Sven Später
Leichte Beute Version: v1.0
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Kenneth, streckte sic...
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Sven Später
Leichte Beute Version: v1.0
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Kenneth, streckte sich und gähnte herzhaft. Seine Glieder waren längst nicht so steif wie er vermutet hatte. Er war erholt und platzte fast vor neuer Energie. Nur der Hunger machte ihm ein wenig zu schaffen, dieser wahnsinnige Hunger. Vampire konnten ohne Weiteres Jahrhunderte lang schlafen, ohne an Kraft zu verlieren. Es war ein weit verbreiteter Irrtum, dass allein Blut ihnen Stärke verlieh. Sie brauchten auch Schlaf.
»Über zwanzig Jahre, mein Freund. Du hast seit über zwanzig Jahren kein Auge mehr auf getan«, sagte Hans und reichte seinem Meister und Mitbewohner einen silbernen Kelch, auf dessen Vorderseite das Familienwappen einer längst vergessenen Adelssippe prangte. Die Echtheit dieser Gefäße stellte Kenneth noch immer in Frage, denn Hans hatte die sechs Kelche bei einem zwielichtigen Antiquitätenhändler erworben. Einem Kerl, der tatsächlich behauptete, Elvis Presley sei Mitglied der Vampirsippe gewesen, konnte man nicht trauen. Denn Kenneth wusste aus erster Hand, dass Elvis der Familie der Ghoule angehörte. Er selbst hatte die Umwandlung miterlebt. Wie dem auch sei, die Kelche erfüllten ihren Zweck und machten sich gut in einer der zahlreichen Vitrinen, die in fast jedem Zimmer des riesigen Herrenhauses zu finden waren. Viele Vampire mochten einen Sinn für Schönheit haben, aber um fundierte Sachkenntnis war es weitaus schlechter bestellt. Von Kunstverständnis ganz zu schweigen. »Hier, nimm einen Schluck. Es ist noch warm.« Der gute Hans. Immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Kenneth bereute es nicht, ihn als Gefährten erschaffen zu haben. In Hans hatte er eine Person gefunden, der er ohne Bedenken vertrauen konnte. Ganz im Gegensatz zu den Vampir‐Damen. Auf deren permanente Gesellschaft verzichtete er gerne, sie waren einfach zu kompliziert. Nichts konnte man ihnen recht machen. Sie nörgelten an diesem und jenem, wollten einen ständig auf nächtlichen Streifzügen begleiten und nervten, nervten, nervten. Und dann dieser Gesundheitstick: Nein, dieses Blut ist zu fett, das zu süß, jenes zu salzig. Wenn es nach denen ginge, dürfte man sich ausschließlich von Vegetariern ernähren. Ein abstoßender Gedanke. Hans hingegen ließ seinen Schöpfer gewähren und kümmerte sich um seinen eigenen Kram. Nebenbei bemerkt war eine Wohngemeinschaft ohne die ständige Last sexueller Begierde
wesentlich angenehmer. Man hatte Gesellschaft, die man von ganzem Herzen zu schätzen wusste. Nichts ging über eine echte, ehrliche Männerfreundschaft. Wenn Kenneth andere Gelüste befriedigen wollte, traf er sich vorzugsweise mit sterblichen Frauen. Da gab es nach der Freude noch einen guten Happen zum Abschied. Gierig ergriff der rothaarige Vampir das ihm dargebotene Gefäß und leerte es in einem Zug. Doch kaum befand sich der rote Lebenssaft in seinem Magen, verzog Kenneth auch schon das Gesicht zu einer Fratze des Ekels. »Meine Güte, was ist das denn? Hast du Ratten ausgepresst?« Hans lachte: »Nein, das wäre ja scheußlich. An den Geschmack musst du dich gewöhnen, wenn du einen waschechten Tekkno‐ Freak beißen möchtest. In deren Blut gibt es genügend Chemikalien, die selbst uns Unsterbliche high werden lassen.« Erschreckend, wozu sich Menschen neuerdings herabließen. Kenneth war gespannt, mit welchen Hiobsbotschaften Hans noch aufwarten würde. Während seines Tiefschlafs schien sich die Welt wahrlich nicht zum Besseren gewandt zu haben. »Was ist eigentlich Tekkno?«, fragte Kenneth seinen Freund. »Hört sich seltsam an, irgendwie mechanisch. Sind das Maschinenmenschen?« Wieder zeigte Hans sein fröhliches Lachen, das jedem auf der Stelle die schlechte Laune vertrieb – selbst wenn man noch gar nicht wusste, dass man überhaupt missgestimmt war. Er klopfte Kenneth auf die Schulter. Sein Meister hatte viel nachzuholen, denn seit dem Ende der Siebziger war viel geschehen. »Kommt, oh Meister«, meinte Hans und vollführte eine übertrieben einladende Geste, garniert mit der Verbeugung des untertänigen Dieners. Der blonde Jüngling mit seinen gerade einmal sechsundachtzig Jahren war eben ein wahrer Schalk. »Ich werde Euch jemanden vorstellen.«
Kenneth folgte seinem Schüler in das altmodisch eingerichtete Kaminzimmer. Bis auf einigen Nippes, der zusätzlich die bereits überladenen Abstellflächen zierte, hatte sich nichts verändert. Die Möbel standen dort, wo sie hingehörten und im Kamin prasselte ein beschauliches Feuer. Es wärmte nicht wirklich, doch das brauchte es ja auch nicht. Ein echtes Kammfeuer wäre mitten im Sommer ohnehin unerträglich gewesen. Aber die prasselnden Flammen verliehen dem Raum die richtige Atmosphäre. Untote Körper verspürten ohnehin weder extreme Hitze, noch Kälte. Vor einem der rot gepolsterten Zweisitzer aus dem neunzehnten Jahrhundert saß eine junge Frau. Sie zitterte am ganzen Leib und starrte voller Furcht zu den beiden Vampiren, die sie ihrerseits mit unverhohlener Gier begafften. Ihr violetter Pagenschnitt war zerzaust, die hellblauen Lippen bebten. Tränen hatten die üppige Schminke um ihre Augen verwischt und teilweise über ihre Wangen verteilt. Sie erinnerte irgendwie an ein Kind, das den Schminkkoffer der Mutter geplündert hatte. Auch ihre Kleidung war nicht die einer erwachsenen Frau: Ein grell gelbes Minikleid mit hellgrünen Querstreifen und rosafarbene Turnschuhe. Arme und Beine wiesen mehrere stark blutende Bisswunden auf, doch Schmerz schien momentan nicht ihr größtes Problem zu sein. »Weicht von mir, bitte, bitte«, jammerte sie. »Verschwindet!« Wimmernd hielt die Kleine zwei Kerzen so übereinander, dass sie ein Kreuz bildeten. Panik, Verzweiflung – das Mädchen war vollkommen verstört, halb wahnsinnig vor Furcht. Jemand wollte sie fertig machen, bevor sie getötet wurde. Jemand, den Kenneth sehr gut kannte, der direkt neben ihm stand und von einem Ohr zum anderen grinste. Hans liebte es seit jeher seine Mahlzeiten in Angst und Schrecken zu versetzen. Er hatte diesen leichten Hang zu perversen Spielen, den Kenneth nicht nachvollziehen konnte. Tief in Hans’ Seele steckte noch genügend Mensch, um an Grausamkeiten gegenüber
lebenden Wesen Gefallen zu finden. »Ihre Haarfarbe ist hoffentlich nicht echt?«, fragte Kenneth mit diesem unguten Gefühl in der Magengegend, das einen ständig dann überfiel, wenn man auf die Antwort einer Frage wartete, diese Antwort jedoch gar nicht hören wollte. Hans wollte verneinen, entschied sich aber um und meinte: »Du bist doch der große Meister. Finde es selbst heraus.« Kenneth bedachte seinen Schüler mit einem finsteren Blick. Für garstige Spitzen fehlte ihm so kurz nach dem Aufwachen der Sinn. Mit elegantem Schwung warf er seine langen, roten Locken zurück und stolzierte zu dem Mädchen. Sie schrie aus Leibeskräften und hielt dem herannahenden Monster ihr improvisiertes Kreuz entgegen. »Geh weg! Geh weg!« Die Worte waren kaum zu verstehen, ihre Stimmbänder wollten nicht mehr, hatten sie doch bereits genügend unter qualvollem Gekrächze gelitten. Kurz bevor er das Mädchen erreicht hatte, stockte Kenneth plötzlich in seiner Bewegung. Er warf sich keuchend zu Boden, hielt sich seine verkrampften Hände vors Gesicht und wand sich wie eine vergiftete Maus. Seine Finger krallten nach dem Kragen des blauen Morgenmantels und versuchten den Stoff vom Leib zu zerren, er stöhnte. »Ich verbrenne, ich schmelze. Nein, nein, nein!« Als sich etwas Hoffnung im Gesicht des Mädchens zeigte, konterte Kenneth mit seinem berühmten Haifischgrinsen – böse und unendlich gemein, das belustigte Raubtier, kurz vor dem Sprung. Schneller als die junge Frau es hätte sehen können, erschien er dicht neben ihr und rief: »Buh!« Schrilles Schreien schmerzte in den Ohren der beiden Vampire. Das Mädchen strapazierte die Stimme, ohne Grenzen zu kennen. Sie warf sich auf die Seite und zog ihre Beine an. Die Kerzen hatte sie fallen lassen, sie brauchte ihre Hände, um sich das bunte Haar zu raufen.
