Landrus Ankunft Version: v1.0
Die Bewegung in der städtischen Kanalisation war kaum wahrnehmbar. Nichts Hörbares begle...
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Landrus Ankunft Version: v1.0
Die Bewegung in der städtischen Kanalisation war kaum wahrnehmbar. Nichts Hörbares begleitete das langsame Dahinkriechen neben dem Abwasserstrom, dessen Rauschen dem asthmatischen Atem eines Gigan ten glich. Das Netz der Schächte wucherte wie die hoh len Wurzeln eines monströsen Baumes unter Sydneys Straßen, Plätzen und Bauten. Die Kälte und Nässe, das Verdorbene und Modrige behagte dem Ding, das über den glitschigen Beton kroch. Es hatte keine Ohren zum Hören, keine Augen zum Sehen und keine Nase zum Riechen – nichts, was den Sinnen eines Tieres oder Menschen glich. Seine Möglichkeiten der Orientierung waren andere. Beharrlich folgte es der Spur …
Was bisher geschah Lilith Eden ist die Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu gezeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Fast hundert Jahre lag sie in einem Haus in Sydney, Australien, dessen Türen und Fenster bloße Attrappen sind. Doch sie ist zwei Jahre zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Für was, kann auch die Vision nicht klären, die sie von ihrer toten Mutter empfängt. Diese warnt sie vor einer feindlichen Vampirsippe und insbesondere vor deren Führer Landru. Lilith müsse gegen die Vampire kämpfen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt würde. Dabei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Lilith verläßt das Haus, bevor die Polizei darauf aufmerksam wird. Dem Parapsychologen Brian Secada gelingt es, in das Gebäu de einzudringen. Was er in den Räumen erlebt, kostet ihn den Ver stand. Als er dem Moloch entfliehen kann, ist er um Jahrzehnte geal tert und hält sich selbst für einen Vampir. Er wird in die Psychiatrie eingeliefert. Das Haus versinkt in einer Erdspalte, nachdem es auch noch den Menschen in seiner Umgebung die Lebensenergie geraubt hat. Detective Warner soll in Sachen »verschwundenes Haus« ermit teln, obgleich er viel lieber dem Mörder nachjagen würde, der seine Opfer mit gebrochenem Genick zurückläßt. Hora, das Oberhaupt der Vampirsippe von Sydney, und sein Sohn stellen Lilith – und werden von ihrem Kleid getötet. Als die restliche Sippe sich zusammenrottet, kann Lilith mit Mühe in eine Kirche ent kommt, deren Atmosphäre sie dank ihres menschlichen Erbes nicht umbringt. Sie gerät in die Gewalt von Pater Lorrimer, der die angli kanische Kirche leitet. Er will durch Exorzismus »ihre Seele retten«. Derweil wird Lorrimers Gehilfe, ein Priester-Aspirant namens Dun can Luther, von den vor der Kirche lauernden Vampiren hypnotisch
beeinflußt und mit einem Holzdolch bewaffnet, um Lilith zu ver nichten. Im Zuge der Austreibung löst sich das lebendige Kleid von Lililhs Körper, legt sich um Lorrimers Kopf und blendet ihn. Als Luther Li lith erdolchen will, wendet es sich von Lorrimer ab und befällt Lu ther. Ihm geschieht nichts, außer daß der Hypnoblock beseitigt wird und er danach Lilith verfällt. Den geweihten Dolch nimmt er mit, als er mit ihr durch die Kanalisation flieht. Lorrimer wird in der Kirche von einer umkippenden Steinfigur erschlagen. Im Kanal lauern drei jüngere Vampire, die den Fluchtweg abrie geln sollen. Luther tötet zwei von ihnen mit dem Dolch; der dritte kann die Flucht ergreifen. Detective Warners Weltbild kommt derweil heftig ins Wanken. Nachdem er herausfand, daß die »Genickbruch-Morde« eine feste Tradition in Sydneys Historie haben, versucht sein Kollege Stiller, ihn grundlos zu ermorden. Und als er sich an Polizeichef Virgil Codd wendet, schickt der ihn zu einem ganz besonderen Einsatz: den Garten des versunkenen Hauses zu erkunden, der schon Dut zenden von Menschen zur Todesfalle wurde …
Obwohl die Dunkelheit jeden Winkel des Zimmers ausfüllte, spürte der schlanke, junge Priesteranwärter ganz genau die begehrlichen Blicke über seine Haut tasten. »Hör auf!« bat er. »Ich kann nicht.« »Du bist wahnsinnig, wenn du glaubst, ich könnte dir das erlau ben!« Lilith schwieg, und in Luther erwachte der vehemente Wunsch zu fliehen. Diesem Alptraum, der mit Pater Lorrimers seltsamem Ver halten begonnen und in Blut und Chaos geendet hatte, zu entrinnen. Vampire! Luther lauschte benommen seinem Herzschlag. Neben dem Bett lag unter einem Kissen der geweihte Dolch. Er war nicht einmal un terarmlang und nicht wie herkömmliche Klingen aus Stahl ge schmiedet, sondern aus hartem, rotbraunem Holz geschnitzt. In sei nen Schaft, mehr noch aber in beide Seiten der Klinge waren Symbo le eingraviert, die Luther von seinem Studium einer urgriechischen Fassung des Alten Testaments her zu kennen glaubte. Es waren ge heiligte Buchstaben und Zeichen, auch wenn sie in dieser Anord nung keinen Sinn für den jungen Priesteranwärter ergaben. Aber eine unerklärliche Macht wohnte diesem obskuren Gegenstand inne, dem bereits zwei unheimliche Gestalten in Sydneys Kanalisation zum Opfer gefallen waren. Vampire! Mehr als diese beiden, die durch den mythischen Dolch in seiner Hand getötet worden waren, beunruhigte den jungen Priesteran wärter jedoch die Frau, die neben ihm lag: Lilith Eden.
Ein Name, der Programm zu sein schien. »Eden« war dem Hebräi schen entlehnt und bedeutete soviel wie »Wonne«. Duncans Vorge setzter, Pater Lorrimer, der die anglikanische Kirche am Trumper Park leitete, hatte die junge, schöne Frau exorzieren wollen, weil er sie für besessen hielt. Lilith war hochgewachsen, schlank und besaß alle Attribute eines männerverschlingenden Vamps: einen üppigen Busen, endlos lange Beine und ein von wilder, schwarzer Haarmähne umrahmtes, fast engelgleiches Gesicht. Dabei, dachte Duncan Luther, war sie nichts weniger als ein Engel. Bestenfalls ein Cherubim. Ein zürnender Engel. Auf dem Höhepunkt der von Lorrimer praktizierten Austreibung hatte er aus seinem Versteck heraus etwas Unerhörtes beobachtet: Das Kleid der rassigen Frau war von ihr abgefallen und Minuten später, als Pater Lorrimer nach gescheitertem Exorzismus versuchte, die gefesselte Frau zu pfählen, wieder zurückgekehrt. Das Ding (eine andere Bezeichnung fiel Luther dazu nicht ein), in welches sich ihr Kleid verwandelt hatte, hatte den Geistlichen von hinten angefallen, sich wie eine Kappe um Augenpartie und Schädel geschmiegt und ihn außer Gefecht gesetzt. Unter der Kappe war Blut hervorgequollen, und später war deutlich geworden, daß der Pater zwar sein Augenlicht eingebüßt, aber die unheimliche Attacke doch überlebt hatte. Noch schwerer zu begreifen als dies war für Duncan Luther je doch, was mit ihm selbst passiert war. Auch ihn hatte dieses Ding angefallen und sich dabei um seinen kompletten Kopf gehüllt. Im selben Moment, als er – auf »höheren« Befehl – versucht hatte, die Frau auf dem klobigen Tisch mit dem geweihten Holzdolch zu töten. Aber im Gegensatz zu Lorrimer war er weder geblendet noch verletzt worden. Etwas viel Eigenartigeres
war mit ihm geschehen. Das Ding hatte die Hypnose beseitigt, die andere zuvor als Mordbefehl in Luther verankert hatten. In den Sekunden, die sich das Ding um seinen Schädel gehüllt hat te, war so vieles geschehen, daß er auch jetzt noch Mühe hatte, alles auf die Reihe zu bekommen. Er hatte sich nicht nur wieder erinnert, daß er draußen vor der Kirche abgefangen, hypnotisiert und mit dem Holzdolch ausgerüstet zum Töten ausgesandt worden war. Er verfügte auch plötzlich über Wissen, das ihm vorher nicht erschlos sen gewesen war. Im Gegensatz zu Lorrimer, der in gutem Glauben versucht hatte, das Böse aus seiner Gefangenen auszutreiben, wußte Duncan Luther seither, daß die betörend schöne Frau an seiner Seite zwar eine Vampirin, aber nicht böse im herkömmlichen Sinn war. Er wußte, daß Lilith von anderen, wirklich schrecklichen Blutsaugern verfolgt wurde, und er hatte nicht anders handeln können, als sie vor Lorri mer und diesen Verfolgern zu schützen. Seit sie gemeinsam diese billige Absteige am Ostrand der gewalti gen Stadt erreicht hatten, war der Zwang, Lilith zu helfen, von Dun can Luther abgefallen, und er fragte sich, was ihn über Stunden hin weg – auch als der Hypnosebefehl der Vampire längst erloschen war – so marionettenhaft dirigiert hatte. War er inzwischen frei – oder glaubte er nur, wieder über seinen eigenen Willen zu verfügen? Die wunderschöne Gestalt neben ihm auf dem Bett ließ ihn daran zweifeln. Ihre dunkle, vor Verlangen vibrierende Stimme erinnerte ihn an das Bekenntnis, das Stunden zurücklag, aber das sich auch jetzt, während draußen der Morgen graute, wie eine Flammenschrift in sein Bewußtsein gebrannt hatte: »Ich habe entsetzlichen Durst …« Da sie vampirischer Herkunft war, wußte er, was sie damit meinte. Ihm grauste vor den ganz persönli
chen Konsequenzen ihrer Rettung. Obwohl sie sich nicht feindselig gab, fürchtete er den Moment, da es endgültig um ihre Beherr schung geschehen sein würde. Daß dieser Moment kam, schien ihm unvermeidlich. Er spürte nicht nur ihre Nähe in der Finsternis – er spürte viel mehr. Er konnte nicht fliehen. Er konnte es nicht! Aber solange sie miteinander rede ten, hoffte er, sie hinhalten zu können. »Erzähl mir mehr von dir«, drängte er rauh. »Du sagtest, du wüßtest Bescheid über mich. Dann weißt du auch, daß ich es brauche!« Sie war nicht davon abzubringen. »Ich habe das Gefühl, dich zu kennen. Ich fürchte, das ist ein Unter schied. Wenn du dich an mir vergehst, müßte ich dich hassen.« Ihre nächste Bemerkung klang aggressiv und gab ihm einen weite ren Hinweis, wie es um ihre Beherrschung stand. »Predigt ihr nicht immer Nächstenliebe? Würdest du nicht auch Blut spenden, um einem anderen Menschen zu helfen?« Klamme Nässe bildete sich auf den Innenseiten seiner Hände. »Hältst du das für dasselbe?« »Ich würde dich nicht in Gefahr bringen. Ich würde dir nicht ein mal wehtun, auch wenn dir dies unglaublich erscheint. Ich übertra ge nicht den Keim. Du würdest nicht selbst zum Vampir werden. Aber dein Blut würde mir helfen, zu meiner alten Stärke zurückzu finden!« Er wußte nicht, wovor ihm mehr grauste. Vor ihrem Blutdurst – oder vor dem, was sie ihre »alte Stärke« nannte. »Bist du mir nicht etwas schuldig?« Angesichts dessen, was sie verkörperte, fand er die Frage idiotisch – aber angesichts dessen, was ihm drohte, griff er nach jedem Strohhalm.
Sie schwieg kurz. Dann raunte sie schwankend: »Wäre ich es nicht, hätte ich dich längst gezwungen. Ich möchte, daß du mir freiwillig hilfst!« Er lachte hohl. Plötzlich spürte er ihre Hand auf seiner Haut. »Ich wünschte, ich könnte dich überzeugen. Du würdest es nicht bereuen, das verspre che ich dir. Ich bliebe dir nichts schuldig …« Selbst das Unausgesprochene genügte ihm, innerlich zu versteifen. Er hatte sie nackt gesehen. Und auch jetzt trug sie nicht mehr als ein Badetuch – und die Dunkelheit. Seit er ihren unverhüllten Körper gesehen hatte, prickelte es dort, wo sein Glaube ihm Keuschheit verordnete. Seit er mit dieser Frau zusammen war, erwachten die alten Zweifel, ob er wirklich zu ei nem Leben in Askese geeignet war, neu und in ungeahnter Stärke. Zum ersten Mal verstand er, was der Begriff »Versuchung« tat sächlich bedeutete. Die Erkenntnis, daß er sich durchaus gegen ihr absonderliches Verlangen sträuben konnte, bestätigte andererseits, daß er wieder über seinen freien Willen verfügte. »Still!« fauchte er scharf. »Ich will nichts mehr hören!« Es blieb bei dem Versuch, ihre Hand abzustreifen. Sie war warm und zärtlich, nicht fischkalt und monströs, wie er es vielleicht erhofft hätte, um sich leichter dagegen wehren zu können. Sie hielt ihn fest. Fest, ohne jedoch weh zu tun. Zwielicht sickerte durch die geschlossenen Vorhänge ins Zimmer. Geräusche waren die ganze Nacht allgegenwärtig gewesen. Ein Haus wie dieses kam nie völlig zur Ruhe. Aus der Schwärze schälten sich Liliths Konturen.
Als Duncan begriff, daß sie auch das Badetuch nicht mehr trug, überlief ihn eine Gänsehaut, die am längsten zwischen seinen Len den verweilte. Wie in Trance ließ er es geschehen, daß sie seine Fin ger in den Mund nahm und spielerisch daran saugte. Sekundenlang war er gelähmt vom Reiz des Verbotenen. Dann stieß er sie zurück. »Nein!« Ihre Stimme klang traurig. »Ich kann nicht mehr lange warten. Bit te!« Luther krümmte sich vor Scham, als er begriff, daß er sich wünschte, sie möge ihn endlich dazu zwingen. Er brauchte diese Ent schuldigung. Alles andere hätte bedeutet, daß … Es klopfte. Nicht nur Luther, auch Lilith fuhr leicht zusammen. Duncan blickte mechanisch auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Er wunderte sich, als er begriff, daß der Morgen schon weiter fortge schritten war, als er vermutet hatte. »Wer kann das sein?« flüsterte Lilith. Ohne eine Antwort abzu warten, sprang sie aus dem Bett und huschte ins Badezimmer, wo die Kleider, die Luther ihr besorgt hatte, über der Heizung trockne ten. Duncan erhob sich langsamer. Er fühlte sich wie durch eine Man gel gezogen. Jede Bewegung fiel schwer. Das Klopfen wiederholte sich. Vor der Tür zum Korridor blieb er stehen und fragte laut: »Ja?« »Mach auf, Heiliger!« Die Stimme war unverwechselbar. Duncan ließ die Verriegelung zurückschnappen. »Was ist?« fragte er belegt, nachdem der schiefgesichtige Portier
im dämmerigen Flur sichtbar geworden war. Luther kannte den Mann, der nicht nur wie ein Fledderer aussah, sondern auch den Charakter eines solchen besaß. Sein Name lautete Homer Clearwater, und er war – wegen verschiedener Delikte – mehrfach vorbestraft. Unter anderem, weil er ein paar »Pferdchen« laufen hatte, die mit ihren Freiern bei ihm abstiegen. Eines der Mäd chen hatte sich vor Wochen an Pater Lorrimer gewandt und ihn ge beten, ihr zu helfen, aus der Prostitution auszusteigen. Sie hatte ihm von Clearwaters Praktiken berichtet, mit denen er seine Mädchen bei der Stange hielt. Daraufhin hatte Lorrimer es Luther übertragen, mit Clearwater zu sprechen. Angeblich, damit Luther praktische Er fahrung im »Umgang mit den Schattenseiten des Weltlichen« sam meln konnte. Einen Freund hatte Luther dadurch nicht gewonnen. Clearwater hatte wenig Einsicht und noch weniger Bereitschaft gezeigt, Amy aus seinem lukrativen »Familienunternehmen« aussteigen zu lassen. Erst handfeste Drohungen, die Polizei ins Spiel zu bringen, hatten Clearwater einlenken lassen. Amy war in den Schoß ihrer Eltern nach Campbelltown zurückgekehrt, von wo sie Monate vorher weg gelaufen war. Clearwaters ungepflegtes Äußeres war ein Spiegel seines Inners ten. Er trug Jeans, die so speckig und dreckstarrend waren, daß sie vermutlich stehengeblieben wären, wenn er sie ausgezogen und ir gendwohin gestellt hätte. Sein Unterhemd wies so viele verkohlte Löcher auf, als gehörte es zu Clearwaters Hobbys, seine Zigaretten darauf auszudrücken. »Ich wollte mal sehen, ob’s auch an nichts fehlt«, grinste Homer Clearwater. In der einen Hand hielt er eine zusammengerollte Aus gabe des Sydney Morning Herold, den er dazu benutzte, um fortwäh rend in die offene andere Hand zu patschen. »Etwas Lektüre gefäl lig?« Er reckte den Hals weit ins Zimmer hinein und hielt Ausschau
nach jemandem, der seiner Meinung nach auch hätte sichtbar sein müssen. »Macht sich wohl gerade frisch, die Kleine …?« Duncan Luther starrte den Widerling aus zusammengekniffenen Augen an. »Zum letzten Mal, was wollen Sie?« Hals und Kopf zuckten zurück. Clearwater mimte Erstaunen. »Oh. Seine Heiligkeit fühlen sich gestört? Tut mir unendlich leid. Ich wollte nur die neueste Zeitung vorbeibringen, weil ich dachte, der kleine Vorfall auf Seite drei würde …« Clearwater sprach nicht zu Ende. Statt dessen rollte er die Zeitung auseinander, schlug die ge nannte Seite auf und faltete das Blatt so mundgerecht, daß Luther mühelos die Überschrift lesen konnte, noch ehe Clearwater ihm die Zeitung ausgehändigt hatte: GEISTLICHER STARB UNTER MYSTERIÖSEN UMSTÄNDEN Diente seine Kirche als Geheimtreff für Satansjünger? Duncan Luthers Herz schlug plötzlich so heftig, daß er meinte, Clearwater müßte es sehen oder zumindest hören können. Mechanisch griff er nach der hingehaltenen Zeitung. Das zu dem Artikel gehörige Bild beseitigte letzte Zweifel, noch ehe Luther den Fließtext überflogen hatte. Es war die anglikanische Kirche am Trumper Park, und es war Pater Lorrimer, von dem die Rede war! »Kreislaufprobleme, Ehrwürden?« hämte Clearwater. Luther hatte die Farbe gewechselt. Fragend starrte er den Portier an, der in gespielter Verlegenheit die Achseln zuckte. »Ich dachte, daß es dich interessiert. Als ihr beide hier ankamt, klingelten gleich alle Glocken bei mir. Natürlich ahnte ich nicht, daß ein Heiliger beim anderen Heiligen ›kille-kille‹ macht …« Luther klatschte ihm die Zeitung gegen die Brust und trieb ihn auf den Flur hinaus, wo es wie auf einem Gassi-Pfad für Hunde stank. »Verschwinden Sie! Sie sind verrückt, wenn Sie glauben –«
»Okay«, unterbrach ihn Clearwater. Sein narbiges, windschiefes Gesicht ließ die aufgesetzte Freundlichkeit in einer Schublade ver schwinden, aus der er sie bei Bedarf jederzeit wieder vorzaubern konnte. »Ich bin verrückt – kein Geheimnis. Aber du bist mir noch etwas schuldig, Heiliger, und ich habe ein gottverdammtes Elefan tengedächtnis. Ich vergesse nie. Selbst wenn man irgendwann mal auf mein Grab spuckt, ist da immer noch eine Rechnung zwischen uns offen, und ich dachte wirklich, nachdem ich das hier –« er tippte auf den Artikel, »– gelesen habe, wir beide könnten ins Geschäft kom men und die alten Schulden begleichen.« Er seufzte. »War wohl ein Irrtum …« Schulterzuckend drehte er sich um – und hielt augenblicklich inne, als Luthers Stimme ihn erreichte: »Von was für einer Art ›Geschäft‹ faseln Sie, Clearwater?« Der Artikel hatte dem Priesteranwärter die Blässe bis in die Lippen getrieben. Er versuchte, cool zu bleiben. Aber der schmierige Typ vor ihm und das unglaubliche Geschöpf im Nebenraum, das ihn noch Minuten zuvor um eine »Blutspende« gebeten hatte, machten es schwer, Fassung zu bewahren. »Wurde das nicht klar?« Clearwater grinste erst die Zeitung und dann Luther an. »Ein Zufall war es doch sicherlich nicht, daß du dich mit der scharfen Kleinen hier verkrochen hast, just nachdem die Schweinerei in der Kirche passierte. Ich bin sicher, die Bullen räumen mir einen netten Bonus ein, wenn ich ihnen einen Priester killer ans Messer liefere …« Luthers Farbe wechselte von blaß zu durchscheinend. »Hier steht nirgends etwas davon, daß Lorrimer umgebracht wurde! Ein myste riöser Unglücksfall –« Clearwater unterbrach ihn barsch. »Ist das nicht dasselbe? Du und ich – wir beide wissen, daß es dasselbe ist … Daß du Dreck am Ste cken hast, Heiliger, das kann man dir am Näschen ablesen! Dir hat’s gründlich ins Sunny-Face gehagelt. Laß mich raten, was passierte:
Du und die Zaubermaus habt gerade deinen Abschied vom Weltli chen gefeiert, als der alte Knabe euch erwischte. Vermutlich hat er dir klargemacht, daß du dir dein Priesteramt sonstwohin stecken kannst … Naja, da wurdest du halt ein bißchen handgreiflich. Nicht, daß ich dafür kein Verständnis aufbrächte, aber so ganz ungeschoren kommst du aus der Sache nicht raus … Wobei ich es noch gut mit dir meine. Hör dir wenigstens mein Angebot an.« Duncan Luther blickte den Mann, der etwas von einer Hyäne hat te, stumm an. Clearwater schien es als Einwilligung zu betrachten. Er fuhr lauernd fort: »Ich hatte Verluste, du erinnerst dich sicher. Amy war eine meiner besten Stuten, und eine ›Neuanschaffung‹ verschlingt viel Zeit und Geld …« »Ich habe kein Geld!« fauchte Luther. »Wenn es das ist …« »Nein, nein, Heiliger, du sollst nicht die Kollekte für mich klauen! Wer wird denn gleich das Schlimmste annehmen? Ich denke mehr an eine … Geste.« »Eine Geste?« »Du könntest mir deine kleine Freundin für einen überschaubaren Zeitraum überlassen, mietfrei, versteht sich. So wie die aussieht, weiß sie, wo’s langgeht. Ich werde ihr nicht viel beibringen müssen. Ich bin kein Unmensch; nach einer Zeit, die sich danach richtet, was sie einbringt, könnte ich dich sogar an den Einnahmen beteiligen. Wir beide wären dann so etwas wie Kompagnons … Na, hört sich das gut an?« Luther hatte ihn nur ausreden lassen, weil es ihm die Sprache ver schlagen hatte. Doch jetzt wickelte sich seine Faust so schnell um Clearwaters Unterhemd, daß der Narbige keine Chance zum Aus weichen hatte. Er wußte nicht, wie weit er gegangen wäre. Er fand es auch nie heraus. Eine Stimme befahl: »Laß ihn los!«
Er ließ los. Lilith trat aus dem kleinen Badezimmer. Sie hatte die inzwischen getrockneten Sachen leger übergestreift, war aber in Ermangelung von passenden Schuhen immer noch barfuß, und das Herrenhemd war nur bis zum Nabel zugeknöpft, so daß selbst einem abgebrüh ten Typen wie Clearwater angesichts der Einblicke die Augen über gingen. »Sehr vernünftig, Kleine.« Er leckte sich obszön über die Lippen. Lilith lächelte und ging auf ihn zu. Im Vorbeigehen raunte sie Lu ther zu: »Warte hier. Ich bin bald zurück.« Er versuchte sich dagegen aufzulehnen, aber es war unmöglich. Hilflos mußte er mitansehen, wie Clearwater seine ekligen Hände um Liliths Taille legte und lachend aus dem Zimmer verschwand. Duncan Luther hörte Lilith noch sagen: »Wir werden uns schon eini gen. Schulden müssen beglichen werden …« Dann schloß sich die Tür. Ein Zeitgefühl hatte er nicht mehr. Luther stand auch noch dort, wo er sich Clearwater vorgeknöpft hatte, als Lilith allein wieder zurückkehrte. An ihren Mundrändern schimmerte etwas rötlich-feucht, und die unmenschliche Spannung, die sie vorher hatte vibrieren lassen, war verschwunden. Sie befreite auch Luther von seinem Bann, und er machte keinen Hehl aus seinem Entsetzen. »Wie konntest du das nur tun?« Sie zuckte die Achseln. »Es war halb so schlimm. Ich befahl ihm als erstes, sich gründlich den Hals zu waschen …« Duncan Luther ging nicht auf ihren Sarkasmus ein. »Und dann?« »Willst du es tatsächlich hören?« Der Mann, der kurz vor der Priesterweihe stand, überlegte kurz. Dann schüttelte er resignierend den Kopf.
