lag längst die Enfield. »Die brauchst du nicht«, sagte er. »Es geht um Morenos Frau. Es geht ihr schlecht. Das Baby kommt nicht, und die Alte, die hier als Hebamme fungiert, scheint nicht mehr zu wissen, was sie tun soll.« Ich saß sprachlos da. Aber er zog mich an der Jacke hoch wie nichts. »Lieber Gott, Junge, hast du nun vier Jahre Medizin studiert oder nicht?« Als ich am Hotel vorfuhr, stand schon eine Menge von dreißig oder vierzig Menschen vor dem Haus. Denn schlechte Nachrichten verbreiten sich ja wie der Blitz. Ich bat Victoria, mit mir zu kommen, und wir folgten van Horne, der uns mit Gewalt einen Weg bahnte. Im Schlafzimmer traute ich meinen Augen nicht. Mindestens ein Dutzend Leute drängelten sich dort, alles nahe Verwandte, die Frauen bereits in lautem Wehklagen begriffen. Moreno selbst stand mit Tränen in den Augen, die er nicht mehr zurückzuhalten imstande war, mitten in der Menge. Die beklagenswerte Frau auf dem Bett war mit einem Laken bedeckt und offensichtlich zu Tode erschreckt. Sie heulte hysterisch. Das alte Weib, das sich über sie beugte, offenbar die Hebamme, war ohne jeden Zweifel die schmutzigste Kreatur, die ich seit sehr langer Zeit gesehen hatte. »Schaff die Leute raus«, sagte ich zu van Horne. »Alle. Die -198-
Hebamme kann von mir aus bleiben, vorausgesetzt, sie wäscht sich die Hände. Sag ihnen, daß ich so schnell wie möglich heißes Wasser aus der Küche benötige und Seife.« Unter Protest räumte die Menge das Feld, obwohl Moreno seine Frau bereits für tot hielt. Jedenfalls stammelte er so etwas vor sich hin, als er rückwärts zur Tür hinausging. »Dann beten Sie für sie«, empfahl van Horne gelassen. »Beten Sie zum heiligen St. Martin de Porres um Hilfe.« Er schloß die Tür und ging dann schnell zu den Fenstern, die zur Terrasse hin offen standen, weil die Leute dort draußen laut zu werden begannen. Ich verstand nicht, was er zu ihnen sagte, vermutlich etwas Ähnliches wie zu Moreno. Auf jeden Fall brachten sie seine Worte zum Schweigen. Er kam wieder herein und schloß die Fenster. Jemand klopfte an die Tür. Victoria machte auf und kam mit einer Schüssel heißen Wassers und einem Block billiger Karbolseife wieder. Ich begann mir sorgfältig die Hände zu waschen und befahl der Hebamme, das gleiche zu tun. Ihre einzige Antwort bestand darin, daß sie die Arme hochwarf und hinausrannte. Ich zog das Laken vom Leib der Schwangeren zurück, schob ihre Knie hoch und untersuchte sie. Ich fand auch rasch den Grund für die Schwierigkeiten. »Weißt du noch, wie es geht?« fragte van Horne. Wir sprachen, um die werdende Mutter nicht noch mehr zu erschrecken, englisch. Ich erklärte: »Normalerweise sollte das Kind mit dem Kopf nach unten liegen. Das hier hat eine Steißlage. Das heißt, das Hinterteil befindet sich am Geburtsausgang, und so etwas kompliziert die Geschichte fürchterlich.« »Kannst du das hinkriegen?« fragte er drängend. »In der Theorie habe ich es jedenfalls mal gelernt.« -199-
Die Frau begann zu schreien. Ich beugte mich zu ihr und versuchte sie zu beruhigen. Viel half es nicht. Van Horne trat an ihre Seite und nahm ihre Hand. »Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen«, tröstete er sie. »Es wird jetzt bald vorbei sein, und dann haben Sie einen Sohn.« Da war wieder diese Überzeugungskraft in seiner Stimme. Mitgefühl, Liebe, wie immer man es nennen will, und Autorität. Das Geschrei der Frau verebbte in kleinen stockenden Schluchzern, aber sie ließ seine Hand nicht los und blickte mit grenzenlosem Vertrauen zu ihm auf. Ich nahm Victoria beiseite und erklärte ihr leise und rasch, was ich versuchen wollte und was sie dabei zu tun hatte, und machte mich ans Werk. Ich wollte die Frau so nahe an den Bettrand legen, wie es nur ging, um ihr und mir die Sache zu erleichtern. Wir nahmen sie in unsere Mitte. Das versetzte sie sofort wieder in Panik, und erst van Horne vermochte sie wieder zu beruhigen. In meiner Studienzeit hatte ich bereits bei einem halben Dutzend Geburten assistiert, allerdings waren das lauter normale Fälle gewesen. Nur ein einziges Mal hatte ich eine ebenso komplizierte Geburt beobachtet, und das war in einer Klinik gewesen. Aber immerhin wußte ich, wie man theoretisch ein Kind in Steißlage zur Welt bringt. Ich holte so tief Luft, wie es nur ging, und versuchte mich Schritt für Schritt an den Ablauf zu erinnern, – vermutlich hätte ich mich ebenso verhalten, wäre ich im Examen vor ein solches Problem gestellt worden. Die erste Aufgabe bestand darin, die Beine des Kindes in die richtige Lage zu bringen, dazu mußte man die Knie des Kleinen beugen. Ich tastete vorsichtig und stellte fest, daß die Beine ausgestreckt waren. Ich mußte also weiter hineingreifen, bis ich mit einem Finger ein Knie berühren konnte. Durch den Reflex beugte das Kind das Knie sofort und auch, als ich die Prozedur am anderen wiederholte, stellte sich der gleiche Erfolg ein. -200-
Señora Moreno stieß einen überraschten Schrei aus, und ihr Leib zuckte in Konvulsionen. Ich bat sie, nun heftig zu pressen. Und einen Augenblick später traten die Beine des Kindes von selbst aus. Victoria hatte ein Leinenlaken in Streifen gerissen und stand bereit. Ich hielt ihr die Hände hin, und sie säuberte sie rasch und trocknete sie ab. Ich wandte mich wieder um und begann mit der nächsten Phase. Ich umfaßte die Beine, drückte meine Daumen leicht aufs Kreuzbein, und zog, bis die Schultern erschienen. Die Arme waren jetzt ausgestreckt, aber ich erinnerte mich auch, wie man damit fertig wird. Ich drehte das Kind leicht nach links. Die Schulter beugte sich, und ich konnte einen Finger in den linken Ellbogen haken und den Arm herausziehen. Dann drehte ich das Kind in die andere Richtung und holte mit demselben Manöver auch den anderen Arm. Ich hielt inne, um Atem zu schöpfen. Van Horne fragte auf englisch: »Wie läuft es?« »Bis jetzt gut, aber die gefährlichste Phase kommt erst. Der Kopf. Das ist selbst mit Instrumenten riskant. Wenn nicht alles fehlerfrei abläuft, besteht die Gefahr, daß das Kind einen Gehirnschaden erleidet.« Das Entscheidende war, den Kopf ganz langsam und stetig herauszuarbeiten. An die Prozedur erinnerte ich mich genau. Ich schob meinen rechten Arm unter das Kind, stützte es also so mit meinem Unterarm. Dann legte ich den Mittelfinger meiner linken Hand auf den Kopf, um ihn zu drehen, und Zeige- und Ringfinger links und rechts auf beide Schultern und begann zu ziehen. Langsam, sehr langsam bewegte es sich. Dabei mußte ich aber so kräftig ziehen, daß mir der Schweiß in großen Tropfen auf der Stirn stand. Doch dann war der Kopf auch aus dem Geburtskanal getreten, -201-
und das Baby lag sicher in meinen Händen. Allerdings war sofort klar, daß es nicht atmete. Der ganze Körper war purpurrot angelaufen, als sei alles verschlossen und warte darauf, in Bewegung gesetzt zu werden. Ich versuchte es mit Klatschen und Klopfen auf den Rücken, aber das zeitigte kein Ergebnis. Ich nahm also ein Stück Tuch, das mir Victoria reichte, und reinigte Mund und Nase des Kindes von Schleim und Fruchtwasser. Das Herz schlug kräftig, also war damit alles in Ordnung. Ich blies sehr sanft und vorsichtig in den winzigen Mund. Und ganz plötzlich holte das Kind tief Luft, und es ertönte das schönste Geräusch der Welt – das Kleine begann zu weinen. Aus irgendeinem Grund weinte auch Victoria, nahm mir aber dennoch mit sicheren Händen den Jungen ab und hielt ihn, während ich mich um die Nachgeburt kümmerte und dann um die Mutter selbst. »Es ist ein Junge«, verkündete ich laut. »Falls es irgend jemanden interessieren sollte.« Van Horne nahm das Kind, das Victoria inzwischen sorgfältig in ein frisches Laken gewickelt hatte, und brachte es ans Bett. Ich hörte nicht, was er zu Señora Moreno sagte, dafür aber, was sie weinend und schluchzend stammelte: »Genau wie Sie es versprochen haben, Pater! Wie Sie versprochen haben.« Er legte das Baby neben sie, öffnete Fenster und Tür und trat auf die Terrrasse. Er machte sehr dramatische Worte, und von der Menge auf der Straße antwortete ihm dann auch ein befriedigter Aufschrei. Ich schien ziemlich überflüssig zu sein; ich beklagte mich auch gar nicht, denn das war ich im Moment tatsächlich. Ich stand auf, ging zur Tür, und gerade, als ich sie aufmachte, kam Moreno mit allen Weibern hinter ihm drein herein. Sie drückten mich einfach zur Seite und drängten ins Zimmer, mit genau dem Lärm, den man in einer solchen Situation erwarten kann, und ich -202-
überließ sie sich selbst und wandte mich meinem eigenen Zimmer zu. Gott, war ich müde, erschöpfter als seit vielen Jahren. Und doch auf seltsame Weise glücklich. Einmal wenigstens, schien mir, hatte ich Leben gebracht, statt es immer nur zu nehmen. Aber ich konnte auch nicht mehr richtig klar denken. Ich legte mich aufs Bett und starrte zur Decke. Die Tür öffnete sich, und Victoria kam herein. Sie setzte sich neben mich und glättete sanft meine Stirnfalten, bis ich allmählich in Schlummer fiel.
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12 Als ich erwachte, war es völlig dunkel, aber der pulsierende Rhythmus von Musik schwang in der Luft. Gitarren und Maracas – Rumbarasseln –, dem Klang nach zu schließen. Und jemand sang. Ich war allein, keine Spur von Victoria, auch nicht, als ich mich hochsetzte, ein Streichholz fand und die Lampe anzündete. Meine Stiefel standen am Fußende des Bettes. Ich zog sie an, ging zum Waschtisch in der Ecke, beugte mich über die Schüssel und goß mir den Inhalt des irdenen Wasserkruges über den Kopf. Danach fühlte ich mich erheblich munterer. Ich fand ein Handtuch, öffnete die Glastür und ging auf die Terrasse. Dort blieb ich, tief die kühle Nachtluft einatmend, stehen und trocknete mich ab. Das Licht der Hotelfenster fiel über die Straße und ließ mich Victoria und Nachita erkennen, die auf der gegenüberliegenden Seite auf dem Bordstein saßen. »Victoria«, rief ich leise. Sie sah herauf. »Warum bist du weggegangen? Komm doch zu mir.« Ihr Gesicht war blaß und ausdruckslos. Nachita antwortete für sie. »Es ist nicht erlaubt, Señor.« »Was, zum Teufel, soll das heißen?« fragte ich. »Wartet auf mich. Ich bin gleich unten.« Ich fand ein sauberes Hemd, zog es mir über den Kopf und lief die Treppe hinunter. Ich ging gar nicht erst durch die Bar, sondern direkt durch die Vordertür und dann auf die andere Straßenseite, ohne auf irgend etwas zu achten. Einige Reiter mußten ihre Pferde scharf herumreißen, um mich nicht umzurennen. Victoria und Nachita standen auf, um mich zu begrüßen. Ich -204-
faßte Victoria an den Armen. »Was ist denn los?« Nachita sagte: »Man hat sie aufgefordert, das Hotel zu verlassen, Señor.« »Unsinn«, sagte ich. »Mojada ist gar nicht so übel«, sagte er achselzuckend. »Ich kenne Orte, in denen man Indios, ganz besonders Yaquis, nicht einmal innerhalb der Stadtmauer duldet.« Und diese Bastarde dort drinnen feierten die Geburt des Jungen! Die beiden Reiter waren abgestiegen und starrten zu uns herüber. Ich erkannte Jurado, den anderen jedoch hatte ich noch nie gesehen. Jurado machte irgendeine Bemerkung und lachte. Dann wandte er sich ab, betrat das Hotel und schloß die Tür hinter sich. Es war sehr still, die Musik klang gedämpft. Meine Müdigkeit war verflogen. Aber ich war zornig und traurig zugleich. Ich betrauerte die ganze Menschheit, um mich einmal so auszudrücken. Ich hob Victorias Hände an meine Lippen und sagte: »Warte hier auf mich. Ich hole mir nur eine Jacke und bringe dich dann zurück zum Lager.« Die Tür zur Bar stand offen, als ich durch die Halle ging, und im Vorbeigehen hörte ich van Horne rufen: »He, Keogh, hier herein!« Ich blieb unter der Tür stehen. Ich glaube, jeder einzelne Mann des Ortes war anwesend, und die meisten hatten schon erheblich getrunken. Vier Musiker machten in der Ecke lebhaften Lärm. Van Horne und Janos saßen an einem Tisch, eng gegen die Bar gepreßt. Der Ungar hob sein Glas. »Auf den Helden des Tages! Kommen Sie doch, Sir, kommen Sie, ich bestehe darauf!« Ich stellte mich also zu ihnen an die Bar, direkt hinter mir -205-
