Theoretische Physik: Mechanik - Skriptum zur Vorlesung Prof. Dr. H.-J. Kull
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Theoretische Physik: Mechanik - Skriptum zur Vorlesung Prof. Dr. H.-J. Kull
Fraunhofer Institut fu ¨r Lasertechnik und Lehr- und Forschungsgebiet Laserphysik Institut fu ¨r Theoretische Physik A Rheinisch-Westfa¨lische Technische Hochschule Aachen 5. Mai 2003
Inhaltsverzeichnis 1 Grundprinzipien der Mechanik
4
2 Eindimensionale Bewegungen
9
2.1
Elementar l¨osbare F¨alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2
Harmonischer Oszillator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.3
2.2.1
Freie unged¨ampfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.2.2
Freie ged¨ampfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2.3
Erzwungene Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Bewegungen mit ver¨anderlicher Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3 Kinematik 3.1
3.2
9
26
Inertialsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.1.1
Galileisches Relativit¨atsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.1.2
Galileitransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.1.3
Orthogonale Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Beschleunigte Bezugssysteme
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
3.2.1
Translatorisch beschleunigtes Bezugssystem . . . . . . . . . . 34
3.2.2
Rotierendes Bezugssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3.2.3
Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . 39
3.2.4
Begleitendes Dreibein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
4 Newtonsche Mechanik
43
4.1
Newtonsche Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
4.2
Erhaltungss¨atze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4.2.1
Impulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
1
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
4.3
2
4.2.2
Drehimpulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
4.2.3
Energiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Systeme von Massenpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4.3.1
Additive Bewegungsgr¨oßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
4.3.2
Impulssatz und Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
4.3.3
Drehimpulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
4.3.4
Energiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
4.3.5
Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
4.4
Zentralpotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
4.5
Kepler-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
4.6
Coulomb-Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.7
4.6.1
Ablenkwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.6.2
Wirkungsquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
4.6.3
Streuung an harten Kugeln
4.6.4
Rutherfordscher Wirkungsquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . 72
Zweik¨orperproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
5 Lagrangesche Mechanik 5.1
5.2
5.3
5.4
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
78
Systeme mit Zwangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 5.1.1
Zwangsbedingungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
5.1.2
Zwangskr¨afte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Lagrangegleichungen erster Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5.2.1
D’Alembertsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
5.2.2
Bewegungsgleichungen mit Zwangskr¨aften . . . . . . . . . . . 87
Lagrangegleichungen zweiter Art
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
5.3.1
Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
5.3.2
Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
5.3.3
Erhaltungsgr¨oßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Variationsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5.4.1
Eulersche Gleichung der Variationsrechung . . . . . . . . . . . 97
5.4.2
Hamiltonsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5.5
Symmetrien und Erhaltungsgr¨oßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.6
Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
5.7
3
5.6.1
Entwicklung um die Gleichgewichtslage . . . . . . . . . . . . . 106
5.6.2
Schwingungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Starrer K¨orper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.7.1
Freiheitsgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
5.7.2
Eulersche Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
5.7.3
Winkelgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
5.7.4
Tr¨agheitstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
5.7.5
Eulersche Kreiselgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
5.7.6
Kr¨aftefreie Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
6 Hamiltonsche Mechanik
118
6.1
Kanonische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
6.2
Modifiziertes Hamiltonsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
6.3
Poisson-Klammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6.4
Kanonische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
6.5
Hamilton-Jacobi-Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
7 Relativistische Mechanik
125
7.1
Relativit¨atsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
7.2
Lorentz-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
7.3
Der Abstand von Ereignissen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
7.3.1
Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
7.3.2
L¨angenkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
7.3.3
Zeitdilatation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
7.3.4
Eigenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
7.3.5
Gleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
7.4
Vierervektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
7.5
Relativistische Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Kapitel 1 Grundprinzipien der Mechanik Die Mechanik beruht auf Grundbegriffen wie Raum, Zeit, Masse, Kraft und Energie, die in der Geschichte der Physik immer wieder zu unterschiedlichen Interpretationen Anlaß gaben. Wir wollen hier voraussetzen, daß es hinreichend genaue Meßverfahren gibt, die die physikalischen Gr¨oßen jeweils durch eine Meßvorschrift definieren. Daher verwenden wir diese Begriffe hier ohne weitere Definition in ihrer u ¨blichen physikalischen Bedeutung. Einleitend stellen wir einige der Grundprinzipien der Mechanik zusammen. Die Newtonschen Gesetze und die sich aus ihnen ergebenden Folgerungen werden ausf¨ uhrlicher in einem sp¨ateren Kapitel behandelt. Impulssatz Eine Masse m, die sich mit der Geschwindigkeit v bewegt, besitzt den Impuls p = mv. Das wichtigste Grundgesetz der Mechanik besteht in der Aussage, daß zur ¨ zeitlichen Anderung des Impulses eine ¨außere Einwirkung in Form einer Kraft F notwendig ist. Dies wird durch den Impulssatz formuliert, dp = F. dt
(1.1)
Der Impulssatz wird auch Newtonsche Grundgleichung der Mechanik oder Newtonsche Bewegungsgleichung genannt. Massenpunkt Die Masse wird hier als punktf¨ormig angenommen. Daher kann der Ort der Masse bereits durch die Angabe der Koordinaten eines Punktes festgelegt werden. Man spricht von der Bewegung von Massenpunkten bzw. von Punktmechanik. 4
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
5
Definition 1.1 Ein K¨orper dessen gesamte Masse in einem Punkt vereinigt ist, heißt Massenpunkt. Ein Massenpunkt stellt eine Idealisierung eines ausgedehnten K¨orpers dar. Diese Idealisierung setzt voraus, daß die Eigenbewegungen des K¨orpers, d.h. Drehungen und Deformationen, f¨ ur den betrachteten Vorgang vernachl¨assigt werden k¨onnen. Neben der Punktmechanik gibt es die Mechanik des starren K¨orpers und die Kontinuumsmechanik. Diese stellen Verallgemeinerungen der Punktmechanik auf ausgedehnte starre K¨orper bzw. auf deformierbare Medien dar. Inertialsystem Der Ort eines Massenpunktes kann nur relativ zu einem Bezugssystem angegeben werden. In der Mechanik spielen bestimmte Bezugssysteme eine ausgezeichnete Rolle, die als Inertialsysteme bezeichnet werden. Definition 1.2 Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem sich ein kr¨aftefreier K¨orper geradlinig und gleichf¨ormig bewegt. Erfahrungsgem¨aß sind Bezugssysteme, die gegen¨ uber dem Fixsternhimmel ruhen oder sich gegen¨ uber dem Fixsternhimmel mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, Inertialsysteme. In einem Inertialsystem verwenden wir ein kartesisches Koordinatensystem mit den Koordinaten x, y, z und messen die Zeit t mit einer Uhr. Die Bewegung eines Massenpunktes l¨aßt sich dann durch einen zeitabh¨angigen Ortsvektor r(t) = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez
(1.2)
darstellen, wobei ex , ey , ez die Basisvektoren des Koordinatensystems bezeichnen (Abb.(1.1)).
Bewegung und Bahnkurve Vom mathematischen Standpunkt aus ist eine Bewegung eine Abbildung. Definition 1.3 Eine differenzierbare Abbildung t 7→ r(t), die jedem Zeitpunkt t einen Ortsvektor r(t) zuordnet, nennt man eine Bewegung. Das Bild der Abbildung nennt man die Bahnkurve. Die Eindeutigkeit, Stetigkeit und Differenzierbarkeit der Abbildung beinhalten physikalische Annahmen: Aus der Eindeutigkeit folgt, daß sich der Massenpunkt zu jedem Zeitpunkt t an genau einem Ort r(t) befindet. Aus der Stetigkeit folgt, daß
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6
r(t)
Abbildung 1.1: Bahnkurve eines Massenpunktes
die Bahn keine Spr¨ unge macht (natura non facit saltus). Aus der (zweimaligen) Differenzierbarkeit der Abbildung folgt, daß die Bewegung gem¨aß (1.1) aus der Impuls¨anderung bestimmt werden kann. Die erste Ableitung der Funktion r(t) nach der Zeit definiert die Geschwindigkeit, die zweite Ableitung die Beschleunigung,
dv v(t) dr
r(t+dt)
v(t+dt) r(t)
¨ Abbildung 1.2: Anderungen des Ortsvektors und des Geschwindigkeitsvektors
r(t + ) − r(t) , v(t + ) − v(t) a(t) = v˙ = lim . →0 v(t) = r˙ = lim →0
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
7
Hier und im folgenden werden Zeitableitungen oft durch einen Punkt gekennzeichnet r˙ =
dr . dt
(1.3)
Determinismus Zur Bestimmung der Bewegung aus der Grundgleichung (1.1) ist eine Kenntnis des Kraftgesetzes notwendig. Eine allgemeine Aussage hierzu macht das Newtonsche Gesetz des Determinismus: Jede Bewegung wird eindeutig durch die Vorgabe von Anfangswerten f¨ ur den Ort und die Geschwindigkeit festgelegt, d.h. r(t) = r(t; r0 , v0 , t0 ), wobei die Anfangswerte mit dem Index 0 bezeichnet werden. Differenziert man diese Funktion zweimal nach t und wertet das Ergebnis zur Zeit t0 aus, so folgt a(t0 ) = r¨(t0 ; r0 , v0 , t0 ) Da der Anfangspunkt t0 beliebig ist, muß die Beschleunigung eine Funktion von den Variablen t, r, und v darstellen. Damit besitzt die Kraft in (1.1) die allgemeine Form F = F (r, v, t).
(1.4)
Phasenraum Eine Bahnkurve durch einen Punkt r im Ortsraum ist nicht eindeutig. Man kann in jedem Punkt die Geschwindigkeit noch beliebig w¨ahlen. Insbesondere kann sich eine Bahnkurve im Ortsraum schneiden. Es ist daher oft von Vorteil die Bewegung in einem erweiterten Raum, dem Phasenraum darzustellen. Ein Punkt im Phasenraum wird durch die Komponenten des Orts- und Impulsvektors (r, p) angegeben. Die ˙ p) ˙ durch: Bewegungsgleichung definiert im Phasenraum ein Richtungsfeld (r,
r˙ =
1 p, m
p˙ = F .
(1.5)
Eine Bahnkurve im Phasenraum ist eine Integralkurve, deren Tangente in jedem Punkt durch das Richtungsfeld (1.5) bestimmt ist. Da die Richtung der Kurve in jedem Punkt eindeutig bestimmt ist, kann sich eine Phasenraumkurve nicht schneiden.
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8
Gu ¨ ltigkeitsgrenzen der Mechanik Die Bewegungsgesetze der Mechanik erlauben im Prinzip die exakte Vorhersage der zuk¨ unftigen Entwicklung des Systems. Sie sind streng deterministisch, d.h. der zuk¨ unftige Zustand wird eindeutig durch die Kenntnis des Anfangszustandes zu einem Zeitpunkt bestimmt. Die Erfolge der Newtonschen Mechanik haben anf¨anglich zu der Ansicht gef¨ uhrt, daß alle Naturvorg¨ange exakt den mechanischen Gesetzen gehorchen und durch diese erkl¨art werden k¨onnen (mechanistisches Weltbild). Heute wissen wir, daß die Mechanik ein mathematisches Modell ist, welches empirische Beobachtungen nur innerhalb bestimmter G¨ ultigkeitsgrenzen beschreiben kann. Die folgenden Beispiele sollen dies verdeutlichen: • Die Vorhersagbarkeit eines Systems wird durch die Quantentheorie (Unsch¨arferelation) prinzipiell eingeschr¨ankt. Die Gr¨oße der Quanteneffekte wird durch das Plancksche Wirkungsquantum ~ charakterisiert. Man unterscheidet daher zwischen klassischer Mechanik (~ → 0) und der Quantenmechanik (~ 6= 0). • F¨ ur Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit c m¨ ussen die Gesetze der Mechanik entsprechend der speziellen Relativit¨atstheorie modifiziert werden. Man unterscheidet hierbei die nichtrelativistische Mechanik (v c) und die relativistische Mechanik (v ≈ c). • In starken Gravitationsfeldern ist die Newtonsche Theorie der Gravitationskr¨afte nicht mehr anwendbar. Die relativistische Gravitationstheorie von Einstein f¨ uhrt Gravitationskr¨afte auf Tr¨agheitskr¨afte zur¨ uck, die infolge der Kr¨ ummung des Raumes durch Massen auftreten. • Die Theorie der nichtlinearen Dynamik zeigt, daß der Vorhersagbarkeit eines nichtlinearen Systems bereits im Rahmen der Newtonschen Mechanik prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Die L¨osungen nichtlinearer Bewegungsgleichungen h¨angen i.a. in komplizierter Weise von den Anfangsbedingungen ab und k¨onnen ¨ bei beliebig kleinen Anderungen des Anfangszustandes zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen f¨ uhren (deterministisches Chaos). Trotz diesen Einschr¨ankungen ist die klassische Mechanik auch heute noch von großer Bedeutung f¨ ur viele Gebiete der Physik, wie z.B. die Astronomie, die Erforschung des Weltraums oder die Molekulardynamik. Mit dem Einsatz moderner Computer kann das mechanische Verhalten von Vielteilchensystemen mit mehr als 104 Teilchen untersucht werden.
Kapitel 2 Eindimensionale Bewegungen Im folgenden betrachten wir eindimensionale Bewegungen x = x(t), die einer Bewegungsgleichung 2. Ordnung m¨ x = F (x, x, ˙ t) mit den Anfangsbedingungen x(0) = x0 ,
v(0) = v0
gen¨ ugen. Die wesentliche physikalische Einschr¨ankung ist hierbei, daß die xKomponente der Kraft F (x, x, ˙ t) unabh¨angig ist von den restlichen Koordinaten y, z und Geschwindigkeiten y, ˙ z˙ des Massepunktes. Die Bewegung in der x-Richtung ist dann unabh¨angig von der Bewegung in der y oder z Richtung.
2.1
Elementar l¨ osbare F¨ alle
Zeitabh¨ angige Kraft H¨angt die Kraft nur von der Zeit ab, F = F (t), so kann die Bewegungsgleichung durch Integration direkt gel¨ost werden, 1 v(t) = v0 + m
Zt
dt0 F (t0 )
0
Zt x(t) = x0 + 0
9
dt0 v(t0 )
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10
Geschwindigkeitsabh¨ angige Kraft Ist die Kraft nur von der Geschwindigkeit abh¨angig, F = F (v), so bestimmt man zun¨achst die Funktion t = t(v) durch 1 m dt(v) = = dv v˙ F (v) v Z m t = dv 0 F (v 0 )
(2.1)
v0
Die gesuchte Funktion v = v(t) ist die Umkehrfunktion von t = t(v). Die Umkehrfunktion existiert lokal in der Umgebung eines Punktes v∗ falls t0 (v∗ ) 6= 0. Dann ist dt = t0 (v∗ )dv nach dv = dt/t0 (v∗ ) aufl¨osbar. Mit v(t) erh¨alt man x(t) durch Integration Zt x(t) = x0 + dt0 v(t0 ). (2.2) 0
Ortsabh¨ angige Kraft Besondere Bedeutung haben Kr¨afte F = F (x), die nur vom Ort abh¨angen. F¨ ur diese Kr¨afte existiert ein Energieerhaltungssatz. Multipliziert man die Bewegungsgleichung mit x, ˙ so gilt m¨ xx˙ = F (x)x, ˙ x(t) Z d 1 d mx˙ 2 = dx0 F (x0 ) . dt 2 dt a
Definiert man die kinetische Energie T (v) und die potentielle Energie U (x) durch 1 T (v) = mv 2 , 2
Zx U (x) = −
dx0 F (x0 ),
U (a) = 0
(2.3)
a
mit einem beliebigen Bezugspunkt a, so folgt daraus der Energieerhaltungssatz d (T + U ) = 0, dt
T (v) + U (x) = E.
(2.4)
Die Gesamtenergie E ist eine Konstante, die bei der Bewegung, x = x(t), v = v(t) erhalten bleibt.
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11
Bewegung im Potential, Umkehrpunkte, Gleichgewichte Aus dem Energiesatzes k¨onnen wichtige Folgerungen f¨ ur die Bewegung des Massepunktes gezogen werden. Dazu verwendet man h¨aufig eine graphische Darstellung der Energie als Funktion der Koordinate x (Abb. (2.1)). Die potentielle Energie y = U (x) ist eine Funktion von x, die Gesamtenergie y = E eine vorgegebene Konstante. Die kinetische Energie am Ort x ergibt sich aus der Differenz T = E − U (x). Da die kinetische Energie nie negativ sein kann, ist die Bewegung auf Gebiete mit E − U (x) > 0 eingeschr¨ankt, d.h. auf diejenigen Gebiete in denen die Potentialkurve y = U (x) unterhalb der horizontalen Geraden y = E verl¨auft. Die Umkehrpunkte x = xu der Bewegung werden definiert durch die Nullstellen von E − U (xu ) = 0.
(2.5)
An den Umkehrpunkten gilt T = 0 und daher auch v = 0. Im Umkehrpunkt ist die Kraft i.a. ungleich Null, so daß die Bewegung nicht zur Ruhe kommt, sondern nur ihre Richtung umkehrt. Aus der Definition des Potentials folgt, daß die Kraft immer in der Richtung des abnehmenden Potentials gerichtet ist, F (x) = −
dU (x) . dx
(2.6)
Verl¨auft eine Bahn zwischen zwei Umkehrpunkten, so ist die Bewegung periodisch. Gleichgewichtspunkte x = xg , die eine m¨ogliche Ruhelage darstellen, werden definiert durch die Nullstellen der Kraft, bzw. die Extrema des Potentials,
F (xg ) = −
dU (xg ) =0. dx
(2.7)
Um die Stabilit¨at eines solchen Kr¨aftegleichgewichts zu untersuchen, entwickelt man das Potential um den Gleichgewichtspunkt bis zur zweiten Ordnung, U (x) = U (xg ) +
dU (xg ) 1 d2 U (xg ) (x − xg ) + (x − xg )2 . dx 2 dx2
Wegen der Gleichgewichtsbedingung (2.7) verschwindet die erste Ordnung, so daß die Kraft durch die zweite Ordnung bestimmt wird, F (x) = −
d2 U (xg ) (x − xg ). dx2
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12
Abh¨angig vom Vorzeichen der zweiten Ableitung des Potentials unterscheidet man stabile und instabile Gleichgewichte, d2 U (xg ) > 0, dx2 d2 U (xg ) < 0, dx2
stabil instabil
Ein stabiles Gleichgewicht entspricht also einem Potentialminimum, ein instabiles einem Potentialmaximum.
y y= U(x) E5 E4 E3 E2 E1 x
Abbildung 2.1: Bewegung im Potential U(x) bei verschiedenen Energien. E1 : Stabiles Gleichgewicht, E2 : Periodische Bewegung im linken Potentialminimum, stabiles Gleichgewicht im rechten Potentialminimum, E3 : Periodische Bewegungen in beiden Minima, E4 : Instabiles Gleichgewicht, Grenzkurve zwischen den periodischen Bewegungen unterhalb und oberhalb des Potentialmaximums, E5 : Periodische Bewegung oberhalb des Potentialmaximums.
Phasenebene Der Phasenraum einer eindimensionalen Bewegung ist die durch (x, p) aufgespannte Phasenebene. Die Kurven, die eine Bewegung in der Phasenebene durchl¨auft, werden durch den Energiesatz bestimmt, p2 + U (x) = E, 2m
p p = ± 2m(E − U (x)).
Abbildung (2.2) zeigt die der Potentialdarstellung (2.1) entsprechenden Kurven in der Phasenebene. Die Kurven werden im Uhrzeigersinn durchlaufen. Kurven zu verschiedenen Energien d¨ urfen sich nicht schneiden, da sie durch eine Anfangsbedingung (x, p) bereits eindeutig festgelegt sind. Sie bilden daher ein System ineinandergeschachtelter Ringe um die stabilen Gleichgewichtspunkte. Die Kurve durch den instabilen Gleichgewichtspunkt nennt man Separatrix, da Sie Bereiche mit qualitativ verschiedenen Kurven voneinander trennt.
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13
p
Abbildung 2.2: Bewegung in der Phasenebene. Die einzelnen Kurven entsprechen den Energien in Abbildung (2.1). Die auf der x-Achse hervorgehobenen Punkte sind die Gleichgewichtspunkte. Durch den mittleren instabilen Gleichgewichtspunkt geht die Separatrix.
x
Zeitabh¨ angigkeit der Bewegung, Periode Ausgehend vom Energiesatz erh¨alt man f¨ ur die Geschwindigkeit den Ausdruck, r dx 2 v= =± (E − U (x)). dt m Das Vorzeichen wird durch das Vorzeichen der Anfangsgeschwindigkeit und nachfolgende Vorzeichenwechsel an den Umkehrpunkten bestimmt. Damit l¨aßt sich zun¨achst die Funktion t = t(x) als Integral darstellen dt = dx
1 dx dt Zx
t(x) = x0
=
1 v(x, E)
dx0 q . ± m2 (E − U (x0 ))
(2.8)
Durch die Bildung der Umkehrfunktion erh¨alt man aus t = t(x) die gesuchte Bewegung x = x(t). Die Umkehrfunktion existiert lokal f¨ ur t0 (x) = 1/v 6= 0. Ist die Bewegung periodisch so erh¨alt man die Periode T durch eine Integration u ¨ber einen Umlauf. Sind die beiden Umkehrpunkte der Bahn x1 und x2 , dann gilt Zx2 T =
q x1
2 (E m
Zx2 = 2
+
− U)
dx q
x1
Zx1
dx
2 (E m
− U)
x2
dx q − m2 (E − U ) (2.9)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
14
Lineares Kraftgesetz Ist die Kraft linear in x und x, ˙ so sind spezielle L¨osungsmethoden f¨ ur lineare Differentialgleichungen anwendbar. Ein wichtiges Beispiel hierzu ist der harmonische Oszillator, der im folgenden Abschnitt ausf¨ uhrlich behandelt wird.
2.2
Harmonischer Oszillator
Ein harmonischer Oszillator f¨ uhrt harmonische Schwingungen aus, die durch die Kreisfunktionen Sinus und Kosinus beschriebenen werden. Physikalisch wird der harmonische Oszillator in guter N¨aherung durch eine an einer elastischen Feder aufgeh¨angte Masse realisiert. Allerdings gibt es viele weitere physikalische Anwendungen, da das Modell allgemeine Eigenschaften eines Systems in der N¨ahe eines Gleichgewichts beschreibt. In der Umgebung eines Gleichgewichtspunktes, x = 0, v = 0, kann eine allgemeine Kraft F (x, v) durch die lineare Approximation ∂F ∂F F (x, v) = F (0, 0) + x+ v (2.10) ∂x x=0,v=0 ∂v x=0,v=0 dargestellt werden. F¨ ur ein stabiles Gleichgewicht gilt ∂F ∂F F (0, 0) = 0, = −f, = −2mβ, ∂x x=0,v=0 ∂v x=0,v=0 mit positiven Konstanten f und β. Die Kraft besteht in dieser N¨aherung aus einer zur Auslenkung proportionalen R¨ uckstellkraft Fx = −f x und einer zur Geschwindigkeit proportionalen Reibungskraft Fv = −2mβv Die Bewegungsgleichung einer Masse m in der N¨ahe eines Gleichgewichtspunktes besitzt daher die allgemeine Form x¨ + 2β x˙ + ω02 x = 0,
ω0 =
p
f /m.
(2.11)
Sie wird als die Bewegungsgleichung oder Schwingungsgleichung des ged¨ampften harmonischen Oszillators bezeichnet. F¨ ur β = 0 ist der Oszillator unged¨ampft.
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2.2.1
15
Freie unged¨ ampfte Schwingungen
Das Anfangswertproblem des unged¨ampften harmonischen Oszillators lautet x¨ + ω02 x = 0,
mit
x(0) = x0 ,
v(0) = v0 .
(2.12)
An diesem Beispiel sollen zwei unterschiedliche L¨osungsmethoden veranschaulicht werden, die auf dem Energiesatz bzw. dem Exponentialansatz basieren. Energiesatz, Phasenebene und Schwingungsbewegung Im vorliegenden Fall ist die Kraft nur von x abh¨angig, so daß ein Energieerhaltungssatz existiert. Definiert man den Energienullpunkt durch U (0) = 0, so ergibt sich das Potential Zx 1 1 (2.13) U (x) = − dx(−f x) = f x2 = mω02 x2 2 2 0
und die Gesamtenergie 1 p2 + mω02 x2 . (2.14) 2m 2 F¨ ur Energien E > 0 bewegt sich der Massepunkt in einem parabelf¨ormigen Potentialtopf (Abb.2.3). F¨ ur E < 0 gibt es keine reellen L¨osungen. E=
In der Phasenebene stellen die Kurven konstanter Energie E Ellipsen dar, x2 p2 + 2 = 1, a2 b
a=
q
2E/mω02 ,
√ b=
2Em,
(2.15)
deren Halbachsen mit a und b bezeichnet wurden (Abb.2.3). Die Umkehrpunkte auf der x-Achse ergeben sich daraus zu x1,2 = ±a. Die von einer Bahnkurve in der Phasenebene eingeschlossene Fl¨ache wird durch die Energie und die Umlaufperiode T = 2π/ω0 bestimmt, E S(E) = πab = 2π = ET. (2.16) ω0 Allgemein gilt f¨ ur Bewegungen in einem eindimensionalen Potential der Zusammenhang dS(E) = T. (2.17) dE
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16
p
U
+b E
S(E)
-a
+a x
-b -a
+a x
Abbildung 2.3: Bewegung des harmonischen Oszillators im Potential und in der Phasenebene
Die Zeitabh¨angigkeit der Bewegung ergibt sich aus dem Integral Zx t=
dx v(x)
(2.18)
x0
mit
√ 2 (E − U ) = ±ω0 a2 − x2 . m Das Integral kann durch eine Substitution r
v(x) = ±
x = a cos ϕ,
v = aω0 sin ϕ.
(2.19)
(2.20)
ausgewertet werden. Der Ausdruck f¨ ur v ergibt sich aus (2.19) indem man dort x substituiert und 0 < ϕ < π f¨ ur v > 0 und −π < ϕ < 0 f¨ ur v < 0 setzt. Dies entspricht ¨ einem Ubergang zu den in Abb. 2.4 gezeigten Polarkoordinaten. Die Amplitude a und die Anfangsphase ϕ0 werden durch die Anfangsbedingungen festgelegt, s a=
v02 + x20 , ω02
tan ϕ0 =
v0 . ω0 x0
Damit ergibt die Integration Zϕ ω0 t = −
dϕ = ϕ0 − ϕ, ϕ0
(2.21)
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17
Abbildung 2.4: Polarkoordinaten a, ϕ
und somit x(t) = a cos(ω0 t − ϕ0 ).
(2.22)
Dies ist eine harmonische Schwingung mit der durch die Schwingungsgleichung vorgegebenen Frequenz ω0 . Die Amplitude a und die Phasenverschiebung δ sind gem¨aß (2.21) durch die Anfangsbedingungen bestimmt. Exponentialansatz, charakteristisches Polynom und Basissystem linear unabh¨ angiger L¨ osungen Die zweite Methode zur L¨osung der Schwingungsgleichung (2.12) beruht auf dem Exponentialansatz x(t) = A exp(λt), (2.23) mit Konstanten A und λ. Lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten, n X di x Lx = ci i = 0, dt i=0 k¨onnen durch diesen Ansatz gel¨ost werden. Die Ableitungen werden hierbei durch Potenzen von λ ersetzt. Die Differentialgleichung definiert damit ein charakteristisches Polynom P (λ), dessen Nullstellen die m¨oglichen Werte von λ bestimmen, ! n X P (λ)x = ci λi x = 0. i=0
Sind alle Nullstellen verschieden, so bestimmen diese genau ein Basissystem linear unabh¨angiger L¨osungen der Differentialgleichung. Bei mehrfachen Nullstellen muß der Ansatz erweitert werden. Im Fall der Schwingungsgleichung (2.12) folgt P (λ) = λ2 + ω02 = (λ − iω0 )(λ + iω0 )
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18
mit den beiden Nullstellen, λ1,2 = ±iω0 . Die allgemeine L¨osung ist die Linearkombination x(t) = A1 exp(iω0 t) + A2 exp(−iω0 t).
(2.24)
Die Anfangsbedingungen x 0 = A1 + A 2 , bestimmen die Konstanten A1,2 zu 1 v0 A1 = x0 + , 2 iω0
v0 = iω0 (A1 − A2 )
1 A2 = 2
v0 x0 − iω0
Wie in Abbildung (2.4) dargestellt, k¨onnen die komplexen Amplituden durch ihren Betrag und ihre Phase ausgedr¨ uckt werden v0 x0 + i = a exp(iϕ0 ). ω0 Damit folgt wiederum die L¨osung in der Form (2.22). Alternativ kann man A1,2 direkt in (2.24) einsetzen und erh¨alt dann das Ergebnis
x(t) = x0 cos(ω0 t) +
2.2.2
v0 sin(ω0 t). ω0
(2.25)
Freie ged¨ ampfte Schwingungen
Um die Wirkung der Reibungskraft in der Schwingungsgleichung (2.11) zu veranschaulichen betrachten wir zun¨achst zwei einfache Spezialf¨alle. Vernachl¨assigt man die R¨ uckstellkraft, so f¨ uhrt die Reibungskraft zu einer Abbremsung der Anfangsgeschwindigkeit v0 eines Teilchens v˙ + 2βv = 0,
v = v0 e−2βt .
(2.26)
Die Geschwindigkeit relaxiert mit der Rate 2β in den Ruhezustand. Vernachl¨assigt man andererseits die Beschleunigung, so entsteht ein Kr¨aftegleichgewicht von Reibungskraft und R¨ uckstellkraft. Dabei geht eine Anfangsauslenkung x0 in die Ruhelage zur¨ uck, 2 2β x˙ + ω02 x0 = 0, x = x0 e−(ω0 /2β)t . (2.27) Die Auslenkung relaxiert mit der Rate ω02 /(2β). Relaxiert die Geschwindigkeit schneller als die Auslenkung, β ω0 , so ergibt sich eine stark ged¨ampfte aperiodische Bewegung. Im umgekehrten Fall kehrt die Masse mit einer endlichen Geschwindigkeit in die Ruhelage zur¨ uck, was zu periodischen Schwingungen f¨ uhrt.