* Wieder und wieder las sie den Bericht über den unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen anglikanischen Priester, der auch nicht davor zurückgeschreckt hätte, sie zu pfählen … »Suchst du nach etwas Bestimmtem?« Duncan Luther war anzu merken, wie sehr ihn die Nachricht von Pater Lorrimers Tod er schütterte. Lilith nickte. Ihr Blick verfing sich in seinem anziehenden Gesicht, dann kehrte er zu den geschriebenen Worten zurück, die irgendein besonders fixer Reporter mit dem Kürzel -vk heruntergehaspelt und noch in der allerneuesten Ausgabe des Sydney Morning Herald unter gebracht hatte. »Nirgends ein Hinweis auf …« »Auf?« »Mein Kleid …« Natürlich wußte er, wovon sie sprach. Er wußte auch, daß es mehr war als ein simples Kleid; viel mehr. Es war das Vermächtnis ihrer toten Vampirmutter gewesen, und es hatte sein Aussehen wie ein Chamäleon ändern können. Nachdem es Luther angefallen und sich wieder von ihm gelöst hatte, hatten sie es im Kirchenkeller zurück gelassen – eine dunkle, spröde Masse, die während des Exorzismus irreparabel geschädigt worden zu sein schien. »Ich hätte es nicht liegenlassen dürfen …« »Wer immer es findet«, meinte Luther belegt, »wird nichts damit anfangen können. Wahrscheinlich ist es längst zu Staub zerfallen. Als wir gingen, lag es da wie die vertrocknete Haut einer Schlange …« Lilith krümmte sich. Sie glaubte noch immer, den Phantom
schmerz zu fühlen, den das Kleid beim ersten Anziehen auf sie aus geübt hatte: Tausend winzige, scharfe, mit Widerborsten versehene Zähne, die sich in mein Fleisch beißen … Dennoch litt sie unter dem Verlust. Nicht nur sein Aussehen hatte das Kleid nach Belieben verändern können; es hatte Lilith auch mehrfach sehr erfolgreich gefährliche Angreifer vom Hals gehalten. Neben allem anderen war es auch eine mächtige Waffe gewesen! »Ich hätte es nicht dort lassen dürfen …« Sie blickte zu dem gut aussehenden Priesteranwärter auf. Er verstand vermutlich immer noch nicht, mit wem er es bei ihr zu tun hatte und welcher Durst sie plagte. Sie machte ihm keinen Vor wurf. Er war das Produkt einer völlig anderen Realität als der, der sie entsprungen war. Er dachte Gedanken, die ihr, wenn sie in Wor te gekleidet wurden, wie Lorrimer es getan hatte, auch jetzt noch ge fährlich werden konnten. Trotzdem mußte sie an sich halten, um ihn nicht mit sanftem Druck dorthin zu lenken, wo ihre Phantasie sich schon lange mit ihm beschäftigte. Hätte er ihr nicht das Leben gerettet, wäre sie we niger zimperlich mit ihm umgesprungen. Aber ein Hemmnis, das neu für sie war, hinderte sie, ihn gegen seinen Willen zu vernaschen. Wie lange sie sich noch würde beherrschen können, wußte sie nicht. Von Clearwater hatte sie sich nur das dringend benötigte Blut geholt. Jedes Mehr hätte ihr ästhetisches Empfinden mit Füßen ge treten. Was sie aber darüber hinaus begehrte, erhoffte sie sich wei terhin von Duncan Luther. Auch wenn sie nur eine verschwommene Vorstellung hatte, wie sie ihn vielleicht doch noch »überreden« konnte … »Ich brauche Hilfe«, sagte sie frei heraus. »Wirst du mich unter stützen?«
»Wobei?« Sie zuckte die Achseln. »Erst einmal beim Überleben.« »Wenn ich auch überleben darf …« »Ich werde darüber nachdenken.« Sie lächelte und hoffte, daß die ses Lächeln ihn etwas von der Unnahbarkeit kosten würde, mit der er sich gewappnet hatte, seit sie allein hier auf diesem Zimmer wa ren. Sie deutete auf die Zeitung, die Clearwater dagelassen hatte. »Wahrscheinlich sucht man schon nach dir.« Er atmete stoßartig aus und raufte sich die Haare. »Worüber, glaubst du, zerbreche ich mir schon die ganze Zeit den Kopf?« Sein Blick flackerte. Ruckartig erhob er sich vom Bett und ging auf die Tür zu. »Ich muß sofort telefonieren! Unbedingt!« »Mit wem?« »Mit meinen Eltern. Sie wohnen drüben in Leichhardt.« Ein miß glücktes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und ich fürchte, sie le sen auch Zeitung …« Er brauchte nicht mehr zu sagen. Lilith hielt ihn nicht länger zu rück, obwohl sie Bedenken hatte, er könnte sich entscheiden, nicht wieder zurückzukehren. Sie ließ es darauf ankommen. In der offenen Tür blieb er dann von sich aus noch einmal stehen und sah sie an. »Meinst du, er wird mir Schwierigkeiten machen?« »Clearwater?« Er kniff die Lippen zusammen und nickte. »Keine Sorge«, beschwichtigte sie. »Wenn wir lauter solch zuver lässige Verbündete gewinnen könnten wie ihn, hätten wir kaum noch etwas zu fürchten!« Duncan Luther fragte immer noch nicht, was genau sie mit dem
zwielichtigen Hotelportier angestellt hatte. Er schloß die Tür von draußen. Seine Schritte entfernten sich über den Flur.
* Sein Schritt war schleppend, als hätte jemand unbemerkt den Inhalt seiner Beine ausgetauscht: Blei statt Blut … Luther fürchtete um seine Beherrschung, wenn er noch länger mit Lilith zusammen bleiben mußte. Sie spülte all das wieder in ihm hoch, was er überwunden zu haben glaubte. In den letzten Stunden war mehr als nur eine oberflächliche Ver änderung in ihm vorgegangen. Er hatte getötet! Und er war – womöglich – auch mitschuldig an Pater Lorrimers Tod. Wäre er bei ihm geblieben und hätte sich um ihn statt um Lilith gekümmert, hätte das Unglück vermutlich verhindert werden kön nen! Luther seufzte tief. Der Holzboden knarrte unter seinen Schritten und erinnerte ihn daran, wo er mit der personifizierten Sünde (nichts anderes war Lilith für ihn) gelandet war. Stimmen und Geräusche, deren Ursprung nicht zu lokalisieren war, drangen zu ihm. Luther beeilte sich, die Treppe ins Erdgeschoß hinunterzusteigen. Homer Clearwater hockte dumpf in seiner primitiven Portiersloge. Bei seinem Anblick überlief es Luther heiß und kalt. Als er nach Vampirmalen am Hals des heruntergekommenen Zuhälters suchte, wurde er nicht fündig. Irgendwie war er darüber erleichtert. Wenn er nicht Spuren von Blut um Liliths Mund gesehen hätte …
»Kann ich telefonieren?« fragte er rauh. Er war gespannt auf Clearwaters Reaktion. Aber der Portier deute te nur temperamentlos auf das Telefon, das auf der Ablage hinter dem Tresen stand, und vertiefte sich sofort wieder ins Brüten. Sie hat ihn verhext, dachte Luther. Vielleicht bin ich es auch längst und merke es nur nicht. Er holte das Telefon an der Schnur zu sich heran und wählte die Nummer seiner Eltern. Als das Freizeichen einsetzte, bekam er Pa nik, weil ihm kein passender Auftakt zu einem Gespräch einfiel, und er legte schnell wieder auf. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Als hinter ihm ein johlendes Pärchen die Treppe herunterkam, bei seinem Anblick kurz stockte, dann aber kichernd weiterging, verlor er um ein Haar völlig die Nerven. Erst Clearwaters stupide Mimik beruhigte ihn wieder soweit, daß er den nächsten Versuch startete. Schon beim zweiten Durchläuten wurde abgehoben. »Ja?« »Mutter?« »Dun …?« »Ja! Wie geht es dir?« »Danke. Und dir?« Er zögerte. »Nicht so gut. Ich weiß nicht, ob ihr … ob ihr es schon gehört habt …« »Das Unglück mit Pater Lorrimer? Wir lasen gerade davon, Dun, mein guter Junge. Wie konnte das passieren? In der Zeitung stand nur …« Sie brach ab und fuhr dann fort: »Wir machen uns solche Sorgen um dich, Junge. Die Polizei war schon hier und –« »Die Polizei?« »Sie suchen nach dir. Sie brauchen Angaben, wo du warst, als das
Unglück geschah. Oh, Junge, du hast doch nichts damit zu tun?« »Natürlich nicht!« Er errötete. »Wo ist Vater? Gib ihn mir bitte kurz.« Er hoffte, eher mit ihm sprechen zu können. Über das Unaussprechliche sprechen … Offenbar stand sein Vater in der Nähe, denn der Hörer wechselte sekundenschnell den Besitzer. »Dun?« kam es autoritär. »Vater, ich –« »Dun, wo hältst du dich auf? Die Polizei war –« »Ich weiß, Dad. Mum sagte es schon. Aber ich habe nichts mit Lor rimers Tod zu tun, glaub mir das. Etwas ganz Unglaubliches ist pas siert, und ich wollte nur –« »Wo bist du, Junge?« Er zögerte. »Das möchte ich nicht sagen.« »Nicht sagen?« »Ich sagte bereits, daß etwas Unglaubliches passiert ist. Die Um stände –« »Du brauchst Hilfe.« Luther spürte ein Brennen auf der Zunge. »Ich brauchte Hilfe, ja. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist! Du ahnst ja nicht, was mir zugestoßen ist …« »Wenn du nicht sagen willst, wo du bist, komm wenigstens zu uns. Am Telefon kann man nicht reden. Wir lieben dich, mein Sohn, das weißt du. Wir lieben dich auch, wenn du doch etwas mit Lorri mers Tod zu tun haben solltest …« »Ich habe nichts –« »Beruhige dich. Es wird ja alles gut. Niemand unterstellt dir etwas. Wie ich es verstanden habe, sucht dich die Polizei als möglichen Zeugen. Erwiesenermaßen kam der Pater durch eigenes Verschul
den um. Und daß du etwas von Lorrimers beängstigenden Neben beschäftigungen wußtest, kann nicht sein. Dafür kennen wir dich zu gut, Dun! Wann kommst du?« Luther räusperte sich. »Ich weiß nicht. Ich denke darüber nach, Dad.« »Du mußt kommen. Wir müssen reden. Du kannst dich auch der Polizei stellen. Sie wollen nur eine Aussage von dir. Nichts, was dich ängstigen müßte …« »Ich denke darüber nach!« Er legte auf.
* Nach allem, was vorgefallen war, empfand sie das kurze Alleinsein als wahre Wohltat. Lilith war klar, daß sie sich das Leben einfacher hätte machen kön nen, wenn sie endlich damit begonnen hätte, Duncan Luther genau so als Mann zu betrachten wie jeden anderen seines Geschlechts. Sie verfügte über die unwiderstehlichen Mittel, das von ihm zu bekom men, worauf sie bei Clearwater freiwillig verzichtet hatte. Die Crux war nur, daß sie nicht darauf zurückgriff! Den Grund kannte Lilith selbst nicht so genau. Nur weil er sie gerettet hatte? Unwahrscheinlich. Sie war ziemlich sicher, daß er dies nicht aus eigenem Antrieb getan hatte. Er war in völlig anderer Absicht zu ihr gekommen. Erst das Kleid hatte ihn umgestimmt … Wieder glitten ihre Gedanken dorthin zurück, wo sie 98 Jahre lang ein unwirkliches Leben unter der Obhut jener Gouvernante geführt
hatte, die ihr Vater im Kindesalter als Spielkameradin für sie gekid nappt hatte. Marsha – so der Name der Waisen – hatte die ihr aufer legte Pflicht auch nach der Ermordung von Liliths Vater durch Vam pire weiter erfüllt. Lilith war im versiegelten Haus in der Paddington Street »heran gereift«. Sie hatte das Leben eines normalen Mädchens geträumt, aber als sie mit dem Körper einer Zwanzigjährigen aus dem sicheren Hort entwichen war, waren draußen besagte 98 Jahre verstrichen. Ihre Mutter (warum erinnerte sie sich noch immer nicht an ihren Namen?) hatte prophezeit, daß sie 100 Jahre in der Zurückgezogen heit des alten viktorianischen Hauses zubringen müsse, um ihre mysteriöse Bestimmung zu erfüllen. Lilith ging zum Fenster und schob die heruntergelassenen Jalousi en soweit auseinander, daß sie hinunter auf den Innenhof der billi gen Absteige blicken konnte. Der Hof war leer. Sie seufzte, weil die bisherigen Andeutungen über ihre Bestimmung mehr zu ihrer Ver unsicherung beigetragen hatten, als ihr Selbstbewußtsein zu stärken. Geh deinen Weg! Bekämpfe Vampire! Behalte das Kleid! Die drei beschwörenden Formelsätze ihrer Mutter zuckten wie Streiflichter durch ihr immer noch leicht lädiertes Bewußtsein. Zumindest was das letztere betraf, hatte sie bereits versagt. Sie hatte das Kleid verloren! Zumindest fahrlässig aufgegeben … Wie auch immer, es kam auf dasselbe heraus. Erneut wurde der Wunsch übermächtig, zum Grab ihrer Mutter, das sich im Keller des Viktorianischen Hauses in der Paddington Street 333 befand, zurückzukehren. Noch immer hegte sie die stille
Hoffnung, dort – wie schon einmal geschehen – Antworten auf ihre brennendsten Fragen zu erhalten. Beim ersten Mal – so klug war sie im Rückblick – hatte es ihr noch an wesentlicher Erfahrung gemangelt, die richtigen Fragen zu stellen … Sie vergaß (vielleicht, weil sie es verdrängen wollte), daß ihre Mut ter nie persönlich Zwiesprache mit ihr gehalten hatte. Alles, worauf Liliths Wissen fußte, war eine in Grabnähe gespeicherte Botschaft ihrer Mutter. Bis heute durchschaute Lilith nicht, auf welche Weise die über die Jahre konservierten Gedanken Zugang zu ihr gefunden hatten. Es war eines der Rätsel, die sie nicht ruhen ließen. Sie hatte versucht, zu der Stätte ihrer Herkunft zurückzukehren. Die Straße um das Anwesen war jedoch weitläufig von der Polizei abgeriegelt worden, und unter den Neugierigen vor den Sperren hatte sie ihre Erzfeinde gewittert: Vampire! Die Vampire hatten sie ebenfalls gewittert. Nur mit Mühe hatte sie sich ihnen entziehen und in eine Kirche fliehen können, wo der Priester (Lorrimer) dann seinen Ehrgeiz an ihr ausgelebt hatte …* Während ihres physischen Zusammenbruchs war Lilith von einer Vision heimgesucht worden. Nicht die erste. Aber eine besondere. Im Traum hatte sie das Haus ihrer Geburt in einem Erdrutsch un tergehen sehen. Der Boden hatte sich aufgetan und wieder geschlos sen, ohne eine sichtbare Narbe zu hinterlassen. Mit dem Haus war jegliche Vegetation innerhalb der Mauern, die das Grundstück um faßten, verschwunden. Dann hatte es zu regnen begonnen. Rot wie Blut. Und nach einiger Zeit waren neue, sehr fremdartig wirkende Pflanzen zurückgekehrt. In unnatürlich kurzer Zeit hatten sie das *siehe Vampira 3: »Besessen«
Terrain dschungeldicht überwuchert und nur eine Lichtung genau im Zentrum – dort, wo sich das Haus erhoben hatte – ausgespart. Gegen Ende ihrer Vision, von deren Wahrheitsgehalt sie sich noch nicht hatte überzeugen können, hatte sich auch auf diesem freien Platz etwas getan. Ein Sproß hatte sich aus der krumigen Erde ans Tageslicht gebohrt und war zu einem eindrucksvollen Baum gereift. Von diesem Baum und seinen Früchten war etwas Unerhörtes aus gegangen. Etwas, das Lilith selbst im Zustand der Bewußtlosigkeit unwider stehlich angezogen hatte … Sie wurde aus den Gedanken gerissen, als Duncan leichenblaß zu rückkehrte. Er sah aus, als wäre er einem Vampir begegnet, der we niger zimperlich war als Lilith. »Was ist passiert? Konntest du deine Eltern nicht erreichen?« Er schien sie gar nicht wahrzunehmen. »Dun!« Er zuckte zusammen. »Doch …«, räumte er endlich widerstrebend ein. »Aber?« »Es waren nicht meine Eltern …«
* Sie haßte nichts mehr, als allein aufzuwachen. Elisabeth MacKinsey rollte zur anderen Bettseite und seufzte leise, weil sie sich immer noch nicht daran gewöhnt hatte, die Stelle ver waist zu finden. Laken und Kissen haftete noch der Duft des Men schen an, mit dem sie zwei anstrengend-anregende Jahre verbracht
hatte. Fast täglich waren die Fetzen zwischen ihnen geflogen. Sie hatten beide fast das gleiche Temperament gehabt, und vielleicht war es das, woran sie gescheitert waren. Vor einer Woche hatte es dann endgültig gekracht. Irreparabel! Aufstehen machte keinen Spaß mehr. Nur der Job hielt Beth noch einigermaßen über dem Krisensumpf, in dem sie tagelang unterzu gehen drohte. Äußerlich war ihr davon wenig anzumerken. Die Ka tastrophe spielte sich unter der attraktiven Schale ab. Mit geschlossenen Augen hing sie eine Weile den schöneren Erin nerungen nach, die sie mit dem typischen Geruch verband. Dabei streichelte sie die Stellen ihres knabenhaft schlanken Körpers, von denen sie wußte, daß dort noch mehr und heftigere Erinnerungen schlummerten. Die heißen Wallungen ließen sie kurz vergessen, daß es vorbei war. Sie brachte es bis zu einem leidlich befriedigenden Orgasmus, aber spätestens in der Abklingphase, während ihr Atem sich wieder be ruhigte, kehrte der schale Beigeschmack zurück. Do-it-yourself war kein Ersatz für fremd-vertraute Haut … Beth schälte sich aus der Decke und schwang sich über den Bett rand. Die Sonne fiel bereits warm durch die beiden Schlafzimmer fenster ihres Cityapartments, und der routinierte Blick zum Nacht tisch verriet ihr nicht nur die genaue Uhrzeit (07:26), sondern auch das heutige Datum: Dienstag, 10. Januar 1995. Sommer in Australien. Touristensaison und journalistische SaureGurken-Zeit in einem. Beth schlich geduckt ins Bad. Der Duschstrahl belebte mehr als das matte Feuer, das sie selbst in sich entfacht hatte. Als sie sich an schließend vor dem Spiegel frottierte, hielt sie kurz inne und be trachtete sich selbstkritisch. Das einzige, an dem sie nichts auszuset
zen hatte, war ihre neue Kurzhaarfrisur, die sie sich gegönnt hatte, nachdem sie sich Demi Moores Herz-Schmerz-Erfolg Ghost auf Vi deo angesehen hatte. Etwas mehr Busen hätte sie sich gewünscht, auch etwas mehr Taille, aber irgendwo im Hinterstübchen wußte sie natürlich, daß keine Frau je mit sich zufrieden sein würde. Sie struwwelte sich den blonden Schopf mit etwas Schaumfestiger zurecht. Das erste Lächeln des Tages huschte über ihre Lippen, als sie sich vor den Schminktisch setzte und den Blick über das ein drucksvolle Sortiment an Haftschalen wandern ließ. Sie liebte es bunt, und da sie sich sonst keinen Luxus gönnte, warf sie das Geld für immer neue, exotischere Kontaktlinsen hinaus. Jeden Tag eine andere Augenfarbe – wer, außer ihr, konnte damit schon aufwarten? Die »natürliche« Tönung ihrer Iris war schwer definierbar. »Wi schiwaschi« pflegte sie auf Nachfrage zu antworten. Sie haßte »Wischiwaschi«. Dienstag war meistens »Raubtiertag«. Die Linsen, die ihr Optiker ihr eigens aus Hongkong hatte einfliegen lassen, verliehen den Au gen einen aggressiven Gelbschimmer, den Beth selbst kaum wahr nahm. Nur wirklich fremde Betrachter zuckten regelmäßig vor ihr zurück. Ihr Chefredakteur leider immer seltener. Viel häufiger zuck te sie vor ihm zurück. Dann nämlich, wenn er aus einem ihrer be rüchtigt umfangreichen Artikel wieder einmal – aus Sachzwängen heraus, wie er zu rechtfertigen pflegte, was nicht zu entschuldigen war – eine Zehn-Zeilen-Miniatur auf der vorletzten Seite machte. Natürlich war der Chefredakteur ein Mann. Von der Sache, in die sich Beth aktuell verbissen hatte, konnte er zur Abwechslung mal gar nicht genug bekommen – nur konnte Beth ihm leider verflucht wenig bieten, weil die Behörden absolute Nach richtensperre verhängt hatten und sich ausnahmsweise auch konse quent daran hielten!