drängten sich Jurado und sein Begleiter. Moreno hielt alle Welt frei und war selbst schon halb betrunken. Van Horne blickte zu mir auf. »Du siehst nicht sehr zufrieden aus, Keogh. Stimmt etwas nicht?« »Ich habe erfahren, daß sie Victoria hinausgeworfen haben, während ich schlief.« Er erwiderte achselzuckend: »Das ist hier in der Gegend so üblich. Sie hat ihre Wahl getroffen, Keogh, und es ist nun einmal eine Tatsache, daß der normale Mexikaner Indios nicht ausstehen kann.« »Speziell Yaqui«, warf Janos zusätzlich ein. »Unglaublich rohe Leute, Keogh. Als ich bei dieser Strafaktion der Bundestruppe dabei war, hatten wir einen Colonel, der hieß Cubero. Der hatte sich einen Harem von fünf Yaqui-Frauen zugelegt. Was sage ich, Frauen. Die älteste, wenn ich mich recht erinnere, war fünfzehn. Jede für hundert Pesos.« »Und da nennen Sie die Yaqui grausam?« empörte ich mich. »Sie haben ihm eines Tages, als er mit seiner Patrouille in den Bergen unterwegs war, einen Hinterhalt gelegt.« Janos war wieder einmal so betrunken, wie ich ihn schon oft erlebt hatte, und sprach infolgedessen ziemlich langsam. »Weiß Gott, was sie noch alles mit ihm angestellt haben, ehe sie ihn umbrachten. Jedenfalls hielt er, als wir ihn fanden, in jeder Hand einen seiner Augäpfel, und seine Geschlechtsteile hatten sie ihm zwischen die Zähne gestopft.« »Was erwarten Sie jetzt von mir? Daß ich kotze?« herrschte ich ihn grob an. »Ich sage Ihnen lieber, daß er genau den richtigen Gegenwert für hundert Pesos pro Mädchen bekam.« Moreno lehnte sich über die Theke und grinste albern: »He, Señor Keogh, wir haben beschlossen, daß der Junge nach Pater van Horne getauft werden soll! Ist das nicht eine gute Idee?« »Eine ganz verdammt wunderbare Idee!« Ich wandte mich an van Horne. »Und wieder ein van-Horne-Wunder, wie? Ist es -206-
darauf hinausgelaufen?« Sein Lächeln erstarb, Bestürzung lag auf einmal in seinen Augen. Moreno faßte mich am Arm. »Trinken Sie mit mir, Señor?« »Nein, danke«, entgegnete ich. »Ich habe andere Pläne.« Er schien echt erschrocken zu sein. »Ich – verstehe nicht, Señor.« Mein Hemd war noch immer nicht zugeknöpft, und Victorias Silberamulett baumelte daraus hervor. Jurado griff danach und nahm es in die Hand. »Das ist ganz einfach, Moreno«, höhnte er. »Señor Keogh zieht andere Gesellschaft der unseren vor. Dunkleres Fleisch.« Er lachte heiser. »Stimmt es, was man sich über Yaqui-Frauen erzählt?« Und ließ dann die obszönste Andeutung fallen, die ich im ganzen Leben gehört habe. Ich glaube, ich wußte zu diesem Zeitpunkt sehr genau, daß er eigens gekommen war, Ärger zu machen. Er wollte wahrscheinlich gar nicht unbedingt mich provozieren, aber er hatte nun eine gute passende Gelegenheit gefunden. Van Horne wollte aufstehen, aber ich schob ihn auf seinen Stuhl zurück. »Ich trinke gern mit Ihnen«, rief ich Moreno zu. »Nur noch einen Augenblick.« Ich drehte mich um und ging hinaus, und Jurado lachte hinter mir her. »Da läuft unser Kleiner hinaus, und hat die Hosen voll.« Einer oder zwei aus der Menge der Betrunkenen lachten pflichtschuldig. Victoria und Nachita kamen mir über die Straße entgegen. Ich sagte: »Man hat mich zu einem Drink eingeladen, bevor ich mit euch gehe.« Sie wußte genau, was ich im Sinn hatte, ich sah es in ihren Augen, und Nachita ebenfalls. Er flüsterte: »Ihr Vorhaben führt zu nichts, Señor. Sie würden nur auf uns spucken.« Und da passierte etwas Eigenartiges. Ich wurde sehr kalt, sehr -207-
ruhig, aber ich hatte ein Feuer im Leib. Als ich sprach, kam meine Stimme von irgendwoher. Ihr Klang hätte selbst Finn Cuchulain persönlich erschreckt. »Hört mir jetzt einmal zu«, sagte ich. »Ich bin Emmet Keogh aus Stradballa, und ich fürchte mich vor keinem Menschen auf dieser Erde. Wir werden jetzt gehen und Gott ist mit uns. Ich werde dafür sorgen, daß Gerechtigkeit geschieht. Und wenn ich dazu einen oder zwei Köpfe in Stücke reißen muß, soll es mir auch recht sein.« Das Dunkel war in mir, wie es nach dem, was ich gehört habe, in meinem Vater gewesen war. Die Gewalt in ihm war keine Ausflucht gewesen, aber sie hatte meine Mutter in ihr frühes Grab getrieben. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um, und die beiden folgten mir. Ich trat die Tür auf und marschierte wie ein Wirbelwind in die Bar. Als die Männer mich bemerkten, und sahen, wer hinter mir war, trat eine unglaubliche Stille ein. Ich trat zur Bar, legte meine Hand auf den Rand der Theke und stellte mich vor den armen, närrischen Moreno, dem der Mund offenstand. »Sie haben mich zu einem Drink eingeladen. Wir werden jetzt gemeinsam auf Ihr Wohl trinken.« Ich drehte mich halb um, auf die Bar gestützt. Hinter mir waren van Horne und Janos, direkt vor mir Jurado und sein Freund. Victoria stand einen oder zwei Meter entfernt und lächelte mich an, als ich sie ansah. Ich hob meine Finger an die Lippen und küßte sie. Irgend jemand in der Menge stöhnte auf. Ich sah Nachitas Finger am Abzug seiner alten Winchester. Moreno stellte eine Flasche auf die Bar, seinen guten Whisky, und dazu ein Glas. Ich erklärte: »Sie haben meine Freunde vergessen.« Sein Gesicht nahm einen leidenden Zug an. Der arme Teufel, er wußte nicht, was er tun sollte. Jurado rettete die Situation für ihn. Seine große Hand schloß sich um den Hals der Flasche. -208-
»Nein«, entschied er. Sein Geruch in dieser Nähe und sein fetter Körper waren einfach zuviel. Ich fragte: »Hat Ihnen noch nie jemand gesagt, mein Freund, daß Sie stinken?« In seinen Augen stand eine grenzenlose Verblüffung, ein absoluter Schock darüber, daß jemand es wagte, ihn vor aller Welt zu beleidigen. Noch dazu einer, der kleiner war als er. Er ließ in einer Art Reflexbewegung die Flasche los, und im gleichen Moment hatte ich sie in der Hand und schlug sie ihm über den Schädel. Er schrie auf und taumelte, aber ich hatte schon die Pistole aus dem Halfter gerissen und warf sie van Horne zu. Jurado begann sich herumzudrehen. Er war blutüberströmt. Ich griff mir den nächsten Stuhl und zertrümmerte ihn auf seinem großen Kopf und seinen Schultern. Ich schlug einmal, zweimal, und dann noch einmal, und dann war der Stuhl entzwei. Jurado fiel auf die Knie und blieb so eine ganze Weile. Dann rappelte er sich hoch und starrte mich an. Mit einer Hand wischte er sich mechanisch das Blut aus dem Gesicht. »Also gut, du Bastard«, sagte ich und ging in Kampfstellung. »Dann komm her.« Mein Großvater, erzählte man mir, hätte ohne weiteres wenn er nur gewollt hätte – als Herausforderer um die Schwergewichtsmeisterschaft antreten können. Er hatte in seiner Jugend mit dem großen Bob Fitzsimmons über viele Runden gekämpft. Mir hatte meine geringe Körpergröße schon seit den ersten Schultagen immer nur mehr Püffe als Mitleid eingetragen. Eine ganze Weile lang blieb das unentdeckt, weil ich von Natur aus verschlossen war, aber dann überfielen mich eines Abends ein -209-
paar rabiate Mitschüler, und ich kam mit einem Gesicht wie ein Preisboxer nach Hause. Mickeen Bawn Keogh besah es sich. Seine grauen Augen waren kalt und ziemlich furchteinflößend, obwohl er lächelte. »Zwei, hast du gesagt, avic?« Und er nickte. »Dann ist es allerhöchste Zeit, daß ich mich deiner annehme.« Und daraufhin zog er seine Jacke aus, führte mich in den Hof hinaus und verpaßte mir meine erste uneingeschränkte Lektion in der edlen Kunst des Boxens. Und deshalb war ich zwar nur einsfünfundsechzig groß und wog kaum hundertfünfundzwanzig Pfund, konnte aber mit jedem Kilo davon zuschlagen, und der gute Raul Jurado hatte an diesem Abend Gelegenheit, dies auf sehr nachdrückliche Art herauszufinden. Er stürzte sich auf mich mit Gebrüll, aber ich schlug mit der Linken eine Finte und haute ihm gleich darauf die Rechte aufs Maul, daß ihm die Lippe platzte und das Blut herausspritzte. Ich setzte die Linke hinterher unter den Brustkorb, und es krachte wie ein Peitschenhieb, als Knochen auf Knochen traf. Beinarbeit, Timing und Schlagkraft, das war das Geheimnis, und in den ersten Minuten dieses Kampfes ließ ich ihm weder Chance noch Ruhe, umtänzelte ihn, wich seinen wuchtigen Hieben mit Leichtigkeit aus, stieß zu und hüpfte vor und zurück. Die Menge stob auseinander, die meisten drängten zur Tür, und von draußen drückten sich viele Nasen an die Fenster. Janos saß noch immer an seinem Tisch, die Hände über dem Knauf seines Stockes gefaltet, sein Gesicht wie immer schweißbedeckt. Aber van Horne stand jetzt und hielt Jurados Pistole in der rechten Hand. Ich nehme an, ich wurde etwas zu sorglos, weil ich die Lederpeitsche, die von Jurados Handgelenk baumelte, vergaß. Ich tänzelte wieder zu einem Schlag auf ihn zu, als er mit ihr blind zuschlug. Die Peitschenriemen ringelten sich um mein -210-
Gesicht, und ich stieß einen Schmerzensschrei aus. Dann zog er, und da wurde es schlimm. Ich hatte keine andere Wahl, ich taumelte auf ihn zu. Und da verpaßte er mir einen so mächtigen Schlag an die Stirn, daß ich zurück bis zur Bar flog. Sein Freund streckte einen Fuß aus, und ich stolperte darüber und fiel zu Boden auf den Rücken. Ich rollte mich zwar noch zur Seite, als er schnell hinter mir herkam, um mir mit dem Stiefel ins Gesicht zu treten, bekam diesen Stiefel zu fassen und drehte ihn mit aller Kraft um, so daß er fiel. Aber er fiel mit seinem Gewicht wie ein Sack auf mich. Wir rollten ringend zwischen und unter den Tischen umher und versuchten jeder dem anderen die Augen auszukratzen, aber als wir schließlich aufhörten, war ich es, der oben war. Doch dann rammte er mir sein Knie in den Leib, bevor ich ihn fertigmachen konnte, und nach diesem mächtigen Stoß flog ich rückwärts durch den Raum. Ich rappelte mich hoch, aber er war ebenfalls wieder aufgestanden, und stürzte sich erneut auf mich. Sein Gesicht war eine einzige blutende Larve, doch ich hatte keine Angst. Als ich ihn wieder umkreiste, sah ich Victoria an der Tür stehen. Sie hatte wie eine Katze die Zähne gefletscht. Nachita hielt sie am Arm. Jurado wollte mich nun umbringen, das zeigte sein Gesicht nur allzu deutlich. Seine Hände waren zu Krallen gekrümmt, er hob sie hoch und griff an wie ein Stier in der Arena. Ich warf ihm einen Stuhl vor die Füße. Das brachte ihn zu Boden, und ich trat ihm gegen den Schädel. Er blieb benommen auf Händen und Knien, zum zweiten Mal an diesem Abend, und sein Freund an der Bar, der wohl glaubte, daß ich ihn nun vollends erledigen würde, zog seine Pistole. Er war schnell, aber nicht schnell genug. Ein halber Meter Stahl schoß blitzend aus des Ungarn Gehstock heraus, so geschwind, daß man es gar nicht richtig beobachten konnte. Jurados Freund ließ mit einem Aufschrei die Pistole fallen. Sein Handgelenk war blutig. -211-
Und noch immer war dieser bärenstarke Jurado für eine Überraschung gut. Er rammte mich aus seiner gebückten Stellung mit der Schulter, daß es mich bis zur Wand zurückriß. Wäre er nicht in diesem Augenblick mit dem Fuß ausgerutscht, hätte er mich nun wohl erwischt. Während ich mich wieder aufrichtete, stürzte er sich schon wieder auf mich. Ich duckte mich unter seinem Arm weg, drehte die Schulter einwärts und ließ ihn über meine Hüfte mit einem wilden Buttock-Cross abrollen, direkt durch das Fenster. Die Menge stob vor dem Glassplitterregen auseinander, und ich sprang bereits über das Fensterbrett auf die Terrasse, wo ich gerade rechtzeitig ankam, um ihn nun meinen Stiefel ins Gesicht zu treten, gerade als er sich aufzurappeln versuchte. Und er fiel auf die Straße. Dort lag er nun auf dem Rücken, während ich es plötzlich nötig fand, mich an einem der Verandapfosten festzuhalten. Ich lehnte mich daran und sah mich um. Ich erkannte Victoria vier oder fünf Meter entfernt am Rand der Menge. Ihr Gesicht war sehr blaß, ihre Augen weit aufgerissen. Ich lächelte, oder glaubte jedenfalls, es zu tun – wahrscheinlich bot ich trotz meiner Bemühungen keinen freundlichen Anblick. Und dann, Dank sei Gott in der Höhe, geschah ein Wunder. Ihre Augen weiteten sich noch mehr, ihr Gesicht zerbrach wie ein splitternder Spiegel, ihr Mund war weit aufgerissen zu einem ihrer lautlosen Schreie. Aber stattdessen schrie sie meinen Namen. »Emm-et!« Mit einem Loch in der Wortmitte, aber dennoch ganz deutlich. Ich drehte mich zur Seite, und da stand Jurado schon wieder. Diesmal mit dem Messer in der Hand. Im gleichen Moment aber erschien Nachita aus der Dunkelheit und warf sein offenes Messer aus der hohlen Hand so, daß es in den Brettern direkt vor meinen Füßen steckenblieb. -212-
