Erneut steht die Diebin Livak im Mittelpunkt des Geschehens. Sie kennt das alte Geheimnis der Magie, eine Quelle ungeah...
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Erneut steht die Diebin Livak im Mittelpunkt des Geschehens. Sie kennt das alte Geheimnis der Magie, eine Quelle ungeahnter Reichtümer – aber auch tödlicher Gefahr. Denn die bösartigen Elietimm wollen ihr dieses Geheimnis abjagen und machen ihr das Leben schwer. Doch Livak besitzt die Schläue eines Fuchses, und der größte Fehler, den ihre Gegner begehen könnten, wäre sie zu unterschätzen ...
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Juliet E. McKenna
LIVAKS SPIEL Roman Ins Deutsche übertragen von Rainer Schumacher
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20 530 1. Auflage: Februar 2006
Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe Titel der englischen Originalausgabe: The Gambler’s Fortune © 2000 by Juliet E. McKenna © für die deutschsprachige Ausgabe 2002 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach All rights reserved Lektorat: Wolfgang Neuhaus / Stefan Bauer Titelillustration: Romas B. Kukalis / Agentur Schlück Umschlaggestaltung: Bianca Sebastian Satz: QuadroMedienService, Bensberg Druck und Verarbeitung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-404-20530-8
Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de www.bastei.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
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Für Michael, Rachel und Philip, die mir so viel geben, ohne es zu wissen.
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Danksagungen
Ich möchte mich meinem Bruder Philip Hucknall für seinen geistreichen Vorschlag danken, was den Titel betrifft. Mein Dank geht auch an alle, die sich an der großen Debatte um Singular oder Plural beteiligt haben. Wieder einmal haben sich Steve, Sue und Mike heldenhaft durch Entwürfe, Skizzen und Neufassungen gekämpft, wofür ich ihnen von Herzen danke. Außerdem kann ich keine Ideen zu Papier bringen, ohne dabei ständig nach neuen Inspirationen zu suchen, sodass ich all meinen Freunden danken möchte, die mich ihr Wissen, ihre Sammlungen und Bücherregale haben plündern lassen, allen voran Liz, Alan, Helen und Jo. Für die notwendige Ruhe, um Ideen zu einer Geschichte zu verarbeiten, danke ich Sharon und der Newland-Vorschule. Bessere Herausgeber, PR- und Marketingmanager als Tim und Lisa, Cassie und Adrian kann ein Autor sich nicht wünschen, und dafür danke ich euch. Seit ich immer mehr Zeit damit verbringe, Autorin zu sein, möchte ich auch all den Buchhändlern, den örtlichen und Universitäts-SF/FantasyGruppen danken, die mich zu Lesungen einluden, mir mit Interesse zuhörten und mich mit ihrem Eifer ermutigt haben. Dass ich solche Reisen unternehmen konnte, verdanke ich Ernie und Betty. Auf der ganzen Welt nehmen Menschen sich die Zeit, ihre Begeisterung für Geschichten wie diese im Internet miteinander zu teilen, was für mich Lohn und Herausforderung zugleich ist. Ich danke euch allen. 6
1.
Lieder des Gemeinen Volkes Gesammelt auf Reisen durch das Tormalin-Reich zur Zeit Castan des Gnädigen und Nemith des Tollkühnen, von Mätresse Dyesse Den Parisot Das Geschlecht derer von Den Parisot lebt seit den Tagen der frühesten Kaiser im Nyme-Tal. Während die Weisheit Tormalins fortschreitet und immer größere Gebiete umfasst, stellen die Männer sich unermüdlich in den Dienst ihrer Familie und ihres Namens, und heute reicht das Hoheitsgebiet der Den Parisots vom fernen Osten bis an die Ausläufer des Großen Waldes. Als diese Verpflichtungen meinen Gemahl von daheim fortriefen, wurden die Bande der Zuneigung zwischen uns so sehr auf den Prüfstein gestellt, dass ich beschloss, mit ihm zusammen auf die Reise zu gehen und dabei den Aufgaben einer Ehefrau nachzukommen, während ich zugleich die Geschichten und Lieder studierte, die wir hörten, um sie hier einer größeren Leserschaft vorzustellen. Musik ist eine angemessene Beschäftigung für Frauen, vom Wiegenlied, mit dem der zarte Säugling beruhigt wird, bis hin zu den edlen Weisen, die wir unsere Töchter lehren, und den fröhlichen Liedern, die wir in vertrautem Kreise singen. In diesen Liedern, die ich beim einfachen Volk des Reiches gesammelt habe, fand ich bezaubernde Melodien, Geschichten, die zu Tränen und zum Lachen rührten, und nicht zuletzt Weisheit. Im ganzen Reich fanden sich Kostbarkeiten, die den großen Häusern Tormalins zur Zierde gereichen würden. 7
Die Musik ist ein Schatz, der uns alle bereichert. Ich stelle diese Lieder zur Unterhaltung vor sowie als beredten Beweis für alles, was das Reich eint, wie viele Meilen seine Völker auch trennen mögen. So wie wir auf unseren Weizenfeldern Drianons Segen erflehen, so überantworten die Völker der endlosen Ebenen ihre Stuten und Fohlen Drianons Obhut. Ich wurde in den ledernen Zelten von Viehhirten in Ostrins Namen ebenso ehrerbietig willkommen geheißen wie auf der Schwelle des kaiserlichen Palasts. Den Göttern sind die Grenzen von Zeit und Raum einerlei, und Gleiches gilt für die Musik. Ein Lied der Waldvöglein, von einem Kind unter den Bäumen des Wilden Waldes gesungen, wird ebenso einen in Seide gekleideten kleinen Prinzen betören. Aufregende Abenteuer aus den Bergen im Norden werden das Blut der Jugendlichen erhitzen und sie darüber hinaus viel über Mut und Pflichten lehren. Harmonie erfreut das Ohr mehr als eine Einzelstimme. Ein dreifaches Seil lässt sich nicht so leicht zerreißen wie ein einzelner Faden. Brüder, vereint in gemeinsamem Tun, fahren besser als jene, die sich durch Rivalität und Misstrauen entzweien. Solche Wahrheiten werden im ganzen Reich anerkannt. Ihr werdet diese und noch weitere in dieser Sammlung finden.
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Selerima, West-Ensaimin Erster Tag des Frühlingsmarktes, Vormittag
Es gibt Leute, deren gesunder Menschenverstand beinahe genauso schnell schrumpft, wie ihr Eigendünkel wächst. Vielleicht ist das ein unabänderliches Naturgesetz – eine jener Fragen, über die sich die Rationalisten auslassen, wenn man es ihnen erlaubt. Wie dem auch sei, es gibt genügend Dummköpfe, vor allem bei Festen, sodass ich meine Runen – in diesem Fall eine Nussschale – gewinnbringend werfen kann, so oft ich will. Ich beugte mich vor und lächelte vertraulich. »Du hast jetzt gut aufgepasst, nicht wahr, mein Freund? Willst du noch einen Pfennig wagen?« Der Blick des stämmigen Mannes hob sich von der krümelübersäten Tischplatte zu meinem Gesicht und blieb an der reizvollen Rüsche meines nur locker geschnürten Hemdes hängen. Blitzschnell wanderten meine Finger unbemerkt unter meine andere Hand, um sicherzustellen, dass ich auch dieses Mal seine Münze bekam. »Ich würde sagen, jetzt habe ich es raus.« Zuversicht glänzte in seinen Augen wie die schmucken Borten an seinen Hemdsärmeln. Immer noch lächelnd, hielt ich seinen Blick fest, obwohl ein kalter Luftzug im Nacken mir die Haare sträubte. Der Kaufmann kam zu einem Entschluss und griff nach der mittleren der drei Nussschalen. Ich legte eine zarte Hand auf seine haarigen Finger. »Ein Kupferstück fürs Auswählen, ein Silberstück zum Sehen«, sagte ich strahlend, ganz unschuldige Anmut. 9
»Anständig, Mädel. Diesmal hab ich dich.« Er warf ein Kupferstück auf den Tisch und griff kühn nach der Nussschale, für die er sich entschieden hatte. Als er offenen Mundes auf das blanke Holz starrte, setzte ich einen Blick des Erstaunens auf, der dem seinen in nichts nachstand. Ein paar Zuschauer lachten. Ich nicht – wie schon seit meinen ersten Tagen auf der Straße. Ein verägerter Kuhhirte hatte mir einst ins Gesicht geschlagen, nachdem er erst seine paar Pfennigen und dann seine gute Laune verloren hatte. »Bei Saedrins Eiern, ich hätte schwören können, dass ich es diesmal geschafft habe!« Der Kaufmann rieb sich über die verschwitzten Wangen und streckte erneut die fette Hand aus. »Silber, um zu sehen, du kennst doch die Regeln«, sagte ich. Der Kaufmann warf mir missgelaunt einen blanken Pfennig zu, den ich rasch in meiner Tasche verschwinden ließ. Als er erst die eine, dann die andere Schale umdrehte, um den fehlenden Kern aufzudecken, rückten die gespannten Zuschauer näher an den Tisch. »Aber wie ...« Der glücklose Spieler schaute verblüfft auf, doch die Stadtbewohner in ihren besten Festtagsgewändern hatten mich seinen Blicken entzogen. Ich schlich davon. Einen Moment blieb ich im Schatten der Treppe stehen, um unbemerkt meine Weste zu wenden. Ohne Hast zog ich die Hintertür hinter mir zu, während ich mir einen graubraunen, handgewebten Umhang um die Schultern warf und den leuchtendbunten Schal vom Kopf riss, den ich in die Hosentasche steckte. Der donnernde Ruf eines Wachoffiziers, der wissen wollte, wer da gespielt hatte, war nicht zu überhören. Mehrere gutgläubige Marktbesucher, deren Geld in meiner Börse klimperte, würden ihm zweifellos eifrig eine Beschreibung von mir liefern: Eine 10
Frau von durchschnittlicher Größe und Gestalt, mit einem leuchtendroten Wams und einem gelbroten Schal um den Kopf, der ihre glatten schwarzen Haare nicht ganz verbergen kann. Wenn die Wachen sich an diese Beschreibung hielten, würden sie mich niemals finden und einen Anteil an der Beute verlangen können. Mit den Fingern kämmte ich mir die weichen, herbstlaubroten Locken und zupfte ein paar verirrte Strähnen gefärbten Rosshaars heraus. Diese ließ ich unauffällig auf der Schwelle eines kleinen Halcarion-Schreines in ein Kohlenbecken fallen, in dem Weihrauch brannte. Der Rauch konnte meinen Dank zur Mondjungfer tragen, dass sie mir einen weiteren Tag Glück beschert hatte. Fünfmal schlugen die Glocken von der nahen Wollmarkthalle. Ein eiliger Hausierer stieß mir in den Rücken, als ich stehen blieb. Ich blickte ihn finster an und tastete misstrauisch nach Börse und Gürteltasche, doch ein zweiter Blick zeigte mir, dass er kein Taschendieb war. »Entschuldigung«, murmelte er und versuchte erfolglos, auf den Steinplatten zu bleiben. Die Rinnsteine waren schon mit Kot und Abfällen übersät. Das Fest hatte kaum angefangen, doch die Bevölkerung der Stadt verdoppelte oder verdreifachte sich zum Äquinoktiums-Markt. Trotzdem würde es am Ende der fünftägigen Feiern genügend Betrunkene und Arme geben, denen Reinigungsarbeiten einen Aufenthalt in den Zellen der Stadtwache ersparten. Große Holzhäuser lehnten sich über die gepflasterte Straße, drei oder vier Stockwerke hoch, von denen jedes ein bisschen weiter vorragte. Der frisch gekalkte Putz der Wände leuchtete vor dem Hintergrund der dunklen Eichenbalken in der Frühlingssonne. Hölzerne Läden wurden über meinem Kopf aufge11
stoßen, als eine fleißige Hausfrau Federbetten zum Lüften ins Fenster legte. Aus offenen Türen drangen Staubwolken, wenn Fußböden zum Fest frisch gefegt wurden. Erinnerungen an die Zeit vor zehn oder mehr Jahren überfielen mich. Ich fühlte mich beinahe wieder wie in Vanam, das unter den großen Handelsstädten in dem Netz aus Lehnsgütern, aus dem Ensaimin besteht, Selerima am ehesten gleichkam. Doch ich war von meinem so genannten Zuhause fortgelaufen und durch Halcarions Güte zu einem sehr viel lohnenderen, wenn auch gefahrvolleren Leben als Spielerin gekommen. Ich war kein geschundenes Hausmädchen mehr, das vor Tag und Tau aufstehen musste, um zu schrubben und zu putzen. Als ich auf meine gepflegten Hände sah und daran dachte, wie rot sie vor Schufterei und Frostbeulen gewesen waren, tadelte ich mich selbst und streifte den auffallenden Ring ab, den ich getragen hatte, als ich die Trottel in dieser Stadt um ihre Pfennige erleichterte. Irgendein Wachmann war vielleicht ein bisschen klüger als der anderen und hielt nach solchem Tand Ausschau. Ein Turm schlug das Mittagsgeläut mit einer Reihe ansteigender Töne. Ich riss mich zusammen; jetzt war nicht die Zeit, nach einem Spiel Runen oder Raben zu gieren. Das Spiel, für das ich nun das Brett vorbereitete, versprach mich für den Rest meines Lebens zu versorgen, sollte ich gewinnen. Ich brauchte nur noch das letzte Paar Steine. Ich ging rasch an den billigen Schänken vorbei, in denen ich den Vormittag damit verbracht hatte, hübsche Gewinne einzustreichen, bog in eine schmale Gasse ein und kam auf der breiten, sonnenbeschienenen Hochstraße heraus. Hier war er, der aufragende Turm der Gildenhalle, geschmückt mit Bannern und Flaggen, die Selerimas Reichtum und Macht verkündeten – jedem, der bis zu zehn Tages12
märsche aus allen Himmelsrichtungen auf sich genommen hatte, um zum Festmarkt zu kommen. All der Zierrat konnte jedoch die Wehrgänge, Wachtürme und die hohen schmalen Schießscharten für die Bogenschützen nicht verbergen. Es war eine Hand voll Generationen her, seit Selerima das letzte Mal für seine Rechte hatte kämpfen müssen, doch die Stadtväter stellten immer noch sicher, dass die jungen Männer ihrer Wehrpflicht in den Übungshallen nachkamen, die jede Gilde unterhielt. Ich überlegte, ob ich mein Glück dort einmal versuchen sollte. Aber wer schoss schon auf Ballen alten Heus, das schon mit Pfeilen gespickt war, wenn der Markt so viele Vergnügungen verhieß? Der Gildenturm lag zu meiner Rechten; also musste ich bergan. Ich schob mich durch wogende Menschenmengen zu dem prächtig ausgestatteten, aus Stein erbauten Gasthaus, in dem ich zurzeit schlief. Und sehr gut schlief, auf weichen Gänsefedern, gestärkten Laken und mit einem sanftmütigen Mädchen, das jeden Morgen herbeieilte, um mein Feuer anzuzünden und mir heißes Wasser für meine Waschschüssel zu bringen. Meine gehobene Stimmung verlieh mir einen federnden Gang, als ich zu dem Salon der Adligen spazierte. »Livak! Endlich! Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst!« Mein derzeitiger Reisegefährte eilte die Treppe herunter. Der strenge Ausdruck seines hageren Gesichts konnte meine gute Laune nicht dämpfen. »Du hättest eine Nachricht hinterlassen sollen«, beklagte Usara sich und bat mit einer Handbewegung um Wein. Wir setzten uns an den Tisch. »Es ist gerade erst Mittag.« Ich nickte dem Burschen zu, der meinen Becher füllte und sich ein Kupferstück verdiente, damit er sich unauffällig zurückzog. »Die Straßen sind überfüllt, hast 13
du das noch nicht gemerkt? Du bist nicht an große Städte oder feiernde Menschenmassen gewöhnt, stimmt’s?« Ich blinzelte in gespielter Zerknirschung über den Rand des kostbaren Kristallbechers. Usara antwortete mit einem Lächeln. »Hast du deine Freunde gefunden?« »Noch nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe in den Tavernen und Bordellen Nachrichten hinterlassen. Sie müssten heute oder morgen eintreffen.« Usara runzelte die Stirn. »Das ist alles sehr ungewiss. Wie kannst du sicher sein, dass sie überhaupt nach Selerima kommen?« »Weil Charoleia es mir gesagt hat. Wir sind Freunde, und das heißt, dass wir einander trauen.« Ich nahm einen Schluck von dem ausgezeichneten tormalinischen Wein. Selerima hatte vielleicht längst die Ehre abgelegt, die westlichste Stadt des Alten Reiches zu sein, doch die Kaufleute haben immer Verbindung zum Osten gehalten, und das nicht nur wegen der Annehmlichkeit einer gemeinsamen Sprache. Dieser Jahrgang war quer durch die zivilisierte Welt gereist, damit sich die anspruchsvollen Gäste dieser eleganten Herberge daran erfreuen konnten. Die Flaschen waren wahrscheinlich fast genauso weit gereist wie ich. Usara fuhr sich mit der Hand durch das lichte sandfarbene Haar. »Das ist ja alles gut und schön, aber wenn nun etwas Unerwartetes eingetreten ist? Du hast keine Möglichkeit, es zu erfahren. Deswegen halte ich es für das Beste, wenn ich ...« »Nein.« Ich beugte mich im Stuhl vor und schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich bin hier der große Hund mit dem schweren Halsband. Es ist mein Spiel, und ich sage, 14
wie wir es spielen. Du bist nur hier, weil ich in meiner Güte deinem Herrn einen Gefallen tue.« Usara presste verärgert die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, während sich auf seinen hohen Wangenknochen ein zartes Rosa ausbreitete. Ich hielt es für klug, ein klein wenig nachzugeben. »Wir geben Sorgrad und Sorgren noch bis morgen Abend Zeit, um mit uns in Verbindung zu treten. Wenn wir bis dahin nichts von ihnen gehört haben, denken wir uns etwas Neues aus.« Allmählich wich die Verärgerung aus Usaras blassem Gesicht. »Was jetzt?« »Wir essen.« Ich winkte dem Serviermädchen, das geduldig an der Durchreiche zur Küche wartete. Ich konnte eine wundervolle Auswahl von Köstlichkeiten sehen, die – ansprechend auf Tellern angerichtet und garniert – aus der Küche gebracht wurden, und unser Tisch war bald mit elegantem cremefarbenem Porzellan gedeckt. Ich genoss die verlockenden Düfte, immer dankbar dafür, das essen zu dürfen, was ich als Kind nur zu sehen bekam, wie es von Dienern und Kämmerern die Hintertreppe hinaufgetragen wurde. Das Mädchen brachte das feine weiße Brot, das erste zarte Lamm, gedämpfte Taubenbrust in eigenem Saft mit Ei und Kräutern, einen hervorragenden Salat aus Spinat und Kresse, angerichtet mit Nüssen, Rosinen, eingelegten Knospen und kandierten Blumen, in einer leichten Sauce aus Obstessig und grünem Öl. Usara schien weniger beeindruckt als ich, aber er aß wahrscheinlich jeden Mittag so, nicht nur an hohen Fest- und Feiertagen wie wir einfaches Volk. Er wischte sich den Mund mit einer Damastserviette ab. »Was hast du heute Vormittag getan?« »Wie gesagt, Nachrichten an wahrscheinlichen Orten hinter15
legt.« Ich hielt es nicht für nötig, Usara zu erzählen, dass ich auch meine Börse aufgefüllt hatte. Ich bezahlte nichts für dieses Luxusleben, doch ich brauchte schließlich einen Grund, um in den Kneipen herumzuhängen. »Was ist mit dir?« »Ich bin bei jeder Gilde gewesen und habe um Einlass in ihre Bibliotheken oder Archive gebeten«, grollte Usara, »doch die Zunftmitglieder sind ganz und gar vom Markt in Anspruch genommen.« Das schmerzte ihn wie ein drückender Schuh, da er an Respekt und unbedingte Zuvorkommenheit gewohnt war. Ich verbarg mein Lächeln hinter meiner Serviette. »Das Fest dauert nur fünf Tage. Du kannst dir die Archive oder was auch immer anschließend anschauen. Es hat uns den größten Teil einer Jahreszeit gekostet, hierher zu gelangen, also machen ein paar Tage mehr auch keinen großen Unterschied.« Usara nickte wortlos, doch ich konnte die Unzufriedenheit in seinen warmen braunen Augen sehen, während wir uns unserer Mahlzeit widmeten. Ich musste mir etwas einfallen lassen, ehe er auf eigene Faust etwas unternahm. Ich wollte nicht, dass er eine beliebige Rune warf, mit der er meine Pläne vereiteln konnte. Usara leckte sich die Finger ab, um die letzten süßen Krumen eines Vanilletörtchens zu genießen. Ich schob meinen Teller von mir. »Dann wollen wir mal sehen, was diese Stadt zu bieten hat.« »Glaubst du wirklich, du könntest deine Freunde in dem Gedränge finden?« Als wir in Toremal zu unserer langen Reise aufbrachen, war Usara noch nie so offen spöttisch gewesen. Nun, es wurde Zeit, dass er sich bei mir entspannte. »In den Städten gibt es nicht so viele Leute aus dem Berg16
volk, ich glaube also schon«, sagte ich. »Sie treiben meist nur Handel mit Dörfern am Rande des Berglandes. Aber nein, Sorgrad und ‘Gren ziehen es vor, unbemerkt zu bleiben. Bei unserer Art von Arbeit kommt man nicht weit, wenn man den Leuten im Gedächtnis bleibt.« Usara blickte einen Moment skeptisch, dann schenkte er mir ein strahlendes Lächeln. »Es wird auf jeden Fall interessanter, als den ganzen Nachmittag hier herumzusitzen. Wie du sagst, so ein Spektakel bekommen wir in Hadrumal nicht zu sehen.« Seine Worte gingen in Glockengeläut aus allen Himmelsrichtungen unter. Wir eilten zu der breiten Vordertreppe des Gasthauses und fanden die Zufahrt mit Menschen verstopft. Wachleute, für das Fest herausgeputzt, scheuchten Nachzügler aus dem Weg. Auf Zehenspitzen stehend, konnte ich gerade das erste der riesigen Zunftsymbole erkennen, das von Gesellen der Gilde getragen wurde. Dann versperrte mir ein kräftig gebauter Mann mit üppigem Federbusch am Hut vollends die Sicht. Ich zupfte Usara am Ärmel. »Lass uns einen besseren Platz suchen.« Nicht viel größer als ich und unwesentlich schwerer, mühte er sich ebenso wie ich, einen Blick auf die Prozession zu erhaschen. Wohl überlegter Einsatz von Ellbogen und Umhangspange brachten uns bis zu einer Gasseneinmündung, wo der hervorspringende Sockel einer aus tormalinischer Zeit stammenden Halle uns einen Aussichtspunkt verschaffte. Ich half Usara hinauf, und wir sahen eine riesige Schere die Hochstraße entlangkommen. Sie war aus bemaltem und vergoldetem Holz, sodass sie metallisch glänzte und so den Reichtum der Schneidergilde demonstrierte. Sich verbeugende und winkende Zunftmitglieder in pelzverbrämten Roben folgten den Gesellen, die unter ihrer ehrenvollen Last schwitzten. Zum Schluss er17
schien der Vorsteher der Gilde, hoch in seinem gepolsterten Sessel auf den Schultern von Lehrlingen, die vermutlich wegen gleicher Größe und kräftiger Muskeln ausgewählt worden waren. Handwerker, die ihre Verbundenheit zum Ausdruck bringen und den Oberen ihres Gewerbes die Treue zeigen wollten, stießen laute Jubelrufe aus. Tuchwalker und Färber folgten mit einer wenig aufregenden Schaustellung von Tuch auf Spannhaken, das im aufkommenden Wind flatterte. Dann kamen die Kürschner mit ihren Gesellen, die monströse Köpfe trugen: Wölfe mit silbernen Augen und roten Zungen, die zwischen blutigen Zähnen hervorhingen, und riesige Bären mit schaumgefleckten Mäulern. Sie heimsten weit größeren Beifall von der Menge ein. Eine schlanke Gestalt, verkleidet als Marder, hüpfte zwischen ihnen herum, während ein anderer in der langen Lederschürze seines Gewerbes ihn mit einem Messer aus Holz und Farbe verfolgte, das so lang war wie mein Arm. Ich lachte mit den anderen Zuschauern. »Im Vergleich hierzu wirken Feste in Hadrumal ein bisschen fad.« Usara musste sich dicht an mein Ohr beugen, um sich verständlich zu machen. »Selerima macht eine fast so gute Schau wie Vanam«, rief ich anerkennend. Nun folgten die Gerber, dann die Lederverarbeiter. Die Prozession ging weiter und weiter; das Zeichen jeder Gilde wurde hoch über das Große Tor gehalten, ehe sie sich zerstreuten, um zum Festmahl in ihre eigenen Hallen zu gelangen. Die Banner kündeten von den zahllosen Künsten und Handwerken, die den Städten von Ensaimin Einnahmen bescherten und Kostbarkeiten aus den Bergen und Wäldern heranschafften. Die Städte lagen an den Flüssen und an der Großen West-Straße, über die 18
alle Arten von Erzeugnissen und Luxusgüter in das alte Königreich Solura im Westen, in das geschrumpfte Tormalin-Reich im Osten und zu all jenen dazwischen gebracht wurden, die Geld auszugeben hatten. Sattler und Zügelmacher machten Böttchern und Tischlern Platz, Zinngießer und Messerschmiede wurden von Hufschmieden gefolgt, deren Gesellen mit schwellenden Muskeln einen massiven Hammer aus poliertem Holz und glitzerndem Stahl trugen. Als einzige Zunft ließen die Goldschmiede Frauen in ihrer Prozession zu, wohlhabende Damen und hochmütige Töchter auf den Armen von Zunftmitgliedern, behängt mit Halsketten und klirrenden Ohrringen, Armreifen und Ringen, Broschen und Nadeln, die dunkelblaue Gewänder und Kopfputze hielten. In meinen Augen wurde die Wirkung durch massige, finster blickende Lehrlinge beeinträchtigt, die nebenher, dahinter und davor marschierten und schwere Knüppel schwangen. Ich glaube nicht, dass rein zufällig die Waffenschmiede folgten, deren Dolche, Schwerter und Stahl in der Sonne funkelten, wenn die Lehrlinge ihre Gesellenstücke schwangen und drohten, jede gierige Hand abzuschlagen. Ich überlegte müßig, ob die Damen ihren Schmuck wohl beim Gildenbankett noch tragen würden und wie schwer es sein mochte, das schmucklose Kleid eines Serviermädchens aufzutreiben. Endlich trug der leichte Wind einen verlockenden Duft über die Köpfe der Menge heran. Silber- und Kupferschmiede erhielten nicht mehr viel Aufmerksamkeit, als die Menge sich erwartungsvoll nach den Bäckern und Brauern, den Metzgern und Krämern reckte. Ein gewaltiger Brotlaib, der hoch über den Köpfen dahergetragen wurde, war ein eindrucksvoller Anblick, und der zu Kopf steigende Geruch nach Hefe aus den vorüber19
rollenden Bierfässern überdeckte sogar den Schweißgeruch ungewaschener Körper. Reihen von Würsten folgten Brötchen und Süßigkeiten, die in die Menge geworfen wurden, und billige Tonkrüge mit Bier wurden herumgereicht. Die Menge begann, sich wieder in Bewegung zu setzen, und Menschen liefen auf die Straße, als das letzte Handwerk vorbeigezogen war, um von der Freigebigkeit zu profitieren und eine kostenlose Mahlzeit zu ergattern. Hausierer und Pastetenverkäufer erschienen, ebenso wie Jongleure und Unterhaltungskünstler. Alle wollten sich ihren Anteil an den Festpfennigen sichern, die in der zweiten Hälfte des Winters und der ersten Frühlingshälfte gehortet worden waren. Ein kluger Sänger stimmte ein Loblied auf Selerimas Macht an, und blanke Pfennige klimperten in seinen Hut. Es war schön, etwas erhöht zu stehen und sich nicht um Brot und Fleisch abstrampeln zu müssen. Längst vergangen waren die Tage, an denen ich mir eine Mahlzeit aus dem Rinnstein geklaubt hatte, das schmutzige Stroh und den namenlosen Schmutz hatte abwischen müssen. »Komm weiter.« Ich zog Usara am Ärmel, während er noch versunken der Parade hinterherstarrte. »Lass uns zum Festplatz gehen und sehen, was es dort gibt.«
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Selerima, West-Ensaimin Erster Tag des Frühlingsmarktes, Nachmittag
»Wohin gehen wir als Nächstes, Jeirran?« »Habt ihr es wirklich bei jeder Prüfstelle und jedem Spengler versucht?« Jeirran pflanzte seine gestiefelten Füße fest auf das Pflaster, um sich gegen den Strom der Einheimischen zu stemmen, die auf dem Weg zu ihren Festtagsvergnügungen waren. »Was ist mit den Zinngießern, von denen muss es doch reichlich geben?« Seine drei Kameraden wirkten weniger selbstsicher. Beide Männer und die Frau hatten das helle Haar und die blassen Augen des Bergvolkes, aber ihre Gesichter verrieten ihre Verwandtschaft. Sie hatten dieselben kräftigen Züge und die gleiche robuste Gestalt. Die beiden Männer tauschten einen etwas zögernden Blick, ehe der Ältere sprach. »Drei von fünf Stellen sind wegen des Festes geschlossen. Wo wir überhaupt eine Antwort bekommen, will niemand Geschäfte machen.« Verärgerung schlich sich in seine Stimme. »Jedenfalls nicht mit uns. Sie sagen alle dasselbe, Jeirran: Sie kaufen ihr Metall von den Händlern, die von den Bergen kommen ...« »Und habt ihr herausgefunden, was für Preise sie bezahlen? Fünfmal so viel wie Degran und seine Kumpane, wette ich«, unterbrach Jeirran ihn aufgebracht. »Habt ihr es genauso erklärt, wie ich es euch gesagt habe, Keisyl? Dass wir bessere Erzbarren um ein Fünftel billiger liefern können?« »Aber sie wollen die Barren sehen«, gab der ältere Bruder zu21
rück. »Niemand interessiert sich für unsere Proben. Wir müssen Metall herbringen ...« »Die Erzproben zeigen die Qualität des Metalls, das wir anzubieten haben!«, unterbrach Jeirran ihn. »Wir schmelzen das Erz und liefern das Zinn, aber wir brauchen Geld, um unsere Kosten zu decken. Bist du sicher, dass ihr das richtig erklärt habt?« »Ja, Jeirran, wir sind uns sicher.« Der Jüngere hielt inne, um finster hinter einem stämmigen Festbesucher herzustarren, der ihn anrempelte, ohne sich zu entschuldigen. »Diejenigen, die uns nicht ausgelacht haben, sagten, wir sollten mit den Metall verarbeitenden Gilden reden, sie wären vielleicht an einer Zusammenarbeit mit uns interessiert – gegen einen Anteil am Gewinn.« »Die Gildenhallen sind wegen des Festes geschlossen, aber vielleicht lohnte es sich, länger zu bleiben.« Keisyl erhob seine Stimme über das Gemurmel der Menge. Das Mädchen warnte ihn, er solle lieber schweigen, doch er tätschelte ihren Arm. »Hier versteht nicht einer unter hundert, was wir sagen, Eirys. Mach dir keine Sorgen.« »Der Sinn und Zweck, direkt mit dem Tiefland zu handeln, liegt darin, den gesamten Gewinn selbst einzustreichen.« Jeirran versuchte gar nicht, seine Verachtung zu verbergen. »Wir könnten drei vertrauenswürdige Verwandte im Umkreis einer Tagesreise finden, die mehr als glücklich wären, gegen Bauholz und Holzkohle mitzumachen, wahrscheinlich auch Söhne abzustellen, die das Erz schürfen. Wenn du auf einen solchen Handel eingehst, gibst du jede Hoffnung auf, deine Truhen zu füllen und eine anständige Ehe einzugehen, ehe Maewelin nach deinen Knochen verlangt!« 22
»Ein halber Anteil an bearbeitetem Metall ist besser als der Anspruch auf Erz, das zehn Klafter tief im Boden liegt, ohne dass es eine Möglichkeit gibt, heranzukommen!«, wandte der jüngere Bruder hitzig ein und verschränkte die muskulösen Arme über der kräftigen Brust. »Hörst du mir jemals zu, Teiriol?«, fragte Jeirran. »Wenn wir sicher sein können, das Metall hier unten zu verkaufen, könnten wir uns beschaffen, was wir brauchen, um selbst eine tiefe Mine anzulegen und Arbeiter einzustellen. Dann würden wir den ganzen Profit selbst einheimsen.« »Es gefällt mir nicht, unsere Angelegenheiten hier auf offener Straße zu diskutieren!« Das Gesicht des Mädchens mit der breiten Stirn und dem eckigen Kinn wurde von weichen Locken umrahmt, die kunstvoll aus dem Knoten ihres goldenen Haares hervorgezupft waren. Doch ihre Lippen bebten vor Zorn. »Ich will zurück in unsere Unterkunft. Ich bin es leid, herumgestoßen und angestarrt zu werden. Du solltest mich nicht so behandeln, Jeirran, ich bin deine Frau und habe besseres verdient. Es ist respektlos und ...« »Na schön, wie du willst.« Jeirran verschränkte die Hände hinter dem Rücken, während er versuchte, seine Enttäuschung im Zaum zu halten. »Keisyl, bring deine Schwester in ihr Zimmer, bitte.« »Ich will, dass Teiriol mit mir kommt«, sagte das Mädchen schmollend. »Wie du willst. Keisyl und ich sehen dich bei Sonnenuntergang. 0h, Eirys, hör auf zu weinen!«, fuhr er sie aufgebracht an. »Tut mir Leid.« Ihre kornblumenblauen Augen standen voller Tränen, und das blasse Rosa ihres Teints wurde von unschönem, tiefem Rot verdrängt. »Tut mir Leid, aber mir gefällt es 23
hier nicht. Es ist laut und schmutzig, und die Menschen sind so grob und ...« »Komm.« Teiriol legte tröstend einen Arm um die bebenden Schultern seiner Schwester und führte sie auf der inneren Seite des Pflasterstreifens davon, wo sie von den Häusern auf der einen Seite und ihm selbst auf der anderen Seite geschützt war. Eirys zog die Kapuze ihres pelzverbrämten Umhangs hoch und band sie fest. Teiriol warf Jeirran noch einen warnenden Blick über die Schulter zu. Keisyl sah ihnen nach; sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Erleichterung und Sorge. »Warum hast du darauf bestanden, dass sie mitkommt?«, seufzte Keisyl und fuhr sich mit der Hand über das kurz geschnittene blonde Haar. Er öffnete mit plumpen Fingern seinen Umhang, unter dem ein cremefarbenes, leuchtend bunt besticktes Leinenhemd zum Vorschein kam. Müdigkeit beschattete die helle Haut unter seinen azurblauen Augen. »Ich bin sicher, es schickt sich nicht, sie dieser Barbarei auszusetzen.« »Ich wollte sie aber nicht zu Hause lassen«, fauchte Jeirran. »Deine Mutter hat jeden Tag seit der Sonnenwende damit verbracht, Eirys einzureden, dass jeder andere Mann sich besser um ihr Land kümmern würde. Gib Ismenia die Chance, und sie wird Eirys überreden, mich nach nicht mal einem halben Jahr Ehe zu verstoßen.« Seine Zornesröte ließ seinen goldenen Bart unvorteilhaft erscheinen. Obwohl er ordentlich gestutzt war, trug er wenig dazu bei, das eckige Kinn über dem Stiernacken abzumildern. Jeirrans Haar war länger als Keisyls und aus der hohen, breiten Stirn zurückgekämmt in den Nacken, wo es sich über dem Kragen lockte. Trotz seiner eher groben Züge sah er unbestreitbar gut aus, und das wusste er auch, wie sein Gebaren verriet. 24
»Ich glaube nicht, dass Mutter sonderlich beeindruckt sein wird, wenn du sie mit irgendeiner scheußlichen TieflandKrankheit nach Hause bringst.« Keisyl starrte Jeirran an, und da er größer war, war das ziemlich wirkungsvoll. Außerdem war er ein paar Jahreszeiten älter. Ein zerlumpter Bursche mit verwundertem Blick duckte sich an ihnen vorbei und umklammerte fest einen Laib Brot. »Es besteht kein Grund, sich solche Gefahren auszumalen, nicht so früh im Jahr.« Jeirran zwang sich zu einer versöhnlicheren Haltung. »Wir bleiben unter uns und atmen schon bald wieder unsere gute Bergluft. Das sollte Eirys aufmuntern.« »Und was können wir für unsere Mühen vorzeigen?«, wollte Keisyl wissen. »Du hast uns den ganzen Winter erzählt, dass dieser Markt der einzige Ort ist, an dem man um bessere Preise feilschen kann. Bislang will aber niemand auch nur einen Blick auf unser Erz werfen, geschweige denn über einen Handel reden.« »Dann sind diese Leute eben zu dumm und erkennen nicht, dass ein Kauf ohne Mittelsmann, der ebenfalls Profit machen will, ihnen Geld spart! Ich werde es morgen selbst bei einigen dieser so genannten Schmiede versuchen. Ich spreche besser tiefländisch als du. Heute finden wir einen Käufer für die Felle. Wenn nötig nehmen wir dieses Geld, um zu kaufen, was wir brauchen. Wir können einen anständigen Stollen in die Rückseite der Ader treiben und schon mal selbst anfangen.« Jeirran nickte bekräftigend. »Nächstes Jahr bringen wir Barren her, so fein, dass selbst diese Bauerntölpel nicht daran vorbeikommen. Es gibt mehr als eine Art, ein Karnickel in die Schlinge zu bekommen.« Ein Mädchen in seinen besten Festkleidern wandte Jeirran 25
und den anderen den mit Bändern geschmückten Kopf zu und zupfte am Rock ihrer Mutter, doch die Frau scheuchte sie mit einem misstrauischen Blick auf die Männer davon. Keisyl lächelte die Kleine an. »Wie sollen wir das machen, wenn jeder Kürschner genauso erpicht auf dieses Fest ist wie alle anderen?« »Es gibt viele Kaufleute, die auf diesem Markt mit Häuten und Fellen handeln«, erklärte Jeirran zuversichtlich. »Ich habe mit einem gesprochen, als wir daraufwarteten, das Stadttor passieren zu dürfen.« Keisyls Miene hellte sich auf. »Warum hast du dann nicht gleich an Ort und Stelle einen Handel abgeschlossen?« »Keiner von Degrans Männern, die im Tal überwinterten, hat erwähnt, dass vor der offiziellen Eröffnung des Marktes jeder Handel untersagt ist.« Zorn lag in Jeirrans Stimme. »Und wann ist das?« Keisyls Frage war kaum zu verstehen, als eine rücksichtslose Gruppe Jugendlicher einen streunenden Hund vorbeijagte. Selbst der kleinste der stämmigen Jungen war einen guten Kopf größer als die beiden Bergbewohner, wenn auch der größte nicht ganz so breitschultrig war. »Wann ist das?«, wiederholte er. »Der Mann in dem Gasthaus sagte, nachdem die Prozession der Gilden vorüber ist.« Jeirran reckte das Kinn vor und bahnte sich einen Weg durch die geschäftige Straße, wobei seine Bergvolkmuskeln ihm gereizte Blicke eintrugen, die er jedoch ignorierte. »Der Marktplatz ist unten am Fluss, hier entlang.« Mit dem Strom der Menge gelangten die beiden Bergbewohner bald zum Wassertor. Eine plötzliche Woge spülte sie durch die verstopften Torbögen, und sie fanden sich außerhalb der Mauern wieder. Jeirrans Miene erhellte sich ein bisschen, als er 26
blauen Himmel sah, der nicht durch hohe Häuser verdeckt wurde. Wenige Augenblicke später machte die Menge Halt, und eine finstere Falte grub sich zwischen Jeirrans helle Augenbrauen. »Was jetzt?«, zischte er Keisyl zu. Der andere fluchte leise und stellte sich auf die Zehenspitzen, um etwas zu sehen, doch die erwartungsvolle Menge quetschte sie ein. Das Murmeln wurde zu aufgeregtem Geflüster, ehe der schrille Klang von Bronzetrompeten Stille gebot. Dann ergriff eine unsichtbare, aber klangvolle Stimme das Wort. »Der Vorfrühling ist vorbei, und wir danken Halcarion für die Erneuerung von Saat und Vieh. Der Nachfrühling kommt, und wir bitten Arimelin, uns Glück und guten Rat zu schicken. Denkt daran, dass dieses Fest Raeponin geweiht ist. Jedermann soll ehrlich sein oder sein gerechtes Urteil erwarten.« Jubel brach aus und scheuchte eine Schar gefleckter Vögel auf den weidenbestandenen Inselchen auf, die in dem breiten, vom Frühlingsregen angeschwollenen Fluss kaum zu sehen waren. Ein Lederhandschuh an einem Pfahl, groß wie ein Kind, schwankte über die Köpfe der Menge, bis der Pfahl sich in die Hülse senkte. Die Menschen stürmten auf den Marktplatz, um begierig Schnäppchen an leuchtend bunten Ständen zu machen und die Vergnügungen zu bestaunen, die überall dargeboten wurden. »Will die Dame ein Wunder sehen? Du siehst aus wie ein wagemutiger junger Mann! Ein Kupferstück, und ihr seht Wesen – halb Mensch, halb Tier!« Ein Marktschreier hockte vor einem farbenfrohen Zelt, das mit Szenen aus Wald und Gebirge bemalt war, und wandte sich mal hierhin, mal dorthin. »Launen der Magie oder der Natur – ihr entscheidet! Herr, was ist mit 27
Euch?« »Komm schon, wir sind hier, um Geschäfte zu machen, nicht um einem Scharlatan Geld nachzuwerfen!« Jeirran nahm Keisyl beim Arm. Der jedoch zögerte. »Wir können kein Geld verschwenden, um missgestaltn Tiefländer anzustarren.« Jeirran blickte finster einen Höker an, der mit grob geschnitzten, in bunte Lumpen gewickelten Puppen winkte. »Hast du eine Ahnung, wohin wir gehen müssen?« Keisyl blickte die fünf Gassen entlang, die sich vom Markteingang her ausbreiteten. Jede war gesäumt von eifrigen Verkäufern, Kaufleuten, die von Wagen aus arbeiteten, auf denen sich die Waren türmten, bescheidenen Händler mit Fässern und Tischen, Bauern, die die armseligen Früchte langer Winterabende von fadenscheinigen Decken verkaufen wollten, die sie auf dem feuchten Boden ausgebreitet hatten. »Wir versuchen es hier lang«, sagte Jeirran entschieden und deutete auf Stände, die unter Ballen von feinem Tuch ächzten; dazwischen boten Hausierer geschäftig Bänder und Spitzen, Perlen und Knöpfe feil. Er schob sich an elegant gekleideten Frauen vorbei zu größeren Ständen. Männer mit strengen Gesichtern prüften Berge von Häuten und Fellen, die auf breiten Tischen auslagen. Der scharfe Geruch von Farben und Gerbmitteln hing über dem frischen Duft von zertrampeltem Gras. Jeirran nickte Keisyl zufrieden zu. »Hier, sag mir, was verlangt Ihr für diese Häute?« »Was sagst du?« Der dünne Budenbesitzer wandte sich von einem Kunden ab und legte eine Hand, so gegerbt wie seine Ware, hinter ein abstehendes Ohr. »Hast du nicht gesagt, du sprichst besser tiefländisch als ich oder Teiriol?« Keisyl steckte die Hand in seinen ledernen Werk28
zeuggürtel und schaute den Selerimaner finster an. Jeirran wiederholte seine Frage, und der Lederhändler schlug die Ecke einer Haut um, sodass Zahlen zu sehen waren, die mit Kreide auf die Unterseite geschrieben waren, wobei er mit leichter Verachtung an seiner langen Nase entlangschielte. »Sieh mal, das ist drei- bis fünfmal so viel wie das, was Degren Lackhand im Tal bezahlt«, zischte Jeirran Keisyl zu und deutete mit dem Finger auf die Zahlen. Er prüfte rasch den Haufen Häute und schob dabei die obersten beiseite. »Die Qualität ist nicht so gut wie unsere.« »Was sagst du? Kannst du nicht sprechen wie zivilisierte Menschen?« Der schlaksige Händler stemmte verärgert die Hände in die Hüften seines Lederwamses. »Wollt ihr nun etwas kaufen oder nicht?« »Wo kaufst du deine Häute?«, wollte Jeirran wissen und wischte sich den Kreidestaub von den Fingern. »Geht dich nichts an.« Der Kaufmann blickte finster unter seinen schwarzen Augenbrauen hervor, doch ein wohlhabender Stadtbewohner heischte mit klingender Börse und einem lächerlich niedrigen Angebot für ein rotbuntes Kuhfell um seine Aufmerksamkeit. »Genau, wie ich dir gesagt habe. Wenn wir die Ausbeute eines Winters direkt an einen Pelzhändler hier verkaufen, hätten wir mehr Geld als in drei Jahreszeiten bei Degran.« Jeirran ging zu einem Stand mit weichen Bündeln zusammengerollter Felle hinüber. »Schau dir das an! Deine Mutter würde damit nicht mal die Winterstiefel eines Hundes füttern, und ich würde mir nicht die Mühe machen, so was aus den Bergen mitzubringen. Aber hier unten bringt es mehr ein, als Degran für ein Eichhörnchenfell bezahlt.« 29
»Das ist auch keine große Kunst, wenn wir eine halbe Jahreszeit damit vergeuden, den ganzen Weg hierher und wieder zurück zu machen.« Keisyl schüttelte den Kopf. »Wir waren einverstanden, dir den Winter über bei den Fallen zu helfen, wenn du uns dafür den Sommer über beim Schürfen hilfst. Wir sollten jetzt die Grube vorbereiten und nicht mit Tiefländern feilschen.« Jeirran beachtete ihn nicht. »Wir bekommen einen guten Preis, und dann nehmen wir einen Teil des Geldes und kaufen dafür Tand und Zierrat. Genügend Schnickschnack wird auch deiner Mutter den Mund stopfen.« Er drehte sich zu Keisyl um. »Andernfalls wird sie gewiss nach einem Ehemann für Theilyn Ausschau halten, der beim nächsten Sonnenwendfest mit ihr die Runde macht.« »Theilyn ist noch ein paar Jahre zu jung zum Heiraten.« Keisyl schüttelte den Kopf, doch ein Schatten der Besorgnis verdunkelte seine blauen Augen. »Aber sie ist nicht zu jung, um verlobt zu werden«, beharrte Jeirran. »Was, wenn deine Mutter eine Familie mit einer Schar Söhne findet, die alle nur zu bereit sind, ihre Arbeitskraft anzubieten, um dem zu helfen, der den Preis bekommt? Wer sagt, dass sie die nicht in der Grube arbeiten lässt anstatt dich und Teiriol?« »Wir haben das Recht, diese Minen auszubeuten, bis Theilyn verheiratet ist, keinen Tag weniger«, widersprach Keisyl. »Dann solltest du dafür sorgen, dass du genug nach Hause bringst, um deine Mutter bei Laune zu halten. Und du brauchst genug Geld, um ein Mädchen mit einem anständigen Stück Land zu umwerben, wenn Theilyn erst einmal nach einem Platz Ausschau hält, an den sie ihren eigenen Herd hinstellen kann. 30
Das alles gilt auch für Teiriol. Zinn abzubauen und Bäume zu fällen, um es zu schmelzen, mag vielleicht gut genug für deinen Vater gewesen sein, aber es gibt keine Adern an der Oberfläche mehr, oder? Ihr müsst tief schürfen, und ihr braucht Brennstoff. Es wird dreimal drei Jahre dauern, ehe eure Gehölze nennenswert nachgewachsen sind, und die alten Bestände rührt ihr nicht an – nicht so lange ich sie verwalte. Diese Wälder sind Eirys’ Mitgift, und ich werde gut darauf achten. Ihr müsst einen anständigen Stollen graben, und das bedeutet Stützstreben und Holzkohlemeiler. Und wenn ihr das, was ihr braucht, nicht eintauschen könnt, müsst ihr alles mit Geld bezahlen. Wo wollt ihr das Gold hernehmen, wenn ich nicht bei euch mitmache?« Jeirrans Augen brannten. »Dann finde jemanden, der die Felle kauft.« Keisyl ballte die Fäuste. Jeirran suchte in dem Beutel, der unter seinem Umhang hing. Er zog eine Hand voll Quadrate aus Pelz und Leder hervor und zupfte an dem moosgrünen Ärmel des Mannes hinter dem Verkaufstisch. »Hier, was hältst du davon?« »Ich kaufe nicht, ich verkaufe, Freund.« Der geschäftige Kaufmann fegte mit seiner fleischigen Hand über den Tisch. »Nehmt Euren mottenzerfressenen Plunder von meinen Waren.« Jeirran beugte sich vor, um seine Muster einzusammeln, das Gesicht rot vor Empörung. »Dein Schaden, du Narr!« Er schob sich durch die brodelnde Menge zum nächsten Pelzhändler, einem Mann mit eckigem Gesicht unter einem Schopf grauer Haare, die aus der Stirn über den klug blickenden Augen zurückgekämmt waren. »Was kann ich für dich tun, Freund?« Der Mann warf Jeirran einen raschen Blick zu, während er in der Tasche seiner Kattun31
schürze suchte und mit der anderen Hand ein Härchen vom Ärmel seines Wamses wischte. »Möchtest du schöne Pelze kaufen?« Jeirran brachte einen seidigen weißen Streifen zum Vorschein. »Eine bessere Qualität als alles, was du hier hast.« »Ein Bergfuchs, nicht wahr?« Der Mann nahm den Pelz und schnüffelte daran; dann drehte er ihn um, um zu sehen, wie gut er gegerbt war. »Wie viel verlangst du?« »Zehn Mark pro Fell.« Jeirran nickte Keisyl triumphierend zu. »Der Gildenpreis beträgt fünf Mark pro Fell, und das gilt nur für beste Qualität. Hier, meine Dame, damit könnt Ihr ein Gewand oder eine Kapuze wunderbar verbrämen. Ein schönes Fest noch.« Der Kaufmann wandte ihnen abrupt den Rücken zu, um ein flauschiges, rotes Eichhörnchenfell an eine scharfäugige Frau zu verkaufen, deren Zofe bereits mit Einkäufen beladen war. »Jedenfalls, Bergbewohner, ich mache keine Geschäfte außerhalb der Gilde. Haltet ihr mich für einen Idioten? Ja, Sir, was sucht Ihr?« Eifrige Kunden drängten sie von dem geschäftigen Händler davon. Keisyl blickte verwirrt, doch Jeirran schob das Kinn vor und glättete den zerzausten Pelz um seine Hand. »Komm, wir versuchen es da drüben.«
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Selerima, West-Ensaimin
Erster Tag des Frühlingsmarktes, Nachmittag »Ich habe alles gesehen, was ich wollte, oder gibt es noch etwas, das dich interessiert?« Ich wandte mich an Usara, der ein wenig beschämt lächelte. »Da hinten war ein Mann, der angeblich einen Basilisken hat.« »Dann wollen wir ihn uns ansehen«, sagte ich. Mal sehen, ob er herausbekommt, wie dieser alte Trick funktioniert. Ein Menschenstrom schob mich in die Schatten zwischen zwei Reihen mit Marktständen. Ein stämmiger Kerl trat mir in den Weg. »Hallo, Hübsche!« Er grinste boshaft. »Schönes Fest wünsch ich dir!« »Schönes Fest.« Ich nickte höflich und versuchte, an ihm vorbei zu kommen. »Bist zum Feiern hier, was?« Er streckte eine schmutzige Hand mit abgekauten Nägeln nach mir aus. »Haare wie Herbstlaub, Augen grün wie Gras – also bist du ein Waldmädchen.« Ein Schritt zurück führte mich tiefer zwischen die Zeltwände. »Nur eine Reisende auf der Durchfahrt. Lass mich meinen Angelegenheiten nachgehen, Freund.« Ich faltete die Hände und löste dabei unauffällig die Manschette meines Hemdes, bereit, meinen Worten mit dem kleinen Dolch Nachdruck zu verleihen, den ich am Unterarm verbarg. »Was hältst du von einer kleinen Feier ganz unter uns zweien?« Der Flegel leckte sich die vollen Lippen, und in seinen eng stehenden Augen glitzerte die Lust so widerlich wie der Schweiß auf seinem unrasierten Gesicht. »Zeig mir, was ihr Mädchen einem Mann schenken könnt, und ich kaufe dir ein Bündel Bänder, um dich rauszuputzen, ja?« 33
»Danke, aber ich bin mit Freunden hier.« Ich versuchte, eine betrübte Miene aufzusetzen. Das fiel mir leichter, als ein rascher Blick mir zeigte, dass zechende Lehrlinge einem aus ihrer Mitte zusahen, dem schrecklich übel war, und die mir den Fluchtweg nach hinten versperrten. »Warum ...« Welche Verlockung der Kerl auch äußern wollte, sie ging in Beifall unter, und ich sah meinen MöchtegernLiebhaber, der sich vor einem flackernden gelben Feuer abzeichnete. Er drehte sich um, ich duckte mich rasch um seine blinde Seite und schoss zwischen zwei Stände. Ein Satz über eine Decke mit Flitterkram, eine hastige Entschuldigung, doch weiter kam ich nicht, denn der Weg war versperrt von Leuten, die mit offenem Mund Usara anstarrten, der mit Händen voller Flammen jonglierte. Sein hageres Gesicht strahlte verschmitzt. Das Feuer wechselte die Farbe, von Gelb über Orange zu Dunkelrot und wieder zurück, und die Flammen stiegen höher und höher. Er verwob die brennenden Farben zu blendenden Mustern, sodass die Menge blinzeln musste. Ich schnappte mir eine gesprungene Schale, die unbeachtet unter der Bank eines Töpfers stand, und schob mich durch die Menschen. »Schönes Fest euch allen.« Als ich die Schale hinhielt, begann das begeisterte Publikum in erfreulicher Eile nach seinen Börsen und Gürteltaschen zu greifen. Einige nutzten die Gelegenheit, als Wechselgeld in Hälften und Viertel geschnittene Münzen loszuwerden, doch die meisten fanden die Vorstellung ganze Pfennige wert, wenn auch meist nur aus Kupfer. »Ihr seid Waldleute?« Ein Händler mit sanftem Gesicht in schlichtem grauen Gewand schob – zweifellos aus Versehen – einen Silberpfennig in meine offene Hand, ohne die Augen von dem Schauspiel abwenden zu können. 34
»Er ist mein Bruder, guter Herr.« Ich fuhr mir mit der Hand über den Kopf und deutete auf Usaras sandfarbenes, wenn auch spärliches Haar. Dass er zur Not als Angehöriger des Waldvolks durchgehen konnte, war einer der Gründe, weshalb der Zauberer hier war. »Wir sind gekommen, um euch mit unseren Geheimnissen zu erfreuen.« »Wie macht er das nur?«, stieß eine Matrone hervor, wobei sie mit einer Hand an der Spitze ihres üppigen Brustansatzes spielte; ihre Augen waren so weit aufgerissen wie die des Kindes, das sich an ihren Rock klammerte. Ich machte eine tiefe Verbeugung. »Die alte Magie der Wildnis, meine Dame, hierher geholt, um euer Fest zu erleuchten!« Es war zwar nichts dergleichen, aber das würde niemand hier je erfahren. Ich sah den Federbusch vom Helm eines Wachoffiziers auf uns zuhüpfen und warf ein Kupferstück durch die Mitte von Usaras Muster, das immer verschlungener wurde. »Aufhören«, formte ich lautlos mit den Lippen. Er warf den Flammenknoten hoch in die Luft, ehe er sie mit einem Händeklatschen löschte. Ein letztes leuchtendes Aufflammen ließ die Zuschauer blinzeln und sich die Augen reiben. Ich hatte in die andere Richtung geblickt, packte jetzt Usara am Ärmel und zog ihn zum Fluss, ehe die Zuschauer wieder zu sich kamen und überlegen konnten, wohin wir wohl gegangen waren. »Sah aus, als ob du viel Spaß gehabt hättest.« Ich leerte die Schale und teilte rasch unsere Einnahmen, passte aber gleichzeitig auf, dass sich niemand zu sehr dafür interessierte. »Hatte ich auch«, sagte er zufrieden. »Was machst du da mit meinem Verdienst?« 35
Ich warf ihm einen großäugigen Blick voll geduldigen Erstaunens zu. »Halbe-halbe, natürlich.« »Ich geb dir ein Zehntel«, schlug Usara vor. »Das ist nur gerecht, schließlich habe ich die ganze Arbeit gemacht.« »Und hätte ich nicht meinen Verstand beisammen gehabt, hätte es dir gar nichts eingebracht, und du müsstest außerdem noch einen Wachoffizier aus eigener Tasche bezahlen.« Ich setzte einen Blick verletzter Empörung auf. Usara tat überzeugend so, als ob er darüber nachdächte. »Also gut, ein Fünftel.« Ich streckte ihm die Zunge heraus, während ich Pfennige und Kupferstücke in seine Hand fallen ließ. Einige bestanden aus Silber, das hier oder in Vanam geprägt worden war; die meisten Münzen aber waren aus Kupfer und zeigten die Wappen der kleineren Adelshäuser oder verschiedene hiesige Handelszeichen. »Ich dachte, du würdest dich nur mit Fürsten, Ratsherren und Gelehrten abgeben. Du kennst die Wertmaßstäbe meiner Welt ziemlich gut für jemanden, der es gewohnt ist, auf der Sonnenseite der Gesetze zu bleiben.« Ich ließ die wenigen Tormalin-geprägten Pfennige in meine eigene Tasche gleiten. Mein Bedarf an Geld, das praktisch überall etwas wert ist, war größer als der des Zauberers. Die verschiedenen Währungen von Ensaimin können schon wenige Meilen hinter der Stadt, in der sie geprägt wurden, wertlos sein. Usara konnte das ruhig selbst herausfinden. »Danke, meine Dame.« Usara machte eine elegante Verbeugung. »Sagen wir einfach, dass ich schnell lerne.« Ich musste lachen. »Na, ich freue mich, dass du mehr zwischen den Ohren hast als nur gelehrtes Wissen und Bibliotheksstaub. Ich glaube, die Einheimischen waren recht beeindruckt.« 36
»Feuer ist nicht mein eigentliches Element, aber es ist der Erde verwandt genug, dass ich ein bisschen Talent darin habe. Ich kann auch ganz gut mit Wasser umgehen. Aber setze nie auf meine Fähigkeiten im Umgang mit Luft. Das ist schon seit meiner Lehrzeit eine Plage für mich.« Usara bot mir seinen Arm, und wir gingen am Flussufer entlang, vorsichtig an den Barken und Jollen vorbei, die ihre Ballen und Fässer entluden, an Kaufleuten und Leichterschiffern, die alle an ernsthaften Geschäften interessiert waren. »Ich weiß, es gehört sich nicht recht, aber ich finde, auch Zauberer dürfen ab und zu mal einen harmlosen Spaß haben, meinst du nicht?« Ich mimte Erstaunen. »Darüber würde man in Hadrumal die Stirn runzeln, nicht wahr?« Es war mir nicht neu, dass Zauberer keine Ahnung von Vergnügen hatten. »Wo genau sind wir hier?« Usara blickte sich stirnrunzelnd um. Ich deutete auf den Versammlungs-Turm, den größten der Türme, die die Brustwehr der Stadtmauer überragten. »Hier lang.« Die offene Pforte eines kleinen Ausfalltores führte uns zurück in die Stadt, und wir gingen an Läden vorbei, die wegen des Festes geschlossen waren. Die Besitzer verkauften ohne Zweifel in einem Stand auf dem Markt ihre normalen Waren zum Anderthalbfachen des üblichen Preises. »Du kannst den Versammlungs-Turm praktisch von jeder Stelle der Stadt aus sehen«, erklärte ich dem Zauberer. »Wenn du dich verirrst, halte darauf zu, und nimmt dann die Straße zum Großen Tor. Du kannst sie nicht verfehlen, es ist die einzige mit Streifen aus Steinplatten im Pflaster, damit die Kutschenräder besser rollen können. Oder du suchst einen Schrein. 37
Irgendein Priester wird schon Mitleid mit dir haben und dich auf die richtige Straße setzen.« Usara nickte. »Selerima ist viel größer als Hadrumal.« Ich lachte laut auf. »Die meisten Orte mit zwei Mauleseln sind größer als Hadrumal! Auf dem Festland würde es nicht das Recht auf eine eigene Mühle oder einen Markt erhalten.« »Trydek, der erste Erzmagier, gründete unsere Inselstadt zur Betrachtung der Elemente und zum Studium der komplexen Künste der Zauberei.« Usara versuchte, einen strengen Blick aufzusetzen. »Wirklich?« Ich schlug mir theatralisch mit der Hand vor die Brust. »Also, was würde passieren, wenn du einen solchen Trick zu Hause versuchtest? Würde der Erzmagier zeremoniell den Stab über deinem Kopf zerbrechen?« Ich hielt inne, um mich zu orientieren, entschied mich aber gegen eine Abkürzung. Es war schon ein paar Jahre her, dass ich in Selerima gewesen war. Usara lachte in sich hinein. »Planir? Nein, er würde den Spaß schon erkennen, aber er würde mich wissen lassen, dass er so etwas nicht von mir erwartet. Wir haben natürlich hin und wieder Lehrlinge, die ein bisschen prahlen. Wenn man bedenkt, wie gefährlich ungeübte Magie sein kann, darf man nicht dazu ermutigen«, setzte er ernster hinzu. Alle Magie ist gefährlich, soweit es mich betrifft, doch ich behielt diese Ansicht für mich. »Beim nächsten Mal solltest du vielleicht den Geruch nach heißem Öl untermischen oder dir die Manschetten deines Hemdes ein wenig versengen.« »Warum?«, wollte Usara wissen. »Das ist doch nur ganz einfache Magie.« Diese Zauberer lernen vielleicht auf ihrer Insel alles über Zauberei, aber von normalen Menschen verstehen sie herzlich 38
wenig. »Denk daran, wie selten diese Leute einen echten Zauberer sehen. Sei nicht beleidigt, aber die meisten von uns einfachen Leuten finden Zauberei ziemlich beunruhigend. Wenn die Leute glauben wollen, dass es Magie ist, dann tun sie das auch, deshalb solltest du dafür sorgen, dass sie es nur für einen Trick halten. Dann finden wir uns nicht plötzlich vor dem Festgericht wieder und müssen eine Menge unbequemer Fragen beantworten.« »Vor was?«, fragte Usara. Ich unterdrückte einen Anflug von Gereiztheit. »Das Festgericht. Die Gilden halten es für die Dauer des Marktes anstelle der regulären Gerichte ab. Es verhandelt über Kaufleute, die Steuern umgehen oder Kunden betrügen, Leuten, die beim Stehlen erwischt werden, betrunken sind und eine Schlägerei anfangen, und was weiß ich. Jeder, der am Markt beteiligt ist, fällt für die Dauer des Festes unter die Rechtsprechung des Festgerichts. Von Rechts wegen müssten wir einen Teil dessen, was wir für deine kleine Darbietung eingenommen haben, abführen. Wenn beim nächsten Mal ein Offizier der Stadtwache fragt, liefern wir einfach das Geld ab und fertig.« »Und er gibt das Geld dann ans Gericht weiter?« Usara klang zweifelnd – zu Recht. »Was meinst du wohl?« Ich grinste ihn an. »Keine Sorge, das passiert nur, wenn es einem Wachoffizier gelingt, dich zu schnappen.« Was der Grund dafür ist, dass ich in zwielichtigen Tavernen lieber das Eichhörnchenspiel spiele als gewinnträchtigere Spiele wie Runen oder Weißer Rabe. Bei beiden dauert es sehr lange, bis sie Geld einbringen, und man kann nicht einfach von seinen Spielsteinen davonlaufen und sie beim nächsten Hausierer neu kaufen. 39
Mein Lächeln verblasste. »Wenn ich so darüber nachdenke, könnten wir morgen Abend mal einen Blick auf das Gericht werfen, falls wir bis dahin noch nichts von Sorgrad gehört haben. Wenn ‘Gren sich in Schwierigkeiten gebracht hat, würde das erklären, warum sie keine meiner Nachrichten erhalten haben.« Ich ging um eine Gruppe von Frauen herum, die kleine Schleifen an die Türpfosten eines Schreins nagelten, der Drianon geweiht war. Die üblichen Zeichen festlicher Frömmigkeit flatterten: Gold als Zeichen der Dankbarkeit, dass die Früchte der vergangenen Ernte die Leute durch den Winter gebracht hatten, und Weiß als Hoffnung, dass die Söhne nicht mit der Krätze nach Hause kamen. Weil der kleinere Mond neu war und der größere im letzten abnehmenden Viertel, hatten die älteren Menschen auf den Straßen etwas von bösen Vorzeichen gemurmelt. Selbst wir anderen, die im Alltag kaum einen Gedanken an die Götter verschwenden, neigen dazu, nicht gerade während der Feiertage zu wetten. Ich beschloss, Halcarion ein Opfer zu bringen, ebenso Trimon. »Könnten sie Schwierigkeiten mit den Behörden bekomme haben?«, fragte Usara. »Möglich«, antwortete ich. Ich hoffte, dass ich mich irrte, denn der Erfolg meiner Pläne hing davon ab, dass Usara und die Brüder zusammenarbeiteten, und ich machte mir bereits Sorgen, dass Sorgrens sprunghafte Persönlichkeit den Magier auf dem falschen Fuß erwischen könnte. Obwohl ich bereits seit einer Jahreszeit mit ihm reiste, konnte ich Usara noch nicht völlig einschätzen, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihn ‘Grens berüchtigte Heldentaten beeindruckten. Selbst mich hatte es erstaunt zu hören, dass er eine Apotheke niederge40
brannt hatte, nachdem der Besitzer geringschätzige Bemerkungen über das Bergvolk gemacht hatte. Ich wollte nicht, dass Usara dieses Thema weiter verfolgte. »Ich möchte unsere kleine Nebenbeschäftigung nicht unbedingt bei Gericht den Zunftmitgliedern erklären, also verhalten wir uns lieber unauffällig. Natürlich bin ich dir für deine Hilfe dankbar«, setzte ich hastig hinzu. »Ich war mir nicht sicher, was vor sich ging, als ich dich aus dem Blick verlor, aber ich rechnete mir keine allzu großen Chancen aus, es mit diesem Kerl im Faustkampf aufzunehmen.« Usara zuckte seine unleugbar mageren Schultern. »Es war eine ausgezeichnete Ablenkung«, versicherte ich ihm. Ich hatte reichlich Übung darin, mich aus unangenehmen Lagen zu retten, aber hätte ich den Eifer meines verschwitzten Verehrers bremsen müssen, wäre ich das Risiko eingegangen, mehr Probleme heraufzubeschwören als zu lösen. Wir kamen an eine Kreuzung, und ich suchte nach dem VersammlungsTurm, ehe ich an einer Marmorstatue abbog, die eine Schriftrolle schwenkte. »Was genau wollte der Kerl?«, fragte Usara zögernd. Ich sah ihn erstaunt an. »Was glaubst du wohl? Das war einer von der Sorte, die glauben, dass alle Waldmädchen Tischlers Freude sind.« »Was?« Die Verwirrung des Magiers war offensichtlich echt. »Liegt flach wie ein Brett und wartet darauf, genagelt zu werden.« Ich kicherte, als Usaras blasse Haut sich rötete. »Ihr Zauberer führt wirklich ein behütetes Leben, was?« »Ich hörte, wie du diesen Leuten gesagte hast, dass wir vom Waldvolk sind.« Usara blieb stehen. »Haben deren Männer auch so einen Ruf?« 41
»Die Sänger des Waldvolkes stehen in dem Ruf, mit ihrem Liebreiz in fast jedes Bett zu kommen, wenn sie es sich in den Kopf setzen.« Genau das war meiner Mutter passiert. Ich war ihr geblieben, hing an ihren Röcken und war der Grund dafür gewesen, dass sie niemals eine respektable Verbindung hatte eingehen können. Ich hatte ihr kaum bis an die Hüften gereicht, als ich das Mitleid in den Augen ihrer Familie und ihrer Freunde begriff, die Beschränkungen, die ihr ein Leben als Haushälterin vorschrieben. Eine Gruppe Jugendlicher kam aus einer Nebenstraße gestürmt und rannte uns beinahe über den Haufen. Sie stoben links und rechts an uns vorbei. »Was habt ihr es so eilig?«, rief ich einem Nachzügler zu, der durch einen großen, stinkenden Sack behindert war. »Verbrecher gegen die Marktgesetze werden an den Pranger gestellt«, rief er mit offensichtlichem Vergnügen. »Dass sollten wir uns vielleicht ansehen«, meinte ich zu Usara. »Siehst du dir etwa gern an, wie Menschen mit Mist beworfen werden?« Seine Abscheu war offensichtlich. »Nein«, antwortete ich zögernd. »Aber ‘Gren. Er hat ziemlich schlichte Vorstellungen von Vergnügen.« Usara stieß einen langen resignierten Seufzer aus. »Also schön.« Wir folgten den aufgeregten Jugendlichen und fanden uns bald auf dem langen, gepflasterten Vorplatz des Gerichtshofes wieder. Eine hohe Fassade aus Stein mit einem Ziergiebel voller Statuen verbarg das Durcheinander der Dächer, über die ich einst in die Freiheit gekrochen war. Die erste Hand voll unglücklicher Männer, die mit nackten Hintern in ihren Hemden 42
zitterten, wurde soeben an die Ringe der Pranger geschlossen, um die Strafe zu empfangen, die das Gericht für angemessen hielt. »In Raeponins Namen rufe ich alle hier Versammelten auf, den anwesenden Angeklagten ein ausgewogenes Urteil zukommen zu lassen.« Der erste der Gefängniswärter, der sich seine Bürgerrechte damit verdiente, ein Jahr lang für Ordnung in seiner Nachbarschaft zu sorgen, trat vor. Er öffnete ein großes Buch, wobei er mit seinem Kokardenhut und der scharlachroten Schärpe seines Amtes sehr eindrucksvoll wirkte. »Markel Galerene, für den Verkauf von mit Alaun versetztem Brot.« Das zappelnde Opfer wurde an den Pranger geschlossen, in dessen Waagschalen grob die Züge des Gottes der Gerechtigkeit geschnitzt waren. Die Menge brüllte auf, und ein Hagel fauliger Karotten flog dem entehrten Bäcker um die Ohren. Unter all den Rüben, die am Ende eines langen Winters faul aus der Miete kamen, war auch ein Stein, aus Rachsucht geworfen, der ihm die Wange aufriss. »Ansim Shammel, weil er falsch abgewogen hat.« Der glücklose Shammel sah aus wie ein Metzger und litt entsprechend, denn er wurde mit den Enden alter Knochen, mit Fetzen von Fell und mit Fett bombardiert; als er die ekligen Gedärme eines Schafes, den Festtagsbraten einer Familie, mitten ins Gesicht bekam, schwoll den Jubel an, dass er über den ganzen Platz hallte. Irgendeine Hausfrau hatte wohl das Gefühl, dass die Rache mehr wert war als ein Schafspansen. »Muss das sein?«, murmelte Usara mit verstohlener Verachtung. »Frag diese Frauen, was es heißt, bei jeder Mark, die sie aus43
geben, um den Wert eines Pfennigs betrogen zu werden.« Eine stattliche Frau an meiner Seite warf mit einer Hand voll nicht zu identifizierenden Unrats, das Gesicht vor Wut hässlich verzogen. »Es sind ihre Kinder, die hungern müssen.« Schwere Zeiten in meiner Kindheit hatten uns jeden Pfennig zweimal umdrehen lassen, ehe meine Mutter ihren Stolz herunterschluckte und sich als Dienstmädchen verdingte. Wenn die Umstände mich zwingen, jemanden um Geld oder Wertgegenstände zu erleichtern, sorge ich immer dafür, dass die Betreffenden den Verlust verkraften können, auch deshalb, um Raeponins Waage nicht allzu sehr zu belasten bis zu dem Tag, an dem ich Saedrin für die Überfahrt in die Anderwelt Rede und Antwort stehen muss. Usaras Lippen waren in der unbewusst arroganten Haltung der Zauberer geschürzt, die mich so ärgert. Ich ignorierte ihn und suchte in der Menge nach blonden Köpfen, nicht einfach hellem oder sandfarbenem Haar, sondern nach den weizenblonden Locken, die reines Berg-Blut verraten. Das Geschrei der Menge schwoll an, als ein Mann, dessen Name mir entging, wegen eines bösartigen Hundes an den Pranger kam, doch ihm wurden mehr Beschimpfungen als Unflat an den Kopf geworfen. Während wir warteten, wurden all die, die nicht den Gesetzen der Stadt gehorcht hatten, gebührend gestraft. Der letzte Mann hustete in einer Wolke aus Asche und Schlacke, da er zugelassen hatte, dass sich von seinem Besitz aus ein Feuer ausgebreitet hatte. Die Menge zerstreute sich zu anderen Vergnügungen und überließ den Platz den Angehörigen der Angeprangerten, die Trost oder Wasser spendeten, während einige beharrliche Ankläger sie mit weiteren Beschimpfungen traktierten. Bettler, verkrüppelt durch Verlet44
zungen oder Krankheit, huschten umher, um die essbaren Reste der vergeudeten Lebensmittel aufzusammeln, die jetzt das Pflaster verunzierten, und warfen den zerlumpten Armen, die sie trotzig anstarrten, finstere Blicke zu. »Warum müssen diese Unglücklichen ihre Nahrung aus dem Abfall klauben?« Die Empörung in Usaras Stimme erstaunte mich. »Das dürfte doch nicht sein! Wer kümmert sich denn um solche Dinge?« »Die Menschen haben es schwer genug, ihre Familien zu ernähren und ihnen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen, ohne sich auch noch um Bettler zu sorgen. Die Schreine verteilen Almosen an die Bedürftigen, hier wie überall sonst, und die Gilden haben eigene Wohlfahrtsstellen. Darüber hinaus sind sie auf sich selbst gestellt. Das hier ist nicht Hadrumal, wo Zaubersprüche deine Probleme lösen oder dir Geld für jeden Bedarf einbringen.« Usara öffnete den Mund zu einer hitzigen Erwiderung, doch plötzlich runzelte er die Stirn. »Ist das da drüben nicht einer vom Bergvolk?« Ich drehte mich um, um seinem Blick zu folgen. Ein Schimmer goldenen Haares ließ mein Herz einen Schlag aussetzen, doch als die Menge weiterging, sah ich einen Mann in steifem Leder, mit abweisendem, strengem Gesicht, der die Frau an seiner Seite mit jener Eifersucht bewachte, wie sie im Gebirge üblich ist. Fad und fehl am Platze unter all den Feiertagsgewändern ringsum, fiel das Paar sehr auf. »Nein, das sind sie nicht.« Ich seufzte. Würde ich je mein Spiel zusammenbekommen?
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Selerima, West-Ensaimin Erster Tag des Frühlingsmarktes, Abend
»Wir haben es bei jedem Händler bis hinunter zu dem stinkenden Kerl in dem halb gebeizten Karnickelfell versucht.« Keisyl stellte sich Jeirran in den Weg und verschränkte die Arme. »Niemand will kaufen, nicht von uns.« »Mit dem Mann dort drüben haben wir noch nicht gesprochen.« In Jeirrans Augen brannte ein widerspenstiges Feuer. »Er hat den größten Teil seiner Ware verkauft, also wird er mehr wollen. Und er hat auch das Silber, um dafür zu bezahlen.« Keisyl stieß einen Seufzer aus, folgte Jeirran jedoch zu einem untersetzten Mann in einem senfgelben Wams aus feinem Wollstoff, das mit Biberfell verbrämt war. Er beugte sich zu einem Bengel hinunter, der ungeduldig von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Der Bursche warf den beiden Bergvolkmännern einen verblüfften Blick zu und verschwand, während der Pelzhändler die Hände vor seinem ansehnlichen Bauch faltete. »Was kann ich für euch tun?« »Wir haben Pelze zu verkaufen: Fuchs, Hase und Otter, schönes Elchleder und ein paar Hirschhäute ...«, begann Jeirran in gewinnendem Tonfall. »Von der Gilde abgezeichnet, ja?«, fuhr der Händler ihn an. »Habt ihr euren Zehnten an die Gildenhalle gezahlt, ja? Nein, wohl nicht.« Er hob die Stimme. »Ich werde die Gilde nicht dadurch entehren, dass ich hinter ihrem Rücken Handel treibe, hört ihr? Wofür haltet ihr mich eigentlich, mich so zu beleidigen? Ich habe euch noch nie gesehen.« 46
»Nicht.« Keisyl packte Jeirran am Arm, als der kleinere Mann mit vorgerecktem Kinn einen zornigen Schritt vorwärts machen wollte. Als Jeirran unschlüssig stehen blieb, stolperte ein Müßiggänger gegen ihn. Nicht an Bier gewöhnt, landete der Jüngling mit weichen Knien am Boden. Jeirran machte seiner Wut und Enttäuschung mit einem heftigen Tritt Luft, sodass der unglückliche Bursche sich erbrach. Vorübergehende, die zu langsam waren, um Stiefel oder Röcke in Sicherheit zu bringen, schrien verärgert auf. »Komm schon!« Keisyl zerrte Jeirran zu einem freien Platz, an dem Stelzengänger die Menge unterhielten. Zwei, die angemalt waren wie Schmetterlinge, flatterten mit großen Flügeln aus saphirblauer Seide und torkelten ungeschickt umher, zur Freude eines Kindes, das mit großen Augen zuschaute. Doch sie waren geschickt genug, ihre Flügelspitzen um ein kicherndes junges Mädchen zu wickeln. Ein dritter, eher herkömmlich in Gold und Rot, kam hinter ihnen her, eine Handpuppe in der Rechten, deren Maul gierig nach kleinen Münzen schnappte. Jeirran schüttelte Keisyls Hand ab und trat einer vorübergehenden Dame in den Weg. »Hier, Madame, schöne Pelze, ganz weich, mit geschmeidigem Leder. Einen besseren Preis bekommt Ihr nirgends!« Die Frau schüttelte ihn ab und errötete unter den Fransen ihrer Kappe. »Herr, Ihr tragt ein schönes Gewand«, sprang Jeirran einem wohlhabenden Kaufmann in den Weg. »Bedenkt nur, wie sehr ein Pelzkragen es verschönern würde. Lasst mich es Euch zeigen!« Das rote Gesicht des Mannes verdunkelte sich. Empörung rang mit Verblüffung in seinen tief liegenden Augen um die Oberhand. »Verschwinde, du Streuner«, stieß er hervor und zog 47
die lavendelfarbenen Falten seines Mantels um sich. »He, du da!« Einer der Stelzengänger ragte über ihnen auf. Unter seiner farbenfrohen Bemalung war sein Ärger deutlich zu erkennen. »Pfuscht uns nicht ins Handwerk, Freund. Geht und macht euch woanders unbeliebt!« »Wenn ihr etwas zu verkaufen habt, dann geht und zahlt für ein Zeichen, so wie wir anderen auch«, rief ein Budenbesitzer, der hinter billigen, fleckigen Tellern und grün glasierten Topfen unter einer bunt gestreiften Markise stand. Selbst Jeirrans kämpferisches Selbstbewusstsein war den feindlichen Blicken von allen Seiten nicht gewachsen. Keisyl sah sich um und winkte einem Burschen, der einen köstlich duftenden Korb trug. »Lass uns etwas essen.« »Lammpastete, Herr, mit ein bisschen was von diesem und jenem.« Der Junge blickte von Keisyl zu Jeirran, die staunenden Augen weit aufgerissen angesichts der gestickten Hemden, der gedruckten Muster auf den kurzen Umhängen und der langen Lederhosen, die in kräftigen Stiefeln steckten. »Was kosten vier davon?« Keisyl hielt die Finger hoch. »Zwei Kupferstücke, Herr«, stammelte der Junge. Keisyl runzelte die Stirn, während er in seinen Taschen suchte. »Das ist mein letztes Geld, Jeirran. Teiriol hat unsere Börse.« Jeirran äugte zweifelnd in die Pastete und fingerte ein sehniges Stück grauen Fleisches heraus. »Das ist genauso wenig Lamm wie meine Schuhsohlen.« Er kaute langsam mit einer Miene des Missbehagens, doch der Junge war bereits wieder in der Menge verschwunden und ließ den schwachen Duft von Porree hinter sich, der in ranzigem Fett gebacken war. Keisyl schluckte stur einen Bissen hinunter. »Ich habe in den Minen schon schlechter gegessen. Wenn du noch Geld hast, 48
könnten wir uns etwas zu trinken holen, um den Geschmack herunterzuspülen. Glaubst du, dass sie hier unten irgendwo Met brauen oder noch immer dieses Ziegenpisse-Bier?« »Ich habe nur noch ein paar Silberstücke bei mir.« Jeirran griff in seinen Umhang. »Ich wollte nicht riskieren, bestohlen zu werden, deshalb habe ich das meiste in Eirys’ Truhe gelassen.« Er breitete die Hand aus, um die spärlichen Pfennige zu zählen, die fast bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen und mit Schrammen und Scharten übersät waren. Während er zählte, legte sich ein eisenbeschlagener Handschuh schwer auf seine Schulter, sodass ihm die Hälfte der Münzen aus der Hand sprang und im niedergetretenen Gras verschwand. »Du Trampel! Kannst du nicht aufpassen?« Er fuhr wütend herum und stand einem bronzenen Brustharnisch gegenüber, der anlässlich des Festes auf Hochglanz poliert war. Der Handschuh verstärkte seinen schmerzhaften Griff um Jeirrans Schulter. »Ich wäre an deiner Stelle höflicher, wenn ich einem Pony nur bis zum Arsch reichte«, höhnte der Offizier der Stadtwache und schüttelte Jeirran nachdrücklich. »Wir wollen doch mal in diese Tasche da schauen, nicht wahr?« Jeirran riss so mühelos den Handschuh von seiner Schulter, dass der größere Mann beinahe zu Boden gestürzt wäre. Keisyl wollte die heruntergefallenen Münzen aufsammeln, doch ein weiterer Wachmann pflanzte einen genagelten Stiefel auf die Pfennige. Ein unfreundliches Lächeln lag auf seinem unrasierten Gesicht, und an beiden Händen glänzten fingerlose Lederhandschuhe mit eisenbeschlagenen Knöcheln. Jeirran drehte sich um, doch ein dritter Wachoffizier in ledernem Kürass ver49
sperrte ihm den Weg mit einem metallbeschlagenen Stab, dick wie seine knochigen Handgelenke. Der erste Wachmann zerrte Jeirran grob den Ranzen vom steifen Hals und öffnete die Schnallen. »Sieht aus, als hätten wir hier einen netten Fang, Leute.« Seine aufgesprungenen Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen. »Ihr zwei kommt mit und erklärt euch vor dem Festgericht.« Der dünne Wachmann hielt seinen Stab mit beiden Händen quer und deutete damit auf Keisyl, der jetzt die geballten Fäuste erhoben hatte. »Ich glaube nicht, dass du wirklich kämpfen willst, du halbe Portion. Sonst mache ich dich noch kürzer!« Keisyl spie ihm eine Verwünschung in der Bergsprache entgegen, die ein ängstliches Murmeln bei den Festbesuchern hervorrief, welche sich hinter dem schützenden Stab des Wachmannes versammelt hatten. »Sag deinem Freund, wenn er Ärger macht, lege ich euch beide in Eisen«, warnte der erste Wachmann und klimperte nachdrücklich mit den Handschellen, die er am Gürtel trug. »Mit welchem Recht haltet ihr uns fest?« Jeirran starrte den Mann finster an, ohne sich um die Leute zu scheren, die ringsum wisperten und gafften. Der Wachmann zog eine Hand voll Pelze und Leder hervor, weiß, rotbraun und schwarz. »Es wurden Beschwerden eingereicht. Manche glauben, du stehst im Dienst der Gilde und sollst sie dazu zu verführen, die Gesetze zu brechen. Andere behaupten, du lässt sie für Waren bezahlen, die du gar nicht hast. Ich aber glaube, dass ihr bloß Gebirgsleute seid, die nicht mehr Verstand haben als eure Ziegen. Hast du ein Marktzeichen, das du uns zeigen kannst?«, fragte er sarkastisch. 50
»Ich weiß nicht, was du meinst«, antwortete Jeirran misstrauisch. »Dann habt ihr eure Gildengebühr wohl nicht bezahlt, oder, Schwachkopf? Sonst hättet ihr das Recht erworben, wie ehrliche Leute Handel zu treiben und hättet das Zeichen, dies zu beweisen. Ihr kommt mit uns!« Der Wachoffizier nickte seinem Untergebenen mit dem Stab zu, der ihn unmissverständlich drohend schwang. »Ich durchsuche ihre Beutel, ja?«, sagte der Untergebene, dessen Stiefel noch immer auf Jeirrans heruntergefallenen Münzen stand, mit Unschuldsmiene. »Wenn sie nicht genug für eine Mahlzeit und ein Bett bei sich haben, sind sie Vagabunden. So ist das Gesetz, nicht wahr?« »Du Dieb!« Jeirran machte einen Schritt auf den Unrasierten zu. Der Wachmann mit den Handschellen packte Jeirrans Arme und zog sie ihm auf den Rücken, wobei er ihm schmerzhaft die Ellbogen verdrehte. »Das reicht jetzt, Rif, durchsuch seine Taschen.« Der Mann beugte sich ungeschickt vor, um suchende Hände in Jeirrans Umhang und Hosen zu stecken, wobei er finster einen jungen Burschen anschaute, der inständig hoffte, er würde den Stiefel von den Münzen im Gras nehmen. »Nein, nichts außer dem, was er in der Hand hat«, sagte der Wachmann zufrieden zu seinem Vorgesetzten. »Was ist mit dir?« Der mit dem Stab hielt Keisyl eine Hand hin. »Ich habe kein Geld«, sagte Keisyl. Die fremden Worte wollten ihm nur schwer über die Lippen, doch die Wut in seinem Gesicht sprach eine deutliche Sprache. 51
»Das bedeutet Gewahrsam, bis das Gericht euch aufruft.« Der Anführer ließ schwarze Eisenfesseln um Jeirrans Handgelenke schnappen. Jeirran war zu überrascht, um sich zu wehren. Keisyl hob wutentbrannt die Fäuste, doch ein Schlag mit dem Stab in die Kniekehlen schickte ihn zu Boden. Die Wachmänner zerrten ihn auf die Füße und legten ihm dabei geschickt die Handschellen an. Der Mann namens Rif hob hastig auf, was er an Münzen im Gras finden konnte, und der Anführer stieß Jeirran mit einem Schubs an Marktbesuchern vorbei, die ob der unerwarteten Ablenkung johlten. »Geh schon!« »Wir mussten also eine Art Zoll bezahlen, um handeln zu dürfen?«, zischte Keisyl wütend Jeirran zu. »Gibt es sonst noch was, das Degrans Mann dir nicht gesagt hat? Hat er etwas von diesem Gericht gesagt oder wie sie es nennen?« Jeirran schaute über die Schulter, um den Wachmann anzublicken, der ihn unsanft voranstieß. »Wie hoch ist die Strafe, wenn man nur einen Irrtum begeht?« »Irrtum oder nicht, eure Waren gehören euch nicht mehr«, erwiderte Rif mit fröhlicher Bosheit. »Gut gemacht, Jeirran!« Keisyls Empörung ließ ihn stehen bleiben, bis ein Schlag mit dem Stab ihn wieder vorantrieb. »Wir kommen ohne Waren nach Hause, ohne Abkommen, mit völlig leeren Händen. Damit erfüllst du alle Erwartungen, die Mutter in dich setzt!« »Hör jetzt auf mit deinem Gebell, du Trampel.« Der Wachmann mit dem Brustharnisch schlug Keisyl auf die Schulter. »Redet gefälligst wie zivilisierte Leute oder gar nicht, jedenfalls nicht in diesem Hundegekläff.« Die Beleidigung erstickte Jeirran beinahe und hinderte ihn 52
daran, Keisyl oder dem Wachmann etwas zu entgegnen. Die Wut ließ sein Gesicht dunkelrot anlaufen, während sie durch die geschäftigen Straßen getrieben wurden. Menschen blieben stehen und starrten sie mit offenen Mundes an, nahmen ihren Nachbarn beim Arm und deuteten mit den Fingern auf sie, wisperten hinter vorgehaltenen Händen. Nach einer Weile, die ihnen wie eine Ewigkeit erschien, zerrten die Stadtwachen sie ein paar Stufen aus rötlichem Stein zu einer massiv gebauten Halle hinauf. »Schließ sie weg, Neth«, befahl der Anführer. Der mit dem Stab hämmerte damit gegen die dicke Tür. Ein Mann mit schütterem Haar, der noch kleiner war als Jeirran, schob eine Metallluke zur Seite und spähte hinaus. »Schönes Fest, Vigo.« Er trat zurück, um die Tür zu öffnen. »Wen haben wir denn hier?« Der Bursche namens Neth schubste Jeirran und Keisyl mit seinem Stab. »Bergvolk. Haben noch Schnee an den Stiefeln und versuchen, auf dem Markt ohne Abzeichen zu handeln.« Der kleine Mann nickte bloß, drehte sich um und machte Notizen auf einem langen Pergament. »Und sie sind Vagabunden«, fügte Rif plötzlich hinzu. »Haben kein Geld dabei für eine Mahlzeit und ein Bett – das sind zwei Straftaten.« Der Schreiber sah auf, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du hast mit dem Westtor-Wächter wieder eure übliche Wette laufen, was, Vigo?« »Richtig.« Der untersetzte Wachmann grinste. »Achte gut darauf, dass alles ordentlich aufgeschrieben wird. Dann spendier ich dir was zu trinken, wenn wir gewinnen.« »Ich nehm dich beim Wort.« Der Schreiber steckte seine Feder 53
zurück ins Tintenfass. »Schön, lasst sie bei mir.« Er nickte einem muskelbepackten Mann zu, der an einer Wand lehnte und jetzt mit einem finsteren Blick auf die beiden Bergbewohner zukam. »Dann wollen wir mal sehen, was wir noch für Beute aufscheuchen können, was?« Vigo führte seine Männer davon und nahm sich im Vorübergehen noch ein paar Handschellen. Der Schreiber schloss sorgfältig die Tür hinter ihnen. Jeirran und Keisyl schauten sich um und fragten sich, wohin man sie wohl gebracht hatte. Kratzer und Eindrücke auf den staubigen Dielenbrettern zeigten, dass man den Raum zwecks vorübergehender Nutzung als Gerichtsstätte von den meisten Möbelstücken befreit hatte. Ein schaler Geruch nach Essen und Wein ließ an eine Art Speisesaal denken. Schwarze Eichenbalken verliefen hoch über ihren Köpfen, und verstaubte Fahnen hingen schlaff herab. Schmale Scharten direkt unterhalb des Dachüberstandes ließen das letzte Tageslicht herein, doch brannten bereits Talgkerzen in Haltern, die weiter unten in die fensterlosen Wände eingelassen waren. Eine Hand voll Wachleute mit Stäben und Knüppeln bewachten eine Gruppe von Männern und Frauen, die auf dem nackten Fußboden kauerten. »Wenn ihr mir euer Wort gebt, dass ihr euch gut aufführt, nehme ich euch die Ketten ab, und ihr könnt hier warten, bis das Gericht euch aufruft.« Der Schreiber nickte den drei wohlhabenden Stadtbürgern zu, die an einem langen Tisch auf einem Podest am Ende der Halle saßen und ungnädig einen zerlumpten Bettler betrachteten, der die Stufen emporgezerrt wurde. »Macht ihr Ärger, werdet ihr im Keller bei den Ratten angekettet und handelt euch ziemlich sicher einen Tritt von den Kerlen da unten ein, die immer ein bisschen Spaß, suchen.« Mit einem Nicken deutete auf die zwei Wachleute, die auf beiden 54
Seiten eines bedrohlichen Gewölbes standen, in dem Stufen ins Dunkle hinunterführten. »Was soll’s sein?« »Wir bleiben hier und benehmen uns«, presste Jeirran mühsam hervor. »Schwört ihr?«, fragte der Schreiber. »Wir schwören«, sagte Keisyl mit zusammengebissenen Zähnen. Jeirran wiederholte es. »Das reicht.« Der Schreiber nahm einen Schlüssel von seinem Gürtel und nahm die Handfesseln ab, die sein stämmiger Helfer in den Korb warf. »Nun, es gibt nichts, was ich wegen des Handelsvergehens unternehmen kann, und ihr seht mir eigentlich auch nicht wie Vagabunden aus. Wenn ihr mir das Geld für euren Unterhalt zeigt, könnten wir auf eine Verhandlung verzichten und brauchten die Zeit des Gerichts nicht für solchen Unsinn zu vergeuden. Habt ihr eine Unterkunft, für die ihr bezahlt habt? Gibt es jemanden, der für euch bürgen kann?« »Wir schicken besser nach Teiriol, damit er eine Börse herbringt«, sagte Keisyl entschieden. Jeirran öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch da ihm nichts einfiel, klappte er ihn wieder zu. »Was sagst du da?« Der Schreiber sah sie misstrauisch an, und der schwer gebaute Mann ragte drohend hinter ihm auf. »Wenn wir eine Nachricht an unsere Kameraden schicken könnten, bringen sie Geld her«, übersetzte Jeirran resigniert. »Das ist gut.« Der Schreiber machte eine weitere Notiz auf seinem Pergament und pfiff auf den Fingern nach einem Burschen, der auf einer Bank vor dem Podest saß. »Sagt dem Jungen, wo er hingehen soll.« Jeirran biss die Zähne zusammen und gab dem Jungen die Wegbeschreibung zu ihrem Gasthaus. »Sag Teiriol, er soll das 55
Haselnusskästchen aus Eirys’ Truhe mitbringen.« »Ab mit dir.« Der Schreiber gab dem Burschen einen Kupferpfennig aus einer Schale auf seinem Tisch und öffnete die Tür, um ihn hinauszulassen. »Gut, ihr zwei, setzt euch da drüben hin. Wenn ihr Ärger macht, habt ihr es nur umso schwerer, wenn ihr drankommt.« Jeirran schritt munter zur Wand hinüber, wobei er allen finstere Blicke zuwarf, die ihn neugierig anschauten, doch die meisten Missetäter waren damit zufrieden, einfach nur dazusitzen und für sich zu bleiben. Jeirran warf seinen Umhang ab, setzte sich darauf, die Arme um die Knie geschlungen, und brütete finster vor sich hin, den Blick auf die Tür gerichtet. »Warum hast du nach dem Haselnusskästchen gefragt?«, wollte Keisyl, der mit überkreuzten Beinen neben ihm saß, in drängendem Flüsterton wissen. »Teiriols Börse ist gut genug gefüllt, um zu beweisen, dass wir keine Bettler sind.« »Unter dem Boden des Kästchens ist Gold versteckt, ein Teil meines Erbes«, zischte Jeirran. »Ich will uns hier ‘rauskaufen. Dass wir unsere Pelze loswerden, können wir jetzt am wenigsten gebrauchen. Wenn wir nach Hause kommen und haben nichts in der Hand, werden wir uns das ewig anhören müssen. Wir müssen die Pelze in einer der Städte zwischen hier und zu Hause verkaufen und das Beste daraus machen. Da hat deine Mutter wieder mal etwas, worüber sie sich das Maul zerreißen kann!« Keisyl grunzte. »Und was wird Eirys sagen? Das Gold soll dein Verdienst dafür sein, dass du ihre Ländereien gut verwaltest und ihre Kinder versorgt sind. Und wenn wir schon dabei sind – das sollte alles sicher zu Hause unter dem Herd liegen!« »Eirys muss ja nichts davon erfahren«, zischte Jeirran. 56
»Glaubst du, sie wird still sitzen bleiben, wenn Teiriol unsere Nachricht bekommt und anfängt, Sachen aus ihrer Truhe zu holen?« Keisyls Stimme stieg ungläubig. »Sie wird herkommen und fauchen wie eine verbrühte Katze!« »Sie muss ja nicht wissen, dass es Teil meines Erbes ist«, beharrte Jeirran. »Ich sag ihr, dass ich im vergangenen Jahr ein paar Verkäufe getätigt habe, ehe wir heirateten. Ich werde schon einen Weg finden, das Gold noch vor der Sonnenwende zurück zu verdienen, und Eirys braucht nie zu erfahren, dass es fehlte.« »Dann nimm das auf deine Kappe«, fauchte Keisyl. »Falls jemand fragt, werde ich sagen, ich hätte nichts davon gewusst.« Jeirran nickte, die Augen noch immer fest auf die Tür gerichtet. Die Demütigung stieß ihm sauer auf. Heiße Wut überkam ihn, Zorn auf diese Tiefländer mit ihren unverständlichen Gilden und geheimen Regeln. Diese Halunken, die sich verschworen, um jeden Handel unter sich auszumachen. Es war immer dasselbe, diese Täuschung, so wie Degran und seinesgleichen die Leute aus den Bergen betrogen. Wann hatte ein Bergbewohner zuletzt einen gerechten Anteil am Gewinn erhalten, einen anständigen Lohn für die gefährliche Arbeit, Metall aus hartem Gestein zu gewinnen oder aus den waldigen Höhen Felle zu holen? Die Tiefländer aber bauten ihre schmutzigen Dörfer immer höher hinauf, suchten sich die besten Weiden für ihr schlammverkrustetes Vieh und ihre gierigen Schafe und beanspruchten das Recht, das Land zu kaufen und zu verkaufen. Jeirrans brennende Augen blieben an dem glücklosen Schreiber und den drei Männern hängen, die selbstgerecht dasaßen, während sie ihre Opfer ihres Geldes und ihrer Würde beraubten. 57
Die Haupttür schwang auf, doch es war nur eine aufgetakelte rothaarige Frau in enggeschnittenen Hosen, die an dem Schreiber vorbei hereinspähte. Mit einem finsteren Blick auf die Frau kehrte Jeirran zu seinen zornigen Gedanken zurück. Wie hätte er wissen sollen, dass es hier keinerlei Aussicht auf ehrbaren Handel gab? Er war in gutem Glauben gekommen. Degran und diese anderen mussten gewusst haben, dass es so kam. Sie würden sich ausschütten vor Lachen über ihn. Jeirran reckte zornig das Kinn vor. Diese selbstzufriedenen Tiefländer mit ihren Täuschungen! Aber er würde schon einen Weg finden, sie dafür bezahlen zu lassen!
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Selerima, West-Ensaimin Erster Abend des Frühlingsmarktes
»Sie sind es nicht«, sagte ich bedauernd zu Usara. »Nur zwei, frisch von ihren Maultieren, die den falschen Wachmann komisch angeguckt haben.« »Wohin dann als Nächstes? 0h, Verzeihung, Madam.« Der Zauberer trat beiseite, als ein angemaltes Mädchen vorbeischlenderte, den dunkelroten Rock zu einer Hüfte hoch geschürzt, um ihre schneeweißen Unterröcke zu zeigen, einen unzulänglichen Schal um ihre kaum bedeckten Schultern geschlungen. Ich sah der Hure hinterher. »Wenn ‘Gren eine Blüte gefunden hat, die reif zum Pflücken ist, haben wir kaum eine Möglichkeit, sie heute Abend zu finden. Wahrscheinlich sind sie noch gar nicht eingetroffen. Wir hätten sie bei den Schmiedebuden gefunden, wo sie sich über die Qualität der Arbeiten lustig gemacht hätten, da wette ich drauf.« Usara sah mich fragend an. »Tormalin-Münzen oder die hiesigen Pfennige?« »Na gut«, gab ich zu, »vielleicht nur das Zeichen eines Bierverkäufers.« Klirrende Zimbeln und schnarrende Saiten kündeten eine kleine Gruppe an, die ihren Mangel an Zahl und Kunstfertigkeit durch Begeisterung wettmachte. Ihr Anführer setzte eine verbeulte Flöte an den Mund und blies einen quietschenden Tusch. »Liebe Leute von Selerima und geehrte Gäste unseres Festes, ich lade euch ein, ein Theaterstück von seltener Kunst und großer 59
Schönheit anzuschauen. Die Martlet-Gruppe wird heute Abend Die Händler vom Golf geben, Beginn beim zweiten abendlichen Glockenschlag im Hurtigen Hund.« Er wandte sich an seine zusammengewürfelten Musiker. Sie spielten einen misstönenden Tusch, ehe sie in eine der Melodien verfielen, die zwar jeder kennt, aber jeder mit einem anderen Text. Angeführt von dem Flötenspieler setzten sie sich zur nächsten Straßenecke in Bewegung, um dort erneut ihre Botschaft zu verkünden. Ich sah Usara an. »Lust auf einen Theaterabend?« »Ich weiß nicht«, erwiderte er vorsichtig. »Es gibt solches und solches Theater.« Ich lachte. »Der Hurtige Hund ist ein Haus mit gutem Ruf, direkt am Marktplatz. Wann hast du jemals von einem Bordell mit solchem Namen gehört? Wenn du Mädchen willst, die nichts weiter tragen als ein paar Seidenblumen und ein gewinnendes Lächeln, solltest du es unten am Fluss versuchen.« »Der Versuchung kann ich widerstehen«, sagte der Zauberer trocken, »es sei denn, du glaubst, wir finden diese Brüder in der Gegend.« Ich schüttelte den Kopf. »Falls ‘Gren in einem Bordell ist, verschwendet er keine Zeit damit, sich die Blumen anzuschauen, er macht sich gleich über den Honig her. Doch Sorgrad liebt ein gutes Stück. Es könnte sich lohnen, sich bei den Komödianten umzuschauen.« Und da diejenigen von uns, die immer unterwegs sind – Schauspieler, Bauernfänger und Spieler –, sich fast stets bei denselben großen Festen treffen, hätte ich einen Silberpfennig darauf gesetzt, von Sorgrad zumindest etwas zu hören. Mit ein bisschen Glück konnte ich Nachrichten bei Leuten hinterlassen, die ihn kannten. »Also, wo ist der Hurtige Hund?« Usara schaute sich verge60
bens nach dem Versammlungs-Turm um. »Hier entlang.« Ich führte ihn durch eine Nebenstraße, die zum Marktplatz führte. Während die Vergnügungen auf dem Jahrmarkt mit Fortschreiten des Abends immer derber und lärmender wurden, gingen die vornehmen Bürger der Stadt hier ihren gesetzteren Feiern nach. Der Mittelpunkt war ein loderndes Feuer, über dem ein Ochse am Spieß briet, eine Spende der Fleischergilde, falls die Messer auf den Fähnchen ringsum etwas zu bedeuten hatten. Ein Priester bat um Ostrins Segen für die Versammelten, und jedermann hörte aufmerksam zu; die älteren Leute erfreuten sich sogar an dem Gottesdienst. Der Priester wirkte erfreut, und das mit Recht, denn so viel Aufmerksamkeit würde ihm bis zur Sonnwendfeier nicht mehr beschieden sein. Kohlebecken bildeten leuchtende Punkte in der zunehmenden Dunkelheit, und die Kühle des Abends strafte den Sonnenschein des vergangenen Tages Lügen. Kastanien wurden geröstet, um Hände und Bauch warm zu halten – eine Mahnung, dass die Jahreszeit noch ganz am Anfang stand. »Heißer Wein, meine Dame?« Ein Mädchen mit roten Wangen und strahlenden Augen hielt mir ein Tablett mit dampfenden Hornbechern hin. »Auf Kosten der Weinhändlergilde.« »Danke.« Ich reichte Usara einen Becher, nippte an meinem eigenen und stellte fest, dass die Gewürze und die Wärme so gut taten, dass sie die mäßige Qualität des Weines übertünchten. »Da drüben.« Ich zeigte auf die gegenüberliegende Seite des geschäftigen Platzes. »Das ist der Hurtige Hund« Usara trank durstig, schnitt eine Grimasse und blickte voll Widerwillen in seinen Wein, ehe er den Rest auf das Pflaster kippte. »Was meinst du, wo wird sonst noch Theater gespielt? Hat diese Stadt ein eigens gebautes Theater?« 61
»Nein«, antwortete ich spöttisch. »Der Spiegel in Vanam ist das einzige Theater auf dieser Seite des Weißen Flusses. In Selerima behilft man sich mit den Höfen von Gasthäusern, wie überall sonst.« Wir bahnten uns einen Weg hinüber, nicht ohne uns auf mein Drängen hin grobes Brot anbieten zu lassen, das um Fleisch und knusprige Kruste gewickelt waren. Das Fleisch stammte von einem Ferkel, das von der Schnauze bis zum Ringelschwanz halbiert war und dessen Hälften über einem flackernden Feuer auf einem Spieß steckten. Vor dem Hurtigen Hund bildete sich bereits eine Schlange, ein paar Türen weiter, unter dem Schild des Schwan im Mond, nahmen zwei Schauspieler in bunten Kostümen Silberpfennige von denjenigen entgegen, die gern früh genug kamen, um sich einen guten Platz zu sichern. »Livak!« Einer der beiden schob seine Maske hoch und rief mich erfreut an. Ich lachte mit gleicher Freude. »Niello, wie schön, dich zu sehen!« Ich packte Usara am Ärmel und zog ihn hinter mir her. »Ich wäre schon früher gekommen, hätte ich gewusst, dass du hier bist, aber ich dachte, du wärst für immer in Col geblieben. Was ist mit Lord Elkiths Theatergruppe? Wollte er nicht die Pacht für einen Gasthof für euch bezahlen?« Niello zuckte mit den wattierten Schultern seines fröhlich bunten Wamses. »Das Übliche, meine Liebe. Ein Schauspieler, eine Dame, ein Missverständnis.« »Seine Frau«, vermutete ich. »Seine Schwester«, grinste Niello wölfisch und fuhr sich mit der Hand über seine makellosen kastanienbraunen Locken. Es steckte zweifellos mehr dahinter: Streit um Geld, Einnah62
men, die in Bier umgesetzt wurden anstatt davon die Rechnungen zu bezahlen, Kostüme, die wegen Schulden gepfändet wurden. Aber das war nicht mein Problem. »Und, mit wem spielst du jetzt?« Niello machte eine anmutige Verbeugung. »Wir sind die Theatergruppe bronzene Glocke.« Sein Kamerad schüttelte seine Handglocke heftig zur Unterstreichung, worauf sich alle Köpfe auf dem Platz herumdrehten. »Ich habe mich ihnen angeschlossen, als sie für die Wintersonnwendfeier nach Col kamen.« »Wie ich sehe, kennt ihr euch«, sagte Usara mit einem Unterton. »Wir hatten in der Vergangenheit miteinander zu tun.« Ich schenkte Niello, dessen haselnussbraune Augen hoffnungsvoll aufleuchteten, ein kokettes Lächeln. »Du könntest uns vielleicht behilflich sein, Niello.« »Und wie?«, fragte er vorsichtig. »Erinnerst du dich an Sorgrad und Sorgren? Sie waren bei den Reiterumzügen mit mir und Halice zusammen, bei der Wintersonnenwende, vor einem Jahr.« Niello runzelte in Gedanken die Stirn. »Vom Bergvolk? Brüder? Der kleinere etwas unberechenbar, könnte man sagen?« Ich nickte. »Das sind sie. Du hast sie hier noch nicht gesehen, oder?« »Bis jetzt noch nicht, aber ich muss zugeben, ich hätte sie leicht übersehen können.« »Könntest du für mich nach ihnen Ausschau halten?« Ich schenkte ihm ein einladendes Lächeln mit all dem großäugigen Charme, den ich nur aufbringen konnte. »Wir müssen etwas mit ihnen besprechen.« Niello schaute mich liebevoll an. »Ich kann noch mehr tun, 63
Liwie. Reza ist hier bei mir, der Bursche, der in Col mein Läufer war, weißt du noch? Er wird sich bestimmt gut an die beiden erinnern. Am besten, ich schicke durch ein paar andere Kneipen und Theater, ob er sie für dich finden kann.« Ich hauchte Niello einen Kuss zu. »Du bist ein Schatz.« Und Reza hatte jetzt eine ausgezeichnete Ausrede dafür, die Konkurrenz auszuspionieren. »Das sagen alle Mädchen, mein Goldstück. Und jetzt geht hinein, ihr haltet zahlende Kundschaft auf!« Er hob den Arm, um uns beide durchzulassen, und ich führte Usara zu einem Tisch an einer Seite des Innenhofs. »Liwie?«, fragte Usara mit einer Miene, die einem Schmunzeln verdächtig nahe kam. Ich hob warnend einen Finger. »Er ist der Einzige, dem ich das durchgehen lasse, vergiss das nie. Wenn jemand anders mich so nennt, dann weiß ich, wer aus der Schule geplaudert hat!« »Wie hast du ihn kennen gelernt?« Usara drehte sich auf der niedrigen Bank nach Niello um, der gerade einen errötenden Jüngling überredete, seine großäugige Gefährtin hereinzubringen. »Ich reise jetzt seit über zehn Jahren kreuz und quer durch Ensaimin und kenne viele Leute«, sagte ich und schaute mich nach einer Kellnerin um. Das reichte an Wahrheit für Usara. Genaugenommen ging meine Freundschaft mit Niello auf meine unglückliche Kindheit in Vanam zurück, wo ich meine freie Zeit damit verbrachte, auf der Suche nach irgendeinem Unfug durch die Stadt streifte, um die Langeweile eines Lebens als Hausmädchen eine Zeit lang zu vertreiben. Niello war damals ein kleiner Botenjunge gewesen, der im Spiegel und bei den 64
mittelmäßigeren Theatertruppen herumhing, die in den Gastund Tempelhöfen auftraten. Er überbrachte Nachrichten, flickte Kostüme, trat als Komparse auf und hoffte auf eine Chance, eine größere Rolle zu spielen. Der Hof füllte sich allmählich. Die Menschen saßen dicht gedrängt an den Seiten der Bühne, die aus Brettern und Fässern gezimmert war. Bankreihen standen davor, und die Zuschauer falteten ihre Umhänge zu Kissen zusammen, um die harten Sitze zu polstern, während sie sich voller Vorfreude auf das Schauspiel warteten. »Hast du das Stück schon gesehen? Es heißt Klatsch an der Hintertür.« Usara blickte erwartungsvoll auf den Vorhang, der den Durchgang in ein Hinterzimmer des Gasthofs verbarg, in dem die Schauspieler ihre Masken und Kostüme anzogen. Der Vorhang war mit dem kühnen Bild zweier unwahrscheinlich farbiger Gärten bemalt, die durch eine hoch aufragende Mauer getrennt waren. Zwei verschnörkelte schmiedeeiserne Tore standen auf kleinen Plattformen zu beiden Seiten der Bühne. Sie würden zwar keine Katze fern halten, die etwas anderes im Sinn hatte, aber fröhlich alle Arten von Hindernissen für die bereitwilligen Zuschauer darstellen. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber es wird das Übliche sein. Junge Liebe, voller Bitterkeit über einen strengen Vater oder eine ehrgeizige Mutter, ein paar komische Szenen, und nach einer Reihe boshafter Zufälle und Verwicklungen kommt alles in Ordnung.« Ich winkte einem Schankmädchen, das geistesabwesend umherwanderte. »Wein für mich und meinen Freund, und einen Krug für die Schauspieler, mit einem Gruß von Fräulein Flink.« Das Mädchen schaute mich unsicher an. Fräulein Flink war 65
ein ältliches, zänkisches Weib aus Der Waisen Tränen, einem düsteren Stück, das vor ein paar Jahren das Repertoire jeder Schauspieltruppe verunziert hatte. »Es ist ein kleiner Scherz«, erklärte ich, »Niello wird ihn schon verstehen.« »Ein paar unserer Lehrlinge haben das vor einigen Jahren für die Wintersonnwendfeier geprobt«, sagte Usara unerwartet. »Dann gibt es Theater in Hadrumal?« »Nur Versuche, Ansätze. Richtige Theatertruppen nehmen niemals Einladungen an, nicht einmal vom Erzmagier.« Usara klang ehrlich verwirrt. »Und das überrascht dich?«, fragte ich ungläubig. »Wo ihr Magier Saedrin wer weiß wie viele Generationen damit verbracht habt, eure schrecklichen Legenden aufzubauen und eure verborgene Insel in magischem Nebel zu verstecken? Welcher Schauspieler will es mit so einem Publikum aufnehmen? Mit faulem Obst beworfen zu werden, wenn den Leuten das Stück nicht gefällt, ist schlimm genug, aber glaubst du, jemand riskiert es, in einen Mistkäfer verwandelt zu werden?« Usara blickte ein wenig beleidigt. »Heutzutage glauben die Menschen diese alten Geschichten nicht mehr.« »Du würdest staunen«, sagte ich düster. Nicht dass ich die Absicht gehabt hätte, die Gerüchte zu zerstreuen. Wenn ich Leute beeindrucken wollte, in dem ich beiläufig erwähnte, dass ich in der geheimnisvollen Stadt der Zauberer gewesen war, würde ich ihnen kaum erzählen, dass es sich um einen faden und langweiligen Ort voller selbstvergessener Gelehrter und aufgeblasener Magier handelte. »Denk daran, was du gedacht hast, ehe sich herausstellte, dass du magiegeboren warst und in die Lehre geschickt wurdest.« Usara schüttelte den Kopf. »In Hadrumal geboren und auf66
gewachsen, in vierter Generation von der Seite meiner Mutter, in fünfter von der meines Vaters. An jedem Zweig des Familienstammbaums Magier. Für mich ist es das Festland, wo alle Rätsel und Geheimnisse liegen!« Er grinste, und ich lächelte schwach zurück. Wie war es mir bloß gelungen, so viele hundert Meilen mit diesem Mann zu reisen, ohne das je herauszufinden? Ich schalt mich selbst für meine Nachlässigkeit. Ich sollte besser auf der Hut sein, für den Fall, dass seine Unwissenheit uns in eine Bärenfalle brachte, trotz seiner angeborenen Pfiffigkeit und jahrelanger Ausbildung. Wie schlau war er eigentlich? »Was hast du von dem Basilisken gehalten?« Usara runzelte die Stirn. »Er hat sein Leben offensichtlich als ganz gewöhnlicher Hahn begonnen, bis jemand ihm den Sporn und den Kamm abgeschnitten hat. Was ich jedoch nicht verstehe – wie hat der Mann den Sporn stattdessen auf dem Kopf wachsen lassen?« Also hatte er fast den ganzen Trick durchschaut. »Zuerst muss man den Vogel kastrieren, hat man mir erklärt ...« Ein Chor von Hörnern beendete jede Unterhaltung, und der Erzähler in seiner schlichten weißen Maske und der schmucklosen Perücke trat hinter dem Vorhang hervor. Er sprach die Einleitung zu der Geschichte mit dem üblichen ausführlichen Hinweis, welche Lehren wir zu unserer moralischen Erbauung daraus ziehen könnten, was auf die Tage zurückging, da fromme Schauspiele in den Schreinen aufgeführt wurden. Wie es moderner Brauch war, lauschte die Hälfte des Publikums gespannt, um herauszufinden, wer wer war, während die andere Hälfte unruhig auf den Sitzen herumrutschte und auf die Tanzmädchen und den Schwank mit dem Schwein wartete. Ich nippte von meinem Wein, während unser Held erschien, ein reicher Jüngling aus 67
dem uns zugewandten Haus, um seine Liebe zur tugendhaften Tochter des Vorstands seiner Gilde zu verkünden. Dieses Musterbild an Tugend war anscheinend mit seiner Tante auf Reisen, wenngleich das etwas unwahrscheinlich war. Es wurden Scherze gemacht über den Vorstand – ein Mann, der jeden hasste, der nicht mit ehrlichem Handel sein Geld machte –, und witzige Bemerkungen über seinen Bauchumfang, die wohl für das hiesige Publikum ins Stück geschrieben worden waren, wenn man das wiehernde Gelächter bedachte, das sie hervorriefen. Die Köchin des Nachbarhauses klagte längere Zeit der Haushälterin des Helden ihr Leid, wie schlecht ihr elender Herr sie behandelte. Dann, zu jedermanns Erleichterung, kam der Bote mit schmutziger Maske und windzerzaustem Haar herein, das mit Mehlpampe festgekleistert war. Nachdem er mit Nachdruck versichert hatte, wie geheim seine Nachricht sei, fuhr er fort, allen und jedem zu erzählen, wie die tugendhafte Maid von gedungenen Räubern entführt worden war. Während die Zuschauer, die das noch nicht hatten kommen sehen, nach Luft rangen, erschienen die Musiker, und Tänzer kamen hüpfend hinter dem Vorhang hervor. Ich stieß Usara an. »Ich muss Niello sagen, dass sich Diener in vornehmen Häusern eher nackt auf die Dächer setzen würden, als auch nur eine Bemerkung über das Wetter zur Köchin zu machen!« Der Magier antwortete nicht, sondern beugte sich vor, um einen besseren Blick auf die Mädchen zu haben, deren wohl geformte Beine unter den mit bunten Bändern besetzten Musselin-Röcken kaum verborgen waren. Fröhlich bemalte Halbmasken verbargen ihre Augen, doch nicht ihr lockendes Lächeln. Nach einem Lied, gerade noch auf der geschmackvollen Seite 68
des Schlüpfrigen, wurde es Zeit für die Narren. Der eine hatte eine Hakennase, der andere ein Mondgesicht, also gab es hier keine Überraschungen. Sie spielten dieses Mal Händler, und ihr Problem war ein Wachhund, der alles angriff, was Hosen trug. Der eine Narr war ein Messerschleifer, der die Köchin umwarb, mit all den Scherzen, die man über Klingen und Scheiden erwarten konnte, und bald erfuhren wir, dass es der Hund war, der ihn daran hinderte, sich die Klinge ordentlich zu schärfen. Ich erkannte Niellos Stimme hinter der Hakennasenmaske. Er spielte die Szene mit einer Hingabe, der mich kichern ließ. Als der Held langatmig über den Verlust seiner Liebe lamentierte, wurde es in den Reihen hinter mir unruhig. Ich drehte mich rasch um, doch Usaras Aufmerksamkeit war noch immer ganz auf die Bühne gerichtet. Meine instinktive Besorgnis wich Freude, als ich die zwei blonden Gestalten sah, die sich zu uns durchdrängten, die Köpfe nur auf Schulterhöhe der meisten Männer, einer mit der nicht zu verkennenden stämmigen Gestalt des Bergvolks, der andere schlanker, das lange Haar mit einem geflochtenen Lederband zurückgehalten. »Mach Platz, Usara.« Ich stieß ihm einen Ellbogen in die Rippen, und er rutschte mit höflichen Entschuldigungen an ein paar Lehrlinge zur Seite. ‘Gren schnappte sich einen Hocker von jemandem, der so unklug war, einen Augenblick aufzustehen, um besser sehen zu können, und reichte ihn Sorgrad, der sich prompt an unserem Tisch niederließ, als hätte er schon den ganzen Abend da gesessen. »Wir haben gehört, dass ihr hier seid.« Sorgren schlüpfte zwischen mich und Usara und bediente sich mit einem frechen Grinsen von meinem letzten Wein. »Das kann ich jetzt gebrauchen, ich bin so ausgedörrt wie der Hut eines Kalkbrenners.« 69
Sorgrad zog einen kleinen Silberbecher aus seiner Tasche und füllte ihn aus unserem Krug. »Ich habe bei jedem, der mir einfiel, Nachrichten hinterlassen. Wann seid ihr eingetroffen?« »Kurz nach Sonnenuntergang.« Sorgrad trank durstig. »Wir kommen geradewegs von Col.« »Schulde ich dir Geld oder was?« Kühl erwiderte ‘Gren Usaras fragenden Blick. »Willst du dich nicht um deine eigenen Angelegenheiten kümmern?« »Das ist Usara, er ist mit mir hier.« Ich nahm ‘Gren meinen Becher weg und schaute mich nach dem Serviermädchen um. »Dazu kommen wir später. Was habt ihr in Col gemacht?« »Uns von Ärger fern gehalten.« Sorgrad lächelte mich zufrieden an, und ich bemerkte das feine Wolltuch seines kastanienbraunen Wamses, gut geschnitten nach der neuesten Mode und teuer nach Maß gearbeitet, um seiner fassförmigen Brust zu schmeicheln. Die zahlreichen silbernen Verzierungen an seinem Gürtel waren blank, das Leder schimmerte noch neu. Sein feines blondes Haar lugte ordentlich geschnitten unter einer eleganten Kappe in neuestem südländischem Stil hervor. Selbst über die Stallgerüche und die verschwitzten Zecher hinweg konnte ich den Duft teurer Badeöle riechen. »Also ist euer kleines Projekt in Draximal gut gelaufen?«, erkundigte ich mich unschuldig. Das letzte Mal, als ich die Brüder gesehen hatte, heckten sie den verrückten Plan aus, den Sold von Soldaten zu stehlen – von Söldnern, um genau zu sein – Gold, das dafür vorgesehen war, noch eine weitere Jahreszeit des endlosen Bürgerkriegs in Lescar zu finanzieren. Sorgrad nickte. »Wir haben ein paar alte Freunde gefunden, denen es gut gefiel, zur Abwechslung einmal im Voraus bezahlt zu werden, ohne großes Blutvergießen. Wir haben uns den 70
richtigen Fleck an der Straße durch die Berge nördlich von Sharlac ausgesucht. Es war so einfach, wie ein Brathähnchen zu erschlagen.« »Und was bringt euch dann nach Selerima?« Usara musste seine Stimme erheben, da die Tänzer wieder zu lebhafter Flötenmusik auftraten. »Wir dachten, ein gewisser Cordainer könnte zu den Festtagen hier sein.« Sorgrads blaue Augen brannten dunkel vor Rachegelüsten. Es heißt nicht umsonst, das Gedächtnis der Bergbevölkerung sei wie in Stein gemeißelt. »Wer?« Usara sah mich fragend an. »Später.« Vielleicht fiel mir später eine akzeptable Erklärung ein, dass Arie Cordainer jenen Raub ersonnen hatte, über den ich nicht mit einem Wachmann reden wollte. Er hatte unsere Dienste in Anspruch genommen, dann aber einen Weg gefunden, die Stadt mit der gesamten Beute zu verlassen, während wir anderen kurz davor standen, am Galgen zu enden, weil der Kerl entsprechende Informationen gestreut hatte. Ich drehte mich um und winkte einem Kellner, bei dem ich neuen Wein und einen weiteren Becher bestellte. Das Stück endete damit, dass ein neues Dienstmädchen im Haus des Geizkragens erschien. Es war nicht überraschend, dass sie die zierliche Maske und die ringgeschmückte Perücke der entführten Heldin trug. Ich schenkte Sorgrad mehr Wein ein, weil es keinen Zweck hatte, ‘Grens Aufmerksamkeit erringen zu wollen, solange eine hübsche Frau zum Angucken da war. Mir war es recht so: Solange er beschäftigt war, konnte er kein Unheil anrichten. »Bleibt ihr nach den Festtagen hier in der Gegend?«, fragte ich Sorgrad. »Ich schätze, dass ihr euch den Sommer über von 71
Lescar fern halten werdet.« »Wir haben niemanden am Leben gelassen, der uns wiedererkennen könnte«, sagte er achselzuckend. »Aber ja, sobald wir das Geld geteilt hatten, hielten wir es für das Beste, ein paar Meilen zwischen die anderen und uns zu bringen. Es war ein Paar dabei, dessen Mundwerk nicht dichter hält als ein Loch in der Tasche, und wenn sie den Strick am Galgen baumeln sehen, werden sie reden wie ein Wasserfall, um ihren Hals zu retten.« Ich nickte und wählte meine nächsten Worte sorgfältig. »Charoleia sagte, man hätte ein paar Männer geschnappt, die des Raubes verdächtigt würden, und dass der Herzog von Draxima nach ihrem Blut schreit.« Usara beugte sich vor, um zu hören, was ich sagte, doch ‘Gren schob ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung weg, da er ihm die Sicht versperrte. Sorgrad sah mich scharf an. »Wann hast du sie gesehen?« »Kurz vor Ende des Nachwinters, als Usara und ich auf dem Weg hierher waren«, erzählte ich. »Sie war wie immer in Relshaz, deswegen wusste ich auch, dass ihr zum Fest herkommen wolltet. Sie sagte, sie hätte euch bei der Wintersonnenwende gesehen.« Sorgrad runzelte die Stirn. Ich wusste, er würde kein Wort in Frage stellen, das ich angeblich von Charoleia gehört hatte. Wenn man bedenkt, dass sie ihr Geld damit verdient, leichtgläubigen Leuten einleuchtende Geschäfte aufzuschwatzen, ist ihr Netz zum Sammeln von Informationen nicht zu schlagen. Sie verbringt die Winter in einer der größten Hafenstädte am Golf von Lescar. Usara sagte etwas zu ‘Gren, das ich nicht verstehen konnte, was aber ohnehin unbeantwortet blieb, da die Narren wieder auftraten. Der eifrige Messerschleifer hatte vor, sich in einem 72
Kleid an dem Wachhund vorbeizuschleichen. Das führte natürlich dazu, dass Reza, unter einem zerlumpten Fell und mit hängenden Hundeohren, Niello um die Bühne jagte, wobei Letzterer nicht mehr trug als Maske und einen hautengen, feingestrickten Wollanzug. »Wie kann er sich nur so auspolstern!«, japste ein errötendes Mädchen hinter mir, den Blick auf Niellos Hose gerichtet. Ich wusste es besser als sie und gestattete mir einen Augenblick nostalgischer Rückbesinnung. »Wir sind weit genug weg, um in Sicherheit zu sein.« Sorgrads Gesicht war unbekümmert, als ich ihn wieder anschaute. »Niemand wird uns quer durch Caladhria und Ensaimin verfolgen.« »Vielleicht doch, wenn die Belohnung groß, genug ist«, sagte ich langsam. »Ich hörte, dass der Herzog ein Zehntel von dem bietet, was gestohlen wurde.« Sorgrads saphirblaue Augen blickten fragend über den Rand seines Silberbechers. »Das hast du gehört?« Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es nur Kneipengeschwätz, aber es wäre vielleicht klug, für eine Jahreszeit irgendwo anders eine bezahlte Beschäftigung anzunehmen.« »Die du zufällig gerade zur Hand hast?« Sorgrad zog fragend die Augenbrauen hoch. Er nickte zu Usara hinüber, der es aufgegeben hatte, sich mit ‘Gren zu unterhalten und seine Aufmerksamkeit dem Stück widmete. »Wo kommt er ins Spiel?« »Ihn lasse ich für den Augenblick heraus. Ja, ich habe etwas in petto, und ihr solltet mich anhören.« Ich lächelte ihn an. »Wir könnten beide gut dabei abschneiden.« Als Sorgrad auflachte, drehten sich ein paar Leute von der Bühne weg, auf der gerade Held und Heldin sich unter Tränen 73
durch eins der eisernen Tore bei den Händen hielten. Sorgrad beugte sich zu mir. »Also, wie lautet das Angebot? Nimm’s mir nicht übel, Livak, aber ich hörte, dass du mit Halice losgezogen seist, um wieder für irgendwelche Zauberer zu arbeiten. Ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt. Charoleia sagte uns, sie hätte einen Brief von Halice erhalten, aus einem neuen Land weit draußen im Ozean. Der Erzmagier hat es entdeckt. Die Menschen dort schlafen seit dreißig Generationen in einer Höhle, heißt es, und herzlose Schurken versuchen, ihr Land zu stehlen, und Zauberer lassen Drachen erscheinen, um sie zu vertreiben.« »Ich weiß, es klingt unglaublich, aber diese Menschen in der Höhle waren die Tormalin-Kolonie, von der Nemith der Letzte kurz vor dem Untergang des Alten Imperiums die Spur verlor«, erklärte ich. Sorgrad sagte: »Wir alle haben die Geschichten über diese verlorene Kolonie gehört, von Flüssen, die über goldenen Kies strömen, und Diamanten, die im Gras liegen. Seit den Tagen des Chaos haben immer wieder Leute versucht, dieses Land zu finden.« »Davon weiß ich nichts – von dem Gold und den Juwelen, meine ich«, sagte ich rasch, »aber erinnerst du dich an die Inseln im östlichen Meer, zu denen man mich schleppte, nachdem man mich gefangen und gezwungen hatte, für diesen Zauberer zu stehlen?« Sorgrad nickte. Ich bemühte mich, leise zu sprechen und die Erinnerung an diese Qual zu ignorieren. »Vergiss nicht, wie viel Geld ich von dieser Reise zurückgebracht habe, Sorgrad. Über Zauberer kann man sagen, was man will, aber sie zahlen gut.« Falls man lebend zurückkommt, setzte ich stumm hinzu. »Es 74
waren diese Eismänner – jedenfalls ihre Ahnen –, welche die ursprünglichen Siedler in den Schlamm gestampft haben. Diejenigen, die entkommen konnten, versteckten sich in einer Höhle und hüllten sich in Zauber. Der Erzmagier schickte letzten Sommer eine Suchexpedition nach ihnen aus. Halice und ich waren dabei. Diese Leute hatten Magie, ‘Grad, alte Magie, nicht die Zaubertricks des Erzmagiers und seinesgleichen, sondern verloren gegangene Zauberkräfte, die sie über all diese Generationen hinweg in Schlaf versetzten, sodass sie in Sicherheit waren. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen – ich sah, wie sie geweckt wurden.« Ich hielt inne, in der Erwartung einer spöttischen Erwiderung von Sorgrad, doch er schaute nachdenklich drein. »Der Erzmagier hat diese Leute geweckt, und jetzt haben sie ihre Kolonie wieder? Es klingt immer noch wie ein schlechtes Stück. Warum kümmerst du dich noch um diese Dinge?«, fragte er dann mit untypischer Schärfe. »Du hast dich immer so weit wie möglich von Magiern fern gehalten, genau wie wir anderen, und nach dem, was Halice sagt, verfügen diese Elietimm über Zauber, dass dir die Haare zu Berge stehen! Ich weiß, dass man dich erpresst hat, diese ersten Auftrag für den Erzmagier zu übernehmen, und was das letzte Jahr angeht, schätze ich, schuldetest du Planir etwas dafür, dass er deine Haut gerettet hat. Aber ich verstehe nicht, warum du freiwillig schon wieder deinen Kopf in die Schlinge steckst! Hat das was mit deinem tormalinischen Schwertkämpfer zu tun? Charoleia hat uns erzählt, dass du ihn bereitwillig deine Taschen hast plündern lassen.« »Deine Zunge ist zu lang für deine Zähne, Sorgrad«, warnte ich ihn. »Ich arbeite jetzt für einen Tormalin-Prinzen, nicht für die Zauberer. Ja, die Elietimm haben mir eine Heidenangst 75
eingejagt, und ich wache noch immer schweißnass bei der Erinnerung auf. Und das ist ein Grund dafür, warum ich so weit weg von der Küste will wie nur möglich. Nach Messires Ansicht haben diese Eismänner genug von ihren eiskalten Steinen und suchen zur Abwechslung nach einem warmen, trockenen Plätzchen. Planir hat sie aus der Kolonie geworfen, und wir fanden ihre Spuren in Dalasor und Nordtormalin im vorletzten Jahr ...« »Von einer solchen Bedrohung habe ich noch nichts gehört«, unterbrach Sorgrad mich skeptisch. »Weil Planir und Messire die Köpfe zusammengesteckt und beschlossen haben, das alles unter Verschluss zu halten, bis sie einen Plan hatten.« Ryshad und ich hatten darüber argumentiert und für die Verbreitung einer genauen Beschreibung der Elietimm in ihren unverwechselbaren Livreen ausgesprochen, sodass sie auffallen würden wie bunte Hunde, wenn sie je wieder versuchten, das Festland zu erreichen. Ich dachte immer noch, dass sich unsere so genannten Führer irrten. »Schon bald werden der Kaiser und seine Kumpane vor einer organisierten Armee stehen, die von Hexern unterstützt wird, die dir aus einer Meile Entfernung das Hirn aus der Nase ziehen können«, fuhr ich fort. »Mein Herr weiß, dass er Magie braucht, um zurückzuschlagen.« »Was will der Prinz dann von dir?« Sorgrad blickte noch immer finster und feindselig drein. »Wer ist er überhaupt?« »Messire D’Olbriot. Du hast sicher schon von ihm gehört?« Ich hätte eine Goldkrone darauf gewettet, dass Sorgrad vom wichtigsten Adelshaus in Tormalin gehört hatte. Er nickte. »Es heißt, dass er praktisch den Hof führt, wo Kaiser Katriol doch noch so jung ist. Was machst du für ihn?« Ich hielt Sorgrads Blick fest. »Messire D’Olbriot möchte diese 76
alte Magie verstehen – am besten, bevor jemand anders daran denkt, danach zu suchen – und erfahren, was er vorhat. Der Erzmagier will ebenfalls alles über diese alte Magie lernen. Zauberkunst, nennen sie es jetzt, oder Äthermagie. Der Punkt ist, die Zauberer von Hadrumal können diese alte Magie nicht anwenden – frag mich nicht warum. Das macht Planir Sorgen, also tut er alles, um herauszufinden, was er da vor sich hat.« »Wenn dein Gönner die Informationen hat, auf die der Erzmagier so wild ist, kann er sie gegen ein paar Magier tauschen und Blitze auf jeden Eismann werfen, der an Land will, ohne Hafengebühren zu bezahlen?« Sorgrad sah noch immer nachdenklich aus, doch weniger feindselig. »Das macht Sinn.« »Ich wusste, du würdest es verstehen.« Ich grinste. Messire D’Olbriot hatte es nicht verstanden, bis ich es ihm erklärte, trotz all der Jahre, in denen er die Figuren im Spiel der tormalinischen Politik hin und her geschoben hatte. Die Vorstellung, sich mit Magiern und Zauberei einzulassen, war in Toremal noch immer so willkommen, wie mit einer pockenzerfressenen Hure zu tanzen. »Wie ich schon sagte, es ist ein Auftrag, der sich wirklich sehr auszahlen könnte. Wir könnten sogar für beide Seiten spielen und unseren Gewinn verdoppeln.« »Und welche Runen sollst du in diesem Spiel werfen?«, fragte Sorgrad. Ich konnte sehen, dass die Neugier bei ihm allmählich Oberhand gewann, und atmete ein bisschen leichter. »Es heißt, dass die Zauberkunst ursprünglich von den alten Rassen stammte, dem Volk der Ebene, dem Bergvolk, dem Waldvolk. Von ihnen bekamen sie die Alt-Tormaliner.« »Zusammen mit ihrem Land, ihrem Reichtum und ihrem Vieh«, knurrte Sorgrad. 77
Ich fuhr fort: »Tormalingelehrte und Planirs Zauberer haben das letzte halbe Jahr oder länger die Archive und Bibliotheken durchstöbert auf der Suche nach Hinweisen. Ich habe mich selbst ein wenig umgesehen und ein paar interessante Dinge gefunden ...« Nachdem die Gelehrten sich von ihrem Erstaunen erholt hatten, dass jemand aus dem einfachen Volk wie ich tatsächlich mehr als eine Wäscheliste lesen konnte, und mich durch ihre staubigen Bände blättern ließen. »Ich fand ein Liederbuch, das bis auf die Zeit vor dem Untergang des Reiches zurückgeht, mit vielen alten Liedern von sämtlichem alten Völkern und voller Andeutungen über Äthermagie.« »Und das soll interessant sein?« Sorgrads schnaubte. »Ich glaube schon. Wenn wir die alten Lieder übersetzen können, werden Planir und D’Olbriot mir zustimmen, vor allem, wenn die Lieder wirklich ein paar der Gesänge enthalten, um Magie auszuüben.« »Wie wahrscheinlich ist das?«, fragte Sorgrad stirnrunzelnd. »Die Chancen stehen nicht so schlecht, wie du vielleicht denkst«, versicherte ich. »Ich habe gesehen, wie diese Äthermagie gewirkt wurde, und ich wette jede Summe darauf, dass in diesen Zaubergesängen Rhythmen aus Waldvolk-Liedern sind. Ich bin die Tochter eines Sängers, Sorgrad, du weißt, dass du dich auf meine Ohren verlassen kannst.« »Und warum machen die Zauberer es dann nicht selbst?«, wollte Sorgrad wissen. »Der Zauberer, den Planir die Arbeit der Gelehrten aufeinander abstimmen lässt, ist ein kleinkarierter Mantelträger namens Casuel«, erklärte ich. »Seine Pläne und Methoden sind wie in Stein gemeißelt, und er wollte meinen Theorien einfach nicht zuhören.« 78
»Und da hast du ihm nicht einen Stapel Bücher an den Kopf geworfen, um ihn los zu werden?« Sorgrad grinste. »Glaub nicht, ich hätte keine Lust dazu gehabt!« Ich nahm einen Schluck Wein. »Nein, ich bin ihn einfach umgangen. Es gibt da einen Lieblingsknaben, einen Neffen, der Ryshad etwas schuldet. Junker Camarl, heißt er. Ich überzeugte ihn davon, dass dieses Buch eine nähere Untersuchung wert ist, und er schlug Messire D’Olbriot vor, mich zu bezahlen und die Lieder übersetzen zu lassen.« »Und du bist den ganzen Weg hierher gekommen, um jemanden zu finden, der diese Arbeit macht? Ich nehme an, dafür willst du mich?« Sorgrad wirkte nicht beeindruckt. »Ich schätze es, dass du deinen Lohn mit deinen Freunden teilen willst, Livak, aber es muss doch jemanden geben, der eher in Frage gekommen wäre!« »Eigentlich nicht.« Ich zuckte die Achseln. »Die Gelehrten kamen mit dem Alt-Hochtormalin zurecht, aber sie machen sich keine Mühe, wenn es um verlorene Sprachen geht, wie sie es nennen. Wir fanden ein paar Adlige, die einige Zeit in Gidesta gelebt haben. Doch gerade so viel Berg-Sprache, um Wein, ein Bett und eine Hure in den Erzminen bestellen zu können, reichte bei archaischen Sagen nicht aus.« »Also suchst du nach jemandem, der den alten Dingen näher steht, um sie zu übersetzen?« Sorgrad fuhr nachdenklich mit dem Finger über den Rand seines schön ziselierten Bechers. »Ja. Und das heißt auch, in die Wildnis und hinauf in die Berge zu gehen. Zwischen hier und Toremal habe ich niemanden gefunden, der alle Worte kennt.« Ich hatte allerdings genug erfahren, um überzeugt zu sein, dass es in diesen Liedern um Zauberkunst ging. 79
»Wirst du eigentlich im Voraus bezahlt oder für das Ergebnis?«, wollte Sorgrad plötzlich wissen. »Ich habe einen anständigen Vorschuss bekommen«, beruhigte ich ihn, »und ich habe die Vollmacht, in allen größeren Städten im Lande auf die Reserven von D’Olbriot zurückzugreifen.« Das Bronzeamulett mit dem Siegel D’Olbriots hing warm und schwer unter meinem Hemd, doch ich wollte keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns lenken, indem ich es hier zeigte. »Die endgültige Zahlung hängt davon ab, was genau ich herausfinde. Ja, ich will die Lieder übersetzt haben. Aber mit ein bisschen Glück wird jeder, der die alten Sprachen beherrscht, mich an Leute verweisen, die nützliches Wissen über alte Ätherkunde oder ähnliches besitzen. Ich kann selbst in den Wald gehen, als Halbblut, und mit dem Namen meines Vaters für mich bürgen. Sobald ich echtes Volk finde, sollte ich in der Lage sein, jemanden zu überreden, dass er mir hilft. Doch um in die Berge zu kommen brauche ich jemand, der weiß, wie die Dinge dort oben aussehen, der die Sprache spricht und mich an den richtigen Stellen einführt.« »Was du also brauchst, sind ich und ‘Gren.« Schalk blitzte in Sorgrads Augen auf. »Vielleicht ist es die Sache wert, wenn wir uns auf einen anständigen Preis einigen können.« Seine Belustigung ging mir auf die Nerven, und mir fiel auf, dass ich nie wirklich erfahren hatte, warum die zwei ursprünglich aus den Bergen fortgegangen waren. »Wir werden doch nicht ständig über Leute stolpern, die euch am liebsten die Haut abziehen würden, weil ein Preis auf euch ausgesetzt ist, oder?«, fragte ich streng. »Nein, nicht so lange wir uns von ein paar Orten fern halten.« Sorgrad blickte wieder nachdenklich in seinen leeren Be80
cher. Ich schenkte ihm nach. »Lass mich darüber nachdenken«, sagte er schließlich. »Ich muss mit ‘Gren darüber reden.« »Kommt mich morgen früh besuchen. Dann zeige ich dir das Buch.« Ich wandte mich zur Bühne, wo wieder Tänzerinnen ihre Beine schwangen. Es hatte keinen Sinn, Sorgrad zu drängen; er würde mir früh genug antworten – und dann würde ‘Gren tun, was sein älterer Bruder für richtig hielt. ‘Gren ging das Leben mit einem Eifer an, der manchmal in Rücksichtslosigkeit umschlug. Das war zweifellos der Grund, weshalb sie die Berge verlassen hatten. ‘Gren hatte gewiss irgendetwas getan, ohne an die Folgen zu denken, und sie mussten sich aus dem Staub machen. Also hatten sie sich nach Lescar durchgeschlagen, wie Auswanderer aus allen Teilen der Welt. ‘Grens Hang zu Gewalt hatte sich im Söldnerleben bestimmt rasch als Aktivposten erwiesen, statt eine Belastung zu sein wie anderswo. Also waren sie geblieben und hatten erlebt, dass sich aus dem endlosen Kreis der Bürgerkriege reiche Ernte einfahren ließ. Die Tänzerinnen überließen die Bühne wieder den Schauspielern, und ich war rasch wieder im Bilde. Der Geizhals, der nur das Geld unserer Heldin heiraten wollte, hatte sie entführt und ließ sie nun als Spülmädchen schuften, bis sie einwilligte. »Warum beschleunigt er das Ganze nicht, indem er die dumme Nuss vergewaltigt?«, murmelte Sorgrad verwirrt. »Sie sieht nicht aus, als ob sie sich wehren könnte«, pflichtete ich bei. Die Köchin und die Haushälterin kamen auf die Bühne, um eine weitere jener angenehmen Unterhaltungen zu führen, bei denen beide Beteiligten sich erzählen, was sie ohnehin schon wissen. »Da hast du deine Antwort!« »Der alte Mann in Der Waisen Tränen war auch impotent.« 81
Usara beugte sich hinter ‘Gren herum, um mit mir zu reden. Er sah verwirrt aus. »Das gehört in der Regel zu einer Maske mit hängender Nase«, flüsterte ich. Saedrin schütze mich vor diesen Zauberern mit ihrem behüteten Leben. Als Nächstes waren am Gartentor unser Held und unsere Heldin dran. Er wollte unbedingt die Stadtwache rufen und den alten Schuft verhaften lassen. »Das erste vernünftige Wort von ihm«, wisperte Sorgrad. »Ein ehrbarer Bürger sollte sich schließlich immer an die Stadtwache wenden.« »Ich wette mit dir um eine Silbermark, dass sie es nicht tut«, erwiderte ich. Das Geld war mir sicher, denn unsere Heldin widersprach unwiderlegbar und überzeugend theatralisch, der alte Geizhals wäre ihr zu nahe gekommen, sodass ihr Ruf ruiniert sei und die Eltern unseres Helden ihnen niemals erlauben würden zu heiraten. Ich winkte nach mehr Wein, während wir dem üblichen romantischen Unsinn lauschten, der nun folgte. Ich merkte, dass ich an Ryshad dachte, den TormalinSchwertkämpfer, den Sorgrad erwähnt hatte. Unsere Wege hatten sich gekreuzt, als er in Messires Auftrag die Eismänner verfolgt hatte. Seit Jahren schlichen sich Elietimm nach Tormalin aufs Festland, um zu rauben und zu töten, wobei sie Kostbarkeiten stahlen, von denen sie hofften, dass sie zur verlorenen Kolonie von Kel ArAyen führten. Ich war hinter denselben Raritäten her – und widerwillig als Dieb für den Erzmagier tätig gewesen. Ein Feuer plötzlicher Leidenschaft und die sinnlichen Freuden, die darauf folgten, waren mir nichts Neues, doch die wahre 82
Überraschung war das unangenehme Gefühl des Verlustes, als Ryshad zu seinem Herrn zurückgekehrt war. Ich neige nicht dazu, Männern nachzuweinen – die Runen fallen, und ich ziehe weiter –, doch ich vermutete, dass wir eins geworden waren, und nicht nur zwischen den Laken. Als der Zufall und die Duldung des Erzmagiers uns wieder zusammenführten, zeigte ich mich entgegenkommend und nachgiebig, damit Ryshad und ich uns nicht trennen mussten. Ich kleidete meine Gefühle zwar nicht in duftende, sinnlose Worte wie die Heldin, die über die Bühne flatterte, doch ich musste mir schließlich eingestehen, dass ich mit Ryshad zusammen sein wollte, und nicht nur so lange, bis zum Jahreswechsel alle Verträge ausliefen. Schließlich hatte ich erfahren, dass er genauso versessen auf mich war, was mich zugleich freute und wachsam machte. Ich blickte zu den angeblich Liebenden mit ihren Gesichtern aus Holz und Farbe und ihrem Leben, das aus dem Repertoire der Schauspieler stammte: der edle Liebhaber, der verschollene Erbe, die schändlich behandelte Schönheit, der fröhliche Gauner, der weise alte Mann, die komischen Handwerker. Ihre misslichen Lagen und die Lösungen passten wie die Steinchen in ein Mosaik, anders als das Leben für Ryshad und mich. Eine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zu finden, erwies sich als äußerst schwierig. Niellos klingende Stimme zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich merkte, dass die beiden Händler anboten, die Heldin aus dem Haus des Geizhalses zu rauben, sodass unser Held sie im Wald herumirrend finden und in den Schoß ihrer liebenden Familie zurückführen konnte. »Und was soll ich im Wald tun?«, fragte der Held verwirrt. »Vielleicht Blümchen pflücken?«, höhnte der mondgesichtige 83
Narr mit einer bedeutungsvollen Geste auf die Hose unseres Helden, die entschieden ausgepolstert war. »Was sollte ein junger Mann im Frühling sonst im Wald tun?« Gelächter brandete auf. »Ich glaube nicht, dass Papas kleiner Schatz unbefleckt nach Hause kommt«, sagte ich mit gespielter Missbilligung zu Sorgrad. Das Stück folgte voraussehbaren Pfaden: Die unglaubwürdigen Liebenden, die sich mitsamt den Narren, dem Hund, der Köchin und dem Geizkragen vor und hinter dem Vorhang jagten, ernteten noch lauteres Gelächter als die zweideutigen Scherze, die rasch hin und her flogen. Der Geizhals machte den Fehler, sein eigenes Haus durch die Hintertür betreten zu wollen, weil er die Flucht der Heldin vereiteln wollte; prompt wurde ihm die Hose zerrissen, und er wurde mit fliegenden Hemdzipfeln von seinem eigenen Hund gejagt. Der Scherenschleifer ergriff die Gelegenheit, um erstens die Erbin zu retten und dann seine Füße unter den Tisch der Köchin zu strecken. Die Tänzerinnen traten auf, um das Tempo mit einer gemäßigten Zurschaustellung von Spitzen und Beinen herauszunehmen, und das Stück endete damit, dass unser Held und die Heldin in ihren Hochzeitskleidern hinter dem Vorhang auftauchten, ihr Haar ordnungsgemäß abgeschnitten und auf Drianons Altar gelegt. Der Erzähler erhob seine Stimme über das Raunen der Zuschauer, die nach Bier riefen, und verkündete die Moral von der Geschichte, obwohl die Geschichte jeden Priester schockiert hätte, der versehentlich über die Schwelle gestolpert wäre. Ich war überrascht, dass Niello das nicht weggelassen hatte wie so viele Komödiantentruppen heutzutage, doch wir hatten schließlich Festtage, an denen die Leute es gern sahen, wenn die alten Traditionen befolgt wurden. 84
Als die Schauspieler hervorkamen, um sich zu verbeugen, winkte Niello, machte eine Geste, als würde er trinken und deutete auf unseren Tisch. »Bleiben wir noch?« Ich sah die anderen an. »Entschieden«, antwortete ‘Gren prompt. Die Tanzmädchen tauchten zu zweit und zu dritt auf, ihre Schuhe in der Hand und warme Schals über ihre Kostüme geschlungen. »Es ist noch zu früh, um ins Bett zu gehen, jedenfalls ohne Gesellschaft.« Er schlenderte zur Bühne und nahm einen Krug und ein paar Becher von einem Serviermädchen entgegen. Die Tänzerinnen beachteten ihn zunächst kaum, eine schlanke Gestalt in unauffälligem braunem Wams und Hosen, wie die Hälfte der Männer in der Stadt. Ich sah zu, wie die Köpfe der Mädchen nacheinander herumfuhren, goldene Ringellocken sich neben ‘Grens flachsblonden Schopf drängten. Neugierige Blicke wichen zimperlichem Kichern, und es endete damit, dass ‘Gren auf dem Bühnenrand saß, umgeben von vier Mädchen, die Wein tranken und kokett kicherten, als er ihre Vorführung mit allerlei Schmeicheleien pries. Niello schlenderte herbei und schwenkte seine HakennasenMaske an den Bändern. Er trug ein zerlumptes aufgeknöpftes Wams in Regenbogenfarben über einem durchgeschwitzten Hemd. Sein maskuliner Duft war nicht unangenehm, als er sich auf die Bank fallen ließ und mir ein herzliches Lächeln schenkte. Er fuhr sich mit der Haar durch das zerzauste kastanienbraune Haar und stieß einen dankbaren Seufzer aus. »Na, was sagst du?« »Sehr unterhaltsam.« Usara schob ihm einen Becher zu. »Erstklassig.« »Gut genug für den Spiegel«, stimmte ich zu. 85
»Wohl kaum«, meinte Niello achselzuckend, doch seine Miene verriet, dass er sich freute. »Ich glaube, wir könnten die Sache mit dem Hund noch mehr ausreizen.« »Nur wenn du splitternackt wärst, damit die Mädchen wirklich was zu sehen haben«, gab ich zurück. »Sollte ich dieses Opfer bringen?«, überlegte er scheinbar ernsthaft. »Vielleicht nicht. Ich glaube nicht, dass die Stadtwache das komische Element darin sehen würde. Was hältst du von meiner Szene mit der Köchin?« »Wo war der Brief?«, wollte Sorgrad wissen. »Was für ein Brief?« Niello war verblüfft. »Der Brief, der entweder eine entscheidende Bedeutung hat und verloren geht oder eine wichtige Information enthält, die jedermanns Probleme löst.« Sorgrad lächelte. »In jeder guten Geschichte kommt so was vor, oder nicht?« Wir sprachen über das Stück im Allgemeinen und Niellos Rolle im Besonderen. Allmählich leerte sich der Hof, bis nur noch wir vier und die Schauspieler da waren, die sich entspannten. Die fünf Glockenschläge für Mitternacht klangen von einem fernen Turm herüber. »Wo wohnt ihr?« Niellos Blick glitt fragend von Usara zu mir. »Wir haben zwei Zimmer in den Sechs Sternen.« Ich legte einigen Nachdruck auf das Wort ›zwei‹. Niello pfiff lautlos. »Du bist aufgestiegen, mein Schatz. Ich bringe dich dorthin, wenn du schlafen gehen willst.« Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, aber trotzdem vielen Dank.« Seine braunen Augen schauten mit gerade so viel Enttäuschung, um mir zu schmeicheln, doch mit dem nächsten Atem86
zug hatte er seine Fassung wiedergefunden. »Wenn ihr mich entschuldigen wollt, ich muss wirklich mit ein paar Leuten von der Truppe reden. Es war eine gute Vorstellung, aber es gibt immer Verbesserungsmöglichkeiten.« Wir sahen ihm nach, als er schnurstracks wie ein Jagdhund auf der Fährte auf das Mädchen losging, das die Heldin gespielt hatte, und deren Gesicht nichts von der Unschuld der Maske besaß, die sie im Stück getragen hatte. »Beim letzten Mal hast du ihm auch einen Korb gegeben«, bemerkte Sorgrad listig. »Hältst du dich für deinen Schwertkämpfer frei?« »Ich halte mich von der Krätze frei«, erwiderte ich schroff. »Die habe ich beim letzten Mal dafür bekommen, dass ich mich von ihm habe überreden lassen.« Ich sah Abscheu über Usaras Miene huschen und wollte ihn darauf ansprechen, als es auf der Bühne plötzlich unruhig wurde. ‘Gren hatte seinen Arm um die Taille einer hübschen Tänzerin gelegt, deren Gesicht in der geistesleeren Sinnlichkeit glühte, die so oft Scherereien macht. Der zweite Narr, dessen Gesicht fast so fett war wie seine Maske und dazu rot vor Wein und Zorn, griff nach dem Arm des Mädchens. »Komm schon, Lalla! Ich sagte, wir gehen. Du kommst heute Abend mit mir.« ‘Gren schwenkte das Mädchen aus der Reichweite des Narren. »Lalla möchte bleiben, nicht wahr, mein Herz?« Er verstärkte seinen Griff um ihre Taille und lächelte zu ihr auf. »Geh nach Hause, Vadim«, mischte sich eins der anderen Mädchen unklugerweise ein. »Lalla ist ebenso wenig dein Eigentum wie wir anderen. Wann geht das endlich in deinen Holzkopf?« 87
Vadim hob warnend einen Finger. »Sei still, Kelty, wenn du nicht willst, dass ich dir das Maul stopfe.« Ich sah, wie sich ‘Grens Gesichtsausdruck verhärtete. Bei allem Vergnügen, das er an der Gesellschaft hübscher Mädchen hat, besitzt er doch einen geradezu übertriebenen Sinn für Höflichkeit gegenüber Frauen. Er hob Lalla hoch und setzte sie auf den Rand der Bühne. Seine unerwartete Kraft überraschte sie und ließ sie dümmlich kichern. »Ich glaube nicht, dass diese Damen heute Abend noch Bedarf an deiner Gesellschaft haben.« ‘Gren baute sich vor Vadim auf und verhöhnte ihn mit dem Akzent aus dem Schauspiel. »Warum machst du nicht die Biege?« Vadim, der seinem Akzent nach aus Col stammte, brauchte einen Moment, um diesen Ausdruck zu begreifen. Lalla war etwas schneller und kicherte, doch Kelty und die anderen hatten genug Verstand, um ‘Gren zwischen sich und Vadim zu schieben. Das Gesicht des dicken Narren war wutverzerrt, und er schlug mit einer Faust von der Größe eines Eselhufs nach ‘Gren. ‘Gren wich dem Schlag mühelos aus, fuhr herum und landete einen spöttischen Klaps auf Vadims Hintern. »Hierher, Fettarsch!« Usara stemmte die Hände auf den Tisch und erhob sich, um einzugreifen. »Nicht.« Ich legte ihm eine Hand fest auf den Arm. »Ach, komm«, widersprach Usara. »Das wird doch kein fairer Kampf, oder?« »Nein, aber der Dicke hat angefangen, also muss er nehmen, was er bekommt.« Der Zauberer setzte sich, und seine verwirrte Miene war ein stumme Bitte um Erklärung. Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Streit. ‘Gren wich geschickt Vadims schwerfälligen 88
Schwingern aus und landete schmerzhafte Klapse im roten Gesicht des Narren. Lalla, das dümmliche Mädchen, war völlig aufgelöst und versuchte, beide am Ärmel zu erwischen, trotz des drängelnden Zischelns von Kelty und den anderen, die sie warnten, sich herauszuhalten. »Ich erdrossle dich mit deinen eigenen Eingeweiden, du Hurensohn«, tobte Vadim, packte einen Hocker und warf ihn nach ‘Gren, der sich duckte, ehe er einen Teller mit Knochen und Essensresten zurückwarf, der Vadim mitten auf der Brust traf und ihn mit Fett bekleckerte. Wutschnaubend stürmte der große Mann vorwärts wie ein gereizter Bär. ‘Gren rutschte auf einer Obstschale aus, und fiel auf ein Knie. Mit lautem Triumphgeheul zielte Vadim auf ‘Grens Schläfe. ‘Gren warf sich zur Seite, ehe der Schlag traf, streckte den Arm aus, um seinen Sturz abzufangen und rollte sich mit einer Anmut auf die Füße, um die ihn die meisten Akrobaten beneidet hätten. Wieder auf den Beinen, ließ ein blitzschneller Schlag Vadims Lippe aufplatzen, ehe der Dicke wusste, wie ihm geschah. Ein zweiter Schlag in den Magen ließ den Narren zusammenklappen. Er hatte denselben Fehler begangen wie schon so viele andere: Er hatte geglaubt, ‘Grens Körpergröße verhieße einen leichten Sieg. Ich konnte schon nicht mehr zählen, wie viele Männer sehr schmerzhaft erfahren mussten, dass diese schmale Gestalt so stark war wie ein Ochse und so geschmeidig wie eine Peitschenschnur. Dazu kam, dass ‘Gren sich niemals vorstellen konnte, der Verlierer zu sein. Ich begegnete Sorgrads Blick. Er nickte. Wir hatten beide gesehen, dass ‘Gren das Tempo erhöhte. ‘Gren machte einen Schritt nach hinten, bereit und abwar89
tend. Als Vadim sich aufrichtete, trat er den Dicken ans Schienbein. Ich zuckte zusammen, denn ich wusste, dass ‘Gren noch immer die Stiefel mit den Stahlkappen bevorzugte, die Grubenarbeiter tragen. Vadim heulte und hüpfte umher, während er sein Bein umklammerte, wobei er noch komischer war als auf der Bühne. Die einfaltige Lalla war dumm genug zu lachen, und mit einer Geschwindigkeit, die er besser im Kampf gegen ‘Gren eingesetzt hätte, holte Vadim aus und schlug die alberne Blume von den Füßen. Kelty schoss vorwärts, um das heulende Geschöpf aus der Gefahrenzone zu ziehen. Das spöttische Vergnügen in ‘Grens Gesicht wich grellem Zorn, und ein Messer glitzerte stählern in einer Hand. »Er wird ihn doch nicht umbringen, oder?« Niello tippte Sorgrad auf die Schultern, die Stirn besorgt in Falten gelegt. »Ich werde große Mühe haben, einen anderen Narren zu finden, der diese Rolle spielen kann, jetzt, wo die Feiertage richtig angefangen haben.« Sorgrad antwortete nicht, sondern beobachtete den Kampf. Vadim bewegte sich jetzt etwas vorsichtiger, den flackernden Blick auf ‘Grens Messerhand gerichtet. ‘Gren kam ihm näher. In seinen Augen glühte ein blassblaues Feuer, und ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Die beiden umkreisten einander; ihre Füße scharrten in Stroh und Abfällen. Vadim tastete hinter dem Rücken nach Tischen und Bänken. ‘Gren folgte ihm leichtfüßig wie eine Katze. Usara ließ ein leises enttäuschtes Murmeln hören. »Können wir dem nicht ein Ende setzen?« »Das wird dir nicht gelingen, und wenn du ‘Gren den Spaß verdirbst, machst du dir einen Feind fürs Leben.« Ich warf einen Blick auf Sorgrad, um mich zu vergewissern, 90
dass er einzugreifen bereit war. Er war der Einzige, der ‘Gren jetzt noch davon abhalten konnte, den Idioten zu töten. Vadim machte in dieser Sekunde seinen Zug, das dicke Gesicht vor boshafter Schläue verzogen. Er schoss um einen Tisch herum, auf dem Lammknochen in einer Saucenpfütze lagen. Er schnappte eine Fleischgabel und stürzte sich auf ‘Gren. Seitlich ausweichend versuchte er, außer Reichweite der Messerhand des kleineren Mannes zu bleiben. Doch Vadim rechnete nicht damit, dass ‘Gren unverzüglich das Messer in die andere Hand gleiten ließ und einen Schritt zur Seite machte, der ihn außer Gefahr brachte, dafür aber hinter Vadims ungeschützten Rücken. Das Messer blitzte im Fackelschein. Die Bewegung war so schnell gewesen, dass sie mein Auge täuschte, obwohl ich darauf geachtet hatte, da ich den Trick längst kannte. In Vadims Schrei mischten sich Schmerz und Wut. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, als er die Hand auf die tiefe Wunde in seiner Schulter drückte. Schockiert umhertaumelnd starrte er ‘Gren offenen Mundes an. ‘Gren grinste breit und hielt jetzt in jeder Hand einen Dolch. Vadim ließ seine Waffe aus kraftlosen Fingern fallen. Er war nicht der Einzige, der seinen Tod in den funkelnden Augen des Mannes aus den Bergen sah. »Nia mer es! Als verget.« Sorgrads knapper Befehl in der Bergsprache durchdrang die gespannte Stille. Das Feuer in ‘Grens Gesicht erlosch; er schaute erst seinen Bruder verwirrt an, dann Vadim, als sähe er ihn zum ersten Mal. Ich stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich glaube, du schuldest diesen Damen eine Entschuldigung, Freund.« Sorgrads Stimme klang zwar liebenswürdig, doch das Glitzern in seinen Augen sprach eine andere Sprache. Vadim schürzte die Lippen und holte tief Luft für eine trotzige Erwide91
rung. Niello trat vor und machte eine vorsichtige Verbeugung vor ‘Gren, während er klugerweise darauf achtete, sich von seinen Messern fern zu halten. »Das reicht, Vadim. Du hattest deine Lektion in gutem Benehmen, also verschwinde und lass dich verarzten.« Ich konnte mich nicht erinnern, je eine solche Autorität in Niellos Stimme gehört zu haben. Sie machte Vadim sofort gefügig. Der Narr richtete sich auf und spie blutigen Schleim in das Stroh zu ‘Grens Füßen. Er verließ den Hof, und aller Blicke verfolgten ihn schweigend und feindselig. Niemand bot ihm auch nur ein Taschentuch, um seine Blutung zu stoppen. Sobald Vadim uns den Rücken zuwandte, war das Mädchen Kelty bei ‘Gren, bot ihm Wein an und betupfte behutsam eine Prellung auf seiner Wange, die jetzt unter seiner hellen Haut dunkel wurde. Er steckte seine Messer weg und ließ sich ihren Liebesdienst brav gefallen. Sie schaute ihn Besitz ergreifend an und warf den anderen Tänzerinnen warnende Blicke zu; sie mussten sich damit zufrieden geben, der quengelnden Lalla zurück in den Gasthof zu helfen. ‘Gren zwinkerte mir über Keltys Schulter zu und gab mir so zu verstehen, dass er seine Kräfte noch längst nicht verausgabt hatte. »Komm. Usara. Es wird Zeit, dass ich ins Bett komme.« Ich stand auf und umarmte Sorgrad kurz. »Kommt morgen Vormittag zu uns.« »Gleich als Erstes. Jedenfalls, sobald wir aus dem Bett sind.« Sorgrads Blick ruhte auf der ehemaligen Heldin, die jetzt dastand und ungeduldig Niello hinterherschaute, der versuchte, sich beim Wirt für den Kampf zu entschuldigen. »Komm, Usara.« Der Zauberer folgte mir mit leicht verwirrter 92
Miene hinaus und zu unserer Herberge.
