Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Laurence Oriol Kurzschluß
Kriminalroman
Es geht darum...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Laurence Oriol Kurzschluß
Kriminalroman
Es geht darum, einen lästigen Ehepartner zu beseitigen. Die vier Beteiligten: Guillaume Brassart, der mächtige, rücksichtslose Chef einer Pariser Klinik, der die Welt nur auf sich bezieht und von mitmenschlichen Beziehungen nur insoweit etwas hält, als sie sein eigenes Ansehen und Wohlbehagen fördern; seine Frau LOUISE, aus großbürgerlichem, erzkonservativem Haus, die für ihren „Ruf“ und den „Ruf“ ihrer Familie bereit ist, alles auf sich zu nehmen; Danielle Fellegrini, eine nicht mehr taufrische Frau, die ihr Leben in diversen Betten und schlecht bezahlten, unbefriedigenden Anstellungen zugebracht hat und nun mit der Zähigkeit der bisher Zukurzgekommenen die Gelegenheit ergreift, ihren Status zu verbessern; Vincent Debosse, der Assistenzarzt aus „kleinen Verhältnissen“, dessen zäh verfolgtes Ziel die Karriere um jeden Preis ist. Das Zusammentreffen dieser vier Charaktere verspricht Spannung, die noch dadurch verstärkt wird, daß man nicht nur rätselt, wer der Mörder ist, sondern auch welche von beiden Frauen der mordgeladenen Atmosphäre zum Opfer gefallen ist.
Laurence Oriol
Kurzschluß
Verlag Das Neue Berlin
© Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1975. Die Originalausgabe erschien bei Editions Denoël, Paris, unter dem Titel „L’interne de service“. Aus dem Französischen übertragen von Evelyne Krause. Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung der Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Der Vertrieb in der Bundesrepublik Deutschland, in Westberlin und im gesamten westlichen Ausland ist nicht gestattet.
1 Das Zimmer war fünf mal vier Meter groß. Es hatte hohe, weißgetünchte Wände und ein großes Fenster mit Balkon. Das Mobiliar bestand aus einem Messingbett, einem Schrank, einer alten Eichenkommode, einem Nachttisch und zwei Stühlen. Das Opfer sah aus wie alle Opfer, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind, zumindest für Commissaire Faure, der sich nie so recht an den Anblick hatte gewöhnen können. Der Tod sei durch einen elektrischen Schlag eingetreten, sagte der Gerichtsmediziner, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, und zwar bereits vor zwölf bis dreizehn Stunden; als man die Sache entdeckt hatte, sei es für jeden Rettungsversuch schon viel zu spät gewesen, tja … Ob die Leiche jetzt weggebracht werden könne? Faure nickte. Er war fast kahl – einen Glatzkopf kleiner, hätte man sagen können, als sein Untergebener. Inspecteur Rageot war blond, hatte rundliche Wangen und eine komische Stupsnase. Er hatte die Hände in der Tasche, trat von einem Fuß auf den anderen und starrte ins Leere. Er war gleichzeitig mit dem Arzt und den Leuten vom Erkennungsdienst eingetroffen, also eine gute halbe Stunde vor dem Commissaire. 6
„Fangen Sie an“, sagte Faure; „ich hab’s eilig. Bißchen Ärger zu Hause.“ „Nichts Ernstes hoffentlich?“ Faure machte eine vage Geste und sah dabei auf die Uhr. „Also“, begann Rageot, „erstens: Wie überall in diesem verdammten Haus ist der Fußboden gekachelt und das Bettgestell aus Messing – erstklassiger Leiter. Zweitens: Am Kabel der Nachttischlampe fehlt ein Stück Isolierung. Drittens: Hier ist nichts dem Zufall überlassen worden; das Opfer hatte keine Chance … Sehen Sie mal – da, hinter dem Bett, die Holzverkleidung über den Stromleitungen … Sie müssen sich bücken. Sehen Sie’s? Neben dem linken Fuß des Bettgestells ist die Leiste abgebrochen; es fehlen ungefähr zehn Zentimeter. Das hat mich stutzig gemacht. Wahrscheinlich ist von hier aus ein Verbindungsdraht zum Fuß des Bettgestells gezogen worden. Aber um den Stromkreis zu schließen, brauchte man einen zweiten Draht, und der war mit der Lampe verbunden – so verbunden, daß das Bettgestell unter Strom stand, sobald der Schalter der Lampe betätigt wurde … Können Sie mir folgen? Das Opfer brauchte nur irgendwie mit dem Bett in Berührung zu kommen – und rums ! Den elektrischen Stuhl hatten wir schon. Das hier, das ist das elektrische Bett!“ Die beiden Männer richteten sich wieder auf, rot im Gesicht. Faure zündete sich eine Zigarette an und blickte erneut auf die Uhr. „Haben Sie was gefunden? Drähte, Kabel, was weiß ich?“ „Noch nicht.“ Rageot schüttelte den Kopf. „Jemand hat sie noch vor dem Eintreffen der Polizei verschwinden lassen. Zweifellos der Urheber dieser hübschen Bastelei.“ „Auf jeden Fall sollten wir die Möglichkeit eines Unfalls nicht ganz ausschließen“, meinte Faure. Aber er war offensichtlich nicht ganz bei der Sache. 7
„Wenn das ein Unfall ist, bin ich Brigitte Bardot … Im Ernst: Die Sache ist glasklar! Soll ich’s Ihnen mal vormachen? Um so eine Schaltung zu installieren, brauche ich keine fünf Min …“ „Überlassen Sie das lieber den Fachleuten“, unterbrach ihn Faure. „Ich spiele nicht gern mit Steckdosen.“ „Hören Sie“, beharrte Rageot, „wenn man davon ausgeht, daß es ein Unfall war, daß da niemand dran gedreht hat, ja – dann war’s ein simpler Kurzschluß; dann liegt’s an der kaputten Isolierung … Aber ich sage Ihnen, da hat einer dran gedreht. Das ist kein Unfall – das ist ein Verbrechen! Die Beweise springen einem ja förmlich ins Gesicht …“ Rageot trat an den Nachttisch und beugte sich über die Lampe. Faure war mit seinen Gedanken ganz woanders. „Gut, gut“, sagte er hastig, „ich glaube Ihnen ja … Die Spurensicherung soll die Lampe mitnehmen.“ Rageot sah den Commissaire erstaunt an. Das „bißchen Ärger“ schien ernsterer Natur zu sein … Er zündete sich eine Zigarette an, bevor er auf seine Hypothese zurückkam. „Diese bösartige Bastelei schafft praktisch jeder – das steht schon im Kleinen Mord-Handbuch für Anfänger … Geradezu eine Frechheit: Da baut einer diese Schaltung, und hinterher baut er sie wieder ab, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die Spuren zu beseitigen … Die Spuren sind noch da, sind nicht zu widerlegen … Das kann jeder. Das kann … Also, ich gehe so weit, zu sagen: Das kann auch eine Frau.“ „Gehen Sie nicht so weit“, sagte Faure. „Wo ist der Lieutenant?“ „Hier!“ meldete sich eine kräftige Stimme vom Treppenabsatz. Der Lieutenant der Gendarmerie kam strahlend herein. Er war sehr groß und dick; er hatte rosige Wangen und wache, lustige Augen. Da das Opfer in Chantilly gestorben war, hatte man zunächst ihn ge8
rufen; er hatte dann die Sûreté Nationale alarmiert, nachdem ein Unfall seiner Meinung nach ausgeschlossen war. War auch Monsieur le Commissaire der Meinung, daß … Nein, Faure hatte keine Meinung. Im Augenblick wollte er keine haben. Ehe er an die Arbeit gehen konnte, mußten erst die Routineformalitäten abgeschlossen werden. Er wollte keine Überraschungen erleben. Es war schon eine böse Überraschung gewesen, daß man ihn nach Chantilly geholt hatte, wo doch seine jüngste Tochter mit hohem Fieber im Bett lag … Das hatte an sich noch nichts zu bedeuten; aber der Kinderarzt hatte Antibiotika verschrieben, was Faure für falsch hielt, weil seine drei anderen Kinder keine Antibiotika vertrugen und nicht zu erwarten war, daß ausgerechnet die Kleine … Heute abend würde es ihr sehr schlecht gehen, und ihre Mutter, hysterisch, wie sie nun einmal war, würde total durchdrehen; er selber würde alle Hände voll zu tun haben, um die eine zu pflegen und die andere zu beruhigen … Na schön. Aber wenigstens Überraschungen dienstlicher Natur wollte er tunlichst vermeiden. Auf dem Weg zu dem Zimmer, in dem die Zeugen warteten, blieb er plötzlich stehen und sah erneut auf die Uhr. Rageot, der ihn beobachtete, bemerkte die Augenringe, die graue Gesichtsfarbe, den unruhigen Blick … Ungewöhnlich. „Noch mehr Ärger?“ erkundigte er sich. „Hören Sie“, sagte Faure, „Sie sind erwachsen genug, um die Leute allein zu vernehmen … Wie viele sind es?“ „Drei, ohne die alte Haushälterin und ihren Mann. Aber die beiden schlafen in dem kleinen Haus hinten im Garten. Sie haben nichts gehört und nichts gesehen … völlig außer sich, die beiden alten Leute. Nicht viel aus ihnen herauszukriegen im Augenblick.“ „Versuchen Sie’s trotzdem. Auf jeden Fall werde ich mir die drei anderen gleich morgen in der Sûreté vornehmen. Da sie in Paris wohnen, dürfte das keine Schwie9
rigkeiten machen … Also, ich verschwinde. Rufen Sie mich im Laufe des Abends zu Hause an. Ich werde dasein – leider!“ Als er gerade seinen Wagen erreicht hatte, trat ihm ein dickes Mädchen in den Weg. Es hatte ein reizloses Gesicht, das jetzt puterrot anlief. „Entschuldigen Sie, Monsieur, könnten Sie … Könnten Sie mir sagen … Sie sind doch von der Polizei, nicht wahr?“ „Hm, hm.“ Faure nickte und öffnete die Wagentür. „Warum? Was wollen Sie?“ „Den Namen des Opfers, Monsieur …“ „Das Opfer?“ Faure dachte an das, was ihn zu Hause erwartete. „Das Opfer bin ich, wie immer.“ Er ließ sich auf den Sitz fallen und knallte die Tür zu.
2 Ein Gruppenfoto, 24 mal 36. An die zwei Dutzend Gesichter; darunter eines, an dem der Blick unwillkürlich hängenblieb. Ein erstaunliches Gesicht. Ein junger Mann, zwanzig mochte er sein. Er blickte unbefangen und selbstsicher ins Objektiv und nahm augenscheinlich weder von dem Breitschultrigen zu seiner Linken noch von dem jungen Mädchen mit den glatten blonden Haaren Notiz, von dem man nur das Profil sah, weil das Gesicht ihm zugewandt war. Von all den Externes und Internes, die da um ihren Chefarzt aufgebaut waren, war er als einziger auf die Idee gekommen zu lächeln. Das Lächeln stand ihm. Aber wahrscheinlich stand ihm alles. Er sah bemerkenswert gut aus. Zu dieser Erkenntnis kam auch Commissaire Faure. 10
Er saß hinter seinem Schreibtisch, eine Zigarette in der einen, das Foto in der anderen Hand. Seine Gedanken schweiften ab. Sein Urlaub … Normalerweise fuhr er im Juli in die Bretagne, aber dieses Jahr mußte er es verschieben. Drei Wochen ging das nun. Schon fast ein Dauerrekord für einen Fall, der von Anfang an völlig klar zu liegen schien: Ein tödlicher Stromstoß, absichtlich herbeigeführt, cherchez la femme … Von wegen. Er hatte auf das Tatmotiv Eifersucht gesetzt und war damit baden gegangen. Die Hauptzeugen … Ach du lieber Gott! Diese Sorte wurde höchstens eifersüchtig, wenn es um ihren Ruf ging. Und obendrein wußte höchstens der liebe Gott, wo bei denen die Grenze zwischen unverschämtem Zynismus und Aufrichtigkeit lag. Fortwährend waren sie aufrichtig: „Ich bin vollkommen aufrichtig …“ – „Ich sage Ihnen ganz aufrichtig …“ Als ob sie nichts mehr zu verlieren hätten. Oder als ob sie um jeden Preis ihre kleinen Missetaten beichten müßten … Und trotz dieser überschäumenden Aufrichtigkeit war es Faure bisher nicht gelungen, unter den drei Verdächtigen denjenigen oder diejenige herauszufinden, der oder die an einem schönen Maientag ungeschickt, aber erfolgreich elektrotechnische Spielchen getrieben hatte. Es hatte keinen Sinn, außer diesen dreien noch weitere Verdächtige zu suchen. Einer von ihnen war mit hundertprozentiger Sicherheit der Mörder. Die alte Haushälterin und ihr Mann – die als Täter ausschieden – beharrten darauf, daß während der vierundzwanzig Stunden vor dem grausigen Geschehen sonst niemand das Haus in Chantilly betreten habe. Faure heftete das Foto wieder in die Akte. Inspecteur Rageot hatte gute Arbeit geleistet. Er hatte dafür gesorgt, daß alle Personen, die auch nur irgend etwas zu der Sache aussagen konnten, peinlich genau vernommen worden waren. Schon allein an Hand dieser Aussa11
gen konnte man Schritt für Schritt rekonstruieren, wie dreist einer der Hauptverdächtigen vorgegangen sein mußte. Rageot war es auch gewesen, der das Tagebuch des Opfers aufgestöbert hatte – Aufzeichnungen, deren Zynismus kaum zu überbieten war. Aber wieviel konnte man auf diese offensichtlich hastig hingekritzelten Notizen einer ebenso offensichtlich krankhaft Besessenen überhaupt geben? Faure ließ sich im Sessel zurücksinken und fuhr sich mit der Hand – einer sehr schönen Hand – über das müde Gesicht. Er schnitt eine Grimasse, wie jedesmal, wenn er sich von neuem in diese Akte vertiefte. Er hatte da die Geschichte von vier Personen (einschließlich des Opfers) vor sich. Vier Personen, die das gleiche Drama durchlebt hatten. Aber was Faure nicht fassen konnte, war die Tatsache, daß ihre Aussagen völlig übereinstimmten, anstatt sich – wie man es doch hätte erwarten sollen – in einzelnen Punkten zu widersprechen. In der glatten Mauer der Verschleierungstaktik war noch kein Riß zu erkennen. Jeder erzählte mit verblüffender Offenheit die Ereignisse aus seiner Sicht, und irgendwo fiel dabei ein kleines Stückchen Wahrheit unter den Tisch … Während er seine Notizen durchsah, wurde Faure plötzlich bewußt, daß auch er die Ereignisse bisher immer nur fragmentarisch, aus der Sicht des jeweils Berichtenden, gesehen hatte. Wenn man dagegen sozusagen die vier Hauptakteure gleichzeitig auf die Bühne stellen, die einzelnen Aussagen gleichsam auseinanderschnippeln und puzzleartig chronologisch zusammensetzen würde … Ja, das mußte gehen. Es bedeutete jedoch einen Haufen Kleinarbeit. Mit einem Seufzer klappte er die Akte zu und stand auf. Es war 18 Uhr 10. Zu Hause konnte er unmöglich arbeiten. Nicht einmal nachdenken. Seit einigen Tagen hatten sich die neurotischen Zustände seiner Frau ver12
schlimmert. Sie brachte keine drei Worte mehr heraus, ohne daß sie anfing zu schreien. Sie machte aus allem ein Drama. Und die Kinder … Die Kinder mußten das alles über sich ergehen lassen. Und Faure selber … Nun, er zog es vor, die ganze Sache zu verdrängen, so gut es ging. Schlappschwanz. Er war schon im Begriff, seine Jacke anzuziehen, als er sich plötzlich eines anderen besann, sie wieder an den Kleiderständer hängte und an seinen Schreibtisch zurückkehrte. Sollte er seine Frau anrufen? Er zögerte nur einen Augenblick. Er war nicht in der Verfassung, sich jetzt ihr Geschrei anzuhören. Er würde nicht anrufen. Es war 18 Uhr 15, als er die Akte wieder aufschlug.
3 Für Danielle Fellegrini hatte alles an jenem Novembernachmittag angefangen, an dem sie Guillaume Brassart kennenlernte. Sie wußte sehr schnell, an was sie sich zu halten hatte: Er war eins fünfundachtzig groß, hatte breite Schultern und einen Bauch, bei dem Einziehen nichts mehr half. In Fachkreisen nannte man ihn den Großen B. Er war Chirurg und hatte seit einigen Jahren – Jahre, die ihm viel zu schnell vergangen waren – einen Lehrstuhl inne. Er ging auf die Fünfzig, und das war so ziemlich das einzige, was ihn wirklich störte. In dieser Hinsicht hatte auch Danielle ihre Probleme, obgleich sie mit ihren zweiunddreißig Jahren viel jünger war als Guillaume. Aber sie gehörte zum Typ jener Rothaarigen, an denen Männer ein, zwei Tage lang Spaß haben und die im übrigen früh verblühen. Und sie fürchtete, bald ganz allein dazusitzen, auf ein schäbiges 13
Sparkonto angewiesen und ohne Chance, sich noch einen passenden Ehemann zu angeln oder auch nur einen Liebhaber. Sie hatte zeitweise gearbeitet, ohne Überzeugung, ohne Ehrgeiz, ohne die Sache ernst zu nehmen. Sie konnte Maschineschreiben und sprach ein Schulenglisch, das keiner verstand – am allerwenigsten ein Engländer. Aber sie war hübsch. Als sie Guillaume kennenlernte, hatte sie gerade einen Job in Orly – als Bodenhosteß –, der, wie sich bald herausstellte, verheerende Folgen für ihr Liebesleben hatte, da der Große B nach einem fest eingefahrenen Freizeitprogramm lebte, das sich mit dem ihren nicht in Einklang bringen ließ. Er schlug ihr vor, einfach zu kündigen – er werde ihr soviel geben, wie sie verdiente … „Was kriegst du im Monat?“ „Ich lasse mich nicht aushalten!“ Und sie erklärte ihm todernst, sie habe da mal einen Film gesehen, in dem die Heldin sitzengelassen wurde und ein jammervolles Ende nahm; sie wolle auf keinen Fall, falls er vor ihr sterben oder sie einfach verlassen sollte, den Rest ihres Lebens in einem schäbigen Hotel … Sie lehnte es strikt ab, Geld von ihm anzunehmen; lieber wolle sie arbeiten, das sei sicherer. Guillaume fand das verwirrend. Er fand es auch unerträglich; er war es nicht gewohnt, um etwas zu betteln. Er versuchte es mit einem treuherzigen Kinderblick: „Es geht ja nicht darum, dich auszuhalten! Das Geld, das ich dir jeden Monat gebe, wäre eben einfach so was wie … Na, wie Haushaltsgeld, ja?“ Danielles Haushalt bestand aus einem scheußlich möblierten Einzimmerappartement, in dem sie seit zehn Jahren lebte. Es war modern und ziemlich ungemütlich, mit Teppichen, die aussahen wie Vertretermuster für nordafrikanische Fabrikware. Guillaumes Blick wander14
te über die rosa und blau getünchten Wände, die durchgesessenen Sessel, die von ungeschickter Hand weißgestrichene Kommode. Er sagte hastig, und es klang albern und rührselig: „Du, ich … ich liebe dich wirklich. Daran darfst du nicht zweifeln!“ „Würdest du mich heiraten?“ „Wenn es möglich wäre – ja!“ Aber es war ja zum Glück nicht möglich … Er erklärte es ihr: Seine Frau sei praktizierende Katholikin; sie werde nie in eine Scheidung einwilligen. „Und wenn man sie dazu zwingt?“ „Also, mal angenommen, sie würde einwilligen, ja – was ich für völlig ausgeschlossen halte, wie gesagt –, dann wäre da immer noch ihr Vater: Er würde mich einfach absägen. Die Macht dazu hat er.“ „Na schön. Sprechen wir nicht mehr davon. Du bleibst bei deiner Frau, und ich lasse mich versetzen. Man hat mir einen viel interessanteren Posten in Nizza angeboten … In vier Wochen müßte ich dort anfangen.“ Guillaume war wie vor den Kopf gestoßen. Seit mehr als zehn Jahren hatte ihm niemand widersprochen, weder in der Klinik noch zu Hause. Und da kam so ein niedliches Gänschen daher … Zugleich war ihm klar, daß sein Wohlbefinden von der Anwesenheit dieses niedlichen Gänschens abhing … Zum Verrücktwerden. Die reinste Idiotie. Aber die Wahrheit. Dessen wurde er sich bewußt, als er sie acht Tage lang nicht zu sehen bekam. Bei der nächsten Begegnung kam er ihr einen beachtlichen Schritt entgegen. „Ich habe viel nachgedacht. Vorige Woche schien es mir noch unmöglich, aber … Also, es läßt sich vielleicht doch arrangieren. Allerdings wird es lange dauern und ist außerdem schwierig. Und gefährlich – sehr gefährlich … Aber vielleicht gibt es eine Lösung.“ An diesem Abend erzählte er ihr zum erstenmal von 15
Vincent Debosse. Daraufhin entschloß sie sich, nun doch zu kündigen. Für Guillaume, der seit vier Wochen Danielle gegenüber Vincent Debosse nicht mehr erwähnt hatte, begann es an einem Januarmorgen mit einer unüberlegten Dummheit. Bevor er die Klinik verließ, war er zufällig in seiner Schreibtischschublade auf ein Gruppenfoto im Format 24 mal 36 gestoßen, das vor einigen Tagen aufgenommen worden war. Er steckte es ein; vielleicht, dachte er, amüsiert es Danielle, wie ich da im weißen Kittel in der Mitte throne … Aber dann, als sie es am Abend betrachtete und er merkte, daß er einen Fehler gemacht hatte, da war es zu spät. „Das ist Debosse, ja? Der, der lächelt?“ Zwecklos, es zu leugnen. Sie würde ihm nicht glauben. „Das ist er, ja.“ Er streckte sich auf der Couch aus. Wahrscheinlich war der Abend im Eimer. Womöglich die ganze Nacht … Einen Monat lang war er sehr zufrieden gewesen. Und selbstzufrieden; alles war perfekt geregelt: Zweimal in der Woche, am Dienstag und Freitag, kam er zu Danielle zum Abendessen und blieb bis zum nächsten Morgen bei ihr. Sie redete zwar manchmal von einer schöneren Zukunft, aber im großen und ganzen schien auch sie mit der Regelung zufrieden zu sein. Und nun … Danielle stand am Tisch und betrachtete noch immer das Foto. „Dieser Debosse sieht sehr jung aus“, sagte sie und wandte sich Guillaume zu, der in diesem Augenblick alles andere als jung aussah. Müde sah er aus, und er hatte eine Boxernase und von einem Netz roter Aderchen durchzogene Wangen. „Sehr jung? Glaub’ ich nicht. Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig mindestens. Falten um die Augen, hängende Schultern … Komm, gib mir das Foto zurück.“ 16
„Du kannst ihn nicht ausstehen, hm?“ „Darüber habe ich mir noch nie den Kopf zerbrochen, aber vielleicht hast du recht … Gib mir das Foto zurück; los! Sei doch nicht kindisch! – Nein, Debosse ist zu duckmäuserisch, zu höflich, zu …“ „Schön.“ „Er sieht gut aus, ja.“ „Das ist genau der Mann, den wir brauchen!“ Er sah sie einen Augenblick lang stumm an, wütend und ratlos zugleich. Verdammt noch mal, muß sie das wieder aufrühren? dachte er. Er hatte das längst erfolgreich verdrängt. Er habe natürlich geglaubt, daß auch sie … „Du wirst doch nicht die alte Geschichte wieder aufwärmen?“ „Ich habe sie nie kalt werden lassen.“ Sie hatte sich aus der Kommodenschublade ein Vergrößerungsglas geholt und hielt es über das Foto, um dieses lächelnde Gesicht noch genauer zu betrachten – dieses Gesicht, in das sie so große Erwartungen setzte. „Blaue Augen, ja?“ „Keine Ahnung.“ „Gerade, kurze Nase; Grübchen im Kinn …“ „Macht dir das Spaß?“ „Es ist wichtig.“ Guillaume sah sie an, sah die herrlichen Beine, den geschmeidigen Körper, den er nachher in die Arme schließen würde. Deshalb war er hier. Seit er Danielle kannte, kam er nur deswegen. Und er wußte, daß er davon nie genug haben würde … „Woran denkst du?“ „An meine Frau.“ Sie hatte das Foto auf den Tisch gelegt und stand jetzt vor ihm, zwei Schritte entfernt und unerreichbar. Sie musterte ihn, wie man einen geladenen Revolver betrachtet … Sie hat wieder mal so ein Stimmungstief, dachte er und nahm sich vor, Geduld mit ihr zu haben, 17
taktisch vorzugehen und notfalls ein bißchen mehr zu schwindeln als sonst. „Erzähl mir von deiner Frau.“ „Du kennst sie ungefähr so gut wie ich.“ „Ich hab’ sie nie gesehen.“ „Du hast sie ein paarmal vor dem Haus abgepaßt. An einem Nachmittag hast du sie sogar bis ins Cafe verfolgt.“ „Woher weißt du das?“ „Ich weiß es eben …“ Er wollte sie auf die Couch ziehen. Sie sagte nein. Er seufzte. „Worauf willst du eigentlich hinaus?“ fragte er. „Was willst du? Was suchst du?“ „Etwas schrecklich Albernes, Altmodisches. Man nennt es Glück.“ Er zuckte die Achseln und begann sehr langsam seine Nasenwurzel zu massieren – sein Lieblingstick. Er hatte sich nicht getäuscht: ein Stimmungstief. Aber darüber hinaus noch diese irrwitzige, ehrgeizige, überspannte Hoffnung … Glück? Er hatte nie darüber nachgedacht, ob er glücklich war oder nicht? Keine Zeit! Da war sein Beruf, seine Arbeit; da waren auch die paar Dinge im Leben, an denen man Spaß hat – mit Danielle zu schlafen, zum Beispiel. „Na ja“, sagte er versöhnlich, „ist ja kein Wunder – in der miesen Bude … Zieh doch um! Such dir eine andere Wohnung – größer, heller, hübsch möbliert. Und vor allem in einem Stadtviertel, das für mich günstiger zu erreichen ist … Hab’ ich dir übrigens schon … zigmal vorgeschlagen.“ „Lenk nicht ab! Welche Pläne hast du mit Debosse?“ „Keine. Gar keine. Vergiß das alles, ja? Endgültig.“ Sie fühlte, wie sie blaß wurde. Plötzlich fror sie. Alles brach in ihr zusammen. Sie stand wie versteinert da. Sie konnte es nicht fassen … Sie hatte geträumt. Sie hatte 18
diesen Monat in einem Traum gelebt – in einem Traum, der ihr von Guillaume suggeriert worden war. Mein Gott, dachte sie, wie oft hab’ ich mir das alles ausgemalt: ein Leben im Sonnenschein, ohne Probleme, ein glückliches Leben … Allein diese Aussicht auf eine sorgenfreie Zukunft hatte ihr geholfen, die undankbare Rolle zu ertragen, die sie im Augenblick in Guillaumes Leben spielte. Und jetzt hatte er mit einer Handbewegung, mit einem einzigen Satz alles vom Tisch gefegt – aus, weg, vorbei. Hör auf zu träumen. Fang von vorn an. Leb so wie früher. Leb dein altes, mieses, kleinkariertes Leben; es ist ja nur kurz … NEIN. In diesem Augenblick faßte sie den Entschluß, dieses alte Leben nicht wieder zu beginnen. Nie wieder; koste es, was es wolle. „Geh weg“, sagte sie, ohne die Stimme zu erheben. „Geh doch … Ich halte dich nicht.“ Sie sah seinen ungläubigen Blick. Sie sah, wie seine dicke Hand den Zigarettenstummel ausdrückte. Dann sah sie nur noch sein Gesicht. Er war aufgestanden, hatte sie an den Ellbogen gepackt und starrte sie an. Sie senkte den Blick. Er sagte sehr schnell, daß sie mit dieser Masche bei ihm nicht landen könne, daß er weder ein Chorknabe sei noch ein Vollidiot, daß er nicht daran denke wegzugehen – und ob das klar sei. Dann setzte er sich wieder hin, fand in seiner Jackentasche eine zerdrückte Zigarette und fügte hinzu, daß er ganz Ohr sei, falls sie ihm noch was zu sagen habe; sogar ihre Vorwürfe wolle er sich anhören – er habe ja Zeit. Zeit, dachte Danielle. Genau das, was ich nicht habe … Sie mußte handeln. Schnell handeln, sehr schnell. Aber es fiel ihr nichts ein. Gar nichts. Absolut nichts … Sie ließ sich in den Sessel gegenüber der Couch fallen und schlug die Beine übereinander. „Dieser Debosse“, sagte sie, „ist zumindest keine 19
Erfindung von mir. Du hast von ihm erzählt, damals, vor vier Wochen. Ich erinnere mich genau, weil ich an dem Tag darauf meinen Job gekündigt habe. Du hast gesagt …“ „Ich habe gesagt, daß er sehr gut aussieht, sehr arm ist und sehr ehrgeizig; ein Typ wie er, habe ich gesagt, schreckt vor nichts zurück … Das ist alles. – Na und? Ich habe mich eben getäuscht.“ „Das ist nicht alles, das weißt du genau. Und du hast dich nicht getäuscht.“ „Ich bitte dich – es war eine Kateridee! Ich bin doch nicht übergeschnappt … Bietest du mir einen Whisky an?“ „Bedien dich.“ Sie sah ihm nach, wie er in die Küche ging. Sie sah seine schwerfällige, alternde Gestalt und sagte sich, daß sie ihn nicht mehr liebte, daß sie ihn wahrscheinlich nie geliebt hatte … Ein Grund mehr, warum er sie heiraten mußte. Eine Kateridee? Er hatte sie gehabt, diese Idee. Jetzt träumte sie nicht. Und es wäre heller Wahnsinn, auf ihre letzte Chance zu verzichten. Sie, Danielle Fellegrini, war entschlossen, Madame Brassart zu werden. Und der kleine Debosse sollte ihr dazu verhelfen … „Willst du nichts?“ Sie sah auf, sah, daß er ihr ein dreiviertelvolles Glas hinhielt, schüttelte den Kopf und stellte fest, daß er sein Glas schon ausgetrunken hatte. „Du trinkst zuviel.“ „Ich trinke, damit ich dir zuhören kann … Redest du, oder rede ich?“ „Es hat sich ausgeredet. Keiner wird mehr versuchen, mir Katerideen einzureden … Morgen suche ich mir wieder eine Stelle. Und heute bitte ich dich zu gehen. Ich möchte allein sein.“ „Soll das ein Witz sein?“ „Seh’ ich so aus?“ Sie hatte sich erhoben. Sie stand vor ihm, bleich, mit 20
Ringen unter den meergrünen Augen. Sie war einen Kopf kleiner als er, aber sie stand aufrecht und sah ihn an. Sie sah, daß seine Lippen zitterten. „Was soll denn das alles? Worauf willst du hinaus?“ Sie hob die Schultern und machte mit dem schlanken Arm eine Bewegung, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. Das wisse er ganz genau, sagte sie. „Auf die Sache mit diesem Trottel Debosse?“ Wieder das Achselzucken, die gleiche Armbewegung. Aber diesmal in Richtung Vorplatz. Guillaume schüttelte den Kopf, als ob es ihm vor Erregung die Sprache verschlagen hätte. Dann holte er kurz aus und schlug Danielle mitten ins Gesicht. Er sah nicht, daß sie lächelte. Er sah nicht, daß sie strahlte. Sie hatte den Kopf schnell weggedreht und war ins Bad gelaufen. Er glaubte, daß sie ihre Tränen vor ihm verbergen wolle. Scheißspiel, dachte er, während er den Mantel anzog. Der ganze Abend versaut … Ich sollte bleiben; versuchen, die Sache ins Lot zu bringen … Aber er traute sich nicht, zu ihr zu gehen. Er setzte sich auf die Sessellehne und überdachte noch einmal die Situation. Einfach lächerlich! Er, der Große B, verschwendete seine kostbare Zeit … Du hast dich ganz schön verändert, seit du keine Krankenschwestern und keine halbwegs niedlichen Externen mehr im Operationssaal in die Ecke drängst … Keine hatte es je gewagt zu protestieren; manchen hatte es sogar Spaß gemacht, offensichtlich. Immer nach besonders komplizierten Eingriffen packte es ihn – dann brauchte er eine Frau. Zehn Minuten, eine Viertelstunde; mehr nicht. Danach sah er sie nicht mehr an, sie gingen mit gesenktem Kopf, manchmal mit Tränen in den Augen, oder sie lachten zu laut. Die meisten erzählten ihr Abenteuer dann zwei oder drei Kollegen, und am nächsten Tag wußte es die ganze Klinik. Doch darum hatte er sich nie geschert, im Gegen21
teil; solche Eskapaden gaben seinem Ruf als Grandseigneur eine schillernde Note. Er kümmerte sich nicht einmal mehr um die Meinung seines Schwiegervaters. Professor Gladieux, sein ehemaliger Chef, lebte inzwischen, berühmt und geachtet, im Ruhestand. Ihm hatte er das Opfer gebracht, zum katholischen Glauben überzutreten – die Hand von Mademoiselle Gladieux war nur um diesen Preis zu haben gewesen. Aber dies war die einzige Konzession, die er jemals wegen einer Frau gemacht hatte. Kaum verheiratet, hatte er das Spielchen mit den Krankenschwestern und Externen wiederaufgenommen. Im Operationssaal war er zu Hause; nur dort lebte er wirklich. Daher rührte vermutlich auch dieses zwingende Bedürfnis, dort eine Frau zu besitzen. Aber in seiner Wohnung an der Place Malesherbes, in der er seit zwanzig Jahren hauste und von der die Leute zu Unrecht glaubten, sie sei sein Zuhause – dort wartete eine Frau auf ihn; seine Frau, die ihn furchtbar langweilte. Und manchmal zwei Kinder, die ihm immer dann in die Quere liefen, wenn es ihm am wenigsten paßte. Er mochte Kinder nicht und wußte nichts mit ihnen anzufangen. Und jetzt war da Danielle. Eine solche Frau war noch nie in sein Männerdasein getreten. Seit er sie kannte, hatten die Krankenschwestern und Externen zu ihrem Erstaunen ihre Ruhe. Vielleicht liebte er Danielle; vielleicht war diese Sucht nach ihr das, was man Liebe nennt … War sie intelligent? Oder einfach nur hartnäckig und gerissen? Er wußte es nicht. Solche Fragen stellte er sich selten, wenn es um eine Frau ging. Entweder war sie schön und erreichbar – das war alles, was er von ihr verlangte –, oder sie war häßlich, und dann existierte sie nicht für ihn. Als Danielle wieder ins Zimmer kam, hatte er über zwanzig Minuten gewartet. 22
„Du bist hier?“ fragte sie. Es klang weder überrascht noch mürrisch. Sie ging um den Tisch herum in den Vorplatz, nahm ihren Mantel und hängte ihn um. „Du gehst aus?“ Seine Stimme klang fremd-heiser, ängstlich. Blöder Hund, schalt er sich. „Ich gehe, ja. Es sei denn, du entschließt dich zu gehen.“ Er sah ein, daß es keinen Zweck mehr hatte; ebensogut konnte man mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Vielleicht war es eine Laune oder ein Spiel … Er hatte sich niemals gern auf das Spiel mit Frauen eingelassen, er beherrschte es nicht. Spielchen, ja – aber nicht das Spiel. Das war nichts für ihn. Keine Zeit. Der Große B hatte keine Zeit für so etwas. Er schob sich an ihr vorbei, quälte sich ein Lächeln ab und sagte, daß er dieses dumme Mißverständnis bedaure. Auf der Türschwelle fügte er hinzu: „Auf bald …“ Als er gegangen war, trank sie mit einem Zug den Whisky aus, den er ihr gebracht hatte. Das Foto lag noch auf dem Tisch – er hatte es vergessen. Sie schob es in der Kommode zwischen einen Spitzenslip und ein Nylonunterkleid und beschloß, dem hübschen, ehrgeizigen und armen Debosse ein Geschenk zu machen, an das er sich ewig erinnern sollte.