Weiß Gott, aber hier und jetzt war die Kraft in mir. Nichts hatte mich jemals mehr beflügelt als die Tatsache, daß ich meinen Namen gehört hatte – aus dem Mund des Menschen, der mir am meisten bedeutete. Victoria hat mir sehr viel später erzählt, daß der Ausdruck in meinem Gesicht, als ich nun auf die Straße hinuntersprang, um diesem Mann mit dem Messer in der Hand entgegenzutreten, schrecklich gewesen sei. Das muß wohl auch Jurado so empfunden haben. Denn er warf sein Messer weg und flüchtete in die Dunkelheit. Ich drehte mich um und stand drohend vor dem Meer von Gesichtern, die das Laternenlicht wachsgelb erscheinen ließ. In den meisten von ihnen stand Furcht. Dann trat van Horne auf mich zu. Er legte mir die Hand auf die Brust, als wolle er mich vor dem Fallen bewahren. Seine Stimme schien direkt aus der Erde selbst zu kommen, entfernt, weit weg. Aber wie auch immer, ich wollte in diesem Moment nur einen einzigen Menschen auf der Welt sehen. Aus irgendeinem Grund weinte sie. Warum denn nur das? Und dann erinnerte ich mich. Ich sagte sanft: »Mein Name? Wie ist mein Name?« Aber jetzt gab es nichts mehr zu fürchten, denn der Bann war gebrochen. »Emmet«, wiederholte sie. »Emmet.« »Wir werden jetzt gehen«, sagte ich. »Bevor ich hier auf der Stelle umfalle und uns vor der ganzen Welt noch blamiere.« Sie nahm meinen Arm, Nachita den anderen, und so ließen wir die Männer, wo sie waren, und gingen dahin, wo wir hingehörten. Sie schafften mich ins Lager und in das Zelt. Dort lag ich in der kühlen Dunkelheit und ließ mich von dem Meer der Nacht überspülen. Nach einer Weile kam Victoria mit einer Wasserschüssel und -213-
einem Tuch und begann vorsichtig, mein Gesicht abzuwaschen. Ich war müde, mein Kopf schien sich von den Schultern zu lösen, aber ich war trotzdem noch so weit bei Bewußtsein, daß ich immer wieder ihre Stimme hören wollte. Ich faßte sie an den Handgelenken. »Sag etwas – irgend etwas. Nur, damit ich dich höre.« Ihr Zögern war fast körperlich spürbar, aber dann sprach sie. Langsam, vorsichtig, jedes Wort für sich, die Stimme ziemlich fern und mehr als nur ein wenig heiser. »Was soll ich sagen?« »Kein Wort mehr«, antwortete ich und begann schwach zu lachen. Und dann umfing mich die Dunkelheit wirklich. Der Widerschein flackernden Feuers an der Zeltwand und Stimmen weckten mich auf. Ich brauchte einige Augenblicke, um nicht nur in die Wirklichkeit zurückzufinden, sondern auch um zu erkennen, daß unter diesen Stimmen die van Hornes war. Ich kroch durch den Eingang hinaus und fand es unglaublich, wie steif ich war und wie weh mir alles tat. Sie saßen zu dritt am Feuer und tranken Kaffee. Nachita bemerkte mich als erster, und dann wandten sich auch van Horne und Victoria mir zu. Sie war augenblicks bei mir und half mir auf. »Du solltest dich doch ausruhen.« Es war noch immer dieser leicht hölzerne Klang in ihrer Sprechweise. »Wie geht es dir?« fragte van Horne. »Wie einem sehr alten Köter.« »Das war aber auch eine Vorstellung! Du weißt dir wirklich zu helfen.« Meine Enfield lag in ihrem Halfter neben ihm. Er hob sie auf. »Ich habe gesehen, daß du sie in deinem Zimmer gelassen hast. Ich dachte mir, du könntest sie vielleicht brauchen.« Das war natürlich nicht der einzige Grund, warum er hier war, bestimmt nicht. -214-
»Wo ist Janos?« »Ach, er hat beschlossen, mal früh schlafen zu gehen.« Mein Kopf war noch immer wie ein Wasserschaff, und irgendwie schien er nicht mir zu gehören. Es fiel mir schwer, klar zu denken. Und das konnte nicht so bleiben. »Ich muß wieder einen klaren Kopf kriegen«, verkündete ich. »Und dafür gibt es nur ein einziges schnelles Mittel. Ich bin gleich wieder da.« Es war Vollmond, die Baumwollsträucher waren ein Labyrinth von Licht und Schatten, und weiter hinten glitzerte der über die Felsen herabstürzende Wasserfall silbern im Mondschein. Ich zog mich aus und blieb ein paar Augenblicke so stehen, um den kalten Nachtwind auf meinem bloßen Körper zu spüren. Ich betastete behutsam meine Wunden und alle Stellen, an denen ich etwas abbekommen hatte. Ich stolperte über den groben Uferkies zum Wasser und watete hinein. Es war so kalt, daß einem das Mark in den Knochen gefror, jedenfalls schien es so. Ich unterdrückte einen Aufschrei und schwamm ans andere Ufer und wieder zurück. Das erfrischte und brachte mich wieder zu Kräften. Ich blieb eine Weile unter dem Wasserfall stehen, denn der Teich war nirgends, so weit ich es beurteilen konnte, tiefer als einen guten Meter. Mehr als zehn Sekunden dieser eisigen Flut konnte ich nicht aushalten. Als ich dann wieder zum Kiesstrand watete, erwartete mich dort bereits van Horne mit der Enfield in der Hand. »Du hast sie schon wieder vergessen.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist es, was Frauen mit einem Mann anstellen, Keogh. Der Anfang vom Ende.« »Völlig richtig«, stimmte ich zu und fing die Decke auf, die er mir zuwarf. »Aber was für ein Ende!« Er lächelte. »Also wenigstens hast du dein Gehirn wieder -215-
eingesammelt, wie? Dein Glück. Versuchst du eigentlich oft, Selbstmord zu begehen?« Ich zuckte mit den Achseln und rubbelte mich ab. »Du weißt doch, wie das ist.« Er zündete sich gerade eines seiner Zigarillos an und hielt nun damit inne. Das Streichholz flackerte in seiner Hand. »Da bin ich nicht ganz sicher.« »Ganz einfach, ich habe etwas dagegen, wenn man sich an mich drängt«, sagte ich. »Mich an die Wand drückt. Das bringt das Schlimmste in mir zum Vorschein. Und Leute wie dieser Jurado scheinen es immer wieder darauf anzulegen. Hat vermutlich etwas mit meiner Größe zu tun.« »Ist mir auch schon aufgefallen«, antwortete er mit einer Spur Ironie in der Stimme. Ich zog mein Hemd an und fand in der Tasche ein zerkrumpeltes Paket Artistas. »Warum bist du gekommen?« Er schien überrascht. »Na, wegen morgen natürlich. Was denn sonst?« »Du hast noch immer die Absicht, das zu machen, diesen Prozessionsquatsch?« »Ich werde, wie ich es angekündigt habe, um halb zehn vor der Kirche stehen, bereit, loszumarschieren. Und de la Plata wird auch da sein. Um mich davon abzuhalten.« »Und zwar mit mindestens einem Dutzend Leuten an seiner Seite.« »Und direkt in eine Falle tappend. Sieh her, ich zeige es dir.« Er suchte sich ein Stück Holz und zeichnete einen groben Plan in ein Stück feuchten Ufersandes. »Ich bin abmarschbereit vor der Veranda. Die Figur habe ich auf einem Handkarren, den ich mir von Moreno ausgeborgt habe. Und dabei liegen auch die Thompson und zwei oder drei Mills-Bomben.« Seltsam, was uns unser Gedächtnis zuweilen für Streiche -216-
spielt. Für einen Augenblick schien dies eine von Hunderten Unternehmungen ähnlicher Art zu sein, die ich im Laufe langer und dunkler Jahre geplant und ausgeführt hatte. »Was ist mit Janos?« »Auf dem Kirchturm, wie gehabt. Mit der anderen Thompson. Und du bist auf der anderen Seite des Platzes.« Er zeichnete die Stelle an. »Dort ist ein verfallener Stall, den schon lange niemand mehr benützt. Ich war heute abend drin und habe die Winchester und drei Mills-Bomben unter einem alten Sack in der rechten Ecke neben dem Tennentor deponiert.« »Und wie ist das Schußfeld?« »Könnte nicht besser sein. Es sind vierzig Meter vom Stall bis zur Kirche. Ich habe die Entfernung abgeschritten. Aus dieser Entfernung kannst du von dem Tennentor aus dein Ziel gar nicht verfehlen. Sie reiten direkt ins Kreuzfeuer.« Ich dachte einen Moment darüber nach, konnte aber keinen Mangel oder Fehler an dem Plan erkennen, abgesehen einmal von dem üblichen: daß man sich in diesem Leben niemals ganz auf etwas verlassen kann. Mit anderen Worten, daß praktisch immer irgend etwas Unvorhergesehenes passieren kann. »Da ist ein Fehler«, gab ich zu bedenken. »Ich muß genau in deine Richtung schießen. Ich hoffe, du hast das bedacht.« »Junge, ich werde so schnell in der Vorhalle sein, daß du dich fragen wirst, ob ich überhaupt jemals draußen war.« Na wunderbar, wenn er alles so leichtnahm. Ich sagte: »Es ist komisch, aber Janos und ich haben uns in der Kirche immerhin einige Sorgen gemacht, als du de la Plata deinen Köder hingeworfen hast. Wir fanden, du spieltest deine Rolle ein bißchen sehr ernst.« Er schien echt erstaunt zu sein. Dann lachte er rauh. »Aber sicher nehme ich es ernst, Keogh. Ernst für dreiundfünfzigtausend Dollar.« -217-
Darauf hätte ich ihn gern noch etwas festgenagelt, denn irgendwie tat er diese Sache zu leichtfertig ab. Doch Nachita tauchte wie eine Art grauer Geist aus den Baumwollsträuchern auf. Ich spürte, daß etwas los war, obwohl er seine übliche Teilnahmslosigkeit an den Tag legte. »Was ist?« »Wir haben Besuch, Señor. Für Sie, Pater«, ergänzte er, sich an van Horne wendend. »Die Señorita de la Plata.« Die Nacht der Überraschungen. Sie stand knapp außerhalb des Feuerscheins und hielt ihr Pferd am Zügel. Von ihrem Gesicht war nicht viel zu sehen, aber sie schien ruhig zu sein, als sie zu sprechen begann. »Vergeben Sie mir, Pater, aber ich mußte mit Ihnen sprechen. Ich war bei Señor Janos im Hotel, und er meinte, ich würde Sie vielleicht hier finden.« Van Horne nahm ihr die Zügel aus der Hand und übergab sie an Nachita. »Was kann ich für Sie tun?« Ihre Stimme war immer noch ruhig, als sie sagte: »Pater, ich kenne meinen Bruder sehr gut. Ich kann Ihnen versichern, er und seine Leute werden zu der Zeit, die Sie genannt haben, morgen früh vor der Kirche sein. Und wenn er Sie dort vorfindet, wird er Sie töten. Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben.« Van Horne nahm ihre Hände in die seinen und wollte eben zu einer Antwort ansetzen, als sie völlig die Fassung verlor und sich ihm wie hilfesuchend nahezu in die Arme warf. »Helfen Sie mir, Pater. Im Namen der Barmherzigkeit, helfen Sie mir. Ich kann diese fürchterliche Last nicht länger allein tragen.« Er blickte uns alle drei über die Schulter an, zögernd und unschlüssig, und führte sie dann zum Zelt, in dem sie verschwanden. -218-
Eine ziemliche Weile lang war ihr bitteres, verzweifeltes Weinen zu hören, das dann endlich allmählich verstummte. Es folgte das leise Gemurmel von Stimmen. Die Situation war irgendwie peinlich, es war, als lausche man an der Wand einem höchst privaten Gespräch. Wir saßen um das Feuer herum, ohne zu sprechen, und tranken den bitteren Kaffee, den uns Victoria gekocht hatte. Es dauerte wohl mindestens eine halbe Stunde, bis der Zelteingang wieder aufgeklappt wurde und sie herauskamen, Chela de la Plata als erste. Sie vermied es ziemlich auffällig, mich anzusehen und eilte zu ihrem Pferd, das Nachita an einem Baum angebunden hatte. Van Horne lief ihr nach, und sie wandte sich noch einmal zu ihm um und bat ihn, sie zu segnen. Er tat es ohne das kleinste Zögern, und seine Worte, als er das Kreuz schlug, waren in der Nachtluft laut und deutlich zu vernehmen: »Benedicte te Omnipotens Deus, Pater et Filius, et Spiritus Sanctus.« Sie stieg aufs Pferd und galoppierte davon. Er blieb stehen und sah ihr nach. Ich ging zu ihm, aber ehe ich den Mund aufmachen konnte, erklärte er: »Ich erwarte dich und Janos also spätestens um neun auf euren Positionen, für alle Fälle. Es ist nicht nötig, daß wir uns vorher noch einmal treffen.« Und er wollte weggehen. Ich packte ihn am Ärmel. »Augenblick mal. Was hat dies alles zu bedeuten?« »Du hast doch gehört, sie kam, um mich zu warnen.« »Nicht das, ich meine den Rest.« »Es lag ihr eine Menge auf der Seele. Sie hatte schon seit langer Zeit mit keinem Priester mehr gesprochen, das ist alles.« »Du willst mir doch nicht erzählen«, empörte ich mich, »daß du ihr die Beichte abgenommen hast?« Er wandte sich mir zu, die Augen traten hervor, und er faßte -219-
mich am Rockaufschlag: »Findest du das sehr lustig, Keogh? Was sollte ich wohl tun? Ablehnen?« Wenn ich jemals eine Seele in Bedrängnis und Not gesehen habe, dann in diesem Augenblick. Er stieß mich weg und knurrte: »Und was ändert das schon? Morgen früh um fünf nach halb zehn können wir alle miteinander tot sein.« Ich sah ihm nach, als er wegging. Er war im Mondschein klar erkennbar. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich einige Augenblicke lang so niedergeschlagen wie noch nie. Nein, das stimmt nicht genau. Dieses Gefühl hatte ich schon einmal erlebt – nur einmal: auf dem Platz in Drumdoon, im Regen, als mein Bruder tot vor mir lag. Ich ging zurück und legte mich im Zelt auf die Decken. Ich starrte in die Dunkelheit. Nach einer Weile kam Victoria und brachte mir etwas Warmes zu trinken. Es war offensichtlich irgendeine Art Schlafmittel darin, denn kaum einige Minuten, nachdem ich getrunken hatte, war ich eingeschlafen.
