Hajo F. Breuer
Max Headroom Band 2
Menschenjagd
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 11407 Deutsche Erstverö...
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Hajo F. Breuer
Max Headroom Band 2
Menschenjagd
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 11407 Deutsche Erstveröffentlichung Copyright (©) 1988 Chrysalis Visual Programming Ltd. All rights reserved.
Herausgeber: Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach Printed in West Germany, Juni 1989 Einbandgestaltung: Roberto Patelli Titelbild: Chrysalis Satz: ICS Communikations-Service GmbH, Bergisch Gladbach Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-404-11407-8
»Max Headroom«, der erste vollelektronische Fernsehmoderator der Welt, deckt einen unglaublichen Skandal auf: Die Mutter des mächtigen Konzernchefs Plantagenet liegt im Sterben. Um ihr Leben zu retten, brauchen die Arzte Spenderorgane. Und wenn es keine passenden Leichen gibt, bedienen sie sich bei lebenden Menschen. Aber auch »Max Headroom«, das unsterbliche intelligente Computerprogramm, erschaffen aus dem Bewußtsein des Starreporters Edison Carter, gerät in höchste Gefahr – nicht nur weil er Plantagenets Geheimnisse kennt. Man will sein Programm – und damit seine Seele – verändern.
1. Kapitel
Das Leben war wirklich nicht leicht in diesen Tagen, die nichts als sehnsüchtige Erinnerung aufkommen ließen an die paradiesischen Zustände der 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Jene Epoche von relativem Frieden, weitgehender Sicherheit und absolutem Wohlstand schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Und doch hatten die Menschen jener glücklichen Jahre geglaubt, das Zeitalter des Edison Carter läge höchstens zwanzig Minuten in der Zukunft. Edison Carter war der absolute Star. Fernsehstar, um genau zu sein. Aber andere Stars gab es heute sowieso nicht mehr. Wer bekannt werden wollte, brauchte das Fernsehen. Es hatte die anderen Medien längst verdrängt. Oder verschlungen. Wie eine gigantische Flutwelle, die alles fortreißt, was nicht mit ihrem Strom schwimmt. Edison Carter war kein Showmaster, kein Sänger und auch kein Schauspieler. Der schlanke junge Mann mit den schütteren blonden Haaren war Reporter. Erstaunlich, daß jemand wie er so populär werden konnte. Oder auch nicht. Denn Carter war unbequem. Er suchte Antworten auf Fragen, die andere nicht einmal zu stellen wagten. Sein Mut hatte ihn populär gemacht. Vor allem in den weiträumigen Slumgebieten, die sich täglich weiter in die einst so glänzenden Herzen der Citys hineinfraßen. Bei den Menschen, die in verkommenen Wohnblocks, in verfallenen Ruinen oder ganz einfach auf der Straße lebten, galt Edison Carter als Held.