4 Er wohnte in Asnières, in einer Zweizimmerwohnung ohne Bad, wo er schon mit seiner Mutter eintönige, aber friedliche Stunden verbracht hatte. Sie war vor einem Jahr an Asthma gestorben, und er ertappte sich des öfteren dabei, daß er sich nach ihr sehnte. Sie war die einzige Frau, die ihm nie auf die Nerven gefallen war. 23
Sie war ziemlich unscheinbar gewesen, die kleine Madame Debosse. Dunkelhaarig, in jeder Hinsicht reizlos; überdies vor den Jahren gealtert, weil die Arbeit, die sie sich für das Wohl, für das Studium, für die Zukunft ihres „Kleinen“ aufgeladen hatte, über ihre Kräfte gegangen war. Der „Kleine“ war ihr ein und alles; sie betete ihn geradezu an und fragte sich manchmal staunend, wieso ausgerechnet sie Urheberin eines solchen Wunderkindes sein konnte – daß der Vater auch nicht unerheblich zu diesem Erfolg beigetragen hatte, vergaß sie einfach. Sie hatte diesen Vater nur zwei- oder dreimal gesehen, dann war er verschwunden, ohne daß es ihr jemals in den Sinn gekommen wäre, nach ihm zu forschen. Seit seine Mutter tot war, lebte Vincent von dem lächerlichen Gehalt, das er als Externer verdiente. Er ernährte sich von einer Tasse Kakao und einer Scheibe Weißbrot am Abend und redete sich ein, daß dies vollkommen genug sei, daß er es sowieso haßte, sich vollzufressen, und daß er nach einer leichten Mahlzeit wesentlich besser arbeiten könne. Aber dieser Abend war ein besonderer Abend, nicht wie die anderen. Er hatte gerade erfahren, daß sein Chef, der Große B, in der Prüfungskommission sitzen würde … Daraufhin hatte Vincent beschlossen – nun gerade! –, sich eine Flasche Wein und Wurst zu leisten. Da er keinen Alkohol vertrug, versank er bald in eine Art von bitterer Melancholie, an der der Große B, ohne es zu ahnen, nicht unbeteiligt war. Vincent konnte ihn nicht ausstehen, und das beruhte auf Gegenseitigkeit – der Große B machte kein Hehl daraus … Garantiert würde er mit allen Mitteln versuchen, Vincent durch das Examen rasseln zu lassen … Falls das überhaupt nötig war. Falls er nicht ohnehin durchfiel. Es war sein dritter Versuch. Als dann im vergangenen Dezember wider alle Erwartungen sein Name wieder auf der Kandidatenliste stand, 24
hatte er sein Arbeitsprogramm um zwei Stunden täglich erweitert. Auch am Sonntag. Freizeit, Hobby, Vergnügungen aller Art – derlei kannte er ohnehin seit langem schon nicht mehr. Er erinnerte sich mit einer gewissen Wehmut an den letzten Film, den er vor drei Jahren gesehen hatte. Es war ein fünfzehn Jahre alter Western gewesen. Er trank den Wein aus und glaubte einen Kloß im Hals zu spüren – so als werde ihn gleich das heulende Elend überkommen. Er stand auf, um den Tisch abzuräumen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und schlug längelang hin. Er stand wieder auf und begann laut zu fluchen – über den Großen B, über Chefärzte ganz allgemein, über dieses Scheißleben. Während er den Teller und das Glas über dem verdreckten Ausguß spülte, überlegte er, ob es nicht das beste sei, einfach aufzugeben, auf die Facharztausbildung zu verzichten, sich irgendwann als praktischer Arzt niederzulassen. Davon hatte Mama immer geträumt … Seine Mutter. Sie lächelte ihm schüchtern aus ihrem Plastikrahmen vom Büfett her zu. Er erinnerte sich, wie bestürzt sie gewesen war, als er ihr mitgeteilt hatte, daß er wahrscheinlich die nächsten zehn Jahre seines Lebens damit zubringen würde, Prüfungen zu bestehen … Aber er machte sich keine großen Hoffnungen. Eine echte Chance hatte man eigentlich nur, wenn man vom Chef protegiert wurde. Und der Große B wird den Teufel tun, dachte er bitter. Wenn ich überhaupt so etwas wie eine Chance habe, dann heißt sie Arbeit bis zum Umfallen. Und dann mit der Prüfungsangst fertig werden. Prüfungsangst … Mein Gott, dachte er beim Schlafengehen, die hab’ ich jetzt schon … Sein Zimmer war neun Quadratmeter groß, die Decke niedrig und schmutzig, und die Wände zierte eine triste Blumentapete; Margeriten auf grauem Grund. Margeriten. Er liebt mich – von Herzen – mit Schmerzen … Von wegen. Er findet mich 25
zum Kotzen, dieser Brassart, dieses verdammte Schwein. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit … Vor dem Einschlafen erkannte er, daß ihn keine zehn Pferde davon abhalten könnten, nun doch in die Prüfung zu steigen. Hélène Accard war blond, vierundzwanzig Jahre alt, Externe beim Großen B und in Vincent Debosse verliebt. Sie sah ihm zu, wie er in den Hof der Klinik rollte. Er hockte auf seinem klapprigen Moped wie der Affe auf dem Schleifstein. „Sitz gerade, Debosse; der Chef ist schon da!“ Vincent trug über seiner alten Strickjacke einen zerknitterten graugrünen Anorak. Die Baskenmütze hatte er fast bis zu den Augen heruntergezogen. „Du kannst anziehen, was du willst – du siehst immer nett aus, mein kleiner Vincent.“ „Ich bin nicht dein kleiner Vincent.“ Obwohl sie sehr hübsch war, ließ sie ihn so kalt wie die anderen Mädchen auch. Sie ging ihm eher noch mehr auf die Nerven, weil sie fortwährend um ihn herumwuselte. „Wie soll ich dich denn anreden?“ „Am besten überhaupt nicht.“ Er hauchte in die von der Kälte geröteten Hände, nahm die Mütze ab und fuhr sich mit der Hand über das dichte schwarze Haar. Hélène ging neben ihm her und versuchte Schritt zu halten. „Weißt du schon das Neueste?“ „Nee“, knurrte er und machte noch längere Schritte. Sie mußte fast rennen, um mitzukommen. „Der Chef ist in der Prüfungskommission.“ „Na so was.“ Er sah sie gelangweilt an. „Und?“ Was für blaue Augen er hat, dachte sie. Sie strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn. Wahrscheinlich mag er glatte Haare nicht; ich hätte sie gestern abend eindrehen sollen … 26
„Aber das ist doch phantastisch!“ sagte sie. „Dann haben wir doch Chancen, mein kleiner Vincent!“ „Du vielleicht, ja.“ „Du auch! Der Chef knurrt alle an, aber im Grunde …“ Sie stockte. „Na?“ Er wandte ihr den Rücken zu, streifte Anorak und Strickjacke ab und zog den weißen Kittel an. „Ich verstehe dich nicht.“ Sie sprach sehr leise. „Du bist … du bist komisch, Vincent.“ „Na, dann lach doch! – So, und jetzt hab’ ich noch ’ne Kleinigkeit zu tun.“ Er hatte Krankenblätter für die Zugänge anzulegen, die der Große B oder einer seiner Oberärzte in den nächsten Tagen operieren würde. Vincent verlor immer die Geduld, wenn er die Patienten befragte, und das sah man seinen Berichten dann oft an. Er kritzelte sie hastig hin und machte gelegentlich orthographische Flüchtigkeitsfehler. Wenn Brassart etwas nicht leiden konnte, dann waren es orthographische Fehler, und er ließ keine Gelegenheit aus, Vincent die seinen vor versammelter Mannschaft unter die Nase zu reiben. Außerdem waren Vincents Aufzeichnungen oft schlampig und lückenhaft. „ ‚Frühere Erkrankungen: null‘? Was heißt das – frühere Erkrankungen null? Erstens gibt es keinen Patienten ohne Anamnese, und wenn es zweitens doch einen gibt, dann drückt man das anders aus!“ Vincent wiederum ließ seine schlechte Laune an den Patienten aus. Klare Auskünfte kriegt man ohnehin keine von den Leuten. Die einen schwafelten von allen möglichen eingebildeten Wehwehchen und vergaßen das einzige Symptom, das einen Anhaltspunkt für die Diagnose hätte geben können; den anderen mußte man mühsam aus der Nase ziehen, wie sie hießen und wann sie geboren waren. Es gab welche, die kannten ihr Geburtsdatum nicht. 27
An diesem Tag gab es vier Zugänge. Vincent wußte, daß es ausgeschlossen war, noch vor der Chefvisite die Krankenblätter anzulegen. Der Große B war als erster mit Charbonnier in Klausur gegangen. Jean Charbonnier war sein Lieblingsoberarzt und allgemein als Spitzel, Arschkriecher und ausgezeichneter Operateur bekannt. Hinterher sah sich der Chef die Frischoperierten an, und schließlich kam die Galavorstellung: die große Visite bei den Zugängen. Im ersten Stock lief Vincent der Stationsschwester über den Weg. Von Madame Robillot hieß es, daß ihr Wort bei Brassart Gewicht habe. Auf alle Fälle hatte sie selber Gewicht – neunzig Kilo, so glücklich verteilt, daß ihr rosiges Gesicht nett anzusehen, ja hübsch geblieben war. „Der Chef ist schon da, Monsieur Debosse.“ „Ich weiß. In letzter Zeit kommt er jeden Tag früher. Ist er krank – oder was?“ „Heute früh operiert er den Speiseröhrenkrebs … Was haben Sie gestern abend gegessen?“ Immer das gleiche. Seit sie Großmutter geworden und ihrer Mutterpflichten endgültig ledig war, bemutterte sie Debosse. Er war einmal so unvorsichtig gewesen, ihr zu erzählen, daß er sich praktisch von Kakao ernährte, wenn er nicht im Krankenhaus aß. Am nächsten Tag hatte sie ihm einen Henkelmann voll Rindsgulasch mitgebracht. Seitdem erfand er jedesmal, wenn sie fragte, ein reichhaltiges Menü, denn sonst kam sie wieder mit dem Henkelmann. „Wurst, ein Steak, Käse, Rotwein“, sagte er rasch. „Entschuldigen Sie bitte – ich habe meine Zugänge noch nicht gesehen.“ „Sie schwindeln ja!“ rief sie hinter ihm her. Er eilte mit großen, schlenkernden Schritten weiter und hatte gerade Zimmer 18 erreicht, als Hélène Accard ihn am Arm erwischte und zurückhielt. 28
„Laß es bleiben, Debosse; der Chef hat ihn schon gesehen. Er ist in zwanzig.“ „Hat er denn schon mit der Visite …?“ „Na klar! Himmelherrgott, beeil dich doch! Er hat eine Stinklaune. Um halb zehn operiert er den Speiseröhrenkrebs, und vorher will er noch sämtliche Zugänge sehen – bloß, um uns zu schikanieren, vermutlich.“ Die Tür zu Nummer 20 war offen. Drinnen stand der Große B inmitten seines Hofstaates und erinnerte an einen König aus dem Bilderbuch. Die Operationshaube tief in die Stirn gezogen, sehr aufrecht und erhobenen Hauptes – was sein Doppelkinn jedoch nicht mehr unsichtbar machen konnte – ließ er den Blick über seine Schüler wandern. Die schauten vorsichtshalber weg. Brassart beachtete den Patienten nicht; er hörte Paulet zu, einem blonden Internen mit ungewaschenen Haaren, der gerade etwas von seinen Untersuchungsergebnissen faselte. Er sprach sehr leise. Vincent glaubte zu verstehen, daß es sich, äh, um einen, äh, dringenden Fall handle; eine sichere Diagnose sei, äh, allerdings noch nicht … „Halb so wild“, meinte Brassart und wandte sich endlich dem Patienten zu. „Wir werden Sie eben operieren.“ Der Mann mochte um die Fünfzig sein; er lag mit fahlem Gesicht da und schloß die Augen, als er das hörte. Er murmelte, daß er große Schmerzen habe. „Na, na, na …“ Brassart tätschelte ihm die Hand. „In drei Tagen sind Sie wieder auf dem Damm!“ Als er in den Korridor hinaustrat, entdeckte er Vincent und wurde sofort innerlich unsicher. Es ärgerte ihn. Als ob ich Angst hätte vor diesem armseligen Trottel; als ob seine bloße Anwesenheit in mir so etwas wie einen Schuldkomplex … Quatsch! „Wenn Sie so weitermachen“, sagte er, „werden Sie eines Tages noch mal zu spät kommen, Monsieur Debosse.“ Vincent widersprach: so spät sei es noch gar nicht; er 29
komme jeden Tag um diese Zeit. „… aber das ist das erstemal, daß Sie Notiz davon nehmen.“ Außerdem wohne er in Asnières, und das seien fünfzehn Kilometer. Mit dem Moped. Brassart schoß auf ihn zu, als wolle er ihn schlagen. „Und wenn Sie in Fontainebleau wohnen, Debosse, Sie haben um Punkt halb neun in der Klinik zu sein! Wenn Sie damit überfordert sind, wenn Sie nicht das erforderliche Mindestmaß an Disziplin aufbringen, dann lassen Sie die Finger von der Chirurgie! Werden Sie lieber … Gehen Sie doch zum Film! Da haben Sie vielleicht eine Chance …“ Eine Anspielung auf das Examen – Vincent hatte sofort geschaltet. Und er lächelte. Er besaß die Stirn zu lächeln … Brassart trat ganz dicht an ihn heran, als sei er plötzlich kurzsichtig geworden. Vincent sah das Gesicht, das plötzlich riesengroß war, las darin Unsicherheit, Haß … Instinktiv wich er zurück. Da brach der Große B in schallendes Gelächter aus, setzte sich an die Spitze seiner ehrfürchtig zurückweichenden Untertanen und entschritt in Richtung seines Büros. Das Gefolge schloß sich an; Vincent marschierte als letzter. Aus, dachte er, im Eimer … Warum mußte ich ausgerechnet auf dieses Schwein ’reinfallen? Er war tatsächlich so naiv gewesen zu glauben, er werde Brassart an die eigene Jugend erinnern, weil er arm und ehrgeizig war. Aber wenn es etwas gab, woran Brassart unter keinen Umständen erinnert werden sollte, dann war es die Tatsache, daß er selber einmal arm und zugleich ein wahnsinniger Streber gewesen war. In seinem Büro angelangt, blieb der Große B stehen, schob die Operationshaube aus der Stirn und ließ einen geistesabwesenden Blick über seinen Hofstaat wandern. Er dachte an Danielle und fühlte sich seltsam angewidert. Während der letzten zehn Tage hatte er fünfzigmal 30
bei ihr angerufen – aber ebensogut konnte man eine Taubstumme anrufen. Sobald sie seine Stimme erkannte, legte sie einfach auf. Gestern abend hatte er versucht, mit Gewalt in ihre Wohnung einzudringen; da hatte sie ihm mit der Polizei gedroht … Dieses Aas! Er zog eine Celtique aus einem zerdrückten Zigarettenpäckchen, zündete sie an und merkte plötzlich, daß er nicht allein war. Er lächelte. „Wer operiert Zimmer zwanzig?“ „Ich“, antwortete Charbonnier. „Gut. Aber gut aufpassen, Charbonnier. Da ist verschiedenes unklar. Ich würde spontan auf Appendicitis tippen, wahrscheinlich kurz vor der Perforation …“ „Aber der Blinddarm ist doch längst ’raus! Haben Sie nicht die Narbe …“ „Hab’ ich.“ Brassart nickte. „Vor dreißig Jahren, sagt er.“ Charbonnier sah seinen Chef ratlos an. „Schaun Sie, Charbonnier – vor dreißig Jahren, da haben Sie noch in die Windeln gemacht … Damals gab es noch Witzbolde, die sich für Star-Chirurgen hielten. Wenn sie nicht wußten, was los war, dann haben sie dem Patienten eben mal den Bauch aufgeschnitten … Machen wir auch manchmal, klar – Probelaparotomie … Aber damals kam es vor, daß sie den Blinddarm nicht mal gefunden haben. Dann haben sie halt wieder zugenäht, und wenn’s gut ging, ist der Patient wieder gesund geworden … Es steht eins zu zehntausend, aber vielleicht ist Nummer zwanzig von einem solchen Witzbold operiert worden; wir müssen die Möglichkeit im Auge behalten. Dem Hausarzt können Sie’s nicht übelnehmen – der sieht die alte Narbe und ist überzeugt. Aber wir …“ Er hielt inne. Vincent hörte nicht zu. Er unterhielt sich flüsternd mit der kleinen Accard. „Debosse!“ Es klang wie ein Donnerschlag. 31
Vincent zuckte zusammen. Zaghaft trat er vor. „Debosse – entweder sind Sie so gut, daß Sie es für Zeitverschwendung halten, mir zuzuhören … Oder muß man Sie behandeln wie einen Volksschüler, der schwätzt?“ „Ich verstehe nicht, Monsieur …“ Vincent verstand tatsächlich nichts mehr. Großer Gott, dachte er, was hab’ ich ihm jetzt schon wieder getan? Er biß die Zähne zusammen. Die Müdigkeit, der fehlende Schlaf … Er hätte am liebsten losgeheult. „Sie verstehen nicht? Das überrascht mich gar nicht …“ Kann ich diesen kleinen Idioten nie mehr ansehen, ohne diese Angst, diese Scheißangst zu empfinden? Ohne daß alles zu verschwimmen, zusammenzufließen scheint: Danielle … meine Frau … Ich werde alt. Ich werde sterben, eines Tages. Und dieser Debosse, der einfach zurückstarrt, der den Blick nicht senkt … Aber er sieht heute schlecht aus, unser Adonis; Ringe unter den Augen, eingefallene Wangen, graue Gesichtsfarbe … „Sie übernehmen sich, Monsieur. Sie werden es nicht durchstehen.“ „Ich bereite mich auf die Prüfung vor, Monsieur. Ich arbeite sechzehn Stunden am Tag.“ „Ah, Sie arbeiten also? Unter diesem Aspekt habe ich die Dinge allerdings nicht gesehen. Ich hatte eher den Verdacht, daß Sie zuviel … na, unter uns Pfarrerstöchtern: daß Sie zuviel bumsen.“ Die Internen kicherten dreckig. Die Externen erstarrten zur Salzsäule. Hélène Accard dachte, jetzt dreht er durch, der Große B … Sie waren alle an seine schon nicht mehr zweideutigen Scherze gewöhnt, an seinen Sarkasmus und an seine Wutausbrüche. Aber diesmal war er zu weit gegangen … Sehr sonderbar irgendwie. Etwas stimmte nicht in dieser Geschichte mit Vincent. „Nein, Monsieur, ich bumse nicht. Dazu habe ich nicht die Mittel.“ Brüllendes Gelächter. 32
Brassart zündete sich am Stummel der alten eine neue Celtique an und hielt Debosse das Päckchen hin. „Nein, danke, Monsieur, am Vormittag rauche ich nicht.“ „Auch dazu keine Mittel, was?“ Vincent schüttelte stumm den Kopf. Er hätte am liebsten losgebrüllt, Brassart irgendwelche Grobheiten an den Kopf geworfen. Er tat es nicht. Er sah ihm nur starr in die Augen. Brassart stand breitbeinig vor ihm, ein Turm mit Schuhgröße 48, und wippte leicht auf den Fußballen. „Sie sind ein armer junger Mann, was, Debosse? Eines der letzten Exemplare der armen jungen Männer, die lieber verhungern, als auf Karriere zu verzichten?“ „So können Sie es ausdrücken.“ Der König machte eine königliche Geste: Sein Arm beschrieb einen großen Bogen und legte sich gewichtig um Vincents Schultern. „Sehen Sie sich das an, meine Herren!“ dozierte er pathetisch. „Bewundern Sie diesen herrlichen Jüngling, der es auf sich nimmt zu hungern, nur um Chirurg zu werden …“ Dann, übergangslos: „Mann Gottes, Sie stellen jeden orientalischen Märchenerzähler in den Schatten! Was soll der Quatsch? Heutzutage verhungert man nicht mehr, wenn man zwanzig ist, zwei Arme und zwei Beine hat und eine hübsche Visage!“ Vincent war knallrot geworden. Ich bring’ ihn um, dachte er. Diesmal spring’ ich ihm an den Hals und … Was will er mit diesem Affentheater eigentlich erreichen? Die Stationsschwester trat ein. „Die Nummer zweiundzwanzig ist fertig, Monsieur. Der Speiseröhrenkrebs.“ „Ich komme“, sagte Brassart. Es klang fast bedauernd. Er war schon im Korridor, als er plötzlich unvermittelt kehrtmachte und wieder zurückkam. „Debosse – Sie werden mir assistieren!“ 33
„Aber, Monsieur … Ich habe mich mit dem Patienten nicht befaßt. Mademoiselle Accard sollte doch …“ „Mademoiselle Accard wird sich mit den Zugängen beschäftigen … Sie lehnen doch nicht etwa ab, Debosse?“ „Nein, Monsieur“, sagte Vincent, und nun standen ihm wirklich Tränen in den Augen. Sogar von hinten sieht er gemein aus, dachte er, als er Brassart zum Operationssaal folgte. Er hatte Angst vor den furchtbaren Stunden, die ihm dort bevorstanden. Denn nur ein Narr könnte glauben, daß der Chef darauf verzichten würde, ihn zu quälen. Selbst während eines so langen und heiklen Eingriffs wie bei einem Speiseröhrenkrebs hatte der Große B noch immer seine ordinären Witze und Schweinereien losgelassen, wenn ihm danach war. Etwas, was dem die Schnauze stopft, dachte Vincent, das muß erst erfunden werden. Im Operationssaal jedenfalls wurde der Chef endlich ganz zu dem, was er wirklich war: zum Schwein. Zu einem genial operierenden Schwein.
5 Für Vincent Debosse begann alles an einem Februartag. Es begann mit der Prüfung. Bevor ihn das kleine Zimmer mit den tristen Wänden schluckte, das als Warteraum diente, hatte er den Kommilitonen noch einen langen Blick zugeworfen. Die Kommilitonen ihrerseits waren auf einmal wieder vergnügt und entspannt. Nun, sie würden morgen oder übermorgen an der Reihe sein. Wenn er nachher in das Amphitheater des Hörsaals trat, würden sie vielleicht auch diesen kleinen Stich verspüren, den er immer gefühlt hatte, wenn ein anderer als Kandidat hereingekommen war. 34
Seit drei Tagen war er jeden Morgen mit Zittern und Zagen in die Klinik gekommen – für nichts und wieder nichts. Aber jedesmal hatte er im Augenblick der Auslosung die gleiche Angst ausgestanden. Und heute war sein Name gezogen worden … Es ist soweit. Ich werde durchfallen. Ich werde nicht durchfallen. Ich sterbe. Ich werde … Himmelherrgott noch mal, hab’ ich denn überhaupt keine Spucke mehr im Mund? Sie waren zu zwölft und dachten alle ungefähr das gleiche. Sie hockten mit dem gleichen düsteren Gesicht herum, sahen abwechselnd grau, grünlich oder fiebrigrot aus. Zwölf Kandidaten. Zwölf junge Männer, über deren berufliche Zukunft in jeweils rund zehn Minuten die Würfel fallen würden. „Debosse, gib mir ’ne Zigarette … Mann, du siehst aus, als kämst du von ’ner Beerdigung!“ „Hier, nimm … Und du siehst aus, als käme ich von deiner Beerdigung.“ Der Pedell war klein und rundlich und hatte einen rosigen Schädel. Mit ruhiger Stimme rief er die Kandidaten auf: „Monsieur Delorme … Monsieur Durieux … Monsieur Even … Monsieur Depierre …“ Mit feuchten Händen und flatterndem Magen betete Vincent: Lieber Gott, bitte mach, daß ich … „ … Monsieur Debosse …“ Als fünfter. Vierzig Minuten Wartezeit. Das ist zu lang, das halte ich nicht aus … Aber er wüßte schon jetzt, daß es ihm in fünfunddreißig Minuten zu kurz vorkommen würde. Er mußte sich zusammenreißen, um nicht den Pedell beiseite zu stoßen, hinauszurennen, alles hinzuschmeißen … Delorme kam als erster dran, und was Vincent vorhin über sein Aussehen gesagt hatte, klang jetzt geradezu euphemistisch. Gleich kippt er um, dachte Vincent. Gleich macht er schlapp … „Kommst du, Debosse?“ 35
Jemand stieß ihn in die Folterkammer. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis die Reihe an ihm war. Genau wie die anderen … „Was regst du dich auf? Das heute, das ist ein müder Klacks gegen die Prüfungen, die noch kommen!“ „Halt keine Volksreden – setz dich hin. Was hier fehlt, ist ein anständiger Scotch!“ „Genau. Und belegte Brötchen …“ Sie redeten durcheinander. Sie schimpften über die Hitze, die schlechte Luft. Sie lockerten die Schlipsknoten. Sie redeten leise, aber es klang schrill und falsch. „Habt ihr im Fernsehen das Ding über unsere modernen Krankenhäuser gesehen? Dolle Schau, was? Die sollten lieber mal ’n Bericht über unsere Bruchbude hier machen, damit die Leute sehen, unter welchen Umständen wir arbeiten …“ Er war rothaarig und hatte tausend Sommersprossen im Gesicht. Er suhlte sich in seiner Fernsehgeschichte. Er stand auf, spielte sie vor: mit einer imaginären Kamera machte er einen weiten Schwenk über die Wände des kleinen Raumes, die früher vermutlich einmal gelb gewesen waren … Keiner achtete auf ihn. „Sag mal, Debosse, dein Chef sitzt doch in der Kommission? Na, Mann! Das wird doch ein Frühlingsspaziergang für dich!“ Soll ich ihnen erklären, was los ist? dachte er. Soll ich ihnen sagen, daß der Große B nicht nur ein Arschloch ist, sondern daß er offenbar auch nicht alle Tassen im Schrank hat – sonst würde er mich doch nicht mit diesem völlig unerklärlichen, geradezu pathologischen Haß verfolgen … Nee, Freunde, gerade weil mein Chef in der Kommission sitzt, werde ich auf den Bauch fallen … Schön und gut – ich hätte mal mit ihm reden sollen, so von Mann zu Mann. Aber das mach mal, wenn du keine Nacht mehr ausreichend schläfst, wenn du in einem Monat drei Kilo abgenommen hast – dann hast du näm36
lich nicht mehr den Nerv, klar? Na, und wozu denn auch? Ist doch scheißegal. Ist doch gelaufen, das Ding. Werd’ ich halt ein gewöhnlicher Feld-Wald-und-WiesenDoktor – wie vermutlich die meisten, die heute hier durch den Wolf gedreht werden … Er sagte gar nichts. Er zuckte die Achseln und schwieg. In der Folterkammer versuchte man die Zeit totzuschlagen. Und die Angst vor der Prüfung. „Heute abend fahr’ ich nach Courchevel! Kinder, heute abend schmeiß’ ich alle Bücher in den Schrank, und dann vergesse ich für zwei Wochen die ganze Medizin … Berge, Ski, Mädchen – ich hab’ schon geglaubt, das gibt’s nicht mehr. Seit zwei Jahren hab’ ich keinen einzigen Tag freigenommen.“ Alle erzählten im Grunde das gleiche; jeder sehnte sich danach, den großen Streß hinter sich zu haben und alle viere von sich zu strecken. Der Dicke, der an elfter Stelle drankam, war schon Familienvater; er wünschte sich wenigstens für ein paar Tage wieder ein normales Familienleben. Nummer sieben stieg bereits zum viertenmal in dieses Examen. Er wollte sich bis zur Bekanntgabe des Prüfungsergebnisses den Luxus von acht Stunden Schlaf pro Nacht leisten. Ein weiterer … „Monsieur Debosse!“ Vincent blieb auf seinem Stuhl sitzen wie angeklebt. Er begriff nicht. Nummer vier war doch gerade erst aufgerufen worden; er hätte noch acht Minuten Galgenfrist haben müssen. „Wie …“ Er mußte sich räuspern. „Wieso?“ „Nummer vier ist weggegangen. Kommen Sie …“ Vincent stand auf und folgte dem Pedell. War er das wirklich, dieser zu allem entschlossene Bursche, der da hölzern durch den langen, geraden Korridor marschierte und ohne Zögern in ein weißgestrichenes Zimmer trat, in dem zwei Tische standen? An dem einen saß noch Nummer drei, der andere wartete auf ihn … Als er nach 37
dem ominösen Papier griff, sah er, daß er zitterte. Dann verschwammen ihm die Wörter vor den Augen … Innere Medizin: Amöbendysenterie mit Leberbefall; Chirurgie: Nierenkrebs. Bevor er sich setzte, las er die Fragen noch einmal durch. Der Pedell zog eine große Eieruhr auf, stellte sie und baute sie vor Vincent auf. Der Wettlauf gegen die Zeit begann. Und jetzt kämpfe ich! beschloß Vincent. Eine ganze Minute lang war sein Kopf leer geblieben. Die Fragen behagten ihm nicht; sie steckten voller Fallen, besonders die aus der Inneren. Aber der Stoff war ihm immerhin vertraut … Er vergaß Brassart, vergaß, daß zwischen dem Chef und ihm ein gefährlicher, ein ungleicher Kampf entbrannt war, daß es nicht nur um den Ausgang dieser Prüfung ging. Er stürzte sich in die Arbeit und kritzelte drauflos wie ein armer Irrer. Als Debosse in den Hörsaal trat, merkte Brassart, daß er seit Beginn der Prüfung nur eines im Kopf gehabt hatte: Danielle. Die ersten drei Kandidaten hatten ihren Text stockend heruntergeleiert – unglaublich, in welchem Maße diese jungen Leute heutzutage die Hosen voll hatten! Bei der Inneren Medizin hatte er überhaupt nicht zugehört und bei der Chirurgie nur mit halbem Ohr … Er war fertig. Zwanzig Tage ohne Danielle hatten ihn fertiggemacht. Er hatte das Interesse an diesem Spiel verloren, das er früher so ernst genommen hatte. Jeden Tag hatte er sich eingeredet, daß es der letzte sei, an dem sie Widerstand leistete, daß sie nachgeben werde, nicht auf ihn verzichten könne. Dabei war er es, der nicht verzichten konnte … Schreckliche Vorstellung. Es konnte nicht schlimmer sein, wenn einem die Luft ausging. Bleich, aber sehr gerade ging Vincent zu dem kleinen Schreibtisch, an dem man den Löwen zum Fraß vorge38
worfen wurde, und setzte sich. Hinter ihm saßen im ansteigenden Halbrund die Kommilitonen, vor ihm an dem riesigen grüngedeckten Tisch seine zehn Peiniger, bereit, ihn in der Luft zu zerreißen: die Prüfer. Es gelang ihm, fast ohne zu zittern seine Blätter auf den Schreibtisch zu legen. Er hat zuviel geschrieben, dachte Brassart; er hat sich in Einzelheiten verloren. Die Zeit wird ihm nicht reichen. Auch hier gab es einen Wecker: zehn Minuten lang durfte er Doktor spielen, keine Sekunde länger. … Häufigste Komplikationen der hauptsächlich in den Tropen auftretenden Krankheit … Ich träume, dachte Vincent. Das bin nicht ich, der da spricht, das ist nicht meine Stimme, dieses gräßliche mechanische Geräusch, auf das offenbar keiner hört … Er schaute sie alle an, außer Brassart, der ihm fast genau gegenübersaß. Alle blickten ziemlich gelangweilt. Außer Brassart, der von diesem fünften Kandidaten geradezu fasziniert zu sein schien. Zuhören tat er ihm allerdings auch nicht. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Er beschäftigte sich mit einem Problem, das augenscheinlich unlösbar war. Auf Danielle zu verzichten schien ihm plötzlich so schrecklich, daß es wie ein Schmerz war, wie eine offene Wunde. Er fühlte, wie er blaß wurde. … Symptomentrias: schmerzhafter Stuhldrang, nicht exakt definierbare Leibschmerzen, Lebervergrößerung mit Fieber … Debosse. Debosse war der Schlüssel. Und dieser Schlüssel liegt in Reichweite deiner Hand … Hatte das eben der Kandidat Nummer fünf geflüstert – Nummer fünf, der ihn nicht ansah, aber den er nicht aus den Augen ließ …? Plötzlich lächelte er. … kein Bauchwasser, keine Leberinsuffizienz … Seine Stimme klang wieder normal. Er wandte sich nach ganz links außen, wo der Gynäkologe saß, ein 39
Glatzkopf mit Brille, der ganz lustig aussah. Der hört mir auch nicht zu, dachte Vincent und schielte auf den Notizblock des Internisten, auf dem ein kompliziertes Muster aus Schlängellinien entstand. Mechanisch wanderte sein Blick weiter und blieb am Gesicht des Großen B hängen. Der Große B lächelte. Er lächelte ihm zu, ihm, Vincent Debosse … Ein Schauder überlief ihn. … folgende diagnostischen Kriterien: Erstens, die Anamnese … Großer Gott, der macht sich über mich lustig. Wahrscheinlich rede ich gerade fürchterliches Blech, was weiß ich … Gar nichts weiß ich. Ich weiß überhaupt nichts mehr. … extrem abgemagert und von gelblich-schmutzigbrauner Gesichtsfarbe … Dieses ewige Grinsen macht mich noch rasend. … schmutzig-brauner Gesichtsfarbe … Aus. Vorbei. Da war es, das Loch. Die völlige Leere. … Gesichtsfarbe … Wie eine zerbrochene Schallplatte. Verzweifelt blätterte er in seinen Notizen, aber es war zwecklos – dort standen nur Stichworte zu den verschiedenen Komplexen … Als er wieder hochsah, blickte er in Brassarts breites Gesicht, das ganz weiß geworden war. Die Augen des Chefs schienen ihn anzuflehen. Vincent räusperte sich. … chronischer Verlauf mit Rezidiven … Er fand den Faden wieder und brachte es stotternd zu Ende. Aber es blieben ihm nur noch vier Minuten für das Chirurgie-Thema. Er haspelte es mit rasender Geschwindigkeit herunter, ohne aufzusehen, ohne Überzeugungskraft. Ein wichtiges Detail ließ er aus. Na schön, dachte er und stand auf. Das wäre in die Hose gegangen. Sollen sie mich halt versenken. Und wenn ich nächstes Jahr nicht den Mut zum vierten Anlauf aufbringe … Ach, Scheiße! Es muß auch Landärzte geben. 40
Während er seine Blätter zusammenraffte, fiel sein Blick auf Brassart. Der sah ihn jetzt nicht mehr an; er hatte sich Gautrelet zugewandt, dem Neurochirurgen, und diskutierte mit großen Gesten. So schießt man die Leute ab, dachte Vincent. Gautrelet war der Vorsitzende der Prüfungskommission und ansonsten Brassart in der Universitätshierarchie gleichgestellt. Er hatte zwei Schüler, die er durch diese Prüfung boxen mußte, zwei Schüler, die ihm sehr am Herzen lagen. Der Große B hatte leichtes Spiel gehabt: Gautrelet würde bei Debosse, er bei Gautrelets Kandidaten nachhelfen – streng nach der Spielregel … Gautrelet machte sich allerdings keine Illusionen hinsichtlich der Meinung der restlichen Prüfer. Dieser Debosse war nicht gerade brillant gewesen. Objektiv betrachtet, verdiente er 18 von den maximal 30 Punkten. Es würde nicht ganz leicht sein, ihn auf die erforderlichen 25 hochzuhandeln. Bei den ersten drei Kandidaten hielt sich Brassart aus der Sache heraus. Die allgemeine Meinung war gewesen, daß diese drei gerade so den Durchschnitt verdienten. Sie hatten ihn bekommen, keinen Punkt mehr; niemand interessierte sich für sie. „Debosse, Vincent …“ Der Vorsitzende wandte sich an die fünf Internisten. „Zuerst lief es ausgezeichnet, aber dann blieb es doch ziemlich oberflächlich“, meinte Ranquet, ein GastroEnterologe mit galligem Teint. „Ich schlage acht Punkte vor.“ „Sie scherzen wohl“, sagte Brassart freundlich … Besser gleich eingreifen, dachte er. Wenn die Idioten erst anfangen, sich querzulegen … Er lächelte. „Natürlich bin ich als Chirurg hier nicht so kompetent, aber immerhin habe ich Debosse zugehört, was der eine oder andere von Ihnen, meine Herren …“ Er hielt inne und sah die Kollegen der Reihe nach an. „… wohl nicht von sich behaupten kann! Debosse ist mein Schüler; ich kenne ihn. Ein hochbegabter Junge. Er hat sich nur vor Prüfungs41
angst fast in die Hose gemacht. Möglich, daß seine Ausführungen für einen Gastro-Enterologen nicht vollkommen zufriedenstellend waren. Mit dem chirurgischen Thema ist er jedenfalls glänzend fertig geworden, und …“ „Da bin ich aber anderer Ansicht“, unterbrach ihn Argagnan, ein junger Chirurg, von dem Brassart noch nie etwas gehört hatte. „… glänzend fertig geworden“, wiederholte der Große B, als sei Argagnan Luft. „Debosse hat sich kurz gefaßt; er hat sich nicht mit nebensächlichen Details aufgehalten. Also, ich würde sagen … vierzehn für die Chirurgie und elf für die Innere.“ „Das ist doch absurd!“ rief Argagnan. „Ich bin großzügig: neun für die Chirurgie.“ „… und sieben für Innere Medizin“, ergänzte Vaissière, der Pneumologe, dem es bisher nicht gelungen war, ein Ordinariat zu ergattern, und der den Großen B nicht ausstehen konnte. Brassart lächelte noch immer. Das Spiel amüsierte ihn wieder. Es amüsierte ihn köstlich. Schade, daß Danielle nicht zuhören konnte. Gautrelet sagte: „Debosse hat einen ausgezeichneten Eindruck auf mich gemacht …“ Er sprach rasch und leise. „Ich schlage vor, vierzehn Punkte für Chirurgie. Und da Brassart uns versichert, daß sein Schüler es verdient, möchte ich den Herren Internisten nahelegen, weniger streng zu urteilen.“ „Aber ich bitte Sie!“ Vaissière verstand offensichtlich die Welt nicht mehr. „Debosse verdient nicht mehr als sieben Punkte für die Innere!“ „Und neun für die Chirurgie“, beharrte Argagnan. Brassart lächelte nicht mehr. Das war kein Spiel mehr; es war Kampf. Kampf um Danielle. Und den durfte er auf keinen Fall verlieren … Er stand auf, sammelte seine Unterlagen ein, verneigte sich leicht vor den anderen 42
Kommissionsmitgliedern, sah neun verwirrte Gesichter, dachte, gebt’s doch auf, ihr armen Idioten, und ging langsam zur Tür. „Brassart!“ In Gautrelets Stimme lag mehr als Verwirrung. Schon eher Angst. Brassart blieb stehen und wandte sich um. Totenstille. „Ja, bitte?“ sagte der Große B. „Hören Sie, Brassart …“ Der Vorsitzende suchte nach Worten, „Ich bin sicher, daß die Herren Ihren Standpunkt verstehen und … und sich bemühen werden, Ihnen entgegenzukommen – nicht wahr, meine Herren?“ Fast flehend sah er in die Runde, versuchte die eisigen Gesichter aufzutauen, sein stilles Übereinkommen mit Brassart zu retten. Der Gastro-Enterologe gab als erster nach. Ranquet hatte selber einen Schüler durchzubringen, der aller Wahrscheinlichkeit nach morgen dran sein würde. Und dann Brassarts Schwiegervater an der Académie de Médecine … Er seufzte. Nein, es war nicht gut, dem Großen B etwas abzuschlagen. Brassart hatte wieder Platz genommen. „Ja, also … vierundzwanzig Punkte für Debosse? Einverstanden?“ „Der nächste!“ sagte Gautrelet hastig. „Wir haben schon genug Zeit verloren.“
6 Vier Wochen. Vier Wochen lang hatte sie durchgehalten. Jetzt bringt sie es auch fertig, dachte Brassart, mich ganz abzuservieren … Er hatte – obwohl er sich einmal geschworen hatte, das nie zu tun – einen Brief geschrieben, in dem von dem Prüfungskandidaten Vin43
cent Debosse die Rede war und auch davon, wie er, Guillaume, seinen Schützling mit großem taktischem Geschick durch das Examen geschaukelt hatte. Beim Wiedersehen – das ja wohl bald zu arrangieren sei, nicht wahr? – werde er ihr berichten, was er mit Debosse noch alles vorhabe. Danielle hatte postwendend geantwortet. Und lakonisch: Wie geht es weiter? Und nun litt er. Er litt so offensichtlich, daß sich seine Frau Sorgen machte. Hat er beruflichen Ärger? fragte sich Louise Brassart. Oder gibt es Probleme mit einem Patienten, einem besonders komplizierten Fall? Louise Brassart war weder kompliziert noch dumm. Einzig und allein berufliche Dinge konnten ihrem Mann so zu schaffen machen, daß er keinen Appetit mehr hatte und so schlecht aussah. Sein Beruf war das einzige, was ihn interessierte, das wußte sie schon seit langem. Der Grund für die Veränderung in seinem Wesen konnte nur beruflicher Natur sein. Andererseits … Seit einigen Tagen wurde sie aus Guillaumes Blick nicht mehr schlau. Dieser Blick, der seit sieben Jahren gleichgültig über sie hinweggegangen war, ruhte jetzt beständig, bei jeder Gelegenheit bei ihr. Es war schon fast peinlich und irgendwie unpassend bei einem Ehemann, der ostentativ so wenig Wert darauf legte, ihr Liebhaber zu sein. „Hab’ ich einen schwarzen Fleck auf der Nase, Guillaume?“ Sie versuchte zu scherzen. Aber er ging nicht darauf ein. Düster musterte er seine Frau; er entdeckte sie von neuem: klein und schlank, mit einem feinen Profil und kurzen, sehr widerspenstigen und sehr braunen Haaren, die zu bändigen ihr nur gelang, wenn sie sie unter einem falschen Knoten im Nacken zusammenraffte. Er sah, daß sie schön war, sanft, vollkommen. Er hatte sie nie geliebt. Aber jetzt, fand er, mußte er ihr aufmerksam begegnen; es war Voraussetzung für seinen Pakt mit Danielle. 44
Einige Tage nach dem Examen erkundigte er sich telefonisch nach den Ergebnissen. Seinem Schützling fehlte ein Punkt. Er hatte im Mündlichen ausgezeichnet, im Schriftlichen jedoch mäßig abgeschnitten; er wurde nur provisorisch als Interner zugelassen und mußte die Prüfung im nächsten Jahr wiederholen. Brassart war wütend; es ging schon ungerecht zu im Leben … „Sind Sie sicher, daß ihm ein Punkt fehlt? Sie haben sich nicht geirrt?“ „Ausgeschlossen, Monsieur.“ „Bitte schauen Sie trotzdem noch mal nach … Debosse, mit D wie … wie Damokles …“ Vom anderen Ende der Leitung wiederholte man ihm dreimal das Ergebnis. Er knallte den Hörer auf die Gabel. Am nächsten Tag mußte Brassart eine Entscheidung treffen, der er auf einmal nicht mehr die Bedeutung beimessen konnte, die sie verdient hätte. Als ihm Vincent in der Klinik über den Weg lief, sprach er ihn an. „Tut mir leid, mein Junge; es hat nicht ganz geklappt … Es muß am Schriftlichen liegen; ich sehe keine andere Erklärung.“ Es hatte sich bis zu Vincent herumgesprochen, daß der Große B seinetwegen auf die Barrikaden gegangen sein sollte. Er hatte es schließlich geglaubt. „Ich möchte Ihnen trotzdem danken, Monsieur. Ich …“ „Aber ich bitte Sie, Debosse! Danken Sie mir später … Nein, ganz was anderes: Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen … Kommen Sie in mein Büro.“ Vincent ließ sich widerwillig am Arm nehmen. Brassarts Feindseligkeit war ihm noch lieber als diese unerwartete Liebenswürdigkeit. „Setzen Sie sich, Debosse.“ Vincent trat von einem Fuß auf den anderen und tat so, als habe er nichts gehört. Er sah das abgemagerte Gesicht des Chefs, die kleinen grauen Augen, die weder 45
böse noch gut blickten, in denen er nur kalte Berechnung las … Er machte sich auf das Schlimmste gefaßt. „Setzen Sie sich doch, Mann Gottes … Na also! Zigarette?“ Vincent lehnte dankend ab und sagte, daß er am Vormittag nicht rauche. Und Brassart, der noch nicht recht wußte, wie er es anfangen sollte, erinnerte sich plötzlich an die alberne Szene, die er Debosse kurz vor der Prüfung gemacht hatte. „Hören Sie, mein Junge, es tut mir leid, daß ich in letzter Zeit … Na, daß ich ein bißchen mit Ihnen Schlitten gefahren bin.“ „Schlitten gefahren?“ Große Augen mit langen schwarzen Wimpern. Wie eine Puppe sieht er aus, dachte Brassart angewidert. „Ach, Sie wissen sehr gut, was ich meine, Debosse!“ „Ich hab’s vergessen, Monsieur.“ „Gut, ausgezeichnet; um so besser. Hören Sie mal zu …“ Er drückte seine Zigarette aus, schob den riesigen Aschenbecher beiseite, seufzte und zündete sich eine neue Celtique an. Er bekam diesen Debosse einfach nicht in den Griff. „Tja, Debosse … Ich habe in letzter Zeit viel über Sie nachgedacht – schließlich hab’ ich auch mal von trockenem Brot und Käse gelebt. Als ich in Ihrem Alter war, da ging’s mir mindestens so dreckig wie Ihnen heute …“ Er redete schnell, abgehackt. Er sah Vincent nicht an. Er wagte es nicht, in die Puppenaugen zu sehen. „Ich kenne also Ihre Schwierigkeiten aus eigener Erfahrung … Sie haben keine Eltern mehr?“ „Meine Mutter ist vor einem Jahr gestorben, Monsieur. Meinen Vater kenne ich nicht. Ich habe ihn nie gesehen.“ Auch das noch. Brassart unterdrückte ein Grinsen. Ein Bankert. Der reinste Groschenroman … „Gut, Debosse; hören Sie mir zu. Ich möchte Ihnen helfen – fra46
gen Sie mich nicht warum, ich weiß es selber nicht … Sie brauchen nicht sofort zu antworten; lassen Sie sich meinen Vorschlag durch den Kopf gehen: Sie ziehen zu mir. Meine Wohnung ist sehr groß; zehn Zimmer, drei Dienstboten. Meine beiden Söhne sind im Internat … Sehen Sie, meine Frau hat sich eigentlich immer fünf oder sechs Kinder gewünscht; deshalb hat sie vor zwanzig Jahren diese große Wohnung genommen. Sie würde sich freuen, jemand wie Sie im Haus zu haben, Debosse. Sie langweilt sich ein bißchen, seit unsere Söhne aus dem Haus sind … Sie kriegen Ihr Zimmer mit eigenem Bad; essen können Sie mit uns. Und Sie können sich in aller Ruhe auf das nächste Examen vorbereiten – da müssen Sie nämlich unter den ersten sein, Debosse! Also, das Zimmer steht für Sie bereit.“ Vincent senkte den Kopf. Seine Zunge war trocken. Das ist eine Falle, dachte er. Er hält mich zum Narren. Er will mich total in die Pfanne hauen … Er wollte aufstehen, aber Brassarts starrer Blick hielt ihn fest – ein Blick, in dem etwas Naives lag. Und Angst. Sehr sonderbar. Er sagte: „Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu … Ich versteh’ das alles nicht, Monsieur. Ein Witz soll das doch wohl nicht sein?“ „Ja, glauben Sie, ich habe Zeit für geschmacklose Witze? Ich meine das sogar sehr ernst! Ich lege Wert darauf, Ihnen zu helfen. Denken Sie darüber nach, und geben Sie mir Ihre Antwort morgen.“ Er war so felsenfest davon überzeugt, daß Danielle einzig und allein mit dieser Lösung zurückzugewinnen war, daß er Vincent in diesem Augenblick kaltblütig hätte erwürgen können, wenn er das Angebot ausgeschlagen hätte. „Gut, Monsieur; ich werde es mir überlegen. Es ist wirklich sehr nett von Ihnen. Ich weiß nicht, wie ich …“ Er war aufgestanden, stand linkisch da und zog den hübschen Kopf ein. Wer glaubt schon an Wunder? 47
„Danken Sie mir nicht, Debosse. Bis morgen!“ An der Tür reichte er ihm die Hand.