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13 Ich tauchte durch das Trommeln von Regen auf die Zeltleinwand aus tiefstem Schlaf auf. Das Licht durch das alte Zelt fiel nur gedämpft und grau herein. Ich blieb noch eine Weile so liegen und starrte zum Zeltmast. Ich fühlte mich erholt und wohl. Bis ich versuchte, meinen Arm auszustrecken und es nicht ging. Einen Moment lang war mir, als schliefe ich noch und träumte. Aber ich war tatsächlich hellwach und erkannte, als ich wild um mich zu schlagen versuchte, daß ich an Händen und Füßen angebunden war. Ich versuchte zu schreien, aber erst nach einer Weile wurde der Zelteingang aufgeklappt und Nachita kam gebückt herein. Er beugte sich mit ernstem Gesicht über mich. »Wo ist sie?« fragte ich. »Holzsammeln am Wasser, Señor.« Ich versuchte mich aufzusetzen, aber er schüttelte den Kopf. »Sie werden heute früh nicht nach Mojada gehen. Sie will es nicht.« Ich versuchte ruhig zu bleiben. »Wie spät ist es?« »Kurz vor neun, Señor.« »Um Gottes willen, Nachita, du mußt mich losbinden.« Es war natürlich absolut sinnlos, ihn darum zu bitten. Er stand einfach auf und ging. Und danach blieb mir nicht viel zu tun übrig, außer allenfalls die Decken wegzuziehen, was nicht schwierig war, denn meine Hände waren vorne zusammengebunden, wahrscheinlich, weil sie mir so wenig wie möglich hatte weh tun wollen. -221-
Ich warf mich durch den Zelteingang mit dem Kopf voraus und fiel auf das Gesicht. Sie hatten eine alte Zeltbahn auf einige Pfähle über das Feuer gespannt. Regenwasser rann in einem ständigen Strom von ihr herab. Dahinter fiel von den Bergen ein starker Frühnebel nieder, der die Sicht erheblich verminderte. Ich versuchte mich aufzusetzen. Nachita kam vom Feuer herbei und stützte mich am Ellbogen. Den Rücken drückte er mir gegen den Sattel. Im gleichen Moment erschien Victoria unter den Bäumen mit einem Bündel Holz in den Armen. Sie trug einen Umhang aus einer alten Decke und einen Strohsombrero, um sich gegen den Regen zu schützen. »Was, zum Teufel, versuchst du zu beweisen?« fuhr ich sie an. Sie legte das Holz auf den Boden, kniete sich hin und beschäftigte sich mit dem Feuer, ohne mich einer Antwort zu würdigen. »Du hast doch deine Sprache wiedergefunden gestern abend, oder nicht?« Ich beugte mich vor. »Also antworte mir gefälligst, du Miststück!« Nachita hinderte mich mit der Hand auf meinem Mund, weiterzusprechen. Aber sie war genauso schnell zwischen uns und schob ihn weg. Sie sprach langsam und sorgfältig, wieder mit dieser etwas fernen Stimme. »Dein Freund stirbt heute morgen, so viel ist sicher.« »Aber ich nicht, meinst du das?« Nachita stand schon wieder auf den Beinen und hatte sein Gewehr im Anschlag. Aber er kam zu spät. Schlagartig kamen auf einmal Reiter durch den Fluß und spritzten das Wasser auf, andere kamen unter den Bäumen hervor. Sie umstellten das Lager im Nu. Es waren mindestens dreißig. Zwei oder drei Gesichter erkannte ich. Daß Jurado nicht dabei war, fiel mir auf. Dann teilte sich die Reihe, und Tomas de la Plata kam durch die offene Gasse geritten. -222-
Er war wie üblich gekleidet – nur hatte er heute einen langen Kavallerieoffiziersumhang, der vorne offen war, übergeworfen. Vermutlich, um so, wenn es nötig wurde, schneller seine Waffe ziehen zu können. Er blickte einen Augenblick stirnrunzelnd auf mich herunter und stieg dann ab. Er stellte sich steif vor mich hin. »Aha, also ein sich drückender Gefolgsmann, wie, Señor Keogh? Das entspricht aber nicht dem, was man mir von Ihnen berichtet hat.« »Sie glaubt, daß ich mich neben den Priester hinstelle und den Kopf weggeschossen bekomme, wenn sie mich nicht hier festhält«, erklärte ich. »Natürlich.« Er sah Victoria an, dann Nachita und dann wieder mich. »Das ist gar nicht so falsch. Gringos halten eben zusammen, eine unleugbare Tatsache.« »Na schön, also ich will den Mann nicht sterben sehen. Er ist amerikanischer Bürger, erinnern Sie sich? Bringen Sie ihn um, und Sie können damit leicht eine Menge politischer Schwierigkeiten auslösen, an denen Sie dann nicht wenig zu knabbern haben werden.« »Es ist seine Entscheidung, nicht meine.« »Dann lassen Sie mich frei, und ich werde ihn umstimmen.« »Das will ich aber nicht.« Er schien überrascht. »Warum sollte ich denn? Wenn er den Märtyrer spielen will, will ich ihm den Gefallen gerne tun.« Ich mußte meine Rolle noch weiterspielen und so reagieren, wie er wohl erwartete, daß jemand wie der, der zu sein ich vorgab, reagiert. »Aber warum? Was könnten Sie davon haben?« Er winkte mit der Hand alle anderen ein Stück zurück und beugte sich dann zu mir vor. »Haben Sie sich jemals überlegt, daß, als Christus in Jerusalem einzog, die Behörden gar nicht -223-
anders handeln konnten, als sie handelten? Daß sie gar keine andere Wahl hatten? Es gab doch überhaupt keine Möglichkeit, daß die beiden nebeneinander existieren konnten. Sie waren natürliche Gegensätze und schlossen einander gegenseitig aus.« Dies alles sagte er im Tonfall größter Konzentration und mit völlig ernstem Gesicht. Mir war vom ersten Augenblick an klargewesen, daß da ein Teil Geisteskrankheit in diesem Mann war. Jetzt war ich dessen völlig sicher. »Eine interessante Parallele«, stimmte ich zu. »Und von bemerkenswerter Übereinstimmung. Wie kann ein Mann wie ich in Pater van Hornes Welt existieren? Oder umgekehrt? Das entbehrt jeder Realität und wäre also unmöglich. Denn ich existiere ja wirklich und wahrhaftig, wie alle Leute wissen. Und das bedeutet, daß Ihr Priester eigentlich bereits tot sein müßte.« Ich benötigte diese sophistische Logik nicht, um in meinem Eindruck nur bestärkt zu werden, daß dies ein Mann war, der bereits jenseits der Realität lebte. Und in seinen Augen konnte ich, als er jetzt aufstand, auch nichts anderes mehr als Irrsinn entdecken. Er holte unter seinem Umhang eine goldene Sprungdeckeluhr hervor und klappte sie auf. »Und jetzt entschuldigen Sie mich, aber ich habe in genau zwölf Minuten eine Verabredung, und ich möchte pünktlich sein.« Er schwang sich wieder in den Sattel und trieb sein Pferd an, das durch das Feuer trampelte und den Kaffeetopf umwarf. »Tut mir leid, mein Freund, Sie so zurücklassen zu müssen. Aber jemand hätte Sie warnen sollen, daß Sie mit dem Feuer spielen. Wir wollen hoffen, daß diese kleine Barbarin hier ihr Messer im Gürtel stecken läßt.« Er verschwand im Nebel, seine Männer folgten ihm, und ich bat Victoria verzweifelt: »Laß mich jetzt frei, ich bitte dich, solange noch Zeit ist.« -224-
Sie wandte sich einfach ab, also blieb mir nichts anderes mehr übrig. Ich warf mich auf den Knien nach vorne und hielt meine gebundenen Hände in die herumliegenden Glutreste des Feuers. Es war ein unglaublicher Schmerz, und ich konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, aber sie war schon wieder bei mir und zerrte mich zurück zum Sattel. Ich schrie sie an: »Du hast nichts zu gewinnen, nur alles zu verlieren. Glaubst du denn wirklich, wir könnten nach einem solchen Vertrauensbruch jemals noch zusammenleben? Daß ich dich dann noch ansehen könnte, ohne mich an dies zu erinnern?« Ihre großen dunklen Augen weiteten sich, und ich wußte, daß sie meine Worte tief getroffen hatten. Sie schwankte, und in ihren Augen stand echte Pein. Ich streckte ihr meine Hände entgegen: »Jede Sekunde von jetzt an ist zu spät.« Es funktionierte. Ihre Hand fuhr in ihren Deckenumhang und brachte ein scharfes Messer zum Vorschein, das mit einem einzigen Schnitt die Fesseln trennte. Während sie das gleiche an meinen Fußfesseln tat, kam Nachita mit meiner Enfield aus dem Zelt und übergab sie mir. Ich zog mir den Halfter über und sagte: »Durch das Haupttor wird es zu spät. Gibt es noch einen anderen Weg?« »Die Mauer auf dem Hügel bei der Kirche ist schon ziemlich eingefallen, Señor. Leicht zu ersteigen. Ich kann es Ihnen zeigen.« Er sah fragend zu Victoria, während er dies sagte, und sie nickte. Ich faßte sie an der Hand, als sie sich abwandte, zog sie an mich und lächelte. »Ob du’s glaubst oder nicht, aber ich habe die Absicht, wiederzukommen.« Doch sie glaubte nicht an diese Möglichkeit, keinen Augenblick. Es war unmißverständlich in ihren Augen zu lesen. Um ehrlich zu sein, war ich selbst meiner Sache keineswegs so sicher, wenn ich die Lage bedachte. -225-
Ich schwang mich auf das nächstbeste Pferd, es hatte lediglich ein Zaumseil, an dem ich mich halten konnte. Ich rammte ihm hart die Fersen in die Weichen und galoppierte los. Ich trieb das Tier mit Fausthieben noch stärker an. Nachita war im Nu neben mir und ritt dann vor mir, um mir den Weg zu zeigen, wie immer mit seinem alten Gewehr in der Hand. Wir preschten vorwärts, so schnell es ging, über rauhes, rissiges Land, bis ich das Herz bis in der Kehle spürte,; bogen dann in ein tiefes trockenes Flußbett, in dem nur ein paar Zentimeter Regenwasser standen, erklommen auf der anderen Seite die steile Böschung und kamen keine zwanzig oder dreißig Meter von der Mauer entfernt auf der Höhe hinter der Kirche heraus. Ich sah sofort, was er gemeint hatte, denn streckenweise war die Lehmziegelmauer hier fast völlig zerfallen und höchstens noch gute drei Meter hoch. Ich drängte mein Pferd direkt an die Mauer und stieg auf seinen Rücken. Nachita trieb sein Pferd dicht neben meines, damit ich ruhiger stehen konnte. Wie immer, lag das Problem in meiner Größe. Es fehlten, damit ich hinaufkäme, dreißig Zentimeter. Aber das glich ich mit einem schnellen Sprung aus, und die Lücken in der Lehmziegelwand boten meinen Füßen Halt. Ich gab Nachita ein Zeichen und sprang auf der anderen Seite der Mauer in einen kleinen Hof. Gegenüber war eine Tür. Sie erwies sich zum Glück als unverschlossen. Als ich sie öffnete, befand ich mich in einer engen Gasse. Sie mündete auf den Platz, der kaum ein paar Schritte entfernt war. Als ich vorsichtig um die Ecke spähte, fand ich mich etwa vierzig Meter von der Kirche entfernt. Der Handkarren, den van Horne erwähnt hatte, stand ein paar Meter vor der Veranda bereit und war mit einer Art Tuch oder Bezug in hellen Farben bedeckt. Darauf stand in ihrer unvergleichlichen Pracht die Figur des heiligen Martin de Porres. Von van Horne war weit und breit nichts zu sehen, und auch Janos hielt sich auf dem -226-
Kirchturm perfekt außer Sicht, denn ich konnte keine Spur von ihm entdecken. Irgendwoher war vom Ort näher kommendes Pferdegetrappel auf Kopfsteinpflaster zu hören, und genau jetzt erkannte ich, daß ich mich hier, wo ich war, genau in dem Stall befand, von dem van Horne gesprochen hatte und in dem ich auch planmäßig sein sollte. Eine Steintreppe führte von der Straße her zu einer Holztür. Als ich sie öffnete, stand das Tennentor, von dem van Horne gesprochen hatte, weit offen, mit unbehindertem Blick auf die Kirche und ihre Vorhalle. Dort sah ich ihn stehen. Vermutlich stellte er sich vor dem Regen unter. Ich fand auch den Sack in der Ecke, exakt nach seiner Beschreibung, und darunter die Winchester und die MillsBomben, alles griffbereit, wie ich befriedigt feststellte. Ich bin auch wirklich in letzter Minute aufgetaucht, denn schon als ich mich wieder dem Tennentor zuwandte, erschienen von links de la Platas Leute im dichten Pulk, hielten an und stellten sich in lockerer Linie vor der Kirchenveranda auf. Es hätte nicht perfekter sein können. Ich sah in diesem letzten Augenblick viele Dinge sehr klar und bewußt. Tomas de la Plata höchstpersönlich in seinem Feldherrnumhang. Van Horne, wie er, in vollen Regalien, samt einem prächtigen goldenen Meßgewand – vermutlich zur Feier des Anlasses – aus dem Eingang der Vorhalle trat. Ich nahm eine der Handgranaten, zog mit den Zähnen den Abzug und begann zu zählen, um sie zu werfen, als im gleichen Moment ein Reiter über den Platz herangejagt kam und sein Pferd so scharf zwischen van Horne und Tomas de la Plata zum Stehen brachte, daß es auf den nassen Pflastersteinen ausglitt und strauchelte. Es war Chela de la Plata, die einen Augenblick zu spät kam, denn van Horne hatte inzwischen bereits die Thompson hinter -227-
seinem Rücken hervorgeholt und losgefeuert, und vom Kirchturm kam eine Handgranate heruntergesegelt, um genau am richtigen Fleck zu explodieren – dort, wo sie ein halbes Dutzend Männer samt ihren Pferden erledigte. Und damit die Sache komplett war, also warf ich die meine auch noch hinterher, mit ähnlichem Resultat, denn die Frau war tot. Es war nicht zu vermeiden gewesen. Ich erhaschte einen Blick auf sie. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Ihr Bruder neben ihr versuchte noch, sie im Sattel zu halten, aber dann sanken sie beide zu Boden, samt ihren Pferden, und von oben lehnte sich Janos aus dem Fenster des Turms und hielt die Thompson und mähte mit ihr von links nach rechts und von rechts nach links alles nieder. Das war ein schwerer Fehler, denn sie schossen inzwischen zurück, und er hörte plötzlich auf und lag über dem Fensterbrett, sein Kopf hing nach unten. Ganz langsam, von seinem immensen Gewicht gezogen, rutschte der schwere Körper durch die Luke und folgte der Thompson auf das Pflaster sieben Meter in die Tiefe. Ich hatte während dieser ganzen Zeit pausenlos gefeuert, wobei ich mir jedes Ziel sorgfältig aussuchte. Ich hatte mit absoluter Sicherheit vier von ihnen erwischt. Trotz alledem war es doch noch mehreren Reitern gelungen, unter mir durch die Gasse zu meiner Rechten zu entkommen. Der ganze Platz rauchte und war voller schreiender Sterbender und toter Pferde. Eine ganze Weile war es unmöglich, klar zu sehen. Als eine plötzliche Unruhe entstand, riß ich bereits die Winchester an die Schulter, ließ sie aber wieder sinken, weil ich eine Gruppe reiterloser Pferde erkannte, die durchgingen. Sie kamen aus der Rauchwand gerast und drängten sich in die Gasse. Zu spät erkannte ich, daß über einem in der Mitte ein Bein hing. Und ich erkannte daran den flatternden Kavallerieumhang. -228-