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2.
Ich lernte dieses Lied als junge Braut, als die Kohorte meines Gatten zur Verteidigung von Selerima stationiert war. Kleine Gruppen versammelten sich auf den Inseln im Fluss zum Äquinoktium und zur Sonnenwende, unverwechselbar Abkömmlinge des Volkes der Ebenen. Dieses Lied macht deutlich, dass Arimelin ihr Geschenk der Träume seit unzähligen Generationen allen Völkern gewährt. Sal Ar’Imela die Göttin erschuf Euch Wald und Wässer Haine und Schatten. Fluss und Baum in ewiger Umarmung. Fruchtbar sollen die Liebenden sein wenn sie sich hier vereinigen. Schenke Weisheit denen, die kühn dort im Schlafe liegen wo zwei Reiche sind und doch keins unter den Himmeln herrscht. Kummerbeladene mögen ihre Bürde niederlegen unter Zweig und Blatt, und reinigendes Vergessen möge ihren Schmerz davonspülen. Sal Ar’Imela, deinen Segen erbitten wir für Jung und Alt für Stark und Schwach.
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Selerima, West-Ensaimin Zweiter Tag des Frühlingsfestes, Vormittag
»Ich glaube nicht, dass sie kommen.« Seit dem zweiten Tagesläuten stapfte Usara nun schon zum dritten Mal zum Fenster, um auf die Straße hinunterzuschauen. Unten spazierten Selerimaner vorbei, die die Nachwirkungen der letzten Nacht abschütteln oder auf dem Festplatz feilschen wollten. Ich bediente mich mit feinem weißem Brot und nach Lavendel duftendem Honig, in dem keinerlei Wabenreste mehr waren. Es war kein Morgen für eine fette oder deftige Mahlzeit. »Sorgrad hält sein Wort«, sagte ich pikiert. »Selbst wenn er beschlossen hat, uns nicht zu helfen.« Usara nahm einen Krug mit dünnem Bier, setzte ihn aber wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Glaubst du nicht, dass sie uns helfen?« »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte ich gereizt. »Ich glaube die Aussichten stehen nicht schlecht, aber Sorgrad wird sehr viele Fragen haben, ehe er sich einverstanden erklärt, für Zauberer zu arbeiten.« »Sorgrad übernimmt das Denken für beide?«, fragte Usara leicht spöttisch. »Bleib lieber höflich«, warnte ich. »Das Bergvolk besteht ebenso wenig aus dickschädeligen Höhlenbewohnern in Bärenfellen wie das Waldvolk aus unbekümmerten Sängerknaben, die von Nüssen und Beeren leben. Entspann dich und iss dein Frühstück. Letzte Nacht wird es spät geworden sein.« »Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass wir sie mit hi95
neinziehen sollen«, sagte Usara verdrießlich. »Pass auf, wie viel du ihnen sagst, du weißt, dass Planir und D’Olbriot sich einig sind, möglichst wenig Informationen über die Elietimm preiszugeben, bis wir wirksame Mittel haben, um ihren Hexereien zu begegnen.« »Du kannst jeden Magier und jeden Junker bei Todesstrafe zu Stillschweigen verpflichten, aber du wirst nicht verhindern, dass es sich herumspricht. Ich verbringe mehr Zeit an Hintertreppen als du, Zauberer, und die Gerüchte liefen schon im letzten Winter durch Toremals Küchen.« Ich winkte mit dem Honiglöffel. »Ich sage Sorgrad, was er wissen muss. Ich glaube, dir ist nicht klar, dass ich diese beiden verdammt mehr brauche als dich, jedenfalls im Moment. Sie kennen Land und Leute und alle möglichen nützlichen Dinge außer der Bergsprache. Du hast vielleicht deine Magie, aber die meiste Zeit nützt uns das herzlich wenig.« »Gestern war sie dir nützlich genug.« Usaras Stimme klang gepresst und heiser. »Zugegeben.« Ich schlug einen sanfteren Tonfall an. »Es ist eben wichtig, dass du mit ihnen auskommst. Du musst verstehen, wie Sorgrad und Sorgren denken. Sie sind sehr gerade heraus. In ihrer Welt gibt es nur zwei Arten von Menschen – diejenigen, die sie mögen, und den Rest. Wenn sie dich als Freund betrachten, lassen sie sich eher einen Dolch zwischen die Rippen stoßen, als zu erlauben, dass dir ein Leid geschieht. Wenn du sie enttäuschst, werden sie nicht einmal auf dich pinkeln, wenn du in Flammen stehst. Verstehst du?« Usara öffnete den Mund, änderte aber seine Meinung über das, was er eigentlich sagen wollte, und wandte sich wieder der Straße zu. Ich setzte meine Mahlzeit fort und dachte über ein 96
paar Dinge nach. Hoffentlich war Vadim nicht so dumm gewesen, heute Morgen zu ‘Gren zu gehen. Ich hatte noch nie erlebt, dass jemand ‘Gren unterkriegte, und ich würde kein lescarisches Kupferstück darauf wetten, dass es je so weit kommen würde. Zahllose Männer hatten geglaubt, sie könnten es mit dem hageren Sohn eines vaterlosen Tölpels aufnehmen, und das endete damit, dass sie Blut in ihren Wein mischten. Ich wischte mir die Finger an meiner Serviette ab. Wenn es Ärger gegeben hatte, besaß Sorgrad genug Verstand, um sich herauszuhalten und mir Nachricht zukommen zu lassen. Wäre es zum Schlimmsten gekommen, wusste Reza, wo wir wohnten; er war ein kluger Kopf. Ein Dienstmädchen klopfte, öffnete die Tür unseres privaten Salons und machte einen Knicks. »Verzeihung, aber da sind zwei Herren, die zu euch wollen.« Sie verbarg ihr kurzes Zögern bei dem Wort ›Herren‹ mit löblicher Zurückhaltung. »Ein schönes Fest wünsch ich euch.« ‘Gren fegte fröhlich herein, während Sorgrad eine höfliche Verbeugung vor dem Dienstmädchen machte und sie mit einem Silberpfennig davonschickte, den sie in ihr Mieder schob. Er trug heute Weidengrün, kostbar geschneidert und von zurückhaltender Eleganz. ‘Gren nahm Platz und griff nach dem letzten weichen Brötchen. »Meine Kehle ist ganz ausgedörrt.« Dafür, dass er zweifellos bis zum letzten Glockenschlag der Nacht wach gewesen war, sah er bemerkenswert frisch aus, gewaschen und gekämmt in sauberem Leinen und schlichtem Leder. Sorgrad setzte sich auf die Fensterbank und begann ohne Vorrede. »Also, wer ist das, Livak?« »Usara?« Ich deutete auffordernd auf ihn. »Ich bin hier, um die Interessen des Erzmagiers zu vertreten.« 97
Der Zauberer trank mit ausdruckslosem Gesicht von seinem Dünnbier. »Ich bin Magier. Mein Talent betrifft vor allem die Erde, doch ich besitze auch Fähigkeiten in den anderen Elementen, die sie unterstützen. Ich habe die Ehre, ein Schüler Planirs des Schwarzen zu sein.« »Schüler? Mantelträger, Vertreter, so was?« Sorgrads Skepsis ging nur knapp an einer Beleidigung vorbei. »Ich bin seit Jahren in die Beschlüsse des Erzmagiers eingeweiht.« Usara blickte herablassend an seiner Nase entlang. »Aber ohne größere Erfahrung mit der Welt jenseits deiner Hallen und Höfe?« Sorgrad legte den Kopfschief. »Wenn ihr Hunde wärt, würde ich erwarten, dass ihr erst alles beschnüffelt und euer Bein hebt«, bemerkte ich. »Da ihr aber keine seid – können wir nicht einfach anfangen?« Sorgrad und ‘Gren lachten, und nach einem Augenblick erhellte sich auch Usaras finstere Miene mit einem verlegenen Grinsen. »Werdet ihr beide uns helfen oder nicht?«, fragte ich. ‘Gren sah Sorgrad an, der seine auf Hochglanz polierten Stiefel auf die Fensterbank schwang. »Ich denke, wir könnten eine Zeit lang mitkommen, wenn ihr in den Großen Wald geht. Selbst Niello hat etwas von der Lohntruhe von Draximal läuten gehört.« »Und wenn euer Vorschuss euch weiter diesen Lebensstil ermöglicht, könnten wir ihn mit euch zusammen durchbringen.« ‘Gren griff nach einer eingemachten Kirsche, sodass Kirschsaft auf das schneeweiße Tischtuch tropfte. »Gut.« Ich sah die Erleichterung auf Usaras Gesicht. Ein Glockenschlag von draußen wurde drinnen von einer eleganten Silberuhr auf dem Kaminsims beantwortet. Der 98
schmale Zeiger blieb die eingravierte Skala hinunter stehen, neu eingestellt auf die längeren Tage nach dem Äquinoktium. Ein kostbares Stück, dachte ich abwesend, getrennte Blätter für jede Jahreszeit, nicht nur einfach verschiedene Skalen auf ein und demselben. »Drittes Morgenläuten?« ‘Gren sah entsetzt von den Kirschen auf. »Ist das ein Problem?«, fragte Usara. »Am zweiten Tag der Festwoche finden immer die Pferderennen statt.« ‘Gren nahm seinen Umhang. »Wenn ich noch etwas gewinnen will, muss ich die Tiere bei der Vorstellung sehen.« Usara runzelte die Stirn. »Ist das nicht Zeitverschwendung? Wir sollten doch ...« »Pferderennen sind nie Zeitverschwendung, so weit es ‘Gren betrifft.« Ich sicherte mir mit einem strengen Blick Usaras Aufmerksamkeit. »Ich weiß nicht, wie ihr Zauberer das haltet, aber wenn wir zusammenarbeiten, lassen wir jedem Zeit für seine Vorlieben.« »Ihr geht schon vor«, sagte Sorgrad von der Fensterbank aus. »Ich muss mit Livak noch etwas besprechen.« Ich entließ Usara mit einer Geste. »Geh mit ihm. Wir kommen nach.« ‘Gren wartete ungeduldig an der Treppe, und nach einem letzten, misstrauischen Blick auf mich nahm der Zauberer seinen pelzgefütterten Mantel und folgte ihm. »Glaubst du, sie schaffen es, sich von Scherereien fern zu halten, die beiden?«, überlegte ich laut. »Ich würde ihnen nicht zu viel Zeit lassen.« Sorgrad setzte sich zu mir an den Tisch. »Also, wo ist dieses Buch?« 99
Ich ging in mein Schlafzimmer und nahm das gut verschnürte Bündel aus den Tiefen meiner Reisetasche. Ich legte es vorsichtig auf den Tisch und löste die Seidenschnur, mit der die Leinenschichten zusammengehalten wurden. Sorgrad fuhr mit dem Finger behutsam über das einst cremeweiße, geprägte Leder, in welches das Buch gebunden war; es war mit den Jahren gelblich nachgedunkelt. Ich schlug das Buch vorsichtig auf und blätterte die Seiten, deren Ränder dunkel vom Alter und von Gebrauchsspuren waren, mit den Fingerspitzen um. Die ordentliche Schrift war verblasst und braun, doch die Illustrationen am Rand sowie oben und unten besaßen leuchtende Farben und zeigten sogar Spuren von Blattgold, das bald fünfundzwanzig Generationen getrotzt hatte. Tierköpfe spähten aus naturgetreuen Blättern und Hecken, Vögel flogen über wunderbare Landschaften, und in kleinen ovalen Bildern gingen winzige Gestalten ihrem Gewerbe nach. »Es ist sehr schön«, bemerkte Sorgrad geistesabwesend. Er betrachtete die schwungvolle Schrift und runzelte die Stirn. »Aber sehr schwer zu lesen, selbst wenn es nicht so verblasst wäre. Dafür brauchst du Charoleia. Ich kenne niemand sonst, der Alt-Hochtormalin so gut beherrscht.« Ich schob ein Stück Pergament übers Tischtuch, das Charoleias unverwechselbare Lescarischrift in neuer, schwarzer Tinte aufwies. »Deswegen sind wir über Relshaz gekommen. Ich wollte eine zweite Meinung, da die Gelehrten bestimmt darüber streiten, wer das Recht daran hat.« Sorgrad lachte. »Was ist mit diesen Zauberern? Sie haben doch angeblich Macht über alle Elemente. Könnten sie nichts unternehmen, dass die Schrift deutlicher wird?« »Casuel hatte offenbar weit wichtigere Dinge zu tun, als mir 100
zu erzählen, dass die Tinte verblasst ist, weil sie aus Eichengalle und Eisen gemacht ist, wie es heißt.« Sorgrad blickte bei meinem sarkastischen Tonfall auf. »Er scheint dein ausgesprochener Liebling zu sein.« Ich wollte nicht über Casuel reden. »Kannst du das hier entziffern?« Ich blätterte die Seiten behutsam um, bis ich zu einer kam, die mit einem Berggipfel geschmückt war, während die eckige Handschrift darunter in scharfem Gegensatz zur glatten Gleichmäßigkeit des Tormalin stand. Sorgrad beugte sich darüber. »Ich kann nicht alles lesen, aber ich kann genügend entziffern, um die Geschichte zu erkennen. Es ist die Sage von Misaen und den Wyrms. Ich kann dir die Version erzählen, die ich kenne.« »Ich möchte die Version lesen.« Ich tippte auf das Buch. »Die Tormalin-Lieder hier drinnen unterscheiden sich ziemlich von denen, die ich als Kind gelernt habe. Auch hier führt die Neugier Amit ins Schlafgemach der Kaiserin, aber er endet nicht am Galgen, sondern macht sich unsichtbar und schleicht wieder hinaus.« »Können Planirs Zauberer das nicht?« Sorgrad lehnte sich zurück. »Wer sagt, dass es sich dabei um Äthermagie handelt?« »Genau das hat Casuel auch gesagt.« Ich schüttelte den Kopf. »Die Kolonisten sagen, es war Äthermagie, die das Imperium zusammenhielt.« Ich blätterte zu dem Vorspann des Buches. »Sieh mal hier: Nemith der Tollkühne lebte sechs Generationen vor Nemith dem Letzten. Niemand hatte je von Elementarmagie gehört, die Planirs Zauberer verwenden. Die tauchte erst nach dem Chaos auf. Und überhaupt – wenn die Wald- oder BergLieder Magie enthalten, muss es doch wohl Zauberkunst sein, oder? Kein Magiegeborener aus diesen Völkern ist jemals in 101
Hadrumal gewesen.« Sorgrad grunzte. »Wenn wir mit dir kommen, was ist dann unser nächster Schritt?«, fragte er. »Ich wollte sicher sein, dass ihr zwei mit im Boot seid, bevor ich zu planen anfange. Als Erstes müssen wir entscheiden, ob wir zuerst in den Wald oder in die Berge gehen.« Ich wusste, was ich wollte, aber zu diesem frühen Zeitpunkt wollte ich Sorgrad nicht so einfach überfahren. »Wir fangen mit dem Wald an, ist doch klar«, erwiderte er entschieden. »Sobald die Feiertage vorüber sind, werden sehr viele Leute über die westliche Hochstraße reisen, um durch den Wald nach Salura oder zurück zu ihren Dörfern am Rande der Wildnis zu gelangen. Wir können uns jemandem anschließen, der weiß, wo wir zu dieser Jahreszeit eine Gruppe des Volkes finden können.« »Sollten wir nicht nach einem Waldsänger suchen, der zum Fest hierher gekommen ist?«, schlug ich vor. »Für den Anfang könnte so einer in der Lage sein, die Lieder für uns zu lesen. Und dann, wenn sie für uns bürgen, werden wir mehr Hilfe bekommen, wenn wir erst im Wald sind.« Sorgrad schürzte die Lippen. »Angenommen, du findest jemanden, der sich mit alten Sagen auskennt. Warum sollte er dir verborgene Geheimnisse anvertrauen?« »Wie viele Männer würden mir wohl nicht trauen, wenn ich es darauf anlege?« Ich sah ihn mit großen Augen an. »Ich zum Beispiel«, erwiderte er knapp. »Und von dir abgesehen? Ist es nicht besser, es erst im Bergland zu versuchen? Du hast Berg-Blut, also wird jeder, der überhaupt etwas zu erzählen hat, eher mit dir reden wollen. Dann nehmen wir unser Wissen mit ins Waldland.« 102
»Du kannst diese Rune auch umgekehrt werfen«, entgegnete Sorgrad. »Du hast Wald-Blut, das ist deine Einführung ins Waldvolk.« »Ich bin Halbblut«, erinnerte ich ihn, »und ich bin auch außerhalb des Waldes aufgewachsen. Ich spreche kaum die Sprache. Du bist ein reinblütiger Angehöriger des Bergvolkes und auch dort aufgewachsen, und wir können die Berge eher erreichen als den Wald, wenn wir uns von hier aus nach Norden halten.« Sorgrad sah mich einen langen Augenblick an. Seine strahlendblauen Augen verrieten ebenso wenig wie die Oberfläche eines sonnenbeschienenen Sees. Er nahm ein Stück Holzkohle in einem silbernen Halter aus der Tasche und zog die Schutzkappe ab. Dann drehte er Charoleias Pergament um. »Ja, die Berge sind näher im Norden, aber willst du dich wirklich durch endlose Streitereien über Minen- und Weiderechte schlagen? Hier drüben liegt Wrede, und hier Tanoker, Dunsel und dann Grynth.« Er skizzierte mit leichter Hand, während er sprach. »Wann warst du das letzte Mal da oben? Nicht seit der Sache mit Cordainer? Seitdem ist viel geschehen, was auf allen Seiten Unmut hervorruft, der jederzeit überkochen kann. Die Tiefländer drängen mit jeder Jahreszeit tiefer in die Vorberge ein. Die Schmiedegilden von Wrede übernehmen jede Mine, auf die sie irgendwie Anspruch erheben können und graben überall neue Schächte. Wenn die örtlichen Anwohner sich dagegen wehren, heuern die Gildenvorstände Ganoven aus der Gosse an, um ihnen die Schädel einzuschlagen.« »Das hat man nun davon, dass man für Zauberer arbeitet«, murmelte ich ärgerlich. »Da pfuscht man mit Abenteuern und Geheimnissen herum und verliert aus den Augen, was wirklich 103
wichtig ist. Wie schlimm steht es?« Sorgrad zuckte die Achseln. »Schlimmer als in den letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jahren. Da oben haben sie einander schon immer schlecht behandelt, auf beiden Seiten. Nimm dazu die alten Streitereien darüber, wem nun was in der FerringSchlucht gehört und die üblichen Zänkereien darüber, wo das Gebiet der Mandarkin anfängt und aufhört. Ich würde nicht ohne ein paar Schwertkämpfer im Rücken dorthin reisen. Jeder Angehörige des Bergvolkes wird dich wahrscheinlich mit Steinen bewerfen, ehe du nach dem Weg zum nächsten Brunnen fragen kannst.« Ich betrachtete zweifelnd seine genaue Karte. »Müssen wir dann direkt nach Osten gehen? Ich weiß, dass die Gidestaner sich bemühen, friedlich zu bleiben, aber es ist ein sehr weiter Weg über erbärmliche Straßen. Und sie führt uns sehr weit vom Wald weg.« »Wir sollten es zwischen Solura und Mandarkin in den Bergen versuchen.« Sorgrad zeichnete die West-Straße und den Rand des Großen Waldes ein. »Die Soluraner lassen das Bergvolk in Ruhe und halten es bei Laune, sodass jeder Mandarkin, der nach Süden will, plötzlich rücklings von einer Klippe stürzt, wobei ihm eine Axt hilft. Westlich der Ferring-Schlucht hält sich das Bergvolk ziemlich für sich. Wenn jemand alte Überlieferungen kennt, dann sie. Die Anyatimm in Gidesta haben die alte Lebensweise fast aufgegeben, indem sie auch nach außen geheiratet und sich mit den Tiefländern in ihren Dörfern niedergelassen haben.« Ich warf einen Blick auf die Karte und dann auf Sorgrad. Es war ungewöhnlich, ihn den Bergnamen für sein Volk aussprechen zu hören: Anyatimm. Abgesehen davon, dass er mir die 104
Bergschrift und ein paar Wörter wie ›Pferd‹, ›Tor‹ und ›Sonnenuntergang‹ beigebracht hatte, sodass wir uns gegenseitig Nachrichten zukommen lassen konnten, hatte er nie eine Verbundenheit zu seiner Herkunft gezeigt. »Wo genau kommt ihr beide her? Ich kann mich nicht erinnern, dass ihr es je gesagt hättet.« »Das spielt keine Rolle.« Er tippte mit dem Finger auf die Karte. »Sieh dir die Gegend an. Wir gehen zuerst in den Wald, finden so viel wie möglich heraus und machen uns dann auf nach Solura. Wir können die Schlucht umgehen, wenn wir hinauf zum Pasfall gehen und zu den Soken kommen.« Er sah auf. »Es waren soluranische Mystiker, die Halices Bein heilten, nicht wahr? Mit viel Gemurmel und Weihrauch?« »Planir hat seine eigenen Männer geschickt, um dort Erkundigungen anzustellen«, sagte ich geistesabwesend. »Es ist ein sehr langer Umweg, ‘Grad. Es wird die halbe Jahreszeit dauern.« »Wie lange könnte ein Gefecht zwischen Tiefländern und Ostländern uns aufhalten?«, fragte Sorgrad zurück. »Es ist schweres Gelände«, meinte ich zweifelnd. »Ich habe da einige Geschichten gehört, und nicht alle können Lagerfeuerfantasie entspringen.« »Ein weiterer Grund, das wir zuerst in den Wald gehen und dort auf besseres Wetter warten sollten. Der Frühling hier unten kann im Hochland noch immer Winter bedeuten.« Wenn man sich mit Spielen den Lebensunterhalt verdient, dann lernt man, wann man seine Steine aufdecken und wann man sie in der Hand behalten muss. Ich wollte noch immer zuerst in die Berge, da ich Sorgrads und Sorgrens Abstammung bessere Gewinnchancen einräumte als meiner eigenen, etwas ungewissen Herkunft. Vielleicht sollten wir auf unser Glück vertrauen – jede Rune zeigt schließlich zwei Seiten. »Ich mache 105
eine Runde durch die Tavernen und schaue einmal, ob ich etwas Vielversprechendes aus einem Sänger herausbekomme. Du und ‘Gren seht zu, ob ihr jemanden findet, mit dem wir mit nach Norden reisen können. Wenn wir wissen, welche Möglichkeiten wir haben, können wir eine Entscheidung treffen.« »Hört sich gut an.« Sorgrad nickte. »Und was ist jetzt mit deinem Zauberer? Meinst du nicht, wir wären ohne ihn besser dran?« Er warf mir einen Seitenblick zu. »Wir könnten ihn leicht verlieren, wo die Stadt doch wegen des Festes so überlaufen ist. Wird er nicht jede Information schnurstracks an seinen Erzmagier weitergeben? Du wirst mehr für deine Informationen bekommen, wenn du sie für dich behältst, bis du weißt, wem sie am meisten wert sind.« »Messire D’Olbriot hat das Abkommen mit Planir getroffen.« Ich zuckte die Achseln. »Er war damit einverstanden, dass ein Zauberer mitkommt, um alle Neuigkeiten schnellstens zu übermitteln. Falls wir Äthermagie finden sollten, will Messire sie schnell genug haben, damit sie von Nutzen ist, sobald Elietimm-Schiffe auftauchen, jetzt, wo die Winterstürme vorüber sind. Briefe zurückzusenden, selbst per Kurier, würde eine halbe Jahreszeit dauern. Bezahl einen Kaufmann dafür, sie mitzunehmen, und er wird sie vergessen. Schick einen Boten los, und er verirrt sich oder wird wegen seines Ranzens überfallen. Nein, Planir weiß, dass er D’Olbriot verpflichtet ist, und D’Olbriot weiß, dass er mir verpflichtet ist.« »Und was schließt du daraus?« »Du weißt doch – es gibt Geschäfte, bei denen du für den Rest deines Lebens ausgesorgt hast.« Ich holte langsam Luft. »Das hier könnte es sein.« Sorgrad lachte. »Wie Cordainers Truhe? Als ob ich nicht 106
wüsste, wie viele Pläne Charoleia im Laufe der Jahre schon ausgebrütet hat! Darauf fällst du doch genauso wenig rein wie ich!« »Wir müssen abwarten. Es muss Gewinn abwerfen, wenn man ein Siegel mit dem Namen eines Tormalinprinzen bei sich hat.« Sorgrad nickte. Ich war es zufrieden: Solange er glaubte, ich würde nur Vermutungen anstellen, brauchte ich mich nicht näher zu erklären. Dafür war noch Zeit genug, wenn ich meinen Lohn von Messire verlangte. »Lass uns den Tag nicht vergeuden.« Ich stand auf. »Treffen wir uns alle heute Mittag wieder hier?« »Solange ‘Gren und dieser Zauberer sich nicht in allzu viele Schwierigkeiten gebracht haben.« Sorgrad grinste. »Nein. Der Laden hier ist etwas zu fein für ‘Grens Geschmack. Wir treffen uns im Schwan im Mond.« Ich verscheuchte meine Bedenken, als ich ihm die Treppe hinunter folgte. ‘Gren konnte auf sich selbst aufpassen, und wenn Usara einen Fehltritt beging, konnte Planir ihn freikaufen. Ich beschloss, am Marktplatz anzufangen. Es gab keine Spuren mehr von der Freigiebigkeit der Gilden der vergangenen Nacht; alles war sauber gefegt, und Männer und Frauen warteten geduldig in langen Schlangen. Hausmädchen mit ihren Staubwedeln, Weber mit dem Spinnrocken, den niemand heutzutage mehr benutzt, wenn ein Spinnrad in der Nähe ist, Milchmädchen, deren Hocker zumindest einen Sitzplatz boten, um die Beine zu schonen. Mädchen mit frischen Gesichtern und hoffnungsvollem Lächeln standen neben anderen mit misstrauischen Augen und ernster Miene. Die Männer redeten nicht 107
offen, sondern musterten potenzielle Konkurrenten. Fuhrleute hatten ein Stück Peitschenschnur an ihr Wams gepinnt, Stallburschen hatten ein Heubündel dabei, Schäfer hatten Wolle in Knopflöcher und Hutbänder gesteckt, Kuhhirten einen Tuff Tierhaare. Ich ging zum Schwan im Mond und überlegte, ob ich Niello um Hilfe bitten sollte: Auf der Suche nach Arbeit, mit der sie durch das Alte Reich nach Osten kämen und den Frühling und Sommer auf Reisen verbrachten, würden Sänger Verbindung mit ihm aufnehmen. Dann würden sie zurück nach Col gehen, um ihren Lohn beim Herbstfest durchzubringen, den letzten Feiertagen, ehe sie wieder mit den Liedern und kleinen Schätzen, die sie gesammelt hatten, in den Wald zogen. Drei Sänger hatten mir auf der Straße von Relshaz von dieser Hoffnung erzählt. Sie alle suchten nach einem Brotherrn, der ihnen den Rückweg finanzierte, doch keiner war in der Lage, Licht auf mein geheimnisvolles Liederbuch zu werfen. Ich steckte den Kopf durchs Hoftor und sah, dass keiner der Schauspieler da war. Sie lagen zweifellos alle noch im Bett, wo sie noch eine geraume Weile bleiben würden. Ich musste später wiederkommen. Musik zog mich in den Schankraum des Hurtigen Hundes, doch ich fand nur eine improvisierte Versammlung von einheimischen Burschen vor, die ihr Bestes taten, ihre Mädchen zu beeindrucken – Mädchen mit frischen Gesichtern, Zöpfen und Röcken, die den oberen Rand ihrer Stiefel dekorativ verbargen. Eine sah mit schrägem Blick auf meine Hosen, und ich grinste sie an. Ich hatte mein Bestes versucht in Ryshads Zuhause in Zyoutessela. Ich hatte seine Mutter höflich angelächelt, hatte mich 108
für die Arbeiten ihres Nähkränzchens interessiert und jedes Mal das Thema gewechselt, wenn sie ihre Nachbarn erwähnte, deren Tochter beim kommenden Sonnwendfest ihre Hochzeitsflechten auf Drianons Altar legen würde. Ich hatte sogar zum ersten Mal im Leben, seit ich von zu Hause fort war, öfter Röcke als Hosen getragen, bis mich die Verzweiflung hinausgetrieben hatte. Ich trieb mich um D’Olbriots Zitadelle herum, in der Hoffnung, Ryshad zu sehen, und die Neugier hatte mich in die riesige Bibliothek geführt, wo die Bücherregale so hoch hinaufreichten, dass sie mit Leitern versehen waren. Meine eigene Mutter hatte mir zumindest nie mit der erstickenden, unkritischen Zuneigung einer Frau Tathel die Luft zum Atmen genommen. Sie hatte mich lesen und rechnen gelehrt, mich ermutigt, selbst zu denken und Fähigkeiten zu erwerben, um die Nachteile meiner Geburt wettzumachen, wenn sie dabei auch mehr an Kontorarbeiten gedacht hatte als daran, meine Talente mit einem Beutel voll Runen zu schärfen. Ich mochte Ryshads Mutter wirklich gern, aber sie erinnerte mich an die Mehlschwalben, die ihre Nester unter den Dachvorsprüngen der Gasthäuser bauten, die den Platz umstanden. Sie kehren immer an den Fleck zurück, an dem sie das Jahr zuvor und auch davor waren. Meine Sympathien galten eher dem Halsbandfalken, der die Straße musterte, bereit, sich auf jede Beute zu stürzen, die ein vorbeifahrender Karren überrollte und zu nehmen, was immer Talagrin schickte. Ein Karren rumpelte vorbei. Leder knarrte, als das Pferd sich ins Geschirr legte. Ich war nicht das einzige quietschende Rad am Wagen in diesem Winter gewesen. Ryshad erkannte schon bald, dass er nicht ins Geschäft seines Vaters zurück konnte. Seine Brüder kamen gut zurecht; ein Erlass aus dem letzten 109
Jahr, der hölzerne Veranden wegen der Feuergefahr untersagte, hatte sie mit so viel Arbeit versorgt, wie sie sich nur wünschen konnten, und sie hatten alle vornehmen Häuser mit schmucken Steinsäulen und Vordächern versehen. Nun aber war diese Quelle der Arbeit weitgehend versiegt, und mehr als drei Steinmetze konnten im Familienbetrieb nicht arbeiten. Seine älteren Brüder hatten ihm das nur allzu deutlich gemacht. Ich hatte Hansey oder Ridner nicht besonders gemocht, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Beide erwarteten Gehorsam und Anstand von einem Mädchen, und ihre Brautwerbungen waren so fad und langweilig, dass jede Frau mit einem Funken Verstand sich nach etwas besserem umgesehen hätte. Eines Abends hatte ich ihnen das auch gesagt, nachdem sie mich so herablassend behandelt hatten, dass mir der Kragen platzte. Ich seufzte. Ich vermisste Ryshad, seinen flinken Verstand, seine Entschlossenheit, seine starken Arme und die Wärme seiner Liebe. Was wir brauchten, war eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, die wir beide akzeptieren konnten. Sein Ehrgefühl würde es nicht zulassen, dass er von den Gewinnen lebte, die ich mit den Runen erwarb, und ich konnte mich nicht damit abfinden, wenn er irgendein langweiliges Geschäft betrieb, in einem kleinen Reihenhaus drei Straßen von seiner Mutter entfernt wohnte und an jedem Markttag Abends bei der Familie aß. D’Olbriot hatte Ryshad den Titel eines Vertrauten angeboten, unleugbar eine Ehre. Ein Verschworener, der den Schritt zum Vertrauten machte und dann gute Dienste leistete, konnte sich berechtigte Hoffnung darauf machen, später die Aufsicht über D’Olbriots Ländereien und Gefolgsleute in irgendeiner Stadt oder Provinz zu übernehmen. Es war ein Verwalteramt, dessen 110
Besoldung uns erlauben würde, das Leben zu führen, das wir uns wünschten. Es klang verlockend. Ryshad sah darin die beste Grundlage für unser gemeinsames Leben, aber ich hatte keine Lust, für die nächsten fünfzehn Jahre auf dem Hintern zu sitzen und darauf zu warten, dass mir dieser Apfel in den Schoß fiel. Wir brauchten eine Möglichkeit, uns Messire D’Olbriot so tief zu verpflichten, dass er Ryshad schneller beförderte. Was waren die dringendsten Probleme des Gönners? Erstens, sich die Unterstützung des Erzmagiers zu versichern, ohne sich dafür Hadrumal zu verpflichten. Zweitens musste sichergestellt werden, dass das Haus D’Olbriot seine Position als einzige einflussreiche Kraft auf die Kolonie von Kel ArAyen blieb – oder Kellarin, wie es heute meist heißt. Deswegen war ich hier in Selerima und arbeitete an der erstgenannten Aufgabe, während Ryshad vorübergehend in den Diensten von Messires Neffen Camarl stand, um sich um die zweite Aufgabe zu kümmern.
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Selerima, West-Ensaimin Zweiter Tag des Frühlingsmarktes, Nachmittag
»Ich glaube nicht, dass du in der Lage bist, Forderungen zu stellen!« Eirys verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre empörte Stimme hallte von den nackten weißen Wänden des kleinen Zimmers wider. »Ich finde nicht, dass ich überhaupt fragen müsste«, erwiderte Jeirran eisig. Er leerte seine Börse auf eine Kommode, von der die Farbe abblätterte und deren Tür schief in den Angeln hing. »Eine Ehefrau sollte man nicht an ihre Pflichten erinnern müssen, weder im Bett noch außerhalb.« Eirys schnaubte wütend. »Würdest du nur ein wenig Rücksicht nehmen, würdest du an die Folgen denken. Was ist, wenn ich hier unten schwanger würde, in dieser schlechten Luft? Ich würde das Kind wahrscheinlich verlieren, ehe wir halbwegs wieder zu Hause wären.« Sie fuhr sich unbewusst mit der Hand über die schmale Taille. »Findest du das nicht ziemlich vermessen?«, entgegnete Jeirran höhnisch. »Es ist jetzt bald ein halbes Jahr her, seit wir über Misaens Amboss aneinander geschmiedet wurden. Wann wird Maewelin dir Söhne schenken, die dein Land mit mir zusammen bearbeiten? Vielleicht solltest du eine heilige Stätte aufsuchen, falls diese gottlosen Tiefländer überhaupt so etwas haben, und um ihren Segen bitten.« »Vielleicht wartet sie nur, bis du bewiesen hast, dass du für mich sorgen kannst«, gab Eirys scharf zurück. »Aus all deinen großartigen Plänen ist bis jetzt nichts geworden. Du hast es 112
lediglich geschafft, meiner Mutter Schande zu machen, indem du dich ins Gefängnis hast werfen lassen. Ich weiß nicht, was Mutter dazu sagen wird!« »Sie wird gar nichts sagen, weil du ihr nämlich nichts davon erzählen wirst.« Jeirran hob warnend die Hand, und Eirys machte hastig einen Schritt zurück, um die schmale Bettstelle zwischen ihn und sich zu bringen. »Sie wird fragen, wie es uns ergangen ist«, beharrte sie. »Wo wir doch so lange fort waren. Wo du doch versprochen hattest ...« Sie hielt inne, als Jeirran einen Schritt nach vorn machte. »Du gehst heute einkaufen«, erklärte er mit gezwungenem Lächeln. »Kauf dir ein paar Längen schönen Kleiderstoff, ein bisschen Flitterkram. Und kauf deiner Mutter ein Stück caladhrianischer Spitze, das wird ihr gefallen.« Sein Ton wurde ein wenig schärfer, während er einen kleinen Beutel mit Kupfermünzen füllte. »Such etwas, das sie so zufriedenstellt, dass sie ihre Nase aus meinen Angelegenheiten heraushält.« Er warf den Beutel aufs Bett. Eirys nickte. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie den Beutel um ihre Taille band. Sie nahm einen warmen, bestickten Schal von der zerlumpten Decke und steckte ihn fest, während sie zur Tür ging. Jeirran hielt sie fest. »Kein Grund zur Eile, meine Süße.« Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und küsste sie, erst leicht, dann heftiger. »Es ist schon spät.« Eirys stemmte sich wirkungslos gegen seine breite Brust und drehte kokett den Kopf weg. »Die besten Waren bekommt man am Morgen ...« »Und die besten Schnäppchen macht man am Abend.« Jeirrans kraftvolle Umarmung ließ Eirys leise aufschreien, schließlich aber gab sie seinen Küssen bereitwillig nach. Sie beantwor113
tete Jeirrans zufriedenes Gemurmel mit unterdrücktem Kichern. Sein Atem ging schneller, und mit einer Hand zerrte er ihre Bluse aus der Schärpe, ehe ein abruptes Klopfen an der Tür sie beide aufschrecken ließ. »Bring dich in Ordnung«, fuhr Jeirran sie an und zog seine Hosen zurecht. »Wer ist da?« »Wir«, kam die knappe Antwort durch die rohe hölzerne Tür. Jeirran schob den Riegel zurück und ließ Keisyl und Teiriol ein. Teiriol warf Eirys einen scharfen Blick zu, als er ihre geröteten Wangen sah, doch sie schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, eine stumme Bitte in den kornblumenblauen Augen. »Was habt ihr zwei heute Vormittag gemacht?«, fragte Jeirran in dem löblichen Versuch, gelassen zu wirken. »Das Mädchen sagte, ihr wärt schon bei Tagesanbruch ausgegangen.« »Wir dachten, wir versuchen unser Glück mal bei den Pferderennen.« Keisyl warf Jeirran einen bedeutungsvollen Blick zu. »Wir wollten mal sehen, ob wir noch eine andere Möglichkeit finden, auf dieser Reise ein bisschen Gewinn zu machen.« »Ihr hättet mich wecken sollen. Wie sind die Pferde hier denn so?«, erkundigte sich Jeirran mit echtem Interesse. »Größer«, antwortete Teiriol lachend. »Schneller, schlanker. Sie rennen wie Hunde hinter einem Hasen her.« »Schön anzusehen, aber zu nichts nütze auf einem steilen Pfad oder um mehr als Eirys’ Gewicht zu tragen.« Die Bewunderung in seiner Stimme strafte die Verachtung in seinen Worten Lügen. »Ihr habt sie doch bestimmt leicht einschätzen können.« Jeirran sah Keisyl und Teiriol hoffnungsvoll an. »Nachdem ich mein Leben lang mit Bergponys zu tun hatte?«, schnaubte Keisyl. »Ich hätte dir sagen können, wer ge114
winnt, noch ehe die Stallburschen die Pferde sattelten ...« »... aber keiner wollte unser Geld«, platzte Teiriol dazwischen. »Anscheinend hatten sie von unseresgleichen gehört. Sie sagten, Bergbewohnern kann man nicht trauen.« »Wollt ihr damit sagen, sie wollten nicht einmal eure Wette annehmen?« Verwirrung lag auf Jeirrans Gesicht, und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. »Nicht einer von ihnen«, bestätigte Keisyl mit kalter Wut. »Ohne Erklärung, ohne Entschuldigung, nur mit dünn verschleierten Hinweisen, dass wir sie irgendwie übers Ohr hauen wollten.« »Ich verstehe diese Leute nicht.« Jeirran schüttelte verwundert den Kopf. »Wie können sie nur so von sich eingenommen sein?« »Das liegt daran, dass sie so viele sind.« Teiriol durchquerte das kleine Zimmer mit zwei Schritten und spähte durch das milchige Fenster. »Schau sie dir nur an, geschäftig wie Käfer im Mist. Sie haben ihresgleichen, von denen sie kaufen und an die sie verkaufen – mehr brauchen sie nicht. Drefial hatte Recht. Wenn zwei von ihnen sich wegen eines Handels die Kehle durchschneiden, stehen zehn bereit, einen Vorteil daraus zu ziehen, noch bevor das Blut angetrocknet ist ...« »Schon gut, Teir, es reicht«, sagt Keisyl mürrisch. »Ich brauche frische Luft.« Jeirran seufzte. »Keisyl, du gehst mit Eirys einkaufen. Teiriol und ich sehen zu, ob wir jemanden von diesen allmächtigen Gilden finden, der bereit ist, uns heute anzuhören.« Keisyl blickte Jeirran zweifelnd an. »Sollte ich nicht besser mit dir kommen?« »Du bist an der Reihe, Eirys zu begleiten«, protestierte Teiriol. 115
»Ich habe den ganzen gestrigen Tag damit verbracht, mir Perlen und Knöpfe anzusehen«, erklärte er mit einem entschuldigenden Blick auf seine Schwester. Eirys sah die Männer unsicher an. »Ich könnte auch einfach hier bleiben.« »Nein, komm schon.« Keisyl bot ihr seinen Arm. »Wir müssen aufpassen, dass du in guter Obhut bist.« Eirys gab Jeirran einen raschen Kuss auf die Wange. »Bis später, Lieber.« Ehe er noch etwas sagen konnte, war sie zur Tür hinaus. Ihre Schritte in den kräftigen Lederstiefeln polterten auf dem nackten Holz der Treppe. »Ich bringe sie bei Sonnenuntergang zurück«, rief Keisyl über die Schulter. »Wir lassen ihnen noch ein paar Minuten Vorsprung, dann brechen wir auf«, sagte Jeirran leise zu Teiriol. »Wozu sollen wir hinter noch mehr Gildenleuten herrennen und mit der Mütze in der Hand um ihre Gunst betteln?«, wollte Teiriol wissen. »Davon hatte ich bereits genug, vielen Dank.« »Das habe ich doch nur gesagt, um Eirys zu beruhigen«, erwiderte Jeirran spöttisch und beobachtete vom Fenster aus, wie seine Frau unten auf die Straße trat. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass jedermann für diese Handelszeichen zahlt, oder? Kein Tiefländer ist ehrlich, wenn er glaubt, ungeschoren davonkommen zu können. Irgendjemand ist bestimmt bereit, die Kosten einer Gildenbestechung zu sparen, indem er direkt von uns kauft.« »Da könntest du Recht haben.« Teiriol nickte langsam. »Also, wo fangen wir an zu suchen?« »Degran Lackhand und seine Kumpane gehen doch gern zu Hahnenkämpfen, oder?« Jeirran schlang sich seinen Umhang 116
über eine Schulter. »Du hast gesagt du würdest auch gern mal einen echten Hahnenkampf sehen, Vögel, die für den Kampf gezüchtet werden statt für den Misthaufen. Gestern wurde in der Kneipe auch über eine Bullenhatz geredet.« »Kein Wunder, dass du Keisyl nicht dabeihaben wolltest. Schön, Jeirran, ich bin dein Mann. Ich würde gern eine Hatz sehen«, sagte Teiriol begierig. »Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen.« Jeirran schlug dem jungen Mann auf die Schulter, gute Kameradschaft vortäuschend, doch in seinen Augen stand Verachtung, als er ihm die schmale Treppe hinunter folgte. »Wo gehen wir hin?« Teiriol blieb auf der Stufe stehen und drehte sich erwartungsvoll nach Jeirran um. »Hier lang.« Jeirran bog um eine Ecke zu einer Holzscheune, an deren Wand eine ganze Sammlung alter Hufeisen genagelt war. »Ich dachte, wir fragen mal hier.« Ein drahtiger Mann, dessen Kleidung staubig von Sägemehl war, hielt den Kopf eines unruhigen Ponys fest, während ein gut gewachsenes Mädchen sorgfältig einen Huf reinigte, der im Schoß ihrer Schürze ruhte. »Guten Tag«, sagte der Mann freundlich. »Euren Maultieren geht es gut. Seid ihr hier, um nach ihnen zu sehen, oder wollt ihr euch mal für einen Tag ein Pferd mieten? Wir haben zwei ausgeruhte Reitpferde bereit stehen.« »Nein«, winkte Jeirran ab. »wir wollen wissen, wo wir zu einer Bullenhatz gehen können.« »Das alles findet am Südtor statt. Die Hatz ist bei den Schlachthöfen, und die besten Hahnenkämpfe sind in der Nebelkrähe, direkt beim Torhaus«, antwortete der Pferdehändler bereitwillig. »Schöne Festtage euch noch«, rief er Jeirran und 117
Teiriol nach, doch die beiden hatten sich schon abgewandt. Das Mädchen sah auf und wechselte einen resignierten Blick mit ihrem Vater. Jeirran schritt zuversichtlich aus. Teiriol folgte etwas langsamer, da er die farbenfrohen Bilder betrachtete, die über den Ladeneingängen hingen. »Ich kann ja verstehen, dass ein Flickschuster einen Stiefel raushängt«, sagte er belustigt, während er einen riesigen, bunt bemalten und unmöglich hochhackigen Stiefel musterte, »aber was soll das hier jemandem sagen?« Er deutete auf einen Messingadler, der im Sturzflug erstarrt schien. »Wen interessiert das schon«, sagte Jeirran, die Augen nach vorn gerichtet. Er behielt das rasche Tempo den ganzen Weg durch die Stadt bei. Selbst als er einen Fußgänger anrempelte, der schimpfend im Rinnstein landete, verlangsamte er seinen Schritt nicht. Beide zeigten keine Spur von Ermüdung, als Jeirran schließlich stehen blieb. Sie blickten an dem abweisenden roten Ziegelbau des Tores zur Südstraße empor. Es ragte über die baufälligen Häuser, die sich zu beiden Seiten an die Stadtmauer lehnten, die drei Stockwerke hoch war und deren Wehrgänge und Schießscharten in sämtliche Richtungen wiesen. Das Tor selbst bestand aus altem, schwarzem Holz, das mit Bändern und Riegeln aus gehämmertern Eisen beschlagen war. In dem düsteren Eingang waren die scharfen Zähne eines Fallgitters zu sehen, wie im Maul eines knurrenden Hundes. Davor erstreckte sich ein schlecht abgegrenztes Gelände mit einzelnen gepflasterten Stellen und einer eingestürzten Mauer, den Überresten eines Gebäudes. Alle brauchbaren Steine waren inzwischen fortgeschleppt worden. Den leeren, noch erkennbaren Mauernischen zufolge konnte es sich hier um einen ehemaligen Schrein 118
handeln. Der Lärm der Stadt wurde von einem anschwellenden Misston der Blutgier übertönt. Jeirran und Teiriol versuchten vergebens, an größeren Männern vorbeizuschauen, als die Unruhe einen neuen Höhepunkt der Erregung erreichte. Scharfes Gekläff war über bösem Knurren und dem tieferen Grollen eines wütenden Bullen zu hören. Das letzte gequälte Aufbrüllen des gepeinigten Tieres ging in Jubel unter. Danach folgte Stille, nur unterbrochen vom ängstlichen Wimmern eines verletzten Hundes. Die Männer zogen in Grüppchen davon, tauschten Meinungen aus und rechneten Wetten ab auf dem Weg zu einem Bier in den behelfsmäßigen Tavernen, um vielleicht noch ein schnelles Geschäft bei den langen, stinkenden Reihen der Metzgerstände abzuschließen. »Wir haben es verpasst«, jammerte Teiriol enttäuscht. Ein Mann mit grimmigem Gesicht schnallte einem gescheckten Mastiff das Stachelhalsband ab. Der Hund versuchte vergebens aufzustehen, seine Hinterläufe lagen schlaff in einer übel riechenden Pfütze aus Blut und Kot. Sein Eigentümer rieb ihm mit einer rauen Hand liebevoll über die Ohren, ehe er ihm die Schnauze anhob. Der Blick des Hundes war warm und vertrauensvoll, die Augen des Mannes rot und blinzelnd, als er ihm mit einem raschen Schwung seines Messers die Kehle durchschnitt und dann zurücktrat, um seine letzten Zuckungen zu beobachten. »Einen guten Tag dir«, sagte Jeirran und hob seine Stimme über das wilde Knurren des restlichen Rudels, das jetzt große Stücke aus seinem erlegten Feind riss. »Gibt es heute noch eine andere Bullenhatz?« Der Mann sah auf. In seinem brutalen Gesicht stand Kum119
mer. »Nein, heute nicht mehr, jedenfalls nicht mit meinen Hunden.« Er schaute zu den kräftig gebauten Tieren hinüber, gelbbraunen, schwarzen und gescheckten, die sich um ihr Fleisch rissen, und seine Miene hellte sich ein wenig auf. »Artel! Zeig ihnen die Peitsche, oder du wirst noch eine Hand verlieren. Bei Talagrins Zähnen, hast du denn gar keine Ahnung?« Er machte einen Satz, um einem unruhig dreinblickenden Burschen die Hundepeitsche zu entreißen, der nur zu froh darüber war, sich von den beharrlichen Forderungen der Mastiffs entfernen zu können. Die Hunde scharten sich um ihren Herrn, blutverschmiert von den stumpfen Schnauzen bis zu den massigen Schultern. »Das sind beeindruckende Hunde«, bemerkte Teiriol und steckte die Hände unter den Gürtel. Einer der Mastiffs erblickte ihn und ließ ein tiefes, drohendes Knurren hören. »Welche Schänke ist die Krähe?«, fragte Jeirran. »Da drüben«, antwortete der Bursche. »Ich könnte euch den Weg zeigen, wenn ihr wollt ...« Er blickte seinen Herrn unsicher an. »Geht ruhig.« Der Mann holte mit einem scharfen Pfiff einen Ausreißer unter seinen Hunden zurück und rief einen Befehl, worauf sich die dicken Köpfe sämtlicher Hunde gehorsam hoben. »Kommt mit«, sagte der Bursche. Er führte sie zu einer Taverne mit einer offenen Front aus roh gesägten Brettern, deren Anstrich aus Pech schon bessere Tage gesehen hatte. Er schob sich durch die Menge der Männer, die müßig trinkend um die Schwelle standen, und überließ es Jeirran und Teiriol, sich ihren Weg an zerbrochenen Hockern und Tischen vorbei zur Theke zu bahnen. Die Sägespäne auf dem festgestampften Erdboden 120
waren schon viele Tage alt und von Bier und Blut verklumpt. »Zwei, hierher«, Jeirran hob die Hand und winkte einem überarbeiteten Bierkellner, der an der Reihe von Fässern hinter der Theke stand. »Man hat uns gesagt, hier wäre der richtige Ort für Hahnenkämpfe.« Eine lederne Flasche und zwei Trinkhörner wurden vor ihn geschoben. »Hinten raus, macht drei Kupferstücke.« Der Mann sah Jeirran nicht einmal an, nahm die Münzen und wandte sich dem nächsten durstigen Gast zu. »Komm.« Teiriol versuchte, nichts von dem Bier auf sein Hemd zu verschütten, als er angerempelt wurde. »Hier kriegen wir bestimmt was zu sehen.« Die Hintertür öffnete sich auf eine lärmende Szene erhitzter Erwartung, gebrüllter Unterhaltungen und einem durchdringenden Geruch nach Bier, Schweiß und Hühnermist. Männer und Frauen drängten sich mit leuchtenden Augen auf den breiten hölzernen Stufen, die rings um die tiefer liegende Arena anstiegen. Neuankömmlinge warteten auf eine Gelegenheit, einen Platz zu ergattern, wenn jene, die sich bereits heiser geschrien hatten, sich auf die Suche nach einem Bier oder Wein machten. Jeirran beugte sich vor und zischte Teiriol ins Ohr: »Wir müssen diese Felle verkaufen, oder deine Mutter lässt uns beide auspeitschen.« Die Erregung in Teiriols Augen ließ ein wenig nach, und er trank einen Schluck Bier. »Das schmeckt gar nicht so schlecht«, sagte er erstaunt. »Dann kannst du dir ja den Verstand umnebeln, bis du einen Hahn nicht mehr von einer Henne unterscheiden kannst«, sagte Jeirran verächtlich, nahm aber nichtsdestoweniger einen tiefen 121
Zug aus seinem Becher. »Der Wirt nimmt bestimmt einen Anteil von den Wetten.« »Sollen wir etwas setzen?« Teiriol trat eifrig vor, als zwei Vögel für den Kampf bereit gemacht wurden. Jeirran schob sich bis an die Umzäunung vor. Ein stolzierender Hahn mit vernarbten Kehllappen und glänzendem kupferfarbenem Gefieder kam bereits herein, während sein kleinerer gescheckter Gegner noch auf Hochglanz polierte Sporne an die schuppigen Beine gebunden bekam. Jeirran strich sich zögernd über den Bart. »Lieber nicht. Wenn wir noch mehr Geld verlieren, erspart Eirys deiner Mutter die Mühe und macht uns selbst zur Schnecke.« Teiriol schaute Jeirran scharf an, doch die beiden Vögel gingen in einer Wolke aus Staub und Federn aufeinander los. Der Gescheckte machte seinen Mangel an Größe durch überraschende Wildheit wett, schwang sich flatternd in die Höhe und stieß mit seinen Spornen auf Kopf und Augen seines Gegner. Der größere Hahn wurde zurückgetrieben, doch er krähte trotzig, ehe er sich wieder nach vorn stürzte, die Flügel ausgebreitet und mit Krallen und Schnabel um sich hackend. Der kleine Hahn, dessen Federn am Hals zerzaust waren, wich geschickt den bösartigen Schnabelhieben des Kupferfarbenen aus. Er hüpfte vor und stieß mit seinem Schnabel zu, sodass orange Federn und rote Blutstropfen in den geharkten Sand fielen. Nicht so gewandt auf den Beinen und schwerer gebaut, war der größere Vogel bald in Bedrängnis und versuchte vergebens, sich vor den immer wütenderen Attacken des Gegners zu schützen. Jeirran sah, wie der kleinere Hahn mit stolzgeschwelltem Kamm seinen Gegner schließlich mit gebrochenem Flügel im 122
aufgewühlten, blutbespritzten Sand zurückließ. Die Zuschauer lachten, als er umherstolzierte und seinen Triumph hinauskrähte, ehe sein Halter ihn einfangen konnte. Der besiegte Vogel wurde sorgfältig untersucht, ehe er in einen weichen Tuchbeutel gewickelt und von seinem finster blickenden Besitzer davongetragen wurde. »Der Gescheckte wird nicht lange aushalten, wenn er nicht lernt, den Todesstoß zu versetzen«, meinte Jeirran zu Teiriol, doch der erwiderte nichts, denn eine Bewegung auf der anderen Seite erregte seine Aufmerksamkeit. »Sieh mal da, Jeir, die beiden da haben Berg-Blut, oder ich will ein Tiefländer sein. Mutter kann also nicht sagen, es sind nur die Schmutzfüße, die so etwas mögen, nicht wahr?« »Sie sind gekleidet wie Tiefländer«, sagte Jeirran stirnrunzelnd. »Sie könnten Mischlinge sein.« Er starrte hinüber und erntete einen herausfordernden Blick von dem kleineren der beiden. »Ich würde lieber mit unseren Leuten verhandeln, selbst mit Mischlingen«, sagte Teiriol drängend. »Ob sie wohl unsere Felle nähmen?« »Kommt darauf an, was sie dafür zu bieten haben«, erwiderte Jeirran langsam. »Wo sind sie hin?« Teiriol schaute sich um, doch der Augenblick war verpasst. Die beiden waren verschwunden. »Egal.« Jeirran blickte zu einer Hand voll Männer auf gepolsterten Stühlen, die an der gegenüberliegenden Wand standen. Ein kleiner, aber respektvoller Abstand wurde zwischen ihnen und der dicht gedrängten Menge eingehalten. Jeirran achtete nicht auf den lärmenden Kampf hinter sich, als ein paar Neuankömmlinge mit einem der Sitzenden sprachen und Geld hin123
überreichten, um dafür ein gefaltetes und versiegeltes Pergament zu erhalten und wieder gingen, ohne den Hahnenkampf auch nur eines Blickes zu würdigen. »Wir sollten da drüben ein Gespräch suchen.« Jeirran nickte bedeutungsvoll mit dem Kopf in die Richtung. Er trat vom Zaun zurück. Teiriol folgte ihm widerstrebend und blickte über die Schulter. Jeirran blieb so abrupt stehen, dass Teiriol ihm heftig in die Hacken trat. »Was ist?« »Siehst du diesen fetten Sohn seines Großvaters da drüben?« Jeirran schürzte die Lippen. »Das ist der Mistkerl, der mich und Keisyl gestern auf dem Festplatz verhaftet hat.« Teiriol betrachtete den Mann, der ihnen den Rücken zuwandte. »Und die anderen?« Jeirran schaute sich wie beiläufig um, ehe er langsam nickte. »Ja, sie sind alle hier und verschwenden unser Geld auf Vögel, die besser im Topf landen würden.« Teiriol legte warnend eine Hand auf Jeirrans Arm. »Wenn wir dieses Geld ersetzen wollen, müssen wir die Felle verkaufen, auch wenn wir diesem Abschaum da noch was schuldig sind«, erklärte er nachdrücklich. »Stimmt leider.« Jeirran wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann mit dem harten Gesicht zu, der an der Wand saß, sowie dessen riesenhafter Begleitung, die ihr Bier trank und dabei wachsam den Ausgang im Auge behielt. »Wollen mal sehen, was dieser Mantelträger zu sagen hat.« Die kräftigen Arme über einem ansehnlichen Bauch verschränkt, betrachtete der fragliche Mann die beiden Bergbewohner mit einer unausgesprochenen Frage, als sie vor ihm stehen blieben. 124
»Willst du ein Glas mit uns trinken?« Jeirran hielt seinen Krug hoch. Der Mann hielt wortlos einen zerbeulten Zinnbecher hoch, und Jeirran schenkte ihm großzügig ein. »Wo könnten wir hier wohl einen ehrlichen Geschäftsmann finden?« Der große Mann sah Teiriol und Jeirran verächtlich an. »Einen Mann, der es vorzieht, direkt zu handeln, ohne diesen Unsinn von wegen Berücksichtigung der Gilden und Festgebühren«, erklärte Jeirran freundlich. »In den Bergen gibt es so etwas nicht, müsst Ihr wissen.« »Womit handelt ihr denn?« Ein Funken des Interesses glitzerte in den harten Augen des Mannes. »Felle, Pelze – besser als alles, was es sonst hier auf dem Markt gibt.« »Sprich mit Harquas, dem Herrn dort.« Ein schwergewichtiger, grauhaariger Mann mit krummer Nase und scharfen Augen drehte den Kopf nach ihnen. »Braucht ihr mich?« Jeirran trat kühn vor. Teiriol folgte ihm ein wenig zögernd. »Einen guten Tag wünsch ich Euch. Euer Kollege sagt, dass Ihr vielleicht Interesse an Pelzen aus den Bergen haben.« »Ja, vielleicht.« Harquas entspannte sich, doch seine Augen unter den buschigen Brauen blickten stechend. Er trug bleigraues Wolltuch, konservativ geschnitten, und sein Umfang ließ ahnen, dass seine Muskeln allmählich Fett wichen, da er die kraftvolle Durchsetzung seiner Geschäfte inzwischen jüngeren Männern überließ. »Wollt ihr einen regelmäßigen Handel oder nur dieses eine Geschäft?« »Im Augenblick nur den einen Verkauf«, erwiderte Jeirran vorsichtig. Harquas schürzte nachdenklich die Lippen. »Ihr müsst die 125
beiden Bergvolkmänner sein, von denen ich gehört habe. Ihr versucht, eure Ware zu verkaufen, ohne eure Gebühren zu zahlen?« Er nickte jemandem zu. »Wo wir herkommen, verlangt man nur dann einen Anteil, wenn man auch etwas dafür getan hat«, erklärte Jeirran steif. Ein freudloses Lächeln legte sich auf Harquas’ Gesicht. Er drehte den Kopf leicht zur Seite, als ein Kellner kam, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Entschuldigt mich.« Harquas beugte sich zu dem neben ihm sitzenden Mann, einem weiteren stämmigen Kerl, dem der Zeigefinger an der rechten Hand fehlte und der eine hässliche Narbe quer über den ganzen Kiefer hatte, als hätte jemand versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden, wäre dabei aber ein bisschen zu hoch geraten. Harquas verbarg seine Worte hinter vorgehaltener Hand. Jeirran verschränkte die Arme in einer Gebärde kalter Zuversicht. Teiriols Versuch, es ihm nachzumachen, glückte nicht besonders, als er bemerkte, dass inzwischen drei finster aussehende Kerle in seinen Nacken atmeten, von denen jeder ihn um mehr als eine Haupteslänge überragte. Harquas nickte, als sein Kamerad irgendetwas murmelte, und schoss Jeirran einen misstrauischen Blick zu. »Schön, mein Freund.« Harquas lächelte Jeirran mit der Herzlichkeit eines Schweins am Schlachthaken an. »Ich stecke hier ein bisschen in der Klemme. Du scheinst mir ein ehrlicher Mann zu sein, aber Lahrer hier sagt, du wurdest auf dem Fest von der Wache am Südtor hopp genommen. Wäre ich ein misstrauischer Mann, könnte ich auf den Gedanken kommen, dass du nur zum Schein vors Festgericht gebracht wurdest. Angenommen, ich mache ein Geschäft mit dir – muss ich dann damit rechnen, dass ein paar Gildenleute die Türen zu meinem Lagerhaus eintreten und du 126
einem neugierigen Richter die Pelze zeigst, die du mir verkauft hast?« Die drei Männer in Teiriols Rücken bewegten sich. Leder knirschte leise auf Metall, als der eine sich die messingbeschlagenen Handschuhe rieb. »Wenn Ihr das denkt, verschwenden wir nicht länger Eure Zeit.« Jeirran wirkte ungerührt. »Es gibt noch andere Leute in einer Stadt dieser Größe, mit denen ich handeln kann. Eure Stadtwache, Gilden und Regeln interessieren mich nicht«, fuhr er fort, ohne seine Verachtung zu verbergen. »Ich will einfach nur meine Pelze zu einem anständigen Preis verkaufen und dann nach Hause ins Hochland zurückkehren.« Harquas hob eine Augenbraue. »Du sprichst sehr unverblümt für einen Mann, der einer Überzahl gegenübersteht und fern von zu Hause ist. Soll mich das beeindrucken?« »Es interessiert mich einen feuchten Dreck, ob Ihr beeindruckt seid oder nicht«, erklärte Jeirran achselzuckend. »Kauft Ihr nun, oder kauft Ihr nicht?« Harquas tauschte einen Blick mit seinem Nachbarn, der wiederum auf ein Zeichen hinter Jeirran zu blicken schien. Was er auch sah – es stellt Lahrer zufrieden. Sein vernarbtes Gesicht nickte Harquas zu. »Falls du bereit bist, etwas zu tun, um deine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen, kaufe ich von dir«, sagte Harquas. »Falls Vigo und seiner kleinen Bande ein Missgeschick zustößt, kann ich sicher sein, dass sie ihre Nasen nicht in meine Angelegenheiten stecken, verstehst du? Wenn du dieses Missgeschick verursachen würdest, würde ich wissen, dass du nicht mit ihnen unter einen Decke steckst, nicht wahr?« »Warum sollten wir für Euch die Drecksarbeit machen?« Jeir127
ran achtete nicht auf das ärgerliche Gemurmel, dass sich hinter ihm erhoben hatte. »Willst du nun deine Pelze verkaufen oder nicht?«, fragte Harquas mit seidenweicher Drohung in der Stimme. »Sollen wir diese Leute töten?«, fragte Jeirran gerade heraus. Harquas runzelte die Stirn. »Ein toter Wachoffizier regt die Richter nach meiner Erfahrung unangemessen auf. Aber sie müssen hinnehmen, dass manch einer es ein bisschen zu toll treibt, wenn er etwas getrunken hat, und dann verprügelt wird.« »Das ist der Preis dafür, mit Euch Geschäfte zu machen?« Harquas nickte. »Sag mir, wo ihr wohnt, und wenn ich das Richtige höre, schicke ich jemanden hinüber, der sich morgen Mittag eure Ware ansieht.« Jeirran schüttelte den Kopf. »Wir treffen uns auf dem Marktplatz, am Brunnen.« Er drehte sich um und blickte den stiernackigen Mann finster an, der ihm den Weg versperrte. »Lass unseren Freund vorbei, Teg«, sagte Harquas liebenswürdig. »Wir reden morgen weiter, Jeirran.« Teiriol folgte Jeirran aus der Hahnenkampf-Arena zurück in die lärmige Taverne. Jeirrans Blick schoss hin und her, bis er Vigo sah, den Wachmann, dessen plumpes rotes Gesicht vor Lust und Freude glänzte, während er ein Mädchen mit zerzausten Haaren auf dem Knie hielt. Ihr aufgeschnürtes Mieder ließ schwere Brüste sehen, für jeden, der einen Blick darauf werfen wollte, während Vigo ihr die Röcke hochschob, sodass darunter nackte, fette Beine zum Vorschein kamen. Jeirran schob Teiriol in eine dunkle Ecke und schüttelte angewidert den Kopf, als die Hand des Wachmann hoch auf den Schenkel des Mädchens glitt. »Tiefländer! So wenig Anstand wie Hunde, die es auf der Straße treiben.« 128
»Das ist doch jetzt egal.« Teiriol riss sich widerstrebend von dem Anblick los. »Woher wusste dieser Harquas unsere Namen?« »Was meinst du wohl?«, erwiderte Jeirran verächtlich. »Er hat bestimmt in der ganzen Stadt seine Leute, meinst du nicht? Wenn er von unserer Verhaftung erfahren hat, dann weiß er unsere Namen vom Gericht, kennt vielleicht sogar unsere Unterkunft.« Er blickte finster. »Wenn seine Mistkerle Eirys zu nahe kommen, werde ich ihnen den Hals umdrehen, Gericht hin oder her.« »Was sollen wir mit diesen Wachmännern machen?« Teiriol sah Vigo an, dessen Kopf jetzt in die Arme des Mädchens gebettet war. Ihr Gekicher täuschte Vergnügen vor, doch ihr Gesicht blickte gelangweilt. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es dieser Hure vor aller Augen besorgt. Sie gehen bestimmt in eine Gasse«, meinte Jeirran nachdenklich. »Und wir packen ihn, wenn ihm die Hosen um die Füße schlenkern?« Teiriol lachte unruhig. »Das ist nur der gerechte Ausgleich dafür, wie er mich und Keisyl gestern geschlagen hat«, antwortete Jeirran mit grimmiger Genugtuung. »Komm.« Draußen wurde das Licht des Nachmittags weicher. Ein paar Ringkämpfe wurden in Arenen ausgetragen, die grob in den Sand gezeichnet waren. Teiriol schaute bedauern zu, folgte Jeirran jedoch gehorsam in eine dunkle Ecke hinter einem Galgen. Das Holz war schwarz von altem Blut, und eklige tote Ratten baumelten herab. »Pass auf ihn und die anderen auf«, befahl Jeirran. Sie mussten nicht lange warten. Schon bald erschien Vigo mit der Hure 129
am Arm. Rif und Neth trotteten mit einer Miene eifriger Erwartung hinter ihnen her. »Wollen sie es alle mit ihr machen?«, fragte Teiriol verblüfft. »Wie schon gesagt, sie treiben es wie die Hunde.« Jeirran bewegte sich lautlos, als die Wachleute auf die schmale Lücke zwischen zwei baufälligen Häusern zusteuerten. »Und sie sind dumm genug, ihre Schlampe in eine Sackgasse zu führen«, setzte er zufrieden hinzu, nahm ein Paar Handschuhe von seinem Gürtel und nickte Teiriol zu, es ihm gleich zu tun. »Vorsicht. Wir wollen nirgendwo einen Kampf anzetteln, wo man uns sehen kann.« Teiriol lockerte das Messer in der Scheide, als sie die Gasse überquerten, doch Jeirran schüttelte den Kopf. »Wir wollen sie nicht umbringen. Wir benutzen keine Messer, es sei denn, wir haben keine Wahl.« Er blieb stehen, um eine Daube von einem zerbrochenen Fass aufzuheben, das man vor die Tür geworfen hatte, und spähte die Gasse hinunter. »Die Hure nimmt sie mit in diesen Stall da. Wir geben dem Dicken einen Augenblick Zeit. Die beiden anderen haben ihre Dinger dann wahrscheinlich auch schon in der Hand. Dann können wir sie niederschlagen, ehe ihr Anführer wieder hochkommt.« In Jeirrans Augen stand wilde Vorfreude. Teiriol ließ seine eigene Fassdaube durch die Hände gleiten und wog das Holzstück grinsend. »Lass deinen Umhang hier und binde dir etwas vors Gesicht.« Jeirran zog sein Hemd aus der Hose und riss einen breiten Streifen Leinen vom Saum, um seinen Worten Taten folgen zu lassen. »Sie können nur behaupten, dass es Leute aus den Bergen waren, und wenn jemand kommt und uns ansieht, schwören wir, dass es diese anderen beiden gewesen sein müssen, die wir gesehen haben. Wenn wir drin sind, verriegelst du die Tür.« 130
Die Gasse war nur kurz, jedoch düster in den doppelten Schatten der Stadtmauer und der Häuser, die auf beiden Seiten aufragten. Überall stapelten sich Müll, weggeworfene Säcke, Schachteln und Haushaltsabfälle, vermischt mit alten Knochen und verrottendem Dreck. Ein übler Gestank stieg aus einem Abwasserlauf, der in die nackte Erde gegraben war. Teiriol und Jeirran gingen lautlos weiter, die Augen auf die Stalltür gerichtet, die an zerbrochenen Angeln hing und einen Spalt offen stand. Jeirran holte mit seinem Holz aus und nickte Teiriol zu, der dasselbe tat. Sie hielten inne, jeder auf einer Seite der Tür, doch Vigos erregtes Stöhnen und die gespielten lustvollen Laute der Hure waren laut genug, um das Geräusch von Schritten zu übertönen. Jeirran stürmte hinein. Teiriol folgte ihm auf den Fersen und stieß die Tür mit einem Fußtritt zu. Neth drehte sich um, mit rotem Gesicht. Die Erregung in seiner Miene wich verblüfftem Entsetzen. Jeirran schwang seine Daube wie eine Sense und erwischte ihn unter einem Ohr. Der Aufprall ließ ihn gegen Rif taumeln, der ihn verwirrt auffing. Teiriol sprang vor und stieß seine Keule in Rifs ungeschützte Seite. Neth war noch immer benommen, doch Rif schüttelte ihn ab und machte kehrt, um sich auf Teiriol zu stürzen, doch der Mann aus den Bergen schleuderte ihn mit einem Stoß in den Magen zurück. Jeirran attackierte erneut Neth und landete einen wuchtigen Hieb gegen sein Knie. Der Wachmann taumelte zur Seite. Jeirran warf sein Holz weg und schlug zu. Seine behandschuhten Hände trafen Gesicht, Rippen, Magen und Lenden in einem Wirbel schmerzhafter Schläge. Blut aus der Platzwunde am Kopf tränkte Hemd und Wams des Wachmanns. »Was, zum Henker ...« Vigo hatte von der Hure abgelassen 131
und rappelte sich auf, während er seine Hosen umklammerte, die seine Füße behinderte. Rif hatte jetzt eine Box im Rücken, wippte von einem Fuß auf den anderen und ballte die Fäuste. Teiriol grinste und täuschte mit seiner Daube an, erst zur einen Seite, dann zur anderen. Rif wurde gegen das splitternde Holz zurückgedrängt. Schmerzhafte Schläge regneten auf Schulter und Schenkel. Vergeblich kauerte er sich zusammen, um sich zu schützen, spie Teiriol an und schnappte sich einen Zügel. Teiriol holte rasch mit dem vom Alter harten Holzstück aus und zerschmetterte ihm den Unterarm. Rifs Schmerzensgeheul mischte sich mit dem Knacken von Knochen. Sein Schrei wurde erstickt durch Vigos Wutgebrüll, mit dem er sich auf Jeirrans Rücken warf, während Neth schlaff in einer Blutlache lag. Der Wachmann versuchte, seine großen Hände um den dicken Hals des Bergbewohners zu legen, doch Jeirran war zu schnell, grub das Kinn in die Brust und zog die Schultern vor. In einer fließenden Bewegung machte Jeirran einen Schritt nach vorn und gleichzeitig zur Seite, sodass der nichts ahnende Vigo über seinen Kopf rutschte und im Schlamm des Stallabflusses landete. Vigo lag keuchend zu Teiriols Füßen und rang nach Luft. Teiriol setzte nun seine Stiefel ein – schweres Leder, mit Metall und Nägeln beschlagen – und hinterließ damit Abdrücke auf Vigos Hemd und seinen halb zugeschnürten Hosen. Er trampelte auf den Händen des anderen herum und riss ihm mit einem ausholenden Tritt die Wange auf. Der Wachmann rollte sich zusammen, um den Tritten zu entgehen. Rif versuchte vergebens einzuschreiten. Sein getroffener Arm hing kraftlos herab. Jeirran schlug ihn mit einem Schwinger in 132
die Rippen zu Boden und packte dann Teiriol am Arm. Der Jüngere atmete rasch durch das Tuch vor seinem Gesicht, und seine Tritte wurden immer härter. »Das reicht! Du willst ihn doch nicht umbringen! Hat dein Vater dir denn gar nichts übers Kämpfen beigebracht?« Teiriol ließ von Vigo ab. Rif hockte auf den Knien und rang keuchend nach Atem. Neths Tränen vermischten sich mit dem Blut, das aus seiner gebrochenen Nase quoll, während er zusammengesunken in einer Ecke hockte. »Was ist mit ihr?« Teiriol deutete auf die Hure, die in einem wüsten Durcheinander ihrer Unterröcke auf einem Haufen staubigen Heus kauerte. Auf ihrem Gesicht mischten sich Begehren mit Abscheu. Dann versuchte sie ein Lächeln, brachte jedoch nur eine hässliche Grimasse zu Stande. »Ihr könnt euer Vergnügen kostenlos haben, aber tut mir nichts!«, flehte sie und öffnete mit zitternden Händen ihre Bluse, eine Geste wie die Parodie einer Verführung. Jeirran rümpfte die Nase. »Ich würde eine wie dich nicht mal mit einem Stück Holz anfassen!« Er nahm seine Fassdaube und machte einen drohenden Schritt auf sie zu. »Aber wenn jemand hinter uns her ist, weiß ich, wer uns verraten hat. Du bist die Einzige, die etwas gesehen hat, also bist du auch die Einzige, die etwas erzählen kann. Tu’s lieber nicht, ich warne dich!« Das Mädchen wimmerte und versprach zu schweigen. »Komm!« Jeirran zog die Stalltür auf. Er schob Teiriol hindurch; dann verkeilte er die Tür mit seinem Stock. Er stopfte seine fleckigen Handschuhe in eine Tasche, zog seinen Umhang an und schloss ihn, um das Blut auf seinem Hemd zu verbergen. Am Ausgang der Gasse schaute er sich vorsichtig um. »Wir 133
müssen weg hier. Rasch.« Teiriol nahm seinen eigenen Umhang und hielt inne, um seine Stiefel mit Wasser abzuspritzen, das sich zwischen ein paar Pflastersteinen gesammelt hatte. »Das sollte diesem Harquas zeigen, dass wir es ernst meinen«, stellte er zufrieden fest. »Und ich kann Keisyl sagen, dass wir seine Schulden voll zurückgezahlt haben.« »Du wirst nichts dergleichen sagen, kein Wort zu ihm oder Eirys«, fuhr Jeirran ihn an. »Schließlich war es nicht gerade ein Kampf, auf den man stolz sein kann. Und diese Wachmänner nennen sie harte Burschen! Die würden in einem BergarbeiterLager keine drei Tage durchhalten!« Seine Augen ruhten kurz auf den Ringkämpfen, die immer noch hitzig geführt wurden. »Wir gehen rasch, aber ruhig, und schauen uns nicht um. Wir sind hergekommen, um uns die Ringkämpfen anzuschauen, doch es war uns zu langweilig, und deshalb gehen wir jetzt zurück in unsere Herberge. Das sagen wir Eirys und Keis und jedem anderen, der fragt. Verstanden?« »Sicher.« Teiriol konnte einem Blick über die Schulter nicht widerstehen, als sie die Schlachthöfe verließen. »Und was jetzt?« »Wir machen uns sauber, ehe die anderen zurückkommen. Wir essen, was diese Diebin von einer Wirtin als Vier-MarkGericht ausgibt, und dann gehst du mit Keisyl aus und vergnügst dich. Eirys und ich haben einen ruhigen Abend zu Hause verdient, wir beide allein«, verkündete Jeirran. Seine Augen leuchteten vor Vorfreude. »Es ist Zeit, dass sie mir Anerkennung zeigt!«
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Selerima, West-Ensaimin Zweiter Tag des Frühlingsmarktes, Abend
Die Runen rollten endlich zu meinen Gunsten, als ich die Knackweide erreichte, ein ordentlich geführtes Speiselokal an der Ecke der Schreibergasse. Der volle Klang einer Laute schwebte durch den offenen Fensterladen. Kindheitserinnerungen an Wald-Rhythmen regten sich, und ich stieß die Tür auf und fand mich in einem ordentlich möblierten Raum wieder, in dem achtbare Bürger ihre Frauen und Töchter bei üppigen Pasteten und teuren Weinen unterhielten. Es dauerte einen Moment, ehe die Kellner mich bemerkten, da aller Blicke auf den Sänger gerichtet waren, der an der Treppe saß, die Augen geschlossen und ganz versunken in die Melodie. Er war nicht erst seit kurzem unterwegs, frisch aus dem Wald und erpicht auf Abenteuer. Dieser Mann lebte seit fast einer Generation auf den Straßen, die das Alte Reich durchschnitten, wenn ich mich nicht irrte. Er war ein wenig kleiner als der Durchschnitt, mit eckigem, wettergegerbtem Gesicht, und sein Haar wies nicht mehr das Rot des Herbstlaubes auf, sondern war zu Bernstein verblasst, das weiße Strähnen durchzogen. Es war kurz geschnitten und wich an Schläfen und Stirn zurück. Seine langfingrige Hand auf den Bunden seiner Laute war knochig, die andere, die die Saiten nach Art des Waldvolkes zupfte, war geschmeidig und zeigte die verdickten Nägel und die schwieligen Fingerspitzen, die lebenslanges Spiel mit sich brachten. Seine Stimme besaß einen vollen Klang und die Tiefe 135
einer unendlichen Erfahrung. Seine Kleider, unauffällig in Farbe und Schnitt und an den Knien und Ellbogen deutlich abgetragen, hatten einst bei einem erstklassigen Schneider viel Geld gekostet. Er stammte unverkennbar aus dem Volk, war jedoch alt genug, um so weise zu sein, die Winter dort zu verbringen, wo Gasthäuser warme Betten und warme Mahlzeiten boten, und nur zur Sommerzeit in den Wald zurückzukehren, wenn das Leben dort einfach war. Eine schwere Goldkette um seinen Hals war durch eine Hand voll Ringe gezogen, und jedes Ohr war mehrmals durchstochen. Juwelen funkelten im Kerzenschein. Waldleute haben eine Vorliebe für glitzernde Dinge, wie Elstern. »Kann ich dir helfen?« Ein Junge in fleckenloser Schürze blieb höflich neben mir stehen. »Ich möchte gern mit dem Sänger sprechen.« Ich verfiel in den rollenden Tonfall meines Vaters, dessen Akzent mir in lebhafter Erinnerung war. »Er macht seine Pause hinten im Hof.« Der Junge blickte unsicher drein. »Möchtest du gern dort warten?« »Danke.« Ich hatte angesichts der Ordnung im Haus zwar nicht den üblichen Müllhaufen aus zerbrochenem Geschirr und leeren Fässern erwartet, dennoch erwies der Hof sich als angenehme Überraschung. Das graue Pflaster war sauber gefegt, und Töpfe mit Kräutern standen entlang den Wänden, wo es in der Nachmittagssonne warm war, und erfüllten die Luft mit ihrem Duft. Eine Laube wurde von Rosen umrankt, die zu dieser Jahreszeit zwar kaum mehr als nackte Stämme waren, aber trotzdem einen hübschen Platz boten, um zu sitzen und zu warten und die geschnitzte Statue von Halcarion zu bewundern. Die Göttin betrachtete ihr Spiegelbild, während sie sich über einem 136
breiten Marmorbecken kämmte. Mir fiel ein, dass ich einen Schrein für ein Opfer suchen wollte. »Hübsch, nicht wahr?« Die Stimme des Sängers ließ mich in Erinnerung erschauern, wie er so als Silhouette vor den Lampen stand: Ich erinnerte mich an eine Dachkammer, und mein Vater stand auf der Schwelle, nachdem er mich mit Liedern in den Schlaf gesungen hatte, deren Erbe mir längst verloren gegangen war. Aber dieser Mann war nicht mein Vater. »Ja«, sagte ich, »wenn man sich Halcarion als ein Mädchen vorstellt, dass sich die Haare macht und die Zeit abwartet, bis Drianon sie zur Mutterschaft ruft. Ich selbst bevorzuge die Geschichten, wo sie Männer und Monde nach ihrer Pfeife tanzen lässt.« »Da spricht wohl dein Blut aus dir, nach der Farbe deiner Haare zu urteilen.« Der Sänger sagte noch etwas in der fließenden Sprache des Waldes – der Betonung nach ein Sprichwort oder eine Binsenweisheit –, aber ich verstand ihn nicht. »Es tut mir Leid, ich verstehe nicht.« Ich schüttelte entschuldigend den Kopf. Der Sänger lehnte sich gegen die wacklige Ziegelmauer und zog eine Augenbraue hoch. »Du hast alle Steine. Und wenn du mit mir reden willst, nehme ich doch an, dass du spielen willst. Und da kennst du die Regeln nicht?« »Das hängt vom Spiel ab«, entgegnete ich. Ich fragte mich, worauf er hinauswollte. »Das ganze Leben ist ein Spiel.« Er lächelte mich an, und diesmal erhellte ein Licht, dass ich nur zu gut wiedererkannte, seine kupferfarbenen Augen. »Also, wenn du nicht zum Volk gehörst, wie kommt es dann, dass du all die Züge hast, die ein Waldmädchen auszeichnen – dazu noch ein besonders reizen137
des?« Er schaute mit jener bedächtigen Intensität an mir hinauf und hinunter, die viele Frauen schmeichelhaft finden. »Mein Vater hinterließ mir die äußere Hülle«, versuchte ich höfliches Desinteresse zu zeigen. Glücklicherweise lenkte eine andere Sorge meinen Gefährten ab. »Wann und wo bist du geboren?«, fragte er. Leichte Besorgnis ließ ihn die Stirn runzeln. »In Vanam, im Nachherbst vor siebenundzwanzig Jahren, als Tochter einer Dienerin namens Aniss«, erwiderte ich mit breitem Grinsen. Er durchkämmte rasch seine Erinnerungen an Reisen und Eroberungen, und bald erhellte sich seine Miene, und er teilte meine Belustigung. »In diesem Jahr, in der in Frage kommenden Jahreszeit, war ich in Col, meine Liebe«, sagte er mit einer förmlichen Verbeugung. »Wenn du nach einem verschollenen Vater suchst, fürchte ich, habe ich nicht die Ehre.« »Deswegen wollte ich auch nicht mit dir sprechen, keine Sorge.« Als willkommene Unterbrechung öffnete sich die Tür, und der junge Bursche kam mit einem Tablett köstlicher Pasteten und goldenem Wein in einem Glaskrug heraus, auf dem sich Feuchtigkeit niederschlug, da er die Kühle eines Eiskellers mit sich brachte. »Auf jeden Fall trinken wir auf unser gemeinsames Blut.« Der Sänger schenkte mir ein Glas ein und hob das seine. »Auf dein Wohl. Wie heißt du?« »Livak.« Auch ich hob mein Glas. »Und ich heiße Frue«, erwiderte er. »Dein Vater hat dir zumindest einen schönen Waldnamen hinterlassen«, stellte er fest, ehe er hungrig in eine knusprige Hülle biss, die prall mit gewürzten Äpfeln gefüllt war. 138
Ich nahm ein Aprikosentörtchen, als er mir eins anbot, und erinnerte mich seltsamerweise daran, wie meine Mutter jeder Schmeichelei und Drohung widerstanden hatte, die meiner Großmutter bei ihren zahlreichen Versuchen einfielen, mir einen anderen Namen zu geben, nachdem die seltenen Besuche meines Vaters ganz aufgehört hatten. »Sein Name war Jihol«, erzählte ich, selbst erstaunt über meine Worte. »Von welcher Sippe?« Frue legte den Kopf schief. »Weißt du das?« »Von den Hirschen, glaube ich.« Ich trank einen Schluck Wein und überlegte, wie ich dieses fruchtlose Gespräch beenden konnte. Frues Schweigen wurde von einem abrupten Kopfschütteln unterbrochen. »Ich kenne ihn nicht ... nicht dass ich wüsste.« »Es ist nicht wichtig«, sagte ich erleichtert. Genau genommen, würde ich mir wahrscheinlich einige Mühe geben, meinen Vater zu meiden, wenn der Wind einen Hauch von ihm mit sich brächte. Ich musste zur Zeit schon mit genügend Unwägbarkeiten in meinem Leben jonglieren. »Wonach suchst du?« Frue verschlang eine zweite Pastete. »Ich habe ein Buch mit alten Liedern, gesammelt von einer tormalinischen Adelsfrau in den späten Tagen des Imperiums«, sagte ich. »Sie stammen von sämtlichen Völkern – aus den Bergen, den Ebenen und dem Wald. Ich versuche, Leute zu finden, die diese Lieder für mich übersetzen können.« Frue schaute interessiert auf. »Ich würde gern einen Blick darauf werfen.« Kein Wunder, dachte ich. Alte Lieder konnten einem Sänger die Mühe ersparen, selbst etwas Neues zu komponieren. »Deine 139
Meinung würde ich natürlich gern hören«, erwiderte ich. »Es ist nur so ... ich reise mit einem Gelehrten, und er will bestimmt mehr als nur eine Meinung hören, also möchte ich die Lieder gerne mehr als einem aus dem Volk mit reinem Blut zeigen. Kehrst du in den Wald zurück? Können wir mit dir reisen?« Ich füllte Frues Glas nach. »Ich bin tatsächlich auf dem Weg zurück zu meiner Sippe, wie der Zufall es will«, sagte Frue vorsichtig und wischte sich die Finger an einer Serviette ab. »Du und dein Gelehrter, ihr könnt mich gern begleiten.« »Wir haben noch zwei andere Gefährten, alte Freunde, Männer aus den Bergen.« Ich hoffte, dass Frue das leichte Zögern in meiner Stimme nicht bemerkt hatte. »Was wollen Hochländer denn in der Wildnis?« Frue schien eher neugierig als besorgt zu sein, was mich erleichterte. »Wie ich reisen auch sie und spielen Runen und Weißer Rabe, wo sich die Gelegenheit bietet.« Ich machte mir im Geiste eine Notiz, Sorgrad zu erzählen, dass er ein neues Interessensgebiet hatte. »Du spielst Weißer Rabe?« Frue schaute mich wieder interessiert an. »Mein Vater hat es mir als Kind beigebracht«, erwiderte ich. »Dann weißt du auch, dass das Spiel auf dem Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Waldes und der Stärke der Vögel beruht, wenn sie versuchen, den Raben zu vertreiben, nicht wahr?« Frues Augen strahlten. Er setzte sich neben mich unter die nackten Dornen der Laube und beugte sich dicht zu mir. »Was hast du mir im Austausch dafür zu bieten, dass ihr mit mir kommt und ich euch den Leuten vorstelle?« »Lieder, die seit den Tagen, als der Wald noch bis vor die To140
re von Selerima reichte, niemand mehr gehört hat?« Behutsam schob ich seine Hand von meinem Bein. »Ein leidenschaftliche Nacht ist ja gut und schön, aber ein Lied bleibt bestehen. Wenn man es wieder hört, wird man deinen Namen damit in Verbindung bringen.« »Nur wenn die Lieder wirklich unbekannt sind. Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie weit der Jahresbaum einiger unserer Lieder zurückreicht.« Er lachte, und ich merkte erleichtert, dass dieser Teil des Spiels zu Ende war, ohne dass er mir grollte. Die Tür zum Hof flog auf. »Was hält dich hier draußen so lange auf, Frue?«, fragte eine rundliche Frau in grünem Gewand, die mich mit schlecht verhohlenem Misstrauen anstarrte, als sie näher kam. Sie hatte ein kindliches Gesicht, rund und weich mit Stupsnase und hübschen Augen, doch die Mundwinkel ihrer vollen Lippen waren mürrisch herabgezogen. »Tris sagte, du wärst hier.« Ihre unausgesprochene Frage war nicht zu verkennen. »Zenela, das hier ist Livak«, sagte Frue. »Sie versucht mich mit der Aussicht auf etwas Reizvolles zu locken.« Zenela blähte die Nüstern. »Reizvoll für die Ohren oder fürs Bett?« Frue lachte und schaute mich an. »Bring dein Liederbuch morgen Vormittag her, und ich werde sehen, was ich für dich tun kann.« Er zog Zenela an sich, deren Atem so heftig ging, dass der Ausschnitt ihres Kleides in Gefahr war. »Wir wollen für unser Abendessen singen, Süße.« Frue tänzelte durch die Tür; Zenela eilte ihn hinterdrein, nachdem sie mir einen warnenden Blick zugeworfen hatte. 141
Kichernd trug ich das Tablett zurück in die Küche. »Kann ich von hier aus zuhören?«, fragte ich die breithüftige Frau, der alle gehorchten. Ihre schneeweiße Schürze war mit Honigsirup verschmiert, ihr Gesicht unter der schlichten Haube gerötet. Sie nahm ein Tablett mit Pasteten von einer solchen Auswahl, dass sie sich hinter Messires Küche nicht zu verstecken brauchte. »Solange du nicht im Weg herumstehst.« Sie begann, Puderzucker und kandierte Früchte zu verteilen. Ich fand ein ruhiges Eckchen an der Tür und machte mich nützlich, indem ich leere Teller an einen Jungen mit fettigen Haaren weiterreichte, dessen Arme bis zu den Ellbogen in einem riesigen hölzernen Abwaschbecken steckten. Die Geschäftigkeit in der Küche wurde kurz unterbrochen, als Frue einen lebhaften Reigen anstimmte. Er endete mit einem Tusch; dann begann Zenela zu singen, und die sanften Akkorde der Laute untermalten ihre Melodie. Ich ging näher zur Tür, um besser sehen zu können. Ihre Stimme war rein in den höheren Lagen und reich und volltönend in den tieferen. Sie stand unter einem zweiarmigen Leuchter. Ihr leuchtend rotes Haar verdankte sie eher Kräuterspülungen denn Waldblut, und ihre Augen spiegelten das Grün ihres Kleides und die gefärbten Wimpern. Ich überlegte, was für eine Geschichte sie wohl hatte. Sie war vielleicht ein paar Jahre jünger als ich und sah aus, als hätte sie noch immer viel zu lernen. Ich schaute zu, als sie von Liebe und Verlust sang und ließ mich von der herrlichen Harmonie von Stimme und Laute gefangen nehmen. Dann kam mir eine Idee. Was, wenn ich Frue eine neue Geschichte bot, die auf ihre Weise ebenso neu war wie die alten Lieder? Eine Geschichte, die noch nie in Musik gefasst worden 142
war? Eine Geschichte von jüngsten Ereignissen, die die höchsten Mächte Tormalins erschütterte und zu den Waffen greifen ließ gegen eine Herausforderung, wie man sie seit dem Untergang des Alten Reiches nicht mehr gesehen hatte? Sänger verbringen ihr Leben mit dem Versuch, stets der Erste zu sein, der eine Geschichte und eine Melodie verwebt. Außerdem war Festtags-Zeit; jeder, der auch nur für zwei Pfennige singen kann, trällert dieselben alten Lieder. Doch die Bedrohung von geheimnisvollen Inseln im Meer, die Entdeckung der verlorenen Kolonie und ihrer schlafenden Überlebenden – dies alles würde eine Ballade ergeben, wie man sie lange nicht hörte. Die zehn Glockenschläge, die den Sonnenuntergang und damit das Ende des Tages verkündeten, drangen durch die Hintertür, und ich schalt mich für meine Genusssucht. »Sag Frue, dass ich morgen wiederkomme.« Ich packte den Servierburschen am Arm und steckte ihm für seine Mühe ein paar Kupferstücke zu und kehrte zum Schwan im Mond zurück, wo ich Sorgrad antraf, der mit Usara im Schankraum ein geselliges Mahl einnahm. »Wo ist ‘Gren?« Ich zog mir einen Stuhl heran. »Sorgt dafür, dass Kelty ein bisschen Farbe auf die Wangen bekommt, ehe das Stück anfängt.« Sorgrad schenkte mir zu trinken ein. »Wie bist du bei den Rennen zurecht gekommen?«, fragte ich ihn. »Ganz gut.« Er grinste. »Keiner der Wetter kannte deinen Mann hier, und so konnte er das Unschuldslamm spielen. Wir haben ihnen ein hübsches Sümmchen abgenommen.« »Woher hattet ihr die Tipps? Habt ihr jemanden getroffen, den wir kennen?« Es war unmöglich, dass die Brüder über die 143
hiesigen Züchter Bescheid wussten, nicht, wenn sie den ganzen Winter über in Col gewesen waren. Sorgrad lächelte sonnig. »Unser guter Freund hier war in der Lage, uns alles über den Zustand des Geläufs zu erzählen, als die Pferde vorgeführt wurden. Sobald wir das wussten, welches Tier lieber trockenes oder feuchtes Geläuf mochte, waren die Wetten weniger riskant für uns.« Ich sah Usara prüfend an. »Der Erzmagier würde das doch billigen, oder?« »Planir billigt, dass ich meine Gaben möglicherweise auf ungewöhnliche Weise einsetzen muss, um unsere Nachforschungen zu unterstützen.« Er lächelte sanft und griff nach einem Stück Brot. »Wie bist du vorangekommen?« »Ich habe einen Sänger gefunden, der uns vielleicht mit ein paar nützlichen Leuten bekannt machen kann«, sagte ich. »Was ist mit euch?« Sorgrad schüttelte den Kopf. »Nicht die leiseste Spur. Es waren ein paar Männer aus den Bergen bei den Hahnenkämpfen, doch sie waren bei Harquas.« Ich verzog das Gesicht, als ich mir etwas von Sorgrads Brot nahm und ein Stück von dem getrockneten Fisch, den er sorgfältig von den Gräten befreit hatte. »Was habt ihr bei den Hahnenkämpfen gemacht?« »Unser Blondschopf hier sagte, er wollte sich nochmal in den Gildenhallen umsehen und meinte, wir sollten uns amüsieren.« Sorgrad lächelte. »Ist dieser Harquas von Bedeutung?« Usara sah uns der Reihe nach an. »Er ist einer der größten Schurken der Stadt«, erklärte ich. »Jeder, der mit ihm zusammenarbeitet, ist so falsch wie das 144
Willkommen eines Pfandleihers.« »Bestell dir an der Küchentür etwas zu essen, mein Liebes«, sagte Sorgrad und schob seinen Teller aus meiner Reichweite. »Nein, diese beiden sahen aus, als kämen sie frisch vom Lande, gut gekleidet und auffällig wie ein verbundener Finger.« »Dann wird Harquas sie stopfen lassen wie Küken aus einem Taubenschlag, ehe die Feiertage vorbei sind.« Ich kaute auf etwas Kresse herum, die ich von Sorgrads Teller stibitzt hatte. »Ist es denn wahrscheinlich, dass noch andere Leute aus dem Bergvolk in der Stadt sind?«, wollte Usara wissen. Sorgrad schüttelte den Kopf. »Nur wenige. Nur die Sippen, die Arbeitskräfte entbehren können, können es sich leisten, ihre Waren so weit zu schicken. Man braucht viel Zeit für die Reise und ...« Eine Bewegung an der Tür ließ ihn innehalten. Ich schaute hinüber und erkannte Reza, der auf uns zueilte. »Niello sagte, ich sollte euch das geben, sobald ihr kommt.« Der Junge zog eine zweifach gefaltete und versiegelte Notiz aus seinem übergroßen, schäbigen Wams. Ich gab dem Ober einen Wink, ehe ich das Siegel erbrach. »Setz dich, Rez, und trink etwas.« Er lächelte mich an und entblößte dabei die zahnlose Seite seines Mundes, ein dauerhaftes Vermächtnis des Hungers und der Schläge, die sein Los gewesen waren, ehe Niello ihn aus der Gosse geholt hatte. Ich zwinkerte ihm zu, doch meine gute Laune schwand, als ich Niellos ungeübtes Gekritzel auf der Rückseite eines Theatertextes entzifferte. »Was gibt’s?« Sorgrad las in meinem Gesicht ebenso aufmerksam, wie ich das Pergament studierte. »Du und ‘Gren, habt ihr heute Nachmittag irgendwelchen 145
Ärger gehabt?«, fragte ich beiläufig. Sorgrad schüttelte unbesorgt den Kopf. »Nein.« »Und ‘Gren war die ganze Zeit bei dir?«, hakte ich nach. »Bis wir hierher kamen und er Kelty entdeckte, die ihm ihre Strumpfbänder zeigte.« Er grinste. »Er gehört nicht zu denen, die an einer fetten Gans herummäkeln.« Ich nickte. »Niello zufolge war die Stadtwache hier und hat Fragen gestellt. Es scheint, sie wollen mit zwei Bergbewohnern reden – wegen einer Tracht Prügel, die sie ein paar Burschen verpasst haben.« Usara öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Hätte ich es geschafft, hätte ich ihn unter dem Tisch getreten, um ihn daran zu hindern. »Ist das ein Problem?« Sein Tonfall war höflich und versöhnlich. Ich versuchte, meine Erleichterung zu verbergen, weil er keinen Zweifel an Sorgrads Worten geäußert hatte. »Um ehrlich zu sein, ja. Wenn Niello es nicht für ernst hielt, hätte er sich hiermit«, ich winkte mit dem Zettel, »nicht das Hirn zermartert.« »Sie haben fast die ganze Bühne auseinander genommen, für den Fall, dass jemand sich darunter versteckt«, warf Reza ein. »Sie haben sogar alle unsere Kostümkörbe ausgeleert.« Ich legte die Hände vor mir auf den Tisch. »Die Stadtwache wird jeden verhaften, auf den die Beschreibung passt, und ihn zusammenschlagen. Das ist hier genauso wie überall sonst. Zu jeder anderen Zeit des Jahres könnten wir uns einen Advokaten suchen und den Fall vor Gericht austragen, vielleicht ein paar Zeugen finden, die zu unseren Gunsten aussagen. Kelty zum Beispiel könnte einen Richter davon überzeugen, dass ‘Gren ihr Bett nicht verlassen hat.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber nicht während der Festtage, wenn das Festgericht tagt.« 146
»Ich glaube nicht, dass wir die Aufmerksamkeit der Wache auf uns lenken wollen, nicht wahr?« Ich sah das Gesicht von Arie Cordainers in Sorgrads Augen. Noch eine Überlegung, die die Richtung angab. »Niello schreibt, Vadim hat einen der Kerle in eine Ecke gezogen«, sagte ich zu Sorgrad, ohne auf die anderen zu achten. »Sie haben so dicht zusammengesteckt wie ein Geizkragen mit seinem Geld.« »Wir könnten ihm das Maul stopfen«, meinte Sorgrad achselzuckend. »Wenn er vor Ende des Festes als Leiche auftaucht, wird das nur noch mehr Ärger machen«, warnte ich. »Er wird nicht auftauchen.« Sorgrad grinste. »Warum reisen wir nicht einfach ab?«, fragte Usara beunruhigt. »Weil kein Sänger sich auf die Straße begibt, ehe der allerletzte Augenblick des Festes gekommen ist.« Ich verbarg meine Gereiztheit. Es hatte keinen Zweck, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, also musste ich diese Runen so gut ausspielen, wie ich konnte. »Du könntest den zweiten Narren spielen, nicht wahr, Rez?« Der Bursche nickte hoffnungsvoll. »Dann kann Niello Vadim sagen, er soll sein Geld nehmen und verschwinden. Andernfalls verwenden wir es dafür, seiner Asche eine Nische in einem Schrein zu kaufen«, sagte ich entschieden. »Er wird nichts dagegen einwenden. Er ist wie ein Hund, der bellt, aber nicht beißt.« »Wer spielt den Hund?«, fragte Sorgrad. »‘Gren?«, schlug ich vor. Nichts würde ihn davon abhalten können. »Also gehen wir in den Wald und nicht in die Berge?«, fragte 147
Usara und blickte von mir zu Sorgrad und wieder zurück. »Wenn die Feiertage vorüber sind?« Ich nickte. »Hast du ein Problem damit?« »Nein, überhaupt nicht.« Usara spreizte die Hände in einer besänftigenden Geste. »Ich beuge mich deiner Entscheidung.« Er lächelte mit falscher Bescheidenheit. Ich ließ mich nicht täuschen: Er hatte Magie benutzt, um irgendwann im Laufe des Nachmittags Planir in Hadrumal zu unterrichten. Ich hätte wetten können, dass man ihm befohlen hatte, seinen Hund an die Kette zu legen und sich einvernehmlich zu geben. Das war alles schön und gut – wenigstens würde er so wahrscheinlich mit ‘Gren und Sorgrad auskommen –, aber ich war nicht bereit, einem Zauberer zu trauen, jedenfalls nicht völlig, nicht einmal, wenn er beim Abendessen saß, brav wie eine alte Hure bei einer Hochzeit. »Was machen wir morgen?«, fragte Sorgrad. »Die SchreinBruderschaften werden am Vormittag auf Pietät machen, doch die Gaukler und Tiervorführer werden nachmittags ihren Platz an der Sonne bekommen.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde diesen Sänger wegen ein paar Liedern aufsuchen.« Und nicht nur wegen der alten Lieder. Usara konnte seine Geheimnisse für sich behalten, ich die meinen. Ich hatte über Lieder, ihre Macht und ihre Wirkung nachgedacht. Die Geheimnisse der alten Äthermagie zu erlernen war ja gut und schön, aber vielleicht konnte ich noch einen anderen Nutzen für eine schöne Melodie und aufrüttelnde Worte finden. Wenn Frue ein Lied reimte, das vor der Bedrohung durch die Elietimm warnte, würde sich das schneller ausbreiten als ein Waldbrand. Und wenn ich gut aufpasste und die Geschichte so erzählte, dass ich 148
gar nicht darin vorkam, würde niemand in der Lage sein, sie zu mir zurückzuverfolgen.
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Kehannasekke, Inseln der Elietimm Frühlings-Äquinoktium
Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht hörte, wie sein Vater mit leisen Schritten hereinkam. »Eresken?« Er erschrak so heftig, dass er scharf die Luft einsog, und seine Schultern spannten sich unwillkürlich unter der schmucklosen Tunika aus ungefärbter Wolle. »Wie kommst du voran?« Die Frage war freundlich gestellt. Der ältere Mann war guter Laune, und Eresken atmete auf. »Schlecht, Sire«, gestand er offen. »Ich habe Tag und Nacht mit der Suche verbracht und könnte ebenso gut im Nebel verirrt herumwandern. Ich hatte gehofft, der Stillstand des Äquinoktiums könnte mir helfen, aber bislang habe ich keinen Vorteil bemerkt.« Der weißhaarige Mann schnaubte und ging hinüber zu dem schmalen Fenster, dessen Eisenstäbe schwarze Schattenstreifen auf sein schlichtes braunes Gewand zeichneten. Das blasse Sonnenlicht zwängte sich an ihm vorbei und wurde von den kahlen weißen Wänden und den Dielenbrettern zurückgeworfen, die strohgelb geschrubbt waren. Ein paar helle Strahlen der Beleuchtung hier und dort waren die einzigen Farbflecken, die die Nüchternheit des kahlen Raumes durchbrachen. Er blickte in den Hof hinunter, der vier Stockwerke tiefer lag, wo schwarz livrierte Soldaten sich zielstrebig bewegten und Diener in grauen Umhängen ihnen eilig aus dem Weg gingen. »Vielleicht sollten wir ein Exempel an einem Übeltäter statuieren – einen Hahn töten, um den Rest der Schar einzuschüch150
tern.« Er warf einen scharfen Blick auf seinen Sohn. »Was hältst du davon?« »Ich glaube nicht, dass mangelnder Einsatz unserer Leute das Problem ist«, erwiderte Eresken vorsichtig. »Ich spüre ihre Kraft durchaus, und der Fokus der Steine ist so stark wie eh und je. Es ist eher so, dass Tren Ar’Dryen irgendwie geschützt ist, dass eine Barriere gegen uns errichtet wurde. Selbst mit der Klarheit der Tag-und-Nacht-Gleiche kann ich die Täuschung nicht durchdringen.« Ein Scheitern zuzugeben war riskant, doch ihm blieb keine andere Wahl. Falls jemand dieses unheilige Schild durchdringen konnte, bei dem er versagte, dann war es sein Vater. Dann würde er Eresken zeigen, wie man es machte. »Du hast Recht.« Sein Vater nickte. »Wie erklärst du dir das?« Eresken überlegte einen Augenblick. Er wusste, dass er einer Prüfung unterzogen wurde, achtete aber sorgsam darauf, nicht zu zeigen, dass er es wusste, denn das wurde mit einer Strafe oder, schlimmer noch, dem Ausschluss aus den Überlegungen und den Anweisungen seines Vaters belegt. »Bei der Wiederbelebung der Verborgenen von Kel ArAyen haben die falschen Magier von Hadrumal wahrscheinlich Könner der wahren Zauberkunst gefunden«, begann er vorsichtig. »Und falls Planir sie für seinen eigenen Pläne gewinnen konnte, benutzt er vielleicht ihre Fähigkeiten, um uns fern zu halten.« »Gut«, sagte sein Vater anerkennend. »Du hast schon wieder Recht.« Kühner geworden, legte Eresken sich im Stuhl zurück, die Hände entspannt auf dem mit Pergament übersäten Tisch. »Vielleicht Kramisak ...« »Kramisak interessiert uns nicht«, fauchte sein Vater. »Kel 151
ArAyen interessiert uns nicht. Wenn ich den Eindruck habe, dass du von den Pflichten abweichst, die dir zugewiesen wurden, werde ich dich züchtigen – schlimm züchtigen. Hast du verstanden?« Sein Zorn kam und ging mit der Gewalt eines Wintersturms, doch die kalte Drohung in seiner Stimme war eisig. »Gewiss, Sire.« Eresken verschränkte langsam die Hände, damit sie nicht mehr zitterten. »Meine Aufgabe besteht darin, einen Weg um diese Hindernisse zu finden. Ich werde mich noch eingehender damit befassen.« »Was hast du heute gemacht?« Der weißhaarige Mann kam vom Fenster und begann durch Ereskens Pergamente zu blättern. Stirnrunzelnd las er die Randbemerkungen und die sauberen Ergänzungen unter den Texten, die in verschiedenen Handschriften erstellt waren. »Ich habe nach Priestern gesucht.« Eresken sprach mit größerer Zuversicht. »Begründe deine Schlussfolgerung«, verlangte sein Vater knapp. »Das Äquinoktium kommt sowohl für die Länder des Westens als auch für uns, und einige ihrer Traditionen reichen bis zu den Tagen vor dem Exil zurück. Ich habe nach jenen Städten gesucht, die religiöse Versammlungen abhalten, um das Vierteljahr zu feiern.« Eresken blätterte in seinen Notizen bis zu einer wichtigen Stelle und hielt sie hoch. »Wir wissen, dass ihre Priester die letzten Überreste der wahren Zauberei in den Ländern des Westens halten. Deswegen haben wir sie ja umgebracht. Jetzt aber glaube ich, sie könnten uns lebend vielleicht mehr von Nutzen sein als tot. Ich hoffe einen zu finden, der noch eine Spur von Frömmigkeit für ihre Götter zeigt und sei152
nen Geist für mich öffnet. Es ist immer einfacher, mit einem Geist Verbindung aufzunehmen, der eine gewisse Übung hat, als mit einem widerstrebenden Verstand.« »Ein vernünftiges Argument«, stellte der alte Mann fest. »Welche Fortschritte hast du bislang gemacht?« »Im Augenblick ist es, als ob ich versuchte, eine einzelne Stimme in einem Gewitter zu hören.« Eresken konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. »Glücklicherweise wurden die stärksten Barrieren im Osten aufgestellt, also bin ich einer Kette von Erinnerung und Vorfreude gefolgt, die aus den unbewachten Gedanken von Kaufleuten und anderen stammen, die auf dem Weg nach Westen sind. In ihrer Stadt, Selerima, herrscht große Furcht, und es muss dort bestimmt einen Schrein geben, wo die Frommen sich versammeln, und sei es nur, um Göttern oder Göttinnen die Ehre zu erweisen.« Sein Vater studierte eine Karte. »Bei einer so großen Entfernung kannst du nicht darauf hoffen, einen Geist zu beeinflussen, der nicht aktiv mit dir zusammenarbeitet.« »Ich werde mein Äußerstes tun«, erklärte Eresken beherzt. »Mit der Stärke, die den Steinen innewohnt, halte ich es für möglich.« Der weißhaarige Mann warf das Pergament auf den Schreibtisch. »Du solltest nach Zauberern suchen, die ihre faulen Tricks ausüben. Wir wissen, dass sie dabei für uns so verwundbar sind wie neugeborene Kinder.« Der alte Mann muss müde sein, dachte Eresken bei sich. Die Falle war zu offensichtlich, um hineinzutappen. »Keiner weiß das besser als Planir. Die Magier sind von allen am besten abgeschirmt. Ich versuche nicht einmal, sie anzurühren, bis sie nicht wegen mangelnder Bedrohung unaufmerksam werden 153
und ihre Wachsamkeit nachlässt. Selbst dann wäre es – obwohl das Töten der Magier befriedigend ist – kurzsichtig und würde den Erzmagier nur in Wut versetzen. Ich suche nach einem Mittel, auf breiterer Front anzugreifen.« Der alte Mann verzog die Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns. »Und was ist mit denen, deren Geist du bereits berührt hast? Die rothaarige Hexe, der Schwertkämpfer? Hast du sie gesucht?« »Das habe ich, aber nur oberflächlich«, sagte Eresken langsam. »Alles andere birgt das Risiko, sie auf unser Interesse an ihrem Untergang aufmerksam zu machen.« »Du hast Angst, das ist deutlich zu merken«, sagte sein Vater leise. Er beugte sich vor, die Hände auf den Tisch gestützt, und blickte tief in Ereskens grasgrüne Augen. Leugnen war zwecklos, und Eresken leerte hastig seinen Geist von jedem Gedanken, den er für sich behalten wollte, als die undurchsichtigen braunen Augen seines Vaters die seinen unausweichlich in Bann hielten. Eresken zwang sich dazu, sich auf das Gesicht des Vaters zu konzentrieren und ungebetene Gefühle oder Ansichten, die sich aufdrängten, fernzuhalten. Das Gesicht seines Vaters war straff und hager, mit einem Schopf schneeweißen Haares. Zarte Falten zeigten, dass Wind und Zeit ihre Spuren hinterlassen hatten, und die wenigen Narben waren stumme Zeugnisse für Lektionen, die er aus seinen seltenen Fehlern gelernt hatte. Eresken zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen, und öffnete seinen Geist. So war es leichter und weniger schmerzhaft. Der alte Mann lachte, jedoch nicht unfreundlich. »Sie haben dich gedemütigt, nicht wahr? Schlugen sie dich besinnungslos 154
und schleppten dich davon wie einen Seehund nach der Jagd? Du willst nicht riskieren, dass das noch einmal passiert. Nun, das kann ich verstehen. Du bist nicht allein, Junge. Die Schlampe hat standgehalten mit nicht mehr als angeborenem Trotz und einer Flut von Knittelversen.« Eresken schnappte nach Luft. »Ich hatte keine Ahnung ...« »Ich auch nicht.« Das Lachen des alten Mannes hallte unerwartet von den weiß verputzten Wänden des Zimmers wider, das nur mit dem einen Tisch und Stuhl möbliert war. »Das ist auch so eine Ironie unserer gegenwärtigen Lage, dass irgendeine unwissende Dirne ein paar Liedfetzen und Geschwätz von sich geben kann, um unsere erprobten Zaubergesänge gründlich zu stören! Auf die Herausforderung eines Gleichgestellten ist man vorbereitet, aber nicht auf die eines unehelichen Langfingers!« »Keiner von ihnen war ein würdiger Gegner«, fauchte Eresken mit wachsendem Zorn. »Sie hatten nichts als rohe Kraft und Wildheit. Sie waren zu dumm, ihr Schicksal zu erkennen und sich ihm zu ergeben!« »Lass dich nicht von deiner Enttäuschung hinreißen«, warnte sein Vater. »Gefühle werden dich beschränken, deine Wirksamkeit begrenzen. Doch auf der anderen Seite«, er wandte sich abrupt ab, »musst du diesen Zorn, diese Wut fühlen, diesen Funken, um hinter die Grenzen dieser Inseln zu schauen, während so viele andere zufrieden damit sind, nicht weiter als bis zum Horizont zu blicken. Diese Vision zeichnet dich als meinen Sohn aus und macht dich meiner Zeit und Mühen würdig. Du musst lernen, solche Widersprüche zu erkennen und zu meistern.« »Aber warum ...«, entfuhr es Eresken, ehe er es verhindern 155
konnte. »Ein Kind, das nach dem Warum fragt, zeigt eine Begabung zum Lernen. Ein Mann, der dasselbe tut, verwechselt Vertrauen, das man in ihn setzt, mit der Erlaubnis zum Widerspruch.« »Ich wollte nicht respektlos sein«, beharrte Eresken. Niemals – nicht so lange er als Lohn die Gunst seines Vaters ernten konnte. Die Wahrheit seiner Worte und seiner Gedanken hing in der gespannten Stille. »Du solltest dir solche Fragen selbst beantworten können, wie ich es getan habe. All diese Dinge sind Prüfungen, die uns gestellt werden, um uns würdig zu erweisen, unsere verlorenen Länder zurückzufordern und noch mehr. Wenn wir die eine Herausforderung meistern, tut sich eine andere auf – Paradoxe, die keinen Sinn machen und unsere Entschlossenheit auf die Probe stellen. Ich bin der reichste Mann auf diesen Inseln. Meine Einkünfte liegen um das Fünffache höher als die jedes anderen, und doch bin ich arm gegenüber dem gemeinsten niederen Adeligen der Tormalin.« Er ging auf und ab, sprach ebenso zu sich selbst wie zu’ seinem Sohn. »Mit Opfer und Disziplin führen wir unsere Zaubergesänge zu einer Höhe, die eine sichere Überquerung der Meeresströmungen erlaubt. Wir stellen fest, dass Tren Ar’Dryen ein Land ist, überschwemmt von jenen, die schwach an Geist und Körper sind, moralisch korrupt und gänzlich verachtenswert. Aber die Stärke dieses Abschaums liegt in seiner Zahl, der wir nichts entgegensetzen können, wir, die wir die Feuerprobe auf diesen Inseln überstanden haben, gehärtet in der rauen Kälte. Wie können wir stärker und gleichzeitig schwächer sein? Wir stellen fest, dass diese Menschen fast alles an wahrer Magie verloren haben und deshalb offen für unseren Angriff sein sollten, doch dieser Mangel bedeutet, 156
dass falsche Magier aufgeblüht sind – Magier, die mit dem Sichtbaren und Fühlbaren herumpfuschen und eine Überheblichkeit an den Tag legen, die sie ermutigt, uns herauszufordern. Wie kann das sein?« Eresken war nicht so dumm, darauf zu antworten. Seine Rolle als passiver Zuhörer, während sein Vater eine Rede probte, war selbstverständlich. Diese Worte würden benutzt, um die Gedanken des niederen Volkes näher zu ihrem Bündnis zu lenken, ihre Treue durch das Prisma der Steine konzentriert, sodass die Macht der Männer, die sie beherrschten, noch strahlender leuchten konnte. »Also richten wir unsere Aufmerksamkeit nach Süden, nach Kel ArAyen – das Land, das die Vorväter unserer Vorväter beinahe besaßen und sich doch entgleiten ließen. Aber irgendwie stört unser Interesse die Schurken von Hadrumal auf, und es gelingt ihnen, uns diesen Preis aus den Händen zu reißen.« Der weißhaarige Mann hielt inne und kniff die Augen zusammen. »Jedenfalls für den Augenblick. Und jetzt müssen wir Paradox mit Paradox beantworten. Wir kämpfen, indem wir nicht kämpfen, wir eilen mit schmerzlicher Langsamkeit auf unsere Ziele zu. Wir haben die Zauber, uns über das offene Meer zu bringen, und doch lassen wir unsere Schiffe sicher im Hafen. Wir warten ab. Deshalb wird unser Sieg nur umso schneller kommen und umso vollständiger sein.« Die Tür schlug hinter ihm zu, als er hinausging, ohne sich noch einmal umzusehen. Eresken blieb noch einen Augenblick sitzen und betrachtete das Durcheinander von Pergamenten auf seinem Schreibpult. Er ordnete sie und stapelte sie wieder zu den ursprünglichen Haufen, jeder an den Tischkanten ausgerichtet und mit genau gleichem Abstand zum nächsten. Das 157
Knurren seines hungrigen Magens übertönte das leise Rascheln der Dokumente, doch Eresken achtete nicht darauf. Ein flüchtiger Wunsch nach Wasser, um den schalen Geschmack im Mund fortzuspülen, lenkte ihn einen für Augenblick ab, doch er schob diesen Gedanken hastig beiseite. Es war schon viele Jahreszeiten her, seit er den Beweis dafür gefunden hatte, dass sein Vater ihn von weitem beobachtete, aber die Strafe für Faulheit wollte er nicht noch einmal erleben. Doch so viel Mühe Eresken sich auch gab, abgeschieden in diesem hoch gelegenen, kahlen Zimmer, in dem nichts das Auge oder den Geist ablenken konnte – sein Vater arbeitete dreimal so hart wie er, dreimal so lang, und Eresken wusste es. Sein Vater verlangte nichts von ihm, das er nicht doppelt und dreifach sich selbst abverlangte. Sein Vater war ein großer Mann. Alle im Bergfried wussten das, bis hinunter zum niedersten Küchenjungen. Die grimmigen Männer auf den Wehrgängen, die den Hafen sicherten, wussten von dem Einsatz ihres Herrn für ihr Wohlergehen. Die, die dem widerstrebenden Land Nahrung und andere Dinge abrangen und sich in ihren kärglichen Dörfern unter den Wachtürmen zusammenkauerten, wussten, dass sie ihm bis zum letzten Atemzug Treue schuldeten, dass er ihr erbärmliches Leben verteidigte. Und hinter den öden grauen Bergrücken aus Fels und Eis, an den kalten Meeresufern, jenseits der Buchten und Grenzhügel aus Stein wussten es auch jene, die neidisch seinen Erfolg beobachteten und versuchte, ihn zu überlisten. Ereskens Pflicht und Vorrecht lag darin, seinen Vater zu unterstützen und ihm zu helfen. Dieses Wissen tröstete ihn. Seine Lippen bewegten sich in lautlosem Gesang, und Entschlossenheit glättete sein Gesicht zu einer mitleidlosen Maske. Er 158
schleuderte seinen Geist in den Mahlstrom und beugte die äußere Welt gewaltsam seinem Willen, wobei sein Blut sich bis an den Rand der Ekstase erhitzte. Er packte das Herz des Strudels, verstärkte die Stille im Zentrum des Zornes, schwelgte in dem erhabenen Bewusstsein, das ihn von der Tyrannei des Sichtbaren und Fühlbaren befreite. Von diesem transzendenten Zustand aus war es eine vergleichsweise leichte Aufgabe, sich dem entsetzlichen Angriff zu stellen, der den klaren Geist lähmte und die innersten Geheimnisse des Unbewussten bloßlegte. Der nächste Schritt war die größte Herausforderung, die Disziplin, die nur die besten Könner meisterten. Eresken zögerte nicht. Er schmolz Eis zu einem spinnwebfeinen Nebel. Kein Geist würde vor dieser Berührung zurückschrecken, und nur wenige würden sie überhaupt bemerken; diejenigen, die es fühlten, würden in der tröstlichen Befreiung von ihren Sorgen und Kümmernissen reiche Entschädigung für das Wissen erhalten, das sie ahnungslos geteilt hatten. Eresken griff nach seinen Pergamenten. Seine grünen Augen blickten in die Ferne, ohne zu blinzeln. Er schenkte der Karte unter seinen Händen kaum einen Blick. Seine Fingerspitzen glitten leicht über die Straße, die nach Westen führte, und sein geistiges Auge sah Dinge, die dem gemeinen Volk seiner Heimat unbekannt waren. Er lauschte dem Summen der Gedanken, suchte hier und da. Er brauchte Geduld, und wenn er mit dieser Aufgabe Tage in diesem Zimmer verbringen müsste, Jahreszeiten, ja, sogar den Lauf eines Sonnenjahres – er würde in den Menschen von Tren Ar’Dryen Fuß fassen. War ihm das erst gelungen, würde er einen Brückenkopf schlagen. Und dann würde die Invasion beginnen.
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3.
Da das Spiel Weißer Rabe immer beliebter wird, habe ich dieses vergnügliche Lied des Waldvolkes in die Sammlung aufgenommen: Der Rabe hörte den wispernden Wind betörende Worte, den Toren zu ködern, suche die Weisheit, so flüsterte er denn nur der Weiseste wird herrschen. Der Rabe flog tief in den Wald und suchte bei den lachenden Bäumen, Sie bargen ihr Wissen unter den Blättern wo niemand sucht, und niemand sieht Der Rabe flog bis zu den Gipfeln, und grub tief im eisigen Schnee Doch unerreichbar lag die Weisheit begraben unter seinen Krallen. Der Rabe flog zurück auf die Ebene, krächzend vor Verzweiflung. Die Gräser rieten ihm: Weine nicht, riskiere den Regenbogen, wenn du es wagst! Der Rabe flog ins Unwetter, bis die Sonne den Regen zerteilte 160
Er gelangte in die Anderwelt, stahl die Weisheit und flog zurück. Doch seine Farben, wo waren sie hin? Einst waren die Schwingen schwarz wie die Nacht, doch als der Regenbogen seinen Lohn verlangt, Ward schlohweiß der Rabe. Und zu jedem Vogel sagte der Rabe: Ich bin der Klügste, verneig dich vor mir. Die Vögel riefen: Wir kennen dich nicht!, und hackten mit den Schnäbeln auf ihn ein. Und der Rabe litt Schmerzen und weinte einsame Tränen, bis er endlich Ruhe fand im Schutz des Jahresbaums. Jetzt sitzt der Rabe stumm und wartet bis einst man seinen Rat sucht. Dass weise Vögel sich Achtung verdienen müssen lehrte seine Weisheit ihn zuletzt.