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19
Die allgemeine L¨osung der ged¨ampften Schwingungsgleichung (2.11) bestimmen wir wieder durch den Exponentialansatz (2.23). Das charakteristische Polynom, P (λ) = λ2 + 2βλ + ω02 besitzt die Nullstellen q γ = β 2 − ω02 .
λ1,2 = −β ± γ,
(2.28)
Die allgemeine L¨osung hat daher die Form x(t) = A1 eγt + A2 e−γt e−βt . Mit den Anfangsbedingungen x 0 = A1 + A2 v0 = (γ − β)A1 − (γ + β)A2 bestimmt man die Integrationskonstanten (γ + β)x0 + v0 = 2γA1 , (γ − β)x0 − v0 = 2γA2 ,
x0 v0 + 2βx0 + 2 2γ x0 v0 + 2βx0 A2 = − . 2 2γ A1 =
Daraus folgt die L¨osung, v0 + βx0 x(t) = x0 cosh(γt) + sinh(γt) e−βt γ
(2.29)
Nach Gleichung (2.28) kann man die folgenden drei F¨alle unterscheiden. Aperiodische Bewegung (β > ω0 ): In diesem Fall ist γ reell und beide Nullstellen sind negativ, λ1,2 < 0. Die beiden partikul¨aren L¨osungen sind exponentiell abfallend. Die allgemeine L¨osung ist nicht notwendig monoton fallend. Sie kann jedoch h¨ochstens ein Maximum besitzen. Aus der Bedingung f¨ ur einen Umkehrpunkt, v = 0, folgt e2γt = −
λ 2 A2 = r. λ 1 A1
F¨ ur r < 1 gibt es keinen, f¨ ur r ≥ 1 genau einen Umkehrpunkt.
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20
Im Grenzfall starker D¨ampfung, ω0 /β 1, l¨aßt sich die L¨osung noch weiter vereinfachen. Unter Verwendung der Potenzreihenentwicklung, √
1 1 + x = 1 + x + ··· 2
erh¨alt man q ω02 2 2 γ = β 1 − ω0 /β ≈ β 1 − 2 2β 2 ω λ1 = − 0 , λ2 = −2β. 2β Diese Relaxationsraten entsprechen den oben behandelten Grenzf¨allen (2.26) und (2.27). Da |λ1 | |λ2 | ist, handelt es sich hier um ein Beispiel einer Differentialgleichung, deren L¨osungen stark unterschiedliche Zeitskalen aufweisen. F¨ ur große Zeiten spielt nur der langsam ver¨anderliche Anteil eine Rolle. F¨ ur kleine Zeiten ben¨otigt man den schnell ver¨anderlichen Anteil, um die Anfangsbedingungen erf¨ ullen zu k¨onnen. Mit den Anfangswerten A1 = x 0 +
v0 , 2β
folgt x(t) = x0 eλ1 t +
A2 = −
v0 2β
v0 λ1 t e − eλ2 t . 2β
Bei einer Anfangsauslenkung x0 relaxiert die Amplitude auf der langsamen Zeitskala in die Ruhelage. Bei einer Anfangsgeschwindigkeit v0 relaxiert die Amplitude dagegen zuerst schnell ins Kr¨aftegleichgewicht und danach langsam in die Ruhelage (Abb. (2.5)).
x(t)
Abbildung 2.5: Auslenkung x(t) als Superposition einer schnell und langsam relaxierenden L¨osung. F¨ ur große Zeiten n¨ahert sich x(t) asymptotisch der langsam relaxierenden L¨osung. Diese L¨osung erf¨ ullt jedoch nicht die Anfangsbedingung x0 = 0. Daher ist f¨ ur kleine Zeiten auch die schnell relaxierende L¨osung erforderlich.
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21
Ged¨ ampft periodische Bewegung (ω0 > β) In diesem Fall ist γ imagin¨ar. Setzt man γ = iΩ so erh¨alt man aus (2.28) und (2.29) die L¨osung, v0 + βx0 x(t) = x0 cos(Ωt) + sin(Ωt) e−βt , Ω
q Ω = ω02 − β 2 .
(2.30)
Alternativ kann man auch die Amplitude und Phasenverschiebung der Schwingung durch 1 v0 + βx0 1 ∗ A2 = A1 = x0 + i = reiδ 2 Ω 2 mit
s r=
x20 +
1 (v0 + βx0 )2 , Ω20
tan δ =
v0 + βx0 Ωx0
definieren. Damit folgt x(t) = r cos(Ωt − δ)e−βt .
(2.31)
Es handelt sich hierbei um eine ged¨ampfte Schwingung. Ihre Schwingungsfrequenz Ω ist kleiner als die Eigenfrequenz ω0 des unged¨ampften Oszillators. Ihre Amplitude ist exponentiell abfallend.
Abbildung 2.6: Schematische Darstellung einer ged¨ampften Schwingung. Die Einh¨ ullende ±re−βt wird jeweils in den Maxima bzw. Minima der KosinusSchwingung ber¨ uhrt. Die Phasenverschiebung δ wurde Null gesetzt.
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22
Aperiodischer Grenzfall (β = ω0 ) In diesem Fall ist γ = Ω = 0 und das charakteristische Polynom besitzt die doppelte Nullstelle λ1,2 = −β. Der obige Exponentialansatz ergibt hier nur eine partikul¨are L¨osung. Die vollst¨andige L¨osung des aperiodischen Grenzfalls erh¨alt man, indem man in der L¨osung des Anfangswertproblems (2.30) den Grenz¨ ubergang Ω → 0 zu einer festen Zeit t ausf¨ uhrt. Mit sin x =1 x→0 x lim
folgt x(t) = [x0 + (v0 + βx0 )t] e−βt .
(2.32)
Die Amplitude enth¨alt hier einen linear in t anwachsenden Anteil.
2.2.3
Erzwungene Schwingungen
Wird ein harmonischer Oszillator mit einer harmonischen Kraft, F (t) = F0 cos(ωt), angetrieben, so lautet die Bewegungsgleichung, x¨ + 2β x˙ + ω02 x = a0 cos(ωt),
a0 = F0 /m.
(2.33)
Hierbei handelt es sich um eine inhomogene lineare Differentialgleichung. Ihre allgemeine L¨osung besitzt die Form, x(t) = xh (t) + xs (t), wobei xh (t) die allgemeine L¨osung der bereits behandelten homogenen Differentialgleichung (2.11) bezeichnet und xs (t) eine spezielle L¨osung der inhomogenen Differentialgleichung darstellt. Offensichtlich erf¨ ullt dieser Ansatz die Bewegungsgleichung (2.33) und besitzt genau die erforderliche Anzahl von Integrationskonstanten zur Erf¨ ullung der Anfangsbedingungen. Wegen der D¨ampfung der freien Schwingungen, d.h. aller L¨osungen der homogenen Differentialgleichung, stellt sich f¨ ur große Zeiten ein Zustand ein, der von den Anfangsbedingungen unabh¨angig ist und als erzwungene Schwingung bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um eine Schwingung mit der Frequenz der anregenden Kraft. Zun¨achst sind die Spezialf¨alle instruktiv, bei denen die Anregungsfrequenz ω sehr viel kleiner bzw. sehr viel gr¨oßer ist als die Oszillatorfrequenz ω0 . F¨ ur ω → 0 gilt n¨aherungsweise, a0 ω02 x = a0 cos(ωt), (2.34) x = 2 cos(ωt). ω0
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23
Die Auslenkung folgt der anregenden Kraft instantan ins neue Kr¨aftegleichgewicht. F¨ ur ω → ∞ gilt entsprechend x¨ = a0 cos(ωt),
x=−
a0 cos(ωt). ω2
(2.35)
Hierbei handelt es sich um die erzwungene Schwingung eines freien Teilchens. Die Auslenkung schwingt gegenphasig zur anregenden Kraft und die Amplitude nimmt wie 1/ω 2 ab. F¨ ur beliebige Anregungsfrequenzen ist es einfacher anstelle von (2.33) die Schwingungsgleichung z¨ + 2β z˙ + ω02 z = a0 eiωt , (2.36) mit einer komplexen Variable z(t) zu betrachten. F¨ ur jede komplexe L¨osung z(t) von (2.36) ist der Realteil x = <(z) eine L¨osung der urspr¨ unglichen Schwingungsgleichung (2.33). Dies beruht darauf, daß die Gleichung linear ist und nur reelle Koeffizienten besitzt. Es ist naheliegend f¨ ur die erzwungene Schwingung einen Exponentialansatz mit der Frequenz ω zu w¨ahlen, z = Beiωt . Die Schwingungsgleichung (2.36) bestimmt dann die komplexe Amplitude der erzwungenen Schwingung, a0 B= 2 . (2.37) ω0 − ω 2 + 2iβω Setzt man B = be−iδ so erh¨alt man die gesuchte reelle L¨osung in der Form x(t) = b cos(ωt − δ),
(2.38)
mit der Amplitude und Phase a0
b= p
(ω02 − ω 2 )2 + 4β 2 ω 2
,
tan δ =
2βω . − ω2
ω02
(2.39)
F¨ ur schwache D¨ampfung (β ω0 ) ist die Frequenzabh¨angigkeit der Amplitude und Phase in Abb. (2.7) dargestellt. F¨ ur kleine und große Frequenzen werden die schon diskutierten Grenzf¨alle a0 f¨ ur ω → 0 ω02 b(ω) → a0 f¨ ur ω → ∞ ω2
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24
erreicht. Dazwischen nimmt die Amplitude ein Maximum mit p p a0 ωm = Ω2 − β 2 , bm = , Ω = ω2 − β 2 2βΩ an. Es liegt etwas unterhalb der Eigenfrequenz Ω des ged¨ampften harmonischen Oszillators. Die Auslenkung folgt der anregenden Kraft um die Phase δ verschoben nach. Die Phase w¨achst mit zunehmender Frequenz monoton von 0 bis π an und erreicht bei ω = ω0 den Wert π/2.
Abbildung 2.7: Frequenzabh¨angigkeit der Amplitude und der Phase einer erzwungenen Schwingung des harmonischen Oszillators.
2.3
Bewegungen mit ver¨ anderlicher Masse
Zwei unterschiedliche Massen m1 und m2 , auf die dieselbe Kraft F einwirkt, erfahren unterschiedliche Beschleunigungen v˙ 1 und v˙ 2 aber dieselbe Impuls¨anderung p˙ = m1 v˙ 1 = m2 v˙ 2 = F. Die Impuls¨anderung, die eine Kraft hervorruft, ist unabh¨angig von den Eigenschaften des speziellen K¨orpers. Bei K¨orpern mit ver¨anderlicher Masse ist die Kraft daher als Ursache von Impuls¨anderungen aufzufassen. Nur bei konstanter Masse ist die Impuls¨anderung der Beschleunigung proportional.
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25
Massen¨ anderung ohne Ru ¨ ckstoß F¨ ur eine zeitabh¨angige Masse m(t) lautet der Impulssatz, d [m (t) v] = F, dt
mv˙ = F − mv ˙
p˙ = mv˙ + mv ˙ = F,
(2.40)
Diese Form der Bewegungsgleichung tritt bei relativistischen Teilchen auf, deren Geschwindigkeit im Bereich der Lichtgeschwindigkeit c liegt. In diesem Fall ist die Zeitabh¨angigkeit der Masse durch die Geschwindigkeit gegeben, m(t) = m0 γ,
1
γ=q
1−
, v2 c2
wobei m0 die Ruhemasse bezeichnet. Eine allgemeine Begr¨ undung der relativistischen Bewegungsgleichung wird in der relativistischen Mechanik gegeben.
Massen¨ anderung mit Ru ¨ ckstoß Die Bewegungsgleichung (2.40) ber¨ ucksichtigt noch nicht die Impuls¨anderung, die durch die zu- oder abgef¨ uhrte Masse hervorgerufen wird. Im Zeitintervall dt werde der Masse m mit der Geschwindigkeit v eine zus¨atzliche Masse dm mit der Geschwindigkeit v 0 = v +vr zugef¨ uhrt. Hierbei ist vr die Geschwindigkeit der Masse dm relativ zur Masse m. Der Gesamtimpuls der noch getrennten Massen ist mv + (dm)v 0 . Der Impuls der Gesamtmasse nach der Zeit dt ist (m + dm)(v + dv). F¨ ur die gesamte Impuls¨anderung gilt demnach dp = (m + dm)(v + dv) − [mv + (dm)v 0 ] = mdv + (dm)(v − v 0 ) = F dt. Die Bewegungsgleichung lautet in diesem Fall mv˙ = F + mv ˙ r.
(2.41)
Auf der rechten Seite steht nun die Relativgeschwindigkeit der zugef¨ uhrten Masse. Wird die Masse dm ohne Impuls¨ ubertrag zugef¨ uhrt, d.h. v 0 = 0, so gilt vr = −v und man erh¨alt wieder das Ergebnis (2.40). Ein Anwendungsbeispiel f¨ ur die Gleichung (2.41) ist die Beschleunigung einer Rakete durch den R¨ uckstoß des verbrannten Brennstoffs. Nimmt man an, daß pro Zeiteinheit eine konstante Masse µ der Antriebsgase mit einer konstanten Geschwindigkeit u austritt, so gilt entsprechend m ˙ = −µ und vr = −u. Auf die Rakete wirkt also bei abnehmender Masse eine konstante Antriebskraft mv ˙ r = µu.
Kapitel 3 Kinematik Die Kinematik beschreibt Bewegungen ohne Bezugnahme auf die wirkenden Kr¨afte. Kinematische Grundgr¨oßen sind die Geschwindigkeit und Beschleunigung. Von besonderem Interesse sind Koordinatentransformationen beim Wechsel des Bezugssystems. Man unterscheidet Koordinatentransformationen zwischen Inertialsystemen und Koordinatentransformationen von Inertialsystemen in beschleunigte Bezugssysteme. In beschleunigten Systemen treten sogenannte Scheinkr¨afte auf, deren Ursache in der beschleunigten Bewegung des Bezugssystems liegt.
3.1
Inertialsysteme
Inertialsysteme sind Bezugssysteme, in denen sich ein kr¨aftefreier K¨orper geradlinig und gleichf¨ormig bewegt. Die besondere Bedeutung der Inertialsysteme beruht darauf, daß es diejenigen Bezugssysteme sind, in denen die Newtonsche Bewegungsgleichung gilt.
3.1.1
Galileisches Relativit¨ atsprinzip
Es gibt viele verschiedene Inertialsysteme. Das Galileische Relativit¨atsprinzip besagt allgemein:
Alle Inertialsysteme sind gleichberechtigt.
Demnach ist es nicht m¨oglich physikalisch zwischen zwei Inertialsystemen zu unterscheiden. In einem Zug, der mit konstanter Geschwindigkeit f¨ahrt, ist es z.B. nicht m¨oglich die Geschwindigkeit des Zuges durch eine Messung innerhalb des Zuges festzustellen. 26
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
3.1.2
27
Galileitransformationen
Das Galileische Relativit¨atsprinzip definiert in Verbindung mit der Grundgleichung der Mechanik die Klasse der Galileitransformationen. Da alle Inertialsysteme gleichberechtigt sind, muß die Newtonsche Bewegungsgleichung in allen diesen Systemen in der gleichen Form gelten. Galileitransformationen sind Koordinatentransformationen, gegen¨ uber denen die Grundgleichung der Mechanik f¨ ur einen Massepunkt mit fester Masse m forminvariant ist. Definition 3.1 Eine Gleichung F (Xi ) = 0 zwischen verschiedenen Gr¨oßen Xi (x, y, z, t) heißt forminvariant, wenn sie in den transformierten Gr¨oßen Xi0 (x0 , y 0 , z 0 , t0 ) dieselbe Form besitzt, wie in den urspr¨ unglichen Gr¨oßen Xi : F (Xi ) = F (Xi0 ). Man unterscheidet zwischen Forminvarianz und Invarianz. Definition 3.2 Invarianz bedeutet die st¨arkere Forderung, daß die transformierte Gleichung identisch ist mit der urspr¨ unglichen Gleichung, d.h. die transformierten Gr¨oßen sind auch die gleichen Funktionen der Koordinaten wie die urspr¨ unglichen Gr¨oßen Xi0 (x0 , y 0 , z 0 , t0 ) = Xi (x, y, z, t) Aus der Invarianz folgt, daß jede L¨osung als Funktion der alten Koordinaten auch eine L¨osung als Funktion der neuen Koordinaten darstellt. Die m¨oglichen Galileitransformationen werden im folgenden behandelt. Nicht dazu gez¨ahlt werden Umskalierungen der Koordinaten: x0 = αx, t0 = βt. Faßt man die Koordinaten als dimensionsbehaftete Gr¨oßen auf, so entspricht einer Umskalierung der Maßzahl eine inverse Umskalierung der Einheit. Die dimensionsbehaftete Gr¨oße wird dadurch nicht ge¨andert. Verschiebung des Zeitursprungs Eine Verschiebung des Zeitursprungs um eine feste Zeit t0 , t0 = t − t0 ,
(3.1)
ist eine Galileitransformation. Das urspr¨ ungliche Koordinatensystem S sei ein Inertialsystem, so daß dort die Newtonsche Bewegungsgleichung gilt. Wegen dt = dt0 , r 0 = r gilt im neuen System S 0 die transformierte Gleichung d2 r m 02 = F 0 , (3.2) dt
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28
mit F 0 = F (r,
dr 0 , t + t0 ). dt0
(3.3)
Die transformierte Kraft F 0 ist zur Zeit t0 in S 0 identisch mit der alten Kraft zur entsprechenden Zeit t = t0 +t0 in S. Die Gleichung ist daher forminvariant gegen¨ uber einer Zeitverschiebung. Das System S 0 ist ebenfalls ein Inertialsystem. H¨angt die Kraft nicht explizit von der Zeit ab, so ist die Gleichung sogar invariant gegen¨ uber einer Zeitverschiebung. Parallelverschiebung der Koordinatenachsen Eine Verschiebung des Koordinatenursprungs
0
r = r − d0 ,
d0 =
3 X
d0i ei ,
(3.4)
i=1
um einen konstanten Vektor d0 ist eine Galileitransformation. In beiden Systemen k¨onnen die gleichen Basisvektoren ei gew¨ahlt werden, so daß die Achsen von S und S 0 parallel sind. Man nennt dies eine Translation.
Abbildung 3.1: Verschiebung des Koordinatenursprungs um einen konstanten Vektor d. Die Koordinatenachsen von S und S 0 sind parallel.
Wegen dr = dr 0 folgt die Forminvarianz der Bewegungsgleichung, d2 r 0 dr 0 0 0 0 m 2 =F ; F = F r + d0 , ,t . dt dt
(3.5)
Invarianz gegen¨ uber Translationen liegt vor, falls die Kraft nur von den Relativvektoren ri − rj , der Massenpunkte abh¨angt.
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29
Gleichf¨ ormige Bewegung Eine Koordinatentransformation zu einem mit der konstanten Geschwindigkeit v0 bewegten Koordinatenssystem r 0 = r − v0 t,
v 0 = v − v0 ,
(3.6)
ist eine Galileitransformation. Wegen dv = dv 0 ist die Bewegungsgleichung forminvariant, dv 0 dr 0 0 0 0 m = F ; F = F r + v 0 t, + v0, t . (3.7) dt dt Invarianz liegt vor, falls die Kraft nur von den Relativvektoren ri − rj und den Relativgeschwindigkeiten vi − vj der Massenpunkte abh¨angt. Orthogonale Transformationen Sei αij eine orthogonale Transformation der Koordinaten x0i =
X
αij xj ,
−1 αij = αji .
(3.8)
j
Orthogonale Transformationen werden im folgenden Abschnitt behandelt. Sie stellen ebenfalls Galileitransformationen dar. Die Forminvarianz der Bewegungsgleichung gegen¨ uber orthogonalen Transformationen beruht auf dem Vektorcharakter der Gleichung, d.h. die linke und die rechte Seite der Gleichung transformieren sich in gleicher Weise ! X X X −1 0 −1 m¨ x0i = Fi0 , Fi0 = αij Fj αij xj , αij x˙j , t . (3.9) j
i
i
Allgemeine Galileitransformation Die Galileitransformationen bilden eine Gruppe mit insgesamt 10 Parametern: t0 ,v0i ,d0i und die 3 unabh¨angigen Parameter einer orthogonalen Transformation. Die allgemeine Transformation lautet X x0i = αij xj − v0i t − d0i (3.10) t0 = t − t0 .
(3.11)
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3.1.3
30
Orthogonale Transformationen
Orthogonale Transformationen sind Transformationen einer Orthonormalbasis. Definition 3.3 Eine Orthonormalbasis im dreidimensionalen Ortsraum ist eine Basis von Einheitsvektoren {ei }, mit i = 1, 2, 3, die jeweils paarweise senkrecht zueinander stehen: 1 ; i=j ei ·ej = δij , δij = . (3.12) 0 ; i 6= j Man bezeichnet δij als das Kroneckersymbol. Es stellt die Elemente der Einheitsmatrix dar. Definition 3.4 Die Einheitsvektoren ei bilden ein Rechtssystem, falls ei ·(ej ×ek ) = ijk ,
(3.13)
mit ijk
+1 ; −1 ; = 0 ;
i, j, k zyklische Vertauschung von 1, 2, 3 i, j, k antizyklische Vertauschung von 1, 2, 3 . sonst
(3.14)
Man bezeichnet ijk als den Levi-Civita-Tensor oder den Epsilontensor. Basistransformation Wir untersuchen nun die Eigenschaften von Transformationen, die eine gegebene uhren. Jeder BaOrthonormalbasis {ei } in eine neue Orthonormalbasis {e0i } u ¨berf¨ sisvektor der neuen Basis kann als Linearkombination der Basisvektoren der alten Basis geschrieben werden, e0i
=
3 X
αij ej ,
αij = e0i ·ej = cos(ϕij ).
(3.15)
j=1
Die Entwicklungskoeffizienten αij werden als Richtungskosinus bezeichnet, da sie durch den Kosinus des Winkels ϕij zwischen der i-ten neuen und der j-ten alten Richtung dargestellt werden. Als Beispiel betrachten wir eine Drehung des Koordinatensystems um die x3 -Achse um den Winkel ϕ. Nach Abb.(3.2) gilt hier α11 = α22 = cos ϕ, α12 = cos(ϕ − π/2) = sin ϕ, α21 = cos(ϕ + π/2) = − sin ϕ, α33 = 1, α13 = α23 = α31 = α32 = 0.
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31
Als Matrix geschrieben erh¨alt man
cos ϕ sin ϕ 0 α = − sin ϕ cos ϕ 0 . 0 0 1
(3.16)
Abbildung 3.2: Drehung des kartesischen Koordinatensystems um den Winkel ϕ.
Wie man an diesem Beispiel bereits erkennt sind die αij nicht unabh¨angig voneinander. Allgemein muß man an die Transformation (3.15) noch die Orthonormalit¨atsbedingungen f¨ ur die neue Basis stellen, X X e0i ·e0j = αin αjm en ·em = αin αjn = δij . (3.17) n,m
n
Die Indizes i und j stellen hier die Indizes der Zeilen der Matrix α dar. Die Orthonormalit¨at der neuen Basis wird also durch die Orthonormalit¨at der Zeilen der Transformationsmatrix ausgedr¨ uckt. Dies sind insgesamt 6 Bedingungen an die 9 Matrixelemente αij . Eine allgemeine orthogonale Transformation wird durch die verbleibenden 3 freien Parameter festgelegt. Definiert man die transponierte Matrix T = αji und die Einheitsmatrix I mit den Elementen δij , αT mit den Elementen αij so lassen sich die Orthonormalit¨atsbedingungen in Matrixschreibweise zusammenfassen, α·αT = I. (3.18) Drehungen und Spiegelungen Aus der Orthonormalit¨atsbedingung folgt, daß die Determinante einer orthogonalen Transformation den Betrag eins besitzt: 2 det α·αT = det α det αT = det α = 1. (3.19) Das Vorzeichen der Determinante, det α = ±1,
(3.20)
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32
bestimmt, ob das neue Basissystem ein Rechtssystem (+1)oder ein Linkssystem (−1) darstellt, denn es gilt X X α1i α2j α3k ei ·(ej ×ek ) = ijk α1i α2j α3k = det α . e01 ·(e02 ×e3 )0 = (3.21) i,j,k
i,j,k
Durch eine stetige Variation der Parameter einer orthogonalen Transformation kann sich das Vorzeichen der Determinante nicht sprunghaft a¨ndern. Drehungen eines Rechtssystems werden daher durch orthogonale Transformationen mit der Determi¨ nante +1 dargestellt. Beim Ubergang von einem Rechtssytem zu einem Linkssystem muß zus¨atzlich eine Koordinatenachse gespiegelt werden. Raumspiegelungen stellen keine exakte Symmetrie der physikalischen Gesetze dar. Diese Symmetrie wird durch die schwache Wechselwirkung gebrochen. Umkehrtransformation Da die Determinante einer orthogonalen Transformation immer ungleich Null ist, existiert die Umkehrtransformation. Durch die Entwicklung eines alten Basisvektors nach der neuen Basis erh¨alt man, ei =
3 X
−1 0 αij ej ,
−1 αij = ei ·e0j = αji .
(3.22)
j=1
Die Orthonormalit¨atsbedingungen f¨ ur die alte Basis lauten entsprechend, ei ·ej =
X
−1 −1 0 αin αjm en ·e0m =
X
n,m
αni αnj = δij .
(3.23)
n
Die Indizes i und j stellen hier die Indizes der Spalten der Matrix α dar. Die Orthonormalit¨at der alten Basis wird also durch die Orthonormalit¨at der Spalten der Transformationsmatrix ausgedr¨ uckt. Damit besitzen orthogonale Transformationen die Eigenschaften α·αT = αT ·α = I,
α−1 = αT ,
det α = ±1 .
(3.24)
Transformation von Vektoren und Skalaren Zur Beschreibung der Drehung von Vektoren unterscheidet man zwei M¨oglichkeiten. Bei einer passiven Drehung wird die Basis bei festgehaltenen Vektoren gedreht. Umgekehrt werden bei einer aktiven Drehung die Vektoren bei festgehaltener Basis gedreht.
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33
Entwickelt man einen beliebigen Vektor V nach der alten und der neuen Basis einer passiven Drehung, so gilt X X V = Vj ej = Vj0 e0j , j
Vi0
=
j
e0i ·V
=
X
e0i ·ej Vj =
j
X
αij Vj .
(3.25)
j
Man bezeichnet Vi und Vi0 als Darstellungen des Vektors bez¨ uglich der Basis S bzw. 0 S . Diese Darstellungen k¨onnen auch als Spaltenvektoren 0 V1 V1 V 0 = V20 (3.26) V = V2 , 0 V2 V2 zusammengefaßt werden. F¨ ur diese Darstellungen gilt das Transformationsgesetz Vi0 =
X
V 0 = α·V .
αij Vj ,
(3.27)
j
Bei einer aktiven Transformation bezeichnet umgekehrt V 0 die Darstellung des alten Vektors und V die Darstellung des neuen Vektors. Demnach gilt hier die inverse Transformation X T 0 Vi = αij Vj , V = αT ·V 0 . (3.28) j
Im folgenden werden Drehungen meist unter dem passiven Gesichtspunkt behandelt. Aufgrund der Eigenschaften orthogonaler Transformationen bleiben Skalarprodukte zwischen Vektoren invariant, ! X X X X Xi0 Yi0 = αim αin Xm Xn = αim αin Xm Xn i
=
X n,m
3.2
n,m
i,m,n
δmn Xm Xn =
X
i
Xm Ym .
m
Beschleunigte Bezugssysteme
In beschleunigten Bezugssystemen treten in den Bewegungsgleichungen Zusatzterme auf, die als Tr¨agheitskr¨afte bezeichnet werden. Die Form der Bewegungsgleichungen im beschleunigten System muß durch eine explizite Koordinatentransformation bestimmt werden.
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3.2.1
34
Translatorisch beschleunigtes Bezugssystem
Der Ursprung von S 0 werde relativ zum Ursprung von S um einen zeitabh¨angigen Vektor d(t) verschoben. Ein Punkt P befinde sich in S am Ort r, in S 0 am Ort r 0 . Dann gelten die Transformationsgesetze: r 0 = r − d(t) ˙ v 0 = v − d(t) ¨ v˙ 0 = v˙ − d(t)
(3.29) (3.30) (3.31)
Die Bewegungsgleichung in S 0 lautet: ¨ mv˙ 0 = F − md
(3.32)
¨ auf, die entgegen der Richtung der BeschleuniIn S 0 tritt eine Tr¨agheitskraft −md gung wirkt. Bemerkungen: ¨ (i) Auf ein Teilchen, welches in S 0 ruht (v 0 = 0) wirkt in S die Kraft F = md. 0 ¨ (ii) Auf ein Teilchen, welches in S ruht (v = 0) wirkt in S die Kraft F = −md. ¨ (iii) Einsteinsches Aquivalenzprinzip: Ein homogenes Schwerefeld mit der konstanten Schwerkraft G = mS g ist ¨aquivalent zu einem beschleunigten Bezugssystem mit der Tr¨agheitskraft F T = −mt a. Hierbei wird vorausgesetzt, daß die schwere Masse mS f¨ ur alle K¨orper gleich der tr¨agen Masse mt ist und a = −g gesetzt wird. Man kann den Einfluß der Schwerkraft (lokal) eliminieren, indem man sich in ein frei fallendes Bezugssystem begibt.
Abbildung 3.3: Beschleunigtes Bezugssystem S 0 mit Beschleunigung a relativ zum Inertialsystem S. Eine in S 0 ruhende Masse m erf¨ahrt eine der Beschleunigung entgegengerichtete Tr¨agheitskraft −ma, die ¨aquivalent ist zu einer Schwerebeschleunigung g = −a.
