ZU DIESEM BUCH
Melinda, eine Mischung aus Modesty Blaise und James Bond, eine Schwester von Jodelle und Barbarella, fürchtet nur zwei Dinge: sich zu langweilen und nachts allein zu sein, und sie schreckt vor nichts zurück, um sich dergleichen triste Erfahrungen zu ersparen. Unter dem Wahlspruch «Hauptsache schön sein und das Leben genießen» beginnt sie im zarten Alter von dreizehn Jahren ihre abenteuerliche «Sex-and-Crime-Karriere., indem sie ihren widerspenstigen Vater, den berühmten Verleger Abraham Publishing, verführt und auf die gleiche Weise ihren Psychoanalytiker, Professor Hochtensteil («Freuds Lieblingsschiiler»), von seinen calvinistischen Komplexen heilt. Langbeinig, langhaarig, neugierig und immer unwiderstehlich taucht sie bei den exklusiven Feten der High Society, an den Tummelplätzen des internationalen Jet-Set auf, heute bei einer Party in einem alten venezianischen Palazzo, morgen bei einem exzentrisch-orgiastischen «Liebesmahl» auf Korsika. Sie wird, dank einem veritablen Giftmord, Herzogin und Mitglied des englischen Parlaments. Sie plant mit ihrem Geliebten Anthony, dem britischen Premierminister, den Raubüberfall des Jahrhunderts, der ihr ein Millionenvermögen beschert, und tauscht in Moskau mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Kochrezepte aus. Sie betätigt sich erfolgreich als Spionin einer unbekannten Macht und als «Häschen» im Londoner «Sexyboy Club». Sie läßt sich lieben, heiraten und scheiden — eine kühle Schönheit, die Männer wie alte Blätter abwirfl, eine unerschrockene, durch und durch amoralische Person, die unbekümmert von ihrem zierlichen Revolver Gebrauch macht, ein charmantes, attraktives Ungeheuer mit einer besonderen Vorliebe für spektakuläre Auftritte und dramatische Situationen. Mary McCarthy: «Eine Loreley des Raumfahrtzeitalters! » Gaia Servadio, 1938 in Oberitalien geboren, ist eigentlich Graphikerin und Typographin. Nach Ausstellungen in Mailand und Rom setzte sie ihre Studien 1956 in London fort. 196o heiratete sie den Kunsthistoriker William Mostyn-Owen. Sie lebt heute in London und Schottland und ist Mitarbeiterin mehrerer italienischer Zeitungen.
Gaia Servadio
Melinda Roman
ro ro ro Rowohlt
Die Originalausgabe erschien bei Giangiacomo Feltrinelli Editore, Mailand, unter dem Titel «Tanto gentile e tanto onesta» Aus dem Italienischen übertragen von ARIANNA GIACHI Umschlagfoto Werner Bokelberg
Ungekürzte Ausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Mai 197r © Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, r969 »Tanto gentile e tanto onesta» © Gaia Servadio Mostyn-Owen, 1967 Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck/Schleswig Printed in Germany ISBN 3 499 11420 8
Für Pucci
«Womit soll ich den Anfang machen, mit Verlaub, Euer Majestät?» «Mache den Anfang mit dem Anfang», sagte der König ernst, «und lies weiter, bis du ans Ende kommst, dort höre auf.» Lewis Carroll: Alice im Wunderland
Alle Namen, Personen und Vorgänge in diesem Buch sind frei erfunden. Irgendeine Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig.
Mit dreizehn Jahren verführte Melinda ihren Vater und wurde darauf zu Professor Hochtensteil, dem besten Psychoanalytiker der Welt, in Behandlung gegeben. Hochtensteil war Freuds Lieblingsschüler gewesen, hatte sich später gründlich mit ihm überworfen, und jetzt ging die Rede, die Königinmutter von England, Malraux und Goldwater seien seine Patienten. Das Opfer der Verführung, Melindas Vater, war ein seriöser und angesehener Verleger, hinter dem ein beträchtliches Kapital stand. Als Abraham Publishing 1934 nach England kam, hatte er in Osteuropa einiges Vermögen und eine schöne, aber unerträgliche Frau zurückgelassen. Mitgebracht hatte er dagegen seine beiden Kinder Medoro und Melinda. Hochtensteil hatte Abraham Publishing immer geschätzt. Er bewunderte seinen literarischen Salon, seine raffinierten Soupers und die Art, wie Abraham gelassen und diskret ein Zimmer verließ, wenn er müde war oder sich langweilte. Das kam häufig vor, und Hochtensteil hatte gelernt, darauf zu achten, wenn sich in Abrahams angespanntem, scheinbar aufmerksamem Gesicht kaum merklich die Augenlider senkten. Die Damen, die bei Publishing eingeladen wurden, waren elegant und geistig interessiert. Welche von ihnen gerade seine Freundin war, wurde nie ganz deutlich; Hochtensteil war darum sogar zu dem Schluß gekommen, daß der Verleger weit mehr dem Zauber seines Berufs erlag als dem einer schönen Frau. Abgesehen natürlich von Melinda. Bei ihren immer häufigeren Auftritten im Salon des Vaters bezauberte sie Gäste und Familie. Als Produkt zahlreicher Nationalitäten sprach sie mehrere Sprachen ebenso fließend wie schlecht und mit schauderhaftem Akzent, wobei sie die einer Sprache eigentümlichen Redewendungen einfach in eine andere übersetzte. Am vertrautesten war ihr wohl das Tschechische, das sie bei ihrem Kindermädchen gelernt hatte. 9
Ihre Erscheinung war nicht so außergewöhnlich, wie immer behauptet wurde. Sie war groß, hatte lange Beine, langes Haar — und viele Gesichter. Melinda hatte nämlich entdeckt, wie wichtig es war, immer wieder anders aussehen zu können. Sie hatte gelernt, staunend die Augen aufzureißen, fassungslos den Mund zu öffnen und leidvoll die Stirn zu runzeln; sie hatte ihr aufmerksames, ihr maliziöses und ihr vielsagendes Gesicht sorgfältig einstudiert. Sie hatte gemerkt, daß sie im Höchstfall eine Viertelstunde brauchte, um in einem Salon auch die unzugänglichsten und widerspenstigsten Leute zu bezaubern. Nach dieser Entdeckung und nachdem Hunderte von Freunden ihres Papas ihr hundertfach ihre eigene Person, ihr Gehabe einer Kind-Frau, eines Frau-Kindes, ihr Haar, ihre Art, sich zu frisieren, und ihre hastige, fehlerhafte Ausdrucksweise beschrieben hatten, machte Melinda sich an die Eroberung des unzugänglichsten Menschen in ihrer Umgebung. Abraham hatte ihr ein paar Tage widerstanden, doch dann hatte ein außerordentlich glückliches Verhältnis begonnen. Es gab keine Schwierigkeiten mit Zimmern, Hotels und Ausreden. Man schlief im selben Haus, und wenn Abrahams Augenlider sich senkten, war es nur natürlich, daß Vater und Tochter sich zu früher Stunde gemeinsam zurückzogen. Melinda konnte darum nicht verstehen, warum ihr Vater dieses glückliche Verhältnis unversehens abzubrechen beschloß und sie Hochtensteils Behandlung anvertraute. Die Sitzungen bei dem Professor, die eher gesellschaftlichen Charakter hatten, waren lästig. Hochtensteil — ganz Freudsche Schule — stellte Melinda keine Fragen, sondern ließ sie reden, und Melinda wußte wirklich nicht, was sie ihm erzählen sollte. Viele langweilige Monate vergingen, bis sie darauf kam, es mit dem traurigen Stirnrunzeln und den weit aufgerissenen Augen zu versuchen. Da freilich widerstand auch Hochtensteil nicht lange. Als erst einmal eine intime Beziehung zu dem Psychoanalytiker hergestellt war, konnte Melinda ihm auch freundschaftliche Gefühle entgegenbringen und ihm sogar von ihrem Verhältnis mit ihrem Vater erzählen, von ihren gelegentlichen, flüchtigen Besuchen im Zimmer ihres Bruders und von ihren etwas gequälten Beziehungen zu dem oder jenem Literaten. Kurz, sie wurde zu einer geradezu idealen Patientin. Hochtensteil glaubte ihr kein Wort und kam zu der überzeugung, daß Melinda einen jugendlichen Inzestkomplex habe. Bis ihm Melinda (die es durchaus nicht kränkte, als Lügnerin zu gelten, die 10
aber dem Professor helfen wollte) schließlich an Hand einer mit dem Selbstauslöser aufgenommenen Fotoserie die Wahrheit ihrer Behauptungen bewies. Da Melinda jedoch keinerlei Schuldgefühle zeigte, beschloß Hochtensteil, sie als vollkommen gesund aus seiner Behandlung zu entlassen. Er ließ sich statt dessen selbst von Melinda analysieren; es gelang ihr, ihn für immer von seinen calvinistischen Komplexen zu heilen. «Da du eine Analyse durchgemacht und selbst analysiert hast», sagte Hochtensteil zur ihr, «kannst du jetzt den Beruf des Psychoanalytikers ausüben.» Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in einem Landschulheim, wo Melinda ihre Energien damit vertat, immer neue Vorwände zu erfinden, um dem Internat zu entkommen und nach London zurückkehren zu können, war sie es leid und erklärte, sie werde nun ihre weitere Ausbildung selbst in die Hand nehmen und aus dem Leben lernen. Das tat sie denn auch, bis sie feststellte, daß man ihr im Internat nicht beigebracht hatte, die Natur zu überlisten, und daß sie infolgedessen ein Kind erwartete. Aber das geschah erst später. «Es war eine so turbulente Woche», sagte Melinda zu Hochtensteil. Sie konnten sich nicht einigen, wem die Vaterschaft zuzuschreiben war: Medoro, dem Professor oder gar Abraham. Zu guter Letzt schoben sie sie Jacques in die Schuhe. Und so erblickte nicht ohne Peinlichkeiten Melindas Erstgeborener das Licht der Welt, ein bildschönes Kind, das den Namen Jupiter erhielt. In gewisser Hinsicht war es Abrahams Schuld. Nachdem Melinda zur Analytikerin ausgebildet worden war, beschloß der Verleger, sich von seiner Tochter zu trennen, und schickte sie mit Medoro nach Italien. Dort war Melinda Gast im Haus des alten Spencer, eines achtzigjährigen blinden Schriftstellers. Es war eine riesige Villa, innen und außen aus schierem Marmor, mit Blick auf La Spezia und Portovenere und umwoben von jüngst erfundenen Legenden über die altbekannten englischen Dichter, die nichts Besseres zu tun gehabt hatten, als von einer Seite des Golfs zur anderen zu schwimmen, um dabei schließlich — wie hätte es anders sein können? — zu ertrinken. Hier stand ein Gedenkstein für Shelley, da einer für Keats, und Byrons Grotte dort drüben diente jetzt als öffentliche Bedürfnisanstalt, da es an einem eigens zu diesem Zweck II
erbauten Örtchen für die Sommerfrischler fehlte. Selbst D. H. Lawrence, dessen Briefe doch so Unliebenswürdiges über die Italiener enthalten, hatte seinen Gedenkstein bekommen. Aber wahrscheinlich hatte kein Bewohner der ligurischen Küste diese Briefe jemals gelesen. Die Villa war von einem Garten, einem Olivenhain und zahlreichen Felsen und kleinen Stränden umgeben. Melinda hatte also ihre Ruhe und konnte in die Bar mit dem Musikautomaten gehen, wenn es ihr gelang, sich der Aufsicht von Spencers Nichte zu entziehen. Josette Spencer, deren hauptsächliches Gesprächsthema ihre Paradentose war, verbrachte ihr Leben mit Protestaktionen. Bei dem geringsten Anlaß rannte sie aufs Rathaus und protestierte dort mit ihrem angelsächsischen Akzent, den sie auch nach zwanzig in Italien verbrachten Jahren noch nicht abgelegt hatte. Josette Spencer gehörte zu den Leuten, die das Unglück geradezu anziehen. Ging sie im Wald spazieren, so wurde sie für einen Vogel gehalten und angeschossen. Lud sie Respektspersonen zum Souper ein, so verbrannte das Essen regelmäßig. Wünschte sie ihrem Mann beim Abschied gute Reise, so landeten ihr einziges Auto und ihr einziger Mann im Abgrund. Früher war die Villa natürlich wunderschön gewesen. Lady Evil Spencer, die steinreiche, längst verstorbene Frau des alten Schriftstellers, dessen Bücher Abraham veröffentlichte, hatte sie mit Tapisserien, Teppichen, schweren gestickten Seidenvorhängen und farbigen Marmorfußböden ausgestattet. Jetzt waren die Vorhänge zerschlissen, die Sofas von Hundepipi beschmutzt, und auf den Möbeln standen Plastikgegenstände herum. Unter den Arkaden der großen Terrasse saß Spencer in seinem Rollstuhl, neben sich verschiedene Tischchen mit Wermut einer unbekannten Marke, mit Windfächern, Verbandzeug und Arzneien. Dem Schriftsteller war es immer zu heiß, und er hörte ständig Musik vom Tonband. Schallplatten haßte er. Sie waren ihm zu mechanisch. Das Tonbandgerät dagegen ließ er gelten: er erinnerte sich, daß er seinen Neffen für ganze Abende ans Klavier gezwungen und selbst stundenlang die unreinen Töne auf Band aufgenommen hatte. Hin und wieder setzte sich Melinda zu ihm. Spencer, der sich nie sonderlich zum weiblichen Geschlecht hingezogen gefühlt hatte, behauptete schlankweg, Melinda habe eine Knabenstimme, die wie ein Cembalo klinge. Aber die Unterhaltung mit ihm war schwierig. Sobald die literarischen Themen erschöpft, die Fragen nach Büchern 12
oder das «Wie war Henry James? Und Eton? Und England?» beantwortet waren, verfielen sie in tiefes Schweigen. Melinda konnte unterdessen beobachten, wie der nackte, schwammige Bauch des Schriftstellers aus den Falten seines Morgenrocks hervorquoll. Und Spencer war nur zufrieden, wenn dieser Bauch mit einem gewissen Quantum Schnaps gefüllt war, den ihm seine Nichte und sein Arzt beständig vorenthalten wollten. Die Freundschaft zwischen ihm und Melinda beruhte darum im wesentlichen auf dem Alkohol, den sie ihm heimlich mitbrachte. Darüber hinaus hatte sie ihm nichts zu sagen. Das Panorama hinter Spencers Rücken war tiefblau; die Inseln; der Duft des Ginsters ... Und Melinda flüchtete ans Meer. Der erste Fehler war, daß man Medoro und Melinda im selben Zimmer untergebracht hatte. («Melinda ist ja noch ein Kind», hatte Josette gesagt.) Zwei große Himmelbetten und nur ein Moskitonetz. Das zweite Bett war ungeschützt. So mußte der arme Medoro, wenn er ruhig schlafen und nicht von den Moskitos aufgefressen werden wollte, die Nächte notgedrungen im Bett seiner Schwester verbringen. Der zweite Fehler war, daß man noch ein dreizehnjähriges Mädchen, nämlich Josettes Tochter, einlud. Sie war ein niedliches Ding und wurde in Marymount vorzüglich erzogen. Doch zwischen den beiden Mädchen gähnten alle erdenklichen Abgründe, und Melinda langweilte sich. Als sie eines Tages die lange, in den Fels gehauene Treppe zum Meer hinunterging, blieb sie einen Augenblick stehen, um einen laubüberwucherten Bau zu betrachten. Die Idee dazu war Lady Evil gekommen, nachdem sie die Gloriette in Schönbrunn gesehen hatte, und Melinda mußte darüber lächeln, wie schnell die Zeit und die Ideen vergehen. Sie ließ ihre Kleider am Fuß der Gloriette liegen. Als sie ans Meer hinunterkam, sah sie zwei Menschen, die sich umarmten. Der schöne dunkle Knabenkörper konnte nur der ihres Bruders sein, und das Mädchen ... noch drei Stufen, und Melinda erkannte Josettes langweilige, zimperliche Tochter. Da beschloß sie, daß die Nächte, die sie gemeinsam mit dem Bruder unter dem Moskitonetz verbrachte, von nun an nicht mehr unschuldig sein sollten. Dieser Beschluß erheiterte sie, und seine einzige Folge war, daß sowohl Melinda als Medoro jetzt morgens müde, hohläugig, unaus;eschlafen und glücklich zum Vorschein kamen. Medoros plötzliche Gleichgültigkeit ihrer Tochter gegenüber und 13
die neue Mode der Geschwister, Blicke zu tauschen, ihr unverkennbares Bedürfnis, einander ständig zu berühren, miteinander allein zu sein und nur zu zweit schwimmen zu gehen, genügten für Josettes erfahrene Augen. Sie beschloß, die beiden zu ihrem Vater zurückzuspedieren. Melinda fuhr wieder nach London. Oder richtiger: sie beschloß, ein paar Tage in Paris zu bleiben. Paris ist eine Stadt mit einem unerträglichen und viel zu oft genannten Namen. Melinda was bisher nur für ein paar Tage dort gewesen, als Abraham sie einmal auf einer Geschäftsreise mitgenommen hatte. Diesmal rief sie sofort nach ihrer Ankunft Jacques an, den sie wenige Monate zuvor beim Skilaufen in Pontresina kennengelernt hatte. Abraham war damals nach St. Moritz gegangen, aber er hatte sich in den Kopf gesetzt, er müsse seine Tochter von seinen internationalen Freunden dort fernhalten. So hatte sich Melinda in Pontresina mit Jacques begnügen müssen. Riesige Kaschmir- und Alpakkapullover in scheußlichen Farben, riesige blaue Augen und ein braungebranntes Gesicht. Jacques hatte sie auf der Straße angesprochen. Melinda gefielen solche Annäherungsversuche nicht, aber seine blauen Augen hatten sie dazu gebracht, mit ihm zu gehen. Er hatte sie zu einem Campari in eine Bar geführt, sie hatten sich ein bißchen unterhalten, und dann hatte er sie zu einem vorzüglichen Abendessen eingeladen. Anschließend waren sie in Jacques' Hotel gegangen. «Wo wollen wir hingehen?» «Auf dein Zimmer.» «Wieso?» «Wieso denn nicht?» Auf Jacques, der immerhin erst neunzehn Jahre alt war, hatte die Natürlichkeit, mit der Melinda gewisse Dinge im Leben anpackte, wohl Eindruck gemacht. Er hatte sie ausgezogen. Fort mit den langen, durchbrochenen Strümpfen, fort mit dem hübschen Höschen, fort mit allem. Danach ging's zusammen ins Bad, dann noch einmal ins Bett und dann unter die Dusche. Melinda kam um zwei oder drei Uhr nach Hause. Nach dem Frühstück liefen sie und Jacques zusammen Ski, und die Gouvernante, die Melinda begleitete, hatte den beiden nicht ohne Neid zugeschaut. «0 selig, o selig, ein Kind noch zu sein.» Jacques führte sie in gute Restaurants, und einige Male begegneten sie dort Abraham und seinen Freunden. Noch zahlreiche Bäder, noch viele lange Abende b Jacques. Dann war Jacques abgereist und sie ebenfalls ... 14
Ihn jetzt in Frankreichs Hauptstadt wiederzusehen war eine hübsche Idee. Er holte sie am Flugplatz ab. Sie fuhren in einem Auto los, das voller Schaltknöpfe und voller Lautsprecher war. Aus allen Ecken entquoll ihm Musik. «Ich bin so glücklich, Jacques.» Melinda war immer glücklich. Um drei Uhr nachmittags waren sie schon auf der großen Autobahn nach Poissy unterwegs. Die arme Melinda hatte auch diesmal keine Gelegenheit, sich die französische Hauptstadt anzusehen. Das Haus stand mitten in einem von Farnkraut überwucherten Garten und war scheußlich möbliert (große, moderne Kronleuchter, eine grauenhafte Kombination von Schmiedeeisen und farbigem Kunststoff). Das Tageslicht drang nur spärlich durch Bäume und Farne. Alles war höchst poetisch, nicht zuletzt die Abwesenheit von Jacques' Eltern. In den wenigen Stunden, die sie nicht im Bett oder in einem Landgasthaus verbrachten, ritten Melinda und Jacques aus, was ihr nicht den geringsten Spaß machte, da Jacques der weitaus bessere Reiter war. Das Zimmer: imitierte moderne Schwedenmöbel, ein paar afrikanische Masken und ein paar Bilder von zweifelhafter Herkunft und zweifelhafter Qualität. Aber es war bequem. Da war eine Bar, wo unsichtbare Geisterhände das Eis automatisch nachfüllten. Aus dem Plattenspieler tönten Stereo-Konzerte. Auf den Wogen dieser Musik gaben sich die beiden der Liebe hin. Ein Chauffeur brachte Melinda wieder zum Flugplatz, wo sie die nächste Maschine nach London nahm. Hochtensteil machte Melindas Schwangerschaft einige Sorgen. Melinda dagegen war stolz und glücklich. Sie wünschte sich einen Sohn, einen schönen und intelligenten Sohn. Den sie natürlich auch bekam. Angesichts der Lage entschloß sich Hochtensteil, mit Abraham zu reden. Die kleinen Episoden mit Medoro und mit ihm selbst wurden übergangen. Man sprach besser nur von einer romantischen Liebe in Frankreich und von einem gewissen Jacques. Melinda widersetzte sich. Sie hatte nicht die geringste Lust zu heiraten. Doch Abraham hatte es nun einmal, wenn auch ungern, so beschlossen. Er begleitete sie nach Paris, wo er mit Entsetzen die Familie seines zukünftigen Schwiegersohnes und seinen Schwiegersohn selbst kennenlernte. Melinda gab einen Verlobungsball, zu dem sie weder die Familie ihres Verlobten noch Jacques selbst einlud. Diese Party war ein sol15
Gäste der Braut waren so anders und so unterhaltend. Auch der Brautvater gefiel ihm. Abraham Publishing war glücklich über diese Heirat. Sich mit der englischen Aristokratie zu verschwägern war schon immer sein Traum gewesen. Die Aktien seines Verlages würden dadurch steigen. Der Herzog rief Melinda zu sich; er wollte mit ihr sprechen. Ganz erschöpft, war er bereits zu Bett gegangen. Dann versammelte er die ganze Familie um sich, auch seine Frau und seinen älteren Sohn. «Meine Lieben», sagte er zu Lawrence und Melinda, «ihr beiden Glückskinder heiratet aus Liebe. Du, liebe Melinda, bist in der ganzen Familie bei weitem das beste Stück. Sieh zu, daß du dem häßlichen Geschlecht der Brightons schöne Söhne schenkst, und sieh auch zu, daß sie den Herzogstitel erben.» Und damit steckte er der Schwiegertochter einen Ring mit einem Lapislazuli an den Finger und verschied. Lawrence und Melinda verbrachten ihre Flitterwochen in Taormina. «Ich bin so glücklich», sagte Lawrence, und Melinda begriff allmählich, wie leicht und gefährlich es war, alle Welt glücklich zu machen. Sie selbst war dagegen tief unglücklich — über ihre Schwiegermutter und über die Existenz des neuen — vierzehnten — Herzogs von Brighton und seiner Frau, der Herzogin. Lawrence hatte politische Ambitionen, die von der konservativen Partei im Hinblick auf die Popularität der Brightons in der Umgebung gefördert wurden. Melinda, die gar nicht gern auf dem Lande lebte, war glücklich darüber und versuchte ihren Mann zu unterstützen. Für einige Zeit mußte sie auf kurze Röckchen und bunte Blusen verzichten und statt dessen pastellfarbene Blumenhüte und bestickte Wollkleider tragen, die sie bei Harrods kaufte. Mit einem gewissen Interesse beobachtete sie, wie sich ihr Mann auf seine politische Karriere vorbereitete. «Die Labour-Leute sind alle Idioten. England braucht eine gewisse Anzahl von Arbeitslosen. Die Verstaatlichung der Betriebe ist eine völlig absurde Idee. In allen zivilisierten Ländern hat man das inzwischen eingesehen. Meinst du nicht auch, Liebling?» Lawrence im Unterhaus — das war für Melinda eine erheiternde Vorstellung, geradezu ein Witz. «Ich verstehe nicht, was die Kommunisten eigentlich wollen ... Daß es in England Gewerkschaften gibt, ist eine Kulturschande ... Unglaublich, was man heute im Kino zu sehen bekommt und was die Zensur durchgehen läßt. Aber wenn ich erst mal ...» Die Rede, mit der sich Lawrence in seinem Wahlkreis vorstellte, war ein großer Erfolg. Geschrieben hatte sie Abraham, da sie aber als zu kühn 18
befunden wurde, hatte Lawrences Bruder Oswald sie umgeschrieben. Der plötzliche Tod des Abgeordneten für den Wahlkreis und Melindas immer weniger zu übersehende Schwangerschaft führten dazu, daß Lawrence, verlegen und schüchtern, weit früher ins Unterhaus einzog, als er es sich je geträumt hätte. Die Art, wie es im Parlament zuging, mißfiel Lawrence. Daß die Hälfte der Abgeordneten ständig schlief, andere in den Erfrischungsraum gingen, wieder andere sich kratzten und einander witzige Briefchen schrieben oder aufstanden, um die Gegenpartei zu ärgern, fand er häßlich. Allerdings hatte auch noch niemand behauptet, daß es im Unterhaus schön sei. Die beiden Galerien für das Publikum und für die Presse ängstigten ihn. Die ganze Atmosphäre erinnerte ihn an Eton, das er gehaßt hatte, weil er weder im Sport noch in den wissenschaftlichen Fächern sonderlich erfolgreich gewesen war. Triumphale Augenblicke erlebte er nur, wenn Melinda ihn begleitete: elegant, immer mit dem richtigen Hütchen und in den wallenden Gewändern der werdenden Mutter. Dann las er auf den Gesichtern der anderen Abgeordneten eine gewisse Bewunderung, die er in der zweiten Hälfte des Tages nicht mehr zu erregen vermochte. Lawrence saß, wie es Neulingen und unbedeutenden Abgeordneten zukommt, in den hintersten Reihen und fühlte sich von Tag zu Tag unglücklicher. Denn im Parlament erwartete man, daß er seine erste Rede hielt. Er hatte schon dreiundzwanzig verfaßt und sie vor Melinda und dem Butler aufgesagt, aber er hatte nie den Mut gehabt, aufzustehen und sie zu halten. Außerdem waren die Themen für ihn zu schwierig. Außenpolitik, Abrüstung, Streik bei den Fluggesellschaften, die allgemeine wirtschaftliche Lage. Und obgleich er aufmerksam zuhörte, begriff er nicht einmal, was die anderen Abgeordneten sagten. Melinda kam jeden Tag und hörte sich die Debatten mit solchem Gewinn an, daß schließlich sie die letzten Reden für Lawrence geschrieben hatte. Das wiederum entmutigte Lawrence, und er spielte bereits mit dem Gedanken, seinen neuen Beruf aufzugeben. Nach der Geburt des Kindes, eines Sohnes, wurde Melinda viel fotografiert. Sie verbrachte eine Woche auf dem Land, um sich zu erholen. Allerdings verabscheute sie das Land und diese Art der Erholung. Man wacht mit dickem Kopf auf und kann nichts Besseres tun als essen und trinken, um anschließend wieder schlafen zu gehen. Zum Spazierengehen hatte sie keine Lust. Mit einer Doppelflinte und einer vollen Patronentasche bewaffnet, ging sie ein biß19
dien auf die Jagd. Hasen gab es viele. Und Rebhühner und Fasanen auch. Im übrigen schoß Melinda zu jeder Jahreszeit auf alles. Besonders zuwider war ihr die Gesellschaft ihrer Schwiegermutter. Ungebeten und schon leicht angetrunken pflegte die Alte in dem Flügel des Schlosses zu erscheinen, wo Melinda sich mit dem Kind einquartiert hatte. Sie erzählte stundenlang immer dieselben Geschichten, von alten Zeiten, als sie noch jung und strahlend schön war, von Fuchsjagden oder von den Romanen, die sie gerade las. In ihren Büchern kamen fast immer die gleichen Personen vor: ein paar Bösewichte, ein Tugendheld, das Opfer und ein ehrloser Italiener, der aber ein Herzensbrecher war und das ahnungslose, romantische Mädchen entführte. Die Abende mit ihrer Schwägerin waren nicht weniger langweilig. Melinda konnte Loelia nicht ausstehen. In ihrer Wabbeligkeit wirkte sie irgendwie unterernährt, und ihre bleiche Haut schien die zerbrechlichen Knochen nicht fest genug zu umspannen. Ihre Kleider waren alle gleich: sie bestellte sie bei einem Versandhaus. Den Ausschnitt über ihrem gewaltigen Hängebusen schmückten Juwelen. Die Juwelen der Brightons. Aber selbst der große Smaragdschmuck, der aus Diadem, Halskette und Armband bestand, kam auf ihrer Haut nicht zur Geltung, sondern unterstrich nur Loelias Häßlichkeit. Wenn sie auf einen Ball ging, sprach sie mit niemandem, oder richtiger, niemand sprach mit ihr. Fühlte sich doch jemand durch ihren klangvollen Namen angezogen, setzte Loelia mit ungraziöser Gebärde ihre Brille auf und betrachtete das Gegenüber. Oswald war immer irgendwo anders und tanzte mit einer Debütantin oder spielte Roulette. Melinda konnte nicht verstehen, wieso der alte Herzog es zugelassen hatte, daß ein solches Trampel in die Familie kam — abgesehen natürlich von ihrem Geld, das die Brightons aber inzwischen nicht mehr nötig hatten. Der Gedanke, daß Loelia in den Kellern von Saltlake auf Mistbeeten Pilze züchtete und sich stundenlang damit beschäftigte, verfolgte Melinda geradezu. Loelia war nämlich nur glücklich, wenn sie mit ihren Pferden oder, noch besser, mit ihren Pilzen allein sein konnte. Sie sammelte sie in Körbe, auf denen das Wappen der Brightons und eine Abbildung von Schloß Saltlake — hergestellt nach einer wackeligen Zeichnung der Herzogin — prangten. Die Pilze verkauften sich ausgezeichnet, nicht weil sie besser als andere gewesen wären, sondern weil die Hausfrauen stolz die Körbe aufhoben. Wenn sie zusätzlich Loelias Unterschrift trugen, kosteten sie natürlich noch mehr. 20
Loelias Leidenschaft für die Pilzzucht, ihre eindeutige Abneigung gegen das Ehebett und Oswalds Seitensprünge, die sich immer mehr herumsprachen, gaben Melinda ganze Abende lang zu denken. Die Versuchung war groß. Bei Scotland Yard würde keinerlei Verdacht aufkommen. Oswald, der neue Herzog, hatte nicht viel zu tun, obwohl er Präsident oder Vorstandsmitglied bei etwa dreißig Vereinen und Gesellschaften in der City war. Ab und zu öffnete er Park und Garten von Saltlake den Plebejern, die für den Eintritt fünf Shilling bezahlen mußten; der Ertrag ging an die Ortsgruppe der Konservativen Partei. Melinda beschloß, insgeheim zu erforschen, welche von den zahlreichen Pilzarten, die auf Saltlakes feuchtem Boden gediehen, eßbar waren und welche den sicheren Tod brachten. Mit dicken Büchern bewaffnet, sammelte sie auf langen Spaziergängen vierundfünfzig Sorten. Darunter waren so erlesene wie Maronen- und Steinpilze. Aber man mußte aufpassen. Verschiedene Sorten waren nur leicht giftig, man bekam von ihnen für ein paar Tage Kopfschmerzen und Bauchweh. «Die letzte Gruppe, die der Giftpilze, deren Genuß lebensgefährlich ist», hieß es in dem Buch, «umfaßt nur wenige Sorten. Bedauerlicherweise gibt es keine sichere Methode, ihren Giftgehalt festzustellen. Diese Pilze wachsen im Frühling und im Herbst auf offenem Feld oder im Wald. Etwa neunzig Prozent aller tödlich verlaufenen Pilzvergiftungen sind auf den Genuß von Amanita phalloides (auch grüner Knollenblätterpilz genannt) zurückzuführen. Tödliches Gift enthalten auch der Frühlings-Knollenblätterpilz, Amanita verna, und der weiße oder kegelige Knollenblätterpilz, Amanita virosa, die aber seltener vorkommen. Die Giftigkeit vom Amanita phalloides beruht auf seinem Gehalt an Amanitagift A und B und Phalloidin, zwei schwefelhaltigen Polypeptiden von relativ einfachem Aufbau. Diese Giftstoffe werden weder durch den Kochprozeß noch durch den menschlichen Magensaft zerstört. Die Symptome treten erst 8 bis 24 Stunden nach dem Verzehr auf. Zu diesem Zeitpunkt ist ein großer Teil des Giftes vom Körper bereits resorbiert. Erbrechen oder Auspumpen des Magens sind deshalb zwecklos. Zu den Symptomen gehören heftige Magenschmerzen, Erbrechen und nervöse Störungen. Der Patient bleibt bei Bewußtsein. Phasen abklingender Symptome wechseln mit heftigen Schmerzanfällen. Der Tod tritt nach zwei bis zehn Tagen qualvoller Leiden ein. Schon ein winziges Stück von Amanita phalloides wirkt tödlich.» Die Lösung der Probleme, die Lawrence und sie selbst bedrückten, 21
zeichnete sich nur zu deutlich ab. Der arme Lawrence konnte nicht im Unterhaus bleiben. Niemals würde er sich zu einer Rede aufraffen. Doch ohne gewichtige Gründe zurückzutreten war wenig ehrenhaft. Er mußte eben plötzlich einen Titel erben, der ihn zwang, aus dem Unterhaus auszuscheiden.' Sie ihrerseits würde dann den schönen Titel bekommen, der ihr so gut gefiel. Melinda betrachtete eingehend ein Exemplar von Amanita virosa; der Pilz war weiß und ein bißchen klebrig. Auch Amanita phalloides war klebrig, hatte aber eine schöne gelblich-grüne Farbe und weiße Lamellen. Sein Fleisch war weiß. Er sah durchaus eßbar aus. Sie entschied sich für ihn. Ehe Melinda mit ihrer neu hergerichteten Garderobe, der Schweizer Gouvernante und dem Baby nach London zurückkehrte, mischte sie ein Stückchen Amanita phalloides unter Loelias Pilze, die es an diesem Abend zu gebratener Leber geben sollte. Dann bestieg sie den Zweiundzwanzig-Uhr-Zug. Oswald speiste an diesem Abend allein. Melinda empfand nichts für ihren Schwager, sie hatte noch nie über ihn nachgedacht. War er sympathisch? Schüchtern? Wie war er überhaupt? Im Grunde war er schon tot. Diese Gedanken erfüllten sie, während ein Kellner ihr Whisky einschenkte. Anthony bezahlte. Er schaute sie an. Anthony, den sie seit einigen Monaten kannte, hatte sie abgeholt. Das war sehr nett von ihm. Jetzt sah er, daß sie nachdenklich war, und wagte nicht, sie nach dem Grund zu fragen. Anthony, der im Parlament so sicher auftrat, sich bei Kabinettssitzungen wie zu Hause fühlte und ohne Zögern den Weg zur Macht ging, wirkte auf einmal schüchtern. Sie ist so nachdenklich. Sie sagt sich, daß sie nun nach London zurückkehrt. Was erwartet sie von mir? Vielleicht sollte ich mich neben sie setzen. Er stand auf. Melinda schaute noch immer zum Fenster hinaus. Und wenn jemand gesehen hat, wie ich den Pilz gekocht habe? Oder wie ich die verschiedenen Sorten gesammelt habe? Sicherlich werden sie eine Obduktion vornehmen. «Liebling, woran denkst du?» Der Herzogstitel berechtigt in England zu einem Sitz im Oberhaus. Der Titel eines Lords, den Lawrence bis zum Tode seines Bruders innehatte, gilt nur als Ehrentitel für Söhne und Brüder eines Herzogs und berechtigt nicht zum Sitz im Oberhaus. Die Frau eines Herzogs kann allerdings dem Unterhaus angehören. 22
Mit einem Schlag wurde es Melinda klar, daß sie besorgt wirkte. « Woran hast du eben gedacht?» Es war immer schwierig, sich auf eine solche Frage rasch eine Antwort auszudenken. «Ich habe über meinen Mann nachgedacht.» Aha, sie denkt über uns nach. Und über das, was zwischen uns beiden geschehen wird. «Und über seine Karriere», fuhr Melinda fort, als sie dem zweifelnden Blick aus Anthonys müden Augen begegnete. « Wir könnten etwas für ihn tun», sagte Anthony. «Aber erst muß er sich dazu durchringen, seine Rede zu halten.» «Im Grunde glaube ich, daß er für das Parlament gar nicht geeignet ist.» Vielleicht denkt er, ich wollte etwas von ihm. Schade, dachte Anthony, ich brauchte nicht mehr zu tun, als Lawrence ein bißchen zu helfen. «Aber du wärst eine großartige Abgeordnete.» «Na schön. Dann mußt du mir helfen, es zu werden.» Sie schauten sich an. Anthony hatte feuchte Hundeaugen, ein rötliches Gesicht und schönes, glattes Haar. Er war ein tüchtiger Minister. Melinda lehnte ihren Kopf an seine Tweedjacke und hörte auf, an die Pilze zu denken. « Wir müssen vorsichtig sein», sagte Anthony und schaute sich um. Tatsächlich betrat in diesem Augenblick der Schaffner das Abteil. «Wann sehen wir uns, Melinda?» «Heute abend.» «Nein, ich meine, wir beide allein.» «Ich meine auch, wir beide allein.» «Kannst du denn Lawrence heute abend allein lassen? Wie lange hast du ihn nicht gesehen?» «Nur eine Woche.» «Bist du je in deinen Mann verliebt gewesen?» Darüber hatte sie nie nachgedacht. War sie in ihren Mann verliebt gewesen? Was bedeutete das? Gewiß, er war gefühlvoll, wohlerzogen, lieb und nett. Was für langweilige Überlegungen. Warum stellte Anthony auch so abwegige Fragen? «Ach, weißt du, ich verliebe mich nicht so leicht.» «Aber in deinen Mann?» «Eigentlich bin ich wohl noch nie verliebt gewesen.» Ehe ich Premierminister werde, dachte Anthony, muß Melinda sich in mich verlieben. 23
« Wollen wir nicht einmal ein Wochenende zusammen verbringen?» «Vielleicht.» « Wir könnten aufs Land, in mein Haus dort.» Das sollte aber lieber nicht mit der Erkrankung meines Schwagers zusammenfallen, dachte Melinda. Lawrence war auf dem Bahnhof, und Anthony, der vorsichtshalber aus einem anderen Wagen ausgestiegen war, kam und bedauerte, nicht gewußt zu haben, daß Melinda im selben Zug gereist war. Sie hätten doch zusammen fahren können. «Liebling, wie geht es dir? Und dem Kind?» «Alles in Ordnung. Wie soll es denn heißen?» «Hast du dir das noch nicht überlegt? Vielleicht sollten wir ihm den Namen meines Vaters geben. Der arme Papa.» «Wie ist es im Parlament gegangen? Hast du gesprochen?» Ein schmerzlicher Schatten zuckte über Lawrences Gesicht. Sie waren zu einem offiziellen Essen eingeladen. Lawrence hatte sich mißbilligend über Melindas Rock, der nun wieder zu kurz war, und ihren Lambswoolpullover geäußert. «Alle anderen Damen haben einen Hut auf. Sieh dir doch mal Anthonys Frau an.» Zum erstenmal sah sie die Frau des Mannes, der in Zukunft — das stand für sie nunmehr fest — ihr Geliebter sein würde. Anthony und seine Frau lebten getrennt, aber sie taten so, als sei ihre Ehe glücklich, um Anthonys politische Stellung und seine weitere Karriere nicht zu gefährden. Die Frau war groß, hatte die richtigen Familienverbindungen und angesehene Freunde. Sie mußte für Anthony eine große Hilfe gewesen sein. «Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich habe schon soviel von Ihnen gehört.» Sie sprachen über ihre Kinder. Das war ganz einfach. Nach dem Wochenende, das Melinda in Anthonys schönem Landhaus verbracht hatte, gab es in London niemanden, der sie nicht als seine offizielle Geliebte betrachtete. Das wirkte sich günstig auf ihre gesellschaftliche Stellung aus, und es schneiten so viele Einladungen ins Haus, daß man nur jede vierte annehmen konnte. Melinda mußte eine Sekretärin einstellen. Auf den Stufen vor Anthonys Haus wuchsen Feldblumen in dikken Büscheln, und zwischen den einzelnen Steinen sproß Thymian. 24
Wenn man auf ihn trat, duftete es lieblich. Zu Melindas großer Überraschung fand sie in dem Haus sechs weitere Gäste vor. Anthony hielt ständig ihre Hand zwischen den seinen und schaute sie zärtlich an. So verging das Wochenende. Abends trennten sich die beiden. Melinda ging in dem großen Doppelzimmer schlafen, das man ihr zugewiesen hatte. Dazu gehörten ein Bad und ein kleiner Salon, die Fenster gingen auf den Garten und das geheizte Schwimmbad hinaus. Am Morgen kam Anthony in dunkelblauem Schlafrock und bestickten Pantoffeln, um bei ihr zu frühstücken. Er brachte die Zeitungen mit, und sie sprachen über Politik. Später ging Melinda hinunter, machte sich einen Scotch an the roc k s und badete im Schwimmbecken. Der bekannte Journalist und die Frau seines Zeitungsverlegers kommentierten die Lage. Die junge, bildschöne Lady Inchball und der renommierte Minister ... eine höchst romantische Angelegenheit. Was für ein Glück, daß man Zeuge einer Leidenschaft sein durfte, die sich über die gesellschaftlichen Konventionen hinwegsetzte. Und wie mutig von ihr, bei ihrem Liebhaber zu wohnen und alle Spielregeln außer acht zu lassen. Beim Frühstück und beim Abendessen saß Melinda oben am Tisch, auf dem Platz der Hausfrau. Eine merkwürdige Situation, dachte sie. Anthony will mich also für seine Geliebte ausgeben. Aber wenn wir allein sind, führt er keusche Gespräche mit mir und gibt mir nur hin und wieder einen Kuß auf die Wange. Trotzdem war das Wochenende sehr erquicklich. Die Gespräche waren lebhaft und brillant, die Gesellschaft gefiel ihr. Am Sonntagmorgen kam Anthony gegen zehn in ihr Zimmer — mit den Sonntagszeitungen beladen. «Melinda, du solltest wirklich an eine politische Karriere denken. Auch im Parlament täte uns ein bißchen Schönheit gut.» « Wenn du mir hilfst, Anthony. Mir würde das großen Spaß machen. Ich bin nicht besonders tüchtig, aber die Reden, die ich für Lawrence verfaßt habe, sind gar nicht übel. Außerdem kenne ich mich im Unterhaus schon recht gut aus.» «Wir müssen dir einen Sitz verschaffen. Natürlich wäre es am besten, du bekämst Lawrences Sitz. Dieser Wahlkreis ist der sicherste. Dort kommt jeder durch. Vielleicht wird Lawrence ja bei den nächsten Wahlen nicht kandidieren. Er ist für diesen Beruf nicht geeignet, und es langweilt ihn. Dabei fällt mir ein: in den Zeitungen steht, dein Mann sei nach Saltlake gefahren, weil sein Bruder erkrankt ist. Es wäre sicher besser, wenn auch du noch heute hinführest.» 25
Tatsächlich starb Oswald, der vierzehnte Herzog von Brighton. Sein Todeskampf war lang und qualvoll. Die neue Herzogin, die das alles so angegriffen hatte, daß sie sich zu Bett legen mußte, konnte sich dennoch einer Unterredung mit einem Inspektor von Scotland Yard nicht entziehen. «Kannten Durchlaucht Ihren Schwager gut?» fragte er sie. «Daß ich ihn gut, das heißt genauer gekannt hätte, kann ich nicht behaupten.» Und ein Schatten der Traurigkeit huschte über Melindas Stirn. «Er war ein Mensch, der das Landleben nicht sonderlich schätzte. Auf Saltlake haben wir ihn nicht oft gesehen. Oswald war viel in London, er führte — wie soll ich das ausdrücken? — sein eigenes Leben.» «Hatte er Ihres Wissens Feinde?» «Feinde?» «Wir können Ihnen nicht verschweigen, daß der Verdacht besteht, Ihr Schwager sei vergiftet worden. Mit Ihrem Mann haben wir noch nicht darüber gesprochen, um ihm nicht noch mehr Kummer und Sorgen zu machen.» Lawrence hatte gerade seinen Rücktritt aus dem Parlament eingereicht, der allerdings ohnehin automatisch erfolgt wäre, da er jetzt der fünfzehnte Herzog von Brighton war. «Ein Mann wie Oswald konnte keine Feinde haben, sanft und liebenswürdig, wie er war. Er hätte keiner Fliege etwas zuleide getan.» « Wir wissen, daß der Herzog außereheliche Beziehungen unterhielt. Halten Sie für möglich, daß eifersüchtige Ehemänner ...?» «Ich muß Sie um mehr Respekt bitten. Von dieser Seite in Oswalds Leben weiß ich nichts.» «Entschuldigen, Durchlaucht, aber ich tue nur meine Pflicht. Wie stand der Verstorbene mit seiner Frau?» An diesem Punkt war für Melinda äußerste Vorsicht geboten. «Ausgezeichnet, soweit ich das beurteilen kann. Nicht sehr innig, aber gut. Beide lebten ihr eigenes Leben. Loelia ist eine großartige Frau, sie verstand ihren Mann und war für ihn sicher eine große Hilfe.» «War die Herzogin Ihres Wissens eifersüchtig auf ihren Mann?» «Offen gesagt haben wir uns nie über Privatsachen unterhalten. Loelia war viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Sie ist eine Frau, die allein leben kann.» « Womit beschäftigt sich Ihre Schwägerin?» 26
«Hm ... Das Haus ist so groß, daß man sich nur selten sah. Jedenfalls hat sie kaum gesellschaftlichen Verkehr, und ihr scheint auch nicht daran zu liegen. Sie ist gern allein bei ihren Pferden, sie hat eine Rennpferdzucht. Sehr viel Zeit verbringt sie im Keller, wo sie eine Pilzzucht hat. Einfach fabelhaft. Sie hat damit einen netten Verkaufserfolg.» « Würden Sie uns noch ein bißchen mehr von diesen Pilzen erzählen?» «Ich wüßte nicht, was. Wenn Sie wollen, können wir ja in den Keller hinuntergehen.» « Wir sind schon dort gewesen.» «Warum ...?» «Verzeihen, Durchlaucht, wir haben den Verdacht, daß Ihr Schwager an einer Pilzvergiftung gestorben ist.» Melinda konnte nicht glauben, daß alles so einfach war. Sie erhob sich mit bleichem Gesicht und sagte höchst würdevoll: «Ich kann Ihnen nicht erlauben, solche Ungeheuerlichkeiten auch nur anzudeuten. Ich muß Sie bitten, dieses Zimmer und dieses Haus augenblicklich zu verlassen.» Die Ermittlungen nahmen ein peinliches Ende. Die Polizei und der neue Herzog einigten sich darauf, um des guten Rufs der Brightons willen einen Prozeß zu vermeiden. Loelia wurde in ein Irrenhaus gesperrt, wo sie sich sehr wohl fühlte. Sie beschäftigte sich weiterhin mit der Pilzzucht, auch wenn die Körbe sich jetzt nicht mehr ganz so gut verkaufen ließen. Etwas sickerte zur Presse durch, doch die einflußreichen Freunde des neuen Herzogs und der neuen Herzogin zwangen auch die hemmungslosesten Journalisten zur Zurückhaltung. Lawrence war über den Tod seines Bruders zunächst tief betrübt gewesen, aber die neue Lage der Dinge hatte auch ihre Annehmlichkeiten. Daß er auf so einfache Weise diesem verdammten Unterhaus entkam, schien ihm ein Zeichen des Himmels. Als Anthony ihn anrief und fragte, ob sie zusammen im Club frühstücken und über die Angelegenheit reden könnten, befürchtete er schon, Anthony wolle ihm eine neue politische Aufgabe vorschlagen. Ins Oberhaus tue ich keinen Schritt, dachte er. Anthony und Lawrence trafen sich im White's Club, in dem sie beide Mitglieder waren. Der junge Herzog und der alte Staatsmann, der inzwischen allenthalben als der Liebhaber der neuen Herzogin galt, erweckten ein gewisses Interesse. Wo sie vorübergingen, hoben sich schwere Augenlider, und verschlafene Gesichter wurden wach. 27
Schon beim ersten Glas Portwein nahm Anthony das Thema in Angriff, das ihm am Herzen lag. «Lawrence, dein Sitz im Parlament ist freigeworden. Wir haben viele Leute, die bereit wären, ihn einzunehmen. Aber es gibt jemanden, auf den die Partei ganz besonders setzt.» Es hatte langer Stunden und vieler Soupers bedurft, um das Kabinett zu überzeugen, daß Melinda die ideale Kandidatin war. «Ihr könnt machen, was ihr wollt. Wenn ich gewählt worden bin, wird jeder andere auch gewählt werden. Ich überlasse die Entscheidung der Partei.» «Ganz und gar?» «Ganz und gar. Du wirst ja gemerkt haben, daß ich mich für Politik nicht sehr interessiere.» «Lieber Lawrence, um es offen auszusprechen, wir haben an deine Frau gedacht.» «An Melinda?» «An Melinda.» «Als Abgeordnete?» «Warum denn nicht?» «Habt ihr schon mit ihr gesprochen?» «Andeutungsweise.» «Melinda hat mir nie etwas davon gesagt.» «Gewiß, sie ist noch sehr jung, aber sie hat alle Voraussetzungen und vor allem einen klaren politischen Verstand.» «Aber sie hat auch zwei Kinder und zwei Haushalte. Und außerdem viele neue gesellschaftliche Verpflichtungen.» «Melinda ist nicht die Frau, die sich damit begnügt, Wohltätigkeitsbälle zu veranstalten und nachmittags mit ihren Kindern zu spielen. Ein solches Leben würde sie unglücklich machen. Diese neue Verantwortung wird sie nur um so stärker an ihre Familie und an ihr Vaterland binden.» «An ihr Vaterland? Ehrlich gesagt habe ich meine Frau nie als Engländerin betrachtet.» «Aber sie ist es. Und sie hat unendlich viel Charme und ein untrügliches politisches Gespür.» Anthony hoffte beinahe, Lawrence würde ablehnen. Er tat es nicht. «überlassen wir die Entscheidung doch Melinda», meinte er und zündete seine dicke Zigarre zum drittenmal an. «Ich möchte nicht über ihr Leben entscheiden.» 28
So kam Melinda ins Parlament. Ihre Wahl wurde lebhaft kommentiert, aber Anthonys Macht war so groß, daß er alle Kritiker zum Schweigen brachte. Bei ihrem ersten Auftritt — im kleinen schwarzen Kleid und mit wehendem Haar — wurde die hübsche Abgeordnete ständig fotografiert, und alle Zeitungen brachten ihre Antrittsrede. Diese Rede war kurz, frisch und klar. Mit Melinda Brighton, so hieß es bei den Abgeordneten, sei ein frischer Wind ins Parlament gekommen — abgesehen von dem Skandal, daß sie die Geliebte des Ministers war. Abraham war glücklich über Melindas Wahl. Das hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt. Auch Jacques schrieb ihr einen Brief, der von bewundernden Redensarten nur so troff. Als er sie aber besuchen wollte, war Melinda so beschäftigt, daß sie ihn nicht empfangen konnte. Später erfuhr sie, daß er wieder geheiratet hatte, doch jedesmal, wenn Jacques kam, um Jupiter zu besuchen, war Melinda entweder im Ausland oder hatte dringende Verpflichtungen. Als Urheber von Melindas dritter Schwangerschaft galt allgemein Anthony, der inzwischen Premierminister geworden war. Melinda kam bis wenige Tage vor der Entbindung ins Parlament. Obwohl das Kind — ein kleines Mädchen — Anthony wie aus dem Gesicht geschnitten schien, war es in Wirklichkeit doch Lawrences Tochter: diesmal gab es keinen Zweifel. Die Taufe war ein großes gesellschaftliches und politisches Ereignis, und die Tatsache, daß Anthony Pate stand, schien die umlaufenden Gerüchte nur zu bestätigen. Einige Monate nach der Geburt des Kindes lud Anthony Melinda zum Essen ein. Sie sahen sich jetzt häufig in der Öffentlichkeit und hatten sich kaum noch privat getroffen. Anthony nahm sie mit in sein Landhaus, wo im Eßzimmer ein kaltes Büfett angerichtet war. Niemand servierte, aber die geisterhafte Anwesenheit des Personals in der Küche war deutlich zu spüren. «Bist du mit mir nicht zufrieden?» «Sehr zufrieden.» «Fürchtest du dich vor dem Klatsch?» «Der ist mir gleichgültig.» « Was ist sonst mit dir los?» «Ich bin neugierig.» «Neugierig?» « Ja, krankhaft neugierig.» «Was soll das heißen?» 29
«Man hat doch manchmal einen Verdacht und würde gern die Wahrheit wissen, selbst wenn es besser wäre, man erführe sie nicht.» «Willst du die Wahrheit über uns wissen? Ist das denn nötig?» «Melinda, ich bin zu alt für Gespräche über uns selbst. Und es gibt ja auch keinen Anlaß dazu. Wir beide verstehen uns ausgezeichnet. Aber es gibt eine Episode in deinem Leben, die meine Neugierde erregt.» «Was denn?» «Ich kann dich nicht danach fragen.» «Dann kann ich dir auch nicht helfen.» Die Sache mit meinem Vater? Die Geschichte mit dem Analytiker? Oder die mit meinem Bruder? Meine erste Ehe? Mein erstes Kind? Meine Ambitionen? ... Oswald? «Melinda,. du weißt genau, was ich meine. Ich spreche von einer Situation, die dir nicht behagte und die zugleich nicht unabänderlich war. Richtiger: die du abgeändert hast. Niemand anders wäre dazu in der Lage gewesen. Du hast es selbst getan, glaube ich.» «Es gibt Dinge, Anthony, die du und ich wissen, die wir aber weder vor Dritten noch voreinander aussprechen sollten. Darauf beruht doch schließlich unsere Beziehung, nicht wahr?» Es war das erste Mal, daß Melinda von einer menschlichen Beziehung sprach. Sonst beschrieben ihr immer nur die anderen, wie sie die Beziehung sahen, die in ihrer Einbildung zwischen ihnen und Melinda bestand. Sie nickte dann und brach in Bewunderungsrufe aus: Fabelhaft, genauso sei es. In Wirklichkeit machte sie sich keine Gedanken über das, was sie tat und was sich daraus ergeben konnte. Den Dingen auf den Grund zu gehen war ein Zeitvertreib, für den sie nichts übrig hatte. Es machte ihr einfach keinen Spaß. Die Tatsache, daß sie Anthony jetzt von ihren
gesprochen hatte, schien ihr ein Zeichen dafür zu sein, daß sie alt wurde. Anthony saß ihr gegenüber. Trotz seinem müden Gesicht, das immer wieder in den Zeitungen abgebildet wurde, trotz seinem angegrauten Haar und seinem krummen Rücken, an dem seine Angewohnheit, sich tief in die Sofas des Unterhauses zu lehnen, schuld war, fand sie ihn physisch anziehend. «Ich mag nicht, daß du in der Öffentlichkeit so oft genannt wirst ... und jetzt noch diese Autounfälle ...» Endlich hatte er sie in der Hand. «Woher weißt du davon?» «Soll das ein Witz sein? Liest du denn keine Zeitung?»
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«Ehrlich gesagt, nein.» «Und das bei deinem Beruf?» «Ich höre doch abends, was die anderen erzählen. Auf den Empfängen plappern alle nach, was sie in der Zeitung gelesen haben. Man muß nur herausbekommen, welche Zeitungen sie lesen.» «Aber so erfährst du doch nie, was in den Klatschspalten steht.» « Wieso erfahre ich das nicht? Die Leute reden von nichts anderem.» «Aber den Klatsch über dich selbst erfährst du so nie.» «Der interessiert mich auch nicht weiter.» «Du hast überhaupt kein Verantwortungsgefühl. Du mußt die Zeitungen lesen.» «Aber ich bitte dich, warum sollte ich denn? Und wenn du findest, daß ich kein Verantwortungsgefühl habe, dann hättest du das schon längst bemerken können.» «Ich ahne es schon lange. Aber bisher habe ich es nur vermutet.» Schweigen. Anthony war nicht mit ihr zufrieden. Sie enttäuschte ihn. Das tat ihr leid. Sie wollte niemanden enttäuschen. Es war das erste Mal, daß ihr das passierte. «Und sonst?» «Du mußt unbedingt den Führerschein machen.» «Dazu habe ich keine Lust.» «Du kannst dir keinen Skandal erlauben.» «Ich erlaube mir ja gar keinen Skandal. Ich fahre ausgezeichnet, obwohl ich keinen Führerschein habe.» «Ich frage dich noch einmal: hast du die Zeitungen gesehen?» « Was schreiben sie denn?» «Daß du zwei Autounfälle gehabt hast und daß eine alte Frau deinetwegen ins Krankenhaus mußte. Und das alles ohne Führerschein.» «Na und?» « Wärst du irgendwer, dann wärst du deshalb ins Gefängnis gekommen.» «Aber ich bin nicht irgendwer.» «Ich habe Kopfschmerzen. Das alles hatte mir gerade noch gefehlt ...» Bisher hatte Anthony niemals Kopfschmerzen gehabt. Oder zumindest hätte er nicht davon gesprochen. Es ging also auch mit ihm bergab. «Du leistest dir Skandale, oder zumindest verhinderst du sie nicht. Such dir einen Fahrer.» 31
«Der erführe alle meine Geheimnisse.» «Hast du denn so viele?» «Ein paar.» «Zum Beispiel das, von dem wir sprachen?» «Von dem wir nicht sprachen.» «Genau das.» «Wieso interessierst du dich plötzlich für meine Angelegenheiten?» Anthony schaute sie an, als sähe er durch sie hindurch. Sein müdes Gesicht verriet plötzlich sein Alter. «Du machst mir angst.» Ich mache ihm angst. Warum? Ich mache ihm angst. «Erst jetzt oder schon früher?» «Erst jetzt. Du wärst zu allem fähig.» «Wie meinst du das?» «Ich meine, daß du keine Reue kennst und dir kein Gewissen machst.» «Ich verstehe dich wirklich nicht. Was willst du denn von mir?» Jetzt setzte sie ihn in Verlegenheit. Jetzt wußte er keine Antwort. «Ich weiß nicht. Du hast eine große Karriere vor dir, Melinda.» Bewunderung. Das hätte sie nicht erwartet. «Sehen wir uns am Freitag?» fragte er. «Wann?» «Zum Dinner.» «Ich kann nicht.» «Was hast du vor?» «Ich fahre nach Frankreich.» «Wozu?» «Zu einem Ball.» «Triffst du dort deinen Mann?» «Nein, ich fahre mit meinem Mann.» «Ich meine, deinen ersten Mann.» «Nein, den sehe ich nie.» «Habt ihr euch gestritten?» «Nie.» «Und wann läßt du dich scheiden?» «Warum? Willst du mich heiraten?» «Um Himmels willen, das kommt überhaupt nicht in Frage.» «Warum sollte ich mich dann scheiden lassen?» «Weil du dir aus Lawrence nichts machst.» 32
«Dafür mache ich mir aus allem übrigen etwas.» «Das übrige hast du nicht nötig.» «Und was habe ich nötig?» «Du müßtest dich einmal verlieben.» « Warum verliebe ich mich nicht in dich?» «Dazu bist du nicht imstande. Du hättest es längst tun sollen.» «Und warum bist du nicht in mich verliebt?» «Ich bin es eben nicht. Im übrigen mußt du dir auch eine bessere Sekretärin suchen. Die, die du jetzt hast, informiert die Zeitungen.» « Welche Zeitungen?» «Die Klatschblätter.» «Das ist mir gleich.» «Ich habe dir gesagt, du sollst dir eine andere Sekretärin suchen.» «Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Die laufen einem doch alle davon.» «Behandelst du sie schlecht?» «Nein. Ich bezahle sie sogar sehr gut. Aber sie sind mit meinem Leben nicht einverstanden. Mit meinen Verabredungen. Sie denken immer das Schlechteste. Und die Briefe, die ich bekomme, sind zu einem großen Teil ziemlich unanständig. Das ist ihnen peinlich.» «Was steht denn in diesen unanständigen Briefen?» «Da schreiben zum Beispiel Bauern aus Sussex, die ihre besonderen Gründe hatten, mich zu wählen: Ich gebe zu, daß diese Briefe mir allmählich keinen Spaß mehr machen.» «Dann mußt du dir eben ein würdigeres Image schaffen.» «Wie denn?» «Leg dir eine tüchtige Sekretärin zu, einen Chauffeur, einen Rolls-Royce und einen Manager.» «Das wäre zu teuer.» «Geld hast du doch, und wenn du welches brauchst, gebe ich es dir.» «Ich muß mich nach einem anderen Beruf umsehen.» «Darüber wäre ich sehr froh.» Wirklich ein unerfreuliches Gespräch, dachte Melinda, als sie das Haus verließ. (Sie wurde sofort fotografiert, als sie mit über den Knien hochrutschendem Rock und halboffenem Mund ins Taxi stieg.) Ein langweiliges Essen. Anthony wird alt und entwickelt sich zu einem richtigen Premierminister. Er möchte, daß ich mir einen anderen Beruf suche. Der Gedanke, daß ich Oswald beiseite ge33
schafft habe, erschreckt ihn. Zu dumm, daß ich ihn bei dem Glauben gelassen habe. Ich muß jetzt so tun, als ob ich gedacht hätte, er spiele auf etwas anderes an. In der Stadt machte sie einige Besorgungen. Solange sie nicht erkannt wurde, machte es ihr Spaß, sich die Läden anzusehen, die Juweliergeschäfte, die Buchhandlungen und die Pubs. Sie ging zu Christie's und suchte dort einen der Direktoren auf, der ihr eine Rose überreichte. In seinem Büro lag ein Packen Tiepolo-Zeichnungen: flüchtig mit Sepia skizzierte Putten, duftiges Fleisch, das mit den Wolken verschmolz. Zum Verlieben. Als Charlie das Büro für einen Augenblick verließ, steckte Melinda sechs Zeichnungen in ihre Tasche. Charlie kam zurück: es waren gerade vier Sekunden vergangen. Melinda ging noch auf einen Sprung in die Galerien und hinterließ beim Pförtner zwei Angebote: eines für einen chinesischen Porzellanteller, der sie überhaupt nicht interessierte, und eines für eine Terrine aus schwerem Silber, die für Elisabeth von Rußland angefertigt worden war. Das war vielleicht ein Weihnachtsgeschenk für Abraham, dieser Teller. Die Terrine nicht, die war zu schön. Sie würde sie selbst behalten. Noch vor dem Ball fand eine Konferenz statt, an der Melinda als Ehrengast und Vertreterin ihres Vaters teilnehmen sollte. Abraham hatte aus irgendwelchen mysteriösen Gründen abgesagt. Melinda sah ihn jetzt immer seltener, und er gefiel ihr immer besser. Sie trafen sich in Paris. Er holte sie nicht wie gewöhnlich am Flugplatz ab, aber Melinda fand einen freundlichen Passagier, der sie ins Hotel brachte. Abraham erwartete sie bedrückt und ungeduldig. «Du kommst sehr spät.» «Das Flugzeug hatte Verspätung.» «Man weiß nie, ob man dir glauben soll oder nicht.» Der Portier stand stramm. Ihr neuer Paß tat seine Wirkung. Wie angenehm, daß in England Adelstitel in die Personalpapiere eingetragen wurden. «Mach bitte keine Dummheiten bei der Konferenz. Du vertrittst mich und in gewisser Hinsicht die Nation. Tu so, als hättest du die Bücher gelesen. Das ist nicht weiter schwer. Kein Mensch wird sie gelesen haben, und alle werden so tun, als ob.» Er hatte für den nächsten Morgen um acht einen Flug für sie ge-
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bucht. Abends ging er mit ihr in ein Restaurant in der Nähe des Boulevard Saint-Germain. «Meine Freunde gehen mit mir ins Grand Vefour.» «Aber ich bin dein Vater.» Sie aßen gut und redeten viel. Abraham interessierte sich nicht besonders für das Privatleben seiner Tochter. Trotzdem beobachtete er es mit einer gewissen Neugier. «Wann verliebst du dich?» fragte er sie immer. Das wollen alle wissen. Warum soll man sich unbedingt verlieben? Sieht man es mir denn so deutlich an, daß ich es nicht bin? Was wollen sie? Abraham hatte viel zu erzählen. Er hatte den General gesehen. Er schwärmte für den General. «Verstehst du das nicht? Er ist der einzige, den wir haben. 'Oberleg doch mal, was er alles geschafft hat. Algerien. Wer sonst hätte das fertiggebracht? Und er ist der einzige, der begreift, daß man den arabischen Block aufspalten muß.» «Papa, du solltest meinen Platz im Parlament übernehmen. Du bist so viel tüchtiger als ich.» «Das weiß ich; aber du bist ein Witz.» Eines Tages würde sie Abraham schon zeigen, was für ein Witz sie war. «Und warum kommst du nicht zu der Konferenz? Sag mir die Wahrheit.» Das war gar nicht so einfach; es handelte sich um eine der üblichen Liebesgeschichten. Die Romanschriftstellerin würde die Königin der Konferenz sein («Abgesehen von dir, mein Liebes, aber aus anderen Gründen»). Die Geschichte mit ihr hatte kein gutes Ende genommen, jedenfalls war es besser, wenn die beiden sich nicht begegneten. Sie traf die Frau, die ihren Vater einschüchterte, am nächsten Morgen auf dem Flugplatz. Abraham, der Melinda begleitet hatte, nahm entsetzt Reißaus, als er unter einem blumengeschmückten Strohhut Helens gierigen Mund entdeckte. Das letzte Mal, als Helen und Melinda sich gesehen hatten, war Melinda in ihrer Schultracht zu Papa hereingekommen und hatte sich mit ein paar Tränen von ihm verabschiedet. Und Helen erinnerte sich noch sehr gut an sie. Während des Fluges unterhielten sie sich lange. Dann lasen sie Zeitung. Helen war ganz überrascht, als sie in der Tiefe die Cöte d'Azur sah. Sie war noch nie dort gewesen und hatte nicht für möglich gehalten, daß sie so schön sei. Helen haßte Allgemeinplätze. Mit ihrer Art zu reden, schüchterte sie auch Melinda ein bißchen
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ein. Sie sprach nie von sich selbst und begann ihre Sätze nie mit «Ich sah», «Ich hörte», «Ich denke». Sie schien die Wörter ungekaut zu verschlucken und stolperte hastig durch die Sätze. Eines Nachts, drei Tage nach Beginn der Konferenz, fand Melinda, daß sie nachts allein, zu allein sei. Sie hatte ein großes Zimmer mit einem Balkon, von dem sie auf die Pinienwipfel blickte, ein Doppelbett, und die Möbel hatten so viele Schubladen, daß alles in wenigen Minuten verschwinden und das Zimmer blitzschnell ordentlich aussehen konnte. Ideal für die Liebe. Melinda mochte die Dunkelheit nicht. Sie mochte auch nicht allein sein. Und vor allem war sie es nicht gewohnt. Er war Schriftsteller, Amerikaner. «Jacob hat sich bei mir erkundigt, wer du bist», sagte Helen an der Bar zu ihr. Sie aßen zusammen zu Abend. Er war selbstsicher und hatte den süßlichen Akzent der Amerikaner. Dann machten sie einen romantischen Spaziergang und verbrachten einen Teil der Nacht zusammen. Er blieb nicht bis zum Morgen, weil er Angst hatte, sich zu verlieben. Aber das gestand er ihr erst später. Die Konferenz interessierte sie immer weniger. Jacob hielt ihre Hand. Nach dem Frühstück. Vor dem Mittagessen. Nach dem Mittagessen. Auf der Treppe. Nach dem Abendessen. Im Fahrstuhl. Den größten Teil des Tages verbrachten sie zusammen im Bett. Hin und wieder unterhielten sie sich. «Komm mit mir.» — «Wohin?» — «Mit mir. Fort, für immer.» Vielleicht schenkte Jacob, weil er kein Engländer war, ihrem Körper und dem Akt der körperlichen Vereinigung, der ihr letzten Endes immer sinnlos vorgekommen war, soviel Aufmerksamkeit. Er war verheiratet gewesen. Hatte sich scheiden lassen. Zwei Töchter. Von seiner früheren Frau sprach er viel. Küsse. Zuviel Spucke, zu viele Zähne, zuviel Geschmatze und zuviel Gekeuche. Wie die Hunde. Vielleicht hatte Melinda sich verliebt ... «Aber eines Tages mußt du mich auch küssen, mein Liebes.» — «Bitte nicht, ich ekle mich so davor.» Sie kehrten nach Paris zurück und nahmen für einen Tag ein gemeinsames Zimmer. Paris kam ihr bei dieser Gelegenheit ganz neu vor. Sie mußte stundenlang mit Jacob herumlaufen; er führte sie in finstere und ein bißchen unecht wirkende Gegenden. Er zeigte sie bei allen seinen Freunden vor. Er war geizig und machte ihr keine Geschenke. Dann nahm Melinda ein Flugzeug nach London, um ihren Schmuck und ihr Ballkleid zu holen. Sie winkte Jacob zum Abschied. Vielleicht würden sie sich wiedersehen.
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Auf dem Flugplatz durchsuchte die Polizei alles nach ihrem Diadem. Zum Glück fand man es nicht. Es war verboten, es ohne Sondergenehmigung ins Ausland mitzunehmen. Und wer weiß, wie schwierig es war, eine solche Genehmigung zu bekommen. Dieser bürokratische Apparat verursachte ihr eine Art Klaustrophobie. Eines Tages, so dachte sie, würde sie sich noch das Leben nehmen, weil sie ein paar schwer ersetzbare Papiere verloren hatte. Melinda flog nicht gern; sie litt unter der Enge. Jedesmal, wenn man auf die Toilette wollte, mußte man über fremde Körper hinwegsteigen. Man hatte nicht einmal genug Platz, um die Zeitung zu lesen. Nicht daß sie etwa hätte lesen wollen. Aber wenn ihre beiden Nachbarn ihre Zeitungen entfalteten, wußte sie nicht mehr, wo sie mit ihrem Kopf bleiben sollte. Wenn ich auf die Toilette gehe, bringe ich das Flugzeug aus dem Gleichgewicht, Jacob. Was er wohl macht? Seine langen Beine, sein schwerer Körper. Er hatte immer Angst, daß sie sich langweilte. Und so war es auch meistens. Manchmal fragte er sie danach. Er verstand alles. Lange würde es nicht dauern. Aber einstweilen telefonierten und schrieben sie sich jeden Tag. Das heißt, sie rief ihn vom Parlament aus an. Jacob hatte Angst vor Lawrence und vor der Telefonrechnung. Diesmal würden sie sich in Paris nicht sehen. Jacob, der in ein paar Tagen nach den USA zurückreisen mußte, wußte nicht einmal ihre Telefonnummer. Er hätte es ungeheuerlich gefunden, sie in derselben Stadt zu wissen, ohne sie sehen zu können. Lawrence war müde. Er wollte vor dem Ball nicht mehr ausgehen. In der Küche waren noch Eier. Melinda betrachtete sie. Auch Butter war noch da. «Wir essen zu Hause.» Wie rührt man die Eier unter die Butter oder die Butter unter die Eier, damit etwas Schmackhaftes herauskommt? Sie stand zum erstenmal vor einem Herd. «Chemie», pflegte Abraham zu sagen, der ausgezeichnet kochte. «Eine Wissenschaft, die die Frauen nie begreifen werden. Manche verlassen sich auf ihre Nase. Aber wirklich gut kocht keine Frau.» Melinda erinnerte sich dunkel an Szenen zwischen ihrer Mutter und Abraham, der immer hatte kochen wollen. Raus mit der Köchin, raus mit seiner Frau. Seine Rühreier waren unübertrefflich. Warum hatte er ihr das alles nicht beigebracht? «Kocht man den Nescaf6 vorher oder nachher? Muß man das Pulver mit aufkochen?» Schließlich kochte Lawrence. Jacob. So war das also? Ein bißchen Magenschmerzen, wenn man getrennt war, und Gleichgültigkeit beim Zusammensein. Das also 37
war Verliebtheit? Auch nur so ein Gesetz der Gesellschaft? Jacob ganz allein in seinem kleinen Hotel. Vielleicht auch nicht allein. Jedenfalls dachte er an sie. Und nur das war wichtig. Wichtig für wen? Mehrere hundert Autos vor dem mit Blumengirlanden geschmückten Parktor. Rechts und links davon Statuen, die von rosa Hortensien überquellende Steinvasen trugen. Man mußte seine Einladung vorzeigen. Einige Wagen wurden wieder fortgeschickt. Es war der Ball des Jahres. Daran bestand kein Zweifel. Eine halbe Stunde standen sie in der Kolonne, dann ließ man sie durch. «Und wer sind die?» fragte einer der Umstehenden. Herrlich, so im Mittelpunkt zu sein. Der Garten wurde von unsichtbaren Scheinwerfern erleuchtet. Kandelaber hingen an den Ästen der höchsten Bäume. Kleine Marmorneger, die einer wie der andere aussahen, trugen auf ihren Köpfen schwere Blumenschalen mit Hortensien und Glyzinien. Auch der Weiher war beleuchtet. Und schließlich das Schloß. Es war mit weißem Tüll dekoriert, der Meter um Meter an der Fassade herabhing. Zwischen den silberweiß gestrichenen Säulen hingen ebenfalls Kandelaber. Kerzen, wohin man blickte. Das Haus verschwand geradezu hinter dem Licht. Das Boot auf dem Weiher wirkte wie ein davongleitendes Geisterschiff. Vor dem Eingang Autos und Damen in phosphoreszierenden Gewändern mit prachtvollem Schmuck. Sie schritten die Treppe hinauf. Die Zigeunerkapelle, die das Defilee untermalte, war selbst Melinda lästig. Schlangestehen, Vorstellung und Begrüßung der Gastgeber. Die Marquise im Silberkleid war über und über mit Smaragden bedeckt. Und da dachte Melinda plötzlich nicht mehr an Jacob. In einem Augenblick der Klarheit begriff sie: nie mehr im Leben würde sie an Jacob denken. Und so verflüchtigte sich ihre Hoffnung, sich zu verlieben. Sie ging auf die große Sopranistin zu und begrüßte sie. «Wie schön, wir werden Sie doch in wenigen Tagen in London hören?» «Ich habe offen gesagt nicht die geringste Absicht, nach London zu kommen.» «Ach so ... Ist das schon bekannt? Weiß die Presse es schon?» «Nein. Aber ich werde es schon noch bekanntgeben.» überall Tische mit kaltem Büfett. Riesige Tische, dekoriert mit Blumen und gänselebergefüllten Enten, mit Girlanden aus Langusten und Orchideen. 38
«Heute abend esse ich mich satt und damit basta», verkündete Melinda ihrem Mann und trennte sich von ihm. Sie schlenderte durch den Garten, traf und begrüßte da und dort jemanden. Irgendwo entdeckte sie Mark van der Belt und seine schöne Frau. über ihn wußte Melinda so gut wie alles. Er war reich, reicher als alle anderen. Er sah gut aus, besser als alle anderen, auch wenn zuviel Wein und zuviel Zigarren in den letzten vierzig Jahren sein Gesicht und seine Hände gerötet hatten. Die Familie, aus der er stammte, war wegen ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht berühmt. Man riß sich darum, zum Wochenende in sein Landhaus eingeladen zu werden. Mark van der Belt erhob sich von der Seite seiner Frau. Melinda folgte ihm und richtete es so ein, daß sie neben ihm stand, als er sich ein Glas Champagner geben ließ. «Was nimmst du, Liebling?» fragte er und reichte ihr automatisch ein Glas. «Ich möchte lieber einen Whisky. Mit Eis, ohne Wasser», antwortete sie. Mark van der Belt fuhr mit einem Ruck herum. «Nein, das ist nicht die Stimme Ihrer Frau.» «Entschuldigen Sie bitte.» Fort, auf und davon. Typischer Engländer, dachte Melinda, was soll man da schon machen? Sie bestellte ihren Whisky und ging die Treppe zum Ballsaal hinauf. Auch hier die gleiche duftige Dekoration. Säulen, die unter Tüll verschwanden, und Stalaktiten. Sie begegnete Abraham. «Der einzige Literat», sagte Melinda und umarmte ihn. «Meinst du damit, der einzige Mensch, mit dem man sich unterhalten kann? Ich mache dich darauf aufmerksam, daß ich nicht die Absicht habe, mit dir zu tanzen.» «Schade. Dann muß ich halt weitergehen.» «Sieh dir auf jeden Fall das Badezimmer unserer Gastgeberin an. Ganz und gar aus Gold.» «Mit wem soll ich mich denn unterhalten?» «Es sind ungefähr achthundert Menschen hier.» «Und wen stellst du mir vor?» «Du kennst doch sehr viel mehr Leute als ich.» «Hier nicht.» «Wieso?» «Schließlich bist du derjenige in der Familie, der die internationalen Verbindungen hat.» «Da drüben steht zum Beispiel der Liebling von ganz London.» 39
«Van der Belt?» Ich sollte mich ein bißchen betrinken, dachte Melinda. «Bitte, betrink dich nicht.» Er hielt ihren Arm fest, den sie schon wieder nach einem Glas ausstreckte. «Es ist erst das zweite.» «Du siehst alkoholsüchtig aus.» «Süchtig nach van der Belt.» «Um Himmels willen, halt dich bloß von ihm fern.» «Warum?» «Weil er nicht zu dir paßt. Ein Schwächling.» «Aber alle meine ...» «Gewiß. Aber seine Schwäche ist anders. Er kann sich zu nichts entschließen. Macht alles kaputt.» «Das ist häßlich gesagt.» «Mag sein. Du wärst vielleicht das einzige, was er nicht kaputtmachen würde. Ich habe geschäftlich mit ihm zu tun gehabt. Eine Katastrophe.» «Inwiefern?» «Das ist jetzt nicht der Augenblick, um dir das zu erklären. Außerdem kommt er gerade auf uns zu. Wenn auch ein bißchen zögernd. Und mit Recht ziemlich verlegen.» «Weswegen?» «Er ruft zum Beispiel an. Verabredung, um über das große Buch zu sprechen, das er schreiben will. Um ein Uhr Mittagessen im Ritz. Eine Stunde vorher ruft er wieder an und sagt ab. Und das mehrere Male. Als ob alle Leute stundenlang Zeit für ihn hätten.» «Er ist offenbar verwöhnt.» «Schlimmer als du.» «Ich bin nicht verwöhnt.» «Ich weiß nie, was du eigentlich bist, Melinda. Nein, verwöhnt bist du nicht. Du bist frisch wie eine Rose, eine Rose aus dem Kühlschrank, und vorläufig ist das auch recht so. Bis du plötzlich einmal alles langweilig finden wirst. Aber ich bin sicher, daß du zu einem gründlichen Milieu- und Männerwechsel fähig bist, wenn du auch nur das leise Gefühl haben solltest, dich zu langweilen.» «Das habe ich mir noch nie überlegt. Meinst du das im Ernst?» «Du machst das instinktiv. Und jetzt ist es dir wieder gelungen, mit mir Konversation zu machen.» «Das ist doch keine Konversation. Das ist ein Vater-TochterGespräch. Wir sprechen lins sonst doch nie ...» 40
«Weil du nicht anrufst.» «Du bist doch der Vater. Du mußt mich anrufen. Also, stellst du ihn mir vor?» «Na, hör mal, wenn er nicht kommt, kann ich doch nicht auf ihn zugehen.» «Zeig ihm doch, daß du der überlegene bist.» «Das bin ich nicht.» «Du kannst aber so tun.» «Ich habe nicht die Absicht, der überlegene zu sein oder den überlegenen zu spielen.» «Und ich sage dir, wenn du mir Herrn van der Belt nicht vorstellst, dann hast du mich den ganzen Abend auf dem Hals.» «Ich werde tanzen.» «Du hast mich den ganzen Abend auf dem Hals.» «Melinda, bitte, hör auf.» «Stell ihn mir vor.» «Bringst du das nicht allein fertig?» «Er ist Engländer. Die schätzen so etwas nicht.» «Siehst du denn nicht, daß er hier nur rumsteht, um dich kennenzulernen?» «Ich habe es vorhin sozusagen schon versucht. Es hat nicht geklappt.» «Mark.» Abraham hatte seine Stimme erhoben. Mark van der Belt kam auf sie zu. «Da kommt er. Zufrieden?» «Guten Abend, Abraham.» «Wenn wir uns nicht zum Essen treffen können, so haben wir doch immerhin das Vergnügen, Sie heute abend hier zu sehen, Herr van der Belt.» Mußte Abraham jetzt wirklich die alte Geschichte aufwärmen? So ein Langweiler. «Tut mir leid. Die Woche war sehr besetzt.» «Bei mir auch.» «Schrecklich viel zu tun.» «Viele Gäste? Viele Dinners vorzubereiten?» Wenn er so weitermacht, geht van der Belt fort. «Kennen Sie meine Tochter?» «Sozusagen. Das ist also Ihre berühmte Tochter?» «Mehr habe ich nicht.» Und damit war Abraham verschwunden. «Was haben Sie meinem Vater bloß getan, Herr van der Belt?» «Ich hoffe, Sie sind nicht ebenso streng.» 41
«Ich habe keinen Grund. Und nicht die geringste Absicht.» «Wie heißen Sie?» Das passierte ihr zum erstenmal. War es möglich, daß er «Ihre berühmte Tochter» sagte und nicht einmal ihren Namen wußte? «Melinda Brighton.» «Richtig. Entschuldigen Sie. Wie geht's denn im Parlament?» «Sie amüsieren sich also auch darüber?» «Keineswegs. Ich finde es sehr tüchtig. Ich war auch einmal Abgeordneter.» «Das wußte ich. Und ich wußte auch, wie Sie heißen. Warum haben Sie die Politik an den Nagel gehängt?» «Sie passen besser auf als ich, Melinda.» Er sagte das auf eine väterliche Art, die sie von Abraham nicht kannte. Und er legte seinen Arm um ihre Taille und tätschelte sie. «Ich wollte kein zweitrangiger Abgeordneter sein. Außerdem wollte ich schreiben. Haben Sie mein Buch gelesen?» «Ich will es lesen. Wovon handelt es denn?» «Das wirst du schon sehen.» Plötzlich schlug er einen sehr vertraulichen Ton an. «Ich rufe dich an, wenn du es gelesen hast.» «Dann sind Sie also aus dem Parlament ausgeschieden, um zu schreiben. Oder aus Langeweile?» «Nein. Aus Langeweile war ich doch überhaupt erst ins Parlament gegangen. Damals war ich mit einer langweiligen Frau verheiratet. Dann ließ ich mich scheiden, heiratete Aglaia und hatte nicht mehr das Bedürfnis, den ganzen Tag außer Haus zu sein. Kennst du Aglaia?» «Nein. Vielleicht bin ich auch ...» «Was?» «Mir ist gerade etwas eingefallen.» «Macht dir das Parlament Spaß?» «Das auch.» «Eine prachtvolle Frau. Wirklich prachtvoll.» «Wer? Ich?» «Melinda, warum sind wir uns nicht schon früher begegnet?» « Ja, warum?» «Ich sehe nicht viele Leute. Ich gehe nie zu Bällen.» «Und heute abend?» «Aglaia hat es durchaus gewollt. Und außerdem wollte ich meinen Bruder sehen, der in Frankreich lebt.» «Wo ist er denn?» 42
«Kennst du meinen Bruder?» « Ja. Und deine Schwester auch.» «Wie findest du meine Familie?» «Der Traum jedes Psychoanalytikers.» «Das ist keine sehr freundliche Bemerkung.» «Du hast mich doch gefragt.» «Ich unterhalte mich gern mit dir.» Wieder eine väterliche Geste. Diesmal legte er den Arm um ihre Schultern. Mark hatte das Haar ä la Scott Fitzgerald glatt über die Stirn gekämmt. Er wirkte elegant, und in allem, was er tat, lag etwas Ungefähres. Seine Stimme klang zerstreut. Er war kaum zu verstehen. Man mußte tun, als schwärme man ihn an. Im Grunde war er Dick, und Melinda war die Rosemary. Und Nicole würde sicher nicht lange auf sich warten lassen; die Stimmung war gerade die richtige. Dazu kam, daß jemand Haus und Ball bereits verließ, weil er es satt hatte und mit seinem Privatflugzeug zum Baden an die Cöte d'Azur flog. Aber Melinda kannte diesen Jemand nicht und, was schwerer wog, dieser Jemand kannte Melinda nicht. So lächelte Melinda in ihrer Ahnungslosigkeit Mark schwärmerisch an. « Warum sind wir uns nicht schon früher begegnet?» (Mark) «Ich habe es versucht.» (Melinda) «Wann?» (Mark) «An der Bar.» (Melinda)
«Wo?» (Mark) «Hier, vor einer halben Stunde.» (Melinda) Er hatte sie nicht einmal angeschaut (denkt Melinda). So ein Flegel (denkt Melinda). Oder ist das echte Zerstreutheit? «Erzähl mir was von meiner Familie.» (Mark) «über die kann ich dir nicht viel sagen. Deine Schwester, nun ja, und dein Bruder, der Ärmste, hat einen miserablen Geschmack ...» Aber sie durfte ihn nicht nur mit Gesprächen über seine Familie verführen. «Und mein anderer Bruder?» «Der ist interessanter. Ebenfalls eine Wonne für einen Psychoanalytiker.» «In welcher Hinsicht?» «Das müßtest du doch wissen. Warum fragst du mich danach? Ich habe ihn ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, das ist alles. Bei einem Dinner.» 43
Marks Hand war nicht von ihrer Taille gewichen. Plötzlich zog er sie zurück. «Da kommt meine Frau. Ag, kennst du Melinda Brighton?» Ein entzückendes Geschöpf. Ein winziges Kindergesicht, eine müde Stimme, Haare, die bis auf die Schultern herabhingen. «Warum sind wir uns nicht schon längst begegnet?» Sie stellte die gleichen Fragen wie ihr Mann. «Bis bald», sagte Mark und verschwand mit Aglaia. Wie? Bis bald, und dann verschwindet er mit seiner Frau? Was bildet er sich denn ein? Und diese abgeklapperten Redensarten. Von wegen bis bald! Und dieses Gespräch, das intim wirken sollte. Und immer nur über seine Familie. Wer will von der schon was wissen? Und zum Schluß läßt er mich einfach stehen. Und jetzt war sie wieder allein. Sie steuerte auf das zweite Büfett los (es gab im ganzen zwölf, und sie war entschlossen, überall etwas zu essen). Das Geisterschiff, ständig vom Licht verfolgt, kreuzte noch immer über den Weiher. Sein Tüllgeglitzer war beinahe eins mit dem Wasser. Hinter ihr eine heisere Stimme: «Wollen Sie etwas essen?» Graumeliertes Haar, groß und elegant, Perlen in der Hemdbrust und als Manschettenknöpfe. Er mißfiel ihr gründlich. «Und wie heißen Sie?» «Leider kann ich Sie nicht dasselbe fragen, Herzogin», antwortete er und verbeugte sich. Nicht einmal der Anflug eines Akzents. «Ja, ich möchte etwas essen ...» «Archibald Ostrowskij.» «Pole?» «Beinahe. Russe.» «Meistens ist es umgekehrt.» «Wie meinen Sie das?» «Russe? Beinahe. Pole.» «Nur heutzutage, Herzogin.» «Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich das bald nicht mehr sein werde.» «Was?» «Herzogin.» «Und warum?» « Weil ich mich scheiden lassen will.» «Tatsächlich? Und warum sagen Sie mir das? Solche Dinge sind
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doch geheim ... Und Sie sollten sich auch nicht scheiden lassen. Eine Position wie die Ihre, um die Sie alle Welt beneidet ...» «Was wissen Sie schon davon?» «Herzogin, ich muß Ihnen sagen, daß ich seit Monaten nach dieser Begegnung lechze ...» «Wie erfreulich.» «Spotten Sie nicht.» «Ich spotte nicht. Gerade traf ich ... Aber nein, das ist nicht so wichtig.» «Warum sagen Sie es mir nicht? Haben Sie kein Vertrauen zu mir? Nicht ein ganz klein bißchen?» «Erst wollen wir etwas essen.» «Was möchten Sie? Gefüllte Ente?» «Ach, du liebe Zeit. Sind die Büfetts etwa alle gleich? Ich hatte gehofft, es gäbe überall etwas anderes.» «Oh, Sie sind vom Buckingham Palace Besseres gewohnt.» « Was das angeht, so kann ich Ihnen sagen, daß es dort nur Sandwiches mit Gurken und Tomaten gibt.» «Sind Sie häufig bei Hofe?» Bei Hofe? War es möglich? Gab es noch Leute, die sich so ausdrückten? « Ja, seit ich im Parlament bin. Ich glaube nicht, daß man mich dort gern einlädt. Nur wenn es ganz unumgänglich ist.» «Und wann ist es ganz unumgänglich? Wenn der Premierminister dort soupiert?» (Mit dem wissenden Lächeln eines Mannes, der gut informiert ist.) «Sie lesen offenbar unsere Boulevardzeitungen, lieber Ostrowskij, obwohl Sie nicht in England leben. Wo leben Sie?» «Ich, Herzogin? überall. In Frankreich, in den Vereinigten Staaten, in Polen und in Italien.» «In Polen?» «Ich habe ein Schloß in Polen.» «Das Ihnen noch gehört?» «Gewiß. Warum nicht?» «Entschuldigen Sie bitte. Und was machen Sie?» «Nichts, verehrte Dame, gar nichts. Ich ergebe mich dem ästhetischen Genuß. Ich freue mich an schönen Geschöpfen wie Ihnen.» «Wollen wir jetzt Ente essen?» «Und wann lassen Sie sich scheiden?» «Das war nur ein Witz.» 45
«Das war gar kein Witz.» «Doch, der Einfall eines Augenblicks. Aus Langeweile dahergeredet.» «Aber wenn Sie sich scheiden lassen wollen, brauchen Sie Geld. Haben Sie sich das schon einmal überlegt?» «Nein, das habe ich mir noch nie überlegt. Aber Menschen wie ich kommen immer zu Geld.» «Von Ihrem Vater?» «Auch.» «Ihr Vater verdient doch gar nicht soviel. Und Sie haben sich inzwischen an einen Lebensstil gewöhnt ...» «Hören Sie, ich habe keine Lust, mit Ihnen noch länger über meine Privatangelegenheiten zu sprechen, lieber Herr Ostrowskij. Entweder essen wir jetzt Ente, oder wir trennen uns.» « Was halten Sie von hundert Millionen?» «Und Sie?» «Ich besitze sie.» «Und wenn ich ... mit Ihnen ... Dann könnte ich ein Leben lang diese hundert Millionen mit Ihnen teilen ... Das meinten Sie doch?» «Nein.» «Sondern?» «Darüber sprechen wir später.» Auch Ostrowskij verschwand. Ein deprimierender Abend. Sehe ich denn so abstoßend aus? Jeder läuft davon. Vielleicht war die Wimperntusche unter einem Auge verschmiert, vielleicht glänzte ihre Nase, oder der Puder bildete Flecken. Es war besser, wenn sie sich einmal anschaute. Bei dieser Gelegenheit konnte sie auch feststellen, wie eine goldene Badewanne aussah. Sie ging wieder ins Schloß. Gut aussehende, gut angezogene Mädchen. Alle waren sie da. Geld, Adel und gekrönte Häupter, die sich nicht entschließen konnten abzutreten. Das Schlafzimmer der Marquise war ganz in Blau: ein riesiger Baldachin, von dem auf allen Seiten blaue Seide aus dem 19. Jahrhundert herabrieselte. Blaue Sesselchen, blaues Glas. Alles kobaltblau. Wo war das berühmte Bad? Sie öffnete eine Tür. «Ich hoffte, du hättest schon Pipi gemacht.» Das war Marks Stimme. «Ich will nicht Pipi machen. Ich suche das goldene Badezimmer.» «Komm, wir suchen es zusammen.» 46
Menschen wie ich . . .
... kommen immer zu Geld. Ein schönes Gesicht, eine gute Figur — das ersetzt eben Erbschaft und Bankkonto. Was aber machen die übrigen Menschen? Wie sollen die zu Geld kommen, wenn sie's weder heiraten noch erben? Wer weder durch einen Trauerfall noch durch einen Glücksfall reich wird, muß auf jeden Fall Ciceros Rat befolgen: «Zum Reichtum führen viele Wege ... Einer der besten ist die Sparsamkeit.» Wer das nicht mag, kann sich auch an Benjamin Franklin halten, der da sagte: «Der Weg zum Reichtum liegt hauptsächlich in zwei Wörtern: Arbeit und Sparsamkeit.»
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«Wo bist du gewesen?» «Ich habe getanzt. Und du?» «Ich haben einen seltsamen Menschen kennengelernt.» «Du mußt einen unglaublichen Erfolg haben. Nie allein.» «Eben war ich es.» «Aber aus anderen Gründen.» «Bin ich häßlich?» «Wunderschön ...» «Bist du meinetwegen hierhergekommen?» «Ich bin dir gefolgt.» «Das freut mich. Das freut mich sehr. Eine Redensart wie bedeutet im allgemeinen gar nichts.» «Du hast also mein Buch nicht gelesen?» «Das war eine Lüge. Dein Buch gehört zu den wenigen, die ich gelesen habe.» «Hat's dir gefallen? Anscheinend nicht.» «Nicht sehr. Aber damals kannte ich dich noch nicht. Ich habe es ein bißchen vergessen.» «Aber meine Familie kanntest du schon?» « Ja, aber sprich nicht von deiner Familie.» «Immerhin handelt das Buch von den van der Belts.» « Ja, aber sprich nicht von ihnen.» «Es hat dir also nicht gefallen?» Wieder die väterliche Hand. «Du siehst wunderbar aus.» «Du siehst wunderbar aus.» Kuß auf den Hals. Bravo! Ein schöner Kuß auf den Hals. Ein Kuß auf die Wange. Bravo! Kein Kuß auf den Mund. Bravo! « Wollen wir uns ausziehen?» « Wir sind doch nicht zu Hause.» «Sehen wir uns zu Hause?» «Höchst wahrscheinlich.» « Jetzt muß ich wohl mal nachschauen, was Aglaia macht.» Und schon ging er wieder fort, leicht gebeugt, auf die komische Art, die Männer an sich haben, wenn sie anfangen, alt zu werden. Mark sah sie, als sie gleich darauf an ihm vorüberging. Melinda sah ihn nicht. Melinda war ebenso groß wie er, und ihr Zottelhaar gefiel ihm. Er hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Wo ihr Mann wohl steckte? Diese Mädchen von heute, nie treten sie zusammen mit ihrem Mann auf. Er sah, daß sie viel Whisky trank
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und dann mit einem großen Mann, dem Typ des latin lover, tanzte. Mark fing mit einem Freund eine Unterhaltung an. Sie sprachen über die van der Belts. Dann tanzte Mark mit Aglaia. Melinda sah aus, als langweile sie sich. Aber vielleicht sah sie immer so aus. Wie waren eigentlich ihre Augen? Er mußte sich ausführlich mit ihr unterhalten. Er würde ihr vorlesen, was er geschrieben hatte. Er würde ein Gcdicht für sie schreiben. Melinda würde ihn verstehen. Er hatte große Lust, mit ihr zu tanzen, sie zu berühren. Warum hatte er sich das nicht früher überlegt? Melindas Blicke suchten ihn. Sie sah, daß er sich unterhielt, und manchmal hatte sie das Gefühl, daß auch er sie sähe, aber nur durch Zufall, nicht weil er sie gesucht hätte. Ostrowskij fing wieder an, ihr in seiner blumigen Ausdrucksweise Geld in Hülle und Fülle zu versprechen. Warum war er so umständlich? Sie hatte längst begriffen, worauf er hinauswollte. «Und was für Informationen wollen Sie von mir haben?» Nie die Wahrheit. Sie hätte weiter so tun sollen, als begriffe sie nicht. «Informationen? Ich verstehe nicht. Ich? Von Ihnen? Wieso?» «Entschuldigen Sie. Ich habe mich getäuscht. Ich nehme alles zurück. Stellen Sie sich vor, ich dachte, Sie seien ein Spion und wollten von mir Informationen haben! Schade, das hätte mich interessiert.» (Das wird er sich gesagt sein lassen.) «Herzogin, Ihr Charme ... Ihre Schönheit ... Ihr Scharfsinn ... Wollen wir einen Augenblick in den Garten gehen?» (Sie gehen zusammen auf die Terrasse.) «Melinda.» «Mark.» «Ich möchte mit dir tanzen.» «Und Aglaia?» «Die unterhält sich mit einem Freund. Ich weiß gar nicht, wo sie ist. Tanzen wir?» «Sie erlauben», sagte Melinda zu Ostrowskij, und das klang alles andere als fragend. «Wir sehen uns später.» (Der arme Spion. Er hatte wohl gedacht, bei ihr hätte er leichtes Spiel, und nun bekam er es mit der Angst zu tun. Wahrscheinlich befürchtete er, daß sie ihn zum Narren gehalten hatte. Daß sie Mark alles erzählte. Oder er hatte gehofft, nach Erfüllung seines Auftrags früh ins Bett zu kommen. Trotzdem, Spionage müßte etwas sehr 48
Lustiges sein. Ich werde es versuchen; nur mal ein ganz klein bißchen.) «Du bist so zerstreut. Magst du mich nicht mehr? Woran denkst du? An deinen Mann? Deinen Liebhaber? Ist er in dich verliebt?» Mark hatte wieder seine Hand auf ihre Taille gelegt. Diesmal konnte er wenigstens so tun, als sei es nur wegen des Tanzens. Er schmiegte sein Gesicht an ihre Wange. Es war heiß. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn. Ich habe mich verliebt. Wie schön. Endlich. Und alles an einem Abend. «Ich habe ein Gedicht für dich geschrieben.» «In Gedanken?» «Ich habe es auf einen Papierfetzen geschrieben.» «Wann?» «Als du mit dem Mann getanzt hast, der nur Augen für dich hat.» « Wenn er mit mir tanzt, muß er mich doch wohl anschauen.» «Er hat ein besonderes Interesse an dir. Hast du das nicht gemerkt? Du mußt bei den Männern großen Erfolg haben, Melinda. Melinda — ein schöner Name.» So intelligent. Und so jung. «Weißt du, daß du intelligent bist?» Sie legte die Hand um seinen Hals. «Dein Mann beobachtet dich.» « Woher willst du das wissen? Du weißt doch gar nicht, wie er aussieht.» «Ich spüre es. Ich spüre, daß er uns beobachtet.» «Du siehst wohl deine Frau?» «Nein, aber sie beobachtet uns auch, ich spüre es.» «Dann wollen wir gehen. Laß mich dein Gedicht lesen.» Sie nahm ihn an der Hand. Er gehörte ihr. « Wohin gehen wir?» fragte sie. «In den Garten.» «Ist es draußen nicht ein bißchen zu feucht?» « Nur keine Aufregung. Wir gehen in den Wintergarten.» «Ich wußte gar nicht, daß es hier einen gibt.» «Ich war vorhin dort, mit ...» «Aglaia.» «Nein. Mit einem Freund. Wir haben über Politik gesprochen.» « Warum sprichst du mit mir nicht über Politik?» « Wir haben noch Zeit genug, auch darüber zu sprechen. Kommst du nächstes Wochenende zu uns?» 49
«Mit meinem Mann?» «Ja, natürlich.» «Ich will es mir überlegen.» Wieder kam der Mann mit dem graumelierten Haar auf sie zu. Seine Blicke waren ihnen die ganze Zeit gefolgt. «Durchlaucht?» «Ostrowskij?» «Darf ich Sie noch einmal um die Ehre bitten, mit mir zu tanzen?» «Später, lieber Ostrowskij, später ...»
Jemand weint in der Nacht, Jemand sehnt sich nach Licht, Weint, weil er nichts sieht. «Gefällt es dir?» «Was ist das?» «Das Gedicht.» «Und ich? Wo komme ich darin vor?» «Das bist du.» «Wenn du meinst. Aber es stimmt nicht. So bin ich nicht. Ist das alles?» «Gefällt es dir nicht?» «Nicht sehr.» «Und ich hab es mit soviel Liebe gedichtet.» Er beugte sich über sie, küßte ihre Hände, ihre Ohren und griff nach ihren Armen. «Laß uns raufgehen.» «Wohin denn?» «Wir werden schon einen Platz für uns finden.» Sie gingen hinauf. Ostrowskij war an ihnen vorbeigegangen und hatte so getan, als sähe er sie nicht. Sie schauten in mehrere Zimmer. Offenbar blieben viele Gäste über das Wochenende. überall lagen Koffer, Juwelen und Bürsten auf dem Boden -herum. Draußen sah man die Kandelaber und den im Wind wogenden Tüll. Kein Mensch weit und breit.