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Medeshale, West-Ensaimin 12. Nachfrühling
»Ich bin damit einverstanden, so weit die Kutschen fahren, aber sagt mir bitte, dass wir nicht den ganzen Weg durch knöcheltiefen Dreck nach Solura laufen müssen!« Usara blieb stehen, um einen Klumpen Schmutz von seinem Stiefel zu kratzen. Es war noch früh am Morgen und recht kühl, sodass der Geruch des Unrats noch halbwegs erträglich war. »Nein, keine Sorge. Das gilt nur für die Sommermast in dieser Gegend.« Ich war froh, wieder auf meinen eigenen zwei Beinen zu sein. Usara konnte schimpfen, so viel er wollte. Ich hatte genug davon, im stickigen Innern einer der ausrangierten herrschaftlichen Kutschen über die Hochstraße zu holpern, die jetzt regelmäßig zwischen den kleinen Städten West-Ensaimins verkehrten. »Ein paar Leute werden ihr Vieh am Rand des Wildwaldes grasen lassen.« Sorgrad hatte am Vorabend einen dunkelgrauen Esel gekauft. Er schnallte mit zufriedener Miene meine kräftige Ledertasche an sein Geschirr. »Wir sollten zusehen, dass wir den Viehherden voraus sind.« Ich betrachtete das Jungvieh, das auf einer umzäunten Koppel stand, nach Wasser muhte und sich gegenseitig anrempelte, um an altes Heu und ein paar wurmstichige Rüben zu gelangen. Freiwillig würde ich im Herbst nicht über diese Straße reisen, nicht mit diesen Herden, die sich ein halbes Jahr lang voll gefressen hatten und die Straße in knietiefen Morast verwandelten, wenn sie auf dem Rückweg nach Selerima waren, um ver162
kauft und geschlachtet zu werden. »Wo ist ‘Gren?« Sorgrad zuckte die Achseln, während er Usaras Reisetasche zwischen zweien seiner eigenen festzurrte. Der Esel scharrte mit seinen hübschen schwarzen Hufen auf der festgestampften Erde. Von den zahllosen weißen und rotbraunen Rindern war das Gras längst völlig zertrampelt. »Da ist er.« Usara deutete auf ‘Gren, der aus dem Ziegelbau des Gasthauses kam und ausgesprochen übellaunig aussah. Er hatte seine Tasche unter dem einen Arm und Sorgrads unter dem anderen geklemmt. »Was habt ihr gestern Abend erreicht?«, fragte ich. »Viehzüchter sollten eigentlich immer gut für ein Spiel Runen sein«, brummte ‘Gren und reichte Sorgrad das Gepäck, was ihm einen vorwurfsvollen Blick des Esels einbrachte. »Aber nur, wenn sie ihr Vieh verkauft haben und ihnen das viele Geld Löcher in die Taschen reißt«, erinnerte Sorgrad ihn. »Der Reichtum dieser Kerle läuft noch auf den Hufen.« »Ihr hättet versuchen sollen, für euer Abendessen zu singen.« Frue erschien wie aus dem Nichts, Zenela am Arm. »Wir haben reichlich eingenommen.« Er klopfte auf den dicken Beutel an seinem Gürtel. »Könntest du heute Abend Unterstützung gebrauchen?«, fragte ‘Gren hoffnungsvoll. »Man weiß nie.« Frue grinste. Ich bemerkte, dass Zenela ganz und gar nicht erfreut aussah. Vielleicht war sie nur müde; sie musste schon vor dem Morgengrauen und den Küchenmädchen auf gewesen sein, um ihre Brennscheren anzuheizen, damit sie eine solch komplizierte Frisur mit so vielen Bändern zu Stande bringen konnte. Staubbedeckte Viehhirten waren mit ihren Tieren beschäftigt, 163
setzten sie mit einem Schlag aufs Hinterteil oder einem Schubs gegen die Schulter in Bewegung, suchten nach Verletzungen, trüben Augen oder trockenen Mäulern. Stimmen erhoben sich über das Gemuhe und vermischten sich mit dem anschwellenden Lärm der Kleinstadt, die ihren morgendlichen Geschäften nachging. Medeshale war ein Ort mit gepflegten Häusern aus fröhlich roten Ziegeln unter soliden Schieferdächern. Der Duft nach frisch gebackenem Brot wehte vom Schornstein eines Backhauses herüber, der hoch über die Dächer ragte. Kinder hüpften mit dem Morgenbrot nach Hause, vorbei an Frauen, die Fensterläden öffneten und die Treppenstufen zum Haus kehrten. Eine Gruppe von Männern kam auf den Weg zu den Lehmgruben an uns vorbei, und ich hörte einen gepfiffenen Melodiefetzen. Es war der Refrain von Frues Lied über die Elietimm. Ich lächelte in mich hinein. Es war ein überwältigender Erfolg gewesen am vergangenen Abend in dem Lokal, und – besser noch – Zenela hatte ausgeplaudert, dass ein Drucker dem Sänger eine anständige Summe für das Recht bezahlt hatte, für einen halben Pfennig Blätter mit dem Text zu drucken und diese dann in den Kneipen von Selerima zu verkaufen. Ich gönnte Frue das Geld von Herzen, solange sich die Kunde von der Gefahr der Elietimm verbreitete. »Zeitverschwendung.« Frue sah belustigt zu, wie Sorgrad die letzte Tasche auf den Esel lud. Das Tier legte die großen pelzigen Ohren zurück und versetzte eine vorüberfahrende Ponykutsche durch empörtes Geschrei in Schrecken. Frue schlang sich einen Lederriemen über die Schulter, der um eine fest gerollte Decke geschlungen war, die seine Habseligkeiten enthielt. Zenela trug ein Kleid, das eher geeignet war, in einem Garten frische Luft zu schnappen als einen Tag lang zu Fuß zu mar164
schieren, aber wenigstens sahen ihre Stiefel vernünftig aus. Ich wippte auf den Fersen, und das glänzende Leder meiner neuen Fußbekleidung knarrte: Das Geld war gut angelegt, denn jetzt war nicht die Zeit, sich mit Blasen an den Füßen herumzuplagen. Zenela wollte offenbar auch ihren voll gestopften Rucksack auf den armen Esel laden, doch Sorgrad stellte sich stur, was nicht weiter erstaunlich war, wenn man bedachte, wie herablassend sie gegenüber den Brüdern gewesen war. Sie würde Sorgrad schon fragen müssen. Rufe verkündeten, dass eine Herde bereit zum Abmarsch war. »Kommt«, sagte ich. »Ich habe keine Lust, mir einen Weg durch Kuhfladen zu bahnen.« Frue ging voraus, Zenela immer noch an seinem Arm. ‘Gren und ich folgten; dann kamen Sorgrad und Usara mit dem Esel. »Du hast wohl keine Lust, deine Chancen bei ihr zu testen?«, fragte ich mit einem Kopfnicken auf Zenelas gekräuselten Schopf. »Nach diesem Lied von ihr?« ‘Gren verzog die Lippen. »Wenn sie liebeskranke Verehrer will, die sie aus der Ferne bewundern, ist das ihr Bier, aber nichts für mich.« Ich lachte in mich hinein. Auch meine Mutter hatte mich das Rühr-mich-nicht-an-Lied gelehrt, so wie jede andere gute Frau, die ihre Tochter unbedingt davon überzeugen wollte, ihre Jungfernschaft für einen würdigen Verehrer aufzubewahren, doch Zenela war die Erste, die ich das Lied singen hörte und so offenkundig sich selbst meinte. Sie betrachtete sich also als Blüte, die ihren Duft nur so lange verströmte, wie sie ungepflückt blieb? Ich selbst betrachtete mich anders; ich war ein Mädchen, das nie einsehen wollte, warum es die Jungs auf Armeslänge fern halten sollte, wo sie doch von nahem viel interessanter 165
waren. »Wo kommt Zenela eigentlich her?« »Ihr Vater hat ein Gasthaus in Kadras«, erzählte ich. »Frue sagt, er besucht es schon seit Jahren. Ihr Vater weiß, dass ihre Stimme ihre einzige Hoffnung auf Reichtum ist, also bat er Frue, sie mit nach Selerima zu nehmen, in der Hoffnung, dass ein wohlhabender oder einflussreicher Mann sie hört.« »Sie wird kaum einen wohlhabenden Gönner finden, wenn sie im Wildwald herumträllert«, sagte ‘Gren. »Das geht uns nichts an«, erwiderte ich achselzuckend. Auf unserem Weg die Hochstraße entlang kamen wir an Bauersfrauen und ihren Mägden vorbei, die auf dem Weg zum Korbmarkt auf Medeshales gepflastertem Platz waren. Einige trugen voll beladene Körbe, andere hatten ein breites Joch über ihre Schultern gelegt, an dem Eimer schwangen, in denen zugedeckte Töpfe standen. Frue blieb stehen, um einen Laib Käse zu erstehen, frisch im Tuch. Ich tat es ihm nach, während ‘Gren mit einem hübschen Mädchen schäkerte, deren Wangen so rund und sommersprossig waren wie die Eier, die sie behutsam in einem Korb trug. »Ich danke dir.« Die Hausfrau nickte zum Abschied, einen guten Anfang in der Tasche, was die Tageseinnahmen betraf. »Komm, Tila.« ‘Gren machte eine Verbeugung vor Tila und warf ihr einen Handkuss zu, der ihm ein Kichern eintrug. Ich sah Zenelas Verblüffung. Wieso brachte keiner der Männer ihr die Verehrung entgegen, die sie gewohnt war? Ich ging zu Frue. »Der Schlangenpfühl war ein schönes Gasthaus, eine gute Empfehlung. Kommst du oft durch Medeshale?« »Von Zeit zu Zeit. Vor ein paar Jahren war es bloß ein Weiler 166
am Rand des Wildwaldes. Die Viehmärkte fanden weiter die Straße hinunter in Tiefenbrunn statt.« Er deutete auf Frühlingsblumen, die das Gras sprenkelten, vorwiegend in Gelb, hier und da in sanftem Blau oder leuchtendem Rosa. Die Luft war angenehm, doch die emporsteigende Sonne trocknete den Tau und wärmte die Blumen, sodass ihr Duft sich verbreitete. Vereinzelte Gebüsche standen im weiten Weideland; Vögel huschten umher, ihr Getriller erfüllte die Luft. »Als ich noch ein Junge war, gab es hier nur Haselnusssträucher. Die Nussernte war ein Erlebnis.« Er warf mir einen schrägen Blick zu. »Viele Mägde gingen mit einer vollen Schürze nach Hause.« Zenela eilte herbei, um ihren Anspruch auf Frues Arm wieder geltend zu machen. »Ist es denn auch sicher, wenn wir ganz allein auf der Straße sind?« »Ich beschütze dich schon, meine Süße.« Ich hörte einen Anflug von Spott in seiner Stimme. Ich hatte nicht den Eindruck, dass wir uns ernsthaft Sorgen machen mussten, denn jede Deckung für MöchtegernWegelagerer war auf Pfluglänge zu beiden Seiten der Straße weggehackt worden. »In dieser Gegend Ensaiminns gib es nicht diese herrenlosen und landlosen Schurken, die Dalasor oder Gidesta so gefährlich machen«, sagte ich. »Die Waldleute kümmern sich schon um Banditen, die den Wildwald als Deckung benutzen, um die Straße zu überfallen«, setzte Frue hinzu. »Und wir haben gemeinsames Blut. Waldleute, die mit den Viehzüchtern etwas abzurechnen haben, werden uns keinen Ärger machen. Viehzüchter schätzen keine Staatsdiener auf dieser Seite des Wildwaldes, und die Soluraner kümmert nur, dass die Straße offen bleibt. Burg Pastamar schickt einmal pro Jahreszeit Männer aus, die das Gestrüpp 167
zurückschneiden und die schlimmsten Löcher flicken.« Ich blickte nach vorn, wo die Straße sich langsam auf die dichte grüne Linie zuwand, die den Horizont der leicht gewellten Ebene bildete. Nach einem ereignislosen, durchwanderten Vormittag, an dem wir gelegentlichen Bauernkarren zuwinkten oder beiseite traten, um eine eilige Kutsche vorbeirumpeln zu lassen, erkannte ich allmählich, dass der Große Wald seinen Namen wahrhaftig verdient hatte. Ich bin schon oft in der Wildnis gewesen; dort gab es Wasserläufe, Hügel und Flüsse, und wenn dich Bäume umgeben, weißt du, dass sie irgendwann zurückweichen. Dieser Wald jedoch schien aus einem undurchdringlichen Kleid aus Blättern zu bestehen. Voraus versperrte er die Sicht und bildete ein ernst zu nehmendes Hindernis. Nach Süden zog sich schier endlos das Grün und verblasste verschwommen in der Ferne, was unzählige grüne Meilen dahinter versprach. Nach Westen verlief der Wald bis zu den Bergen in der Ferne, deren Gipfel noch immer schneebedeckt waren. Ich beschattete die Hand mit den Augen und sah, wie das hellere Grün breitblättriger Bäume sich zu den düsteren Schatten von Tannen und Kiefern hin verdunkelte; dahinter bildeten breite Streifen von grauem Fels und Eis einen starken Kontrast. »Das sind die Berge.« Sorgrad stand mit ernstem Gesicht neben mir. »Sie sind sehr groß.« Etwas anderes fiel mir nicht ein. »Wie weit ziehen sie sich?« »Den ganzen Weg vom östlichen Ozean bis zur Wildnis westlich von Solura.« Sorgrad lächelte, doch sein Blick war nicht zu deuten. »Und das hier sind bloß die Vorberge. Ein paar hundert Meilen weiter nördlich kommen erst die hohen Gipfel.« »Die hier sehen für mich schon hoch und kalt genug aus.« 168
Ich schauderte. »Du hast Recht. Da oben ist immer noch Winter.« »Maewelin schuf das Land, und Misaen schuf uns passend dazu, heißt es«, murmelte Sorgrad nachdenklich. »Die ganze Welt besteht aus denselben Elementen: Luft, Erde, Feuer und Wasser«, sagte Usara so plötzlich, dass ich zusammenfuhr. »Es ist ihre Anordnung, die den Unterschied macht.« Ich vermute, er wollte uns beruhigen. Leider klang es einfach nur herablassend, und Sorgrad blickte finster ob dieser unerwarteten Beleidigung. »Machen wir Pause zum Mittagessen?«, fragte ‘Gren. Wir aßen und betrachteten dabei die winzigen Bäume, die das Grasland in Schach hielten. Dann folgten wir den ganzen Nachmittag hindurch der gewundenen Straße, dem einzigen Weg, der durch die Geheimnisse des Wildwaldes führte. Ich untersagte mir allzu viel Fantasie. Mein Waldblut war ein Zufall der Geburt. Ich kannte den Namen meines Vaters und wusste, dass er ein Sänger war, und hätte Drianon aufgepasst, hätte die Göttin nie zugelassen, dass Halcarions Laune ein solch unpassendes Paar zusammenführte. Ich hatte die Sorgen über meine Geburt oder meine Herkunft in Vanam hinter mich gelassen. Ein kalter Wind blies gegen Abend von den Bergen herab, als wir in den eigentlichen Wald kamen. Zarte Blätter verrieten Maewelins schwarze Berührung, und die Schatten unter den Bäumen waren noch immer feucht und kalt in der Erinnerung an den langsamen Gang der alten Frau Winter. »Ob es heute Nacht friert?«, fragte ich Sorgrad, der den ganzen Tag ungewöhnlich schweigsam gewesen war. Er hatte immer schon das beste Gespür fürs Wetter gehabt. Er blickte zum Himmel empor. »Wahrscheinlich nicht, aber 169
es wird trotzdem sehr kalt. Glaubst du, Madam ist daran gewöhnt, außerhalb eines Gasthauses zu schlafen?« Er trieb seinen Esel mit Schmeicheleien über eine unebene Strecke, wo der Frost die Oberfläche aufgebrochen hatte, sodass Wagenräder und Hufe hängen blieben. »Die Soluraner sollten vor Mittsommer eine Wagenladung Kies schicken, wenn sie ihre Wolle nach Osten bringen wollen«, bemerkte er. Jeder von uns war wegen der klebrigen Klumpen, die an unseren Schuhen hafteten und mit jedem Schritt an unseren Kräften zehrten, buchstäblich einige Fingerbreit größer. Obwohl die Bäume am Straßenrand gefällt waren, um Wind und Sonne auf die Fahrbahn zu lassen, war der Boden noch immer durchnässt von den Winterregen. Wir mussten an schweren Fahrzeugen vorbei, an deren Rädern dick der Schlamm klebte. Doch zu unserer Erleichterung blieb keiner stecken. Die Wanderer waren auf die gerodeten Flächen beiderseits der Straße ausgewichen in der Hoffnung, dort einen trockenen Weg zu finden, und trampelten dabei zahllose neue Pfade. Zenela und der Esel bahnten sich zimperlich ihren Weg durch den Morast; beide trugen den selben Ausdruck des Abscheus zur Schau. Als wir zur ersten Brücke gelangten, blickte ich ebenso finster drein wie sie. Um genau zu sein, erreichten wir die Hütte des Brückenwärters und den kleinen Trimon-Schrein daneben, an dem eine zerfetzte Flagge mit dem Wasserrad von Tiefenbrunn über einem hölzernen Schild mit einem Keilerkopf flatterte. Der Fluss wirbelte dunkel und trübe um Holztrümmer und verbogene Eisenstangen und verkeilte eine vom Sturm gefällte Pappel an den Steinsäulen, die trotzig standhielten. Der Baum musste die Brücke mit der Gewalt eines Vorschlaghammers gerammt und 170
ebensolchen Schaden angerichtet haben. Der Brückenwärter saß vor seiner Hütte mit den dicken Mauern, die sich unter dem bemoosten Strohdach duckte, während eine Gruppe Soluraner hilflos in das aufgewühlte Wasser blickte oder auf ihren unglücklichen Führer schimpfte. Mit zornigen Gesten wandte der sich an den Brückenwärter, der energisch antwortete: »Dann sagt es Lord Pastiss. Fragt ihn doch selbst, wofür er all die Zölle ausgegeben hat, die er so eifrig erhebt! Hätte er Ende des letzten Jahres Holz und Nägel und seinen Vogt geschickt, könntet ihr trockenen Fußes hinüber!« Der Brückenwärter war klein und mit rötlichem Haar. Er griff jetzt nach einem handlichen Stecken, der unter seiner Bank lag. Der Soluraner zog sich klugerweise zurück. »Wir sollten nicht versuchen, die Furt zu durchqueren. Erst muss der Wasserspiegel sinken«, erklärte Sorgrad. Usara gesellte sich zu uns und blickte skeptisch zum Himmel. »Ich glaube nicht, dass es heute Abend noch regnet.« »Ich wünschte, wir hätten Pferde.« Ich seufzte. Sorgrad schüttelte den Kopf. »Ich würde kein Pferd dieser Gefahr aussetzen.« »Morgen früh schätze ich die Kraft des Wassers ab«, schlug Usara vor. »Wenn es trocken bleibt, müssten wir ohne Probleme hinüberkommen.« »Das bezweifle ich sehr. Zu dieser Jahreszeit ist nicht der Regen am schlimmsten, sondern die Schneeschmelze«, erklärte Sorgrad dem Zauberer. Usara schaute ihn an und blickte dann auf den dunklen, mit Blättern übersäten Boden. »Aber hier ist jeder Schnee längst geschmolzen!« »Und was ist mit dem Schnee in den Bergen?«, fragte Sorg171
rad mühsam beherrscht. Was immer ihm am Tag die Laune verdorben hatte, jetzt hatte er eine Zielscheibe für seinen Zorn gefunden. »Die Wärme ist genau richtig für Tauwetter.« »Bei diesem Wetter taut es nur langsam.« Usara schüttelte den Kopf. »Ich kann es in der Luft fühlen.« »Ich habe in diesen Bergen gelebt, und ich habe gesehen, wie ein ganzes Schneefeld über Nacht verschwand!«, gab Sorgrad zurück. »Lasst uns ein trockenes Fleckchen für ein Feuer suchen, ehe noch mehr Leute komme«, sagte ich, ehe ein Streit entbrennen konnte. »Wir werden nicht die Einzigen sein, die über Nacht hier festsitzen.« »Wir sollten uns ein Stück vom Wasser entfernt halten«, beharrte Sorgrad. »Hier lang.« Er zerrte seinen Esel zu einem ungeschützten Hügel. »Aber der Himmel ist klar, und wird hatten mehrere aufeinander folgende Tage schönes Wetter. Ich halte ein Unwetter wirklich für sehr unwahrscheinlich«, protestierte Usara und sammelte totes Holz im Windschatten der kleinen Erhebung. »Hier unten sind wir vor dem Wind geschützt.« »Was bedeutet, dass es genau dort frieren wird«, erwiderte Sorgrad. »Was bedeutet, dass wir ein Feuer in Gang halten können, ohne dass der Wind es so anfacht, dass wir die halbe Nacht damit verbringen müssen, Feuerholz zu sammeln.« Usara richtete sich auf. Seine lobenswerte Entschlossenheit, sich mit jedermann gut zu stellen, ging eindeutig nicht so weit, als dass er Widerspruch in Sachen Elemente hinnahm. Sorgrad schaute ihn verächtlich an und trieb den Pflock für seinen Esel in die steinige Erde des Hügels. Ich sah mich nach 172
einem Fleckchen zwischen den beiden um, das möglichst wenig Furchen und Steine aufwies, die mich im Schlaf drangsalierten. Ich wollte es mir mit keinem von beiden verderben. Hoffentlich würde eine erholsame Nacht beide wieder in bessere Laune versetzen. Als die Sonne schließlich hinter den Bergen im Norden versank, brannte eine Reihe von kleinen Feuern hell in der Dämmerung zwischen uns und dem Flussufer. Grüppchen von missmutigen Reisenden kauerten in Umhänge und Decken gewickelt im Schutz ihrer Fahrzeuge um die Wärme ihrer Feuer. Unseres spie Funken, und das feuchte Holz knisterte in der wütenden, ungleichmäßigen Hitze. Ich sprang auf, als ein plötzlicher Windstoß heiße Asche umherstieben ließ. »Ich kann nicht verstehen, was dieses Feuer so sprunghaft macht.« Usara stocherte ungeduldig mit einem Stock in der Glut, als ob er sich persönlich beleidigt fühlte. »Lass es«, knurrte Sorgrad und blickte finster in die Flammen. »Du machst es nur schlimmer.« ‘Gren reichte mir einen halben, verkohlten Waldvogel. »Hier. Der war noch jung genug, um auch ohne Abhängen zart zu sein.« »Und hat seine Chance vertan, alt genug zu werden, um Vorsicht zu lernen.« Ich lächelte ‘Gren an, während ich in die knusprige Haut biss und zu den anderen Reisenden hinüberschaute, die es hierher verschlagen hatte. Mehrere Familien waren auf ihrer nur alle paar Jahre stattfindenden Reise nach Selerima. Hausierer reisten zu zweit oder zu dritt zu den verstreuten Dörfern von Pastamar, um dort den Tand weiterzuverkaufen, den sie auf dem Markt erstanden hatten. Ein paar Kaufleute bewachten hoch beladene Karren, über die Leinenplanen 173
geschnürt waren. Niemand sah aus, als wäre er an einem Spiel Runen interessiert. »Meinst du, wir könnten morgen hinüber?«, fragte ich niemanden im Besonderen. »Ziemlich sicher«, antwortete Usara zuversichtlich. »Höchst unwahrscheinlich«, erklärte Sorgrad im selben Atemzug. Ich tauschte einen resignierten Blick mit ‘Gren. »Das Wasser ist doch ein Element, Usara«, sagte er. »Kannst du nicht einen Pfad hindurch schaffen oder so etwas?« »Tut mir Leid«, seufzte Usara. »Wäre ich ein Stein-Meister, dann vielleicht, aber ...« »Du bist Magier?«, unterbrach ihn Zenela mit weit aufgerissenen Augen. Wenigstens übertönte sie Sorgrads verächtliches Gemurmel. »Allerdings«, erwiderte Usara. »Aus Hadrumal.« Frue warf mir einen kurzen Blick zu. »Ich dachte, du wärst Gelehrter.« »Das auch, vor allem Historiker«, erwiderte Usara. »Daher interessiere ich mich auch so sehr für Livaks Liederbuch.« Frue schien mit dieser Erklärung zufrieden. Halcarion sei gedankt für die angeborene Toleranz des Waldvolks. Danach, flaute die Unterhaltung ab. Sorgrad brütete vor sich hin, und Usaras Gesicht zeigte einen Ausdruck gekränkter Würde. Ich hatte keine Lust, mit den beiden länger hier festzusitzen. Wo war der Brückenwart? Ich blickte zu dem kleinen TrimonSchrein. Jemand hatte ein Opferfeuer vor der dunkel verwitterten Statue des Gottes angezündet. Das hölzerne Gesicht des Gottes der Straßen besaß in dieser Gegend einen deutlichen Waldvolk-Zug. Seine kleine Harfe trug er unter einem Arm. 174
Eine plötzlich auflodernde Flamme ließ zwei Köpfe erkennen, die im Gespräch eng zusammensteckten. »Die zwei da gucken schon eine ganze Weile in unsere Richtung, und ich glaube nicht, dass sie nur die Beine des Mädchens bewundern.« ‘Gren setzte sich neben mich. »Sie haben jeden hier abgeschätzt.« Ich sah mich beiläufig im Lager um. »Wer reist mit ihnen?« »Die beiden da drüben«, sagte ‘Gren, »die ihre Ponys anpflocken.« Es waren kräftige Bergponys, klein und wendig, um sich zwischen Bäumen durchzuschlängeln und in rauerem, steilerem Gelände zurechtzukommen, wo Flachlandponys störrisch würden und ins Rutschen gerieten. Genau die richtigen Reittiere für Banditen. »Vier Burschen, kein nennenswertes Gepäck, aber doppelt zugeschnallte Satteltaschen mit schimmernden Schlössern«, bemerkte ich nachdenklich. Ich sah einen von ihnen in der Nähe des Schreins. Er betrachtete Sorgrads Esel, der angehobbelt war und mit einem Maul voll Hafer aus seinem Futtersack zufrieden vor sich hindöste. »Beide Monde nehmen zu, bald haben wir DoppelVollmond«, sagte ‘Gren. »Die Zeit der Diebe. Sagt man nicht so. in Col?« Ich schaute ihn fragend an. »Sie werden eine Wache aufstellen, wenn sie auch nur für einen Pfennig Verstand haben.« »Eine Wache lässt sich ablenken«, sagte ‘Gren. »Sorgrad kann sich um sie kümmern.« »Was sitzt ihm eigentlich quer?«, fragte ich leise. »Frag ihn selbst. Ich weiß es auch nicht.« ‘Gren zuckte die Achseln. »Schnappen wir sie uns, bevor sie uns schnappen?« 175
»Das wäre der sicherste Weg herauszufinden, ob sie ehrliche Männer sind«, gab ich zu. Ich hatte Ryshad versprochen, nicht zu stehlen, außer wenn es unbedingt notwendig war, doch unehrliche Schurken um gestohlenes Gut zu erleichtern, betrachtete ich nicht als Diebstahl. »Ein paar Kleinigkeiten zum Tauschen könnten nicht schaden«, murmelte ‘Gren. »Alle Waldleute haben ein Auge für hübsche Dinge. Vielleicht haben die Schurken genau das dabei, was wir brauchen, um es gegen eins unserer Lieder zu tauschen.« Ich blickte ihn an. »Lass uns nachschauen, ob jemand wach genug ist, um uns Schwierigkeiten zu machen, wenn Mitternacht kommt. Falls ja, lassen wir es bleiben.« ‘Gren lächelte; seine Zähne leuchteten weiß in der zunehmenden Dunkelheit. »Das wird so einfach, wie einen Esel mit Kirschen zu füttern.« Ein Akkord von Frues Laute beendete unser Gespräch. Der Sänger hatte sich ans größte Feuer gesetzt und eine ansehnliche Zuhörerschaft um sich versammelt. Alte Lieblingslieder wurden mit Schwung gesungen, ebenso wie Frues neuestes Lied, sehr zu meiner Zufriedenheit. Zenela sang dazu; ihre volle Stimme stieg zu den hellen Sternen empor und ließ jede Nachtigall in Hörweite vor Neid verstummen. Der Brückenwart begab sich als Erster zur Ruhe und schloss die Läden vor seinen Fenstern. Die Fuhrleute verschwanden unter dem Schutz ihrer Karren; ihre Pferde standen sicher hinter einem behelfsmäßigen Zaun aus Weißdornzweigen. Die Hausierer unterhielten sich noch ein Weilchen leise an der erlöschenden Glut, in ihre Umhänge gewickelt, doch als Halcarions Krone mir zeigte, dass es Mitternacht war, lag das Lager still und ruhig da. Das Gurgeln des Flusses war das einzige Ge176
räusch, abgesehen von einem gelegentlichen Rascheln im Unterholz oder dem Schnauben eines Pferdes. Ich beobachtete die Sterne, die langsam über den Himmel zogen. Das farblose Licht verblasste, als die Monde ihrem Lauf folgten und hinter den Bäumen langsam untergingen. Ich drehte mich herum und lag Gesicht an Gesicht mit ‘Gren, dessen Augen vor Schalk leuchteten. »Haben sie eine Wache aufgestellt?«, fragte ich. »Das letzte Mal noch nicht, als ich pinkeln ging«, erwiderte er kaum hörbar. »Sie vertrauen auf den Knaben bei den Fuhrwerken.« »Und der schläft?« »Schnarcht wie eine Wildsau«, bestätigte ‘Gren. Er wickelte die Decke von seinen Füßen, die bereits in den Stiefeln steckten. »Welche Richtung nimmst du?« »Da lang.« ‘Gren deutete mit der Hand über das Gelände zwischen uns. »Wenn du siehst, dass sich einer rührt, setz dich hin und huste.« Ich drehte mich wieder um und bettete den Kopf auf den Arm. Die vier Burschen, die wir verdächtigten, waren in ihren Decken nur noch formlose Bündel in der Dunkelheit. Ihre Ponys waren angepflockt und dösten; das Geschirr und das Gepäck, das uns interessierte, war zwischen den schlafenden Männern gestapelt. Das würde ‘Gren nicht abschrecken. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, schreckte ihn gar nichts ab. Drüben bei den Fuhrwerken ruhte der angebliche Wachposten der Kaufleute reglos an einem Karrenrad, das Kinn auf die Brust gelegt und laut schnarchend. Ein leichtes Rascheln war zu hören: Zweige, die sich im Nachtwind bewegten, oder ein Tier 177
des Waldes auf der Jagd. Eine Bewegung neben mir ließ mich zusammenfahren, dass ich mir beinahe die Lippe zerbissen hätte. Sorgrad saß kerzengerade da, das Gesicht aschgrau im Mondlicht. Usara öffnete verwirrt die Augen. Plötzlich kroch mir die Angst mit kalten Fingern über den Rücken. »Der Fluss ...« Usaras Worte wurden von einem Dröhnen übertönt, das die Stille der Nacht zerriss. Ein heftiger eisiger Windstoß fegte durchs Lager und brachte den Gestank von Tang und Wasser mit sich. Vögel flatterten von den Bäumen auf, alarmiert kreischend, und Gestalten brachen durch das erste Frühlingsgrün. Kaninchen und Wiesel flohen vor irgendetwas, das Furcht einflößender war als jedes größere Tier. Ein Damhirsch preschte mit zurückgelegtem Kopf und hochgestelltem Schwanz durch unser Lager. Als der Hirsch verschwand, erbebte der Boden unter uns, als ob etwas Riesiges, Wildes wie verrückt oben auf dem Hügel trommelte. »Alle Mann weg vom Fluss«, brüllte Usara, machte jedoch einen Schritt auf die Ruinen der Brücke zu. Rufe und Fragen weckten das halbe Lager. Männer krochen verschreckt aus ihren Decken; andere bemerkten kaum die Unruhe, als sie schläfrig die Köpfe hoben. Und dann, in einem grollenden Schwall aus Lärm und Wut, brach eine reißende Flut über uns herein, die hochschäumend aus dem Flussbett quoll. Wasser schoss zwischen den Bäumen hindurch; Holzstücke trafen Menschen und Tiere und schleuderten sie hilflos in die Fluten. »Stellt euch hinter mich!«, rief Usara und wandte sich dem Aufruhr von Wasser und Trümmern zu, der uns entgegenraste. Ich griff verzweifelt nach meiner Tasche mit dem kostbaren 178
Buch. Sorgrad packte meinen Arm mit eisernem Griff; die andere Hand hatte er um die Zügel des Esels gekrallt. Die rollenden Augen des Tieres waren weiß gerändert vor Angst; deshalb warf ich ihm eine Decke über den Kopf und hielt es fest an mich gedrückt. Ich biss die Zähne zusammen und wartete auf den Aufprall – doch eine schimmernde Wand aus smaragdgrünem Licht trotzte der Flut. Es erhob sich vom Boden und sah nicht fester aus als ein Vorhang aus Seide, so breit wie Usaras ausgebreitete Arme, doch es war stark genug, um den gierigen Strom zu beiden Seiten abzulenken. Gischt sprühte mir ins Gesicht, Nadeln aus eisigem Feuer, doch die mörderische Wut des Wassers konnte uns nichts anhaben, sondern floss zu beiden Seiten ab, kochend vor Wut, da wir seinem hungrigen Schlund entkamen. Schmutziger Sprühnebel trieb wie der Speichel eines tollwütigen Hundes vor dem Wind daher. Usara stand da, die Arme und Beine gespreizt, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt, als ein neuerlicher Strom goldgelbem Feuers aus seinen Fingern in die Erde floss. Die Magie raste zum Fluss, ein sich ausbreitendes Flechtwerk, das durchs trübe, schaumgekrönte Wasser schimmerte, das immer noch stieg. Erde und Gras an beiden Ufern knisterten wie berstendes Eis, und große Stücke wurden vom Wasser weggespült. Als das Land zurückwich, wurde der Strom ins Flussbett zurückgesogen, das er verlassen hatte. Zitternd vor Schreck standen wir da, fassungslos und stumm vor Entsetzen. Einen Atemzug lang herrschte vollkommene Stille, dann brach das verängstigte Wiehern eines Pferdes den Bann, und aus allen Richtungen erklangen Rufe. »Sorgren!«, brüllte Sorgrad. 179
Ich hätte keine Antwort hören können, selbst wenn es eine gegeben hätte. Ich kämpfte mit dem verflixten Esel; meine Zehen und Schienbeine waren schon blau von seinen Tritten. Ich schüttelte wütend seinen Zügel. »Das sind neue Stiefel, verflucht nochmal!« Schweißnass und mit zitternden Händen, tauchte Frue von irgendwoher auf und half mir, das widerspenstige Tier an einen Baumstumpf zu binden. »Zenela?«, fragte ich. »Ich hatte ihre Hand.« Tränen stiegen ungewollt in die Augen. »Sie wollte in die falsche Richtung laufen ... es ging alles so schnell, so schnell ...« »Helft uns, bei Saedrin!«, rief ein Mann, der im knöcheltiefen Matsch ausrutschte und vergebens versuchte, sich mit einer Schulter hinter ein Karrenrad zu stemmen. Die schweren Karren, von der Kraft des Wassers bewegt, waren wie Kinderspielzeuge durcheinander geschoben. Einer lag auf dem Kopf da, begraben unter Schlamm und Trümmern, und trotzte allen Versuchen, ihn zu bewegen. Ein Mann regte sich schwach in der Pfütze darunter; er war vom Gewicht des Karrens mit den Oberschenkeln gleichsam am Boden festgenagelt. Erfolglos drückte er mit den Händen gegen die Last, während sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war. Ein blaues Licht verdichtete sich um ihn herum, und alle erstarrten, selbst der eingeklemmte Mann. »Macht euch bereit, ihn herauszuziehen!« Alle Köpfe wandten sich um und sahen einen azurblauen Schein um den Magier. »Macht euch bereit!«, wiederholte er mit einem Anflug von Zorn. Alle bückten sich unverzüglich, um Hand anzulegen. Usara spannte sich. »Jetzt!« 180
Saphirblaues Licht loderte auf und hob das Fuhrwerk an, nicht mehr als eine Handbreit, aber das war genug. Wir zogen, und der Fuhrmann kam frei. Er biss sich mit einem Schmerzensschrei auf die Lippen, denn seine Beine waren gebrochen. Ich tauschte einen mitleidigen Blick mit Sorgrad. Der Mann konnte von Glück sagen, wenn er je wieder laufen konnte. »Also ist der Zauberer doch zu etwas nütze«, bemerkte Sorgrad. Usara atmete schwer. »Sammelt Holz!« »Es ist doch alles nass«, protestierte jemand schwach aus der Dämmerung. »Das wird niemals brennen ...« »Spielt keine Rolle.« Usara ließ einen scharlachroten Flammenstoß von einer Hand in ein Gewirr aus schlammbedecktem Gestrüpp schießen. Es loderte auf, als hätte er einen Krug Lampenöl darüber gegossen. Ehrfürchtig staunten die Leute einen Moment das Feuer an, ehe sie zersplitterte Äste und die Trümmer eines Karrens darauf warfen. »Er ist ein guter Mann für einen schlechten Tag, dein Zauberer«, bemerkte ‘Gren fröhlich. Ich fuhr ihn an: »Bei Saedrin, wo warst du? Ich dachte, du wärst ertrunken!« »Unmöglich.« ‘Gren zwinkerte mir zu. »Sheltya sagte, dass ich mal am Galgen ende.« »Hier rüber, hier rüber!« Rufe des Jubels und der Angst kamen vom Waldrand. Ich rannte mit ‘Gren hinüber, rutschte auf dem nassen Gras aus, stolperte über namenlose Trümmer. Durchnässte, schmutzige Menschen versuchten, ein Gewirr von Wasserpflanzen und schlammigen Kleidern auseinander zu ziehen, das an den zerschmetterten Körper eines unglücklichen Pferdes angeschwemmt worden war. Ein Kind wurde herausge181
zogen, weinend und blutend, und an seine aufgeregte Mutter weitergereicht. Zwei weiteren hustenden Gestalten wurde von freundlichen Händen an Land geholfen; als man sie davonführte, spuckten sie Wasser und gingen auf zittrigen Beinen. Zenela war zuunterst in dem Haufen, das Gesicht blass und reglos. Sie war von der Flut mitgerissen worden wie ein ertrunkenes Kätzchen. »Bringt sie zum Feuer.« Sorgrad drängte sich an mir vorbei und grub Zenelas schlaffen Körper aus dem klebrigen Lehm. Der widerstrebende Boden ließ sie mit einem schmatzenden Geräusch der Enttäuschung los, und schlammiges Wasser quoll Zenela aus Mund und Nase. Wir trugen sie zum Feuer und legten sie behutsam nieder. Ich überlegte, ob wir sie aufbahren sollten. »Usara!«, rief Frue und barg Zenelas reglosen Kopf in seinen Armen. »Wo habt ihr sie gefunden?« Usara kniete nieder, legte ein Ohr an ihren Mund und drückte einen Finger leicht an ihren Hals, um ihren Puls zu fühlen. Er verzog das Gesicht, riss ihr das Mieder auf und legte eine Hand auf die Brust über dem Herzen. »Legt sie flach auf den Boden.« Mit der anderen Hand beugte Usara Zenelas Kopf zurück und schloss voller Konzentration die Augen. Ihre Haut war im Schein des Feuers noch immer kalkweiß. Usara hob die Hand, und Zenelas Brust hob sich langsam, folgte der Bewegung des Zauberers. Ihre bläulichen Lippen öffneten sich, und ein schwaches Strahlen zeigte, wie sich Luft auf Geheiß des Magiers in ihre Kehle zwängte. Wir anderen hielten den Atem an. Usara machte unbeirrt weiter, bewegte den Brustkorb Zenelas und erinnerte ihren Körper daran, wie man atmet. Ein warmes Glü182
hen legte sich über sie und vertrieb die Kälte aus ihren Knochen. »Reibt ihr die Arme und Beine warm.« Der Magier nickte Sorgrad und mir zu. Ich beeilte mich zu helfen, doch Zenelas nasse Finger fühlten sich zwischen meinen Händen tot, kalt und schlaff an. Sorgrad rieb ihr mit ausdrucksloser Miene die Füße. Usara sah ihn scharf an, ehe er sich wieder seiner Aufgabe zuwandte. Nach einer halben Ewigkeit hustete Zenela und verdrehte die Augen. »Setz sie auf und wickle sie warm ein«, befahl Usara, an Frue gewandt. Zenela hustete erneut und spuckte plötzlich einen großen Schwall übel riechendes Wasser über beide Männer, wobei sie von einem Krampf nach dem anderen geschüttelt wurde. »Wird sie wieder gesund?« Ich ergriff Usaras Arm. »Vielleicht.« Er schaute finster. »Kann sein, dass ihre Lungen sich wieder mit Wasser füllen. Das kann passieren, wenn man beinahe ertrunken ist ...« Er schüttelte den Kopf. »Wir wollen hoffen, dass sie in guter Verfassung ist.« »Was ist mit Burg Pastamar? Die Soluraner verfügen über Ätherkunde in ihrer Heilkunst.« Zenela war mir nicht gerade ans Herz gewachsen, aber ich wollte mir nicht Drianons Zorn zuziehen, indem ich ihr nicht half, so gut ich konnte. »Wir können niemanden nach Pastamar bringen, solange wir nicht über diesen dreimal verfluchten Fluss kommen«, grollte Usara. Ich betrachtete den Strom. Die kräftigen Säulen, die einst den letzten Ehrgeiz des Tormalin-Reiches getragen hatten, waren nur noch zerborstene steinerne Stümpfe. Die Hütte des 183
Brückenwärters war eine dachlose Ruine aus zusammengefallenen Steinen. Der Mann darin war mit Sicherheit tot; auch der kleine Schrein für Trimon war davongespült worden. »Wird das Wasser noch einmal steigen?« Ich hörte ein Zittern in meiner Stimme. »Es hätte erst gar nicht steigen sollen!« Usara starrte zornig flussaufwärts. »Ich verstehe das nicht. Ich habe das Wasser ausgelotet, habe das Maß der Schneeschmelze eingerechnet, habe berücksichtigt, dass der Boden so gesättigt ist ...« Er brach kopfschüttelnd ab. »Hier draußen ist alles so anders. Ihr wärt mit einem Wasser-Magier besser bedient gewesen.« »Aber du bist der einzige Zauberer, den wir haben!«, sagte ich heftig. »Ja, das fürchte ich auch.« Usaras schmale Schultern sanken herab. »Ich hätte wirklich eine wirksamere Abwehr entwickeln müssen ...« »Das habe ich nicht gemeint«, wandte ich ein. »Wer ist gestorben und hat dich zum König vorgeschlagen?«, fragte ‘Gren im gleichen Atemzug und schlang mir meinen Umhang über die Schultern, der zwar schmutzig, aber warm vom Feuer war. »Diejenigen von uns, die magische Fähigkeiten besitzen, haben die Verantwortung, diese Gaben zu einem höheren Nutzen zu verwenden«, sagte Usara leicht gekränkt. »Also hast du dafür gesorgt, dass Sorgrad und ich nicht wie Mäuse in einem Abflussrohr ersoffen sind«, sagte ich. Drianon hilf, diese Zauberer nahmen sich vielleicht wichtig! »Kommt und trinkt etwas Warmes«, drängte ‘Gren uns beide. Usara schüttelte den Kopf. »Ich muss sehen, wie das Wasser sich auf die Furt ausgewirkt hat.« Er rollte eine Welle von o184
ckerfarbenem Licht zwischen seinen Händen und starrte ins Wasser. »Das hätte nicht passieren dürfen ...« Vor sich hin murmelnd, stapfte er davon. Ich fand die Unsicherheit des Zauberers ausgesprochen beunruhigend, und ‘Gren war ein willkommenes Ziel für meine Gereiztheit. »Wo warst du?« Er umarmte mich liebevoll. »Siehst du diesen Vorsprung? Da oben war ich, wie eine Ratte auf einem Kornspeicher!« Ich warf einen Blick auf unsere Räuber, drei entmutigte Gestalten, die versuchten, ein durchweichtes Durcheinander von Zügeln zu entwirren. Zwei verschlammte und schwitzende Ponys waren neben ihnen angehobbelt. »Die Flut hat ihr Gepäck davongespült«, sagte ‘Gren mit gespielter Unschuld. Ich kniff die Augen zusammen. »Wohin?« »In einen sehr bequemen Spalt da drüben«, gestand er. »Hattest du zufällig Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen. ‘Gren lächelte. »Ja. Und wenn die da ehrenhafte Männer sind, bin ich der Erwählte von Col.« »Also ist die Nacht nicht gänzlich ins Wasser gefallen«, scherzte ich schwach. »Du brauchst einen heißen Tee«, meinte ‘Gren. »Sicher«, entgegnete ich, »und dazu Fleisch, Gemüse und weißes Brot. Und sag dem Mädchen, es soll mich morgen nicht zu früh wecken.« Ich fand es schon immer unmöglich, ihm lange böse zu sein. Ich ließ mich von ‘Gren zum Feuer zurückführen, wo ein paar Frauen die Männer ausschimpften, dass sie sich über die verbliebenen Vorräte hermachten. Niemand hatte Wacholderli185
kör retten können, also musste ich mich mit einem Becher frisch gekochten Wassers, das bitter von ein paar eingeweichten Kräutern war, zufrieden geben. Ich hätte einen Löffel Honig gebrauchen können, aber es war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, sich über Nebensächlichkeiten zu beklagen. »Wie fühlst du dich?« Ich saß neben Zenela, die an einem der übrig gebliebenen Koffer Sorgrads lehnte. »Meine Brust tut weh«, sagte sie heiser. Eine schwere Prellung zeigte sich purpurrot auf ihrer Stirn, und ein tiefer Kratzer unter dem Kinn würde sie für eine ganze Weile zeichnen. Ihre Hände waren zerkratzt, ihre Fingernägel abgebrochen, und ihr langes Haar sah aus wie ein zerzaustes Rattennest. Ihr Kinn bebte, und Tränen ließen ihren Blick verschwimmen. Ich hatte keine Lust, herumzusitzen, nichts zu tun und mich dabei selbst elend zu fühlen, also zog ich einen Kamm aus der Tasche und machte mich daran, Zenela die verfilzten Haare zu kämmen. Frue sang ein Waldlied, dessen Refrain eine sinnlose Litanei war, aber hübsch anzuhören. Zenela atmete allmählich leichter; die Leute ringsum schauten nach, was sie noch retten konnten, untersuchten ängstlich ihre Pferde und Maultiere und froren innerlich ebenso wie äußerlich. Frue stimmte ein neues Lied an. Unter den mir ansonsten unbekannten Waldwörtern fiel mir ein Name auf. »Ist das ein Lied über Viyenne?« Er nickte. »Kennst du es?« »Ich glaube, ich habe es vor langer Zeit gehört.« Wichtiger war, dass ich den Namen in einem der noch nicht übersetzten Waldlieder in dem Buch erkannt hatte. Es juckte mich, das Buch herauszuholen, doch ich wagte es nicht, das kostbare Stück inmitten des Schlamms und der Feuchtigkeit auszupacken. 186
»Erzähl mir die Geschichte«, sagte ich. Frue lächelte. »Viyenne hatte ihren Liebhaber Seris verlassen, um eine Jahreszeit zu reisen und neue Lieder kennen zu lernen. Sie reiste eine Zeit lang mit Regere, dem Baumweber. Er war vernarrt in sie und wütend, als Viyenne beschloss, zu Seris zurückzukehren. Regere befahl den Weiden, sich zu einem Käfig zu verschlingen, um Viyenne bei sich zu behalten, doch ihre Tränen fielen in den Fluss, und dieser erhob sich, um die Barrieren hinwegzuspülen und sie zu befreien.« Frue schaute sich die Verwüstung ringsum an. »Eine recht passende Geschichte.« Also hatte ich mich richtig erinnert. Ein Blick hinüber zum Flussufer zeigte mir, dass Usara noch immer stirnrunzelnd dort herumschlich und gestikulierte, als würde er mit sich selbst streiten. Sorgrad und ‘Gren hatten sich einer Gruppe angeschlossen, die versuchte, in die eingestürzte Hütte zu gelangen. Ich stand auf und machte einen Tee, um die Steifheit in meinem Rücken und meinen Beinen zu vertreiben; dann ging ich hinüber zu dem Zauberer. »Trink das«, befahl ich. »Aber ich muss ...« »Du musst dir Zeit nehmen, wieder zu Kräften zu kommen, sonst bist du keinem mehr von Nutzen«, sagte ich streng. Er seufzte und nippte am dampfenden Becher. »Danke.« »War das alles hier ein Zufall?«, fragte ich. Mir war kalt, ich fror und war müde – und ich wollte beruhigt werden. »Ich weiß es nicht.« Usara blickte finster auf das Wasser, das im fahlen Licht vorbeirauschte. »Ich kann es nicht genau sagen. Auf jeden Fall ist hier irgendetwas seltsam mit den Elementen, aber es könnte auch ein Zufall sein, ein Ergebnis besonderer Wetterverhältnisse, eine Nachwirkung des plötzlichen Wärmezaubers.« Er gähnte. »Wenn ich Zugang zu einer guten Biblio187
thek hätte, und ein oder zwei Lehrlinge, die Nachforschungen anstellen, und eine Woche Schlaf, müsste ich es dir sagen können.« Er brachte ein dünnes Lächeln zu Stande. »Theorie und Praxis erweisen sich als noch weiter voneinander getrennt, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich muss mich bei Sorgrad entschuldigen.« Ich fragte mich, wie oft ein Zauberer einen Irrtum eingestanden hatte. »Besteht die Möglichkeit, dass diese Flut durch Zauberkunst heraufbeschworen wurde?«, fragte ich. Ich hatte versucht, eine weniger offensichtliche Formulierung zu finden, doch ich war müde, und Frues Erinnerung an Viyennes Geschichte hatte mich unruhiger gemacht, als ich sein wollte. In einer Stadt kann man sagen, woher Gefahren kommen können – aus Türen oder dunklen Hauseingängen, zum Beispiel. Hier draußen in der Wildnis konnten Gefahren von allen Seiten kommen und mit jeder Art von Magie; sie konnten unsichtbar und lautlos sein und einen ins Ohr beißen, ehe man es merkte. Usara schaute mich verblüfft an. »Ich habe keine Ahnung. Wie kommst du darauf, die Flut könnte heraufbeschworen worden sein?« »Eins der alten Lieder, das von einer Flut spricht, die aus dem Nichts kommt. Das war vielleicht Äthermagie.« Ich erkannte, dass es sehr unwahrscheinlich klang, noch während ich es aussprach. »Ich könnte Planir bitten, bei Guinalle nachzuforschen, wenn ich das nächste Mal mit ihm spreche«, sagte Usara, »aber ich glaube, du siehst Gespenster.« Vielleicht, und vielleicht enthielten die alten Geschichten über kleine blaugraue Männer, die die Dunkelheit von Kamin188
ecken und Speichern nutzten, um in einem Augenblick von einem Ort zum anderen zu gelangen, ihre eigenen Hinweise auf alte Äthermagie. Ich rieb mir mit der Hand übers Gesicht und schauderte in der Kälte vor der Morgendämmerung. Ein Schrei erklang aus den Ruinen der Brückenwärter-Hütte, und als wir hinüberschauten, sahen wir Männer beiseite springen, als die Überreste des Schornsteins mit einem dumpfen Aufprall umstürzten. Sorgrad und ‘Gren schüttelten die Köpfe. Ich ging, um ihnen einen Tee zu machen. »Das sind dann insgesamt sechs Tote für Poldrions Fähre«, sagte Sorgrad bitter. »Vielleicht gibt der Fährmann dem Brückenwärter eine freie Überfahrt, weil sie ja beide im gleichen Beruf tätig waren«, witzelte ‘Gren, doch er war nicht mit dem Herzen dabei. Ich reichte jedem sein Getränk. »Hätte ich auf dich gehört, hätten wir vielleicht mehr tun können, sie vom Ufer fernzuhalten«, sagte Usara mit aufrichtigem Bedauern. Sorgrad blickte ihn scharf an, das Gesicht grau vor Erschöpfung. »Das heißt noch lange nicht, dass sie uns geglaubt hätten. Jedenfalls ist das eine Rune, die nach beiden Seiten hätte fallen können. Sturzfluten sind nun mal so. Sie kommen unerwartet und erwischen jeden.« Plötzlicher Lärm vom Waldrand ließ uns alle aufblicken. Eine Hand voll Männer trat hervor, gekleidet in Leder und Pelze. Zwei hielten Kurzbögen schussbereit, und einer hatte eine Sammlung von Wurfmessern unter einem Schultergürtel stecken. Sie waren muskulös, mit schmalen Gesichtern, und alle kleiner als ich, aber genauso rothaarig. Ich fragte mich, wie lange sie uns schon beobachteten. 189
Im Keil und Hammer, Grynth 12. Nachfrühling
»Meinst du nicht, du hast genug?« Keisyls Stimme klang freundlich. Teiriol wurde rot, als er leicht benommen von seinem Becher aufschaute. Keisyl stand am Tisch, an dem der jüngere Mann bei klebrigem, verschüttetem Met und einer Schale Eintopf saß, die er noch nicht angerührt hatte. »Nein, finde ich nicht.« Teiriol sprach überdeutlich und blinzelte, während er sich darauf konzentrierte, den letzten Rest aus seiner Flasche in den Becher zu gießen. Er rieb sich mit zitternder Hand über das verschwitzte Gesicht; sein gelbes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. »Mutter wird so wütend sein, dass sie einen Eisenstab zerkaut und Nägel ausspuckt, wenn wir nach Hause kommen, also werde ich das Beste aus dieser Reise machen. Noch ein Met für mich!« Er winkte mit dem leeren Krug der Schankmaid. »Nicht, bevor du nicht etwas gegessen hast.« Keisyl wandte sich an der Serviermädchen, das an den Tisch gekommen war. »Brot und Fleisch, bitte.« Er reichte ihr die geleeartig gewordene Suppe. Teiriol blickte einen Augenblick streitlustig drein, doch der Trotz in seinen Augen verschwand hinter einer plötzlichen Gefühlsaufwallung. »Du weißt, was am besten ist, nicht wahr, Keis? Du passt auf uns alle auf. Ich hätte auf dich hören sollen, nicht? Nicht wie Jeirran ...« »Was ist mit Jeirran?« Keisyl setzte sich und schob unauffällig Teiriols Becher beiseite. 190
»Wo steckt er überhaupt?« Teiriols Kopf wackelte ein wenig, als er durch den Schankraum spähte. »Wo ist Eirys? Wir müssen auf sie aufpassen, Mutter sagte ...« »Jeirran hat sie zum Tanzen in die Markthalle ausgeführt«, sagte Keisyl. Teiriol schaute verwirrt auf das grobe braune Brot und das saftige Hammelfleisch, das die Schankmaid vor ihn hinstellte. »Iss, Teir«, sagte Keisyl. Sein Ton war beiläufig, doch seine Augen blickten wachsam. »Jeirran hat mir nie genau erzählt, was passiert ist, als ihr die Häute verkauft habt. Ihr seid losgezogen, um zu schauen, wo es Hahnenkämpfe gibt, nicht wahr? Mach dir keine Sorgen. Ich werde es Mutter nicht erzählen.« Teiriols Fluch wurde gedämpft, weil er den Mund voll hatte, und er hustete. »Weißt du, was er bekommen hat?«, fragte er, als er wieder sprechen konnte. Sein Gesicht war rot, und das nicht nur vom Husten. »Nicht mehr als zweimal so viel, wie wir von Degran bekommen hätten. Nach all seinen Versprechungen!« »Hat er auch hart genug verhandelt?«, fragte Keisyl. Leichte Verwirrung legte sich auf Teiriols Gesicht. »Hatte gar keine Gelegenheit zu handeln. Dieser Huckus sagte, entweder wir akzeptieren dem Preis, oder er sorgt dafür, dass diese Hure der Stadtwache ein paar Dinge erzählt ... dass wir es waren, die ihre Kameraden windelweich geprügelt haben.« Er klang verwirrt und betrübt. »Jeirran hat dich in einen Kampf mit Tiefländern hineingezogen?« Keisyls Knöchel traten weiß hervor, als er den Griff seines Messers umklammerte. »Er sagte, es gehörte dazu, mit diesem Huckus Geschäfte zu machen.« Teiriol konnte seinem Bruder nicht in die Augen se191
hen und scharrte mit den Stiefeln in dem mit Kräutern versetzten Stroh auf dem Fußboden. »Na schön, es war ein abgekartetes Spiel«, fuhr er empört fort. »Diese Hure arbeitete für diesen Huckus, darauf wette ich! Muss nach diesen Wachmännern Ausschau gehalten haben, bis zum Bauch aufgeschnürt und die Beine so nackt wie ein abgezogenes Kaninchen ...« Keisyl schüttelte den Kopf. »Vergiss die Hure, die spielt keine Rolle. Und sprich leise, wir wollen nicht, dass jeder uns zuhört. Du willst mir also sagen, dass Jeirran übertölpelt wurde?« Teiriol schaute sich nach seinem Becher um. »Dieser Huckus kommt mit einem Beutel voll Geld und fünf Schlägern, breit wie Kleiderschränke, mit genagelten Stiefeln und Keulen. Jeirran fängt an, Lärm zu schlagen, als sie die Felle auf einen Wagen packen, doch Huckus droht, auf der Stelle die Stadtwache zu holen.« Seine Zunge stolperte unter der doppelten Last von Empörung und Alkohol. »Wir hätten die Felle ebenso gut in Bytarne verkaufen können, wie du gesagt hast. Ich darf gar nicht daran denken, dass Mutter beide Hälften des Winters damit verbringt, sie zu gerben und zu pflegen. Was denkt Eirys bloß ...« »Genug«, sagte Keisyl. Die Tür ging auf, und eine fröhliche Gruppe kam herein, gefolgt vom leisen Klingen der Uhr am Turm der Markthalle. Die Männer waren stolz in ihren neuen Hüten, deren Federn noch straff und farbenfroh waren. Die Damen hatten ihre Alltagsgewänder aus blauer und roter Wolle mit neuen Seidenbändern aufgefrischt, was ihnen einen festlichen Anstrich verlieh. Ein dunkelhaariges Mädchen glättete sorgfältig die langen Fransen an einem schönen Schal aus weichem Ziegenhaar, bestickt mit Bergblumen. »Hast du so einen nicht für Theilyn gekauft?« Teiriol spähte 192
angestrengt hinüber. Keisyl sah ihn abschätzend an. »Mehr Met, eine ganze Flasche«, rief er dem Kellner zu, der die Achseln zuckte und sich zum Fass drehte, das auf der Theke hinter ihm stand. Keisyl nahm kaum einen halben Becher für sich selbst, füllte jedoch Teiriols Becher bis zum Rand. Breit grinsend leerte Teiriol ihn fast in einem Zug, ehe er wieder Luft holte. Er runzelte die Stirn, und eine beängstigende graue Farbe verdränge die Röte von seinem Gesicht. »Ich fühle mich nicht gut ...« Er schluckte setzte den Becher rasch ab. »Ich glaube, ich brauche frische Luft.« Ein Schweißausbruch ließ seine Stirn glänzen. »Komm.« Keisyl packte seinen Bruder unterm Arm, und sie machten sich auf den Weg zur Tür, aufmerksam beobachtet vom Kellner. Auf halbem Weg gaben Teiriols Beine nach, und er presste die Hände auf den Bauch und knirschte mit den Zähnen. »Beweg dich!« Keisyl legte einen Arm um Teiriols Taille. Halb zog er ihn, halb trug er ihn hinaus und ließ Teirol auf der schmalen, ungepflasterten Straße zu Boden fallen. Teiriol übergab sich krampfhaft, erbrach Fleisch, Met und Brot in einem ekligen Schwall. Keisyl verzog voll Abscheu das Gesicht. Dann hob er Teiriol auf und führte ihn langsam zum Stadtbrunnen. »Setz dich einen Moment hier hin, mein Junge.« Teiriol ließ sich gehorsam auf die kalten Steinstufen sinken. Rasch wand Keisyl den Eimer hoch und goss das eisige Wasser über Teiriols Kopf; dann wiederholte er das Ganze trotz Teiriols schwacher Proteste, ehe er sein Taschentuch nahm, um seinem zitternden Bruder das Gesicht abzuwischen. »Ich bin klatschnass«, beschwerte sich Teiriol mit klappern193
den Zähnen, aschgrau im erbarmungslosen Licht der beiden Monde am Himmel. »Trink.« Teiriol ließ Wasser in seine hohlen Hände rinnen. Er sah jämmerlich aus, und sein Kinn bebte. »Wenn du trinken willst, bis du dich übergeben musst, dann tu’s. Ich werde es Mutter nicht sagen«, erklärte Keisyl. »Aber du wirst nicht in einem Bett mit mir schlafen, solange du zum Himmel stinkst wie ein Misthaufen.« Teiriol saß stumm da, nass und kläglich. »Du musst schlafen, mein Junge«, sagte Keisyl und half Teiriol über die Straße zu der Herberge mit dem niedrigen Dach, in der sie wohnten. Der finster aussehende Türhüter öffnete auf Keisyls Klopfen, in der Hand eine blakende Talgkerze. »Ist er betrunken? Ich lasse nicht zu, dass er in mein Bett kotzt – er kann seinen Rausch bei den Hunden ausschlafen.« »Wir haben das Zimmer gemietet, und wir werden auch darin schlafen«, sagte Keisyl mit drohendem Unterton. »Und was ist mit den Gästen, die nach euch kommen? Ihr geht nach den Feiertagen zurück in die Berge, aber es gibt ja noch andere als euch!«, klagte der Türhüter. Keisyl beachtete ihn nicht, lehnte Teiriol gegen die Wand und entriegelte die Tür zu ihrem Schlafzimmer. »Komm.« Teiriol schlurfte voran und brach auf der Pritsche zusammen. Er stöhnte auf, als Keisyl ihm die Stiefel abstreifte und den nassen Umhang und das Hemd auszog. »Du Dummkopf.« Er öffnete den Kragen und schnürte die Hosen auf; dann rollte er seinen inzwischen reglosen Bruder auf den Bauch und deckte ihn zu. 194
»Und jetzt zu dir, Jeirran«, murmelte er und verließ die Herberge. Die Markthalle wurde im Innern von Kerzen, draußen von Kohlenbecken hell erleuchtet. Gruppen von Männern, die sich vom Tanzen ausruhten, teilten Kaublätter, und einer röstete Nüsse in einer Pfanne über glühenden Kohlen. Keisyl blickte durch die offene Tür in die Halle, auf der Suche nach Jeirran und Eirys, die er in einer Gruppe sah, die sich soeben zu einem Rundtanz formierte. Ihre Augen strahlten vor Freude, ihre Wangen waren leicht gerötet. Ihr Kleid aus besticktem Leinen war das einzige nach Art der Berge im Saal. Züchtig hochgeschlossen und langärmelig, war es ihr auf die Figur geschnitten und zog die neidischen Blicke einheimischer Schöner auf sich. Dazu trug Eirys ein Halsband aus geflochtenen Goldkettchen; die Ringe an jedem Finger fingen das Licht mit ihren tiefen Gravuren, und ein zartes Netz mit Kristalltropfen glitzerte auf ihrem blonden Haar. Der Schmuck, den Jeirran ihr geschenkt hatte, um seinen Schwur zu bekräftigen, sie zu heiraten, macht etwas her, dachte Keisyl. Doch seitdem hatte er ihr kaum etwas geschenkt. Am Rand des Tanzbodens schwatzten die Matronen der Stadt bei Kräutertee und verdünntem Wein. Eine warf einen neugierigen Blick auf Keisyl, als er an ihnen vorbeiging. »Wer ist denn dieser junge Mann?« Ihre Freundin spähte kurzsichtig hinter ihm her, schüttelte jedoch den Kopf. »Bloß so ein Hochländer auf der Durchreise.« Die Frauen wandten sich wieder interessanteren Themen zu. Keisyl blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die vier Musiker, die am Schrein Larasions saßen. Die Statue der Göttin 195
war mit rosa und weißen Blüten übersät und blickte mit ihren starren Marmoraugen auf einen rot gesichtigen Mann, der die Wangen aufblies, als er die Melodie auf einer Doppelflöte vorgab. Seine Kameraden, dem Äußeren nach alles Brüder, begleiteten die Melodie mit einer Bogenleier und einer Zimbel, während die Trommeln den Rhythmus schlugen. »Solltest du nicht mit deiner Frau tanzen?« Keisyl nahm sich ohne Umschweife einen Stuhl. Jeirran saß neben einem Wandschirm, der die Zugluft von einer Hintertür abhalten sollte; seine Augen waren blicklos, als wäre er tief in Gedanken versunken. »Wie?« Was immer Jeirran dachte, es zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Als einer der am besten aussehenden Männer im Saal, zog er die Blicke jener Mädchen auf sich, die zur Zeit vergeblich auf einen Tanzpartner hofften. »Ich sagte, solltest du nicht mit deiner Frau tanzen«, wiederholte Keisyl mit einem Nachdruck, dass es fast schon eine Herausforderung war. Jeirran schaute Eirys mit Besitzerstolz an. »Nein, auf dem Tanzboden ist sie gut aufgehoben, und sie wird kaum mit einem von diesen Schmutzstiefeln nach draußen gehen. Oder glaubst du, dass einer von denen auch nur daran denkt, ohne zu befürchten, dass ich ihm die Knochen breche?« Er blickte in Keisyls ernstes Gesicht. »Was machst du eigentlich hier? Du findest doch genauso wenig Spaß daran wie ich, herumzuhüpfen wie eine junge Ziege.« Er lächelte Eirys liebevoll zu, als die Mädchen zu einem raschen Wechsel der Partner vorbeiwirbelten. »Hast du Teiriol das Geld gegeben, dass er sich betrinken kann?« Keisyl blickte Jeirran scharf an, doch der zuckte die 196
Achseln. »Teiriol ist erwachsen und kann tun und lassen, was er will.« »Es dauert noch fünf Jahre, bis er volljährig ist, wie du sehr gut weißt. Du bist mit seiner Schwester verheiratet und genauso für ihn verantwortlich wie ich«, erklärte Keisyl. Jeirran schaute sich mit den ersten Anzeichen von Besorgnis um. »Was hat er getan?« Keisyls Augen wirkten in der schattigen Ecke mitternachtsblau. »Er hat mir von dem wunderbaren Geschäft erzählt, das du in Selerima gemacht hast, zum Beispiel.« »Geschäft? Das war kaum mehr als Raub«, schnaubte Jeirran. »Ein Nest voller Diebe, wie alle Tiefländer, und Teiriol hat mich hineingezogen. Du hast Recht, er ist noch lange nicht erwachsen.« Keisyl sah ihn finster an. »Er sagt, du hast einen beschissenen Preis gekriegt«, beharrte er grimmig. Jeirrans Miene wurde streitlustig. »Ich habe den besten Preis bekommen, den ich kriegen konnte, und ich werde jeden zusammenschlagen, der etwas anderes behauptet.« Er fuhr sich unbewusst mit der Hand über den Bart. »Jedenfalls, geschehen ist geschehen. Hunde, die den Mond anbellen, verhindern nicht, dass er untergeht.« »Du kommst mir hier mit solchen Weisheiten? Nachdem all deine Versprechungen, uns reich zu machen, nichts als Staub und Asche sind?«, gab Keisyl zurück. »Wir können uns auch im Tal zu Hause von Tiefländern betrügen lassen, da hätten wir nicht hierher gemusst. Und du hast mehr Verluste gemacht, als wir wettmachen können! Woher soll das Gold kommen, um dein Erbe zu ersetzen? Was soll Eirys zur Sonnwendfeier unter ihrem Herdstein finden?« Er sprach leise zum Klang der fröhli197
chen Musik, doch der Zorn in seinen Worten zog trotzdem neugierige Blicke auf sich. Jeirran verschränkte voll Genugtuung die Arme über der mächtigen Brust. »Eirys wird mehr in ihre Truhe bekommen als schmutziges Tiefländer-Geld. Lass uns diesen stinkenden Harquas und seine Straßenköter vergessen.« Er zog die Füße zurück, als ein Tanzpaar seinen Platz verließ. »Wovon redest du?« Keisyls Zorn wich Verblüffung. »Würdest du gern ein Mittel finden, diese Tiefländer ein für alle Mal auf ihre Plätze zu verweisen? Brauchen wir nicht eine Möglichkeit, um wiederzuerlangen, was rechtmäßig uns gehört?« Jeirran spreizte die Arme hinter dem Kopf und grinste Keisyl breit an, ehe er sie wieder vor der Brust verschränkte. »Du bist ja noch betrunkener als Teiriol«, sagte Keisyl. Er griff nach dem grünen Glaskelch, der vor Jeirran stand, und schnüffelte am Inhalt. »Von Mandelmilch werde ich nicht betrunken«, höhnte Jeirran. Keisyl warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Dann erklär mir, was du meinst.« Jeirrans Wunsch, seine Entdeckung mitzuteilen, überwog die Versuchung, sie noch eine Weile für sich zu behalten. »Siehst du diese Musiker da drüben? Sie kommen gerade aus Selerima.« »Und?« Keisyl warf kaum einen Blick auf die Musikanten, die fröhlich eine neue Weise anstimmten. »Und sie haben ein neues Lied. Der Trommler hat es vorhin gesungen.« Keisyl seufzte. »Komm zu Sache, oder ich gehe und kümmere mich um Teiriol.« »Sie sangen eine Ballade über Tormalin-Männer, die über 198
den Ozean segeln, zu unbekannten Ländern, und die dort ein mächtiges Volk finden. Mit seiner Magie kann dieses Volk das Meer überqueren und die Tormaliner in ihrer eigenen Heimat angreifen.« Keisyl zuckte die Achseln. »Die Tiefländer haben ihre Zauberer ins Meer getrieben, oder? Und jetzt sind sie eben zurückgekommen, um zu kämpfen.« Jeirran sah selbstgefällig drein. »Dem Sänger zufolge nennt sich dieses Volk Elietimm.« »Sollte ich den Namen kennen?« Keisyl runzelte die Stirn. »Klingt irgendwie vertraut ...« »Alyatimm?«, schlug Jeirran vor. Keisyl klappte der Mund in plötzlicher Überraschung auf. »Aber das ist bloß eine Geschichte, die man an langen Winterabenden am Kamin erzählt.« »Und wenn doch nicht?«, fragte Jeirran. »Was ist, wenn dieses Volk, was immer sie sind, von jenem Blut geboren ist?« Die beiden Männer verfielen in Schweigen, als die Musik anschwoll und die Tänzer an ihnen vorbeiwirbelten. »Glaubst du, das könnte wirklich so sein?«, grübelte Keisyl laut über diese erstaunliche Frage nach. Seine Feindseligkeit war vergessen. »Diese Ballade spricht von hellhaarigen Männern«, berichtete Jeirran. »Dann sind wir mal wieder die Schurken in dem Stück«, sagte Keisyl langsam. »Das ist ja nichts Neues. In der Geschichte der Tiefländer kommen immer wieder gelbhaarige Räuber vor, die Großmutters Hühnerhof überfallen.« »Bei den Bauern hierzulande, das stimmt.« Jeirran nickte. »Aber warum sollte ein Lied aus dem Osten so etwas berichten? 199
Die Balladen, die wir in Selerima hörten, warnten vor barfüßigen Barbaren mit dunkler Haut und dunklen Augen, die weit aus dem Süden kommen, um zu rauben.« Keisyl kaute verwirrt an seiner Lippe. »Glaubst du denn, es könnten wirklich Alyatimm sein?« »Das Lied sprach von Männern aus dem Eis«, erzählte Jeirran. »Das kann doch kein Zufall sein, oder?« »Nein«, sagte Keisyl leise. »Ich glaube nicht.« Er schaute Jeirran an. »Und was bedeutet das für uns, abgesehen davon, dass es aus einer Sage Geschichte macht? Und warum sollten wir überhaupt die Alyatimm finden wollen? Sie wurden verstoßen, weil ihr Anführer versuchte, sich zum alleinigen Herrscher über alle Soken zu machen!« »Diese Leute verfügen über Magie«, sagte Jeirran mit glänzenden Augen. »Sie haben genug Magie, um übers Meer zu kommen und ungesehen unter den Tiefländern zu reisen. Wenn dieses Lied wirklich etwas beweist, haben die Tiefländer eine Heidenangst vor diesen Elietimm. Denk darüber nach, Keisyl. Falls es Alyatimm sind, muss es sich um wahre Magie handeln, nicht um die Abartigkeiten der Tiefland-Magier. Echte Macht, die ihre Wurzeln in den alten Bergen hat und nicht von Sheltya in Sonnwend-Mysterien verschlossen ist. Falls es Alyatimm sind, haben wir gemeinsames Blut, auch wenn sich unsere Wege vor zahllosen Generationen getrennt haben. Was, wenn wir uns auf unsere Verwandtschaft berufen und sie um Hilfe bitten? Denk an die Geschichten, die du am Kamin bei einer sonnenlosen Sonnwendfeier gehört hast. Was, wenn die Lindwurme von Ceider wieder beschworen werden könnte? Das würde die Tiefländer schneller aus unseren Minen vertreiben als ein 200
Schlagwetter!« »Aber das sind doch nur Geschichten, Jeirran«, wandte Keisyl ein, doch in seiner Stimme lag Unsicherheit. »Wirklich?«, entgegnete Jeirran. »Die Alyatimm sind auch nur eine Geschichte, so hat man uns jedenfalls immer erzählt, aber woher sollten Tiefländer etwas von ihnen wissen, wenn nicht ein Körnchen Wahrheit daran wäre?« Keisyl war verwirrt. »Es ist nur ein Lied, Jeirran. Ein Balladensänger denkt sich eine Geschichte aus, mit der er die Tiefländer erschreckt. Was erzählt dieses Lied denn weiter?« »Die Tormalin-Männer fuhren zu diesen Inseln, um eine Geisel zurückzuholen, doch diese Geisel wurde hingerichtet. Die anderen wurden als überführte Schurken verfolgt, stahlen jedoch ein Boot und wurden zu Hause angespült.« Keisyl schüttelte den Kopf. »Es ist nur ein Lied, Jeirran. Eine Abenteuergeschichte, die aus Teilen alter Sagen gestrickt ist. Irgendein Ostländer, der in die Ferne geheiratet hat, hat die Legende an seine Tiefländer-Frau und ihre Halbblut-Kinder weitergegeben. Mehr kann dahinter nicht stecken.« »Welche Legende?«, wollte Jeirran hartnäckig wissen. »Sag mir, aus was dieses Lied zusammengestückelt ist. Wie können Ostländer sich so eine Geschichte ausdenken, wo sie sich doch so weit von den alten Wegen entfernt haben? Sie können kaum drei Grade ihrer Verwandtschaft aufzählen!« »Ach, ich weiß nicht«, lenkte Keisyl ein. »Na schön, aber was haben wir davon, selbst wenn ein Funken Wahrheit darin steckt? Diese Leute hätten vielleicht die Macht, Varangel und seine Eisdämonen zu erwecken, aber allein die Reise zum Meer dauert schon ein halbes Jahr, und du sagst, diese Menschen wohnen auf der anderen Seite des Meeres!« 201
Jeirran beugte sich vor und sprach leise weiter. »Falls sie über wahre Magie verfügen, müssten Sheltya sie erreichen können.« Keisyl fuhr zusammen, als hätte ihn etwas gestochen. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!« »Warum nicht?«, fragte Jeirran kühn. »Meinst du nicht, Sheltya sollten davon erfahren?« »Wenn dieses Lied die Runde macht, werden sie noch früh genug davon erfahren und brauchen es nicht von mir zu hören«, sagte Keisyl bestürzt. »Auf diese Art von Ärger kann ich verzichten.« »Ich will aber diese Art von Macht. Alyatimm besitzen wahre Magie und sind bereit, sie zu teilen«, sagte Jeirran grimmig. »Ich möchte über Eirys’ Land gehen, ohne dauernd in die Falle eines Diebes zu tappen. Ich will das Metall, das ich im Schweiße meines Angesichtes aus der Erde gewinne, zu einem anständigen Preis verkaufen, und nicht von irgendeinem Tiefländer unterboten werden, dessen Mine mit dem Blut von Sklaven betrieben wird. Ich will von einer Soke zur andern wandern und überall um Unterkunft bitten können, ohne vor verriegelten Türen zu stehen, weil die Tiefland-Räuber den Waffenfrieden der Straße so oft gebrochen haben, dass er nichts mehr wert ist.« »Du weißt doch gar nicht, ob diese Leute über wahre Magie verfügen, selbst wenn sie denn wirklich existieren.« »Willst du es denn nicht herausfinden?«, fragte Jeirran. »Vielleicht ... jetzt, wo du es mir in den Kopf gesetzt hast mit deinen Fantasien«, seufzte Keisyl. »Aber nicht um den Preis, mich von den Sheltya verstoßen zu lassen.« »Ich glaube, ich weiß jemanden, dem wir trauen können«, 202
sagte Jeirran. »Meine Schwester.« »Du hast keine Schwester.« Keisyl sah ihn scharf an. »Sie ist jetzt eine Sheltya. Ihr Blut gehört ihnen, und du hast keinen Anspruch darauf.« Jeirran fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch den Bart. »Ich glaube, ich könnte Aritane überreden, das für sich zu behalten.« »Das sollte sie auch, sonst steckst du bis zum Hals im Schlamassel«, sagte Keisyl zweifelnd. »Was wird sie selbst dazu sagen? Was meinst du?« »Ich habe keine Ahnung«, gestand Jeirran. »Ich werde sie ausforschen. Mal sehen, ob sie mir zuhören will.« »Uns hältst du da raus«, beharrte Keisyl. »Wenn du als Ausgestoßener endest, können wenigstens wir uns um Eirys kümmern.« »Eirys ist einer der Gründe dafür, dass ich das alles überhaupt tun will.« Jeirrans Augen brannten. »Ich will ihr alles geben, was sie möchte. Ich will ihren Töchtern genug Ansehen verschaffen, dass sie jedes Recht auf das Land zurückfordern können, das an andere von ihrem Blut gefallen ist. Ich will Söhne mit einem Erbe ausstatten, das das Auge jeder Mutter erfreut, um unser Blut, deins und meins, mit jeder Soke westlich der Schlucht zu verbinden, sodass wir nie wieder mit Tiefländern zu tun haben müssen, wenn wir es nicht wollen.« Seine Stimme wurde berechnend. »Und natürlich, du und Teir werdet als Erste davon profitieren. Angenommen, euer Vater stirbt, bevor er euch ein respektables Erbe hinterlassen kann, dann wird niemand etwas dagegen sagen, wenn Eirys beschließt, euch etwas zu schenken. Ihr könntet bei der Sonnwendfeier selbstbewusst auftreten, nicht wie beim letzten Mal.« 203
»Wenn du diese Sache weiter verfolgen willst, werde ich dich nicht aufhalten«, sagte Keisyl. »Ich werde keinem davon erzählen, und du darfst es auch nicht, vor allem nicht Eirys. Wenn irgendetwas dabei herauskommt, ob gut oder schlecht, ist immer noch Zeit genug für Erklärungen.« »In Ordnung.« Jeirran streckte die Hand aus, und Keisyl schüttelte sie. »Sobald wir zu Hause sind, schicke ich meiner ehemaligen Schwester eine Nachricht.« »Sie wird nicht kommen«, prophezeite Keisyl. »Das werden wir sehen«, erwiderte Jeirran. Eirys kam zu ihnen. »Mein Liebes, du strahlst wie ein Schwan unter all diesen Waldtauben«, sage Jeirran, erhob sich und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Eirys kicherte. »Willst du jetzt mit mir tanzen?« »Aber natürlich, Teuerste.« Jeirran bot ihr seinen Arm. »Um diese Tiefländer daran zu erinnern, dass du meine Frau bist, ehe sie alle ihr Herz an deine Schönheit verlieren.« Keisyl schaute mit einem leicht spöttischen Lächeln zu, wie sie sich in den Kreis einreihten. Sein Gesicht wurde für einen Moment ernst, doch dann rieb er sich die Hände in einem entschlossenen Ausbruch von Energie und stand auf. Er durchquerte den Saal, verbeugte sich tief vor einem der aufreizend gekleideten Mädchen und schaute das hübsche braunhaarige Ding von oben bis unten mit einer Bewunderung an, in die sich eine Spur Frechheit mischte. Das Mädchen zögerte, doch als sie den Neid ihrer zurückhaltender gekleideten Freundinnen sah, konnte sie nicht widerstehen. »Sehr gern, mein Herr«, sagte sie. Die Musiker stimmten einen fröhlichen Tanz an, und Keisyl 204
schwenkte das Mädchen herum, seine breite Hand fest um ihre schmale Taille gelegt.
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Erdigs Brücke, Große West-Straße 13. Nachfrühling
»Braucht ihr Hilfe?« Der Mann mit den Wurfmessern trat vor. Der Kupferton seines Haares war zu einem Mittelbraun verblasst, und seinem wettergegerbten Gesicht nach zu urteilen, schätzte ich ihn ungefähr auf Ryshads Alter, eine Hand voll Jahre älter als mich selbst. Frue redete kurz in der Waldsprache mit ihm, während auf den Gesichtern der anderem Reisenden eine Mischung aus Hoffnung und Furcht zu sehen war. Der Messermann sprach mit seinen Gefährten. Zwei von ihnen verschwanden wieder zwischen den Bäumen, doch die beiden anderen gingen, um den Zustand des Flusses zu begutachten. »Was haben sie vor, Frue?« Ich lächelte den Messermann höflich an, der mir ein Grinsen schenkte. »Sie wollen den Leuten helfen, über den Fluss zu kommen«, erwiderte Frue, stand auf und versuchte vergeblich, den getrockneten Schlamm von seiner Hose zu klopfen. »Was ist mit Zenela?«, fragte ich. »Bringen wir sie nach Burg Pastamar oder zurück nach Medeshale?« Frue nickte zum Waldrand hin. Eine Waldfrau, ungefähr in meinem Alter und mit einem Hirschlederbeutel auf dem Rücken, kam mit einem der Bogenschützen herbei. Sie kniete neben dem Mann mit den gebrochenen Beinen nieder und legte behutsam die Wunden frei. Ihre Miene blieb ungerührt, auch als 206
das schrecklich zerschundene Fleisch enthüllt war. Sie nahm einen kleinen Tontopf aus ihrem Beutel, der verkorkt und mit Wachs versiegelt war, erbrach das Siegel mit dem Daumennagel und strich eine Salbe auf ein Stück sauberes Leinen, wobei sie nickte, als der Verletzte etwas zu ihr sagte. »Was tun wir jetzt?« Sorgrad stocherte mit einem Stück Holz in der Asche unseres Feuers und setzte den Kessel aufs Dreibein, während ‘Gren in einem unbeachteten Gepäckstück wühlte und einen in Tuch gewickelten Schinken daraus hervorholte. Er schnitt ein Stück ab und reichte es mir, und ich kaute hungrig, trotz des modrigen Geschmacks nach Flusswasser. Sorgrad grub sein persönliches Teekästchen aus den Tiefen eines Koffers hervor und prüfte, ob die kleinen Gläser noch immer dicht gegen Feuchtigkeit und Luft verschlossen waren. »Sollten wir unsere Hilfe anbieten? Dann finden wir vielleicht heraus, was hier vor sich geht.« »Wir wollen sehen, wie die Runen fallen.« Ich beobachtete die anderen im Lager, die unsere unerwarteten Besucher offenen Mundes anstarrten. Die Fuhrleute und die Familien hießen die Neuankömmlinge bereitwillig willkommen, doch die Hausierer und Händler waren vorsichtig. Eine resolute Matrone brachte einen der Waldleute sogar dazu, seinen Bogen beiseite zu legen und Feuerholz zu sammeln. Die Waldfrau mit dem Hirschlederbeutel ging zu ihr, um mit ihr zu sprechen, und die Matrone schickte ein Mädchen, um dem Verletzten die Wunden zu verbinden. Die anderen Reisenden entspannten sich zusehends. Das Wasser war kaum heiß genug, dass Sorgrad Tee machen konnte, als so viele Waldleute erschienen waren, dass ich mich fragte, wie nah sie wohl gewesen waren. Jedenfalls nahm ich 207
an, dass es Waldleute waren, sie waren sich nicht auffallend ähnlich, jedenfalls nicht so wie Sorgrad und ‘Gren, die ganz offenkundig gemeinsames Blut aufwiesen. Es waren alles erwachsene Frauen und Männer, keine Kinder oder alten Leute, die mit einer Ungezwungenheit zusammenarbeiteten, die auf lange Vertrautheit schließen ließ. Eine Frau mit einer beeindruckenden Sammlung von Ringen, Ohrringen und goldenen und silbernen Halsketten wickelte ein dünnes Seil von ihrer Taille. »Das ist nicht fest genug, um irgendwas zu halten«, meinte ‘Gren zweifelnd und musterte das Seil mit geübtem Auge. »Sieh mal da rüber«, nickte Sorgrad und goss kochendes Wasser auf Kräuter in einem Mullsäckchen. Drei weitere hatten Seile bereit und schlangen sie geschickt zu einem dickeren Tau umeinander. Anschließend knoteten sie das Tau fest an ein ähnlich langes, das drei andere Leute geflochten hatten und warteten darauf, mit einem dritten Stück ein noch dickeres Seil zu flechten. Als ich einen Pfiff hörte, drehte ich den Kopf und sah Waldleute, die auf dem anderen Flussufer eine Eiche erklommen. Einer trat vor und klatschte in die Hände, und der größere von unseren ersten beiden Bogenschützen schoss einen Pfeil mit einem dünnen Seil daran ab. Der Pfeil bohrte sich vor die Füße des Mannes, der am anderen Ufer wartete, in den Boden. »Der hat gute Nerven«, murmelte ‘Gren anerkennend. Er rümpfte die Nase über ein vergammeltes Stück Brot und warf es weg. »Meinst du den Schützen oder den, der gewartet hat?«, fragte ich und zupfte eine zähe Fleischfaser zwischen den Zähnen heraus. An dem Seil wurde ein schwereres Tau ans andere Ufer ge208
zogen; der Fluss strömte in schlammigen Wirbeln darunter hinweg. Dann wurden zwei weitere Taue an dem ersten befestigt, eins in Handhöhe, das andere in Brusthöhe, und die Waldleuten überquerten den Fluss so sicher, als gingen sie über eine meterbreite Brücke. »Wie soll das Mädel vom Sänger das schaffen?«, fragte ‘Gren mit hochgezogener Braue. Ich sah mich nach Frue um. Er sprach mit dem Mädchen mit dem Hirschlederbeutel, während sie eine silberberingte Hand auf Zenelas Stirn legte. »Ich wette, er würde sich über einen Tee freuen, der ihn aufmuntert. Hast du Ringelblumensamen?« Sorgrad kam mit einem wenig appetitlichen Becher, auf dem dumpfgrüner Schaum schwamm. »Ich selbst nehme einen Schluck Wein, mit ein bisschen heißem Wasser und Honig«, setzte ich hoffnungsvoll hinzu. »Wie altmodisch.« Sorgrad schüttelte den Kopf. »Jedermann trinkt heutzutage Kräutertees.« Aber er machte kehrt, um eine Reihe von Flaschen zu untersuchen, die ein Kaufmann sorgfältig beiseite gelegt hatte. Ich durchquerte das geschäftige Lager und achtete darauf, nicht auszurutschen. Der Schlamm trocknete allmählich, doch die Nässe darunter war tückisch. Ich verlor fast das Gleichgewicht, als hinter mir ein hitziger Streit ausbrach. Die drei, die wir für Räuber hielten, standen sich Nase an Nase gegenüber. Zwei schubsten den dritten Mann weg und unterstrichen ihre drohenden Worte durch Gesten. »Worüber streiten sie?«, fragte ich einen Hausierer. »Sie haben gerade ihren Kameraden gefunden«, erklärte er ernst. »Mit durchgeschnittener Kehle.« Ich schüttelte den Kopf und ging weiter. ‘Gren gegenüber ein 209
Messer zu ziehen ist meistens der letzte Fehler, den einer macht. Ich schaute mich unter den verbliebenen Reisenden um. Die Kaufleute und Fuhrmänner waren damit beschäftigt, ihre Fahrzeuge und Tiere fertig zu machen, doch der Rest starrte voller Unbehagen auf die Seilbrücke und schüttelte nur langsam den Schock über die Flut ab. Frue sprach mit einem Waldmann, in einer Geschwindigkeit und mit einem Akzent, der meine kümmerlichen Kenntnisse der Sprache überforderte. Die grünen Augen des jungen Mannes blickten ein paar Mal in meine Richtung, freundlich und mit einem Anflug von Bewunderung. Er sah gut aus, hoch gewachsen und mit breiten Schultern. Sein Gesicht war sommersprossig, und sein Haar schimmerte wie poliertes Kupfer. Er trug ein Halsband aus Weiß- und Rotgold. Ich merkte, dass die Frau mit dem Hirschlederbeutel mich mit einer Belustigung betrachtete, die mir nicht gefiel. Sie hatte ungefähr meine Größe und Gestalt, sah aber aus, als könne sie ein wenig mehr Fleisch auf den Rippen vertragen. Kluge Augen unter schweren dunklen Brauen und mittelbraunem Haar musterten mich. Der Junge stellte ihr eine Frage, und ich war dankbar, dass ich ihre Antwort verstehen konnte, die langsam und mit einem deutlich anderen Akzent gesprochen wurde. »Sie braucht Ruhe und sorgfältige Pflege, wenn sie nicht an der Lungenfäulnis zugrunde gehen soll. Je mehr sie sich bewegt, desto schwächer wird sie.« Zenelas Gesicht hatte eine ungesunde Farbe im zunehmenden Tageslicht. Sie versuchte, einen leisen, andauernden Husten zu unterdrücken. Ihre verquollenen Augen waren groß und ängstlich, als sie von Frue zu der Frau sah, unfähig, dem Ge210
spräch zu folgen. »Wo ist der nächste Ort, an dem wir Pflege für Zenela bekommen?« Ich fragte mich, ob wir uns wohl von dem Sänger trennen mussten. »Orial wird sie pflegen. Ich bin vom Blute, und diejenigen unter meinem Schutz werden ebenso behandelt. Ich gehe und bereite alles vor.« Die Frau stand auf und wischte sich den Schmutz von den Lederhosen. »In der Zwischenzeit weiche das hier gründlich in abgekochtem Wasser ein. Sie soll es heiß trinken.« Sie entfaltete ein kleines, in Öltuch gewickeltes Päckchen und reichte Frue eine Hand voll getrockneter Blumen, nichts Geheimnisvolleres als Schlüsselblumen. Ich erinnerte mich gut an den bitteren Geschmack von den Erkältungen meiner Kindheit her. Ich reichte Frue den lauwarmen Tee. »Können wir noch für einen Tag bei euch bleiben? Wir könnten eine Ruhepause gebrauchen, ehe wir weiterziehen.« »Du bist vom Blute, du wirst schon willkommen sein.« Frue schaute mich an. »Kannst du dir deine Fragen über alte Lieder für später aufheben? Je eher diese Fremden über den Fluss sind, desto eher können wir Zenela an einen geschützten Ort bringen.« »Natürlich.« Ich lächelte Zenela aufmunternd an und ging zu Usara hinüber. »Was ist mit den Pferden und den Waren?« Ein Fuhrmann mit Stirnglatze sah zweifelnd zu den Waldleuten hoch, die dünne Seile um die Taue der Brücke wanden, die als Seitenteilen dienen sollten. »Wir können sie doch nicht da rüber tragen!« »Wir sollten es an der Furt versuchen«, erwiderte Usara. »Die 211
Brückenpfeiler werden verhindert haben, dass das Flussbett allzu sehr zerstört wurde.« »Ich schneide einen Pfahl«, murmelte der Fuhrmann ohne rechte Überzeugung und ging davon. Ich schaute nachdrücklich auf Usaras noch feuchte und schmutzige Ärmel. »Und wie ist die Furt?« »Fuhrwerke kommen durch, wenn sie es langsam angehen und ein zusätzliches Paar Pferde anschirren.« Usara stieß einen Seufzer aus. »Jedenfalls ist das, was gestern hier vor sich gegangen ist, abgeklungen, und daher kämpft das Wasser nicht gegen mich.« »Verausgabe dich nicht zu sehr«, warnte ich. Er lächelte dünn. Sein Blick fiel auf einen Punkt hinter mir. Als ich mich umwandte, sah ich Sorgrad näher kommen. »Ravin sagt, wir sollen die Leute in Bewegung setzen. Das Volk ist bereit, den Reisenden zu helfen, die von der Flut überrascht wurden, aber sie haben nicht vor, die Brücke den ganzen Sommer lang zu halten.« »Ravin?«, fragte ich. »Der mit den vielen Messern«, erklärte Sorgrad. Ich kletterte hinauf, um die Brücke zu erproben. Vorsichtig gewöhnte ich mich ans Schwanken. Als ich hinuntersah, blickte ich in einen Kreis von aufwärts gewandten, neugierigen Gesichtern. »Ich kann doch nicht klettern wie ein Eichhörnchen!«, sagte eine soluranische Frau hinter mir. Trotz des Schlamms, der ihr Kleid verkrustete, hatte sie irgendwo ein Spitzenhäubchen aufgetrieben und Zeit gefunden, sich die Haare zu kämmen und aufzustecken. Ich erkannte in ihr die Frau, die am Feuer die Organisation in die Hand genommen hatte. 212
»Das trifft auch für mich zu.« Auch Sorgrad erschien hinter mir. »Folgt mir langsam und versucht, nicht hinunterzuschauen«, riet ich ihm und der Frau. Ich ging langsam voran und spürte Sorgrads schwerfällige Schritte hinter mir. »Es ist einfacher, als es aussieht«, sagte ich, »und mir ist lieber, ich komme trockenen Fußes hinüber, als ein Bad zu nehmen!« »Mach schon, Mutter.« Ein eifriger Junge drängte die Frau nach vorn. Seine Schwestern rollten ein zersprungenes Weinfass herbei, das von einem Wagen gefallen war. Die Frau sah auf. Ihre Miene war ernst und entschlossen. Sie steckte den Saum ihrer Röcke in die Schärpe um ihre Taille, kletterte auf das Fass und zog sich schwerfällig auf die Brücke. Ein rechtzeitiger Schubs eines Fuhrmanns gegen ihr Hinterteil entlockte ihr ein Schimpfwort, das die Tochter zum Kichern brachte. »Halt das Gleichgewicht.« Ich lächelte sie ermutigend über die Schulter an. »Mach ganz langsam, einen Schritt nach dem anderen ... nicht hinuntersehen ... so ist es gut, schau mich an ... immer nur eine Hand und einen Fuß.« Ich fuhr mit dieser beruhigenden Litanei fort, während die Frau einen Schuh vor den anderen setzte. Die schmutzigen Strümpfe über den dicken Knöcheln wackelten ein bisschen, ihre Fingerknöchel waren weiß, so fest packte sie die Seile. Sie murmelte ständig Gebete an Drianon vor sich hin. Ich schloss mich ihr an, denn wenn sie ausrutschte, hatte ich keine Möglichkeit, sie zu halten. »So ist es gut, geh einfach weiter, wird sind gleich drüben.« Sie warf einen kurzen Blick auf das gelbbraune, gurgelnde 213
Wasser unter uns. »Nicht nach unten schauen«, fuhr ich sie an, und sie hob den Kopf vor Empörung. »Wenn du es nicht vormachst, wird niemand es wagen«, erklärte ich ihr leise. »Ihr werdet hier festsitzen. Es wird Tage dauern, ehe das Wasser in der Furt so weit gesunken ist, dass ihr es mit den Kindern wagen könnt. Also reiß dich zusammen.« Sie holte tief Luft und ging langsam, doch ohne zu stocken weiter, bis sie am anderen Ufer anlangte und hilfreiche Waldvolk-Hände sie auf das sichere Gras zogen. »Ich würde lieber noch fünfmal das Kindbett durchmachen«, sagte sie von ganzem Herzen und fächelte sich mit ihrem Schal Luft zu. Trotzdem war ihr Stimme fest, als sie zu ihren Kindern hinüberrief. »Mirou und Sarel, steckt eure Röcke hoch, dass sie nicht im Weg sind. Mach schon, jetzt ist nicht der Augenblick, dich zu schämen, weil Männer deine Beine sehen können, du dummes Kind! Esca, du folgst deinen Schwestern. Nein, immer nur einer zur Zeit, ich will nicht, dass ihr alle gleichzeitig über dem Wasser sein. Sei doch mal vernünftig, Mirou, und benutze beide Hände!« Diese strenge Ermutigung behielt sie bei, bis sie alle sicher auf festem Boden standen, wo sie die Kinder umarmte, als wollte sie sie nie wieder loslassen. »So, und worauf wartet ihr noch?«, rief die Frau den noch immer Zögernden auf der anderen Seite des Übergangs zu. Drianon gewährt Müttern einen Befehlston, dem nichts gleichkommt. Als die Sonne ganz über die Baumwipfel gestiegen war, hatten alle den Fluss überquert bis auf die Fuhrleute, die mit ihren Fahrzeugen warteten. Wir alle sahen zu, wie der erste Wagen in den Fluss glitt und die Männer schimpften, als das Wasser aufspritzte. Der Fluss hatte noch immer genug 214
Strömung, um die Karren beängstigend ins Schaukeln zu bringen. »Weiter, weiter!« Der Kutscher schlug auf seine Leitpferde ein und ließ ihnen die Peitsche um die Ohren knallen, als die Tiere vor dem eisigen Wasser zurückschreckten. Männer lehnten sich in die Seile, die an das Geschirr jedes Tieres gebunden worden waren, um die Pferde vorwärts zu ziehen. Die Tiere mühten sich voran. Mit großer Anstrengung zogen sie den schweren Karren heraus, zitternd und schwitzend, und wurden mit Freudenklapsen, sanften Worten und Bündeln voll frischem Gras belohnt. Der Fuhrmann war völlig durchnässt, strahlte jedoch vor Erleichterung. Alles, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, war wohlbehalten über den Fluss gelangt. Als auch die anderen Karren den Fluss durchquerten, bemerkte ich, wie sich Usara mit dem Kaufmann stritt, der bei dem letzten Karren wartete, und ich lief über die Brücke zurück. »Was gibt es?« »Ich glaube, wir sollten diesen Mann im Wagen nicht dem Risiko aussetzen.« Usaras Missbilligung war unter seiner angespannten Höflichkeit deutlich zu spüren. »Hory kann nicht über die Brücke«, protestierte der Kaufmann. Hory lag auf schmutzigen Decken auf dem Wagenboden; beide Beine waren grob geschient und mit dicken Verbänden umwickelt, die grünfleckige Umschläge hielten. »Du würdest Magie benutzen, um ihn über das Wasser zu kriegen, nicht?«, fragte ich sanft. »Natürlich«, sagte Usara verärgert. »Warum auch nicht?« Ich sah, wie die Angst Horys Augen verdunkelte. »Du kannst ihm vertrauen«, versicherte ich ihm. 215
Hory kniff die Lippen widerspenstig zusammen. »Die Furt ist sicher genug. Darauf vertraue ich.« »Deine Entscheidung.« Ich nahm Usara beim Ellbogen und führte ihn fort. »Lass die Runen doch fallen, wie sie wollen.« Usaras empörte Antwort hörte der Fuhrmann schon nicht mehr, da er bereits auf seine Pferde eindrosch und sie in den aufgewühlten Fluss trieb. Der Karren kippte sofort zur Seite, da keine Ladung Gewicht brachte, um ihn zu halten. Hory klammerte sich an die Seiten, kreidebleich vor Angst und fluchend wie ein Söldner. Der Kutscher schlug auf die Tiere ein, doch der Karren rutschte immer schiefer. Wenn Hory ins Wasser fiel, würde er nie mehr auftauchen. »Tu etwas, Usara«, drängte ich. »Warum sollte ich?«, fauchte der Magier mit unverhohlener Wut. »Schon gut.« Ich verschränkte die Arme. »Es wäre ja nicht das erste Mal, dass Dummheit jemanden zu Tode gebracht hat.« Usara schoss mir einen wütenden Blick zu, doch er schüttelte die Manschetten von seinen Handgelenken. Mit einem Blitz aus goldenem Licht, der die Sonne blass erschienen ließ, schickte er einen magischen Strahl ins Wasser. Der Fluss brodelte golden, himmel- und saphirblau um den Karren herum auf, und die Pferde legten sich ins Geschirr, während der Fuhrmann sich an sie klammerte. »Setz sie in Bewegung, du vaterloser Sohn einer pockenzerfressenen Hure«, knurrte Usara. Ihn so fluchen zu hören, gefiel mir noch besser als das Zauberlicht. Der Fuhrmann ließ seine Peitsche auf die ersten Pferde knallen, bis die Striemen auf ihren Leibern blutig waren. Ein Blick über den Fluss zeigte mir, dass alle mit offenem Mund und aufgerissenen Augen zuschau216
ten, wie der Wagen endlich den flachen Hang erklomm. Das letzte schwache Strahlen des magischen Lichtes an den Rädern verblasste, und das Wasser troff auf den schlammigen Boden. »Ich für mein Teil hätte ihn ja absaufen lassen«, bemerkte ‘Gren. Sorgrad stand ein paar Schritte hinter ihm. »Aber du bist auch kein Magier von Hadrumal, dazu ausgebildet, deine Magie fürs Wohl der Allgemeinheit anzuwenden.« Ich lächelte Usara freundlich zu. Der Zauberer murmelte etwas vor sich hin, warf Sorgrad einen ungerechtfertigt bösen Blick zu und stapfte davon. Er atmete keuchend; seine Wangen waren eingesunken, und er ließ erschöpft die Schultern hängen. ‘Gren hatte eine unbekannte Satteltasche über eine Schulter geschlungen, und mir fiel auf, dass die Räuber nirgends zu sehen waren. »Wohin sind denn unsere Freunde gegangen?«, fragte ich. »Haben sich auf den Rückweg nach Medeshale gemacht«, antwortete Sorgrad. Mit emsiger Geschäftigkeit brachen die anderen Reisenden auf, darauf bedacht, verlorene Zeit wettzumachen oder weit weg von Usaras Magie zu kommen. Die Waldleute begannen ihre Brücke abzubauen und ich sah, dass Orial mit einer Trage aus Zweigen und bunten Tüchern für Zenela zurückgekehrt war. »Dein ausländischer Mann da ist ein Magier?« Der gut aussehende Bursche kam herbei. Seine Augen funkelten vor Neugier. »Mein Freund«, stellte ich richtig. »Ja, er ist ein Zauberer.« »Diese Magie, wie lernt man sie?«, fragte er fasziniert. »Es ist eine Kraft, die angeboren ist.« Ich wandte mich meinem eigentlichen Vorhaben zu. Gute Taten am heutigen Tag 217
verhalfen mir vielleicht zu einem Guthaben bei Saedrin, doch was ich von diesem Leben wollte, war ein Guthaben bei Messire und Planir. »Verfügen die Waldleute auch über Magie?« Wir gingen hinter vier muskelbepackten Burschen her, die Zenelas Bahre trugen. Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben keine Zauber.« Ich bemühte mich um einen beiläufigen Ton. »Gar keine?« »Nein. Was führt dich denn um diese Jahreszeit in den Wald?« Er sah hoffnungsvoll drein. »Ich habe ein Buch mit uralten Liedern, von denen manche in der Sprache des Waldes geschrieben sind.« Ich lächelte aufmunternd. »Ich möchte mehr über diese Lieder herausfinden.« Wenn ich Frue dazu bringen konnte, diese alten Balladen zu singen, konnte ich nach jemandem Ausschau halten, der ein besonderes Interesse daran zeigte oder Erkennen verriet. Wir wanderten durch herrliches Frühlingsgrün; Teppiche aus blauen Hornveilchen eiferten dem strahlenden Himmel nach. In den meisten Balladen fällt natürlich die entscheidende Enthüllung, die den verlorenen Prinzen in die Lage versetzt, seine Ansprüche geltend zumachen, im Allgemeinen auf den Teil drei Verse vor Schluss. Das wahre Leben ist meiner Erfahrung nach nie so einfach. Die Siedlung, zu der uns Ravin führte, stellte eine Überraschung dar. Ich hatte nicht gerade Wilde erwartet, die unter den Bäumen saßen und darauf warteten, dass ihnen Nüsse in den Schoß fielen, aber ich hatte mir Behausungen aus Zweigen und Blättern oder so etwas vorgestellt. Wir fanden eine große Lichtung vor sowie geschäftige Waldleute zwischen einer Reihe runder Hütten, die mit dicken Matten aus gewebter Baumrinde 218
verkleidet waren. Eine Frau hängte bunt gemustertes Bettzeug zum Lüften über ein Holzgestell, das vom dauernden Gebrauch wie poliert wirkte, und Kinder spielten fröhlich mit ein paar jungen Hunden vor der Tür. Eine andere Gruppe Frauen saß bei Leder- und Näharbeiten zusammen. Die jüngeren neckten sich lebhaft mit ein paar Burschen, die Feuerholz zu Kegeln aufstapelten. Alle trugen eng geschnittene lederne Beinkleider und darüber Tuniken unterschiedlicher Länge und Schnitte. Die jüngeren Männer bevorzugten eine ärmellose Variante, die ihre muskulösen Arme besonders gut zur Geltung brachte, während die meisten Frauen Gewänder mit zahlreichen Taschen trugen. So viel zu den exotischen Geheimnissen der Wildnis. Dies hier war selbst für Ryshads Mutter heimelig genug. »Das ist wohl für uns gedacht.« Frue nickte zu einer Gruppe, die dabei war, ein neues Haus zu bauen. Ein Mädchen hob eine Feuergrube aus, während ein anderes Steine stapelte, um damit einen Ring um die Grube zu bilden, und ein drittes markierte einen Kreis auf dem gefegten Erdboden. Vier ältere Frauen flochten ein langes, biegsames Gitter aus dünnen durchbohrten Ruten, die mit Lederstreifen zusammengebunden wurden, während ein paar andere Rollen aus gewebten Matten herbeischafften. »Bringt sie hier herein.« Orial erschien an einer Tür, über deren Rahmen ein Gebinde aus Grünzeug hing. Die Bahre wurde abgestellt, und Frue trug Zenela in das niedrige Haus. Neugierig folgte ich und sah, wie sie auf ein Bettgestell gelegt wurde, das mit gegerbten Häuten bespannt und mit einer wollenen Decke überzogen war, die aus jeder beliebigen Stadt in Ensaimin hätte stammen können. Ein Hustenkrampf ließ Zenela keuchen; Tränen liefen ihr ü219
ber die Wangen, und ihre Augen blickten verängstigt. »Setz sie auf und schnür ihr das Kleid auf«, befahl Orial. Frue lehnte Zenela gegen seine Schulter, und Orial rieb eine ölige Salbe auf den Rücken des Mädchens, die streng nach Knoblauch und etwas anderem roch, das ich nicht identifizieren konnte. Ich hustete. Hier gab es vielleicht Geheimnisse für Apotheker zu ergründen, aber ich sah keine Anzeichen von dem Wunderglauben der soluranischen Heiler, die Halices Bein geflickt hatten. »Langsam und gleichmäßig ausatmen.« Orial legte ihr Ohr an Zenelas Mund, fühlte an ihrem Hals nach dem Herzschlag und zog ihr dann sanft ein Augenlid nach unten, um die Farbe ihres Blutes zu prüfen. Genau wie jeder andere Apotheker, den ich je aufgesucht hatte. »Und jetzt leg dich hin und versuch, ein wenig zu schlafen.« Sie scheuchte mich und Frue mit einer Handbewegung hinaus, und ich sah, dass Zenela schon schläfrig blickte. Ich überlegte, was wohl in dieser Salbe gewesen war. Frue ging an mir vorbei, um mit Ravin zu sprechen. Sorgrad, ‘Gren und Usara waren nirgends zu sehen, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Das Gefühl behagte mir nicht. »Du teilst dir das mit deinen Männern.« Orials Stimme hinter mir ließ mich zusammenfahren. Sie deutete auf das Gitterrund, das jetzt ein Dach aus kräftigeren Zweigen trug, die sich in der Mitte trafen und in einem alten Karrenrad mündeten, wie es aussah. Der Feuerrost, der soeben über der Grube befestigt wurde, sah ebenfalls verdächtig nach gehämmerten Radspeichen aus. Ich wollte fragen, ob ich helfen könnte, doch alle schien sehr geübt darin zu sein, zusammenzuarbeiten. Und ich wollte keine schlechte Figur abgeben, weil ich etwas falsch machte. 220
Ich setzte mich neben Orial, die ein paar Wurzeln in einem Mörser zerstampfte. Dicke Matten aus grobem Leinen wurden um die Wände unseres neuen Heimes gespannt, die wiederum mit fester, gewebter Borke bedeckt wurde, die mit Tauen aus geflochtenen Ranken fest verschnürt wurde. »Haben wir Ravin dafür zu danken?«, fragte ich. »Frue gehört zum Volk und kann deshalb in jedem Lager Unterkunft erwarten.« Orials Blick war ein wenig herablassend. »Du gehörst nicht zum Volk, auch wenn du vom Blute bist, oder?« »Du stammst auch nicht aus dieser Gegend«, entgegnete ich. »Deine Sprache unterscheidet sich von der der anderen.« »Ich komme aus dem tiefen Süden«, erwiderte Orial gelassen. »Ich reise, um neue Weisheiten kennen zu lernen. Ich werde zu gegebener Zeit zu meinen Leuten zurückkehren – für den Winter.« Ich hatte den Eindruck, dass sie noch etwas anderes hatte sagen wollen, doch ihr Gesicht war verborgen, weil sie etwas in ihrem Hirschlederbeutel suchte. »Welche Art von Weisheit suchst du?«, fragte ich. »Wie mein Freund Usara sie besitzt? Magie oder Zauber?« Orial zog ein kleines Messer unter dem Gürtel hervor und schabte Späne von einem lederartig getrockneten Stängel in ihre Paste. »Ich bin Kräuterkundlerin, wie meine Mutter vor mir und die meisten Frauen in meiner Sippe. Ich suche nach neuem Wissen über Wurzeln und Blätter, die Kräfte von Blumen und Früchten, die beruhigen und heilen.« Sie nickte zu dem neuen Haus hin. »Du solltest gehen und das erste Feuer im Herd entzünden, das bringt Glück.« Wie jede frisch gebackene Braut in Vanam, die die Küche in Besitz nahm, die bald zum Mittelpunkt ihrer Welt wurde? Nicht 221
wahrscheinlich, dachte ich. Orial summte wieder vor sich hin, ganz in ihre Arbeit vertieft. »Frue hat diese Melodie gestern Abend gespielt«, bemerkte ich. »Kennst du ihn?« »Erst seit gestern.« Orial zuckte die Achseln. »Es heißt ›Mazirs heilende Hände‹. Alle Heiler singen es, es bringt Glück.« »Würdest du es bitte für mich singen?« Ich saß auf der feuchten Erde, die Arme um die Knie geschlungen. Irgendetwas an dieser Melodie zupfte an mir wie ein lästiges Kind. Orial sah zur Sonne auf, die jetzt hoch am Himmel stand und goldene Flecken auf den Boden malte. Ihre Stimme war voll, als sie begann, und während die Melodie anstieg und fiel, lauschte ich genau auf die Worte. Kespar, wer immer das gewesen sein mag, war zu einer Wette mit Poldrion verleitet worden, dass er schneller über den Fluss zwischen dieser und der Anderwelt schwimmen als der Fährmann sein Boot hinüberrudern konnte. Doch um ein Haar hätten Dämonen ihn geschnappt, und Kespar kehrte nach Hause zu Mazir zurück, an Stolz und Körper arg mitgenommen. Sie heilte ihn mit Liebe, Kräutern und liebevollem Tadel. Das war zumindest der Inhalt der Verse, doch der Refrain bedeutet für mich nichts außer einem neckenden Echo. »Was soll das heißen«, fragte ich, »›ardeila menalen reskel serr‹?« »Das ist Jalquezan.« Orial suchte nach einer Übersetzung, als ich sie verständnislos ansah. »Wort-Musik.« »Aber was bedeutet es?«, beharrte ich. »Es bedeutet nichts.« Sie machte eine hilflose Geste mit ihrem Stößel. »Unsinn, nur Wort-Musik.« »Und es zu singen, soll Glück bringen?« Es juckte mich, zu 222
gehen und mein Liederbuch zu holen. Nach den Verzögerungen der Reise und den Rückschlägen der vergangenen Nacht sah es endlich so aus, als ob mir das Glück winkte. »Es ist eine Geschichte, die Medizin oder Umschlägen gutes Gelingen bringen soll.« »Gibt es noch andere Lieder, die du als Glücksbringer singst, vor allem für unterschiedliche Dinge?« fragte ich mit betonter Gleichgültigkeit. »Gibt es viele mit diesem Jalquezan?« »Es gibt noch ›Viyenne und die Rehe‹«, sagte Orial nach einem Augenblick. »Als sie vor Kespars Annäherungen floh, musste sie sich in ein Reh verwandeln und sich in dem Rudel verstecken. Dann ist da noch ›Seris und die Brücke‹, ›Mazir und der Sturm‹. Sie alle haben Jalquezan, aber ich weiß nicht, ob jemand sie aus bestimmten Gründen singt. Warum fragst du?« Ich zuckte die Achseln. »Aus Neugier.« Ich stand auf und ging zu unserem hübschen neuen Haus, wo Frue seine feuchte Decke ausrollte und auf dem Dach zum Trocknen ausbreitete. Unsere anderen Taschen waren drinnen gestapelt, und ich öffnete meine. Die Kleidung war feucht und roch wie ein Eimer voller Frösche, doch das Öltuch, in das ich das Liederbuch zusätzlich eingewickelt hatte, war sein Geld wert gewesen. Das Leinen darunter war selbst an den Kanten kaum feucht, und das Buch darin unversehrt. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Frue schaute mich mit einer Mischung aus Gereiztheit und Belustigung an, während er sorgfältig seine Laute in Augenschein nahm, die er wie durch ein Wunder vor der Flut gerettet hatte. »Warum holst du das hervor?«, fragte er mich. »Orial und ich haben uns über Lieder unterhalten, und ich 223
möchte gern ihre Meinung zu ein paar von diesen hier hören.« Ich lächelte ihn an. »Sie hat mir von dem Jalquezan erzählt. Das müssten doch die Teile sein, die du nicht übersetzen konntest?« Ich gab mir in Gedanken selbst einen Tritt, weil ich Frue missverstanden hatte, als er das gesagt hatte. »›Mazir und der Sturm‹, hier ist es. Eine Geschichte darüber, den rechten Weg zu verlieren und wieder zu finden.« »Niemand kann es übersetzen, das sagte ich doch schon.« Ich bemühte mich um einen beiläufigen Tonfall. »Du sagtest, es hätte keinen Sinn, diese Lieder auf der Straße zu singen, wo niemand den Text verstünde. Was hältst du davon, Orial ein oder zwei Lieder vorzusingen, während sie arbeitet? Die Menschen hier können ihnen folgen, und es wäre eine Geste, ihnen für ihre Hilfe zu danken und für die Pflege, die sie Zenela angedeihen ließen. Wir könnten ihnen etwas zurückgeben. Nutze den Tag, heißt es nicht so?« Frue sah sich auf der Lichtung um, wo Männer und Frauen bei leichten Arbeiten zusammensaßen oder müßig in der Sonne lagen. »Weißt du, wer immer auch dein Vater ist, Livak, ich wette, er ist ein Mann, der so einiges auf dem Gewissen hat.« Trotzdem nahm er seine Laute und ging damit zu Orial hinüber. Ich folgte mit dem kostbaren Liederbuch und schlug es in meinem Schoß so auf, dass Frue in die Seiten schauen konnte. Er sagte etwas zu Orial, das ich nicht verstand, und dann schlug er eine muntere Melodie an – ein Lied, das er bereits unterwegs für mich übersetzt hatte. Ein Mann war tief in den Wald hineingewandert, wo er eine seltsame Frau fand, die – aus einem Grund, der mir entging – sich in eine groteske Vettel verwandelte, als er sie verfolgte. Unser Held lehnte ihre Einladung ab, als ihr Liebhaber bei ihr zu bleiben und versuchte, den 224
Weg zurück zu seinem Volk zu finden, doch er verirrte sich hoffnungslos zwischen seltsamen Bäumen, wobei er noch seltsamere Begegnungen hatte, und alles führte ihn weiter von zu Hause fort. Als er endlich wieder an seinem Ausgangspunkt anlangte, musste er feststellen, dass er ganze fünf Jahre fort gewesen war, nicht nur die fünf Tage, die er durchlebt hatte. Jetzt, da ich es zum ersten Mal gesungen hörte, schrie dieses Jalquezan nach meiner Aufmerksamkeit, denn es unterstrich jedes Mal das Gejammere des Mannes über sein Elend. Der zugrunde liegende Rhythmus wurde immer vertrauter; Gens, der sanfte Gelehrte, hatte Ätherzauber mit genau demselben Takt verwendet. Die Elietimm-Schufte, die ihn getötet hatten, hatten auch ihr Bestes getan, mir mit bösen Hexensprüchen, die genau solche Kadenzen hatten, den Verstand aus den Ohren zu ziehen. Aber was bedeuteten die Worte? War das nun Zauberkunst oder Zufall? Frue beendete das Lied mit einem klingenden Akkord, und zwei Frauen kamen zu uns herüber. »Das ist eine Geschichte, die ich nicht mehr gehört habe, seit ich ein kleines Mädchen war«, lächelte die eine. »Ich habe ein Buch voll mit alten Liedern.« Ich wandte die Seiten um, sodass sie und ihre Kameradin sehen konnten. »Kennt ihr noch andere?« Die Frauen zuckten die Achseln. »Weder ich noch Serida können lesen«, erklärte die erste ohne jede Verlegenheit. »Was ist damit?« Frue blätterte ein paar Seiten zurück und runzelte die Stirn, als er die Griffe auf der Laute probierte. Sein Gesicht entspannte sich, und er begann eine Melodie mit einem schwierigen Tonwechsel in der Mitte der Strophe. Die Frauen nickten mit lachenden Augen und fielen in das fröhliche Lied 225
über den ursprünglichen Weißen Raben mit ein. Orial schaute von ihrer Arbeit auf und sang mit, und Frue wechselte in eine tiefere Harmonie, die sich mit der anderen vermischte und in elegantem Konterpart abfiel. Ich hörte aufmerksam zu und nickte im Takt, doch während die Melodie blieb, verschwammen die Worte im Chaos, sobald es zum Refrain kam. Lachend hörte Frue zu spielen auf, und Orial kicherte leise. Sie sagte etwas zu den Frauen, und ich verwünschte wieder meine mangelnde Kenntnis ihrer Sprache. Orial schaute mich an. »Das ist das Problem beim Jalquezan – jeder kennt eine andere Version!« Sie wiederholte ihre Bemerkung gegenüber der ersten Frau, die zustimmend nickte. »Dann noch einmal.« Frue spielte die Melodie, und diesmal waren sich alle einig über den Refrain; ihr mitreißender Gesang sorgte dafür, dass sich im ganzen Lager die Köpfe nach ihnen drehten. Immer mehr kamen herbei und fielen in das Lied mit ein, und jeder passte den Text, den er gewohnt war, der Mehrheit an. Die erste Frau sah mich an, als sie ihr Lied beendet hatten. »Du musst noch ein Feuer in deinem Herd entzünden, nicht wahr?« Ihr Tormalin klang für meine Ohren fast akzentfrei. »Du solltest es tun, ehe die Sonne zu sinken beginnt.« Sie stand auf, und so legte ich das Liederbuch behutsam neben Frue auf die Erde. »Passt du darauf auf, wenn ich es hier lasse?«, fragte ich ihn beinahe ängstlich. »Wie auf mein eigenes Kind«, versprach er. Da er während der Flut besser auf seine Laute aufgepasst hatte als auf Zenela, ging ich davon aus, dass er es auch so meinte. Ich überquerte die offene Lichtung, um die Frau einzuholen, die mit einem Bündel Zweigen aus ihrem Haus kam. »Ich bin Livak.« 226
»Ich heiße Almiar.« Da sie kaum Fleisch auf den Knochen hatte und ihre Haut gebräunt war wie feines Rehleder, konnte ich ihr Alter nicht schätzen, außer, dass sie zur Generation meiner Mutter gehören musste. Ihr rotbraunes Haar war von weißen Strähnen durchzogen, und ihre Augen waren von einem warmen Braun und lagen tief in einem Gewirr kleiner Fältchen, die gute Laune ihr eingegraben hatten. »Du bist hier sehr willkommen, Liebes.« »Ich bin neugierig wegen des Liedes, das ihr gesungen habt«, sagte ich. »Wie kommt es, dass ihr alle unterschiedliche Texte kennt, vor allem beim Jalquezan?« Almiar war dabei, ein ordentliches Feuer in der steingesäumten Grube aufzuschichten und legte gepresste Stücke getrocknetes Moos zwischen die Zweige. »Solche Dinge lernt man von seiner Mutter«, meinte sie achselzuckend. »So wie sie es von ihrer Mutter gelernt hat und die von ihrer Mutter und so weiter, den Jahresbaum entlang. Alles wächst und verändert sich. Lieder sind da keine Ausnahme.« Mit anderen Worten, mit jeder Abweichung und Wiederholung schlichen sich Änderungen in Betonung und Ausdrucksweise ein, bis das, was einst ein Ätherzauber gewesen sein mochte, eine von unzähligen Versionen irgendeines Unsinns war. Mein früherer Optimismus ging unter wie ein Stein. Es würde keine plötzliche Erleuchtung geben, die mich am Ende der Ballade direkt zum Festbankett führte. Almiar hielt mir Stahl und Feuerstein hin und spähte dann durch das Abzugsloch in der Mitte des Daches zur Sonne. »Du könntest wahrscheinlich noch ein Brennglas benutzen, wenn du das vorziehst.« Doch der Rhythmus, den ich von den Liedern draußen hörte, 227
besaß noch immer den pulsierenden Klang der Äthermagie. Ich räusperte mich. »Ich weiß ein anderes Mittel, ein Feuer zu entzünden.« Ich kniete neben Almiar nieder und holte tief Luft, um meine Bedenken zu vertreiben. Zauberkunst hatte sich in meinem Verstand eingenistet und mich schon mehr als einmal mit gnadenloser Hartnäckigkeit verfolgt. Ich hatte sehr zwiespältige Gefühle, ob ich sie je selbst benutzen sollte, aber dies hier war nur ein kleiner, ziemlich harmloser Trick, einer der ganz wenigen, die ich kannte, nicht mehr als ein Jahrmarktstrick, für den ich diesen Zauber zuerst tatsächlich gehalten hatte. »Talmia megrala eldrin fres.« Lag nicht die Weisheit des Volkes in der Obhut der älteren Frauen? Wenn sie sahen, dass ich ein wenig von dieser Kunst verstand, würden sie ihr Wissen vielleicht mit mir teilen. Almiar sah staunend zu, wie kleine gelbe Flämmchen zwischen den Zweigen knisterten und das Moos entflammten. »Wie hast du das gemacht?« »Es ist eine Art Zauber«, erklärte ich. Bewunderung verdrängte ihr anfängliches Erschrecken. »Dann bist du auch ein Magier, wie dein Mann?« »Seine Magie ist die der Elemente.« Ich schüttelte den Kopf. »Dies hier ist eine Magie, die man Zauberkunst nennt. Habt ihr nicht ähnliche Zauber beim Volk?« »0 nein, so etwas habe ich noch nie gesehen.« Almiar zog die Brauen hoch, und ich hätte jede Münze, die je durch meine Hände gewandert war, darauf verwettet, dass sie die Wahrheit sprach. »Es ist ein Wunder, nicht?« Ich lächelte, um meine Enttäuschung zu verbergen. Almiar blickte plötzlich besorgt drein. »Aber du wirst es den Kindern nicht zeigen, ja? Sie werden dann sicherlich quengeln, wenn sie 228
mit Stahl und Feuerstein arbeiten sollen, wo doch auch das Holz so nass ist ...« »Nein, ich werde den Kindern nichts sagen«, beruhigte ich sie. »Aber du könntest es für deinen Herd verwenden und es deinen Freundinnen verraten.« Wenn der kleine Feuertrick sich verbreitete, würde er vielleicht irgendwo einen Erinnerungsfunken entzünden. Ich warf die Runen jetzt auf gut Glück, aber mir fiel nichts besseres ein. »Versuch es selbst einmal«, drängte ich und fegte ein Stück Erde sauber, ehe ich ein kleines Häufchen Anmachholz aufschichtete. »Fühle den Rhythmus in den Worten.« »Könnte ich das wirklich?« Die Versuchung stritt mit ihrer angeborenen Vernunft. »Konzentrier dich einfach auf die Worte«, ermutigte ich sie. »Talmia megrala eldrin fres.« Wie Almiar es sagte, war ich davon überzeugt, dass der Tonfall des Waldvolkes hinter den unverständlichen Worten steckte. Ein leichtes Flackern entzündete das Holz. »Das ist wirklich erstaunlich!« Freude und Erstaunen glänzten in Almiars dunklen Augen. »Wirst du heute für deine Männer kochen, oder würdet ihr gern an meinem Herd essen?« »Es sind nicht meine Männer«, erklärte ich entschieden. Und wenn sie es waren, würden sie gewiss die Kochkunst jedes anderen der meinen vorziehen. »Wir würden uns geehrt fühlen, mit dir zu essen.« Almiar blieb in der Tür stehen. »Du hast das Gespür deines Blutes, Kind, obwohl du als Ausländerin erzogen wurdest.« Ohne ein weiteres Wort ging sie hinaus. Ich schaute mich in dem Häuschen um und seufzte. In den milden Tagen des Frühlings und des Sommers war es ja gut und 229
schön hier drinnen, aber ich hätte einen Pfennig gegen eine Wagenladung gewettet, dass dieses Haus im Winter bitterkalt und feucht war. Mir wäre ein stabiles Haus aus Stein mit einem großen Kamin lieber gewesen, dazu vorzugsweise noch so viel Geld, um ein Mädchen zu bezahlen, dass sich den Rücken krumm arbeitete und das Kochen und Saubermachen übernahm. Ich überlegte, wo die anderen steckten und trat blinzelnd hinaus den Sonnenschein. Die Waldleute arbeiteten vor ihren Häusern. Eine Frau kam und stellte mit einem freundlichen Lächeln einen Stapel Kochtöpfe vor unsere Tür, und ein Mädchen bot mir schüchtern eine Schale Wasserkresse an, die es an einem Bach gepflückt hatte. In Vanam hätte ich beides an jeder Straßenecke kaufen können.
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4.
Auch wenn es ein Liebeslied ist, zeigt dieses Lieblingsstück der Waldsänger unbestreitbar, dass wir alle dieselben Göttern verehren, so fremd ihr Volk uns auch erscheinen mag. Trimon nahm seine Harfe auf als er sang, den Tag zu grüßen. Der Saft stieg in den Bäumen Und die Frühlingssonne erhellte seinen Weg. Larasion pflückte Blüten aus den Domen, als Trimon sie mit süßen Worten umwarb, und sie blieb bei ihm, bis der Morgen kam. Larasion ging leise, Sommerblumen im Haar, traf Talagrin, der einsam Holz schnitzte, und sie blieb stehen, sein Herz zu erleichtern. Talagrin ging auf die Jagd durch das goldene Herbstlaub. Als er Halcarion begegnete, die im Mondlicht tanzte. Halcarion erwiderte seine Leidenschaft, als er seine Schritte den ihren anglich bis Trimons Musik zum Frost sie zog zu den immergrünen Tannen. 231
Der Große Wald 13. Nachfrühling
»Ich bedanke mich für das ausgezeichnete Mahl.« Sorgrad verbeugte sich mit vollendeter Anmut vor Almiar, und der elegante Schwung seines samtgekleideten Armes ließ den Schlamm vergessen, der den goldbraunen Stoff verkrustete. Das Wams schimmerte im Licht der untergehenden Sonne, das durch die Bäume fiel. »Gern geschehen«, antwortete Almiar ein wenig verwirrt. »Um den Hunger zu stillen, braucht es nicht mehr als einen guten Koch, doch um den Gaumen zu erfreuen, verlangt es nach einem Künstler.« Er redete wie ein tormalinischer Adliger, und ich verkniff mir ein Grinsen. Ich kannte ‘Gren und Sorgrad noch aus den Tagen, als sie zusammen drei Paar Hosen, drei Hemden, zwei Wämser und einen fadenscheinigen Umhang besaßen. Ich nahm eine Schale aus Apfelbaumholz. »Ich werde dir beim Abräumen helfen.« »Nein.« Almiar nahm mir die Schale ab. »Wenn ich euch einlade, an meinem Feuer zu essen, möchte ich nicht, dass ihr dafür arbeitet.« Ich lächelte sie an. Das war eine zivilisierte Sitte, so weit es mich betraf. »Dann sehe ich nach Zenela im ... im ...« »Rundhaus«, half Almiar aus. »Sura in der Sprache des Blutes.« Sie stapelte die Schalen in eine größere, die eine Mischung aus grünen Blättern enthalten hatte, von denen mir einige bekannt waren, andere nicht, alle aber waren schmackhaft. Ein 232
irdener Topf hatte das geschnetzelte Fleisch eines alten Hasen enthalten, gut gewürzt mit Kräutern, langsam geschmort und bedeckt mit einer saftigen Fettschicht. Einer Köchin, die so etwas auf den Tisch brachte, gebührte höchstes Lob. Ich glaube jedoch nicht, dass die Waldleute immer so reichhaltig aßen, im Gegenteil sahen sie aus, als wären ihre Mahlzeiten eher kärglich. Wir gingen zu unserer Sura. Ich überlegte, wie die Mehrzahl des Wortes ›Sura‹ wohl lautete. Würde das die Siedlung als Ganzes bezeichnen? Ich wusste herzlich wenig von dem Volk, von dessen Blut ich vermutlich war. ‘Gren kaute noch auf einem Stück Fladenbrot. »Normalerweise schätze ich es nicht besonders, Blätter zu essen.« Ich grinste ihn an. »Dann solltest du dich daran gewöhnen.« Sorgrad musterte die Sura, die der unseren am nächsten stand. »Wie lange leben sie schon hier? Was meinst du? Dieser Hase war ordentlich abgehangen.« Ich betrachtete die zertrampelte Erde zwischen den Häusern und das Fehlen von Fallholz unter den umstehenden Bäumen. »Lange genug, um nach Brennholz suchen zu müssen.« Sorgrad zuckte die Achseln. »Und was nun? Willst du diese Sache mit den Liedern weiterverfolgen?« Ich erzählte ihnen von meinem Erlebnis früher am Tag. »Frue hat das Buch noch«, berichtete ich, »und ich finde, wir schulden es ihm, dass wir ihm Zeit genug lassen, sich alles herauszusuchen, was er haben will. Ohne ihn hätten wir diese Gastfreundschaft nicht bekommen.« Ich fuhr mir mit der Hand übers Haar und merkte, dass immer noch Schlamm daran klebte. Dann warf ich einen Blick auf die kleinen Hütten, deren Türen jedem offen standen, der eintreten wollte. Das Waldvolk schien sehr 233
vertrauensselig zu sein. Oder lag es einfach daran, dass sie nichts besaßen, was zu stehlen sich lohnte? Ihr Schmuck war recht wertvoll, aber den behielten sie um Hals und Arme. Als wir an Orials Schwelle vorbeikamen, trat Frue heraus, gefolgt von einer nach Thymian duftenden Dampfwolke. »Wie geht es Zenela?«, kam ‘Gren meiner Frage zuvor. »Orial glaubt, dass sie es schaffen wird«, antwortete Frue fröhlich. Er ging neben uns her und zog die Hirschhaut hoch, die unsere Tür bildete. »Hat jemand Zenelas Taschen gerettet?« Wir alle schüttelten den Kopf. »Die hat sich der Fluss geholt.« Ich duckte mich ins Haus, stocherte in dem kleinen Feuer und legte ein paar Zweige darauf, um für Licht und Wärme zu sorgen. »Was braucht das Mädchen denn?«, fragte Sorgrad. »Schmuck«, antwortete Frue zögernd. »Schmuck?«, wiederholte ich ungläubig. »Das Mädchen ertrinkt beinahe, ist von oben bis unten in stinkende Umschläge gehüllt – und nun will sie gut aussehen, falls jemand zu Besuch kommt?« »Es steckt ein wenig mehr dahinter«, sagte Frue. »Aber du weißt ja nichts über das Volk, von dem du dein Blut hast.« »Keinen Streit!«, sagte Sorgrad scharf. »Nein, er hat schon Recht.« Ich ließ mir nicht anmerken, dass mir die Worte des Sängers einen Stich versetzten. »Also, wozu braucht sie den Schmuck?« Der Feuerschein warf scharfe Schatten auf Frues Gesicht. »Zenela würde gern eine Weile bei dem Volk bleiben.« »Aber sie hat kein Waldblut«, meinte Sorgrad zweifelnd. »Das ist kein Hindernis.« Frues Augen waren im Halbdunkel nicht zu sehen, doch es klang ein wenig beschämt. »Sie hat 234
Gefallen an den Balladen und Geschichten gefunden, vor allem an den romantischeren.« »Und der Schmuck?«, fragte ich. »Was ist nun mit dem Schmuck?« »Es ist Sitte beim Volk, dass ein Mann der Frau, die ... äh, in seiner Gunst steht, ein Zeichen aus Gold oder Silber gibt.« Frues vorsichtige Ausdrucksweise wurde von seinem Grinsen Lügen gestraft; seine Zähne blitzten im Schein des Feuers. »Wenn eine Frau ihren Schmuck trägt, zeigt sie damit, dass sie offen für Angebote ist, und im Allgemeinen geht man davon aus, dass eine Frau eine umso bessere Ehefrau abgibt, je mehr Erfahrung sie hat.« ‘Gren grinste lüstern. »Und wie hoch ist die Quote für einen Gunstbeweis?« »Ihr Ausländer versteht aber auch gar nichts.« Frue schüttelte den Kopf. »Na, egal.« Ich trug keinen sichtbaren Schmuck und fragte mich natürlich, was die Frauen daraus schlossen. »Ich glaube«, sagte ich, »wir können schon etwas auftreiben.« Ich warf ‘Gren einen bedeutungsvollen Blick zu. Frue nickte. »Wo ist Usara?« »Er war bei Ravin zum Essen eingeladen«, erklärte ich. »Hast du auch schon gegessen?« Frue nickte. »Bei Orial. Du weißt, dass du diese Höflichkeiten an deinem eigenen Feuer erwidern musst?« Aha. Das also war der Haken an dieser ganzen fröhlichen Großzügigkeit. »Vergiss das nicht«, sagte ich zu Sorgrad. »Wie kommst du darauf, dass ich kochen werde?«, gab er zurück. »Weil du mir immer sagst, ich könne nicht mal Wasser ko235
chen, ohne das Feuer zu löschen«, erwiderte ich. Frue stand auf. »Ich möchte selbst zu Ravin.« Im Vorbeigehen nahm er seine Laute von dem Stapel bunter Decken, die wir von verschiedenen Nachbarn bekommen hatten. »Bis später.« Ich wandte mich an ‘Gren. »Na, was haben wir von diesen Pferdeburschen, das dazu beitragen könnte, dass Zenela die Aufmerksamkeit eines gut aussehenden jungen Mannes erregt?« ‘Gren öffnete sein Hemd, band ein Stück Leinen von seiner Taille los und wickelte es auseinander. »Ich weiß nicht, wo sie auf Jagd waren, aber sie haben reichlich Beute gemacht.« Ich hielt eine kleine Brosche mit Amethysten näher ans Licht des Feuers. »Wrede-Arbeit, meinst du nicht?« Ich reichte es Sorgrad, der mir überlegen war, wenn es um Schmuck ging. »Ziemlich sicher. Ich würde sagen, sie haben auf der Seestraße gearbeitet.« Sorgrad musterte ein Halsband. »Auf der Straße von Bytarne vielleicht. Dies ist jedenfalls im Seenland gefertigt, auch dieser Ring mit dem Blattmuster.« Ich nahm den Silberring in die Hand. »Der müsste Zenelas Größe haben. Was ist mit dem Rest?« ‘Gren lachte. »Den teilen wir. Ein paar Dinge für das Mädchen, der Rest für uns drei, ja? Wenn ich es recht verstanden habe, gibt unser Magier sich mit solchem Kleinkram nicht ab.« »Stimmt. Ich glaube nicht, dass wir ihn mit solchen Dingen belasten sollten«, pflichtete ich ihm bei. Sorgrad teilte den Schmuck rasch in drei wertgleiche Haufen. Ein goldenes Halsband, den Ring mit dem Blattmuster und einen kupfernen Armreif, in den ein polierter Bernstein gefasst war, legte er beiseite. »Das kann Zenela haben.« »Das verschafft ihr wahrscheinlich das Ansehen größerer Erfahrung, als sie sich tatsächlich rühmen kann«, meinte ich. 236
Sorgrad grinste mich an. Ich griff nach meinem Anteil und schob ihn rasch in die Tasche, als draußen Schritte erklangen und ein Schatten auf der Schwelle erschien. Usara hob den Türvorhang. »Störe ich bei irgendwas?« »Hat es geschmeckt?« Ich zupfte mein Hemd beiläufig zurecht, um zu verbergen, dass mein Wams voll gestopft war. »Ja, sehr gut.« Usara sah uns alle leicht misstrauisch an. »Kannst du kochen?«, fragte Sorgrad und erstickte damit wirksam jede weitere Frage. »Erstreckt sich deine Magie auch auf so weltliche Dinge?« »Natürlich kann ich kochen, aber meine Talente liegen eher im Umgang mit Feuer«, erwiderte Usara. »Willst du damit sagen, dass Feuermagier gute Köche abgeben?«, unterbrach ich interessiert. »Ja, schon.« Usara nickte. »Dann ist das Kochen deine Aufgabe, wenn wir die Leute als Gegenleistung für die Mahlzeiten, die wir bei ihnen eingenommen haben, einladen müssen«, erklärte Sorgrad. ‘Gren stand auf. »Ich besuche Zenela«, sagte er mit einem raubtierhaften Grinsen und ging. »Sagt mal, worüber habt ihr gerade gesprochen?« Usara blickte düster von mir zu Sorgrad. »Wusstest du, dass Waldmädchen Schmuck als Gegenleistung für ihre Gunst erwarten?«, fragte ich. »Nein, das wusste ich nicht.« Selbst im schwachen Schein des Feuers konnten wir sehen, dass Usara errötete. Er hätte sich nie seinen Lebensunterhalt als Spieler verdienen können. »Warum wirst du so rot? Hat dir eine schöne Augen gemacht?«, fragte Sorgrad. 237
»Ein paar der jüngeren Frauen haben Interesse an meiner Magie bekundet.« Usara versuchte vergebens, unbekümmert zu erscheinen. »Deine Magie?«, wiederholte Sorgrad mit angedeuteter Skepsis. »Richtig.« Usara räusperte sich. »Sie scheinen fasziniert davon zu sein, nicht wie diese misstrauischen Bauern.« Sorgrad warf ihm eine silberne Halskette mit rautenförmigen Gliedern zu, die der Magier mit überraschendem Geschick auffing. »Hier hast du etwas, das die Augen eines Mädchens zum Leuchten bringt, wenn du ihr eine Probe deines Talents gegeben hast.« Was er meinte, war eindeutig zweideutig. »Es ist nicht meine Gewohnheit, beiläufige Eroberungen zu machen. Trotzdem vielen Dank«, erwiderte Usara frostig. »Hast du daheim in Hadrumal jemanden oder ...«, ich zögerte, »hast du die gleiche Vorliebe wie Shiv?« »Bitte?« Usara schaute mich erstaunt an. »Nein, nein, meine Vorliebe gilt Frauen. Und ich habe mit niemandem ein besonderes Verhältnis, auch wenn ich nicht wüsste, was dich das angeht.« Ich hob die Hand. »Ich wollte dich nicht beleidigen.« »Die Studien in Hadrumal lassen wenig Zeit für andere Vergnügungen.« Usara versuchte, streng dreinzuschauen, klang aber brav. »Außerdem ist es eine kleine Stadt, und man macht sein eigenes Nest nicht schmutzig, nicht wahr?«, versuchte Sorgrad es grinsend auf gut Glück. »Warum gönnst du dir hier nicht ein bisschen Spaß, solange du die Gelegenheit hast? Ein Mädchen wird dir vielleicht sagen, was sie weiß, wenn du ihr deine Zauberkünste zeigst.« Er stand auf und wischte sich ein Stäubchen 238
vom Wams. »Wenn ich mich ein bisschen vorzeigbarer herrichten kann, will ich mal sehen, ob diese Waldleute mit den Runen genauso geschickt sind, wie es immer behauptet wird.« Ich sah Usara an, als Sorgrad gegangen war. »Was hast du heute Nachmittag gemacht?« »Unter anderem hab ich mich mit Ravin unterhalten.« Der Magier seufzte. »Wir haben hier Waldleute unterschiedlichster Herkunft, wusstest du das? Diese Leute lassen sich einen Winter lang irgendwo nieder, und verschiedene Gruppen beschließen, eine Jahreszeit zu arbeiten. Wenn der Frühling kommt, trennen sie sich wieder, schließen neue Bündnisse und ziehen weiter. Manche bleiben mit ihrer Sippe zusammen, andere schließen sich Gruppen an, die wer weiß wie weit reisen. Keiner hat so etwas wie ein festes Zuhause. Ein paar dieser Leute hier sind seit Jahren mit Ravin zusammen, andere haben erst seit letzten Herbst oder gar erst seit den vergangenen paar Tagen.« »Das Leben ist Wachstum und Veränderung, Knospe, Blüte und Frucht.« Ein paar längst vergessen geglaubte Worte meines Vaters kamen mir in den Sinn, und ehe es mir bewusst war, hatte ich sie laut ausgesprochen. »Entschuldige. Was willst du damit sagen?« »Ich sehe wirklich nicht, wie du hier etwas Wertvolles zu erfahren könntest«, sagte er zweifelnd. »Hier gibt es keine Beständigkeit, ob in Herkunft oder Brauchtum oder Geschichte, so weit ich es verstanden habe. Ich habe fast den ganzen Nachmittag mit Ravin und drei anderen zusammen gesessen und mit ihnen gesprochen. Selbst wo sie sich einig sind, haben sie alle andere Versionen bestimmter Ereignisse. Wie sollen wir entscheiden, was Hinzufügungen oder Auslassungen sind? Oder völlig falsche Elemente einer solchen Geschichte?« 239
»Wir sind ja nicht hier, um ein neues Kapitel für die Annalen von Col zu schreiben«, erinnerte ich ihn. »Wir suchen nach Wissen, das in den Liedern verborgen ist.« Ich verbarg meine eigenen Zweifel hinter einer optimistischen Miene. »Hast du jemanden gefunden, der die Abschnitte übersetzen kann, die Frue nicht entziffert hat?« »Nein, aber die Älteren waren hilfreich«, entgegnete ich. »Ich gebe noch nicht auf.« »Hier gibt es herzlich wenig Menschen jenseits der zweiten Generation«, bemerkte Usara kopfschüttelnd. »Das Leben in der Wildnis ist hart. Wenn es hier irgendwo weise alte Leute gibt, die auf versteckten Lichtungen über Geheimnisse verloren gegangener Magie brüten, fresse ich dieses Liederbuch.« »Nicht jede Weisheit und Gelehrsamkeit muss mit Tinte niedergeschrieben und in Bibliotheken vergraben werden«, erklärte ich. »Wenn du überzeugt bist, dass du nichts finden wirst, wird genau das eintreten. Das einzig Gewisse im Leben sind Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und Saedrins Tür am Ende des Lebens.« Je niedergeschlagener der Magier klang, desto entschlossener wurde ich, ihn umzustimmen. »Ich sehe mal nach, ob Sorgrad ein lohnenswertes Spiel gefunden hat.« Ich verließ die Sura und sah mich im Lager um. Kleine Kinder wurden ins Bett gescheucht, und ein paar Erwachsene saßen bereits an Feuern. Eine Gruppe müder Frauen entspannte sich bei Getränken und Gesprächen; das Nähzeug hatten sie jetzt beiseite gelegt, da das Licht nicht mehr ausreichte. Ein paar Männer, deren Schöpfe mehr weiß als kupferfarben waren, saßen neben einem Ständer mit Speeren; ihren heftigen Gesten nach zu urteilen, gaben sie Episoden aus ihrer Jugend zum Besten. 240
Es war ein heimeliges Bild, und ich fühlte mich fehl am Platze. Nachdem ich der erstickenden Häuslichkeit in Vanam und später auch in Zyoutessela entflohen war, hatte ich kaum erwartet, sie hier in der Wildnis wieder zu finden. Was war mit den Liedern, die mein Vater mich gelehrt hatte? Lieder von Abenteuern und Mut, von Schabernack und Frohsinn? Was war mit der alten Zauberkunst, von der ich so sicher gewesen war, dass sie die Grundlage solcher Geschichten bildete? Hatte ich den anderen eingeredet, Schatten im Nebel nachzujagen? Ich sah mich nach dem gut aussehenden Burschen mit dem geflochtenen Halsband um. Er war nirgends zu sehen, ebenso wenig wie seine fröhlichen Gefährten. Auch die hübsch herausgeputzten Mädchen, die plaudernd und mit betörenden Blicken Holz und Wasser geschleppt hatten. Leise Musik wehte einsam in der lauen Abendluft heran. Ich folgte den Klängen in die Dunkelheit des nächtlichen Waldes und lächelte leicht. Wenigstens verlieh mein Waldblut mir eine bessere Nachtsicht als den Ausländern, ein nützliches Erbteil meines Vaters bei meinem Wanderleben. Hinter einer sanften Anhöhe sah ich den goldenen Schein eines Feuers in einem dichten Ring aus Baumstämmen und schob mich vorsichtig näher. Allein in der Dunkelheit betastete ich meinen Anteil an der Beute der Räuber. Ich konnte mich mit genügend Schmuckstücken ausstaffieren, die meine Eroberungen darstellen sollten, doch was würde ich damit erreichen? Ich würde klimpern wie eine Festrassel und war Angeboten gegenüber ja nicht offen. Ich zog das Lederband hervor, das ich um den Hals trug und wog die Ringe, die daran hingen, in einer Hand. Einen schmucklosen Goldring hatte ich von einem dummen Vetter 241
beim Sonnwendfest gewonnen – bloß ein Stück gutes Metall, das mich eines Tages aus Schwierigkeiten freikaufen mochte, aus denen ich mich nicht herausreden konnte. Der andere Ring bestand aus einem schmalen Rotgoldreifen, mit zierlichen Perlen am Rand und schön graviert mit dem stilisierten Wellenmuster, das die Südtormaliner so lieben. Der Ring war Ryshads Sonnwend-Geschenk für mich. Meiner Eitelkeit schmeichelte es nicht besonders, dass diese Leute dachten, ich könnte nichts besseres bekommen als Usara, doch wenn ich diesen Ring trug, als Erinnerung an Ryshad, würde niemand wissen, was er bedeutete. Ich verbarg die Ringe wieder unter meinem Hemd und verstaute den anderen Schmuck in meiner Börse. Sollten diese Leute doch über mich denken, was sie wollten. Die Blätterdecke des Waldbodens wich einem weichen Teppich aus abgefallenen braunen Nadeln, und das grüne Unterholz streifte nicht länger meine Beine. Moos klebte an knorrigen und verkrümmten Wurzeln, die sich wie alte Finger an die Erde klammerten, und ich legte eine Hand auf die raue, abblätternde Borke einer Eibe. Es war ein jüngerer Baum, aufrecht und fest, dessen Kernholz stark und dauerhaft war. Ich bewegte mich näher zum Licht, wo die Bäume sich unter dem Gewicht ihrer Jahre beugten, gespalten bis ins Herz, wo Zeit und Verfall das tote Holz zerfressen hatten. Doch die äußeren Hüllen wuchsen kräftig, und neues Holz schmiegte sich wie Ton über das alte. Der Feuerschein war jetzt heller, und ich hörte Stimmen und Gelächter. In der Mitte des Wäldchens stand der älteste Baum, ein gedrungener Halbkreis mit tiefen Rissen in hohlem Holz, dessen Äste sich nach außen bogen und sich wieder zur weichen Na242
delschicht hinunterneigten. Einige hatten frische Wurzeln geschlagen, aus denen helle Schößlinge sprossen, während daneben totes Fallholz lag. Der Mittelstamm war gekrönt mit Frühlingsgrün, zarten glänzenden Nadeln, die aus dem alten Holz spähten. Ich atmete den harzigen Duft ein, und Erinnerungen aus der Kindheit wurden wach. Nein, dieser ungezähmte Ort wies kaum Ähnlichkeit mit den Hainen auf, die in den Städten Ensaimins gepflegt und eingezäunt wurden. Ich hatte meine Mutter einmal gefragt, warum die geheimnisvollen Bäume so streng eingezäunt wurden und war enttäuscht über ihre Erklärung, dass sie giftige Beeren trügen. Wenn ich diesen mächtigen Baum betrachtete, der seinen Stand behauptete und seinen Bereich durch Samen und Äste vergrößerte, hatte ich das Gefühl, meine Kindheitsfantasien waren berechtigt. Diese Bäume waren eingezäunt worden, damit sie die Tyrannei von Stein und Ziegeln nicht vertrieben. Aber das war nur die Vorstellung eines Kindes. Für den Augenblick hatte ich gefunden, was ich suchte. Die Leute saßen dort, wo herabgefallene Äste Sitzgelegenheiten ergaben oder wo die lebendigen Äste des Baumes so tief herabhingen, dass sie eine Umarmung boten. Kleine Gruppen nährten das Feuer mit dem toten Holz, das der große Baum und seine kleineren Tochter gewährten. Die Flammen brannten in einem hellen Gelb, mit weißem Herzen, und knisterten und wogten wie ein Lebewesen. Während ich noch überlegte, wie ich mich in diesen Kreis einschmeicheln konnte, sah einer der mir am nächsten Sitzenden auf, und ich erkannte den gut aussehenden Burschen. »Komm zu uns.« Er streckte mir eine Hand zum Willkommen entgegen. 243
»Einen schönen guten Abend euch allen.« Ich setzte mich neben ihn und lächelte, freundlich und bescheiden, so bin ich eben. Drei Paar weiblicher Augen musterten mich nach Schmuck, und ein Anflug von Enttäuschung in den Blicken der Männer schmeichelte mir. »Du heißt Livak?«, fragte einer höflich. »Vom Blute, aber in der Fremde aufgewachsen?« Sein Haar und sein kurz gestutzter Bart wirkten eher braun als rot, doch das konnte auch am Licht liegen. Sein Gesicht hätte man überall in Ost-Einsaimin finden können, mit rundem Kinn und schweren Brauen, doch seine lebhaften grünen Augen gehörten ohne Zweifel zum Waldvolk. »Stimmt.« Mir fiel eine Zeile aus einem alten Lied ein. »Mein Vater warf seine Träume in den Wind und folgte ihnen. Er war Sänger und blieb eine Weile, um für meine Mutter zu singen, die in einer Stadt in Ensaimin lebte.« Und nie mehr Gefallen an Musik gefunden hatte, nachdem Vater fortgegangen war. Ich verwarf diesen unwichtigen Gedanken. Das Mädchen neben ihm sagte etwas, das ich nicht verstand, doch ihr Lächeln war so honigsüß, dass ihre Bemerkung wahrscheinlich nicht besonders höflich war. »Ich spreche die Sprache des Waldes ein wenig.« Ich schaute den bärtigen Mann mit strahlendem Lächeln an. »Du brauchst dir keine Mühe zu machen. Wir alle lernen die Sprache der Ausländer, um weiter reisen und besser Handel treiben zu können. Auch Waldleute, die von weit her kommen, haben einen Akzent, der unseren Ohren fremd ist.« erwiderte er und lächelte zurück. »Ich heiße Parul.« »Ich bin Salkin«, sagte der gut aussehende Bursche mit dem Halsband, worauf sich auch die anderen vorstellten. Nenad war ein magerer Jüngling mit knochigem Gesicht und Sommer244
sprossen. Die Mädchen, Schwestern mit guter Figur und gelocktem, kastanienbraunem Haar, hießen Yefri, Gevalla und Rusia. Alle trugen eine Reihe unauffälliger Schmuckstücke und einen verstohlen hoffnungsvollen Ausdruck in den Augen. »Was tut ihr da?« Auf einem viereckigen Stück Leder auf dem Boden waren Runen aus Holz ausgebreitet, jede etwa halb so lang wie meine Hand; sie waren größer als die Steine aus Bein, die ich selbst besaß. Drei Dreiecke aus je drei Runen waren zu einem großen Dreieck zusammengelegt, sodass in der Mitte ein viertes entstand, wie ein Geburtszeichen. »Wir wollen sehen, was die Schicksalssteine uns von der Zukunft zeigen«, kicherte Gevalla, eins der Mädchen. »Das ist ja interessant«, sagte ich langsam. »Macht ihr das auch, außerhalb des Waldes?«, fragte Salkin. Ich konnte den würzigen Duft frischen Schweißes auf seinem sauberen Körper riechen. »Wir spielen mit Runen, manchmal um Geld«, erwiderte ich vorsichtig. »Ihr auch?« Parul wies auf eine lebhafte Gruppe auf der anderen Seite des Feuers. »Sicher.« Ich blickte hinüber und sah zwei hellblonde Schöpfe unter den vielen roten und rotbraunen. Also hatte ‘Gren beschlossen, ein lohnenderes Ziel zu verfolgen als Zenela. Das war wohl auch gut so, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihre romantisch-jungfräulichen Vorstellungen eine Begegnung mit ‘Gren überleben würden. »Zeigen euch die Schicksalsstäbe denn die Wahrheit?« Ich schaute nur mäßig neugierig drein, doch meine Gedanken überschlugen sich. Äthermagie ist eine Magie des Geistes. Ich hatte genug Wahrsager gesehen, um zu wissen, dass die Scharlatane 245
vier Fünftel ihrer Vorhersagen aus der Kleidung, dem Akzent oder dem Verhalten herleiten. Kannte das Waldvolk das fehlende Fünftel? Vielleicht war hier im Wald doch Zauberkunst verborgen. Ich hielt meine Erregung nur mühsam im Zaum. »Wenn du das wirklich wissen willst, werden die Runen zu dir sprechen.« Rusia nahm die Stäbchen, passte die dreiseitigen Stäbe in ein größeres Dreieck ein und richtete die Enden gleichmäßig aus. »Wie?« Ich kannte eine Frau in Col, die aus Aldabreshin stammt und gute Geschäft macht, indem sie Geheimnisse über eine Reihe farbiger Steine webt. Ihr Trick besteht darin, so unbestimmte Aussagen zu machen, dass sie auf alle Fragen passten. »Du kannst gezielte Fragen stellen«, erklärte Gevalla, »oder die Stäbe für einen Blick in die Zukunft legen.« »Oder um ein Bild zu bekommen, wo du bist und wohin du gehen wirst«, fügte Yefri hinzu. »Sind sie denn ein zuverlässiger Führer?« Ich achtete darauf, meine Skepsis nicht zu zeigen. »Kommt darauf an.« Salkin breitete die Hände aus. »Diejenigen, die den Stäben vertrauen, sehen die Wahrheit. Für diejenigen, die zweifeln, bleiben die Runen ohne Bedeutung.« Eine bequeme Erklärung für Irrtümer. »Wer legt die Stäbe?« Wenn die Ergebnisse beeinflusst wurden, musste es eine führende Hand geben. »Der Sucher«, sagte Yefri, als wäre es selbstverständlich. »Würde es auch bei mir funktionieren?«, fragte ich. »Einer Ausländerin, die noch dazu skeptisch ist?« Die beiden Mädchen schauten Rusia an, die einen Runenstab zwischen den Fingern zwirbelte wie ein berufsmäßiger Spieler. 246
»Es ist der Glaube, der die Stäbe regiert. Wenn du glaubst, werden sie die Wahrheit sprechen. Ich werde sie für dich deuten, wenn du willst.« »Ich bin neugierig«, sagte ich, »und bereit zu glauben. Reicht das?« Rusias Augen funkelten, als sie mich anschaute und nickte. Sie rollte die Runen zwischen den Händen und zog eine heraus. »Ist das deine Geburtsrune?« Ich hielt den polierten Eibenstab zwischen den Händen und hielt jedes Bild senkrecht, während ich die drei Seiten betrachtete. Die Symbole waren geschwungener geschnitzt, als ich es kannte, aber es handelte sich unverkennbar um die Quelle, die Harfe und den Zephir. Ich nickte langsam. »Mein Vater sagte mir, er zog diese Rune, als ich geboren wurde, und dass es meine Glückssymbole sind.« Konnte diese Rusia das von ‘Gren oder Sorgrad erfahren haben?, fragte ich mich. »Rusia gelingt es immer, die Geburtsrune eines Menschen zu ziehen«, sagte Yefri stolz. »Dann war er wirklich von unserem Blut«, bemerkte Salkin. »Nur Waldleute nehmen einen einzigen Stab und lesen die drei Seiten zusammen. Fremde haben eine Menge seltsamer Rituale.« »Das Bergvolk zieht auch nur eine einzige Rune«, stellte Rusia mit leichtem Tadel richtig. Die Chance eins gegen neun war nicht unmöglich. Ich sah Rusia an und deutete auf ‘Gren. »Du hast nicht mit ihm gesprochen?« »Nein, kein Wort«, erwiderte Rusia. »Wieso?« »Könntest du seine Geburtsrune ziehen und etwas daraus lesen, obwohl du gar nichts von ihm weißt?« 247
Rusia nickte, ein kämpferisches Funkeln in den Augen. »Eine Probe?« »Mach ruhig, Rusia, wir wissen, dass du es kannst«, drängte Gevalla. Die anderen nickten in völligem Vertrauen auf die Fähigkeiten des Mädchens. Rusia nahm sich einen Augenblick Zeit, um gedankenverloren auf die neun Stäbe in ihrer Hand zu schauen, ehe sie einen tiefen Atemzug tat und einen aus dem Bündel zog. »Sind das seine Geburtsrunen?« »Was liest du daraus über ihn?«, entgegnete ich. Rusia schürzte die Lippen. »Der Sturm ist das beherrschende Zeichen der drei, eine starke Rune, männlich. Er neigt zu Temperamentsausbrüchen und dazu, sich Ärger einzuhandeln.« Das konnte auf jeden Mann zutreffen. Rusia drehte die Rune. »Blitz. Also hat er plötzliche Eingebungen, aber ...« Sie zögerte. »Ein Blitzschlag kann gefährlich sein, er entzündet Feuer, und große Zerstörung kann daraus entstehen.« Ich sah eine seltsame Entrückung in ihren Augen. Die anderen schauten sie gespannt an. Rusia fuhr fort, den Blick auf etwas Unsichtbares gerichtet. »Die Glocke klingt, wenn sie angeschlagen wird, also hat er einen Ruf, den er nicht leugnen oder verbergen will. Schlagen bedeutet Gewalt, aber ...« Sie hielt inne. »Ich brauche sein Himmelszeichen.« Sie griff nach einem anderen Runenstab und gab einen erstaunten Laut von sich. »Das ist nicht die Himmelsrune.« Yefri nahm ihr den Stab aus der Hand. »Du hast dich doch noch nie vergriffen.« Rusia errötete und griff erneut nach einem Stab, doch plötzlich hielt sie inne. »Was hat den Himmel bei seiner Geburt be248
herrscht?«, fragte sie. »Ich weiß es nicht.« Wieder blickten Rusias Augen entrückt, als sie den ersten Stab betastete, den sie gezogen hatte. »Dies ist eine Rune der Berge, verbunden mit Wind und Lärm und Störungen. Da ist etwas mit schlechten Vorzeichen – mehr kann ich nicht sagen, ohne sein Himmelszeichen zu kennen.« Die ganze Gruppe drehte sich um und schaute zweifelnd auf die zwei Brüder, die in ein Spiel mit ein paar jungen Männern vertieft waren. Ich ging hinüber und stellte mich neben ‘Gren. Er wandte kurz den Kopf. »Deine Geburtsrunen, ‘Gren, verbindest du irgendwas damit?«, fragte ich. »Nichts.« »Was für eine Himmelsrune gehört zu deinem Zeichen?« »Keine.« ‘Gren grinste mich verschmitzt an. »Ich wurde bei Doppelneumond geboren. Geboren, um gehängt zu werden, hieß es.« Ich ging zu Salkin und seinen Freunden zurück und setzte mich vor das Lederstück. »Er wurde unter gar keinem Himmelszeichen geboren, sondern als beide Monde neu waren, Rusia«, sagte ich. »Das ist ein böses Omen«, erklärte Rusia mit einer Endgültigkeit, die jede weitere Frage untersagte. War das nur abergläubischer Unsinn oder ein Wissen, das die alten Völker teilten? »Was könnten die Runen dir über mich erzählen?« Sie reichte mir die Stäbe mit einem herausfordernden Blick. »Leg sie so, wie ich es dir sage, dann werden wir sehen. Schau sie nicht an, such keine aus, leg sie einfach nur hin.« 249
Ich nahm die Runen von ihr entgegen und ließ das glatte Holz beiläufig durch meine Finger gleiten. Poliert von jahrelangem Gebrauch, hatten sie keine jener winzigen Kerben oder Vertiefungen, die geübten Fingern viel mehr verraten, als das Auge sehen kann. Rusias Augen hielten meinen Blick fest. »Den ersten, quer«, befahl sie, »dann zwei darunter, ebenfalls quer, und darunter drei in einer Reihe.« Ich tat wie geheißen. »Dann jeweils einen an den Ecken des Dreiecks. Nein, nach außen, so.« Ich lehnte mich zurück. »Und, was sagen sie?« Rusia nahm die einzelne Rune, die erste, die ich hingelegt hatte. Sie hielt sie hoch, um mir das Zeichen auf der Unterseite zu zeigen. »Du wurdest unter dem Schutz der Sonne geboren.« »Stimmt«, gab ich zu und wunderte mich, dass ich die Himmelsrune zuerst gelegt hatte. »Die zweite Reihe sagt etwas über deinen Charakter aus.« Sie betrachtete die beiden Zeichen, die aufrecht nebeneinander lagen. »Blitz. Also hältst du dich für schöpferisch. Und der Zephir – du hältst dich für ein Glückskind.« Sie betrachtete die umgedrehten Runen auf den anderen sichtbaren Seiten der Stäbe. »Wie sehen dich andere Menschen? Der Sturm lässt darauf schließen, dass sie dich schwierig finden, zum Widerspruch neigend. Sie glauben, dass du eine Menge verbirgst.« Ich lächelte sie an. Sie konnte ja versuchen zu lesen, was ich unter meiner fröhlichen Sorglosigkeit verbarg, wenn sie wollte. Rusia hob die Stäbe hoch, um die Runen zu enthüllen, die auf der Unterseite lagen. »Die hier sprechen von deinem wahren Selbst. Die Glocke steht für Entschlossenheit. Die Harfe für Geschicklichkeit, Fingerfertigkeit, Schlauheit.« Rusia beurteilte scharfsinnig den Charakter, selbst nach 250
flüchtigster Bekanntschaft. Doch Informationen über einen Neuankömmling huschen rasch durch ein Dorf. Rusia hatte zweifellos den ganzen Tag lang Klatsch gehört. »Was ist mit dem Rest?« Ich deutete auf die untere der drei Reihen. »Deine Mutter, du selbst und dein Vater«, antwortete sie. »Mach weiter.« Wir konnten es genauso gut bis zum Ende spielen. Vielleicht steckte doch etwas dahinter, wenn Rusia mir irgendetwas von Bedeutung über meine Eltern sagen konnte. Sie zeigte mir die Pinie, die erste der Runen, die aufrecht und mir gegenüber lag. »Deine Mutter ist stark wie der Baum, doch biegsam genug, einen Sturm zu überstehen.« »Nun ja«, sagte ich. »Ich habe gehört, dass diese Eigenschaften mit diesen Zeichen in Verbindung gebracht werden, aber auch viele andere«, begann ich vorsichtig. »In Tormalin gilt das Schilf als Drianons Zeichen für eheliche Treue. In Caladhria bedeutet es, dass Arimelins Flüstern Träume bringt.« »Rusia weiß immer, was zutrifft«, sagte Yefri, und die anderen nickten zustimmend. Rusia sah mich einen Augenblick an, ehe sie die Runen auf der Rückseite betrachtete. »Für deinen Vater – der Wolf, das heißt Ehrgeiz, aber auch ungestillter Hunger. Die Eiche ist stark, kraftvoll im Leben, bedeutet aber auch Sturheit und Hohlheit. Der Lachs steht für Reisen und Fruchtbarkeit.« Sie lächelte ein wenig. »Aber auch für das Verlangen, alles zu überwinden. Wir können aufhören, wenn du möchtest«, bot sie an. Sie wusste sehr gut, dass mein Vater ein reisender Musiker gewesen war; für diese so genannte Einsicht brauchte es kein Genie. »Wir können genauso gut zu Ende bringen, was wir ange251
fangen haben«, sagte ich. »Schön.« Sie nahm die Stäbe, um sich die Symbole auf den Unterseiten anzusehen. »Als ihr Kind hast du den Berg, Ausdauer und Vorstellungskraft, aber auch eine einsame Rune. Der Hirsch – er steht für Schnelligkeit und Mut, kann aber auch bedeuten, dass du vor Dingen davonläufst, die du fürchtest. Das Meer heißt Macht, verborgene Tiefen, aber auch Mangel an Orientierung.« Ich warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. »Die Runen lesen deine Geburt und deine Familie richtig, nicht wahr?«, wollte Gevalla wissen. Ich tat einen tiefen Atemzug, ehe ich antwortete. »Recht gut, in verschiedener Hinsicht.« »Dann wollen wir sehen, was dir die Zukunft bringt.« Salkin rückte hinter mir näher. Ich lächelte ein wenig ängstlich, aber jetzt konnte ich wohl nicht mehr zurück. »Nicht nur die Zukunft.« Rusia deutete auf die drei übrigen Runenstäbe, die im Winkel zu dem ursprünglichen Muster lagen. »Was vergangen ist, wo du gegenwärtig stehst und was kommen wird.« Wenn ich an die seltsamen Ereignisse dachte, die ich in den vergangenen anderthalb Jahren erlebt hatte, würde jede Deutung, die dem auch nur nahe kam, den Schluss zulassen, dass es sich hier um mehr als nur Jahrmarktstricks handelte. »Die umgekehrten Runen stellen deine jüngere Vergangenheit dar«, erklärte Rusia. »Feuer, eine neue Leidenschaft, vielleicht sogar wahre Liebe.« Sie lächelte mich an, und ich musste gegen meinen Willen grinsen. »Der Adler bedeutet Reisen. Die Trommel enthüllte Geheimnisse, der Bruch mit etwas ...« Sie blickte unsicher. 252
Es gelang mir, unbekümmert zu erscheinen. »Ich reise viel, das stimmt.« Rusia betrachtete die drei aufrechten Runen. »Der Ushal.« »Ushal?«, sagte ich. »So nennen wir den Nordwind.« »Außenlebende haben sehr viel verloren. Sieh dir die Rune an – der Wind, der von den Bergen kommt. Das ist der Ushal, der kalte, mörderische Wind, der in den eisigen Tagen des Winters von den Höhen herabfegt.« Rusia blickte mich an. »Das Gegenstück zu Teshal, den ihr Zephir nennt, den warmen Wind vom Südlichen Meer, der Regen und Leben bringt.« »Und was bedeutet der Ushal für meine Gegenwart?«, hakte ich nach. Rusia schüttelte sich leicht. »Etwas Fehlendes, vielleicht. Bist du auf der Suche nach irgendetwas? Besen – das heißt, dass du etwas hütest. Die Stille – das könnte eine Wahrheit sein, Studien vielleicht?« Sie sah ehrlich verblüfft aus. »Der Magier und ich sind gekommen, um etwas über die Lieder des Waldes zu lernen«, sagte ich. »Das sind deine Runen, nicht die seinen«, sagte sie barsch. »Und was ist mit Livaks Zukunft?« Salkin saß jetzt so dicht neben mir, dass ich den Eindruck hatte, er wolle in meiner unmittelbaren Zukunft eine Rolle spielen. Rusia hob zögernd die Runen hoch. »Die Ebene. Eine Lebensspanne, mehr noch, Endlosigkeit, Zeitlosigkeit. Oder vielleicht nur ein Erbteil.« Sie zuckte die Achseln. »Das Horn, ein Ruf, wichtige Neuigkeiten, ob gut oder schlecht, vielleicht eine Warnung. Die Erde – das bedeutet Erfolg, harte Arbeit, ein großes Ereignis.« Sie sprach jetzt rasch und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Du wirst es besser wissen, wenn die Monde die Jahreszeiten entfalten, aber dies sind mächtige Runen, und das 253
Muster lässt etwas Bedeutungsvolles erahnen.« Gewiss war es einfach, in solch vagen Verallgemeinerungen Wahrheiten zu finden, wenn ich danach suchte. Aber was war mit ihren Fantasieausbrüchen, die so unangenehm dicht ins Ziel getroffen hatten? Rusia hatte wieder eine besorgte Miene aufgesetzt. »Du wirst weiterziehen, nicht wahr? Wenn du einen Sturm über dich bringen willst, wäre mir es lieber, du würdest es anderswo tun.« Sie war völlig von den Wahrheiten überzeugt, die in den Mustern enthüllt wurden, stellte ich fest. Wen täuschte sie? Sich selbst oder mich? »Gib sie mir.« Gevalla streckte die Hand aus. »Ich überlege, ob ich diesen Sommer den Wald verlassen soll.« Sie legte sechs Stäbe in zwei Dreierreihen aus. »Die positiven Zeichen in der oberen Reihe stehen für die Gründe, weshalb ich reisen sollte, die negativen unten für die Gründe, warum ich es nicht tun sollte«, erklärte sie. »Gilt das nur für Reisen?«, fragte ich. »Oder für jede andere Frage, wenn du nach einem Ja oder Nein suchst.« Nenad sprach zum ersten Mal, was ein Diskussion auslöste. Statt zu versuchen, der angeregten Unterhaltung zu folgen, zog ich meinen eigenen Runenbeutel aus der Tasche, eine kürzere Ausgabe, Knochenschnitzerei nach caladhrianischem Stil, und betastete die kleinen Stäbe. »Du kannst nicht an einem Tag ein zweites Mal die Runen legen.« Rusia sah auf. »Und für dich wird es ohnehin nicht funktionieren, solange du nicht daran glaubst.« Ich saß da und dachte noch eine Weile über die verschiedenen Symbole nach, über die Interpretationen Rusias, und stellt Berechnungen über die Wahrscheinlichkeit an, dass diese Ru254
nen genau an diesen Stellen und unter diesem Aspekt zu liegen kamen. Dann überkam mich Müdigkeit; zudem war ich beunruhigt von alten Erinnerungen an Zeiten und Menschen, die ich längst hinter mir zu lassen geglaubt hatte. »Danke, dass du mich an deiner Kunst hast teilhaben lassen«, lächelte ich Rusia an, »aber es war ein langer Tag. Ich wünsche euch eine gute Nacht.« »Ich bringe dich zurück.« Salkin war auf den Beinen und bot mir seinen Arm. Ich mied Yefris enttäuschten Blick. Ich brauchte keine Runen, um seine Absichten zu deuten. Als wir zwischen den Bäumen hindurchwanderten und unsere Augen sich nach dem hellen Feuerschein an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, nahm er meine Hand, um mir über einen umgestürzten Baum zu helfen. Dann legte er mir kameradschaftlich einen Arm um die Schultern. Als ich nichts dagegen einzuwenden hatte, ließ er ihn zu meiner Taille heruntergleiten und zog mich an sich. Er war muskulös und geschmeidig, und die Haut über seinen Knöcheln war trocken und rau, als ich meine Hand über seine legte. Kaltes weißes Mondlicht fiel durch die noch immer unbelaubten Bäume auf den Waldboden. Es löschte alle Farbe aus und hinterließ tintenschwarze Schatten mit scharfen Konturen. Salkin blieb stehen, drehte sich zu mir und beugte seinen Mund dem meinen zu. Er küsste mich, erst sanft, dann mit zunehmender Leidenschaft. Ich schmeckte mir unbekannte Gewürze auf seinen Lippen, und tief in mir erwachte Hitze. Ich öffnete die Augen und sah, dass er seine geschlossen hatte. Die Intensität auf seinem Gesicht steigerte sich mit jedem Atemzug. Er presste seine Hüften an mich, und ich verspürte ein wachsendes Verlangen, machte mich dann aber frei und wich einen 255
Schritt zurück, eine Hand auf seine breite Brust gelegt. Weiches rotbraunes Haar kräuselte sich unter meinen Fingerspitzen aus seinem offenen Hemd. »Ich glaube nicht ...« Salkin umfasste meine Hand, und ich fühlte, wie die Leidenschaft unter der warmen Feuchtigkeit seines Schweißes pochte. »Nein?« Seine Enttäuschung war offenkundig. »Wir ziehen bald weiter«, sagte ich. »Und ich will nichts Unfertiges zwischen uns zurücklassen.« Trotz einiger Eskapaden in meiner Jugend beschloss Halcarion dankenswerterweise, mir für diese Lüge keinen Stern auf den Kopf fallen zu lassen, also lächelte ich Salkin gewinnend an. »Können wir für den Augenblick einfach nur Freunde sein?« Salkin stieß einen Seufzer aus. »Dann bringe ich dich zurück zu deiner Schwelle«, sagte er mit einem Missmut, der seine Jugend verriet. »Ich kann die Feuer von hier aus sehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Geh du nur zurück. Ich bin sicher, Yefri wird sich freuen, dich zu sehen.« »Ich sehe dich morgen.« Er küsste mich mit einer Hingabe, die weitere Annäherungsversuche verhieß, und wanderte zurück zum Eibenhain. Ich ging auf den Ring von Rundhäusern zu. Unserer Sura war leer. Wo steckten sie alle? Wo war der Zauberer hingegangen? Ich nutzte die Gelegenheit, nahm mir die weichsten und hübschesten Decken und wickelte mich hinein. Was war mit Rusias kleinem Sprüchespiel? Aber es war gar kein Sprüchespiel, oder? Sie glaubtet daran, was sie sagte, ebenso die anderen. Lag eine Bedeutung darin? Lag eine Bedeutung in den wenigen Dingen, die sie gesagt hatte, und die der 256
Wahrheit nahe genug gekommen waren, um bei mir Unbehagen auszulösen? Und wo steckten ‘Gren und Sorgrad? Zweifellos brachten sie irgendwo mit ein bisschen Glitzerkram Mädchenaugen zum Funkeln. Ich lächelte bei dem Gedanken und schlief ein.