»Warum stirbst du nicht?«, wollte sie wissen. »Warum hilft das Kreuz nicht? WARUM?« Es brauchte nicht einmal eine Sekunde, bis Kenneth wieder bei seinem Mitbewohner stand. Er lehnte lässig gegen Hans’ Schulter und gab den Schulmeister zum Besten: »Siehst du diesen Mann, mein buntes Kind? Er heißt Hans. Früher, bevor er sich mir anschloss, war er Atheist. Und ich? Tja, ich bin älter als das Christentum. Was bringt dich also auf die Idee, dass Vampire vor Kreuzen zurückweichen würden?« Abermals eilte Kenneth zu dem Mädchen. Mit einer Hand packte er das violette Haar und zog sie auf die Beine. Ihre Nasenspitze berührte die seine. Das unverwechselbare Aroma von Alkohol und Erbrochenem schlug ihm entgegen. Kenneth blickte sich rasch um, seine Augen suchten das Zimmer oberflächlich nach etwaigem Unrat ab. Er hoffte inständig, dass sie sich nicht auf den teuren Perserteppich übergeben hatte. Schlimm genug, überall alte, längst eingetrocknete Blutflecken vorzufinden. Würde sich Hans doch endlich an die Abmachung halten, das Schlachtvieh im Kellerraum zu genießen. Aber nein, es musste ja das Kaminzimmer sein, das Schlafzimmer, die Bibliothek. Dem guten Hans fehlte jeglicher Sinn für Ästhetik. Er war und blieb ein Schwein. Angeben wollte er, mit der wertvollen Einrichtung protzen. Wieso denn nur? Wen wollte er beeindrucken? Die Beute überlebte selten mehr als drei bis vier Tage. Schlussendlich war es ihnen egal, wo sie starben. Ob es sich nun um einen Palast handelte oder um eine baufällige Wellblechhütte – das Ergebnis blieb stets gleich. Nein, er entdeckte keine Überreste menschlichen Mageninhalts – zumindest nicht hier, nicht in diesem Raum. Er widmete sich wieder dem Mädchen und meinte: »Ihr Menschen seid ja so unwissend, dabei haltet ihr euch für die Krone der Schöpfung. Nun, dann zeig mir mal, wie du dich aus dieser Lage befreien willst, du achso
intelligentes Menschlein! Wie kann man sich wohl Vampire vom Hals halten?« Sie weinte einfach weiter, hatte längst den Kampf gegen das Unvermeidbare aufgegeben. Ihre Arme hingen schlaff an den Seiten herunter und auch von alleine stehen wollte sie nicht mehr. Kenneth schleuderte das Mädchen hart zu Boden. »Hans, ich bitte dich, nimm sie mit in den Keller und gib ihr den Rest. Sieh dir die Schweinerei an, die du veranstaltet hast. Überall Blut. Das kriegt man doch nie wieder aus den Polstern.« Hans senkte beschämt seinen Kopf. Maßregelungen in Gegenwart seiner Mahlzeiten waren ihm peinlich. Zuweilen konnte sein Meister richtig weibisch sein. Einen echten Kerl störte das bisschen Dreck nicht. Trotzdem wagte er keine Widerrede. Kenneth mochte sein bester Freund sein, aber in der Hierarchie stand der rothaarige Vampir weit über ihm. Als Wiedergutmachung bot er Kenneth einen Happen seiner Beute an, aber sein Lehrherr lehnte ab: »Danke, ich werde mir selbst einen Menschen suchen und erlegen. Hast du ihr Blut nicht gerochen? Das ist doch über und über mit Drogen versetzt. Ich kenne diesen Duft gar nicht. Wahrscheinlich neumodisches Zeug. Bah, wie kannst du das nur trinken? Irgendwo da draußen muss es doch noch normale Leute geben, die ihr Blut nicht mit Chemie aufmotzen.«
* Für eine knappe Stunde hatte sich Kenneth in sein Zimmer zurückgezogen, um sich für die Nacht frisch zu machen. Er hatte gebadet und sich äußerst modebewusst gekleidet. Als der Vampir mit hoch erhobenem Haupt die Treppe herunterkam, trug er einen roten Anzug mit Rüschenaufsatz an Kragen und Ärmeln, dazu weiße Stiefel, deren Absätze mindestens zehn Zentimeter maßen.
Seine Eitelkeit eilte ihm voraus und empfing ihn am Fuß der Treppe. Diesem Outfit konnte keine Frau widerstehen. Nur Hans schmunzelte, kicherte und brach schließlich in schallendes Gelächter aus. Nach einiger Zeit beruhigte sich der alberne Blondschopf wieder und versuchte, Kenneth etwas begreiflich zu machen, das dieser nicht verstehen konnte. »Du kannst unmöglich so auf die Straße gehen.« »Warum denn nicht? Ganz gleich wie verdorben die Welt nun sein mag, es wird immer jemanden geben, der echten Stil zu schätzen weiß.« Hans winkte ab: »Nur zu, ich will dir ja nichts vorschreiben. Du hast doch die Kleider gesehen, die ich dir zurechtgelegt habe?« Verächtlich zog Kenneth die Brauen nach oben und schnitt eine Grimasse. Ja, er hatte sie entdeckt: Schwarze Lederjeans, schwarze Stiefel, schwarzes Hemd und ein langer schwarzer Mantel – der Gipfel an Geschmacklosigkeit. Wer würde sich denn diese Fetzen freiwillig antun? Nein, nein, er war von seiner Wahl felsenfest überzeugt. Wer in Modeangelegenheiten auf Hans vertraute, der konnte sich auch gleich Makeup ins Gesicht schmieren und Rockmusik hören. So wie diese unmögliche Band damals … Kiss. Die hatten ja tatsächlich geglaubt, mit ihrem Lärm und der albernen Maskerade jemanden beeindrucken zu können. Wahrscheinlich waren sie gleich Anfang der Achtziger von der Bildfläche verschwunden. »Du meinst es gut, das weiß ich, aber als dein Lehrmeister sage ich dir: Mit Eleganz und Selbstbewusstsein beeindruckst du auch den letzten Abschaum. Jetzt rufe mir bitte ein Taxi, ich werde in der Stadt dinieren.« Hans zuckte mit den Schultern und erfüllte den Wunsch seines Meisters. Natürlich war Selbstbewusstsein eine gute Sache, doch Kenneth verwechselte es mit Arroganz. Gerne hätte Hans Fledermäuschen gespielt und seinen Schöpfer heimlich begleitet.
Das wäre ein Spaß. Im Keller wartete jedoch die angekettete Beute auf ihn. Außerdem sollte er besser den Teppich im Kaminzimmer reinigen, bevor Kenneth wieder ausflippte.