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3.2.2
35
Rotierendes Bezugssystem
Ein rotierendes Bezugssystem werde durch eine zeitabh¨angige Orthonormalbasis {e0i (t)} dargestellt, die sich gegen¨ uber der festen Orthonormalbasis {ei } eines Inertialsystems dreht. Zu jedem Zeitpunkt ist die Transformation der Basis eine orthonormale Transformation, d.h. es gilt X αij (t)ej . (3.33) e0i (t) = j
Zur Berechnung der Geschwindigkeit und der Beschleunigung eines Massenpunktes ¨ im rotierenden System ben¨otigt man die zeitliche Anderung der Basisvektoren. Diese ¨ Anderung kann zu jedem Zeitpunkt durch eine Drehachse und eine Winkelgeschwindigkeit angegeben werden. Wir zeigen dies zuerst am Beispiel einer Rotation um die x3 -Achse und dann allgemein f¨ ur beliebige Drehungen. Drehung um die x3 -Achse Eine Rotation um die x3 -Achse mit einer Winkelgeschwindigkeit ω = ϕ˙ wird durch eine orthogonale Transformation der Form (3.16) mit einem zeitabh¨angigen Drehwinkel ϕ(t) dargestellt. Differenziert man (3.16) nach der Zeit, so folgt in Matrixschreibweise 0 e1 cos ϕ(t) sin ϕ(t) 0 e1 d d 0 e2 − sin ϕ(t) cos ϕ(t) 0 e2 = dt dt 0 e3 0 0 1 e3 − sin ϕ(t) cos ϕ(t) 0 e1 = ω − cos ϕ(t) − sin ϕ(t) 0 e2 0 0 0 e3 0 0 1 0 e1 e02 . = ω −1 0 0 0 0 0 e03 Definiert man mit Hilfe der Drehachse e3 und der Winkelgeschindigkeit ω eine vektorielle Winkelgeschwindigkeit ω = ωe3 , so folgt e˙ 01 = ω×e01
e˙ 02 = ω×e02
e˙ 03 = ω×e03
.
(3.34)
Die spezielle Wahl des Koordinatensystems spielt hierbei keine Rolle, so daß dieses Ergebnis auch auf allgemeine Drehungen angewandt werden kann.
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36
Infinitesimale Rotationen ¨ Die Anderung der rotierenden Basis in einem infinitesimalen Zeitintervall dt kann durch eine infinitesimale orthogonale Transformation dargestellt werden. Dies ist eine orthogonale Transformation, die nur in linearer Ordnung in dt von der Einheitsmatrix abweicht, α = I + Ωdt .
(3.35)
ΩT = −Ω .
(3.36)
Die Matrix Ω ist antisymmetrisch,
Letzteres folgt aus der Orthonormalit¨atsbedingung α · αT − I = (I + Ωdt) · (I + ΩT dt) − I = Ω + ΩT dt = 0 .
(3.37)
Eine antisymmetrische 3 × 3 Matrix besitzt nur drei unabh¨angige Elemente. Diese k¨onnen den drei Elementen eines Vektors ω auf folgende Weise zugeordnet werden,
Ωij = (ei ×ej )·ω =
X
ijk ωk
.
(3.38)
k
Die zugeh¨orige Matrix besitzt die Form 0 ω3 −ω2 0 ω1 Ω = −ω3 ω2 −ω1 0
.
(3.39)
¨ Unter Verwendung von (3.35) und (3.38) erh¨alt man f¨ ur die Anderung der Basisvektoren, X e0i (t + dt) = (δij + Ωij dt) e0j (t) j
e˙ 0i =
X
=
X
j
Ωij e0j =
X
ω·(e0i ×e0j )e0j
j
(ω×e0i )·e0j e0j
= ω×e0i .
j
Damit ist gezeigt, daß (3.34) auch f¨ ur beliebige infinitesimale Rotationen gilt. Schreibt man ω = ωn, so definiert der Betrag ω die Winkelgeschwindigkeit und
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37
der Einheitsvektor n die Richtung der Drehachse. Im allgemeinen ist der Vektor ω(t) zeitabh¨angig. Drehungen mit konstanter Winkelgeschwindigkeit und Drehachse k¨onnen in der folgenden Weise veranschaulicht werden. Ein beliebiger Vektor V , der im rotierenden System ruht, besitzt in S 0 die Darstellung X V = Vi0 e0i (t) i
mit zeitunabh¨angigen Komponenten Vi0 . Er a¨ndert sich daher genauso wie die Basisvektoren X X Vi0 ω×e0i = ω × V . V˙ = Vi0 e˙ 0i = i
i
Der Vektor dreht sich in S auf einem Kegelmantel um die Drehachse. Die Komponente des Vektors entlang der Drehachse bleibt fest. Die Komponente senkrecht zur Drehachse rotiert in der Ebene senkrecht zur Drehachse.
Abbildung 3.4: Drehung eines Vektors V um die Drehachse ω.
Bewegung im rotierenden System Der Ortsvektor eines Massenpunktes sei r im Inertialsystem S und r 0 im rotierenden System S 0 . Da es sich um denselben Vektor handelt gilt r 0 = r.
(3.40)
Der Ortsvektor besitzt jedoch in beiden Systemen unterschiedliche Koordinatendarstellungen X X r= xi (t)ei (t) , r0 = x0i (t)e0i (t) . (3.41) i
i
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38
Die Geschwindigkeit des Massenpunktes wird in beiden Systemen unterschiedlich definiert. Ein Beobachter im rotierenden System bestimmt die Geschwindigkeit des Massenpunktes anhand der Koordinatendarstellung in S 0 , X (3.42) v0 = x˙ 0i e0i . i
Die Geschwindigkeit des Massenpunktes in S ist aber X X v = r˙ = r˙ 0 = x˙ 0i e0i + x0i e˙ 0i = x˙ 0i e0i + ω×x0i e0i . i
(3.43)
i
Damit ergibt sich f¨ ur die Geschwindigkeit das Transformationsgesetz v = v0 + ω × r0
.
(3.44)
Der Unterschied der Geschwindigkeiten ist die Rotationsgeschwindigkeit des Systems. Dieses Transformationsgesetz gilt nicht nur f¨ ur die Zeitableitung des Ortsvektors, sondern genauso f¨ ur die Zeitableitung eines beliebigen Vektors. Daher kann man es auch als Transformationsgesetz f¨ ur die Zeitableitung auffassen, d d0 = + ω×, dt dt
(3.45)
die links auf die Darstellung im Inertialsystem S und rechts auf die Darstellung im rotierenden System S’ wirkt. Das Transformationsgesetz f¨ ur die Beschleunigungen erh¨alt man durch zweimalige Anwendung von (3.45), 0 0 d2 d d r = + ω× + ω× r 0 dt2 dt dt dω 0 0 = a0 + 2ω × v 0 + ω×(ω × r 0 ) + ×r . (3.46) dt Die Beschleunigung im rotierenden System wird hierbei definiert durch X a0 = x¨0i e0i . i
Mit dem Transformationsgesetz f¨ ur die Beschleunigungen erh¨alt man f¨ ur die Newtonsche Bewegungsgleichung im rotierenden System m¨ r0 = F + F C + F Z + F A .
(3.47)
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39
Hierbei treten die folgenden Scheinkr¨afte auf F C = −2mω × v 0 F Z = −mω×(ω × r 0 ) 0 F A = −mω×r ˙ . Man bezeichnet F C als Corioliskraft, F Z als Zentrifugalkraft. Bei einer beschleunigten Drehbewegung wirkt noch die Kraft F A .
3.2.3
Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten
Polarkoordinaten sind krummlinig orthogonale Koordinaten. Dies bedeutet, daß die Tangenteneinheitsvektoren an die Koordinatenlinien in jedem Punkt ein lokales i.a. gedrehtes Orthonormalsystem bilden. Die lokale Basis am Ort eines bewegten Massenpunktes bildet somit ein rotierendes Bezugssystem, in dem die Bewegungsgleichung die Form (3.47) besitzt.
Abbildung 3.5: Koordinatennetz der Polarkoordinaten (r, ϕ) mit lokaler Basis {er , eϕ }.
Die Polarkoordinaten (r, ϕ) eines Punktes (x, y) werden durch die Koordinatentransformation x = r cos ϕ, y = r sin ϕ (3.48) definiert. Der Ortsvektors besitzt im kartesischen Basissystem die Form r = r cos ϕ ex + r sin ϕ ey . ¨ Seine Anderung in Richtung der Koordinatenlinien r und ϕ bestimmt die Tangenteneinheitsvektoren des lokalen Basissystems ∂r = cos ϕ ex + sin ϕ ey ∂r ∂r = = − sin ϕ ex + cos ϕ ey . r∂ϕ
er = eϕ
(3.49)
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40
Bei einer Bewegung des Massenpunktes dreht sich diese lokale Basis mit der Winkelgeschwindigkeit ω = ϕ˙ um die z-Achse. Im lokalen Basissystem erh¨alt man f¨ ur den Ortsvektor (3.41), die Geschwindigkeit (3.44) und die Beschleunigung (3.47) jeweils r = r er v = r˙ er + ωr ez ×er = r˙ er + ωr eϕ . a = r¨ er + 2ω r˙ ez ×er + ω 2 r ez ×(ez ×er ) + ωr ˙ ez ×er 2 = r¨ er + 2ω r˙ eϕ − ω r er + ωr ˙ eϕ .
(3.50)
Damit lauten die beiden Komponenten der Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten m¨ r = Fr + mω 2 r, mrϕ¨ = Fϕ − 2mω r˙ ,
3.2.4
Fr = F · er , Fϕ = F · eϕ .
(3.51)
Begleitendes Dreibein
Eine Raumkurve definiert in jedem Punkt der Kurve ein spezielles Orthonormalsystem von Basisvektoren, das man als das begleitende Dreibein bezeichnet. Das Dreibein ¨andert seine Richtung entlang der Kurve, so daß man es hier physika¨ lisch mit einem speziellen rotierenden Bezugssystem zu tun hat. Die Anderungen der Basisvektoren entlang der Kurve definieren die lokalen Kurveneigenschaften der Kr¨ ummung und Torsion. Die Komponenten der Beschleunigung definieren die lokale Tangential- und Zentripetalbeschleunigung. Interessiert man sich f¨ ur die geometrischen Eigenschaften der Bahnkurve, so ist es besser die Bogenl¨ange s anstelle der Zeit t als Kurvenparameter zu verwenden. Aus dem skalaren Weg-Differential √ (3.52) ds = dr·dr erh¨alt man f¨ ur eine Kurve mit der Parameterdarstellung r = r(t) die Bogenl¨ange s(t) mit dem Anfangswert s(0) = 0 durch Zt s=
dt0
√
0
Zt ˙ r˙ = r·
dt0 v(t0 )
(3.53)
0
Als ersten Basisvektor des Dreibeins definiert man den Tangenten-Einheitsvektor
t=
dr r˙ = . ds v
Es ist ein Einheitsvektor, der in Richtung der Geschwindigkeit gerichtet ist.
(3.54)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
41
¨ ¨ Andert der Tangentenvektor t seine Richtung entlang der Kurve, so bildet die Anderung dt zusammen mit t die lokale Kurvenebene. Da t ein Einheitsvektor ist, gilt dt 1 dt2 t· = = 0, ds 2 ds
(3.55)
d.h. dt steht senkrecht auf t. Als zweiten Einheitsvektor des Dreibeins definiert man daher die Hauptnormale n durch dt = κn ds
(3.56)
¨ Der Betrag der Anderung wird als die Kr¨ ummung κ bezeichnet. Der Kehrwert der Kr¨ ummung ist der Kr¨ ummungsradius R = 1/κ. Der dritte Einheitsvektor des Dreibeins, die Binormale b, steht senkrecht auf der lokalen Kurvenebene und bildet mit t und n ein Rechtssystem, b = t×n,
t = n×b,
n = b×t.
(3.57)
Abbildung 3.6: Begleitendes Zweibein einer ebenen Kurve.
¨ Wir bestimmen nun noch die Anderungen der Binormalen und der Hauptnormale. ¨ der Binormalen steht senkrecht auf b, da es sich wie in (3.55) um Die Anderung ¨ einen Einheitsvektor handelt. Andererseits steht die Anderung auch senkrecht auf t, db dt dn dn = ×n + t× = t× . ds ds ds ds
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
42
¨ Der erste Beitrag verschwindet wegen (3.56). Daher besitzt die Anderung der Binormalen nur eine Komponente in Richtung der Hauptnormalen db = −τ n. ds
(3.58)
Die Proportionalit¨atskonstante τ heißt die Torsion der Raumkurve, 1/τ ist der Windungsradius. ¨ Die Anderung der Hauptnormalen kann durch die Differentiation von (3.57) ebenfalls bestimmt werden, db dt dn = ×t + b× ds ds ds = −τ n×t + κb×n = τ b − κt.
(3.59)
¨ Die Anderungen der Basisvektoren des begleitenden Dreibeins werden als Frenetsche Ableitungen bezeichnet: dt = κn, ds
db = −τ n, ds
dn = τ b − κt ds
(3.60)
Wir bestimmen noch die Komponenten der Beschleunigung in diesem Basissystem. Die Geschwindigkeit besitzt nur eine Komponente entlang des TangentenEinheitsvektors, v = vt (3.61) Unter Verwendung der Produktregel und der Frenetschen Ableitungen folgt f¨ ur die Beschleunigung a = vt ˙ + v t˙ dt ds = at t + aZ n, = vt ˙ + v2
(3.62)
mit at = v˙ =
d2 s , dt2
aZ = v 2 κ =
v2 . R
Man nennt at die Tangentialbeschleunigung und aZ die Zentripetalbeschleunigung.
Kapitel 4 Newtonsche Mechanik Die Newtonschen Grundgesetze der Mechanik bestimmen die Bewegung von K¨orpern unter der Einwirkung von Kr¨aften. Sie wurden von Newton in der Form von drei Grundgesetzen oder Axiomen formuliert. Sein grundlegendes Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Mathematische Prinzipien der Naturlehre) erschien im Jahr 1687. Als Folgerungen ergeben sich aus den Newtonschen Grundgesetzen die Erhaltungss¨atze f¨ ur den Impuls, den Drehimpuls und die Energie. Als Anwendungen der Newtonschen Mechanik behandeln wir Bewegungen im Zentralpotential, das KeplerProblem, die Coulomb-Streuung und das Zweik¨orperproblem.
4.1
Newtonsche Gesetze
Die Newtonschen Gesetze werden im folgenden nach Ernst Mach zitiert und dann formelm¨aßig angegeben. Erstes Gesetz: Jeder K¨orper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder gleichf¨ormigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kr¨afte gezwungen wird, seinen Zustand zu ¨andern.
F =0
=⇒
p = mv = const.
(4.1)
Das erste Newtonsche Gesetz ist eine Neuformulierung des Galileischen Tr¨agheitsgesetzes. Galilei hatte bereits die gleichf¨ormige Bewegung auf einer horizontalen Ebene (als Grenzfall der schiefen Ebene) beobachtet und dabei das Tr¨agheitsgesetz 43
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
44
entdeckt. Dies widersprach der jahrhundertealten Vorstellung, daß Bewegung von selbst zur Ruhe kommt. Bei Newton bekommt das Tr¨agheitsgesetz eine universelle Bedeutung. Das Tr¨agheitsgesetz gilt nur in ausgezeichneten Bezugssystemen, n¨amlich den Inertialsystemen. Man kann es daher auch als eine Definition der Bezugssysteme ansehen, in denen die Newtonschen Gesetze gelten. Damit bekommt es eine vom zweiten Newtonschen Gesetz unabh¨angige Bedeutung. Zweites Gesetz: ¨ Die Anderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.
dp =F dt
(4.2)
¨ ¨ Mit Anderung der Bewegung ist nach heutiger Ausdrucksweise Anderung des Impulses gemeint. Die Kraft ist eine gerichtete Gr¨oße, also ein Vektor. Sie ¨andert im allgemeinen Betrag und Richtung des Impulses. Bei konstanter Masse gilt das Beschleunigungsgesetz d2 r m 2 =F . (4.3) dt Die Beschleunigung ist also umgekehrt proportional zur Masse. Die Kraft h¨angt von der Wechselwirkung ab. Neben den Bewegungsgesetzen wurde von Newton auch das Gesetz f¨ ur die Gravitationskraft eingef¨ uhrt. Das Newtonsche Gravitationsgesetz f¨ uhrt alle Schwerkr¨afte auf eine Anziehungskraft zwischen Massen zur¨ uck. Die Kraft, die von einer Masse m2 am Ort r 2 auf eine Masse m1 am Ort r 1 ausge¨ ubt wird ist, m1 m2 r 1 − r 2 F 12 = −γ . (4.4) 2 r12 r12 Hierbei ist r12 = kr 1 − r 2 k der Abstand der Massenpunkte und γ die Gravitationskonstante. In der Elektrostatik gilt f¨ ur die Kraftwirkung zwischen zwei Ladungen q1 und q2 das analoge Coulombgesetz, q 1 q2 r 1 − r 2 F 12 = k 2 . (4.5) r12 r12 Gleichnamige Ladungen (q1 q2 > 0) stoßen sich ab, ungleichnamige (q1 q2 < 0) ziehen sich an. Die Proportionalit¨atskonstante k ist vom Maßsystem abh¨angig. Im Gaußsystem gilt k = 1.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
45
Abbildung 4.1: Gravitationskraft zwischen zwei Massenpunkten. Die Kr¨afte auf die beiden Massenpunkte sind betragsm¨aßig gleich aber entgegengesetzt entlang der Verbindungslinie der Massen gerichtet.
In der Elektrodynamik wird die Kraft auf eine Ladung q durch das elektrische Feld E(r) und das magnetische Feld B(r) am Ort r der Ladung bestimmt. Im Gaußsystem gilt 1 F = q(E + v × B). (4.6) c Drittes Gesetz: Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier K¨orper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung. F 12 = −F 21 ,
r 1 ×F 12 = −r 2 ×F 21 .
(4.7)
Der Begriff Wirkung wurde hier sowohl als Kraft als auch als Drehmoment gedeutet. Die Kr¨afte auf zwei Massenpunkte sind demnach einander entgegengesetzt gleich und wirken entlang der Verbindungslinie der Massenpunkte, (r 1 − r 2 )×F 12 = 0 .
(4.8)
In Kurzform wird dieses Gesetz als actio=reactio bezeichnet. Das bedeutet z.B., daß ein fallender Stein die Erde genauso stark anzieht wie die Erde den fallenden Stein. Aufgrund der gr¨oßeren Masse ist aber die Beschleunigung der Erde sehr viel kleiner als die des Steins.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
46
Abbildung 4.2: Links: Actio=reactio gilt f¨ ur die Kr¨afte aber nicht f¨ ur die Drehmomente. Rechts: Actio=reactio gilt f¨ ur die Kr¨afte und f¨ ur die Drehmomente. Die Kr¨afte sind in diesem Fall nicht nur entgegengesetzt gleich sondern auch entlang der Verbindungslinie der Massen gerichtet.
Zusatz Greifen an einem K¨orper mehrere Kr¨afte an, so addieren sich diese vektoriell, X F = F i. (4.9) i
Dies wird als Superpositionsprinzip der Kr¨afte oder als Regel vom Parallelogramm der Kr¨afte bezeichnet. Es wurde von Newton als Zusatz zu den Bewegungsgesetzen angegeben.
4.2
Erhaltungss¨ atze
Aus den Newtonschen Gesetzen folgen Erhaltungss¨atze f¨ ur den Impuls, den Drehimpuls und die Energie. Wir betrachten zun¨achst einen Massenpunkt in einem ¨außeren Kraftfeld.
4.2.1
Impulssatz
¨ Die Anderung des Impulses wird durch das zweite Newtonsche Gesetz (4.2) bestimmt. Es wird daher auch als Impulssatz bezeichnet. Impulserhaltung gilt falls auf den Massenpunkt keine Kraft einwirkt, F =0
=⇒
p = mv = const .
(4.10)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
4.2.2
47
Drehimpulssatz
Ein Massenpunkt bewege sich gleichf¨ormig auf einer Kreisbahn mit Radius r. Bei einer Ver¨anderung des Radius stellt man fest, daß der Drehimpuls L = rp erhalten ist. Es liegt nahe, daß es sich bei dieser Erhaltungsgr¨oße ebenfalls um einen Vektor handelt. Da die Vektoren r und p ihre Richtung ¨andern, muß dieser Vektor senkrecht auf der Bewegungsebene stehen. Man definiert allgemein f¨ ur einen Massenpunkt am Ort r mit Impuls p den Drehimpulsvektor L = r×p.
(4.11)
F¨ ur eine Kreisbahn besitzt der Betrag von L den Maximalwert L = rp. F¨ ur eine Gerade durch den Ursprung verschwindet der Drehimpuls.
Abbildung 4.3: Radiale Bewegung mit Drehimpuls L = 0 und Kreisbewegung mit Drehimpuls L = rp.
Der Drehimpuls h¨angt vom Bezugspunkt ab. Von einem beliebigen festen Bezugspunkt r 0 aus ist der Ortsvektor r 0 = r(t) − r 0 und der Drehimpuls L0 = r 0 ×p = L − r 0 ×p. ¨ Die zeitliche Anderung des Drehimpulses (4.11) ergibt nach der Produktregel dL = v × p + r × p˙ = r × F . dt Der erste Term verschwindet, da v parallel ist zu p = mv. Im zweiten Term wurde die Bewegungsgleichung (4.2) eingesetzt. Damit lautet der Drehimpulssatz, dL = N, dt
N = r × F.
(4.12)
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48
Hierbei bezeichnet N das Drehmoment der Kraft F am Ort r. Der Drehimpuls ¨andert sich durch Einwirkung eines Drehmomentes. Drehimpulserhaltungssatz: Wirkt auf den Massenpunkt kein Drehmoment, so gilt ⇒
N =0
L = mr×v = const.
(4.13)
Aufgrund der Drehimpulserhaltung verl¨auft die Bewegung entweder entlang einer Ursprungsgeraden L = 0, vkr oder in einer Ebene senkrecht zum Drehimpulsvektor L 6= 0,
v · L = r · L = 0.
Die Bahnebene wird hierbei durch die beiden zu L senkrechten Vektoren r und v aufgespannt. Fl¨ achensatz: Eine geometrische Deutung der Drehimpulserhaltung gibt der Fl¨achensatz. Der Ortsvektor zum Massenpunkt u ¨berstreicht in gleichen Zeiten gleiche Fl¨achen.
Abbildung 4.4: Ist der Drehimpuls erhalten, so werden vom Ortsvektor r in gleichen Zeiten gleiche Fl¨achen u ¨berstrichen.
Beweis: Im Zeitintervall dt bewegt sich der Massenpunkt um dr = vdt. Hierbei u ¨berstreicht der Ortsvektor die Fl¨ache 1 1 dS = |r×dr| = Ldt. 2 2m Bei konstantem Drehimpuls ist die Fl¨achen¨anderungsrate dS/dt konstant.
(4.14)
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4.2.3
49
Energiesatz
Die kinetische Energie eines Massenpunktes mit der Masse m und der Geschwindigkeit v wird definiert durch T =
1 mv 2 . 2
(4.15)
Dies ist eine Verallgemeinerung der Definition (2.3) f¨ ur eindimensionale Bewegungen. Die kinetische Energie ist richtungsunabh¨angig. Sie h¨angt nur vom Betragsquadrat v 2 = v · v ab. ¨ F¨ ur die zeitliche Anderung der kinetischen Energie erh¨alt man mit Hilfe der Bewegungsgleichung (4.2) dT = mv · v˙ = F · v. dt ¨ Man bezeichnet diese Anderung als die von der Kraft verrichtete Leistung P =F ·v .
(4.16)
Im Zeitintervall dt ¨andert sich der Ort des Massenpunktes um dr = vdt. Man bezeichnet dW = P dt = F ·dr .
(4.17)
als die von der Kraft F l¨angs des vektoriellen Wegelementes dr geleistete Arbeit. Nur die Kraftkomponente parallel zum Wegelement verrichtet Arbeit. Zum Beispiel verrichtet die Lorentzkraft keine Arbeit, wenn sich eine Ladung q in einem Magnetfeld B mit der Geschwindigkeit v bewegt: q dW = F ·vdt = (v×B)·vdt = 0. c Bewegt sich der Massenpunkt zwischen den Zeitpunkten t0 und t1 von einem Anfangspunkt r 0 zu einem Endpunkt r 1 entlang einer Kurve γ, so erh¨alt man f¨ ur diesen Weg den Energiesatz Zt1
Z T1 − T0 =
F ·dr = γ
F (r(t), v(t), t)·v(t)dt .
(4.18)
t0
¨ Die Anderung der kinetischen Energie ist gleich der gesamten von der Kraft auf dem Weg verrichteten Arbeit. Im allgemeinen h¨angt die von einer Kraft F = F (r(t), r(t), ˙ t) verrichtete Arbeit vom Verlauf der Bahnkurve r(t) ab (Abb. 4.5).
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
50
Abbildung 4.5: F¨ ur jedes Wegelement dr verrichtet die Tangentialkomponente der Kraft F die Arbeit dW = F ·dr (links). Die Gesamtarbeit, die zwischen einem Anfangspunkt 1 und einem Endpunkt 2 verrichtet wird, h¨angt im allgemeinen vom Weg ab (rechts). F¨ ur den Weg γ1 ist die Tangentialkomponente der Kraft immer kleiner als f¨ ur den Weg γ2 .
Energieerhaltung Ein wichtiger Spezialfall liegt vor, wenn die Arbeit wegunabh¨angig ist, d.h. f¨ ur alle Wege zwischen zwei Endpunkten h¨angt die Arbeit nur von der Lage der Endpunkte ab. In diesem Fall gibt es einen Energieerhaltungssatz und die Kraft wird als konservativ bezeichnet. Ein Beispiel einer konservativen Kraft ist die Schwerkraft. F¨ ur einen beliebigen Weg von der H¨ohe z0 auf die H¨ohe z1 verrichtet die Schwerkraft G = −mgez immer die Arbeit Zr 1 W =
Zz1 dz(−mg) = −mg(z1 − z0 ) = U (z0 ) − U (z1 ).
dr·G = r0
z0
Hierbei ist U (z) = mgz die potentielle Energie, die nur von der H¨ohe des K¨orpers abh¨angt. Ist die Arbeit wegunabh¨angig, so kann man allgemein eine potentielle Energie R U (r) = − F ·dr
(4.19)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
51
definieren. Ohne Einschr¨ankung kann man einen beliebigen Weg w¨ahlen und entlang dieses Weges mit der Bogenl¨ange als Kurvenparameter eine Stammfunktion berechnen, Z dr U (r) = − (F ·t) ds , t= . ds Die Arbeit ist dann die Differenz der potentiellen Energien in den Endpunkten des Weges, r 1 Zr 1 W = F ·dr = −U (r) = U (r 0 ) − U (r 1 ) . (4.20) r 0 r0 Aus dem Energiesatz (4.18) folgt mit (4.20) T1 + U (r 1 ) = T0 + U (r 0 ) = E. Da der Endpunkt beliebig gew¨ahlt werden kann, bleibt die Gesamtenergie E bei der Bewegung r = r(t) mit der Geschwindigkeit v = v(t) konstant und es gilt der Energieerhaltungssatz 1 mv 2 + U (r) = E 2
(4.21)
Konservative Kr¨ afte Es stellt sich nun die Frage, welche Kr¨afte konservativ sind, d.h. ein Potential besitzen. Dazu nehmen wir an, daß ein Potential existiert und leiten daraus die allgemeine Form des zugeh¨origen Kraftfeldes her. Es existiere ein Potential U (r), so daß die Arbeit wegunabh¨angig ist und der Energiesatz (4.21) gilt. Dann erh¨alt man durch Zeitableitung dT dU + = (F + ∇U )·v = 0 . dt dt Hierbei bezeichnet ∇ = ex
(4.22)
∂ ∂ ∂ + ey + ez ∂x ∂y ∂z
(4.23)
∂U ∂U ∂U + ey + ez ∂x ∂y ∂z
(4.24)
den Nabla-Operator und ∇U = ex
den Gradienten von U . Allgemein kann das Differential einer Funktion f (r) mit Hilfe des Gradienten angegeben werden, df =
∂f ∂f ∂f dx + dy + dz = dr·∇f. ∂x ∂y ∂z
(4.25)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
52
Aus (4.22) folgt, daß der Vektor F + ∇U senkrecht auf der Geschwindigkeit v steht. Mit einem beliebigen Vektor A gilt daher f¨ ur konservative Kr¨afte F = −∇U + v×A.
(4.26)
Insbesondere haben geschwindigkeitsunabh¨angige konservative Kr¨afte die einfache Form F = −∇U .
(4.27)
Ein notwendiges und hinreichendes Kriterium daf¨ ur, daß eine geschwindigkeitsunabh¨angige Kraft in einem zusammenh¨angenden Gebiet konservativ ist, lautet ∇ × F = 0.
(4.28)
Man bezeichnet das Kreuzprodukt von F mit Nabla als die Rotation von F . In Komponenteschreibweise gilt, (∇ × F )i =
X jk
ijk
∂Fk . ∂xj
Die Bedingung ist notwendig. Ist F konservativ, so folgt daraus notwendig (4.28). Denn eine konservative ortsabh¨angige Kraft ist nach (4.27) aus einem Potential ableitbar und die Rotation des Gradienten verschwindet: (∇ × F )i = −
X jk
ijk
X X ∂2U ∂2U ∂2U =− ikj = ijk = 0. ∂xj ∂xk ∂xk ∂xj ∂xj ∂xk kj jk
Umgekehrt kann man auch zeigen, daß die Bedingung (4.28) hinreichend daf¨ ur ist, daß die Arbeit wegunabh¨angig ist. Dies folgt aus dem Stokeschen Satz, der aber erst in der Vektoranalysis und in der Elektrostatik behandelt wird.