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Teyvasoke 17. Nachfrühling, später Nachmittag
»Was, um alles in der Welt, ist denn das?«, fragte Jeirran erstaunt. Keisyl blinzelte gegen die Sonne. »Fuhrwerke, Tiefländer, Rauch ...« Lautes Hämmern hallte von den sanften Hängen des Tales wider. »Wie können sie es wagen!«, rief Teiriol. Eirys beugte sich von ihrem zotteligen grauen Pony herunter. »Wir wollen uns nicht in irgendetwas hineinziehen lassen«, flehte sie. »Lasst uns zur Feste gehen. Sie werden es schon richten, oder?« »Wenn sie Mumm in den Knochen haben.« Zweifel schwangen in Jeirrans Worten mit. »Kommt.« Keisyl zog an dem Zügel des Packtieres, das er führte. Es folgte ihm geduldig, und eine Reihe anderer folgte nach. Jeirran und Teiriol waren ein wenig langsamer und starrten wütend auf das emsige Treiben, dass sie jetzt in einer Senke am Bach deutlich erkennen konnten. Eine Hand voll Wagen wurden zusammengezogen, dazwischen Planen aufgespannt. Kleine Gestalten arbeiteten emsig; Staubwolken stiegen von einer Sägegrube auf, und ein einzelner Mann saß rittlings auf einem mächtigen Stamm und befreite ihn mit einer Axt von Borke und Ästen. Andere markierten im zertrampelten Gras mit Pflöcken und Seilen die Umrisse eines Hauses. »Ho, ihr da!« Der Ruf ließ sie die Köpfe wenden. Ein Mann in grobem, handgewebtem Tuch kam auf einem großen Braunen 258
über eine Anhöhe. »Wo wollt ihr hin?« Sein Ton war höflich, hatte aber den Klang von Autorität. »Teyvafeste«, antwortete Keisyl knapp. Der Mann schüttelte den Kopf. »Wie bitte?« »Zur Feste«, wiederholte Jeirran verärgert. »Die Festung, wie du sagen würdest.« Der Reiter nickte und wendete geistesabwesend sein Pferd. Über seine Schulter hatte er einen Bogen geschlungen, und ein Köcher voller Pfeile hing an seinem Sattel. »Ihr habt keine Hunde dabei?« »Nein«, sagte Keisyl langsam. »Warum?« »Wir treiben Schafe den Fluss herauf«, erklärte der Reiter. »Ich wünsche euch einen guten Tag.« »Warte!« Jeirran ließ die Zügel seines Leitmulis fallen und trat vor. »Was meinst du damit, ihr treibt Schafe her? Auf wessen Geheiß, und was baut ihr da? Wie könnt ihr es wagen, in diesen Wäldern Bäume zu fällen?« Der Tiefländer ritt ohne eine Antwort davon und verschwand hinter der Hügelkuppe. »Dieser dreimal verfluchte ...«, schimpfte Jeirran hinter ihm her. »Wir lassen uns in nichts hineinziehen«, wiederholte Eirys. »Die Teyvakin können uns sagen, was hier vorgeht.« »Vielleicht haben sie ein paar Tiefländern eine Weidegenehmigung verkauft?«, meinte Keisyl zweifelnd. »Und dazu die Erlaubnis, Bäume zu fällen und Häuser zu bauen?«, höhnte Jeirran. Keisyl riss an dem Halfter seines Maultieres. »Warten wir ab, was die Teyvakin sagen.« Ihr Tempo verlangsamte sich, als der lange Anstieg aus dem 259
Tal sich zum fernen Gipfel aufschwang. Nackter Fels, gekrönt von schmelzendem Schnee, durchzog die bewaldeten Täler, und zwei lang gestreckte Kämme umschlossen ein kleineres, flacheres Tal in ihren wachsamen Armen. Eine gedrungene Steinbrücke überspannte einen reißenden Fluss, der hoch über sein steiniges Bett schäumte, bewacht von einer einzelnen Gestalt, die auf der Brücke saß und die Füße baumeln ließ. »Serie!« Jeirran warf Teiriol die Zügel zu, ohne einen Blick nach hinten zu werfen, und eilte vorwärts. »Was geht in dem unteren Tal vor sich?« Der ältere Bergbewohner blickte ernst auf den Hang und stützte sich auf den Stiel seines Hackbeils. »Tiefländer, von der Schlucht.« Er spie seine Verachtung mit einem Klumpen zerkauter Blätter aus. »Sind ein paar Tage, nachdem ihr weg wart, hier aufgetaucht. Schätze, sie beanspruchen das ganze Land bis zu dieser Brücke, weil sie sehen, dass hier niemand wohnt!« »Aber das ist unsere Winterweide«, protestierte Teiriol. Der Brückenwächter starrte ihn unter buschigen, schneeweißen Brauen her finster an. »Dann geh und sag ihnen das, Frischling. Vielleicht hören sie ja auf dich!« »Warum bist du hier, an der Brücke?« Keisyl zeigte auf Series Hackmesser. »Damit?« Der Mann stieß einen Seufzer aus. »Es hat Ärger gegeben.« »Schlimm?«, fragte Jeirran. »So schlimm, wie’s nur sein kann«, erwiderte Seiric ernst. »Gedres und sein Junge kamen aus dem hinteren Wald zurück und stellten fest, dass die Schafe alle Heuwiesen kahl fraßen. Dieser Mann von der Schlucht, er sagt zu Gedres, er soll verschwinden, barsch wie nur was, und von seinem Land runter. Gedres erwidert, er soll doch seine Mutterschafe bespringen! 260
Der Tiefländer versucht, ihn ins Gesicht zu schlagen, also schlägt Gedres ihn nieder. Sie waren auf der Jagd gewesen, und so sagt er dem Jungen, er soll die Hunde auf den Mistkerl und seine Schafe hetzen, das würde dem Kerl gefallen. Der Tiefländer pfeift einen Haufen Strauchdiebe herbei, die ihm helfen.« Serie schüttelte den Kopf. »Der Junge weiß nicht genau, was danach passiert ist, aber was es auch war – Gedres endet mit einem Messer im Rücken. Tot.« »Oh«, rief Eirys unglücklich. »Die arme Yevrein! Kann ich irgendwas tun?« Serie sah zu ihr auf; sein runzliges Gesicht wurde weicher. »Sie wird froh sein, dich zu sehen. Die Sheltya kamen kam heute Morgen an, und sie haben ihn am Mittag aufgebahrt. Es ein schwerer Tag für sie.« »Wie geht es dem Jungen?«, fragte Keisyl. Serie schüttelte den Kopf. »Er nimmt es sehr schwer, aber niemand macht ihm einen Vorwurf. Wie hätte er es mit all den Kerlen aufnehmen sollen, wo er noch gar nicht erwachsen ist? Die Bastarde haben mit einer Peitsche auf ihn eingedroschen!« Jeirran und Teiriol stießen wüste Verwünschungen aus, doch Keisyl brachte sie zum Schweigen. »Genug! Wir können hier nichts ausrichten. Wir gehen zur Feste und bieten unsere Hilfe an.« Sie überquerten die Brücke und zogen durch ein langes Tal, wo die wilde Schönheit der Bäume und der Wiesen den hässlichen Haufen geborstener Steine gewichen war; das Land war zerklüftet von alten und neuen Gruben. Ein paar Männer waren dabei, einen Bach aufzustauen und leiteten das Wasser in mehrere Kanäle und Schleusen. Sie unterbrachen ihre Arbeit, um die Neuankömmlinge zu beobachten. Teiriols fröhliches Winken 261
blieb unbeantwortet, und die Männer wandten sich bald wieder ihrer Arbeit zu. Eirys gab ihrem Pony die Sporen und war ein gutes Stück vor den anderen an den Toren der Feste. Die Mauer war doppelt mannshoch – massive, ungleichmäßige Felsbrocken, doch mit einer Genauigkeit zusammengefügt, dass nicht einmal eine Messerklinge dazwischen passte: Ein Gewirr von Ecken und Kanten, das das Auge verblüffte. Aufmerksame Wächter patrouillierten auf der zinnengekrönten Mauer; einer, mit einem Speer in der Hand, spähte hinunter, um dem Mädchen etwas zuzurufen. Eirys stellte sich in die Steigbügel und antwortete. Als Jeirran und die anderen kamen, waren die Tore gerade geöffnet worden, sodass sie nacheinander die Maultiere hineinführen konnten. Keisyl ritt voran durch den sich verjüngenden Tunnel, den die dicke Mauer bildete. »In den hinteren Ställen ist noch Platz.« Der Torwächter nickte einem Jungen zu, der sofort wieder einen Riegel vor die schweren Holztore legte. »Wartet hier!« Keisyl stemmte die Hacken in den Boden, als ein Maultier unruhig vor dem Hund des Torwächters zurückscheute, einem gefleckten Tier, das dem Mann bis zur Hüfte reichte, ein Spürhund von geschmeidiger Gestalt. Das Bellen des hochbeinigen Hundes schwoll zu einem wütenden Gekläff an, dem aus einem fernen Zwinger geantwortet wurde. »Lässt du die Hunde hungern?«, rief Keisyl. Der stämmige Torhüter brachte seinen Hund mit einem Ruck an der Kette, die er um eine Hand gewickelt hatte, zum Schweigen. »Ja, damit sie fit sind für alles, was diesen TieflandMistkerlen noch einfällt.« Eirys schwang sich aus dem Sattel und glättete hastig ihre 262
Röcke. »Wo ist Yevrein?« »In der Rekin.« Der Torwächter nickte zu dem eckigen Turm, der in der Mitte der Anlage stand und dessen schmale Fenster über die umgebende Mauer schauten. »Pass auf Flecki auf.« Eirys übergab ihr Pony Teiriol und eilte auf die breiten Stufen zu, die zu einer großen Doppeltür führten. »Führ die Tiere herum und sieh zu, dass sie untergebracht werden.« Jeirran ließ die Zügel fallen und folgte seiner Frau. Die Maultiere sahen Teiriol gleichmütig an. »Aber ...« »Bitte jemanden, dir zu helfen, Teiriol. Ich komme, sobald ich kann.« Keisyl schlug seinem Bruder auf die Schulter. »Ich möchte gern die Wahrheit über das alles hier erfahren.« Keisyl ließ Teiriol zurück, der wütend vor sich hinschimpfte, und rannte leichtfüßig die Stufen der Rekin hoch. Er stieß langsam die Tür auf, glitt hinein und stellte sich leise hinter Eirys. Ein einziger Raum nahm fast das gesamte Erdgeschoss ein. Die Halter für Lampen und Kerzen waren dunkel, und die Möbelstücke waren in achtlosem Durcheinander an die Wände geschoben. Die Bediensteten standen in einem Kreis beisammen und ließen entmutigt die Schultern hängen; die Kinder schmiegten sich an die Mütter. Eirys hielt Jeirrans Hand. Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie hatte den Blick auf die Frau gerichtet, die an der breiten Feuerstelle stand, welche die Mitte des Raumes beherrschte. Blass und hohlwangig, die Augen vom Weinen gerötet, kippte die Frau einen Eimer Asche auf das Feuer, um die Flammen zu löschen. Kälte legte sich schwer über den verdunkelten Raum. Zwei Männer traten mit Brecheisen und Keilen hervor, um eine große heiße Steinplatte vom Rand des Sockels freizustem263
men. Die Frau bückte sich zu der entstandenen Höhlung und zog ein kleines, mit Kupfer beschlagenes Kästchen aus schwarzem Holz hervor. Sie wählte einen Schlüssel von dem Bund aus, der an ihrem Gürtel hing, und öffnete das Kästchen. Der ältere Mann an ihrer Seite hielt es für sie, während sie die Gold- und Silbermünzen zählte, die das Kästchen enthielt. »Das ist dein Erbteil, Nethin.« Ihre Stimme brach, als sie sich an einen jungen Mann wandte, der ein paar Jahreszeiten jünger war als Teiriol und den Kummer und Schuldbewusstsein ins Gesicht geschrieben standen. »Benutze es gut, um das Andenken deines Vaters zu ehren. Er hätte es dir selbst gegeben, wenn du volljährig geworden wärst ...« Kummer erstickte die Stimme der Frau. Ein hoch gewachsener Mann in grauem Gewand trat vor, sein glatt rasiertes Gesicht blickte ernst. »Das ist genug.« Er schloss den Deckel des Kastens und nickte dem älteren Mann zu, der ihn wieder unter den Herdstein legte. Der Mann mit dem grauen Gewand gab die weinende Yevrein in die Obhut freundlicher Frauen und führte den jungen Nethin sanft zur Tür hinaus. »Geh schon.« Jeirran nickte Eirys zu, die ihn mit tränenüberströmten Wagen fragend anschaute. Sie eilte hinüber zu den trauernden Frauen. Keisyl stieß einen Seufzer aus. »Das ist eine schlimme Geschichte, Jeir.« »Und ein Anblick, den wir seit den Tagen unserer Väter zu oft sehen«, spie Jeirran hervor. »Jede Soke wird geplündert!« Seine Worte erregten die Aufmerksamkeit eines Mannes, der sich ihnen zuwandte. »Hat die Othilsoke auch so gelitten?« Keisyl schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nicht, aber wir sind hier 264
auch viel weiter von der Schlucht entfernt.« »Es ist nur eine Frage der Zeit«, grollte Jeirran. Keisyl ging, um dem Mann zu helfen, eine schwere Holztruhe wieder an ihren gewohnten Platz zu schaffen. »Was sollen wir jetzt tun, Alured?« »Wir haben Nachricht an die höher gelegenen Minen geschickt und an die Sommerweiden, aber ich weiß nicht, was das nutzen soll. Die Männer zurückzuholen ist ja schön und gut, aber dann verlieren wir den größten Teil der Arbeit einer ganzen Jahreszeit.« Alured nahm einen Hocker von einem anderen Mann entgegen und stellte ihn hin. Seine Bewegung ließ ein deutliches Hinken erkennen. »Aber du wirst dieses Ungeziefer doch aus der Soke vertreiben?«, fragte Jeirran mit verschränkten Armen und rückte von den anderen Männern weg, die den Raum wieder herrichteten. »Vielleicht«, meinte Alured achselzuckend. »Wenn wir können. Du hast Recht, wenn du sie Ungeziefer nennst. Sie sind wie Ratten. Und für jeden, den du tötest, lauern drei neue und warten darauf, dich auszubluten.« »Aber du kannst sie doch nicht einfach unser Land stehlen lassen«, protestierte Jeirran. »Später«, knurrte Keisyl ihn an. »Mach dich nützlich.« Jeirran warf ihm einen finsteren Blick zu, legte jedoch mit Hand an, um Stühle und Möbel zurechtzurücken. Allmählich nahm der Raum wieder sein gewohntes Aussehen an. Keisyl sah zu, wie drei Männer sorgfältig ein neues Feuer im Kamin aufschichteten. Kummer verdunkelte seine Augen. »Siehst du? Wie ich dir gesagt habe«, begann Jeirran. »Wie viele noch ...« Er brach ab, als der grau gewandete Mann den Raum betrat 265
und in die Hände klatschte. Er war nicht übermäßig groß oder muskulös von jahrelanger schwerer körperlicher Arbeit, doch in seinen durchdringenden blauen Augen spiegelt sich eine Erfahrung, die weit über seine Jahre hinausreichte. Jedermann drehte sich erwartungsvoll um. »Gedres war ein guter und aufrichtiger Mann, ein treuer Ehemann und liebevoller Vater. Er wird uns allen fehlen. Unser Kummer hat die Flamme gelöscht, die bei seiner Hochzeit entzündet wurde. Die letzten Sonnenstrahlen haben ein neues Lebensversprechen durch die Hand seines Sohnes beleuchtet. Die Augen der Monde werden seine Tochter heute und allezeit bewachen.« Nethin trat unruhig vor, eine brennende, rauchende Fackel in den zitternden Händen. Er stieß sie mitten in den Kamin, und eine blaue Flamme loderte auf. Gedämpfte Jubelrufe und Händeschütteln ließen ein unsicheres Lächeln über das Gesicht des Jungen huschen, ehe er es wieder in den Armen seines Großvaters verbarg. Jeirran seufzte schwer und fuhr sich zornig mit der Hand über die Augen. »Zeit, auf Gedres’ Andenken zu trinken.« Alureds Stimme war heiser vor Kummer, als er mit einer grünen Glasflasche und einer Hand voll dickwandiger Kelche herüberkam. Andere Männer taten dasselbe, setzten sich an die Tische und ertränkten ihren Kummer in hastigen Schlucken. Frauen hielten Fidibusse an das wieder entfachte Feuer und entzündeten Lampen und Kerzen, die den Raum erhellten. Sie nahmen auf der anderen Seite der Feuerstelle ihre Plätze ein und deckten Flaschen und Gläser auf. Ein paar Mädchen kamen durch die Hintertür und legten Brot, Fleisch und andere einfache Gerichte auf den 266
langen Tisch, der sich über die gesamte Breite des Raumes hinter der Feuerstelle erstreckte, doch niemand schenkte ihnen viel Beachtung. Allmählich wurde die gedämpfte Unterhaltung lebhafter, und ein paar verschämte Lacher erklangen und durchbrachen die Stille der Trauer. Einige Zeit später kam Teiriol mit ein paar anderen Männern in den Raum. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Empörung und Zögern. »Ihr seid nicht gekommen«, klagte er leise. »Sie waren gerade dabei, den Herd zu löschen«, entschuldigte sich Keisyl. »Hast du nicht gesehen, wie die Sheltya gegangen sind?« Teiriol schüttelte den Kopf. »Wann sieht man das je?«, höhnte Jeirran. »Sie verschwinden, sobald sie über die Schwelle treten! Ein Mensch stirbt, die Sheltya kommen, legen ihn auf einen Scheiterhaufen, machen den Trick mit dem Brennglas, und sagen kein Wort mehr dazu. Misaens Raben tun ihre Arbeit, die Sonnenwende kommt, die Sheltya legen die Knochen in Maewelins Arme – und fertig. Wie soll das Yevrein helfen, die vorzeitig Witwe wurde? Wo liegt darin der Trost für Nethin, den armen Kerl, der niemanden mehr hat, der ihn leitet und der nun herumirren muss, bis er volljährig ist und sein Erbe beanspruchen kann?« »Er hat alle Teyvakin, die ihn leiten und beschützen, Jeirran!« Alured sah beleidigt drein. »Beurteile andere nicht nach den Fehlern der Lidrasoke!« Jeirrans Füße scharrten über die Fliesen, als er aufsprang. »Du weißt doch gar nichts darüber!«, knurrte er. »Genug!« Keisyl stellte sich zwischen die beiden. »Jeir, geh und sieh nach, ob Eirys herunterkommt. Yevrein hat viele Schwestern, die sie trösten können, und Eirys könnte die Stim267
mung hier unten mit Erzählungen von den Festtagen aufhellen.« »Wie ist es euch in Selerima ergangen?« Alured sah mit Interesse auf. Jeirran antwortete nicht, sondern stapfte zur Tür, die zur Treppe führte. Es dauerte eine Weile, bis Eirys erschien, mit rosigem Gesicht und leicht verlegen. Keisyl beobachtete sie unauffällig und ignorierte Jeirran, der kurz darauf erschien und umherging, um Grüße und Neuigkeiten auszutauschen. Zufrieden, dass Eirys glücklich mit zwei alten Freundinnen und Teiriol mit einer Gruppe junger Männer zusammensaß, die sich in die Rippen stießen und miteinander scherzten, wandte Keisyl seine ganze Aufmerksamkeit wieder Alured zu, der einen schäumenden Krug mit einem neuen Gefährten teilte. »Hordist«, sagte er und nickte zum Gruß. »Keisyl«, erwiderte der Neuankömmling und hob vorsichtig mit gichtverkrümmten Händen einen irdenen Becher. »Eine schlimme Sache, das.« »Wohl wahr.« Keisyl leerte sein Glas. »Was sollen wir tun?« Alured sah entmutigt aus. »Hat jemand die Sheltya um Rat gefragt?«, fragte Keisyl. Hordist saugte an einem geschwollenen Fingerknöchel, ehe er antwortete. »Peider hat es getan. Der Sheltya sagte, er würde an Sonnwend die Knochen befragen und sehen, was das Licht in ihnen zutage fördert.« »Wozu sind alte Knochen nütze?« Jeirran kam von einem anderen Tisch herbei, einen Kelch mit klarem Schnaps in der Hand. »Was wir brauchen, sind starke Arme, die diese Bastarde vertreiben.« »Und wenn sie von den höheren Gruben zurückkommen, tun 268
wir das vielleicht.« Hordist sah Jeirran voll Abneigung an. »In der Zwischenzeit haben wir nur ein paar halb erwachsene Burschen und die Kranken und Lahmen.« Er hielt eine verkrümmte Hand hoch. »Was soll ich denn machen, beladen mit Maewelins Fluch?« »Deine Füße sind doch stark genug«, erwiderte Jeirran mit rauem Lachen. »Du könntest die Bastarde zu Tode treten.« »Vielleicht.« Hordist trank geräuschvoll. Alured füllte seinen Humpen für ihn nach. »Wenn die anderen zurück sind, hat dieser Abschaum sich hier wahrscheinlich gänzlich eingenistet, die Hälfte der Wälder gefällt und jedem Tier mit Pelz auf dem Rücken so viel Angst eingejagt, dass es sich ins Hochgebirge verkriecht. Und ihre Schafe fressen alles kahl!« »Die Tiere können wenigstens davonziehen«, brummte Hordist. »Blut und Knochen, die in der Soke aufgewachsen sind, können das nicht so einfach ...« Er wurde unterbrochen, als der Großvater des verwaisten Jungen mit einer schwieliger Hand auf einen Tisch schlug. »Ich werde euch eine Geschichte erzählen«, verkündete er. »Als Ceider in den Norden ritt, seine Rüstung aus Drachenschuppen, sein Zorn wie Drachenodem!« Die vier Männer saßen und lauschten der Legende, die voller Leidenschaft vorgetragen wurde. Der Abend brach über die Feste und die Rekin herein, während der alte Mann den Mythos wieder belebte. »Eine Schande, dass Peider nicht Ceiders Gebeine herrufen kann, um zu lernen, wie man einen Drachen beschwört«, murmelte Hordist, als der alte Mann ein paar Verse später eine Pause machte, um seine trockene Kehle zu benetzen. 269
»Drachen gibt es nur noch hinter den hohen Gipfeln«, sagte Alured ernst. »Die Tiefländer haben die Lindwürmer schon aus den östlichen Bergen vertrieben, als unsere Vorväter noch jung waren.« »... und die Feste, deren Mauern niedergerissen waren, wurde von den Flammen des Zorns versengt. Wahre Vergeltung wurde geübt, Unglauben in Schande ertränkt!«, rief Peider mit Donnerstimme, als er die Geschichte zu ihrem triumphalen Ende brachte. Donnernder Beifall erfüllte den Raum. »Feuer«, sagte Jeirran plötzlich. Sein Gesicht rötete sich vor Erregung, seine Augen strahlten, und das nicht nur wegen des Alkohols, den er getrunken hatte. »Drachenodem – das ist Feuer! Wir könnten die Tiefländer mit Feuer vertreiben!« »Und woher willst du einen Drachen nehmen?«, wollte Alured mit trübem Blick wissen. »Willst du Misaen bitten, uns einen aus seiner Schmiede zu leihen?« »Wir brauchen brennbare Stoffe, nicht wahr?« Jeirran wandte sich an Hordist, der langsamer getrunken hatte und deshalb noch etwas klarer im Kopf war. »Harze, Kiefernzapfen ...« »Ja.« Langsam dämmerte in Hordists faltigem Gesicht die Erkenntnis. »Ich kann zwar keine Axt halten, aber ich kann eine Fackel werfen!« Seine Stimme war laut genug, dass sich die Köpfe an den Nachbartischen drehten. »Was sagst du dazu, Rakvar?« »Wozu?« »Das Rattennest in der unteren Soke auszuräuchern!«, antwortete Alured mit wachsendem Eifer. »Sie haben uns doch reichlich Holz gefällt, um ein hübsches Feuerchen zu machen!« »Frisches Holz wird nicht brennen«, sagte eine zweifelnde 270
Stimme. »Doch, wenn du zuerst ein Fass Beize darüber gießt«, erwiderte Hordist. Heiseres Gelächter ringsum vertrieb vorübergehend den schwelenden Zorn. »Ein gutes Feuer würde diese madenzerfressenen Schafe den ganzen Weg bis zur Schlucht zurücktreiben«, meinte ein anderer beifällig. »Sollen die Tiefländer ihnen doch hinterherjagen.« »Nehmt keine Beize«, sagte ein Mann mit schütterem Haar und vernarbten Händen. »Nehmt Säure aus der Vorratskammer. Mal sehen, was sie davon halten!« Einige blickten schockiert, andere nickten begeistert. »Worauf warten wir dann noch?«, fragte Jeirran. »Wenn wir warten, sind es bei Sonnwend neunmal so viele!« »Aber beide Monde sind voll«, wandte die zweifelnde Stimme ein. »Dann haben wir gutes Jagdlicht«, sagte Rakvar. Eirys und die anderen Frauen sahen mit Verwunderung, wie die Männer sich die schweren Stiefel schnürten und Umhänge und feste Handschuhe anzogen. Teiriol kam mit eifrigem Gesicht herbei. »Was liegt an?« »Wir werden mit den Tiefländern abrechnen!«, rief Jeirran. »Wir werden sie vertreiben.« Keisyl sah weniger begeistert als entschlossen aus. »Ich hole meine Stiefel!«, rief Teiriol. Keisyl blickte ihm besorgt nach. Als die Männer schließlich aus der Tür strömten und Teiriol sich wieder zu ihnen gesellte, packte er den jüngeren Mann am Arm. »Du kannst mitkommen, Teiriol, aber pass auf dich auf. Aber keiner der jüngeren Burschen begleitet uns – keiner, der nicht mindestens zwei Drittel 271
volljährig ist. Sag ihnen, sie sollen bleiben und die Feste und die Frauen beschützen.« Auf dem Gelände summte es wie in einem Bienenstock vor Geschäftigkeit. Werkstatttüren wurden aufgerissen und Äxte, Picken und Schaufeln in ungeduldige Hände gedrückt. Klingen fingen das Licht der Fackeln ein, und Rufe mahnten zur Vorsicht, als kleine, eisenbeschlagene Fässer auf ein verwirrtes Maultier geladen wurde, das in den dunklen Himmel blinzelte. Die Frauen drängten sich auf den Stufen zur Rekin und schauten zu. Zwei eilten mit einem Korb voller langhälsiger Glasgefäße herbei, eine andere brachte einen Arm voll Stofffetzen. Ein zweites Maultier wurde mit einem Sack Kohlen und einem Behälter voll Schwefel beladen. »Nur abgedeckte Lichter«, rief Jeirran, und rasch wurden Lampen aus durchbrochenem Metall entzündet, deren Schieber heruntergelassen wurden, um den Schein zu dämpfen. Die schweren Türen der Feste wurden langsam geöffnet, und die Menge zog durch die Maueröffnung. Anfangs ging es langsam voran, bis die Augen der Männer sich an das tiefe Zwielicht der Frühlingsnacht gewöhnt hatten und das Tal sich aus den Schatten abzeichnete. Mit der geübten Verstohlenheit der Jäger schwärmten die Bergbewohner aus und schlichen ins Tal hinunter, über die Brücke und an den Schafen vorbei. Eine Gruppe setzte sich in stillschweigendem Einverständnis von den anderen ab und legte sich verborgen in einer Senke neben die Herde, während die anderen in kleinen Gruppen weiterschlichen. Langsam, immer wieder vorsichtige Pausen einlegend, umzingelten sie schließlich das Lager der Tiefländer. Ein fröhliches Feuer brannte inmitten der vier Fuhrwerke, wo zwischen je zweien eine Plane gespannt war, unter denen die Männer 272
schliefen: formlose, in Decken gewickelte Gestalten. Ein einziger saß müßig am Feuer und warf Holzstückchen hinein. »Es sind mehr, als wir dachten«, sagte Keisyl zweifelnd. »Sie sind alle aus dem Wald zurück«, meinte Teiriol. »Wenn wir sie nicht vertreiben, haben sie zur Sonnwende das halbe Tal kahl geschlagen.« Keisyl nickte finster. »Wohl wahr.« »Wer hat den besten Wurfarm?«, flüsterte Jeirran Alured zu. Der ältere Mann dachte einen Augenblick nach. »Rogin. Er kann einen Stein aus über vierzig Schritt Entfernung treffen!« Die Nachricht wurde nach hinten weitergegeben, und Rogin kam nach vorn. Er war einen halben Kopf größer als Jeirran, ein Mann mit Adlernase und struppigen Haaren. »Kannst du das direkt ins Feuer dort werfen?« Rogin wog die Flasche mit der schwappenden Flüssigkeit, die mit harzigen Lumpen umwickelt war, in einer Hand. »Kein Problem«, sagte er schließlich. Jeirran schaute sich um und sah, dass die kauernden Männer Holzkohle in schwefelgetränkte Tücher wickelten, Gläser mit Flüssigkeit füllten und Lumpen in die Öffnungen stopften. »Für Gedres!«, brüllte Rogin, stand auf und warf sein Geschoss in hohem Bogen. Der Wachmann war erst halb auf den Beinen, als das Feuer auch schon hell aufloderte und seine Kleider und sein Haar in Brand setzte, sodass er zurücktaumelte. Binnen weniger Atemzüge war der Mann zu einer Schreckensgestalt geworden, die blindlings umhertappend schrie, das Haar flammend wie Werg, die Haut verkohlt und Blasen werfend, das Gesicht zu einer konturlosen Masse verschmort. Als die anderen Männer von ihren Decken aufsprangen, kamen weitere leuchtende Geschosse angeflogen. Die Leinwand der 273
beiden Planen flammte auf, und flüssiges Feuer fraß sich gierig ins Holz der Fuhrwerke. Mit wütendem Gebrüll packten die Tiefländer jedes erreichbare Werkzeug, Spaten, Breitbeile und Hackmesser, und schauten kampfbereit nach allen Seiten, als sie in der Dunkelheit den Feind suchten. Hinter ihnen gingen ihre Decken mit dem Gestank brennender Wolle in Flammen auf. Mit lautem Trotzgebrüll warf auf der anderen Seite eine Gruppe von Bergbewohnern Böcke, Werkzeuge und Holz in die Sägegrube. Brandfackeln und ein Fass mit Tannenharz folgten und sengten eine tiefe Narbe ins Gras. Flammen explodierten in den Himmel, und grelle Feuerzungen quollen über den Rand der Grube. Die Tiefländer rannten auf die Gegner zu, die Waffen hoch erhoben, doch die Männer aus den Bergen verschwanden in die Dunkelheit. Als die Tiefländer unsicher zögerten, zerbarsten zu ihren Füßen brennende Gefäße, die sie fluchend auseinander trieben. Sie versuchten, sich wieder zu sammeln, und stießen entsetze Rufe aus, als ihr Holzstapel und damit ihre ganze harte Arbeit in Rauch und Flammen aufging. Holz knisterte, als das Feuer es ergriff, angeheizt von Fackeln und flüchtigen Flüssigkeiten. Die Hitze überfiel sie wie der feurige Atem aus dem Maul eines Brennofens. »Auf sie!« Jeirran hob seine Axt und stürmte wütend auf das verwirrte Lager zu. Die Männer der Teyvasoke kamen von allen Seiten mit wildem Gebrüll herangelaufen und zertrümmerten Schädel, Arme und Beine. Die Tiefländer wichen zu ihren Fuhrwerken zurück, wo ihre angepflockten Ochsen laut brüllten und verzweifelt an ihren Seilen zerrten. »Es gibt Rinderbraten, wenn wir hier fertig sind, Freunde!«, rief Jeirran. Er fuhr zu einem Tiefländer in kurzärmeligem 274
Hemd herum, der mit einer Schaufel nach ihm stieß. Ihre Werkzeuge trafen mit lautem Klirren aufeinander, und die Schaufel segelte davon. Jeirran stieß dem Mann seine Picke in den Bauch, sodass er zusammenklappte und nach Luft rang. Jeirran schlug dem Tiefländer den Schädel ein. Der Mann fiel tot zu Boden. Keisyl schwang seine Axt in einem weit ausholenden Bogen und hielt die Stellung, während zwei rasende Tiefländer versuchten, mit ihren Hackmessern seine Deckung zu durchdringen. »Zu dumm, um davonzulaufen?«, rief er ihnen zu, doch seine Worte gingen in dem allgemeinen Getöse unter, das die Nacht zerriss. Einer der Tiefländer, der das Haar zu einem langen Zopf gebunden hatte, duckte sich, um Keisyl die Beine wegzusensen. Keisyl hieb ihm mit der flachen Seite seiner Waffe gegen das Ohr, sodass er zu Boden ging. Blut strömte ihm aus Mund und Nase, und der zerschmetterte Wangenknochen schimmerte weiß im Feuerschein, als er sich durch die pockennarbige Wange des Mannes bohrte. Der zweite Mann glaubte, eine Gelegenheit erspäht zu haben, doch die zurückschlagende Klinge grub sich tief in seine Achselhöhle, als er sein Hackmesser hob. Die Waffe entfiel seinen kraftlosen Fingern, und er stürzte zu Boden. Keisyl enthauptete ihn mit einem raschen Schlag. »Maewelin erbarmt sich nur derer, die Erbarmen zeigen«, fauchte Keisyl. Er sah sich nach seinem Bruder um und erkannte, dass dieser mit einem dicklichen Tiefländer vor dem brennenden Wrack eines Wagens kämpfte, Teiriol mit einem langen Brecheisen, der Tiefländer mit einem Grabespaten, dessen scharfe Kante im Feuerschein glitzerte. Der Tiefländer hob den Spaten beidhändig und stieß ihn auf Teiriols Gesicht zu, doch 275
der junge Mann wich blitzschnell einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Die Fingerknöchel des Tiefländers hoben sich weiß vom Holz des Spatens ab, seine Zähne gruben sich in die Unterlippe. Wieder stieß er zu, Teiriol schwang seine Brechstange in einer raschen Bewegung unter dem Stiel und zerschmetterte dem Mann den Ellbogen, bevor er ihm die Stange in die Brust rammte. Eine Stimme aus den Bergen, in Qual erhoben, ließ Keisyl herumfahren. Alured kam auf sie zugetaumelt. Ein gefiederter Schaft steckte in seiner Schulter. Weitere Pfeile zischten aus der Dunkelheit und fraßen sich tief in die ledergekleideten Angreifer. Entsetzte Schreie kamen von Rogin und seinen Kameraden, als sie feststellen mussten, dass sie plötzlich aus den Schatten jenseits des gleißend hell brennenden Holzstapels angegriffen wurden. »Kommt schon, ihr Hunde, auf sie!« Jeirran drehte sich voller Wut um, sah aber nur gestaltlose Schwärze; jenseits des Feuerscheins war nichts zu erkennen. »Achtung, hinter dir!« Teiriol sprang mit einem Satz vor, um einen Tiefländer niederzuknüppeln, der mit Geheul eine Breitaxt auf Jeirrans ungeschützten Rücken niedersausen lassen wollte. »Es sind die Schäfer!«, brüllte jemand. Keisyl spähte in die Dunkelheit. »Vor den Feuern sind wir leichte Beute«, rief er Jeirran zu. »Sie werden uns einen nach dem anderen niederschießen!« Ein Schrei ließ seine Worte untergehen, und Rogins Stimme erhob sich über das Durcheinander. »Zurück! Zurück! Raus aus dem Feuerschein!« Keisyl packte Jeirran am Arm. »Beweg dich! Oder willst du, 276
dass Eirys zusammen mit Yevrein weinen muss?« Die Männer der Berge verstreuten sich in der Dunkelheit und ließen tote und verkrüppelte Tiefländer im blutgetränkten Gras zurück. Die Feuer brannten weiter und verschlangen alles in ihrer Reichweite. Jeirran blieb stehen, um ein Bündel von Pflöcken und Seilen aus der Erde zu reißen und es fortzuschleudern. »Das wird sie lehren, unser Land zu nehmen«, rief er. Keisyl beachtete ihn nicht; mit einer Schulter stützte er Alured, dessen Umhang schwarz vor Blut war. »Alles in Ordnung?« »Wenn wir erst den verdammten Pfeil raushaben«, keuchte der ältere Mann. »Dann wird’s wieder.« »Du wirst nichts mehr spüren, wenn du erst ein paar auf unseren Erfolg getrunken hast«, prophezeite Jeirran prahlerisch. Teiriol schrie auf, als ein Pfeil dicht neben ihn in den Boden fuhr. »Wo sind sie?« Er schaute wild um sich. »Beweg dich, lauf im Zickzack!«, rief Keisyl und hob Alured von den Füßen. Jeirran fluchte, als er kurz vor der Brücke über einen Toten stolperte. Helles Haar im Mondschein, ein eigenartiger Wind, der zerrissenes Leinen blähte, blutverkrustete Stickerei. Keisyl warf dem Toten einen mitleidigen Blick zu, sparte sich aber Atem und Kraft für den langen Weg bergauf an den Geröllhalden vorbei in den Schutz der Feste. Die Verfolgung endete abrupt, als sie über den Fluss waren, doch mehrere Gefährten brachen bei dem langen Anstieg vor Erschöpfung zusammen, und ihre Kameraden konnten sie nicht wieder auf die Beine bekommen. »Kommt, kommt!« Jeirran stand am Tor und winkte triumphierend. »Wir haben einen Sieg zu feiern!« Keisyl übergab den bleichen Alured in die Obhut zweier her277
beieilender Frauen, die schon Leinenverbände bereithielten. Schwer atmend stapfte er in den Hof und überschlug rasch die Anzahl derer, deren Wunden von besorgten Frauen versorgt wurden. Die jungen Männer brachten eilfertig dampfende Schalen mit Wasser, Töpfe mit Salben und Verbände und hielten die Unglücklichen fest am Boden, wenn sie sich unter dem Messer wanden, als die Pfeile herausgeschnitten wurden. In den Schatten jenseits des Lampenscheins, der aus der Rekin-Tür fiel, wurden reglose Gestalten in einer Reihe niedergelegt. Eirys warf sich in Keisyls Arme. »Ist Jeirran am Leben? Und Teir? Ist einer von euch verletzt?« »Nein, Schwester, nein.« Er drückte sie fest an sich. »Wir alle sind gesund und munter.« »War es ein Erfolg?« Eirys schaute sich verzweifelt um. »Ihr habt gesiegt, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Keisyl langsam, »aber noch viele solcher Siege, und die Tiefländer brauchen einfach nur herzukommen und ans Tor zu klopfen. Sie können ihre Verluste besser wettmachen als wir.« »Sieh nicht so schwarz«, sagte Jeirran, zog Eirys aus Keisyls Armen und umarmte sie. »Das nächste Mal machen wir es besser.« »Das nächste Mal?« Keisyl blickte ihn ungläubig an. Jeirran nickte entschlossen. »Wenn wir Verbündete haben, die uns mit wahrer Macht unterstützen.«
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Der Große Wald 18. Nachfrühling
Plötzliche Helligkeit weckte mich vollends aus dem angenehmen Schlummer unter meinen warmen Decken. Ich öffnete ein Auge und sah, wie ‘Gren die Hirschhaut auf das Dach schlug, um etwas Licht in die Sura fallen zu lassen. »Guten Morgen.« Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Guten Morgen.« Er gähnte. »Müssen wir den Tag so früh beginnen, oder kann ich noch ein Nickerchen machen?« »Hast du denn nicht geschlafen?« fragte ich. »Hast wohl deine Tasche für ein williges Mädel geleert?« Er schüttelte den Kopf und gähnte wieder herzhaft. »Für die Burschen und ihren Runen. Ich dachte, ich könnte jeden Taschenspielertrick erkennen, ob in schlechtem Licht oder Schneesturm, aber bei Saedrin, ich kann einfach nicht sehen, wie sie es machen.« »Wieder verloren?« Ich gab mir keine Mühe, meine Ungläubigkeit zu verbergen. »Ja.« ‘Gren zog sein Wams aus und ließ es zu Boden fallen. »Ausgenommen wie ein Ziegenhirte aus den Bergen.« Er klang eher belustigt als verärgert, also würde er mit etwas Glück nicht nach einem Streit suchen, um sich zu trösten. »Wie gewonnen, so zerronnen«, bemerkte ich. »Wohl wahr.« Er streifte Hosen und Stiefel ab und rollte sich in eine Decke. »Trotzdem würde ich gern ihre Tricks kennen lernen. Wir könnten jede Geldkassette zwischen Vanam und Col leeren.« 279
»Wer hat denn am meisten gewonnen?« Ich wollte wissen, wen ich meiden musste. »Barben, dieser stiernackige Typ mit Ohren wie eine Maus.« ‘Grens Stimme klang gedämpft, weil er sich einen Wollschal über den Kopf zog. »Alle sagten, er hat einfach nur Glück. Offenbar ist er dafür bekannt. Glück, zum Teufel! So wie die Runen fielen, muss Raeponin seine Waage an die Wand gehängt und sich frei genommen haben.« Ich schloss die Augen, aber da ich nun einmal wach war, konnte ich nicht mehr einschlafen. Sorgrad und Usara waren noch immer reglose Haufen aus muffigen Decken, also zog ich mich an und rümpfte die Nase, weil mein Hemd nach Holzrauch stank. Draußen wogten Nebelschleier hüfthoch zwischen den Bäumen, und die Morgensonne hatte die Frühjahrskühle noch nicht vertreiben können. Im Lager rührte sich noch kaum etwas, und ich fluchte wüst auf ‘Gren, als ich merkte, wie früh es noch war. Zwei Waldfrauen gingen mit einem Nicken an mir vorbei, auf dem Weg zum Bach. Da ich nichts besseres zu tun hatte, folgte ich ihnen. Der Bach war noch immer eisig vom Winter, sodass ich beim Waschen endgültig wach wurde. Ich entzündete das Feuer mit dem Spruch, den die Waldleute so unterhaltsam fanden, und setzte Wasser zum Kochen auf. Während ich dasaß und heißen Wein mit Wasser schlürfte, schaute ich zu, wie überall Feuer gemacht und Frühstück bereitet wurde. Kinder tauchten auf und standen den schlaftrunkenen Erwachsenen im Weg herum; kein zivilisierter Mensch hätte diese frühe Morgenstunde als eine vernünftige Zeit zum Aufstehen bezeichnet. Ravin kam vorbei, und erst jetzt ich, dass er gewisse Ähnlichkeit mit meinem Vater besaß. Seit wir hier angekommen waren, hatte ich die absurde Idee 280
nicht abschütteln können, dass all diese Leute zu klein waren. Warum, in Drianons Namen, hatte ich erwartet, dass sie größer waren als ich, wenn ich doch genau wusste, dass alle alten Völker kleinwüchsig waren? Weil ich meinen Vater zum letzten Mal als Kind gesehen und als Kind zu ihm aufgeschaut hatte, so wie jetzt, wo ich saß! Unwillkommene Zweifel plagten mich. Hatten die Erinnerungen des kleinen Mädchens, das ich einst gewesen war, gefärbt mit Wünschen und Sehnsucht, mich in die Irre geführt und mich davon überzeugt, dass der Wald Weisheiten barg, die außerhalb seiner Grenzen unbekannt waren? Nein. Ich reckte das Kinn. Bislang hatte ich Jalquezan in Liedern entdeckt, mit denen Frauen Kinder in den Schlaf sangen oder ihre Kochzeiten bestimmten und ähnliches. Mein Mangel an Erfahrung mit diesen Tätigkeiten machte es mir leider schwer zu entscheiden, ob das Jalquezan irgendeine bedeutende Wirkung hatte. Diese Frauen konnten einfach nur geübte Kinderschwestern und erfahrene Köchinnen sein. Keins der Lieder stammte aus meinem Buch, und wie bei dem Raben-Lied, hatte ich von jedem zwei oder drei Versionen gefunden. Ich sah hinüber zu Orials Sura. Zenela hatte gestern davor in der Sonne gesessen. Das Mädchen erholte sich schneller und gründlicher, als Arzneipflanzen und Kräuter es hätten bewirken können. In Ensaimin läge inzwischen ihre Asche in einer Urne. Usara davon zu überzeugen, war allerdings eine ganz andere Sache. Was übersah ich nur? Irgendetwas musste es geben. Dass ich an Usara dachte, hatte dem Magier anscheinend die Ohren klingen lassen. Als ich es drinnen lärmen hörte, warf ich einen Blick in die Sura und sah ihn ein wenig verlegen nach sauberer Wäsche und seinem Rasiermesser wühlen. 281
»Du warst gestern Nacht sehr spät zurück«, bemerkte ich gleichmütig. Plötzlich lächelte Usara mich an. »Einer der wichtigsten Charakterzüge eines Magiers ist Verschwiegenheit, Livak. Außerdem hat mein Vater immer gesagt, dass ein ehrbarer Mann nie prahlt.« Frue tauchte aus einer Sura in der Nähe auf. »Guten Morgen!« Trotz seines fröhlichen Grußes sah er entschieden weniger munter aus als die anderen Waldleute. Das Leben in Ensaimin hatte ihn an bequemere Betten und Tagesabläufe gewöhnt. »Guten Morgen.« Hastig versuchte ich, meine Gedanken zu sammeln. »Wir gehen auf Wildschweinjagd.« Frue trug zwei Speere und wedelte mit den dickschäftigen Waffen. »Wenn Sorgrad oder ‘Gren mitkommen, können sie einen Anteil an der Beute beanspruchen, und dann könnt ihr eure Essensschulden begleichen.« Es war das zweite Mal in ebenso vielen Tagen, dass er diese Verpflichtung erwähnte. »Ich komme mit.« Nach den letzten paar Tagen würde mich niemand von ein bisschen Aufregung fern halten. Frue stieß seine Speere in die Erde. »Du? Du bist kein Mädchen vom Lande, nicht wahr ...?« Er verstummte, als er meine Verärgerung bemerkte. »Sie kommen doch auch mit, oder?« Ich erwiderte ein Winken von Gevalla und ihren Schwestern, die alle in derbe Sache gekleidet waren; ihre Haare waren straff geflochten, und jede hatte Seile kreuzweise um die Schultern geschlungen. Sie trugen ein zusammengerolltes Netz. »Glaub mir, ich kann so gut wie jeder andere laufen, klettern und ein bewegliches Ziel treffen«, sagte ich. 282
»Ja, aber ...« Frue schüttelte seine Unsicherheit ab. »Pass nur auf, dass du niemandem im Weg bist.« Eine Schilfpfeife übertönte das morgendliche Vogelgezwitscher. »Ravin führt die Jagd an«, sagte Frue streng. »Wenn du die Jagd behinderst und er befiehlt dir, dass du zurückbleiben sollst, dann tu es auf der Stelle.« Ich nickte knapp. Es war Usaras Pech, dass er gerade diesen Moment wählte, um heranzukommen, die Augen funkelnd vor Neugier, als er sah, wie sich die Jagdgesellschaft mit Bögen, Speeren und Langmessern versammelte. »Eine Jagd? Kann ich mitkommen?« »Nein«, sagte ich abwehrend. »Du bist nicht dafür angezogen.« Usara betrachtete den Saum seines braunen Gewandes, das ungegürtet über Hemd und Hosen hing. »Jemand könnte mir eine Tunika leihen.« »Keine Zeit.« Ich winkte Ravin zu, der bereits zwischen den Bäumen verschwand. »Jedenfalls, ich bin nicht sicher, dass deine Art von Hilfe geschätzt würde.« »Der rechte Spruch zur rechten Zeit kann ein Tier im Lauf niederstrecken, ein Seil aus Luft, zum Beispiel ...« »Und was ist, wenn diese Leute deine Magie für ein Verbrechen gegen Talagrin halten?«, fragte ich. »Nutz die Zeit, um mit den Älteren zu reden. Denk daran, weshalb wir hier sind.« »Frue?«, wandte Usara sich fragend an den Sänger. »Am besten bleibst du im Lager«, erwiderte Frue entschuldigend. Ich nickte zustimmend. Ich war vielleicht eine Stadtpflanze, aber wenigstens kannte ich meine Grenzen und hatte genug 283
Verstand, mich von Ärger fern zu halten. Obwohl Usara einer der besten Magier war, die ich kannte, besaß er so viel gesunden Menschenverstand wie ein Frosch Federn. Der Zauberer, der eine Beute mit Hilfe von Magie erlegte, würde die Jäger so nutzlos machen wie Eunuchen in einem Bordell und so zufrieden, als hätten sie sich die Krätze geholt. »Na gut«, sagte Usara naserümpfend und hörbar verärgert. Er stapfte zu Orials Hütte, und ich folgte Frue. Die Jäger sammelten sich. Ein paar sangen Beschwörungsformeln an den Jagdmeister. Es juckte mich, näher heranzukommen, weil ich mich fragte, ob das wieder ein neues Jalquezan war. Ich gesellte mich zu Rusia und ihren Schwestern. Andere Frauen hatten sich grobe Säcke und Taschen umgeschnallt und Abhäutemesser in den Gürteln stecken. Mehrere schärften ihre Messer an Wetzsteinen und unterhielten sich dabei leise. »Wie läuft das jetzt ab?«, fragte ich. Yefri deutete auf einen Mann mit einer Mähne zottigen grauen Haares und hellen, brennenden Augen. »Das ist Iamris. Er wird die Wildschweine für uns finden.« Ravin ließ aus seiner Rohrpfeife ein Trillern wie von einer Waldlerche hören, und wir zogen los und in den Wald hinein. »Er ist ein Fährtensucher?«, flüsterte ich Yefri zu. »Er ist ein Beutefinder«, sagte sie. Parul schloss sich uns an. Er hatte mehrere kräftige Speere. »Wollt ihr beim Todesstoß dabei sein?« Yefri schüttelte den Kopf, und ich tat es ihr gleich. »Ich mache mit«, sagte Gevalla abrupt. Sie nahm einen Speer und stellte sich neben Parul. »Geva!« Rusia erdolchte ihre Schwester mit Blicken, die jedoch trotzig ihr Kinn reckte. 284
»Sie kann mitkommen, wenn sie will.« Parul legte einen Arm um Gevallas Schultern. Dann ließ ein schriller Ton aus Ravins Pfeife uns alle verstummen. Iamris führte uns zwischen die Bäume. Ich versuchte, mir Landmarken zu merken und einen Blick auf die Sonne zu erhaschen, wann immer ich konnte, aber nachdem wir eine Weile – eine halbe Jahreszeit, wie mir schien – langsam durch den Wald gezogen waren, merkte ich, dass mir Trimon schon einen großen Gefallen tun musste, wollte ich ohne Hilfe zur Siedlung zurückfinden. Ich schob mich durch frisches Unterholz und Zweige, die von den Winterstürmen abgerissen worden waren. Fähigkeiten, die ich erworben hatte, um lautlos ungebeten durch fremde Häuser zu schleichen, kamen mir hier genauso zugute wie die Waldläuferkunst von Salkin und seinen Freunden. Wir verstreuten uns, doch alle Aufmerksamkeit blieb auf Iamris gerichtet. Ein lautes Knacken verriet, dass jemand auf einen toten Zweig getreten war. Als ich mich ebenso wie alle anderen umschaute, begegnete ich Frues Blick, der mir anerkennend zunickte. Wir überquerten einen kleinen Bach, der zwischen moosigen Ufern plätscherte, und ich verlor den Sänger in dem frühlingserwachenden Wald aus den Augen. Parul und Gevalla waren nicht mehr zu sehen, also achtete ich doppelt darauf, dass ich entweder Yefri oder Rusia stets im Blick hatte. Ravins Pfeife imitierte eine Wacholderdrossel und überraschte mich auf einer langen schmalen Lichtung. Ich huschte hastig hinter einer jungen Buche in Deckung. Eine mütterliche Frau mit schlichtem, freundlichem Gesicht nahm eine Holzpfeife und erwiderte das Signal. Weitere geflötete Antworten bedeuteten, dass alle ihre vorher bestimmten Plätze eingenommen hatten, 285
und ich überlegte, was meine Gruppe wohl zu tun hatte. Wir hatten sehr wenig Speere, und das musste eine gute Sache sein, oder? Rusia und die Mädchen spannten ihr großes Netz in eine Lücke zwischen den Bäumen. Andere befestigten ähnliche Fallen an Ästen und Stämmen. Ich brachte das Netz zwischen mich und die Geräusche anderer Jäger, die sich leise von uns entfernten. Was immer den Pfad entlang kam, würde ins Netz geraten, ehe es mich witterte. Im Geiste sprach ich ein Bittgebet an Talagrin, in der Hoffnung, der Herr der Wildnis möge sein Auge darauf werfen, wenn etwas unerwartetes aus einem Busch sprang. Yefri reichte mir das Ende eines Seils. Ich half ihr, Zweige und Gestrüpp zusammenzubinden, um ein Hindernis vorzutäuschen, damit die Beute sich dem scheinbar freien Gelände zuwandte, wo das Netz unsichtbar lauerte. Nördlich von uns wurde es plötzlich unruhig. Rufe waren zu hören, Pfiffe und Speere, die gegen Bäume schlugen und die Beute vorwärts trieben. Der Tumult bewegte sich auf uns zu, ein durchdringendes Schreien und drohendes Knurren. Es klang wie eine wildgewordene Rotte Wildschweine. Ich musterte einen kräftigen Baum, der zum Klettern zur Hand war, und merkte, dass meine Hand dabei war, meine Gürteltasche zu öffnen, in der ich meine Giftpfeile verwahrte. Ich steckte sie fest in meinen Gürtel. Ein gewaltiges Wildschwein stürmte aus dem Unterholz, schwarz und haarig, die Schnauze tief zum Boden gesenkt, der schwere Kopf schwang von Seite zu Seite. Eine Hand voll Pfeile steckte tief in jeder Flanke, sodass das Tier eine Blutspur hinterließ. Auf der Mitte der Lichtung drehte es sich mit einem 286
schäumenden Schmerzensgegrunze zu seinen Verfolgern um. Blätter und Schlamm klebten an den gefleckten Beinen und dem Bauch, und die massigen Schultern hoben und senkten sich, als es mit seine riesigen Hauern den Boden aufwühlte. Blutiger Schaum spritzte von den gelben Zähnen, als es vergebens versuchte, die Pfeile abzubeißen, die es zu Boden zogen. Ich schlich mich näher an meinen ausgewählten Baum. Ravin erschien mit langsamen Bewegungen und pflanzte das stumpfe Ende seines Speers fest gegen seinen Fuß, die Spitze auf das Tier gerichtet, falls es sich in seiner Raserei auf ihn stürzte. Auf Ravins Befehl schossen zwei Männer vor und stießen dem Schwein ihre Speere tief zwischen die Rippen. Die Kraft dieser Stöße trieb das Tier nach vorn; helles Blut quoll aus seinem jetzt schlaffen Maul. Es schrie, sich windend und um sich tretend, doch die Männer hielten Stand. Schweiß rann ihnen über das Gesicht, als sie mit dem Tier rangen, das sich in Todeszuckungen wand. Endlich lag es schlaff am Boden, und Nenad rannte herbei, stieß einen kräftigen Haken unter das Kinn des Kadavers und zerrte das Tier mit einem Seil davon. Ein paar Frauen traten vor, doch plötzlich erschollen Rufe vom Pfad her, die sie innehalten ließen. Nenad blieb der Mund offen stehen, als zwei Jugendliche auf die Lichtung gerannt kamen, der eine bleich, mit wildem Blick, der andere humpelnd, mit blutigen, zerfetzten Beinlingen, doch er rannte so schnell wie sein Gefährte. Ein jüngeres Wildschwein verfolgte sie. Ein verkrusteter Riss in den rauen Borsten der Flanke zeigte, wo ein Pfeil getroffen hatte, aber nicht stecken geblieben war. Das Tier bog im Zorn den Rücken durch. Die Wunde reizte es nur mehr, während es schnaubte, außer sich vor Wut – eine Masse aus Muskeln und 287
Zorn. »Nenad, lass sein!«, rief Ravin dem Jungen zu, der vor Angst und Unentschlossenheit wie angewurzelt dastand. Das Wildschwein wandte ihm seine boshaften schwarzen Augen zu, und Speichel rann aus seinem blutroten Maul. Nenad machte einen Schritt rückwärts, blieb jedoch mit dem Fuß im Seil hängen und fiel auf ein Knie. Sofort griff das Wildschwein den Jungen an, der auf dem Bauch wegzukriechen versuchte. Der verkörperte schwarzborstige Zorn riss ihm mit seinen Hauern die Beine auf. Blut und Speichel spritzten auf die Erde. Männer und Frauen rannten vor; Speere und Messer glitzerten im Sonnenlicht, und Blut tropfte herab. Die Schreie eines anderen Jägers mischten sich mit denen Nenads, als der Keiler kämpfend starb und dabei jede Gelegenheit zur Rache nutzte, die sich ihm bot. »Zurück, zurück!« Neuerlicher Tumult näherte sich. Die Waldleute stoben auseinander. Zwei Männer schleppten Nenad zwischen sich. Ein weiterer wich bis zu mir zurück, wobei er seinen schlimm zerbissenen Arm umklammerte. Iamris, der eine Phalanx von Waldleuten anführte, trieb eine ungeheure Bache zwischen den Bäumen hervor. Speere stießen nach ihr. Gevalla schwang den ihren mit einem grimmigen Ausdruck der Entschlossenheit. Gestreifte Frischlinge quiekten und rannten um ihre Mutter herum, deren Gesäuge schwer hing. Sie schnappte nach den Speeren, schnaufend und keuchend, doch die Speerspitzen trieben sie in verblüfftem Schmerz zurück. Die Jäger verständigten sich blitzschnell untereinander, und zwei der blattförmigen Klingen drangen tief in den Hals der Bache. Dunkelrotes Blut schoss in Strömen über ihre Vorderbeine. Die Frischlinge, völlig außer sich, rannten wild durcheinander. 288
Einige verfingen sich in den Netzen und wurden mit dem stumpfen Ende der Speere erschlagen, andere wurden in Bündeln von Sackleinen gefangen und an den Hinterbeinen hochgehalten, wo sie zappelten, bis ein Schnitt durch die Kehle ihrem Quieken ein Ende setzte. Ich hatte den Atem angehalten und gebannt zugeschaut. Doch wollte ich einen Anteil vom Fleisch beanspruchen, musste ich etwas Nützliches tun, uns so half ich Rusia dabei, Frischlinge aus den Netzen zu befreien. Sie kämpfte mit einem besonders hartnäckigen Knoten. »Warte, ich helfe dir.« Ich schob die Spitze meines Dolches in den Knoten und drehte sie, um das Knäuel zu lösen. »Was ist mit Nenad?« »Es geht ihm besser, als er es verdient.« Ihre Gereiztheit konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. »Stand da wie ein Kaninchen vor der Schlange, also wirklich!« Der Junge schluchzte, als seine Wunden auf der anderen Seite der Lichtung verbunden wurden. Ich schaute hinüber und sah auch den Mann mit dem zerbissenen Arm. Tränen rannen ihm übers Gesicht, da seine Wunden grob mit Schnaps aus einer Flasche gereinigt wurden. Ich zuckte zusammen, denn die tiefen Risse waren ausgefranst und voller Schmutz, dunkelrote Muskeln unter zerfetzter, brauner Haut. Wenn ich je eine Wunde gesehen hatte, die schwären würde, dann diese. »Hat jemand nach Orial geschickt?« Gevalla erschien, Blut auf ihren Hosen. Ein Ferkel baumelte an ihrem Speer. »Ja, Ravin hat Lisset geschickt.« Rusia zog das Netz frei. »Lass den Kleinen ausbluten, du weißt es doch besser, als Zeit mit Geschwätz zu vergeuden.« Das Geräusch einer Axt, die in Holz geschlagen wird, klang 289
über die Lichtung. Ein grobes Traggestell war bereits zusammengeschnürt worden, und Ravin hieß Frue und ein paar andere, den größeren Keiler an den Hinterbeinen hochzuhieven. Almiar schnitt sorgfältig die Halsschlagader durch, während zwei Männer das Blut in Wasserschläuchen auffingen. Der Bache waren die Kniegelenke mit einem spitzen Stock durchstochen worden und hing schon bald an einem zweiten Gestell. Eine Frau machte einen langsamen Schnitt über den Bauch, worauf Ravin die Eingeweide des Tieres zurückdrückte, dass sie nicht zu früh aus dem Leib quollen. Rusia kümmerte sich darum, dass alle Ferkel ausbluteten und teilte mich barsch für die unangenehme Aufgabe ein. »Almiar sagt, du beherrschst einen Trick, Feuer zu machen?« Ich nickte, und Rusia rief einen Burschen an, der mit Händen voller Eingeweide vorbeikam. »Etal! Gib das Dria und versuche Lampendorn zu finden. Livak, mach ein Feuer, dann können wir anfangen, den Ferkeln die Haare abzusengen.« Ich suchte unter den Büschen nach Anmachholz und fand ein trockenes Fleckchen Erde, froh darüber, dass ich eine Aufgabe hatte, die nicht von mir verlangte, bis zu den Ellbogen in Innereien zu wühlen. »Talmia megrala eldrin fres.« Die Flammen loderten gehorsam auf, und Rusa lachte. »Genau wie Viyenne im Frost.« Ehe ich fragen konnte, was sie meinte, wurde das Ferkel hinter ihr abrupt weggerissen. Rusia schrie gellend auf, als eine glitzernde Klinge vor ihrem Gesicht auftauchte. Ein Baum verbarg mich vor dem Messerstecher, der aus dem Nichts aufgetaucht war, und ich rollte mich seitlich unter die schützenden Zweige eines blühenden Besenginsters. Die Hände flach aufgestützt, kniete ich mich hin und verlagerte meine Position äu290
ßerst vorsichtig, um einen besseren Blick aus meiner Mulde unter dem Drianon-Strauch zu bekommen. Ein Trupp schmutziger, abgerissener Banditen erschien von allen Seiten. Ihrer Farbe nach zu urteilen – unter all dem Schmutz und den Lumpen – waren es Waldleute. Ich hatte mich geirrt, als ich dachte, Ravins Siedlung sähe ein wenig verhungert aus: Verglichen mit diesen Leuten hatten Rusia und die anderen den Winter über in Saus und Braus gelebt. Ein paar Neuankömmlinge wiesen deutlich die durch Mangelernährung verursachten Schwären im Gesicht auf, andere trugen fleckige Verbände um Arme und Hände, die Zeugnis davon ablegten, dass die Wunden nur langsam heilten, oder sie hatten offene, entzündete Wunden. Ein leichter Windhauch trug ihren Gestank heran, und ich hatte Mühe, nicht zu würgen. Ein Anführer trat vor, ein kleinwüchsiger Kerl mit einer auffälligen Hakennase im eingesunkenen Gesicht und totenähnlichen, rot geränderten Augen. Ich konnte seinen raschen Worten nicht folgen, doch die Bosheit in seiner Stimme brauchte keine Übersetzung. Er schwang sein Messer, eine lange Klinge mit gezacktem Rücken – das einzig Saubere an ihm –, und spuckte Ravin mitten ins Gesicht. Parul machte einen halben Schritt vorwärts, ehe ein drohender Speer ihn innehalten ließ. Röte stieg in Ravins Wangen, doch er blieb reglos stehen, während der Speichel ihm langsam übers Gesicht lief. Ich versuchte, herauszufinden, wie viele noch irgendwo lauerten. Ich konnte Frue sehen, der unbewaffnet vor einem knochigen Jugendlichen zurückwich, der offenbar nach einem Grund suchte, eine Schlägerei anzufangen. Yefri und Rusia versteckten sich hinter Salkin, der finster und hilflos drei Männer anstarrte, die ihn mit Langmessern bedrohten. 291
Wer immer diese Neuankömmlinge waren, sie hatten ihre Falle nicht ungeschickt zuschnappen lassen, und sie hatten beeindruckende Waldläuferkunst gezeigt, dass sie unbemerkt so nahe gekommen waren. Die meisten von Ravins Leuten hatten ihre Waffen beiseite gelegt, sich um die Jagdbeute zu kümmern, doch die Diebe waren der Jagdpartie gegenüber ohnehin deutlich in der Überzahl. Ich überlegte, wie ich am besten vorgehen sollte. Der Einzelkämpfer als Held ist für Balladen ja ganz schön, aber das hier war das wirkliche Leben. Ich schob mich mit quälender Langsamkeit näher an den Baumstamm. Konnte ich schnell genug davonkommen, um einer Verfolgung zu entgehen? Was würde das nützen, da ich keine Ahnung hatte, in welche Richtung ich musste? Hilfe zu holen war eine Sache, sich aber im Wald zu verirren, würde niemandem etwas nützen, am allerwenigsten mir selbst. Andererseits, wenn man mich in einem Versteck fand, würde mich das zu einem bevorzugten Ziel für zusätzliche Bestrafung machen. Der Dünne, der gespuckt hatte, zog sich von Ravin zurück und beharrte darauf, dass Nenad auf die Füße gezerrt wurde. Er lachte über die blutigen Umschläge, die beide Beine bedeckten. Er packte einen Speer, um die stützenden Arme des Freundes wegzuschlagen und verhöhnte den Jungen, dessen Knie unter ihm nachgaben. Als Nenad fiel, trat der Dünne nach ihm. Das Schluchzen des Jungen ließ einen Vogel zwitschernd von seinem Ast über meinem Kopf in den Himmel steigen. Der Dünnen wies seine Diebe an, die Kadaver abzuschneiden. Ein paar knüpften sie an Tragestangen fest, andere sammelten die Eingeweide und die Frischlinge ein. Ravin und die Jagdgruppe mussten sich in einen Kreis setzen, nach innen schau292
end, die Hände auf dem Kopf und mit verschränkten Beinen. Ich beschloss, dieses Spiel abzuwarten, und beobachtete bedauernd, wie die Aussicht auf ein Spanferkelessen schwand. Als die Diebe mit ihrer Beute beladen waren, wandte sich der Anführer noch einmal an Ravin, deutete auf eins der Mädchen und bellte einen scharfen Befehl. Ich biss mir auf die Lippe. Ich hatte mich schon gefragt, ob es dazu kommen würde, denn unter den Räubern waren keine Frauen. Wenn das hier jetzt zu arg wurde, blieb mir wohl nichts anderes übrig, als dem kleinen Bastard einen Pfeil in den Rücken zu werfen. Damit aber hätte ich gewiss den ersten Platz bei jedem dieser Schmierlappen, sich mit mir zu vergnügen ... Das Mädchen stand langsam auf, mit hängendem Kopf. Sie war eine der jüngsten, ein dünnes kleines Ding mit rotblondem Haar, das große braune Augen in einem spitzen Gesicht umrahmte, das nun weiß war vor Angst. Der Dünne verhöhnte sie, und Tränen rannen ihr über die Wangen. Er hob ihr Kinn mit der Messerspitze an und verspottete sie mit Worten, die sie heftig erröten ließen. Lachend fuhr er mit der Spitze unter das Band in ihrem Nacken und schnitt es mit einer raschen Drehung des Handgelenks durch. Dann packte er eine Ecke und schnitt langsam das Leder ihrer Tunika durch. Ich zuckte zusammen, doch das Mädchen blieb reglos stehen, als das scharfe Metall langsam an ihren nackten Brüsten vorbeiglitt. Sie schloss die Augen, als der Schweinehund sie bis zur Taille entblößte, unter dem beifälligen Gelächter seiner Kumpane. Ich nahm an, sie bewunderten seine Tapferkeit, sich an einem unbewaffneten Mädchen zu vergehen, das noch einen Kopf kleiner war als er. Die Augen aller Räuber waren auf das Schauspiel gerichtet. 293
Ich schätzte die Entfernung zwischen dem Ginster und dem nächsten Gebüsch, als ich eine Bewegung in den Blättern sah, die nichts mit dem Wind oder einem Vogel zu tun hatte. Ich warf kurz einen Blick auf die Mitte der Lichtung, wo der Held mit dem Messer immer noch seinen Spaß hatte. Bei seiner kleinen Vorstellung ging weit mehr um Demütigung als um Wollust, jedenfalls bis jetzt. Der Dünne hatte das Mädchen nun völlig nackt ausgezogen und verhöhnte sie, während sie zwischen den Fetzen ihrer Kleider stand. Er deutete gerade auf Yefri, als plötzlich überall um die Lichtung herum Poldrions Dämonen hervorzubrechen schienen. Während das Grinsen vom Gesicht des Dünnen verschwand, stürzte Salkin sich auf ihn und schloss die Hände um die schmutzige Kehle des Mannes. Salkin setzte sich rittlings auf die Brust des Dünnen und verprügelte den Bastard, wie er es verdient hatte, während – wie es aussah – die gesamte Siedlung aus den Büschen hervorstürmte, mit Speeren, Knüppeln und vom Wind abgebrochenen Ästen in den Händen. Auch Ravins Jäger warfen sich in den Kampf, waffenlos oder nicht, und die Diebe fanden sich alsbald zwischen Hammer und Amboss wieder. Ehe ich mich rühren konnte, kam ‘Gren aus dem Unterholz gegenüber von meinem Versteck hervorgestürmt, die Augen leuchtend vor Begeisterung. Er schwenkte einen Speer, riss damit einem Räuber die Beine weg, ließ den Speer fallen, packte den Mann am Kragen, als er fiel, und hieb ihm seine behandschuhte Faust ins Gesicht. Die Stiefel des Mannes schabten auf dem moosigen Boden, als ‘Gren ihn schüttelte wie ein Terrier eine Ratte. ‘Gren verdrehte ihm die Tunika am Hals immer enger, und es dauerte nicht lange, da hatte er ihn bewusstlos ge294
schlagen und schleuderte ihn zufrieden von sich. Sorgrad bewachte den Rücken seines Bruders, in beiden Händen ein Langmesser. Die beiden wandten sich einem Obeinigen, bärtigen Räuber mit mächtigem Brustkorb und dichtem braunem Haar zu. Seine nackten Arme waren behaart wie die eines Tieres. Sorgrad täuschte einen Angriff an, um den Mann zurückzutreiben, und ‘Gren versperrte ihm den Fluchtweg. Beide trieben den Mann immer weiter auf mein Versteck zu. Seine kräftigen Stiefel hätten es schwierig gemacht, dem riesenhaften Bärtigen die Beine wegzureißen. Ich änderte meinen Griff um den Dolch, passte einen günstigen Moment ab und stach ihn in den Fuß. Ich rollte mich seitlich weg und war auf den Beinen, ehe das Geheul des Bärtigen abgeschnitten wurde, als Sorgrad ihm die Keule auf den Schädel hieb. »Woher wusstet ihr, dass wir Ärger hatten?« Ich lächelte sie erleichtert an. »Wer euch auch alarmiert hat, er muss schneller gewesen sein als ein schlüpfriges Gerücht!« Sorgrad schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau, was den Alarm auslöste. Ich unterhielt mich mit Usara, und plötzlich rumorte es wie in einem Ameisenhaufen. ‘Gren und ich kamen mit, um auch was von dem Spaß zu haben.« »Was davon noch übrig ist«, sagte ‘Gren verdrießlich, als er sah, wie der letzte der Diebe in den Schutz des Waldes entkam. »Was ist mit Usara?« Ich schaute mich besorgt um. »Er müsste hier irgendwo sein«, meinte Sorgrad. Ich sah eine große Baumgruppe, die plötzlich von Feuer gekrönt war. Die Feuersbrunst war auf dem Weg zu uns, ließ jedoch die Blätter hinter sich unangetastet. Ein scharlachrotes Netz aus brennend rotem Licht verdoppelte in Windeseile wie295
der und wieder seine Größe. Es war ein unnatürliches Rot, nicht das Orange-Gelb eines normalen Waldbrandes. Als die Flammen einen Kreis um die Lichtung schlossen, kamen der dünne Kerl und seine Bande aus dem Gebüsch gestolpert. Einer der Räuber blieb stehen, mit entschlossener Miene, als die roten Flammen näher und näher kamen. Er streckte ihnen eine trotzige, zitternde Hand entgegen, heulte auf, als sein Fleisch versengt wurde und Blasen schlug, und taumelte zu seinen Freunden. »Ich hoffe, Usara steckt nicht den ganzen Wald in Brand«, murmelte ich Sorgrad zu. Zwischen den hoch auflodernden Flammen konnte ich sehen, wie Nebel aufstieg, trotz der heißen Sonne, die inzwischen vom Himmel brannte. Der Dampf war durchzogen mit schwachem grünem Schimmer und zog ohne jeden Windhauch daher, umklammerte Bäume und Büsche, bedeckte Gras und Blumen und sammelte sich in jeder Mulde oder Vertiefung, ehe er weiterzog. »Sehr hübsch«, sagte ‘Gren beifällig, als Usara durch den magischen Ring trat und die Flammen in der ausgestreckten Hand sammelte. Seine Augen blickten müde, doch er sah sehr zufrieden mit sich selbst aus. »Der Mann hatte als Kind wohl nicht viel Gelegenheit, ein bisschen anzugeben, oder?«, bemerkte Sorgrad belustigt. »Was geschieht jetzt?«, überlegte ich und betrachtete die Diebe, die sich dicht aneinander drängten. »Eine Art Entschädigung«, antwortete Sorgrad nachdenklich. Die Runen lagen jetzt eindeutig anders herum. Der Dünne wurde von Salkin, dessen blutige Knöchel scheußlich schmerzen mussten, grob auf die Füße gezerrt. Der Dieb blutete aus verschiedenen Wunden und einem hässlichen Schnitt unter 296
dem Ohr. Ravin winkte das Mädchen nach vorn, das Opfer des schändlichen Spielchens des Dünnen gewesen war. Nach kurzer Beratung trat sie vor, das hübsche Gesicht vor Zorn verzogen. Ein mit aller Kraft ausgeführter Tritt zwischen die Beine, und der Dünne klappte so schnell zusammen, dass nur noch ein Büschel Haare in Salkins Fingern hängen blieb. Ein paar von Ravins Leuten jubelten und klatschten, wurden aber zum Schweigen gebracht. Ravin übernahm mit ein paar knappen Befehlen die Führung, und seine Leute zerstreuten sich, um ihre Jagdbeute wieder zurückzuholen. Salkin und ein paar andere begannen, die Räuber auszuziehen. Selbst mit den Bewusstlosen gingen sie nicht zimperlich um, und jeden Widerstand der übrigen prügelten sie aus ihnen heraus. Bald waren wir bereit zum Aufbruch und ließen die Möchtegern-Räuber nackt und gedemütigt zurück Rusia und die anderen Frauen bündelten die erbeuteten Kleider zusammen, auch wenn ich mich fragte, was sie damit anfangen wollten. Die Messer und Speere der Diebe allerdings waren es wert, dass wir sie mitnahmen. »Vielleicht denken diese Narren jetzt zweimal darüber nach, ob sie auf die Vorschläge von dem da hören«, sagte Ravin zu Usara und stieß den besinnungslosen Dünnen verächtlich mit dem Stiefel an. Als wir abzogen, warf ich einen Blick zurück und sah, wie ein paar Strauchdiebe langsam wieder auf die Füße kamen und versuchten, die Bewusstlosen zu schultern. Keine leichte Aufgabe ohne Gürtel oder Hosen, an denen man Halt finden konnte. Ich lauschte mit einem Ohr auf eine mögliche Verfolgung, hörte aber nichts. »Das Leben im Wald besteht also nicht nur aus Nüssen und 297
Nettigkeiten«, meinte Sorgrad unterwegs. »Stimmt«, pflichtete ich bei. Bald darauf kam die Siedlung in Sicht. Orial und die anderen Frauen waren dabei, die Rundhäuser abzubauen und packten Rahmen, Matten und alles andere auf die kleinen Esel, die von den Jungen, die sie hüteten, von ihren Weidegründen im Wald hergebracht wurden. »Was ist los?«, fragte ich. Orial sah von einer ledernen Rolle auf, die sie zusammenschnürte. »Wir ziehen weiter.« »Die Halunken kommen wieder, morgen oder übermorgen.« Yefri kam, um die Feuergruben mit Steinen vom Rand des Sura-Kreises aufzufüllen. »Ihr wollt euch nicht stellen und kämpfen?« Ich legte einem Esel eine Hand auf die Zügel, um ihn zu beruhigen. Orial stapelte Töpfe zusammen. »Warum? Es gibt doch genügend friedliche Waldgebiete.« »Aber dann haben sie gewonnen!«, wandte ich ein. Sie sah mich verblüfft an. »Dieses Rattenpack? Wir könnten ihnen die Haut abziehen, wenn wir wollten, aber wozu? Dann werden nur ein paar von uns verletzt.« »Wenn wir weiterziehen, werden sie nichts finden, und ihr dünner Anführer steht noch dümmer da als eben, als der Wind seinen pickligen Arsch umweht hat«, grinste Yefri und schnallte ein Bündel auf den Esel, während sie ihm beruhigend in die braunen Ohren sprach. »Werden sie euch nicht folgen und euch im nächsten Lager überfallen?« Es mochte ja keine Feigheit sein, aber es hörte sich für mich sehr nach Dummheit an. »Nicht wenn Ravin unsere Spuren verbirgt«, kam Rusia ihrer 298
Schwester zu Hilfe. »Niemand kann das besser als er.« »Aasfresser folgen einem Verlierer nicht.« Orial faltete einen Stapel Decken zusammen und verpackte sie in Öltuch. »Der wird noch lange vor Sonnwend auf sich allein gestellt sein.« Zenela kam mit Händen voll frisch gespülter Schalen. Sie trug eine Waldtunika über einem geschlitzten Rock. Sie sah blass und erschöpft aus, und die Augen waren noch fieberglänzend, doch ich hätte nicht erwartet, sie überhaupt auf den Beinen zu sehen, ehe der nächste Mond dunkel wurde. Ich wandte mich an Orial, doch ihre Blicke ruhten auf Usara, der mit Ravin sprach. Ich sah das Halsband mit den rautenförmigen Gliedern am Hals der Kräuterfrau schimmern. »Er wird nach Hadrumal zurückkehren, noch ehe das Jahr um ist. Du weißt das?«, sagte ich leise über den dunklen Eselrücken hinweg. »Die Insel der Zauberer?« »So wie ich in die südlichen Gefilde des Waldes zurückkehre«, erwiderte Orial. »Mit den Ablegern verschiedenster Pflanzen, die in wärmerer Erde Wurzeln schlagen können.« »Bist du deshalb hergereist?« Ich wurde immer neugieriger auf diese Frau. »Unter anderem.« Sie betrachtete liebevoll Usaras Rücken und legte eine Hand auf ihren Gürtel. »Ein Kräuterkundiger sollte immer danach streben, lang getrennte Dinge zurück in ihren Garten zu bringen.« »Das ...«, begann Zenela, doch ein Hustenkrampf schnitt ihr das Wort ab. Orial zog ein kleines Fläschchen aus der Tasche und hielt es dem Mädchen unter die Nase. »Brauchst du Hilfe mit deiner Sura?«, fragte Rusia mit einem Hauch von Ungeduld. »Ich sag ihnen, sie sollen sich beeilen.« Ich sah, dass Sorgrad 299
einen Kräutertrunk braute, während ‘Gren zwischen den Töpfen und Pfannen nach etwas Essbarem suchte, und ging zu ihnen. »Wir sollen packen«, verkündete ich, als ich bei ihnen war. »Trink das.« Sorgrad reichte mir einen Becher, an dem ich misstrauisch schnüffelte. »Halcarions Allheilmittel.« Ich trank es und schaute mich um. »Ist noch etwas Fladenbrot da?« »Hart wie Stein, aber du kannst es haben, wenn du willst«, bot ‘Gren großzügig an. Er kaute auf einem Streifen kalten Fleisches und stippte ihn in eine Schale gelierter Nusssauce. Ich nahm das Fladenbrot und weichte es im Tee ein. Usara kam herüber, und Sorgrad reichte ihm wortlos einen Becher. »Alles in Ordnung?« Ich betrachtete ihn besorgt, doch sein Gesicht hatte inzwischen wieder etwas Farbe bekommen. Er legte die Hände um den Becher, um sie zu wärmen, und atmete den Dampf ein. »Eigentlich schon, ich bin nur sehr müde. Ich glaube, ich habe seit dem Äquinoktium mehr Magie vollbracht als im vergangenen Halbjahr«, sagte er mit einem reuigen Lächeln. »Es ist wirklich ein Unterschied, ob man Magie wirkt oder die Theorien der Zauberei erforscht. Trotzdem – einer der Gründe, weshalb ich mit dir kommen wollte, war der, meine Fähigkeiten zu erproben.« »Hat jemand auch nur einen Hauch von Ätherkunde bei diesen Leuten gefunden?«, fragte Sorgrad. Usara schüttelte den Kopf. »Selbst wenn sie geheim gehalten würde – ich bin sicher, jemand hätte sich inzwischen verplappert, wenn man bedenkt, wie offen diese Leute sind.« Ich betrachtete einen Augenblick lang mein Brot. »Ich glaube immer noch, dass an diesem Jalquezan etwas dran ist. Und die 300
Jagd heute ... ich bin sicher, dass Jamris die Beute nicht nur mit scharfen Augen und einer guten Nase gefunden hat. Und wie konnte die Nachricht vom Überfall so schnell das Lager erreichen? Niemand kann so schnell laufen! Und schaut euch Zenela an. Habt ihr schon mal jemanden gesehen, der sich so schnell und vollständig von Wasser in den Lungen erholt? Und schließlich habe ich jemanden gefunden, der eine Ballade kennt, in der jemand einen ähnlichen Feuerzauber benutzt wie ich ...« »Livak, ich habe die letzten drei Tage damit verbracht, mir eine Ballade nach der anderen anzuhören«, sagte Usara gereizt. »Jeder zweite hat eine andere Version. Und der eine Sänger weicht vom Text ab, der andere von der Reihenfolge der Erzählung. Es scheint eine Sache der Ehre zu sein, die Melodie zu verändern und den Text auszuschmücken. Es tut mir Leid, aber diese Geschichten war im Lauf der Jahre so vielen Veränderungen unterworfen, dass jedes Wissen, dass sie vielleicht einst enthielten, jetzt unwiederbringlich verloren ist. Ich könnte dir beispielsweise fünf verschiedene Versionen von ›Die Jagd auf den Weißen Hirsch‹ anbieten.« »Wir sind nicht hier, um eine Abhandlung über die Geschichte des Volkes zu schreiben.« Ich versuchte, meine Gereiztheit im Zaum zu halten. »Reite nicht auf Tatsachen herum. Sieh dir die Geschichten an. Sieh dir das Unerwartete und Unmögliche an! Glaubst du dann immer noch nicht, dass hier Magie im Spiel ist? Und wo Magie im Spiel ist, ist auch Jalquezan im Spiel – jedes Mal.« »Vielleicht.« Die Skepsis in Usaras Stimme ließ keinen Zweifel an seiner Meinung. »Aber wie machen es diese Leute? Wie sollen wir ihre Fähigkeiten erproben und die Wirksamkeit dessen bestimmen, was sie vielleicht wissen?« 301
»Könnt ihr Zauberer nicht einfach mal glauben?« Ich starrte Usara finster an. »Wenn wir nicht wissen, wie sie etwas tun, wie sollen wir es dann wiederholen?«, wollte Usara wissen. »Wie sollen wir ...« Ich bat ihn mit einer Handbewegung zu schweigen, als mir eine Idee kam. »Du selbst hast den gemeinsamen Glauben einer Gruppe von Menschen als die Quelle der Macht identifiziert, auf die sich die Zauberkunst stützt, nicht wahr?« Usara sah mich verwirrt an. »Hauptsächlich ist dafür Geris Armiger zu danken ...« Ich hob die Hand und runzelte die Stirn, während ich nach Worten suchte. »Und was, wenn es reicht, dass genügend Leute glauben, eine Person könne etwas tun, damit es sich tatsächlich so verhält? Was, wenn das ausreicht, dass ätherischer Einfluss auf die Fähigkeiten eines Menschen einwirkt?« Jetzt, wo ich es aussprach, ergab alles einen Sinn. »Ich kann dir nicht folgen ...«, sagte Usara müde. »Jeder sagt, dass Rusia besser als alle anderen die Runen lesen kann. Sie glaubt es, und alle anderen auch. Dieser Glaube reicht aus, um es wahr werden zu lassen. Orial ist eine anerkannte Heilerin. Sie singt Lieder, von denen sie glaubt, dass sie ihre Arzneien stärker wirken lassen. Die Worte des Jalquezan sind nicht so wichtig wie der Glaube! Der Glaube lässt alles geschehen. Jeder glaubt, dass Iamris jagdbare Beute finden wird, und deshalb findet er sie auch! Und jedes Mal, wenn das geschieht, stärkt es den Glauben und die Erwartung, dass es beim nächsten Mal auch so sein wird, und deshalb ist es dann auch so!« »Sich selbst erfüllende Prophezeiung«, murmelte Sorgrad nachdenklich. 302
»Aber Guinalle und ihre Schüler studierten auf der Höhe des Tormalin-Reiches die Zauberkunst«, protestierte Usara. »Ihre Fähigkeiten verdankt sie Disziplin, nicht blindem Glauben.« »Wo hört denn Lernen auf, und wo beginnt der Glaube?«, entgegnete Sorgrad. »Was ist zuerst da und stützt das andere?« Ich hob einen Zweig vom Boden auf – totes Holz, an dem noch ein paar trockene, braune Blätter klebten. Ich hatte zu lange mit diesen Magiern gelebt, mit ihren Fragen und ihrer unstillbaren Neugier. »Talmia megrala eldrin fres.« Die Blätter knisterten, als sie unverzüglich in Flammen aufgingen. Die trockene Rinde splitterte, das Holz darunter verkohlte. Ich ließ den Zweig zu Boden fallen und trat darauf, um ihn durch die obere trockene Schicht in die darunter liegende feuchte zu treten. Der scharfe Geruch von Rauch hing in der Luft. »Das ist Zauberkunst. Sag mir, wie ich es gemacht habe, Zauberer! Ich weiß es nicht, aber ich glaube, dass ich es kann, und es hat bis jetzt noch nie fehlgeschlagen!« Usara öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Die angeborene Aufrichtigkeit des Magiers und seine Gelehrtenausbildung machten es ihm unmöglich, meine Idee gänzlich von der Hand zu weisen, wie sehr es ihn danach verlangen mochte. »Aber wie erproben wir die Idee? Wir müssen Beweise haben, wenn wir das vor den Rat oder den Erzmagier bringen wollen.« »Wenn jemand ihre Fähigkeiten in Zweifel zöge, würden sie sie vermutlich verlieren«, sagte Sorgrad. »So ähnlich, wie man sich beim Tanzen vertritt, wenn man darüber nachdenkt, was die Füße eigentlich machen.« Ich runzelte die Stirn. »Wie kann man sich entscheiden, nicht mehr an etwas zu glauben?« »Wir könnten bei einem Spiel mit Barben machen und die 303
Runen ein bisschen beeinflussen«, sagte ‘Gren eifrig. »Oder ihm die Finger brechen. Ich hätte nichts dagegen, wenn er die Erfahrung macht, dass auch er mal verlieren kann. Jeder ist davon überzeugt, dass man ihn nicht schlagen kann.« »Es gibt da noch einen.« Ich nickte Usara zu. »Er glaubt, dass er Glück hat, und alle anderen glauben es auch, und das beschwört ein unbewusstes Element der Zauberkunst, und die Runen fallen zu seinen Gunsten.« »Er schummelt ganz sicher nicht«, bemerkte Sorgrad. »Glaub mir, wir wüssten es.« Usara legte die Fingerspitzen aneinander und stützte sein Kinn darauf. Seine Augen blickten abwesend in die Ferne. »Das ist eine interessante Idee, und wer will schon sagen, dass sie falsch ist, da wir so wenig über Zauberkunst wissen. Aber wo ist der Beweis, wo der Test?« »Warum brauchst du das?« Ich schüttelte den Kopf. »Beschränkt jeder Magier in Hadrumal die Vorstellung von einer Uhr auf Federn und Zahnrädchen, ehe er akzeptiert, dass sie die verstreichende Zeit anzeigt?« Usara verzog das Gesicht. »Wir könnten mit Rosinen handeln. Wenn wir Guinalle Fragen stellen, die sie an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln lassen, haben wir nicht nur unseren besten Zauberkunstpraktiker verloren, sondern auch einen der wichtigsten Verteidiger, den die Kellarin-Kolonie gegen Überfälle der Elietimm hat.« Er sprang auf, als zwei Waldleute ein Stück gewebte Borke an seinem Kopf vorbeischwangen. Unsere Sura wurde abgebaut, noch während wir uns unterhielten. Wir gingen zur Seite und überließen sie die Männer ihrem Tun. »Rusia sagt, Ravin kann sie vor jeder Verfolgung verbergen«, 304
sagte ich plötzlich. »Wie wäre es, wenn wir das auf die Probe stellen?« Usara sah mich einen Augenblick verständnislos an. »Und wie sollen wir das anstellen?« »Wir lassen sie gehen, geben ihnen ein paar Stunden Vorsprung, und dann sehen wir, ob wir ihrer Spur folgen können.« »Sie sind viel bessere Waldläufer als ...«, begann der Zauberer. »Wir mussten als Kinder das halbe Jahr damit verbringen, in dichteren Wäldern als diesen hier nach Spuren von Pelztieren zu suchen«, unterbrach ‘Gren ihn spöttisch. Ich konnte sehen, dass der Zauberer noch immer seine Zweifel hatte, und dass Sorgrad dasselbe dachte wie ich. »Wir werden unser Bestes tun. Wir werden sie nicht einfach verlieren, weil wir wollen, dass es stimmt!« »Du wirst versuchen, ihnen mit Weitsicht zu folgen, nicht wahr, Usara?«, sagte Sorgrad. »Zauberkunst kann sich vor Elementarmagie verbergen, habe ich recht?« Ich sah, dass Usara immer noch nach einem Trick oder einem Täuschungsmanöver suchte. »Du musst uns vertrauen«, betonte ich. »Du bist Orial nahe genug gekommen, um sie mit Weitsicht zu suchen, nicht wahr?« Usara hob die Hände. »Na schön. Wir wollen sehen, wohin uns das führt.« Ich nickte ihm zu und half den Waldleuten beim Abbruch ihres Lagers. ‘Gren schlüpfte davon, und Sorgrad ging zu Frue und unterhielt sich mit ihm. »Hast du dich in unserem Namen bedankt?«, fragte ich, als er zu mir zurückkehrte. Ich wischte mir mit einer aufgescheuerten Hand den Schweiß vom Gesicht. 305
Er nickte. »Frue wird unseren Anteil am Fleisch verteilen. Und er bat mich, dir zu sagen, dass er dir dankbar für die neuen Lieder ist ... besser gesagt für die alten.« Dann standen wir da, warteten in der Mitte der zertrampelten Lichtung und schauten zu, wie das Waldvolk in den Wald verschwand, gleichsam mit ihm verschmolz, und uns mit unserem Esel und einem Haufen Gepäck zurückließ. Ich wünschte mir, diese Leute wären meine Verwandten – aber dann auch wieder nicht. Ich gehörte ohnehin nicht hierher, nicht mehr, als ich nach Vanam gehörte. Also war es meine Sache, mir eine Heimat zu verschaffen, mir und Ryshad – und das bedeutete, dass ich den skeptischen Zauberern zeigen musste, dass ich etwas gefunden hatte, das bare Münze wert war. Meine Stimmung hob sich, als ich erkannte, dass das Lied, das angestimmt wurde, als die Waldleute davonzogen, die Geschichte von Seris war, die der Verfolgung durch Mazir entkommt. Das Lied stand in meinem Buch, und in jeder zweiten Strophe kam Jalquezan vor. »Wir wäre es mit einer Hand voll Runen, um uns die Wartezeit zu vertreiben?« Ich nahm die Knöchelchen aus meiner Tasche und setzte mich. Als ich Usara all sein Kleingeld abgenommen hatte und Sorgrad das, was ihm an Beute von den Räubern übrig geblieben war, war die Sonne hinter die Baumwipfel gesunken. »Jetzt hat Livak alles, was sie wollte. Wir wär’s, wenn wir jetzt den Waldleuten folgten«, schlug Sorgrad grinsend vor. »Ich bin dabei!« ‘Gren sprang auf und schritt den Rand der Lichtung ab. »Wir wissen doch, dass sie in diese Richtung gegangen sind«, meinte Usara. 306
‘Gren ignorierte ihn. »Wenn wir es machen, dann machen wir’s auch richtig«, erklärte Sorgrad. »Auch ich kann ganz gut Fährten folgen«, sagte ich zu Usara. »Du kommst mit dem Esel zum Schluss, damit er uns nicht die Spuren zertrampelt.« »Stimmt, wir haben genug Hufspuren hier«, rief ‘Gren. »Wollen mal sehen, wie weit sie führen.« Der Spur war recht deutlich, und die Brüder folgten ihr aufmerksam. Wir bewegten uns beständig und lautlos voran, die Brüder stets ein Stück voraus. Sie beugten sich über Schleifspuren und achteten auf geknickte Blumen und abgebrochene Zweige. Ich blickte zur Sonne und rechnete aus, dass wir uns nach Nordwesten bewegten. Nach meiner Schätzung würden wir bald den Fluss erreichen. Usara ging hinter mir, pflückte im Gehen Blätter von Büschen und fütterte damit den Esel. ‘Gren und Sorgrad wurden langsamer und blieben schließlich stehen, um sich leise zu unterhalten. Dann trennten sie sich und gingen umher wie Hunde auf der Suche nach einer Fährte. Nach einer Weile kamen sie zu Usara und mir zurück. »Wir haben sie verloren«, sagte ‘Gren unglücklich. »Die Fährte wird schwächer und schwächer, und jetzt ist sie ganz verschwunden.« »Kommst das nicht immer wieder vor, wenn jemand aufpasst und nicht verfolgt werden will?«, fragte Usara. Sorgrad trat vor und drückte seinen Stiefel in einen moosigen Flecken. »Auf steinigem Grund, auf hart gewordenem Schlamm, vielleicht sogar auf einer dicken Laubschicht, wenn man sehr vorsichtig ist. Aber nicht auf diesem Boden.« »Und wir können Mäuse über Geröll verfolgen, wenn wir 307
wollen«, setzte ‘Gren mit einem Anflug einer Drohung hinzu. Wir betrachteten den tiefen Eindruck, den Sorgrads Stiefel hinterlassen hatte und den weichen, unberührten Boden ringsum. »Sie haben die ›Ballade von Mazirs Suche‹ gesungen«, erklärte ich dem Magier. »Ich kann es dir im Buch heraussuchen, wenn du es lesen willst.« Usara nickte. »Also schön. Dann sehen wir mal, ob meine Magie mehr bewirkt als eure Waldläuferkunst.« Ich hielt den Mund, und ‘Gren und Sorgrad tauschten einen belustigten Blick. Usara ließ lässig grünes magisches Licht von einer Hand tropfen, und der Stiefelabdruck im Moos füllte sich mit Wasser. Usara kniete nieder und beugte sich stirnrunzelnd darüber. ‘Gren rupfte Gras für den Esel aus und streichelte ihm die samtige Nase. Ich beobachtete Sorgrad, dessen Miene eine Mischung aus Skepsis und Neugier war. Vogelgezwitscher erklang ringsum, als die Geschöpfe des Waldes ihren Angelegenheiten nachgingen, ohne unser geheimnisvolles Tun zu beachten. »Ich kann sie nicht mit Weitsicht sehen.« Usara klang aufrichtig erstaunt. »Ich kann absolut keine Spur finden!« Ich biss mir auf die Zunge, um nicht laut aufzulachen. »Welche Erklärung könnte es sonst noch dafür geben, außer Zauberkunst?«, fragte Sorgrad. »Auf diese Entfernung und über diese Zeitspanne und angesichts der Zeit, die wir mit ihnen verbracht haben ...«, Usara rieb sich gedankenverloren den Mund. »Wisst ihr, mir fällt wirklich nichts ein.« Die Überheblichkeit, die diese Zauberer glauben machten, sie könnten sich nie irren, war eine Münze mit zwei Seiten. Ich stieß langsam die Luft aus. »Also glaubst du mir jetzt?« 308
»Ich glaube, du hast da ein Argument, dass einer näheren Betrachtung wert ist«, gab der Magier zu. »Und was machen wir jetzt?« ‘Gren war zu uns zurückgewandert. Er grinste. »Du gibt endlich zu, dass diese Waldleute über Zauberkunst verfügen, aber jetzt haben wir sie verloren. Suchen wir nach einer anderen Gruppe?« »Ich gebe zu, dass es so aussieht, als hätten die Waldleute wirkliche Zauberkunst, aber trotzdem haben wir keine klare Botschaft oder irgendetwas, das uns unmittelbar nützen könnte«, erwiderte Usara stirnrunzelnd. »Was ist mit dem Liederbuch?«, fragte ich. »Sing mir etwas daraus. Mach, dass es wirkt«, forderte Usara mich auf. »Glaubst du von ganzem Herzen daran, du kannst dir den ätherischen Einfluss zu Nutze machen? Dann zeig es mir. Sag mir, wie ich es Planir erklären soll oder den Gelehrten, die mit Guinalle studieren. Zeig mir, wie ich es gegen die Elietimm einsetzen kann!« »Die Sheltya könnten es«, schlug ‘Gren entgegenkommend vor. »Was?«, fragten Usara und ich wie aus einem Munde und drehten uns zu dem Mann aus den Bergen um, der fröhlich lächelte. »Deswegen wolltest du doch ins Hochland, oder nicht? Um die Hilfe der Sheltya zu erbitten?« ‘Gren schaute seinen Bruder leicht verwirrt an. »Was gibt es, wovon du uns nichts erzählt hast?«, wollte Usara wissen. »Wer oder was ist Sheltya? Ich habe das Wort noch nie gehört.« »Sie halten die Sagen und Geschichten der Berge am Leben«, sagte Sorgrad. »Wenn irgendein Anyatimm etwas von Äther309
magie weiß, dann die Sheltya.« »Bei Saedrins Eiern, Mann, warum hast du uns nicht früher davon erzählt?«, rief Usara ärgerlich. »Warum haben wir dann hier unsere Zeit vergeudet?« »Wir wären ohnehin zuerst in den Wald gekommen«, sagte ich beschwichtigend. »So früh im Jahr stürmt man nicht in die Berge, und wir mussten ja den langen Weg nehmen, um Ärger in der Schlucht zu vermeiden.« »Dann lasst uns zurück zur Hochstraße gehen und uns auf den Weg machen.« Usara packte das Halfter des Esels und setzte sich entschlossen in Bewegung. Seine Weitsicht hatte ihm zumindest die Richtung verraten. Ich versuchte vergeblich, Sorgrads Blick zu erhaschen, als wir ihm folgten. Nun, er würde mir schon sagen, worum es hier ging, wenn er es für richtig hielt.
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5.
Als der Kaiser meinem Gemahl Gidestan Ländereien als Anerkennung für seine Dienste im Westen verlieh, begegnete ich zum ersten Mal den Männern vom Bergvolk und lernte ihre Sagen kennen. Dieses Stück, das zur Sonnenwende viel gesungen wird, erinnert uns daran, dass das Leben in der Höhe so rau wie das Klima sein kann. Wir sollten vielleicht mehr Verständnis für ihre Schroffheit im Umgang mit Menschen aufbringen, die in milderen Gegenden aufgewachsen sind. Die Wölfe kauerten auf der Klippe und blickten auf die Toten Die Mächtigen in ihrem Blut, im Tod eins mit den Schwachen. Von jenen, die noch aufrecht standen, erhob sich ein mächtiger Mann und zornig stieß es eine Axt vor sich in den Schnee. »Bringt ihn, der dies Unrecht tat um uns alle zu beherrschen. Maewelin möge uns helfen den Beweis zu erbringen dass unsere Sache gerecht ist.« Sie brachten den bösen Mann und warfen ihn auf die Knie. Der Kriegsherr zeigte ihm ihren Hass und nahm ihnen alle Blutsbande. 311
»Misaen möge dein Richter sein und jene, die deinen Lügen glaubten. Geht nach Norden ins Eis Kehrt ihr zurück, ist es euer Tod.« Die ohne Blutsbande wurden ausgezogen und mit Schlägen davongetrieben. Wer nicht schnell genug floh, wurde im Laufen erschlagen. Die Grauen und Weisen standen auf und schworen mächtige Eide, dass die Macht, die sie hielten, niemals die Berge beherrschen solle. Ihre Kräfte würden dienen und leiten Ihre Berührung heilen, nicht töten und jene, die nicht nachgeben wollten fielen bewusstlos auf die Steine. Die Heerschar kehrte zurück zu ihren gelöschten Feuern und weinte bittere Tränen. Die Wölfe kamen von den Höhen herab und taten sich an den Toten gütlich.
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Lidrasoke 32. Nachfrühling
Jeirran band sein erschöpftes Pony an einen Ring, der in einen Marmorblock eingelassen war, und goss Wasser aus dem Schlauch an seinem Sattel in die Vertiefung im Stein. Er drehte dem Grasland des Tales den Rücken zu, wo jetzt die Blumen ihre Blüten der warmen Frühlingssonne zuneigten. Rot, gelb, blau und weiß – sie alle versuchten, von der Sonne zu erhaschen, was sie nur konnten, ehe der Schnee sie wieder zudeckte. Jeirran stand einen langen Augenblick reglos vor dem abweisenden Bogen der grauen Mauer. Die Festung erhob sich auf einem massiven Erdhügel, den man aufgeschüttet hatte, bis er so hoch war wie ein Hügel, sodass sich durch die Höhe ein unmittelbarer Vorteil gegenüber jedem ergab, der sich näherte. Die massive Mauer erhob sich wie ein Vorsprung aus Felsgestein, und die Fenster der Rekin im Innern waren in Paaren angeordnet wie wachsame Augen. Die steingekrönte Feste beherrschte das windzerzauste Tal, das zu den umgebenden Bergen hin anstieg. Doch die großen Türen standen offen, festgekeilt mit Kieseln, und der Riegel, der allen Ankömmlingen trotzen sollte, lehnte kraftlos in der Ecke der dicken Mauer. Die dreieckige Öffnung in den Steinen über dem Torbogen, wo das mächtige Wappen des Hauses gehisst wurde, war leer wie eine blinde Augenhöhle. Jeirran trat die Steine von dem eisenbeschlagenen Tor weg und zerrte daran. Die Halter in den Vertiefungen der massiven steinernen Schwelle knirschten in dem vom Wind herangetragenen 313
Staub. Mit einem wortlosen Ausruf schlug er die schwere Tür in die gemeißelte Halterung des Türpfostens. Das scharfe Knirschen hallte von den grauen Klippen wider, die sich im Norden erhoben, abweisend in ihrer schneegekrönten Schönheit. Jeirran marschierte in den Hof und machte eine langsame Runde, wobei er in jede Tür und jedes Fenster der schiefergedeckten Gebäude spähte, die sich an die Innenseite der Mauer schmiegten. Alles war leer, sauber gefegt und ordentlich, sämtliche Habseligkeiten verschwunden, die Feuerstellen kalt. Der finstere Blick, der auf Jeirrans Gesicht lag, verblasste und wich einer Traurigkeit, die erbarmungslos die Jahre von ihm abfallen ließ und den unglücklichen Jungen enthüllte. Er blickte hinauf zur Rekin. Die schwarzen Höhlen der Fenster trotzten den tastenden Sonnenstrahlen, geheimnisvoll und Unheil verkündend. Jeirran trat ein, ohne die erloschene Feuerstelle zu beachten, und ging zur Treppe, erst langsam, dann schneller; bald rannte er durch die dunklen Schatten, bis er schließlich auf dem flachen Dach stand. Die Härte kehrte in seine Augen zurück, als er sich bückte, um einen Blick durch eine Aussparung in der Brüstung zu werfen. Er schaute zu einer fernen Felsenklippe und einem Spalt, dessen regelmäßige Seiten und winkligen Ecken von Hammer und Meißel sprachen. Die stete Brise wehte ihm eine Strähne aus der Stirn, und Staub wirbelte um seine Füße. »Wirst du mich bitten, zur Sonnenwende dort hineinzugehen?«, fragte eine Frauenstimme. »Um zu sehen, was die Gebeine unserer Soke sagen, wenn Misaen die Sonne schickt, um die Zuflucht unserer Sippe zu erleuchten? Welche Fragen willst du mir stellen?« Jeirran drehte sich langsam um. »Du sprichst von meiner 314
Familie.« Er betonte das vorletzte Wort. »Welches Interesse hast du an dem Blut, das einst hier lebte?« »Für einen Mann, der auf Grund einstiger Verwandtschaft einen Gefallen erbittet, gehst du seltsam vor, Jeirran«, sagte die Frau von ihrem Sitz auf der Mauer, die um das Dach herum verlief. Jeirran senkte den Blick für einen Augenblick und stieß mit dem Fuß gegen die Steinplatten. Er lächelte sie an, doch seine Augen lächelten nicht mit. »Du siehst gut aus, Aritane.« »Die Ehe hat dich nicht verändert«, bemerkte sie mit einem rätselhaften Unterton. »Wie geht es Eirys?« Jeirran winkte mit der Hand ab. »Ganz gut.« »Schade, dass sie noch nicht schwanger ist.« Aritane strich ihr dunkelgraues Gewand im Schoß glatt und stellte die weich beschuhten Füße nebeneinander. Die Farbe harmonierte mit dem Blau, das ihre tief liegenden Augen zeigten, die das schmale Gesicht mit der langen Nase beherrschten. Ihr weizenblondes Haar war kurz geschnitten und aus der Stirn zurückgestrichen. Ihre Lippen waren voll und sinnlich, das deutlichste Zeichen ihres gemeinsamen Blutes mit Jeirran. »Ich sähe es gern, wenn du dein Nachleben mit einem Kind, vorzugsweise einer ganzen Schar, sichern würdest.« »Kein Kind von Eirys’ Blut würde mir hier einen Anspruch verschaffen«, seufzte Jeirran. »Nein«, gab Aritane leise zu. In ihren Augen stand Bedauern. »Ist das ein fairer Tausch?«, fragte Jeirran streitlustig. »Sind die Künste der Sheltya eine angemessene Entschädigung dafür, dein Sippe und dein Land zu verlassen, damit die Tochter der Schwester unserer Ur-Ur-Ahnin es beanspruchen können?« »Du warst immer schon ein streitlustiger Bengel, selbst als 315
Kind, Jeirran«, erwiderte Aritane verächtlich. »Ich kann nicht zählen, wie oft Vater dich in diesen Wassertrog da drüben tauchen musste, um dein Mütchen zu kühlen.« Beide blickten zu dem langen, ausgehöhlten Steinblock am Haupttor, der nun trocken war wie ein ausgedörrter Knochen; nur ein paar Blätter und herbeigewehte Grashalme hatten sich in dem offenen Abflussloch verfangen. Jeirran ließ einen Moment den Kopf hängen, ehe er herausfordernd das Gesicht hob. »Dann sag mir, ehemalige Schwester, was ist mit deinem Leben?« »Ich reise von Soke zu Soke, ich erteile Rat und fälle Urteile, ich verbreite Neuigkeiten und vermittle Bitten um Hilfe oder Verbündete.« In ihren Worten lag Spott. »Du kennst die Pflichten der Sheltya sehr wohl.« Jeirran trommelte mit den Fingern auf der Mauer. »Wir alle wissen, was Sheltya tun. Mich interessiert viel mehr, was Sheltya sind. Was ist mit den Kräften, von denen zur Sonnenwende und beim Äquinoktium geflüstert wird? Was ist, wenn sie sich um eine Pest kümmern, ein Verbrechen gegen das Blut oder ein anderes Vergehen, das nur sie sehen können?« »Du weißt sehr gut, dass es nicht erlaubt ist, über diese Dinge zu sprechen«, erwiderte Aritane gleichmütig. »Warum lehnst du dich dagegen auf? Was willst du von mir?« »Hast du die Geheimnisse ihrer Macht erlernt? Was genau können Sheltya tun?«, beharrte Jeirran. »Wie können sie leere Hallen zurücklassen, deren Bewohner verschwunden sind oder ohne Verstand zurückbleiben, der Barmherzigkeit anderer ausgeliefert? Selbst wenn sie weiterziehen und alle gesund und munter zurücklassen – warum kann sich niemand erinnern, was geschehen ist?« 316
»Das geht dich nichts an«, sagte Aritane mit eisiger Stimme. »Diese Dinge gehen nur die von uns etwas an, die zum Dienen erwählt wurden.« »Erwählt?« Jeirran verschränkte die Arme und betrachtete seine Schwester. »Verpflichtet vielleicht. Oder besser noch, gestohlen. Es war nur eine halbe Jahreszeit vor meinem neunten Geburtstag. Ich war alt genug, um mich an deine Tränen, deine Schreie, deine Wut zu erinnern. Ich erinnere mich daran, wie du dich an dein Bett geklammert hast, als sie dich holen kamen, wie du unsere Mutter angefleht hast, sie abzuweisen und wie du sie verflucht hast, als sie es nicht tat.« Er holte tief Atem. »Aber ich nehme an, das bewies nur die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs auf dich, nicht wahr? Dein Fluch hat allerdings gewirkt. Mutter starb innerhalb eines Jahres, und Vater und wir anderen kamen nach einer harten Jahreszeit in den Minen nach Hause und mussten feststellen, dass alles, wofür wir gearbeitet hatten, jetzt einem maushaarigen Ding von der anderen Seite der Berge gehörte, von dem niemand von uns vorher auch nur gehört hatte.« »Mutter starb im Kindbett – eine Tragödie, aber nicht ungewöhnlich.« Aritanes Hände in ihrem Schoß waren an den Knöcheln weiß, so fest schlang sie die Finger ineinander. »Im Kindbett, ja. Als sie verzweifelt versuchte, eine Tochter zu bekommen, um dich zu ersetzen und die Ländereien zu sichern, die sie geerbt hatte.« Jeirran schüttelte den Kopf. »Ich hörte sie sagen, dass sie den Sheltya ihr Schlafzimmer verboten hatte, aus Angst, sie würden auch in der Zukunft dieses Kindes wahre Magie entdecken. Hätte sie sie hereingelassen, wären sie und das Kind vielleicht gerettet worden.« Aritane stand auf. »Wenn du nur an längst verheilten Narben 317
kratzen willst, dann sage ich dir Lebewohl, Jeirran.« »Aber die Sheltya würden sie nicht zwingen, oder? Sie würden ihre Kräfte, was immer das sein mag, nicht ohne Einverständnis benutzen, nicht wahr? Was sie auch tun, ist stets von Geheimnissen und Rätseln umgeben und wird niemals offen angewendet. Was nützt Stärke, wenn man sie nie nutzt?« Aritane war inzwischen oben an der Treppe. »Was sagen die Sheltya über die Elietimm, Ari?« Jeirrans höhnische Worte ließen Aritane auf der obersten Stufe stehen bleiben. »Was hast du gesagt?« »Ist das die richtige Ausdrucksweise? Müsste es nicht Alyatimm heißen?« Jeirran ließ sich auf der Mauer nieder, die Beine vor sich ausgestreckt und auf die Hände gestützt. Aritane wandte langsam den Kopf. »Was hast du gehört?« In ihrer Stimme schwang ein unwiderstehlicher Befehlston mit. »Ich bin kein Angeklagter, der deinen Zwang rechtfertigt, die Wahrheit zu sagen.« Jeirran spie aus und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich habe nur gehört, was die Hälfte der Tiefländer in ihren Bierkneipen und Tavernen hören wird, ehe der Sommer um ist. Lieder über diese Elietimm, über die Kräfte, die sie haben, über die Gefahr, die sie darstellen, über die Macht ihrer Kämpfer. Wie lange, glaubst du, wird es dauern, bis irgendein gieriger Bürger von Wrede sich sagt, dass diese blonden Männer von jenseits des Meeres sich nicht von den blonden Männern aus den Bergen unterscheiden? Sie werden jede Ausrede aufgreifen, um noch mehr Land zu stehlen, noch mehr Reichtum, um uns weiter und weiter von dem zu vertreiben, was einst unser war. Vielleicht ist genau das in der Teyvasoke geschehen. Du musst doch davon gehört haben, oder? Von deinen neuen Verwandten.« Jeirran lachte freudlos. »Wenn sie 318
uns weit genug zurücktreiben, werden wir selbst zu Eismännern, nicht wahr?« Aritanes Gesicht war kalt, ihre Augen wie Schatten in den Spalten eines Gletschers. »Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Die Alyatimm wollten die Kräfte der Sheltya, um gnadenlos und ohne Zustimmung zu herrschen.« »Ich weiß, dass diese Elietimm, wer sie auch sein mögen, ihre Kräfte einsetzen, um sich zu verteidigen. Ich weiß, dass sie wahre Magie nicht als etwas betrachten, das man verstecken und geheim halten muss, sondern als Waffe, um ihr Land und ihr Volk vor Plünderei und Vergewaltigung zu schützen. Ich wette jeden Pfennig meines Erbes, dass ihre Weisen nicht von ihrem Land und ihren Familien fortgeholt werden, damit sie nicht in Versuchung geraten, das, was sie lernen, zum Wohle ihrer Soke zu verwenden.« Jeirran sprang auf und ging langsam auf dem Dach umher, blickte hinunter in die Höfe und über die Mauer auf das Grasland des Tales dahinter. »Hättest du nicht auch lieber die Chance gehabt, dein Wissen zum Wohle deines Blutes einzusetzen, dein Erbe anzutreten und es zu mehren, anstatt dein Heim leer zu sehen, als eine Unterkunft für Durchreisende, weil die, die Anspruch darauf haben, nicht einmal für eine halbe Jahreszeit im Jahr hier leben wollen?« Aritanes Gesicht war so blutleer und bleich wie die Fliesen unter ihren Füßen. »Warum tust du das, Jeirran? Warum fachst du die längst verloschenen Funken alten Zornes und bitteren Kummers wieder an? Entzünde ein solches Feuer, und es wird dir die Hand verbrennen. Was geschehen ist, ist geschehen. Man kann es nicht mehr ändern.« »Und wenn doch?«, sagte Jeirran leise, ging zu ihr und nahm ihre Hände in die seinen. »Du kannst mir nicht erzählen, du 319
wärst glücklich mit deinem Los, Ari! Sonst wärst du nicht gekommen, um dich hier mit mir zu treffen. Ich habe dich zur Sonnwendfeier gesehen, in der Parthfeste, wie du um diesen dummen alten Mann herumtanzen musstest. Jeder andere mag gedacht haben, sein Geschwafel wäre die mystische Weisheit der Sheltya, aber du hast ganz genau gewusst, dass es nur seniler Schwachsinn war. Ich konnte es in deinen Augen sehen. Sie versprachen dir Macht und Wissen als Gegenleistung dafür, dass du dein Zuhause und deine Familie verlorst. Was haben sie dir gegeben? Die Rolle einer Krankenschwester für einen blasenschwachen alten Narren, der immer noch mehr Achtung bekommt als du, wenn er sich Grütze über sein Nachthemd kleckert!« »Sei still!«, fauchte Aritane. »Ich sollte dieses Gespräch aus deinem Gedächtnis tilgen, zusammen mit all dem verzehrenden Hass und den Halbwahrheiten, die du aus Tiefland-Klatsch erfahren zu haben glaubst!« »Tu’s doch«, sagte Jeirran achselzuckend. »Es ändert nichts. Binnen einer halben Jahreszeit wird jemand wie ich, oder ein Fallensteller, der mit den Tiefländern handelt, diese Lieder und Geschichten mitbringen. Yevrein wird sich fragen, warum diese Leute, die doch offenbar etwas von unserem Blut haben, von den Tiefländern so gefürchtet werden. Warum nutzen den Elietimm alle zur Verfügung stehenden Mittel, um ihre Heimat und ihre Familien zu schützen, während wir ständig beraubt und angegriffen werden? Auch Peider und seine Freunde werden irgendwann Fragen an die Sheltya stellen und Antworten verlangen. Und wer von euch auch entscheidet, diese Antworten zu finden – er wird derjenige sein, der den Alten und Ängstlichen endlich die Peitsche aus der Hand nimmt, nicht wahr?« 320
Aritane blickte auf ihre Hände, die noch immer von Jeirrans breiten Pranken umklammert wurden. »Du sagtest, du wolltest mich um einen Gefallen bitten.« Sie sah auf. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Jeirran nickte. »Es heißt, dass Sheltya über die Berge und Täler hinweg miteinander sprechen können, dass sie Nachrichten an ihre ... Artgenossen schicken können, die weit weg sind, weiter als eine Jahreszeit-Reise.« Aritane nickte langsam. Jeirran fragte mit plötzlichem drängendem Unterton: »Könntest du mit diesen Elietimm Kontakt aufnehmen? Könntest du mehr über sie herausfinden? Könntest du sehen, ob sie uns vielleicht helfen können, uns lehren, vielleicht sogar gemeinsame Sache mit uns machen? Wenn sie die Tiefländer im Osten angreifen würden, während wir von den Bergen herunterkämen, könnten wir unser Land zurückerobern, unseren Stolz wiedergewinnen!« Aritane entzog ihm ihre Hände und schlang die Arme um ihren Oberkörper; sie zitterte trotz der Sonne. »Du weißt nicht, was du da verlangst«, murmelte sie. »Ich habe von diesen Elietimm gehört – selbstverständlich. Doch es ist uns verboten, nach ihnen zu suchen.« »Ich bitte dich, deinem Volk zu helfen!«, sagte Jeirran leise. »Die Sheltya haben dich von deinen Leuten fortgeholt, damit du allen in den Bergen dienst. Gibt es einen besseren Dienst als den, um den ich dich bitte? Willst du weiterhin Zänkereien zwischen dummen Frauen schlichten, Streitereien über Weiden beilegen, dich mit Tod und Gestank abplagen, wenn ein Reisender die Pest in ein abgelegenes Dorf trägt, während unser Volk durch die Gier der Tiefländer immer ärmer wird, immer gede321
mütigter?« »Es ist merkwürdig, dass ausgerechnet du für das allgemeine Wohl eintrittst«, meinte Aritane. »Was springt für dich dabei heraus, Jeirran?« »Macht! Was denkst du denn?« Er spreizte die Hände. »Die Macht, auf Eirys’ Land zu jagen, ohne fürchten zu müssen, die besten Felle in einer Falle der Tiefländer zu verlieren. Ich möchte sehen, wie Eirys’ Brüder das Erz, das sie so mühsam schürfen, für einen gerechten Preis verkaufen können. Ich will reich sein, Ari, ich will Eirys mit allem verwöhnen, was sie begehrt und ihrer Mutter, diesem Drachen, den Mund mit Honig und Kuchen stopfen, um die Alte zum Schweigen zu bringen! Ich möchte meinen Söhnen ein ansehnliches Erbe hinterlassen und sehen, wie meine Töchter jedes Recht beanspruchen können über und unter dem Land, das ihnen von Bluts wegen zusteht. Ich will eine Macht in den Bergen sein, Ari! Ein Mann, dessen Zorn die Tiefländer mehr fürchten als den kalten Winterwind.« Er grinste sie an. »Ich will wieder ein Bruder für den neuen Anführer der Sheltya sein. Ich möchte das Ohr der Frau haben, die die wahre Magie wieder an ihren rechtmäßigen Platz von Ehre und Einfluss einsetzt.« Aritane schüttelte den Kopf und lächelte ein dünnes, herzloses Lächeln. »Es überrascht mich nicht, dass dieses dumme Kind Eirys auf deine Schmeicheleien hereingefallen ist, Jeirran. Du hattest schon immer eine Zunge, die schneller war als jeder Gebirgsbach und schlüpfriger als die Fische darin.« »Wirst du es tun?«, drängte Jeirran. »Ich würde nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden.« Aritane schürzte die Lippen. »Ich könnte mich ausgestoßen auf dem nackten Berg wiederfinden, mein Kopf so leer wie 322
ein Fass im Mittwinter. Falls jemand es herausfände ...« »Wer sollte davon erfahren?«, fragte Jeirran. »Ich werde schwerlich mit irgendwelchen Sheltya darüber tratschen. Ich stecke so tief in dieser Sache wie du, wenn nicht tiefer. Du bist diejenige, die Macht über mich hat, das hast du selbst gesagt. Dein Wort genügt, um mich durch die Berge jagen zu lassen, ohne dass ein Grund dafür genannt werden müsste.« »Ich kann meine Fähigkeiten nutzen und versuchen, eine Antwort zu bekommen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht größer als die, ein Signalfeuer tief in den Bergen zu entzünden und zu hoffen, dass jemand den Rauch sieht.« Aritane sprach jetzt mehr zu sich selbst als zu Jeirran. »Wenn ich wirklich diese Elietimm finde, was dann?«, fragte sie abrupt. »Dann haben wir denen, die genauso empfinden wie wir, etwas zu erzählen«, sagte Jeirran zuversichtlich. »Es gibt viele von uns, die es satt haben, von den Tiefländern geprellt und betrogen zu werden. Willst du abstreiten, dass es Sheltya gibt, die unter den Einschränkungen durch die Gebräuche und durch die Älteren leiden? Wir sagen ihnen, dass es jenseits des Meeres Männer und Frauen von unserem Blut gibt, die nicht katzbuckeln und sich immer weiter vor den Überfällen der Tiefländer zurückziehen.« Aritane legte den Kopf schief. »Du warst schon immer ziemlich gerissen, das gebe ich zu.« Sie bewegte sich mit plötzlicher Entschlossenheit und schüttelte ihre schmucklosen Röcke aus. Sie warf einen Blick auf die Berge im Norden und prüfte die Stellung der Sonne, ging hierhin und dorthin, um die Schatten abzuschätzen, ehe sie zu einer Seite des Daches ging und in die nebligen Zonen der höheren Lagen spähte. Sie nickte, nachdem sie schließlich zu einem Entschluss gelangt war, und wandte 323
sich an Jeirran. Ihr Gesicht war für einen Augenblick von Wagemut und Trotz belebt. »Setz dich mit dem Rücken an den Kamin und schau nach Norden.« Er eilte, ihr zu gehorchen. »Du wirst mich nicht unterbrechen, mich nicht berühren, dich nicht bewegen und kein Wort sagen«, befahl Aritane in einem Tonfall absoluter Autorität. Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das staubige Dach, ohne auf ihr Kleid Rücksicht zu nehmen. Die Ellbogen ruhten auf ihren Knien, und sie legte das Gesicht in die Hände und begann tief und gleichmäßig zu atmen, durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, in immer längeren Zügen, die tief aus ihrem Innern kamen. Jeirran fuhr verblüfft zusammen, als das Geräusch plötzlich endete, und ballte die Fäuste, um dem Verlangen zu widerstehen, zu ihr zu gehen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er bewegte eine Hand, als wollte er sie abwischen, hielt jedoch inne. Seine Lippen bewegten sich, als ob er eine Verwünschung murmeln wollte, doch er wagte nicht zu sprechen. Seine leuchtend saphirblauen Augen waren fest auf Aritane gerichtet, die jetzt flach atmete und zwischen den einzelnen Atemzügen Pausen machte. Jeirran merkte, wie er demselben unregelmäßigen Muster folgte, und die Haute unter seinem Bart nahm eine ungesunde Blässe an, bis er mit einem explosiven Einatmen das Kinn hob und mehrere Augenblicke unkontrolliert keuchte, ehe seine Lungen einen natürlichen Rhythmus wiederfanden. Hoch über ihnen wurde der dünne Schrei eines Habichts vom Wind davongetragen, was die gewaltige Stille des leeren Tales noch hervorhob. Ein Hagelschauer aus Staub und namenlosen Trümmern fuhr über das Dach, als ein flüchtiger Windhauch 324
um Aritanes reglose Gestalt wirbelte. Jeirran blinzelte und schüttelte den Kopf, bis er sich erneut zur Bewegungslosigkeit zwang. Die Brise verging, und die Sonne brannte auf ihn nieder, wurde von den Steinen abgestrahlt und malte schwarze Schatten auf die weiße Oberfläche des Daches. Der Schornstein in Jeirrans Rücken war fest und beruhigend, jedoch kalt und still, obwohl er einst das warme Herz der Rekin gewesen war. Ein Rinnsal aus Schweiß lief über Jeirrans Gesicht, versickerte in seinem Bart und brannte ihm in den Augen. Ein lautes Krachen ertönte entlang der ringförmigen Mauer, echote hin und her mit einem Geräusch, als würden heiße Steine durch den Schock von kaltem Wasser zerplatzten. Entsetzen malte sich für eine Sekunde in Jeirrans Augen, nackte Angst, als die Maske aus Arroganz und Zuversicht von ihm abfiel. Wieder ertönte der Lärm, das Schaben von Holz auf Stein, und Jeirran tat einen tiefen, zitternden Atemzug. Es war das Tor, oder nicht? Vom Wind, der von der Talsohle heraufwehte, in Schwingung versetzt ...? Oder nicht? Er sah Aritane an, die reglos wie eine Statue dasaß. War es das Tor? Der Wind? Oder war jemand anders hergekommen?, überlegte Jeirran plötzlich. Würden Sheltya ihre Kräfte nutzen, um Aritane zu beobachten? Konnte irgendein ferner graubärtiger Älterer sie bei ihrem Gespräch belauscht haben? War das Geräusch die erste Warnung, dass man sie entdeckt hatte und dass Sheltya gekommen waren? Waren sie jetzt hier, um ihren Plan zum Scheitern zu bringen? Jeirrans Atem ging schneller. Er schwitzte stark, selbst als ein neuerlicher Windstoß seine Haut kühlte. Die an die Seiten gepressten Hände zitterten; ein Beben lief seine Arme hinauf und versetzte seinem steifen Hals und den Schultern einen 325
Ruck. Die Hitze und Stille drückten ihn erbarmungslos nieder, als würden sie die Steine zu Staub zermahlen. Aritane hob das Gesicht und ließ die Hände in den Schoß fallen. Lebhafte Flecken blühten auf ihrer Stirn, wo ihre Fingerspitzen sich in die Haut gegraben hatten. Jeirran drückte sich gegen die Steine in seinem Rücken, als Aritane ihm ihre Augen zuwandte: Sie waren gestaltlose Höhlen der Schwärze, ohne Weiß, ohne Farbe, ohne Leben. Er taumelte auf die Knie, und ein Wimmern namenlosen Entsetzens stieg aus seiner Kehle. Aritane blinzelte, und ihre Augen waren wieder normal. Ein warmes Rosa ließ ihre Wangen weicher erscheinen, Begeisterung ließ ihr Gesicht erstrahlen. Tief holte sie Luft ein. »Oh, Jeirran«, wisperte sie voller Verwunderung. »Ich habe sie gefunden.« »Ich ...« Er hüstelte, um das Zittern seiner Stimme zu verbergen. »Ich wusste, du würdest es schaffen«, sagteer. »Also ...« Aritane schüttelte den Kopf. »Warte, ich muss mich erst fassen.« Sie stand mit steifen Bewegungen auf, klopfte ungeschickt den Staub von ihrem Kleid, schlang die Arme um sich und starrte nach Osten. »Sie sind da draußen, Jeirran, jenseits der Ostlinge, hinter dem Meer.« Sie lachte in reiner Freude. »Sie kannten mich natürlich nicht, aber sie respektierten meine Macht und mein Recht, zu kommen und nach ihnen zu suchen. Sie beglückwünschten mich zu meinem Wagemut, lobten meine Fähigkeiten. Ich kann mich nicht erinnern, wann das letzte Mal hier jemand so etwas getan hat!« »Und was hast du gesagt? Was hast du ihnen erzählt? Werden sie uns helfen?«, wollte Jeirran wissen. Er ging zu ihr hinüber. 326
»Was?« Aritanes Augen blickten wieder entrückt. Jeirran stellte sich so, dass er ihr den Blick auf das Tal und nach Osten versperrte. »Was werden sie für uns tun?« »Oh, Jeirran, du willst immer alles sofort!« Verärgerung verdrängte die Freude von Aritanes Gesicht. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich mit ihnen über Dinge von größter Wichtigkeit sprechen möchte, und dass ich bald Kontakt mit ihnen aufnehme.« »Ari!« stieß Jeirrans wütend hervor. »Warum die Verzögerung? Warum nicht einfach ...« »Stell nicht in Frage, was ich tue und wie ich es tue, Jeirran«, warnte sie ihn. »Dies ist meine Aufgabe, und ich weiß am besten, wie ich vorgehen muss. Glaub mir, ich habe nicht den Wunsch, mich vor den Sheltya zu verantworten, ehe ich nicht Verbündete gefunden habe, die Mittel besitzen, mich zu unterstützen und zu verteidigen.« »Und wie lange wird es dauern, ehe du die notwendige Muße hast?«, fragte Jeirran mürrisch. Aritane runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich glaube, ich sollte kommen und deine Frau besuchen. Ich werde diejenigen, denen ich Rechenschaft schulde, glauben lassen, dass sie sich Sorgen macht, weil sie kein Kind bekommt. Solange du dich für eine Weile von ihrem Bett fernhältst, müsste das jede Neugier stillen. Wenn ich Ruhe habe, ein anständiges Zimmer und zur Abwechslung ein bisschen Bequemlichkeit, sollte ich all meine Energien auf Gespräche mit unseren neuen Freunden konzentrieren können.« Sie lächelte mit raubtierhafter Zufriedenheit. »Eirys’ Mutter wird nicht glücklich sein«, sagte Jeirran finster. »Sie wird ihre lange Nase überall hineinstecken, wo sie nicht erwünscht ist.« 327
»Dann wirst du deine Frau dazu bringen, endlich Herrin ihres eigenen Herdes zu werden«, sagte Aritane scharf. »Es wird Zeit, dass dieses Mädchen ein bisschen Rückgrat zeigt.« »Das ist wohl eher unwahrscheinlich«, murmelte Jeirran. »Ich war nicht auf der Suche nach einer Frau mit Verstand, als ich um sie warb.« »Es liegt bei dir.« Aritane wandte sich den Stufen zu, die in die Rekin hinunterführten. »Du brauchst mich, wenn du diese Sache weiter verfolgen willst. Bring Eirys dazu, dass sie über ihre Unfruchtbarkeit jammert, dann wird niemand sich über meinen Besuch wundern. Ich weiß, dass ihr euch über das Thema schon gestritten habt, nicht wahr? Und dass du dein Bestes getan hast, ihr ein Kind zu machen, ob sie nun wollte oder nicht«, fügte sie über die Schulter hinzu. »Woher weißt du das?«, fragte Jeirran. Eine heftige Röte überzog seine Wangen. Er fluchte unterdrückt und rieb sich mit den Händen über das Gesicht, ehe er seiner Schwester folgte. Er rannte die Stufen hinunter und blieb am Fuß der Treppe stehen. Seine genagelten Stiefel knirschten auf den Steinen. Aritane war nirgends zu sehen. »Verflucht, Frau, wo steckst du?«, rief er in den leeren Raum. Der Staub, der dick auf den Fliesen lag, war unberührt und bis auf Jeirrans eigene Fußabdrücke ohne jede Spuren. Er rannte hinaus in den Hof. »Aritane!« Er stürmte zu den Werkstätten, doch sie waren so verlassen wie zuvor. »Was soll das? Aritane!« Das Echo seiner wütenden Rufe verhöhnte ihn, als es von den Mauern zurückgeworfen wurde. Als der Lärm schließlich verebbte, war die Stille bedrückender als zuvor. Jeirran schauderte unwillkürlich, ehe er zum Tor hinunter 328
marschierte. Er blieb auf der Schwelle stehen, um die Tür wieder aufzustellen, hielt jedoch inne, einen Stein in der Hand. Leise vor sich hinschimpfend, räumte er stattdessen die Steine vor dem anderen Flügel fort und zog die beiden zusammen. Dann wandte Jeirran dem Tor den Rücken zu, band sein Pony los und trieb das widerstrebende Tier zum Galopp.