* Kenneth saß kurze Zeit später auf dem Rücksitz eines Taxis und begutachtete abschätzig die Umgebung. In der Stadt hatten sich einige Dinge sehr verändert. Überall blinkten bunte Reklameschilder, schnelle Autos verstopften die Straßen und die Passanten waren grässlicher gekleidet, als Kenneth vermutet hatte. Amerika übte einen großen Einfluss aus, denn Deutschland passte sich scheinbar immer mehr dem großen Vorbild an. Eigene Ideen fehlten, ebenso wie die ehemals biedere Lebensweise. Vor allem fehlte es den modernen Deutschen deutlich an Respekt. Das hatte Kenneth bereits feststellen müssen, als er in das beige Taxi eingestiegen war. In den Siebzigern hätte sich kein Taxifahrer ungehobelt gegenüber seinem Kunden verhalten. Der Typ mit verfilzten Haaren hatte Kenneth jedoch ausgelacht, ihn beleidigt. Tunte hatte er den Vampir genannt. Unmöglich. Nun lag der Spaßvogel mit gebrochenem Genick in einer Seitenstraße und sein Taxi stand einsam und verlassen am Bordstein. Vampire, die etwas taugten, ließen sich nicht von Beutetieren veralbern. Selbstredend hatte er darauf verzichtet, diese menschliche Ratte auszusaugen. Sein feiner Gaumen verlangte nach dem süßen Blut reinster Unschuld. Gut, das war zu hoch gegriffen. Es durfte auch das Blut einer ganz normalen Sterblichen sein. Außerdem trank er auch Männer, aber nur in Ausnahmefällen. Deren Blut schmeckte zu herb. Nun durchwanderte Kenneth die neue Fußgängerzone und kam sich recht einsam vor, obwohl ihm dutzendweise Passanten
begegneten. Sie starrten ihn an, grinsten hinter vorgehaltener Hand und trieben ihren Schabernack mit ihm. Er hätte jedes einzelne Wort hören können, verzichtete aber freiwillig darauf. Sein Erscheinungsbild passte offenbar wirklich nicht in diese Zeit. Ich hasse es, Hans Recht geben zu müssen, dachte der Vampir, während er sein Spiegelbild in einem der vielen Schaufenster betrachtete – natürlich konnte man Vampire im Spiegel sehen, sie waren ja da, keine imaginären Erscheinungen. Verglichen mit dem allgegenwärtigen Outfit der übrigen Bevölkerung wirkte sein Aufzug … nun … bescheuert. Die Leute trugen zwar keine Einheitskleidung, doch irgendwie hatte sich der modische Geschmack geändert. Aber sollte er wirklich auf seinen Schüler hören? Kenneth war der Meister, Kenneth wusste über alles Bescheid, Kenneth kannte sich in der Welt aus. Nicht dieser Jungspund Hans. Der brachte es nicht einmal auf hundert Jahre. Was könnte der seinem Lehrmeister schon beibringen? »Ey! Alter! Komm mal her, Alter!« In einer dunklen Seitengasse erschienen mit einem Mal einige Gestalten und bedeuteten dem Vampir mit lässigen Gesten, sich zu ihnen zu gesellen. Kenneth sah sich die kleine Meute an. Jugendliche. Sechs junge Männer, eigentlich noch Knaben, standen im Schatten und taten – nichts. Sie kicherten, reichten eine Zigarette herum und fühlten sich scheinbar wohl bei ihrer Zeitverschwendung. Ihre Hosen waren mindestens vier Nummern zu groß, das Gesäß hing irgendwo an den Kniekehlen und einige verbargen ihr Gesicht unter einer Kapuze, die direkt am Pullover befestigt war. Wer sieht hier wohl alberner aus? Ich oder die? Der Vampir schlenderte in die Gasse und sah sich prompt von den jungen Leuten umzingelt. Sie betatschten seine Rüschen, fuhren ihm durchs Haar und führten ihn immer weiter fort von der belebten
Einkaufsstraße und hinein in die Schatten. Kenneth spielte mit, da er wissen wollte, was sie wohl vorhatten. Ihn interessierte das unreife Blut von Jugendlichen nicht. »Ey, schaut euch das mal an. Eine Tunte.« Einer der Jungen schubste Kenneth, ein anderer befummelte seinen roten Anzug. »Hast dich wohl verlaufen, Alter. Wir zeigen dir den Weg. Aber das kostet. Gib mich mal dein Geld!« »Mir«, meinte Kenneth freundlich. »Es heißt: Gib mir mal dein Geld.« »Willst du mich anmachen, Alter? Alter, der Alte will mich anmachen, Alter. Pass mal auf.« Zwei der Kinder packten Kenneth an den Oberarmen, hielten ihn fest umklammert, während ein anderer Knabe plötzlich eine Pistole zum Vorschein brachte und damit auf das Gesicht des Vampirs zielte. »Ey, Alter, Mann, Alter«, kreischte der Junge mit der Waffe und zappelte, als stünde er unter Strom. Kenneth wurde seiner Maskerade des Hilflosen überdrüssig. Er breitete mit Schwung seine Arme aus und hörte die beiden Angreifer, die ihn sicher im Griff zu haben glaubten, hart gegen herumstehende Abfallcontainer krachen. Seine Augen leuchteten rot auf, ein gemeines Grinsen zeigte die gefährlichen Beißzähne. Gleich darauf klickte es aus allen Richtungen. Kenneth schaute sich um und sah, dass nun jeder der Jungen eine Pistole auf ihn richtete. Nervöse Kinder mit Schusswaffen. Ein Problem für jeden, dem lediglich menschliche Kräfte zur Verfügung standen. Als Untoter konnten ihm Kugeln aber nichts anhaben und es wäre so einfach, sie alle zu töten, bevor auch nur einer den Abzug durchziehen konnte. Doch Kenneth blieb seinen Prinzipien treu. Kinder waren und blieben tabu. Bevor sie auf ihn schießen und ihm den Anzug ruinieren konnten,
hechtete Kenneth zu einer Hauswand und rannte geradewegs senkrecht nach oben. Früher hatten solche Aktionen die Menschen zum Fürchten gebracht. Früher. Heute hörte der Vampir nur Ausrufe der Faszination: »Ey, die Tunte hat voll guten Stoff eingeworfen, Alter. Haste das gesehen, Mann?« Was war nur geschehen in all den Jahren? Hatten sie alle den Verstand verloren? Kenneth schaute noch einmal zur Gasse hinab und erblickte die Jugendlichen, die gerade dabei waren, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Dann erhob er sich in die Lüfte und schwebte heimwärts. Die Nacht war noch jung, sie sollte nicht in einem Desaster enden, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte.
* Die Eingangstür wurde mit Gewalt aufgestoßen und der laute Knall, als die Türflügel gegen die Wand krachten, ließ Hans aus dem Fernsehsessel fahren. Mit Blut getränktes Popcorn fiel zu Boden, zusammen mit einem großen Glas Bloody‐Coke – ein Getränk, auf dessen Erfindung Hans ganz besonders stolz war. Sein Lehrmeister eilte wortlos an ihm vorbei, stürzte die Treppe nach oben und verschwand in seinem Schlafzimmer. Minuten später erschien Kenneth wieder. Er trug die von Hans zusammengestellte Kleidung und meinte: »Kein Wort! Ich will nichts hören! Dir scheint es ja prächtig zu gehen. Du hast dich mit dem Untergang der Menschheit wohl abgefunden? Sitzt hier seelenruhig und klotzt – was ist das eigentlich?« »Königin der Verdammten. Ganz lustig, aber …« Hans stockte, betrachtete das von Grauen gezeichnete Gesicht seines Freundes und fragte: »Meine Güte, Kenneth, was hat dich denn aus der
Fassung bringen können? Du siehst aus, als hättest du die Sonne gesehen.« Ehrliche Besorgnis zeichnete sich in Hans’ jugendlichen Zügen ab. Er hatte damit gerechnet, dass sein bester Freund einige Schwierigkeiten mit der Neuzeit haben würde, aber der rothaarige Alt‐Vampir schien geradezu unter Schock zu stehen. »Da draußen herrscht das reinste Chaos«, sprudelte es aus Kenneth hervor. Er verlor zusehends die Kontrolle, schritt nervös vor Hans auf und ab. Mit größter Mühe versuchte Kenneth, das Erlebte in Worte zu fassen. »Die Menschen sind vollkommen wahnsinnig geworden. Sie tragen ständig winzige Telefone mit sich herum, nur um irgendwelchen Leuten unwichtigen Blödsinn zu erzählen. Viele kleiden sich wie die letzten Penner, verstecken ihre Gesichter unter Kapuzen und stecken in Hosen, die selbst einem Elefanten passen würden. Manche tragen überall Ringe. In den Nasen, durch die Augenbrauen – Hans, sogar in ihren Lippen stecken Schmuckstücke.« Hans grinste wissend. Du würdest dich wundern, wo sie sonst noch Schmuck tragen, dachte er. Aussprechen wollte er es nicht. Seinen Meister überforderte das neue Jahrtausend bereits zur Genüge. Mehr wollte Hans ihm nicht zumuten, sonst verschwand Kenneth sofort wieder in seiner unterirdischen Gruft – diesmal für immer. Das wäre schade und vor allen Dingen eine überaus langweilige Ewigkeit. »Und die Kinder! Hans! Die Kinder haben jeden Respekt verloren! Sie reden in wirren Sätzen und … sie sind bewaffnet! Hans, bei allen Göttern, DIE KINDER TRAGEN WAFFEN!« Mit den letzten Worten packte Kenneth seinen Freund am Kragen und schüttelte ihn heftig. Seit Jahrhunderten durchstreifte er die Welt, hatte schöne Zeitalter erlebt und auch manch dunkles Kapitel der Menschheitsgeschichte, aber nie waren ihm derartige Zustände