«Hier.» Mark legte sich aufs Bett und nahm sie in die Arme. «Nein, bitte nicht», sagte Melinda flehend. «Nein. Wir ruhen uns nur ein bißchen aus.» 50
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« Wovon?» «Von uns selbst.» Mark zog sich aus. «Warum ziehst du dich aus?» «Zieh dich auch aus.» « Wir wollen uns doch nur ausruhen.» « Ja.» «Und wenn jemand kommt?» «Es kommt niemand. Wer soll denn kommen? Es sei denn dieser Widerling mit dem slawischen Namen, der sich in dich verliebt hat.» Er half ihr beim Ausziehen. «Du bist so schön. Weißt du, daß du wunderschön bist?» Er betrachtete sie. «Deine Haut ... Deine schöne, weiche Haut.» Er küßte sie, und sie schloß die Augen. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn. Abraham wird toben. Ich liebe ihn. « Wo hast du William kennengelernt?» «William?» «Meinen Bruder.» Jetzt stehe ich auf und gehe, dachte Melinda. «Vor ein paar Monaten bei einem Dinner.» «Liebes, Liebes.» Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. «Nein, ich will nicht ...» «Gut, dann nicht.» Aber dann taten sie es doch. «Meine Schwester ist die einzige von der Familie, die ich gern sehe», sagte Mark. «Weißt du, daß sie krank ist? Es geht ihr sehr schlecht.» «Seht ihr euch oft?» Sie liebte ihn, also mußte sie leiden. Er würde immer und ewig von seiner Familie sprechen. «Ein paarmal im Jahr. Und wenn sie nach London kommt, lade ich sie zum Lunch ein. Aber meistens sehen wir uns in Frankreich.» «Bist du nie bei ihr zu Hause gewesen?» «Doch, aber das ist schon viele Monate her. Ich kann mich nicht mehr genau an das Haus erinnern. Ich reise nie. Dieses Jahr habe ich sogar vergessen, etwas für den Sommer zu planen. Was hast du denn vor?» «Ich fahre ans Meer, falls es meine Arbeit erlaubt. Kommst du mit?» 5
«Nein, das geht natürlich nicht. Aber wir müssen uns mal sehen, allein.» «Das habe ich doch gerade vorgeschlagen.» «Ja, aber nicht so auffällig. Was sage ich meiner Frau? Sie ist so abhängig von mir. Sie würde es nicht ertragen, wenn ich sie verließe. Wenn ich sie betröge, und sie ahnte etwas ... Sie würde es nicht ertragen, verstehst du? Wenn ich sie verließe ... Aber warum reden wir ständig von mir? Ich weiß überhaupt nichts von dir, Melinda. Melinda?» Man hörte Schritte vor der Tür. «Um Gottes willen! So ausgezogen hier im Zimmer entdeckt zu werden ... Das wäre mir aber unangenehm.» Sie zogen sich hastig an. Die Schritte vor der Tür waren noch immer zu hören. Ein Albdruck, dieser Ostrowskij. «Gehen wir zusammen hinaus?» «Getrennt. Wir treffen uns unten an der Treppe.» Mark ging als erster hinunter, und Ostrowskij hielt Melinda an. «Hören Sie, Ostrowskij, wenn Sie mir noch länger nachspionieren, dann jage ich Sie zum Teufel.» «Das ist mein Beruf, Herzogin.» «Aber ich habe jetzt keine Zeit. Wir treffen uns in einer knappen Stunde am Büfett im Samtsalon.» «Zuviel Leute.» «Wir treffen uns dort. Dann können wir ja hinausgehen.» «Ich möchte Sie ein paar Minuten sprechen.» Sie rannte die Treppe hinunter. Hatte sie Mark warten lassen? Sie konnte es nicht erwarten, seine Hände zu berühren und sein Gesicht zu sehen. Wo Lawrence wohl steckte? Marks Stimme ... Er würde ihr von seiner Familie erzählen ... Nun ja. Was wollte er eigentlich von ihr? Mark ... Wie langweilig war ihr Leben doch bisher gewesen. Die Treppe hinunter, schnell, aber nicht zu schnell, damit sie nicht auffiel. Mark war nicht da. Sie machte sich auf die Suche nach ihm. Langsam schlenderte sie durch die Räume und grüßte da und dort jemanden. Dann tanzte sie, um zu sehen, ob Mark im Ballsaal war. Ob er etwa auf der Toilette war? Vielleicht ist er auf der Treppe umgekehrt und hat mich nicht gefunden. Im Laufschritt verließ sie den Ballsaal. Mark war nicht zu finden. Unmöglich, alle Säle abzusuchen. Dazu waren es zu viele. Sie entdeckte Lawrence. Er tanzte. übertrieben herzlich nickte sie ihm zu. «Amüsierst du dich, Liebling?» 52
«Und du, Melinda?» «Sehr.» Sie schaute nach rechts und nach links. «Du bist ja so aufgeregt.» «Ich habe ein bißchen viel getrunken.» Endlich — dort war er. Mit seiner Frau. Und plauderte. Und da stand auch Ostrowskij, nur wenige Schritte von ihnen entfernt. «Ostrowskij, es wird das beste sein, wenn wir jetzt miteinander reden.» «Es steht Ihnen nicht, Herzogin, wenn Sie Ihre Ruhe und Ihren Charme verlieren. Es paßt nicht zu Ihnen.» «Hören Sie, Ostrowskij ...» «Und es paßt auch nicht zu Ihnen, daß Sie sich in die Schlafzimmer eines Schlosses zurückziehen ...» « Wenn Sie glauben, Sie können mich erpressen, dann täuschen Sie sich. Erstens macht es mir nichts aus, weil ich mich sowieso scheiden lassen will und weil es diese lächerliche Formalität höchstens beschleunigen würde. Und zweitens könnte mir die Lust vergehen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.» «Sie würden also ...» « Ja, wahrscheinlich. Aber lassen Sie uns darüber reden.» «Bei ein bißchen Languste?» « Warum nicht?» Sie bedienten sich. Auch die Sauce war himmlisch. Mayonnaise mit Brandy, mit Petersilie und Zucker. «Melinda.» Plötzlich seine Hand auf ihrem Rücken. «Mark.» «Laß uns tanzen.» « Jetzt kann ich nicht, Lieber, ich muß einen Augenblick mit meinem Freund Ostrowskij reden.» «Herzogin, ich danke Ihnen.» Mark verließ sie enttäuscht. Melinda und Ostrowskij gingen über das feuchte Gras und die weißen Kissen. Auch im Garten Kerzen und Trauben von Glyzinien. « Womit fangen wir an?» «Sagen Sie mir erst mal, für wen Sie arbeiten.» «Auf eigene Rechnung, liebe Herzogin. Darf ich Sie Melinda nennen?» «Sie dürfen mich Melinda nennen. Und wollen Sie mir nicht sagen, für wen Sie arbeiten?» 53
I «Nein.» «Aber Spionage macht nicht den geringsten Spaß, wenn man nicht weiß, für wen man arbeitet. Jedenfalls sind Sie ein russischer Spion, das sieht man doch genau.» «Sie werden es zu seiner Zeit schon noch erfahren. Zunächst ist das, was man von Ihnen möchte, sehr einfach. Sie kennen doch so viele Menschen und einige sehr intim. Es gibt da eine Gruppe von Leuten, die uns besondere Sorgen macht. Milena Nubytch ist unsere Agentin, aber wir haben den Verdacht, daß sie Informationen weitergibt.» «An wen?» «Einen Augenblick. Madame Milena Nubytch ist von Beruf Masseuse und hat hochgestellte Persönlichkeiten als Kunden. Zwei davon sind Freunde von Ihnen, Melinda. Einer ist der Premierminister, der andere der Oppositionsführer.» «Sie verdächtigen doch nicht etwa Anthony?» «Man weiß nie, was ein Mann alles erzählt, wenn er sanft massiert wird.» «Ist Madame Nubytch hübsch?» «Eine Dame von sechzig Jahren, sehr dick, mit rotem, stark dauergewelltem Haar. Aber noch jemand macht uns Sorgen. Eine andere Kundin von Madame Nubytch. Alles, was wir von ihr wissen, ist, daß sie im Sexyboy Club als Häschen arbeitet.» «Ist sie auch Agentin?» «Vielleicht. Aber mit Sicherheit wissen wir nur, daß aus dieser kleinen Gruppe Informationen durchsickern.» «Und ich soll herausbekommen, wer redet.» «Genau. Auf Sie wird nie ein Verdacht fallen, Herzogin. Wenn Sie diesen Auftrag erfüllt haben, können Sie, wenn Sie wollen, andere übernehmen; wenn nicht, lassen wir Sie in Ruhe.» « Wieviel Zeit geben Sie mir?» «Es ist ziemlich eilig. Ein paar Monate. Aber gehen Sie ruhig und besonnen vor; und in aller Natürlichkeit. Im übrigen weiß ich, daß Sie Ihre Sache brillant machen und ausgezeichnet damit zu Rande kommen werden. Mit uns halten Sie über Nora, Ihre Jungfer, Kontakt.» «Meine Jungfer?» «Sie ist auch eine unserer Agentinnen.» «Seit wann?» «Seit eh und je.» «Ihr habt sie mir ins Haus geschickt?»
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«So ist es.» «Aber ich möchte Nora nicht verlieren. Sie ist das einzige brauchbare Mädchen, das ich je gehabt habe.» «Leider müssen wir nach Erledigung dieses Auftrags unsere Agentin an anderer Stelle einsetzen. Das ist so üblich.» «Und wann trete ich mit Ihnen in Kontakt, Ostrowskij?» « Wir sehen uns nicht wieder.» «Niemals?» «Nein.» «Das tut mir leid.» «Heute abend werde ich auch weiter so tun, als machte ich Ihnen den Hof. Sie werden mich ein bißchen schlecht behandeln, und ich spiele den Gekränkten. So wird es für Sie noch leichter sein, Herrn van der Belt einzufangen. Das Geld bekommen Sie morgen. Sie finden es im Schließfach Ao 15 im Bahnhof Saint-Lazare.» «Aber ich habe keine Lust, dorthin zu gehen.» «Es tut mir leid, das Geld liegt schon im Schließfach, und nur Sie können es dort herausholen.» «Dann waren Sie also sicher, daß ich ...?» « Ja.» « Wissen Sie viel über mich?» (Die Pilze?) «Sehr viel. Nur leider nichts wirklich Kompromittierendes. Aber unsere Agentin hatte uns Ihren abenteuerlustigen Charakter beschrieben, und als ich Sie sah ...» «Meine Jungfer?» «Genau die.» «Wenn ich nach Hause komme, habe ich bestimmt nicht den Mut, ihr ins Gesicht zu schauen.» «Melinda, ich bitte Sie. Verhalten Sie sich Ihrer Jungfer gegenüber ebenso wie bisher. Nur hin und wieder ein rascher Austausch von Informationen. Möglichst, wenn Sie beide allein sind, und nicht im Hause.» «Und Sie spionieren mir nach?» «So ist es. Wie bisher.» «Dann kann ich mich also nicht an die Spionageabwehr verkaufen?» «Machen Sie keine Witze. Dabei fällt mir ein, es gibt da einen Chiropraktiker. Direktor eines Sanatoriums. Er heißt Dief. Pjotr Dief. Sie werden vielleicht von ihm hören. Er gehört zu uns. Kümmern Sie sich nie um ihn.»
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«Ich werde mir diese Namen aufschreiben müssen.» «Ausgeschlossen. Kein Wort. Sie müssen alles im Kopf behalten.» «Aber ich habe überhaupt kein Gedächtnis.» «Sie werden sehen, daß Sie alles ausgezeichnet behalten.» Er machte sich über die Languste her, die noch unangetastet auf seinem Teller lag. «Das ist alles. Gehen Sie jetzt wieder ins Haus. Machen Sie ein etwas gequältes Gesicht und tanzen Sie mit Ihrem van der Belt. Ich will Sie nicht länger plagen.» «Sieh mal an, das ist ja ein ganz neuer Ton, den wir da anschlagen. Jetzt esse ich erst mal meine Languste auf, und dann mache ich, was ich will. Wenn ich Lust habe, tanze ich die ganze Nacht mit Ihnen, Ostrowskij. Und über van der Belt kein Wort mehr.» «Melinda, das ist kein Scherz und kein Spiel. Es kann Spaß machen, aber auch gefährlich sein. Und man muß gehorchen. Und hier bin ich Ihr Vorgesetzter.» Sie war ein bißchen betrunken. Sie schwankte auf die Terrasse zu und hielt sich dabei an einem Glas Whisky fest. Sie trank es aus. Dann suchte sie Mark. Sie fand ihn im Gespräch mit zwei Männern. Die ganze Gesellschaft saß auf einem Sofa, und Aglaia redete mit einem Mann, dessen Augen vom Rauch gerötet waren. Mark streifte sie mit einem zerstreuten Blick. Er nahm sie wahr. Sein Blick kehrte zu ihr zurück. «Melinda, wollen wir tanzen?» Die Hand auf ihrem Rücken schob sie zur Kapelle hinüber. Natürlich tanzte er ein bißchen altmodisch. «Ich dachte, du wärst für immer verschwunden. Ich habe deinen Mann kennengelernt. Er fragte mich, ob ich dich gesehen hätte. Ich bin überzeugt, daß er uns zusammen beobachtet hat ...» «Mach dir nur keine Sorgen, eines Tages werde ich mich doch scheiden lassen.» «Tu das bloß nicht. Es ist entsetzlich. Meine Scheidung ist für mich zu einem wahren Trauma geworden. Meine Kinder werden mir nie verzeihen. Meine Frau war so langweilig. Ich langweilte mich schrecklich mit ihr. Eine konventionelle Frau. Meine Familie war immer auf ihrer Seite. Jetzt ist sie glücklich. Ich bin froh, daß sie glücklich ist. Wenn man einmal mit einer Frau verheiratet war, bleibt man es in gewisser Hinsicht für immer.» «Findest du? Ich denke nie an meinen ersten Mann.» «Bist du schon zum zweitenmal verheiratet?» «Ja. Wußtest du das nicht?»
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«Du bist doch noch so jung «Als ich meinen ersten Mann heiratete, war ich das allerdings. Ich sehe ihn nie. Seit unserer Scheidung haben wir uns nicht mehr gesehen.» (Sie durfte nicht von sich selbst reden, damit langweilte sie ihn.) « War es schmerzlich?» «Was?» «Die Scheidung.» «Nein, ganz und gar nicht. Meiner Meinung nach ist eine Scheidung etwas Hocherfreuliches. Ich würde mich langweilen, wenn ich denken müßte, ich sollte mein ganzes Leben mit Lawrence verbringen.» «Ist das dein Ernst?» Er war entsetzt. «Ehrlich gesagt, ja.» «Aber warum? Fühlst du dich denn in deiner jetzigen Lage nicht wohl?» «Doch. Aber ich könnte mich wohler fühlen. Oder jedenfalls anders. Heute abend habe ich gedacht, daß ich eine Abwechslung brauchen könnte. Andere Leute, ein anderes Leben. Dazu heiratet man doch letzten Endes. Dann bin ich dir begegnet und habe mich verliebt.» «Du kannst dich doch heute abend nicht in mich verliebt haben.» « Warum nicht? Sei bloß nicht so entsetzt. Ich weiß auch schon, wen ich heiraten werde.» (Das stimmte nicht, sie hatte nicht die leiseste Vorstellung.) « Wen willst du denn heiraten?» Was sollte sie jetzt sagen? «Zunächst einmal möchte ich nicht mehr in England leben. Es macht mir keinen Spaß mehr. Wahrscheinlich heirate ich einen amerikanischen Schriftsteller.» Jacob? Eine absurde Idee. Warum log sie das ausgerechnet Mark vor? Es war das erste Mal, daß sie an Jacob dachte, seit sie beschlossen hatte, nicht mehr an ihn zu denken. «Du steckst voller Überraschungen und bist in gewisser Hinsicht sehr selbstsicher. Worüber hast du mit Ostrowskij gesprochen?» «Über alles mögliche.» «Er liebt dich.» Sie dachte an das, was Ostrowskij ihr gesagt hatte. Noch eine Lüge, die sie Mark erzählen mußte. « Ja, aber das geht mir auf die Nerven. Ich habe ihn schlecht behandelt.» 57
«Und dann?» «Habe ich ihm gesagt, er soll sich nie wieder blicken lassen.» «Wie grausam.» (Marks Augen strahlten vor Genugtuung.) «Er hat auch gesagt, ich solle aufpassen. Du würdest ...» «Habt ihr über mich gesprochen?» «Natürlich.» «Wieso?» «Weil ich in dich verliebt bin.» «Melinda, ich bitte dich.» «Was denn? Bist du es etwa nicht?» «Ich will es nicht, und ich werde dich sehr schlecht behandeln.» «Aber vielleicht liebe ich dich morgen schon nicht mehr.» «Wie?» « Wenn es Tag wird und wir beide häßlich aussehen, dann werde ich dich anschauen und nicht mehr in dein müdes Gehabe verliebt sein.» Es war grausam, das zu sagen. Draußen begann es schon hell zu werden, und im Morgenlicht sah Melinda die Runzeln und roten Flecken in Marks Gesicht. Ostrowskij tauchte auf. Er sah verzweifelt aus. «Der nächste Tanz gehört doch mir, nicht wahr, Herzogin?» «Ostrowskij, ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen verschwinden. Gehen Sie schlafen, es ist spät.» Und das war im Grunde sogar ihr Ernst. «Mark, wann gehen wir zusammen fort?» «Aglaia beobachtet uns. Ich fürchte, sie ahnt, daß ich ... Früher, als ich noch mit meiner langweiligen Frau verheiratet war, passierte mir das dauernd, aber seit ich mit Aglaia lebe, habe ich keine ...» «Dann ist es höchste Zeit.» «Wirst du kommen, damit ich dir meinen Roman vorlese?» «Ich werde kommen.» «Wirst du wirklich zu mir aufs Land kommen?» «Ganz bestimmt.» Sie kam sich wie Susanne mit dem Grafen Almaviva vor. Mark war schon wieder zerstreut. Er hatte sie nicht einmal richtig angeschaut. Dabei waren sie doch, vor kaum einer Stunde, zusammen im Bett gewesen. Jetzt sah er sich schon wieder nach jemandem um, mit dem er reden konnte. Es waren so viele Menschen da, die ihn interessierten. Sie mußte mit ihm reden und ihn fesseln. Politik? Familie? Familie.
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«Nur einen von deinen Brüdern habe ich noch nie im Leben gesehen.» «Welchen?» «Ich glaube, es ist der jüngste.» Marks Stimme klang wieder interessiert. Blick, der dem Blick begegnete. «Nicht, während wir tanzen. Und hast du nicht von dem Buch schon genug gehabt?» «Bist du denn eigentlich glücklich?» « Warum mußt du beim Tanzen immer über so ernste Dinge reden?» Er drückte sie fest an sich und biß sie in die Schulter. « Jetzt müssen wir uns trennen.» «Uns trennen?» «Aglaia beobachtet uns.» «Sie ist doch sicher heilfroh, daß du dich amüsierst.» «Ich sehe sie. Sie ist ganz und gar nicht froh. Ich gehe.» «Bitte, geh nicht. Geh doch nicht immer fort.» «Heute abend dürfen wir nicht mehr miteinander reden. Außerdem gehe ich jetzt nach Hause.» Aber zwei Stunden später war er immer noch da — zwei Stunden, in denen Melinda umherirrte und im stillen den Verlust des Geliebten und der einzigen Gelegenheit, sich zu verlieben, beklagte. Es schien ihr unbegreiflich, daß sie ihm begegnet war, ihn geliebt hatte und von ihm verlassen worden war, und das alles an einem Abend. Ostrowskij war fortgegangen. Sie hatte also keine Gelegenheit mehr, sich mit ihm zu unterhalten und ihn schlecht zu behandeln. Im übrigen war sie jetzt müde und faul. Warum sollte sie neue Freundschaften anfangen? Es war vier, es gab also keine Möglichkeit mehr, sich zu verlieben. Plötzlich fühlte sie, wie ihr etwas in die Hand gesteckt wurde. Etwas Kleines. Ein Stückchen Papier. Natürlich. Noch ein Gedicht. Nein, Mark war nichts für sie. Seine Familie ... seine Frau ... seine Gedichte. Sie würde einen anderen heiraten. Melindas Scheidung erregte großes Aufsehen. Man war allgemein überrascht. Am meisten aber Lawrence selbst. Abraham mißbilligte Melindas Entschluß, und die Klatschblätter zogen über sie her. Melinda verlor ihren Herzogstitel und seinen Glanz. Aber alle Welt war überzeugt, 'daß Anthony ihr nächster Mann sein würde, und weitverbreitete Gerüchte bestätigten, daß der Premierminister im 59
Begriff war, sich scheiden zu lassen. Aber Anthony dachte nicht daran, und Melinda heiratete Jacob. Da die Trauung jedoch heimlich in Paris stattfand, noch ehe die Scheidung zwischen ihr und Lawrence vom Gericht ausgesprochen worden war, hatte Melinda das dunkle Gefühl, es handle sich diesmal nur um eine Übergangsehe, eine vorübergehende Bindung für die Zeit zwischen Lawrence und einem richtigen künftigen Ehemann. Jacob dagegen ahnte nichts Böses und war allem Anschein nach glücklich. Aber ihr neuer Mann wollte nicht in England leben, und wie sollte sie ihm klarmachen, daß es wegen des vielen Geldes, das sie von Ostrowskij bekommen hatte, gar keine andere Möglichkeit für sie gab? Außerdem hatte sie ja auch ihren Sitz im Parlament. Wie jeder amerikanische Schriftsteller, der etwas auf sich hält, spielte Jacob den Linksintellektuellen, so daß Melinda sich gezwungen sah, zur Opposition überzutreten — ein Schritt, der lebhaft kommentiert wurde —, und sich auf eine Bank der Gegenpartei setzte. Die englische Wählerschaft in ihrem Snobismus würde sie ohnehin nicht wiederwählen, da sie nicht mehr Herzogin war. Außerdem hatte sie genug davon, Abgeordnete zu sein, und wenn sie es recht bedachte, fand sie es weit anziehender, Spionin zu werden. Mit dem Geld, das sie bekommen hatte, kaufte sie ein Landhaus, in dem sie nie wohnte; statt dessen quartierte sie dort ihre Kinder und Jacobs Töchter ein, die sie anbeteten — etwas zu sehr für Melindas Geschmack, die Kinder im Grunde nicht mochte. Sie fand sie gräßlich und langweilig. Und sie verabscheute alles, was mit Kindern nun einmal zusammenhing: die Parties, die Kindermädchen, die besorgten Mütter, die Väter, die ihre eigenen Sprößlinge in den Himmel hoben, das Spielzeug, die Unordnung, die unschuldigen Gesichter und die kindlichen Launen, für die die Analytiker immer gute Gründe wußten. Aber es war nun einmal in der Gesellschaft so üblich, jedem neuen Mann ein Kind zu schenken; also gebar sie auch Jacob sofort eines. Mit der Spionage hatte es ja noch Zeit. Immerhin rief sie, als es keinen Zweifel mehr daran gab, daß sie dieses Kind erwartete — ein kleines Mädchen, das Abraham wie aus dem Gesicht geschnitten war (aber von Jacob stammte, dessen war sie diesmal nahezu sicher) —, Madame Nubytch an. Sie hatte einige Zeit gebraucht, bis es ihr gelungen war, eine Kundin von Madame Nubytch ausfindig zu machen. Unauffällig hatte sie ein paar Freundinnen gefragt, ob sie eine gute Masseuse wüßten. Anthony hatte sie nichts davon gesagt, um nicht seinen Verdacht zu wecken. Im übri6o
gen mied Anthony sie seit ihrer Wiederverheiratung, ihrer Scheidung und ihrem Parteiaustritt. Die Telefonnummer war: Freemantle 75 00 . «Hier Frau Johnson.» (Das war ihr neuer Name, der Jacobs.) «Sie kennen mich nicht.» «Hier Madame Nubytch.» « Ja, Madame Nubytch, ich bin ...» «Hier Madame Nubytch.» «Ich würde mich gern massieren lassen ...» «Wie war Ihr Name?» «Mrs. Johnson.» «Ach, meine Liebe, das freut mich aber.» «Könnten wir noch für diese Woche einen Termin abmachen? Ich bin ein bißchen aus dem Leim gegangen ...» Als der Termin vereinbart war, hatte Melinda so ziemlich den Zweck ihrer Verabredung vergessen und traute sich nicht, Nora danach zu fragen. Ostrowskij hatte nichts mehr von sich hören lassen. Melinda suchte erst im Pariser, dann im Londoner und sogar im Amsterdamer Telefonbuch nach seinem Namen, um der Sache wieder auf die Spur zu kommen. Schließlich telefonierte sie mit einem Ostrowskij, mit dem sie das Madrider Amt verbunden hatte. Ostrowskijs eigene Stimme antwortete ihr. Er teilte ihr mit, erstens sei Herr Ostrowskij ausgegangen, und zweitens sei er, sein Privatsekretär, überzeugt, daß der Name Melinda Johnson-Brighton Herrn Ostrowskij gänzlich unbekannt sei. Es handle sich vermutlich um einen anderen Herrn gleichen Namens. Drei Treppen, im Parterre eine alte Engländerin, die brummte, als Melinda die Tür zuschlug, Geruch von Kohl und heißem Fett, ein zerschlissener Treppenläufer, ein Münztelefon. «CUre madame, ich bin hocherfreut, Sie kennenzulernen.» «Guten Tag, Madame Nubytch. Ich brauche dringend einige Massagen. Sehen Sie nur, wie ich aussehe.» «Sie sehen großartig aus ... ein wunderbarer Körper. Na, dann ziehen Sie sich mal aus.» Melinda gehorchte. Alle verlangten, daß sie sich auszog. Madame Nubytch gab ihr einen Morgenrock, der schon mit vielen Kunden' körpern und dazwischen nur sehr selten mit Wasser und Seife in Berührung gekommen war. «Madame, Sie haben einen geradezu aristokratischen Busen. Traumhaft, ganz wunderbar. Legen Sie sich hin.» 61
Auch die Liege sah ein bißchen zweifelhaft aus. In Wirklichkeit war Madame Nubytch alles andere als eine tüchtige Masseuse. Dazu redete sie viel zuviel; und sie tat auch nichts zur Anregung des Kreislaufs, ehe sie mit der Massage begann. Melinda würde ganz gewiß bei ihrer so tüchtigen blinden Masseuse bleiben, die zu jeder Tageszeit bereit war, mit ihrem Schäferhund und ihrem weißen Stock zu Melinda ins Haus zu kommen. Madame Nubytch, die Ostrowskij knapp, aber treffend beschrieben hatte, war dick, hatte rotes Kraushaar und kleine braune Augen. In dem schmalen Raum, in dem sie massierte, lagen überall Hefte der <Elle> herum, aus denen sie Modelle abzeichnete, die sie sich von einer Freundin nähen ließ. Ihr Französisch war so, daß es selbst Melinda amüsierte, sie sprach von «clients tri.s aristocratiques, n'est-ce pas?» Auf einem Tischchen standen die Fotos ihrer berühmtesten Kundinnen. («Auf die der Männer verzichte ich», erklärte ihr Madame Nubytch. «Die männliche Eitelkeit ist von anderer Art als die weibliche.») Fotos verschiedener Damen in verschiedenen Posen; enggeschnürte Hüften in Abendkleidern; einschmales Hochzeitskleid, bei dem man nicht ahnte, unter welchen Qualen das Fett darunter zusammengehalten wurde. Bald gesellte sich auch Melindas Porträt dazu, Schloß Brighton im Hintergrund. Madame Nubytch hatte es aus einer Illustrierten ausgeschnitten. Sie gestand ihr, sie habe schon immer gehofft, sie eines Tages zu ihren Kundinnen zu zählen, und bat sie, als Herzogin von Brighton zu unterschreiben. Melinda sah in Gedanken Dutzende von Herzoginnen von Brighton vor sich, die den armen Lawrence heiraten würden, um in den Genuß eines Titels zu kommen, der eigentlich nur ihr zustand. «Madame, eine Ihrer Freundinnen hat mir schon viel von Ihnen erzählt, sie sagte, Sie seien so schön ...» Die Unterhaltung kreiste weiterhin um gesellschaftliche Themen. «Oh, Madame, ich verabscheue die Engländer, sie sind so kühl, n'est-ce pas? Ich verstehe gut, daß Sie einen Amerikaner geheiratet haben. Wie Lady Simpson, nur daß diese Ehe Pin schlechtes Ende genommen hat, n'est-ce pas?» Madame Nubytch wollte <Monsieur> gern kennenlernen. «Ich bringe ihn einmal mit, Madame Nubytch. Er müßte sich auch massieren lassen. Kaum zu glauben, wie schüchtern Männer in manchen Dingen sind ...» «Ah, madame, vous dites bien, vous dites bien. Aber ich habe auch viele Herren unter meinen Kunden, darunter sehr bedeutende 62
Männer. Natürlich kommen sie abends nach der Arbeit, oder wenn sie nachmittags arbeiten, morgens.» Wer arbeitet nur nachmittags? überlegte Melinda. Ein Abgeordneter. Ein Premierminister, der ins Parlament geht. Darum machte Melinda nur für vormittags Termine ab. Zwei Wochen lang ging sie täglich und hörte sich die Beschreibungen gesellschaftlicher Ereignisse an, die andere Kundinnen Madame Nubytch gegeben hatten, um dafür ihr endloses «n'est-ce pas?», Kommentare über aristokratische Hüften, Schenkel und Busen und den Kohlgeruch einzuhandeln. «Ah, madame, quel corps, quel corps aristocratique, n'est-ce pas?»
Dabei mußte Madame Nubytch nicht schlecht verdienen. Wahrscheinlich war sie schon seit vielen Jahren Spionin. Im Verlauf einiger Behandlungen hatte sie ihr erzählt, daß sie während des Krieges in Polen Partisanin gewesen war. Nach Kriegsende war sie in ein Auffanglager für Staatenlose in Grenoble gekommen und hatte dort ihren dritten Mann kennengelernt. «Oh, Madame, ich habe ihn heiß geliebt. Je l'adorais. Er ist vor ein paar Jahren gestorben. Sie können sich vorstellen, Madame, Sie können sich vorstellen, wie groß mein Schmerz war. N'est-ce pas? Eine Frau, allein und ohne alle Mittel. Ma chire madame, eine Masseuse. Und dann in England ... Ma chere ma tris cUre madame.» ,
Wer war zuerst an sie herangetreten? Und war es in Grenoble geschehen? Oder schon vorher? Die Sowjets natürlich. Oder die Spionageabwehr? Wie sollte man das herausbekommen? Und warum hatte sie sich wohl entschlossen, in dieser erbärmlichen Umgebung, im Gestank von Earl's Court, zwischen eingesperrten Kanarienvögeln und schmutzigen Morgenröcken, zu leben? Wenn sie, Melinda, schon für einen einzigen Auftrag soviel Geld bekommen hatte, mußte Madame Nubytch steinreich sein. Melinda betrachtete die riesigen Juwelen, die Madame Nubytch auf ihrem riesigen Busen trug — wahrscheinlich waren sie alle echt. Eines Nachmittags ging sie ins Parlament und schickte Anthony von dort aus ein paar Zeilen. «Es ist doch Unsinn, daß du böse mit mir bist. Komm in einer Viertelstunde in den Erfrischungsraum.» Er war vorsichtig. Sie sah ihn hereinkommen: die neogotischen Bögen gaben einen passenden Hintergrund für ihn ab. Sie freute sich, ihn zu sehen. Auch er ein Spion. Für wen? Und warum? Weil er sich langweilte. Wie sie. Ja, das war es offenbar.
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Eines Tages würden sie heiraten. «Nun, meine liebe Melinda? Wir haben in der kurzen Zeit ja allerhand Veränderungen erlebt.» «Du willst doch nicht behaupten, daß du mir ernstlich böse bist?» «Aber was bildest du dir denn ein? Wir haben dafür gesorgt, daß du gewählt wurdest, wir haben dir eine Position geschaffen, und du machst dich über uns lustig.» «Das ist doch gar nicht wahr, Anthony.» Er war gealtert, auf seinen Händen traten die Adern hervor, und seine sorgsam gepflegten Nägel bearbeiteten eine kostbare Pfeife aus glänzendem Holz. «Ich habe noch nie gesehen, daß du rauchst.» «Auch bei mir hat sich einiges geändert. Auch wir armen Sterblichen müssen ...» «Ich habe dir etwas zu sagen.» «Erst will ich dir etwas sagen. Ist dir klar, daß du bei den nächsten Wahlen nicht wiedergewählt wirst?» «Natürlich ist mir das klar. Es macht mir sowieso keinen Spaß mehr. Nach einer gewissen Zeit wird es langweilig. An einem der nächsten Tage werde ich eine schöne Rede halten. Im übrigen hat mich doch niemand ernst genommen. Nicht einmal die BoulevardBlätter, wie ich höre.» «Und was willst du hinterher tun?» «Hinterher?» «Wenn du nicht mehr ins Parlament gehst.» «Ich komme ja jetzt schon nur noch ganz selten.» Wer weiß, ob Anthony nicht doch etwas gemerkt hatte ... Wenn sie ihm von Madame Nubytch bis zu seinem Haus heimlich nachgegangen war. Am Freitag war sie ihm sogar bis zum Club gefolgt. «Was hast du eigentlich vorgestern bei mir zu Hause gewollt, Melinda?» «Ich wollte dich treffen.» «Nachmittags, das weißt du doch, bin ich immer im Parlament.» «Ich hoffte trotzdem, dich anzutreffen.» «Warum hast du dann dem Mädchen gesagt, du wolltest in meinem Arbeitszimmer nach einem Brief suchenhs «Weil ich dich überwache.» Es war besser, offen mit ihm zu reden. In gewisser Hinsicht ähnelten sie sich ... «Las habe ich gemerkt. Du machst es ja schlecht genug. Ein paar-
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mal bist du mir nachgeschlichen. Was willst du denn zu diesen Tageszeiten herausbekommen? Ich tue immer das gleiche.» «Ich muß es eben besser machen. Bringst du es mir bei?» Es bedurfte keiner Erklärungen und Erzählungen, Anthony wußte alles. «Ein oder zwei Perücken. Eine schwarze und eine rote mit kurzem Lockenhaar. Andere Kleider, eine Sonnenbrille, ein Tuch um den Kopf. Auf alle Fälle mußt du anders aussehen, wenn du den Leuten nachspionierst, oder du mußt einen anderen damit beauftragen. Warum beobachtest du mich?» «Ich bin eifersüchtig.» «Das ist nicht wahr.» «Dann weißt du es also. Aber ich kann mich nicht genau erinnern, was ich eigentlich ausfindig machen soll. Du wußtest, daß «Von dem Augenblick an, als ich dich aus Madame Nubytchs Haus kommen sah ...» «Dann hast also du mir nachspioniert ...» « Ja, aber du hast es, glaube ich, nicht gemerkt.» «Und was soll ich jetzt tun?» «Das mußt du selber wissen.» «Hilf mir doch, sonst muß ich das Geld, das ich schon ausgegeben habe, zurückzahlen. Wir könnten doch ein bißchen zusammenarbeiten.» «Erst mußt du dich scheiden lassen.» «Warum?» «Ich ertrage den Gedanken nicht, daß du diesen Lümmel geheiratet hast.» «Also gut.» « Wir müssen das Häschen ausfindig machen.» (Woher wußte er das?) «Ich habe alle Mädchen fotografiert, die zu der Nubytch gehen und Häschen sein könnten. Ich werde dir die Fotos zeigen, und du gehst in den Club und schaust dich dort nach ihnen um.» «Unter welchem Vorwand?» «Sag, daß du einen Artikel schreiben willst.» «Bist du schon dort gewesen?» «Nur ein einziges Mal. Als Premierminister kann ich mich dort nicht sehen lassen. Das wäre für die Fotografen ein gefundenes Fressen.» «Hast du das Mädchen gesehen?»
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«Nein. Vielleicht versteckt sie sich. Aber vielleicht ist sie auch überhaupt nicht dort.» « Wer ist denn das Mädchen?» «Das wissen wir nicht; jedenfalls ist sie höchst gefährlich und gerissen und weiß alles von allen.» «Und woher weißt du, daß sie alles von allen weiß?» «Weil ich noch mehr weiß als sie.» «Hast du Ostrowskij gesagt, er solle mich aufsuchen?» «Was glaubst du denn?» «Ja, ich glaube es. Bist du etwa noch wichtiger als Ostrowskij?» «Du solltest nicht versuchen, hinter diese Dinge zu kommen, Melinda. Eines Tages wirst du alles von allein verstehen. Was willst du trinken?» Er bestellte einen Whisky. Eis gab es zur Abwechslung nicht. «Anthony?» Melindas Gesicht war ihm ganz nahe mit seinen großen, schönen Augen, die jetzt ganz Aufmerksamkeit waren. «Für wen arbeiten wir? Ich meine, für welche Nation? Du weißt es ...» «Du nicht?» «Nein.» «Nur Ruhe, Melinda, alles mit der Ruhe. Jetzt trink erst einmal deinen Whisky, und dann laß dich scheiden ...» «Du behandelst mich wie Ostrowskij.» «Hast du dich auf dem Ball gut amüsiert?» «überhaupt nicht. Ich habe einen Mann kennengelernt, in den ich mich verliebt habe.» «Ja, das weiß ich. Ich bewundere deinen schlechten Geschmack. Van der Belt.» «Dann bist du also der Chef-Spion?» «So etwas solltest du gar nicht aussprechen.» «Wieso, stimmt es etwa nicht?» «Selbst wenn ich es wäre — ich möchte dieses Wort nicht hören, insbesondere im Parlament nicht.» Seit ihre Tage so ausgefüllt waren (Verabredungen, Einladungen, Besichtigungen), hatte Melinda aufgehört, ihre Termine in einem Taschenkalender zu notieren. Zum Beispiel: Frühstück im Ritz, i r Uhr: Tee mit meinem Anwalt, 12 Uhr: im Bett mit einem jungen Doktoranden, anschließend Lunch mit einem Ex-Gatten. 3 Uhr bis 3 Uhr 3 5 geschäftliche Besprechungen. (Sie hatte Geld in Aktien angelegt und war außerdem Vizepräsidentin von zwei Vereinen:
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einer Gesellschaft zur Vorbeugung gegen die Kindertaubheit, deren Präsidentin die Königin war, und der Gesellschaft zum Schutz der aristokratischen Tiere: Pferde, Rassehunde und Delphine. Für diese Vereine waren zahllose Wohltätigkeitsbälle und Tombolas vorzubereiten.) Wie sollte das alles auf einer winzigen Kalenderseite Platz finden? Sie hatte auch Geld bei Lloyd's angelegt, das einen schönen Gewinn abwarf. Ihr Anwalt sagte immer, was sie anrühre, werde zu Gold. Und damit hatte er recht. Das Unglück war, daß sie keine Privatsekretärin fand. Sie liefen ihr immer wieder davon. Sie hatte schon Dutzende gehabt und es inzwischen bestimmt bei fast allen Londoner Agenturen versucht. Das Schlimme ist, sagte sie sich, daß eine perfekte Sekretärin über jedes Geheimnis im Leben ihres Arbeitgebers Bescheid wissen muß. In seinem täglichen und manchmal auch in seinem nächtlichen Leben. Und ihre Sekretärinnen verließen sie stets, weil sie das Leben, das sie führte, zutiefst mißbilligten. Es endete jedesmal mit dramatischen Szenen: Melinda wurde beschuldigt, unmoralisch, unaufrichtig und eiskalt zu sein, niemanden zu lieben und jedermann ständig zu betrügen. Dabei war es in Wirklichkeit ganz anders. Was wollten diese Langweilerinnen eigentlich? Was ging es sie an, wenn sie zuweilen ihre Männer betrog, die doch trotzdem so glücklich mit ihr waren? Männliche Sekretäre kosteten mehr Geld und hatten die Neigung, sich noch mehr in das Privatleben ihrer Arbeitgeberin einzumischen. Sie gaben am Telefon oft freche Antworten, weil sie eifersüchtig waren, und notierten die Termine nicht, um eine Stunde mit ihr verbringen zu können. Es kamen auch noch andere unerquickliche Dinge vor, die immer mit Streit endeten; und Melinda haßte Streit. Smith zum Beispiel hatte alle ihre kompromittierenden Briefe fotokopieren lassen. Und ihre Briefe waren ungewöhnlich kompromittierend ... Als Melinda sich bei Smith darüber beschwerte, warf er ihr — wie alle früheren Sekretärinnen — unmoralisches Verhalten vor und ging. Und ihrem Mädchen traute sie nicht mehr, seit sie wußte, daß sie eine von Ostrowskijs Spioninnen war. So kam es, daß Melinda ihre Verabredungen auf Zetteln statt in einem Taschenkalender notierte. Aber diese Zettelwirtschaft hatte schon zu manchem Ärger geführt: beispielsweise zu zwei Verabredungen zur selben Zeit und am selben Ort. Rechts an einem Tischchen saß Jacob — hinter einer vergoldeten Säule mit Putten aus der Zeit Edwards VII., die über ihn wachten. Melinda mußte ihm sa67
gen, daß sie sich von ihm scheiden lassen wollte. Und als sie ihn, ohne selbst gesehen zu werden, da so sitzen sah, diesen Mann, den sie kaum kannte und der nur so kurze Zeit ihr Mann gewesen war, überkam sie ein Gefühl der Zärtlichkeit. Auf Zimmer 302, im dritten Stock, einem Zimmer mit vielen Kronleuchtern und Stukkaturen, das auf den St. James's Park hinausging, erwartete sie inzwischen David Llewyllen-Jones, ihr zukünftiger Mann. Unglücklicherweise hatte sie sich mit beiden im selben Hotel verabredet. Die Anwälte hatten behauptet, die Scheidung von Jacob sei eine Kleinigkeit. In Wirklichkeit hätte diese Ehe nie bestanden. Aber Melinda hatte plötzlich Lust bekommen, ihn zu sehen, und hatte ihn angerufen. Wie sollte sie ihm aber am Telefon erklären, daß er ihr Haus nicht mehr betreten dürfe? Jacob hatte gesagt, er komme sofort und werde in der Halle des Ritz auf sie warten. Dies war ihre kürzeste Ehe gewesen. Eine glückliche Ehe ... Aber alle ihre Ehen waren unendlich glücklich gewesen und ihre Verhältnisse, auch die kürzesten, die nur wenige Stunden gedauert hatten, ebenfalls. Vielleicht mit einer Ausnahme: dem Ballabend. Anthony war es, der sie zu der Scheidung überredet hatte. Und Melinda wußte, auch diesmal würde der Richter ihr das Sorgerecht für die Kinder zusprechen. Sie konnte nicht verstehen, warum die Richter immer so parteiisch waren. Immer standen sie auf seiten der Frauen. Jedesmal hatten sie die Kinder ihr anvertraut, sie hatte schon das ganze Haus voll, ganz abgesehen von den Kindern ihrer jeweiligen Männer oder Freunde. Auch Jacobs zwei Töchter, die schon recht groß waren, vierzehn und elf Jahre alt, lebten bei ihr. Und sogar hier hatte sie Pech. Nach einer alten Regel, die geradezu ein Gesetz ist, hassen Kinder ihre Stiefmütter, laufen ihnen davon und wollen nicht bei ihnen leben. Aber Jacobs Töchter, Anthonys Söhne, die einen großen Teil ihrer Ferien bei ihr verbrachten, und die Kinder aus Jacques' neuer Ehe sowie Daniels und Davids Kinder: sie alle liebten sie heiß und innig. Einige von ihnen hatten selbst nach den Scheidungen oder Trennungen bei ihr bleiben wollen oder kamen doch immer wieder ins Haus. Gar nicht zu reden von den Dutzenden von Patenkindern, deren Mütter sie wegen ihres schönen Namens und wegen ihres Geldes zur Patin gebeten hatten. Fortwährend mußte sie ihren guten Willen beweisen oder es rechtfertigen, daß sie die Last auf sich genommen hatte, wieder einen Säugling über die Taufe zu halten. So nahm sie die langweiligen und schlecht erzogenen kleinen Mäd68
dien zum Mittagessen zu Connaught mit und die kleinen Jungen, die schon ein bißchen größer waren, abends ins Mirabelle. Dann schenkte sie ihnen eine Reise auf irgendeine Trauminsel. Aber imner nur die Fahrkarte für die Hinreise, sei es, um die Eltern zu ärgern, sei es, weil Melinda glaubte, sie könne sich auf diese Weise eines Patenkindes entledigen. Wie sollte sie es jetzt anstellen, daß Jacob sie nicht sah, wenn sie durch die Hotelhalle ging? Denn wenn sie erst einmal mit ihm zu reden anfing, dann würde eine Sache von Stunden daraus werden mit Erklärungen und Diskussionen, und David oben würde nicht länger auf sie warten, und es war mehr als wahrscheinlich, daß er sie beim Fortgehen entdeckte. Melinda war eines Tages zu einem Vortrag gegangen, den David an der Universität Cambridge hielt. Danach waren sie einander vorgestellt worden, und David hatte mit ihr einige Schriftsteller besucht, die in den verschiedenen Colleges wohnten. Dann waren sie auf sein Zimmer gegangen. Trotz seinem zerbrechlichen Aussehen und seinen langen, eleganten Händen hatte David alle diese Entscheidungen getroffen. Wahrscheinlich würde sie ihn heiraten. Ohne Anthony etwas davon zu sagen, der sicher von vornherein dagegen wäre. Sie schlich von einer Säule zur anderen. Jetzt hatte sie es geschafft. Sie betrat Davids Zimmer. Sie reichte ihm die Hände. Dann rief sie den Portier an und diktierte ihm eine Nachricht für Jacob: «Lieber, bitte entschuldige. Ich bin schrecklich aufgehalten worden. Wir sehen uns in einer Dreiviertelstunde.» «Wollen wir zusammen frühstücken?» «Ich dachte, du wolltest mit mir ins Bett.» «Das auch. Aber danach?» «Wonach?» «Das weißt du ganz genau. Danach essen wir im Restaurant. Ich habe schon telefoniert und einen Tisch für zwei Personen reservieren lassen.» «In welchem Restaurant?» «Bei Prunier's.» Sie wäre lieber zu Wilton's gegangen. Man aß dort zwar schlecht, aber sie sah dort gewöhnlich alle ihre Freunde, und vor allem wurde sie von ihren Freunden gesehen. Warum sie wohl ausgerechnet ans Restaurant dachte, während David sie küßte ... Und Mark ließ überhaupt nichts mehr von sich hören ... 69
Jacob hatte nie daran gedacht, ihr Blumen mitzubringen oder ihr gelegentlich ein kleines Geschenk zu machen. Er hatte es immer versprochen, aber nie war etwas daraus geworden — von den zahllosen Exemplaren seiner Romane in allen möglichen Sprachen abgesehen. Wenn er ihr Geld zurückgeben mußte, schrieb er einen Scheck über knapp die Hälfte aus und tat dabei ganz unschuldig. Er war geizig. Etwas, was Melinda nicht ausstehen konnte, schon gar nicht bei einem Mann, mit dem sie verheiratet war. «Wollen wir essen gehen?» — «Laß uns doch in eines von diesen netten englischen Pubs gehen, wo man niemanden trifft.» — «Und wo man verdorbene Speisen und warmes Bier bekommt. Nein, danke. Wenn du das willst, dann geh bitte allein. Wir essen hier. Mach dir keine Sorgen: ich zahle.» — «Ich finde dich ausgesprochen gemein.» — «Ich habe das nur gesagt, um schnell zu einem Schluß zu kommen. Ich weiß doch, wie ungern du Geld rausrückst.» — «Ich würde gern in ein stilles Lokal gehen, wo du nicht allen deinen Freunden begegnest. Ich wollte mit dir sprechen. Wir sehen uns nie. Wir leben in zwei Häusern, zwischen denen der Atlantik liegt. Die Kinder sind auseinandergerissen. Ich schreibe dir, und du antwortest nur selten. Du willst dieses Land nicht verlassen und ...» — «Und da hast du beschlossen, mich um Scheidung zu bitten.» — «Um Scheidung?» Er sah sie verzweifelt an. «Ich verlange, daß du mit mir nach New York kommst, und zwar noch heute.» — «Aber, mein Lieber, davon kann doch gar keine Rede sein. Da finde ich deine erste Idee schon besser.» — «Welche?» — «Dich scheiden zu lassen.» — «Ich habe doch nie von Scheidung gesprochen.» — «Nun mal langsam, Jacob, langsam. Im Grunde sind wir doch glücklich gewesen. Komm, essen wir erst einmal. Was willst du zuerst? Es gibt einen guten Langustinen-Cocktail oder eine Vichyssoise, aber nein, dann riechst du nachher aus dem Mund. Eine geräucherte Forelle?» — «Ich werde nie in die Scheidung einwilligen.» — «Eine traurige Nachricht ... Aber jetzt werde bloß nicht böse, eine Scheidung ist auch gar nicht notwendig, unsere Ehe war nicht gültig ... Wir brauchen uns also bloß adieu zu sagen, und das kann gleich hier geschehen.» — «Und das Kind?» — «Willst du es?» — « Ja, sicher.» — «Na, schön.» Da fängt er doch tatsächlich zu weinen an. Das möchte ich wirklich nicht sehen ... das ist mir schrecklich. Bitte, nicht im Restaurant, nicht hier im Ritz. Wieder schied ein Mensch aus ihrem Leben, diesmal unter dem Geflatter von Purpurflügeln und den Jugendstilfresken im Restau70
rant des Ritz. Aber das war doch albern, sich darüber Gedanken zu machen. Sie durfte sich ihr Leben nicht durch romantische Gedanken erschweren. «Willst du mit mir nach Hause kommen?» Sie gingen hinaus in den Regen. «Laß uns ein Taxi bis zu meinem Wagen nehmen.» Jacob wollte zu Fuß gehen. Melinda verabscheute romantische Spaziergänge vor allem durch Piccadilly, wo es überall Autobushaltestellen gab. Daß Regen romantisch sein sollte, hatte sie noch nie verstanden. Ihr Haar wurde naß, und das Wasser rann ihr in die Augen. «Ich möchte ein Taxi.» — «Laß uns doch noch bis zu den weißen Häusern gehen.» — «Du meinst wohl bis nach Belgravia.» Plötzlich irritierte sie Jacobs Gegenwart. Sie fand etwas auszusetzen an seinen Tennisschuhen und an den Gabardinehosen von der Stange, in denen seine kurzen Beine steckten. Und im Londoner Nachmittagslicht sah man die Mitesser auf seiner Stirn und um seine Nase. «Hör mal, Jacob, wäre es dir recht, wenn wir uns schon hier verabschiedeten?» (Schließlich hatte sie ihm das Essen bezahlt, und seine Töchter machten noch immer in ihrem Hause Ferien.) «Ich habe dir mein neues Buch gewidmet.» — «Danke.» — «Wann sehen wir uns wieder?» — «Das Leben ist so lang ... Die Wege kreuzen sich ... Wir werden uns wiederbegegnen ...» — «Aber wollen wir uns nicht, sagen wir mal, morgen treffen? Um, sagen wir mal, über die Kinder zu sprechen, über das Haus und über die Alimente.» — «Nein, wir wollen uns nicht treffen. Das erledigen die Anwälte.» Melinda merkte, daß sie einen guten Riecher gehabt hatte. Sie hatte für ihre Rede im Parlament genau den richtigen Augenblick gewählt. Und genau das richtige Kleid. Es war heiß, und alle waren nervös. Die Hitze ruft bei den englischen Abgeordneten seltsame Reaktionen hervor. Ihre Haut, die nicht daran gewöhnt ist zu schwitzen, klebt an den Hosen, und die Atmosphäre im Saal ist drückend. Ihr geblümtes Kleid strahlte Frische aus. Das Ergebnis: der Oppositionsführer erklärte sie zum Symbol für Englands Gewissen, das nach links tendiere und seine früheren Entscheidungen bereue. Und Melinda, die gehofft hatte, sie werde keine große Aufmerksamkeit erregen («Ich schulde meinen Kollegen eine Erklärung. Ich werde mich aber kurz fassen, da es sich um eine Angelegenheit von geringer Tragweite handelt ...»), war zum Mittelpunkt einer stundenlangen Debatte geworden. Anthony hatte ihr wütende 71
Blicke zugeworfen. «Ich finde es abwegig, ehrenwerte Kollegen», hatte er gesagt, «der Augenblickslaune einer jungen Dame, die man kaum als sehr pflichtbewußte Abgeordnete bezeichnen kann, eine ideologische und politische Bedeutung zu unterschieben ... und ich finde es geschmacklos von der Opposition, eine Kehrtwendung dieser Art für sich auszunützen ...» Wie recht hatte Anthony, wie gut kannte er sie! Die Opposition hatte aufgemuckt, hatte Melinda und ihren Mut zur Entscheidung verteidigt. Es wurde beschlossen, sobald man an der Regierung sei, Melinda zum Pair zu ernennen, damit sie an den Debatten des Oberhauses teilnehmen könne. All diese Aufregung, die Schlagzeilen in den Zeitungen und Anthonys bittere Worte hatten ihr keineswegs gefallen. Anthony verursachte ihr immer das unangenehme Gefühl, einen taktischen Fehler begangen zu haben. Schon wieder einen Fehler. Einen Fehler nach dem anderen. Abraham: «Seit einiger Zeit triffst du immer haargenau daneben.» (kh könnte toben vor Wut.) «Je konsequenter du im Parlament den Mund hältst, desto besser ist es. Du kannst weder Englisch noch verstehst du etwas von Politik. Du machst nur einen Haufen Dummheiten. Also halte dich daran.» Anthony: «Eine schwachsinnigere Rede hättest du dir nicht ausdenken können.» (Aber ihr habt mich ja gar nicht reden lassen. Ihr habt nur Gift und Galle gespuckt. Was hätte ich denn sagen sollen?) Anthony: «Du hättest ungefähr sagen sollen: Meine Damen und Herren, ich möchte gar nicht versuchen, meinen Übergang zur Opposition zu rechtfertigen. Ich möchte lediglich meine neue Partei, meine frühere Partei und das Land bitten, davon Kenntnis zu nehmen.» Selbst Medoro, der sonst nie zögerte, ihr recht zu geben, fand das Verhalten seiner Schwester einigermaßen besorgniserregend. Aber Medoro zählte nicht, und Melinda begann sich seiner zu schämen. Er war Innenarchitekt geworden, und außerdem war er der Fotograf von zweitrangigen Mitgliedern der königlichen Familie; da er homosexuell war, würde er ihr früher oder später selbst angehören. Und schließlich Nora, ihr Mädchen. Nachdem Ostrowskij mit ihr gesprochen hatte, war es Melinda klargeworden, daß sich eine Jungfer selbst bei einem ausgezeichneten Gehalt nicht den Luxus erlauben konnte, den dieses Scheusal mit seinem Quadratschädel und seinem Mund voller Goldzähne sich leistete. Nora schwärmte für Schuhe aus sehr hartem Leder, die sie 72
in einem Geschäft in der Jermyn Street nach Maß arbeiten ließ; ihr kurzes Haar wurde von Michelange, dem besten Friseur von Mayfair, jede Woche eingelegt und alle vierzehn Tage gefärbt. Das alles sprach dafür, daß sie eine wendige und abgefeimte Spionin war. Melinda grauste es jetzt vor ihrer Anwesenheit im Haus. Sie wußte, daß Nora ihre Nase in alles steckte. Als Nora an einem freien Tag ein Taxi nahm und wieder einmal zu Michelange fuhr, hatte Melinda ihr Zimmer inspiziert. Sie hatte zwei Revolver — von denen der eine winzig klein war — mit Schalldämpfer gefunden, ein Messer, dessen Klinge länger als bei gewöhnlichen Messern war, keinen Waffenschein, unsichtbare Tinte, ein Transistorgerät, einen Sender in Taschenformat und eine chiffrierte Aufzeichnung, die offen auf dem Tisch lag. Melinda hatte keine Lust, Stunden mit dem Versuch zu verbringen, den Text zu entschlüsseln. Ihr eigener Name erschien darin in kyrillischen Buchstaben (als könnte sie die nicht lesen!). Eine aufgeschlagene Bibel diente offenbar wie üblich als Code. (Daß sie dafür nie weniger auffällige Bücher nahmen!) Nora war so daran gewöhnt, daß Melinda absolut nicht neugierig war, daß sie sich nicht einmal mehr die Mühe machte, ihre Waffen zu verstecken. Am besten gefiel Melinda ein Tonbandgerät, das in den Absatz eines Schuhs eingebaut war. Ein sensationelles Spielzeug. Was hätte sie nicht getan, um es zu besitzen! Was hätte sie nicht getan! Die Silbertönung , die die Hände eines neuen Angestellten von Michelange eine Woche später in Noras Kopfhaut massierten, verursachte seltsame Symptome. Nora wollte einen Doktor kommen lassen. Melinda erklärte, sie werde sich der Sache annehmen. Ein Arzt sei gar nicht nötig. Was Nora brauche, sei Ruhe und vollständige Isolierung. Ehe Nora einsam und unter unbeschreiblichen Qualen verschied, verfluchte sie Melinda und wünschte ihr einen genauso entsetzlichen, ja möglichst noch qualvolleren Tod. Melinda war hocherfreut über die schönen Spielsachen, die sie geerbt hatte, und stellte kein neues Mädchen an. Sie war nun sehr neugierig, zu erfahren, wie Ostrowskij seine Nachrichten und Aufträge an Nora übermittelt hatte und wie er auf das Schweigen der erfolgreichen, aber leider dahingeschiedenen Agentin reagieren würde. Schließlich ließ er eine Anzeige in der (Times> erscheinen: «Madame Nora. Davids Tochter hat den Kriegspfad beschritten. Der Riese Goliath.» Melinda begriff nicht, wer mit Davids Tochter gemeint war, beschloß aber, zu Madame Nubytch zu gehen und ihr — im wahrsten Sinne des 73
Wortes — die Pistole auf die Brust zu setzen. Sie wollte endlich klar sehen. Sie hatte mit David gegessen, und anschließend hatten sie einige Ausstellungen besucht. Der Revolver in ihrer Tasche lastete schwer. (Sie hatte sich für den größeren entschieden, weil der andere zu wenig herzeigte und Madame Nubytch wahrscheinlich kaum beeindruckt hätte — am Ende hätte sie ihn womöglich für ein Spielzeug, tris aristocratique, gehalten.) Der Schuh mit dem Tonbandgerät in dem etwas altmodischen Absatz wog schwer wie Blei. Aber endlich würde sie nun alles erfahren: was sich zwischen Ostrowskij und Nora abgespielt hatte, wer das Häschen im Sexyboy Club war und welche Rolle Anthony in der ganzen Angelegenheit spielte. David hatte sie natürlich nichts davon erzählt. Aber selbst wenn sie ihm alles haargenau auseinandergesetzt hätte — er wäre wohl kaum fähig gewesen, ihr zuzuhören. Davids ständige Abwesenheit war meist an der Ausdruckslosigkeit seines Gesichts abzulesen. Manchmal lauschte er im Restaurant oder im Salon auch den Gesprächen an den Nachbartischen. Beinahe instinktiv folgte er den Unterhaltungen Dritter, nur um nicht auf die Worte hören zu müssen, die unmittelbar an ihn gerichtet wurden. Menschen interessierten David nicht, und selbst eine intime Beziehung zu einem anderen Menschen war ihm im Grunde gleichgültig. Vielleicht hatte er recht. Warum sollte man sich anhören, was die Leute formulierten, um es einem zu sagen? Das, was sie nicht aussprechen wollten, war bei weitem interessanter. Sie hatten beschlossen, so bald wie möglich zu heiraten. Melinda war stolz auf diesen Mann mit dem schmalen Hals, dem zarten Profil und den schönen Zügen. Sie ergriff seine Hand: Nur fünf Minuten sollte er ihr zuhören. «Sehen wir uns in einer Stunde?» «Bist du schon müde, Melinda? Willst du dich ausruhen? Willst du für heute nachmittag ein Zimmer im Claridge's? Dann brauchst du nicht erst nach Hause zurück.» Später könnten sie sich dann ja in der Haushaltsabteilung des Kaufhauses in der Tottenham Court Road treffen. Nein, lieber im Hotel. Sie war so müde ... David suchte die Haushaltsgeräte aus. Das war seine ganze Leidenschaft. Er hatte schon eine beachtliche Anzahl davon gekauft. Eine Wohnung in London hatten sie allerdings noch nicht gefunden. Sie wollten darum zunächst einmal im Hotel leben. Ein paar Staub-
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sauger, elektrische Trockengeräte, automatische Bügeleisen, eine Geschirrspülmaschine, eine Maschine, die den Müll zerkleinerte und in Brei verwandelte, eine Maschine, die das Londoner Wasser enthärtete und es frisch wie das eines Gebirgsquells machte ... Das Nest aus Metall, das David für seine zukünftige Familie baute, sollte auch mit Bildern, Plastiken und Objekten geschmückt sein. Ein festes, dauerhaftes Nest aus nichtrostendem Stahl. Eine richtige Ehe. « Ja, diesmal ist es für immer.» Das stimmte: Melinda war in diese seltsam abwesende Anwesenheit verliebt. Ein Zimmer im Claridge's. Die Lockenperücke (aus echtem Haar), die Brille (die nicht auffiel). Ein Taxi. Ziel: U-Bahnhof Sloane Square. Fahrschein lösen (nicht am Automaten, am Schalter, man weiß ja nie). Der schwarze Lederhandschuh ist ihr auf die Erde gefallen (als sie feststellen wollte, ob sie den Revolver auch bei sich hat). Würde der Mann ihr gegenüber sie wiedererkennen? Nein, er las die Abendzeitung (die erste Ausgabe des ‹Evening Standard). Funktioniert das Tonbandgerät noch? (Ein leichter Druck auf die Schuhspitze.) Das Band spult ab. Haltestelle. (Station Gloucester Road.) Die Treppe hinauf. (Fahrkartenkontrolle.) Die Fassade des Hotels, wo Abraham gleich nach seiner Ankunft in London gewohnt hatte. Das Haus, wo Milena Nubytch wohnt. Das graue, viereckige Portal, das genauso aussieht wie das aller umliegenden Häuser. Vier Stufen, viele Klingeln. (Abgeblätterte Farbe, ausgetretene Stufen, an den Fenstern durchsichtige Gardinen.) Die Haustür ist angelehnt. Als Melinda sie aufstößt, schlägt ihr der Geruch von Kohl und Hammelfett entgegen. Im Halbdunkel das Münztelefon, der zerschlissene rote Läufer, an- und abschwellendes Gekreisch von streitsüchtigen alten Weibern. Dunkelheit. Der Schatten der Treppe. (Alles in Ordnung.) Noch eine Treppe. Ein Schatten, der rasch an ihr vorbeihuscht. (Die Augen blitzen in der Finsternis auf, betrachten sie eine Sekunde lang.) Der Mann (der Schatten) scheint stehenbleiben zu wollen. Im unteren Stockwerk öffnet sich eine Tür. Der Mann (nicht sehr groß, vielleicht fünfzig Jahre, schwarze Augen, Bürstenschnitt) geht weiter, verschwindet im Dunkel des Treppenhauses. Wer war das? Auf der Hut sein. Sich auf die Hauptsache konzentrieren; auf Madame Nubytch. Die Wohnungstür steht offen. (Die Hefte der <Elle> auf dem Tischchen.) Madame Nubytch? Totenstille in dem kleinen Massageraum. Der runde Tisch mit der maschinenge-
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stickten Decke. Der Topf mit den verblühten Geranien, die RenoirReproduktionen (Mädchen auf dem Balkon), der zwitschernde Kanarienvogel in seinem Käfig (aber Kanarienvögel zwitschern ja überhaupt nicht), an der einen Wand die vertraute Liege. Und auf dieser Liege Madame Nubytch — mit weit aufgerissenen Augen, offenem Mund und blauunterlaufenem Hals. Schrecklich anzusehen. Erwürgt. Mein Gott, man hat sie umgebracht. Ich rühre sie nicht an. Ich muß gehen. Wenn man mich hier entdeckt, verkleidet, mit dem Revolver in der Tasche ... Der Schattenmann hatte Angst. Er raste die Treppe hinunter. Er hat mich so merkwürdig angesehen ... Jetzt nur rasch und leise die Treppe hinunter. Und dann (anonym) Scotland Yard anrufen. Vorsicht, damit ich nicht auch von dem Mann umgebracht werde. Wie der Blitz die Treppe hinunter. Fort mit der Perücke, in die Tasche, runter mit dem langen Haar. Rasch durchgekämmt. Und das Schottenkaro des Wendemantels nach außen. Fort mit der Sonnenbrille. In die Tasche. Und jetzt ganz langsam gehen, so als sei nichts geschehen. Draußen fängt es an, dunkel zu werden. Es regnet. Das ist schiefgegangen. Restlos daneben. Hier kein Taxi nehmen. Auf keinen Fall. Langsam weitergehen. Und da steht er doch. Hinter einer Säule. Er wartet auf sie. Kein Mensch auf der Straße. Soll ich fortlaufen? Ruhe, Ruhe. Langsam gehen. Ihn vielleicht sogar anschauen. Nein, er erkennt mich nicht wieder. Er hat mich nicht erkannt. Er wartet noch immer. Kein Zweifel, daß er auf die Frau wartet, der er im Treppenhaus begegnet ist. Vielleicht geht er jetzt noch einmal in die Wohnung zurück. Arme Madame Nubytch. So ein Pech. Zurück zur U-Bahn-Station. Fahrkarte nach Sloane Square. Eine Telefonzelle. 999. «Hallo? Ist dort Scotland Yard? Bitte die Mordkommission. Hier Earl's Court Garden Nummer 7. Eine Frau ist erdrosselt worden. Wenn Sie sich beeilen, können Sie den Täter noch schnappen. Nein, ich kann nicht sagen, wer ich bin. Von wo? Von einer Telefonzelle. Nein, das können Sie nicht kontrollieren.» Fort. Ein Taxi. Zum Claridge's. Eine halbe Stunde ist vergangen. Kaum mehr. Als sie das Hotel betritt, hat sie wieder die Perücke auf und trägt den Wendemantel wieder mit der anderen Seite nach außen. Als David zurückkam, schlief sie noch. So, mit ihrem langen, über das Kopfkissen gebreiteten Haar und den dicht an den Körper gezogenen Beinen, war Melinda das schönste Geschöpf, das David je gesehen hatte. Seine schöne Frau, so unschuldig schlafend. Und so voller Sehnsucht nach einer Familie, nach verläßlicher Liebe.
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«Melinda ...» Seine Hand legt sich auf ihr Haar, streicht behutsam über ihr Gesicht. Sie schläft noch immer. «Melinda?» Sie öffnet die Augen. Schlaftrunkene Augen, noch ganz verschleiert. «Liebling, ich habe etwas Wunderbares für unsere Wohnung gekauft.» Sprach er von einem Bild? Von einer Maschine? Das Licht fällt auf seine durchscheinenden Augenlider. Sie war so glücklich. Er hatte also ihr Verschwinden aus dem Hotel und ihre hastige Rückkehr nicht bemerkt. David sprach von einer elektrischen Küchenmaschine. Sie war viel besser als die, die er letzte Woche gekauft hatte. Eine Maschine, die alles machte, die das Gemüse putzte und fix und fertig in die Dose oder den Plastikbecher füllte. Und ebenso Obst oder Fleisch ... «Ich möchte dich um etwas bitten ... Ja, Liebling, um einen Gefallen ... aber es ist wohl nicht der richtige Augenblick dafür ... Ja, Liebling, tu mir ... den Gefallen ... Liebling, Liebling ...» Lust, Lust, Lust ... Lust, die beinahe Schmerz ist. Sie aßen also in dem neuen Sexyboy Club. David hatte noch nie davon gehört, und er hatte auch noch nie Fotos von den verschiedenen Clubs gesehen, die es in allen Hauptstädten der Welt gab. Melindas ausführliche Erklärungen blieben ihm unverständlich. « Warum haben sie denn keine Kellner, wenn man mit den Mädchen doch nichts anfangen kann?» Am Eingang des Clubs eine Marmortreppe und viel Neonlicht. Ein Häschen fragte David und Melinda nach ihren Namen und schrieb sie auf eine Tafel. «Damit Ihre Freunde, wenn sie kommen, gleich sehen, daß Sie und Ihre schöne Begleiterin schon hier sind.» «Von meinen Freunden kommt keiner hierher.» «Aber vielleicht Freunde Ihrer Freundin.» «Das ist meine Verlobte. Auch den Freunden meiner Verlobten würde es nicht im Traum einfallen, hierherzukommen. Was hast du dir bloß dabei gedacht, Melinda?» Es gab eine Reihe von Salons und mehrere Speiseräume. Im zweiten Stock Musik vom Tonband. Es wurde getanzt. Auf einem Tisch standen lieblos hergerichtete kalte Platten. Die Mayonnaisen waren schon halb verkrustet. Im dritten Stock ein Cabaret, ein brennender Kamin, ein bekannter Schlagersänger, der von vergangenen Zeiten 77
sang. Im fünften Stock, dem luxuriösesten, der (wie der Geschäftsführer erläutert hatte) dem gewidmet war, hatte jeder Gast ein Häschen für sich und ein rosa Tischtelefon. «Wozu denn ein Telefon? Um die Mädchen anzurufen?» «Ihr Tischtelefon», hatte der Geschäftsführer nicht ohne Stolz erklärt, «ist nicht dazu da, um die Häschen anzurufen (außer wenn Sie raschere Bedienung wünschen, aber dann wenden Sie sich besser an den Geschäftsführer), sondern damit Sie Ihre im Club anwesenden Freunde anrufen können.» «Seit ich hier bin, habe ich schon mehrfach gesagt, daß keiner meiner Freunde hierherkommt.» «Sie können auch das Mädchen am Plattenspieler anrufen, damit sie eine andere Platte auflegt, oder die Kapelle, damit sie Ihren Lieblingsschlager oder den Modetanz spielt.» «Ich tanze nicht und kenne keine Schlager.» «Sie können auch Ihre Freunde in der Stadt anrufen und Ihnen erzählen, wo Sie sind, und sie eventuell zu Ihnen und Ihrer charmanten Begleiterin in den fünften Stock des Sexyboy ...» «Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich will kein Telefon. Nehmen Sie es bitte sofort weg.» «Aber es ist im Preis inbegriffen.» «Meinetwegen, aber nehmen Sie es von meinem Tisch.» Melinda musterte die anwesenden Häschen und versuchte eines der Gesichter wiederzuerkennen, die Anthony vor Madame Nubytchs Haus fotografiert hatte. Die Mädchen hatten Schwierigkeiten, auf ihren überhohen Absätzen zu gehen. Ihre Haut, die die englische Sonne nicht zu bräunen vermochte, quoll in mehr oder minder üppigen Röllchen aus dem Oberteil ihrer Badeanzüge. Und die Fischbeinstäbchen hinterließen deutlich sichtbare rote Stellen auf den Schulterblättern und am Beinansatz. Das Lächeln ihrer knallrot gefärbten Münder war wie gefroren, und ihre Augen wirkten vor lauter Schminke und falschen Wimpern wie vergrößert. Die entstellten Gesichter sahen alle gleich aus, und keines erinnerte an eines der Fotos. Melinda schaute auf den Bildschirm des Hausfernsehens. Aus dem zweiten Stock wurde das Cabaret übertragen. An einem der Tische saß, allein und unverkennbar, der Schattenmann, dem Melinda bei Madame Nubytch begegnet war. Eine Verwechslung war ausgeschlossen, sie hatte ihn ja erst vor wenigen Stunden im Treppenhaus überrascht. Auf keinen Fall durfte er sie sehen. Er würde sonst alles begreifen. Vielleicht war auch er auf der Suche
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nach dem Häschen ... Aber nein, er hatte es bereits gefunden. Jetzt erkannte auch sie es ganz deutlich auf dem Bildschirm. « Möchtest du einen Ap6ritif?» «Nein, danke.» Sie blickte gebannt auf den Fernsehapparat. «Was denn?» «Das übliche.» Da, noch zwei von Madame Nubytchs Kundinnen, als Häschen gekleidet. Also waren es im ganzen drei. Das mußte sie sofort Anthony erzählen. Vor allem aber mußte sie hier auf der Stelle verschwinden. «Nach dem Ap&itif gehen wir. Einverstanden?» « Ja, mit dem größten Vergnügen.» «Dann laß uns doch sofort gehen.» «Noch besser.» « Wir kommen ein andermal wieder», sagte Melinda zu dem Geschäftsführer, der ihnen entgegenstürzte. «Nein, nein, die Bedienung war ausgezeichnet. Wirklich, ganz bestimmt. Nur ein bißchen Kopfweh ...» David strahlte über das ganze Gesicht. Wie konnte sie sich mit Ostrowskij in Verbindung setzen? über die (Times›? Aber dann würde er begreifen, daß sie an Noras Verschwinden schuld war. David zündete ihr eine Zigarette an. «Ich bin völlig verhuscht, mein Lieber. Ich habe nicht an die Anzeigen, an die Personalpapiere und an die Zeugen gedacht. Entschuldige, David.» Alles hatte er tun müssen. Schreckte sie der Gedanke an die neue Ehe nach so vielen schmerzlichen Abenteuern? (Schmerzlich? Abenteuer?) Wieder bekam sie feuchte Augen, wie auf der Treppe. Wieder dieses Angstgefühl. Angst? Hatte sie wirklich Angst gehabt? Sie wunderte sich, daß sie über sich selbst nachdachte, über ihre eigenen Gefühle. Das lohnte sich doch nicht. «Ich habe für alles gesorgt», sagte David. «Ich komme morgen früh um zehn Uhr und hole dich ab, auch wenn es nicht üblich ist, daß der Bräutigam zusammen mit der Braut kommt.» «Um zehn? Das ist ein bißchen früh. Haben wir denn Zeugen?» «Wir werden schon wen finden. Beim Standesamt braucht man ohnehin nur einen. Du mußt morgen eben ein bißchen früher als sonst aufwachen.» Madame Nubytchs Hals. Morgen wird es in den Zeitungen ste79
hen. Ich muß daran denken, Blumen zu schicken. Und diese drei Häschen, die sich von Madame Nubytch massieren ließen. Der Sexyboy Club. Sie mußte selbst ein Häschen werden, sonst würde sie nie etwas herausbekommen. David brauchte sie das ja gar nicht zu erzählen. Er hätte doch nicht zugehört. Das Standesamt von Wcstminster, das von den vornehmen Leuten aus den wohlhabenden Vierteln bevorzugt wurde, war schauderhaft. Der Raum, in dem die Trauungen stattfanden, war klein und dreieckig. Etwa zwanzig Sessel, wie man sie aus dem Kino kennt, ein roter Spannteppich und ein Pult für Mr. Wedding. Mr. Wedding, der achtzigtausend Paare getraut hatte, stand kurz vor seiner Pensionierung. Wie viele waren es im Durchschnitt an einem Tag? Er wußte es nicht. Die Zeremonie dauerte sechs, die Unterschrift und das lächelnde Foto drei und die kleine Ansprache anderthalb Minuten. Er hatte bei David darauf bestanden, daß sein Amtszimmer, das dennoch unfreundlich blieb, mit ein paar Blumenarrangements geschmückt wurde. «Geben Sie mir ruhig einen Scheck.» «Zehn Pfund?» «Lieber zwanzig.» Also: acht Trauungen am Tag, und für alle dieselben Blumen. Mit anderen Worten: acht mal zwanzig Pfund. Aber vielleicht hielten die Blumen auch zwei oder drei Tage. Er mußte ein reicher Mann sein. «Es ist mir nicht gelungen, die Sache geheimzuhalten», flüsterte Mr. Wedding Melinda ins Ohr. «Ein paar Journalisten und Fotografen warten draußen.» ... Also auch noch ein nettes Trinkgeld von den Zeitungen, wenn bekannte Persönlichkeiten heirateten ... Wie hoch wohl sein Jahreseinkommen war? Die Ansprache: «David und Melinda, betrachtet die Ehe, durch die ihr jetzt verbunden seid, als ein unlösliches Band. Sie, David, heiraten zum erstenmal, und Sie, Melinda, trotz Ihrer Jugend, schon zum viertenmal. Möge es das letzte Mal sein. Seid glücklich miteinander.» Händedruck. Das glückliche Paar umarmt sich. Fotografen. «Ist das Ihr dritter Mann?» «Was macht Ihr neuer Mann?» «Wo haben Sie sich kennengelernt?» 8o
«Hat er einen Titel?» «Hat er Geld?» «Was macht er?» Der Rolls-Royce. Nach Hause. « Was machen wir jetzt?» «Gehen wir essen?» «Nehmen wir ein Flugzeug?» «Wohin sollen wir denn fliegen? Ich muß morgen in London sein.» «Laß uns doch irgendwohin fliegen, wo es hübsch ist, und morgen zurückkommen.» «Das wäre Verschwendung.» (Nein, er war nicht der Mensch, der so etwas fertigbrachte. Darum war er auch so reich.) «Ich dachte, wir könnten zum Wochenende meine Mutter besuchen. Damit ihr euch kennenlernt.» «Wie ist deine Mutter denn?» «Verrückt. Wie alle Mütter von anständigen Leuten.» «Und wie sieht sie aus?» «Häßlich.» «Und wie ist das Haus?» «Schön.» «Gehört es dir?» «Erst nach ihrem Tod.» «Und wo werden wir leben?» «Ich würde sagen, teils in London und teils auf dem Land. Mir gehört ein anderes Haus.» «Ich bin nicht gern auf dem Land. Aber ich könnte alle meine Kinder dort einquartieren.» «Das können wir auch tun. Aber ich hoffe doch, daß wir eines Tages auch gemeinsame Kinder haben werden. Es hat ja keine Eile damit. Erst müssen wir uns noch allerlei anschaffen.» «Maschinen?» « Ja, viele, viele Maschinen.» Am Nachmittag ging Melinda ins Parlament. Die Abendzeitungen brachten die Nachricht von ihrer neuen Vermählung. Ein Orchideenstrauß. «Hoffentlich geht diesmal alles gut. Herzliche Grüße und Segenswünsche.» Unterschrift: A. «PS. Ich möchte Dich sprechen.» 81
Durch und durch ein Herr. Natürlich will er etwas über die Sache mit Madame Nubytch erfahren. In den Abendzeitungen stand nämlich auch: POLNISCHE MASSEUSE MIT REICHER KUNDSCHAFT ERDROSSELT AUFGEFUNDEN. KUNDEN WERDEN VERHÖRT. «Fräulein, seien Sie so gut und erkundigen Sie sich, wie der Geschäftsführer des Londoner Sexyboy Club heißt», sagte Melinda zu ihrer Sekretärin, «und fragen Sie, wann ich ihn in dieser Woche sprechen kann.» Die Sekretärin, ein seltsames Wesen, aber mit Sicherheit keine von Ostrowskijs Spioninnen, machte sich an die Arbeit. Melinda trank im Erfrischungsraum des Parlaments mit Anthony einen Tee. «Hast du es gewußt?» «Daß ich heiraten wollte?» «Du weißt genau, wovon ich spreche.» «Ja, ich habe es sogar ganz genau gewußt. Ich habe sie gefunden und Scotland Yard angerufen.» «Grundverkehrt. Ein anonymer Anruf?» «Natürlich.» «Darum sollen jetzt ihre ehemaligen Kunden verhört werden.» «Ich habe nichts zu verbergen.» « Wirklich nicht?» «Jedenfalls bin ich es nicht gewesen.» «Wer war es denn?» «Das weiß ich doch nicht.» «Meiner Meinung nach war es Ostrowskij. Er hat sie dafür bestraft, daß sie Nora umgebracht hat.» «Glaubst du?» (Woher er das alles wohl wußte?) «Auf der Treppe habe ich einen Kerl gesehen, der offenbar aus ihrer Wohnung kam. Ich habe den Verdacht, daß er mich auch umlegen wollte. Klein, mit schwarzen Augen. Ich hatte richtig Angst vor ihm.» «Schwarze Haare?» «Ja, kurzes schwarzes Haar. Gestern abend habe ich ihn wieder gesehen, im Sexyboy Club, mit den drei Mädchen. Nicht nur ein Mädchen, sondern drei sind im Sexyboy Club.» «Ich glaube, ich weiß, wer der Mann ist.» «Wer denn?» «Ein Freund von Ostrowskij, der auf Korsika lebt, ein Graf de Blamonche.» 82
«Und wie kommst du darauf?» «Ich weiß eben mehr als du.» «Hör mal, Anthony, bist du der Chef? Sag es mir doch.» «Sei nicht albern und benimm dich vernünftig. Und was hast du jetzt vor?» «Ich will als Häschen arbeiten, um der Sache auf den Grund zu kommen.» «Der ist nicht auf den Grund zu kommen, Melinda. Ein einziges Chaos. Wenn es dir Spaß macht, geh nur hin, aber gib dir keine Mühe, das große Spiel der Spionage zu durchschauen. Es gibt heute kein Geheimnis mehr auf der Welt, das zu stehlen sich lohnte. Wie soll es da noch richtige Spione geben?» Belehrungen dieser Art gingen ihr auf die Nerven. Warum war er dann Spion? «Und Mark? Hast du ihn wiedergesehen? Warum hast du ihn nicht geheiratet?» «Nein, ich habe ihn nicht wiedergesehen.» «Es wird ihm sehr leid tun, daß du geheiratet hast.» «Meinst du das im Ernst?» «Sie mal einer an, wie sie das interessiert.» «Du weißt, daß ich mich freue, wenn jemand an mich denkt. Und über dich und Abraham muß ich mich immer nur ärgern. Ewig dieses Getue, als wärt ihr Übermenschen und als hätte ich noch sehr viel zu lernen ... Besuch mich mal, wenn ich mit dem Chef des Sexyboy Club gesprochen habe.» «Gut, meine Gnädigste.» Sie küßten sich auf die Wangen. Draußen die Themse. Drinnen mehrere höchst interessierte Abgeordnete. Die Sekretärin hatte für sie eine Verabredung mit dem Geschäftsführer des Europäischen Sexyboy Club, Anthony G. Gambaino III, getroffen. Die Besprechung sollte in New York stattfinden, weil der Geschäftsführer für einen Monat in den USA war. Ihre Reise- und Aufenthaltskosten übernahm natürlich die Firma. Das war ihnen die Sache wert: eine ehemalige Herzogin als Häschen. Sie würden aus ihr das Superhäschen des Monats machen. Im selben Flugzeug reiste Abraham. Wie gewöhnlich, wenn sie sich trafen, war es ein reiner Zufall. Er war in Begleitung einer seiner mysteriösen Damen, Melinda wollte ihn darum nicht stören. «Herzlichen Glückwunsch, mein Kind», sagte er, als die Dame 83
für einen Augenblick auf der Toilette war. Offensichtlich sollte seine Begleiterin nicht wissen, daß er schon eine so erwachsene Tochter hatte und daß diese Tochter im selben Flugzeug reiste. Über Jacobs letztes Buch gebeugt, schlief Melinda ein. Über New York wachte sie wieder auf, aber diese Masse kleiner Häuser entsprach so wenig ihren Erwartungen, daß sie wieder einzuschlafen beschloß. Wo waren all die Wolkenkratzer, die man in den Hollywood-Filmen in Technicolor sah? Auf dem Kennedy-Flugplatz wurde sie von einem Männchen erwartet, das ein großes Schild mit der Aufschrift HERZOGIN PUBLISHING in der Hand hielt. Melinda folgte ihm, nachdem sie Abraham flüchtig zugelächelt hatte, der gerade geduldig die Fragen einer bekanntermaßen heiklen Polizei beantwortete. Das Männchen nahm ihren Paß und schleuste sie ohne Aufenthalt durch den Zoll. Für diesen erfreulichen Empfang hatte Anthony gesorgt: seine Macht reichte bis über den Ozean. Ihr Gepäck wurde nicht kontrolliert, und auch der Gepäckträger war im voraus bezahlt worden. Gambaino hatte ein Auto geschickt, um sie abzuholen. Melinda betrachtete neugierig die Stadtviertel, durch die sie fuhren. Hütten und Baracken ohne Ende. Kein einziger Wolkenkratzer. «Das ist Queens», sagte der Fahrer, «und jetzt kommen wir gleich nach Brooklyn. Sehen Sie dort rechts? Das war die Weltausstellung. Sie wird gerade abgebaut.» Sein Hinweis kam zu spät. Melinda sah nur eine unendliche Reihe von Wahnsinnsbauten, die wie ein Atom, ein Schuh oder ein Zirkus aussahen. Keiner glich einem Pavillon. Auf der einen Seite die Brücke von Brooklyn ... ein paar Wolkenkratzer. «Das ist die East Side.» Melinda machte diese Mitteilung keinerlei Eindruck. Klar, dann mußte auf der anderen Seite eben Westen sein. Melinda wußte, daß man nicht im Westen von Manhattan wohnte, es sei denn, man hatte eine Wohnung in der Nähe des Parks oder in der 55 56. oder 57. Straße oder im berühmten Dakota, einem alten Häuserblock voller Stuck, Spitzen und hoher Räume. «Das ist Lexington.» Sie warf einen Blick hinaus, der sie mit Überraschung und Bewunderung erfüllte. Die Park Avenue mit ihren gläsernen Hochhäusern gefiel ihr, und es gefiel ihr auch das Haus der Pan American, das mitten über die Straße gebaut war. «Sie wohnen im Plaza. Fünfte Straße; die schönste Straße der Welt.» Lauter Wolkenkratzer und der Park mit ein paar kümmerlichen Bäumchen und ein wunderbarer Himmel, der allerdings keine 84
Besonderheit dieser Straße war. «In New York haben wir das beste Klima der Welt, Madam.» Das war natürlich eine Übertreibung. Die Lichter der Stadt waren schön. Aber es blieb enttäuschend, daß es nur so wenige Wolkenkratzer gab, viel weniger, als sie erwartet hatte. Und heute abend? Was sollte Melinda heute abend machen? Im Aufzug des Plaza hingen Schilder mit Hinweisen, wohin man sich im Fall eines Atomangriffs zu begeben hatte. Die gleichen Schilder fand sie neben zwei Flaschen Whisky, Blumen und einem Fernseher auch in ihrem Zimmer vor. Sogar ein Telegramm von Mark lag da: BITTE SCHREIB STOP WO BIST DU. Woher wußte er ihre Adresse? Und was bildete er sich überhaupt ein? Aber schön war es doch. Mark sehnte sich also nach ihr. Heute nacht mußte sie allerdings allein schlafen, was sie haßte. Sie hatte so viel von den New Yorker Autobussen gehört. So bestieg sie einen. «Greenwich Village», sagte sie zu dem grimmigen Fahrer, der das Geld kassierte und in einen Automaten steckte, der es surrend verdaute und die Wechselmünze ausspuckte. Eine brummige Antwort. Sie stieg aus und nahm ein Taxi. Auch der Taxifahrer war unfreundlich. «Sie sind auf der verkehrten Seite eingestiegen. Ich müßte wenden. Gehen Sie über die Straße und nehmen Sie dort ein Taxi.» Sie begannen sich zu streiten. Melinda machte es sich in dem Taxi bequem und bemühte sich, den Fahrer zu beruhigen. «Ich bin eben erst in New York angekommen und habe keinen guten Ortssinn.» «Ach so.» «Ich sehe an Ihrem Namen, daß Sie italienischer Abkunft sind.» «Hm.» «Wo wohnen Sie?» «Brooklyn.» Nach ein paar Minuten aber legte der Taxifahrer los und war nicht mehr zu bremsen: der Krieg, die Faschisten, seine zwanzig Enkel, die Lebenshaltungskosten in New York und der Kommunismus. Greenwich kam ihr wie ein häßlicher Abklatsch von Saint-Germain-des-Pres vor, das sie auch nicht besonders mochte. Restaurant85
chen, Lädchen mit Op-Kleidchen, Häuschen. Lauter chen in einer Stadt, in der es chen gar nicht hätte geben sollen. Sie ging ein paar Schritte bis zu Marshals Büro. Ein verkommener, erbärmlicher Aufzug, ein schmuddeliges Vorzimmer, eine ungeschickte Sekretärin. Was hatte es mit all den Geschichten über New York nur auf sich? Marshal gab eine literarische Zeitschrift heraus. Melinda war ihm mehrmals in Abrahams Salon begegnet. Er war schon ziemlich alt und hatte alle amerikanischen Schriftsteller von Bellow bis Mary McCarthy lanciert. «Herr Marshal läßt bitten.» Ein großer Raum nach dem anderen. überall Zeitungen und Zeitschriften, Staub, Redakteurinnen, ein grenzenloses Durcheinander. «Melinda Publishing? Das ist ja eine Freude.» «Lieber Marshal, sehe ich nicht gut aus? Bin für einen Tag hier. Ich wußte nicht, wo ich hingehen sollte. Ich kenne die Stadt nicht und im Grunde auch den ganzen Kontinent nicht. Und dieses Gefühl, fremd zu sein, schüchtert mich ein. Du siehst aber großartig aus. Was machst du? Nein, die Zeitschrift habe ich nie gesehen. Eine Wochenschrift. Und wie macht ihr sie? Was bringt ihr? Einen Drink? Ja, gern, ich habe im Hotel zwar schon einige getrunken ...» «Mir kommt es vor, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ja, damals warst du noch ein Kind. Jedenfalls sozusagen. Ausgesehen hast du immer wie ein junges Mädchen. Auch jetzt. An dir scheint die Zeit vorüberzugehen. Und dabei hast du schon drei Männer gehabt. Auch einen von unseren Autoren ... einen Amerikaner. Tüchtig, tüchtig. Weißt du, ich kenne Jacob. Ein lieber Junge.» «Offen gesagt ...» «Schon wieder geschieden?» «Ja.» « Wie sympathisch. Ein tüchtiges Mädchen, ganz wie Abraham. Aller Fesseln ledig. Sieh nur zu, daß du diesen Irrtum nicht noch einmal begehst und dich wiederverheiratest. Oder bist du am Ende schon wieder verheiratet?» «Schon wieder verheiratet.» «Sieh mal an, wie tüchtig, die kleine Publishing. Und mit wem?» «Mit einem Engländer.» «Immer nur Engländer. Du heiratest immer nur Engländer, und dabei sind sie doch so langweilig. Heirate doch mich. Du wirst se86
hen, wieviel besser wir Amerikaner sind. Hör zu, Liebling, jetzt habe ich ein bißchen zu tun. Ich mache dich mit einer unserer Redakteurinnen bekannt. Ein nettes, tüchtiges Mädchen. Nicht so schlau wie du, aber tüchtig.» Statt der Redakteurin lernte Melinda den italienischen Schriftsteller Amerigo Vespucci kennen, der gerade dabei war, eine Artikelserie für amerikanische literarische Zeitschriften zu schreiben. Schwarzäugig, mit langen, geschwungenen Augenwimpern kam Amerigo ihr entgegen. «Ich kenne Ihren Mann.» «Welchen?» « Jacob, natürlich.» «Ich bin jetzt mit einem anderen verheiratet.» «Sieh mal an, und so schön hat sie sich angezogen. Wo gehen wir hin? Was wollen wir machen? Wen wollen wir sehen?» Hinauf aufs Empire State Building, um New York im Dunst zu betrachten, dann nach Chinatown, um chinesisch zu essen und ein bißchen parfümierten Weihrauch zu kaufen. Eine halbe Stunde bei Cheetah. Ein ganz kleiner Imbiß in der Maison Basque. Ein Drink im Four Season's. Ein Besuch bei Robert Lowell und ein Empfang bei Bob Silvers. Ein Kabel: DU DARFST FÜR MICH NICHT MEHR EXISTIEREN STOP VERSUCH MICH ZU VERSTEHEN STOP BIST FOR MICH TABU MARK. Was wollte Mark, dieser Dummkopf, eigentlich? Natürlich war er es, der für sie nicht mehr existieren durfte. Das hätte sie schon nach jenem Ball begreifen sollen, der nicht eine fin de saison, sondern eine fin de sikle war. Anthony G. Gambaino III war groß, in Leder und Gummi gehüllt, sicherlich impotent und erinnerte in seinen Bewegungen an eine dikke schwarze Schnecke. Die Drinks ließ er in einem Büro servieren, wo alles aus glänzendem Leder und farbigem Kunststoff war. Hübsche Mädchen kamen und gingen, begleitet von einem Mitarbeiter des Sexyboy Club und einem Journalisten. Das Essen wurde — eine Seltenheit in den USA — von einem Kellner serviert, in einem Raum, dessen Fresken die Vermutung nahelegten, daß ihr Urheber einige Reproduktionen von venezianischen Malereien des i 8. Jahrhunderts und viele Leonor Finis gesehen hatte. Das Essen war sterbenslang87
weilig: gekochter Schinken, Salat, der nicht richtig angemacht war, und zum Nachtisch Ananas aus der Dose. «Liebe Herzogin, Sie wollen also bei uns Häschen werden? Ich lobe mir diesen Entschluß, der zeigt, daß Sie eine moderne Frau sind, die die Zeit versteht. Sicherlich wird es für eine Dame von Welt wie Sie eine wunderbare und nützliche Erfahrung sein. Natürlich werden wir eine große Werbekampagne starten.» «Ich bin nicht mehr Herzogin.» «Aber Sie sind es gewesen. Und Sie sind Abgeordnete im englischen Parlament. Ihre Bewerbung ist für uns eine Ehre. Noch mehr würden wir es allerdings begrüßen, wenn Sie in New York anfangen wollten.» «Unmöglich. Ich habe in London gerade geheiratet und habe meine Arbeit im Parlament.» «Wie Sie wünschen. Heute abend möchten wir Ihnen einen unserer Clubs zeigen und Ihnen einige Anweisungen geben, auch wenn Sie sicher ohnehin wissen, wie Sie sich zu benehmen haben.» «Auf den Besuch im Club würde ich gern verzichten. Sie brauchen mir nur Ihre Vorschriften zu erklären.» «Das Büchlein mit den Vorschriften steckt schon in dem Umschlag, den wir für Sie bereitgelegt haben. Die Uniform ist so bekannt, daß wir Sie Ihnen sicher nicht zu beschreiben brauchen. Im übrigen müssen Sie immer tadellos aussehen. Und Sie müssen einen Lippenstift benutzen.» «Ich benutze nie Lippenstift.» «Das ist bei uns Vorschrift. über die Kleidung brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Darum kümmert sich die Häschenmutter. Allen Häschen ist es untersagt, mit Kunden Verabredungen zu treffen. Trinken und rauchen ist verboten. Ich muß Sie auch davon unterrichten, daß wir mit einem Detektivbüro zusammenarbeiten, das jeden Abend einen seiner Leute in den Club schickt. Im allgemeinen ist es ein gut aussehender Mann, der um eine private Verabredung bittet und große Summen verspricht «Aber Sie glauben doch nicht etwa ...» «Es ist meine Pflicht, Sie nicht nur auf unsere Vorschriften aufmerksam zu machen, sondern auch auf die Vorsichtsmaßnahmen, die wir getroffen haben, um darüber zu wachen, daß der Ruf des Sexyboy Club und der Häschen makellos bleibt. Denn unsere Einrichtung ist moralisch gesund, wird von allen amerikanischen Ehefrauen gebilligt und hat den Segen von Leuten mit gesunden Grund88
sätzen. Wir sind eine große Familie und wollen miteinander fröhlich sein. Unsere Kunden werden Mitglieder dieser großen, gesunden Familie, in der alle Frauen und Männer Kameraden sind.» «Sehr gut, ausgezeichnet.» Gambaino hatte seine Ansprache offenbar auswendig gelernt, aber er war auch überzeugt von dem, was er sagte. «Noch Fragen?» «Nein. Ich werde Ihre Broschüre lesen. Wann soll ich anfangen?» «Wann wollen Sie anfangen?» «Sobald ich wieder in London bin.» «Und wann fahren Sie nach London zurück?» «Sobald wie möglich, am liebsten morgen.» «Sie müssen uns Zeit lassen, die Sache werbemäßig vorzubereiten.» «Eigentlich würde ich lieber auf Werbung verzichten.» «Das wird sich, fürchte ich, nicht machen lassen.» «Es wäre in Ihrem eigenen Sinn, darauf zu verzichten. Bekannt wird die Sache ohnehin. Wenn Sie eine Werbekampagne mit meinem Namen starten wollen, muß ich meine Bewerbung leider zurückziehen.» «A. C. K. Pfeifer möchte Sie kennenlernen.» «Wer ist denn das?» « Wie bitte? Unser Gründer. Er hat die Idee mit den Häschen gehabt. Er hat viele Milliarden verdient und Clubs in allen amerikanischen Städten gegründet. Von ihm empfangen zu werden ist eine Ehre. Entschuldigen Sie, aber ich möchte, daß Sie sich darüber klar sind. Nicht jedem wird diese Gelegenheit geboten. Alle Künstler, alle mächtigen Männer der Welt verkehren in seinem Haus. Von ihm empfangen zu werden, ist, als würde man gekrönt.» «Es wird mir ein Vergnügen sein, ihn kennenzulernen.» «Dann müssen wir sofort zu ihm gehen. Sobald sie umgezogen sind.» «Hören Sie, ich fühle mich durchaus imstande, zu ... wie heißt er doch noch ...?» «Pfeifer.» «... zu Pfeifer auch so, wie ich bin, zu gehen.» «Ich möchte ihm eine Überraschung machen. Sie sollen als Häschen im Satinbadeanzug erscheinen. Und mit Ihrem Haar müssen Sie auch noch etwas unternehmen, so sind Sie zu unfrisiert.» «Ich bedaure. Aber Herr Pfeifer kann mich, wenn er will, in seinem Londoner Club als Häschen bewundern.»