Und diese Menschen machten bei weitem den größten Teil der Fernsehzuschauer aus. Denn während die Bürger, die noch Arbeit und somit Einkommen hatten, hohe Fernsehgebühren zahlen mußten, standen überall auf den Straßen und Plätzen der Slums öffentliche TV-Empfänger, vor denen sich die Menschen drängten. Man gab ihnen die Droge »Fernsehen« umsonst. Das hielt die Unzufriedenen ruhig. Sie hockten lieber vor der Glotze, statt aufzumucken. Und sie waren kontrollierbar. Das wußten zwar nur die wenigsten, aber seit Bryce Lynch, der Forschungs- und Entwicklungschef des großen Senders 23, die Zweiwegtechnik erfunden hatte, funktionierten die TVEmpfänger auch als Kameras. Mittlerweile waren fast alle Geräte gegen die neuen Modelle ausgetauscht worden. Wenn man wollte, konnte man nun via Fernsehen die Menschen in ihren Wohnzimmern genauso beobachten wie die auf den Straßen und Plätzen. Natürlich war die ZweiwegÜberwachung an strenge gesetzliche Auflagen gebunden. Doch leider hatten die Gesetze nicht für alle Menschen die gleiche Gültigkeit… In dieser Welt des Verfalls und der Korruption versuchte Edison Carter so unbestechlich wie möglich zu bleiben. Die Menschen spürten, daß er einer der letzten war, die im großen Mediengeschäft mitmischten und trotzdem noch saubere Finger hatten. Deshalb war seine Nachrichtenshow einer der Knüller im Programm des mächtigen Senders 23. Der Reporter war wieder einmal live auf Sendung. Er hatte ein Thema aufgespürt, das die Verantwortlichen am liebsten totgeschwiegen hätten. Doch vor Carters Spürnase war kein Skandal sicher. Er stand in einem der ausgedehnten Slums und ließ seine Kamera über Menschen, Häuser und Ratten schweifen, die
alle mit der gleichen Schmutzschicht überzogen zu sein schienen. Fast dreihundert Millionen Fernsehzuschauer weltweit hörten Carters live gesprochene Worte. »Die wichtigste Frage, auf die ich heute eine Antwort suche, lautet: ›Was liegt hier direkt unter meinen Füßen begraben?‹« Die Kamera schwenkte nach unten und zeigte den von Unrat übersäten Boden, der sich nicht von dem anderer Slumgebiete unterschied. Oder doch? Hier und da blitzte zwischen den Abfallbergen eine schmierige Lache auf. Es schien, als hätte jemand achtlos große Mengen kostbaren Erdöls verschüttet. Carters Stimme wurde eisig. »Ich verstehe nicht, warum mir keiner diese Frage beantworten will. Weiß niemand die Antwort… oder schweigt man mit Absicht? Dieses Gebiet hier ist vielleicht der zukünftige Friedhof unserer Generation. Wenn mein Verdacht zutrifft, stehe ich auf einer riesigen Grabplatte, die unser aller Namen trägt.« Carter stellte die Kamera auf ein Stativ und sprach seine Zuschauer jetzt direkt an. »Ich befinde mich in einem der Randgebiete unserer gigantischen Stadt. Die ärmlichen Vororte sind die Heimat für Tausende geworden, die ein unglückseliges Schicksal hierher verschlagen hat… und die nun hart kämpfen müssen, um ihren kärglichen Lebensunterhalt zu verdienen.« Carters Stimme wurde hart, er schien jedem einzelnen Zuschauer direkt in die Augen zu blicken. »Diese Menschen leben in einem Gebiet, unter dem eine chemische Zeitbombe tickt, die möglicherweise erst in Jahrmillionen explodiert… oder vielleicht auch schon morgen!« Viele Zuschauer in den Slumgebieten wurden unruhig. Unsichere Blicke fielen auf den Boden. Tickte die Zeitbombe