Paddington Street. Die Adresse bekam langsam Alptraumcharakter. Wie nach einem Erdbeben war der Notstand über einen Teil dieser Straße verhängt worden. »Epizentrum«, soviel hatte Beth mittler weile in Erfahrung gebracht, war die Hausnummer 333. Doch dort hin zu gelangen, war schwerer geworden, als eine persönliche Audi enz beim Papst durchzusetzen. Die Jungs in den Uniformen spielten nicht mit. Warner, dieser arrogante Fatzke, hatte ihr bei der letzten Begeg nung nicht einmal drei Worte ins Mikrofon diktiert, und alle Versu che, direkt zu Virgil Codd, dem Polizeichef, vorzustoßen, waren bis lang von den vorgeschalteten Stellen abgeschmettert worden. Daß Beth dennoch nicht aufgab, war klar. Dumm nur, daß ihr Chef allmählich die Geduld verlor und es zu befürchten stand, daß er demnächst andere Kollegen auf die mysteriösen Vorgänge in der Paddington Street ansetzen würde, was Beth – natürlich – unter al len Umständen vermeiden wollte. Sie war spät aus dem Verlagsgebäude nach Hause gekommen. Nach nur vier Stunden Schlaf kehrte sie jetzt ins Großraumbüro des Sydney Morning Herald zurück. »Da bist du ja endlich … Du sollst zu Marxx kommen!« Nicht die Nachricht, die Stimme ließ Beth zusammenzucken. Seven stolzierte aufreizend zur Tür herein und legte den ersten Schwung Tagespost vor Beth auf dem Tisch ab. (Beth hatte nie verstanden, wie jemand sein Kind »Seven« nennen konnte; auch Sevens Erklä rung, daß sie nun mal der siebte Sproß derer van Kees war, konnte kaum über die geschmackliche Verfehlung hinwegtäuschen.) Seven van Kees war ein Jahr jünger als Beth, holländischer Abstammung, maisblond bis in die Haarwurzeln und biestiger als alles, was Beth bislang untergekommen war. Es kam ihr wie ein Treppenwitz vor,
daß sie ausgerechnet diese perfekt gestylte menschliche Katastrophe immer noch zu lieben glaubte. Weder sie noch Seven ließen sich etwas von ihrer zweijährigen Haßliebe anmerken. Innerhalb der Zeitung wußte niemand von ih rem Verhältnis, aber Beth fürchtete sich auch nicht davor, daß ihre »Veranlagung« einmal publik werden könnte. Sie hatte schon öfters mit dem Gedanken gespielt, sich selbst zu outen, es dann aber – auch aus Rücksicht auf Seven, die noch nicht soweit war – immer wieder verworfen. Außerdem fand sie es kindisch. Kein Heterosexueller wäre je auf den Gedanken gekommen, sich seines hormonellen Übergewichts wegen selbst an den Pranger zu stellen. Beth hielt sich für völlig normal, und das war sie auch. Daß sie mit Männern nicht viel anfangen konnte, lag nicht zuletzt an den Män nern. »Hat er gesagt, worum es geht?« fragte Beth. Sie sah kaum auf, be schäftigte sich lieber mit ihrem Macintosh-Notebook, ohne das sie keinen Schritt aus dem Verlag machte. Sie überprüfte die Akkus und rief danach den gestern begonnenen, noch unvollendeten Text auf. Ihre Vorliebe für »Macs« hatte ihr den Spitznamen »Macbeth« eingehandelt. Beth stand darüber – empfand es bisweilen sogar als Kompliment. Lieber Shakespearesche Hexe als Lady Namenlos. »Nein.« Seven schwenkte schon wieder ab und verschwand gruß los aus der mit Stellwänden abgegrenzten Nische des Großraumbü ros. Beths Blick heftete sich auf den Apfelpo, bis Seven außer Sicht ge riet. Die vielfältig überlagernden, typischen Redaktionsgeräusche drangen kaum in ihr Bewußtsein. Sie mußte sich mit Gewalt wieder in die Wirklichkeit zurückrufen. Ihr Blick schweifte zum Ende des eingetippten Textes, wo eine No
tiz in Fettschrift aufforderte: Nicht vergessen: Kontakt zu E.S. her stellen! Dahinter stand eine Sydneyer Telefonnummer. Beth überlegte, ob sie es gleich tun oder erst bei Marxx vorbei schauen sollte. Sie entschied sich für das erwartungsgemäß größere Übel, schalte te das Notebook auf Stand-by und schlenderte zwischen den Kolle gentischen hindurch zum »Terrarium«, wo Marxx mit Blick über die Gesamtetage residierte. Ohne anzuklopfen (Marxx verabscheute solche Zeitverschwen dungen, die andere als Ausdruck von Höflichkeit ansahen) betrat sie den allseitig verglasten Raum. »Ah, MacKinsey!« Der filigrane Nörgler Marxx sah von seinem Sta pel Tagespost auf, auf dem er den jeweiligen Verteiler notierte und – wie üblich – hier und da ein paar häßliche Fußnoten hinterließ. Beth grüßte lasch. Ihre Gedanken weilten noch bei Seven. Marxx besaß keinen Besucherstuhl – ebenfalls Ausdruck seiner Sucht, keine Minute mit unfruchtbarem Geschwafel zu verschwen den. Folgerichtig blieb Beth in einiger Distanz stehen. Moe Marxx war eine spindeldürre, auch in den Augen einer einge schworenen Lesbierin absolut unattraktive Reizfigur, In seinem ha geren Gesicht glommen – weit in den Höhlen zurückversetzt – Au gen wie schwarze Kohlestücke. Marxx’ starker Bartwuchs zeichnete sich, obwohl glattrasiert, als dunkle Schattenkontur auf seiner groß porigen Haut ab. Er war Ende Vierzig und verfügte über großes Fachwissen. Was ihn mitunter unausstehlich machte, war seine absolute Unfähigkeit, sich mit progressiven Gedanken jüngerer Mitarbeiter anzufreunden. Das Renomme des Blattes ging ihm über alles. Manche hervorragen de Story war dieser Maxime wegen schon unveröffentlicht im Ar chiv verschwunden. Leider war Marxx neben seiner Position auch
noch ein persönlicher Freund der Herausgeberin, so daß nicht abzu sehen war, wann sich die von ihm behütete Linie des Sydney Mor ning Herold je ändern würde. Beth hatte sich, wie die meisten ihrer Kollegen, damit arrangiert, denn von diesem Punkt abgesehen, war der SMH immer noch eine Zeitung, bei der es mitzuarbeiten lohnte. »Zweierlei«, sagte Marxx scharf. »Erstens ging eine offizielle Be schwerde ein. Polizeichef Codd mokiert sich darin über die Presse allgemein und über eine ›Macbeth‹ im Besonderen! – Sie wissen, wen er mit.Macbeth’ meint?« Beth nickte. Sie wußte, daß Marxx es auch wußte. Es war eine rhe torische Frage. »Codd kündigt an, sich nicht länger gefallen lassen zu wollen, daß die Medien seine Ermittlungen behindern!« Beth horchte auf. »Ermittlungen?« echote sie. »Wurde er konkre ter?« Bisher hatte es kein einziges offizielles Statement zu den Vorgän gen in 333, Paddington Street, gegeben. Allgemein wurde die Un glücksthese vertreten. Absolut unüblich war jedoch, daß Behörden einen solchen Zirkus veranstalteten, wenn es sich nur um ein Un glück gehandelt hätte. Daß etwas viel Brisanteres hinter den Absperrungen und dem Flugverbot für Privatmaschinen und Helikopter über dem Luftraum Paddington Street steckte, war auch aus Al Weinbergs »Medienblo ckade« und -schelte zu entnehmen. In mehreren Interviews hatte der Bürgermeister sich über die »Art der Berichterstattung« be schwert. Er und Codd stießen in etwa ins selbe Horn. Aber beide galten ohnehin als dicke Freunde. »Nein.« Marxx schüttelte den Kopf. »Aber ich werde konkret, und damit kommen wir zu Punkt zwei: Nicht weit von der Paddington
kam gestern ein anglikanischer Priester unter bizarren Umständen ums Leben. Ein altes Frauchen wehrte sich dagegen, von ihm er würgt zu werden. Dabei stieß der Pater so unglücklich an eine Sta tue, daß die ihn erschlug. Van Kees berichtete darüber. Aber van Kees steht nicht mehr zur Verfügung. Da die anderen Blätter das Thema fett ausschlachten, will ich nicht nachstehen. Kümmern Sie sich darum. Vielleicht haben Sie dabei mehr Geschick …« Es war das Ungesagte zwischen den Sätzen, was Beth innerlich zur Weißglut trieb. Marxx’ Formulierkunst warf ihr nicht mehr und nicht weniger als Versagen vor. Dennoch war es etwas anderes, das sie aufhorchen ließ. »Van Kees«, hakte sie befremdet nach, »steht nicht mehr zur Ver fügung? Ich sah sie doch gerade eben noch –« Moe Marxx blickte nur flüchtig auf. »Sie hat fristlos gekündigt«, sagte er im Jeder-ist-ersetzbar-Tonfall. »Ohne Angabe von Gründen. Vielleicht hat sie einen reichen Scheich kennengelernt, ich weiß es nicht. Es interessiert mich auch nicht. Wenn Sie Näheres wissen wol len, müssen Sie sie selbst fragen.« »Heißt das«, wechselte Beth das Thema, »daß ich von der Pad dington-Sache entbunden bin? Ich habe gerade einen vielverspre chenden Kontakt aufgetan, und …« »Sie kümmern sich um beides«, unterbrach Marxx ungeduldig. »Lassen Sie aber um Himmels willen Codd in Ruhe. Der Kerl kann uns in echte Schwierigkeiten bringen – es wäre nicht das erste Mal, daß er der ›freien Presse‹ ihre Freiheit in den Hintern schiebt … Reden Sie mit van Kees, ehe sie den Abflug macht. Bis zwei Uhr brauche ich vierzig Zeilen und ein paar gute Fotos zur Auswahl. Krallen Sie sich Moskowitz. Er war vor fünf Minuten hier und jam merte über mangelnde Auslastung!« Beth verließ das »Terrarium« und beglückwünschte sich zu einem
weiteren Höhepunkt dieses Tages. Moskowitz war ein zigarrenqual mender Stänkerer, der längst hätte pensioniert sein können, wenn es die eigenen vier Wände mit ihm ausgehalten hätten. Das einzige, was er wirklich gut konnte, war fotografieren. Der Preis einer enge ren Zusammenarbeit mit ihm – und sei es nur für ein paar Stunden – war jedoch eine »Gehirnwäsche« der ganz hinterfotzigen Art und gründliches Duschen, weil das Kraut, das er rauchte, sich wie Pa tentkleber in jede Hautpore und jede Textilfaser setzte. Bevor Beth sich um ihn kümmerte, ging sie schnurstracks zu Se vens Arbeitsplatz. Ihre Ex-Geliebte schien sie bereits erwartet zu haben. Ihr Lächeln war eisig. »Ist noch was?« »Du hast den Job geschmissen. Warum?« »Privatsache.« »Wegen uns?« Seven schwieg. Ihre Miene blieb Frost pur. Sie erhellte sich erst, als hinter Beth eine Reibeisenstimme schnarrte: »Da sind Sie ja, MacKinsey! Der Alte sagte, daß wir das aktuelle Dream-Team bil den. Ich hoffe bloß, es geht auch gleich los. Hier drinnen ist es näm lich stickig wie in einem Affenhaus …!« Die Zigarre zwischen seinen nikotin-farbenen Zähnen war weiß glühend wie Beth. Aber Wut verrauchte, Moskowitz’ Zigarren selten. Sie fuhren in Beths kleinem Mini zur Kirche am Trumper Park, was fahrlässiger Selbsttötung nahekam, denn Moskowitz verwan delte die enge Kabine in ein Räucherstübchen. Er behauptete stand haft, sein eigener Wagen, ein schweres, importiertes Oldsmobile, sei in der Werkstatt. Beth glaubte es. Vermutlich meißelten sie gerade die oberen Teer schichten von der Innenverschalung.
Beth stand bereits zwei Minuten im Freien vor der Kirchenzufahrt, als Moskowitz seinen fetten Körper erst behäbig aus der (O-Ton) »Sardinenbüchse« heraushebelte. Das Gelände und die Kirche selbst waren gesperrt – aber diese Si cherung hielt keinem Vergleich mit dem stand, was Beth in der Pad dington Street, gar nicht weit von hier, erlebt hatte. Ein paar gelang weilte Polizisten lungerten entlang der im Wind flatternden Signal bänder und am Eingang herum. Beth und Moskowitz zeigten demonstrativ ihre Presseausweise, die jedoch niemand so genau betrachtete. Ein Sergeant bemühte sich dann aber doch noch, ihnen das Geringste an Kooperation entgegen zubringen, das überhaupt möglich war. Ob er Zeitungsleute leiden konnte, wurde nicht deutlich. Nicht einmal, ob er sich selbst leiden konnte. Während er Beth stichwortartig diktierte, was er vermutlich selbst erst aus der Zeitung erfahren hatte – zumindest klang es ver dächtig vertraut im Wortlaut –, führte er die beiden Reporter mit Griesgram-Miene zum vorderen Altarraum, wo nur noch die umge stürzte Steinfigur lag. Die Lage des toten Paters konnte man einer Kreidekontur und mehreren Koordinatensymbolen entnehmen. Moskowitz fotografierte, obwohl die Hauptperson fehlte. Seven hatte sie vermutlich noch sehen können; aber Seven schmollte. Der Sergeant hatte offenbar keinerlei Order, es den Medien son derlich schwer zu machen. Im Eiltempo wies er ihnen auch den Kel ler des Kirchenkomplexes, wo die merkwürdige »Folterkammer« lag, die Seven zu der Spekulation verleitet hatte, der Pater könnte Initiator und Opfer satanischer Messen gewesen sein. Hier unten hielt sich Beth länger auf, als es dem Geschmack des Sergeanten gefiel. Er hinderte Moskowitz zwar nicht an Luftver schmutzung und Blitzlichtgewitter, aber Beths Fragen, die erwach tes Interesse bekundeten, stießen schnell an die Grenze dessen, was er beantworten konnte oder wollte. Nur noch der Hinweis, daß nach
einem jungen Priesteranwärter gefahndet wurde, der seit den Vor kommnissen als vermißt galt, war ihm zu entlocken. »Name?« fragte Beth. »Sorry. Fällt unter Dienstgeheimnis.« Er sah bestechlich aus, aber weder Beth noch Moskowitz hatten genügend Bares dabei, um sein Ethos zu knacken. Dennoch nicht unzufrieden, brachen die beiden SMH-Mitarbeiter wenig später zum Gerichtsmedizinischen Institut auf, wo sich die Leiche des Pa ters inzwischen »geschärfte« Neugier im wahrsten Sinne des Wortes gefallen lassen mußte. Der Pathologe, der sich emotionslos mit Lorrimer beschäftigte, entpuppte sich als alter Bekannter von Moskowitz, und das war in diesem Fall nicht von Nachteil. Beth begriff zunächst gar nicht, wie schnell etwas unter der Hand seinen Besitzer wechselte. Aber nach dem es passiert war, stand ihnen Tür und Tor offen, ins kalte Herz der »Bauchaufschneider-Abteilung« (wieder O-Ton Moskowitz) vor zudringen. Beth ließ sich von der klammen Atmosphäre einfangen. Wortkar ger als üblich näherte sie sich hinter den beiden von alten Zeiten schwatzenden Männern dem Tisch, auf dem Lorrimer zugedeckt lag. Nur ein Fuß lugte im sterilen Neonlicht unter dem Tuch hervor. Daran hing ein Zettel, auf dem neben Angaben zur Person auch der Zeitpunkt der Einlieferung und ein paar Worte Fachchinesisch zu lesen waren. »Keine Fotos«, sagte der Pathologe in diesem Moment. »Es würde mich meinen Kopf kosten, und das wollt ihr zwei Hübschen doch nicht, oder?« Zwei Hübsche? Beths Blick suchte und fand das »qualmende Un getüm«, das es ausnahmsweise fertiggebracht hatte, mit kalter Zigar re vorlieb zu nehmen. Alter Freundschaft zuliebe. Oder einfach, weil
er sonst auch über Beziehungen und Bestechung keinen Fuß über die Schwelle gesetzt hätte. »Klar«, sagte Beth. Der Pathologe hob verwundert die Brauen, weil er wohl von Mos kowitz eine Antwort erwartet hatte. Beth schien er als »Anhängsel« des Fotografen zu betrachten. Umgekehrtes kam ihm nicht in den Sinn. »Kein Problem«, versicherte auch Moskowitz und kaute grinsend an seinem Torpedo. Der Pathologe schlug das Kopfende des Tuches zurück. Beth verkrampfte innerlich, als sie den demolierten Schädel des Paters sah. Daran, daß Moskowitz seine Zigarre beinahe durchbiß, war zu erkennen, daß das Bild auch ihn nicht kalt ließ. »Niemand hat gesagt, daß es ein schöner Anblick ist«, kommen tierte der Pathologe. »Der Brocken, der auf ihn gefallen ist, hat sei nen Hinterkopf zertrümmert und …« Beth hörte auf, hinzuhören. Nicht der eingeschlagene Schädel trieb ihr das Frühstück im Ex preßlift nach oben. Es war die Augenpartie des Toten. Beth hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. »Ich weiß noch nicht, was es ist«, erriet der Pathologe ihre Gedan ken. »Es hat nichts mit dem Unfall zu tun, der den Tod herbeige führt hat. Es muß vorher passiert sein. Soweit ich weiß, deckt es sich mit den Aussagen der Zeugin, die von diesem Lorrimer angegriffen wurde. Er war blind und orientierungslos, als er ihr an die Kehle ging …« Nur mühsam fanden die Worte den Weg zu Beth. Lorrimers Augenhöhlen sahen im ersten Moment wie leer aus. Dann wurde deutlich, daß die Pupillen nur zu etwas entsetzlich
Leblosem geschrumpft waren – viel lebloser noch als das teigige Ge sicht des Paters, auf dem sich ein seltsames Zickzackmuster abzeich nete, das knapp unterhalb der Tränensäcke einsetzte und sich wie ein Rand quer über das Gesicht zog. »War der Pater kahlköpfig?« fragte Moskowitz an seinem Torpedo vorbei. Der Pathologe schüttelte den Kopf. »Angeblich nicht. Aber wie du siehst, sind nicht nur die Kopfhaare verschwunden – er scheint auch nie Brauen besessen zu haben …« Beths Blick hing immer noch an den geblendeten Augen und den Konturen, die sich auf der Gesichtshaut des Toten fast plastisch ab zeichneten. »Als ob ihm jemand eine viel zu enge Gummikappe übergestülpt hätte …« Sie merkte kaum, daß sie den Gedanken laut aussprach. Ein Kommentar von den anderen kam nicht. »Ich werde versuchen, herauszufinden, woher die Spuren kom men und was ihn geblendet hat«, sagte der Pathologe. »Es scheint je denfalls ein Indiz dafür, daß der gute Mann an Dinge gerührt hat, die er besser hätte bleiben lassen sollen.« »Du meinst Schwarze Messen und so was?« fragte Moskowitz. Sein Bekannter zuckte die Achseln. Er deckte Lorrimer wieder zu. »Ich bin rätselhaften Todesfällen gegenüber grundsätzlich immer aufgeschlossen«, sagte er. »Sie sind das Salz in meiner Berufssuppe. Aber auf das hier –« er deutete auf den toten Pater, »– könnte ich verzichten. Macht draus, was ihr wollt, aber …« Ein Telefon an einem der Pfeiler, die die Betondecke trugen, summte. Der Pathologe hob ab. Den knappen Erwiderungen war nicht zu
entnehmen, worum es ging, aber nachdem er aufgelegt hatte, war es mit der Freundschaft zu Moskowitz erst einmal vorbei. »Besser, ihr geht jetzt«, sagte er fast mürrisch. Moskowitz musterte ihn erstaunt. »Probleme?« »Die werde ich kriegen.« »Wegen uns?« fragte Beth ahnungsvoll. Der Mann im weißen Kittel nickte. »Das war Codd.« »Codd?« entfuhr es Beth. »Codd persönlich?« »Höchstpersönlich«, erwiderte der Pathologe verdrießlich. »Er vergatterte mich gerade dazu, die Ergebnisse meiner Untersuchung an unserem rätselhaften Pater höchst vertraulich zu behandeln und ihm direkt zugehen zu lassen. Etwas spät, oder? Aber hätte ich ihm sagen sollen, wer gerade neben mir steht …?« Moskowitz klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. Mit Seiten blick auf Beth versprach er: »Nur keine grauen Haare, Freund. Mit uns kann man reden …« Er nickte Beth zu. »Oder etwa nicht?« Beth zuckte die Achseln. »Wir werden nichts Verfängliches verlauten lassen – zumindest vorläufig nicht. Wir haben genug Stoff, um das, was wir hier gese hen haben, vorläufig aus dem Spiel zu lassen.« »Das würdet ihr tun?« fragte der Pathologe mißtrauisch. »Im Gegenzug könntest du uns weiter auf dem laufenden halten«, bot Moskowitz völlig ernsthaft an. »Wir wollen dich doch nicht in die Bredouille bringen – aber wir wollen die ersten sein, die darüber berichten, wenn dein offizieller Maulkorb fällt und die Story sich als wertvoll erweisen sollte … Ist das ein faires Angebot?« Beth bezweifelte, daß es fair war, aber der Mediziner sagte: »Ich werde darüber nachdenken. Geht jetzt, bitte. Ich will nicht, daß euch jemand sieht, der mir daraus einen Strick drehen könnte …«
Sie verabschiedeten sich. Draußen im Wagen sagte Beth: »Merkwürdig, in welche Dinge sich Codd noch alles hineinhängt. Ich dachte, er hätte mit der Sache in der Paddington schon genug Streß. Daß er sich auch um eine Ge schichte wie Lorrimer kümmert …« »Kennen Sie Codd persönlich?« »Aus einigen Metern Distanz«, antwortete sie. »Recht unpersönlich. Es war immer noch mindestens eine Tür dazwischen …« Moskowitz lachte. »Ich mag Ihren Humor, MacKinsey!« »Danke. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von dem Kraut be haupten, das Sie paffen!« Moskowitz erstickte fast vor Lachen. »Es stört Sie?« »Nur beim Luftholen.« »Warum sagen Sie das erst jetzt?« Er kurbelte das Fenster herunter und schleuderte die Zigarre in den Rinnstein. »Mit mir kann man doch reden!« Beths Sprachlosigkeit hielt an, bis sie die Redaktion erreichten und sich ihre Wege erst einmal trennten. Moskowitz versprach, »ein paar besonders faszinierend-belanglose Bilder für Moe Marxx« herauszu suchen. Er wollte sich gleich ans Entwickeln machen. Beth setzte sich an ihren »Mac« und übte sich in schriftlicher Be langlosigkeit. Das Resultat legte sie ihrem Chef vor, der gerade mit anderem beschäftigt war, aber versprach, es sich anzusehen, sobald er etwas Luft habe … Luft war das Stichwort. Beth drängte es hinaus an die frische Luft. Wenn sie ehrlich war, interessierte sie das Rätsel um die genauen Todesumstände eines Paters immer noch sehr viel weniger als die Geheimnistuerei, die um das Sperrgebiet in der Paddington Street betrieben wurde.
Statt dorthin zu fahren, suchte sie die nächste Telefonzelle auf und wählte eine Nummer, die mit dem Eintrag in ihrem Notebook zu tun hatte, den sie bei Arbeitsantritt an diesem Morgen gelesen hatte: Nicht vergessen: Kontakt zu E.S. herstellen! E.S. hieß ausgeschrieben Esben Storm. Beth hatte den Namen erst vor ein paar Tagen auf allerlei Umwegen in die Finger bekommen. Bei den Recherchen für eine Geschichte, an der sie seit Jahr und Tag neben ihrer Tätigkeit für den SMH arbeitete. Storm sollte einer der wenigen Aborigines sein, die den Sprung in die Welt der Weißen geschafft hatten. Kauzig schien er trotzdem zu sein, denn angeblich betrieb er einen Laden in der Market Street, wo er Kultgegenstände seines Volkes nicht verkaufte, sondern tauschte. Unter den »zivilisierten« Ureinwohnern sollte es keinen intimeren Kenner des Traumzeit-Mythos geben, an dessen Verständlichma chung Beth arbeitete. Sie hatte ideelle Gründe dafür und hoffte, die Kluft zwischen Schwarz und Weiß etwas verringern zu können, wenn sie in einer breiten Bevölkerung Verständnis für die Riten und Religion der »Abos«, wie sie noch immer von vielen abfällig genannt wurden, weckte. Toleranz und Respekt Andersdenkenden gegenüber waren für Beth seit jeher mehr als leere Worthülsen gewesen. Vielleicht spielte dabei mit, daß sie selbst einer immer noch »verfolgten Minderheit« angehörte. Als Frau, die Frauen liebte, gewöhnte man sich an, über einiges nachzudenken, was für die meisten als selbstverständlich hingenommen wurde … Unter der gewählten Nummer, die Beth auf einem Zettel bei sich trug, hob niemand ab. Nicht einmal ein seelenloser Automat, der auf die ohnehin längst bemerkte Abwesenheit seines Besitzers hinwies. Beth verließ die Zelle, klaubte einen Strafzettel von der Scheibe ih
res widerrechtlich geparkten Minis, legte ihn ins Handschuhfach zu den anderen und fuhr zur Market Street, obwohl dies eigentlich kei nen Sinn machte, nachdem dort niemand zu Hause zu sein schien. Die vage Hoffnung, Esben Storm habe nur nicht abgehoben, weil er sich gerade um Kundschaft kümmerte, erwies sich als Trug schluß. Dem zwischen andere, wesentlich höhere Häuser gequetsch ten Laden war nicht einmal anzusehen, ob er noch existierte. Herun tergelassene, schiefe Rolläden vor beiden Schaufenstern und ein ver gitterter Eingangsbereich, dessen Tür mit einem Rollo ebenfalls neu gierige Blicke ausschloß, ließen Raum für Mutmaßungen in jeder Richtung. Auch das vergilbte Schild mit dem Hinweis Öffnungszei ten nach vorheriger Vereinbarung war kein Garant für Aktualität. Die Telefonnummer darunter war dieselbe, die Beth besaß. Schlau. Nach so vielen Positiverlebnissen entschloß sich Beth zu einem Abstecher nach Hause, um die private Post zu sichten. Danach war immer noch Zeit, sich die tägliche Abfuhr an der Polizeisperre Pad dington Street zu holen. Ein braunes Kuvert unter Bergen von Werbung und ein, zwei mü helos als Rechnungen erkennbare Umschläge weckten sofort Beths Aufmerksamkeit. Ein Absender stand auf dem großen Kuvert nicht zu lesen, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit erhöhte, daß wieder einmal jemand anonym sein Mißfallen über einen von ihren Zei tungsartikeln kundtun wollte. Das geschah immer mal wieder. Ihre Adresse war nicht so schwer herauszufinden, sie stand in jedem Te lefonbuch. Beth unternahm auch nichts dagegen. Im Gegenteil. Es gab Tage, da kramte sie in einem Schuhkarton voller anonymer Beschimpfungen und amüsierte sich königlich über Feigheit und Originalität der Verfasser.