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«Sie sind sehr schwierig.» «Sie auch, Herr Gambaino III.» Das Erdgeschoß des Pfeiferschen Hauses bestand aus einem großen Schwimmbecken, in dem gerade einige Gäste badeten. Im oberen Stock saßen ein paar Häschen und etliche Gäste, die alkoholfreie Getränke zu sich nahmen. Melinda wurde von Pfeifer in seinem geräumigen Wohn-Schlafzimmer in Privataudienz empfangen. Alles war rosa. Auch Pfeifer war rosa. Das Bett war kreisrund und füllte einen großen Teil des Raums aus. Auf der einen Seite sah man das Bad, ohne Tür, und die Badewanne, die in den rosa Marmorboden eingelassen war. Die Wände waren mit Tigerfellen verkleidet. Pfeifer überließ sie nach wenigen Augenblicken sich selbst, und Melinda geriet in eine Gruppe von Damen mit Nerzstolen. Es waren die Frauen von republikanischen Parlamentskandidaten. Sie kannten Europa. «Woher kommen Sie, haben Sie gesagt?» — «Jetzt lebe ich in London.» — «Mein Mann und ich sind in Europa gewesen. London ist wunderschön. Aber auch Paris ist wunderschön, und Rom ebenfalls. Und Madrid, und Spanien auch. OM. Und so charakteristisch. Kennen Sie Wien? Mit seiner Atmosphäre einer schönen, vergangenen Zeit, mit Oper, Operetten und Soldaten zu Pferd. Leider sind wir nur ein paar Stunden in Wien gewesen, aber wir wollen wieder hin. Das schönste Land von Europa ist die Schweiz. Diese Natur, diese Kultur ... und alles so sauber ...» — «Ich bin auch in Europa gewesen. Wir sind jedes Jahr dort. Meine Freundinnen und ich. Wir sind alle verwitwet, und darum tun wir uns zusammen und machen jedes Jahr eine Kreuzfahrt. Als unsere Männer noch arbeiteten, war das nicht möglich. Aber jetzt sehen wir jedes Jahr ein neues Land. Wohin wir nächstes Jahr wollen, wissen wir noch nicht. Rußland kommt nicht in Frage, nicht aus politischen Gründen, aber man hat uns gesagt, dort sei es genau wie in den Vereinigten Staaten. Und dann lohnt es sich doch nicht. Nach China können wir nicht, wie Sie sicher wissen. Aber alle anderen Länder ... Sie sollten Bolivien sehen, so charakteristisch ... Diese Farben, diese Sonnenuntergänge ...» «Mylady werden am Telefon gewünscht.» Es war beinahe das erste Mal, daß sie in der Öffentlichkeit mit ihrem Titel angeredet wurde. «Sind Sie wirklich eine englische Mylady?» fragten die Nerzstolen. 90
Wer konnte das sein? Amerigo ... David? Es war Mark. Nach mehreren Telefonaten hatte er sie endlich ausfindig gemacht, jedenfalls behauptete er das. (Stand am Ende auch er mit Ostrowskij in Verbindung?) «Bitte warten Sie» (das Fräulein von der Vermittlung). «Ich verbinde mit Herrn van der Belt.» Ich sollte auf gar keinen Fall mit ihm sprechen. «Hallo? Ja. Schämst du dich nicht?» «Melinda, ich brauche dich.» «Und wozu? Um nicht mehr tabu zu sein?» «Bist du böse auf mich?» »Du überlegst es dir zu oft anders.» «Was hast du gesagt? Man versteht dich so schlecht. Ich möchte dich sehen. Morgen fliege ich nach Spanien. Kommst du?» « Wahrscheinlich nicht, ich fliege nach Venedig.» «Was willst du dort machen?» «Meine Hochzeitsreise.» «Das ist doch albern. Allein?» «Selbstverständlich. David kommt nach.» «Ich habe mit ihm telefoniert.» «Das freut mich für dich.» «Du kommst mir so weit fort vor.» «Das bin ich ja auch.» «Nein, ich meine, so kühl mit mir. Warum? Und warum machst du deine Hochzeitsreise nicht nach Spanien? Das ist doch origineller.» «Entweder macht man gar keine Hochzeitsreise, oder man macht sie nach Venedig.» «Mach keine Witze.» «Ich mache durchaus keine Witze.» «Komm nach Spanien.» «Nein. Ich erwarte nämlich auch noch einen Freund in Venedig.» «Eine Hochzeitsreise zu dritt?» « Warum nicht? Wir können uns ja woanders treffen.» «Wo?» «In Mailand.» Sie hatte es ja gewußt. Sie hätte nicht mit ihm sprechen sollen. «An welchem Tag?» «Samstag oder Sonntag in vierzehn Tagen. Auf dem Flugplatz.» «Laß mich einen Augenblick nachdenken.» 91
«Hast du nicht Angst vor der Telefonrechnung?» «Ich habe schon so viel Geld ausgegeben, bloß um deine Stimme zu hören. Samstag würde passen. Soll ich dir morgen meine Ankunftszeit telegrafieren? Das heißt, ich rufe lieber an. In deinem Hotel?» «Ruf aber früh an, ich muß dann zum Flugplatz.» «Kommst du schon zurück? Wie groß ist der Zeitunterschied zwischen New York und London? Ist es bei dir jetzt Morgen oder Abend?» «Abend, wir essen gleich.» «Hier nicht.» «Das weiß ich.» «Wirst du darüber reden?» «Worüber?» «Daß wir uns in Mailand treffen.» «Bei wem denn?» «Bei den Leuten.» «Sofort, gleich hier auf der Cocktailparty. Warum vertauschst du nur immer die Rollen?» «Bist du wieder böse? Ich sage es ja nur, weil schon geklatscht wird ...» «Das ist sicher deine Schuld.» «Wer ist dieser Freund von dir?» «Du gibst zu viel Geld aus.» «Wer?» «Wie immer ein Schriftsteller.» «Kenne ich ihn?» «Nein.» «Und kennt er mich?» «Warum willst du das denn wissen? Und woher sollte er dich kennen?» «Ich meine, hast du ihm von uns erzählt?» «Du findest das vielleicht komisch, aber ich habe ihm nichts gesagt.» (Das stimmte nicht.) «Ich freue mich, daß wir uns bald sehen.» «Ich auch, glaube ich. Aber du überlegst es dir bestimmt wieder anders.» «Nein, du kannst ganz sicher sein.» «Tschüs.» «Was hast du an?» 92
«Federn.» «Nein, im Ernst?» « Ja. Schwarze Federn.» «Und deine Haare?» «Lang herunter, außer ein paar, die mit einem Band hochgebunden sind.» «Welche Farbe hat das Band?» «Weißt du, daß du einen Haufen Geld ausgibst?» «Das laß meine Sorge sein. Welche Farbe?» «Das ist doch unwichtig.» «Für mich nicht. Ich will mir genau vorstellen, wie du jetzt aussiehst. Bitte beschreibe es mir.» «Rings um mich Stimmen von Frauen, die Obstsäfte trinken. Sie reden von Reisen, von kosmetischen Operationen und Narben hinter den Ohren und von verstorbenen Ehemännern. Viele rosa Zimmer, außer dem, in dem ich jetzt bin, Messingfußboden, Zebrafelle. Ich sitze auf einem Sofa, ebenfalls Zebrafell, mit einer Zigarette und dem einzigen Whisky heute abend. An den Wänden viele scheußliche Bilder.» «Wohin fliegst du morgen?» «Das habe ich dir doch gesagt. Nach Venedig.» «Mit wem?» «Mit dem Schriftsteller.» «Gefällt dir denn dein Schriftsteller? Und von mir, was hältst du von mir?» Das hätte er lieber überlegen sollen, ehe er dieses lächerliche Kabel schickte. «Willst du mich noch sehen?» «Sicher.» «Und David kommt auch nach Venedig?» «Alle kommen nach Venedig.» Und dann: Frühstück und Kino und Hand in Hand mit Amerigo im Flugzeug. Und ihre Lippen auf Amerigos Wangen, und sie, Melinda, auf seinem Schoß. Alles schnell, viel zu schnell. Venedig war unvergleichlich viel schöner als jede andere Stadt der Welt. Schade nur, daß die Einwohner venezianisch sprachen und Venezianer waren. David schien glücklich, sie zu sehen. «Melinda, du hast mir so gefehlt.» 93
«So rasch? Ich habe dir schon gefehlt?» Melinda erklärte ihm, daß sie schon bald nach London zurück müsse. Von der Art ihrer Arbeit im Sexyboy Club sagte sie ihm nichts, aber sie wußte nicht, wie sie das vor ihm geheimhalten sollte. In Mailand habe sie geschäftlich zu tun. Auch dabei sprach sie nicht von der Art dieser Geschäfte. David, der sich lange Ferien zusammen mit seiner Frau gewünscht hätte, sagte nichts dazu, schwor sich aber, ihr einen anderen Geschmack und eine andere Lebensweise beizubringen. Das Motorboot ihrer Freunde Gualdini-Tebaldi erwartete sie und brachte sie sofort zu deren Palazzo. Am Canal Grande, natürlich. «Jetzt nehme ich erst mal ein schönes Bad, und dann mache ich mit dir einen schönen Mittagsschlaf. Magst du?» Statt dessen wollte ihnen Graf Alessandro erst einmal das Haus zeigen. Mit dem Bad, mit dem schönen Mittagsschlaf und Umarmungen war es also nichts. «Und das sind die Teppiche, die einzigen ihrer Art in der ganzen Welt, die meine Großmutter vor zehn Jahren erworben hat.» (Er sprach nie von .) «Und das ist das Porträt meiner Urgroßmutter, einer geborenen Guendolazzi. Genueser Familie. Eine hinreißende Frau. Ich kann ganze Stunden damit verbringen, ihr Gesicht zu betrachten. Diese Kronleuchter? Alle von Canova. Und das sind Bilder von Longhi. Hier einer meiner Vorfahren. Er war mit einer Teodoluzzi verheiratet. Salernitanische Familie. Und hier noch einer meiner Vorfahren. Er hatte damals gerade seine schöne Frau verloren. Sie starb mit siebenundzwanzig Jahren. Catanesische Familie. Dies ist ein Aquarell von einem Schloß von uns. Wir besitzen nämlich auch in der Toscana mehrere Schlösser. Leer, vollständig leer, und der italienische Staat gibt uns keine Lira, um sie zu restaurieren. Weißt du, wieviel er uns für die Restaurierung dieses Palazzo gegeben hat? Sechzig Räume, stell dir das vor, sechzig Räume. Ein paar hunderttausend Lire. Zum Glück haben wir einen Teil des Hauses vermietet. Wir setzen es nach und nach instand. Jetzt müssen wir eine Küche einbauen. Erst kommen unsere Wohnräume dran, haben Alessandra und ich beschlossen, dann ein Kind, dann die Küche ...» Alessandro war Innenarchitekt und entwarf Möbel aus Plastilin, die bei jedem Gebrauch ihre Form veränderten. Endlich war Melinda in ihrem Zimmer. Dusche. Der Kopf flach aufs Kopfkissen. Ihre Hände streichelten ihren Körper, und plötzlich mußte sie ganz tief Atem holen, und nur ihre Hand war noch
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wichtig. Kundig drang sie in die verborgensten Winkel ihres Körpers ein, in seine Wärme, an den geheimen Ort ihrer Lust. Elektrische Reaktionen leiteten diese Hand, die sich jetzt rascher bewegte; ohne die gewalttätige Ignoranz und den Mangel an Einfühlungsvermögen, mit der andere sie berührten. Nur allein fand man den Weg zu wirklicher Lust. Schweiß brach ihr aus, und sie fühlte, wie immer stärkere Wogen ihren Schoß zusammenpreßten. Von Zeit zu Zeit hielt sie inne, um mit geschlossenen Augen Luft zu holen. « Jetzt, jetzt.» Es gab nur noch diese Hand, die nervöse, zarte Art ihrer Berührung und die Wogen in ihrem Schoß. Der Atem stockte ihr, mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zur Decke und rief sich selbst beim Namen, einem beliebigen Namen. Sie konnte es mehrmals hintereinander tun. Nach dem ersten Mal war die Lust weniger intensiv, die Empfindung flüchtiger und dem Schmerz sehr ähnlich. Dreimal, viermal. Wenn es zum fünftenmal kam, war sie mit ihren Nerven fertig. Dann brauchte sie einen Whisky und ein Alka Seltzer. Sie erinnerte sich, daß sie als junges Mädchen im Bett liegen und stundenlang mit sich selbst spielen konnte, ohne sich dabei Männer vorzustellen oder ihre Namen vor sich hin sagen zu müssen. Ihre Lust war sich selbst genug. Manchmal tat sie es auch vor einem Mann. Daß man ihr zuschaute, gab ihr dann ein neuartiges Gefühl der Lust. Tief. Tief. Noch einmal, rasch, ehe David ins Zimmer zurückkam. Sie hörte schon seine Schritte im Bad. Zuckungen, die immer schneller, immer häufiger kamen. Sie verging unter dieser Hand. Und dann ein tiefes Atemholen, und kein anderer Gedanke mehr. Sie wurde zur feuchten Frucht, die sich weit auftat, sich selbst dargeboten. Die Adern auf ihren Händen waren dick wie Stricke, und ihre Beine wurden von einem unnatürlichen Zucken geschüttelt. «Melinda, bist du soweit?» «Lieber, ich habe es allein mit mir getrieben. Zieh dich rasch aus.» «Das kann ich jetzt wirklich nicht. In fünf Minuten mußt du fertig sein, angezogen, frisiert, frisch gewaschen. Wir dürfen nicht zu spät kommen.» «Aber es kann uns doch gleich sein, ob wir zu spät kommen.» «Mir ist es nicht gleich.» Und wo war Mark? Und wo Amerigo? Und warum war keiner 95
von ihnen hier? Ja, richtig, Amerigo war immerhin am Lido. Und Mark? In seiner sexuellen und gesellschaftlichen Zerstreutheit. Marks Telegramm war nicht einmal an sie adressiert. Alessandra Gualdini-Tebaldi teilte mit, er werde morgen kommen. Er hielt sich also nicht an den Plan mit Mailand. Wie sollte man ihn dafür bestrafen? Alessandra hatte alle ihre Kleider von Choses, jedenfalls behauptete sie das, auch wenn sie keinerlei Grund hatte, darauf stolz zu sein. «Dieses Stück», sagte sie (sie sagte nicht etwa Kleid oder Hose), «habe ich bei Choses erworben» (sie sagte weder noch , was besser geklungen hätte), «in dem Lädchen in SaintTrop. Inzwischen ein ordinäres Nest, seit die Touristen dort hinfahren. Aber Frankreich weiß sich seine Ausflugsorte zu erhalten ...» War es möglich, daß es noch Leute gab, die so redeten? Der Himmel war bedeckt. David wollte sich nach elektrischen Haushaltsgeräten umsehen, in zwei Geschäften, die beide an der Ecke der Mercerie lagen. Er hatte ihr Lob singen hören. «Guten Tag alle miteinander.» Das war Amerigo in dunkelblauen, seidenen Hosen. Vorstellung, Geplauder. «Wohin gehen wir essen? Kommst du mit ins Excelsior?» «Danke, wir essen hier, wir erwarten Mark van der Belt. Er will heute vormittag kommen.» «Das soll er ruhig tun, aber deswegen kannst du doch mit mir fortgehen. Wenigstens zu einem Drink. Kommst du mit?» Mark erschien beinahe gleichzeitig mit David. Natürlich sprach er kein Wort Italienisch. «Liebste, da bin ich. Meine Koffer sind auf dem Flugplatz in Rom verlorengegangen. Guten Tag, Melinda.» Ein keuscher Kuß am Strand. «Ehe ich abflog, habe ich mit meinem Bruder William zu Abend gegessen. Hast du schon den neuesten Unsinn gesehen?» «Nein, Mark.» Fragende Blicke. Warum war er denn nach Venedig gekommen? Und würden sie sich nun nicht in Mailand treffen? Wie sah er die Dinge jetzt an? Melinda watete mit Amerigo bis zum Excelsior. An der Bar waren Leute, die sie flüchtig kannte. Und plötzlich tauchte hinter dem Perlenvorhang und dem Glas einer Dame, die so tat, als schaute sie aufs Meer, Mark auf. Er legte den Arm um sie. Sein liebes Gesicht. Die Hand auf ihrer Taille.
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«Laß uns für einen Augenblick zu Glorian gehen, dort können wir uns hinsetzen und einen Kaffee trinken.» Natürlich meinte er Florian. Zu Florian hatte Abraham sie immer geführt, wenn sie zusammen in Venedig waren. Abraham fand, man solle nicht zu Quadri gehen, weil im 18. Jahrhundert die Österreicher dort verkehrt hätten und es auch heute noch ein barbarisches Lokal sei. Aber dann ließ er sie immer mit einem Eis und ihrer Gouvernante zurück und ging selbst zu Harry's Bar. Und auch Mark hatte jetzt dieses Lokal gewählt, um ihr etwas Unangenehmes zu sagen — wie konnte es anders sein. Aglaia ... ein schreckliches Schuldgefühl ... sie konnten sich nicht in Mailand treffen. Aber sie verstand das doch, nicht wahr, sie verstand das? Eine Schande, daß er ihr dieses Geständnis in einem Operettencaf6 wie dem Florian machte. So etwas konnte man höchstens im Bett aussprechen. Sie würde sich nie wieder mit Mark einlassen. Der Kellner brachte den Kaffee. Trotz dem weißen Haar und den dicken Brillengläsern erkannte man sofort, daß es Ostrowskij war. «Ostrowskij ... Endlich!» « Wie meinen Gnädigste?» «Mark, hast du nicht auch das Gefühl, daß dies der Herr von dem Abend damals ist?» « Was, Melinda?» Zerstreut, wie er war, konnte er sich an kein Gesicht erinnern. «Entschuldigen Sie, ich habe mich getäuscht. Sie sehen genauso aus wie ein Diener, den mein Vater in der Tschechoslowakei hatte, als ich noch ein kleines Mädchen war ... vor vielen Jahren ... Sie sehen wirklich genauso aus.» Mit Sicherheit war es Ostrowskij. Offenbar wollte er sich nicht zu erkennen geben. «Mark, würdest du mir Zigaretten holen?» «Du hast doch noch ein ganzes Päckchen.» «Aber die sind alt und schmecken muffig.» «Wir können doch den Kellner hier, der deinem ungarischen Freund so ähnlich sieht, zum Tabakhändler schicken.» «So war die Geschichte zwar nicht, aber gut.» «Sag mal, Melinda, du hast mir noch nie von deiner Kindheit und von deiner Familie erzählt. Eines Tages möchte ich das alles von dir hören. Aus welchem Land du kommst, wer deine Freunde 97
waren ... Ich habe meinen Bruder William noch vor meinem Abflug gesehen, er war zum Abendessen da. Kennst du meinen Bruder?» Wie oft hatte er sie das schon gefragt? «Ja, ich bin ihm einmal begegnet. Du, es ginge vielleicht doch rascher, wenn du mir die Zigaretten holtest.» Sofort kam Ostrowskij zu ihr. «Nicht gerade sehr tüchtig. Ich habe keinerlei Informationen von Ihnen bekommen, liebe Melinda.» «Aber ich weiß nie, wie ich Sie erreichen soll, und Nora ist von der Bildfläche verschwunden. Wissen Sie, wo sie geblieben ist?» «Nein, ich dachte, das wüßten Sie. Und im übrigen ist es meine Sache, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen. Ich behalte Sie schon im Auge.» «Wie?» «Es ist nicht Ihre Sache.» «Anthony spioniert mir nach, nicht wahr?» «Der Premierminister? Reden Sie doch keinen Unsinn ...» «Aber ...» (Nein, sie sagte besser nicht, daß sie ab und zu von Ostrowskij sprachen.) «Woher wissen Sie überhaupt, daß ich in Venedig bin?» «Los, schnell. Ihr Freund kommt sicher gleich mit den Zigaretten zurück. Was ist mit Madame Nubytch?» «Haben Sie es nicht in der Zeitung gelesen? Sie ist erwürgt worden. Und ich habe es als erste entdeckt. Ich weiß, wer es gewesen ist. Ein Mann mit schwarzen Augen und ganz kurz geschnittenem schwarzem Haar. Ich habe ihn nach der Tat auf der Treppe zu ihrer Wohnung gesehen. Und am selben Abend habe ich ihn noch einmal gesehen, im Sexyboy Club, mit drei Kundinnen von Madame Nubytch im Häschenkostüm.» «Der Mörder muß Blamonche sein. Das hätte man sich denken können.» «Warum? Erklären Sie es mir.» «Dazu ist jetzt keine Zeit, und es ist auch nicht nötig. Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun, um sich das Geld zu verdienen, das ich Ihnen gegeben habe?» (So ein gemeiner Kerl.) «Sobald ich wieder in London bin, fange ich beim Sexyboy Club als Häschen an. Es ist schon alles vereinbart.» «Sorgen Sie für die nötige Publicity, sonst werden Sie sofort um98
gelegt. Und falls Sie das fertigkriegen, versuchen Sie die drei Häschen umzubringen.» «Alle drei? Und Blamonche?» «Anschließend gehen Sie nach Korsika. Dort werden Sie ihn sehen. Aber zuerst müssen Sie noch nach Moskau. Dort werden Sie einen Freund treffen. Vielleicht mich selbst. Sie können reisen, wann Sie wollen. Ich erfahre es in jedem Fall und werde Ihnen sagen, was Sie tun sollen.» «Und dann?» «Das ist alles ... Noch einen Kaffee? Gleich kommt er zurück. Natürlich müssen Sie sich umgehend von diesem lächerlichen Mann scheiden lassen, den Sie da aufgegabelt haben. Sie können nicht Spionin sein und zugleich heiraten. Dazu reicht die Zeit nicht. Auch van der Belt sollten Sie so wenig wie möglich sehen. Schon recht, daß er nichts begreift, aber ich möchte nicht, daß er auch nur etwas ahnt.» «Das sind meine Angelegenheiten. Und wo bekomme ich Geld?» «Diesmal werden wir es Ihnen ins Haus schicken.» «Wer sind Ihre Informanten?» «Hatten Sie nicht noch einen zweiten Kaffee bestellt?» Mark kam mit den Zigaretten. «Ich habe gesehen, daß ihr euch unterhalten habt.» Er wandte sich an Ostrowskij: «Dann sind Sie also Jugoslawe? Hier, mein Liebes. Deine Zigaretten. Es ist doch die richtige Sorte?» Sie drängten sich zwischen Tauben und Touristen hindurch. Sich von David scheiden lassen ... aber wahrscheinlich würde er einverstanden sein. Nach Moskau reisen. Mit Vergnügen. Drei Häschen umbringen und dann Blamonche ... Vor Blamonche hatte sie Angst. Mark legte seinen schweren Arm um ihre Schultern und küßte sie vor dem Hotel Luna. Aglaia, London, seine Freunde, seine Familie, ja vor allem seine Familie, waren ja fern. Nach dem Essen konnten die Gäste sich nicht zum Aufbruch entschließen. Obwohl sie alle mit schläfrigen Gesichtern dasaßen. Nur Mark, der sich mit einer riesigen Zigarre in einem Sessel niedergelassen hatte und sich benahm, als sei er in einem englischen Club, war plötzlich spurlos verschwunden. Vermutlich in sein Zimmer. Er erwartete sie. Natürlich. Melinda erhob sich möglichst unauffällig.
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ERSTE SZENE
Ein venezianischer Salon. Mehrere Gäste, darunter David Llewyllen-Jones, ein Engländer, und seine Frau Melinda. Sie trägt ein weißes Chiffonkleid, das durchsichtig wirken soll. DAVID: Kommst du mit? Kannst du in zehn Minuten fertig sein? MELINDA (tut, als gähne sie hinter der vorgehaltenen Hand): Ich bin so müde. Ich möchte mich gern ein bißchen hinlegen. Wir könnten uns ja in zwei Stunden auf der Piazza San Marco treffen. EIN GAST NAMENS KATHERINE VAN BLISS: Darf ich mitkommen, David? Ich weiß sonst nicht, was ich bis heute abend anfangen soll. Ich müßte mich nur noch schnell frisieren. Darf ich auf einen Augenblick in euer Zimmer kommen?
Sie nicken den anderen zu und verlassen den Salon.
ZWEITE SZENE
Das Schlafzimmer des Ehepaars und, Wand an Wand damit, Mark van der Belts Zimmer, das leer ist. Melinda ist offensichtlich bemüht, Mark durch allerlei Geräusche darauf aufmerksam zu machen, daß sie nicht allein ist. Miss van Bliss ist im Badezimmer, wie man dem Geräusch der Wasserspülung entnimmt, das vom Rauschen fließenden Wassers nicht ganz übertönt wird. Auf der einen Seite David, der einen Stadtplan von Venedig studiert. MELINDA (zum Publikum): Hoffen wir, daß Mark nicht ausgerechnet jetzt kommt.
Sie entkleidet sich. Miss van Bliss erscheint frisch frisiert. KATHERINE VAN BLISS: Dann treffen wir uns also um halb sechs im
Florian? DAVID (zu beiden): Sagen wir um sechs. Sonst haben wir gar keine Zeit. MELINDA: Ruft mich doch hier an, für den Fall, daß ich nicht rechtzeitig aufwache. DAVID: Tschüs, Liebes. KATHERINE: Tschüs. MELINDA: Bis bald.
Die beiden treten ab. I00
DRITTE SZENE
Melinda kämmt sich ausgiebig und reinigt sich dann die Fingernägel. Sie zieht sich vollends aus, schlüpft in einen Morgenrock. In ihrer Hast und Nervosität fällt ihr ein Eau de Cologne-Fläschchen aus der Hand und zerbricht. MELINDA: Verflixt.
Sie betrachtet sich im Spiegel und findet sich offenbar in Ordnung. Verschwindet durch eine Tür gegenüber derjenigen, durch die David und Katherine das Zimmer verlassen haben. Man hört sie klopfen. Verflixt.
Nach einigen Sekunden betritt Melinda die Bühne wieder. (Zu sich selbst:) So ein Idiot. Anscheinend ist er ausgegangen. Er bringt es doch immer fertig, daß ich mir lächerlich vorkomme. Ausgegangen. Dabei war es doch sonnenklar, daß er auf mich warten sollte.
Nimmt den Telefonhörer ab und setzt sich aufs Bett. Zündet sich eine Zigarette an. Man sieht, daß sie nervös ist. (Ins Telefon:) Hotel Excelsior? Kann ich Herrn Vespucci sprechen? Er müßte in der Halle sein.
Nach ein paar Minuten schmeißt sie den Hörer auf den Boden. So ein Trottel, dieser Mark. Er verdirbt mir doch alles.
Melinda verschwindet im Bad und kommt, angezogen und zum Ausgehen bereit, zurück. Steckt ein paar Dinge in ihre Tasche. (Leise zu sich selbst:) Brille ... Puder ... Wo ist bloß der Kamm? ... Verflixt, jetzt habe ich kein Geld. Und was soll ich nun bis sechs anfangen? Na, das geschieht mir recht. Dieser Idiot.
VIERTE SZENE
Die Tür geht auf. MARK (wie beim Essen gekleidet): Melinda? Gehst du aus? MELINDA: Wo bist du denn gewesen? MARK (zeigt ihr eine Kette aus Murano-Glas): Ich habe ein paar Schritte gemacht. Sieh mal, was ich gekauft habe. Tust du mir einen Gefallen? MELINDA (zärtlich): Was denn? IOI
Dann ruf doch bitte den Portier an und sag ihm, er soll mich um sechs wecken und dem Fahrer sagen, daß er mich um halb sieben mit dem Motorboot zum Gritti bringen soll. Melinda geht ans Telefon. MELINDA: Hallo? Herr van der Belt möchte um sechs Uhr geweckt werden. Wie bitte? Ich habe nicht verstanden. (Legt die Hand auf die Sprechmuschel.) Kann ich zu dir ins Bett kommen? (Nimmt die Hand von der Sprechmuschel.) Und das Motorboot bitte um halb sieben. MARK: Und wo ist David? MELINDA: Ausgegangen. MARK: Und du willst nicht ausgehen? MELINDA: Nicht mehr. MARK: Und wenn David zurückkommt? MELINDA: Dann tun wir so, als sprächen wir über deinen Bruder William. MARK: Was? Melinda nimmt ihn an der Hand und führt ihn hinaus. MARK:
FÜNFTE SZENE Marks Zimmer. Unordnung. Flugscheine, Geld, Bücher und Papier auf dem Tisch, auf dem Boden und auf den Stühlen. Melinda zieht sich wieder aus. MARK: Ich habe es mir anders überlegt. MELINDA: Ein Wunder. Aber ich glaube nicht daran. Es ist nicht möglich. MARK: Mach jetzt keine Witze. Bitte, laß uns doch alles auf Mailand verschieben. MELINDA: Nein, nein. Damit du dann kommst und es dir wieder anders überlegt hast oder dir Gewissensbisse machst. MARK: Willst du denn nicht mehr? MELINDA: Natürlich will ich. Kannst du dich nicht mehr erinnern? Schließlich war es meine Idee. Mark zieht sie zu sich ins Bett, auf das er sich inzwischen gelegt hat. Die beiden verschwinden unter der Decke, unter der zuerst ein Büstenhalter und dann ein Höschen zum Vorschein kommen, die Melinda vorher angehabt hat. Sie küssen sich. 102
Und wenn dein Mann kommt? MELINDA: Bitte lenk mich doch nicht dauernd ab. MARK: Liebling, Liebling. Wir sollten uns wirklich in Mailand treffen. Stell dir vor, ich kenne die Brera noch nicht. Meine Schwester hat mir davon vorgeschwärmt. Ich muß dir etwas gestehen. Ich bin sehr schwierig. Im Zusammenleben, meine ich. Auch wenn es nur zwei Tage sind. Du wirst das noch merken. MELINDA: Ich habe es schon gemerkt. MARK: Mach dich bitte nicht über mich lustig. MELINDA: Nein, ich meine es im Ernst. MARK:
Melinda dreht sich um, Mark drückt sie an sich. MARK: Hast du was an? MELINDA: Nein, ich bin nackt. MARK: Nein. Ich meine, ein Pessar oder so was. MELINDA: Natürlich. Aber danach fragt man doch nicht. MARK: Warum nicht? (Dringt in Melinda ein.) Hilfst du mir? Ich bin so ungeschickt. Ich finde nie die richtige Stelle. MELINDA: Als ob es deren so viele gäbe. Jetzt kann ich meine Hand nicht fortziehen. MARK: Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Oh, ich liebe dich so. Du hast mir schrecklich gefehlt. Ich konnte es ohne dich nicht mehr aushalten. MELINDA: Was empfindest du? MARK: überall nur dich. Und meine Liebe zu dir. Hast du dich über meinen Brief gefreut? MELINDA: Welchen Brief? Ich habe keinen Brief bekommen. Aber um Himmels willen, lenk mich doch nicht dauernd ab. MARK (richtet sich ein bißchen auf): Ich möchte, daß du vorher soweit bist. MELINDA: Wie soll ich denn, wenn du dauernd Konversation machst? Komm, bitte, rasch. MARK: Ich habe Angst, daß ich zu schnell soweit bin. MELINDA: Und wenn schon. Ich werde schon nicht zu kurz kommen.
Melinda wischt Mark etwas von der Stirn, von dem der Zuschauer annehmen kann, es sei Schweiß. MELINDA: Und jetzt, was machen wir jetzt? MARK: Ich möchte ein bißchen schlafen. Dann können wir zusammen ausgehen. 103
SECHSTE SZENE
Man hört Schritte im Gang. STIMME DES HAUSDIENERS: Herr van der Belt, das Motorboot ist bereit.
Die Türklinke bewegt sich. Panik. Melinda erhebt sich, in ein Betttuch gehüllt. MARK (erschrocken): Einen Augenblick, bitte. Sie können jetzt nicht hereinkommen. MELINDA (an der Tür, die Hand vorm Mund, zum Publikum): Wetten, daß er vergessen hat, die Tür abzuschließen?
SIEBTE SZENE
Der Hausdiener ist offenbar wieder fortgegangen. Melinda umarmt Mark, der sich wieder hingelegt hat und schon wieder halb schläft. MELINDA: Tschüs. MARK: Nachher besorge ich die Flugscheine. Wir sehen uns also in Mailand. MELINDA: Darüber reden wir, wenn du wieder wach bist.
Melinda verläßt das Zimmer und zieht dabei ein Bettuch und mehrere Wäsche- und Kleidungsstücke hinter sich her. In der Stille des Schlafzimmers hört man gleichmäßiges Atmen. Dieses Atemgeräusch wird immer lauter, bis es eins wird mit dem Summen einer Wespe und anderen Geräuschen. Von draußen hört man Melindas Stimme. Verflixt, schnarchen tut er auch.
Mark schnarcht weiter, während der Vorhang fällt.
Dann geschah zweierlei. Melinda schlug sich den Gedanken, eventuell Amerigo zu heiraten, aus dem Kopf. Und sie beschloß, Mark nicht wiederzusehen. Vor lauter Gerede über seinen Bruder und seine Frau war er so zerstreut gewesen, daß er verkehrte Flüge für verkehrte Tage gebucht hatte. Und Melinda blieb das demütigende Gefühl, er habe es vielleicht sogar absichtlich getan. So kam es, daß David und Melinda zusammen nach London zu104
rückflogen. David hielt es für möglich, daß ihre Ehe zu retten war, wenn sie sich auf sein Landgut zurückzogen und versuchten, ein Leben wie seine Altvorderen zu führen. Sein Programm sah folgendermaßen aus: Besuch bei seiner Mutter und auf seinen verschiedenen Besitzungen. Ihre Ehe retten ... Wenn es um eine derartige Entscheidung geht, ist alles, was man sagt oder tut, unnatürlich und verkehrt. David sprach immer wenig, wenn er Auto fuhr; aber diesmal war auch Melinda schweigsam. Sie hatte nur ein bißchen vor sich hin geträllert. Die Landschaft war langweilig, Anmerkungen dazu erübrigten sich. Außerdem regnete es. Dann aber versuchte sie doch, ein Gespräch anzufangen. «Schrecklich kalt», sagte sie. «Das wissen wir ja, daß es kalt ist. Wozu sagst du das?» — «Ich hab es nur gesagt, um überhaupt etwas zu sagen.» — «Dann rede demnächst nicht wieder, nur um überhaupt zu reden.» — «Und feucht ist es auch.» — «Natürlich, es regnet ja.» — «Ist es immer feucht, wenn es regnet?» Es war vergeblich. Solche Situationen waren nun einmal unmöglich. Selbst Melinda wurde mit ihnen nicht fertig. Sie rauchte viele Zigaretten. Der Hals tat ihr weh. «Ich habe Halsschmerzen.» — «Du hast zuviel geraucht.» — «Ist das Haus deiner Mutter gut geheizt?» — «Teils, teils.» — «Willst du damit sagen, daß manche Räume gut, manche weniger gut geheizt sind?» — «Du errätst wirklich alles.» — «Hat es viele Kamine?» — «Wenn du weiter derartige Fragen stellst, werde ich wahnsinnig. Bist du noch nie in einem englischen Haus gewesen? Hast du bei deinem ständigen Männerwechsel nicht etwa selbst schon fünf oder sechs besessen? Hör endlich auf, mir auf die Nerven zu fallen.» — «Das war doch nur ein bißchen Konversation. Zugegeben, nicht sehr brillant. Aber auch nicht besonders ...» «Ich habe Schluß gesagt.» Schweigen. Bis zu einer Asphaltstraße. «Hier beginnt der Besitz meiner Mutter.» — «Ist es auch dein Besitz?» — «Nur zum Teil. Die Güter, die mir ganz allein gehören, liegen in Yorkshire. Du wirst sie im Laufe dieser Woche kennenlernen.» — «Gibt es dort Wild?» — «Sehr viel.» — «Was denn?» — «Hauptsächlich Fasanen.» Jetzt sah man die Wälder und den Park rings um das Haus. Sie mußten mehrere Gittertore passieren. David hielt an und öffnete sie. Es wurde allmählich dunkel, und die Silhouette des Hauses war 105
kaum noch zu erkennen. Wie riesig die Fenster waren, konnte Melinda aus den erleuchteten Vierecken hinter den Gardinen schließen. Vor dem Eingang ein von Säulen getragener Vorbau. Ein Butler tauchte aus dem Dunkel auf. Mit ehrfürchtiger Stimme begrüßte er David. Melinda schaute er kaum an und widmete ihr nur eine flüchtige Verbeugung. Das war kein Mangel an Respekt, sondern englische Schüchternheit. « Wie geht es meiner Mutter?» fragte David. « Wie üblich, Herr David. Daß sie in bester Form wäre, kann man nicht behaupten.» Eine riesige Gestalt war schweigend unter den Portikus getreten. Melinda musterte sie mit Interesse und sah, daß ein vernichtender Blick sie traf. Auf dem Kopf hatte die Frau einen Filzhut, in dem die verschiedenen Hutnadeln im Laufe des Jahrhunderts zahllose Löcher hinterlassen hatten. Sie trug ein gelb und rosa geblümtes Kunstseidenkleid. Um Hals und Hut wanden sich Chiffontücher in bunten Farben. Ketten, Ringe, Anstecknadeln und Armbänder. Teils sichtlich unecht, teils echt. Ihre Strümpfe waren heruntergerutscht, einer fast bis zum Knöchel. Vielleicht benutzte sie keine Strumpfbänder, oder das Gummiband war gerissen. Ihre Füße steckten in abgetragenen, ausgetretenen Pantoffeln. Ein geschnitzter Stock stützte die Ido Kilo (wie Melinda später feststellte), die bei Davids Mutter über eine Länge von zwei Metern verteilt waren. Es war ein regelrechter Schock. «Ist das deine Mutter?» fragte Melinda halblaut. Aber David stürzte schon auf die ungeschlachte Gestalt zu. «Mama.» « Wie geht es dir? Wie war die Reise? Bist du müde? Komm herein und laß uns etwas trinken.» Sie gingen ins Haus und ließen Melinda wie vom Donner gerührt zurück. Als auch sie ins Haus gehen wollte, sprangen drei Hunde, die sie bisher nicht bemerkt hatte, an ihr hoch und taten, was sie konnten, um ihr den Eintritt in das Haus von Davids Vätern zu verwehren. «So, und das wäre also meine Schwiegertochter? Meine einzige Schwiegertochter?» « Ja, Mama.» «Man sieht ihr an, daß sie Ausländerin ist.» «Sie lebt aber seit langem in England.» «Aristokratisch sieht sie ja nicht gerade aus.» 106
«Bitte, Mama, nicht vor dem Personal. Außerdem verbitte ich mir solche Bemerkungen.» « Wenn das dein Vater hörte.» Sechs oder sieben Uhren tickten in ungleichem Takt. Zwei im Salon, drei in der großen Diele. Die Uhr im braunen Salon war stehengeblieben. Alle diese Uhren waren verschieden gestellt. Infolgedessen schlug es jeden Augenblick irgendwo viertet oder halb. «Schenk mir bitte Wein ein.» «Für heute abend hast du genug gehabt, Mama.» «Ich verbiete dir, mit deiner Mutter auf diese Weise vor Fremden zu sprechen.» «Melinda ist keine Fremde.» «Dann muß ich mir vom Butler Wein bringen lassen.» «Tu, was du willst, von mir bekommst du jedenfalls keinen.» Tick-tack, tick-tack. «Dein Vater hat gesagt, du könntest heiraten, wen du wolltest, nur keine Ausländerin. Woher kommst du denn?» (Es war das erste Mal, daß sie das Wort an Melinda richtete.) «In welchem Sinn meinen Sie das?» «Aus welchem Land?» «Aus der Tschechoslowakei.» « Wo liegt die Tschechoslowakei? In der Nähe von Indien? Dort bin ich mit meinem Mann auf der Hochzeitsreise gewesen. Nette Leute dort, nicht so wie hier. Alle haben mir Geschenke gemacht. Aber schrecklich heiß. Wir hatten so viele Freunde ...» «Mama, fang bloß nicht wieder mit deinen indischen Geschichten an. Von Indien hast du nichts weiter gesehen als die Empfänge des Vizekönigs.» «Was weißt denn du davon? Du warst damals überhaupt noch nicht auf der Welt. Sehr indisch siehst du ja nicht gerade aus, Melinda.» «Nein, bestimmt nicht.» «Und wie heißt du?» «Publishing.» «Der Name klingt englisch.» «Mein Vater änderte, als er nach England kam, seinen Namen. Vorher hieß er Publikovsky.» «Da hat dein Vater allerdings gut daran getan, seinen Namen zu ändern. Lebt er noch? Wie heißt er? Sieht er gut aus? Warum ist er nicht mitgekommen? Er könnte doch auch das Wochenende hier ver107
bringen. David denkt nie an so etwas. Er bringt mir bloß immer irgendwelche Mädchen hierher. Warum hat dein Vater denn sein Land verlassen?» «Das war vor dem Krieg.» «Ach so, das hätte ich mir denken können. Dein Vater hat nicht für England gekämpft. Er ist ausgerissen und hat sich verkrochen. Oder hat er etwa den Krieg mitgemacht?» «Ehrlich gesagt, nein. Aber er ist im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen.» (Stimmte das? Ach wo. Abraham war damals noch viel zu jung dafür.) «Na schön. Das war wenigstens noch ein Krieg. Der letzte war ja das reinste Kinderspiel. Im Ersten Weltkrieg war jeder ein Held. Ich war Rotkreuzschwester hier auf dem Land, und die Soldaten haben mir alle zugelächelt.» «Mama, fang jetzt bitte nicht wieder vom Ersten Weltkrieg an ...» «Halt du den Mund und gib mir Bordeaux.» «Du hast schon zuviel getrunken.» «Bitte keine Bemerkungen vor Fremden. Das hab ich dir doch schon einmal gesagt. Und warum ist dein Vater aus Indien geflüchtet?» «Wegen der Rassengesetze.» «Wegen welcher Rassengesetze? Ich habe nie von solchen Gesetzen in Indien gehört. Aber die heutige Generation hat die Manie, England in allem die Schuld zu geben. Wir haben uns in Indien tadellos benommen. Und ob. Ihr werdet das eines Tages noch merken ... wenn ihr alle draufgeht.» «Schluß, Mama.» «Eines Tages kommt ein Atomkrieg, und ihr werdet alle draufgehen. Darum beneide ich euch bestimmt nicht. Ich sterbe vorher. Ich bin schwerkrank. Meine Kinder kümmern sich nicht um mich. Bald werde ich tot sein.» «Mama, hör bitte mit deinen alten Geschichten auf.» «Siehst du? Er will nicht, daß ich davon spreche.» «Aber es geht dir doch ausgezeichnet.» «Ich habe ein schweres Leiden, eine unheilbare Krankheit. An der Lunge. Daran gehe ich zugrunde.» «Eine Rippenfellentzündung?» Ein tiefer Seufzer. Das Tick-tack der Uhren. 108
«Siehst du? Deine Frau versteht doch rein gar nichts, David. Eine Rippenfellentzündung! Ich habe die Schwindsucht, meine Lieben, die Schwindsucht! Und ihr werdet euch noch die Augen ausweinen. Aber nein. Ihr werdet wahrscheinlich froh sein. Bei meinem Begräbnis werdet ihr lachen, wenn ich überhaupt ein Begräbnis bekomme.» «Aber nein, Mama.» «Was hast du gesagt?» «Ich habe nein gesagt. Daß wir nicht froh sein werden.» «Was?» «Sie hört nicht mehr richtig. Das passiert immer, wenn sie zuviel getrunken hat.» «Er glaubt, ich höre nicht. Er bildet sich ein, er kann mich wie eine kranke alte Frau behandeln. Aber ich bin kerngesund. Er kann es nur nicht erwarten, daß ich sterbe und ihm das Haus, die Möbel und das Gut hinterlasse. Aber ich denke gar nicht daran zu sterben.» «Mama, ich habe doch mein eigenes Gut. Deines interessiert mich nicht im geringsten.» «Na gut, dann vermache ich es eben jemandem, der mehr Interesse daran hat.» «Mit anderen Worten Jeremy, nehme ich an.» « Was hast du gesagt? Sprich lauter. Er will mich beim Gespräch immer übergehen.» «Ich habe Jeremy gesagt. Das ist ihr ständiger Begleiter», fügte er leise hinzu. « Was meinst du mit ständiger Begleiter? Ich höre alles, damit du es weißt.» «Dabei fällt mir etwas ein, Mama. Ich würde zwar lieber nicht von diesen Dingen reden, aber da wir schon einmal dabei sind, ist es 1:i sser, wenn ich dir sage, daß deine Bank über deine Schulden klagt. Ich weiß, daß du Jeremy fünfzehn Millionen geschenkt hast und ihm das Schulgeld für seine drei Söhne bezahlst. Du kannst dir solche Ausgaben nicht erlauben.» «Aha, du spionierst mir nach. Jetzt weiß ich, was mein Sohn ist: ein Spion. Und wenn ich mit meinem Geld nicht machen kann, was ich will, dann verkaufe ich eben den Grundbesitz und die Möbel. Der arme Jeremy, ich weiß ja, daß du ihn haßt und eifersüchtig auf ihn bist. Ich hoffe, wenigstens Melinda wird ihn ins Herz schließen. Er ist mein einziger wirklicher Freund. Mit einem netten katholischen Mädchen verheiratet. Sie haben viele Kinder. Wollen Sie auch viele Kinder haben?» 109
«Wir werden sehen.» « Was heißt: wir werden sehen? Ich habe vier gehabt. Und Sie als Inderin müssen einen ganzen Haufen bekommen.» «Ich habe schon viele.» «Viele Kinder? Sie sind schon einmal verheiratet gewesen? Geschieden? Sind Sie denn nicht katholisch? Dann lebt ihr also in Sünde? Wissen Sie, daß eine Scheidung vor Gott nicht gültig ist?» «Ich bin nicht katholisch.» «Nicht katholisch?» Schweigen. Tick-tack. Ein tiefer Seufzer. Der Wind. Tick-tack. «Jedenfalls hast du nicht das Recht, nur an Jeremys Kinder zu denken. Denk an deine eigenen Enkel. Denen schenkst du nie etwas.» « Was behauptest du da? Ich tue doch nichts anderes. Und außerdem ist meine Tochter reich, reicher als ich. Sie braucht nicht einmal das Geld für einen Butler, eine Köchin und zwei Diener aufzubringen. Gib mir die Flasche.» «Mama, jetzt ist es genug.» «Siehst du, dauernd hat er etwas an mir auszusetzen. Er kommt nur hierher, um an mir herumzunörgeln. Ach, wenn dein Vater das sähe!» Plötzlich stand sie auf, machte zwei Schritte und stürzte. Sie war über das Tischchen mit den Saucen gestolpert. Mit Chutney im Gesicht, Minzensauce auf dem Kleid und einer Tabascoflasche in der Hand sagte sie: «Hol sofort das Mädchen und den Butler. Und wehe euch, wenn ihr lacht.» ,Die Unterhaltung nach dem Abendessen war ebenso schwierig. David ging an das alte Grammophon und legte eine Platte auf. «Sag Mama zu mir.» Eine riesige Hand drückte Melindas Arm. Der Chutney war flüchtig fortgewischt worden. Sie hatten ihr alle helfen müssen, wieder auf die Füße zu kommen. Der Butler und das Mädchen hätten es allein nicht geschafft. «Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie vorläufig lieber bei Ihrem Vornamen, Molly, nennen.» «Schön, wenn du das unbedingt willst.» Wieder seufzte sie. «Nur wenige Menschen verstehen etwas von Musik», sagte sie und drückte von neuem Melindas Arm. «Ich weiß, was Musik bedeutet.» Sie fing an zu weinen. David hatte sich in einen Sessel gesetzt und las Zeitung. Er sah I I0
und hörte nichts. Melinda suchte seinen Blick. Was sollte sie tun? David erwiderte ihren Blick nicht. Er war ganz in die Lektüre eines Wochenblatts versunken. « Weinen Sie nicht, Molly. Darf ich Sie Molly nennen?» «Du mußt das verstehen, mein Kind. Wie heißt du doch gleich?» «Melinda.» «Du mußt das verstehen, Melinda. Ich habe so viel zu leiden. Ich habe eine schreckliche Krankheit. Meinem Sohn ist es ja egal, aber die Ärzte machen sich große Sorgen.» « Warum tun Sie denn nichts dagegen?» « Jetzt fängst auch du damit an. Du verstehst das nicht. Meine Krankheit ist unheilbar. Ein chronisches Leiden. Aber wahrscheinlich weißt du in deiner Unwissenheit nicht einmal, wovon ich spreche.» «Doch, von der Schwindsucht. Sie haben es ja vorhin gesagt.» «Von was?» «Von der Schwindsucht.» « Jetzt fängst auch du damit an, dich undeutlich auszudrücken. Ihr jungen Leute solltet lernen, euch klar und deutlich auszudrükken. Immer versucht ihr, über mich hinwegzureden.» «Das ist nicht wahr. Außerdem unterhalten doch nur wir beide uns. Ich habe nicht das geringste Interesse, über Sie hinwegzureden. Ich sagte: Schwindsucht.» «Schwindsucht? In welchem Zusammenhang?» «Das ist Ihre Krankheit.» «Bravo. Erraten. Und wie hast du es erraten? Man sieht es mir an, nicht wahr? Du bist eine feinfühlige Person, Melinda, das sehe ich schon, ein intelligentes Geschöpf. Meine liebe Schwiegertochter, mein Sohn hat wohl daran getan, dich zu heiraten. Das hätte ich mir denken können. Ja, meine Liebe, du hast es erraten, ich habe die Schwindsucht. Stell doch bitte das Grammophon ab. Es ist so laut, daß man kein Wort versteht. Was hat David gesagt?» «Er liest. Er hat gar nichts gesagt.» « Wie lange bleibt ihr bei mir?» « Wir hatten an ein paar Tage gedacht.» «Warum nur so kurz?» «Danach gehen wir nach Yorkshire, damit ich das Haus meines Mannes kennenlerne.» «Nach Yorkshire? Davon hat mir niemand etwas gesagt. Ich komme mit.» III
«Ich glaube aber, wir wollten allein sein.» «Was hast du gesagt? Sprich lauter.» «Ich glaube, David möchte allein mit mir sein; seit unserer Hochzeit sind wir noch nie allein gewesen.» «Aber ich störe doch nicht. Du weißt doch, daß ich nicht jemand bin, der stört, nicht wahr?» «Sicher, aber ...» «David!» rief sie und entriß ihn damit einem neuen elektrischen Rasenmäher. «Mama?» «Wann fahren wir nach Yorkshire?» «Wer hat hier gesagt, daß wir nach Yorkshire fahren?» «Deine Frau.» «Wir fahren allein.» «Was hast du gesagt?» «Mama, wir beide möchten allein sein.» «Aber ich störe doch nicht. Das habe ich schon deiner Frau gesagt. Außerdem hat Melinda mich eingeladen. Nicht wahr, Melinda?» «Eigentlich ...» «Siehst du?» Eine Uhr schlug Mitternacht. Eine andere halb zwölf. Die übrigen tickten nur. Melinda zog sich zurück. Allein. Sie ging die große Treppe hinauf und betrachtete aufmerksam die Gesichter von Davids Vorfahren. Ihr Schlafzimmer war riesig und eiskalt. Auf dem Fußboden lagen Hunderte von sterbenden Fliegen. War ihr Tod auf ein Insektenpulver oder auf die Kälte zurückzuführen? Vermutlich war der eisige Wind daran schuld, der durch alle Fensterritzen drang. Melinda zog sich langsam in der Nähe des Kamins aus. Sie sah den Staub in den Marmorkannelüren und auf den schönen Paneelen im Stil der Adams. Es war kalt. David saß noch bei seinen Zeitungen, und nichts deutete darauf hin, daß er bald kommen würde. Melinda fand, sie habe zu viel Angst, um allein ins Bad zu gehen, das von ihrem Schlafzimmer weit entfernt war. Sie wußte nicht, wo die Lichtschalter waren, und allein durch die langen Gänge mit den zahllosen Uhren zu wandern ... Wer weiß, wie viele Gespenster in diesem Haus wohnten ... Und falls es vorläufig noch keine gab, dann würde Molly diese Aufgabe eines Tages übernehmen. Sie legte sich zu Bett. Unter dem großen Betthimmel fühlte sie sich beengt und brachte es nicht fertig zu lesen. Sie vermochte nur 112
dem Summen der sterbenden Fliegen, dem Tick-tack der Uhren und dem Heulen des Windes zu lauschen. Als sie eine Stunde später einschlief, war David noch immer nicht gekommen. Das Dienstmädchen, das das Frühstück brachte, weckte sie. «Wieso sind hier so viele Fliegen?» Das war ihr erster Satz an diesem Morgen. «Regnet es?» Es regnete. Sie gingen hinaus, um sich den Park, den Garten mit allerlei seltenen Blumen, den Gemüsegarten, die Gewächshäuser und den Wald anzuschauen. «Hast du gestern abend noch lange gelesen?» «Bis zwei. Ich habe noch ein paar Briefe meiner Mutter durchgesehen.» «Wo ist sie jetzt?» «Im Bett. Sie bleibt den ganzen Morgen liegen. Warum hast du sie eigentlich nach Yorkshire eingeladen?» «Ich habe nicht im Traum daran gedacht, sie einzuladen. Du hättest mich warnen oder uns wenigstens zuhören sollen. Sie ist ja wahrhaftig nicht einfach, deine Mutter. Du hättest mir vorher einige Verhaltensmaßregeln geben müssen.» «Dann warne ich dich jetzt also: morgens ist sie immer ganz schlechter Laune.» «Warum?» «Sie trinkt auf nüchternen Magen, und dann gerät sie in Rage.» «Wie lange bleiben wir hier?» «Noch vier Tage, dachte ich. Es ist doch so schön auf dem Land. Nachmittags können wir ein bißchen wegfahren, uns die Bauernhöfe ansehen und die Landschaft genießen. Vielleicht gehen wir auch mal zu einem Drink bei einem der Nachbarn. Wir haben hier sehr nette Nachbarn.» « Was hast du eigentlich getan, als du noch hier lebtest?» «Gelesen.» «Und jetzt möchtest du vier ganze Tage lang lesen?» « Warum nicht? Ein bißchen Erholung.» «Erholung wovon?» «Ist es dir nicht recht, wenn wir hierbleiben?» «Nein. Laß uns nach Yorkshire fahren.» I 13
«Schon morgen, wenn du willst. Fühlst du dich hier denn nicht wohl?» «Du etwa?» «Ich ja, sogar sehr.» «Gibt es hier im Haus Gespenster?» «Nein, ich habe nie welche gesehen. Und selbst wenn es welche gäbe, was wäre denn dabei?» «Ich würde mich zu Tode fürchten.» «Warum? Wenn es gute Geister sind, braucht man nichts zu befürchten.» «Hättest du keine Angst, wenn dir im Dunkeln plötzlich ein Gespenst begegnete?» «Nein, bestimmt nicht. Ich habe schon ein paarmal welche gesehen.» «Gespenster?» « Ja.» «Hier?» «Nein, bei Freunden, auf dem Land.» «Und du bist nicht umgekommen vor Angst?» «Aber warum denn? Ich sage dir doch, ich habe sie gesehen, das war alles. Sie haben mir nichts getan.» «Und du bist sicher, daß es hier keine gibt?» «Ich habe hier noch nie welche gesehen.» «Ich nehme an, deine Mutter wird nach ihrem Tod als Gespenst umgehen.» «Ja, die wird sicher das Haus unsicher machen.» Sie fanden sie im Salon. Sie wollte sich gerade einen Sherry einschenken; doch als Melinda und David eintraten, tat sie so, als staube sie die Flaschen ab, und trällerte vor sich hin. «Hast du gut geschlafen, Mama?» «Ausgezeichnet, soweit meine Krankheit das zuläßt.» Dann schaute sie Melinda böse an. «Seid ihr draußen gewesen? Man spürt schon den Frühling in der Luft, nicht wahr?» «Es ist doch gerade erst Herbst.» «Diese Dinge spürt man, oder man spürt sie nicht. Ich bin feinfühlig und spüre sie. Aber was verstehst du schon davon, ein Mädchen, von dem man nicht mal genau weiß, wo es herkommt. Der Frühling ... Ja, ein gebildeter, feinfühliger Mensch spürt ihn schon in der Luft. Besonders ein Mensch, der die Natur liebt und etwas
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von Blumen versteht. Ich nehme an, du hast keine Ahnung von Blumen und ihren Lebensgewohnheiten.» (Sie ließ ihr keine Zeit zu antworten. Tatsächlich hatte Melinda keine Ahnung von Botanik.) «Und von Pferden verstehst du sicher auch nichts. Also ein Mensch ohne alle jene Gaben einer Edelfrau, auf die dein Vater so großen Wert legte. Hier, das ist für dich.» Sie legte ihr ein Päckchen in die Hand. «Das habe ich mir vom Herzen gerissen. Ein Hochzeitsgeschenk. Es ist wunderschön. Viel zu schön für dich.» Melinda öffnete das Schächtelchen. Es enthielt eine Brillantnadel. «Danke.» Sie steckte sie an. Auf ihrer Bluse wirkte sie winzig. «Findest du mein Kleid nicht elegant?» Molly hatte sich jetzt David zugewandt. «Denk mal, es stammt aus dem Jahre 1944. Und mein Hut? Der stammt noch aus der Vorkriegszeit. Steht Gelb mir nicht gut? Gelb ist meine Farbe. Und Rosa und Lila sind auch meine Farben. Meine Arme sind doch noch sehr schön, findest du nicht? Alle sagen das. Wunderbar erhalten. Ich bin immer berühmt gewesen wegen meiner schönen Arme. Ich kann nicht finden, daß du dich sehr nett bedankt hast, anscheinend gefällt dir die Nadel nicht. Dann nehme ich sie eben zurück.» «Sie ist wunderschön. Ich habe mich doch bedankt.» «Aber nicht richtig. Mangel an Erziehung. Das merkt man. Ich habe das vom ersten Augenblick an gespürt, als ich unter dem Portikus stand und sie sah. An der Art, wie sie mich anschaute. Katholisch ist sie auch nicht, und obendrein kommt sie aus Indien. Zu meiner Zeit hätte sie keinen Zutritt zur englischen Gesellschaft gehabt.» «Schluß, Mama.» «In meinem Haus sage ich, was ich will.» Die Mahlzeit fand in tiefem Schweigen statt. Nur die Uhren schlugen, und der Wind, der inzwischen aufgekommen war, heulte. Am Nachmittag schauten sich David und Melinda die Felder an. Später gingen sie auf einen Sherry zu einem Vetter. Der Abend verlief genauso wie der Abend zuvor. David las ununterbrochen und beteiligte sich nicht am Gespräch. Es war eine lange Fahrt. Melinda betrachtete Davids Profil und dann das Panorama, die Höhe, die Dörfer, die alle gleich aussahen, und die Leute im Regen. Die Unterhaltung wurde immer schwieriger. Sie diktierte einige Briefe in ihr Diktaphon. '15
Wie hatte es ihm nur in den Sinn kommen können, einen Versuch zur Rettung dieser unrettbaren Ehe zu unternehmen? Molly fuhr mit dem Zug. Wenn sie ankamen, würden sie sie schon im Schloß ihrer Väter vorfinden. Betrunken. «Ich bin diese Straße gefahren, um dir die Kathedrale von Durham zu zeigen.» «Im Regen?» «In der Kathedrale regnet es doch nicht.» «Kennst du sie schon?» «Ja, ich habe sie schon oft gesehen.» «Dann brauchen wir jetzt nicht hinzufahren.» Was hatte David nach Jahren des Alleinseins und eines glücklichen Junggesellenlebens veranlaßt zu heiraten? Er warf Melinda einen Blick zu, der beinahe zu einem Unfall geführt hätte. Schön war sie. Aber sonst? David wußte nie, was seiner Frau durch den Kopf ging. Was interessierte sie? Sie selbst? Nicht einmal das. Sie langweilte sich oft. Und mit ihm langweilte sie sich ganz bestimmt. Aber warum hatte sie ihn dann geheiratet? Wahrscheinlich aus Gewohnheit. Wie hatten ihr wohl die Tage in Wales gefallen? Ob sie sich gelangweilt hatte? Ob sie ein wenig von seinem Zuhause verstanden hatte? Was dachte sie über sein Leben? Vielleicht würde ihr das Haus in Yorkshire gefallen. Es mußte schön sein, mit ihr ein paar Monate auf dem Land zu verbringen und zu versuchen, sie zu ändern, sie für andere Dinge zu interessieren. Schließlich und endlich konnte man bei dem verworrenen Leben, das Melinda geführt hatte, nichts anderes von ihr erwarten. War sie Marks Geliebte gewesen? War sie es noch immer? Oder war sie die Geliebte von ... Aber was nützten solche Fragen? Und was nützte es überhaupt, sich um Melinda Gedanken zu machen, wenn sie augenscheinlich nie über ihn nachdachte? Was hielt sie von ihm? Warum kritisierte sie ihn nie und stellte ihm dann plötzlich Fragen wie in einem Fernsehquiz, als könnte sie aus seinen Antworten schließen, was für ein Mensch er war. Er mußte daran denken, wie er zum erstenmal ihr Kindergesicht auf einem Foto gesehen hatte. Sie sprach nie von ihren Kindern und von ihren früheren Männern. Aber es war ausgeschlossen, daß sie nicht manchmal an sie dachte. Eine Woche auf dem Land mit all ihrer Langeweile. Wenn ich nur etwas finde, womit ich mich beschäftigen kann. Einen Freund. Ich werde Anthony anrufen. Ich werde an Amerigo schreiben. Wo er jetzt wohl steckt? Und Archibald Ostrowskij? 116
«Wäre das hier nicht ein schöner Pic k nickplatz?» «Reizend.» «Dann wollen wir halten.» « Wozu?» «Um zu picknicken.» «Aber ich habe gar nichts mitgenommen.» «Dafür hat die Köchin gesorgt.» «Aber denk doch, wie naß das Gras ist.» « Wir bleiben im Wagen.» «Laß uns doch in ein Restaurant gehen und dort an einem Tisch picknicken.» «Um diese Tageszeit hat bestimmt kein Restaurant geöffnet.» «Wieviel Uhr ist es denn?» «Zwei.» «Aber in London ...» « Wir sind hier nicht in London, wir sind in der englischen Provinz.» « Was für eine unzivilisierte Gegend.» «Schließlich hast du sie dir als Wohnsitz ausgesucht.» «Ich habe mir gar nichts ausgesucht.» «Darüber brauchen wir uns jetzt nicht zu streiten. Willst du essen, ja oder nein?» «Lieber nicht, wenn die Alternative ein Picknick ist.» «Na schön, dann mußt du mir eben zuschauen.» David aß, nachdem er den Inhalt der verschiedenen, in Butterbrotpapier gewickelten Päckchen untersucht hatte, die das übliche enthielten: harte Eier, Tomaten, gekochten Schinken. Sie fuhren wieder los. « Jetzt sind wir schon in Yorkshire.» «Tatsächlich?» «Findest du die Landschaft nicht schön?» «Ich kenne sie schon.» «Aber findest du sie nicht trotzdem schön?» «Es regnet.» Ein bißchen später: « Jetzt sind wir bald zu Hause.» « Ja, die Landschaft ist schön.» «Wir sind gleich da.» «Das ist aber weit. Hätten wir nicht fliegen können?» «Von Wales aus?» « Warum nicht? Man kann doch ein Flugzeug chartern.» 1 17
Scheidung, Scheidung — so schnell wie möglich. Wann hörte bloß diese Konversation auf? Sie hörte bei der Ankunft auf. «Siehst du die Höhen dort drüben?» «Sehr schön.» «Die gehören mir.» Die Sache fing an, interessant zu werden. Melinda richtete sich auf ihrem Sitz auf, um besser sehen zu können. Sie kämmte sich und puderte ihre Nase. Bei der Ankunft mußte sie schön sein. Frisch wie eine Rose. Ein Tor mit Löwen, Greifen und Pfauen. Der Park reichte bis zu den Höhen. Es war schon so dunkel, daß man in der Ferne das Schloß mit seinen rauchenden Schornsteinen und seinen erleuchteten Fenstern kaum erkennen konnte. «Wir haben kein elektrisches Licht.» «Das ist ja reizend. Aber ein Telefon gibt es doch hoffentlich?» Soll ich ihm sagen, daß ich ein Kind erwarte? «Sag jetzt nichts.» (Wie hatte er es erraten?) «Schau dir diesen Blick an.» David, man merkte es deutlich, war begeistert von seinem Haus. Tatsächlich war es schön, und alles war gut organisiert. Eine tüchtige Köchin und eine Menge Frauen, die den ganzen Tag putzten. Ein Haus, das keiner Hausfrau bedurfte. Molly saß schlecht gelaunt in dem großen, reich mit Stuck verzierten Salon und erwartete sie. Auf dem Kopf hatte sie einen anderen Hut, um den Hals ein lila Tuch und in der Hand ein grünes. «Das soll wohl der Einzug der Schloßherrin sein?» «Ja, Mama, genau das.» «In mein liebes altes Haus. Du kannst dir nicht vorstellen», sagte sie zu Melinda, «wie schön es ist, in sein eigenes altes Haus zurückzukehren.» «Doch, doch, ich kann es mir schon vorstellen.» «Was heißt hier vorstellen? Um das zu begreifen, bedarf es einer Feinfühligkeit, die dir nicht gegeben ist.» David war hinausgegangen, um die Koffer auf die Zimmer zu bringen und sich nach dem Befinden der alten Köchin zu erkundigen. «Hast du eine gute Reise gehabt?» fragte Melinda. «Du Hexe. Ja, das bist du, eine Hexe. Du willst dich in mein Haus einschleichen. Aber ich werde das zu verhindern wissen.» «Muß man denn ständig betrunken sein?» «Wie? Was hast du gesagt? ... Betrunken? Ständig betrunken?» 8
Der Fleischberg erhob sich und wälzte sich auf sie zu. «Du Hexe, du Hure, du Ausländerin, du Kommunistin, du Jüdin.» Sie schlug mit beiden Händen auf sie ein. Melinda flüchtete sich in einen Winkel. Der Fleischberg ragte vor ihr empor. «Du verfluchtes Frauenzimmer. Du Hündin. Du Dirne.» Ein Dienstmädchen war diskret hinter einem Sofa aufgetaucht. «Beherrschen Sie sich, gnädige Frau.» «Diese Hexe will mich schlagen.» Melindas Augen wurden vor Schreck immer größer. «Die arme gnädige Frau ist so müde», sagte das Dienstmädchen. «Ich bin überhaupt nicht müde.» «Sie werden sehen, gnädige Frau, morgen bittet Ihre Schwiegertochter sie um Verzeihung. Sie ist doch noch so jung.» «Ich? Wen soll ich denn um Verzeihung bitten? Ich gehe auf der Stelle. Ich habe genug.» Sie nahm ihre Tasche und wollte gerade den Salon verlassen, da trat David ein. « Wo willst du hin, Liebling?» «Ich will ein Taxi haben. Ich fahre nach London zurück.» « Was ist denn los? Gefällt es dir hier nicht?» «Ein schöner Empfang.» «Was ist denn geschehen?» «Deine Mutter hat mich geschlagen und beschimpft.» «Na ja, sie ist halt betrunken. Schließlich hast du sie ja eingeladen.» «Ich habe sie gar nicht eingeladen. Schick sie augenblicklich fort.» « Wen?» «Deine Mutter.» «Das ist unmöglich.» «Dann gehe ich.» «Nein, das darfst du nicht. Du bist eben erst angekommen. Was soll denn das Personal und das Dorf denken? Außerdem wollen sie dich doch kennenlernen, die neue Dame des Hauses.» «Das Personal ist von meiner Ankunft so begeistert, daß es sofort für deine Mutter Partei ergriffen hat.» «Sie ist alt. Alle hängen an ihr.» «Hör mal, ich möchte nicht noch einmal das gleiche wie in Wales erleben.» «Hat es dir dort nicht gefallen?» 119
«David, du weißt genau, daß es mir dort überhaupt nicht gefallen hat.» «Du wirst sehen, Melinda, hier ist es anders. Wir wollen uns beide Mühe geben. Und in ein paar Tagen bitten wir Mama abzureisen. Jetzt komm erst mal essen.» Das Speisezimmer war nicht so groß wie das in Wales und auch nicht so geschmackvoll eingerichtet. Das Essen aber war vorzüglich. Ein guter Wein entsprach Melindas Bedürfnis nach Wärme; sie war zufrieden. Sie ging auf ihr Zimmer. Das Bett war voller Wärmflaschen. David war im Salon geblieben; er hatte sich in die Lektüre von Zeitschriften vertieft, die auf landwirtschaftliche Maschinen spezialisiert waren. Auf Melindas Nachttisch stand ein Blumenstrauß, den der Gärtner geschickt hatte. Sie wollte lesen und suchte nach einem Buch. Seit Monaten hatte sie es nicht nötig gehabt, nach einem Buch zu greifen, um sich nicht zu langweilen. Sie zündete das Gaslicht an und löschte einige der vielen Kerzen. All das offene Feuer um sie herum ängstigte sie. Molly war zu abscheulich, als daß man sie hätte vergessen können. Wenn sie nicht aufhörte, ihr unnütz Ärger zu machen, würde sie sie einfach umbringen. Vielleicht eine kleine Jagdpartie? Aber wie sollte man glaubhaft machen, daß man diesen riesigen, ungeschlachten Körper, der die gebahnten Pfade nicht verließ, für eine Gazelle oder einen Fasan gehalten hatte? Und David würde es vermutlich auch nicht recht sein. Melinda verbrachte den ersten Tag mit der Besichtigung des Hauses. Hin und wieder begegnete sie Molly, die ihr jedesmal sagte: «Das gehört aber alles nicht dir.» Sie tat, als höre sie nichts. Gelassen sah sie sich ein Zimmer nach dem anderen an und prägte sich alles ein. Dann ließ sie David und Mama allein eine Spazierfahrt machen und mobilisierte das gesamte Personal. Landarbeiter, Dienstmädchen und Gärtner mußten die Möbel umstellen und die Fenstervorhänge und die Betthimmel abnehmen. «Eine Überraschung. Eine Überraschung.» Der Tee wurde im Salon serviert. «Und was hast du heute nachmittag gemacht?» fragte Molly. Melinda wies erstaunt auf das Zimmer. «Ach, das ist recht. Du hast dich ausgeruht. Ein bißchen Ruhe. Das hast du nötig. Hoffentlich ein Anzeichen einer Schwangerschaft. Allmählich müßtest du doch ein Kind erwarten.» 120
«Das tue ich auch.» Ein bescheidenes Lächeln mit niedergeschlagenen Augen. «Was hast du gesagt?» David las eine Wochenzeitung. «Molly, ich erwarte ...» «Schon gut, wir alle haben im Leben schon warten müssen. Und wenn wir ein bißchen zu spät zum Tee gekommen sind, dann ist dein Mann daran schuld, weil er so langsam gefahren ist.» «Hast du dir das Zimmer schon angeschaut?» «Natürlich. Ich kenne es seit Jahren. Sehr viel länger als du, meine Liebe. Ich bin in diesem Haus geboren. Da soll ich es mir wohl angeschaut haben!» «Aber sieh mal, die Sessel. Und die Aquarelle dort und die drei Tische, die ich von oben habe holen lassen. Auch das Sofa, auf dem du sitzt, stand nicht hier.» «Stand nicht hier? Wo zum Teufel stand es denn? Wie? Du hast dir erlaubt, meine Sachen anzurühren? Hat dir mein Haus etwa nicht gefallen? Das soll wohl ein Tadel sein? David, David, hör auf zu lesen.» «Was ist, Mama?» «Sieh mal, was deine Frau gemacht hat.» « Was hat sie denn gemacht?» «Sie hat das Haus ruiniert.» «Inwiefern?» «Sie hat alle Möbel umgestellt. Eine Katastrophe. So etwas hat es noch nie gegeben.» «Ach ja, richtig. Sieht gut aus. Bravo, Melinda. Mehr Platz. Eleganter, wenn man es richtig betrachtet. Ja, mir gefällt es.» «Sie hätte wenigstens warten können, bis ich gestorben bin. Für eine arme, alte, kranke Frau wie mich ist das entsetzlich. Das bringt mich um. Gib mir einen Sherry.» Sie stand auf und nahm die Flasche vom Tablett. «Ich habe auch einen Innenarchitekten angerufen», sagte Melinda schüchtern. «Ich freue mich, Liebes, daß du dich für dein neues Haus interessierst. Daran hast du recht getan.» «Sieh mal, hier möchte ich neue Vorhänge hinhaben, die alten sind ganz zerschlissen. Und die Sessel brauchen neue Bezüge. Ist dir das recht?» «Tu das nur, Liebes, wenn es dir Spaß macht.» 121
ßeres Zimmer, damit Sie nicht in Ihrem Schlafzimmer arbeiten müssen. Ich kann mich mit meiner Strickarbeit zu Ihnen setzen. Ich werde Sie auch ganz bestimmt nicht stören. Ich werde kein Wort reden.» «Sehr liebenswürdig, gnädige Frau. Aber lassen Sie uns bitte allein, wir haben viel zu tun.» Er sagte das mit der Sicherheit des Mannes, der ständige Annäherungsversuche, Ausschußsitzungen und dauernde Belästigungen gewohnt ist. Melinda bewunderte ihn. «Komm, laß uns weitermachen.» Er war interessiert. Sogar sehr interessiert. Und er war dabei, Wichtiges zu dem ersten Plan beizutragen. «Also laß mal sehen. Es wäre jetzt drei Uhr morgens. Der Zug fährt mit einer Diesellokomotive und vielen Wagen. Einige davon sind Postwagen und enthalten die Säcke mit dem Geld von den Banken. Manchmal entwerten die Banken das Geld. Man muß sich informieren, ob der Zug an der kleinen Station Leighton Buzzard hält. 68 Kilometer von Enston entfernt. Weißt du, was in Enston ist?» «Was denn?» «Das Sanatorium.» «Und was hat das damit zu tun?» « Weißt du das nicht? Es gehört Ostrowskij. Er ist oft dort.» «Möchtest du ihn in unseren Plan einweihen?» «Sicher. Wir werden viele Leute brauchen, vor allem aber Köpfe und Organisation. Und wie du schon sagtest, ein beträchtliches Kapital. Fünf oder sechs Autos, einen Lastwagen, einen erfahrenen Lokomotivführer. Und wir müssen zwei oder drei Häuser mieten, eines davon in nächster Nähe von der Stelle, für die wir uns entscheiden.» «Wird Ostrowskij mitmachen?» «Natürlich macht er mit.» «Wie bringt man den Zug zum Stehen? Meiner Meinung nach müßte die Sache mit dem roten Signal funktionieren. Das ist das Haltezeichen. Kein Lokomotivführer wird Verdacht schöpfen, wenn die Gegend, die wir aussuchen, bewohnt und einigermaßen verkehrsreich ist. Vorschriftsgemäß muß der Lokomotivführer dann telefonieren. Also schon einer weniger. Außer ihm sind noch vier oder fünf Aufsichtsbeamte in dem Zug. Aber die halten sich in den Tresorwagen auf und sind verpflichtet, auf keinen Fall auszusteigen, sondern auf ihrem Posten zu bleiben. Und die anderen werden sowieso nichts merken.» 124
«Dann werden also nach deinem Plan die Lokomotive und die Wagen an einer bestimmten Stelle abgehängt, wo ein Auto wartet. Das muß dann allerdings ein Lastwagen sein.» «Das muß man ausprobieren. Aber fünfzehn Minuten müßten genügen, um die Säcke abzuladen und die Aufsichtsbeamten aktionsunfähig zu machen. Wenn wir erst mal all das Geld haben, dann gibt es auf der ganzen Welt keine Polizei, die uns schnappen kann. Jetzt wollen wir hinuntergehen. Nach dem Abendessen machen wir weiter.» «Vielleicht doch lieber erst morgen früh, sonst werden die hier noch argwöhnisch. Schon daß Molly heute gekommen ist ... Weißt du, sie hat den Verdacht, wir hätten ein Verhältnis, das ist alles. Aber die Sache macht dir Spaß, wie? Eine gute Idee, nicht wahr?» Den größten Teil des Wochenendes verbrachten sie mit der Ausarbeitung ihres Plans. Anthony kehrte den Perfektionisten, den Mann der Regierung heraus. Stundenlang diskutierte er jede Einzelheit. Er war ein Mensch, der gewohnt war, Pläne zu entwerfen, sie in allen Einzelheiten zu entwickeln, sie zu widerlegen. Mathematisch genau. Präzis. Der Raub würde unter Waffenschutz vor sich gehen. Aber es durfte weder Tote noch Verwundete geben. Anthony und Melinda würden in London oder möglichst im Ausland sein. Die Schwierigkeit bestand darin, die richtigen, zuverlässigen, hochspezialisierten Leute zu finden. «Wir brauchen Leute, die selbst schon an einen Raubüberfall auf den Glasgower Zug gedacht haben. Man muß ihnen klarmachen, daß es diesmal möglich ist; sie dürfen nie davon erfahren, daß wir hinter der Sache stehen.» «Das heißt also, daß sie nicht mit uns sprechen dürfen.» « Ja.» «Und unser Mittelsmann würde Ostrowskij sein?» «Höchst wahrscheinlich.» «Und wenn die Sache schiefgeht?» «Niemand weiß von uns. Ostrowskij kann sich tarnen. Außerdem geht nichts schief. Wie sollte es schiefgehen, wenn du und ich es organisieren?» «Und wenn jemand verhaftet wird?» «Dann verhelfen wir ihm zur Flucht. Wenn wir all das Geld haben, kann keine Polizei der Welt uns etwas anhaben.» «Also an der Brücke bei Bridego.» 125
« Wir schauen sie uns in diesen Tagen mal an.» «Und wann kann es losgehen?» « Je nachdem, wieviel Arbeit man in die Sache steckt. Schon in ein paar Monaten, wenn wir die Leute dazu finden. Gut wäre es, die Sache ginge im August über die Bühne, wenn auf den Straßen viel Verkehr und bei der Post großes Durcheinander herrscht.» Auch als Anthony abreiste, regnete es. Er würde so bald wie möglich mit Ostrowskij sprechen. Er würde alle Informationen über den Versand der Banknoten einholen. Er beglückwünschte Melinda. Die Idee war gut, wenn auch noch nicht ganz durchdacht. Aber der ganze Plan verriet einen Scharfsinn und eine Gründlichkeit, wie Anthony sie Melinda nie zugetraut hätte. Anthony kam sogar noch dazu, im Regen eine Partie Golf zu spielen, was die Aufmerksamkeit einiger ortsansässiger Fotografen erregte. Sie umarmten sich an der Tür. Jetzt waren sie Freunde fürs Leben. Melinda vernichtete jeden Papierfetzen, aus dem man auf das Studium englischer Landkarten hätte schließen können, und da sie nichts Besseres zu tun hatte, fuhr sie nach London zurück. Am Tag darauf erhielt sie einen Brief von Davids Anwalt. Er ersuchte sie um Scheidung. Na, schön. Jetzt würde sie ja ohnehin sehr reich werden. Für ihre Pressekonferenz hatte Melinda das Hotel Savoy gewählt. Einige Zeitungen brachten die Nachricht auf der ersten Seite, vor dem Krieg in Indien, vor den Unruhen in Malaysia und vor der europäischen Wirtschaftskrise. ABGEORDNETE IM BADEANZUG. — EX-HERZOGIN GEHT ZUM CABARET. (Das war nicht ganz richtig, aber was hätten die englischen Zeitungen nicht getan, um ein paar Exemplare mehr zu verkaufen?) Ostrowskij telegrafierte: WERBUNG VIELLEICHT ÜBERTRIEBEN STOP ALLES GUTE STOP GRATULIERE ZUR SCHEIDUNG. Melinda beschloß, die Entscheidung noch hinauszuschieben, ob sie das Kind, das sie erwartete, zur Welt bringen wollte oder ob sie den in solchen Fällen üblichen Nervenzusammenbruch vorschieben und einen bewährten Gynäkologen aufsuchen sollte, der die Schwangerschaft unterbrechen würde. Als sie nach einem Nachmittag im Parlament in den Sexyboy Club ging, wußte sie, daß viele Fotografen am Eingang stehen würden. Die Interviews würden unangenehm und sehr schwierig sein. Sie entschloß sich, keine zu geben. Sie antwortete hastig und verworren, sagte etwas von Frauenemanzipation, von gesellschaftli126
chen Vorurteilen und warum, schließlich und endlich, eine Abgeordnete nicht arbeiten solle. Es werde eine interessante Erfahrung sein. Und fort, in den Fahrstuhl — die Meute der Fotografen hinter ihr her. Wie Anthony G. Gambaino III ihr schon angekündigt hatte, ergriff die Häschenmutter, eine ehemalige Maskenbildnerin deutscher Herkunft, sofort von ihr Besitz. Das Atlasmieder mußte eng anliegen, das unordentliche Haar wurde unter einer Perücke mit Stirnfranse versteckt, und ihre Lippen wurden rosa angemalt. «Wenn etwas nicht in Ordnung ist, ein Abnäher aufplatzt, Ihre Perücke verrutscht, die Wimpern sich ablösen, die falschen Fingernägel abgehen oder die aufgesetzten Leberflecke nicht mehr halten, kommen Sie zu Mutti. Dafür bin ich da. Sie können jederzeit kommen.» Melinda schaute in den Spiegel. Selbst ihre besten Verkleidungen hatten sie nicht so unkenntlich gemacht. «Auch wenn Sie sich aussprechen möchten, bin ich für Sie da. Ich bin die Mutti für alle Häschen. Und sorgen Sie bitte immer dafür, daß Ihr Kragen gestärkt und sauber ist. Sie müssen sich sehr gut enthaaren. Sie wissen schon, wo. Und zwar mit Creme, das Rasiermesser reizt die Haut, und man sieht es.» Die Häschenmutter strich ihr über den Hals. «Eine schöne, natürliche Linie. Eine schöne Frau, das muß man zugeben. Und hier die Rosette mit Ihrem Namen: . Sie ist auf dem rechten Schenkel zu tragen.» Es war nicht auszuschließen, daß die Häschenmutter eine von denen war, die Lampenschirme aus Menschenhaut gemacht hatten. «Die ersten zwei Stunden werden Sie am Souvenirstand eingesetzt, Häschen Melinda. Da haben Sie Gelegenheit, die anderen Häschen zu beobachten. An dem Stand werden Exklusivartikel des Sexyboy Club verkauft, die wie warme Semmeln weggehen. Stoffhäschen, Aschenbecher und Coc ktailgläser, ideale Geschenkartikel. Wenn Sie Trinkgelder bekommen, können Sie sie behalten. Aber lesen Sie unbedingt unsere Vorschriften.» «Die habe ich schon gelesen.» «Dann lesen Sie sie noch einmal. Wir können sie ja zusammen lesen.» Der Kopf der Häschenmutter näherte sich dem ihren, und sie begann andächtig das Handbuch für Häschen durchzublättern. «Schauen wir uns erst mal das Stichwörterverzeichnis an. Abwe-
senheit ... Vorgesetzte ... Gewerkschaftsversammlungen der Häschen.» «Das ist ja ein entsetzlich langes Verzeichnis.» 127
«Dann haben Sie es also noch gar nicht gelesen?» «Offen gesagt hatte ich keine Zeit. Aber das sind doch Dinge, die ich sowieso weiß.» «0 nein. Sie müssen das lesen. Wir werden jeden Abend vor der Arbeit ein Kapitelchen lesen. Gemeinsam, wie Mutter und Tochter. Fangen wir zunächst einmal mit der Einleitung an: Unsere Organi-
sation basiert auf Freundschafl. Wir sind stolz auf alle unsere Mitarbeiter, insbesondere auf die weltberühmten Häschen ... Sehen Sie, Sie arbeiten nicht in irgendeiner beliebigen Stellung. Sie gehören jetzt zu unserer Organisation. Darauf müssen Sie stolz sein. Und nun achten Sie auf diesen Paragraphen: Sobald das Häschen sich für die
Arbeit zurechtgemacht hat, meldet es sich bei der zuständigen Saalaufsicht. Die Häschenmutter und der aufsichtführende Angestellte prüfen, ob Aussehen und Kleidung tadellos sind. Die Häschen haben ihre Vorgesetzten mit anzureden. Jetzt müssen Sie aber gehen. Kommen Sie morgen ein bißchen früher, damit wir ein Stündchen lesen können.» Sie tätschelte ausgiebig Melindas nackten Rücken. Die Hände dieser Wikingerin waren derb und kalt. Melinda beschloß, alles so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. Sie wollte nicht länger als unbedingt nötig an diesem Platz bleiben. Schon weil sie nicht gewohnt war, so hohe Absätze zu tragen. Sie zündete sich eine Zigarette an und ging zu der Saalaufsicht. «Wer sind Sie denn? Eine Neue? Haben Sie die Vorschriften nicht gelesen? Während der Arbeit darf nicht geraucht werden.» «Entschuldigen Sie. Ja, ich bin neu.» «Und wie heißen Sie? Ich heiße Metcalf. Für Sie natürlich Herr Metcalf.» «Ich bin das Häschen Melinda.» «Häschen Melinda, ach so, die Herzogin. Sehr erfreut. Kommen Sie bitte mit. Sie können mich ruhig Metcalf nennen. Ich stelle Ihnen jetzt die Häschen vor, die heute abend zusammen mit Ihnen arbeiten. Alles hübsche Mädchen, sehr willig und aus guter Familie. Natürlich nicht aus Ihren Kreisen, liebe Herzogin, aber ordentliche, rechtschaffene Mädchen. Auf die wir stolz sein dürfen.» Unter all den Mädchen waren auch die drei, die sie suchte. Sie hießen Häschen Ann, Häschen Sally und Häschen Roberta. Sie wurden ihr vorgestellt, aber die drei schienen nicht besonders darauf erpicht, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich behalte euch im Auge, dachte Melinda. 128
Statt dessen behielten die Mädchen sie im Auge. Sie merkte es sofort: ständig war ihr eine auf den Fersen. Nachdem Melinda an die hundert überflüssige Gegenstände verkauft hatte (die Abgeordnete als Häschen war eine gewaltige Attraktion), zog sie sich zurück, um sich neu zu schminken. Roberta folgte ihr auf dem Fuße. «Sie werden sehen, daß Sie sich bei uns wohl fühlen. Wir sind alle eine große Familie.» « Ja, ja, das hat man mir schon gesagt.» «Sie brauchen sicher Gesellschaft, vor allem jetzt, wo Ihr Mann Sie verlassen hat; wir haben es in der Zeitung gelesen. Aber man soll die Männer ruhig laufen lassen. Finden Sie nicht? Da ist man alle Sorgen los.» « Wahrscheinlich. Arbeiten Sie schon lange hier?» «Erst seit ein paar Monaten. Der Sexyboy Club ist ja noch neu in der Stadt.» «Ich würde mich gern einmal mit Ihnen treffen. Ich meine, auch außerhalb des Clubs. Sie könnten mir ein paar Tips für die Arbeit hier geben. Am Anfang weiß man doch nie, wie man sich verhalten soll.» «Das lernen Sie rasch. Darf ich Sie bei Ihrem Vornamen nennen?» «Natürlich, Roberta.» «Nein, so nicht. Sie müssen immer sagen. Und ich . Das gehört zu den Vorschriften.» « Was für ein Mensch ist eigentlich die Häschenmutter?» «Ein bißchen lesbisch, aber daran gewöhnt man sich bald. Eine ordentliche Person. Aber man muß sich ihre Gunst erwerben, sonst behandelt sie einen schlecht und gibt einem Minuspunkte.» «Minuspunkte?» « Ja. Haben Sie denn die Vorschriften nicht gelesen?» «Sie sind schon die dritte, die mich danach fragt. Ich sehe ein, daß ich sie lesen muß.» «Man kann auch Pluspunkte bekommen. Wenn man zu viele Minuspunkte hat, wird man entlassen.» «Und wenn man viele Pluspunkte hat?» «Bekommt man mehr Geld.» «Verdient man hier gut?» «Das kommt auf die Trinkgelder an.» «Geben die Gäste viel?» 129
«Meistens nicht. Je nachdem.» «Hast du hier Freundinnen?» «Nein.» «Aber Häschen Sally?» «Das ist nur eine Bekannte.» «Ist sie Anns Freundin? Entschuldige, die Freundin von Häschen Ann.» «Nein, nein. Sie kennen sich nur flüchtig.» Sie trennten sich. Die Häschenmutter erzählte ihr, Roberta sei eines der besten und zuverlässigsten Häschen. Aber sie wäre beinahe rausgeschmissen worden, weil sie früher Kommunistin gewesen sei. «Jetzt gehört sie der neonazistischen Jugendbewegung an. Bei der Parade sah sie entzückend aus — ganz in Schwarz. Sie macht sich auch nichts aus Männern. Das hast du vielleicht schon gemerkt.» Am nächsten Tag traf sich Melinda mit Anthony zum Essen. Er war todunglücklich. Sie gingen ins Ritz, und wie immer fehlte es nicht an Neugierigen. «Du wirst sehen, diesmal heiraten sie.» — «Nein, anscheinend will sie den Komponisten heiraten.» — «Nein, man hat sie doch mit dem Dirigenten aufs Zimmer gehen sehen.» Endlich hatte die Austernsaison begonnen. Sie bestellten sich viele. Anthony aß sechs rohe, die er ein wenig mit Tabascosauce und Zitrone beträufelte und dann aus der Schale schlürfte. Danach aß er sechs überbackene und zum Schluß sechs gebratene, die mit Petersilie gewürzt waren. «Ich hoffe, du weißt meine Courage zu schätzen.» «Inwiefern, Anthony?» «Daß ich mit dir zum Essen ausgehe.» «Du täuschst dich, ich bin sehr populär und beliebt.» «Sehr populär, das stimmt. Hör zu, du mußt im Sexyboy Club aufhören. Das ist zu gefährlich.» «Wer hat dir denn das erzählt?» «Ich weiß es. Hast du die drei Häschen ausfindig gemacht, die du suchtest?» «Alle drei.» «Und was hast du jetzt vor?» «Ich weiß nicht.» Bloß Anthony nie die Wahrheit sagen. Sie ihn erraten lassen. «Hilfst du mir bei meinen Weihnachtseinkäufen? Meine Sekretärin läßt sich nichts mehr einfallen.» «Meine ist höchst einfallsreich. Ich werde sie darum bitten.» 130
«Nein, bitte nicht, ich möchte lieber, daß du das machst.» «Ich habe keine Zeit.» «Ich wünschte, du hättest Zeit und tätest die Dinge, die andere normale Frauen auch tun: Besorgungen machen, sich um die Kinder und den Haushalt kümmern. Ein Jammer, daß David sich scheiden lassen will.» «Zuerst hat er dir doch gar nicht gefallen.» «Ich kann nicht einmal sagen, daß er mir nicht gefiel. Du weißt doch, daß wir immer ein bißchen eifersüchtig sind, darum mögen wir deine Männer nicht.» «Lieber Anthony, wie schön, daß gerade du mir so erfreuliche Dinge sagst.» «Essen wir morgen zusammen?» «Ausgezeichnet.» «Im Club. Dameneingang. Pünktlich um eins.» Dameneingang. Pünktlich um eins. Nein, sie hatte sich verspätet. Blaß sah sie aus. Hinter der Sonnenbrille dunkle Ränder unter den Augen. Ein Kindergesicht. Ein unschuldiges kleines Mädchen. Nein, durchaus nicht unschuldig. Ein Gesicht wie ... Eine Frau ohne Falten. Ohne Probleme. Alterslos. Möchtest du erzählen? Was ist geschehen? Erst eine Gemüsesuppe. Nein, sie hatte keinen großen Appetit. Nein, weiter wollte sie nichts essen. Vielleicht doch noch ein Steak, wenn sie es sich recht überlegte. Und einen schönen Kartoffelsalat. Keine große Lust zum Erzählen. Trinken wir doch erst einen Schluck. Der dritte Whisky nach dem Campari. Im Club fiel so was auf. Eine von den Damen, die zuviel vor dem Essen trinken. Wer war eigentlich dieses Häschen Roberta? War sie eine von den dreien? Was sollte sie ihm jetzt sagen? Wenn sie ja sagte, würde ihm klarwerden, daß sie sie umgelegt hatte. Vielleicht würde er auch so dahinterkommen. Wenn sie nein sagte ... Schließlich und endlich hatte Anthony sie schon bei Madame Nubytch gesehen, diese Roberta. Und die Zeitungen würden Fotos von ihr bringen. Eine schlechte Idee, dieses gemeinsame Essen. Keine Ahnung. Was heißt, keine Ahnung? Irgendwie sah sie ihr ähnlich. Ich dachte schon, sie sei es. Aber da ging sie mit mir auf die Terrasse hinaus. Und was ist auf der Terrasse geschehen? Was sollte sie ihm jetzt erzählen? Was war auf der Terrasse geschehen? Sie hat mich geküßt. Ist das alles? Ich habe sie zurückgestoßen. Zurückgestoßen, zurückgestoßen. Auch so ein obszönes Wort aus den Comicstrips und den Gro131
schenromanen. Wie? Auf welche Weise? Was heißt, auf welche Weise? Wie man Leute zurückstieß? Mit den Händen. Und dann? Dann hat sie mich in die Arme genommen und gegen die Balustrade gedrängt. Balustrade, Balustrade. Noch so ein seltsames Wort, das man nie gebraucht. Klingt häßlich, klingt komisch. Brüstung? Das bedeutet etwas anderes. Wollte sie dich hinunterwerfen? Ja. Warum denn? Vielleicht, weil ich mich auf ihren Annäherungsversuch nicht eingelassen habe. Sagen wir, daß das der Grund war. Sagen wir das, ja, sagen wir das. Ich habe mich natürlich gewehrt. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich sah unter mir Park Lane und, winzig klein, die Autos. Wir waren im sechsten Stock. Das war wahrhaftig kein Spaß. Und dann? Dann ist sie gestürzt. Hast du sie gestoßen? Verdammt, diese Fragerei. Nein, sie hat sich über die Balustrade gestürzt. Schon wieder diese Balustrade. Ob Anthony merkt, daß ich anders als sonst spreche? 0 Gott. Ich habe einen Schwips. Wir verstehen uns doch so gut, warum macht er es mir so schwer? Und wer soll dir das glauben? Alle, außer dir. Und Ostrowskij. Und Ostrowskij? Was wirst du bei der Vernehmung sagen? Daß ich mich gegen ihre Umarmungen gewehrt habe und daß sie in mich verliebt war. Alle wissen, daß sie lesbisch war. Und die beiden anderen, diese armen Dinger? Sie wollten Roberta retten. Und sind auch hinuntergestürzt. Das war noch unglaubhafter. Kein Mensch wird dir das abnehmen. Das ist eine zu absurde Erklärung. Die Balustrade hat nachgegeben. Die Balustrade war wichtig. Zeugen? Wofür? Ich war nicht auf der Terrasse. Ich war im Saal und habe Andenken verkauft. Alle haben mich gesehen, als man die Schreie hörte. Es ging einem durch und durch. Das hatte nichts Menschliches mehr. Verlier dich nicht in poetischen Schilderungen. Also los, wer ist es gewesen? Was? Der sie umgebracht hat. Komm, Melinda, machen wir uns doch nichts vor. Du weißt, daß ich es weiß. Wovon redest du eigentlich? Was willst du wissen? Merkwürdige Geschichte. Also, wo bist du gewesen? Zuerst war ich mit Roberta auf der Terrasse. Nach dem Schubs bin ich wieder in den Saal gegangen. Dann haben die anderen beiden versucht, Roberta zurückzuhalten, als sie sich über die Balustrade stürzen wollte. Welche Balustrade? Na, eben diese Balustrade. Und die Balustrade hat nachgegeben, und schließlich lagen sie alle drei unten. Ich war jedenfalls im Saal. Eine hübsche Geschichte, wie hast du das denn fertiggebracht? Was? Daß du im Saal warst. Hast du jemanden dafür bezahlt, daß er die Arbeit tat? Aber warum glaubst du mir denn nicht? Bloß Anthony nie die Wahrheit sagen. Er fand sie auch so 132
heraus. Natürlich war es ihr Double gewesen — mit der gleichen Perücke, dem gleichen Lippenstift und dem gleichen Kostüm —, das sich in dem dramatischen Augenblick im Saal aufgehalten hatte. Sehr mühsam. Und Metcalf hatte sicherlich mit Ostrowskij zu tun, sonst hätte er ihr nicht geholfen. Anthony glaubte ihr nicht. Aber würde man ihr bei der Vernehmung glauben? Immerhin hatte sie viele Zeugen, darunter das amerikanische Ehepaar, dem sie eine Andenkenkrawatte verkauft hatte. Na schön, dann sagen wir halt, daß ich dir glaube. Das war ein ziemlicher Schock. Davon bin ich überzeugt. Und was hast du jetzt vor? Nach der Vernehmung will ich Ferien machen. Wahrscheinlich fahre ich nach Moskau. Und natürlich gebe ich meine Arbeit als Häschen auf. Der Auftrag ist ja schließlich erledigt. Welcher Auftrag? Schon gut. Und in die Ferien fährst du allein? Warum kommst du nicht mit? Ich habe keinen Mann mehr. Ich habe nur lauter Kinder ohne Väter. Abraham ist dauernd unterwegs, und wenn ich mit einem Liebhaber führe, wäre das ein Präjudiz für meine Scheidung. Wirst du dich nicht ein bißchen einsam fühlen? Einsam fühlen? Sie und einsam? Dieses Gefühl kannte sie nicht. Einsamkeit, so eine Dummheit. Sie wußte nicht einmal, was das Wort bedeutete. Ich leide nicht unter Einsamkeit. Du kommst immer zurecht. Alle schwärmen für dich. Auch diese Geschichte wird glattgehen. Und auch die Vernehmung. Du brauchst keine Angst zu haben. Und wenn es nötig ist, helfen wir dir. Aber es wird gar nicht nötig sein. Und du wirst wohl nie heiraten, wie? Das Steak kam. Gott, hatte sie jetzt Hunger nach all dem Whisky. Warum? Möchtest du mich heiraten? Würde dir das nicht gefallen? Nein. Warum nicht? So ist es besser. Wir lieben uns so mehr. Außerdem würdest du mich doch sitzenlassen. Der wievielte Mann wäre ich? Der fünfte. Und die Sache mit dem Zug? Davon darfst du nie sprechen. Die Ermittlungen wurden von der Polizei ebenso zartfühlend wie nobel vorgenommen. Melinda bekam kaum etwas davon zu spüren. Die öffentliche Meinung war voller Teilnahme, daß die arme, von ihrem Mann verlassene Abgeordnete sich aus finanziellen Gründen zu dieser Arbeit genötigt gesehen hatte. Und ihren Mann traf um so größere Schuld, als sie im vierten Monat war. Noch deutete sich zwar kaum eine Rundung an, aber die Ärzte bestätigten es. Melinda erhielt mehrere Angebote: ihre Memoiren für eine Sonntagszeitung zu schreiben, ein Drehbuch über ihr Leben zu verfassen, die
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Rolle eines verführten und verlassenen jungen Mädchens in einem Film zu übernehmen, der nach der Geburt ihres Kindes gedreht werden sollte. Sie ließ indessen wissen, sie werde nach Rußland gehen und ihr Kind in einem sowjetischen Krankenhaus zur Welt bringen. Sie wolle sich nach der Pawlowschen Methode, die nur in Rußland richtig gelehrt werde, psychoprophylaktisch auf die Entbindung vorbereiten. Dann gab sie eine Abschiedsparty. Abraham nahm sie in die Arme. «Mein Kind, mein tapferes kleines Mädchen.» Und so wurden sie fotografiert. So ein Schuft, er kannte sie doch gut genug, um zu wissen, daß das der schiere Zynismus war. In Tilbury schiffte Melinda sich nach Leningrad ein. Mit ihr reiste nur ihr Chauffeur. Melindas Ankunft im Rolls-Royce wurde von den russischen Matrosen sehr bewundert. Die Schiffsreise dauerte ewig. Landungen in Kopenhagen, Stockholm und Helsinki. Das Essen war vom ersten Tag an besorgniserregend. Die Mitreisenden waren zum größten Teil Engländer. Leute, die auf dem Land lebten, Bridge spielten, in die Kneipen gingen, sich gegenseitig ein bißchen auf die Schultern klopften und sich schließlich zu sechst zu einem netten Abendessen zusammenfanden, zu dem eine ihrer Frauen einlud. Die Kabinen waren mit Jagdbildern, rosa Chintz und roten Teppichen dekoriert. Alle fühlten sich verpflichtet, den russischen Barmann freundlich zu behandeln, einen Betrüger, der nur für zusätzliche Trinkgelder den guten Wodka herausrückte. Der gewöhnliche war mit Glyzerin versetzter Alkohol. Die Mädchen, das weibliche Kabinenpersonal, trugen blaue Kleider und verstanden nichts. Sie verstanden aus Prinzip nichts. Außerdem weckte das Russisch, das Melinda mit der üblichen Schwierigkeit und mit dem üblichen seltsamen Akzent sprach, ihren Argwohn. Eines Tages wurde sie im Morgengrauen von einer rundlichen Dame geweckt. Ein dünner weißer Zopf, der im Nacken fest aufgesteckt war, vorstehende Zähne und ein schwarzes Kleid. Wo die Frau an Bord gekommen war, blieb ein Rätsel, denn nach Helsinki hatte das Schiff nicht mehr angelegt. Sie inspizierte Melindas Gepäck und notierte mißbilligend auf einem Zettel, was sie an Juwelen bei sich hatte. Das war der Zoll. Sie musterte das zerwühlte Bett, dann Melinda 134
und das ausgeschnittene Nachthemd mit seinen Spitzen und Bändern. «Ich erwarte ein Kind», sagte Melinda, etwas irritiert von dem Blick. «Es ist sechs. Gehen Sie hinauf, wir kommen gerade in die Bucht von Leningrad.» «Danke.» «Ziehen Sie sich warm genug an, es ist kalt.» Sonnenaufgang über der Bucht in schmelzenden Farben. Am Horizont die Stadt. Man erkannte die Farben der schon so oft besungenen Paläste, die türkisfarbenen, blauen und grünlichen Kuppeln und die goldenen Glockentürme. Es dauerte fünf Stunden, bis das Gepäck und das Auto ausgeladen waren. «Ins Hotel Astoria.» « Jawohl, Mylady, aber wie komme ich dorthin?» Sie versuchten einen Stadtplan von Leningrad zu kaufen, aber es war keiner zu haben. Sie fragten sich also zu dem Hotel durch, einem mächtigen Bau aus der Zeit vor der Revolution und im Stil der damals erbauten Hotelpaläste: Rundbögen, Marmortreppen, Zinnen und roter Samt. Melinda fand in ihrem Koffer ein Päckchen. « Herzlichst Abraham.» Die Widmung war von der Sekretärin ihres Vaters geschrieben, aber das Päckchen hatte einen kostbaren Inhalt: einen Baedeker aus dem Jahre 19o5. «Das sind die einzigen russischen Stadtpläne, die man heute bekommen kann. Moskau hat sich nicht sehr verändert bis auf die Namen, und auch Leningrad ist sich gleich geblieben. In Städten wie Kiew und Charkow verläßt du dich besser nicht auf die Stadtpläne. Nowgorod ist noch wie früher, diese himmlische Stadt, die deine Mutter und ich auf unserer Hochzeitsreise besucht haben ...» (Jetzt fing er an, sich nach seiner Frau zurückzusehnen. Das hätte er sich früher überlegen sollen. Andererseits wäre eine Frau, die ständig hinter ihm her war, sein Ruin gewesen.) «... Alles Gute. Dein Papa.» (Dieser Schuft, sich <dein Papa> zu nennen, als ob zwischen ihnen Beziehungen dieser Art bestünden. Allenfalls: Abraham. Oder höchstens: dein Vater.) Melinda war ein bißchen erschöpft. Sie hatte schon ein paarmal Streit bekommen. Zuerst wegen des versprochenen Badezimmers, das sich als Kämmerchen ohne Bidet entpuppt hatte, dann, weil das
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Essen so lange auf sich warten ließ, und schließlich, weil es kein besonderes Speisezimmer für das Dienstpersonal der Gäste gab. Unerhört, daß ihr Chauffeur mit ihr an einem Tisch sitzen sollte, und noch peinlich genug, wenn er mit ihr im gleichen Speisesaal aß. Und dann war es auch nicht möglich gewesen, einen Campari mit Eis im Zimmer serviert zu bekommen. Das für die Etage zuständige Mädchen sagte immer wieder, sie habe von einem derartigen Getränk noch nie gehört. Und als Melinda ihr, um sie zu bestechen, einen Lippenstift von Coty und eine Packung Kaugummi schenkte, hätte ihr das Mädchen diese Dinge beinahe ins Gesicht geschmissen. Melinda hatte ständig das Gefühl, es gäbe in Leningrad keine Männer. Zwar hatte sie einige in der Newa baden sehen, aber die waren riesig, mit gewaltigen Schultern und den Mund voller Metallzähne. Abgesehen von der Geschichte mit Anatolij, einem reizenden Matrosen, der von der Krim stammte, hatte Melinda noch kein Liebesabenteuer mit einem Russen gehabt. Das war nicht weiter tragisch, das Schlimme war, daß sie allein schlafen mußte. Allerdings hatte sie viel zu tun, Besichtigungen — die Eremitage, die kein Ende nahm —, Telefongespräche, Verabredungen und Theatervorstellungen, die gar nicht so übel waren. Die Abendgesellschaften in Leningrad waren allerdings ein bißchen langweilig, und Melinda zählte die Tage, die sie noch von der Geburt des Kindes trennten. Es waren noch viele Tage. Sie sprach darüber mit Lara. Lara war ihre neue Freundin. Mit ihren dicken Brillengläsern und ihrer flekkigen Haut war sie ein Mittelding zwischen einer englischen Gouvernante und einer deutschen Touristin. Sie gehörte seit kurzem der Kommunistischen Partei an und lebte ebenfalls in Scheidung. Ihr Mann war ein hohes Tier an der Kirow-Oper. Lara riet ihr, sich eine Datscha an der Bucht zu mieten oder auf dem Land ihr Gast zu sein; sie könnte ein bißchen segeln und auf den Höhen Ski laufen. «Ich fürchte, ich würde mich entsetzlich langweilen. Ich möchte mir lieber etwas anschauen.» Sie beschloß nach Asien zu reisen. «Bist du eigentlich Kapitalistin oder Proletarierin?» fragte Lara sie. «Natürlich Kapitalistin.» «Möchtest du nicht gern Proletarierin sein?» «Du meinst, ob ich gern Sozialistin wäre?» «Ja.» «Das bin ich doch. Ich bin sogar Abgeordnete einer Linkspartei.» Der Sozialismus war das, wovor Melinda am meisten graute. 136
Schon der Gedanke daran schreckte sie. Die sozialistischen Länder waren alle so trübsinnig, so häßlich und alle gleich. Länder, in denen sich die Leute aus dem Fenster stürzten. In England gab es zum Glück eine Oligarchie, und die Aristokratie kam immer davon, wenn sie nur reich genug war. Lara schien sie zu durchschauen. Sie mißbilligte ihren Rolls-Royce und hielt ihr lange Reden, die sie nicht interessierten. «Du darfst nicht glauben, daß ich mein eigenes Land verteidigen will», sagte Melinda. «Ich weiß nicht einmal genau, wo ich leben wollte, wenn ich es mir aussuchen könnte. Ich glaube, daß ich mich überall wohl fühlen würde. Aber die Politik finde ich sterbenslangweilig und völlig ungeeignet als Gesprächsthema.» An diesem Abend nahm Lara sie zu einer Galavorstellung mit. In der Leningrader Oper wurde eine Neuinszenierung der Jraviata› gegeben. Auf russisch. Der (rumänische) Tenor sang seine Arien auf italienisch und die Rezitative auf rumänisch. Melinda würde eine Sensation sein, mit all ihren Juwelen, den Juwelen der Brightons. Zum erstenmal dachte sie an ihre frühere Familie zurück. Was Lawrence wohl machte? Ob er wieder geheiratet hatte? Sie schickte ihm eine Postkarte. Sie kam zusammen mit Lara. Gemeinsam mit sieben anderen Personen hatten sie eine Loge. Sehen konnte man nicht gerade viel, aber angesichts der dürftigen Inszenierung war das gewiß kein Unglück. «Siehst du?» Lara zeigte auf die Loge vor ihnen. Es war dunkel, der Vorhang hatte sich noch nicht für den ersten Akt gehoben. «Ich sehe nichts.» «Dort sitzt der sowjetische Ministerpräsident mit seiner Frau.» «Kennst du sie?» «Nur flüchtig. Wir werden ihnen jedesmal vorgestellt, wenn sie die Leningrader Oper besuchen.» «Kommt er oft hierher?» «Nur ganz selten. Er schläft in der Oper ein. Manchmal muß man jemanden zu ihm schicken, der sich während der Aufführung mit ihm unterhält, sonst schnarcht er zu laut.» «Könnte ich das machen?» «Wozu?» «Um ihn kennenzulernen, und um mich mit ihm zu unterhalten.» «Ausgeschlossen. Man kommt nur sehr schwer an ihn heran. Es kann höchstens jemand zu ihm, der hier schon seit Jahren arbeitet.»