4.3
Systeme von Massenpunkten
Wir betrachten nun ein System von N Massenpunkten mit den Bewegungsgleichungen mi r¨i = F i , i = 1, 2, 3, · · · , N. (4.29) F¨ ur die Kraft auf den i-ten Massenpunkt gilt das Superpositionsprinzip der Kr¨afte, Fi =
N X j=1,j6=i
F ij + F ei .
(4.30)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
53
Hierbei bezeichnet F ei eine externe Kraft auf den i-ten Massenpunkt und F ij die Wechselwirkungskraft, die vom j-ten auf den i-ten Massenpunkt ausge¨ ubt wird. F¨ ur die Wechselwirkungskr¨afte gelte das actio=reactio Gesetz, F ij = −F ji ,
4.3.1
r i ×F ij = −r j ×F ji .
(4.31)
Additive Bewegungsgr¨ oßen
F¨ ur Systeme von Massenpunkten definiert man eine Reihe von additiven Bewegungsgr¨oßen,
M =
N X i=1 N P
mi ,
Gesamtmasse
mi r i
i=1
, M N X P = mi r˙ i , R =
L =
T =
i=1 N X i=1 N X i=1
4.3.2
(4.32)
Schwerpunkt ,
(4.33)
Gesamtimpuls
(4.34)
r i ×(mi r˙ i ), 1 mi r˙i2 , 2
Gesamtdrehimpuls
(4.35)
Gesamte kinetische Energie
(4.36)
Impulssatz und Schwerpunkt
Der Schwerpunkt ist dadurch ausgezeichnet, daß seine Bewegung durch die Gesamtmasse und durch die Gesamtkraft auf die Massenverteilung, N X
Fi =
i=1
N X
F ei = F e ,
(4.37)
i=1
bestimmt wird. Die Gesamtkraft h¨angt nur von den externen Kr¨aften ab, da sich die Wechselwirkungskr¨afte wegen des Gesetzes von actio=reactio zu Null addieren, X X X X F ij = F ij + F ij = F ij + F ji = 0. i,j,i6=j
i,j,i<j
i,j,i>j
i,j,i<j
F¨ ur den Schwerpunkt gelten die Bewegungsgleichungen, M R˙ = P ,
¨ = Fe . P˙ = M R
(4.38)
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54
Die erste Gleichung ergibt sich aus der Definition des Schwerpunktes durch einmalige Zeitableitung. Demnach bewegt sich der Schwerpunkt mit derselben Geschwindigkeit wie ein Massenpunkt mit der Masse M und mit dem Impuls P . Die zweite Gleichung ist der Impulssatz des Gesamtsystems. ¨ Andert sich die externe Kraft nur wenig u ¨ber die Massenverteilung, so kann sie n¨aherungsweise im Schwerpunkt ausgewertet werden, e
F =
N X
F ei (r i )
≈
i=1
N X
F ei (R) = F e (R).
i=1
In diesem Fall ist die Schwerpunktsbewegung unabh¨angig von der Bewegung der einzelnen Massenpunkte und kann tats¨achlich durch einen einzigen Massenpunkt mit der Gesamtmasse M ersetzt werden. Unter dieser Voraussetzung ist die Idealisierung ausgedehnter K¨orper als Massenpunkte gerechtfertigt. Gibt es keine ¨außeren Kr¨afte, so bezeichnet man das System als abgeschlossen. F¨ ur ein abgeschlossenes System ist der Gesamtimpuls erhalten. Der Schwerpunkt ist dann entweder in Ruhe oder er bewegt sich gleichf¨ormig,
F e = 0 ⇒ P = P 0,
R = R0 +
1 P t. M
(4.39)
Die Bewegung der Massenpunkte relativ zum Schwerpunkt wird durch die Relativvektoren r 0i = r i − R (4.40) beschrieben. Die Relativvektoren sind die Ortsvektoren der Massenpunkte in einem Bezugssystem S 0 , dessen Ursprung im Schwerpunkt liegt. Daher verschwinden der Schwerpunkt und der Gesamtimpuls in S’ 0
MR = P0 =
N X i=1 N X i=1
mi r 0i
=
mi r˙ 0i =
N X i=1 N X
mi (r i − R) = M (R − R) = 0. ˙ = P − M R˙ = 0. mi (r˙ i − R)
(4.41)
i=1
Der Drehimpuls L’ in S’ ist der Gesamtdrehimpuls um den Schwerpunkt. Er unterscheidet sich vom Drehimpuls L in S durch den Drehimpuls des mit dem Gesamtimpuls P bewegten Schwerpunktes, L = L0 + R×P .
(4.42)
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55
Dieses Transformationsgesetz folgt mit (4.41) aus, L =
=
N X i=1 N X
r i ×(mi r˙ i ) =
N X
r 0i ×(mi r˙ 0 i ) +
i=1 0
(r 0i + R)×(mi r˙ i )
i=1 N X
˙ +R×P mi r 0i ×(R)
i=1
= L + R × P. F¨ ur die kinetische Energie T erh¨alt man eine entsprechende Zerlegung, 1 T = T 0 + M R˙ 2 , 2
(4.43)
in die kinetische Energie T ’ und die kinetische Energie des mit der Gesamtmasse bewegten Schwerpunktes. Dies folgt aus T =
=
N X 1 i=1 N X i=1
2
˙ 2 mi (r˙ 0i + R)
1 mi (r˙i02 + 2r˙ 0i ·R˙ + R˙ 2 ) 2
1 = T 0 + M R˙ 2 . 2
4.3.3
Drehimpulssatz
F¨ ur ein System von Massenpunkten lautet der Drehimpulssatz ˙ = N e. L
(4.44)
Hierbei bezeichnet L den Gesamtdrehimpuls und N e das Gesamtdrehmoment der externen Kr¨afte, N X Ne = r i ×F ei . i=1
Beweis: Zur Herleitung von (4.44) verwenden wir den Drehimpulssatz (4.12) f¨ ur den i-ten Massenpunkt und erhalten durch Summation u ¨ber die Massenpunkte ˙ = L
N X i=1
˙i = L
N X i=1
r i ×F i .
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56
Die Drehmomente, die durch die Wechselwirkungskr¨afte ausge¨ ubt werden, addieren sich wegen des actio=reactio-Gesetzes zu Null, X X X X r i ×F ij = r i ×F ij + r i ×F ij = r i ×F ij + r j ×F ji = 0. i,j,i<j
i,j,i6=j
i,j,i>j
i,j,i<j
Damit reduziert sich das Gesamtdrehmoment auf die Summe der Drehmomente der externen Kr¨afte N e . Wird auf das System kein externes Drehmoment ausge¨ ubt, dann gilt der Drehimpulserhaltungssatz Ne = 0
4.3.4
⇒
L = const.
(4.45)
Energiesatz
F¨ ur ein System von Massenpunkten sei die potentielle Energie U=
N X i=1
Ui (r i ) +
1 X Uij (rij ), 2 i,j,i6=j
rij = |r i − r j |,
Uij = Uji .
(4.46)
Die Potentiale Ui (r i ) entsprechen konservativen externen Kr¨aften F ei = −∇i Ui , ∇ i = ∇ r =r i , die Potentiale Uij (rij ) konservativen Wechselwirkungskr¨aften F ij = −∇i Uij (rij ) = Fij (rij )
ri − rj , rij
mit
dUij (r) r , ∇r = . dr r Da die Wechselwirkungspotentiale nur vom Abstand der Massenpunkte abh¨angen und in den Indizes symmetrisch sind, erf¨ ullen die zugeh¨origen Wechselwirkungskr¨afte das actio=reactio-Gesetz (4.7). Der Faktor 1/2 in der potentiellen Energie (4.46) beruht darauf, daß die Wechselwirkungspotentiale f¨ ur jedes Teilchenpaar nur einmal gez¨ahlt werden d¨ urfen. Wegen der Symmetrie gegen¨ uber einer Teilchenvertauschung gilt f¨ ur diese Wechselwirkungsenergie, Fij (r) = −
1 X Uij + Uji 2 i,j,i<j i,j,i<j ! X 1 X 1 X = Uij + Uij = Uij . 2 i,j,i<j 2 i,j,i6=j i,j,j
UW =
X
Uij =
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57
Mit der kinetischen Energie, N
1X T = mi r˙i2 , 2 i=1 lautet der Energieerhaltungssatz T + U = E = const.
(4.47)
Beweis: Zum Beweis des Energieerhaltungssatzes ist zu zeigen, daß die Zeitableitung der Gesamtenergie E verschwindet, wenn die Bewegung der Massenpunkte ¨ den Bewegungsgleichungen (4.29) gen¨ ugt. F¨ ur die zeitliche Anderung der Wechselwirkungsenergie gilt dUW dt
d X Uij (rij ) dt i,j,i<j X = (∇i Uij ) ·r˙ i + (∇j Uij ) ·r˙ j =
i,j,i<j
=
X
(∇i Uij ) ·r˙ i +
i,j,i<j
X
(∇i Uji ) ·r˙ i
i,j,j
! =
X
(∇i Uij ) ·r˙ i = −
i,j,i6=j
X
X
i
j,j6=i
F ij
·r˙ i .
Dies ist gerade die zeitliche Abnahme der potentiellen Energie des Systems aufgrund der von den Wechselwirkungskr¨aften geleisteten Arbeit. Damit folgt f¨ ur die zeitliche ¨ Anderung der Gesamtenergie, X X d dUW (T + U ) = mi r˙ i ·¨ ri + (∇i Ui ) ·r˙ i + dt dt i i ! X X = mi r¨i − F ei − F ij ·r˙ i = 0. i
4.3.5
j,j6=i
Virialsatz
Der Virialsatz macht eine Aussage u ¨ber den zeitlichen Mittelwert der kinetischen Energie. In vielen F¨allen kann man sogar angeben, wie sich die Energie im Zeitmittel auf die kinetische und die potentielle Energie aufteilt. Als Voraussetzung f¨ ur den Virialsatz werde angenommen, daß die Bewegungsgleichung f¨ ur den i-ten Massenpunkt die Form p˙ i = F i
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58
besitzt und daß die Gr¨oße G(t) =
X
pi (t)·r i (t)
i
f¨ ur alle Zeiten beschr¨ankt bleibt. Die letzte Annahme ist erf¨ ullt wenn die Bewegung in einem endlichen Raumgebiet lokalisiert ist und die Energie endlich bleibt. Dies ist insbesondere bei allen beschr¨ankten periodischen Bewegungen der Fall. Dann gilt der Virialsatz T =−
1X F i ·r i 2 i
(4.48)
wobei 1 f = lim τ →∞ τ
+τ Z /2
f (t)dt −τ /2
das Zeitmittel der Funktion f (t) bezeichnet. Beweis: Der Beweis des Virialsatzes beruht auf der Identit¨at X dG X = p˙ i ·r i + pi ·r˙ i = F i ·r i + 2T. dt i i Da G beschr¨ankt ist, verschwindet das Zeitmittel der linken Seite: dG G(τ /2) − G(−τ /2) = lim = 0. τ →∞ dt τ Aus dem Zeitmittel der rechten Seite ergibt sich dann (4.48). Beispiele: F¨ ur einen harmonischen Oszillator mit der potentiellen Energie U = f x2 /2 folgt aus dem Virialsatz die Gleichverteilung von kinetischer und potentieller Energie, 1 T = − (−f x)x = U 2 F¨ ur ein Zentralpotential U = −α/r einer Zentralkraft F = −αr/r3 ist die mittlere kinetische Energie betragsm¨aßig halb so groß wie die mittlere potentielle Energie, 1 1 T = − (−αr/r3 )·r = − U . 2 2 F¨ ur ein freies Teilchen (F = 0) ergibt der Virialsatz das offensichtlich unrichtige Ergebnis T = 0. Hier ist die Voraussetzung des Satzes nicht erf¨ ullt, daß die Bewegung in einem endlichen Raumbereich verl¨auft.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
4.4
59
Zentralpotential
Wir betrachten nun die Bewegung eines Massenpunktes in einem Zentralfeld der Form, r U = U (r), F = −∇U = −U 0 (r) . (4.49) r ¨ Die potentielle Energie h¨angt nur vom Abstand r vom Kraftzentrum ab. Die Aquipotentialfl¨achen sind Kugelfl¨achen. Der Gradient zeigt in Richtung der Fl¨achennormalen. Die abgeleitete Zentralkraft ist daher in radialer Richtung gerichtet. Ein Zentralfeld wird von einer Masse erzeugt, die so groß ist, daß sie als unbeweglich im Ursprung des Koordinatensystems angenommen werden kann. Erhaltungss¨ atze Die Bewegung eines Teilchens im Zentralpotential kann man aufgrund der Erhaltung des Drehimpulses und der Energie auf eine eindimensionale Bewegung in einem effektiven Potential zur¨ uckf¨ uhren. Eine Zentralkraft erzeugt kein Drehmoment, da sie parallel zum Ortsvektor gerichtet ist, N = r × F = (F (r)/r)r × r = 0. Damit gilt der Drehimpulserhaltungssatz (4.13). Wie bereits gezeigt, verl¨auft die Bahn in diesem Fall in einer Ebene senkrecht zum Drehimpulsvektor. In der Bahnebene beschreiben wir die Bewegung durch Polarkoordinaten (r(t), ϕ(t)).
Abbildung 4.6: In Polarkoordinaten(r, ϕ) ist die ¨ Anderung des Ortsvektors dr = drer + rdϕeϕ . Unter Verwendung der Darstellung (3.50) oder nach Abb.(4.6) erh¨alt man in Polarkoordinaten r = rer ,
v = re ˙ r + rϕe ˙ ϕ,
r × v = r2 ϕe ˙ z,
v 2 = r˙ 2 + r2 ϕ˙ 2 .
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60
Damit lauten der Drehimpuls- und Energieerhaltungssatz L = mr2 ϕ˙ = const, 1 2 1 2 2 E = mr˙ + mr ϕ˙ + U (r) = const. 2 2
(4.50) (4.51)
Diese Erhaltungss¨atze bilden ein System von 2 gekoppelten Differentialgleichungen 1. Ordnung f¨ ur die Funktionen r(t) und ϕ(t). Zur eindeutigen Festlegung einer L¨osung sind noch zwei Anfangsbedingungen r(0) = r0 ,
ϕ(0) = ϕ0
(4.52)
erforderlich. Die Newtonsche Bewegungsgleichung f¨ ur einen Massenpunkt stellt ein System von 3 gekoppelten Differentialgleichungen 2.Ordnung dar. Die allgemeine L¨osung besitzt 6 Integrationskonstanten. 4 Integrationskonstanten werden durch die Energie und die drei Komponenten des Drehimpulses bestimmt. Die restlichen beiden Integrationskonstanten sind durch (4.52) festgelegt. Integration der Bewegungsgleichungen Eliminiert man ϕ˙ mit Hilfe der Beziehungen ϕ˙ =
L , mr2
1 2 2 L2 mr ϕ˙ = 2 2mr2
(4.53)
so lautet der Energiesatz 1 E = mr˙ 2 + Uef f (r), 2
Uef f (r) = U (r) +
L2 . 2mr2
(4.54)
Man kann die Radialbewegung r = r(t) als eine eindimensionale Bewegung in einem effektiven Potential Uef f (r) auffassen und entsprechend integrieren r Z r(t) 2 dr0 q . r˙ = ± (E − Uef f ), t=± m 2 r0 (E − U ) m
ef f
Die L¨osung t = t(r) bestimmt implizit die Radialbewegung r = r(t). Damit kann die Winkelbewegung ϕ = ϕ(t) ebenfalls integriert werden, Zt ϕ(t) = ϕ0 + 0
L 0 dt . mr2
(4.55)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
61
Die Bewegung r = r(t), ϕ = ϕ(t) stellt eine Parameterdarstellung der Bahnkurve r = r(ϕ) mit dem Kurvenparameter t dar. Die Bahnkurve kann wegen dϕ ϕ˙ L = =± p 2 dr r˙ r 2m(E − Uef f )
(4.56)
auch direkt durch das Integral Z
r(t)
ϕ = ϕ0 ± r0
r2
Ldr , 2m(E − Uef f )
p
(4.57)
dargestellt werden. Die Umkehrung von ϕ = ϕ(r) ergibt r = r(ϕ). Bahnkurven Die Radialbwegung wird durch das effektive Potential Uef f (r) bestimmt. Das effektive Potential Uef f (r) ist die Summe aus dem Zentralpotential U (r) und einem Potential Uz = L2 /2mr2 , das als Zentrifugalpotential bezeichnet wird. Abbildung (4.7) zeigt das effektive Potential f¨ ur die Potentiale U = αr2 und U = −α/r mit α > 0. Die Radialbewegung ist auf die Bereiche mit E > Uef f eingeschr¨ankt. Punkte, in denen E = Uef f sind Umkehrpunkte der Radialbewegung. Falls die Bedingung E > Uef f nur in einem endlichen Intervall rmin < r < rmax erf¨ ullt ist, spricht man von einer gebundenen Bahn.
Abbildung 4.7: Effektives Potential Uef f = U +L2 /2mr2 f¨ ur U = αr2 und U = −α/r.
An den Umkehrpunkten der Radialbewegung gilt r˙ = 0 aber ϕ˙ 6= 0, nach (4.53). Daher dreht sich der Ortsvektor an diesen Umkehrpunkten in der Bahnebene weiter.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
62
Bei einer ungebundenen Bewegung kommt die Bahn aus dem Unendlichen, n¨ahert sich dem Kraftzentrum bis auf einen minimalen Abstand r0 und entfernt sich dann wieder ins Unendliche.
Abbildung 4.8: Bahnkurven einer ungebundenen Bewegung in einem anziehenden (rechts) und einem abstoßenden (links) Zentralpotential. Die Bahn n¨ahert sich dem Zentrum bis zum minimalen Abstand r0 .
Bei einer gebundenen Bahn verl¨auft die Radialbewegung zwischen zwei Umkehrpunkten rmin und rmax . Einem Umlauf im effektiven Potential von rmin nach rmax und zur¨ uck nach rmin entspricht ein Winkelzuwachs Z rmax 2Ldr p ∆ϕ = (4.58) 2 2m(E − Uef f ) rmin r f¨ ur den Umlauf des Teilchens um das Kraftzentrum. Die Bahn des Teilchens verl¨auft, wie in Abb. (4.9) dargestellt innerhalb eines Kreisringes, wobei sich die Radien zu zwei aufeinanderfolgenden Scheitelpunkten der Bahn am ¨außeren bzw. inneren Rand des Ringes um den Winkel (4.58) drehen. Die Bahn ist geschlossen, falls f¨ ur ganzzahlige m und n die Bedingung m∆ϕ = n2π
(4.59)
erf¨ ullt wird. Dann schließt sich die Bahn nach m Uml¨aufen im effektiven Potential bzw. n Uml¨aufen um das Kraftzentrum (Rosettenbahn). Ist ∆ϕ kein rationales Vielfaches von 2π, so ist die Bahn offen und erf¨ ullt nach beliebig vielen Uml¨aufen den gesamten Kreisring. Man kann zeigen, daß sie jedem Punkt des Kreisringes beliebig nahe kommt und bezeichnet solche Bahnen als ergodisch. Newtonsche Bewegungsgleichung: Zum selben Ergebnis gelangt man auch durch direkte L¨osung der Newtonschen Bewegungsgleichung m¨ r = m{(¨ r − rϕ˙ 2 )er + (rϕ¨ + 2r˙ ϕ)e ˙ ϕ } = −U 0 (r)er
(4.60)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
63
Abbildung 4.9: Bahnkurve einer gebundenen Bewegung in einem Zentralpotential. Die Bahn verl¨auft innerhalb des Kreisringes zwischen rmin und rmax . Die Teilst¨ ucke der Bahn zwischen 2 Umkehrpunkten sind jeweils spiegelsymmetrisch bez¨ uglich der vom Zentrum zu den Umkehrpunkten gerichteten Radien rmin bzw. rmax .
in der Bahnebene. Die Komponente der Bewegungsgleichung in Richtung eϕ , rϕ¨ + 2r˙ ϕ˙ =
1d 2 r ϕ˙ = 0 r dt
(4.61)
ergibt die Drehimpulserhaltung L = mr2 ϕ˙ = const. Damit kann die Radialkomponente der Bewegungsgleichung in der Form m¨ r = −U 0 (r) + mr
L2 0 = −Uef f (r) 2 4 mr
(4.62)
angegeben werden. Zus¨atzlich zur vorgegebenen Zentralkraft tritt eine Zentrifugalkraft auf, die immer radial nach außen gerichtet ist und aus dem Zentrifugalpotential abgeleitet werden kann. Der Energiesatz dieser eindimensionalen Bewegungsgleichung stimmt mit dem obigen Energiesatz f¨ ur die Gesamtenergie des Teilchens u ¨berein.
4.5
Kepler-Problem
Die Bestimmung der Bewegung eines Massenpunktes in einem Zentralfeld der Form α U (r) = − , r
F =−
α r , r2 r
α = const,
(4.63)
wird als das Kepler-Problem bezeichnet. F¨ ur α = γmM ist es auf die Planetenbewegung (Masse m) um die Sonne (Masse M ) anwendbar, wobei die Sonne als festes Zentrum behandelt wird. Im Rahmen der Newtonschen Theorie k¨onnen die Keplerschen Planetengesetze hergeleitet und durch das universelle Gravitationsgesetz
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
64
(4.63) begr¨ undet werden. Dies war einer der gr¨oßten und u ¨berzeugensten Erfolge der Newtonschen Mechanik. F¨ ur α = q1 q1 erh¨alt man das Coulomb-Gesetz der Elektrostatik. Es beschreibt zum Beispiel die klassischen Elektronenbahnen in einem Atom oder die Streuung geladener Teilchen. F¨ ur α > 0 ist das Potential anziehend, f¨ ur α < 0 abstoßend. Keplersche Gesetze 1.) Die Planetenbahnen sind Ellipsen. Die Sonne befindet sich in einem Brennpunkt der Ellipse. 2.) Der von der Sonne zum Planeten gerichtete Vektor u ¨berstreicht in gleichen Zeiten gleiche Fl¨achen. 3.) F¨ ur 2 Planetenbahnen verhalten sich die Quadrate der Umlaufzeiten wie die Kuben der großen Halbachsen. Das zweite Keplersche Gesetz ist der Fl¨achensatz (4.14), der allgemein aus der Drehimpulserhaltung folgt. Das erste und dritte Gesetz werden im folgenden aus der L¨osung des Kepler-Problems abgeleitet. Effektives Potential Abbildung 4.10: Effektives Potential f¨ ur ein anziehendes 1/rPotential. F¨ ur negative Energien sind die Bahnen gebunden. Die Radialbewegung verl¨auft zwischen den Umkehrpunkten rmin und rmax . F¨ ur positive Energien existieren keine gebundenen Bahnen. Ein einfallendes Teilchen wird am Kraftzentrum gestreut und entfernt sich danach wieder beliebig weit.
Das effektive Potential
α L2 + (4.64) r 2mr2 besitzt das in Abb.(4.10) dargestellte Verhalten. F¨ ur L 6= 0 existiert ein Minimum bei L2 1 mα2 r∗ = , U∗ = − . (4.65) mα 2 L2 Uef f = −
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65
Demnach gibt es gebundene Bahnen f¨ ur negative Energien im Intervall −
mα2 ≤ E < 0. 2L2
(4.66)
F¨ ur positive Energien sind die Bahnen ungebunden. Bahnkurven Die Bahnkurve r = r(ϕ) wird durch das Integral Z L dr q ϕ= r2 2m(E + αr ) −
(4.67) L2 r2
bestimmt. Es ist hilfreich mit Hilfe von (4.65) die Parameter p = r∗ und = p (U∗ − E)/U∗ einzuf¨ uhren. Explizit lautet diese Definition
L2 p= , mα
r =
2EL2 . mα2
1+
(4.68)
Damit erh¨alt man durch quadratische Erg¨anzung α L2 2m(E + ) − 2 r r m2 α2 2EL2 2p p2 = + − 2 L2 mα2 r r 2 2 L p 2 = − − 1 p2 r " 2 # L2 2 p/r − 1 = 1− . p2 Mit der Substitution ξ=
p/r − 1 ,
dξ = −
p 1 dr, r2
der Integrationsvariablen folgt Z dξ ϕ=− p = arccos ξ + const. 1 − ξ2 Die hierbei auftretende Integrationskonstante kann Null gesetzt werden. Dies entspricht einer Drehung des Koordinatensystems, so daß der Wert ξ = 1 f¨ ur ϕ = 0
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66
angenommen wird. L¨ost man nach r auf, so erh¨alt man die Bahnkurve: r=
p 1 + cos ϕ
(4.69)
Sie beschreibt Kegelschnitte mit Parameter p und Exzentrizit¨at . F¨ ur < 1 sind dies Ellipsen, f¨ ur > 1 Hyperbeln, f¨ ur = 1 Parabeln. Eine Kreisbahn ( = 0) ist ein Spezialfall einer Ellipse. Ellipsenbahnen F¨ ur im Intervall 0 < < 1 sind die Bahnkurven Ellipsen. Dieses Intervall entspricht dem Energieintervall (4.66) f¨ ur gebundene Bahnen im effektiven Potential. Der Grenzfall = 0 entspricht dabei der Kreisbahn im Minimum des effektiven Potentials. Nach Abbildung (4.11) und gem¨aß der Polargleichung (4.69) bestehen f¨ ur die Parameter der Ellipse folgende Relationen, 2a = r1 + r2
p rmax = r(π) = , p = r(π/2) 1− 1 p 1 1 p (rmin + rmax ) = + = . a = 2 2 1+ 1− 1 − 2 p 1 1 p 1 (rmax − rmin ) = − = = a . ∆ = 2 2 1− 1+ 1 − 2 √ b2 + ∆2 = a2 , b = 1 − 2 a
rmin = r(0) =
p , 1+
Daraus erh¨alt man f¨ ur die große Halbachse
a=
p L2 mα2 α = = 2 2 1− mα 2|E|L 2|E|
(4.70)
und f¨ ur die kleine Halbachse
b=
√
r 1 − 2 a =
2|E|L2 α L . =p 2 mα 2|E| 2m|E|
(4.71)
Der Halbparameter p ist eindeutig durch L bestimmt. Die große Halbachse a ist eindeutig durch E bestimmt. Abbildung (4.12) zeigt schematisch die Ellipsenbahnen als Funktion des Drehimpulses bei fester Energie und als Funktion der Energie bei festem Drehimpuls.
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67
Abbildung 4.11: Ellipse mit Halbachsen a, b, Halbparameter p und Exzentrit¨at .
Abbildung 4.12: Links: Bahnellipsen bei festem E und Variation von L. Die Kreisbahn besitzt den gr¨oßtm¨oglichen Drehimpuls. Rechts: Bahnellipsen bei festem L und Variation von E. Die Kreisbahn besitzt die kleinstm¨ogliche Energie.
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68
Umlaufperiode Aufgrund des Fl¨achensatzes (4.14) gilt f¨ ur eine Umlaufperiode T L T 2m r 2m 2πm α L m 3 p T = πab = = 2π a2 L L 2|E| α 2m|E| S = πab =
Mit α = γmM ergibt sich f¨ ur die Umlaufperiode T und die große Halbachse a der Zusammenhang. T2 =
(2π)2 3 a γM
(4.72)
Da die Proportionalit¨atskonstante f¨ ur alle Planeten und f¨ ur alle Drehimpulse gleich groß ist, erh¨alt man hieraus das dritte Keplersche Gesetz.
4.6
Coulomb-Streuung
F¨ ur > 1 sind die Bahnkurven Hyperbeln. Sie beschreiben die Streuung von Teilchen mit Energien E > 0. Die Energie E und der Drehimpuls L bleiben bei der Streuung erhalten. Das einfallende Teilchen bewege sich asymptotisch in konstantem Abstand s von der x-Achse mit der Geschwindigkeit v0 , d.h. es gilt r = xex + sey ,
v = v0 ex ,
L = mr × v = −msv0 ez .
(4.73)
Man bezeichnet s als den Stoßparameter. Die asymptotische Geschwindigkeit und der Stoßparameter legen die Parameter der Bahnkurve fest, E =
1 2 mv , 2 0
2Es2 p = , α
4.6.1
L = −msv0 , L2 = 2ms2 E, s 2 2Es = 1+ . α
(4.74)
Ablenkwinkel
Das auslaufende Teilchen bewegt sich asymptotisch ebenfalls entlang einer Geraden. Diese ist gegen¨ uber der x-Achse um den Ablenkwinkel ϑ geneigt. F¨ ur abstoßende Wechselwirkung gilt gem¨aß (4.68) und (4.69), α < 0,
p < 0,
1 + cos ϕ < 0,
ϕ(rmin ) = π.
(4.75)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
Abbildung 4.13: Streuung an einem abstoßenden Coulomb-Potential.
Abbildung 4.14: Streuung an einem anziehenden Coulomb-Potential.
69
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
70
Die Polarkoordinaten sind so zu w¨ahlen, daß ϕ = π f¨ ur r = rmin gilt. Die Achse des Polarkoordinatensystems ist also von rmin zum Ursprung gerichtet (Abb. (4.13)). Bei anziehender Wechselwirkung gilt entsprechend α > 0,
p > 0,
1 + cos ϕ > 0,
ϕ(rmin ) = 0.
(4.76)
Hier zeigt die Achse des Polarkoordinatensystems vom Ursprung zum Punkt rmin (Abb. (4.14)). In beiden F¨allen besteht zwischen dem Polarwinkel ϕ = ϕ0 und dem Ablenkwinkel ϑ der auslaufenden Asymptote der Zusammenhang ϑ = 2ϕ0 − π,
ϕ0 =
ϑ π + . 2 2
(4.77)
Der Ablenkwinkel bei der Coulomb-Streuung l¨aßt sich nun einfach bestimmen. Aus der Polargleichung (4.69), ergibt sich f¨ ur die auslaufende Asymptote (r → ∞) die Bedingung ϑ ϑ π + = 1 − sin = 0. 1 + cos ϕ0 = 1 + cos 2 2 2 Damit folgt f¨ ur den Ablenkwinkel die Beziehung
sin
4.6.2
1 ϑ = . 2
(4.78)
Wirkungsquerschnitt
Die Teilchen eines Teilchenstrahls k¨onnen durch St¨oße mit einem anderen Teilchen abgelenkt und als Funktion des Ablenkwinkels mit einem Detektor nachgewiesen werden. Diesen Vorgang nennt man Streuung. Wir betrachten hier die Streuung eines Teilchenstrahls an einem festen Streuzentrum.