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Die Kammer Planirs des Schwarzen, Erzmagier von Hadrumal 1. Vorsommer
Auf ein zögerndes Klopfen an der Tür folgte ein zuversichtlicheres Pochen. »Herein.« Die einzige Person im Zimmer entspannte sich in einem ledergepolsterten Sessel an einem der hohen Spitzbogenfenster. Die Person schaute nicht von dem eng beschriebenen Brief auf, den sie gerade las. Die Sonne erhellte den mit dunklem Holz vertäfelten Raum mit funkelnden Strahlen, die auf dem teuren, weichen Teppich spielten, auf den polierten Möbeln und den ordentlichen Reihen der Bücher und Schriftrollen, die in zahlreichen Regalen standen. Die schwere schwarze Eichentür öffnete sich geräuschlos an gut geölten Angeln. »Erzmagier.« Der Neuankömmling verbeugte sich. Er war groß und langgliedrig, mit glattem, schwarzem, kinnlangem Haar, blassem Teint und ruhigen Augen. Er räusperte sich. »Also rechnen wir damit, heute Morgen von ‘Sar zu hören?« »Setz dich, Shiv.« Der Erzmagier wandte den Blick nicht von seinem Dokument. »Larissa wird jeden Augenblick hier sein.« Shiv setzte sich an einen schimmernden Tisch, auf dem ein stählerner Spiegel auf einem Mahagoni-Sockel stand. Ein silberner Kerzenleuchter stand davor, in dem eine helle Bienenwachskerze mit dem weißen Docht steckte, die bislang noch unberührt von einer Flamme war. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, räusperte sich jedoch stattdessen. »Nimm dir Wasser, wenn du husten musst.« Planir blickte 330
kurz auf; seine grauen Augen wirkten streng. Shiv betrachtete einen Moment seine Hände; dann schenkte er sich ein Glas Wasser ein. Er stellte die Karaffe vorsichtig auf eine Anrichte, deren reich verzierte Front mit Blumengirlanden und Blätterranken in allen Farbtönen eingelegt war, die Holz einem Tischler bieten konnte. »Sollten wir Larissa wirklich einweihen?«, fragte er abrupt. »Sie hat kaum ihre Lehrzeit beendet, und obwohl ich weiß, dass du sie als gute Schülerin schätzt ...« »Sie hat eine doppelte Affinität, Shiwalan«, unterbrach Planir ihn beschwichtigend. »Das macht sie ganz von selbst zur Schülerin des Erzmagiers. Deshalb halte ich es für angemessen, sie in meine Angelegenheiten einzubeziehen. Anders zu handeln würde mich zur Zeit ernstlich behindern, da Usara fort ist und Otrick noch immer nicht bei Verstand. Ihre Affinitäten bedeuten auch, dass wir ihre Talente nutzen können, um ein vollständiges Netz zu weben, anstatt zwei weitere Menschen in den Kreis ziehen zu müssen. Es erstaunt mich, dass du mein Urteil in dieser Sache in Frage stellst.« Shiv biss die Zähne zusammen und starrte aus dem Fenster. »Hat ‘Sar große Probleme, Livak dazu zu bringen, dass sie tut, was er will? Als ich mit ihr reiste, konnte sie ... na ja, sehr starrköpfig sein. Vielleicht hätte ich mit ihnen gehen sollen. Dann hättest du auch ‘Sars Talente hier einsetzen können statt meine.« Er schwieg, während der Erzmagier seinen Brief säuberlich zusammenfaltete, die Knickstellen mit geschickten Fingern glatt strich und eine magische Fackel benutzte, um das Wachs zu erhitzen und den Brief wieder zu versiegeln. »Usara hat keine Probleme damit, Livaks Handlungen zu lenken, weil er den ausdrücklichen Auftrag hat, sie tun zu lassen, 331
was sie will – und mehr noch, sich selbst so unauffällig wie möglich zu verhalten«, erklärte Planir bestimmt. Widerstrebend wandte Shiv sich wieder dem Erzmagier zu. Der ältere Zauberer schaute ihm direkt in die Augen. Shiv senkte den Blick und sah stirnrunzelnd auf den Teppich. »Ist das nicht alles ein bisschen zu wichtig, um Livak nach eigenen Gutdünken schalten und walten zu lassen? Ich hätte gedacht ...« »Ja, Shiv?«, unterbrach ihn Planir. »Hättest du gedacht, oder hättest du dich einfach Hals über Kopf auf die erste Spur gestürzt, ohne an die Folgen zu denken?« Das Wasser schwappte über, als Shivs Hand das Glas umklammerte. »Die Magie der Elietimm hat den Wolkenmeister von Hadrumal – und noch einige andere – in ein Koma versetzt, aus dem nichts sie erwecken kann. Ein Mittel zu finden, um die Lage zu verbessern, verlangt meines Erachtens größere Anstrengungen, als Livak auf eine willkürliche Suche nach vergessenem Wissen zu schicken, das die alten Völker vielleicht noch besitzen.« »Ich bin eine solche Aufgeblasenheit von Kalion gewöhnt, Shiv, aber das kann man von unserem verehrten Herdmeister ja auch nicht anders erwarten«, stellte Planir mit schneidender Stimme fest. »Dir aber steht es nicht an, und es wird dich auf dem Weg zu deinem Ziel nicht weiterbringen. Troanna sagt, du strebst einen Sitz im Rat an.« Shiv kniff die Lippen zusammen, erwiderte jedoch nichts. Planir legte seinen Brief beiseite und ging zu einem Tisch, auf dem einige Karaffen hinter einer Reihe von Kristallkelchen stand. »Wein?«, bot er an, ein wenig freundlicher geworden. »Nein, danke«, lehnte Shiv steif ab. Planir lächelte in sich hinein und setzte sich wieder, einen 332
vollen Kelch mit schwerem, pflaumenfarbenem Wein in der Hand. Das Glas war mit akkurat geschliffenen Rauten verziert. »Ich gestehe, dass ich nicht erwartete hatte, dir alles genau auseinander setzen zu müssen, wie einem Lehrling in der ersten Jahreszeit, der noch nicht weiß, wie er eine Kerzenflamme anzündet, aber ich tue es trotzdem gern.« Er winkte Shivs Protest beiseite, während er am Wein nippte. »Warum hat Trydek, der Erste Erzmagier, die Zuflucht auf einer Insel der Zauberei gewählt?«, fragte der Erzmagier in spöttischem Tonfall. Shiv blickte verdutzt. »Was soll das ...?« »Warum, will ich wissen!«, stieß Planir mit einem scharfen Blick unter schwarzen Brauen hervor. »Weil die Kräfte der Magiegeborenen unter der normalen Bevölkerung Angst und Aberglauben hervorriefen«, leierte Shiv seine Antwort herunter. »Und wie kommst du auf den Gedanken, dass sich so viel geändert hätte? Wie viele Lehrlinge bekommen wir hier, die man so schnell von zu Hause fortgeschickt hat, dass sie kaum Zeit hatten, frische Wäsche zum Wechseln einzupacken? Wie viele Schiffe, die hier anlegen, setzen ihre Matrosen an Land?« Planir beugte sich im Stuhl vor. »Es sind genug Lehrlinge, dass niemand überhaupt darüber spricht, und so wenig Matrosen, dass eine Hafenkneipe kaum davon existieren kann. Sei kein Tor, Mann, du weißt so gut wie ich. Warum sonst haben Generationen von Erzmagiern Hadrumal in den Nebeln von Verzauberung und Legenden verborgen?« »Legenden, die nur Misstrauen und Verdacht gegenüber der Zauberei fördern, wie du vor dem Rat gesagt hast«, gab Shiv zurück. »Das stimmt allerdings.« Planir nickte. »Und Zauberer, die auf 333
dem Festland herumstöbern und nach Berichten über alte Magie suchen, würden bald auffallen, oder? Würde das nicht Unbehagen und böse Ahnungen heraufbeschwören, vor allem zu einer Zeit, in der wir unser Bestes tun, der Zauberei wieder eine aktivere Rolle in der Welt zu verschaffen? Andererseits kann die Vorstellung, dass Magier ausziehen und nach Wissen suchen müssen, andere zu dem Glauben verleiten, dass wir in unserem Einfluss beschränkt, ja machtlos sind. In diesem Fall können wir uns von den Höflichkeiten, der Achtung, und – am wichtigsten – der Zusammenarbeit verabschieden, die Magier noch immer in Anspruch nehmen können, solange sie keine Bedrohung darstellen. In jedem Fall stehen wir nicht gerade gut da, oder?« »Aber Kalion ...«, begann Shiv zögernd. Planir machte eine abwehrende Handbewegung. »Vergiss Kalion vorerst.« »Du lässt Magier die Archive von Col und die Geschichte von Vanam nach jedem Hinweis auf uralte Zaubergesänge durchforsten«, beharrte Shiv. »Was ist daran anders?« »Erstens wurden diejenigen, die ich ausgeschickt habe, ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Geheimhaltung hingewiesen.« Der Erzmagier lächelte. »Zweitens vertraue ich auf die Gelehrten an beiden Universitäten, dass sie das Streben nach geheimem Wissens so verständlich finden, dass sie es kommentarlos hinnehmen ... falls einer von ihnen überhaupt lange genug den Kopf von seinen eigenen Studien hebt, um es überhaupt zu bemerken.« Shiv konnte ein Grinsen über Planirs trockenen Tonfall nicht unterdrücken, doch sein Gesicht wurde bald wieder ernst. »Aber was ist mit Livak? Ich weiß, dass Casuel anderer Ansicht war, 334
aber dieses Liederbuch klingt nach einer viel versprechenden Spur. Sie ist kein Magier, keine Gelehrte. Was ist, wenn ihr etwas entgeht? Und wenn wir schon dabei sind – was ist, wenn sie etwas entdeckt, wovon ‘Sar nichts erfährt? Sie steht diesmal in D’Olbriots Sold. Das ist etwas anderes ...« »Ich finde, du könntest ein wenig mehr Zutrauen zu ‘Sar haben«, tadelte Planir. »Und was Livak angeht, sieht sie im Auskundschaften von Wissen ihre beste Chance auf einen Segen aus D’Olbriots Schatzkammer. Wenn ich das Mädchen richtig einschätze, sind ihre eigenen Interessen ein wirksamerer Ansporn als alles, was wir uns ausdenken könnten.« »Aber was ist, wenn sie D’Olbriot etwas Entscheidendes übergibt, und wir erfahren erst später davon?« Shivs Stimme klang verzweifelt. »Otrick ...« »Ich mache mir ebensolche Sorgen um Otrick wie du, Shiv«, unterbrach Planir scharf, »aber ich habe noch viele Eisen im Feuer, und wenn ich versage, ist das Ergebnis nicht bloß ein Weißer Rabe, der wieder in der Schachtel landet. Du warst mit uns anderen zur Sonnenwende in Toremal. Benutz deinen Verstand, Mann! Was haben die Ereignisse des vergangenen Jahres den Fürsten des Reiches gesagt? Dass ihr alter Herrschaftsanspruch auf Magie beruhte, und dass das Versagen dieser Magie das ganze Gebäude hat einstürzen lassen. Jetzt werden sie von Magie jenseits des Meeres bedroht. Wie viele, glaubst du wohl, werden sich die Mühe machen, zwischen unserer Elementarmagie und der Elietimm-Magie von Geist und Illusion zu unterscheiden? Von ihrem Standpunkt aus betrachtet ist alles eins.« Planir stellte seinen Kelch beiseite. »D’Olbriot hat genug Verstand, um zu erkennen, dass er Feuer mit Feuer bekämpfen muss, aber deswegen setzt er nicht einfach sein 335
Haus in Brand und versucht sich in Sicherheit zu bringen. Er muss das Gefühl haben, dass er die Oberhand hat, dass wir tun, was er will. Und nichts weniger als seine unbedingte Kontrolle wird die übrigen Fürsten davon überzeugen, dass er nicht verrückt geworden ist und dass er seinen vorrangigen Einfluss verlieren sollte.« »Aber Kalion ...«, meinte Shiv stirnrunzelnd. »Vergiss Kalion. Überleg, wohin dieses Spiel die Beute führt«, sagte der Erzmagier und zählte an den Fingern auf. »Ich habe Livak, ein Mädchen, das seine Stärken hat und entschlossen ist, einen Jagdhund zu beschämen auf ihrer Suche nach Übersetzungen für ihr Liederbuch. Es stammt aus D’Olbriots Bibliothek, sein Zeichen hängt ihr um den Hals, sodass es jedermann sehen kann, der von ihren Tätigkeiten Wind bekommen mag, ob es nun Spione der Elietimm sind oder misstrauische örtliche Herrscher. Was sie auch herausfinden, für dieses neue Bündnis wird sie diesmal nicht aus meiner Börse entschädigt, sondern von D’Olbriot – Raeponin sei Dank! D’Olbriot hat dann die Information und kann sich selbst und jedem anderen TormalinEdelmann sagen, dass er sich damit unsere Dienste erwerben kann, zur Verteidigung seiner Ländereien und seines Eigentums. Ein achtbares Geschäft, das keinerlei Bedrohung für die Souveränität des Kaisers oder die Macht eines Fürsten darstellt.« Planirs Stimme wurde zum ersten Mal heiser vor Erregung. »Das erspart mir die Demütigung, auf den Knien zum Kaiser zu rutschen und ihm alles Gold anzubieten, das Misaen je geschaffen hat, und ihn anzuflehen, meine Magier ausschicken zu dürfen, um sich diesen Bastarden von Elietimm entgegenzustellen. Denn welche Bedrohung für Tormalin sie auch darstellen, sie werden für Hadrumal den Tod bedeuten, wenn sie uns auf336
spüren, ehe wir ein Mittel gegen ihre Hexereien haben. Und was ist die Macht der Zauberei dann noch wert?« Shiv konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Ich wollte doch nur ...« »Du wolltest Rache«, vollendete Planir den Satz für ihn. »Rache für das, was du durch die Hände der Elietimm erlitten hast. Du wolltest einen Weg finden, Otrick aus diesem todesähnlichen Schlaf zu retten, in dem er gefangen ist. Du wolltest ein wirklicher Held sein.« Shiv biss sich auf die Unterlippe und verschränkte die Hände, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Dass viele dich bereits als einen Helden betrachten, ist einer der Gründe dafür, weshalb ich dich hier behalten habe«, fuhr der Erzmagier ruhiger fort und nahm sein Weinglas. »Du hast schon zweimal gegen die Elietimm gekämpft, einmal in ihrem eigenen Land und einmal in Kel ArAyen. Deine Verteidigung der Kolonisten war eine Geschichte, die den ganzen Winter über in Tormalin die Runde machte. Hast du nichts davon gehört? Wenn du reist, werden viele Ohren und Augen auf dich gerichtet sein. ‘Sar dagegen«, meinte er achselzuckend, »ist eine unbedeutende Figur, Planirs Mantelträger, immer zwei Schritte hinter seinem Meister. Es ist ein Wunder, ihn zu sehen, wenn er auf sich allein gestellt ist.« Shiv lachte zögernd. »Das ist wohl nicht ganz gerecht.« Planir grinste. »Aber es passt uns doch, dass alle Menschen ihn so sehen, oder nicht?« »Haben wir eine Ahnung, ob Livak einer echten Spur folgt oder nicht?«, wollte Shiv nach einem kurzen Schweigen wissen, das nur durch zielstrebige Schritte unten im Hof unterbrochen wurde. 337
»Nichts Bestimmtes«, antwortete Planir achselzuckend. »Ein Grund mehr, unsere Hilfsmittel in eher konventioneller Nachforschung zu nutzen. Diese Suche ist Livaks Spiel. Wenn es fehlschlägt, trägt sie den Verlust; wenn sie gewinnt, streichen wir den Gewinn ein, ohne etwas zu riskieren. Und solange du keine Mittel hast, die Zukunft vorherzusagen, können wir nicht feststellen, ob unsere Einmischung hilfreich oder hinderlich wäre. Ich werde die Runen fallen lassen und das Spiel so spielen, wie sie liegen.« Der Erzmagiers strahlte schalkhaft. »Außerdem bekäme ich es mit Pered zu tun, würde ich dich mit einem neuen Auftrag fortschicken, und ich gestehe, dass mir die Vorstellung nicht behagt, mich im Hof mit deinem Geliebten zu prügeln.« Shiv wurde dunkelrot. »Er würde nicht ...« »Nein?«, hakte Planir nach. »Ich glaube schon, dass er würde.« Shiv hüstelte, trank einen Schluck Wasser und schaute überall hin, nur nicht zum Erzmagier. Der Zeitmesser auf dem Kaminsims schlug leise, als der spitze Zeiger in eine Nut auf der Skala einrastete. Unverzüglich ging die Tür auf, ohne dass eine Aufforderung ergangen wäre. Eine junge Frau mit eckigem Gesicht trat ins Zimmer. Ihre haselnussbraunen Augen waren auf den Erzmagier gerichtet, während sie eine Strähne nussbrauner Haare aus der Stirn strich und sich ihre kirschrote Stola dekorativ über die Ellbogen zog. »Larissa.« Freude färbte Planirs Stimme und ließ die Züge seines hageren Gesichts weicher erscheinen. Er fuhr sich mit der Hand über das kurz geschnittene schwarze Haar. »Wein?« Larissa nickte. »Sehr gern, danke.« Planir stand auf und schenkte ihr etwas von dem rubinroten 338
Wein in einen Kelch. Er füllte auch sich selbst nach und hob sein Glas zum Wohl auf das Mädchen, ehe er an seinen Platz zurückkehrte. Larissa setzte sich in einen Stuhl neben Shiv, lächelte die beiden Magier an, strich sich die himmelblauen Röcke zurecht und warf ihre langen glänzenden Flechten nachlässig über die Schulter. »Guten Tag, Shiwalan«, sagte sie. Er nickte zur Erwiderung, mied jedoch ihren Blick, konnte aber nicht umhin, die kleinen blauen Blümchen zu bemerken, mit denen ihre Strümpfe bestickt waren, denn die EnsaiminMode der kürzeren Säume ließ ihre wohlgeformten Knöchel und die Rundung ihrer Wade sehen. Er räusperte sich. »Erzmagier, sprichst du mit ‘Sar oder warten wir darauf, dass er mit uns Kontakt aufnimmt?«, fragte er. »‘Sar spricht mit uns.« Planir blickte nachdenklich drein, während er an seinem Wein nippte. Er kam zu Shiv und dem Mädchen an den Tisch. »Es sollte jetzt gleich so weit sein. Seid ihr beide bereit, eine Verbindung herzustellen?« Shiv verschränkte gedankenvoll die Hände. »Ich glaube, ich hätte auch gern ein Glas Wein, Planir.« »Bedien dich«, sagte der Erzmagier. »Larissa?« »Ich habe noch genug«, antwortete sie ein wenig ungelenk. »Aber ich bin bereit.« Planir hielt ihren Blick fest, bis sie ihn anlächelte und eine leichte Röte ihre hohen Wangenknochen überzog. Shiv hob seinen Kelch an die Lippen, als die Luft über dem Tisch plötzlich zu glühen begann. Das Glühen schwoll an und breitete sich von innen nach außen aus, unglaublich dünn, mit bernsteinfarben strahlendem Rand. »Planir?«, erklang eine Stimme aus der Mitte der schimmern339
den Scheibe. »Usara, schön, dich zu hören.« Planir schnippte mit den Fingern, und die Kerze loderte mit einem Funken scharlachroter Magie auf. Die Flamme wurde gelb und brannte trotz des offenen Fensters völlig ruhig. »Nehmt euch bei den Händen, Shiv«, befahl der Erzmagier. »Larissa ist noch recht unerfahren.« Das Mädchen zuckte leicht zusammen, als die beiden Männer ihre Hände nahmen, und kämpfte verzweifelt um Konzentration. Das Metall des Spiegels begann mit einem inneren Licht zu glühen, scharlachrot, azurblau, bernsteinfarben und aquamarin; erst kräftig, dann wieder verblassend, umkreisten die Lichter einander, bis sie sich schließlich in einem rautenförmigen Strahlen vereinten, das die glühende Scheibe in sich hineinzog. Goldenes Leuchten brannte für einen Herzschlag, ehe es im Spiegel verlosch. Ein Nimbus aus Kupfermagie umrahmte nun das Metall, und Planir drehte es so, dass alle drei das Abbild darin sehen konnten. »Gut«, sagte er zufrieden und ließ Larissas Hand los. Die letzten Reste des Zauberlichts schwanden unbeachtet von seinen Fingern. »Kannst du mir etwas über diese Sheltya sagen?«, fragte Usara ohne Einleitung. Seine Stimme klang unnatürlich hoch und dünn. Der Spiegel zeigte ihn, wie er auf einem gemachten Bett in einem kleinen Zimmer saß. Das ganze Bild war von einem bernsteingelben Hauch übertönt, der allmählich seine Farbe änderte, als sich die Kreise der Macht aus dem Zentrum der Magie ausbreiteten. »Nichts, das von Nutzen oder Bedeutung wäre, fürchte ich«, sagte Planir zu dem Spiegel. »Casuel konnte in den tormalinischen Archiven nichts finden. Und alles, was die Gelehrten in Vanam oder Col anbieten können, sind halb erinnerte Fetzen 340
uralter Berg-Legenden.« »Die meisten Hinweise verraten nichts über ihre Rolle.« Larissa rieb sich die Finger, in die sich der Ring des Erzmagiers eingedrückt hatte. »Ein paar lassen darauf schließen, dass sie Schlichter oder Gesetzgeber sind.« Sie sah Planir um Zustimmung heischend an. Shiv lehnte sich im Stuhl zurück, die Lippen aufeinander gepresst, und schwieg. »Was konnten dir diese Bergvolk-Männer erzählen, mit denen ihr unterwegs seid?«, fragte Planir. »Das es das Beste ist, die Sheltya sich selbst erklären zu lassen.« Empörung verlieh Usaras Worten eine zunehmende Schärfe. Shiv zog neugierig die Brauen zusammen. »Und Livak akzeptiert das?« »Vorläufig«, sagte Usara gepresst, »denn wenn sie in diesem Punkt drängt, würde das bedeuten, sie müsste mich gegenüber ihren Freunden unterstützen.« »Aber du sagtest doch, die Sagen deuten darauf hin, dass sie Ätherwissen besitzen, jetzt, wo du diese alten Geschichten hast übersetzen lassen.« Der Erzmagier schenkte Larissa ein Lächeln für diese Aufmunterung. »Ihre so genannten Wunder könnten sich trotzdem noch als reiner Zufall der Natur und des Zeitpunkts erweisen.« Das kleine Abbild im Spiegel verzog das Gesicht. »Wo seid ihr jetzt, Sar?«, fragte Planir. »In den tiefer gelegenen Gebieten des Pasfall-Tals, wie sie es nennen«, erwiderte der Magier. »Wo der Fluss sich durch die Hügel windet.« »Dort in den Dörfern wird es Männer und Frauen geben, in 341
deren Adern zum Teil Bergvolk-Blut fließt, oder nicht?« Shiv sah nachdenklich aus. »Jene, deren Eltern nach außerhalb geheiratet haben, wie in Gidesta, zum Beispiel. Könntest du sie nicht nach der Bedeutung dieser Sheltya fragen?« »Das habe ich bereits versucht«, antwortete Usara mit einem Kopfschütteln. »Entweder sie wissen es nicht, oder sie wollen es nicht sagen.« Planir, Shiv und Larissa wechselten einen Blick, in dem sich gleichermaßen enttäuschte Erwartung und Ungeduld mischte. Schweigen senkte sich über die vier Magier, die auf ihre Hände blickten. Ihre Gesichter spiegelten die gleiche Enttäuschung, trotz der unzähligen Meilen, die sie voneinander trennten. »Vielleicht wissen die Soluraner mehr.« Shiv rieb sich den Oberarm. »Ihre Heiler sind sehr tüchtig, und allem Anschein nach werden ihre Heilmittel durch Zauberkunst gewonnen. Hätten diese Mittel bei mir nicht gewirkt, könnte ich mir kaum noch die Schuhe schnüren.« »Lass dich dadurch nicht von deinen anderen Aufträgen ablenken, ‘San« Planir wirkte leicht besorgt. »Behalte die Jahreszeit im Auge.« »Das habe ich nicht vergessen.« Usara lächelte schwach. »Ich glaube, ich kann mir ein bisschen Zeit für das Vergnügen leisten, gute Bergluft zu schnuppern. Ich kann es brauchen.« »Ja, du sieht übermüdet aus.« Planir betrachtete das Abbild kritisch. »Ruhe dich weiterhin aus und lass uns eine Weile unsere Köpfe zerbrechen. Wir unterbrechen die Verbindung, ehe sie dich noch mehr erschöpft.« »Die Verbindung stärkt mich«, erwiderte Usara. »Doch hier ist es noch recht früh am Tag, und wir sind gestern bis spät abends unterwegs gewesen. Hat jemand kürzlich mit Naldeth gespro342
chen?« Larissa nickte abwesend. »Ich habe vor ein paar Nächten mit ihm geredet. In Kellarin scheint alles in Ordnung zu sein.« »Und Guinalle?«, drängte Usara. »Als ich das letzte Mal mit Nal sprach, bat sie mich, dir Grüße zu übermitteln«, sagte Shiv. Das Abbild vor ihnen zeigte deutlich Usaras Lächeln. Larissa schaute von Planir zu Shiv, mit einem leicht fragenden Ausdruck, während die beiden Magier einen verschwörerischen Blick wechselten. »Ich habe noch andere Dinge zu tun, ‘Sar«, sagte Planir abrupt. »Wir sprechen uns in fünf Tagen wieder, zur Mittagszeit nach deiner Rechnung, ja?« Usara nickte, und das Bild im Spiegel verblasste rasch, als die Magie sich verflüchtigte und die metallische Oberfläche stumpf im sonnendurchfluteten Raum zurückließ. »Was geht zwischen Usara und Guinalle vor?«, wollte Larissa wissen. »Da könnte etwas sein, vielleicht aber auch nicht«, sagte Shiv rätselhaft. »Ich glaube, er möchte gern etwas daraus machen, aber sie ist eine Dame, die ihre Verantwortung ernst nimmt.« »Für Usara ist es überaus wichtig, dass er einen Weg findet, die Geheimnisse der Zauberkunst zu entschlüsseln, auch aus Gründen, die weniger offenkundig sind«, erklärte Planir; dann glitt sein Blick zu Larissa und hellte sich auf. »Ich will dich nicht aufhalten, Shiv«, sagte er. Die Entlassung war unmissverständlich, doch Shiv erwiderte ein wenig verstimmt: »Ich würde gern noch weiter darüber sprechen.« Planir fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Später.« Sein 343
Blick ruhte auf Larissa, und ein schwaches Lächeln lag auf seinen Lippen. Shiv zögerte auf der Schwelle. »Larissa?« »Ich komme gleich nach.« Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »Lass dich nicht aufhalten.« Shiv warf Planir einen sardonischen Blick zu, doch der Erzmagier hielt ihm stand, sodass dem jüngeren Zauberer nichts anderes übrig blieb, als geräuschvoll die Treppe hinunterzusteigen. Shiv blieb einen Moment stehen, als er hörte, wie die Tür sich hinter ihm von selbst schloss, und seine Miene verhärtete sich. Als er aus der Dunkelheit des Treppenhauses trat, blinzelte er im strahlenden Sonnenschein des Hofes. »Guten Tag«, rief ein vorübergehender Lehrling, der über die ausgetretenen Steinplatten vom Torbogen zu einer der zahlreichen Türen eilte, die das Rechteck flankierten. Shiv erwiderte den Gruß mit einem Nicken und setzte sich scheinbar müßig auf den Rand des kleinen Springbrunnens, der in der Mitte des Hofes ein fröhliches Muster aus Luft und Wasser spie. Er blickte sich um, als wartete er auf jemanden, prüfte den Stand der Sonne und schaute zum großen Glockenturm, der die vier Höfe beherrschte, die diesen Hort der Zauberei bildeten. Ein Dienstmädchen ging mit einem Arm voll Laken zur Wäscherei. Shiv tauchte eine Hand in den Springbrunnen und studierte das Becken gespannt. Ein schimmerndes Abbild zeigte sich auf der Wasseroberfläche. Planir umarmte Larissa, ihre Lippen lagen in einem leidenschaftlichen Kuss aufeinander. Die Finger des Erzmagiers öffneten geschickt die Knöpfe am Rücken ihres Kleides. Sie ließ ihn einen Augenblick los, um sich das Kleid über die Hüften zu streifen und es dann nachlässig zu Boden gleiten zu lassen. Planirs Hand um ihre Taille zog sie näher an 344
sich, die andere schnürte ihr das Mieder auf. Shiv konnte die kleinen blauen Blümchen sehen, die auf so hauchzarte Baumwolle gestickt waren, dass die rosigen Nippel sich hart und dunkel darunter abzeichneten. Der Erzmagier löste sich von ihr, um sein eigenes Hemd auszuziehen, und Bedauern vermischte sich mit Zorn auf Shivs Gesicht, als er ins Wasser blickte. Larissa packte den Saum ihres Hemdes, sodass ihr Spitzenhöschen sichtbar wurde, und Planir schnallte seinen Gürtel ab. »Bei Halcarions Titten, was denkt er sich eigentlich?« Shiv zerstörte das Bild mit einer zornigen Handbewegung, sodass unzählige glitzernde Bruchstücke sich im Plätschern des Brunnens auflösten. »Hast wohl andere Dinge zu tun, verehrter Erzmagus? Ja, und wir alle haben gehört, was das sein mag.« Er stampfte durch den Torbogen hinaus auf die geschäftige Hauptstraße von Hadrumal.
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Othilsoke 3. Vorsommer
»Keis!« Jeirrans Ruf verhallte ungehört, während er sich über Büschel struppigen Grases vorwärts kämpfte. Er verließ den ausgetretenen Pfad, der durch kümmerliche, windzerzauste Büsche verlief, die sich zwischen die Felsen duckten, und gelangte in eine schmale Klamm in der breiten Flanke des Tales. Hier war der Wind gedämpft, doch das Klirren von Metall auf Stein hallte laut in dem engen Spalt. Jeirran blieb stehen und schaute. Teiriol schwang eine Picke hoch über den Kopf, ließ sie mit einem explosiven Schrei tief in die steinige Erde dringen und riss sie zurück. Er befand sich an der höchsten Stelle des Engpasses und grub hüfttief unter einem Vorsprung aus massivem grauem Fels. Ein zweiter Mann schaufelte das Geröll mit den blaugrünen Streifen in einen Bach, der an einer Seite floss. Ein dritter rechte und harkte und spähte immer wieder ins Wasser, das von Sand und Erde verschmutzt war. Auf sein Nicken hin schaufelte ein weiterer Mann Steine in einen langen hölzernen Trog, an dem Keisyl, nass bis zu den Ellbogen, Felsbrocken sortierte, die ein zweites Mal in Wasser gewaschen wurde, das in einer Reihe von hölzernen Röhren herangeführt wurde. Alle waren schmutzig und verschwitzt. »Keisyl!« Jeirran kletterte vorsichtig über die aufgehäuften Reihen aus Stein und Schlamm, die das jährliche Fortschreiten des Abbaus in dem kleinen Graben markierte. »Was willst du?« Keisyls Missfallen war offensichtlich. Er ließ eine Hand voll Zinnsteine in einen Sack fallen und rieb sich 346
den Rücken. Dann warf er eine tropfende Schaufel Schutt auf den Haufen hinter ihm und spritzte dabei Jeirrans polierte Stiefel nass. »Ich habe Backwerk von meiner Frau mitgebracht.« Jeirran hob den Deckel vom Korb und entfaltete die Stoffschichten darin, dicke Wolle über schneeweißem Leinen. »Essen«, rief Keisyl, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt. »Stellt das Wasser ab!« Ein Winken als Antwort hinter einer Erhebung wurde vom Rasseln eines Wehrs gefolgt, und der Bach verwandelte sich in ein Rinnsal, das kaum tief genug war, um Teiriols schlamm verkrustete Stiefel nass zu machen. »Theilyn sollte das Essen bringen. Du solltest hier arbeiten«, grollte Keisyl. »Deine Mutter hat den Handel abgeschlossen, um ihre Verwandten unterzubringen«, sagte Jeirran kurz angebunden. Er winkte den herbeieilenden Grubenarbeitern lächelnd zu. »Wenn wir nicht so viel Zeit mit deinen verrückten Plänen verschwendet hätten, hätte sie keinen Grund dazu gehabt.« Keisyl biss ärgerlich in eine Pastete. Jeirran spähte den durchlöcherten und verwüsteten Hang hinauf. »Dieser Abschnitt ist praktisch erschöpft. Du könntest ihn bis zur zweiten Hälfte des Sommers mit Teir allein bearbeiten. Die dumme Kuh hat die Hälfte der armseligen Gewinne verschenkt.« »Sie wollte, dass diese Grube abgebaut ist, ehe wir eine tiefe Mine graben«, sagte Keisyl. »Der Schacht sollte ja mit den Reichtümern bezahlt werden, die du aus Selerima mitbringen wolltest!« »Die alte Wichtigtuerin hatte kein Recht, einen Handel um Arbeitskräfte abzuschließen.« Jeirran war ganz mit seinem ei347
genen Kummer beschäftigt. »Das hätte Eirys’ Entscheidung sein sollen.« »Eirys war aber nicht hier«, sagte Keisyls zynisch. »Du hast ja darauf bestanden, sie den ganzen Weg mitzuschleppen.« »Alles in Ordnung?« Teiriol langte als Erster bei ihnen an und sah unsicher zwischen Jeirran, der scheinbar guter Laune war, und seinem finster dreinblickenden Bruder hin und her. »Die Frauen haben gebacken.« Jeirran reichte den Korb an eifrige, schmutzige Hände. »Meine Frau sagt, ihr hättet etwas besseres verdient als gewachsten Käse und Zwieback. Caw, Fytch, Cailean – schön, euch zu sehen.« »Wie geht’s, Jeirran?« Der Mann mit dem Rechen, nass bis zur Hüfte, nickte grüßend. »Du siehst mächtig wohlhabend aus für einen Mann, der die halbe Jahreszeit damit verschwendet hat, sich von den Tiefländern reinlegen zu lassen.« Jeirran warf Teiriol einen scharfen Blick zu, der ihn trotzig erwiderte. »Cailean hat gefragt«, sagte Teiriol. »Ich wollte ihn nicht belügen.« Jeirran lächelte gezwungen. »Wir haben mehr Gewinn gemacht, als wir im Tal hätten machen können, aber es war nicht so viel, wie ich gehofft hatte.« Keisyls verächtliches Lachen ging in einem krampfhaften Husten unter, als ihm ein Krümel in die Luftröhre geriet. »Na, wenigstens hast du es versucht.« Der Mann, der Keisyls Sortiertrog gefüllt hatte, schaute sich unsicher um. »Man kann nicht dir die Schuld in die Schuhe schieben, wenn die Tiefländer sich als unehrliche Schurken entpuppen.« Jeirran reichte dem Mann eine Pastete mit goldglänzender Kruste. »Ich dachte, ich könnte einen fairen Handel abschließen, Fytch, aber am Ende standen wir kaum besser da als ausge348
raubt.« »Alles Diebe, diese Tiefländer«, brummte der Mann, der am oberen Ende der Schlucht die Schleuse bedient hatte. »Wir sollten unter uns bleiben.« »Wir wollen ja nichts mit ihnen zu schaffen haben, aber sie mit uns.« Jeirran schüttelte den Kopf. »Habt ihr von der Teyvasoke gehört?« Alle Männer nickten grimmig. Teiriols Arbeitspartner nahm sich eine zweite Pastete. »Vermehren sich wie Ratten im Mist, was?« »Ich habe einen Vetter, der auf der anderen Seite der Schlucht Verwandtschaft hat«, sagte Cailean. »Als sie um ihre Gruben kämpfen mussten, sagt er, hatten sie verloren, ehe auch nur ein Schwert erhoben wurde. Für jeden Tiefländer, den sie verdroschen haben, kamen nach anderthalb Tagen zehn neue. Was siehst du mich so an, Elzer? Es ist die Wahrheit. Warum glaubst du wohl, kamen Kernial und seine Söhne nach Westen, um den Sommer über Ziegen zu hüten und bei jeder Feste um Arbeit zu betteln?« »Das ist doch keine Arbeit für einen Mann auf der Höhe seiner Kraft«, grollte Elzer voll Abscheu. »Kernial kennt die Bäche besser als jeder pockennarbige Tiefländer, sowohl bei tiefen Minen als auch im Tagebau. Er sollte in einer Mine arbeiten.« »Das Problem ist, dass wir so weit verstreut sind«, meinte Jeirran. »In der Zeit, in der eine Brieftaube von einer Feste zu anderen geflogen ist, ist der Schaden schon geschehen, und die Schurken sind auf und davon.« »Dagegen lässt sich in diesem Land nichts machen«, meinte Fytch achselzuckend. »Jede Soke bleibt für sich«, erklärte Elzer bestimmt. »So wird 349
es schon seit vielen Generationen gehalten.« »Frühere Generationen hatten auch nicht mit Tiefländern zu kämpfen, die das Land wie eine Hammelkeule aufteilen«, gab Jeirran zurück. »In früheren Zeiten hielten die Sheltya die Verbindung unter den einzelnen Soken aufrecht, gaben die Neuigkeiten für das einfache Volk weiter und behielten ihre Macht nicht einfach für sich selbst.« Eine wachsame Stille legte sich über die Männer, die auf den Gesteinstrümmern saßen. »Denkt doch nur an die alten Geschichten«, fuhr Jeirran fort. »Kell der Weber hätte sich nicht von Tiefländern die Schlingen zerschneiden und seine Felle stehlen lassen! Genauso wenig wie Mom zugesehen hätte, dass Diebe Isareis Töchter von ihrem Land vertrieben. In jenen Tagen wurden die Soken noch von wahrer Magie verteidigt.« »Mir reicht es.« Keisyl warf eine Kruste auf den aufgewühlten Boden und wischte sich mit einem Hemdzipfel das Fett von den Fingern. »Ich gehe mit dir zum Pfad hinunter, Jeir.« Keisyl hob den Sack mit Erz auf und schwang ihn sich über die Schulter. »Ja, ich habe dir ein paar Dinge zu sagen.« Jeirran folgte ihm aus der Klamm zu einem Stapel von Säcken. Teiriol und die anderen tauschten Blicke, in denen sich Besorgnis und Vorfreude mischten. »Da ist auch eine Flasche mit Tau drin«, rief Jeirran zurück, »aber mischt ihn nicht zu stark, sonst könnt ihr heute Nachmittag nur noch Schlafen!« Gelächter hallte über die Halde, und Jeirran grinste. Als er sich wieder zu Keisyl umwandte, verschwand sein Lächeln. »Ich brauche dich in der Feste.« Keisyl setzte sich auf den staubigen Sack Erz; seine ver350
schrammten Lederhosen waren dreckverkrustet. »Ich habe hier zu arbeiten.« »Und ich habe zu Hause zu arbeiten«, fauchte Jeirran. »Mit Aritane.« »Ich sagte doch, ich will nichts mit deinen Plänen zu schaffen haben«, erwiderte Keisyl. »Ich mag deine Schwester nicht. Sie quält Eirys. Ich fand sie in der Spülküche. Sie weinte herzzerreißend, weil sie Angst hat, sie wäre unfruchtbar!« »Bedank dich bei deiner Mutter. Was ist mit ihrem Gerede über Ilgars Probleme mit der Zucht dieser roten Rinder?«, fragte Jeirran. »Und der Überlegung, ob der Bulle oder die Kuh schuld ist? Wenn ich mir schon von einem Sheltya Fragen nach meinem Werkzeug oder meiner Technik stellen lassen soll, dann von jemandem aus meiner Verwandtschaft.« »Aber sie ist keine Verwandte von dir, nicht mehr, nicht seit die Sheltya sie genommen haben«, sagte Keisyl herausfordernd. »Du bist ein Dummkopf, Jeirran. Wenn diese Frau Wind von deinen Plänen bekommt, stecken wir alle bis zum Hals drin und werden ersaufen! Ihre Treue gilt zuerst den Sheltya.« »Aritane ist loyal gegenüber ihren Leuten«, sagte Jeirran zuversichtlich. »Sie ist genauso begierig darauf wie ich, Ruhm und Freiheit in den Bergen wiedererstehen zu sehen.« Keisyl schnaubte. »Dann sollte sie aber etwas beeindruckenderes im Ärmel haben als ihre lilienweißen Ärmchen.« »Oh, das hat sie.« Jeirran lachte leise. »Und jetzt, wo deine Mutter so viel gekocht hat, dass keiner von uns in den nächsten vier Tagen verhungert, nimmt sie Eirys und Theilyn mit, um ihren Onkel auf der anderen Seite des Berges zu besuchen. Ich bin gekommen, um es dir zu sagen. Aritane kann endlich die Dinge in Gang setzen.« 351
»Welche Dinge?«, wollte Keisyl misstrauisch wissen. »Wir brauchen Verbündete gegen die Tiefländer. Wie Noral schon sagte, von diesem Rattengezücht gibt es einfach zu viele.« Jeirrans Gesicht glühte vor Eifer. »Aritane hat mächtige Freunde gefunden, Keis, die bereit sind, uns zu helfen.« Eine Schar kleiner brauner Vögel zankte sich um die Brotkrumen zwischen den Grasbüscheln. »Alyatimm?« Keisyl senkte seine Stimme zu einem Flüstern. Jeirran zuckte die Achseln. »Ihre Vorväter waren es vielleicht, vor Generationen. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist allein, dass sie Blutsverwandte sind, die Tiefländer genauso wenig ausstehen können wie wir.« »Warum sollten sie uns helfen?«, fragte Keisyl stirnrunzelnd. »Warum nicht? Sie sind von unserem Blut und wurden selbst von Tormalin angegriffen. Es geht nicht nur um mich, Keis!« Jeirran deutete auf die Arbeiter. »Die Hälfte der Soken auf dieser Seite der Schlucht werden ausgeblutet, stimmt’s?« »Ich lasse mich nicht in irgendetwas verwickeln, das gegen die Sheltya geht.« Keisyls Tonfall war unmissverständlich, doch sein Gesicht verriet einen Anflug von Neugier. »Ich will bloß, dass du dabei bist.« Jeirran machte eine beschwichtigende Geste. »Du musst nicht einmal reden. Aber Aritane wird heute Abend einen Besucher empfangen, und ich möchte, dass wir zwei bei ihr sind, um zu zeigen, dass sie Männer zu ihrer Unterstützung hat.« »Wo kommt dieser Fremde her?« Keisyl blickte ins Tal hinunter. »Das hat Aritane mir nicht gesagt.« Jeirran winkte Teiriol und den anderen zu, die sie immer noch gespannt beobachteten, ihre Hornbecher in der Hand. 352
»Was ist, wenn die Sheltya ihm begegnen und fragen, was er will?«, fragte Keisyl. »Seid ihr verrückt geworden?« »Die Sheltya sind nicht mehr die Macht, wie sie dich glauben machen wollen.« Jeirran schüttelte den Kopf. »Frag Aritane! Das ist einer der Gründe, weshalb wir in diesem schlimmen Zustand sind. Die Tiefländer haben ihre Zaubertricks, während die Sheltya-Oberen die wahre Magie horten und sie ungenutzt mit ins Grab nehmen!« Keisyl trat mit der Hacke gegen den Sack. »Ich schätze, wir haben genügend Zinngestein, um die Erzmühle fertig zu machen. Das Rad muss überprüft und die Stempel neu justiert werden.« Er stand auf. »Gut, ich komme und spiele für diesen Besucher Aritanes Schläger, aber dann kannst du die Maultiere hier rauf schaffen und das Zeug runterbringen, während ich die Mühle aufmache. Wenn du nur so viel Verstand hättest, wie Misaen einer Maus gegeben hat, hättest du jetzt schon ein Maultier mitgebracht, statt dir die Sohlen abzulaufen!« »Deine Mutter hat die Maultiere mitgenommen, Keisyl.« »Dann such jemanden, der dir andere leiht, sonst wirst du dieses Erz noch auf dem Rücken ins Tal schleppen müssen.« Jeirran sträubte sich der Bart, als Keisyl zurück in die Klamm ging und Teiriol zurief: »Du bist mir verantwortlich, bis ich zurück bin, aber höre auf das, was die anderen sagen. Sie machen diese Arbeit schon länger als du!« Nach einer kurzen Besprechung mit Cailean und Fytch kam Keisyl wieder zu Jeirran. »Ich habe ihnen gesagt, ich würde eine Gesteinsprobe machen. Dann kann ich die Zeit wenigstens nutzen.« Jeirran brach schweigend auf. Ein Stück den Pfad hinunter bog Keisyl in eine Mulde ab, in der die Asche eines Lagerfeuers 353
von einem leichten Wind verweht wurde. Er fischte in der Tasche nach einem Schlüsselbund. »Es wird dem Jungen nicht schaden, wenn er lernt, dass Verantwortung zu tragen nicht bedeutet, sich die leichteste Arbeit zu suchen und Geld zu zählen.« Keisyl zog eine Tasche und eine zusammengerollte Decke aus einer kleinen, aus Steinen errichteten Schutzhütte und ließ das Schloss wieder einrasten. »Und ich komme wenigstens zu einem Bad.« Jeirran lachte, verstummte aber, als er den missbilligenden Blick sah, den Keisyl ihm zuwarf. Schweigend wanderten sie weiter, bis sie die schützenden Mauern der Feste erreichten, als die Sonne gerade hinter den schneebedeckten Gipfeln unterging. Keisyl klopfte ans Tor. »Wo ist Fithian?« Das Tor schwang auf. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange ihr noch braucht«, schimpfte Aritane. »Wo ist Fithian?«, wollte Keisyl wissen. »Ich habe ihn ausgeschickt, nach den Ziegen zu sehen.« Aritane ging an den dunklen, mit Schlagläden versehenen Gebäuden, die das Gelände säumten, vorbei zur Rekin. Keisyls Lippen wurden schmal. »Du beleidigst den Bruder meines Vaters, dass du ihn herumkommandierst wie einen Hütejungen?« Aritane blieb stehen, wo warmer Feuerschein über die Schwelle drang. »Ich wollte ihn aus dem Weg haben.« Keisyl betrat das Haus nicht. »Was gibt dir das Recht dazu?« Aritane zog verächtlich eine Augenbraue hoch, während sie sich nachlässig mit der Hand über ihr schlichtes graues Gewand fuhr. »Ein Mann seines Alters ohne väterliches Erbe oder eine Ehe als Empfehlung kann wohl kaum erwarten, dass andere an seiner Würde polieren.« 354
»Fithian ist nach dem Tod unseres Vaters geblieben, um meiner Mutter zu helfen. Er hat seinen Anteil Teiriol und mir überschrieben.« Keisyls Worte klangen gepresst vor Zorn. »Du weißt doch gar nichts von unserer Familiengeschichte.« Aritane wandte ihre Aufmerksamkeit Jeirran zu. »Du solltest lieber etwas essen. Und du brauchst ein Bad«, fügte sie hinzu, an Keisyl gewandt. »Ich bade, wenn ich mit allem anderen fertig bin.« Er nahm Jeirran den Korb mit Erz ab. »Ich will noch rasch einen Blick auf die Mühle werfen und vielleicht noch eine Erzprobe untersuchen.« Aritane machte auf dem Absatz kehrt und ließ die beiden Männer an der Tür stehen. »Mach das morgen«, drängte Jeirran. »Dann hast du Tageslicht, und ich helfe dir. Sobald wir diese Geschichte heute Abend erledigt haben, kannst du in einem richtigen Bett schlafen, sodass du morgen früh frisch bist.« Aritane rührte in einem Topf, der über dem Feuer hing. Keisyl knurrte der Magen bei dem würzigen Duft. Jeirran zuckte die Achseln. »Die Sheltya sind gewohnt, dass jeder auf ihren Befehl hin springt.« »Ich habe dich noch nie etwas sagen hören, dass einer Entschuldigung so nahe kommt«, spottete Keisyl. »Das hier muss dir wirklich wichtig sein.« »Es ist wichtig für Eirys und ihre Kinder«, fuhr Jeirran auf. »Wichtiger als deine Erzprobe.« Keisyl schwang den Korb mit Erz in einer Hand und ging ohne ein Wort hinaus. Das rötliche Licht warf Schatten auf Jeirrans Gesicht, die tiefer wurden, als er finster hinter ihm her starrte. Er schlug die Tür hinter Keisyl zu. Aritane kümmerte 355
sich unbeeindruckt um das Feuer in der Mitte des Raumes. »Iss«, befahl sie. Jeirran nahm eine dampfende Schale entgegen. Er hockte sich auf die lange Bank und schaufelte den dicken Eintopf mit Gemüsen und Kräutern geräuschvoll in sich hinein. Auf der Schieferplatte des großen Tisches lagen ein paar Notizen neben einem Berg von Lederzeug, während ein Stapel Flickarbeiten auf der Bank gegenüber lag. Aritane spähte in die gehämmerte Metallhaube, die über dem Feuer hing. »Irgendwas stimmt mit dem Abzug nicht.« »In jedem Raum dieser zugigen Feste stimmt etwas nicht«, sagte Jeirran mürrisch. »Das Dach der Rekin leckt, jeder Fensterladen ist verzogen, und die Feuerstellen in den Obergeschossen qualmen.« »Kein Wunder, dass Ismenia so wild darauf war, Eirys einen Ehemann nehmen zu lassen, der so zungenfertig mit Versprechungen und so großzügig mit seinem väterlichen Erbe war.« Aritane lächelte ohne Zuneigung. »Und du wirst mir helfen, diese Versprechen zu erfüllen«, entgegnete Jeirran. Die Tür ging auf, und beide drehten sich um, für einen Moment aus der Fassung gebracht. »Ich esse, dann bade ich«, sagte Keisyl langsam. »Warte das Tageslicht ab, wie du sagst.« Er leerte die Taschen seiner Hosen auf einen Schrank an der linken Wand, hängte seinen Umhang an einen Haken und nahm sich eine Schale Eintopf. »Ist genug heißes Wasser da?«, fragte er. »Ich habe den Ofen vorhin angezündet«, antwortete Aritane ein wenig von oben herab. »Ich werde ihn schüren.« Die beiden Männer sahen ihr nach, als sie in der Spülküche verschwand. »Hatte sie schon immer den Charme einer Tüte Nägel?«, frag356
te Keisyl mit vollem Mund. »Oder lernt man das bei den Sheltya?« Er aß schweigend und folgte dann Aritane. Jeirran stand auf und ging durch den großen Raum. Er prüfte, ob die Fenster verschlossen waren, verriegelte die Tür, spähte die dunkle Treppe hinauf und schloss und verriegelte auch diese Tür. Er ließ die Schlüssel fallen, als er sie in die Tasche stecken wollte und bückte sich mit einem unterdrückten Fluch, um sie aufzuheben. Dann ging er zum Feuer und hängte einen Kessel über die Flammen. »Ich werde Kontakt mit Eresken aufnehmen«, verkündete Aritane, als sie wiederkam. Sie nahm den Kessel aus den Flammen. »Ich verschwende keine Zeit mehr für Keisyls Bequemlichkeit!« »Schön«, sagte Jeirran. »Was soll ich tun?« Aritane ging zu einem Halbkreis aus Stühlen, die um einen Flickenteppich auf der rechten Seite des Raumes standen. »Warte einfach.« Sie stopfte sich mit ein besticktes Kissen in den Rücken. »Er sagte, er würde kommen, wenn ich ihn riefe, dann wäre er kurz darauf hier.« »Wie Sheltya?« Jeirran setzte sich auf das eine Ende der langen Bank. »Wie kommt es, dass ihr immer da seid, wo man euch haben will? Genau dann, wann ihr gebraucht werdet?« »Das geht dich nichts an«, gab Aritane mit gewohnter Kälte zurück. »Sei jetzt still.« Aritanes fiel in einen wechselnden Atemrhythmus und verbarg das Gesicht in den Händen. Das Knistern des Feuers war das einzige Geräusch im Raum. Jeirran beobachtete sie gespannt, bis ein plötzlicher Schauder ihn aufspringen ließ. Er zündete einen Fidibus am Herd an und ging durchs Zimmer, um die Lampen auf dem Tisch, auf dem Schrank an der Treppe und auf den Ständern zu beiden Seiten der Tür zu entzünden. 357
Er fuhr zusammen, als die Tür zur Spülküche aufging, doch es war nur Keisyl, der überrascht auf das Lichtermeer starrte, während er sich die Haare trockenrieb. »Pssst.« Jeirrans Stimme klang gepresst vor Anspannung. »Stör sie nicht.« Keisyl schaute unruhig zu Aritane, und beide Männer erstarrten, als sie einen langen, schaudernden Atemzug tat. Sie hielt einen Moment die Luft an, ehe sie langsam ausatmete und die Augen aufschlug, in denen sich Genugtuung und Freude spiegelten. Ihre Lider waren schwer, die Pupillen groß und dunkel. »Und?«, fragte Jeirran begierig. Aritane schien weder Keisyls zweifelnden Blick noch Jeirrans Frage zu bemerken. Der Riegel der Tür hob sich mit einem plötzlichen Klicken. »Darf ich euer Heim betreten?« Die Gestalt auf der Schwelle war in einen langen dunklen Umhang gehüllt, dessen Kapuze hochgeschlagen war und das Gesicht im Schatten ließ. Er hatten einen rauen Akzent, sprach jedoch fließend die Bergsprache. Aritane sprang auf. »Du bist uns herzlich willkommen«, sagte sie eilig und strich ihr Gewand glatt. Der Fremde trat ein und zog seine Kapuze ab, um ein langes, eckiges Gesicht zu enthüllen, das gleichzeitig denen im Raum ähnlich war und doch fremd, beherrscht von durchdringenden grünen Augen. Sein Haar war kaum hell genug, als dass man es blond hätte nennen können; es war eher hellbraun als golden. »Aritane!« Ihr Name war eine Liebkosung auf seinen Lippen. Er nahm ihre Hände und hauchte einen Kuss auf ihre Handfläche. »Meine Schwester ist die Herrin dieses Hauses«, Keisyls Wor358
te klangen heiser, und er hustete. »Ich bin hier, um dich an ihrer statt willkommen zu heißen«, schloss er mit mühsamem Lächeln. Der Neuankömmling machte eine tiefe Verbeugung. »Ich fühle mich geehrt.« Jeirran rieb sich die Hände. »Bist du weit gereist? Lass mich deinen Mantel nehmen. Darf ich dir eine Erfrischung anbieten?« Ein schwaches Lächeln legte sich auf das Gesicht des Fremden. »Es war eine lange Reise. Ja, ich hätte gern etwas zu trinken.« Er öffnete die Brosche, die seinen weiten Umhang hielt, der so schwarz war wie die Schatten draußen. Keisyl trat vor, um ihn entgegenzunehmen. Unter dem Umhang trug der Besucher schwarzes Leder. Die äußeren Nähte der enggeschnittenen Hosen waren mit silbernen Nieten verziert; die Schulterpartie des gegürteten Wamses zeigte ebenfalls ein Nietenmuster. Eine goldene Halsberge schützte seine Kehle, und aus der Steifheit des Leders schloss Keisyl, dass sich unter den Unterarmen und der Brust des Kleidungsstückes Metallplättchen befanden. Der dunkle Umhang hätte von irgendwo zwischen den Bergen und dem Meer stammen können, doch so etwas wie die kriegerische Kluft des Mannes hatte Keisyl noch nie gesehen. Aritane kam mit einem Tablett, auf dem eine Kristallkaraffe und kleine vergoldete Gläser standen, die im Lampenlicht funkelten. Als sie ihren Besucher ohne Umhang sah, zitterten ihre Hände einen Augenblick, sodass die Gläser wie Glöckchen klirrten. »Bitte, setz dich und mach es dir bequem.« Sie schenkte ein wenig von der klaren Flüssigkeit ein. Ihre Hände waren jetzt ganz ruhig, als ein scharfer Duft nach Früchten die Luft erfüllte. »Eresken, dies ist Jeirran, und das ist Keisyl, der Bruder seiner Frau.« 359
Eresken hob sein Glas in stummem Gruß, ehe er daran nippte. »Sehr gut«, sagte er bewundernd. »Die Frauen machen es selbst.« Jeirran gewann seine Beherztheit zurück. »Meine Eirys gibt Moltbeeren dazu.« »Dann muss ich ihr zu ihren Künsten gratulieren«, sagte Eresken. Keisyl setzte sich nicht. »Was bietest du als Gegenleistung für ihre Gastfreundschaft?« »Ich bewundere einen Mann, der die Interessen seines Haushalts schützt.« Eresken nickte; dann schaute er Jeirran an, ohne dass seine grünen Augen blinzelten. »Ich kam, um Hilfe anzubieten. Wie kann ich euch am besten dienlich sein?« »Wir diskutieren noch darüber, wie wir vorgehen wollen«, erwiderte Jeirran. »Die Sonnwendsonne wird Licht auf die Frage werfen, wenn sie die Gebeine der Soke bewegt«, fügte Aritane hinzu. »Und wir werden uns diesem Rat fügen.« Keisyl sah die anderen an, um Zustimmung bittend und besänftigt, als er sie nicken sah. Der Neuankömmling schaute Jeirran unverwandt an. »Wir werden beide bedroht von jenen, die Tormalin entsprungen sind. Wir beide wollen die Länder beherrschen, auf die wir ein Anrecht haben, ohne Bedrohung oder Furcht. Wir haben gemeinsames Blut, das uns aneinander bindet.« »Wo genau kommst du her?«, fragte Keisyl. Eresken wandte sich ihm zu. »Von Inseln weit draußen im Meer, viele Segeltage vom östlichsten Punkt des Festlandes entfernt. Mein Volk hat diese Küsten vor vielen Generationen verlassen. Wir haben zahllose Jahre auf den rechten Augenblick gewartet, den Tag unserer Rückkehr.« 360
»Dann seid ihr wirklich Alyatimm?« Keisyl schluckte schwer. »Wir nennen uns Elietimm.« Eresken lächelte. »Vor vielen Generationen mögen unsere Vorväter vielleicht Alyatimm gesagt haben, aber was hat das schon zu bedeuten?« Keisyl fühlte, dass ihm etwas Wichtiges entging. Er schüttelte den Kopf, als Aritane ihm die Taukaraffe anbot. Alkohol nach einem anstrengenden Tag und einem heißen Bad würde ihm den Kopf vernebeln. »Wir können eine ziemlich stattliche Truppe aus den Soken in der Umgebung aufstellen.« Jeirran schritt um die Feuerstelle. »Warum sollten wir warten? Wir können diese stinkenden Hütten und Schuppen im Tal vernichten! Dann werden sich noch mehr Männer um uns scharen. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir die Minen zurückerobern, die die Schlammfüße uns gestohlen haben, und wir überlassen jedem Mann, der sich uns anschließt, einen Anteil für sein Erbe.« »Und schneller als Spucke trocknen kann, schicken die Tiefländer eine doppelt so große Miliztruppe herauf, die gegen uns kämpft.« Keisyl gähnte; die Müdigkeit lastete schwer auf ihm. »Dann schicken wir ihnen ihre Pferde zurück – mit den Toten über dem Sattel!« Jeirran nahm sich noch einen Schluck. »Es liegen gewissen Vorteile darin, wenn man den Feind die Dinge in Bewegung setzen lässt und die eigenen Schritte den seinen angleicht«, sagte Eresken nachdenklich. »Wir müssen die Einzelheiten eures Plans durchsprechen, um zu sehen, wo ich behilflich sein kann.« Keisyl kämpfte gegen ein neuerliches Gähnen. »Welche Hilfe kannst du uns denn anbieten?« »Ich habe Truppen befehligt und gekämpft, um mein Land und meine Familie zu verteidigen«, antwortete Eresken mit 361
einem Lächeln. Keisyl öffnete den Mund, um zu fragen, wer der Feind gewesen war, doch letztendlich war es ihm gleichgültig, und er sagte stattdessen: »Ich gehe ins Bett.« Eresken stand auf und verbeugte sich vor ihm. Keisyl schüttelte leicht benommen den Kopf, schloss die Tür auf und stapfte erschöpft die Treppe hinauf. »Du kannst dir ein Bild von der Lage machen, während ich die Männer zusammenrufe.« Jeirran ging wieder unruhig auf und ab. »Und du kannst Verbindung zu deinem Volk im Osten aufnehmen. Ein Zangenangriff wäre das Beste. Wir zünden hier ein Licht an, das über die ganzen Berge strahlt, bis zum Meer! Das wird jedem räuberischen Tiefländer Beine machen, unser Land zu verlassen!« Eresken setzte sich und nahm Aritanes Hände. »Hast du mit deinen Freunden gesprochen? Hast du den Zaubersang benutzt, den ich dich lehrte?« »Ich habe Verbindung mit Cleris und Bryn aufgenommen.« Aritane lächelte scheu. »Ich lehrte Bryn den Zauber, und Cleris versuchte zu lauschen, während ich ihn aufsuchte. Sie konnte keinen von uns finden.« »Ich sagte dir ja, dass es funktioniert.« Eresken verstärkte seinen Griff. »Sehen sie die Weisheit darin, ihre Rechte mit ihren eigenen Fähigkeiten zu beanspruchen?« »O ja.« Aritane nickte. »Und es werden noch andere dabei sein. Cleris kennt mehrere Sheltya im Mittelgebirge, die so unhöflich behandelt werden, dass es einer Beleidigung gleichkommt.« Eresken küsste wieder Aritanes Handfläche. Sie wurde tiefrot und warf einen Blick auf Jeirran, der jedoch noch immer das 362
Feuer umkreiste und die besten Aussichten für den Kampf mit sich selbst besprach. »Wir müssen seine Begeisterung fürs Blutvergießen dämpfen, bis wir ausreichend Männer für eine schlagkräftige Armee haben.« Eresken schaute Aritane aufmerksam an. »Wir brauchen Sheltya, die so wahrnehmungsfähig sind wie du. Sobald wir Macht haben, die unsere physische Stärke unterstützt, mache ich dich zur Königin dieses Landes, du Freude meines Herzens. Niemand von deinem Blute muss je wieder Angst vor den Tiefländern haben.« »Und was ist mit deinen Verwandten, deiner Heimat?« Aritane kämpfte um Worte; ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Die Heimat ist dort, wo das Herz ist.« Eresken hauchte einen Kuss auf Aritanes Wange, als er aufstand, ging zu Jeirran und packte ihn an den Schultern. »Die Tiefländer werden nicht wissen, was sie getroffen hat! Ein großes Schicksal wartet auf dich, mein Freund. Ich bin glücklich, Anteil daran zu haben!« »Es ist schon spät. Ich werde dir eine Wärmflasche ins Bett legen.« Aritane nahm einen Stein vom Rand des Feuers und fummelte mit einem Stück Flanell herum. »Ich habe das Tor nicht verriegelt, als ich hereinkam.« Eresken ließ Jeirran los. »Ich war nicht sicher, ob noch andere kommen.« »Was?« Jeirran wirkte für einen Augenblick benommen. »Ich kümmere mich darum.« Als er die Haupttür hinter sich schloss, verschwand Aritane die Treppe hinauf. Der plötzliche Luftzug ließ das Feuer aufflackern, und Funken stoben zu der darüber hängenden Haube. Eresken ging in 363
die Mitte des Raumes, und beide Türen schlugen auf seinen heiseren Befehl von selbst zu. Nach drei raschen Atemzügen schloss er die Augen. Als er sie wieder aufschlug, war das lebhafte Grün verschwunden und durch ein berechnendes Braun ersetzt, und als Eresken den Mund aufmachte, erklang eine andere Stimme in der Stille, eine ältere Stimme, die eigenartig hohl klang, als käme sie aus weiter Ferne. »Sind sie offen für dich?« »Beide so leer wir Neugeborene.« Ereskens Tonfall war kalt und triumphierend. »Was für Künste die Sheltya heutzutage auch lehren, Abwehr scheint nicht hoch im Kurs zu stehen.« »Dann hat sich nichts verändert.« Die andere Stimme klang verächtlich. »Sind sie für unsere Zwecke bereit?« »Mit der rechten Ermutigung«, sagte Eresken zuversichtlich. »Wird der Bruder uns Scherereien machen?« »Er stinkt nach Misstrauen gegenüber Jeirran und allem, was er tut. Das Einfachste wäre, ihn zu entmutigen.« »Was ist mit dem Rest des Haushalts? Wirst du abreisen, ehe sie zurückkehren?«, fragte die ferne Stimme. »Ich glaube nicht, wo ich schon einmal hier bin. In der Frau konnte ich lesen, dass es ohnehin nur wenige sind, die sich mit wenig Aufwand leicht beherrschen lassen.« »Dann mach dich an die Arbeit«, befahl die unnatürliche Stimme. Eresken blinzelte. Seine Augen zeigten wieder ihr leuchtendes Grün, und ein Lächeln lag auf seinen dünnen Lippen, als die Türen sich auf seinen Befehl hin wieder öffneten.
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6.
Drachen waren keineswegs die Gefahr, die ich in Gidesta gefürchtet hatte, doch wir konnten sie im Frühling über uns fliegen sehen, manchmal auch im Herbst, wenn sie in den Tälern auf Jagd gingen. Hier ist eine der vielen Mythen, in denen sie auftauchen. Maewelin schuf ein Tal grün und voller Stille. Und einen baumumsäumten See mit bunten Blumen. Die eifersüchtigen Lindwürmer stiegen auf aus den Tiefen und störten den Frieden. Maewelin sah die Trümmer der Schönheit, die sie geliebt. Sie erflehte Misaens Hilfe, er ließ seine Schmiede erkalten und kämpfte gegen die Lindwürmer. Sein Hammer zerschlug ihre Fänge, und sie flohen in die Finsternis, doch Misaen verfolgte sie. Ein Lindwurm rief vom Felsen, er würde Misaens Gebeine zermalmen, doch Misean zerschmetterte den gewaltigen Fels zu Staub, dass der Lindwurm erstickte. 365
Der Nächste spie tödliche Luft, doch Misaen rief einen Sturm herbei, der den Lindwurm zerriss. Ein anderer Wurm weinte einen Strom heißer Tränen, der so tief und reißend war, dass in den Wassern alles ertrank. Doch Misaen ließ die Flut gefrieren, und der Lindwurm starb im Eis. Der Letzte, bösartig und grausam, spie Feuer, den Himmel zu versengen, doch Misaen löschte seine Flammen mit Staub und Luft und Eis, legte den Lindwurm in Ketten und trug ihn in seine Schmiede. Und die heißen Flammen des Untiers entfachten Misaens Feuer aufs neue, und so schmiedete er die Sonne.
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Das Obere Pasfal-Tal 13. Vorsommer
»Komm schon, Zauberer! Noch langsamer, und deine Läuse steigen ab und gehen zu Fuß!« Ich sah, dass ‘Gren, seinen munteren Worten zum Trotz, an einem großen Felsbrocken lehnte, als er Usara neckte. »Es würde auch euch nichts schaden, es ein bisschen langsamer angehen zu lassen«, gab ich zurück. »Die Luft hier oben ist dünner als ein streunender Hund!« Das war zwar übertrieben, doch ich fand den ständigen Aufstieg ziemlich mühsam. Wenigstens ging ein leichter Wind, der uns in der Frühsommersonne Kühlung verschaffte. Ein Schmetterling flog vorbei; seine Flügel waren so strahlend blau wie der Himmel über uns. Sorgrad, der uns ein Stück voraus gewesen war, saß im struppigen Gras, das den schmalen Pfad säumte. »Wir können genauso gut Rast machen und etwas essen, ehe wir weitergehen.« Usara ließ sein Gepäck mit dumpfem Aufprall zu Boden fallen. »Wie weit ist es denn noch bis zum nächsten Dorf?«, fragte er schwer atmend. Sorgrad schüttelte den Kopf. »Jetzt kommen keine Dörfer mehr, nicht in dieser Höhe. Das hier ist Anyatimm-Gebiet. Westlinge halten sich an die alten Wege.« »Wenn es hier keine Dörfer gibt, wo wohnen diese Westlinge dann? Und wo können wir Unterkunft bekommen?« Ich schaute von dem Öltuchbeutel mit Proviant auf, den ich mir im letzten Weiler von kleinen, kräftig gebauten Frauen mit hellen Haaren 367
und Augen erschmeichelt hatte. »Wir machen an der nächsten Siedlung Halt«, erwiderte ‘Gren. »Jeder Reisende hat das Recht, um Feuer, Nahrung und Unterkunft zu bitten.« »Was auch gern gewährt wird, weil jeder weiß, dass es ihm genauso ergeht, wenn er auf Reisen ist«, fügte Sorgrad hinzu. »Es ist ein raues Land. Wenn man hier überleben will, muss man zusammenarbeiten.« Ich nickte, weil ich die Kargheit unter der dünnen Erdkruste sah und die kurzlebigen Blüten, die im Schein der Sonne strahlten. Nach dem Vorherbst würde ich nicht mehr gern hier oben sein. »Wer sind denn diese Leute im Tal?« »Tiefländer.« ‘Gren streckte die Hand aus, und ich legte ein Stück Schafskäse und Brot hinein. »Sie sahen aus, als würden sie aus den Bergen stammen«, meinte Usara, der inzwischen wieder zu Atem gekommen war. »Manche Anyatimm haben Tiefland-Frauen geheiratet«, erklärte Sorgrad, »aber sie gelten nicht mehr als Blutsverwandte.« Ich kaute nachdenklich auf meinem Brot, nicht gerade das beste, das ich je gegessen hatte, aber es war wenigstens locker aufgegangen und in einem anständigen Ofen gebacken. »Ist das wichtig?« Ich pulte mir einen Kern zwischen den Zähnen hervor. »Ja, für die Westlinge bestimmt. Sobald ein Mann die Berge verlässt, kann er nur schwer zurück. Ist er mit einer Tiefländerin verheiratet, ist es praktisch unmöglich.« Sorgrad nahm einen Wasserschlauch von seinem Gürtel und trank. Ein leises Tschirpen im hohen Gras war das einzige Geräusch in der Stille. Ich fragte mich, wie weit wir von Selerima entfernt waren. Wir waren vom Nachfrühling direkt in den Vorsommer 368
gewandert, nach meiner Schätzung fast eine halbe Jahreszeit lang. Die schmucken kleinen Städtchen von Solura, die in dem üppigen Flusstal gediehen, waren kleineren Dörfern gewichen; hier wurden Rinder gezüchtet und auf wenig fruchtbarem Land Getreide angebaut. Ich schaute mich beim Essen um. Meine Verwunderung über dieses Land verging nur langsam. Die sanften Hügel mit dem üppigen grünen Gras waren dunklen Bergen gewichen, deren Hänge mit Heidekraut und Beerenbüschen bewachsen waren, durchzogen von Geröllflächen und Wassermühlen. Wir kamen nun langsamer voran, und es gab Tage, da ich mich fragte, ob wir den gewaltigen Gipfeln, die bis in den Himmel zu ragen schienen, überhaupt näher kamen. Jetzt erkannte ich auch, dass die Entfernungen mich getäuscht hatten: Was aus der Ferne wie strauchartiger Bewuchs über den kahlen Hängen gewirkt hatte, entpuppte sich nun als Wald, der es mit dem des Waldvolks aufnehmen konnte. Unbekannte Nadelbäume mischten sich mit hohen Birken, die dicht auf den steilen Hängen wuchsen. Es gab keine Straßen mehr, die diesen Namen verdienten, und kaum noch Pfade. Es war ein riesiges, entmutigendes Land, und ich fühlte mich sehr klein und unbedeutend inmitten dieser Gewaltigkeit. Auf der gegenüberliegenden Seite dieses Tales konnte ich die schwarze Schneise eines Waldbrandes sehen, die jetzt einen Hauch von frischem Grün trug. Dahinter ragte eine zerklüftete Felswand aus einem Dickicht aus Gras und Schößlingen hervor; ein Bach stürzte über die scharfe Kante und zerstob in einen Regenbogennebel. Noch weiter entfernt bildete eine Reihe abgeflachter Felsen die Wand eines Tales, das dahinter in einer der zahlreichen Falten dieses Gebirges lag, ohne dass man ahnen 369
konnte, wie weit entfernt, wie tief oder wie lang gestreckt es sein mochte. Die gestreifte und gesprenkelte Fläche einer Felswand bewegte und veränderte sich, als eine Wolke sich zwischen sie und die Sonne schob. Noch weiter entfernt erhob sich ein sägezahnförmiger Gipfel, gefleckt mit Schnee und Felsen, der wiederum nur der nächste der gewaltigen Berge war, die sich die Wolken um ihre Schultern zogen. »Sind das die hohen Gipfel?«, fragte ich Sorgrad. »Nein, nur die südlichen Ausläufer. Das Land fällt dahinter wieder ab, in eine Wildnis aus Seen und Ebenen. Die höchsten Gipfel liegen eine Jahreszeit weiter nördlich.« Er blickte zum Himmel; seine Miene war nicht zu deuten. »Und wo genau sind wir jetzt?«, fragte Usara stirnrunzelnd. »Hachalsoke.« ‘Gren machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm. »Das Zuhause der Hachalkin.« »Eine Familie besitzt dieses riesige Stück Land?« Usaras Verwirrung war nicht verwunderlich. Man konnte ganz Hadrumal mit all seinen Zauberern in dem breiten Tal unterbringen, dessen Hänge wir gerade hinaufgestiegen waren. »Man muss wissen, dass die Dinge hier oben ganz anders sind«, sagte Sorgrad. »Dann erzähl uns davon«, forderte ich ihn auf. »Wir wollen niemandem auf die Füße treten, indem wir etwas Falsches sagen.« »Ihr müsst aufpassen, was ihr sagt, ihr beide.« Sorgrad sprach mit tödlichem Ernst. »Dies ist nicht der Wald, in dem jeder an neue Gesichter und neue Ideen gewöhnt ist. Die Dinge gehen hier oben langsam, und es ändert sich nur selten etwas. Die Soken haben guten Grund, Besuchern gegenüber misstrauisch zu sein. Ganze Sippen sind durch Krankheiten vernichtet wor370
den, die Reisende eingeschleppt hatten.« Ich konnte keine Spur davon entdecken, dass eine Hand oder ein Stiefel je dieses Land berührt hatte. »Weißt du, wo die nächste Ansiedlung ist?« Sorgrad deutete mit der Hand die Richtung an. »In diesem vorspringenden Tal, wo der Fluss zum See hinunterfließt. Eine Feste braucht Wasser, Schutz und Bauholz in der Nähe. Sie wird auf halbem Weg zwischen den Sommer- und den Winterweiden liegen, hoch genug für die Jagd und den Erzabbau, und nicht allzu weit vom Haupttal entfernt, um die Metalle und Felle zum Handeln und Tauschen dorthin zu bringen.« »Und was unterscheidet diese Siedlung von einem Dorf?« Usaras Gesicht verriet nicht gerade Begeisterung, während er das Gelände betrachtete, das wir überwinden mussten. »Jede Feste wird nur von einer Sippe bewohnt«, antwortete Sorgrad. »Vielleicht fünfzig oder mehr Leute leben in einer großen Soke, die Kinder nicht mitgezählt, und alles ist eine Familie.« »Wie, in Drianons Namen, geht das? Gibt es da nicht ständig Streit?« Für mich waren Familienbande gleichbedeutend mit der Missbilligung durch eine Schar von Tanten sowie dem ständigen Spott meiner Großmutter über mein Waldblut. »Und was ist, wenn die Leute sich nicht ausstehen können?« Sorgrad machte eine Pause, ehe er antwortete. »Du musst wissen, dass die Familie in den Bergen alles ist. Anyatimm gehören mehr zum Land, als dass es ihnen gehört. So ist es schon, seit Maewelin die Berge schuf und Misaen die Menschen schmiedete. Eine Soke ist ebenso eine Blutlinie wie ein Territorium, und beide sind das Privileg der Frauen, sie sind seine Hüter.« 371
»Die älteste Tochter erbt?«, hakte ich nach, als Sorgrad verstummte. Ich hatte ihn den ganzen Weg hier herauf vor Usaras drängenden Fragen geschützt, aber jetzt war es Zeit, dass er die Runen so legte, dass alle sie sehen konnten. »Es ist anders als das Land der Tormalin, das man besitzen, kaufen und verkaufen kann«, sagte er schließlich. »Jede Tochter erhält einen Anteil an den Mitteln der Soke: an den Tieren, die dort gefangen oder geweidet werden können, an dem Metall oder den Edelsteinen, nach denen man schürfen kann. Die Rechte sind an das Blut gebunden. Wenn eine Frau keine Töchter hat, die ihr nachfolgen können, gehen die Rechte zurück an die Mutter und einen anderen Zweig hinunter, an die Schwester oder Nichte.« »Und die Männer machen die ganze Arbeit«, maulte ‘Gren. Ich reichte ihm ein Stück Honigkuchen, um ihm den Mund zu stopfen. »Die Männer machen die körperliche Arbeit«, stellte Sorgrad richtig. »Sie sind oft eine halbe Jahreszeit lang in den Bergen, ohne heimzukommen. Aber das ist ihre Hälfte der Vereinbarung, die am Herd der Rekin besiegelt wurde. Dort wird ein Stein eingemauert, wenn ein Junge seinen neunten Sommer erreicht und seine Mutter verlässt, oder wenn ein Paar heiratet, oder wenn eine ältere Schwester ihrem Sohn oder ihrer Tochter ihre Rechte übergibt. Der Herd ist das Herz der Rekin, der Burgfried, würdest du vielleicht sagen. Die Rekin wiederum ist das Herz der Feste, und die Feste ist das Herz der Soke. Die älteren Männer, die noch rüstig sind, und die jüngeren Knaben hüten die Ziegen, während die kräftigen Männer im Winter Fallen stellen und im Sommer in den Minen arbeiten. Ein Sohn schuldet seinem Vater seine Arbeitskraft, bis er im siebenundzwan372
zigsten Jahr ist. Hier oben arbeitet ein Mann dafür, seinem Sohn Geld und Werte zu hinterlassen, der dieses Erbteil zu einer anderen Soke mitnimmt, wenn er heiratet. Die Frauen arbeiten in der Rekin und der Feste; sie kochen, weben, spinnen, gerben Leder und erziehen die Kinder.« »Merkwürdig«, sagte Usara. »Nicht merkwürdiger, als jemanden dafür zu bezahlen, dass man ihm die Tochter mit einer Mitgift abnimmt und der älteste Sohn dafür auf dem Todesbett alles an sich reißt«, lachte Sorgrad. »Auch über die Tiefland-Sitten haben wir uns zuerst gewundert, nicht wahr, Sorgren?« Ich teilte den Rest des Kuchens aus und überlegte mir meine nächsten Worte sorgfältig. »Und was hat euch dann ins Tiefland geführt?« Die Brüder tauschten einen zurückhaltenden Blick. »Nicht nur das Waldvolk hält es für ein schlechtes Zeichen, wenn man unter dem Neumond beider Monde geboren wird«, gestand ‘Gren. »Als ich draußen in den Minen war, wurde ich für jeden Unfall, jedes Pech verantwortlich gemacht.« Er zuckte die Achseln. »Irgendwann hatte ich es satt und bin verschwunden.« »Und ich bin mit ihm gegangen.« Sorgrads blaue Augen blickten in unergründliche Fernen. »Als mittlere Söhne einer großen Familie hat uns niemand vermisst.« »Habt ihr hier in diesen Bergen gelebt?« »Nein, auf der anderen Seite der Schlucht, im Mittelgebirge.« »Es hatte also nichts damit zu tun, dass ihr Magiegeborene seid?«, fragte Usara. Es dauerte eine Sekunde, bis meine Ohren meinen Verstand davon überzeugt hatten, dass ich richtig gehört hatte. 373
Sorgrad starrte Usara an. »Was hast du da gesagt?« »Ich fragte«, erwiderte Usara, »ob eure Entscheidung, die Berge zu verlassen, damit zusammenhing, dass ihr Magiegeborene seid.« »Unsinn, Zauberer!«, rief ich. »Die Luft hier oben ist wohl zu dünn für dich!« Doch noch während ich sprach, sah ich, wie ‘Gren Sorgrad anschaute und wusste, dass es die Wahrheit war. »Warum habt ihr mir das nie gesagt?«, fragte ich fassungslos. Sorgrads Augen blitzten zornig. »Wann hat das je eine Rolle gespielt? Du hast immer gesagt, Magie bringt nur Ärger, und ich stimme dir zu. Niemand wollte mir auf Armeslänge nahe kommen, nachdem sich der Zunder von allein in meiner Hand entzündet hatte! Auf meiner ersten Winterjagd hatte ich mich drei Tage lang in einem Schneesturm verirrt, und alle behaupteten, der Wind wolle mich für sich beanspruchen ...« »Der Wind? Ich dachte, deine Affinität gällte dem Feuer«, unterbrach ihn Usara. »Ich hätte merken müssen, dass du geholfen hast, Zenela zu wärmen. Was genau hast du empfunden, als ...« »Sei doch still«, befahl ich dem Zauberer abrupt. »Seid ihr freiwillig gegangen oder hat man euch fortgeschickt?« »Ich wurde verbannt«, sagte Sorgrad mit kummervoller Stimme, ohne auf Usara einzugehen. »Trotzdem, es hätte schlimmer kommen können. Die Mittelgebirge sind noch nicht völlig von den alten Wegen abgekommen wie die Ostlinge oberhalb von Gidesta, aber auf dieser Seite der Schlucht würden die Westlinge wahrscheinlich immer noch jeden umbringen, der Misaens Zeichen trägt.« Sein Lächeln war dünn und freudlos. »Gibt es noch etwas zu essen?« ‘Gren nahm den Öltuchbeutel aus meinen tauben Händen. »Aber wo habt ihr eure Ausbildung bekommen?«, wollte Usa374
ra gereizt wissen. »Ich habe euch jeden Schritt in dieses Tal hinauf beobachtet. Es ist eure Beherrschtheit, die mich die ganze Zeit unsicher macht. Eine solche Disziplin muss man lernen – von einem fortgeschrittenen Lehrmeister. Welcher Zauberer hat euch unterwiesen, ohne euch entweder nach Hadrumal zu schicken oder wenigstens den Erzmagier zu informieren?« »Wir hatten nie etwas mit Zauberern zu schaffen.« ‘Gren sprach undeutlich, denn er hatte den Mund voll Trockenfrüchte. »Erst als unser Mädchen hier uns zusammengebracht hat.« »Mich hat niemand etwas gelehrt«. Sorgrad schüttelte den Kopf. »Für mich bedeutet Magie nichts als Ärger.« »Das kann nicht sein.« Usara wurde rot. »Es gibt keine Möglichkeit, Magie zurückzuhalten, es sein denn, man wurde darin unterrichtet ...« »Wenn du mich einen Lügner nennst, Magier, solltest du besser ein Messer zur Hand haben«, sagte Sorgrad leise. Ich musste für Ablenkung sorgen, ehe es zum Blutvergießen kam, und schnippte mit den Fingern. »Waren es Unheil verkündende Runen, die du gemeint hast, als du sagtest, du wärst geboren, um gehängt zu werden?«, fragte ich ‘Gren etwas zusammenhanglos. Er nahm den finsteren Blick von Usara und schaute mich an. »Das haben die Sheltya gesagt.« »Und genau wer sind diese Sheltya? Ein herrschender Clan, die regierende Blutlinie?«, tastete ich mich vor. »Du denkst noch immer wie ein Tiefländer«, tadelte Sorgrad mich. »Niemand beherrscht die Anyatimm. Jede Soke ist für ihre eigenen Angelegenheiten verantwortlich.« »Das ist ja alles gut und schön, wenn derjenige, der die Verantwortung trägt, sich gerechtem Handeln verpflichtet«, sagte 375
ich vorsichtig. Sorgrad nickte. »Und da kommen die Sheltya ins Spiel.« Er blickte wieder gedankenverloren drein. »Sie stehen außerhalb des Blutes, trotzdem sind sie vom Volk, aber frei von Bindungen und Vorurteilen. Wenn ein Streit nicht beigelegt werden kann, schlichten sie. In den alten Tagen gab es abscheuliche Fehden. Ein Streit konnte eine ganze Sippe verschlingen.« »Eine Fehde wegen Diebstahls dauert drei Jahre«, ergänzte ‘Gren. »Neun Jahre für Gewalttätigkeiten. Siebenundzwanzig Jahre, wenn es einen Todesfall gegeben hat.« »Da muss ja jeder sehr beschäftigt sein«, meinte ich. »Meist verhindern die Sheltya, dass es in einer Soke zu Blutvergießen kommt. Und wenn sie einen Kampf nicht verhindern können, betätigen sie sich als Heiler.« Sorgrad lächelte. »Sie sind Lehrer, Philosophen. Sie bewahren die alten Sagen und sollten der Sitte nach vor jeder Eheschließung um Rat gefragt werden, falls zwei Soken zu eng miteinander verwandt sind. In meiner Kinderzeit, war es ein seltsamer alter Mann, der die Entscheidungen traf.« »Woher hatte er diese Vollmacht?« Usara schlang die Arme um seine dünnen Knie, gespannt auf dieses neue Rätsel. Sorgrad beachtete ihn nicht. »Sobald er gesprochen hatte, war sein Wort Gesetz. Selbst mein Vater wollte nichts dagegen einwenden – und ich hatte erlebt, wie er sich einem aus dem Winterschlaf aufgeschreckten Bären entgegenstellte, ohne mit der Wimper zu zucken.« »Also ist ihr Wort Gesetz?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Die Sheltya verloren damals schon an Einfluss in den Mittelgebirgen. Mein Vater konnte meiner Verbannung nicht widersprechen, aber er verhinderte meinen 376
Tod, den dieser seltsame alte Bastard zuerst verlangt hat. Und noch meine Großmutter bestand darauf, dass die Sheltya gerufen wurden, wenn eine Hochzeit bevorstand, aber nach ihrem Tod berieten meine Mutter und die anderen Frauen meist untereinander über eine Eheschließung.« »Aber du glaubst, es gibt sie noch immer in diesen Bergen?«, fragte ich Sorgrad. »Wenn sie überhaupt noch irgendwo sind.« Er nickte. »Und wenn irgendwelche Anyatimm Äthermagie kennen, dann sind es die Sheltya. Sie sind diejenigen, mit denen du über dieses Buch da reden müsstest, da bin ich mir sicher.« »Wenn sie dich wegen deiner Magiegeborenheit verbannt haben, was halten sie dann von Zauberern?«, überlegte ich laut. »Werden sie erkennen, dass Usara einer ist?« »Das kann ich nicht sagen.« Er warf Usara einen durchdringenden Blick zu. »Tu nichts, was dich verraten könnte.« Ich nahm ‘Gren den Proviantbeutel weg und schüttelte die paar übrig gebliebenen Krümel heraus. »Wir sollten lieber weitergehen, wenn wir die Feste noch vor Sonnenuntergang erreichen wollen.« Usara erhob sich müde und starrte voller Abneigung auf seinen Rucksack. »Wir hätten den Esel behalten sollen.« »Und womit füttern? Mit frischer Luft und freundlichen Worten?«, fragte Sorgrad. »Es gibt doch reichlich Gras«, wandte der Zauberer ein. »Das sind die Winterweiden für die Ziegen der Soke.« Sorgrad schüttelte spöttisch den Kopf. »Hier oben lässt man seine Tiere nicht einfach an das Futter anderer.« Usara schniefte laut, als er seinen Rucksack schulterte und sich auf dem schmalen Pfad in Bewegung setzte. ‘Gren wander377
te hinter ihm, und ich ging etwas langsamer mit Sorgrad. »Hast du deshalb deine schönen Sachen und deinen Schmuck unterwegs verkauft?« Er zog den Riemen seines Ranzens zurecht, der sich an seinem Gürtel verhakt hatte. »Ja. Außerdem wollte ich eine dicke Geldbörse vorweisen können, falls jemand sich fragt, warum wir hier oben umherwandern. Ich könnte einen jüngeren Sohn aus guter Familie spielen, der sich beim Handel mit den Tiefländern ein kleines Vermögen erworben hat und sich jetzt mit einer schönen und gebildeten Braut in einer bequemen Rekin niederlassen will.« »Und du meinst, sie werden dich willkommen heißen?«, fragte ich. Sorgrad zuckte die Achseln. »Vielleicht. Wir alle kennen die Gefahren, wenn Menschen heiraten, die zu nah miteinander verwandt sind, aber Fremde bringen eigene Gefahren mit sich. Es ist eine Tatsache, dass Bergfrauen, die Tiefländer heiraten, sehr viel mehr Fehlgeburten und Totgeburten erleiden.« Ich schnitt eine Grimasse. »Und was ist mit ‘Gren?« »Er zieht mit uns. Niemand, der seinen Verstand beisammen hat, reist im Bergland allein«, sagte Sorgrad. »Selbst das schönste Wetter kann sich in kürzester Zeit in Sturm und Nebel verwandeln.« »Und ich eine Balladensängerin, die mehr über ihr Liederbuch lernen möchte, ja? Aber was ist mit Usara? Du hast ihn singen gehört. Niemand wird je glauben, dass er ein Sänger ist.« »Aber Geschichtsgelehrter! Die Sheltya bewahren schließlich die Sagen.« Sorgrad sog zischend die Luft durch die Zähne. »Mit etwas Glück können wir uns einfach auf den Reisefrieden verlassen.« 378
»Auf was?« Ich schob den Träger meines Rucksacks zurecht, der mich in die Schulter schnitt. »Den Reisefrieden. Er gilt drei Tage und drei Nächte. Wenn du formell das Recht auf Feuer, Nahrung und Unterkunft beanspruchst, kann niemand eine Fehde aufnehmen oder fortführen oder irgendeine Information von dir verlangen, die du nicht zu geben bereit bist. Nicht einmal deinen Namen musst du nennen.« Wir wanderten in freundschaftlichem Schweigen weiter; nur ein paar Vögel raschelten im Gras, und einer flog hoch über uns. Sein perlender Gesang war voller überschäumender Lebensfreude. »Jetzt verstehe ich, warum ihr zuerst in den Wald gehen wolltet«, bemerkte ich eine Weile später. »Wenn wir im Wald gefunden hätten, was wir brauchten, wäre es nicht nötig gewesen, das alles zur Sprache zu bringen.« Sorgrads Blick war fest auf den noch immer fernen Wald gerichtet. »Aber ich habe gezähmt, was in mir ist, egal was dein edler Magier glaubt.« Ich nickte bloß und fragte mich, wie ein so enger Freund ein so großes Geheimnis wie Magiegeborenheit so lange für sich behalten konnte. »War es schwer für dich und ‘Gren, von hier fortgehen zu müssen?«, fragte ich. »Um die Wahrheit zu sagen, nicht sehr«, erklärte er nach einer Weile. »Ich und ‘Gren sprachen schon davon, nach Gidesta zu gehen, wo die Ostlinge toleranter waren, was das Heiraten außerhalb des Blutes und das Zusammenarbeiten mit den Tiefländern angeht. Als mittlere Söhne wäre unser Erbteil ohnehin nur klein gewesen. Außerdem hatten wir kein großes Verlan379
gen, eins der Mädchen zu heiraten, die wir schon unser Leben lang kannten. Und das Tieflandleben hat uns ganz gut geschmeckt, wie du weißt.« »Warum geht ihr dann zurück? Warum gerade jetzt?«, wollte ich wissen. »Warum nicht jetzt? Es ergab sich nun einmal.« Er zuckte die Achseln. »Ich spiele die Runen, wie sie fallen.« Wir wanderten ein Stück weiter. »Außerdem würde ich gern wissen, welche Kräfte die Sheltya haben«, gestand er. »Ich würde gern wissen, warum irgendein Geburtstrick mir ihren Hass eingetragen hat. Als ich ein Junge war, habe ich es einfach hingenommen. Aber jetzt möchte ich dafür eine Rechtfertigung, wenn sie eine haben.« »Neugier hat Amit an den Galgen gebracht«, erinnerte ich ihn. »Nicht in diesem Liederbuch«, widersprach er mit einem verschmitzten Lächeln. »Das Risiko gehe ich ein.« ‘Gren langweilte sich allmählich und schweifte zu beiden Seiten vom Weg ab, auf der Suche nach etwas Unterhaltsamem. Er kletterte von einem Felsvorsprung herunter, der ein Stück voraus lag. »Ich hab da oben Bärenspuren gesehen«, verkündete er mit leuchtenden Augen. »Lass uns mal nachsehen.« Sorgrad kletterte hinter seinem Bruder her, und ich beschleunigte meine Schritte, um Usara einzuholen. Schweißtropfen standen dem Zauberer auf der Stirn und klebten die spärlichen Haarsträhnen an seinen von der Sonne geröteten Schädel. »Du solltest einen Hut tragen«, sagte ich. Er hievte seinen Rucksack höher, in dem vergeblichen Ver380
such, seine Last zu erleichtern. »Das Leben in einem hohen Turm macht einen nicht gerade leistungsfähig für eine solche Expedition.« »Niemand erwartet von einem Gelehrten großes Durchhaltevermögen.« Ich reichte ihm meine Wasserflasche. Der Zauberer stöhnte, als wir sahen, wie der Pfad sich abwärts zu einer Furt auf der Sohle des Tales wand, das die Feste verbarg. Sorgrad und Sorgren kamen zu uns, als wir den Abstieg begannen. »Da ist ein Bär«, sagte ‘Gren eifrig. »Wir können ihn töten, wenn er uns angreift. Dann ist er keine Wilderei.« »Meint ihr denn, er wird uns angreifen?«, fragte ich Sorgrad. »Nur wenn ‘Gren ihm einen Stock in den Hintern schiebt, um ihn zu reizen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind jetzt fett und zufrieden in den Sommermonaten.« Wir stiegen ohne weitere Ablenkung zur Furt hinunter und überquerten sie vorsichtig auf schlüpfrigen Steinen. Die Schatten wurden bereits länger, als ich mir das Tal näher anschaute. Dicht am Fluss schwankten kümmerliche Getreidehalme im Wind, die noch grün waren, sich an den Spitzen aber schon gelb färbten. Ziegen wurden in stabile, von Steinmauern umgebene Pferche getrieben, während eine Hand voll Maultiere, an langen Stricken angepflockt, noch grasten. Die solide Umfassungsmauer wurde nur von einem Doppeltor auf der Vorderseite durchbrochen und einem Wassertor auf der linken Seite, wo der kleine Bach unter dem Schutz der Mauer hindurchgeführt worden war und seine Freiheit hinter einem engen Gitter aus Metallstäben wiederfand. »Gibt es auf der anderen Seite ein Ausfalltor?«, fragte ich 381
‘Gren. Er nickte. »Jedes Karnickel weiß doch, dass ein Bau mit nur einem Eingang eine Todesfalle ist.« Ich warf einen Blick auf den Bergfried. Viereckig und abweisend, aus dicken grauen Steinen erbaut. Wachmänner spähten aus seinen Fenstern. Das Haupttor ging auf, und eine Hand voll Männer stellte sich zwischen uns und die Ziegen, während ein anderer eine unmissverständlich drohende Haltung mitten auf dem Weg einnahm. »Einen guten Tag dir und den deinen.« Sorgrad blieb ein paar Schritte vor dem Mann stehen. Es kam mir merkwürdig vor, ihn so in seiner Muttersprache reden zu hören. Der Mann erwiderte irgendetwas in einem schwer verständlichen Bergakzent, doch er lächelte, und seine Hand glitt nicht zu dem Schwert in seinem Gürtel. Er war ungefähr so groß wie ‘Gren, hatte einen kahlen Schädel mit weißem Haarkranz und ein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht, das zahlreiche winzige Narben aufwies und eine längst verheilte, hässliche Wunde, die eine Wange entstellte. Das Alter hatte seine Hände verkrümmt, doch er besaß noch immer beeindruckenden Muskeln. »Die Hachalfeste freut sich, euch auf eurer Reise Unterkunft anbieten zu können«, sagte er zu mir und Usara in einem Tormalin, das beinahe unverständlich war. Ich lächelte freundlich. »Wir fühlen uns durch eure Gastfreundschaft geehrt.« Der Mann nickte, aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass er kein Wort verstanden hatte. Ich schenkte das freundliche Lächeln nun dem Burschen, der sich um die Maultiere kümmerte und zwei jüngeren Knaben, die ihre Ziegen fast bis zum Tor 382
getrieben hatten, um zu sehen, wer da gekommen war. Ihr großer gescheckter Hund, dem sich das dichte Fell im Nacken sträubte, kam näher, nach unserem Geruch schnüffelnd und die Ohren neugierig aufgerichtet. Die Männer, die sich hinter dem Sprecher aufgebaut hatten, scheuchten die Jungen weg und halfen, die Ziegen in den Pferch zu treiben und die wertvollen Maultiere für die Nacht in den Schutz der Mauer zu bringen. »Ich glaube nicht, dass man uns hier allzu viele unangenehme Fragen stellt«, sagte Usara und grinste die Fremden unentwegt an. »Wie sollen wir das herausfinden, wenn wir nicht mit ihnen reden können?« Auch mir tat allmählich das Gesicht weh. Wir gingen durch das hohe Tor und traten aus einem regelrechten Tunnel in der dicken Mauer in einen großen, offenen Hof. Ein gleichmäßiges Schaben verriet, dass am Bach Getreide gemahlen wurde, und in der Schmiede dicht beim Tor bearbeitete jemand hartnäckiges Eisen mit einem schweren Hammer. Ein Mann auf einer Bank neben einer offenen Feuerstelle hantierte mit zierlichen Werkzeugen an funkelndem Gold, während ein anderer an weißem Metall arbeitete. Ein junger Bursche schaute ihm über die Schulter, um die Technik zu erlernen. Die Rekin beherrschte die Siedlung, groß, eckig und uneinnehmbar. Die Fenster im Erdgeschoss waren kaum mehr als Schießscharten, und die weiter oben waren unwesentlich breiter. Der Haupteingang bestand aus einer Tür, die so fest und wuchtig aussah, als könnte sie einem Rammbock widerstehen. Jetzt, wo wir innerhalb der Mauer waren, konnte ich einen zweiten Eingang auf der einen Seite sehen, wo eine hölzerne Treppe zu einer Tür im ersten Obergeschoss führte. Ich sah Sorgrad fragend an. 383
»So kann man sich in die höheren Stockwerke zurückziehen und dann die Stufen wegschlagen«, erklärte er. »Dann müssen die Angreifer die Haupttür attackieren, während du ihnen von oben alles Mögliche auf den Kopf werfen kannst. Und wenn sie drin sind, können sie auf der inneren Treppe immer nur einer nach dem anderen zu dir gelangen.« »Hattest du nicht gesagt, die Sheltya verhinderten, dass Streitereien in Kämpfen endeten?«, fragte ich stirnrunzelnd. Sorgrad zuckte die Achseln. »Wir haben immer schon so gebaut. Man kann ja nie wissen, oder?« In der Luft hing ein schwerer, süßlicher Duft nach Gärung, und eine Frau trat aus einer Türöffnung, durch die man die großen Fässer eines Brauhauses sehen konnte. Eine jüngere Frau kam aus der Rekin, wischte sich die Hände an einer fleckigen Schürze ab und besprach sich kurz mit der Brauerin. Beide trugen Leinenblusen mit rundem Ausschnitt, die über ungefärbten Wollröcken gegürtet waren, die bis zu den Waden reichten. Darunter waren kniehoch geschnürte Stiefel zu sehen. Die Frauen waren unverkennbar Mutter und Tochter. Ihr straff geflochtenes helles Haar glänzte in der Sonne. Der alte Mann ging uns voran. »Er heißt Taegan«, berichtete Sorgrad. »Der Ehemann seiner ältesten Tochter ist zur Zeit in den Bergen, also vertritt Taegan ihn.« »Das Mädchen dort ist die Tochter?«, fragte ich. »Damaris«, bestätigte Sorgrad, »und die Mutter heißt Leusia.« ‘Gren und Sorgrad machten beide tiefe Verbeugungen, und Usara gelang zumindest ein glaubwürdiger Versuch. Ich hatte nicht vor, in Hosen einen Hofknicks zu machen, also hoffte ich, dass ein Lächeln ausreichen würde. 384
»Willkommen in unserem Heim«, sagte die Tochter. Ihr Tormalin hatte zwar einen starken Akzent, war aber fließend genug, dass man sich einigermaßen unterhalten konnte. Ihre Mutter lächelte, mit einem stolzen Seitenblick auf ihre Tochter. »Ich danke euch, dass ihr uns Einlass gewährt«, sagte ich. Damaris, die jüngere Frau, nickte mir freundlich zu und führte uns hinein. Die zentrale Herdstelle des großen Raumes war mit Kaminböcken gesäumt; über dem Feuer sah ich eine komplizierte Anordnung aus Ösen und Haken, von denen mehrere kleine Kessel und ein Rost hingen. Zwei Frauen in meinem Alter waren mit Kochen beschäftigt, während eine Schar Kinder um einen langen Tisch saß, auf dem Lampen einen goldenen Schein warfen. Das unverkennbare Kratzen von Schieferstiften verursachte mir eine Gänsehaut. Alle Kinder blickten zu uns, bis die alte Frau am Kopf des Tisches sie mit ein paar leisen Worten aufforderte, sich wieder mit ihren Schreibaufgaben zu beschäftigen. Ein alter Mann lachte leise in sich hinein. Mit den Altersflecken auf dem völlig kahlen Schädel und auf den wettergegerbten Händen hätte er Taegans älterer Bruder sein können. Er bearbeitete geschickt einen Knochen mit Messer, Feile und feinen Meißeln, um einen Kamm mit Rautenmuster herzustellen. Während ich zusah, passte er kupferne Nieten ein, um die Zähne zu sichern. »Das ist der Mann meiner Tante, Garven«, stellte ihn Damaris mit einer Handbewegung vor. Ich bemerkte, dass die Hälfte des Raumes geschickt mit Hockern und niedrigen Stühlen abgeteilt war; an einer Wand befanden sich Regale, auf denen allerlei Krimskrams stand. Sorgrad und ‘Gren traten vor, um den alten Mann zu begrüßen, der sich sichtlich freute. Usara stand einen 385
Schritt hinter ihnen und schaute ein wenig unsicher drein. Damaris legte sanft eine Hand auf meinen Arm. »Du wirst bei uns sitzen, auf der Frauenseite.« Zwei Frauen mittleren Alters auf der anderen Seite der Feuerstelle sahen neugierig auf; die Spinnrocken ruhten, und zu ihren Füßen standen Körbe mit brauner Wolle. Ich hoffte, man erwartete nicht von mir, dass ich ihnen half, denn ich kann ebenso wenig spinnen wie fliegen. Ich setzte mich auf eine hochlehnige Bank. Eine flauschig gewebte Decke machte die kunstvoll bestickte Kissenauflage noch weicher. Diese Frauen mussten schon in der Wiege Nadelarbeiten lernen. Eine der Spinnerinnen sagte etwas, und Damaris wandte sich mir zu. »Das sind meine Tanten, Kethrain und Doratie.« Ich merkte mir die Namen. Als Doratie mich anlächelte, sah ich, dass ihr ein Zahn im Unterkiefer fehlte. »Kethrain findet, dass du hübsches Haar hast«, sagte Damaris. »Im Tiefland gibt es Frauen, die barfuß über glühende Kohlen laufen würdet, um so goldhaarig zu sein wie ihr«, erwiderte ich. Schmeicheleien fallen immer leichter, wenn sie wahr sind. Damaris übersetzte, und alle drei lachten. Ich faltete die Hände im Schoß und hoffte, dass niemand es für eine Geste der Freundlichkeit hielt, mir Nadel und Faden anzubieten. Diese Frauen mochten zwar mein Haar bewundern, aber sie wären entsetzt über meine Nähkünste. Ich merkte, wie mein Lächeln ein bisschen starr wurde, und so schaute ich mich um. Ein flachsblondes kleines Mädchen spähte über die Schulter zu mir. Ungebändigte Locken fielen ihr bis tief auf die Stirn. Ich zwinkerte ihr zu, und sie schaute rasch weg, beugte sich über ihre Arbeit und flüsterte ihrer Nachbarin etwas zu. Damaris klatschte in die Hände, und meine zwei neuen 386
Freundinnen verstauten unverzüglich ihr Nähzeug, während die Kinder sich beeilten, den Tisch von Stiften und Zählrahmen freizuräumen. Eins holte ein Tuch, um den Tisch abzuwischen, während die anderen den Tisch mit polierten Zinntellern, Bechern und Krügen deckten. Der alte Kunsthandwerker, Garven, ging langsam zur Tür. Sein Rücken war nicht nur vom Alter gebeugt. Er zog an einem Glockenseil, und ein heller, bronzener Ton klang über das Tal. Stimmen näherten sich, wurden lauter, und bald war der Raum voller kräftiger Männer und Frauen in hellen Leinengewändern, gelbbraunem Leder und brauner Wolle. Alle besaßen ähnliche Gesichtszüge. Es schien keine feste Sitzordnung am Tisch zu geben. Die einzige Ausnahme war ein hochlehniger Stuhl mit breiten Armlehnen, der an einem Ende des Tisches stand. Als Letzte kamen der Blechschmied mit seinem Gehilfen, die den Goldschmied trugen, da er nicht gehen konnte. Er wurde auf seinen Stuhl gesetzt und mit Kissen gestützt. Ich beeilte mich, zwischen Sorgrad und Usara zu sitzen. »Warum kann er nicht gehen?«, fragte ich leise. »Hatte er einen Unfall, oder war es eine Krankheit?« »Stolleneinbruch in einer Mine«, antwortete Sorgrad. »Garven sagte, er hätte Glück gehabt, dass er am Leben geblieben ist.« Ich für mein Teil hätte es nicht gerade Glück genannt, aber hier wirkte ein Krüppel wenigstens nicht so fehl am Platz wie ein Tiefländer, der in der Gosse betteln musste. Ein paar Mädchen brachten Teller zu den Frauen am Herd. »Ich hätte gern Hühnchen«, sagte ich zu Sorgrad, als ich sah, wie eins vorbei getragen wurde. »Gern«, sagte ein Mädchen in passablem Tormalin und nahm meinen Teller. 387
»Seit letztem Jahr lehren wir sie die Tieflandsprache«, sagte eine von Damaris’ Schwestern über den Tisch hinweg. »Sonst können die Jungen keinen Handel treiben und die Mädchen nicht mit Reisenden umgehen. Es kommen jedes Jahr mehr, sogar ins Hochland.« Einer der älteren Männer, dessen Hemd voll Mehlstaub war, tat offensichtlich sein Missfallen kund. Doratie tadelte ihn, und ich schaute Sorgrad an. »Eine alte Klage«, sagte er, »dass Tiefländer immer erwarten, dass wir ihre Sprache sprechen, aber nie die unsere lernen.« »Dann solltest du mir Stunden geben«, sagte ich reumütig. Alle griffen herzhaft zu und unterhielten sich lebhaft. Eins der fast erwachsenen Mädchen warf dem Gehilfen des Blechschmieds glühende Blicke zu, und er sonnte sich darin, während er sich mit dem Goldschmied unterhielt. Zwei der älteren Männer führten eine hitzige Diskussion, in die Kethrain immer wieder eine Bemerkung einwarf. Ich widmete mich einer ausgezeichneten Mahlzeit aus geschmortem Huhn. Usara griff nach dem Schwarzbrot. »Du und ich wir fallen hier auf wie Klatschmohn im Getreidefeld, nicht wahr?«, sagte er zu mir. »Ja, aber das wussten wir im Voraus, nicht wahr?« Ein Mädchen erschien mit einem schäumenden Krug neben mir, und ich hielt einen glänzenden Zinnbecher hoch. Hier fiel es mir leichter, eine Außenseiterin zu sein, als im Wald, wo ich als Verwandte galt von Menschen, die mir zwar oberflächlich ähnlich, aber doch fremd waren. Ich nippte an dem seltsamen Gebräu. Es war dunkler als jedes Bier, das ich je getrunken hatte, besaß einen harzigen Geschmack und war seltsam ölig. Ich merkte, dass man mich von allen Seiten belustigt beobachtete. 388
»Was trinke ich da?«, murmelte ich Sorgrad hinter dem Rand meines Bechers zu. »Tannenbier.« Er leerte seinen eigenen Becher. »Aber es gibt auch gemälztes Gerstenbräu, wenn dir das lieber ist.« Ich sagte mir, dass es eine Frage der Ehre sei, und leerte meinen Becher, legte aber die Hand darauf, als das Mädchen kam, um ihn nachzufüllen. »Ich glaube, ich halte mich lieber an die Getränke, die ich gewöhnt bin.« Damaris’ Schwester reichte mir einen Krug, aus dem der Duft nach Hopfen aufstieg. »Ich heiße Merial«, stellte sie sich vor. »Ich bin Livak. Das ist Sorgrad«, ich wandte mich nach rechts, »und das Usara.« ‘Gren saß etwas weiter unten am Tisch zwischen zwei Kindern, während alle anderen sich die Hälse verrenkten, um zu sehen, wie er eine Münze über den Handrücken rollen ließ. Er ließ sie verschwinden und zog sie hinter dem Ohr des aufgeregten Kleinkindes hervor, das auf seinem Schoß saß. »Und das ist Sorgren.« »Mittelgebirgsnamen?« Merial musterte Sorgrad mit offensichtlichem Interesse. »Ja, aber wir haben unsere Heimat schon vor langer Zeit verlassen«, sagte er leichthin. »Wir reisen und arbeiten im Tiefland.« »Und was macht ihr im Augenblick?« Diese Westlinge waren genauso direkt wie ‘Gren. Der Reisefrieden verhinderte offenbar keine Fragen, auch wenn wir das Recht hatten, die Antwort zu verweigern. »Mein Bruder und ich denken darüber nach, in die Berge zurückzukehren«, sagte Sorgrad und lächelte freundlich. »Wir reisen mit diesem Gelehrten«, fügte er hinzu und nickte in Usaras Richtung, der den letzten Rest Sauce mit einem Stück Brot 389
vom Teller wischte. Der Magier schluckte hastig. »Ich bin so etwas wie ein Altwarenhändler und möchte gern etwas über die Sagen erfahren, die man sich in den Bergen erzählt.« Merial zog eine zart geschwungene Augenbraue hoch. »Es kommt selten vor, dass ein Tiefländer glaubt, wir aus den Bergen verfügten über Wissenswertes.« »Ein wahrer Gelehrter achtet jede Bildung«, sagte Usara ernst. »Es gibt nicht nur einen Weg zum Verständnis dieser Welt und unseres Platzes darin.« Der alte Mann schaute mich fragend an. »Ich bin Sängerin, eine Reisende«, sagte ich bereitwillig. »Ich habe ein altes Buch mit Liedern in den alten Sprachen von Ebene, Wald und Bergen gekauft. Ich möchte in Erfahrung bringen, was diese Lieder bedeuten.« Merial lächelte. »Dann musst du mit Garven und mit Doraties Mutter sprechen.« »Als ich ein Junge war, wurden solche Geschichten von den Sheltya erzählt«, bemerkte Sorgrad beiläufig. Die Gespräche ringsum verebbten, als alle das Wort vernahmen. »Ja«, sagte Merial. »Das ist hier auch so.« »Ich habe nur unvollständige Geschichten von diesen Ostlingen gehört, die in Gidesta leben«, sagte Usara mit aufrichtigem Eifer. »Ich würde sehr gern die Gelegenheit ergreifen, mit euren Sheltya zu sprechen. Sind sie nicht die Bewahrer allen wichtigen Wissens?« Merial schaute Sorgrad an, der rasch in der Bergsprache auf sie einredete. »Das könnte sein.« Merial wandte sich um, um die Aufmerk390
samkeit des alten Mannes auf sich zu lenken, der neben Doratie saß. Er warf Usara einen misstrauischen Blick zu, doch während Merial zu ihm sprach, wurde sein Gesicht offener und sogar ein wenig verschmitzt. Schließlich nickte er, und Doratie fügte etwas hinzu, das sich anhörte, als würde sie es gutheißen. »Mein Onkel glaubt nicht, dass es schadet, wenn die Sheltya euch selbst beurteilen«, sagte sie zu Usara, während ihr Blick zu Sorgrad huschte. »Wie nehmen wir mit ihnen Kontakt auf?«, fragte Usara. »Verzeiht mir meine Unwissenheit.« Merial zuckte die Achseln. »Wenn sie gewünscht werden, kommen sie. Das war schon immer so.« Das klang in meinen Ohren viel versprechend. Wie ich von Guinalle gelernt hatte, gehörte die Kunst, Gedanken aus weiter Ferne zu hören, zu den Grundlagen der Zauberkunst. Eine Schale mit Sommerfrüchten, gemischt mit gerösteten Nüssen und Getreide, wurde zwischen uns gestellt, und mein Teller wurde gegen einen sauberen getauscht. Eine Platte mit flachen Haferkuchen kam dazu sowie einige weiße, runde kleine Käse, offenbar aus Ziegenmilch gemacht. Ich entschied mich für Früchte und Getreide. Merial sprach mit Doratie und bezog Sorgrad in ihre Unterhaltung mit ein. Es war nicht unangenehm, zur Abwechslung einmal meinen Gedanken nachhängen zu können. Ich überließ mich müßigen Vorstellungen darüber, was Ryshad zur Zeit wohl machte und überlegte, wie Halice das Leben auf der anderen Seite des Meeres fand, wo sie die Söldner befehligte, die die merkwürdigen Kolonisten von Kellarin verteidigten. Die Geheimnisse der Äthermagie zu entschlüsseln, würde sie im Kampf gegen die Elietimm stärken, die dieses fruchtbare Land 391
in ihre Hände bekommen und alle umbringen wollten, die sich ihnen in den Weg stellten. Halice war eine weitere Freundin, die auf meinen Erfolg angewiesen war; umso mehr hoffte ich, dass diese Spur zu etwas führte. Die Mahlzeit näherte sich ihrem Ende, und die Kinder wurden trotz lauter Proteste durch eine Tür zum Waschen geschickt. Die alten Männer und Frauen zogen sich Stühle an die Feuerstelle, die jetzt frei von Kochtöpfen war. Ein paar hatten Nadel und Faden in den Händen, andere kleine handwerkliche Arbeiten, doch keiner war recht bei der Sache. Doratie holte eine Karaffe mit klarem Schnaps aus einem Schrank, und Kethrain folgte mit kleinen Kristallkelchen. Die Atmosphäre war heiter und angenehm. Merial reichte mir einen Stapel Teller. »Die Spülküche ist da durch«, sagte sie. Sorgrad und Usara grinsten einander an, doch Merial trieb ihnen den Spott bald aus, als sie sagte: »Ihr zwei könnt mit dem Feuerholz helfen.« Als ich in die Spülküche ging, sah ich ‘Gren, der mit einer Schar Kinder, die ihn bewundernd anschauten und um weitere Kunststücke bettelten, nach oben verschwand. Ich fragte mich, ob Damaris wusste, auf was sie sich da einließ.
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Othilfeste 14. Vorsommer
Teiriol riss am Zügel des störrischen Maulesels. »Ich ziehe dir die Haut ab, damit die Gabelschwänze daran picken«, sagte er zu dem schwarzbraunen Tier. Es legte die Ohren an und riss das graue Maul so unversehens hoch, sodass es Teiriol fast gegen die Nase stieß. »Nun geh schon!« Cailean schlug dem Tier aufs Hinterteil, und es machte einen Satz vorwärts. Teiriol zog an den Zügeln, um dem Maulesel keine Gelegenheit zu geben, sich dagegen zu stemmen. Da noch drei andere von hinten schoben, gab das Maultier schließlich nach, und seine Ohren bewegten sich bei der Aussicht auf Wasser und Futter, als es seinen Stall erkannte. Teiriol starrte offenen Mundes auf die Geschäftigkeit in der Feste. In beiden Schmieden – die kleine, die er immer als seine eigene betrachtet hatte, sowie die größere, die seit dem Tod seines Onkels kalt geblieben war – loderte rot die Glut, und die Funken stoben, als schwere Hämmer das Eisen formten. Ein Schmied kühlte sein Werkstück. Es zischte und dampfte, und als er die Zange wieder hob, erkannte Teiriol eine Speerspitze. Zufrieden legte der Schmied sie neben eine ganze Reihe anderer und blieb einen Augenblick stehen, um seinem Kollegen zuzuschauen, der geschickt den Heftzapfen einer Schwertklinge formte. Die Maultiere scheuten vor der unruhigen Geschäftigkeit; Teiriols Tier hätte sich beinahe aufgebäumt, als ein Bursche 393
eine verängstigte Gans an ihm vorbeitrieb. Ein Hackebeil in der Hand des Jungen ließ den Vogel nur zu gut erkennen, welches Schicksal ihn erwartete. Jubelrufe drangen aus einer offenen Werkstatttür; Späne flogen, als eine Gruppe von Männern Pfosten und Stäbe zu Speerschäften und Pfeilen formte. »Nun fang sie schon, Nol«, drängte einer und legte sein Messer beiseite. »Da läuft dir ein ganzer Köcher voll Pfeilfedern und ein anständiges Abendessen davon!« »Der könnte nicht mal in einem Puff als Mädchen für alles Arbeit bekommen«, höhnte ein anderer und fluchte, als seine Klinge in dem Holz, das er bearbeitete, an einem Knorren stecken blieb. Ein dumpfes, wiederkehrendes Pochen war zu vernehmen: Die Erzmühle arbeitete. »Du kümmerst dich um die Tiere«, sagte Teiriol. »Ich rede mit Keisyl.« Caileans Protest ging in dem allgemeinen Lärm unter. Teiriol eilte zu einem lang gestreckten Gebäude, das an der Mauer hinter der Rekin stand. Das ständige Pochen wurde von einem erschöpften Maultier erzeugt, das im Kreis lief, an einen Balken angeschirrt, der einen abgesägten Baumstamm bewegte, der wiederum eine Welle antrieb, die durch die Mauer des Gebäudes lief. Teiriol sah sich vergebens nach jemandem um, der sich um das schweißnasse Tier kümmerte, und schob die Tür auf. Der rhythmische Lärm verstärkte sich in dem steinernen Schuppen noch. Eisenbeschlagene Balken wurden der Reihe nach angehoben, während Zapfen auf der rotierenden Welle in passende Nuten in den Seiten griffen. Nach einer Drehung der Welle fielen die Balken herab und zertrümmerten Erzgestein auf einem Granitblock. Feiner, heller Staub hing in der Luft, legte 394
sich auf Keisyl und die Mühle und bildete hellen Schaum auf einem großen Zuber mit Wasser. Keisyl hustete; dann bemerkte er Teiriol. »Draußen!«, rief er. »Hier drinnen kann ich nicht mal meine eigenen Gedanken hören.« Er wischte sich Schweiß und Staub vom Gesicht und zog die Tür hinter ihnen zu. »Wann bist du zurückgekommen?«, fragte er und atmete tief die frische Luft. »Gerade eben.« Teiriol deutete auf Cailean, der – leise vor sich hin schimpfend – unförmige Säcke mit Gestein von den Maultieren lud. Keisyl rieb sich die rot geränderten Augen. »Ich fange morgen an zu mahlen. Wir haben erst einmal genug, um es aufbereiten zu können. Du und Cailean könnt damit anfangen. Die Proben sehen viel versprechend aus. Wann kommen die anderen?« »Morgen, aber ...« »Ich zieh dem Burschen das Fell über die Ohren!« Keisyl eilte zu dem Mühlenmuli und brachte es zum Stehen, was keine schwierige Aufgabe war, da das Tier jeden Moment vor Erschöpfung umzukippen drohte. »Hol Wasser, Teir.« Teiriol nahm einen Eimer, der neben der Tür stand, lief einen Gang hinunter, der in die massive Mauer gebaut war, und füllte den Eimer in einer Felsen-Zisterne. Dank jahrelanger Vertrautheit fand er sich mühelos im Dunkeln zurecht. Aus alter Gewohnheit zählte er die Stufen bis hinunter zum Wasser und runzelte die Stirn, als er merkte, wie tief der Spiegel gesunken war. Viele Fragen drängten sich ihm auf. »Sieh dir das an!«, tobte Keisyl und nahm vorsichtig das Geschirr von einer blutig aufgeschürften Stelle. »Ich habe ihm 395
gesagt, dass ich den Jungen hier draußen brauche. Hast du Nol gesehen, den Betteljungen aus dem Tal?« »Was geht hier eigentlich vor, Keis?«, wollte Teiriol wissen. »Es hat nichts mit uns zu tun«, fauchte Keisyl. »Ich halte mich da raus – und du wirst es auch tun.« »Raus aus was?«, fragte Teiriol gereizt. »Jeirran meint, er könnte es mit den Tiefländern aufnehmen«, stieß Keisyl hervor. Seine Stimme war heiser vor Verachtung und Staub. »Will sie vertreiben, das Land zurückerobern, Wiedergutmachung für zehn verlorene Generationen!« Teiriol betrachtete die zielstrebige Geschäftigkeit ringsum. Der Bursche hatte es geschafft, die Gans in eine Ecke zu treiben und rupfte nun ungeschickt das noch zuckende Tier, wobei ihm Flaum an den Haaren und im Gesicht klebte. Ein älterer Pfeilmacher bearbeitete die langen Federn, ungerührt von dem Trubel ringsum. »Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, Stellung zu beziehen«, sagte Teiriol. »Denk nur an die Teyvasoke.« Keisyl schnaubte. »Und du glaubst, Jeirran wäre der richtige Mann dafür? Seine tapferen Worte sind so leer wie seine Versprechungen auf Reichtümer in Selerima. Folge ihm, und du wirst noch schlimmer enden als nur mit leeren Taschen! Wenn er sich über eine Brüstung stürzen will – bitte schön. Wir aber müssen wir hier sein und uns um Eirys und Theilyn kümmern.« Keisyl führte das Maultier aus dem Göpelwerk und in den Stall. Cailean rieb die anderen Tiere mit Stroh ab und schnalzte mit der Zunge nach einem Blick auf die spärlichen Heuvorräte in den Raufen. »Wer hat das ganze Futter verbraucht?« »Wer wohl?«, knurrte Keisyl. Cailean begann das Maultier zu striegeln. Teiriol nahm eine 396
Bürste und ging zu dem nächsten Tier, und gemeinsam arbeiteten sie in angespanntem Schweigen, das nur durch das Schnauben der Maultiere und das gelegentliche Scharren eines Hufes auf den Pflastersteinen unterbrochen wurde. »Und was hält Eirys von Jeirrans Plänen?«, fragte Teiriol schließlich. »Sie glaubt, er ist verrückt geworden. Ihr Haus ist voller Fremder, die ihr alles kahl fressen.« Keisyls heftiger Tonfall passte nicht zu seinen sanften Fingern, mit denen er die Wunde des Maultiers mit einer Salbe aus einem kleinen, grünglasierten Gefäß einrieb. »Sie haben den Keller schon halb leer getrunken, und Theilys muss sich immer wieder Anzüglichkeiten anhören. Ich habe Jeirran gesagt, er soll seine traurige Schar von Aasfressern im Zaum halten, doch er muss sich angeblich um wichtigere Dinge kümmern.« Teiriol runzelte die Stirn. »Vielleicht sollten wir mit Eirys darüber reden, dass sie ihn verstoßen soll, wenn er seinen Ehevertrag nicht erfüllt ...« »Das will sie nicht.« Keisyl schüttelte den Kopf. »Sie sagt, sie liebt ihn. Ob das nun die Wahrheit ist, oder ob sie einfach Angst vor ihm hat – ich weiß es nicht. Aber sie findet eine Entschuldigung nach der anderen für ihn.« »Vielleicht sollten wir die Sache in die Hand nehmen«, schlug Teiriol vor. »Ich meine, die Sheltya ...« Keisyl lachte rau. »Die Sheltya sind bereits hier, mein Freund, und stecken so tief drin wie nur was.« Er wischte sich die Finger am lockigen Fell des Maultiers ab und verschloss seufzend das Gefäß mit der Salbe. »Sie handeln auf Anweisung dieser bleichgesichtigen Hexe Aritane. Sie plant ihren eigenen kleinen Feldzug unter den Hütern der Weisheit, da gehe ich jede Wette 397
ein.« Er blickte scharf zu Cailean hinüber. »Aber das behältst du für dich, verstanden? Am besten, du hältst dich aus dem ganzen Schlamassel heraus, wenn du auch nur einen Funken Verstand hast.« »Ich gehe sobald wie möglich in die Minen zurück, keine Sorge«, erklärte Cailean. Keisyl wandte sich an Teiriol. »Teir, du solltest kommen und Mutter besuchen, aber wir essen heute Abend nicht am Herd. Ich bitte Theilyn, uns etwas zu essen nach oben zu bringen, dann können wir darüber reden, wie wir das Schmelzen am besten organisieren. Jetzt komm.« Teiriol winkte Cailean kurz zu, bevor er seinem Bruder folgte. Keisyls Lippen bewegten sich, während er an den Fingern abzählte und in Gedanken eine Liste durchging. Teiriol sah es mit Unbehagen. Warum hielt sich Keisyl von allem und jedem fern? Ihm selbst verursachten Fremde, die die vertraute Umgebung bevölkerten, ein Gefühl der Bedrohung. »He, du da!« Der knappe Ruf ließ beide Brüder aus ihren Gedanken auffahren. Ein grauhaariger Mann auf einer gescheckten Mauleselstute mit silberbeschlagenem Zaumzeug war ungehindert durch das offene Tor geritten. Er blickte über den Hof, einen überheblichen Ausdruck auf dem Gesicht. »Sag Jeirran, wir haben alles Eisengestein, das er wollte. Zeig mir, wo der Brennofen ist.« Teiriol sah den Kopf eines Maulesels neugierig über die Schwelle spähen. »Ich kümmere mich morgen um die Schmelze«, fuhr der Mann fort. »Für heute ist es zu spät.« Keisyls Gesicht war zornesrot. »Die Schmelzöfen hier gehören mir, von den Blasebälgen bis zu den Schwimmsteinen, und ich wäre dir dankbar, wenn du es dir merken würdest.« »Jeirran bezahlt mich dafür, dass ich für ihn schmelze.« Der 398
Neuankömmling zuckte die Achseln. »Das machst du besser mit ihm aus. Wo können wir hier unsere Tiere unterstellen?« Doch Keisyl gab keine Antwort mehr; er war bereits auf dem Weg zur Rekin. Teiriol eilte ihm nach. Keisyl trat die Tür mit solcher Gewalt auf, dass sie mit dem lauten Krachen von splitterndem Holz zurückschwang. »Es hat sicher Vorteile, wenn man einen Feind die Dinge in Bewegung setzen lässt und dann die eigenen Schritte seinen Zügen anpasst«, sagte Jeirran soeben. Keisyls gewaltsames Eindringen brachte ihn kein bisschen aus dem Konzept. »Doch es bringt gleichermaßen Vorteile, die Initiative zu ergreifen«, fuhr er fort. »Man kann einen Feind überrumpeln, wenn man etwas Unerwartetes tut und er nicht sehen kann, wohin deine Strategie führen soll.« Jeirran saß in einem hochlehnigen Stuhl am Herd, während vier andere Männer auf Hockern sich aufmerksam vorbeugten. Keisyl marschierte zu Jeirran hinüber und baute sich vor ihm auf, die Daumen in den Gürtel gehakt, kalte Wut im Gesicht. »Warum kommt so ein Mittelgebirgs-Mietling hierher und sagt mir, er will in meinem Ofen schmelzen?« »Wernil? Jetzt schon? Dann sind wir unserem Plan bereits voraus!« Jeirran sonnte sich in den bewundernden Nicken seiner Kameraden. »Niemand arbeitet an meinem Ofen, ohne dass ich es erlaube!«, sagte Keisyl finster. »Du schürfst in Theilyns Namen in den Gruben«, berichtigte ihn Jeirran mit ausgesuchter Höflichkeit. »Ich glaube schon, sie wird Wernil die Arbeit an den Blasebälgen gestatten, wenn man bedenkt, wie schwer ich für die Zukunft dieser Soke arbeite.« »Du hinterhältiger ...« 399
»Keis, Teir, kann ich einen Augenblick mit euch sprechen?«, sagte eine dünne Frau, die in der Tür zur Spülküche erschienen war und mit nervösen Händen ihre Schürze glättete. Ihr Haar war verblichen und farblos, die Augen waren von einem verwaschenen Blau. Jahre der Sorgen und harter Arbeit hatten tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben, doch ihr Rücken war gerade und entschlossen. »Wenn jemand meine Öfen ohne meine Erlaubnis anfacht, werfe ich ihn hinein«, stieß Keisyl wütend hervor, packte Teiriol am Arm, zog ihn mit zu seiner Mutter hinüber und folgte ihr in die Spülküche. »Jeirran hat einen Mittelgebirgsbewohner ...« begann Keisyl hitzig. »Ja, ich habe es gehört.« Ismenia legte einen Finger auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Aber lass ihn sein Erz verarbeiten. Je eher es getan ist, desto eher ist er aus dem Haus.« »Mutter!«, protestierte Keisyl. »Kann dein Zinngestein nicht ein paar Tage warten?« Der Anflug eines Lächelns huschte über Ismenias Gesicht. »Ist es denn zu viel verlangt, um Frieden im Haus zu bitten?« »Frieden wird es nicht geben, wenn Jeirran jeden Unzufriedenen westlich der Schlucht bewaffnet und ins Tiefland marschiert!«, stieß Keisyl hervor. »Wenn das Schmieden von Waffen bedeutet, dass er mit seinem Pack von hier verschwindet, trägt das viel zum Frieden der Soke bei«, gab Ismenia zurück. »Sprich leise. Ich will nicht, dass Eirys gestört wird.« »Wo ist sie?« Teiriol schaute sich um. Zu den üblichen Gestellen mit Tellern und Töpfen hatten sich einige Arbeitskisten 400
gesellt, Stoffe, in denen Nadel und Faden steckten, und zwei Spinnrocken, die in einer Ecke lehnten. Um den normalerweise sauber geschrubbten, leeren Tisch standen drei grobe Hocker um ein Durcheinander aus Zinnkrügen. »Eirys ist oben und ruht sich aus«, sagte Ismenia. »Sie ruht sich aus?« Keisyl sah seine Mutter scharf an. »Eirys erwartet ein Kind?« Teiriol versuchte, der Unterhaltung zu folgen. Ismenia nickte. »Deswegen möchte ich, dass ihr beide euch auf die Zunge beißt. Lasst Jeirran den Anführer spielen, so viel er will. Ihr wisst so gut wie ich, dass Jeirran es als Erstes an Eirys auslässt, wenn er die Geduld verliert.« »Wenn er sie schlecht behandelt, warum wehrt sie sich dann nicht?«, wollte Keisyl wissen. »Sie weiß, dass wir sie unterstützen würden! Wenn sie es mir erlaubt, werde ich mit Freuden den Unsinn aus ihm herausprügeln. Vielleicht sollten wir zu den Sheltya gehen, wenn diese kaltschnäuzige Hexe Aritane sie einschüchtert.« »Eirys wird sich niemals gegen Jeirran stellen!« Zum ersten Mal lag Verzweiflung in Ismenias Stimme. »Schon wenn jemand schlecht über ihn redet, bricht sie in Tränen aus, also behaltet eure Meinung für euch. Maewelin gebe, dass es die erste Zeit der Schwangerschaft ist, die sie so empfindlich macht.« »Wir können doch so nicht weiter machen, Mutter«, protestierte Keisyl. »Nein, nicht auf Dauer.« Ismenia rieb sich mit einer runzligen Hand das Gesicht. »Aber bis das Kind geboren ist. Deshalb will ich nicht riskieren, dass Eirys das Kind verliert, hört ihr?« »Und wenn das Kind da ist?« Teiriol blickte seine Mutter 401
scharf an. »Dann kann Eirys ihm ihre Liebe schenken, nicht diesem aufgeblasenen Pfau«, erwiderte Ismenia mit einem stählernen Ausdruck in den blassen Augen. »Und da er bestimmt keinen guten Vater abgibt, sieht sie ihn vielleicht endlich so, wie er wirklich ist. Jeirran ist zu sehr daran gewöhnt, der verwöhnte Prinz zu sein, als dass er sich von seinem Platz verdrängen ließe.« »Wir könnten Eirys vielleicht dazu bringen, ihn zu verstoßen«, meinte Teiriol hoffnungsvoll. »Und wenn sie das nächste Mal eine ebenso schlechte Wahl trifft?«, murmelte Keisyl. »Eirys hatte schon immer mehr Haare als Verstand. Und wo wir gerade dabei sind – Theilyn könnte uns mit einem ebenso nutzlosen Kerl beglücken.« Ismenia blickte ihn scharf an. »Was Theilyn angeht – Jeirrans aufgeblasene Schwester von den Sheltya hat sie unter ihre Fittiche genommen. Passt auf, was ihr zu ihr sagt! Sie erzählt alles Jeirran. Und wir wollen doch nicht, dass er von dem Kind erfährt. Wo ist sie eigentlich? Habt ihr sie im Hof gesehen?« Teiriol runzelte die Stirn. »Ist sie nicht oben bei Eirys?« »Nein.« Ismenia erhob sich müde und goss Wasser aus einem schweren Eimer in den Ausguss. »Sie wird wohl hinter Aritane herlaufen oder um die nichtsnutzigen Kerle in den Werkstätten herumscharwenzeln.« »Mutter!«, rief Keisyl. »Erheb deine Stimme nicht gegen mich, Keis.« Sie hob warnend einen Finger. »Wenn sie als erwachsen gelten will, sollte sie sich anständig benehmen oder die Konsequenzen tragen.« »Aber was, wenn ...« Teiriol hielt errötend inne. »Wenn sie geschwängert wird?« Die beiden hörten mit offe402
nem Mund die grobe Worte ihrer Mutter. »Dann haben wir noch eine Geburt für die Soke, und wenn Misaen Gerechtigkeit walten lässt, wird es ein Mädchen.« Ismenia kniff die Lippen zusammen. »Und wenn dann kein Mann ihre Unehrenhaftigkeit übersehen will und Theilyn allein bleibt, geschieht es ihr nur recht.« »Mutter ...«, begann Keisyl hitzig. »Werdet nicht laut mir gegenüber!«, fauchte Ismenia. »Ich habe diese Soke für meine Kinder bis zum heutigen Tag gesichert, und ich werde jetzt nicht aufgeben.« Teiriol schaute unsicher zwischen seiner verbitterten Mutter und seinem zornigen Bruder hin und her. »Ich sehe mal nach, ob ich Theilyn finden kann«, murmelte er schließlich. Ismenia wandte sich mit einem Schnauben ab und begann, Gemüse zu putzen. Keisyl rollte sich die Ärmel hoch, um ihr zu helfen. Teiriol verließ die Spülküche. »Teir, komm hier herüber.« Jeirran rief ihn von der anderen Seite des Feuers. Teiriol durchquerte den Raum und musterte Jeirrans Kameraden. Die beiden älteren Männer, einer grauhaarig, der andere kahlköpfig, hatten von der Grubenarbeit schwielige Hände, und dem Kahlen fehlten zwei Finger an einer Hand. Beide sahen Jeirran an, als könne er ihnen eine frische junge Braut mit eigener Goldmine bieten. Die jüngeren Männer blickten von der Tür zu Jeirran und scharrten unruhig mit den Stiefeln über den Fliesenboden. Einer war vornehm gekleidet, doch von der Reise schmutzig und staubig. Als er nach einem Becher griff, rutschte der Ärmel seines Hemds zurück und ließ Peitschennarben auf dem Arm erkennen. Der andere hatte einen verschlagenen Aus403
druck in den schlammgrauen Augen. Beide hatten eher sandfarbenes als blondes Haar und weiche Gesichter. »Setz dich, Teir.« Jeirran schob mit dem Fuß einen Hocker heran und hielt einen Krug mit Met hoch, dessen Zinn von vielen Fingerabdrücken stumpf war. »Hör dir an, was Ikarel zu sagen hat.« Der Mann mit dem verschlagenen Ausdruck zuckte die Achseln. »Ich kann nicht sagen, ob es die Wahrheit ist oder nicht, aber ich habe dieselbe Geschichte in zwei verschiedenen Dörfern gehört. Im Großen Wald geht Zauberei um. Ein großer Magier hat das Waldvolk um sich geschart und den Wildwald für sich beansprucht, und er hat jeden mit Zauberei besiegt, der sich gegen ihn stellte.« Teiriol merkte, wie Abscheu seine Lippen kräuselte. »Falsche Magie«, spie der Mann mit den fehlenden Fingern. »Man sollte es Eresken sagen.« Jeirran runzelte die Stirn. »Wo ist er?« »Finde Aritane, dann wirst du auch ihn finden«, kicherte der Jüngling mit den Peitschennarben, verstummte jedoch unter Jeirrans finsterem Blick. »Ich gehe schon.« Teiriol stellte hastig seinen Becher ab, den er nicht angerührt hatte. »Nein, warte, ich will ...« Er ignorierte Jeirrans Worte, ging davon und knallte die Tür hinter sich zu. Als er die Rekin umrundete und an einer Gruppe von Fremden vorbeikam, die zwei kläffende Hunde zu einem Kampf anzustacheln versuchten, entdeckte er seine Beute. »Aritane, einen Augenblick bitte.« Aritane drehte sich hochmütig um. Als sie Teiriol erkannte, entspannte sie sich. »Ich wusste nicht, dass du zurückerwartet 404
wurdest. Sei willkommen.« »Und dir einen guten Tag.« Welches Recht hatte sie, ihn in seinem eigenen Heim willkommen zu heißen? »Theilyn.« Er machte eine knappe Verbeugung vor seiner Schwester, deren Haar lockig auf die Schultern fiel und deren über Kreuz geschlungener Schal die Kurven ihrer erblühenden Figur nachzeichneten. Er freute sich, als er sah, wie Unsicherheit und Trotz in ihren blauen Augen erschienen. »Und ich bin Eresken.« Der Mann zwischen den beiden Frauen streckte den Arm aus. Teiriol packte mit festem Griff die glatte Hand, die nicht von Arbeit oder Verletzungen gezeichnet war. Dann wandte er sich an seine Schwester. »Mutter braucht deine Hilfe in der Küche, Theilyn«, sagte er. »Was sonst auch vorgeht«, er warf Aritane einen feindseligen Blick zu, »du solltest darüber weder deine Pflichten noch deine Verantwortung vergessen.« Theilyn wurde rot, reckte aber trotzig das Kinn und öffnete den Mund, doch Aritane kam ihr zuvor. »Er hat Recht, Liebes. Ich halte dich von der Arbeit ab.« Sie schenkte dem Mädchen ein Lächeln. »Lauf, dann können wir Teiriol sagen, warum sein Zuhause voller Fremder ist. Dann wird er sehen, dass sein Opfer in der Zukunft reich belohnt wird.« Teiriol verschränkte die Arme und musterte Eresken. Wer war dieser Mann, der offensichtlich ein Halbblut war, trotz seiner einheimischen Kleidung? »Jeirran will, dass du kommst. Irgendjemand hat Neuigkeiten über Zauberer im Tiefland.« Aritane runzelte die Stirn. »Was hat das mit uns zu tun?« »Jeirran möchte über alles genau in Kenntnis gesetzt werden, was seine Pläne beeinträchtigen könnte.« Eresken legte kurz seine Hand auf die ihre und lächelte Teiriol an. »Es ist gut, dass 405
es endlich ein Mann gibt, der all unsere Unzufriedenheit zum Ausdruck bringt und uns drängt, uns den Tiefländern entgegenzustellen, nicht wahr?« Teiriol fühlte sich unter Ereskens durchdringendem Blick unbehaglich. Erinnerungen an vergangene Gräueltaten, von denen über viele Jahre hinweg an langen Winterabenden erzählt worden waren, stiegen in ihm auf. Was immer er von Jeirran persönlich halten mochte – es stimmte, dass dieser Mann einen Mut an den Tag legte, wie ihn seit undenklichen Zeiten niemand gezeigt hatte. »Komm schon, Theilyn.« Teiriol nahm sie bei der Hand und eilte zurück in den Schutz der Rekin. »Glaubst du, er wird sich uns anschließen?«, fragte Aritane zweifelnd, als sie ihm nachsah. »Ich glaube schon.« Eresken nickte. »In ihm ist viel Zorn und ein vorwärts schauender Geist. Solange wir beides auf die Dinge konzentrieren, die uns wichtig sind, wird er nicht lange widerstehen können.« Eresken deutete auf Theilyn, die am Arm ihres Bruders hing, auf ihn einredete und beinahe stolperte in ihrem Eifer, ihre Schritte den seinen anzupassen. »Theilyn wird ihn überzeugen.« Im Schutz der zunehmenden Schatten hob er Aritanes Hand an die Lippen und küsste sie. »Ich wünschte, ich könnte ebenso gut in Menschen lesen wie du«, sagte Aritane, und ihre kühle Haltung schmolz dahin. »Das wirst du eines Tages«, versprach Eresken ihr. »Wenn wir Frieden im Hochland haben, kann ich dich alles lehren, was ich weiß. Wenn du dieses Wissen teilst, wirst du die Sheltya zu den Höhen fuhren, die ihnen rechtmäßig zustehen – und dir.« Aritane öffnete den Mund. »Dann wirst du bleiben?«, fragte sie hoffnungsvoll. 406
»Ich brauche den Segen meines Vaters, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihn mir verwehrt – nicht wenn er deinen Geist in der Ehrlichkeit wahrer Magie gesehen hat.« Eresken fuhr sich verlegen mit der Hand übers Haar. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich dafür tadelt, mich in eine Frau von Tren Ar’Dryen verliebt zu haben – genau wie er selbst einst.« Aritane blickte erstaunt. »Was sagst du da?« »Meine Mutter stammte aus den Ebenen im Südosten von hier«, antwortete Eresken achselzuckend. »Mein Vater überquerte vor vielen Jahren das Meer, und wo er an Land ging, nahm Mutters Volk ihn und seine Mitreisenden auf. Sie stammten aus dem alten Geschlecht von der Ebene. Einige verstecken sich noch immer vor dem Tormalin-Stahl des Kaisers.« Er lächelte. »Nicht alle sind in die Mythen des Tieflandes eingegangen als zauberische Wesen, die in den Schatten der Schornsteine leben. Als das Schiff im Frühling wieder davonsegelte, war meine Mutter an Bord, und ich in ihrem Leib.« Sein Gesicht verzog sich leicht. »Ich habe gehört, dass manche mein Blut gering schätzen. Ich bin ein Tiefland-Mischling, aber ...« »Das alte Volk der Ebenen besaß die wahre Magie, das bestätigen die Sagen«, unterbrach ihn Aritane hitzig. »Eine solche Abstammung ist keineswegs eine Schande.« »Vielleicht könnten wir diese Wahrheit in unserem engsten Kreis verbreiten«, schlug Eresken vor. »Ich sehe mal nach, was Jeirran braucht. Bis später, meine Liebste.« Er wandte sich von Aritane ab, und nach wenigen Schritten hatte seine Bescheidenheit, die sie so berührt hatte, einem Ausdruck der Zufriedenheit Platz gemacht. Aritane ging zu einer Gruppe grau gekleideter Gestalten, die 407
um ein glühendes Kohlenbecken herumsaßen. »Aritane.« Ein Mann in der langen dunklen Wolltracht der Sheltya grüßte sie. Er war groß für ihre Rasse, mit schmalen, hängenden Schultern. Ein paar neugierige Köpfe reckten sich und beugten sich unverzüglich wieder über ihre Arbeit, als sie Aritanes Blick bemerkten. »Bryn.« Sie neigte den Kopf, um seinen Gruß zu erwidern. »Ich hatte nicht erwartet, dich so bald zu sehen. Waren wir nicht übereingekommen, dass du der Sache am besten dienst, wenn du weiterhin mit Cullam reist?« Als sie den Namen erwähnte, mischte sich leichter Spott in ihren Tonfall. »Cullam ist über die Höhen gegangen. Er wurde zur Hachalfeste gerufen«, antwortete Bryn. Das Selbstvertrauen in seiner Stimme passte nicht seiner scheuen Haltung. »Die Sheltya springen also wieder einmal auf den Wink irgendeines Ziegenhirten«, bemerkte Aritane sarkastisch. »Du selbst hattest wohl keine Lust zu der Reise?« »Ich fand eine Entschuldigung, um zu bleiben«, sagte Bryn ein wenig zögernd. »Ich hielt es nicht für klug, so weit weg zu gehen, dass ich nur noch über Fernrede Verbindung zu dir aufnehmen könnte und dabei das Risiko eingehe, von den Oberen belauscht zu werden.« »Wenn du nicht die Fähigkeit hast, dich abzuschirmen, war das klug.« Aritane schaute Bryn mit leichter Verachtung an. »Aber warum bist du hergekommen? Ich wollte, dass du noch im Verborgenen bleibst, um uns zu warnen, falls Misstrauen entsteht.« »Die Oberen werden wichtigere Dinge im Kopf haben«, erwiderte Bryn leidenschaftlich. »Cullam hat mich gebeten, eine Botschaft an die hohen Gipfel weiterzuleiten. Ein Gelehrter ist 408
zur Hachalfeste gekommen, der alte Sagen sucht und nach altem Wissen fragt. Cullam spürt, dass er auf der Suche nach wahrer Magie ist. Er will wissen, was er dem Gelehrten sagen soll.« »Dieser hohlköpfige alte Mann?«, stieß Aritane hervor. »Er soll diesem Dummkopf nichts sagen – kein Wort. Wie sonst sollen unsere Fähigkeiten den Feind in Erstaunen versetzen? Überraschung ist unser größter Vorteil!« »Was tun wir dann?«, fragte Bryn. »Ich habe die Nachricht noch nicht weitergegeben, aber mir ist ein Tadel für die Verzögerung gewiss. Ich kann sie nicht viel länger zurückhalten, ohne Misstrauen zu erwecken. Wenn die Knochen zur Sonnenwende jedem Sheltya und jeder Soke raten, Jeirran in den Krieg zu folgen, wird es mir nichts nützen, wenn mir alles Wissen genommen wird, ehe du handelst!« »Komm mit.« Aritane drängte Bryn zur Rekin. »Wir müssen sofort mit Eresken sprechen.«
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Hachalfeste 15. Vorsommer
»Was wird er ihm wohl sagen?« ‘Gren rutschte auf seinem Stuhl hin und her, wie schon den ganzen Abend. »Vielleicht ...« »Vielleicht solltest du ein wenig Geduld haben«, entgegnete ich. Usara und Sorgrad waren in ein Gespräch mit einem alten Mann in Grau vertieft, doch das Gemurmel im Raum machte es unmöglich zu verstehen, was sie sagten. Ich war nicht weniger begierig darauf als ‘Gren, mehr zu erfahren, doch Sorgrad hatte uns entschieden mitgeteilt, dass wir nicht erwünscht seien. Usara als Gelehrten und Sorgrad als seinen Dolmetscher auszugeben war das Äußerste, das wir in Anbetracht der offenkundigen Vorsicht des alten Besuchers im Umgang mit Tiefländern riskieren konnten. Die Männer und Frauen der Soke hielten sich strikt an ihre Rollen und Pflichten rings um den alten Mann, und so hatte ich Rock und Mieder aus den Tiefen meiner Tasche hervorgekramt. Ich studierte den alten Mann unauffällig. Er war in Garvens Alter, mit zartem Knochenbau und hungrigem Gesichtsausdruck. Seine locker fallende graue Tunika und der Umhang sahen aus, als wären sie für einen größeren Mann gefertigt worden. Mit seinem dünnen weißen Haar und den tief liegenden, wässrigen Augen in dem runzligen Gesicht saß er zusammengekauert auf einem schön geschnitzten Stuhl und hörte Sorgrad aufmerksam zu. Eine Hand zitterte leicht, und ich hatte schon bemerkt, dass auch sein Kopf leicht wackelte. Ein so zerbrechlicher alter Mann konnte den Weg, den wir gekommen 410
waren, unmöglich zurückgelegt haben, nicht ohne Hilfe oder ein Reittier. »Du wolltest doch Doratie nach Cullam fragen«, erinnerte ich ‘Gren. Die alten Frauen hatten ihn als Erstens willkommen geheißen, als er ohne Gepäck und ohne Wasser hier ankam, nur mit einem Wanderstab. »Sie sagt, er kommt aus den östlichen Gebieten«, meinte ‘Gren achselzuckend. »Aus den Tälern, die zur Schlucht hinunterführen? Über die Hochebene im Westen? Er hat die Strecke in einem Tag zurückgelegt?« ‘Gren nickte. »Sheltya tun so etwas.« War das eine Lüge um die Bewohner der Soke zu beeindrucken? Oder entsprach es der Wahrheit? Was wäre mit einer Lüge gewonnen? Und wenn es die Wahrheit war? Dann hatten diese Sheltya, wer immer sie waren, dieselben Mittel, sich von einem Ort an den anderen zu versetzen, die die Elietimm zu einem so beängstigenden und gefährlichen Feind machten: Äthermagie. ‘Gren und ich saßen so dicht beisammen, wie wir nur konnten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen; deshalb konnten wir uns unterhalten, ohne dass andere mitzuhören vermochten. Der Helfer des Goldschmieds und eins der jüngeren Mädchen saßen am anderen Ende des Raumes ebenfalls eng beisammen. Den beleidigten Blicken nach zu schließen, die mir ein anderes Mädchen zuwarf, hatten wir den Platz eines anderen Pärchens besetzt, das sich näher kennen lernen wollte. »Was hast du heute gemacht?«, wollte ich wissen. »Ich habe geholfen, Maultiere gegen Würmer zu behandeln, habe mit den Kindern gespielt, habe Holz gehackt – das übliche 411
halt. Und ich habe den Kindern eine alte Geschichte über Lindwürmer erzählt, die sich unter den Bergen durchgruben und das Gestein auffraßen, bis Misaen sie fing und einsperrte.« Er lächelte. »Dann bist du auch derjenige, der nach Mitternacht aufsteht, wenn die Kleinen vor Albträumen ins Bett machen?« ‘Gren lachte. »Wie bist du mit diesen liebenswerten Damen zurechtgekommen?«, fragte er. »Ich habe mir sehr angenehm die Zeit damit vertrieben, das Zinn zu polieren.« Ich kratzte mir Sand und Holzasche unter den zersplitterten Fingernägeln hervor. »Guten Abend.« Merial setzte sich neben mich und nickte ‘Gren höflich zu. Seine Augen leuchteten beim Anblick des kleinen Tabletts auf, auf dem Kelche mit goldenem Rand und eine kleine grüne Glasflasche mit einem farblosen Branntwein standen. »Wir nennen es Tau der Berge. Wir machen es aus ...«, sie runzelte ein wenig die Stirn, als die einschenkte, »varsi. Ich kenne das Tiefländer-Wort dafür nicht.« »Roggen«, half ‘Gren aus. Ich nahm einen Schluck und war angenehm überrascht, wie weich der Branntwein war und wie schmackhaft das Aroma von Kräutern. »Meine Mutter hat ihren mit Vogelbeeren aromatisiert«, sagte ‘Gren, »aber ich finde, der hier ist charaktervoller.« »Er schmeckt sehr gut«, pflichtete ich bei. »Destilliert ihr selbst?« Wenn ich schon bei Sorgrads Gespräch nicht zuhören konnte, konnte ich mich wenigstens mit einigen Leuten anfreunden. Merial beschäftigte sich angelegentlich mit ihrem Spinnkorb. »Wenn wir genug Getreide übrig haben.« 412
»Jede Soke hat ihre eigenen Rezepte, ihn zu verfeinern und zu aromatisieren«, erklärte ‘Gren und hielt inne, um Merial mit fragend hochgezogener Braue anzusehen, ehe er auf ihr Nicken hin nach der Flasche griff. »Einer meiner Onkel sagte immer, wenn er sich mal in einem Unwetter im Gebirge verirrte, musste er nur eine Feste finden und dort den Bergtau probieren, schon wusste er, wo er war.« Merial lachte. »Das könnten bestimmt nur wenige Männer behaupten.« Sie spann geschickt Tierhaare zu einem feinen, gleichmäßigen Garn. »Ich habe noch nie Ziegen gesehen, denen man die Wolle ausrupft«, bemerkte ich. »Die Tiefland-Ziegen sind nur für Milch und Leder gut. Die Schafe werden dort geschoren.« »Damaris sagte, du musstest niesen, als du den Ziegen die Wolle ausgezupft hast?« Merial verbiss sich ein Lachen. »Ja, ich fürchte, das ist keine gute Aufgabe für mich.« Ich war gezwungen, meine Fähigkeiten als Hausmädchen wieder aufleben zulassen, um wenigstens ein bisschen von meinem Stolz zu retten. Merial fuhr mit ihrer Arbeit fort. »Schafwolle ist viel mühsamer zu spinnen.« Sie beugte sich vor und bürstete mir eine Wollflocke vom Ärmel. »Trotzdem, manchmal lohnt es sich schon wegen der Farben. Das Ziegengarn nimmt Farbe nicht sehr gut auf. Wir züchten sie auf verschiedene Farben ...« Sie hielt inne, und der Spinnrocken wurde unbeachtet langsamer. Die Haupttür schwang plötzlich auf, der kalte Windzug ließ die Lampen in den Nischen an den Wänden ringsum flackern. Vier schattenhafte Gestalten standen auf den Stufen hinter dem Torhüter. Jeder im Raum sprang auf, auch ich und ‘Gren. 413
Taegen rief einen scharfen Befehl. Unsicherheit lag in der Antwort des Torhüters. »Was ist los?«, fragte ich ‘Gren leise. »Sheltya«, murmelte er, ohne die Lippen zu bewegen. Ich warf einen Blick auf Merial und sah, dass ihr alles Blut aus dem Gesicht gewichen war. Damaris hinter ihr sah aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig. Ich schob mich näher an ‘Gren heran. Die Sheltya betraten den Raum, vier an der Zahl, in grauen Umhängen und grauen Kapuzen. Die Anführerin schlug ihre Kapuze zurück und enthüllte ein langes Gesicht mit tief liegenden arroganten Augen und einer Miene selbstsicherer Überlegenheit, die sie lächeln ließ. Ihr kurz geschnittenes Haar war von einem fast weißen Blond, und ihre Haut war so blass, dass an Schläfen und Hals blaue Adern durchschimmerten. Eine Eisjungfer. In ihren undurchsichtigen Augen lag wache Intelligenz. Sie wartete. Vielleicht war es ein Zeichen von Respekt; wahrscheinlicher jedoch war, dass sie die Verantwortung dem alten Cullam aufbürdete. Der alte Mann lehnte sich schwer auf seinen Stock; die Schüttellähmung ließ ihn zittern. Sorgrad neben ihm sah gleichzeitig besorgt und ehrfürchtig aus, genau wie jeder andere Sohn oder Neffe des Hauses. Dann sprach Cullam. Seine Stimme war fest und Respekt einflößend, trotz des unkontrollierbaren Zitterns seiner Hände. Er war unüberhörbar verärgert. Der Mann neben der Wortführerin schlug zögernd seine Kapuze zurück, und seine Stimme klang entschuldigend, als er auf Cullams Anklage antwortete. Die Frau schnitt beiden mit scharfer Stimme das Wort ab. Ich beobachtete die Gestalten hinter ihr, beide anonym unter ihrem 414
grauen Gewand, und vermeinte, einen Blick in meine Richtung zu bemerken, ein Aufblitzen von Augen, die weder blau noch braun waren. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich bewegte mich ein bisschen zur Seite, bis ich Merial zwischen mich und denjenigen gebracht hatte, der unter der Kapuze lauerte. Als die Sheltya schließlich die Stimmen erhoben, bemerkte ich, wie im Raum unsichere Blicke gewechselt wurden. »Du sagst, du bist Gelehrter?« Trotz des abgehackten Akzents der Frau war ihr Tormalin klar und deutlich. Sie machte ein paar Schritte nach vorn und starrte Usara voller Abscheu an. »Das ist richtig, meine Dame.« Usara verbeugte sich mit ausgesuchter Höflichkeit. »Aus Col, und ich bin begierig, die Geschichte eurer Berge und eures Volkes zu erkunden ...« Sie schnitt ihm mit einem verächtlichen Lachen das Wort ab. »Warum lügst du, wenn ich deine Täuschung sogleich durchschauen kann? Du bist ein Betrüger und Heuchler.« »Ich versichere Euch, meine Dame ... verzeiht, aber ich weiß weder Euren Namen noch Euren Titel ...« Usaras Wangen waren vor Zorn gerötet. »Du bist ein Magier, du handelst mit falscher Magie.« Sie hob die Stimme. »Tergeva!«, rief sie und stieß mit einem langen weißen Finger nach ihm. Was immer das hieß, es war offensichtlich unwillkommene Nachricht für diese gastfreundlichen Menschen. Jeder in Usaras Nähe machte hastig einen Schritt von ihm weg, auch Sorgrad. Sein Gesicht spiegelte Erschrecken, als die Frau nun anklagend mit dem Finger auf ihn wies. »Tergeva na tures«, spie sie. »Misaen en shel tures.« Sorgrad erwiderte irgendetwas. Ich verstand seine Worte nicht, da Merial zur Seite trat sich zu ‘Gren wandte. In ihren 415
Augen stand Kummer. ‘Gren nickte bedauernd. Ich hatte ihn noch nie so beschämt gesehen. »Du da, Waldfrau! Du gehörst zu ihnen!« Ich versuchte unschuldig auszusehen und verwünschte Merial insgeheim dafür, dass sie beiseite getreten war. »Ich reise nur mit ihnen ...« »Das ist keine Entschuldigung. Außerdem glaube ich dir nicht. Es geht das Gerücht, dass die Magier von Hadrumal das Volk des Waldes beeinflussen. Ich betrachte deine Lügen als Beweis dafür!« Konnte diese Frau einen denn nicht ausreden lassen? Wer war diese arrogante Hexe, die hier hereinkam und Richter und Geschworene spielte, ohne um Erlaubnis zu fragen? Dass ihre Anschuldigungen in gewissem Sinne wahr waren, spielte dabei keine Rolle. Ich ließ ihre Strafpredigt über mich ergehen und war bald ebenso allein wie Sorgrad, weil jeder vor mir zurückwich. Sie besaß Macht, das zu tun, was sie wollte, und das machte sie äußerst gefährlich. Doch ‘Gren zeigt sich wenig beeindruckt. Er kam um die Feuerstelle herum und stellte sich neben mich, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen, als er sich vor der Frau verbeugte. Er sagte etwas, das sie in ihrer Tirade innehalten. Ihre Lakaien horchten auf. »Reiz sie nicht, ‘Gren«, warnte ich. »Ihr werdet diesen Ort unverzüglich verlassen.« Die Hexe sprach wieder Tormalin. Sie deutete dramatisch auf die Tür, die noch immer offen stand. »Keine Feste wird solchen Betrügern Obdach gewähren!« »Kovar en ria ...«, sagte eins der jüngeren Mädchen unvermittelt, wurde tiefrot und verbarg das Gesicht in den Händen. Die Sheltya-Frau schaute sich ungläubig um, um zu sehen, 416
wer es gewagt hatte, ihre Entscheidung in Frage zu stellen. Ehe sie etwas sagen konnte, ergriff Taegan das Wort. »Kovar al tures«, sagte er zu Sorgrad. »Ilk maris en firath.« Seine Stimme war ein wenig brüchig, und er blickte Cullam flehentlich an. »Sikkar«, bestätigte der alte Mann. Dieses Mal war es an ihm, die Proteste der Frau zu ersticken, und er brachte sie mit unerwarteter Autorität zum Schweigen. Unruhe machte sich breit. »Was sagen sie?«, wollte ich von ‘Gren wissen. »Die Hexe will uns in die Nacht hinausjagen«, sagte er mit funkelnden Augen. »Taegan beruft sich auf das Recht des Reisefriedens, und der alte Cullam unterstützt ihn.« »Darf ich etwas sagen?« Usaras Bitte kam so unerwartet, dass sie jeden zum Schweigen brachte. »Würdest du bitte für mich übersetzen, Sorgrad?« Der Magier faltete die Hände. Er sah so gefährlich aus wie ein säugender Welpe, doch in seiner Haltung lag unverkennbar Autorität. »Es stimmt, dass ich sowohl Zauberer als auch Gelehrter der Geschichte bin. Ich trage den Ring eines Gelehrten von Col, wenn auch nicht im Augenblick. Ja, ich bin ein Magier aus Hadrumal, aber ich wusste nicht, dass das ein Vergehen gegen eure Sitten darstellt, solange ich auf eurem Hoheitsgebiet keine Magie ausübe. Ebenso wenig wusste ich, dass Sorgrad nicht hätte herkommen dürfen. Soviel ich weiß, wurde er aus seinem Heimatort verbannt – aber nicht für alle Zeiten.« Er hielt inne, um Luft zu holen, und Sorgrad übersetzte rasch für diejenigen, die der Rede des Zauberers nicht hatten folgen können. Als Sorgrad endete, wartete er einen Augenblick, bis Cullam nickte. »Sikkarl turat en tergeva«, sagte der alte Sheltya knapp. Usara nickte ihm zu. »Ich kam her, um möglichst viel von 417
eurer Geschichte und Weisheit zu lernen. Die Missverständnisse zwischen dem Tiefland und den Bergen gehen weit zurück und entstanden vielleicht aus Unwissenheit. Wissen kann diese Unkenntnis beilegen und uns alle vielleicht in die Lage versetzen, in Harmonie zu leben. Was die Magie angeht ...« »Schweig!«, rief die Frau heiser. »Über solche Dinge wirst du bei Androhung der Todesstrafe nicht reden!« Alle erstarrten, und ich schob eine Hand in meinen Ärmel und tastete nach dem Messer, das ich dort immer verborgen hielt. Meine anderen Waffen waren alle oben in dem Zimmer, in dem ich geschlafen hatte; deshalb hatte ich nur einen Wurf, und der musste treffen. Usaras unerschütterliche Ruhe verhöhnte das zornig gerötete Gesicht der Frau. Er warf einen kurzen Blick auf Cullam, dann auf Sorgrad, und wandte sich dann an Taegan. »Ich bitte um Entschuldigung, dass wir eure Gastfreundschaft in Anspruch genommen haben. Wir hatten nichts Böses im Sinn. Anstatt weiter Unfrieden über euer Haus zu bringen, werden wir unsere Habseligkeiten zusammensuchen und unverzüglich aufbrechen. Bitte nehmt mein aufrichtigstes Bedauern entgegen.« Er verbeugte sich und ging zur Treppe. Sorgrad übermittelte Usaras Worte laut genug an Taegan, dass jeder sie hören konnte, und fügte offenbar noch einiges hinzu. Taegans Antwort war unverständlich und knapp, klang aber nicht feindselig. Sorgrad verbeugte sich tief und folgte Usara. »Komm«, sagte ich zu ‘Gren. »Holen wir unseren Kram und verschwinden. Es ist an der Zeit, den Schaden zu begrenzen und ein neues Spiel zu beginnen.« Er folgte mir zur Tür zum Stiegenhaus, wo ich noch einmal über die Schulter blickte, ehe ich hinaufging. Die Sheltya saß 418
inmitten einer nervösen Gruppe von Frauen und Mädchen. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen und spielte nun die liebenswürdige Dame, die ihre zögernden Fragen beantwortete. Ihr männlicher Gefährte stand ein wenig verlegen bei den jüngeren Männern, von denen keiner viel zu sagen haben schien. Cullam blieb an Taegans Seite und unterhielt sich leise mit ihm, während er vorsichtige Blicke auf die Frau warf. Die übrigen Sheltya standen noch immer reglos an der Tür; nur der Wind blähte die Säume ihrer Gewänder. Der hinten Stehende wandte seinen Kapuzenkopf in meine Richtung, und dieses Mal sah ich in den Schatten grüne Augen aufblitzen. Eine unerklärliche Unruhe überfiel mich. Diese Augen hatten nicht das klare Grün des Waldvolkes, das die Blätter des Sommers spiegelte, sondern strahlten die Kälte des winterlichen Meeres aus. Warum beunruhigte mich das so sehr? Plötzliche Furcht ließ mich die Treppe hinaufeilen wie ein Kind, das sich unter die Decken flüchtet, um den Schrecken der Nacht zu entgehen. Ich stolperte auf den unebenen Stufen. »Langsam!«, rief ‘Gren, dessen Stiefel über die Stufen scharrten, die sich durch die gesamte Dicke der Mauer nach oben wanden. »Was hast du es denn so eilig?« Ich blieb heftig atmend stehen. »Ich ...« Ich hatte keine Antwort. »Warum könnt ihr nicht mal eine vernünftige Treppe bauen!« »Weil unterschiedliche Stufen jeden ins Stolpern bringen, der versucht, im Dunklen anzugreifen.« »Was?« Ich starrte ihn an. »In jeder Rekin gibt es ein anderes Muster«, erklärte er bereitwillig. »Du gehst sie jeden Tag rauf und runter, ohne es zu merken. Versuch mal als Fremder, dich in der Dunkelheit hin419
aufzuschleichen. Du liegst sofort auf der Nase.« Nachdem ich den nächsten Treppenabschnitt hinaufgestiegen war, gelangte ich ins Frauengeschoss und ging durch die kleineren Räume, die den verheirateten Damen vorbehalten waren, bis ich den großen Schlafsaal für die Mädchen und die Gäste erreichte. Ich schloss die kleine Truhe auf, die am Fußende des mir zugewiesenen Bettes stand, und holte ein wenig bedauernd mein Gepäck heraus. Ich hatte mich darauf gefreut, mehr über die gut gearbeiteten Schlösser des Bergvolkes zu lernen, die im ganzen Alten Imperium gehandelt wurden. Ich legte meine Röcke ab. Da wir hier ohnehin so willkommen waren wie ein tollwütiger Hund, konnte ich den Haushalt ebenso gut durch meinen Anblick in Hosen schockieren. Ich hatte jedenfalls nicht vor, nur mit dünner Wolle zwischen den beißenden Insekten und mir hinaus in die Dunkelheit zu gehen. Ich tauschte auch die weichen Schuhe gegen meine gewohnten Stiefel und prüfte die Dolche, die in den Nähten steckten, sowie die Wurfpfeile in meiner Gürteltasche. Ich traute dieser großmäuligen Hexe da unten ohne weiteres zu, dass sie versuchte, uns zu töten, sobald wir den Schutz der Feste hinter uns gelassen hatten; deshalb lockerte ich nun das Messer im Hemdsärmel und knöpfte die Manschette auf, sodass mir die Klinge blitzschnell in die Hand gleiten konnte. ‘Gren klopfte an die äußere Tür, und stopfte meine übrigen Sachen hastig in die Tasche und eilte zurück zur Treppe, wo er, Sorgrad und Usara schon auf mich warteten. »Wir werden unseren Abgang mit Würde und Höflichkeit machen«, sagte Usara entschieden. »Ich will nicht noch mehr Unruhe stiften.« »Sie ist es doch, die ihre Zunge nicht im Zaum halten kann«, 420
wandte ich ein. »Was ist mit ...« »Wir gehen«, sagte Usara und schnitt mir das Wort ab. »Solange Cullam auf ihrer Seite ist, können die anderen Sheltya der Soke nicht allzu viel Ärger machen.« Sorgrad legte eine Hand auf meinen Arm; seine Miene war ernst. »Wenn wir irgendetwas tun, das den alten Mann gegen uns aufbringt, könnte es sein, dass diese Leute ohne Hilfe einer Sheltya dastehen, wenn sie sie wirklich brauchen.« Ich sah ihn einen Augenblick an. »Na schön.« Ich ging zur Seite, um Usara auf der gewundenen Treppe den Vortritt zu lassen; dann folgte Sorgrad. Als ich hinunterging, rieb ich mir den Ellbogen, als hätte ich mich versehentlich an der Wand gestoßen. Ich fühlte ‘Grens Blick im Nacken, doch ich sah mich nicht nach ihm um. Gespräche in normalem Tonfall erfüllten jetzt den großen Raum, doch alles verfiel in Schweigen, als wir vier eintraten. Augenblicklich bildete sich für uns eine Gasse zur Tür. Usara ging langsam und lächelte nach allen Seiten, ganz wie Messire D’Olbriot bei einem Festessen für seine Lehnsleute. Sorgrad folgte ihm mit ausdrucksloser Miene. Dann folgte ich, dann ‘Gren, der plötzlich stehen blieb, als wir bei der Sheltya-Frau vorbeikamen. »Mer dalte enres?«, fragte er freundlich. »Dalrist maires reman ilkreal girast nor surel.« Die Frau blinzelte überrascht. Die älteren Frauen sahen verwirrt drein, und ein paar Mädchen kicherten. ‘Gren machte einen Schritt näher auf die Sheltya zu. In seinem Lächeln lag nun Bosheit. Ich packte ‘Grens Arm und zog ihn zur Tür, wo Usara auf uns wartete. Sein Blick war gereizt, der Sorgrads leicht misstrauisch. Ich senkte den Kopf, die Hände tief in den 421
Hosentaschen vergraben, und wagte nicht, die Kapuzengestalten anzusehen, die auf einer Seite standen. »Gehen wir«, sagte Usara grimmig, als wir unter den Blicken ungesehener Wachposten über den Hof gingen. Die Zwingerhunde waren von der Unruhe aufgewacht und bellte, und eine Laterne schwankte in der Dunkelheit, als jemand zu ihnen eilte. Wir wurden ohne ein Wort durch das Haupttor hinausgelassen und schlugen schweigend den Weg zum Fluss hinunter ein. Der Weg war nur ein helles Band im dunklen Gras; alles wirkte farblos im tiefen Zwielicht, doch es war hell genug, dass man erkennen konnten, wohin man trat, da die hellen Sterne und der kleinere, abnehmende Mond an einem klaren Himmel standen. Die Luft war kühl, aber nicht unangenehm, erfüllt von einem Duft nach sonnengedörrtem Gras. Wir stapften weiter, bis das Plätschern von Wasser uns verriet, dass wir uns dem Fluss näherten. »Können wir ohne Licht hinüber?« Usara spähte nach vorn. »Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, ein magisches Feuer zu beschwören, das uns den Weg zeigt.« Ich lachte pflichtschuldig über den schwachen Versuch zu scherzen, während die anderen weiterhin schwiegen, als wir langsam unseren Weg über die Trittsteine nahmen, glücklicherweise ohne Zwischenfall. Ich blieb stehen, um meinen Wasserschlauch zu füllen. Das Wasser war eisig, und ich spülte rasch das Taschentuch aus, das ich in der Hand gehalten hatte. »Wir gehen bis Tagesanbruch weiter«, sagte Sorgrad. »Wir wollen die Soke möglichst hinter uns lassen und so schnell wie möglich die tiefer gelegenen Dörfer erreichen.« »Dann können wir unseren nächsten Schritt planen«, stimmte ich zu. Ich saugte an dem leichten Schnitt am Daumenballen 422
und schmeckte das Blut. »Dann gehen wir nach Solura hinunter«, berichtigte Usara mich. »Wozu soll das gut sein?«, fragte ich. »Wir wissen jetzt, dass das Wissen, das wir suchen, hier oben zu finden ist. Was wir brauchen, ist ein Plan, wie wir darankommen!« Der Zauberer blieb stehen. Das schwache Licht glänzte auf seinem fast kahlen Schädel, sein Gesicht lag im Schatten. »Wissen ist kein Silberbecher, den man einfach stehlen kann, Livak!« »Wo steht das geschrieben, weiser Mann?«, gab ich zurück. »Stimmt. Du kannst nicht sagen, dass etwas unmöglich ist, ehe du es nicht versucht hast, Zauberer«, sagte ‘Gren und lächelte in der Dunkelheit. »Hast du einen besseren Plan?«, fragte Sorgrad. Das Knarren von Leder verriet, dass er die Hände in den Gürtel steckte. »Du hast dich doch darüber beklagt, Usara, dass wir im Wald nur unsere Zeit verschwenden«, sagte ich. »Jetzt wissen wir, wo wir suchen müssen. Wozu also die Verzögerung?« Der Zauberer beachtete mich nicht, sehr zu meiner Verärgerung. »Was genau hat diese Frau gesagt? Hat sie einen Grund genannt für ihren Hass auf unsere Magie?« Sorgrads Stimme war bitter. »Wir sind offenbar Abscheulichkeiten in Misaens Augen, ein übler Verrat an Maewelins Güte. Was wir anrühren, verpesten wir.« »Oh«, sagte Usara verdutzt. Er seufzte. »Wenn sie ein vernünftiges Argument hätten, und sei es noch so fehlerhaft, hätten wir vielleicht eine Chance gehabt, den Fehler in der Logik nachzuweisen. Wenn es aber eine Sache von tief verwurzeltem Glauben ist, ist jede Vernunft verschwendet.« »Warum sollten wir uns darum kümmern, mit ihr zu strei423
ten?«, fragte ich. Usara spähte zum den Himmel. »Morgen müssten wir die erste Sichel des größeren Mondes sehen. Wenn wir es bis zum Ende des Vorsommers zurück nach Pastamar schaffen, und solange gewisse Leute daran denken, dass der soluranische Kalender nicht ganz mit dem tormalinischen übereinstimmt, muss ich dort jemanden treffen.« »Wovon redest du überhaupt?« »Spuck’s aus.« »Was ist in Pastamar?« Usara schüttelte den Kopf über all unsere Fragen. »In Anbetracht der Tatsache, dass wir wissen, dass Zauberkunst-Hexer Gespräche aus gewisser Entfernung belauschen können, würde ich es vorziehen, möglichst weit weg von dieser Frau kommen, ehe ich weiter darüber rede.« Das brachte uns alle zum Schweigen. Wir begannen den langen, mühsamen Marsch den Hang des Haupttales hinauf, und ich hatte Mühe, meinen Ärger im Zaum zu halten. Sobald Usara wieder zu reden bereit war, würde meine erste Frage an ihn lauten, womit er wieder gutmachen wollte, dass wir die Sommersonnenwende in einem verlassenen soluranischen Dorf verbringen sollten. Und er würde mir erklären müssen, wie wir das unzweifelhaft vorhandene Wissen der Sheltya in unsere Hände bekommen sollten. Usara konnte ja aufgeben, wenn er wollte – ich nicht. Schon wegen dieser Hexe nicht.