Ich fing einen schnellen Blick von Tomas de la Plata auf, der zu mir heraufstarrte. Auf seinem Gesicht klebte Blut. Aber dann war er samt den Pferden auch schon in der Gasse und verschwunden. Ein Schuß fetzte einen Span von dem Türpfosten neben meinem Kopf. Jemand, der da unten noch immer aktiv war, hatte ihn abgefeuert. Ich schoß auf die Stelle, an der das Mündungsfeuer gewesen war, und ein Aufschrei war das Ergebnis. Es war einen Augenblick still, dann knatterte noch einmal eine Thompson-Garbe, kurz darauf trat wieder Stille ein. Nach einer Weile rief van Horne: »Keogh! Bist du noch da? Es ist alles vorbei.« Ich lud auf dem Weg nach unten die Winchester neu durch und ging hinaus zu ihm. Ich blieb nur stehen, um einem Pferd, das sich auf die Seite rollte und dessen Innereien heraushingen, den Gnadenschuß zu geben. Van Horne erschien aus dem Rauch, dem Qualm und dem Nebel, mit der Thompson im Anschlag und noch immer im vollen Ornat mit diesem herrlichen Goldmeßgewand. »Janos ist tot«, sagte er. »Und ich kann de la Plata nicht finden.« »Er ist entkommen«, erklärte ich ihm. »Einige von ihnen sind durch die Gasse auf meiner Seite entkommen. Ich kann nur vermuten, daß diese nahe dem Haupttor auf die Straße mündet. Die andere Thompson wäre hier bei mir nützlicher gewesen.« »Sinnlos, Dingen nachzuweinen, die nicht mehr zu ändern sind«, wies er mich zurecht. »Ich dachte, wir hätten ihn. Aber es war nur sein Pferd. Daß seine Schwester noch im letzten Moment ankam, konnte ich nicht voraussehen.« Seine Stimme war ziemlich rauh, und es schien ihm mit einem Mal schwerzufallen, zu sprechen, denn er drückte mir plötzlich die Thompson in die Hand, drehte sich um und ließ mich stehen. Ich lief ihm nach einiger Zeit nach und sah, wie er das Goldgewand ablegte und über die Leiche der Frau breitete. Dann betrat er die Kirche. -229-
Ich holte die andere Thompson, die Janos aus den Händen gefallen war. Ich prüfte, ob sie noch in Ordnung war, und ging dann die Hauptstraße hinunter, eine Thompson in jeder Hand. Ich traf vor dem Hotel auf Moreno und eine Handvoll Männer. Sie waren zu Tode erschrocken. Er eilte auf mich zu. »Ist Pater van Horne wohlauf?« Ich nickte. »Wie viele sind durchs Tor entkommen? Haben Sie es gesehen?« »Sechs, Señor, und Don Tomas war unter ihnen. Er ritt wie vom Teufel gejagt, das Gesicht voller Blut.« »Seine Schwester wollte alles verhindern«, erklärte ich. »Und statt dessen wurde sie getötet.« »Heilige Maria.« Er bekreuzigte sich, und andere machten es ihm nach. »Sie können mich beim Wort nehmen, Señor. Dafür werden wir hier alle sterben müssen.« »Nicht, wenn ihr noch einen Funken Mut habt. Vor der Kirche könnt ihr euch Waffen und soviel Munition, wie ihr nur wollt, einsammeln. Ihr müßt sie nur den Toten abnehmen. Inzwischen würde ich, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, einige Leute als Wachen ans Tor schicken. Sie können diese Maschinenpistolen hier haben. Nicht, daß ich glaube, daß Sie sie brauchen werden, aber Vorsicht zahlt sich immer aus. Auf der alten rancheria in Huanca wartet eine Kavallerieabteilung unter dem Kommando von Leutnant Cordona. Er wird Ihnen im Galopp zu Hilfe kommen, wenn Sie ihm eine Nachricht schicken.« Moreno atmete tief ein und nickte. »Sie haben recht, Señor, mit Angst richtet man in einer solchen Situation nichts aus. Mindestens zwei Dutzend Leute sind in blinder Panik ins offene Land hinausgerannt, als die Schießerei begann. Aber Sie müssen verstehen, wir haben in dieser Gegend so manches Schreckliche erlebt im Laufe der Jahre. Ganze Orte sind entvölkert worden, Frauen und Kinder. Man konnte glauben, Gott habe sich von Mexiko abgewandt.« -230-
Es gelang mir, ihn an dieser Stelle zu unterbrechen. Ich zeigte den beiden Männern, die er ausgewählt hatte, wie man mit den Thompson-MGs schießt, und überließ sie sich selbst. Ich hatte die Bar für mich allein, fand eine Flasche Scotch und trank einen riesigen Schluck. Lieber Gott, welch ein Reinfall. Das ganze Gemetzel, das Mädchen tot und Tomas de la Plata nach wie vor in Freiheit. Auf einmal hatte ich bis obenhin genug von allem, ich hatte genug und war zornig auf die ganze Welt, am meisten aber auf van Horne. Ich ging zurück, die Straße hinauf zum Platz vor der Kirche, wo Morenos Leute bereits die Toten durchsuchten, und betrat die Kirche. Van Horne saß auf einer Bank ganz vorne beim Altar. Er trug noch immer sein Chorhemd. Er wandte nicht einmal den Kopf, als ich durch den Mittelgang nach vorne kam. Ich blieb neben ihm stehen, und er sagte: »Sag es nicht, Keogh. Ich weiß es schon.« Wie ich so dastand und auf ihn hinuntersah, verflog aller Zorn und alle Verzweiflung. Die Wahrheit kam am Ende ans Licht, und, ihr ins Auge zu sehen, brachte die Erleichterung von selbst. »Nein, du weißt es nicht«, widersprach ich. »Es war mein Fehler genauso wie deiner. Bei allem, was passierte. Und wir können immer den guten Colonel Bonilla und Tomas de la Plata dafür mitverantwortlich machen.« »Kollektivschuld?« fragte er ernst. »Das ist auch nicht die wahre Lösung. Am Ende muß man immer seine persönliche Verantwortung für seine eigenen Taten akzeptieren.« »Das klingt wie aus irgendeiner Vorlesung deines Seminars«, bemerkte ich. »Schon möglich.« Er konnte die Unterhaltung nicht weiter fortsetzen, denn Moreno erschien in der Kirchentür und rief. »Kommen Sie -231-
schnell, Pater, schnell!« Als wir die Veranda erreichten, fand ich dort Nachita auf dem Boden, an die Wand gelehnt. Er war halb bewußtlos, aus einer Wunde an seiner Stirn lief Blut. Ich kniete mich zu ihm nieder, und er griff nach meiner Jacke und hielt sich daran fest. »Er hat mich geschickt, Señor. Der Böse selbst hat mich geschickt.« Ich wußte sofort, was geschehen war, ich sah alles vor mir, in einem einzigen Moment der Wahrheit. Aber die Dinge mußten ihren logischen Ablauf behalten. »Er hat Victoria?« Er nickte. »Und zweiundzwanzig andere Menschen, Señor. Bewohner von hier. Darunter auch Kinder.« Alle, die in Panik ins offene Feld hinausgerannt waren. »Was verlangt er von uns?« fragte Oliver van Horne aufgebracht. »Sie, Pater«, stöhnte Nachita. »Nur Sie. Niemand sonst. Er gibt Ihnen zwei Stunden Zeit.«
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14 In der Kirche, ohne Anwesenheit der anderen, teilte uns Nachita die Einzelheiten mit. Zwar war es eine kleine Genugtuung, daß Tomas de la Plata nur noch fünf Leute geblieben waren, aber für seinen Zweck reichten sie völlig aus. Am anderen Ufer des Flußlaufes war eine verlassene casa, von der nur noch die Mauern standen. Dort hielt er seine Geiseln gefangen. Aber beim kleinsten Anzeichen eines Angriffs würden sie sofort getötet. Die Wirkung dieser Worte auf van Horne war beträchtlich. Das Fleisch auf seinen Knochen schien sich verflüchtigt zu haben, falls dergleichen möglich wäre. Das Gesicht selbst wirkte eingefallen. Er sah alt und müde aus und jenseits von allem, was jemals existiert hatte. Er wandte sich ohne ein Wort ab und ging in die Sakristei. Ich ließ Nachita stehen und folgte ihm. Er hielt eine Whiskyflasche in der einen Hand und ein Glas in der anderen. Seine Hand zitterte deutlich, als er sich einschenkte. Er goß den Whisky in einem Zug hinunter und gleich darauf einen zweiten. »Verdammt noch mal, Keogh, was tun wir jetzt?« »Ich weiß nicht«, entgegnete ich. »Das bedarf einiger Überlegung.« Seine Miene hellte sich plötzlich auf. Vermutlich eine erste rasche Wirkung des Alkohols. »Wir könnten es probieren. Du, ich und der Indio. Er kommt bestimmt mit. Wir könnten sie umzingeln, Keogh. Er hat bekanntlich nur noch fünf Leute.« »Wir kämen doch gar nicht nahe genug heran«, protestierte ich. »Ein Schuß würde genügen, und er würde sofort die meisten Geiseln umbringen.« -233-
Er wandte sich mir zornig zu. »Was, zur Hölle, macht dich da so sicher? Du hast noch nicht einmal die Lage bedacht. Dieser Regen ist eine perfekte Tarnung.« Aber das war Unsinn, und wir wußten es beide. Ich sagte: »Komm, gehen wir zum Tor und sehen uns dort einmal um.« Er entledigte sich seines Chorhemds, griff sich seinen Hut, und wir durchschritten die Kirche. Die Überraschung kam, als ich die Tür zur Veranda öffnete. Schlechte Neuigkeiten verbreiten sich rascher als Pest und Cholera. Ich glaube, buchstäblich jede lebende Seele des Ortes war hier im strömenden Regen versammelt. Dunkle, furchtsame Gesichter. Kein Laut. Kein offenes Klagen. Eine entmutigende Akzeptanz dieser ganzen verdammten Ereignisse als unausweichlichen Teil des Lebens. Einen Augenblick lang standen sie so, schien es, einander in Konfrontation gegenüber: van Horne und die Menge. Dann geschah etwas Seltsames von unendlicher Schönheit, und dabei doch auf seine Weise schrecklich. Eine alte Frau und ein junges Mädchen standen nebeneinander vorne in der Menge. Das Mädchen hielt ein in ein Tuch gewickeltes Bündel. Ihre dünne Bluse war völlig durchnäßt und klebte an ihren Brüsten. Ich erinnere mich daran sehr deutlich, aber auch an die große Traurigkeit in ihren Augen, als die alte Frau sie nachdrücklich nach vorne schob. Das Mädchen reichte van Horne das Bündel, der es ganz instinktiv entgegennahm. Sie sagte schlicht: »Kerzen, Pater. Für die Toten.« Sie fiel vor ihm auf die Knie, und fast alle anderen folgten ihrem Beispiel. Welch ein Bild! Das kniende Volk, der strömende Regen, der auf die Erde rauschte, und van Horne, wie er mit dem Bündel in der Hand auf das Mädchen herunterblickte! Er half ihr auf, und als er sprach, war seine Stimme ruhig und -234-
sanft, und sein Gesicht erleuchtete ein wunderbares Lächeln. »Komm herein, Kind, bleib nicht hier im Regen. Ihr alle, kommt herein!« Es war, als sei ich für ihn überhaupt nicht mehr vorhanden, denn er drehte sich um und ging zurück in die Kirche, ohne für mich auch nur noch ein Wort zu haben. Ich trat beiseite, und Nachita, der an der Wand gestanden hatte, kam zu mir. Die meisten Leute hier waren vermutlich seit Jahren in keiner Kirche mehr gewesen, und doch betraten sie sie jetzt ganz ruhig und selbstverständlich und ohne Hast. Die Frauen bedeckten ihre Köpfe. »Was haben sie dort drinnen vor, Señor?« fragte Nachita. »Wollen sie um ein Wunder beten?« »Das nehme ich an.« Er schüttelte den Kopf. »Mir fehlt der Glaube an solche Dinge. Und Tomas de la Plata fehlt er ebenfalls.« Das entsprach ziemlich genau meinen eigenen Gedanken. Ich drehte mich um, und wir gingen zusammen durch den Ort zum Haupttor. Die Sicht reichte kaum weiter als fünfzig oder sechzig Meter, so stark regnete es. Das Tor war geschlossen und verriegelt. Ich stieg deshalb auf die Mauer, um von dort Ausschau zu halten. Doch es war absolut nichts zu sehen. Etwas später kam auch Nachita herauf. Er überreichte mir einen Regenponcho, den er sich irgendwo beschafft hatte, und einen Sombrero aus Palmblättern. Ich nahm beides, obgleich ich bereits völlig durchnäßt war, und starrte weiter auf das abweisende Land. »Können wir irgend etwas tun?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Das kleinste Anzeichen einer Attacke gegen ihn, und alle sterben.« -235-
Ich versuchte an Victoria und all die anderen in der alten casa jenseits des Flusses zu denken, aber es war mir unmöglich, selbst wenn ich mich auf Victoria allein konzentrieren wollte. Mir war kalt, es fröstelte mich bis ins Mark, und ich war unter dem alten Poncho triefnaß. Der Gurt meines Schulterhalfters rieb schmerzhaft. Irgendwie war dies alles wie eine Art Traum. Es war nicht wirklich wahr. Ich würde jeden Moment aufwachen, aber in welche Realität? Das war die Frage. »Wir können also nichts unternehmen?« fragte ich noch einmal. »Willst du das damit sagen?« »Da ist noch der Priester, Señor.« Ich ging einige Schritte weg von dem Wachtposten, der auf unserer Torseite stand. Nachita kam nach. »Er ist kein Priester«, gestand ich. »Kein wirklicher. Das weißt du doch.« »Das spielt keine Rolle, Señor. Er ist, was de la Plata in ihm sieht. Und ich werde nicht zusehen, wie meine Dame umgebracht wird.« »Aber er könnte sie alle ermorden«, erinnerte ich ihn. »Hast du auch das bedacht?« Durch den Regen kam der Knall eines Schusses, von irgendwo draußen im Dunst. Der Wachtposten auf unserer Seite feuerte in Panik eine Salve dagegen. Nachita gebot ihm Einhalt, indem er ihn am Arm faßte, und wir lauschten schweigend. »Hallo, ihr hinter der Mauer!« rief eine Stimme. »Nicht schießen!« Wir warteten. Aus dem Regenschleier kam eine Gestalt. Es war einer der Ortsbewohner. Seine Hände waren ihm vor dem Körper gebunden. Um seinen Hals lag ein Zaumseil. Dessen Ende hielt ein Reiter. Raul Jurado. »Señor Keogh«, rief er. »Don Tomas entbietet dem Pfaffen seine besten Grüße. Er hat Zeit bis halb eins. Und dies hier ist, -236-