vielleicht ausgerechnet hier? Und von welcher Beschaffenheit war sie? Doch nicht alle Menschen verfolgten Carters Live-Reportage aus den Slums. Für manche war der tägliche Überlebenskampf so hart, daß ihnen keine Zeit blieb zum Fernsehen. Ein junges Paar ging über einen der wenigen großen Plätze, dessen Asphaltierung noch einigermaßen intakt war. Wüst zurechtgemachte Jungs mit ihren Motor-Skateboards nutzten die glatte Unterlage für ihren halsbrecherischen Sport. Der Mann und das Mädchen, die Hand in Hand gingen, achteten weder auf die Skateboarder noch auf die Fernseher, die gerade Carters Reportage brachten, oder auf die abgerissenen Gestalten, die an den überall lodernden offenen Feuern ein wenig Wärme suchten. Die beiden jungen Leute fielen hier in den Slums absolut nicht auf. Ihre aus den unterschiedlichsten Bestandteilen zusammengesetzte Kleidung, die wirren, viel zu langen Haare und der undefinierbare Hauch von Verzweiflung und Resignation auf ihren Gesichtern paßten hundertprozentig in diese Umgebung. Sie waren Slum-Geborene, Street People wie die Abertausenden ringsum. Und doch interessierte sich jemand ganz speziell für diese beiden. Eins der selten gewordenen, sündhaft teuren Autos verfolgte sie. Ein turbinengetriebener Chrysler-Van, dessen MonoScheinwerfer im trüben Licht der Abenddämmerung wie das Auge eines Zyklopen wirkte. Der junge Mann warf einen kurzen Blick über die Schulter. Der Van war vielleicht hundert Meter hinter ihnen. »Wir werden verfolgt.« Auch das Mädchen hatte den Wagen längst entdeckt. Seine Stimme klang gehetzt: »Das sind noch immer die gleichen Kerle!«
Das Paar erreichte das Gelände einer ehemaligen Fabrik. Hier wurde schon seit Jahren nichts mehr produziert. Die hoch aufragenden Ruinen eines längst vergangenen Wirtschaftswunders wirkten wie ein Wahrzeichen für die Sinnlosigkeit menschlichen Strebens. Der junge Mann blickte über Schulter zurück, gab seinem Mädchen einen Stoß. »Lauf… lauf!« Das Gewirr geborstener Stahlträger und verrottender Maschinen bot hunderte Verstecke. Die beiden wußten nicht, wer sie verfolgte. Doch sie kannten das Gesetz Nummer eins: Hilf dir selbst. Für Slum-Kinder setzte sich die Metro-Polizei nur ein, wenn die öffentliche Meinung sie dazu zwang. Schwer atmend kauerten sich die beiden hinter einen Haufen rostigen Schrotts. Dieses Versteck bot Sicherheit. Oder? Auf dem ersten Kanal von Sender 23 lief noch immer die Reportage über den neusten Skandal der Stadt. Selbst vom Bildschirm eines Geräts, das halb im Müll verborgen lag, schaute das ernste Gesicht des Nachrichtenmannes, der gerade eine Zwischenmoderation sprach, nach der ein Werbeblock eingeblendet werden sollte. »Ich bin Edison Carter… und ich suche nach Antworten!« »Das ist die Antwort!« Eine schwere Kette krachte in den Bildschirm, der in tausend Splitter zerbarst. Zumindest auf diesem Apparat war Edison Carter für immer verstummt. Die Kette gehörte einem massigen Kerl, der nur aus Muskeln zu bestehen schien. Seine wirre Punkfrisur, sein zu Zierstreifen geschnittener Kinnbart und seine nietenbesetzte Lederjacke ließen ihn wie einen dunklen Dämonen des Jenseits erscheinen. Und genau diesen Eindruck wollte Mahler auch erwecken. Sein Kollege Breughal wirkte noch unheimlicher. Was ihm an Muskeln fehlte, machte er mit Hinterlist und Heimtücke
wett. Er und Mahler waren ein gutes Team. Sie nannten sich Organbeschaffer. Doch auf den Straßen hatte man einen passenderen Namen für sie gefunden: Aasgeier. Breughal und Mahler sammelten Leichen ein, entnahmen ihnen verwertbare Organe und verkauften sie an jeden zahlenden Kunden. In der Regel an staatliche oder private Organbanken. Und wenn jemand tief genug in die Tasche griff, beschafften die Aasgeier auch Teile von Spendern, die noch gar nicht tot waren. Ein illegales, aber sehr einträgliches Geschäft, das Breughal und Mahler reich gemacht hatte. Sie hätten sich maßgeschneiderte Anzüge leisten können. Aber Breughal wußte, daß ihre wüsten Kampfmonturen auf potentielle Opfer sehr viel einschüchternder wirkten. Und außerdem hätte Mahler im Maßanzug lächerlich gewirkt. Eine schwere Kette – und von der trennte sich der Aasgeier nie – paßte nun mal nicht zum feinen Zwirn. Mahlers Haß auf Edison Carter war nur zu verständlich. Immerhin war der Reporter das erste Opfer der beiden, das es geschafft hatte, dem Tod noch einmal von der Schippe zu springen. Der Reinfall mit Carter hatte dem Ruf Breughals und Mahlers als zuverlässige Geschäftspartner ziemlich geschadet und außerdem dafür gesorgt, daß einer ihrer besten Auftraggeber, Miles Grossberg vom Sender 23, für immer aus dem Geschäft war.∗ Breughal hatte nicht viel über für die unkontrollierten Wutausbrüche seines Partners. Doch er nahm sie hin, denn er brauchte Mahler. Noch! Mit untrüglichem Instinkt setzte sich das Muskelpaket auf die Spur des Pärchens, das für die Organsammler bares Geld wert war. ∗