Abbildung 4.15: Streuung von Teilchen aus dem Fl¨achenelement dσ = sdsdϕ in das Raumwinkelelement dΩ = sin ϑdϑdϕ.
Zur Definition des Wirkungsquerschnittes betrachte man einen Strahl monoenergetischer Teilchen, die von einem Streuzentrum in ein Raumwinkelelement gestreut
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
71
werden (Abb. 4.15). Der Abstand der Bahn des ungest¨orten Teilchens vom Streuzentrum wird als Stoßparameter s bezeichnet. Teilchen, die durch den Kreisring zwischen s und s + ds hindurchtreten werden um einen Winkel zwischen ϑ und ϑ + dϑ abgelenkt. Einfallender Teilchenstrom: Die Anzahl der Teilchen, die pro Zeiteinheit durch die Fl¨ache dσ hindurchtreten, sei I = jdσ;
dσ = sdϕds
(4.79)
Detektorfl¨ ache: dO = RdϑR sin ϑdϕ = R2 dΩ Raumwinkelelement: dΩ =
dO = sin ϑdϑdϕ R2
(4.80)
(4.81)
Gestreuter Teilchenstrom pro Raumwinkelelement: dI dσ =j dΩ dΩ Differentieller Wirkungsquerschnitt: sdsdϕ 1 dI dσ = s = = j dΩ dΩ sin ϑdϑdϕ sin ϑ
(4.82)
ds = s 1 dϑ sin ϑ dϑ ds
(4.83)
Der Betrag ist notwendig, da in der Regel einer Zunahme des Stoßparameters ds eine Abnahme des Ablenkwinkels dϑ entspricht.
4.6.3
Streuung an harten Kugeln
Abbildung 4.16: Streuung eines Teilchens an einer harten Kugel mit Radius a.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
72
Ein Teilchen werde an einer harten Kugel mit Radius a gestreut (Abb. 4.16). Die Beziehung zwischen dem Stoßparamter und dem Ablenkwinkel ergibt sich aus der Abbildung zu π−ϑ ϑ s = a sin ϕ0 = a sin = a cos . 2 2 Damit kann der Differentielle Wirkungsquerschnitt wie folgt berechnet werden: a ϑ ds = − sin dϑ 2 2 a cos ϑ2 a ϑ a2 dσ =− − sin = , mit: sin ϑ2 cos ϑ2 = 12 sin ϑ. (4.84) dΩ sin ϑ 2 2 4 Durch Integration u ¨ber den Raumwinkel erh¨alt man den totalen Wirkungsquerschnitt. Er entspricht hier der Querschnittsfl¨ache der Kugel: Z σ=
4.6.4
dΩ
dσ a2 = · 4π = πa2 . dΩ 4
(4.85)
Rutherfordscher Wirkungsquerschnitt
Bei der Coulomb-Streuung wird der Zusammenhang zwischen dem Ablenkwinkel und dem Stoßparameter (Abb.4.17) durch die Formel (4.78) bestimmt. Damit ergibt sich folgende Berechnung des Wirkungsquerschnittes.
Abbildung 4.17: Ablenkung eines Teilchens um einen Winkel ϑ bei einem Stoß mit Stoßparameter s.
Berechnung der Funktion s = s(ϑ): 2 =
2Es α
1 sin (ϑ/2) 2
2
2 1 1 − sin2 ϑ/2 cos ϑ/2 = −1= = sin ϑ/2 sin2 ϑ/2 sin2 ϑ/2 |α| cos ϑ/2 ∞ ; ϑ=0 s = → 0 ; ϑ=π 2E sin ϑ/2
(4.86)
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73
Ableitung ds/dϑ: ds |α| − 12 sin2 ϑ/2 − 12 cos2 ϑ/2 1 |α| = =− 2 2 dϑ 2E 4E sin ϑ/2 sin ϑ/2 Differentieller Wirkungsquerschnitt: dσ 1 |α| cos ϑ/2 1 |α| = − − ; 2 dΩ 2E sin ϑ/2 sin ϑ 4E sin ϑ/2 α 2 1 = . 4 4E sin ϑ/2
sin ϑ = 2 sin
(4.87)
ϑ ϑ cos , 2 2 (4.88)
Beispiel: Im Rutherfordschen Streuexperiment wurden α-Teilchen (Z1 = 2; E ≈ 4 − 8M eV ) an Goldkernen (Z2 = 79) gestreut. Mit α = −Z1 Z2 e2 erh¨alt man den Rutherfordschen Wirkungsquerschnitt
dσ = dΩ
Z1 Z2 e2 4E
2
1 sin
4
ϑ 2
(4.89)
Wird der Rutherfordsche Wirkungsquerschnitt im Experiment gemessen, so kann daraus geschlossen werden, daß die Streuzentren n¨aherungsweise punktf¨ormig sein m¨ ussen. Der Kernradius ist also kleiner als der minimale Stoßparameter rmin ≈ 30 . . . 60fm (1 fm = 10−15 m). Dadurch wurde das Rutherfordsche Atommodell best¨atigt: Die Masse des Atoms ist in einem Atomkern konzentriert, dessen Ausdehnung sehr viel kleiner ist als die der Elektronenh¨ ulle (rAtom ≈ 1˚ A, 1˚ A=10−10 m). Totaler Wirkungsquerschnitt: Z σ=
dσ dΩ = dΩ
Z2π
Zπ dϕ
0
dσ dϑ sin ϑ = 2π dΩ
0
Zπ dϑ sin ϑ
dσ dΩ
(4.90)
0
Wegen der unendlichen Reichweite der Coulombwechselwirkung divergiert der totale Wirkungsquerschnitt. Man erh¨alt einen endlichen Wirkungsquerschnitt, wenn man die Abschirmung der Ladung durch die Atomh¨ ulle ber¨ ucksichtigt.
4.7
Zweiko ¨rperproblem
Wir behandeln nun ein abgeschlossenes System aus zwei Massenpunkten, die miteinander wechselwirken. Dieses Zweik¨orperproblem kann mit Hilfe des Impulserhaltungssatzes auf ein Eink¨orperproblem zur¨ uckgef¨ uhrt werden.
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74
Die Bewegungsgleichungen der beiden Teilchen besitzen die Form m1 r¨ 1 = F 12 ,
m2 r¨ 2 = F 21 .
(4.91)
Die Wechselwirkungskr¨afte sollen nur vom Abstand der Teilchen abh¨angen und das Gesetz von actio=reactio erf¨ ullen: F 12 = F 12 (|r 1 − r 2 |),
F 12 = −F 21 .
(4.92)
Schwerpunkts- und Relativkoordinaten Das Gleichungssystem (4.91) kann durch die Einf¨ uhrung von Schwerpunkts- und Relativkoordinaten entkoppelt werden. Die Koordinatentransformation und ihre Umkehrtransformation werden durch die Vektorgleichungen
R=
1 (m1 r 1 + m2 r 2 ) , M
r1 = R −
µ r, m1
r = r2 − r1
r2 = R +
µ r, m2
(4.93)
(4.94)
mit
m1 m2 m1 + m2 definiert. Man bezeichnet µ als die reduzierte Masse. Bei stark unterschiedlichen Massen entspricht die reduzierte Masse n¨aherungsweise der kleineren Masse, d.h. µ ≈ m2 f¨ ur m2 m1 . Bei gleichen Massen gilt m1 = m2 = 2µ, d.h. µ ist gegen¨ uber den Massen m1,2 um den Faktor 1/2 reduziert. M = m1 + m2 ,
µ=
Der Relativvektor r ist vom Massenpunkt r 1 zum Massenpunkt r 2 gerichtet. Die in (4.40) definierten Relativvektoren sind vom Ursprung des Schwerpunktssystems aus definiert und besitzen hier die Form r 01 = −
µ r, m1
r 02 =
µ r. m2
F¨ ur die Impulse der Massenpunkte gilt die Transformation p1 = m1 V − µv,
p2 = m2 V + µv,
mit ˙ V = R,
v = r. ˙
(4.95)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
75
Abbildung 4.18: Laborsystem und Schwerpunktssystem.
Die kinetische Energie der Massenpunkte kann als Summe der kinetischen Energien der Schwerpunkts- und Relativbewegungen dargestellt werden, 1 1 T = M V 2 + µv 2 . 2 2
(4.96)
Dies folgt unmittelbar aus (4.43) wobei 1 1 m1 v102 + m1 v202 2 2 2 2 1 µv 1 µv 1 2 2 1 1 = m1 + m2 = µv + 2 m1 2 m2 2 m1 m2 1 2 = µv 2
T0 =
(4.97)
die Energie im Schwerpunktssystem darstellt. Die Bewegung der Teilchen wird durch die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewegung eindeutig bestimmt. Die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewegung k¨onnen unabh¨angig voneinander behandelt werden.
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76
Schwerpunkts- und Relativbewegung Durch die Addition der beiden Bewegungsgleichungen in (4.91) ergibt sich die Bewegungsgleichung f¨ ur den Schwerpunkt: m1 r¨1 + m2 r¨2 = M V˙ = F 12 + F 21 = 0 (4.98) Da die Gesamtkraft verschwindet, ist der Gesamtimpuls erhalten und der Schwerpunkt bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit.
V = V 0 = const,
R = R0 + V 0 t.
(4.99)
F¨ ur die Relativbewegung erh¨alt man mit (4.95) und (4.99) die Bewegungsgleichung p˙ 2 = µ¨ r = F 21 (r)
(4.100)
Hierbei handelt es sich um ein Eink¨orperproblem f¨ ur ein fiktives Teilchen mit der reduzierten Masse µ und dem Ortsvektor r unter Einwirkung der Kraft F 21 (r). Schwerpunktsystem (SS): Ein Bezugssystem in dem der Schwerpunkt im Koordinatenursprung ruht, R = V = 0, wird Schwerpunktsystem genannt. F¨ ur die Teilchenbewegung im SS gilt: r 1 (t) = −
µ r(t), m1
r 2 (t) =
µ r(t) m2 (4.101)
p1 = −µv,
p2 = µv.
Die Impulse der beiden Teilchen sind entgegengesetzt gerichtet und betragsm¨aßig gleich groß.
Elastische Sto ¨ße Bei elastischen St¨oßen gelten die Erhaltungss¨atze f¨ ur die Energie und den Impuls. Aufgrund dieser Erhaltungss¨atze besteht das Ergebnis des Stoßes im Schwerpunktsystem in einer Drehung der Richtung der Relativgeschwindigkeit. Die Gr¨oße des Ablenkwinkels im Schwerpunktsystem h¨angt von der Art der Wechselwirkung ab. Zur Bestimmung des Ablenkwinkels muß die Bewegungsgleichung gel¨ost werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
77
Impulserhaltung: Aufgrund der Impulserhaltung kann sich beim Stoß nur die Relativgeschwindigkeit ¨andern. Die Schwerpunktgeschwindigkeit bleibt erhalten: V = V 0.
(4.102)
Der Strich kennzeichnet Gr¨oßen nach dem Stoß. Im Schwerpunktsystem verschwindet der Gesamtimpuls vor und nach dem Stoß: P = µv − µv = 0,
P 0 = µv 0 − µv 0 = 0.
(4.103)
Energieerhaltung: Aufgrund der Energieerhaltung kann sich beim Stoß nur die Richtung der Relativgeschwindigkeit ¨andern. Die Relativgeschwindigkeit vor dem Stoß sei v = vt, nach dem Stoß v 0 = v 0 t0 mit Einheitsvektoren t bzw. t0 in Richtung der Relativgeschwindigkeit. Im Schwerpunktssystem lautet der Energieerhaltungssatz nach (4.96) µv 2 µv 0 2 E = E 0, E= , E0 = . (4.104) 2 2 Daraus folgt, daß der Betrag der Relativgeschwindigkeit erhalten ist, v = v0. Der noch unbestimmte Winkel zwischen t und t0 wird als Ablenkwinkel ϑ bezeichnet und h¨angt vom speziellen Wechselwirkungsgesetz ab. Die Geschwindigkeiten nach dem Stoß sind im Schwerpunktssystem v 01 = −
µ vt0 , m1
v 02 =
µ vt0 , m2
(4.105)
und im Laborsystem v 01,L = V −
µ vt0 , m1
v 02,L = V +
µ vt0 . m2
(4.106)
Kapitel 5 Lagrangesche Mechanik Die Behandlung von Systemen von Massenpunkten mit Zwangsbedingungen erfordert eine Erweiterung der Newtonschen Mechanik. Die Einf¨ uhrung von Zwangskr¨aften f¨ uhrt zu den Lagrangegleichungen erster Art, die von generalisierten Koordinaten zu den Lagrangegleichungen zweiter Art. Die Lagrangegleichungen k¨onnen auch aus Variationsprinzipien abgeleitet werden. Das d’Alembertsche Prinzip ist ¨aquivalent zu den Lagrangegleichungen erster Art, das Hamiltonsche Prinzip zu den Lagrangegleichungen zweiter Art. Im Rahmen des Hamiltonschen Variationsprinzips formuliert das Noether-Theorem den allgemeinen Zusammenhang von Symmetrien und Erhaltungsgr¨oßen.
5.1 5.1.1
Systeme mit Zwangsbedingungen Zwangsbedingungen
Ein System aus N freien Massenpunkten besitzt 3N Freiheitsgrade. Diese entsprechen den Lagekoordinaten der Massenpunkte im dreidimensionalen Raum. Ist ein Massenpunkt Teil eines mechanischen Systems, so kann die Zahl seiner Freiheitsgrade durch ¨außere Vorgaben eingeschr¨ankt sein. Beim ebenen Pendel bewegt sich die Masse auf einer Kreisbahn und besitzt daher nur noch einen Freiheitsgrad. Bedingungen, die die Zahl der Freiheitsgrade einschr¨anken, werden Zwangsbedingungen genannt. Physikalische Systeme mit Zwangsbedingungen sind in der Technik sehr verbreitet. Bei mechanischen Maschinen werden die beweglichen Teile, wie Kolben und R¨ader, so gef¨ uhrt, daß meist schon ein Freiheitsgrad ausreicht um deren Stellung anzugeben. Die Reduktion der Anzahl der Freiheitsgrade auf wenige relevante Freiheitsgrade ist von prinzipieller Bedeutung. Viele Probleme werden erst auf diese Weise behandelbar. Ein starrer K¨orper besteht z.B. aus unendlich vielen Massenpunkten. Da wir 78
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
79
aber wissen, daß die Abst¨ande zwischen den Massenpunkten bei der Bewegung fest bleiben, reduziert sich das Problem auf eine Bewegung mit den sechs Freiheitsgraden der Translation und Rotation. Die folgenden Beispiele zeigen einige typische Zwangsbedingungen:
• Massenpunkt mit Ortsvektor r auf einer Ebene mit Normalenvektor n: n · r = 0.
• Massenpunkt mit Ortsvektor r auf oder oberhalb einer Ebene mit Normalenvektor n: n·r≥0
• Massenpunkt auf der Oberfl¨ache einer Kugel mit Radius R: r−R=0
• Starr verbundene Massenpunkte mit Abst¨anden rij : 2 (r i − r j )2 − rij =0
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80
• Massenpunkt auf rotierender Stange mit Richtung e(t). r × e(t) = 0
• Mittelpunkt des rollenden Rades: x˙ − Rϕ˙ = 0,
z−R=0
Konfigurationsraum Zur Klassifikation der Zwangsbedingungen ist es hilfreich ein System von N Massenpunkten in einem 3N dimensionalen Konfigurationsraum darzustellen. Das System wird im Konfigurationsraum durch einen Punkt x repr¨asentiert. Hierbei werden die Koordinaten des Punktes im Konfigurationsraum, xi ,
i = 1, · · · , 3N ,
durch die Koordinaten der N Massenpunkte definiert, x1 x4 x3N −2 r 1 = x2 , r 2 = x5 , · · · , r N = x3N −1 . x3 x6 x3N Holonome Zwangsbedingungen Unter holonomen Zwangsbedingungen versteht man Zwangsbedingungen, die sich in Form einer Gleichung g(x, t) = 0.
(5.1)
zwischen den Lagekoordinaten und eventuell der Zeit ausdr¨ ucken lassen. Holonome Zwangsbedingungen werden im Rahmen der Lagrangegleichungen zweiter Art vorausgesetzt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
81
Lineare differentielle Zwangsbedingungen Das totale Differential von (5.1) definiert in jedem Punkt eine lineare differentielle Zwangsbedingung, 3N X ∂g ∂g dg(x, t) = dxi + dt = 0. (5.2) ∂x ∂t i i=1 Lineare differentielle Zwangsbedingungen besitzen die allgemeine Form, 3N X
Ai (x, t)dxi + B(x, t)dt = 0,
(5.3)
i=1
mit beliebigen Funktionen Ai (x, t) und B(x, t). Differentielle Zwangsbedingungen k¨onnen holonom oder nicht-holonom sein. Im holonomen Fall ist (5.3) das totale Differential einer Funktion g(x, t). Dazu m¨ ussen Integrabilit¨atsbedingungen erf¨ ullt sein. Im Rahmen der Lagrangegleichungen erster Art wird nur die lineare differentielle Form der Zwangsbedingungen vorausgesetzt. Dividiert man (5.3) durch dt, so ergeben sich Zwangsbedingungen, die außer von den Lagekoordinanten auch noch linear von den Geschwindigkeiten abh¨angen. 3N X
Ai (x, t)vi + B(x, t) = 0,
(5.4)
i=1
Ein Beispiel dieser Art ist die Zwangsbedingung f¨ ur das rollende Rad. Allgemeinere Zwangsbedingungen, die sich nicht in der Form von (5.3) schreiben lassen, sind z.B. Ungleichungen oder Gleichungen, die nicht linear von den Geschwindigkeiten abh¨angen. Rheonome und skleronome Zwangsbedingungen Man unterscheidet auch noch zeitabh¨angige, g = g(x, t), und zeitunabh¨angige, g = g(x), Zwangsbedingungen. Zeitabh¨angige Zwangsbedingungen heißen rheonom, zeitunabh¨angige skleronom. Hyperfl¨ achennormale und virtuelle Verru ¨ ckungen Wir betrachten nun die durch eine holonome Zwangsbedingung definierte Hyperfl¨ache zu einem festen Zeitpunkt t. Die Richtung der Hyperfl¨achennormalen wird durch den Gradienten ∂g(x, t) A(x, t) = . (5.5) ∂x
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
82
bzw. in Komponentenschreibweise Ai (x, t) =
∂g(x, t) , ∂xi
bestimmt. Denn es gilt f¨ ur jede infinitesimale Verschiebung δx innerhalb der momentanen Hyperfl¨ache gem¨aß (5.3) die Orthogonalit¨atsbedingung A · δx =
3N X
Ai δxi = 0.
(5.6)
i=1
Der Vektor A zeigt in Normalenrichtung, er ist aber nicht auf eins normiert. Die infinitesimalen Verschiebungen δx innerhalb der momentanten Hyperfl¨ache werden ¨ als virtuelle Verr¨ uckungen bezeichnet. Es sind infinitesimale Anderungen der Koordinaten, die mit den Zwangsbedingungen des Systems zu einer festen Zeit konsistent sind. Virtuelle Verr¨ uckungen m¨ ussen von den tats¨achlichen Verschiebungen dx der Massenpunkte in einem Zeitintervall dt unterschieden werden, da sich in dieser Zeit die Zwangsbedingungen ¨andern k¨onnen.
Abbildung 5.1: Hyperfl¨ache mit Normale und virtueller Verr¨ uckung.
Nicht-holonome linear differentielle Zwangsbedingungen haben lokal eine entsprechende geometrische Bedeutung. Die Zwangsbedingung (5.3) definiert zu einer festen Zeit ganz analog ein Richtungsfeld A(x, t) im Konfigurationsraum. In jedem Punkt x liegen die virtuellen Verr¨ uckungen in einer zu A(x, t) orthogonalen Tangentialebene.
5.1.2
Zwangskr¨ afte
Zwangsbedingungen f¨ uhren zu einer Erweiterung der Newtonschen Mechanik. Um die Zwangsbedingungen erf¨ ullen zu k¨onnen, werden in den Bewegungsgleichungen zus¨atzliche Kr¨afte eingef¨ uhrt. Diese Kr¨afte werden als Zwangskr¨afte bezeichnet.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
83
Die Bewegungsgleichung eines Massenpunktes mit einer Zwangskraft Z lautet m¨ r = F + Z. Die Rolle der Zwangskraft soll zuerst an den folgenden Beispielen illustriert werden. Schiefe Ebene
Abbildung 5.2: Schiefe Ebene mit Schwerkraft G und Zwangskraft Z.
Ein Massenpunkt bewege sich unter Einwirkung der Schwerkraft G = −mgez auf einer um den Winkel α geneigten schiefen Ebene (Abb.5.2). In einem um den Winkel α gedrehten Inertialsystem S 0 lauten die Bewegungsgleichungen m¨ x0 = −mg sin α + Zx0 m¨ z 0 = −mg cos α + Zz0
(5.7)
Um die Zwangsbedingung z 0 = 0 zu erf¨ ullen, kann die Zwangskraft Zx0 = 0,
Zz0 = mg cos α .
gew¨ahlt werden. Dabei ist die Normalenkomponente Zz0 eindeutig durch die Zwangsbedingung bestimmt. Die Tangentialkomponente wird zu Null gew¨ahlt, da in dieser Richtung keine Zwangsbedingung vorliegt. Die Zwangskraft kompensiert hier gerade die Komponente der Schwerkraft in Richtung der Fl¨achennormale. Das folgende Beispiel zeigt, daß die Gr¨oße der Zwangskraft im allgemeinen nicht nur von den Kr¨aften im Gleichgewicht sondern auch von der Bewegung abh¨angt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
84
Abbildung 5.3: Ebenes Pendel mit einer zum Aufh¨angepunkt gerichteten Zwangskraft Z = −mg cos α − mlα˙ 2 .
Ebenes Pendel Ein ebenes Pendels mit Pendell¨ange l sei im Schwerefeld g = −gez um den Winkel α(t) gegen¨ uber der unteren Gleichgewichtslage ausgelenkt (Abb.5.3). Setzt man ϕ = α+3π/2, so kann die in (3.51) angegebene Polardarstellung der Bewegungsgleichung verwendet werden und man erh¨alt m¨ r = mg cos α + mrα˙ 2 + Zr mrα ¨ = −mg sin α − 2mr˙ α˙ + Zα
(5.8) (5.9)
Die Zwangsbedingung r = l, r˙ = r¨ = 0 wird durch die Zwangskraft Zr = −mg cos α − mlϕ˙ 2 ,
Zα = 0
erf¨ ullt. Sie kompensiert hier die Normalkomponente der Schwerkraft und die von der Bewegung abh¨angige Zentrifugalkraft. Masse auf rotierender Stange Als Beispiel f¨ ur eine rheonome Zwangsbedingung betrachten wir eine in der Ebene rotierende Stange, auf der ein Massenpunkt reibungsfrei gleiten kann. Die Zwangsbedingung lautet in Polarkoordinaten (r,ϕ), Z ϕ˙ = ω(t), ϕ = dt0 ω(t0 ) (5.10) wobei ω(t) die vorgegebene Kreisfrequenz der Stange darstellt.
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85
Abbildung 5.4: Virtuelle Verr¨ uckung δx, tats¨achliche Verr¨ uckung dx und Zwangskraft Z f¨ ur einen Massepunkt auf einer rotierenden Stange.
In einem rotierendes Bezugssystem, in dem die Stange ruht, gelten nach (3.51) die Bewegungsgleichungen, m¨ r = mrω 2 + Zr mrω˙ = −2mrω ˙ + Zϕ
(5.11) (5.12)
Die Zwangsbedingung (5.10) beinhaltet keine Einschr¨ankung an die radiale Bewegung. Daher w¨ahlt man die Zwangskraft, Zr = 0,
rZϕ = mr2 ω˙ + 2mrrω ˙ =
d (mr2 ω). dt
(5.13)
Sie stellt das zur Drehimpuls¨anderung notwendige Drehmoment dar. In diesem Fall unterscheiden sich virtuelle und tats¨achliche Verr¨ uckungen (Abb.5.4). Die virtuelle radiale Verr¨ uckung bestimmt die Richtung, die tats¨achliche azimuthale Verr¨ uckung die Gr¨oße der Zwangskraft.
5.2
Lagrangegleichungen erster Art
Gegeben sei nun ein System von N Massenpunkten mit k linear differentiellen Zwangsbedingungen, m · x¨ = F + Z.
(5.14)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
Al (x, t) · dx + B l (x, t)dt = 0,
l = 1, 2, · · · , k.
86
(5.15)
Hierbei sind F und Z Vektoren im Konfigurationsraum, deren Komponenten durch die Kr¨afte F j und Zwangskr¨afte Z j auf die Massenpunkte bestimmt werden, F3j−2 Z3j−2 F j = F3j−1 , Z j = Z3j−1 F3j Z3j Die Matrix m ist eine Diagonalmatrix mit den Matrixelementen mik = mi δik . Die Diagonalelemente mi werden durch die Massen Mj der Massenpunkte definiert m3j−2 Mj = m3j−1 . m3j
5.2.1
D’Alembertsches Prinzip
Die Zwangskraft wird durch die zugeh¨orige Zwangsbedingung mathematisch nicht eindeutig bestimmt. In den Beispielen aus Abschnitt (5.1.2) wurden die Komponenten der Zwangskr¨afte in Richtung der virtuellen Verr¨ uckungen jeweils Null gesetzt. Diese Wahl beruht auf einem physikalischen Postulat u ¨ber die Richtung der Zwangskraft, welches als das d’Alembertsche Prinzip bezeichnet wird: Die Richtung der Zwangskraft Z ist so zu w¨ahlen, daß f¨ ur beliebige virtuellle Verr¨ uckungen δx Z · δx =
3N X
Zi δxi = 0.
(5.16)
i=1
gilt. Man sagt auch, die Zwangskr¨afte leisten keine virtuelle Arbeit. Hierbei ist aber zu beachten, daß die virtuelle Arbeit i.a. nicht die tats¨achliche Arbeit darstellt. Das d’Alembertsche Prinzip definiert die Zwangskr¨afte. Daneben k¨onnen in realen physikalischen Systemen auch andere Kr¨afte, wie z.B. Reibungskr¨afte, durch den Kontakt mit F¨ uhrungselementen hervorgerufen werden. Eine alternative Formulierung des d’Alembertschen Prinzips erh¨alt man, indem man die Zwangskr¨afte mit Hilfe der Bewegungsgleichung eliminiert, (F − m · x¨) · δx = 0.
(5.17)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
87
Ein Spezialfall des d’Alembertschen Prinzips ist das Prinzip der virtuellen Arbeit. F¨ ur ein Kr¨aftegleichgewicht, bei dem alle Koordinaten zeitunabh¨angig sind, gilt die Gleichgewichtsbedingung, F · δx = 0.
(5.18)
Im Gleichgewicht leisten die Kr¨afte keine virtuelle Arbeit. Als Beispiel f¨ ur das Prinzip der virtuellen Arbeit betrachten wir das Gleichgewicht eines Hebels (Abb.5.5). Die virtuellen Verr¨ uckungen der Massen m1,2 bei einer Drehung um den vektoriellen Drehwinkel δϕ sind jeweils δr 1,2 = δϕ×r 1,2 . Aus dem Prinzip der virtuellen Arbeit folgt F 1 ·(δϕ×r 1 ) + F 2 ·(δϕ×r 2 ) = δϕ·(r 1 ×F 1 + r 2 ×F 2 ) = 0. Der Hebel ist im Gleichgewicht, wenn sich die Drehmomente in Richtung der Drehachse zu Null addieren.
Abbildung 5.5: Virtuelle Verr¨ uckungen eines Hebels aus der Gleichgewichtslage.
5.2.2
Bewegungsgleichungen mit Zwangskr¨ aften
Mit Mitteln der Variationsrechnung kann man aus dem d’Alembertschen Prinzip die Bewegungsgleichungen mit Zwangskr¨aften herleiten. Wir wollen diese hier lediglich angeben. F¨ ur jede Zwangsbedingung kann man die zugeh¨orige Zwangskraft in der Form Z l = λ l Al (5.19) mit einer noch unbestimmten Funktion λl (t) ansetzen. Dieser Ansatz erf¨ ullt das d’Alembertsche Prinzip, da die virtuellen Verr¨ uckungen definitionsgem¨aß den Bedingungen Al · δx = 0, l = 1, 2, · · · , k
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88
gen¨ ugen. Das zugeh¨orige Gleichungssystem nennt man die Lagrangegleichungen erster Art,
m · x¨ = F + Z,
Z=
k X
λ l Al ,
Al · dx + B l dt = 0.
(5.20)
l=1
Dies sind 3N + k Gleichungen f¨ ur 3N Koordinaten xi und k Parameter λl . Diskussion des d’Alembertschen Prinzips Am Beispiel einer linear differentiellen Zwangsbedingung zeigen wir explizit wie diese Zwangsbedingung in Verbindung mit dem d’Alembertschen Prinzip die Zwangskraft bestimmt. Wir fragen zuerst in welcher Weise eine linear differentielle Zwangsbedingung die tats¨achliche Bewegung einschr¨ankt. Aus (5.4) erh¨alt man f¨ ur die Geschwindigkeiten der Massenpunkte die Bedingung A(x, t) · v(t) = −B(x, t).
(5.21)
Sie bestimmt die Geschwindigkeit in Richtung der Hyperfl¨achennormalen. F¨ ur skleronome Zwangsbedingungen ist diese Geschwindigkeitskomponente Null, f¨ ur rheonome eine vorgegebene Funktion. Eine entsprechende Aussage l¨aßt sich auch f¨ ur die Beschleunigung machen. Differenziert man (5.21) nach der Zeit, so folgt eine Bedingung f¨ ur die Normalenkomponente der Beschleunigung A(x, t) · x¨(t) = −C(x, v, t),
C(x, v, t) = B˙ + A˙ · v.