Als sie dieses Kuvert aufriß, fand sie darin jedoch überhaupt kei nen Brief. Nur eine Art Namensliste und einen knappen, hand schriftlichen Vermerk, der lautete: Wir werden hoffentlich Gelegenheit haben, darüber zu reden, Macbeth. Wenn ich meinen »Spaziergang« über lebe, melde ich mich! Das war alles. Keine Unterschrift, nichts. Beth ging in ihre Wohnung und flegelte sich in ihren Lieblingsses sel. Dort sondierte sie den auf Computerpapier geschriebenen Aus druck, ohne den Sinn der Auflistung zu verstehen. Nur daß es eine Totenliste war, schien offensichtlich. Beth zählte durch und kam auf rund siebzig Namen, in der Mehr zahl Frauen, zu denen Wohnort und Todeszeitpunkt vermerkt wa ren: Millers Point, 1899, Annie Barkley Darling Harbour, 1948, Jennifer Bowl Woolloomooloo, 1973, Charlene King … Die Orte gehörten ausnahmslos zum Großraum Sydney; die Jah reszahlen umfaßten ein rundes Jahrhundert. Was das sollte, blieb ebenso unklar wie die Identität der Person, die Beth die Liste in unbekannter Absicht zugesandt hatte. Dennoch fühlte sie sich seltsam davon berührt. Ihre Intuition, auf die sie sich eigentlich immer verlassen konnte, flüsterte ihr ein, daß es wert war, der Sache nachzugehen. Vielleicht wollte der Absender nur abwarten, bis sie die Post erhal ten hatte, und würde sich dann telefonisch mit ihr in Verbindung setzen. Nach seinem »Spaziergang«, den er zu überleben hoffte … Beth schmunzelte, weil es sie amüsierte, von lauter Verrückten umgeben zu sein. »Okay«, murmelte sie. »Melde dich – wer immer du auch sein
magst …« Sie legte die Liste zur Seite, schmiegte ihren Kopf an die Sesselleh ne, schloß die Augen und träumte ein wenig von künftigen, besse ren Zeiten. Ohne dieses Aas Seven. Und ohne die Knüppel, die ihr von »wohlmeinenden Mit menschen« zwischen die Beine geworfen wurden …
* Clearwater besaß zwei Autos, die er normalerweise keinem verlieh: einen wuchtigen TransAm in aggressivem Metallicrot und einen et was älteren, silbergrauen Chrysler Voyager; beide US-Importe, und beide in erstaunlich gutem Zustand. Bei seinen fahrbaren Untersät zen schien der zuhälternde Hotelier mehr Sorgfalt anzuwenden als bei sich selbst. Sein Körper war bestimmt kein »Tempel«, wie es von Puristen gepredigt wurde, höchstens die Ruine eines solchen; Lilith konnte es beurteilen, denn Clearwater war der erste »Blutspender« gewesen, bei dem sie wirklich einen Anflug von Ekel verspürt hatte. Den Abend hatten sie noch abgewartet, ehe sie Clearwater um die Schlüssel für den Van baten. Der Mann, dessen Versuch, Luther zu erpressen, nach hinten los gegangen war, hatte keine Einwände erhoben. In seinem gegenwär tigen Zustand hätte er auch die eigene Hinrichtung ohne Wimper zucken per Unterschrift abgesegnet … Die Sonne versank am Horizont, als sie auf die Ausfallstraße nach Leichhardt wechselten. Duncan saß leicht gebeugt hinter dem Lenk rad, als würde ihn eine unsichtbare Last niederdrücken. Lilith, die in ihrem realen Leben selbst noch kein Auto gesteuert hatte, beobach
tete ihn besorgt. Eine seltsame Stimmung begleitete die knapp einstündige Fahrt. Duncan Luther hatte nicht näher beschreiben können, was ihn letztlich zu der verwegenen Behauptung verleitet hatte, er habe mit Personen telefoniert, die sich für seine Eltern ausgaben – nicht mit seiner richtigen Familie. Hilflos entsetzt hatte er auf Liliths zweifelnde Miene reagiert. »Wie soll ich etwas erklären, das ich nur fühlen konnte?« Über eine Stunde lang war er unansprechbar gewesen, und auch jetzt hielt dieser Zustand lähmender Furcht noch an. Lilith hatte ihm zunächst auszureden versucht, nach Leichhardt zu gehen. Allmählich begann sie ihre Skrupel, Duncan Luther hypno tisch zu beeinflussen, zu verfluchen. Nur mit Argumenten hatte er sich seine Idee nicht austreiben lassen. Lilith hegte sogar den Ver dacht, daß er ihr die wenigste Zeit überhaupt zugehört hatte. Dann hatte sie selbst etwas Verrücktes getan: Obwohl sie die gan ze Sache eigentlich nichts anging und es seinen Wahn nur unter stützte, hatte sie Luther angeboten, ihn zu begleiten! »Sie redeten wie meine Eltern«, murmelte Luther jetzt, da die ers ten Häuser des Ortes vor ihnen auftauchten, »aber in den Pausen zwischen ihren Worten lag etwas, das ich nie bei ihnen erlebt habe. Es war nicht einfach nur Stille – es war wie ein Vakuum. Das können nicht meine Eltern gewesen sein …!« Er suchte immer noch nach einer Rechtfertigung für die Konfusi on, die ihn nach dem Telefonat überwältigt hatte. Im Grunde, dachte Lilith, hatte ihn dieses Telefonat sogar mehr aus der Bahn geworfen als der Kampf gegen die Vampire. Es war schon grotesk. Er hatte ihr den Wortlaut des Gesprächs wiedergegeben, und sie
hatte nichts Besonderes daran finden können. Warum unterstützte sie ihn dann aber trotzdem …? »Wir sind gleich da«, flüsterte Luther. Er bog in eine Seitenstraße ein, die denselben gefälligen Charakter aufwies, wie er für Leich hardt insgesamt typisch zu sein schien. Der Ort vermittelte den Ein druck eines betulichen Ruhesitzes für Menschen, die sich beizeiten aus der Tretmühle des Berufsstresses ausgeklinkt hatten. »Es ist schön hier«, sagte Lilith, was sie dachte. Luther gab weder mit einem Nicken noch mit einer Bemerkung zu erkennen, ob er ihr beipflichtete. Sein Gesicht war verkrampft. Die Kiefer bissen so hart aufeinander, daß die Muskulatur an den Wan gen hervortrat. »Da vorne«, sagte er und wies auf ein weiß gestrichenes Haus, halb Holzkonstruktion, halb festes Backsteinmauerwerk, das von ei nem ausladenden Baum beschattet wurde. Obwohl das Tageslicht bereits soweit zurückgegangen war, daß sie die Scheinwerfer des Chrysler hatten anschalten müssen, brannte hinter den Fenstern nir gends Licht. »Sieht nicht aus, als wären sie zu Hause«, sagte Lilith. »Sie sind zu Hause«, erwiderte Luther, ohne zu erklären, woher er diese Überzeugung nahm. Lilith verzichtete auf eine Diskussion. »Halt an!« sagte sie nur. Die Schärfe ihrer Stimme ließ ihn fast mechanisch gehorchen. »Was ist?« fragte er ungeduldig. Der Motor summte im Leerlauf. Ein einzelnes Auto zog mit defektem Auspuff an ihnen vorbei. Die Fehlzündungen hörten sich an wie eine Maschinengewehrsalve. An sonsten zeigte sich kaum Verkehr. »Ich steige hier aus«, sagte Lilith und hoffte, daß er es akzeptieren würde, ohne lange nach Gründen zu stochern. Es hätte sie in die
Zwickmühle gebracht, denn sie wußte selbst nicht, was sie ritt. »Du kannst mitkommen. Ich vertraue dir.« Die Worte berührten sie seltsam. Zugleich begriff Lilith, daß der Mann neben ihr inständig hoffte, nicht allein zum Haus seiner Eltern gehen zu müssen. Was konnte noch grotesker sein …? »Nein«, erwiderte sie fest. »Du mußt dich schon allein lächerlich machen. Ich bereue bereits, dich begleitet zu haben.« Seine Mundwinkel fielen nach unten. Ausdruck seiner Bitterkeit. Lilith beschönigte ihre harten Worte auch im nachhinein nicht. Nicht nur sie, auch er mußte da durch … »Okay …« Er zeigte zur Beifahrertür. »Dann bis später. Ich lese dich hier wieder auf – oder wolltest du zurück laufen?« Sie lächelte nur. Als sie aus dem Van glitt, streifte ihr Blick Luthers Jacke, unter der Gefahr zu ihr herüberwisperte. Wenigstens, was das anging, hatte er auf sie gehört. Die Abendluft fächelte angenehm über Liliths Haut. Sie warf die Tür zurück ins Schloß und wartete ab, bis Luther wieder angefahren war. Etwa hundert Meter weiter leuchteten die Bremslichter wieder auf, als der Chrysler Voyager in eine schmale Einfahrt bog. Lilith sah, wie sich Luthers schemenhafte Konturen aus dem Wa gen schälten und zu seinem Elternhaus gingen. Sie schlenderte langsam das Trottoir entlang darauf zu. Sie bereute nicht wirklich, ihn begleitet zu haben. Aber sie begann, ihre Lüge zu bereuen. Lange bevor sie das Haus, in dem Duncan Luther verschwunden war, erreichte, nahm sie eine Witterung auf, die ahnen ließ, in wel che Gefahr sich ihr Lebensretter begeben hatte. Fast von selbst begannen ihre Beine, über den Gehsteig zu hasten.
Auf die tödliche Falle zu, die eigentlich nicht Duncan gelten konn te, sondern ihr...!
* Als sich die Haustür öffnete, wurde Duncan Luther für Sekunden schwarz vor Augen. Er zitterte und suchte Halt. Die kurze Schwäche ging jedoch vorbei. Ihm fehlte Schlaf. Und die Unschuld von gestern, als er noch nichts von der tatsäch lichen Existenz jener geahnt hatte, die seit Jahrhunderten durch die Sagen- und Legendenlandschaft geisterten … »Dun …!« Seine Mutter trug Lockenwickler und darüber ein durchsichtiges Plastikhäubchen. Das Licht, das von der Straße her einfiel, genügte völlig, um diese Details zu erkennen. »Wenn ich ge ahnt hätte … Ferris sagte nicht …« Duncan spürte einen Würgereiz in der Kehle. Seine Mutter blickte ihn so voller Liebe – und voll dunkler Befürchtungen – an, daß das allein seinen Verdacht schon als absurde Einbildung entlarvte. Ich habe mich geirrt, raunte es hinter Duncans Schläfen. Ich bin reif für einen Seelenklempner! Beschämt, aber ohne die erwartete Erleich terung zu empfinden, versuchte er ein Lächeln. Seine Mutter hatte mit ihren bald fünfzig Jahren noch immer dieselbe Pfirsichhaut, die ihn schon als Kind an ihr fasziniert hatte. Daß sie in Kleidungsfra gen wenig Geschmack besaß und nach dreißig Ehejahren immer noch nicht wußte, was zu ihrem Typ paßte, hatte Duncan nie ge stört. Und auch sein Vater schien es ihr nachzusehen. Die auch heu te noch offensichtlichen Vorzüge seiner Frau trösteten über manche modische Verwirrung hinweg, zu der auch die unverzagte Benut
zung längst antiquirter Lockenwickler gehörte. »Er wußte es selbst nicht. Es war … ein spontaner Entschluß.« »Wie schön.« Iris Luther gab die Tür erst frei, nachdem Duncan sich, wie üblich, zu ihr hinuntergebeugt und ihr einen Kuß auf die Wange gehaucht hatte. »Hat Dad dir ein neues Parfüm geschenkt?« fragte er. »Nein. Wieso?« Statt einer Antwort schüttelte er den Kopf und trat in den dunklen Gang. »Warum macht ihr kein Licht?« Sie schloß die Tür und folgte ihm. Er fühlte ihre Nähe auf andere Weise als sonst. »Wir hatten einen Kurzschluß. Du kennst ja deinen Vater. Er bas telt gern im Keller an irgendwelchen unnützen Dingen, die ich längst in den Müll geworfen hätte … Er ist schon dabei, die Siche rung auszutauschen.« Wie auf Stichwort flammte Licht im Gang und anderen Räumen des Hauses auf. Duncan merkte, wie unsichtbarer Druck von ihm wich, obwohl er immer noch das Gefühl vermißte, heimgekommen zu sein. »Wie konnte das mit Lorrimer nur passieren?« Er sah seine Mutter an. »Darüber wollte ich mit euch beiden reden – mit dir und Dad.« »Das wird ihn freuen.« Sie ging voraus, und er folgte ihr ins Wohnzimmer. Es war kühl. Die Kaminattrappe mit dem elektrischen Heizaggre gat mußte, wenn sie überhaupt eingeschaltet gewesen war, erst wie der auf Touren kommen. Sie verriet ebenso die britische Herkunft der Familie wie tausend weitere Details innerhalb des (wenn man
das ausgebaute Dachgeschoß mitrechnete) zweistöckigen Hauses. Seit Duncans Auszug hatte sich nichts verändert. Manchmal ver brachte er immer noch die Wochenenden hier. Aber obwohl es auch diesmal der Fall gewesen war und er seine Eltern vorgestern zuletzt gesehen hatte, machte es ihm Mühe, die übliche Vertrautheit herzu stellen. Überall war es peinlich sauber und aufgeräumt. Weder der Fernse her noch ein Radio oder der Plattenspieler liefen. »Ferris wird gleich kommen«, sagte seine Mutter, ohne daß er sie darauf ansprach. »Ja«, sagte er hohl. Sie setzten sich auf das alte, knarrende Sofa. Nicht einmal die neuere Überdecke konnte das Möbel davor bewahren, wie eine ver staubte Antiquität auszusehen. Es war Duncan vorher nie aufgefallen, wie konservativ sein Eltern haus war. Ein Wunder, daß er nicht völlig verknöchert war. Auf dem Flur erklangen Schritte. Sein Vater trug den Hausanzug, den seine Frau ihm vor vielen Jahren zu einem seiner Geburtstage geschenkt hatte. In einer vertraulichen Stunde hatte Ferris Luther seinem Sohn einmal gestanden, daß er dieses Teil haßte. Dennoch trug er es beinahe täglich, wenn er zu Hause war. Wer Duncans Vater näher kannte, wußte, daß dies eigentlich kein Widerspruch war. Er hätte seine Frau nie verletzt, nicht einmal ver bal, wenn er allen Grund dazu gehabt hätte, denn der Anzug war wirklich abscheulich. »Dun … Ich hatte nicht erwartet, daß du –« »– kommen würdest, ich weiß.« Duncan lächelte vage. »Eigentlich wollte ich nur sehen, ob es euch gut geht.«
»Uns gut geht …?« Sein Vater setzte sich in einen freien Sessel ihm gegenüber. »Du hattest schon immer einen etwas gewöhnungsbe dürftigen Humor!« »Wenn du Lorrimers Tod ansprichst …« »Was sonst? Du warst doch dort. Du weißt am besten, was passiert ist. Was niemand versteht – auch ich nicht, wenn ich ehrlich bin –, ist, warum du dich vor der Polizei gedrückt hast. Die Streife mußte erst hier vorbeikommen, damit wir erfuhren, was passiert ist. Die reine Freude war das nicht, wie du dir vorstellen kannst. In der Nachbarschaft …« »Dich hat doch früher nie geschert, was die Nachbarn sagen.« Ferris Luther stutzte kurz. Er schlang seine Hände ineinander und dehnte die Finger, bis sie knackten. Gegenüber Duncans Mutter wirkte er – trotz deren Lockenwickler – mindestens zwanzig Jahre älter. In Wirklichkeit waren sie nur fünf Jahre auseinander. Ferris Luther kämpfte beständig gegen leichtes Übergewicht, das sich hauptsächlich um die Taille äußerte. Er hatte lichtes weißes Haar und graumelierte Schläfen. Selbst die Augenbrauen waren weiß. Er konnte nichts dafür, daß er immer ein bißchen wie Santa Claus auf Sommerurlaub aussah. Ferris Luther war eine anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der Bibelforschung. Duncan hatte diese Leidenschaft vermutlich von ihm geerbt. »Nein«, gab sein Vater schließlich zu. »Aber das war früher.« Seine Mutter schaltete sich ein. »Dun, lieber Junge, wo ist denn deine hübsche Freundin? Du hättest sie ruhig mitbringen können. Wir beißen doch nicht …«
*
Lilith umrundete das Haus, dessen im Erdgeschoß liegende Fenster allesamt mit Läden verschlossen waren – bis auf ein einziges nach hinten hinaus. Die Haustür war, wie befürchtet und nicht anders erwartet, verrie gelt gewesen. Lilith spürte, wie sich ihre Nackenhärchen sträubten, als ihr klar wurde, daß sie sich gegen jede Logik verhielt. Sie war doch wehrlos! Die Waffe, die ihre Mutter ihr in Form des Kleides hinterlassen hatte, war für immer verloren. Ab sofort war sie völlig auf sich ge stellt, und wenn ihre entsetzliche Ahnung nicht trog, lieferte sie sich durch ihr jetziges, unsinniges Verhalten geradewegs selbst ans Mes ser! Flucht wäre die einzig logische Konsequenz gewesen, seit ihr das Mimikrykleid nicht mehr auf der Haut lag … Sie preßte die Nase an dem Fenster platt, aus dem Licht in den dunklen Hof fiel. Ihr Blick fand Duncan, der nicht allein war. Zwei Personen, denen Lilith nie zuvor begegnet war und die sie spontan haßte, saßen bei ihm. Lilith versteifte und fühlte die Entschlossenheit, die ihr bis hierher treu geblieben war, schwinden. Sie fröstelte, als sie sah, wie locker Duncan mit seinen Mördern plauderte.
*
Seine Mutter blinzelte vertraulich zu ihm herüber. »Meine Freundin?« echote Duncan. Sein Vater lehnte sich im Sessel zurück und schlug die Beine über einander. Er schürzte die Lippen und meinte: »Ein gesunder junger Mann in deinem Alter hat doch eine Freundin – und daß sie hübsch ist, nun, Junge, davon gehen wir einfach aus. Immerhin bist du mein Sohn!« Der scherzhafte Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein Vater ernst meinte, was er von sich gab. Das würgende Gefühl, das Duncan überwunden glaubte, kehrte mit Sodbrennen zurück. Hilfe, dachte er. Was geht hier vor? Meine Eltern würden nie … Seine Mutter rückte näher auf ihn zu. Er spürte ihr Drängen, als sie sich gegen ihn preßte. »Falls du aber wirklich noch nichts Nettes fürs Bett gefunden haben solltest«, offerierte sie mitfühlend, »darfst du dir ruhig bei mir Appetit holen.« »Mutter!« Duncan sprang auf. Er streifte ihre Berührung ab und stand sekun denlang wie zur Salzsäule erstarrt. Die Frau auf der Couch war nicht länger seine Mutter. An ihrer Stelle saß dort eine dunkelhaarige Schönheit, nicht älter als sechzehn Jahre. Sein Vater lächelte beschwichtigend. »Es muß dir nicht peinlich sein, Duncan. Du darfst sie dir nehmen, gleich hier und jetzt. Aber wenn du dich in meiner Gegenwart befangen fühlst, kann ich so lan ge unten im Keller weiterbasteln.« Duncan setzte sich wankend in Bewegung und stieß seinen Vater, als dieser sich ebenfalls erheben wollte, in den Sessel zurück. »Was … was ist hier los? Was ist mit meinen Eltern geschehen …?
« Als er sich umdrehte, hatte das Mädchen auf der Couch bereits die Bluse ausgezogen und nestelte an ihrem BH. Ihre spitze rote Zunge huschte über die schmalen Lippen, ohne eine feuchte Spur zu hin terlassen. In ihren Augen stand nackte Begierde geschrieben. Der BH fiel. Duncan Luther auch: endgültig aus allen Wolken. Er wollte zur Tür. Sein Vater war schneller. Genaugenommen hatte Duncan ihn noch nie auch nur annähernd so behende reagieren sehen. Mit einem unwiderstehlichen, raubtier haften Sprung nach vorn erreichte der beleibte Mann die Tür und stellte sich seinem Sohn mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Du darfst mich jetzt nicht enttäuschen, Junge. Gib dich ihr hin – sie hat so sehr darauf gewartet! Sie ist noch Jungfrau, weißt du?« Duncan versuchte seinen Vater mit beiden Händen zur Seite zu schieben. Von hinten legte sich eine Hand um seine Kehle und zerrte ihn herum. Vor ihm stand, nun völlig entblößt, die schwarzhaarige Sünde. Sie drängte sich gegen ihn; er spürte ihre festen, knospenden Brustwar zen durch den Stoff seines Hemdes. »Ja«, gurrte sie. »Wehr dich ein bißchen. Hör nicht auf deinen Vater. Er hat ja keine Ahnung. Es macht viel mehr Spaß, wenn du dich sträubst. Es ist normal …« Duncan kämpfte gegen das Verlangen, sie niederzuschlagen und damit endlich zum Schweigen zu bringen. Ihre zarten, feingliedrigen Hände packten zu – ähnlich kraftvoll wie sein Vater zuvor die Bewegung zur Tür vollzogen hatte – und fetzten ihm die Jacke vom Leib. Etwas stürzte dumpf zu Boden.
Und von diesem Moment an änderte sich ALLES.
* Lilith versuchte, die Fensterscheibe mit bloßen Fäusten einzuschla gen. Das Glas widerstand. »Dun …«, rann es über ihre Lippen. Ihr Blick schweifte zum Bo den. Den erstbesten Stein, den sie sichtete, hob sie auf und knallte ihn gegen das Fensterglas, das die volle Wucht wie eine Gummi wand zurückgab. Liliths Entsetzen wuchs. »Dun!« schrie sie, als sich die düstere Gestalt neben ihm zu ent blättern begann. Lilith sah nirgends jemanden, bei dem es sich um Duncans Eltern handeln konnte. Und ebensowenig schien er sie durch das Fenster draußen im Hof zu bemerken! Er redete und redete. Links und rechts von ihm saß der Tod in seiner häßlichsten Ge stalt. Vampire! Sie hatten hier gewartet. Sie hatten Duncan tatsächlich hierher gelockt! Seine Identität war sicherlich nicht schwer herauszufinden gewe sen, nachdem er den Mordbefehl in der Kirche so eigenwillig inter pretiert hatte, daß statt Lilith zwei von den Blutsaugern zu seinen Opfern geworden waren.
Trotzdem hatten sie schnell reagiert. Verflucht schnell. Vermutlich hatten sie darüber hinaus weitere Vorkehrungen getroffen, um doch noch an Lilith heranzukommen und sie auszuschalten. Leichhardt war gewiß nur eine Adresse, auf die man sich konzentrierte. Die Rechnung war simpel: Duncan Luther war mit Lilith durch die Kanalisation geflohen und untergetaucht. Offenbar hatte man die Spur verloren und sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Dun can hatte ihnen mit seinem Anruf einen Gefallen getan, auch wenn sie danach nicht hatten sicher sein können, daß er sich dort blicken lassen würde. Er war gekommen. Aber er hatte, genau wie Lilith, das wahre Ausmaß der Gefahr un terschätzt! Wie naiv! Ich bin nicht reif für diese Welt, dachte Lilith. Am liebsten wäre ich tot! Wie konnte Mutter mir das antun? So viele sterben …! Sie gab sich die Schuld an Duncans auswegloser Lage. In diesem Moment hätte sie sich mit bloßen Händen auf den Feind hinter der Scheibe gestürzt – aber das Glas schien unzerstörbar, und sie mußte hilflos mit ansehen, wie die Gefahr im Haus eskalierte. Endlich schien Duncan Luther zu begreifen, daß er sich nicht län ger wie ein Lamm zwischen Wölfen bewegen durfte. Er versuchte den Raum zu verlassen, wurde aber – was sonst? – daran gehindert. Lachend verstellte ihm der männliche Vampir den Weg. Die inzwischen völlig entblößte und ganz offensichtlich hocher regte Vampirin folgte. Lilith bekam eine trockene Kehle, als ihre Einbildungskraft das Unvermeidliche vorwegnahm und sie damit quälte, was die Vampi rin mit dem attraktiven Priesteranwärter anstellen würde, bevor ihr
Biß ihn entweder tötete oder vollends in ihre Gewalt brachte. Der Tod wäre noch die gnädigere Alternative gewesen. Sich Dun can Luther als Dienerkreatur vorzustellen, war der blanke Horror! Plötzlich keimte neue Hoffnung in Lilith auf. Der Dolch! dachte sie, als die geweihte Waffe aus Duncans Jacke fiel und beide Vampire mit verzerrten Gesichtern zurückzuckten. Warum Luther nicht früher danach gegriffen hatte, wußte Lilith nicht. Offenbar hatte er sich bis zu diesem Moment nicht in Todes gefahr gewähnt. »Heb ihn auf!« preßte Lilith hervor. Die Rolle der ohnmächtigen Zuschauerin war ihr nicht auf den Leib geschneidert. Sie verspürte plötzlich einen unwiderstehlichen Drang, sich den Vampiren entgegenzustellen, und zugleich fühlte sie sich keines wegs mehr hilflos. Sie glaubte an sich, und ganz im Hintergrund ih res Bewußtseins schienen die verklungenen Beschwörungsformeln ihrer toten Mutter noch einmal aufzulodern und Lilith zum Kampf aufzufordern. Sie hatte immer noch Angst. Aber nicht um sich, sondern um den Mann, den sie auf keinen Fall opfern wollte. Auf einmal schien alles so einfach: Sie verdankte ihm ihr Leben! Er durfte nicht sterben! Er durfte auch nicht zum Sklaven eines verdorbenen Wesens wer den, das ihn so lange aussaugen würde, bis ein einziger Sonnen strahl genügte, ihn zu vernichten! »Oh, Dun …!« Sie versuchte es noch einmal. Sie erinnerte sich ihrer Stärke. Instinktiv, ohne länger zu zaudern, nahm sie Anlauf und preschte mit gesenktem Haupt gegen das panzerglasharte Hindernis. Etwas mußte endlich in Trümmer gehen.
Es gab nur zwei Möglichkeiten. Das Fenster oder – ihr Schädel …
* Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Die Illusion, der er seit Betreten des Hauses aufgesessen war, erlosch, als würde jemand ein Streichholz gegen ein benzingetränktes Tuch halten, das auflohend verpuffte. Es liegt am Dolch, dachte Duncan Luther. Dieses unglaubliche Stück Holz hat den »Vorhang« zerschnitten … Er war felsenfest überzeugt, daß die Waffe, die er in einem ver schlossenen Koffer von den Vampiren erhalten hatte, um Lilith zu töten, der Grund dafür war, warum die magische Fata Morgana um ihn herum in sich zusammenstürzte wie ein Kartenhaus! Das aufreizende Girl zerlief wie kochendes Wachs. Dahinter kam eine hominide Gestalt zum Vorschein, die zwar immer noch weibli chen Geschlechts war, aber um Jahrzehnte älter und nicht halb so verführerisch. Ein eiskalter Engel, der mit provozierend kreisendem Becken vor ihm stand und ihn aus lüstern funkelnden Augen fixierte. »Kaarz paari!« verfiel das Wesen, das zu perfekt proportioniert war, um noch natürlich zu wirken, in fremden Zungenschlag, ehe es sich besann und »zivilisiert« hinzufügte: »Versuch es erst gar nicht! Ver such bloß nicht, dich danach zu bücken!« Das wächserne Gesicht der fremden Frau schien von innen heraus zu leuchten wie eine fahle, dunstverhangene Wintersonne. Ihre Lip pen waren – und Duncan hätte geschworen, daß kein Make-up da für verantwortlich war – lackschwarz, als flösse dunkler Lavabrei
statt Blut in ihren Adern. Ehe Duncan entscheiden konnte, ob er der Warnung folgen wollte, huschte die zweite Gestalt, die er für seinen Vater gehalten hatte, an ihm vorbei und warf ihren Umhang über den geweihten Dolch. Aus dem Cape schlugen hohe Flammen und machten es Duncan unmög lich, sich der Waffe darunter zu nähern. Damit schwand auch die letzte, hauchdünne Chance, diese Begegnung zu überleben. Das weibliche Wesen, das ihm zähnefletschend gegenüberstand, schien es nicht anders zu sehen. »Du hast keine Male«, fauchte die Vampirfratze vor ihm und fi xierte seinen Hals. »Ich verstehe nicht, wie sie ein Bürschchen wie dich links liegen lassen konnte …!« Er ahnte, was sie meinte, und ihn schauderte noch mehr, als ihm das eigentliche Problem bewußt wurde. »Wo sind meine Eltern?« schnarrte er. »Was – habt ihr mit ihnen gemacht?« Beide Vampire lachten unisono. Gelbgrüner Geifer lief ihnen aus den Mundwinkeln. Ihre Gesichter hatten ebenfalls gleichzeitig be gonnen zu mutieren. Knochen verschoben sich knirschend, bis das Wölfische darin Duncan verhöhnte. »Überlaß ihn mir!« fauchte das immer noch als »Frau« erkennbare Monstrum dem anderen, männlichen, zu. »O nein, er gehört uns beiden!« Es erschien Duncan wie ein Trep penwitz, daß nun auch noch um ihn als »Beute« gestritten wurde. Er dachte an Lilith. Sie war die einzige, die ihm jetzt vielleicht noch hätte helfen können. Aber sie war nicht hier. Sie … Eine Klaue mit gebogenen, spitzen Fingernägeln wickelte sich um sein Hemd. Unwiderstehlich packte das Mischwesen aus Vampir,
Frau und Wolf zu und zerrte ihn zu sich heran. Er versuchte sich dagegen zu stemmen. Seine Hände glitten über Brüste, die ihn abstießen, weil sie keiner Frau mehr, sondern einem zottig behaarten Tier zu gehören schienen. Röchelnd sog er die Luft ein. Schrie wie noch nie in seinem Leben. Die Schreie schienen von den Wänden auf ihn zurückzustürzen und seine Trommelfelle zu zerreißen. Kein Laut, das ahnte er, entwich diesem Haus, das nicht fremder hätte sein können, obwohl er darin groß geworden war. Plötzlich bekam er eine Ahnung davon, wie Lilith sich fühlte. Wie einsam und verloren … Zu spät! Duncan seufzte. Es war tatsächlich zu spät, die Frau zu bemitleiden, die mitverant wortlich für seine hoffnungslose Lage war. Nicht sie, er war in die Falle gegangen. Und was für eine Falle … »Ich heiße Henna«, schmeichelte die abscheuliche Kreatur, ehe sie ihn spielerisch meterweit auf das Sofa schleuderte und augenblick lich nachsetzte. Duncan prallte hart gegen die Polsterung. Wie betäubt nahm er das Wutgebrüll des anderen Vampirs wahr, der offenbar fürchtete, leer auszugehen. »Denk dran: Er gehört uns beiden …!« Duncan wollte nicht wissen, woran das abscheuliche Wesen vor ihm wirk lich dachte. Messerscharfe Klauen fetzten ihm die Kleider vom Leib und zeichneten blutige Schrammen auf seine Haut. »Aufhören!« schrie er. »Im Namen des All-« Die Pranke schlug nach oben, quetschte seinen Mund zusammen und ließ die Unterlippe platzen.