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In der Pause ging Lara mit ihr ins Foyer. Die Leute wanderten in einer bestimmten Ordnung und in einem bestimmten Tempo im Kreis herum und ließen sich durch nichts beirren. Als der zweite Akt begann, war Melinda noch nicht zurück. Nun würde sie alle anderen in der Loge stören, darunter auch Frauen bedeutender Persönlichkeiten. Lara bereute schon fast, daß sie Melinda eingeladen hatte. Sie war ein bezauberndes Geschöpf, aber sie tat immer nur das, was sie gerade wollte. Oder richtiger gesagt, sie hielt sich an keine Regel. Sie schaute vor sich hin. Da sah sie Melinda: sie unterhielt sich mit dem Ministerpräsidenten. Sie lächelten, und die Konversation schien keinen Augenblick zu stocken, nicht einmal als Alfredo «Weh mir, im Traume tief und schwer» zu singen begann. Bei «Saget der Jungfrau ...» waren die beiden verschwunden. Melinda hinterließ Lara eine Nachricht: sie begleite den Ministerpräsidenten und seine Frau nach Hause, und da sie morgen alle nach Moskau führen, würden Lara und sie sich vor ihrer Abreise nicht mehr sehen. (Melinda wollte den Ministerpräsidenten überreden, zusammen mit ihr die Kirchen von Nowgorod zu besichtigen, denn Abraham würde es übelnehmen, wenn sie dort nicht hinfuhr.) Viele Leute fragten sich, was die beiden sich wohl zu erzählen hatten. Politik? Kunst? Reisen? Zu den vielen gehörte auch Archibald Ostrowskij, der eigens gekommen war, um seine <Entdeckung> zu überwachen. Er wollte sehen, wie sie sich aus der Affäre zog. Die Sache mit der Schwangerschaft war zweifellos ein Meisterstück, eines Berufsspions würdig. Das Mädchen war wirklich nicht ohne. Was vor allem auffiel, war Melindas vollständiger Mangel an Gefühlen. Sie hatte keine Angst, sie empfand keine Zuneigung, sie fühlte sich nie einsam, sie kannte keine Reue und hatte keine Freunde. Sie fühlte nur, ob ihr kalt oder warm war. Sie hängte ihr Herz an die ausgefallensten Dinge, nur weil sie unerreichbar waren. Dazu gehörte auch die Dickköpfigkeit, mit der sie an van der Belt hing. Sie war außerordentlich abenteuerlustig und langweilte sich leicht, wenn ihr Leben nicht von neuen Ereignissen nur so übersprudelte. Sie war mit niemandem richtig befreundet, weil sie mit allen Menschen gut auskam. Geheimnisvoll blieb ihre Freundschaft mit Anthony. Ostrowskij fand dafür keine Erklärung. Ob Melinda Abraham umgebracht hätte, wenn Ostrowskij das von ihr verlangt hätte? Für viel Geld gewiß. Und Mark? Vielleicht alle beide, ohne lange darüber nachzudenken. Oder vielleicht verstand er sie nicht richtig. Vielleicht bedurfte
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Melinda dieses ganzen Hofstaats. Vielleicht brauchte sie einen Vater wie Abraham und einen Liebhaber wie Mark oder einen Liebhaber wie Abraham und einen Vater wie Mark. Würde sie es fertigbringen, den Chef umzulegen? Würde sie Blamonche umbringen, wenn sie erfuhr, daß er der Chef war? Oder würde sie es Ostrowskij übelnehmen, wenn sie das im letzten Augenblick herausbekam? Man konnte sie nicht einmal mit ihren Kindern erpressen, was sonst bei allen Müttern funktionierte. Melinda waren alle diese Wesen, die sie in die Welt setzte, völlig gleichgültig. Melinda hatte inzwischen beschlossen, alles mit Ruhe auf sich zukommen zu lassen. Was sollte sie auch sonst all die Monate über in Moskau tun? Sie war nach Nowgorod gefahren und dort eine Woche geblieben, hatte sich die langgestreckten weißen Kirchen mit ihren byzantinischen Fresken angesehen, hatte Ausflüge zu den Seen gemacht und die Klöster dort besucht. Nowgorod war voll Schwalben, die einen Heidenlärm machten, und Melinda beschwerte sich bei Intourist darüber. Wirklich lästig aber war nur, daß man auf Schritt und Tritt europäischen Touristenpärchen begegnete, die sich verpflichtet fühlten, mit ihr Konversation zu machen. Am schlimmsten war wohl das Ehepaar aus Montreux. Wie alle, denen sie in den verschiedenen Speisesälen begegnet war und den Mut zu einer Unterhaltung genommen hatte, waren auch diese Schweizer davon überzeugt, daß sie Tag und Nacht überwacht wurden. Er war Besitzer einer Großgarage, sie Lehrerin. Mikrofone in allen Zimmern ... Im Telefon. Im Garten. Unter dem Bett. über den Lampen. Ich habe gehört ... ich habe gesehen ... «Sie werden es nicht glauben, aber heute morgen sogar auf der Straße. Ein Auto folgte uns.» Sie zogen von Hotel zu Hotel, um sich von dem Angsttraum der Mikrofone zu befreien. Dabei fiel Melinda ein, daß sie ihre Revolver, ihre Fotoapparate, ihre Mikrofone und ihre Tonbandgeräte wohl etwas besser verstekken mußte. Von Nowgorod aus telefonierte sie nach Moskau. Offenbar wußte man dort schon, daß sie kommen würde. Jedenfalls wünschte sie ein Zimmer im Hotel National am Roten Platz und ein Souper beim Schriftstellerverband. Sie diktierte eine lange Liste mit den Namen der Leute, die sie gern sehen wollte. Sie beauftragte Intourist, die ersten vierzehn Tage für sie zu organisieren, für den Rest der Zeit wolle sie frei sein. Sie werde mit dem Auto ankommen und direkt zum Hotel fahren.
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Sie wurde im Leningradskaja untergebracht. Ein gräßliches Hotel, voll von Kandelabern und Delegationen orthodoxer Geistlicher. «Ich möchte in ein anderes Hotel.» — «Das ist nicht möglich.» — «Dann reise ich ab.» — «Wohin wollen Sie?» — «Das ist mir gleich, jedenfalls bleibe ich nicht in diesem Hotel.» — «Ich lasse Ihnen für nächste Woche einen Flug reservieren.» — «Nach Taschkent, und zwar noch heute.» — «Wir können alles vorbereiten. Kommen Sie heute nachmittag wieder vorbei.» — «Nein, ich möchte heute nachmittag fliegen.» — «Heute ist es nicht möglich.» — «Es muß möglich sein. Alles ist möglich, wenn man bezahlt.» — «Es sind keine Plätze mehr frei.» — «Dann sorgen Sie für einen. Sie haben ja nicht einmal nachgefragt.» Sie hatte schon im Krankenhaus angerufen und sich für einen Gymnastikkurs zur Vorbereitung einer schmerzlosen Entbindung nach der psychoprophylaktischen Methode angemeldet. Sie hatte dem Ministerpräsidenten ein paar Zeilen geschrieben, um ihm ihre Ankunft und ihre alsbaldige Abreise mitzuteilen. Sie hatte einige Koffer gepackt und dabei die Sachen aussortiert, die sie auf einer Asienreise nicht brauchte oder die ihr zu eng werden würden. Und da es keine Garage gab, wo sie den Wagen hätte lassen können, hatte sie den Rolls-Royce gut verschlossen auf dem Roten Platz abgestellt. Das Gepäck vertraute sie der Obhut des Hotelportiers an. Archibald Ostrowskij, dem es endlich gelungen war, Melindas Namen im Gästebuch des Leningradskaja ausfindig zu machen, kam gerade rechtzeitig, um zu erfahren, daß Melinda soeben nach Zentralasien aufgebrochen sei. Der Anblick des Flughafens beeindruckte Melinda tief: riesige Iljuschin-Maschinen, vollgestopft mit Menschen. Ein Traktor zog das Flugzeug auf die Startbahn. Melinda schob ein Gardinchen vor, um sich vor der Sonne zu schützen. Nach einer Weile setzte sich die Stewardess neben sie. Ob ihr die Sowjetunion gefalle. Ob sie zum erstenmal in der Sowjetunion sei. Ja. Ob ihr die Russen sympathisch seien. Sehr. Ob die Sowjetunion dem, was sie von ihr erwartet habe, entspreche. Warum fragten sie nur immer das gleiche? Als ob Melinda darauf hätte antworten können. Dieses Mädchen, das als Stewardess verkleidet war, irritierte sie. Sie schaute hinunter auf den Aral-See: ein riesiges Gewässer, mit Inseln übersät, die wahrscheinlich noch keines Menschen Fuß betreten hatte. 140
«Das sind die Karawanenstraßen», sagte die Stewardess. Flüsse bahnten sich zwischen den Dünen mühsam ihren Weg zur See. Manchmal fanden sie ihn nicht und versickerten im Sand. Keine einzige Oase war zu sehen. Taschkent gefiel ihr nicht. Zu unpersönlich, eine Architektur wie von Piacentini, genau wie in Manchester, zu viele kubanische Delegationen, zu viele Amerikaner, die alles besser wußten. Am schlimmsten waren die Begegnungen mit amerikanischen Kommunisten. Die brachten es doch fertig, die Dinge so ernst zu nehmen wie die Deutschen. Selbst die Usbeken machten sich über sie lustig. Im Flugzeug hatte sie einen indischen Baumwollkaufmann kennengelernt, der nach Taschkent flog, um einen Auftrag für eine Maschine, den er vor fünf Jahren gegeben hatte, zurückzuziehen. Als sie das Flugzeug verließen, wurden sie in einen großen Wartesaal komplimentiert. Melinda und der Inder warteten eine Stunde. Durch das Fenster sah man den großen Flugplatz, der voller Flugzeuge stand, und hinter einer Glaswand Hunderte von Reisenden, die sich am Eingang drängten. Manche hatten offenbar die ganze Nacht mit Kindern, Körben und Kissen auf dem Flugplatz verbracht. «Platzreservierungen gibt es hier nicht», erklärte ihr der indische Kaufmann, «außer für Touristen. Und natürlich fahren auch keine Züge durch die Wüste.» Die Leute standen Schlange wie an den Londoner Autobushaltestellen. Die Frauen trugen Hauskleider aus Seide oder Nylon in grellen Farben. Einige der Männer waren asiatisch gekleidet (andere trugen nur eine bestickte Kopfbedeckung). Viele aber waren europäisch angezogen. Noch am gleichen Abend besuchten sie zusammen die Oper von Taschkent. wurde auf usbekisch gegeben. Die Schmuggler erschienen im letzten Akt als Toreros. Dem Inder machte das weniger Spaß als Melinda, zumal er einen Malariaanfall hatte. Melinda ließ ihn krank zurück und reiste weiter nach Samarkand, wo sie sich für ein Werbeplakat (Die Heimkehr des Soldaten) fotografieren ließ, Ausflüge zu den Oasen machte und ein Abenteuer mit einem Timur-Forscher hatte. Von Buchara sah sie wegen eines Sandsturms und der Hitze so gut wie nichts. Sie versuchte mehrmals, mit Anthony zu telefonieren, aber ohne Erfolg. Beim Rückflug nach Samarkand landeten sie auf einem Sturzakker. In den russischen Maschinen gab es keine Sicherheitsgurte, und Melinda hoffte auf eine Fehlgeburt. 141
In Samarkand war gerade der sowjetische Ministerpräsident eingetroffen. Er wollte die Urbarmachung der Schwarzen Wüste besichtigen. Melinda versuchte sofort, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Ihn telefonisch zu erreichen war unmöglich, da sich der Reihe nach fünfzig Personen dazwischenschalteten. Schließlich sagte man ihr, der Ministerpräsident sei nicht zu sprechen, er sei nicht anwesend. Ob sie ihm plötzlich nicht mehr sympathisch war? Zum Glück lernte sie Irina kennen, eine Angestellte von Intourist, der sowjetischen Fremdenverkehrsorganisation. «Wo ist dein Mann?» «Du bist also auch geschieden?» «Und dafür heiratet man nun.» «Aber ich bin nicht allein.» «Ich auch nicht, aber ich langweile mich.» «Die Welt ist ein Dorf. Ich bin sicher, daß auch meine Großmutter das sagte.» «Was machen wir heute? Wollen wir im Fluß baden? Oder Einkäufe machen?» «Oder ein Picknick im Wald?» Der Wald erwies sich als dürres Gestrüpp in einer der Oasen in der Nähe von Samarkand. Angeblich gab es dort auch Löwen, aber Melinda bekam keinen zu Gesicht. «Die sollten mal die sibirischen Wälder sehen, dann würden sie nicht wagen, das hier einen Wald zu nennen.» Aber die Löwen regten sie noch immer auf. Auf einem Feld in der Nähe des Flusses bereiteten sie ihr Essen vor. «Gib acht auf die Schlangen.» «Du bist doch schwanger und solltest dich ein bißchen ausruhen.» «Erinnere mich bloß nicht daran, Irina.» Als Melinda wieder aufwachte, war der Ministerpräsident da: er hatte alle Steaks verzehrt und schlang gerade die Gurken in sich hinein. Irina fotografierte. «Ich habe so versucht, Sie zu erreichen.» «Wieso sind Sie denn hier? Das hat mir niemand gesagt.» Mit einem Ministerpräsidenten darf man nie über Politik reden. Also sprach sie über England, über die Landschaft und das Leningradskaja.
«Stimmt es, daß man in England so schlecht ißt?» «Ich halte das für eine Sage. Die Wurst ist ausgezeichnet und die 142
Kartoffeln ebenfalls. Und beides bekommt man überall. Oder auch Fisch, ausgezeichneten Fisch. Kabeljau gilt dort nicht viel, weil es ihn in großen Mengen gibt. Aber gebackene Kabeljaufilets, wie man sie in den Vorstadtcaf& macht, bekommt man sonst nirgends auf der Welt. Und erst die Seezungen, groß, fett, wunderbar ...» «Gibt es auch Austern?» «Massenhaft und ausgezeichnet. Sie schmecken viel besser als die französischen. Die amerikanischen sollen allerdings noch besser sein, aber als ich dort war, war gerade nicht die richtige Jahreszeit dafür.» «Mir haben sie keine angeboten, vielleicht dachten sie, für einen Kommunisten wäre das ein ungeeignetes Gericht. Als ob die Kommunisten nicht auch eine Feinschmec k erzunge hätten. Mögen Sie die russische Küche?» «Was man in den Restaurants bekommt, finde ich nicht sehr gut. Aber das Abendessen damals mit Ihnen in Leningrad war herrlich. Ich hatte noch nie so wunderbar zubereitete Auberginen gegessen.» «Wissen Sie, wie man das macht? Man schneidet sie in zwei Hälften und legt sie einen Tag lang in Salzwasser. Dann schmort man sie mit Sahne, Gurken und Zwiebeln. Man kann auch noch Kartoffeln dazu tun, aber damals waren keine dabei ...» «Bitte, warten Sie, das möchte ich mir aufschreiben.» «Eine halbe Stunde schmoren. Und zuletzt, wenn sie noch kochend heiß sind, Joghurt, Salz und Pfeffer hinzufügen.» «Es hat wunderbar geschmeckt. Und die Blinis, die mit Kaviar gefüllt waren, die saure Sahne und der Lachs-Kaviar ... Himmlisch.» Sie unterhielten sich lange über Kochrezepte. Zwischen dem Ministerpräsidenten und Cyril Connolly war im Grunde gar kein so großer Unterschied. «Ich muß Ihnen gestehen, daß mir das Essen großen Spaß macht; ich bin richtig verfressen.» «Sind Sie auch allein hier?» «Nein, mit dem irakischen Finanzminister. Kennen Sie ihn nicht? Er ist im Auto geblieben. Ich habe ihn allerdings auch nicht aufgefordert, sich zu uns zu setzen. Die haben die gleichen Probleme wie wir mit der Erschließung der Wüsten. Trotz dem Erdöl ... Dann sind noch ein paar Dolmetscher und Sekretäre dabei ... Ja, alle im Auto.» In Wirklichkeit unterhielten sie sich mit Irina. Der Minister war 14 3
untersetzt, hatte einen schönen Orden im Knopfloch, litt unter der Hitze und fluchte gerade darüber, daß er geraucht hatte. «Ich vertrage es nicht, und trotzdem rauche ich weiter.» Er sprach gut Französisch. «Eine schöne Frau in der Wüste ist eine wunderbare Überraschung. Übersetzen Sie, übersetzen Sie das dem Ministerpräsidenten. Eine großartige Organisation hier in der Sowjetunion. Eine schöne Frau ist außer einer Zigarette das einzige, dem ich nicht widerstehen kann. Ich bin alt und häßlich, aber ihr gefallt mir immer noch. » «Was machen Sie hier? Wie vertragen Sie nur diese Hitze? Sind Sie Russin? Aus dem Norden?» Melinda hatte dem Ministerpräsidenten nie gesagt, daß sie eigentlich aus der Tschechoslowakei stammte. Vielleicht hätte er Anstoß daran genommen, daß Abraham nach dem Krieg nicht in seine Heimat zurückgekehrt war. Sie ging schnell darüber hinweg. «Aber sagen Sie mal», das war wieder der Ministerpräsident mit seinem breiten Lächeln, «haben Sie schon einmal Huhn auf Kiewer Art gegessen? Wenn es richtig zubereitet ist, nach allen Regeln der Kunst, spritzt, sobald man das Messer ansetzt, die flüssige Butter mitsamt dem ganzen Aroma hervor. Und außen ist es goldgelb. Man muß es mit neuen kleinen Kartoffeln essen, und davor Stör. Mögen Sie geräucherten Stör?» Wieder redeten sie stundenlang. Am Tag darauf flog Melinda zusammen mit dem irakischen Finanzminister nach Moskau zurück. Sie ging sofort ins Hotel National auf dem Roten Platz. Diesmal teilte man ihr mit, im Hotel Ukraina sei ein Zimmer für sie reserviert. Ihr Wagen stand noch auf dem Platz. Als sie ihn holen wollte, gab es zunächst Schwierigkeiten, weil sie den Kontrollschein verloren hatte. Auch das Gepäck war noch verhanden. Das Hotel Ukraina, einer der Wolkenkratzer, die zu Stalins Zeiten erbaut worden waren, hatte einige tausend Zimmer. Sie waren über zwanzig Stockwerke verteilt, die von mehreren Treppen und zwei Fahrstühlen aus zugänglich waren. Wenn man hinauf- oder hinunterfahren wollte, mußte man immer ungefähr eine halbe Stunde Schlange stehen. Der irakische Minister, der aus Sympathie für Melinda vom National ins Ukraina umgezogen war, schaffte niemals den Weg bis zu ihrem Zimmer. Etwas zu vergessen war fatal: man brauchte eine 144
halbe Stunde hinauf und eine weitere halbe Stunde, um wieder hinunterzukommen. «Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mir Ihr Zimmer im National überließen.» Wie hätte der irakische Minister ihr das abschlagen können? Melinda begann die Mütterschule zu besuchen. Etwa fünfzig werdende Mütter wurden von Arkadjewna, einer rundlichen Vierzigerin mit grauem Haar und kleinen Ohrringen, unterrichtet. Drei Nachmittage in der Woche. Lauter Bäuche, die vom Boden emporragten. «Und jetzt ausatmen. Einatmen. Atem anhalten. Eins, zwei, drei. Bis zehn zählen. Und wieder ausatmen. Die Beine mit den Händen gut festhalten. Publishing, Sie haben es immer noch nicht begriffen. Nicht lachen. Konzentriert an eine Melodie denken.» Es folgten lange Erklärungen über die von Pawlow erforschten bedingten Reflexe. Man sollte seine Muskeln dazu erziehen, auf eine Kontraktion richtig zu reagieren. «Und nun eine doppelte Kontraktion wie die der Gebärmutter bei der Entbindung. Nur daß wir uns jetzt eine willentliche Muskelkontraktion im rechten Arm und im rechten Bein angewöhnen. Den übrigen Körper entspannen. Publishing, lachen Sie nicht.» Das Hotel National war herrlich. Der Speisesaal im Jugendstil, die große Holztreppe, die kleine Halle. Melinda lud den irakischen Minister, einen amerikanischen Journalisten und seine Frau, Irina und einen ungarischen Schriftsteller zum Abendessen ein. Der amerikanische Journalist kam mit seiner russischen Frau, die dauernd vom Krieg sprach, den die Sowjetunion in aller Kürze anfangen würde. Der ungarische Schriftsteller war wütend darüber. Der irakische Minister machte Irina den Hof. Das Gespräch kam auf Pasternak. Er sei ein großer Dichter gewesen. Kein Schriftsteller, sondern ein großer Dichter. Irina reagierte gereizt. Der irakische Minister konnte dem Gespräch nicht mehr folgen. Ein katastrophaler Abend. Postlagernd erhielt sie einen Brief von Anthony. Liebe Melinda. Fast fehlst Du mir. Demnächst fahre ich in die Sommerferien. Schließlich haben wir schon beinahe August. Viele Freunde bleiben in England. Alles scheint gutzugehen. Ich habe dir noch immer nicht für das Wochenende in Yorkshire gedankt. Ich würde gern zu dir kommen, aber es ist wohl besser, wenn ich ans Meer fahre. Dein Anthony. 14 5
Der überfall auf den Zug würde also demnächst stattfinden. Und das Geld? Sie hatten nie darüber gesprochen, was sie damit machen wollten und wie es aufgeteilt werden sollte. Aber sicher hatte Anthony auch daran gedacht. Und auf Anthony konnte man sich verlassen. Er war schließlich ein anständiger Kerl. Wie aus einem Guß. Er wäre bestimmt ein ausgezeichneter Ehemann. Schade, daß er sie niemals heiraten würde. Die Schriftstellergewerkschaft hatte ihren Sitz im alten Rostowschen Haus, etwas außerhalb des Zentrums an der Straße nach Sagorsk. Es war dort wie in einem englischen Club: Ledersofas, abgetretene Teppiche, holzgetäfelte Wände, der etwas muffige Geruch nach Zigarren und Alkohol. Auch die russischen Schriftsteller schienen sich nach dem Vorbild angelsächsischer Gentlemen zu kleiden: durchgewetzte Ellbogen, braune Lederschuhe, betonte Nachlässigkeit. Sogar das Essen war nicht sehr anders als bei Boodle's oder Pratt's: Pellkartoffeln, Koteletts, die zu stark durchgebraten waren, und ein Pudding, der nach nichts schmeckte. Der einzige Unterschied war, daß es bei der Schriftstellergewerkschaft gezuckerte Weine aus Georgien gab. In den Londoner Clubs dagegen wurden nur erstklassige Weine gereicht, und der Portwein zum Schluß stammte meist aus den besten Kellereien der Welt. «Einige unserer Schriftsteller möchten Sie fragen, ob Sie die Freundlichkeit hätten, zu uns zu sprechen.» «Worüber denn? Ich habe nichts zu sagen. Ich bin auch ganz unvorbereitet. Damit habe ich nicht gerechnet.» «über englische Literatur. Ihr Vater ist Verleger. Sie kennen also sicher viele englische Schriftsteller. Das würde uns sehr interessieren.» «Vielleicht wäre es besser, wenn Sie mir Fragen stellten. Eine Art Gespräch ... alle zusammen...» Das klang am nettesten und war für sie selbst am einfachsten. «Ihr Vater stammt aus der Tschechoslowakei und hat in England einen erfolgreichen Verlag aufgebaut. Ist das leicht gewesen? Warum hat er nicht erwogen, in die Tschechoslowakei zurückzukehren?» «Warum ist die Dichtung in England nicht so populär wie in der Sowjetunion?» «Kümmern sich die englischen Schriftsteller um Politik?» «Gibt es in England Rechtsintellektuelle?» 146
«Kommen die englischen Schriftsteller oft zusammen?» « Was hält man in England von C. P. Snow?» « Wenig.» «Wenig in welcher Hinsicht?» «Er gilt nicht als ernst zu nehmender Schriftsteller.» «Und als Politiker?» «Ungefähr das gleiche, glaube ich.» Sie war bester Laune, wie immer, wenn sie viel gegessen hatte. Später würde sie das bereuen: Kartoffelsalat, Bratkartoffeln, Kartoffelbrei, Kartoffelsuppe. Vorläufig hatten der gezuckerte Wein und die Stärke sie erhitzt. Sie freute sich, hier zu sein, ein Kind zu erwarten, demnächst eine der reichsten Frauen der Welt zu werden und keine Bindungen zu haben. Inzwischen war die Mütterschule ein Stück von Melindas Moskauer Alltag geworden, ebenso wie ihre Einkäufe und ihre Besorgungen im Warenhaus Gum, wo man nichts bekam und dennoch stundenlang Schlange stehen mußte. Arkadjewna war mit ihrer Schülerin zufrieden, vor allem, weil die dszvestijcp ihretwegen ein Bild von der Schule gebracht hatte. Es wurde behauptet, die Fremde sei eine Freundin des Ministerpräsidenten, auch wenn dieses Gerücht niemals bestätigt wurde. « Wenn der Schmerz zunimmt und die Selbstbeherrschung schwierig wird, den Bauch mit den Fingerspitzen in kreisenden Bewegungen massieren. Wenn Sie es nicht mehr schaffen, bitten Sie Ihren Mann um Hilfe. Publishing, Ihr Mann hat eine Nachricht für Sie hinterlassen; er wird Sie am Ende der Stunde abholen und will heute abend auch am Unterricht für die Väter teilnehmen.» Melinda fragte sich, welcher. Gewiß nicht David, der im übrigen — und vermutlich zu Recht — überzeugt war, daß das Kind nicht das seine war. Vielleicht war es Mark, der sie hier aufgespürt hatte. Oder Anthony? Ausgeschlossen, er würde sich nie mit ihr treffen und schon gar nicht in einem für sie beide so gefährlichen Augenblick. Es war Ostrowskij. Anscheinend liebte Archibald Ostrowskij dramatische, unverhoffte Auftritte. «Liebes.» Sie umarmten sich zärtlich. Arkadjewna fand ihn ein bißchen zu alt für ihre schöne Schülerin. Auch der lang über Ostrowskijs Wangen herabfallende Schnurrbart wollte ihr nicht so recht gefallen. 14 7
«Ist der falsch?» fragte Melinda. «Natürlich.» «So sieht er auch aus.» «Das ist es ja gerade. Er sieht so falsch aus, daß jedermann ihn für echt hält.» « Was wollen wir machen?» «Essen gehen. Ich habe einen Tisch bei Seliene reservieren lassen.» «In diesem Land kann niemand in einem Restaurant einen Tisch reservieren lassen.» «Ich schon.» «Und die Unterrichtsstunde für werdende Väter in der Klinik?» «Du mußt sagen, ich hätte es nicht mehr geschafft.» Archibald Ostrowskij war hochelegant gekleidet. Er hatte sich einen Maßanzug schneidern lassen — nach einem alten Foto von einem Fürsten Galitzin. Sein Mantel war mit Bärenfell gefüttert und hatte Aufschläge aus Samt. Wunderbare Wildlederstiefel. «Es ist nicht sehr geschickt, so aufzufallen.» «Hätte ich mich als polnischer Genosse verkleidet, der einer Delegation angehört, wäre ich weit mehr aufgefallen. In diesem Aufzug kann ich kein Spion sein.» Draußen war es schon ziemlich kalt. Melinda hatte sich umgezogen und trug jetzt einen Mantel, den sie im Kaufhaus Gum erstanden hatte; er war ihr zu lang und über den Hüften zu weit. Das Restaurant war riesengroß; die hohe Wand im Hintergrund schmückte ein Fresko mit schlecht gemalten Eisbergen. Obwohl der Raum überfüllt war, hatte man das Gefühl, in einer faschistischen Turnhalle eisiger Kälte ausgesetzt zu sein. Wie gewöhnlich war es nur unter Schwierigkeiten möglich, das Abendessen zu bestellen. «Haben Sie Rotwein?» «Heute ist es nichts mit Rotwein», antwortete der Kellner. «Man kommt sich vor wie in einer belagerten Stadt. Melinda, wann kriegen Sie denn nun endlich Ihr Kind? Wir wollen über Korsika sprechen.» «Und wie ist es mit Tring ausgegangen?» «Mit dem Zug? Um Himmels willen, nennen Sie bloß Trings Namen nicht. Das Unternehmen heißt <Melinda>.» «Ach, vielen Dank. Dann haben die mich doch sofort am Wikkel. Also, wie ist es mir ergangen?»
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«Hervorragend. Bis zur Stunde keine Verhaftung. Aber wir wissen, daß Scotland Yard ein paar Namen kennt. Vier oder fünf Personen wird man wohl verhaften. Aber sie werden nicht sprechen, schon weil sie wenig oder nichts wissen. Außerdem ist allen versprochen worden, daß wir sie, wie immer die Dinge laufen, aus dem Gefängnis herausholen werden.» «Ist dieses Versprechen ernst gemeint?» «Wir können kaufen, wen wir wollen.» «Wo ist das Geld?» «Ein Teil in Irland, ein anderer Teil in der Schweiz. Es hat ein bißchen Ärger gegeben mit einem Schiff, das einen Teil der Beute abtransportierte. Einer ist dabei draufgegangen.» «Wie das?» «Er wollte alles haben. Da haben die anderen ihn umgelegt. Sie wußten genau, daß nur wir die Möglichkeit haben, das Geld auszugeben, ohne Verdacht zu erwecken und ohne daß es zu übermäßigem Blutvergießen kommt.» «Und haben Sie viel dabei verdient?» «Wenn Sie das interessiert, werden Sie zu gegebener Zeit eine genaue Auskunft erhalten. Wichtig für Sie ist im Augenblick nur, daß eine beträchtliche Summe bei einer Bank in Genf für Sie bereit liegt und daß Sie jetzt eine der reichsten Frauen Europas sind.» «Na, schön. Dann brauchen wir nicht weiter darüber zu reden. Lassen Sie uns jetzt über Korsika sprechen. Aber zuerst möchte ich Erklärungen haben. Mit wem und für wen arbeiten wir? Und wer ist der Chef? Und was für eine Rolle spiele ich, und wer waren die Häschen?» «Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über solche Einzelheiten. Wichtig ist nur eines: unser Opfer ist der Graf de Blamonche.» «Haben Sie mit ihm zusammengearbeitet?» «Er war mein Agent.» «Bis wann?» «Er hat sich gegen uns gestellt. Drei seiner Mitarbeiterinnen sind von Ihnen, Melinda, in einer brillanten Aktion umgebracht worden. Jetzt müssen Sie mit Blamonche auf ähnliche Weise verfahren.» «Aber er kennt mich doch.» «Er hat Sie ein einziges Mal flüchtig gesehen. Und er war damals sehr aufgeregt. Die Frauen gefallen ihm; er wird begeistert sein, wenn die schöne, elegante Melinda nach Korsika kommt. Sie werden Gast der surrealistischen Malerin Lisanor Treccani sein. Haupt149
sache, Sie sind gut in Form: mager, ohne Kinder und besser frisiert. Schöne Kleider. Sie gehen für einige Zeit nach Paris oder London oder Rom, wohin Sie wollen, und bringen sich wieder in Ordnung.» «Na, gut.» «Der Graf de Blamonche ist in Frankreich eine der bekanntesten Persönlichkeiten. Er ist ungeheuer reich und besitzt große Ländereien. Er hat mehrere Morde auf dem Gewissen.» «Ich verstehe.» «Er ist ein mächtiger Mann und hat immer viele Gäste, darunter meistens drei oder vier Minister. Vor Jahren war er ein enger Freund von Hitler und Göring. Frauen sind seine Leidenschaft. Man könnte schon von einer Manie sprechen. Von sieben Jahren aufwärts ist ihm jede recht, ohne Unterschied. Auf Korsika wohnt er in einem Haus, das ein Engländer sich gebaut hatte, der die Fuchsjagd in Mode bringen wollte. Nur daß auf Korsika alle Pferde zu lahmen begannen und die Füchse in der Macchia verschwanden. Der Engländer verlor eine Menge Geld. Blamonche bekam das Haus billig. Es liegt fern von jeder Ortschaft, aber ziemlich nahe bei dem Schloß, das Lisanor Treccani gemietet hat. Sie müssen sich an Blamonche heranmachen.» «Ich verstehe.» «Alles müßte so schnell wie möglich geschehen, ehe Blamonche von Ihnen erfährt. Ich weiß, daß ich überwacht werde.» «Aber erst in ein paar Monaten. Erst muß ich das Kind bekommen und wieder ein bißchen in Ordnung sein.» «Sobald Sie soweit sind, schreiben Sie der Treccani und machen sich auf die Reise. Setzen Sie sich nicht in Verbindung mit mir. Wie geht es Ihrem van der Belt?» «Ich habe ihn seit hundert Jahren nicht mehr gesehen.» «Ich sah ihn vor ein paar Tagen auf Korfu. Natürlich hat er mich nicht erkannt.» «Was hatte Mark denn auf Korfu zu tun?» «Er war dort mit seiner Frau und ein paar griechischen Reedern. Nichts Aufregendes.» «Sah er gut aus?» «Sagen Sie, Melinda, sind Sie wirklich an diesem Herrn van der Belt interessiert? Warum heiraten Sie ihn dann nicht? Ich sollte Ihnen keine solchen Fragen stellen, aber sehen Sie, zu den Dingen, die ich am meisten an Ihnen bewundere, gehört, daß Sie so etwas wie Liebe nicht kennen. Wenn Sie diesen van der Belt heirateten, 15 0
dann würden Sie ihm schon nach ein paar Tagen davonlaufen. Sie würden sich wie üblich aus Langeweile scheiden lassen. Entschuldigen Sie, aber dieser Mann ist doch ein Trottel. Ich hasse es, persönlich zu werden, aber er kommt mir wirklich wie ein Idiot vor.» «Wieso denken Sie plötzlich über andere Leute nach, Ostrowskij? Mir sind alle diese Dinge, die Sie mir da erzählen, noch nie in den Sinn gekommen. Kümmern Sie sich lieber um Ihren eigenen Kram. Sie geben mir keine Auskunft über die Arbeit, die Sie von mir erwarten, und von mir wollen Sie, daß ich Ihnen Auskunft über mich selbst gebe! Wieviel bezahlen Sie mir eigentlich für Blamonche?» «Sie haben doch schon so viel Geld von mir bekommen, und durch <Melinda> sind Sie reich geworden.» «Dann lohnt sich die Sache nicht für mich, zumal ich allmählich auch nicht mehr so viel Spaß daran habe.» «Aber Melinda, Sie sind an uns gebunden. Und was wollen Sie mit Ihrer freien Zeit anfangen, wenn Sie keine Spionin mehr sind? Überlegen Sie mal, wie sehr Sie sich langweilen werden.» «Langweilen werde ich mich bestimmt. Also wieviel?» «Wenn das Unternehmen glückt, bekommen Sie 6o 000 Dollar als Erfolgsprämie.» «Bei welcher Bank zahlen Sie sie ein?» « Wo Sie wollen.» «Ich denke, wie üblich, in der Schweiz.» «Ich würde Ihnen raten, so zu tun, als wollten Sie eine Aktiengesellschaft gründen.» «Das ist eine Erfahrung, wie ich sie bisher noch nie gemacht habe.» «Eine Erfahrung, wie ich sie bisher noch nie gemacht habe.» Die Stimme kam vom Tisch. Melinda hatte erst eben bemerkt, daß das, was da unter all den garnierten Speisen lag, eine leibhaftige, lebendige Frau war. «Ich glaube. Lisanor würde sich ärgern, wenn sie wüßte, daß Sie sich mit den Gästen unterhalten», antwortete Melinda und berührte flüchtig eine nackte Hüfte, die weiß aus der Sauce auf ihrer Haut herausragte. «Aber es ist schrecklich, so stilliegen zu müssen.» Zweifellos war es mühsam, all diese Speisen auf sich zu haben: Russischen Salat auf der Brust, Koteletts und Sauce auf dem Bauch und Erdbeeren mit Sahne auf dem Schoß. «Lisanor, wo gibt es hier Teller und Gabeln?» 151
«Aber, mein liebes Kind ... Der Witz besteht doch gerade darin, daß man direkt von ihr ißt, daß man den Mund in die Speisen taucht und dabei den Körper des Mädchens berührt.» Lisanors Make-up war ganz in Lila gehalten: Lippen, Puder und Lidschatten. Zahllose chirurgische Eingriffe hatten ihr Gesicht vor dem Verfall bewahrt und es in einem Zustand ständig erstaunter Schönheit fixiert. Auch ihr Umschlagtuch war lila, und nur ihre hohen Lederstiefel waren rosa. Wenn sie sich bewegte, gab das Tuch ein bißchen von ihren Beinen frei und manchmal auch ein Stück von ihrem Bauch. Die übrigen Gäste, außer Lisanors fünf <Jungens>, waren halbnackt. Die <Jungens> waren alle um die vierzig, aber Lisanor nannte sie beharrlich <meine Jungens>. Die <Jungens> treiben Lausbübereien. Die <Jungens> sind verfressen. Die <Jungens> machen nichts als Schweinereien. Meistens machte Lisanor mit. Von den fünfen war einer Armenier, einer Ungar und einer Argentinier mit einer deutschen Mutter. Toni war Amerikaner und hatte eine irische Mutter, und Jin war Schwede. Nicht jeder begriff immer, was ein anderer sagte, aber sie lebten nun schon seit fünf Jahren mit Lisanor zusammen und verständigten sich untereinander in einer Art Esperanto, das wiederum nur sie verstanden. Melinda trug ein langes Kleid aus durchsichtiger Kunststoffolie, das Lisanor für diesen Abend verfertigt hatte; es war ihre neueste Errungenschaft. Sie wohnten alle in dem Haus, einem verfallenen Kloster, das im Grund recht unbequem war. Zuviel nackter Fels, zu viele Stufen. Steine, die einem unter den Füßen wegsackten, und ein Mäuerchen, das nachgab und ins Meer stürzte. Gräber im Garten und Kreuze auf den Felsen. Aber da waren eben auch diese hübschen Abendgesellschaften, die Lustbarkeiten und das Meer. Melinda hatte ein Zimmer, dessen einziges Fenster hoch über dem Meer und der heulenden Brandung lag, aber sie schlief nie allein und fürchtete sich deshalb nicht. Und auch sonst hätte selbst das Heulen des Windes am Cap Corse sie nicht wachgehalten, so erschöpft war man nach den Abenden bei Lisanor. Blamonche war diesmal nicht eingeladen. «Man muß sich gut überlegen, wen man zu solchen Orgien einlädt. Schöne und geistreiche Geschöpfe. Blamonche mögen weder ich noch die Jungens. Du wirst ihn morgen sehen. Wir sind zum Frühstück bei ihm.» 152
Lisanor war etwa siebzig, sah aber sehr viel jünger aus. Man wußte, daß sie die Geliebte von Matisse, von Gustave Moreau, von Apollinaire und Trotzki gewesen war. Wenn sie sich ihren sexuellen Ekstasen überließ, verfiel ihr so sorgfältig zurechtgemachtes Gesicht, deshalb hielt sie sich immer lieber im Schatten. Im stillen war sie Ostrowskij, diesem Schuft, außerordentlich dankbar: er hatte offenbar das richtige Gespür dafür gehabt, wie gut Melinda in ihr Kloster und zu ihren abendlichen Vergnügungen paßte. «So, nun wollen wir mal sehen, ob du deine Sache gut machst.» Melinda beugte sich über das Mädchen, bekam mit den Zähnen ein paar Kartoffelstüc kchen, die auf seinem Busen lagen, zu fassen und leckte die Majonnaise rund um die Brustwarze ab. «Hast du dafür gesorgt, daß sie vorher gebadet hat?» «Aber sicher, Liebes, sie ist sogar von oben bis unten desinfiziert worden.» Das Mädchen blickte zur Decke, aber die Berührung von Melindas Zunge war ihr sichtlich angenehm. Das gleiche Behagen merkte man ihr an, als Lisanor sich auf gekonnte Weise mit den Zähnen und der Zunge winzige Happen von Brustwarze und Busen holte. «Kommt her, Jungens, auch für euch gibt's hier was zu essen.» Die Jungens hatten sehr viel weniger Spaß daran, was dem Mädchen beinahe peinlich war. Es starrte weiter an die Decke. Der Wein wurde in Muscheln gereicht. «Muscheln haben so etwas Erotisches. Sie sind geradezu ein erotisches Symbol, nicht wahr?» «Das hier ist jedenfalls noch Theater. Ein sexuelles Schauspiel, das wir uns selbst geben. Deswegen muß es auch so übertrieben sein. Liebes, dein Kleid steht dir ausgezeichnet, du hast einen göttlichen Körper.» Lisanor hatte das Schloß und die verfallenen Mauern mit riesigen Wachspuppen dekoriert, die sie selbst angefertigt hatte. Ihre bleichen Hände klammerten sich überall an die Mauern. Die Schleier, in die sie gehüllt waren, flatterten so heftig im Wind, daß man befürchten mußte, sie würden Feuer an den Kerzen fangen, die die Ruinen beleuchteten. Maurice trat zu ihr. «Gut?» «Phantastisch. Haben Sie übrigens schon probiert?» «Ich würde lieber von Ihnen essen.» «Das können wir später machen.» 153
«Ein hervorragender Wein, Lisanors Spezialität. Wenn er einen nicht sofort umwirft, kann man fünf Tage lang ununterbrochen vögeln, ohne einen Augenblick pausieren zu müssen.» «Das hat doch wohl keiner von uns nötig.» «Und Lisanor?» «Sympathisch.» «Das weiß ich. Ich kenne sie seit Jahren. Ich meine, beim Vögeln.» «Inwiefern beim Vögeln?» «Wie treibt ihr beide es denn miteinander?» «Nur Geduld. Das bekommen Sie schon noch zu sehen.» «Das finde ich bei einer Orgie nicht die richtige Antwort.» «Ist das hier etwa eine Orgie?» «Wie würden Sie es denn nennen?» «Eine nette kleine Abendgesellschaft.» Maurice grub seinen Mund in den Busen des Mädchens. «Macht dir das Spaß, Marion?» Er streichelte ausgiebig ihre Schenkel. Die Erdbeeren erbebten, und die Steaks ebenfalls. «Nehmen wir uns die mit den Fingern?» «Aber nein, Liebes, siehst du denn nicht, daß ich extra kleine ausgesucht habe, damit man sie sich mit den Zähnen holen kann? Hättest du lieber, daß ich statt Marion da läge? Das können wir morgen beim Abendessen machen, mit dir und den Jungens. Vor so vielen Leuten würde ich mich genieren, weißt du, mein Körper ist nicht mehr so appetitlich, wie er einmal war. Aber von deinem Schoß zu essen, Melinda, das stelle ich mir wunderbar vor. Ich würde ihn über und über mit Schlagsahne und Austern und Muscheln und Himbeeren bedecken.» «Eine sonderbare Speisekarte.» «Wollen wir? Morgen vielleicht? Magst du?» «Mir soll's recht sein. Ich finde das sehr lustig.» «Jetzt fange ich aber an.» Maurice schnappte sich mit den Zähnen ein kleines Steak und biß dabei Marion, so daß sie laut aufschrie. «Nein, das geht aber nicht. Das arme Mädchen. Hat er dir sehr weh getan?» «Sie hat so ein reizendes Bäuchlein. Ich hatte einfach Lust darauf.» Zur Buße küßte Maurice ihr Arme und Hüften und strich mit dem Mund über das Tischtuch unter Marion, um mit der Zunge an das Ende ihres Rückgrats zu kommen. 154
Rings um sie versammelten sich jetzt wieder die anderen Gäste. Es waren jedoch nicht sehr viele. «Auf Korsika finden sich immer so seltsame Leute zusammen. Man weiß nie, wen man da trifft.» Da war Nadine mit den großen blauen Augen und dem schwerfälligen Körper; man sah ihr von weitem an, wie neurotisch sie war. Ihr Mann glich den <Jungens> in jeder Hinsicht zum Verwechseln. Nadine trug einen Netz-Badeanzug, aus dem sie offensichtlich das Futter herausgetrennt hatte, und ihr Mann ein gestreiftes indianisches Tuch und goldene Sandalen. Dann war da ein Fotomodell mit riesigen Augen, das geradezu keusch gekleidet schien, hinten aber vollkommen nackt war. Das sah zwar nicht sehr schön, aber witzig aus. « Wie hübsch unsere Ninelotte wieder ist», rief Lisanor und zog ein bißchen an ihrem Kleid. «Ich heiße nicht Ninelotte. Lassen Sie mein Kleid los», protestierte sie beleidigt. Es waren die ersten Worte, die sie sprach. «Los, iß.» «Ich mag nicht von Marion essen.» « Was hast du gegen Marion?» «Das letzte Mal, als ich sie sah, hat sie mich schlecht behandelt.» «Dann erst recht. Räch dich. Iß von ihr, leck sie, beiß sie, benimm dich schlecht und mach deine großen Augen ein bißchen zu.» « Wer hat hier denn schon vom Nachtisch gegessen?» Maurice hatte seinen Mund schon in die Schlagsahne getaucht. «Du hättest auch auf die anderen warten können.» «Sieh mal, Marion gerät jedesmal in Erregung, wenn ich ein paar Erdbeeren von ihr esse», erklärte Maurice lachend, «das wird noch eine Katastrophe geben.» «Du lieber Himmel. Ich finde das nicht sehr erstrebenswert.» «Melinda, gefällt dir meine Idee?» Melinda schaute auf die Terrasse hinaus. Eine schöne Terrasse über dem Meer, mit saftigem Gras und duftenden Kräutern bepflanzt. Jeder mögliche und unmögliche Gegenstand war mit Muscheln dekoriert. In der Tiefe rauschte das Meer, und der Wind vom Cap Corse heulte. «Aber gewiß doch, meine Liebe.» Sie trat an den Tisch, stützte sich mit beiden Händen und tauchte ihr Gesicht in die Sahne. Sie fühlte sie an ihrer Stirn. Sie schlürfte ein paar Erdbeeren. Marion bebte unter ihrem Berg. Auf ihrer 155
Brust war noch ein Rest Majonnaise, und auf ihrem Bauch lagen noch ein paar übriggebliebene Steaks. «Bravo, Melinda», sagte Lisanor hinter ihr mit überschnappender Stimme. Die Sahne reichte Melinda jetzt bis zum Haaransatz, sie konnte kaum noch atmen. Tiefe Erregung ergriff sie, sie fühlte die Blicke aller auf sich gerichtet, während Marion zuckte und ihr Becken vorwölbte. Melindas Zunge berührte ihren Schoß. Und plötzlich überkam sie die Lust, alle Erdbeeren zu verschlingen und Marion auf die Terrasse zu schleppen und mit ihr zu versinken und ihr weh zu tun. Sie stützte sich mit aller Kraft auf ihre Hüften. «Sie tun mir weh», sagte Marion mit ersterbender Stimme. «Soll ich nicht weitermachen?» Der Ausdruck einer bösen Freude stand auf ihrem Gesicht. Lisanor beobachtete Melinda und merkte, daß sie eingreifen mußte. «So, jetzt laß uns auch mal ein bißchen.» Sie faßte sie um die Taille und zerrte sie in eine Ecke. Sie ließ ihr Tuch fallen und drückte Melinda an sich, die sich in ihrem Folienkleid kalt anfühlte. «Ich liebe dieses Gefühl. Wie ein Leichnam, eiskalt und glitschig wie ein neugeborenes Kind.» «Sie Zelluloid und du Zellulitis», hörte sie Maurice lachend sagen. Lisanor riß Melinda das Kleid vom Leib. Das war nicht schwer, da sie es mit Riesenstichen zusammengenäht hatte. Lisanors Gesicht näherte sich dem ihren. Dieses gierige, bedrängende Gesicht, durch die Nähe riesig vergrößert, hatte etwas Beängstigendes. Aber zugleich erfüllte diese zügellose Gier Melinda mit einer neuen, unbekannten Lust. Wer würde ihr Vorhaltungen machen? Ostrowskij hatte zweifellos gewußt, was geschehen würde. Abraham, nein, Abraham würde ihr bestimmt keine Vorhaltungen machen. Abraham hatte für alles Verständnis, grenzenloses Verständnis. Und Mark? Der würde nie etwas davon erfahren. Jacob würde es indiskutabel finden und Anthony entwürdigend und unhaltbar — aber er würde vor Neid beinahe platzen, denn er hätte bestimmt gern zugeschaut. Die Monate in Moskau waren ihr lang geworden. Helen hatte ihr tröstliche Briefe geschrieben. Die schmerzlose Geburt war keineswegs schmerzlos verlaufen, aber natürlich hatte sie den Zeitungen erklärt, es sei eine großartige Sache, eine wirkliche Entdeckung der
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Wissenschaft, alle Mütter sollten nach dieser Methode ihre Kinder zur Welt bringen. Das Kind glich einstweilen niemandem. Sie hatte es in Moskau in einem Privathaus untergebracht. Es wäre eine Freude für sie gewesen, wenn der Ministerpräsident bei der Taufe Pate gestanden hätte; sie hatte nicht bedacht, daß in Rußland das Taufen nicht mehr Mode war. Er hatte denn auch abgelehnt. Das Kind war wieder ein Junge. Sie hatte ihn — aus Sympathie für ihre Umgebung — Nikolaus genannt, aber inzwischen fand sie diesen Namen schon unausstehlich. Wessen Sohn der Kleine war, würde sich später herausstellen, wenn er ein eigenes Gesicht bekam. Ein Sohn von Mark? Von David? Der Rolls-Royce hatte in den Karpaten eine Panne gehabt, und sie hatte mit dem Zug weiterfahren müssen. In Rom hatten ein Kosmetiksalon und eine bessere Masseuse als die arme Madame Nubytch sie wieder in Form gebracht. Sie hatte ein paar kurze Tage mit Amerigo verbracht, sich sonst aber bei niemandem blicken lassen. Amerigo hatte sie natürlich heiraten wollen. Vielleicht wäre eine ideale Ehe daraus geworden. Aber hätte sie nachts allein schlafen müssen? Mein Gott, wie konnte sie an all das denken, während Lisanor, die Ärmste, sich abrackerte und sich an ihr aufgeilte. In Wirklichkeit empfand auch sie eine plötzliche Lust, aber sie mußte aufpassen, was geschah. Sie umschlang Lisanors Beine. In der Ecke war es nicht sehr hell. Die gebräunten Beine waren noch recht ansehnlich. Lisanor war dabei, sie buchstäblich aufzufressen. « Jetzt tu du das auch, Liebes. Leck mich, dring tief in mich ein. Tu alles, was du willst.» Melinda umfaßte ihr Gesäß und zog es an sich heran. Lisanors ganzer Körper zuckte, und ihr Busen preßte sich auf ihre Hüften. Ihr Kopf war in Melindas Schoß vergraben, und als Melinda sie nur eben mit der Zunge berührte, stieß Lisanor Schreie der Lust aus. Das war Melinda eher peinlich, aber sie fuhr mit der Prozedur fort, bis sie selbst, von einer Woge der Lust ergriffen, die Augen schließen, den Kopf zurücklegen und keuchend den Mund weit aufmachen mußte. Maurice stürzte sich auf Melinda, die noch am Boden lag. «Eine großartige Vorstellung», flüsterte er ihr ins Ohr. «So was habe ich noch nie gesehen.» «Haben wir euch gefallen?» «Ihr wart wunderbar. Lisanor eine Hyäne und du ein gefallener Engel.» Er faßte nach ihren Brüsten und drang in sie ein. Sie verspürte nicht die geringste Lust dabei. 157
Wie ärgerlich, wenn sie lesbisch wäre: hinter den Salontüren den kleinen Mädchen den Hof machen, an ihren Lippen hängen und ihnen zu einer Karriere verhelfen. Aber Marks Frau mit ins Bett zu nehmen und es ihm nachher zu erzählen, das wäre allerdings ein hübscher Streich. Nur daß Mark ihr wahrscheinlich nicht zuhören würde. Und Aglaia ließe sich bestimmt nicht darauf ein. Nein, das nicht. Schade, sie hatte das Wort <Sodomie> immer so elegant gefunden. Und jetzt Jin mit seinem Schwedengesicht, das so abstoßend war. Den Rest der Nacht und die frühen Morgenstunden verbrachte sie mit Marion, Lisanor und Jin. Aber mehr mit Jin als mit den Mädchen. Deshalb sank sie ganz erschöpft in das Motorboot, mit dem Blamonche sie im Kloster abholen ließ, und wachte erst wieder auf, als sie landeten. Sie setzte sich ihre Sonnenbrille auf. Ob er sie wiedererkannte? Alle waren am Strand versammelt. Alle: etwa zehn Personen. Darunter Blamonche, der mit seinen scharfen Äuglein, seiner zerknitterten Haut und seinen kurzgeschnittenen schwarzen Haaren gar nicht zu verwechseln war. Er stand auf und kam ihnen entgegen. Dachte Blamonche darüber nach, wo sie sich schon einmal begegnet waren, oder bildete Melinda sich nur ein, daß sie es in den Augen ihres Gastgebers aufblitzen sah? Gegenseitiges Bekanntmachen. «Und Sie sind also die berühmte Abgeordnete Publishing. Wir haben hier aber auch unsere Politiker.» Er stellte ihr drei Minister vor. Einer war klein und lebhaft und hatte keine Hände oder jedenfalls fast keine. Der zweite war besonders groß, hatte weißes Haar und trug eine rote Badehose. Der dritte war von der Farbe des Sandes und darum beinahe unsichtbar. «Ich bin überzeugt, daß wir uns irgendwo schon einmal begegnet sind», sagte Melinda und tat so, als müsse sie hinter ihrer vorgehaltenen Hand gähnen. «Müde, wie? Ich möchte nur wissen, was ihr in eurem Kloster treibt. Warum lädt Lisanor mich eigentlich nie ein?» Blamonche berührte ihre Schulter und strich ihr über die Haut. «Ja, vermutlich irgendwo. Auf einem Ball? Vielleicht in Paris.» Es hatte geklappt. Er hatte sie nicht wiedererkannt. I
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Maurice kam mit einem Glas in der Hand. « Was ist das?» Sie hatte ihn noch gar nicht am Strand bemerkt. So erschöpft war sie. «Ein Cocktail, der dich ein bißchen aufmuntern wird. Du mußt ja schrecklich müde sein.» «Todmüde.» «Und du hast noch ein Stück Arbeit vor dir, wenn du dich gegen Blamonche wehren willst.» Was meinte er damit? «Er geht sofort zum Angriff über.» Tatsächlich konzentrierte sich Blamonche ganz auf sie. «Unter diesem klitzekleinen Badeanzügelchen sehe ich zwei süße klitzekleine Dingerchen ... Und wie gerne würde ich Ihnen dieses Badeanzügelchen ausziehen.» «Lieber Blamonche, wir haben uns doch eben erst kennengelernt.» «Damit kann man gar nicht schnell genug sein. Und wie ich höre, nehmen Sie es doch nicht so genau. Acht Männer und Kinder auf Deubelkommraus. Dieser süße Körper und all diese Kinder. Aber diese beiden klitzekleinen Dingerchen ...» Sie hätte ihn auf der Stelle umbringen können. Sie mußte es möglichst bald tun. Da er keine Ruhe gab, erlaubte Melinda ihm, ihre Brust und ihr Gesicht zu berühren. Vorläufig war sie viel zu müde, um darüber nachzudenken, wie sie ihn umbringen würde. Sogar die Pistole hatte sie im Kloster vergessen. Andererseits hätte sie ihn ja auch nicht gut hier am Strand umbringen können. Ihn ertränken? Im Meer? Ob er gut schwimmen konnte? Die Sonne brannte heiß. Lisanor unterhielt sich mit einem Minister. Maurice flüsterte Melinda zu: «Gewöhnlich sind hier mindestens fünf Minister zu Gast. Offenbar ist Baisse.» Der Cocktail hatte sie mit einer glühenden Hitze erfüllt. Sie schlief ein. Später weckte man sie. Es war fast drei Uhr, das Essen war angerichtet. Sie stürzte sich ins Wasser, es war beinahe zu kalt, aber diese schneidende Kälte war schön, und die Farbe des Wassers auch. Beim Anziehen bohrte sie in der Nase. Melinda bohrte sich gern in der Nase und holte dabei mit Andacht die Rückstände der Atmung daraus hervor. Dann bohrte sie in den Zähnen. Belag auf den Zähnen und auf der Zunge, den sie befriedigt abkratzte. 159
Ein Diener geleitete sie eine Treppe hinauf und in einen Fahrstuhl, der in die Felswand gesprengt war. Drei Knöpfe. Der Diener drückte leicht auf den obersten. «Gibt es denn mehrere Stockwerke?» «Nein, nur eines.» «Und wozu sind die anderen Knöpfe da?» «Einer ist für den Schuppen, in den im Winter die Boote und die Motorboote kommen. Das Meer kann hier sehr gefährlich werden. Und der andere ist eine Alarmglocke.» «Ach, natürlich. Sicher nicht sehr angenehm, wenn man hier mitten im Berg steckenbleibt.; «Das ist noch nie vorgekommen, Madame.» Beim Essen im Freien wurden sie erst ein Opfer der Wespen, dann der Fliegen. Danach führte Melinda der ganzen Gesellschaft vor, wie gut sie Wasserski lief, und um acht Uhr kehrten Lisanor, die Jungens und sie ins Kloster zurück. Das Motorboot fuhr schnell. Es war beinahe Nacht, und doch nahm Melinda wahr, wie schön die Landschaft war. Auf den Bergen brannte es. «Das braucht einen nicht zu beunruhigen. Da oben brennt es dauernd.» «Es scheint aber ein großer Brand zu sein.» «Das sind nur die Hirten, die das Gestrüpp abbrennen, damit das Gras nachwächst. Und wenn es so trocken ist wie jetzt und seit drei Monaten nicht geregnet hat, dann passiert das eben.» «Entschuldigen Sie, Madame», mischte sich der korsische Bootsführer ein, «das sind die pieds noirs. Sie behaupten zwar, wir seien es, aber in Wirklichkeit legen sie das Feuer.» «Ach wo», flüsterte Lisanor ihr zu, «das sind die Korsen selbst. Manchmal zünden sie sogar die Ernte der pieds noirs an, weil die tüchtig sind und beweisen, daß man in Korsika Ackerbau treiben kann. Und dann behaupten sie, es seien die pieds noirs gewesen. Vielleicht sind es auch einfach pyromanische Hirten.» «Und keiner von ihnen landet im Gefängnis?» «Die halten alle wie Pech und Schwefel zusammen. Meistens wissen alle ganz genau, wer es gewesen ist, und manchmal sind die Schäden bei den einzelnen Kleinbauern gewaltig.» Jetzt hatten sie Einblick in ein anderes Tal. Auch hier war alles rot vom Funkenflug. «Da wäre ich jetzt gern», sagte Lisanor. «Wie schrecklich. Ich habe Angst davor. Das ist doch gefährlich.» i
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«Aber stell dir vor, wie schön das dort aussehen muß. Wir könnten bei dieser Gelegenheit auch unsere Freunde, das Ehepaar Reux, besuchen.» «Die sind sicher längst auf und davon.» «Nein, ich kenne sie doch, die sitzen sicher in ihrem Häuschen, trinken Champagner und betrachten sich das Schauspiel.» Vom Kloster aus konnte man das Feuer überblicken. Es mußte schon den ganzen Tag gebrannt haben, denn die Brandfläche war riesig und wurde vom Wind noch ständig vergrößert. Hinter den Bergen zuckte fortwährend der Flammenschein hoch. Die Hölle in einem Film von Cecil B. De Mille über die (Göttliche Komödie> hätte genauso ausgesehen. «Man müßte es den Ministern sagen», meinte Jin. «Das würde so aussehen, als wollten wir ihnen ihr eigenes Handwerk beibringen.» «Aber vielleicht können sie den Brand von der Villa aus nicht sehen.» «Und wenn schon — was sollten sie tun?» «Leute herbeiholen, etwas unternehmen. Alle ins Gefängnis stekken.» «Meiner Meinung nach können die Minister daran gar nichts ändern.» Nur drei von den Jungens wollten mitkommen. Der amerikanische Fotograf erklärte, Waldbrände seien langweilig. Lisanor dagegen war wild begeistert. Sie verabredeten sich mit Blamonche und den Ministern im Dorf an der Straße, die ins Innere der Insel und zu den Waldbränden führte. Lisanor war ganz aufgeregt. «Du wirst sehen, meine Liebe, dabei geht dir eine neue Welt auf. Jin, du fährst ja so schlecht. Paß doch auf die Straße auf.» Man konnte geradezu mitansehen, wie der Waldbrand um sich griff. Nach jeder Kurve kam ein neues brennendes Tal zum Vorschein. Ein großartiges Schauspiel. Das Meer spiegelte das rote Licht wieder, und der Mond verschwand im Flammenschein. «Sieh mal, Lisanor, da oben über dem•Dorf.» «Du lieber Himmel, wetten, daß das alte Schloß bereits zum Teufel ist. Die unglücklichen Reux sind wahrscheinlich längst verkohlt.» An der Straßenkreuzung standen schon zwei Wagen; ein schwarzer, gewichtiger mit den Ministern, ein paar Damen und Maurice; in dem anderen, einem offenen MG, saß Blamonche, allein. 16 1
«Kommen Sie zu mir», sagte er zu Melinda. «Melinda bleibt bei uns.» «Ich denke nicht daran.» Sie sprang von einem Wagen in den anderen. «Liebste, ich möchte den Waldbrand mit dir zusammen erleben. Wenn du mit Blamonche fährst, bekommst du nichts von dem Waldbrand zu sehen. Höchstens vom Fenster des Hotels am Dorfplatz aus.» «Wir sehen uns bei den Reux.» «Na, gut.» «Blamonche, versprechen Sie mir, daß Sie mit mir zu den Reux fahren?» «Wo soll ich denn sonst mit Ihnen hinfahren, Sie Angsthäschen?» ... wenn Maurice mitkäme ... oder Lisanor «Sehen Sie mal, wir hätten hier auch zu dritt Platz. Komm, Lisanor.» Lisanor sprang auf den Platz neben Melinda. «Lisanor, Sie fangen bestimmt gleich Feuer», sagte Blamonche. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt weiße Hosen, einen blauen Blazer mit goldenen Knöpfen und um den Hals ein seidenes Tuch. Er sah aus wie eine Karikatur. «Haben die Minister telefoniert?» «Sie wollen sich erst einen überblick über das Ausmaß des Brandes verschaffen.» Das hatte sie vorhin schon gehört ... Jin und der schwarze Wagen fuhren los. «Wir drei trinken zuerst mal einen Cognac auf dem Dorfplatz.» «Aber wir wollen uns doch den Waldbrand anschauen.» «Mit diesem Wagen holen wir sie noch lange ein.» «Siehst du, Melinda, wenn ich nicht dabei wäre, dann kämst du hier überhaupt nicht fort.» «Haben Sie Angst vor dem Waldbrand?» Es traf sich gut, daß Blamonche angetrunken war und daß auch Melinda schon ein bißchen Alkohol im Bauch hatte. «Siehst du, die hassen ihn», flüsterte Lisanor ihr zu, als Blamonche an der Theke stand. «Er wird überhaupt nicht bedient. So verhaßt ist er bei allen.» «Warum verkehrst du dann mit ihm?» «Im Grunde nur aus Gewohnheit. Dabei versucht er immer, mir meine Mädchen auszuspannen.» 162
«Meinetwegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen.» «Warum bist du dann zu ihm in den MG gestiegen?» «Ich hatte Angst vor Jins Fahrerei.» «Das hättest du mir doch nur zu sagen brauchen.» «Ich hatte Angst, daß du dich dann selbst ans Steuer setzt.» «Warum? Hast du kein Vertrauen zu mir?» «Die bloße Vorstellung macht mir schon angst.» «Was haben die beiden kleinen Freundinnen sich denn zu erzählen?» Blamonche kam mit zwei Flaschen Martell an den Tisch zurück. «Hören Sie, Blamonche, wir müssen uns eilen. Sonst ist der Waldbrand zu Ende.» «Ich habe ein Taxi für Sie bestellt, Lisanor.» «Warum?» «Damit Sie vorausfahren können, ohne auf uns zu warten. Inzwischen trinken wir etwas.» «Zartfühlend und taktvoll, das muß ich schon sagen.» Melinda nahm eine Flasche und setzte sich in den Wagen. «Wir können unterwegs trinken.» Gestank, Rauch und Funken, als sie die Höhe hinauffuhren. Man bekam kaum Luft. «Wir wollen das Verdeck zumachen, sonst versengen wir uns die Haare.» «Lisanor steht schon in Flammen.» Lisanor schrie entsetzt auf. Natürlich stimmte es nicht. «Das würde dir wohl Spaß machen, Blamonche?» Die brennenden Olivenbäume sahen wie menschliche Körper aus. Sie brannten von innen nach außen, und ab und zu brach ein Stamm ab und fiel neben die Straße. «Das ist gefährlich.» Es brannte jetzt rechts und links von ihnen. «Nun bekomme selbst ich Angst.» «Melinda, sieh mal, wie schön. Diese Hölle, die brennenden Täler, die Funken, die zum Himmel stieben, und der Rauch, der deine schönen, sonst so ,tränenlosen Augen tränen läßt. Märtyrerleiber, die mit himmelwärts gereckten Armen zu ihrem Gott beten. Sieh nur.» «Lisanor, ich bitte dich.» Blamonche war beunruhigt. «Ich sehe die anderen Wagen nicht.» «Die sind wahrscheinlich schon längst bei den Reux. Wenn wir
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uns nicht so lange mit diesem blöden Cognac aufgehalten hätten ... Gebt ihr mir noch einen Schluck?» Sie tranken alle drei. Die beiden Wagen standen an einer Kreuzung. Sie wagten nicht, auf der schmalen Straße, die zu den Reux führte, weiter ins Innere zu fahren, weil sie Angst hatten, ein Baumstamm könnte ihnen den Weg versperren. Am Straßenrand stand eine in Tränen aufgelöste Familie. Maurice konnte sich kaum das Lachen verbeißen, als er erklärte: «Die sind heute früh zu einer Landpartie aufgebrochen und haben ihren Wohnwagen stehenlassen ...» Er konnte vor Lachen kaum weitersprechen. «Heute abend haben sie kein Rad mehr davon gefunden. Nichts.» Die kleinen Mädchen weinten, und die Minister versuchten, sie zu trösten. Würdevoll und sorgenschwer. «Ich fahre zu den Reux», verkündete Lisanor. «Ich nicht», erklärte Blamonche und fuhr fort: «Am besten gehst du zu Fuß.» Wenn er mit Lisanor sprach, ging er ohne ersichtlichen Grund immer wieder vom Sie zum Du über. «Natürlich.» Lisanor machte sich mit Maurice auf den Weg. Die Luft war voll Rauch, und die Augen brannten einem. Eine halbe Stunde verging. Und dann noch eine Viertelstunde. Es war ein herrliches Schauspiel, aber mit der Zeit begannen alle, sich zu langweilen. «Man sollte doch mal nachschauen», sagte Melinda zu Blamonche. «Ich gehe nicht», sagte Blamonche und drückte sich ein Taschentuch an die Augen. «Los, seien Sie ein Mann und kommen Sie mit.» Sie wußte, daß sie ihn so herumbekommen würde. «Lassen Sie uns zusammen gehen.» Sie machten sich auf den Weg. «Sie werden sehen, daß nichts passiert.» «Ein unseliger Einfall, hierherzufahren. Ich bin überzeugt, daß die Reux schon vor Stunden aufgebrochen sind. Und falls sie hiergeblieben sein sollten, dann sind sie längst verkohlt, und wir brauchen nicht mehr nach ihnen zu schauen.» Sie gingen schon zwanzig Minuten. «Wo ist das Haus?» «Noch ein Stück weiter, dort auf der Höhe.»
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Von Lisanor und Maurice keine Spur. «Geben Sie acht.» Ein Baum stürzte. Melinda gab Blamonche einen Schubs. «Danke, meine Liebe.» Jetzt würde er ihr trauen. «Wenn Sie vorausgehen, bahnen Sie mir den Weg.» Der Pfad wurde schmal. In der Ferne sah man die Höhe mit dem Haus. Auf der einen Seite fiel das Gelände steil zu den brennenden Bäumen ab. Melinda zog den kleinen Revolver der armen Nora aus ihrem Schuh. «Blamonche, drehen Sie sich nicht um.» «Nein, ich bahne Ihnen weiter den Weg.» «Erinnern Sie sich an mich, Blamonche?» «Natürlich, Melinda.» « Ja, aber erinnern Sie sich daran, wie wir uns auf der Treppe bei Milena Nubytch begegnet sind?» Blamonche zuckte zusammen. Das hatte er nicht erwartet. «Warum haben Sie Madame Nubytch umgebracht? Warum will Ostrowskij Sie umbringen? Los, sagen Sie mir das bitte.» In diesem Augenblick sah sie, daß Blamonche den Arm bewegte, um nach seinem eigenen Revolver zu greifen. Noch eine Minute, und es war zu spät. Melinda entsicherte ihren Revolver und drückte mit dem Zeigefinger ab. Blamonche fiel um. Im letzten Augenblick. Melinda stellte fest, daß er in der Zwischenzeit bereits seinen schwarzen Revolver herausgezogen hatte. Er mußte ein ausgezeichneter Schütze gewesen sein. Sie gab einen zweiten Schuß auf seinen Nakken ab, sie wollte nicht Gefahr laufen, daß der Ärmste bei lebendigem Leibe verbrannte. Cognac auf seinen Anzug und auf seine Haare. Sie zerrte ihn an den Hosenbeinen an den Wegrand. Er hatte nichts gespürt. Die anderen waren weit fort; das Feuer prasselte, und außerdem funktionierte Noras Revolver fast lautlos. Sie ließ Blamonches Leichnam, der bereits Feuer gefangen hatte, hinab in das Flammenmeer kollern. Adieu. Ein schöner, romantischer Tod. In einem korsischen Wald. Niemand würde die Leiche finden. Graf de Blamonche, bei der Erfüllung seiner Pflicht, als er seine Freunde zu retten versuchte, verschollen ... Etwas Besseres hätte ihm gar nicht passieren können. Melinda ging weiter. Im Salon der Villa saßen Maurice, Lisanor und das Ehepaar Reux und tranken Champagner. «Also alles in Ordnung?» «Alles in Ordnung.» 165
«Und wir haben uns solche Sorgen gemacht!» «Von hier aus hat man eine großartige Aussicht. Das ist Madame Reux, und das ist unsere berühmte Melinda, sie sieht aus wie Brunhilde in der Waberlohe.» «Und das ist Monsieur Reux.» «Darf ich Ihnen einen eisgekühlten Champagner geben?» «Und wie bist du hierhergekommen?» «Blamonche und ich hatten uns zusammen als Rettungstrupp auf den Weg gemacht. Aber dann haben wir uns getrennt.» «Hat er dich nicht in Ruhe gelassen?» «Natürlich nicht. Und mitten in dem brennenden Wald. Als ob man sich da irgendwo hätte hinlegen können. Aber er war betrunken, und vielleicht ist er umgekehrt.» «Meinst du, wir sollten auch umkehren und den anderen sagen, daß wir noch am Leben sind?» «Nein. Hier ist es so gemütlich.» Melinda ergriff ein Glas Champagner, das Monsieur Reux ihr reichte. Man mußte abwarten, bis Blamonche ganz und gar verbrannt war. «Köstlich. Eiskalt. Wunderbar. Das kann ich jetzt brauchen. Ihr Guten.» «Fehlt nur noch ein bißchen Musik.» «Wollen wir Musik hören?» «Ja, es wird doch gewünscht.» «Was für Musik?» «Es gibt doch keinen elektrischen Strom.» «Hat der Plattenspieler denn keine Batterie?» «Doch, natürlich. Entschuldigt, daran hatte ich gar nicht gedacht.» «Was denn?» «Bart6k.» «Doch nicht Bart6k. Wagner oder Berlioz. Bei einem Waldbrand kommt nichts anderes in Frage.» «Dann also Berlioz. Wagner haben wir nicht.» «Und was haben Sie von Berlioz?» «Die Grande Messe, ...» Mortp?»
«Ja.» «Einverstanden. Dann wollen wir sie uns ganz anhören.» Lieber Zeit vergehen lassen. Das war auf alle Fälle besser. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, wenn sie Blamonche mit seinem eigenen 166
Revolver erschossen hätte. Aber das war nicht möglich gewesen. Ob man von Selbstmord sprechen würde? Als sie auf die Hauptstraße zurückkamen, war es drei Uhr, und alle anderen Autos waren fort. Die Familie mit dem Wohnwagen ebenfalls. Nur Blamonches Wagen stand noch da. «Wie reizend von ihm.» «Kannst du ihn fahren?» «Ich will es versuchen.» «Nein, Lisanor, du nicht.» Sie lachten. Sie waren alle ein bißchen beschwipst und in bester Stimmung. Melinda war froh. Jetzt konnte sie nach England zurück und Mark heiraten. Die Reux waren in ihrem Haus geblieben. Sie hätten nichts zu befürchten, hatten sie gesagt. Die Minister schickten Flugzeuge, die über die Bucht glitten und ihre Bäuche mit Hektolitern von Salzwasser füllten. Binnen zwei Tagen wurden sie des Feuers Herr. Aber als der Brand gelöscht war, war auch die Landschaft zerstört. Melinda blieb diese beiden Tage noch. «Lisanor, morgen reise ich ab.» «Warum, Liebes? Bleib doch noch.» «Ich will heiraten.» «Das hast du uns ja noch gar nicht erzählt, Liebes. Wen denn?» «Das kann ich noch nicht sagen. Ich glaube nicht, daß er mich heiratet.» «Dich würde doch jeder heiraten, Liebes.» Lisanor küßte sie leidenschaftlich. «Komm bald wieder.» «Wo ist Blamonche?» «Der ist seit dem Abend, als wir zum Waldbrand fuhren, verschwunden.» «Tatsächlich?» «Er verschwindet hin und wieder, wenn er irgend etwas vorhat. Aber diesmal ist es ernst. Er hat uns seinen Wagen dagelassen. Und das würde einer wie er nie tun.» « Wo meinst du denn, daß er ist?» «Meiner Meinung nach müßtest du das wissen.» Daß sie es doch nie fertigbrachte, jemanden umzubringen, ohne daß irgendwer es merkte.
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Ostrowskij wollte es fast nicht glauben. «Wie haben Sie das denn gemacht? Ist es auch wahr? Das ist doch gar nicht möglich. Sie sind ein Genie.» «Nun müssen Sie mir aber, bitte, etwas erklären.» «Melinda, je weniger Sie wissen, desto besser ist es.» «Jetzt möchte ich mich ein bißchen ausruhen.» «Mit wem?» «Hören Sie, Ostrowskij, schließlich habe ich ein Kind bekommen, das ich mir noch aus Moskau nachschicken lassen muß. Ich habe wenig geschlafen, und ich würde gern einen Freund sehen.» «Van der Belt?» «Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, ja.» «Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihr Verhältnis mit van der Belt augenblicklich eine öffentliche Angelegenheit ist?» «Und Mark?» «Das weiß ich nicht; ich denke, er wird entsetzt sein. Oder er ist so zerstreut, daß er es gar nicht merkt.» «Ostrowskij, was würden Sie mit jemandem anfangen, der ...» Schon bereute sie es, diesen Satz begonnen zu haben. Was ging Ostrowskij schließlich ihr Privatleben an? «Nun, lassen wir das. Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen können. Es gäbe noch einiges zu besprechen. Aber lassen Sie mir erst ein bißchen Ruhe.» «Melinda, wenn ich eine Regierung wäre, würde ich Ihnen einen Orden verleihen.» «Ostrowskij, Sie stehen doch für eine Regierung. Oder etwa nicht? Irgendwann werden Sie mir sagen, für welche, nicht wahr?» «Ja, irgendwann.» Sie verabschiedeten sich voneinander. Treffen in der Halle. «Fahren wir jeder mit seinem eigenen Wagen?» «Ich habe meinen Wagen auf der anderen Seite der Halkin Street gelassen. Ich parke nicht gern vor deinem Haus.» Beiderseitige Verlegenheit. Melinda versuchte, unbefangen zu tun; Mark schaute sie nicht an, sondern kramte, als sei das jetzt sehr wichtig, in einer Jackentasche nach seiner Brille. Er war immer tadellos angezogen. Abgesehen von den Schuhen. «Wie reizend, du bist ja ganz verlegen.» Im Grund war sie nur zerstreut. Sie kamen an, und Mark machte das Gartentor auf: zum erstenr68
mal sah sie den Garten seines Londoner Hauses. Bäume, Mond und Sterne und in der Ferne Lichter. Es war wie auf dem Land. Ein Diener kam und verschwand wieder. «Keine Sorge», sagte Mark, «der schweigt wie ein Grab. Er gehörte zu den Katholiken, die sich vor lauter Servilität vierteilen ließen.» Aber er selbst war sichtlich besorgt. «Kommt bestimmt niemand?» «Wer soll denn kommen? Aglaia ist auf dem Land.» «Bist du sicher?» Er war sicher, aber höchst besorgt. «Mir ist nicht gut.» «Was hast du denn?» «Bauchweh, eine Magenverstimmung. Ich bin ein bißchen müde. Ich möchte erst mal baden.» Neuerliche Verlegenheit. Mein Gott, war sie etwa umsonst hierhergekommen? Er brachte es fertig, sich nur mit ihr zu unterhalten. «Dann geh jetzt baden.» «Trink inzwischen einen Whisky. Ich lege noch eine Platte für dich auf. Ist dir das recht?» Die Platten waren wahllos zusammengekauft, ein paar Symphonien, ein paar Stücke aus Opern. Jetzt würde Mark sie allein im Salon lassen und baden gehen, und sie würde so tun, als blättere sie hier unten in den Illustrierten, und würde ihr Glas austrinken, das er aus Zerstreutheit mit Soda aufgefüllt hatte. «Die hier ist wunderbar. Kennst du sie?» Es war die ( Unvollendete>. «Ist es dir auch recht, wenn ich baden gehe?» Und fort war er. Man schaut das Zimmer an. Man schaut die Illustrierten an, man schaut in den Spiegel. Man fragt sich, warum man gekommen ist. Der Butler kommt herein, und man tut verlegen. Man schenkt sich noch ein Glas Whisky ein, diesmal ohne Soda. Soll ich fortgehen? Dann kommt Mark zurück und findet mich nicht. Was er dann wohl denkt? Aber ich würde es bereuen. Es wäre, als hätte ich ihn zum Teufel gejagt. würde ich zwar gern zu ihm sagen, aber vielleicht lieber ein andermal. Ostrowskij hat recht. In diesem Augenblick erscheint Mark in einem blaugestreiften Bademantel, noch tropfnaß. Er sieht großartig aus. «Wie reizend. Ganz verlegen, nicht einmal den Mantel hast du ausgezogen.»
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In Wirklichkeit hatte Melinda ihn mechanisch wieder angezogen, in dem plötzlichen Wunsch, fortzugehen. «Es ist schwierig, zu einem anderen Menschen eine richtige Beziehung zu finden.» (Sprach er von ihr? Dann war zumindest sie nicht daran schuld.) «Je länger ich lebe, desto deutlicher sehe ich, wie schwierig und kompliziert die menschlichen Beziehungen sind.» Redensarten. Solche Redensarten hatte sie schon hundertmal gehört, vielleicht sogar von ihm. Was sollte sie darauf antworten? «Aber je oberflächlicher die Beziehungen sind, desto einfacher werden sie. Trink doch einen Fernet Branca», schlug sie vor. «Ach ja. Da hast du recht.» Stimmte er ihren Gedanken oder dem Fernet zu? Schweigen. Was überlegte er? Was sollte sie ihm sagen? Sie legte ihren Kopf auf seine Knie, die der Bademantel kaum bedeckte. Eine tödliche Stimmung. «Dein Bruder hat mir geschrieben.» Das zog immer. «Welcher von meinen Brüdern?» «William.» «Ich wußte gar nicht, daß du ihn kennst. Wo bist du ihm denn begegnet?» «Eines Abends bei einem Dinner. Eines Abends bei einem Dinner. Eines Abends bei einem Dinner.» «Was soll denn das heißen?» «Ich hoffe, daß du auf diese Weise ... Aber nein, gar nichts.» «Was?» «Ich habe ihn bei einem Dinner getroffen. Gestern habe ich auch deinen Sohn gesehen.» Nein, das war zu einfach. Sie mußte sich etwas Besseres einfallen lassen. Mark nahm ihren Arm. «Komm sofort nach oben. Aber geh leise. Wehe, wenn du Krach machst. Ganz leise, auf den Zehenspitzen.» «Leieieieise.» Schweigen. Die Tür war angelehnt. Das Schlafzimmer. «Laß uns das Fenster aufmachen.» Gelbes Laternenlicht fiel auf das Bett und auf Marks Gesicht. «Zieh dich aus. Es ist doch lächerlich, daß ich halbnackt bin und du ganz angezogen. Nimm meinen Morgenrock im Bad.» Er war sehr weich und ganz dunkel. Er stand ihr gut zu ihrem Haar. «Du hast zu langes Haar. Weißt du, du solltest es abschneiden 17 0
lassen, so siehst du ja aus wie ein Nuttchen. Es hängt dir ins Gesicht. Weißt du, wie sehr ich dich brauche? Wußtest du das? Habe ich dir das je gesagt? Ich brauche dich.» «Auch ich brauche dich.» Daran mußte irgendwie etwas Wahres sein, dachte Melinda, wenn sie noch immer und schon wieder bei ihm war. «Das ist nicht so wichtig. Und weißt du auch, warum ich dich brauche?» «Warum?» «Rate mal.» «Sag es mir.» «Nein, du sollst es raten. Auf jeden Fall wirst du es aber merken.» «Ich glaube, ich kann es mir denken.» Ein Pseudo-Lolita-Komplex, ein intellektueller Lolita-Komplex ... «Alle nehmen deine Geistesgaben ernst und bewundern deine Intelligenz.» Niemand tut das. Anscheinend hat er nicht begriffen, daß alle mich reizend finden, weil ich keinerlei Geistesgaben habe. «Ich nicht. Ich bewundere etwas anderes. Dich, so wie du bist.» War das die ganze Erklärung? Wahrscheinlich. «Ich mag gern, wenn du nackt bist.» Er zog ihr den Morgenrock aus. Durch das Fenster kam ein kalter Wind. Trotzdem war es besser, es offen zu lassen. Melinda ahnte schon die Katastrophe dieses Abends. Alle Abende mit Mark waren Katastrophen. «Du bist so gesund.» Das war ein Kompliment. Jedenfalls sollte es ein Kompliment sein. «Noch nie einen so gesunden Menschen wie dich gesehen.» « Ja, das bin ich wirklich.» «Ich bin gern so mit dir zusammen. Dreh dich gegen das Licht, ich möchte dich sehen.» Marks Mund war genauso wie der Abrahams. Es war, als wäre sie mit einer zerstreuten Ausgabe ihres Vaters im Bett. Sie schmiegte ihren Kopf an Marks Schulter. Die gleiche Wärme, der gleiche Geruch von nicht mehr jungem Fleisch, von Schweiß. Sie küßten sich nicht auf den Mund. Das mochten beide nicht. Vielleicht hatte er trotz dem Fernet Branca noch Magenschmerzen. Vielleicht war er trotz dem Bad noch müde und zur Liebe nicht fähig. 171
«Laß uns ein bißchen so liegenbleiben. Es ist so schön ...» Sicher. Es sollte mich nicht stören, daß er mich mitgenommen hat, damit ich mir Illustrierte anschaue und die
«Ich bin müde.» «Schlaf, Liebling.» «Nein, mach die Beine breit.» Jedesmal bekam sie doch einen Krampf im rechten Bein. «Warte. Rück ein bißchen nach hinten.» «Nein. Ich möchte dich sehen.» Sie mußte also leiden und den Krampf aushalten. Aber schön war es doch. Mark in ihr, endlich wieder einmal, nach so langer Zeit. Für einen Augenblick war er in ihr Wirklichkeit. Dann drehte er sie um. In manchen amerikanischen Staaten, zum Beispiel in Iowa, kommt man ins Gefängnis, wenn man es auf diese Art macht. Wenn Mark bloß nicht soviel reden wollte ... Jetzt fing er wieder mit Konversation an. Er hatte Gedichte von T. S. Eliot gelesen ... Schluß, für diesen Abend war es vorbei. Sie kam wieder ins Zimmer. Sie hatte seinen Morgenrock an, der ihr gut zu ihrem Haar stand. Wo Aglaia wohl war? Vielleicht saß sie vor dem Fernseher, ebenfalls im Morgenrock, oder sie war bei Freunden. Vielleicht schrieb sie auch. Aglaia schrieb gut. Er hatte das vor kurzem entdeckt. Sie hatte einen ganz eigenen, reizenden Stil, in gewisser Weise kindlich, so ähnlich wie Melinda, nur daß Melinda ganz anders war. Aglaia verstand die Dinge, weil sie sie auf ihre natürliche Weise empfand oder beobachtete. Während Melinda sie nur begriff, wenn sie sie eben begriff. Aber wenn sie sie begriff, begriff sie sie sofort. «Du hast zu langes Haar. Weißt du, du solltest es abschneiden lassen, so siehst du ja aus wie ein Nuttchen. Es hängt dir ins Gesicht.»
Melinda hatte zuviel Haar. Und es war schade, daß man ihr darum nicht ins Gesicht schauen konnte. Sie hatte doch ein so hübsches Gesicht. Mehr als hübsch, eigenartig, ausdrucksvoll und aufmerksam. Wer weiß, was sie von mir denkt und ob sie überhaupt über mich nachdenkt? Viel? Wenig? Und wie? Auf ihre unwahrscheinliche Weise. Denn im Grunde ist Melinda überhaupt eine unwahrscheinliche Person. Zu drollig, daß sie ausgerechnet mir über den Weg gelaufen ist. Aber sie tut mir wohl. «Weißt du, wie sehr ich dich brauche?» fragte er sie. «Habe ich dir das je gesagt? Ich brauche dich.» «Auch ich brauche dich», antwortete Melindas Stimme. Ob sie das nur so hinsagte? Warum hatte sie nicht eine bessere
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Antwort bereit und war erstaunt? Das Entscheidende war doch, daß er sie brauchte. Das war für ihn etwas Neues. «Das ist nicht so wichtig. Und weißt du auch, warum ich dich brauche?» «Warum?» «Rate mal.» Ob sie es errät? Warum brauche ich sie? Ganz genau wußte er es selbst nicht. «Sag es mir.» «Nein, du sollst es raten. Auf jeden Fall wirst du es aber merken.» «Ich glaube, ich kann es mir denken.» Was Melinda wohl denkt? Ich wette, daß sie nie etwas denkt. Ob sie in mich verliebt ist? Warum käme sie sonst oder ließe mich kommen, wenn sie es nicht wäre? Sie ist intelligent. Es macht mir Spaß, daß sie intelligent ist. Sie versteht mich sofort. Sie versteht meine Familie, meine Stimmungen. «Alle nehmen deine Geistesgaben ernst und bewundern deine Intelligenz. Ich nicht, ich bewundere etwas anderes.» Ihm gefiel Melindas Körper, wie sie gewachsen war und wie sie sich bewegte. Ihm gefiel ihre weiche, junge, reine Haut. «Ich nicht ... Dich so, wie du bist. Ich mag gern, wenn du nackt bist, Ag ...» Fast hätte er Aglaias Namen ausgesprochen. Zum Glück hatte Melinda es nicht gehört. Er zog ihr den Morgenrock aus. Durch das Fenster kam ein schöner, kühler Luftzug, rein und nächtlich, voll Friede. Und jetzt die Wonne, in Melindas Körper einzutauchen. Oder zu ruhen ... Aber er war müde und hatte Kopfschmerzen gehabt. Es wäre schön, jetzt so neben ihr einzuschlafen, neben diesem Körper. Aber was würde Melinda dann denken? Sie hatte einen schönen, jungen Körper, so gesund und braungebrannt. «Du bist so gesund. Noch nie einen so gesunden Menschen wie dich gesehen.» «Ja, das bin ich wirklich.» Melindas Stimme war nur noch ein Flüstern. Sie wartete auf die Liebe. Warum warten Frauen immer auf die Liebe? Er hätte so gern neben ihr gelegen, ohne sich verpflichtet zu fühlen ... «Ich bin gern so mit dir zusammen. Dreh dich gegen das Licht, ich möchte dich sehen.» Sie war wunderschön in dem Licht, das von der Straße ins Zim174
mer fiel. Marks Körper und seine Muskeln drängten ihr entgegen, sein Herz klopfte, sein Blut pochte, schwoll, drängte ihr entgegen. Er strich mit dem Kopf über Melindas Bauch. «Sag was.» Plötzlich hatte er keine Lust mehr, diesen Knabenkörper zu nehmen, in seine feuchte Wärme einzudringen. «Sag was», bat er. «Ich liebe dich», sagte sie. War das wahr? Wollte sie ihn? Ihn, Mark, einen alten Mann? Wollte sie ihn, der sie anbetete? Wollte sie ... Marks Gesicht stürzte sich auf Melindas Gesicht. Seine Zunge berührte ihren Gaumen, ihre Zähne. Er strich ihr übers Haar, dann umfaßte er ihre Hüften. Als er ihre Schenkel berührte, zuckte Melinda zusammen. Mark streichelte sie, seine Finger glitten über Rundungen, Kurven und Höhlungen, drangen in Melinda ein, streichelten draußen und drinnen und draußen ... «Gott, wie schön, Mark, mach weiter.» Wie merkwürdig, das zu sagen, dachte Mark. Mach weiter, natürlich mache ich weiter, aber ich kann ja nicht bis in alle Ewigkeit weitermachen. Er mußte lachen. «Warum lachst du?» «Ich weiß nicht, ich mußte halt lachen.» «Aber so lenkst du mich doch dauernd ab, so ist es doch nicht möglich, sich zu lieben.» Wieder küßte und streichelte er sie, er fühlte Schweiß auf seinem Rücken, empfand unendliche Lust. Aber er spürte auch, daß er pinkeln mußte. Dann habe ich also gar keine Erektion, dachte er. Er stand auf und ging ins Bad. Als er zurückkam, lag Melinda wie eine Mumie unter dem Leintuch, man sah nur ein bißchen von ihrem Haar und die Rundungen ihrer Brust. Reglos und glücklich lag sie da. «Ich bin müde.» «Schlaf, Liebling.» Sie sagte das ohne einen Hauch von Resignation. War es ihr denn gleichgültig, wenn er einschlief, ohne daß sie einander geliebt hatten? Was ging nur im Kopf dieses Mädchens vor? «Nein, mach die Beine breit.» Sie tat es ein wenig mühsam, als hätte er etwas Ausgefallenes von ihr verlangt.
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«Warte. Rück ein bißchen nach hinten.» Sie bevorzugte seltsame Stellungen, die gute Melinda, wer weiß, wer ihr das beigebracht hatte. «Nein», sagte er, «ich möchte dir ins Gesicht schauen.» Er packte ihre Hüften und Schenkel und zog sie unter sich. Wieder fühlte er bei der Berührung mit ihrer Wärme das Ameisengekribbel der Lust in seinen Lenden. Melinda war ein Ding, dessen man sich bemächtigte. Ein Apfel, den man anfaßte, in den man biß, an dem man schnupperte, rieb und leckte. Wieder erbebte Melinda: Marks Hände zwischen ihren Schenkeln. Ihre Lippen lagen dicht aufeinander, und hin und wieder sog Melinda ganz leicht an einem seiner Mundwinkel. Mark fühlte seine Müdigkeit nicht mehr, wieder nahm die Erektion zu. Aber nicht genug. Je mehr er daran dachte, desto weniger heftig war sein Begehren. «Melinda.» Wieder seine Hand zwischen ihren Schenkeln. Sie war feucht, und wieder öffneten sich ihre Schenkel. Marks Zunge glitt über ihren Bauch, hinab zwischen ihre Beine. In eine geheimnisvolle Welt lebenden Fleisches. Wie Schinken. Seine eigene Begierde kam ihm plötzlich lächerlich vor. Hinein, tiefer, immer tiefer. Statt der Zunge nahm er jetzt einen Finger und fühlte, wie er in ihrem Fleisch verschwand, angesaugt, als ob ein hungriges Tier in ihrem Leib säße. Er fühlte mit dem Finger den Umriß des Pessars. Der Gedanke, daß Melinda daran gedacht hatte, daß sie seinem Begehren zuvorgekommen war, störte ihn ein bißchen. Wenn es auch ganz natürlich war. Besser so, als daß sie dann ein Kind erwartete, eines von ihren vielen vaterlosen Kindern. Melinda drehte sich wieder um. Sie nahm Marks Hände und legte sie auf ihren weichen, köstlichen Busen. Melindas Rücken gegen Marks Brust, die weiche Rundung ihres Gesäßes drängte sich gegen Marks Gespanntheit, die mit dem Wunsch, sie zu nehmen, von neuem wuchs. Eine Hand auf ihrer Brust ... eine in ihrem Schoß ... ein leichtes Streicheln ... Melinda war in Ekstase, mit einem Ruck drehte sie sich um und suchte seine Lippen. Weiß der Himmel, warum es ihm jetzt in den Sinn kam, zu reden. Aber er war so müde, und die geistige Anspannung war zu groß gewesen. So redete er fort und fort, und Melinda mußte lachen. 176
Das Ende vom Lied war, daß es an diesem Abend nichts mit der Liebe wurde, aber Melinda schien trotzdem glücklich, und Mark schlief selig ein. Als er gegen fünf aufwachte, war Melinda verschwunden.
(Mit Fernsehkameras aufzunehmen.) Personen: MARK MELINDA STIMME EINES TAXIFAHRERS MEHRERE KELLNER EIN HOTELPORTIER MEHRERE STATISTEN: Reisende, amerikanische Soldaten, Passanten.
ERSTE SZENE
Zwei Uhr nachmittags. Vor dem Bahnhofshotel in Paddington. Hinter den Kulissen das Pfeifen abfahrender Züge. Leute in Reisekleidung laufen aufgeregt hin und her und benehmen sich so, als würden sie sonst ihren Zug nicht mehr erreichen. Aus einem Taxi steigen: MARK, mit einem hellen Lederköfferchen in der Hand, und MELINDA, die mehrere Taschen umgehängt und einen Regenmantel über dem Arm hat. MARK ist ungefähr fünfzig Jahre alt und sieht auch so aus. Er trägt ein leichtes Wollhemd mit schmalen grünen Streifen und eine einfarbige Krawatte. Seine sehr hellen Augen sind mehr grau als blau, müde und groß. Er hat eine spitze Nase und sieht so behäbig aus wie jemand, der immer gut gelebt und gut gegessen hat. Er ist nicht sehr groß. Seine Gefährtin, MELINDA, ist etwas größer als er. Sie trägt ein sehr kurzes Tweedröckchen, das ihre Knie freiläßt und eng an ihren langen Schenkeln anliegt, einen Kamelhaarpullover und viele verschiedene Ketten, teils aus Perlen, teils mit Anhängern. Sie sieht kaum erwachsen aus, man könnte sie sogar für ein Schulmädchen halten, das von seinem Vater an den Zug gebracht wird, um wieder ins Internat zu fahren. Aber an einer gewissen Sicherheit, die man ihren 177
Bewegungen, ihrer Art zu sprechen und zu gehen, anmerkt, erkennt man, daß sie eher fünfundzwanzig als fünfzehn Jahre alt sein muß. Ihre Haare sind sehr lang und auffallend. Es ist nicht zu befürchten, daß man sie nicht sofort wahrnimmt. MARK: Hast du Geld, um das Taxi zu bezahlen? Ich habe kein Kleingeld bei mir.
Melinda kramt in ihren Taschen und bezahlt den Taxifahrer. STIMME DES TAXIFAHRERS: Danke. MARK: Ich habe ein Zimmer auf den Namen J. Walter Wells reservieren lassen. MELINDA: Und wer bin ich? MARK: Frau Wells. MELINDA: Eine gute Idee. Und wir müssen auf einen Zug, nehme ich an. MARK: Ja, noch heute. Am späten Nachmittag. Aber erst wollen wir essen. Ich habe Hunger.
ZWEITE SZENE MARK MELINDA EIN HOTELPORTIER
Eine Hotelhalle im Stil Edwards VII., die ein bißchen modernisiert ist. Eine große Treppe, Palmen in Kübeln, halbgegenständliche Bilder. Durch die Drehtür kommen Mark und Melinda von der Straße herein. MARK: Geh und setz dich gleich an einen Tisch, sonst bekommen wir nichts mehr zu essen. MELINDA: Soll ich etwas für dich bestellen? Was möchtest du? MARK: Bestell gleich eine Flasche Wein. MELINDA: Ich muß erst auf die Toilette. MARK: Mach schnell, sonst wird das Restaurant geschlossen. MELINDA: Ich werde ja wohl noch auf die Toilette gehen dürfen.
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DRITTE SZENE MARK DER UNIFORMIERTE PORTIER MARK (mit seiner Stimme, die in jedem Engländer die servilsten Instinkte weckt, zum Portier): Meine Sekretärin hat für heute ein Zimmer auf meinen Namen reservieren lassen. Wells, J. Walter Wells. Herr und Frau Wells. DER PORTIER: Wie war Ihr Name? MARK: Herr und Frau Walter Wells. DER PORTIER: Würden Sie bitte das hier ausfüllen?
Mark kritzelt. Die Kamera fährt näher an ihn heran. Großaufnahme von Marks ratlosem Gesicht. Die zweite Kamera nimmt Marks Hand auf, die das Anmeldeformular ausfüllt. Zögernd schreibt sie eine Anschriff, eine Telefonnummer, einen Beruf. MARK: Mein Zug geht um sechs Uhr. Bitte machen Sie mir die Rechnung bis dahin fertig. Inzwischen frühstücke ich mit meiner Frau.
Mark schaut sich um. Er sieht niemanden, den er kennt. Die Halle ist halbleer, bis auf eine kleine Gruppe amerikanischer Flieger und ein paar Herren in Grau. Die Kamera folgt ihm. Mark geht auf die Garderobe zu und gibt sein Köfferchen und den Schlüssel ab. Dann geht er in den Speisesaal.
VIERTE SZENE MARK und MELINDA KELLNER IN SCHWARZ UND MEHRERE SCHWEIGENDE PERSONEN
Der Raum ist riesig und erinnert an eine Zeichnung von Steinberg. Das Restaurant ist voll. Die Leute, die an lauter gleichen Tischen sitzen, und die bedienenden Kellner haben alle die gleichen Gesichter. Die Kamera folgt Mark. Hinter weißen Stucksäulen, Kübeln mit Palmen und Tabletts mit Vorspeisen taucht der Kopf von Melinda auf, die an einem Ecktisch sitzt und die Weinkarte studiert oder, um überhaupt etwas zu tun, wenigstens so tut, als studiere sie sie. Alles erledigt, mein Liebes. Hast du schon bestellt? MELINDA: Nein, noch nicht. Ich bin auch erst eben gekommen. Du MARK:
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kannst dir die Toilette nicht vorstellen. Riesig, ganz in Rosa, mit einem scheußlichen Teppich ausgelegt, und lauter gräßliche Fläschchen. Eine fünfzehnköpfige Familie könnte darin wohnen. MARK: Komm, laß uns rasch essen. Was möchtest du? Lachs ... das ist gesund, und dann ... MELINDA: Geräucherten Lachs und dann geräucherten Lachs und dann Salat und Kaffee. MARK: Zweimal Lachs? MELINDA: Ja, und auf zwei Tellern. Sonst esse ich alles auf einen Satz auf und weiß nicht, was ich tun soll, während du den zweiten Gang ißt. MARK: Magst du Chianti? Ich weiß nie, wie die italienischen Weine schmecken. MELINDA: Ich finde die weißen sehr viel besser. Die roten schmecken alle gleich und sind schlecht abgefüllt, bis auf wenige Sorten. Aber ich könnte dir auch nicht sagen, wie die heißen. MARK (zu einem Kellner, der um den Tisch schleicht): Nummer '23. Eine Flasche, bitte. (Zu Melinda:) Hör mal, ich habe einen Band Gedichte dabei. Die will ich dir vorlesen. MELINDA (erschrocken): Doch nicht alle? MARK: Ein paar Gedichte. Es ist dir doch recht? MELINDA (deren strahlendes Gesicht sich verfinstert hat): Ich finde das eine wunderbare Idee, Liebster.
Ein Kellner kommt mit der Weinflasche in einem Korb. Er schenkt erst Mark ein paar Tropfen ein, dann füllt er Melindas Glas zur Hälfle. Melinda trinkt sofort aus. MELINDA: Das ist aber eine Überraschung. Ich fürchtete schon, du hättest Chianti bestellt. Wunderbar ... Laß mal sehen ... (Sie studiert das Etikett.) ... ausgezeichnet ... könnte gar nicht besser sein, die wahren Glückspilze, diese Familie, die machen doch alles gut. MARK: Sollen wir noch eine Flasche bestellen? MELINDA: Laß uns erst mal abwarten, wie wir mit der hier fertig werden. MARK: Weißt du, die Rothschilds sind ein bißchen wie meine eigene Familie ... MELINDA: Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber die Rothschilds sind sehr viel besser als deine Familie. MARK (Großaufnahme seines peinlich berührten Gesichts): Macht ... 8o
Politik ... Geschmack ... Ich sehe wirklich nicht ein, in welcher Hinsicht sie besser sein sollen. MELINDA: Sehr viel mehr Geschmack und ein sehr viel echteres und entscheidenderes Gefühl für die Macht ... aber lassen wir das, Mark, du kannst es eben nicht vertragen, wenn man Kritik übt, und schon gar nicht, wenn man deine Familie kritisiert. MARK: Das kannst du nicht behaupten, das stimmt nicht. Hast du Geld? Ich habe Angst, daß ich nicht genug bei mir habe. MELINDA: Aber sicher habe ich Geld bei mir. Schlimmstenfalls einen Scheck. MARK: Damit kannst du hier doch nicht bezahlen.
Die Kamera entfernt sich, Marks und Melindas Stimmen werden immer leiser, aber abgerissene Sätze dringen bis zu den Palmen, wo die Kamera stehenbleibt. Stimmengewirr. ... dabei fällt mir ein, daß ich meine Schwester anrufen muß ... Eine arme Seele, meine Schwester ... Kennst du meine Schwester? Hör mal, warum kaufst du diese Wochenschrift nicht und machst eine tolle Sache daraus? ... Schreibst du denn darin? ... Nein, ich bin nur der Herausgeber ... William und ich ... Kennst du ihn ... Deine Mutter ... Wenn du mich verläßt ... Wenn Aglaia wüßte ... Ich sorge dafür, daß du dich scheiden läßt ... Aglaia darf das nie erfahren ... Ich sorge sehr viel schneller dafür, daß du dich scheiden läßt ... Aglaia weiß es ... nein ... Entschuldige, das war abscheulich von mir ... ich ergänze ... du ergänzt meine Ehe ... Ich will keine Ergänzung deiner Ehe sein Melinda MARK (zu einem Kellner): Bitte, Kaffee. KELLNER: Kaffee wird jetzt nur noch in der Halle serviert. MARK (zu Melinda): Dann komm, Kaffee trinken. MELINDA: Wir können ihn ja oben trinken.
FÜNFTE SZENE MARK und MELINDA in einem Bett.
Ein großes und sehr unpersönliches Zimmer, geradlinige, auf Hochglanz polierte Möbel und braun-grün gestreifte Gardinen, die halb zugezogen sind. Man hört das Pfeifen der Züge draußen. Zwei Sessel und ein kleiner Tisch. Auf dem Tisch liegt aufgeschlagen ein dicker
Gedichtband. Daneben das Telefon und zwei benutzte Kaffeetassen. Zwei schmale Betten. Eines ist leer. Im anderen (auf das die Kamera zufährt, nachdem sie die verschiedenen Gegenstände aufgenommen hat) Mark und Melinda, die sich umarmen. Am Boden, unordentlich verstreut, ihre Kleider. Seufzer und Laute, die denen der Züge gleichen. MELINDA: Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön das ist. MARK: Wunderschön.
Mark, der neben ihr gelegen hat, legt sich auf sie. Mit einer Hand zieht er die Decke fort, und die Kamera nimmt aus Gründen des Anstands ihre Körper nur vom Gürtel an aufwärts auf. Melindas Körper ist von Mark verdeckt. Melindas Hände gleiten von Marks Schultern bis zu seinen Beinen und ihr Mund, der allerdings nicht sichtbar ist, über Marks ganzes Gesicht. Sie sieht verzückt aus. Glaubst du, daß ich dich ein bißchen lieb habe? MELINDA: Ja. MARK: Ich bin froh, daß du das weißt.
Mark rückt von ihr ab und schaut sie an. MELINDA: Mark, ich flehe dich an, mach doch weiter.
Er schaut sie an, berührt ihre Brust, lehnt sich zurück und betrachtet ihren ganzen Körper. MARK: Ich schaue dich zu gern so an, Aglaia. MELINDA: Du darfst mich nicht mit dem Namen deiner Frau anreden. Ach Gott, jetzt hast du wieder alles verdorben. Aber nein, komm her, Liebling.