7 Während der ersten fünf Jahre ihrer Ehe hatte Louise Brassart geglaubt, ihren Mann zu lieben. Aber eines Tages hatte sie durch eine einfache Schlußfolgerung entdeckt, daß sie im Irrtum war: Guillaume betrog sie, und es machte ihr nichts aus. Sie spürte keine Eifersucht; sie fand es nur geschmacklos und ein bißchen peinlich dem Personal gegenüber. Louise war immer ein vernünftiger Mensch gewesen. Sie hatte die große Liebe nicht erlebt – gut. Beziehungsweise nicht gut; aber daraus machte sie kein Drama. Es gab noch andere Dinge im Leben. Sie hatte gesunde, intelligente Kinder; sie konnte im Grunde tun und lassen, was sie wollte – reiten zum Beispiel, in Chantilly, wo sie ein altes Haus besaß, das ihr Vater ihr geschenkt hatte, oder im Sommer an der Côte d’Azur nach Herzenslust mit Freunden durch die Nightclubs von Cannes bummeln. Guillaume haßte die Côte d’Azur und ließ sie immer allein fahren. Sie sah überdies sehr gut aus für ihre achtunddreißig Jahre; ihr Körper war schlank und geschmeidig wie der eines jungen Mädchens. Aber außer ihr selbst wußte das niemand zu schätzen. Guillaume hatte ihr Schlafzimmer seit sieben Jahren nicht mehr betreten. Es machte ihr nichts aus; im Gegenteil – auf diese Weise konnte sie ungestört schlafen. Aber etwas anderes beunruhigte sie: Seit drei Monaten kam ihr Mann an zwei Abenden in der Woche überhaupt nicht nach Hause. Das ließ darauf schließen, daß er ein festes Verhältnis hatte. 48
Zuerst hatte Louise versucht, sich die Geliebte ihres Mannes vorzustellen: Wie mochte diese Frau aussehen? Es war ein hübsches Spiel, fand sie. Ihr Beichtvater, dem sie davon erzählte, war anderer Ansicht und hatte ihr geraten, solche verdächtigen Gedanken zu unterdrücken. Daraufhin hatte sie es gelassen. Sie war ein vernünftiger, ruhiger Mensch. In den letzten Wochen allerdings war Guillaume jeden Abend nach Hause gekommen. Er brachte einen großen Teil der Nacht damit zu, in seinem Zimmer auf und ab zu laufen, und hielt damit Louise wach, die nebenan schlief. Er sah sehr unglücklich aus, und er tat ihr richtig leid. Gleichzeitig fand sie, daß es offenbar ganz gut war, wenn man die große Liebe nie erlebt hatte so wie sie. Die große Liebe brachte augenscheinlich Leiden mit sich. In ihrem Mitgefühl war Louise geneigt, Guillaume jeden Gefallen zu tun; aber als er ihr vorschlug, Vincent Debosse in der Wohnung aufzunehmen, war sie so verblüfft, daß sie es spontan ablehnte. Sie saßen sich, wie praktisch an jedem Abend, in dem großen Eßzimmer gegenüber. Roberte servierte. Obgleich sie das nun schon seit zwanzig Jahren tat und sozusagen zum Mobiliar gehörte, wartete Guillaume, bis sie das Zimmer verlassen hatte, ehe er auf die Sache zurückkam. „Versteh das nicht falsch“, sagte er. „Es war schließlich nicht seine Idee – Debosse ist ein schüchterner Junge, sehr bescheiden. Außerdem steht noch gar nicht fest, ob er überhaupt will.“ „Also warum dann das Ganze?“ Louise fragte sich, was Guillaume wohl im Schilde führte. Er war noch nie großzügig gewesen. Hatte denn dieser Debosse womöglich in irgendeiner Form „gute Dienste“ fragwürdiger Natur erwiesen? „Ach, weißt du – er erinnert mich an meine eigene 49
Jugend … Ich hab’ dir nie davon erzählt, aber ich hab’s auch nicht leicht gehabt damals.“ Louise unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte ihm nie gesagt, daß sie Bescheid wußte. Guillaumes Eltern waren nicht gerade arm wie die Kirchenmäuse gewesen. Aber sie hatten auch keine großen Sprünge machen können. Kleinbürgertum, Wohnküchenmief … Und das wollte er um jeden Preis vergessen. „Wie ist er denn, dein Debosse?“ „Bildhübsch“, antwortete er mechanisch. „Bildhübsch?“ Er sah ihren verständnislosen Blick und nannte sich einen Idioten. Wenn er so weitermachte, würde Louise bald alles durchschauen … Durchschauen? Nun, einstweilen gab es da noch nicht viel zu durchschauen. Nur, daß Debosse einziehen sollte, dieser Kretin. Und daß Danielle … Er seufzte, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und wich Louises sehr dunklen, sehr sanften Augen aus. „Ich meine, er ist nicht nur hochbegabt, sondern er sieht obendrein auch noch verdammt gut aus.“ „Ach ja?“ „Ja. Und er arbeitet wie ein Besessener. Er könnte eine glänzende Karriere machen, wenn nicht diese materiellen Sorgen wären, wenn er wenigstens genug zu essen bekäme.“ „Und nur weil er eine Kreuzung von Adonis und Sauerbruch ist, soll er jetzt bei uns wohnen und essen?“ Er zuckte die Achseln. Sie macht sich über mich lustig, dachte er. Gleich fang’ ich wieder mal an zu stottern. Wäre nicht das erstemal in solchen Gesprächen … Hastig trank er sein fast volles Weinglas aus. „Na schön“, sagte er, „sprechen wir nicht mehr davon. Du hältst ja anscheinend nichts von dem Vorschlag.“ „Sprechen wir davon, Guillaume.“ Sie hatte sich erhoben und stand vor ihm – schlank, 50
elegant, kühl. Sie war jetzt fest davon überzeugt, daß da etwas anderes dahintersteckte – etwas, das weder mit Caritas noch mit Nostalgie zu tun hatte, „Wenn du glaubst, daß dieser junge Mann es verdient, unterstützt zu werden“, sagte sie, „dann will ich dir nicht im Weg stehen.“ Guillaume lächelte schief. „Übereile nichts! Überleg’s dir lieber noch mal.“ „Ich habe es mir überlegt. Wann soll er kommen?“ „Wann du willst.“ Wie ungeschickt, wie töricht er sich anstellt, dachte sie amüsiert. Er stand gleichfalls auf, faßte sie an den Ellbogen und sah sie lange schweigend an. „Du bist wunderbar“, sagte er schließlich. „Nein, Guillaume; ich bin neugierig.“ Sie entzog sich sanft seinem Griff und wandte sich zum Gehen. „Laß ihn bald kommen, ja?“ sagte sie noch über die Schulter. Das war der Abend, an dem es für Louise Brassart begann.
8 Der lange Korridor knickte links ab, dann rechts, und ganz am Ende befand sich sein Zimmer. Das Fenster ging auf einen stillen, ganz hübschen Gartenhof hinaus. Das Zimmer war großbürgerlich, also ziemlich unpraktisch eingerichtet. Seine Bücher mußte er zum Teil im Kleiderschrank verstauen, weil sonst nirgends Platz dafür war. Der viel zu kleine Rokoko-Schreibtisch war mit zerbrechlichen Nippessachen beladen, die er irgendwo anders würde abstellen müssen – im Bad vielleicht … Wenn ich überhaupt hierbleibe, dachte er. 51
Er saß sehr aufrecht auf der äußeren Stuhlkante wie ein schüchterner Gast und grübelte. Am Abend zuvor hatte er sich Hélène Accard anvertraut, und die hatte ihm dringend abgeraten. Tu’s nicht, Vincent – das ist eine Falle! Der Chef kann dich nicht ausstehen, das sieht ein Blinder mit dem Krückstock. Laß dir eine Ausrede einfallen, irgendeine. Aber zieh nicht zu ihm! Beim Suchen nach einer Ausrede war ihm dann aber klargeworden, daß doch einiges dafür sprach. Er konnte sich in aller Ruhe auf die nächste Prüfung vorbereiten; er hatte sein geregeltes Essen und brauchte sich nicht um den Haushalt zu kümmern; er sparte Geld, konnte sich einen neuen Anzug leisten … Das alles war verführerisch. Und heute früh hatte er zugesagt, aber mit bebender Stimme und hauptsächlich aus Angst, eine Ablehnung später bitter bereuen zu müssen. Jetzt saß er da, kaute an den Fingernägeln und dachte, also gut – beginnen wir ein neues Kapitel in der rührenden Geschichte vom armen jungen Mann … Er war Madame Brassart vorgestellt worden, kurz und schmerzlos; es hatte keine volle Minute gedauert. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Madame! – Ich bitte Sie, Monsieur … Eine Klassefrau. War sie eigentlich hübsch? Er hatte ihr nicht ins Gesicht gesehen. Brassart hatte ihn höchstpersönlich zu seinem Zimmer begleitet. Richten Sie es sich ein, Debosse. Und wenn Sie was brauchen, fragen Sie Roberte; die weiß hier Bescheid … Roberte wird Sie auch zum. Abendessen rufen. Die erste Mahlzeit bei den Brassarts. Vor ihr fürchtete er sich am meisten. Er würde Konversation machen, Fragen beantworten, womöglich Erklärungen abgeben müssen … Erklärungen? Was sollte er denn erklären? Daß der Große B offenbar durchgedreht hat? Erst putzt er sich jahrelang die Stiefel an mir ab, und jetzt … Er stand auf, trat ans Fenster und schaute in den Gar52
tenhof hinunter. Diese Stille … Ja, in diesem Zimmer konnte man glücklich und zufrieden sein. Aber im gleichen Augenblick packte ihn die Angst. Eine würgende, schreckliche Angst. Seine Kehle war wie zugeschnürt; sein Puls raste. ’raus hier. Nichts wie weg. Schmeiß deine Klamotten in den Koffer und hau ab. Und komm dem Großen B nie wieder unter die Augen … Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Er lehnte am Fenster und träumte davon, nicht mehr feig zu sein. Er war aber feig … Die Minuten vertickten. Er wurde ruhiger; die Angst wich einer matten Resignation. Ais Roberte an die Zimmertür klopfte, schrak er auf, rief: „Ich komme!“, noch ehe sie ein Wort gesagt hatte, und kam sich entsetzlich dämlich vor. Dämlich und feig. Jetzt mußte er in die Höhle des Löwen. Madame Brassart trug ein hinreißendes dunkelgrünes Kleid. Vincent saß neben ihr, Brassart gegenüber, und schämte sich in seinem schäbigen Anzug in Grund und Boden. Am Morgen hatte er ihn aufbügeln lassen, aber das hatte nicht viel geholfen. Brassart musterte ihn gelangweilt. Vincent senkte den Blick; er starrte auf das Tischtuch und bekam feuerrote Ohren. Neben den Tellern lag zuviel Besteck; er hatte Angst, nach dem falschen zu greifen. Er hatte vor allem Angst vor Robertes übertriebener Höflichkeit, vor dem nachsichtigen Lächeln Madame Brassarts … Er kaute stundenlang an jedem Bissen herum und klammerte sich mit Blicken an einem Bild fest, das rechts hinter Brassart hing. Brassart redete. Seine Stimme dröhnte nicht wie sonst; sie klang sanfter, nuancenreicher – wahrscheinlich lag es an der Gegenwart seiner Frau. Er sprach von Leuten und Dingen, die Vincent nicht kannte; Madame Brassart schien ihm zerstreut zuzuhören. Von Zeit zu Zeit warf sie ein „Ja, natürlich“ ein, oder sie murmelte: „Keine Ahnung …“ – höflich-glatt und monoton. 53
Schließlich unterbrach sie ihren Mann und begann Vincent auszufragen: War er mit seinem Zimmer zufrieden? Hatte er seine Bücher unterbringen können? Wenn er irgend etwas brauche, solle er sich nur an Roberte wenden … Die Unterhaltung schleppte sich dahin. Immer länger lastete die Stille zwischen den Sätzen. Mach doch den Mund auf. Sag doch was, du Idiot … Was mußte sie bloß von ihm denken? Er fand den Mut, sich ihr zuzuwenden. Ihre Blicke begegneten sich. Er sah, daß sie tiefschwarze Augen hatte, die sie jetzt auch nicht niederschlug. Sie betrachtet mich wie ein Möbelstück, dachte er; neugierig und ohne sich zu genieren … wie ein Möbelstück. Was für ein erstaunliches Gesicht! dachte Louise. Aber was soll dieser tragische Ausdruck? Ein bißchen lächerlich eigentlich … „Greifen Sie doch zu“, sagte sie. „Nein, danke, Madame, ich habe keinen Hunger.“ „Sie müssen essen!“ mischte sich Brassart ein. „Als ich jung war, da hab’ ich reingehauen wie ein Scheunendrescher.“ Vincent sagte, so jung sei er mit seinen fünfundzwanzig ja nun wieder auch nicht. „Und mit fünfundzwanzig, Monsieur, waren Sie schon seit drei Jahren Interner …“ Brassart brummelte vor sich hin, daß er … na ja, er habe eben einfach Glück gehabt, ja? Er warf einen Blick auf die Uhr und schob seinen Teller zurück. In einer Stunde würde er bei Danielle sein. Sie erwartete ihn. Am Telefon hatte sie wieder gesprochen wie früher, mit der Stimme, die er so gut kannte: ein wenig rauh, tief, ruhig. Komm zu mir, Guillaume. Komm bald … Er hatte ihr gesagt, daß Debosse jetzt bei ihm wohne; sie hatte es kommentarlos zur Kenntnis genommen. Aber nachher würde sie davon anfangen – das war so sicher wie das Amen in der Kirche! Sie würde ganz allmählich darauf zu sprechen kommen, behutsam, in Andeutungen, genauso wie sie ihre Geldsorgen zu erwähnen pfleg54
te. Er war auf alles gefaßt. Er war bereit, das Spiel zu beginnen – o ja. Aber es würde nicht das Spiel sein, das sie erwartete. Nicht das ihre, sondern das seine. Das Spiel des Großen B … Er merkte, daß er lächelte. Er sah hoch. Was glotzen die mich so an, die beiden? Er sagte rasch: „Arbeiten Sie heute abend noch, Debosse?“ „Ich arbeite jeden Abend, Monsieur.“ „Gut. Sehr gut.“ Louise begriff, daß sie allein bleiben würde. Guillaumes Privatleben hatte sich offenbar normalisiert … Hatte der junge Debosse etwas damit zu tun? Sie war aufgestanden, die beiden Männer erhoben sich ebenfalls. Vincent fragte sich, ob er sich sofort verabschieden könne oder ob es der gute Ton verlange, daß er sich noch einen Augenblick aufhielt. „Tja, Debosse – wenn Sie arbeiten wollen, lassen Sie sich nicht aufhalten … Guten Abend.“ Brassart reicht ihm die Hand. Vincent schüttelte sie nervös. „Guten Abend, Monsieur.“ Dann wandte er sich zu ihr um. Sie sieht mich wieder an wie ein Möbelstück, stellte er fest. Kein Lächeln, kein nettes Wort; das „Guten Abend“ von Madame Brassart klang ebenso desinteressiert wie das ihres Mannes. Vincent verließ das Zimmer. Am liebsten wäre er auf Zehenspitzen gegangen. Louise musterte Guillaume nachdenklich. Er sah säe nicht an; er wandte ihr sein Boxerprofil zu. Er war in einem Traum versunken, zu dem sie keinen Zutritt hatte. „Du gehst noch aus?“ fragte sie. „Eine wichtige Besprechung“, sagte er und hörte selbst, daß es nicht so beiläufig klang, wie er es beabsichtigt hatte. „Dann gute Nacht, Guillaume!“ Sie lächelte charmant, natürlich. Er erwiderte das Lächeln erleichtert. „Schaust du noch ins Fernsehprogramm?“ 55
„Noch ein bißchen, ja.“ Sie hatte den Fernsehapparat in ihr Zimmer stellen lassen, weil Guillaume es ablehnte, sich „diesen Krampf“ anzusehen. Sie verbrachte fast jeden Abend allein vor dem Bildschirm und ließ brav das ganze Programm über sich ergehen. Auch den größten Quatsch. Der Quatsch störte sie nicht, im Gegenteil; er heimelte sie an, irgendwie. Aber dann, ohne daß sie einen Grund dafür hätte angeben können, schaltete sie das Gerät doch nicht ein. Sie ließ ein Bad einlaufen, streute von dem parfümierten Badesalz hinein und schminkte sich sorgfältig ab. Dann zog sie ihr Kleid aus, den spitzenbesetzten BH und den Perlonslip und ließ sich in das schaumbedeckte warme Wasser gleiten, wie sie es einem rehäugigen Starlet im Fernsehen abgeguckt hatte. Sie strich sich über die Schultern und ließ den Schaum über ihre kleinen, spitzen, aufregenden Brüste fließen. Sie war auf einmal sehr traurig. Sie wartete auf Guillaume. Seit vier Wochen wartete sie nun schon – voller Wut, Panik oder irrwitzigen Hoffnungen. Heute endlich war sie ruhig. Sie kam sich intelligent vor, intelligent und mutig. Sie hatte es geschafft – jetzt bekam sie ihre Chance … Bekam sie ihre Chance? Sie legte die Hand flach auf die Tischplatte aus imitierter Eiche und verharrte eine Weile reglos. Es läutete zweimal kurz hintereinander. Einen Spiegel – schnell! Hab’ ich zuviel Make-up …? Ja, ein bißchen reichlich. Ich werde alt … Aber er kommt. Er ist da. Er gehört mir … Sie ging öffnen. „Guten Abend, Guillaume.“ Er trat ein, nahm sie in seine großen Arme und lächelte. Es war ein ehrliches Lächeln. Sie trug einen enganliegenden Morgenrock aus reiner Seide. Ihre Haut darunter war weich, weiß, parfümiert. Er hatte sie wieder, so einfach war das … Als sie sich aus seinen Armen 56
befreite, um ihm einen Whisky zu bringen, löste sich der Gürtel des Morgenrocks, und er sah ihre runden Brüste und den flachen Bauch. Sie zog den Mantel hastig zusammen, verknotete den Gürtel und errötete wie eine junge Braut. Ihre Sicherheit von vorhin war verflogen; sie war aufgeregt und befangen. Er dagegen hatte sich schnell an den wiederhergestellten Zustand gewöhnt. Er warf seinen Mantel über die Sessellehne, ging durch das Zimmer, erkannte alles wieder: die gräßlichen Möbel, die Wände, rosa und hellblau, den süßlichen Geruch – Parfüm, Hautcreme, englische Zigaretten –, den er schon immer ein wenig widerlich gefunden hatte. Schließlich machte er es sich auf der Couch bequem und sagte, jetzt gehe es ihm endlich wieder so richtig gut; er habe viel Zeit und werde die Nacht bei ihr verbringen, wenn ihr das recht sei. „Du bist hier zu Hause“, erwiderte sie und mußte sofort an Louise denken. Wie würde sie es aufnehmen? Und dieser Debosse – war er auch wirklich so fügsam und zugleich so naiv, wie Guillaume vorgab? „Und jetzt höre ich dir zu. Erzähle!“ Sie hatte sich neben ihn gesetzt; sie strich den Morgenrock über den schönen Knien glatt und sah Guillaume gelassen an. In ihrem Blick lag jene falsche Unschuld, die ihn schon bei der ersten Begegnung auf dem Flughafen von Orly verzaubert hatte. „Es gibt nicht viel zu erzählen. Debosse wohnt bei uns. Und ich, ich bin bei dir … Ich liebe dich.“ Sie sagte zerstreut, daß sie ihn auch liebe, und dachte an die vielen Dinge, die für ein Mädchen wie sie viel wichtiger waren als die Liebe. Angst vor der Zukunft, vor der Einsamkeit … Aber für derlei war bei ihm wohl kein Verständnis zu erwarten. Ja, er war da, er war bei ihr. Aber auf Zeit. Er gehörte ihr nicht. Er war ein kurzfristiges Darlehen, sozusagen, und der Zinssatz war hoch … „Und wie geht’s jetzt weiter?“ fragte sie. 57
Sie schob seine Hand beiseite. „Abwarten? Was denn?“ Sie verliert keine Zeit … Er seufzte. Mit dem wachsweichen Blabla, das er sich zurechtgelegt hatte, würde er nichts ausrichten, das sah er jetzt ein. „Was müssen wir abwarten?“ wiederholte sie. „Was weiß denn ich? Die Entwicklung, nicht wahr? Ich bin doch kein Hellseher … Hast du wieder einen Job?“ „Ja. In so einem Laden, der Sekretärinnen auf Zeit vermittelt: Urlaubsvertretungen und so. – Was wird …“ Er unterbrach sie: „Hast du Orly sausen lassen?“ „Orly hat mich sausen lassen. Was wird mit deiner Frau?“ „Nichts im Augenblick. Ich sag’ dir doch: abwarten … Küß mich!“ Sie ließ sich küssen – sonst nichts. Solange er sich weigerte, mit ihr über „die Sache“ zu sprechen, brauchte er darüber hinaus kein Entgegenkommen von ihrer Seite zu erhoffen. Zu lange schon wartete sie darauf. Jeden Tag hatte sie sich vorgestellt, wie dieser erste Abend mit Guillaume verlaufen würde: Sie die Siegerin, er der Besiegte … Sie hatte sich geschworen, sich nicht mehr mit vagen Versprechungen abspeisen zu lassen. Die Dinge mußten ein für allemal geregelt werden; sie brauchte Klarheit von vornherein – selbst auf die Gefahr, ihn vor den Kopf zu stoßen. Wenn sie diese Klarheit hatte – aber erst dann! –, würde sie wieder die hübsche Rothaarige sein, mit der die Männer immer so gern ins Bett gingen; die hübsche Rothaarige, die man nimmt und dann wieder sitzenläßt, wie’s gerade kommt, ohne mehr von ihr zu erwarten, als daß sie eben hübsch und rothaarig ist … Aber jetzt war endlich, endlich der Punkt erreicht, wo sie einer nicht mehr sitzenlassen würde. „Was wird mit deiner Frau?“ „Herrgott noch mal, kannst du’s nicht abwarten? Sei nicht so brutal! Ich hatte mir diesen Abend ein bißchen 58
anders vorgestellt!“ Er lächelte jetzt nicht mehr. Alles war geplatzt wie eine Seifenblase. Er spürte Herzstiche. Widerlich. Er atmete kurz und flach. Auch sie habe etwas anderes erwartet von diesem Abend, sagte sie. Etwas präzisere Angaben auf alle Fälle. Er überlegte, was er sich in den nächsten Tagen an präziseren Angaben würde aus den Fingern saugen können, um zu verhindern, daß sich Danielle weiterhin so unmöglich benahm. „Ich bitte dich … So was entwickelt sich doch nicht an einem einzigen Tag! Hast du denn noch nicht kapiert?“ Sie war aufgestanden. Sie durchschaute ihn. Sie haßte ihn. Er war noch immer zu allem bereit, solange sie sich ihm entzog; kaum gab sie nach, wurde er zum Flegel und zum Schlappschwanz … Männer! – Aber sie würde nicht mehr nachgeben. Diesmal nicht! Sie sagte: „Ich hab’ nur eines kapiert: Wir könnten es in wenigen Minuten hinter uns haben – vorausgesetzt, du willst es wirklich und dein Debosse ist wirklich so dämlich, wie du behauptest.“ Er schaute in ihre grünschillernden Augen. „Was willst du damit sagen? Wovon redest du überhaupt?“ Das wisse er ganz genau, erwiderte sie. Andernfalls sei ihm eben nicht zu helfen. Louises Tod. Als er zum erstenmal davon angefangen hatte, da hatte er Danielle eine so wahnwitzige Geschichte aufgetischt, daß er nie und nimmer geglaubt hätte, sie könnte diesen Unsinn ernst nehmen. Er selbst hatte ihn keinen Augenblick ernst genommen, auf alle Fälle. So etwas rutscht einem mal ’raus, schön. Wenn ein nicht mehr ganz junger, nicht mehr besonders attraktiver Narr plötzlich entdeckt, daß eine Frau ihn einfach verrückt macht mit ihrer zarten Haut, mit ihren geschmeidigen Bewegungen, mit der Art und Weise, wie sie die Augen schließt – das genügt doch schon! Da redet man halt den ersten besten Unsinn, der einem in den Kopf kommt. Da 59
redet man wie ein Waschweib; da schmiedet man auch Gangsterpläne … Ja, verdammt noch mal – auch wenn man der Große B war! Na und? versuchte er sich zu beruhigen, welcher Mann hat nicht nach zwanzigjähriger Ehe schon mal davon geträumt, seine Frau umzubringen? Und zwar so, daß er straffrei ausgeht? Genauso war es bei ihm gewesen: Er hatte davon geträumt. Er hatte nur den Fehler gemacht, laut zu träumen, und das in Gegenwart von Danielle … Ich nehme Debosse bei uns auf: Louise verliebt sich in ihn – oder umgekehrt … Umgekehrt wäre günstiger. Jedenfalls, das Personal muß davon überzeugt sein, daß Debosse versucht hat, sich meiner Frau zu nähern, daß sich ein Techtelmechtel anbahnte, er aber schließlich doch abgewiesen worden ist. Wenn es soweit ist, greife ich ein. Ich bin ganz ruhig; ich erkläre Louise, daß Debosse innerhalb einer Woche zu verschwinden hat – ich gebe ihm also Zeit, eine neue Unterkunft zu finden. Und dann, ein paar Tage später, Debosse ist noch nicht ausgezogen – dann wird meine Frau ermordet. An einem Abend, an dem sie allein mit ihm in der Wohnung ist … Hinterher drehe ich es dann so, daß der junge Mann seine Unschuld nicht beweisen kann … Verrückt. Man mußte verrückt sein, um sich so etwas Hirnverbranntes auch nur auszudenken, und total verrückt, um es auch noch auszusprechen! Und doch hatte er es fertiggebracht … Er spürte, daß er rot wurde, und sagte: „Du bist ja verrückt!“ „Ich? Ich habe kein Wort gesagt.“ Er stand auf und ging langsam im Zimmer auf und ab. Fünf Schritte hin – ich hau’ einfach ab. Fünf Schritte her – ich nehme sie in die Arme und zwinge sie, die ganze Geschichte zu vergessen. Fünf Schritte hin – ich versuche, Zeit zu gewinnen … Er blieb vor ihr stehen und packte sie an den Schultern. 60
„Paß mal auf: Vergiß den Quatsch; vergiß mein dummes Gerede. – Jetzt sag’ ich dir, was vielleicht praktisch durchführbar ist: Debosse wohnt bei mir; er verliebt sich in meine Frau, und ich sorge dafür, daß die beiden in flagranti erwischt werden. Dann muß Louise in die Scheidung einwilligen.“ Sie lachte. Sie brach in schallendes Gelächter aus. Sie lachte hysterisch und konnte nicht mehr aufhören. „Hör auf!“ Er schüttelte sie. „Hör auf, zum Donnerwetter!“ Das Lachen brach ab. „Deine Frau! Glaubst du im Ernst, daß ein Junge, der so gut aussieht wie Debosse, der jedes Mädchen haben kann, das er will … glaubst du, so einer kommt auf die Idee, mit einer lahmen Betschwester vom Typ Louise Brassart zu schlafen?“ „Debosse ist ehrgeizig, und er gibt nichts auf, was er erreicht hat. Ob er meine Frau mag oder nicht, ist ganz egal. Er wird sich an sie heranmachen – allein schon, um das Zimmer und den Freitisch abzusichern …“ Warum gebe ich mir eigentlich solche Mühe? fragte er sich. Warum erfinde ich eine neue Geschichte, eine, die plausibler klingt, immerhin? Ich sollte meinen Mantel nehmen und gehen. Ich sollte mir irgendein anderes Mädchen anlachen und dieses rothaarige Biest vergessen … Was sagt sie da? Sie sagte, gerade weil Debosse ein Ehrgeizling sei, werde er niemals das Risiko eingehen, mit der Frau seines Chefs zu schlafen, „… in die Falle geht er uns nicht!“ Guillaumes Gesichtszüge erschlafften: Dieser gottverdammte Plan, dieser idiotische Zirkus, den er da inszeniert hatte … Und das alles nur, weil er eines schönen Tages geglaubt hatte, verrückt zu werden, wenn er auf dieses kleine Aas verzichten müßte … „Das hab’ ich nie gesagt!“ brüllte er los. „So war das doch nicht gemeint …“ „Was, bitte, hast du nicht so gemeint?“ 61
„Ach, ist doch egal … Komm jetzt, ja?“ „Laß mich los!“ „Ich denke nicht dran. Was hast denn du erwartet?“ „Daß du dein Versprechen hältst … Hast du vergessen, daß du mir versprochen hast, mich zu heiraten?“ Er ließ sie los. Er stand auf und nahm seinen Mantel. Dann blieb er unschlüssig stehen. Wenn ich jetzt gehe … Bringe ich es fertig, auch wirklich Schluß zu machen, wenn ich jetzt gehe? Werde ich nicht wieder anrufen, bitten und betteln? Wie war das denn in den vergangenen vier Wochen? Er ließ sich in einen Sessel fallen. „Schlag dir das aus dem Kopf“, sagte er. „Es war eine Schnapsidee. So blöd ist Debosse nun wieder auch nicht – man darf ihn nicht unterschätzen. Und außerdem, ein … eh, eine solche Tat … Die Verantwortung, die Belastung …“ Er brachte das Wort nicht heraus. Er sprach von seinem Gewissen. „Na, hör mal!“ Sie verstand ihn falsch; sie glaubte, er meine es im Sinne belastender Aussagen und spreche von der Verantwortung, zu der er gezogen werden könnte. Sie hatte wieder Hoffnung: „Wenn Aussage gegen Aussage steht – wem wird man glauben? Dem Chefarzt, dem renommierten Chirurgen – oder seinem Schüler, dem kleinen Würstchen, der Null?“ Das war zuviel. Brassart stand auf; er war plötzlich völlig verändert. Er war wieder der Große B: Die Augen in dem imposanten Gesicht blickten nicht mehr scheu und verzweifelt; die breiten Schultern sackten nicht mehr nach vorn. Er zog den Mantel an. Eine Irre, dachte er, während er ihn zuknöpfte. Die ist ja zu allem fähig! Sie begriff, daß sie die erste Runde verloren hatte. „Gehst du schon?“ Er antwortete nicht; er ging zur Tür. Sie lief ihm nach, rief seinen Namen, hängte sich an seinen Arm und weinte echte Tränen. 62
Er ließ sich zur Couch drängen. Er setzte sich. Er war wie betäubt; sein Kopf war plötzlich leer. Sie sagte, daß sie ihn liebe; sie versicherte ihm, er habe sie völlig falsch verstanden – das sei doch alles ganz anders; sie wolle ja nur … Also, vor allem wollte sie, daß er erst einmal hierblieb, ganz gemütlich … Ob er sie denn nicht mehr liebe? Ob sie ihm nicht mehr gefalle? Später, als sie im Dunkeln nebeneinander lagen, sagte sie plötzlich: „Und wie wird er es anstellen, deine Frau zu verführen?“ „Hm?“ Guillaume fuhr aus dem Halbschlaf. „Anstellen? Was denn anstellen? Wovon sprichst du?“ „Von Vincent Debosse …“ Und ehe er etwas sagen konnte, fügte sie hinzu: „Wir haben nicht mehr viel Zeit, Guillaume. Ich erwarte ein Kind.“
9 Zehn Tage nachdem er in die Wohnung an der Place Malesherbes eingezogen war, ergab es sich, daß er beim Abendessen mit Louise allein war. Er ging mit gemischten Gefühlen zu Tisch. Immerhin, sagte er sich, kann es ohne Brassart nicht schlimmer sein als mit Brassart … Der Große B hatte die ganze Zeit so etwas wie stummen Terror ausgeübt, und Vincent nahm sich jeden Tag vor, wieder auszuziehen. Das einzige, was ihn noch zurückhielt, war der Gedanke an die nächste Prüfung. Was Louise anbetraf, so kam sie ihm vor wie alle Frauen – kaum weniger lästig, kaum auffallender. Aber als sie an diesem Abend ins Eßzimmer trat, fand er sie irgendwie verändert. Sie wirkte entspannter als 63
sonst. Daß sie sich mit ihrer Frisur und dem Make-up besondere Mühe gegeben hatte, entging ihm allerdings. Er selbst war keineswegs entspannt – im Gegenteil, er war verkrampft. Er blieb einsilbig; er brachte kein Lächeln zustande, und wenn er überhaupt etwas sagte, kam eine konventionelle Platitüde heraus. Louise, die sich auf den Abend gefreut hatte, war enttäuscht. Es war ein Reinfall. „Haben Sie Schwierigkeiten, Vincent?“ Er fühlte, daß er errötete – es war das erstemal, daß sie ihn beim Vornamen nannte. Er antwortete, o nein, alles sei in bester Ordnung, vielen Dank – in bester Ordnung, aber … „Aber?“ In diesem Augenblick kam Roberte herein, um die Suppenteller abzutragen. Er sah Louise an, schnell und verstohlen, und fand sie schön und aufregend. Aber nur für andere Männer; nicht für ihn. Er hatte sich noch nie den Luxus geleistet, Zeit an eine Frau zu verschwenden. Kleine Abenteuer, flüchtige Bekanntschaften – die Frauen machten es einem ja so leicht … Ein bißchen Liebesleben, ja. Aber keine Liebe. Roberte hielt ihm die Platte hin. Er bediente sich und ließ ein Stück Fisch auf das Tischtuch fallen. Er unterdrückte einen Fluch und versuchte den Schaden wiedergutzumachen. Es wurde nur noch schlimmer. Louise lachte. „Aber lassen Sie doch!“ Sie spürte seine Verzweiflung und fügte hinzu: „Komisch – außerhalb des Operationssaales habt ihr Chirurgen alle fünf Daumen an jeder Hand! Wenn Guillaume draußen in unserem Landhaus zu basteln anfängt, ist es eine wahre Katastrophe.“ Er sah nicht auf. Sie trägt ihre gottverdammte milde Nachsicht vor sich her wie eine Fahne, dachte er wütend. Höflich und falsch ist sie wie alle Weiber ihres Milieus … Was erwartet sie denn? Daß ich mich ihr zu Füßen werfe? 64
Roberte verließ das Zimmer, und Louise legte ihre Hand auf die seine. „Ich möchte, daß Sie mir sagen, was mit Ihnen los ist.“ Er brummte: „Ach ja?“, senkte den Blick auf seinen Teller und fing an zu essen. Er aß so, wie sie in Asnières gegessen hatten, hastig und ohne Tischmanieren. Louise sah ihm zu, ein wenig verwirrt. Seit drei Tagen ging ihr Vincent ständig im Kopf herum. Sie fand das weder verwunderlich, noch hatte sie ein schlechtes Gewissen. Es war eben so; man durfte nur keine falschen, keine absurden Schlüsse daraus ziehen. Da war ihr dieser reizende Junge ins Haus geschneit, ganz ohne ihr Zutun; jetzt genoß sie eben seine Anwesenheit, und zwar mit einer Intensität, die ihr kein Mensch zugetraut hätte – das war alles. „Sie sind hier nicht glücklich, Vincent … Was stört Sie?“ Sie sagte es sanft und ohne jede Ironie. „Alles“, antwortete er. Er hob den Kopf und begegnete ihrem Blick, las darin Verblüffung und Verletztsein. „Ich benehme mich wie ein undankbarer Lump“, sagte er. „Aber Sie haben es so gewollt. Ich habe nur die Wahrheit gesagt, ganz schlicht die Wahrheit.“ Sie lächelte traurig. Er wartete, bis sie aufgestanden war; dann erhob er sich auch und verabschiedete sich. „Ich werde noch arbeiten …“ Sie reichte ihm die Hand. „Werden Sie uns verlassen, Vincent?“ Ihre Hand lag heiß in der seinen. „Sie haben Fieber“, sagte er. „Sie sollten sich hinlegen.“ „Werden Sie uns verlassen?“ „Ich weiß es nicht.“ Er blieb. Er fand stichhaltige Argumente zum Bleiben, und es waren immer die gleichen: die nächste Prüfung, Brassarts Einfluß, der neue Anzug, den er noch nicht 65
gekauft hatte … Er versuchte sogar wirklich, ernsthaft zu arbeiten; er zwang sich, einen großen Bogen um Louise zu machen, und er fand immer einen Vorwand, um die abendliche Zweisamkeit abzukürzen, wenn der Große B in der Stadt blieb. So richtig ungestört fühlte er sich nur an den Wochenenden, wenn die Brassarts in Chantilly waren. Dann gehörte die Wohnung ihm ganz allein. Er aß in der Küche, lief im Schlafanzug herum und spazierte durch alle Räume. Eines Sonntags, als er in Louises Zimmer gegangen war, weil er fernsehen wollte, überkam es ihn, und er begann herumzustöbern. Er öffnete den Schrank, in dem Madame Brassarts Kleider hingen. Er roch an ihrem Parfüm. Er strich leicht über die Stoffe, nahm ein Kleid heraus, es war ein gelbes mit weichfallendem Rock, und mußte an seine Mutter denken, an ihre ewigen schwarzen Kleider aus grobem Stoff. Im Schubfach einer antiken Kommode stieß er auf ein altes Fotoalbum. Er begann zu blättern. Der Große B noch gar nicht groß; jung, sehr mager … ein Hochzeitsbild; Louise hinreißend in ihrem langen weißen Kleid neben ihrem Mann … Wirklich hinreißend. Weiter hinten Gesichter zweier Heranwachsender, nett und ernst – die Brassart-Kinder; Vincent hatte sie einmal in der Wohnung gesehen. Zwei magere, lebhafte Jungen, die offensichtlich von ihrer Mutter sehr geliebt, jedoch streng erzogen wurden: Nur an einem Sonntag im Monat durften sie das Internat verlassen, um den Tag mit ihren Eltern in Chantilly zu verbringen. Und in diesem Album fand er den Brief. Er war mit Maschine geschrieben und an Madame Brassart gerichtet. Er las ihn; es war ein anonymer Brief. Jemand gab Louise den Rat, vor einem gewissen V. D. auf der Hut zu sein, der bei ihr wohne, und so weiter … Es war ziemlich starker Tobak, und Vincent begriff nicht gleich, daß da von ihm die Rede war. Als ihm klar wurde, daß er dieser 66