(5.22)
Sie muß von der L¨osung der Bewegungsgleichung mit einer Zwangskraft Z, m · x¨ = F + Z, erf¨ ullt werden. Wir zeigen nun, daß man die vorgegebene Beschleunigung unter gleichen Voraussetzungen f¨ ur eine ganze Klasse von Zwangskr¨aften erreichen k¨onnte. Das d’Alembertsche Prinzip ist dann notwendig, um die physikalisch richtige Zwangskraft zu bestimmen. Dazu betrachten wir eine Transformation, bei der jede Koordinate um einen konstanten Faktor αi gestreckt wird, x0i = αi xi Diese Transformation bewirkt eine Deformation der Hyperfl¨ache und eine entspre¨ chende Anderung der Hyperfl¨achennormalen. Aus der Invarianz der Zwangsbedingung in (5.20) oder (5.22) folgt f¨ ur die Normale das Transformationsgesetz, A0i = Ai /αi .
(5.23)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
89
Die transformierte Beschleunigung wird durch die Bewegungsgleichung x¨0 = m−1 · (F 0 + Z 0 ),
Fi0 = αi Fi ,
Zi0 = αi Zi
bestimmt. Ihre Komponente in Richtung der transformierten Normalen (5.23) wird durch die Zwangsbedingung vorgegeben. Unter der Annahme, daß die Zwangsbeschleunigung nur in Richtung der Hyperfl¨achennormale auftritt, folgt f¨ ur die transformierte Zwangskraft der Ansatz Z 0 = λm · A0 . Der Parameter λ wird durch die vorgegebene Normalenkomponente der Beschleunigung bestimmt, A0 · x¨0 = A0 · m−1 · F 0 + λA0 · A0 = −C C + A0 · m−1 · F 0 . λ = − A0 · A0
(5.24)
Damit erh¨alt man f¨ ur die urspr¨ ungliche Zwangskraft den Ausdruck Zi = λ
mi Ai . αi2
(5.25)
Obwohl diese Zwangskraft f¨ ur beliebige αi die Zwangsbedingung erf¨ ullt, gen¨ ugt sie im allgemeinen nicht dem d’Alembertschen Prinzip. Um auch letzteres zu erf¨ ullen muß Z in Richtung der Normalen A gew¨ahlt werden. Dies ist aber nur m¨oglich falls √ αi = α mi wobei α eine von i unabh¨angige Konstante darstellt. Da eine Proportionalit¨atskonstante bereits durch λ ber¨ ucksichtigt wurde, kann ohne Einschr¨ankung α = 1 gesetzt werden. F¨ ur Systeme mit unterschiedlichen Massen mi stellt das d’Alembertsche Prinzip also eine wesentliche zus¨atzliche Forderung dar. Der Grund hierf¨ ur ist, daß dann Beschleunigungen und Kr¨afte im Konfigurationsraum linear unabh¨angige Vektoren sind.
5.3
Lagrangegleichungen zweiter Art
F¨ ur Systeme mit holonomen Zwangsbedingungen k¨onnen die Zwangskr¨afte durch eine geeignete Koordinatenwahl eliminiert werden. Dies f¨ uhrt zu den Lagrangegleichungen zweiter Art. Nicht-holonome Zwangsbedingungen m¨ ussen weiterhin durch die Gleichungen erster Art beschrieben werden.
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5.3.1
90
Herleitung
Gegeben sei ein System von N Massenpunkten mit k holonomen Zwangsbedingungen mi x¨i = Fi + Zi , g l (x, t) = 0,
i = 1, 2, · · · , 3N l = 1, 2, · · · , k .
Generalisierte Koordinaten Die Zwangsbedingungen bestimmten zu jedem Zeitpunkt eine Hyperfl¨ache im Konfigurationsraum. Auf dieser Hyperfl¨ache k¨onnen geeignete, i.a. krummlinige, Koordinaten q1 , q2 , · · · , qn , · · · , qf gew¨ahlt werden, wobei f die Dimension der Hyperfl¨ache bezeichnet. Solche Koordinaten werden als generalisierte oder verallgemeinerte Koordinaten bezeichnet. Generalisierte Koordinaten auf einer Kugel sind z.B. die Winkel ϕ, ϑ der Kugelkoordinaten. Die Koordinatentransformation zwischen den generalisierten Koordinaten und den kartesischen Koordinaten besitzt die Form xi = xi (q1 , q2 , · · · , qf , t),
i = 1, 2, · · · , 3N
(5.26)
Abk¨ urzend verwenden wir auch die Notation x = x(q, t), wobei q f¨ ur die Argumente q1 , q2 , · · · , qf steht. D’Alembertsches Prinzip in generalisierten Koordinaten Der Ortsvektor auf der momentanen Hyperfl¨ache wird durch (5.26) dargestellt. Eine virtuelle Verr¨ uckung ist definitionsgem¨aß eine infinitesimale Verschiebung dieses Ortsvektors bei festgehaltener Zeit. Daf¨ ur erhalten wir durch Differentiation, f X ∂xi δxi = δqn . ∂q n n=1
(5.27)
Die Verr¨ uckungen δq auf der Hyperfl¨ache unterliegen keinen Einschr¨ankungen mehr. Die Vektoren ∂x an = , n = 1, · · · , f (5.28) ∂qn bilden in jedem Punkt der Hyperfl¨ache eine lokale Basis (Abb.5.6). Hierbei ist an ein Tangentenvektor an die qn -Koordinate. Mit (5.27), (5.28) lautet das d’Alembertsche Prinzip (5.17), X (m · x¨ − F ) · an δqn = 0. n
(5.29)
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91
Abbildung 5.6: Generalisierte Koordinaten und lokale Basis auf der Hyperfl¨ache.
Da die δqn unabh¨angig voneinander beliebig gew¨ahlt werden k¨onnen, muß jeder Koeffizient einzeln verschwinden, (m · x¨ − F ) · an = 0,
n = 1, · · · , f.
(5.30)
Dies sind die Komponenten der Bewegungsgleichung entlang der lokalen Basis. Damit wurden genau f Bewegungsgleichungen f¨ ur die f Freiheitsgrade der Hyperfl¨ache gewonnen. Die Zwangskr¨afte wurden durch die Koordinatenwahl eliminert. Generalisierte Geschwindigkeiten In den Bewegungsgleichungen (5.30) m¨ ussen x und x¨ durch die generalisierten Koordinaten q ausgedr¨ uckt werden. F¨ ur die Geschwindigkeit erh¨alt man aus (5.27) das Transformationsgesetz x˙ =
f X ∂x(q, t) n=1
∂qn
q˙n +
∂x(q, t) = v(q, q, ˙ t) ∂t
(5.31)
Man bezeichnet q˙ = (q˙1 , · · · , q˙f ) als generalisierte Geschwindigkeiten und behandelt in der Transformationsgleichung (5.31) q, q, ˙ und t als unabh¨angige Variablen. Dann gilt ∂v ∂x = (5.32) ∂ q˙n ∂qn f X d ∂x ∂2x ∂2x ∂v = q˙m + = . (5.33) dt ∂qn ∂q ∂q ∂t∂q ∂q m n n n m=1
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92
Der Beschleunigungsterm in der Bewegungsgleichung l¨aßt sich damit wie folgt umformen X X d ∂xi d ∂xi ∂xi mi x¨i = mi vi − mi vi ∂qn dt ∂qn dt ∂qn i i X d ∂vi ∂vi mi vi − mi vi = dt ∂ q˙n ∂qn i ∂T d ∂T = − . (5.34) dt ∂ q˙n ∂qn Hierbei bezeichnet T (q, q, ˙ t) =
X1 i
2
mi vi (q, q, ˙ t)2
die kinetische Energie des Systems als Funktion der generalisierten Koordinaten und Geschwindigkeiten. Generalisierte Kraft Der Kraftterm in der Bewegungsgleichung wird als generalisierte Kraft, Qn (q, q, ˙ t) = F · an
(5.35)
bezeichnet. Damit lauten die auf generalisierte Koordinaten transformierten Bewegungsgleichungen d dt
∂T ∂ q˙n
−
∂T = Qn . ∂qn
(5.36)
Generalisiertes Potential Falls die Kraft F aus einem Potential U (x) abgeleitet werden kann, F =−
∂U , ∂x
so gilt dies auch f¨ ur die generalisierte Kraft, Qn (q, q, ˙ t) = F · an = −
∂U (x) ∂x ∂U (x(q, t)) · =− . ∂x ∂qn ∂qn
(5.37)
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93
Allgemeiner nennt man eine Funktion U (q, q, ˙ t) ein generalisierte Potential, falls die generalisierte Kraft in der Form d Qn = dt
∂U ∂ q˙n
−
∂U ∂qn
(5.38)
darstellbar ist. Das geschwindigkeitunabh¨angige Potential (5.37) ist ein Spezialfall hiervon. Lagangegleichungen zweiter Art Existiert ein Potential, so k¨onnen die kinetische und die potentielle Energie in der Bewegungsgleichung (5.36) zusammengefasst werden, d ∂T ∂T − − Qn dt ∂ q˙n ∂qn d ∂T ∂T d ∂U ∂U = − − − dt ∂ q˙n ∂qn dt ∂ q˙n ∂qn ∂(T − U ) d ∂(T − U ) = − . dt ∂ q˙n ∂qn Damit erh¨alt man aus (5.36) d dt
∂L ∂ q˙n
=
∂L , ∂qn
n = 1, · · · , f,
(5.39)
mit L(q, q, ˙ t) = T (q, q, ˙ t) − U (q, q, ˙ t). Man nennt L(q, q, ˙ t) die Lagrangefunktion und (5.39) die Lagrangegleichungen zweiter Art. Dies ist ein System von f Differentialgleichungen zweiter Ordnung f¨ ur die Bewegung q(t) auf der Hyperfl¨ache. Es ist im allgemeinen einfacher zu behandeln als die 3N + k gekoppelten Lagrangegleichungen erster Art.
5.3.2
Anwendung
L¨ osungsweg Ein mechanisches System mit holonomen Zwangsbedingungen wird damit vollst¨andig durch die Wahl der verallgemeinerten Koordinaten q, durch Anfangsbedingungen (q0 , q˙0 ) und durch die Angabe der Lagrangefunktion L(q, q, ˙ t) in diesen
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94
Koordinaten beschrieben. Dabei ist die Form der Gleichungen von der Koordinatenwahl unabh¨angig. Das Verfahren zur L¨osung eines mechanischen Problems mit den Lagrangegleichungen zweiter Art besteht aus den folgenden Teilschritten: 1. Angabe der holonomen Zwangsbedingungen 2. Wahl der generalisierten Koordinaten: q 3. Bestimmung der Koordinatentransformation: x = x(q, t) 4. Aufstellen der Lagrangefunktion. Hierzu m¨ ussen T und U als Funktion von q, q˙ und t angegeben werden. 5. Herleitung der Bewegungsgleichungen aus den Lagrangegleichungen 6. L¨osung der Bewegungsgleichungen 7. Bestimmung der Integrationskonstanten durch Anfangsbedingungen Massenpunkt auf schiefer Ebene Ein einfaches Beispiel ist die Bewegung eines Massenpunktes auf einer schiefen Ebene mit Neigungswinkel α im Schwerefeld (Abb.5.2). Verwendet man Polarkoordinaten (r, ϕ), so ist der Winkel durch die Zwangsbedingung, ϕ − α = 0 festgelegt. Der Radius kann als verallgemeinerte Koordinate q = r gew¨ahlt werden. Die Koordinatentransformation lautet x = r cos α,
z = r sin α .
Durch Ableitung erh¨alt man die Geschwindigkeiten x˙ = r˙ cos α,
z˙ = r˙ sin α
und damit die kinetische Energie 1 1 1 T = m(x˙ 2 + z˙ 2 ) = mr˙ 2 (cos2 α + sin2 α) = mr˙ 2 . 2 2 2 Die potentielle Energie ist U = mgz = mgr sin α. Die Lagrangefunktion besitzt damit die Form 1 L(r, r) ˙ = T − U = mr˙ 2 − mgr sin α. 2
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95
Mit den partiellen Ableitungen ∂L = mr, ˙ ∂ r˙
∂L = −mg sin α, ∂r
folgt aus (5.39) die Bewegungsgleichung m¨ r = −mg sin α . Dasselbe Ergebnis hatten wir in (5.7) mit der Newtonschen Bewegungsgleichung abgeleitet. Die dort ben¨otigte Zwangskraft tritt jetzt nicht mehr in Erscheinung.
5.3.3
Erhaltungsgr¨ oßen
Zyklische Koordinaten und generalisierte Impulse Analog zur Impulserhaltung in der Newtonschen Mechanik folgt aus den Lagrangegleichungen (5.39) der Erhaltungssatz ∂L =0 ∂qn
=⇒
pn =
∂L = const. ∂ q˙n
(5.40)
Man bezeichnet die Gr¨oße pn =
∂L ∂ q˙n
(5.41)
als generalisierten Impuls. H¨angt die Lagrangefunktion nicht explizit von einer generalisierten Koordinate qn ab, so nennt man diese Koordinate zyklisch. F¨ ur jede zyklische Variable ist der zugeh¨orige generalisierte Impuls erhalten. Energieerhaltung Der Energieerhaltungssatz kann in der Lagrangemechanik in der folgenden Form angegeben werden ∂L =0 ∂t
=⇒
E=
X
pn q˙n − L = const.
(5.42)
n
Ist die Lagrangefunktion nicht explizit zeitabh¨angig, so ist die Energie E erhalten.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
96
Beweis: Differenziert man L(q, q, ˙ t) nach der Zeit und verwendet die Lagrangegleichungen (5.39), so folgt X ∂L ∂L ∂L d L(q, q, ˙ t) = q˙n + q¨n + dt ∂qn ∂ q˙n ∂t n X ∂L = p˙n q˙n + pn q¨n + ∂t n ! d X ∂L = pn q˙n + . dt ∂t n Damit gilt !
d dt
X
pn q˙n − L
=−
n
∂L . ∂t
(5.43)
Die Zwangsbedingungen seien nun skleronom und die potentielle Energie sei geschwindigkeitsunabh¨angig. Dann gilt f¨ ur die Energie die u ¨bliche Beziehung
E=
X
pn q˙n − L = T + U.
(5.44)
n
Beweis: F¨ ur skleronome Zwangsbedingungen ist die Koordinatentransformation x = x(q) zeitunabh¨angig. Mit (5.27) und (5.28) lauten die entsprechenden Transformationen f¨ ur die Geschwindigkeit und die kinetische Energie, X ∂x q˙n ∂qn n 1X T = µnm q˙n q˙m , 2 n,m v =
mit µnm (q) =
X i
mi
(5.45) (5.46)
∂xi ∂xi . ∂qn ∂qm
Die kinetische Energie ist eine positiv definite quadratische Form mit einer symmetrischen Matrix µnm = µmn . F¨ ur geschwindigkeitsunabh¨angige Potentiale werden die verallgemeinerten Impulse allein durch die kinetische Energie bestimmt pn =
∂L ∂T = . ∂ q˙n ∂ q˙n
(5.47)
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97
Die Differentiation ergibt 1X µnm (δnk q˙m + q˙n δkm ) 2 n,m 1X 1X = µkm q˙m + µnk q˙n 2 m 2 n X 1X (µkm + µmk )q˙m = µkm q˙m . = 2 m m
pk =
Damit erh¨alt man die Gesamtenergie X E= pk q˙k − L = 2T − (T − U ) = T + U.
(5.48)
(5.49)
k
5.4
Variationsprinzipien
Die Lagrangegleichungen zweiter Art k¨onnen aus einem Variationsprinzip hergeleitet werden. Diese Formulierung ist besonders elegant, da das vollst¨andige mechanische System durch eine einfache skalare Gleichung beschrieben wird. Außerdem findet das Hamiltonsche Prinzip Anwendung in anderen Gebieten der Physik, wie z.B. in Feldtheorien.
5.4.1
Eulersche Gleichung der Variationsrechung
Differential und station¨ are Punkte Bei Variationsproblemen handelt es sich um eine Verallgemeinerung der Extremwertbestimmung von Funktionen. F¨ ur eine Funktion f (x1 , · · · , xn ) nennt man die Punkte, bei denen das Differential der Funktion verschwindet station¨are Punkte: (x01 , · · · , x0n ) station¨ar
⇐⇒
df = 0 .
Das Verschwinden des Differentials ist gleichbedeutend mit dem Verschwinden aller partiellen Ableitungen. Diese Bedingung ist notwendig aber nicht hinreichend f¨ ur ein Extremum. Es k¨onnen neben Extrema auch Wendepunkte oder Sattelpunkte auftreten. Daher bezeichnet man die Punkte, bei denen das Differential verschwindet allgemein als station¨are Punkte.
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98
Variation und station¨ are Funktionen Bei Variationsproblemen betrachtet man anstelle von Funktionen Funktionale. Funktionale sind Abbildungen aus einem Funktionenraum in den Zahlenk¨orper: J : y 7→ J[y] . Zur Einf¨ uhrung in die Methode der Variationsrechnung behandeln wir die folgende Aufgabenstellung. Gesucht sei diejenige Funktion y(x) im Intervall x1 < x < x2 , mit den Randwerten y(x1 ) = y1 , y(x2 ) = y2 f¨ ur die das Integral Zx2 J[y] =
dxF (y, y 0 , x)
(5.50)
x1
station¨ar ist. Hierbei seien die Funktionen F (y, y 0 , x) und y(x) bez¨ uglich ihrer Argumente zweimal stetig differenzierbar. Das Variationsproblem kann auf eine gew¨ohnliche Extremwertaufgabe zur¨ uckgef¨ uhrt werden. Hierzu sei vorausgesetzt, daß eine L¨osung y(x) des Variationsproblems innerhalb einer vorgegebenen Funktionenklasse existiert. Die Vergleichsfunktionen in einer Nachbarschaft dieser Funktion seien y(x) = y(x) + δy(x),
δy(x) = η(x) .
(5.51)
wobei ein Parameter ist, der hinreichend klein gew¨ahlt werden kann. Man nennt δy eine Variation von y. Aufgrund der vorgegebenen Randwerte muß die Variation f¨ ur alle Vergleichsfunktionen y am Rand verschwinden δy(x1 ) = δy(x2 ) = 0.
(5.52)
Mit diesem Ansatz ist J() = J[y + η] eine gew¨ohnliche Funktion der Variablen . In Analogie zum Differential einer Funktion bezeichnet man den Ausdruck dJ() δJ = J[y + δy] − J[y] = (5.53) d =0 als die Variation von J. Funktionen bei denen die Variation von J verschwindet heißen station¨are Funktionen: y
station¨ar
⇐⇒
δJ = 0.
(5.54)
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99
Eulersche Gleichung Die Variation δJ l¨aßt sich berechnen, indem man bis zur linearen Ordnung in δy bzw. δy 0 entwickelt, Zx2 δJ =
dxF (y + δy, y 0 + δy 0 , x) − F (y, y 0 , x)
x1 Zx2
=
dx
∂F ∂F δy + 0 δy 0 . ∂y ∂y
(5.55)
x1
Ein typischer Schritt der Variationsrechnung besteht nun darin, den zweiten Term partiell zu integrieren, so daß dieser ebenfalls proportional zu δy wird, x Zx2 ∂F 2 ∂F d ∂F δJ = δy + dx δy − δy ∂y 0 x1 ∂y dx ∂y 0 x1
(5.56) Der Randterm verschwindet wegen der Randbedingung (5.52). F¨ ur station¨are Funktionen gilt Zx2 ∂F d ∂F δJ = dx − η(x) = 0. (5.57) ∂y dx ∂y 0 x1
An dieser Stelle wird ein Hilfssatz der Variationsrechnung ben¨otigt. Sei η(x) eine beliebige zweimal stetig differenzierbare Funktion. Dann gilt Zx2 dx ϕ(x)η(x) = 0
=⇒
ϕ(x) = 0.
(5.58)
x1
Zum Beweis nehmen wir an, es sei ϕ(x) 6= 0 f¨ ur ξ1 < x < ξ2 , wobei dieses Intervall beliebig klein sein kann. W¨ahlt man dann f¨ ur η(x) eine Funktion, die außerhalb dieses Intervalls verschwindet und innerhalb des Intervalls ungleich Null ist, z.B. (x − ξ1 )4 (x − ξ2 )4 ; ξ1 < x < ξ2 η(x) = 0 ; sonst so ist das Integral ungleich Null im Widerspruch zur Voraussetzung. Daher gilt ϕ = 0 im ganzen Intervall, x1 < x < x2 .
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100
Mit diesem Hilfssatz folgt aus (5.57) die Eulersche Differentialgleichung der Variationsrechnung d dx
∂F ∂y 0
−
∂F = 0. ∂y
(5.59)
Dies ist eine Differentialgleichung zweiter Ordnung f¨ ur die gesuchte Funktion y(x). Die beiden Integrationskonstanten werden durch die Randbedingungen festgelegt.
5.4.2
Hamiltonsches Prinzip
Ein Vergleich der Lagrangegleichungen zweiter Art (5.39) mit der Eulerschen Differentialgleichung der Variationsrechnung (5.59) legt es nahe, daß die Lagrangegleichungen aus einem Variationsprinzip abgeleitet werden k¨onnen. Dieses Variationsprinzip wird als Hamiltonsches Prinzip bezeichnet. F¨ ur ein physikalisches System mit der Lagrangefunktion L(q, q, ˙ t) definiert man die Wirkung Zt2 dt L(q, q, ˙ t) .
S[q] =
(5.60)
t1
Die Wirkung ist ein Funktional der Bahn q(t), die in einem Zeitintervall t1 < t < t2 zwischen einem Anfangspunkt q(t1 ) und einem Endpunkt q(t2 ) durchlaufen wird. Nach dem Hamiltonschen Prinzip ist die Wirkung f¨ ur die tats¨achlich durchlaufene Bahn station¨ar, δS[q] = 0
mit
δq(t1 ) = δq(t2 ) = 0 .
(5.61)
Als Vergleichsfunktionen sind hier alle Bahnen zwischen dem Anfangspunkt q(t1 ) und dem Endpunkt q(t2 ) zugelassen. Da die Anfangs- und Endpunkte vorgegeben sind, verschwindet die Variation in diesen Randpunkten. Der Beweis des Hamiltonschen Prinzips beruht auf der oben dargestellten Variationsrechnung. Anstatt einer Funktion y(x) m¨ ussen nun die f Funktionen q1 (t), · · · , qf (t)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
101
variiert werden: δS = S[q + δq] − S[q] Zt2 = dt {L(q + δq, q˙ + δ q, ˙ t) − L(q, q, ˙ t)} t1
Zt2 =
dt t1
f X ∂L n=1
∂L δqn + δ q˙n ∂qn ∂ q˙n
f X ∂L
t2 Zt2 ∂L d ∂L = δqn + dt − δqn = 0 . ∂ q˙n ∂qn dt ∂ q˙n t1 n=1
(5.62)
t1
Aufgrund der Randbedingungen δq(t1 ) = δq(t2 ) = 0 verschwindet der Randterm bei der partiellen Integration. Da die Variationen δqn (t) unabh¨angig voneinander gew¨ahlt werden k¨onnen, muß jeder der f Summanden f¨ ur sich allein verschwinden. Wegen (5.58) gilt dann d ∂L ∂L − = 0, n = 1, · · · , f . (5.63) dt ∂ q˙n ∂qn Die Eulerschen Differentialgleichungen des Hamiltonschen Variationsprinzips sind also genau die Lagrangegleichungen der Mechanik. Eichtransformationen Die Lagrangefunktion eines mechanischen Systems ist nicht eindeutig. Multipliziert man die Lagrangefunktionen L mit einem konstanten Faktor c, so f¨ uhrt die neue 0 Lagrangefunktion L = cL auf dieselben Bewegungsgleichungen. Dasselbe gilt bei Addition einer Konstanten, L0 = L + c. Diese Lagrangefunktionen sind also v¨ollig gleichwertig. Unter einer Eichtransformation versteht man eine allgemeinere Transformation d f (q, t), (5.64) dt der Lagrangefunktion. Die neue Lagrangefunktion L0 unterscheidet sich dabei von der alten Lagrangefunktion L durch eine totale Zeitableitung einer beliebigen Funktion f (q, t). Beide Lagrangefunktionen sind gleichwertig. Man sagt auch, die Lagrangefunktion ist nur bis auf eine totale Zeitableitung bestimmt. L0 = L +
Der Beweis der Gleichwertigkeit der Lagrangefunktionen bei Eichtransformationen ist eine einfache Folgerung aus dem Hamiltonschen Prinzip. Wegen t2 t2 Zt2 f X df ∂f 0 δS − δS = δ dt = δf (q, t) = δqn = 0, dt ∂qn t1 t1 n=1 t1
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
102
f¨ uhrt die Variation der Wirkung in beiden F¨allen zum selben Ergebnis. Hierbei wurde verwendet, daß die Variation in den Endpunkten der Bahn verschwindet. Galileitransformation als Eichtransformation Bei einer Galileitransformation mit einer konstanten Geschwindigkeit u v 0i = v i − u,
r 0i = r − ut
erh¨alt man aus der Lagrangefunktion L=
N X 1 i=1
2
mi vi2
N X i−1 X
−
U (r i − r j )
i=2 j=1
die neue Lagrangefunktion 0
L
=
N X 1 i=1
2
mi vi02
d = L+ dt
−
N X i−1 X
U (r 0i − r 0j )
i=2 j=1 N X i=1
1 2 −mi v i ·u + mi u t . 2
Die Lagrangefunktion im neuen Inertialsystem unterscheidet sich also von der Lagrangefunktion im alten Inertialsystem durch eine Eichtransformation. Eichtransformation der elektromagnetischen Potentiale In der Elektrodynamik k¨onnen die elektrischen und magnetischen Felder aus einem Vektorpotential A(r, t) und einem skalaren Potential φ(r, t) in folgender Weise abgeleitet werden, 1 E = − ∂t A − ∇φ, B = ∇ × A. c Hierbei ist c die Lichtgeschwindigkeit und wir verwenden das Gaußsche Maßsystem. Die Potentiale sind nicht eindeutig. Bei einer Transformation A0 = A + ∇χ(r, t),
1 φ0 = φ − ∂t χ(r, t) c
mit einer beliebigen Funktion χ(r, t) bleiben die Felder E und B invariant. Man nennt diese Transformationen Eichtransformationen der Potentiale. Die Lagrangefunktion einer Ladung q im elektromagnetischen Feld ist 1 1 L = mv 2 − q(φ − v · A). 2 c
(5.65)
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103
Einer Eichtransformation der Potentiale entspricht eine Eichtransformation der Lagrangefunktion, 1 1 2 0 0 0 L = mv − q φ − v · A 2 c 1 1 2 1 1 = mv − q φ − ∂t χ(r, t) − v · A − v·∇χ(r, t) 2 c c c d q = L+ χ(r, t) . dt c
5.5
Symmetrien und Erhaltungsgr¨ oßen
Aus dem Hamiltonschen Prinzip folgt ein allgemeiner Zusammenhang zwischen Symmetrien und Erhaltungsgr¨oßen. Er wurde von der Mathematikerin Emmy Noether abgeleitet und wird als Noether-Theorem bezeichnet. Punkttransformationen Beim Noether-Theorem betrachtet man Symmetrien gegen¨ uber einer Klasse einparametriger infinitesimaler Punkttransformationen, q 0 = q + ψ(q, q, ˙ t),
t0 = t + φ(q, q, ˙ t).
(5.66)
Hierbei bezeichnet ψ = (ψ1 , · · · , ψf ) eine Transformation der verallgemeinerten Koordinaten, φ eine Transformation der Zeit und einen infinitesimal kleinen Parameter. Invarianzbedingung Die Wirkung des Systems als Funktion der neuen Koordinaten sei 0
S0 =
Zt2
dt0 L(q 0 , q˙0 , t0 ).
t01
mit einer Lagrangefunktion L0 = L(q 0 , q˙0 , t0 ). F¨ ur = 0 ergibt sich die identische Abbildung. Die Lagrangefunktion des Systems als Funktion der alten Koordinaten ist daher, L = L(q 0 , q˙0 , t0 ) =0 = L(q, q, ˙ t).