Sie küßt ihn ins Ohr und umschlingt seine Schultern. Wer weiß, wie oft du solche Aussprüche tust. Ich muß mich wohl daran gewöhnen. MARK: Das ist nicht wahr. Ich werde es nie wieder sagen. MELINDA: Wäre es dir arg, wenn wir uns zum Beispiel ab morgen nie wiedersähen? MARK: Sehr. Ich wäre ein bißchen — wie soll ich sagen? — verletzt. Aber das ist doch auch gar nicht nötig. Man soll Dinge, die ihren Wert haben, nicht zerstören. MELINDA: Was für einen Wert? Wovon sprichst du? Liebling, du mußt dich jetzt aber wirklich bald scheiden lassen. MARK: Noch nie ein Mädchen gekannt, das wie du dauernd vom Scheidenlassen redet. 182
Mit meinen Männern habe ich das immer getan, aber mit dir ist es schwieriger. MARK: Du hast doch nicht etwa die Absicht, mich zu heiraten? MELINDA: Nur keine Sorge. Ich habe nicht die leiseste Absicht, dich zu heiraten. Ich fühle mich in meinem jetzigen Zustand sehr wohl, und alle meine Ehen sind so verworren und nicht sehr poetisch. MARK: Siehst du, ich habe nämlich auch nicht die Absicht. MELINDA: Das brauchst du gar nicht erst auszusprechen. Und ich finde es auch nicht richtig, daß du es ausgerechnet jetzt aussprichst, wo wir hier miteinander ... oder jedenfalls beinahe ... MARK: Liebes, du hast recht. MELINDA:
Mark legt sich wieder auf sie und küßt sie zugleich. Jetzt, Melinda, Liebes, jetzt. Bitte, jetzt. Jetzt, zugleich mit mir. Schrei, mach, was du willst ... bitte, jetzt, Melinda, Liebes ...
Man hört Züge. Ein paar Minuten Stille. Kamera auf Marks und Melindas Gesichtern, die sich berühren. MARK: Jetzt lese ich dir vor. MELINDA: Sieh mal, diese Bescherung. MARK: Auf dem Laken? MELINDA: Ja. MARK: Das läßt sich nicht vermeiden.
Mark steht auf. Er ist nackt. Die Kamera nimmt seinen Schatten auf. Er geht zu dem Tischchen, nimmt das Buch und legt sich in das andere Bett. Er schlägt das Buch auf. Zuerst lese ich dir ein Gedicht von Keats vor.
Im Bild Melindas entsetztes Gesicht. Man hört leise Marks eintönig vorlesende Stimme, die vom Pfeifen und Heulen der Züge immer wieder übertönt wird.
«Sie hören jetzt Ezio Albini aus Brighton. Hier, in diesem reizenden englischen Badeort, hält die Konservative Partei ihre Jahrestagung ab. Wir sind in einem großen Saal mit etwa vierhundert Personen, den Delegierten der Partei. Sie sind aus dem ganzen Vereinigten Königreich hier zusammengekommen. Der Saal ist von Scheinwerfern ausgeleuchtet. Sie hören das Dröhnen der Lautsprecher. Es herrscht eine fieberhafte Stimmung. Vor mir, auf dem Podium, Alec Douglas Home, Reginald Maulding, Ian MacLeod, Enoch Powell, Quentin Hogg. Der Applaus, den Sie jetzt hören, gilt Lady Home. Sie hat soeben lächelnd den Saal betreten. Sie 183
trägt einen gelben Samthut. Direkt vor mir auf dem Podium erhebt sich jetzt der Premierminister, der ehrenwerte Anthony (ein Knistern im Radio macht den Zunamen unverständlich), großer Beifall trotz den Kämpfen innerhalb der Partei. Unter den Beobachtern in der ersten Reihe die ehrenwerte Melinda Publishing in einem weiß und rot karierten Kleid. Sie wird immer wieder fotografiert. Neben ihr der ehemalige konservative Abgeordnete Mark van der Belt, ein Angehöriger der bekannten Familie, aus der so viele englische Regierungsmitglieder hervorgegangen sind. Wir können von hier aus den berühmten Star der englischen Politik gut beobachten: Melinda Publishing, im Augenblick eine der interessantesten Figuren. Durch ihre brillante Karriere und ihre ehrlichen Entscheidungen, die großen Respekt verdienen, gehört sie zu den lebendigsten Erscheinungen auf der politischen Bühne Englands. Jetzt sehen wir den ehrenwerten Ted Heath. Er steht auf. Großer Beifall. Alle Fernsehkameras sind auf ihn gerichtet. Auch die Abgeordnete Publishing hat sich erhoben. Nein, sie will nicht sprechen. Sie geht fort, vielleicht aus Protest. Der ehemalige Abgeordnete van der Belt folgt ihr. Aller Augen sind auf sie gerichtet. Es ist auch fast nicht möglich, ihr nicht nachzuschauen, dieser auffallenden Gestalt mit dem langen Haar, das ihr bis zur Taille reicht ... Ted Heath beginnt seine Rede ...» «Lieber, das ist ja entsetzlich langweilig.» »Du wolltest doch unbedingt kommen.» «So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Diese Hitze, diese Menschenmassen und soviel dummes Gerede in so kurzer Zeit.» «Kongresse sind immer so.» «Aber ein Kongreß mit dir sollte anders sein.» «Ohne mich ...» «In deiner Gesellschaft.» «Wie war es auf Korsika?» «Makaber, und lauter seltsame Leute.» «Du erzählst mir nie etwas. Wen hast du gesehen? Bei wem warst du? Warum bist du überhaupt hingefahren? Wegen eines Mannes?» «Wäre dir das nicht recht?» «Nein, in gewisser Hinsicht nicht.» «Was heißt ?» « Wahrscheinlich gar nichts. Nein, wirklich nichts. Gehen wir essen?» 18 4
Mark winkte ein Taxi heran, das sie in ihr Hotel brachte. Sie fuhren ins oberste Stockwerk. «Willst du noch auf dein Zimmer?» «Nein, das ist nicht nötig.» Sie aßen auf einer überdachten Terrasse den üblichen KrabbenCocktail mit süßer Tomatensauce. «Sag mal, warum heiratest du mich eigentlich nicht?» «Ich verstehe nicht, warum ich das tun sollte.» «Du sollst es ja gar nicht. Aber möchtest du es nicht?» «Nein.» «Warum? Tätest du es nicht gern?» «Du weißt doch, daß ich es nicht gern täte. Aber warum willst du denn heiraten?» «Ich kann nicht allein schlafen.» «Das ist doch kein Grund.» «Und ob das ein Grund ist.» «Ich liebe Aglaia. Ich bin an sie gebunden. Sie ist meine Frau.» «Na schön, wenn du mich durchaus nicht heiraten willst, dann muß ich eben einen anderen heiraten.» «Es ist jetzt beinahe zwei. Im Hotel Metropole treffen die Mitglieder der Konservativen Partei ihre letzten Absprachen, ehe sie in den Saal gehen, in dem die Konferenz stattfindet. Hier ist das Hauptquartier. Hier fallen die politischen Entscheidungen. Hier wird beraten und beschlossen, wie man taktisch vorgehen will, wer sprechen soll. Im Augenblick sehen wir sie alle ihren Kaffee trinken. Einige sitzen in Gruppen beieinander, andere konsultieren ihre Sekretäre. Auch die Abgeordnete Publishing ist wieder da. Sie spricht gerade mit dem ehemaligen Abgeordneten van der Belt. Jetzt geht sie zum Premierminister, der in ihrer Nähe auf einem Sofa sitzt. Sie wechselt einige Worte mit ihm. Frau Publishing, sagen Sie uns bitte, sind Sie hier als Beobachterin? Möchten Sie unseren Hörern eine Erklärung abgeben?» «Nein, nein. Ich habe keine Erklärung abzugeben.» «Was denken Sie über diesen Kongreß?» «Ein bißchen schleppend, finden Sie nicht auch? Nicht sehr ergiebig.» «Was haben Sie für Pläne?» «Ich gehe ins Ausland.» «Was haben Sie dort vor?» «Ich will heiraten.» 185
«Sie wollen sich wieder verheiraten? Und dürfen wir so indiskret sein, nach dem Namen des Glücklichen zu fragen?» «Nein, noch nicht. Aber warum interviewen Sie nicht lieber den Premierminister, der Ihnen so viel Interessantes zu dem Kongreß zu sagen hat? Ich weiß gar nichts.» «Danke, Frau Publishing, vielen Dank.» «Die einzige Persönlichkeit, die mit einer ausgewogenen und außerordentlich geschickten Rede den Kongreß retten und die Partei wieder einigen könnte. Hören Sie den Beifall? Die Partei ist wieder vereinigt ... Die Kongreßteilnehmer sind begeistert ...» «Stell das Radio ab.» «Melinda ...» «Und jetzt sehen wir die Abgeordnete Publishing nackt in ihrem Bett im Hotel Metropole. Neben ihr liegt der ehemalige Abgeordnete Mark van der Belt, der sie nicht heiraten will. Die Abgeordnete ist darum genötigt, einen anderen Mann zu heiraten.» «Bitte, heirate nicht wieder, es nimmt ja doch wie üblich ein schlechtes Ende.» «Meine Ehen nehmen durchaus kein schlechtes Ende.» «Aber sie nehmen ein Ende.» «Jedenfalls kein schlechtes.» «Das schlechte ist, daß sie ein Ende nehmen.» «Das hängt davon ab, wie man es sieht.» «Ich sehe es jedenfalls so.» «Ich nicht.» «Schau mal, wir können doch nicht heiraten. Ich bin zu alt, um mich scheiden zu lassen und wieder zu heiraten und mich dann wieder scheiden zu lassen.» «Aber von dir würde ich mich nicht scheiden lassen.» «Natürlich würdest du.» «Nein, das ist nicht wahr, ich liebe dich doch.» «Das ist nicht wahr.» «Wie willst du das denn wissen? Dazu bist du viel zu zerstreut.» «Um das zu begreifen, bin ich immer noch aufmerksam genug.» «Nein, du begreifst es nicht.» «Jedenfalls ist es nicht möglich.» «Dann eben nicht.» «Und was hast du jetzt vor?» «Mich mit dir zu unterhalten.» 186
«Worüber?» «über deine Familie.» «Spreche ich oft von meiner Familie?» « Wir sehen jetzt den ehemaligen Abgeordneten und die Abgeordnete der Oppositionspartei, wie sie sich umarmen. Sie unterhalten sich nicht mehr, sondern schlafen miteinander. Beifall aus dem Publikum. Hörst du? Beifall aus dem Publikum.» «Hör doch damit auf, Liebes.» Mark stand auf und schlüpfte in seine Jacke. «So bist du wirklich komisch.» «Komm, wir müssen fort.» «Wohin?» «Nach London.» Telefon. «Machen Sie, bitte, meine Rechnung fertig.» Und dann Melinda: «Spreche ich mit dem Portier? Können Sie mir sagen, wann morgen ein Flugzeug nach Rom geht? Ja, von London. Danke.» Am Tag danach: «Liebes ...» «Ach, du bist es.» « Willst du wirklich verreisen?» « Ja, ich fliege morgen.» «Sehen wir uns vorher noch?» «Wann?» «Heute abend kann ich nicht ... nein, zum Essen auch nicht ... Morgen zum Tee.» «Dann bin ich schon im Flugzeug.» «Und zum Lunch?» «Dann verpasse ich das Flugzeug.» « Was schlägst du denn vor?» «Heute nacht, natürlich.» «Aber ich bin doch zu Hause, mit Aglaia. Ich kann nicht.» «Warum rufst du dann an?» «Um dich zu sprechen. Warum? Ist es dir nicht recht?» «Doch sogar sehr recht. Was hast du heute gemacht?» «Ich habe einen langen Spaziergang gemacht und mir dabei überlegt, was ich diesen Winter anpflanzen soll. Ich dachte an Obstbäume auf der großen Wiese neben dem Haus, erinnerst du dich?»
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«Nein.» «Also jedenfalls viele Obstbäume und darunter Blumen. Dann habe ich Zeitung gelesen und bin in mein Büro gegangen, um meiner Sekretärin Briefe zu diktieren.» «Wann bist du aufgewacht?» «Interessiert dich das wirklich?» «Nein.» «Warum fragst du mich dann?» «Weil mir nichts anderes einfällt.» «Ich sehne mich so nach dir. Ich möchte dich sehen und mit dir schlafen.» «Aber wenn wir zusammen sind, kommt es doch nie dazu.» «Das spielt keine Rolle.» «Vermutlich nicht.» «Wo treffen wir uns?» «Wann?» «In einem Monat?» «Ich dachte, du hättest dich von mir getrennt.» «Aber nein.» «Dann trenne ich mich von dir.» «Warum denn?» «Mein Vater hat eben doch recht gehabt.» «Was hat Abraham denn gesagt?» «Daß ich dir nicht den Hof machen soll.» «Warum?» «Weil du so sonderbar bist. Weil du dich nicht auf die Leute einstellen kannst.» «Das ist doch gar nicht wahr.» «Vielleicht ist es nicht wahr, aber mich verwirrst du.» «Inwiefern?» «Ich weiß nicht, ich verstehe es selber nicht, du benimmst dich so seltsam.» «Du auch.» «Aber bei mir ist-das in Ordnung.» «Und warum bei mir nicht?» «Weil du die Rollen vertauschst.» «Was meinst du damit?» «Daß du derjenige bist, der mich halten sollte, der mich verwöhnen, mich lieben, für mich sorgen, mit mir schlafen und sich von mir bezaubern lassen sollte.» 188
«Und statt dessen tust du das alles?» «Ich weiß es nicht. Ich habe darüber noch nie nachgedacht. Aber ich finde alles so verworren. Und es fängt an, mich zu langweilen.» «Aber Melinda, ich hab dich doch lieb ... Das darfst du nicht sagen.» «Dann heirate mich.» «Red doch keinen Unsinn.» «Nein, du hast recht. Heirate mich nicht. Ich habe ja auch nicht die Absicht, dich zu heiraten.» «Und du willst im Ernst heiraten?» «Ich glaube, ja.» «Und wann sehe ich dich?» «Bald, denke ich. Aber diesmal wollen wir nichts verabreden. Es soll eine schöne Überraschung sein.» «Das ist kein netter Abschied.» «Du bist es doch, der immer alles verdirbt. Also, dann auf Wiedersehen. Und grüß Aglaia und deine Schwester und deine Brüder, besonders William, den ich eines Abends beim Dinner getroffen habe.» «Findest du das witzig?» «Ich will nur gemein sein.» «Melinda, häng nicht auf. Wenn ich jetzt den Zug nehme ...» «Wo bist du?» «Auf dem Land ... dann bin ich in zwei Stunden da, und wir sehen uns und reden miteinander.» «Worüber?» « Wir unterhalten uns. Wie spät ist es jetzt?» «Zwei.» «Ach, dann kann ich ja gar nicht. Ich muß mit meiner Familie zum Essen ausgehen.» «Das hätte ich mir denken können.» «Nein, diesmal ist es etwas Wichtiges. Wir müssen uns entscheiden, ob ...» «Hör mal, das interessiert mich überhaupt nicht.» «Schreibst du mir?» « Ja, wenn ich dir etwas zu sagen habe.» «Hör mal, weißt du eigentlich, daß ich dich in gewisser Hinsicht liebe?» «Das hast du mir schon gesagt.» «Und du?» 1
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«Aber schäm dich, am Telefon ... wo Aglaia doch alles hören kann.» «Mach keine Witze. Und du?» «Aber sicher, sonst würde ich nicht so lange mit dir reden.» «Ist das dein Ernst?» «Ja, ja. Zufrieden? Tschüs, Lieber. Jetzt muß ich fortgehen. Mach's gut.» «Mit wem frühstückst du?» «Mit meinem Bruder Medoro.» «Ich wußte gar nicht, daß du einen Bruder hast.» «Ja, und sogar einen sehr hübschen. Aber er würde dir auch ein bißchen den Hof machen und vielleicht würde er dich sogar auch heiraten wollen.» «Ist er homosexuell?» «Einfach genial, wie du das wieder erraten hast. Tschüs.» «Tschüs, Liebes.» «Danke.» «Ich danke dir. Und gute Reise.» Dieser Langweiler hatte sie doch tatsächlich so viel Zeit und Energien gekostet, daß sie sich jetzt nicht mehr mit Anthony treffen konnte. Das tat ihr leid. Ihm zu schreiben und ihn nach den Dingen zu fragen, die sie wirklich wissen wollte, traute sie sich nicht. Briefe konnten so leicht in die Hände unseliger Privatsekretärinnen geraten. Melinda hatte in der Zeitung gelesen, daß einer von den Leuten, die bei dem Eisenbahnüberfall mitgemacht hatten, aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Herrlich. Ausgezeichnet organisiert. Auf dem Flugplatz in Rom erwartete sie niemand. Wer hätte sie auch erwarten sollen? Sie hatte ja niemanden benachrichtigt. «Frau Publishing?» Die gewohnte aufmerksame Abfertigung — wie es sich gehörte. Ein Drink, zu dem die Fluggesellschaft einlud, keine Zollkontrolle und ein Wagen, der sie abholte. «Ich glaube, Ihr Vater ist in Rom», sagte der Angestellte der Alitalia, der sie begleitete. Wie demütigend, das von einem Angestellten erfahren zu müssem. Sie tat so, als sei es ihr nicht gänzlich unbekannt. «Ja, richtig. Wann ist er angekommen?» «Vor ein paar Tagen.» «Wissen Sie, wo er abgestiegen ist?» 190
Was für ein Wort! Absteigen ... Aber das war die Sprache der Hotels und der Angestellten von Fluggesellschaften. «Nein. Kann ich noch etwas für Sie tun, ehe Sie den Wagen nehmen?» «Ich möchte gern telefonieren.» «Gern. Und wo steigen Sie ab?» Absteigen, schon wieder. Aber angefangen hatte sie ja damit. «Ich weiß noch nicht, wo ich absteige.» Jetzt war es am besten, sich in diesem Wort geradezu zu wälzen. In dem Privatraum, in den man sie bat, waren die Telefone weiß — wie es sich gehörte. «Amerigo?» «Wer ist da?» «Ich, Melinda.» «Und wo steckst du?» «Auf dem Flugplatz.» «Auf welchem Flugplatz?» Eine verständliche, aber letzten Endes absurde Frage. «Natürlich in Rom. Warum regnet es hier eigentlich immer?» «Soll ich dich abholen?» «Das ist nett, aber ich habe einen Wagen. Ich komme zu dir.» «Und wo bist du?» «Auf dem Flugplatz, das habe ich dir doch schon gesagt.» «Nein, ich meine, wo du schläfst.» Das Wort , das mußte man zugeben, war dagegen wenigstens eindeutig. «Bei dir, natürlich.» «Aber ich habe keinen Platz.» «Hast du meinen Vater gesehen?» «Nein, aber ich weiß, daß er in Rom ist.» «Hast du eine Ahnung, wo er wohnt?» «Ich glaube, bei einer englischen Freundin von euch.» « Wer ist denn das?» «Keine Ahnung. Wie geht es dir?» «Gut, hör mal, jetzt versuche ich, ihn ausfindig zu machen, und dann komme ich zu dir. Wenn du mich wirklich nicht bei dir unterbringen kannst, würdest du dann Liz anrufen und ihr sagen, daß ich direkt zu ihr komme?» «Tu das doch selber.» «Nein, ich habe keine Zeit, und meine Sekretärin ist nicht mit.» 1 91
«Ach, sieh mal an, wie verwöhnt wir sind!» «Bitte, Amerigo.» «Also, dann komm mit deinem Gepäck direkt zu mir, und ich versuche, etwas für dich zu arrangieren. Schlimmstenfalls kannst du bei mir schlafen.» «Auf gleich, Lieber.» «Ciao, Melinda.»
Es dauerte Stunden, bis die Telefonverbindung mit London zustande kam. Melinda hatte völlig vergessen, wie schlecht das Telefon in den romanischen Ländern funktioniert. «Ist da die Sekretärin von Herrn Publishing? Ich bin es, Melinda, seine Tochter. Wo wohnt mein Vater in Rom? Was heißt hier strengstes Geheimnis? Ich bin schließlich seine Tochter. Sagen Sie es mir sofort, sonst sorge ich dafür, daß Sie entlassen werden. Nein, mein Vater entläßt Sie nicht, wenn Sie es mir sagen. Ach, bei Liz. Das hätte ich mir denken können. Dann kann ich also nicht bei ihr wohnen. Wie langweilig. Na, schön. Guten Tag. Auf Wiedersehen.» — «Liz, du, hier ist Melinda. Ach, Amerigo hat dich schon angerufen? Ja, ich weiß, daß Abraham bei dir ist. Kann ich zu dir kommen? In die andere Wohnung? Ja, um so besser. Ganz allein. Wunderbar. Gibst du mir jetzt mal meinen Vater? Wann kann ich kommen? Heute abend, um die Schlüssel abzuholen, ist dir das recht? Gegen sieben. Abraham. Mein Gott, du solltest dich schämen, ich wußte ja nicht einmal, daß du hier bist. Was machst du? Eine gesellschaftliche Angelegenheit oder eine gesellschaftlich-amouröse Angelegenheit oder eine gesellschaftlich-berufliche Angelegenheit? Um Himmels willen, frag mich bloß nicht danach. Ja, ich habe ihn natürlich gesehen. Aber nie wieder. Nein, ich heirate ihn nicht. Tatsächlich, das mit David tut dir leid? Aber du hast ihn doch überhaupt nicht kennengelernt. Sag mal, wie geht's eigentlich deinem Sohn? Ja, ich meine Medoro. Was macht er denn in Polen? Er fotografiert? Aber in Polen gibt es doch gar keine königliche Familie. Das übliche, nehme ich an. Wer gibt ihm das Geld? Hör zu, wir sehen uns heute abend. Zum Abendessen? Nein, wie kommst du denn darauf? Um sieben Uhr auf einen Drink bei Liz.» Sie freute sich, wieder einmal in Rom zu sein. Die farbigen Häuser, der schöne Stein, die bunt gekleideten, schönen Menschen. Sie überlegte, wie lange sie es hier wohl aushalten würde. «Amerigo!» Er hörte eine Platte mit Madrigalen und war damit beschäftigt, 192
die Druckfahnen eines Buches zu korrigieren, zwei Artikel zu beenden und einen neuen Roman zu beginnen. Er hatte einen blauen Bademantel an und war ein bißchen dicker geworden. «Du siehst gut aus.» «Zu fett.» «Vor allem zu klein.» «Möchtest du Gänseleberpastete? Und was trinkst du?» «Champagner? Nein, danke. Einen Campari an the rocks. Oder lieber halb Campari und halb Fernet Branca mit Eis. Warum denn nicht?» «Ich habe mit Liz gesprochen.» « Ja, ich auch. Abraham ist bei ihr.» «So? Das hat sie mir gar nicht gesagt.» «Er reist inkognito. Als ob das möglich wäre. Stell dir das mal vor. Er würde wahnsinnig darunter leiden. Wahrscheinlich eine Liebesgeschichte.» «Mit wem?» «Das weiß ich auch nicht. Er hat immer etwas gegen meine Liebesgeschichten, und ich habe Vorurteile gegen seine.» «Bist du müde? Sonst könnten wir nämlich heute abend in ein Theaterchen gehen, wo sie etwas Saudummes geben; aber man könnte es sich ein bißchen anschauen und nach der ersten Hälfte gehen. Vorher ist ein Bankett für Helen Mitchell, wo man nach einer halben Stunde gehen könnte. Aber vielleicht ist dir das zuviel?» «Ich bitte dich, warum sollte ich denn müde sein und wovon? Helen ist hier? Italiener scheint es also in Rom überhaupt nicht mehr zu geben. Ist mir alles recht, aber um sieben muß ich bei Liz sein, mir den Schlüssel für ihre andere Wohnung holen und Abraham guten Tag sagen. Kommst du mit?» «Und dann gehen wir weiter. Ausgezeichnet. Aber du solltest dich gleich umziehen.» Amerigo freute sich, sie zu sehen, daran bestand kein Zweifel, und er freute sich auch darauf, mit ihr auszugehen und Abraham kennenzulernen. Es regnete nicht mehr und war heiß. «Siehst du nun, daß es in Rom nicht dauernd regnet?» «Allein die Sage, daß es hier nie regnet, ärgert einen schon.» Liz' Wohnung war reizend und verrückt. Ein Zimmer ging ins andere über, ein Privatleben war hier unmöglich. Die ganze Wohnung sah aus wie ein großer, geweißter Keller mit hypermodernen Bildern. Liz war noch bleicher und magerer als sonst.
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«Sie macht gerade eine Kur», erklärte Joseph, ihr Mann. «Von vierundzwanzig Stunden schläft sie dreiundzwanzig. Auch wenn sie auf ist. Ein bißchen langweilig, aber nicht zu ändern. Sag ihr guten Tag, und Schluß.» «Liz, wie geht es dir?» Sie schlief halb und antwortete nicht, gab den Gästen aber durch ein Zeichen zu verstehen, sie sollten Platz nehmen, und schenkte sich ein großes Glas Gin ein. «Sie dürfte nicht trinken», erklärte Joseph. «Der Alkohol verträgt sich nicht mit den Beruhigungsmitteln, die sie schluckt. Darum geht es ihr immer schlechter.» «Was hat sie denn?» «Eine Art Colitis.» «Nervosität?» «Colitis hat immer etwas mit Nervosität zu tun.» «Dann ist es sicher deine Schuld. Kriegen wir nichts zu trinken?» «Entschuldige, liebe Melinda.» Er ging zur Bar. «Abraham kommt gleich. Hier sind die Schlüssel. Gib acht, der für die Haustür schließt schlecht. Am besten, du läßt sie offen. Morgens um zehn kommt eine Putzfrau. Streng katholisch. Ich sage dir das nur, damit sie keine Gäste im Pyjama vorfindet.» «Ich mache keusche Ferien.» «Stimmt es, daß du heiratest?» «Ich glaube, ja.» «Wen denn?» «Ich glaube, er weiß es noch nicht. Also ist es besser, wenn ich es auch dir noch nicht sage.» «Du bist himmlisch, mein Gott, einfach himmlisch. Es gibt doch nur eine einzige Melinda auf der Welt.» «So Gott will», sagte Abraham, der in diesem Augenblick in einem dunkelgrünen Samtschlafrock ins Zimmer kam. «Lieber Abraham.» Melinda umarmte ihn. «Daß wir uns niemals in Ruhe sehen, wir beide!» «Da hast du recht, Papa, und das hier ist Amerigo Vespucci. Er ist Schriftsteller. Du solltest ihn verlegen.» «Können Sie denn auch was?» fragte Abraham Amerigo. «Papa, so was fragt man doch nicht. Mein Wort sollte dir genügen.» «Aber du hast doch noch nie etwas gelesen.» «Das stimmt zwar, aber es gibt Dinge, die versteht man im Flug.» 19 4
« Was für Dinge meinst du?»
«Zieh mich bitte nicht auf. Du hast doch selbst noch nie ein Buch gelesen.» Liz schlief. Es läutete. Joseph ging an die Tür. «Das muß Elizabeth sein.» «Ist das deine Flamme?» «Bitte, nicht vor Fremden.» «Amerigo ist kein Fremder. Er ist ein dicker Freund von mir.» «Soll das heißen, daß du ihn heiraten willst?» Abraham begriff doch alles. «Unsinn.» «Ich würde dir auch nicht dazu raten. Bisher ist keine Frau dabei ohne Neurose oder Nervenzusammenbrüche davongekommen. Das mindeste war ein Selbstmordversuch von ihrer oder von seiner Seite.» «Erzähl mir lieber etwas von dieser Dame, ehe sie hereinkommt.» «Dame Elizabeth. Sehr intelligent, großartige Familie. Sie lebt in England in einem wunderbaren Haus, beschäftigt sich mit Tieren und Vögeln, aber vor allem ist sie Insektenforscherin. Sie schreibt gerade eine Doktorarbeit über Grillen.» «Über Grillen? Und die willst du heiraten?» «Weißt du, ich denke schon seit einer Weile daran zu heiraten. Manchmal fühle ich mich schrecklich einsam. Schließlich und endlich bin ich ein alter Mann, und wenn meine Gäste alle fortgegangen sind, finde ich mein Haus manchmal sehr leer — kein Mensch, mit dem ich reden und Erfahrungen austauschen kann.» So ein Lügner, dachte Melinda, wahrscheinlich ist sie schwerreich. Aber Abraham hat einen derartigen Abscheu vor der Ehe, daß er sie doch nie heiraten wird. Dame Elizabeth war sehr groß und jünger, als der Titel Dame hätte vermuten lassen. Sie fing sofort eine Unterhaltung mit Liz an, aber als sie merkte, daß Liz schlief, wandte sie sich an Melinda. « Wie geht es Ihnen? Ich heiße Elizabeth Mallett-Smollett.» Sie reichte Melinda ihre schmale, elegante, magere und nicht sehr liebevolle Hand. «Abraham ... Joseph ... guten Abend.» «Herr Vespucci», sagte Abraham zu Dame Elizabeth und wies mit einer Handbewegung auf Amerigo, der umherschaute und das Schauspiel offensichtlich genoß. Melinda kauerte sich neben Dame Elizabeth. 19 5
«Wo leben Sie?» «Ich weiß noch nicht», antwortete Melinda, «ich glaube, vorläufig in Rom. Ich würde hier gern eine Arbeit finden. Ich habe bisher weder mit Abraham noch mit Amerigo darüber gesprochen, aber ich hoffe, heute abend Leute zu treffen, bei denen ich mich bewerben kann.» «Eine ausgefallene Idee, in Rom leben zu wollen.» «Ich habe Lust auf einen Tapetenwechsel. Nicht für sehr lange Zeit. Vielleicht bin ich es schon in ein paar Monaten leid. Aber zunächst will ich mir eine Wohnung suchen. Ich habe so viele Kinder, die ich nie sehe. Und wenn ich sie jetzt nicht hierherhole, verliere ich sie ganz aus den Augen. Schon jetzt erkennen sie mich nie wieder.» «Ich habe keine Kinder.» «Sind Sie denn verheiratet gewesen?» «Nein, aber was bedeutet das schon? Ich habe mir immer Kinder gewünscht.» «Ich habe gehört, daß Sie so ein schönes Haus haben.» «Ja, ich muß selbst sagen, es ist sehr schön. In der Nähe von Oxford.» «Dann kennen Sie ...» Natürlich kannte sie alle. «Aber ich versuche so wenig Leute wie möglich zu sehen. Ich bin gerade an einer Arbeit.» «Was denn?» «Ich schreibe eine Studie über das Sexualleben der Grillen.» Das hatte Abraham ihr nicht gesagt. Zu komisch. «Und werden Sie diese Studie veröffentlichen?» «Ich weiß es noch nicht. Ich mache die Arbeit für mich selbst. Niemand hat bisher das Grillensperma untersucht. Dabei ist es sehr interessant. Und ebenso ihre sexuellen Gewohnheiten.» «Und sind Sie hier in Ferien?» «Nicht eigentlich. Ich sammle Mittelmeergrillen. Die ersten viertausend habe ich aus Griechenland importiert. Dafür habe ich ein ganzes Zugabteil mieten müssen, damit sie es auf der Reise über Jugoslawien und Frankreich nach England gleichmäßig warm hatten. Bei mir auf dem Land habe ich ein Speziallabor mit Mittelmeerpflanzen. Es ist so klimatisiert, daß es ihr Sexualverhalten nicht beeinträchtigt.» «Das muß doch ein wahnsinniges Geld kosten.»
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«Davon wollen wir gar nicht reden. Und jetzt baue ich ein Bibliothekszimmer ebenfalls in ein Laboratorium um, damit die griechischen Grillen nicht mit den italienischen Grillen durcheinandergeraten.» Sie hatte ein durchsichtiges Gesicht und magere Beine und war, ohne jede Konzession an die Mode, ganz schwarz angezogen. « Wenn Liz so weitermacht, kann sie nicht mit uns essen kommen.» ' «Melinda, warum kommst du denn nicht mit?» fragte Joseph. «Es ist doch albern, mit seinem Vater groß auszugehen. Außerdem haben Amerigo und ich heute abend noch schrecklich viel vor. Ich glaube, es wird allmählich Zeit ...» « Ja, wir müssen gehen.» «Liebes, ich rufe dich morgen an. Ich bleibe noch ein paar Tage in Rom. Und du?» «Ich weiß noch nicht genau, Abraham.» «Aber, bitte ...» «Guten Abend, Dame Elizabeth.» Als sie hinausgingen, begegneten sie acht Personen, die gerade zu Liz kamen. « Jetzt erkläre ich dir erst mal alles», sagte Amerigo, als sie im Wagen saßen. «Zuerst fahren wir zu Mario Esposito, dem Herausgeber einer bedeutenden Wochenzeitung. Das Bankett ist für Helen Mitchell. Es sind sicher viele Leute da, italienische Journalisten und Schriftsteller. Manche sind langweilig. Die dazugehörenden Damen verstehen nichts von den Dingen und sind sehr kleinbürgerlich, bis auf ein paar, die ich dir zeigen werde, die du aber auch allein leicht herausfindest.» «Erzähl mir noch etwas von Esposito. Mein Gott, was für ein Name.» «Esposito kommt aus Süditalien, was ihm unangenehm ist, aber es ist nun einmal so. Er hat eine Bankierstochter geheiratet und ist auf diese Weise im Handumdrehen aus einem zweitklassigen Journalisten zum Chefredakteur des wichtigsten italienischen Wochenblattes geworden.» «Und wie ist dieses Wochenblatt?» «Hm, nicht übel. Gute Namen, ein bißchen handgestrickt wie alle italienischen Zeitungen. Aber anspruchsvoll und mit guten politischen Artikeln. Natürlich kommen dort auch gewaltige Schweinereien vor, und es gibt zwei oder drei Dummköpfe dabei, die Esposi-
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to liebt, weil er sie für Leute von Welt hält. Du wirst großen Eindruck auf ihn machen.» «Weiß er, daß ich komme?» «Ja, ich habe es ihm gesagt. Er war sehr erfreut. Dein Bild ist schon ein paarmal in seiner Zeitung erschienen.» «Als Abgeordnete?» «Als Herzogin.» «Ach, das ist also der Ton dieser Zeitung. Wie heißt sie denn?» «
«Ein blöder Name.» «Sei doch nicht so schwierig.» «Schreibst du für sie?» «Natürlich schreibe ich für sie.» «Du schreibst aber auch überall.» «Habe ich dir schon von meinen Reisen erzählt?» «Was für Reisen?» «Ach, das muß ich noch tun. Acht Länder in einem Monat. Und habe ich dir von dem Ball erzählt?» «Ja, davon hast du erzählt.» «Und von den Matrosen?» «So was erzählst du mir natürlich nie.» «Nein, ich meine von den Matrosen auf dem Ball.» Espositos Wohnung war in Parioli. Ein Dachstock mit einer großen Terrasse. Teils echte, teils unechte englische Möbel von ebenso konventionellem wie banalem Geschmack. Alles sehr einfallslos und dazu eine durchdringende Musik von einer dreiköpfigen Jazzband aus Parioli. Menschenmengen, die über den Nudelauflauf und die gefüllten Auberginen herfielen. «Mario, die Herzogin Publishing.» Amerigo konnte der Versuchung nicht widerstehen. Esposito, groß, eine seriöse Erscheinung, ganz in Kaschmir und Alpakka gehüllt, mit messingbeschlagenen Wildlederschuhen, war der Mann, der ihr Arbeit geben mußte, beschloß Melinda. «Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.» «Und ich von Ihnen.» «Wirklich? Darf ich Sie Melinda nennen?» «Aber natürlich. Doch, wirklich, ich habe schon viel von Ihnen gehört. Und immer nur Gutes.» «Das kann ich gar nicht glauben. Wer hat Ihnen denn von mir erzählt?» 19 8
Man durfte diesen Mann doch nicht enttäuschen. Sie konnte schließlich nicht antworten: Amerigo, und zwar vor fünf Minuten. «Man nennt die Sünde, aber nicht den Sünder.» Sie hätte immer geschworen, daß sie eine so läppische Redensart nie gebrauchen würde. «Wollen wir tanzen?» Denn zwischen Auberginen und Törtchen wurde getanzt. Espositos Hand glitt sofort schmachtend zwischen Melindas Federn. «Ich gefalle Ihnen also?» So unkonventionelle Fragen war er nicht gewohnt. «Kommen Sie mal zu uns?» «Ich habe Ihre Frau doch noch gar nicht kennengelernt.» «Nein, ich meine in die Redaktion.» «Ja, gern. Morgen.» «Wie lange bleiben Sie in Rom?» «Ein paar Monate, denke ich.» « Wie schön. Dann bleiben Sie also ein bißchen bei uns. Warum schreiben Sie nicht etwas für den (Inviato›?» «Das würde ich sehr gern tun. Eine ausgezeichnete Zeitung.» «Kennen Sie sie? Gefällt sie Ihnen wirklich? Haben Sie die letzte Nummer gesehen?» «Die letzte nicht. Als sie herauskam, war ich gerade auf Korsika.» «Wie interessant. Was haben Sie denn auf Korsika gemacht?» Ein Jammer, daß man jetzt nicht die Wahrheit sagen konnte: ich war dort, um einen französischen Grafen umzubringen. Aber Esposito hätte ohnehin nicht darüber gelacht. «Ferien. Ich habe für eine Zeitung darüber geschrieben.» «Dann sind Sie ja eine Kollegin. Und für welche Zeitung haben Sie geschrieben?» Was sollte sie jetzt erfinden? «Für den ,Observen.» (Sie mußte dem Chefredakteur sofort ein Telegramm schicken.) «Tatsächlich? Ich habe dort nie Ihren Namen gelesen.» «Ich habe unter Pseudonym geschrieben.» «Für uns könnten Sie vielleicht etwas über das parlamentarische Leben in England schreiben und über Ihre aufrichtige Entscheidung, zur Linken überzugehen.» «Gern.» «Kommen Sie doch gleich morgen.» 19 9
«Ja, gern.» «Vielleicht wissen Sie noch nicht, daß wir heute eine der berühmtesten angelsächsischen Schriftstellerinnen bei uns haben, Helen D. Mitthell. Frau Mitthell?» «Melinda ...» «Helen, Liebste.» Ausgiebige Umarmung. Melinda, fand Esposito, war genau die richtige Frau für den (Inviato›. Was für ein Glück, daß sie ihm schon an ihrem ersten Abend in Rom ins Haus geschneit war. «Was machst du denn hier, Helen?» «Ferien. Außerdem halte ich einen Vortrag im Presseclub. Und du?» «Noch keine Ahnung. Weißt du, daß Abraham hier ist?» «So ein Scheusal. Der hat sich doch bei mir überhaupt nicht gemeldet.» «Wollen wir nicht morgen zusammen frühstücken?» «Wunderbar. Hast du Jacob mal wiedergesehen?» «Nein, weißt du, wir sind doch geschieden. Und ich habe wieder geheiratet.» «Und wo ist dein Mann?» «Er ist nicht mehr mein Mann. Nein, nein. Es macht wirklich keinen Spaß, das zu sagen.» «Und ob es dir Spaß macht.» Helen hatte ähnliche Einsichten wie Abraham. «Und was machst du mit Amerigo?» «Ich verbringe den Abend mit ihm.» «Man hat mir erzählt, er sei deine große Liebe.» In diesem Augenblick erschien Amerigo mit einem von Sauce triefenden Sandwich in der Hand. «Helen, guten Abend. Ich muß dir das Unglücksmädchen hier entführen, sonst wird es zu spät, und wir kommen nicht mehr rechtzeitig ins Konzert. Komm. Warte mal, wir wollen noch schnell dem Großenitalienischenschriftsteller guten Abend sagen.» «Bist du das denn nicht?» «Das haben noch nicht alle begriffen. Sie glauben noch, daß er es sei.» Der Großeitalienischeschriftsteller machte einen sympathischen Eindruck. Aber schon gab ihr Amerigo einen freundschaftlichen Schubs, und kaum vorgestellt, mußte sich Melinda verabschieden, 200
bei der Gastgeberin bedanken und Esposito auf Wiedersehen sagen. «Also, bis morgen.» «Entführst du sie uns schon, Amerigo?» «Wir müssen ins Konzert.» «Du nimmst dir ja allerlei für einen Abend vor.» «Dafür arbeite ich tagsüber doch so viel ...» Amerigo nahm sie an der Hand. «Vielleicht sehn wir uns später noch bei Piper.» «Nein, da gehe ich nie hin. Ein gräßliches Lokal.» «Esposito versteht von nichts etwas», sagte Amerigo im Fahrstuhl, «aber er ist von der Idee besessen, von allem etwas zu verstehen. Du hast ihm sehr gut gefallen.» «Ich habe mir die größte Mühe gegeben ...» « Was hast du mit gemeint?» «Ich will bei ihm arbeiten.» «Das ist das Absurdeste, was ich je gehört habe. Mußt du denn arbeiten?» «Nein, ich bin sogar sehr reich, aber es würde mir Spaß machen. Es amüsiert mich.» «Na ja, wenn du es so auffaßt, dann ist es ja gut.» Hand in Hand zehn Minuten im Konzert und fünfzehn im Foyer. Hand in Hand zwanzig Minuten im Theater und fünfzehn in der Pause. «Für Piper ist es noch zu früh. Laß uns rasch einen Drink bei Rosati nehmen.» Bei Rosati auf der Piazza del Popolo war es noch ziemlich voll. Die schweinigle Schriftstellerin, wie Amerigo sich ausdrückte, und der verrückte Bühnenbildner, die heruntergekommenen Schwestern, der Schriftsteller auf dem absteigenden Ast, der Schriftsteller mit der anständigen Frau, der Schriftsteller, über den die Boulevardblätter berichteten, und der sehr viel bessere Schriftsteller, von dem dort nie die Rede war. Sie unterhielten sich flüchtig mit ein paar Leuten und gingen dann zu Canova, der gerade schließen wollte. In diesem Augenblick erschien Abraham mit Dame Elizabeth. «Und was machst du hier?» «Und du?» «Elizabeth wollte nur rasch auf die Toilette.» 201
«Helen ist hier in Rom.» «Welche Helen?» «Helen D. Mitchell. Ich habe mit ihr verabredet, daß wir vier morgen zusammen lunchen.» «Wer ist das: wir vier?» «Ich, du, Amerigo und sie.» «Na schön, aber sag Elizabeth nichts davon.» «Als ob ich jeden Tag mit ihr telefonierte. Aber warum eigentlich nicht? Hat sie Grund zur Eifersucht?» «Ich habe dich nur gebeten, ihr nichts davon zu sagen.» «Gut.» «Und was bedeutet Amerigo?» «Was heißt hier: was bedeutet? Er ist ein Freund von mir. Morgen fange ich an zu arbeiten.» «Bei wem?» «Bei einer Zeitung.» «Bei welcher?» «Beim
ihren und sein Kopf in ihren Haaren, und Melinda ... und Arnerigo Natürlich liebte sie ihn. Er war doch der beste von allen. Die Wohnung, die ihr Liz zur Verfügung gestellt hatte, bestand aus lauter kleinen Terrassen, Kübeln mit Orangenbäumchen und Räumen, die schmal wie Korridore waren und völlig unübersichtlich von der Küche, den Bädern und den Schlafzimmern abgingen. Wenn Melinda am späten Morgen aufwachte, duftete es nach Kaffee und dem Laub der Orangenbäume, und sie schaute auf die rosa Dächer, reckte und streckte sich und pries Rom und ihren Einfall hierherzukommen. Am ersten Morgen stand sie schon ziemlich früh auf, um in die Redaktion des
Er war jetzt ganz anders. Nichts mehr vom altmodischen Esposito am Abend zuvor. Den Rest des Vormittags verbrachte Melinda mit Dantini, Serghetti und Cobalto im Büro. Sie boten ihr zu trinken an und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspielen. Um zwei holte Amerigo sie zum Essen ab. «Ihr seid also ein festes Paar?» Tatsächlich heirateten Amerigo und Melinda zwei Tage später auf dem Standesamt von Fiesso d'Artico in der Provinz Padua. In Rom traf Melinda Abraham, der noch nicht wieder abgereist war. «Du hast mir was Schönes eingebrockt, mein liebes Kind. Dame Elizabeth ist stinkwütend. Wegen Helen.» «Das ist doch nicht meine Schuld, wenn ihr gevögelt habt.» «Wie redest du mit deinem Vater?» «Aber es ist doch so, oder?» «Natürlich.» «Und wie hat sie es erfahren?» «Sie hat es begriffen, sie ist ja nicht dumm.» «Na, hör mal, sie mag vielleicht nicht dumm sein, aber sie kann doch nicht Dinge erraten, die sie gar nicht weiß.» «Sie hat uns zusammen gesehen.» «Wo?» «In Helens Hotel.» «Du hättest ihr doch sagen können, daß ihr zusammen ein Buch vorbereitet.» «Aber sie hat uns im Bett gesehen.» «Willst du damit sagen, daß sie in Helens Zimmer gekommen ist?» « Ja, die beiden sind seit Jahren befreundet.» «Und ihr hattet nicht abgeschlossen?» «Anscheinend nicht.» «Dann ist es deine Schuld. An gewisse Dinge muß man als Mann eben denken.» «Und weißt du schon, wie lange du noch in Rom bleibst? Ich reise nämlich morgen mit Elizabeth ab. Ich habe sie ein bißchen beruhigt.» «Ich will noch bleiben.» «Wie lange?» «Ich arbeite für den .Inviato'. Und außerdem habe ich gestern geheiratet.» 2 04
«Du willst doch nicht behaupten, daß du den Kerl von neulich abend geheiratet hast?» «Du bist abscheulich.» «Aha, dann hast du ihn also geheiratet. Du hättest dir wirklich etwas Glanzvolleres ausdenken können. Wenn auch, zugegeben, kaum etwas Originelleres. Ich werde Anthony anrufen und es ihm erzählen.» «Sieh zu, daß er sich nicht allzusehr aufregt. Er ärgert sich immer, wenn ich heirate.» «Weiß es noch niemand?» «Nein, noch nicht.» «Darf ich es in England bekanntgeben? Ich habe nicht die geringste Absicht, dir ein Hochzeitsgeschenk zu machen. Ich bin es allmählich leid.» «Du hast mir noch nie ein Hochzeitsgeschenk gemacht.» «Doch, zu deiner ersten Hochzeit.» «Das gebe ich zu, zu meiner ersten Hochzeit hast du mir etwas geschenkt. Aktien deines Verlages, die ich übrigens nie zu Gesicht bekommen habe.» «Du bist doch viel reicher als ich.» «Ich habe das Thema ja auch nicht angeschnitten.» «Und was machen Wir mit Medoro?» «Siehst du ihn denn manchmal?» «Ganz selten. Und dabei ist er ein so hübscher Junge. Ich habe den Eindruck, er ist ein bißchen unter die Räder gekommen. Kannst du dich nicht etwas um ihn kümmern?» «Ich habe schon so viele eigene Kinder.» «Die werden alle genau wie Medoro, wenn du dich nicht mehr um sie kümmerst.» «Ich bin schließlich auch nicht wie Medoro geworden. Und dabei hast du dich kein bißchen um mich gekümmert.» «Ich habe mich sogar zuviel um dich gekümmert, meine Melinda, viel zuviel ...» Und sie gingen auseinander in Erinnerung an ihre alte Liebe. Noch am gleichen Nachmittag erhielt sie einen Brief von Abraham. «Sei vorsichtig, Elizabeth hat Dich verflucht. Ihr Haus ist voller Gespenster, und ich glaube daran. Schreib ihr ein paar Zeilen.» Er wird alt und kindisch, dachte Melinda, schade. 205
Die Nachricht, daß Melinda wieder geheiratet hatte, machte viel Wirbel. Esposito stellte ihr tausend Fragen. Ob sie das schon lange vorgehabt hätten? Ob sie sich wirklich liebten? Im Grunde wollte er nur wissen, ob sie zusammen ins Bett gingen, aber das wagte er nicht zu fragen. Nach der Hochzeit führten Amerigo und Melinda beide ihr eigenes Leben weiter wie bisher. Melinda mietete sich eine Wohnung und erklärte, für Amerigo sei es besser, wenn er seinen eigenen so vorzüglich funktionierenden Haushalt beibehalte. Ab und zu besuchten sie sich. Die Hochzeitsreise verschoben sie, weil sie beide arbeiteten; und Melinda war, wie immer, vollkommen glücklich. Esposito lud sie zum Lunch ein und sagte ihr, früher oder später würden sie zusammen ins Bett gehen. Er war wieder der Amedeo Nazzari des ersten Abends. «Du bist hart im Nehmen, Melinda. Eine Rechnerin. Was erwartest du eigentlich vom Leben?» (Als ob man so nebenher beim Lunch mit wildfremden Leuten, die dazu noch ein bißchen beschwipst waren, und angesichts des zugegebenermaßen großartigen römischen Panoramas über gewisse Dinge reden könnte. Als ob man überhaupt über gewisse Dinge reden könnte.) « Ja, meinst du?» «Du bist eine tüchtige Person. Und du weißt es. Aber was erwartest du von der Zukunft?» «Ruhe und Frieden.» Auf eine dumme Frage gehörte eine dumme Antwort. «Macht die Arbeit bei uns dir Spaß?» Im Grunde hatte sie noch nicht viel gearbeitet. Sie hatte ein paar Briefe geschrieben und gelernt, wie man das Telefon bediente. «Morgen ist der interessanteste Tag deiner ersten Woche bei uns. Donnerstags, wenn die neue Nummer der Zeitung fertig, aber noch nicht erschienen ist, setzen wir uns alle vom ersten bis zum letzten Redakteur zusammen und sprechen die nächste Nummer durch. Was uns dabei einfällt, diskutieren wir gemeinsam und überlegen, wem wir die verschiedenen Themen anvertrauen wollen und was wir bei unseren Korrespondenten bestellen.» «Ich finde das eine ausgezeichnete Idee.» «Ja, ich glaube, das ist sie wirklich. Sie stammt übrigens von mir. Und natürlich ist das Ende vom Lied, daß ich die ganze Zeitung selber machen muß.» zo6
Esposito hatte tatsächlich die Angewohnheit, alles in der Redaktion selbst zu machen. Er suchte die Fotos aus, bestimmte die Schriftgrade, machte die Überschriften und las alle Artikel, die er dann an Dantini weitergab. Dantini, der seit Jahren für ein dürftiges Gehalt beim (Inviato) arbeitete, mußte dann alle Artikel durchkorrigieren und umschreiben. Er fügte ganze Sätze ein und beschrieb Personen, die er nie gesehen hatte. Tatsächlich erhielten dadurch alle Artikel, die im
«Und ausgerechnet dir wird sie das erzählen, ja, Cobalto?» Gagliardi schlug Elizabeth Taylor vor. «über die hat man auch schon zuviel gelesen.» «Wir brauchen ein neues Gesicht.» «Virna Lisi.» «Was sollen wir denn mit Virna Lisi?» «Virna Lisis Liebesleben.» «Das ist alles noch nichts. Rufen wir doch mal Roberta an. Mal sehen, was sie vorschlägt.» Roberta war gerade beim Tee. « Ja, wir haben im Moment eine Konferenz. Wie geht es dir? Was gibt's Neues? Roberta sagt, es gibt einen englischen Bildhauer, der anscheinend was los hat und über den man schreiben sollte», sagte Esposito zu den versammelten Redakteuren. «Wie sagst du, daß er heißt? Mor? Henry Mor? Nie gehört. Und ihr, Kinder? Nein, auch die anderen kennen ihn nicht. Wir haben hier eine neue, eine Herzogin, die Vespucci geheiratet hat. Sie sagt, wenn es sich um Henry Moore mit zwei 0 handelt, dann kennt sie ihn. Sie meint, das wäre ein alter Hut, aber man könnte trotzdem über ihn schreiben. Kann man sich auf euch zwei Weiber verlassen? Na schön, ist gut. Also dann diesen Mur. Ciao. Grüß die Mama. Und arbeite tüchtig. Schick gleich alles her. Und was gibt es sonst? Was machen wir auf der Aufschlagseite?» «Ich dachte, das war die Aufschlagseite.» «Ach was, ein Bildhauer ist doch kein Aufmacher. Sex braucht man, wenn man die Auflage steigern will, Sex.» «Eine Umfrage.» «Ausgezeichnet. Wer hat das gesagt?» «Serghetti.» «Bravo, Serghetti.» «Eine Umfrage über Sex in Italien.» «Das ist es. Glänzende Idee.» «über Sex in der Schule.» «Oder über Sex bei den Frauen in der Provinz.» «Das gibt eine ganze Serie her.» «Homosexualität in der Provinz.» «Weibliche Homosexualität in Italien.» «Ausgezeichnete Idee.» «Also erst mal das sexuelle Verhalten des italienischen Durchschnittsschülers. Das machst du, Serghetti.» zo8
«Wieso ich?» «Du brauchst doch nur in ein paar Schulen zu gehen und ein paar Fragen zu stellen und dann noch ein paar Bücher zu lesen.» «Was für Bücher?» «Die ausfindig zu machen ist deine Sache.» «Aber es gibt keine Bücher über das Sexualleben des italienischen Durchschnittsschülers.» «Dann lies die über die amerikanischen Schüler und sieh zu, was du daraus machst. So was Phantasieloses. Ich brauche den Artikel in zwei Tagen.» «Ist recht, Mario.» «Du, Melinda, könntest einen kleinen Artikel über das politische Leben in England schreiben.» «Noch einen?» «Anders als den ersten natürlich.» «Dann muß ich nach London fahren und sehen, was dort los ist.» «Das geht nicht, das würde unser Korrespondent übelnehmen.» «Aber das wäre doch ganz was anderes.» «Er würde es trotzdem nicht verstehen.» «Dann könnte ich ja über die englische Aristokratie schreiben.» «Ausgezeichnet. Aber ein bißchen aus der Sicht der Linken, verstehst du? Kritisch. Und natürlich mit ein bißchen Sex drin.» «Aber dann ...» «Mit Sex steigert man die Auflage.» «Und dann noch etwas über Vietnam.» «Das mache ich.» «Nein. Das macht der Chefredakteur.» «Wir schicken Gagliardi hin. Du fährst morgen.» «Und dann brauchen wir noch etwas über die politische Krise in Italien.» «Aber die dauert doch schon ewig.» «Und wir müssen immer wieder Artikel darüber bringen.» «Die fünfte Folge über die Prostata des Vierzigjährigen kommt auf Seite iz.» «Und was bringen wir über das Geheimtreffen der Wirtschaftsexperten?» «Darüber erfinde ich etwas.» «Und was machen wir mit der zweiten Seite?» « Was haben wir denn für Geburtstage? Was sind die wichtigsten 209
Gedenktage ... Wo ist denn bloß wieder die Liste mit den Gedenktagen? Warum liegt sie nie bereit?» «Da wäre zum Beispiel der Rückzug von Caporetto, die italienische Niederlage ...» «Ich will keine Gedenktage.» Die Zeitung erschien, prall gefüllt mit Gedenkartikeln und Sex. Und da Melinda damit beschäftigt gewesen war, ein Hausmädchen zu suchen, hatte Dantini ihren Artikel umgeschrieben, und zwar so, daß es nun aussah, als seien die Damen der englischen Aristokratie samt und sonders nymphoman — nicht anders als die italienischen Durchschnittsschülerinnen. Verärgert über die redaktionelle Routine kehrte Melinda dem den Rücken und machte mit ihren Kindern Ferien am Meer. Seine Wimpern ganz nah. Ein spitzer Ellbogen. Ganz nah. Amerigo in ihrem Mund. Gespitzte Lippen. Ihr Mund. Sein Mund. Abschied. Amerigo und Melinda nahmen das Abendessen allein ein, nicht weil sie sich etwas zu sagen hatten oder weil sie allein bleiben wollten, sondern weil sie niemanden gefunden hatten, der an diesem Abend mit ihnen ausgehen wollte. Dazu kam, daß die römischen Mädchen etwas gegen Melindas Sitten hatten und Melinda etwas gegen die Sitten der römischen Mädchen. Sie aßen um neun. Es war heiß. «Was würde ich jetzt für eine Vichyssoise geben.» «Oder für eine geeiste Brühe.» «Oder für Zunge in Aspik.» «Daß man in Städten, in denen es so heiß ist wie hier, nie etwas Kühles zu essen bekommt.» «Ich habe beim (Inviato , Schluß gemacht.» «Das habe ich mir gleich gedacht, daß du es dort nicht lange aushältst. Und was hast du nun vor?» «Ich werde für ein anderes Blatt schreiben. Hilfst du mir?» «Um Gottes willen. Laß doch die Finger davon. Das ist nichts für dich.» «Außerdem wollte ich ein bißchen ans Meer. Ich habe daran gedacht, das kleine Haus bei der Villa Spencer zu mieten.» «Kennst du es denn?» «Ich bin vor Jahren mit meinem Bruder Medoro dort gewesen. Es gehört einem Schriftsteller, Spencer. Kennst du ihn?» 210
«Nein, aber ich habe irgend etwas von ihm gelesen. Ist er nicht schon ziemlich alt?» «Sogar sehr. Eine irische Nichte hat ihn unter ihrer Fuchtel. Aber die Gegend ist wunderschön, das Meer und das Grundstück. Und ich habe mir gedacht, daß ich die Kinder ein bißchen mitnehme. Möchtest du auch ein Kind?» Verlegenes Schweigen. «Du willst also ein bißchen fort von Rom?» «Deswegen brauchst du doch nicht verlegen zu werden. Wenn du ein Kind willst, kann ich es auch von jemand anderem kriegen. Ich verstehe nur nicht, was für eine Art Ehe du dir vorstellst.» «Ich bin zufrieden, wie es ist, und du hast doch auch schon genug Kinder. Heute abend könnten wir nach Tisch ein bißchen zu Eleonora gehen und dann zu Piper. Wenn du nicht lieber auf einen Sprung in die kleine Oper willst, die im Cometa gegeben wird.» «Ja, warum nicht, auch wenn wir reichlich spät kommen werden. Aber hör zu, ich wollte auf alle Fälle morgen oder übermorgen abreisen, und du könntest dann immer zum Wochenende zu uns kommen.» «Wie lange willst du denn dort bleiben?» «Ein paar Monate, glaube ich. Und dann sollten wir nach Irland fahren. Ich habe dort einen Freund, der mich schon seit langem eingeladen hat.» «Hat er mich denn auch eingeladen?» «Er hatte David eingeladen; aber ein Ehemann ist so gut wie der andere.» «Ich müßte erst meine Bücher fertigschreiben, und dann könnte ich in Irland eine Artikelserie machen. La Spezia lockt mich nicht so sehr.» «Aber du weißt doch gar nicht, wie es dort ist — Spencer und das Haus und die Leute, die dorthin kommen, ganz junge Leute, die gerade Oxford hinter sich haben, und dann diese Josette ... Ich glaube, alles in allem würde es dir gefallen. Und außerdem der alte Spencer, der nicht sterben kann.» «Das können wir ja noch sehen. Vielleicht komme ich wirklich mal.» «Und wann machen wir unsere Hochzeitsreise?» «Wohin willst du denn fahren?» «Irgendwohin, wo wir viele Freunde haben, die uns reihum in großartigen Häusern beherbergen.» 211
«Ich kenne niemanden, du hast doch so viele Freunde.» «Wir könnten nach Amerika fahren, nach New York und Long Island und New Orleans und San Francisco. Aber vielleicht sollte ich das lieber allein tun.» «Du, ich muß dir etwas sagen.» «Ja?» «In gewisser Hinsicht bin ich eifersüchtig.» «Auf mich?» «Ja.» «Wie lieb.» «Ich meine das im Ernst.» «Das kann ich mir denken, sonst hättest du es ja nicht gesagt.» «Ich möchte nicht, daß du mit so vielen Leuten ins Bett gehst.» «Mit dem einen oder anderen werde ich das aber tun. Ich sage es dir lieber gleich. Und wenn es dir nicht paßt, können wir uns ja jederzeit scheiden lassen.» «Mit Cobalto, nicht wahr?» «Nein, mit Cobalto bin ich nicht ins Bett gegangen.» «Er erzählt es aber überall herum.» «Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen. Wenn er es herumerzählt, ist das doch ein Zeichen dafür, daß es nicht stimmt. Na, und du? Was ist mit deinem Liebesleben? Hast du einen Jungen?» Amerigo war verwirrt, er sprach nicht gern über seine Privatangelegenheiten. Er hatte zwar einen Jungen, aber er sah ihn nur selten. ,Die heimliche Ehe, im Cometa hatte eine dreiviertel Stunde zu spät angefangen, so daß Amerigo und Melinda noch ungefähr die Hälfte sehen konnten. Die Szene mit den Pferden gefiel Melinda besonders gut. Amerigo konnte die ganze Oper auswendig. Joseph und Liz saßen in der Reihe vor ihnen. Liz schlief natürlich. Da überall Plätze frei waren, ließ Joseph sie allein und setzte sich neben Melinda. «Liz schläft immer noch.» «Mach doch Schluß mit den Medizinen, oder laß sie zu Hause, die arme Frau.» «In ihren seltenen klaren Augenblicken besteht sie darauf, ein gesellschaftliches Leben wie sonst zu führen. Sie sollte vor allem nicht trinken — das ist es, was sie so schläfrig macht. Hast du schon die Geschichte von deinem Vater und Helen gehört?» 212
«Was für eine Geschichte?» «Anscheinend hat Dame Elizabeth sie zusammen im Bett erwischt.» «Die scheint ja eine wahre Hellseherin zu sein, diese Dame. Abraham und sich im Bett erwischen lassen, ich bitte dich.» «Das hat mir aber dein Vater erzählt, und nicht etwa Elizabeth.» «Und Elizabeth? War sie wütend?» «Sehr, sie sind doch verlobt. Meinst du, daß sie wirklich heiraten?» «Ich weiß nie, was Abraham anstellt. Bei ihm ist alles möglich. Und sie fand ich doch recht faszinierend.» «Wir sind nach der Oper bei Eleonora eingeladen», unterbrach sie Amerigo. «Ach, wie entsetzlich.» «Du könntest Liz doch zu Hause lassen.» «Wenn sie aufwacht, will sie bestimmt mitkommen.» Tatsächlich kam sie mit. Eleonora lebte, mehr oder weniger, mit Vito zusammen, einem katholischen Journalisten, dem Sohn eines christdemokratischen Abgeordneten und der sogenannten . Vito schrieb Literaturkritiken für die begründet. Eleonora mit ihren großen weißen Zähnen zwitscherte und hüpfte traurig in einem Fähnchen um ihn herum, das nach (Elle> und Le Bon - Magique aussah. Sie begrüßte Melinda und Amerigo und führte sie in ihre Wohnung: Lithos und Reproduktionen, wo man ging und stand, echte und unechte Schwedenmöbel, Keramik von modischer Sachlichkeit und weiße Gardinen. Als unerschöpfliche Informationsquelle erwies sich die burschikose Carlotta: Ex-Kommunistin, Ex-Beschützerin der Armen, Ex-Muse und gegenwärtig Eleonoras Busenfreundin. Vitos Eltern, erzählte sie Melinda, lebten teils im Vatikan, teils in einem Vorort von Treviso. Sein Bruder war bei ihnen unten durch, weil er eine Frau geheiratet hatte, die nicht nur gewöhnlich war, sondern obendrein noch sechs Mädchen in die Welt gesetzt hatte. Der ordinäre Ton der Kinder fiel aber gar nicht weiter auf, da eine deutsche Gouvernante das Geschrei «Mamma, wo ist mei Püpple?» mit ihren gutturalen und exotischen Lauten übertönte. Vitos Vater, der stets mit erdrückender Mehrheit wiedergewählt wurde, verbrachte 213
seine Tage in Gastwirtschaften, um die Wähler zu beschwatzen. Angeblich pflegte er zu sagen: «Ich bin wie die Kommunisten, ich glaub halt an gar nichts.» Als getreuer Sohn seiner Kirche, den Melinda einmal mit Ostrowskij bei einem großen Essen im Kreise von lauter Prälaten getroffen hatte, telefonierte er häufig mit Seiner Eminenz und Seiner Heiligkeit. Den eigentlichen Stimmenfang bei den Katholiken aber besorgte, so versicherte Carlotta, die Gräfin Amantide, und zwar in Kinderkrippen und bei Cocktailparties. Kurz und gut, eine bedeutende italienische Familie, und Melinda begriff sofort, daß sie sich mit Vitos Hilfe Zugang zum Fernsehen verschaffen konnte. «Herzliche Glückwünsche.» «Wozu?» «Zu Ihrer neuen Ehe.» Der mißbilligende Unterton war unüberhörbar. Dabei legalisierte Melinda doch nur das, was alle anderen auch trieben. Sie ließ ihn stehen und beschloß, auf Fernsehruhm zu verzichten. Freude machte es ihr dagegen, den Großenitalienischenschriftsteller wiederzusehen. Sie kauerte sich ihm zu Füßen. Sein großflächiges, nervöses Gesicht, seine abgehackte Art zu sprechen und sein schönes, strahlendes Lächeln gefielen ihr. Er war der sympathischste von allen, fand sie. «Sie sind mir sehr sympathisch», sagte er zu ihr. «Oh, wissen Sie, Sie mir auch. Besuchen Sie mich doch mal.» «Wo?» «Am Meer.» «Haben Sie ein Haus dort?» «Ich habe eins für zwei Monate gemietet.» «Von wann an?» «Ab morgen.» «Und fahren Sie gleich dorthin?» «Morgen.» «Und wie fühlen Sie sich in Ihrer Ehe?» «Ausgezeichnet.» «Sagen Sie, was macht ihr beide eigentlich miteinander?» «Nichts, rein gar nichts.» Wie sympathisch, daß er sich diese Frage nicht verkniffen hatte. Vito stellte sich zu ihnen. Einem bekannten Gesicht konnte er nie widerstehen. 214
«Was habt ihr beide euch denn zu erzählen?» Etwas Geistreicheres fiel ihm nicht ein. Auch Eleonora eilte zwitschernd, von Chiffon Le Bon-Magique umflattert, herbei. «Passen Sie nur auf, daß ich Ihnen Amerigo nicht ausspanne.» «Tun Sie, was Sie nicht lassen können.» Daß sie sich nicht schämte. Sie sollte es nur versuchen. Anschließend gingen Amerigo und Melinda ins 1984, wo es rappelvoll war, und aßen dort ein Steak. Dann fuhren sie zu Rosati auf der Piazza del Popolo, wo geschlossen war. Dann zu Doney in der Via Veneto und zu Rosati in der Via Veneto, die gerade schließen wollten. Dann kauften sie sich an den beiden Kiosken die Zeitungen, gingen zu Piper und schließlich jeder zu sich nach Hause. Drrrrrum. Bremse. Kriiiik. «Du fährst ja mächtig geräuschvoll.» Amerigo nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und berührte ihren Mund. Warum hatte sie ihn eigentlich geheiratet? Er berührte ihre Knie. «Du, es ist schon spät. Ich gehe jetzt schlafen. Vielleicht rufe ich dich morgen früh an.» «Willst du wirklich morgen fahren?» «Werde ich dir fehlen?» «Ein bißchen.» Sie zog die Schultern ein und schüttelte sich. «Gute Nacht.» Sie küßte seinen Schmollmund. Zu Hause lag ein Brief von Mark. Er war unter der Tür durchgeschoben worden. Melinda erkannte sofort die Handschrift. «Göttin Minerva. Du hast also tatsächlich geheiratet. Bitte, komm für ein paar Tage, wohin immer du willst. Ich schlage Lausanne vor, ein Wochenende im Hotel Bellevue. Antworte gleich.» Mark — sie hatte ihn völlig vergessen. Die ganze Nacht über packte sie. Ein kleines Wochenendtechtelmechtel mit Mark würde ihr Spaß machen. Aber wenn sie an all die Vorbereitungen dachte, die nötig waren, die Fahrkarten ... Mark würde es entweder vergessen, oder er würde woanders hinfahren oder plötzlich Gewissensbisse wegen seiner Frau bekommen. Göttin Minerva. Was hatte die damit zu tun? Mark verstand sie eben überhaupt nicht. Und das war im Grunde nur gut. Sie rief bei Amerigo an, aber er schlief noch, und sie wollte ihn nicht wecken. 215
«Sagen Sie ihm, seine Frau hätte angerufen und ließe ihn vielmals grüßen.» In Florenz machte sie Station. Sie mochte diese Stadt nicht, die nur aus grauem Stein bestand. «Enoch, kann ich zu dir zum Lunch kommen?» Sie kannte doch in Italien wirklich nur Engländer und Amerikaner. «Meine Liebe, es ist schon fast ein Uhr. Meine Mutter wird ein bißchen upset sein. Du mußt dich mit einer ganz, ganz einfachen Mahlzeit begnügen. Irgendein Eintopfgericht. Ein Essen im Familienkreis. Helen kommt übrigens auch zum Lunch.» Das war doch nicht möglich. Melinda kannte diese Mahlzeiten nur zu gut. Vier Gänge, fünf oder sechs Diener, ein herrliches Speisezimmer und Enochs Mutter, die am Ende des Essens betrunken unter dem Tisch lag. Der Wagen bog in die große Allee ein: Zypressen, die bis unmittelbar zu der Renaissance-Villa hinaufführten. Der Garten war von weißen Statuen bevölkert: barockisierende Figuren, halbnackte Epheben und Renaissance-Dämchen. Hier gab es von allem etwas, ein harmonisches Bild aus Stein und Grün. Die Statue, die ihr plötzlich entgegenkam, war Enochs uralte, hinfällige Mutter, weißhäutig, weißäugig, in weißem Kleid und mit rosa Haaren. «Meine liebe Helen», rief sie ihr entgegen, «wir haben uns ewig nicht gesehen. Auf diesen Höhen merkt man nicht, wie die Jahre vergehen.» Sie war schon im Zustand der Trunkenheit, und unter dem Einfluß des Alkohols übertrieb sie ihren vornehmen Bostoner Akzent. «Wie geht es Ihnen, Madame Soane?» (Sie wollte Madame genannt werden.) «Ihr Buch ist wunderhübsch, Helen.» Melinda schien es nicht angebracht, diese Namensverwechslung zu korrigieren. Andererseits würde Helen sich ärgern, wenn jemand ihr Buch <wunderhübsch> nannte Darum war es doch wohl besser, die alte Dame zu warnen. «Erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin Melinda Publishing. Ich bin nicht Helen.» «Ach so, die, die dauernd heiratet. Wie nett. Ich habe das nie fertiggebracht. Meine Ehe war eine solche Qual, daß ich, als mein lieber Mann vor vierzig Jahren starb, dies für einen Fingerzeig des 216
Himmels hielt, von nun an nur noch für meinen Enoch leben zu dürfen. Kommen Sie, die Kardinäle müssen auch schon da sein.» Enochs Haus — roter Plüsch und angefüllt mit den raffiniertesten Dingen. Ein Mittelding zwischen einem Museum und dem Haus des Bürgers Kane. «Meine liebe Melinda.» Enoch kam ihr entgegen und küßte sie auf die Lippen. Er war groß und elegant und hatte kluge Augen. «Kennst du Hochwürden Singult?» «Pater, das ist eine junge amerikanische Schriftstellerin», sagte Madame Soane, die Melinda an der Hand hielt. «Sie schreibt reizende Sächelchen. Sie würden Ihnen bestimmt gefallen.» «Sie ist so vergeßlich, sie vergißt alles, meine Liebe», sagte Enoch mit klagender Stimme und schaute zärtlich auf den rosa Kopf seiner Mutter. «Es ist Zeit für einen Aperitif», verkündete Madame Soane. Ein Diener brachte mehrere chinesische Tischchen, die wie russische Puppen eines aus dem anderen hervorkamen. Der Martini war sehr stark. Helen kam zusammen mit Seiner Eminenz.
«Melinda, dich trifft man aber auch überall.» Madame Soane war verwirrt. Wenn Melinda Helen war und Helen Helen, wie verhielten sich dann die Dinge in Wirklichkeit? Wer hieß wie? «Pater Singult ist mein Beichtvater», erklärte sie, nachdem sie es aufgegeben hatte, dieses Problem zu lösen, «und er hat von mir verlangt, daß die Statuen im Garten auf eine bestimmte Stelle Feigenblätter bekommen. Aber als die Nazi-Generale kamen, haben sie alle die Feigenblätter wieder fortgenommen. Hihihi.» Eine zweite Runde Martini. Seine Eminenz war groß und hatte schmale weiße Hände, die sehr elegant wirkten. Auch er Amerikaner. «Ich glaube, ich habe Sie in Tanger schon einmal getroffen», sagte er lächelnd zu Melinda. «Ich glaube nicht. Ich bin noch nie in Tanger gewesen ...» «Dann vielleicht in Marrakesch ...» «Auch nicht.» «Oder in Monte Carlo.» «Das könnte sein.» Seine Eminenz wandte sich ab und richtete das Wort nicht wieder
an sie. 217
«Noch einen kleinen Martini, Helen?» Helen und Melinda antworteten im Chor: «Nein, danke.» «Wieso antwortest du eigentlich, Melinda?» protestierte Helen. Es war zu kompliziert, um es zu erklären. Tatsächlich hatte Madame eindeutig Melinda gemeint, worüber nun Helen wiederum verwundert war. Sie wandte sich ab und begann ein Gespräch mit dem Kardinal. «Gleich nach dem Essen muß ich zum Friseur», sagte Madame Soane und strich mit ihrer schneeweißen Hand über die rosa Watte auf ihrem Kopf. «Wenn Sie mögen, bringe ich Sie hin, ich habe einen Wagen.» «Mit dem Flugzeug bin ich schneller dort.» Melinda schaute sie an. Hatte sie richtig verstanden? «Nach Florenz mit dem Flugzeug?» «Nein, nein. Mein Friseur ist in Lausanne. Wissen Sie, er ist an mein Haar gewöhnt, er frisiert mich seit Jahren.» «Und Sie fahren ständig nach Lausanne?» «Nein, nicht ständig. Einmal in der Woche. Das ist sehr viel preiswerter, als wenn ich ihn hierher kommen lasse. Das habe ich auch ein paarmal versucht, aber das kostet mich dann seine Reise, die Zeit, die er hier ist, und die Zeit, in der er sich sonst anderen Kundinnen widmen könnte. Und noch dazu gefällt ihm Florenz so gut, daß er so lange wie möglich bleibt.» «Ein Schweizer Friseur? Wie ausgefallen. Das habe ich noch nie gehört.» «Mag sein, daß er nicht besonders tüchtig ist, aber ich habe ihn nun schon so lange ... Das ist alles eine Sache der Gewohnheit.» «Und Sie fliegen jede Woche nach Lausanne?» «Das dürfen Sie aber nicht in einem Ihrer Bücher schreiben, Helen!» Beim sechsten Martini erschien, blauäugig und weltgewandt, Monsignore Wrun. Um zwei Uhr setzte man sich zum Lunch. «Ach, meine Liebe, ich kann dich nicht an meine rechte Seite bitten, weil Monsignore als Dame behandelt werden will. Ach, meine Liebe, wie schade, daß du nicht mehr Herzogin bist. Ach, meine Liebe, wenn du gestern gekommen wärst, hättest du hier die ehemalige Königin und den jungen Prinzen getroffen. Ach, meine Liebe, meine Mutter liegt schon unter dem Tisch. Zum Glück begleitet Pater Singult sie nach Lausanne, dann kann sie im Flugzeug beichten. Ach, meine Liebe, bist du noch nicht bei den Tattis gewesen? Ach, 218
meine Liebe, es ist heute doch . zum Heulen. Ach, meine Liebe, Professorinnen, die alles über Testa oder einen weniger bedeutenden Künstler wissen und dabei aus dem Mund riechen. Ach, meine Liebe, du bist glücklich dran, du bist noch im Alter der Liebe. Was würde ich darum geben, meine Liebe, wenn ich noch im Alter der Liebe wäre.» Helen schien wegen der Geschichte mit Abraham irgendwelche Gewissensbisse zu haben, denn sie schaute sie kein einziges Mal an. Außerdem hatte ihr offensichtlich die Sache mit der Namensverwechslung mißfallen, und vor allem, daß Melinda sich hatte Helen nennen lassen. «Helen, meine Liebe», sagte Madame Soane nun tatsächlich noch einmal, während sie sich auf den Butler stützte, «Hochwürden und ich müssen schleunigst aufbrechen zu unserer Verabredung, das heißt, um genau zu sein, zu meiner Verabredung. Sei doch so lieb und schick mir deinen letzten Roman.» Beim Hinausgehen stolperte sie und fiel. Melinda kam noch an diesem Abend bis ans Meer und versuchte, Madame Soane Blumen zu schicken. Sie fand den Besitz des Schriftstellers und insbesondere die kleine Villa, die sie gemietet hatte, in einem beängstigenden Chaos vor und übernachtete deshalb im Hotel. Als erstes werde ich mich morgen nach jemandem umschauen, der mir das Haus in Ordnung bringt und ein paar Öfen setzt. Und dann sofort ans Meer, ohne auch nur einem Menschen guten Tag zu sagen. Wer könnte mich hier besuchen? Wen könnte ich um diese Tageszeit anrufen? «Anthony, kommst du und besuchst mich?» «Aber Liebes, wo bist du denn?» «In Italien, aber komm trotzdem, ich möchte dich sehen.» «Tu doch nicht so weinerlich. Such dir einen neuen Mann.» «Den hab ich schon, aber er ist nicht hier.» «Ich habe gelesen, daß du geheiratet hast, aber ich hielt es für einen geschmacklosen Witz.» «Einen geschmacklosen Witz von wem?» «Von dir. Falsche Nachrichten auszustreuen.» «Ich möchte dich sprechen.» «Ich dich auch, aber nicht am Telefon. Ich schicke dir eine Sekretärin.» 2 19
«Tu das bloß nicht.» «Wann kommst du zurück?» «Ich denke, bald.» «Was hast du vor?» «Ein bißchen bleibe ich hier am Meer. Und dann weiß ich noch nicht.» «Kurzum, du langweilst dich.» «Ein bißchen.» «Wir sehen uns demnächst.» «Gute Nacht.» Es war wohl besser, wenn sie ins Bett ging und schlief. Das tat sie denn auch. Nach einer Woche hatte Melinda das Haus in Ordnung gebracht. Mit anderen Worten: sie hatte Personal gefunden, das es ihr in Ordnung brachte. Sie ließ einen Teil ihrer Kinder nebst Kindermädchen kommen, sie ließ sich von der Sonne bräunen, sie ließ Amerigo wissen, er möge lieber nicht kommen, und sie ließ Mark ohne Antwort. Dafür hatte sie Octavian kennengelernt. Octavian hieß in Wirklichkeit Robin, aber angesichts seiner Schönheit und Jugend (er war noch keine achtzehn Jahre alt) hatte Melinda ihm den Namen der Hauptperson im gegeben. Vor allem aber, weil sie sich in der ihr völlig neuen Rolle der Marschallin gefiel. Josette hatte sie mit widerwärtiger Herzlichkeit willkommen geheißen. «Melinda! Ein Glück, daß du da bist. Ich habe nämlich so viel zu tun — du kannst dir nicht vorstellen, wieviel. Der Alte stirbt einfach nicht und ist ein furchtbarer Egoist. Zum Glück haben wir Robin, der ihm nachmittags und abends vorliest. Geld habe ich auch nie. Ich werde von allen bestohlen. Das ganze Pack hier stiehlt, alle. Samt und sonders. Sei bloß auf der Hut. Außerdem bin ich schwerkrank. Da, siehst du? Meine Paradentose ... immer schlimmer.» Die medizinischen Gespräche brachten Wolken üblen Mundgeruchs mit sich und den Anblick fortgeschrittener Fäulnis. «Außerdem habe ich's mit dem Magen. Ich kann nichts essen und muß dauernd auf die Toilette. Manchmal mache ich sogar in die Hosen.» Josette war der physisch unangenehmste Mensch, der Melinda je begegnet war. Hin und wieder kam sie in einem winzigen Bikini, der kaum an ihrem ausgemergelten Körper hielt, an den Strand. 220
«Ich habe einen Körper wie eine Französin. Man sieht mir an, daß ich keine Engländerin bin. Findest du nicht auch? Ah, da kommen ja meine Kinder.» Kläffend kamen ihre Hunde angerannt, blutig wie immer, staupebehaftet, trächtig und an allem leckend. Octavian war Melindas einziger Trost. Sie schwammen zusammen weit hinaus, küßten sich stundenlang auf einem abgelegenen Felsen und erforschten gegenseitig ihre Körper. Octavian war begeistert über Melindas zahlreiche Bekannten. «Wenn ich wieder in London bin, stellst du mich dann deinen Freunden vor?» « Ja, Octavian», hauchte sie in seinen Mund hinein. «Ich kenne keinen Menschen.» «Wir werden sehen, wie wir dein Problem lösen, Octavian.» Erstes Universitätsjahr, New College, Oxford. Octavian war in seinem kleinen Kreis offenbar sehr begehrt. Er gab ein satirisches Blättchen heraus, hatte ein Stipendium, war gebildet und vor allem schön. Aber trotz allem Herumwälzen am und im Meer hatten Melinda und Octavian noch nicht miteinander geschlafen. «Das können wir doch nicht hier auf den Felsen. Wenn die Leute uns sehen.» «Wer soll uns hier schon sehen?» «Und dein Mann?» «Der ist in Rom.» «Und Josette?» «Das macht mir nichts aus.» «Aber mir, ich bin doch Spencers Vorleser.» «Komm heute abend zu mir.» «Und die Kindermädchen und deine Kinder?» « Wir machen eben nicht soviel Lärm.» Die üblichen Schwierigkeiten mit englischen Studenten. Dazu kam, daß Octavians Familienverhältnisse nicht die einfachsten waren, geschiedene Eltern, die beide wieder geheiratet hatten, Mütter und Väter, die er nie sah. «Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mit deinem Körper täte, wenn ich könnte ...» Wenn ich könnte, wenn ich könnte ... Vielleicht war er impotent. Aber er war goldbraun und hatte schönes Haar und war überhaupt schön und roch so gut, ganz im Gegensatz zu Josette. 221
Mit der großen Villa ging es, soweit das noch möglich war, immer weiter bergab. Die bemalten Genueser Möbel waren von Hundepipi ausgeblichen, die Vorhänge an den Fenstern, die jetzt immer geschlossen blieben, glichen mittelalterlichen Schlachtpanieren, wie man sie in manchen Kathedralen findet. Schuß und Kette hielten nur noch wie durch ein Wunder zusammen. Und der alte Spencer, fand Melinda, wurde allmählich immer kindischer. «Ich bin ,Melinda Publishing.» «Wer?» «Melinda Publishing, die Tochter von Abraham.» Unverändert war das zauberhafte Panorama vor den Fenstern — die Bucht, die Inseln. Aber Spencer saß nicht mehr auf der Terrasse. Er lag in seinem Zimmer auf dem Bett. Ein Marmorwaschtisch, ein Nachtschränkchen mit den Arzneien und eine Kommode, auf der eine schwarze Kassette stand. Die Kassette enthielt die Asche von Lady Evil, Spencers geliebter Frau, die vor zwanzig Jahren gestorben war. Zu Lebzeiten hatte sie von den Bauern verlangt, sie sollten die Zikaden umbringen, weil ihr Zirpen ihr auf die Nerven ging. «Ja, ja, ich glaube, ich erinnere mich. Was macht Abraham, ist er gestorben?» Warum sollte Abraham eigentlich gestorben sein? «Nein, nein. Es geht ihm ausgezeichnet. Vor ein paar Tagen war er in Rom.» Schweigen. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Spencer legte erschöpft seinen Kopf auf die Berge von Kissen zurück, die mit Wermut- und Sirupflecken bedeckt waren. Die Bezüge bestanden nur noch aus Flicken und alter Stickerei. «Jetzt muß ich mal nach meinen Kindern schauen», sagte Melinda und meinte damit ihre richtigen Kinder und nicht die Hunde. «Komm bald wieder und sag Josette, sie soll ja nicht zu mir hereinkommen. Ich kann sie nicht ertragen.» Ganz verblödet war er also noch nicht. «Wie geht es ihm?» fragte Josette sie sofort. «Ganz gut, scheint mir.» «Das ist ja das Elend. Er stirbt und stirbt nicht. Und solange er lebt, bin ich seine Sklavin. Die Gräfin gibt mir nie genug Geld. Und der Alte saugt mir das Mark aus den Knochen. Und dann habe ich aus einem Bad eine Küche und aus einer Küche ein Bad machen müssen.» Sie waren in Josettes Zimmer; die Pudel leckten einander. Wie 222
immer standen sechs oder sieben halb ausgepackte Koffer herum. Ein Bügeleisen, das sie offenbar regelmäßig abzustellen vergaß, hatte schon mehrere Löcher in den Boden, in einen Tisch und in verschiedene Decken gebrannt. «Morgen kommt Eros. Er wird seinen Onkel wenigstens mit ein bißchen Musik erfreuen», sagte Josette. Eros sollte mit Delly, seiner Englisch-Schülerin, kommen, einem lieben, sehr reichen Mädchen. Aber in gewisser Hinsicht kam er zu spät. Denn Josette hatte die beiden Fenster im Zimmer des Onkels die ganze Nacht weit offen gelassen, was bei dem hinfälligen alten Mann zu einer schweren Bronchitis geführt hatte. Als Eros eintraf, war sein Onkel nicht mehr in der Lage, Musik zu hören oder Besuch zu empfangen. Bei Melinda, die schon früh an den Strand gegangen war, um die Morgensonne und den Anblick von Octavians goldbraunem Körper zu genießen, erschien gegen Mittag das Mädchen Delly: eine wasserstoffblonde Lockenpracht, frisch vom Friseur. Sorgfältig geschminkte Augen. Blasser Lippenstift. Bikini, Tasche, Schuhe, Schleifen und Uhrarmband — alles blau geblümt. Delly fing sofort an, über Josette und Eros zu reden, wobei sie am Ende jedes Satzes einen seltsamen Schmatzlaut von sich gab. Melinda ermunterte sie weiterzusprechen. «Eine Wahnsinnsangelegenheit», sagte Delly, «ein Durcheinander und ein Dreck. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für ein Zimmer sie mir und den Kindern gegeben haben. Und dann diese Dienerschaft, die einem alles stiehlt. Kein Wunder, daß sie stehlen, wo sie so schlecht bezahlt werden und kein Mensch auf sie aufpaßt.» «Sind Sie zum erstenmal hier?» «Nein, ich komme oft hierher. Eros und ich sind dicke Freunde; und Eros gibt mir und meinen Kindern Englisch-Unterricht. Und Sie wissen ja, wie es in Italien ist — als Frau kann man nirgends allein hingehen. Darum begleitet mich Eros ständig. Aber auch bei Eros kann man verrückt werden. Stellen Sie sich bitte vor, er pumpt mich dauernd an. Heute hat Josette mir sogar kurz entschlossen die Metzgerrechnung in die Hand gedrückt.» «Bezahlen Sie die bloß nicht.» Delly ordnete die Locken auf ihrem Kopf und fuhr sich mit dem Lippenstift über die Lippen. « Josette hat mich gebeten, ihr zoo 000 Lire zu leihen. Es war das erste, was sie getan hat. Was soll man da machen? Ich habe sie ihr 223
gegeben. Aber ich werde sie nie wiedersehen. Und wissen Sie, Eros ist ein Opfer von Josette. Eine schreckliche Person. Er kann sie sich einfach nicht vom Leibe halten.» «Tatsächlich?» Delly brannte darauf, ihr noch mehr unglaubliche Geschichten zu erzählen. Wieder zog sie sich die Lippen nach. Melinda dachte an das lange und wenig ansprechende Gesicht von Eros. Merkwürdig, daß er nach Jahren bei Josette und den Hunden doch noch so etwas wie einen sexuellen Trieb zu haben schien. In diesem Augenblick tauchte Eros auf, frisch geschniegelt und gestriegelt. Ordentlich geschnittenes Haar, ein blauseidener Kimono und eine rote Badehose. Sogar richtig gepflegt: mit sauberen Fingernägeln, als käme er eben von der Maniküre. « Josette hat wieder einen Kühlschrank gekauft», verkündete er. «Aber wieso denn?» protestierte Delly. «Es sind doch schon drei im Haus.» «Ja, aber sie hat trotzdem noch einen gekauft. Mit dem Geld, das du ihr heute früh geliehen hast.» «Sehen Sie?» sagte Delly zu Melinda. «Der reinste Wahnsinn. Und dann sagt sie, sie hätte nicht genug Geld, um die Dienstboten zu bezahlen, Essen zu kaufen, ihre Paradentose behandeln zu lassen ...» «Schon gut, das wissen wir doch», unterbrach sie Eros. «Wie geht es Spencer?» fragte Melinda. «Schlecht. Anscheinend stirbt er.» «Ich gehe nicht ins Wasser, sonst muß ich gleich wieder zum Friseur», sagte Delly und fuhr sich wieder mit dem Stift über die Lippen. Octavian war in einer Grotte verschwunden. Wer weiß, was der schöne Junge dort so allein trieb. «Da kommen die De Marinos mit Kind und Kegt1.» «Wer sind die denn?» «Kommen sie etwa hierher? Zu den Felsen?» jammerte Delly. «Der Drogist. Wir schulden ihm dermaßen viel Geld, daß wir ihn nicht fortschicken können», erklärte Eros und schaute Delly hoffnungsvoll an. «Wenn nur nicht wieder das Theater vom letzten Mal losgeht», sagte Delly. «Damals konnte man vor lauter Leuten überhaupt nicht bis zu den Felsen kommen. Die Familie des Anwalts, Freunde, die 224
auf der Durchreise waren, Feunde von Freunden. Und wer bin ich? Es kommt noch so weit, daß ich keinen Fuß mehr in dieses Haus setze.» «Sag das doch Josette.» «Sag du es doch Josette. Denn wenn ich ihr keine Miete mehr zahle und ihr nichts mehr pumpe, wo will sie dann das Geld für den fünften Kühlschrank hernehmen?» Das alles war recht peinlich, und Melinda stürzte sich darum ins Wasser. Octavian war auf einem Felsen unmittelbar vor der Bucht eingeschlafen. Er war bildschön, der reinste Botticelli, ein junger Meergott. Sie hätte ihn nicht wecken sollen. «Octavian, was machst du, wenn Spencer stirbt?» «Was sagst du?» «Heute hast du frei, nicht wahr? Du brauchst doch nicht vorzulesen?» «Nein.» «Dann laß uns heute nachmittag zusammen fortfahren.» «Nein, heute nachmittag kommt doch die Gräfin. Ich möchte sie kennenlernen.» So ein kleiner Snob. «Aber ich bin doch besser als die Gräfin.» «Was hat das damit zu tun, Melinda? Ich bin einfach neugierig auf sie.» «Und woher weißt du, daß die Gräfin heute kommt?» «Weil Josette sie angerufen hat, um ihr zu sagen, daß ihr Vetter schwerkrank ist. Weißt du, daß sie alles erbt?» «Der Besitz gehört ihr schon jetzt. Sie unterhält doch alle.» «Unterhält sie auch Eros und Josette?» «Bis Delly auftauchte, ja.» « Wer ist Delly eigentlich?» «Hast du sie noch nicht gesehen? Ein Püppchen mit rosa Lippenstift, das Eros unterhält.» «Seine Geliebte?» Seine Geliebte. Seinege Liebte. Sei Negeliebte. So ein Unsinn. «Und was folgerst du daraus? Wenn sie ihn unterhält und sie zusammen leben und sich füreinander schön machen, zu welchem Schluß kommst du dann?» «Du willst mich wohl für dumm verkaufen?» «Aber nein, Schatz, ich will dich gar nicht für dumm verkaufen.» Er war so schön und glich ihr so sehr. Melinda war noch ein biß2 25
chen feucht, und Octavian war sonnenwarm. Er war über ihr und rieb sich an ihren Schenkeln. «Ich will nicht mit einer verheirateten Frau schlafen. Das habe ich geschworen.» «Wem denn?» «Mir. Das geht gegen meine moralischen Grundsätze.» Wie albern. Außerdem war es genau umgekehrt. Ein Verhältnis hatte man gerade mit einer verheirateten Frau. Octavian versuchte flüchtig, in sie einzudringen, aber vielleicht war er wirklich impotent. Melinda küßte ihn. Octavian gehörte zu den wenigen Menschen, die sie gern küßte. Es war zwei, und Eros und Delly waren von der Bildfläche verschwunden. Melinda ging mit triefendem Bikini die Steinstufen hinauf und auf ihr Haus zu. Eine schwarze Limousine mit grauen Gardinen vor den Fenstern und einem makellosen Chauffeur fuhr den Weg entlang, der zur großen Villa führte. Die Gräfin, dachte Melinda. Der Limousine folgte ein riesiger roter Lastwagen mit einem gewaltigen Kühlschrank darauf. Wie der Blitz stand Josette plötzlich neben ihr. «Die Gräfin. Die Gräfin ist da. Hat sie dich etwa im Bikini gesehen? In dieser Aufmachung? Und so unfrisiert?» Als ob Josette nicht ständig unfrisiert wäre. Große Aufregung. «... die Gräfin, und das ganze Haus in Unordnung. Ich muß sie zum Abendessen einladen. Ich habe fast nichts im Haus ... Kannst du mir etwas leihen? Ein Stück Braten? Ein bißchen Salat? Und eine Flasche Whisky? Könntest du einen Diener rüberschicken, damit er ein bißchen putzt? Und wenn dein Gärtner die drei wackeligen Sessel in Ordnung bringen könnte ...» «Aber Josette, die Gräfin ist doch schon da. Das Haus ist verwahrlost. Das läßt sich nun einmal nicht verheimlichen.» «Ich bitte dich ... Braten ... Salat ... Wein ... Möchtest du auch zum Abendessen kommen?» «Danke, sehr freundlich.» «Aber Delly nicht. Die ist zu ordinär. Ich habe Eros gesagt, er soll heute abend mit ihr ausgehen. Wir sind also nur zu dritt.» «Wie geht es Spencer?» «Gut, gut. Er hat schon etwas gesprochen. Jetzt muß ich aber gehen.» 226
Bekümmert verschwand sie in dem Staub, den die schwarze Limousine und der Lastwagen aufgewirbelt hatten. Melinda schickte die Lebensmittel hinüber und erschien um acht zum Essen. «Sie müssen mich entschuldigen», sagte die Gräfin und reichte Melinda ihre harte, hagere Hand. «Ich kann nicht zum Abendessen bleiben. Ich habe von Ihnen gehört, darum habe ich auf Sie gewartet.» Sie war lang, dürr und ganz in Schwarz. «Ich danke Ihnen.» Der Gedanke, allein mit Josette essen zu müssen, erfüllte Melinda mit Schrecken. «Meinem Vetter geht es ausgezeichnet», sagte die Gräfin und schaute haßerfüllt zur Küche (dem ehemaligen Bad) hinüber, wohin Josette sich geflüchtet hatte, um das Essen anzurichten. « Josette hatte mir gesagt, Spencer läge im Koma. Dabei hat mir mein Vetter sogar einen Packen sehr wichtiger Dokumente übergeben.» «Was für Dokumente?» «Briefe. Vom literarischen Standpunkt aus faszinierend und sehr, sehr wichtig.» «Ich würde sie gern sehen.» «Im Moment hat Josette sie. Sie liest sie beim Kochen, ehe ich sie mitnehme.» «Sind es Briefe von Schriftstellern?» « Ja, eine Art Gedankenaustausch.» Josette erschien mit tiefbetrübtem Gesicht. «Der Braten ist vollständig verbrannt.» «Schon wieder?» fragte die Gräfin. Melinda sagte sich sofort, daß das ein wunderbarer Vorwand war, nicht mit Josette zusammen zu essen. «Aber ich könnte etwas Rührei machen.» «Ich begreife nicht, liebe Josette, warum du trotz all deinen Dienstboten immer selbst kochen mußt», sagte die Gräfin. Josette hatte sich stets ihrer kulinarischen Fähigkeiten gerühmt. « Wir könnten Salat mit Eiern machen», sagte sie und ging in die Küche (das ehemalige Bad) zurück. Diesmal ertönte ein Entsetzensschrei. «Was ist, Josette? Ist der Salat auch verbrannt?» «Die Briefe ...» stammelte Josette. Die Gräfin erhob sich flammenden Blickes. «Was ist mit den Briefen?» 227
«Sie sind, sie sind ...» «Was?» «Ins Wasser gefallen.» Die Gräfin verschwand in der Küche. «Das kann doch nicht sein ... das kann doch nicht ...» Die Briefe hatten sich in einen formlosen Brei verwandelt. Anscheinend waren sie in kochendes Wasser gefallen. Tiefempört, aber selbst in ihrem Haß noch ganz große Dame, schritt die Gräfin die Treppe hinunter, stieg in ihre Limousine und verschwand in der Nacht. «Geh doch mit Eros und Delly essen», schlug Melinda vor. «Weißt du, wohin sie gegangen sind?» «In ein Restaurant in der Stadt.» «Nun ja, ich gehe jetzt jedenfalls ins Bett.» Sie unterließ es, <mit Octavian> hinzuzufügen. «Und an deiner Stelle ...» «Aber ich kann doch Spencer nicht allein lassen. Der Pfleger ist noch nicht gekommen.» «Robin ist doch da?» «Nein, Robin ist mit Eros und Delly fortgefahren.» So ein Schuft. «Dann esse ich mit ihnen», sagte Melinda. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr los. Die Nacht verbrachte sie mit Octavian; sie hatte zumindest den Trost, einen schönen, schlafenden Körper neben sich zu haben. Amerigo störte sie mit seinen Telefonanrufen. «Warum schreibst du nicht?» «Weil ich nichts zu erzählen habe.» «Was machst du?» «Ich bade jeden Tag.» «Wie geht es dir?» «Gut.» «Hast du jemanden gefunden?» «Ja, sicher.» «Ich meine einen Mann.» «Du bist lächerlich mit deiner Eifersucht.» Melinda legte den Hörer auf. Tiefe Stille im Haus. Wie immer Hundepipi auf dem Marmorboden in der Halle. Auf dem Sofa ein Durcheinander von Büchern und Zeitschriften. Melinda ging zu den Felsen hinunter, aber Octavian war nicht da. Sie schlief ein. 228
«Es tut mir leid, daß ich dich wecke», sagte Delly. Ihr Badeanzug, ihre Tasche, ihre Pantoletten und ihr Strandhut waren violett geblümt. «Ich muß mich einfach aussprechen. Weißt du, daß sie mich schon wieder angepumpt haben?» «Unglaublich», sagte Melinda im Halbschlaf. «Und dabei haben sie mich nicht einmal der Gräfin vorgestellt. Als ob ich nicht die Säule des ganzen Hauses wäre. Weshalb genieren sie sich eigentlich? Ich bin schließlich nicht Eros' Geliebte. Das hätte gerade noch gefehlt!» Der gewohnte Schmatzlaut. «Ich bin bei der Masseuse gewesen. Und habe mir das Haar legen lassen. Wie findest du es?» « Warst du nicht gestern erst beim Friseur?» «Ich muß jeden Tag zum Friseur, sonst sehe ich verheerend aus. Er hat mich ein bißchen anders frisiert. Diese Wellen hier zur Stirn hin. Gefällt es dir?» Melinda schlief wieder ein; sie hatte in der letzten Nacht nicht viel geschlafen. Jetzt weckte sie Josette. «Melinda, komm bitte sofort.» «Was ist denn los?» «Mein Onkel ist gestorben.» Einen kurzen Augenblick lang empfand Melinda so etwas wie Bedauern. « Wann ist er gestorben?» « Während wir beim Essen saßen.» «Wie spät ist es?» Es war zwei Uhr. «Als ich aus dem Zimmer ging, war er ganz ruhig, es ging ihm gut, und er hatte sogar gesprochen. Und als ich zurückkam, atmete er nicht mehr. Komm.» «Wozu denn?» «Du kannst doch nicht im Badeanzug bleiben, wenn im Haus ein Toter liegt.» Warum eigentlich nicht? Aber das sprach sie nicht aus. «Wir müssen ihn ankleiden und das Zimmer herrichten und für Blumen und eine Totenwache sorgen. Kannst du heute nacht bei ihm bleiben?» «Die ganze Nacht? Bei der Leiche? Warum denn?» «Das ist so üblich.» «Wo?» 229
«Bei uns in Irland. In katholischen Ländern.» «Tatsächlich?» «Aber sicher.» «Paß auf, ich helfe dir bei den Blumen. Aber vor Toten habe ich einen wahren Horror. Ich bin schließlich keine Irin und auch keine Katholikin.» Melinda folgte Josette ins Haus. Plötzlich hatte die große Villa ihren Zauber verloren. Mit Spencer waren die Geister der Lady Evil, der Gräfin und sogar die von Eros und Josette gestorben. Sie pflückte ein paar Bougainvillea-Zweige und hängte sich auf der Suche nach einem Blumenhändler ans Telefon. Sie sprach auch mit mehreren, aber keiner wollte ohne Vorauszahlung Blumen schicken. Der Name hatte in den Ohren der Gläubiger keinen guten Klang. Eros und Delly waren vor kurzem zu einem Ausflug aufgebrochen; sie kämen erst in zwei Tagen zurück, hatte Josette gesagt. Die Gräfin hatte wissen lassen, sie werde an der Beerdigung teilnehmen, sehe aber keine Veranlassung, noch einmal in die Villa zu kommen. «Er hat ein Testament hinterlassen», sagte Josette schluchzend. «Ich habe ihn so lieb gehabt. Was mach ich jetzt nur ohne ihn? Und wo geh ich hin? Ich hab kein Zuhause mehr. Mein Onkel. Ich war der einzige Mensch, den er hatte. Ich war sein ein und alles. Als er starb, war ich bei ihm, und er sagte mir: < Josette, ich muß jetzt gehen.> Er war bis zum letzten Augenblick vollständig bei sich.» Schon gab es mehrere phantasievolle Versionen. Die vom Nachmittag lautete, wenn Melinda sich recht erinnerte, daß Josette ihn tot in seinem Zimmer aufgefunden hatte. Gestorben, während sie beim Essen saß. «Er möchte eingeäschert werden ... Als ob das in Italien so einfach wäre ... Und seine Asche soll, zusammen mit der von Lady Evil, im Garten verstreut werden. Und ich soll ihm Lady Evils Ring an den Finger stecken. Ich habe ihn angekleidet, alles schön ordentlich, und jetzt liegt er ganz allein in seinem Zimmer. Er sieht aus, als ob er noch lebte. Geh doch ein bißchen zu ihm.» Sie schubste Melinda zu Spencers Zimmer hinüber. Die Fenster standen weit offen, und Spencer lag, schon im Sarg, mit einem bestickten und vielfach gestopften Leintuch bedeckt. Auf dem Boden, zu Füßen des Sargs, Lady Evils Asche. Die Hunde kamen und liefen wieder davon und leckten ab und zu an der Kassette. Eine Uhr schlug alle Viertelstunde, und draußen rauschte das Meer. 230
An den Wänden hingen Aquarelle aus der Zeit der Königin Victoria, Fotografien von Freunden und von Spencer in seiner Jugend. Mit seinem entspannten Gesicht sah Spencer genau wie zu Lebzeiten aus. Melinda hatte tatsächlich einen Horror vor dem Tod. Nur möglichst bald abreisen. Der Wind wurde im Laufe der Nacht immer heftiger. Er drang durch die Fenster, wirbelte Zeitungen auf, riß Fetzen von den Vorhängen, verwüstete das Blumenarrangement auf dem Toten. Melinda verließ das Zimmer. Sie wollte Octavian suchen. Statt dessen stieß sie auf einen protestantischen Pfarrer, der mit seiner Familie in einem riesigen Wohnwagen gekommen war und sich vor dem Eingang der Villa niedergelassen hatte. In diesem Augenblick stellte er gerade die Liegen auf und machte sich eine Tasse Tee. « Want a cup of tea?»