s. Max Headroom, Bd. 1, Tödliche Spots
Die jungen Leute hinter dem Schrotthaufen sahen voller Entsetzen, wie ihre beiden unheimlichen Jäger immer näher kamen. Aber dann schienen sie die Fährte ihrer Opfer verloren zu haben; sie verschwanden im Ruinengewirr der alten Maschinenhalle. »Wer sind die beiden, Mel?« flüsterte das Mädchen. »Keine Ahnung… jedenfalls wollen die was von uns, soviel steht fest!« »Aber was? Wir haben ihnen doch gar nichts getan?« »Das ist auch nicht nötig… stimmt’s, Mr. Breughal?« Mahler freute sich tierisch darüber, daß es ihm gelungen war, die beiden so zu täuschen. Natürlich hatte er sie längst entdeckt, als er in die falsche Richtung abbog. Den Geruch ihrer Angst hätte er auf eine Meile Entfernung wahrgenommen. Er hatte sie in Sicherheit gewiegt – und nun saßen die beiden in der Falle. Mahler wickelte sich die schwere Kette um die massige Faust. Sein Partner lächelte eiskalt. Er mußte Mahler wieder einmal daran erinnern, daß sie hier nicht zum Privatvergnügen waren, sondern um ihre Geschäfte zu erledigen. »Hauptsache ist, die beiden haben genau das, was wir brauchen!« Mel sah auf den ersten Blick, daß er gegen die beiden keine Chance hatte. Mit diesem Breughal wäre er vielleicht noch fertiggeworden, aber nicht mit dem kettenschwingenden Muskelpaket neben ihm. Der junge Mann stieß das Mädchen an. »Weg hier!« Die beiden rannten wie die Besessenen. Die Aasgeier hinter ihnen schienen sich keine sonderliche Mühe zu geben, sie einzuholen. »Lauf schneller… schneller!« keuchte Mel. Hinter ihnen lachte Breughal triumphierend. Mahler schwenkte seine Kette mit weitausholenden Bewegungen im
Kreis. Er genoß diese Treibjagd, denn er wußte, daß sie gleich vorüber war. Die wilde Flucht führte das Paar auf einen freien Platz inmitten der Ruinen. Sie saßen in der Falle. Hinter ihnen kamen die Verfolger rasch näher, und der einzige schmale Ausgang, den dieser Platz sonst noch hatte, war durch den dort abgestellten Van völlig blockiert. Gehetzt blickte das Mädchen sich um. »Hier gibt es keinen Ausweg!« Mel schlug einen Haken wie ein Hase. Breughal rannte an ihm vorbei, seiner Gefährtin hinterher. Mel wußte, daß Rayna ganz gut auf sich selbst achten konnte. Er mußte den Kampf mit dem massigen Mahler aufnehmen, so aussichtslos die Sache auch war. Bevor das Muskelpaket reagieren konnte, rammte Mel ihm den Kopf in die Seite. Mahler taumelte. Aber nur kurz. Grinsend drehte er sich zu dem Jungen um, der höchstens halb soviel wog wie er. Breughal hatte das Mädchen eingeholt. Er hechtete nach ihren Beinen, packte zu, und kopfüber stürzten beide in den Schmutz. Doch Rayna war ein Kind der Slums. In den zwanzig Jahren, die seit ihrer Geburt vergangen waren, hatte sie vor allem eins gelernt: kämpfen. Sie belastete sich weder mit Regeln noch mit Stil. Sie trat zu, erwischte genau die Stelle, an der Breughal besonders empfindlich war. Während er noch nach Luft schnappte, fetzte sie mit ihren spitzen Fingernägeln nach seinen Augen. Der Organsammler wich aus, schlug in blinder Wut zu. Rayna wurde nach hinten geschleudert. In fieberhafter Hast tastete ihre Hand umher. Plötzlich spürten ihre Finger ein Stück Metall, das am Boden lag. Ein Eisenrohr. In weitem Bogen schwang sie es an den Kopf ihres Gegners. Breughal taumelte, mußte immer neue Schläge einstecken.