junge, zu allem fähige Ehrgeizling war, dieser gefährliche Neurotiker, fing er zunächst an, schallend zu lachen. Dann wurde er nachdenklich. Er setzte sich, stützte den Kopf in die Hände und dachte die Gedanken eines jungen Mannes, der zwar ehrgeizig ist, aber zu schlaff, zu feig, sich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. Dann war es vorbei mit dem erholsamen Wochenende. Am nächsten Samstag lud ihn Brassart nach Chantilly ein. „Sie sehen schlecht aus, Debosse; schnappen Sie doch ein bißchen frische Luft bei dem schönen Wetter! Da draußen stört Sie keiner. Ich erledige an diesen Wochenenden immer meine Korrespondenz und sehe die Fachzeitschriften durch, und meine Frau reitet den ganzen Tag …“ Sie steckte natürlich dahinter. Sie hatte ihn praktisch zu dieser Einladung gezwungen. „Wenn du dich schon unbedingt um diesen jungen Mann kümmern willst, dann sei wenigstens konsequent. Lade ihn nach Chantilly ein.“ „Bist du verrückt?“ „Nein Guillaume; ich bin logisch.“ Er hatte protestiert: Diese Logik gehe zu weit. „Demnächst muß ich womöglich diesen Debosse fragen, ob ich mich in meiner eigenen Wohnung aufhalten darf!“ Sie hatte gelacht. Sie war wieder ganz jung; sie hatte frische, noch unverbrauchte Willenskräfte. „Wenn er dir so auf die Nerven geht, schick ihn doch wieder fort … Er geht dir auf die Nerven; das ist gar nicht zu übersehen. Und wenn du dich weiterhin so anstellst, dann bohre ich so lange, bis ich ’rausgekriegt habe, warum du ihn unbedingt bei uns einquartieren mußtest.“ Sie hatte gewonnen. Guillaume hatte gebrummt und geknurrt, dann aber Debosse doch eingeladen. Und dem 67
war nichts anderes übriggeblieben, als die Einladung anzunehmen. Louise war offensichtlich die einzige, der die Sache nicht gegen den Strich ging – im Gegenteil. Das Haus in Chantilly war eine Überraschung für Vincent. Er hatte es sich unwillkürlich schloßartig vorgestellt, aber es handelte sich um eine ziemliche Bruchbude, alt, verwahrlost und ungemütlich. Die großen, weißgetünchten Räume waren rustikal, aber nicht besonders geschmackvoll möbliert. In allen Schlafzimmern standen Messingbetten, und die Fußböden waren mit schwarzweißen Fliesen ausgelegt … Vincent begriff das nicht; die Brassarts hätten sich zweifellos eines jener Traumschlösser mit ultramodernem Komfort leisten können, die er nur aus alten amerikanischen Filmen kannte – aber sie zogen diese halbe Ruine vor! Der Garten machte auch keinen besseren Eindruck; das üppig wuchernde Unkraut hätte jedem Gärtner einen Schauer über den Rücken gejagt. Louise forderte ihn zu einem Rundgang auf und erklärte ihm dann unterwegs, Haus und Garten seien von den Kindern mit Beschlag belegt worden; ihr Mann und sie hätten hier praktisch nichts zu sagen. Schließlich bat sie ihn, zwei Liegestühle in der Sonne aufzustellen. „Sie sind so blaß, Vincent. Die Sonne wird Ihnen guttun.“ Er mußte seine Jacke ausziehen, die Krawatte lockern, die Hemdsärmel hochkrempeln. Es war ihm trotzdem zu heiß; die Sonne brannte. Und Louise sah ihn an. Sie wurde nicht müde, ihn anzusehen … Gewöhn dich dran, befahl er sich. Der Mensch gewöhnt sich an alles. Er langweilte sich. Er konnte sich nicht erinnern, jemals im Leben gefaulenzt zu haben; jetzt zermarterte er sein Hirn nach einer Ausrede, um diesem Liegestuhl zu entfliehen. Aber es fiel ihm einfach nichts ein. „Reiten Sie nicht aus heute nachmittag?“ 68
Sie sagte, daß sie sich müde fühle. „Dann will ich Sie in Ruhe lassen.“ Er stand auf. „Aber nein …“ Sie griff nach seiner Hand. „Bleiben Sie doch!“ Ihre Stimme klang so sanft, daß es ihn seltsam berührte. Er setzte sich wieder hin, legte einen Arm unter den Kopf und schloß die Augen, um der Sonne und Louises Blick zu entgehen. Einen Augenblick später war er eingeschlafen. Zehn Minuten später fuhr er mit einem Schrei hoch. Louise hatte sich über ihn gebeugt; ihre Hand, eine sehr schöne Hand, lag auf seinem Hals. Es war beinahe eine Liebkosung. Er stieß die Hand heftig zurück. „Was wollen Sie?“ „Nichts … gar nichts.“ Sie hatte sich aufgerichtet und sah ihn an. Ihre Augen waren so sanft wie ihre Stimme. „Was haben Sie da gerade gemacht?“ „Ich wollte Ihren Schlips lockern. Sie sahen so erhitzt aus. Sie waren so rot im Gesicht …“ „Mein Schlips ist locker.“ „Nicht locker genug.“ Sie lächelte. Wütend stand er auf. Da trat sie dicht vor ihn hin. Ihre Gesichter und ihre Körper berührten sich fast. „Nein“, sagte er heiser. „Bitte nicht. Gehen Sie doch weg …“ Du Idiot, dachte er. Du armseliger Idiot … Er hatte Angst. Er nahm seine Jacke. „Wissen Sie überhaupt, was Sie da tun?“ fragte er rauh und wandte sich zum Haus. Sie antwortete nicht. Sie hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Reglos stand sie da. Erst als er das Haus erreichte, sagte sie etwas. Sie sprach leise, und er war schon zu weit weg. Aber er war ziemlich sicher, daß sie gesagt hatte, sie liebe ihn. Ich auch! Es fehlt nicht viel, und ich liebe sie auch … Soweit ist es schon mit mir gekommen. Ich drehe durch; 69
sie haben mich angesteckt, die beiden; die krempeln mich total um, und nicht zum Besseren … Vincent war gerade wieder in sein Zimmer gekommen. Der Abend war nervenaufreibend gewesen; Brassart hatte bei Tisch erst dumme Bemerkungen über Vincents Sonnenbrand gemacht und dann, ungeachtet der Anwesenheit seiner Frau, schweinische Witze erzählt … Und Louise? Jedesmal, wenn ich den Kopf hebe, starrt sie mich an … Ist sie vielleicht ein bißchen hysterisch! Natürlich nicht; sie ist viel zu selbstsicher, zu beherrscht … Nein, da muß etwas anderes dahinterstecken! Er legte die gekreuzten Arme auf die Tischplatte, ließ den Kopf darauf sinken und versuchte nachzudenken. Eigentlich liegt es doch klar auf der Hand: Der Große B nimmt mich bei sich auf, damit ich ein Verhältnis mit seiner Frau anfange … Ist sie womöglich mit ihm im Komplott? Will sie mich tatsächlich verführen – nur so aus Spaß oder warum? Warum, verdammt noch mal? Worauf soll das Ganze hinaus? Er stand auf; er bekam keine Luft mehr, er hatte einen schweren Klumpen in der Brust, und seine Hände waren eiskalt. Also, mal langsam … Anamnese: Patient war zeit seines Lebens arm wie eine Kirchenmaus, aber bei klarem Verstand. Diagnose: Unmittelbar nach Lösung seiner finanziellen Probleme beginnt er, sich eine ausgewachsene Neurose zuzulegen … Und die Therapie? Was tut man dagegen, wenn … Leise ging die Tür zu seinem Zimmer auf. Louise. Mit hängenden Armen stand sie im Türrahmen, schüchtern und schön. „Brauchen Sie noch etwas, Vincent?“ „Bitte …“ Er stand auf, blieb jedoch wie festgenagelt neben dem Schreibtisch stehen. „Kommen Sie nicht näher!“ „Haben Sie doch keine Angst vor mir …“ 70
Sie behandelt mich wie ein Kind, dachte er. Mit viel Geduld, mit Nachsicht und … Ja, da war noch etwas; etwas, wogegen er sich mit aller Kraft sperrte. Sie schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. „Wir haben hier draußen zuwenig Personal, wissen Sie – nur Marthe, die alte Köchin. Sie muß sich auch um das Haus kümmern, und das ist ein bißchen viel für sie. Vielleicht hat sie vergessen, Ihnen …“ „Sie hat nichts vergessen, danke.“ „So, ja. Das ist gut … Haben Sie noch gearbeitet?“ Einfach nicht abzuwimmeln! Ja, ich arbeite. Ja, Sie stören. Ja, ich hab’ die Nase voll an Ihren Jungmädchenseufzern und Ihren altjüngferlichen Spinnereien … „Nein“, sagte er, „ich habe nicht gearbeitet. Ich habe an Sie gedacht.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu. „Kommen Sie nicht näher!“ rief er. Sie gehorchte, aber ihr Blick ließ ihn nicht los. Sie trug ihre Bewunderung so offen zur Schau, daß er unter seinem Sonnenbrand errötete. Er sagte, da müsse doch irgendein Mißverständnis … Er sei nämlich keineswegs so wie die jungen Leute seiner Generation, also zumindest nicht so wie die, von denen immer alles mögliche in der Zeitung steht, ja? Aber deswegen sei er andererseits auch kein weißer Rabe; solche wie ihn gebe es schließlich öfter. Ja, schön, es mache ihm keinen Spaß, sich als Schürzenjäger zu betätigen – das interessiere ihn nicht; er habe Besseres zu tun … Und weil sie einfach stehenblieb, immer noch mit hängenden Armen, und ihn unverwandt ansah, weil er sie außerdem nicht gut vor die Tür setzen konnte, fing er an, ihr von sich zu erzählen: Er sei eben ein armes Würstchen, ohne viel Rückhalt … „Ist Ihnen das immer noch nicht klar?“ Nein, das war ihr keineswegs klar. „Wenn Sie mein Leben kennen würden, mein bisheriges Leben …“ Er erzählte ihr von Asnières, von der Metzge71
rei, in der seine Mutter arbeiten mußte … Miese Zeiten waren das gewesen – nicht eigentlich harte Zeiten, aber mies, schäbig … „Verstehen Sie?“ Louise nickte mechanisch, aber sie verstand ganz und gar nicht, warum dieser umwerfend gut aussehende junge Mann unbedingt die Rolle des vom Schicksal Geschlagenen spielen wollte … Sie schwiegen. In der Stille wurde sich Vincent ihrer Gegenwart noch stärker bewußt; die Stille machte ihn noch verwundbarer … Da schlug im ersten Stock eine Tür, und er sagte hastig, es sei wohl besser, wenn sie jetzt ginge. In jener Nacht schlief er wenig. Ich bin vielleicht kein typischer Vertreter meiner Generation, dachte er, aber – verdammt noch mal – deswegen bin ich doch immer noch ein ganz normaler Mann! Er hatte eine Stinkwut auf sie. Wenn es nach ihm ginge – er wollte sie nie wiedersehen! Als er am nächsten Morgen beim Frühstück erfuhr, daß sie schon ausgeritten sei, war er enttäuscht. Beim Mittagessen verkündete Brassart, daß sie gegen drei Uhr nach Paris zurückfahren würden; er wolle nicht in den großen Verkehrsstau geraten, und er müsse beizeiten in Paris sein. „Eine wichtige Besprechung, Louise. Und außerdem – also, nimm’s mir nicht übel, aber ich finde es hier einfach zum Kotzen langweilig!“ Die „Besprechung“ hieß Danielle. Er war nicht mit ihr verabredet, aber er wollte trotzdem bei ihr vorbeischauen. Nicht zuletzt, weil ihm Louise schrecklich auf die Nerven ging. Wie sie diesen Dorftrotte! anhimmelt, die dumme Kuh – als wäre sie mit ihm allein auf der Welt … Er hatte sie nie geliebt, aber dieses stumme, einstweilen offenbar einseitige Geturtel war einfach unerträglich. Danielles Verhalten war in letzter Zeit auch nicht dazu angetan gewesen, ihm seinen Seelenfrieden wiederzugeben. Sie explodierte nicht, machte keine Szene – sie 72
blieb in einer Weise gelassen, die geradezu verdächtig war. Sie erwähnte auch weder Louise noch Debosse. Den neuen Job hatte ihr Guillaume wieder ausgeredet – viel zu anstrengend für das lächerliche Gehalt; außerdem, was das Finanzielle anbetraf, also da gab’s doch kein Problem zwischen ihnen, nicht wahr? Und überhaupt jetzt, wo sie schwanger war … Ja, sie werde das Kind behalten … Ja, sie werde es von einer tüchtigen Amme aufziehen lassen … Ja. sie werde sich in Geduld fassen und auf bessere Zeiten warten … Ja, sie sei in ausgezeichneter Verfassung … Nein, sie werde ihm gegenüber nicht gleichgültig; es sei eher … na ja, eine gewisse Resignation … Guillaume verstand die Frau, die er liebte, überhaupt nicht mehr. Danielle spielte ihre letzte Karte aus, und sie wußte, daß sie sich diesmal keine Panne leisten konnte. Sie begann mit einem Bluff: Sie habe wieder ein Angebot aus Nizza erhalten; ein sehr reizvolles Angebot, gute Arbeitsbedingungen. Na, und das Klima … Sie tat so, als sei sie drauf und dran zu akzeptieren. Er protestierte. Er schimpfte. Er beschwor sie, nicht nach Nizza zu gehen. „Dann laß mich wenigstens für dich arbeiten! Ich mopse mich hier zu Tode … Du beklagst dich doch immer über deine Sekretärin – ich bin bestimmt besser als sie!“ Es hatte sie nicht überrascht, daß er zunächst schroff abgelehnt hatte. Sie wußte, daß er ihren Vorschlag bald aufgreifen, ihn zu seinem eigenen machen würde. Sie wußte, daß der gute Guillaume bald reif war. Als er dann an diesem Sonntag unerwartet vor der Tür stand, war sie davon überzeugt. Er war wütend und hatte eine Stinklaune. „Gewonnen!“ sagte er wie ein Spieler, der gerade alles verloren hat. „Meine Frau hat sich in Debosse verliebt.“ 73
„Und er?“ „Er ist einstweilen ins Schleudern geraten. Er schwankt. Er stellt sich an wie die Maus vor dem Speck. Ob er anbeißt, weiß ich nicht.“ „Er wird schon anbeißen“, meinte sie. „Notfalls gibt man ihm einen Schubs.“ Sie war ein wenig rundlicher geworden. Der schlichte, strenggeschnittene Hausmantel stand ihr gut. Sie hatte auf jegliches Make-up verzichtet und sah jünger aus als sonst. Sie war ihm noch nie so schön vorgekommen. Er nahm sie in die Arme und sagte, er habe sich die Sache durch den Kopf gehen lassen – warum in drei Teufels Namen sollte sie nicht seine Sekretärin werden? „Louise wird nicht einmal merken, daß du hübsch bist – die hat nur noch Augen für Debosse …“ Danielle könne schon morgen anfangen. Die alte Sekretärin wurde mit drei Monatsgehältern abgefunden. Entlassungsgrund: Es reiche nicht aus, daß sie lediglich an einem Wochenende im Monat nach Chantilly kommen könne, um Brassarts Post zu tippen. Sie weinte. Dieser Sonntag, den sie jeden Monat opferte, das war doch weiß Gott genug! Und Monsieur Brassart werde sich schwertun, eine Sekretärin zu finden, die verrückt genug war, ihm ihre gesamte Freizeit zu opfern. „Ich habe schon eine“, sagte Guillaume. „Aber ich nehm’s Ihnen nicht übel, daß Sie Ihre Wochenenden brauchen …“ Er gab ihr noch 1000 Franc extra. Danielle zog in die Wohnung an der Place Malesherbes und wurde Madame Brassart zwischen Tür und Angel vorgestellt. Guillaume behielt ausnahmsweise einmal recht: Louise hatte kaum einen Blick für die neue Sekretärin ihres Mannes. Mit Debosse hingegen ging es nicht ganz so glatt. Danielle hatte schon immer ein Faible für sehr junge, sehr gut aussehende Männer gehabt, und sie drehte sofort ihren Charme voll auf. Aber Vincent ver74
darb ihr das Konzept. Er erkannte instinktiv, daß dies eine von der Sorte war, die ihm nachliefen, seit er die Pubertät hinter sich hatte. Danielle stieß ihn ab mit ihrem übertriebenen Entgegenkommen, er zeigte ihr die kalte Schulter. Ein paar Tage später erst kam er dahinter, daß sie die Mätresse des Großen B war. Ach so, dachte er, jetzt wird mir klar, was hier gespielt wird … Die warten wohl alle bloß darauf, daß ich den Absprung finde, daß ich in Louises Bett springe? Er fand das nicht sehr komisch. Ihm war gar nicht wohl in seiner Haut. Er witterte Unrat; was hier gespielt wurde, schien ihm doch nicht so ganz das alte, abgedroschene Spiel zu sein … Steckte da mehr dahinter? War Louise … war sie etwa in Gefahr? Schlagartig wurde ihm klar, daß er sie liebte.
10 Dem Großen B war der Gedanke, daß er immer älter wurde, unerträglich. Er litt fast physisch darunter, und es machte ihn verrückt, wenn er sah, was Vincents Jugend und sein gutes Aussehen bei Louise bewirkten … Es gibt eine Menge Möglichkeiten, wegen einer Frau, die man nicht liebt, eifersüchtig zu werden; Brassart hatte sich die schlimmste ausgesucht. Es war zugleich die dümmste. Er begann an den Abenden, an denen er nicht mit Danielle verabredet war, hinter Louise und Vincent her zu spionieren. Er verkündete lautstark, er habe noch zu tun, und ging in sein Arbeitszimmer. Eine Weile später verließ er es auf Zehenspitzen und schlich, in der Hoffnung, die beiden zu überraschen, in der Wohnung herum. 75
Tagelang blieb er erfolglos. Aber dann, eines Abends, hörte er Schritte auf der Terrasse … Louise und Vincent. Vincent hatte seine Balkontür geöffnet und plötzlich Louise gegenübergestanden, die von ihrem Zimmer aus auf den Balkon getreten war und ihn jetzt starr ansah … Sie ist imstande und hat jeden Abend auf diesem durchgehenden Balkon gewartet, schoß es ihm durch den Kopf. Wieder war sie es, die den ersten Schritt tat. Sie ging an dem Zimmer ihres Mannes vorbei, an dem der Kinder, und sie hielt erst auf der Terrasse vor dem Eßzimmer inne, wo ein paar Sessel um einen Gartentisch standen. Vincent folgte ihr zehn Minuten später, den Blick zu Boden gerichtet. „Guten Abend, Vincent.“ „Guten Abend, Madame …“ Ich werde nie lernen, wie ich mit ihr reden soll. Sie setzten sich einander gegenüber, den Tisch zwischen sich. Er legte die Hände auf die Platte und betrachtete sie. Feingliedrige Hände … Er hob den Blick und sah Louise an. Sie war sehr schön an diesem Abend. Sie trug ein ausgeschnittenes Sommerkleid. „Diese Frau“, begann er mit tonloser Stimme, „die Sekretärin Ihres Mannes … Mir graut vor dieser Person. Sie ist widerlich.“ „Warum?“ „Ja, verstehen Sie denn nicht?“ „Sie ist doch vollkommen bedeutungslos“, sagte Louise. Das verstand nun wiederum er nicht. Er glaubte an gewisse Grundsätze, und es waren die Grundsätze des Arme-Leute-Milieus, in dem er aufgewachsen war. Madame Brassart liebte ihren Mann nicht mehr – gut. Aber deswegen durfte sie noch lange nicht zulassen, daß er seine … seine Mätresse mit nach Hause brachte, diese Danielle Fellegrini, der die Gier geradezu ins Gesicht geschrieben war. Hier ging’s doch nicht mehr um einen 76
banalen Ehebruch allein; hier lauerte doch irgendwo eine Gefahr – eine potentielle Gefahr zumindest … Aber er sagte nichts von alldem. Er hatte Angst, indiskret zu erscheinen. Oder sich lächerlich zu machen. Oder beides. Auch Louise legte nun die Hände auf den Tisch. Sie näherten sich den seinen. Die Fingerspitzen berührten sich … Louise fuhr herum. War da nicht eben ein Geräusch …? Sie starrte angestrengt zur Balkontür hinüber. Nein; sie mußte sich wohl getäuscht haben. Sie wandte sich wieder zu Vincent und lächelte. Guillaume war ins Eßzimmer getreten, ohne Licht zu machen, und hatte gleich die beiden Silhouetten draußen auf der Terrasse entdeckt. Jetzt stand er, hinter den halb zugezogenen Vorhängen verborgen, am Fenster und beobachtete sie. Er mußte an seine Verlobungszeit denken. Damals hatte Louise so getan, als liebte sie ihn. Aber nicht ein einziges Mal war sie zu ihm gekommen; nicht ein einziges Mal hatte sie ihn so verlangend angesehen wie in diesem Augenblick Vincent. Lange Zeit sah er ihnen zu. Er glaubte so etwas wie sanfte Ausstrahlung zu spüren, die von ihnen ausging: zwei Verliebte, die nichts Böses ahnen … In diesem Augenblick wurde ihm plötzlich klar bewußt, was er nun schon seit Wochen erfolgreich verdrängt hatte: Er wollte diesen Debosse umbringen. Gewisse Ideen lassen sich offensichtlich nicht auf die Dauer verdrängen, dachte er, obgleich sie so ungeheuerlich sind … Oder gerade weil sie so ungeheuerlich sind? Zwei Monate ist es her, da bin ich von Danielle weggelaufen, weil sie einen Mord von mir verlangte. Und heute will ich einen Mord begehen … Das Opfer ist nicht mehr das gleiche, aber … Bin ich vielleicht auch nicht mehr der, der ich vor zwei Monaten war? 77
Er ging in sein Arbeitszimmer zurück. Er war ganz ruhig. Während er seine Pistole aus der Schublade nahm, eine Mauser, die er im Krieg irgendwo aufgelesen hatte, suchte er nach einer ehrenhaften Rechtfertigung: Ich habe Debosse bei mir aufgenommen, und zum Dank will er mir Hörner aufsetzen – unter meinem eigenen Dach! Ich habe ihm eine Bombenchance gegeben, und dieser Lump dankt es mir jetzt so – und so weiter und so weiter … Aber eigentlich war das ziemlich lächerlich. Er übertrieb. Wer war dieser Debosse denn schon? Eine Wanze; eine kleine Wanze, die ihn störte. Und was macht man mit einer Wanze? Man zerquetscht sie. Punktum. Ohne Gewissensbisse. Allerdings auch möglichst ohne Risiko … Ehe er die Pistole wieder an ihren Platz legte, vergewisserte er sich, daß sie geladen war. Erst viel später, beim Schlafengehen, dachte er an Danielle. Wenn er Debosse umbrachte, lief das praktisch auf den Beweis für einen Ehebruch hinaus; die Scheidung war dann nur noch eine Formsache. Zumindest würde Danielle es so sehen. Und er selbst? Er knipste das Licht aus, drehte sich auf die Seite und schloß die Augen. Er wollte lieber nicht daran denken. Er wollte sich nicht eingestehen müssen, daß er nie auch nur daran gedacht hatte, sich scheiden zu lassen. Er hatte ein Diktiergerät angeschafft. Am Abend diktierte er seine Post, und Danielle tippte sie am nächsten Tag während der Sprechstunde. Es war der neuen Sekretärin sehr schnell gelungen, Roberte und Francine, die Köchin, für sich zu gewinnen. Sie arbeitete in Brassarts Zimmer; Roberte brachte ihr gegen fünf Uhr eine Tasse Tee, und dann tratschten sie ein bißchen. Roberte, die spukhäßliche alte Jungfer, war fasziniert von Danielles nicht mehr ganz taufrischem Starlet-Gesicht … Roberte las jede schnulzige Frauenillustrierte, deren sie habhaft werden konnte. 78
Nach kurzer Zeit bewegte sich die Sekretärin in der Wohnung, als ob sie dort seit zwanzig Jahren zu Hause sei. Madame Brassart begegnete sie dabei nur selten; wenn es sich doch einmal ergab, löste sich Danielle geradezu in Luft auf. Dagegen ließ sie sich alles mögliche einfallen, um Debosse immer wieder ganz zufällig über den Weg zu laufen, der sich dann widerwillig zu einem kurzen Kopfnicken und einem gemurmelten Gruß genötigt sah. „Seien Sie doch kein solcher Brummbär!“ sagte sie eines Tages zu ihm. „Ich bin halt einer.“ „Nicht allen Leuten gegenüber …“ Er blieb stehen und sah sie an. Sie ist schön, konstatierte er. Zuviel Make-up. Arrogant. Sie lächelte. „Wollten Sie etwas sagen?“ „Ja“, antwortete er. „Gehn Sie mir aus dem Weg.“ Sie lachte. Dieses breite, herausfordernde Lachen regte ihn jedesmal auf. Dieses Zahnpastareklamegrinsen … Was sagt sie da? Sie sagte, am nächsten Wochenende werde es etwas schwierig werden mit dem Aus-demWeg-Gehen, da sie auch nach Chantilly fahre. Es hatte ihm fast die Sprache verschlagen. Dann hatte er alles versucht, aber es war ihm nicht gelungen, der Sache zu entgehen. Als er am Abend vor der Abfahrt erklärte, er wolle lieber in Paris bleiben, da hatten alle zu seiner Überraschung geradezu bestürzt reagiert – nicht nur Louise, auch ihr Mann und diese alberne Sekretärin hatten ihm zugeredet, doch mitzukommen … Geradezu beunruhigend, fand er nachher. Aber da hatte er in seiner Verblüffung schon zugesagt. Er saß neben Louise in deren Renault; die Sekretärin fuhr mit Brassart in dessen Citroën, in dem sie natürlich alle Platz gehabt hätten. Aber Louise hatte behauptet, sie sitze lieber in dem kleineren Wagen, und der Große B hatte es widerspruchslos geschluckt. 79
„Sie gibt uns ihren Segen“, meinte Danielle. „Sie muß doch längst gemerkt haben, daß wir miteinander schlafen. Aber seit sie ihren kleinen Vincent hat, ist es ihr egal.“ „Ach, halt doch den Mund!“ Brassart fuhr sehr schnell. Er hatte die halbe Nacht grübelnd wach gelegen; es war nichts dabei herausgekommen. Außer Kopfschmerzen. Nein, im Augenblick konnte man nur abwarten. „Weißt du, was sie …“, begann Danielle. „Hör auf! Ich will’s gar nicht wissen.“ Seit er sie jeden Tag sehen konnte, hatte sie für ihn an Interesse verloren. Das einzige, was ihn wirklich interessierte, war sein Haß. Sein Haß auf Debosse füllte ihn ganz aus. Aber das hatte er natürlich vor aller Welt verborgen gehalten … Nicht gut genug, offenbar. Danielle sagte: „Du haßt Debosse wie die Pest, hm?“ „Hassen? Na hör mal … Nein, ich sehe ihn bloß den ganzen Morgen in der Klinik, und wenn ich abends heimkomme, dann hockt er da auch ’rum – ist doch ganz normal, daß er mir da mal auf die Nerven geht, dann und wann! Siehst du das nicht ein?“ Sie sah es ein. Louise war glücklich. Sie sah jung aus in dem leichten Kleid, und am Morgen war sie sich vor dem Spiegel schön vorgekommen, schön und begehrenswert … Ob er mich begehrt? Sie hatten Paris hinter sich gelassen; die Sonne schien warm durch das offene Schiebedach. „Wollen Sie mal fahren, Vincent?“ Er sagte, er fahre sehr schlecht – zuwenig Praxis; er habe sich nie ein Auto leisten können … Den Führerschein? Ja, allerdings; den Führerschein habe er … Sie ließ ihn ans Steuer. Ein herrliches, unverhofftes Geschenk für ihn; er strahlte. Er fuhr übervorsichtig. 80
„Was Ihnen fehlt, Vincent, das ist ein wenig Übung … Wenn Sie wollen, können Sie den Wagen morgens nehmen, um in die Klinik zu fahren.“ Er protestierte; sie beharrte darauf. Sie traute sich nicht, ihm zu sagen, daß sie Angst hatte, wenn er auf seinem klapprigen Moped unterwegs war. Er begriff, daß es keinen Zweck hatte zu widersprechen. Louises Hartnäckigkeit war entwaffnend. Er dachte, ein dutzendmal am Tag beweist sie mir, daß sie in mich verliebt ist, und ich beweise ihr ebensooft, daß ich ein Kamel bin … Worauf hofft sie eigentlich noch? Brassart überholte sie; Danielle winkte. Der Große B saß steif hinter dem Lenkrad und schaute noch nicht einmal zu ihnen herüber. „Woran denken Sie, Vincent?“ „An Ihren Mann.“ „An meinen Mann? Na so was!“ Er überlegte, was der Große B Louise einmal bedeutet haben mochte. Ob er noch manchmal nachts in ihr Zimmer kam? „Er ist doch sicher eine starke Persönlichkeit?“ Sie sagte knapp, daß sie den Chirurgen Brassart sehr bewundere. Punkt. Sie fand die Frage linkisch und taktlos, erkannte aber zugleich, daß sie seiner Schüchternheit entsprang, und das reizte sie nur noch mehr. „Sie haben bestimmt viele Abenteuer?“ fragte sie leichthin. „Nein, Madame.“ Er biß die Zähne zusammen und trat aufs Gaspedal. Der Verlauf, den die Unterhaltung zu nehmen begann, behagte ihm nicht. „Aber da ist doch sicher mal ein Flirt, hin und wieder?“ „Nein, Madame.“ Er fuhr noch schneller. Er sah starr geradeaus. Eine Haarsträhne hing ihm in die Stirn; seine Wangen glühten. Wenn sie so weitermacht, dachte er, knallen wir noch gegen einen Baum. „Also, das kann ich mir nicht vorstellen!“ „Ich glaube, ich liebe Sie, Madame – und vor ein paar 81
Minuten hätte ich mir auch nicht vorstellen können, daß ich den Mut aufbringe, es Ihnen zu sagen … Im übrigen stimmt das gar nicht. Ich glaube es nicht – ich weiß es.“ Für Louise war es ein bezauberndes Wochenende geworden. Vincent entzog sich ihr nicht mehr. Er ließ für ein paar Stunden seine Bücher im Stich; er wanderte an ihrer Seite, er hielt ihre Hand, er nahm sich schüchterne Freiheiten heraus. Er scherte sich nicht um Hitze und Sonnenbrand und benahm sich, alles in allem, fast wie ein Verliebter. Dies waren die einzigen Erinnerungen, die Louise von diesen beiden Tagen behalten wollte. Aber deswegen vergaß sie doch gewisse Dinge nicht, von denen Vincent gesprochen hatte. Sie hätte sich zärtlichere, verrücktere, auf alle Fälle weniger bizarre Worte gewünscht. Aber er war offensichtlich geradezu von einer Angst besessen, die ihr absurd vorkam. „Sie sind in Gefahr, Louise!“ Er war über seinen Schatten gesprungen, er hatte sie Louise genannt – es war ihr glücklichster Augenblick gewesen. „In Gefahr? Ich verstehe nicht …“ Er hatte ihr von Danielle Fellegrini erzählt, hatte ihr gestanden, daß er ihr nachschnüffle. „Verzeihen Sie, aber es muß sein!“ Er hatte sie überrascht, wie sie im Begriff war, Louises Zimmer zu durchsuchen … Die Fellegrini, sagte er beschwörend, spiele ein übles Spiel – eines von jenen Spielen, bei denen am Ende jemand auf der Strecke bleibt. „Und warum glauben Sie, daß ausgerechnet ich das sein sollte?“ „Wollen Sie denn nicht verstehen, Louise?“ „Da gibt es nichts zu verstehen“, hatte sie gesagt, ein wenig streng, um ihm zu verstehen zu geben, daß sie solche „Scherze“ nicht schätze. 82
Aber er hatte nicht aufgegeben: „Sie ist die Mätresse Ihres Mannes; das ist Ihnen egal – gut. Aber glauben Sie im Ernst, so eine gibt sich auf die Dauer mit dieser miesen Rolle zufrieden?“ „Ja … was denn sonst? Es wird ihr nichts anderes übrigbleiben.“ Einen Augenblick lang war er nahe daran gewesen, so etwas wie Sympathie für Danielle Fellegrini zu empfinden. Diese blinde Gedankenlosigkeit von Louise … zum Aus-der-Haut-Fahren! Sie konnte sich einfach nicht in andere Menschen hineinversetzen; sie konnte nur in den Klischeevorstellungen ihrer Klasse denken, und das auf so unschuldige Weise, daß es zum Himmel stank … Sie hatte nie materielle Sorgen gekannt, auch nicht am Monatsende; sie hatte dem Großen B geradezu noch einen Gefallen getan, als sie ihn heiratete. Glaubte sie nun im Ernst, Danielle einen Gefallen zu tun, indem sie sie als Mätresse ihres Mannes duldete? „Sie will Ihren Platz einnehmen“, sagte er. „Sie will Madame Brassart werden.“ Louise hatte nur gelacht, ein wenig verächtlich. „Sie sind ja verrückt, Vincent!“ „Es gibt so etwas wie Ehescheidung …“ „Ja, aber doch nicht für die Brassarts!“ Pause. „Also gut – wie Sie wollen. Sprechen wir nicht mehr davon.“ „Ach ja, Vincent – sprechen wir von etwas anderem, ja?“ Aber vergessen hatte sie es nicht. Für Guillaume war das Wochenende nicht ganz so bezaubernd gewesen, aber es hatte ihm doch eine Erkenntnis gebracht: Es stand jetzt fest, daß er Danielle nicht mehr liebte. Vielleicht habe ich sie nie geliebt, dachte er und wußte nicht, ob er darüber ärgerlich oder 83
erleichtert war. Wie auch immer, da war nur dieses gierige, irre Verlangen nach ihrem Körper gewesen – wie die Sucht nach einem Rauschgift; nichts, das etwas mit Liebe zu tun gehabt hätte. Im Grunde, das war ihm jetzt klargeworden, hatte sie ihn immer gelangweilt, wenn er nicht gerade mit ihr im Bett lag. Zugegeben, sie hatte sich während dieser Landpartie von ihrer charmantesten Seite gezeigt. Aber was nützte ihm der Charme der einen, wenn die andere, wenn seine eigene Frau, ihn in aller Öffentlichkeit mit diesem unausstehlichen Hanswurst demütigte? Er hatte Danielle in dem großen Haus mit einem Haufen Post allein gelassen und war ihnen in den Wald gefolgt. Ohne Murren und ohne einen einzigen Tippfehler hatte sie den ganzen Stoß heruntergeklappert. Er kam gar nicht auf die Idee, daß sie seine Abwesenheit auch dazu benutzt haben könnte, sämtliche Zimmer methodisch zu durchsuchen. Es wäre ihm auch egal gewesen. Danielle interessierte ihn nicht mehr; er hatte sie abgeschrieben. Er konzentrierte sich nur noch auf Louise, auf ihre „abartige Entgleisung“, wie er es bei sich nannte, und war zugleich blind vor der Tatsache, daß sein eigenes Verhalten nicht weniger Anlaß zur Besorgnis gab. Er ärgerte sich die ganze Zeit, daß er die Pistole nicht mitgenommen hatte; er war sogar drauf und dran gewesen, zurückzufahren und sie zu holen. Aber ein letzter Rest von Vernunft hatte ihn dann gerade noch davon abgehalten: Wenn er nach Paris fuhr, um die Waffe zu holen, dann wäre es, falls er schoß, ein vorsätzlicher Mord gewesen – ganz klar. Er sah überhaupt alles ganz klar. Er überlegte nüchtern: Ich könnte Debosse einfach vor die Tür … kein Problem … Was dann? Dann rückt ihm Louise auf die Bude; dann geht sie wirklich mit ihm ins Bett … Bisher hat sie sich nämlich nicht getraut – da bin ich ganz sicher. Ich kenn sie doch, diese bigotten Weiber! Aber 84
wenn die erst mal Blut geleckt haben, dann sind sie schlimmer als alle anderen. Dann sind sie nicht zu bremsen; über Leichen gehen sie dann … Er haßte Louise. Er haßte sie fast so sehr wie Debosse, die dreckige Wanze, die es zu zerquetschen galt. Auf der Rückfahrt nach Paris starrte er düster geradeaus und sagte kein Wort. Danielle machte sich Sorgen. „Bist du krank?“ „Nein. Ich habe Probleme.“ „Deine Frau?“ „Meine Frau? Du spinnst ja. Meine Frau kann mir gestohlen bleiben!“ Er war mißtrauisch. Er mußte sich vor Danielle in acht nehmen. Nicht nur, daß er sie nicht mehr liebte; sie war auch ein lästiger Zeuge, dessen er sich möglichst bald zu entledigen hoffte. Sie hatte seine Grobheit wortlos geschluckt … Nimm dich zusammen, er darf nicht merken, daß du ihn durchschaust! Seine Frau betrügt ihn, und jetzt glaubt er, er liebt dich nicht mehr – ein klassischer Fall geradezu. Dabei ist es doch völlig Wurscht, was die Männer glauben. Es kommt einzig und allein darauf an, sie nach und nach in eine Verfassung zu bringen, aus der es keinen Notausgang gibt … Sie hatte nur noch gesagt, das Kind werde in sechs Monaten zur Welt kommen. Sein einziger Kommentar war gewesen: „Ansehen tut man’s dir einstweilen noch nicht.“ Nun schwieg sie auch.