begegnet. Hatten die Lebenden ihren letzten Rest Verstand zu unnützem Ballast erklärt und über Bord geworfen? War die Evolution zu dem Schluss gekommen, dass sie mit der Erschaffung des Menschen einen folgenschweren Fehler begangen hatte und verzichtete nun freiwillig auf bereinigende Eingriffe? Kenneth zwang sich zur Ruhe. Er stand am Rande des Wahnsinns und wollte nicht zum ersten Vampir werden, der den Rest seines endlosen Lebens in einer Nervenklinik verbringen musste. Generationen von Ärzten und Pflegern zogen am geistigen Auge des Vampirs vorüber. Sie verzweifelten an dem Wesen, das nicht alterte. Einige von ihnen würden ihm mit der Zeit gewiss Gesellschaft leisten, überwacht von ihren Nachfolgern. Soweit durfte es nicht kommen. Davon abgesehen drohte die Nahrungsquelle für seinesgleichen zu versiegen. Tiere stillten zwar den größten Hunger nach Leben, aber sie versorgten den aufrecht gehenden Blutsauger nicht mit der nötigen Stärke. Untote waren vom Menschen abhängig. Auch wenn es Kenneth nicht gerne hörte oder gar zugab: Menschen und gebürtige Vampire stammten aus derselben Urzelle. Die Möglichkeit zur Umwandlung eines Sterblichen in den weitaus höher entwickelten Vampir war lediglich eine Laune der Natur. Gerecht, aber eben nur purer Zufall. »Ken, beruhige dich. Leiste mir doch Gesellschaft. Wir essen Popcorn A positiv, mixen uns eine Bloody‐Coke und schauen ein paar Filme an. Was sagst du?« »Nein, ich will jagen. Ich muss jagen, Hans. Nach einem langen Schlaf steht mir nicht der Sinn nach Müßiggang. Vergiss nicht, wer wir sind. Wir erlegen unser Essen eigenhändig.« Kenneth schüttelte enttäuscht seinen Kopf. »Du fällst immer mehr in dein altes Leben zurück, mein Freund. Am Ende würdest du es gut heißen, wenn es für unsere Art einen Lieferservice geben würde oder ein Drive‐In. Blut aus der Büchse, Menschen auf Abruf. Ist ja
ekelhaft.« Er erkannte seinen Schüler nicht wieder. Hatte er Hans so wenig beigebracht? War es seine Schuld? Hatte er bei der Erziehung versagt? Diese Probleme durften nicht vernachlässigt werden, doch das hatte Zeit. Zuerst brauchte er eine Stärkung, den Nervenkitzel der Jagd. Danach musste er dringend mit Hans einige ernste Gespräche führen. Wenn sich Unsterbliche zu Couch‐Vampiren entwickelten, waren andere Meister dafür verantwortlich. Bei ihm gab es das nicht. Wenn Kenneth einem Lebenden die Unsterblichkeit verlieh, war es mehr als ein Geschenk. Es erwuchs eine hohe Verantwortung aus dem Erschaffen des Nachwuchses. Man sollte ihm nicht nachsagen können, seine Kinder würden vernachlässigt und hätten von den Gesetzen und Etiketten des Nachtvolks keine Ahnung. »Wo willst du denn hin?« Hans hätte seinen Meister gerne aufgehalten, als dieser Anstalten machte, wieder auf die Pirsch zu gehen. »Die Welt hat sich in den letzten paar Minuten nicht zum Besseren gewandt.« »Ich versuche mein Glück in einem Vorort«, sagte Kenneth. »Städte gehören seit jeher zu den Sündenpfuhlen, aber in freier Natur wissen die Menschen noch, was sich gehört.« Mit diesen Worten verschwand Kenneth und ließ einen ratlosen Hans zurück. Der Schüler machte es sich wieder vor dem Fernseher gemütlich und wartete geduldig auf die Rückkehr seines Meisters. Er musste mit Kenneth einige ernste Gespräche führen.
* Kenneth stand am Rand einer spärlich befahrenen Landstraße, den Daumen der rechten Hand nach oben gerichtet. Jenseits des
Lichtermeers herrschte nur wenig Verkehr. In einiger Entfernung lagen mehrere kleine Ortschaften, für Städter kaum von Interesse. Die wenigen Fahrzeuge gehörten fast ausschließlich Pendlern aus den Dörfern, die von der Arbeit kamen oder jungen Leuten, die zwar in ländlicher Gegend wohnten, die Vorzüge der Stadt aber nicht missen wollten. Trotzdem war die Jagd in diesem Gebiet bedeutend einfacher und meist auch effektiver. Per Anhalter fanden sich leichte Opfer. Einsame Frauen, die sich nach einem schönen, jungen Kerl sehnten. Lange würde er nicht ausharren müssen. Seine Vermutung wurde bestätigt, als ein alter VW‐Käfer einige Meter von ihm entfernt hart bremste und anhielt. Der Vampir lief mit wehenden Haaren zu dem Wagen, vergaß dabei aber nicht, seine Bewegungen der Geschmeidigkeit eines Athleten anzupassen. An der Beifahrertür angekommen, beugte er sich hinunter und strich erotisch eine Strähne seiner roten Lockenpracht aus dem Gesicht. »Hallo, darf ich mit –«, Kenneth fuhr langsam, aber dezent mit der Zunge über seine Lippen, »fahren?« Die junge Frau am Steuer lächelte. »Natürlich. Dumme Frage. Ich habe dich schon überall gesucht.« Nun, wenn das keine Einladung ist, dachte der Vampir und stieg ein. Nach einigen stillen Minuten meinte er: »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist K …« »Hör auf mich zu veralbern, Thomas. Du musst immer Witze reißen. Weißt du nicht, wie einsam ich ohne dich war?« Kenneth hauchte ein Lachen. Die Art Lachen, wie sie in Schnulzen verwendet wird, wenn der Held seiner Angebeteten seine Bereitschaft zu wilden Spielen beweisen möchte. »Nein, Sie müssen mich verwechseln. Ich heiße Kenneth. Ke …« »Das weiß ich doch, Thomas. Das weiß ich doch. Wir sind ja gleich daheim, da können wir über alles reden.« Ist es denn die Möglichkeit. Ihr Blut riecht rein und frisch, keine Drogen.
Unter all den Menschen auf dieser Welt muss ich natürlich an eine Irre geraten. Ihn störte nicht der Gedanke, dass sie möglicherweise – nein, dass sie ganz offenkundig verrückt war. Es machte ihr Blut nicht schlechter. Aber warum spielte ihm das Schicksal in der ersten Nacht des Erwachens derart üble Streiche? »Also gut, du hast mich erwischt«, meinte Kenneth. Sollte sie doch in ihm sehen, wen oder was sie wollte. Bald würde es keine Rolle mehr spielen, dann lag sie blutleer in irgendeinem Waldstück. Vielleicht auch in ihrem eignen Haus. Der Vampir hatte Hunger. Also ließ er sich auf die verschrobene Weltsicht der schönen Unbekannten ein und schlüpfte in die Rolle dieses Thomas, obwohl er keine Ahnung hatte, um wen es sich dabei handelte. »Ich liebe dieses Spiel so sehr. Eine schöne Frau nimmt einen unbekannten Anhalter mit und ist scharf auf ihn. Na los, mach mit.« Die junge Frau kicherte etwas verlegen. »OK, aber verdient hast du es nicht – nachdem du einfach so abgehauen bist.« Eine Pause folgte. Sie räusperte sich und meinte mit gespielter Strenge: »So, Sie wollen mich also anbaggern? Ha, eine Frechheit. Sie kennen ja nicht einmal meinen Namen, Fremder. Ich heiße Gabriele. Und Sie?« »Kenne … Thomas. Ich heiße Thomas.« Bis sie Gabrieles Haus erreichten, alberten beide ungezwungen herum, erzählten sich die abenteuerlichsten Geschichten – wobei Kenneth auf Phantastereien verzichtete, er erzählte Etappen aus seinem Leben. Sie durchfuhren ein malerisches Dorf mit den üblichen Vorgärten, gewöhnlichen Häusern und engen Straßen. Am anderen Ende der Ortschaft bog Gabriele in die Einfahrt eines einfachen, aber recht hübschen Einfamilienhauses. Es lag weit genug abseits, um vor neugierigen Nachbaraugen sicher zu sein.