Bis es ihm gelang, Raynas Hals zu packen. Er drückte kurz zu. Das Mädchen ließ das Rohr fallen. Zwei, drei schnelle, harte Schläge, und sie sackte aufseufzend zu Boden. Triumphierend stellte Breughal ihr einen Fuß auf den Rücken. Er war der Jäger, der einmal mehr Erfolg gehabt hatte. Mahler genoß den Kampf mit dem schmächtigen Jungen. Die unkontrollierten Schwinger, die Mel austeilte, steckte er locker weg. Dann packte er ihn am Kragen, hob ihn locker hoch und rammte seine Stirn mit voller Kraft gegen die des Jungen. Mahler war zu dumm, um Schmerzen zu spüren, aber Mel schrie laut auf und verlor dann das Bewußtsein. Mit lautem Triumphgeheul hob der massige Mann die dünne Gestalt hoch über den Kopf und schleuderte sie in einen Abfallhaufen, als habe sie kein Gewicht. Mel spürte nicht einmal mehr, wie scharfkantiger Schrott sein Handgelenk zerschnitt und warmes, hellrotes Blut pulsierend aus der Wunde schoß. Mahler lief zu seinem Freund und Partner, der immer noch bei dem Mädchen kniete. Sie lag mit dem Gesicht im Staub. Der Muskelmann wußte, was jetzt kam, und drückte sie mit seinem ganzen Gewicht noch fester an den Boden. Rayna hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Sie konnte nur den Kopf drehen. Aber das genügte, um das Gerät in Breughals Hand zu erkennen. Der Aasgeier zog einen Analysator aus der Tasche. Ein Kästchen, vielleicht so groß wie zwei aufeinandergelegte Video-Cassetten. Mit einer fast sinnlichen Bewegung drückte er auf den Knopf. An der Oberseite des Analysators sprang eine Miniaturkreissäge aus ihrem Schacht. Schrill kreischend drehte sie sich um die eigene Achse. Diese Säge durchschnitt alles und beförderte gleichzeitig Teile des durchschnittenen Materials ins Innere der Apparatur, wo sie auf ihre genaue Zusammensetzung hin untersucht wurden.