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104
Ersetzt man in der Wirkung die Integrationsvariable t0 durch t und entwickelt um die Stelle = 0 bis zur linearen Ordnung in , so folgt S0 =
Zt2 t1
Zt2 d dt0 dt0 0 0 0 0 0 0 dt L(q , q˙ , t ) = S + dt L(q , q˙ , t ) , dt d dt =0
t1
wobei S die Wirkung in den alten Koordinaten bezeichnet. Eine Symmetrie des Systems gegen¨ uber einer infinitesimalen Punkttransformationen liegt dann vor, wenn die Transformation nur zu einer ”Umeichung” der Lagrangefunktion f¨ uhrt. In diesem 0 Fall gilt f¨ ur den Zusatzterm in der Wirkung S d d
dt0 d 0 0 0 L(q , q˙ , t ) = f (q, t). dt dt =0
(5.67)
Die Invarianzbedingung (5.67) ist der formale Ausdruck f¨ ur eine Symmetrie des durch die Lagrangefunktion L beschriebenen Systems gegen¨ uber der Punkttransformation (5.66). Erhaltungsgr¨ oßen Das Noether-Theorem kann nun in der folgenden Form angegeben werden. F¨ ur jede einparametrige infinitesimale Punkttransformation (5.66), die einer Invarianzbedingung der Form (5.67) gen¨ ugt, gibt es eine Erhaltungsgr¨oße. Diese lautet f X ∂L I= ψn + ∂ q ˙ n n=1
! f X ∂L L− q˙n φ − f (q, t) . ∂ q ˙ n n=1
(5.68)
Als Beispiele betrachten wir die Energie-, Impuls- und Drehimpulserhaltung. Die Energieerhaltung folgt aus der Homogenit¨at der Zeit. F¨ ur eine infinitesimale Zeit0 translation, t = t + , ist ψ = 0 und φ = 1. H¨angt die Lagrangefunktion nicht explizit von der Zeit ab, so ist die Invarianzbedingung (5.67) mit f = 0 erf¨ ullt. Dann entspricht der Erhaltungsgr¨oße (5.68) die Energie, f X ∂L E= q˙n − L. ∂ q˙n n=1
Die Impulserhaltung folgt aus der Homogenit¨at des Raumes. F¨ ur eine infinitesimale 0 r¨aumliche Translation, qn = qn + , ist ψn = 1 und φ = 0. H¨angt die Lagrangefunktion nicht explizit von der Koordinate qn ab, so ist (5.67) mit f = 0 erf¨ ullt. Dann
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105
entspricht der Erhaltungsgr¨oße (5.68) der Impuls, pn =
∂L . ∂ q˙n
Die Drehimpulserhaltung folgt aus der Isotropie des Raumes. Bei einer infinitesimalen Drehung um eine Drehachse n ¨andern sich die Ortsvektoren aller Teilchen ur diese Transformation ist ψ i = n×r i und φ = 0. Aus gem¨aß r 0i = r i + n×r i . F¨ der Invarianz von L mit f = 0 folgt die Erhaltungsgr¨oße N N X X ∂L ∂L · (n×r i ) = n· r i × . ∂ r˙ i ∂ r˙ i i=1 i=1 Dies ist die Komponente des Drehimpulses in Richtung der Drehachse n. Beweis des Noether-Theorems Aus der Zeittransformation in (5.66) folgt dt0 dφ =1+ (5.69) dt dt In linearer Ordnung in erh¨alt man f¨ ur die Transformation der verallgemeinerten Geschwindigkeiten dqn0 dqn0 dt = 0 dt dt0 dt dqn dψn dφ = + 1− dt dt dt dφ dψn − q˙n . = q˙n + dt dt
q˙n0 =
(5.70)
Die linke Seite von (5.67) ergibt d dt0 0 dL0 dφ L = + L d dt d =0 dt =0 f X ∂L ∂L dψn dφ ∂L dφ = ψn + − q˙n + φ+L ∂qn ∂ q˙n dt dt ∂t dt n=1 ! f f X X d ∂L ∂L dψn ∂L dφ ∂L = ψn + + L− q˙n + φ dt ∂ q ˙ ∂ q ˙ dt ∂ q ˙ dt ∂t n n n n=1 n=1 ! " ! # f f X ∂L d X ∂L d = ψn + L− q˙n φ . (5.71) dt n=1 ∂ q˙n dt ∂ q˙n n=1 In der dritten Zeile wurden die Lagrangegleichungen (5.63), in der vierten der Energiesatz (5.43) verwendet. Mit diesem Ausdruck ergibt die Integration von (5.67) die Erhaltungsgr¨oße (5.68).
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5.6
106
Schwingungen
Gegeben sei ein konservatives System mit f Freiheitsgraden, das sich in einem stabilen Gleichgewicht befindet. Bei kleinen Auslenkungen der Massenpunkte aus ihrer ¨ Gleichgewichtslage f¨ uhrt das System Schwingungen aus. Diese k¨onnen als Uberlagerung von Normalmoden dargestellt werden, denen jeweils eine charakteristische Schwingungsfrequenz zugeordnet ist.
5.6.1
Entwicklung um die Gleichgewichtslage
Sei ξ = q − q0 eine Auslenkung des Systems aus der Gleichgewichtslage q0 . Wir w¨ahlen diese Auslenkungen als verallgemeinerte Koordinaten und entwickeln die kinetische und die potentielle Energie bis zur quadratischen Ordnung in ξ. Die kinetische Energie eines konservativen Systems besitzt die Form (5.45). Da im ˙ In quadratischer Ordnung ergibt sich f¨ Gleichgewicht q˙0 = 0 gilt, ist q˙ = ξ. ur die kinetische Energie der Ausdruck f X ∂xi ∂xi 1 X T = µnm ξ˙n ξ˙m mit µnm = mi . 2 n,m=1 ∂q ∂q n m q=q0 i Da das Produkt der Geschwindigkeiten bereits von quadratischer Ordnung ist, kann µnm im Gleichgewicht ausgewertet werden. In dieser N¨aherung ist µnm eine konstante Matrix. Diese ist symmetrisch laut Definition und positiv definit, da die kinetische Energie f¨ ur ξ˙ 6= 0 positiv ist. Im stabilen Gleichgewicht besitzt die potentielle Energie U = U (q) ein Minimum, d.h. es gilt ∂U = 0. ∂qn q=q0 Die Entwicklung der potentiellen Energie lautet daher f 1 X U = U (q0 ) + knm ξn ξm 2 n,m=1
mit
knm
∂ 2 U = . ∂qn ∂qm q=q0
Ohne Einschr¨ankung kann U (q0 ) = 0 gew¨ahlt werden, da die Bewegungsgleichungen nicht von einer additiven Konstante in der Lagrangefunktion abh¨angen. Die Matrix knm ist definitionsgem¨aß symmetrisch und positiv definit, da die potentielle Energie nach Voraussetzung im Gleichgewicht ein Minimum annimmt. Damit erh¨alt man in quadratischer Ordnung die Lagrangefunktion f
˙ = L(ξ, ξ)
1 X µnm ξ˙n ξ˙m − knm ξn ξm . 2 n=1
(5.72)
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107
Zur Aufstellung der Lagrangegleichungen berechnen wir zuerst das totale Differential von L unter Ber¨ ucksichtigung der Symmetrie von µnm und knm , f 1 X dL = µnm dξ˙n ξ˙m + ξ˙n dξ˙m − knm (dξn ξm + ξn dξm ) 2 n,m=1 f 1 X = (µnm + µmn ) ξ˙m dξ˙n − (knm + kmn ) ξm dξn 2 n,m=1
=
f X
µnm ξ˙m dξ˙n − knm ξm dξn .
n=1
Daraus erh¨alt man f¨ ur die verallgemeinerten Impulse und Kr¨afte f X ∂L = µnm ξ˙m ∂ ξ˙n m=1 f
X ∂L = − knm ξm . ∂ξn m=1
5.6.2
Schwingungsgleichung
Die zugeh¨origen Lagrangegleichungen stellen ein Gleichngssystem von f gekoppelten linearen Oszillatoren dar, f X
µnm ξ¨m + knm ξm = 0
(5.73)
µ · ξ¨ + k · ξ = 0.
(5.74)
m=1
In Vektornotation gilt
Die Bewegungsgleichungen (5.74) bilden ein Differentialgleichungessystem mit konstanten Koeffizienten, das durch einen Exponentialansatz, ξ = Ae−iωt ,
(5.75)
gel¨ost werden kann. Mit diesem L¨osungsansatz folgt ein homogenes algebraisches Gleichungssystem k − ω 2 µ · A = 0. (5.76) Nichtverschwindende L¨osungen existieren nur f¨ ur bestimmte Werte von ω 2 die durch die L¨osbarkeitsbedingung des linearen Gleichungssystems D(ω 2 ) = det k − ω 2 µ = 0
(5.77)
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108
bestimmt werden. Hierbei ist D(λ) ein Polynom vom Grad f , das f komplexe Nullstellen besitzt. Diese seien k = 1, · · · , f .
λk ,
Treten Mehrfachnullstellen auf, so sind einige der λk gleich. Zu einer r-fachen Nullstelle bestimmt das Gleichungessystem (k − λk µ) · A(k) = 0
(5.78)
einen r-dimensionalen L¨osungsraum, d.h. r der Komponenten von A(k) k¨onnen beliebig gew¨ahlt werden, die restlichen Komponenten sind dann durch das Gleichungssystem eindeutig bestimmt. Insgesamt findet man auf diese Weise f L¨osungsvektoren A(k) . Eigenfrequenzen √ Zu jeder Nullstelle λk gibt es eine Frequenz ωk = λk . Diese werden auch als Eigenfrequenzen bezeichnet. Wir zeigen, daß die Eigenfrequenzen f¨ ur ein stabiles Gleichgewicht reell sind. Im allgemeinen besitzt ein Polynom komplexe Nullstellen. Aus der Symmetrie der Matrizen folgt jedoch, daß die Nullstellen λk reell sind. Um dies zu zeigen, nehmen wir zun¨achst an, es g¨abe eine komplexe Nullstelle λ und einen zugeh¨origen komplexen L¨osungsvektor A. Durch skalare Multiplikation von (5.78) mit A∗ erh¨alt man λ=
A∗ · k · A . A∗ · µ · A
Die konjugiert komplexe Gleichung ist λ∗ =
(A∗ · k · A)∗ (A∗ · µ · A)∗
∗ F¨ ur eine hermitesche Matrix, Mmn = Mnm , ist
(A∗ · M · A)∗ = A · M ∗ · A∗ = A∗ · M · A reell. Die reellen symmetrischen Matrizen µmn und kmn sind auch hermitesch. Daraus folgt λ∗ = λ, so daß λ tats¨achlich reell ist. Damit k¨onnen auch die L¨osungsvektoren A reell gew¨ahlt werden. Da die Matrizen außerdem positiv definit sind, folgt sogar, daß alle Nullstellen positiv sind. Daher k¨onnen auch die Eigenfrequenzen ωk reell und positiv gew¨ahlt werden. Eine Sonderrolle spielt die doppelte Nullstelle ωk2 = 0. Wegen ξ¨ = −ω 2 ξ entspricht diese L¨osung einer gleichf¨ormigen Bewegung ξ = ξ0 + ξ˙0 t.
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109
Normalmoden Die L¨osungen der Schwingungsgleichung f¨ ur ωk > 0 besitzen die Form ξ (k) = A(k) < Ck e−iωk t = A(k) Bk cos(ωk t + αk ),
(5.79)
wobei Ck = Bk e−iαk eine komplexe Integrationskonstante darstellt und die L¨osungsvektoren A(k) durch eine Normierungsvorschrift A(k) · µ · A(l) = δkl
(5.80)
festgelegt wurden. Dies sind Schwingungen mit genau einer Eigenfrequenzen, die als Normalmoden bezeichnet werden. Die allgemeine L¨osung des linearen Gleichungssystems ist eine Superposition aller Normalmoden, f X ξ= A(k) Bk cos(ωk t + αk ) . (5.81) k=1
Die hierbei auftretenden 2f Integrationskonstanten werden durch die Anfangsbe˙ dingungen ξ(0) = ξ0 und ξ(0) = ξ˙0 bestimmt.
5.7 5.7.1
Starrer K¨ orper Freiheitsgrade
Ein K¨orper wird als starrer K¨orper bezeichnet, wenn alle Punkte der Massenverteilung feste Relativabst¨ande zueinander besitzen. Die Massenverteilung kann punktf¨ormig oder kontinuierlich vorgegeben sein. Ein Punkt Pν eines starren K¨orpers kann in einem Inertialsystem S durch den Ortsvektor r ν,S = r 0 + r ν (5.82) dargestellt werden. Hierbei bezeichnet r 0 einen beliebigen Bezugspunkt im starren K¨orper, der den Ursprung eines k¨orperfesten Bezugssystems K bildet. Der Ortsvektor von Pν im k¨orperfesten System ist r ν . Die Basisvektoren und die Koordinaten in den beiden Bezugssystemen werden durch folgende Notation unterschieden: S : r S = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez , K : r = x1 e1 (t) + x2 e2 (t) + x3 e3 (t). Ein starrer K¨orper besitzt 6 Freiheitsgrade, drei Freiheitsgrade der Translation und drei Freiheitsgrade der Rotation. Die Lage seiner Punkte kann dementsprechend durch die 3 Komponenten des Bezugspunktes und durch die 3 Winkel der Drehung von K relativ zu S angegeben werden.
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5.7.2
110
Eulersche Winkel
Die Drehung von K relativ zu S kann durch die drei Eulerwinkel φ, θ und ψ angegeben werden, die durch die folgenden drei aufeinanderfolgenden Drehungen definiert sind. Die xy Ebene von S schneidet die x1 x2 Ebene von K entlang einer Geraden, die als Knotenlinie bezeichnet wird. Die erste Drehung ist eine Drehung um die z-Achse um den Winkel φ, so daß die x-Achse mit der Knotenlinie zur Deckung gebracht wird. Der Einheitsvektor der gedrehten x-Achse zeigt entlang der Knotenlinie und wird mit eK bezeichnet. Die zweite Drehung ist eine Drehung um die Knotenlinie um den Winkel θ, so daß die z-Achse mit der x3 -Achse zur Deckung kommt. Bei der dritten Drehung um die x3 -Achse um den Winkel ψ wird schließlich die x-Achse von der Knotenlinie bis zur x1 -Achse gedreht. Damit sind die Achsen von S in die Achsen von K u uhrt worden. ¨berf¨ Die Einheitsvektoren der drei Drehachsen besitzen im k¨orperfesten System die Darstellung nφ = ez = sin θ sin ψe1 + sin θ cos ψe2 + cos θe3 nθ = eK = cos ψe1 − sin ψe2 nψ = e3
(5.83)
Abbildung 5.7: Eulerwinkel
5.7.3
Winkelgeschwindigkeit
Die Geschwindigkeit eines Punktes Pν ist v ν,S = v 0 + ω × r ν .
(5.84)
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111
Der erste Term bezeichnet die Geschwindigkeit des Bezugspunktes, der zweite die Geschwindigkeit der Drehung um den Bezugspunkt. Die Komponenten der vektoriellen Winkelgeschwindigkeit ω im k¨orperfesten System werden mit ω = pe1 + qe2 + re3 .
(5.85)
bezeichnet. Sie k¨onnen in folgender Weise durch die Euler-Winkel ausgedr¨ uckt werden. Die infinitesimale Drehung um dϕ = ωdt im Zeitintervall dt kann additiv aus den Drehungen um die drei Eulerwinkel zusammengesetzt werden, ˙ φ + θn ˙ θ + ψn ˙ ψ. ω = φn
(5.86)
Die hierbei angenommene Additivit¨at infinitesimaler Drehungen zeigt man wie folgt: dr 1 dr 2 dr ω
= = = =
ω 1 ×rdt ω 2 ×(r + dr 1 )dt = ω 2 ×rdt dr 1 + dr 2 = (ω 1 + ω 2 )×rdt = ω×rdt ω1 + ω2.
(5.87)
Die Komponenten von ω in K berechnen sich damit zu p = ω · e1 = φ˙ sin θ sin ψ + θ˙ cos ψ q = ω · e2 = φ˙ sin θ cos ψ − θ˙ sin ψ r = ω · e3 = φ˙ cos θ + ψ˙
5.7.4
(5.88)
Tr¨ agheitstensor
Kinetische Energie Die kinetischen Energie des starren K¨orpers kann durch Momente der Massenverteilung, die Gesamtmasse M , den Schwerpunkt R, und den Tr¨agheitstensor Θ=
X
mν rν2 I − r ν r ν
(5.89)
ν
ausgedr¨ uckt werden. Man findet 1 1 T = M v02 + ω·Θ · ω + ω·(R×M v 0 ). 2 2
(5.90)
Der erste Anteil ist die Translationsenergie des Bezugspunktes, der zweite die Rotationsenergie um den Bezugspunkt. Als neue Gr¨oße tritt hierbei der Tr¨agheitstensor
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112
auf. Der dritte Anteil ist ein Mischterm. Er verschwindet, wenn entweder der Bezugspunkt ruht (v 0 = 0) oder wenn der Schwerpunkt als Bezugspunkt gew¨ahlt wird (R = 0). Zur Herleitung dieses Ergebnisses summiert man die kinetischen Energien der einzelnen Massenpunkte mit den Geschwindigkeiten (5.84), 1X mν (v 0 + ω × r ν )2 2 ν 1X mν v02 + 2v 0 ·(ω × r ν ) + (ω × r ν )2 = 2 ν 1 1X = M v02 + ω·(R×M v 0 ) + mν (ω × r ν )2 . 2 2 ν
T =
Der letzte Term stellt die Rotationsenergie dar. Sie kann auf folgende Weise umgeformt werden, 1X mν (ω × r ν )·(ω × r ν ) 2 ν 1X = mν ω· {r ν × (ω × r ν ))} 2 ν 1X = mν ω· rν2 ω − (ω · r ν ) r ν 2 ν ( ) X 1 = ω· mν rν2 I − r ν r ν ·ω. 2 ν
Trot =
(5.91)
Der in Klammern stehende Ausdruck ist der Tr¨agheitstensor. Koordinatendarstellung des Tr¨ agheitstensors Definiert man die Koordinaten des Punktes Pν durch xνi = r ν ·ei , so lautet die Komponentendarstellung des Tr¨agheitstensors
Θik = ei ·Θ · ek =
X
mν rν2 δik − xνi xνk
ν
Die entsprechende Darstellung der Rotationsenergie lautet Trot =
3 1 X Θik ωi ωk 2 i,k=1
(5.92)
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113
F¨ ur eine kontinuierliche Massenverteilung mit der Massendichte γ(r) kann die Summation durch eine Integration ersetzt werden, Z Z (5.93) M = dV γ(r), Θik = dV γ(r) rν2 δik − xνi xνk . Tr¨ agheitsmomente Eine einfachere Darstellung erh¨alt man, indem man die Drehachse n als eine Koordinatenachse w¨ahlt. Hier gilt 1 Trot = Θnn ω 2 , 2
Θnn = n · Θ · n,
ω = ωn.
Hierbei wird Θnn als das Tr¨agheitsmoment des starren K¨orpers bez¨ uglich der Drehachse n bezeichnet. Es kann nach der Formel X X Θnn = mν (n × r ν )2 = mν rν2 sin2 ϑν ν
ν
berechnet werden, wobei ϑν den Winkel zwischen r ν und n bezeichnet. Haupttr¨ agheitsmomente Der Tr¨agheitstensor ist symmetrisch und besitzt daher in einem beliebigen Koordinatensystem 6 unabh¨angige Elemente. Eine symmetrische Matrix kann durch eine Drehung der Koordinatenachsen immer auf Diagonalform gebracht werden. Dieses Koordinatensystem heißt Hauptachsensystem des Tr¨agheitstensors, die Diagonalelemente der Matrix sind die Haupttr¨agheitsmomente. Die Hauptachsen xi und die zugeh¨origen Haupttr¨agheitsmomente Θi findet man als L¨osungen des Eigenwertproblems Θ · xi = Θi xi , det |Θik − Θi δik | = 0. (5.94) Sind allle Haupttr¨agheitsmomente verschieden, so nennt man den starren K¨orper einen unsymmetrischen Kreisel. Sind zwei Haupttr¨agheitsmomente gleich, so handelt es sich um einen symmetrischen Kreisel. Sind alle drei Haupttr¨agheitsmomente gleich, so spricht man von einem Kugelkreisel. Drehimpuls Der Drehimpuls des starren K¨orpers um den Bezugspunkt r 0 kann ebenfalls mit Hilfe des Tr¨agheitstensors angegeben werden, L = R×M v 0 + Θ · ω.
(5.95)
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114
Der erste Term verschwindet, wenn der Bezugspunkt ruht oder wenn der Schwerpunkt als Bezugspunkt gew¨ahlt wird. Unter diesen Voraussetzungen gilt L = Θ · ω.
(5.96)
Der Tr¨agheitstensor ist eine lineare Abbildung der Winkelgeschwindigkeit auf den Drehimpuls. Nur bei Drehungen um eine Haupttr¨agheitsachse ist L parallel zu ω. Zur Herleitung von (5.95) summiert man wieder die Einzeldrehimpulse, X L = r ν ×mν (v 0 + ω × r ν ) ν
=
X
(mν r ν )×v 0 + mν r ν ×(ω × r ν )
ν
= R×M v 0 +
( X
) mν rν2 − r ν r ν
·ω.
(5.97)
ν
5.7.5
Eulersche Kreiselgleichungen
¨ Die Anderungen des Gesamtimpulses P und des Gesamtdrehimpulses L eines starren K¨orpers gen¨ ugen im Inertialsystem S den Gleichungen d P = F, dt
d L = N. dt
(5.98)
Hierbei bezeichen F =
X
F eν ,
N=
ν
X
r S,ν ×F eν
(5.99)
ν
die Summe der ¨außeren Kr¨afte bzw. Drehmomente. Wir beschr¨anken uns auf den Fall, in dem die von außen einwirkende Gesamtkraft verschwindet, so daß X X F = 0, N= (r 0 + r ν )×F eν = r ν ×F eν ν
ν
gesetzt werden kann. Damit ist der Gesamtimpuls erhalten. Das Drehmoment kann wie angegeben auf das k¨orperfeste System bezogen werden. Zur Vereinfachung des Drehimpulssatzes sei der Bezugspunkt so gew¨ahlt, daß f¨ ur den Drehimpuls (5.96) gilt. Die Achsen des k¨orperfesten Bezugssystems k¨onnen noch so gew¨ahlt werden, daß das k¨orperfeste System ein Hauptachsensystem darstellt. Die
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115
Transformation der Drehimpuls¨anderung auf das k¨orperfeste System ergibt dann, dL dL = +ω ×L dt S dt K dω = Θ· + ω× (Θ · ω) (5.100) dt K In Komponentenschreibweise lautet das Gleichungssystem Θ1 p˙ + (Θ3 − Θ2 )qr = N1 Θ2 q˙ + (Θ1 − Θ3 )pr = N2 Θ3 r˙ + (Θ2 − Θ1 )pq = N3 .
(5.101)
Hierbei sind die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit durch (5.88) und die Haupttr¨agheitsmomente durch (5.94) definiert. Diese Gleichungen werden als Eulersche Kreiselgleichungen bezeichnet. Sie bestimmen die Eulerwinkel und damit die Orientierung des starren K¨orper als Funktion der Zeit.
5.7.6
Kr¨ aftefreie Bewegung
Bei der Diskussion der Eulerschen Kreiselgleichungen beschr¨anken wir uns auf den kr¨aftefreien Fall. Hier verschwindet das Drehmoment N auf der rechten Seite von (5.101). Gleichf¨ ormige Rotation eines unsymmetrischen Kreisels Wir untersuchen zuerst unter welchen Bedingungen ein unsymmetrischer Kreisel um eine k¨orperfeste Achse gleichf¨ormig rotieren kann. Unter der Voraussetzung ω˙ = 0 folgt aus (5.100), daß der Drehimpuls parallel zur Winkelgeschwindigkeit gerichtet sein muß, L = Θ · ω = Θi ω Dies ist die Bedingung f¨ ur eine Haupttr¨agheitsachse. Somit sind gleichf¨ormige Rotationen nur um Haupttr¨agheitsachsen m¨oglich. Die Drehachse sei nun nahezu parallel zu einer Haupttr¨agheitsachse. Ohne Einschr¨ankung sei dies die Achse mit dem Haupttr¨agheitsmoment Θ1 , so daß q << p und r << p gilt. In diesem Fall k¨onnen die Bewegungsgleichungen (5.101) durch Linearisierung in den kleinen Gr¨oßen q und r vereinfacht werden, Θ1 p˙ = 0 Θ2 q˙ + (Θ1 − Θ3 )pr = 0 Θ3 r˙ + (Θ2 − Θ1 )pq = 0.
(5.102)
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116
Aus der ersten Gleichung folgt, daß p = p0 als konstant angenommen werden kann. Aus den beiden anderen Gleichungen erh¨alt man die Schwingungsgleichungen q¨ + Hq = 0,
r¨ + Hr = 0,
H=
(Θ1 − Θ3 )(Θ1 − Θ2 ) 2 p0 . Θ2 Θ3
F¨ ur H > 0 ist die Drehung um die Haupttr¨agheitsachse stabil, f¨ ur H < 0 instabil. Stabile Drehungen erfolgen daher um die Haupttr¨agheitsachsen mit dem kleinsten und dem gr¨oßten Tr¨agheitsmoment. Die Drehung um die Haupttr¨agheitsachse mit dem mittleren Tr¨agheitsmoment ist instabil. Symmetrischer Kreisel Gegeben sei nun ein symmetrischer Kreisel mit der Symmetrieachse x3 . Die Symmetrieachse wird als Figurenachse bezeichnet. Setzt man Θ1 = Θ2 ,
w=
(Θ1 − Θ3 ) Θ1
so reduzieren sich die Bewegungsgleichungen (5.101) auf die Form p˙ − wqr = 0 q˙ + wpr = 0 r˙ = 0.
(5.103)
Die L¨osung bestimmt die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit im k¨orperfesten System, p = φ˙ sin θ sin ψ + θ˙ cos ψ = a sin(wt + ψ0 ), p˙ q = φ˙ sin θ cos ψ − θ˙ sin ψ = = a cos(wt + ψ0 ), w ˙ ˙ r = φ cos θ + ψ = r0 ,
(5.104)
mit Integrationskonstanten a, ψ0 und r0 . Die Winkelgeschwindigkeit ω bildet einen festen Winkel γ mit der Figurenachse, der durch tan γ = a/r0 bestimmt ist. Dabei l¨auft sie auf einem Kegel, dem Polkegel, um die Figurenachse um. Im Inertialsystem ist der Drehimpuls erhalten. W¨ahlt man die z- Achse des Inertialsystems in Richtung des Drehimpulsvektors, so gilt L = L0 ez . Die Komponenten von L im k¨orperfesten System sind dann L1 ez ·e1 sin θ sin ψ θ1 p L2 = L0 ez ·e2 = L0 sin θ cos ψ = θ2 q . (5.105) L3 ez ·e3 cos θ θ3 r
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117
Abbildung 5.8: Pr¨azession eines kr¨aftefreien symmetrischen Kreisels.
Wegen θ3 r0 = const folgt aus der dritten Komponente L3 = L0 cos θ = θ3 r0 , daß der Eulerwinkel θ = θ0 ¨ konstant ist. Daher l¨auft die Figurenachse auf einem Kegel mit Offnungswinkel 2θ0 um die raumfeste Drehimpulsachse um. Dieser Kegel wird als Pr¨azessionskegel be˙ z + ψe ˙ 3 bildet mit der Drehimpulsachse ebenfalls zeichnet. Die Drehachse ω = φe einen festen Winkel. Sie l¨auft auf dem sogenannten Spurkegel um die Drehimpulsachse um. Anschaulich ergibt sich die Pr¨azession der Figurenachse, indem der Polkegel auf dem Spurkegel abrollt. Die restlichen beiden Eulerwinkel k¨onnen durch die ersten beiden Gleichungen von (5.104) bestimmt werden. Man erh¨alt φ˙ 2 sin2 θ0 = a2
=⇒
φ˙ sin θ0 sin ψ = a sin ψ
=⇒
a t sin θ0 ψ = ψ0 + wt. φ = φ0 +
Kapitel 6 Hamiltonsche Mechanik Die mechanischen Bewegungsgleichungen k¨onnen als ein 2f dimensionales Differentialgleichungssystem erster Ordnung f¨ ur Bewegungen im Phasenraum dargestellt werden. An die Stelle der Lagrangefunktion tritt hier die Hamiltonfunktion. Die ¨ Hamiltonsche Theorie ist von besonderer Bedeutung, da der Ubergang zur Quantenmechanik hier durch einfache Quantisierungsregeln vollzogen werden kann.
6.1
Kanonische Gleichungen
Die verallgemeinerten Impulse werden durch die partiellen Ableitungen der Lagrangefunktion nach den verallgemeinerten Geschwindigkeiten definiert, pn = pn (q, q, ˙ t) =
∂L . ∂ q˙n
(6.1)
Wir suchen nun umgekehrt eine Funktion, deren partielle Ableitungen nach den verallgemeinerten Impulsen die verallgemeinerten Geschwindigkeiten bestimmen. Eine solche Umkehrung l¨aßt sich mit einer Legendretransformation erreichen. Legendretransformation Das totale Differential der Lagrangefunktion X ∂L ∂L ∂L dqn + dq˙n + dt ∂q ∂ q ˙ ∂t n n n X ∂L ∂L = dqn + pn dq˙n + dt ∂q ∂t n n
dL =
118
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
119
dr¨ uckt die Abh¨angigkeit dieser Funktion von den Variablen q, q˙ und t aus. In der zweiten Zeile wurde nur die Definition der verallgemeinerten Impulse (6.1) substituiert. Subtrahiert man davon das Differential X X d pn q˙n = pn dq˙n + q˙n dpn n
n
so erh¨alt man das Differential einer Funktion, die von den Variablen q, p und t abh¨angt ! X X ∂L ∂L d L− p n qn = dqn − q˙n dpn + dt. (6.2) ∂qn ∂t n n Man definiert die Hamiltonfunktion H = H(p, q, t) durch X H = H(p, q, t) = pn q˙n − L.
(6.3)
n
Dies ist die Energie des Systems, ausgedr¨ uckt durch die Variablen q, p und t. Die partiellen Ableitungen der Hamiltonfunktion nach diesen Variablen sind ∂H = q˙n , ∂pn
∂H ∂L =− , ∂qn ∂qn
H ∂L =− . ∂t ∂t
(6.4)
Die partiellen Ableitungen der Hamiltonfunktion nach den verallgemeinerten Impulsen bestimmen somit die verallgemeinerten Geschwindigkeiten. Die restlichen partiellen Ableitungen sind bis auf das Vorzeichen unver¨andert. Bewegungsgleichungen Mit der Hamiltonfunktion lassen sich die Bewegungsgleichungen des Systems im Phasenraum (q, p) angeben. Aus (5.39) und (6.4) erh¨alt man die kanonischen Gleichungen, q˙n =
∂H , ∂pn
p˙n = −
∂H ∂qn
.