Hinter dem Gebäude erstreckten sich Felder und Wiesen. Ein winziges Domizil in der Einsamkeit. Das war gut, denn Kenneth wollte die niedliche Brünette in aller Ruhe genießen, ohne ständig das Gefühl haben zu müssen, beobachtet zu werden. Das Innere des Hauses bekam der Vampir nicht zu Gesicht, Gabriele führte ihn sofort zum hinteren Bereich. Ein eingezäunter Rasen, umgeben von Hecken und Bäumen, lud jedes romantisch veranlagte Paar zum Träumen ein. Sie träumte von einem Schäferstündchen im Freien mit ihrem vermeintlichen Thomas. Kenneth träumte von Gabrieles süßem Blut auf seiner Zunge. Beide stellten sich in die Mitte des Rasens und Gabriele schlang verliebt die Arme um den Vampir. »Ich liebe dich so sehr. Ich bin froh, dich wieder bei mir zu haben. Küss mich!« Kenneth ließ sich nicht lange bitten. Er küsste gerne tolle Frauen, ob sie nun verrückt waren oder nicht. Sein Ruf als Liebhaber war unter den Vampiren legendär, ein dunkler Don Juan. Seine Lippen berührten zart ihren Mund, fuhren über ihre weichen Wangen bis zum Hals. Der Hunger brannte in seinen Adern, je stärker er ihren Lebenssaft roch. Während sie lustvoll und voller Erwartung stöhnte, bleckte er lustvoll und voller Erwartung seine Fänge. Ihre Haut duftete nach billigem Parfüm, doch das störte den Vampir nicht. Seine Hauer fanden Gabrieles Schlagader. Er biss zu. Gierig saugte Kenneth, wartete auf den warmen Blutstrom – aber es kam nichts. Er grub die Zähne tiefer in ihr Fleisch, saugte fester. Nichts. Nur ein scheußlicher Geschmack nach Fäulnis und verbranntem Filet breitete sich in seinem Mund aus. Würgend stieß Kenneth Gabriele von sich weg und spuckte aus. »Pfui Teufel! Sag mal, hast du dich nicht gewaschen?« Erst jetzt bemerkte er, dass sie sich verändert hatte. Vor ihm stand nicht länger die niedliche Frau mit den kinnlangen Haaren, sondern ein verbranntes Geschöpf, dessen vom Feuer verschonte
Körperpartien bereits den Zustand fortgeschrittener Verwesung erreicht hatten. »Was …«, keuchte der Vampir und schüttelte sich vor Ekel. »Du … was … Hey, was soll der Scheiß?« »Thomas, mein lieber Thomas. Komm zu mir, wir wollen die Ewigkeit teilen.« Gabriele breitete ihre Arme aus. An einigen Stellen lagen bräunliche Knochen frei. Ihr Gesicht, von dem nicht mehr allzu viel übrig war, veränderte sich. Sie schien wütend zu sein. »Komm! Du hast mich verlassen, hast mir weh getan. Ich wusste nicht, wie lange es brennen würde, als ich das Benzin im Haus verteilte. Ich wusste nichts von diesem schrecklichen Schmerz. Komm! Du musst mir folgen! Du schuldest es mir!« Der Vampir drehte sich für einen Moment um. Tatsächlich, hinter ihm stand eine verbrannte Ruine. Geschwärztes Mauerwerk, zertrümmerte Fenster, kein Dach. Hatte ihm der Hunger die Augen zugeklebt? Wie hatte er sich von einer Illusion aus der Geisterwelt täuschen lassen können? Er, selbst seit Jahrhunderten ein Untoter, der große Meister, war den Streichen einer verdammten Seele aufgesessen. »Komm!«, rief Gabriele noch einmal. Kenneth platzte der Kragen. »Hast du sie noch alle? Ich bin ein VAMPIR! Ist dir nichts aufgefallen? Zum Beispiel dieser Biss in deinen Hals, meine rot glühenden Augen? Die Zähne, hier, meine Zähne.« Er zog seine Oberlippe hoch und deutete auf vier gefährliche Reißzähne, die denen eines Wolfes durchaus ebenbürtig waren. »Schon mal überlegt, wie ich dir folgen soll? ICH BIN DOCH BEREITS TOT! Außerdem heiße ich Kenneth. K‐E‐N‐N‐E‐T‐H!«, wiederholte der Vampir langsam und betonte dabei jeden einzelnen Buchstaben. »Und ich sehe garantiert vollkommen anders aus als dieser Thomas. Zumindest bin ich attraktiver. Vampire sind von Natur aus schön, geschmeidig, nahezu perfekt.«
Gabrieles zerstörter Körper bebte vor Zorn. Sie stieß einen bösartigen Schrei aus und fauchte voller Hass: »Du kommst mit mir! Ich werde dich nicht noch einmal verlieren!« »Alles klar, das reicht. Endgültig. Sieh doch selbst zu, wen du heute Nacht noch findest, um ihn ins Verderben zu locken. Ich verschwinde.« Gesagt, getan. Mit Schwung drehte sich Kenneth um die eigene Achse und bereute es, sich nicht aus geringer Ferne beobachten zu können – es hatte mit absoluter Sicherheit richtig cool ausgesehen. Sein feuerrotes Haar und der bis zu den Knöcheln reichende Mantel aus schwarzem Kunstleder beschrieben einen weiten Bogen. Der schwarze Ritter verlässt heldenhaft das Schlachtfeld. Nun, irgendwie musste er sich die von Hans ausgewählten Klamotten ja schön reden. Er überrumpelte die Erdanziehungskraft und erhob sich aus dem Wirkungskreis des Geistermädchens. Während seiner erfolgreichen Laufbahn als Blutsauger hatte er keine Nacht wie diese erlebt. Erst die Jugendlichen und anderen Wahnsinnigen in der Stadt und nun auch noch ein Gespenst. Meine Sinne funktionieren noch nicht richtig, redete er sich ein. Warum sonst sollte ich nicht mehr die Toten von den Lebenden unterscheiden können? Von weit oben sah er, wie sich Gabrieles Gestalt wieder normalisierte. Auch das Haus stand da, als sei nie etwas geschehen. Sie hatte Kenneth bereits vergessen und ging zu ihrem Wagen. Ihre Suche würde erst enden, wenn sie Thomas gefunden hatte – also niemals. Im ersten Weltkrieg war Kenneth einmal Geistern begegnet. Verlorene Seelen einfacher Soldaten, die sich an Freund und Feind grausam gerächt hatten. Seither war es ruhig um die Wesen aus der Totenwelt geworden. Er hätte nicht gedacht, dass sie noch immer in Mode waren.
Der Vampir schwebte summend durch die Lüfte, ließ seinen kleinen Fauxpas hinter sich. Sein Magen knurrte, er brauchte schnell einen Imbiss, sonst versiegten seine Kräfte. Schweben wäre dann nicht mehr möglich und zu Fuß wollte er die Strecke zu seinem Haus ganz bestimmt nicht bewältigen. Es mochten an die fünfzehn Kilometer sein.