Raynas Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie erkannte, was Breughal plante. Sie schrie sich ihren Schrecken aus dem Leib, doch der Mann zeigte sich nicht beeindruckt. Unerbittlich senkte er das Gerät auf den Rücken des Mädchens hinab. Die rotierende Säge fraß einen dünnen Schnitt in weiches Fleisch und führte dem Analysator eine ausreichende Gewebemenge zu. Rayna wandt sich schreiend unter Mahlers Pranken, doch der drückte sie unerbittlich gegen den Boden. Er glotzte sein Opfer blöde an, saugte voller Gier das Leid dieser jungen Frau in sich hinein. Auch Breughal genoß Raynas Qualen – auf eine andere, mehr geschäftsmäßige Art. In erster Linie erledigte er hier seinen Job. Doch es konnte nie schaden, auch etwas Freude an der Arbeit zu empfinden. Aufmerksam studierte er die Anzeige des Analysators: »Acht-sechs komma zwo… gut!« Zufrieden sah er seinem Partner in die Augen. Mahler wußte, was die Zahlen bedeuteten. Die Kleine war genau richtig. Ein nervöses Grinsen zuckte über das Gesicht des Muskelpakets. Er beobachtete, wie Breughal die Kreissäge des Analysators einklappen ließ und das Gerät wieder in seiner Jacke verstaute. Dann nahm er ein Stück Plastikfolie heraus. Rayna bewegte sich nicht mehr, sie stöhnte nur noch. Ihr Peiniger drückte ihr die Folie auf Mund und Nase. Verzweifelt rang sie nach Luft, ein letztes konvulsivisches Zucken schüttelte ihren Körper – dann führte der Sauerstoffmangel zur Bewußtlosigkeit. Bevor seine kostbare Beute sterben konnte, nahm Breughal die Folie wieder fort. Mahler warf sich den schlaffen Körper über die Schulter, als hätte er kein Gewicht. Er trug das Mädchen zum wartenden Van. Sein Partner ging schon vor.
»Mr. Mason wird mit uns zufrieden sein! Sie ist genau die Richtige!« tönte Breughal, als er sich auf den Fahrersitz schwang und sein Autotelefon aktivierte. »Nightingales«, meldete sich eine kühle Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Der Aasgeier grinste, als er sah, wie sein Kollege den schlaffen Körper hinten auf der Ladefläche verstaute. »Ich glaube, wir haben, was Sie brauchen«, sagte er lakonisch und hängte den Hörer ein. Als Mahler neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz nahm, startete Breughal den Motor und fuhr seelenruhig los. Das Heulen der Turbine riß Mel aus seiner Ohnmacht. Stöhnend richtete er sich auf – und sackte gleich wieder zusammen. Er konnte dem Wagen der Organsammler nur in hilfloser Wut nachstarren.
2. Kapitel
»Jetzt hören sie mir gut zu, Miss Formby! Dr. Moon ist nicht sehr kooperativ. Diese letzte Transplantation wird Mutter vielleicht nicht überleben.« Samuel Plantagenet sprach in einen der zahlreichen Vidifon-Anschlüsse in seinem geräumigen Penthouse. Die Einrichtung war geschmackvoll und kostbar. Plantagenet konnte sich jeden Luxus leisten. Er war einer der reichsten Männer der Welt. Und einer der skrupellosesten. Für einen Mann Ende 50 sah Plantagenet wirklich gut aus. Sein volles, silberfarbenes Haar und das schlanke, markante Gesicht machten ihn zu einem durchaus attraktiven Mann. Das hatte ihn, zusammen mit seinem Bankkonto, zu einem der begehrtesten Junggesellen der Welt gemacht. Doch Plantagenet war an Frauen nicht interessiert. Von den Weibern konnte sich sowieso keine mit seiner Mutter messen – der geliebten Mutter, die stets für ihn dagewesen war und jetzt im Sterben lag. Um ihr Leben zu erhalten, würde Plantagenet alles wagen. Julia Formby, nach Ben Cheviot die einflußreichste Persönlichkeit beim mächtigen Sender 23, wußte das. Kaum jemand hätte gewagt, sie mitten in der Nacht auf ihrer Privatleitung anzurufen. Plantagenet konnte sich das leisten. Miss Formby, die im Vorstand des Senders stets so kühl und unerschütterlich wirkte, zitterte vor ihm. Wie alle anderen Menschen auch. Er mußte ihr noch etwas Dampf machen. »Wir verlieren unter Umständen Mutters Körper, aber ich möchte, daß ihr Geist erhalten wird! Sie muß um jeden Preis