(6.5)
Sie stellen ein Differentialgleichungessystem 1. Ordnung f¨ ur die 2f Variablen (q, p) dar. Zyklische Variablen und Energieerhaltung H¨angt die Hamiltonfunktion nicht explizit von einer Koordinate ab, so ist der zugeh¨orige verallgemeinerte Impuls erhalten, ∂H =0 ∂qn
=⇒
pn = const.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
120
Ist die Hamiltonfunktion nicht explizit zeitabh¨angig, so ist die Energie erhalten, dH dt
X ∂H ∂H ∂H p˙n + q˙n + ∂pn ∂qn ∂t n X ∂H ∂H ∂H ∂H ∂H = − + + ∂pn ∂qn ∂qn ∂pn ∂t n =
=
∂H = 0. ∂t
(6.6)
Hamiltonfunktion einer Ladung im elektromagnetischen Feld Aus der Lagrangefunktion (5.65) findet man den kanonischen Impuls q p = mv + A. c Damit erh¨alt man die Hamiltonfunktion H = p·v−L 1 q = p · v − mv 2 + qφ − v · A 2 c 1 = mv 2 − mv 2 + qφ 2 1 2 = mv + qφ 2 (p − qc A)2 = + qφ. 2m
6.2
Modifiziertes Hamiltonsches Prinzip
Die Hamiltonschen Gleichungen lassen sich aus einem Variationsprinzip ableiten. Sei LH (q, q, ˙ p, t) =
f X
pn q˙n − H(p, q, t)
n=1
die Lagrangefunktion des Systems als Funktion der unabh¨angigen Variablen q, q, ˙ p und Zt2 S[p, q] = dtLH t1
die Wirkung als Funktional der Bahn (p, q) im Phasenraum. Dann folgen die Hamiltonschen Gleichungen aus dem modifizierten Hamiltonschen Prinzip δS[q, p] = 0,
mit
δq(t1 ) = δq(t2 ) = δp(t1 ) = δp(t2 ) = 0.
(6.7)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
121
Die Variation nach den Funtionen q und p ergibt die Euler-Lagrangegleichungen, d ∂LH dt ∂ q˙n d ∂LH dt ∂ p˙n
∂LH ∂qn ∂LH = . ∂pn
=
Mit ∂LH ∂ q˙n ∂LH ∂ p˙n
= pn , = 0,
∂LH ∂H =− ∂qn ∂qn ∂LH ∂H = q˙n − ∂pn ∂pn
folgen daraus die kanonischen Gleichungen (6.5).
6.3
Poisson-Klammern
Sei F (p, q, t) eine beliebige Funktion der Variablen p, q, t. Dann ist deren totale Zeitableitung dF dt
∂F X ∂F ∂F + q˙n + p˙n ∂t ∂q ∂p n n n ∂F ∂F ∂F X ∂F ∂F + − . = ∂t ∂q ∂p ∂p ∂q n n n n n
=
Definiert man die Poissonklammern zweier Funktionen u(p, q) und v(p, q) durch
X ∂u ∂v ∂u ∂v u, v = − , ∂q ∂p ∂p ∂q n n n n n
(6.8)
dF ∂F = + F, H . dt ∂t
(6.9)
so gilt
Setzt man F = q bzw. F = p so erh¨alt man die Bewegungsgleichungen in der symmetrischen Form q˙n = qn , H ,
p˙n = pn , H .
(6.10)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
122
Eine Gr¨oße F , die nicht explizit von der Zeit abh¨angt, ist genau dann eine Erhaltungsgr¨oße, wenn die mit F und der Hamiltonfunktion H gebildete Poissonklammer verschwindet: dF ∂F = = 0, ⇐⇒ F, H = 0. ∂t dt Die Poissongleichungen zwischen Paaren von Koordinaten und Impulsen lauten, qn , qm = 0, pn , pm = 0, qn , pm = − pm , qn = δnm . (6.11) Die Poissongleichungen erf¨ ullen folgende algebraische Identit¨aten: u, v = − v, u λu + µv, w = λ u, w + µ v, w uv, w = u, w v + u v, w u, v , w + w, u , v + v, w , u = 0. Die letzte Gleichung heißt Jacobi-Identit¨at. In der Quantenmechanik werden die Variablen p und q zu Operatoren und die Poissonklammern zu Kommutatoren. Die Gleichungen (6.11) bilden die Grundlage f¨ ur die Quantisierung eines mechanischen Systems.
6.4
Kanonische Transformationen
In der Lagrangetheorie k¨onnen beliebige verallgemeinerte Koordinaten gew¨ahlt werden. Bei einer Koordinatentransformation q −→ Q = Q(q, t) bleibt die Form der Lagrangegleichungen erhalten. In der Hamiltonschen Theorie lassen sich Koordinaten und Impulse gemeinsam transformieren. Man nennt eine solche Transformation kanonisch, wenn dabei die Form der kanonischen Gleichungen erhalten bleibt. Eine kanonische Transformation besitzt demnach die Form q −→ Q = Q(p, q, t),
p −→ P = P (p, q, t),
H −→ K = K(P, Q, t). (6.12)
Hierbei bezeichnen Q die neuen Koordinaten, P die neuen Impulse und K eine neue Hamiltonfunktion. Diese erf¨ ullen die kanonischen Bewegungsgleichungen, ∂K , Q˙ n = ∂Pn
∂K P˙n = − . ∂Qn
(6.13)
Kanonische Transformationen k¨onnen durch Umeichungen der Larangefunktion erzeugt werden. Bei einer solchen Umeichung bleiben die Bewegungsgleichungen invariant. Wir fordern daher, daß sich die Lagrangefunktionen des modifizierten Hamiltonschen Prinzips in den alten und neuen Koordinaten nur durch eine totale Zeitableitung voneinander unterscheiden,
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
X
pn q˙n − H =
n
X n
123
d Pn Q˙ n − K + F (q, p, Q, P, t) dt
(6.14)
Hierbei ist F (q, p, Q, P, t) eine beliebige Funktion, die man erzeugende Funktion der kanonischen Transformation nennt. Aufgrund der Transformationsgleichungen (6.12) sind nur zwei der vier Variablen unabh¨angig voneinander. Ohne Einschr¨ankung k¨onnen wir eine erzeugende Funktion F = F (q, Q, t) annehmen und (6.14) in der Form X dF = pn dqn − Pn dQn − (H − K)dt (6.15) n
schreiben. Daraus folgt pn =
∂F , ∂qn
Pn = −
∂F , ∂Qn
K=H+
∂F . ∂t
(6.16)
F¨ ur eine gegebene Funktion F = F (q, Q, t) bestimmen die ersten beiden Gleichungen die kanonische Transformation der Koordinaten und Impulse, die letzte Gleichung stellt die Transformation der Hamiltonfunktion dar. Die erste Gleichung hat die Form p = p(q, Q, t). Sie definiert implizit die neuen Koordinaten Q = Q(q, p, t). Die zweite Gleichung besitzt die Form P = P (q, Q). Zusammen mit der ersten Gleichung erh¨alt man daraus die neuen Impulse. Man kann erzeugende Funktionen w¨ahlen, die von anderen Variablenpaaren abh¨angen, z.B. S = S(q, P, t). Durch Legendretransformation erh¨alt man ! X X Pn Qn = pn dqn + Qn dPn − (H − K)dt. (6.17) dS = d F + n
n
Damit lauten die Transformationsgleichungen f¨ ur die erzeugende Funktion S pn =
6.5
∂S , ∂qn
Qn =
∂S , ∂Pn
K=H+
∂S . ∂t
(6.18)
Hamilton-Jacobi-Differentialgleichung
Sei S(q, P, t) eine kanonische Transformation, die so gew¨ahlt ist, daß f¨ ur die neue Hamiltonfunktion K = 0 gilt. In diesem Fall sind die neuen Koordinaten und Impulse konstant und stellen 2f Integrationskonstanten des Differentialgleichungssystems dar. Die zugeh¨orige kanonische Transformation gen¨ ugt nach (6.18) der Hamilton-JacobiDifferentialgleichung, ∂S ∂S + H(q, , t) = 0. ∂t ∂q
(6.19)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
124
Dies ist eine partielle Differentialgleichung, deren L¨osung dem Auffinden der Teilchenbahnen ¨aquivalent ist.
Kapitel 7 Relativistische Mechanik 7.1
Relativit¨ atsprinzip
Erfahrungsgem¨aß ist die Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen gleich groß: c = 2.998 · 108
m km ≈ 300 000 . s s
(7.1)
Dies wurde zuerst 1887 im Experiment von Michelson und Morley nachgewiesen. Die beobachtete Konstanz der Lichtgeschwindigkeit steht jedoch im Widerspruch zum Galileischen Relativit¨atsprinzip der Newtonschen Mechanik. Galileitransformation: Wir betrachten einen Vorschub des Koordinatensystems S 0 mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung: x0 = x − vt,
t0 = t.
(7.2)
Die Phase Φ = kx − ωt einer Lichtwelle bestimmt die Anzahl der Wellenl¨angen
Abbildung 7.1: Bewegtes Koordinatensystem S 0 . Der Ursprung von S’ ist gegen¨ uber S um vt verschoben.
125
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
126
eines Wellenzuges. Sie muß daher unabh¨angig vom Bezugssystem sein. Aus dieser Forderung ergibt sich !
k 0 x0 − ω 0 t0 = k 0 x − (ω 0 + k 0 v)t = kx − ωt k = k0, ω = ω 0 + k 0 v.
(7.3)
Im Vakuum breitet sich die Lichtwelle mit der Phasengeschwindigkeit ω 0 /k 0 = ω/k = c aus. Aufgrund der Galileitransformation (7.3) erh¨alt man jedoch c=
ω0 ω ω0 + k0v = = + v = c0 + v k k0 k0
(7.4)
Dies widerspricht der Beobachtung c = c0 . Einstein hat diesen Widerspruch dadurch gel¨ost, daß er die Forderung nach Galilei-Invarianz durch ein neues Relativit¨atsprinzip (Lorentz-Invarianz) ersetzt hat. Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wird dabei als physikalisches Grundprinzip eingef¨ uhrt. Einsteinsches Relativit¨ atsprinzip (ER): (E1) Alle Inertialsysteme sind gleichwertig. (E2) Die Lichtgeschwindigkeit ist in allen Inertialsystemen gleich groß. Die Transformation zwischen Inertialsystemen, die dem ER gen¨ ugen, nennt man Lorentz-Transformationen. Physikalische Gesetze, die gegen¨ uber LorentzTransformationen invariant sind, nennt man lorentzinvariant oder relativistisch.
7.2
Lorentz-Transformation
Als Verallgemeinerung der Galileitransformation wird eine allgemeine lineare Transformation der Koordinaten angenommen: 0 0 0 0 x x Λ 0 Λ0 1 = (7.5) 1 1 1 Λ0 Λ1 x x1 Koordinaten in S : (ct, x) ≡ (x0 , x1 ) 0 0 Koordinaten in S’ : (ct0 , x0 ) ≡ (x0 , x1 ) Die 4 Konstanten Λα β h¨angen nur von v ab. Sie werden durch folgende Forderungen bestimmt: 0
1. Ursprung von S’: x1 = 0; x1 = vt = βx0 ; β =
v c
0
x1 = Λ1 0 x0 + Λ1 1 x1 = 0 x1 Λ1 0 ! = − =β x0 Λ1 1
(7.6)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull 0
2. Ursprung von S: x1 = 0; x1 = −vt0 = −βx0
127 0
0
x1 Λ1 0 ! = = −β x 00 Λ0 0 0
(7.7) 0
3. Invarianz der Lichtgeschwindigkeit: x1 = x0 , x1 = x0 0
Λ1 0 + Λ1 1 x1 = =1 x 00 Λ0 0 + Λ0 1
(7.8)
ur die Damit sind 3 der 4 Konstanten festgelegt. Setzt man γ(v) := Λ0 0 f¨ verbleibende Konstante, so gilt 0 0 0 x x 1 −β = γ(v) , −β 1 x1 x1 Λ1 1 = Λ0 0 = γ;
Λ1 0 = Λ0 1 = −βγ.
(7.9) 0
0
4. Raumspiegelung: Eine Raumspiegelung x1 → −x1 , x1 → −x1 ist ¨aquivalent zu einer Umkehr der Geschwindigkeit v → −v. F¨ uhrt man gleichzeitig eine Raumspiegelung und eine Geschwindigkeitsumkehr durch, so muß sich das urspr¨ ungliche Transformationsgesetz ergeben. 0 0 0 x x 1 β = γ(−v) 1 β 1 −x −x1 0 0 0 x x 1 −β = γ(−v) 1 −β 1 x x1 Daraus folgt: γ(v) = γ(−v). 5. Inverse Transformation: Die inverse Transformation 0 0 0 x 1 1 x 1 β = 1 2 β 1 x γ(v) 1 − β x1
(7.10)
(7.11)
muß ¨aquivalent sein zu einer Transformation mit der Geschwindigkeit −v. Daraus folgt: 1 1 γ(−v) = . (7.12) γ(v) 1 − β 2 Aus (7.10) und (7.12) folgt γ=p
1 1 − β2
.
(7.13)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull Die gesuchte Lorentz-Transformation ist, 0 0 0 x x 1 −β =γ ; 1 −β 1 x x1
128
1
γ=p
1 − β2
;
β=
v c
(7.14)
In expliziter Form lautet sie: t − vx/c2 , t0 = p 1 − v 2 /c2
x − vt
x0 = p
1 − v 2 /c2
.
(7.15)
F¨ ur kleine Geschwindigkeiten, v 2 /c2 1, geht die Lorentz-Transformation (7.15) in die Galileitransformation (7.2) u ¨ber. Die Koordinatenachsen (x00 = 0, x10 = 0) des bewegten Systems S’ erscheinen im Inertialsystem S gegeneinander verdreht (Abb. 7.2). Punkte t > 0, die in S am Ort x = 0 beobachtet werden, erscheinen in S’ entlang der negativen x’-Achse. Punkte x > 0, die in S zur Zeit t = 0 beobachtet werden, erscheinen in S’ zu fr¨ uheren Zeiten 0 t < 0.
Abbildung 7.2: Koordinatenlinien x00 = const, x10 = const eines bewegten Inertialsystems S’ (rechts) im Inertialsystem S (links).
7.3 7.3.1
Der Abstand von Ereignissen Raumzeit
Ereignis: Die Ortskoordinaten x1 , x2 , x3 und die Zeitkoordinate x0 = ct eines Inertialsystems bilden einen 4-dimensionalen Raum. Die Punkte (x0 , x1 , x2 , x3 ) dieses Raumes nennt man Ereignisse. Betrachtet man nur Relativbewegungen in einer Koordinatenrichtung (x1 ), so k¨onnen die Ereignisse (x0 , x1 ) in einer Ebene dargestellt werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
129
Weltlinien: Die Bahnkurve eines Teilchens im 4-dimensionalen Raum heißt Weltlinie (Abb. 7.3). Die Weltlinien eines Photons, welches sich zur Zeit t = 0 im Ursprung befindet, liegen auf dem Lichtkegel ct = r. Die Weltlinie x = vt eines Teilchens mit der Geschwindigkeit v < c liegt innerhalb des Lichtkegels. Ereignisse innerhalb des Lichtkegels k¨onnen vom Ursprung aus durch ein Signal, welches sich mit einer Geschwindigkeit v < c ausbreitet, erreicht werden. Ereignisse außerhalb des Lichtkegels sind so weit vom Ursprung entfernt, daß sie durch kein Signal mit v ≤ c erreicht werden k¨onnen.
Abbildung 7.3: Die Weltlinie eines Teilchens mit der Geschwindigkeit v.
Abstand: In Analogie zum 3-dimensionalen Abstandsquadrat r2 = (x1 )2 + (x2 )2 + (x3 )2 definiert man das 4-dimensionale Abstandsquadrat s2 = (x0 )2 − r2 .
(7.16)
Im Unterschied zur euklidischen Geometrie ist das Vorzeichen beim r¨aumlichen Abstand negativ. Damit wird das Abstandsquadrat unabh¨angig von der Wahl des Inertialsystems. Nach dem Relativit¨atsprinzip gilt f¨ ur ein Photon r = x0 und damit s2 = 0 f¨ ur alle Inertialsysteme. Aufgrund der Lorentz-Transformation sind auch Abst¨ande s2 6= 0 unabh¨angig vom Inertialsystem: 0
0
s02 = (x0 )2 − (x1 )2 = γ 2 [+(x0 − βx1 )2 − (x1 − βx0 )2 ] = +(x0 )2 − (x1 )2 = s2 .
(7.17)
Nach dem Vorzeichen von s2 unterscheidet man: s2 = 0 : Lichtartiger Abstand s2 < 0 : Raumartiger Abstand s2 > 0 : Zeitartiger Abstand
(7.18)
Da s2 invariant ist, ist diese Unterscheidung unabh¨angig vom Inertialsystem. Bei raumartigen Abst¨anden kann ein Koordinatensystem gefunden werden, in dem das Ereignis (x0 , x1 ) gleichzeitig zum Ereignis (0, 0) stattfindet: !
x00 = γ(x0 − βx1 ) = 0
⇒
β=
x0 < 1. x1
(7.19)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
130
Bei zeitartigen Abst¨anden kann ein Koordinatensystem gefunden werden, in dem das Ereignis (x0 , x1 ) am selben Ort wie das Ereignis (0, 0) stattfindet: !
x10 = γ(x1 − βx0 ) = 0
⇒
β=
x1 < 1. x0
(7.20)
Abbildung 7.4: Der Lichtkegel trennt raumartige von zeitartigen Abst¨anden.
7.3.2
L¨ angenkontraktion
Ein Stab bewege sich im Laborsystem S mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung (Abb.7.5a). L¨angenmessung in S: Die Positionen x1 , x2 der Stabenden werden in S zur gleichen Zeit t1 = t2 gemessen: ∆x = x2 − x1 = l,
∆t = t2 − t1 = 0
(7.21)
Der Stab ruht in einem mit v bewegten Inertialsystem. Die L¨ange ∆x0 = x02 − x01 = l0
(7.22)
im Ruhesystem ist die Eigenl¨ange des Stabes. Lorentz-Transformation: ∆x0 = γ(∆x − v∆t) Mit ∆x0 = l0 , ∆x = l und ∆t = 0 folgt p l = 1 − v 2 /c2 l0
(7.23)
(7.24)
Die Ereignisse der Messung der Stabenden finden in S 0 zu verschiedenen Zeiten statt ∆t0 = γ(∆t −
v v ∆x) = − 2 l0 2 c c
(7.25)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
131
Abbildung 7.5: a) bewegte Maßst¨abe erscheinen verk¨ urzt b) bewegte Uhren gehen langsamer.
7.3.3
Zeitdilatation
Eine Uhr bewege sich in S mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung. Zu den Zeitpunkten t1 und t2 wird der Stand der Uhr mit Uhren in S an den Orten x1 bzw. x2 = x1 + v(t2 − t1 ) verglichen (Abb.7.5b). Zeitintervall im Ruhesystem S 0 der Uhr: ∆t0 = ∆τ,
∆x0 = 0
(7.26)
Zeitmessung in S: ∆t;
∆x = v∆t
(7.27)
Lorentz-Transformation ∆x0 = γ(∆x − v∆t) v ∆t0 = γ(∆t − 2 ∆x) c
(7.28) (7.29)
Die Uhr wird in S an verschiedenen Orten abgelesen. ∆x0 = 0 ⇒ ∆x = v∆t.
(7.30)
Damit gilt: r v2 v2 ∆τ = γ(1 − 2 )∆t = 1 − 2 ∆t. (7.31) c c Die bewegte Uhr geht gegen¨ uber den Uhren, die im Laborsystem ruhen nach (Zeitdehnung oder Zeitdilatation).
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
7.3.4
132
Eigenzeit
Die Eigenzeit τ einer Uhr wird definiert als die Zeit im Ruhesystem der Uhr: v = 0 ⇒ ds2 = c2 dτ 2 ;
1 τ2 − τ1 = (s2 − s1 ) c
(7.32)
Die Eigenzeit ist unabh¨angig vom Inertialsystem, da der Abstand s2 − s1 lorentzinvariant ist. Zeit einer bewegten Uhr: Zur Zeit t bewege sich die Uhr in S mit Geschwindigkeit v(t). Im infinitesimalen Zeitintervall dt bewegt sie sich mit der momentanen Geschwindigkeit v(t) u ¨ber eine Strecke dx = v(t)dt. In einem Inertialsystem S 0 , welches sich mit der konstanten Geschwindigkeit v0 = v(t) bewegt ist die Uhr momentan in Ruhe. Dem Zeitintervall dt entspricht das Eigenzeitintervall 1 1√ 2 2 ds = c dt − dx2 c c p = 1 − v 2 (t)/c2 dt
dτ =
(7.33)
F¨ ur ein endliches Zeitintervall von t1 bis t2 gilt daher Zt2 r 1−
τ=
v 2 (t) dt. c2
(7.34)
t1
Eine in S bewegte Uhr geht daher langsamer als eine in S ruhende Uhr. Um den Zeitvergleich der beiden Uhren zur Zeit t1 und t2 ausf¨ uhren zu k¨onnen, m¨ ussen sich die Uhren zu diesen Zeitpunkten am selben Ort befinden. Dies ist nur m¨oglich, falls die bewegte Uhr im Zeitintervall zwischen t1 und t2 beschleunigt wurde. Da in beschleunigten Bezugssystemen andere Gesetze gelten, ist die angezeigte Zeitdifferenz der Uhren nicht im Widerspruch zum Relativit¨atsprinzip. Diejenige der beiden Uhren, die beschleunigt wurde, geht nach. (Zwillingsparadoxon, Lebensdauer schneller Myonen).
7.3.5
Gleichzeitigkeit
Nach dem Galileischen Relativit¨atsprinzip k¨onnen sich die Zeiten t und t0 in zwei Inertialsystemen nur durch eine Konstante t0 unterscheiden: t0 = t + t0
(7.35)
Daher sind Zeitdifferenzen zwischen 2 Ereignissen in allen Inertialsystemen gleich groß: ∆t0 = ∆t (7.36)
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133
Zwei Ereignissen, die in einem Inertialsystem gleichzeitig stattfinden, ∆t = 0, sind dann auch in jedem anderen Inertialsystem gleichzeitig: ∆t0 = 0. Durch das Einsteinsche Relativit¨atsprinzip wird Gleichzeitigkeit zu einem relativen Begriff, der vom Inertialsystem des Beobachters abh¨angt. Zwei gleichzeitige Ereignisse (∆t = 0), die in S im Abstand ∆x voneinander stattfinden, treten in einem bewegten Inertialsystem S 0 im zeitlichen Abstand ∆t0 = γ(∆t −
v v ∆x) = −γ 2 ∆x 2 c c
(7.37)
voneinander auf. Mit ∆x0 = γ(∆x − v∆t) = γ∆x
(7.38)
erh¨alt man in S 0 die Zeitdifferenz ∆t0 = −
v ∆x0 . c c
(7.39)
Eine absolute Bedeutung hat nur das Abstandsquadrat ∆s2 = c2 ∆t2 − ∆x2 .
7.4
Vierervektoren
4-dimensionale Raumzeit: 3 Orts- und eine Zeitkoordinate. Ortsvektor: xα ≡ (x0 , x1 , x2 , x3 ) = (ct, x, y, z)
(7.40)
ds2 = (x0 )2 − (x1 )2 − (x2 )2 − (x3 )2 = −ηαβ dxα dxβ
(7.41)
Wegelement:
Lorentz-Metrik:
ηαβ
−1 0 = 0 0
0 1 0 0
0 0 1 0
0 0 0 1
(7.42)
¨ Summenkonvention: Uber paarweise auftretende obere und untere Indizes wird summiert: 3 X 3 X α β ηαβ dx dx ≡ ηαβ dxα dxβ (7.43) α=0 β=0
Lorentz-Transformation: xα → xα 0
0
x α = Λα γ x γ + b α
(7.44)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
134
bα = 0 : homogene Lorentz-Transformation bα 6= 0 : inhomogene Lorentz-Transformation Invarianz der Metrik gegen¨ uber Lorentz-Transformation: 0
ηαβ dxα dxβ
0
= ηαβ Λα β Λβ δ dxγ dxδ !
= ηγδ dxγ dxδ
(7.45)
Da diese Bedingung f¨ ur beliebige dxα gelten soll gilt: ηγδ = ηαβ Λα γ Λβ δ = (Λγ α )T ηαβ Λβ δ .
(7.46)
η = ΛT ηΛ
(7.47)
oder Vierervektoren: Koordinatendifferentiale transformieren sich bei Lorentztransformationen wie 0 dxα = Λα β dxβ . (7.48) Jede 4-komponentige Gr¨oße V α , die sich wie die Koordinatendifferentiale transformiert heißt 4-Vektor: 0 V α = Λα β V β (7.49) Lorentz-Skalare: Gr¨oßen, die invariant sind gegen¨ uber Lorentz-Transformationen heißen Lorentz-Skalare: s0 = s (7.50) Bsp.: s = ηαβ V α V β , Eigenzeit, Eigenl¨ange Kovariante u. kontravariante Komponenten V α ≡ (V 0 , V 1 , V 2 , V 3 ) kontravariant Vα ≡ (V0 , V1 , V2 , V3 ) kovariant Vα := ηαβ V β = (−V 0 , V 1 , V 2 , V 3 ).
(7.51)
Skalarprodukte k¨onnen damit in der u ¨blichen Form geschrieben werden s = ηαβ V α V β = Vα V α .
7.5
(7.52)
Relativistische Mechanik
Kovarianz: Gleichungen zwischen Skalaren, Vektoren oder allgemeiner Tensoren in der 4-dimensionalen Raumzeit sind gegen¨ uber Lorentz-Transformationen forminvariant. Man nennt solche Gleichungen auch kovariant. Eine kovariante Gleichung ist z.B. aµ = b µ . (7.53)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
135
In einem anderen Inertialsystem S 0 gilt dann entsprechend 0
aµ = b µ
0
(7.54)
f¨ ur die transformierten Komponenten 0
aµ = Λ µ ν aν ,
0
b µ = Λµ ν b ν .
(7.55)
Aus dem Einsteinschen Relativit¨atsprinzip ergibt sich die weitreichende Forderung, daß die Newtonsche Bewegungsgleichung revidiert und durch eine kovariante Bewegungsgleichung ersetzt werden muß. Geschwindigkeit: Die Geschwindigkeit eines Teilchens kann in naheliegender Weise als 4-Vektor verallgemeinert werden. Da das Koordinatendifferential dxα einen 4Vektor und das Eigenzeitintervall dτ = γ1 dt einen Skalar darstellt, ist uα =
dxα dτ
(7.56)
ein 4-Vektor, der als die 4-Geschwindigkeit bezeichnet wird. In einem Inertialsystem S, in dem das Teilchen die Koordinaten xα = (ct, vt) besitzt, sind die Komponenten der 4-Geschwindigkeit dxα uα = γ = γ(c, v). (7.57) dt Im Ruhesystem des Teilchens (v = 0) gilt uα = (c, 0, 0, 0).
(7.58)
uα uα = γ 2 (−c2 + v 2 ) = −c2
(7.59)
Der Skalar ist eine durch die Lichtgeschwindigkeit bestimmte Invariante. Additionstheorem der Geschwindigkeiten:
Abbildung 7.6: Ein Teilchen bewege sich in dem Inertialsystem S 0 mit der Geschwindigkeit v 0 .
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
136
x0 = γ(x − ut) ux t0 = γ t − 2 c 0 x x − ut v−u v0 = 0 = ux = 1 − uv t t − c2 c2
(7.60)
Umkehrung: x = γ(x0 + ut0 ) ux0 0 t = γ t + 2 c 0 x + ut0 v0 + u x v = = 0 ux0 = 0 t t + c2 1 + uv c2
(7.61)
Impuls: Die im Ruhesystem des Teilchens definierte Masse m (Ruhemasse) ist ebenfalls ein Lorentz-Skalar. Der 4-Vektor pα = muα
(7.62)
wird als 4-Impuls bezeichnet. Definiert man den relativistischen Impuls p = mγv und die relativistische Energie E = mγc2 so gilt E α p = ,p (7.63) c Die Energie im Ruhesystem, ER = mc2 , heißt Ruheenergie, E − ER = m(γ − 1)c2 heißt kinetische Energie. Zwischen Energie und Impuls besteht die relativistische Energie-Impulsbeziehung: E2 + p2 = −m2 c2 c2 p mc2 + E = m2 c4 + p2 c2 → pc
pα pα = −
p2 2m
; pm ; pm
(7.64)
Relativistische Bewegungsgleichung: Die kovariante Form der Bewegungsgleichung ist d α p = f α. (7.65) dτ Auf der linken Seite steht ein 4-Vektor. Die Kraft f α stellt daher ebenfalls einen 4-Vektor dar, der als 4-Kraft bezeichnet wird. Im momentanen Ruhesystem (S 0 ) des Teilchens gilt: f0
0
=
dp0 = 0, dt
f0 =
dp = F, dt
(7.66)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
137
wobei F die Newtonsche Kraft darstellt. Im Laborsystem S bewegt sich das Ruhesystem mit der Geschwindigkeit v. Durch Lorentz-Transformation erh¨alt man, v·F , c 0 0 = γ(f k + βf 0 ) = γF k , 0 = f ⊥ = F ⊥. 0
0
f 0 = γ(f 0 + βf k ) = γ fk f⊥
(7.67)
Hierbei bezeichnen k bzw. ⊥ Vektorkomponenten parallel bzw. senkrecht zu v. Zusammen ergibt dies die 4-Kraft v·F v(v · F ) α f = γ , F + (γ − 1) (7.68) c v2 Komponenten der Bewegungsgleichung: 0-Komponente: (Energiesatz) γ
d v·F (mγc) = γ , dt c
d (mγc2 ) = v · F . dt
(7.69)
Komponente k v: d γ (mγv) = γFk , dt k
Komponente ⊥ v: d γ (mγv) = F ⊥, dt ⊥
d (mγv) = Fk . dt k
(7.70)
d 1 (mγv) = F ⊥ . dt γ ⊥
(7.71)
Lorentz-Kraft: (Ohne Beweis) Die relativistische Bewegungsgleichung einer Ladung q im elektrischen Feld E und Magnetfeld B ist: v·E v α f =γ q , q(E + ×B) (7.72) c c d v d (mγv) = q E + ×B , (mγc2 ) = qE · v dt c dt Da die Lorentz-Kraft F = q(E + 1c v×B) linear von der Geschwindigkeit abh¨angt, besitzt die 4-Kraft hier die allgemeine kovariante Form f α = qFβα uβ . Die Transformation (7.68) ist daher nicht anwendbar.