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7.
Als unsere Kinder noch klein waren, zogen wir in das mildere Klima von Dalasor. Ihre Kinderfrau hat sie mit diesem Lied in den Schlaf gesungen, und seine mahnenden Worte erwiesen sich als wirksam, ihr unwiderstehliches Verlangen zu bremsen, über die endlosen Ebenen zu wandern, die unseren Wohnort umgaben. Der Regenbogen hilft dir, langweiligen Tagen zu entfliehen, doch du kannst auch verloren gehen. Du siehst nicht deines Schicksals Tarnung, wenn Edelsteinfarben deine Augen blenden. Die Schatten öffnen Tore und dämmrige Labyrinthe die den Sterblichen narren Wagst du es hineinzugehen? Wenn die tiefe Dunkelheit Mond und Sterne verschluckt wenn keine Sonne dir zeigt wo du bist, wohin du gehst, was wird dich dann leiten? Also bleib auf dem Weg wandere nicht zu weit hinaus, gibt Acht was deine Mutter sagt 425
bleib weg vom gebrochenen Licht der Düsternis, und dir wird nichts geschehen.
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Pastamar-Stadt, Solura 41. Vorsommer (tormalinischer Kalender) 27. Lytelar (soluranischer Kalender)
»Diese Leute wissen wirklich, wie man sich vergnügt.« Ich gab mir keine Mühe, meinen Sarkasmus zu verbergen. »Ich wette, es ist schwieriger, als es aussieht«, meinte ‘Gren. Wir sahen einem Jungen zu, der einen Holzstab aufrecht auf einem anderen balancierte. Beide Stücke waren ungefähr so lang wie mein Arm und so dick wie ein Kreis, den ich mit Zeigefinger und Daumen bilden konnte. Plötzlich riss der Junge den Arm hoch, sodass der obere Stab hoch in die Luft stieg; dann fiel er herab, und der Junge traf ihn mit dem Stab, den er noch in der Hand hielt, genau in der Mitte, dass er in hohem Bogen davonflog. Die Kinder jubelten, und ein kleiner Junge lief über den grasbewachsenen Streifen, der die Gemüsegärten von dem breiten, schlammigen Strom des Pasfal trennte. Er holte den Holzstab und markierte die Stelle, an der er aufgeschlagen war, mit einem Aststückchen. Die Jugend nutzte ihre Mittagspause, um für die bevorstehenden Sonnwendfeiern zu üben. Ein Tor im Zaun öffnete sich, und eine Frau schaute heraus, um nach dem Grund für die Unruhe zu sehen. Sie rief etwas, und nach ein paar trotzigen Erwiderungen wanderten die Jungen durch die Gassen davon, die zum Marktplatz und zur Hochstraße führten. Ein paar riefen noch spöttische Beleidigungen, doch erst, nachdem die Frau ihr Tor wieder fest verschlossen hatten. Der süße Duft von Rosen lag in der Luft. Die meis427
ten Zäune waren mit gelben, rosa geränderten Blüten bedeckt, und wir hatten unsere Wirtin ihren Überlegungen überlassen, wann wohl der beste Zeitpunkt sei, die ihren zu pflücken, um ihre Mittsommer-Türgirlande zu flechten. Früh genug, um ihren Nachbarn einen Schritt voraus zu sein, aber spät genug, dass die Blüten nicht zu rasch verwelkten. Das war ihr Dilemma. »Wann ist die Sonnenwende?«, fragte ich ‘Gren, als wir weiter ziellos flussaufwärts wanderten und auf grobem Brot und scharfem gelbem Käse kauten. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal einen Almanach gesehen habe.« »Deinen oder den eines anderen?« Er bot mit ein Stück kalten Speck an. Ich sah ihn an. »Sonnenwende ist Sonnenwende, egal wo man ist, ‘Gren. Deshalb sind wir doch hier.« »Vier Tage von heute an«, sagte er nach einem Moment des Überlegens, »und sie haben zwei Feiertage.« »In Ensaimin gibt es fünf«, sagte ich, »und dort kann man viel aufregendere Dinge sehen als Bauernjungen, die den Saft aus Feuerholz prügeln.« »Es wird Freudenfeuer geben«, meinte ‘Gren aufmunternd. »Und Wildbraten. Lord Pastiss schenkt der Stadt ein paar Hirsche für das Fest.« Das sollte er auch, wenn er so versessen darauf war, dass die Leute sich den Rücken krumm schufteten, um sich ihre freien Tage zu verdienen. Ich blickte zu dem massiven Komplex von Burg Pastamar auf, deren Bergfried fern und unerreichbar in einem Ring aus Mauern stand. Von hohen Türmen aus konnte frühzeitig vor einem Angriff gewarnt und vor allem die große Brücke bewacht werden. Die steinernen Bögen erhoben sich über uns, als wir am Ufer entlangwanderten und dann über den 428
Fluss schritten, der in der Sonnenhitze nur wenig Wasser führte. Lord Pastiss’ Wappen, der silberne Wildschweinschädel auf blauem Grund, war auf einem gemeißelten und bemalten steinernen Schild über dem Mittelbogen und auf den Bannern zu sehen, die von den Wachhäuschen an beiden Ende der Brücke und von fast jedem Punkt der großen, grauen Festung flatterten. Er kam sich bestimmt wichtig vor, wenn er überall sein Zeichen sah. Es entschädigte ihn dafür, dass sein Lehen hauptsächlich aus buschbestandenem Weideland, ungezähmten Waldgebieten und Marschland bestand, dem die Bauern mühsam die Ernten abrangen. Wagen ratterten über die Brücke und hielten an, um ihre Maut zu zahlen. Stimmen wehten zu uns, die über Recht oder Unrecht soluranischer Zölle stritten, welche nach Wagengröße statt nach Achsenzahl berechnet wurden. Sie zu verstehen, war so etwas wie eine Belohnung dafür, dass ich die endlose Wanderung den Pasfal hinunter damit verbracht hatte, Sorgrad in den Ohren zu liegen, mich zu lehren, was er von der soluranischen Sprache wusste, und meine Kenntnisse der Bergsprache zu erweitern. ‘Gren betrachtete den schlammigen Pfad unter dem nächstgelegenen Brückenpfeiler voller Abneigung. Wir hatten uns gegenseitig immer wieder daran erinnert, dass wir Geduld zeigen wollten, doch ich hatte dazu keine Lust mehr, und er auch nicht. »Wann, sagte Usara, kommt diese geheimnisvolle Person?« In stillschweigendem Einverständnis machten wir kehrt und gingen in die kleine Stadt, und mir fiel wieder ein, dass ich jemanden auftreiben musste, der meine Stiefel neu besohlte. »Er sagte, zum Sonnwend-Fest.« Ich blieb an der Ecke einer Straße 429
stehen, die nur aus gestampfter Erde ohne einen einzigen Pflasterstein bestand. Solange die Sommersonne sie trocken hielt, war das kein größeres Problem, aber wenn die Herbstregen fielen, würde man hier bis zu den Achsen im Schlamm waten. Na ja, wie auch die Runen fielen, bis dahin war ich längst weg von hier. »Dieser Freund von deinem Magier bringt hoffentlich etwas Nützliches zum Fest mit«, murmelte ‘Gren. »Wir sind sonst einen ziemlich weiten Weg für nichts und wieder nichts aus den Bergen gekommen, wenn er mit leeren Händen erscheint.« »Er sagt, sein Freund wüsste, wie man mit Anyatimm in den Bergen südlich von Mandarkin Kontakt aufnimmt und sich nach den Sheltya dort oben erkundigt.« Meine ruhige Antwort war eine bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass ich mit Usara den ganzen Weg von den äußersten tributpflichtigen Orten von Pasfal bis hinunter zu diesem breiten Wasserweg über diese Frage gestritten hatte. »Woher sollen wir denn wissen, dass diese Sheltya nicht jede Rekin, Feste und Soke von der Schlucht bis zum Wildwald vor uns gewarnt hat?«, gab ‘Gren zurück. »Sag das Sorgrad«, erwiderte ich. »Solange er den Zauberer unterstützt, gehen wir entweder mit ihm zusammen oder machen uns allein auf den Weg.« Sorgrad hatte mit der Autorität eines älteren Bruders darauf bestanden, dass wir uns so lange still verhielten, bis der Widerhall unserer überstürzten Vertreibung verklungen war. Ich empfand eine seltsame Aufwallung von Furcht, und das nicht zum ersten Mal, als ich darüber nachdachte, ob wir in die Berge zurückgehen sollten. Wurde ich zum Feigling? ‘Gren murmelte vor sich hin, die Hände in den Hosenta430
schen. »Ach komm, vielleicht ist es gar nicht so übel, die Feiertage hier zu verbringen.« Ich wandte mich die breite Straße hinunter, über die zu beiden Seiten die strohgedeckten Fachwerkhäuser ragten. Ein paar der niedrigen Gebäude hatten trübes Glas in den Fenstern, doch die meisten besaßen nur hölzerne Schlagläden, die nicht sehr sicher aussahen. Ich bezweifelte, dass jemand etwas besaß, das sich zu stehlen lohnte. Wir gingen um einen stinkenden Haufen Mörtel herum, der mit Mist gemischt wurde und mit dem ein Bauer die Wände seines Hofes aus Stroh und Lehm ausbessern wollte. Jeder, der Geld oder Einfluss besaß und ein paar Tage hier blieb, übernachtete in der Burg. Je wichtiger man war, desto näher wohnte man am Bergfried, in dem Lord Pastiss und seine Familie Hof hielten. Alle anderen hatten die Wahl zwischen den verschiedenen Häusern, die Bier ausschenkten, Speisen anboten und Zimmer vermieteten. Soluraner verdienen sich auf vielerlei Weise ihren Lebensunterhalt. Ich stieß die Tür zu unserer Unterkunft auf. Der Schweißgeruch im dämmrigen Innern verriet, dass unsere Wirtin wieder irgendwo eine Ladung abgelegter Kleidung erstanden hatte. Sie verdiente das meiste Geld damit, dass sie ihren Nachbarn abgetragene Kleider abbettelte, sie wusch und flickte und die minderwertigen Sachen dann wieder verkaufte. Trotzdem betrachtete sie sich als recht gut gestellt. Sie hatte mir stolz erklärt, dass es die Gelenke von Rinderknochen seien, die gespalten und in die Erde getrieben worden waren, was ich anfangs für seltsam geformte Pflastersteine auf dem Boden gehalten hatte. Das ergab eine haltbare Oberfläche, fußwärmer als Stein, und galt in dieser Gegend als Luxus. 431
Von Sorgrad oder Usara war nichts zu sehen, also schloss ich die Tür und schaute ‘Gren an. »Was glaubst du, wo sie sind?« »Was zu essen holen?«, antwortete er hoffnungsfroh. »Livak!« So weit von zu Hause entfernt bei meinem Namen gerufen zu werden, ließ mich herumfahren. Ein schwer gebauter, muskelbepackter Mann mit dickem Nacken ritt auf einem schwarzen Pferd heran. Das kurz geschnittene Haar und der Vollbart des Mannes besaßen dieselbe Farbe wie das Fell seines Pferdes. Er trug einen dunkelroten Umhang über einem Kettenhemd, und seine Schultern wirkten massig durch die Polsterung seiner Tunika; seine riesigen Hände lagen an den Zügeln. Ein paar Bauern blickten ihn ohne Neugier an: Große, massige Männer mit Langschwertern waren ein gewohnter Anblick in der Burg und ihrer Umgegend. »Wer ist der Tanzbär?«, fragte ‘Gren. »Er heißt Darni.« Ich lachte über ‘Grens durchaus passenden Vergleich. »Aber man muss aufpassen, dass man nicht in Reichweite der Kette eines Bären kommt, nicht wahr? Der hier ist besonders gefährlich.« »Livak«, grüßte Darni mich mit einem knappen Nicken, als hätten wir uns erst vor wenigen Tagen das letzte Mal gesprochen. »Oder bist du unter einem anderen Namen hier?« Sein breites, grinsendes Gesicht unter dem struppigen Bart war schwer zu lesen. Ich lächelte dünn zurück. »Livak reicht.« Ich schaute Sorgren an. »‘Gren, das ist Darni, ein Agent des Erzmagiers. Er war derjenige, der mich vor die Wahl gestellt hat, entweder für Planir zu arbeiten oder in Ketten der Stadtwache übergeben zu werden.« 432
‘Gren grinste zu Darni hinauf. »Sieht so aus, wärst du unserem Mädchen noch was schuldig, Freund.« Darni sah auf ihn herab. »Abgesehen davon, dass ich ihr das Leben gerettet habe?« »Du und die Hälfte der Zauberer von Hadrumal«, spottete ich. »Jedenfalls waren wir den Elietimm bereits entkommen, ehe du aufgetaucht bist.« »Wo ist ‘Sar?« Darni drehte sich im Sattel um. Erst jetzt sah ich, dass er einen Gefährten hatte. Der zweite Mann trieb sein Pferd voran. Er war von durchschnittlicher Größe und Gestalt mit mittelbraunem Haar und der hellen Haut eines Menschen, der an ein Leben im Haus gewöhnt ist. Seine Augen waren groß, von einem weichen Braun, einen Ton dunkler als sein Haar, und standen unter den hohen, gewölbten Brauen weit auseinander. Sein unauffälliges Gesicht wurde von einem großen Schnurrbart geziert; das Kinn war bis auf einen kleinen Spitzbart glatt rasiert. »Wer ist dein Freund?«, fragte ich. »Ich bin Gilmarten Forn«, antwortete der Fremde höflich und mit einem leichten soluranischen Akzent. Er nahm schwungvoll seinen von einem Federbusch gekrönten Hut ab und machte eine für einen Mann zu Pferde recht elegante Verbeugung. »Ich gehöre zum fünften Orden von Eade und stehe in Diensten Lord Astrads von Burg Stradar.« »Wie schön für dich«, murmelte ‘Gren. »Freut mich, dich kennen zu lernen.« Ich wollte gerade sagen, dass ich keine Ahnung hatte, wo Usara war, als ich den Magier herbeieilen sah. Sorgrad kam etwas langsamer hinterher. »Da ist dein Zauberer.« Darni stieg ab, wandte sich an einen dümmlich dreinblicken433
den Jungen und gab ihm ein paar Münzen. »Hier, bring die Pferde zu den Ställen der Stadtwache in der Burg. Sag dem Wachführer, er soll sie in Lord Astrads Auftrag unterbringen.« Darni nahm seine Satteltaschen ab. Gilmarten glitt vom Pferd. Sein Gesicht leuchtete vor Neugier, während er Usara musterte. Der Junge nahm die Zügel und führte die Tiere davon. »Darni ... schön, dich zu sehen«, sagte Usara ein wenig atemlos. »Ich hatte dich erst in ein paar Tagen erwartet.« »Planir sagte, dass es wichtig ist«, erwiderte Darni. »Wo können wir reden?« Ich deutete auf ein Haus, über dessen Tür ein Reisigbündel genagelt war, denn die Soluraner hielten nichts von Wirtshausschildern. »Vielleicht bei einem Glas?« Die Schänke war beinahe leer, als wir eintraten, und unter Darnis finsterem Blick beschlossen diejenigen, die noch über ihren Krügen hockten, besser woanders weiterzutrinken. Wir setzten uns auf niedrige Hocker und bekamen ein ziemlich schmackhaftes Bier vorgesetzt. ‘Gren und Sorgrad musterten Darni, Gilmarten beobachtete Usara, und der Zauberer sah der Reihe nach jeden an. Ich fing seinen Blick auf. »Jetzt, wo wir das Vergnügen von Darnis Gesellschaft genießen, was tun wir als Nächstes?«, fragte ich. »Wie schnell können wir zurück ins Hochland?« Usara schaute ein wenig durchtrieben drein. »Ich finde, wir haben auf dieser Reise so viel gelernt, wie wir nur hoffen konnten, Livak. Darni ist auf dem Rückweg nach Hadrumal, und wir sollten ihn begleiten. Er ist unsere Eskorte durch den Großen Wald. Sobald wir zurück in Ensaimin sind, können wir eine Kutsche nach Col nehmen und dort ein Schiff besteigen ...« 434
»Nun mal langsam, Zauberer!« Ich saß offenen Mundes da. »Du gibst auf?« »Ich gebe zu, dass wir zum Ende unserer Reise gekommen sind.« Er räusperte sich. »Wir haben festgestellt, dass es Ätherwissen in den Traditionen dieser Sheltya gibt, und das ist eine wertvolle Information. Planir soll entscheiden, wie wir sie weiter verfolgen.« »Was wir verfolgen sollten, ist dieses kaltschnäuzige Weib, das uns hinausgeworfen hat!«, gab ich zurück. »Wo sie jeden Bergbewohner gegen uns aufbringen kann?«, fragte Usara. »Du wolltest nie zurückzugehen, nicht wahr?« Ich schalt mich eine vertrauensselige Närrin. »Ich hielt es für möglich, dass Gilmarten uns vielleicht helfen könnte«, antwortete Usara, bemüht, nicht beleidigt zu klingen. »Nun stellt sich heraus, dass es nicht der Fall ist, also würde ich sagen, dass es das Ende dieser Angelegenheit bedeutet, vorerst jedenfalls.« »Moment mal.« Ich hob einen Finger. »Woher weißt du das, wenn ihr zwei euch doch gerade erst begegnet seid?« Ich drehte mich auf dem Hocker herum, um den Neuankömmling prüfend zu betrachten. »Es stimmt schon, dass wir uns gerade erst getroffen haben«, sagte er höflich, »aber wir haben seit ein paar Tagen Kontakt miteinander.« »Du bist auch ein ...« Es gelang mir gerade noch, Schimpfworte zu vermeiden. »Ein Zauberer?« »Natürlich.« Gilmarten nickte verwirrt. »Ihr habt seit ein paar Tagen Kontakt?« Ich drehte mich zu Usara um, der den Anstand hatte, rot zu werden. »Was geht hier 435
vor?« »Ich habe mich mit der Frage beschäftigt, auf welche Art und Weise die Soluraner ihre Zauberer ausbilden«, erwiderte Darni ans Stelle Usaras. »Gilmarten kommt mit nach Hadrumal, um Planir zu treffen. Als immer wahrscheinlicher wurde, dass euer Plan zu nichts führte, trug Planir mir auf, ‘Sar hier zu treffen und nach Hause zu bringen.« Darni sollte die Beute zum Erzmagier nach Hause bringen, während ich mit leeren Händen zurückblieb? Nicht, wenn ich es verhindern konnte! »Dann hast du auch mit Planir in Verbindung gestanden, Usara? Und du bist nicht auf den Gedanken gekommen, uns das zu sagen? Hattest du überhaupt Interesse an unserer Suche, oder habe ich Planir nur das Geld erspart, dir ein Kindermädchen für die Reise zu beschaffen?« Ich wollte ihm nicht die Genugtuung geben, dass ich die Beherrschung verlor, doch in meinem Innern loderte Wut. »Ich finde, dass ich aus einer so weiten Reise das Beste gemacht habe, indem ich mehrere Aufträge gleichzeitig erledigte«, erwiderte der Magier wichtigtuerisch. »Man sagt, dass ein Narr, der zwei Hasen auf einmal verfolgt, am Ende mit keinem dasteht«, fauchte ich. »Wenn Usara die Aufgabe nicht bis zum Ende erfüllen will, sind wir ohne ihn besser dran.« Sorgrad sprach aus der Ecke, in der er schweigend gesessen und zugesehen hatte. »Wir nehmen einfach die Straße nach Osten und machen es auf unsere Art.« »Wie bitte?«, fragte Usara verdutzt. Ich winkte ab. »Mach dir keine Gedanken. Tu das, was Planir dir sagt.« Ich wandte mich an Gilmarten, der verwirrt dreinschaute. 436
»Und du bist auch Magier? Aber hier in Solura stehst du doch nicht unter Hadrumals Knute, oder?« »Nein, wir folgen einer ganz anderen Tradition«, antwortete er. »Wenn ein Kind sich als magisch begabt erweist, verlangt das königliche Gesetz, dass ein Magier seine Kräfte prüft. Wenn sie stark genug sind, um ausgebildet zu werden, muss das Kind bei einem Zauberer in die Lehre gegeben werden, oder es wird gebrandmarkt und eingesperrt. Die Könige von Solura waren zu Recht über die möglichen Gefahren besorgt, die außer Kontrolle geratene Magie birgt. Kein Magier darf jemals mehr als einen Lehrling haben, der weniger als vier Jahre dabei ist, und er bleibt für die Taten aller Lehrlinge lebenslang verantwortlich, ob sie nun bei ihm bleiben oder sich woanders nach einer Pfründe umsehen.« »Pfründe?« Sorgrad hörte mit Interesse zu. Gilmarten stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Die tüchtigsten Magier werden von einem Lord angestellt, um für das Wohl seines Lehens zu arbeiten. Natürlich unterliegt ein Lord schweren Strafen unter dem königlichen Gesetz, wenn er die Künste seines Zauberers missbraucht. Jeder andere Magier im Orden des Beschuldigten kann gegen ihn eingesetzt werden, sollte es nötig sein.« Usara blickte auf. »Was ist die Bedeutung eines Ordens?« »Ein Orden bestimmt die Abstammung des Lehrverhältnisses«, erklärte Gilmarten bereitwillig. »Ich gehöre zum fünften Orden von Eade. Eade war ein berühmter Zauberer, der weithin bewundert wurde. Seine Lehrlinge wurden also zum ersten Orden, diejenigen, die sie ausbildeten, der zweite Orden, deren Schüler wiederum der dritte und so weiter.« Das interessierte mich nicht; deshalb unterbrach ich, als der 437
Soluraner kurz innehielt: »Dann habt du und Usara euch auf dem Weg nach Hadrumal bestimmt viel zu erzählen. Wir reisen mit dir durch den Großen Wald, Darni, aber danach müsst ihr allein zurechtkommen. Die Straßen nach Col hinunter sollten ziemlich sicher sein, jetzt, wo die Ernte im Gang ist. Kein Bandit, der bei Verstand ist, arbeitet auf der Straße, wenn sie mit Fuhrwerken verstopft ist, selbst wenn lauter Hühnchen vorbeispazieren, die nur darauf warten, gerupft zu werden.« Ich lächelte Usara an. »Ihr wolltet doch nach Osten, hattet ihr das nicht gesagt?« Darni wollte meinen Köder nicht schnappen. »In Dalasor müsst ihr aufpassen! Da gibt es Söldnertruppen, die zu dieser Jahreszeit Überfalle im Norden von Lescar unternehmen.« »Wenn sie etwas taugen, kennen wir sie wahrscheinlich.« ‘Gren war unbesorgt. »Wenn nicht, wird es ziemlich einfach sein, sie die Disteln von unten angrinsen zu lassen.« Darni wandte sich wieder der Gegenwart zu. »Ihr wart in Lescar? Mit wem?« »Wynalds Kriegsbande, die Bierbrauer-Jungs, Arkady der Rote ...« Sorgrad zählte sie an einer Hand ab und überlegte. »Starkarms Trupp und die Eisenfäuste«, half ‘Gren ihm aus. »Wann wart ihr mit Arkady zusammen?«, fragte Darni misstrauisch. »Wir waren an der Seye-Brücke, wenn du’s wissen willst.« Sorgrad ballte die Fäuste. »Auf welcher Seite?« Darni wappnete sich ebenso. Ich sah mich nach der schnellsten Möglichkeit um, nach draußen zu gelangen; hier drin war kein Platz für Zuschauer und eine Prügelei. »Auf beiden«, grinste Sorgrad. 438
Darnis plötzliches Lachen dröhnte durch den niedrigen Raum. »Dann zahle ich lieber das Bier.« Mit einem kostenlosen Bier in der Hand würde ‘Gren lieber Geschichten über Unglücke und Beute austauschen, als festzustellen, ob er Darni die Zähne ausschlagen konnte, also entspannte ich mich. Darni begann, von den lescarischen Bürgerkriegen zu erzählen, während ich Sorgrads Blick suchte und mit dem Kopf unauffällig zur Tür deutete. Wir mussten miteinander reden, und da Usara bewusst seinen Hocker weggedreht hatte, um mich von seiner Unterhaltung mit Gilmarten auszuschließen, schien es mir ein idealer Zeitpunkt zu sein. Ich leerte mein Bier und stand auf. »Ich muss mal«, verkündete ich. Draußen setzte ich mich auf eine Bank in die Sonne und schloss die Augen. Ein Schatten fiel auf mich, und ich blinzelt und sah Sorgrad, dessen Gestalt sich vor dem hellen Himmel abzeichnete. »Dann ist es dir also ernst damit, nach Osten zu gehen?« »Jetzt, da wir wissen, dass die Sheltya wirklich über das Wissen verfügen, das wir wollen, würde ich sagen, wir versuchen es in Gidesta.« Er setzte sich neben mich. »Diese Frau, die in der Hachalfeste ihren Einfluss geltend gemacht hat, wird sich nicht die Mühe machen, ihre Nachricht so weit zu schicken.« »Glaubst du wirklich, dass sie es auf dieser Seite der Schlucht versucht?« Ich war immer noch nicht ganz überzeugt. »Oh, gewiss«, versicherte Sorgrad. »Deswegen hatten wir auch keine andere Wahl, als wieder ins Tiefland zurückzugehen. Wir hätten keine Hilfe, geschweige denn Obdach bekommen, hätte sich die Nachricht verbreitet, dass man uns meiden soll.« Er lächelte. »Du hast doch nicht geglaubt, dass ich das nur getan habe, weil Usara es sagte, oder?« 439
»Ha!« Ich machte meinem Ärger Luft. »Er hat die ganze Zeit ein doppeltes Spiel gespielt. Meinst du, ein Zauberer ist jemals aufrichtig? Ich hatte gehofft, er wäre in der Lage, dies hier nutzbringend für mich zu verwenden.« Ich hielt ein kleines Messer hoch, wie man es zum Reinigen der Fingernägel oder zum Schneiden von Fäden benutzt. Die Scheide war abgegriffen und fleckig, die Lederschlaufe an der Oberseite zerrissen. Man musste schon sehr genau hinschauen, um zu erkennen, dass sie durchgeschnitten worden war. »Hast du es der Sheltya abgenommen?« Sorgrad nahm es und betrachtete es eingehend. »Es ist schon eine Weile her, dass du und ‘Gren als Diebe gearbeitet habt, aber du hast deine Fingerfertigkeit nicht verloren, stimmt’s?« »Was hat er zu ihr gesagt?« Sorgrad kicherte. »Er hat sie gefragt, ob sie Schwestern hätte. Sagte, eine Frau wie sie setze einem Mann mehr Hörner auf als eine liebestolle Ziege.« Er gab mir das Messer zurück. »Was hast du denn gedacht, was Usara damit anstellen könnte?« »Sie bei ihren Gesprächen belauschen, ihre Spur zu anderen Sheltya verfolgen ... ich weiß nicht.« Ich zuckte die Achseln. »Damals hielt ich es für eine gute Idee.« »Magier machen nichts als Ärger«, erwiderte Sorgrad. »Lass uns in Gidesta noch mal von vorn anfangen. Wir können das, was wir finden, deinem Messire übergeben, und er hat dann das Vergnügen, mit Planir zu feilschen.« Ich seufzte. »Glaubst du, wir finden etwas im Osten? Ich habe das Gefühl, ein halbes Jahr damit vertan zu haben, Zauberer in den Schatten zu jagen, ohne dass dabei etwas herausgekommen ist.« »Es ist ein hohes Risiko, aber das zahlt sich oft am meisten 440
aus.« Doch Sorgrads Miene verriet seine eigenen Zweifel, jetzt, wo wir beide unter uns waren. »Wenn wir jemanden aufspüren können, der etwas über die Sheltya und ihre Kenntnisse weiß, schrecke ich vor nichts zurück, um sie festzunageln. Sie haben mich als Kind von zu Hause fortgejagt, aber Maewelin soll mich ertränken, wenn ich zulasse, dass sie mir das ganze Bergland verbieten.« Seines grimmigen Tonfalls wegen schaute ich ihn an, doch zu meiner Überraschung lächelte er. »Und was noch wichtiger ist – ich hatte vergessen, wie langweilig und lästig die soluranischen Grenzen sein können.« Er deutete auf die verschlafene Kleinstadt, die in der Mittagshitze döste, unter die überhängenden Mauern der Burg gekuschelt. »Sobald er ein paar Tage mit Darni Erinnerungen ausgetauscht hat, wird ‘Gren ganz wild darauf sein, nach Lescar zurückzukommen und wirklich etwas zu bewegen.« Sorgrad legte aufmunternd einen Arm um meine Schultern. »Es sind nur die gut aussehenden Prinzen in Balladen, die immer den kürzesten Weg gehen und am Ende einen Haufen Gold finden. Wenn es so einfach wäre, würde das Ganze keinen Spaß mehr machen.« »Im Augenblick käme ich auch mit ein bisschen weniger Spaß aus«, sagte ich. »Wenn du Langeweile willst, bist du am richtigen Ort«, antwortete er. »Solura ist berühmt dafür, wie für seine Wolle.« »Und seine Pferde.« Ich setzte mich auf. »Wenn wir die Hochstraße zurück nehmen, sollten wir lieber ein paar Hufeisen abnutzen als unsere Stiefelsohlen. Usara müsste noch reichlich von Planirs Geld haben, und ich wette, Darni reist auch nicht nur mit Kupfermünzen und gutem Willen. Der Erzmagier kann uns ein paar Pferde kaufen, meinst du nicht?« 441
»Das ist das Mindeste, was er tun kann«, stimmte Sorgrad mir zu. »Wie wär’s, wenn wir mit diesem Oberwachmann reden und herausfinden, wer für Lord Pastiss mit Pferden handelt?« Ich nickte, stand auf und wandte mich entschlossen der nächsten Phase dieses Abenteuers zu.
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Die Große West-Straße 2. Nachsommer
Eresken bewegte sich vorsichtig durch den sonnengesprenktelten Wald. Der würzige Duft nach Tannen und Fichten wich hier einem feuchteren, erdigeren Duft, der schwer in der warmen, reglosen Luft unter den im dichten sommerlichen Blätterkleid stehenden Bäumen hing. Die Tiefland-Wälder waren ihm aus der Ferne schön erschienen, doch von nahem betrachtet waren die Bäume hässlich; sie waren von ungleichmäßigem Wuchs, von Schlinggewächsen überwuchert oder vom Wetter geschädigt. Eresken ließ sich langsam auf die Knie nieder und kauerte sich hinter den dicken Stamm eines missgestalten Baumes, dessen knotige Borke feucht vor Moos war. Teiriol folgte ihm und achtete sorgsam darauf, dass die Blätter nicht unter seinen schweren Stiefeln raschelten. »Was siehst du?« Das Gesicht des jüngeren Mannes war vor Erwartung angespannt. Eresken streckte den Arm aus. Die blasse Haut war jetzt sonnengebräunt. »Dort werden wir sie treffen, mein Freund.« Teiriol runzelte die Stirn. »Auf offener Straße?« Eresken legte eine Hand auf Teiriols gepanzerte Schulter, teils zur Beruhigung, teils als stumme Warnung. »Ich werde dafür sorgen, dass es keine Zeugen gibt. Falls jemand kommt, werde ich Sheltya-Künste einsetzen, um die Erinnerung aus seinem Gedächtnis zu löschen« »Wann werden sie hier sein?« Teiriol schaute vergeblich hin443
auf zur Sonne, die vom dichten Blätterdach verborgen wurde. Seine Stimme klang unglücklich. »Sehr bald«, versprach Eresken. »Und es ist wichtig, dass alle sterben, verstehst du?« Teiriol nickte und kaute auf der Oberlippe. »Einige Männer machen sich Sorgen darüber, Reisende anzugreifen, weil der Reisefrieden heilig ist ...« »Uns ist er heilig, ja, nicht aber den Tiefländern und Zauberern.« Eresken lächelte und legte die Hand auf Teiriols Schulter. »Und jetzt wissen wir, dass die Schurken aus Hadrumal nicht nur ihre falsche Magie benutzen, um ihre Macht im Wald zu stärken, sie verbünden sich sogar mit den Magiern von Solura. Erinnerst du dich, was die Knochen der Soken den Sheltya zur Sonnenwende offenbarten?« »Die Soluraner haben uns gegenüber in guter Absicht gehandelt.« Die Zweifel in Teiriols Stimme wurden stärker. »Sie vertrauen darauf, dass wir die östlichen Pässe nach Mandarkin geschlossen halten. Was, wenn sie die tieferen Täler für uns schließen und damit unseren Handel abwürgen?« Eresken packte Teiriols Schulter fester. »Ich verstehe diese Pläne der Zauberer nicht, aber wir alle haben gehört, wie sie Zauberei nutzten, um die Suratimm zu betrügen, nicht wahr? Wir müssen zuerst diese Bedrohung abwehren, um das Waldvolk aus unserem Kampf mit den Tiefländern in der Schlucht herauszuhalten. Hat Jeirran dir das nicht erklärt?« »Doch, natürlich.« Teiriols nickte. »Und wenn wir diese Zauberer töten, wird das den anderen eine Warnung sein. So kann unser Streit mit den Tiefländern ein fairer Kampf bleiben. Entweder wird Misaen die Gerechtigkeit unserer Sache durch unseren Sieg beweisen, oder er überlässt uns den Krähen.« Er klang 444
wie ein Kind, dass etwas auswendig Gelerntes aufsagt. Eresken nahm den Blick von Teiriol und löste die Hand von seiner Schulter. Er lächelte zufrieden. Es wurde Zeit, dass diese Magier Bescheidenheit lernten. Ihre Fähigkeit, die Elemente zu beeinflussen, war mörderisch gewesen, als sie noch ein ganzes Schiff voller Zauberer hatten, die sie zu Hilfe rufen konnten; aber jetzt würde es anders sein. »Nimm mit deinen Männern deine Stellung ein. Du wirst schon wissen, wann du zuschlagen musst.« Teiriol schlüpfte verstohlen wieder den Hügel hinauf, und leises Klirren verriet die gepanzerte Truppe, die sich näher an die Straße heranarbeitete. Eresken ging zu einem Aussichtspunkt oberhalb eines großen Felsblocks, der mit Gestrüpp überwuchert war und in einem Dickicht kleinerer Bäume lag. Er schloss die Augen und lächelte grausam. »Also schön, du rothaarige Hexe! Eine kleine Demütigung vor dem Tod, den du mir und den meinen schuldest ...« Das Klappern von Hufen auf der harten Oberfläche der Straße hallte von den baumgesäumten Seiten der Talschlucht wider. Eresken begann tief zu atmen, sprach bedächtig Zauberworte in langsamem Rhythmus. Langsam fiel er in Trance. Jener Teil von ihm, der bei Bewusstsein blieb, lauerte abwartend im Hintergrund seiner Gedanken. Vogelgezwitscher erklang über ihm, die Sonne schien heiß auf seinen Nacken, und der leise Wind brachte den flüchtigen Duft von Blumen mit sich. Dann wurde die friedliche Stille vom verängstigten Wiehern eines Pferdes zerrissen. Der Schrei eines Mannes brach abrupt ab, und ein Schwall von Verwünschungen kam aus mehreren Richtungen zugleich. Eresken blinzelte und blickte zum Chaos auf der Straße hin445
unter, wo ein Mann von seinem verschreckten Pferd abgeworfen worden war. Ein Federhut war in den Staub getrampelt worden, als das panische Tier sich von allen Seiten gleichzeitig angegriffen wähnte. Der Mann war der soluranische Magier, stellte Eresken zufrieden fest, der so töricht in den Bergen zu spionieren versucht hatte. Er gab den Versuch auf, sein Tier zu besänftigen, befreite seine Füße aus den Steigbügeln, stürzte jedoch und fiel zwischen die Beine des verschreckten Pferdes. Eresken fluchte, als der Soluraner den gestürzten Magier unter den trampelnden, eisenbeschlagenen Hufen hervorzerrte und dessen kahlen Schädel rettete, wobei er sich eine klaffende Wunde im Oberschenkel zuzog. Wo blieben Teiriol und seine Männer? Die einzigen blonden Köpfe, die er sehen konnte, waren die der beiden Kerle, die sich an die falschen Magier verkauft hatten. Beide waren auf das erste Anzeichen von Gefahr von ihren Pferden gesprungen; nun standen sie Rücken an Rücken auf der Straße und zogen ihre Schwerter. Eresken fluchte vor Abscheu. Im Bergland waren sie nicht so bewaffnet gewesen. Egal – keiner trug ein Kettenhemd oder eine Brustplatte, um seine Haut zu retten. Wo war die rothaarige Schlampe? Er suchte sich einen besseren Aussichtsplatz und nickte mit grausamer Freude. Sie hatte Mühe, im Sattel zu bleiben; ihre Finger waren in Zügel und Mähne gekrallt, als ihr Reittier stieg und sich wand, beinahe verrückt vor Angst vor den Schrecken, die durch seinen Geist tobten. Der große Mann zwang sein Pferd neben das ihre und brachte das Tier mit Gewalt und roher Brutalität unter Kontrolle. Blutiger Schaum spritzte vom Maul des Tieres auf seine Brust und Beine, und das Pferd verdrehte die Augen, dass nur 446
noch das Weiße zu sehen war. »Meine Rache kommt noch, Hure«, schwor Eresken lautlos. Doch wo blieb Teiriol? Teiriol zögerte im Graben neben der Straße, während die Pferde scheuten und gegen unsichtbare Schrecken ankämpften. Die Zweifel, die ihm so töricht vorkamen, wenn er bei Eresken war, überfielen ihn nun wieder mit doppelter Wucht. Ja, er hatte die Argumente für einen Schlag gegen den Wald gehört. Jeirran hatte jeden mit seiner Beredsamkeit mitgerissen. Warum war er jetzt nicht mehr so sicher? Teiriol fühlte sich plötzlich elend bei der Aussicht, sein Handeln Keisyl erklären zu müssen. Was würde seine Mutter sagen? Wie konnte er nur auf Jeirrans Schmeicheleien hereinfallen? Aber es war nicht nur Jeirran, oder? Aritane hatte andere Sheltya herbeigerufen, und alle hatten dieselbe Geschichte von den dunklen Geheimnissen der Beinhäuser der verschiedenen Soken mitgebracht. Er schauderte bei dem Gedanken an jene verborgenen Gebeine, die schwiegen, bis die Sonnwend-Sonne Misaens Reich in weniger als fünf Tagen mit dem Maewelins verbinden würde. Die Weisheit alten Blutes konnte man nicht leugnen. Nach dreimal zehn Tagen des Wartens und der Vorbereitung verkündete sie nun, dass es an der Zeit sei, die Schlacht ins Tiefland zu tragen. »Gehen wir?« Eifer spiegelte sich auf Ikarels verschlagenem Gesicht, und er leckte sich die Lippen mit abstoßender Freude. Sein Kettenhemd war rostig und schmutzverkrustet, doch sein Schwert war blank und scharf. Ein Schauder überlief Teiriol. »Wir gehen!« Mit erhobenem Schwert kroch er aus dem Graben, Ikarel an der einen, den Betteljungen Nol an der anderen Seite. Blinde Wut trieb Teiriol 447
an. Diese Tiefländer würden unter seiner Klinge sterben, um ihn dafür zu entschädigen, dass er in eine so ärmliche Blutlinie geboren war! Nun würden sie für jenen Schneesturm bezahlen, der seinen Vater die Finger und die Füße gekostet hatte. Die Tiefländer waren für alles Übel verantwortlich, mit ihrer Gier und ihrem Betrug und der üblen Magie ihrer Zauberer! Teiriol fuhr zu dem Verräter vor ihm herum. Er fluchte, als sein Hieb abgewehrt wurde, und parierte hastig einen wuchtigen Schlag, der ihm den Unterkiefer abhacken sollte. Nol stieß wirkungslos mit seiner Waffe zu, behindert durch die ungewohnte Rüstung und dadurch mehr Hindernis als Verteidiger. Ikarel versuchte, einen Stoß anzubringen, schwankte jedoch vor Angst. Die Augen des Verräters huschten von einer Seite zur anderen, das Gesicht war starr. Ein sengender Schmerz durchfuhr Teiriols Handrücken; Blut machte seine Finger glitschig, und das Schwert entglitt seiner Hand. Er zögerte, und in diesem Augenblick zerschmetterte der niedrig geführte Schlag Nols Knie. Das Kind fiel und jammerte vor Schmerz inmitten der aufgewühlten Stimmen von Männern und Pferden. Aus der Wunde schoss dunkles Blut, bis er wenige Augenblicke später mit einem erstickten Schluchzer starb und sein Lebensblut in der durstigen Erde versickerte. Das Entsetzen hätte Teiriol um ein Haar dem selben Schicksal ausgeliefert. Ein Trupp Männer, die er nicht kannte, die dem beredsamen Jeirran auf dem Rückweg aus den Bergen jedoch gefolgt waren, rettete ihn. Der Leichnam des Jungen wurde von Füßen aus dem Weg getreten, der Verräter zurückgedrängt. Er brauchte all seine Kräfte, um unter dem Hagel aus hasserfüllten Hieben am Leben zu bleiben. Klingen blitzten hell im Sonnenschein unter Schlieren von Blut und Schlamm, als sie sich mit 448
dem Gewicht unzähliger Jahre des Leids hoben und senkten. Teiriol hieb auf die Deckung des Mannes ein. Das klebrige Blut Nols auf seinen Händen stachelte ihn zu immer wilderer Wut an. Er ließ sein Schwert schwingen und herabstoßen, wieder und wieder. Der Feind stolperte zurück, strauchelte über harte Erdklumpen auf der Straße. Ikarel, der immer noch abwartete, sah seinen Augenblick gekommen. Die Sonne funkelte auf Stahl, als er hart und gnadenlos zustieß. In dem Moment, als Teiriol damit rechnete, die messerscharfe Spitze würde dem Verräter in den Hals fahren, wurde Ikarel von den Beinen geworfen. Aus dem Getümmel gerissen und weggestoßen, prallte er mit schrecklicher Wucht gegen einen mächtigen Baum. Zweige splitterten, und mit gebrochenen Knochen stürzte Ikarel zu Boden. Noch zwei weitere Männer starben binnen weniger Augenblicke, vom unsichtbaren Angriff überrascht. Die Verräter kämpften mit Unterstützung des Feiglings und seiner falschen Magie. Teiriol hob sein Schwert, doch irgendetwas Unsichtbares hielt seine Arme fest. Ein schwacher blauer Schimmer knisterte in der Luft, und schreckliche Angst überkam ihn. Als die Männer ringsum auseinander stoben und flohen, stolperte Teiriol rückwärts, doch der Boden unter seinen Stiefeln tat sich in Spalten auf oder wölbte sich empor. Er stürzte schwer, ohne sich abfangen zu können, da seine Arme noch immer an die Seiten gepresst waren, und steckte bis zu den Knien in Erdklumpen. Eresken fluchte über das Bild, das sich ihm bot. Die Zauberer und die Frau hatten hinter einem umgestürzten Baum Deckung gesucht und duckten sich hinter dem fetten, bärtigen Mann, der sein gewaltiges Schwert beidhändig mit tödlicher Wirkung 449
führte. Fünf blutüberströmte Tote legten stummes Zeugnis dafür ab, dass sie so dumm gewesen waren, sich in seine Reichweite zu begeben. Ein Magier stand auf und schleuderte Feuer. Es flog wie ein Pfeil auf den vordersten Angreifer zu und blieb an seiner Brust haften, fraß sich durch Kettenpanzerung und Leder, verschlang die Kleider des Mannes, seine Haut, seine Haare. Der Leichnam brach in einem Funkenschauer zusammen; das Metall seiner nutzlosen Rüstung war weiß glühend. Die Funken glühten auf der dunklen Erde und begannen sich dann nach eigenem Willen zu bewegen, schwärmten aus und suchten nach einem weiteren Opfer. Ein Mann sah voller Entsetzen an sich hinunter, als seine Stiefel sich plötzlich entzündeten und die alles verzehrenden Flammen ihn packten. »Innar ar rial, nar fedrian rek!« Eresken konzentrierte sich mit jeder Faser seines Seins auf den fast kahlen Magier. Genugtuung durchströmte ihn, als er den Geist des Mannes berührte, der so konzentriert war, so diszipliniert – doch so jämmerlich ungeschützt. Eresken wickelte ihn rasch in unzählige Bilder des Waldes ein und spickte die Illusion mit der Angst, sich in weglosen Wäldern zu verirren; er säte Samen wimmernder Furcht in das Misstrauen gegen alles Unbekannte. Aufsteigende Panik ob des Gefühls, allein und verlassen zu sein, machte die Konzentration des Zauberers zunichte. Ein heulender Wind kam aus dem Nichts. Staub und Blätter wirbelten um die Angreifer. Die heftigen Böen warfen sie zurück, als sie vorrücken wollten. Doch die Verräter wurden davon nicht beeinträchtigt, wie Eresken verärgert sah. Sie ergriffen die Gelegenheit, sich zu beiden Seiten des großen Mannes zu postieren, mit dem Rücken dem zweifelhaften Schutz des 450
umgestürzten Baumes zugewandt. Eresken riss am Geist des zweiten Magiers; seine Gedanken huschten rasch von einer Idee zur anderen. Die Angst des Soluraners angesichts der Aussicht auf einen gewaltsamen Tod entfachte den wilden Wunsch, so viel Schaden wie möglich anzurichten. Eresken stieß tief in den Geist des Mannes vor, setzte einen Mahlstrom aus längst vergessenen Ereignissen und unerwünschten Erinnerungen in Gang und verzerrte alles, wo die Ungewissheit der Erinnerung seiner Bosheit einen Ansatzpunkt bot. Die Erinnerungen des Mannes versanken im Chaos. Ein scharfer Schmerz im Nacken ließ Eresken mit einem Fluch zusammenfahren. Er schlug sich mit der Hand an den Kragen, als wollte er ein beißendes Insekt verscheuchen, und sah verwirrt eine Blutspur auf seiner Handfläche. Ein zweiter scharfer Schmerz traf ihn direkt unter dem Kinn, und ein Pfeil fiel kalt und stählern glänzend vor ihm zu Boden. Eresken fuhr herum, und seine verborgenen Sinne, die so lange durch harte Disziplin geschärft waren, durchdrangen mühelos das dichte Unterholz. Da war sie, die rothaarige Hure, und glaubte sich in Sicherheit, wie sie dort regungslos kauerte, mit weißem Gesicht und blutleeren Lippen. Eresken warf einen Blick zurück auf die Straße, wo die drei Schwertkämpfer jetzt Mühe hatten, da Teiriol und seine Anhänger nicht mehr unter den Attacken der verängstigten Zauberer litten. Wut drohte Ereskens Konzentration zu stören; die Frau, die er da sah, war ein Abbild, gewoben aus falscher Magie, um die Torheit der Schlampe zu verbergen, die versuchte, ihn mit ihren kleinen Nadeln zu erledigen. Er stieß vor, fand den Geist der Frau jedoch verschlossen. Er versuchte es noch einmal, wuchtiger und härter, fand aber wieder keinen 451
Weg durch die verzweifelte Konzentration auf einen uralten Abwehrzauber. Egal. Er würde seine Rache an der Frau nehmen und sich dann später um die anderen kümmern. Eresken machte einen Schritt auf das Versteck der Schlampe zu, doch der Boden unter seinen Füßen schien sich zu bewegen. Das war keine trügerische Erscheinung von Erde oder Wasser – sein eigener Körper verriet ihn, als Verwirrung ihn packte und Übelkeit in ihm aufstieg. Eresken fühlte, wie die Kontrolle ihm entglitt wie Wasser, das durch seine verzweifelt zupackenden Finger rann. Doch eine verrückte Euphorie wuchs in ihm. Was macht es schon aus!, sagte er sich. Die Freiheit winkte, verlockend und sinnlich, die Erlösung von allen Sorgen, Pflichten und Ängsten. Eresken erkannte verschwommen, das er unter Drogen stand. Flammender Zorn klärte seinen Kopf gerade lang genug, dass er sich an das erste Prinzip hielt, Geist über Körper, das grundlegende Wissen, das in sein Gedächtnis eingeprügelt worden war. Er tat Atemzüge tiefster Trance, suchte in sich selbst nach dem Makel des Gifts und brannte es mit seiner Willenskraft aus. Die Verwirrung, die noch immer sein Bewusstsein trübte, ließ nach, und Eresken griff nach der erstbesten Quelle der Macht, um seine Kräfte zu steigern: Erbarmungslos bediente sich der kümmerlichen Kräfte der Bergbewohner. Sie waren schließlich nur da, um ihm zu dienen. Ein Schlag in die Magengrube ließ ihn rücklings ins Gebüsch fliegen. Er bekam keine Luft mehr, und ehe er noch japsen konnte, drückten ihm Knie die Rippen ein. Hände packten seine Kehle und versuchten, ihm das Leben abzudrücken. Das Blut hämmerte und dröhnte in seinen Schläfen. Eresken schlug die Augen auf und sah die Frau auf sich knien. Hass brannte in 452
ihren grünen Augen. Sie kannte ihn, wurde ihm bewusst, und in diesem Augenblick war er froh darüber. Sie würde wissen, wer sie tötete. Er grub die Nägel in ihre Hände, riss ihr die Haut auf und drehte sich, um sie zu beißen. Sie würde wissen, dass er ihr endlich die Demütigung heimgezahlt hatte, die sie ihm zufügte, als sie und die anderen Spione ihn gefangen nahmen. Mit einem krampfhaften Aufbäumen warf er die Hure ab, deren Wut seiner Kraft nicht standhalten konnte. Sie würde unter seinen Händen sterben, wie ihr Liebhaber unter den Händen seines Vaters gestorben war. Eresken sprang auf und griff nach seinem Schwert. Heißer Schmerz durchfuhr seine Eingeweide. Etwas Nasses rann an seinem Bauch und an den Lende herunter, etwas Glitschiges und Warmes, das langsam kalt wurde. Eresken tastete unter den schweren Gliedern seiner Halsberge und fühlte den Griff eines Dolches, den die Dirne ihm beim ersten Angriff tief in den Bauch gerammt hatte. Er fiel auf die Knie, als Übelkeit erregender Schmerz ihn durchströmte, und jeder Schlag seines Herzens ließ neue Schmerzen von der Wunde ausstrahlen. »Rette mich!« Eresken legte all seinen Willen in diese verzweifelte Bitte, streckte seine geistigen Fühler aus, über die Wälder hinweg, jenseits der grauen, zerklüfteten steinigen Höhen, über die winddurchtosten Weiten der Ebenen und über das unermessliche, weglose Meer. Mit einer Plötzlichkeit, die ihn mehr als jeder schmerzhafte Schock nach Luft ringen ließ, übernahm ein anderer Geist den seinen. Als er davongehoben wurde und das Bewusstsein verlor, hieß Eresken das Vergessen willkommen; es war ihm lieber, als sich dem Zorn seines Vaters zu stellen. Er kam in einer Mulde voll Blätter wieder zu sich, ähnlich 453
der, die er gerade verlassen hatte. Er sprang auf und sah sich in allen Richtungen nach der mörderischen Schlampe mit ihren tödlichen Messern um. Das Messer, mit dem sie ihn gestochen hatte, fiel klirrend zu Boden. »Beruhige dich.« Die Stimme in seinem Kopf klang verächtlich, und hinters seinen Augen wütete ein stechender Schmerz. Eresken umklammerte seinen Bauch. Seine Hosen und sein Hemd waren zerrissen und nass vom Blut, doch die Haut darunter war unversehrt. Voller Entsetzen fuhr er mit den Fingern die Umrisse der frischen Narbe nach. »Du kannst diese Zeichen als Andenken an deine Torheit tragen«, erklärte die Stimme schroff. »Sei dankbar, dass ich dich so habe davonkommen lassen.« »Du bist wirklich zu gnädig«, antwortete Eresken wortlos und mit nachlassender Furcht. »Wo bin ich?« Er schnappte sich den Dolch. »Gerade weit genug weg, dass du nicht aufgeschlitzt wirst wie ein Seehundjunges.« In der Stimme lag jetzt Belustigung. Eresken atmete etwas leichter; lieber war er die Zielscheibe für Spott als für Wut. »Geh zur Straße und dann nach Osten«, befahl die Stimme. »Jawohl, Vater.« Eresken gehorchte, rutschte aus und handelte sich noch mehr Kratzer an Händen und Gesicht ein. Als er die Straße erreichte, lief er los, dass die schwere Rüstung auf seinen Schultern bei jedem Schritt rasselte. Er schwitzte heftig, doch er wurde nicht langsamer, bis er um eine Biegung kam und überall auf dem blutüberströmten Pfad Tote liegen sah. Abrupt blieb er stehen. Dunkelbraune Augen blickten aus dem Schlachtfeld, und voll grimmiger Genugtuung verzog Ereskens Mund sich zu einem Lächeln, das nicht sein eigenes war. 454
»Nicht das, was wir erhofft hatten, aber man kann etwas daraus machen.« Die Lippen formten Worte, die weit entfernt klangen. »Nutze es. Wenn du es schaffst, mich zu beeindrucken, werde ich dein früheres Versagen vielleicht übersehen.« Die Stimme wurde kalt. »Enttäusche mich, und ich werde hart mit dir ins Gericht gehen.« Eresken taumelte unter einem Schlag gegen das Innerste seines Seins, und alle seine Sinne verschwammen. Dann war die Präsenz aus seinem Geist verschwunden und hinterließ nur eine widerhallende Erinnerung an hilflose Blindheit. Als Auge für einen anderen benutzt zu werden war schlimm genug, doch so unvorbereitet überfallen zu werden, war unendlich viel schlimmer. Eresken unterdrückte hastig seinen Ärger, holte tief Luft und legte die Hände mit gespreizten Fingern aneinander. Mit leiser Stimme sprach er die Formeln, um seinen Geist wieder frisch zu machen. Dass sollte jeden Spion zufriedenstellen, der versuchte, mir meine Gedanken zu stehlen, dachte er in jenem geheimen Teil seines Geistes, von dem er hoffte, dass er noch immer unangetastet war. Teiriols Trupp lag ringsum. Einige waren von Schwertern niedergemacht worden, die meisten jedoch durch Magie. Drei waren bis zur Unkenntlichkeit von Feuer verbrannt. Andere lagen ohne sichtbare Verletzungen da, doch die unnatürlichen Winkel ihrer gebrochenen Glieder legten Zeugnis ab von der gewaltigen Kraft übernatürlicher Winde. Ein Leichnam rauchte noch; eine schwarze Spur führte vom Kopf zu den Überresten eines Fußes. Weiße Knochen stachen aus dem verkohlten Fleisch. Ein anderer lag mit zerschmettertem, schlaff herabhängendem Kinn da; die Gesichtsknochen waren zerbrochen wie eine Eierschale, deren Bruchstücke tief ins Hirn gedrungen 455
waren, das sich grau und kalt in den Tiefen der Wunden zeigte. »Wie machen sie das nur?«, murmelte Eresken laut. Ein schwaches Krächzen versuchte, ihm zu antworten. Eresken sah sich verblüfft um. Wieder erklang das Geräusch, und er folgte ihm zum Graben neben der Straße. Verwirrte blaue Augen blickten aus einer Lache aus Blättern und Blut. »Teiriol?« »Ich bin davongelaufen«, schluchzte der junge Mann. »Ich bin davongelaufen. Ich wollte sie alle zurückbringen, wollte sie wieder zum Kampf scharen, doch als die Blitze zuckten, als ich sah, wie Seja getroffen wurde ...« Er brach mit einem Schmerzensschrei ab, und Eresken sah, dass seine Schwerthand nutzlos war: Nackte Knochensplitter ragen aus dem Handgelenk; die Finger hingen blutleer und schlaff herab, der Daumen war fast abgerissen. Teiriol hielt hilflos die Trümmer seines Arms umklammert und weinte wie ein Kind. »Was ist geschehen?« Eresken schüttelte ihn heftig, doch Teiriol konnte vor Schmerz und Kummer nicht zusammenhängend reden. Eresken packte sein Kinn und hob es hoch. Teiriol riss die Augen auf vor Schock über diese plötzliche Heftigkeit. So war das also, dachte Eresken grimmig, als er die Erinnerungen hervorzog, ungeachtet der Schmerzen, die er verursachte. Die Magier hatten Teiriols Männer mit der übelsten Zauberei getroffen, und die Schwertkämpfer hatten den verbliebenen Widerstand beseitigt. Die Bergvolkmänner waren gestorben, ohne sich gegen den doppelten Angriff aus Zauber und Klinge wehren zu können. Der soluranische Magier hatte die Frau aus der leeren Luft geholt, und sie waren davongelaufen; der schwarzhaarige Mann hatte sich den verwundeten Zauberer über eine Schulter geworfen, die Verräter des alten Blutes an 456
seiner Seite. Eresken ließ Teiriol los, und der jüngere Mann brach zusammen. Eresken ging rasch die Straße hinunter und untersuchte jedes Opfer, selbst wenn es nur noch ein unkenntlicher Klumpen verkohlten Fleisches war. Einige waren noch nicht tot, sondern klammerten sich trotz ihrer Verwundungen verzweifelt ans Leben. Eresken löschte grausam jeden Lebensfunken aus; es waren Wunden genug vorhanden, um die Todesfälle zu erklären. Niemand würde vermuten, dass er seine Hände in einem solchen Gemetzel im Spiel hatte, und die meisten wären ohnehin gestorben, zumindest ohne rasche Hilfe. Aber für den Augenblick brauchte er Teiriol noch. Eresken ging zurück zu dem weinenden Mann in seinem Schmerz. »Ich muss Hilfe holen«, sagte er atemlos. »Ich muss Aritane rufen, damit sie Sheltya herbringt, um die zu retten, die noch nicht tot sind.« »Noch nicht ...« Teiriol hob das Gesicht, und ungläubige Hoffnung schimmerte durch Schmutz und Blut. Eresken erfasste die Sehnsucht des Jungen und sah Aritane in seinem Geist. Er wob dieses bedauernswerte Sehnen nach Zuhause und Heilung in seinen eigenen, dringenden Aufruf und verbarg seine Absicht hinter Teiriols Not. »Du musst kommen, meine Liebste. Komm zu mir. Man hat uns verraten, gemordet, hingeschlachtet. Du musst kommen.« Eresken riss sich von Aritanes verzweifelten Bitten um Erklärung und Anweisung los. Ihre Talente waren für ihr Volk beachtlich, doch niemandem von seinem Clan gewachsen. Trotzdem, er hatte nicht viel Zeit. »Was ist das?« Eresken blickte die Straße hinunter. Teiriol wandte den Kopf, und Eresken stieß ihm den Dolch 457
der Hure in den Nacken und drehte die Klinge, sodass der junge Mann sich sekundenlang in hilflosem Entsetzen wand, ehe der Tod ihn ereilte. Eresken schürzte für einen Augenblick die Lippen; dann ließ er den Griff des Dolchs los. Er konnte in der Wunde bleiben, damit jemand anders ihn fand, eine weitere Unze auf der Waagschale, die nach Rache verlangte. Rasch kletterte er den Hang zum engen Tal hinauf, in dem er angegriffen worden war. Diese Hure würde mit ihrem eigenen Blut dafür bezahlen, dass sie seines vergossen hatte, schwor er grimmig. Eresken suchte unter den raschelnden Blättern nach dem Wurfpfeil und hob ihn auf. Noch immer glänzte Blut darauf, als er ihn ins Sonnenlicht hielt. Eresken trieb die Spitze in seinen Handrücken und ließ sich achtlos zu Boden fallen. Er wartete auf das Schwindelgefühl des Gifts und unterdrückte das instinktive Verlangen, es aus seinem Blut zu vertreiben. Er hörte irgendetwas auf der Straße weiter unten, doch er zwang sich, regungslos liegen zu bleiben. Wenn es nur zufällig Vorbeikommende waren, spielte es keine Rolle. Sie konnten kaum die Toten entfernen, ehe Aritane kam, und niemand würde mehr von der Wahrheit erfahren, als er ihnen sagte. Er überließ sich dem tückischen Zauber des Giftes, und sein Geist trieb müßig um einen verborgenen Pfahl innerster Bewusstheit. Aritanes verzweifelte Gedanken wehten vorbei und verfehlten ihn beinahe, ehe entsetztes Erkennen sie überkam. Eresken öffnete die Oberfläche seiner Gedanken für sie und färbte den Anblick der Toten vor seinem geistigen Auge mit Teiriols Scham und Verzweiflung. »Geliebte ...« In dieses verzweifelte Wort legte er all die enttäuschte Leidenschaft, die er 458
in Aritane spürte, zusammen mit der Erinnerung an ihre heimlichen Küsse, ihre Lust, wenn er ihren Körper erforschte, ohne ihr Begehren jemals ganz zu erfüllen, was er voller Berechnung tat, sodass sie sich immer nach mehr sehnte. Jetzt waren ihre Hände unter seinem Kopf, bargen ihn an der sanften Wölbung ihres Busens; ihr rasender Herzschlag dröhnte in seinem Ohr, und ihr Atem ging rasch und abgehackt, am Rande der Hysterie. Eresken wappnete sich gegen diesen geistigen Aufruhr, tat jedoch nichts, um ihn zu verhindern. Er öffnete die Augen und richtete sie mit sichtlicher Anstrengung auf ihr Gesicht. »Was ist geschehen?« Aritane war bleich wie Milch; eine Ader pochte an ihrer Schläfe. »Wir kamen als Unterhändler, wie wir es besprochen hatten ...«, Eresken hustete und versuchte sich aufzurichten, brach jedoch zusammen, als wäre die Anstrengung zu viel für ihn. »Die Zauberer ... wir wollten nichts weiter, dass sie uns in Ruhe unsere Meinungsverschiedenheiten beilegen ließen ...« »Sie haben euch angegriffen? Als Unterhändler?« Aritane zitterte jetzt. Wut und Schock ließen ihre Arme beben, während sie Eresken fest an ihr Herz drückte. »Wir hatten es nicht erwartet.« Er gestattete sich ein Gefühl der Benommenheit. »Selbst als sie nicht einverstanden waren, erwarteten wir keinen Angriff.« »Was ist geschehen?« Er spürte, wie ihre erste Verwirrung sich legte. Sie fragte sich, wieso er davongekommen war, wenn die anderen so blutig niedergemetzelt waren. Eresken warf ihr das Bild der rothaarigen Hure zu, ohne heucheln zu müssen, als er ihr seine Ungläubigkeit und Wut und die Erinnerung an die vergifteten 459
Pfeile übermittelte. »Dann war sie wirklich eine Spionin?«, rief Aritane entsetzt. »Schlimmer noch, sie kannte mich.« Eresken ließ Aritane den Widerhall des Hasses dieser Schlampe fühlen. »Sie war eine derjenigen, die das Haus meines Vaters beraubten, auf Geheiß des Erzmagiers. Sie entführten mich ... ich fürchtete um mein Leben ...«Er ließ sie das kleine Boot sehen, das auf einem Glühen falscher Magie übers Meer getrieben wurde; er ließ sie die grausamen Scherze darüber hören, dass man ihn essen wollte, wenn seine Häscher auf der Reise hungrig werden würden. »Sie wollten mich wieder fangen!« Eresken überflutete Aritanes Geist mit der Angst vor Vergeltung, verbarg jedoch vor ihr, dass es der Zorn seines Vaters war, den er fürchtete. Der Schrecken saß tief genug, dass es ihm leicht fiel, ein paar unterdrückte Tränen zu vergießen. »Ich konnte ihnen nicht helfen, ich konnte hören, wie sie umgebracht wurden, aber ich konnte ihnen nicht helfen.« Er warf Aritane ein Bild nach dem anderen von den Sterbenden und Toten zu, verzerrt durch die Schwindel verursachende Verführung des Giftes. Sie rang nach Luft und drückte ihn noch fester an sich. Eresken konnte unten auf der Straße noch andere Stimmen hören. »Ist das Bryn?« »Und Ceris«, antwortete Aritane. »Ruh dich aus, mein Liebster.« »Nein.« Eresken befreite sich aus ihrer Umarmung. »Ich muss helfen, ich muss sehen, was passiert ist.« Er kam auf die Füße und achtete darauf, sich schwer auf Aritane zu stützen. Ihr Schock saß tief, erkannte Eresken. Gut. Jetzt musste er sicherstellen, dass der Rest dieser halb ausgebildeten Jünglinge die Ereignisse so sah, wie er es wollte. Mit Aritane, die sich abmüh460
te, ihn zu stützen, sah Eresken Bryn und Ceris langsam von einem Toten zum anderen gehen. Weiter unten auf der Straße waren noch ein paar der grau gekleideten Narren, deren Namen er nicht behalten hatte. Ceris blieb einen Augenblick neben Teiriols Leichnam stehen und schlug die Hände vors Gesicht, als sie den Dolch in seinem Nacken stecken sah. »Verrat! Mord! Erstochen, als er zu fliehen versuchte oder um Gnade flehte!« Sie hätte ihre Gedanken genauso gut laut hinausschreien können. »Wir trafen die Zauberer und baten um eine Unterhandlung«, erklärte Eresken und versperrte seinen Geist mit vorgetäuschtem Kummer und Schmerz vor ihren fragenden Gedanken. »Wir baten sie um Erlaubnis, dass die Männer der Berge ihre Klagen gegen die Tiefländer in fairem Kampf beilegen können. Sie schienen höflich zuzuhören, und so ließen wir in unserer Wachsamkeit etwas nach. Wir wollten sie nicht dadurch beleidigen, dass wir misstrauisch wirkten. Dann griffen sie uns an, und die Magier wandten die Natur selbst gegen uns, um uns Böses zuzufügen.« »Erzähl uns alles, von Anfang an.« Bryn trat auf sie zu. Konzentration verdunkelte seine Augen. Eresken spürte die Kraft der Entschlossenheit des Mannes, ihm die Wahrheit zu entreißen, und ließ seine Knie einknicken. Sein Arm glitt von Aritanes Schulter, und er sank zu Boden, ohne dass die Frau sein schlaffes Gewicht halten konnte. »Lasst ihn in Ruhe«, fauchte sie. »Seht ihr denn nicht? Er ist vergiftet worden!« Als sie seinen Kopf auf ihren zusammengerollten Umhang bettete und mit sanften Händen seine Glieder ausstreckte, hüllte Eresken sich in einen Kokon der Täuschung und lauerte darin, 461
angespannt lauschend. Aritanes Stimme war hart wie Diamant, stellte er zufrieden fest. »Seht euch um, verzeichnet jeden Toten und die Todesart«, befahl sie kalt. »Wir lassen jede Soke wissen, wie ihre Söhne ihr Leben verloren.« »Aus der Ferne und mit solcher Gewalt zu töten ...« Einem der jüngeren Sheltya, Remet, fehlten die Worte. Eresken entnahm seinen Namen unbemerkt Aritanes Gedanken und verband die Stimme mit einem Gesicht, das noch immer die Kraft des Erwachsenen vermissen ließ, voller jugendlicher Begeisterung, doch ohne wirkliche Macht des Geistes oder der Überzeugung. »Warum glaubt ihr wohl, haben die Tiefländer sie vor so vielen Generationen ins Meer getrieben?«, knurrte Bryn. »Was ist mit Jeirran und seinen Männern?«, fragte die andere Frau keuchend. Krelia, so hieß sie. Eresken erinnerte sich an ein nervöses Gesicht, an Finger, deren Nägel bis aufs Fleisch abgebissen waren, und einen Geist, der sich niemals Zeit für sich selbst gönnte und von endlosen Anforderungen erschöpft war. »Wer wird Jeirran sagen, dass der Bruder seiner Schwester hinterrücks ermordet wurde?«, fragte Ceris mit einem Schluchzen in der Stimme. »Wir müssen die Suratimm aus dem Kampf heraushalten«, sagte Bryn mit finsterer Entschlossenheit. »Falls sie wirklich mit den Magiern von Hadrumal zusammenarbeiten.« »Natürlich tun sie das! Einer ihrer Spione hat Eresken niedergestochen!« Aritane überfiel alle vier mit einem plötzlichen Bild der rothaarigen Schlampe. »Sie war oben in der Hachalfeste und versuchte, Cullam einzulullen, zusammen mit diesem Zauberer. Was braucht ihr denn noch an Beweisen?« 462
Genugtuung wärmte Eresken. Aritane würde seine Arbeit für ihn erledigen, ohne dass er sie noch weiter beeinflussen musste. »Dann heißt das also Krieg?« Die Erkenntnis kräftigte Remets Stimme. »Wir wollten ihn nicht, und wir haben ihn nicht begonnen, doch wir können eine solche Gräueltat nicht ungesühnt hinnehmen«, antwortete Bryn zweifelnd. »Wenn wir es tun, könnte dieses Morden bald Unschuldige in jeder Soke treffen, falls die Tiefländer mit Unterstützung falscher Magier das Land ergreifen.« »Wir sollten kämpfen«, erklärte Aritane. »Dies ist nicht nur ein Kampf für die Männer der Soken, nicht nur ein Kampf mit Schwertern und Äxten. Wir müssen sie mit jeder uns zur Verfügung stehenden Macht im Kampf gegen die falsche Magie unterstützen.« So trugen die Samen, die er gesät und gepflegt hatte, nun endlich Früchte, dachte Eresken erleichtert. »Die Sheltya haben geschworen, unparteiisch zu bleiben«, flüsterte Krelia. »In Konflikten zwischen Soke und Soke, zwischen Feste und Feste, ja«, gab Aritane ihr Recht. »Aber wo ist der Eid, der uns die Hände bindet, wenn unser Volk nackt in den Schnee hinausgetrieben werden soll?« »Die Oberen ...« Remet erstickte fast an seinem Einwand. »Ich werde den Oberen Rede und Antwort stehen«, sagte Aritane trotzig. »Als Sheltya, die keiner einzelnen Blutlinie verpflichtet ist, bin ich dem Dienst an allen oder an niemandem verschworen. Ich werde entweder bei der Verteidigung meines Volkes sterben, meines ganzen Volkes, oder ich werde stolz an der Seite meines Bruders stehen, wenn er uns zum Sieg geführt 463
hat, und werde ihn dann erneut als Verwandten beanspruchen. Lasst die Oberen dann über mich urteilen. Wenn sie mich verdammen, werde ich nach Norden ins Eis gehen, wie die Alyatimm es einst taten, und mich Misaens Gericht stellen.« Bryns gemurmelter Protest entging Eresken. »Glaubt ihr, sie haben es rechtmäßig getan?«, fragte Aritane beißend. »Jene zu vertreiben, die wahre Magie zur Verteidigung ihrer Rechte einsetzen? Wie steht es jetzt um Misaens Urteil? Die Alyatimm sind nicht erfroren und gestorben, das kann ich euch jetzt sagen. In Ereskens Adern fließt ihr Blut, er stammt von ihnen ab. Er bringt uns Botschaften von fernen Inseln, auf denen sein Volk frei und ungestört lebt. Sie haben keine Angst, die wahre Magie zu nutzen, denn sie haben sie rein und stark gehalten. Noch während wir hier reden, trotzen sie den Zauberern und Tormalinern, die ihre gierigen Hände über den Ozean ausstrecken, um sich noch mehr Land einzuverleiben.« Verflucht, warum konnte diese Frau nicht ihren dummen Mund halten? Eresken wedelte schwächlich mit der Hand, was Aritane sofort ablenkte. Sie kniete neben ihm nieder. »Bist du wach?« »Wasser ...«, bat er atemlos. Bryn hielt Eresken eine Flasche an die Lippen, während Aritane seinen Kopf stützte. »Also bist du von Alyatimm-Blut?« Misstrauen lauerte am Rande seines Geistes. Eresken blickte dem Mann tief in die Augen. »Die Vorväter meiner Vorväter folgten den Männern, die sich so nannten, und gingen ins Eis, um sich Misaens Gericht zu stellen. Wir nennen uns Elietimm und benutzen die Kräfte der wahren Magie, um auf den kalten Inseln im nördlichen Ozean zu überleben. Wir werden von tormalinischer Gier angegriffen, die von der fal464
schen Magie Hadrumals unterstützt wird. Ich kam auf der Suche nach Verbündeten, die helfen könnten, mein Volk zu retten, und ich fand Brüder im Blute, deren Lage der unseren glich.« Bryn nickte langsam, und Eresken ließ frisches Blut aus seinen Wunden über Aritanes Kleid und Hände rinnen. »Wir müssen ihn zurückbringen«, beharrte sie. Eresken entspannte sich in ihrer Umarmung, während die fünf die Macht des Geistes über die der Materie woben, um sie alle in Sicherheit zu bringen. Sobald diese Geschichte erzählt und wieder erzählt wurde, unterstützt von entsprechenden Anstößen seinerseits, würden die jämmerlichen Anyatimm von den Bergen herunterheulen, als wären ihre Vorväter nie die legendären Feiglinge gewesen. Der Krieg im Wald würde sich ausweiten und die Bauern des Tieflandes zermalmen – nach Ereignissen, die er selbst inszenieren würde. Wenn alle Augen und Arme Tormalins noch vor dem Ende des Sommers nach Westen abgezogen waren, konnte sein Vater den rechten Zeitpunkt wählen, um zuzuschlagen. Eresken genoss schon die künftige Bewunderung und die Schmeicheleien, die genauso intensiv ausgekostet werden mussten, wie Zorn und Bestrafung gefürchtet wurden. Große West-Straße
2. Nachsommer »Langsamer!« Ich war so außer Atem, dass meine verzweifelte Bitte kaum mehr als ein heiseres Keuchen war. Ich blieb stehen und bückte mich, um meine Seitenstiche zu bekämpfen, während ich die warme Luft in die Lungen sog. Das Blut pochte in meinem Kopf. Sorgrad merkte, dass ich nicht mehr dicht hinter ihm ging und blieb stehen, ebenso wie ‘Gren. Darni wur465
de langsamer; er war rot im Gesicht und schwitzte erbärmlich. Er ließ Usara von der Schulter gleiten, und der Zauberer hing schwer an seinem Arm. »Bei Saedrin, du bist schwerer als du aussiehst, ‘Sar!«, stieß Darni hervor. Usara sah blass und kränklich aus, und mein Magen war noch immer aufgewühlt, weil ich von Gilmartens Magie wie ein Vogel auf einem Raben-Spielbrett versetzt worden war. Dennoch fragte ich mich, ob wir verfolgt wurden. Sorgrad musste meine Gedanken gehört haben, denn er spähte die Straße entlang. »Keine Spur. Ich glaube, wir können es ein wenig langsamer angehen lassen.« »Dafür«, sagte Gilmarten schwer atmend, »danke ich dir!« Ich war mir nicht so sicher, dass wir keine Verfolger hatten. »Was ist mit ihrem Zauberer? Er könnte in einem Augenblick hier sein.« »Ich weiß«, sagte Sorgrad und führte uns in einen Hohlweg, von dem aus wir die Straße sehen konnten, ehe man uns entdeckte. Er deutete auf eine schwache Spur, die tiefer in den Wald führte. »Wir gehen da lang, wenn es nötig sein sollte, und schlagen dann einen Bogen zurück zur Straße.« Er begann die Blutflecken von seinem Schwert zu wischen, und schon bald scharten sich smaragdgrüne Fliegen um den verlockenden Duft. »Ich laufe nur vor Männern mit Schwertern davon, die größer und stärker sind als ich«, sagte ‘Gren und betrachtete missmutig seine blutigen Handschuhe. »Und auch nur dann, wenn es mehr sind, als wir töten können«, sagte Darni grinsend. Ich seufzte. Die Drianon bewahre mich vor einem Trio von Raufbolden! Sorgrad und Sorgren allein waren schon schlimm 466
genug. »Hätte dein Gift den Zauberer nicht erledigen müssen?« Usara humpelte schwer, aus dem Riss in seinen Hosen sickerte langsam Blut. Er tupfte es unwirsch mit dem Saum seines Gewandes ab und verscheuchte die Fliegen. »Unwahrscheinlich.« Ich zog mir das schweißdurchnässte Hemd vom Hals. »Es war Tahn-Salbe.« »Kein Blausalz?« ‘Gren sah enttäuscht aus. »Nein. Wenn Poldrion will, wird das Tahn ihn lange genug außer Gefecht setzen, dass er verblutet.« Gilmartens Augen quollen hervor. Ich lächelte ihn an. »Du bist nicht verwundet?« »Nein, meine Dame.« Er machte eine schwerfällige Verbeugung. »Ein wenig erschöpft, das will ich gestehen, ansonsten aber unversehrt.« »Die anderen haben angefangen.« ‘Gren blickte auf einen kleinen Schnitt in seinem Unterarm. »Womit kann ich das hier säubern?« »Hier.« Darni goss Alkohol auf einen Stofffetzen, den er aus seinem Hemd gerissen hatte, und reichte die Flasche herüber. Er betupfte die Kratzer auf seinen Fingerknöcheln und stieß zischend den Atem aus. Dann nickte er mir zu. »Jetzt du.« Ich schüttelte den Kopf; ich hatte andere Sorgen als Kratzer und Schnitte. »Dieser Zauberer, ich kannte ihn.« »Das hatte ich vermutet«, bemerkte Usara, »als du anfingst, seine sexuellen Praktiken zu verwünschen.« »Kenntnisse aus erster Hand?«, scherzte ‘Gren. »Lass den Unsinn.« Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. »Dieser Mann – ich und Shiv und Ryshad haben ihn gefangen genommen, als wir versuchten, von den verfluchten Eisinseln 467
wegzukommen. Er besaß einen höheren Rang, und wir wollten sein Leben gegen das unsere einhandeln, falls man uns erwischte.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber er benutzte seine verfluchte Hexerei, um zu entkommen, und verschwand einfach aus dem Boot.« Usara sah auf. »Dass er entkam ...« »... mit meinem Dolch im Bauch«, warf ich ein. »... lässt darauf schließen, dass er mächtig ist, was wiederum bedeutet, dass wir nicht davon ausgehen sollten, dass er tot ist, ehe wir nicht seinen Leichnam gesehen haben«, schloss der Magier nachdenklich. »Bis wir seinen Leichnam gesehen, ihm den Kopf abgeschlagen und auf einen Stock gesteckt haben«, sagte ‘Gren. »Ein Elietimm-Hexer, der einen Angriff des Bergvolkes unterstützt?« Darni sah mich scharf an. »Bist du sicher, dass es derselbe Mann war?« »Wir sehen doch schließlich alle gleich aus, oder?« Sorgrad lächelte ihn humorlos an. »Wenn unser Mädchen hier sagt, es war derselbe Mann, dann war es derselbe Mann, mein Freund.« Darni griff nach der Flasche Alkohol. »Hosen runter, ‘San. Das muss gesäubert und genäht werden.« Usara gehorchte ohne Widerrede, und wir alle zuckten zusammen beim Anblick der zerfransten Wunde. Ich war erstaunt, dass er überhaupt hatte gehen können. Darni goss Alkohol auf die Wunde, und Usara wurde bleich wie ein Knochen. »Halt still«, murmelte Darni, während er den Rest seines Hemdes als Verbandsmaterial opferte. ‘Gren fing meinen Blick auf und formte mit den Lippen lautlos ein Wort. Ich schüttelte ratlos den Kopf, verstand jedoch beim zweiten Versuch: »Tanzbär.« 468
Ich konnte sehen, was er meinte. Darni, nackt bis zur Taille, zeigte eindrucksvolle Muskeln unter einem Pelz aus schwarzem, lockigem Haar, das ihm wahrscheinlich einen Pfeil von einem arglosen Jäger eintragen würde. Usara setzte sich, grau im Gesicht. »Warte, ich suche die Tahn-Salbe.« Ich wühlte in meinem Ranzen. »Trag sie auf, sie betäubt die Haut.« »Und meinen Verstand gleich mit?« Usara brachte ein dünnes Lächeln zu Stande. »Ich glaube nicht, dass wir das riskieren sollten.« »Deine Entscheidung«, sagte Darni und fädelte eine gebogene Nadel ein. »Einen Augenblick.« Gilmarten beugte sich vor und ließ eine kleine Flamme auf seiner bloßen Handfläche tanzen. »Erhitze die Nadel hier drin, damit kein Schmutz in die Wunde gelangt.« Usara wurde noch blasser, als er sah, wie die Nadelspitze glühendrot und dann weiß wurde. Ich überlegte, wie ich ihn ablenken konnte. »Also, Usara, wir haben einen Elietimm-Hexer hier, den wir zuletzt sahen, als er für diesen Eisinsel-Schuft arbeitete, der vorletztes Jahr uns alle umbringen wollte. Was schließt du daraus?« »Außerdem hoffte dieser Eismann, Kellarin in die Hände zu bekommen.« Usara sprach mit zusammengebissenen Zähnen, als Darni an die Arbeit ging. »Toremal und Hadrumal haben dieses Vorhaben zunichte gemacht.« Ich hielt den Blick des Zauberers fest. »Was macht der Zauberer dann hier?« »Das Bergvolk hat durchaus berechtigte Klagen. Wenn man es aufstachelt ...« Usara verstummte mit einem unterdrückten Fluch. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. 469
»Tut mir Leid«, murmelte Darni. »Das ist ein Ablenkungsmanöver. Greif an verschiedenen Flanke an, und dein Gegner muss seine Truppen aufteilen.« »Die Lords des nördlichen Solura wären höchst beunruhigt über Unruhen hierzulande«, warf Gilmarten mit besorgtem Blick ein. »Wir vertrauen darauf, dass das Bergvolk unsere Grenze nach Mandarkin sichert. Wenn die Pässe nicht bewacht sind, wird Mandarkin schon bald den Vorteil nutzen.« »Noch mehr Chaos im Westen.« Ich nickte. »Wäre das nicht schön für die Elietimm?« »Du meinst, jeder schaut in die falsche Richtung, wenn die Eismänner-Schiffe mit der Springflut in Tormalin landen?« Darni blickte von seiner Arbeit auf. Was er auch für Fehler haben mochte, dumm war er nicht. »Oder in Kellarin.« Darni brummte und setzte seine behutsame Näharbeit fort. »Wir müssen genau wissen, was dieser Hexer vorhat, ehe wir ihn bekämpfen können.« »Was immer sie vorhaben, sie wollten nicht riskieren, dass wir Wind davon bekommen«, stellte Sorgrad fest. »Ich wette einen Pfennig gegen eine ganze Wagenladung, dass dies der Grund dafür ist, dass wir aus der Hachalfeste rausgeflogen sind.« »Und er hatte Sheltya, die dort für ihn die Drecksarbeit erledigten.« ‘Gren streifte sein Wams ab und faltete es so, dass die schmutzige Seite nach innen zeigte. »Dieses hochnäsige Weib jedenfalls.« »Also, was haben sie vor?«, fragte ich, begegnete aber nur ausdruckslosen Blicken. »Fertig«, sagte Darni zufrieden und schnitt den Faden ab. 470
»Jetzt müssen wir Planir mitteilen, was vor sich geht.« Er stieß sein Schwert in die feuchte Blätterschicht, um es zu säubern, und kratzte eine Mulde in die dunkle Erde, in der er die fleckigen Überreste seines Hemdes vergrub. »Viel haben wir allerdings nicht zu erzählen.« »Wir haben mehr als du glaubst.« Ich zögerte; es war schwer in Worte zu fassen. »Als die Frau uns aus der Hachalfeste hinauswarf – könnt ihr euch an die anderen drei erinnern, die ihre Gesichter nicht zeigten? Einer von ihnen war der Hexer, dem ich vorhin den Bauch aufzuschlitzen versuchte, da bin ich ganz sicher.« Ich faltete die Hände, um das zittern zu unterbinden. »Davon hast du damals kein Wort gesagt«, meinte Sorgrad vorsichtig. »Ich habe es erst erkannt, als ich ihn heute sah. Irgendetwas ist in der Hachalfeste passiert. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was es war, aber jedes Mal, wenn ich eingehender darüber nachdenken wollte, wurde ich unruhig ... hatte Angst davor, wieder in die Berge zu gehen ... und dass wieder Äthermagie gegen mich eingesetzt würde. Ihr wisst, dass es nicht meine Art ist, mir dauernd Sorgen zu machen. Aber das alles hörte in dem Moment auf, als ich diesen Hexer mit Tahn-Salbe außer Gefecht gesetzt habe. Er hat in meinen Gedanken gewühlt, da gehe ich jede Wette ein.« Der Zorn überwog jetzt alle anderen Gefühle. »Bist du sicher?« Darni konnte seine Skepsis nicht verhehlen. »Guinalle sagte, die einfachste Methode, einen Verstand zu manipulieren, besteht darin, bereits vorhandene Ängste oder Wünsche zu verstärken«, sagte Usara. »Was streng verboten ist«, fügte er eilig hinzu. 471
»Die Sheltya tun das«, sagte Sorgrad mit finsterer Miene. »Wenn sie jemanden bestrafen.« »Also können wir diesen Hexer mit der Frau in Verbindung bringen«, sagte Darni. »Wir müssen wissen, ob sie uns noch immer auf den Fersen sind oder nicht!« »Ich kann mit Weitsicht nach ihnen suchen«, erklärte Usara. »Obwohl mir lieber wäre, wenn wir ein anderes Medium einsetzen könnten. Ich habe keine Lust, wieder in meinem eigenen Blut zu arbeiten.« »Das war brillant.« Gilmarten blickte von seinen Schnürsenkeln auf, die er angelegentlich gemustert hatte. »Ich hätte nie daran gedacht. Und wenn du diesen Mann nicht gefunden hättest, wäre es um uns geschehen gewesen.« Usara lächelte. »Wenn man ein paar Mal auf Äthermagie gestoßen ist, gewöhnt man sich an die Vorstellung, dass sie die Sinne täuscht. Als ich glaubte, keinen von euch mehr erblicken zu können, wusste ich, dass ich Mittel der Weitsicht einsetzen musste.« »Das hättest du aber nicht ohne den Abschirmzauber gekonnt, den Ryshad dich gelehrt hat«, warf ich ein. »Es war noch mehr als das«, sagte Usara. »Guinalle und ich haben intensiv die Möglichkeiten studiert, wie wir uns vor der Zauberkunst wappnen können.« »Aber Magie bringt dich auch nicht immer weiter.« Sorgrad war nicht beeindruckt. »Livak hat dem Kerl ein Messer in den Bauch gerammt.« »Nun wirk schon deine Magie«, sagte ‘Gren ungeduldig, »und stell fest, ob sie uns auf den Fersen sind.« Usara stieß einen Seufzer aus und rieb sich die Augen, ehe er sich die spärlichen Haarsträhnen aus der Stirn strich. »Haben 472
wir etwas, das genug Wasser für die Weitsicht fasst? Hat jemand Tinte dabei?« Gilmarten hielt ihm wortlos ein kleines, silberbeschlagenes und zugestöpseltes Horn aus der geräumigen Tasche an seinem Gürtel entgegen. Sorgrad begann, die Taschen seines Wamses zu leeren. »Er hat zwar keinen Rahmen, aber wenn ich einen anständigen Stein finden kann ...« Er hielt einen Metallspiegel von der Größe meiner Hand hoch. »Mein Bruder möchte immer gern wissen, ob er gut aussieht«, spottete ‘Gren. »Und er hat gern ein Mittel bei der Hand, um ein Signal zu geben, einen Verfolger zu blenden, oder um eine Ecke zu gucken, falls die Stadtwache dahinter wartet«, sagte Sorgrad. »Natürlich auch, um mich für die Damen hübsch zu machen, das stimmt schon.« »Wenn ich helfen dürfte.« Gilmarten griff nach dem Spiegel. Der soluranische Magier studierte ihn sorgfältig von beiden Seiten und hielt ihn dann zwischen den Handflächen. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er sich konzentrierte; dann reichte er Usara das Metall zurück, das jetzt eingedellt war und als kleine Schale dienen konnte. Ich erwartete fast, dass das Wasser dampfte oder Blasen warf, als Usara es hineingoss, doch zu meiner Enttäuschung war es nicht der Fall. Usara hob die kleine Schale hoch und betrachtete prüfend die Unterseite. »Ihr könnt später eure Rezepte austauschen«, sagte ich. »Weitsicht!« Usara spähte ins Wasser, das Gesicht gesprenkelt von dem grünlichen Licht, das vom Silber aufstieg. »Keine Spur von 473
Verfolgung«, sagte er schließlich. »Die Straße ist frei, so weit ich sehen kann.« Er runzelte die Stirn. »Aber ich kann die Stelle nicht finden, an der wir angegriffen wurden. Ich weiß, dass ich die Oberfläche der Straße aufgebrochen habe, und Gilmartens Luftzauber müssten auf jeden Fall Spuren hinterlassen haben.« »Ätherzauber«, sagte ich grimmig. Usara achtete nicht auf mich, beugte sich noch tiefer über die Schale. Plötzlich zitterten seine Hände. Das smaragdgrüne Strahlen schwappte über den Rand des Bechers und versickerte im Boden. »Das reicht.« Darni beugte sich vor, nahm dem Magier die Schale aus der Hand und goss das tintenschwarze Wasser aus. »Wir können es später noch einmal versuchen, wenn ‘Sar sich ausgeruht hat.« »Du kannst es ja versuchen.« ‘Gren rüttelte aufmunternd an Gilmartens Schulter. »Ich fürchte, ich bin nicht besonders gut im Umgang mit Wasser«, sagte der soluranische Magier zögernd. »Nach soluranischer Tradition halten wir uns viel stärker an unser natürliches Element.« Ich sah, wie sich in ‘Grens Gesicht Enttäuschung malte. »Komm, lass uns sehen, ob wir hier etwas Essbares auftreiben können.« Ich zog ihn mit mir auf den Wildpfad. »Diese Zauberer brennen ja vielleicht heiß und hell, werden aber schnell zu Asche«, brummte er und trat gegen einen harmlosen Busch. »Sei nicht ungerecht«, sagte ich entschieden. »Die Art von Magie, die sie eingesetzt haben, verlangt ihnen viel ab.« »Ich bin hier, um es mit jedem Elietimm aufzunehmen, der sein Glück auf die Probe stellen will«, sagte ‘Gren. 474
»Ja, aber das liegt daran, dass du nicht genug Verstand hast, um zu wissen, wann du tot bist, geschweige denn erschöpft«, betonte ich. Er grinste mich an. »So hat Misaen mich geschaffen.« »Sei dankbar, dass er auch Magier so geschaffen hat.« Ich sah mich vergeblich nach Pflanzen um, die ich als essbar kannte. »Sonst würden sie inzwischen die Welt beherrschen.« Meine Worte schlugen irgendwo in meinem Gedächtnis ein Echo an. »Otrick zum Thema ›Warum Zauberer nicht die Welt beherrschen‹.« ‘Gren sah mich fragend an. »Was?« »Nichts.« Ich deutete auf einen Busch mit dunkelroten Früchten. »Meinst du, man kann die essen?« ‘Gren pflückte eine und aß sie, ehe ich ihn daran hindern konnte. »Schmeckt wie Eisbeeren.« Ich beschnüffelte misstrauisch eine Beere. Sie war kleiner und dunkler, roch aber entschieden nach Eisbeere. Ich begann, die Beeren in einer Falte meines Hemdes zu sammeln. ‘Gren half mir und aß dabei reichlich. Ich machte mir nicht die Mühe, ihn zu warnen. Otrick. Als ich mich durch die Zweige des Busches pflückte, dachte ich über den alten Zauberer nach. Ich hatte ihn gemocht. Als er etwas über die Winde und die Strömungen des Meeres erfahren wollte, war er auf ein Piratenschiff gegangen. Durch Elietimm-Hexerei lag er nun in einem todesähnlichen Schlaf, niedergestreckt, als er seine Kräfte einsetzte, um Schurken daran zu hindern, die unglücklichen Kolonisten von Kellarin abzuschlachten. Ein Grund mehr für uns, die Geheimnisse der Äthermagie zu ergründen. Wir suchten noch eine Weile nach anderen Früchten, ent475
deckten aber nichts mehr, das uns essbar erschien. Schließlich gingen wir zu den anderen zurück. »Das ist alles, was wir gefunden haben.« Ich teilte die Beute in die wartenden Hände aus und gab Usara die größte Portion. Wir alle aßen hungrig, doch die Beeren füllten unsere Bäuche nicht. Ich fragte mich verärgert, wo die Pferde jetzt sein mochten, denn ich freute mich nicht gerade auf die Aussicht, eine Wanderung durch den Wald zu machen, ohne genug zu essen, oder Wasser, dem wir trauen konnten, und ohne frische Wäsche. Ich wischte mir die Hände an meinem fleckigen Hemd ab und sah mich in unserem niedergeschlagenen Kreis um. »Also, was nun?« »Wir erwarten Anweisungen von Planir«, sagte Usara verdrossen. »Wir müssen die Weitsicht erweitern, und herausfinden, wie viele zu den Waffen greifen«, überlegte Darni. »Wenn es nur eine einzige Sippe ist, kann man damit fertig werden. Wenn es aber jedes Tal auf dieser Seite der Berge ist, steht uns ein blutiger Herbst bevor.« »Tut, was ihr für richtig haltet«, erklärte ich. »Ich habe diese Reise unternommen, um etwas über Äthermagie herauszufinden, und davon lasse ich nicht ab.« »Das Spiel ist aus, Livak«, sagte Usara, »alle Runen sind geworfen. Unsere Taschen sind so leer wie am Anfang.« »Dann ist es Zeit, die Knochen für das nächste Spiel aufzunehmen«, sagte ich. »Verluste zählen nur, wenn du sie selber tragen musst. So lange du spielst, kannst du dein Geld zurückgewinnen.« Und wenn nötig, machst du dich an dein eigenes Glück, wenn die Runen ungünstig fallen. Vor allem, wenn der 476
andere Spieler schon seinen Gewinn zählt. »Und wie willst du vorgehen?«, fragte Darni. »Ist Planir weiter gekommen auf der Suche nach einem Mittel, Otrick aufzuwecken?«, fragte ich Usara. »Nein«, antwortete er seufzend. »Wir haben alles versucht, das Guinalle den Winter über einfiel. Niemand auch nur einen Hinweis gefunden, der helfen könnte.« »Ich wette, der Elietimm-Hexer weiß es«, sagte ich. »Dieses Wissen lässt sich zwar nicht gerade stehlen wie ein Silberbecher, aber wir könnten versuchen, den Kopf zu stehlen, in dem es aufbewahrt wird.« Usara sah mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Gereiztheit an, doch in Darnis dunklen Augen leuchtete Interesse auf. »Das könnten wir doch, oder?«, beharrte ich. »Und wir könnten wahrscheinlich herausfinden, was diese Bergvolkleute eigentlich vorhaben und was dieser Elietimm noch plant. Und wir könnten wahrscheinlich Antworten auf die meisten Fragen über Äthermagie finden, die Guinalle nicht beantworten kann. Wir wissen jetzt, dass Guinalles Abwehrzauber funktionieren. Solange wir gegenüber dem Eismann im Vorteil sind, hat er keine Chance, seine Tricks auszuprobieren.« Und ich konnte mir selbst ein für alle Mal beweisen, dass die Elietimm-Hexereien mir keine so Übelkeit erregende Furcht einflößen mussten, wie der Bastard es mir in den Kopf gepflanzt hatte. »Wir hatten ihn schon einmal, und wir können ihn wieder schnappen. Gefesselt und bewusstlos wird er nicht mehr Ärger machen als ein Sack Dreck.« »Ich verbiete es!« Usara machte den Fehler, aufstehen zu wollen, und japste vor Schmerz. 477
»Wenn Saedrin will, ist er bereits durch die Tür zur Anderwelt«, sagte Darni langsam. »Falls Raeponin seine Arbeit erledigt«, stimmte ich eifrig zu. »Aber wenn nicht?« »Wie sollen wir das herausfinden?«, fragte Darni. »Hier.« Ich griff in meine Gürteltasche und holte das kleine Messer heraus. »Es gehörte dieser Sheltya. Sie war schon vorher mit ihm zusammen, sie wird wieder mit ihm zusammen sein. Usara kann sie finden, und dann finden wir ihn.« »Diese Frau, die uns aus den Bergen verjagt hat?« Usara war entgeistert. »Du hast sie bestohlen?« »Du glaubst doch nicht, dass die Frau gemerkt hat, dass du es warst?«, fragte Darni. »Du glaubst doch nicht, dass sie deswegen hinter uns her sind?« »Fünfmal fünf Männer, bis an die Zähne bewaffnet und auf Blut aus? Und das nur für ein Taschenmesser und nachdem sie einen ganzen Mondzyklus gewartet haben?« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Wohl kaum. Ich bezweifle, dass dieses Weib das Messer überhaupt vermisst hat, und wenn, wird sie glauben, sie hat es verloren, als das Leder riss.« Ich wedelte mit dem zerfransten Ende und grinste Gilmarten an, der verdutzt dreinschaute. »Wenn Livak dir nach dem Mittagessen die Börse klaut, wirst du es erst merken, wenn du versuchst, die Rechnung fürs Abendessen zu bezahlen«, sagte Sorgrad zu Darni. »Ich bin im Auftrag des Erzmagiers hier und kann das nicht billigen!«, protestierte Usara. »Ich werde dir bestimmt nicht auch noch durch Weitsicht helfen!« »Wir arbeiten nicht für dich, Freund«, sagte ‘Gren fröhlich. »Oder für deinen Erzmagier«, setzte Sorgrad leicht drohend 478
hinzu. »Und wenn du nicht die Magie für uns nutzen willst, sollte ich es vielleicht mal versuchen.« »Ich bin bei dieser Jagd der Hund mit dem Messinghalsband«, erinnerte ich den Magier. »Wir werden tun, was wir wollen, mit oder ohne deine Hilfe.« »Ich würde gern sehen, wie du das versuchst«, höhnte Darni. »Unmöglich.« ‘Gren lächelte. »Unmöglich ist gar nichts ...« »Nur unwahrscheinlich.« Sorgrad stellte sich neben seinen Bruder. »Und solche Wetten zahlen sich am besten aus.« Ich ging zu den Brüder uns schaute Darni und Usara an. »Wir machen uns auf den Weg. Kommt ihr? Wir sollten im Wald zusammenbleiben. Aus Sicherheitsgründen.« Die Zauberer tauschten einen ungeduldigen und unsicheren Blick, erkannten jedoch, dass sie die Schwerter und Wurfpfeile zu ihrem Schutz so dringend brauchten wie Zauber, solange Usara sich in einem solchen Zustand befand. Wir gingen los.
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8.