* Da, ein Geruch drang in seine Nase, verführte ihn zu einem hoffnungsvollen Schmunzeln. Kein Benzin, nicht viel Metall, etwas Plastik. Demnach musste sich die Person im Freien aufhalten, nicht in einem Wagen. Menschenblut, sagte er sich. Nicht verseucht, etwa sieben‐ oder achtundzwanzig Jahre alt. Er schnupperte konzentriert. Ja, 1976er Frauenblut, kein Zweifel. Ein guter Jahrgang. Zielstrebig folgte er dem Duft, bis er sie sah. Die Frau stand allein vor der Bank einer Bushaltestelle und stieß bläuliche Rauchwolken in den Himmel. Nikotin gehörte zu den Drogen, die Kenneth hinnehmen konnte. Es machte das Blut ein wenig würziger, aber nicht ungenießbar. Besser, er saugte sich den Bauch mit Räucherblut voll, als dass er weiter hungerte. Sie war hübsch, hatte eine gute Figur. Soweit entsprach sie dem Muster der begehrten Edel‐Beute. Allein an die giftgrünen Strähnen in den langen, blonden Haaren musste er sich zuerst noch etwas gewöhnen. Bunte Haare waren im zweiten Jahrtausend nach christlicher Zeitrechnung offenbar der letzte Schrei. Auch der Rest an ihr geizte nicht mit Farbe. T‐Shirt, Mini und die unzähligen Plastikbänder an ihren Unterarmen verbreiteten eine Fröhlichkeit, die Kenneth aus den Sechzigern nur zu gut kannte. Die Frau trug sogar weiße Stiefel mit breitem, hohen Absatz. Eine Huldigung an
das poppigste Zeitalter auf diesem Planeten. Etwas weiter die Straße entlang, außerhalb ihres Blickfeldes, ging der Vampir zu Boden und schlenderte Richtung Haltestelle. Seine gespitzten Lippen pfiffen einen alten, deutschen Schlager von Rex Gildo. Zwar bevorzugte Kenneth Rock’n’Roll oder gute Popsongs, aber bevor er für Jahre zu Sarge gegangen war, hatten ihn unzählige Schlagerhits durch ein Jahrzehnt begleitet. Er pfiff fröhlich weiter, bis er die schöne Unbekannte erreicht hatte und sie ihm einen zweifelnden Blick zuwarf. Kenneths Gelassenheit verpuffte augenblicklich. Prüfend fuhr er sich durch die Locken, rieb über seinen Schnauzer und den kleinen Spitzbart, um dann den korrekten Sitz seiner Kleidung zu überprüfen. Nein, da stimmte alles. Sein gutes Aussehen hatte wohl nicht gelitten. Vermutlich wunderte sie sich nur, dass um diese Zeit noch jemand anderes in dieser gottverlassenen Gegend unterwegs war. »Hallo«, begrüßte der Vampir seine zukünftige Mahlzeit mit einer zuckersüßen Freundlichkeit, die jeden Diabetiker aus den Socken gehauen hätte. »Ist etwas nicht in Ordnung? Sie schauen so skeptisch. Sitzen meine Haare nicht richtig?« Sie schüttelte den Kopf, dann meinte sie ein wenig abfällig: »Sorry, aber es ist nur dieses Lied, das du da pfeifst. Wenn ich dich so sehe, würde ich dir einen anderen Musikgeschmack zutrauen.« Sie überlegte kurz und ihre Augen erfassten Kenneths gesamte stattliche Gestalt. »Die härtere Gangart«, fuhr Buntlocke fort. »Finsterer. Auf keinen Fall diese Schlagerkacke.« »So kann man sich täuschen«, entgegnete Kenneth und stellte sich vor. Sie ignorierte ihn, wollte keine Unterhaltung beginnen. Ihre Körperhaltung verriet ihm, dass sie nicht an neuen Bekanntschaften interessiert war, selbst wenn es sich um einen Traumtypen wie ihn handelte. Ein Bild von einem Mann, ein Adonis, zu schön, um wahr zu sein. Vampire verfügten über eine ganz besondere Ausstrahlung, die ihnen das Jagen erleichterte. Charme, Charisma, gutes Aussehen
– Attribute, die einen Blutsauger in allen Belangen weit über das Maß Sterblicher hob. Hinzu kam ein überdurchschnittlich hoher Intellekt. Böse Zungen behaupteten, das umfassende vampirische Wissen sei lediglich eine Folge der nahezu endlosen Lebensspanne. Hatten sie doch alle Zeit der Welt, um ausgiebig alle möglichen Studien zu betreiben. »Kommst du aus der Stadt?«, bohrte er weiter, ohne ihre Abneigung gegenüber zwanghaften Gesprächen mit Fremden zu beachten. Es musste schon mit dem Teufel zugehen, wenn er die Frau am Ende nicht um den Finger wickeln konnte. »Vielleicht zeigst du mir einmal eine gute Disco, einen angesagten Club? Du kennst dich doch aus in der Gegend? Ich war lange nicht mehr unter Leuten und …« Die Frau schnaubte verächtlich. Sie sah ihm demonstrativ nicht in die Augen, betrachtete das Gras zu ihren Füßen und meinte nur: »Auf ‘ne billige Anmache habe ich echt keinen Bock. Verzieh dich, der nächste Bus kommt sowieso erst nach Sonnenaufgang.« Eine Kratzbürste. Nun, für mich stellt das kaum eine Herausforderung dar, überlegte Kenneth. Sie wird zu Wachs in meinen Händen, wenn ich erst mal richtig loslege. Kenneth wollte das Spiel nicht in die Länge ziehen. Das Knurren seines Magens wies bereits Ähnlichkeiten mit den Geräuschen auf, die ein wütender Wolf von sich gibt. Er konzentrierte sich, ließ ihren Duft durch seine Nase strömen und murmelte etwas, das nur sie verstehen konnte. Eindringliche Worte, Befehle, vorgetragen mit einer tiefen, kaum hörbaren Stimme. Hypnotisierend. »Du wirst mich nun küssen! Du willst, dass ich dich küsse! Es gibt nichts auf der Welt, außer uns beiden! Du willst mich!« Wie erwartet schaffte sie es nicht, sich seiner Kraft zu widersetzen. Sie wandte sich Kenneth zu und in ihren Augen funkelte eine Liebe, die er ihr eingepflanzt hatte. Sich gegen den Befehl eines Vampirs zu sträuben, war zwecklos.
Sie kam näher. »Ich … ich …«, stotterte die Kleine und klemmte eine grüne Strähne hinters Ohr, die sich keck in ihr Gesicht gestohlen hatte. »Küss mich, bitte! Ich bin dein.« Ich kann es also noch immer. Kenneth brauchte niemanden, der ihm sagte, wie gut er war. Er schaffte es sehr gut, sich selbst zu loben – ganz ohne Bescheidenheit. Seine Hände umfassten ihre schlanke Taille, sie ließ den Kopf nach hinten fallen und bot dem Vampir freiwillig ihren wundervollen Hals an. Lustvolles Stöhnen forderte Kenneth auf, endlich seine Zähne in ihr warmes Fleisch zu schlagen. »Ich bin dein«, flüsterte sie abermals. Kenneth hörte ihren Herzschlag, spürte ihr Verlangen und seinen eigenen verzehrenden Appetit. Ihre Halsschlagader pulsierte herausfordernd, dunkel und unglaublich schön. Die Natur hatte hier ein Meisterwerk vollbracht. Er schloss die Augen. Den Augenblick vor seinem Biss wollte er voll auskosten. Hunger, der jeden Moment gestillt wurde, verursachte die süßeste aller Qualen. So nah war das Ziel, so nah. Trink!, befahl ihm die innere Stimme. Labe dich an ihrem Leben! Nimm ihr Blut in dich auf! Zum zweiten Mal in dieser Nacht schnappte der Vampir zu. Seine Hauer rissen ein großes Büschel Haare aus ihrem Hals, das er auf die Straße spuckte. In wilder Raserei konnte sich Kenneth nicht mehr beherrschen. Er biss, spuckte Haare, biss und spuckte. Wieder dieser Lärm, den sein leerer Magen verursachte. Wieder dieses Knurren und Heulen. Heulen? Er war überrascht. Wieso heulen? Und warum nicht von meinem Bauch, sondern … Ein schmerzhafter Schlag riss Kenneth von den Beinen und etwas schleuderte ihn hart in den Graben hinter der Bushaltestelle. Erst wusste er nicht, wie ihm geschah. Alles um ihn herum drehte sich und seine Brust tat höllisch weh. Er sah auf sein Hemd, bemerkte, dass es zerrissen war.
Blut! Nicht ihres, sondern sein eigenes Blut rann aus vier langen, klaffenden Wunden, die sich quer über seinen Oberkörper verteilten. Es war lange her, seit Kenneth den schwärzlichen Körpersaft aus seinem Leib gesehen hatte, der ihm unnatürliches Leben verlieh. Das Heulen eines riesigen Tieres zerriss die nächtliche Stille. Kenneth suchte nach der Frau, fand sie aber nicht. Dafür entdeckte er eine Bestie, die ihn mit gelben Augen ins Visier nahm. Ein Werwolf, hämmerte es in seinem Schädel. Ein beschissenes Werwolfweibchen mit … mit grünen Strähnen im Fell! Das ist lächerlich! Markerschütterndes Gebrüll kam aus dem offenen Maul des Wolfsmenschen, seine hochgezogenen Lefzen legten ein gigantisches Raubtiergebiss frei. Der Wolfsmensch musste ebenso hungrig sein wie Kenneth, denn das Wasser lief ihm buchstäblich im Maul zusammen. Der Bestie war es gleichgültig, ob sie einen Menschen oder Vampir riss – Fleisch blieb Fleisch. Kenneth rappelte sich auf und blieb einen Moment unschlüssig stehen. Sollte er kämpfen oder das Weite suchen? Seine Ehre als Vampir gebot ihm, sich der Gefahr zu stellen. Werwölfe zählten nicht zu seinen ärgsten Feinden, aber sie dezimierten ungefragt die Beute der Vampire. Abgesehen davon waren diese Biester absolut tödlich, sogar für einen Untoten. Einen völlig zerfetzten Leib konnte selbst der älteste Vampir nicht mehr selbst heilen. Bevor Meister Spitzzahn eine Entscheidung treffen konnte, nahm ihm der Werwolf die Wahl ab. Er rannte auf den Hinterläufen zu Kenneth und warf sich auf den unvorbereiteten Vampir. Überall waren Zähne und Klauen. Kenneth spürte den Schmerz und wehrte sich verzweifelt, aber der rohen Gewalt des Monsters hatte er kaum etwas entgegenzusetzen. Langsam schwanden Kenneth die Sinne. Jetzt hat dein letztes Stündlein geschlagen! Gleich weißt du, was nach dem Leben nach dem Tod kommt!