Blut spritzte.. »Verschwenderin!« hörte Duncan aus dem Hintergrund. »Vergeu de nicht den kostbaren Saft …!« Er achtete nicht länger darauf. Sie kam über ihn. »So geht das nicht!« keuchte sie. »Ein wenig mußt du schon wollen, sonst …« Er ertrank in ihren flammenden Augen. Ihr Verlangen sog ihn auf. Sein Widerstand erlosch, und als er dann noch spürte, wie sich et was bei ihm zu regen begann, wollte er vor Scham und Wut im Bo den versinken. Doch auch dieser Anflug normaler Empfindung verging. Henna gab ihm Zuckerbrot und Peitsche. Mit lustschwankender Stimme soufflierte sie ihm ihre Wünsche. Sie lag über ihm. Sie strei chelte seine Blöße mit der Zärtlichkeit einer Rasierklinge. »Ja!« keuchte sie. »Komm zu mir! Bring dein Blut in Wallung – um so köstlicher wird es munden! Komm …!« Duncan versuchte, sein Bewußtsein von dem, was sein Körper ihm antat, abzuschotten. Es gelang nicht. Er erlebte alles mit einer Schärfe, die ihn löwenhaft weiter den aus sichtslosen Kampf gegen den aufgezwungenen, fremden Willen füh ren ließ. »Ja!« stöhnte es an seinem Ohr. »Gut so, ja … Ich wußte –« In diesem Moment krachte es in unmittelbarer Nähe fürchterlich, und etwas flog heran. Finger mit sichelförmigen, schwarzlackierten Nägeln krallten sich in das fließend schwarze Haar der Blutsaugerin und rissen die grau enhafte Fratze von Duncan zurück. Eine andere Hand grub sich mit
gespreizten Fingern in den Rücken der vor Verblüffung erstarrten Höllenkreatur. Duncan registrierte nur voller Erleichterung, daß die fremde Last von ihm abfiel. Sekundenlang blieb er reglos auf dem Sofa liegen, unfähig, sich zu rühren. In dieser Zeit spielte sich vor ihm ein Kampf ab, den er nur bruch stückhaft verschwommen wahrnahm. Eine absolut mörderische Auseinandersetzung, die demonstrierte, wie trügerisch Liliths anmutiges Äußeres in Situationen wie dieser war. Sie wirbelte wie ein Hurrikan unter den beiden Vampiren, die Lu ther das Idyll seiner Familie vorgegaukelt hatten. Grauenvolle Schreie hallten von den Wänden wider. Drei Leiber vermengten sich zu einem am Boden ringenden Knäuel, in dem sich kaum noch unterscheiden ließ, wem welches Körperteil zuzuordnen war. Keine Minute währte der gespenstisch gnadenlose Kampf, der ei gentlich nur einen Sieger kennen konnte. Zwei gegen eine. Und Lilith war ohne Waffe, die ihr vielleicht einen Vorteil hätte verschaffen können! Dennoch war sie die Siegerin! Duncan wollte es nicht glauben, als die Schreie nacheinander erstarben und Lilith unter den Besiegten hervorkroch. Ihr mähniges Haar war durchzaust, aber die Wunden, die ihr zugefügt worden waren, begannen sich bereits zu schließen, als sie neben Duncan nie derkniete und ihn untersuchte. Er zuckte vor ihrer Berührung zurück. Furcht malte sich in sein Gesicht, aber ihre sanfte Stimme beruhig
te ihn, und er war dankbar, daß ihr keine spöttische Bemerkung über sein Aussehen herausrutschte. Spott hätte er in diesem Mo ment nicht ertragen. Während sie ihm etwas reichte, mit dem er seine Blöße notdürftig bedecken konnte, glitt sein Blick zu dem schaurigen Prozeß, der die Leiber der Getöteten erfaßte. »Staub zu Staub …«, rann es über seine Lippen, doch dann ver kniff er sich weiteres, weil es ihm wie eine Gotteslästerung vorkam, Sätze der Bibel auf Kreaturen wie diese anzuwenden. Dennoch blieb sein Blick wie gebannt an den zerfallenden Hüllen haften, deren Ge sichter um hundertachtzig Grad auf den Rücken gedreht waren und die diese Übung nicht vertragen hatten. Lilith hatte ihnen das Genick gebrochen. »Es mußte sein«, hörte er ihre Stimme, als könnte sie in seinen Ge danken lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. »Sie hätten Schlimmeres mit dir getan!« Er wußte, daß sie recht hatte. Er wußte, daß es keinen Grund gab, sie für etwas zu verurteilen, was sein Leben gerettet hatte. »Jetzt sind wir quitt …« Er merkte kaum, daß er laut gesprochen hatte. Aber in ihren Au gen blitzte es kurz auf, was zeigte, daß sie es genau notierte. Sie wartete geduldig, bis er die fehlenden Teile seiner Kleidung zusammengesucht und sich wieder einigermaßen in Form gebracht hatte. Über den Sexüberfall der Vampirin verlor sie im nachhinein kein Wort mehr. Plötzlich konnte Duncan nicht mehr an sich halten. Er flüchtete in die Toilette und übergab sich. Der Mageninhalt kam gallebitter nach oben, begleitet von Ausbrüchen kalten Schweißes und dem Gefühl, zu ersticken.
Als er sich endlich wieder erhob und die Spülung betätigte, ging es ihm eine Idee besser. Doch seine Gedanken kreisten um etwas, wovon er bereits ahnte, daß es ihn wahrscheinlich endgültig aus der Bahn werfen würde. Lilith wartete draußen vor der Tür. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn aus dem Haus. »Nein!« wehrte er sich. »Ich muß –« Sie schüttelte den Kopf. »Tu dir das nicht an«, sagte sie, ebenso mitfühlend wie eindringlich. »Während du drinnen warst, habe ich sie gefunden …« »Meine Eltern?« Lilith nickte. Ihre Haut schien noch bleicher als sonst. Kühl wie Alabaster. »Wo sind sie? Was ist mit ihnen?« Eine vernichtendere Antwort als ihr Schweigen hätte es nicht ge ben können. Er machte sich von ihr los. »Ich will sie sehen!« »Das lasse ich nicht zu.« Sie packte wieder seinen Arm. Stählern. »Warum nicht?« Sein Blick flackerte. »Weil es zu … entwürdigend ist!« »Laß mich, bitte! Du verstehst das nicht: Ich muß sie sehen! Ich muß wissen, was ihnen angetan wurde!« »Sie sind tot.« Er nickte wie eine mechanische Puppe. »Aber das kann nicht alles sein …« »Nein«, sagte sie. Endlich ließ sie los. Ihr Blick verriet die Richtung. Duncan stolperte durch den Gang zur Treppe, die in die Schlafräu
me führte. Wind stemmte sich dagegen, als er die Tür des elterlichen Schlafzimmers öffnete. Das Fenster stand offen. Duncan knipste das Licht an und sah, was Lilith auch ohne Licht gesehen hatte. Seine Eltern mußten tief und fest geschlafen haben, als das Unheil über sie kam. Als sie abgeschlachtet worden waren. Abgeschlachtet … Ein anderes Wort gab es nicht dafür! Duncan taumelte zurück und begriff, daß er sich überschätzt hatte. Ich hätte auf sie hören sollen, dachte er benommen. Er ging an Lilith vorbei zurück nach unten und verschwand minu tenlang in der Garage, ohne daß Lilith ihm folgte. Als er zurück kehrte, trug er einen offenen Kanister bei sich, den er wahllos im Erdgeschoß zu entleeren begann. »Was machst du da …?« Er hielt kurz inne. Sein Gesicht war geronnener Schmerz. »Du hattest recht: Niemand sollte sie so sehen – und ich werde dafür sorgen, daß es nicht geschieht!« Sie schien zu überlegen, ob sie ihn hindern sollte. Als das Streich holz aufflammte und in hohem Bogen durch die Luft segelte, war es zu spät. Lilith riß ihn herum und zerrte ihn zum Ausgang. Sie sparte sich Vorwürfe. Der leere Kanister entfiel seiner Hand. Wie eine Mario nette ließ er sich zum Wagen führen, den diesmal Lilith fuhr, weil er dazu außerstande war. Sie löste die Aufgabe, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie bogen aus der Straße, als die Flammen Fenster zerspringen lie ßen und auch ins Freie zu schlagen begannen. Als sie Leichhardt verließen, hörten sie das ferne Sirenengeräusch eines Krankenwagens oder Feuerwehrautos. Duncan saß bewe
gungslos neben ihr. Seine Augen waren stumpf. So fuhren sie nach Sydney zurück, wo das nächste Fiasko wartete.
* Der Dolch fiel ihr erst ein, als es keine Möglichkeit mehr gab, ihn zu bergen. Auch Luther schien ihn vergessen zu haben, und so war er – wenn er nicht schon vorher vernichtet wurde – längst Opfer der Flammen geworden! Lilith seufzte, aber sie trauerte der Waffe nicht nach, deren Nähe und Ausstrahlung ihr selbst zugesetzt hatte. Sie wußte inzwischen, daß sie auch ohne das Erbstück ihrer Mutter, das Mimikrykleid, nicht so ausgeliefert war wie zunächst befürchtet. Die Art, wie sie Luther zu Hilfe gekommen war, hatte ihr die Au gen geöffnet. Sie verfügte über Gaben und Möglichkeiten, die sie bis jetzt noch nicht einmal annähernd ausgelotet hatte. Sie selbst war eine Waffe – und ein Schlüssel – und … Das Überwinden der magischen Sperre, mit der die Vampire Lu thers Elternhaus umgeben hatten, hatte Lilith an das Durchschreiten der Siegel ihres Geburtshauses erinnert. Nur war es hier – einmal versucht – viel einfacher gewesen! Die eigentliche Überraschung aber war, welche Finesse und Kraft sie im direkten, hautnahen Kampf entwickelt hatte. Sie hatte das Kämpfen nicht gelernt; es schien ihr in die Wiege ge legt worden zu sein wie das Verlangen, auch sexuell stets bis ans äu ßerste Limit zu gehen … Der instinktive Tritt auf die Bremse riß Lilith und Duncan Luther aus ihren Gedanken. Zuckendes Licht durchdrang die Nacht dort, wo sich Homer
Clearwaters Billigabsteige erhob. Streifenwagen standen vor dem Eingang aufgereiht. Ein Ambulanzfahrzeug fuhr gerade an. »Da stimmt etwas nicht«, flüsterte Lilith. »Wirklich?« Luther machte in Sarkasmus. In Anbetracht der Um stände eine normale Art der Abreaktion. Lilith hörte nicht auf ihn. Als jemand an dem Chrysler Voyager vorbeilief, senkte sie die Scheibe auf der Fahrerseite und rief dem Unbekannten zu: »Wissen Sie, was dort vorn los ist?« Der Angesprochene zuckte die Achseln, blieb aber kurz stehen. »Jemand wurde ziemlich übel umgebracht. Soll der Besitzer selbst sein.« Lilith betätigte den elektrischen Fensterheber, wandte sich an Lu ther und sagte, obwohl er mitgehört hatte: »Es ist Clearwater. Sie ha ben ihn meinetwegen getötet!« »Sie?« »Von wem rede ich wohl? Von denselben, die deine –« Sie brach ab. Er hatte auch so verstanden. »Und wieso deinetwegen? Wie soll ten sie gewußt haben, daß wir hier unterkrochen? Clearwater hat be stimmt nichts verraten. Er hat dir doch aus der Hand gefressen …« »Vielleicht mußte er gerade deshalb sterben. Vielleicht hinterlasse ich eine Fährte, die mir noch nicht bewußt ist … Ich weiß es nicht. Vielleicht sind sie auch nur gewiefter als zunächst angenommen …« »Und jetzt?« »Erst mal weg hier!« »Laß mich ans Steuer! Rutsch rüber!« Sie hatte nichts dagegen. Absolut nicht. Erstens, weil Autofahren nicht unbedingt zu ihrem bevorzugten Zeitvertreib zählte, und zweitens, weil sie schon lange an kaum etwas anderes denken konn
te, als endlich einmal über Duncan zu »rutschen«. Sie stellte sich ab sichtlich etwas ungeschickt an, verlor das Gleichgewicht und lande te federnd auf seinem Schoß. Ihr Arm schlang sich um seinen Nacken – natürlich nur, um weiteres Malheur zu vermeiden. Dun can fluchte. Trotzdem fühlte er sich gut an. Um herauszufinden, wie gut, blieb leider wieder einmal keine Zeit. Lilith bezweifelte allmäh lich selbst, daß ihre Moral nach menschlichen Maßstäben zu messen war. Wie sonst hätte sie nach den blutigen Vorkommnissen in Leich hardt und dem mutmaßlichen Mord an Clearwater schon wieder an dieses Eine denken können? Sie brachte es hinter sich. »Entschuldigung«, hauchte sie und zwängte sich endgültig an ihm vorbei. »Wir hätten auch aussteigen und ganz normal die Plätze tauschen können«, sagte er. »Viel zu auffällig!« widersprach sie. Ob er wirklich so cool war, wie er vorgab, wagte sie zu bezweifeln. Mittlerweile hatte sie ein Gespür für die Wirkung, die sie bei Män nern erzielte, entwickelt. Dennoch ließ sie es erst einmal gut sein. »Okay, dann fahr los …« Sie warf einen Blick zum Treiben beim Hotel, und in diesem Mo ment geschah es. Sie ächzte. Ihre Hände krallten sich zur Linken in Duncans Bein, und zur Rechten in das Sitzpolster. »Heh!« rief er, mehr vor Überraschung denn vor Schmerz. »Was ist denn jetzt wieder …?« Er verstummte. Möglicherweise hörte Lilith ihn auch einfach nicht mehr. Weil sie ertaubte! Weil sie erblindete! Weil Hitze und Kälte wie aufeinanderfolgende Wellen durch ihren Körper sengten oder klirrten!
Da war ein plötzlicher Sog. Keiner, der an ihr rüttelte, sondern ei ner, den sie verursachte. Sie hing völlig verkrampft im Sitz des Van und hatte das entsetzliche Gefühl, Magnet für etwas zu sein, das noch fern war, aber unaufhaltsam näherrückte! Etwas Abscheulich-Bedrohliches … Die Vampire, die schon wieder neu ihre Spur aufgenommen hat ten? Gab es etwas in ihr, von dem sie nichts wußte und das ihren Feinden immer wieder den Weg zu ihr wies …? Daß sie überhaupt noch einen Gedanken fassen konnte, war ein Wunder. Die totale Abschottung ihrer Sinne schritt mit beängstigen dem Tempo voran. Umgeben von Schwärze und Stille und auch körperlicher Taubheit zog Lilith die unbekannte Bedrohung immer näher zu sich heran! Die Isolation endete erst, als Duncans Stimme den Weg durch die schwarzen Nebel fand. »… endlich auf! Komm wieder zu dir!« Der Sog verschwand so plötzlich, wie er eingesetzt hatte, aber ihr Gehirn kam Lilith auch danach noch morsch wie ein ausgetrockne ter Schwamm vor. Sie schlug blinzelnd die Augen auf und blickte sich um. Sofort wurde sie von Panik überwältigt. Sie war allein! Sie saß nicht mehr in dem Wagen, den sie sich von Clearwater »geliehen« hatten, son dern lag in einem fremden Bett. Wo war Duncan? Wo, bei allen Sturmgeistern – war sie...?
* Elisabeth MacKinsey war frustriert, obwohl Moe Marxx ihre eher la sche Co-Leistung mit Moskowitz unverständlicherweise über den
grünen Klee gelobt hatte. Sie fühlte sich beruflich und privat in einer Sackgasse. Die Story mit dem Pater bot nicht annähernd das Potenti al wie das, was in der Paddington Street vorging. Leider kam sie dort nicht einmal schleppend voran. Alle Quellen, die sie anzuzapfen versucht hatte, um die behördlich verordnete Nachrichtensperre zu umschiffen, hatten passen müssen. Niemand, außer dem harten Kern um Polizeichef Codd und Bürgermeister Weinberg, schien etwas anderes als Gerüchte liefern zu können! Obwohl die Angelegenheit mit jedem verstreichenden Tag myste riöser wurde (inzwischen war sogar der Luftraum über dem Viertel zum Sperrbereich erklärt worden), krankte die Berichterstattung al ler Medien daran, daß sie sich nur auf Gerüchte berufen konnten. Was immer eifrige Reporter sagten oder schrieben, wurde offiziell weder bestätigt noch dementiert. Andererseits schreckte Virgil Codd, wie Beth am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, nicht davor zurück, allzu hartnäckige »Wühler« offen unter Druck zu set zen … »Ich wußte immer, daß ich einen Traumjob gewählt habe«, mur melte Beth. Sie hatte es sich mit Block und Bleistift zu Hause auf der Couch bequem gemacht und eine Weile über der seltsamen Na mensauflistung gebrütet, die ihr ein Anonymus zugeschickt hatte. Ein Freund bei der Einwohnermeldebehörde wollte ihr weiterhelfen, hatte sich aber etwas Zeit erbeten. Er hatte sich noch nicht wieder gemeldet. Beths neuester Versuch, eine behördliche Genehmigung zum Be treten des »Sperrgebiets Paddington Street« zu erhalten, war wie derum kaltlächelnd, ohne jede Begründung, abgeschmettert wor den. Zwischendurch war sie auf die Idee gekommen, daß vielleicht die ser Aboriginal, den sie schon ein paarmal zu kontaktieren versucht hatte, etwas über die rätselhaften Vorgänge wissen könnte.