Wie ärgerlich. Ein Toter im Haus, Octavian unauffindbar, der aufkommende Sturm und der Zugang zum Haus vom Wohnwagen eines protestantischen Pfarrers versperrt. «Wer sind Sie?» fragte Melinda streng. «Frau Josette hat uns eingeladen. Auf dem Campingplatz wurden meine Töchter belästigt.» Melinda warf einen Blick auf die Töchter. Ausgeschlossen. «Inwiefern belästigt?» «Sie wissen doch, wie die Italiener sind ...» «Nein, ich kenne nämlich fast keine Italiener. Wie, inwiefern haben sie Ihre Töchter belästigt?» «Sie liefen ihnen nach und faßten sie sogar an ...» Die peinliche Beschreibung wurde dadurch unterbrochen, daß ein kleiner Junge mit einer Brille erschien, der sich an seine Mutter klammerte. Er mußte etwa fünf Jahre alt sein, und Melinda tadelte im stillen, daß er zu dieser Stunde noch nicht im Bett lag. «Wie alt ist der Kleine?» «Achtzehn», sagte die Pfarrersfrau. Und traurig fügte sie ganz überflüssigerweise hinzu: «Er ist ein Spätentwickler. Wissen Sie, wo Josette ist?» «Wahrscheinlich bei dem Toten.» «Wer ist denn gestorben?» «Der alte Spencer.» « Wie schrecklich ... Dann sind wir zu spät gekommen ... ohne geistlichen Trost ...» 231
Der arme Spencer hätte einen weniger friedlichen Tod gehabt, dachte Melinda, wenn er noch etwas von dem Pfarrer im Wohnwagen vor seinem Haus erfahren hätte. «Spencer war kein frommer Mann. Nun, dann gute Nacht. Ich gehe zu Bett. Heute nacht wird es ein Unwetter geben.» Es gab ein entsetzliches Unwetter. Blitze schlugen in die Bäume ein, und der Donner krachte wie Bomben. Die Kindermädchen regten sich auf, und die Kinder wurden wach; nur Melinda schlief friedlich wie ein Engel und wachte am Morgen frisch und ausgeruht auf. «Amerigo? Ja, er ist gestorben. Schade ... Wenn du kommen willst ... wie du willst ... heute abend?» «Sag Josette, wann willst du dich um die Einäscherung und die Trauerfeier kümmern? Auch wenn es kalt ist und stürmt, ist Eile geboten. Du siehst so müde aus. Soll ich es für dich tun? Hast du gar nicht geschlafen? Warum denn nicht?» Sie will den Leichnam nicht fortgeben, das ist klar. Wenn die Leiche fort ist, hat sie nichts mehr zu tun und weiß nicht wohin. Melinda ging zu den Felsen hinunter. Tatsächlich war Octavian dort. Er hatte eine kurze Hose und ein rotes Flanellhemd an. Der Sturm tobte noch immer über der Bucht. «Komm rüber und schau dir das an», sagte Octavian und nahm sie an der Hand. «Wo warst du denn gestern abend?» «Aus. Aber komm doch und sieh mal.» «Das hättest du mir sagen können. Ich habe mich so einsam gefühlt.» «Komm.» Er führte sie zu der Grotte, die unmittelbar unter dem Haus tief in den Berg hineinführte. «Sieh mal, da ist wieder ein Stück runtergebrochen.» «Meinst du, das Haus wird ins Meer stürzen?» «Nein, jedenfalls nicht im Lauf der nächsten fünfzig Jahre. Aber solche Stürme brechen Tonnen von Gestein herunter.» «Heute nacht wird es weiterstürmen.» «Im Radio haben sie gesagt, daß die Autostrada unter Wasser steht und daß fast alle Straßen nach Rom blockiert sind.» «Das wird für Amerigo eine mühsame Reise werden.» «Kommt dein Mann?» « Ja, heute abend, wenn er nicht unterwegs fortgeschwemmt wird.» 232
«So etwas solltest du von deinem Mann nicht sagen.» «Hast du schon den Pfarrer mit dem idiotischen Sohn gesehen?» «Die Armen. Sie konnten heute nacht überhaupt nicht schlafen, weil es in ihrem Wohnwagen durchgeregnet hat.» «Ich habe glänzend geschlafen. Hast du die Nacht bei dem Toten verbracht?» «Wie hast du das erraten?» «Und hast du mit Josette wegen der Leiche gesprochen?» «Nein.» «Aber jemand muß jetzt Entschlüsse fassen.» « Was geht dich das an?» «Ich will nicht, daß die Leiche ewig in der Villa bleibt.» «Du wohnst doch im kleinen Haus.» «Ich möchte, daß sie aus dem Haus kommt, ehe sie in Verwesung übergeht.» «Aber das wird allem Anschein nach nicht geschehen. Josette will die Leiche behalten.» Dumm war Octavian nicht. Das rote Hemd vor der Grotte, die Reflexe des Wassers auf seinem Gesicht, seine schönen braunen Beine im Wasser. «Komm.» «Nein, hör mal, heute abend kommt doch dein Mann.» «Na und?» «Willst du, daß es so weitergeht?» « Weitergeht? Was denn?» «Mit uns beiden?» «Wir haben doch noch gar nicht angefangen.» Sie wollte ihn demütigen. Die Hunde und ihr Gestank: Josette war im Anmarsch. «Ich bin so müde, ich kann weder essen noch schlafen. Wenn nur die Sonne ein bißchen schiene. Ich bin halbtot.» «Josette, hast du beim Krematorium angerufen?» «Nein, der Amtsarzt ist noch nicht dagewesen. Wir müssen warten, bis der Amtsarzt die Leiche beschaut hat.» «Dann bestell doch inzwischen wenigstens einen Leichenwagen.» «Nein, wir müssen warten.» «Wann kommt Eros zurück?» fragte Octavian. Josette blickte ihn erstaunt an. Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, daß zwischen den beiden möglicherweise etwas Unpassendes im Gange war. 233
«Wann kommt dein Mann?» fragte sie Melinda. «Heute abend, und deiner?» «Ich weiß nicht. Ich glaube morgen.» Amerigo kam noch am gleichen Abend an, völlig erschöpft. Melinda machte gerade mit Octavian einen kleinen Spaziergang und begegnete ihm bei den Felsen. «Ich hätte nicht gedacht, daß du es bei diesem Zustand der Straße schaffst. Wie geht es dir? Heute abend wird hier die Hölle los sein. Noch viel schlimmer als gestern. Das ist Robin — mein Mann.» «Ich habe dir viel zu erzählen. Dantinis haben eine kleine Party gegeben, sterbenslangweilig, kann ich dir sagen, aber dabei zugleich so lächerlich, daß es sich gelohnt hat, dabeigewesen zu sein. Esposito hat die ganze Nacht nur von dir geredet, und Helen war auch da, sie hat getobt vor Wut, weil du in Florenz angeblich so getan hast, als wärst du sie. Ich habe nicht ganz verstanden, was sie meinte ...» Am Abend: «Du, es gibt leider keine andere Möglichkeit. Wir müssen in einem Bett schlafen.» «Fandest du es eigentlich richtig, in meiner Gegenwart mit diesem Jüngelchen ...» «Laß mal, der hat auch dir gefallen.» «Hör auf.» «Du hast ihm doch den Hof gemacht. Hast du nicht gesehen, wie verlegen er war? Gefällt dir der Sarg?» «Du sollst das nicht tun.» «Spiel hier bloß nicht den latin lover, den nimmt dir doch keiner ab.» «Ich habe dir gesagt, daß ich eifersüchtig bin.» «Und ich habe dir gesagt, daß mir das nicht paßt.» «Warum bleibst du eigentlich in diesem lächerlichen Haus? Die Leiche bleibt so oder so auf ewig hier, das ist doch klar.» In der folgenden Nacht schien die Welt unterzugehen. Es donnerte, blitzte und krachte. Und am Morgen darauf schien endlich die Sonne wieder. Amerigo und Melinda gingen im Badeanzug zu den Felsen hinunter. Mein Gott, der armen Pfarrersfamilie mußte jetzt zumute sein wie den Leuten nach dem Bergsturz von Longarone. «Die Stimmung hier ist ja alles andere als fröhlich.» 234
«Laß uns morgen abreisen», sagte Melinda zu Amerigo. «Außerdem werden wir sowieso in Irland erwartet.» Eros, Delly und Octavian saßen beieinander; keiner von ihnen war im Badeanzug, und Delly trug weniger Schleifen und Rüschen als sonst. «Wie schrecklich ...» sagte Eros immer wieder, «wie schrecklich.» «Aber sieh mal, für den Alten ist es doch das beste, daß er nun endlich gestorben ist.» Sie taten, als verstünden sie sie nicht; und doch hatte sie recht. «Eros, du mußt etwas wegen der Trauerfeier unternehmen», sagte Melinda. «Wir haben gerade darüber gesprochen. Mein Onkel wollte verbrannt werden, und seine Asche soll zusammen mit der von Lady Evil ...» «Ja, das weiß ich, aber irgendwer muß sich darum kümmern.» «Das ist aber so schwierig.» «Wie schrecklich», fing Delly wieder an und malte sich die Lippen nach. «Es muß schon wieder ein Stück runtergebrochen sein», sagte Octavian, aber niemand hörte auf ihn. «Ein Anruf aus London für Melinda», sagte Josettes Stimme, «Herr van der Belt.» Sowohl Amerigo als auch Octavian nahmen das übel auf. Melinda lief zum Telefon. «Wie hast du mich denn gefunden?» «Ich glaube durch deinen Vater, aber ich bin nicht sicher. Ich habe ihn neulich bei einer Party getroffen. Er hat mir erzählt, daß du so glücklich bist.» (Bravo, Papa!) «Warum hast du nicht auf meinen Brief geantwortet?» «Ich freue mich, daß du mich anrufst.» Seine Stimme klang fern, ein wenig schwach und alt. Aber sie war doch ein bißchen gerührt, ihn nach so langer Zeit wiederzuhören. «Kommst du also?» « Wohin?» «Nach Lausanne.» «Das ließe sich vielleicht einrichten. Aber warum nach Lausanne? Es gibt doch erfreulichere Orte. Zum Beispiel Madrid. Oder Paris. Außerdem muß ich vorsichtig sein, mein neuer Mann ist eifersüchtig.»
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«Ich bin für Lausanne, weil ich meinen Bruder in Chateau-d'Oex besuchen muß.» Er blieb doch immer derselbe. Er wollte sie sehen, aber ohne große Anstrengungen, und natürlich wollte er die Reise mit seinen Familienverpflichtungen verbinden. «Welchen Bruder?» Es war stärker als sie, beinahe ein Pawlowscher Reflex. «Hör mal, nein. Ich fahre morgen nach Irland.» «Fahr doch über Lausanne.» «Unwahrscheinlich.» «Und was hast du dann vor?» «Noch nichts Bestimmtes, aber alles mögliche.» (Warum sollte sie etwas vorhaben? Warum wollten die Leute immer im voraus wissen, was man tat?) «Bist du in deinen Mann verliebt?» «Nein, aber in einen Geliebten.» Das stimmte nicht. Sie war weder verliebt, noch hatte sie einen Geliebten. Warum wollte sie ihn reizen? Was lag ihr daran? «Ich muß dich sehen. Du fehlst mir so. Bitte, komm nach Lausanne.» Ja, sicher. «Hör mal, ich telegrafiere dir aus Irland. Ich werde kommen.» «Ich bin selig.» «überlegst du es dir dann auch nicht wieder anders?» «Was sagst du? Ich? Bist du denn verrückt?» Sie war glücklich, sie strahlte geradezu. Octavian mit seinem Flanellhemdchen und seinem Impotentengesicht langweilte sie plötzlich. Auch er war homosexuell. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht ...? Na schön, das war nun vorbei. Sie beschloß, sofort zu packen. «Adieu, Josette, und paß mir gut auf die Leiche auf. Ciao, Robin, und sei hübsch fleißig.» Sie kam sich vor wie eine weise Matrone. Ein Lastwagen fuhr mit dem Gepäck voraus. Amerigo und Melinda folgten im Auto. Die Sonne brannte heiß. Nach dem Unwetter regte sich jetzt kein Lüftchen mehr. Plötzlich hörte man ein entsetzliches Krachen. Erst ein Grollen, dann einen Augenblick Stille, und dann ein schreckliches Poltern, das fast eine Viertelstunde anhielt. Amerigo stellte den Motor ab. 236
Nach der ersten Biegung der Landstraße sahen sie, was sie befürchtet, aber nicht zu denken gewagt hatten: die Grotte war eingestürzt. Die Villa Spencer und ihre Bewohner waren im Mittelmeer verschwunden. Ihren ersten Hochzeitstag — nach einem Monat Ehe — verbrachten sie in Paris. Lisanor gab zur Eröffnung der Surrealistenausstellung in der Rue du Bac eine große Party. Es regnete, und Melinda fand Paris abscheulich, vor allem jetzt, nachdem es von Hochtensteils ehemaligem Patienten so gründlich saubergemacht worden war (möglicherweise eine Folge der Analyse?). Sie verbrachte die Tage in Boutiquen: Lanvin (ein schottisch karierter Mantel mit roten und grünen Federn), Cardin (ein Röckchen aus Tweed und Leder), Dior (ein hochelegantes Kleid mit lauter Spitzeninkrustationen). Die Ausstellung war amüsant, phantasievoll aufgebaut — ein finsterer Raum, der in den anderen überging — und voller Überraschungen. Schwarze Spiegel, durch die man, wenn man auf einen Knopf drückte, Vitrinen mit Mäusen auf kaputten Trommeln sah. Bilder von Füßli und Gustave Moreau, Ideensplitter, ein Rundbogen, der von einem Holzbein getragen wurde, und eine riesige Sprechmaschine, die dauernd «Piep, piep, piep» sagte. Und gleich darauf die Party. Es war nicht nur Melindas und Amerigos Hochzeitstag, sondern auch de Sades Todestag, und einige der Gäste kamen in Verkleidungen. «Lisanor, das ist ja wunderbar ...» Fackeln, ägyptische Diener mit nackter Brust, Katzen. Gegen zwei erschien de Sade in eigener Person. Er trug eine Doppelmaske aus grauem Gummi mit Glasaugen und einen hohen Kragen aus Kreuzen und Gräbern. Sein Zepter war von einem Skarabäus aus Spinnweben gekrönt. Schwarze Handschuhe mit einem Kreuz auf dem Rücken, graue Ketten und Folterwerkzeuge. Von der Brust hing ihm ein enormer grauer Penis herab, und an der Stelle des Penis trug er eine dicke Kette. In all dem Gummi wirkte der Mann gewaltig und riesengroß. «Ihm muß doch entsetzlich heiß sein.» «Der arme Andre. Wir wollen noch einen Augenblick warten, ehe wir ihn befreien. Er ist so nekrophilistisch schön.» Am Tag darauf flogen sie nach Belfast. Natürlich regnete es, wie sich das für Irland gehört. Aber Erikson Hoover hatte einen Wagen zum Flugplatz geschickt, um sie abzuholen. 237
«Ich sehe sofort, daß Irland genau wie Schottland ist und daß sich die Reise nicht gelohnt hat», sagte Amerigo zutiefst empört. «Warte noch einen Augenblick, dann siehst du Erikson und seinen Hofstaat. Außerdem wirst du Medoro kennenlernen.» «Wie ist er denn?» «Schön. Du wirst dich sofort in ihn verlieben.» Sie passierten den Zoll zwischen dem englischen Irland und dem Freistaat. Der Chauffeur stieg im Regen aus und legte einem Polizisten die Papiere vor. «Madam, ich möchte Ihnen jetzt schon empfehlen, nicht an einem Sonntag zurückzufahren. Sonntags ist der Zoll geschlossen.» « Was heißt geschlossen?» «Sonntags kann niemand die Grenze passieren.» Man hatte sie gewarnt: Irland sei eine andere Welt, und die ausgefallensten Dinge seien hier normal. Sie fuhren weiter. Es war nicht mehr so neblig, aber es regnete nach wie vor. «Wie sind wir nur darauf gekommen, hierher zu fahren?» «Erzähl mir von Hoover.» «Amerikaner. Steinreich. Ein neogotisches Schloß mit äsenden Hirschen, Forellen, die in den Bächen springen, und zahllosen Rhododendren. Ganz wie es sein muß.» «Und wann hat er dieses Schloß gekauft?» «Ich glaube, nach dem Krieg, aber ich bin nicht ganz sicher.» Auf dem Flugplatz von Belfast hatte Melinda sich nach Flügen nach Lausanne erkundigt. Aber wie brachte sie Amerigo dazu, allein nach Mailand zurückzufliegen? Eine Scheidung nach einem Monat Ehe kam ihr doch etwas unseriös vor. Sie fuhren nach Londonderry. Schrecklich. Nach Donegal hin wurde die Landschaft ein wenig freundlicher. Dann das Meer. Die Steilküste war eindrucksvoll und das Wasser tiefschwarz. Die Privatstraße, die zu Schloß Holy Trinity führte, schlängelte sich zwischen Höhen hindurch (Gruppen äsender Hirsche, flüchtende Schafe, aufgescheuchte Rebhühner). Ein romantischer See. Und über dem See Holy Trinity. Amerigo und Melinda hatten getrennte Zimmer. Das von Melinda lag auf der Seeseite und war mit einem Wollstoff in Schottenmuster ausgeschlagen. Erikson war auf der Jagd, sagte das Mädchen, das Melindas Koffer auspackte. «Ja, ich weiß, sie sind schlecht gepackt. Aber die Kleider müssen sowieso aufgebügelt werden.» 238
«Was ziehen Sie heute abend an, gnädige Frau?» Melinda zeigte auf ein Kleid. «Sonst stellt Herr Hoover den Gästen auch Tiroler Kostüme zur Verfügung.» «Soll das heißen, daß die Damen im Dirndl erscheinen?» Melinda entschied sich für das Kleid, das sie bei Lanvin gekauft hatte. Ein großer Campari mit Eis nebst einer Flasche Soda wurde von einem als Österreicher verkleideten Kelten hereingebracht. «Herr Medoro Publishing würde Sie gern sehen», sagte er mit stark irischem Akzent. «Sofort. Gleich. Er soll hereinkommen. Führen Sie ihn herein.» Sie bürstete sich die Haare und zog einen Morgenrock über. «Medor00000.» Sie hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Irgendwie hatte er sich verändert, dachte Melinda, er kam ihr kleiner und zierlicher vor, aber nicht mehr so hübsch. Sie umarmte ihn mit der üblichen Herzlichkeit. «Melinda, meine Liebe ...» Alle nannten sie <Melinda, meine Liebe>. Warum eigentlich? Medoros Umarmung war weniger überschwenglich, weniger herzlich. «Komm, setz dich und erzähl mir.» Medoro schaute sich um. Er war diese weibliche Unordnung mit Büstenhaltern auf dem Tisch, Strümpfen auf dem Teppich und all den herumstehenden Parfumfläschchen und Cremetöpfen nicht mehr gewohnt. « Was soll ich dir erzählen?» «Nun ... Was du gemacht hast, wo du warst und warum du nie schreibst.» «Ich weiß doch nie, wo du gerade bist. Und du? Du heiratest dauernd, und ich weiß nicht einmal, wie ich die Briefe adressieren soll.» «Mach doch keine Witze.» «Das ist mein voller Ernst. Ich erfahre es immer nur aus der Zeitung, wenn du wieder geheiratet hast.» Auch seine Stimme hatte sich verändert. Klangfarben, Akzente, Ausdrücke, die sie von früher nicht kannte. «Habe ich mich verändert?» fragte Medoro. Vielleicht verriet ihr Gesichtsausdruck, was sie gerade gedacht hatte. Jedenfalls merkten die Leute immer, was ihr durch den Kopf ging. « Ja, ziemlich. Und ich?» 23 9
«Unverändert, das muß ich zugeben. Ich habe vergessen, wie alt du bist, aber du siehst immer noch wie siebzehn aus. Aber wahrscheinlich hast du dich doch irgendwie verändert, sonst ...» «Sonst? Was meinst du damit?» «Du bist bitterer oder hysterischer oder zynischer. Jedenfalls nicht mehr so fröhlich wie früher.» «Ich und zynisch? Oder bitter? Ich bin doch überglücklich. Noch nie im Leben so glücklich gewesen. Ehrlich gesagt, ich weiß überhaupt nicht, was Unglücklichsein ist. Ich bin überzeugt, daß die Menschen selbst daran schuld sind, wenn sie sich unglücklich fühlen. Ich bin nie gekränkt, ich werde nie wütend und bin niemals traurig. Wenn die Leute mich schlecht behandeln wollen, komme ich ihnen zuvor oder wende mich anderen Menschen zu. Man darf sich nur nie darum kümmern, was die anderen tun oder denken. Hauptsache, man ist schön und amüsiert sich ständig.» Sie hatte noch nie so viele Sätze hintereinander geredet. «Siehst du, ich brauche dich», sagte Medoro. «Ich bin nämlich ein bißchen schwermütig geworden.» «Das sehe ich.» «Sieht man es mir an?» «Du siehst immer noch glänzend aus, aber nicht mehr so strotzend. Sagt man das so?» «Strotzend ist gut gesagt.» «Ich habe Abraham in Rom gesehen.» «Was macht er?» «Dummheiten natürlich.» «Siehst du? Noch einer, der keine Sorgen hat.» «Aber anderen Sorgen macht.» «Das machst du auch.» «Ich? Wem denn? Ich Arme, ich behellige doch keinen Menschen.» «Das sagst du so.» Es klang etwas vorwurfsvoll. Was wollte dieser Bruder eigentlich von ihr? «Komm, erklär mir das, während ich bade.» Sie zog den Morgenrock aus und begann ihre Strümpfe hinunterzurollen. «Ich weiß nicht, wie du meinen Mann finden wirst», sagte sie und schaute zu ihm hinüber. Er sah sie entsetzt an. «Was ist? Ist dir das etwa unangenehm? Schließlich sind wir doch 240
Geschwister. Was ist denn los? Es ist doch nicht das erste Mal, daß du micA nackt siehst ... Keine Angst, ich will dich nicht verführen. Ich finde es nur nett, wenn du mir Gesellschaft leistest, während ich bade.» «Ich würde mich nicht trauen, dir das zu sagen, wenn ich nicht einen kleinen Schwips hätte, Melinda, aber du bist wirklich ein ziemliches Ungeheuer.» «Sieh da, sieh da, nun ist er also auch nicht mehr mit mir zufrieden. Jetzt mach aber mal einen Punkt. Es gibt Dinge im Leben, die kommen nun einmal vor. Man setzt sich darüber hinweg und fängt wieder von vorn an. Und wenn solche Episoden erst einmal vorbei sind, ist es, als hätte es sie nie gegeben.» «Nicht für alle, Melinda.» «Du willst mir doch nicht etwa weismachen, daß du schwul geworden bist, weil wir ein bißchen zusammen geschlafen haben? Von solchem Quatsch hab ich wirklich genug ... Wenn du lieber mit Jungen schläfst, na schön, dann tu es doch. Nur — was habe ich damit zu tun? Mach nicht so ein entsetztes Gesicht. Ich wollte dich nicht kränken, wirklich nicht. Komm her und gib mir einen Kuß.» Erst in diesem Augenblick wurde ihr bewußt, daß sie so gut wie nackt war. Heute abend ging ihr doch wirklich alles schief. Medoro wäre am liebsten aus dem Zimmer gegangen, aber Melinda gab alle diese Dinge mit einer gewissen Unschuld von sich. Darum brachte er es einfach nicht fertig, häßlich zu ihr zu sein. Im übrigen hätte er doch nur den kürzeren gezogen. « Wovon haben wir gerade gesprochen?» «Von meinem Mann», sagte Melinda und glitt in das parfümierte Badewasser. «Er ist auch homosexuell.» Es muß wirklich ungeheuerlich sein, mit ihr zusammen zu leben, dachte Medoro. Und laut sagte er: «Ich weiß nicht, wie du meinen Mann finden wirst, er ist halb Franzose und halb Spanier.» «Und die königliche Familie? Fotografierst du noch? Und dein Freund? Liebt er dich wirklich?» «Ich glaube, ja. Wir sind schon eine Weile zusammen.» «Wie alt ist er?» «Ein bißchen älter als du und ich.» «Was macht er?» «Er sorgt für mich.» «Das ist recht.» «Und dein Mann?» 241
«Ich sorge für mich und er für sich. Ob das eine Ehe ist, wie sie sein sollte, weiß ich allerdings nicht.» «Aber ihr liebt euch?» Sie sah ihn erstaunt an. Liebte sie Amerigo? «Ich glaube, ja. Ich möchte nur wissen, warum du mir solche Fragen stellst. Vielleicht weil du mein Bruder bist.» «Liebst du überhaupt jemanden?» Liebte sie jemanden? Sie brannte darauf, Anthony wiederzusehen, und sie wollte mit Mark schlafen, und vielleicht wollte sie auch Abraham wiedersehen. «Komm, sprechen wir von etwas anderem.» (Sie liebt also überhaupt niemanden, dachte Medoro.) «... später.» «Was hast du gesagt?» Ganz in Gedanken versunken, hatte er nicht gehört, was Melinda gesagt hatte. «Ich habe gesagt, daß ich mich jetzt anziehe und einen Brief schreiben muß. Wir sehen uns später.» Ein bißchen traurig verließ Medoro das Zimmer. Melinda fand ihn sympathisch und ein wenig alt geworden. Marklieber, Liebermark, Lieber, lieber, lieber, lieber, lieber, lieb, lie, li, 1... Hol mich um zwölf Uhr am Flughafen ab, Flug BE 213. Schreib gleich oder telefoniere. Sie kuschelte sich in ihren Morgenrock und trank ihren Campari. Wieder klopfte es an der Tür. «Wer ist da?» «Graf Santa Cruz Jawlenskij möchte Sie gern in einer Privatangelegenheit sprechen, gnädige Frau.» Santa Cruz Jawlenskij ... überlegte Melinda, nicht daß ich wüßte. Wahrscheinlich ein Freund meines Vaters. An so einen Namen würde ich mich sonst erinnern. Es war tatsächlich nicht möglich, daß sie sich an diesen Namen erinnerte, denn in der Tür erschien, in Tweedjacke und kariertem Flanellhemd, niemand anders als Ostrowskij. Er kam ihr leicht abgemagert vor. «Ostrowskij!» «Liebe Melinda, wenn ich gewußt hätte, daß ich Sie hier antreffe, dann wäre ich nie zu Hoover gekommen.» «Vielen Dank für die Blumen. Sehr freundlich.» 242
«Im Ernst, Melinda, Sie müssen das verstehen. Ich möchte wirklich in der Öffentlichkeit jedes Wort vermeiden, das mit gewissen Dingen in Zusammenhang gebracht werden könnte.» «Ich habe Graf Santa Cruz Jawlenskij in Sankt Moritz kennengelernt. Ist das recht?» «Ausgezeichnet. Das ist alles.» «Trinken Sie einen Campari?» Sie ging zum Tablett. «Nein, danke. Ich muß auf der Stelle verschwinden. Was hat einer, den Sie flüchtig in Sankt Moritz kennengelernt haben, in Ihrem Zimmer zu suchen?» «In mein Zimmer kommen alle, und im übrigen möchte ich mit Ihnen sprechen, Ostrowskij.» «Ein andermal.» «Nein, jetzt.» Sie ging zur Tür und schloß sie ab. «Ich habe eine Schußwaffe bei mir.» «Ich auch.» «Was wollen Sie?» «Ich verlange Erklärungen und Antworten, und vor allem möchte ich wissen, was ich jetzt tun soll und was mein nächster Auftrag sein wird.» «Einen nächsten Auftrag bekommen Sie nicht. Sie haben Ihre Arbeit getan und sind dafür bezahlt worden. Oder etwa nicht?» «Doch. Aber ... aber für Spione hört die Arbeit doch nie auf ...» «Für Sie schon.» «Sind Sie mit mir nicht zufrieden gewesen?» «Außerordentlich zufrieden.» «Und für wen habe ich gearbeitet?» «Für mich.» «Aber für welche Macht?» «Sie haben zu viele Bücher von lan Fleming gelesen.» «Behandeln Sie mich nicht immer wie ein Kind. Warum hat Blamonche Madame Nubytch umgebracht? Und warum bekam ich Auftrag, Blamonche umzubringen? Und warum habe ich die Häschen beseitigt? Und warum den Mann von ...» «Wie abwegig, hier in Irland solchen Phantastereien nachzuhängen. Man ist schließlich hierhergekommen, um seine Freunde zu sehen, spazierenzugehen und gemütlich am Kamin zu sitzen.» «Hören Sie, mir hat es noch nie Spaß gemacht, am Kamin zu sitzen und spazierenzugehen. Ich reise in ein paar Tagen ab, und vorher will ich alles wissen. Haben Sie verstanden?» 24 3
«Sonst?» «Werden Sie es vielleicht noch bereuen.» «Wollen Sie zur Polizei gehen?» «Hören Sie, Ostrowskij, wir wollen uns nicht streiten. Wir haben uns doch immer ganz gut verstanden. Erklären Sie mir alles in wenigen Worten, und ich plage Sie nicht länger.» «Also reine Neugierde.» «Genau. Ich will wissen, für wen ich gearbeitet habe und warum.» «Hat es Ihnen etwa keinen Spaß gemacht?» «Natürlich hat es mir Spaß gemacht.» Es klopfte. «Das ist entweder mein Mann oder Medoro.» «Ach, bei Medoro fällt mir ein, hat er Ihnen gesagt ...» «Was?» «Daß er mit mir zusammen lebt.» «Sehen Sie? Da zeichnet sich schon eine Möglichkeit der Rache ab. Ich bringe ihn dazu, daß er sich entweder in mich oder in meinen Mann verliebt, und dann nehmen wir ihn mit.» «Wie geht es denn Ihrem van der Belt?» «Aus und vorbei. Schon seit einiger Zeit.» «Wenn wir schon dabei sind, uns gegenseitig mit Liebesgeschichten zu erpressen: ich weiß genau, daß es nicht aus ist und daß Sie ihm vor fünf Minuten einen Brief geschrieben haben und ihn in Lausanne treffen wollen.» «Woher wissen Sie ...» «Wenn ich in ein Haus komme, gebe ich als erstes allen Dienstboten ein Trinkgeld.» Alles in allem wurde ihr dieser Ostrowskij-Eluard Santa Cruz Jawlenskij allmählich lästig. «Sagen Sie mir alles, und wir nehmen auf immer Abschied.» «Jetzt kann ich nicht. Machen Sie bitte die Tür auf, benehmen Sie sich nicht wie ein kleines Kind. Die Tür abschließen! Sie bringen mich noch dazu, eine Dummheit zu machen. Morgen ... morgen nachmittag. Wir treffen uns im Garten, und ich mache mit Ihnen den ersten langen Spaziergang Ihres Lebens.» Der Abend verlief wie vorauszusehen. Was konnte man schon erwarten von einem Abend im Haus eines reichen Amerikaners, das weltabgeschieden zwischen den irischen Hügeln lag? Cocktails und stundenlange Gespräche im Stehen. 244
Amerigo hatte es, wie zu erwarten war, so eingerichtet, daß er neben Medoro saß. Eluard Santa Cruz Jawlenskij nahm von ihr keine Notiz mehr, nachdem er sie mit einem Handkuß begrüßt hatte. «Ach, wie reizend, Sie hier zu sehen, meine Liebe. Laufen Sie noch manchmal Ski?» Und damit hatte er sich eilig der Herzogin zugewandt. Für Herzoginnen hatte er etwas übrig, daran bestand kein Zweifel. Hin und wieder warf er einen Blick in die Sofaecke, wo Amerigo und Medoro saßen. Erikson Hoover, im Tiroler Anzug, unterhielt sich mit Helen. Denn natürlich war Helen auch da. «Du bist aber auch überall.» «Und du?» «Was machst du hier?» «Ich hörte, du seist ein bißchen böse auf mich.» «Nein, nein, das ist doch gar nicht wahr. Alles Unsinn. Dein Vater benimmt sich oft etwas seltsam ...» «Wem sagst du das ...» «Ich nehme an, daß du über die Geschichte im Bilde bist.» «Natürlich weiß ich Bescheid. Aber hör zu, in Florenz, da glaubte sie, daß ich du wäre. Ich habe zwar versucht,•ihr klarzumachen, daß ich nicht du bin, aber sie hat das nicht begriffen, und da fand ich es einfacher, sie in dem Glauben zu lassen. Aber natürlich habe ich mich nicht mit deinem Namen schmücken wollen ...» «Schon erledigt. Hör mal, ich habe eine glänzende Idee. Darüber muß ich nachher unbedingt mit dir sprechen. Hoffentlich setzen sie uns nebeneinander.» «Das gibt es doch nicht, daß zwei Frauen bei Tisch nebeneinander gesetzt werden, wenn so viele Männer da sind.» «Aber hier herrscht doch ein derartiges sexuelles Durcheinander, daß man sich darüber auch nicht mehr wundern würde.» Sebastian, ein hoch aufgeschossener junger Innenarchitekt mit Rehaugen, unterhielt sich mit Andrew Hill. «Zu mir kommst du nie. Immer gehst du bloß auf Schlösser. Seit Jahren hast du mir ein Wochenende versprochen.» «Ich war gerade mitten in einer Arbeit, als du mich das letzte Mal eingeladen hast. Sei mir bitte nicht böse.» «Weißt du schon, daß Domenico neulich Ludwig die Nase abgebissen hat?» «Natürlich weiß ich das. In einem Taxi. Als Ludwig ihm eröffnet hat, daß er heiraten will.» 24 5
«Wie ist es denn passiert?» «Sie waren zu viert. Domenico und Ludwig haben sich gestritten, und schwupp, beißt er ihn. Die Nase fällt auf den Boden, und einer von den anderen hebt sie auf und steckt sie in die Tasche, und dann fahren sie ins Krankenhaus. Die Ärzte begreifen sofort, was geschehen ist, aber weil auch ein Mädchen mit im Taxi war, denken sie, es wäre das Mädchen gewesen.» «Und dann?» «Dann haben sie ihm die Nase genäht. Aber weil ein Stück fehlte, dachten sie im ersten Augenblick, sie hätten es im Taxi vergessen. Dann ist es dem dritten wieder eingefallen, und er hat die blutige Nase aus seiner Tasche gezogen.» «Eine herrliche Geschichte. Und Ludwig?» «Der hat geheiratet. Seine Frau ist eine reiche Kanadierin.» «Das geschieht ihm recht.» «Hast du Lietta mal wiedergesehen?» «Nein, die ist doch nach Laos gegangen, um dort nach einem vergrabenen Schatz zu suchen.» «Die ist ja verrückt.» «Schon seit Jahren.» «Wie war es denn heute auf der Jagd?» unterbrach Erikson. «Nach dem Abendessen machen wir ein großes Feuer.» «Was?» fragte Melinda. «Erikson mästet seine Rebhühner künstlich», erklärte Andrew. «Darum gibt es so viele, aber sie schmecken nicht. Heute haben wir ungefähr tausend geschossen.» «Ich würde sie aber gern essen. Ich schwärme für Rebhühner. Auch für künstlich gemästete», sagte Melinda. «Erikson verbrennt sie auf der anderen Seite des Sees, damit der Gestank nicht bis zum Schloß kommt. Das Feuer sieht wunderbar aus.» « Wie gräßlich», sagte Medoro, der Amerigo auf dem Sofa allein zurückgelassen hatte und zu ihnen getreten war. «Das Essen ist angerichtet», meldete der Butler im Tiroler Anzug. Die Gruppe begab sich ins Speisezimmer. Ein riesiger Saal. Die Wände mit rotem Damast bespannt. Stühle mit hohen Rückenlehnen. An den Wänden Gemälde von Lanceer: schweifende Hirsche, Hirsche im Schnee, Adler, die auf den Tod der Hirsche warteten. Die drei Damen wurden an ihre Plätze geführt: die Herzogin rechts, Melinda links neben Erikson und Helen 246
ihm gegenüber. Die Herzogin, eine Sechzigerin, die leidenschaftlich gern Bridge spielte (was sie auch jetzt schon als krönenden Abschluß des Abends vorgeschlagen hatte), begann über Hunde zu sprechen. Wie viele sie jetzt besaß und wie ihre besonderen, bereits verstorbenen Lieblinge gewesen waren. «Kennen Sie Holy Trinity gut?» fragte Sebastian Melinda. «Nein, und Sie?» «Ich bin jedes Jahr hier, wenn Erikson aus New Orleans zurückkommt.» «Mir gefällt er sehr gut.» «Haben Sie schon die Löwen gesehen?» «Löwen?» Melinda lachte. «Im Ernst. Ein Teil des Parks ist durch einen tiefen Graben abgetrennt. Und seit Erikson sein Haus der Offentlichkeit zugänglich gemacht hat, glaubt er, daß wegen der Löwen, die hier in scheinbarer Freiheit leben, mehr Touristen kommen.» «Brechen sie denn nicht aus?» «Nein, nein. Dafür ist der Graben da.» «Und frieren sie sich nicht zu Tode?» «Sie haben eine geheizte Höhle. Aber ich nehme an, daß das Millionen kostet. Und jetzt hat das Dorf einen Prozeß gegen Erikson angestrengt, denn angeblich können die Löwen doch über den Graben springen.» «Ein Grund mehr, nicht spazierenzugehen», sagte Melinda. Aber die Sache gefiel ihr. Auch die Vorstellung, jemanden in den Löwengraben zu stoßen. Vielleicht Ostrowskij? Nach Tisch wurde Melinda ans Telefon gerufen. Es war aber nicht Mark, sondern Anthony. «Jemand möchte dich in Irland sprechen.» «Du?» «Nein, nicht direkt. Ein Freund.» «Du tust ja mächtig geheimnisvoll.» «Begreifst du denn nicht? Jemand, der an dem Unternehmen beteiligt ist.» «Wo ist er denn?» «In Letterkenny. Du triffst ihn morgen um zwei vor dem Pub, anscheinend gibt es dort nur ein einziges, und er sagt zu dir: <Welchen Wochentag haben wir heute? Guten Tag, Madam.> Er weiß nicht, wer du bist. Er muß etwas mit dir besprechen.» «Na, gut.» 247
«Also dann bis bald.» «Ist das alles? Hast du nicht Lust, dich ein bißchen zu unterhalten?» «Ein andermal.» «Na gut, dann geh ich wieder in den Salon.» Die Damen, die richtigen Damen waren im Salon, und die Männer, die nur so aussahen, als seien sie Männer, tranken im Eßzimmer ihr Gläschen Portwein. «Hör zu», sagte Helen, «ich habe eine fabelhafte Idee für uns beide.» «Tatsächlich?» «Hast du ein bißchen Geld?» « Ja, eine ganze Menge.» «Ich möchte einen Laden eröffnen, eine Boutique.» «Diese Idee haben alle Damen aus gutem Hause. Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.» «Nein, ich habe etwas ganz anderes vor. Erstens werde ich die Boutique in Tanger aufmachen.» «Das geht bestimmt nicht gut. Seit Tanger nicht mehr internationales Territorium ist, lebt doch kein Mensch mehr dort.» «Aber viele Leute kommen dort durch. Außerdem will ich etwas verkaufen, was sonst niemand verkauft.» «Was denn?» «Männliches Sperma.» «Das ist doch Unsinn. Wer kauft das schon? Etwa in Ampullen?» «Natürlich. Für Leute, die hochwertigen Samen wollen. Und nur wir können solches Spezial-Sperma beschaffen. Zum Beispiel von hochintelligenten Männern, berühmten Schriftstellern, Politikern, Wissenschaftlern. Oder von gut aussehenden, starken Männern oder von solchen, die zugleich interessant und intelligent sind. Sperma von Snobs, Sperma von den Habsburgern oder Sperma von den Bourbonen.» «Und hättest du denn die Kundschaft dafür?» «Und ob. Ich habe schon zahlreiche Anfragen. Wir könnten für das Produkt garantieren, und die Leute hätten Vertrauen zu uns. Statt in Kliniken zu gehen, wo man nicht erfährt, von wem die Ampulle stammt, würden die Frauen wohlhabender impotenter Männer zu uns kommen und für mehrere Schwangerschaften unsere treuen Kundinnen sein. Und wir könnten das Produkt bekommen, 248
ohne etwas dafür zu bezahlen. Abgesehen natürlich von den Transport- und Laborkosten.» «Gar keine schlechte Idee.» «Ich wußte, daß sie dir gefallen würde. Zu der Arbeit gehören nämlich auch viele Reisen. Wir brauchen Samen von berühmten Wissenschaftlern, von Filmstars in Kalifornien, von Prominenten der Kaffeehaus-Gesellschaft in Paris, London und New York und von Nobelpreisträgern aus Stockholm.» «Und was müßte man deiner Meinung nach investieren?» «Nicht viel. Gar nicht viel.» «Ich glaube doch. Ich werde mal meinen Finanzberater fragen, was er davon hält.» «Um Himmels willen, du darfst mit keinem Menschen darüber sprechen. Sonst stiehlt man uns noch die Idee.» «Da hast du vielleicht recht.» «Es wird eine ausgezeichnete Sache. Wir schicken diskrete, elegante Informationsschriften an die unfruchtbaren Frauen in aller Welt. Und wir werden über eine exklusive Liste möglicher Vaterschaften verfügen.» « Ja, das sollte man wirklich machen.» «Gut. Wir sprechen noch darüber.» Die Männer kamen in den Salon. Wie brauite sie es nur fertig, sich von Amerigo scheiden zu lassen? In Italien war es unmöglich. In England dauerte es, wenn er sein Einverständnis nicht gab, drei Jahre. Vielleicht in Mexiko. Bevor sie sich schlafen legte, ging sie zu ihm. Er schien jemanden zu erwarten, allerdings nicht sie. «Was willst du?» «Nur ein kurzes, vorbereitendes Gespräch. Gibst du mir morgen deine Einwilligung zur Scheidung?» «Wieso morgen?» «Ich rufe morgen meinen Anwalt an, und wir machen die Sache in aller Eile ab.» «Aber warum denn?» «Ich weiß nicht, wahrscheinlich, weil ich dich nicht liebe.» «Das ist doch Unsinn. Laß es uns noch einmal versuchen. Nach einem Monat — das wäre doch lächerlich. Passen wir denn nicht ganz gut zueinander?» Er umarmte sie. Unversehens küßte er ihre Hände und ihr Haar. Sie schliefen miteinander und verzichteten dafür auf die Rebhuhnverbrennung am See. Und Melinda gab den Gedanken an 249
Scheidung auf und ebenso die Idee, Ostrowskij in den Löwengraben zu stoßen. Und während sie sich umarmten, dachte sie an Helens Boutique und was für eine gute Idee das doch war. Am nächsten Morgen schaute sie sich mit Amerigo zusammen Eriksons Privatgemächer an. Man hatte ihr von einem runden Badezimmer erzählt. Es war ein Raum, der ganz aus einer Badewanne bestand, mit Wasserhähnen auf allen Seiten. Die Wanne war aus irischem Marmor. Darüber wölbte sich ein großes Mosaik. Man betrat den Raum durch eine Tapetentür und ging ein paar Stufen ins Wasser hinab. «Hinter diesem Stein ist ein Telefon verborgen; wenn ich auf diesen Knopf drücke, kann ich mit den Dienstboten sprechen. Und hier kann ich Musik machen», sagte Erikson und zeigte auf einen kleinen Apparat. «Für mich gibt es nur Elgar und Wagner. Auch wenn ich bade.» An einem Kleiderhaken hingen Morgenröcke in den verschiedensten Farben. «Wollen Sie auch das Gästebad sehen?» Eine wiegenförmige Wanne aus Mahagony, die innen mit Metall verkleidet war. Auch hier kamen die Wasserstrahlen, wenn man eine Armatur bediente, aus allen Richtungen. Dusche von oben, von rechts und von links, und von unten Wellenbad. «Phantastisch. Ihr Gast sollte man sein, Erikson.» Hier würde Octavian eines Tages landen, falls er noch am Leben war. Ein Briefchen: «Liebe Melinda. Eluard und ich sind abgereist. Eluard hat etwas sehr Wichtiges vor und hat mir nicht einmal die Zeit gelassen, mich von Dir zu verabschieden. Laß mich wissen, wo Du bist. Es umarmt Dich Dein Medoro.» Er hatte sie also reingelegt, dieser verdammte Ostrowskij. Er hatte sie ganz gemein reingelegt. Trotz seinem fingierten Namen war er kein Gentleman. Aber sie würde das, was sie wissen wollte, auch allein herausbekommen und notfalls sogar ihn ausfindig machen. Sie sah das alles schon deutlich vor sich und war sicher, daß sie sich in den nächsten Monaten nicht langweilen würde. Auch Helens Boutiquen-Plan machte ihr Spaß. Aber zunächst einmal mußte sie sich mit diesem Ausbrecher treffen. Sie entdeckte ihn sofort. Er war recht ordentlich angezogen und sprach mit einem Cock ney-Akzent. 250
«Welchen Wochentag haben wir heute? Guten Tag, Madam.» «Guten Tag, wie geht's? Wollen wir einen Spaziergang machen?» Plötzlich hatte sie das Gefühl, in einer schlechten Komödie mitzuspielen und hersagen zu müssen, was sich ein zweitklassiger Autor ausgedacht hatte. «Etwas nicht in Ordnung?» fragte Melinda. «Doch, alles in Ordnung. Vor ein paar Wochen haben sie mich aus dem Gefängnis geholt. Alles tadellos organisiert. Und Geld habe ich haufenweise. Aber ich müßte mich hier ausweisen können, um für ein paar Monate Arbeit zu bekommen. Können Sie mir helfen, daß ich bei Herrn Hoover im Haus einen Job kriege?» «Ich will es versuchen.» «Das wäre Klasse. Wissen Sie, elf Monate im Jahr wohnt nämlich kein Mensch in dem Haus.» «Ich könnte sagen, Sie wären in London bei mir angestellt gewesen. Was können Sie?» «Servieren und Auto fahren.» «Ausgezeichnet. Wo erreiche ich Sie?» «Können Sie nicht gleich anrufen?» Offenbar war er obdachlos. Das Dumme ist nur, überlegte Melinda rasch, daß er, wenn er zu Hoover kommt, sofort erfährt, wer ich bin. Sie tat, als ginge sie telefonieren. «Tut mir leid, im Augenblick können sie niemanden brauchen.» Eilig fuhr sie nach Holy Trinity zurück. Sie wartete auf einen Anruf von Mark. Melinda wartete nicht gern. Sie mochte dieses Gefühl nicht, aber diesmal stand es dafür. Auch wenn sie es Amerigo gern erspart hätte, daß er noch einmal den Namen van der Belt zu hören bekam. In Lausanne im gleichen Zimmer wohnen, ein paar Tage gemeinsam verbringen, essen und spazierengehen — und das alles ohne Angst vor Ehefrauen und Ehemännern ... Vielleicht würde es das Ende eines Mythos sein. Aber dann war es auch gut so. Sie würde mit Mark nach Chamonix fahren und den Montblanc sehen. Bestimmt hatte er ihn noch nie gesehen. Sie würden trinken und nachmittags und abends miteinander schlafen, und vielleicht würden sie auch Händchen halten. Amerigo wollte sie sagen, sie müsse für ein paar Tage nach Paris, um mit einem ihrer früheren Männer über Fragen zu sprechen, die ihre Kinder und Finanzen betrafen. Allerdings mußte sie vorsichtig sein: Amerigo war eifersüchtig. 251
«Amerigo», sagte sie und hängte sich bei ihm ein, als sie im Garten einen kleinen Spaziergang machten. «Etwas ganz Blödes. Ich muß für ein paar Tage nach Paris, um mit einem von meinen früheren Männern und seinen Anwälten zu verhandeln. Am besten fliege ich morgen oder spätestens übermorgen direkt von Belfast aus. Du könntest ja noch ein paar Tage hier bleiben.» Amerigo war begeistert von diesem Vorschlag. Sie telefonierte und bestellte zwei Flugkarten, eine falsche nach Paris und eine richtige nach Lausanne. «Meine Liebe», hieß es in Marks Eilbrief, der nach dem Tee eintraf, «ich sitze hier in meinem Büro und denke daran, wie heiß ich Dich liebe und wie hingerissen ich von Dir bin. Aber wir können uns nicht sehen. Es ist nicht möglich. Es wäre Aglaia gegenüber nicht recht. Ich weiß, daß Du mich verstehst. Du bist eine Frau, die alles versteht, deshalb brauche ich Dir auch nicht noch einmal alles zu erklären. Wir kennen uns lange genug, und ich weiß, Du wirst mir verzeihen. Du weißt, daß ich Dich liebe, aber ich werde es nie, nie wieder aussprechen, weder brieflich noch mündlich, auch wenn wir uns sehr bald wiedersehen. Dein Mark.» Sie telefonierte sofort, um die beiden Flugkarten abzubestellen. Statt dessen würde sie nach Rom fliegen und sich auf die Jagd nach Ostrowskij machen. «Amerigo, es hat alle möglichen Komplikationen gegeben. Anscheinend kann ich den Anwalt nicht sprechen, und dann lohnt es sich nicht, daß ich überhaupt nach Paris fahre. Bleibe. Ich fliege direkt nach Rom, und dann möchte ich für acht oder zehn Tage nach New York.» «Ich habe mir überlegt, daß ich mit dir zusammen abreise. Es hat für mich keinen Sinn, hier noch länger zu bleiben.» Fürchtete er, sie zu verlieren? Melinda bestellte zwei Flugkarten nach Rom. Noch ein Abendessen wie am Abend zuvor. Ein Glück, daß Helen da war, sonst hätte sie es nicht ausgehalten. Helen war immer gut angezogen in ihren Spitzen-Teagowns, mit ihren Taschen von Ferragamo und ihren Schuhen von Herms. Und sie war immer hübsch frisiert — mit einer grauen Strähne über der Stirn. Sie würde eine vorzügliche Partnerin sein. Melinda sah sie schon im weißen Kittel vor sich, wie sie die Rolle der Spezialistin für Spermatologie spielte. 252
Nach dem Essen war nichts Besonderes los; man mußte also mit der Herzogin Bridge spielen. «Ich spiele aber sehr schlecht.» «Du machst nichts schlecht, Melinda», sagte Erikson zu ihr. Er hatte keine Ahnung von ihr: sie machte ihre Sache immer schlecht, aber sie machte überall mit. Sie spielte also Bridge, wenn auch sehr zerstreut. Sie vergaß, welche Karten schon ausgespielt waren, was angesagt worden war, wer eröffnet hatte, und achtete nicht auf die Karten, die ihr Partner ausspielte. «Wer hat eröffnet?» «Hast du eröffnet?» «Ich? Ich habe doch gar keine Karte in der Hand.» «Man darf beim Bridge nicht so viel sprechen. Du hast dich schon verraten.» «Aber ich habe doch nicht eröffnet.» Helen dagegen, die seit Jahren nicht gespielt hatte, machte ihre Sache sehr gut. Ja, Helen machte wirklich alles gut. Sie begann sie in ihr Herz zu schließen. Zum Glück wurde das Spiel unterbrochen. Ein Anruf für Melinda. Wahrscheinlich Anthony, dachte sie, und ließ sich das Gespräch auf ihr Zimmer legen. Aber es war Mark. «Ich kann deinen neuen Namen am Telefon nie richtig aussprechen», war der Satz, mit dem er das Gespräch begann. «Auch nicht schwieriger als van der Belt. Vielen Dank für deinen Eilbrief.» «Hast du ihn bekommen?» «Sonst würde ich ihn nicht erwähnen.» « Wann treffen wir uns?» «Vorläufig sehe ich dafür keine Möglichkeit.» «Es war verkehrt, daß ich dir diesen Brief geschrieben habe. Daß ich dich mit meinen Problemen belastet habe. Bitte, komm.» «Wohin?» «Nach Lausanne.» «Aber Mark, das ist einfach nicht möglich. Ich habe alle meine Pläne umgestoßen und fliege morgen nach Rom.» «Nein, komm nach Lausanne.» «Nein. Diesmal nicht. Ich war deinetwegen sogar zehn Minuten lang traurig und deprimiert.» «Melinda, ich wünsche mir auf der Welt nichts sehnlicher, als ein paar Tage mit dir zusammen zu sein.»
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«So sehr, daß, wenn ich jetzt ja sage, du dann doch nicht auf dem Flugplatz bist. Und was mache ich dann in Lausanne?» «Um wieviel Uhr sollte die Maschine, für die du gebucht hattest, ankommen?» «Um elf Uhr vormittags. Das bedeutet, daß ich und der arme Fahrer in aller Herrgottsfrühe hätten aufstehen müssen.» «I ch komme früh am Morgen an, fahre dann direkt zu meinem Bruder und komme anschließend zu dir ins Hötel de Genive. Dort habe ich zwei Zimmer auf meinen Namen reservieren lassen.» «Um wieviel Uhr würdest du kommen? Aber nein, du kommst ja doch nie.» «Ruf dort an und laß noch ein Zimmer auf deinen Namen reservieren. Die Nummer ist 5 68 83. Sonst kann es Schwierigkeiten wegen dem Paß geben.» « Warte, ich hole mir einen Bleistift ... Wie war die Nummer?» «5 68 83. Und schick ihnen gleich zehn Dollar, um die Bestellung zu bestätigen, auch wenn das Geld erst später ankommt. Und sag am Telefon, daß du das getan hast.» «Hör mal, ich kann nicht kommen, und außerdem habe ich hier kein Geld. Und um auf die Bank zu gehen, ist es zu spät.» «Mach dir deswegen keine Sorgen.» «Und wenn du nicht kommst? Ich ... in Lausanne ... ohne Geld ... und morgen ist Sonntag ... Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Aber danke für den Anruf und daß du daran gedacht hast.» «Bitte, hab doch Vertrauen. Wir verbringen den Abend zusammen, und am nächsten Tag nehme ich ein Flugzeug nach London, und du fährst, wohin du willst.» «Und das alles für einen einzigen Tag? Nein, Mark. Ich muß nach New York.» «Für einen Tag. Du fehlst mir so, und ich denke dauernd an dich. Wirklich. Du weißt, daß es wahr ist. Bestell doch die Flugkarte um.» «Na, schön.» «Ich möchte stundenlang mit dir sprechen.» «Es wäre gescheiter, ich finge an, meine Reise vorzubereiten und mir eine plausible Erklärung dafür einfallen zu lassen.» «Ich weiß, ich hätte dir den Brief nicht schreiben sollen.» « Warum hast du es denn getan?» «Ich verspreche dir, ich tue es nie wieder.» « Wenn ich in Zukunft überhaupt noch einmal Gelegenheit habe, dich zu sehen.» 25 4
«Kommst du denn nicht?» «Und du?» «Doch, ich schwöre es dir.» «Ich wäre kein bißchen erstaunt, wenn du nicht kämst.» «Bleib am Nachmittag auf deinem Zimmer.» «Um wieviel Uhr kommst du, wenn du kommst?» «Hör doch auf damit. Gegen drei.» «Am Ende irrst du dich und steigst auf einem anderen Flugplatz aus oder gehst in ein anderes Zimmer und merkst es erst am Tag darauf.» «Wenn du jetzt nicht aufhörst, räche ich mich morgen. Los, beeil dich. Bestell die Flugkarte. Und wach morgen beizeiten auf.» «Tschüs.» «Tschüs und vielen Dank.» Marks Stimme. Vielleicht war es ein gewaltiger Fehler, aber nun war es einmal so. Wenn sie ihn in Lausanne nicht traf, würde sie sich schon zu helfen wissen. Und wenn er es sich bis morgen nicht anders überlegt hatte, konnte sie schon glücklich sein. Das stand dafür. Nicht so sicher war sie, ob auch das frühe Aufstehen dafür stand. Die Maschine ging um acht Uhr. Sie mußte also um sieben Uhr in Belfast sein. Das hieß, um vier Uhr morgens von Holy Trinity fortfahren. Mit anderen Worten: sie würde gar nicht erst ins Bett gehen. Wieder rief sie bei der Fluggesellschaft an, bestätigte die eine Buchung für Rom und bestellte eine Flugkarte nach Lausanne. Ja, so wie ursprünglich. Sie entschuldigte sich für all das Durcheinander. Sie ließ den Butler kommen: Der Chauffeur solle sich um vier bereit halten. Dann bat sie Amerigo einen Augenblick herauf. Sie müsse nun doch nach Paris. Am folgenden Tag werde sie dann nach Rom weiterfliegen, ein Tag in Paris genüge. Sie habe nicht absagen können, weil es extra ihretwegen so arrangiert worden sei. Der Anwalt gehöre zu den Menschen, die ihr Leben im Flugzeug über dem Atlantik verbringen. Amerigo versprach, sie in Rom auf dem Flugplatz abzuholen. «Danke, Lieber.» Es war alles ein bißchen kompliziert. Sie würde genau die Flugpläne studieren müssen. Und von Paris aus mußte sie telegrafieren. Es würde ihr schon jemand einfallen, den sie anrufen und bitten konnte, das Telegramm aufzugeben ... Mein Gott, eine regelrechte Intrige, wie herrlich. Um elf Uhr kam sie auf dem Flugplatz in Lausanne an. Mark
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hätte sie ja auch ruhig überraschen und abholen können. Es regnete und war kalt. Das Hotel war zum Glück das beste von Lausanne. Bei Mark mußte man mit allem rechnen: ein Zimmer in einer Absteige, vor lauter Zerstreutheit oder weil er die Namen durcheinandergebracht hatte. «Guten Tag, gnädige Frau.» «Ich bin Frau Publishing-Vespucci. Ich habe aus Irland angerufen und ein Zimmer reservieren lassen.» «Herr van der Belt hat angerufen und es abbestellt. Er hat statt dessen drei Zimmer auf seinen Namen reservieren lassen. Er hat hinterlassen, er käme am frühen Nachmittag.» Es hatte ihr einen Schlag versetzt, als sie den Namen van der Belt hörte. Man wußte nie genau, was von Mark zu erwarten war. Ein Zimmer mit zwei schmalen Betten, ein Salon, ein Bad, noch ein Zimmer mit zwei schmalen Betten, noch ein Bad. Ein bißchen übertrieben. Melinda zog sich langsam aus und stellte das Radio an. Es gab hübsche Musik; sie duschte und ging aus. Sie hatte ja genug Zeit für einen Spaziergang. Statt dessen ging sie zum Friseur. Es war schwierig, bis sie einen fand, der geöffnet hatte, und der war natürlich miserabel. Wie hatte es ihr auch in den Sinn kommen können, sich in der Schweiz Locken legen zu lassen? Sie war so müde, daß sie unter der Haube einschlief. Ihr Geld reichte gerade für die Dauerwelle. An ein Trinkgeld war nicht zu denken. Sie ging wieder ins Hotel, studierte die Flugpläne und rief Jacques an, er solle Amerigo anrufen und ihm sagen, sie werde morgen nachmittag um zwei Uhr ankommen. Jacques stellte keine Fragen, er war ein lieber Junge, und sie hatten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. «Wenn ich nach Paris komme, müssen wir uns unbedingt sehen. Wie geht es dir?» «Gut. Ich bin ein bißchen dicker geworden.» «Bist du verheiratet?» «Ja, und wir haben drei Kinder.» «Bravo.» Genau wie es sein sollte. Und damit schlief sie ein.
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ERSTE SZENE
Die Bühne ist so aufgeteilt, daß der Zuschauer verfolgen kann, was in Marks Schlafzimmer, im Bad, im Salon, in Melindas Schlaf zimmer und in ihrem Bad vorgeht, ohne daß die Personen auf der Bühne sich gegenseitig sehen können. Sobald der Vorhang aufgeht, sieht man MELINDA, eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren, die in ihrem Zimmer eingeschlafen ist. Sie hat nicht viel an. Ein halbdurchsichtiges, geblümtes Unterkleid. Man hört Schritte. Durch die Tür zum ersten Zimmer kommen sechs braune Lederkoffer. Ihnen folgt ein Hausbursche, der sie mühselig aufstapelt. Es folgt MARK in einem leicht zerdrückten Tweedmantel, der so aussieht, als sei er vor zwanzig Jahren angefertigt worden. Der Schauspieler, der Mark darstellt, muß sich wirklich in seine Person versetzen. Obwohl zerstreut und nicht mehr jung, ist Mark von einem unwiderstehlichen Charme. Was immer er tut (wenn er zum Beispiel jemandem ein Trinkgeld in die Hand drückt), und sei es noch so ungeschickt, tut er mit der Sicherheit dessen, der das alles in seinem Leben schon tausendmal getan hat. Die Art, wie Mark die Augen hin und her bewegt, soll nicht übertrieben sein, aber doch auffällig genug, um den Zuschauern seine häufige Abwesenheit und völlige Zerstreutheit deutlich zu machen, die oft beinahe wie schlechte Laune wirken. MARK (zu dem Hausburschen): Ich weiß nie, wieviel Trinkgeld man in der Schweiz geben muß. (Er drückt ihm Geld in die Hand.) DER SCHAUSPIELER, DER MARKS ROLLE SPIELT: Nein das geht nicht. Wenn Mark so selbstsicher ist, weiß er genau, wieviel Trinkgeld er geben muß. DER REGISSEUR (kommt aus dem Badezimmer): Hören Sie mal, halten Sie sich bitte an den Text. Verstehen Sie denn nicht, daß Mark auch zerstreut ist? Der gleiche Satz aus dem Mund von irgendwem könnte ein Zeichen von Schüchternheit sein. In Marks Mund bedeutet er Zerstreutheit. Es ist Ihre Aufgabe, das spürbar zu machen. Sagen Sie den Satz noch einmal. MARK: Ich weiß nie, wieviel Trinkgeld man in der Schweiz geben muß. 257
(kommt aus einer anderen Tür): Nein, nein, grundverkehrt in der Auffassung. Sie müssen dem Hausdiener in die Augen schauen. Das ist keine Entschuldigung, sondern eine Feststellung, die Mark für sich selbst trifft, weil er mit der Schweiz und der Tatsache nicht zurechtkommt, daß in den anderen europäischen Ländern nicht nach Pfund gerechnet, nicht Englisch gesprochen und keine Wurst zum Frühstück gegessen wird. Versuchen Sie es noch einmal. Noch einmal Ihren Auftritt. MARK (schaut den Hausburschen an): Ich weiß nie, wieviel Trinkgeld man in der Schweiz geben muß. DER REGISSEUR
Der Hausbursche verschwindet. STIMME DES HAUSBURSCHEN (beim Hinausgehen): Merci, monsieur.
Mark schaut sich das Bad, den Salon und das zweite Bad an und kommt schließlich in Melindas Zimmer. Inzwischen ist Melinda langsam aus ihrem Schlaf erwacht, der entweder wirklich tief oder geheuchelt war. MARK: Liebes?
Melinda kriecht mühsam aus dem Bett und umarmt ihn, wobei sie sich reckt und streckt. MELINDA: Du bist also wirklich gekommen? Wie spät ist es? MARK: Fünf. Ich habe Hunger. Möchtest du einen Tee? MELINDA: Nein, ich habe einen Whisky-sour getrunken. MARK: Dein Lieblingsgetränk. MELINDA: Nein, gar nicht, ich trinke das so gut wie nie. DER SCHAUSPIELER, DER MARKS ROLLE SPIELT: Was Soll das denn nun wieder? . Wie kann Mark zu Melinda in einem so zärtlichen Augenblick etwas so Belangloses sagen? DER REGISSEUR (der in das Zimmer gekommen ist und nun neben den beiden steht, die sich noch immer umarmen): Hören Sie mal, wir haben Ihnen die Rolle gegeben, weil Sie wie Mark aussehen. Machen wir jetzt weiter oder nicht? Es ist doch klar, daß Mark etwas Liebevolles sagen möchte, daß er Melinda etwas zeigen will, was er für wahr hält: daß er nämlich genau aufgepaßt hat, was sie am liebsten trinkt. (Wendet sich an die Schauspielerin, die Melindas Rolle spielt): Noch einmal Ihren letzten Satz. MELINDA: Nein, gar nicht, ich trinke das so gut wie nie. DER REGISSEUR: Sie müssen dabei ein gelangweiltes, zugleich etwas resigniertes und gereiztes Gesicht machen, wie ein kleines Mädchen, dem man eine Bitte abgeschlagen hat. Und bedrängen Sie ihn nicht so. Sie dürfen ihn nicht so stürmisch umarmen.
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Nein, gar nicht, ich trinke das so gut wie nie. MARK: Dann wollen wir gleich zwei bestellen. Was gehört denn hinein? MELINDA: Nicht zuviel Whisky, ein bißchen Zitrone und Zucker und eine Kirsche. Was sonst noch, weiß ich nicht. Angostura, glaube ich. Ich mag das sehr gern. MARK (der sich aufs Bett gesetzt hat): Bist du müde? MELINDA: Nicht mehr. Und du? Was hast du gemacht? MARK: Ich bin bei meinem Bruder gewesen. MELINDA: Frag mich jetzt bitte nicht, ob ich ihn kenne. MARK: Ich weiß doch ganz genau, daß du ihn einmal abends getroffen hast. Wir haben nämlich von dir gesprochen. Warum sagst du das? Magst du ihn nicht? MELINDA: Was habt ihr über mich gesprochen? MARK: Er hat mir erzählt, daß der Premierminister dich zum Pair ernennen will, um dir die lästigen Wahlkampagnen zu ersparen. MELINDA: Er hat das einmal im Parlament gesagt. Aber ich weiß nicht, ob er es ernst gemeint hat. MARK: Willst du denn bei den Wahlen wieder kandidieren? MELINDA: Wann sind denn die Wahlen? MARK: Wer von uns beiden hier ist eigentlich zerstreut? MELINDA: Warte, jetzt telefoniere ich erst mal und bestelle die beiden Whisky-sour. Komm her. Willst du baden? Ist das eigentlich weit von hier, wo dein Bruder jetzt ist? (Melinda steht eilig auf MELINDA:
und dreht den Hei ßwasserhahn im Bad auf. Dann geht sie ans Telefon.) Zwei Whisky-sour für Zimmer 83, 84 oder 85. (Lauter:) Hör mal, Lieber, all diese Zimmer, das finde ich doch etwas übertrieben. Und dann, wie immer, nicht einmal ein Doppelbett. MARK (während er sich im anderen Zimmer Schuhe und Strümpfe auszieht): Was kann ich dafür? Wir sind eben in der Schweiz. MELINDA (immer noch sehr laut): Und wer sucht sich solche puritanischen Länder als Treffpunkt aus? MARK: Komm doch mal rasch rüber.
Melinda, nach wie vor in ihrem halbdurchsichtigen Unterkleid, geht zu ihm hinüber. Sie betrachtet Mark, der sich in der Zwischenzeit fast ganz ausgezogen hat. MELINDA: Eine schöne Unterhose hast du an. MARK: Komm her. (Umarmt sie wieder, fährt ihr mit den Händen durch das Haar und unter das Unterkleid.) Wenn du wüßtest. Du hast mir so gefehlt. Vor allem körperlich. Ich konnte nicht mehr 25 9
richtig schlafen, das heißt, ich konnte überhaupt nicht mehr schlafen und war ständig nervös und gereizt. MELINDA: Ach so, deswegen bist du gekommen. Dann bin ich also eine Art sexuelles Beruhigungsmittel. MARK (nachdenklich): Beinahe ist es so. Er zieht sie aufs Bett. Es klopf?. Die Tür geht ausgerechnet in dem Zimmer auf, in dem die beiden in beginnender Verzückung liegen.
KELLNER (tut so, als merke er nichts, und schaut beiseite): Zwei Whisky-sour, die Herrschaften. MARK: Was muß man ihm denn jetzt für ein Trinkgeld geben? Ich weiß nie, was ich tun soll. Vor allem in der Schweiz nicht. Es ist immer jemand da, der das für mich tut. Wie machst du das eigentlich? MELINDA: Damen geben kein Trinkgeld. MARK: Du gibst kein Trinkgeld? MELINDA: Nur, wenn ich jemanden bestechen will. MARK (trinkt seinen Whisky-sour): Köstlich. Eine ausgezeichnete Idee. Laß uns gleich noch einen bestellen. Was willst du heute abend machen? MELINDA: Erst einen Spaziergang ... Dann gehen wir essen. Weißt du hier ein gutes Restaurant? Ich kenne mich in Lausanne überhaupt nicht aus. In der Altstadt soll es ein gutes geben, aber ich weiß nicht, wie es heißt. MARK: Wir werden den Portier fragen. MELINDA: Aber dir ist es ja doch gleich, was du ißt. MARK: Diesmal hast du recht. Im Grunde mache ich mir nicht viel daraus. Und du? MELINDA: Ich? Sehr viel. Essen gehört zu den Dingen im Leben, die mir am meisten Spaß machen. MARK: Und was sonst noch? MELINDA (nachdenklich): Sonst noch? Im Augenblick du ... und dann noch so einiges, o Gott, ich muß das Wasser im Bad abdrehen. DER SCHAUSPIELER, DER MARKS ROLLE SPIELT: Und was soll ich jetzt tun? Ich kann mich doch vor den Zuschauern nicht nackt ausziehen. Diese Szene streicht die Zensur sowieso, wir können sie ebensogut schon jetzt fortlassen. DER REGISSEUR (kommt aus dem Salon): Wenn Sie es ein bißchen geschickt anstellen, sieht man überhaupt nichts. Nehmen Sie sich ein Handtuch zu Hilfe und ziehen Sie sich die Unterhose aus. 26o
DER SCHAUSPIELER: Aber ich geniere mich. DER REGISSEUR: Seien Sie doch nicht so kindisch. Und machen Sie weiter. Es war gar nicht schlecht.
Mark geht ins Badezimmer, zieht sich aus und steigt in die Wanne. MELINDA: Kann ich kommen? MARK: Ja, komm, Liebes. MELINDA (kommt ins Badezimmer): Können wir zusammen baden? MARK: Ich denke, du hast schon gebadet. MELINDA: Doch nicht deswegen. Aus erotischen Gründen.
Es klopft wieder. Diesmal wartet der Kellner. Melinda schlüpft in Marks Bademantel. Kommen Sie nur herein.
Derselbe Kellner wie zuvor bringt zwei weitere Drinks. Melinda trinkt einen Schluck, dann zieht sie einen Pullover über ihr Unterkleid und schaut auf die Uhr. Sie stellt das Radio an. Dann zieht sie sich Strümpfe an und beginnt sich zu frisieren, zu pudern und die Lidschatten nachzuziehen. Im Badezimmer ist Mark aus der Wanne gestiegen. In ein großes Badetuch gehüllt, geht er in Melindas Zimmer. Er umarmt sie. Du bist ja noch ganz naß. MARK: Was hast du vor? Warum hast du dich angezogen? MELINDA: Willst du dein Beruhigungsmittel vor oder nach dem Essen? Oder davor und danach? MARK: Was redest du da für einen Unsinn?
Zieht sie aufs Bett. Unter dem Badetuch kommen in buntem Durcheinander Melindas Kleidungsstücke hervor. Trägst du nie einen Büstenhalter? MELINDA: Je nachdem. Wenn ich Lust habe, schon. Aber ich habe nicht viel Busen. MARK: Aber einen süßen, weichen. Liebes, willst du dir selbst deinen Spaß machen? MELINDA: Nein, ich möchte deine Augen küssen. MARK: Das geht nicht. (Steckt den Kopf unter das Badetuch.) DER SCHAUSPIELER: Also wirklich, diese Szene ist zu unanständig. Wir müssen sie unter allen Umständen ändern. DER REGISSEUR (kommt hinter einem Vorhang hervor, wütend): Zu beurteilen, ob das unanständig ist oder nicht, das ist meine Sache. Es lief doch gerade so gut. Wieso erlauben Sie sich eigentlich, dauernd zu unterbrechen? Im übrigen sind wir hier in einem Club und können spielen, was wir wollen. 261
DER SCHAUSPIELER: Dann schließt die Polizei den Club. DER REGISSEUR: Das ist dann Sache des Geschäftsführers. Jetzt habe ich es aber wirklich satt. Außerdem ist die Szene hier sowieso zu Ende. Gehen Sie und ruhen Sie sich aus, bis wir das Bühnenbild umgebaut haben.
«Wie finden Sie eigentlich das Stück?» «Das Stück an sich interessiert mich überhaupt nicht. Ich werde gut bezahlt.» «Ich finde es grauenhaft. Und unnatürlich. Ich bitte Sie, wer benimmt sich schon so? Und außerdem geniere ich mich, ehrlich gesagt, splitternackt auf einer Bühne herumzulaufen und praktisch vor aller Augen mit einer Frau zu schlafen. Und Sie?» «Mir ist das gleich, ich bin das gewohnt.» «Ich weiß, warum dieses Stück ausgesucht worden ist. Wissen Sie, warum?» «Warum denn?» «Weil es schweinisch ist. Und weil die Leute gern Schweinereien sehen.» «Nein, das glaube ich nicht.» «Und dann zwei derartig idiotische Rollen. Er ist so zerstreut und macht diese ganze Reise doch nur, um mit einer ins Bett zu gehen, die nicht mal in ihn verliebt ist, sondern sich über ihn lustig macht.» «Aber er macht sich doch über sie lustig.» «Sehen Sie? Sehen Sie? Die beiden haben überhaupt keine Beziehung zueinander. Zwei Menschen, die sich treffen, die nichts miteinander verbindet und die sich nichts zu sagen haben. Glauben Sie mir, in einem ernst zu nehmenden Lustspiel gibt es das nicht.» «Mag sein. Ich trete nur im Cabaret auf.» «Na, sehen Sie, wahrscheinlich mit Striptease und so. Aber warum haben sie mich geholt? Ich bin ein richtiger Schauspieler, verstehen Sie, nicht so einer vom Cabaret.» «Ich bin auch Berufsschauspielerin.» «Das ist doch etwas ganz anderes. Unsere Ambitionen sind eben verschieden. Begreifen Sie das nicht?» «Ich muß mich jetzt umziehen.» «Die nächste Szene ist genauso ekelhaft.» «Mag sein ...» 262
•So was gibt es doch überhaupt nicht. Und wenn ich daran denke, daß ich für diese Schweinerei auf eine so schöne Rolle verzichtet habe, in der Komödie von ...» (Seine Stimme ist hinter den Kulis 7 sen nicht mehr deutlich zu hören.)
ZWEITE SZENE
Ein typisches Schweizer Restaurant im Chalet-Stil mit Kaminen und brennenden Holzscheiten, die nur Attrappen sind. An den Wänden Fresken mit Volksszenen, Kuckucksuhren. Überall Bratspieße und auf allen Tischen Fondue mit Kirsch. An den wenigen besetzten Tischen große Puppen aus bemaltem Papier. Sie stellen den typischen wohlhabenden Schweizer dar, der abends auswärts ißt. Die Frauen sind in Gold oder Lurex gekleidet und haben derbe Schuhe an, aus denen die großen Zehen in keineswegs dünnen Nylonstrümpfen herausschauen. Die Männer tragen schäbige Krawatten, große Ringe und Manschettenknöpfe, die im Dämmerlicht auf blitzen. Auf den Tischen Kerzen. Der Tisch, an dem Mark und Melinda sitzen, steht natürlich ganz vorn. Eine miserable Kapelle, die aber nicht zu sehen ist, spielt Lieder wie oder . Melinda, in einem wollenen Pullover und einem übertrieben kurzen Wollrock, ist sichtlich verärgert. Mark, nach wie vor in Tweed, aber mit einer grünen Krawatte, bestellt gerade eine zweite Flasche Wein. MARK: Na? MELINDA: Gräßlich. MARK: Stell dich doch nicht so an. Ist es vielleicht meine Schuld, daß das Lokal nur so lala ist? MELINDA: Ja. Und das Lokal ist auch gar nicht so lala, sondern einfach gräßlich. Es ist doch nicht möglich, daß es in ganz Lausanne nichts anderes gibt. MARK: War er denn nicht gut? MELINDA: Wer? 263
Der Kaviar. MELINDA: Natürlich war er gut. Aber das Lokal ist entsetzlich. Und die Kapelle tröstet einen auch nicht gerade darüber hinweg. MARK (hält den Kellner an und steckt ihm zwei Geldscheine in die Hand): Sagen Sie der Kapelle bitte, sie soll aufhören zu spielen. MELINDA: Bravo. Das sind die Trinkgelder, auf die es ankommt.
MARK:
(Mark nimmt ihre Hand. Der Kellner kommt mit dem Wein und schüttet beim Einschenken Mark etwas aufs Hemd.) KELLNER: Entschuldigen Sie, mein Herr. MELINDA: Siehst du, die Bedienung ist auch noch schlecht. Am besten wäre es, man gäbe ein Trinkgeld und bäte darum, die Kellner zu entlassen, einen neuen Koch einzustellen, das Restaurant abzureißen und ein neues zu bauen. MARK: Tu doch nicht so verwöhnt. MELINDA: Ich bin eben verwöhnt. MARK: Schmeckt dir der Wein nicht? MELINDA: Doch, der ist ausgezeichnet. Du bestellst gute Weine, seit du gemerkt hast, daß die Familie Rothschild besser als die Familie van der Belt ist. MARK: Ich mag nicht, wenn du dich über meine Familie lustig machst. MELINDA: Ich mache mich über dich lustig. MARK: Auch meine Schwester findet, daß du ein liebes Mädchen bist. MELINDA: Wie gütig. In deiner Familie wird also über mich gesprochen? MARK: In gewisser Hinsicht, ja. MELINDA: Weißt du, daß alle über uns Bescheid wissen? MARK (Entsetzen im Gesicht): Mach keine Witze. Du weißt, daß ich lieber stürbe, als Aglaia zu kränken. Sie darf nie etwas davon erfahren. Und dein jetziger Mann? Hat der nichts dagegen? MELINDA: Der ist doch noch neu. Der weiß das noch nicht. Er hat noch keine Zeit gehabt, dahinterzukommen, abgesehen davon, daß dein Name bei mehreren Telefongesprächen von einem Ende der Welt zum anderen gefallen ist. MARK: Weißt du, daß meine Schwester mit mir über dich gesprochen hat? MELINDA: Das hast du doch gerade eben gesagt. DER SCHAUSPIELER: Also, das ist doch nun wieder ganz dumm. Kein Mensch würde so etwas nach wenigen Minuten noch einmal sagen, wenn er nicht hoffnungslos vertrottelt ist. Und wenn Marks Rolle die eines Trottels ist, dann spiele ich nicht mehr mit. 264
(steht von einem Tisch auf, wo er von den Puppen nicht zu unterscheiden war, weil er nämlich selbst wie ein Schweizer oder gar wie eine Puppe aussieht): Hören Sie mal, ich will Ihr
DER REGISSEUR
Interesse an den Rollen und am Ablauf des Stücks gar nicht bestreiten, und ich finde es sogar sehr lobenswert. Aber diese ständigen Unterbrechungen bei einer Generalprobe muß ich mir verbitten. Wenn Sie etwas gegen das Stück haben, dann hätten Sie sich das eher überlegen sollen. Und wenn Sie jetzt Einwände haben, merken Sie sich bitte alles und sprechen am Schluß der Szene mit mir darüber. DER SCHAUSPIELER: Entschuldigen Sie. Aber jetzt haben wir ja sowieso eine Unterbrechung gemacht. Sagen Sie doch selbst, finden Sie das nicht auch? Dieser Mann kann doch nicht die Frau, mit der er vermutlich bis vor wenigen Augenblicken im Bett gelegen hat, zweimal hintereinander dasselbe fragen. Und außerdem müßte diese Melinda, wenn sie gerade miteinander geschlafen haben, auch ein bißchen sanfter mit ihm sein. DER REGISSEUR: Und woher wollen Sie wissen, daß sie vor dem Abendessen miteinander geschlafen haben? DER SCHAUSPIELER: Das ist doch klar. Wenn der Vorhang fällt, liegen die beiden nackt unter einem Badetuch. DER REGISSEUR: Das ist ja gerade das Schöne daran. Ein intelligenter Zuschauer wird der Szene im Restaurant entnehmen, daß es mit der Liebe nichts war. Sonst wäre Melinda jetzt nicht so gereizt. DER SCHAUSPIELER: Wenn ich das schon nicht verstanden habe, dann möchte ich wissen, wie der Zuschauer das begreifen soll. DER REGISSEUR: Ein guter Schauspieler versteht nie etwas, verehrter Herr. Ihr Fehler ist, daß Sie zuviel verstehen wollen. Ein guter Schauspieler ist ein kompletter Idiot. DER SCHAUSPIELER: Das ist nicht nur eine persönliche Beleidigung, sondern geht gegen meine Berufsehre. Ich verlange, daß Sie sich entschuldigen. DER REGISSEUR: Ich bitte Sie und Ihren Beruf um Entschuldigung. Aber jetzt bitte keine Unterbrechungen mehr. Weitermachen. (Er
zieht sich in seinen Winkel zurück.) Das hast du doch gerade eben gesagt. MARK: Eine eigenartige Frau. Ein Gemisch aus Angst und Liebe. Und so schwermütig. Ich hänge sehr an ihr. Ich fürchte nur, daß sie meiner Tochter gleicht. MELINDA (desinteressiert): Und wie ist deine Tochter? MELINDA:
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Wie meine Schwester. MELINDA: Und wahrscheinlich ist deine Schwester wie deine Tochter. MARK: Manche Dinge verstehst du einfach nicht. Deine Familie hat keinen Zusammenhalt. Aber faszinierend ist sie, das muß ich zugeben. Wie ist Medoro eigentlich? Man hat mir schon viel von ihm erzählt. Er muß sehr nett sein, wenn auch nicht sehr interessant. Vor Abraham habe ich Angst, aber er ist hochintelligent. Erzähl mir ein bißchen von Abraham, was er tut ... ich würde so gern ein bißchen mehr über dein Familienleben wissen. Meines ist im Grunde ein Mißerfolg. Eine Scheidung muß man teuer bezahlen. Habe ich dir jemals von meiner ersten Frau erzählt? MELINDA: Mehrmals. Soll ich dir wirklich von meiner Familie und von Abraham erzählen? MARK: Weißt du, das Unglück bei meiner ersten Frau war, daß sie so dumm war. Ein gutes Mädchen, aber sie verstand mich nicht, und ich verstand sie nicht. Konventionell, langweilig. Sie langweilte mich entsetzlich. MELINDA: Und mit Aglaia langweilst du dich nie? MARK: Bitte frag mich nie nach Aglaia. MELINDA: Ich dachte, du sprichst gern über deine Familie. MARK: Nein, gar nicht. MELINDA: Und warum tust du es dann dauernd? MARK:
Der Kellner kommt mit dem Kaffee. MARK: Hast du den bestellt? Willst du Kaffee? MELINDA: Nein, aber laß gut sein. Er wird sowieso scheußlich schmecken. MARK: Weißt du, daß wir uns streiten, und zwar ohne jeden Grund? MELINDA: Aber ich streite mich doch gar nicht. Lieber ... entschuldige ... ich hab dich doch so lieb, und ich habe mich so nach dir gesehnt. Du hast mir so gefehlt.
Sie streckt die Hand nach ihm aus, und so kommt es, daß der Kellner diesmal Melinda ein bißchen kochend heißen Kaffee über den Arm gießt. Jetzt könnten wir einen kleinen Spaziergang am See entlang machen und dabei daran denken, ohne es auszusprechen, wie sehr wir uns lieben und wie glücklich wir sind, daß wir hier zusammen sind, und die Sterne betrachten. MARK: Aber es sind doch Wolken am Himmel. MELINDA (seufzend): Ja, es sind tatsächlich Wolken am Himmel.
Der Vorhang fällt. 266
«Entschuldigen Sie, wenn ich noch einmal davon anfange. Aber sind Sie sich Ihrer Sache bei diesem Stück wirklich sicher? Wer hat es eigentlich ausgesucht?» «Wir haben es zusammen ausgesucht, der Direktor und ich. Und ich dachte, es hätte Ihnen gefallen, als Sie es das erste Mal lasen.» «Lesen ist eben etwas anderes. Aber spielen ... Es hat weder Hand noch Fuß.» «Wir haben doch schon mehrere Proben gehabt.» «Aber noch keine Generalprobe.» «Sie hätten es sich eben vorher überlegen sollen. Was finden Sie eigentlich so unannehmbar daran?» «Die beiden Hauptgestalten natürlich.» «Die Hauptgestalten sind doch ausgezeichnet. Merken Sie nicht, daß sie unser eigenes Wesen spiegeln, das Wesen von uns allen ...» «Sie sprechen wie ein Regisseur.» «Und Sie wie ein Schauspieler.» «Ich möchte mal wissen, was der Autor sagen würde, wenn Sie ihm einen Satz wie an den Kopf werfen würden. Die Hauptpersonen sind Individuen, die für bestimmte Menschen stehen, aber nicht für alle und alles.» «Dann müßten sie Ihnen doch gefallen.» «Nein. Das Schlimme an diesen Gestalten ist doch gerade, daß sie überhaupt keine Beziehung zur Wirklichkeit haben. Menschen wie Mark und Melinda gibt es nicht.» «Da bin ich aber ganz anderer Meinung. Das Schöne an einem Stück ist ja gerade, daß jeder es auf seine Art sehen kann.» «Nein, Sie als Regisseur müssen den anderen Ihre Art, es zu sehen, aufzwingen.» «Ich als Regisseur möchte der Phantasie des Schauspielers und des Zuschauers Spielraum lassen. So, und jetzt ziehen Sie sich bitte um.» «Was heißt hier umziehen? In der nächsten Szene bin ich nackt.» «Stimmt doch gar nicht. Sie haben einen Pyjama an.» «Also gut, mehr oder weniger nackt.» «Gehen Sie und ziehen Sie sich Ihren Pyjama an, damit wir bald nach Hause kommen. Die Frau des Beleuchters erwartet jeden Augenblick ein Kind.» «Was der Ärmste wohl von dem Stück hält?» «Er sagt, es gefällt ihm.» «Das sagt er wahrscheinlich nur aus Höflichkeit Ihnen gegenüber.» 267
DRITTE SZENE
Die gleiche Zimmerflucht wie am Anfang. Im letzten Zimmer, in dem zu Anfang der ersten Szene Melinda schlief, Mark und Melinda im selben Bett. Ein Arm von Mark in einem weißen Pyjamaärmel und ein Stück von Melindas Körper. Es muß etwa sechs Uhr morgens sein, denn durch die Vorhänge der Fenster auf der einen Seite der Bühne fällt trübes Licht. Mark hat schon die Augen geöffnet. Er dreht sich ein paarmal im Bett um. MARK: Schläfst du? MELINDA dreht sich um und kehrt ihm den Rücken zu. MARK (lauter): Schläfst du, Liebes? MELINDA (gähnend): Jetzt nicht mehr. MARK: Wieviel Uhr ist es wohl? MELINDA: Früh. MÄRK: Wann geht dein Flugzeug? MELINDA: Um zwölf. Amerigo holt mich um zwei in Rom am Flugplatz ab. Fliegst du früher oder später? MARK: Ein bißchen früher. MELINDA: Typisch. Und ich bleibe allein zurück. MARK: Das hab ich doch nicht absichtlich so eingerichtet. MELINDA: Das hätte auch gerade noch gefehlt. Wie fühlst du dich? MARK: Habe ich geschnarcht? MELINDA: Ich glaube nicht. Aber wenn ich erst mal schlafe, höre ich nichts mehr. MARK: Mein Bruder schnarcht noch viel lauter als ich und beklagt sich trotzdem jedesmal, wenn ich ein bißchen säge. MELINDA: Wieso? Schlaft ihr denn zusammen? MARK: Nein, aber manchmal ist es vorgekommen. Meine Familie verlangt von ihren Angehörigen absolute Vollkommenheit und absoluten Konformismus. Aber natürlich sind wir alle Individualisten und insgesamt nicht besonders konformistisch. Nur auf seiten des Gesetzes steht meine Familie immer, auch wenn das Gesetz irrt. Bei der Scheidung sind sie immer auf seiten der Frau und gegen die Scheidung. Meine Mutter hat, als es darum ging, ihren Bruder zu verteidigen ... MELINDA: Wir bleiben bis zu unserer Abreise im Bett. MARK: Du hörst mir ja gar nicht zu. 268
Entschuldige, Lieber, aber ich bin noch so müde. MARK: Aglaia darf nichts von Lausanne erfahren. MELINDA: Ich schreibe ihr gleich einen Brief und empfehle ihr das Restaurant von gestern abend. MARK: Laß die albernen Witze. MELINDA: Oder besser noch, ich schreibe an den Herausgeber der (Times>: «Sir! » Unterschrift: «Your obedient servant.» Auch Amerigo darf nicht den leisesten Verdacht haben. Ich habe ihm ein Telegramm aus Paris geschickt. Oder, genau gesagt, einer meiner früheren Männer hat es geschickt. Darf ich dich anfassen? Ich möchte dich so gern anfassen. MELINDA:
Melinda streichelt ihm übers Gesicht und die Arme. Küßt ihn aufs Ohr. Marks Gesichtsausdruck verwandelt sich. Ekstase und Freude. Er zieht die Pyjamajacke aus, die unter der Bettdecke herausrutscht. MARK: Wenn ich überhaupt etwas einzuwenden hätte, dann nur, daß du mich zuwenig anfaßt.
Allmählich wird es heller im Zimmer. Aber auch das Tageslicht bleibt trüb, beinahe weiß. Mark und Melinda umarmen sich. Einzelheiten bleiben den Schauspielern überlassen. Ihre Bewegungen sollen nicht übertrieben sein, aber Freude und vollständige Hingabe verraten. Im Hintergrund Großstadtlärm. Man hört Glokkengeläut, GeräUsche aus dem Hotel, auf dem Gang werden Türen zugeschlagen, klappert Geschirr auf Frühstückstabletts. Willst du dir selbst deinen Spaß machen? MELINDA: Wie du willst, Lieber. MARK: Wenn du es allein machst, warte auf mich.
Sie küssen sich wieder. DER SCHAUSPIELER: Hören Sie mal, entschuldigen Sie, wenn ich schon wieder unterbreche ...
Auf die Bühne, die bisher halbdunkel war, fällt helles Scheinwerferlicht. DER REGISSEUR (kommt aus den Kulissen, mit müder, enttäuschter Stimme): Was wollen Sie denn jetzt schon wieder? DER SCHAUSPIELER: Bitte, entschuldigen Sie. Aber hier kann ich einfach nicht weiter. DER REGISSEUR: Also gut, dann eben nicht. Die Rolle ist nicht sehr groß, wir werden einen anderen Schauspieler dafür finden. Aber was haben Sie denn eigentlich nun schon wieder? DER SCHAUSPIELER: Sehen Sie, ich geniere mich. Wenn die Szene wirk269
lich gut werden soll, dann müssen wir tatsächlich miteinander schlafen. DER REGISSEUR: Na, tun Sie es doch. DER SCHAUSPIELER: Wie kann ich das vor dem ganzen Publikum? Diese junge Dame so umarmen ...Na, ich möchte Sie mal sehen ... DER REGISSEUR: Denken Sie dabei an etwas anderes. DER SCHAUSPIELER: Woran denn? DER REGISSEUR: An Ihre Kinder, an Ihre Frau, an Schmorbraten, an Schulden. Woher soll ich denn wissen, was für Sie die unangenehmsten Gedanken sind. DER SCHAUSPIELER: Ich habe keine Kinder. DER REGISSEUR: Dann denken Sie daran, was für ein Unglück es ist, daß Sie keine haben. DER SCHAUSPIELER: Und warum ist Mark denn plötzlich so daran interessiert, mit Melinda zu schlafen? DER REGISSEUR: Weil Melinda ihm gefällt, und zwar sehr. Und irgendwie ist er auch in sie verliebt, hingerissen von ihr, bezaubert. (Zu der Schauspielerin:) Wie sehen Sie die Sache? DIE SCHAUSPIELERIN: Keine Ahnung. Sie schlafen eben miteinander. Dazu sind sie schließlich ins Hotel gekommen. Schön dumm, wenn sie es nun nicht täten. DER REGISSEUR: Das ist die richtige Intuition und schlichte weibliche Vernunft. Bitte, machen Sie weiter. Es war doch gut, wirkungsvoll, ausgezeichnet, möchte ich sagen ... und sagen Sie mir nach der Probe, was Sie auszusetzen haben. MARK: Wenn du es allein machst, warte auf mich.
Wieder Glockengeläut. Das Zimmertelefon klingelt. Melinda greifl nach dem Hörer. MELINDA: Hallo? Ja? Neun Uhr? Danke. Schicken Sie bitte zwei Kaffee und zweimal Orangensaft herauf. (Zu Mark:) Möchtest du auch ein Ei?
(Mark nickt.) Und ein Spiegelei.
(Mark macht mit den Fingern ein Zeichen.) Nein, zwei bitte.
(Mark macht ihr wieder ein Zeichen.) ... und Wurst. Danke. Das ist alles. Wie kannst du das bloß alles essen?
Melinda beugt sich über ihn, umarmt ihn, nimmt die Pyjamajacke, schlüpfl hinein und steht auf. Sie geht ans Fenster und zieht 270
den Vorhang auf. Durch das Fenster sieht man Lausanne unter einer dicken Schneedecke. Es schneit noch immer. Melinda schaut sich das ein paar Minuten an. Sieh mal, Liebling, wie schön. MARK: Wie schön. Es muß die ganze Nacht geschneit haben. (Er
zieht sich seinen Morgenrock an, steht auf, geht zu Melinda und schaut mit ihr zusammen aus dem Fenster.) Wenn es schneit, bekomme ich immer Heimweh. Es erinnert mich an meine Kindheit, an mein Zuhause, an den verschneiten Park ... MELINDA: Du lieber Himmel.
Sie schaut Mark erschrocken an, als sei ihr etwas Entsetzliches eingefallen. MARK: WaS ist? MELINDA: Das Flugzeug. MARK: Wir rufen sofort den Portier und den Flughafen an. Daran habe ich nicht gedacht. Großer Gott. Ich glaube nicht, daß wir heute vormittag noch wegkommen. MELINDA: Aber ich muß es unbedingt schaffen.
Mark nimmt den Telefonhörer ab. MARK: Ist da der Empfang? Ja. Der Flugplatz geschlossen? Das habe ich mir schon gedacht. Meinen Sie, daß später ... Wie sieht es denn mit Zügen aus? Können Sie nachschauen, ob heute vormittag ein Zug nach Mailand fährt, und einer über Paris nach London? Schon sehr besetzt ... Na, sehen Sie mal zu, was sich machen läßt, es kommt nicht darauf an, was es kostet ... Wenn es erst heute abend geht, natürlich Schlafwagen ... Rufen Sie mich bitte wieder an, sobald Sie etwas wissen ... MELINDA: Aber ich kann nicht erst heute abend abreisen. Amerigo holt mich um zwei in Rom am Flugplatz ab. Und ich kann ihm nicht erzählen, daß ich wegen Schnee in Lausanne nicht habe abfliegen können. Was soll ich denn in Lausanne gemacht haben? Ausgerechnet in Lausanne, der einzigen Stadt, in die ich nie komme! MARK: Nur mit der Ruhe. Es wird sich alles finden. Wir müssen uns jetzt in aller Ruhe eine Ausrede ausdenken. Dann kommst du eben morgen an. Ich finde es ganz schön, daß ich noch ein bißchen länger mit dir zusammensein kann. MELINDA: So, wie ich dich kenne, wirst du in fünf Minuten einen Zug bekommen, und meiner geht erst morgen abend, und schließlich fährt er überhaupt nicht, und am Ende finde ich mich in Prag wieder. 271
MARK
(faßt sie unz die Taille): So ein dummes kleines Mädchen.
Komm, sei lieb.
Melinda lehnt ihren Kopf an Marks Schulter und schaut in den Schnee hinaus. Was glaubst du, was mit uns beiden ist? MELINDA: Wie meinst du das? MARK: Liebst du mich? Glaubst du, daß ich dich liebe? MELINDA: So was überlege ich mir nie. Aber wenn ich es mir schon überlegen soll, dann mußt du mich wohl ein bißchen lieb haben, wenn du diese ganze Sache gemacht hast ... MARK: Im Grunde bin ich ja meines Bruders wegen nach Lausanne gekommen ... MELINDA: So eine Gemeinheit hättest du nun wirklich nicht sagen dürfen. ' MARK: Aber es ist doch die Wahrheit. MELINDA: Aber hat deine verehrte Frau Mama dir nicht schon in der Wiege gesungen, daß man niemals die Wahrheit sagen darf? MARK: Ich glaube, daß wir beide uns lieben und uns öfter sehen sollten. Und daß wir öfter so zusammensein sollten. MELINDA: Aber jedesmal, wenn wir uns sehen wollen, überlegst du es dir zum Schluß doch anders. MARK: Das ist nicht wahr ... Das werde ich nie wieder tun ... Wann sehen wir uns wieder? MELINDA: Jetzt muß ich erst mal nach New York. Ich weiß noch nicht für wie lange, aber ich denke, für ein paar Wochen. MARK: Was hast du denn schon wieder in New York zu tun? MELINDA: Geschäftliche Angelegenheiten ... MARK: Tu doch nicht so geheimnisvoll. Als Geschäftsfrau kann ich mir dich überhaupt nicht vorstellen. Erzähl doch mal, was sind denn das für Geschäfte? MELINDA (sorgenvoll): Was soll ich dir sagen ... Familienangelegenheiten, Aktien ... Du mit all deinem Geld wirst ja wohl auch solche Sachen am Bein haben. MARK: Ja, aber wir haben ein Büro, das diese Dinge erledigt. Natürlich müssen wir uns hin und wieder auch selbst darum kümmern. Wo wirst du wohnen? MELINDA: Ich wollte wieder ins Plaza. MARK: Du willst ins Hotel? Willst du nicht lieber meine Wohnung haben? Die steht leer. Wenn du willst, lasse ich dir morgen die Schlüssel schicken. 272
Wo liegt sie denn? MARK: Park Avenue, 65. Straße. MELINDA: Das ist ja großartig. Und sie steht immer leer? MARK: Fast immer. Ja, ich weiß, das ist Verschwendung. Aber ich hasse New York. Was soll ich schließlich auch in New York? MELINDA:
(Das Telefon läutet.) Wie? Das finde ich aber sonderbar. Sind Sie sicher? Na gut, dann nehmen Sie die sofort. Und rufen Sie mich an, wenn sich eine andere Möglichkeit ergibt. — Das ist ja verrückt. Es gibt keinen Zug nach Paris und keinen nach Mailand. Streik. Und bei der BEA wird auch gestreikt. Das einzige, was er uns vorschlagen kann, ist heute nacht ein Zug nach Wien, und von dort können wir morgen früh nach Rom und nach London fliegen. Schlafwagen, alles in Ordnung. Aber er sagt, es sei sehr schwierig gewesen. MELINDA: Na, dann also Geduld, was bleibt uns anderes übrig. Das bedeutet eine weitere Scheidung für mich.
Mark und Melinda schauen wieder in den Schnee hinaus. Die Unordnung im Zimmer hinter ihnen ist nicht weniger eindrucksvoll als der Luxus. Im vollen Tageslicht sieht Melindas Negligj leicht und durchsichtig aus. Ein Kellner betritt das Zimmer mit einem silbernen Tablett, das mit Obst, Eiern und Aufschnitt beladen ist. In diesem Augenblick fällt der Vorhang. DER REGISSEUR (geht auf den Schauspieler zu): So, jetzt wollen wir mal ein ernstes Wort miteinander reden. Sie müssen sich auf der Stelle entscheiden, ob Sie auf die Rolle verzichten. Ich habe einen Schauspieler angerufen, der bereit wäre, sofort zu kommen. Natürlich müßten wir mit den Proben von vorn anfangen. Und denken Sie auch daran, daß Sie einen Vertrag unterschrieben haben. Ich will Ihnen ganz offen sagen, daß Sie Ärger bekommen könnten. DER SCHAUSPIELER: Nein, nein. Die letzte Szene finde ich schon sehr viel besser. Die beiden sind sich doch wenigstens nähergekommen, sind menschlicher geworden. DER REGISSEUR: Ich will nicht wissen, wie Sie die letzte Szene finden, sondern ob Sie weitermachen oder nicht. DER SCHAUSPIELER: Na, gut. DER REGISSEUR: Aber nicht mit dieser Märtyrermiene. Was meinen 273
Sie, wie viele Leute sich darum reißen würden, bei mir zu arbeiten. DER SCHAUSPIELER: Die nächste Szene ist, wenn ich nicht irre, die letzte. DER REGISSEUR: Natürlich ist es die letzte. Und keine Unterbrechungen mehr ... Verstanden? VIERTE SZENE Schlafwagen. Es ist Nacht. Die Vorhänge sind geschlossen, auf dem Tisch eine Flasche Cognac und eine mit Mineralwasser. Mark und Melinda sitzen auf der Bettkante. Alle Koffer liegen auf dem oberen Bett. MELINDA: Das hat mir Spaß gemacht. MARK: Was hat dir Spaß gemacht? So herumzulaufen? MELINDA: Man hat das Gefühl, man wäre in Rußland, wenn man so im Schnee am Zug entlanggeht. Und von einem Nachtlokal zum anderen ziehen, um sich die Zeit zu vertreiben, das erinnert an Hemingway. MARK: Nur daß sich bei Hemingway alle Hauptpersonen zufällig im Nachtlokal getroffen hätten ... dein Mann, meine Frau, Abraham, meine Familie ... MELINDA: Manchmal sagst du wirklich etwas Gescheites. MARK: Wie liebenswürdig. Manchmal? Und sonst immer nur dummes Zeug? Was denkst du eigentlich von mir, Melinda? MELINDA: Stell mir doch nicht immer solche Fragen, ich weiß nie, was ich darauf antworten soll. Ich denke, daß du besser bist als ich, daß du mich lieb hast, und ich gehe gern mit dir ins Bett. Der Schaffner betritt das Abteil. DER SCHAFFNER: Guten Abend, bitte die Fahrkarten. Mark sucht erst in seiner Manteltasche, dann in seiner Jacke. Er wird immer nervöser, bis er schließlich merkt, daß die Fahrkarten auf dem Tisch neben den Flaschen liegen. MARK: Da sind sie. DER SCHAFFNER: Und Ihre Pässe? Wir kommen morgen früh um sieben Uhr an. Wann wollen Sie geweckt werden? MARK: Na, sagen wir um sechs. MELINDA: Um halb sieben reicht auch noch.