11 Seit Vincent mit dem Renault ins Krankenhaus fuhr, hatte er sich wieder angewöhnt, auch vormittags zu rau85
chen. Es bedeutete für ihn nicht nur eine Geste der Unabhängigkeit, sondern auch eine Art von Herausforderung, an die Adresse des Großen B gerichtet: Nie würde er die Demütigung vergessen, die der ihm in diesem Zusammenhang angetan hatte. Auch an diesem Morgen dachte er daran, als er den Wagen startete. Acht Uhr. Seit er an der Place Malesherbes wohnte, kam er etwas früher ins Krankenhaus, auf jeden Fall eine gute Viertelstunde vor dem Einzug des Königs. Er war noch nicht dazu gekommen, die Zigarette anzuzünden; jetzt, in der total verstopften Avenue de Villiers, ließ er auch lieber beide Hände am Lenkrad. Jetzt hatte der Große B wenigstens einen Grund, mich zu hassen, dachte er gerade, da hörte er die schrillen Pfiffe des Polizisten. Zuerst glaubte er, der Peugeot sei gemeint, der ihn gerade so waghalsig überholt hatte, aber dann merkte er, daß es ihm galt. Erschrocken trat er hart auf die Bremse; die Räder blockierten, der Wagen wollte ausbrechen … Er fing ihn eben noch ab, fuhr rechts ’ran und hielt an. Uff! dachte er. Was war denn jetzt los? Und es fiel ihm ein, daß die Lenkung irgendwie schwergängig gewesen war. Er hatte es auf seine mangelhaften Fahrkünste geschoben, aber … Der Polizist war herangekommen. „Mann“, sagte er, „Sie haben ja ’n Platten, hinten links … Ja, haben Sie das denn nicht gemerkt? – Zeigen Sie mal Ihre Papiere?“ Vincent stieg aus und gab sie ihm. Dann steckte er sich endlich die Zigarette an, ging zum Heck des Wagens und betrachtete mißmutig den platten Reifen. Scheiße! Er hatte nur ziemlich vage Vorstellungen davon, wie man ein Rad auswechselte. Technische Dinge waren nie seine starke Seite gewesen … Wo ist denn eigentlich das Werkzeug? Der Polizist hatte inzwischen dem Kraftfahrzeugschein entnommen, daß der Renault nicht Vincent, son86
dern einer Frau gehörte. Vincent, der sich bereits mit einer Radmutter abquälte, hatte das Gefühl, etwas sagen zu sollen. „Weiber und Technik! Auf die Kleinigkeiten achten sie eben nicht.“ „Das nennen Sie eine Kleinigkeit?“ Der Beamte gab ihm die Papiere zurück. Er war um die Vierzig und hatte leicht hervorquellende blaue Augen, die sich auf Vincent richteten wie zwei grelle Scheinwerfer. Hat er was gegen mich? – „Jedenfalls habe ich den Reifen nicht aus Jux und Dollerei selber kaputt gemacht!“ Ein paar Schaulustige waren schon stehengeblieben. Ein Mann gab Vincent gute Ratschläge; es klang spöttisch. Der Mann hatte eine Schiebermütze auf. Vincent schwitzte. Der Wagenheber war verrostet; er kriegte die Karre nicht hoch. „Sie können hier nicht ewig stehenbleiben“, sagte der Polizist. „Mann Gottes, wenn Sie’s nicht fertigkriegen, ein Rad zu wechseln, dann rufen Sie doch den Abschleppdienst an …“ Er mochte Ärzte nicht. Seit zehn Jahren war er bei Gott weiß wie vielen in Behandlung, und seine Scheißhämorrhoiden war er immer noch nicht los. Von dem Geld, das er bei ihnen gelassen hatte, hätte er sich ein Auto leisten können – und er wußte, wie man mit einem Auto umgeht! „Ich helf ihm!“ sagte der Mann mit der Mütze und griff nach dem Wagenheber. Vincent bedankte sich, richtete sich auf, drückte die Zigarette aus und wischte sich die Stirn ab. Dann zog er die Jacke aus. Als er sie auf den Rücksitz legte, entdeckte er den Gasbehälter. Ein Metallzylinder, so groß wie eine Babyflasche. Er war unter die Armlehne geklemmt und sah ganz harmlos aus. Er lag da, als hätte ihn jemand vergessen. Aber wer vergißt schon … Vincent holte das Ding her87
aus und wurde blaß. Der Behälter war nicht richtig verschlossen; langsam, fast unmerklich strömte das Gas aus. Eine brennende Zigarette – und BOINNG … Cyclopropan war das. Die Anästhesisten benutzten es. Hochexplosiv das Zeug … Mit zitternder Hand drehte er den Verschluß zu. „So – das wär’s! Jetzt brauchen wir nur noch das Rad auszuwechseln …“ Er vergaß, dem Mann mit der Mütze zu danken. Er hielt den Behälter fest an sich gepreßt und dachte, welches gottverdammte Mistvieh hat mir das Ding in den Wagen … Mann, wenn ich mir die Zigarette angesteckt hätte – Mann o Mann! Dann wäre ich jetzt ein schöner Engel. Wenn der Plattfuß nicht gewesen wäre … „Was haben Sie denn da?“ Der Polizist stand vor ihm und betrachtete abwechselnd Vincents verstörtes Gesicht und den Metallzylinder. „Sterile …“ Er mußte sich räuspern. „Sterile Injektionsspritzen. Sie liegen in Alkohol …“ Wie soll ich das Zeug wieder loswerden? Unmöglich, es in die Wohnung zurückzubringen – es war zwanzig nach acht; er hatte keine Zeit mehr. Außerdem würde er Louise alles erklären müssen … Louise! Hatte da vielleicht jemand Louise in die Luft jagen wollen? Es wußte ja keiner, daß er ihren Wagen fuhr … Doch, der Große B wußte es … „Sind Sie bald fertig?“ Der Polizist ließ ihm keine Ruhe; er lief um den Renault wie ein Schäferhund, er ging nicht mehr weg. Vincent verstaute das Cyclopropan in seiner Aktentasche und legte sie in den Kofferraum; dann wechselte er das Rad aus. Als er schließlich weiterfuhr, brummte der Polizist hinter ihm her, daß diese Typen verboten werden müßten. Keine blasse Ahnung, aber man vertraut ihnen Menschenleben an … Eine Welt ist das! In der Klinik übergab Vincent das Cyclopropan einer Anästhesieassistentin, mit der er eines gemeinsam hatte: Sie konnte den Großen B auch nicht ausstehen. 88
„Ich hab’s im Umkleideraum der Internen gefunden. Das Ding war offen … Guter Witz, hm?“ „Du bist ja verrückt! Das geht ein bißchen zu weit für einen Witz … Wenn du mich fragst – das Zeug hat einer geklaut. Wenn die Jungs pleite sind, klauen sie, was nicht niet- und nagelfest ist. Denen ist doch alles egal.“ „Alles egal, ja …“, wiederholte Vincent geistesabwesend. Er war vollkommen durcheinander. Je mehr er nachdachte, desto mehr verschwammen die Dinge. Klar war nur eines: Der Behälter war nicht hier in der Klinik im Wagen versteckt worden – er war am Vorabend kurz nach Mitternacht nach Hause gefahren und hatte unterwegs geraucht: wenn das Ding schon dringelegen hätte, wäre er in die Luft geflogen. Aber der Renault hatte dann bis zum Morgen auf der Straße gestanden. Also hatte jemand während der Nacht … Nein, wahrscheinlich gegen Morgen – ihm fiel ein, daß auch ein voller Behälter nicht so viel Gas enthielt, daß es sinnvoll gewesen wäre, ihn viele Stunden zu früh zu installieren. Der Große B war ein Frühaufsteher … Er traute sich nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Der Große B hatte an diesem Morgen kein Wort über Vincents Verspätung verloren. Mittags begegneten sie sich auf dem Parkplatz im Hof. „Soll ich Sie mitnehmen, Debosse?“ Es war das erstemal, daß Brassart ihm das anbot. „Nein, danke, Monsieur.“ „Sie sind wohl ein Mopedfanatiker?“ Der Große B amüsierte sich sichtlich. „Ich bin mit dem Renault hier, Monsieur.“ „Mit was für einem Renault?“ „Mit dem Renault … Mit dem Wagen Ihrer Frau.“ „Ach? Das wußte ich ja gar nicht“, sagte Brassart. Es klang nicht sehr überzeugend. Das gibt’s doch nicht. Das lügt er sich doch in den 89
Hals hinein … Vincent fiel plötzlich ein, daß der Chef am Abend zuvor nicht zu Hause gegessen hatte und sehr spät heimgekommen war. Also der Chef …? Er war so weit, daß er Brassart alles zutraute. Auch ein Cyclopropan-Attentat. Vincent setzte sich in den Renault und startete den Motor. Brassart dreht durch, dachte er. Brassart ist verrückt, und keiner außer mir merkt es … Solche Psychosen sind doch ganz alltäglich: Nach außen hin ist das Verhalten des Patienten normal; die Angehörigen bemerken nicht das geringste Symptom. Und dann macht es plötzlich irgendwo da oben KLICK … Moment mal. Hat es womöglich bei mir KLICK gemacht? Er saß am Steuer, der Motor lief. Aber er vergaß anzufahren. Er versank in tiefes Grübeln und hatte zugleich das Gefühl, keines klaren Gedankens fähig zu sein. Also: Erstens: Brassart haßt mich. – Zweitens: Er bringt mich trotzdem bei sich unter. Grund: Er erwartet irgendwas von mir. – Drittens: Was erwartet er? Antwort: Einen Fehltritt seiner Frau; einen Seitensprung, durch meine Anwesenheit provoziert. Folgerung: Er hat richtig kalkuliert, alles in allem; Louise und ich, wir stehen sozusagen schon auf dem Bettvorleger … Doch das genügt Brassart noch nicht; er will mehr – er will mich total ausschalten … Und dazu geht er ein blödsinniges Risiko ein? – Na! Er fuhr endlich los, aber er hörte nicht auf zu grübeln. Wenn nun nicht Brassart dahintersteckte, sondern die Fellegrini? Quatsch. Die Fellegrini hat nur ein Ziel: Sie will Madame Brassart werden. Dabei war er, Vincent, ihr nicht im Weg – eher das Gegenteil konnte der Fall sein, eines Tages. Sie hatte jedenfalls keinerlei Interesse daran, ihn beiseite zu schaffen … Gerade als er die Place Malesherbes erreichte, schienen sich die Teile des Puzzles plötzlich zusammenzufü90
gen: Danielle Fellegrini wußte wahrscheinlich nicht, daß er den Renault benutzte … Also war es doch Louise, die beseitigt werden sollte? Aber nein – halt mal: Wie kommt eine Sekretärin an Cyclopropan? Im Aufzug erinnerte sich Vincent, daß Danielle einmal die Klinik in Meudon erwähnt hatte, in der Brassart einmal pro Woche in den Abendstunden operierte … Hat er sie mal mitgenommen? Hat sie im Vorraum des OP auf ihn gewartet? Da liegt normalerweise genug ’rum von dem Zeug … Die Frage war allerdings, ob sie sich damit auskannte; alles andere – vor allem, einen Behälter an sich zu bringen – war eine Kleinigkeit. Und schon gar für jemand, der so gern herumschnüffelte wie die Fellegrini … Der Aufzug hielt quietschend an. Vincent stieß die Tür auf und ging hastig in die Wohnung. Er stand gerade unter der Dusche, als Roberte ihn zum Mittagessen rief. Ich werde keinen Bissen ’runterkriegen, dachte er. Aber da ihm keine plausible Ausrede einfiel, zog er ein frisches Hemd an und ging ins Eßzimmer hinüber. Louise sah ihm mit ihrem sanften, unschuldigen Blick entgegen. Sie schien unerreichbar fern. Vincents Herz überschlug sich. Und wenn sie es war? Er sah sie plötzlich vor sich, wie sie „ihre“ Kranken in der Klinik besuchte – im nüchternen Trenchcoat, einen phantasielos-langweiligen Hut auf dem Kopf … Ja, sie hatte „ihre“ Kranken, „ihre“ Besuchstage – und natürlich überall Zutritt … Für sie war es viel einfacher als für Danielle Fellegrini, einen Cyclopropan-Behälter zu entwenden … Quatsch! Ich bin ja schon total plemplem! „Wie geht es Ihnen, Vincent?“ „Ich muß Sie sprechen, Louise! Es … es ist sehr wichtig …“ Da trat Brassart ein, küßte seine Frau flüchtig auf die Stirn und setzte sich, ohne Vincent eines Blickes zu würdigen. Das Essen schien kein Ende zu nehmen. Vincent grü91
belte weiter. Er fand keinen neuen Ansatz und kam auf Danielle zurück: Also, sie klaute das Cyclopropan … Gut; soweit ganz plausibel. Aber früher oder später erfährt Brassart, daß ein Gasbehälter fehlt, und zwar seit dem Abend, an dem er die Fellegrini mitgenommen hat; denn im OP wird alles genau kontrolliert, und jeder ist für sein Material verantwortlich; wenn etwas fehlt, muß es dem Operateur gemeldet werden. Also weiß Brassart Bescheid und sagt nichts. Und das bedeutet … Ja, das bedeutet, daß sie es doch auf mich abgesehen haben; denn der Große B hat garantiert gewußt, daß ich den Wagen seiner Frau … „Vincent! Hören Sie mir überhaupt zu?“ „Ja … eh, nein … entschuldigen Sie!“ „Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie haben ja kaum etwas gegessen.“ „Ich habe keinen Hunger.“ Brassart war schon aufgestanden; seit einigen Tagen ließ er sich den Kaffee ins Arbeitszimmer bringen. Sobald sie allein waren, berichtete Vincent, was er am Morgen erlebt hatte. Er erzählte Louise alles, bis ins kleinste Detail, aber als er fertig war, klang es immer noch wie eine wilde Räubergeschichte. „Das ist ja unglaublich!“ murmelte Louise. Aber sie schien nicht besonders beunruhigt zu sein. Eher neugierig. Wenn sie sich Sorgen machte, dann vermutlich höchstens um meinen Verstand, dachte Vincent. Er sagte eindringlich: „Louise – das sind keine Märchen! Es ist bitterer Ernst … Sie glauben doch nicht, daß ich mir so was aus den Fingern sauge?“ „Nein, nein …“ Besonders überzeugt klang es nicht. Dann sagte sie gar nichts mehr. Dieses Schweigen irritierte Vincent. „Vielleicht sollte man die Polizei benachrichtigen“, stieß er hervor. „Sie sind unverbesserlich! Suchen Sie Ärger?“ 92
„Der Ärger sucht mich … Bitte, Louise, hören Sie auf, den Kopf in den Sand zu stecken! Sie sind in Gefahr – oder ich bin in Gefahr, oder wir beide sind in Gefahr, was weiß ich … Wir müssen etwas unternehmen!“ „Wir müssen diese ganze Geschichte vergessen, das ist alles.“ Sie sprach ruhig, und ihre Stimme war sanft wie immer. Sie lächelte auch, aber es war ein aufgesetztes Lächeln. Ein Bühnenlächeln. Er stand auf. Er werde noch einmal darüber nachdenken, sagte er, sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen – es müsse da doch eine logische, eine plausible Lösung geben … „Ich gehe in mein Zimmer“, schloß er. „Ich begleite Sie.“ „Das kann doch nicht Ihr Ernst …“ Doch, es war ihr ernst. Plötzlich war sie beunruhigt. Vincent kam ihr so verwundbar, so wehrlos vor, und es hätte ja immerhin sein können, daß er tatsächlich das Opfer eines Unfalls geworden wäre. Dieser Behälter mit … Wie hieß das Zeug doch gleich … Also, dieses Ding hatte bestimmt irgendein „humorvoller“ Kollege in den Wagen gelegt – ein dummer, geschmackloser und obendrein offenbar nicht ungefährlicher Streich; aber das war auch alles! Wenn sie an die verrückten Geschichten dachte, die Guillaume aus seiner Studentenzeit erzählte, da war das hier noch vergleichsweise harmlos … Mein Gott – Mediziner! Aber Vincent war nicht so wie die anderen. Er neigt zur Schwarzseherei, er steigerte sich in die Dinge hinein, und er hatte auch nicht viel Sinn für Humor … Natürlich konnte sie ihm nicht böse sein. Wenn sie ihn liebte, dann gerade deswegen, weil er nicht so war wie die anderen. Sie kam gar nicht auf die Idee, daß auch sie unter diesem „dummen Streich“ hätte zu leiden haben können. Den albernsten Fernsehfilm nahm sie todernst, aber sie konnte sich nie so recht vorstellen, daß hinter einer Zei93
tungsnachricht Realitäten standen, tatsächliches Geschehen. Und wenn es ihr anläßlich eines erschütternden Ereignisses doch einmal klar wurde, dann betraf es natürlich immer nur andere Leute. So etwas konnte ihr doch nicht widerfahren. So etwas war in ihrer Familie so völlig undenkbar wie … na, wie eine Scheidung … Sie hatten Vincents Zimmer erreicht. Er blieb linkisch stehen. Sie sagte ihm, er solle sich doch setzen, bitte. Er schob ihr einen Sessel hin und ließ sich auf dem Bett nieder. Er hatte schreckliche Angst, daß Brassart die Tür aufmachen und sie überraschen könnte. „Louise, was wollen Sie in der Sache unternehmen?“ „Soll ich mal mit Guillaume darüber sprechen?“ Er hob müde die Schultern. Es war hoffnungslos. Sie verstand nicht, oder sie wollte nicht verstehen. Er hätte ihr eine ’reinhauen können. „Das wäre der helle Wahnsinn“, sagte er. „Wieso? Guillaume würde sehr schnell herausfinden, wer für diesen schlechten Scherz verantwortlich …“ „Und wenn er es war? Ihr Mann? Wenn er den schlechten Scherz inszeniert hätte?“ Sie lachte ungläubig, stand auf und trat ans Bett. „Jetzt scherzen Sie!“ „O nein; mir ist das sehr ernst! Sehen Sie den Dingen doch ins Gesicht, Louise, Ihr Mann haßt mich, und …“ „Wenn er Sie hassen würde, wären Sie nicht hier.“ „Ich bin nur hier, um eine ganz bestimmte Rolle zu spielen. Eine Rolle, von der ich keine Ahnung hatte, als ich hier einzog. Aber Sie haben mir geholfen, sie zu improvisieren.“ Sie setzte sich neben ihn auf das Bett und legte ihm die Hand auf die Schulter – es war stärker als sie; sie mußte ihn einfach berühren. So wie sie früher ihre Kinder berührt hatte, als sie ganz klein waren … Nun ja, ganz das gleiche war es natürlich auch wieder nicht. „Was wollen Sie damit sagen?“ fragte sie. 94
Sie verstand ihn wirklich nicht, weil sie nur mit halbem Ohr zugehört und ihm statt dessen hingerissen ins Gesicht gestarrt hatte. Gott, sah der Bengel gut aus … Jetzt allerdings hörte sie ihn, denn er schrie fast: „Ihr Mann wartet doch nur darauf, daß ich Ihr Liebhaber werde!“ „Wollen Sie sagen, daß er es wünscht?“ „Er vielleicht nicht, aber sie – seine Sekretärin, seine Mätresse. Die lauert ja nur darauf … Verstehen Sie jetzt, was hier gespielt wird?“ Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte es ganz einfach nicht verstehen. Nur eines war bei ihr hängengeblieben: Er wich ihr wieder aus; er entzog sich ihr. Und zwar diesmal mit einer wirklich albernen Geschichte, die seiner einfach nicht würdig war! Er wollte sie unbedingt überzeugen. Er packte sie an den Schultern, zog sie dicht heran … Genau das braucht sie, schoß es ihm in diesem Augenblick durch den Kopf; sie will dasselbe wie alle anderen auch … Er küßte sie brutal auf den Mund und empfand fast nichts. Es war enttäuschend. Louise empfand eine ganze Menge dabei. Sie wäre zu allem möglichen bereit gewesen, aber da war diese Angst in seinen Augen … Sie wartete, bis ihr Herzklopfen abgeklungen war, und streichelte sanft Vincents Gesicht. Vincent dachte, ausgerechnet jetzt kann ich an nichts anderes denken als an das nächste Examen, daran, daß ich ihren Mann brauche … Gräßlich! Es ist, um die Wände hochzugehen! „Wir sind verrückt“, sagte er und lachte kurz auf. „Nein“, sagte sie. „Wir lieben uns.“ „Und das andere, Louise? Ich hätte draufgehen können heute früh!“ Es war ein Abend wie viele andere. Brassart hatte bei Tisch zur Eile gedrängt – er müsse noch in Meudon ope95
rieren und werde spät heimkommen. Louise und Vincent hatten noch eine Weile auf der Terrasse gesessen, und hinterher hatte er fast grob werden müssen, um zu verhindern, daß sie mit in sein Zimmer kam. Seit einiger Zeit stapelten sich die medizinischen Fachblätter ungelesen auf seinem Schreibtisch, und seine Bücher verstaubten im Kleiderschrank. Um Mitternacht legte er sich ins Bett, machte das Licht aus und dachte an Louise. Sie waren allein in der Wohnung; das Personal schlief im sechsten Stock. Vermutlich erwartet sie mich jetzt, dachte er. Wahrscheinlich erwartet sie mich in Zukunft jeden Abend; sie hat alle moralischen Bedenken hinweggefegt … Was ihn betraf, so handelte es sich nicht um moralische Bedenken; er hatte ganz einfach Angst. Idiotisch. Er träumte jede Nacht von Louise. Brassart lachte sich wahrscheinlich kaputt. Oder er ärgerte sich, daß er so lange warten mußte … Wenn er wirklich was vorhat. Wenn ich mir das alles nicht bloß einbilde … Gegen eins schlief er endlich ein. Zu diesem Zeitpunkt schlief Louise schon lange. Aber sie hatte einen leichten Schlaf, und ungewöhnliche Geräusche weckten sie. Leise Schritte … ängstliche Schritte. Vincent? Sie lächelte. Na endlich! Sie wollte Licht machen, unterließ es aber, um ihn nicht womöglich zu verjagen. Sie verharrte reglos in der Dunkelheit, bereit, sich in seine Arme zu werfen, sobald er in der Tür stand. Die Schritte näherten sich unerträglich langsam, zögerten, wurden noch leiser. Jetzt hörte sie nichts mehr außer dem wilden Pochen ihres Herzens. Sie wollte aufstehen, ihn an der Hand nehmen wie ein kleines Kind … Da waren die Schritte wieder. Sie wartete. Endlich. Die Tür, die sie nie verriegelte, öffnete sich einen winzigen Spalt … dann geschah überhaupt nichts. Louise wurde ungeduldig. Worauf wartete er noch? 96
Ihre Hand wollte den Lichtschalter suchen, hielt jedoch auf halbem Weg inne. Nein. Kein Licht … Louise hatte plötzlich Angst, irrsinnige Angst. Vincent hat mich angesteckt, durchzuckte es sie, angesteckt mit seinen törichten Verdächtigungen, mit seiner eigenen Angst … Da draußen vor der Tür, das war nicht Vincent; das konnte er gar nicht sein, weil Vincent sich nie trauen würde, weil er Angst hatte, so wie sie jetzt, weil er nie über seinen Schatten springen würde … Eine Diele knarrte. Sie zog den Kopf ein, verschwand unter den Decken und rollte sich am Fußende des Bettes zusammen. Sie lag da wie erstarrt. Sie schwitzte. Sie fror. Das war nicht Vincent, o nein. Das war … Ja, wer war es? Nein, sie wollte es nicht wissen. Sie wollte überhaupt nichts mehr. Nein. Nein, nein, nein, neineinein … In diesem Augenblick fiel der Schuß. Es krachte entsetzlich. Sie stieß einen schüchternen Laut aus, halb Schluchzen, halb Aufstoßen, und blieb wie gelähmt unter der Bettdecke liegen. Vincent hatte einen Alptraum: Zwei Männer hielten ihn fest, ein dritter hatte gerade auf ihn geschossen und zielte schon wieder. Es hatte ohrenbetäubend geknallt. Er konnte sich nicht bewegen, nicht schreien, nichts. Ich werde sterben … Aber es tat seltsamerweise gar nicht weh … Er fuhr hoch, saß aufrecht im Bett, in Schweiß gebadet. Seine Zähne klapperten. Uff! Er machte Licht, stand auf und stolperte ins Bad. Unter der Dusche kam er allmählich zu sich, und langsam wurde ihm klar, daß er wirklich einen Schuß gehört hatte. Jemand hatte geschossen. Hier in der Wohnung … Louise! Er nahm sich nicht die Zeit, einen Bademantel überzuziehen; im Schlafanzug stürzte er auf den Gang, fand 97
den Lichtschalter, rannte weiter. Ihre Tür stand offen; er war mit einem Satz im Zimmer und machte Licht. Es stank beißend nach Pulvergasen. Louises Kopf kam unter der Decke hervor: mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn verständnislos an. Sie sah sehr zart aus. Zerbrechlich. „Ist Ihnen was passiert, Louise?“ Er nahm ihre Hand. „Antworten Sie doch! Was ist denn überhaupt los?“ Sie weinte stumm. Große Tränen liefen über ihr totenblasses Gesicht. Schließlich sagte sie stockend, nein, sie sei nicht verletzt, nur diese Angst, sie habe so schreckliche Angst gehabt, und sie verstehe das Ganze nicht, die Tür sei einen Spalt breit aufgegangen, und dann der Schuß … „Aber wer hat geschossen? Wer hat … Ich werde verrückt, Vincent!“ Die Kugel steckte über dem Bett in der Wand, etwa dreißig Zentimeter oberhalb des Kopfendes, nur wenige Zentimeter oberhalb von Louises Kopf, der jetzt auf dem Kissen lag. Ein wenig Verputz war weggeplatzt, ein wenig Mörtelstaub heruntergefallen; sonst war nichts passiert. Vincent ließ Louises Hand los. Der Killer war vermutlich durch den nach hinten gelegenen Lieferanteneingang entkommen – vielleicht hatte ihn die Concierge noch gesehen … Auf jeden Fall mußte die Polizei her. „Wir müssen die Polizei rufen, Louise.“ Er zitterte; er atmete schwer. Er hatte Fieber. Sein Magen krampfte sich zusammen. Sie sah ihn mit verweinten Augen an und nickte stumm. „Was ist hier los?“ Brassart stand in der Tür. Er sah müde aus, grau im Gesicht. Vincent fuhr zurück. Louise fragte mit schwacher Stimme: „Hast du denn nichts gehört?“ „Gehört? Was denn? Ich komme gerade zur Tür herein … Also?“ 98
Leise, immer noch stockend, berichtete sie. Brassart hörte zu und rieb sich langsam die Nasenwurzel. Als Louise schwieg, fragte er knapp: „Und das ist alles?“ „Ich rufe jetzt die Polizei“, platzte Vincent heraus. Der Große B fuhr blitzartig herum. „Sie tun, was ich sage, Debosse … Natürlich haben Sie schon die Wohnung durchsucht?“ „Nichts habe ich durchsucht – dazu war doch noch gar keine Zeit … Und Sie glauben doch nicht im Ernst, der Täter steht hier noch irgendwo ’rum und wartet seelenruhig, bis wir ihn suchen kommen? Der ist längst über alle Berge! Nein – wenn ihn überhaupt noch jemand erwischen kann, dann die Polizei. Deswegen müssen wir sie jetzt …“ „Nein.“ Brassart drehte ihm den Rücken zu und wandte sich zu seiner Frau um. „Aber Guillaume …“ Louise setzte sich im Bett auf. Sie hatte rote Flecken auf den Wangen. „Aber Guillaume – begreifst du denn nicht? Ich hätte tot sein können! Wenn ich mich nicht ans Fußende verkrochen hätte …“ „Na, na, na – wir wollen doch die Sache nicht noch hochspielen …“ Er bückte sich und hob die Patronenhülse auf, die er unter einem Stuhl entdeckt hatte, und steckte sie ein. Dann untersuchte er die Stelle, wo das Geschoß in der Wand steckte. „Tja … Das sieht eigentlich alles nach einem ganz gewöhnlichen Raubüberfall aus“, meinte er. „Der Bursche hat wahrscheinlich geglaubt, du bewahrst deinen Schmuck im Schlafzimmer auf …“ Er behauptete oft die haarsträubendsten Dinge, ohne daß seine Umgebung zu widersprechen wagte. Aber diesmal merkte er selber, daß er zu weit gegangen war. „Ja, so muß es gewesen sein“, sagte Vincent mit ausdrucksloser Stimme. „Und damit’s nicht zu einfach wird, zu unsportlich, hat er gewartet, bis Madame Brassart sich zur Ruhe begeben hatte. Statt sich einzuschleichen, 99
wenn das Zimmer leer ist, meine ich. Um neun zum Beispiel – da ist Ihre Frau noch nie im Bett.“ „Sie vergessen das Personal“, sagte Brassart schnell. „Um neun ist das Personal noch in der Wohnung.“ „Oder um zehn. Da ist Ihre Frau auch noch auf.“ „Das wissen Sie vielleicht. Aber woher weiß es der Einbrecher?“ Er sah Vincent gerade in die Augen und dachte, du armer Hanswurst; du machst mich nicht fertig, du Ohrfeigengesicht! „Der Einbrecher wußte es, weil er das Ding ja ohnehin ausbaldowern mußte. Er mußte zum Beispiel ’rauskriegen, in welchem Raum dieser großen, verschachtelten Wohnung Ihre Frau schläft … Wo soll er übrigens ’reingekommen sein, der Einbrecher?“ Es war wie in der Prüfung: Er erkannte seine eigene Stimme nicht. Er sprach mechanisch, während sich seine Gedanken selbständig machten: Die Polizei muß her … Brassart ausschalten, lahmlegen … Keine Minute verlieren. Keine Angst mehr haben vor diesem Schwein, endlich mal erwachsen werden … „Durch den Lieferanteneingang natürlich“, sagte Brassart. „Der kürzeste Weg zu Louises Zimmer, und das Schloß an dieser Tür, das ist ein besserer Witz … Ich schau’s mir gleich mal an.“ „Und ich rufe inzwischen die Polizei an“, sagte Vincent und wollte das Zimmer verlassen. Brassart versperrte ihm den Weg, stand vor ihm – einen halben Kopf größer, breitschultrig, furchterregend. „Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Debosse: Sie haben nichts gesehen, klar? Sie haben nichts gehört. Sie haben geschlafen. Sie schlafen jetzt noch, und wahrscheinlich träumen Sie … Sie rühren sich nicht von der Stelle, bis ich zurückkomme!“ Damit ging er hinaus. Vincent wagte nicht, sich dem Bett zu nähern. Er sah Louise nur an. Ihr Blick war müde und ausdruckslos. 100
„Ich liebe Sie, Vincent … Ich schaue da nicht durch; ich verstehe überhaupt nichts mehr, aber ich liebe Sie.“ Sie lag unbeweglich; ein Bein hing über die Bettkante, ein sonnengebräuntes Bein, das ein rosa Seidennachthemd bis zum Knie bedeckte. Als Brassart zurückkehrte, verschwand das Bein wieder unter dem Laken. „Ich hatte recht“, sagte Brassart. „Er ist durch die Hintertür eingedrungen; das Schloß ist aufgebrochen, und er hat einen Stuhl umgeschmissen.“ „Ich habe nichts gehört“, sagte Louise. Brassart zuckte die Achseln und sah auf die Uhr. Er war müde. „Sonst hat er keine Spuren hinterlassen“, fügte er hinzu. „Experten würden sofort welche entdecken“, murmelte Vincent, der sich fest vorgenommen hatte, nichts mehr zu sagen. Die Experten, dachte Brassart, werden sich in absehbarer Zeit mit deiner Todesursache befassen, du Armleuchter. Louise hatte sich wieder aufgesetzt; sie war wieder sehr bleich. Ein ganz dummer, ganz einfacher Gedanke war ihr gekommen: Der wollte mich töten und hat es nicht geschafft … Der kommt wieder … „Wir müssen die Polizei rufen!“ sagte sie flehend. „Guillaume – wir müssen!“ Diesen Ton kannte er nicht an ihr; sie war nie trostund anlehnungsbedürftig gewesen, sie hatte nie Szenen gemacht. Und jetzt … Er wußte einfach nicht, was er machen sollte. „Guillaume, ich würde mich nie mehr sicher fühlen … Ich habe Angst, Guillaume!“ Er setzte sich auf die Bettkante, nahm ihre Hände und versuchte eine Zärtlichkeit vorzutäuschen, die er schon lange nicht mehr empfand. „Du brauchst keine Angst zu haben. Morgen lasse ich die Schlösser auswechseln.“ 101
„Guillaume, die Polizei – bitte! Wir müssen sie verständigen. Wir müssen!“ Er lächelte, aber es klang verdrossen, als er sagte: „Das ist doch vollkommen unnötig! Es ist nichts gestohlen worden; niemand ist verletzt. Wenn ich die Polizei einschalte, haben wir vielleicht die Chance eins zu tausend, daß der Einbrecher festgenommen wird, irgendwann. Aber wir haben die Garantie, daß sie uns das Leben zur Hölle machen … Hast du schon mal mit der Polizei zu tun gehabt? Es ist widerlich, kann ich dir sagen! Zu jeder Tages- und Nachtzeit wischen sie ihre dreckigen Stiefel an deinen Teppichen ab; sie erlauben sich alles und uns nichts, und außerdem ist es dem guten Ruf des Bürgers nicht gerade förderlich, wenn die Polizei bei ihm ein und aus geht … Denk an deinen Vater!“ „Aber Sie können die Polizei nicht einfach aus dem Spiel lassen!“ protestierte Vincent. „Wenn Sie sie nicht rufen, dann werden es vermutlich die Nachbarn tun.“ Er sagte es zu Brassarts Stiernacken; unwillkürlich hatte er die Stimme erhoben. Brassart drehte sich um und musterte ihn nachdenklich. Er sagte kein Wort, aber die stumme Sprache der kleinen grauen Augen war unmißverständlich: Wenn du noch einmal die Schnauze aufmachst, Debosse, dann hau’ ich dir eine ’rein, daß du Zähne spuckst. Hier bin ich der Herr im Haus, und daß du einstweilen noch hier wohnst, verdankst du ausschließlich der Freundlichkeit von Louise. Oder ihrer Blödheit. Aber beide sind nicht unerschöpflich … Ein guter Rat: Vergiß alles, was du hier gesehen hast. Andernfalls … andernfalls, mein Guter, ruf ich die Polizei tatsächlich – und was glaubst du wohl, auf was für Ideen die kommen werden? Louise und du, ihr beide allein in der Wohnung. Und dann fällt ein Schuß … Womöglich kommt auch noch eure etwas … na, eure Beziehung zueinander zur Sprache … Welche Schlüsse werden die Beamten ziehen? Na? Möglicher102
weise jedenfalls. Aber wie auch immer: Wenn es hart auf hart kommt, steht mein Wort gegen das deine … „Wenn Sie mich nicht mehr brauchen“, sagte Vincent, „gehe ich jetzt schlafen … Gute Nacht.“ „Gute Nacht, Debosse.“ Louise sagte nichts. Sie betrachtete ihre Hände, die sie aus Guillaumes Griff befreit hatte. Vincent lag im Dunkeln und dachte über Brassart nach, darüber, was der Grund für sein Verhalten sein mochte. Das düstere Bild von den alles terrorisierenden Bullen, das er da entworfen hatte – einfach lächerlich! Aber Vincent war durchaus nicht zum Lachen zumute. Eher zum Heulen. War Brassart dazu fähig, auf seine Frau zu schießen? Drei Dinge machten ihn mißtrauisch. Einmal war Brassart zwei oder drei Minuten nach dem Schuß hereingekommen – das war genau die Zeit, die man brauchte, um die Wohnung über die Dienstbotentreppe zu verlassen, den Hof zu überqueren, das Haus durch den Vordereingang zu betreten, mit dem Lift die fünf Etagen hinaufzufahren und Louises Zimmer zu erreichen … Zum anderen hatte er die Hülse eingesteckt; die Kugel konnte er ebenso leicht verschwinden lassen. Er brauchte sie nur aus der Wand zu entfernen – das sollte ihm nicht schwerfallen; die berufliche Tätigkeit des Chirurgen besteht im wesentlichen darin, alles mögliche zu entfernen … Sobald er auch das Geschoß hatte, war das gesamte Beweismaterial in seiner Hand. Und das legte den Schluß nahe, daß er wußte, wer geschossen hatte, zumindest, mit wessen Waffe geschossen worden war – mit seiner eigenen? Besaß er eine? –, und daß er den Schützen oder den Eigentümer der Waffe decken wollte … Zum dritten hatte er es wider alle Vernunft abgelehnt, die Polizei zu rufen. Er hatte 103