Wenn Esben Storm auch nur annähernd der Meinung entsprach, die Beth vom bloßen Hörensagen gewonnen hatte, gehörte er zu je ner Sorte Mensch, die sich stets für alles interessierte, was in ihrer Umgebung vorging. Und sagte man den Aborigines allgemein nicht ein ganz spezielles Feingefühl für Veränderungen jeglicher Art nach? Wenn man die Essenz aus allen Gerüchten zusammenfaßte, dann ging es in der Paddington Street nicht ganz geheuer zu. Dies aber erst einmal zu akzeptieren, war für Menschen mit festgefügtem Weltbild – auch für Beth – wesentlich schwerer als für jemanden, der mit einer mystisch verklärten Weltanschauung großgeworden war. Aborigines glaubten an Schöpferwesen, die in grauer Vorzeit (die Eingeborenen nannten es »die Traumzeit«) von Ort zu Ort gewan dert waren und alle heute existierenden Dinge und Lebewesen er schaffen hatten, indem sie ihnen Namen gaben. Nach der Legende existierten diese Schöpferwesen auch heute noch in jedem kleinsten Stück Natur. Für die Aborigines war ein Fels viel mehr als toter Stein. Und jedem noch so stinkenden Tümpel wohnte nach ihrer Auffassung mehr Spiritualität inne als allen Kirchen und Köpfen des Weißen Mannes zusammen …! Beth grinste bei der Vorstellung, daß die Aborigines damit viel leicht nicht einmal so daneben lagen. Ehe sie einen weiteren Versuch startete, Esben Storm anzurufen, läutete es an der Tür. Beths Blick schweifte erstaunt zur Uhr. Kurz vor elf. So spät erwartete sie keinen Besuch mehr. Geschmeidig glitt sie von der Couch. Sie holte die handliche Pisto le aus einem Kommodenfach, die sie sich irgendwann einmal zuge
legt hatte, als manche Reaktionen auf ihren unverblümten Stil der Berichterstattung allzu »persönlich« wurden, und überzeugte sich davon, daß sie durchgeladen war. Benutzt hatte sie sie noch nie. Glücklicherweise. Wenn es jedoch einmal sein mußte, würde sie es tun, darüber gab es für sie keinen Zweifel. Die Pistole in der Tasche ihres weiten Hosenrocks, den Finger am Abzug, ging sie zur Tür. Im Spionauge war nur ein blonder Haar schopf zu sehen. Der Besucher drehte ihr den Rücken zu. »Ja?« Beth verlieh ihrer Stimme einen festen Klang. »Wer ist da?« Der Mann drehte sich um. »Macbeth?« drang es gehetzt durch die Tür. Beth ließ die Pistole los und öffnete. Ein warmes Gefühl durch strömte sie. So war es immer gewesen. Auch wenn manchmal Jahre zwischen ihren Wiederbegegnungen gelegen hatten. »Wie lange haben wir zwei uns nicht mehr gesehen?« begrüßte sie ihn. »Warst du gerade in der Nähe? Mein Gott, bin ich froh, daß ich nicht umgezogen bin. Vor ein paar Wochen hatte ich ein verführeri sches Angebot …« »Bist du allein?« unterbrach er sie. Sie nickte. »Komm rein! Als ob du geahnt hättest, daß ich jeman den zum Ankuscheln und Reden brauche …« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, du mißverstehst das. Natür lich können wir reden. Später. Im Moment habe ich ein … Problem. Mir fiel niemand anderes ein, der mir helfen könnte …« »Tolles Kompliment!« Beth grinste. Offenheit war nie ein Problem zwischen ihnen gewesen. Warum kann es nicht genauso mit einer Frau sein? haderte sie. Warum kann ER keine Frau sein? »So meine ich es nicht …« »Ich weiß. Komm endlich rein!«
»Das geht nicht. Ich – bin nicht allein.« Sie verstand, schluckte die Enttäuschung aber hinunter. »Eine Freundin? Wo ist sie?« »Eher eine … Bekannte.« Er schien nicht einmal zu lügen. »Sie ist noch unten im Auto. Es geht ihr nicht sonderlich. Offen gestanden weiß ich nicht, was sie hat. Es kam ganz plötzlich.« »Warum seid ihr nicht zum nächsten Krankenhaus gefahren?« Er kniff die Lippen zusammen, und sie sah ein, daß es sinnlos war, im Moment mehr aus ihm herauskitzeln zu wollen. »Komm, du Problemfall!« Sie fischte die Wohnungsschlüssel vom Haken und folgte ihm nach unten. »Wahrscheinlich kommen wir deshalb so gut miteinander klar, weil wir beide einen Hang für Komplikationen haben …« Er parkte im dunkelsten Eck des Hofes, der zum Apartmenthaus gehörte. Als er den Van öffnete und Beth an sich vorbei ließ, spürte sie zum ersten Mal, daß er teuflische Angst vor etwas zu haben schi en. Diese Angst ging weit über die normale Sorge hinaus, die man für einen anderen, der nur ein »Bekannter« war, entwickelte. Das Innenlicht sprang an. Beth war betroffen von der Schönheit der Frau, die ohnmächtig im Gurt hing. »Ich habe sie angegurtet«, sagte Duncan Luther. »Sie rutschte dau ernd weg!« »Ist sie Epileptikerin?« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.« Beth tastete nach dem Puls. Er raste. »Wir müssen sie sofort zu einem Arzt bringen!« »Das geht nicht!« Er hob beschwörend die Hände, und erst jetzt fiel ihr auf, wie abgerissen er daherkam. »Wenn das ginge, wäre ich
nicht hergekommen. Aber es geht wirklich nicht …!« »Warum nicht?« »Das kann ich dir nicht sagen. Du würdest mich für völlig me schugge halten.« »Das tue ich auch jetzt schon.« Als sie erkannte, daß seine Weigerung, ihr reinen Wein einzu schenken, ihn selbst belastete, lenkte sie ein. »Okay, ich weiß nicht, warum ich mich darauf einlasse – aber brin gen wir sie nach oben! Wenn sich ihr Zustand in ein paar Minuten aber noch nicht gebessert hat, kannst du Gift darauf nehmen, daß ein Doc sich ihrer annimmt – ganz egal, ob dir das recht ist oder nicht!« Er schien nur ihre Einwilligung zu hören. »Danke!« »Bedanke dich lieber nicht. Wenn sich herausstellt, daß du der Kleinen das Herz gebrochen hast und sie deshalb so daliegt, fangen deine Schwierigkeiten erst an!« »Das habe ich nicht«, versicherte Duncan Luther. »Laß uns schnell machen. Ich will nicht, daß uns jemand sieht …« »Klingt, als wärt ihr auf der Flucht!« Beths Lächeln erlosch und machte der Erkenntnis Platz: »Großer Gott – ihr seid auf der Flucht …!«
* Als die Tür aufging und Duncan hereinkam, beruhigte sich Lilith schlagartig. Seine Nähe übte heilsamen Einfluß aus. »Dir scheint es wieder besser zu gehen«, sagte er und zog einen Stuhl heran, um sich neben das Kopfende des Bettes zu setzen. »Was
war los?« »Wo sind wir?« stellte sie die Gegenfrage. »Vorerst in Sicherheit. Eine alte Freundin aus Studententagen hat uns bei sich aufgenommen. Sie half mir, dich ins Bett zu stecken. Et was Besseres fiel mir nicht ein. Ich glaube nicht, daß dir daran gele gen gewesen wäre, einen Arzt zu konsultieren …« Er hatte recht, aber Lilith fand es nicht nötig, darauf einzugehen. »Weiß diese ›Freundin‹ über mich … Bescheid?« Er verneinte. Lilith fiel auf, daß seine Augen schwarzumrändert waren. »Wie lange war ich ohne Bewußtsein?« »Knapp zwei Stunden.« »So lange …?« »Woran kannst du dich noch erinnern?« Sie zögerte, erzählte dann aber von dem Sog (ein treffenderes Wort fand sie nicht), als dessen Quelle sie sich selbst empfunden hatte. Und von dem Bedrohlichen, das von ihr angezogen worden war. »Und jetzt?« fragte er. »Jetzt ist alles wieder wie vorher. Ich fühle mich topfit. Was hast du dieser – wie hieß sie gleich? – erzählt?« »Sie heißt Beth, zumindest hört sie das am liebsten. Spitzname: Macbeth. Offiziell: Elisabeth MacKinsey. Such dir was aus … Aber wie auch immer, ich habe ihr eine ziemlich hanebüchene Story auf getischt. Daß du auf der ›Flucht‹ vor deinem brutalen Ehemann bist, der dich nicht freigeben will. Und daß mir auf der Suche nach einer vorläufigen Bleibe für dich kein geeigneterer Samariter einfiel als eben Beth …« »Ziemlich dick aufgetragen.« »Die Wahrheit hätte sie erst richtig umgehauen.« »Vermutlich.«
»Bestimmt.« Eine Weile schwiegen sie. »Warum tust du das alles?« fragte Lilith schließlich. Seine offensichtliche Erschöpfung machte ihn noch sympathischer. »Weil ich einen Narren an dir gefressen habe …« Er lächelte schwach. »Oder einfach nur, weil ich – verdammt noch mal – nicht mehr ein und aus weiß. Damit verbindet uns doch genug, oder?« »Darf jemand wie du fluchen?« »Jemand wie ich …« Er massierte sich mit beiden Händen das Ge sicht. »Ich fürchte, ich bin da in eine Sinn- und Identitätskrise gestol pert. Ich weiß momentan weder, wer ich bin noch was ich will. Na türlich bist du daran völlig unschuldig …« »Danke«, sagte sie. »Das beruhigt.« »Soll es auch.« Er stand auf. »Du sollst nämlich jetzt erst einmal schlafen. Dich erholen. Ich lege keinen Wert darauf, dich noch ein mal ein paar Treppen herauf- oder herunterzuschleppen.« »Du hattest Hilfe«, lächelte sie. »Die Hilfe wartet draußen im Wohnzimmer«, nickte Duncan. »Und ich fürchte, sie wartet auch, um mir noch eine Reihe unange nehmer Fragen zu stellen.« »Du wirst das schon machen.« »Natürlich.« Der Anflug eines Lächelns huschte auch über seine Züge. Mehr wäre vermutlich zuviel verlangt gewesen. Er hatte seine Eltern verloren. Auch wenn er es jetzt nicht zeigte, würde er allein daran noch eine lange Weile zu knabbern haben. »Schlaf gut. Bis morgen früh.« »Und du? Wo schläfst du? Du brauchst Schlaf vielleicht nötiger als ich!« »Auf dem Sofa. Ein Sofa findet sich immer.«
»Und dieses Bett?« »Gehört Beth.« »Dann schläft sie bei dir?« »Es ist ein großes Sofa.« Lilith seufzte. »Die Glückliche.« Er seufzte auch. »Vielleicht zieht sie es ja vor, sich zu dir zu legen.« Er ging zur Tür, löschte das Licht und schlüpfte mit einem letzten Gruß aus dem Zimmer. »Das könnte nett werden«, murmelte Lilith, in die jäh zurückkeh rende Einsamkeit stürzend. Geh nicht, schickte sie Duncan ohne Hoffnung hinterher. Ich kenne deinen Schmerz – aber geh bitte nicht. Laß mich nicht allein. Krieche zu mir. Wärme mich. Gib mir Mut. Streich le meine Lust und streichle meine Angst … Minutenlang blickte sie sich noch in dem geschmackvoll eingerich teten Schlafzimmer um. Dunkelheit gab es für sie nicht. Indem sie sich vorzustellen versuchte, wie die Person wohl aussah, die norma lerweise hier schlief, lenkte sie sich von der bedrückenden Erkennt nis ab, daß das, was anfallartig über sie gekommen war, jederzeit neu geschehen konnte, solange sie die Ursache nicht kannte. Duncans und Beths angeregtes Stimmgemurmel aus dem Neben zimmer wiegte sie schließlich in unerwarteten Schlaf, der mehr als alles andere bewies, wieviel Vertrauen sie dem »krisengeschüttel ten« Beinahe-Priester inzwischen entgegenbrachte. Dennoch blieb Lilith auch diesmal nicht von alptraumhafter Heim suchung verschont …
* »Sie ist unglaublich!«
Duncan Luther nippte an seinem Glas. Aber nicht einmal dem Brandy gelang es, das Gefühl aus Mund, Herz und Seele zu verban nen, das seit dem Anblick seiner hingerichteten Eltern in ihm fraß. Beths Bemerkung brauchte er nicht zu kommentieren. Er hätte sie ohnehin nur bestätigen können. »Ich bin noch nie einer schöneren Frau begegnet.« Beth hatte sich ebenfalls aus der »besonderen Flasche«, wie sie es nannte, einge schenkt. Alle Schläfrigkeit war von ihr abgefallen. »Wer, zum Teu fel, ist sie …?« Duncan kannte Beths sexuelle Neigung. Es hatte ihn nie gestört und auch nie ein Hemmnis zwischen ihnen beiden bedeutet. Eher im Gegenteil. »Ich sagte es doch: Ich kenne sie nur aus meiner kirch lichen Arbeit. Ihr Mann –« Er verstummte. Aber es war zu spät. »Welche Kirche?« fragte Beth. »Himmel, ha ben wir uns wirklich so gründlich aus den Augen verloren? Wenn ich geahnt hätte, daß du dich immer noch in Sydney aufhältst … Ich weiß nicht einmal, ob du zu Ende studiert hast. Als unsere Wege sich das letzte Mal trennten …« »Ich bin Novize in einer kleinen anglikanischen Kirche am Trum per Park«, sagte Duncan vorsichtig. »Du wirst nie von ihr gehört ha ben. Ich stehe kurz vor meiner Weihe zum katholischen Priester … Es hat sich viel geändert bei mir. Sehr viel. Das Journalistikstudium habe ich abgebrochen …« Ihr Drink verharrte vor den Lippen. Sie starrte ihn an. Die Zähne kratzten über den Rand des Glases. Offenbar versuchte sie zu erkun den, ob er sie veralberte. Zugleich schien das Wort »Trumper Park« sie regelrecht zu elektrisieren. »Kennst du einen Pater namens Lorrimer?« fragte sie überrum pelnd. Er stürzte den Inhalt seines Glases hinunter und wünschte, es wür
de einen Liter oder mehr fassen. Er brauchte nichts mehr zu sagen. »Dann bist du der Mann, nach dem die Polizei fahndet …!« Sie schloß kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Als sie ihn wieder ansah, stand Angst in ihrem Gesicht. »Ich habe nichts damit zu tun! Ich habe auch nur in der Zeitung davon gelesen, und seitdem …« »Seitdem? Sag mir die Wahrheit: Hat sie etwas damit zu tun?« Sein Gesicht verkantete. »Wir haben uns nie etwas vorgemacht, oder?« »Früher nie«, nickte sie. »Dann vertraue mir bitte auch jetzt.« Sie federte aus dem Sessel und stellte das Glas so heftig auf den Tisch, daß es fast splitterte. Unruhig durchmaß sie das Zimmer. »Wovor rennt ihr beide weg? Wovor hast du solche Angst, wenn du mit den Vorgängen in der Kirche nichts zu schaffen hast? Ich habe diesen Lorrimer gesehen – im Leichenschauhaus der hiesigen Ge richtsmedizin! Muß ich dir erzählen, wie er aussah?« Seine Nervosität wurde unerträglich. »Was hattest du dort zu su chen?« fragte er rauh. Sie lachte humorlos. »Ich habe mein Journalistikstudium zu einem Abschluß gebracht!« Er schien zu begreifen, beharrte aber: »Ich habe nichts damit zu tun! Ihr habt da etwas aufgebauscht, das –« »Aufgebauscht?« Sie blieb vor ihm stehen, packte ihn an den Schul tern und schüttelte ihn. »Nicht nur mir stellt sich die Frage, was dem Pater vor seinem Unfall mit Todesfolge zugestoßen ist, mein Lieber! Er war blind, als er starb. Sein Schädel war kahl, als hätte ihm je mand jedes verdammte Härchen mit einem Bunsenbrenner wegge
sengt! Wenn man die Eindrücke und Schattierungen auf seiner Haut berücksichtigt, könnte es aber ebensogut eine kochend heiße Gum mimaske gewesen sein, die ihm übergestülpt wurde! Die Polizei – nicht die Journaille – mutmaßt über Satansorgien und Schlimmeres, die im Keller der Kirche stattgefunden haben sollen. Vielleicht wur de Lorrimer nur ein Opfer der Geister, die er selbst rief. Das alles in teressiert mich beruflich. Menschlich will ich von dir nur eins wissen: Hast du etwas mit diesen Verwirrungen zu tun?« »Lorrimer war kein Satansjünger!« »Und du?« »Ich noch weniger!« »Und diese –« Sie blickte in die Richtung, wo ihr Schlafzimmer lag, »– wie nanntest du sie? Lilith …?« Er stöhnte. »Sie und ich, wir waren zusammen, als das alles pas sierte. Ihr Mann verfolgt sie. Ich versuchte, sie zu schützen. Er ist ein brutaler Schläger. Er darf nicht erfahren, wo sie jetzt untergeschlüpft ist! Vielleicht war es ein Fehler, zu dir zu kommen und dich da hin einzuziehen, aber – großer Gott – mir fiel nichts Besseres ein, nach dem ich las, was mit Lorrimer passierte!« Er seufzte. »Inzwischen habe ich einfach beschissene Angst, mich bei der Polizei zu melden. Sie würden mir nicht glauben, wenn schon du Zweifel hast …« »Das ist aber nicht der Dun, den ich kenne. Bist du zum Angstha sen mutiert?« Der Vorwurf traf ihn sichtlich. »Wenn du uns rausschmeißt, sag es einfach.« »Früher konnte man mit dir diskutieren.« »Dann ist das hier nur eine Diskussion?« »Natürlich.« Duncan musterte sie zweifelnd. »Vielleicht ist es wirklich besser,
wenn wir wieder gehen. Ich wollte dich nicht in etwas hineinziehen, das –« »Was kommt jetzt?« unterbrach sie ihn barsch. »Die Mitleidstour? Hör – bitte – damit – auf! Wenn du mir keinen reinen Wein ein schenken willst, dann laß es. Du wirst deine Gründe haben. Der Dun, den ich kannte, hatte jedenfalls immer gute Gründe, gegen den Strom zu schwimmen.« »Habe ich mich so verändert?« »Ich erkenne dich nicht wieder.« Er zuckte zusammen, nickte dann. »Es ist viel passiert …« »… über das du nicht reden willst oder kannst.« Er nickte. »Oder«, sagte er. »Hast du Hoffnung, daß sich daran in nächster Zeit etwas ändern wird?« Er nickte wieder. »Okay«, sagte sie. »Dann sollten wir vielleicht einfach das tun, was deine kleine Freun … ich meine natürlich Bekannte, nebenan auch gerade tut.« Ihr Gesicht wurde freundlich-unverbindlich. »Dort in der untersten Schublade findest du eine Luftmatratze, die du dir aufblasen kannst. Eine Decke hole ich dir. Reden wir nach einem or dentlichen Frühstück weiter. Vielleicht hat Lilith ja auch eine Vor stellung, wie es mit ihr oder euch weitergehen soll. Möglich, daß ich mich mit ihr mal von ›Frau zu Frau‹ unterhalte. Unser Geschlecht ist ja in vielem unkomplizierter als ihr Mannsleute …« Duncan war viel zu erschöpft, um auch nur noch ein einziges Wi derwort zu geben. Er erhielt seine Luftmatratze und hyperventilierte fast, bis sie leidlich prall war. Nachdem Beth das Licht im Wohnzimmer gelöscht hatte, fiel er schnell in unruhigen Schlaf.
Liliths gräßlicher Schrei ließ ihn und Beth synchron hochfahren. Als sie nach dem Rechten schauten, saß Lilith aufgerichtet im Bett. Sie war schweißgebadet. Auf Duncans Frage, was in sie gefahren sei, konnte sie nur keu chen: »Ich weiß es nicht! Ich träumte, daß jemand angekommen ist. Je mand, der mich abgrundtief haßt …!« »Dein Mann?« fragte Beth einfühlsam. Lilith blinzelte irritiert. »Ich – weiß es nicht, wer. Ich weiß nur, daß ich nicht allein hier liegen will …« Beth und Duncan tauschten Blicke. Beth hob drei Finger zum Schwur und beschwichtigte: »Rein pla tonisch, keine Sorge. Das Sofa gehört dir.« Duncan verließ zögernd den Raum. »Ich lasse das Licht an …« Beth legte sich neben Lilith und nahm sie in den Arm. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, sagte sie sanft. Ihr ganzer Körper kribbelte. Während Liliths Atem allmählich immer ruhiger wurde, schlief Beth in dieser Nacht keine Sekunde lang mehr ein …
* Geschändete Gräber, niedergebrannte Kreuze und umgeworfene Grabsteine markierten einen Ort, an den sich selten ein Mensch ver irrte. So, als hätte ein unsichtbarer Vorhang gnädig den Mantel des Vergessens darübergebreitet. Über die Jahre hatten es nur noch neu gierige Kinder, Trunkenbolde oder Hobos gewagt, das von der Stadt mit einem rostigen, torlosen Stacheldrahtzaun umgebene Gelände zu betreten. Die alte Kapelle am nördlichen Rand des Totenackers – dort, wo die Bahnlinie vorbeiführte – war teilweise eingestürzt, die Wände
mit heidnischen Symbolen beschmiert. Dennoch lockte sie hin und wieder Tramps an, die ohnehin nicht wählerisch waren. Das Ge schwätz über Spuk, mitternächtliches Geheul und unheimlichen Flügelschlag hielt die Besitzlosen nicht davon ab, auch an gewagten Orten Unterschlupf zu suchen. Für jene, die auch nicht wählerisch waren und warmes Blut in kaum einer Form verachteten, waren diese seltenen »Besuche« eine stets willkommene Abwechslung. Auch Josh Coroner wußte nicht, daß die sogenannte Zivilisation – ein von Menschen geprägter, hochtrabender Begriff – spätestens hinter den Mauern der Kapelle endete. Sein unstetes Leben hatte ihn kreuz und quer über den australischen Kontinent geführt. Von den großen Städten kannte er Perth, Adelaide und Melbourne; nach Syd ney verschlug es ihn das erste Mal. Mit Gelegenheitsarbeiten, Gele genheitsdiebstählen oder kleinen, dramatischen Unglücksfällen, die er initiierte, um schreckhaften Autofahrern ein kleines Schmerzens geld abzupressen, hielt er sich über Wasser. Josh Coroner war erst Anfang Dreißig, aber der dichte, ungepfleg te Vollbart ließ ihn älter erscheinen. Wie er sich die Heiterkeit seiner Augen bewahrt hatte, würde sein ewiges Geheimnis bleiben; er wußte es selbst nicht. Diese frech-fröhlichen Augen hatten ihm aber schon zu manch unverhofftem heißen Bad nach durchfrorenen Nächten und manch ausgehungertem Witwenkörper verholfen. Wer sich auf ihn einließ und hinter Coroners abgerissene Fassade zu blicken vermochte, der konnte dort einen verdammt netten Kerl entdecken. Keine Frau – egal wie hübsch oder leidenschaftlich – hat te ihm aber je seine Rastlosigkeit austreiben können. Nach ein, zwei Nächten in einem gemütlichen Heim trieb es ihn wieder weiter. Heute bedauerte er es jedoch zaghaft, sich in aller Herrgottsfrühe von Broken Hill und der mütterlichen Agnes fortgeschlichen zu ha ben.
Es war bereits dunkel gewesen, als er kurz vor Sydneys Stadtgren ze vom langsam fahrenden Güterwaggon gesprungen war und sich mit einem angeknacksten Knöchel zwei Meilen weitergeschleppt hatte. Treibender Regen hatte ihn völlig durchnäßt, und ein kalter, vom Meer kommender Wind hatte die Wolkenfront just in dem Mo ment aufgerissen, als Coroner zufällig in Richtung der Kapelle schaute. Das Gebäude, so düster es auch aussehen mochte, zog seinen Blick unwiderstehlich an. »Hölle und Verdammnis!« Es war der erste stacheldrahtummantelte Friedhof seines Lebens. Aber es war auch die erste Nacht, die ihn dazu hätte verleiten kön nen, doch wieder seßhaft zu werden. Die Wolken über ihm schlossen sich. Es wurde wieder finster wie in einem Sarg. Gleichzeitig begann es stärker zu regnen. Fette Trop fen klebten die Strähnen seines schulterlangen Haares wie nasses Lametta auf sein Gesicht. Er stellte das Fluchen ein, um nicht zu er trinken. Stacheldraht hatte er bei seinen Einbrüchen häufig überwunden. Es gab hundert Tricks, sich keine blutige Schramme zu holen. Aber heute ging alles schief. Er war schon fast auf der anderen Seite, als der heruntergedrückte Draht – zu früh losgelassen – zurückschnellte und ihm eine blutige Verletzung am rechten Ohr zufügte. Coroner hinkte ein Stück weit, stolperte und schlug sich auch noch die Knie auf. Ein verknackster Knöchel, blutige Knie und ein abgerissenes Ohrläpp chen, resümierte er in Selbstmörderlaune. Nur widerwillig rappelte er sich auf und setzte seinen Weg – trotz niederprasselnder Sintflut – vorsichtig fort. Gevatter Mond ließ sich nicht mehr blicken. Dafür wuchs vor Co
roner eine Silhouette auf, die auch ohne die Helle des Erdtrabanten auskam. Das Gebäude wirkte aus unmittelbarer Nähe betrachtet wie eine etwas zu klein geratene Trutzburg. Auch der architektonische Stil erstaunte, obwohl die Nacht das wirklich Staunenswerte gnädig verbarg. Was zu sehen war, genügte aber, um Coroner das Gefühl vermissen zu lassen, sich an einem christlichen Ort zu befinden. Idiotisch, dachte er, während er den Bau wie ein streunender Ka ter umschlich. Er suchte beschleunigt nach einem Zugang, weil er nicht als Treibgut am nahen Meeresstrand enden wollte. Plötzlich – noch ehe er die Tür gefunden hatte – glaubte er, Stim men zu hören. Sein erster Gedanke war: Ich bin nicht der einzige, der auf diese ruhmreiche Idee kam. Aber warum habe ich dann keine weiteren Ohrläppchen gefunden …? Das Scherzen verging ihm nachhaltig, als sich zu den Stimmen und dem Geräusch des Regens noch gedämpfte Musik und monoto ner Gesang gesellten. Angst war Coroner eigentlich fremd. Er hätte dieses Leben gar nicht führen können, wenn es anders gewesen wäre. Dafür wußte er um so besser, was Vorsicht war. Warum er dieser Linie jetzt untreu wurde, wußte er selbst nicht. Vielleicht wollte er einfach nicht länger draußen im Regen stehen. Oder die Vorstellung lockte, ein paar zu Tode gelangweilte Jugendliche könnten sich hier versammelt haben, um an verbotenen Dingen zu rühren. Coroner hatte in liegengelassenen Zeitungen und Illustrierten von okkulten Zusammenkünften, Seancen, sogar Satansmessen gelesen, bei denen Sex eine nicht geringe Rolle spielte. An Sex – auch an sei ner dunklen Seite – war er immer interessiert gewesen. Für Coroner war das Aneinanderreihen zweier Körper die eigentliche Würze sei nes an sonstigen Höhepunkten armen Lebens.
O Agnes, dachte er sehnsüchtig. Es hinderte ihn nicht daran, seiner voyeuristischen Ader zu folgen. Seine an der Außenmauer entlangrutschenden Hände stießen ins Leere, als die Nische des Portals unerwartet auftauchte. Coroner glitt sofort unter den breiten Torbogen, wohin der peit schende Regen nur noch schwach gelangte. Ein paar Sekunden stand er nur da, beruhigte seinen Atem und lauschte den Klängen, die er kurz verloren hatte. Das plötzliche, helle Lachen einer Frau elektrisierte ihn. Offenbar paßte in diesem Moment alles zusammen, was sein Un terbewußtsein zur Anregung verlangte: Trotz Kälte, Nässe und Mü digkeit bekam Josh Coroner die gewaltigste Erektion seines Lebens. Schmerzhaft hart pochte es in seiner Hose, so daß er kopfschüttelnd auf die schwere, bloß angelehnte Tür zuging, die nicht einmal der heftige Wind spürbar bewegte. Erstaunlicherweise schwang sie dann aber fast von selbst vor Coroner zurück. Sofort wurde das sirenenhafte Lachen lauter, vermischt mit ande ren Stimmen, männlich und weiblich. Aber, das erkannte Coroner intuitiv, es konnten keine Teenager sein wie zuerst von ihm vermu tet. Die Stimmen waren deutlich reifer, und auch wenn er bis zu die sem Moment kein einziges Wort verstanden hatte, ging doch etwas Gänsehauterregendes – etwas Erregendes schlechthin – von ihnen aus. Fast mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen in die nächt liche Dunkelheit, die auch in diesen Mauern nistete. Coroner ließ sich von den Klängen, auch der Musik, leiten. Er hatte das Gefühl, zu tauchen. Vom Regen, der draußen niederging, war kaum noch et was zu hören. Eine gewisse Taubheit hatte sich seines Fleisches be mächtigt. Nur sein geschwollenes Glied ragte weiter wie ein Mast auf und wies in die Richtung, in die er unwiderstehlich gezogen
wurde. Wo war seine verdammte Vorsicht geblieben? Er wunderte sich nur den Bruchteil einer Sekunde über sich selbst. Dann sah er das Licht, das ganz anders war als alles Licht, das er zuvor gesehen hatte. Vielleicht war es nur ein etwas helleres Dunkel als die Schwärze, aus der er gerade, naß bis auf die Knochen, kam. Aber es genügte seinen Augen offenbar völlig, sich darauf einzustel len, und ganz allmählich nahm er seine Umgebung in Konturen wahr. Demnach sah die Kapelle innen fast ebenso verfallen aus wie von außen. Zwanzig Schritte vor ihm aber, etwa auf gleicher Höhe wie der Altar, glomm im Boden eine Öffnung, aus der etwas Vages in die Finsternis hineinsickerte, sie durchwob und in unmittelbarer Nähe auflöste. Aus diesem »Loch« kamen die Stimmen, die Musik, der Gesang … Spätestens jetzt hätte Josh Coroner die Beine in die Hand nehmen und von diesem Ort verschwinden müssen. Daß er es nicht tat, son dern seiner Neugierde die Initiative überließ, war ein sicheres To desurteil. Er ging weiter. Er watete durch zentimeterdicken Staub und Dreck, bis er die drei Stufen zum erhöhten Altarraum hinaufgestiegen war und vor der Bodenöffnung stehenblieb. Coroner hatte vergessen, daß er fror und hungrig war, und er be griff, daß die steinernen Stufen vor seinen Füßen ihn geradewegs zu dem hellen Frauenlachen führen würden, wenn er den Mut dazu hatte. Er hatte. Er stieg die in fahles Licht gebadete Treppe hinab und gelangte in
einen Bereich, der einem Märchen aus »Tausendundeine Nacht« zu entstammen schien. Coroner spürte die Absurdität seiner Umge bung, aber er lehnte sich nicht dagegen auf. Unaufhaltsam durch maß er einen Korridor, der in kein unterirdisches Gewölbe gehörte, sondern aus einem prunkvollen Schloß hierher transplantiert wor den war. Kerzen brannten an Wänden, die silbrig schimmerten und in die mehr als ein Dutzend Türen eingelassen waren. Das Material, aus dem diese Türen geschaffen waren, glomm wie schwarze Kohle, und die Oberfläche war übersät mit Intarsien, die den Eindruck ver stärkten, daß Gott hier nicht gehuldigt, sondern daß er verhöhnt wurde. Coroner begann zu schwitzen. Bäche eiskalten Schweißes rannen ihm aus den Achselhöhlen und von Stirn und Hals. Sein Gesicht verkrampfte, weil er plötzlich erkannte, auf was für ein Abenteuer er sich eingelassen hatte. Nicht einmal das glockenhelle, erregende Lachen aus fremder Frauenkehle konnte ihn noch von der Erkennt nis ablenken, daß er dem Verderben in die Arme rannte. Er wollte umkehren. Jetzt wollte er rennen, zurück in die Nacht, zurück in den Regen. Aber eine der vielen Türen zog ihn magisch an. Sie stand offen. Das Licht dahinter war von anderer Qualität als das des Ganges. Von dort kam all das, was Coroner lockte. Etwas, das schon seit seiner Geburt tief in seinem Verstand wur zelte, sprach darauf an. Etwas, das ihn sein ganzes Leben lang uns tet durch fremde Städte und den endlosen Outback geführt hatte und das nun offenbar selbst gelenkt wurde von etwas ganz und gar Unbeschreiblichem! Er erreichte die Tür, und noch ehe er die Schwelle übertrat, er reichten ihn die ersten klaren Sätze, die drinnen zwischen grausa men Trophäen und aphrodisierenden Düften gesprochen wurden.