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Mark und Melinda suchen nach ihren Pässen. Wollen Sie bitte dieses Formular ausfüllen? Eines genügt — für Sie und Ihre Frau. MARK: Eigentlich ... DER SCHAFFNER (reicht Melinda ein Formular): Oh, entschuldigen Sie. Dann ist es besser, wenn Sie auch eines ausfüllen. Was wünschen Sie morgen früh? MELINDA: Zwei Kaffee und zweimal Orangensaft. DER SCHAFFNER: Wir geben kein Frühstück. Wir haben nur VichyWasser. MARK: Dann nichts. Dann frühstücken wir in Wien. MELINDA: Ich bin seit Jahren nicht mehr in Wien gewesen. Das letzte Mal war ich mit meinem Vater und Medoro dort, das war in der Besatzungszeit ... Ich erinnere mich noch an die Wachablösung zwischen Amerikanern und Russen ... Und an die kleinen russischen Soldaten, die sich nicht fotografieren lassen wollten, und an die Operetten und die ganze Misere ... Und dann muß ich mit Jacques oder Lawrence noch einmal dort gewesen sein, aber daran kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Ich weiß nur noch, daß wir mittags und abends im Sacher gegessen haben und daß wir zweimal in der Oper waren. DER SCHAFFNER: Schön, dann gute Nacht, die Herrschaften. Ich klopfe also um halb sieben. MARK: Danke. MELINDA: Gute Nacht und danke. MARK: Nie in Wien gewesen. Ich reise ja so wenig. MELINDA: Dabei bist du so reich und brauchst nicht zu arbeiten. An deiner Stelle würde ich immer unterwegs sein. Bist du eigentlich sehr reich? MARK: Ich habe mehr Geld, als ich beim besten Willen ausgeben könnte. Und du, bist du reich? MELINDA: Ja, aber das ist natürlich nichts, verglichen mit dir. Trotzdem brauche ich mein Leben lang nicht zu arbeiten und kann mir alles leisten, was ich will. MARK: Bekommst du Geld von deinen Männern? MELINDA: Keiner von meinen Männern hat mir je auch nur einen Pfennig gegeben. Dazu habe ich es immer viel zu eilig mit der Scheidung. MARK: Und wieso hast du dann soviel Geld? MELINDA (schaut ihn an): Ich habe viel verdient. DEFZ SCHAFFNER:
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Als Spionin ... MELINDA: Bravo, wie hast du denn das ...? MARK: Ich kann es nicht ausstehen, wenn du so witzig tust. Also sag, wie hast du das Geld verdient? MELINDA: Ich hab es gestohlen. MARK: Na gut, wenn du es nicht sagen willst, dann muß ich eben annehmen, daß du es auf dem Strich verdient hast. MELINDA: Denk, was du willst, aber zieh dich dabei aus. Ich bin müde. Ich finde es himmlisch, im Zug zu schlafen. MARK: Ich werde dich nicht lange schlafen lassen. Laß uns in einem Bett schlafen. MELINDA: Eigentlich ist das Bett nicht breit genug dazu. Aber wir können es ja versuchen. Ich schlafe gern mit dir in einem Bett. MARK: Wäre es dir unangenehm, wenn ich dich betröge? MELINDA: In welcher Hinsicht? MARK: Wenn ich mit einer anderen Frau ins Bett ginge? MELINDA: Ich will doch hoffen, daß du ab und zu mit Aglaia ins Bett gehst. MARK: Natürlich, sei doch nicht albern. Ich meine, abgesehen von Aglaia. MELINDA: Aber gar nicht, Lieber, das würde mich nicht im geringsten stören. Hauptsache, du hast mich immer ein bißchen lieb und ärgerst mich nicht, wenn wir zusammen sind. Warum? Hast du noch eine andere Geliebte? MARK: Nein, nein, natürlich nicht. Schließlich habe ich deinetwegen gerade genug Gewissensbisse. Aber bist du wirklich nicht eifersüchtig? MELINDA: Nein, ich glaube, das bin ich nie gewesen. Und dir, wäre es dir unangenehm? MARK: Ja, dabei möchte ich nicht wissen, wie oft du es schon getan hast. MELINDA: Was? MARK: Wie oft du schon mit einem anderen Mann ins Bett gegangen bist, seit wir uns kennen, zum Beispiel mit diesem Jungen am Meer ... MELINDA: Aber du betrachtest dich doch hoffentlich nicht als meinen einzigen und alleinigen offiziellen Geliebten? Wir sehen uns doch nie. DIE SCHAUSPIELERIN (schaut sich um): Herr Regisseur? DER REGISSEUR: Fangen Sie jetzt auch noch an? MARK:
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Ich meine, all diese Dinge ... Kurz und gut, keine Frau würde so etwas zu einem Mann sagen. DER REGISSEUR: Wenige. Und ich glaube, daß der Autor gerade das hat deutlich machen wollen. Daß Melinda nicht wie andere Frauen ist. DIE SCHAUSPIELERIN: Melinda hat Mark doch gerade erst gesagt, daß man lügen muß ... DER REGISSEUR: Ja, aber für sie selbst gelten keine Regeln. Und sie findet es nur natürlich, keine Bindungen zu haben, keine Eifersucht zu kennen. Meinen Sie nicht, daß das zu ihrem Charakter gehört? DIE SCHAUSPIELERIN: Mag sein ... ich will ja nicht kritisieren, aber ich finde das keine schöne Rolle. DER REGISSEUR: Hören Sie, Sie haben Ihre Sache bisher so gut gemacht. Bitte machen Sie so weiter. Jetzt müssen Sie sich ausziehen, aber mit Grazie, keine Striptease-Szene wie im Cabaret, unbewußter, selbstverständlicher. DIE SCHAUSPIELERIN:
Melinda zieht sich schnell aus und schlüpfl in ihr Nachthemd. Auch Mark zieht sich seine diversen Tweedjacken und -westen aus. Ich mag, wie du dich anziehst. Ich mag auch, wie du dich anziehst. MELINDA: Siehst du das denn überhaupt? MARK: Natürlich. MELINDA: Was habe ich heute abend angehabt? MELINDA: MARK:
Mark schaut um sich, dann wendet er sich den Kleidern zu, die Melinda an der Wand aufgehängt hat. Nein, erinnern kann ich mich nicht, aber gesehen habe ich es. Er steigt ins Bett und schiebt Melinda zur Seite. Beide liegen un-
MARK:
ter der Decke. Wollen wir das Fenster aufmachen? MELINDA: Um Himmels willen. Es ist schon gerade kalt genug. MARK: Gleich wird es dir nicht mehr kalt sein. Er küßt ihre Hände, ihren Hals und drängt sich an sie. Während
das Rattern des Zuges immer lauter wird, fällt der Vorhang. Gut. Ich bin zufrieden. Morgen proben wir die Szene im Restaurant noch einmal, und übermorgen ist Sonntag. Montag ist Premiere. (Tritt an die Rampe.) Sie können gehen. (Zu den Schauspielern:) Keine Einwendungen mehr?
DER REGISSEUR:
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Nein, nein. Wenn bloß meine Perücke nicht so dicht wäre. Die Haare kommen mir dauernd in den Mund, wenn ich spreche. DER REGISSEUR: Wenden Sie sich deswegen an den Maskenbildner. Und Sie? DER SCHAUSPIELER: Sind Sie auch sicher, daß das das Ende ist? DER REGISSEUR: Ganz sicher. DER SCHAUSPIELER: Dann hat diese Komödie also gar keine richtige Schlußszene? DER REGISSEUR: Das ist doch gar keine Komödie. DER SCHAUSPIELER: Es wird ja wohl keine Tragödie sein. DER REGISSEUR: Dafür gibt es keinen richtigen Ausdruck. Aber ich sehe auch gar nicht ein, warum man das so genau definieren müßte. Das Ende besteht darin, daß es nun immer so weitergeht. DER SCHAUSPIELER: Aber es geht doch gar nicht immer so weiter. Denn die beiden schlafen miteinander, dann kommen sie in Wien an, frühstücken, und dann nimmt jeder sein Flugzeug, und der eine fliegt dahin und der andere dorthin. Melinda muß sich scheiden lassen, wenn wir das, was sie sagt, richtig verstanden haben, und fährt dann nach New York. Aber man weiß doch nicht einmal, ob Mark und Melinda sich eines Tages wiedersehen werden. DER REGISSEUR: Das werden wir nie erfahren. Und es ist auch gar nicht wichtig. Die beiden Personen sind überhaupt nicht so wichtig. Wichtig ist die Situation. Und das Verhältnis Mark—Melinda ist nur ein Anlaß, um andere Dinge auszusprechen. DER SCHAUSPIELER: Aber als Schauspieler interessiere ich mich doch für die beiden. Ich möchte mehr über Mark wissen und wie die Sache schließlich endet. DER REGISSEUR: Vielleicht haben Sie recht, vielleicht sollte der Roman weitergehen. DER SCHAUSPIELER: Wieso der Roman? Hier geht es doch um Theater. DER REGISSEUR: Machen Sie sich darüber keine Gedanken, das soll Sache des Autors sein. DER SCHAUSPIELER: Und wird der Autor das Stück weiterschreiben, und müssen wir bis Montag noch mehr Proben einlegen und uns darauf vorbereiten? DER REGISSEUR (in Gedanken): Nein, nein. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Der Roman muß weitergehen ... DIE SCHAUSPIELERIN:
Der Regisseur geht nachdenklich fort, und der Schauspieler macht 278
der Schauspielerin ein Zeichen, das bedeutet, daß er den Regisseur für verrückt hält. Diesmal kam ihr der Flug über den Atlantik kurz vor, und sie freute sich, daß sie nicht ins Hotel mußte. Amerigo aus Wien anzurufen war keine sehr glänzende Idee gewesen, und zum Glück waren sie sich in Rom gar nicht begegnet. An die Nacht im Zug mit Mark würde sie noch ein Weilchen denken. Aber mit Mark hatte sie Schluß gemacht. Die New Yorker Wohnung der van der Belts war ziemlich groß und hatte zwei Telefone. Sie hatte auch erfahren, daß der neue Premierminister sie auf seine Jahresliste gesetzt hatte: sie war zur Baronin ernannt worden. Der arme Anthony — nun war er nur noch Schatten-Premier. Das war er nicht gewohnt. Aber vielleicht würde er nun etwas mehr Zeit haben, so daß sie sich in Zukunft häufiger sehen konnten. Sie hatte auch Helen am Telefon gesprochen. Helen war bereits in Tanger. Sie hatte gesagt, sie habe ein schönes Lokal für die Boutique und das Labor gekauft, ganz in der Nähe des Hotels Mirzah, und sei gerade dabei, eine Liste verschiedener Spermata zusammenzustellen. Melinda solle sich vor allem um slawischen Samen kümmern, denn danach herrsche große Nachfrage. Das sei gerade Mode, und für Melinda mit ihren Sprachkenntnissen könne es ja nicht schwierig sein ... vielleicht von einem Wissenschaftler oder einem Astronauten ... besser noch von einem Nobelpreisträger. Melinda hatte von einer Schweizer Bank ioo 000 Dollar auf eine marokkanische Bank zugunsten von Melinda Vespucci und ioo 000 auf eine Bank in Tunis zugunsten von M. Inchball überweisen lassen. Jetzt mußte sie sofort die Sache mit Gambaino III in Angriff nehmen. Sie rief das Büro des Sexyboy Club an. «Kann ich bitte die Sekretärin von Anthony G. Gambaino III sprechen? Hier Baronin Publishing (das war in diesem Fall angebracht), ich muß ihn dringend sehen. Möglichst noch heute abend.» Gambaino wollte mit ihr zu einer Party gehen, anschließend würden sie zusammen zu Abend essen. Die Sekretärin betonte, es sei ein besonderes Entgegenkommen, Herr Gambaino habe deswegen eine Einladung zum Abendessen und eine nach dem Abendessen absagen müssen. 279
Melinda ging aus dem Haus. Sie hatte vergessen, daß bald Weihnachten war. Die Dekorationen wirkten in ihrer Üppigkeit geradezu widerwärtig. Wozu gab es Weihnachten? Damit man christmas cards mit den Fotos seiner Kinder verschickte, die von den Freunden sofort mit dem Todesurteil «Die Ärmsten, die sehen ja genau aus wie ihr Vater» bedacht wurden, oder Fotos der eigenen Landhäuser, um bei den Empfängern Neid oder Hochachtung zu wecken? Das Schlimmste war, daß sie Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder einkaufen mußte. Sie hatte das noch nie getan, war aber entschlossen, in diesem Jahr damit zu beginnen. Sie ging in ein großes Warenhaus, das stark überheizt war. Sie legte ihren Pavianpelz ab und suchte nach einer Garderobe. Musik, viele Leute, ungezogene Verkäuferinnen. Sie verzichtete darauf, für ihre Kinder Geschenke zu kaufen. Im Vorübergehen sah sie ein schönes Halstuch, und da niemand ihr zuschaute, steckte sie es zuammen mit einer Handvoll anderer Tücher, die ihr überhaupt nicht gefielen, in die Tasche. Weiter durch die Stadt. Am lustigsten war Fifth Avenue. Im übrigen fand sie New York nicht besonders eindrucksvoll — Europa war beinahe schon ebenso amerikanisch. Frauen, die auffallend wie exotische Vögel waren. Über ihr die erleuchteten Fenster der Wolkenkratzer. Vor Tiffany blieb sie stehen. Die Schaufenster waren elegant. Sie ging hinein und ließ sich von George Trilling die schönsten Schmuckstücke zeigen. Trilling war Abteilungsdirektor, ein guter Freund von Erikson, elegant, unauffällig, klatschsüchtig und sehr unangenehm. «Melinda, was machen Sie denn in New York?» «Ich wollte Tiffany wiedersehen und Sie, natürlich.» «Wollen Sie etwas kaufen?» «Ich wollte mir Schmuck ansehen. Heute abend möchte ich auf jemanden großen Eindruck machen.» «Und wie ist dieser Jemand?» «Hundsordinär. Geld ist bei ihm alles. Also auffälliger Schmuck, der nicht mal besonders schön zu sein braucht.» «Wenn Sie wollen, leihen wir Ihnen ein paar Stücke, wenn Sie die Versicherung für heute abend bezahlen.» Er ging mit ihr in den dritten Stock, in eine kleine Abteilung voller Vitrinen. Sie enthielten gewaltige Colliers, riesige Anstecknadeln, voluminöse Ohrringe. Daneben lag ein besonders schöner Rubinring, der sich wie eine Alge wand. 28 0
«Trilling, den kaufe ich, und die Nadel und die Kette trage ich heute abend. Die gefallen mir nicht.» Gambaino III saß nicht in dem Wagen, mit dem sie abgeholt wurde. Der Chauffeur sagte, er lasse sich entschuldigen und komme direkt zu Lili Triumph. Lilis Wohnung lag zwischen der Fünften Straße und Madison Avenue und war selbstverständlich superluxuriös. Alles in weiß, die Wände, die Teppiche, die Vorhänge, die Ledersofas, die mit Tweed bezogenen Sessel und die Dame des Hauses. Melinda ging auf sie zu. «Ich bin Melinda Publishing. Herr Gambaino hat mich eingeladen. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich hier einfach so hereingeschneit komme, aber ich hoffe, daß Sie wenigstens über mein Kommen unterrichtet sind.» «Der gute Anthony. Immer bringt er eine Überraschung mit. Und diesmal Sie. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Sie sind keine Amerikanerin, nicht wahr? Ich heiße Lili Triumph. Aber vergessen Sie meinen Nachnamen sofort wieder. Ich heiße einfach Lili. Und was machen Sie?» «Ich beschäftige mich mit Politik.» Sie hatte schnell herausgefunden, wie man sich in einem amerikanischen Salon am besten einführte. «Wie interessant. Sind Sie Journalistin?» «Nein. Ich mache Politik. Ich bin Abgeordnete gewesen und bin jetzt im Oberhaus.» «Sie sind doch nicht etwa die ... ach, das ist aber eine Ehre, eine Freude. Mir kam Ihr Name doch gleich bekannt vor ... Und wofür interessieren Sie sich sonst noch?» «Wie meinen Sie das?» «Interessieren Sie sich für Kunst? Ich würde Ihnen gern meine Sammlung zeigen, wissen Sie, mein Mann malt und sammelt ...» «Das sehe ich», sagte Melinda und schaute sich um. «Das ist unser Mir6», sagte Lili Triumph und zeigte auf ein Bild, das von niemand anders als von Mir6 sein konnte. «Und das ist einer von unseren beiden Renoirs.» (Wie nicht anders zu erwarten, war es einer von den greulichen rötlichen späten Renoirs.) «Und das ist unser Utrillo.» (Echt oder nicht, jedenfalls war er scheußlich.) «Und Sie, sammeln Sie auch?» Amerikanische Sammelwut, der Gipfel des Konventionellen. Und der Gipfel des Gipfels waren die Impressionisten. 28 1
«Auf dem Land habe ich auch ein paar Bilder. Aber ich habe kein richtiges Zuhause oder jedenfalls wohne ich nicht dort.» «Was für Bilder?» «Einen Guercino, ein paar Salvator Rosas ...» «Wie bitte?» «Salvator Rosa.» «Ein Italiener? Ein Moderner?» «Nein, kein Moderner ...» Lili Triumph hatte jedes Interesse verloren. «Was darf ich Ihnen zu trinken geben?» «Einen Gin Tonic bitte.» Die einzige Möglichkeit, nicht zu viel zu trinken, wie Melinda aus Erfahrung wußte. Das zweite Glas würde nur Tonic Water, ohne Gin, enthalten. Denn wenn das Glas leer blieb, würde die Gastgeberin gekränkt sein. «Lieben Sie die kreativen Künste?» Sie fühlte sich immer versucht, diese Frage, die ihr unweigerlich bei jeder amerikanischen Cocktailparty gestellt wurde, mit nein zu beantworten, aber sie tat, als hätte sie nicht verstanden. «Kommen Sie, ich stelle Ihnen ein paar Freunde vor.» « Jil, das ist die Baronin Publishing, eine sehr interessante Frau. Und das ist Barbara ... Oh, da kommt ja Anthony!» Gambaino kam auf sie zu und küßte ihr die Hand, was allgemein bewundert wurde. «Mir küßt du nie die Hand, Anthony», sagte Lili und klopfte ihm auf die Schulter. «Entschuldigen Sie meine Verspätung, Baronin. Lili, kennt ihr euch schon? Wie geht's?» Anthony G. Gambaino sah wie geleckt aus, obwohl er heute weder in Leder noch in Gummi steckte. Nach allen Seiten grüßend, verschwand er im Nebenzimmer. Offenbar kannte er hier jeden. Melinda kannte das Milieu nicht und begriff nicht, unter was für eine Sorte Menschen sie hier geraten war. Sie wußte nur, daß sich in New York die einzelnen sozialen Gruppen niemals vermischen. Sie stellte sich zu einem schon halbbetrunkenen Mann. «Sie sind wunderschön. Wie heißen Sie?» fragte er sie. «Ich schaue Sie an, seit Sie hereingekommen sind. Was machen Sie? Und wo kommen Sie her?» «Und wer ist Lili Triumph?» «Was, Sie wissen nicht, wer Lili Triumph ist?» 282
«Nein, keine Ahnung.» «Aber wo leben Sie denn?» «In Europa.» «Aber ich meine doch, auch in Europa ...» «Wer ist sie denn?» «Eine Sängerin.» «Berühmt?» « Ja, sehr. Und steinreich. Allmählich nicht mehr taufrisch, wie Sie sehen, aber immer noch glänzend.» «Und das ist ihr Mann?» «Das ist ihr zweiter Mann. Er malt. Sie lieben sich heiß. Der erste ist gestorben.» «Der Arme.» «Ihr hat man einen Prozeß angehängt. Aber um Gottes willen, sprechen Sie hier nicht davon.» «Wieso das?» «Weil man ihn tot in ihrem Zimmer gefunden hat, mit drei Kugeln im Bauch. Sie wurde wegen Mord angeklagt. Außerdem war er schwerreich ...» «Und Lili hat geerbt ...» «Lili hat alles geerbt.» «Und dann hat sie zu sammeln angefangen.» «Die Sammlung hatte sie schon zum Teil. Wollen wir heute abend zusammen essen gehen?» «Ich bin mit Herrn Gambaino verabredet.» «Ich wußte gar nicht, daß Gambaino Freundinnen hat.» «Das ist seine Angelegenheit.» Sie lernte einen Modezeichner kennen. Er hieß Kasper und hatte schwarzes Haar. «Und was machen Sie?» «Und woher kommen Sie?» «Und wofür interessieren Sie sich?» Die ersten Fragen waren immer dieselben. Das war wie ein Ritus. Kasper brachte ihr einen weiteren Drink und ließ sich ihre Telefonnummer geben. Melinda notierte sich die seine. «Ich gehe nie auf Cocktailparties. Aber wie gut, daß ich heute gekommen bin. Sie haben herrlichen Schmuck ...» «Danke.» «Von Tiffany?» «Haben Sie die Sachen schon einmal gesehen?» 283
«Ich erkenne den Stil. Sind Sie sehr reich?» «Sehr. Und Sie?» «Nicht besonders. Aber ich verdiene gut. Können wir morgen zusammen ausgehen?» «Gern.» « Was möchten Sie machen?» «Tourismus. Ich kenne New York noch nicht sehr gut.» Ein aufgeschwemmtes Mädchen kuschelte sich an einen Pianisten, der zu spielen begonnen hatte. Sie war volltrunken und hatte ein rosa Kleid an. «Kasper», grölte sie. Schließlich fiel sie um und brach in Tränen aus. «Kasper, Kasper, Kasper.» Melinda beschloß, Kasper der Dicken zu überlassen, und hörte einer Unterhaltung zwischen Barbara, einer anderen Dame und, wie sie vermutete, Barbaras Mann zu. «Dieses Jahr sind Shifts Mode.» «Ich habe mir ein ganz süßes gekauft.» «Ich erinnere mich noch an das dunkelblaue, das du neulich abend anhattest. Wo hast du das gekauft?» «Und wie findest du das plissierte?» Von dem Ehemann nahmen sie keinerlei Notiz. «Kasper», lallte die Dicke wieder. «Nicht wahr, Liebling, das rosa Shift mit der Stickerei?» Und wieder zu ihrer Freundin gewandt: «Das mag er nämlich am liebsten.» «Wir könnten allmählich gehen», sagte Melinda zu Gambaino, der gerade an ihr vorüberging. «Schon? So früh?» protestierte Lili. «Der Geiger spielt jetzt. Ein wunderbarer Geiger, und vielleicht singt auch jemand.» «Ich hoffe doch, du, Lili», sagte Gambaino. «Ich bin etwas müde. Aber Sie kommen doch zu meiner Aufführung?» sagte sie zu Melinda. «Ich lasse mir von Anthony Ihre Adresse geben.» Sie traten in den Abend hinaus. Gambaino war offenbar nicht gewohnt, in Begleitung einer einzigen Person, insbesondere einer Frau, auszugehen. Sie gingen in ein Restaurant. «Ich empfehle Ihnen den Alaska-Krebs», sagte der Oberkellner. Der Krebs war riesig und köstlich. Gambaino schien von ihrer
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Verfressenheit tief beeindruckt. Melinda trank Pouilly Fum — allein, denn Gambaino war Abstinenzler. «Sagen Sie, Gambaino», begann Melinda nach einer etwas schleppenden Unterhaltung über England, «erinnern Sie sich noch an das tragische Ereignis, das meiner Häschenkarriere ein Ende machte?» «Als die drei ...» «Als Häschen Roberta sich über die Brüstung stürzte und die anderen beiden Häschen, während ich im Saal war, auf die gleiche schreckliche Weise umkamen. Soweit Sie konnten, haben Sie im Sexyboy Club damals die Presse aus dieser Angelegenheit herausgehalten. Und jetzt würde ich gern ein paar Dinge von Ihnen wissen; natürlich werde ich alles, was Sie mir sagen, streng vertraulich behandeln.» «Was möchten Sie wissen?» fragte Gambaino einigermaßen überrascht und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Aber das war bei ihm kein Zeichen nervöser Anspannung — er schwitzte immer. «Roberta war Ex-Kommunistin und lesbische Nazistin. Sie stand im Dienst einer Großmacht, und auch die beiden anderen waren Agentinnen. Machen wir uns doch nichts vor: Sie, im Sexyboy Club, müssen das ganz genau gewußt haben, sonst hätten Sie nicht dabei geholfen, der Polizei ein Lügenmärchen aufzutischen. Und ohne Ihre tatkräftige Hilfe wäre ganz bestimmt die eine oder andere unerfreuliche Einzelheit in die Zeitung gekommen. Für wen haben die drei Häschen gearbeitet? Wer hat Sie bezahlt, Gambaino?» «Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Baronin.» «Was verdienen Sie, Gambaino?» «Ziemlich viel.» «Das habe ich mir gedacht, aber heute abend möchte ich die Rechnung bezahlen, denn eigentlich habe ja ich Sie zum Abendessen eingeladen.» «Das kommt doch gar nicht in Frage, Baronin ...» Melinda zog einen Scheck über 5o 000 Dollar aus ihrer Brieftasche. Er war auf den Namen Anthony G. Gambaino III ausgestellt, aber noch nicht unterschrieben. «Dieses Restaurant ist sehr teuer ...» «Sehr teuer ...» wiederholte Gambaino und betrachtete Melindas Schmuck. Offenbar war ihm aufgegangen, daß er echt war. «Kennen Sie Ostrowskij?» « Ja.» 285
«Machen Sie sich keine Sorgen. Ich sage Ihnen noch einmal, niemand wird erfahren, woher ich meine Informationen habe. Außerdem spiele ich Ihnen gegenüber mit offenen Karten. Sie können also wirklich sicher sein. Sie haben eine Waffe gegen mich in der Hand. Wußten Sie, daß die drei Häschen Agentinnen waren?» «Die Häschen waren auf Empfehlung des Grafen de Blamonche, für den Ostrowskij arbeitet, im Club angestellt worden.» Ostrowskij hatte für Blamonche gearbeitet ... Melinda hatte also auf Korsika den Chef umgebracht ... «Dann kam es plötzlich zu Spannungen zwischen den beiden», fuhr Gambaino fort. «Blamonche hatte irgend etwas vor und bat uns, die drei Häschen in einen neuen Sexyboy Club zu versetzen, der in Berlin eröffnet werden sollte. Er selbst wollte diesen Club finanzieren. Damals ist Ostrowskij, der sich mit Blamonche überworfen hatte, hier in New York an uns herangetreten.» «Hat er Ihnen Geld gegeben?» «Das auch. Vor allem aber hat er uns vor Blamonche und den drei Mädchen gewarnt. Er hat uns gesagt, sie seien gefährlich und müßten aus dem Weg geräumt werden. Darum werde er sich kümmern. Aber er hat uns gebeten, ihm Hilfestellung zu leisten.» «Wußten Sie von mir?» «Erst als es zu dem Skandal kam, haben wir begriffen.» «Wer wir? Sie und wer noch?» «Ich und Metcalf. Pfeifer weiß nichts davon.» «Dann wußten Sie vermutlich auch, daß das Mädchen im Saal, von dem alle glaubten, ich sei es, jemand anders war.» «Natürlich. Wir hatten sie doch besorgt. Denken Sie doch daran, daß Metcalf der Hauptzeuge war.» «Und wo ist Ostrowskij?» «Wenn er nicht mit Ihrem Bruder Medoro in Europa herumreist, auf dem Land in Enston.» «Und von dort aus leitet er sein Agentennetz. Was ist das eigentlich für ein Netz? Für wen arbeitet er?» «Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß Blamonche auf eigene Rechnung arbeitete, daß er eine Art Agentur hatte, die ihre Dienste bald dem einen, bald dem anderen Land zur Verfügung stellte. Aber ich glaube nicht, daß sie irgendwelche größeren Operationen unternommen haben. Das hatten sie wohl gerade vor, als es zum Streit zwischen ihnen kam.» «Hat Ostrowskij in letzter Zeit mal von sich hören lassen?» 286
«Nein, aber wir wissen, wo er ist.» «Wo?» «In seiner Klinik. Er arbeitet dort unter dem Namen Dr. Pjotr Dief als Chiropraktiker. Und hat eine Glatze.» «Gut getarnt?» «So heißt es. Ich habe ihn in dieser Maskierung nie gesehen.» «Macht Ostrowskij das Ihrer Meinung nach alles nur zum Spaß?» «Ich halte das für möglich. Sicher ist, daß er viel Geld hat.» Melinda wußte, daß Ostrowskij durch den Bahnüberfall zu bemerkenswertem Reichtum gekommen war. «Aber er ist auch von Haus aus vermögend, nicht wahr? Er hat mir etwas von einem Schloß in Polen erzählt, und ich weiß, daß er ein Haus in Grenoble und eines in London hat. Und dann diese Klinik, die bestimmt auch eine ganze Menge abwirft ...» «Warum haben Sie mich das alles gefragt? Für wen arbeiten Sie?» «Augenblicklich auf eigene Rechnung. Pure Neugierde. Ostrowskij hat mir nie etwas erklären wollen. Und ich bin in mancher Hinsicht sehr neugierig.» «Und was haben Sie jetzt vor?» «Nichts weiter. Ich bin zufrieden damit, daß ich wieder ein bißchen herausgekriegt habe. Kennen Sie eine Madame Nubytch?» «Nubytch? Nicht daß ich wüßte. Nie gehört, diesen Namen.» «Ich glaube, ich habe ganz vergessen, den Scheck zu unterschreiben, Gambaino.» Anthony G. Gambaino III reichte ihr den Scheck. Melinda unterschrieb ihn. «Vielleicht lassen Sie das Geld am besten auf einer Schweizer Bank. Auf diese Weise können Sie sich und mir Steuern und Ärger ersparen.» «Eine glänzende Idee. Um so mehr, als die Schweiz mein Lieblingsland ist.» Das war ja ganz einfach gewesen, dachte Melinda, als sie das Restaurant verließen. Nicht gerade sehr intelligent von Ostrowskij, alle diese Zeugen frei herumlaufen zu lassen. Aber vielleicht plante er längst, Gambaino, Metcalf und sie selbst beseitigen zu lassen. «Gehen wir ein paar Schritte?» Gambaino fand das eine ausgefallene Idee. Sie gingen über den Times Square. Ein Mann in Hemdsärmeln wurde von zwei Polizisten aus einem Kino geworfen. Auf der Camel-Reklame stieg nach wie vor Rauch aus einem riesigen Mund. 2 87
«Und was halten Sie von Ostrowskij?» «Ein sonderbarer Bursche. Ein Spion besonderer Art.» Gambaino bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Jetzt kann er mir gefährlich werden, sagte sich Melinda. Das hatte sie nicht bedacht. Er konnte Ostrowskij anrufen und von ihm noch mehr Geld bekommen für den kleinen Hinweis, Melinda wisse inzwischen zuviel. Wenn er erst mal nachzudenken begann, würde ihm so manches Licht aufgehen. Wahrscheinlich war er schon auf dem besten Weg dazu. Und ihn heute abend umzulegen, daran war gar nicht zu denken. Zu viele Menschen hatten sie zusammen gesehen. «Haben Sie eine Wohnung in New York?» «Ja, ein Haus am Fluß.» «Wie schön. Wo denn?» «Am East River.» «Wenn Sie mich gelegentlich einladen, würde ich Sie gern einmal besuchen. Es macht mir immer Spaß, Wohnungen anderer Leute zu sehen.» Eile war geboten, damit Gambaino nicht vorher etwas mit dem Scheck unternahm. «Ist der Scheck gedeckt?» fragte Gambaino, als hätte Melinda laut gedacht. «Was für eine Frage, Herr Gambaino.» «Kommen Sie doch übermorgen abend zum Abendessen.» Bis dahin würde er mehr Zeit als genug haben, um festzustellen, ob der Scheck gedeckt war. «Eine gute Idee. Und Ihre Adresse?» «452 East 52. Straße.» «Um wieviel Uhr soll ich kommen, und wen lerne ich bei Ihnen kennen?» «Kommen Sie um sieben. Ich werde schon ein paar interessante Leute auftreiben.» Sie trennten sich um halb zwölf. Anthony G. Gambaino III brachte sie nach Hause. Melinda rief Kasper an. «Guten Abend. Wie schön, daß ich dich zu Hause erreiche.» «Was machen wir?» «Gehen wir aus?» «Jetzt?» «Genau.» «Ich hole dich ab.» 288
Melinda zog sich um. Ein bequemeres Kleid, Schuhe mit flachen Absätzen, der Schmuck blieb zu Hause. Nun noch die Handschuhe und den kleinen Revolver. «Wie nett, daß du mich einfach angerufen hast. Das würde kein amerikanisches Mädchen tun.» «Ich wollte dich unbedingt heute noch sehen. Ich konnte nicht bis morgen warten.» «Wo gehen wir hin? Warum hast du dich umgezogen?» «Irgendwohin, wo es nett ist.» Sie gingen in einen Nightclub, der Serene hieß. Leute, die tanzten, und eine Gruppe von Negern, die sangen. «Hier ist es ungefähr wie in Harlem, so wie Harlem war, als man noch hingehen konnte.» Sie tanzten. Zuerst einen schnellen Rhythmus. Dann langsam, wobei sie sich umarmten. Im Grunde war dieser Kasper gar nicht so übel. « Wollen wir noch woanders hingehen?» «Gefällt es dir hier nicht?» «Doch, sehr. Aber ich möchte noch etwas anderes sehen.» Sie gingen in ein eleganteres Lokal. «Essen wir etwas?» Sie bestellten und hielten Händchen. «Du, Kasper, ich fühle mich nicht gut.» « Wollen wir gehen?» «Nein, entschuldige mich einen Augenblick. Ich gehe mal zur Toilette. Ich bin gleich wieder da.» Sie ging zur Toilette. Das ließ sich ja gut an. Es gab keine Toilettenfrau. Jetzt mußte sie rasch handeln. Sie sprang aus dem Fenster und in ein Taxi, das draußen stand, als habe es auf sie gewartet. «East 52. Straße, bitte.» Nur Pech, wenn Gambaino inzwischen noch nicht nach Hause gekommen war. Sie stieg an der Ecke aus. Bezahlte das Taxi. Um diese Tageszeit kam man schnell voran. Acht Minuten. Jemand ging die Straße entlang ... Das müßte schon ein großer Glücksfall sein ... Doch, er war es ... Sie steckte den Schalldämpfer in den Revolver der armen Nora. Mit Vergnügen erinnerte sie sich daran, daß das Dingelchen in ihrer Hand dieser ebenso gewitzten wie unglücklichen Agentin gehört hatte. Melinda blieb stehen. Kein Mensch weit und breit, außer Gambaino. Er hatte wahrscheinlich seinen Wagen in einer Garage abgestellt. Sie mußte ihn mit dem ersten Schuß nie289
derstrecken und dafür sorgen, daß er nicht schrie. Gambaino kam eiligen Schrittes auf sie zu. Achtung. Nur noch wenige Schritte, und er war in Schußweite. So, jetzt. Sie zielte. Gambaino III fiel — nicht ganz lautlos, aber ohne zu schreien. Melinda drückte sich an die Mauer und zog sich ihre Handschuhe an. Sie mußte den Scheck wiederbekommen. Sie schaute sich um. Niemand. Der Scheck war noch in der Jackentasche, wohin Gambaino ihn im Restaurant gesteckt hatte. Sie machte sich auf den Rückweg, eilig, aber so, als wäre nichts geschehen. Wieder ein Taxi. Fünfzehn Minuten später war sie zurück in der Damentoilette. Ein wenig bleich kam sie heraus. Den Scheck hatte sie in Fetzen gerissen, die in der weitläufigen Kanalisation von New York verschwunden waren. «Entschuldige. Ich mußte mich übergeben. Habe ich dich lange warten lassen?» «Nein. Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Ich war drauf und dran, nach dir zu schauen ... Wollen wir gehen?» «Nein, ich weiß nicht wieso, aber plötzlich habe ich einen furchtbaren Hunger. Laß uns etwas essen.» Anschließend gingen sie zusammen nach Hause und miteinander ins Bett. Nach ihrem Anruf bei ihm und dem Theater in dem Lokal ließ sich das nicht gut vermeiden. Und in gewisser Weise war sie ihm ja auch dankbar, weil er ihr ein so gutes Alibi verschafft hatte. Morgens um sechs läutete das Telefon. Melinda wachte auf. Ihr einer Arm, der unter Kaspers schwerem Rücken gelegen hatte, war eingeschlafen und kribbelte. Es kostete sie einige Anstrengung, nach dem Hörer zu greifen. «Liebes? Bist du allein im Bett?» «Aber natürlich, Mark.» Sie gab Kasper ein Zeichen, er solle still sein. «Was hast du gemacht?» Wie lustig wäre es gewesen, wenn sie ihm hätte sagen können: «Ich habe gestern abend einen Menschen umgebracht» und er ihr nicht geglaubt hätte. «Erst war ich bei einem Cocktail, dann habe ich mit irgend so einem Langweiler zu Abend gegessen, und dann bin ich mit jemand anders ausgegangen. Wir waren in ein paar Nachtlokalen.» « Wann kommst du zurück?» Sie durfte nicht gleich abreisen. 290
«Etwa in einer Woche.» «Ich werde nicht in London sein, wenn du zurückkommst. Ich mache eine Reise.» «Wohin denn?» «Weiß ich nicht. Hast du mir geschrieben?» «Noch nicht.» «Warum nicht?» «Ich hatte dir nichts zu sagen. Außerdem bin ich gerade erst angekommen.» «Fehle ich dir?» «Und ich dir?» « Ja.» «Dann setz dich in ein Flugzeug und komm.» «Das ist doch Unsinn. Alle würden es erfahren.» «Mir macht das nichts aus, ich lasse mich sowieso scheiden.» «Aber ich nicht.» «Immer das gleiche.» «Willst du etwa, daß ich mich scheiden lasse?» «Warum nicht?» «Du willst dich doch nicht etwa wieder verheiraten?» «Nein.» «Darf ich dich wieder anrufen?» «Es ist ja schließlich deine Wohnung ...» «Aber möchtest du es?» «Nein.» «Warum nicht?» « Weil ich mich verlieben möchte.» «Warum?» «Weil ich heiraten möchte.» «Noch einmal?» «Warum nicht?» «Hast du jemanden kennengelernt ...» «Viele.» «Nein, jemanden, der dir den Hof gemacht hat?» «Ja, sicher.» «Wahrscheinlich hast du längst wieder Heiratsanträge oder zumindest andere Anträge bekommen.» «Ehrlich gesagt, bisher noch nicht. Aber ich will nicht wieder einen Amerikaner heiraten.» « Wen willst du denn heiraten?» 291
«Keinen blassen Schimmer.» «Schreibst du mir?» «Wahrscheinlich.» «Ich rufe dich wieder an.» «Wie du willst.» «Tschüs.» «Tschüs.» Kasper war entsetzt über diese Unterhaltung. Zu einem weiteren Gespräch mit Mark kam es nicht mehr, weil Melinda noch am selben Tag mit dem Zug nach Washington fuhr. Kay Kenth hatte sie zu sich eingeladen, und Melinda verzichtete darauf, in New York ihre Telefonnummer zu hinterlassen. In den Morgenzeitungen, die sie auf dem Bahnhof kaufte, stand kein Wort über Gambaino. Die Abendzeitungen dagegen brachten die Meldung groß heraus. Wenn Ostrowskij das las und erfuhr, daß Melinda in New York gewesen war, würde er die Wahrheit erraten. «Wie ist Washington?» fragte Melinda den Senator. «Langweilig für jeden normalen Menschen, außer für Politiker. Aber sagen Sie das bloß niemandem, Sie würden sich nur Feinde machen. Und sagen Sie auch nicht, daß ich Ihnen das gesagt habe.» «Ich möchte wissen, warum man sich unter einem Senator immer einen alten, langweiligen Mann vorstellt. Sie sehen doch glänzend aus.» «Finden Sie? Tatsächlich?» «Und was macht man so in Washington?» «Hier regieren die Damen. Erst regierte die Kennedy-Dynastie; zur Zeit ist es etwas besser, weil das Weiße Haus gesellschaftlich nicht mehr eine so große Rolle spielt. Aber wenn eine Dame nicht zu einem Empfang im Weißen Haus eingeladen wird, tut sie so, als sei sie unterwegs nach Europa oder sterbenskrank.» «Ist Washington denn so klein?» « Ja, und es gibt hier keine interessanten Leute, außer in politischen Kreisen.» «Ein Jammer, daß Washington nur so tut, als sei es eine Hauptstadt. Kein Theater, kein literarisches Leben ...» «Wem sagen Sie das ...» Der langweilige Senator fühlte sich indessen verpflichtet, antikommunistische Konversation zu machen. Der Kommunismus sei die größte Gefahr für Amerika. Ein Kommunist sei ein Wesen be292
sonderer Art, ein höchst bedenkliches Individuum und auf jeden Fall ein Mensch, den man um keinen Preis in die Staaten hereinlassen dürfe. Er riet ihr, das FBI-Gebäude zu besichtigen. Dort könne sie sehen, wie Amerika sich gegen den Kommunismus verteidige. In Washington herumzulaufen, war nicht möglich, da es eine eigentliche Stadt gar nicht gab. Zwischen den Grabmonumenten, Parks, Botschaften und Museen dehnten sich breite Alleen, die kein Ende nahmen. Man hatte das Gefühl, in einer Stadt zu sein, die eben erst erfunden worden war, und selbst Georgetown, das alte und vornehme Viertel, sah dermaßen geleckt aus, daß es künstlich wirkte. Es gab das bitterarme Negerquartier und haufenweise kleine Einfamilienhäuser, und dann gab es natürlich das Weiße Haus. Der gut aussehende Senator nahm Melinda mit, um ihr das Weiße Haus zu zeigen. Eine ziemlich bescheidene Angelegenheit. An den Wänden langweilige Bilder, da und dort ein hübscher Gegenstand. Und von hier aus konnte man die kleine Caroline spielen sehen ... Und das ist der Rosengarten, den Mrs. Johnson zu Ehren von Mrs. Kennedy angelegt hat. Er heißt <Jackie garden>. «Haben Sie die Kennedys nicht allmählich satt?» Der Senator selbst war klug genug, um diesen Mythos mehr als satt zu haben, aber er hatte nicht mit einer solchen Frage von seiten einer Touristin gerechnet. Schließlich war Kennedy für Washington das gleiche, was der heilige Franz für Assisi oder der heilige Antonius für Padua war. «Wenn Ihnen das Weiße Haus nicht gefällt, können wir ja an den Kanal fahren.» «An welchen Kanal?» «Den Georgetown-Kanal.» Sie stiegen in die schwarze Limousine; wie üblich, etliche Kilometer Fahrt. «Auch nicht anders als in Europa», beschwerte sich Melinda, nachdem sie einen flüchtigen Blick auf den Kanal und die kleinen, altertümlich wirkenden Häuser geworfen hatte. «Was machen wir denn nur, um Sie zufriedenzustellen?» Der Senator sah gut aus, sein Haus war in der Nähe, seine Frau nicht da. Sie nahmen ein spätes Frühstück zu sich, das hauptsächlich aus Austern und Muscheln bestand. Für Melinda war es gar nicht so einfach, die Austern zu schlürfen, da der Senator ständig ihre Hand zwischen den seinen hielt. 293
«Stimmt es eigentlich, daß Sie die Freundin des ehemaligen britischen Premierministers waren?» «Nein, das stimmt nicht.» «Es ist Ihr gutes Recht, mir so zu antworten. Und es ist mein gutes Recht, Ihnen das nicht zu glauben.» Daß man ihr niemals die Wahrheit glaubte — Melinda hätte es allmählich wissen sollen. «Ein interessanter Mann. Ich habe ihn bei seinem Besuch in Washington kennengelernt.» «Ein intelligenter Mann. Und ein sehr guter Freund.» «Ein sehr guter Freund?» «Einer von den wenigen Menschen, von denen ich glaube, daß ich mich stets auf sie verlassen kann.» «Aber, sagen Sie, Melinda, haben Sie es denn nötig, sich auf jemanden zu verlassen? Bei Ihrer gesellschaftlichen Stellung sollte man doch annehmen, daß alle anderen sich um Ihre Gunst bemühen. Wenn ich nicht verheiratet wäre, würde ich Sie sofort bitten, meine Frau zu werden.» «Tatsächlich bin ich gerade auf der Suche nach einem Mann, den ich heiraten könnte ... Aber wir könnten schon deshalb nicht heiraten, weil ich nicht in Washington leben möchte.» «Das kann ich Ihnen nicht verdenken.» Schweigend tranken sie ihren Kaffee. Melinda betrachtete das Hemd des Senators. Die Knöpfchen auf den Kragen amerikanischer Hemden waren ihr geradezu physisch zuwider. Hätte sie sie vorher bemerkt, wäre sie nicht mit dem Senator ins Bett gegangen. «Na gut, wenn dir das wirklich Spaß macht, können wir ja zusammen zum FBI gehen.» «Das wäre wunderbar.» « Wenn die Leute uns zusammensehen, wissen sie sofort, daß wir spaßeshalber dorthin gegangen sind.» «Warum sollte man sonst etwas besichtigen?» Ein riesenriesengroßes Gebäude. Und ein riesenriesengroßer Brief, unterschrieben von J. Edgar Hoover. «... in Anbetracht unserer Verantwortung erwarten wir, daß Ihr als einzelne Individuen in der Lage seid, uns entscheidend bei der Bekämpfung von Verbrechen und Kommunismus zu unterstützen.» Einige der Abteilungen waren faszinierend, zum Beispiel die mit der Kartei der Fingerabdrücke. «Wenn man sie aufeinanderstapelte, würde das eine Säule ergeben, die höher wäre als ...» 294
«Tatsächlich sind es im Augenblick 176 906 876.» «Besten Dank für die Information, Herr Senator.» «Und hier werden Blut und Ausscheidungen des menschlichen Körpers untersucht, um den Zeitpunkt des Todes auf Tag und Stunde genau festzustellen.» «Sie sind also doch schon einmal hier gewesen, geben Sie es zu.» «Im zweiten Stock ist die Propagandaabteilung: wie verteidige ich mich gegen den Kommunismus.» «Die müssen wir sofort besichtigen. Sagen Sie, gehört die CIA zum FBI?» «Nein, natürlich nicht.» Im zweiten Stock sahen sie den perfiden Stalin und den bösen Chruschtschow und eine Reihe von Fotos und Statistiken, die bewiesen, daß es auf der Welt nichts Schlimmeres als den Kommunismus gab. Eine große Eisenplastik — eine geballte Faust — symbolisierte den eisernen Zugriff des Sowjetregimes. «Das Erdgeschoß zeige ich dir nicht.» «Warum nicht?» «Weil es eine Karikatur der Vereinigten Staaten ist.» «Dann wollen wir es sofort besichtigen.» Peng, peng, peng — auf Puppen, die dann sofort umfielen. Warum war sie eigentlich in Washington? Und warum war sie mit dem Senator ins Bett gegangen, eine gymnastische Übung, die sie gelangweilt hatte, und warum fuhr sie nicht auf der Stelle nach Europa zurück, warum rief sie nicht Mark, Anthony und Abraham an, und warum reiste sie nicht schnurstracks zu Helen, um zu sehen, wie die Dinge dort standen, und warum suchte sie nicht Ostrowskij auf und warum ...? W-A-R-U-M: was für ein seltsames Wort. Wer es wohl erfunden hatte? Abraham würde bestimmt sofort eine pedantische Erklärung bereithaben. Woher das Wort kam, wie die lateinische Vokabel dafür hieß, die wiederum ursprünglich aus dem Griechischen stammte und auch im Hebräischen gebraucht worden sei und vermutlich sogar im Hethitischen ... Immer gab es ein Warum. Sich selbst aber durfte man nie nach dem Warum fragen. Melinda kehrte eilig zurück und zog sich um. Am Abend war sie zu einem Essen in der Sowjetischen Botschaft eingeladen. Es gab zwei Möglichkeiten: entweder aus Sympathie ein eher bescheidenes Kleid und keinen Schmuck oder das Galakleid mit den auffallenden Ohrringen und eine kunstvolle Frisur. Natürlich entschied sie sich für die zweite Möglichkeit. Allein dort zu erscheinen war nicht ge295
rade angenehm, und vor allem war sie es nicht gewohnt. Und schon war sie in einem Saal voll fremder Gesichter. Anscheinend sollte im Stehen gegessen werden. Damit hatte Melinda nicht gerechnet. Zwei große Tische und darauf eine Menge Brötchen und Schüsseln mit Kaviar und Salaten. (Allerdings fehlte der Russische Salat — wie humorlos.) Sofort wurde ihr ein Glas mit Wodka in die Hand gedrückt. In einer Hand die Tasche, in der anderen die Zigarette, wußte sie nicht, wo sie das Glas lassen sollte. Sie ging auf eine Dame zu, die aussah, als sei sie die Botschafterin. «Ich bin Melinda Publishing. Ich danke Ihnen für die Einladung.» Die Dame, die kaum Russisch sprach, gab ihr die Hand, begriff aber nicht, von welcher Einladung Melinda sprach. Sie war di8 Frau eines amerikanischen Journalisten. «Dummerweise sehen Sie sich so ähnlich.» «Wer?» «Sie, die Amerikaner, und die Russen. Ich denke mir, daß Sie beide etwas von den Deutschen haben. Wer ist der Botschafter?» Melinda wiederholte ihr Sprüchlein. Der Botschafter bedankte sich und gab ihr auf freundliche Weise zu verstehen, daß er anderes zu tun und andere Hände zu schütteln hatte. Ein Botschaftssekretär kam auf sie zu. «Helfen Sie mir bitte ein bißchen. Ich kenne hier keinen Menschen.» «Mein Name ist Boris Skolnikow.» «Ein schöner Name.» Er hatte ein angenehmes Gesicht und war sehr groß. «Sie sind die Baronin Publishing.» «Woher wissen Sie das?» «Ich habe veranlaßt, daß Sie eingeladen wurden.» «Und woher wußten Sie, daß ich hier in Washington bin?» «Aus einer Zeitungsnotiz.» Das gefiel ihr gar nicht. Wenn Ostrowskij regelmäßig die Zeitungen las, wie Melinda annahm, dann würde er alles begreifen. «Und was machen Sie?» «Ich bin der Erste Botschaftssekretär.» «Und worin besteht Ihre Arbeit?» «Ich kümmere mich ein bißchen um alles.» «Politik?» «So könnte man sagen.» 296
Er sprach gut Englisch. «Woher kommen Sie?» «Aus Georgien.» «Aus Tiflis?» «Genau.» «Da bin ich schon gewesen.» Die Unterhaltung war mühsam, aber mit einem zweiten Wodka würde es vielleicht besser gehen. «Lassen Sie uns doch etwas essen. Ich habe Hunger.» «Das hier ist nichts Besonderes. Warten Sie noch ein bißchen, dann führe ich Sie in den anderen Saal. Dort gibt es die besseren Sachen. Echten Kaviar.» «Und der hier?» «Der ist von minderer Qualität. Der drüben ist der grünliche, wissen Sie, der richtige, dicke.» «Seit wann sind Sie hier?» «Seit drei Jahren.» «Und sind Sie gern hier?» über Washington wollte er sich nicht äußern. «Ich verstehe, Sie mögen die Stadt nicht. Sie ist ja auch scheußlich. Und kommen Sie gelegentlich nach Rußland?» «Ich bin gerade erst letzte Woche dort gewesen.» «Tatsächlich? Urlaub?» «Beruflich, ich reise oft hin und her.» «Und was machen Sie in Moskau? Wen sehen Sie dort?» «Die Regierung natürlich und den Ministerpräsidenten.» «Würden Sie ihn von mir grüßen, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen? Wir hatten uns ganz gut angefreundet. Aber vielleicht ist es inzwischen ein ganz anderer ... lassen Sie mich mal überlegen, das war ... vor vier Jahren? Es ist doch gar nicht so lange her.» «Trotzdem ist es wohl ein anderer.» «Und der damalige, was macht der jetzt?» «Er lebt in aller Ruhe mit seiner Frau in einem hübschen Häuschen außerhalb von Moskau und ißt immer noch soviel.» «Und was tut er?» «Er lebt im Ruhestand. Schließlich ist er ja schon ziemlich alt. Und er ist glücklich, wenn er sich ein Pilzgericht kochen kann.» « Ja, ich erinnere mich, wir haben uns oft über Kochrezepte unterhalten.» «Und wie lange werden Sie hierbleiben?» 297
«Ich habe vor, morgen wieder abzureisen. Ich langweile mich hier schrecklich. Und außerdem habe ich einiges zu tun.» Mehrere Jungen in Bluejeans und karierten Hemden schlenderten durch den Saal. Die dazugehörigen Mädchen trugen Miniröcke und hatten sehr schwarz geschminkte Augen. «Wie kommen denn Gäste in diesem Aufzug hierher?» «Das sind die Kinder der Botschaftsangehörigen. Die lernen hier in wenigen Monaten, sich so anzuziehen.» «Kein sehr erfreulicher Anblick.» «Sind Sie verheiratet?» «Im Augenblick nicht. Und Sie?» «Ich bin ein alter Hagestolz. Waren Sie gern in Rußland?» «Sehr gern. Ich werde auch bald wieder hinfahren.» «Und wie finden Sie dieses Land?» «Genau wie Rußland, nur mehr Geld.» «Ist das Ihr Ernst?» «Ja, sicher. Genau wie Rußland.» «Kommen Sie, ich stelle Ihnen einige Leute vor. Wen möchten Sie kennenlernen?» «Ich weiß nicht, wer hier ist. Jedenfalls bitte keine Amerikaner und keine Journalisten.» «Damit fallen achtzig Prozent der Anwesenden fort. Sehen Sie den alten Herrn dort in dem Sessel? Das ist ein albanischer Wissen schaftler. Nobelpreisträger. Möchten Sie ihn kennenlernen?» Schleunigst den Nobelpreisträger kennenlernen. « Ja, gern.» Sie streckte ihr vielbewundertes Händchen der großen weißen Hand des Nobelpreisträgers entgegen. «Professor Mirko Sligowitz — Baronin Publishing.» «Wie haben Sie den Nobelpreis bekommen?» Er schaute sie mit einem breiten Lächeln an. Er sah aus wie Stephen Spender, ja vielleicht war es überhaupt Stephen Spender, und die Geschichte mit dem Nobelpreis war nur ein Witz. Nein, er antwortete in einem mühsamen Englisch. «Kommen Sie, kommen Sie. Setzen Sie sich zu mir, ich langweile mich entsetzlich. Gesellschaftliche Unternehmungen sind nichts für mich. Ich bin es nicht mehr gewohnt, so viele Mensch -en auf einmal zu sehen.» «Und was erfinden Sie?» «Mondraketen.» 29 8
«Sehr lustig. Aber sagen Sie mir doch im Ernst, was erfinden Sie?» «Raketen. Das ist die reine Wahrheit. Und der nächsten, die wir aufsteigen lassen, werde ich Ihren Namen geben.» «Wissen Sie denn, wie ich mit Vornamen heiße?» «Nein, aber Sie sind so schön, daß auch Ihr Name schön sein muß.» «Ich heiße Melinda. Ist das Ihr Ernst? Versprechen Sie mir das? Es würde mir großen Spaß machen. Ich komme dann auch und taufe sie mit einer Flasche Champagner.» «Das dürfte schon schwieriger sein.» «Und wo leben Sie?» « Je nachdem. Ich habe eine Wohnung in Moskau. Und dann bin ich oft auf Reisen.» «Wohin fahren Sie? Kommen Sie auch mal nach London? Und rufen Sie mich dann an?» «Nein, ich reise fast immer nur in der Sowjetunion.» Vorstehende Backenknochen und dunkle Haut. Außer von Spender Natter er auch ein bißchen von Robert Lowell. Eine ausgezeichnete Mischung. «Sie sehen aber gar nicht wie ein Albanier aus.» «Meine Mutter war Polin und mein Großvater Russe. Alles übrige an mir ist albanisch. Aber erzählen Sie mir ein bißchen von sich.» Melindas Gesellschaft machte ihm Spaß. «Ich bin hier und langweile mich. Aber seit ich Sie kennengelernt habe, langweile ich mich nicht mehr. Ich möchte unbedingt, daß Sie mir Ihre Rakete zeigen, und ich möchte schrecklich gern mit Ihnen ausgehen.» «Das ist für mich ein bißchen schwierig; ich spreche nicht sehr gut Englisch; ich bin nur für wenige Tage hier. Ich bin noch nie allein in Washington ausgegangen.» « Wo wohnen Sie denn?» Das wäre ein Glückstreffer für Helen gewesen. Albanisch-polnischrussisch, ein Nobelpreisträger und Wissenschaftler. «Natürlich in der Botschaft.» «Dann lassen Sie uns doch jetzt gehen.» «Das wäre dem Botschafter gegenüber, der uns so freundlich eingeladen hat, eine Ungezogenheit.» «Geben Sie doch zu, daß man Sie nicht allein ausgehen läßt.» «Nein, das stimmt nicht. Aber es wäre einfacher, wenn wir uns woanders träfen.» 299
«Wo?» «Zum Beispiel in Charkow.» «Das ist doch entsetzlich weit weg. Das geht nicht. Warum kommen Sie nicht mit mir nach Tanger?» «Nach Tanger? Was sollen wir denn dort?» «Ein bißchen zusammensein. Und dann kehren Sie nach Moskau zurück.» Er war nicht der Mann, der mit ihr ins Bett gehen würde. Es wäre ihm nicht einmal in den Sinn gekommen. Und nun kam auch noch eine Schar von ehrfürchtigen Bewunderern des Nobelpreisträgers. «Professor Sligowitz, geben Sie mir Ihre Adresse. Dann besuche ich Sie bestimmt.» Sie tauschten Zettelchen aus. Melinda trank noch einen Wodka und beschloß, zu Bett zu gehen, auch wenn sie allein schlafen mußte. Aber sie war glücklich, daß sie sich mit Mirko Sligowitz unterhalten hatte. Sie ahnte nicht, wie entscheidend diese Begegnung für sie werden sollte. Ein knielanger Tuchrock, eine geblümte Flanellbluse, und unter der Bluse ein üppiger Busen, der von einem wollenen Unterhemd plattgedrückt wurde. Feste Schuhe mit Gummisohlen, dunkles Haar, das in der Mitte gescheitelt und im Nacken achtlos zu einem Knoten hochgesteckt war. Eine armselige Armbanduhr, kleine Goldringe in den Ohrläppchen, dicke, seidene Strümpfe, etwas vorgebeugte Schultern und ein energischer Schritt, von heftigen Armbewegungen begleitet. Die Brille war ihr ein bißchen lästig, weil sie hinter den Ohren drückte. Sie hatte mehrere Verkleidungen ausprobiert. Dies war die überzeugendste und zugleich diejenige, die am leichtesten zu realisieren war. Sie mußte sich eilen, sonst würde sie es nicht schaffen, die Rolle der dreißigjährigen Olivia MacIntyre zu spielen, die an Nierensteinen litt, Sekretärin in einer Versicherungsagentur in Edinburgh; Charlotte Street, war und nur eine Woche Zeit hatte, um sich in dem berühmten Sanatorium Villa Felix, Besitzer Pjotr Dief, kurieren zu lassen. Sie hatte sich schon vor einigen Wochen schriftlich angemeldet und dabei Briefpapier der Versicherungsgesellschaft The Scottish Widows benutzt. In London hatte sie sich bei niemandem sehen lassen, nicht einmal bei Anthony oder Abraham. Mark würde sie ohne300
hin nicht mehr wiedersehen. Das hatte sie nach Lausanne beschlossen. Mit ihm ging doch immer alles schief, und heiraten würde er sie auf keinen Fall. Das war also nur Zeitverschwendung. Sie hatte nun ernsthaft beschlossen, sich Helens großem Projekt zu widmen, sehr viel Geld zu verdienen und viele neue Leute kennenzulernen. Sie würde einen anderen, weniger begehrenswerten, da erreichbaren, aber bestimmt auch befriedigenderen Mann als Mark finden. Melinda war mit der Bahn nach Enston gekommen und hatte dort ein Taxi genommen. Sie trug ein weißes Kunststoffköfferchen und eine glänzende, beigefarbene Ledertasche. Es hatte ihr viel Spaß gemacht, sich eine unmögliche Garderobe in der Oxford Street zusammenzukaufen: milchkaffeefarbene Abendschuhe und glänzende Satinblusen. Tagsüber aber mußte sie so aussehen, wie Olivia Maclntyre jeden Morgen im Büro ihrer Versicherungsgesellschaft erschien: scheußlich bedruckte Röcke und dicke Blusen. Sie hatte lange vor dem Spiegel geübt und dabei mehrere Arten, sich zu schminken, ausprobiert, wobei sie ihre Haut malträtierte und mit einem leichten schottischen Akzent sprach. Und nun war sie am Ziel. Die Allee war lang und düster, von Kiefern und blütenlosen Rhododendronhecken gesäumt. Der mächtige Bau der Villa Felix: hier also, in diesem roten, viktorianischen Landhaus mit den roten Türmchen, lebte Ostrowskij. Unter dem eleganten Säulenvorbau kam ein Angestellter hervor, der ihr das Gepäck abnahm. Melinda bezahlte das Taxi und gab so wenig Trinkgeld, daß der Taxichauffeur aus seinem Ärger keinen Hehl machte. Unsicherheit gehörte zu Olivias Figur. Mit zitternder Hand legte sie weitere sechs Pennies in die ausgestreckte Hand des unzufriedenen Fahrers. «Frau oder Fräulein?» fragte der Krankenpfleger in der Aufnahme. Jetzt hätte Olivia erröten müssen. «Fräulein», sagte Melinda und hoffte, dabei heftig zu erröten. «Wahrscheinlich sind Sie neu. Stimmt's?» In kaum hörbarem Flüsterton: «Ich komme zum erstenmal hierher, wenn Sie das meinen.» «Eine Schwester wird Sie zur Untersuchung ins Institut begleiten und Ihnen den Tageslauf in unserem Sanatorium erklären. Sie wissen ja, daß Villa Felix das beste Sanatorium seiner Art ist. Ich kann Ihnen nur gratulieren, daß Sie hierhergekommen sind. Ich sehe allerdings», fügte er hinzu, «daß Sie nur eine Woche bleiben wollen. 301
Das ist nicht genug. Ich hoffe, Sie sind sich darüber klar. Eine Woche, das ist zu kurz.» «Ich muß wieder in mein Büro.» Der Angestellte hatte ein gelbes Gesicht und sah alles andere als gesund aus. «Leberstörung, nicht wahr?» fragte er sie. «Ja.» Melinda versuchte sich daran zu erinnern, ob sie in ihrem Brief Nierensteine oder etwas anderes angegeben hatte. «Sie wissen sicherlich, daß wir an die Heilkraft des Fastens bei allen Störungen und vielen Krankheiten glauben. Manche Leute kommen hierher, um eine Abmagerungskur zu machen, andere nur, um wieder zu genesen. Zu unseren Patienten gehören Schauspieler, Geschäftsleute, Professoren und Angestellte wie Sie ... allerdings nicht viele Angestellte. Sie werden alle für einige Zeit zusammen leben. Ich möchte allerdings noch einmal betonen, eine Woche ist lächerlich wenig für eine erfolgreiche Kur.» Der Krankenpfleger musterte Melinda vom Scheitel bis zur Sohle. «Wir wären Ihnen für eine Anzahlung dankbar. Sagen wir vierzig Pfund.» Offensichtlich traute er Olivia Maclntyres finanziellen Möglichkeiten nicht ganz. «Das ist viel Geld, aber es lohnt sich», fuhr er fort. «Sie werden bald spüren, wie gut Ihnen der Aufenthalt hier tut. Und jetzt einen Augenblick bitte, ich rufe die Schwester, Miss Alice.» Er klingelte, und eine Schwester, deren Haar unter einem weißen Häubchen verborgen war, führte Melinda durch eine Reihe von Zimmern, in denen keine Menschenseele, wenige Möbel und viele Fernsehapparate zu sehen waren. Sie verließen das Haus durch eine Tür an der Rückseite und kamen auf eine Wiese, auf der einige Patienten saßen und die Feuchtigkeit genossen. « Jeder Patient wohnt in einem kleinen Chalet im Park. Im Haupthaus sind nur die Aufenthaltsräume, die Speisesäle und natürlich die Behandlungsräume.» Schwester Alice führte sie in ein winziges Zimmerchen. Auf dem einzigen Stuhl entdeckte Melinda ihr Gepäck. «Wenn Sie frieren, können Sie diesen Heizofen anmachen. Sie brauchen nur eine Münze einzuwerfen.» Sie folgte Melindas Blick, der verzweifelt nach einer zweiten Tür suchte. «Nein, ein Bad gibt es nicht. Zum Baden gehen die Patienten ins Haupthaus. Dort gibt es genug Bäder.» «Und morgens?» 302
«Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, hier läuft alles im Morgenrock herum. Kommen Sie bitte.» Melinda folgte Schwester Alice schweren Schrittes. Sie mußte immer an ihre Rolle denken. Wo steckte Ostrowskij bloß? «Das ist der Park. Wenn Sie wollen, können Sie Krocket spielen oder spazierengehen. Aber im allgemeinen sind die Patienten zu schwach dazu und schlafen den ganzen Tag. Sie werden schon sehen, wenn Sie mit dem Fasten anfangen, werden Sie sich auch sehr müde fühlen.» Eine fabelhafte Idee, die Leute fasten und dafür viel Geld bezahlen zu lassen und sie obendrein in armseligen Hütten unterzubringen. Ostrowskij mußte glänzend dabei verdienen. «Alles, was man hier zu essen bekommt, ist bei uns gewachsen und nicht künstlich gedüngt. Wir haben eine Gemüse-, eine Obstund eine Hühnerzucht und ein paar Kühe.» «Dann wird also gar nicht gefastet ...» «Oh, aber natürlich wird gefastet; manche Patienten fasten vollständig, andere bekommen am Tag eine Mahlzeit, die aus einer einzigen Grapefruit oder einer Orange besteht.» « Werden die Grapefruits denn auch hier gezogen?» «Nein, die natürlich nicht», antwortete Schwester Alice ärgerlich. «Und die Orangen?» «Auch nicht.» Sie betrachtete sie empört. Olivia Maclntyre schlug die Augen nieder. «Aber wer ißt denn dann das Zeug, das hier wächst?» «Die Besucher, das Pflegepersonal und die Ärzte. Und die Patienten, wenn sie sich nach ihrem zweiwöchigen Fasten, ehe sie nach Haus zurückkehren, durch eine Diät aus Salat und Tomaten stufenweise wieder an eine normale Kost gewöhnen.» «Und der Salat und die Tomaten wachsen hier?» « Ja, gewiß. Der Tageslauf ist einfach. Morgens um halb acht wird geweckt. Um acht finden Sie sich zur Behandlung ein, die natürlich nicht für alle die gleiche ist. Massagen, kalte und heiße Bäder, heißkalte Bäder, Blitzgüsse, chiropraktische Behandlung, türkische Bäder, Gesichtsmassagen, Heißluftbehandlung, Muskelübungen und Gruppengymnastik. Der Arzt, der Sie nachher untersuchen wird, verschreibt Ihnen die Behandlung und die Diät, die Sie einhalten müssen. Was haben Sie für Beschwerden?» «Ich? Keine.» «Ich meine, aus welchem Grund sind Sie hergekommen?» 303
Wieder die Freude, ihr die Wahrheit sagen zu können ... «Wegen meiner Leber.» (Oder waren es die Nieren?) «Dann werden Sie wahrscheinlich zur Entschlackung fasten müssen und Bäder verschrieben bekommen.» «Und die chiropraktische Behandlung?» «Nicht bei Leberleiden.» «Ich habe aber auch Muskelschmerzen.» «Das hätten Sie mir gleich sagen sollen. Jedenfalls, um mit dem Tageslauf fortzufahren, sind um i i Uhr 3o die Behandlungen zu Ende, und anschließend haben Sie Gelegenheit, sich frisch zu machen. Um 12 Uhr findet für diejenigen, die etwas zu essen bekommen, die einzige Mahlzeit am Tag statt. Die anderen, die vollständig fasten, trinken nur ein Glas Wasser. Dabei pflegen sich die Patienten miteinander zu unterhalten, und gegen eins ziehen sie sich zur Mittagsruhe zurück. Schlafen gehört zu den wesentlichen Heilfaktoren in unserem Sanatorium. Der Nachmittag ist frei. Die Patienten können, wenn sie wollen, ins Dorf gehen, zum Beispiel ins Kino. Wir raten davon allerdings ab. Die Versuchungen sind zu groß, und nur wenige Patienten bringen es fertig, einem Glas Bier oder einer Tafel Schokolade zu widerstehen.» «Und wie kommt man ins Dorf?» «Die meisten Patienten haben selbstverständlich einen Wagen. So, und jetzt kommen Sie bitte mit zu dem Arzt, der Sie untersuchen wird.» Sie gingen ins Haupthaus zurück; die Vorhänge waren aus Chintz und mit großen dunkelroten Rosen gemustert, die Spannteppiche hatten dieselbe Farbe. Hier und da eine Vase mit Blumen. Außer den Fernsehgeräten standen überall Uhren. Keine Menschenseele war zu sehen. «Jetzt sind alle unten zur Behandlung», erklärte Schwester Alice. «Unten?» «Im Keller. Die Räume sind entsprechend umgebaut und eingerichtet. Im Augenblick haben wir ungefähr vierzig Patienten. Sie können von Glück sagen, daß Sie ein Zimmer bekommen haben. Manche Patienten bestellen schon ein Jahr im voraus.» Sehr schüchtern: «Tatsächlich?» «Wer hat Ihnen von Villa Felix erzählt?» «Ich habe in irgendeiner Zeitung davon gelesen. Es war gerade, was ich suchte: Ruhe, Entschlackung, Fasten und Schlaf.» «Sie werden sehen, wie anders Sie sich fühlen. Selbst die Haut 304
wird schöner», sagte Schwester Alice und fuhr sich mit der Hand über ihr pickliges Gesicht. «Warten Sie hier bitte einen Augenblick.» Melinda blieb in einem großen Raum zurück, in den durch ein einziges, zum Park gelegenes Fenster nur spärliches Licht drang. Und wenn der Doktor, der sie untersuchte, entdeckte, daß ihre Leber beziehungsweise ihre Nieren kerngesund waren? Und wahrscheinlich würde er auch sehen, daß ihr Busen und ihr Hinterteil ausgestopft waren. Sogar die Strümpfe hatte sie von oben bis unten mit Schaumgummi gefüttert, damit ihre Beine wie formlose, dicke Würste aussahen. Sie durfte sich um keinen Preis untersuchen lassen. Alice kam zurück. «Bitte, kommen Sie.» Wie oft am Tag sagte Schwester Alice wohl diesen Satz? Das mußte ein sterbenslangweiliger Beruf sein. Sie gingen die Treppe zum Keller hinunter. Dampf, Stimmengewirr, das Surren von Apparaten und das Plätschern von Wasser. Durch eine angelehnte Tür sah Melinda Gestalten, die wie Lazarus in Leintücher gehüllt waren, und Schwestern, die alle gleich aussahen und sich an den 'halbnackten Körpern zu schaffen machten. Ein Gespenst mit einem weißen Handtuch um den Kopf und schweißtriefendem Gesicht huschte an Melinda vorüber. «Das», flüsterte ihr Schwester Alice zu, «war der berühmte Revuestar Odette Rossi.» «Tatsächlich?» fragte Melinda aufgeregt. Der Name war ihr zwar gänzlich unbekannt, aber Olivia hatte den Star sicher schon auf irgendeiner Provinzbühne gesehen oder sich über sein Bild in einer Frauenzeitschrift ereifert. Alice klopfte an eine Tür und öffnete sie, ohne ein «Herein» abzuwarten. «Herr Doktor, hier ist die neue Patientin.» Alice verschwand, ohne sich auch nur zu verabschieden. Olivia wirkte nicht wie eine Patientin, die am Ende ihres Aufenthalts dicke Trinkgelder verteilte. Glücklich, daß sie diesen Eindruck erweckt hatte, wisperte Melinda schüchtern: «Guten Tag, Herr Doktor, sehr erfreut, Sie kennenzulernen.» «MacIntyre?» « Ja.» «Vorname?» 305
«Olivia.» «Alter?» «Zweiunddreißig.» «Verheiratet?» Sie schaute zu Boden und preßte die Knie zusammen. «Ledig ...» «Beschwerden?» «Leber und Nieren, und außerdem manchmal Muskelschmerzen.» «Welcher Art?» «Arthritische Schmerzen, glaube ich.» «Gehen Sie hinter den Paravent und ziehen Sie sich aus.» Melinda rührte sich nicht und schaute wieder ängstlich auf ihre Füße. «Fräulein Maclntyre, ich habe Sie gebeten ...» «Herr Doktor, ich bin nicht gewohnt, mich vor einem Mann zu entkleiden.» «Sie werden ja schon einmal beim Arzt gewesen sein.» «Aber der hat mich angezogen untersucht.» Der Doktor sandte einen Blick zur Decke. «Dann legen Sie sich bitte hier hin.» Melinda legte sich auf das Liegebett. «Was für Beschwerden macht Ihnen Ihre Leber denn?» «Verdauungsbeschwerden und üblen Mundgeruch. Wissen Sie, Herr Doktor, es ist gar nicht schlimm. Aber ich habe gehört, daß man hier nicht nur geheilt wird, sondern daß Sie vor allem ernsten Leiden vorbeugen.» «Sehr richtig.» Der Doktor nahm einen Bleistift und kritzelte etwas auf einen Zettel. «Und Ihre Arthritis?» «Na ja, Muskelschmerzen ... wenn das Wetter umschlägt, also so gut wie immer. Wissen Sie, bei meiner Büroarbeit sitze ich immer krumm und nach vorn gebeugt. An der Wirbelsäule ... ganz besonders im Nacken und bei Regen das ganze Rückgrat hinunter ...» «Dafür haben wir hier die besten Chiropraktiker der Welt.» Die besten? Gab es mehr als einen? Sie wollte Ostrowskij haben. «Wer ist der beste?» «Auch der Direktor unseres Sanatoriums ist Chiropraktiker. Der beste. Aber er nimmt nur wenige Patienten an, und die Behandlung bei ihm ist erheblich teurer als bei den anderen.» «Wie heißt er?» 3o6
«Dief. Aber Ihnen, Fräulein Maclntyre, würde ich zu einem der anderen raten. Das ist nicht so teuer für Sie, und außerdem ist Herr Dief sehr überlastet.» « Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich doch unbedingt von Herrn Dief behandelt werden. Ich kann nicht lange bleiben und möchte sicher sein, daß das Beste für mich getan wird.» «Sie müssen aber im voraus bezahlen.» Noch immer mißtrauten sie ihr wegen ihres ärmlichen Aussehens. Die Verkleidung tat also ihre Wirkung. «Gut, ich gebe Ihnen einen Scheck.» «Sie werden morgen früh mit Ihrer Kur beginnen. Hier gebe ich Ihnen Ihre Krankenkarte und Ihren Stundenplan. Heute bekommen Sie noch eine mehr oder weniger normale Mahlzeit, ein Beefsteak.» «Aber ich möchte nicht nur ein Beefsteak ... Kartoffeln, Reispudding ...» «Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß dies das einzige Stück Fleisch ist, das Sie während Ihres Aufenthalts in der Villa Felix zu sehen bekommen. Von morgen an müssen Sie fasten. Täglich zwei Glas Wasser und eine halbe Grapefruit. Vom vierten Tag an bekommen Sie statt der Grapefruit einen Apfel. Jeden Morgen nehmen Sie ein heiß-kaltes Bad, das wird Ihrer Leber guttun ...» «Was ist ein heiß-kaltes Bad?» «Sie liegen in einer Wanne mit heißem Wasser und stecken Ihre Füße in eiskaltes Wasser.» Mit ganz dünnem Stimmchen: «Und sind Sie sicher, daß das guttut?» «Natürlich, Fräulein Maclntyre, und ich will doch hoffen, daß Sie Vertrauen zu uns haben, sonst ist es sinnlos, hierherzukommen.» Woher dieser Arzt wohl kam? Vielleicht war er aus dem Gefängnis ausgebrochen, ein Verbrecher, oder aber ein schlichter Feld-, Wald- und Wiesendoktor, der nichts von Ostrowskij wußte und blind an die Heilmethoden der Villa Felix glaubte. Es war ja nicht einmal ganz ausgeschlossen, daß Ostrowskij selbst an sie glaubte. Fasten, biologisch gedüngte Frischkost, kein Alkohol ... Wer und wie wohl die anderen Patienten waren ... «Ich empfehle Ihnen, bis zum Mittagessen Ihre Koffer auszupakken. Wenn es soweit ist, wird geläutet. Inzwischen können Sie spazierengehen oder diese Schriften lesen ...» Er drückte ihr ein halbes Kilo Drucksachen in die Hand. «Auf diese Weise werden Sie mit unseren Regeln und unseren Anschauungen vertraut. Sie werden sehen, 307
wir haben reizende Patienten, mit denen Sie sich gut verstehen werden.» Melinda versuchte schüchtern zu lächeln. «Es kommt gar nicht selten vor, daß Leute, die sich in der Villa Felix kennengelernt haben, enge Freundschaft schließen und unter Umständen sogar heiraten», sagte der Arzt und schaute ihr ins Gesicht. Hier hätte sie feuerrot werden müssen. Aber es gelang ihr nicht. Vielmehr hätte sie beinahe gelacht. Melinda verabschiedete sich höflich und kehrte über die nasse Wiese in ihr Chalet zurück. Sie hatte Schwierigkeiten, es wiederzufinden. Denn es gab Dutzende von Chalets, die eines wie das andere aussahen. Zum Glück stand auf der Krankenkarte, die ihr der Arzt gegeben hatte, außer den Leiden von Fräulein Maclntyre auch die Nummer ihres Chalets: 24. Sie zog sich nicht um. Sie versteckte ihre Geheimwaffen — den kleinen Revolver der armen Nora und ein Messerchen — in dem Koffer mit dem doppelten Boden. Aber da sie Angst hatte, daß man die Koffer womöglich aus dem Zimmer holte, machte sie einen Schnitt in ihren Schwamm und schob den kleinen Revolver in das poröse Material. Dann ging sie ein wenig im Park spazieren und wartete darauf, daß es zum Essen läutete. «Unsere Heilverfahren basieren auf biologischen Prinzipien, wie es in der chiropraktischen und Naturphilosophie heißt ... Regeneration des Gewebes ... körperliche und geistige Gesundheit ... Diät, Vitamintherapie, biochemische und hydrotherapeutische Verfahren ...» Ostrowskij formulierte seine Grundsätze in ausgefallenen Begriffen. Wer glaubte diesen Unsinn? Gong-gong-gong-gong. So ein Lärm? Und das wollte ein Erholungsheim sein? Die Kühe sprangen hoch, und Melinda rannte ins Haupthaus. Der zum Gemüsegarten gelegene Speisesaal war besonders düster und trostlos. Schwestern bedienten. Sie liefen mit kläglichen Schüsselchen herum, in denen eine halbe Frucht lag, und brachten Gläser mit fahlem Quellwasser. Viele kleine Tische; an manchen saßen mehrere Hungernde zusammen, die sich jedoch kaum unterhielten; andere Patienten saßen allein an einem Tisch und verschlangen in ihrer Gier sogar die Grapefruitkerne. Melinda setzte sich an einen etwas abseits stehenden Tisch. Sie war die einzige, die keinen Morgenrock anhatte. Eine Schwester kam zu ihr. 308
«Sie müssen an die Theke gehen und Ihr Rezept abgeben; dort steht ein Tablett für Sie bereit.» Melinda stand auf. «Olivia Maclntyre, ich bin neu», sagte sie und gab das Rezept ab. «Setzen Sie sich an Tisch siebzehn.» Der Tisch stand neben der Veranda und war mit einem Plastiktischtuch bedeckt. Köstlich duftend erschien ihr Beefsteak. Im selben Augenblick spürte sie den Neid, die gierigen Blicke, die allgemeine Aufmerksamkeit. Sie wagte nicht, ihre Augen zu heben. Sonst hätte sie lachen müssen, und das hätte Olivia Maclntyre niemals getan. Mit dem Messer ging sie dem Beefsteak zu Leibe und stach mit der Gabel in das blutige Stück Fleisch. Dann führte sie die Gabel zum Mund. Dutzende von Blicken folgten der Gabel und landeten auf ihrem Gesicht. Melinda hob die Augen. Langsam schaute sie sich um. Gespanntes Schweigen; man hörte nur die Löffel an den längst abgekratzten Grapefruitschalen schaben. An einem Tisch zwei ältere Herren in Pantoffeln... eine Gruppe altersloser Frauen, denen ihr Gewicht zu schaffen machte ... ein paar einzelne Personen ... eine Frau mit einer Plastikhaube ... zwei Frauen mit aufgewickeltem Haar ... eine Gruppe bedauernswert aussehender Gestalten, die, nach den Ringen unter ihren Augen zu schließen, schon mehrere Tage fasteten ... ein junger Mann um die Dreißig mit einer älteren Dame ... und Mark, der allein an einem Tischchen saß ... Mark? Ja, ohne Zweifel. Er war es wirklich und stierte halb gelangweilt, halb zerstreut auf ihr Beefsteak. Er hatte sie nicht erkannt. Er erkennt mich tatsächlich nicht, dachte Melinda, und starrte ihn, wie aus allen Wolken gefallen, an. Was machte Mark in der Villa Felix? Ostrowskij hatte sich bestimmt gefreut, als er hier aufgetaucht war. Mark hier im Sanatorium ... Wie würde sich das auswirken? Würde es die Dinge vereinfachen? Wahrscheinlich nicht. Marks Anwesenheit vereinfachte nie etwas. Melinda verzehrte ihr Beefsteak und stand auf. Sie ging dicht an Mark vorüber, der jetzt kläglich und still auf seinen eigenen leeren Teller starrte. Dann griff er entschlossen zu einer Zeitung, schlug sie auf, las aber nicht darin. Melinda ging noch einmal an ihm vorüber und ließ ihre Tasche fallen. Mark dachte natürlich nicht daran, aufzustehen. Melinda rührte sich nicht vom Fleck. Sicherlich hätte sich Olivia Maclntyre, betreten darüber, daß sie 309
unnötigerweise Aufmerksamkeit erweckt hatte, sofort ungeschickt gebückt und ihre Tasche selbst aufgehoben. Aber diesmal konnte sie keine Rücksicht auf Fräulein Maclntyre nehmen und mußte sich wie Melinda benehmen. Schließlich schaute Mark sie erstaunt und neugierig an. «Kennen wir uns? Sind Sie das Kindermädchen von ...» Wie verlockend, jetzt ja zu sagen, ja, sie hätten sich tatsächlich schon einmal gesehen ... «Ich wartete nur darauf», sagte sie und versuchte dabei, ihrer Stimme einen schottischen Klang zu geben, «daß Sie mir meine Tasche aufheben.» «Entschuldigen Sie, ich habe gelesen. Ich habe es nicht bemerkt.» Schwerfällig bückte er sich. Er war müde und fastete offenbar schon seit mehreren Tagen. Er sah älter aus als sonst. Er faßte das ärmliche Plastiktäschchen mit einem gewissen Widerwillen an. Mark war gewohnt, nur schöne Dinge anzufassen. Dann begann er, diesmal wirklich, wieder zu lesen. «Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich bin gerade erst angekommen und kenne noch keinen Menschen. Sind Sie schon lange hier?» Mark machte eine flüchtige Kopfbewegung, die weder ja noch nein bedeutete, und Melinda setzte sich. «Sechs Tage. Sechs Tage zu lang. Ich glaube nicht, daß ich es noch eine Woche aushalte.» «Sind Sie Schauspieler?» fragte Melinda schüchtern. «Nein.» «Ich hatte das Gefühl, Ihr Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Vielleicht im Fernsehen ...» «Unwahrscheinlich.» «Vielleicht sind Sie Politiker ...» (Aber sie durfte nicht übertreiben.) «Ich glaube, ich habe Sie mit einer Kollegin auf dem Bildschirm gesehen. Ist das möglich? Wissen Sie, ich stelle immer gleich das Fernsehen an, wenn ich vom Büro nach Hause komme ...» Erschrocken: «Tatsächlich? Hat man uns zusammen aufgenommen? Waren wir lange zu sehen?» «Ich glaube schon, sonst würde ich mich nicht so genau an Ihr Gesicht erinnern. Macht es Ihnen denn keine Freude, daß Sie berühmt sind und daß die Leute Sie wiedererkennen?» Zum erstenmal schaute Mark sie an. Wenig erfreut über das, was sich seinem Auge darbot, senkte er den Blick sofort wieder und begann von neuem auf die Grapefruitschale zu starren. 310
«Hm.» «Ich heiße Fräulein Maclntyre.» «Ihr Name sagt mir nichts.» Wie gemein. «Er sollte Ihnen auch nichts sagen, ich wollte mich bloß vorstellen. Und Sie, wie heißen Sie?» «Van der Belt.» «Einer von den berühmten van der Belts?» Er schien peinlich berührt, aber später würde er daran zurückdenken und sich darüber freuen. «Sie sind das Kindermädchen von ...» «Nein, ich bin Sekretärin.» «Und warum sind Sie hier?» «Um etwas für meine Leber zu tun. Und Sie?» «Aber ist es hier denn nicht zu teuer für Sie?» «Ich habe auf meinen Sommerurlaub verzichtet. Wissen Sie, ich fahre sonst immer mit einer Reisegesellschaft nach Tossa del Mar an der Costa Brava. Ein ganz besonderer, wunderschöner Ort. Ach ja, Spanien ... Kennen Sie Spanien? Aber dieses Jahr habe ich beschlossen, mein Geld an meine Gesundheit zu wenden. Die Gesundheit ist doch das höchste Gut. Finden Sie nicht auch?» Sie spielte die Rolle der Olivia Maclntyre doch wirklich gut. Und bei Mark machte das auch richtig Spaß — Mark van der Belt, der sie hinter seinen gesenkten Lidern verachtete. Der ihre Kleinbürgerlichkeit verachtete und daß sie Geld verdienen mußte und nicht einmal wußte, wie man es sinnvoll ausgibt. Sie war zwar eine landläufige Erscheinung, es gab in England Tausende ihrer Art, nur daß Mark solche Frauen bisher bloß gesehen, aber noch nie mit einer von ihnen gesprochen hatte. «Das ist doch Unsinn. Ich komme hierher, um dünner zu werden. Aber schon einen Monat, nachdem ich diese Torturen hier hinter mir habe, wiege ich wieder genausoviel wie zuvor.» « Warum kommen Sie dann?» «Aus Gewohnheit. Aber dies ist das letzte Mal ...» Wie Mark sich verändert hatte. «Sie hätten nicht etwa eine Zigarette?» Ein schelmischer Blick und ein törichtes Lächeln, das Sündigkeit andeuten sollte. «Hier darf man nicht rauchen. Dazu müssen wir in den Garten gehen.» Mark begleitete sie aus Langeweile und Wohlerzogenheit. Er ging voran. Melinda folgte unbeholfen und verlegen. 311
«Sind Sie verheiratet?» fragte sie schüchtern und sog an der Zigarette, die Mark ihr angeboten hatte. Sie hielt sie zwischen zwei abgespreizten Fingern, als fände sie das besonders mondän und sündig. «Ja.» Es war nicht einfach. Die Unterhaltung war so gezwungen wie nur möglich. Ob Mark i1i diesen Tagen an sie gedacht hatte? «Haben Sie Kinder?» «Ja.» «Was gibt es denn in der Zeitung Neues?» «Nichts Besonderes. Der übliche Schwindel. Die Zeitungen werden von Tag zu Tag langweiliger.» Melinda hatte ein paar Schlagzeilen über Kriege in Asien, Revolutionen in Afrika und Wahlen in Europa gesehen ... Egal. «Tatsächlich? Finden Sie das? Wie interessant, daß Sie das sagen, Herr van der Belt. Ich lese auch nicht oft Zeitung. Das heißt, ich lese sie eigentlich nie. Lesen Sie Bücher?» «Wenn ich in diese Hölle komme, haber ich immer ein paar Bücher dabei, aber das Zwangsfasten erschöpft mich so, daß ich mich nach ein paar Tagen nicht mehr konzentrieren kann.» «Vielleicht können Sie mir eines von Ihren Büchern leihen ... Sie haben doch sicher sehr interessante Bücher ...» Wie herrlich, Mark so verlegen und gelangweilt zu sehen. «Oder vielleicht könnte ich auch ins Dorf gehen und mir dort welche kaufen. Wie heißt das nächste Dorf?» «Tring.» «Und wie lange braucht man zu Fuß dorthin?» «Drei Stunden.» Wie gemein. Er bot ihr nicht einmal an, sie dorthin zu bringen. «Haben Sie einen Wagen, Herr van der Belt?» « Ja.» «Wenn Sie in den nächsten Tagen mal nach Tring fahren, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich mitnähmen.» «Ich gehe jetzt schlafen», verkündete Mark und erhob sich. «Ich lege mich auch hin.» Mark schaute sie einen Augenblick lang interessiert an. « Wieso haben Sie heute ein Beefsteak gegessen?» «Das war nur heute. Ab morgen geht es mir genau wie Ihnen.» Damit erlosch sein einziges Interesse an Olivia Maclntyre. Sein Blick wandte sich wieder ab, und er stützte sich auf einen Liegestuhl. 312
«Sie brauchen doch nicht dünner zu werden.» «Nein, ich bin hier, um etwas für meine Leber zu tun und mich einer chiropraktischen Behandlung zu unterziehen.» «Das ist etwas sehr Angenehmes. Wer ist Ihr Chiropraktiker?» «Ich glaube Herr Dief.» «Der behandelt mich auch.» Natürlich. Darauf hätte sie schwören können. Ostrowskij würde sich herrlich dabei amüsieren. Mark bewohnte das Chalet Nummer 42. Melinda ging in ihr Chalet und versuchte Pläne zu schmieden, obgleich Marks Anwesenheit in der Villa Felix — darüber gab es keinen Zweifel — sie sehr verwirrt hatte und sie zugleich amüsierte. Sie machte mit einem Messerchen einen Schnitt in den Schaumstoff, der ihre Beine umhüllte, um den kleinen Revolver darin zu versenken. Alles in allem war es besser, ihn nicht im Zimmer liegen zu lassen. Um fünf ging sie zu Marks Chalet. «Herr van der Belt?» Er war ohne sie nach Tring gefahren. Er war nicht da: Mark floh vor Melinda oder vor Olivia Maclntyre. Sie mußte die Dinge so schnell wie möglich hinter sich bringen, sonst starb sie noch an Langeweile oder Unterernährung. Langsam wurde es Abend. Man konnte fernsehen, aber natürlich gab es kein Abendbrot. Melinda irrte von einem Aufenthaltsraum in den anderen. Alles starrte auf die kleinen, flimmernden Bildschirme. Manche brachten es sogar fertig, dabei noch Karten zu spielen. Gähnend vor Entkräftung hingen sie über den Tischen. Vergeblich schaute sie sich nach Mark um; er war tatsächlich nicht da. Chalet Nummer 24. Melinda zog sich um: nackt schlüpfte sie in den Morgenrock. Fort mit der Perücke. Wie schön ihr Haar ihr auf die Schultern fiel. Barfuß.
313
Chalet Nummer 42:
Lauter:
«Wer ist da?»
Po-ch
po-ch
Po-ch
po-ch
ATTO PRIMO
ERSTER AKT
SCENA PRIMA
ERSTE SZENE
In f ondo al palcoscenico si scorge lo chalet di Mark. All'alzarsi del sipario si vedrä Olivia MacIntyre avanzare nella penombra inciampando tra gli sterpi e bussare alla porta. Dopo breve indugio, odesi la voce di Mark che dice «Entra». Stupore sul volto di lui: i due si allacciano in amoroso abbraccio. «Non lo deve sapere nessuno .» dice lei in un sussurro. Mark si inginocchia davanti a lei e le prende le mani. «Grazie, grazie per avermi cercato.» Stupore sul volto di lei, questa volta. I due si abbracciano di nuovo. Che istanti . che momenti
Nacht. Im Hintergrund Marks Chalet. Wenn der Vorhang sich hebt, geht Melinda, im Dunkeln über Gestrüpp stolpernd, auf das Haus zu und klopfl an die Tür. Einen Augenblick Stille. Dann hört man Marks Stimme «Herein» rufen. Mark macht ein erstauntes Gesicht. Die beiden umarmen sich liebevoll. «Niemand darf das wissen . . .» flüstert sie. Mark kniet vor ihr nieder und nimmt ihre Hände. «Dank, vielen Dank, daß du mich gesucht hast.» Jetzt macht Melinda ein erstauntes Gesicht. Die beiden umarmen sich wieder. Ein ergreifender Augenblick.
3 14
Dal podio, il direttore d'orchestra fa segno ai violini di attaccare. Dolcemente i corni si uniscono agli archi. Personaggi ed interpreti
Der Dirigent auf seinem Podium gibt den Geigen ein Zeichen zum Einsatz. Hörner fallen zart in das Spiel der Streicher ein. Personen
VIELINDA (soprano) VIARK (tenore)
MELINDA (Sopran) MARK (Tenor)
RECITKPIVO TENORE Amor, dopo giorni di dieta e di noia dopo giorni d'arance e insalata ecco, alfin io ti ho ritrovata la mia gioia confine non ha. SOPRANO Finalmente ti ritrovo vita mia
REZITATIV TENOR Herz, nach öder Zeit des Fastens Bei Orangen und Salat, Hab' ich endlich dich gefunden, Grenzen nun die Freud nicht hat. SOPRAN Endlich finde ich dich wieder, Süßes Leben ...
DUETTO
DUETT
(andante con moto)
(Andante con moto)
Mai piti, mai piti ci lascerem. Uniti sempre sempre starem. Che sorga bufera che sorga tempesta la fiamma, ch'e vera, d'amor resterä.
Nimmer mehr, nimmer mehr Wollen wir uns lassen. In Liebe vereint Uns innig umfassen. Grauses Stürmen und Toben Zu Ende nun geht, Die Flamme, die wahre, Der Liebe besteht.
SOPRANO L a fiamma, ch'e vera, d'amor resterä..
SOPRAN Die Flamme, die wahre, Der Liebe besteht.
TENORE Che sorga bufera che sorga tempesta la fiamma, vera, d'amor resterä.
TENOR Grauses Stürmen und Toben Zu Ende nun geht, Die Flamme, die wahre, Der Liebe besteht.
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RECITATIVO SOPRANO Chiudi la porta a chiave temo l'imprevisto amor, mia vita, insisto, mai piü ti lascerä.
REZITATIV SOPRAN Schließ mit dem Schlüssel die Türe, Daß nichts Unverhofftes gescheh'. Liebster, ich will dir bekennen, Nie wieder ich von dir geh'.
TENORE Come tu vuoi, mia vita. Stendi le membra tua che Citerea ti
TENOR Wie du willst, mein süßes Leben. Streck nun aus die zarten Glieder, Die Kythereia dir gegeben.
(Slaccia la cintura della vestaglia del soprano.)
(Er zieht dem Sopran den Gürtel des Morgenrocks auf.)
ARIA
ARIE
(andante)
(Andante)
L'amore che ha serto di luce divina la vita, che prima, di torto riempi.
Mit des Himmelslichtes Strahlen Hat die Liebe nun erhellt Unser Leben, das von Qualen Dieser Lieb' bisher umstellt.
SOPRANO Di torto riempl.
SOPRAN Dieser Lieb' bisher umstellt.
A SSIEME Di torto riempf.
ZUSAMMEN Dieser Lieb' bisher umstellt.
TENORE Vieni dunque. Ti voglio sposare e, amore, lasciare la sposa che ognora diletta non
TENOR Komm, o Liebste, laß uns treten Vor das Standesamt nun hin, Denn die ungeliebte Gattin Schlug ich ganz mir aus dem Sinn.
SOPRANO Fuggire con teco! Ovunque verria!
SOPRAN 0 komm, laß uns fliehen, Wohin es auch gehe, 316
Gioisco, che pria piangevo quaggiü.
Vorbei ist das Wehe, Das stets ich beweint.
TENORE Lasciar la consorte! 0 sorte mia ria! Piuttosto la morte che perderti ancor!
TENOR Die Gattin zu meiden, 0 schlimmes Geschick! Den Tod will ich leiden, Eh' ich dich verlier'.
DUETTO
DUETT
(allegro con moto)
(Allegro con moto)
Doman ce ne andremo lontani e soletti paesi vedremo che mai scorderem. Amor ritrovato affetto premiato la gioia, il mio petto, non pub contener.
Morgen scheiden wir von hinnen Fremde Länder laß uns seh'n, Unvergeßliches erleben, In die Einsamkeit nun geh'n. Neu gefunden ist die Liebe, Und die Treue ward belohnt, Freude droht die Brust zu sprengen, Die im Herzen nun uns wohnt.
SOPRANO Ma pria, mio diletto chiederti desio il favor ch'ho nel petto. Sparier da qui degg'io domani mattina da sola e meschina a Tanger men vo. Seguirmi tu devi, la sposa lasciare, oh! fonti di chiare giornate sarä Sarä tuo il desio di essermi accanto non piü questo pianto asciugare dovrä. Al tocco, dimane, Olivia sarä partita, per mai mai piu ritornar.
SOPRAN Doch zuvor, O mein Liebster, Erhöre mein Fleh'n, Morgen früh, Still und heimlich, Laß nach Tanger mich geh'n. Ohne Gattin Sollst du folgen, Denn dein Sehnen, O Genuß, Ist's, zur Seite mir zu stehen, Daß ich nicht mehr weinen muß. Morgen früh Und zwar pünktlich Geht Olivia hier fort, Doch als Gattin Melinda Erwartet dich dort.
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,
Melinda ti aspetta novella consorte oh! gioia! La sorte benigna ci fu.
0 Freude, o Wonne, Das Glück war uns hold.
SCENA SECONDA
ZWEITE SZENE
Fuori dallo chalet si sentono voci, poi urla. L'orchestra attacca il motivo de L'Incantesimo del
Man hört draußen erst Stimmen, dann Geschrei. Das Orchester spielt das Motiv des «Feuerzaubers».
fuoco. CORO
CHOR
(allegro molto)
(Allegro molto)
Orror, orror. Piü sorte non v'M Il fuoco bruciä, bruciä lo chalet. La povera giovane che dentro abitava a cener ridotta dev'esser di giä.
0 Schrecken, o Schrecken, 0 arges Geschick! Das Feuer, es brannte, Und nichts blieb zurück Vom Chalet, das bewohnt Von dem Mädchen, dem armen. Nur Staub jetzt und Asche, Verdient es Erbarmen.
SCENA TERZA
DRITTE SZENE
RECITATIVO ED ARIA
REZITATIV UND ARIE
(andante con moto) SOPRANO (da una parte, mentre il tenore i sulla porta dello chalet ed ascolta il coro) Han tentato di ammazzarmi, me meschina, quale orror, e col fuoco dilaniarmi qual terrore, qual terror. Forse fu quel sciagurato quell' Ostrovsky disgraziato che alla vita mia attentä. Forse fu, per mia disdetta un'accesa sigaretta
(Andante con moto) SOPRAN (auf der einen Seite der
Bühne, während der Tenor auf der anderen Seite an der Tür des Chalets steht und dem Chor lauscht): Sie versuchten, mich zu morden, Wie entsetzlich, wie verrucht, Asche wär' aus mir geworden, Blieb ich dort, wo man mich sucht! Der Ostrowskij ist's gewesen, Der Erfinder alles Bösen,
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che la foga dell'amore obliare pria mi fe'. Forse fu la sigaretta forse fu quell'attentato oh! qual caso sciagurato domattina me ne andrä.
Dieser Schurke, dieser Schuft. Aber, ach, wie ich nun ahne, War ich's selbst, im Liebeswahne Hab die Zigarett' ich nicht gelöscht. Gleichviel, ob's geschah im Liebeswahne Oder ob's ein Attentat des Bösen, Schlimmes Unheil ist's gewesen, Morgen geh' von hinnen ich.
CABALETTA (vivace con brio) Ma l'ora mi aspetta di grave vendetta l'Ostrovsky meschino la fine vedrä. Il braccio mio puro deh! aita Signore! punisca l'onore offeso, si. Si! L'amor conquistato. Novella vittoria! mi copra di gloria e di fedeltä. Quell'esser reietto pria di perire svelarmi i segreti dovrä, sf, dovrä. Il soprano si avvolge nella vestaglia che si gonfia di vento ed uscendo nella notte ululante, il capo eretto e le braccia conserte, ripete: Dovrä, si dovrä.
ARIE (Vivace con brio) Doch es naht der Rache Stunde Und mit ihr die frohe Kunde, Daß den Schuft sein Schicksal hat ereilt. Ich Reine begehre, Hilf, himmlische Macht, Zu rächen meine Ehre, Die Ostrowskij verlacht, Wenn die Lieb erst gewonnen, Ist der Sieg schon ganz nah, Mir, dem Tod kaum entronnen, Winken Glanz und Gloria. Doch beim Abschaum der Menschheit, Eh' er büßt seine Sünden, Muß zuvor ich ergründen, Welch Geheimnis er verschweigt. Der Sopran schlüpft in den Morgenrock, den der Wind sofort aufplustert. Hocherhobenen Hauptes tritt er in den nächtlichen Sturm hinaus und wiederholt: Welch Geheimnis er verschweigt. (In der Ferne hört man den Chor.)
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Da lontano si sente il coro che ripete: 319
CoRo
CHOR
La povera giovane che dentro abitava a cener ridotta dev'esser di Mentre il tenore, da un lato, ripete:
Und nichts blieb zurück Vom Chalet, das bewohnt Von dem Mädchen, dem armen. Nur Staub jetzt und Asche, Verdient es Erbarmen. (Auf einer Seite der Bühne singt der Tenor.)
TENORE
TENOR
Lasciar la consorte! 0 sorte mia ria! Ma tosto la morte che perderti ancor! L'orchestra chiude con tre squilli di tromba mentre, dal proscenio, si sente di nuovo la voce del soprano:
Die Gattin zu meiden, 0 schlimmes Geschick, Den Tod will ich leiden, Eh' ich dich verlier. Das Orchester endet mit drei Trompetenstößen, während von der Rampe die Stimme des Soprans ertönt:
SOPRANO
SOPRAN
Vendetta, vendetta. Cala il sipario.
Rache, Rache. Der Vorhang fällt.