um zu unterstreichen, daß es uns ernst ist.« Er ließ das Seil fallen. Der erbarmungswürdige Mann in der Schlinge rannte stolpernd los. Jurado schoß ihn zweimal in den Rücken und war im nächsten Augenblick im Dunstschleier des Regens verschwunden. Leute kamen mir entgegen, als ich mich wieder zur Kirche aufmachte. Dort saßen noch immer einige Leute still in den Bänken. Ich blieb unsicher stehen. Moreno kam aus der Seitenkapelle und hielt seinen Sombrero in der Hand. »Wo ist Pater van Horne?« fragte ich. »In der Kapelle, Señor. Er nimmt die Beichte ab. Für die meisten Leute ist die letzte schon sehr lange her.« Ich schob ihn zur Seite und steuerte auf den Altar zu. Am Eingang der winzigen Seitenkapelle blieb ich stehen. Die Figur des Heiligen Martin de Porres stand in einer Nische in der Mauer. Direkt davor saß van Horne auf einer Bank. Eine Frau wollte sich gerade vor ihn hinknien. Er flüsterte ihr schnell etwas zu, stand auf und kam zu mir. Er trug wieder das Chorhemd über seiner Soutane und eine violette Stola um die Schultern. Seine Ruhe war bemerkenswert, besonders, wenn man an seinen Zustand vor wenigen Minuten dachte. Er raunte mir ins Ohr: »Ist es dringend, Keogh? Ich bin sehr beschäftigt.« Ich faßte ihn am Arm und zog ihn zur anderen Seite der Kirche. Dort erzählte ich ihm, was sich soeben ereignet hatte. Er hörte ernst zu und holte dann seine Uhr heraus. »Wir haben also noch eineinviertel Stunden Zeit.« »Und keine, die wir bei diesem Theaterspiel verschwenden könnten.« »Diese armen Teufel haben sehr viel mitgemacht, Keogh. Ein wenig Trost für sie kann wahrhaftig nicht falsch sein.« -237-
»Ein wenig Trost, wie?« Ich zog ihm die Stola von den Schultern. »Weißt du denn nicht, was das hier versinnbildlicht? Ist dir überhaupt klar, was du da tust?« »Wenn hier jemand sündigt, dann ich, nicht sie.« Er lächelte düster. »Ich muß schon sagen, für einen Mann, der nicht an Gott glaubt, scheint dir das Begehen einer Sünde einigermaßen zu schaffen zu machen.« »Ach, scher dich doch zum Teufel!« zischte ich wütend und warf ihm die Stola ins Gesicht. »Das werde ich in der Tat sehr wahrscheinlich tun müssen, Keogh.« Er lachte rauh und gewann sein altes Selbstbewußtsein für einen kurzen Moment wieder. »Verschafft dir dieser Gedanke irgendwelche Genugtuung?« »Von so einem Schauspiel war niemals die Rede«, empörte ich mich. »Es geht entschieden zu weit. Schön, unter anderen Umständen könnte es vielleicht nützlich sein. Schließlich, Priester ist Priester, was er auch getan hat. Was auch aus ihm geworden ist.« »Genau«, bestätigte er ernst. Ich starrte ihn an. Es brauchte seine Zeit, bis die volle Bedeutung dessen, was er da soeben zum Ausdruck gebracht hatte, in mich eingedrungen war. Und dennoch war es, als hätte ich es von Anfang an und immer schon gewußt. Als hätte ich immer schon gespürt, daß er nicht einmal nur die beiden Männer war, für die ich ihn hielt und die er abwechselnd gespielt hatte. Er war in Wirklichkeit noch jemand anderer. Ein völlig anderer. Er legte mir eine Hand auf die Schulter, als wolle er etwas sagen. Aber ich wich entsetzt zurück und stürmte in den Regen. Als ich im Hotel in die Bar ging, stand Moreno hinter seiner Theke und polierte mechanisch Gläser. Er starrte dabei abwesend ins Leere. Er riß sich aber sofort zusammen und -238-
stellte eine Flasche Whisky und ein Glas vor mich hin. »Waren Sie bei dem guten Pater, Señor?« fragte er, als er einschenkte. »Ein wundervoller Mann. Es gibt sicher nur wenige wie ihn.« »Da haben Sie recht«, antwortete ich und trank meinen Whisky. »Der Mann ist imstande, Wunder zu wirken. Das ist bestimmt nicht übertrieben, Señor.« »So kann man es auch sehen«, bemerkte ich bitter. »Und was, glauben Sie, wird er aus dem Hut ziehen, um diese armen Teufel zu retten?« »Señor?« Er starrte mich mit einem verständnislosen Stirnrunzeln an. »Wird er sie sterben lassen?« fragte ich ihn. »Oder wird er das letzte Opfer bringen? Das ist eine interessante Überlegung, wie Sie zugeben müssen.« Seine Augen waren schreckgeweitet. »O nein, Señor, aber das doch nicht. Niemals! Das ist unvorstellbar!« Er wandte sich von mir ab, als sei ich der Leibhaftige persönlich, und rannte hinaus. In die folgende Stille hinein sagte van Horne hinter mir: »Du scheinst ihn erzürnt zu haben.« »Er hält dich für den auf der Erde wandelnden Christus persönlich«, höhnte ich. Für einen Augenblick war wieder der polternde Zorn in seiner Stimme. »Verdammt noch mal, Keogh, man merkt immer noch, daß du bei den Jesuiten erzogen worden bist!« Ich hob eine Hand. »Sehr gut. Der Kandidat bekommt diesen Punkt.« »Also gut, würdest du mir vielleicht ein paar Minuten zuhören? Ich habe nur noch wenig Zeit, und irgendwie liegt mir daran, mich dir verständlich zu machen.« Er holte eines seiner unvermeidlichen Zigarillos heraus, zündete es an und setzte sich an den ihm nächsten Tisch. -239-
»Fangen wir von vorne an. Ich heiße nicht wirklich van Horne. Aber mein echter Name spielt keine Rolle mehr, weder für mich noch für irgendwen. Ich habe dir erzählt, daß ich vier Jahre im Priesterseminar war und dann davonlief.« »Auch eine Lüge?« »Mein ganzes Leben besteht aus Lügen.« Da war wieder der alte sarkastische Humor. »Es waren fünf Jahre, Keogh. Fünf Jahre, mit Abschluß und Priesterweihe.« Ich starrte in mein Glas, wieder brauchte die Bedeutung dessen, was er sagte, ihre Zeit, um in mich einzusickern. »Komisch«, fuhr er fort, »aber wenn ich jetzt auf alles zurückblicke, wird mir klar, daß ich es nie wirklich wollte. Das war das Problem. Und als ich davonlief, war das Mädchen, das ich zu lieben glaubte, auch nur ein Vorwand. Ein bequemer Sündenbock, dem man fortan alle Schuld zuschieben konnte.« Ich nahm die Flasche und mein Glas und schlurfte an seinen Tisch. Ich setzte mich ihm gegenüber. »Tut mir leid«, bekannte ich. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Höchstens, daß mir klar ist, daß ich der letzte Mensch auf der Welt bin, der das Recht hat, den ersten Stein auf dich zu werfen.« »Hast du je daran gedacht, nach Hause zurückzukehren?« fragte er. »Nach Irland?« Ich zuckte mit den Schultern. »Sie würden mich abknallen wie einen räudigen Hund, sobald ich nur auftauchte.« »Ach, ich weiß nicht. Dieser Bürgerkrieg muß ja irgendwann auch wieder aufhören. Und es wird irgendeine Amnestie geben. Das ist so üblich. Du könntest an die Universität zurückkehren und dieses eine Jahr deines Medizinstudiums, das dir noch fehlt, nachholen.« »Ein frommer Wunsch«, unterbrach ich ihn. »Das geht doch überhaupt nicht mehr.« -240-
»Du meinst, wegen des Mädchens?« Er nickte. »Da könntest du recht haben. Es wäre sehr viel von ihr verlangt, in einer ihr so fremden Kultur Fuß zu fassen.« »In den richtigen Kleidern könntest du keinen Unterschied zwischen ihr und der Hälfte aller Mädchen in Kerry feststellen«, widersprach ich. »Nein, ich meine natürlich nicht nur das. Du hast einmal zu mir gesagt, ich hätte den Tod in meiner Seele, und das stimmt. Ich habe mich zu lange auf der dunklen Seite des Lebens aufgehalten. Ich kann mich nicht mehr ändern.« »Aber nein«, sagte er. »Jeder ist persönlich verantwortlich für das, was er tut, Keogh. Er ist, was er sein will, und es ist immer möglich, das zu ändern. Es liegt ganz allein in seiner eigenen Hand. Wenn du dich an sonst nichts erinnerst von dem, was ich je zu dir gesagt habe, erinnere dich daran.« Er griff nach der Flasche und meinem Glas. »Einen auf den Weg«, erklärte er, füllte das Glas und trank es in einem einzigen schnellen Zug leer. »Was soll das heißen?« »Einmal Priester, Keogh, immer Priester. Das weißt du doch ganz genau, und ich weiß es auch. Was man auch falsch machen und begehen kann, ich habe es getan, aber das ist unwichtig. Es gibt keine Flucht vor dem Unvermeidlichen. Es hat noch nie eine gegeben.« Er erhob sich und ging zur Tür. »Du meinst, du gehst dorthin?« »Ich habe doch keine andere Wahl«, entgegnete er ruhig. »Ich hatte niemals eine andere, und es geht mir auch nicht darum, am Ende plötzlich als Märtyrer dazustehen.« »Warum dann?« »Stolz, Keogh, kindischer Stolz. Ich habe meine Rolle zu gut gespielt. Diese Leute glauben an mich. Mehr noch, sie vertrauen mir. Dieses Bild kann ich jetzt nicht mehr zerstören.« -241-
Ich bekam ihn noch am Ärmel zu fassen, als er die Tür öffnete. »Nicht ein einziger hat dich gebeten zu gehen, nicht wahr?« »Du bist der letzte Nagel zu meinem Sarg, Junge.« Er machte sich frei, ging hinaus und blieb auf der Treppe stehen. Die Straße war inzwischen wieder voller Leute. Die Menschen warteten. Und sie wußten, konnten spüren, was geschehen würde. Es war an ihren Gesichtern abzulesen. Als er die Stufen hinunterging, begannen sie nacheinander auf die Knie zu sinken, während er durch die Menge zum Stadttor ging. Ich folgte ihm auf den Fersen. Moreno stand mit dem Rücken am Tor und hatte den Hut in der Hand. Van Horne bat: »Mach auf, mein Freund.« Moreno sank auf die Knie und brach in bittere Tränen aus. Van Horne wandte sich ruhig an mich, und zum ersten und einzigen Mal nannte er mich nun beim Vornamen. »Es sind zwei Hände dafür nötig, Emmet. Wenn du sie hast…« Es war, als sei dies alles schon einmal geschehen. Vielleicht erklärt das die Machtlosigkeit, die ich verspürte. Ich trat ans Tor, schob den Riegel nach oben, ohne jedoch aufzumachen, und fühlte seine Hand auf meiner Schulter. »Ich habe einmal gesagt, ich würde für dich beten, damals in den Tagen, als ich noch meine Rolle spielte. Ich möchte dich bitten, jetzt für mich das gleiche zu tun. Ich meine es ernst. Dich bitte ich mehr als irgend jemanden sonst.« Ich war nicht fähig, etwas darauf zu erwidern. Ich wandte mich um, preßte die Zähne aufeinander, um zurückzuhalten, was in mir aufstieg, und öffnete das Tor. Er trat einen Schritt hinaus und blinzelte in den Regen. Dort draußen schien nichts Lebendiges zu sein. Er drehte sich um und sah mich wieder an. »Wenn ich niemals etwas für dich getan habe, dann nimm jetzt das von mir an. Du hast deinen Bruder nicht getötet, -242-
Keogh. Das Leben selbst und die Menschen haben es getan, und dieser verdammte kleine Krieg, den du, wie alle ändern auch, geführt hast. Das mußt du glauben und dann wieder zu leben anfangen. Verschwende deine Zeit nicht mit de la Plata. Der ist schon verdammt. Mach jetzt das Tor wieder zu. Gott segne dich.« Und er wandte sich ab und lief in den Regen und den Dunst hinaus, und ich tat, was er mir aufgetragen hatte. Nach kaum zwanzig Minuten klopften die Geiseln an das Tor und strömten herein. Viele von ihnen befanden sich in erheblicher Betrübnis. Victoria war nicht unter ihnen. Ich konnte es zuerst nicht glauben und rannte in der Menge hin und her, riß Leute, die sich umarmten, auseinander, und suchte weiter. Schließlich fand ich Nachita. Das Feuer in seinen Augen bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen. »Sie ist nicht hier, Señor. Er hat sein Wort nicht gehalten.« Ich wandte mich zur Seite, als ich einen Bauern neben mir stehen sah, der nervös seinen Sombrero in den Händen drehte. »Señor Keogh, ich habe eine Botschaft für Sie von Don Tomas. Er schärfte mir ein…« »Na los, verdammt noch mal!« brüllte ich ihn an. »Er sagte, er behält, was Ihnen am liebsten ist. Als Andenken an Sie. Er trug mir auf zu sagen, daß er hofft, es macht Sie zufrieden, wenn Sie des Nachts an ihn und sie denken.« Ich stand da und starrte ihn durch den Regen an. Das Grauen, das nach mir griff, machte mich sprachlos. Und dann hörte ich von jenseits der Mauer Jurados Stimme durch den Regenschleier. »Señor Keogh!« Ich rannte zum Tor, Nachita hinter mir, und sah hinaus. »Don Tomas schickt Ihnen Ihren Freund. Er wollte gerne den -243-