sich sogar gegen diese primitivste Vorsichtsmaßnahme mit Händen und Füßen gewehrt. Und mit albernen Ausreden. Als ob die Beamten nicht sehr genau wüßten, wo sie als „Freund und Helfer“ aufzutreten hatten – etwa beim Großen B – und wo sie als Bullen auftreten durften … Diese drei Punkte, zusammengenommen, ließen nur eine Schlußfolgerung zu: Entweder hatte Brassart selber geschossen, oder er deckte den Täter … Oder die Täterin? Und damit landete man in dem gleichen Dilemma wie vor ein paar Tagen bei der Cyclopropan-Geschichte … Nein, nicht ganz: Diesmal konnte der Anschlag allein Louise gegolten haben. Das klang alles sehr logisch, aber die Sache hatte einen Haken: Wenn Brassart seine Frau umbringen wollte, dann standen ihm Mittel und Wege zur Verfügung, die weit weniger spektakulär und zugleich viel wirksamer waren – ganz erheblich wirksamer … Nachdem er ein Schlafmittel genommen hatte, schlief er endlich gegen Morgen ein. Daß die Sache noch einen weiteren Haken hatte, das dämmerte ihm erst nach dem Aufstehen, als er in der Tasche seines Bademantels die Pistole fand. Das heißt, es begann ihm zu dämmern; erstens war er total verkatert, und zum anderen begriff er dann auch weiterhin die Zusammenhänge nicht. Er begriff nur, daß da etwas nicht in Ordnung war. Ganz und gar nicht in Ordnung. Einstweilen stand er da und glotzte das schwarze, mattglänzende Ding an. Ein Revolver. Nein, eine Pistole. Eine … Was steht da? – Eine Mauser … Ungeschickt nahm er das Magazin heraus. Ein Schuß fehlte. Ich muß sofort Brassart Bescheid sag … Nein. Das war das Dümmste, was er tun konnte. Louise? Nein, auch nicht. Louise dreht durch; Louise holt dann womöglich doch die Polizei … Ihm war nicht nach Polizei in diesem Augenblick; er war völlig durcheinander. 104
Als er um acht das Haus verließ – ohne Brassart oder Louise gesehen zu haben und ohne Frühstück –, lag die Pistole, in Zeitungspapier gewickelt, in seiner Aktentasche. „Ein schlechter Scherz?“ Er sprach laut zu sich selbst, während er zur Klinik fuhr. „Nein, so schlechte Scherze macht keiner. Das ist auch kein Scherz mehr, so was …“ Er dachte daran, zur Polizei zu gehen. Er stellte sich vor, wie es ablaufen würde: Hier, nehmen Sie – eine Pistole … In der vergangenen Nacht wurde in der Wohnung von Professor Brassart ein Mordversuch … Ja, ich wohne auch dort … Ja. Es hat sich jemand in die Wohnung eingeschlichen und auf Madame Brassart geschossen … Nein, er hat nicht getroffen. Und dann ist er sich wohl sehr schlau vorgekommen, als er mir den Revolver in meinen Bademantel … Aber nein! Natürlich habe ich nichts damit zu tun! – Wer ich bin? Debosse, Vincent; Mediziner. Ich bin zur Zeit Externer bei Professor Brassart … Ja, das stimmt. Als Externer hat man ein kleines Gehalt, aber das reicht vorn und hinten nicht, wenn man alleinstehend … Ja. Meine Mutter ist tot, und meinen Vater habe ich nie … Brassart? Das ist mein Chef, ja. Der bekannte Chirurg, der Schwiegersohn von Professor Gladieux … Nein, er würde nicht zur Polizei gehen. Er würde die Pistole nicht abgeben. Er würde sie erst einmal behalten, sie an einem sicheren Ort verstecken. Es würde ihm schon etwas einfallen – er hatte den ganzen Vormittag Zeit, darüber nachzudenken. Brassart kam nicht zum Mittagessen, Louise berichtete, er habe der Concierge und dem Personal erklärt, daß sich beim Reinigen seiner Pistole versehentlich ein Schuß gelöst habe, durch den niemand verletzt worden sei. „Aber sie haben gar nichts gehört“, fügte Louise hinzu; „weder die Concierge noch das Personal.“ 105
„Und die Waffe?“ fragte Vincent. „Wo ist die Waffe?“ „Keine Ahnung, wo er das Ding liegen hat. Ich weiß nur, daß es noch aus dem Krieg stammt.“ „Er sollte lieber gut darauf aufpassen; man kann nie wissen … Wenn die Polizei nun doch noch kommt, und die Waffe ist womöglich weg …“ „Warum sollte die Polizei kommen?“ „Heute nacht wollten Sie es.“ „Ja … Ich hatte so wahnsinnige Angst.“ Man sah ihr noch an, daß die Ereignisse der Nacht ihr zugesetzt hatten. Sie hatte Ringe unter den Augen, die auch unter dem Make-up sichtbar blieben. Er hätte sie am liebsten in die Arme genommen, sie gestreichelt, wie man ein Kind streichelt. Ich darf sie nicht noch mehr ängstigen, sagte er sich und beschloß, ihr die Sache mit der Pistole einstweilen zu unterschlagen. Statt dessen sagte er: „Louise … Ich liebe Sie, Louise. Und ich …“ „Pssst!“ Roberte brachte den Käse; Louise begann hastig von einem Film zu erzählen, den sie kürzlich im Fernsehen gesehen hatte … Dieses „Pssst!“ wird mein täglich Brot, schoß es Vincent durch den Kopf, wenn ich tatsächlich mit ihr ins Bett gehe … Und darauf legt sie’s an. Sie ist zu allem fähig, zu jedem Risiko bereit, weil ich mich ihr entziehe, weil sie meiner nie sicher ist. Oder vielleicht hat sie sich auch einen Vincent zusammengeträumt, den es gar nicht gibt, der nur in ihrer Wunschvorstellung lebt. Oder … oder liebt sie mich wirklich? Und es sah ganz danach aus. Als er in sein Zimmer ging, folgte sie ihm und warf sich in seine Arme. Sie weinte, weil sie sich plötzlich zu alt für ihn fand; sie küßte ihn, sie murmelte unverständliche Liebesworte, die sehr sanft klangen … Eine Irre? Nein; eine Frau. Und Vincent, der immer das Gegenteil geglaubt hatte, erkannte, daß er von Frauen keine Ahnung hatte. „Louise, haben Sie keine Angst mehr?“ 106
„Angst? Weshalb denn?“ Es war zum Verzweifeln – er hätte sie ohrfeigen können. Eines Tages tu’ ich’s! dachte er. Dann wird mir vielleicht wohler … Vielleicht wird ihr dann auch wohler. Sie saß im Sessel; er kauerte zu ihren Füßen. Sie lächelte; auf einmal wirkte sie gelöst, entspannt. „Louise“, begann er behutsam, „die Sache ist ernster, als Sie anzunehmen scheinen … Das war nicht irgendein Einbrecher; das war jemand, der Sie ganz genau kennt.“ „Mein Gott, Vincent – fangen Sie schon wieder damit an? Ich habe große Angst gehabt; gut, ich geb’s zu. Aber dann hab’ ich nachgedacht: Es kann doch nur ein Einbrecher gewesen sein! Ich habe Schmuck, nicht wahr; wertvollen Schmuck, zum Teil … mein Gott, das spricht sich wahrscheinlich herum in gewissen Kreisen.“ „Aber Louise … Denken Sie noch einmal nach, Louise – und diesmal richtig: Als das Cyclopropan in den Wagen gelegt wurde, da war niemand hinter Ihrem Schmuck her! Nein, nein – das waren beides Mordversuche; sie richteten sich gegen dieselbe Person, und derselbe Täter steckt dahinter.“ „Unsinn! Ein zufälliges Zusammentreffen. Die Gasflasche, das war ein dummer Scherz, sonst nichts!“ Sie streichelte sein Haar. Nicht einmal, wenn er die schrecklichsten Dinge sagt, verliert er seinen Charme, dachte sie. Er ist umwerfend. Unwiderstehlich … „Louise, hören Sie: Sie leben in einem Traum, und das kann Sie teuer zu stehen kommen … Und mich auch“, fügte er verbissen hinzu. Mein Gott, stellt er sich an! Unwillig stand sie auf, um sich eine Zigarette anzuzünden. „Schön, Vincent – ich bin also in Gefahr … Na und? Guillaume wird sämtliche Schlösser auswechseln und eine Alarmanlage installieren lassen. Was kann man denn sonst noch machen?“ „Die Polizei einschalten.“ 107
Sie sah ihn an, wie man ein dickköpfiges Kind ansieht. „Guillaume sagt … Ach, Sie waren doch dabei! Es ist völlig sinnlos, die Polizei zu rufen – im Gegenteil, diese … Wie sagt man … Diese Bullen …“ „Guillaume, Guillaume, Guillaume! Es tut mir leid, Louise – ich will Ihren Mann hier nicht madig machen, aber Sie zwingen mich dazu, es auszusprechen: Ihr Mann ist nicht der liebe Gott! Ihr Mann hat auch mal unrecht – das gibt’s!“ Sie rauchte; sie hatte Ringe unter den Augen. Sie vergewisserte sich, daß unter dem falschen Knoten keine Strähne ihrer kurzen Haare hervorsah. Sie trat vor ihn hin und beugte sich zu ihm herab. „Sie haben doch nicht die Polizei verständigt, Vincent? Das haben Sie doch nicht gemacht?“ „Natürlich nicht …“ Sie zwang ihn, den Kopf zu heben. Er sah ihre tiefschwarzen, sehr schönen Augen auf sich ruhen; sie verrieten keinerlei innere Bewegung. Er dachte, eine solche Frau werde ich nie verstehen … Eben hat sie geweint, Tränen vergossen wegen irgendwelcher albernen Ideen, und jetzt, angesichts eines Tatbestandes, der mich geradezu vor Entsetzen erstarren läßt, ist sie plötzlich wieder eiskalt … „Sehen Sie mich nicht so an, Louise! Mein Gott, wenn das so weitergeht, werd’ ich noch wahnsinnig … Sie haben ja keine Ahnung; Sie können sich das nicht vorstellen, aber … Ich überschau’ das alles nicht mehr, aber ich bin zu allem fähig – zu allem, verstehen Sie?“
12 „… noch in meiner Schreibtischschublade, gestern morgen – und heute abend ist sie nicht mehr da … Und in 108
der Zwischenzeit hat jemand versucht, meine Frau mit dieser verdammten Pistole über den Haufen zu schießen!“ Brassart stieß seinen Teller zurück. „Wenn du von DEINER FRAU sprichst, klingt das einfach umwerfend! Du sprichst es in Großbuchstaben aus … Aber DEINE FRAU liest einfach zu viele Kriminalromane, verstehst du? Sie geht viel zu sehr auf in ihrem ‚Roman‘ mit diesem Debosse … Bist du sicher, daß sie die ganze Geschichte nicht einfach erfunden hat?“ „Ich habe die ausgeworfene Hülse, und ich hab’ das Geschoß.“ „Vielleicht Debosse? Hat er vielleicht …“ „Er liebt sie doch.“ „Ebendeshalb.“ „Wieso?“ „Weil er sie aussichtslos liebt. Die Liebe, das ist was ziemlich Kompliziertes, weißt du? Kannst du dich nicht mehr dran erinnern?“ „Ich mag deine Witzchen nicht“, sagte er. Er sprach bemüht ruhig. „Meinst du, ich mag deine? Nein, du – sie sind mir zu verwirrend. Deine Frau bleibt mit ihrem Liebhaber allein in der Wohnung … Mach doch nicht so ein Gesicht! Schön, vielleicht ist er noch nicht ihr Liebhaber – entschuldige! Weiter: Deine Pistole verschwindet. Jemand schießt damit auf deine Frau – ein Einbrecher oder sonstwer –, trifft sie aber nicht … Findest du, daß das sehr glaubwürdig klingt? Dann erzähl die Geschichte mal der Polizei und warte ab, was die sagen.“ „Erst muß ich wissen, wer meine Pistole gestohlen hat.“ Er starrte über Danielles nackte Schulter hinweg ins Leere. „Das kann praktisch jeder gewesen sein.“ Sie zählte auf: „Debosse, jemand von den Dienstboten, deine Frau …“ „Und du.“ „Und ich, ja. Aber ich war’s nicht. Vielleicht erinnerst 109
du dich, daß ich gestern nachmittag nicht eine Minute allein im Arbeitszimmer war – du warst immer dabei.“ „So genau weiß ich das nicht mehr.“ „Solltest du aber. Da ist nämlich noch jemand, für den sich die Polizei interessieren könnte: du selbst … Ach, Ihre Pistole ist geklaut worden, Monsieur? Das kann jeder sagen, Monsieur!“ „Soll das ein Witz sein?“ „Es könnte ernst werden.“ Er musterte sie mit wachsender Verärgerung. Sie lächelte schön, arrogant, gierig. „Hast du schon mal Lust gehabt, jemand umzubringen?“ „Ja, natürlich. Das weißt du doch.“ Es klang beinahe fröhlich. „Aber das war mehr ein Traum – besser ein Alptraum. Ich habe inzwischen begriffen, daß man ganz einfach warten können muß. Und jetzt warte ich eben.“ „Und du suchst nicht, den Gang der Dinge …“ „Ich? Ich suche gar nichts. Du suchst etwas: deine Pistole. Hoffentlich findest du sie auch. Andernfalls sieht’s finster aus. Dann ist nicht mehr viel drin von wegen Notwehr, Tat im Affekt und so …“ Er beherrschte sich mühsam – am liebsten hätte er sie rechts und links geohrfeigt. Aber er griff nur nach der Weinflasche und füllte sein Glas. Dieses verdammte Flittchen! dachte er. Sie muß es doch gewesen sein … Sie hat die Mauser aus der Schreibtischschublade genommen, und dann ist sie letzte Nacht mit dem Zweitschlüssel, der immer in der Küche hängt, durch den Hintereingang gekommen. Den Schlüssel abends zu klauen und dann unbemerkt wieder hinzuhängen – noch vor dem Schuß vermutlich –, das war eine Kleinigkeit. Und ich kann dann hinterher mein eigenes Türschloß kaputt machen! Räuber und Gendarm spielen, das kann sie, das Aas. Genau wie mit dem Cyclopropan – einfach kindisch! Gott sei Dank hat mir Louise die Geschichte er110
zählt; Gott sei Dank hat weder sie noch Debosse die Sache durchschaut. Aber es ist höchste Zeit, Danielle das Handwerk zu legen. Sie darf bloß nichts merken. Ich muß sehr behutsam vorgehen. Ich muß sie behandeln wie eine mißtrauische Irre … „Was machst du denn für ein Gesicht?“ Sie lächelte immer noch. „Spielst du den Märtyrer?“ „Quatsch!“ „Du liebst mich nicht mehr, ja?“ „Hab’ ich das gesagt?“ Bei ihm muß man ständig auf der Hut sein. Ich hab’ schon genug Unsinn geredet; Schluß jetzt! Als sie aufstand, um das Geschirr abzuräumen, begegnete ihr Blick dem Guillaumes, und sie sah, daß sie ihn bis zum Äußersten gereizt hatte. Sie ging schnell in die Küche, stellte das Geschirr ab und zog sich ins Badezimmer zurück. Das war ihr Lieblingsplatz. Die schwarzen Kacheln hatten sie ein Vermögen gekostet und sahen ziemlich scheußlich aus. Sie setzte sich auf den Wannenrand und überlegte. Du hast ein bißchen viel Quatsch gemacht in letzter Zeit, meine Gute. Erst das Ding mit dem Cyclopropan, dann diese idiotische Knallerei – so kommst du nicht weiter … Kommst du überhaupt weiter? Nie würde Guillaume sie heiraten; das wußte sie jetzt. Eigentlich hatte sie es schon immer gewußt. Und das eigentliche Hindernis hieß nicht Louise, sondern Danielle. Diese Danielle war eben ein Versager, aus. Sie stand sich selber im Weg. Sie hatte die Karre eigenhändig in den Dreck gefahren – das war es, was sie verrückt machte. Er rief nach ihr; sie sagte: „Ja, gleich …“ Es war halb drei. Jetzt ging es zurück in die Wohnung an der Place Malesherbes; dort wartete die Schreibmaschine, auf der sie dann bis um sieben klappern durfte, immer in seiner Gegenwart. Sie waren zusammengespannt. Sie ließen sich nicht mehr aus den Augen, und sie haßten sich. 111
„Bist du bald fertig?“ „Augenblick – ich schreib’ nur noch was auf für die Putzfrau!“ Er schnüffelte und schnitt eine Grimasse. Ihr Parfüm … Sie hatte wieder mal zuviel genommen. Das war es im Grunde, was ihn an Danielle irritierte: die vielen kleinen Zuviels. Aber das durfte man ihr wohl nicht verübeln. Konnte man einem armen, neurotischen Mädchen überhaupt etwas übelnehmen, wenn sie durchzudrehen begann? Manchmal hatte er das Gefühl, daß es ihm selber ähnlich ging. Hin und wieder begann er an seinem Verstand zu zweifeln. Diese irrwitzige Situation konnte einen aber auch fertigmachen. Scheißspiel, für alle Beteiligten. Und eigentlich konnte keiner was dafür – weder Louise noch Debosse, und Danielle schon gar nicht. Im Grunde konnte nicht einmal er selber etwas dafür. Und er sah keinen Ausweg. Irgendwann kam der große Knall. Warum also Widerstand leisten? So schlittert man also ’rein, so macht man sich ganz friedlich mit dem Gedanken vertraut, ein Verbrecher zu werden – nicht weil man es will, sondern weil man nicht anders kann … Bei Danielle war vermutlich der gleiche Mechanismus in Gang geraten. Mit einem Unterschied allerdings: Danielle war nicht intelligent genug; sie konnte bestenfalls Verwirrung stiften – zu mehr langte es nicht bei ihr. Und außerdem erwartete sie ein Kind … Sie mußte auf jeden Fall kaltgestellt werden! Wie lange ist es eigentlich her, fragte er sich plötzlich, daß wir zuletzt miteinander geschlafen haben? Fünf Tage? Sechs? Ja, sechs … Er lächelte. Zuerst, da hatte er sie nicht ansehen können, ohne sie sofort zu begehren. Und jetzt? Jetzt kam er nicht mehr auf die Idee … Sehr gut. Ich bin soweit. Ich kann ihr jederzeit sagen, hör mal zu, es ist Schluß; du bist frei, ich bin frei, und wir versprechen uns nicht, gute Freunde zu bleiben, weil wir beide 112
wissen, daß nichts daraus werden kann. Aber ich werde dich finanziell unterstützen, und ich werde mich natürlich um das Kind kümmern. Keine Angst: Ich schreibe dir nicht. Ich verschwinde aus deinem Leben. Ja, es war soweit. Aber als sie aus dem Bad kam, sagte er das alles nicht; er nahm ihren Arm, und sie brachen auf. Wahrscheinlich hat sie mich zu lange warten lassen, dachte er. Ich habe zu lange Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Und jetzt … Er war ausnahmsweise einmal ehrlich sich selbst gegenüber: Jetzt habe ich Angst vor Danielle. Am ersten Samstag im Monat trafen die Brassart-Kinder um die Mittagszeit ein. Dann wurde rasch gegessen, und anschließend fuhr die ganze Familie nach Chantilly. Diesmal hatte Danielle Fellegrini das Wochenende freigenommen, und auch Vincent war in Paris geblieben. Natürlich hatte Louise versucht, ihn zu überreden: Er müsse unbedingt die Kinder besser kennenlernen; sie sollten sich beizeiten an ihn gewöhnen, ihn schätzen und – warum nicht? – lieben wie einen großen Bruder … „Sie träumen, Louise! Und Ihr Mann?“ „Ach ja – Guillaume …“ „Ich habe nämlich das Gefühl, daß er nicht besonders scharf darauf ist, mich als seinen Ältesten in die Arme zu schließen.“ „Ja, natürlich, Sie haben recht, Vincent. Aber zwei Tage ohne Sie …“ „Sie haben Ihre Kinder.“ „Ja, ja, natürlich.“ Sie hatte kein schlechtes Gewissen. Nicht im geringsten. Ich liebe meine Kinder, und ich werde sie noch lieben, wenn ich achtzig bin. Aber für Vincent habe ich nicht mehr viel Zeit … Obwohl ihr Beichtvater sie ständig ermahnte und von ihr verlangte, auf diese gefährliche Leidenschaft zu ver113
zichten, lebte sie mit sich selbst in Frieden. Nichts konnte sie davon abhalten, Vincent zu lieben. Vincent war ihr vom Himmel geschenkt worden. Aber was dann an diesem Freitag geschah, am Tag vor der Abfahrt nach Chantilly, das war doch ein ziemlicher Schock für sie. Sie war bei Vincent in dessen Zimmer und versuchte noch einmal, ihn zum Mitkommen zu bewegen. Er lehnte ab; er war sehr blaß, er sah zerquält aus und hatte offensichtlich einen schlechten Tag. Sie setzte sich zu ihm aufs Bett, umarmte ihn, ließ sich zurücksinken und zog ihn mit sich. Er lag halb über ihr. Sie küßten sich. Da ging die Tür auf. „Oh – Pardon! Ich wußte nicht …“ Wenn Danielle geklopft hatte, dann hatten sie es beide überhört. Vermutlich hatte sie nicht geklopft – sie versicherte zu nachdrücklich, es getan zu haben. Sie stand auf der Schwelle, eine schlanke Silhouette mit rotschimmernden Haaren, und lächelte liebenswürdig. Louise hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet. Von allen war sie am verlegensten; der Schweiß brach ihr aus. Danielle tat so, als habe sie nichts gesehen, sah nun auch tatsächlich nichts mehr, weil Vincent vor ihr stand und die Sicht verdeckte. Er gab sich keine Mühe, seine Wut zu verbergen. Er fuhr sie an: „Was wollen Sie?“ „Eine Auskunft … Da hat mir Monsieur Brassart ein Wort diktiert, mit dem komme ich nicht klar. Hier, schauen Sie mal – wie schreibt man das?“ Sie hielt ihm ein Blatt Papier vor die Nase. Vincent nahm es, ohne es anzusehen. „Es gibt medizinische Wörterbücher im Haus“, knurrte er. „Die stehen im Sprechzimmer von Monsieur Brassart, und heute hat er Sprechstunde.“ Am liebsten hätte er ihr das Blatt um die Ohren gehauen. Aber er dachte an Louise, an die unmögliche Situation; er buchstabierte Danielle das Wort. 114
„Besten Dank; Sie sind sehr liebenswürdig.“ „Nein.“ Er gab ihr das Blatt zurück, schob Danielle energisch zur Tür und klinkte sie auf. „Das nächste Mal rufen Sie mich per Haustelefon an – dafür ist es nämlich da!“ „Oh – natürlich! Daß ich nicht daran gedacht habe … Entschuldigen Sie. Und nochmals vielen Dank.“ Er knallte die Tür hinter ihr zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Verdammt noch mal – jetzt hat sie uns weiß Gott erwischt! dachte er. Er ging zu Louise, die wie erstarrt sitzen geblieben war. „Sie hat gewonnen.“ „Nichts hat sie gewonnen!“ sagte sie trocken. „Wenn Guillaume ihr dummes Geschwätz anhört, dann hab’ ich auch noch etwas zu sagen, dann wird er schon wissen, wem er glauben soll.“ „Ja. Er wird ihr glauben.“ „Vincent, Sie sind ein Kind!“ Sie lachte ein wenig verächtlich. „Hören Sie doch auf, sich über alles mögliche Sorgen zu machen … Mach’ ich mir vielleicht Sorgen?“ Am Sonntag hatte er die Wohnung für sich. Er konnte darin herumstrolchen, brauchte sich nicht zu waschen, konnte beim Fernsehen Sandwiches essen und hatte Zeit zum Arbeiten, was er allerdings nicht tat. Als er gerade wieder in sein Zimmer ging, läutete es zweimal kurz hintereinander. Bevor er öffnete, knöpfte er sein schmutziges und abgetragenes Hemd zu. Es war Danielle Fellegrini. Sie trug lange Hosen und einen leichten Pullover. „Ich will gar nicht erst faule Ausreden erfinden, Debosse. Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden.“ „Ich habe keine Lust, Ihnen zuzuhören.“ Sie schob sich an Vincent vorbei und trat ins Wartezimmer. „Gott, ist das trist hier! Die reinste Klosterzelle.“ „Wollen Sie mit mir über Innenarchitektur reden?“ 115
Sie setzte sich in einen Sessel, schlug die Beine übereinander und zündete sich eine Zigarette an. „Sie sind komisch, Debosse. Sie sind nicht so wie die anderen Männer.“ „Keiner ist so wie die anderen – reden Sie doch nicht solches Blech. Und nehmen Sie gefälligst den Aschenbecher da hinten; Sie sind hier nicht in der Kneipe.“ „Und Sie sind hier zu Hause, was? Der Sohn des Hauses?“ „Was wollen Sie – ein paar hinter die Ohren? Sie brauchen’s nur zu sagen.“ „Ich weiß …“ Sie bot ihm eine Zigarette an. „Aber reden wir ernsthaft … Setzen Sie sich doch; ich tu’ Ihnen nichts.“ Er blieb vor ihr stehen, die Hände in den Taschen seiner Bluejeans, und vermied es, sie anzusehen. Ob denn das sein müsse, fragte sie, daß sie sich so gar nicht verstünden, sie beide? Also an ihr liege es ja nun nicht, sie habe sich weiß Gott alle Mühe gegeben … „Aber es hilft ja nichts; Sie muffeln mich ja immer nur an …“ Madame Brassart, ja – die sei viel freundlicher, im Grunde viel verständnisvoller; aber sie bleibe zugleich immer so auf Distanz … „Ja, soll sie Ihnen vielleicht um den Hals fallen? Mein Gott – hier im Haus weiß doch jeder, daß Sie mit Monsieur Brassart … Und niemand macht ihnen Vorwürfe. Aber Sie dürfen nicht verlangen, daß man sich noch mit Handkuß bei Ihnen bedankt!“ „Ich verlange gar nichts. Ich will nur erreichen, daß sich Madame Brassart hinsichtlich ihrer eigenen Situation ebensowenig Illusionen macht. Und damit meine ich die Tatsache, daß sie mit Ihnen, wie Sie das so schön ausgedrückt haben.“ Sie sah ihn an. „Sprechen Sie ruhig weiter“, sagte er. „Ich höre.“ Sie stand auf und trat dicht vor ihn hin, die Zigarette im Mundwinkel. Sie kreuzte die Arme vor der Brust. „Stellen Sie sich doch nicht dumm! Ob Sie mit Mada116
me Brassart schlafen oder nicht, kann mir persönlich egal sein. Aber Guillaume ist es nicht egal. Der dreht Sie erst noch durch den Wolf, ehe Sie aus dieser Sache ’raus sind … Falls Sie überhaupt ’rauskommen.“ „Eine kleine, hochkarätige Erpressung, hm? Ich hatte Ihnen mehr zugetraut.“ „Ich will Sie nicht erpressen, ich will Sie warnen. Ich bin neutral in der Sache, und ich gebe Ihnen einen uneigennützigen Rat – sagen wir, um Ihrer schönen Augen willen.“ „Reizend von Ihnen … Ach ja, ich kann Ihnen auch einen geben: Wenn man gerade dabei ist, den perfekten Mord zu begehen, darf man nicht versehentlich etwas in einem fremden Auto liegenlassen!“ „Ich verstehe nicht … Was soll das?“ „Sie werden es gleich verstehen: Ich fahre fast jeden Tag mit dem Renault von Madame Brassart in die Klinik – das wußten Sie wohl nicht? Na, jedenfalls: Kürzlich hab’ ich was auf dem Rücksitz gefunden … Cyclopropan, wissen Sie, was das ist? Macht nichts, es genügt zu wissen, daß es hochexplosiv ist. Und der Verschluß des Behälters war nicht ganz zugedreht …“ „Ich verstehe kein Wort, aber erzählen Sie weiter. Sie erzählen so hübsch.“ Sie sah ihn strahlend an. Sie ist offenbar doch nicht ganz so dämlich, wie ich angenommen hatte, stellte er bei sich fest. „So eine Gasflasche“, sagte er, „ist anonym. Aber der Krimskrams, den Damen in ihren Handtaschen herumtragen – der Krimskrams spricht manchmal Bände!“ „Ach, hören Sie doch endlich auf, Debosse! Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Sie verschwenden Ihre Zeit, Sherlock Holmes – ich habe ein gutes Gewissen.“ Mist. Sie war nicht ’reingefallen auf den Bluff. Aber wahrscheinlich ließ nur in Kriminalromanen der weibliche Schurke die Puderdose am Tatort liegen … Sie hat recht: Ich verschwende meine Zeit. 117
„Ich muß arbeiten“, sagte er, „ich will Sie auch nicht aufhalten.“ Sie hatte sich wieder hingesetzt. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und musterte Vincent nachdenklich. Wenn dieser kleine Idiot so fest davon überzeugt war, daß sie zwei Mordversuche auf dem Kerbholz hatte – das konnte riskant werden. „Gut, ich will’s kurz machen … Sie leben im Augenblick ein bißchen gefährlich, Debosse. Sie riskieren nicht nur Ihre berufliche Karriere, sondern Kopf und Kragen. Brassart ist im Begriff durchzudrehen. Er haßt Sie nicht nur wie die Pest; er ist so weit, daß er Sie einfach nicht mehr ertragen kann … Kapieren Sie das endlich? Und hier kommen wir an den Punkt, an dem ich eingreifen kann. Ich kann Ihnen helfen, Debosse. Ich kann bei ihm etwas für Sie erreichen. Aber ich habe keine Lust, mir noch länger Ihre Flegeleien und Ihre Überheblichkeiten bieten zu lassen … Schauen Sie, solange Brassart davon ausgeht, daß seine Frau zwar eine Schwäche für Sie hat, aber noch nicht mit Ihnen ins Bett gegangen ist – so lange haben Sie eine Chance. Aber ein einziges Wort genügt, mein Guter, und Sie sind geliefert!“ „Wenn ich Sie recht verstehe – ein einziges Wort von Ihnen, ja?“ „Sie verstehen mich großartig. Wissen Sie, ich habe nämlich Augen im Kopf. Und die habe ich gestern nicht zugekniffen, als ich ins Zimmer kam … Aber ich kann diskret sein. Wenn ich höflich darum gebeten werde … Na schön; das wollte ich Ihnen mal sagen, mein kleiner Debosse … So, und jetzt geh’ ich.“ Während er sie zur Tür begleitete, lachte sie plötzlich kehlig auf. Es klang ziemlich ordinär. „Wissen Sie, was mir gerade durch den Kopf geht? Die Karten liegen falsch in unserem Quartett … Sie sind jung, Sie sehen gut aus; ich bin weder alt noch häßlich – vielleicht waren wir füreinander bestimmt …“ 118
„Beim Kartenspiel geht’s logisch zu“, sagte er, „in der Liebe nicht … Und im vorliegenden Fall – bitte nehmen Sie das zur Kenntnis – ist es mir ganz recht so. Guten Abend!“
13 Danielle fuhr zum drittenmal mit nach Chantilly, und sie war ziemlich sicher, daß es das letzte Mal sein werde. Sie brauchte nur Guillaume anzusehen: ein Verrückter, der sich mühsam beherrschte, der aber mit seiner Beherrschung bald am Ende sein würde. Da sie wußte, daß sie nichts mehr von ihm zu erwarten hatte, da sie ihn haßte, hatte sie ihm gestern von der Sache mit dem Cyclopropan erzählt und auch von der nächtlichen Ballerei – nur so, um ihn zu ärgern. Aber wider Erwarten hatte er gelacht. Lauthals. Ein gespenstisches Lachen. Sie kamen vor Louise und Vincent in Chantilly an. Guillaume verkroch sich sofort in seinem Zimmer – er sei müde und abgespannt; sie solle einen Spaziergang im Wald machen oder irgendwas anderes, ihm sei es egal. Er wolle sie nicht vor sechs Uhr sehen; ciao. Sie merkte, daß er getrunken hatte und weitertrinken wollte: Er nahm eine Flasche Whisky mit hinauf … Danielle stand vor dem Fenster ihres Zimmers und beobachtete die Ankunft von Louise und Vincent. Louise trug ein buntes, tief ausgeschnittenes Kleid. Sie sah jünger aus in letzter Zeit. Ihr kurzes Haar, von dem falschen Knoten befreit, leuchtete in der Sonne. Eine halbe Stunde später verließ Louise im Reitdreß das Haus. Sie sprach einige Worte mit Vincent, der sich an einem schattigen Platz im Garten mit seinen Büchern niedergelassen hatte. Danielle sah nur seinen 119
Rücken, den feinen Nacken und das dichte braune Haar darüber. Er hatte Mademoiselle Fellegrinis Anwesenheit im Haus völlig vergessen. Er dachte an Louise, an ihr merkwürdiges Verhalten seit einigen Tagen. Manchmal sprach sie kein Wort mit ihm und war übervorsichtig; dann ging plötzlich wieder die Leidenschaft mit ihr durch, und sie machte die verrücktesten Dinge … wie vorhin im Wagen: Er fuhr, und plötzlich hatte sie ihn umarmt und schnell auf die Wange, auf den Mund und die Stirn geküßt, ohne sich um den dichten Verkehr zu kümmern. Und dann hatte sie etwas gesagt, das aus ihrem Mund seltsam klang: Ich kann nicht mehr, du … Ich will es jetzt, hier – sofort … Du machst mich wahnsinnig! Sie hatte ihn noch nie mit Du angeredet. Und ein wenig später hatte sie gemurmelt, während sie ihm den Nacken kraulte: Aber vielleicht willst du mich ja gar nicht. Ich bin ja auch viel zu alt für dich … Als sie sich dann Chantilly näherten, war sie wieder zum „Sie“ zurückgekehrt. Wir dürfen an diesem Wochenende nicht zu oft zusammen sein, Vincent. Nicht nur meinetwegen, ich denke auch an Ihre Karriere … Wir müssen vorsichtig sein! Und jetzt übertrieb sie es wieder mit ihrer Vorsicht. Kaum drei freundliche Worte auf dem Weg zum Ausritt … Am Abend würde sie müde sein, beizeiten schlafen gehen und ihn nicht bis in sein Zimmer verfolgen, das stand fest … Stand es wirklich fest? Und wenn sie doch kam? Wenn sie wieder davon anfing: Ich kann nicht mehr … Du machst mich verrückt …? Es war entschieden besser, wenn sie nicht kam … Ich kann nämlich auch nicht mehr. Ich bin schließlich nicht aus Holz. Eine Stunde später hockte er noch immer über seinen Büchern, ohne wirklich zu arbeiten. Unvermittelt stand er auf und sah zum Haus hinüber. Hinter der Gardine eines Fensters im Obergeschoß sah er eine weibliche 120
Gestalt, die sich hastig zurückzog. Ach so, ja – die Fellegrini war ja auch hier … Halt mal! Die Fellegrini? Es konnte nur Danielle Fellegrini sein – Louise war ausgeritten … Aber die Fenster von Danielles Zimmer gingen nicht auf den Garten hinaus, sondern auf die Straße … Danielle stand in Louises Zimmer! Er rannte ins Haus. Danielle saß im Wohnzimmer, ein Buch auf den Knien. „Suchen Sie was, Debosse?“ Das Luder war schneller als ich … „Was haben Sie in dem Zimmer von Madame Brassart gemacht?“ „Im Zimmer von … Sind Sie übergeschnappt, Debosse? Was habe ich in Madame Brassarts Zimmer zu suchen?“ Es hatte keinen Zweck. Ebensogut konnte er mit dem Kopf gegen die Wand rennen … Die Debosses ändern nun einmal nichts am Lauf der Dinge. Als Louise gegen fünf zurückkam, erzählte er ihr nichts von dem Vorfall. Aus zwei Gründen: Einmal weil er begriffen hatte, daß nichts dabei herauskam, wenn die Debosses mit den Brassarts diskutierten – man kriegte nur Kopfweh dabei, und hinterher kam man sich vor wie der letzte Dorftrottel. Zum anderen hatte er Louises Zimmer durchsucht. Er hatte überall nachgesehen – unter dem Bett, unter dem Schrank, hinter dem Bücherregal –, nichts; keine Höllenmaschine, keine Falle … Vielleicht war er tatsächlich der letzte Dorftrottel. „Sie sehen müde aus, Vincent. Zuviel gearbeitet?“ Louise sah ihn ausdruckslos an. Sie rauchte und fächelte den Rauch vor sich mit der Hand weg. „Ich habe nicht gearbeitet, ich habe nachgedacht. Louise, ich muß hier weg. Ich muß Sie verlassen. Ich kann nicht mehr. Wir machen uns hier alle fertig in dieser irren Situation.“ Sie sah ihn mit ihren schwarzen Augen zutiefst bestürzt an, sagte aber nichts. Erst als er in sein Zimmer 121
ging, kam sie hinterher. Sie brach in Tränen aus und bat und bettelte. Er dürfe nicht fortgehen; er sei ihr ein und alles, sie könne ihn nicht aufgeben … Er hörte sie an, unglücklich, hin- und hergerissen. Dann bremste er ihren Wortschwall. „Aber das hat doch alles keinen Sinn! Sie machen sich selber was vor. Sehen Sie den Tatsachen ins Gesicht – jetzt gleich, heute; morgen ist es vielleicht zu spät. Ich muß verschwinden, Louise. Ihretwegen. Ihrer Kinder wegen, meinetwegen.“ Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab, stand wortlos auf und ging zur Tür. In diesem Augenblick überkam es ihn: Ich liebe sie wirklich. Für mich ist sowieso alles im Eimer. Für sie wahrscheinlich auch. Ich geh’ nicht weg. Ich bleibe … Mit zwei Schritten holte er sie ein und riß sie in seine Arme. Gleich darauf lagen sie beieinander. Sie liebten sich mit einer Wildheit, die schon fast Gewalttätigkeit war. Vincent nutzte das aus, gab sich brutal und zynisch in der Hoffnung, sie abzuschrecken. Aber sie fand ihn nur unglaublich naiv. Um acht kam Marthe, um ihn zu Tisch zu holen. Vincent lag auf dem Bett und blätterte in einer Zeitung. Louise war längst gegangen. Bevor er hinunterging, knipste er die Nachttischlampe an, schloß die Fensterläden, zog die Vorhänge zu. Während er sich die Hände wusch, hatte er plötzlich das vage Gefühl, irgend etwas Wichtiges vergessen zu haben. Er kam nicht darauf. Aber irgend etwas war da. Er schaute in den Spiegel; seine Kleidung war in Ordnung. Er trug seine alten Bluejeans und ein sehr schönes Sporthemd, das Louise ihm geschenkt hatte … Verdammt noch mal, was ist los? Was will da heraus aus meinem Unterbewußtsein? Gerade eben noch war er „heiß“ gewesen, wie es in dem Ratespiel heißt; jetzt war 122