Sie hatte nicht daran gedacht, daß sie sich zum Baden ausziehen mußte. Ihre Beine waren nun zu dünn, und die Perücke saß nicht mehr richtig. Den kleinen Revolver hatte sie in der Garderobe zurückgelassen, und fast alle Kleider Olivias waren bei dem Feuer am Abend zuvor verbrannt. Das Bad war eine Tortur. Glühendheiß, während ihre Füße in einer Wanne voller Eisstücke steckten, die obendrein noch so spitz waren, daß Melinda achtgeben mußte, wohin sie ihre Füße setzte. War der Brand ein Anschlag auf ihr Leben gewesen oder ein Zufall? Ein Zufall, daran bestand kein Zweifel. Ostrowskij hatte sie noch gar nicht zu Gesicht bekommen, und es war ausgeschlossen, daß er ihre Verkleidung schon nach so wenigen Stunden bemerkt hatte. «Fräulein Maclntyre, ziehen Sie bitte Ihren Morgenrock an und kommen Sie mit», sagte Schwester Alice und hielt ihr einen Bademantel hin. 320
«Soll ich mich abtrocknen?» «Sie müssen jetzt für ein paar Minuten ins Türkische Bad. Das gehört zu Ihrer Kur.» Die Perücke ... die Perücke ... Ob sie dem standhielt? Mitten in den höllischen Dampfschwaden kam Dief ihr entgegen. Trotz seiner Glatze und dem Schnurrbärtchen, das nicht richtig unter der Nase saß, war er auf Anhieb zu erkennen. Nur Mark war ein so schlechter Beobachter, daß er ihn nicht als den Ostrowskij vom Ball und den Kellner in Venedig wiedererkannt hatte. «Fräulein Maclntyre? Ich bin Pjotr Dief.» Gott sei Dank! Er hatte sie nicht erkannt. «Sehr erfreut.» Sie streckte ihm zögernd und linkisch ihre Hand hin. «Ich ersehe aus Ihrer Krankenkarte, daß sie von mir behandelt werden wollen. Kommen Sie bitte in mein Sprechzimmer, wenn Sie soweit sind.» Kopf und Schultern vorgebeugt, schleppte sich Melinda in Ostrowskijs Sprechzimmer. «Wie alt sind Sie?» Was hatte sie das erste Mal gesagt? Sie wußte es nicht mehr genau. Sie mußte in Zukunft besser aufpassen und sich solche Einzelheiten genau merken. «Einunddreißig.» (Hoffentlich stimmte das.) «Verheiratet?» «Nein, ledig. Ich dachte, ich wäre das alles schon einmal gefragt worden.» Pjotr Dief lächelte und kam näher. Er faßte ihre Schulter an: «Tut es Ihnen hier weh?» «Nein.» «Wo denn?» « Weiter unten, glaube ich.» «Was heißt, glaube ich?» «Im Augenblick tut mir nichts weh.» «Und wann haben Sie diese Schmerzen?» «Wenn es regnet.» «Aber hierzulande regnet es doch immer. Und im übrigen, meine Liebe, eine Olivia Maclntyre, eine häßliche, kleine Sekretärin, die in einem Büro in Edinburgh arbeitet, kommt erstens überhaupt nicht hierher, es sei denn, sie hätte quälende Schmerzen, und zweitens ist sie nicht der Typ, der sich von Fremden ihre Tasche aufhe321
ben läßt. Sie verbringt nicht die Nacht mit Mark van der Belt, sie gibt nicht verkehrte Personalien an, sie irrt sich nicht, was ihre Krankheiten angeht, und sie trägt keine Perücke. Kurz und gut, eine Olivia Maclntyre kommt überhaupt nicht hierher. Es wäre viel zu teuer für sie. Reichlich viele Fehler in so wenigen Stunden, meine liebe Melinda, finden Sie nicht? Aber ein hübscher Einfall ist es trotzdem gewesen.» «Lieber Ostrowskij, ich wußte, daß Sie mich wiedererkennen würden. Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich jetzt diese teuflische Perücke absetze. Sie ist mir lästig genug.» Sie löste die klebrige Folie von ihrem Schädel. «Was wollen Sie von mir, Melinda, und wie haben Sie mich überhaupt gefunden?» «Sie selbst haben mir vor langer Zeit von einem gewissen Dief erzählt, einem Chiropraktiker, der ein Sanatorium besitzt.» «Ich habe Ihnen aber bestimmt nicht gesagt, daß ich dieser Dief bin.» «Anthony hatte mir erzählt, daß Sie hier in der Gegend ein Sanatorium haben. Erinnern Sie sich noch an das Unternehmen Melinda? Und so bin ich Ihnen auf die Spur gekommen.» «Machen Sie es doch nicht so umständlich, Melinda. Sagen Sie rundheraus, ob Sie wegen Mark oder meinetwegen gekommen sind.» «Um es rundheraus zu sagen: Ihretwegen, Ostrowskij.» «Aha, dann sind Sie also wegen van der Belt hier. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als er hier auftauchte. Gewöhnlich verbringt er ein paar Wochen bei unserer Konkurrenz. Und was haben Sie mit ihm vor?» «Ich möchte ihn, wie üblich, heiraten. Und jetzt haben wir uns auch dazu entschlossen.» «Sie haben es also geschafft.» «Ich möchte doch um etwas mehr Respekt bitten.» «Was sagen Sie, Fräulein Maclntyre?» «Haben Sie das Chalet in Brand stecken lassen?» «Ja, aber ich wußte genau, daß Sie bei Mark waren. Ich habe Sie überwachen lassen.» «Und wozu?» «Um Sie zu warnen. Damit Sie keine Dummheiten machen.» «Eine teure Warnung. Sie kostet Sie ein Chalet.» «Die sind sowieso nur aus Pappmache. Und Sie haben auf diese 322
Weise Ihren kleinen Revolver eingebüßt, den Sie in Ihrem Schwamm versteckt hatten.» «Sie haben also auch mein Gepäck durchsuchen lassen. Wann haben Sie denn gemerkt, daß ich nicht Fräulein Maclntyre bin?» «Als ich van der Belt gesehen habe, wußte ich, daß Sie nicht lange auf sich warten lassen würden. Es war mir schon klar, als ich vom Tod des unglücklichen Gambaino las. Und dann der Brief von der armen kleinen Maclntyre. Nein, im Ernst. Sekretärinnen kommen nicht zu uns. Da hätten Sie sich schon besser ausweisen müssen.» «Lesen Sie denn alle Briefe?» «Im allgemeinen kennt man die Leute, die hierherkommen, oder man weiß von ihnen aus den Klatschspalten des (Daily Express.» «Ich habe zwar gefunden, was ich suchte, aber trotzdem möchte ich jetzt ein paar Informationen von Ihnen haben, wie Sie sich sicher denken können.» «Und was haben Sie gesucht?» «Mark.» « Ja, natürlich. Und was für Informationen?» «Das wissen Sie.» «Hören Sie, Melinda, seien Sie so freundlich und fallen Sie mir nicht auf den Wecker. Entschuldigen Sie, wenn ich mich so ausdrükke. Aber bedenken Sie bitte, daß ich Sie nur so gut behandle, weil Sie Medoros Schwester sind. Sonst wären Sie gestern abend unweigerlich in Ihrem Chalet gewesen.» «Sie sind ein ganz gemeiner Verbrecher.» Melinda verließ das Zimmer, als wolle sie endgültig gehen. Als sie zurückkam, hatte sie ihr Revolverchen aus der Garderobe geholt. «So, da bin ich wieder.» «Mit den gleichen Fragen?» «Mit den gleichen», sagte Melinda und zielte auf Ostrowskij. «Ich habe auch einen.» «Aber sicher nicht so griffbereit. Und ich möchte wetten, daß er auch keinen Schalldämpfer hat. Der hier hat Ihrer Freundin Nora gehört. Sie, Pjotr Dief, können in Ihrem Sprechzimmer nicht auf eine Patientin schießen. Diesmal kommen Sie nicht ungeschoren davon. Und überlegen Sie doch mal, Sie haben jetzt Geld wie Heu, ein nettes kleines Sanatorium, Medoro, und alles in Ihrem Leben ist so, wie Sie es sich nur wünschen können. Warum wollen Sie riskieren, ins Gefängnis zu kommen oder sich von mir umbringen zu lassen?
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Ich kann mich leicht aus der Affäre ziehen. Nur Sie wissen, wer ich bin.» «Und van der Belt.» «Mark ist viel zu zerstreut. Er würde nie einen Zusammenhang sehen, und außerdem wird er mich heiraten.» «Lassen Sie Mark in Ruhe. Er ist ein friedlicher Mensch, richten Sie ihn doch nicht zugrunde.» «Ach, schau mal, jetzt spielen Sie auch noch den Moralisten. Ein Plädoyer für Mark — das ist ja ganz etwas Neues. Hören Sie, Ostrowskij, ich packe noch heute morgen meine Sachen und verschwinde von der Bildfläche. Ich gehe nach Tanger. Was Sie mir sagen, bleibt unter uns. Also, Blamonche war der Chef ... der Chef wovon?» «Sind Sie aber langweilig.» «Wovon?» Sie zielte mit dem Revolverchen auf Ostrowskijs Brust. «Von welcher Organisation?» «Von einer Gesellschaft, die wir gemeinsam gegründet hatten.» «Von was für einer Gesellschaft?» «Von einer Aktiengesellschaft. Die Aktien gehörten Blamonche und mir. Blamonche besaß allerdings die Mehrheit. Die Gesellschaft war von keiner Großmacht abhängig. Wir waren dabei, eine perfekte Organisation aufzubauen, um unsere Dienste zu Höchstpreisen anbieten zu können. Wir wollten unsere Schlagkraft durch eine Reihe glänzend erledigter Aufträge beweisen und mußten imstande sein, eine Gruppe erstklassiger Agenten anzubieten.» «Gehörte ich auch zu dieser Agentengruppe?» «Sie, Anthony, Nora, die Häschen und Madame Nubytch. Leute aus den verschiedensten Kreisen.» «Und was ist dann geschehen?» «Blamonche glaubte, er könne es sich leisten, auf eigene Rechnung mit der Arbeit zu beginnen, und sah sich unter den reichsten Nationen nach Kunden um. Ich war gegenteiliger Meinung. Ich versuchte zu verhindern, daß Blamonche über unsere zuverlässigsten Agenten Auslandskontakte aufnahm, und dabei entdeckte ich, daß Blamonche die Absicht hatte, mich auszuschalten. Ein paar der von mir angeworbenen Agenten, beispielsweise die Häschen und Madame Nubytch, hatten im Auftrag von Blamonche bereits Verbindungen zu fremden Unterhändlern hergestellt, und ich war außer Gefecht gesetzt.» «Und wie haben Sie das erfahren?» 324
«Madame Nubytch hat es mir erzählt.» «Und deswegen hat Blamonche sie umgebracht.» «Genau.» «Und warum waren Sie gegen regelrechte Spionageaufträge?» «Ich war der Meinung, daß die Organisation noch nicht soweit war. Ich schlug Blamonche vor, noch zu warten. Wir hatten einen heftigen Streit, und Blamonche beauftragte mehrere Leute, mich zu beseitigen. Ich kaufte Gambaino, Metcalf und vor allem Sie, Melinda, und zwar mit Blamonches Geld. Sie waren die erste, mit der ich Kontakt aufnahm. In gewisser Weise also haben wir uns die Agenten geteilt.» «Und dann brauchten Sie kein Geld mehr, weil Sie das Sanatorium ...» «Das Sanatorium deckt bei weitem nicht die Kosten für mein extravagantes Leben, aber durch die Gelder von dem Bahnüberfall, die ich Ihnen verdanke, ist meine Zukunft gesichert. Im übrigen sah ich allmählich ein, daß die Zusammenarbeit mit Blamonche zu gefährlich war und daß ich auf andere Weise zu Geld kommen konnte. Blamonche dagegen, der kein Geld brauchte, war nur daran interessiert, über einen internationalen Spionagering zu verfügen.» «Sie hatten also genug von dem Experiment und haben mich in diesem Sinn mißbraucht?» «In welchem Sinn?» «Sie haben mich veranlaßt, Blamonche umzulegen, weil es dem Chef um ernsthafte Spionage ging.» « Wir waren noch nicht soweit, wir konnten noch nicht anfangen. Wir hatten nicht genügend Agenten, und die, die wir hatten, waren noch nicht gut genug ausgebildet. Außerdem war mit Blamonche nicht mehr zu reden. Sogar Lisanor wußte, daß er mich umbringen wollte.» «War Lisanor auch Agentin?» «Nein, eine Freundin von mir. So wie Sie hoffentlich auch, Melinda.» «Warum sollte ich Ihre Freundin sein? Sie haben mich veranlaßt, Blamonche umzulegen ... Und auf diese Weise haben Sie mich um die einzige Möglichkeit gebracht, eine richtige Spionin zu werden. Und all die Zeit, die ich mit Kindereien verloren habe! Und ich Idiotin habe mir eingebildet, daß ich für eine Großmacht arbeitete. Ostrowskij, Sie haben mich zum Narren gehalten, ist Ihnen das klar?» 325
«Wollen Sie damit sagen, daß Sie wütend sind, weil Sie keine echte Spionin waren?» «Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mich gar nicht schlimmer hätten beleidigen können? Ich kam mir wichtig vor und geheimnisvoll; glaubte, von meinen Aktionen hingen die Schachzüge etlicher Ministerpräsidenten ab ... Und statt dessen war alles nur ein Ulk.» «Aber alle Spione der Welt tun doch nur so als ob. Als intelligenter Mensch müßten Sie das eigentlich wissen. Heutzutage gibt es keine Geheimnisse mehr, und die Spione leben davon, daß sie sich gegenseitig bespitzeln. Diesen Beruf gibt es nur noch, weil so viele Agenten in der Welt herumlaufen. Aber Geheimnisse gibt es nicht mehr, glauben Sie mir das, Melinda. Sie sind eine ebenso echte Spionin gewesen wie alle anderen.» «Das stimmt nicht, Sie haben mir vorgegaukelt, ich arbeitete für eine Großmacht, und jetzt erweist sich alles als ein einziger Bluff.» «Ich bitte Sie, Baronin ...» Ostrowskij hatte Angst. Ihm wurde plötzlich klar, daß es ein Fehler gewesen war, Melinda die Wahrheit zu sagen. Er merkte, daß er sie tödlich verletzt hatte. «Ostrowskij, Sie sind mir in gewisser Weise sympathisch gewesen, und ich habe Sie geachtet. Und daß Sie mich trotz meiner Verkleidung erkannt haben, hat Sie mir noch sympathischer gemacht. Aber jetzt hasse ich Sie. Bis vor kurzem wäre es mir nicht im Traum eingefallen, Sie umzubringen, aber jetzt kann ich nicht anders. Ich kann Ihnen nicht verzeihen.» Ostrowskij blickte zum Fenster hinaus. «Mark kann Sie sehen ...» Eine Sekunde nur. Melinda hatte sich umgedreht, und Ostrowskij hatte ihr einen Fußtritt gegen das Handgelenk versetzt. Der kleine Revolver lag auf dem Boden, und das Handgelenk tat ihr weh. «Sie Schweinehund.» «Liebe Baronin, Sie haben mich in eine peinliche Lage gebracht. Was soll ich jetzt mit Ihnen anfangen?» fragte Ostrowskij und hob den Revolver auf. «Das müssen Sie selbst wissen.» «Sie sind meine Feindin. Sie hassen mich, weil ich Sie nicht als chinesische oder armenische oder belgische Spionin habe arbeiten lassen. Und da Sie mich hassen, sind Sie gefährlich. So wie Sie die Häschen, Gambaino und wahrscheinlich auch Nora umgebracht haben, könnten Sie auch mich umbringen.» 326
Melinda wich zurück. Ostrowskij zielte mit ihrem Revolverchen auf sie. Er konnte ... jetzt ... Fort, durch die Tür ... ins Türkische Bad. Sie hörte, daß Ostrowskij ihr folgte. Die Wanne ... ein Eisstück, spitz wie ein Degen und schärfer als ein Messer ... Ins Türkische Bad ... Da tauchte er schon im Nebel auf ... Sie rannte auf ihn zu. Und spürte, wie Ostrowskijs Haut unter der eisigen Klinge riß, und fühlte, wie seine Hände sich um ihre Waffe schlossen, die durch seine Körperwärme zu einer Lache aus Blut und Eiswasser z erschmolz. «Verdammtes Frauenzimmer ... verdammt ... Melinda!» Ein höchst merkwürdiger Fall: Pjotr Dief, Direktor des Sanatoriums Villa Felix, wurde erstochen aufgefunden. Keine Spur von dem Dolch, dem Messer, dem Schwert oder was immer es sonst gewesen war. Die Polizei hatte alles durchsucht. Das einzige Indiz: eine Frauenperücke auf dem Boden. Die Tatsache, daß Dief seinerseits eine Perücke und einen falschen Schnurrbart getragen hatte, veranlaßte die Zeitungen zu den verschiedenartigsten Spekulationen, während Scotland Yard mit den Ermittlungen begann. Die Polizei entdeckte, daß eine Patientin — eine gewisse Olivia Maclntyre — noch am Tag des Verbrechens die Villa Felix Hals über Kopf verlassen hatte. Nachforschungen ergaben, daß bei der Versicherungsgesellschaft The Scottish Widows in Edinburgh keine Olivia Maclntyre arbeitete. Die Ermittlungen waren lästig ... Mark, der die Absicht gehabt hatte, sofort zu seinem Landsitz zurückzufahren, um Aglaia zu beichten, daß er sich scheiden lassen wollte (schriftlich oder telefonisch, fand er, ließ sich das nicht gut machen), mußte bleiben. Er wurde lange vernommen. Hatte er mit Fräulein Maclntyre gesprochen? Eine Schwester behauptete, sie hätte Fräulein Maclntyre am Abend zuvor in Herrn van der Belts Chalet gehen sehen ... Wußte er etwas von einem Verhältnis zwischen Fräulein Maclntyre und Herrn Dief? Sehr unangenehm. Melinda hätte besser daran getan, nicht unmittelbar nach dem unseligen Zwischenfall abzureisen. Aber wahrscheinlich hatte sie gar nicht mehr davon gehört ... Der Speisewagen war halb leer. Mark hatte den ersten besten Zug genommen. Ja, es ließ sich nicht leugnen. England änderte sich. Vor dem Krieg wäre so etwas ausgeschlossen gewesen. Da ging man in
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ein Luxussanatorium, bezahlte eine Menge Geld, um inkognito zu leben und eine Zeitlang seine Ruhe zu haben, und das Ergebnis war, daß man seinen Namen in allen Zeitungen fand. Im Speisewagen roch es wie üblich nach tierischem Fett. Ganz England roch danach. Mark hatte keinen Appetit. Die zweite Flasche Bordeaux ging zur Neige, aber das Roastbeef lag kalt und unangetastet auf seinem Teller. «Stilton?» fragte der Kellner. Mark bestellte einen Brandy. Er machte sich Sorgen. Melinda hätte von sich hören lassen sollen. Wie konnte er sie sonst erreichen? Und wann sollte er mit Aglaia sprechen? Sie unterhielten sich so selten ... Es würde schwierig sein, eine Gelegenheit zu finden ... Bei einem Spaziergang ... Beim Abendessen ... Nein, beim Abendessen hatten sie immer Gäste, und wenn keine Gäste da waren, dann hatte man doch die Dienerschaft um sich herum. Aber war es nicht überhaupt verkehrt, Melinda zu heiraten? Schließlich und endlich war er schon fünfzig ... ob Melinda überhaupt imstande war, auf dem Lande zu leben, ihre Hausfrauenpflichten zu erfüllen und für Wochenenden mit interessanten Gästen zu sorgen? Melinda war so voll Leben und Interessen ... Langweilen würde er sich bestimmt nicht mit ihr. Da war er ganz sicher. Aber hatte er sich mit Aglaia je gelangweilt? Im Grunde auch nicht. Warum hatte er sich dann dazu entschlossen, sie zu verlassen? Mark trank seinen Brandy aus und merkte, daß er betrunken war. Fest stand nur eines: daß er nicht den Mut haben würde, mit Aglaia zu sprechen. Auf dem Bahnhof erwartete ihn sein Chauffeur. Er begrüßte Mark respektvoll und nahm ihm den Koffer ab. Dieser Lebensstil ... der einzig denkbare Rahmen für eine glückliche Ehe. «Wie unangenehm, mein Lieber», sagte Aglaia und umarmte ihn. «Etwas Schlimmeres hätte dir wirklich nicht zustoßen können. Diese gräßlichen Sanatorien, und dann wird auch noch ein Arzt ermordet ...» «Hör bloß davon auf, ich habe mich schon genug geärgert. Hoffentlich kommt zum Wochenende niemand.» «Du hattest mich doch gebeten, Freunde einzuladen. Ehrlich gesagt, wir haben das ganze Haus voll.» «Du hättest die Leute doch wegschicken können.» «Ich konnte ja nicht ahnen, daß in dem Sanatorium, das du dir ausgesucht hast, der Chiropraktiker ermordet wird. Komm, sei lieb, 32 8
es sind doch alles Freunde von dir, Fiona und Edward mit ihrem Leoparden. Ich kann dir gar nicht sagen, wie es abends zugeht. Die Diener haben schreckliche Angst vor ihm ... Und dabei ist er so süß. Außerdem ist James da, und Robert mit seiner Frau, und ...» «Ich bin müde. Ist Post gekommen?» Melinda hatte ein Telegramm geschickt. Ein Blitztelegramm aus Tanger: ERWARTE DICH DIENSTAG STOP BUCHT FLUG UND TELEGRAFIERT. Noch drei Tage, um es Aglaia zu sagen. Nicht einmal drei Tage. Der Samstag war ja schon fast zu Ende. Noch der Tee und das Abendessen, dann war der Tag um. Der Sonntag würde mit Zeitungslektüre hingehen, und am Montag war er mit Aglaia allein ... Er betrachtete ihr sanftes Gesicht, ihre schneeweiße Haut. Aglaia war so von ihm abhängig ... Ihre leuchtenden Augen, die so viel versprachen, und ihre zarte, musikalische Stimme mit dem originellen Tonfall ... Sie hatte im Gegensatz zu Melinda nicht das Aussehen eines unschuldigen Kindes, und sie wirkte auch nicht wie eine Siebzehnjährige, die niemals älter wurde, aber sie war so leicht verletzbar. Mark antwortete Melinda nicht. Er verschob es auf den Sonntag. «Gehen wir mit dem Leoparden aus?» «Dann muß auch Fiona mitkommen, sonst bringt er mich um», jammerte Edward. «Er mag Edward nämlich nicht», erklärte James. «Er heißt Lily, denn erst haben wir ihn für ein Weibchen gehalten.» «Aber ist er denn nicht gefährlich?» «Er hat nur einmal einem Diener die Wade aufgerissen.» « Jetzt bekommen sie keine Dienstboten mehr», erläuterte Robert. «Alle laufen ihnen aus Angst davon.» «Er hat auch den Gärtner angefallen.» «Nein, nein, Lily beißt nur meinen Mann.» Am Sonntag waren sie zum Essen dreiundzwanzig Personen. Mark sah gern möglichst viele Gäste um seinen Tisch versammelt. Er liebte eine zügige und gescheite Unterhaltung. Der Butler beugte sich zu ihm herab und flüsterte ihm ins Ohr: «Da ist ein Herr, der Sie sprechen möchte.» «Sagen Sie ihm, er soll warten.» «Er sagt, das kann er nicht, es handle sich um etwas Dringendes.» Mark murmelte eine Entschuldigung und stand vom Tisch auf. Es war Anthony. «Komm gleich herein und iß mit uns. Wie nett, dich zu sehen. 329
Aber warum hast du dich nicht angemeldet? Aglaia wird wütend sein. Los, komm, gerade wird der zweite Gang aufgetragen.» «Ich bin nur auf einen Sprung gekommen, um etwas sehr Wichtiges mit dir zu besprechen. Hör mir gut zu.» «Was gibt's?» «Zunächst einmal darf niemand hier im Haus erfahren, daß ich da gewesen bin.» «Was ist denn?» «Du mußt sagen, daß es der Gärtner war oder irgendein Störenfried.» «Warum denn?» «Um es offen auszusprechen, ich möchte mich nicht kompromittieren.» «Kompromittieren?» «Mark, ich weiß, daß du unschuldig bist. Aber die Polizei hat dich im Verdacht. Ich dürfte dir das eigentlich gar nicht sagen; du kannst dir denken, was für Schwierigkeiten ich bekomme, wenn es durchsickert, daß du es von mir erfahren hast. Die Polizei hat dich im Verdacht, daß du Pjotr Dief umgebracht hast. Man weiß, daß du ihn von früher kanntest. Trotzdem hast du bei deiner Vernehmung bestritten, mit Dief Kontakt gehabt zu haben.» «Ich? Ich soll Dief gekannt haben? Die sind ja verrückt. Wo sollte ich ihm denn begegnet sein?» «Anscheinend bei einem Ball in Paris, als du auch Melinda kennengelernt hast. Und dann in Venedig. Die Polizei sammelt Belastungsmaterial gegen dich. Dein Motiv, so heißt es, sei möglicherweise Eifersucht gewesen, und wenn sie dir Beziehungen zu Melinda nachweisen können und vielleicht Briefe von dir finden, dann kann das schon genügen. Ich sage dir das, Mark, weil ich genau weiß, daß du unschuldig bist.» «Ich verstehe überhaupt nichts mehr.» «Ich vermute, daß man dich mit dieser Olivia gesehen hat, die unmittelbar nach dem Verbrechen verschwunden ist. In derselben Nacht ist Olivias Chalet abgebrannt. Das sind alles Verdachtsmomente. Und ich weiß, daß die schottische Sekretärin und Melinda ein und dieselbe Person sind, und das wissen auch die anderen ...» «Und woher weißt du das alles, Anthony?» «Das war doch klar. Und außerdem wissen wir alle, was zwischen dir und Melinda los ist.» «Und was soll ich jetzt tun?»
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«Ich an deiner Stelle würde mich schleunigst aus dem Staub machen. Schon deshalb, weil es sonst zu einem Riesenskandal kommt. Du kannst vielleicht beweisen, daß du Ostrowskij nicht ermordet hast, aber ...» «Wen?» «Weiß du denn nicht, daß dein Chiropraktiker Ostrowskij hieß und nicht Dief?» « Woher soll ich das denn wissen? Er hat doch immer behauptet, er hieße Dief ...» «Zumindest käme dein Verhältnis zu Melinda heraus, und zwar in allen Einzelheiten, und das würde auch Melinda belasten.» «Ich soll also abhauen?» «Ich an deiner Stelle würde das tun.» «Und wohin?» «Ins Ausland. Ich flehe dich an, Mark, kein Wort ... Und sag Melinda, wenn du sie in Tanger siehst, sie soll vorläufig nicht nach England zurückkommen ...» In dem Bewußtsein, sowohl Mark als auch Melinda einen guten Dienst erwiesen zu haben, verabschiedete Anthony sich mit einem herzlichen Händedruck. Was wußte Anthony ...? Sag Melinda, wenn du sie in Tanger siehst ... Er wußte viel. Anscheinend blieb ihm, Mark, jetzt wirklich nichts anderes übrig, als sein Zuhause und Aglaia zu verlassen. Die Polizei? Olivia? Er begriff noch immer nicht. Melinda in wenigen Stunden sehen? Was empfand er dabei? Er war selig. Aber der Gedanke daran, Aglaia zu verlassen, gefiel ihm gar nicht. Als Aglaia aus dem Eßzimmer kam, nahm er ihren Arm und führte sie in den Garten. Das letzte Mal, daß sie hier zusammen gingen ... Mark sagte etwas von Bäumen, die noch vor dem Sommer zu pflanzen seien. Er legte seinen Arm um die warmen Schultern seiner Frau. Dem Butler hatte er schon gesagt, er solle packen, und der Sekretärin, sie solle einen Flug nach Tanger buchen. «Hör zu, Aglaia ... Eines Tages wirst du begreifen ... Oder vielleicht werde ich es dir auch erklären ...» Schwalben in der Luft, in der Ferne der azurblaue Wald, der Weißdorn ... « Wir müssen uns scheiden lassen, und ich muß dich verlassen. Ich reise heute nachmittag. Meine Koffer werden schon gepackt. Ich rufe dich an, sobald ich angekommen bin. Sprich du mit dem Anwalt. Ich habe keine Zeit mehr dazu.» 331
«Mark, doch nicht etwa wegen Melinda ...» Dann wußte also auch Aglaia Bescheid. Wie war das möglich? «Das ist eine komplizierte Geschichte. Sobald wie möglich werde ich dir alles erklären. Am liebsten würde ich bleiben. Ich wünschte, das wäre alles nicht nötig.» An der von Glyzinien überwucherten Mauer badete Fiona ahnungslos ihren Leoparden im Schwimmbecken. «Mark, Aglaia, schaut mal, wie wohl Lily sich fühlt!» Der Flug war erträglich. Melinda hatte ihre Ankunft Helen nicht angekündigt. Sie wollte sie überraschen und sehen, wie ihr Geld angelegt wurde. Sie ersparte es sich, in die Zeitungen zu schauen. Sie wollte keine Beschreibungen von Ostrowskij lesen und keine Vermutungen darüber, wie er umgebracht worden war. Es tat ihr leid, daß er tot war, aber noch mehr bedauerte sie, daß er gelebt und sie auf diese Art und Weise zum Narren gehalten hatte. Tanger war eine ziemlich häßliche Stadt, hatte aber ein günstiges Klima und sowohl einen Mittelmeer- wie einen Atlantikstrand, dessen Dünen von Cap Spartel kilometerweit nach Süden reichten. Melinda würde sich ein Haus an der Straße von Gibraltar suchen und ihre Kinder nachkommen lassen. Es schien ihr angebracht, sich vorläufig in England nicht blicken zu lassen und Mark inzwischen mit Luxus, Leben und Liebe zu umgeben. Was für eine Beschäftigung sie in Tanger allerdings für Mark finden sollte, konnte sie sich einstweilen noch nicht vorstellen. Sie selbst würde genug damit zu tun haben, Helen zu helfen. Die geschnitzte Tür der Klinik war klein, diskret und hochelegant. Eine Messingklingel und ein blitzblankes Schild: MITCHELL - PUBLISHING. Melinda läutete. Ein arabischer Diener in Livree öffnete und führte sie in einen Salon. Schwarz-weiße marokkanische Teppiche, schwarze Ledersessel, weiße Marmortischchen. Eine Plastik von Gio Pomodoro erinnerte an die Gründe, derentwegen die Klientin sich in diesem Zimmer befand. «Sie wünschen?» «Ich möchte Frau Mitchell sprechen.» «Wie ist Ihr Name, bitte?» «Publishing.» «Sind Sie angemeldet?» 332
«Nein.» «Im Augenblick hat Frau Mitchell eine Besprechung. Darf ich Ihnen inzwischen einen Pfefferminztee bringen?» Ausgezeichnet. Bravo, Helen. Vor allem war es genial, keine Farben zu verwenden, die an Kinderzimmer und Säuglingsgeschrei erinnerten. Der Raum war vielmehr ein Mittelding zwischen Klinik und Salon. Man hörte Stimmen. Anscheinend hatte Helen das Gespräch mit ihrer Klientin beendet. Es gab offenbar noch eine zweite Haustür, damit die Konsultationen unter der größten Diskretion stattfinden konnten. Wenige Minuten später erschien Helen in der Tür. Sie trug einen weißen, wahrscheinlich von Boham geschneiderten Kittel. «Ohne mir ein Wort davon zu sagen! Und kein Mensch auf dem Flugplatz!» Sie umarmte sie. Sie war glücklich, Melinda zu sehen. «Ich finde das alles hervorragend, Helen. Du bist ein Genie. Zeig mir bitte alles. Hast du schon viele Klientinnen? Verdienen wir? Ich finde alles gut: die Diskretion, die höfliche Behandlung, die Möbel, die Farben, das Messing und das Leder.» Helen nahm sie mit ins Sprechzimmer. «Wir haben auch eine Ärztin, um dem Ganzen den nötigen Glanz und einen seriösen Anstrich zu geben. Sie mißt die Temperatur und den Blutdruck, kontrolliert die Analysen, und so weiter.» Die Ärztin war Schwedin und begrüßte Melinda mit eisiger Herzlichkeit. «Die Konsultationen finden hier statt.» Ein freundliches Zimmer, ein paar Sessel, ein Sofa, ein Schreibtisch, Lithographien von Picasso und Stiche von Piranesi. Konventionelle Eleganz. «Hier müssen die Hemmungen der Klientinnen fallen. Meistens sind sie zwar bereit, dir zu erzählen, daß sie von ihren Männern keine Kinder bekommen, aber wenn es dann darum geht, im Katalog einen Spermatyp auszusuchen, weswegen sie die ganze Reise ja schließlich gemacht haben, dann bekommen sie Hemmungen. Dann muß man sie aufs Theater und auf den Film bringen und versuchen, ihren Geschmack herauszubekommen. Wenn eine Klientin sich für Sport begeistert, dann schlägst du ihr im richtigen Augenblick mit dem größten Takt das Sperma eines Olympiasiegers im Hochsprung oder Diskuswerfen vor. Wenn sich dagegen im Gespräch heraus333
stellt, daß sie häufig ins Kino geht, dann deutet man mit allem Zartgefühl die Möglichkeit an, daß das Wunschkind einen berühmten Schauspieler zum Vater haben könnte. Das Gespräch muß immer keusch bleiben.» «Und wo wohnen die Klientinnen?» «Wir haben oben fünf Zimmer. Aber die reichen schon nicht mehr aus, darum gehen manche ins Hotel. Meistens bleiben sie der Behandlung wegen und um sicher zu sein, daß sie bei der Abreise wirklich schwanger sind, für ein paar Wochen hier. Das Sperma wird in Ampullen in einem Kühlraum gelagert. Wir müssen aber unseren Vorrat vergrößern. Wir haben zum Beispiel, das habe ich dir ja schon einmal gesagt, rege Nachfrage nach slawischem Blut. Auch die Klientin, die gerade hier war, hat danach gefragt.» «Kannst du denn nicht schwindeln?» «Das kommt gar nicht in Frage. Damit würden wir unseren ganzen Ruf verderben. Wenn eine für einen Nobelpreisträger bezahlt und wir ihr belgisches Sperma geben, dann kannst du dich darauf verlassen, daß etwas anderes dabei herauskommt. Wir müssen alles daran setzen, daß unsere Klientinnen stets zufrieden sind.» «Und wenn so ein Kind von einem Nobelpreisträger oder einem Schauspieler mongoloid oder schwachsinnig wird?» «Dagegen sind wir versichert.» «Und bei Zwillingen?» «Die Klientinnen unterschreiben ausdrücklich, daß wir für derartige Risiken keine Haftung übernehmen. Aber es ist natürlich zweckmäßig, sich vorher zu informieren, ob in den Familien der Männer, die wir aussuchen, häufiger Zwillingsgeburten oder rote Haare vorgekommen sind, die auch niemand will.» «Warum denn das?» «Weil rote Haare auf einen anderen Vater schließen lassen.» «Und wo wohnst du?» «Ich habe ein Haus am Meer. Wenn du willst, kannst du bei mir wohnen, ich habe sehr viel Platz.» «Mein zukünftiger Mann kommt aber nach.» «Der kann auch bei mir wohnen. Inzwischen helfe ich dir, eine Villa zu suchen. Ist es indiskret, zu fragen, wer dein Mann ist?» «Mark van der Belt.» «Bravo. Endlich. Und wollt ihr euch hier niederlassen?» «Vorläufig ja.» «Hör mal, ich hätte aber gern, daß du dich sofort auf den Weg 334
machst und mir sowjetisches Sperma besorgst. Unsere neue Klientin ist reich und will hier darauf warten.» «Mit anderen Worten, ich soll gleich wieder abreisen?» «Wenn du alles gut arrangierst, kannst du in ein paar Tagen wieder hier sein. Ist dein sowjetisches Visum noch gültig?» «Ich muß trotzdem erst zum Konsulat.» «Hast du schon einen bestimmten Spender im Auge?» «Mirko Sligowitz.» «Der Nobelpreisträger? Der Wissenschaftler? Ausgezeichnet. Wie lange brauchst du dafür?» «Ich denke eine Woche.» «Wo lebt Sligowitz?» «In Moskau.» «Glaubst du, du kannst ihn anrufen?» «Ich wüßte nicht, warum das nicht möglich sein sollte.» «Dann solltest du morgen reisen.» «Gut. Wenn Mark inzwischen ankommt, sag ihm bitte, er soll in Tanger auf mich warten. Er wird sehr enttäuscht sein, wenn er mich nicht antrifft ...» «Auf solche Möglichkeiten muß er sich schon gefaßt machen, wenn er dich wirklich heiraten will. Eine verrückte Idee, Melinda, wieder zu heiraten. Ich dachte, du hättest endgültig genug.» «Und du und Abraham? Ich dachte, ihr würdet am Ende auch noch heiraten.» «Abraham! Das weißt du doch genau — der wird nie heiraten.» «Das glaube ich allerdings auch. Aber du wirst schon sehen, wenn wir viel Geld verdienen, dann will er dich heiraten oder sich mit dir zumindest assoziieren.» «Das glaube ich nicht, schließlich und endlich habe ich ja auch so genug Geld und Dame Elizabeth ist steinreich ...» An diesem Abend saßen sie in der Kasbah. Sie wirkte ein bißchen unecht, aber Spaß machte es doch. Außerdem konnte man nur abends hingehen. Auf der einen Seite die Villa der amerikanischen Millionenerbin, auf der anderen die des schwulen Engländers. Auch in dem Lokal selbst wurde einem einiges geboten. «Man ißt hier recht gut, du wirst schon sehen.» Helen kannte einige Leute. Einen (schwulen) marokkanischen Maler, einen (schwulen) englischen Innenarchitekten und einen (schwulen) jungen Amerikaner. 335
In Kissenberge gelehnt, mußten sie warten, bis der junge Marokkaner seinen Schleiertanz beendete, ehe sie bestellen konnten. Begleitet von vier prähistorischen Instrumenten, von deren monotonen Klängen Melinda Kopfschmerzen bekam, tanzte der Junge und enthüllte sich nach und nach. «Ich habe noch nie was für Araber übrig gehabt», erklärte Melinda. «Du wirst sehen, nach und nach wird dir das alles gefallen. Auch die Musik.» «Nie. Diese Salome mit ihren geschminkten Augen. Und nicht einmal witzig ist er.» « Wenn er mit seinen Schleiern witzig wäre; dann würde das die Engländer und Amerikaner nicht mehr aufregen, sie kämen nicht mehr in das Lokal, und das Essen wäre nicht mehr so gut.» Huhn mit Nüssen, Mandeln und Reis und Süßigkeiten aus Kokosnuß, die mit Marmelade und Sirup gefüllt waren und von Fett und Zucker nur so troffen. Himmlisch. «Morgen zeige ich dir die Liste unserer Klientinnen. Aber du mußt der Verlockung widerstehen und diskret sein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie komisch das alles ist. Aristokratinnen, die Kinder von Ringkämpfern wollen, Neureiche, deren Männer durchaus zeugungsfähig sind, die aber königliches Sperma wünschen. Und dann gibt es Ehepaare, die beschließen, neues, hochwertiges Blut in die Familie zu bringen, nachdem sie mit den ersten zwei oder drei Kindern kein Glück gehabt haben.» «Was hat unsere Klinik denn in Tanger für einen Ruf?» «Sie gilt einfach als Frauenklinik. Niemand interessiert sich dafür. Schmuckbeladene Frauen, also bringt sie Geld. Es kümmert sich wirklich niemand darum.» «Und was machst du abends?» «Manchmal würde man sich am liebsten aufhängen. Ich komme ziemlich oft hierher oder esse bei Freunden. Tagsüber hat man immer das Meer oder kann in den Dünen ausreiten. Mit dem Flugzeug ist man rasch in Marrakesch, und das lohnt sich. Und wenn du ein Haus hast, kannst du dir Besuch einladen.» «Sorg bloß dafür, daß Mark, wenn er kommt, sich gut amüsiert. Aber er wird sich trotzdem langweilen. Vielleicht kommt er besser nach Moskau nach.» «Das ist doch Unsinn.» «Na, du siehst dann ja, wie seine Stimmung ist.»
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Der Junge war mit seinen Schleiern fertig. Sie lagen jetzt auf dem Boden, und er stand nackt mitten im Saal. Von den Tischen ein etwas nervöser und überreizter Applaus. Der Junge mußte ungefähr fünfzehn Jahre alt sein. Melinda lächelte ihm zu. «Meinst du, daß er mit mir kommt, wenn ich ihn bezahle?» fragte sie Helen. «Der würde mit jedem gehen, auch für wenig Geld. Aber er würde es allen seinen kleinen Freunden erzählen, und die würden sich über dich lustig machen.» «Das wäre mir gleich.» «Da kannst du Besseres haben.» «Es würde mir Spaß machen, einen zu bezahlen, damit er mit mir ins Bett geht.» «Dazu hast du noch lange Zeit. Wenn du erst fünfzig bist, bleibt dir so oder so nichts anderes übrig.» «Wieso bist du nur so weise, Helen? Das muß doch ziemlich langweilig sein.» «Ich bin nicht weise, sondern fünfzig.» «Und zahlst?» «Ich bin eine berühmte Schriftstellerin, und das ist ein mächtiges Aphrodisiakum. Aber manchmal ... na ja, kleine Geschenke ...» «Dann werde ich ein Buch schreiben.» Zum Haschisch lud der marokkanische Schriftsteller sie an seinen Tisch ein. Melinda sagte sofort, sie habe noch nie Haschisch geraucht und alle müßten Geduld mit ihr haben und es ihr beibringen. Mohamed Abib gab ihr eine lange, helle Holzpfeife, in die mehr oder weniger dekorative Motive geschnitzt waren. Er zeigte ihr, wie man den kleinen Kopf und die Röhrchen abschraubte, um sie zu reinigen. Dann nahm er von dem grünen Pulver, das scharf, beinahe beißend roch und sehr fein war. «Das ist nicht wie Marihuana. Man muß sehr viel mehr davon rauchen und sich dabei sammeln und konzentrieren. Für eine Pfeife brauchen Sie eine Viertelstunde. Danach müssen Sie die Pfeife jedesmal wieder reinigen und mit frischem Haschisch stopfen. Geben Sie acht, daß Sie die Pfeife nicht zu fest, aber auch nicht zu locker stopfen. Ich rauche etwa zwanzig Pfeifen. Sie müssen allein mit allem fertig werden, denn wir geraten sofort in Trance und wollen nicht gestört sein. Nach und nach senken sich Frieden, Glück und Ruhe auf alle herab. Die Augen schauen ins Unendliche, die Bewegungen werden langsamer, und eine magische Vision erstrahlt mit 337
allen Einzelheiten in ganz neuen Farben. Man darf dabei an gar nichts denken, an nichts als den Rauch, den man tief einatmet. Man muß sich von allem lösen ...» Diese Einführung gefiel ihr. Sie hatte ein unverwechselbar sexuelles Aroma. Aber würde es ihr gelingen, sich auf ihre Pfeife und das grüne Pulver zu konzentrieren? Sie brachte es schon bei der Liebe nicht fertig, sich von allem anderen zu lösen, und jetzt sollte sie es versuchen, während sie unbequem auf Kissen saß, eine Holzpfeife im Mund und rings um sich lächerliche Leute hatte, die ebenfalls rauchten. Sicher würde sie lachen müssen. Sie begann an Moskau und an Sligowitz zu denken und wie sie ihn verführen würde. Kurz zuvor hatte sie ein Telegramm von Mark bekommen. Er würde am nächsten Tag eintreffen — wenige Stunden nach ihrer Abreise nach Moskau. Endlich. Mark besitzen, mit ihm durch Europa reisen, seinen Namen tragen, seine offizielle Gefährtin sein. Die zweite Pfeife ... Sie brachte es nicht fertig, den Pfeifenkopf richtig zu reinigen und bekam deshalb Rückstände des Pulvers in den Mund, so daß sie husten mußte. Wenn sie die Pfeife fester stopfte, konnte sie nicht richtig ziehen. Die anderen rauchten mit verträumten Gesichtern still vor sich hin. Melinda hatte keinerlei magische Empfindungen. Im übrigen war sie der Meinung, daß man sich dabei wie bei allen ähnlichen Gelegenheiten wirklich konzentrieren mußte. Um Jesus zu sehen, mit einem Gespenst zu sprechen, zu lieben oder Haschisch zu rauchen, mußte man vor allem glauben. Etwas, was Melinda außerordentlich schwerfiel. Mark allein in Tanger. War das ein Fehler? Aber unter den augenblicklichen Umständen konnte er ja gar nicht nach England und zu Aglaia zurück. Er war von ihr abhängig. Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, daß er im letzten Augenblick überhaupt nicht kam. Aber diese Möglichkeit bestand bei Mark immer. Helen hatte ihre vierte Pfeife angezündet, wenn Melinda richtig gezählt hatte. Sie war eine schöne Frau und hatte ein Gesicht, das Vertrauen einflößte. Die Klinik war eine Meisterleistung. Sah sie jetzt die wunderbaren Farben? Ach wo, alles war genau wie zuvor. Helen rauchte die fünfte. Melinda fing an, sich ernstlich zu langweilen, und wollte noch etwas von den Süßigkeiten essen. Wo war der Kellner? Alle um sie herum starrten ins Leere. Melinda wollte zur Toilette gehen. 338
Und da sie am nächsten Tag in aller Frühe aufbrechen mußte, hätte sie auch gern mit Helen noch einiges besprochen. Schließlich mußte sie niesen. Sie hielt es nicht mehr aus. «Entschuldigt, aber ich kann nicht mehr. Ich langweile mich zu Tode.» «Hast du wirklich etwas dabei empfunden?» «Zum Teil ist es sicher Autosuggestion, aber du mußt auch richtig ziehen. Und wahrscheinlich war das Haschisch, das sie uns gegeben haben, stark verdünnt.» «Ich lege dir noch einmal Mark ans Herz. Er kommt heute nachmittag an. Schick ihm einen Wagen auf den Flugplatz und gib ihm ein bequemes Zimmer.» «Da kannst du ganz ruhig sein.» « Wenn er mich etwas wissen lassen will, dann nur telegrafisch oder telefonisch. Postlagernd Moskau. Aber schreibt mir nicht per Adresse Sligowitz, sonst bekommt der einen Schrecken.» «Gute Reise. Und überanstreng dich nicht.» «Kümmere dich ein bißchen um Mark. Er ist so lieb.» In Paris stieg sie in ein Flugzeug der Aeroflot um. Wenn sie alles im voraus hätte planen können, hätte sie sich mit Mark in Orly zum Essen verabredet. Andererseits — wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, mit ihr nach Moskau zu fliegen, wie hätte sie dann Sligowitz verführen sollen? Vielleicht konnte sie ja wirklich die Rakete taufen. Ob Mark sich darüber im klaren war, daß sie ein Opfer brachte, wenn sie ihn heiratete? Sie würde auf ihr abenteuerliches Leben verzichten müssen ... wenigstens für einige Zeit ... Vielleicht würde sich Mark aber auch an ihr Leben gewöhnen und immer mitfahren. Auf einmal fand sie die Idee, Marks Frau zu werden, gar nicht mehr so attraktiv. Mirko Sligowitz war nicht am Flugplatz, aber er hatte ihr einen großen schwarzen Wolga geschickt. Auf dem Moskauer Flugplatz herrschte wieder das gleiche Chaos, das gleiche Hin und Her, das sie schon bei ihrer ersten Reise so beeindruckt hatte. Traktoren, die Dutzende von Flugzeugen auf die Startbahnen zogen, Massen von Menschen, die Fotos von westlichen Filmstars kauften, von Lana Turner, Gina Lollobrigida, Gary Cooper ... Wo sie hingebracht werden wolle. 339
«Ich habe mir kein Zimmer bestellt», sagte Melinda zitternd. Es war hier viel kälter als in Paris. «Ich möchte ins National, aber ich weiß, daß das nicht immer einfach ist ...» Sie konnte sich nur mühsam verständlich machen. Sie half sich mit Tschechisch und den paar russischen und polnischen Brocken, die sie konnte. «Sie brauchen nur Professor Sligowitz anzurufen, dann haben Sie nicht die geringsten Schwierigkeiten.» «Dann können wir ja mein Gepäck im National lassen. Ist der Professor zu Hause?» «Bis vier ist er in seinem Labor, um sechs erwartet er Sie bei sich zu Hause. Er hat gesagt, ich soll auf Sie warten.» «Ich kann doch ein Taxi nehmen, sonst ist der Professor ja ohne Wagen.» «Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Der Professor hat mehrere Autos zu seiner Verfügung. Er wird immer gebracht.» Der Chauffeur hatte ein rundes, rosiges Gesicht und blaue, tiefliegende Augen. Moskau kam ihr unverändert vor. Riesige Vorstädte mit Hunderten von verfallenden Mietshäusern und ebenso vielen Häusern, die in Bau waren. Keine Läden, die langen, geraden Straßen, die alle gleich aussahen. Genau wie die Peripherie von Mailand. Sie hatte vergessen, daß diese Straßen ständig aufgerissen waren. Gruppen rundlicher Arbeiterinnen, die Asphalt mischten, Straßen kehrten und die zahlreichen Schlaglöcher mit Steinen füllten — sie waren geradezu ein Teil dieser Landschaft. Im National gab es keinerlei Schwierigkeiten; Melinda bekam im dritten Stock ein Zimmer mit Bad und Blick auf den Kreml. Wie Sligowitz sie wohl empfangen würde? War sie eigens seinetwegen gekommen? Oder war sie anderer Angelegenheiten wegen hier und benutzte die Gelegenheit, ihn zu sehen? Die zweite Lösung war sicher die bessere, nur fiel ihr absolut kein Grund dafür ein, warum sie von Tanger nach Moskau gekommen sein konnte. Aber schließlich gab es Leute, die ihre Weihnachtsgeschenke in Paris oder New York kauften, warum sollte Melinda die ihren also nicht im Kaufhaus Gum besorgen und mit bestickten ukrainischen Hemden, Pelzmützen, Zobelpelzen und massenhaft grünem Kaviar nach Tanger zurückkehren? Ganz in Weiß kam sie in die Ulitza Zacepa, wo Sligowitz eine entsetzlich geschmacklos eingerichtete Wohnung hatte. Ein paar Er3 40
innerungen an das heimatliche Albanien, viele Stühle von undefinierbarer Farbe und Form, an den Wänden Fotos. Vor dem Hauseingang ein Detektiv, der als Passant verkleidet war. «M'linda ...» Das klang so herzlich, daß kein Zweifel daran bestehen konnte, wie sehr der Professor sich freute, sie zu sehen. «Professor, wie geht es Ihnen?» «Nennen Sie mich bitte Mirko. Schließlich habe ich Sie ja auch M'linda genannt. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, daß ich nach Ihrem Anruf aus Tanger für heute abend ein kleines Programm gemacht habe. Aber vielleicht haben Sie etwas anderes vor ...» «Nein.» Mirko Sligowitz' runzlige Haut und seine wäßrigen Greisenaugen gefielen ihr. Melinda überlegte, daß sich bei ihr vielleicht ein dem Lolita-Komplex entgegengesetztes Phänomen entwickelte und daß gerade Mirkos Alter sie besonders anzog. «Ich habe zwei Karten fürs Bolschoi besorgt, M'linda. Ich bin seit ewigen Zeiten nicht mehr dort gewesen. . «
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«Was denn? Sie haben sicher ein besseres Gedächtnis als ich.» «Sie haben mir versprochen, einer Ihrer Raketen meinen Namen zu geben.» «Oh, dieses Versprechen habe ich durchaus nicht vergessen.» «Wo ist die Rakete? Darf ich sie taufen? Wird sie wirklich Melinda heißen?» «Natürlich ist die oo43/ZB nicht in Moskau, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, daß ihr Abschuß eines der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts sein wird. Näheres darüber darf ich Ihnen allerdings nicht sagen, weil es ein Staatsgeheimnis ist.» «Aber wenn sie Melinda heißen und ich sie taufen soll, dann müssen Sie mir alles erzählen. Nennen Sie sie bloß nicht mit dieser Nummer ... wie war sie doch?» «oo43/ZB. Nein, sie wird M'linda heißen. Wir werden noch darüber sprechen. Wie lange bleiben Sie in der Sowjetunion?» «Ich weiß noch nicht. Das hängt ganz davon ab ...» «Wovon?» «Von vielerlei.» «Oh, ich bin aber ein unaufmerksamer Gastgeber. Ich habe Ihnen ja noch gar nichts zu trinken angeboten. Was möchten Sie? Allerdings trinkt man bei uns eigentlich nur Wodka», sagte er und schenkte ihr ein großes, farbiges Glas voll. «Sie haben so ein schönes weißes Kleid an», fuhr er dann fort. «Weiß ist die Farbe, die am besten zur menschlichen Haut paßt. Ich würde Ihnen gern einen ganz weißen Pelz schenken.» Die Dinge entwickelten sich rasch, fand Melinda, und Mirko war so sympathisch. Große Verführungsszenen würden gar nicht nötig sein. Es war tatsächlich eine mäßige Aufführung. Sie kamen zu spät, erst kurz vor der Arie des Cherubino: «Ich weiß nicht, was ich bin, was ich tue.» Von einem Cherubin mit einem gewaltigen plattgedrückten Busen gesungen, erweckte sie keinerlei Sympathie für den jugendlichen Pagen. Die Arie der Gräfin «Nur zu flüchtig bist du entschwunden» wurde einfach ausgelassen. «Ich freue mich, daß Sie das gemerkt haben», flüsterte ihr Mirko zu, der im Halbdunkel des Parketts Melindas Erstaunen bemerkt hatte. Er war ein sehr aufmerksamer und fürsorglicher Begleiter. Wie gewöhnlich waren Gruppen von Delegationen im Bolschoi. Im Parkett saßen viele kräftige junge Leute, Neger, Mulatten und 3 42
Weiße, die offensichtlich ein und derselben Delegation angehörten. Melinda und Mirko überlegten, was all diese Muskelmänner im Parkett des Bolschoi vereinte, bis sie sie in der zweiten Pause Portugiesisch sprechen hörten. Mirko erkundigte sich bei dem Detektiv, der ihnen gefolgt war und der jetzt hinter ihnen saß, wer die Leute seien: es war die brasilianische Fußballmannschaft, die für die Weltmeisterschaft nach Moskau gekommen war. Nach der Oper gingen sie in ein neues Restaurant. Dort standen die Leute Schlange, aber Mirko hatte einen Tisch bestellt. Außerdem erregte sein Name überall sofort Aufmerksamkeit, was, wie Melinda bei ihrer ersten Reise festgestellt hatte, in Rußland etwas außerordentlich Seltenes war. Für den Detektiv, der tat, als käme er auch als Gast, war kein Tisch mehr frei, und Mirko lehnte es ab, ihn an ihrem Tisch sitzen zu lassen. «Das wird doch allmählich albern. Er spioniert mir den ganzen Tag nach, und manchmal muß ich ihn sogar in meinem Wagen mitfahren lassen, weil er sonst keine Gelegenheit hätte, mir zu folgen.» «Der Ärmste, muß er nun ohne Abendessen draußen warten?» « Wieso? Schließlich hat er sich diesen Beruf selbst ausgesucht.» Er setzte sich erst, nachdem sie Platz genommen hatte. «Es tut mir leid, M'linda, daß ich Ihnen heute abend nichts Besseres bieten kann.» Er nahm ganz zart ihre Hand. Melinda drückte die seine fest. Im gleichen Augenblick merkte sie, daß diese Geste nur kameradschaftlich wirkte und den zartfühlenden, romantischen Professor verwirrt, wenn nicht gar enttäuscht hatte. «Aber ich bitte Sie, ich habe mich doch sehr gut unterhalten, und das Hauptvergnügen war schließlich, einen Abend mit Ihnen zu verbringen, Mirko.» Am nächsten Tag rief sie Helen an. Es dauerte den ganzen Vormittag, bis sie die Verbindung bekam. «Helen? Wie ... Du mußt lauter sprechen. Ich kann dich nicht verstehen. Ich schicke die Ampulle heute nachmittag an dich ab. Sie kommt in den Kühlwagen und ist Donnerstag bei dir. Du mußt jemanden schicken, der sie abholt. Ja, ich habe ihm alles erklärt ... Nur ein bißchen erstaunt ... Rasch?... Wie? ... Ist er schon da? ... Wie geht es ihm? ... Das habe ich mir ja gedacht ... Na schön, sag ihm, er soll hierher kommen. Ich wohne im Hotel National. Eigentlich hatte ich ja die Absicht, heute in die Ulitza Zacepa um343
zuziehen, aber dann muß ich eben darauf verzichten. Außerdem habe ich vor, mit ihm wegzufahren ... Nein, mit dem Professor. Er hat so ein Dings, das ich taufen soll. Nein, er sagt mir nicht wo, weil das ein Staatsgeheimnis ist ... Ich glaube, in Sibirien ... Bist du jetzt zufrieden? Sag deiner Klientin, daß es unterwegs ist ... Wer? ... Er will mich sprechen? ... Ist er denn bei dir? Das hättest du mir doch gleich sagen können. Sag ihm, er soll schreien, er spricht immer so leise ...» Ein Augenblick Stille, dann Marks Stimme. Melinda zündete sich eine Zigarette an. «Mark? Um Himmels willen, sprich lauter ... Du langweilst dich? ... Ich komm ja bald zurück ... Willst du wirklich kommen? Ich finde das verrückt, aber wie du meinst ... Ich muß ein Geschoß taufen, nein, eine Rakete, ich weiß nicht, wie sie heißt. Eins von diesen Dingern, die man in den Himmel schießt. Sie soll Melinda heißen ... Na klar, daß ich das tun muß. Ich habe das doch noch nie getan ... Wann ist es mit deiner Scheidung soweit? ... Was heißt zehn Jahre? Ist Aglaia denn verrückt? Was bildet sie sich ein? ... Dief? Ja, ich weiß, daß er tot ist. Es hat Schwierigkeiten gegeben? ... Was hat er gesagt? ... Wer? ... Anthony? ... Und wieso das? ... Na, schön. Schick mir kein Telegramm, komm selbst zu mir ins Hotel ... Wirklich, Lieber? ... So darfst du dir nicht vorkommen ... Wir werden ein Haus haben und Freunde und werden in Ruhe und Frieden leben, wo du willst. Auf England pfeifen wir ... In ein paar Jahren gehen wir nach England zurück ... die Anwälte ... Aber natürlich liebe ich dich ... Na schön, jetzt mußt du eben mal mir nachlaufen und bist ein bißchen von mir abhängig ... Wir können doch eine schöne Reise machen. Nach Südamerika ... Wohin? Aber nein, warum denn nach Australien? Was fällt dir denn ein? ... Liebling, ich bin zwar sehr reich, aber dieses Gespräch kostet ein Wahnsinnsgeld. Wir können nicht einfach so plaudern ... Wieso, wer soll denn mithören? ... Daß doch immer von diesen armen Sowjets behauptet wird, sie spionierten ... Was soll denn die Regierung für ein Interesse daran haben, was wir beide uns erzählen? ... Wenn du weiter so antisowjetisch redest, ziehen sie das Visum zurück ... Du hast überhaupt keins? ... Dann brauchst du aber ein paar Tage, bis du hier sein kannst ... Wie es mir geht? Gut natürlich, Liebling, wie immer ... Glücklich? ... Und du? ... Das tut mir leid ... Aber fühlst du dich denn bei Helen in Tanger nicht wohl? ... Du findest sie nicht interessant? ... Du mußt dir 344
eben auch eine Arbeit suchen ... Du wirst schon sehen, wie faszinierend Moskau ist. Ich hinterlasse immer eine Nachricht für dich im Hotel, für den Fall, daß ich nicht da bin, wenn du ankommst ... Ich könnte doch zum Beispiel gerade ausgegangen sein ... Laß es dir gut gehen, mach dir keine Sorgen ... Glaub mir, du bist nicht allein ... Ja, ich liebe dich ... Sei doch nicht albern ... Ich liebe dich wirklich ... Tschüs.» Sie kämmte sich, und dann ging sie zu Mirko, der sie in seiner Wohnung erwartete. Mark war gern allein und verbrachte ganze Tage an seinem Tischchen, aber er mußte wissen, daß jemand im Hause war und auf ihn wartete. Helens Idee war unbefriedigend. Melindas Idee dagegen schien ihm verlockend. Aber würde sie es fertigbringen, zu Hause zu bleiben, oder würde sie von einem Augenblick auf den anderen, ohne etwas zu sagen, zu irgendeiner verrückten Unternehmung aufbrechen? Das hätte er sich früher überlegen sollen. Warum hatte er sich bloß entschlossen, sich auf so alberne Weise zu kompromittieren? Als Aglaias Mann und Melindas Geliebter hatte er sich wirklich nicht beklagen können. Tanger fand er unerträglich und viel zu heiß. Er reiste nicht gern, und er fühlte sich nirgendwo wohl außer in England. Er war im Spielcasino gewesen und hatte ziemlich viel Geld verloren. Seit dreißig Jahren hatte er nicht mehr Roulette gespielt. Wie konnte er so tief sinken? Aus purer Langeweile. Und dann Melindas Anruf ... ganz anders als ihre früheren Anrufe. So ungeduldig. Wenn dieser Besuch von Anthony nicht gewesen wäre ... Aber nein, er liebte Melinda. Er hatte sich dazu entschlossen, mit ihr zu leben, und das war die Hauptsache. Er würde sie ändern, ihr Pflichtbewußtsein beibringen. Vielleicht würde sie ein Kind von ihm bekommen. Melinda war doch so jung. Warum sollte es ihm nicht gelingen, sie umzumodeln, sie sanfter zu machen, ihr ein Gefühl für ihre Abhängigkeit und bestimmte Pflichten beizubringen. Ob Abraham von ihren Entschlüssen wußte? Aglaia würde nicht in die Scheidung einwilligen. Sie würde abwarten, bis Mark es sich wieder anders überlegte, hatte sie ihm gesagt. Als ob gewisse Entscheidungen so einfach rückgängig zu machen wären. Was Aglaia wohl so allein auf dem Land machte? Wahr-
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scheinlich ging sie mit den Hunden im Wald spazieren, und vielleicht war sie unglücklich ... Mit ihr auf dem Land sein. Morgens jeder in seinem Zimmer frühstücken und die Zeitungen lesen. Dann, meistens gemeinsam, ein Waldspaziergang mit den Hunden. Und dann Aglaias Sekretärin, die um zehn kam, und seine Sekretärin, die um halb elf kam. Und jetzt? Was für ein Leben würde ihm Melinda bescheren? Er wollte nicht von einem zum anderen, von Stadt zu Stadt weitergereicht werden. Würde sie ihn betrügen? Betrog sie ihn vielleicht jetzt schon? Aber sie war doch in ihn verliebt ... Sie war ihm doch, ohne sich je davon abbringen zu lassen, beharrlich nachgelaufen. Es war also nur richtig, daß er alles für sie aufgegeben hatte. Was wäre das sonst für ein Opfer gewesen? Und es würde herrlich sein, wenn sie beide, ganz allein, sich in Moskau trafen. Sie würden zusammen im Schlafwagen zurückfahren ... Melinda ... Was sie wohl gerade machte? Diese Geschichte mit der Klinik in Tanger hatte er nicht ganz begriffen. Sie war nach Moskau gegangen, um dort irgendwelche Medikamente zu besorgen. Hätte man sich die nicht auch schicken lassen können? Sie würde sowohl Helen als auch diesen Beruf aufgeben müssen. Er verlangte auch von ihr Opfer, er wollte, daß sie sich auf ihr gemeinsames Eheleben beschränkte, auf Einsamkeit und auf Ruhe. Plötzlich merkte er, daß er laut redend durch die Straßen von Tanger ging, als sei er auf dem Land. Die Leute drehten sich nach ihm um. Er wußte, daß er für dieses Klima nicht richtig angezogen war, aber er hatte vergessen, dem Butler zu sagen, er solle seine Sommersachen einpacken. Vielleicht würde es in Moskau anders sein. Was trug man eigentlich in Moskau? Und dann würde er sich nach und nach seine Garderobe schicken lassen. Der Butler würde ihm immer treu bleiben, wenn er ihn bezahlte. Von Helens Haus aus rief er seinen Anwalt an. «Guten Tag. Hier van der Belt. Ich wollte Sie bitten, mal ein bißchen mit meiner Frau zu reden ... Hier ist es zu heiß ... Nein, ich bin nicht gern im Ausland, das bin ich nie gewesen, aber ich bin hier ja auch nicht, um Ferien zu machen ... Wovon müssen Sie sprechen? ... Wer? Wie? ... Mit wem? ... Ach, wußten Sie das nicht? Ich habe mich entschlossen, mich von meiner Frau scheiden zu lassen, aber vorläufig will sie nichts davon wissen ... Böswilliges Verlassen? ... Man hat mich doch beinahe dazu gezwungen ... Da ist doch 346
diese Geschichte ... Versuchen Sie, etwas herauszubekommen, aber vorsichtig ... Und kommen Sie nächsten Samstag nachmittag und berichten Sie mir ... Ja, sicher sind Sie sehr beschäftigt, aber ich bin sehr reich ... Schicken Sie mir ein Telegramm ... Der Direktor eines Sanatoriums ist ermordet worden, ich war damals dort, und nun sieht es so aus, als habe man mich im Verdacht ... Ich weiß, daß das lächerlich ist, das brauchen Sie mir wirklich nicht zu sagen ... Das wichtigste ist meine Frau, sie soll keinen Dickkopf aufsetzen ... Ich verstehe nicht ... Machen Sie ihr begreiflich ... Ihnen kann ich es sagen? Ja, ich möchte wieder heiraten ... sie nicht sehen, wie soll ich das? ... Und wenn schon, ich bin ja schließlich sehr reich ... Ich tue keine falschen Schritte, ich gehe am Kai von Tanger spazieren ... Nein, augenblicklich bin ich allein ... In Rußland ... Warum nicht? Aber ich bitte Sie ... Wir sprechen Samstag darüber. Vergessen Sie es nicht. Ich lasse Sie am Flugplatz abholen. Wollen Sie ein paar Tage bleiben? Wollen Sie Ihre Frau mitbringen? ... Sie sind nicht verheiratet? ... Um so besser ... Müssen Sie das wirklich wissen? Ihr Beichtvater? ... Ja ... Wie haben Sie das erraten? ... Ja genau, Melinda Publishing ... Wir haben uns schon kompromittiert? Wann denn? Wir sind doch immer so vorsichtig gewesen ... Meine Frau soll nicht traurig sein, aber sie soll in die Scheidung einwilligen ... Leben Sie wohl ... Auf Wiedersehen.» Das Telefongespräch hatte ihm keine Erleichterung verschafft. Und die Tatsache, daß alle, aber auch alle, sogar Aglaia, über sein Verhältnis mit Melinda Bescheid wußten, war ihm einigermaßen unangenehm. Warum hatte denn niemand mit ihm darüber gesprochen? In wenigen Stunden würde er Melinda sehen. Seine schlechte Laune, seine Unsicherheit und diese Nervosität — alles würde aufhören. Er brauchte nur ihr Haar zu berühren ... ihr Gesicht zu küssen... Melinda hatte sich geärgert. Mirko hatte darauf bestanden, und es war einfach nicht anders möglich gewesen. Entweder sofort abreisen, ihm blind folgen und die Rakete aus der Taufe heben oder in Moskau bleiben und auf den Plan verzichten. Sie hinterließ Mark einen Brief: «Lieber, ich kann Dich nicht einmal bitten nachzukommen, denn ich habe keine Ahnung, wo ich in ein paar Stunden sein werde. 347
Wenn Du in Moskau auf mich wartest (besichtige inzwischen die Tretjakow-Galerie, die Puschkin-Galerie und den Kreml), komme ich so schnell wie möglich zu Dir. Auf bald. Ich umarme Dich. Deine Melinda. PS. Wie weit ist es mit der Scheidung?» Sie saßen in einem großen Flugzeug und waren im Begriff zu starten. Mit ihnen reisten noch drei andere Männer. Sligowitz stellte sie ihr vor. Den einen erkannte sie sofort wieder. Er war der Detektiv, der jetzt als Kopilot verkleidet war. «Aber bitte, nur die Vornamen. Wir wollen doch unsere M'linda nicht verwirren. Jewgenij, Mischa, und das ist mein Assistent Nikolaus.» «Später», sagte Melinda zu dem Steward, der ihr Wodka einschenken wollte. «Jetzt ist es noch zu früh für mich.» Die drei Männer gingen ans Ende des leeren Flugzeugs, um dort ein großes Glas voll zu trinken. Melinda und Mirko blieben nebeneinander sitzen. Keiner von beiden hatte eine Zeitung oder ein Buch. «M'linda, ich möchte dich nicht erschrecken», sagte Mirko, «aber die oo43/ZB, die wir entworfen haben und die deinen Namen tragen soll, hat eine große Zukunft: sie wird auf den Mond fliegen und dort landen. Zuerst sollte die oo43/ZB nur zwei lebende Affen mitnehmen, aber durch verschiedene Experimente haben wir festgestellt, daß auch ein menschliches Wesen mitreisen könnte. Denk mal, der erste Mensch auf dem Mond ...» «Die erste Rakete auf dem Mond ... mit meinem Namen ... Ich bin so glücklich, Mirko. Das ist wirklich ein großes Geschenk. Und wann wird der feierliche Start stattfinden? Und wann werden wir die Presse informieren?» «In wenigen Tagen, wenn wir entschieden haben, wer der Astronaut sein soll.» «Wo fliegen wir jetzt hin?» «Das wirst du bei der Ankunft erfahren.» «Und werde ich die Astronauten kennenlernen?» «Den, für den wir uns entscheiden, ganz bestimmt.» «Wird es ein Mann oder eine Frau sein?» «Wir vermuten, daß der weibliche Organismus den Temperaturunterschieden auf dem Planeten besser gewachsen ist.» «Und wie lange wird der Astronaut auf dem Mond bleiben?» «Nur wenige Stunden. Er muß ein paar Fotos machen und in 348
ständiger Funkverbindung mit uns bleiben. Er wird die oo43/ZB nicht einmal verlassen können.» «Wunderbar», sagte Melinda und gähnte; und mit Schlagzeilen vor Augen, die den geglückten Start der <Melinda> meldeten, schlief sie ein. Es war heiß in dem Flugzeug. Mirko ließ die geblümten Nylonvorhänge herunter und bat seinen Assistenten, nicht mehr zu rauchen. «Ich habe mit ihr gesprochen», sagte er zu ihm. « Was meint sie dazu?» «Vorerst habe ich ihr nur gesagt, daß die oo43/ZB mit einem menschlichen Wesen an Bord auf dem Mond landen wird.» «Hast du ihr nicht alles gesagt?» «Nein, eines nach dem anderen. Aber beim Start muß eine großartige Feier stattfinden, Ministerpräsident, Fernsehen und Presse. Die Filme geben wir nach der Landung frei.» «Der Erfolg ist so sicher, daß man auch eine Direktübertragung wagen könnte. Legt sie großen Wert auf Publicity?» «Das ist das einzige an der ganzen Sache, was sie interessiert.» «Ich werde mich gleich darum kümmern.» Sie tranken einen zweiten Wodka, Melinda hörte sie wispern und wachte halb davon auf. Sie hob einen Vorhang hoch. «Oh, wir sind gerade über dem Aral-See», murmelte sie und gähnte. «Wir fliegen also gar nicht nach Sibirien.» «Bravo, Melinda! Daß du dich so gut in Geographie auskennst!» «Ich bin hier schon einmal geflogen. Ich hatte so gehofft, es ginge nach Sibirien ...» Sie senkte die Lider über ihre berühmten Augen, die jetzt von Schlaf und Müdigkeit verschleiert waren. Er hatte fünf Tage auf das Visum warten müssen. Er war wütend. Auf dem Moskauer Flugplatz ließ er sich im Intourist-Büro nieder. Das Mädchen auf der anderen Seite des hölzernen Counters sprach nur schlecht Englisch und verstand nicht, was Mark wollte. « Wo ist die Fremdenführerin?» «Wie?» «Die Fremdenführerin.» «Sie in wenigen Stunden werden eine in Hotel bekommen.» «Ich will sofort eine haben, damit sie mich ins Hotel bringt.» «Wie bitte?» «Ich sage, meine Führerin soll mich ins Hotel bringen.» 349
«Wer?» «Die Fremdenführerin.» «Dafür Führerin nicht nötig sein. Sie werden nehmen Taxi.» «Und wenn der Fahrer mich betrügt?» «Wiederholen und langsam sprechen, mein Herr.» «Wenn er mich betrügt, zuviel Geld von mir nimmt.» «Sowjetische Fahrer nicht betrügen.» «Und wenn er kein Sowjet ist?» «Er nur kann sein russische Nationalität.» «Aber er kann ein Weißrusse, ein Antikommunist sein, der betrügt. Außerdem weiß ich nicht, was ich bezahlen muß. Ich weiß mit dem russischen Geld nicht Bescheid.» «Ganz leicht, Sie schnell werden lernen.» «Für Sie mag das leicht sein, weil Sie Ihr ganzes Leben hier verbracht haben. Aber ich möchte Sie sehen, wenn Sie sich in England mit Shilling und Pence zurechtfinden müßten.» «Wie bitte?» «Wo ist meine Fremdenführerin?» «Sie als Intourist-Reisender erster Klasse, Luxus extra, Recht haben auf Fremdenführer sechs Stunden am Tag und auf Wagen mit Fahrer vier Stunden.» «Noch einmal, ich habe kein Wort verstanden. Sie, liebes Kind, sprechen sehr schlecht Englisch und haben eine miserable Aussprache. Man kann Sie nicht verstehen. Geben Sie mir also bitte ein Mädchen, das die beiden Sprachen besser als Sie spricht, und zwar auf der Stelle. Vielleicht brauche ich die Führerin mehrere Stunden, vielleicht schicke ich sie aber auch gleich zurück.» «Aber Sie hier für Tourismus, Sie sehen müssen viele Sachen, Sie unsere Geschichte lernen, hören.» «Ich hasse den Tourismus und finde ihn stinklangweilig.» «Und warum Sie haben Touristenausweis erster Klasse Luxus extra?» «Weil man so leichter ein Visum bekommt.» «Sie doch nicht gekommen arbeiten in Moskau? Sie das nicht sein?» «Mein liebes Fräulein, ich habe in England noch nie in meinem Leben gearbeitet, und nun sollte ich nach Moskau gekommen sein, um hier zu arbeiten? Wo ist meine Führerin?» Mark hatte seine Stimme in dem Glauben erhoben, daß das, was er sagte, so klarer wäre. Er benutzte aber nach wie vor stehende Redensarten und sprach sehr 350
schnell in dem näselnden Tonfall der Mitglieder von White's Club. Schließlich kam die Fremdenführerin. Sie führte Mark zu einem Taxi. «Wo müssen Sie hin?» «Zum Hotel National.» «Haben Sie vorbestellt?» «Meine Frau hat vorbestellt.» «Ist Ihr Name van der Belt?» «Publishing. In England bestellt man immer unter dem Mädchennamen der Frau.» «Die Baronin Publishing ist Ihre Frau?» Das klang respektvoll und ehrerbietig. « Warum? Haben Sie von ihr gehört? Und ist Ihnen auch der Name van der Belt bekannt? Der Name meiner Familie?» «Nein, nur der Name der Baronin. Seit heute früh hören wir nichts anderes ...» Mark schaute sie an. Plötzlich war ihm klargeworden, daß, wenn er seine Führerin verlor, er sich nicht einmal an ihre Haarfarbe erinnert hätte und daran, wie sie aussah. Rund und klein ... Sie gehörte zu jenen Frauen, die mit einem alten Gesicht zur Welt kommen. Sie würde ihr ganzes Leben lang gleich aussehen. « Wozu sind diese Asphaltstreifen in der Mitte der Straße da? Warum fährt da niemand? Was sollen alle diese kommunistischen Fahnen? Was ist das für ein Platz? Warum stehen die Menschen dort Schlange? Was ist das für eine Kirche?» «Das ist der Kreml. Erkennen Sie ihn nicht?» «Warum sollte ich ihn erkennen? Ich bin zum erstenmal in Moskau. Wenn Sie nach Maidenhead kämen, würden Sie den Hauptplatz auch nicht erkennen. Was steht auf diesen Plakaten? Zu komisch, daß Sie ein anderes Alphabet haben ... Nur um sich und uns das Leben zu erschweren. Meine Mutter konnte Russisch lesen», fügte er seufzend hinzu. «Tatsächlich? Und Sie?» «Ich spreche keine fremde Sprache; ich kann knapp Englisch lesen. Und meine Mutter sagte auch, Russisch sei eine so häßliche und schwierige Sprache und es sei viel besser, Tolstoj auf deutsch oder französisch, statt in der Ursprache zu lesen. Sie sagte immer, er sei ein sehr schlechter Schriftsteller. Lesen Sie Dostojewskij?» «Dostojewskij? Man rät uns davon ab, aber natürlich lesen wir ihn mit den notwendigen Vorbehalten.» 351
«Ich kann mir nicht vorstellen, was das für Vorbehalte sein sollen. Und Pasternak?» «Pasternak ist in der Sowjetunion nicht veröffentlicht worden.» «Warum denn nicht? Wie merkwürdig, ich dachte, er wäre Russe.» «Aus Gründen, die wir alle kennen; aus besonderen politischen Gründen, wegen der westlichen Provokation. Ganz abgesehen davon, daß Pasternak weder ein großer Schriftsteller noch ein großer Dichter war.» «Wie merkwürdig, das ist das erste Mal, daß ich das über Pasternak höre. Und wo lebt er jetzt?» «Wer?» «Pasternak?» «Er ist doch tot.» «Ach, der Arme. Schon lange?» «Seit ein paar Jahren.» «Tatsächlich?» «Hier ist das National.» Der Chauffeur lud das Gepäck aus, während Mark mit der Führerin schon ins Hotel ging. «Helfen Sie mir, bitte ... Wie heißen Sie?» «Anja.» «Kommen Sie, Anja, fragen Sie nach der Baronin. Wenn sie in ihrem Zimmer ist, dann lassen Sie ihr sagen, daß ihr Mann angekommen ist.» Mark schaute sich um: ein Raum im Jugendstil. Samt und vergoldetes Holz. Im Grunde kaum anders als das Ritz in London. «Die Baronin», sagte Anja nach ein paar Minuten, «ist wie zu erwarten noch nicht zurück. Der Portier hat es mir bestätigt.» «Wieso? Was heißt: wie zu erwarten?» «Aber wir wissen doch alle, daß die Baronin in Alma Ata ist.» «Was heißt: wir wissen doch alle? Ich zum Beispiel weiß es nicht, obwohl ich ihr Mann bin. Und was macht sie in Ata-Ata? Was ist das überhaupt? Ein Nachtclub?» Der Portier reichte ihm einen Brief. Er war in Melindas Handschrift an Mark adressiert. «Lieber, ich kann Dich nicht einmal bitten nachzukommen, denn ich habe keine Ahnung, wo ich in ein paar Stunden sein werde. Wenn Du in Moskau auf mich wartest (besichtige inzwischen die Tretjakow-Galerie, die Puschkin-Galerie und den Kreml), komme 352
ich so schnell wie möglich zu Dir. Auf bald. Ich umarme Dich. Deine Melinda. PS. Wie weit ist es mit der Scheidung?» « Was macht meine Frau denn in Ata-Ata?» fragte Mark Anja noch einmal. «Oder antworten Sie mir lieber gar nicht, sondern rufen Sie sofort bei Professor Sligowitz an.» «Was soll ich ihm sagen?» «Daß ich ihn sprechen möchte.» Am Telefon sei der Diener gewesen, erklärte ihm Anja, und der Professor sei natürlich auch in Alma Ata. «Was heißt hier: natürlich? Und was heißt: der Diener?» fragte Mark. «In Rußland gibt es doch keine Diener, oder zumindest sollte es keine geben. Das ist doch allgemein bekannt.» «Es gibt aber welche, nur sind sie keine Privatangestellten, sondern Angestellte des Staates.» «Der Staat bezahlt sie also?» « Ja.» «Und die Privatleute?» «Die bezahlen ihrerseits den Staat.» «Im Grunde also das gleiche, nur komplizierter. Stellen Sie sich mal vor, was ich dem Staat für Schwierigkeiten machen würde. Ich habe neun Diener zu Hause.» «Sie hätten keinen Anspruch auf neun Diener, wenn Sie in der Sowjetunion lebten.» «Ich lebe ja auch nicht hier, und ich würde mich auch schön hüten, es zu tun. Aber wer hat denn hier Anspruch auf Hauspersonal?» «Professoren, Wissenschaftler, Tänzer, Politiker.» «Also genau wie bei uns. Bei uns haben die Aristokraten, die noch Geld haben, Hauspersonal, oder die Reichen, die geadelt worden sind, weil sie Tänzer, Professoren, Politiker und so weiter sind. Aber, meine gute Anja, wir wollen zum Thema zurückkommen. Ich muß zu meiner Frau. Was raten Sie mir zu tun?» «Aber wissen Sie denn nicht, daß Ihre Frau in Alma Ata ist, um in einer Rakete namens Melinda eine Weltraumfahrt zu machen und auf dem Mond zu landen? Der Rundfunk und das Fernsehen sprechen seit mehreren Stunden davon ... und die Zeitungen ... in der ganzen Welt.» « Was? Sind Sie auch sicher, daß Sie das richtig verstanden haben?» « Wieso wissen Sie denn nichts davon?» «Mein Gott. Und wo liegt Ata-Ata? Man muß ihr das sofort ausreden. Fräulein, bringen Sie mich sofort nach Ata-Ata.» 353
«Das ist unmöglich, nach Alma Ata ist es sehr weit.» «Dann bringen Sie mich zu einem Reisebüro, damit wir zwei Flugkarten nach Ata-Ata besorgen. Wo liegt es denn?» «In Asien. In der Nähe der Mongolei. Es heißt Alma Ata.» «Weit?» «Sehr. Und haben Sie dazu eine Genehmigung?» «Wozu?» «Um nach Alma Ata zu fliegen. Ich meine, ich habe in Ihrem Visum gesehen, daß Sie sich nicht mehr als 30o Kilometer von Moskau entfernen dürfen.» «Ich fliege mit Ihnen.» «Ich habe auch keine Genehmigung. Und ich kann Moskau nicht verlassen.» «Ich bin reich, ich kann Ihnen zehn Flugkarten besorgen.» «Darum geht es nicht. Man braucht eine Sondergenehmigung. Sonst bekommt man die Flugkarte nicht.» «Dann chartern wir eben über ein Reisebüro ein ganzes Flugzeug.» «In der Sowjetunion gibt es keine privaten Reisebüros.» «Ich muß aber zu ihr, ich muß sie sehen, bei ihr sein und ihr das ausreden.» Der Portier flüsterte Anja etwas zu. Auf Marks Stirn standen Schweißtropfen, seine schönen blauen Augen waren feucht, seine Schultern hingen nach vorn. Er fuhr sich über die Stirn und preßte die Handfläche an sein Gesicht, als suche er Ruhe in dieser Geste. Melinda ... Aus ... Wieder war sie fort ... Abgereist. Sie flog auf den Mond. Und nicht einmal angerufen hatte sie ... Und ließ ihn allein in diesem Hotel mit seinen Koffern, die überall auf dem Boden herumstanden. «Dann bringen Sie erst mal meine Koffer nach oben», sagte er zu dem Chauffeur und überlegte, wieviel Trinkgeld er ihm geben mußte. «Der Portier sagt», unterbrach ihn Anja, «die Baronin habe nicht hinterlassen, daß ein eventuell eintreffender Freund hier unterzubringen sei. Im übrigen bezweifelt der Portier, daß Sie der Mann der Baronin sind, denn eben ist die Nachricht durchgegeben worden, daß Professor Mirko Sligowitz und Baronin Melinda Publishing auf dem Standesamt von Alma Ata getraut worden sind. Zeugen waren der sowjetische Ministerpräsident und der Präsident der Sowjetrepubliken.» 354
«Ich glaube nicht, daß diese Nachricht stimmt», sagte Mark und wurde blaß. «Es wird sich um eine Zeitungsente handeln.» Anja schaute Mark van der Belt an. Er preßte jetzt beide Hände an die Schläfen und sah sehr müde aus. «Kommen Sie in den Salon. Dort steht ein Fernsehgerät», sagte sie. «Vielleicht bringen sie neue Nachrichten.» Anja nahm ihn am Arm. In der knappen Stunde, seit sie Mark van der Belt kennengelernt hatte, schien er ihr sehr gealtert zu sein. «Ich habe Ihr Gepäck in das Zimmer der Baronin bringen lassen», fuhr sie fort. «Ich bin überzeugt, daß das den Wünschen der Baronin entspricht.» Mark ließ sich in einen großen braunen Samtsessel fallen. Sein Körper und seine Müdigkeit versanken in krachenden Federn, die jede Elastizität verloren hatten. Staub wirbelte auf. Eine Gestalt auf dem Bildschirm ... Sie sprach ... Es war ein Mann. Im Hintergrund ein schrecklicher Apparat. Plötzlich war Melinda im Bild. «Was sagt der Mann?» «Sie sprechen gerade von ihr.» «Von wem?» «Von der Baronin Publishing.» «übersetzen Sie, bitte.» «Warten Sie, ich will erst zuhören.» «Aber Sie sind meine Führerin, und ich bezahle dafür, daß Sie mir übersetzen ...» «Die Baronin Publishing, die heute früh auf dem Standesamt von Alma Ata Baronin Sligowitz geworden ist, befindet sich bereits seit drei Stunden in der Rakete, die unser größter Wissenschaftler entworfen hat, im Weltraum auf dem Weg zum Mond. Hier sehen Sie die oo43/ZB mit dem Namen Melinda, in der sich die Gattin des Professors neunzehn Stunden lang aufhalten wird. Melinda Sligowitz wird nicht nur die erste Frau, sondern überhaupt das erste menschliche Wesen sein, das auf dem Mond landet. In den frühen Morgenstunden des heutigen Tages hat die Baronin ihre Staatsangehörigkeit gewechselt und ist sowjetische Staatsbürgerin geworden. Hier sehen wir eine Fotografie der Baronin als Kind. Und das ist die Baronin bei ihrer ersten Hochzeit ... Und hier ein Foto ihres Vaters Abraham. Er hat einige Erklärungen abgegeben, die wir jetzt aus London übertragen.» Abrahams bebendes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. «Ich 355
bin stolz und glücklich, der Vater des ersten menschlichen Wesens zu sein, das auf dem Mond landen wird. Ich bin stolz, daß meine Tochter so mutig gewesen ist, diese Aufgabe zu übernehmen, und daß sie Professor Sligowitz, den Nobelpreisträger, geheiratet hat. Wenn du mich jetzt hörst, mein lieber siebter Schwiegersohn, dann möchte ich dich beglückwünschen und dich in unserer Familie willkommen heißen. Hoffen wir, daß du länger dazu gehören wirst als die anderen sechs. Mein neuer Schwiegersohn ist älter als ich! Hier in London sind wir alle sehr aufgeregt. Ich gebe gerade eine Party (wie Sie vielleicht auf Ihren Bildschirmen sehen können), zu der Hunderte von Melindas Freunden gekommen sind. Die Party wird ebenso lange dauern wie die Weltraumfahrt unserer heißgeliebten Melinda. Wir amüsieren uns, tanzen und trinken und verfolgen dabei ihre Erlebnisse. Und wenn sie zurück ist, wird sie, so hoffe ich, für ihren Papa ein Buch mit ihren Memoiren schreiben, in dem sie erzählt, was sie im Weltraum gesehen hat ...» «Es wird damit gerechnet», fuhr der Ansager fort, «daß die Rakete morgen früh um sieben Uhr sowjetischer Zeit den Mond erreichen wird. Professor Sligowitz steht in ständigem Kontakt mit seiner Frau. Herr Professor», fragte er das bleiche Gesicht, das nun auf dem Bildschirm auftauchte, «wann haben Sie zum letztenmal mit der Baronin gesprochen?» «Vor ungefähr zehn Minuten.» «Wie ging es ihr?» Wie hatte Melinda nur diesen Greis heiraten können, dachte Mark. Wenn Abraham sagte, daß er jünger als sein Schwiegersohn sei, dann mußte Sligowitz an die Siebzig sein. Außerdem sah er höchst zweifelhaft aus. Hatte Melinda ihre gemeinsamen Zukunftspläne denn ganz vergessen? «Es ging ihr gut», sagte Sligowitz durch Anjas Mund, die rasch weiterübersetzte. «Sie war bester Stimmung und hatte sich ganz in der Kontrolle; sie beschrieb mir die Farbe des Himmels.» «Wie haben Sie es geschafft, sie in so kurzer Zeit auszubilden?» «Unsere Kapsel ist so weit entwickelt, daß es keiner besonderen Voraussetzungen bedarf. Melindas bemerkenswerte Intelligenz wird uns bei unserer Arbeit helfen. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich möchte wieder mit ihr sprechen ...» «In wenigen Minuten», fuhr der Kommentator in Anjas eintöniger Übersetzung fort, «werden wir zum erstenmal in unserer Geschichte die Stimme der Astronautin im Fernsehen hören, wenn sie
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mit ihrem Mann spricht. Natürlich können wir sie nicht sehen. Achtung, wir sind in Kontakt ...» Mark war ergriffen. Melinda im Weltraum in eben diesem Augenblick, und die ganze Welt lauschte ihrer Stimme. Nicht mehr seine Melinda ... Man hörte nur ein schwaches Murmeln. Dann: «Hallo. Hallo. Bitte lauter.» Melinda sprach Englisch. «Lieber», Anja übersetzte nicht mehr, «irgendwas funktioniert hier nicht richtig.» Hörbare Angst in ihrer Stimme. «Die Rakete steigt nicht mehr, sondern kreist um die Erde, sucht sich ihre eigene Bahn. Auf welchen Knopf muß ich drücken? Verdammt noch mal. Ich möchte nicht für den Rest meines Lebens in diesem Grab bleiben.» «Wir sind ans Fernsehen angeschlossen», donnerte Sligowitz' Stimme. «Glaubst du, daß mir das was ausmacht? Irgendwas funktioniert hier nicht richtig, funktioniert nicht ...» Anja sprang auf. Sie war die einzige im Raum, die ebenso wie Mark begriffen hatte, was geschah. Sie stürzte an das Fernsehgerät. «Lassen Sie bitte ...» sagte Mark. «Wir unterbrechen unsere Sendung —» Anja übersetzte wieder die Worte des Kommentators — «aus technischen Gründen.» « Was gibt es Neues?» fragte Dame Elizabeth und rieb sich die Augen. Von der Decke des großen Raumes hingen Gold- und Silberdekorationen traurig herab. Das Licht der Scheinwerfer, das wie Satelliten und Kometen über die Wände glitt, hatte den Glanz des ersten Tages verloren. «Seit ein paar Tagen hat man keinerlei Nachrichten mehr», sagte Anthony und biß in ein Blätterteigpastetchen. «Ich würde jetzt gern ein paar Stunden schlafen, aber Abraham nimmt es mir jedesmal übel, wenn ich das sage.» «Seit ein paar Tagen verspricht er die reinsten Wunderdinge für den Augenblick des Triumphs. Ein Feuerwerk über London, Sternenbündel, die von der Decke fallen, Geschenke für alle und ein außergewöhnliches Büfett.» «Meiner Meinung nach ist etwas passiert.» « Wann sollte Melinda ankommen?» «Schon vor mehr als vierundzwanzig Stunden.» 357
«Was sagt das Radio?» «Daß keine offiziellen Nachrichten vorliegen.» Helen, die eigens aus Tanger gekommen war, trug eine Weltraumfrisur mit silbernen Haarnadeln und Sternen. Dame Elizabeth versuchte ihr aus dem Wege zu gehen, aber sie begegneten einander alle halbe Stunde auf der Tanzfläche oder am Büfett. «Meiner Meinung nach ist es Helens Schuld», flüsterte Elizabeth Anthony zu. «Schuld? Was?» «Daß Melinda sich entschlossen hat, zum Mond zu fliegen.» «Ich sehe nicht, wieso Helen sie dazu überredet haben sollte.» «Du weißt doch, daß sie zusammen irgendwo einen ausgefallenen Plan ausgeheckt haben. Ich glaube, es handelt sich um eine Klinik. Hat Abraham dir nicht davon erzählt?» «Melinda hat das neulich in einem Nebensatz erwähnt; aber ich hatte den Eindruck, daß die Sache ausgezeichnet ging.» «Die van der Belts haben sich noch an keinem Abend hier blikken lassen.» «Mark ist doch in Moskau.» «Wer hat das gesagt?» «Helen. Er wollte Melinda dort treffen. Ein großes Durcheinander.» «Wie gemein von ihm. Und Aglaia?» «Ich weiß nicht, nach Moskau wird sie jedenfalls nicht gefahren sein.» Abraham trat zu ihnen. Er sah sehr müde aus, lächelte aber. «Du solltest dich ein bißchen ausruhen», schlug Elizabeth liebevoll vor. «Unsinn. Wir müssen den historischen Augenblick abwarten. Lawrence ist gerade gekommen. Ich freue mich, daß Melindas frühere Männer zu der Party kommen.» Und er verschwand wieder in der Menge. Viele Gäste waren schon gegangen. Andere kamen wieder, aber es wurden immer weniger. Auch die Journalisten wußten nach dem ersten Tag nicht mehr, was sie schreiben sollten. «Laß uns doch Mark anrufen. Wahrscheinlich weiß er etwas.» «Und wo erreichen wir ihn? Abraham sollte sich darum kümmern, aber er ist dermaßen damit beschäftigt, Erklärungen abzugeben und sich fotografieren zu lassen, daß er gar nicht merkt, wie die Zeit vergeht.» 3 58
«Macht er sich keine Sorgen?» «Ganz im Gegenteil. Er hat mir gesagt, er habe die Weltrechte an den ersten Worten verkauft, die seine Tochter sagen wird, wenn sie wieder in Europa ist. Abgesehen natürlich von Teilabdrucken aus dem Buch, das Melinda für ihn schreiben wird.» «Abraham sollte sich zurückhalten.» «Er ist auf dem Gipfel seiner Karriere und der Karriere seiner Tochter. Wer könnte ihn da zurückhalten?» Das Orchester spielte Mond- und Weltraummelodien: (Roter Mond>, , , (Luna verde>, (Süßer Mond>. Zum hundertstenmal erklangen diese Schlager in dem Ballsaal, den Abraham in einem Hotel in Mayfair gemietet hatte. «Ich muß jetzt bald gehen, ich kann nicht mehr», sagte Dame Elizabeth und sank auf ein Sofa. «Ich werde versuchen, einen Augenblick mit Abraham zu sprechen. Ich mache mir wirklich Sorgen. Meiner Meinung nach ist etwas passiert.» Anthony schaute sich nach Abraham um. Er sah ihn eifrig beschäftigt am anderen Ende des Saales. «Abraham, ich möchte dich einen Augenblick sprechen.» «Lieber, jetzt kann ich wirklich nicht. Gerade ist das Fernsehen gekommen. Sie wollen ein Interview von mir.» «Haben Sie neue Nachrichten?» fragte Anthony ein Männchen, das sich an der Kamera zu schaffen machte. «Nachrichten? Wovon?» «Von der Rakete.» «Ich weiß gar nichts, ich bin Kameramann.» Ein Mann mit dunkler Brille und einer Pfeife im Mund kam auf Anthony zu. «Sind Sie der Bruder oder ein früherer Mann? Nach dem Vater möchten wir auch Sie interviewen. Wir können hier irgendwo in einer Ecke ein paar Fragen vorbereiten. Es sollte klar, aber kurz sein. Höchstens drei Minuten. Wenn Sie sich versprechen, macht das nichts. Seien Sie nicht nervös. Ich heiße Paul. Sie könnten erzählen, wie Melinda war, was Sie zusammen gemacht haben, was sie für ein Typ ist ...» «Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich weder der Bruder noch ein früherer Mann bin.» «Aber der Regisseur hat doch gesagt, ich soll mit Ihnen sprechen ...» 359
«Das ist ihr Geliebter», flüsterte ein Mann mit dunkler Brille und einer Pfeife im Mund. «Das ist ihr Bruder», sagte Anthony und zeigte auf Medoro, der auf sie zukam. Er hatte längst gelernt, mit den Fernsehleuten nie die Geduld zu verlieren. «Ach, Sie sind der Bruder? Sie sollten uns nach Ihrem Vater etwas von Ihrer Schwester Melinda erzählen. Ein kurzes Interview. Wir könnten hier irgendwo in einer Ecke ein paar Fragen vorbereiten. Es sollte klar, aber kurz sein. Höchstens drei Minuten. Wenn Sie sich versprechen, macht das nichts. Seien Sie nicht nervös. Ich heiße Paul. Sie könnten uns erzählen, wie Melinda als Kind war, etwas aus Ihrer gemeinsamen Kindheit ...» Medoro trug Trauer. Die Nachricht, daß der Chiropraktiker Dief, Ostrowskij und sein adeliger Gefährte ein und dieselbe Person gewesen waren, hatte ihm einen schweren Schock versetzt. Und dieser Schock war womöglich noch größer geworden, als er erfahren mußte, daß sein hochherziger Freund nur ein unklares Testament hinterlassen hatte und ganz gewiß nicht zu seinen Gunsten. «Was gibt es für Nachrichten?» fragte Medoro Anthony. «Ich weiß nichts. Anscheinend weiß niemand etwas.» Plötzlich richteten sich ein Dutzend blendender Scheinwerfer auf die wenigen Paare, die müde in der Mitte des Saales tanzten. Der Kommentator mit dem Mikrofon unter der Krawatte lächelte den unsichtbaren Millionen Zuschauern am Bildschirm zu. «Guten Abend. Wir sind hier im Hotel Claridge, das ein Team von Innenarchitekten in ein Universum verwandelt hat. Und hier der Vater der Weltraumheldin. Herr Publishing —» der Reporter wandte sich Abrahams müdem und 4ugleich strahlendem Gesicht zu — «was werden Sie jetzt nach der tragischen Nachricht tun?» «Nach welcher tragischen Nachricht? Melindas Heirat? Aber ich finde es doch großartig, daß eine Familie von Intellektuellen wie die unsere sich mit einem so bedeutenden Nobelpreisträger wie Mirko Sligowitz verschwägert.» «Herr Publishing, ich beziehe mich auf die letzte tragische Nachricht, die, obwohl noch nicht offiziell bestätigt, nicht anzuzweifeln ist. Wir wissen, daß die oo43/ZB von ihrem ursprünglichen Kurs abgekommen ist und in eine Kreisbahn um unseren Planeten eingetreten ist; seit einigen Stunden umkreist sie unsere Erde ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Wie denken Sie, Herr Publishing, über das Opfer, das Ihre Tochter der Wissenschaft gebracht hat?» 360
Abrahams Lächeln war während dieser kleinen Ansprache völlig erloschen. Die Furchen, die Müdigkeit und Alter in sein Gesicht gegraben hatten, wurden von den Scheinwerfern erbarmungslos ausgeleuchtet. «Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer der erschütterndsten menschlichen Tragödien. Offenbar war der Vater der Baronin Publishing noch nicht von dem Unglück unterrichtet. Ein tragischer Augenblick im Leben eines Vaters, zu erfahren, daß er eine Tochter in der Blüte ihrer Jahre und auf dem Gipfel ihrer Karriere für immer verloren hat ...» «Aber vielleicht ist es ein Irrtum. Inoffizielle Gerüchte, haben Sie gesagt? Die Verspätung ist sicher auf etwas anderes zurückzuführen ... Ein Wissenschaftler wie Sligowitz schickt nicht mit soviel Publicity eine Rakete in den Himmel, wenn er seines Erfolges nicht ganz sicher ist ... Ich glaube nicht ...» «Und jetzt, meine Damen und Herren, der Bruder der unglücklichen Baronin. Herr Medoro Publishing, Sie haben Ihre Kindheit gemeinsam mit Melinda verlebt. Können Sie uns etwas über den Charakter dieser großartigen Frau erzählen, die in unser aller Erinnerung lebendig bleibt und zweifellos in die Geschichte eingehen wird?» «Ich habe Melinda nicht sehr gut gekannt ... Wir haben uns nicht oft gesehen ... Stimmt es wirklich, daß Sie jetzt die Erde umkreist? Und nicht zurückkommen kann? Und kreist und kreist? Für immer?» «Ja, sicher, für immer. Das sind die letzten Nachrichten. Weltraumbeobachter können die Funksprüche empfangen, die sie ihrem Mann sendet.» «Und was sagt sie?» «Das ist anscheinend unwiederholbar. Ein erstes Gespräch wurde vom sowjetischen Fernsehen direkt übertragen, ehe man von dem tragischen Fehler wußte. Und sind Sie stolz, Herr Medoro Publishing, der Bruder der Baronin zu sein?» «Es tut mir leid, daß ich Melinda nicht wiedersehen werde ... Es tut mir sehr leid.» «Und jetzt einer der großen und treuen Freunde der Baronin, der ehemalige Premierminister. Exzellenz, hatten Sie schon von der Tragödie gehört?» «Nein, ich habe bis zur Stunde nichts davon gewußt. Natürlich machte ich mir Sorgen wegen der Verspätung und des Ausbleibens
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jeglicher Nachrichten. Ich würde gern Genaueres erfahren. Es scheint mir angezeigt, daß jemand von uns nach Moskau reist.» «Herr van der Belt ist in Moskau und hat das tragische Mißgeschick seiner Freundin aus nächster Nähe verfolgt. Anscheinend sind die diplomatischen Beziehungen zwischen der sowjetischen und der britischen Nation im Augenblick sehr gespannt.» «Hat die Britische Botschaft in dieser Angelegenheit irgendwelche Schritte unternommen?» «Vergessen Sie nicht, daß die Baronin jetzt sowjetische Staatsbürgerin ist.» «Und Melinda kreist nun um die Erde?» «Nach übereinstimmender Ansicht aller amerikanischen Experten wird die oo43/ZB auf ewig unseren Planeten umkreisen.» «Und Melinda ... lebt sie noch?» «Die Baronin sendet immer noch Funksprüche. Daher nimmt man an, daß sie noch lebt.» «Wie lange kann das dauern?» «Das weiß man nicht. Das hängt von den Vorräten an Lebensmitteln und Sauerstoff in der oo43/ZB ab. Aber sagen Sie uns, Exzellenz, was empfinden Sie bei dieser Nachricht? Die Nation trauert, und das Fernsehpublikum möchte wissen, was die Freunde dieser ungewöhnlichen Frau empfinden.» «Natürlich bin ich tief erschüttert ... Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, daß Melinda im Weltraum ... für immer um die Erde kreist ... Sie ist sicher verzweifelt und ist sich vollauf bewußt, was geschieht ... Wenn es uns möglich wäre, uns mit ihr in Verbindung zu setzen, würde sie uns gewiß wütend von ihrem Unglück erzählen. Melinda Publishing liebte das Leben ...» «Exzellenz, sagen Sie uns, inwiefern liebte die Baronin das Leben?» «Sie war eine aktive, wissensdurstige und abenteuerlustige Frau. Das ist ein schwerer Verlust für unser Land und für uns alle ...» «Und jetzt wird der Herzog von Brighton zu uns sprechen, der zweite Mann der Baronin ... Durchlaucht, sagen Sie unseren Zuschauern, was Sie nach dieser schrecklichen Nachricht empfinden.» «Es muß für Melinda entsetzlich sein, da oben, über uns, um die Erde zu kreisen. Vielleicht denkt sie an ihre Freunde, an das, was wir gerade tun und wie wir auf diese Nachricht reagieren. Melinda war eine reizende Person. Sie hatte für alles Verständnis und war dabei grundanständig, ein vornehmer Charakter. Und das ist ihr 362
jetzt zum Verhängnis geworden. Sie hat sich für die Menschheit, für die Wissenschaft geopfert. Ich bin überzeugt, daß die (Times) morgen einen ergreifenden Artikel über den Verlust dieser Frau bringen wird, die nicht nur eine gute, liebevolle Ehefrau, sondern zugleich eine durch und durch integre und ungeheuer geschickte Politikerin war ...» «Die Worte des früheren Ehemannes der Baronin Publishing, Herzog von Brighton, haben uns zutiefst ergriffen. Meine Damen und Herren, unsere Sendung, eine Direktübertragung aus dem Ballsaal des Hotels Claridge, ist beendet. Wir wünschen Ihnen einen guten Abend.»
Melinda, eine Mischung aus Modesty Blaise und James Bond, eine Schwester von Jodelle und Barbarella, fürchtet nur zwei Dinge: sich zu langweilen und nachts allein zu sein. Unter dem Wahlspruch «Hauptsache schön sein und das Leben genießen» beginnt sie ihre abenteuerliche «Sex-und-Crime-Karriere»,bereits im zarten Alter von dreizehn Jahren, indem sie ihren widerspenstigen Vater und danach ihren Psychoanalytiker verführt, und taucht - langbeinig, langhaarig, neugierig und immer unwiderstehlich - überall dort auf, wo die Welt der High Society ihr etwas zu bieten hat.