Christen spielen. Da schien es nur angemessen, ihm zu erlauben, auch wie einer zu sterben.« Ein einziger Schuß fiel, und ein Pferd kam aus dem Regen galoppiert. Es bäumte sich in Angst auf und rannte verwirrt vor dem Tor im Kreis herum. Van Horne war aufrecht an einem rohen Holzkreuz auf das Pferd gebunden worden, mit ausgestreckten Armen. Aus seiner alten Soutane tropfte Blut. Ich griff nach den Zügeln, um das Pferd zu beruhigen, und sah zu ihm empor. Ich erkannte plötzlich, daß er noch lebte. Er versuchte mit mir und mit niemandem sonst zu sprechen. Er versuchte es mit allerletzter Kraft, aber es gelang ihm nicht. Seine Augen rollten nach oben, und der Kopf sank zur Seite. Während das Getrappel von Jurados Pferd in der Ferne leiser wurde, kam Nachita wie ein Wirbelwind durch das Tor, schwang sich auf das nächstbeste Pferd und verfolgte ihn. Nicht, daß das von Bedeutung war. Nichts kam mir wirklich vor, selbst die Menge nicht, die nun seltsam schweigend aus dem Tor strömte. Sie sah ruhig zu, wie Moreno ein Messer nahm und die Stricke durchschnitt, mit denen van Horne angebunden war, und als der Tote vom Sattel sank, streckten sich ihm viele Hände entgegen, die bereit waren, ihn aufzufangen. Moreno wandte sich mit traurigen Augen, in denen keine Tränen mehr waren, an mich. »Er hätte am Leben bleiben können, Señor. Aber er hat statt dessen den Tod gewählt. Für uns. Für das Volk. Ist das nicht etwas ganz Bemerkenswertes? Unter uns ging ein Heiliger, und wir haben ihn nicht erkannt.«
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15 Alles, was ich jetzt tun konnte, war, auf Nachitas Rückkehr zu warten. Denn es nützte sicherlich wenig, wenn ich mich jetzt auch noch auf den Weg machte. Ich ging in mein Zimmer, entkleidete mich, rieb mich ab und zog mir trockene Sachen an. Ich steckte eine Schachtel mit Munition in jede Tasche, ging dann in die Bar und bediente mich wieder mit Morenos Whisky, während ich die Enfield reinigte. Nach einer Weile erschien Moreno selbst. Er nahm auf die respektvollste Weise seinen Hut ab. »Señor, die Sachen in der Kirche, die ihm gehörten… Wir wissen nicht, was wir mit ihnen machen sollen. Sie waren sein Freund…« »Ist gut«, sagte ich, »ich gehe mit Ihnen zur Kirche.« Ich zog wieder den Poncho an und setzte den Sombrero auf, denn der Regen war immer noch stark. Auf dem Weg zur Kirche begegneten uns einige von Maultieren gezogene Wagen mit den Leichen von de la Platas Leuten. »Sie haben gottlos gelebt«, erklärte mir Moreno, »und wir werden sie ohne Segen begraben. In einem Massengrab für alle. Das genügt.« »Auch Señorita de la Plata?« »Señor, bitte!« Er war schockiert. »Sie werden wir natürlich mit allen Zeremonien beerdigen, wie es sich gehört. Wir müssen uns natürlich um ihren Vater kümmern, obwohl Gott allein weiß, wie der alte Mann auf die Nachricht von ihrem Tod reagieren wird.« Als wir auf den Platz kamen, wurden gerade Maultiere vor die toten Pferde gespannt, um sie wegzuziehen. Der heftige Regen -245-
hatte bereits das meiste Blut weggewaschen. Das Leben ging weiter. In der Kirche waren große Veränderungen vorgegangen. Alle Bänke waren zur Seite gestellt, nur in der Mitte waren zwei stehengeblieben. Auf ihnen lag ein roher Holzsarg mit geschlossenem Deckel. »Doña Chela, Señor«, erläuterte Moreno leise. »Man hielt es für schicklich, den Sarg zu schließen. Sie ist ins Gesicht geschossen worden. Verstehen Sie?« Ich verstand es nur zu gut. Ich ging nach vorne, wo sich ein Meer brennender Kerzen befand. Als ich seinerzeit in Mexiko angekommen war, fand in den Straßen von Vera Cruz gerade eine Marienprozession statt. Die Statue war eine der schönsten Figuren, die ich je gesehen hatte, einmal abgesehen davon, daß ihr ein Messer im Herzen steckte. Dies war mir seitdem immer als ein gelungenes Symbol der Summe dessen erschienen, was Mexiko darstellte, als Symbol für die ständige Konfrontation mit dem Tod. Van Horne lag auf einem Tisch, in vollen Regalien, über allem wieder das goldene Chorhemd. Zwischen seinen gefalteten Händen steckte ein Kruzifix, oberhalb seines Kopfes und zu seinen Füßen brannten Kerzen. Er sah aus, als würde er jeden Moment die Augen öffnen. »Wir hatten keinen Sarg, der groß genug für ihn war, Señor«, flüsterte Moreno. »Aber der Schreiner ist bereits an der Arbeit.« Der Gestank der Kerzen überwältigte mich, und außerdem gab es hier auch nichts weiter für mich zu tun. Ich hatte mich ja schon von ihm verabschiedet. Ich betrat die Sakristei, Moreno folgte mir. Die Sachen, von denen er gesprochen hatte, waren nicht wirklich die van Hornes. Es waren die aus der Schiffskiste, die dem Priester, der in Manila gestorben war, gehört hatten, aber das konnte ich Moreno gegenüber natürlich nicht erwähnen. -246-
Statt dessen sagte ich: »Bewahren Sie alles an einem sicheren Ort auf. Vielleicht kann der neue Priester die Sachen brauchen.« »Der neue Priester, Señor?« »Nun, man wird euch wohl wieder einen schicken, besonders jetzt, wo sich viele Dinge geändert haben.« »Und Don Tomas?« »Der ist am Ende.« Ich brachte es nicht fertig, noch einmal durch die Kirche zu gehen, und verließ die Sakristei deshalb durch die Tür, die direkt auf den Weg zum Stadttor führte. Wir waren gerade am Hotel angekommen, als einer der Wachtposten am Tor einen Schuß abfeuerte und einen ankommenden Reiter ankündigte. Ich begab mich zusammen mit Moreno zum Tor hinaus. Einige Leute kamen mit uns. Sie hatten Gewehre in den Händen. Nachita kam uns entgegengeritten. Hinter ihm stolperte Jurado mit gefesselten Händen und einem Zaumseil um den Hals, genau wie der arme Teufel, den er am Vormittag umgebracht hatte. »Er floh nicht schnell genug«, sagte Nachita. »Was ist mit den anderen?« »Alle bereits fort. Sie haben nur den hier zurückgelassen, weil er den Priester abliefern sollte. Der Regen macht es schwer, Spuren zu finden.« Jurados Gesicht war noch immer schlimm zugerichtet. Ein Auge war halbgeschlossen. Doch es zeigte nichts als Haß. »Also schön, Keogh, Sie haben mich. Aber Don Tomas hat Ihre kleine Freundin, und wenn er und die anderen Jungs erst mal mit ihr fertig sind…« Ich hinderte ihn mit einem Schlag ins Gesicht daran, den Satz zu vollenden. »Das können Sie sich sparen. Wohin sind sie geritten?« Er spuckte mir ins Gesicht. Ich wischte den Speichel mit dem -247-
Saum meines Ponchos ab und schlug Jurado ohne Umschweife zu Boden. »Ich könnte ihn schon zum Sprechen bringen, Señor«, sagte Nachita. »Wie lange brauchst du dafür?« »Nicht länger, als man braucht, um ein Feuer anzuzünden.« »Dann grill es raus aus dem Bastard. Je eher, desto besser.« »Und das funktionierte, denn mehr als brutale Kraft und Ignoranz war an Raul Jurado nie gewesen. Er war schon einmal unter meinen beiden Händen zerbrochen. Und er zerbrach jetzt wieder. Nachita gab seinem Pferd die Sporen. Das Zaumseil spannte sich und schleifte Jurado über den rauhen Boden. Da schrie er mit Furcht in der Stimme: »Nein, nicht der Indio!« In Erinnerung an einige der Dinge, die mir Janos über die Brutalität der Yaquis erzählt hatte, war ich nicht sonderlich überrascht. Ich sagte also: »Gut, aber ich frage Sie nur einmal. Wie viele Leute sind noch bei de la Plata?« »Fünf.« »Wohin sind sie geritten?« »Poneta.« Ich sah Nachita an, der nickte. »Ich kenne den Ort. Vielleicht fünfundzwanzig Meilen von hier auf der anderen Seite des Tals der Engel. Dort lebt schon seit vielen Jahren niemand mehr.« Ich stieß Jurado mit meinem Stiefel in die Rippen. »Stimmt das?« Er nickte. »Don Tomas hat diesen Ort schon oft benützt. Er kann von dort aus Leute zur Verstärkung aus den Bergen holen lassen.« Das klang ganz plausibel, deshalb zog ich ihn hoch und schob ihn Moreno und seinen Leuten zu. »Paßt auf ihn auf, bis die -248-
federales kommen«, befahl ich. »Die sollen ihn nach Recht und Gesetz behandeln.« Er drehte sich um und beschimpfte mich, aber Moreno schlug ihm ins Gesicht. Einige andere nahmen das Ende des Zaumseiles und zogen ihn hinter sich her in den Ort. Nachita stieg ab, und wir folgten ihnen. »Dieses Poneta«, fragte ich, »wie sieht das aus?« »Eine Kirchenruine am Rande einer Schlucht, und drei oder vier Straßen. Zu Beginn der Revolution diente es als Stützpunkt der Regierung. Es hat dort viele schwere Kämpfe gegeben. Die meisten Bewohner sind dabei umgekommen. Die paar Überlebenden sind fortgezogen.« Wir gingen in den Hof des Hotels, wo ich den Mercedes geparkt hatte. Ich fand die Landkarte, die Bonilla uns mitgegeben hatte, und breitete sie auf dem Fahrersitz vor Nachita aus. »Wie lange brauchen wir dorthin?« »Fünf oder sechs Stunden, Señor. Ein bißchen mehr, etwas weniger, je nachdem, wie die Pferde sind. Das Tal der Engel ist zwanzig Meilen breit. Nur Wüste, kein Wasser. Man muß also gut ausgerüstet sein.« »Wieviel Vorsprung, meinst du, haben sie?« »Eine Stunde, eineinhalb Stunden.« »Können wir sie kriegen, ehe sie in Poneta sind?« »Vielleicht, wenn wir ausgeruhte Pferde haben. Aber er würde meine Dame umbringen, sobald wir nur in Sicht kämen.« Ich besah mir noch einmal die Karte, besonders die breite Wüste des Tals der Engel, und dann war eigentlich klar, was zu tun war. »Und wenn wir vor ihnen in Poneta sind? Und dort auf sie warten?« »Señor?« Er runzelte die Stirn. »Wie sollte das möglich sein?« -249-
Ich klopfte auf das Steuerrad des Mercedes. »Damit«, erklärte ich. »Damit ist alles möglich.« Und zum ersten Mal sah ich ihn nun lächeln. Es war so etwas wie ein gefühlsbeladener Abschied. Moreno wollte uns nicht ziehen lassen. Er hatte bereits einen Reiter nach Huanca zu Cordona losgeschickt und neigte zu der Ansicht, ich sollte doch das Eintreffen des Leutnants abwarten. Ehe ich in den Mercedes stieg, verabschiedete er mich mit dem abrazo, der formellen Umarmung. Er klopfte mir auf den Rücken und hatte Tränen in den Augen. Er war wohl überzeugt davon, mich nie mehr lebend wiederzusehen. Es war allerdings auch interessant festzustellen, daß sich nicht ein einziger der Bewohner des Ortes angeboten hatte, uns zu begleiten. Das alles ließ Morenos Gehen Sie mit Gott etwas hohl klingen, als wir abfuhren. Ich war aus vielen Gründen froh, Mojada hinter mir lassen zu können, und ich wußte wohl auch genau, daß ich nie mehr hierher zurückkehren würde, und dazu hatte ich auch gar keine Lust. Alles zusammengerechnet, war Oliver van Horne, was immer er auch gewesen war, für Leute gestorben, die sich nicht einmal selbst zu helfen wußten. Das Elend ihres Lebens, die Jahre des Leidens waren mit der Zeit so zur Gewohnheit für sie geworden, daß sie ihnen als die naturgegebene Ordnung der Dinge erschienen. Dennoch blieb zu fürchten, daß sie sich nach wie vor nicht selbst helfen konnten und keinen Finger rühren würden, um irgend jemandem anderen zu helfen. Ich war voll unbeschreiblicher Verbitterung. Ich hatte sie alle satt, und ich hatte diese grauenvolle Region, die sie ein Land nannten, satt. Der Zorn in mir nahm so überhand, daß ich über den Paßrücken mit einer Geschwindigkeit raste, die unter den Bedingungen eigentlich absolut mörderisch war. -250-
Als wir bergab fuhren, ließ der Regen etwas nach, und der Dunstschleier riß beträchtlich auf. Dann lief der Fahrweg in einem leichten Gefalle aus, das mitten in dem großen, mit Mesquitenbäumen und Baumkakteen bestandenen Tal endete. Wir fuhren durch ein Distel- und Buschgestrüpp über windschiefes Wurzelwerk und kamen auf eine platte Ebene aus hartverbackenem Sand. Ich bremste und Nachita stieg aus, um in einem weiten Kreis nach Spuren zu suchen. Es dauerte nicht lange, und er kam eilends zurück. »Wie ich es mir gedacht habe. Sie sind hier vorbeigekommen. Die Spuren sind ganz klar erkennbar.« Der alte Pfad war auf der Militärkarte deutlich eingezeichnet. Immer gerade aus, was natürlich der kürzeste Weg war, und auf halber Höhe eines Berges lag Poneta, zwanzig Meilen entfernt, vielleicht etwas weniger. Mein eigener Plan war klar. Nachita stieg wieder ein, und ich hielt mich etwa fünf Meilen in Richtung Osten, immer am Rande der Wüste entlang. Dann wandte ich mich nach Norden und fuhr quer über die harte, von der Sonne ausgedörrte Erde in der, wie es Nachita erscheinen mußte, rasanten Geschwindigkeit von 25 Meilen pro Stunde. Unsere Fahrt verlief ohne Zwischenfall, und wir erreichten die Vorberge auf der anderen Seite des Tals schon nach einer Stunde. Ich fuhr nun westlich und folgte dem Rand der Wüste wieder mehrere Meilen lang, bis wir wieder zum schmalen Fahrweg gelangten, der in die Höhe führte, genau, wie auf der Karte eingezeichnet. Ich schaltete einen Gang herunter, da es nun steil bergan ging, über mit Mesquiten und Fettholz bewachsene Hügel. Weiter oben gab es auch einige verstreute pinones. Der Weg begann sich nun an die Seite des Berges zu schmiegen. Links fiel die Böschung steil ab. Dann krochen wir um einen massiven Felsen, -251-