Der Wind ist ein ständiger Begleiter des Lebens in Dalasor, und dieses Lied fasst all seine verschiedenen Stimmungen zusammen – den eisigen Wind des Winters, den warmen Hauch des Sommers, die heftigen Stürme, die über dem offenen Grasland toben und die seltenen Moment der Stille. Kraft so mächtig und doch verstohlen, unendlicher Strom, der nie Wasser war stets vergehend, doch ewig bestehend, die Schwächsten leben, die Stärksten fallen. Der Sturm tobt wütend, ein Heulen in der Dunkelheit, Donner grollt, Regen rauscht. Und der Kalte, Grausame vertreibt die Sonne von den Bergen, bis die Monde voll Mitleid die Nacht erweichen. Heilend ist die Pracht der Blumen auf sanften Hügeln. Gelassenheit bringt Weisheit lässt das Herz ruhen, mildert die Angst, schafft Frieden, auf dass wir uns besinnen über die Rätsel des Seins. 480
Othilfeste 4. Nachsommer
Der lange Schiefertisch war abgeräumt. Ein Toter lag auf dem kalten Stein, bis zum Hals in weiße Tücher gewickelt. Eine Kapuze aus demselben Stoff verbarg das Haar, doch ein paar Strähnen lugten hervor, stumpf vor verschmiertem, rostbraunem Blut. Ein Hauch von Verfall hing in der Luft wie eine unwillkommene Wahrheit. Die einsamen Flammen der Kerzen, die an Kopf- und Fußende standen, vertrieben die Dunkelheit, als es draußen Abend wurde, und hüllten den Rest des Raumes in Düsternis, während das Feuer zu einem trüben roten Gluthaufen zusammensank. Aritane beobachtete die drei weinenden Frauen, die sich daran machten, den Leichnam in eine vorgeformte Hülle aus steifem Leder einzunähen. »Ich sehe keinen Grund, den Toten einzusalzen«, bemerkte sie kalt. »Ich könnte die Einäscherungsriten durchführen.« Ismenia beugte sich vor, um die marmorweiße Stirn zu küssen, ehe sie mit sanften und geschickten Händen die Falten über Teiriols Gesicht schloss. Eirys und Theilyn waren kaum in der Lage, ihre Nadeln zu halten, geschweige denn zu nähen, so sehr zitterten ihre Finger. Die alte Frau blickte auf. »Ich habe Sheltya, die sich wahrlich ihrem Eid verpflichtet fühlen und meinen Sohn unter den Himmel legen, damit Misaen über ihn urteilen und die Raben ihn holen können«, sagte sie ruhig. Beide Mädchen erstarrten mit tränennassen Gesichtern. Ari481
tane hob das Kinn. »Du schuldest mir Achtung gegenüber meiner Berufung! Du hättest nicht einmal seine Gebeine, wenn nicht Sheltya ihn nach Hause gebracht hätten.« Ismenias Blick wanderte zu ihren Töchtern. »Bitte lass uns allein unseren Toten betrauern«, sagte sie in gemäßigterem Tonfall. »Trauern ist schön und gut.« Aritane sah missbilligend auf die verschobenen Möbel und den ungefegten Boden. »Aber bis zum Übermaß ausgeübt, wird sie zur Genusssucht.« Sie ging zum Herd und schichtete Holz auf das ersterbende Feuer. Eirys versuchte vergebens, in dem schwachen Licht einen Faden in die Nadel zu fädeln. »Falls mein Kind ein Sohn wird, werde ich ihn nach Teiro benennen, Mutter.« »Du bist diesmal wirklich schwanger?« Aritanes schiefergraue Augen bohrten sich in die des Mädchens. »Hast du es Jeirran schon erzählt?« »Ich hatte keine Gelegenheit.« Eirys verzog das Gesicht vor Anstrengung. »Ich habe ihn kaum gesehen ...« »Sag es ihm nicht«, befahl Aritane kalt. »Du könntest das Kind wieder verlieren, und er sollte weder von der Aussicht auf ein Kind abgelenkt werden noch durch den herben Schlag, es womöglich zu verlieren.« Ismenia presste die Lippen zusammen, als Eirys den Kopf senkte und wieder in Tränen ausbrach. »Überlass die Sorge um meine Tochter mir.« »Bestärke sie in weiter in ihren endlosen hysterischen Anfällen, und sie wird das Kind mit Sicherheit verlieren«, fauchte Aritane. Theilyn blieb der Mund offen stehen. Verwirrung überlagerte den Schmerz in ihrem Blick. Tödliches Schweigen breitete sich 482
aus. Der Lichtkreis um die Frauen der Soke schloss die Sheltya in ihrem nüchternen grauen Gewand aus. »Es haben noch andere außer Teiriol ihr Leben für die Verteidigung ihrer Überzeugungen gelassen«, sagte Aritane nach einigen Augenblicken mit Nachdruck. »Ich werde dafür sorgen, dass ihre Gebeine so rasch wie möglich in Maewelins Arme gelangen.« Sie verließ die Rekin. »Warum lassen wir sie nicht, Mutter?«, wisperte Eirys. Ihre helle Haut war vom Weinen aufgequollen, die Augen rot und verschwollen. »Wir verdanken ihr viel, das weißt du.« Sie legte eine Hand auf ihren langen Rock. »Nein«, sagte Ismenia eisig. »Alles, was ich ihr verdanke, ist der Tod meines Kindes. Und das werde ich ihr heimzahlen.« Theilyn schaute von Mutter zu Schwester; ihre Augen lagen in tiefen Schatten in ihrem blassen Gesicht. »Du solltest so etwas nicht sagen. Nicht einmal denken ...« Ismenia blickte sie scharf an. »Wirst du wieder alles ausplaudern?« Theilyns Lippen bebten; ihre Lippen waren aufgesprungen und zerbissen. »Sie können solche Dinge auch hören, wenn sie ungesagt bleiben«, sagte sie leise. »Die Sheltya und der Mann aus dem Osten.« »Ehre sie nicht mit dem Namen Sheltya«, zischte Ismenia. »Sie verdienen ihn nicht.« »Aber wie sollen dann die Riten für Teiro gesprochen werden?«, jammerte Eirys, der frische Tränen übers Gesicht strömten. Theilyn war gegen diesen erneuerten Ansturm von Kummer nicht gefeit und weinte ihrerseits. »Es ist alles meine Schuld«, schluchzte sie. »Wenn ich ihm nicht gesagt hätte, was Eresken 483
wollte, wenn ich nicht auf Aritane gehört hätte ... Ich weiß nicht, warum ich es getan habe ... ich weiß nicht, was ich mir dabei dachte.« »Du warst geschmeichelt von ihrer Aufmerksamkeit. Du dachtest, ihre Gunst würde dir eine gute Partie versprechen, einen reichen Mann und was du sonst noch haben willst, ohne dafür zu arbeiten«, antwortete Ismenia kurz angebunden. »Ich brauche keine Sheltya-Kräfte, um zu wissen, was du gedacht hast, Mädchen. Bitte mich nicht um Verzeihung.« Theilyn brach in lautes Schluchzen aus und floh stolpernd die Treppe hinauf. Ismenia seufzte und stützte den Kopf in die faltigen Hände. Eirys saß unglücklich und stumm da, wand geistesabwesend einen Faden um ihre Finger und zog ihn schließlich so straff, dass es blutete. Sie blickte benommen auf die roten Tropfen. Schwere Schritten kamen zögernd die Außenstufen hinauf, und die Tür zur Rekin öffnete sich langsam und ließ die Abenddämmerung ein. Fithian spähte an dem schweren Türstock aus Eichenholz vorbei. »Ich habe ihn hergebracht«, sagte er schlicht. In seinem faltigen Gesicht hatten sich Erschöpfung und Kummer tief eingegraben. Er stieß die Tür weiter auf und schob Keisyl herein. Der jüngere Mann war staubbedeckt, unrasiert und schmutzig von der Grubenarbeit. Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen, als er den verhüllten Leichnam auf dem Tisch sah. Er zögerte auf der Schwelle. Ismenia brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. »Oh, mein Junge, komm her.« Keisyl ging zu ihr und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Es tut mir Leid, es tut mir schrecklich Leid ... Ich hätte ihn zurückhalten müssen, ich hätte hier bleiben sollen ...« 484
Ismenia umarmte ihn fest. »Niemanden trifft eine Schuld«, sagte sie heiser. Keisyl verbarg sein Gesicht für einen Moment in ihren Armen, ehe er sich aufrichtete. Er fuhr herum und starrte auf die Feuerstelle, in der die Flammen plötzlich lebhaft fröhlich loderten, als das Holz sich entzündete. Das Gesicht vor Wut verzerrt, packte Keisyl einen schweren Schürhaken und stieß die Scheite auseinander, dass die Funken in alle Richtungen stoben. Er fegte die Glut über die ganze Grundplatte auseinander. Funken versengten den Fußboden, brannten Löcher in die Teppiche und Kissen und erstarben dann, erst rot, dann aschgrau, als alle Wärme auf dem kalten Stein verzehrt war. Keisyl stampfte wütend auf die verstreute Asche. Ismenia und Fithian sahen schweigend zu; ihre Gesichter waren ernst, drückten aber Mitgefühl aus. Eirys umklammerte ein Stück Leinen, den blutenden Finger im Mund, während sie entsetzt zusah. Als das Feuer nur noch Reste erkaltender Asche war, blieb Keisyl zitternd und mit gesenktem Kopf stehen. Er ließ den Schürhaken mit lautem Klirren fallen, das durch den Raum hallte wie eine Totenglocke. Er tat einen tiefen Atemzug und hob den Kopf, doch ehe er etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Jeirrans Gestalt zeichnete sich vor dem farblosen Himmel ab. »Keisyl! Ich sah dich kommen«, sagte er mit unterdrückter Freude. »Ich wünschte, du wärest unter günstigeren Umständen zurückgekommen ...« Seine Stimme brach ab, als er die Zerstörung sah. »Was tust du da?« »Hier wird kein Feuer brennen«, knurrte Keisyl. »Nicht solange der Leichnam meines Bruders auf die angemessene Zeremonie wartet.« 485
»Die Feste ist voll, und die Männer müssen ernährt werden«, sagte Jeirran mit wachsender Gereiztheit. »Das Leben muss weitergehen! Wir müssen das Abendessen bereiten.« »Brat dir ein paar Eier über den Tiegeln in der Schmiede«, fuhr Keisyl ihn an. »Das hier ist ein Trauerhaus.« »Trauer? Es ist eine Zeit des Krieges!«, gab Jeirran zurück. »Wir greifen zu den Waffen, um Teiriol zu rächen und jene, die mit ihm starben. Wir werden den doppelten Blutzoll von diesen Tiefländern verlangen, die dafür verantwortlich sind.« »Du bist verantwortlich«, sagte Keisyl leise. »Du bist es, der Teir mit seinen falschen Versprechen verführt hat, dein törichter Ehrgeiz, deine treulose Sheltya. Du schuldest der Soke ein Leben, Jeirran!« »Du kannst nicht über die Mauern deiner Feste sehen, nicht wahr?«, höhnte Jeirran. »Teiriol glaubte an das, was ich tue. Die Zeit ist reif, um die Verhältnisse wieder klarzustellen, und das wusste er. Er wollte ...« »Er wollte gemocht werden.« Keisyl schüttelte den Kopf. »Das ist der einzige Grund, weshalb er dir je zugehört hat. Er wollte einfach nur gemocht werden, ein ruhiges Leben führen, mit einer Frau und Kindern, im Vertrauen auf ein bescheidenes Erbteil. Du hast ihn dessen beraubt, Jeirran, ebenso gewiss, wie du deine Kinder ihres Geburtsrechts beraubt hast, um dich in Selerima aus dem Gefängnis freizukaufen!« Jeirran wurde blass und schaute zu Eirys, die schockiert dasaß. »Was sagt er da, Jeir?«, fragte sie mit belegter Stimme. Jeirran holte aus und traf Keisyl völlig unvorbereitet. Keisyl stolperte zurück. Seine aufgeplatzte Lippe blutete. Jeirran blickte sich trotzig nach Eirys um, doch ehe er sprechen konnte, stürzte Keisyl sich nach vorn und schlug Jeirran die rechte 486
Faust auf den Mund, die linke Faust in den Magen. Doch Jeirran erholte sich rasch, stieß den Kopf in Keisyls Gesicht, und verfehlte nur knapp dessen Nase. Keisyl landete einen Hieb auf Jeirrans Ohr, der ihm einen Schrei des Schmerzes entlockte; dann schlug er Keisyl den Handrücken ins Gesicht, dass sein Ring einen Striemen auf Keisyls Wange hinterließ. Fluchend packte Keisyl Jeirran bei den Schultern und schob ihn zurück an die Steinwand der Rekin, hob ihn hoch und schmetterte ihn wieder und wieder gegen den Stein. Jeirran riss die Arme hoch, um sich Keisyls Griff zu entwinden und versuchte, ihn erneut mit dem Kopf zu stoßen, doch Keisyls Wut war zu groß. Er trat Jeirran hart auf die Füße und stieß seine Stiefel mit den Metallkappen gegen seine Schienbeine. Jeirran spie Keisyl ins Gesicht und versuchte, die Knie hochreißen, traf aber nur Keisyls Oberschenkel. Es gelang ihm schließlich, sich von der Wand zu winden. Er versuchte, einen Stuhl zu packen, doch Keisyl zog ihn fluchend weg. »Hört auf, hört auf, ihr beide!« Ismenia sprang auf und packte den Schürhaken und hämmerte damit auf die Feuerstelle, worauf die beiden innehielten, erschrocken über den plötzlichen Lärm. Ismenia versuchte vergebens, die eine Ecke der Grundplatte anzuheben. Fithian kam ihr zu Hilfe und hebelte mit einem Schüreisen den Stein hoch. »Eirys! Das ist deine Aufgabe!« »Lass es, Eirys!«, rief Jeirran und versuchte sich zu befreien, doch Keisyl packte ihn. »Es ist Zeit, dass sie dich so sieht, wie du wirklich bist, Jeirran«, knurrte er. Eirys griff in die Höhlung unter dem Stein und holte ein eisenbeschlagenes Kästchen heraus. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie es kaum schaffte, den Schlüssel ins Loch zu bekommen, 487
und ihr Gesicht war eine erstarrte Maske. Ismenia stand neben ihr, bot ihr jedoch keine Hilfe an. Mit ausdrucksloser Miene sah sie zu, wie Eirys das Kästchen öffnete. »Zur Sonnenwende war Gold hier drin«, sagte sie und sah Jeirran ungläubig an. »Ich habe es gesehen ... wir alle haben es gesehen. Wo ist es hin? Was hast du getan?« »War hier wirklich Gold?«, wollte Ismenia wissen. »War es Gold oder nur eine Täuschung, beschworen von deiner Schwester, Jeirran? Wo sind jetzt deine guten Absichten?« »Du bist keinen Pfifferling wert!« Keisyl schleuderte Jeirran gegen die Wand, das Gesicht zu einer Maske der Verachtung verzogen. Jeirran rieb sich den Bart. »Es gibt wichtigere Dinge ...« »Nicht für mich.« Keisyl trat vor. »Nicht für mich und nicht für die von meinem Blut. Einer der unseren ist tot, und wir werden ihm die Ehre erweisen.« Er blieb auf der Schwelle stehen, Nase an Nase mit Jeirran. »Du bist nicht von seinem Blut. Es gibt kein Kind, das dich mit dieser Soke verbindet. Du hast deinen Eid gegenüber meiner Schwester gebrochen. Weder du noch einer aus deiner Bande von Bastarden wird einen Fuß in diese Rekin setzen, solange der Leichnam meines Bruders hier liegt, hast du verstanden?« Seine Stimme klang drohend. Jeirran reckte das Kinn. »Du hast kein Recht, mich von diesem Ort zu verweisen oder mich von meiner Frau fern zu halten«, sagte er hochmütig. Keisyl hob eine Faust, ließ sie jedoch wieder sinken. Gerade als verschlagene Genugtuung sich in Jeirrans Gesicht stahl, packte Keisyl ihn beim Kragen, zog die Tür auf und warf Jeirran die Stufen hinunter. Jeirran stolperte und stürzte, rappelte sich jedoch empört wieder auf, das Gesicht hochrot. Ein paar 488
Zuschauer tauschten verwunderte Blicke und Bemerkungen. Jeirran wischte sich den Staub von der Hose und richtete seinen Hemdkragen. Sein Gesicht war wutverzerrt, als er der Rekin den Rücken zuwandte und auf das Torhaus der Feste zumarschierte. Keisyl sah ihm nach; dann schloss er leise die große Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und schloss stöhnend die Augen. »Eirys, meine Liebe, es tut mir Leid, ich wollte es dir eigentlich nie sagen.« Eirys starrte noch immer dumpf in das leere Kästchen, das einst ihre ganzen Hoffnungen enthalten hatte. »Wie konnte er nur?« »Weil sein Ehrgeiz und seine Gier stärker waren als seine Prinzipien«, sagte Ismenia resigniert. »Stell es weg, Liebes.« Eirys schloss das Kästchen mit einem leisen Klicken und legte es sorgfältig unter den Stein. »Ich gehe in mein Zimmer«, sagte sie mit brüchiger Ruhe. »Bitte stört mich nicht bis morgen früh.« Sie stieg langsam die Stufen hinauf, wie eine Schlafwandlerin. Keisyl hieb mit der Faust gegen die Tür. »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es noch schlimmer wird. Jetzt weiß ich es besser, und es ist meine Schuld.« »Je eher alle aufhören, sich die Schuld am Tod des Jungen zu geben, je eher werden die Wunden dieser Soke wieder heilen«, sagte Fithian unerwartet. Er schob den Herdstein zurück, wobei eine Wolke feiner Asche aufstieg, die wie eine Verhöhnung von Rauch in der Luft hing. »Teiro war fast erwachsen. Er wusste, was er wollte. Er hat seine Entscheidungen getroffen, hat danach gelebt und ist danach gestorben. Das tun wir alle, Junge, so ist das Leben. Du schlägst diesen Weg ein oder jenen, und nur Maewelin weiß, ob du einer Lawine in den Weg läufst. 489
Zwei Männer wandern über einen zugefrorenen See, und Misaen wirft die Runen. Der eine erfriert, als er ins Eis einbricht, während der andere einen Fisch fängt, der ihn vor dem Verhungern rettet. Teiro hätte auch bei einem Steinschlag sterben könnte, und er wäre genauso jung – und genauso tot.« Ismenia nickte zustimmend; ihre Augen waren dunkel vor Schmerz. »Das ist doch nicht dasselbe!« Keisyl schüttelte den Kopf. »Das alles hier ist Jeirrans Werk. Er ist derjenige, der mit seinen schönen Worten und Versprechungen den Ärger angezettelt hat. Er ist derjenige, der Krieg gegen die Tiefländer führt!« »Nicht er allein.« Ismenia sah auf. »Schau aus der Tür und sieh, wie viele ihm folgen.« Keisyl ging stattdessen zu einem der schmalen Fenster an der Seite und spähte hinaus. Gruppen von Männern, zu dritt und zu fünft, starrten zur geschlossenen Tür, die Köpfe im leisen Gespräch zusammengesteckt. »Er würde sie doch nicht gegen uns aufhetzen, oder?«, fragte Keisyl verzweifelt. Ismenia stellte sich neben ihm und reckte sich auf die Zehenspitzen, um hinausschauen zu können. »Ich traue diesem Narren alles zu«, sagte sie grimmig. Auf ein plötzliches Geräusch hin drehten beide sich um, doch es war nur Fithian, der seine eigene Truhe öffnete. Er nahm eine Flasche und Gläser heraus und brachte jedem ein Glas strohgelben Schnaps. Keisyl legte eine Hand auf den schweren Riegel an der Tür. »Wo sind die Schlüssel, Mutter?« »Hier.« Sie hob das Schlüsselbund, das an einer Kette um ihre Taille hing. 490
Keisyl hielt den Atem an, als eine plötzliche Bewegung unten am Tor dafür sorgte, dass sich im Hof alle Köpfe drehten. Jeirran schritt heran, aufrecht und entschlossen, mit schwingenden Armen. Er marschierte zu den Stufen der Rekin und schaute einen langen Augenblick hinauf zur verschlossenen Tür. Obwohl Keisyl wusste, dass die Dunkelheit drinnen ihn verbarg, hatte er das Gefühl, Jeirrans brennende Blicke zu spüren. Dann machte Jeirran auf dem Absatz kehrt, dass die genagelten Stiefel auf den Steinen knirschten, und schaute die Männer an. »Ihr alle wisst, was geschehen ist«, begann er. Er sprach nicht laut, doch mit ruhiger Autorität. »Diese Rekin trauert.« Er legte eine Hand gegen die glatte Steinmauer. »Diese Soke trauert. Und es werden noch dreimal drei Soken trauern, wenn die Sheltya ihre toten Söhne heimbringen. Wir sind Kummer gewohnt. Misaen gab uns ein hartes Land, und Maewelin ist in ihrem Urteil unerbittlich. Doch ein solch schweres Schicksal wurde uns nicht auferlegt. Diesmal wurde nicht Leben genommen als Gegenleistung für die Gaben von Wald und Bergen. Diese Leben wurden gestohlen! Unser Verhandlungsgesuch wurde entehrt! Die Leichen derjenigen, die in gutem Glauben kamen, wurden wie Abfall behandelt!« Zorniges Murmeln schwoll für einen Augenblick an, und Jeirran schwieg, bis sich der Lärm wieder gelegt hatte. Die Luft knisterte vor Erwartung. »Wollen wir diese Beleidigung hinnehmen? Soll das wieder ein Missbrauch unseres Landes und unseres Volkes sein, der ungesühnt bleibt? Sollen die Tiefländer und ihre Verbündeten aus dem Wald uns von den Straßen jagen und vom Handel ausschließen, jetzt, wo wir kühn genug waren, unsere Grenzen zu kennzeichnen?« Seine Stimme war wieder ruhig geworden. 491
»Ist es nicht an der Zeit, ihnen klar zu machen, dass es genug ist? Müssen sie nicht endlich lernen, dass wir uns nicht länger so herabsetzen und beschränken lassen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mir lange genug den Kopf zerbrochen und eure Geduld mit Fragen auf die Probe gestellt. Ihr müsst entscheiden, was wir tun sollen. Ich weiß nur, dass ich einen Mord rächen muss. Ich werde die Schwelle meiner Frau nicht eher überschreiten, ehe ich ein Leben genommen habe, das diese Soke für ihren Verlust entschädigt. Ich werde kein Essen von ihrem Herd zu mir nehmen, bis ich einen Scheiterhaufen entzündet habe, auf dem die Knochen des Mörders brennen. Ich werde nicht eher zurückkehren, bis ich meinen noch ungeborenen Söhnen und Töchtern schwören kann, dass ich ihr Geburtsrecht verteidigt habe. Misaen und Maewelin mögen über mich richten, wenn ich nicht meinen letzten Tropfen Blut dafür opfere, diesen Schwur zu erfüllen.« Jeirran sah sich nicht um, als er davonging. Er schritt rasch aus, doch bald schon traten ihm Männer in den Weg, die ihm Unterstützung versprachen, ihm die Hand zu schüttelten oder ihm auf die Schulter klopften. Diejenigen, die nicht nahe an ihn herankommen konnten, reckten stumm die Fäuste, und bald schon hatten sie Waffen in den Händen. Die Menge bewegte sich auf das Tor zu, kochend und brodelnd, bis sie sich durch den schmalen steinernen Tunnel schob. Zu zweit und zu dritt rannten Männer hastig zwischen den Werkstätten und Lagerräumen umher und kamen mit Säcken, Bündeln, Schwertern und Köchern wieder heraus. Sie blieben einen Augenblick stehen, als außerhalb der Mauern Jubel aufbrandete, der von den Felswänden ringsum widerhallte und die Vögel von ihren Schlafplätzen aufscheuchte. 492
»Glaubst du, Eirys hat das alles gehört?«, fragte Keisyl verzweifelt. »Wenn ja, wird sie ihn mit offenen Armen wieder aufnehmen.« »Es ist mir egal, ob sie zugehört hat«, sagte Ismenia grimmig. »Das ist ein Eid, der nicht ungehört bleibt, wenn es darauf ankommt.« »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er meint, was er sagt?«, fragte Keisyl. »Er will sich doch nur vor diesem Pöbel rechtfertigen und eine Erklärung vermeiden, warum diese Tür für ihn verschlossen bleibt.« »Ob er das meint oder nicht, spielt keine Rolle«, sagte Ismenia mit kalter Genugtuung. »Misaen und Maewelin werden antworten, wenn ihre Namen ins Spiel gebracht werden.« Fithian nickte. »Er hat erkannt, dass keine noch so schönen Worte die Männer dazu gebracht hätten, sich ihren Weg in die Rekin zu erzwingen.« Keisyl seufzte. »Wenn sie ihm aus der Hand fressen, weil er damit prahlt, ihr Vorkämpfer für die alten Rechte zu sein, wird er nicht alles aufs Spiel setzen, indem er die Männer auffordert, die Tür einzuschlagen und die alten Sitten zu schänden.« »Keiner von ihnen würde so weit gehen.« Fithian nickte. »Jeirran hat nicht genug Verstand dafür«, sagte Ismenia. »Das wird diese Hure sein, die er wieder als Schwester angenommen hat!« »Aritane mag töricht sein, aber eine Hure ist sie nicht.« Die plötzliche Stimme war heiser und dunkel vor Gefühl. Ismenia fuhr herum. Ihr Gesicht war aschgrau. Fithian packte seine Flasche am Hals und hob sie drohend. Keisyl trat vor seine Mutter, die Fäuste geballt und mit finsterem Blick. »Thei493
lyn! Was tust du da?« Das Mädchen trat durch die Tür zum Treppenhaus, und die grau gekleidete Gestalt hinter ihr streifte die Kapuze ab. »Ich bin Bryn suchen gegangen«, sagte Theilyn mit zitternder Stimme. »Selbst wenn ihr es mir nie verzeiht, ich wollte es für Teiro wieder gutmachen.« Sie blickte auf den Toten und biss sich auf die Lippe. Bryn wrang die großen Hände. »Sie hat guten Grund, besorgt zu sein«, begann er. »In dieser Jahreszeit, selbst wenn man die Toten einsalzt, besteht die Gefahr einer Seuche.« »Ich werde nicht zulassen, dass ein Sheltya, der nach Aritanes Pfeife tanzt, die Riten für meinen Sohn spricht«, erklärte Ismenia unverblümt. »Ich riskiere lieber die Flecken auf seinen Gebeinen und stehe dafür gerade, wenn es sein muss.« »Wir könnten von der Sonnenwende bis zum Äquinoktium über Aritane sprechen und darüber, was sie tut, aber es wird Teiriol nichts nützen. Ich kann die Angelegenheit nicht so belassen.« Bryn wurde rot und trat von einem Fuß. auf den anderen. »Es sieht aus, als würden wir noch heute aufbrechen. Sobald wir fort sind, kann ich dafür sorgen, dass ein Sheltya herkommt, der mit all dem hier nichts zu tun hat, wenn du es wünschst. Aber du müsstest mir dein Wort geben, dass du weder von Jeirrans Armee noch von den Sheltya hier sprichst.« Keisyl konnte sich nicht erinnern, jemals Angst in der Stimme eines Sheltya gehört zu haben. »Ich würde einen Sheltya nicht anlügen, selbst wenn ich es könnte.« Ismenia schüttelte den Kopf, mehr verwirrt als ablehnend. »Sag nicht, wie Teiriol gestorben ist«, flehte Bryn. »Sag einfach, dass er im Tiefland angegriffen wurde, nicht, dass er zu 494
einer Unterhändler-Gruppe gehörte oder irgendetwas, das mit Jeirrans Zielen zu tun hat. Die Sheltya werden deine Trauer achten, wie du weißt.« »Das würde sicherlich genügen, Mutter. Das Wichtigste ist doch, dass Teiro die Riten bekommt«, sagte Theilyn. »Wenn wir mehr sagen, werden die Sheltya uns prüfen, und das steht Eirys niemals durch.« Ismenia fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Als sie aufsah, waren ihre Wangen eingefallen und ihre Frisur durcheinander. »Ich werde nicht lügen, aber ich werde nicht freiwillig preisgeben, was ich weiß«, sagte sie schließlich. »Wir wissen ohnehin nicht sehr viel.« Keisyl schaute Bryn ohne zu lächeln an. »Wir haben unser Bestes getan, uns aus dieser Torheit herauszuhalten.« Er ging, um die Tür zu öffnen. »Es liegt an dir, wie du dich für deine Rolle in diesem Spiel rechtfertigst.« »Ich gehe durch die Seitentür«, sagte Bryn hastig. »Es ist besser, wenn man mich nicht sieht.« Er klopfte Theilyn unbeholfen auf die Schulter; dann drehte er sich um und eilte die Stufen hinauf. Sie nickte abwesend, ging zu dem langen Tisch, nahm ihre Nadel und setzte ihre Arbeit mit gleichmäßigen Stichen fort. Einem Augenblick später ging Ismenia zu ihr und schaute ihrer Tochter über die Schulter. Mit einem beifälligen Laut zog sie sich einen Hocker an die große Schiefertafel und begann, mit einer Ahle das steife Leder zu durchstechen, um Löcher zu machen, denen Theilyns Nadel folgen konnte. Keisyl ließ sich auf einem Stuhl zwischen die beiden nieder, legte den Kopf auf die Arme und weinte. Unaufhörlich strömten seine Tränen auf den Stein. Fithian saß in einer Ecke und trank aus seiner Flasche. 495
Die Große West-Straße 6. Nachsommer
Ich wurde völlig überrascht, als der Pfeilhagel einsetzte. Da die mörderischen Bergvolkmänner uns bislang nicht eingeholt hatten, galt meine Hauptsorge unseren leeren Bäuchen und dem Durst, der mir die Kehle zuschnürte. Die Straße war verlassen, und ich war ein Stück vor den anderen, da ich keine Lust hatte, früher als nötig an die Reihe zu kommen, Usara zu stützen. Der Magier ging an einer behelfsmäßigen Krücke, obwohl sein Bein schmerzen musste wie Feuer. Die Pfeile kamen aus dem dichten Gestrüpp unter mächtigen Bäumen und sirrten durch die Luft. Ich hatte sie kaum bemerkt, als auch schon die ersten Flammen emporschlugen. Gleißende Feuerbälle in den Schatten erhellten die Straße, und der Gestank nach verkohlten Federn hing in der fast reglosen Luft, als verbrannte Pfeilspitzen niederprasselten. Ein Rascheln im Gebüsch verriet zumindest einen der Angreifer. Ich rannte rasch zurück zu den anderen, wo Gilmarten ausgesprochen selbstzufrieden wirkte. Darni trat vor, eine Hand auf seinem Schwert. »Wir wollen mit niemandem kämpfen. Können wir verhandeln?« »Ihr habt schon gekämpft! Wir sehen euren Verwundeten.« Die rufende Stimme klang jung, nervös und zornig, eine schlechte Mischung. Eine zweite Stimme erklärte, dass auch in den Ästen der Bäume Feinde säßen. Mehr verstanden wir nicht, da er die Waldsprache sprach. Wir tauschten verständnislose Blicke. 496
»Du da, du bist vom Blute«, rief die Stimme in aufgeregtem Tormalin. »Bist du eine Gefangene oder eine Verräterin?« »Mein Vater war vom Blute. Ich bin außerhalb des Waldes geboren und aufgewachsen«, rief ich vorsichtig. »Diese Männer sind langjährige Freunde und Gefährten. Sie haben niemanden angegriffen.« Für einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen. »Was ist mit eurem Verwundeten?« Die Frage kam aus einer anderen Richtung; dem Klang der Stimme war es ein älterer Mann, der nicht auf eine Auseinandersetzung aus war. Wenn wir Glück hatten, würde er weitere Kämpfe vermeiden wollen. »Wir wurden vor drei Tagen angegriffen«, rief ich. »Wir verloren unsere Pferde und unsere Ausrüstung und möchten nur so schnell wie möglich durch den Wald ziehen.« »Wer hat euch angegriffen?«, wollte die erste Stimme wissen, unsicherer zwar, aber weniger zornig. Es war die Stimme eines jungen Mannes. »Bergvolk«, antwortete Sorgrad. »Westlinge. Mein Bruder und ich wurden in den Mittelgebirgen geboren, doch wir haben viele Jahre im Tiefland gelebt. Wir wollten Handel treiben, aber man hat uns ausgewiesen.« »Warum versperrt ihr die Straße?« Darnis Gesicht verdunkelte sich. »Wurdet ihr angegriffen?« »Angegriffen, niedergebrannt, verfolgt und belästigt«, rief die erste Stimme voller Zorn. »Von Männern, die so blond sind wie deine Freunde hier, und die Magie zu Hilfe haben.« Usara fuhr auf. »Magie? Welche Art von Magie?« »War es Magie von Feuer und Wasser, von seltsamen Winden und aufgebrochener Erde?« Ich trat vor und spähte wieder ins Gebüsch. »Oder war es Angst in den Köpfen, Täuschungen, 497
die die Sinne verwirren?« »Woher weißt du von solchen Dingen?«, fragte eine Stimme, die einen gemesseneren Tonfall besaß. »Um diese Art von Magie zu verstehen, war ich in den Bergen.« Ich spürte die wütenden Blicke Darnis und Usaras im Rücken. Ein Pfeifton wurde aus einiger Entfernung die Straße entlang weiter gegeben. Ein Mann vom Waldvolk trat aus einem niedrigen Gebüsch. Er war dick, mittleren Alters, mit dunklem rotbraunem Haar, das schon weiße Strähnen zeigte. Sein Gesicht mit dem eckigen Kinn blickte grimmig. »Es kommen Reiter. Verlasst die Straße, dann können wir weiterreden.« Er schaute uns mit abschätzenden, kupferfarbenen Augen an. »Wir können euch etwas zu essen und zu trinken anbieten.« Darni und die Zauberer gingen unverzüglich los. ‘Gren sah mich an, und ich sah Sorgrad an; dann folgten wir drei etwas langsamer. Mehr Waldleute, als ich erwartet hatte, tauchten aus den Bäumen über uns und aus dem Unterholz auf. Sie trugen Beinlinge und Tuniken in gelbbraunem Leder, das frische Schmutzflecken und Flecken frischer Farbe aufwies, während sie Lumpen aus grünem und braunem Tuch um Arme, Beine und vors Gesicht gebunden hatten, um sich zu tarnen. Alle waren mit Bogen und Köchern bewaffnet. Hufgeklapper hinter uns ließ mich zur Straße herumfahren. Ich erhaschte einen Blick auf die Reiter, der Kleidung nach Freibauern, deren kräftige kastanienbraune Pferde behäbig dahintrotteten. Ich hätte schnell genug zurücklaufen und sie um Hilfe rufen können. Als ich zögerte, schaute Sorgrad sich nach mir um; seine durchdringenden blauen Augen sahen mich ohne zu blinzeln an. 498
»Geh, wenn du willst«, sagte er leise, »aber ich mache weiter.« Sorgrad streckte die Hand aus und drückte kurz meine Finger. Ich nickte wortlos und folgte ihm. Nördlich der Straße war die Landschaft zerklüfteter und stieg in Terrassen an. Ein Stück weit erstreckte sich ein dichter Wald; dann kam steiniger Boden, der kahl war bis auf ein paar moosbewachsene Hügel und Mulden voller herangewehter Blätter. Immergrüne Bäume standen staubig in der Sommerhitze, umgeben von dichtem Dornengestrüpp und Ginster. Die Waldleute marschierten mit grimmigen Gesichtern zu beiden Seiten von uns. Wir umrundeten eine geröllübersäte Anhöhe und gelangten zum Rand einer weiten Senke, hinter der sich eine Felswand erhob. Zwanzig oder mehr schwarz verkohlte Stellen auf dem gefegten Erdboden zeigten, wo Feuer gebrannt hatten; um jede stand ein dichter Ring von Waldleuten, alles in allem mehrere Hundert, die sich mit ihren spärlichen Bündeln, die Habseligkeiten und Nahrung enthielten, aneinander drängten. Viele sahen schockiert aus, andere hatten verängstigt die Schultern hochgezogen, wieder andere schärften bereits mit sinnloser Wut ihre Waffen. Das Gesicht einer alten Frau war voller Trauer, im Gegensatz zu dem lächelnden Gesicht des kleines Kindes, das sie in den Armen hielt. Ich fragte mich, wo seine Mutter war. »Bergvolk«, sagte der Mann, der uns hergebracht hatte. »Sie sind aus den Bergen gekommen, haben uns vertrieben, getötet und gebrandschatzt, wo sie nur konnten.« »Wir müssen mit eurem Anführer sprechen.« In Gilmartens Worten lag Besorgnis. »Sie haben keinen Anführer, nicht in dem Sinn, wie du es verstehst«, erklärte ich. Darni schaute finster drein. »‘Sar braucht einen Heiler, auch 499
wenn wir hier sonst schon nichts finden.« »Ich weiß.« Ich unterdrückte meine Gereiztheit. »Heiler oder Spurensucher könnten uns auch sagen, wo die Bergbewohner angreifen. Hat jemand eine Landkarte?« Beide Zauberer schüttelten den Kopf, doch Sorgrad sagte: »Ich kenne die Gegend hier ganz gut.« »Wo finden wir einen Heiler?«, fragte ich den Mann. »Da hinüber.« Er deutete auf die Klippe, die über eine breite, flache Höhle ragte. Wir gingen durch die dichte Menge, deren Unbehagen spürbar wurde, als man ‘Gren und Sorgrad bemerkte, deren blonde Schöpfe sich überdeutlich von den verschiedenen Rot- und Brauntönen ringsum abhoben. Das Gemurmel klang entschieden unfreundlich. Die Waldleute, die mit uns eingetroffen waren, zogen sich zu ihren eigenen Leuten zurück; hier und da erhoben sich Fragen in scharfem Tonfall. Ich lächelte Sorgrad beruhigend zu, doch er machte weiterhin ein finsteres Gesicht. Die Luft knisterte vor wachsender Spannung. Diese Leute hatten zwar keine offiziellen Anführer, konnten sich aber zusammentun, und wenn sie auf Sorgrad und ‘Gren losgingen, war es rasch um die beiden geschehen. Eine Vielzahl von Menschen hatte sich in schmutzige Decken gewickelt und lag auf dem breiten Felssims unter der überhängenden Klippe. Grüne Wickel und seltsam gefleckte Verbände bedeckten Wunden an Armen, Händen und Köpfen. Etwa zehn Männer und Frauen gingen geschäftig zwischen den daliegenden Gestalten umher, hoben Köpfe an, um den Betreffenden aus hölzernen Bechern etwas zu trinken zu geben, oder reichten ihnen Bällchen aus fest gewickelten Blättern zum Kauen. Einer der Heiler kniete neben einer grauhaarigen Frau, deren Augen unter einem Leinentuch verborgen waren. 500
»Noch mehr Arbeit für uns, Bera?«, fragte er mit dem Anflug eines Lächelns. Seine Tunika war schwarz von getrocknetem Blut, das ihm auch unter den Fingernägeln klebte. »Das ist Harile«, sagte unser Führer. »Einer unserer besten Heiler.« Usara humpelte vorwärts, und Hariles Aufmerksamkeit richtete sich sogleich auf den fleckigen Verband des Magiers. »Lass mich mal sehen.« Usara stützte sich auf seine Krücke und schnürte umständlich seine Hose auf. Er biss die Zähne zusammen, als Harile behutsam das durchtränkte Leinentuch abnahm. Die Schwellung hatte jetzt ein scheußliches, ins Grüne spielendes Purpur angenommen, das den größten Teil des Oberschenkels bedeckte. Die Wunde selbst war geschwollen und eiterte. Ich war der Meinung gewesen, Usara hätte Glück gehabt, dass er einen Streifschuss abgekommen hatte; hätte er sich den Knochen gebrochen, wäre er schließlich in viel größeren Schwierigkeiten gewesen. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Es konnte gut sein, dass er das Bein verlor, ja, dass die Entzündung ihn vielleicht sogar umbrachte. Harile sprach rasch mit einer Frau, die mindestens doppelt so schwer war wie ich, mit rundem Gesicht und von massiger Gestalt. Sie goss Wasser aus einem Kessel, der über einem kleinen, rauchlosen Feuer hing, und gab verschiedene Kräuter aus einer Tasche an ihrem Gürtel hinein. Als sie sich näherte, bemerkte ich, dass sie leise Orials Heillied sang. Harile nahm den Refrain ebenso leise auf und benutzte die warme, duftende Flüssigkeit, um das verkrustete Blut von Usaras Bein zu waschen. »Wegen der Prellungen sieht es schlimmer aus, als es ist.« 501
Usara ließ die Schultern hängen und fuhr sich mit zitternder Hand übers Gesicht, eine klägliche Gestalt in einem schmutzigen Hemd, das unter seinem zerfetzten Gewand hervorsah. »Es gibt Kräuter, mit denen wir einen Umschlag machen können, um die Heilung zu beschleunigen«, fuhr Harile fort. »Wir können den Schmerz stillen. Aber du musst ruhen, damit dein Körper sich selbst heilen kann.« »Es wird schon alles gut, Usara«, sagte Darni, als der Magier die Hose hochzog. Ein älterer Mann mit weißem Haarkranz und schmalem, scharf geschnittenem Gesicht schob sich an Bera vorbei. »Was wisst ihr über den Sturm, der über uns hinweggefegt ist?« »Dies ist Apak«, sagte Bera hastig. »Der älteste unserer Spurensucher.« Etwa zehn Leute standen hinter ihm, die genauso entschieden nach Antworten verlangten. Darni blickte sie an. »Ich bin ein Agent des Erzmagiers von Hadrumal, Planir dem Schwarzen. Usara ist ein Magier, der sein vollstes Vertrauen genießt, und Gilmarten ist ein Zauberer aus Solura, der mit uns reist.« Gilmarten verbeugte sich. »Sind Magier für dieses Unheil verantwortlich?«, fragte Apak, die Daumen unter den Gürtel gehakt. »Wir wissen, dass das Bergvolk magisch unterstützt wird.« »Ich kann euch versichern, dass ihre Hexereien nicht unser Werk sind.« Apak schnaubte unbeeindruckt. »Und was ist mit euch dreien?« Seine Augen und die der hinter ihm stehenden blickten hart und misstrauisch, und ich spürte die Feindseligkeit, die uns von allen Seiten entgegenschlug. »Wir wollten im westlichen Gebirge Handel treiben«, sagte Sorgrad. »Doch man hat uns aus den Bergen vertrieben, und 502
seitdem werden wir verfolgt.« Er deutete auf Usara und uns andere, die wir immer noch Blutflecken auf unserer staubigen Kleidung hatten. »Was will das Bergvolk von uns?«, wollte Apak wissen, dessen aufgestaute Enttäuschung in uns ein Ziel fand. »Warum sind wir Flüchtlinge im Wildwald, der uns Schutz gewähren sollte? Ich und die meinen weideten unsere Esel auf den oberen Ausläufern, so lange das Gras gut war, die Frauen sammelten Kräuter. Die anderen jagten Hasen und Füchse. Wir bauten unsere Sura an den alten Plätzen auf. Jetzt haben die Bergbewohner ihre Herden auf die oberen Weiden getrieben und graben in ihren Minen, doch einige reisen ins Tiefland, um Metallgegenstände und Töpferwaren gegen Kräuter und Holzarbeiten einzutauschen.« Der Zorn in Apaks Gesicht wich Verblüffung. »Als wir ein paar Männer kommen sahen, dachten wir uns nichts dabei, aber sie hatten Schwerter und Speere, und auf jeden von uns kamen zwei von ihnen. Sie nannten uns Diebe und Gauner und verwünschten uns, weil wir auf ihrem Land jagten. Wir würden ihre Felle stehlen, sagten sie. Dann verbrannten sie unsere Sura und zerstörten, was ihnen in die Hände fiel, oder warfen es in die Flammen. Die Frauen wurden gegen ihren Willen genommen, und die sich weigerten, hat man ausgepeitscht.« Heißer Zorn loderte in seiner Stimme auf. »Wir jagen auf diesen Hängen vor und nach der Sonnenwende, doch wir verlassen sie freiwillig, wenn die Jahreszeit wechselt. Die Bergvolkleute kommen von den Höhen herunter, und dann ziehen wir vor dem Schnee nach Süden.« Seine Stimme brach ab, als er sich in schlimmen Erinnerungen verlor. »Wir sind geflohen. Was hätten wir sonst tun sollen?« Die Waldleute brachen ihre leise geführten Gespräche ab und 503
rückten näher. »Und dann?«, fragte Darni mit größerer Sanftheit, als ich von ihm erwartet hatte. »Nicht genug, dass sie uns vertrieben haben«, fauchte Apak. »Sie folgten uns tief in den Wald. Jedes Mal, wenn wir Halt machten, wurden wir angegriffen, egal wie sehr wir auch versuchten, uns zu verstecken oder ihnen auszuweichen. Wer sich ihnen stellte, wurde niedergemacht, und wer floh, wurde mit Magie gefangen.« Das Wort war eine Verwünschung auf seinen Lippen, die vom Ring der Zuschauer murmelnd wiederholt wurde. Ich schaute mich nach dem schnellsten Fluchtweg um. Sorgrad und ‘Gren konnten auf sich selbst aufpassen, und Darni und seine Zauberer mussten halt ihre Chancen nutzen. »Was für eine Zauberei war das?«, fragte Usara. »Was weiß ich von Magie?« Apak starrte Usara finster an, ehe er seinen zornigen Blick Sorgrad zuwandte, der sein Bestes tat, völlig unschuldig auszusehen; dann blickte er ‘Gren an, der mit wachsender Unruhe von einem Bein aufs andere trat. »Erzählt uns, was geschehen ist«, bat ich höflich. »Die Leute sind verrückt geworden.« Apaks Stimme wurde leise. »Männer, die jeden Stein und jeden Zweig von hier bis zum südlichen Meer kannten, verirrten sich. Manche rannten vor Bruder oder Schwester davon, direkt in die Klingen der Hochländer. Andere wandten sich gegen ihre eigene Familie, schlugen sie mit Feuerhaken nieder oder gingen mit Messern auf sie los. Die Männer aus den Bergen lachten darüber. Und dann töteten sie jeden, der ihnen in die Finger fiel.« »Auch unsere Tiere sind verrückt geworden.« Bera erzählte ernst weiter. »Wir waren an den Bächen oberhalb des Sumpf504
landes, wo der Wald schmaler wird, um Reet und Schilf zu schneiden, und warteten darauf, dass die Monde die Mickelfische zum Laichen bewegen. Da kamen sie aus dem Gebirge, beschimpften uns und töteten alle, die sie erwischen konnten. Aber das Bergvolk kam nie in die Sümpfe, niemals, in all den Jahren nicht, die ich schon dorthin ziehe!« Er hielt kurz inne. »Wir hätten über das Moor fliehen können, doch unsere Tiere wandten sich gegen uns. Sie traten aus und bissen jeden, der sich ihnen zu nähern wagte.« Bera schüttelte verwundert den Kopf. »Manche starben auf der Stelle, das Herz zerrissen vor Angst.« »Das ist auch mit unseren Pferden passiert, als wir angegriffen wurden«, sagte ich. »Eine solche Magie könnte ich nicht vollbringen«, sagte Usara ernst. »Meine Kräfte stützen sich auf die Elemente, aus denen die Welt besteht – die Luft, die Erde, das Feuer und das Wasser. Hätte ich euer Volk angreifen wollen, als es im Sumpf arbeitete«, fuhr er fort, an Bera gewandt, »hätte ich das Wasser steigen lassen, hätte den Boden unter euren Füßen flüssig werden lassen, um euch darin festzuhalten, hätte einen Nebel beschworen, um euch zu verwirren ...« »Das ist nicht gerade beruhigend, Usara«, unterbrach ich. Apak fingerte an einem Dolch in seinem Gürtel herum, und Misstrauen schlug uns entgegen wie der kalte Wind vor einem Unwetter. »Zauberische Magie hat nicht die Macht, in den Geist einzudringen«, erklärte Gilmarten plötzlich. Sein soluranischer Akzent bewirkte, dass alle sich zu ihm umdrehten. »Das ist eine neue und böse Hexerei.« »Oder eine alte in den Händen böser Menschen«, berichtigte 505
ich. »Wenn ihr Zauberer seid, kann eure Magie uns helfen?«, fragte eine Stimme von irgendwoher. Erwartung hing in der Luft wie ein sich ankündigendes Donnergrollen. »Ohne Erlaubnis des Erzmagiers ...«, begann Usara. »Natürlich darf jeder Magier handeln, um sich selbst oder die Hilflosen zu verteidigen«, unterbrach Darni und nickte Usara zu, doch das Lächeln, das seine Lippen kräuselte, sah für mich eher wie das Zähnefletschen eines Mastiffs aus. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Usara noch blasser wurde, als er ohnehin schon war, doch so war es. Harile beugte sich vor und hielt dem Magier ein stechend riechendes Blatt unter die Nase. Der Zauberer hustete, und ein Hauch von Farbe kehrte auf seine hohen Wangenknochen zurück. »Weitsicht kann uns verraten, wo ihr Lager ist«, fuhr Darni fort. »Ihre Bewegungen werden Hinweise auf ihre Pläne geben, und wir können gewiss dafür sorgen, dass wir ihnen aus dem Weg gehen. Aber ist es nicht an der Zeit, dass wir anfangen, diesen Kampf zu ihnen zu tragen?« Bera und Apak tauschten einen unsicheren Blick, doch ein paar der anderen schauten Darni mit neuer Hoffnung an. »Wir?«, fragte Bera. »Dieselben Leute haben mich und die meinen angegriffen.« Darni verschränkte die bloßen Arme vor der breiten Brust; seine Armmuskeln waren dicker waren als meine Oberschenkel. Er wirkte zwischen diesen Waldleuten fast wie ein Riese. »Ich würde sagen, wir haben einen gemeinsamen Feind, meint ihr nicht auch?« »Ihr geht nirgendwohin. Erst ruht ihr alle auch aus.« Harile stellte sich Darni in den Weg und zwickte ihn in den Unterarm. 506
»Seht zu, dass ihr zu essen und zu trinken bekommt, dann wird euer Verstand umso schärfer sein.« Der Ring der Waldleute um uns herum brach unverzüglich auseinander, doch jetzt wich das tödliche Schweigen in der geschützten Senke lebhaft geführten, leisen Unterhaltungen; sogar Lachen war zu hören, das allerdings rasch unterdrückt wurde. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, murmelte ich Darni zu, während ich mich auf den harten trockenen Rand des Felssimses setzte. »Sobald ‘Sar sie mit Weitsicht aufgespürt hat, können wir unseren Angriff planen.« Er nickte zufrieden. »Diese Menschen werden niedergemacht, wenn sie sich mit nichts weiter als Leder und Küchenmessern gegen Kettenpanzer und Breitschwerter stellen«, wandte ich hitzig ein. Sorgrad beugte sich an mir vorbei. »Gefechte, Darni?« »Das Übliche.« Darnis Augen blickten wie die einer Raubkatze. »Bedrängen, herauslocken, ausbluten.« Sorgrad grinste breit. »Er weiß, was er tut.« »Würdet ihr mich in das Rätsel einweihen?«, fragte ich und blickte von einem zum anderen. »Wir können den Feind bedrängen, einzelne niedermachen und ein paar nächtliche Angriffe auf ihre Lager unternehmen«, sagte Darnis. »Wir können sie nicht verjagen, also müssen wir es für sie so teuer wie möglich machen, und dann treiben wir den Preis weiter in die Höhe, als sie verkraften können.« Er betrachtete die in der weiten Senke versammelten Waldleute mit nachdenklicher Miene. »Das wird ein langwieriges Spiel.« Ich nahm eine hölzerne Schale mit einer würzigen Suppe von der dicken Frau entgegen 507
und aß hungrig. Selbst das Fladenbrot war mir willkommen, mit dem ich den letzten Rest der heißen Flüssigkeit auftunkte, nachdem ich Fleisch- und Gemüsestücke mit einem verbeulten Löffel herausgefischt hatte, den Sorgrad aus einer seiner Taschen zum Vorschein brachte. Ein Junge kam mit einem Stock vorbei, an dem etwas angebunden war, das verdächtig nach einem Eichhörnchen aussah, aber ich verbannte den Gedanken aus meinem Kopf. In der Suppe war bestimmt das Fleisch eines Hirsches gewesen. Dami schlürfte die letzten Tropfen aus seiner Schale und wischte sich mit dem Handrücken über den verfilzten Bart. Ich fühlte mich so schmutzig wie ich aussah; mein Hemd war klebrig von Schweiß. »Wir müssen die Bedrohung finden, die am nächsten ist«, sagte Usara. »Diejenigen, die Apak angegriffen haben.« »Es müssen mindestens drei Elemente gewesen sein, die sich ihren Weg aus dem Norden nach hier gebahnt haben«, sagte ‘Gren. Sein Gesicht war angespannt. »Ich wette jede Summe, dass die Angriffe mit Hilfe von Elietimm-Hexerei gelenkt werden«, grollte Darni. »Ich auch.« Sorgrad nickte. »Also brauchen wir einen Plan, damit das aufhört«, bemerkte ich unschuldig. Darni schob das Kinn vor. »Wir müssen etwas tun, sonst wird die ganze Ferringschlucht mit hineingezogen. Und wenn es dazu kommt, steht der ganzen Wald in Flammen, ehe die Jahreszeit um ist. Wie wird Farnbrunn reagieren, wenn die Große West-Straße geschlossen ist? Was ist mit Pastamar?« »Wir dürfen nichts überstürzen«, sagte Usara verzweifelt. »Eins nach dem anderen. Ich muss mit dem Erzmagier Kontakt 508
aufnehmen. Planir wird wissen, was zu tun ist.« Ich saß schweigend da und trank aus einer Wasserflasche. Ich machte mir keine Sorgen darüber, ob Planir wusste, was zu tun war oder nicht. Ich hatte selbst eine Menge Ideen.
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Die Kammer Planirs des Schwarzen, Erzmagier von Hadrumal 6. Nachsommer
»Du siehst also, du musst uns rasch Hilfe schicken. Wenn wir nichts tun, gibt es ein Chaos.« Die Dringlichkeit in Usaras Worten drang durch den schimmernden Spiegel und ließ ein schwaches Echo aus dem Kelch in Planirs Hand erklingen. Der Erzmagier nahm nachdenklich einen Schluck vom smaragdgrünen Fruchtlikör. »Ich glaube, du musst dein Augenmerk weiter in die Ferne richten, ‘Sar.« »Gibt es ein Problem mit dem Zauber?« Usara runzelte die Stirn. »Überdenke die Folgen deines Vorschlags«, sagte Planir geduldig. »Dass du und der Soluraner diesen Waldleuten helft, ist eine Sache. Dass die Zauberer und der Erzmagier von Hadrumal sich in den Kampf einmischen, ist eine ganz andere.« »Aber diese Hochländer bekommen von mindestens einem Hexer der Eisinseln Unterstützung«, protestierte Usara hitzig. »Sie scheinen diese Sheltya beeinflusst zu haben. Wir können nicht feststellen, wie mächtig sie sind!« »Du kannst ihren Hexereien mit deiner eigenen Zauberei begegnen«, versicherte Planir ihm. »Da ist eine schlimme Bedrohung, und du musst alles versuchen, den Plänen dieses Hexers Einhalt zu gebieten. Aber ich bin nicht bereit, den Einsatz zu erhöhen, indem ich die Magier von Hadrumal gegen die Elietimm-Hexer einsetze, die diesen Erdrutsch ausgelöst haben.« »Sie haben die Berge mit Lügen entfacht!«, rief Usara. »Wir 510
müssen ihnen zeigen, dass wir ein so etwas nicht einfach hinnehmen!« »Was würde der König von Solura wohl denken, wenn Magier im Namen des Waldvolkes Krieg fuhren?«, fragte Planir mit strenger Miene. »Was würde er denken, wenn der Wald zu einer Provinz von Zauberern ohne Bindungen oder Verpflichtungen gegenüber seinen Gesetzen würde, statt wie seit alters her der Schutzschild seines Reiches gegenüber dem Ehrgeiz Tormalins zu sein?« »Wir würden das Land ja wieder verlassen, sobald die Situation geklärt ist«, wandte Usara ein. »Und wann wäre das?«, erkundigte sich Planir mit höflichem Interesse. »Wie lange würde es dauern, bis wir sicher sein können, dass die Bergbewohner nicht einfach von ihren Höhen herunterstürmen, kaum dass der letzte Magier nach Hadrumal zurückgekehrt ist? Wie könntest du dem Waldvolk versprechen, dass es vor weiteren Angriffen sicher ist? Sie würden ein paar Magier bei sich haben wollen, damit sie wenigstens um Hilfe rufen können, wenn sie wieder überfallen werden. Und sollen wir uns verpflichten, das Waldvolk zu unterstützen, falls sich herausstellt, dass es nicht über Wissen von wirklichem Wert verfügt? Wollen wir uns das Bergvolk zu Feinden machen, falls es über die Ätherkunde verfügt, die wir so verzweifelt brauchen?« »Ich bin sicher, dass wir einen Kompromiss finden könnten«, meinte Usara. »Was würden die großen Gilden von Selerima und Vanam zu sagen haben? Und die guten Bürger von Wrede oder von Grynth?« Planir stellte sein Glas ab und verschränkte die Finger. »Denk daran, wie hoch diese Städte und ihre Herrscher ihre 511
Unabhängigkeit schätzen. Es ist vielleicht zwanzig Generationen her, dass sie die Herrschaft Tormalins abgeschüttelt haben, aber die Erinnerung an diesen Kampf dauert noch an. Wie würden sie auf Zauberer im Wald reagieren? Zauberer, welche die Straße zu den lukrativen Märkten in Solura beherrschen? Wir müssten damit rechnen, dass sie jeden Magier ausweisen, die Städte für jeden Zauberer verbieten und die Strafen für die Ausübung von Magie wieder einführen, die Trydek überhaupt erst dazu zwangen, seine bunt zusammengewürfelte Truppe von Lehrlingen nach Hadrumal zu bringen.« Usara blickte betroffen drein. »Das ist die eine Seite«, sagte Planir. »Die andere ist, dass wir uns möglicherweise vor Bitten um Hilfe kaum retten könnten. Was ist mit der Ferringschlucht? Wir hätten Gildenmeister, die im Eilschritt zum nächsten Zaubertrankverkäufer laufen und um unverzügliche Hilfe gegen alles Mögliche bitten würden.« »Dann würden sie eine Enttäuschung erleben«, sagte Usara. »Alle Gruppen in der Schlucht haben ebenso viel ausgeteilt wie eingesteckt.« »Wie kannst du vorschlagen, Hilfe zu verweigern, wenn du gerade eine Generationen alte Tradition über den Haufen geworfen hast, indem du auf der Seite der Waldvolk gekämpft hast?«, wollte Planir wissen. »Es geht hier doch nicht nur um Konkurrenz und Gewinn«, wandte Usara ein. »Diese Menschen werden abgeschlachtet!« »Dann ist es also eine Prinzipienfrage?« Planir hob einen Finger. »Gerade die Prinzipien sind es, die dafür gesorgt haben, dass die Lescari einander seit zehn Generationen an die Kehle gehen.« »Das ist etwas ganz anderes!«, rief Usara. 512
»Inwiefern?« »Wir stehen vor einer entscheidenden Begegnung mit einer feindlichen Magie!«, fauchte der jüngere Magier. »Nur wenn wir es wollen«, tat Planir diesen Einwand ab. »Na schön, ich gebe zu, dass es sich um eine schwierige Situation handelt. Angenommen, wir ziehen Linien in den Sand und fordern diese Hexer zu einem Pinkelwettbewerb heraus. Wie willst du das den guten Leuten von Ensaimin und anderswo erklären, die mit hineingezogen wurden? Welches Prinzip ist denn so wichtig, dass wir das Recht haben, die Welt um andere Menschen herum zum Einsturz zu bringen?« »Magier müssen sich nicht vor dem gemeinen Volk verantworten«, gab Usara zurück. »Nein«, pflichtete der Erzmagier ihm bei. »Wir müssen uns vor niemandem verantworten. Wir können gegen diese Hexer mit allen Kräften kämpfen, über die wir verfügen – den Kräften über Luft, Erde, Feuer und Wasser –, und niemand kann es uns verwehren.« Er hielt inne. »Aber wir wird sich das auf unsere gegenwärtigen Verhandlungen mit den Fürsten von Tormalin auswirken? Glaubst du nicht, dass sie sich vielleicht dazu entscheiden, es lieber allein mit den Elietimm aufzunehmen, mit der Hilfe, die Guinalle und ihre Adepten bieten können, anstatt sich mit Magiern zu verbünden, die sich um keine Autorität scheren?« »Aber das wäre töricht!«, erwiderte Usara zornig. Der glänzende Spiegel wellte sich leicht durch die magischen Bilder auf seiner Oberfläche. Die Kerze auf dem Tisch flackerte heftig; ihre unnatürliche Flamme verzehrte das Wachs, von dem heiße Tropfen über den silbernen Halter rannen. »Wenn ich dir sage, wir sollten die Fürsten von Tormalin und 513
alle anderen ignorieren, wirst du mir sicher sagen, dass ich wie Kalion rede, nicht wahr?«, sagte Usara schließlich mit dem Anflug eines reuigen Lächelns. »So unhöflich wäre ich nie.« Planirs Grinsen strafte seine Worte Lügen, als er sich vorbeugte. »Aber ich könnte den ganzen Tag damit verbringen, Argumente zu finden, dass der Rat von Hadrumal sich nicht in eine Sache verwickeln lassen sollte, die allem Anschein nach ein Kampf um Land und den damit verbundenen Reichtum ist. Wir unterstützen das Waldvolk in diesem Konflikt, aber wir verwehren jedem anderen aus prinzipiellen Gründen Hilfe, wenn er sie bei uns sucht ...« »Jetzt machst du dich über mich lustig«, protestierte Usara. »Es gibt eine Menge Zauberer in der weiten Welt, ‘San. Wer will sagen, dass einer nicht bestochen werden kann, seine Kräfte für eine Sache einzusetzen, die man als falsch und ungerecht bezeichnen könnte?« »Jeder Magier weiß, dass er Hadrumal Rechenschaft schuldet«, erwiderte Usara. »Wohl wahr, aber wie gut könnte ich die Autorität dieses Amtes ausüben, wenn es dazu käme?« Planir hob den schweren goldenen Ring des Erzmagiers, dessen massiver Mitteldiamant von Saphir, Bernstein, Rubin und Smaragd eingefasst war. »Wenn mein Rat gespalten ist zwischen der Verteidigung des Waldes im Westen und dem Kampf gegen die Elietimm im Osten und jenseits des Meeres, und während ich das bisschen, das dann noch von meiner Zeit übrig ist, damit verbringe, alle anderen davon zu überzeugen, dass wir nicht versuchen, das Alte Imperium wieder zu erschaffen – mit mir an der Spitze?« »Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass so etwas passiert«, sagte Usara unwirsch. 514
»Und keinen Grund anzunehmen, dass es nicht passiert«, entgegnete Planir. »Wenn du einen Stein von der falschen Platz wegnimmst, kann dir sehr viel Geröll auf den Kopf fallen.« »Das ist dein letztes Wort?«, fragte Usara. »Das ist mein letztes Wort«, erwiderte Planir mit Betonung. »Du bist ein freier Mensch. Du hast die Freiheit, jeden und jedes Mittel nach deinem Gutdünken zu verwenden. Du wirst dem Rat Rede und Antwort stehen müssen, aber ich kann dich meines absoluten Vertrauens in deine Urteilskraft und meiner uneingeschränkten Unterstützung versichern.« »Danke für dein Vertrauen«, sagte Usara trocken. »Aber ich sehe nicht ganz, was ich allein erreichen könnte. Von Gilmarten abgesehen ist kein anderer Magier im Umkreis von vielen Meilen hier.« »Wieso bist du dessen so sicher?« Planir drückte die Kerzenflamme zwischen zwei Fingern aus, das Bild rings um Usaras verwirrte Miene löste sich auf. Der Rauch der Kerze stieg in einer zierlichen blauen Spirale empor und tanzte in den Strahlen der Abendsonne, die schräg durch die Fenster fielen. Planir stand auf und ging zum Fenster, um über die Dächer von Hadrumal zu blicken. Die grauen Steine der Hallen wirkten im letzten Sonnenlicht warm und golden, die Höfe und Gassen waren voller Menschen, denn die Zauberer und Gelehrten wandten sich jetzt dem Essen und Trinken, den Gesprächen und Vergnügungen zu. Der Erzmagier schaute hinunter, bis die winzigen Gestalten durch ein Tor oder eine Tür verschwunden waren. Dann drehte er sich um, und seine Augen blickten wachsam und gefährlich. Die letzten Rauchfahnen lösten sich auf, als er mit der Hand wedelte und sich vor den leeren Kamin stellte. 515
»Und was wolltest du nun mit mir diskutieren, Shiv?« Shiv hatte auf der anderen Seite des Raumes gesessen, tief im Schatten eines hochlehnigen Sessels. »Ich habe Neuigkeiten von Kalion, Erzmagier«, sagte er bescheiden. »Muss ich mir Sorgen machen?« Planir klang erstaunt. »Sag mir, was du gehört hast«, forderte Planir ihn auf. »Dass Kalion seine Zeit in Relshaz damit verbracht hat, die mächtigsten Männer in dieser einflussreichsten aller Städte zu treffen. Anscheinend hat er jede Art von Gewinn und Vorteilen versprochen, wenn die Zauberei ihren angemessenen Platz in den oberen Ebenen der Entscheidungsfindung erhalte« Shivs Spott klang bitter. »Nach dem Ende des Nachwinters zog er weiter nach Toremal. Er wurde zu den prunkvollsten Festen eingeladen, soviel ich gehört habe, und hat die Adligen mit besten Verbindungen kennen gelernt. Ich glaube, zur Zeit reist er zwischen den Herzögen von Marlier und Parnilesse in Lescar hin und her und bietet seine Dienste als ehrlicher Mittler bei ihren Verhandlungen an.« »Wie kommst du darauf, ich hätte nicht gewusst, wie Kalion sich vergnügt?«, fragte der Erzmagier. »Du warst in letzter Zeit sehr beschäftigt, Erzmagier.« Planir zündete eine Reihe von Kerzen mit einem Fingerschnippen an; dann setzte er sich in einen Sessel auf der anderen Seite des Kamins. Er musterte Shiv einen Augenblick. »Du sagst, ich war beschäftigt? Ja, zugegeben, meine Pflichten füllen meine Tage, aber in letzter Zeit nicht mehr als üblich.« Shiv hüstelte verlegen und stand auf. »Dann habe ich mich wohl geirrt. Es tut mir Leid, dass ich deine Zeit in Anspruch genommen habe.« »Oder hast du gedacht, dass ich mich in den Strumpfbändern 516
eines hübschen Mädchens verheddert hätte?«, fragte Planir liebenswürdig. »Da du es so ausdrückst, verehrter Erzmagier – ja. Ganz Hadrumal tratscht darüber, dass sie dir völlig den Kopf verdreht hat, seit sie zum ersten Mal die Röcke vor dir gehoben hat!« Planir lachte aus vollem Hals, dass eine Taube erschrocken vom Fensterbrett aufflog. »Setz dich wieder, Shiv, und lass uns etwas trinken.« Er ging zur Anrichte, nahm eine Weinflasche, schenkte zwei Gläser ein und reichte eines Shiv. »Deine Besorgnis rührt mich«, sagte Planir und setzte sich wieder, »aber sie ist wirklich unnötig.« »Wirklich?«, erwiderte Shiv. »Für mich und alle anderen sieht es nicht so aus. Hier ist Kalion eine Witzfigur, wo es genügend Leute gibt, die ihn in Schach halten können, aber da draußen, mit seinen schönen Kleidern und den guten Manieren, nehmen ihn die Menschen sehr ernst! Warum tust du nichts dagegen? Weil deine ganze Zeit dafür draufgeht, deinen hübschen neuen Lehrling auf Feste und Tanzvergnügen zu führen und ihr mindestens dreimal die Woche Abendunterricht zu geben, der bis zum Frühstück dauert! Troanna heißt das gar nicht gut. Und solange du dich weigerst, einen Wolkenmeister zu ernennen, der an Otricks Stelle tritt ... und wenn Kalion dich im Rat ernsthaft herausfordert ...« Shiv hielt abrupt inne und spähte in sein leeres Glas. Planir füllte es mit dem dunkelroten Wein nach. »Ich bin mir darüber im klaren, dass Kalion mehr verspricht, als er halten kann. Er kann so viele Versprechen machen, wie er will, er wird keins davon erfüllen können. Wie sehr er auch an seiner Leine zerrt, ich habe das andere Ende immer noch in der Hand und kann ihn zurückzerren, wann immer ich will. Im Augenblick 517
bin ich zufrieden, wenn er sich so viel Leine nimmt, wie er will, und sich darin gründlich verheddert. Dann werde ich ihm natürlich zu Hilfe kommen. Und mit all seinen schönen Worten, die sich als hohl erwiesen haben, wird er sehr dumm dastehen. Glaub mir, das wird ihm mehr schaden als jeder Tadel oder jede Strafe, die ich ihm auferlegen könnte. Kalion wird zweifellos weiterhin alles versuchen, was in seiner Macht steht, um den Rat für sich einzunehmen, aber ich werde ihm keinen Grund für eine Feindschaft liefern, indem ich ausdrücklich etwas gegen ihn unternehme. Ich mache mir Kalion nicht zum Feind, Shiv, weil er letztendlich das Beste für die Zauberei will. Dagegen muss ich nicht ankämpfen. Wir unterscheiden uns nur sehr in unserer Vorgehensweise.« »Du bist sicher, dass der Rat hinter dir steht?«, fragte Shiv. Planir lächelte. »Kalion hat nicht annähernd so viele Anhänger, wie er glaubt.« »Jawohl, Erzmagier.« Shiv sah verlegen drein. Die freundliche Miene des Erzmagiers verhärtete sich. »Und Troanna billigt meinen Umgang mit Larissa nicht, das ist wohl wahr, aber da sie alt und klug ist, weiß sie, dass sinnliche Vergnügen auf einem ganz anderen Blatt stehen als das Geschäft der Zauberei. Mach nicht den Fehler, die beiden Dinge durcheinander zu bringen, Shiv. Troanna wird mich als Erzmagier danach beurteilen, wie ich meine Pflichten erfülle, nicht danach, wie ich die Zeit hinter meinen Bettvorhängen verbringe. Gerade du solltest das zu schätzen wissen.« Shiv wurde rot und rutschte unbehaglich auf seinem Sessel herum. »Ja, Erzmagier.« »Ich habe meine eigenen Verbindungen in Relshaz und Toremal. Erinnerst du dich an Mellitha? Wenn Kalion einem aus 518
dem Magistrat beide Monde und dazu noch die Sterne verspricht, redet er als Erstes mit ihr. Kalion macht eine gute Figur in seinen maßgeschneiderten Gewändern, wenn er lang und breit über die unendlichen Kraftquellen der Zauberei spricht. Doch er übersieht dabei, dass die Nicht-Magiegeborenen die Vorstellung von Magie eher beunruhigt, vor allem in den Händen eines dreisten und mächtigen Mannes. Kalion sagt, er kann alles Mögliche tun, aber er fragt nie danach, ob jemand das auch will. Und Arroganz macht jeden zornig, Shiv. Also reden sie mit Mellitha, die sie als Magierin kennen, zugegeben, die aber seit fast einer Generation in ihrer Stadt lebt, was viel wichtiger ist, und die allgemein als gerechte und ehrliche Steuereintreiberin gilt. Sie sagt ihnen, sie sollen sich keine Sorgen machen, dass Kalion viel redet und wenig tut und dass die Person, an die sie sich wenden müssen, der Erzmagier ist.« Planir grinste. »Er ist ein Mensch wie du. Er liebt hübsche Mädchen, tanzt und trinkt und hört gern zweideutige Witze. Jeder weiß das, in Hadrumal und auch sonst.« Die Augen des Erzmagiers funkelten stählern im Kerzenschein. »Eine Beruhigung, an die sich die Fürsten von Tormalin klammern können, wenn ich letztendlich gezwungen bin, diese Elietimm mit Feuer und Blitz, Überschwemmungen und Erdbeben ins Meer zu treiben. Ich werde die ganze Macht von Hadrumal gegen diese Hexer richten, wenn es sein muss. Aber ich werde keine Zeit und Energie darauf verschwenden, mich mit Kleinigkeiten abzugeben, wenn die wirkliche Gefahr uns alle umbringen kann, falls ich einen Fehler mache.« »Ja, Erzmagier«, murmelte der jüngere Mann. Planir seufzte schwer. »Was Otrick angeht, nun, ich bin noch nicht bereit, den alten Piraten schon aufzugeben.« 519
»Es sind schon sieben von acht Jahreszeiten vergangen«, betonte Shiv mit kummervoller Miene. »Solange er atmet, können wir seine körperlichen Bedürfnisse stillen.« Planir hielt kurz inne. »Wenn bei ‘Sars Reise nichts herauskommt, werde ich die Sache vor den Rat bringen, aber auch dann werde ich vor einer zu schnellen Entscheidung warnen. Otrick leidet schließlich nicht.« Ein düsteres Schweigen lag schwer in der Luft. »Ich weiß, du könntest eine Einmischung des Rates nicht billigen, aber darf ich gehen?« Shiv sah ihn eifrig an. »Wenn das Element Gilmartens Luft ist, brauchten wir mit meinem Wassertalent und Usaras Erdtalent nur noch einen Feuermagier, um ein Netz zu knüpfen.« »Und wo willst du diesen Feuermagier finden?« Planir lächelte über Shivs Eifer. »Ich schlage dir einen Handel vor: Wenn du die Quadratur des Kreises eher schaffst als ‘Sar, schicke ich dich, um ihm die Antwort zu geben.« Planir öffnete die Tür und geleitete den jüngeren Mann hinaus. Er schob die schwere schwarze Eichentür zu und legte für einen Augenblick die Stirn dagegen. Mit einem Lächeln durchquerte er den Raum und öffnete eine zweite Tür, die geschickt in den Linien und Falten der geschnitzten Täfelung verborgen war. Der Erzmagier betrat ein kleines Zimmer, das von einer Bettstatt beherrscht wurde, deren gelbseidene Vorhänge mit leuchtenden Ranken und Blumen bestickt war. Larissa saß in einem Sessel, der passend dazu gepolstert war, die Hände im Schoß gefaltet, die Beine übereinander geschlagen. Sie blickte aus dem Fenster auf den Sonnenuntergang, das Gesicht unbewegt wie der schneeweiße Marmor der Waschschüssel neben ihr. Ein Gewand aus himmelblauem Satin mit Chiffon-Schleiern 520
betonte ihre Figur, während ihre kastanienbraunen Locken mit Kämmen hochgesteckt waren; Augen, Wangen und Lippen waren diskret geschminkt. »Bist du jetzt wütend oder beunruhigt?« Planir setzte sich auf die Bettkante und zog sich die Stiefel aus. »Oder beides?« Larissa sah ihn finster an. »Du sagst Shiv, ich bin nur ein Mittel zum Zweck, um deine eigenen Gerüchte zu streuen? Schließlich wird doch jeder glauben, was ich erzähle, nicht wahr? Wenn man nicht mehr darauf vertrauen kann, dass eine Frau Bettgeflüster weiter erzählt, worauf kann man dann noch vertrauen?« Röte stieg ihr in die Wangen. »Du hast stets mein vollstes Vertrauen, wenn es darum geht, den Klatsch mit ein paar wohl überlegten Brosamen zu würzen, Liebste.« Planir ließ sein Hemd auf den Boden fallen. »Wenn ich mich nicht irre, hast du das Spiel bereitwillig und mit beträchtlichem Geschick gespielt.« Er grinste sie an. »Meine Rolle ist nur, dir, allen und jedem zu versichern, dass du ein Mann mit Gelüsten bist?« »Gegen Klatsch kann ich nichts machen. Es tut mir Leid, wenn du es demütigend findest. Offen gesagt, ich könnte gut darauf verzichten.« Planir zuckte die Achseln. »Das Amt des Erzmagiers hat vielfältige Macht, aber die Menschen dazu zu bringen, dass sie nicht mehr denken, was sie denken wollen, geht über meine Kräfte.« »Aber du benutzt das Geschwätz und wendest es gegen die Klatschbasen.« Larissas Stimme verlor allmählich an Schärfe angesichts Planirs Gelassenheit. »Stimmt schon«, gab er zu. »Ich nutze jedes Mittel, um meine Pflicht zu erfüllen, das habe ich dir von Anfang an gesagt. Aber ich habe nichts getan, um den Klatsch ins Leben zu rufen. Ich 521
habe weder mit dir geprahlt noch dich versteckt, als müssten wir uns schämen.« Planir schnürte seine schlichten Wollhosen auf, zog sie aus und ging zu einem Schrank, in dem er ein sauberes Hemd aus weicher Seide fand. »Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es Gerede gibt.« Larissa sah auf ihre Hände; im Zimmer herrschte Stille, bis auf das Rascheln der Seide, als der Erzmagier sich anzog. »Ich bitte dich nur darum, meine Liebste, dass du meine Worte mehr abwägst als die eines anderen«, sagte Planir sanft. »Habe ich dich je getäuscht? Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass dein Geist und deine Gesellschaft, dein Charme und deine Leidenschaft die größten Geschenke sind, die mir je zufielen? Mit dir an meiner Seite würde ich mich zum glücklichsten Mann auf der Welt zählen, und wäre ich der geringste Bergarbeiter in Gidesta und nicht der Erzmagier von Hadrumal.« »Aber du bist der Erzmagier von Hadrumal«, sagte Larissa mit erstickter Stimme. »Das bin ich.« Planir nickte. »Und ich muss alles tragen, was damit zusammenhängt. Du nicht, es sei denn, du willst es so.« Wieder drohte sich die Stille unendlich zu dehnen, bis in der vieltürmigen Stadt die Glocken zu läuten begannen. Planir blickte auf die kleine Uhr auf dem Nachttisch neben dem Bett. »Für den Augenblick müssen wir entscheiden, ob wir zum Tanz in der Seehalle gehen. Es wird Wasser auf die Mühlen der Gerüchteköche sein, wenn wir zusammen tanzen, aber wenn wir nicht gehen, werden ganz neue Spekulationen und Gerüchten entstehen. Hat er sein Auge auf eine andere geworfen? Hat sie bekommen, was sie wollte, was immer es sein mag? Geht er jetzt zur Nächsten, um eine neue Kerbe in seinen Bettpfosten zu schnitzen, oder ist sie den alten Mannes leid?« Er kicherte. 522
»Wenn du lieber nicht gehen möchtest, bin ich auch einverstanden. Und wenn wir gehen, ist es nicht von Bedeutung, sieht man davon ab, dass ich gerne tanze – vor allem mit dir –, und dass ich gerne die Bürden meines Amtes für einen Abend abschütteln und ihn mit dem schönsten Mädchen in Hadrumal genießen würde.« Er ging zur Tur, eine elegante Gestalt in zurückhaltender schwarzer Seide, die makellos geschneidert war. Larissa stand auf und zupfte ihre Röcke zurecht. »Dann such deine Tanzschuhe, verehrter Erzmagier.« Sie lächelte, und in ihren Augen funkelte es kämpferisch. »Und was das Genießen angeht«, sie hakte sich bei ihm unter, »hängt es davon ab, ob du dich auf dem Tanzboden verausgabst oder nicht.«
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Der Große Wald 6. Nachsommer
Während Usara mit seinem Spiegel und einem Kienspan vom Feuer hantierte, folgte ich einem der Heiler aus der Senke einen weiteren Abhang hinunter zu einem kleinen See. Wasser rann über die farnbewachsenen Felsen, die graue und gelbliche Schichten zeigten, hier und da mit feuchtschwarzen Flecken durchsetzt. Das Wasser strahlte Kühle aus. Gruppen von Männern und Frauen badeten, wuschen Kleider und hangelten sich sorgfältig über einen schlüpfrigen grünen Sims, um Töpfe mit dem klaren Wasser der Quelle zu füllen. Ich wusch mich gründlich, wenn ich auch bei dem kalten Wasser auf meinem erhitzten Körper nach Luft japsen musste, doch ich genoss es, endlich wieder sauber zu sein. Ich wickelte mich in meine Weste und machte mich auf die Suche nach sauberer Wäsche. Harile war mit Schalen voll eingeweichter Kräuter im Höhleneingang beschäftigt und nickte mir zu, als ich in meiner Tasche wühlte. »Du gehörst zum Waldvolk?« Es klang zweifelnd. »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Mein Vater ja, aber ich bin außerhalb aufgewachsen.« So weit hatte ich es geklärt. Die Vergangenheit meiner Eltern war ihre Sache, meine Zukunft war meine eigene. Ich nahm das kostbare Buch vom Boden meines Rucksacks und sah nach, ob die Verpackung noch unversehrt war. Ich schaute Harile an. »Dieses Lied, das du eben gesungen hast, war ›Mazirs Heilende Hände‹, nicht wahr?« Er blickte von seiner Arbeit auf. »Was ist damit?« 524
»Wusstest du, dass in diesem Lied eine Kraft steckt, in dem Jalquezan?« Ich lächelte ihn an. Harile legte verwundert die Stirn in Falten. »Was für eine Kraft?« »Eine Art Zauber.« Ich legte all meine Aufrichtigkeit in meine Worte. »Ich bin im Auftrag tormalinischer Gelehrter nach Osten gekommen, um das verborgene Wissen der alten Völker zu lernen. Ich habe Jalquezan gefunden.« Allmählich wich der Zweifel in Hariles Miene dem Interesse. »Aber wie kann es ein Zauber sein? Es ist Unsinn!« »Es ist weit mehr als das«, versicherte ich ihm. »Daran besteht kein Zweifel.« »Wenn Jalquezan ein Mittel der Zauberei ist, was kann es dann gegen das Bergvolk ausrichten?« »Du suchst ein Lied, dass zu deiner Lage passt. Wenn du dich verstecken willst, singst du von Viyenne und den Hirschen, wenn du dich verirrt hast, singe von Mazir und dem Unwetter, und du findest den Weg wieder.« Ich ließ es so einfach klingen wie das Aushülsen von Erbsen. »Das Jalquezan bindet den Zauber an das Lied. Es steht alles in diesem Buch.« Ich drückte es fest an mich und hoffte, er würde es nicht sehen wollen. »Man kann zaubern, einfach nur durch Singen?« Ich verkniff mir eine Verwünschung, als ich Zweifel in Hariles Stimme hörte. »Ich bin jetzt seit fast einem Jahr mit diesen Zauberern unterwegs. Sie versuchen seit einer Generation, dieses Mosaik zusammenzufügen, und Jalquezan hat sich als das fehlende Stück erwiesen.« Ich bluffte, um mit einem gewaltigen Einsatz zu gewinnen. »Wir müssen einfach nur singen?« Harile sah zu einer Grup525
pe kleiner Kinder. Alle waren tränenüberströmt, und ein Mädchen schaute ständig über die Schulter und rief nach seiner Mutter. »Du singst und du vertraust auf die Kraft des Jalquezan.« »Müssen wir denn alle singen?« Was sagten die Theorien der Gelehrten über die Zauberkunst? Der Glaube ist der Schlüssel, und je mehr Menschen sich auf etwas konzentrieren, umso mehr Kraft kann dieser Glaube freisetzen? Der Versuch, das zu verstehen, hatte mir Kopfschmerzen eingetragen, und ich schloss die Augen. Aber warum sollte ich versuchen, es zu begreifen? Warum es nicht einfach ausprobieren und auf mein Glück vertrauen? Ich schlug die Augen auf und sah, dass Harile mich erwartungsvoll anschaute. »Versuch so viele Menschen wie möglich dazu zu bringen, dass sie mitsingen«, sagte ich gelassen. »Sag ihnen, sie sollen sich auf den Text konzentrieren, ebenso wie auf ihren Wunsch, euer Volk in Sicherheit und Wohlergehen zu sehen. Das Jalquezan wird den Rest besorgen.« Harile runzelte die Stirn und zuckte die Achseln. »Wenn es nichts nützt, kann es jedenfalls auch nichts schaden«. Er lächelte müde. »Und das Singen wird die Leute ein bisschen aufmuntern.« Mir wäre eine uneingeschränkte Zustimmung lieber gewesen, aber ich musste nehmen, was ich kriegen konnte. »Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich möchte sehen, wie es meinen Freunden geht.« Eine Rune hatte ich schon geworfen, jetzt war Zeit für die nächsten. Ich sah die anderen, die sich um Usara scharten, der auf der Erde lag, die Beine zu beiden Seiten einer breiten flachen Schale ausgestreckt. Ich stellte mich neben Gilmarten. ‘Gren saß mit 526
überkreuzten Beinen mir gegenüber, und Darni spähte über Usaras Kopf. Sorgrad saß ein paar Schritte entfernt und aß etwas. Ein schwaches grünes Licht begann sich auf dem Boden der Schale zu bilden und zu wirbeln, ballte sich zu einem Spiegelbild zusammen, das in dem scharfen, klaren Sonnenlicht der Berge funkelte und in seltsamem Gegensatz zu dem gedämpften Licht stand, das durch den Wald gefiltert wurde. Das Abbild stieß herab und flüchtete, stürzte einen steinigen Pfad entlang, der sich durch das ausgedörrte Land wand. Trockene Erde und Gesteinsbrocken füllten das Bild und glitten mit einer Geschwindigkeit vorbei, dass es vor den Augen flimmerte. Ich schloss die Augen, weil mein Magen protestierte. »Wo ist jemand zum Kämpfen?«, wollte ‘Gren wissen. Usara bewegte die Finger; die Zungenspitze vor Konzentration zwischen den Zähnen. »Ich kann niemanden in der Nähe finden. Das ist wenigstens schon mal etwas.« »Vor allem musst du den Hauptteil ihrer Kräfte finden«, sagte Darni. Usara blickte über die Schulter. »Das wäre sehr viel einfacher, wenn du mir nicht in den Nacken keuchen würdest. Ich erledige meine Weitsicht so, wie ich es für richtig halte – aber trotzdem danke.« Er sah ihn finster an. »Ich weiß nicht genau, ob ihre verflixte Äthermagie meine Weitsicht ablenkt.« »Versuch es hiermit.« Ich hielt das kleine Messer der Sheltyahexe über die Schale und lächelte Usara liebreizend an. »Ist deine Weitsicht nicht viel genauer, wenn du etwas aus dem Besitz desjenigen hast, dem sie gilt?« Usara kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, nahm aber das Messer und ließ es mit einem flinken Bewegung ins Wasser 527
fallen. Ich grinste Sorgrad und ‘Gren an. »Na also«, sagte Usara plötzlich. Wir alle rückten näher, um über seine Schulter zu sehen. Grünes Licht stieg aus dem Wasser, sanft und zerbrechlich in der Sonne. Die silberne Messerklinge glitzerte kurz, ehe sie verschwand, als ein kleines Abbild auf der Wasseroberfläche auftauchte. Es war die Frau, irgendwo in einer Rekin. »Ich würde nicht sagen, dass ihr aus den Bergen alle gleich ausseht, aber eure Heimstätten ganz bestimmt!«, murmelte ich Sorgrad zu. Die Frau stand an einem langen Tisch mit Schieferplatte, die von demselben Stück hätte stammen können wie die in der Hachalfeste. Während ich sprach, durchquerte die Sheltya den Wohnraum der Rekin und ging hinaus. Gilmarten sog scharf die Luft ein; wir anderen fluchten. Es wimmelte vor Geschäftigkeit. Ganze Bündel von Pfeilen wurden aus einer Werkstatt ausgehändigt, Schwerter über Kettenhemden geschnallt, Helme befestigt. Die Frau ging von einer Gruppe zur anderen und ließ jeden Mann mit einem grimmigen Ausdruck voller Hass zurück oder mit Augen, die in heißer Wut loderten – einer Wut, die nur Rache besänftigen konnte. »Du hättest doch das Blausalz nehmen sollen, Mädchen«, sagte ‘Gren freudlos. Er deutete auf einen Kopf, der dunkler war als die anderen; die Gestalt trug graue Sheltyagewänder über Alltagslederkleidung. Es war der Elietimm-Hexer. Ich stieß eine Verwünschung aus. »Das nächste Mal kriegen wir ihn«, murmelte Sorgrad. »Mal sehen, wie er mit einem Schwert im Bauch fertig wird.« Ich brachte ein dünnes Lächeln zu Stande. Usaras Zauber schwebte über den Hof, und wir sahen zu, wie die Menge hierhin und dorthin wogte und Menschen hinaus auf den Hang 528
unterhalb des großen Tores strömten. Maultiere, beladen mit großen Bündeln, zogen den langen Weg hinauf, und eine Vielzahl Menschen stapfte hinterher. Das breite Tal war von unzähligen Gruben durchzogen, alte und neue, die sich ins Land fraßen und es zerfurchten wie Riesenklauen. Steinmühlen und Kalköfen, groß und kompakt, standen zwischen sich ausbreitenden Halden aus Schutt und Abfall. Feste und Rekin wirkten dagegen fast unbedeutend. Die Berge ließen alles zwergenhaft erscheinen; sie reichten bis hinauf in den blauen Himmel, dessen Farbe sich in Sorgrads Augen spiegelte, der die Gipfel und Hänge musterte. »Da plant jemand einen Krieg«, sagte Darni mit düsterer Genugtuung. »Zeig mir die Gipfel«, bat Sorgrad abrupt. Usara atmete keuchend und hatte die mageren Schultern hochgezogen, doch er drehte das Bild und hob es bis zu den Bergen, die hoch über die Feste ragten. Ein scharfer Vorsprung aus nacktem Fels verlief zu einem weißen Feld, wo das Eis in einer Vertiefung der Bergflanke der Sommersonne trotzte. Der Vorsprung teilte sich in zwei Simse, von denen einer zu einem zerklüfteten Felsengipfel verlief, während der andere zu einem höheren Kamm anstieg, der Furchen und Kerben zeigte wie ein schartiges Messer. Zwei mächtige Gipfel beherrschten das Ende des Tales; einer sah aus wie eine Speerspitze aus Eis mit tiefen Spalten, der andere war dunkel und bedrohlich und duldete kein Eis auf seinen Flanken, die in der Sommersonne schwarz glänzten wie ein Rabenflügel. »Teyvasoke«, sagte Sorgrad mit absoluter Gewissheit. »Bist du sicher?«, fragte Darni. Sorgrad schaute ihn mit unbewegtem Gesicht an. »Ich bin si529
cher. Du hast doch als Kind die Straßen und Gebäude deiner Heimatstadt gelernt? Mir wurden die Gipfel aller Berge gelehrt, im Osten, Westen und im Mittelgebirge.« »Teyvasoke.« Darni probierte den fremdartigen Namen. »Wie weit ist es von hier?« »Etwa zwölf Tagesreisen, wenn man schnell und mit leichtem Gepäck reist. Ich zeichne dir eine Karte«, murmelte Sorgrad. »Wenn sie nicht zuerst hier sind.« Wir blickten auf eine beträchtliche Anzahl Männer, die mit verschiedenen Aufgaben beschäftigt waren. Zelte wurden aufgestellt, manche in Ringen, andere in ordentlichen Reihen; ein paar standen abgesondert für sich. Leute brachten Arme voll Reisig und Dorngestrüpp und stapelten das Holz neben den Feuergruben, während andere Wasser und Schmutzwasser hin und her trugen. Kettenpanzer funkelten im Sonnenschein, und einige, die nicht die Last einer Rüstung trugen, eilten in den anonymen grauen Gewändern der Sheltya umher. Ich unterdrückte ein Schaudern. Wir sahen eine Weile zu, ohne dass sich viel tat, doch dann schwangen die Tore der Feste auf, und eine kleine Gruppe kam heraus und scharte die Neugierigen um sich, während sie auf ein freies Geländestück im Tal zuhielt. Alle setzten sich im Halbkreis auf den trockenen Boden, während ein Mann, der aus der Feste gekommen war, aufstand und zu ihnen sprach. Er war kräftig gebaut, hatte aber ein Gesicht, für das Niello als Modell für eine Theatermaske gutes Geld bezahlt hätte. Drahtiges goldenes Haar war aus der breiten Stirn über der stolzen Nase zurückgekämmt. Er hatte ein kantiges Kinn unter einem kurz geschnittenen Bart, und seinen Gesten nach zu urteilen, war sein Mund ebenso beredt wie schön. Er drehte sich nach allen 530
Seiten, die Hände ausdrucksvoll ausgebreitet wie zu einer Bitte, voller Entschlossenheit reckte er sie dann in einem leidenschaftlichen Aufruf zum Himmel. Die Menge rührte sich und spiegelte seine Bewegungen wider, als seine Worte sie anfeuerten. Als er schließlich verstummte, schwang er sein Schwert, und sein Publikum sprang auf, winkte und jubelte, und Eifer leuchtete aus jedem Gesicht. Meine Enttäuschung darüber, dass ich die Worte dieses charismatischen Anführers nicht hören konnte, spiegelte sich in den Mienen der anderen wider, die auf das Gesicht blickten, das von der Schale eingerahmt wurde, während Usara die ganze Kraft des Zaubers auf den Mann richtete. »Wir brauchen zehnmal so viele Leute, wie wir hier haben, um sie aufzuhalten«, grollte ‘Gren. »Und wer soll die da verteidigen, wenn wir jeden nehmen, der eine Waffe halten kann?« Darni blickte finster zu den Kindern, Alten und Schwachen hinüber. »Das wäre eine gerechtfertigter Einsatz von Zauberei«, meinte Gilmarten. »Wärst du kämpfend nicht mehr von Nutzen?«, entgegnete Sorgrad. »Ein Lichtblitz am rechten Platz könnte mehr Schaden anrichten als eine halbe tormalinische Kohorte.« »Wir müssen sehr vorsichtig damit sein, wo und wie wir kämpfen«, sagte Darni. »Es wird von entscheidender Bedeutung sein, den richtigen Ort für die Auseinandersetzung zu wählen.« ‘Gren beobachtete die winzigen Gestalten, die sich vom Sprecher entfernten. »Ich glaube nicht, dass er eine ganze Soke aufrütteln konnte. Wenn dies eine wahre Heerschar wäre, wie in den alten Sagen, hätte jede Feste ihr eigenes Feuer, ihre eigene Fahne.« 531
»Wer steht dann hinter ihm?« Ich schaute genauer hin, ob sich in dem Getümmel irgendetwas deutlich abzeichnete. »Ausgestoßene, Leute, die wegen eines wirklichen oder angeblichen Verbrechens vertrieben wurden«, sagte Sorgrad mit einem dünnen Lächeln. »Jüngere Söhne aus hungernden Landstrichen«, vermutete ‘Gren. »Vielleicht Söhne derjenigen, die nach außerhalb geheiratet haben und ihre Erbansprüche verloren haben.« »‘Sar, du musst die Täler in der Nähe mit Weitsicht überprüfen«, entschied Darni. »Sieh nach, ob sie alle zu den Waffen greifen, oder ob es nur ein begrenzter Aufstand ist, aufgerührt von dem Blonden da.« »Ich weiß nicht, was das bringen soll«, murmelte Usara gereizt. »Es sind Scharen auf dem Weg hierher, alle mit Schwertern bewaffnet.« »Nicht unbedingt«, widersprach Sorgrad. »Sie könnten genauso gut in die Schlucht ziehen.« »Ein Grund mehr zu versuchen, dem Ganzen schnellstens Einhalt zu gebieten.« Darni blickte Usara mit kaum verhohlener Ungeduld an. »Schau doch mal über deinen eigenen Tellerrand, Mann!« Das war Soldatengerede. Aber ich bin kein Soldat, war es nie und will es niemals sein. Andererseits hatte mich in früheren Jahren bei einigen seltenen Gelegenheiten der Hunger gezwungen, mich in Gassen auf die Lauer zu legen, einen Knüppel in der Hand und das Herz in der Hose, um nach einem Mann Ausschau zu halten, der sorglos trank und eine wohl gefüllte Börse hatte und dem ich folgen und sowohl um Börse als auch Bewusstsein bringen konnte. Da ich einen Kopf kleiner war als jedes mögliche Opfer und nur halb so viel wog, konnte ich 532
nicht riskieren, mich mit jemandem auf einen Zweikampf einzulassen. Ein Straßenräuber zielt auf den Kopf, nicht auf die Arme. »Und wenn ihr die Anführer tötet?«, fragte ich. »Die Eismänner, die letzten Sommer in Kellarin kämpften, haben aufgegeben, sobald ihre Anführer starben.« »Dann haben die Elietimm weniger mit dem Bergvolk gemein als sie behaupten«, erwiderte Sorgrad verächtlich. »Anyatimm werden dafür ausgebildet, jede Aufgabe zu übernehmen, wenn ein anderer verletzt wird, sei es in den Gruben, beim Fallenstellen oder im Kampf gegen die Tiefländer in der Schlucht.« »Aber sie schenken dem Schönling da unten eine Menge Beachtung«, überlegte ‘Gren. »Ich wette, wenn er einen Pfeil in die Kehle bekäme, würden sie erst einmal ins Grübeln kommen. Eine aufgebrachte Menge ist nur so stark wie derjenige, der sie zusammenhält.« »Was ist mit den Sheltya?«, schlug ich vor. »Vor allem, wenn sie Äthermagie benutzen, um alle zusammenzuhalten.« Sorgrad schnitt eine Grimasse. »Dann würdest du Silber gegen Kupfer tauschen, Mädchen. Wenn du Sheltya tötest, wirst du auf einem Berghang lebendig gepfählt, bis die Raben dir Augen und Leber aushacken. Töte die Sheltya, und die Armee wird ausschwärmen, um Blutrache zu nehmen.« »Was ist mit diesem Eismann?«, fragte ich nervös. Darni schaute Sorgrad an. »Würde sich die Loyalität des Blutes auch auf ihn erstrecken? Ich wette die Hälfte des Vermögens von Hadrumal, dass er hinter all diesem Unheil steckt.« »Selbst wenn er behauptet, Sheltya zu sein, er ist nicht in einer der Soken auf dieser Seite des Meeres geboren, geschweige denn der Schlucht«, antwortete Sorgrad. »Das kann jeder an 533
seinem Gesicht und seinem Haar erkennen. Sie werden wahrscheinlich versuchen, seinen Tod zu rächen, aber ich glaube nicht, dass es den Rang einer Blutfehde einnimmt.« »In den Bergen ist die Familie alles.« ‘Gren nickte zustimmend. »Das Messer hat zwei Schneiden, denn wenn du zu keiner Familie gehörst, bist du nichts.« »Und wenn wir den Elietimm-Hexer aus der Waagschale nehmen?«, beharrte ich. »Die Sheltya verhalten sich normalerweise neutral, das wissen wir. Wenn sie sich hineinziehen lassen, muss irgendetwas sie aufgestachelt haben. Wenn wir bedenken, was wir in der Hachalfeste gesehen haben, und dass die Sheltya sich für den Hahn auf dem Misthaufen halten, muss es jemand sein, der außerhalb des gewöhnlichen Laufs der Runen steht. Dann muss es der Hexer sein, nicht wahr?« »Er könnte ein wichtiges Bindeglied sein, das viel von dem hier zusammenhält«, meinte Sorgrad. »Es wäre einen Versuch wert, sich anzuschauen, was passiert, wenn wir es zerschlagen.« »Also gehen wir drei hinauf und kümmern uns um ihn«, schlug ‘Gren vor. »Du bringst diese Waldleute in Form, Darni, und sorgst in der Zwischenzeit dafür, dass Schönlings kleine Armee nicht noch mehr in Schwierigkeiten gerät.« »Ich würde jeden Weg gehen, der das Ganze abkürzt«, murmelte Darni. »Ich habe keine Truppen für eine Schlacht.« »Tut mir Leid, aber dem kann ich wirklich nicht zustimmen.« Wir alle sahen Usara an, und seine Blässe verriet ihn. »Ich brauche Sorgrad hier«, sagte er, stand trotzig auf und ließ seinen Zauber unbeachtet verblassen. »Planir sagte, ich soll meine Kräfte zusammen mit Gilmarten nutzen – und mit jedem anderen Magier, den ich finden kann.« »Ich bin kein Magier, und weder du noch dein Erzmagier hat 534
mir irgendetwas zu sagen«, erwiderte Sorgrad in gleichmütigem Tonfall. »Ich verstehe, dass du die Möglichkeiten deiner Zauberei nie erforschen konntest, bei deiner Geburt und deiner Erziehung«, fuhr Usara fort, als hätte Sorgrad gar nichts gesagt, »aber selbst unausgebildet, wie du bist, können wir dir ein paar einfache Sprüche beibringen.« »Nein«, lehnte Sorgrad ab. Usara starrte ihn an. »Was meinst du damit?« »Habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt?« Sorgrads Blick war kalt und hart. »Nein.« »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, sich stur zu stellen, Mann. Du bist magiegeboren!« Usaras Verblüffung verwandelte sich in Zorn. »Du hast die Pflicht, diese Zauberkraft zu nutzen, und ich kann mir keine wichtigere Zeit denken, dass du deine Verantwortung akzeptierst!« »Ich habe keine Pflichten wegen eines Zufalls bei meiner Geburt«, erwiderte Sorgrad voller Verachtung. »Ich bin dafür so wenig verantwortlich wie du für deinen Haarausfall. Meine Treue gehört meinem Blut und meinen Freunden.« »Selbst wenn deine Einstellung diese Leute tot auf dem Waldboden enden lässt?«, fragte Usara hitzig. »Wenn deine Mitarbeit sie hätte retten können?« ‘Gren regte sich, und ich warf ihm einen warnenden Blick zu; ich hatte noch eine andere Rune, um das Blatt zu wenden. »Was genau hat Planir gesagt?« Der Zauberer war abgelenkt, weil ich seine Aufmerksamkeit beanspruchte und mich zwischen ihn und Sorgrad stellte. Jemand musste dafür sorgen, dass es hier nicht zu einer Prügelei ausartete. »Ich fragte, was ich tun sollte, in Anbetracht der Tatsache, 535
dass hier kein anderer Magier ist außer Gilmarten ist und mir«, antwortete Usara ärgerlich. »Planir sagte, ich sollte da nicht so sicher sein, bevor er die Verbindung abbrach. Er muss Sorgrad gemeint haben – etwas anderes kann nicht sein.« »Wieso?«, fragte ‘Gren streitlustig. »Wie hat er je von meinem Bruder gehört?« »Ich erzählte dem Erzmagier von meiner Entdeckung, dass Magiegeborene beim Bergvolk keineswegs unbekannt sind, wie wir immer annahmen.« Usara reckte trotzig das Kinn. »Dass du anscheinend unbewusst in der Lage bist, deine elementare Verwandtschaft zu unterdrücken ...« Er warf Sorgrad einen verärgerten und misstrauischen Blick zu. »Wir heben es uns lieber auf, bis wir nach Hadrumal zurückkehren. Dort können wir diese Eigenart untersuchen.« »Das kannst du vergessen, Magier«, sagte Sorgrad verächtlich. »Ich werde nicht nach Hadrumal gehen, solange ich ein Loch im Hintern habe.« Usara plusterte sich vor Sorgrad auf wie ein Zwerghahn, der es mit einem Kampfhahn aufnehmen will. »Planir sagte ...« »Wieso dachtest du, Magiegeborene wären beim Bergvolk unbekannt?« Gilmartens höfliche Frage, in seinem weichen soluranischen Akzent gestellt, glitt durch Usaras Zorn hindurch wie ein Messer durch Butter. Der Magier sah noch immer gepflegt aus, trotz der beschwerlichen Tage, die hinter uns lagen, und wenngleich er im Gesicht sonnenverbrannt war, da er seinen Hut verloren hatte. »Weil es so ist! Sie kennen es nicht.« Usara sah ihn verwirrt an. »In Solura schon«, entgegnete Gilmarten. »Zumindest bin ich Magiern begegnet, die zur Hälfte oder zu einem Viertel Berg536
Blut hatten, und ich habe von mindestens einem Reinblütigen gehört.« »Was ist mit Waldblut?«, fragte Usara. Der soluranische Zauberer erwiderte: »Soviel ich weiß, verhält es sich damit genauso. Es ist zwar ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen.« »Da hast du deine Antwort.« Ich sprach hastig, um ‘Gren daran zu hindern, das Feuer noch weiter zu schüren. »Wenn du einen neuen Lehrling suchst, können wir ja sehen, ob hier jemand mit der ...«, ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte. »Jemand, der magiegeboren ist.« »Wir haben Unterrichtsmethoden, die auf bloßem Üben beruhen. Damit könnten diese Leute einen gewissen Schutz erwerben«, sagte Gilmarten mit nervösem Lächeln. »Packen wir die Sache an. Wenn wir weiterhin nur reden, verschaffen wir dem Feind bloß einen Vorteil«, sagte Dami entschlossen. »Wir müssen wissen, gegen wen wir kämpfen. Also ‘Sar, prüf die Täler in der Nähe mit Weitsicht. Stell fest, welche sich zum Kampf rüsten. Ihr beide, ihr kennt die Berge und ihr könnt kämpfen; die Jäger hier kennen den Wald. Wir müssen eine Karte zeichnen, auf der alles eingetragen ist. Und wir brauchen mindestens einen ausgebildeten Magier bei jedem Kampf. Wenn wir hier magiegeborene Menschen finden, die ihre Leute verteidigen können, wird das mehr kämpfende Männer und Frauen freistellen. Gilmarten und Livak, geht und seht nach, was ihr herausfinden könnt.« Darnis entschlossene Übernahme des Kommandos beendete den Stillstand. Der große Kämpfer marschierte zu Bera und ‘Gren folgte ihm. Sorgrad ging langsamer hinterher, mit undeutbarer Miene. Usara schniefte verärgert, während er sich 537
über seine Weitsichtschale beugte, doch die Gereiztheit in seinem Gesicht verblasste allmählich, als er seine Magie wirkte. Ich wandte mich an Gilmarten, der mich unsicher anlächelte. »Beginnen wir mit Harile«, schlug ich vor. »Er hat wahrscheinlich ein paar Ideen, wer magiegeboren sein könnte.« Wir traten in die graue Düsternis des Höhleneingangs. »Harile?« »Hier drüben.« Er kam vorsichtig zwischen den Pritschen und Decken hindurch, in denen dicht gedrängt Menschen lagen. »Was kann ich für euch tun?« »Usara versucht, mit Weitsicht unsere Feinde aufzuspüren.« Ich deutete auf den Magier, der über seiner Schale kauerte. »Wenn du etwas hättest, das seine Schmerzen dämpft, ohne ihm den Verstand zu umnebeln, wäre es sehr hilfreich.« »Ich kann ihm einen Kräutertrunk machen«, schlug Harile vor. »Vielen Dank.« Ich merkte, wie Gilmarten neben mir unruhig wurde. »Habt ihr jemals Magiegeborene unter euch?«, fragte ich beiläufig. »Diese Gabe zeigt sich etwa in dem Alter, in dem Drianon ein Mädchen das erste Mal bluten lässt.« Wir folgten Harile zu einem Feuer, wo er einen verbeulten Kessel über die heißen Flammen hängte. »Wir bemerken es, wenn Trimon die Stimme eines Jungen bricht. Bei den Mädchen dauert es eine Zeit, nachdem Larasion sie zur Blüte bringt.« »Was bemerkt ihr? Was genau kennzeichnet für euch einen Magiegeborenen?«, wollte Gilmarten wissen. »Ein paar sind ein richtiges Ärgernis, wenn sie nur in die Nähe einer Feuerstelle kommen. Entweder brennt das Feuer innerhalb von ein paar Minuten den halben Vorrat für die Nacht weg, oder es erlischt einfach und lässt sich nicht wieder 538
anzünden.« Harile zerstampfte Kräuter im Mörser. »Manche hinterlassen ein halbes Jahr lang keinen einzigen Fußabdruck, und es gibt diese Geschichte von einem Mädchen, auf das es von Sonnenwende zu Sonnenwende regnete – immer nur auf sie, auf niemanden sonst.« Er lachte. »Aber ich habe diese Geschichte zwischen hier und dem südlichen Meer gehört; deswegen ist sie nichts als ein Gerücht.« »Lass mich das zu Usara bringen.« Ich griff nach dem Becher, und Gilmarten kam mit mir. Er kratzte sich den Bart. »Ich habe noch nie gehört, dass eine Bindung an ein Element einfach aufhört.« »Kannst du feststellen, ob jemand magiegeboren ist? Gibt es eine Probe dafür?« Ich stellte den Becher neben Usara und ging zurück zu Harile, der ein paar Blätter in einen Umschlag wickelte. »Es gibt Methoden, um festzustellen, wo die hauptsächliche Übereinstimmung liegt«, antwortete Gilmarten, »wenn die Auswirkungen sich das erste Mal manifestieren.« »Harile, kennst du jemanden hier, der früher Anzeichen von Magiegeborenheit zeigte?«, fragte ich. »Er – oder sie – könnte unseren Zauberern dabei helfen, die Kranken und Alten zu schützen.« Harile stellte die Schale mit der breiigen Masse ab. »Kommt mit.« Er führte uns zu einem Feuer, das nur noch aus ein wenig Glut bestand, die in einem Nest aus fedriger Asche lag. Um das niedergebrannte Feuer saßen Halbwüchsige; sie hatten wenig mehr als eine Decke und ein paar Habseligkeiten. Keiner zeigte auch nur eine Spur der Zuversicht, die ich von den Waldleuten erwartete. »Das ist Sarachi.« Harile deutete auf einen jungen Mann mit 539
rotem Haar und derbem Gesicht, der wie ein Landmann aussah. »Er ist magiegeboren, so weit wir es feststellen konnten.« »Was ist?«, wollte der Bursche wissen und schaute uns an. »Dieser Zauberer hier glaubt, du könntest ihm helfen.« Harile deutete auf Gilmarten. Sarachi wollte aufstehen, doch Gilmarten bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. Ich hockte mich auf einen Baumstumpf und schaute schweigend zu. Gilmarten entzündete an der letzten Glut des Feuers einen Zweig. »Konzentriere dich auf die Flamme.« Er reichte Sarachi den Zweig. »Versuch, ob du sie kleiner machen kannst.« In meinen Augen veränderte sich das gelbe Flämmchen kein bisschen, bis es Sarachi die Finger zu verbrennen drohte, sodass er es fallen ließ. »Ich brauche einen Becher Wasser.« Gilmarten sah sich um, als erwarte er, einen Kellner zu sehen. Eins der Mädchen reichte ihm wortlos einen geschnitzten hölzernen Becher. »Leg deine Hände wie eine Schale zusammen.« Gilmarten goss ein wenig Wasser in Sarachis hohle Hände. »Halt es so lange fest, wie du kannst.« Die Enttäuschung war hörbar, als das Wasser zwischen Sarachis Fingern hindurchrann, obwohl er vor Anstrengung weiße Knöchel hatte. Gilmarten seufzte. Dann kratzte er eine Hand voll Erde zusammen, suchte vermoderte Blattreste heraus und bestäubte sie ein wenig mit Asche aus dem Feuer. Er drückte Sarachi die Mischung in die Hände. »Versuch mal, ob du die Asche von der Erde trennen kannst. Konzentrier dich. Stell dir vor, wie sich das Grau aus dem Braun hebt und vom Wind davongetragen wird.« Sarachi runzelte vor Anstrengung die Stirn, und im nächsten 540
Augenblick stieg die ganze Erde spiralförmig in die Luft. Wir alle sahen hinterher und begannen zu schimpfen, als uns Dreck in die offenen Münder und Augen flog. »Luft-Harmonie«, sagte Gilmarten glücklich, »oder Affinität, wie sie es in Hadrumal ausdrücken würden.« »Aber du sagtest doch, ich sollte mich auf die Erde konzentrieren«, wandte Sarachi ein. »Eine Täuschung, Zauberer?« »Etwas in der Art. Eine ungeübte Harmonie kann sich selbst behindern, eine kombinierte Probe umgeht das Problem.« Gilmarten sah sich um. »Kennt jemand noch einen anderen, der Anzeichen von Magiegeborenheit zeigt?« Ein dünnes Mädchen mit schlaffem braunem Haar hob eine schmutzige, mit Prellungen übersäte Hand. »Castan.« Wir fanden Castan an einer Feuerstelle auf der anderen Seite der Senke, eine ruhige, bescheidene Frau. Die Vorstellung, dass ihre bislang unbeachtete Magiegeborenheit helfen könnte, ihre drei kleinen Kinder zu schützen, ließ ein Feuer in ihren Augen auflodern. Gilmarten erklärte ihr alles, und wir gingen weiter zum nächsten potenziellen Zauberer. Als wir zu Usara zurückkehrten, hatten wir sieben Leute im Schlepptau. Zu Sarachi hatte sich noch ein junger Bursche gesellt, dessen kümmerlicher Bart nur zu sehen war, wenn er vom Feuer beschienen wurde, und ein müde aussehender Mann in mittleren Jahren. Castan führte drei jüngere Frauen heran, die alle nervös lächelten und von ihren Freunden entweder ermutigt oder geneckt wurden. Fünf weitere Personen ließen wir zurück; einige von ihnen waren verstimmt, andere erleichtert, als Gilmarten verkündete, dass sie entweder nicht magiegeboren waren oder ihre Affinität so gering war, dass man sie 541
nicht ausbilden konnte. Usara sah von seiner Schale auf, als wir zu ihm kamen. »Und?« »Sieben.« Gilmartens Aufregung war verständlich. »Je einer für Luft und Erde, drei für Feuer, und zwei für Wasser.« Usaras angespanntes Gesicht erhellte sich. »Das sind zwei ganze Nexus-Gruppen!« Gilmarten zupfte an seinem Bart. »In Solura sind wir zwar nicht gewöhnt, auf diese Art zu arbeiten, aber vielleicht können wir es schaffen.« Darni kam herüber, Pergamente in der Hand, gefolgt von ‘Gren und Sorgrad, die in ein Gespräch vertieft die Köpfe zusammensteckten. Das sanfte Lied einer Laute mischte sich mit dem einer Flöte irgendwo auf der anderen Seite des Tales, hier und da unterlegt mit Stimmen. Die Melodie schwoll an; dann ebbte sie wieder in Oberstimme und Kontrapunkt ab, die aus verschiedenen Richtungen heranwehten. »Das gefällt mir«, sagte ‘Gren. Eine einzige klare Stimme griff eine neue Melodie auf, andere wiederholten sie ein paar Takte später. Darni grunzte. »Was hast du für uns gefunden?« Er lächelte die nervösen Möchtegern-Zauberer mit dem ganzen Charme einer Menschenfalle an. Ich ging, um mit Sorgrad und ‘Gren zu reden, während Gilmarten seine Geschichte erzählte. »Was habt ihr gemacht?« »Wir haben ein paar Karten gezeichnet«, erklärte Sorgrad. »Dieser Eismann«, sagte ich, »wird eine ganze Menge über Äthermagie wissen. Ich glaube immer noch, dass er lebend wertvoller für uns ist.« »Du willst ihn immer noch entführen?« Sorgrad sah mich 542
scharf an. »Das ist ein großes Risiko, Mädchen.« »Je geringer die Chancen, desto größer der Gewinn«, erklärte ich. »Wir haben bislang nicht gerade viel vorzuweisen, nachdem wir jetzt ein halbes Jahr auf der Straße sind, oder?« »Es wird sehr gefährlich«, meinte Sorgrad nachdenklich. »Wir müssten dafür sorgen, dass er keine Hexereien gegen uns richten kann.« »Wenn wir keine sichere Möglichkeit finden, töten wir ihn«, sagte ich. »Wenn wir ihm fest genug auf den Kopf schlagen, macht er keinen Ärger«, meinte ‘Gren. »Wenn wir ihn zu fest schlagen, ist er auch zu nichts mehr nutze«, erwiderte ich. »Usara und Darni wird das gar nicht gefallen«, sagte ‘Gren. »Bis sie herausgefunden haben, was wir vorhaben, wird es zu spät sein.« Ich grinste. »Sie waren einverstanden, dass wir uns diesen Eismann vornehmen. Ich habe nie gesagt, wie wir das machen.« »Hier rüber!« Wir wandten die Köpfe auf Darnis herrischen Ruf hin. »Er hält sich wirklich für die dickste Kröte im Teich«, murmelte ‘Gren. »Lass ihn doch den König spielen, wenn er will«, sagte ich. »Wir spielen unser eigenes Spiel. – Ja, Darni, was gibt’s?« »Ich fange damit an«, erklärte Darni, »jeden auszubilden, der kampffähig ist. ‘Sar und Gilmarten bringen ihren neuen Lehrlingen genug bei, um die Leute hier vor Schaden zu bewahren. Ihr drei versucht, diesen Eismann aus dem Spiel zu nehmen. Dieser Aufstand ist offenbar auf nur drei Täler beschränkt. Wir müssen ihn im Keim ersticken, ehe er sich ausbreitet, und der 543
Verlust des Hexers reicht dazu vielleicht schon aus.« »In Ordnung.« Freudige Erwartung und böse Vorahnungen stritten in mir. Aber dieses Mal würde ich Sorgrad und ‘Gren bei mir haben. »Wenn wir uns mit ihm befassen sollen, müssen wir wissen, wo er ist«, sagte Sorgrad zu Usara. »In der Teyvafeste«, antwortete der Magier. »Kannst du die Leute hier dazu bringen, die Verbindung so lange aufrecht zu erhalten, bis wir da sind?«, wollte ich wissen. »Kann Usara uns nicht mit Hilfe von Magie dorthin versetzen?«, fragte ‘Gren. »Das ist ein elend langer Marsch.« »Ein Magier kann so etwas nur an einen Ort, an dem er schon gewesen ist«, erklärte ich. »Einer von euch Magiern muss mich ausfindig machen, wenn sie woanders hingeht.« Sorgrad sah Darni an. »Du musst uns ein paar Bogenschützen abgeben, vorzugsweise welche, die auch mit einem Schwert umgehen können. Zwar werden nur wir drei hineingehen, aber wir müssen damit rechnen, dass man uns verfolgt. Sie können einen halben Tagesmarsch entfernt warten, oder näher, wenn das Gelände gute Deckung bietet.« »Ich komme mit euch«, sagte Usara plötzlich. Sein Gesicht war blass und entschlossen. »Ich kann nicht zulassen, dass ihr riskiert, unter Elietimm-Hexerei zu geraten, ohne dass ihr von richtiger Magie unterstützt werdet. Wir haben alle schon gesehen, wozu diese Leute fähig sind.« Er brachte ein angespanntes Lächeln zu Stande. »So beunruhigend ich diese Eismänner und ihre Hexerei finde, noch mehr Angst habe ich vor unserem verehrten Erzmagier.« »Aber du kannst kaum laufen! Und ihr Zauberer seid verwundbar, wenn ihr mit euren Zaubern beschäftigt seid«, betonte 544
ich. »So haben sie ja auch Otrick geschnappt.« »Dieser Hexer müsste erst einmal wissen, dass ich da bin, um mich zu jagen«, sagte Usara steif. »Mit Guinalles Hilfe haben wir in den vergangenen Jahreszeiten Möglichkeiten ausgearbeitet, um ätherischer Beachtung zu entgehen.« »Es besteht keine Chance, dass du in die Feste selbst kommst. Die Sheltya haben mit Sicherheit Mittel und Wege, Magier zu erkennen. Du bleibst bei den Bogenschützen, bis wir unseren Zug gemacht haben.« Sorgrads Entscheidung überraschte mich, aber sein Tonfall machte deutlich, dass sie endgültig war. »Ich möchte dein Wort darauf haben, Usara, bei allem, was dir heilig ist.« »Wenn er nicht reinkommt und seine Magie nicht anwenden kann, warum wollen wir ihn überhaupt dabei haben?«, wandte ‘Gren ein. »Und er muss auch noch den ganzen Weg hin und zurück humpeln.« »Wir werden wahrscheinlich von jedem Hund der Soke verfolgt, wenn wir wieder rauskommen. Dann kannst du so viel Magie machen, wie du willst, Usara – Feuer schleudern, um unsere Fährte von den Steinen zu brennen.« ‘Gren und ich tauschten einen verständnisvollen Blick. Irgendwo hereinzukommen, um etwas zu stehlen, ist immer nur die eine Hälfte der Aufgabe. Mitsamt der Beute wieder heil herauszukommen, zeichnet den erfolgreichen Dieb aus.
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9.
In dieser Berglandgeschichte von der Erschaffung der Welt finden wir sowohl vertraute als auch fremde Ideen wieder. Nur die Götter kennen die Wahrheit, und vielleicht haben sie diese Wahrheit mit den Völkern geteilt, sodass wir nur etwas lernen können, wenn auch wir unser Wissen miteinander teilen. Maewelin schuf die Welt, schnitt tiefe Flusstäler, faltete Berg und Tal und scharf gezackte Gipfel. Dennoch weinte sie bittere Tränen, denn ihr Werk erfreute keinen, blieb ungesehen, unberührt ungehört. So ging sie zu Misaens Schmiede, und bat ihn, ein Volk zu schaffen und alle Tiere des Wassers, des Landes und der Luft. Misaen nahm die Wolken und schuf daraus die Vögel. Aus dem Regen machte er die Fische Aus Erde die Tiere des Landes. Und nahm den besten Ton um den Menschen zu schaffen. 546
»Maewelin!«, so rief er. »Gib mir Gold, die Adern der Felsen, gib mir das Juwelenherz der Berge, dass ich wahre Schönheit schmieden kann.« Darauf sagte Maewelin: »Das könntest du nutzen, meine Welt zu knechten. Nein, eine solche Macht kann ich dir nicht verleihen.«
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Teyvasoke 18. Nachsommer
»Geh langsam, behalte die Kapuze auf und errege keine Aufmerksamkeit«, murmelte ‘Gren aus dem Mundwinkel. Er sprach langsam, um sicherzugehen, dass auch ich ihn verstand. Keiner der Brüder hatte etwas anderes als die Bergsprache gesprochen, seit wir Apaks Lager verlassen hatten. Mein Akzent war inzwischen recht überzeugend – ein gutes Ohr für Melodien war sehr hilfreich –, doch es gab immer noch zu viele Dinge, für die ich nicht die Worte wusste. Ich fuhr mir mit der Hand übers Haare, das in der Nachmittagshitze schweißfeucht war. Der kurze Schnitt fühlte sich immer noch fremd an, und das Haar zeigte das Gelb von Stroh, nachdem Hariles übel riechendes Gebräu mir die Farbe weitgehend ausgeblichen hatte. Sorgrad war zuversichtlich, dass die meisten Augen gleichgültig über eine helläugige Blondine in Gesellschaft zweier unleugbar reinblütiger Bergbewohner hinweggleiten würden. Trotzdem wollte ich kein Risiko eingehen und verhüllte mich in einem sackartigen Gewand, das ‘Gren besorgt hatte. Ein Holzfäller hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass man seine Wäsche nicht unbewacht auf den Ginsterbüschen hängen ließ, die seine kleine Heimstatt umgaben. »Wo sind die bloß gewesen?«, fragte ‘Gren sich laut. Wir hatten gewartet und beobachtet und waren schließlich auf das Ende einer Reihe heimkehrender Truppen gestoßen. »Bei Überfällen im Tiefland«, sagte Sorgrad und nickte zu den Staubwolken, die von den Herden geraubter Schafe in den 548
grasbewachsenen Ebenen weiter unten im Tal aufstiegen. Ich betrachtete die neu Angekommenen, die sich um den spärlichen Platz stritten, um ihre Decken auszubreiten und ihre Kochtöpfe aufzustellen. »Es wird sich wohl niemand über Gesichter wundern, die man hier in der Gegend nicht kennt, oder?« Wir gingen langsam über die breite Talsohle, die von Zelten und leichten Schutzhütten übersät war. Auf beiden Seiten zogen sich Wälle aus Steinen von der Höhe herab und umgaben schützend die Soke; nur unterbrochen von den dunklen Eingängen zu den Minen. Vor uns stieg das Land allmählich an, über aufgewühltes Gelände, das mit Gruben gespickt war, bis zu einer Anhöhe, die noch immer ein paar Bäume trug; dann veränderte sich die Landschaft abrupt und faltete sich in tiefe, bewaldete Schluchten auf. Die Zwillingsberge, hell und dunkel, ragten dahinter auf, und Wolken wehten wie Banner an ihren Gipfeln vorbei. Ich riss mich von der fernen Schönheit los, um mich näher liegenden Dingen zu widmen und betrachtete den zusammengewürfelten Haufen, der viel größer war als die bunte Ansammlung von Räuberbanden, die die Herzöge von Lescari mit dem Titel »Armee« ehren. In der Zeit, die wir gebraucht hatten, um hierher zu gelangen, hatte sich eine ansehnliche Schar versammelt. Ich konnte nur hoffen, dass sie sich genau so schnell wieder zerstreute, falls wir den Hexereien des Eismannes ein Ende machen konnten. Ich spähte seitlich unter meiner Kapuze zu einer Gruppe von Jugendlichen hinüber, die um eine leere Feuergrube saßen. Ein Bursche mit dunklen Augen unter weizengelbem, seidigem Haar bürstete die Rostflecken von seinem Kettenhemd, ein anderer, mit den rundlicheren Zügen des 549
Halbbluts, bearbeitete mit einem Wetzstein ein Schwert mit einer Scharte, die so zackig war wie ein frisch abgebrochener Zahn. Ein dritter beugte sich über einen staubigen Stiefel, der aussah, als hätte er noch mehr Meilen hinter sich als meine. Das Klingen von Hämmern auf Metall unterstrich von allen Seiten die Gespräche. »Wenn wir bleichen würden, was von seinen Haaren noch übrig ist, könnte Usara als einer von diesen Promenadenmischungen durchgehen«, bemerkte ‘Gren fröhlich. »Da, wo er jetzt ist, dürfte er besser aufgehoben sein«, entgegnete ich. »Mit den Krücken ist er zu auffällig.« Wir hatten den erschöpften Zauberer mit einer Hand voll entschlossener Waldjäger in einer unauffälligen Mulde hinter dem messerscharfen Bergrücken auf der Ostseite zurückgelassen. Er hatte strikte Anweisung, keinerlei Magie zu benutzen, um nicht die Aufmerksamkeit der Sheltya oder des Elietimm auf sich zu ziehen. Usara mochte zwar darauf vertrauen, dass Hadrumals Tricks ihn vor dem Hexer verbergen konnten, aber wir wollten nicht zulassen, dass der Magier dieses Risiko einging. Erst wollten wir unsere Beute haben. Ich hoffte, dass Usara nichts geschah. Schließlich hatte ich mein kostbares Liederbuch bei ihm gelassen – ein Magier war das Beste, das ich im Augenblick finden konnte, um das Buch in Sicherheit zu bringen. Doch sobald wir den Bastard hatten, würde ich Pfeile der Waldleute oder Speere aus Blitzen oder was auch immer begrüßen, Hauptsache, es deckte unsere Flucht. Plötzliche Rufe hinter mir ließen die heißen Schweißtropfen zwischen meinen Schulterblättern zu Eis gefrieren, und kalte Furcht rieselte mir über den Rücken. »Sie streiten sich.« Sorgrad grinste, als er mein Gesicht sah. 550
»Das macht die Langweile. Es ist, als würde hoher Schnee dich die ganze Zeit an ein Lager fesseln, oder als würden Unwetter die Minen zu feucht machen, um darin zu arbeiten. Du mischst dich nicht ein, hörst du?« Sorgrad machte ein ernstes Gesicht, als er mich und ‘Gren musterte. »Wenn du wieder jemanden tötest, werden dich zehn Männer vor die Sheltya schleppen.« »Wir halten uns fern«, erwiderte ich. Der Pfad führte uns um einen spitzen Felsvorsprung herum und fort von den Reihen von Zelten, vor denen wachsame Männer einander beäugten wie Hunde, die man in einem Zwinger zusammensperrt. Ich sah Frauen, manche in weiten Gewändern, andere in langen, staubigen Röcken und Blusen, die wegen der Hitze am Hals offen standen. Ich blickte ins Tal hinunter zu einem kleinen Wasserfall. Mehrere Frauen standen dort, Krüge in der Hand, und schwatzten müßig. Ein Mädchen planschte mit den nackten Füßen im schäumenden Wasser. »Die schreit ja geradezu nach Ärger«, murmelte ‘Gren. Ein stämmiger Mann, der bis zur Taille nackt war und seine Wäsche wusch, stand auf der anderen Seite des sprudelnden Baches und betrachtete sie mit Interesse. Er warf einen Stein ins Wasser, sodass es bis an die Röcke der jungen Frau spritzte. Sie schüttelte den Kopf, als er irgendetwas zu ihr sagte, doch ihr Lächeln und die Art, wie sie ihre Röcke schwang, strafte ihre Zurückweisung Lügen. Ein zweiter Mann, nicht besonders groß, doch mit massigen Schultern von jahrelanger Arbeit im Steinbruch, erschien plötzlich hinter dem leichtsinnigen Mädchen, packte es und schüttelte es heftig. Die anderen Frauen flüchteten rasch in die zweifelhafte Sicherheit ihrer Zelte. »Ich hoffe, dieser Haufen hier bekommt bald einen richtigen Feind, den er bekämpfen kann, sonst fangen die Kerle noch an, 551
sich gegenseitig zu verprügeln«, bemerkte Sorgrad nachdenklich. »Sie schleifen sich nur die rauen Kanten ab.« ‘Gren machte sich keine Sorgen. »Wie zu Beginn einer Saison in einem Fallenstellerlager oder einer Mine.« »Da gibt es aber keine Frauen, um die man sich nach einem vergeudeten Tag an den Fallenleinen prügeln kann«, entgegnete Sorgrad. »Würde es uns etwas nützen, wenn wir ein paar Funken auf den Zunder stäubten?«, überlegte ich laut. »Ich bin dabei«, meldete ‘Gren sich freiwillig. »Vielleicht, wenn wir eine Ablenkung auf dem Rückweg brauchen.« Sorgrad sah mich an. »Du würdest besser als Mann durchgehen, wenn du einen Harnisch tragen würdest.« »Bei dieser Hitze würde ich in Ohnmacht fallen«, gab ich zurück. »Niemand kann erkennen, ob ich Männlein oder Weiblein bin, solange ich in diesem Sack stecke.« Sowohl ‘Gren als auch Sorgrad trugen ärmellose Kettenhemden, die so strahlend in der Sonne glänzten, dass es die Augen schmerzte. Sie trugen das schwere Gewicht, ohne zu klagen, und man merkte ihnen kaum an, wie unbequem es war, doch ich hasse es, Rüstung zu tragen und wollte mich bei dieser Hitze schon gar nicht damit belasten. Ich zog mir das Leinen meiner formlosen Übertunika vom Hals, das mir im schweißnassen Nacken klebte. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, und ich beneidete die Leute um den Schatten ihrer Zelte. »Hat einer Wasser dabei?«, fragte ich. Sorgrad reichte mir seine Flasche und nickte zu den durstigen Ankömmlingen hinunter, die sich unter dem kleinen Was552
serfall schubsten, um ans Wasser zu gelangen. »Wir gehen weiter bachaufwärts, um unsere Flaschen zu füllen.« Ein Mann mit einem schweren Hammer über der kräftigen Schulter ging wichtigtuerisch vorbei; ihm folgte ein Bursche, der sich mit einem hinderlichen Sack voller Werkzeuge abmühte, den er an seine schmale Brust gedrückt hatte. Ich trank den letzten abgestandenen Schluck des nach Leder schmeckenden Wassers, das zwar muffig war, aber immer noch besser, als die kratzige Trockenheit von Mund und Kehle. Wir schlenderten über die flachen Steine, die die festgetrampelte Erde vom sommerlich flachen Fluss trennte, der glitzernd über sein steiniges Bett plätscherte. »Setze wir uns da drüben ein Weilchen hin.« Sorgrad deutete auf eine Gruppe kantiger grauer Felsblöcke, auf denen winzige Regenbogen schimmerten, wo das Sonnenlicht auf dünne weiße Kristallschichten traf. Wir würden bemerken, falls jemand sich für uns zu interessierte, noch ehe er bei uns war, und wenn wir durch den flachen Fluss wateten, konnten wir im Gewühl am anderen Ufer untertauchen. »Was als Nächstes?«, fragte ‘Gren. »Wir sind schließlich hergekommen, einen Hexer zu fangen, und dazu ...« »Dazu müssen wir wissen, wo er ist.« Sorgrads Blick richtete sich auf das Tor zur Feste. Der breite Bogen der Mauer umschloss ein größeres Gelände als die Hachalfeste, und die Rekin war hier größer und höher. Trotzdem wirkte das Ganze immer noch klein und unbedeutend vor den Bergen zertrümmerter Steine, die sich zu beiden Seiten auftürmten. Die zerklüftete Oberfläche der Felswand dahinter war mit Treppenstufen vernarbt, die aus dem Stein gehauen waren. Auf den gelblichen Streifen in der Flanke des grauen Berges glitzerten trotz der 553
Hitze feuchte dunkle Flecken, wo grünliches Wasser aus dem durchbohrten Herz der Dunkelheit drang. Doch es gab keine Anzeichen dafür, dass sauberes Wasser unter den Mauern der Feste vom Bach hineingeleitet wurde oder dass Abwässer auf irgendeine Weise abgeleitet wurden; einen Kanal oder Ähnliches schien es nicht zu geben, also konnten wir auf einem solchen Weg auch nicht hineingelangen. Ich betrachtete das Haupttor. Das massive Balkengitter war mit dicken, zusammengeschnürten Planken belegt und mit eisernen Bolzen beschlagen, sodass es jedem Angriff standhielt, wenn es erst geschlossen war. Doch es stand achtlos ein Stück offen; Leute gingen hinein oder kamen heraus, während der Wachmann gelassen auf einem Stuhl daneben saß, das Schwert auf dem Schoß. Die Rüstung hatte er in der brütenden Hitze abgelegt. Sorgrads Blick folgte dem meinen. »Sie rechnen nicht mit Ärger im Herzen der Soke.« »Er ist doch drinnen, oder?«, fragte ich. »Wir haben genug Zeit zu warten, bis wir sicher sein können«, meinte Sorgrad. Also warteten wir, ließen die Beine baumeln und taten nichts, das Aufmerksamkeit hätte erregen können, während wir unser ganzes Augenmerk auf die Feste richteten. Die Sonne wanderte langsam aus dem Zenit. Ich betrachtete das Dach der Rekin und zählte lautlos mit, als der Wachmann seine regelmäßigen Runden machte; dann versuchte ich abzuschätzen, ob genügend Zeit blieb, von der obersten Reihe der Fensterbänke zur Brüstung zu klettern, während der Wächter noch hinter dem plumpen Schornstein war. Solange dieses kleine Abenteuer nach Plan verlief, gab es zwar keinen Grund, ein solches Wag554
nis einzugehen, aber es schadet nie, alle Möglichkeiten zu überdenken. »Sie haben mit Sicherheit Sheltya da drinnen, schaut mal.« ‘Gren deutete auf eine grau gekleidete Gestalt, die munter aus dem Tor schritt. Die unkenntliche Kapuzengestalt ging zu einer Gruppe von Zelten, die in zwei gleich langen, parallel verlaufenden Reihen standen. Männer beobachteten einen Burschen, der mit Bruchsteinen einen Pfosten in die staubige Erde schlug. Ein Mann neben ihm schwang einen Ziegenkopf an einem der Hörner herum. Der Rest des Tieres wurde ein Stück entfernt zerlegt und aufgespießt, und eine rot gesichtige Frau schwitzte über einem Feuer, das in der glühenden Sonne farblos wirkte. »Du sagtest doch, die Sheltya wären Heiler?« Ich nickte zu der Gestalt hin, die jetzt als Frau mit ergrauendem Haar und einem hageren, verdörrten Gesicht zu erkennen war, als sie ihre Kapuze zurückschob und sich zu einem jungen Mädchen beugte, das ihr eine Hand hinhielt, die in blutige Fetzen gewickelt war. »Also halten sie einige ihrer Schwüre ein ...« Sorgrads Augen blickten trotz der Hitze kalt. Die Männer begannen mit Messern auf den Ziegenkopf zu werfen, und bei jedem Treffer erhob sich Jubel, bei jedem Fehlwurf ein Stöhnen. Weitere Leute kamen herbei, um sich der immer längeren Schlange anzuschließen. Ein besonders ungeschickter Wurf brachte dem Werfer heiseres Gelächter ein, bis ein Streit losbrach; zwei Männer mussten von ihren jeweiligen Freunden getrennt werden. ‘Gren schaute mit Interesse zu. »Ob es sich lohnt zu warten, dass unser Mann rauskommt?«, murmelte Sorgrad und beugte sich vor, die Ellbogen auf die 555
Oberschenkel gestützt. »Ich kann ihn mir nicht vorstellen, wie er einen verletzten Finger verbindet. Du vielleicht?« Ich suchte mir eine bequemere Stellung auf dem harten Felsen, dessen graue Oberfläche unter meinen Handflächen heiß war. »Jedenfalls wäre es dumm, ihn vor den Augen einer halben Armee zu schnappen. Wir müssen ihn allein erwischen.« Ich ignorierte das unangenehme Kribbeln im Bauch. Wir wären drei zu eins und wussten, auf was wir uns einließen. Wenn wir das Spiel richtig spielten, würde der Bursche nicht mal wissen, wie ihm geschah. »Wann gehen wir rein?«, fragte ‘Gren. »Sobald die Sonne untergeht?« Sorgrad spähte zum Himmel, doch die Sonne brannte noch immer mitleidlos herunter. Ich nickte. »Ehe sie essen oder die Wachen ablösen, sodass wir den Wachmann erwischen, wenn er schon müde ist und nicht mehr so gut aufpasst.« »Mein Hintern schläft ein.« ‘Gren beobachtete den geschäftigen Lagerplatz. »Wir sollten uns mal umschauen, wie es da unten aussieht.« Sorgrad und ich tauschten einen Blick. Es war am besten, ‘Gren bei Laune zu halten, also schlenderten wir rings um das übervölkerte Tal. Ich schlurfte hinter den Brüdern her, an Hütten vorbei, die aus frischem Holz und ungegerbten Häuten errichtet worden waren. Im oberen Gelände um die Feste waren die Frauen damit beschäftigt, auf Rosten über den Feuerstellen die harten, hellen Kekse zu backen, die man auf Reisen mitnimmt, entweder als Proviant oder – besser noch – als Geschoss für eine Schleuder, um etwas zu erlegen, was besser schmeckt als die Kekse. Die Männer hatten offenbar jedes Tier im Umkreis von einem Ta556
gesmarsch erlegt. Eine Gruppe mürrischer Halbwüchsiger verteilte Staub und Kies auf einem blutgetränkten Stück Erde, um die schillernden Fliegen abzuwehren, und in der sengenden Sonne trockneten Stapel von Fleisch. Eine Frau, die mit ihrem Büschel grüner Blätter Posten stand, bot jedem von uns einen Streifen dunkles, leicht klebriges Fleisch an. Ich steckte es in die große Tasche meiner Schürze. Ich konnte es immer noch verwenden, um meine Stiefel zu besohlen, wenn ich sie durchgelaufen hatte. »Habt ihr etwas gehört?« Die Frau verscheuchte ein paar Fliegen. Ihre Fingernägel waren abgebrochen und eingerissen; getrocknetes Blut klebte darunter. »Gibt es endlich einen richtigen Überfall ins Tiefland?« »Wissen wir nicht«, sagte Sorgrad mit einem entschuldigenden Schulterzucken. »Wir sind gerade erst angekommen.« »Mein Mann könnte noch gut ein paar Schwerter an seiner Seite brauchen.« Die blassgrauen Augen der Frau wurden berechnend. »Warum schließt ihr euch uns nicht an?« »Sollten wir nicht von der Rekin unsere Befehle bekommen?«, fragte Sorgrad. »Welche Rechte haben die über euch? Sagt ihnen einfach, dass ihr euch Yannals Männern anschließt«, drängte sie. »Ihr kommt aus dem Mittelgebirge, nicht wahr? Wir haben seit den Zeiten meiner Urgroßmutter mit keiner Soke jenseits der Schlucht mehr Streit gehabt.« Ich konnte der Frau nachfühlen, dass sie verzweifelt versuchte, zusätzliche Schwerter zwischen ihren Mann und den Feind zu bringen. Auf diese Weise hatte sie bessere Aussichten, nicht als Witwe heimkehren zu müssen. Sorgrad lächelte sie an. »Ich schlage es den anderen vor.« 557
Wir wanderten weiter durch das Tal. »Diese Armee hält ungefähr so gut zusammen wie die Strickerei einer Verrückten«, sagte ich zu Sorgrad. »Hoffen wir, dass die ganze Sache sich in Nichts auflöst, wenn wir erst den Hexer haben.« Wir setzten unseren scheinbar ziellosen Weg durchs Tal fort und blieben hier und da stehen, um die neu Angekommenen zu bewundern, die mit ihrer Beute prahlten. Hölzerne Ziergegenstände und ein bisschen Gold- und Silberschmuck ließen darauf schließen, dass sie Waldleute ausgeraubt hatten, doch der Großteil der Beute bestand aus Fässern mit Mehl, Ballen von Decken sowie Haushaltswaren von geringem Wert. Rauchgeruch legte die Vermutung nahe, dass sie sowohl Feuer als auch ihre Schwerter wirkungsvoll eingesetzt hatten. Diese heimkehrenden Helden hatten nichts anderes getan, als wehrlose Dörfer im Hochland zu überfallen. Aber nein – die tapferen Krieger hatten bewaffnete Eindringlinge vertrieben, habgierige Fremde, wenn man den Gesprächsfetzen Glauben schenkte, die wir aufschnappten, wobei uns freundlich ein paar Bissen Brot, Fleisch und Früchte angeboten wurden. Der Appetit dieser Männer auf den Kampf war ungeschmälert; alles redete davon, die Schlacht ins Tiefland hinunterzutragen, ja, die gesamte Ferringschlucht zurückzuerobern und Ostlinge und Westlinge wieder zu vereinen. Was sie nicht verstehen konnten, war der Grund für die Verzögerung. Ich hatte immer mehr Mühe, die gut gemeinten Gaben herunterzuschlucken, als der Tag träge voranschritt. Eine düstere Vorahnung lag mir im Magen. Ich wollte einfach nur die Dinge in Gang bringen. Ich würde in der Lage sein, Messire meinen eigenen Preis zu nennen, oder Planir, wenn es dazu kam, er558
mahnte ich mich. Ich konnte den anderen auffordern, das Gleiche zu bieten und mich zurückhalten, während ihre Rivalität mich reich machte. Geld verleiht einem Möglichkeiten, die den Armen verwehrt sind. Dieser Gedanke trug mehr zur Beruhigung meines Magens bei als jede Medizin, als wir uns langsam auf den Rückweg machten, um das Tor der Feste im Auge zu behalten. »Die Sonne geht unter«, stellte ‘Gren schließlich fest. Sorgrad nickte. »Machen wir dich für deine Vorstellung bereit.« Wir begaben uns zu einer dunklen Vertiefung zwischen den verlassenen Gruben. Sorgrad ließ sich lässig auf dem Boden nieder, um Wache zu halten, während ‘Gren und ich mit der Arbeit begannen. Er öffnete seine Gürteltasche, während ich scheinbar endlose Falten von Leinen über meinen Kopf zog und den kühlen Hauch des Windes auf meiner erhitzten Haut genoss. Ich bückte mich, um ein Strumpfband zu lösen, steckte es in eine Tasche und ließ die Strümpfe rutschen. »Dann wollen wir mal.« ‘Gren goss ein wenig Wasser aus seiner Gürtelflasche in eine kleine hölzerne Schale. »Kopf nach hinten, damit ich dich hübsch machen kann.« Er mischte eine Palette aus Schminke zusammen, die wir von den Waldfrauen erbettelt hatten. Ich beugte gehorsam den Kopf zurück, und ‘Gren rieb mir mit sanften Händen schwarze, purpurne und gelbe Farbe auf die Wangen. »Es muss aussehen, als wäre es schon ein paar Tage alt«, erinnerte ich ihn, »und sieh zu, dass dieser Bastard mich nicht erkennt. Wenn er mich als das sieht, was ich bin, ist alles aus.« Ich schluckte schwer, um einen Knoten aus der Kehle 559
zu bekommen. »Deine eigene Mutter würde dich nicht erkennen.« ‘Gren rieb mir eine überzeugende Nachahmung von altem, getrocknetem Blut auf Stirn und Schläfe und malte mir schmerzhafte Schnitte über ein Auge. »Meine Mutter hat mich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen«, sagte ich. »Das wäre also keine große Kunst.« »Sagst du.« ‘Gren nahm mit den Fingerspitzen ein wenig Farbe auf und verteilte sie vorsichtig um meinen Hals, sodass es wie Würgemale aussah. Dabei grinste er mich boshaft an. Ich streckte ihm die Zunge heraus und schielte ihn an. Meine Laune hob sich, als ich die Ärmel meines Hemdes hochschob. Mein Herz schlug heftiger – wie immer, wenn ich ein Spiel beginne. ‘Gren packte meine Unterarme und zog mich für einen Augenblick an sich. »Wir sind ganz nah bei dir, die ganze Zeit«, sagte er. »Das solltet ihr auch.« Ich pustete auf die Farbe, um sie zu trocknen, ehe ich die Ärmel locker fallen ließ. »Was meinst du?« Ich wandte mich an Sorgrad, der über das Tal blickte, reglos wie die Berge selbst. Allmählich setzte die Dämmerung ein; die Berge wurden vom Sonnenuntergang vergoldet. Schneefelder zeichneten sich wie reinweiße Spitze vor der butterhellen Weichheit der Felsen ab: Strenge, gemildert durch Schatten; eine trügerische Schönheit im täuschenden Licht. Sorgrad nahm den Blick von fernen Bergen und wandte sich mir zu. »Ist dein Haar nicht zu sauber?« Ich nahm eine Hand voll Staub und puderte meine Haare damit. ‘Gren wollte gerade das schmutzige Wams in seinen Rucksack stecken anstelle der dünnen Decke, die Sorgrad herauszog. »Warte einen Augenblick«, sagte ich und nahm das 560
zähe Stück Fleisch aus der Tasche. »Ein gewisser Duft verleiht stets den letzten Schliff, nicht wahr?« Ich rieb das klebrige Stück Fleisch über den zerrissenen Ausschnitt meiner Bluse und rümpfte die Nase, denn die schwärzlichen Blutreste rochen süßlich und metallisch zugleich. »Dann wollen wir das Schauspiel mal auf die Bühne bringen.« Ich wickelte mich in die Decke, deren leuchtendblaues Zickzackmuster sich von der gelben Wolle abhob. Sie war das Geld wert, das wir in den Vorbergen dafür bezahlt hatten. Ich fragte mich, ob das friedliche kleine Dorf inzwischen nur noch ein verbranntes Trümmerfeld war. ‘Gren nahm mich in die Arme, und ich ließ mich gegen seine schmalen Schultern sinken. Er trug mein Gewicht mühelos, und ich spürte die Eile in seinen Schritten, als wir zur Rekin hasteten. Mit leeren, leblosen Augen hing ich in seinen Armen. Ich hatte einmal ein Mädchen gesehen, das von Lescari-Söldnern missbraucht worden war; ich erinnerte mich an ihre entsetzten Schreie und ihre Qual, als sie sich an mich und Halice klammerte, nachdem ‘Gren und Sorgrad sie gerettet hatten. Die Erinnerung half mir, ein paar Tränen hervorzubringen, nicht so viele, dass sie mir die Farbe im Gesicht verschmieren konnten, doch genug, dass meine Augen vor Kummer feucht schimmerten. Niello wäre stolz auf mich gewesen. In die Stimmen ringsum mischten sich neue Tone; ich hörte erschreckte Fragen, wütendes Fluchen und mitleidiges Getuschel. ‘Gren hielte mich fest an sich gedrückt, und ich verbarg mein Gesicht an seiner Brust. Die Metallringe bohrten sich bei jedem Schritt in meine Wange, doch ich war bereit, den aufgemalten Kratzern ein paar echte hinzuzufügen. Sorgrads finstere Miene und seine abweisende Haltung hielt jeden davon ab, uns 561
zu nahe zu kommen; Hilfsangebote wies er kurz und knapp zurück. Wir gingen direkt zu den Sheltya, um Heilung und Gerechtigkeit zu suchen. Die zurückhaltende Zustimmung, die ich hörte, klang nicht ganz so aufrichtig, wie ich erwartet hätte. »Jeirran wird diese Schmach schon gerächt haben, ganz bestimmt!«, übertönte eine Stimme laut das besorgte Gemurmel, und den Worten folgte zustimmendes Gebrüll. Ich dachte darüber nach, während ich wie eine Puppe getragen wurde. Würde es ausreichen, den Elietimm aus der Waagschale zu nehmen, um kriegslüsterne Bergvolkleute umzustimmen? Mein verzerrtes Gesicht konnte für die Zuschauer auch von Schmerzen herrühren. Nein, ich würde mich später um das Schicksal der Bergbevölkerung kümmern oder es anderen überlassen. Ich wollte nichts weiter als den Elietimm-Hexer. »Lasst uns vorbei!« Sorgrads Aufforderung war Befehl und Bitte zugleich. »Wir müssen zu den Sheltya!« »Was wollt ihr? Aber ...« Die Stimme des Wachpostens verebbte, als Sorgrad zur Seite trat und dem Mann einen Blick auf meine bedauernswerte Gestalt in ‘Grens Armen gewährte. Ich fühlte, wie ‘Grens Herz unter dem Harnisch schneller schlug und roch den frischen Schweiß. Auch mein eigener Puls pochte rascher in der Kehle, und jede Sehne war angespannt. »Ich schicke eine der Frauen, die sich um sie kümmern soll«, sagte der Torwächter rasch. »Wir wollen zur Sheltya«, verlangte Sorgrad. »Nicht zu irgendeiner weisen Frau. Wir haben ihre Verletzungen behandelt, so gut wir konnten, aber wir wissen nicht, was passiert ist. Wir brauchen die Pflege der Sheltya, damit sie sich erinnert und uns sagen kann, was diese elenden Tiefländer ihr angetan haben!« »Ich schicke nach jemandem«, sagte der unglückliche Wäch562
ter. »Möge Maewelin deinen Samen gefrieren lassen!«, fauchte Sorgrad. »Willst du uns wie Tieflandbettler auf der Schwelle stehen lassen, damit jeder Neugierige die Schande dieses Mädchens sehen kann und begierig von ihrem Unglück hört?« »Was geht hier vor?«, fragte eine ältere, festere Stimme, die jemandem gehörte, der nicht so leicht bereit war, sich durch eigene Gefühle oder die anderer aus dem Konzept bringen zu lassen. Sorgrad veränderte seinen Tonfall entsprechend und sagte respektvoll: »Unsere Schwester wurde unterwegs angegriffen. Man hat uns gesagt, hier gäbe es Sheltya, die ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen können. Wir können warten, aber nicht hier, wo jeder uns anstarrt. Je weniger wissen ...« »Traw, bring sie zum Küchenhof«, unterbrach die Stimme ihn scharf. »Ich schicke nach den Sheltya.« »Ist es Cullam?«, fragte Sorgrad. »Nein, Aritane oder eine ihrer Leute«, erwiderte die Stimme. »Sie wird jemanden schicken, sobald sie kann. Heute brauchen noch mehr Leute Heilung als eure Schwester.« »Ich danke dir ...«, begann Sorgrad, doch die Stimme wandte sich bereits ab, um mit dem neuen Wachposten zu reden. Ich ließ meine Blicke scheinbar benommen umherschweifen, während wir Traw dem Torwächter um die Rekin herum folgten. Im Hof der Feste drängten sich Menschen; einige gingen rasch und zielstrebig an uns vorbei, andere waren am Ende eines langen, heißen Tages langsam und zeigten Müdigkeit in ihren Bewegungen und Gesichtern. Spannung schwang in den leisen Gespräche mit, erwartungsvoll und feindselig. Die Tür zu Küche und Wirtschaftsraum der Rekin stand of563
fen; Lampenschein fiel heraus in die langsam zunehmende Dämmerung. Eine niedrige Mauer umgab einen gepflasterten Hof, in dem eine beträchtliche Zahl von Männern und Frauen mehr oder weniger geduldig warteten. Die meisten Männer hatten offensichtliche Kriegsverletzungen; einige trugen Verbände um Beine und Füße, andere Kopfverbände. Die Frauen machten das Schweigen der Männer durch lebhafte Unterhaltung wett. Einige wollten Salben gegen Sonnenbrand oder Brandwunden, zwei suchten die Hilfe der Sheltya in irgendeinem Streit. Ein paar junge Mädchen gingen mit Brot und Met, Bechern und Flaschen umher. Als wir näher kamen, trat ein älterer Mann aus der Rekin und kratzte sich offenbar verwirrt am Kopf. Mit einer gemurmelten Entschuldigung trat er zur Seite, als ein aufgeregter junger Bursche vorübereilte; mit einer Hand hielt er den blutigen Lappen, der seine verbliebenen zwei Finger und den Daumen umhüllte. ‘Gren setzte mich vorsichtig auf der niedrigen Mauer ab, sodass mein Gesicht vom verräterischen Licht abgewandt war. Sorgrad stieg über die symbolische Abgrenzung und setzte sich so, dass er die Rekin gegenüber hatte und jedes Kommen und Gehen beobachten konnte. Ich zog vorsichtig einen Zipfel meiner Decke hoch, um mein Gesicht zu verbergen und den Schweiß abzutupfen, der die Farbe zu verschmieren drohte. »Was jetzt?«, fragte ‘Gren. Sorgrad lehnte sich zurück, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. »Niemand scheint sich für uns zu interessieren.« »Gibt’s hier Wachposten?«, wollte ich wissen. »Soviel ich sehen kann, nein«, murmelte Sorgrad. »Viele Leute gehen rein und raus, aber niemand scheint zu fragen, was sie wollen.« 564
»Wir sollten uns auf die Jagd begeben, solange wir sicher sein können, dass sie nicht mit uns rechnen«, entschied ich. »Es hat keinen Zweck, darauf zu warten, dass ein Sheltya kommt, in meinen Gedanken liest und mich einen Lügner nennt.« Ich wollte nie wieder das Risiko eingehen, dass Äthermagie durch meine Erinnerungen pflügte. »Wir gehen durch die Seitentür. Falls jemand fragt, sagen wir, wir suchen Aritane«, schlug ‘Gren vor. »In Ordnung«, sagte Sorgrad und blickte mich an. »Dann mach dich bereit.« In der Abgeschiedenheit eines stinkenden kleinen Aborts band ich meine heruntergerutschten Strümpfe hoch und prüfte meine Gürteltasche, um sicher zu gehen, dass alles da war, was ich vielleicht brauchte. In dem dämmrigen Licht, das durch den halbmondförmigen Einschnitt in der Holztür fiel, warf ich einen Blick auf meine Hände. Sie waren ziemlich ruhig. Es wurde Zeit, die Runen zu ziehen und zu sehen, wie sie lagen.