»Hör endlich auf!« zischte eine Männerstimme. »Wir haben ande res im Sinn als deine egoistische Begierde. Er wird gleich kommen. Er hat sich angekündigt. Das ist es, was zählt. Wenn er erfährt, was sich seit seinem letzten Besuch alles ereignet hat …« Die Frau mit dem hellen Lachen unterbrach ihn. Sie war es auch, die angesprochen gewesen war. »Armselig!« spottete sie. »Es ist armselig, wie ihr alle vor jemandem zittert, der doch einer von uns ist!« Die Reaktionen der auf bizarren Stühlen verteilten Gestalten be wies, daß es sich bei dem letzten Satz um eine möglicherweise grobe Fehleinschätzung handelte. Coroner spürte das unbestimmte Bedürfnis, sich in die Diskussion einzuschalten. Auch wollte er erfahren, über wen hier gesprochen wurde. Etwas Klammes strich über seine Kopfhaut, als er die beiden Kin der bemerkte. Sie standen außerhalb des Kreises, den die an knö cherne Skelette erinnernden Stühle bildeten, im Hintergrund des viele Meter hohen und weitläufigen unterirdischen Raumes. Ein Mädchen und ein Junge, beide etwa sieben Jahre alt. Der dunkelhaa rige Junge trug einen grauschwarz gestreiften Pyjama, das Mädchen ein Nachthemd mit einer breit grinsenden Schildkröte auf der Brust. Die Kinder standen auf einer runden, mattschwarzen Metallplatte, die wie ein umgedrehter Schild aussah. Die Augen der Kinder wa ren offen, aber es hatte nicht den Anschein, als könnten sie etwas von dem, was um sie herum vorging, wahrnehmen. Sekundenlang zweifelte Coroner sogar, ob er es nicht nur mit Puppen zu tun hatte, wie sie lebensecht in manchen Schaufenstern zu finden waren. Aber dann überschlugen sich die Ereignisse, und bevor er starb, erhielt er auch Antwort auf diese Frage. Es nützte ihm nur nicht mehr viel.
Eisiger Lufthauch streifte ihn. Als er sich umdrehte, jagte eine riesige Fledermaus an ihm vorbei. Die ledrigen Schwingen streiften sein Gesicht und hinterließen eine weitere blutige Spur neben dem noch unversehrten Ohr. Ohne abzu bremsen, flog das pelzige Wesen mit spitzen, hohen Schreien an ihm vorbei und landete genau im Kreis zwischen dem guten Dutzend aufgeregter Gestalten. Coroner traute seinen Augen nicht, als aus dem imposanten Flug tier eine noch viel imposantere Person mit machtvollem Charisma wurde. Die Ausstrahlung dieses Mannes (Coroner schätzte ihn auf Anfang Fünfzig, obwohl es unzählige winzige Hinweise gab, daß dies nicht dem wahren Alter gerecht wurde) war körperlich spürbar. Ein perfi der Hauch haftete dem gutaussehenden Schwarzhaarigen mit den grauen Schläfen an. Sein breites und dennoch feingeschnittenes Ge sicht spiegelte einen ungeheuren Erfahrungsschatz wider. Auffällig war eine kreuzförmige Narbe, die über die linke Wange des Frem den verlief und, je nach Lichteinfall, manchmal wie rohes Fleisch zu pulsieren schien. Dieses Wesen hatte seine tierische Gestalt schneller gegen eine menschliche getauscht, als andere es mit ihrer Kleidung taten! Wo bin ich hier hingeraten? fragte sich Coroner. Und er fragte sich auch, warum es ihm nicht einmal mehr richtig möglich war, an Flucht zu denken! »Landru!« Der Ruf löste sich aus einem Dutzend Kehlen zugleich. Auch aus dem Mund der rassigen Schönen, die vorhin das Wort geführt hatte. Coroner blickte zu ihr und verging fast vor Sehnsucht nach ihrem Schoß. Nach den prallen Brüsten, die unter dunklen Stoff gezwängt waren und nur darauf warteten, von ihm berührt und liebkost zu werden.
Eine Weile gab es nichts anderes mehr für ihn als den Wunsch, diese Frau zu besitzen. Erst die Stimme des Ankömmlings holte ihn ein Stück weit zurück in die Wirklichkeit. Landru – offenbar war dies sein Name – trug schlichte, zweiteilige Kleidung, die den kraftvollen Körper locker umschmeichelte. Sie äh nelte asiatischem Schnitt, unifarben und in der Hüfte umschlungen mit einem zum Gürtel umfunktionierten Tuch gleicher Machart. An diesem Tuch war ein Beutel aus bräunlichem Leder befestigt. Ande ren Schmuck gab es nicht. Coroner bemerkte weder Ringe noch Ket ten, Talismane oder sonstiges. Laute einer unbekannten Sprache sprangen wie Funken von Land ru zu den anderen Anwesenden und von diesen wieder auf ihn zu rück. Erst danach befleißigten sie sich einer Phonetik, die auch Coro ner mühelos verstand. »Ehre Landru!« rief ein Chor, und aller Augen blickten zu den bei den Kindern, in deren Augen sich nur Leere fand. Landru machte eine schattenhafte Verneigung. Mit vollklingender Stimme erwiderte er: »Ehre auch euch!« Er hatte Augen wie boden lose Brunnenschächte, in deren Dunkel sich alles verlor. Auch sein Blick fand die Kinder, aber ohne jede Gier, eher besonnen, und er sagte: »Ich muß euch enttäuschen, wenn ihr das erhofft hattet. Die Spur ist heiß, aber ich habe noch nicht gefunden, wovon der Fortbe stand unserer Rasse abhängt. Ich befand mich auf dem Weg, einem weiteren vielversprechenden Hinweis zu folgen – dem wohl Milli onsten in den vergangenen zwei Jahrhunderten –, als mich euer dringender Ruf erreichte …« Über Landrus geöffneten Händen bildete sich aus dem Nichts die täuschend echte Darstellung eines Kelches in Form einer Lilie. Selbst auf die Entfernung nahm Coroner jedes noch so kleine Detail wahr. Die düsterrote Oberfläche des Gefäßes war nicht glatt, sondern schroff, als wäre sie aus einer Unmenge kleinster Teilchen zusam
mengefügt. Jeder kannte diesen Kelch. Plötzlich sprang einer der Versammelten auf und rief scheinbar zusammenhanglos: »Sie hat Hora umgebracht! Und Horrus! Nie mand weiß, wie! Hafiz und Hammur wurden von ihrem Begleiter getötet, den wir auserwählt hatten, sie zu vernichten. Mit Giljakens Dolch!« Sekundenlang ging ein Raunen durch den Raum, der alles andere überlagerte. Ebenso wie mit dem Kelch schien auch jeder etwas mit dem Namen Giljaken verbinden zu können. Nur Coroner nicht. »Der vorwitzige Habakuk«, spöttelte Landru, und selbst Coroner begriff, daß in diesem Spott tödliche Gefahr lauerte. »Du redest«, fuhr Landru fort, »als hätte ich nicht oft genug gewarnt, daß das Haus seine Mißgeburt eines Tages entläßt!« Habakuk balancierte weiter am oberen Limit, als er Landru unter brach: »Hundert Jahre hattest du vorausgesagt – sie sind noch nicht verstrichen. Wir hatten Wächter aufgestellt, die das Haus seit Anbe ginn deiner Prophezeiung beschatteten. Letztlich hat es uns nur noch mehr Verluste eingebracht. Nicht einmal du konntest uns je sa gen, was einmal den Mauern dieses mit Fallen gespickten Baus ent schlüpfen würde … Oder wolltest du es nicht? Es hätte uns vielleicht geholfen, es zu besiegen, ehe es uns nacheinander fertigmacht …!« »Ich rieche die Angst, die aus dir spricht, Habakuk.« Der schlanke Mann drehte sich langsam um seine eigene Achse und musterte da bei jeden der Versammelten. (Coroner hatte das Gefühl, daß nur er selbst nicht einmal den Blick dieses Wesens wert war.) »Und ich rie che den Ehrgeiz, der in dir brennt, Horas Platz einzunehmen …« Der Mächtige lachte, daß die Decke des unterirdischen Raumes zu beben begann. Der Kelch über seinen Händen zerstob in einem laut
losen Blitz. Dafür richtete sich Landrus Zeigefinger wie eine Waffe gegen Habakuk. »Wenn du wüßtest, wie anmaßend ein solcher Ge danke ist, würdest du dich auf der Stelle hier, vor aller Augen, selbst einäschern! Es wäre der einzige, halbwegs akzeptable Ausdruck von Reue …« Die schmeichelnde, sonore Stimme war kurz zum Orkan ange schwollen – und genauso rasch flaute sie wieder ab. Der Halbwüchsige hatte sich wie alle anderen unter der Stimmge walt geduckt. Aus den Mienen der anderen war währenddessen die Überzeugung zu lesen, daß Habakuk diesen Frevel so oder so nicht überleben würde. Coroner, der immer noch an der Tür stand und Zeuge dieser un wirklichen Zusammenkunft wurde, fror immer tiefer in seiner Haut. Er hatte ein Gefühl, als würden seine Knochen unter der Porzellan kälte verspröden, bis es nur noch des geringsten Anlasses bedurfte, sein Skelett in ein tödliches Puzzle zerbrechen zu lassen. Vor diesem Augenblick hatte er wirklich Angst. Grauenhafte Angst. Neben vielem anderen wußte er immer noch nicht, woher die Mu sik und die stereotypen Hintergrundgesänge kamen, die Anteil an seiner ausufernden Furcht hatten. »Wessen Idee war es, diese Kinder bereitzuhalten?« Die Blicke richteten sich auf Habakuk, der noch mehr Unheil na hen sah. Überraschend milde gestimmt fuhr Landru fort: »Eine nette Geste, die ich anerkenne, auch wenn das Ritual nicht vollzogen werden kann, solange verschollen bleibt, was verschollen ist … Schickt sie wieder heim!« Zum zweiten Mal ging ein Raunen durch die Menge; diesmal un verkennbar Ausdruck allergrößter Enttäuschung, die eine Vampirin
auch in Worte faßte: »Selbst wenn das Unheiligtum noch nicht wie derbeschafft werden konnte, so können wir doch dir, Landru, das jungfräuliche Blut dieser aus dem Schlaf geholten Kinder weihen und –« Landru pfiff. Woher genau – und ob wirklich aus seinem reglosen Mund – die ser »Pfiff« kam, hätte Josh Coroner so wenig wie einer der anderen Anwesenden zu sagen vermocht. Aber das ultrahohe Geräusch ließ die Vampirin, die zuvor Coroner, das spürte er inzwischen, in die Tiefen der Kapelle gelockt hatte, zuerst erstarren und dann wim mernd um ihre nackte Existenz betteln. Das brustlange, eben noch glatt fallende Haar sträubte sich, als würde es unter Starkstrom ge setzt. Dann flammte es auf und brannte ab wie staubtrockener Zun der. Was zurückblieb, war ein verheerter Schädel und ein von Feuer entstelltes, Sekunden vorher noch faszinierend anrüchiges, nun ab stoßend häßliches Gesicht. Eine Fratze, in der nur die flackernden Augen noch denen davor ähnelten! Das kurze, magische Feuer hatte nur den Schädel erfaßt und auf nichts anderes übergegriffen. Es genügte. Es genügte, Coroner – und wohl auch den Vampiren – das Blut in den Adern gerinnen zu lassen. Er stöhnte. Köpfe wirbelten herum, obwohl das Stöhnen des Hobos unter den anderen Tönen, den Gesängen aus dem Nirgendwo und der Musik hätte untergehen müssen. Landru war der einzige, der sich nicht darum zu kümmern schien. Er ging auf die Vampirin zu und nahm ihr Kinn wie mit einem Schraubstock in die Hand. »Dein Name, respektloses Geschöpf!« »Hekade …« Sein Blick taxierte sie vom enthaarten Schädel bis hinab zu den Ze
hen. »Hekade, ach.« Er strich mit der freien Hand über die Wölbun gen, die sich unter dem dunklen Trikot abzeichneten. »Der Name ei ner Hexe paßt zu dir. Ich mag respektlose Geschöpfe, Hekade. Na türlich in Maßen. Als ob du das gewußt hättest.« Es schien ihn nicht zu irritieren, daß die Klänge ringsum ver stummten. Er und Hekade standen in grotesker Umarmung wie ein zementiert vor der Versammlung, und Landru machte kein Geheim nis aus seiner Lust. »Du erregst mich, Hekade. Du erregst mich sehr. Ich mag nur keine Haare mehr an den Frauen, die mein Lager teilen. So viele Haare in so vielen Jahrhunderten …« Er seufzte. Dann ließ er abrupt los. Die entstellte Vampirin rutschte zu Boden und blieb mit gesenktem Haupt liegen. Sie brachte kein Wort mehr über die Lippen. Landru lachte, und schon ehe dieses Lachen verstummte, wußte Coroner, daß er nun an der Reihe war. Er konnte nicht fliehen. Er konnte es nicht. Vielleicht war er der einzige, der die Worte hörte, als Landru sich langsam zu Hekade beugte und ihr in barbarisch-zärtlichem Ton ins Ohr wisperte: »Geh, reiße ihn endlich! Das wolltest du doch von Anfang an. Stärke dich. Ich brauche eine ausdauernde Geliebte – nachher …« Wankend erhob sich die Gedemütigte. Coroner sah sie kommen wie sein ganz persönliches Verhängnis. Er konnte nicht fliehen. Er konnte es nicht. Ihre Haut hing geschält von den Wangen. Ihre Lippen waren schwarz. Selbst die Zähne, die sich jetzt hervorschoben, sahen aus wie schroffe Kohlestückchen. Nur die Augen glommen in einem hel leren, wenngleich unsteten Licht, das darauf hinwies, daß auch die ses Wesen nicht mehr frei handelte, sondern dem bizarren Willen ei
nes anderen unterstand. Viel Trost lag nicht in solcher Erkenntnis. Noch ehe Hekade ihre Zähne in seinen Hals grub, überfiel Coroner eine grauenhafte Ahnung des kommenden Schmerzes. Die Realität übertraf dann alle Ahnungen und Befürchtungen. Hekade gab das Erlittene schonungslos an den Vagabunden weiter, der es bis dahin nicht für möglich gehalten hätte, einmal Lust am eigenen Untergang zu empfinden. Aber genau das passierte. Selbst im Tod blieb ihm die Erektion treu …
* »Sind das deine Sachen?« fragte Beth an Duncan gewandt, als Lilith gegen neun Uhr früh aus dem Schlafzimmer trat. Duncan zuckte die Achseln, was einem Eingeständnis gleichkam. »Es mußte schnell gehen …« Kopfschüttelnd erhob Beth sich von ihrem Stuhl am mager ge deckten Frühstückstisch (auf Untermieter war sie nicht eingerichtet gewesen) und ging auf Lilith zu. »Bekanntzumachen brauchen wir uns ja nicht mehr. Aber etwas Gescheiteres zum Rumlaufen kriegst du jetzt von mir noch vor dem ersten Bissen …!« »Ich habe sowieso keinen Hunger.« »Das ist neu«, rutschte es Duncan heraus. Er ritt aber nicht weiter auf dem Thema herum, sondern fragte nur: »Konntest du den Rest der Nacht noch etwas schlafen?« Lilith nickte, lächelte Beth zu und sagte leise: »Danke …« »Keine Ursache!« Gemeinsam verschwanden sie noch einmal im Schlafzimmer. Als sie zurückkehrten, verschluckte sich Duncan fast an seinem Kaffee.
Lilith sah atemberaubend aus. Die vornehme Blässe ließ sie zer brechlicher wirken, als sie war. Beth hatte ihr nur ein einfaches Som merkleid und ein paar bequeme Stoffschuhe mit flachen Absätzen gegeben. Aber Lilith hätte vermutlich auch grobes Sackleinen zur haute couture erhoben … »Immer noch kein Appetit?« fragte Beth, als sie sich zu Duncan an den Tisch setzten. »Oder findest du nichts, was deinem Geschmack entspricht?« »Doch«, hauchte Lilith, und ihr Blick senkte sich für einen kurzen Moment in Duncans Augen. Es genügte, ihn noch fahriger zu ma chen. »Das ist nicht das Problem.« »Sondern?« Beth hob die Brauen. »Laß sie doch, wenn sie nicht will!« mischte sich Duncan ein. »So bald sie wirklichen Hunger verspürt, wird sie sich schon melden!« Beth blickte ihn böse an. Lilith schürzte lediglich die Lippen und meinte: »Danke für das Angebot! Ich werde mich daran erinnern und darauf zurückkom men …« Von diesem Moment an wurde Duncan noch einsilbiger. Er über ließ Beth die Gesprächsführung fast völlig. »Ich weiß nicht, wo das Problem zwischen euch beiden liegt, Herz chen«, sagte sie. »Aber ich weiß, daß ich bestimmt nicht den ganzen Tag das Kindermädchen spielen kann. Was ihr hier auf dem Tisch seht, mag ja etwas kärglich sein, aber selbst das muß erst verdient werden. Ich schlage vor, ihr überlegt euch schon mal, wie es mit uns weitergehen soll.« Sie nickte Duncan zu. »Besonders du solltest dir meinen Ratschlag noch einmal durch den Kopf gehen lassen, ob es nicht besser wäre, mit der Polizei zu reden!« Duncan verzog das Gesicht. »Was arbeitest du?« fragte Lilith. Beth lächelte. »Ich wühle. Meist in irgendwelchem Dreck …« Als
sie Liliths Unverständnis bemerkte, fügte sie ein paar Erklärungen an und schloß: »Als erstes werde ich mir wohl meine tägliche Ab fuhr in der Paddington abholen.« Das kurze Aufblitzen in Liliths Augen schien ihr zu entgehen. »In der Paddington?« »Ihr wollt mir doch nicht auch noch weismachen, ihr hättet noch nichts von der Geheimnistuerei gehört, die dort seitens unserer Be hörden betrieben wird! Das gibt es nicht! Jeder in Sydney weiß da von. Die Nachrichten und Zeitungen hacken doch jeden Tag auf dem wenigen herum, was man inzwischen weiß oder zu wissen meint …!« »Und was hast du damit zu tun?« fragte Lilith, ganz arglos, wie es schien. »Ich bin die Jägerin der verlorenen Sensation«, spöttelte Beth. »Es ist so: Jeder weiß, daß in der Paddington Street etwas ganz Sensatio nelles passiert sein muß, aber die behördliche Nachrichtensperre ist diesmal so dicht, wie ich es noch nie vorher erlebt habe. Da dringt nichts durch. Menschen mußten in dieser Straße ihr Eigentum ver lassen, und selbst sie wurden mit fadenscheinigen Begründungen abgespeist. Mit den Gerüchten über rapide gealterte Menschen im selben Zusammenhang will ich euch lieber nicht langweilen – gera de weil es bis heute Gerüchte blieben. Recherchen bei den umliegen den Krankenhäusern verliefen im Sand. Niemand weiß etwas oder will etwas wissen. Mysteriöser geht es gar nicht.« Ehe Duncan es verhindern konnte, fragte Lilith: »Darf ich dich be gleiten? Es läge mir viel daran!« »Warum nicht …« Beth stellte keine Frage, wie sich dieser Wunsch mit Liliths angeblicher Verfolgungsangst vor ihrem brutalen Ehe mann vertrug. »Lilith!« Duncans Stimme kam in voller Schärfe.
»Ja?« fragte sie unschuldsvoll. »Laß das!« fauchte er. »Beth kann dich unmöglich mitnehmen. Wenn –« »Was ist denn nur los mit dir?« Beth platzte offenbar der Kragen. »Bist du wirklich ein solcher Spießer geworden? Wenn das die Kir che aus dir gemacht hat, na danke! Wir werden uns schon zu weh ren wissen, falls dieser Brutalo uns begegnet. Schon mal was von Frauen-Power gehört …?« »Zur Genüge.« »Na also!« »Und du bist sicher, daß es dein Wille ist, sie mitzunehmen?« frag te Duncan deprimiert. »Wessen Wille denn sonst?« Beth lachte kopfschüttelnd. Duncan gab auf.