Trotz der aussichtslosen Lage fasste er noch ein letztes Mal Mut und konzentrierte sich. Sein Körper begann sich aufzulösen. Kleidung, Fleisch und Knochen verwandelten sich in einen geisterhaften Nebel, der sich eiligst über die Wiese und den nahe gelegenen Bach aus dem Staub machte. Das Werwolfweibchen winselte erschrocken auf und verstand nicht, was da vor sich ging. Wie denn auch? Vor den Augen des Raubtiers befand sich nur Dunst, der sich zwar schnell bewegte und ängstlich waberte, aber es war nichts außer Nebel. Werwölfe begriffen hoch komplizierte Vorgänge nicht mehr, nachdem sie die Metamorphose vollzogen hatten. Sobald sich der Mensch in ihrem Inneren zur Ruhe begab und das Tier gewähren ließ, existierten sie nur zu einem einzigen Zweck: Töten und fressen. Erst am Stadtrand, als der Werwolf ihn nicht mehr wittern konnte, verwandelte sich Kenneth in seine normale Gestalt zurück. In seinem jetzigen Zustand blieb ihm nichts anderes, als zu Fuß nach Hause zu gehen. Er war absolut ausgebrannt, das Schweben konnte er vergessen. Schwer atmend stützte sich der Vampir an einen steinernen Pfeiler, der eine Ecke des städtischen Friedhofs bildete. Von einer Mauer aus zerfallenem Stein umgeben, warteten die christlichen Toten in ihren Gräbern auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Dann würden sie sich erheben und die Welt überschwemmen. Schön für den, der daran glauben konnte. Kenneth hielt es für ein uraltes Märchen. Er stieß das schwarze Tor auf und betrat ungestraft geweihten Boden. Die eisernen Flügel quietschten leise, aber niemand bemerkte den Eindringling. Wahrscheinlich lag der Friedhofswärter besoffen in seiner kleinen Hütte und träumte von braungebrannten Mädchen auf einer Südsee‐Insel. Mindestens die Hälfte aller Friedhofswärter tat das. Die andere Hälfte suhlte sich in widerlichen Phantasien über bleiche, leblose Frauenkörper.
Nicht, dass Kenneth je einen dieser Aufpasser kennen gelernt hätte. Aber man hörte da Geschichten … Auf dem Friedhof herrschte herrliche Stille, so wie es sein sollte. Die Toten schwiegen, die vereinzelten Bäume und Büsche rauschten sanft im Sommerwind und in der Ferne waren die Geräusche der Stadt zu vernehmen. Gedämpft und angenehm. War das nicht eine Nachtigall, die lieblich in sein Ohr zwitscherte? Voller Spott und Hohn? Kenneth wusste nicht, wer hier begraben lag. Vielleicht einige seiner Opfer, vielleicht auch nicht. Es war nicht wichtig, solange die Toten nur ihre ewige Ruhe bewahrten. Er selbst benötigte nur etwas Zeit, um wieder zu sich selbst zu finden. Die heutige Nacht hatte ihn beinahe den Verstand und das untote Leben gekostet. Bevor er zu Hans zurückkehrte, musste er sich geistig auf die dummen Sprüche vorbereiten, die sein Schüler zweifellos über ihn ergießen würde. Jahrzehnte lang hast du geschlafen, bist erst vor ein paar Stunden aufgewacht und könntest dich jetzt schon wieder für mehrere hundert Jahre in den Sarg fallen lassen. Er war maßlos enttäuscht. Die Welt war vampirfeindlich geworden – mehr als zuvor. Auf einer hübsch altmodischen Bank ließ sich der Vampir nieder und lehnte sich aufstöhnend gegen das Rückenteil. Seiner Frustration ließ er mit einem kräftigen Seufzer vollen Lauf. Er kümmerte sich nicht um den Splitter, der sich in sein Gesäß bohrte, oder um das Schild, auf dem in großen Buchstaben ›Vorsicht! Frisch gestrichen!‹ geschrieben stand. Als er so da saß, den Himmel betrachtete und sich fragte, ob es nicht klüger wäre, eine Holzlatte aus der Bank zu reißen und sie sich selbst durchs Herz zu bohren, hörte er Schritte auf dem Kieselweg. Leichte Schritte. Ein Mensch hätte sie überhaupt nicht wahrgenommen.
»Lass mich allein«, brummte er, ohne seinen Blick auf den Störenfried zu richten. »Guten Abend, trauriger Fremder.« Ihre Stimme war weich. Liebevoll und dunkel sprach sie zu ihm. Kenneth schielte zur Seite und da stand sie – eine schlankes Mädchen mit langen, schwarzen Haaren, eingehüllt in ein bis zu den Waden reichendes Kleid aus schwarzer Seide. Der Stoff schmiegte sich mit jeder Bewegung an die perfekten Rundungen ihres Körpers. Ihre Haut war bleich und makellos. Sie wirkte sehr jung, doch ihre Stimme verriet, dass sie dem Kindesalter längst entwachsen war. Dunkle Augen suchten die seinen, ihr roter Mund lächelte leicht. Kurz: Sie war hinreißend. »Was bist du?«, fragte Kenneth. »Ein Werwolf? Ein Geist? Ein Zombie? Komm schon, gib mir den Rest.« Sie lachte. Ein niedliches Lachen. Fröhlich und doch endlos traurig. »Nein, nein, ich bin eine Frau. Die Frau, die du suchst. Ich bin hier, um dir zu helfen.« Kenneth schüttelte den Kopf und kicherte irre. »Natürlich willst du mir helfen. Ihr alle wollt mir helfen. Ich kann mich gar nicht mehr retten vor Menschen, die mir BEHILFLICH SEIN WOLLEN!« »Bitte schrei mich nicht an«, flüsterte sie. »Das macht mir Angst.« Der Vampir sprang mit einem Satz auf die Füße. Sein Ledermantel löste sich mit einem Ratsch von der klebrigen Farbe. Er zischte und präsentierte seine stattlichen Zähne. »Die solltest du auch haben«, presste er voller Zorn zwischen den Fängen hervor. »Eigentlich sollte sich jeder vor mir fürchten. Aber nein, ich werde von Kindern mit Waffen bedroht, von einem Geist genervt und ein Werwolf hätte mich fast getötet. Bedeutet es denn überhaupt nichts mehr, ein Vampir zu sein? Ich bin es leid. Müde, das bin ich. Ja, müde, müde, müde.«
Ihre Hand wollte sein Haar berühren, aber Kenneth wich zurück. Zwischen ihm und dem Mädchen sollte ein gewisser Sicherheitsabstand gewahrt bleiben. Sein Vertrauen in die Überlegenheit der Vampire gegenüber allen anderen Lebe‐ und Nicht‐Lebewesen war vorerst zerstört. »Komm zu mir.« Sie hörte nicht damit auf, ihre Hand nach ihm auszustrecken. Er überlegte ernsthaft, ob er ihr nicht den einen oder anderen Finger abbeißen sollte. »Wenn du glaubst, du seiest ein Vampir, dann halte an diesem Glauben fest und leg dich schlafen. Ja, du bist müde. Und ich werde dir helfen, Ruhe zu finden.« Kenneth fühlte sich wie das Rumpelstilzchen. Er wollte schreien, sich in der Mitte zerreißen und im Boden versinken. »Glauben ein Vampir zu sein? Was heißt hier glauben? Ich bin ein gottverdammter Vampir! Ich bin echt!« »Aber ja«, erwiderte sie äußerst sanft, »das bist du. Wir alle sind echt. Nun leg dich hin und lass dich fallen. Ich werde dich auffangen.« »Was – bist – du? Hörst du mir zu? Was bist du?« Das Mädchen schloss die Augen und breitete zwei gigantische Schwingen aus. Gleichzeitig begann sie leicht zu leuchten. Sanftes Glühen ging von ihrer Haut aus, warf goldenes Licht auf einige der grauen Grabsteine. Sie sah aus wie ein Engel – ein Engel mit schwarzen Flügeln. »Ich bin eine Todesfee«, erklärte sie. »Meine Aufgabe ist es, die verlorenen Seelen sicher in den ewigen Schlaf zu führen. Du willst sterben, das spüre ich. Darum bin ich dir erschienen. Nimm meine Hand und ich werde dir helfen.« Schäumend vor Wut ergriff Kenneth plötzlich das Haar des Engels und zog sie heran. Sie gab einen kurzen Schrei von sich, überrascht von seiner übermenschlichen Kraft und seiner Unverfrorenheit.