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Teyvasoke 18. Nachsommer
Eresken wandte sich von dem massiven Bogen aus hellem Stein ab, der den gurgelnden Fluss überspannte. Mit knirschenden Schritten ging er über den Kies, schöpfte eine Hand voll Wasser von der Oberfläche und spie verärgert aus, denn das Wasser schmeckte bitter nach den Ausscheidungen von Tieren. Er richtete sich auf, rieb sich den Rücken und wartete darauf, dass der hartnäckige Schmerz in seinen Beinen nachließ. Noch nie war er so viele Meilen gewandert. Er fluchte leise vor Verachtung. Diese Narren hatten so viel Land und nutzen so wenig davon! Ordentlich bewirtschaftet, könnte selbst die ausgedörrte Einöde von Aritanes einst geliebter Heimat einen fruchtbaren Clan ernähren, der treue, kampfbereite Söhne hervorbrachte. Kein Wunder, dass Misaen die Besten seines Volkes ausgeschickt hatte, auf dass sie im Schmelztiegel der Meeresinseln ihren Schliff erhielten. Wenigstens hatten die weichlichen Schwächlinge, die zu Hause geblieben waren, eine vernünftige Einstellung gegenüber unberechtigtem Vordringen auf ihr Territorium. Eresken schüttelte verwundert den Kopf. Es war so leicht, diese Leute davon zu überzeugen, dass ihr Land bedroht war und dass schon der Verlust eines kleinen Teils all dieser Gaben sie in Not stürzen würde. Sein Vater hatte wahrhaft keinen Grund, seine Bemühungen in dieser Hinsicht zu kritisieren. Die Laune des Elietimm hob sich im gleichen Maß, wie der Schmerz in seinen Muskeln nachließ. 566
Er bemerkte die Reihe von Feuern auf der anderen Seite des Flusses, über denen das Abendessen kochte, wie der würzige Duft bewies. Waren das neu eingetroffene Dummköpfe, oder war Jeirran vor ihm zurückgekommen? Zorn stieg in Eresken auf und trübte seine Stimmung. Er hatte diesen aufgeblasenen Narren besser im Auge behalten wollen, aber wie? Wenn er seine eigene Truppe bei der Stange halten und zugleich dafür sorgen musste, dass Aritane dieses Tal unter ihrer Knute hielt, blieb ihm keine Zeit für Jeirran. Ein kalter Hauch, der vom Wasser aufstieg, traf ihn wie ein böse Vorahnung der Missbilligung seines Vaters. Er sollte lieber ein wenig schlafen, damit er seine vielen Aufgaben umso besser wieder in Angriffnehmen konnte. Eine Hand rüttelte Eresken am Ellbogen. »Was willst du?«, fauchte er und funkelte den Mann neben ihm wütend an. Das Gesicht des Mannes verhärtete sich im abnehmenden Licht vor Zorn. »Was soll die Verzögerung? Wir marschieren seit Mittag ohne Pause.« »Selbstverständlich.« Eresken brachte einen versöhnlichen Tonfall zu Stande. Er hielt den Blick des Mannes für einen Augenblick fest und musterte die stumpfen Züge unter dem schmuddeligen Verband, der eine Augenbraue verdeckte. Er sah Erschöpfung auf dem Gesicht des Mannes, und den bedenklichen Schatten des Zweifels, ob es klug war, das Tiefland anzugreifen, und ob es die richtigen Männer und Frauen waren, die diesen Feldzug angeblich leiteten – und das alles wegen ein paar Niederlagen, als die Schäfer widerspenstig wurden und ein paar Baumbewohner unvorsichtige Einzelgänger drangsaliert hatten. So viel zu den kühnen und mächtigen Anyatimm, die einst 567
seine Vorväter vertrieben hatten. Sollten diese SchönwetterKrieger wirklich die Hüter der alten Länder sein? Je eher die wahren Erben Misaens diese Gipfel für sich beanspruchten, desto besser. Sollten doch würdige Männer die wahren Geheimnisse sehen, die die Sonne zur Sonnenwende enthüllen würde. Eresken verbarg seine Verachtung. Er griff durch die Müdigkeit und die Vorahnungen hindurch, zerrte in den Gedanken des Mannes die Erinnerungen an eine kürzliche Plünderung, an die Freude über leichte Beute und an das Vergnügen an der Gewalt hervor. Es dauerte nicht länger, als Eresken für einen Atemzug benötigte, und das Gesicht des Mannes leuchtete auf. Der Elietimm überlegte, ob er tiefer vordringen sollte, doch seine eigene Erschöpfung und Gereiztheit sprachen dagegen. »Bring die Waren, die wir eingetrieben hatten, zum Vorratsmeister in der Feste.« Eresken legte dem Mann kameradschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Wenn alles verzeichnet ist, dann sag ihm, du hättest meine Erlaubnis, das Bier wieder mitzunehmen. Wir haben große Siege errungen und ich finde, wir haben uns eine kleine Feier verdient.« »Misaen hat dich aus purem Gold geschaffen!«, rief er Mann und schaute zu den zerlumpten Truppen hinüber, während Eresken verstohlen einen komplizierten Hexerspruch murmelte, der bewirkte, dass die Begeisterung des Mannes in den Geist eines jeden eindrang, mit dem er sprach. Dass würde all diese Narren davon abhalten, über die kleineren Rückschläge nachzudenken, die sie erlitten hatten. Die lange Kolonne schwer bepackter Männer trottete über die Brücke. Die meisten schwiegen; viele blickten mürrisch, mit ernsten Mienen und hängenden Schultern. 568
Sie sind einfach nur müde, sagte sich Eresken. Ein paar Tage Ruhe, dazu Jeirrans Beredsamkeit, verstärkt durch ElietimmZauberei, und diese Männer würden wieder ins Tiefland marschieren, um das Waldvolk unter stählernen Absätzen zu zertreten. Ereskens Magen knurrte, als ihm der verlockende Duft von gebratenen Zwiebeln in die Nase stieg. Wann hatte er zuletzt gegessen? Männer mit Tragbahren und andere, die den Verwundeten bei ihren ungelenken Bemühungen halfen, sich auf den eigenen Beinen fortzubewegen, hatten inzwischen die Brücke erreicht. »Geht direkt in die Feste«, befahl Eresken ihnen mit besorgter Miene. »Sheltya werden sich um euch kümmern.« Und die Erinnerungen an die Schmerzen ebenso auslöschen wie die Treulosigkeit, die sich durch den Schock der Verwundung regte. Die Pest über Aritanes Skrupel! Zerkratzte und blutunterlaufene Gesichter strahlten vor Dankbarkeit. »Ich gehe mit euch.« Am besten schaffte er diese elenden Versager aus den Augen. Blutige Stümpfe und zerfetzte Gliedmaßen würden nur den guten Willen vernichten, der aus ein paar erbeuteten Fässern und der umsichtigen Veränderung der Erinnerung entsprang. Eresken überquerte mit den ersten der Tragbahren die Brücke und dachte über die Dummköpfe nach, die an ihren Lagerfeuern hockten. Konnte er Aritanes Hilfe erwarten, um die Gedanken der müden Krieger wieder in jene Wut zu verwandeln, die sie zu Beginn angetrieben hatte? Eresken ermahnte sich, nicht zu früh zu viel von Aritane zu erwarten. Ihre Nützlichkeit hing schließlich davon ab, dass sie die Vorstellung hegte, immer noch zum Wohle ihres Volkes zu arbeiten, obwohl sie ihre Gelübde gebrochen und sich ihren Oberen widersetzt hatte. 569
Heiserer Jubel lenkte Eresken ab. Eine Gruppe von Männern scharte sich um eine Gestalt, deren Bart und Haar im Licht der Flammen golden schimmerte. Also waren Jeirran und seine Männer früher als erwartet aus dem Tiefland zurück. In Ereskens Verärgerung mischte sich Eifersucht. Hatte Jeirran vielleicht einen großen Sieg errungen, dass er im Triumph zurückkehrte? »Ihr geht alle hinauf zur Rekin.« Eresken wandte sich an die Verwundeten, die gehorsam stehen geblieben waren, um auf ihn zu warten. »Ich muss nur noch kurz mit Jeirran sprechen.« Er zwang sich zu einem Lächeln, um das bewundernde Grinsen zu erwidern, das die Männer ihrem Anführer schenkten. Jeirrans Stimme war laut, seine Gesten lebhaft. »Hört sich so an, als hätte er über einen Erfolg zu berichten, nicht wahr?«, sagte Eresken und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich um Jeirran scharte. Die Müdigkeit drückte ihn nieder wie eine schwere Last, doch er brachte eine freundliche, beinahe herzliche Begrüßung zu Stande. »Jeirran! Schön, dich so bald wiederzusehen. Wie ist es dir und den anderen ergangen?« »Eresken!« Jeirran schob einen Mann zur Seite und umarmte Eresken mit Bärenkräften; sein Atem roch durchdringend nach etwas Unvertrautem, Holzigsüßem, und seine Augen leuchteten in der Überschwänglichkeit des Alkohols. Eresken machte sich mühsam von Jeirran los und hielt ihn für einen Augenblick auf Armeslänge von sich. »Also, wie ist es dir ergangen?« »Wir haben diese wimmernden Feiglinge von Dorfbewohnern aus den Vorbergen vertrieben, bis ganz hinunter bis zu den Seen.« Jeirran lachte dröhnend. »Wir wollten sie schon ins Was570
ser treiben, haben sie dann aber in Ruhe gelassen, da sie unser Land ja verlassen hatten.« »Jedenfalls vorläufig«, witzelte ein Zuhörer unter unheilvollem Gelächter. »Ich dachte, du wolltest das Waldvolk bis südlich der Straße treiben?« Eresken zwang sich zu einem Lächeln, um seine Verärgerung zu verbergen. »Oh, wir haben die Eichhörnchenfreunde die Bäume hochgejagt. Haben Mann gegen Mann gekämpft, schonungslos auf beiden Seiten!« Jeirran nahm einen tiefen Zug aus einer dicken Glasflasche und holte tief Luft, um das sanfte Brennen des Alkohols in seinem Mund zu lindern. »Wir haben sie zuerst geschlagen, dann niedergebrannt und sie gewarnt, je wieder einen Fuß auf unser Land zu setzen!« Eresken machte sich bereit, hinter die verworrenen Erinnerungen in Jeirrans Gedanken zu blicken. Die Wahrheit hervorzuziehen, war keine leichte Aufgabe; die Erinnerung war durch Trunkenheit verfärbt und wurde kompliziert durch die bewusste Weigerung, dunklere Wahrheiten zu akzeptieren, die in den Tiefen lauerten. Jeirran war zu Beginn dem vereinbarten Plan gefolgt, erkannte Eresken, indem er eine kleine Gruppe von Waldleuten angriff, die bereits unter einem früheren Ausfall aus dem Hochland gelitten hatte. Eresken lauschte Jeirrans Prahlereien, während er die Wahrheit der Ereignisse vor seinem geistigen Auge sah. Die wenigen Habseligkeiten der Waldleute wurden ihnen aus den schwachen Händen gerissen, die Männer gnadenlos niedergehauen, obwohl sie verzweifelt kämpften. Jede Frau, die eine Waffe in die Hand nahm, wurde von der Wut der Bergbewohner niedergestreckt. Diejenigen, die um Gnade flehten, 571
wurden grausam missbraucht und liegen gelassen, blutend und weinend. Eresken nickte. So viel jedenfalls hatte Jeirran anständig erledigt. Es hatte lange genug gedauert, diese Schwachköpfe davon zu überzeugen, Krieg zu führen, wie es sein musste, ihre Skrupel und Bedenken zu vergessen und jeden Schrecken als Werkzeug zu benutzen. Eresken stolperte über eine ängstliche Erinnerung, die Jeirran tief in eine Kammer seines Gedächtnisses gesperrt hatte, in Scham und Verwirrung gehüllt. Hatte der heldenhafte Anführer es seinen Männern bei der Massenvergewaltigung gleichgetan? Nach all seinen hochfliegenden Worten und den Ansprüchen eines erhabenen Zieles hatte er sich im Dreck gewälzt wie ein Tier. Ereskens Konzentration geriet ins Wanken, als Zorn in ihm aufwallte. Dieser überhebliche Mistkerl konnte beim nächsten Mal den westlichen Bereich nehmen und sich der Angriff-undRückzugs-Taktik der Feiglinge mit ihren Bögen und Speeren stellen. Sollte doch Jeirran seine besten Männer an Todesfallen und Fallgruben verlieren. Sollten doch seine Nächte zur Qual werden, wenn seine Wachposten aus der Dunkelheit mit Pfeilen niedergestreckt wurden, die Tod und Wahnsinn brachten. Jeirran brach in einen krampfhaften Hustenanfall aus, und der Schnaps verbrannte seine Kehle, als er versuchte, ungebetene Gedanken mit einem hastigen Schluck aus der Flasche zu verdrängen. Eresken blinzelte und sah, dass der andere unter seinem goldenen Bart aschgrau war. Er musste vorsichtiger sein. Wenn der Säufer solche Störungen in seinen Gedanken und Erinnerungen erwähnte, würde Aritane wissen, was er da tat, auch wenn ihr schwachköpfiger Bruder es selbst nicht 572
merkte. Es war allerdings nicht sehr wahrscheinlich, dass Jeirran ihr eine Schwäche eingestand, wenn sein Selbstwertgefühl von der Bewunderung anderer abhing. »Was hat dich denn zu den Dörfern hinaus geführt?« Der Elietimm lockerte seinen Griff um Jeirrans Geist. »Die Zeit war gekommen, den Kampf zurück zu den wahren Übeltätern zu tragen«, erwiderte Jeirran mit fester, wenn auch heiserer Stimme. »Suratimm sind wie die Zecken bei einer Ziege. Sie saugen ihr die Kraft aus, können aber keine allzu großen Schäden anrichten, wenn man ihnen ab und zu den Hintern mit einem glühenden Stock versengt«, fuhr Jeirran fort. »Die Tiefländer sind die wahren Diebe, die dich berauben und dir anschließend auch noch den allerletzten Rest vor der Nase wegnehmen. Also trugen wir den Kampf zu ihnen. Haben sie verjagt und ihnen in den Arsch getreten, dass ihre Zähne klapperten!« Eresken versuchte, diesen verworrenen Erinnerungen einen Sinn zu entnehmen. Strohdächer, die im grauen Licht der Morgendämmerung brannten, schreiende Frauen, vor Angst kreischende Kinder, das wütende Gebrüll von Männern, die durch den plötzlichen Überfall aus dem Schlaf gerissen wurden ... Wenn der Morgen kam, würde er entscheiden, ob Jeirrans Erfolg tatsächlich das war, was dieser Dummkopf behauptete, oder nur ein wirkungsloser Überfall, den er mit Zauberei vergolden musste, um die Männer glauben zu machen, dass sie tatsächlich einen großen Sieg errungen hatten. Eresken schloss für einen Moment die Augen. Noch eine Aufgabe, an die er denken musste! Noch mehr Anforderungen an seine Zeit, seine Kräfte! Nun, morgen früh würde er direktere Methoden anwenden, nicht mehr auf Zehenspitzen um Jeirrans 573
Arroganz herumtänzeln und unbemerkt dessen Erinnerungen stehlen. Er würde mit jener Rücksichtslosigkeit in Jeirrans Geist eindringen, wie sein Vater sie bevorzugte. Jeirran konnte die anschließenden Kopfschmerzen ja dem geraubten TieflandSchnaps und die schlimmen Erinnerungen der Peitsche seines Gewissens anlasten. Plötzlich durchfuhr Eresken der Wunsch, all die unzähligen Aufgaben, die seine Aufmerksamkeit erforderten, in den verführerischen goldenen Tiefen einer Flasche zu ertränken. Der Elietimm wandte Jeirran den Rücken zu. Eine solche Erleichterung war ihm nicht vergönnt, doch Aritane war oben in der Rekin. Vielleicht war es Zeit, ihre dummen Skrupel zu beseitigen und eine wahre Frau aus ihr zu machen. Sobald sie dieses letzte Gelübde gebrochen hatte, würde sie nicht mehr fähig sein, ihn zu verraten. Er konnte ihre Kraft nutzen, sie zwingen, einen Teil der Last zu tragen. Ereskens Schritte wurden schneller auf dem Weg zur Feste. Ein Kohlenbecken rauchte am Tor, weißrot unter einer Lage frischer Kohlen. Der Elietimm schritt vorbei, ohne an die Männer, die schwatzend darum saßen, auch nur einen Blick zu verschwenden. Eresken betrat das massive steinerne Rund der Feste. In jedem Gebäude entlang der Mauern brannte Licht hinter den Fenstern, und die Schornsteine rauchten. Einige Türen, hinter denen gearbeitet oder geschlafen wurde, waren geschlossen, doch die meisten standen offen. Zwei Männer standen wie Felsen da, um die alle anderen herumströmten; sie waren dabei, dicht beschriebene Schiefertafeln zu vergleichen. Ein Ruf ließ beide aufblicken. Einer eilte zu einem Haufen Säcke, wobei verschüttete Getreidekörner unter seinen Füßen knirschten. Die Treppen zur Rekin waren dicht gedrängt voller Männer, die in 574
Gesprächen versunken waren und Frauen, die Neuigkeiten und Meinungen austauschten. An den Steinwände tanzten die Schatten der Fackeln und Feuer bis in eine Höhe, in der sie sich als harter schwarzer Umriss vor dem sternenhellen Himmel abhoben. Eresken schäumte vor Wut. Sobald er und seine Leute hier das Sagen hatten, würde das alles aufhören! Wahre Magie war zum Herrschen bestimmt. Kein Elietimm-Zauberer würde für jeden aufgeblasenen Hanswurst springen, der sich auf ein paar nackte Meilen Berggelände etwas einbildete. Hunger nagte an ihm, und so ließ er die Rekin links liegen. Eresken schnalzte vor Zorn mit der Zunge, als er die elende Menge im Küchenhof erblickte. Er schob sich an den Leuten vorbei und tippte einer der Sheltya forsch auf die Schulter. »Wo ist Aritane? Ich muss mit ihr reden.« Krelia sah sich um. Ihr Gesicht war ausgezehrt von der Qual, die sie mit jeder heilenden Berührung eines bedürftigen Körpers an sich zog. »Ist hineingegangen ... vielleicht, um etwas zu essen ...?« Diese Frau würde bald völlig den Verstand verlieren, erkannte Eresken schaudernd, als er die Verschwommenheit in ihren Augen sah. Er musste Krelia im Auge behalten. Wenn sie dem Wahnsinn verfiel, konnte sie seine Pläne stören. Er würde sie vorher im Schlaf ersticken. »Du suchst Aritane?« Remet blieb vor Eresken stehen. »Bryn kam, und sie sind hineingegangen, um unter vier Augen miteinander zu reden. Bryn hatte Neuigkeiten von Jeirran.« Eresken nickte und verbarg Verwünschungen in den tiefsten Tiefen seines Ich. Bryns lange Freundschaft mit Aritane machte es viel schwerer, die Zweifel zu zerstreuen, die diese Neuigkei575
ten ihr vielleicht in den Kopf setzten. Was hatte Bryn von Jeirran gehört? Wusste er etwas, das Eresken nicht wusste? »Danke.« Eresken brachte ein freundliches Lächeln zuwege. Als er sich umdrehte, fühlte er den Blick des jungen Mannes im Nacken – und noch etwas: Der Ansturm von unaufhörlichen und verschiedenartigen Anforderungen hatten Remet so sehr auf die Probe gestellt, wie es bei einer zehnjähriger Reise durch Berg und Tal mit einem mittelmäßigen Wahrsager nie der Fall gewesen wäre. Der Junge begann, selbstständig zu denken, und Bryn brauchte nur jemanden, der seine bröckelnde Loyalität teilte, um zu seinen Oberen zu laufen und alles zunichte zu machen. Eresken schritt schneller aus. Die Seitentür stand einen Spalt offen; ein paar zusammengekauerte Gestalten hockten auf den hölzernen Stufen. Eresken würdigte sie keines Blickes, um sie zu keinen Bitten zu ermutigen. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal und eilte zur Tür am anderen Ende des Ganges. Er blieb auf der Schwelle stehen. »Was macht ihr hier? Wo ist Aritane?« Ceris sprang auf und blickte die Männer an ihrer Seite Hilfe suchend an. »Sie ist mit Bryn gegangen.« In ihrem jämmerlichen Lächeln lag die stumme Bitte, ihr nicht böse zu sein. »Wer ist das?« Eresken blickte den älteren Mann finster an, dessen knotige Hand auf der Schulter des Mädchens lag. »Ihr solltet draußen sein und heilen, nicht hier drinnen, wo wir uns zum Meditieren versammeln!« Er setzte sich an den langen Tisch und zwang die anderen, sich von ihren Stühlen zu erheben, um seine Autorität zu unterstreichen. Der Neuankömmling starrte den Elietimm ebenso finster an. »Ich bin ihr Vater, und das ist ihr Bruder. Wir sind gekommen, 576
um zu sehen, wie es ihr geht, jetzt, wo Jeirran uns erzählt, dass Sheltya sich nicht mehr von ihren Familien lossagen müssen.« Noch eine verfluchte Schwierigkeit, mit der er fertig werden musste! Eresken hörte eilige Schritte im Korridor. »Feiert eure Wiedervereinigung anderswo.« Der Elietimm stand auf, denn er erwartete, Bryn oder Aritane zu sehen. Stattdessen stürmten zwei unbekannte Männer in den Raum, auf deren Gesichter eine Feindseligkeit lag, die ihn wie ein Tritt in den Magen traf. Eine Frau folgte ihnen, deren Gesicht zwar unter einer grässlichen Maske aus Farbe verborgen war, deren grüne Augen jedoch klar und hell vor Hass leuchteten. Es war die Hure des Zauberers aus dem Wald. Ein sengender Schmerz am Kinn verriet Eresken, dass die Schlampe wieder ihre verfluchten Pfeile benutzte. Er taumelte durch den kalten Schock der Droge in seinem Blut. Er tastete auf dem Tisch herum, fegte Karten, Pergamente und Becher nach allen Seiten und warf den Krug mit aller Kraft auf den stämmigeren Angreifer. Ceris holte Luft, um einen entsetzten Schrei auszustoßen, doch die Frau brachte sie mit einer Ohrfeige zum Schweigen. Die zierliche Blonde stolperte zurück gegen die Steinwand und sank wimmernd auf die Dielen. Eresken stachelte Ceris’ erzürnten Vater zum Angriff an, indem er dessen instinktives Verlangen nutzte, sein Kind zu schützen. Mit einem unverständlichen Schrei stürzte sich der Mann auf den Rücken der Hure. Der ältere der Verräter, die bei ihr waren, trat dazwischen und wehrte die rächende Faust ab; seine ebenbürtige Gewalt wurde durch die Kraft der Jugend verstärkt. Eresken überlegte einen Moment, ob er dem Angreifer ein Abbild von Jeirrans schändlichster Lust vor Augen halten sollte, mit Ceris als dem weinen577
den Opfer unter dem auf und ab stoßenden Körper. Er rammte dieses Bild ins Hirn ihres Vaters, brannte es in sein Bewusstsein, ungeachtet der Schäden, die er damit anrichtete. »Sieh, was sie ...« Er hatte keine Zeit mehr, seine Vision mit Worten zu verstärken. Der zweite Mann war kaum noch einen Schritt von ihm entfernt, ein Messer in der Hand. Eresken packte Ceris’ Bruder bei den Armen und schleuderte ihn mit aller Kraft auf die glitzernde Klinge. In dem Augenblick, als Schmerz den Jungen durchfuhr, packte Eresken seinen Geist, knüpfte den Verstand des Jungen in ein Netz aus Chaos und isolierte ihn von jeglichen bewussten Gedanken und Erinnerung. Eresken arbeitete schneller als je zuvor und verwehrte dem Jungen jegliche Wahrnehmung von Schmerz, als der Angreifer ihm unzählige Hiebe und Stiche zufügte. Schonungslos zerstörte er jeden Instinkt für Verteidigung und Selbstschutz und entfachte stattdessen die unbewusste Wut und den Hass, den der Junge hegte, verwandelte jede unwillkürliche Bewegung in Aggression und verknüpfte das Ganze in einen Sturm geistloser Gewalt. Eresken riss sich gerade rechtzeitig vom Mahlstrom des zerstörten Verstandes des Jungen los, um zu sehen, wie der kleinere Angreifer unter dieser irrsinnigen Wut zu Boden ging. Der Vater prügelte mit einem Stuhlbein auf den anderen ein. Holz splitterte, als der bewegliche Mann auswich, täuschte und Hiebe in die Wand hinter ihm krachten. Was war mit der Hure? Eresken sah, wie sie sich auf die Lippe biss und mit erhobenem Dolch schon halb durch den Raum war. Eresken warf den Tisch um. Die massive Eichenplatte war zwar nur eine schwacher Schutz, doch sie verschaffte ihm genug Zeit, um Ceris auf die Füße zu reißen. Mit einer verzweifelten geistigen Anstrengung zermalmte er den schwachen Willen 578
des Mädchens mit einem einzigen explosiven Fluch, worauf ihre Augen zu leeren Teichen der Dunkelheit wurden. Kaum eine Sekunde, ehe die Schlampe bei ihm war, schleuderte Eresken Ceris auf den Rücken der Hure. Ceris’ Gliedmaßen zuckten unbeherrscht, ihr schlaffes Gewicht und das hinderliche graue Gewand rissen die mörderische Hure zu Boden. Echos der Qual hallten in Ereskens Geist wider, als der Bruder starb. Die Illusion von Unverwundbarkeit bot keinen Schutz davor, körperlich in eine blutige Masse verwandelt zu werden, mit zerschmetterten Gelenken, durchtrennten Sehnen und mit solcher Gewalt durchgeschnittener Kehle, dass der Kopf fast abgetrennt war. Der Verräter bewegte sich vorwärts, und seine Zähne blitzen weiß in dem wild aufgerissenen Mund, einer Maske aus Blut. Toten oder getötet werden ... Der Elietimm spürte den harten Fels im Rücken. Die Bodendielen unter seinen Füßen waren glitschig, und der Gestank von Blut hing schwer in der Luft. Das Gift beeinträchtigte seine Sinne; die Farben verschoben sich; Geräusche waren gleichzeitig betäubend laut und fern. Eresken biss die Zähne zusammen, bezwang den Aufruhr mit einer Zauberformel und stieß seinen messerscharfen Intellekt, geschärft über viele Jahre, in den Verstand seines Angreifers. Bis dahin war es einfach. Der Elietimm jubelte über den plötzlichen Erfolg, ehe ihn das Gefühl überkam, dass irgendetwas falsch war. Wo blieben der Schock und das Entsetzen? Was war mit dem Zurückschrecken vor dem plötzlichen Eindringen? Jedes Gefühl, jedes Geräusch schwand aus Ereskens Bewusstsein, als nun seine Welt zum Gefängnis jenes Geistes zusammenschrumpfte, den er fangen wollte. Warum war er derjenige, der aus der Wirklichkeit gerissen wurde, wo er doch die Ketten 579
seines eisernen Willens hatte, um diesen Verrückten in Fesseln zu legen? Der Elietimm verdoppelte seine Anstrengungen, doch seine Kraft richtete sich gegen ihn selbst. Eresken suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dem geistigen Labyrinth. Wie konnte das sein? Der Mann besaß keine Disziplin, keinerlei Ausbildung in der Manipulation von Geist und Erinnerung! Der Hexer fand sich selbst inmitten einer albtraumhaften Welt aus Blut und Barbarei wieder. Die Zerstörung von Ceris’ Bruder wirbelte in einem betäubenden Rausch von Bildern vorbei. Scharlachrotes Lebensblut schäumte in einem Mund, der schon zerfleischt war von Zähnen, die sich in aufgerissene Lippen bohrten. Bläuliche Adern in Kehle und Speiseröhre wurden mit einem ausholenden Streich einer blutverschmierten silbernen Klinge bloß gelegt. Über einen hellen Schimmer von Knochen legte sich ein zartes Muster aus Blut, als ein Ellbogen splitterte und das Messer Leinen, Haut und Sehnen durchtrennte – ein berechneter Hieb mit dem Ziel, zu verstümmeln, wäre der Junge nicht schon tot gewesen und würde er nicht durch den Willen Ereskens bewegt, der ihn in grenzenlosen Wahnsinn getrieben hatte. Schrecken und Entsetzen umhüllten den Hexer, da jedes Bild wieder und wieder auftauchte, immer lebendiger, immer bedrohlicher. Unter seinen Füßen war nichts, und kein Laut war in seinen Ohren. Es gab nur diese endlose Parade von Schrecken, der er sich nicht verschließen konnte. Aber wo war die Furcht? Wo war die verzweifelte Suche nach Rechtfertigung, das lautstarke Argumentieren, wenn der Verstand versuchte, die Unmenschlichkeit zu entschuldigen, sich selbst von der Verantwortung freizusprechen und dem erstarrenden Griff der Schuld? Nichts. Mit einer ungeheuren 580
Anstrengung gelang es Eresken, eine kleine Ruheinsel inmitten dieses abscheulichen Bewusstseins für sich zu finden. Mit wachsendem Entsetzen erkannte er, dass er von wildem Triumph erfüllt war, von Entzücken und Ekstase angesichts der letzten Herausforderung zum tödlichen Kampf. Die Erinnerungen hörten auf, und erstarrte Bilder verblassten in rote Dunkelheit. Die Grenzen des Rückzugsgebietes der geistigen Stabilität, die der Hexer sich geschaffen hatte, gaben unter einem unerträglichen Druck nach. »Wer bist du?«, rief Eresken in die blutschwarze Stille, die ihn zerdrückte. »Ich heiße ‘Gren, jedenfalls nennen mich meine Freunde so«, hallte eine fröhliche Stimme um den Hexer wider, die gar nicht zu dem wachsenden Gefühl der Bedrohung passen wollte. »Aber das brauchst du eigentlich nicht zu wissen, denn ich werde dich töten.« Nun lag Bedrohung in der Stimme, hart wie Stahl. »Weißt du, wer ich bin?«, fragte Eresken ungläubig, und vergaß in diesem Augenblick den fürchterlichen Druck, der seine Kräfte behinderte. »Ich weiß es nicht genau«, gab die Stimme zu. »Livak und Halice haben beide gesagt, dass du und deine Leute dreckfressende Hundesöhne seid. Lass es uns herausfinden.« Brutal zerriss zielstrebige Neugier die Abwehr Ereskens. Hilflos in die entferntesten Winkel seiner Erinnerung gezerrt, sah er Menschen und Orte, die er längst vergessen geglaubt hatte ... das jammernde Sklavenmädchen etwa, das sein Vater von einem seiner frühesten Raubzüge übers Meer mitgebracht hatte, nachdem er die verlorene Kunst wiederentdeckt hatte, wie man den Strömungen widerstand, die Schiffe ins Verderben rissen. Eresken konnte sich kaum an seine Mutter erinnern, die stets das 581
gezeichnete Gesicht von der Frucht ihrer Vergewaltigung abgewandt hatte. Nun schwoll dieses Gesicht an, wurde schwarz; die Zunge hing aus dem Mund, und die Augen quollen hervor, nachdem sie sich erhängt hatte ... Dann erschien das grausame Gesicht des Vaters bedrohlich groß vor Ereskens geistigem Auge, mit Augen so tiefbraun, dass sie fast schwarz wirkten, und heller Haut, gekrönt von totenbleichem Haar. »Sie war schwach, untreu und weder von Nutzen noch eine Zierde. Welchem Zweck diente ihr Leben, wenn so viele Nahrung und Wärme brauchen?« Und sie war nicht die Einzige gewesen, die in diesem härtesten Winter seiner Kindheit zum Tode verurteilt wurde, als Opfer der Weisheit seines Vaters. Lehen, die von geringeren Männern beherrscht wurden, waren Krankheit und Streitigkeiten anheim gefallen. Es gab nichts zu essen in dieser schrecklichen Zeit, als die spärliche Ernte auf dem Halm verfault war, als die Seevögel schon früh davongezogen waren und die Meerestiere erst spät und in geringer Anzahl erschienen, mager und krank, als die Harpunen der Jäger sie endlich töteten. Die Bäche waren zugefroren, die lebenswichtige Hitze unter der Erde offenbar für alle Zeit verloschen, und die Menschen hatten heimlich gemurmelt, dass Misaen sie verlassen hätte. Anders jedoch Ereskens Vater. Für ihn war dies ein Zeichen, dass die Zeit gekommen war, ihre unfruchtbaren Äcker zu verlassen, die wenigen geschützten Täler, in denen sich verkrümmte Bäume ans Leben klammerten, die unbarmherzigen Landstriche aus Kieseln und zerbrochenen Felsen, die sich bis zu den Schneefeldern und Gletschern hinaufzogen, welche die geheimnisvollen Höhen einhüllten. Sobald er das öde Land derer, die von Maewelin verflucht waren, zu einer Macht zusammenge582
knüpft hatte, um die Elietimm zu beherrschen, würde es an der Zeit sein, die westlichen Länder des Reichtums und Überflusses zurückzuerobern. Warum sonst hatte man ihm die vergessene Macht über Wind und Meer gewährt? Eresken war nicht länger ein unbeachteter junger Mann in der strengen Hierarchie der Festung. Jetzt bekam er all die Aufmerksamkeit, die er sich nur wünschen konnte. Doch der Sohn seines Vaters zu sein hieß auch, eine harte und lange Ausbildung in den Künsten der wahren Magie zu erhalten, in Taktik und Strategie unterwiesen und gegen rivalisierende Clans ausgeschickt zu werden, wann immer sich die Gelegenheit bot oder ein Vorwand gefunden wurde, eine Grenze zu überschreiten, eine Festung anzugreifen und rivalisierendes Blut zu vergießen. Endlich hatte man ihm den Platz eingeräumt, der ihm von Rechts wegen und durch Geburt zustand, nämlich den Schildarm seines Vaters zu verteidigen – oder bei dieser Aufgabe zu sterben. Erinnerungen wurden hervorgezerrt, geprüft und beiseite geworfen, als Eresken hilflos tobte und ‘Gren nach Interessantem suchte. »Wenn wir das Meer überqueren müssen, um dort für unsere Rechte zu kämpfen, werden wir niemanden zurücklassen, der uns in den Rücken fallen kann.« Seines Vaters oft wiederholte Worte klangen in Ereskens Verstand; es war das Urteil über ein benachbartes Lehen, das bis auf den letzten Säugling vernichtet worden war. »Wirklich bewundernswert.« ‘Grens Stimme klang verächtlich, und er lockerte für einen flüchtigen Augenblick seinen zermalmenden Griff. »Wer bist du?«, fragte Eresken und versuchte, sich aus dem 583
verräterischen Irrgarten der Erinnerungen zu befreien. »Wie machst du das?« »Wen interessiert das schon?« Die Bedrohung rings um ihn kehrte zurück, gewaltsamer als zuvor. »Du bist derjenige, der ungebeten in meinen Kopf eindrang, jetzt musst du die Folgen tragen. Ich werde nicht kampflos aufgeben!« »Aber wer bist du?«, tobte Eresken, und eine trügerische Furcht nagte an ihm. »Jemand, der viel mehr Spaß am Leben hatte als du, Freundchen.« Dunkelrotes Feuer schoss durch die Dunkelheit, stürzte sich von allen Seiten auf Eresken mit leuchtenden Bildern, die ihn gleichzeitig entsetzten und erstaunten. Der Bruder des Verräters streckte die Hand aus und drängte ihn weiter, als die zwei Kinder jede Nische, jede Spalte einer entlegenen Feste erforschten. Die Erinnerung verließ die Mauern zu einem verstohlenen Ausflug in den Wald, auf der Spur älterer Brüder, Onkel und Vater, die zum Fallenstellen unterwegs waren. In einem plötzlichen Schneesturm wären die Kinder beinahe ums Leben gekommen; halb erfroren kehrten sie im Morgengrauen zurück zu hysterischen Frauen. Die Erinnerung sprang in eine dunkle Höhle hinunter. Minen waren nicht so kalt, und unter der Erde konnte ihnen das Wetter nichts anhaben. Doch es war ein törichter Gedanke; er starb bei der Entdeckung, dass Erschöpfung so heimtückisch töten konnte wie die Kälte, während Regen, der einen halben Tagesmarsch entfernt an der Oberfläche fiel, dazu führen konnte, dass sich ein tollkühner Junge, der eine Höhle erforschte, binnen kürzester Zeit bis zum Hals im Wasser wiederfand. Angst, nur eine Haaresbreite vom Wahnsinn entfernt, hallte durch 584
Ereskens Geist – die Erinnerung an einen Tauchgang durch überflutete Tunnel, wobei seine Lungen trotz des eisigen Wassers wie Feuer brannten und er das verrückte Verlangen verspürte, den letzten tödlichen Atemzug des Ertrinkens zu tun. Im nächsten Augenblick ging aller Schrecken unter in dem ausgelassenen Gelächter, überlebt zu haben. Die Erinnerungen rollten jetzt schneller an, die Intensität nahm zu, als sich Erfahrung auf Erfahrung türmte: Der erste Tod, ein Unfall in einem Ringkampf, war Anlass für leises Bedauern, doch gleichzeitig die erschreckende Enthüllung, dass er tödliche Kraft in beiden Händen hatte. Eresken wurde übel vor Panik bei der Erinnerung an die Sheltya, die versuchten, diesen Geist zu disziplinieren, was dazu geführt hatte, dass dieser Verrückte beschloss, ein solches Eindringen nie wieder zu erdulden. Dieser Trotz war etwas, das völlig über Ereskens Erfahrungsschatz hinausging. Er zuckte vor lebhaften Bildern des Krieges zurück, vor blutigen Schlachten, in denen eine Armee die andere in Stücke hieb, vor kleineren gewalttätigen Scharmützeln bei Nacht oder aus dem Hinterhalt. Kameraden kamen und gingen, marschierten in den Tod oder verließen die Armee, um ihr Geld zu verprassen. Alle Verluste wurden bedauert – und doch keiner. Im Söldnerleben gab es keine Beschränkungen, nur Freiheiten. Befehle wurden befolgt, wenn sie Zustimmung fanden; andernfalls umging man sie. Ein Bruder verließ sich auf seine überzeugende Redekunst, um Katastrophen zu vermeiden, der andere auf den körperlichen Einsatz, um beide aus immer gefährlicheren Situationen herauszuholen. Jeder Todesfall wurde Eresken vor Augen geführt, und ein beängstigendes Lachen hüllte ihn ein. ‘Gren amüsierte sich über 585
die Reaktion seines Gefangenen und türmte Schrecken auf Schrecken. Rivalen wurden erstochen oder in Überraschungsangriffen enthauptet. Jeder erkannte Feind wurde brutal ermordet. Männer wurden im Kampf aufgeschlitzt und verbluteten fluchend, schreiend und flehend. Solche Todesfälle waren nicht gerade angenehm, jedoch insofern willkommen, als sie Beute und Geld einbrachten, die für Frauen und das Spielen ausgegeben wurden. Wer sich nicht an die eigenartige Disziplin des Schlachtfeldes hielt, wurde am nächsten Baum aufgeknüpft, wo er zappelnd den langsamen Tod des Strangulierens starb, Todesfälle ohne Bedeutung. Eresken spürte, wie seine Abwehr unter diesem unablässigen Ansturm zusammenbrach, und seine Zuflucht schrumpfte. Verzweifelt kämpfte er darum, die Verachtung zu ertragen, die ihn zermalmte. Er konnte weder den Boden unter seinen Füßen spüren, noch den Stein unter seinen Fingern. Kein Gefühl des Atmens war in seiner Kehle, kein erschreckter Puls pochte in seinem Körper. Es gab nichts außer dem niederschmetternden Spott, der ihn zerbrach. »Du bist ein Feigling«, fuhr die verhasste Stimme in gemütlichem Gesprächston fort. »Du bist nicht für den Zweikampf. Du legst die Chancen fest, indem du in den Köpfen der Menschen Unheil stiftest. Du schickst Menschen mit deinen Schlichen in den Tod, aber du willst nicht sehen, wie sie sterben. Doch jetzt hast du einen Fehler gemacht, weil du mehr aufs Spiel gesetzt hast, als du zu verlieren bereit bist, Freund. Du bist eigentlich kein Mörder, jedenfalls kein richtiger, aber ich bin es, und das bedeutet, dass du sterben wirst.«
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Teyvarekin 18. Nachsommer
»Du kannst mich loslassen.« Ich wand mich vergebens in Sorgrads eisernem Griff. Meine Handgelenke würden noch lange die Abdrücke seiner Finger tragen, nachdem ich ‘Grens Abdrücke gerade erst abgewaschen hatte. »Nimm das Messer herunter«, befahl er. »Wenn jemand ihn tötet, dann ich.« Ich gehorchte. Meine blutleeren Finger waren taub. Die Klinge mit dem öligen Tahnfleck darauf fiel klirrend auf den Dielenboden. Wir standen still wie Statuen in einem Schrein, Sorgrad und ich im Gleichgewicht, der Elietimm wie erstarrt, mit Augen wie leere Höhlen, die zur Schwärze seines Herzens führten, ‘Gren reglos unter einer Maske aus Blut, mit schlaffem Gesicht, der Blick aus den himmelblauen Augen verschleiert. »Wenn seine Augen schwarz werden, bedeutet das, dass sie ihn haben«, warnte ich Sorgrad und versuchte, die beiden bewegungslosen Gestalten zu beobachten und gleichzeitig eine Waffe in Reichweite zu finden. ‘Gren blinkte mit saphirblauen Augen, und ich fuhr zusammen, als hätte man mich mit einer Hutnadel gestochen. »Alles in Ordnung?« Der Elietimm glitt an der Wand herab. »Ist er tot?«, fragte ich heiser. »Ich glaub schon.« Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich ‘Grens vertrautes Grinsen sah. 587
»Was hast du gemacht?« Sorgrad untersuchte die schlaffe Gestalt auf Atmung und Pulsschlag. »Er ist in meinen Kopf eingedrungen, und das gefiel mir nicht«. ‘Gren zuckte die Achseln. »Er ist offenbar nicht auf die Idee gekommen, dass ich ihn womöglich nicht wieder hinauslasse.« »Willst du damit sagen, dass du Sheltya-Zauber kannst?« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte. »Nein.« ‘Gren klang ein wenig beleidigt. »Aber er wühlte in meinem Kopf herum, und dabei konnte ich einen Blick in den seinen werfen. Ich kam zu dem Schluss, dass er ein wertloses Stück Dreck ist, also habe ich ihn ... zerquetscht. Er hat nicht viel Widerstand geleistet.« »Er hat wohl nicht damit gerechnet.« Und natürlich hätte ‘Gren niemals daran gedacht, dass man ihn besiegen könnte, nicht wahr? »Bist du sicher, dass er tot ist?« Sorgrad trat den Elietimm mit der Kappe seiner Stiefel. Die Erinnerung ertränkte meinen plötzlichen Optimismus, dass wir endlich eine Schwachstelle bei dem Elietimm gefunden hatten. »Zauberkunst kann Geist und Körper voneinander trennen«, sagte ich mit einem Gefühl der Mutlosigkeit. So hatten die Kolonisten von Kellarin in ihrer verborgenen Höhle unzählige Generationen überdauert, unangetastet von den Jahren. »Dann hätte sein Geist irgendwohin fliehen können, wo er sicher ist?« Sorgrad blickte auf das reglose Bündel. Ich fragte mich, wie ein Mann, der mir in meiner Vorstellung eine solche Angst eingejagt hatte, nun nur noch so eine unbedeutende Gestalt sein konnte, mit verdreckten Kleidern und staubverkrus588
teten Stiefeln, der das schmutzige blonde Haar über ein unauffälliges Gesicht fiel, das ausgemergelt war vor Hunger und vor Erschöpfung tiefe Schatten unter den Augen hatte. »Wir können es sicher feststellen«, sagte ‘Gren, packte eine Hand voll der Locken des Hexers, stieß sein Messer tief ins Gelenk zwischen Nacken und Schädel und drehte es herum. Ich rümpfte die Nase und musste bei dem Blutgeruch husten. »Ich dachte, Halice hätte einen Scherz gemacht, als sie sagte, dass ihr beide Köpfe gesammelt habt.« »Wir sollten lieber ...« Die Tür wurde geöffnet, und Sorgrad hielt inne. Eine Frau stand wie erstarrt auf der Schwelle, den Mund geöffnet, als sie sah, was Sorgrad tat. In ihren graublauen Augen spiegelte sich Abscheu. Sorgrad und ich sprangen über die Toten hinweg, packten die Frau und zerrten sie mit unnachgiebigen Händen in den Raum. Sorgrad warf die Tür mit einem Tritt zu und wirbelte herum, um die Frau in einer fließenden Bewegung zu mir zu schieben. Ich hielt ein tahngetränktes Tuch bereit, legte es ihr über Mund und Nase und drehte mit meiner anderen Hand die Kapuze ihres langen grauen Gewandes. Ihre Hände krallten sich in die meinen, und sie trat um sich wie ein Maultier, doch ihre weichen Hausschuhe waren keine Waffe. Ihr Widerstand ließ nach, als das Gift wirkte; die würgende Kapuze tat ein übriges. Sie wurde schlaff und schwer in meinen Armen, und wir legten sie eiligst auf den Boden. »Das ist die Hexe, die uns aus der Hachalfeste rausgeworfen hat«, stellte ‘Gren fest und ließ von seinem grässlichen Versuch ab, sich eine Trophäe zu holen. »Dann ist sie eine Sheltya, und das bedeutet Äthermagie, und 589
deswegen sind wir hier«, sagte ich. »Diese Frau ist das, was wir gesucht haben.« Den Gedanken folgte die Tat: Kompressen aus weichem Leinen für ihre Augen, festgebunden mit breiten Streifen Verbandsstoff; Stöpsel aus Wolle für die Ohren, bedeckt mit weiteren hellen Stoffstreifen; ein Taschentuch, um ein dunkles Stück Thassin gewickelt, für ihren Mund, um sie ruhig zu halten, falls das Tahn seine Wirkung verlor. Weitere Bandagen um ihr Kinn und die untere Gesichtshälfte – sollte sie zu zaubern versuchen, wenn sie weder etwas sehen noch hören noch sprechen konnte! »Auch wenn sie bewusstlos ist, muss sie atmen, mein Mädchen.« Sorgrad zupfte an einem gefalteten Tuch, das um die Nase der unkenntlichen Frau lag. »Aritane – war das nicht der Name?« ‘Gren betrachtete sie mit Interesse. Nachdem ich den letzten Knoten mit geschickten Fingern gebunden hatte, hockte ich mich auf die Fersen. Mein Herz pochte, und mein Atem ging schnell. Doch mein Jubel verblasste beim Anblick des jüngeren Mannes, der regungslos im eigenen Blut lag, und des älteren Mannes, der außer der klaffenden Wunde in der Kehle von Sorgrads Messer keine sichtbaren Verletzungen hatte. »Sie müssen auf das Mädel gewartet haben und schon hier gewesen sein, ehe wir die Treppe beobachtet haben.« »Ich habe versucht, sie zu betäuben.« Sorgrad betrachtete bedauernd das tote Mädchen, deren goldene Locken mit Blut von den zerschmetterten Schädelknochen verkrustet waren, rings um das Stuhlbein, mit dem er sie niedergeschlagen hatte. »Ich glaube nicht, dass so etwas möglich ist – nicht wenn Äthermagie in ihren Köpfen tobt. Sie hätte mich fast erwürgt«, erinnerte ich ihn. »Ich muss mich säubern.« Ich schaute mich 590
nach Wasser um. »Ich auch«, kicherte ‘Gren und wedelte mit klebrigen Händen. Sorgrad reichte mir seine Wasserflasche. »Zieh die Rüstung aus«, befahl er seinem Bruder und streifte Aritane ihr langes graues Gewand ab. Mit den weiten Ärmeln und dem hohen Kragen bedeckte es ‘Grens blutverschmiertes Hemd und seine Hose vollständig. »Gürte es etwas kürzer, sonst liegst du beim ersten Schritt treppauf auf der Nase«, riet ich ihm. »Du bist nicht an Röcke gewöhnt und würdest dir auf den Saum treten.« Niemand würde in der Dunkelheit seine Stiefel bemerken, und das Blut war auf dem geölten Leder praktisch wie unsichtbar. Aritane war bleich und schlaff in ihrem hübschen Leinenmieder, und Sorgrad wickelte sie rasch in unsere bunte Decke, in der zuvor ich gesteckt hatte, als wir in die Feste hereingekommen waren. Niemand würde in diesem Gewirr genauer hinschauen. Ich schmierte Farbe von meinen aufgemalten Prellungen auf die makellosen Arme der Frau; dann schrubbte ich mir den Rest Farbe ab, so gut ich konnte. Ich hustete von dem ekligen Blutgeruch, über dem der Gestank entleerter Blasen hing, und musste schlucken. »Lasst uns so schnell wie möglich verschwinden.« ‘Gren warf mir das Leinenwams zu, als Sorgrad die Tür vorsichtig einen Spalt weit öffnete. »Alles klar. Du gehst zuerst, ‘Gren. Kapuze auf, Kopf runter, und zu niemandem ein Wort. Du bist ein Sheltya, also Hahn im Korb.« »Kikeriki«, flüsterte ‘Gren aus seiner Verkleidung. »Geht zur Seitenpforte«, sagte ich zu Sorgrad. »Ich hole euch ein.« Während die anderen gemessenen Schrittes die Treppe hin591
unterstiegen, kniete ich neben der Tür nieder. Ich richtete meine Gedanken auf die vor mir liegende Aufgabe. Später blieb noch Zeit genug für Albträume und Übelkeit. Ich nahm Drähte aus meiner Tasche und arbeitete an dem komplizierten Schloss, wobei ich die Augen zumachte, um unter dem metallischen Bart die störrischen Haltefedern besser spüren zu können. »Was tust du da?« Ein großer Mann in Sheltya-Grau stand am Kopf der Treppe. Sein kurz geschnittenes Haar stand hoch wie eine Bürste. Er wrang die Hände in einer unbewussten Geste. »Ich wurde nach meiner Herrin Aritane geschickt«, murmelte ich, verbarg meine Dietriche in der Hand und ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Die Tür ist verschlossen.« Der Mann war mit ein paar langen Schritten bei der Tür. Ich ging zur Seite, um ihn vorbei zu lassen, und kam unbemerkt halbwegs die Treppe hinunter. Er rüttelte vergebens an der Tür, ehe er über die Schulter zurückschaute. »Schick mir eine Frau, die Schlüssel hat.« Ich huschte die ausgetretenen Stufen hinunter und durch die belebte Feste wie eine Katze mit brennendem Schwanz. Menschen eilten vorbei. Ich rempelte und schubste und schlüpfte durch jede sich bietende Lücke. Sorgrads Rüstung schimmerte vor mir im Fackelschein, ehe die Menge sich immer wieder zwischen uns schob. ‘Grens Sheltya-Grau öffnete eine Gasse zum rückwärtigen Tor; Sorgrad folgte ihm dicht auf den Fersen und trug Aritane in der bunten Decke. Am Haupttor brach neuerliche Unruhe aus. Menschen blieben stehen und reckten sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, was los war. Ich ergriff die Chance und wand mich durch die zögernde Menge. Wir konnten auch noch herausfinden, was 592
passiert war, wenn wir aus der Feste heraus waren. Der Sheltya würde nicht lange brauchen, um in den Raum zu gelangen; vielleicht sickerte das Blut auch schon durch die Decke nach unten. Ich holte die anderen an dem kleinen Ausfalltor ein. Ein Mann zog das Tor zu, während ein anderer den schweren Riegel hochhob, der so dick war wie sein Arm und mit Eisenbändern beschlagen wie die Reifen um seine Handgelenke. Ein dritter Mann marschierte auf und ab; in der Hand hielt er eine Fackel aus einer Wandhalterung. Ein Durcheinander von Hornsignalen schallte durchs Tal. »Hast du das verstanden?«, fragte der erste Mann und fuhr sich mit einer dreifingrigen Hand durch sein ergrauendes Haar. Der Fackelhalter verdrehte vor Anstrengung die Augen. »Ich kann keinen Sinn darin erkennen.« »Dann geh fragen. Ebrin wird es schon wissen.« Das war Armreif mit dem Riegel, den er zwischen den Händen rollte. Dreifinger wandte sich an ‘Gren. »Was gibt’s Neues?« »Schick deinen Mann zu eurem Vorgesetzten«, sagte ‘Gren kurz angebunden. Sein Gesicht blieb unter der Kapuze unsichtbar. »Lasst uns durch.« »Sie haben Signal gegeben, das Tor zu sichern.« Der Fackelhalter deutete auf eine ferne Flamme, die auf der Mauer hin und her geschwenkt wurde. »Sicher das Tor hinter uns.« In ‘Grens leiser Stimme lag eine tödliche Bedrohung. »Oder willst du dich über die Autorität der Grauen erheben?« Selbst in dem ungewissen Licht von Fackel, Kohlenbecken und Sternen sah ich, wie der Mann erbleichte. Armreif stieß auf der Stelle das Tor auf. ‘Gren schritt hindurch, mit geradem 593
Rücken, den Kopf hoch erhoben. Sorgrad kam ein paar Schritte hinter ihm, Aritane in den Armen; er verbarg ihr Gesicht mit einer schützenden Falte der Decke. Ich huschte ihm in meinem schmutzigen Wams dicht hinterher, den Kopf eingezogen. ‘Gren hob mit herrischem Wedeln eine Hand, sobald wir durch den unregelmäßigen Tunnel hindurch waren; das massive Holztor schlug laut hinter uns zu, und der Riegel fiel herab. Was für Gefahren hier draußen auch auf uns lauerten, wir waren vor Verfolgung sicher. Ohne den Feuerschein war die Nacht finster. Der Schein über der Brüstung ließ die Schatten am Fuß der Mauer noch tiefer wirken, dort, wo der Pfad sich zu dem aufragenden Hügel eines Abfallhaufens schlängelte. Ich blinzelte, und die Nachtsicht, die mein Waldblut mir schenkte, schärfte sich allmählich. Gute Nachtsicht war ein Merkmal, das alle alten Völker gemeinsam hatten; das war einer der Gründe, weshalb wir auf die dunkelste Nacht gewartet hatten, die Halcarion uns bot. »Daran könnte ich mich gewöhnen«, kicherte ‘Gren in sich hinein. »Tu’s nicht«, riet ihm Sorgrad. »Wenn dich ein echter Sheltya in dem Grau erwischt, werden wir alle ausgepeitscht.« »Ist sie immer noch bewusstlos?« Ich spähte zu Aritane. »Vielleicht sollte ich ihr ein paar Tropfen auf die Verbände geben, dass sie die Dämpfe einatmet?« Ich wühlte in meiner Gürteltasche nach der Phiole mit der Tahn-Tinktur. »Dann werde ich auch benommen. Aber wenn du sie tragen willst – mach nur.« Sorgrad wog sie in seinen Armen. »Noch ein bisschen mehr, und wir können sie ebenso gut gleich in einen Minenschacht werfen. Ich dachte, du wolltest, dass sie nochmal aufwacht.« 594
»Ich will nicht, dass sie so weit zu Verstand kommt, dass sie hexen kann«, erwiderte ich. »Pssst!« ‘Gren blieb stehen wie ein Spürhund, den Blick in die Ferne gerichtet. Der bronzene Klang von Hörnern kam wieder aus dem tiefer gelegenen Tal, diesmal deutlicher. »Das ist ein Ruf zu den Waffen!« »Wartet hier!« Ich riss mir den hinderlichen Kittel vom Leib, stopfte mir den Saum meiner Röcke in den Gürtel und kletterte auf den nächsten Schutthaufen. Die zerbrochenen Steine waren trügerisch, und ich musste schon bald Hände und Füße zu Hilfe nehmen. Als ich eine Stelle erreichte, von der ich gute Aussicht hatte, stieß ich die Spitze meiner Stiefel in das widerspenstige Geröll und verschaffte mir so einen sicheren Halt. Lichtflecken übersäten den Hang, dazu die breiten orangefarbenen Blüten von Kochfeuern und die kleineren, roten der Kohlenbecken. Leinwandzelte glühten wie riesigen Laternen, und die Schatten auf den Wänden waren grotesk verzerrt. Schwarze Umrisse gingen vor den Feuern vorbei und eilten hastig hin und her. Der Fluss war ein schwarzer Streifen, der sich bis zum Bergrücken hinzog. Dahinter durchdrangen weniger Lichter, verborgen durch die Krümmung des Geländes, die Dunkelheit. Der verzweifelte Klang der Hörner ertönte wieder, wehte über feindseliges Gebrüll, trotzige Schreie und dem unverkennbaren Klirren von Schwert auf Schwert hinweg. »Livak!« Sorgrads leise Stimme verriet die Dringlichkeit seines Anliegens. Ich wollte herunterklettern und tastete in der Dunkelheit mit Händen und Füßen nach einem sicheren Halt. Ich hatte es schon halbwegs geschafft, als ein Stück sonnengedörrter Lehm mich ins Rutschen brachte, sodass ich den Rest des Weges hinunterglitt, wobei mir die scharfkantigen Steine 595
die Haut an den Hüften aufritzten. »Was ist?« Sorgrads Frage war wichtiger als meine brennenden Schürfwunden. »Da findet ein Kampf statt, aber ich kann nicht sagen, wer wen angreift.« Ich riss meine zerfetzten Strümpfe herunter; Röcke sind wirklich nur etwas für Frauen, die ein langweiliges Leben führen. »Vielleicht hätten wir Usara mitbringen sollen«, sagte ‘Gren unter der grauen Wolle, die er sich über den Kopf gezogen hatte. Ich lachte. »Der hätte mir gerade noch gefehlt, wie er in seinem Wasser und seiner Tinte planscht.« »Du kannst unseren Hauptgewinn mal ein Stück tragen.« Sorgrad reichte Aritane an ‘Gren weiter. »Damit verdeckst du das ganze Blut.« Wir wanderten vorsichtig weiter. Unser Weg durch die Schutthalden brachte uns zu einem engen Kreis von Schutzhütten. Wir zogen uns ein paar Schritte in die verhüllende Dunkelheit bei der Felswand zurück, als ein gepanzerter Läufer herbeirannte und rief: »Nehmt eure Wertsachen und geht in die Feste! Die Tiefländer greifen das untere Tal an! Jeirran wird auf dem Kamm Stellung beziehen.« »Viel Glück für dich«, murmelte ich zweifelnd. Ein Trommelwirbel hallte von dem steilen Felsen, der über uns aufragte. »Den Rhythmus habe ich schon einmal gehört«, sagte ich langsam. »Im vorletzten Winter, in den Lagern entlang der caladhrischen Grenze.« Sorgrad lauschte. »Die aus dem Seenland benutzen eine Kadenz wie diese.« 596
»Also sind es Männer aus der Schlucht?« ‘Grens Augen leuchteten wie die eines Jagdhundes, der eine Fährte aufgenommen hat. »Die sind nicht so zäh. Gehen wir.« »Nicht, wenn wir sie tragen müssen.« Ich deutete mit dem Kopf auf die bewusstlose Aritane. »Was gibt es noch für Wege aus diesem Tal?« Sorgrad kaute auf der Unterlippe. »Herzlich wenig, das ist ja der Grund, weshalb die Feste gerade hier steht. Ich habe keine große Lust, einen Pass hinaufzusteigen, mit dieser Last auf dem Rücken, ganz zu schweigen von der Nacht, wo uns jegliche Ausrüstung fehlt.« Er nickte zu den scharfen Felszacken, die sich schwarz vor dem sternenübersäten Himmel abhoben. »Könnten wir uns außer Sicht halten, bis die Monde aufgehen?«, fragte ich. »Zwei Viertel voll ist immer noch nicht genug Licht.« Sorgrad schüttelte den Kopf. ‘Gren trat gegen irgendetwas. »Livak, mach das auf.« Es war ein kleines Gebäude, mit Schiefer gedeckt und mit dick verputzten Mauern, die mir kaum bis zur Brust reichten. Eine Doppeltür an der Vorderseite war fest verschlossen, also war es nicht nur das Spielhäuschen eines Kindes. Ich zuckte zusammen, als ich mich auf einen scharfkantigen Stein kniete, und betastete die Schlossplatte. »Was habt ihr nur immer mit Schlössern, ihr beiden?«, murmelte ich gereizt, als mein Tasten mir die Feinheiten des Verschlusses enthüllte. »Sind denn alle so unehrlich wie ihr zwei?« »Man stiehlt das Erz eines anderen nicht, ebenso wenig seine Barren.« Ich hörte das Lächeln in Sorgrads Stimme. »Aber wenn man seine Werkzeuge verliert und kann deshalb nicht weitergraben, ist das etwas anderes.« 597
Ich nickte, wenn auch unsicher in den Schatten, und ließ den letzten Zahn einrasten. »Und was ist jetzt meine Mühe wert?« Sorgrad griff blindlings hinein. »Seil.« Er schlang sich eine Rolle über die Schulter. »Säcke. ‘Gren, stopf ein paar um das Mädchen. Ah, das haben wir gesucht, Laternen.« »Reich mir eine.« Ich tastete nach meiner Zunderschachtel. »Nicht anzünden«, warnte Sorgrad. Er musste trotz der Dunkelheit das Funkeln meiner Augen gesehen haben, als ich ihn anstarrte. »Tut mir Leid.« »Suchen wir ein Brecheisen.« ‘Gren blickte mit einiger Mühe über Aritanes Rumpf. Ich schob ihm ein Eisen in die Hand, nahm mir selber eins und reichte Sorgrad ein drittes. Ich rechnete mir keine großen Chancen aus, ihnen zu erklären, dass dies nicht wirklich mein Kampf war, also musste das Eisen als Waffe genügen. Die Menschen, die zur Feste eilten, warfen uns nicht einmal einen Blick zu, als sie mit vor Angst verzerrten Gesichtern über den Schutt stolperten. Ein paar bahnten sich den Weg in die entgegengesetzte Richtung, wo ein immer größerer Tumult entstand. Einige Männer waren mit Kettenhemden und Schwertern ausgerüstet, die meisten aber vertrauten auf Leder, Piken, Äxte und Knüppel. Ich sah den Eifer in ‘Grens Augen und stieß ihn nachdrücklich an. »Kann das Kämpfen nicht warten, bis du wieder in Lescar bist? Wir müssen unsere Freundin hier zurück zu den Zauberern bringen, damit die Draximals Hunde zurückpfeifen können.« »Wir arbeiten uns um die andere Seite der Schutthalden herum«, sagte Sorgrad entschieden. »Mal sehen, ob wir uns zur Furt hinunter schleichen können.« Die runden Kuppen der Hal598
den verschwammen mit der Schwärze der hoch aufragenden Berge. Ich blickte in sämtliche Richtungen und umfasste das tröstliche Gewicht der Eisenstange. Mein Blick traf den Sorgrads, und wir lächelten uns angespannt und freudlos an. Unser Pfad führte uns an den Rand der Schlacht. Die Bergbewohner standen arg unter Druck; sie waren in mehrere Gruppen zersplittert und von allen Seiten umzingelt. Die Tiefländer waren gekommen, um Rache zu nehmen, und sie waren so zahlreich, dass sie diese Arbeit gründlich erledigen konnten. Der Schlachtenlärm dröhnte in unseren Ohren; helles Licht blendete die Augen. Feuer, die außer Kontrolle geraten waren, rissen den Schutz der Schatten davon. »Zurück«, befahl Sorgrad. Wir fanden uns in einer Sackgasse aus zerbrochenen Felsen wieder, abgegrenzt von einem Rohr mit fauligem Wasser. »Narren«, zischte ‘Gren. »Ärger«, fauchte ich. Eine Hand voll Gestalten zeichneten sich vor der Schlacht ab. Einer hatte uns bereits gesehen und machte seine Kameraden mit einem erfreuten Ruf auf uns aufmerksam. Er hatte den schweren Akzent von Grynth. Die vier anderen schwärmten aus, um die Spalten zu versperren, durch die wir hätten fliehen können. Die Kerle waren darauf aus, sich ihre Entschädigung zu holen und hatten sich Börsen und Beutel, erbeutete Taschen und Gürtel umgeschlungen. Einer sah Aritane, deren bloße Beine verführerisch unter der farbenfrohen Decke hervorsahen. Der Tiefländer leckte sich die Lippen und zeigte ein zahnlückiges Lächeln gieriger Vorfreude. ‘Gren ließ die Hexe zu Boden gleiten. »Wenn du einen Löffel Honig willst, musst du erst an meinem Stachel vorbei, du Dreckfresser.« 599
Beschimpfungen aus den Gossen von Col aus dem Mund eines Bergbewohners zu hören, ließ diese Schurken lange genug innehalten, dass Sorgrad und ich zu beiden Seiten ‘Grens Aufstellung nehmen konnten. Unsere Gegner besaßen Schwerter, doch sie packten die Waffen mit einem selbst erlernten festen Griff anstatt der entspannten Bereitschaft derjenigen, die ein Schwert wirklich beherrschten. ‘Gren machte einen Schritt nach vorn, und der Mann in der Mitte hob seine Klinge, doch als er die Schulter vorschob, senkte er den Kopf nach vorn, und ‘Gren stieß die Spitze seines Brecheisens unter das Kinn des Burschen und trieb es ihm in den Schädel. Der Mann ging zu Boden wie vom Blitz gefällt. Als ‘Gren das Brecheisen herauszog, hatte der nächste Bursche sich so weit erholt, nach ihm zu stechen. Er hatte mir in meinen verdreckten Röcken nicht mal einen Blick gegönnt, bis meine Eisenstange ihm den Arm zerschmetterte. Er japste nach Luft, völlig entgeistert, als ich ihm das Eisen auch schon unters Ohr hieb und ihn in die Schattenwelt schickte. Ich stieß ihn hart gegen seinen Kameraden, was mir Zeit genug verschaffte, aus dessen Reichweite zu gelangen. ‘Gren füllte die Lücke, und sein scharfes Schwert schickte den Mann heulend zu einer größeren Gruppe von Banditen, wobei er einen blutigen Schnitt in seinem Schenkel umklammerte. »Lass ihn!« Sorgrad wischte sein eigenes erbeutetes Schwert an einem enthaupteten Körper ab. ‘Gren blieb stehen und starrte ihn aufsässig an. »Du willst es doch wohl nicht mit allen aufnehmen?« Sorgrad zog sein Brecheisen aus dem Kopf eines weiteren Toten, wo er in der Schläfe steckte wie ein Löffel im Ei. »Hier lang.« Ich folgte dem Rohr hangaufwärts. Der flache 600
Rand war schlüpfrig, und das Wasser sah mit seinem öligen Schimmer Übelkeit erregend aus. Es musste von irgendwo in der scheinbar gestaltlosen Felswand kommen. Ich folgte dem Wasser zu einer Öffnung, die in den tintenschwarzen Schatten kaum wahrnehmbar war, dicht gefolgt von ‘Gren und Sorgrad, während unsere Verfolger ihre Wut über die Toten hinausschrien, die wir hinter uns gelassen hatten. Sobald ich im Eingang der Mine war, drückte ich mich flach gegen die Wand und zwang mich, ruhig zu atmen. Sorgrad schob sich an mir vorbei, dann ‘Gren. Aritanes Hemd streifte meinen Arm. Ich legte eine Hand auf ‘Grens Schulter und streckte die andere aus. Mit den Fingerspitzen fuhr ich über die Wand, um mich in der völligen Finsternis vorzutasten. Wir bewegten uns langsam voran, bis Rufe in unserem Rücken uns innehalten ließen. Ich drehte mich um und sah das blasse Viereck des Sternenhimmels. Wenigstens konnten hier unten nur immer höchstens zwei Mann gleichzeitig angreifen. Sorgrad schob sich an meine Seite, das Schwert bereit. Die Beschimpfungen und der Spott kamen und gingen; das einzig beständige Geräusch war der ferne Schlachtenlärm. »Riskieren wir es, wieder rauszugehen, oder bleiben wir in unserem Loch, bis sie einander alle umgebracht haben?« Meine Stimme klang überlaut in der stillen Luft. »Lass uns mal sehen, wohin das hier führt.« Stoff raschelte, als ‘Gren Aritanes Gewicht verlagerte. »Es heißt, dass man durch diese Gänge von einem Tal ins nächste gelangen kann.« »Das sagt man von vielen Soken.« Sorgrad schnalzte nachdenklich mit der Zunge. »Aber die Teyvafeste bearbeitet dieses Tal praktisch schon, seit Misaen es erschaffen hat. Wir könnten 601
versuchen, durch die Tunnel den Kampf zu umgehen.« »Wie sind die Aussichten?«, fragte ich. »Es sind doch keine Grubenarbeiter hier?« »Bloß ein paar Ratten.« Sorgrad ging voran. ‘Gren warf sich Aritane wie einen Sack Mehl über die Schulter, und ich folgte ihm dichtauf und setzte meine Füße vorsichtig auf den unregelmäßigen Felsboden. Ich schimpfte wie ein Rohrspatz, als ich unerwartet in eine kalte Pfütze trat und meine nackten Beine nass spritzte. Das Brecheisen noch immer in der einen Hand, tastete ich mich mit der anderen an der zerklüfteten Wand entlang. Das Gestein war glitschig vor Feuchtigkeit und an einigen Stellen schleimig, worüber ich nicht weiter nachdenken wollte. Ich schaute über die Schulter zurück und stellte fest, dass das Viereck des Nachthimmels immer kleiner wurde. Was draußen Dunkelheit gewesen war, erschien mir jetzt mit jedem Schritt, den ich mich davon entfernte, hell und strahlend. Die stille, kühle Luft roch nach Metall, Erde und Urin. Die schwachen Geräusche des Kampfes draußen hätten ein Echo aus der Anderwelt sein können, so weit entfernt hörte es sich an. Wir kamen um eine Biegung. Die Dunkelheit war nun vollkommen – ein so völlig schwarzer Kokon, dass es keinen Unterschied machte, ob ich die Augen offen oder geschlossen hielt. Hier nützte mir auch mein Waldblut nichts mehr. Ich schluckte hart, weil mein Mund so trocken war, und tastete vorsichtig nach Zunder, Feuerstein und Stahl in meiner Gürteltasche. »Sorgrad, kannst du einen Moment die Lampe halten?« Seine Hand berührte die meine, und ich schloss seine Finger um den gehämmerten Metallzylinder. »Warte, bis ich den Schieber aufhabe.« 602
Ich hörte ein schabendes Geräusch und strich einen Funken. Die Dunkelheit wich zurück, als die Kerze hell aufflammte. Das grenzenlose Schwarz erwies sich als Tunnel, der sich nach oben verjüngte und sich allmählich in Richtung der Talsohle wand. Die Wände waren braun und grau, mit Schlieren seltsamer Pigmente. An manchen Stellen funkelten sie zart, vielleicht vor Feuchtigkeit, vielleicht auch von Kristallen oder Metall im Gestein. Meine Laune hob sich, als die fröhliche Flamme Lichtflecken durch die durchlöcherten Seiten der Lampe warf. Wir waren ein gutes Stück vom Kampf entfernt und hatten endlich etwas Wertvolles in der Hand, und sobald wir einen Weg aus diesem Kaninchenbau gefunden hatten, waren wir frei und noch vor Sonnenaufgang unterwegs zu zivilisierten Orten.
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Teyvarekin 18. Nachsommer
Jeirran hämmerte mit dem Griff seines Schwertes auf das Tor ein. Die Waffe war bis zum Heft mit Blut beschmiert, »öffne, hörst du? öffne!« Ungeachtet der Wut, die in seiner Brust tobte, machte sein Gebrüll bei dem Krach auf beiden Seiten wenig Eindruck. Wut und Angst und die tückischen Alkoholdämpfe ließen ihn würgen. Er übergab sich, und der Alkohol verätzte ihm die Kehle. Hustend schwankte er unsicher umher. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und kalte Schauer rannen ihm über den Rücken. Hätte er sich nicht an die Mauer der Feste gestützt, wäre er gestürzt. Der Krampf ließ nach, aber das machte es kaum besser. Der Boden unter ihm schien zu schwanken, und sein Kopf dröhnte wie ein Amboss. Das Loch in seinem Bauch hatte wenig damit zu tun, dass er den goldenen Schnaps, das erbeutete Brot und das Fleisch ausgespien hatte. Wo war Eresken? Wo waren die Versprechen des Fremden von erhabenen Zaubern und geheimer Weisheit? Jeirran stöhnte vor Verwirrung. Jetzt war nicht die Zeit, schwankend zu werden – sie waren an die Mauern der Feste zurückgedrängt worden. Warum hatte Eresken sie nicht davor gewarnt? Hatte er denn nicht den leisesten Hauch eines Zweifels gehabt, als der Druck der Leiber immer stärker wurde, die auf das Tor einstürmten? Die Schreie der vordringenden Tiefländer wurden immer bedrohlicher. »Aritane!«, brüllte Jeirran wie von Sinnen. Irgendein Echo 604
seiner Verzweiflung, ein Mitgefühl des Blutes musste doch durch ihre Sheltya-Künste zu ihr dringen. Zwei Männer schoben ihn beiseite, hoben blutige Hämmer, die mehr für ehrliche Arbeit als für den Krieg gedacht waren. Mit drei klingenden Schlägen hieben sie das Tor entzwei. Eine kurze Atempause, und ein Schieber im Bogen über dem Sturz glitt auf. »Bei Maewelins Gnade, lasst uns herein!«, rief jemand. Es gab einen Augenblick hitziger Debatte und in Furcht und Streitlust erhobene Stimmen. »Wir müssen rennen! Macht euch bereit!« Jeirran erkämpfte sich einen Weg nach vorn und schubste kleinere Männer beiseite, stieß mit der Schulter gegen das Tor. Die massiven Flügel knirschten, gaben aber nicht nach. »Geht einen Schritt zurück«, brüllte jemand. »Wir können den Riegel nicht anheben, wenn ihr alle dagegen drückt.« Hände rissen Jeirran nach hinten, und das Tor schwang auf. Mit einem Triumphgeheul, wild wie Wölfe, verdoppelten die Tiefländer ihre verzweifelten Anstrengungen, das Tor einzunehmen, ehe es geschlossen werden konnte. Jeirran stolperte durch die großen Türen und kämpfte gegen die Welle panischer Menschen, die ihn vorbeizuschieben drohten. Er griff nach einem eisernen Haltering und schlug mit der anderen Hand auf diejenigen ein, die an ihm vorbeidrängten. »Wir müssen die Tore schließen! Wir müssen die Tore schließen!« Im einen Augenblick fühlte er sich nüchtern und sicher, im nächsten sehnte er sich nach dem Vergessen der Trunkenheit. »Aber die Unseren sind noch draußen! Wir können sie doch nicht aussperren!« Jeirran schlug dem Mann mit seiner gepanzerten Faust ins 605
Gesicht. »Wenn die Tiefländer hereinkommen, sind wir tot!« Die blutrünstigen Schreie der Tiefländer hallten durch den engen Tunnel, so rasend wie das Heulen tollwütiger Hunde. Jeirran warf sich gegen die Innenseite der Türflügel und grub die Fersen in den Staub. Andere taten es ihm nach, schwarz vor Blut, mit beinahe kraftlosen Armen; andere waren gar geblendet vom eigenen Blut, sodass sie von Freunden geführt wurden und nach einem Halt tasteten. Während die Angeln knirschten, kauerten andere an dem schmaler werdenden Spalt und zerrten Kameraden gewaltsam hindurch, packten eine Hand, einen Gürtel, ein Wams. Männer wurden weitergereicht, deren Füße kaum den Boden berührten, der mit Waffen, Stiefeln, Verbänden und kläglichen Bruchstücken einst hoch geschätzter Habseligkeiten übersät war. Neue Gesichter erschienen in der Lücke – dunkle TieflandAugen unter stahlverstärkten Kappen, die in heißem Begehren nach Mord und Rache brannten. Zwei schafften es durch den Spalt, dann drei, dann eine Hand voll. In einem fernen Winkel seines Verstandes erkannte Jeirran, dass er getötet würde, ein Gedanke, der weniger Schrecken als Ergebung mit sich brachte, ja, fast Erleichterung. »Lasst uns durch!« Männer aus der Rekin, alt und jung, verwundet und krank, stürmten vorwärts und warfen sich mit den Werkzeugen der Erzmühlen und der Schmelzöfen auf den Feind. Picken und Äxte zerschmetterten Knochen und zerfetzten Fleisch. Die Tiefländer wichen zurück, und die Tore wurden geschlossen. Eine kleine Gruppe Tiefländer war abgeschnitten; von allen Seiten attackiert, gingen sie bald zu Boden. Draußen ertönten wüste Beschimpfungen, und vergebens hämmerte man gegen die uralten Holzbalken. Die schweren Riegel wurden in 606
ihre Halterungen gelegt und verstrebten das Tor mit der Mauer, sodass es sich trotz der wütenden Angriffe nicht bewegte. Jeirran sank zu Boden und raufte sich verzweifelt die Haare. Sein Verstand war in Aufruhr. Er hob den Kopf und fand sich umringt von fragenden Gesichtern. Einige waren hoffnungsvoll, andere traurig, manche erwartungsvoll, wieder andere anklagend. Alle warteten auf Antworten, und schauten ihn an. Jeirran rappelte sich mühsam auf. Seine Beine fühlten sich taub an. Seine Sinne schienen nicht mehr richtig zu arbeiten, und schweigende Erwartung auf allen Seiten dröhnte ihm laut in den Ohren und übertönte den Tumult außerhalb der Mauern. Er taumelte zur Rekin, grinste gespenstisch, unfähig, Antworten auf die drängenden Fragen zu finden, die ihm zugerufen wurden. Panik drohte ihn zu überwältigen. All dieser Schmerz, all dieses Töten – er hatte es angefangen, und wofür? Wie konnte er hoffen, auch nur einen Bruchteil der Tiefländer zu überwältigen? Warum hatte er diese guten und vertrauensvollen Menschen in einen solchen Irrsinn getrieben? Schreie hinter den Toren rissen Löcher in die tröstlichen Wahnvorstellungen, die Alkohol und Selbsttäuschung gewoben hatten. Wo war Eresken? Jeirran zermarterte sich das benommene Hirn und wankte zur Seitentür der Rekin, ohne auf die neugierige Menge zu achten, die ihm folgte. Er wandte sich um und schrie sie an: »Lasst mich in Ruhe! Verschwindet!« Der Alkohol, den er in Feierlaune getrunken hatte, ließ seine Worte schleppend klingen. Jeirrans Mut verließ ihn, und er stolperte blindlings die Treppen hinauf. Die Tür zu Äritanes Raum stand einen Spalt offen. Ein Wehklagen ertönte aus dem Innern, das wie ein verlorener Schatten durch die Rekin hallte. Der wahnsinnige Laut ließ Jeirran die 607
Haare zu Berge stehen. Eine Gänsehaut überlief ihn. Ein Rinnsal getrocknetes Blut sammelte sich auf der Schwelle wie ein sichtbarer Fluch. Das nervtötende Klagen wollte nicht enden. Jeirran trat die Tür weit auf, zuckte jedoch vor dem entsetzlichen Anblick drinnen zurück. Mit einer Hand fuhr er sich krampfhaft über Mund und Bart. Krelia drückte die leblose Ceris an ihre Brust. Beide waren blut- und schmutzverkrustet. Ihr verständnisloses Gesicht glich dem eines Tieres, das nur die eigene Qual kennt. »Was ist passiert? Was ist passiert?«, tobte Jeirran. Er grub die Finger in Krelias Schulter, in dem vergeblichen Versuch, ihrem Jammern und Klagen Einhalt zu gebieten. Er erreichte jedoch nur, dass sie noch lauter schrie und jammerte, nur unterbrochen von heftigen Schluchzern. Ihre Augen blieben fest auf einen unsichtbaren Schrecken gerichtet. Jeirran starrte offenen Mundes auf den Leichnam von Ceris’ Vater und würgend, als er das hingeschlachtete Ding daneben sah. Er stieß einen umgestürzten Tisch zur Seite und hielt inne. Der Schock raubte ihm beinahe den Atem. Dröhnend hämmerte das Blut in seinen Ohren – so laut, dass er glaubte, der Schädel müsse ihm bersten. Eresken war tot, sein Gesicht geisterhaft bleich, der Kopf halb vom Rumpf getrennt. Wer war dieser Fremde, diese hagere Mann mit seinem Mischlings-Haar und den entrückten Zügen? Aritane hatte ihn gebracht, hatte Jeirran befohlen, sein unbewiesenes Wort hinzunehmen. Die lebenslange Gewohnheit der Rechtfertigung vor sich selbst und der Ausreden fiel unter der grausamen Peitsche der unausweichlichen Wahrheit in sich zusammen. Er hatte sie gedrängt, diesen Scharlatan zu rufen. Er hatte den Blick abge608
wandt von ihrem unschicklichen Gefummel und sich gesagt, dass seine zurückgeforderte Schwester es verdiente, Liebe zu kennen und die Beschränkungen der Sheltya-Gelübde zu verhöhnen. Doch dieser Ehrenkodex war hart, um strenge Neutralität zu gewährleisten, damit niemand ein Urteil der Sheltya ablehnen konnte. »Wo ist Aritane?«, schrie Jeirran Krelia an. Seine Hände zuckten kraftlos in dem verzweifelten Wunsch, aus diesem heulenden Weib ein paar Antworten herauszuprügeln. »Was ist hier geschehen?« Remet erschien in der Tür. »Ich weiß es nicht!«, explodierte Jeirran mit plötzlicher Wut. »Sag du es mir! Du bist ein Sheltya! Ihr wisst doch alles, ihr seid doch so klug! Sag du mir, was geschehen ist! Sag mir, was ich tun soll! Sag mir, warum Eresken tot ist und warum ich je auf ihn gehört habe! Sag mir, wo ich Aritane finden kann!« Jeirran stürmte vor packte den Jungen am Gewand; die eine Faust verdrehte das graue Tuch, die andere war drohend erhoben. Remets Augen in dem blassen Gesicht wirkten riesengroß. »Ich habe keine Ahnung, wo sie ist. Ich kann ihren Geist nicht finden«, sagte der Junge mit zitternder Stimme. »Ich weiß nur, dass die Feste umzingelt ist, und wir haben keinen Ausweg ...« »Ich weiß nicht, was ich tun soll!«, rief Jeirran. »Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte! Warum ist alles schief gegangen?« »Ich kann dir keine Antwort geben«, jammerte Remet. Jeirran hieb dem Jungen die Faust ins Gesicht, der vor Schmerz aufschrie. Als er den Arm zurückschwang, um noch härter zuzuschlagen, riss Remet sich mit der unerwarteten Kraft los, die einem die Angst verleiht. Oben an der Treppe blieb er 609
stehen und wischte sich das Blut von den Lippen, die an den abgebrochenen Zähnen aufgeplatzt waren. »Dafür wirst du büßen! Für alles! Eines Tages wirst du dafür büßen!« Als Jeirran einen wütenden Schritt nach vorn machte, verließen Remet die Nerven, und er taumelte die Stufen hinunter. Jeirran hob den Kopf, holte tief Luft, richtete sich auf und reckte das Kinn vor. Langsam, gemessenen Schrittes, stieg er die Treppe hinunter und schloss für einen Augenblick die Augen, ehe er die Tür aufstieß und auf der Schwelle stand. »Gib das her.« Er nahm einem Mann einem Axtstiel aus der Hand und stieß damit auf die Dielen zu seinen Füßen. Dreimal, noch dreimal und noch dreimal hallten die Schläge über den Köpfen der versammelten Menge, und die Unruhe legte sich. Alle blickten verwundert auf. »Jeder, der kämpfen kann, muss sich eine Waffe suchen. Wer nicht zu kämpfen vermag, zieht sich in die oberen Geschosse der Rekin zurück.« Jeirran schlug auf das hölzerne Geländer an seiner Seite. »Zertrümmert das und füllt das Untergeschoss mit Erde und Holz, damit wir ein langsam brennendes Feuer entzünden können, falls wir die Mauern verlieren.« Die Menge tauschte unsichere Blicke. »Wir können diesen Ort gegen dreimal so viele Tiefländer halten«, erklärte Jeirran mit gespielter Tapferkeit. »Oder macht Misaen die Anyatimm nicht mehr stark? Macht Maewelin sie nicht mehr klug?« Ein paar Männer lächelten schwach über seine Tirade. »An die Arbeit!« Langsam, zögernd gehorchten die Leute, und ihre zuvor ziellose Furcht wich einer gewissen Zielstrebigkeit. Jeirran sprang von der hölzernen Stufe, nahm eine Axt und begann, das Geländer zu zertrümmern. Ein langsames Feuer im 610
Erdgeschoss – diese Barriere aus Rauch und Hitze hatte in der Vergangenheit schon mehr als eine Rekin gerettet, als alles verloren schien. So konnte es auch diesmal sein. Wenn nicht, würde er Öl, Alkohol oder sonst etwas finden, um ein schnelles Feuer zu entfachen und die ganze Rekin in Brand zu setzen – ein Leuchtfeuer, um den Hass auf die Tiefländer in jedem Herzen der Berge zu entfachen.
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Teyvasoke 19. Nachsommer
Im Innern der Berge gibt es keine Glocken, die die Stunden schlagen, doch als ich das Gefühl hatte, wir befänden uns jetzt auf Poldrions Seite von Mitternacht, war ich längst nicht mehr so fröhlich. Ich beugte mich vor, um Aritane zu betrachten. Ihr Atem ging in rauen Stößen, und ich hob meine Laterne, um ihre Gesichtsfarbe zu prüfen, wobei ich ihr fast das bleiche Handgelenk am heißen Metall verbrannte, als ‘Gren plötzlich stehen blieb. Sorgrad hatte eine Gabelung in den Stollen erreicht. »Der Hauptstollen müsste geradeaus verlaufen. Hier lang.« Wasser tropfte mir auf den Kopf, und ich spürte einen kalten Luftzug von oben, der an eine Art Ventilationsschacht denken ließ. Die Tunneldecke wurde niedriger und unregelmäßiger, zerklüftete Stollen zweigten ab, der Boden war mit Steinbrocken bedeckt, stellenweise war der Gang mit Holzbalken abgestützt. »Müsste es hier nicht mehr von diesen Balken geben?« Ich dachte unbehaglich an die ungeheure Gesteinsmasse über meinem Kopf. »Nein, der Fels ist sehr hart. Sie konnten sich hier ganz auf den Abbau konzentrieren. Das ist einer der Gründe, weshalb die Teyvafeste immer so reich war«, erklärte ‘Gren. »Jedenfalls, bis die Kupferader erschöpft war.« Ich spürte, wie wir hin und wieder die Richtung änderten, hatte aber keine Anhaltspunkte, bis auf die Muster der Wände, die sich ständig veränderten und dennoch eintönig blieben, und 612
so verlor ich rasch die Orientierung. Als der Gang sich endlich erweiterte, hob ich meine Laterne und stellte fest, dass wir in einer hohen Höhle standen, wenn ich auch nicht sagen konnte, ob sie natürlich war oder von Menschenhand gegraben. Sorgrad suchte nach einem Ausgang. Das gelbe Kerzenlicht hob seine Züge in scharfen Konturen hervor, und die Wände hinter ihm verschmolzen mit der Dunkelheit. »Wohin?« ‘Gren wechselte Aritane auf die andere Schulter. »Sie wird nicht leichter, weißt du.« Sorgrad schaute mich an. »Alle Stollen scheinen tiefer in den Berg zu führen, nicht ins Tal hinunter.« Ich zuckte die Achseln. »Wenn wir hier stehen bleiben, finden wir es nie heraus. Besser, wir gehen weiter und hoffen, dass wir auf einen abbiegenden Tunnel stoßen.« Wir entschieden uns für den breitesten Gang. Ich blieb an ‘Grens Seite, während Sorgrad vorausging. »Ich bin ins Tiefland gegangen, weil ich es nie leiden konnte, wie ein Maulwurf zu leben«, brummte ‘Gren. »Nicht weil du Angst vor den Lindwürmern hattest, die aus den Tiefen kommen, um dich zu fressen?«, neckte ich ihn. »Dann würde ich ihnen die hier vorwerfen.« Er blickte auf Aritane. »Sie würde ein ganzes Nest sattmachen, und es bliebe sogar noch was für das Muttertier übrig.« Ich lachte. »So groß ist sie nun auch wieder nicht.« »Willst du sie mal tragen?« ‘Gren wollte mir die bewusstlose Hexe reichen, und er meinte es nicht im Spaß. »Ich hab schon die Laterne.« Ich winkte hastig damit. »Jedenfalls wette ich, dass sie leichter ist als ein Sack voll Erz.« Sorgrad schimpfte so plötzlich in der Bergsprache los, dass ‘Gren stolperte. 613
»Was ist?«, rief ich. »Das hier ist nur der Zugang zu mehreren Flözen.« Er kam zu uns und schüttelte zornig den Kopf. Plötzlich strahlte die metallene Seitenfläche seiner Laterne hell auf, und Sorgrad ließ sie fluchend fallen. Eine vertraute Stimme klang über das Klirren von verbeultem Blech hinweg. »Sieh ins Licht, Sorgrad!« Er nahm die Laterne auf. Die Kerze war erloschen; stattdessen schien das warme, bernsteinfarbene Licht der Magie darin. Usaras Gesicht lächelte uns aus einem Zauberwirbel an. »Usara!«, stieß ich hervor, ehe Sorgrad das Licht zu sich drehte. »Ihr benutzt die Tunnel, um an den Kämpfen vorbeizukommen?« Usara verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten. »Hast du uns mit Weitsicht beobachtet?«, fragte Sorgrad misstrauisch. »Hin und wieder. Ihr müsst euch zur Brücke vorarbeiten, das ganze untere Tal ist ein Schlachtfeld.« »Woher weißt du das?« »Wer hat angegriffen?« »Aber es ist unmöglich, dass diese Stollen bis dicht an die Furt führen«, sagte Sorgrad. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Usara. »Ihr müsst die zweite Abbiegung nach links nehmen.« »Was ist mit den Hexern?« Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht, wobei ich den verkrusteten Dreck auf der Haut fühlte. Usaras Gesicht spiegelte sich im schwarzen Blech der Laterne, überlagert von einem gelben Schein und neugierigen Gesichtern von Waldleuten, die undeutlich hinter ihm zu sehen 614
waren. »Ich lasse die Jungs hier einen Verhüllungszauber halten. Jedenfalls, bei dem augenblicklichen Chaos, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Sheltya nach unerwarteter Zauberei Ausschau halten.« Wir eilten zu dem Stollen, den Usara uns genannt hatte. Der Zauber warf ein scharfes Licht, verglichen mit dem sanften Flackern der Kerze, und rief verzerrte Schatten hervor. Die Decke wurde immer niedriger, bis wir vor einem Haufen aus zerbrochenem Gestein und Holzbalken in einer Sackgasse standen. »Was nun, Zauberer?«, murmelte ‘Gren. Das Glühen der Laterne verblasste, bis selbst das klägliche Licht meiner Kerze heller war. »Gib sie mir.« Sorgrad nahm seinem Bruder Aritane von der Schulter. In diesem Augenblick löschte ein plötzlicher Windstoß meine Kerze, sodass uns völlige Finsternis umgab. »Bei Saedrin!« Ich tastete ungeschickt nach Feuerstein und Stahl, doch schon durchdrang ein neues Licht die Schwärze. Es kam aus der Tiefe der Felsen vor uns, zuerst schwach, wie aus unendlicher Ferne, ein schmaler Spalt wie der Sprung in einer Glasur. Dann wurde es heller und heller, pulsierte ständig und wurde immer intensiver, bis es so hell wie ein Freudenfeuer leuchtete. Magie verflocht sich auf der Oberfläche des Gesteins, wogte und bewegte sich wie etwas Lebendiges und strahlte Wärme aus. Dann trat das Muster aus der Felswand und verwob sich in der Luft weiter. Durch den Boden und die Sohlen meiner Stiefel liefen Erschütterungen, sodass die Nerven in meinem Bauch zu flattern begannen. Plötzliche knirschende Laute erschreckten mich, sodass ich zurücksprang. Ein Geruch breitete sich aus, der mich an den eines leeren Kochtopfs erinnerte, den man über einem Feuer vergessen hat, bis jemand sich die Fin615
ger daran verbrennt. Das Gestein begann zu splittern. Zuerst brachen kleine Stückchen ab, dann größere Brocken, als der Druck der Magie den Fels spaltete. ‘Gren begann, mit seinem Brecheisen Schutt wegzuräumen, wobei er darauf achtete, dass kein Gesteinsbrocken auf ihn herunterstürzte. Ich schob die Steine weiter in den Tunnel zurück und versuchte zu verhindern, dass die scharfen Ecken sich in den Wänden verkanteten. »Dieser Zauberer könnte ein Vermögen machen, wenn er eine Soke fände, die bereit wäre, mit Magie zu graben.« Schweiß glitzerte auf ‘Grens Stirn. »Er könnte an einem Tag die Arbeit von zehn Männern schaffen.« »Kommen wir da durch?«, fragte Sorgrad. Ich blieb stehen, um meinem Rücken eine Verschnaufpause zu gönnen. »Rührt sie sich?«, fragte ich mir einem Blick Aritane. Sorgrad schüttelte den Kopf. »Noch nicht, aber ich möchte lieber aus diesen Tunnels heraus sein, wenn sie es tut.« »Das Thassin müsste sie umgänglich machen.« Die Leute kauen es, um Kummer und Armut, Liebe und Hass zu vergessen; mit Arimelins Hilfe sollte es Aritanes Verstand noch eine Weile benebeln. »Hier ist ein Spalt«, rief ‘Gren über die Schulter. Ich folgte ihm den glühenden Tunnel hinab und hielt mich dabei wohlweislich von den Wänden fern, die geschmolzen und verformt waren wie Kerzenwachs. Das magische Licht leuchtete noch immer am Ende, wo ‘Gren mit der Brechstange an den Rändern eines Loches arbeitete, das ins Nichts zu führen schien. Ein scharfkantiges Stück Stein fiel in die Schwärze und glitt einen unsichtbaren Abhang hinunter. Ich zündete meine Lampe wie616
der an und hielt sie vorsichtig in die Leere. »Wohin jetzt, Usara?«, rief ich und blickte in eine Spalte mit scharfen Felsbrocken. Irgendwo unter uns rauschte Wasser. Ich spähte hinauf und fragte mich, wo die Decke war und ob die Gefahr bestand, dass Steine auf uns herunterfielen. Ein goldenes Funkeln schimmerte auf der gegenüberliegenden Wand. Das Muster breitete sich aus wie Wellen in einem Teich. Das Licht enthüllte das ganze Ausmaß der Einsturzstelle, die wir überwinden mussten. Ich verzog das Gesicht. »Binde dir die Dame lieber auf den Rücken, ‘Gren. Du wirst beide Hände brauchen, und Sorgrad kann nicht gleichzeitig mit der Rüstung und dieser Last klettern, ohne abzustürzen.« Ich blickte enttäuscht auf meine Lampe, blies die Kerze aus und hängte sie an meinen Gürtel. Für diese Kletterpartie brauchte ich meine Hände dringender als Licht. Sorgrad nahm das Seil von seiner Schulter, und ich verknotete das knirschende Hanf fest um meine Taille. Sorgrad schlang das Ende um Arme und Rücken. Ich grinste ihn an und trat vorsichtig auf die gezackten Steine. Ich fand Halt und prüfte, ob das Seil mein Gewicht hielt, ehe ich den anderen Fuß aufsetzte, wobei ich mich mit beiden Händen festhielt, bevor ich den Arm ausstreckte, um nach dem nächsten Punkt zu tasten, an dem ich mich halten konnte. Ich konzentrierte mich auf die Fähigkeiten, die mich schon mehr Mauern und Hauswände hinaufgelangen ließen, als ich wissen will, und ich weigerte mich strikt, an die unsichtbare, bodenlose Tiefe zu denken, die unter einem der Felsen lauern mochte, denen ich mich anvertraute. Leises Zischen und Rauschen tief unter mir drang zwischen zwei gespaltenen Steinplatten hervor. War es Wasser, oder ...? Ich ignorierte die Erinnerung an die Lindwürmer in ‘Grens Liedern und 617
bewegte mich langsam weiter voran. Meine Finger und Zehen verkrampften sich allmählich vor Anstrengung, als ich die andere Seite der Klamm erreichte und mich auf dem Sims niederließ, den Usaras Magie erhellte, und Atem schöpfte. Dann knotete ich das Seil los und schaute mich nach einer Möglichkeit um, es zu befestigen. Wenn ‘Gren mit Aritane auf dem Rücken ausrutschte, konnte mich das Gewicht von dem Sims reißen. Ein kleines bernsteinfarbenes Licht flammte neben mir auf, während ich fruchtlos an einem Stück graugelbem Stein zerrte; das Licht war wie ein sich drehender Kreis aus Magie, der sich in den Berg bohrte. Der Zauber verblasste zu gedämpftem Gold, verbreitete den heißen Geruch von Herdsteinen und hinterließ ein Loch, so dick wie mein Handgelenk, das glatt durch den Sims führte. Lächelnd fädelte ich das Seil hindurch und hatte es in wenigen Augenblicken gesichert. Im Stillen dankte ich Usara. Als ‘Gren bei mir ankam, hatte ich meine Lampe wieder entzündet, und das heimelige Flackern beleuchtete den Schweiß, der ihm aus den Haaren in die Stirn rann. »Nimm sie mir ab«, keuchte er. Sorgrads Knoten waren nicht leicht zu lösen, doch schließlich konnte ich die regungslose Aritane auf den harten Boden legen. ‘Gren bückte und reckte sich, um seinen Rücken zu entspannen. Als Sorgrad uns erreichte, übernahm er wortlos wieder die Last der bewusstlosen Hexe. Ich blickte in den Tunnel hinein, in dem Usaras Magie Felsen zertrümmert hatte. Das helle Leuchten war jetzt ein Stück entfernt; die Wände verblassten zu orange und rot und schließlich zu einem gedämpften Ocker, während der Zauber weiter fortschritt. 618
»Passt auf, wohin ihr die Füße setzt«, warnte ich unnötigerweise. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, sich den Knöchel zu brechen.« ‘Gren und ich schoben mit unseren Brecheisen tückische Steinbrocken zur Seite, um den Weg für Sorgrad frei zu machen, dessen Sicht auf die eigenen Füße durch Aritanes Körper verdeckt war. »Wartet.« Ich ging voraus zu einer gold umrahmten Öffnung und hob meine Laterne neugierig in einen Tunnel, dessen Wände unverkennbar Spuren von Werkzeugen aufwiesen. »Wir sind wieder in einer richtigen Mine«, berichtete ich den anderen erleichtert. »Welche Richtung, Usara?«, fragte ‘Gren. Ein blechernes Echo der Stimme des Magiers kam aus Sorgrads Laterne. »Der Stollen geht ein gutes Stück bergab und trifft dann auf einen breiteren Gang. Dort müsst ihr links abbiegen.« Wir gingen jetzt schneller. Der Boden hätte nicht sauberer sein können, wenn meine Mutter ihn gefegt hätte. Der größere Gang war eine willkommene Abwechslung von der bedrückenden Enge der kleineren Stollen, und unsichtbare Schächte sorgten für frische Luft von oben. Endlich kamen wir um eine Biegung, und ich spähte unsicher durch einen Schmierfleck am Augenwinkel. Als ich die Klappe meiner Laterne verschob, sah ich, dass es keine Einbildung war, sondern der Weg aus diesem verdammten Labyrinth. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ihr beide wartet hier.« Ich reichte Sorgrad meine Laterne und ging langsam und lautlos auf dem nackten Fels weiter. Ich konnte keine Kampfgeräusche hören, aber das hieß nicht viel. Den Rücken an die Wand gedrückt, das Brecheisen in der Hand, schob ich mich zu der Ecke und blieb stehen, damit meine Au619
gen sich an die Nacht gewöhnen konnten. Als das konturlose Grau sich in den Abhang und Erde und Berge auflöste, machte ich drei verstohlene Schritte nach draußen. Wir waren ein gutes Stück das Tal hinuntergekommen, stellte ich erleichtert fest. Das Kampfgeschehen hatte sich auf den Kamm verlagert, sodass es uns gelingen sollte, unbemerkt aus der Mine herauskommen, auch wenn vereinzelt noch im Tal geplündert wurde. Doch die Tiefländer hielten die Brücke; sie wurden von Männern gesäumt, die sich vor dem rauchigen Schein von Fackeln abzeichneten. Es waren Krieger mit Helmen und Piken – Söldner, keine Bauern, an denen wir mit Schwertern und Brecheisen vorbeistürmen konnten. Ich umrundete einen Haufen grasbewachsenes Geröll und versuchte zu erkennen, wo sich die Furt befand. Einen Schritt hinter mir stießen klackernd zwei lose Steine zusammen. Ich drehte mich um und wollte den der beiden Brüder necken, der so unvorsichtig gewesen war, doch die Worte erstarben mir auf den Lippen, denn eine grau gekleidete Gestalt beobachtete mich mit gelassener Miene im Licht der Viertelmonde, von denen einer ab-, der andere zunahm. »Wo sind deine Kameraden?«, fragte der Unheimliche aus dem Schatten der Kapuze. Ich sah zwei andere schattenhafte Gestalten aus der Dunkelheit dahinter auftauchen. Ich richtete den Blick auf die Sheltya, fest entschlossen, nicht zu den Mineneingängen zu schauen, und begann leise den Zauber gegen die Elietimm vor mich hin zu murmeln, den ich gelernt hatte. »Tror mir’al, es nar’an, tror mir’al, es nar’an ...« »Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich deinen Geist durchsuche!« Der Sheltya klang beleidigt. 620
»Das ist mir schon einmal passiert«, gab ich zurück. »Die Elietimm verlieren keine Zeit.« »Alyatimm ...« Die Verachtung des Sheltya wurde durch ein Wort von einem der anderen abgeschnitten, der den Hang hinunterkam und seine Kapuze zurückschlug. Sein Kopf wackelte leicht, und ich erkannte den alten Mann, den wir in der Hachalfeste kennen gelernt hatten. »Du bist Cullam, nicht wahr?« Ich war mir nicht sicher, ob es half, dass ich seinen Namen kannte, aber schaden konnte es sicher nicht. Der alte Mann nickte. »In keinem dieser Stollen sind Leute«, erklärte er dem ersten Sheltya ehrerbietig. »Und der eine ist versperrt.« Der dritte Sheltya war einer aus der Feste, der jüngere Mann. Er sah mich durchdringend an. »Wo ist Aritane? Ich kann ihren Geist nicht finden!« Stumm wiederholte ich immer wieder den Zauber. »Was ist in der Feste geschehen?«, fragte der jüngere Mann. »Ist Aritane tot?« »Bryn!«, tadelte der alte Cullam ihn scharf. Ich wappnete mich, als der dritte Sheltya seine Kapuze zurückschlug. Ich sah einen kahlköpfigen Mann in mittleren Jahren, mit einem Grübchen im Kinn und struppigen Augenbrauen, die ihn finster blicken ließen. Seine Lider waren schwarz geschminkt. Ängstlich fragte ich mich, was das zu bedeuten hatte. »Ich hätte jede Rechtfertigung, deinen Geist zu durchsuchen, um die Antworten zu bekommen, die ich haben will«, sagte er. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, alles an Widerspenstigkeit aufzubieten, was ich konnte. »Aber das würde bedeuten, meiner Berufung abzuschwören 621
und würde mich nicht besser machen als die Alyatimm«, fuhr er fort. »Schließlich wurde unser Volk deshalb ins Eis getrieben, um es vor den Abscheulichkeiten der Alyatimm zu retten!« Das sagte mir nichts, aber ich nickte bereitwillig. Solange er redete, konnte er nicht in meinen Geist eindringen. Ich versuchte, ein wenig Wohlwollen zu gewinnen. »Ich kam her, um die Menschen der Berge vor den Elietimm zu warnen«, sagte ich hoffnungsvoll. »Wir haben ihre üblen Hexereien gesehen und ...« »Du bist aus eigensüchtigen Motiven hier.« Der Sheltya schnitt mir verächtlich das Wort ab. »Ich kann es lesen! Schütze keine ehrenvollen Absichten vor!« Ich schaute ihn beleidigt an. Wenn ich für mich eine gewinnträchtige Rune werfe, schließt das ja nicht aus, jemand anderem etwas Gutes tun zu wollen. »Wir kamen her, um euch zu warnen«, wiederholte ich hartnäckig, »und um Hilfe zu suchen, wie wir die wahre Magie im Tiefland wieder beleben können. Wir wollten zusammenarbeiten und von euch lernen, unsere Kräfte gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschließen.« »Aber ihr habt einen Magier mitgebracht«, sagte der alte Cullam bedauernd. »Es kann keine Gemeinsamkeit geben zwischen denen, die die vier Reiche des Geistes beherrschen und jenen, die die vier Reiche der Substanz nach ihrem Gutdünken beeinflussen.« Ich merkte mir diese unverständliche Erklärung für spätere Untersuchung und sagte mir, dass Sorgrad und ‘Gren auf sich selbst aufpassen mussten. Ich wollte jetzt nichts weiter als verschwinden, also machte ich vor Schwarzauge einen so anmutigen Knicks, wie die zerfetzten Lumpen meiner Röcke es erlaub622
ten. »Wenn ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich möchte gern von der Schlacht fort.« »Du wirst gehen, wenn ich dir die Erlaubnis gebe«, erklärte der Sheltya ruhig. Bryn lächelte schadenfroh, und ich machte den Fehler, ihn anzuschauen. »Was habt ihr mit Eresken gemacht?«, fragte er. »Du warst vor dem Zimmer, in dem er tot lag – glaub ja nicht, ich würde mich nicht an dich erinnern. Benutzt ihr eure Zauberei für Mord?« »Der Elietimm-Hexer? Der in eure Berge und eure Räte gekommen ist und eine halbe Armee aufgestellt hat, um das Tiefland anzugreifen? Der hieß Eresken?« Ich hielt meinen Blick auf Schwarzauge gerichtet. »Es war keine Zauberei im Spiel, als er getötet wurde, daraufgebe ich euch mein Wort.« »Wo ist Aritane?« Bryns Stimme war belegt vor innerem Aufruhr, Angst und Zorn. »Weißt du das nicht?« Ich spielte die Überraschte. »Warst du nicht einer von denen, der ... wie hieß er noch ... Eresken half?« Schwarzauge nagelte mich wieder mit seinem Blick fest. »Wer von den Alyatimm was getan hat, geht dich nichts an, ebensowenig wie den Scharlatan Planir und seine Schar von gierigen Verschwörern. Wir werden die Wahrheit herausfinden und die Schuldigen bestrafen. Niemand hat Macht über die Anyatimm außer den Sheltya!« »Niemand will eure Macht in Frage stellen. Es ist die Bedrohung durch die Elietimm, die uns Sorgen bereitet. Seht euch doch an, wie viel Ärger nur ein einziger von ihnen heraufbeschworen hat!« Ich schickte ein kurzes Gebet an Saedrin, dass es wirklich nur einer von diesen Bastarden gewesen war. »Die Elietimm stellen eine Bedrohung für alle dar, ob Hadrumal, 623
Tormalin oder die Länder von Solura und darüber hinaus. Wir alle sollten zusammenarbeiten, um die Bedrohung abzuwehren. Da anscheinend nur ihr allein die wahre Magie am Leben erhalten habt, könntet ihr eine große Hilfe sein.« Und wenn ich diese Hilfe liefern konnte, dann konnte ich meinen eigenen Preis nennen, sagte eine optimistische Stimme in einem verborgenen Winkel meines Verstandes. Schwarzauge schaute mich mit einer Verachtung an, die eine rebellische Flamme des Trotzes in mir entzündete und meine papierdünne Vortäuschung von Demut versengte. Dieser Zauberer hatte kein Recht, mich zu verhöhnen, wenn er nicht einmal seine eigenen Leute unter Kontrolle hatte! Cullam murmelte leise etwas vor sich hin und runzelte für einen Moment die Stirn. »Die Tiefländer sind bei den Mauern der Feste angelangt«, sagte er traurig. Geschieht den Teyvakin recht, dachte ich mitleidlos. Schwarzauge verschränkte die Arme; seine Augen blickten stahlhart im Sternenlicht. »Wir werden die Tiefländer von unserem Land vertreiben. Wir werden diejenigen finden, die mit den Alyatimm gemeinsame Sache gemacht haben und sie so bestrafen, wie wir es für angemessen halten. Sollten die Alyatimm erneut versuchen, unser Volk zu unterwerfen, werden sie feststellen, dass wir bereit sind, uns zu verteidigen.« In seiner Stimme lag so viel Gewissheit, dass ich keine Wetten gegen seine Aussage abgeschlossen hätte. »Sag Planir, dass wir seine Magie in den Bergen nicht wollen. Wir brauchen sie nicht und werden sie nicht hinnehmen. Wir wollen weder tormalinische Waffen noch Truppen noch irgendein Eindringen der Tiefländer unter der Vorspiegelung, uns Hilfe schicken zu wollen. Wir passen auf uns selbst auf, wie 624
wir es schon immer getan haben.« Ich machte einen weiteren raschen Knicks. »Gut. Ich werde eure Botschaft sofort überbringen. Je eher Planir davon erfährt, umso besser.« Während ich sprach, blickte ich mich um, ob ich eine Spur von der Furt erkennen konnte. Als ich wieder nach vorn schaute, fuhr ich zusammen wie ein aufgeschrecktes Kaninchen. Die Sheltya waren verschwunden, alle drei, verweht wie Rauch in einem Sturmwind. »Drianon bewahre mich vor Magie in allen Erscheinungsformen«, murmelte ich verärgert. Da keiner der Gefährten auf der Brücke in meine Richtung schaute oder sonst ein Interesse an mir zeigte, stieg ich zum Eingang der Mine hinauf. Die Öffnung war mit Steinen und Geröll versperrt; also war entweder die Decke eingestürzt, oder Usara hatte das bewerkstelligt. Zweifelnd berührte ich mit dem Finger einen Stein, doch er war fest, kalt und hart. Also keine Illusion. Ich hob meine Brechstange, ließ sie jedoch wieder sinken. Es gab keine Möglichkeit, das Geröll hier allein wegzuschaffen, ohne neugierige Soldaten anzulocken. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mir ihre Hilfe anbieten würden, selbst wenn ich ihnen erzählte, dass eine bewusstlose Jungfrau dahinter läge, nur mit einem hochgerutschten Hemdchen bekleidet. Mit einem Seufzer schwang ich mir die Brechstange auf die Schulter und wandte mich zum Fluss. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass Usara Sorgrad und ‘Gren aus ihrer misslichen Lage befreite. Tat er es nicht, würde ich ihn mit der Eisenstange dazu überreden. Ich kniete mich hin, um eine Hand voll Wasser aus dem Fluss zu schöpfen. Jetzt, da ich mir keine Sorgen mehr machen musste, dass die Sheltya mich töteten oder gefangen nahmen, machten sich andere Dinge bemerkbar: Ich fror, war 625
müde, hatte Hunger und so viele Schürfwunden und Prellungen, um einen Heiler tagelang zu beschäftigen. Ich kratzte mich wieder am Kopf. Es hätte mich nicht gewundert, hätte ich mir auch noch Läuse eingefangen. Endlich fand ich die Überbleibsel eines Pfahles, der die Furt kennzeichnete. Der Wasserstand war niedrig, sodass die Durchquerung kein Problem darstellte; trotzdem klebten mir die nassen Röcke an den Beinen, und Wasser lief mir in die Stiefel. Ich brach mir die Fingernägel an den steifen Schnürsenkeln ab, als die Welt um mich herum plötzlich in einem Schleier aus blauen und diamantenen Funken wie verrückt zu wirbeln begann. Das Gefühl war Schwindel erregend, und ich kniff die Augen zusammen und betete, dass mir nicht übel wurde. Ich biss die Zähne zusammen, bis das Gefühl verebbte. »So, nun bist du in Sicherheit, wie anderen auch«, sagte Usara fröhlich. Ich schlang die Arme um den Oberkörper und zählte bis fünf, ehe ich misstrauisch die Augen aufschlug. Ich sah die düstere Mulde, in der wir den Zauberer und Beras Männer zurückgelassen hatten. So weit es mich anging, waren wir noch weit davon entfernt, in Sicherheit zu sein, doch Sorgrad und ‘Gren waren da. »Also hast du die beiden zuerst herausgeholt«, sagte ich. »Wie du siehst.« Usara lächelte. Ich zupfte an dem nassen Stoff, der an meinen Beinen klebte. »Hättest du mich nicht holen können, ehe ich durch den Fluss gewatet bin? Wo ist meine Tasche? Ich will trockene Wäsche.« »Wir wollten sichergehen, dass die Sheltya dich tatsächlich verlassen hatten«, erklärte Usara. »Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet. Ich hätte es riskiert, wenn dir einer zu nahe ge626
kommen wäre«, versicherte er. Jetzt, da sein Lächeln verschwunden war, konnte ich die Spuren der Anstrengungen sehen, die sich in Gestalt tiefer Falten zu beiden Seiten seines Mundes eingegraben hatten. »Sie wacht auf«, sagte ‘Gren plötzlich. Ich sah im grauen Licht, wie Aritane schwach mit einer Hand winkte und stellte mit Erstaunen fest, dass es das erste Morgengrauen war. »Die Sheltya haben sie gesucht.« Die Erkenntnis ließ meine Stimme hohl klingen. »Wenn sie ihre Sinne beisammen hat, werden sie sie finden.« »Was machen wir jetzt?«, fragte einer der Schützen aus dem Waldvolk. Er hielt einen Pfeil so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Der Gedanke, dass dieser Sheltya-Bastard mit den schwarzen Augen aus den Schatten treten könnte, ließ mich heftiger zittern als die Kälte. »Wir warten ab, wie sie sich aufführt. Falls nötig, töten wir sie.« Ich kniete neben Aritane nieder. »Denk nicht mal an Hexerei. Versuch es, und wir töten dich, verstanden?« Ich brauchte nicht so zu tun, als wäre es mir ernst; ich meinte jedes Wort, wie ich es sagte, und packte Aritane an der Kehle, um es zu beweisen. Sorgrad legte eine Dolchklinge über Aritanes Handfläche und drückte die Schneide in den weichen Winkel zwischen Finger und Daumen. »Als Sheltya, die ihre Gelübde gebrochen hat, ist dein Leben verwirkt.« »Nicke mit dem Kopf, wenn du mich hören kannst«, befahl ich. Nach einem Augenblick gehorchte sie. »Gut. Ich habe mit Bryn und Cullam gesprochen. Sie haben 627
mich einem anderen Sheltya vorgestellt ... einen mit schwarz geschminkten Lidern.« Aritane versteifte sich in unwillkürlicher Panik und schnitt sich beinahe die Finger an Sorgrads Messer. »Also wissen deine Oberen genau, was du getan hast«, sagte Sorgrad betrübt. »Du hast die, die du zu beschützen gelobt hast, in einen sinnlosen Krieg getrieben.« »Die Elietimm mögen das Bergvolk nicht«, sagte ich. »Ihr ganzes Tun zielt darauf, so viel Unruhe zu stiften, dass die tormalinischen Truppen abgezogen werden, die sich einem Einmarsch in Dalasor entgegenstellen würden. Das Gleiche haben sie im vergangenen Jahr getan und versucht, einen Krieg unter den Aldabreshi weit im Süden anzuzetteln und Familie gegen Familie aufzustacheln. Die Frau, die man dazu brachte, ihnen zu helfen, wurde in den Tod getrieben«, sagte ich langsam. »Was sollen wir mit dir machen?« »Mir würden da schon ein paar Dinge einfallen«, erbot sich ‘Gren, und Aritane zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen. »Eine Frau, die ihre Sippe an einen Erzfeind verrät, verdient einen langsamen, schmerzhaften Tod.« »Werden die Sheltya sie einen solchen Tod sterben lassen?«, fragte ich unschuldig. »Ich glaube schon«, sagte Sorgrad vergnügt. »In Anbetracht der Mühe, die sie haben werden, all dieses Durcheinander wieder zu ordnen, werden sie an sämtlichen Rädelsführern Exempel statuieren. Wir hätten dir eine größere Gnade erwiesen, hätten wir dich gleich getötet.« Ich schaute Aritane ins Gesicht. »Hm, was sollen wir nun dir anfangen? Kannst du uns irgendetwas bieten? Eine Fähigkeit oder ein Wissen, dass es sich für uns lohnt, dich am Leben zu 628
lassen?« Ich freute mich, als ich sah, wie Aritanes Hände zitterten. »Wir haben Zauberer, die die Elietimm besiegen können«, sagte Sorgrad gleichgültig. »Aber wir würden gern mehr über Zauberkunst lernen – Äthermagie nennt ihr es wohl«, warf Usara ein, der endlich begriffen hatte, was wir spielten. »Schließlich hat uns das überhaupt erst in die Berge geführt.« Aritanes Kiefer mahlten hilflos unter den Fesseln, die feucht waren vor thassinfleckigem Speichel. »Du hast die Wahl, Frau«, sagte ich. »Töten wir dich? Überlassen wir dich den Sheltya, damit sie deine Bestrafung übernehmen? Oder bringen wir dich irgendwohin, wo kein Sheltya dich jemals finden wird?« »Alle Macht von Hadrumal wird dich beschützen, wenn du uns an deinem Wissen teilhaben lässt und uns in die Lage versetzt, die Elietimm zu besiegen«, erklärte Usara ihr ernst. »Sie hätten dein Volk beinahe in einen Krieg geführt, der zu seiner Vernichtung hätte führen können.« »Entweder hungern oder essen oder Korn säen, Mädchen«, sagte ‘Gren mit fröhlicher Drohung. Aritane war steif und angespannt unter den Verbänden und dem fadenscheinigen Hemd. Ein Vogel pfiff einen jauchzenden Gruß an die Sonne, und der erste zarte Hauch von Rosa wärmte den Himmel. Das dauerte zu lang. Selbst wenn das Thassin noch immer Aritanes Verstand umnebelte, erwarteten wir zu viel von ihr. Ich schauderte in der kühlen Brise und legte eine Hand auf die Brust der Hexe. »Töten wir sie. Einmal abtrünnig geworden, kann man ihr ohnehin nicht mehr trauen.« 629
Aritane wand sich vergebens unter dem Druck meiner Hand und umklammerte die Klinge von Sorgrads Dolch. Blut quoll zwischen ihren langen weißen Fingern hervor. Sorgrad hielt ihre Hand an der scharfen Schneide fest. »Würdest du einen Bluteid schwören?« Der Kopf mit den verbundenen Augen nickte. Sorgrad zwinkerte mir zu und ließ Aritanes Hand los. Dann nahm er den Dolch und fuhr mit der Spitze leicht über seine eigene Handfläche, gerade so tief, dass eine feine Linie sichtbar wurde, aus der ein Blutstropfen quollen. Er umklammerte Aritanes Hand und nickte mir zu. »Mach ihr den Mund frei.« Ich zögerte, doch ‘Gren kniete nieder und durchschnitt den Knebel mit seinem Messer. »Wenn sie die Worte sagt, ist sie ihr Leben lang daran gebunden. Wenn sie ihren Eid bricht, wird ‘Gren sie töten.« »Sikkar als Misaen, terest Meawelin verath, docae en rocar alsoken ...« Nur mit Mühe wiederholte Aritane die eindringlichen Worte Sorgrads, denn ihr Verstand war noch zu sehr vom Tahn umnebelt, ihre Zunge taub und die Lippen von dem Thassin so braun gefleckt wie von getrocknetem Blut. »Wird sie das binden? Wird sie sich daran erinnern?«, wollte ich von Sorgrad wissen, als er geendet hatte. Er schaute mich an. Seine Augen funkelten geheimnisvoll im schwachen Licht. »Es ist ein Eid, der alle Eide bricht. Wenn du diesen Eid leistest, während du bei deiner Mannbarkeitsfeier betrunken hinfällst, wirst du dich noch auf deinem Totenbett daran erinnern. Aritane hat alles verraten, und ihr bleibt nichts als der Tod unter den Händen der Sheltya, wenn diese sie finden.« 630
Ich zuckte die Achseln und wandte mich an Usara, der mit großen Augen zuschaute. Beras Männer taten es ihm gleich. »Was ist der beste Weg hier raus? Wir dürfen nicht riskieren, jemandem zu begegnen, der sich der Belagerung anschließen will und uns fälschlicherweise für eine schwachköpfige Räuberbande hält.« »Und wir müssen Aritane von hier fortbringen, ehe Sheltya nach ihr suchen«, sagte Sorgrad. Usara lächelte. »Ich werde mit Planir Verbindung aufnehmen und ihn bitten, einen Nexus herzustellen. Er wird uns nach Hadrumal bringen, selbst wenn das bedeutet, dass Planir den halben Rat aus dem Bett werfen muss.«
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10.
Als Mädchen hörte ich in Toremal nur selten Lieder des Waldes. Heutzutage summen meine Enkelkinder sie vor sich hin, während sie ihren täglichen Vergnügungen nachgehen. Dies hier ist eins meiner Lieblingslieder: Drei Reisende suchten Schutz vor plötzlichem Unwetter Ein Sänger, eine Jungfrau und ein gebrechlicher Alter. Der Sänger zu der Jungfrau sagt: »Ich sah den großen Jahresbaum, gekleidet in grünes Blattwerk« Der Graubart sagt weise: »Ich sah ihn im Winter, dunkel und nackt und kalt.« Und die Jungfrau spricht: »Ich fand einst seine Früchte, die zu Boden gefallen waren.« Regen fiel von Tag zu Tag, und die Bäume sagten zueinander: »Ja, weißt du‘s denn nicht? Um zu leben, musst du bestehen und dich doch verändern und wachsen. Der Säugling liegt weinend, ist hilflos, zart und klein, der Knabe wächst heran zum Mann, 632
Das Mädchen wird Frau und Mutter. Auch alt geworden sehen beide mit denselben Augen.«
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Die Kammer Planirs des Schwarzen, Erzmagier von Hadrumal 23. Nachsommer
»Sobald ich die Angelegenheit mit den Sheltya-Oberen geklärt hatte, erkannte ich, dass es weit besser war, wenn sie sich selbst um ihre Verbrecher kümmerten«, sagte ich. »Angesichts der Spannung zwischen Bergland und Tiefland, würde jede Forderung an uns, Gerechtigkeit zu üben, nur das Risiko mit sich bringen, die Situation zu verschlimmern. Wir kamen überein, dass sie ihre Schuldigen bestrafen und dafür sorgen würden, dass der Plan der Elietimm überall in den Bergen verbreitet würde. Wir werden keine Wiederholung dieser Geschichte erleben.« Ich nahm einen Schluck vom ausgezeichneten Wein des Erzmagiers. Planir musterte mich über den Rand seines Kelches hinweg. Ich war mir zwar nicht sicher, hatte aber den Eindruck, dass die feinen grauen Haarsträhnen an seinen Schläfen noch nicht da gewesen waren, als wir uns das letzte Mal begegnet waren. Doch seine charmante Art hatte sich nicht verändert; ebensowenig seine unterschwellige Anziehungskraft, die ihn einhüllte wie ein hinterhältiger Duft und die ein Mädchen dazu verleiten konnte, ihm alles Mögliche anzuvertrauen. Ich lächelte wieder und dachte an Ryshads offene Ehrlichkeit, an seine starken Arme und daran, wie sein Haar sich weich hinter den Ohren lockte. »Ich danke dir«, sagte Planir und neigte den Kopf. »Der Dank gebührt ebenso ‘Gren, Sorgrad, dem Waldvolk 634
und nicht zuletzt Usara.« Durch die. offenen Fenster fiel das Licht der Morgensonne. »Ich hoffe, du wirst ihn belohnen.« »Usara wird alle Früchte seiner Erfahrungen ernten, das versichere ich dir«, sagte Planir ruhig. Heimliche Belustigung lauerte in seinen Augen, aber ich wollte sie gar nicht näher erkunden. Der Erzmagier konnte so viele Spiele spielen, wie er wollte, Hauptsache, ich behielt bei meinen eigenen Spielen die Nase vorn. »Also, wir haben das Bergland sicher vor dem Einfluss der Elietimm zurückgelassen«, zählte ich die Punkte an meinen Fingern ab wie ein Kaufmann, »Gilmarten ist nach Solura zurückgekehrt, um seinen Schutzherrn zu bitten, die Nachricht über ihre Bedrohung unter den dortigen Adligen zu verbreiten. Er ist zuversichtlich, dass Lord Astrad dies König Soltriss als eine Sache von höchster Dringlichkeit übermitteln wird. Das alles ist sozusagen eine Zugabe, die wir über unser ursprüngliches Ziel hinaus erlangt haben, nämlich Ätherwissen für Messire D’Olbriot aufzuspüren. Was das betrifft, haben wir die Lieder des Waldvolkes als wichtige Quelle für Zaubereien und Gesänge erkannt ...« »Sie mögen ja eine Quelle sein, doch auf dieser Seite des Meeres wird jeder Gelehrte sich noch jahrelang den Kopf darüber zerbrechen«, wandte Planir milde ein. »Deine Theorie trifft vielleicht zu, doch die Wahrheit herauszufinden, wird einer Jagd nach der Nadel im Heuhaufen gleichkommen.« Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe nach Wissen gesucht, habe aber niemals Versprechen gemacht, welche Gestalt es annehmen könnte. Jedenfalls gehe ich jede Wette ein, dass Guinalle ein paar der Rätsel für dich lüften könnte. Warum holst du sie nicht über den Winter von Kellarin hierher zurück? 635
Das wäre auch eine Art, Usara zu belohnen«, setzte ich listig hinzu. »Ja, ich glaube, er würde die Gelegenheit zu schätzen wissen, sich mit ihr über Theorien auszutauschen.« Planirs schalkhaftes Grinsen machte ihn um Jahre jünger. »Ich habe bereits mit Naldeth gesprochen und sie gebeten, darüber nachzudenken, ob sie mit dem nächsten Schiff zurückkommen will, das nach Bremilayne geht.« Also glaubte der Erzmagier, mir einen Schritt voraus zu sein. Ich ermahnte mich, diese Runen vorsichtig auszuspielen. »Dann kann Guinalle ja mit Aritane arbeiten.« Ich nickte beifällig. Besser sie als ich. Wie Sorgrad versprochen hatte, war der Schwur stark genug, um die Sheltya zu binden, selbst als die Wirkung der Gifte vorüber war; anschließend war Usaras Weitsicht in der Lage gewesen, ihr die Verheerung zu zeigen, die als Ergebnis des hoffnungslosen Krieges über ihr Volk hereinbrach – ein Krieg, in den der Hexer Eresken sie gelockt hatte. Sie hatte den geduldigen Erklärungen des Zauberers über den Verrat und die Täuschungen der Elietimm mit steinernem Gesicht gelauscht, und dieses bittere Wissen hatte sie in einen so gnadenlosen Rachefeldzug getrieben, wie ich es niemals erwartet hätte. Ich hoffte nur, die sanftmütige Guinalle würde diese unbarmherzige Entschlossenheit für Kellarin und Hadrumal in Gewinn bringende Wege lenken. Aber das war Planirs Problem, nicht meins. »Aritane muss dein Wissen über Zauberkunst inzwischen mehr als verfünffacht haben. Und ihre Lehre ist bewiesen und geprüft. Schon Entdeckung von Ätherkunde beim Waldvolk hätte ausgereicht, um unsere Reise zu einem Erfolg zu machen, doch die Erkenntnis, dass die Sheltya die Bewahrer dieses Wis636
sens sind – und dir obendrein eine von ihnen zu bringen, um dir zu helfen –, übertraf bei weitem unserer Erwartungen. Ich bin sicher, dass Messire D’Olbriot entzückt sein wird.« »Und entsprechend dankbar«, stimmte Planir ernst zu. »Und entsprechend dankbar.« Ich nickte. »Wenn man berücksichtigt, dass ich anderthalb Jahreszeiten in seinem Dienst gestanden habe, dabei mein Leben und meine geistige Gesundheit mindestens fünfmal aufs Spiel gesetzt habe und mehr erreicht habe, als selbst die größten Optimisten hätten hoffen können.« »Ich frage mich, ob Messire herausgefunden hat, wie sich die Geschichte von der Reise deines Ryshad zu den Eisinseln herumgesprochen hat«, überlegte Planir. »Hast du gehört, was diese Aritane sagte? Ihr Bruder habe die Idee, mit den Elietimm Kontakt aufzunehmen, ausgerechnet aus einer Ballade!« »Shiv hat mir erzählt, dass sie zur Sommersonnenwende überall im Alten Imperium gesungen wurde.« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich kaum möglich, solche Dinge geheim zu halten, wenn so viele Menschen damit zu tun haben. Inzwischen gibt es sicherlich etliche verschiedene Versionen. Es wird nichts bringen, wenn man versucht, sie bis zu ihrem jeweiligen Ursprung zurückzuverfolgen.« »Oh, ich glaube, wir können davon ausgehen, dass die Ballade von einem Waldsänger stammt«, sagte Planir. »Ich beschäftige mich schon eine ganze Weile damit. Einen sicheren Beweis habe ich nicht natürlich nicht gefunden ...« »Und es hat keinen Sinn, seine Zeit mit Gerüchten zu verschwenden, nicht wahr?« Ich lächelte. »Nicht, wenn man sich so viele Sorgen über Kellarin machen muss, wie man die Kolonie sichert.« »Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, das herauszufinden«, 637
sagte Planir. »Ich frage mich, was die Runen uns darüber sagen könnten. Je mehr ich darüber nachdenke, umso genauer erscheint mir deine Voraussage gewesen zu sein.« Ich achtete darauf, dass mein Blick fest und mein Gesichtsausdruck unverändert blieb. »Ja. Aber statt in kalter Asche zu stochern, solltest du lieber sehen, ob die Runen Licht auf die Zukunft werfen können. Eine Vorstellung, was in Kellarin passieren könnte, wäre sehr wertvoll.« Ich schenkte mir Wein nach. »Wir haben noch etwas von unserer Reise mitgebracht, das du noch nicht hast. Die Runen sind sehr viel mehr als nur ein Glücksspiel.« Planir zuckte die Achseln. »Ich wüsste nicht, wie das von Nutzen sein könnte. Es gibt sehr viele Variablen, wenn es darum geht, solche Dinge zu deuten, und jede Deutung ist subjektiv.« Ich zuckte die Achseln. Ob der Erzmagier die Vorhersagen des Waldvolks nutzte oder nicht, war seine Sache. Ich würde bestimmt jemanden finden, der Hinweise aus einem Wurf Runen für mich lesen konnte. Ich hatte Freunde in Kellarin, vor allem Halice, und falls die Elietimm wieder mit dem Nordwind heranstürmen würden, sollte sie gewarnt sein. Im Augenblick wollte ich verhindern, dass der Erzmagier sich seinen Verpflichtungen entzog. »Messire D’Olbriot hat offensichtlich allen Grund, uns dankbar zu sein. Du kannst dich mit ihm gern über deinen Beitrag ins Einvernehmen setzen. Ich bin sicher, ihr werdet zu einer für beide Seiten zufriedenstellenden Einigung kommen.« Planirs Miene wurde ernst, und er studierte angelegentlich den Rest seines Weines. »Im Augenblick bin ich zeitlich sehr in Anspruch genommen. Ich gebe zu, dass Hadrumal von einigen 638
zufälligen Ergebnisse deiner Taten profitiert hat, aber die Ereignisse haben den Rat und mich zugleich vor große Anforderungen gestellt. Es ist ja ganz schön, wenn du sagst, die Sheltya wollen sich selbst um ihre Schuldigen kümmern, aber es ist eine gewaltige Aufgabe, die Männer der Schlucht davon abzuhalten, in eine Jahreszeit wahllosen Mordens und Landraubs zu stolpern!« »Ja, eine weitere Schuld, die man den Elietimm anlasten muss«, pflichtete ich bedauernd bei. »Sie tragen eine schwere Verantwortung, dass sie dieses Blutvergießen angezettelt haben. Glücklicherweise waren wir zur rechten Zeit am rechten Ort, um den Widerstand der Waldleute zu stützen und zu verhindern, dass ganz Ensaimin in Flammen aufgeht.« »Darni wird angemessen honoriert«, versicherte Planir. »Oh, ich bezweifle nicht, dass du jede solche Schuld honorierst, Erzmagier.« Neugier stachelte mich an, und ich gab der Versuchung nach. »Wie genau hast du die Männer der Schlucht zurückgepfiffen?« Aufrichtige Belustigung ließ Planir breit lächeln. »In der Schlucht streiten sie sich hauptsächlich um den Bergbau, oder? Ich weiß nicht, ob dir das jemals klar geworden ist, aber so oder so arbeitet eine beträchtliche Anzahl von Zauberern dort oben, auch Alchimisten. Viele von ihnen haben Verbindungen nach Hadrumal. Sie haben hier studiert oder mit Magiern zusammengearbeitet, die die Universitäten in Vanam oder Col besuchten. Ich habe mit einigen Zauberern in Grynth Kontakt aufgenommen und sie gebeten, sich in meinem Namen mit den Führern der Gilden in Verbindung zu setzen. Nachdem ich dafür gesorgt hatte, dass ich diese Hilfe binnen weniger Tage zurückrufen konnte, hörten sie mir zu. Ich habe von ihnen verlangt, 639
sich aus Kämpfen herauszuhalten.« »Und sie waren einverstanden?«, fragte ich verwundert. »Nicht sofort.« Planirs Grinsen wurde wölfisch. »Erst als ich ihnen klargemacht hatte, dass es ihnen wenig nützt, sich Land oder Minen anzueignen, wenn sie damit einen Erzmagier verärgern, der mit einem Fingerschnippen dafür sorgen kann, dass jeder Eimer Erz wertlos wird. Mein Element ist schließlich die Erde, und da ich im Kohlengebiet von Gidesta geboren und aufgewachsen bin, weiß ich wahrscheinlich mehr über den Bergbau als jeder Gildenmeister.« Ich musste lachen. Planirs Lächeln jedoch schwand, als er fortfuhr: »Doch Angst und Unwissenheit prägten noch immer die Vorstellungen der Menschen von Zauberei, und solche Drohungen auszustoßen, könnte alte Vorurteile wieder aufleben lassen ...« »Vergiss nicht die Kehrseite dieser Medaille«, sagte ich. »Es war eine Gelegenheit, die führenden Mächte Ensaimins an den Wert der Magie zu erinnern, worüber der Rat schon länger nachsinnt. Ich bin sicher, dein Kollege Kalion wird begeistert sein.« Planir grinste. »Ganz so würde ich es nicht ausdrücken.« Er stand auf und ging zu der prachtvollen Anrichte, die an der Wand stand. Würde Messire mir die Hälfte dessen zahlen, was dieses Stück an einem guten Tag in einem Auktionshaus in Col einbringen konnte, hätte ich meinen Frühling und Sommer Gewinn bringend verbracht. Der Erzmagier nahm zwei Flaschen von der reichen Auswahl, die in geschnitzten Halterungen standen. »Du wolltest mit Shiv zu Mittag essen, hast du gesagt, nicht wahr? Dann nimm dies mit – und einen Gruß von mir.« Ich stand auf, um das Geschenk entgegenzunehmen. »Das ist 640
sehr nett von dir.« Wenn Planir glaubte, er könnte mich mit ein paar Flaschen abspeisen, selbst wenn es seine besten Jahrgänge waren, hatte er sich geschnitten. »Könntest du heute Abend mit ... wie heißt er noch? ... Casuel Kontakt aufnehmen? Du und Messire, ihr solltet euch rasch über eine Summe einigen können. Ich frage morgen noch mal nach deinem Beitrag.« »Übermorgen, ja?«, schlug Planir vor. »Sei versichert, Livak, ich werde nicht kleinlich sein. Ich weiß, was wir dir und deinen Freunden schulden.« Das war ein wenig zweideutig, also erwiderte ich ebenso verschwommen: »Dir zu helfen, kam der Erfahrung eines ganzen Lebens gleich, Erzmagier.« Ein Gedanke ließ mich auf der Schwelle innehalten. »Es hat mir sehr Leid getan, als ich von Otrick hörte.« Diesmal brauchte ich meine Ernsthaftigkeit nicht vorzutäuschen. »Ich kannte ihn zwar nicht gut, aber was ich von dem alten Piraten gesehen habe, gefiel mir. Ich hatte gehofft, Aritane könnte ihn wieder zu sich bringen.« »Wenigstens können wir uns jetzt richtig von ihm verabschieden – von ihm und den anderen, denen es so ergeht.« Planir hustete. »Wollen wir hoffen, dass es die letzten Todesfälle sind, die wir zählen müssen. So wie ich meine Schulden zahle, Livak, behalte ich, was mir geschuldet wird. Und die Elietimm werden für alles bezahlen.« Er lächelte mit der Wärme einer Frostbeule. Ich verzog flüchtig die Lippen; dann verließ ich das Zimmer und schloss die Tür hinter mir, die Flaschen sicher in der Armbeuge.
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Othilsoke 23. Nachsommer
Keisyl nahm einen großen Schluck vom kalten Wasser und schloss die Augen, um den Kuss des Windes auf der Stirn zu genießen. Wenn er nur für immer hier bleiben könnte und sich nie wieder mit seinen Problemen herumschlagen müsste! »Keisyl? Junge?« Ein leichter Hauch trug den Ruf über den Rand der Mulde. Keisyl ging zum Pfad und sah dort zwei Gestalten, die sich mühsam vom tieferen Gelände des Tales hinaufgearbeitet hatten, die Gesichter zum Schutz vor dem Staub vermummt, die Kleider schweißgetränkt. Er ging ihnen entgegen, die Lederflasche in der einen, die Hornbecher in der anderen Hand. »Mutter – Fithian.« Er reichte jedem einen Becher und füllte die ihm hingestreckten Gefäße ohne ein Wort nach. »Worum geht es, Keis?«, fragte Ismenia, als sie wieder zu Atem gekommen war. »Fith?« Keisyl wandte sich an seinen Onkel. Der alte Mann schüttelte den silberhaarigen Kopf. »Nicht meine Sache, das zu sagen, Junge.« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, dessen verschossenes Gelb kürzlich an der Manschette mit einem leuchtenden Faden geflickt worden war. »Das geht nur euch beide etwas an. Ich gehe rauf und sehe nach den Gruben.« Ismenia sah ihm mit einer Mischung aus Resignation, Verärgerung und Zuneigung hinterdrein. »Es juckt ihn, wieder in den Berg zu gehen, den alten Narren. Alles andere ist für ihn Kna642
benarbeit. Also schön, Keisyl, was ist so wichtig, dass ich die Mädchen allein lassen und den ganzen Weg hier heraufkommen muss? Ich bin nicht mehr die Jüngste, weißt du.« Keisyl lächelte. »Komm und sieh es dir an.« Er ging in die Senke, um die längst erkaltete Asche eines Feuers herum, und schritt zum Werkzeugschuppen. Die Tür wurde von einem schlichten Holzkeil zugehalten, den Keisyl mit der Stiefelspitze wegtrat. Er griff in die Dunkelheit und zerrte eine zusammengekauerte Gestalt ins Sonnenlicht. Ismenia schlug die Hände vor den Mund, um einen Schrei zu ersticken. »Jeirran?« Keisyl blickte auf die nackte Gestalt, die auf dem Boden hockte. Haar und Bart waren schmutzig und verfilzt, dort, wo sie nicht vom Feuer versengt waren; der Körper war dreckverschmiert, die Füße aufgeschürft und wund, die Hände blutig von aufgerissenen Blasen. Ein Finger war ohne Nagel und zu einer eiternden Masse geschwollen. Der Klang der Stimmen ließ den Unglücklichen den Kopf heben. Sein Gesicht war ausdruckslos, der Mund stand offen, und Speichel glitzerte auf seinen aufgesprungenen und verkrusteten Lippen. Die Augen waren blau wie eh und je, aber so geistlos wie die eines Welpen, der zum ersten Mal in die Welt blickt. »Ich dachte, er wäre tot«, flüsterte Ismenia. »Ich dachte, Maewelin hätte gefordert, was ihr zusteht, möge sein Herz verrotten!« »Sieht so aus, als hätte Misaen ihn schließlich gewollt.« Keisyl kaute am Daumennagel. »Was machen wir jetzt mit ihm?« »Wo hast du ihn gefunden?« Ismenia schüttelte verwundert den Kopf. 643
»Er kroch durch die Stollen.« Keisyl konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Ich hielt ihn für eine Art gwelgar, der unartige Kinder holen kommt.« Er lachte humorlos, doch das unglückliche Wesen schaute zu ihm auf und ahmte ihn nach – ein Laut, der heiser und schrecklich klang. Keisyl hob eine Hand, konnte aber nicht zuschlagen. Er wandte sich ab. Trotz der Sonnenhitze zitterte er. Ismenia blickte auf die leere Hülle eines Menschen herunter, der ins Nichts starrte. »Was sollen wir mit ihm machen?« Keisyl stieß einen widerwilligen Seufzer aus. »Ich glaube, wir können ihn eine Weile hier oben lassen, ihn säubern und aufpäppeln. Wenn es nur um mich ginge, so wie Misaen mich geschaffen hat, würde ich nichts tun, Mutter, ich würde ihn verjagen und den Tag segnen, doch Eirys ...« »Glaubst du, Eirys braucht das da?«, erwiderte Ismenia. »Glaubst du, dass Eirys dieses Wrack von einem Mann tatsächlich braucht, nachdem sie vor Angst fast den Verstand verlor, ehe die Sheltya sie für unschuldig erklärten? Dass sie diesen Mann braucht, der ihr alle Hoffnung nahm und ihr Leben zerstörte, während sie sich auf ihr Kind freute? Eirys darf niemals davon erfahren. Du darfst nie ein Wort darüber verlieren, nicht einmal auf deinem Totenbett.« Sie verstummte zitternd, die schmalen Schultern hochgezogen. Keisyl zog seine Mutter in seine starken Arme. Ihr verblichenes Haar fiel über den ausgefransten Kragen seines Hemdes. Allmählich ließ ihr Zittern nach. »Also, was sollen wir tun?« Ismenia machte sich sanft von Keisyl frei, tätschelte ihm die Wange und strich sein Hemd glatt. »Er schuldet der Soke ein Leben, oder?« Keisyl holte tief Luft, ehe er antwortete: »Da ist Eirys’ Kind 644
...« Ismenia schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dasselbe. Dieses Kind ist ihr Geschenk an das Blut, und so lange sie noch um Jeirran trauert, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jemand anderen in ihr Bett nimmt. Warum ist er nicht in der Teyvafeste gestorben?«, stieß sie plötzlich zornig hervor. »Dann hätten wir ihr den Toten zeigen können und fertig!« »Und wenn sie seine Gebeine in die Höhle hätte legen müssen, hätte der Kummer das Kind in ihrem Leib töten können.« Keisyl schüttelte den Kopf. »Nur die Hoffnung, dass er noch am Leben sein könnte, hat sie gerettet. Das hast du selbst gesagt.« »Und dann wollen wir ihr die Hoffnung nehmen? Wenn sie vor dem Wechsel der Jahreszeit das Bett hüten muss, gebe ich dem Kind nur geringe Chancen, den Winter zu überstehen.« Ismenia nahm das bestickte Tuch vom Kopf und wickelte es sich um die Hände. »Er schuldet der Soke ein Leben«, wiederholte sie leise. »Wäre er nicht gewesen, hätte ich immer noch meinen Teir, meinen kleinen Jungen.« Sie verbarg ihr Gesicht in den Wiesenblumen, die über das weiße Tuch verstreut waren. Keisyl wischte sich die eigenen, zornigen Tränen weg und griff nach den Händen seiner Mutter, doch als sie den Kopf hob, waren ihre Augen trocken, und ein entschlossener Ausdruck lag darin. »Er schuldet der Soke ein Leben, und wir werden es fordern.« »Wir haben das Recht, nicht wahr?«, fragte Keisyl vorsichtig. »Es ist barmherziger, als ihn herumirren und verhungern oder an einem Fieber zugrunde gehen zu lassen.« »Ich will nicht barmherzig sein«, sagte Ismenia bitter. »Ich will ihn pfählen und den Krähen zur Mahlzeit überlassen, möge Maewelin meine Zeugin sein! Sein Leben ist verwirkt! Besser, er 645
ist tot, als dass wir immer fürchten müssen, dass er eines Tages an der Tür kratzt wie ein Hund, der nach langem Herumirren nach Hause gefunden hat.« »Ja, er hat den Weg hierher gefunden – Misaen allein weiß, wie er es geschafft hat«, gab Keisyl mit Abscheu zu. Ismenia griff nach der sonnenverbrannten Schulter, über die das verdreckte Haar hing, zog die Hand dann aber zurück. »Ich rühre es nicht an«, murmelte sie. »Keisyl, besorg mir einen Stock und hol dir einen Hammer oder sonst etwas. Ich weiß, wohin wir gehen.« Keisyl runzelte die Stirn. »Brauchen wir Fithian?« Ismenia schüttelte den Kopf. »Unsere Entscheidung, unsere Bürde.« Es genügten wenige Stöße mit der Faust, um den Unglücklichen auf die Beine zu bringen. Er folgte der alten Frau bereitwillig, als sie voran zu den Stollen ging. Sie überquerten den Kamm und das raschelnde Gras eines geschützten Plateaus und kamen an einem Dickicht aus Sträuchern vorbei, bis sie schließlich über einen geröllübersäten Hang zu einer sumpfig-feuchten Mulde gelangten, die mit dichten grünen Grasbüscheln bewachsen war. »Die alten Wege waren beschwerlich, doch ebenso beschwerlich waren auch die Zeiten. Und wenn wir bedenken, was wir alle dieses Jahr durchgemacht haben, glaube ich, dass die alten Vorgehensweisen angebracht sind.« Ismenia blickte Keisyl scharf an. »Du weißt, was du zu tun hast?« Keisyl trat hinter die Gestalt, die aus leeren Augen vor sich hinstarrte, und wog den Felshammer in geübten Händen. Der Schlag traf hart und genau, und das bejammernswerte Wesen fiel mit dem Gesicht voran zu Boden. Ismenia setzte ihren 646
schmalen Stiefel auf seinen Nacken und drückte den Kopf ins dicke braune Wasser des Sumpfes. Keisyl wartete schweigend, bis sie ihren Fuß zurückzog und nahm dann den Hammer, um den Toten tiefer in den Sumpf zu drücken. »Es wäre sogar mein Recht gewesen, ihn zu ertränken, ohne dass er bewusstlos gewesen wäre«, sagte Ismenia leidenschaftslos. »Wenn der Sumpf ihn nimmt und bewahrt, ist es Misaens Entscheidung. Aber du kannst trotzdem nächstes Frühjahr herkommen. Sind Knochen zu sehen, kannst du sie zur Höhle in der Lidrasoke bringen. Lass ihn bei seinen Leuten ruhen und eine Warnung für alle sein, die seinem Beispiel folgen möchten.« »Komm schon, gehen wir nach Hause.« Sie klatschte kräftig in die Hände, machte kehrt und schritt so rasch aus, dass Keisyl sich beeilen musste, um den Anschluss zu halten. »Wir müssen jetzt nach vorn schauen«, fuhr sie fort. »Wir müssen für Eirys und das Kind sorgen. Maewelin hat Theilyn endlich gesegnet, also wird es keinen zufälligen Nachwuchs geben, der ihre Aussichten zunichte macht. Es gibt ein paar Burschen, die ich im Auge habe. Wenn ich ihre Mütter und Schwestern einlade, unser Kleines zu bewundern, hat Theilyn die Möglichkeit, die jungen Burschen kennen zu lernen, ohne dass jemand sich etwas dabei denkt. Vielleicht trifft sie eine vernünftige Wahl, wenn sie sich Zeit lassen kann. Eine Tochter, die sich auf den ersten Blick verliebt, überwältigt von der Ausgelassenheit der Sonnwendfeiern, genügt völlig. Und es geht nichts über ein Kind in den Armen, damit ein Mädchen sich noch mehr davon wünscht.« Sie hakte sich bei Keisyl ein und lächelte zu ihm auf. »Eines Tages wird ein hübsches Mädchen erscheinen, das bereit ist, ihre heimische Feste zu verlassen, um wieder Kinder und 647
Lachen in die unsere zu bringen – um eines Ehemannes willen, der so gut aussieht wie du.« »Eines Tages – vielleicht«, sagte Keisyl zu, doch seine Augen blickten wehmütig. »Wir müssen jetzt nach vorn schauen«, sagte Ismenia entschieden. Sie verließen den Sumpf, ohne sich noch einmal umzusehen.
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Im Wildschwein im Holunder, Hadrumal 23. Nachsommer
Ich musste mich zwei- oder dreimal in dem überfüllten Schankraum umschauen, ehe ich Pered in einer Ecke mit einem Freund sitzen und lachen sah. Ich schob mich durch eine Traube von Zauberlehrlingen und winkte ihm zu. Er stand auf und nahm mir die Weinflaschen ab, damit ich die Hände frei hatte. Ich winkte einer Kellnerin, die mir kaum einen Blick schenkte, doch als ihre Augen sich plötzlich zu einem neuerlichen und erstaunten Blick auf mich richteten, lächelte ich sie an. »Wein bitte, vom Ferl, wenn ihr habt.« Pered umarmte mich, hielt mich auf Armeslänge von sich und schüttelte den Kopf. »Du musst was mit deinen Haaren machen.« »Ist es so schlimm?«, fragte ich. »Du siehst aus wie die gestreiften Buttertoffees, die meine Schwester für ihre Kinder macht«, sagte er. »Ryshad wird es nicht gefallen.« Ich zuckte die Achseln. »Sein Bart hat mir auch nicht gefallen. Er wird es überleben.« Pered sagte grinsend: »Ich habe die Abschrift dieses Liederbuchs fertig. Erinnere mich daran, dass ich es dir gebe.« »Vielen Dank. Ob jemand sich wundert, dass Shiv so versessen darauf war, dieses Buch zu studieren?« Ich wollte nicht, dass er Aufmerksamkeit auf sich zog, vor allem nicht, wenn jemand sich daran erinnern konnte, dass der Liebhaber des Magiers einer von Hadrumals besten Schreibern war. 649
Pered schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn er sich jeden Tag mit Usara und dieser Bergfrau zurückzieht, um neue Theorien über diese Zauberkunst auszubrüten.« »Hatte er schon Gelegenheit, mit jemandem in Toremal Verbindung aufzunehmen?« Ich versuchte, meine Stimme beiläufig klingen zu lassen. »Letzte Nacht hatte er Verbindung mit Casuel. Cas war wieder kleinlich wie immer, aber er hat Shiv gesagt, dass dein Ryshad ›dem Kaiser einen wichtigen Dienst erwiesen hat, wenn auch mit unerwarteten Folgen‹. Anscheinend möchte Ryshad, dass du ein Schiff nach Toremal oder Zyoutessela nimmst, sobald du kannst. Am besten, du buchst dir eine Überfahrt und beeilst dich, deinen Liebsten von den Freuden des Reiches loszueisen.« »Sobald Planir gezahlt hat«, sagte ich und unterdrückte den Wunsch, schnurstracks zum Hafen zu laufen und auf das nächste Schiff zu steigen. »Wichtiger Dienst für den Kaiser« – das musste doch bedeuten, dass Ryshad einen ähnlichen Gewinn gemacht hatte wie ich, oder? Pered deutete mit einem Kopfnicken auf die Flaschen. »Unser geschätzter Erzmagier hält das wahrscheinlich für eine angemessene Bezahlung.« »Als Anzahlung, vielleicht. So billig lasse ich ihn nicht davonkommen.« Ich tippte mit meinem Kelch weißem Ferl gegen das grüne Glas der califerischen Jahrgangsweine. »Damit können wir das Mittagessen hinunterspülen.« Pered nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. »Sobald die anderen kommen, können wir nach Hause gehen. Shiv ist schon den ganzen Morgen geschäftig, und ich war mindestens zehnmal auf dem Markt, um Dinge zu besorgen, die er haben 650
wollte.« Ich fuhr mit dem Finger um eine Lache auf der Tischplatte. »Wie hat er die Neuigkeiten über Otrick aufgenommen?« Die frohe Laune schwand aus Pereds gutmütigem Gesicht. »Schlecht. Er hat die letzten Nächte nur an die Decke gestarrt und gemurmelt, wenn er hätte gehen dürfen, hätte er schon einen Weg gefunden, den alten Piraten zu retten.« »Ich verstehe nicht, wie er auf diesen Gedanken kommt«, murmelte ich. »Selbst Usara musste zugeben, dass es keine Hoffnung gab. Aritane sagte, sein Verstand wäre regelrecht vernichtet worden.« »Du kennst doch Zauberer«, sagte Pered und zuckte die kräftigen Schultern. »Sie denken immer, alles hängt von ihnen ab, und sie suchen nie woanders nach Antworten.« »Saedrin möge sie segnen.« Spöttisch hob ich mein Glas. »Ich lasse ihm noch ein paar Tage Zeit; dann aber frage ich ihn, wer seiner Meinung nach der neue Wolkenmeister oder die neue Wolkenmeisterin wird. Das dürfte ihn aus seiner Trübsal befreien.« Pered schaute zur Tür und winkte mit seinem Becher. Ich drehte mich um und sah Darni in die Schänke kommen, eine Frau am Arm. Ihr Gesicht war durchschnittlich, und ihr langes schwarzes Haar war auf dem Rücken geflochten. Ihre Kleider waren aus alltäglicher, honigfarbener Wolle, doch ihre Haltung war voller Anmut. »Wer ist sie?«, wollte ich wissen. »Strell, seine Frau.« Pered blickte mich erstaunt an. »Habt ihr euch noch nicht kennen gelernt?« »Ich nehme an, Darni zieht es vor, mich und meinesgleichen aus seinem häuslichen Leben fern zu halten«, lachte ich. »Oh, ich habe beim letzten Äquinoktium mit ihr getanzt«, 651
sagte Pered und tat so, als wäre er stolz darauf. »Sie sieht aus, als könnte sie gut auf sich selbst aufpassen«, stellte ich fest. »Kann sie«, versicherte Pered. »Sie ist Alchemistin. Verdirb es mit ihr, und dein Haus brennt ab.« »Wer brennt Häuser ab?«, fragte ‘Gren, der sich zu uns durchkämpfte, Sorgrad im Schlepptau. »Niemand«, sagte ich abwehrend. »Pered sagte gerade, dass wir Geld machen könnten, wenn wir auf den richtigen Kandidaten für den Wolkenmeister setzen.« »Magier wetten auf so etwas?« Sorgrad war erstaunt. Pered grinste ihn an. »Magier nicht, aber die anderen.« »Das muss das einzige Spiel in der Stadt sein, so klein wie sie ist«, bemerkte ‘Gren verdrossen. Ich schaute Sorgrad an. »Wie lange wollt ihr euch noch hier herumtreiben? Shiv hat doch gesagt, Kalion wird sich in Draximal für euch einsetzen. Hat Planir ihm das nicht aufgetragen?« Sorgrad nickte. »In Draximal ist alles geklärt. Wir nehmen in vier Tagen ein Schiff und reisen ab.« Ich hörte es mit Erleichterung. Vier Tage lang konnte auch ‘Gren sich beherrschen, ohne Unheil anzurichten. Pered sah Sorgrad erstaunt an. »Shiv sagte mir, du wärst magiegeboren. Willst du denn nicht hier bleiben und studieren?« »Warum sollte ich?«, erwiderte Sorgrad. »Magiegeboren – das ist für mich bloß eine Unannehmlichkeit. Wir reisen nach Solura.« »Solura?« Ich schürzte die Lippen. »Doch nicht zufällig Gil652
marten besuchen?« »Man weiß nie, auf wen man trifft«, gab Sorgrad mit einem Grinsen zu. Ich kannte ihn. Bis vor kurzem war Magiegeborenheit für ihn vielleicht bloß eine unwillkommene Abweichung von der Normalität gewesen, die man unterdrückte, doch nachdem Sorgrad ihre Nützlichkeit erlebt hatte, wollte er die Chance nicht verschenken, ein machtvolles Werkzeug für die Zukunft daraus zu machen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Messire hätte vielleicht sogar erlaubt, dass die Zauberer das Liederbuch behalten dürfen, doch ich wollte meine Kopie erst noch gründlich studieren, nachdem ich erlebt hatte, dass Aritanes Fähigkeiten gleichermaßen beneidenswert wie Furcht erregend waren. »Und du, ‘Gren?« Ich schaute ihn fragend an. Er zuckte die Achseln. »Einfach nur nach Lescar zurückzugehen, schien uns zu langweilig. Wir haben ohnehin den größten Teil der Jagdsaison verpasst. Ich würde gerne sehen, was sich für Ärger an der mandarkischen Grenze zusammenbraut.« »Und wenn wir schon mal dort sind, können wir dafür sorgen, dass die Anyatimm dort die Wahrheit darüber erfahren, was dieses Sommer in der Schlucht geschehen ist«, fügte Sorgrad dunkel hinzu. »Also sind wir bald alle wieder unterwegs.« Ich wollte fröhlich und zuversichtlich klingen, doch irgendwie hörten meine Worte sich Unheil verkündend an. »Sprich nur für dich selbst, Liebes«, sagte Pered mit einem Anflug von Bitterkeit. »Ich entferne mich nie weit von meinem Schreibpult, es sei denn, Shiv hat endlich die Nase voll davon, nach Planirs Pfeife zu tanzen.« »Warum versucht ihr nicht, Shiv den Auftrag zu beschaffen, 653
beim Waldvolk oder droben in Gidesta nach weiteren Magiegeborenen zu suchen?«, schlug ich vor. »Wir kommen zur Wintersonnenwende zurück«, versprach Sorgrad. »Relshaz oder Col?« Meine Laune hob sich. »Relshaz? Charoleia wird dort sein, und sie hat bestimmt Neuigkeiten von Halice.« »Und du bringst deinen Verlobten mit, damit wir ihn kennen lernen«, befahl ‘Gren. »Was hat er eigentlich den ganzen Sommer lang gemacht, während wir unseren Spaß hatten?« »Ich glaube, er hatte eine schlimmere Zeit, als du dir vorstellen kannst«, sagte Pered. »Schließlich hat er mit Casuel zusammengearbeitet.« »Und die meisten würden dem einen ehrlichen Kampf mit einer Horde heulender Bergländer vorziehen«, pflichtete ich bei. »Dann wird er bereit sein, ein Wintersonnwendfest zu feiern, an das man sich lange erinnert«, meinte Sorgrad. »Bring ihn auf jeden Fall mit.« »Willst du ihn etwa nach seinen Absichten fragen?« Das würde ich nicht zulassen, wenn ich es vermeiden konnte. »Vielleicht«, sagte Sorgrad. »Was wird er davon halten, wenn du nach langen Abenteuern zurückkommst, die Taschen voll mit dem Geld des Erzmagiers?« »Ja, da könnte ein Mann schon eifersüchtig werden«, meinte ‘Gren. »Ich weiß noch nicht, was ich ihm von unserer kleinen Expedition erzähle und was nicht«, erwiderte ich. »Du solltest ihm nur so viel erzählen, dass er sich schuldig fühlt, den Sommer in Sicherheit verbracht zu haben und um diesen Fürsten herumzuscharwenzeln«, riet Pered mit einem Anflug von Boshaftigkeit. 654
»Ryshad hat bestimmt genauso hart gearbeitet wie ich«, versicherte ich. »Er hat nur andere Dinge getan.« »Ich gebe dir einen kostenlosen Rat«, sagte ‘Gren. »Du solltest etwas mit deinen Haaren machen, ehe er dich sieht.« ENDE
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