* Es war halb elf Uhr vormittags, als Lilith und Beth aus der »Sardi nenbüchse« der Reporterin stiegen, in der sich Moskowitz’ Tabak mief immer noch hartnäckig hielt. Weit war ihnen die Einfahrt in die Paddington Street nicht mög lich gewesen. Schon auf Höhe der Hausnummer 123 wurden sie von eifrigen Uniformträgern darüber informiert, daß es hier nur noch zu Fuß weiterging. Die Frage, ob sie hier wohnhaft seien, verneinte Beth wahrheitsgemäß und hielt ihm stattdessen ihren Presseausweis unter die Nase. »Und Sie?« wandte sich der Polizist an Lilith. »Ich gehöre auch zu dem Verein«, log Lilith. Beth wunderte sich, daß Liliths Behauptung ohne weitere Über
prüfung für bare Münze genommen wurde. Sie enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars. Erst als sie allein die Straße entlang weiter marschierten, sagte sie: »Du scheinst wohl jeden um den Finger wi ckeln zu können.« »Wie kommst du darauf?« »Na, gerade eben. Und was Dun angeht …« »Was ist mit ihm?« »Müssen angehende Priester nicht streng dem Zölibat folgen?« »Was ist – Zölibat?« Beth zögerte. Erst als sie sicher war, daß Lilith wirklich nicht wuß te, wovon die Rede war, erwiderte sie: »Stark vereinfacht ausge drückt: absolute Keuschheit. Soviel ich weiß, ist schon der bloße Ge danke daran ›strafbar‹ …« »Woran?« Beth blieb kurz stehen. »Ihr wollt mir doch nicht beide weisma chen, daß euer Verhältnis rein platonischer Natur ist? Okay, es ist eure Privatsache, aber neugierig macht ihr mich schon …« »Gehen wir weiter«, sagte Lilith, die sich verstohlen umblickte, insgesamt aber einen ungewohnt begriffsstutzigen Eindruck auf Beth machte. Was sie ungebrochen faszinierte, war die erotische Ausstrahlung dieser jungen, höchstens zwanzigjährigen Frau. Beth liebte dunkles, mähniges Haar – hier fand sie es in Vollendung. Seit sie Lilith letzte Nacht erstmals richtig betrachten konnte, war der Alpdruck, den Sevens Beziehungsbruch hinterlassen hatte, völlig in den Hintergrund gerückt. Sie setzten ihren Weg wortkarg fort. Besonders Beth fühlte die ty pische Befangenheit, die bei ihr mit der Vertiefung privater Gefühle einherging. Dabei wurde ihr selbst angst und bange, wie schnell sie sich »umorientierte« …
Als Zentrum der Geheimniskrämerei hatte Beth relativ früh die Hausnummer 333 ausgemacht, und trotzdem war es ihr nicht mög lich gewesen, auch nur das Geringste über die Eigentümer dieses Anwesens herauszufinden. Kurz nachdem sie die 300er Nummern erreicht hatten, verdichtete sich das hektische Treiben, das nicht zuletzt von Beths Kollegen ent facht wurde, und dann ging – wie schon gewohnt – nichts mehr. Die Polizei hatte einen undurchdringlichen Kordon gebildet. Mehrfach gestaffelte Absperrungen verhinderten wirkungsvoll das »Durchmogeln« als besonders gewitzt verschriener Medienvertreter und einfacher Gaffer. »Den Weg hätten wir uns sparen können«, grantelte Beth mißmu tig. »Bist du immer so pessimistisch?« fragte Lilith. »Ich mache mir ungern etwas vor!« »Halt!« ertönte auch schon der Zuruf eines der Wachhabenden. »Keinen Schritt weiter! Kehren Sie bitte um. Hier gibt es nichts zu sehen!« »Wenn dem so wäre«, versetzte Beth eisig, »würdet ihr wohl kaum dieses Theater aufführen!« Die Antwort war ein mindestens ebenso eisiges Grinsen. »Ich ken ne Sie«, sagte der Polizist. »Sind Sie nicht vom Sydney Morning He rald?« »Und wenn? Gibt es inzwischen schon einen Steckbrief von mir?« Die Miene des Mannes wurde unversehens schroff. »Wir tun hier auch nur unseren Job, Miss! Wenn ich Ihnen sagen würde, daß wir hier so wenig wissen wie Sie, was gespielt wird, würden Sie mir ja doch nicht glauben, oder?« »Nein.«
»Na, bitte!« Lilith schob sich an Beth vorbei. Unbefangen lockte sie den einen Kopf größeren Polizisten mit Fingerzeig etwas zu sich herunter. Er gehorchte widerstrebend. Beth verstand nicht, was Lilith ihm ins Ohr wisperte. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er jedoch: »In Ordnung. Ich glaube, diese Ausnahme können wir machen. Gehen Sie!« Beth sah, wie Lilith auf die winzige Lücke in der Absperrung zu ging. Als sie ihr folgen wollte, verstellte der Wächter ihr unversöhn lich den Weg. »Stopp! Sie nicht! Sie bleiben hier und warten, bis Ihre Freundin zurückkommt!« Beth starrte ihn fassungslos an. Noch bevor sie ihre Sprachlosig keit überwunden hatte, erreichte Lilith die nächste Sperre, wo sich derselbe Vorgang wie eben wiederholte. Lilith durfte auch dort pas sieren, trotzdem sah es kurz aus, als würde sie wankelmütig werden und vielleicht sogar umkehren wollen. Schließlich ging sie aber doch weiter und geriet schließlich hinter einer aus Einsatzwagen beste henden Barrikade außer Sicht. Beth schnappte nach Luft. »Spinne ich jetzt, oder …?«
* Kurz bevor sie das Tor zum Garten ihres Geburtshauses erreichte, drehte Lilith sich noch einmal um. Die Reporterin, die sie und Dun can vorübergehend bei sich aufgenommen hatte, war nicht mehr zu sehen. Dennoch zögerte Lilith, weiterzugehen. Wieder näherten sich ihr Polizisten. Auch solche in Zivil waren darunter. Lösbare Probleme. Sie verstärkte die hypnotische Aura ihrer Stimme. Wenige Worte
genügten, den Weg auch hier freizumachen und dafür zu sorgen, daß die Menschen sie wieder völlig vergaßen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Seit ihrem letztmaligen Hiersein hatte sich das Gesicht des Anwe sens vollständig verändert. Lilith wußte noch genau, wie es hier aus gesehen hatte. Wildwuchs und große schattige Bäume hatten den Blick zum Haus versperrt. Das Haus mit den Attrappentüren. Das Haus mit dem Grab ihrer Mutter … Wieder drohten die Bilder ihrer Vision übermächtig zu werden. Die Pflanzen, die jetzt im Garten des Hauses wuchsen und bis an die Einfriedung heranreichten, unterschieden sich vollkommen von de nen, an die Lilith sich erinnern konnte. Sie hatte sich gut überlegt, ob sie Beth wirklich hierher begleiten sollte. Ihre Hauptsorge galt dabei den Vampiren, die das Viertel vielleicht immer noch, wie schon einmal erlebt, unter Beobachtung hielten. Doch in der Nacht war viel mehr passiert, als sie Duncan oder gar Beth anvertraut hatte. Sie hatte nicht nur von einem Feind geträumt, dessen Haß und Stärke alles Erträgliche sprengte, ohne daß sie sich über seine Identität klargeworden war. Nein, sie war auch über zeugt, einen Ruf aufgefangen zu haben. Anders als bei dem Ohnmachtsanfall, als sie meinte, selbst Sog auf etwas auszuüben, war diesmal sie gelockt und angezogen worden. Es hatte nicht lange gedauert, bis ihr klar wurde, daß es sich dabei nur um etwas handeln konnte, das noch immer dort zu suchen war, wo Lilith 98 Jahre lang dem Zugriff ihrer Feinde entzogen gewesen war. 333, Paddington Street … Der Ruf war so heftig gewesen, daß Lilith wieder einmal zweifelte, ob ihre Mutter wirklich tot war, wie zunächst angenommen. Eigent
lich hätte sie es sein müssen. In Wirklichkeit, gestand Lilith sich ein, wußte sie aber viel zu wenig über das GESETZ der Vampire, um das Überleben ihrer Mutter völlig auszuschließen. Es gab nur eine Möglichkeit, sich Gewißheit zu verschaffen. Sie mußte noch einmal zurückkehren in das Haus ihrer Herkunft und hinabsteigen in den Keller, wo sie die unverweste Hülle ihrer Mut ter hinter durchsichtigem Stein gesehen hatte. Zunächst aber mußte sie hoffen, daß sich der Teil ihrer Vision, in der sie das Haus untergehen sah, noch nicht erfüllt hatte. Sie überwand ihre Scheu und trat durch das Gartentor. Niemand folgte ihr. Jedem schien die furchtbare Gefahr, die hier schlummerte, instink tiv bewußt zu sein. Auch Lilith. Sofort einsetzendes Zwielicht, noch bevor Lilith in den Schatten des ersten Baumes tauchte, war nur eines von vielen offensichtlichen Anzeichen einer Bedrohung, die nicht in Worte zu fassen war. Dennoch bewegte sie sich voran. Den Pfad, den sie kannte, gab es nicht mehr. Es gab überhaupt keinen sichtbaren Weg durch das Dickicht, das sich aus Gewächsen zusammensetzte, die normaler weise auf dem ganzen Kontinent nicht zu finden waren. Lilith er kannte Palmgewächse zwischen Akazien, Mandel- und Olivenbäu men und bodennahen, dunkelroten Mistelarten, deren Blüten wie offene Flammen aussahen. Weitere bizarre und vielfach dornenbe wehrte Sträucher, die ihr den Weg verstellten, waren ihr völlig un bekannt. Erstaunliches geschah. Statt Liliths Vorwärtsdrang zu bremsen, schienen die dornenreichsten Büsche von Geisterhand zur Seite ge drückt zu werden und eine Gasse für Lilith zu bilden, die sie nun ohne die kleinste Schramme durchschreiten konnte.
Und sofort wurde auch der Sog wieder spürbar. Eine unheimliche Kraft, die Lilith wie ein Magnet zu sich heranzog. Die mit Verspre chungen lockte, ohne sich dafür eines einzigen Wortes bedienen zu müssen … Lilith machte ein paar Schritte, bevor sie sich gegen die Verlo ckung zu sträuben begann. Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, daß sie hinter diesen üppig-fremdartigen Dschungel blicken wollte. Unsinn! lockte der Sog. Woher willst du das wissen? Du mußt dich nur gehenlassen, fallenlassen, treibenlassen. Du mußt zu mir zurückkom men, denn ich brauche dich! Ich bin nichts ohne dich. Und du? Was bist du ohne MICH? Wir gehören zusammen. Zwei Jahre noch, dann – Lilith erstarrte. Die umgebende Düsternis schien ihr plötzlich wie das Versteck von tausend heimlichen Beobachtern. Sie fühlte sich angestarrt, ta xiert, gewogen und … »Nein!« stöhnte sie, als sie begriff, was passieren würde, wenn sie weiterging. Der Wille ihrer Mutter war es gewesen, daß sie, Lilith, 100 Jahre in dem magisch versiegelten Haus ihrer Geburt heranreifen sollte, um dann ihrer mysteriösen Bestimmung zu folgen. Durch widrige Um stände war Lilith jedoch zwei Jahre zu früh aufgewacht und hatte den Schutz der Mauern verlassen. Danach hatten, noch als sich Li lith darin befand, in dem Haus gespenstische Veränderungen einge setzt. Lilith hatte nur noch die ersten Anfänge eines Prozesses mitbe kommen, der damit zusammenzuhängen schien, daß Lilith dem Haus sich und ihre Energie entzogen hatte. Vor der Zeit. Ein nicht endenwollender Schauder kroch durch ihren Körper. Der Schritt zur nächsten Schlußfolgerung schien geradezu zwingend: Es
will mich zurückhaben, dachte Lilith. Alles, was hier geschieht, hat nur einen Sinn und Zweck: Ich soll erst meine Restzeit »absitzen«, bevor ich mich der Aufgabe stelle …! Der Gedanke war ebenso erschreckend wie verlockend. Zurückzu kehren in die Geborgenheit eines Mutterschoßersatzes … Vielleicht würde in zwei Jahren alles anders aussehen. Lilith wuß te nicht, wie es wäre, den Kampf, von dem ihre Mutter gesprochen hatte, vorbereitet aufzunehmen. Sie war alles andere als vorbereitet gewesen. Milde ausgedrückt, war sie ins kalte Wasser geworfen worden. Mittlerweile hatte sich herausgestellt, daß sie »schwimmen« konnte. Aber das Potential, das in ihr steckte, war noch nicht annähernd von ihr ausgelotet. All das würde sich vermutlich ändern, wenn sie der Lockung nachgab. Wenn sie dem Sog folgte, an dessen Ende nur das Haus stehen konnte, das sie wiederhaben wollte. Um jeden Preis. Lilith fragte sich, wie viele Menschen bereits ihr Leben verloren hatten, weil das Haus verlorene Energie zurückzuholen versuchte. Wenn die Gerüchte stimmten, von denen Beth erzählt hatte, war es nicht wählerisch gewesen. Die nächste ängstliche Frage, die sich Lilith stellte, lautete: Was würde geschehen, wenn sie sich dem Sog verweigerte, ihm nicht nachgab? Welche Auswüchse würden diesen für Menschen und Vampire verfluchten Ort dann erst kennzeichnen …? Sie begann zu zittern. Es war fast unglaublich, daß jenseits der Gartenmauern heller Tag herrschte, während hier alles in bleiernes Licht getaucht war. Ein Garten der Dämmerung, dachte Lilith. Ein Garten ewigen Zwie lichts. Wird sich daran etwas ändern, wenn ich weitergehe? Wird das, was begonnen hat, wirklich aufhören oder sogar rückgängig gemacht? Nein! gab sie sich selbst die bedrückende Antwort. Die Toten wird
niemand mehr lebendig machen! Plötzlich überkam sie lähmende Furcht. Der Gedanke, für zwei weitere Jahre eingekerkert und ihres Willens beraubt zu sein, hatte etwas Erstickendes. Selbst wenn sie sich darauf eingelassen hätte, wäre ihre Zukunft mehr als ungewiß gewesen. Ihre Feinde waren gewarnt. Niemand konnte ihr versprechen, daß die magischen Sie gel wieder so undurchlässig sein würden wie die 98 Jahre davor. Vielleicht kam gerade die Rückkehr in den vermeintlich sicheren Hort einem Selbstmord gleich … Fast mechanisch drehte sie sich um. Sie war entschlossen, nicht wieder zu opfern, was sie sich so mühsam erarbeitet hatte. Sie wollte nicht auf das verzichten, was sie an intensivem Leben und exzessi ver Lust kennengelernt hatte! Aber sie würde auch ihre Mutter nicht enttäuschen und weiter ih rer Bestimmung folgen – nur eben auf ihre Weise. Ohne das magi sche Kleid und andere »Krücken«, auf die sie sich nur bis zu einem gewissen Grad verlassen konnte! Sie begann, den Weg, den sie gekommen war, zurückzulaufen. Der Sog erkannte ihre Absicht und zerrte noch heftiger an ihr. Zu gleich verschwand die Gasse im Gestrüpp. Dornen schlugen schmerzhaft in Liliths Fleisch, als sie sich auch davon nicht aufhal ten ließ. Als sie die Pflanzenbarriere hinter sich gebracht hatte, wurde das Gefühl, nicht allein zu sein und von jemandem angestarrt zu wer den, so übermächtig, daß sie widerwillig stehenblieb, obwohl die Vernunft gebot, weiterzueilen. Gartenmauer und Tor lagen schon in Sichtweite. Lilith nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr und blickte nach rechts. Sie sah gerade noch den nur mit einem Lendenschurz bekleideten
Aboriginal ins Dickicht eintauchen. Es war nicht die erste Sichtung dieser Art. Es handelte sich um denselben Ureinwohner, den sie bereits mehrfach hier und im Haus gesehen hatte. Schon wenige Jahre nach ihrer Geburt hatte er das Anwesen durchstreift, Boden und Pflanzen besungen und Rituale ge tätigt, deren Sinn bis heute unklar war. Lilith kannte weder den Na men des hageren, mit Erdfarben bemalten Aboriginal, noch hatte sie eine Erklärung dafür, wie diese Gestalt ihr Leben seit beinahe 100 Jahren begleiten konnte. Sterbliche Menschen erreichten selten ein so hohes Alter. Vollends rätselhaft wurde die Sache aber dadurch, daß sich dieser Mann seit damals nicht im mindesten verändert hatte! Lilith verwarf den impulsiven Gedanken, ihm zu folgen und ihn zur Rede zu stellen. Statt dessen legte sie die letzte Strecke zum Tor zurück und verließ den Garten. Geblendet von der hoch im Zenit stehenden Mittagssonne und dem grellen Licht, das sie direkt hinter der Einfriedung vergoß, hob sie die Hand und beschattete ihre Augen. Sie bereute ihre Entscheidung nicht, aber sie ahnte, daß sie noch keinen dauerhaften Sieg errungen hatte. Der Sog bestand weiterhin fort, auch wenn ihm hier draußen leichter zu widerstehen war. Lilith begann zu ahnen, daß sie in ganz Sydney keinen Ort finden würde, wo sie davon unbehelligt blieb, solange der Quell dieses Phänomens weiterbestand. Sie hatte das Haus nicht zu Gesicht be kommen, aber inzwischen stand für sie fest, daß es immer noch – in welcher Form, war nebensächlich – weiterexistierte. Vielleicht würde der Sog in zwei Jahren schlagartig aufhören, wenn sie es durchhielt, sich dagegenzustemmen. Vielleicht würde er auch nie aufhören, bis sie die verbliebene Frist einlöste. In diesem Moment erkannte sie, daß sie nach wie vor den Drang
verspürte, das Haus ihrer Geburt nach weiteren Hinweisen auf ihre Bestimmung auszukundschaften. Falls sie je einen Weg finden wür de, der ihr eine Möglichkeit zur sofortigen Rückkehr offenließ, wür de sie ohne langes Zaudern danach greifen … Sie kehrte unbehelligt hinter die Absperrungen zurück. Beth war nirgends zu sehen. Lilith fand sie erst, als sie zum geparkten Wagen der Reporterin weiterging. »Ich hoffe, du weißt, daß du mir eine Erklärung schuldest«, emp fing Beth sie nicht gerade in rekordverdächtig guter Stimmung. Lilith gab sich zerknirscht. »Ich weiß auch nicht, was das sollte. Ich fürchte, die haben sich einen Jux mit mir gemacht. Zwei Absperrun gen durfte ich passieren, dann war Endstation. Irgend so ein Komi ker fragte mir ein Loch in den Bauch, dann schickte er mich zurück …« Beths Augen glitzerten gefährlich. »Du willst behaupten, du hät test nichts von dem gesehen, was uns hier verheimlicht wird? Gar nichts? Das soll ich glauben …?« »Es ist so. Warum sollte ich dir etwas vormachen?« »Ja, warum?« Das Glitzern erlosch, das Mißtrauen blieb. »Okay, dann war’s das wohl wieder … Fahren wir zurück. Ich muß aber noch auf einen Sprung in die Redaktion.« »Kann ich im Wagen warten?« Beth nickte mit Nachdruck. »Ich bitte sogar darum. Nicht, daß mir dort dasselbe passiert und man mich im Foyer aufhält, während du nach oben fährst und meinen Stuhl einnimmst …!« Lilith nickte ernsthaft. Beth machte ein Gesicht, als leide sie unter plötzlichem Zahnweh. Sie blieb geschlagene zwei Stunden im Verlagsgebäude. Als sie zu rückkehrte, hatte sich ihre Miene etwas aufgehellt.
»Ich dachte schon, du würdest mir nie verzeihen«, reagierte Lilith erleichtert. »Das halte ich mir noch offen«, dämpfte Beth verfrühten Optimis mus. »Ich strahle wegen etwas anderem.« »Darf man fragen, weswegen?« Beth lächelte hintersinnig. »Natürlich. Aber es wird dir nicht viel sagen. Es hat nichts mit der Paddington-Geschichte zu tun. Ich er hielt gestern anonym eine Namensliste zugeschickt, mit der ich bis lang nicht viel anfangen konnte.« »Jetzt aber?« »Jetzt aber«, nickte sie. »Jemand, der mir einen Gefallen schuldet, recherchierte die Namen für mich.« »Und?« »Er rief mich gerade an und meinte, es müsse sich um einen Aus druck aus einem Polizeicomputer handeln. Alle aufgelisteten Perso nen, hauptsächlich Frauen, kamen in den letzten knapp hundert Jah ren gewaltsam ums Leben!« »Was ist daran so Besonderes?« fragte Li’lith. »Das werde ich herausfinden!« versicherte Beth. »Glaub mir, ich habe ein Näschen dafür, ob eine Sache stinkt oder nicht! Die Liste wurde mir nicht umsonst zugespielt. Jemand – womöglich ein An gehöriger der Polizei selbst – will, daß hier etwas nicht länger unter den Tisch fällt …« Sie rieb sich die Hände. »Ach, wie wäre das schön, wenn ich auch einmal unserem unfehlbaren Mister Codd an den Karren fahren könnte …!« »Euch beide scheint nicht die innigste Freundschaft zu verbinden.« »Wie hast du das nur erkannt?« Lilith schwieg, während Beth losfuhr. Nach einer Weile sagte sie: »Das ist aber nicht der Weg zu deinem Apartment.«
»Habe ich das behauptet? Eine Strähne muß man nutzen, solange sie anhält. Wir schauen mal kurz in der Market Street vorbei. Würde mich nicht wundern, wenn ich endlich das Glück hätte, eine andere Hürde zu meistern. Seit Tagen versuche ich wie eine Blöde, ein Tref fen zu arrangieren, von dem ich mir ein paar Fortschritte, auch die Vorkommnisse in der Paddington Street betreffend, erhoffe. Bisher war die Kontaktperson nie persönlich anzutreffen. Heute, das fühle ich, könnte es gelingen …« Lilith enthielt sich jeden Kommentars. Sie war immer noch mit der Aufarbeitung ihrer Erkenntnisse beschäftigt, die sie auf dem von neuer Vegetation überwucherten Grundstück gewonnen hatte. Als sie wenig später vor einem kleinen Laden hielten, klatschte Beth triumphierend in die Hände. »Habe ich es nicht gesagt? Die Rolläden sind oben. Er ist da!« Lilith wollte aussteigen, aber die Reporterin hielt sie zurück. »Bleib besser hier«, bat sie. »Esben Storm wurde mir als sehr scheuer Cha rakter beschrieben. Laß mich allein mit ihm reden.« Lilith verzichtete darauf, Beth anderweitig zu beeinflussen. Ein Blick auf das Antiquitätengeschäft genügte, um die Hoffnung der Reporterin, hier Neues über die Paddington Street in Erfahrung zu bringen, nur milde zu belächeln. Wie nicht anders erwartet, kehrte Beth auch schon wenige Minu ten, nachdem sie den Laden betreten hatte, enttäuscht zurück. »So ein Arsch«, schimpfte sie, während sie ihre Glieder vor dem Steuer des Winzigmobils ordnete. »Und wegen so jemandem hänge ich mich tagelang an die Strippe …!« »Was war denn?« heuchelte Lilith Interesse. »Nichts war – gar nichts! Der alte Knacker mimte die drei berühm ten Affen gleichzeitig: nichts sehen, nichts hören, nichts verraten! Arschgesicht!«
»Na, na!« »Ist doch wahr! Der hat sich nicht verstellt, der hat wirklich keinen Schimmer von nichts! Verhökert irgendwelche angeblichen ›Arte fakte‹ seiner Ahnen und interessiert sich für sonst nichts. Auch mit dem Namen Oodgeroo Noonuccal konnte er nichts anfangen … So eine Pleite!« »Oodgeroo … Wie?« »Ach, vergiß es!« Beth startete den Motor. Eher zufällig wandte Lilith noch einmal den Blick zu dem seltsa men Antiquitätengeschäft, hinter dessen linkem Schaufenster in die sem Moment ein Mann sichtbar wurde. Lilith zuckte wie unter einem Stromstoß zusammen. »War sonst noch jemand in dem Laden?« fragte sie bemüht beiläufig. »Nur totes Zeug«, verneinte Beth abfällig. Während der Wagen anfuhr, hing Liliths Blick noch sekundenlang an der Gestalt hinter der Scheibe, bei der es sich nur um den von Beth erwähnten Esben Storm handeln konnte. Lilith hätte den Mann aus Millionen anderen heraus erkannt. Zu letzt war sie ihm, wenn auch nur flüchtig, vor knapp drei Stunden begegnet. Und sie täuschte sich nicht, wenn sie glaubte, daß auch Esben Storm im Moment des Blickkontakts Reaktion zeigte. In den Augen des alten Aboriginal, der Liliths Weg seit beinahe hundert Jahren immer wieder kreuzte und noch nie ein Wort mit ihr gespro chen hatte, glomm es kurz, aber heftig auf. Es war wie ein lautloser Gruß. Oder eine unerbittliche Warnung … Beth gab Gas.
* In dieser Nacht blieben Lilith und Duncan lange allein in der Woh nung von Macbeth. Zu lange. Die Reporterin war unterwegs, um wegen ihrer mysteriösen Na mensliste zu recherchieren. Als Lilith, ohne einen Faden am Leib, zu Duncans Schlaflager auf die Couch drängte, wehrte er sich nicht län ger dagegen. Die Abwesenheit der beiden Frauen hatte er dazu genutzt, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Er wußte jetzt, daß er nie mehr weiter machen konnte, als sei nichts geschehen. Das Massaker an seinen El tern hatte ihn endgültig davon geheilt, seine Zukunft in der Robe ei nes Priesters zu sehen. Er hatte sein Gottvertrauen verloren – und er zweifelte, es je wie der in ausreichendem Maße zurückzugewinnen. »Du hast gesagt, wir seien quitt«, flüsterte Lilith rauchig an seinem Ohr. »Laß mich dich trotzdem verwöhnen. Hör auf, irgend etwas zu den ken! Du würdest alles verderben. Gib dich einfach hin, den Rest be sorge ich …« Duncan keuchte. Sie schälte ihn aus dem wenigen, was er am Leib trug. Seine Männlichkeit ragte steil empor. Seit er sie das erste Mal nackt gesehen hatte, hatte er sie begehrt. Er wußte, daß sie kein Mensch wie er war, aber das spielte in diesen Minuten keine Rolle. »Geht es auch ohne Blutvergießen?« fragte er heiser zwischen ih rem kühlen Busen.
»Es wird dir gefallen«, wich sie aus. Obwohl er es bezweifelte, ließ er sie weiter gewähren. Was er nicht zu hoffen gewagt hatte, trat ein: Für eine kurze Zeit konnte er die dunklen Schatten, die mit dem Tod seiner Eltern auf ihn gefallen waren, verdrängen. Das Verlangen spülte alles hinweg. Lilith kostete seinen jungen Körper nach allen Regeln der Verfüh rungskunst aus. Die Couch wurde ihnen bald zu klein. Sie wechsel ten auf den Boden und liebten sich danach noch einmal in Beths Bett. Auf dem höchsten Gipfel der Lust überkam Lilith plötzlich eine Todesahnung von solcher Stärke, daß sie völlig unter Duncan ver krampfte. Er war so in sich versunken, daß er es gar nicht merkte. Dann setzte wieder jener andere Sog ein, den Lilith selbst ausübte. Auf ETWAS, das sie zum Leben so nötig brauchte wie die Luft zum Atmen – es war ihr vorher nur noch nie so bewußt geworden wie jetzt! Sie begann zu zittern, als hätte sie Schüttelfrost. Duncan mochte es für einen weiteren Ausdruck ihrer Erregung halten. Als er aus ihr herausglitt und ermattet zur Seite rollte, spürte er erst, daß etwas nicht stimmte. Lilith lag da wie ein Brett. »Sag bitte nicht, daß du es gar nicht wolltest«, flüsterte er aufge wühlt. Er verstand immer noch nicht. Wie sollte er auch? In diesem Augenblick schnellte im Dunkeln etwas auf das Bett. Das Geräusch, das dabei laut wurde, ähnelte einem kurzen, tro ckenen Zungenschnalzen. Duncan drehte sich automatisch zur Seite und knipste die Nacht
tischlampe an. Seine Augen weiteten sich, als er sah, daß Lilith zwar immer noch reglos, aber nicht mehr nackt neben ihm lag. Etwas, das wie alte, schuppige Schlangenhaut aussah, hüllte sie vom Hals bis zu den Ze hen ein wie ein undurchdringlicher Panzer, so eng, daß sich sogar die Spitzen ihrer Brüste und ihre Scham deutlich darunter abzeich neten! Erst als Duncan Liliths zwischen Panik und Erleichterung schwan kenden Seufzer hörte, begriff er wirklich, was passiert war. Das Kleid war nicht vernichtet. Es hatte auf unerklärliche Weise den Weg zu seiner Trägerin zurückgefunden! Und auch wenn Duncan keinen vergleichbar innigen Hautkontakt zu dem unheimlichen Gebilde hatte wie Lilith, gelangte er in diesen Sekunden zu der festen Überzeugung, daß es viel mehr war als ein magisches Kleidungsstück, das sich chamäleonartig den jeweiligen Gegebenheiten anpaßte. Und auch sehr viel mehr als eine Waffe. Duncan Luther hätte – während er beobachtete, wie es sich noch enger um Liliths Körper schmiegte – geschworen, daß es auf ge spenstische Weise lebte … ENDE
Niemandes Freund von Adrian Doyle Das tödliche Netz zieht sich um Lilith zusammen. Landru hat Witte rung aufgenommen; es ist nur noch eine Frage kurzer Zeit, bis er sie aufspürt. Nicht um sie zu töten. So leicht will er es ihr nicht machen. Hilfe erhofft Lilith sich von Espen Storm, den sie als den geheim nisvollen Aboriginal erkannt hat, der schon mehrmals ihren Weg kreuzte, sich aber nie offenbarte. Nun sucht sie ihn auf. Doch Storm ist niemandes Freund. Und als er Lilith mitnimmt auf eine phantastische Geistreise auf den Traumzeitpfaden seiner Ah nen, ahnt sie nicht, in welch tödliches Abenteuer sie sich wagt …