und dahinter lag bereits Poneta am Rande einer Schlucht. Es war größer, als ich vermutet hatte. Dieser Ort war vermutlich früher gar nicht so unbedeutend. Das war allein schon an der Kirche, einem großen Steingebäude, zu erkennen. Der Turm war schlimm mitgenommen, dem Anschein nach zu schließen, von einem Volltreffer einer Granate. Die übrigen Gebäude waren zerfallene Lehmziegelhäuser. Die meisten hatten kein Dach mehr. Überall waren noch die Spuren der Schlacht zu sehen, die in dem Ort einst getobt hatte. Ich fuhr die Hauptstraße entlang, Nachita schußbereit mit seiner alten Winchester, aber wir waren weit und breit die einzigen Lebewesen, mit Ausnahme der Eidechsen und der Raben, die sich auf der Ruine des Kirchturms versammelt hatten und uns beobachteten, als ich mitten auf dem Dorfplatz neben einem alten Brunnen anhielt. Ich fand noch einen der alten Schöpfer und feuchtete mir erst einmal die Kehle an, ehe ich ihn Nachita weiterreichte. Zwei oder drei der Raben schwangen sich, einander heiser zukrächzend, in die Luft. Die Sonne erstarb. Ein Schauer durchrann mich. »Ein schlimmer Ort. Zu viele Männer sind hier gestorben«, flüsterte Nachita. Ich nickte. »Wir warten am Weg auf sie, wo wir sie kommen sehen können.« Wir fanden eine casa am Rand des Ortes, der eine Wand fehlte und die deshalb ein ideales Versteck für den Mercedes war, da ich ihn direkt hineinfahren konnte. Wir ließen ihn dort stehen und gingen auf dem Pfad zurück, bis er hinter dem Felsen verschwand, auf den wir kletterten. Der Blick über die Wüste war hervorragend. Nachita schlug auf die Büsche, um die Schlangen zu vertreiben, und dann setzten wir uns und warteten. Ich hatte eine der Thompson-MPs mitgebracht, und Nachita hielt seine Winchester in den Händen, -252-
aber es würde schwer werden, de la Plata und seine Männer anzugreifen, ohne Victoria in Gefahr zu bringen. Und um sie und ihre Sicherheit ging es ja schließlich. Zu vieles würde man wohl dem Augenblick überlassen müssen, und das habe ich bei solchen Gelegenheiten nie sehr geschätzt. Ich legte mich zurück, den Kopf auf meinen Sombrero gebettet, rauchte eine Zigarette und richtete meinen Blick ins Unendliche. Ich dachte auf eigenartig unbeteiligte Weise darüber nach, wer denn nun Victoria eigentlich war und was in ihrem Kopf vorging. Aber sie mußte wissen, daß wir ihr folgen würden. Und Tomas de la Plata? Ganz unmöglich, vorauszusagen, was er jeweils als nächstes tun würde. Er war ein Mann, der viel mitgemacht hatte und der von ein paar hundert verschiedenen Erlebnissen geformt worden war. Die Jahre im Gefängnis. Die Entwürdigungen und Demütigungen. Die Sache, an die er glaubte. Der lange Kampf. Das viele Töten. Aber schließlich hatten auch andere mindestens ebensoviel mitgemacht und hatten es überlebt. Hier, das ging tiefer. Dieser Mann war in den dunkelsten Tiefen seines Wesens getroffen worden. Und einen solchen Mann mußte man fürchten. Ich mußte eingeschlafen sein, und Nachita hatte sich offensichtlich entschlossen, mich meinem Schlummer zu überlas sen. Als er mich mit einem kurzen Schütteln weckte, war es bereits Abend. Das Tal lag in purpurnem Schatten, und die Sonne stand als orangefarbener Ball am Horizont. Deutlich war in der Stille der Abendluft das Geklapper von Hufen zu hören. Ich spähte vorsichtig durch die Büsche und sah die Männer den Pfad heraufkommen, Staub und Sand der Wüste lagen auf ihrer Kleidung, und jede Bewegung von Menschen und Tieren wirkte müde. Wir hatten wieder mal kein Glück, denn Victoria und Tomas -253-
de la Plata saßen zusammen auf einem Pferd. Er hatte die Arme um sie geschlungen. Irgend etwas anzufangen, wenn das Mädchen in dieser Position war, wäre der glatte Wahnwitz gewesen. Wir blieben still liegen und beobachteten, wie sie in den Ort und die Hauptstraße bis zum Dorfplatz ritten. Ich sagte: »Wenn ich sie wirksam ablenken kann, wird de la Plata vermutlich nicht mehr als einen Mann bei Victoria lassen, und dann könntest du zuschlagen.« »Und wie wollen Sie das bewerkstelligen, Señor?« Ich erläuterte ihm kurz meinen Plan. Er protestierte: »Sie laufen damit geradewegs in Ihren Tod, ist Ihnen das klar?« »Vielleicht ist es höchste Zeit dafür.« Ich zuckte mit den Schultern. »Sehen Sie einfach zu, daß Sie Victoria außer Gefahr bringen, sobald der Zeitpunkt da ist. Und das meine ich ernst. Kümmern Sie sich nur um sie und achten Sie nicht auf mich, was immer auch geschieht.« Ich stieg in einer merkwürdig fatalistischen Stimmung durch das Buschwerk hinunter. Ich war entschlossen zu tun, was getan werden mußte. Und wenn das mit meinem Ende verbunden war, dann war es eben so. Es war ohnehin schon höchste Zeit für mich. Nachita half mir, den Mercedes leise rückwärts aus dem Versteck in der Ruine der casa herauszuschieben. Dann setzte ich mich ans Steuer, neben mir auf dem Beifahrersitz die feuerbereite Thompson. Als dieser tolle Motor aufheulte, riß der Lärm fast den Platz auseinander, denn ich war kräftig aufs Gaspedal getreten und raste nun die enge Straße entlang. Tomas de la Plata ging, seine Hand an Victorias Arm, eben zur Kirche, seine Männer wie immer hinter ihm, die Pferde am Zügel führend. Ich bremste, verharrte lange genug, um den Schock des Erkennens auf seinem Gesicht wahrzunehmen, und kehrte dann um. Als ich die enge Straße zurückraste, begannen -254-
sie bereits zu schießen. Die Windschutzscheibe zerbrach in tausend Stücke, und ich duckte mich instinktiv, was mich immerhin so ins Schlingern brachte, daß ich ein Stück einer Lehmziegelmauer rammte. Das verringerte meine Geschwindigkeit ein wenig, aber das hatte ich ohnehin beabsichtigt. Die Meute war bereits in vollem Aufruhr, und ich fuhr weiter, nach unten geduckt, während die Kugeln in die Karosserie des Mercedes einschlugen. Aber dann war ich wieder in offenem Gelände. Der Wagen raste den Berg hinab wie Gewitterdonner und riß eine Schneise durch die Mesquitas und das Gestrüpp. Als es die Situation zuließ, schnappte ich mir die Thompson vom Beifahrersitz und sprang hinaus. Der Mercedes holperte, überschlug sich zweimal und fiel in ein pinones-Unterholz, wo er auf dem Dach liegenblieb. Ich preßte mich im Gestrüpp auf den Boden, die Thompson dicht bei mir, und wartete. Schon nach einigen Augenblicken erschienen sie auf dem Pfad. Tomas de la Plata und seine Leute. Einer von ihnen hielt Victoria. Sie verharrten am Abhang und blickten auf den Mercedes. Dann sagte de la Plata etwas und lief mit vier Männern den Berg hinab. Der fünfte blieb bei Victoria. Wie aus dem Nichts erschien hinter ihr Nachita. Was auch geschah, es ging still vor sich. Denn der Mann sank einfach lautlos nieder, und Nachita zog Victoria außer Sicht. Und auf mehr hatte ich nicht gewartet. Es knackte im Gebüsch, als de la Plata und seine Leute näher kamen, und der Augenblick des Jetzt oder Nie war gekommen, denn sie hatten mich schon fast erreicht. Sie kamen in langer auseinandergezogener Linie auf eine Lichtung, und ich stand auf und begann zu schießen. Ich hatte die Absicht, sie alle fünf mit der ersten gezielten Garbe zu erwischen. Die ersten beiden fielen auch um wie die Kegel. -255-
Aber dann hatte das runde Trommelmagazin Ladehemmung. De la Plata schoß als erster zurück. Er zog mit unglaublicher Geschwindigkeit seine Waffe aus dem Schulterhalfter. Wie eine zustoßende Schlange. Seine Kugel erwischte mich genau auf der rechten Brustseite, und ich fiel zurück in das Gestrüpp. Als ich auf dem Boden lag, zog ich die Enfield, feuerte zweimal sehr schnell, um zu verhindern, daß sie Deckung fanden, und ließ mich dann, so schnell es ging, durch das Gebüsch den Abhang hinunterrollen. In einem Dickicht verhielt ich und blieb lange genug liegen, um meine Wunde betasten zu können. Die Gewalt des Schusses war angesichts der kurzen Distanz groß gewesen. Die Kugel war deshalb glatt durchgegangen und unter dem rechten Schulterblatt wieder ausgetreten. Das Austrittsloch war kleiner, als ich vermutet hätte. Das bedeutete, daß seine Waffe aller Wahrscheinlichkeit nach ein 38er Kaliber hatte. Ich spuckte mir in die Hand. Es kam kein Blut. Das sah gut aus. Dafür war das Geräusch der Bewegungen im Gebüsch über mir weniger beruhigend. Ich lief aus dem Dickicht und begann den Hügel hinaufzuklettern, diagonal nach rechts, so daß ich wieder auf den Pfad kommen mußte. Aber einer der Männer entdeckte mich bald, er schrie, dann kam ein zweiter, drei oder vier Schüsse zerrissen die Luft. Eine letzte wilde Anstrengung, und dann war ich über dem Pfad. Meine Lungen platzten fast. Und dann stürzte ein Mann mit der Wucht einer Dampfmaschine von links auf mich herab. Ich feuerte zweimal wild los, ohne zu zielen. Dazu war keine Zeit mehr. Ich stolperte und fiel der Länge nach hin. Ich schrie auf, weil mich der Schmerz wie ein Blitz durchschnitt. Der andere, der auf mich zustürzte, schoß jedoch. nicht. Er wollte näher herankommen. Das war sein Verderben. Ich schoß ihn mitten ins Herz. Die schwere Kugel riß ihn um, und er fiel hintenüber die Böschung hinunter. -256-
Es war nur noch eine Kugel in der Enfield und keine Zeit zum Nachladen. Als de la Plata und sein letzter Begleiter aus dem Gebüsch auftauchten, drehte ich mich um und rannte um mein Leben. Sie schossen pausenlos, aber dank dieser wilden Jagd durch das Gestrüpp, der Kletterei hügelauf und hügelab hatte keiner mehr die Kraft, ruhig und genau zu zielen. Ich hielt meinen Kopf nach unten und lief weiter. Ich hoffte, bis zur Kirche zu kommen, und ich hoffte, daß mir Nachita zu Hilfe käme, ungeachtet dessen, was ich gesagt hatte. Ich war schon fast am Brunnen, als ich wieder getroffen wurde. Diesmal ins rechte Bein. Es war zwar nur ein Streifschuß, aber es reichte, um mich stürzen zu lassen. Als ich mich herumrollte, sah ich de la Platas Begleiter in einiger Entfernung von ihm, ein junger Mann in seiner vollen Kraft, und ein guter Läufer. Es war keine Zeit für Kunstschießen. Ich zielte einfach nur auf seine Mitte und drückte ab, war sofort wieder auf den Beinen und hastete zur Kirche, während er umfiel. Er war wie ein Wesen aus einem Alptraum, das man nicht abzuschütteln vermag. Ich erreichte die Tür, als eine Kugel in die Mauer einschlug. Ich blickte über die Schulter. De la Plata war schon am Brunnen vorbei und lief sehr schnell, in jeder Hand eine Pistole. Ich taumelte durch die kühle Dunkelheit im Innern und wagte nicht stehenzubleiben, suchte aber in meinen Taschen nach Munition. Es gelang mir, zwei Kugeln irgendwie ins Magazin zu bekommen, während ich einige andere verlor, weil meine rechte Schulter und der rechte Arm mittlerweile brannten wie alle Höllenfeuer zusammen, und ich meine Finger nicht mehr voll unter Kontrolle hatte. Er war ebenfalls bereits im Innern und schoß, weil er nichts -257-
sehen konnte, blindlings um sich. Ich verhielt mich wie ein Narr und feuerte zurück. Damit zeigte ich ihm nur, wo ich mich befand. Ich drehte mich wieder um und stolperte weiter in den Schatten, während er das Feuer erwiderte. Ich stürzte über eine Steintreppe und kroch verzweifelt hinauf. Sie führte um die Ecke, es war die Innenmauer des Glockenturms. Aus einem großen gezackten Loch flutete von oben Licht herein. Ich gelangte auf das Dach und hielt kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen. Eine Kugel fuhr singend durch die Dachöffnung in die Luft. Ich schoß zweimal als Antwort in die Dunkelheit. Aber beim zweiten Mal klickte der Abzug nur noch. Ich war am Ende und erledigt, und ich wußte es. Der kleine Emmet Keogh war endlich am Ende seiner Reise. De la Plata kam ohne Zögern die Treppe herauf. Ich wandte mich um und taumelte das Dach entlang ins Nichts, und als ich am äußersten Ende der Brüstung angekommen war, hatte ich nur noch die Wahl zwischen dem langen Fall in die Schlucht oder, auf der anderen Seite, dem Sturz auf den Dorfplatz. Als ich mich umdrehte, stand er keine zehn Meter entfernt, schwer atmend, das Gesicht sehr bleich, nur noch eine Pistole in einer Hand. Und dann machte er am Ende den schlimmsten Fehler, den er machen konnte. Statt mich auf der Stelle niederzuschießen, mußte er noch reden. »Wer hat Sie geschickt, Keogh?« Die Antwort auf seine Frage bestand in einem einzigen Schuß, der von den Dächern widerhallte und die Raben in dunklen, erschreckten Kreisen hochflattern ließ. De la Plata schrie auf und drehte sich um. Seine Pistole fiel hinunter auf den Platz. Am Brunnen stand Nachita mit der Winchester an seiner Schulter, und Victoria kauerte neben ihm. Plötzlich rief sie meinen Namen, dessen Echo sich mit dem Gekrächz der -258-
aufgescheuchten Raben vermischte. Ich fuhr herum, und plötzlich warf sich de la Plata blind auf mich, mit Blut im Mund und ausgestreckten Händen, die töten wollten. Ich wich einfach nur zur Seite aus, und er stürzte über den Dachrand auf das Pflaster des Dorfplatzes. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf den Steinen. Nachita kniete neben ihm, stand dann auf, warf mir einen Blick zu, drehte sich um und folgte Victoria, die auf die Kirchentür zurannte. Die Raben flatterten wieder auf den Turm, ihre schwarzen Schemen zeichneten sich gegen den kupferfarbenen Himmel ab, an dem die Sonne hinter den Gipfeln bereits erstarb. Ich war müde, und die ungeladene Enfield zerrte an meiner linken Hand wie ein schweres Gewicht. Es wäre eine schöne dramatische Geste gewesen, sie nun ein für allemal von mir zu werfen, weit über die Schlucht hinweg. Aber eine solche Geste entsprach mir nicht, so etwas war nicht die Art des kleinen Emmet Keogh von der linken Hand. Das hier war kein guter Ort zum Bleiben. Und die Nacht brach außerdem herein. Ich setzte mich, ließ die Handvoll Patronen auf den Boden vor mich fallen und begann langsam und, wegen meiner verwundeten Schulter, mit großer Mühe nachzuladen.
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