»Siehst du? Genau das meine ich. Kein Schwein hört mir zu. Ich bin doch schon tot. Vampire sind von Natur aus tot. Untot! Nicht lebendig!« Brutal zog ihren Kopf nach unten und presste ihr Ohr gegen seine kalte Brust. »Hör mal hin«, befahl er und genoss den Duft ihrer Angst. Er hatte nicht gedacht, dass sich Engel vor irgendetwas fürchten konnten. Andererseits hatte Kenneth jedoch niemals gehört, dass sich ein solches Wesen mit einem Vampir angelegt hätte. »Na, du allwissender Engel, schlägt da ein Herz? Macht es Poch – Poch – Poch?« »N – Nein.« Feuchtigkeit sickerte durch den zerfetzten Stoff seines Hemdes. Sie weint, freute sich der Vampir. Ich habe einen Engel zum Flennen gebracht. Cool! Kenneth stieß die Todesfee von sich weg. Sie flatterte unbeholfen mit den Flügeln, konnte aber nicht verhindern, in einem Rosenbusch zu landen, den Trauernde auf das Grab eines geliebten Menschen gepflanzt hatten. Dort blieb sie mit angezogenen Knien liegen und zitterte. Ihr Gesicht verriet Verwirrung, Angst, Unglauben. Sie wimmerte: »Ich – ich dachte, dass – Vampire sind doch nur Phantasiegestalten. Eine Erfindung.« »Aber Engel«, kam es aus Kenneths Mund, triefend vor Sarkasmus. »Die gibt es natürlich.« Sie kann einem schon Leid tun – ach, scheiß drauf! Kenneth versetzte dem himmlischen Mädchen noch einen kräftigen Tritt und verabschiedete sich mit einem »Ihr könnt mich alle mal!« So schwer es sein Ego auch beschädigen mochte, er musste bei seinem Schüler in die Lehre gehen. Die Welt hatte sich so sehr verändert – das schaffte er nicht allein.
Auf dem Rückweg schlich er sich zu einem kleinen Häuschen, das dem Friedhofswärter als Arbeitsstube diente und schaute durch die schmutzige Fensterscheibe. Ein fast kahler Mann mittleren Alters saß vor einer leeren Schnapsflasche und blätterte erregt in einem Pornoheft. Soviel zu unhaltbaren Klischees, ging es ihm durch den Kopf und für einen Moment dachte er daran, dem Mann einen kleinen Besuch abzustatten. Aber die Idee verwarf er sofort wieder. Alles an dem Kerl war widerlich. Nein, daran würde sich Kenneth den Magen nicht verderben. Es gab Grenzen!
* Zu Hause angekommen, folgte Kenneth dem leisen Schluchzen und gelegentlichen Aufschreien des Mädchens, das sich Hans als Abendessen besorgt hatte. Die Laute führten ihn geradewegs ins Speisezimmer. Ihm bot sich ein Bild des Jammers. Hans hatte das Mädchen mit den violetten Haaren auf den Esstisch gebunden und biss ihr lachend in die Zehen. Sein Schüler war wahnsinnig, daran bestand kein Zweifel. Das ehemals blütenweiße Tischtuch und der sandfarbene Teppich waren völlig ruiniert. Ertappt versuchte sich Hans mit faulen Ausreden aus der Affäre zu ziehen. Er wollte keinen Streit mit Kenneth, da sein Meister nicht gerade glücklich wirkte. Im Gegenteil, Kenneth schien geradewegs aus der Hölle zu kommen. Sein Hemd hing ihm in Fetzen vom Leib, das rote Haar war schmutzig und zerzaust und seine Bewegungen erinnerten an die eines alten Mannes. Hans witzelte gerne, doch jetzt war nicht der richtige Moment für dumme Sprüche. Das spürte er mit jeder Faser seines leblosen Körpers. »Ken, ich kann nichts dafür«, begann er eine Entschuldigung. »Manchmal überkommt es mich. Es ist eine Sucht,
du musst das verstehen. Den Teppich kann man ja reinigen lassen und …« »Ist sie schon leer?«, fragte Kenneth und zeigte dabei auf das schwer atmende Mädchen. »Noch nicht. Nimm dir einen Schluck, du scheinst es wirklich zu brauchen.« Kenneth ging zum Tisch und entfernte die Stricke. Er warf sich Hans’ Beute über die Schulter, ohne auf ihre halbherzigen Abwehrversuche zu achten. Zu Hans sagte er: »Ich gehe auf mein Zimmer. Du sorgst dafür, dass morgen Nacht hier nichts mehr zu sehen ist, sonst kriegen wir beide Ärger. Klar?« Sein Schüler nickte eifrig. Ich sollte ihn nicht einfach so gehen lassen. Kenneth braucht jetzt einen Freund, einen Vertrauten, dem er alles erzählen kann. »Warte!« »Was willst du?«, fragte Kenneth, ohne sich umzudrehen. »Wenn du nicht satt geworden bist, dann geh in die Stadt und fang dir einen frischen Menschen. Ich kann heute nicht mehr jagen.« »Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist? Ich meine, du siehst aus, als seiest du von einem Zug angefahren worden.« Hans ließ nicht locker. Manchmal konnte seine Art, Leuten Dinge zu entlocken, die sie nicht preisgeben wollten, nervtötend sein. Nicht zum ersten Mal fragte sich Kenneth, ob es vielleicht ein Fehler war, den Schüler als Freund zu behandeln. Damit verlor der Lehrmeister an Autorität. Aber der gute Hans meinte seine Fragerei nicht böse. Er war ehrlich besorgt um den rothaarigen Blutsauger. Der ältere Vampir ließ die Schultern hängen und sein Seufzen taugte dazu, einen Stein zu erweichen. »Wir reden morgen darüber. Ich weiß nicht, wie du dich in dieser Welt zurechtfinden kannst. Mir gelingt das wohl nicht. In einer Nacht bin ich einem Geist, einem Werwolf und einer Todesfee begegnet.« Nun wandte sich Kenneth doch seinem Freund zu. Sein Blick suchte Mitleid. »Hans, bitte sei ehrlich zu mir. Ist meine Zeit
abgelaufen? Bin ich zu einem Auslaufmodell geworden? Sag mir, ist das die Hölle?« »Die Dinge ändern sich, mein Freund«, gab Hans zu bedenken. »Du weißt das besser als jeder andere. Wie viele Zeitalter hast du durchlebt? Du hast selbst gesehen, in welche Richtung sich die Menschheit entwickeln wird. Kein Wunder, dass in der heutigen Zeit mehr verfluchte Wesen den Planeten bevölkern als jemals zuvor. Der menschliche Irrsinn kennt keine Grenzen mehr. Wir fallen doch gar nicht mehr auf.« Eine kurze Zeit schwieg Hans. Es fiel ihm schwer, seinem Freund und Lehrherrn begreiflich zu machen, dass Vampire nicht länger die Krone der Schöpfung darstellten. Sie waren nur eine dunkle Spezies unter vielen. Nichts Besonderes, nur … anders. Schließlich ergänzte er schlicht: »Tut mir Leid, dir das sagen zu müssen, aber unsere Art muss ums Überleben kämpfen. Es gibt keine leichte Beute mehr da draußen. Nicht, wenn du hohe Ansprüche stellst.« Traurig schlug Kenneth die Augen nieder. Ihm gefiel es gar nicht, sich die Menschheit mit anderen Geschöpfen der Verdammnis teilen zu müssen. Er schlurfte wortlos zur Tür des Speisezimmers hinaus. Vor der Treppe hörte er noch einmal Hans fragen: »Du hast wirklich einen Todesengel gesehen? Ich dachte, die seien gar nicht real.« »Habe ich auch gedacht, Hans. Das dachte ich auch.« Und mit einem verschmitzten Lächeln fügte Kenneth hinzu: »Aber tröste dich, Engel glauben auch nicht an uns.« Den Rest der Nacht verbrachte ein mit Ecstasy‐Blut gesättigter Kenneth auf dem Boden liegend, mit tanzenden Farben und sich drehenden Möbeln – und der Absicht, sich bei nächst bester Gelegenheit die Haare violett zu färben. ENDE