er wieder „eiskalt“ … Er wußte, daß er nicht zur Ruhe kommen würde, bevor es ihm nicht eingefallen war. Als er die Zimmertür hinter sich schloß, war es fast soweit – aber im letzten Moment dann eben doch nicht … Das Essen war serviert, man wartete auf ihn. Er gab auf. Sie saßen schon am Tisch, die beiden Frauen einander gegenüber. Louises Gesicht war verschlossen; sie sah ihn nicht an, als er zu ihrer Rechten Platz nahm. Nach einer Weile erklärte sie, daß sie eine schreckliche Migräne habe. „Hast du eine Tablette genommen?“ fragte Brassart. „Nein, ich habe keine dabei. Ich habe auch Angst vor dem Zeug.“ Der Große B zuckte die Achseln. „Das ist doch Unsinn. Außerdem ist mehr oder weniger dasselbe Zeug in allen möglichen Nahrungsmitteln drin.“ Danielle war aufgestanden. „Ich werde Ihnen was holen“, sagte sie. „Ich weiß, wie das ist; ich kriege es auch oft, und ich habe immer …“ „Lassen Sie nur …“ Brassart gab ihr durch eine Geste zu verstehen, sie solle den Mund halten und sich wieder hinsetzen. „Ich hole ihr selber etwas.“ Er stand auf. Er bewegt sich wie ein Klotz, dachte Vincent; so langsam und schwerfällig … Wenn in diesem Hause jemand krank ist, dann der Große B selber! Wie der gealtert ist in letzter Zeit. Und so schnell … Ja, das war nicht mehr der blendende Brassart, der zwar manchmal etwas von einem Schmierenkomödianten an sich hatte, aber immerhin recht gut aussah – das war ein müder alter Mann. Es dauerte fast zehn Minuten, bis er endlich zurückkam und zwei rosa Pillen neben den Teller seiner Frau legte. „Ich habe sie nicht gleich gefunden. Seit ein paar Tagen finde ich überhaupt nichts mehr … Schluck das und geh schlafen.“ 123
Im Aufstehen flüsterte Louise hastig Vincent etwas ins Ohr, aber er konnte es nicht verstehen. Als sie aus dem Zimmer ging, hätte er gern hinter ihr hergesehen, aber er traute sich nicht. Plötzlich quälte ihn wieder diese sonderbare Zwangsvorstellung, daß ihm etwas Wichtiges unbedingt wieder einfallen müsse. Das Abendessen verlief im weiteren schweigsam. Brassart mampfte stumpf vor sich hin, ohne sich an der Stille zu stören. Mit dem letzten Bissen im Mund stand er auf, nickte Danielle und Vincent zerstreut zu und ging schlafen. „Spielen Sie Rommé, Debosse?“ „Ich habe noch nie Karten gespielt.“ Er wußte nicht warum, aber sie tat ihm auf einmal leid. Vielleicht lag es an ihrer Stimme, die ein wenig heiser klang und halb erstickt. Ihre Augen waren verschwollen und rot gerändert, als ob sie geweint hätte. Er stellte sich vor, wie es sein mochte, wenn sie mit Brassart allein war und jede seiner Launen über sich ergehen lassen mußte. Louise gegenüber nahm sich Brassart noch einigermaßen zusammen, aber bei seiner Mätresse ließ er sich vermutlich gehen – er schuldete ihr nichts und sie ihm alles. „Dann geh’ ich noch ein paar Schritte“, sagte sie und stand auf. „Gute Nacht, Debosse.“ Er folgte ihr mit dem Blick, als sie zur Terrassentür ging. Er sah, daß sie sehr schöne Beine hatte. „Warten Sie …“ Er wußte nicht, wie er sie anreden sollte. Sie verwirrte ihn, sie weckte sein Mitleid, und gleichzeitig hatte er Angst vor ihr. Sie wandte sich um. „Wollen Sie mich begleiten, Debosse?“ Sie lächelt so … so aufdringlich, dachte er. „Ich dachte daran, ja“, sagte er lahm. „Aber … ach, lieber nicht. Ich hab’ noch zu tun. Gute Nacht.“ Ihm war nicht wohl in seiner Haut, als er die Treppe hinaufstieg. Er fühlte geradezu ihren Blick im Nacken, 124
und gegen seinen Willen blieb er stehen und wandte sich um. Sie lächelte nicht mehr, aber sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie ist sehr schön, dachte er, aber alles an ihr ist zu grell, zu schreiend … die Augen sind zu groß und zu grün, die Lippen zu rot und zu voll, und wie ihre roten Haare im Licht schimmern … Er sah sie lange an. Er mußte sie ansehen, und sie schien das nicht weiter verwunderlich zu finden. Als er sich endlich abwandte und weiterging, rief sie ihm nach: „Gute Nacht, Debosse; träumen Sie schön!“ Eigentlich, dachte er, ist sie dumm und langweilig. Er konnte nicht einschlafen. Er lag im Pyjama auf dem Bett, weil es zu heiß war, sich zuzudecken, und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er dachte an Louise. Das vorhin, das war der helle Wahnsinn gewesen. Wie leicht hätte jemand … Seine alte Angst brach wieder hervor. Ich muß weg; weg von den Brassarts. Scheiß auf die Klinik. Fang irgendwas anderes an, irgendwas, egal – bloß ’raus hier … Er knipste die Nachttischlampe aus, wälzte sich auf den Bauch und schloß die Augen. Lange lag er so da. Gerade als er schließlich in den Schlaf gleiten wollte, überkam ihn plötzlich das Gefühl, da müsse jemand im Zimmer sein. Ich hab’ nicht abgeschlossen, fiel ihm ein; da kann jeder … Nein, Louise schied wohl aus. Louise hatte ein Schlafmittel genommen. Er drehte sich langsam um, ganz langsam … Dann fuhr er mit einem Schrei hoch. Die große, massige Silhouette war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, nur das weiße Hemd schimmerte matt. Die Gestalt verharrte regungslos, und eben darum wirkte sie so bedrohlich. „Seien Sie still, Debosse – Sei schreien ja das ganze Haus zusammen! Haben Sie noch nicht genug Schaden angerichtet?“ 125
„Was wollen Sie?“ „Daß Sie Licht machen, verdammt noch mal. Ich finde den Schalter nicht.“ Brassart sah mitleiderregend aus. Grau im Gesicht, Tränensäcke unter den Augen, setzte er sich schwerfällig auf die Bettkante und fuhr sich erschöpft mit der Hand über die verschwitzte Stirn. Vincent hatte sich aufgerichtet, er wollte aufstehen. Aber Brassart hinderte ihn daran. „Bleiben Sie liegen!“ „Sind Sie krank, Monsieur?“ „Kümmern Sie sich nicht um meine Gesundheit, Debosse. Sagen Sie mir lieber, wo Sie die verdammte Kanone versteckt haben.“ „Welche Kanone?“ Zwei riesige, prankenähnliche Hände näherten sich Vincents Hals. Er wich zurück bis zur Wand. „Debosse, ich könnte Ihnen den Hals umdrehen, ehe Sie auch nur einen Ton ’rauskriegen …“ Er sprach langsam und überakzentuiert wie ein Betrunkener. „Wär’ doch eigentlich irrsinnig komisch, hm? Ach was … Die Kanone, ja. Meine Pistole. Die Fellegrini hat sie geklaut, Debosse. Die nächtliche Ballerei neulich, das war sie.“ „Mademoiselle Fellegrini war das? Woher wissen Sie …“ „Ich weiß es eben. Ich weiß alles. Ich weiß auch, daß Sie mit meiner Frau schlafen … Halten Sie mich für einen Schwachkopf?“ „Nein, Monsieur …“ Vincent konnte nur noch flüstern. „Nein, Monsieur – nein, Monsieur … Hören Sie doch auf!“ Der Große B grinste. „Wissen Sie, daß ich Sie nicht ausstehen kann? Daß ich Sie zum Kotzen finde?“ „Ja, Monsieur. Aber morgen sind Sie mich los. Ich wollte nämlich ohnehin …“ „Sie bleiben, Debosse. Das ist ein Befehl.“ 126
„Aber, Monsieur …“ „Ich hab’ meine Gründe. So, und jetzt geben Sie mir die Mauser.“ „Ich habe sie nicht.“ „Hören Sie, Debosse – ich weiß genau, daß Sie sie haben. Mademoiselle Fellegrini, die fast genauso dämlich ist wie Sie, hat die Waffe geklaut, um meiner Frau Angst einzujagen. Und dann hat sie den köstlichen Scherz ein bißchen weit getrieben und Ihnen das Ding auch noch in den Bademantel gesteckt … Sie sehen, ich weiß alles. Also, her damit!“ „Ich habe die Pistole weggeworfen, Monsieur. Ich hab’ sie in einen Gully geschmissen … Glauben Sie mir doch!“ „In einen Gully, so …“ Brassart rülpste. „Sagen Sie mal, Debosse, wie ist denn meine Frau so im Bett? – Na los, da brauchen Sie doch nicht rot zu werden! Raus mit der Sprache: Ist sie gut?“ „Ich bitte Sie, Monsieur …“ Ich bring’ ihn um. Wenn er so weitermacht, bring’ ich ihn um. Er ist besoffen, und verrückt ist er auch … Wieso hat noch keiner in der Klinik gemerkt, daß er total verrückt ist? „Na – keine Antwort? Ich will Ihnen sagen, warum Sie nicht antworten: Weil Sie die Hose voll haben, Debosse. Weil Sie Angst vor mir haben … Aber diese Angst hat Sie immerhin nicht davon abgehalten, meine Frau zu … zu …“ Brassart brach ab. Er war grün im Gesicht; er schwankte. Gleich fängt er an zu kotzen, dachte Vincent. Er stand rasch auf und versuchte den schweren Mann hochzuzerren. „Kommen Sie, Monsieur; kommen Sie auf den Balkon – die frische Luft wird Ihnen guttun. Die Hitze …“ Mit einer blitzartigen Bewegung hatte Brassart Vincent den Arm herumgedreht. Vincent fiel rückwärts aufs Bett. Brassart warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn. 127
„Lassen Sie mich los! Sie sind ja … So lassen Sie mich doch los …“ Dann sagte er nichts mehr. Er versuchte nur noch, den Kopf wegzudrehen, um nicht in das verzerrte Gesicht sehen zu müssen, das sich über ihn beugte. Er schloß die Augen. „Debosse, erzählen Sie mir von meiner Frau … Das ist doch ein Thema, oder?“ Er stank nach Alkohol. Vincent verzog das Gesicht und schwieg. „Du Arschloch!“ Brassart stemmte sich mit den riesigen Fäusten auf Vincents Brustkorb, so daß ihm die Luft wegblieb. „Aber bei meiner Frau, da kannst du reden, ja? Da kannst du reden, wenn du sie vögelst, ja?“ „Monsieur … Sie tun mir weh, Monsieur …“ „Na hoffentlich … Soll ich dich kaputt machen, Debosse? Soll ich dich so ganz langsam … so ganz … Soll ich dich …“ Er sackte zusammen. Vincent wälzte sich unter dem schweren Körper hervor, der plötzlich ganz schlaff war, und erreichte mit einem Satz das Fenster. Dann sah er sich um. Brassart rührte sich nicht. Vincent schlich vorsichtig zum Bett zurück und stellte fest, daß der Große B eingeschlafen war. Den krieg’ ich nicht mehr wach, dachte er, besoffen wie er ist … Soll er seinen Rausch ausschlafen. Ich geh’ in den Garten ’raus; das ist das gescheiteste bei der Hitze. Aber dann fiel ihm die alte Haushälterin ein. Sie stand immer sehr früh auf, und wenn sie einen Gast der Brassarts unter freiem Himmel schlafend antraf … Womöglich gab’s dann erst recht einen Skandal … Brassart fing an zu schnarchen. Dann hatte Vincent den rettenden Einfall. Wenn ich schon mit seiner Frau schlafe, dachte er, dann kann ich doch auch gleich in seinem Bett schlafen … Mit einem letzten Blick auf den schnarchenden Brassart verließ er leise das Zimmer. 128
14 Es war 22 Uhr 10. Commissaire Faure verzichtete darauf, die letzten Seiten zu lesen; er klappte die Akte zu. Er hatte über der Lektüre mindestens zwanzig Zigaretten geraucht, sechs Pfefferminzpastillen gelutscht und zwei Gläser Wasser getrunken. Und er hatte die schwache Stelle gefunden. Das hieß aber noch lange nicht, daß er jetzt nur noch den Mörder zu verhaften brauchte – im Gegenteil; jetzt wurde die Sache erst schwierig. Um Viertel nach zehn rief der Inspecteur Rageot an und bat ihn, Vincent Debosse für den nächsten Morgen vorzuladen. Sie wechselten noch ein paar belanglose Worte, dann legte er auf. Sein letztes Päckchen Zigaretten war leer; er hatte Kopfschmerzen, und er fand das alles ziemlich widerlich. Er dachte an seine Frau. Er hatte sich noch immer nicht getraut, sie anzurufen. Auf die Idee, er könne noch im Büro sein, war sie bestimmt nicht gekommen; der Himmel mochte wissen, was sie sich gerade ausmalte … Na ja, Ende des Monats schick’ ich sie erst mal mit den Kindern in die Bretagne, dachte er; und wenn dieser Scheißfall endlich abgeschlossen war, konnte er zu ihnen stoßen. Wenn es seiner Frau dann nach den Ferien nicht besser ging, mußte sie eben doch zum Psychiater. Vier Kinder in fünf Jahren. Vielleicht lag es daran. Vier schwierige Kinder, und sie selbst noch zu jung, daß sie sich bis heute noch nicht in ihre Rolle als Mutter hineingefunden hatte … Wahrscheinlich mußte sie auf jeden Fall in Behandlung. Ein Psychiater, das war, mal abgesehen von dem Auto, so ziemlich der einzige Luxus, den er ihr bieten konnte. Er saß auf der äußersten Stuhlkante; er ließ die Schultern hängen, seine Hände lagen verkrampft auf den zu 129
mageren Knien. Während er sprach, starrte er auf Faures Schlips. In seinen hellen Augen stand Mißtrauen. Faure kannte den Typ Vincent Debosse. Er hatte oft genug mit diesen jungen Leuten zu tun. Sie reisten mit leeren Koffern sozusagen; sie liebten nichts, sie gaben nichts, sie nahmen nichts, nicht mal eine Frau … Eine neue Rasse war das. „Monsieur Debosse, kommen wir doch noch einmal auf den Tag vor dem schrecklichen Ereignis zurück … Also, Sie sind in Chantilly; Sie haben gerade Mademoiselle Fellegrini in Madame Brassarts Zimmer gesehen. Sie rennen ins Haus, und im Wohnzimmer treffen Sie …“ „Danielle Fellegrini. Das hab’ ich Ihnen doch schon gesagt … Ich habe Ihnen alles gesagt; ich habe Ihnen mein ganzes bisheriges Leben erzählt – was wollen Sie jetzt noch wissen? Soll ich mein restliches Leben bei Ihnen in der Sûreté verbringen? Ich verschwende hier doch nur meine Zeit!“ „Nein, Monsieur Debosse, Sie verschwenden bisher meine Zeit …“ Vincent wischte die feuchte Hand an der Hose ab und nahm die Zigarette, die Faure ihm anbot. „Was wollen Sie damit sagen? Kapier’ ich nicht.“ „Hauptsache, ich kapiere. Kapieren, das ist mein Beruf.“ Commissaire Faure verlor selten sein Lächeln; er hatte schöne Zähne, und die lenkten ein wenig ab von den schütteren Haaren und den abstehenden Ohren. Aber jetzt sah er Vincent sehr ernst an. „Also, ohne weitere Zeitverschwendung: Sie geben vor, Monsieur Debosse, daß Sie, nachdem Sie Mademoiselle Fellegrini im Wohnzimmer angetroffen haben, in Madame Brassarts Zimmer gegangen sind, um dort eine Art … na, Inspektion vorzunehmen?“ „Genau! Das Verhalten von Mademoiselle Fellegrini … Also, ich war sehr beunruhigt, ja? Ich war schon vorher 130
mit den Nerven ’runter; ich war mißtrauisch gegenüber allen und jedem. Und da kriegte ich plötzlich Angst …“ Er sprach leise und hastig; immer wieder schob er nervös die Haarsträhne zurück, die ihm ständig in die Stirn fiel. „Angst? Wovor, Monsieur Debosse?“ „Hören Sie, seit der Geschichte mit dem Cyclopropan und der Pistole war ich ein gebranntes Kind! Ich hatte einfach Angst. Mademoiselle Fellegrini könnte irgendwas in Madame Brassarts Zimmer installiert haben – irgendwas Gefährliches … Finden Sie das so abwegig in der Situation? Ich bin also hinaufgegangen und habe alles durchsucht … Gefunden habe ich allerdings nichts. So, das ist alles.“ „Nein, das ist nicht alles.“ Vincent wurde blaß, aber zum erstenmal sah er Faure ins Gesicht. „Ich schwöre Ihnen, daß …“ „Kommen wir noch einmal auf Ihre Aussage zurück, Monsieur Debosse. Sie haben gesagt, daß Sie gegen acht an diesem Abend, als die Haushälterin Sie zum Essen rief, das – ich zitiere – ‚vage Gefühl hatten, etwas ‚Wichtiges vergessen zu haben‘ …“ „Ja, das habe ich gesagt. Aber es ist mir nie eingefallen.“ „Monsieur Debosse, Sie sind ein überdurchschnittlich intelligenter Mensch. Es ist Ihnen doch klar, daß es sehr unklug wäre, mir ein wichtiges Detail zu verschweigen?“ „Ich verschweige Ihnen nichts.“ „Denken Sie nach. Denken Sie gut nach!“ „Nein … nein, mir fällt nichts ein; ich habe Ihnen nichts verschwiegen. Wenn ich nicht unbewußt …“ „Unbewußt! Genau das ist es, Monsieur Debosse. Wenn ich Ihre Aussage durchlese, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich bei Ihnen eine ganze Menge im Unterbewußtsein abspielt.“ Vincent steckte sich ungeschickt eine Zigarette an; als er den Commissaire wieder ansah, hatte er Tränen in den Augen. 131
„Und in Madame Brassarts Zimmer haben Sie das … eh, das wichtige Detail gefunden, ja?“ „Aber nein!“ protestierte Vincent. „Ich sage Ihnen doch daß ich nichts gefunden habe!“ Er hatte unerwartet die Stimme gehoben, und Faure fragte sich, ob er so laut wurde, weil er sich seiner Tränen schämte oder weil er Angst hatte. „Entschuldigen Sie“, sagte Vincent. „Ich bin total fertig; ich schlafe schlecht, und ich habe in der Klinik wahnsinnig viel zu tun – ich vertrete seit einigen Tagen einen Internen, der in Urlaub ist.“ „Monsieur Debosse, Sie sind selber Interner, nicht wahr?“ „Provisorisch, ja.“ „Hm, hm … Seit wann operieren Sie schon?“ „Sie meinen, selbständig?“ „Ja. Seit wann vertraut man Ihnen die volle Verantwortung für Ihre Operationen an?“ „Seit zwei Monaten.“ „Auch schwierige Eingriffe?“ „Nein. Blinddärme, Leistenbrüche und so. Größere Sachen macht der Oberarzt, wenn der Chef nicht selber operiert.“ „Ich verstehe … Sie lieben Ihren Beruf über alles, nicht wahr?“ „Ja.“ „Und alles andere zählt daneben nicht für Sie?“ Vincent schwieg. „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt“, sagte Faure. „Ist es so schwer, darauf zu antworten?“ „So kann man das doch gar nicht beantworten. Natürlich zählt das andere auch. Ich nehme es nur weniger wichtig.“ Der Commissaire seufzte; er schien zu zögern. Dann fragte er scharf: „Was halten Sie von Frauen, Monsieur Debosse? So ganz allgemein?“ 132
„So ganz allgemein interessieren sie mich nicht sehr“, antwortete Vincent spontan. „Sie wollen sagen, daß Sie absolut fähig sind, eine einzige Frau zu lieben – was man so lieben nennt?“ „Das sollten Sie eigentlich meiner Aussage entnehmen können.“ „Ach, wissen Sie …“ Faure sprach nicht weiter und blätterte in der Akte. Plötzlich hielt er inne. „Ich habe hier mehrere Zeugenaussagen, die Sie betreffen; darunter eine von Mademoiselle Accard. Sie scheint, was Sie angeht, sehr zurückhaltend zu sein, diese Mademoiselle Accard. Aber in einem Punkt spricht sie Klartext – ich zitiere: ‚Nach meiner Ansicht geht Debosse einfach die Fähigkeit ab zu lieben. Ich will damit nicht sagen, daß er nicht will, sondern daß er nicht kann. Es liegt ihm nichts daran. Es liegt ihm nichts an Frauen. Ich halte ihn auch nicht für homosexuell. Ich glaube vielmehr, daß ihn sein Ehrgeiz, ein großer Chirurg zu werden, völlig ausfüllt …‘ Na ja, und so weiter; ich will Ihnen das nicht alles vorlesen. Es ist nur auffallend, daß alle Zeugen zumindest in einem Punkt übereinstimmen: daß Sie ein Streber sind.“ Vincent zuckte die Achseln. „Ich laufe den Leuten nicht nach“, sagte er kurz. „Ich habe auch noch nie einen richtigen Freund gehabt.“ „Warum wohnen Sie jetzt wieder in der Brassartschen Wohnung?“ „Weil … Ach, ich habe einfach noch keine Zeit gehabt, mir was Passendes zu suchen. Nach der Geschichte habe ich ja im Hotel gelebt. Aber nach acht Tagen wurde mir das dann zu teuer.“ „Das letztere glaube ich Ihnen. Aber daß Sie keine andere Unterkunft finden konnten … Na, ich weiß nicht.“ „Es ist aber so.“ „Hm, hm … Aber haben Sie nicht das Gefühl, daß es … na, ein bißchen unpassend ist, noch dort zu wohnen?“ 133
„Was soll denn daran unpassend sein? Darum geht’s doch gar nicht …“ „Sondern? Worum geht es, Monsieur Debosse?“ Vincent seufzte und sah demonstrativ auf die Uhr. „Hören Sie, ich werde in der Klinik erwartet. Dringend! Ich bin nur gekommen, weil man mir sagte, es dauert nicht lang. Jetzt muß ich wirklich …“ „Monsieur Debosse, auch ich hatte gehofft, daß wir’s rasch hinter uns bringen. Daß Sie einsehen würden, es hat keinen Sinn, Ausflüchte zu machen … Also, daß es besser ist, mir ohne Umschweife die Wahrheit zu sagen.“ „Ich habe sie Ihnen gesagt.“ „Nein. Und ich könnte Sie jetzt erst mal hierbehalten.“ Vincent lächelte. „Soll ich danke schön sagen, weil Sie’s nicht tun? Halten Sie mich für ein Kind? Machen wir uns doch nichts vor, Commissaire: Wenn Sie mir auch nur das Geringste nachweisen könnten, hätten Sie mich schon längst eingebuchtet!“ „Sie sind tatsächlich ein Kind.“ Faure war aufgestanden; er sah Vincent ausdruckslos an. „Gehen Sie in Ihre Klinik, Monsieur Debosse. Wir sehen uns bald wieder. Und es wäre schön, wenn sich bis dahin die eine oder andere – eh – Gedächtnislücke bei Ihnen geschlossen hätte.“ Er reichte ihm die Hand. Vincent drückte sie flüchtig und wandte sich zur Tür. „Ach, übrigens …“ „Ja, Commissaire?“ Vincent blieb stehen und sah über die Schulter. „Es ist möglich, daß ich Sie mit Monsieur Brassart zusammen vorlade. Es wird sich morgen entscheiden.“ Vincent fuhr herum. „Soll das heißen …“ Er war plötzlich kreidebleich. „Soll das heißen, daß … Monsieur Brassart nicht mehr in der Klinik in Neuilly ist?“ „Er wird heute abend entlassen.“ 134
„Aber das ist doch … Purer Wahnsinn ist das!“ „Monsieur Brassart geht es viel besser …“ Faure lächelte. „Er darf ein paar Tage nach Hause.“ „Das ist Wahnsinn!“ wiederholte Vincent. „Brassart hat einen ganz schweren Schock erlitten – deswegen ist er ja in Neuilly eingeliefert worden! Das muß doch stationär … Das heilt doch nicht in zwei Wochen!“ „Ihr Chef ist ein robuster Mann … Und ein vernünftiger Mann. Er möchte die Kinder aus der Sache heraushalten. Er wird sie morgen im Internat besuchen, bevor er hierherkommt.“ Vincent stand da wie vor den Kopf geschlagen, mit hängenden Armen, und starrte auf den Fußboden. „Das paßt Ihnen wohl nicht?“ erkundigte sich Faure freundlich. „Was stört Sie denn daran?“ „Ach, nichts. Gar nichts …“ „Waren Sie am Tag des Verbrechens genauso bestürzt, Monsieur Debosse?“ „Eh … Was haben Sie gesagt?“ fragte Vincent tonlos. Faure saß schon wieder am Schreibtisch und blätterte zerstreut in der Akte. Es fehlten nur noch wenige Teile des Puzzles, und die wollte er jetzt an der richtigen Stelle einfügen. Ohne aufzusehen, sagte er: „Ich dachte, Sie hätten es eilig, Monsieur Debosse? Lassen Sie sich nicht aufhalten …“ Vincent zog die Tür hinter sich zu und sah durch den schmaler werdenden Spalt immer nur diesen kleinen, höflichen Commissaire, der so oft lächelte. Wie er so dasaß, in die dicke Akte vertieft, wirkte er überaus friedfertig. Faure blätterte immer noch in seinen Unterlagen und wunderte sich darüber, wie vage sämtliche Aussagen im Grunde blieben, was die Entdeckung der Tat und das Verhalten der Anwesenden unmittelbar danach betraf. Genau da hätte er sofort bei Beginn der Untersuchung intensiver einhaken müssen. 135
Am 25. Mai hatte man in Chantilly eine junge Frau, die einmal schön gewesen war, tot in ihrem Zimmer aufgefunden. Sie war an einem elektrischen Schlag gestorben. Marthe, der alten Haushälterin, war es als erster aufgefallen, daß Mademoiselle Fellegrini um elf noch nicht zum Frühstück heruntergekommen war. Die Fensterläden waren noch zu, ihre Tür abgeschlossen. War Mademoiselle vielleicht krank? Sie stand sonst immer viel früher auf. Brassart saß zu diesem Zeitpunkt lesend in seinem Arbeitszimmer. Er habe keine Ahnung, sagte er, als die Haushälterin ihn fragte. Ob sie schon mal an die Tür geklopft habe? „Ja, Monsieur, mehrmals. Sie antwortet nicht.“ „Dann schläft sie wahrscheinlich noch. Furchtbar einfach …“ Um die Mittagszeit hatte dann Louise gedrängt, er solle doch besser einmal nach dem Rechten sehen. Er nahm Vincent mit nach oben. Abwechselnd warfen sie sich gegen die Tür von Danielles Zimmer, wie sie es im Kino gesehen hatten. Es dauerte zehn Minuten, bis die Tür nachgab. Danielle Fellegrini lag nicht auf dem Bett, sondern auf dem Steinfußboden. Sie hatte nur eine Pyjamajacke an; die Füße waren nackt. Sie war seit mehreren Stunden tot. „Nicht anfassen!“ schrie Brassart. „Bleib draußen, Louise!“ Aber sie blieb auf der Schwelle stehen, bis Vincent sie heftig zurückstieß und im Türrahmen stehenblieb, um ihr den Blick zu versperren. Brassart kauerte neben der Leiche seiner Mätresse und wagte nicht, sie zu berühren; er sah aus wie ein großer, verstörter Affe. Danielles Gesicht war aschfahl. An beiden Händen hatte sie Brandwunden. 136
„Ein elektrischer Schlag“, sagte Brassart nach einer ganzen Weile; „ganz einfach ein elektrischer Schlag … Und wer weiß, wann das passiert ist, jetzt ist es viel zu spät, um noch irgendwas … Debosse, drehen Sie die Sicherung ’raus!“ fügte er hinzu, als er sich wieder aufrichtete. „Aber die Polizei, Monsieur …“ „Herrgott noch mal – Sie werden sie noch zeitig genug zu sehen kriegen, Ihre Polizei! Da können Sie sich drauf verlassen … Drehen Sie jetzt die Sicherung ’raus, Debosse! Oder wollen Sie, daß wir alle noch so ein Ding gewischt kriegen?“ Als Vincent zurückkam, stand Brassart mitten im Zimmer, die Hände in den Taschen. Er vermied es, Vincents Blick zu begegnen, er wirkte eher verlegen als bestürzt. „Sehen Sie sich das an, Debosse“, sagte er und wies auf die Nachttischlampe. „Da fehlt ein Stück Isolierung – ich verstehe nichts davon, aber damit hängt es bestimmt zusammen … Hier hat sich aber auch nie jemand um die Elektroinstallation gekümmert – die stammt vermutlich noch aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, was weiß ich. Und dann die Schnapsidee von Louise mit diesen Messingbetten …“ Vincent betrachtete die Lampe. „Die Isolierung ist zwar nicht intakt, aber sie sieht ganz neu aus“, stellte er fest. Brassart hob hilflos die Schultern. Er sah müde aus, unendlich müde und alt. „Rufen Sie das nächste Polizeirevier an, Debosse. Ich warte hier. Und meine Frau soll unten bleiben, sagen Sie ihr das. Sie soll sich da ganz ’raushalten.“ Auf der Treppe stieß Vincent fast mit Louise zusammen. „Gehen Sie da nicht ’rein. Sie ist tot. Ein elektrischer Schlag.“ „Aber … aber das ist doch nicht möglich, Vincent! So was kann sie doch nicht gemacht haben …“ 137
Er sah sie verstört an. Warum muß sie sich immer was vormachen? dachte er. Wie kann man so blind an den Tatsachen vorbeigehen? Aber er sagte gar nichts und rannte weiter zum Telefon. Bei der Gendarmerie meldete sich ein Brigadier. Vincent verhedderte sich in seinen Erklärungen und bedankte sich dreimal, ehe er auflegte. Sein Gesicht war verzerrt, als müsse er sich gleich übergeben. Marthe stand neben dem Telefon wie Lots Weib. „Sie werden in wenigen Minuten dasein“, sagte er. „Sie müssen wahrscheinlich die Sûreté Nationale verständigen.“ „Warum?“ „Keine Ahnung, Marthe … Gräßlich. Da liegt sie nun schon seit Stunden da oben …“ „Seit Stunden? Sind Sie sicher?“ „Absolut. Sie ist gestern abend vermutlich erst spät von ihrem Spaziergang zurückgekommen; wir haben alle schon geschlafen, und deshalb hat niemand was gehört … Wahrscheinlich hat sie auch gar nicht mehr schreien können. Sie muß erst die Deckenbeleuchtung eingeschaltet haben; dann ist sie ins Bad gegangen, hat sich ausgezogen – die Sachen, die sie gestern anhatte, liegen noch da. Sie hat sich abgeschminkt, ihre Pyjamajacke angezogen, die Schuhe abgestreift und ist wieder ins Zimmer gekommen. Und als sie die Nachttischlampe anknipste … Entsetzlich!“ Genau das wiederholte er bald darauf dem Beamten. Er war der letzte gewesen, der Danielle Fellegrini lebend gesehen hatte, deshalb richtete sich das ganze Augenmerk des jungen Lieutenant auf ihn. Vincent machte mit seinen flüssig vorgetragenen Auskünften einen erheblich besseren Eindruck auf den Mann von der Gendarmerie als Brassart, der immer nur monoton mit „Ja“ oder „Nein“ antwortete, ohne aufzusehen. Der Lieutenant traute sich nicht, ihn zu drängen; 138
er hatte zuviel Respekt vor akademischen Titeln. Sollte sich doch dieser Inspecteur Rageot die Finger verbrennen, der gerade angekommen war. Aber der hatte offensichtlich nicht die Absicht, irgend jemand zu drängen. Für ihn lag der Fall völlig klar: Im Zimmer des Opfers hatte jemand auf kriminelle Art und Weise an den Lichtleitungen herumgebastelt. Aber er blieb zurückhaltend, obwohl der Täter mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit einer von diesen Typen war, die im. Hause wohnten und ihm jetzt vermutlich die Hucke voll lügen würden. „Wer führt hier den Haushalt?“ „Ich“, sagte Marthe. „Mein Mann hilft mir bei den groben Arbeiten.“ Ihr Mann war auch da. Er trug der Polizei zu Ehren ein Jackett und einen weißen Kragen, und seine Frau hatte die Schürze abgebunden. Da ihr Kleid keine Taschen hatte, wußte sie nicht wohin mit ihren dicken Händen. Die Hände zitterten. Beide waren siebzig Jahre alt und hatten das gleiche gegerbte Gesicht, in dem unwahrscheinlich blaue Augen leuchteten. Der Mann hatte eine Glatze, und man wunderte sich unwillkürlich darüber, daß die Frau nicht auch eine hatte. Nein, sie hatten nichts bemerkt. Das Zimmer, das Mademoiselle Fellegrini bewohnt hatte, war eigentlich das Zimmer der Kinder, die nur alle vier Wochen aus dem Internat zu Besuch … „Wie alt sind sie denn?“ „Fünfzehn und dreizehn“, antwortete Madame Brassart. Sie fügte hinzu, daß sie am vergangenen Wochenende dagewesen seien; und es sähe ihnen ganz ähnlich, wenn sie etwas an der Lampe … „Kinder basteln ja so gern, nicht wahr?“ „Das nennen Sie ‚basteln‘, Madame?“ fragte Rageot. Louise musterte neugierig den jungen Inspecteur mit den roten Wangen, der sich so wichtig machte. Sie lächelte. 139
Die Vernehmung ging im Wohnzimmer vor sich, und obwohl Rageot zum Platznehmen aufgefordert hatte, standen alle herum. Außer Brassart. Der Große B war in sich zusammengesunken. Unaufhörlich massierte er mit zwei Fingern seine Boxernase und starrte auf seine Füße. Als Rageot sich an ihn wandte, antwortete er, ohne den Kopf zu heben. „Ja, ich habe die Leiche entdeckt.“ „Waren Sie allein?“ „Nein, Monsieur Debosse war dabei.“ Vincent, der sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen schien, bemühte sich, dem Inspecteur gerade in Gesicht zu sehen. „Sagen Sie, Monsieur Debosse, als Sie in das Zimmer kamen, ist Ihnen da nichts Ungewöhnliches aufgefallen? Am Bett, meine ich, in der unmittelbaren Umgebung des Bettes?“ In diesem Moment hob Brassart den Kopf und sah Vincent an. Was habe ich Ihnen gesagt? war in seinem Blick zu lesen. Polizisten! Die stellen Ihnen doch bloß idiotische Fragen. Und bringen Sie so weit, daß Sie genauso idiotische Antworten geben. Warten Sie nur ab … Dann versank er wieder in dumpfes Brüten. „Nein …“ Vincent kehrte dem Großen B demonstrativ den Rücken. „Nein, ich habe nichts bemerkt. Ich habe nur Mademoiselle Fellegrini gesehen, ihr entstelltes Gesicht … Sie war tot; das sah man auf den ersten Blick, und das hat mir vollauf gereicht … Ich bin auch gar nicht gleich zum Bett gegangen. Erst Monsieur Brassart hat mich …“ Der Große B stand auf. Rageot überragte ihn um einige Zentimeter, was Brassart offensichtlich überraschte – es war, als ob er dem irgendeine Bedeutung beimesse. „Es war nichts Besonderes in diesem Zimmer“, sagte er mit fester Stimme. „Auch nicht vielleicht zwei kleine Drähtchen, irgendwo am Bett?“ 140
„Nein. Ich habe …“ Brassart zündete sich eine Zigarette an und fächelte den Rauch vor seinem Gesicht weg. „Ich habe nichts dergleichen gesehen.“ „Und Sie und Debosse, Sie sind die einzigen, die nach Mademoiselle Fellegrinis Tod das Zimmer betreten haben – stimmt das?“ „Ja, das stimmt. Aber ich verstehe nicht …“ „Ich war auch drin.“ Alle Köpfe fuhren herum. Louise Brassart erkundigte sich verwundert: „Wieso überrascht Sie das?“ „Wann sind Sie im Zimmer gewesen?“ fragte Rageot. „Als Debosse hinuntergegangen war, um die Polizei anzurufen … Das Zimmer war leer; mein Mann war sich umziehen gegangen … Das ist doch ganz normal, oder? Mademoiselle Fellegrini war mein Gast gewesen, und da gehört es sich doch einfach, daß ich ihr einen letzten Besuch abstattete.“ „Sind Sie lange in dem Zimmer gewesen?“ „Nein. Eine Minute vielleicht.“ „Und ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“ Louise fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Es sah aus, als wolle sie ein Lächeln unterdrücken. „Das Ungewöhnliche, das war die Leiche ‚..“ Dem konnte man schlecht widersprechen.
15 In dem Augenblick, in dem Commissaire Faure die Akte Fellegrini wieder zuklappte, begab sich zweierlei: Ein Taxi setzte den Großen B vor seiner Wohnung ab und Vincent Debosse rief von der Klinik aus Louise an. Louise sprach leise, und ihre Stimme klang gepreßt: 141
„Komm nicht her, Vincent! Er muß jeden Moment hier sein …“ „Ich kann dich nicht mit ihm allein lassen. Er ist zu allem fähig! Er bringt es fertig und …“ „Da ist er schon. An der Haustür. Bleib weg, Vincent!“ Es knackte; sie hatte eingehängt. Langsam legte er den Hörer auf die Gabel und merkte, daß er zitterte. Was jetzt? fragte er sich. Wo soll ich hin? Jetzt habe ich keinen Menschen, zu dem ich … Hélène Accard! Mit großen Schritten verließ er die Klinik, überquerte den Hof und schloß Louises Renault auf. Ja, er würde zu Hélène Accard gehen, dachte er im Anfahren. Er würde ihr sagen, daß alles im Eimer war, daß sie recht gehabt hatte – an dem Tag, an dem er bei den Brassarts eingezogen war, hatte man ihm eine Falle gestellt … Und was für eine Falle! Er würde ihr sagen, da gibt es einen schrecklich netten Commissaire, der hat zweifellos längst alles durchschaut, aber ich denke nicht daran – hörst du, ich denke nicht daran! –, mich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Auch nicht diesem schrecklich netten Wolf. Nicht ums Verrecken … Ich werde ihr sagen, du bist meine einzige Freundin in dieser Scheißstadt, in der mir alle anderen Weiber auf Schritt und Tritt nachlaufen … Du mußt mir helfen, Hélène! Ich kann nicht einfach abhauen, ich muß in Paris bleiben – wo soll ich denn hin, hier oder anderswo? Außerdem fühl’ ich mich so hundeelend, vielleicht bin ich krank, auf alle Fälle bin ich total kaputt, laß mich in dein Bett, nur liegen, nur Ruhe … Nur ganz still neben dir liegen wie Bruder und Schwester … nie mehr aufstehen … unauffindbar sein für den schrecklich netten Commissaire, der mir den letzten Nerv raubt … Sie wohnte in einem Dienstmädchenzimmer im Mansardengeschoß eines alten Hauses im Zentrum. Einoder zweimal war er schon dort gewesen, jedesmal sehr 142
gegen seinen Willen und nur, weil er sie um einen Gefallen bitten mußte. Jetzt klopfte er wieder an ihre Tür, schüchtern zuerst, dann immer heftiger … Nichts. Schließlich kam die Nachbarin heraus, eine ältere Frau, und sagte, Mademoiselle Accard sei nicht zu Hause, sie komme immer sehr spät, und er solle nicht solchen Krach machen, weil sie davon auch nicht früher zurück sein werde. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen und musterte ihn argwöhnisch. Auch er stand wie angewurzelt, mit hängenden Armen. Er zitterte. Er starrte stumpfsinnig auf seine Schuhspitzen und wußte nicht, was er machen sollte. So eine gottverdammte Scheiße! Sie stand noch immer auf dem Gang, als er die Treppe wieder hinabstieg. Vom Kirchturm schlug es acht. Der Himmel war bedeckt. Er trat in ein Bistro und bestellte einen Kaffee. Beim Bezahlen fand er unter seinem Kleingeld eine Telefonmünze – er hatte in letzter Zeit immer eine oder zwei in der Tasche, um Louise anzurufen, wenn er nicht zu Hause war … Die letzten zwei Wochen liefen noch einmal vor ihm ab wie ein Film. Trotz des Verbrechens, trotz Commissaire Faure und seiner endlosen Vernehmungen – es waren vierzehn wundervolle Tage gewesen. Louise und er, allein in der großen Wohnung … Gleich nachdem Brassart in die Klinik in Neuilly eingeliefert worden war, hatte er sein Hotelzimmer aufgegeben, um mit Louise zusammen zu leben. Der nette Commissaire hatte dafür nur das dumme Wort „unpassend“ gefunden … Vincent lächelte. Dann trat er, ohne lange zu überlegen, in die nächste Telefonzelle. Dreimal wählte er die Nummer der Brassarts. Dreimal ließ er es minutenlang läuten. Dreimal meldete sich niemand. Mechanisch verließ er die Zelle. Mechanisch stellte er fest, daß es angefangen hatte zu regnen. Erst hier draußen auf der Straße überfiel ihn wieder die Angst. Brassart ist zu allem fähig! hatte er zu Louise 143
gesagt. Es war wie eine Vorahnung gewesen … War es jetzt schon zu spät …? Er fuhr noch zu schlecht, um zu rasen, aber er raste trotzdem. Er überfuhr eine rote Ampel. Er geriet in einer Kurve ins Schleudern, fing den Wagen mit Mühe und Not. Und mit Glück … Er riskierte Kopf und Kragen, und nicht nur den seinen. Zehn Minuten später parkte er an der Place Malesherbes. Ein unerklärliches Mißtrauen hielt ihn davon ab, den Lift zu benutzen. Aber als er außer Atem und schon wieder zitternd den fünften Stock erreicht hatte, da zögerte er, den Schlüssel ins Schloß zu stecken. Hinter der Tür lag vielleicht Louises Leiche … Oder die Brassarts? Da hineingehen … Mann, das ist doch der helle Wahnsinn. Hau ab! Kratz die Kurve! Und bete, daß dich niemand hier gesehen hat … Er war schon im vierten Stock, als er plötzlich abrupt stehenblieb, kehrtmachte, wieder nach oben rannte und die Wohnungstür aufschloß. Nirgendwo brannte Licht. Lange blieb er regungslos auf der Türschwelle stehen, die Hände in den Taschen, und versuchte etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Die Hände ballten sich zu Fäusten. Er atmete schwer. Es war absolut nichts zu sehen. Ich stehe vor einem dunklen Abgrund. Noch ein Schritt, und … Er tastete sich weiter. Mir ist alles egal, dachte er. Soll er mich doch zusammenschlagen, wenn’s ihm Spaß macht … Er erreichte das Wohnzimmer. Die Vorhänge waren nicht zugezogen; der Wind rüttelte an den Fensterläden, und draußen auf der Terrasse pladderte der Regen auf die Sessel und den weißen Holztisch. Im Wohnzimmer waren zwei Stühle umgefallen. Vincent stellte sie auf und trat an den niedrigen Couchtisch, auf dem ein frisch angebrochenes Päckchen Celtiques lag. Im Aschenbecher fand er mehrere sehr kurze Stummel – Brassart rauchte seine Zigaretten so kurz … Hatte in diesem Raum die große Aussprache stattgefun144
den? Und waren die beiden dann zum Essen in ein Restaurant gegangen? Die Köchin hatte ja gekündigt, und Roberte beendete ihren Dienst neuerdings schon um sechs; das Personal bestand nur noch aus Roberte, die sich um das Mittagessen kümmerte und tagsüber ans Telefon ging, wenn niemand zu Hause war, und einer Stundenfrau. Wieder blieb er lange wie angenagelt stehen. Sein Herz schlug wild. Verdammt noch mal – steh doch nicht ’rum wie ein Ölgötze … Nach und nach sickerte ein Geräusch in sein Bewußtsein, das er nicht gleich definieren konnte. Schritte. Da geht jemand, ja, es sind Schritte. Da läuft jemand in der Wohnung herum … Wer immer es war, er bewegte sich fast unhörbar. Aber Vincent glaubte zu erkennen, daß das schwache Geräusch von draußen kam, vom Gang her, der zum Hauswirtschaftstrakt führte. Vincent riß sich zusammen und schlich auf Zehenspitzen hinterher, die Hände tastend vorgestreckt, denn hier war es wieder stockdunkel … Sekunden später berührte er etwas Weiches und unterdrückte noch eben einen Schrei. Da flammte plötzlich das Licht auf. Sie war kaum zu erkennen, aber sie war es. Sie stützte sich an der Wand, und ihr total verschwollenes Gesicht wirkte nicht lächerlich, sondern mitleiderregend. Sie hielt den hautengen Morgenrock krampfhaft mit beiden Händen am Hals zu und starrte Vincent mit angstgeweiteten Augen an. Sekundenlang. Dann erkannte sie ihn endlich und sagte mit ihrer sanften, tiefen Stimme ganz ruhig: „Guten Abend, Vincent.“ Behutsam legte er den Arm um ihre Hüfte und führte sie in ihr Zimmer zurück. Sie sank auf das Bett und fing an zu weinen. Als er sie in die Arme nehmen wollte, glitt der Morgenrock auseinander. Ihr Körper war mit blutigen Striemen bedeckt. 145
Er zog sie vorsichtig, fast ohne sie zu berühren, ganz aus. Wie vor. den Kopf gestoßen, betrachtete er diesen zarten Leib, der von den Schultern bis zu den Schenkeln zerschunden war. „Womit hat er dich geschlagen?“ „Sein Gürtel … mit der Gürtelschnalle. Es hat so weh getan – ich glaube, ich bin ohnmächtig geworden … Als ich wieder zu mir kam, war er fort. Und eben gerade, da habe ich gedacht, er ist zurückgekommen. Ich wollte …“ „Pssst … nicht sprechen! Lieg ganz still. Ich will versuchen, das wieder in Ordnung zu bringen.“ Es dauerte über eine halbe Stunde, bis er ihre Wunden versorgt hatte. Dann steckte er sich eine Zigarette an und sah Louise lange und schweigend an. „Tut es noch weh?“ fragte er schließlich. „Kaum. Ich habe eigentlich nur noch Kopfschmerzen … Setz dich doch.“ Sie nahm die Tablette, die er ihr reichte, und wiederholte: „Setz dich zu mir, komm.“ Er zog einen Sessel ans Bett, drückte die Zigarette aus und beugte sich über ihr Gesicht. „Ich will, daß du mir jetzt alles sagst.“ „Es ging so schnell“, sagte sie, „aber es war entsetzlich. Kaum war er hereingekommen, da fing er an, von dir zu sprechen … Was heißt zu sprechen – zu brüllen. Er brüllte derartig – Roberte war gerade gegangen, weißt du –, daß ich die Hälfte nicht verstanden habe. Er regte sich hauptsächlich darüber auf, daß du hier gewohnt hast, während er in Neuilly war. Er rannte die ganze Zeit im Wohnzimmer hin und her wie ein Irrer und brüllte. Selbst wenn ich hätte antworten wollen – ich wäre gar nicht dazu gekommen. Nach kurzer Zeit hatte ich genug davon und ging in mein Zimmer. Er kam hinterher. Ich wollte die Tür abschließen, aber er stieß sie mit der Schulter wieder auf. Und dann fing er an, mich zu schlagen … wie ein Wahnsinniger. Ja, wie ein Wahnsinniger. Er hatte Schaum vor dem Mund – buchstäblich … Ja, das ist alles.“ 146
„Glaubst du, er kommt zurück?“ „Vielleicht ist er ja nach Neuilly zurückgefahren, in diese Klinik. Aber sicher ist das nicht.“ „Wenn er wiederkommt, werde ich dasein“, sagte Vincent. Sie schloß die Augen. „Du kannst doch nicht dauernd dableiben … Nein, ich werde weggehen. Weg aus Paris.“ „Das ist doch ganz ausgeschlossen“, sagte er sanft, „das weißt du genau. Der Commissaire wird …“ „Der Commissaire wird es verstehen. Wenn ich hierbleibe, bringt Guillaume mich um, genau wie die Fellegrini. Die hat er vermutlich auch umgebracht … Er ist übergeschnappt.“ Sie sah sehr müde aus. Er murmelte wie zu sich selbst: „Wir müßten deinen Vater verständigen.“ Sie setzte sich im Bett auf. Sie war mit einem Schlag hellwach. „Davon kann keine Rede sein!“ rief sie erregt, fast aggressiv. „Das habe ich dir hundertmal erklärt … Mein Vater muß da herausgehalten werden. Die Affäre Fellegrini hat ihn schon gerade genug mitgenommen. Wenn er jetzt noch erfährt, daß sein Schwiegersohn ein brutaler Schläger ist …“ Vincent riß die Geduld. „Na, und wenn dein Mann dich glücklich umgebracht hat – das darf er dann auch nicht erfahren, dein Herr Vater, was? Was seid ihr bloß für Leute! Ihr betrachtet euch dauernd in einem Zerrspiegel. Aber wenn dieser Spiegel eines Tages in Scherben geht, dann müßt ihr euch schließlich doch so sehen, wie ihr wirklich seid.“ Louise lächelte traurig. Sie reichte ihm die Hand. „Wir sprechen morgen noch einmal darüber, ja? Ich bin müde; ich glaube, ich werde gleich einschlafen.“ Er deckte sie zu, küßte sie auf die Stirn und knipste das Licht aus. Seit er die Striemen auf Louises Körper gesehen hatte, war alles plötzlich ganz anders. Nein, er war ganz an147
ders. In ihm hatte sich etwas verändert. Er hatte keine Angst mehr, zumindest fürchtete er nichts für sich. Er wußte jetzt, was er zu tun hatte. Und er würde es tun, ohne Louise zu fragen. „Bleibst du?“ Er nickte, ohne daran zu denken, daß sie es im Dunkeln nicht sehen konnte. „Bleibst du da, Vincent?“ Es lag so viel Angst in ihrer Stimme, daß er wieder nach ihrer Hand griff. „Ja, ich bleibe. Sobald du eingeschlafen bist, mach’ ich mir in der Küche was zu essen, und dann komme ich gleich wieder zu dir. Ich werde mir eine Matratze neben dein Bett legen.“ Louise schlief schnell ein, während er ihre Hand hielt und überlegte, ob er Commissaire Faure gleich anrufen sollte oder erst am nächsten Tag.
16 Er hatte dann doch nicht mehr angerufen. Nicht aus Feigheit, sondern weil er ganz einfach zu müde war. Wie lange war es nun schon her, daß er zum letztenmal in einer Nacht mehr als drei oder vier Stunden geschlafen hatte? Er wußte es nicht. Aber nachdem er den Entschluß gefaßt hatte, mit Faure zu sprechen, fühlte er, wie ihn der Schlaf unwiderstehlich überkam. Er schlief in dem Sessel ein, den er neben das Bett gestellt hatte. Gegen sechs wurde er wach. Er fror, und alle Glieder taten ihm weh. Louise schlief fest. Sie hatte sich auf den Bauch gedreht und das Gesicht in das Kopfkissen gewühlt. Er verließ das Zimmer auf Zehenspitzen und ging in die Küche. 148
Während das Kaffeewasser kochte, mußte er an die letzten Jahre in Asnières denken, an die Zeit, als sein Leben noch friedlich und problemlos gewesen war. Und entsetzlich kleinkariert und schäbig. So hatte er es damals eingeschätzt und schätzte es auch heute noch ein trotz dieses beklemmenden Gefühls, das ihm jetzt den Magen zuschnürte, so sehr, daß er nicht weiteressen konnte. Seit der Prüfung hatte er sich ständig eingeredet, daß alles im Eimer sei. Und trotzdem, zugleich auch trotz dieses Komplotts, in das er verwickelt war, hatte er erfahren, daß es Möglichkeiten für ihn gab, an die er nicht geglaubt hatte: eine Liebe zu erleben; zu leben schlechthin; zu leben, statt zu vegetieren … Vier Monate. Vier dramatische Monate voller Angst und Ausweichmanöver, aber auch voller Rebellion … Der Kaffee tat ihm gut. Im Stehen trank er mehrere Tassen; er lehnte an der Wand, die Zigarette zwischen den Fingern, und dachte nach. Um sieben würde er Faure zu Hause anrufen. Er würde ihm die Situation schildern, ihm berichten, daß Louise von ihrem Mann zusammengeschlagen worden war, daß sie sich weiterhin bedroht fühlte. Und er würde den Commissaire bitten, in die Wohnung an der Place Malesherbes zu kommen; er hatte eine Aussage zu machen, und das wollte er hier tun. Während er darüber nachdachte, was er Faure zu sagen hatte, bekam er wieder Angst vor der eigenen Courage. Aber gleichzeitig war ihm klar, daß es sein mußte, daß es gar nicht zu umgehen war, daß es keine andere Möglichkeit gab, weiteres Unheil zu verhindern. Um halb sieben nahm er eine Dusche, wusch sich die Haare und zog ein frisches Hemd und den anthrazitgrauen Anzug an, den Louise ihm geschenkt hatte. Dann schlich er zu ihrem Zimmer und schaute vorsichtig hinein. Sie schlief noch friedlich. Er ging ins Wohnzimmer 149
und wartete, bis es sieben Uhr war. – Faure meldete sich sofort. Sie saßen in Vincents Zimmer. Draußen im Flur brummte der Staubsauger – die Putzfrau war inzwischen gekommen. Faure hatte auf dem Bett Platz genommen, Notizblock und Kugelschreiber griffbereit neben sich. Vincent saß ihm gegenüber in einem Sessel; er hielt sich gerade und sprach sehr schnell – wie jemand, der befürchtet, der Mut zum Sprechen könnte ihn wieder verlassen. „Ich komme auf meine erste Aussage zurück. Genaugenommen habe ich nicht gelogen, ich habe Ihnen nur ein wichtiges Detail verschwiegen – absichtlich verschwiegen … Es war so: Brassart ist vor mir in das Zimmer gegangen, in dem die Tote lag. Er kauerte sich neben den Körper, ohne ihn zu berühren, und schickte mich weg, um die Sicherung herauszuschrauben. Erst zögerte ich, aber er brüllte mich an, und da ging ich schließlich doch. Als ich zurückkam, ließ er gerade etwas in seiner Tasche verschwinden. Aber ich konnte noch erkennen, was es war: ein Stück Draht, ein Stück Kabel … Es kann sich nur um die Drähte handeln, die Sie nie gefunden haben.“ Faure hielt den Block auf den Knien, ohne zu schreiben. Sein Kugelschreiber klopfte auf das weiße Papier. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Monsieur Debosse?“ Vincent zuckte die Achseln. „Das müssen Sie doch verstehen … Brassart ist mein Chef. Ich bin abhängig von ihm. Außerdem hat er mich bei sich aufgenommen, ich habe ganz umsonst bei ihm gewohnt, und …“ „Sie wohnen noch immer bei ihm.“ „Aber um welchen Preis … Ich meine, zumindest für seine Frau. Nach dieser Geschichte gestern abend habe ich mich entschlossen zu reden … Es ist mir unverständlich, wie man ihn aus der Klinik entlassen konnte!“ 150
„Sie haben nichts zu befürchten; er ist anschließend dorthin zurückgekehrt … Sagen Sie, was haben Sie jetzt eigentlich vor?“ „Was ich vorhabe? Wie meinen Sie das?“ „Werden Sie weiterhin hier wohnen bleiben?“ „Nein. Das wäre doch … Wie sagten Sie? Unpassend, nicht wahr? Nein, ich werde Paris verlassen. In der Provinz habe ich wahrscheinlich mehr Glück. In jeder Beziehung.“ Er stand auf, um sich die Zigaretten vom Schreibtisch zu holen. Sein Blick begegnete dem des Commissaire, und erstaunt las er so etwas wie Mitleid in Faures braunen Augen. „Monsieur Debosse, sind Sie ganz sicher, daß Sie mir jetzt alles gesagt haben?“ „Hören Sie mal …“ Vincent ließ sich in den Sessel fallen und riß die Gauloise-Packung auf. „Ich habe Ihnen alles gesagt, ja. Und zwar nicht ohne ein gewisses Risiko auf mich zu nehmen. Ist Ihnen das eigentlich klar?“ „Ein gewisses Risiko … Ja, doch; könnte man sagen.“ „Was soll das? Bitte reden Sie Klartext.“ Faure gähnte und hielt höflich die Hand vor den Mund. „Ich komme noch darauf zurück. Jetzt muß ich erst mal mit Madame Brassart sprechen.“ „Warum?“ „Warum? Sie stellen merkwürdige Fragen, Monsieur Debosse. Ich muß doch schließlich die Hauptbeteiligte bei der Sache gestern abend auch mal anhören … Genügt Ihnen das?“ „Ja, aber … Nein, das geht nicht. Ich meine, sie liegt noch im Bett. Sie weiß gar nicht, daß Sie hier sind, und …“ „Keine Angst, ich werde mich schon anmelden lassen. Die Frau, die mich hereingelassen hat, kann das besorgen. Ruhen Sie sich ein bißchen aus solange; Sie scheinen es nötig zu haben. Ich bin gleich wieder da.“ 151
Seine Stimme klang ruhig, doch die Worte trafen Vincent wie Peitschenhiebe. „Ja, gut. Gewiß. Ich erwarte Sie …“ Gar nichts ist gut, dachte er. Im Gegenteil. Vincent hatte sich noch nie so unsicher gefühlt. Und das wollte etwas heißen. Er hatte es wohl wirklich nötig gehabt. Eine Stunde hatte er geschlafen wie ein Klotz. Und jetzt war er noch genauso müde wie vorher. Als er sich im Badezimmer kämmte, stellte er fest, daß er auch noch genauso schlecht aussah. Aber er war doch erleichtert, weil Faure offenbar darauf verzichtet hatte, das Verhör fortzusetzen. Wahrscheinlich war er längst gegangen … Überhaupt: kein Unmensch, dieser kleine Polyp. Rücksichtsvoll. Er schreit nicht; im Gegenteil – er redet immer leise. Wenn er überhaupt was sagt. Er kann zuhören, den anderen reden lassen. Unterbricht fast nie; sitzt nur da und hört zu … Man vergißt beinahe, daß er da ist. Nur wenn er anfängt, auf irgendwelchen lächerlichen Details herumzureiten … Das war es, was Vincent nervös machte: Faures Art, sich an Einzelheiten festzubeißen. Wenn ihm irgend etwas undurchsichtig erschien, ließ er sich dieselbe Geschichte ein dutzendmal wiederholen; immer mit der gleichen unbarmherzigen Geduld. Louise hatte gesagt, daß ihr dieser Faure eigentlich imponiere. Für sie waren die Verhöre eine Art Spiel. Vor allem am Anfang. Sie hatte behauptet, dieser kleine Commissaire mache ihr Spaß; und als Vincent wissen wollte, was sie ihm gesagt habe, hatte sie leichthin geantwortet: Gott ja, was man sich so erzählt, wenn gut erzogene Leute aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen … Hatte sie heute morgen auch keine Mördergrube aus ihrem Herzen gemacht? Vincent hatte plötzlich Angst. 152
Warum hatte Faure darauf bestanden, Louise zu sehen? Und warum hatte Louise ihn nicht sofort gerufen, nachdem der Commissaire gegangen … Mein Gott, ist er womöglich noch da? Als er eilig um eine Ecke des Korridors bog, prallte er fast mit einem uniformierten Polizisten zusammen, der sich nicht stören ließ und weiter vor der Wohnungstür auf und ab patrouillierte. Vincent drückte sich an der Wand entlang an ihm vorbei. Auch Faure marschierte hin und her, und zwar in Louises Zimmer. Vincent brauchte nur sein Gesicht zu sehen, sein zugleich erschöpftes und doch entspanntes Gesicht, um zu begreifen, daß alles aus war. Die Anwesenheit von Inspecteur Rageot bestätigte es noch. Rageot stand am Fenster; groß, lässig, ein wenig komisch anzusehen mit seiner kurzen Nase und den vollen Wangen. Niemand sprach. Vincent war auf der Schwelle stehengeblieben; vergeblich suchte er Louises Blick. Sie hatte den Kopf gesenkt und starrte auf ihre Hände, die fest an die Schenkel gepreßt waren. Sie trug den gleichen Morgenmantel wie am Tag zuvor; die Striemen an ihrem schönen Hals verbarg ein Tuch. Obwohl dies ihr eigenes Zimmer war, obgleich sie auf ihrem eigenen Bett saß, wirkte sie wie eine Fremde. „Legen Sie wirklich Wert darauf hierzubleiben, Monsieur Debosse?“ Die schneidende Stimme des Commissaire überraschte ihn. Er trat ins Zimmer. Faure kam ihm entgegen und faßte ihn am Arm. „Ich muß noch ein paar Worte mit Ihnen reden – gehen wir in Ihr Zimmer; es ist besser … Kommen Sie!“ Sie waren schon unterwegs, als Louise nach Vincent rief. Er erkannte die Stimme kaum wieder. Er fuhr herum, wollte zurück. Faure versperrte ihm den Weg. „Ich bitte Sie, Debos153
se … Machen Sie’s ihr nicht noch schwerer. Und sich auch nicht … Es ist besser, wenn Sie sie nicht wiedersehen.“ Er stand am Fenster, die Augen geschlossen, die Stirn gegen die Scheibe gepreßt. Es ist aus, dachte er. Aus, aus, aus … Hinter ihm war die Stimme des kleinen Commissaire. Glatt. Zurückhaltend. Vorsichtig. Manchmal, zwischen zwei Sätzen, ein kleiner Seufzer … Vincent hörte kaum zu. Nach Faures ersten Worten war ihm klargewesen, daß Louise alles gestanden hatte … Laß ihn doch quatschen, den Armleuchter! Ist doch alles egal. „ … eine Menge Zeit verloren wegen Ihnen, Monsieur Debosse!“ sagte der Commissaire gerade. „Aber ich nehm’s Ihnen nicht übel.“ Vincent sah ihn an. „Es gibt schließlich so was wie Notwehr, nicht wahr?“ „Notwehr? Wo ist denn hier Notwehr? Ich will ja gern ein Auge zudrücken, was Ihre Schwindeleien anbetrifft – aber Sie können doch nicht von mir verlangen, daß ich den Kopf in den Sand stecke … Außerdem habe ich mit dem Fall ab sofort nichts mehr zu tun.“ Vincent lächelte mutlos. „Ach, wissen Sie … Nein, so direkt gelogen habe ich eigentlich gar nicht. Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt; damals im Garten, da habe ich oben am Fenster eine Frau gesehen. Und nach Lage der Dinge – zu diesem Zeitpunkt, meine ich, konnte ich nur annehmen, daß es Danielle Fellegrini war.“ „Schön und gut – zu diesem Zeitpunkt haben Sie die Wahrheit gesagt. Das, was Sie für die Wahrheit hielten. Aber hinterher, als Sie’s besser wußten, da haben Sie es für sich behalten und damit die ganze Untersuchung irregeleitet. Denn von dem Augenblick an, wo Madame Brassart vor Ihnen verheimlichte, daß sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, hatten Sie praktisch den Beweis für ihre Schuld.“ 154
„Aber … nein! Wieso denn?“ „Ich bitte Sie! Jetzt brauchen Sie doch nicht mehr weiterzulügen … Sie haben übrigens ungeschickt gelogen. Von Anfang an. Erinnern Sie sich! Sie haben angegeben, Mademoiselle Fellegrini in Madame Brassarts Zimmer gesehen zu haben – gut; ich weiß, zu dem Zeitpunkt stimmte das. Aber Ihre Aussage haben Sie ja erst später gemacht … Also schön, Sie haben eine Frau gesehen und auf Danielle Fellegrini geschlossen. Die saß dann aber Sekunden später lesend im Wohnzimmer. Und genau an diesem Punkt bin ich dann mißtrauisch geworden … Rekonstruieren wir: Madame Brassart ist nicht ausgeritten; sie betritt das Haus wieder durch die Hintertür. Sie wartet, bis Mademoiselle Fellegrini ins Wohnzimmer gegangen ist; sie schleicht sich nach oben und treibt im Zimmer der Sekretärin ihre elektroinstallatorischen Spielchen. Dann geht sie in ihr Zimmer, um ihre Utensilien zu verstauen, und sieht Sie vom Fenster aus. Sie ist aber nicht sicher, ob Sie sie bemerkt haben. Sie verläßt das Haus wieder durch die Hintertür und kommt eine Weile später durch den Garten zurück. In der Zwischenzeit sind Sie nach oben gegangen – nicht um Madame Brassarts Zimmer zu untersuchen, sondern um sie zur Rede zu stellen. Sie war schon wieder weg. Aber da liegt ein kleines Stück Holz – ein Stück von der Leiste, hinter der im Zimmer der Sekretärin die Stromleitung verlegt ist. Das Stück, das dann hinterher fehlte.“ „Ja, hinterher! Aber zu diesem Zeitpunkt … Wie hätte ich auf die Idee kommen sollen, daß …“ „Immerhin haben Sie sich zwei Stunden später den Kopf zerbrochen, weil Sie das Gefühl hatten, etwas Wichtiges übersehen zu haben, vergessen zu haben, verdrängt zu haben – was weiß ich.“ Vincent preßte die Faust an den Mund. „Monsieur Debosse, in dem Augenblick, als Inspecteur Rageot die technische Seite des Attentats durch155
schaut hatte, muß Ihnen klargewesen sein, wer dahintersteckte: Madame Brassart … Na, geben Sie’s schon zu!“ „Ich war nicht so sicher. Immerhin war Monsieur Brassart …“ „Monsieur Brassart hatte sofort kapiert, glauben Sie’s mir. Er hat Sie nicht einen Augenblick verdächtigt. Er kann Sie nicht ausstehen, aber er blieb trotzdem objektiv. Er wußte, daß Sie nicht fähig waren, Mademoiselle Fellegrini zu töten. Sie hatten überdies ja auch kein Motiv … Nein, Brassart hat die Drähte verschwinden lassen, weil er davon überzeugt war, daß nur seine Frau als Täter in Frage kam.“ „Wollen Sie mir einreden …“ Vincent blickte Faure gerade ins Gesicht. „Sie versuchen doch nicht, mir einzureden, daß Brassart geschwiegen hat, um seine Frau zu schützen? Er hat nur an sich selbst gedacht, an seine eigene Sicherheit, sag’ ich Ihnen! Als er die Drähte verschwinden ließ, als er sich die Version vom tragischen Unfall ausdachte, da wollte er doch nur den Skandal vermeiden … Was hat er nach dem angeblichen Attentat auf seine Frau gemacht? Genau das gleiche im Grunde: Nur keine Polizei! Nein, Brassart ist kein edler Ritter, kein strahlender Held …“ Er trat dicht vor den Commissaire, der wieder auf dem Bett saß. „Er hat ja auch zuerst ausgepackt, wenn ich recht verstehe … Wann haben Sie ihn gesehen?“ „Gestern abend. Er suchte mich auf, als er von hier kam. Er mußte einfach sprechen, Monsieur Debosse. Er konnte nicht anders. Er sah keinen Ausweg; er sah nur, daß Sie alle drei in eine Sackgasse geraten waren.“ „Er hat in seiner schäbigen Eifersucht seine Frau brutal zusammengeschlagen, das war wohl seine Sackgasse. Und dann hat er ausgepackt … Sie haben es erwartet, ja? Sie haben dafür gesorgt, daß er die Klinik verlassen durfte?“ 156
„Setzen Sie sich erst mal hin!“ Faure schüttelte lächelnd den Kopf und bot Vincent eine Zigarette an. „Sehen Sie mal, Debosse … wie heißt es so schön: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Aber Sie sind nicht bei Ihren Leisten geblieben, ja? Noch banaler: Gleich und gleich gesellt sich gern. Aber Sie mußten sich ausgerechnet zu den Brassarts gesellen … Sie sind zu naiv, Debosse; darum passen Sie nicht zu diesen Leuten. Ich kenne sie; ihre Moralvorstellungen sind geradezu mittelalterlich. Sie glauben allen Ernstes, einer privilegierten Klasse anzugehören. Wer unter ihnen steht, zählt nicht; das Vulgäre in dieser Welt, das betrifft nur die anderen … Wissen Sie, daß Madame Brassart nicht die geringste Reue empfindet? Sie hat Mademoiselle Fellegrini aus dem Weg geschafft, weil sie fürchtete, ihr Mann könnte sich am Ende doch scheiden lassen oder es könnte in anderer Form zum Skandal kommen. Und bei Madame Brassart wiegen Scheidung und Skandal schwerer als ein Mord.“ Vincent senkte den Kopf; eine Haarsträhne hing ihm in die Stirn. Wahrscheinlich hat er recht, dachte er. Aber etwas in ihm hinderte ihn daran, es zuzugeben. „Ich glaube, Sie täuschen sich“, murmelte er. „Der Große B dachte nicht daran, sich scheiden zu lassen. Und die Fellegrini wäre die letzte gewesen, die ihn dazu gebracht hätte.“ „Sie erwartete ein Kind“, warf Faure ein, „und Madame Brassart wußte es. Sie wußte auch, daß Mademoiselle Fellegrini mit allen Mitteln kämpfen würde … Madame Brassart hat keine Sekunde gezögert, ihre Mittel einzusetzen. Und es war ihr nicht einmal bewußt, daß sie ein Risiko einging – erinnern Sie sich, wie sie schlicht erklärte, ja, außer Brassart und Ihnen war noch jemand im Zimmer, nämlich ich, Louise Brassart? Das war vielleicht Zynismus in Reinkultur, und sie ist auch nicht auf die Idee gekommen, jemand könnte es wagen, sie zu verdächtigen.“ 157
„Hat sie …“ Er schluckte. „Hat sie von mir gesprochen?“ Faure zögerte. Er sah Louise vor sich, wie sie plötzlich zusammenbrach und immer wieder Debosses Namen flüsterte. Aber konnte man ihr glauben, wenn sie behauptete, Vincent zu lieben und nur versucht zu haben, ihn vor dem Haß ihres Mannes zu schützen? „Nein“, antwortete er, „nein. Sie hat ein sehr klares Geständnis abgelegt, ohne überflüssige Kommentare … Ich hoffe für sie, daß es ihrem Anwalt gelingt zu beweisen, daß Mademoiselle Fellegrini zweimal versucht hat, sie zu ermorden. Vorläufig gibt es dafür nur ein ziemlich summarisches und nicht sehr schlüssiges Beweisstück: das Tagebuch von Mademoiselle Fellegrini.“ „Brassart kann es auch bezeugen; Danielle hat beide Mordversuche ihm gegenüber zugegeben. Er wird doch in seiner Eifersucht nicht so weit gehen, das zu verschwei …“ Er brach ab. Draußen im Vorplatz waren Schritte zu hören. Vincent begriff, daß Louise abgeführt wurde. Er sprang auf und wollte zur Tür. Faure hielt ihn am Arm zurück. „Bleiben Sie … Gehen Sie nicht zu ihr, Monsieur Debosse. Sie machen es ihr nur noch schwerer. Und sich auch … Das habe ich Ihnen schon einmal gesagt“, fügte er lahm hinzu. Stille. Nach einer ganzen Weile sagte der Commissaire leise: „Sie haben doch immer Ihre Karriere vor alles andere gestellt, Debosse … Tun Sie’s doch jetzt auch, Mann! Vergessen Sie Louise Brassart. Sie haben geglaubt, sie zu lieben, und …“ „Wenn ich das jemals sagen sollte – wenn ich je sagen sollte, ich hätte geglaubt, sie zu lieben –, dann bin ich genauso ein Schwein wie die anderen.“ Tränen liefen ihm über das Gesicht, über das verfallene Gesicht, in dessen Ausdruck sich vieles mischte in diesem Augenblick: Trauer, Erleichterung, Verlorenheit. 158
Faure stand auf. Er dachte daran, daß er vor acht Jahren einer Frau ähnliches gesagt hatte. Seiner Frau. Und heute … „Ich werde erwartet“, sagte er. „Auf Wiedersehen.“ An der Tür wandte er sich noch einmal um. „Was werden Sie jetzt machen?“ „Koffer packen“, antwortete Vincent. „Und zwar so schnell wie möglich.“ Der Spiegel im Aufzug zeigte ihm einen wohlbekannten jungen Mann, der eigentlich mehr oder weniger aussah wie sonst auch. Ein bißchen blaß, ja. Ein bißchen verheult. Und ein bißchen wie ein Filmschauspieler, dessen Name ihm nicht einfiel, weil er seit Jahren nicht mehr im Kino gewesen war. Während er die große Halle durchquerte, stellte er sich vor, daß Hélène Accard draußen auf ihn warten und sich gleich in seine Arme werfen werde … So war das doch immer gewesen, im Kino: Das junge, reine Mädchen, am Anfang verschmäht, taucht am Schluß wieder auf, und der Held kapiert endlich, wo sein wahres Glück … Aber dann lag die Place Malesherbes leer und verlassen. Hélène Accard wartete nicht. Mit dem Handrücken wischte Vincent eine Träne ab und schlug den Weg zur Metro ein. Es war der erste Sommertag; es regnete, und das Leben hatte einen abscheulichen Geschmack.
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1. Auflage Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1976 Lizenz-Nr.: 409-160/109/76 • LSV 7354 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 296 0 EVP 2,- Mark