dem Max-Headroom-Computer-Regenerationsprozeß unterzogen werden!« Plantagenet blickte der verängstigten Frau auf dem Bildschirm vor ihm direkt in die Augen. Er konnte ihre Angst fast körperlich spüren. »Also… für den Fall, daß Sie mich enttäuschen, erledige ich Cheviot! Ich ruiniere ihn… und Sie ebenso! Sie wissen, daß ich die Macht dazu habe!« Ohne sein Gegenüber zu Wort kommen zu lassen, unterbrach Plantagenet die Leitung. Draußen in der Vorstadt fand Mel langsam wieder genug Kraft, um auf die Beine zu kommen. Der Schmerz war nur noch ein dumpfes, kaum wahrnehmbares Gefühl. Beinahe mechanisch nahm er den Schal vom Hals und wickelte ihn um die verletzte Hand. Der provisorische Verband brachte die Blutung zum Stillstand. Kraft- und ziellos taumelte Mel umher. Nach wenigen Schritten gaben die Beine unter ihm nach. Er schlug längs hin. In den Schmutz – und genau vor einen der Fernsehempfänger, auf dem nach der Unterbrechung für die Werbung jetzt Edison Carters Nachrichtenshow weiterlief. Der Reporter war in voller Fahrt. »Als ich meine Ermittlungen fortsetzte, stieß ich auf eine Mauer des Schweigens. Niemand wollte mit mir über diese Sache reden, niemand wollte irgend etwas zugeben! Es war unmöglich, die Sicherheitsmaßnahmen der zuständigen Behörden zu überwinden!« Mel kam langsam wieder auf die Beine. Jetzt wußte er, was zu tun war. Wenn einer ihm helfen konnte, dann Edison Carter! »Aber jetzt weiß ich ganz genau, was tatsächlich passiert ist. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf die Wahrheit! Die Verantwortlichen wissen genau, worum es geht… und sie können sich nicht länger verstecken!«
Mel hörte dem Reporter nicht weiter zu. Skandale interessierten ihn nicht. Er wollte nur Rayna finden. Und dazu brauchte er diesen Carter. Kraftlos, aber zu allem entschlossen, taumelte er davon. Mit seinen 210 Stockwerken war die Zentrale des populären Senders 23 eins der imposantesten Bauwerke der Stadt. Der 23er-Tower demonstrierte der Welt, was den Insidern längst klar war: Heutzutage lief wenig auf der guten alten Erde, ohne daß Sender 23 mitgemischt hätte. Am großen Konferenztisch im 148. Stockwerk saß der Vorstand der TV-Anstalt. Männer und Frauen starrten gebannt auf den großen Videoschirm an der Stirnwand des Saals. Ja, Frauen, das stimmte. Miss Formby war nicht länger die einzige Frau in diesem exklusiven Gremium. Nach dem Ausscheiden des unglücklichen früheren Vorstandsvorsitzenden Miles Grossberg war ein Stuhl am Vorstandstisch freigeworden. In seltener Einmütigkeit hatten Ashwell und Edwards Lucille McFinch als neue Direktorin vorgeschlagen. Sie war maximal 30 Jahre alt, brünett und sehr attraktiv – wenn man den strengen Typ mochte. Offensichtlich bevorzugten den viele höhere Herrn beim Sender 23, denn man munkelte, daß Miss McFinchs Karriere im Gegensatz zu der von Miss Formby nicht ausschließlich auf Leistung zurückzuführen war. Auch der Vorstand von Sender 23 ließ sich die neueste Show des besten Reporters im Haus nicht entgehen. Direktor Ashwell wurde plötzlich wach, als Carters überlebensgroßes Bild vom Wandschirm verkündete: »Nach jahrelanger Suche ist es mir gelungen, die exakten Pläne und Modellentwürfe einer geheimnisvollen Anlage aufzuspüren.« Carters Gesicht auf dem Bildschirm machte einer Computergrafik Platz, die in einer Schemazeichnung
unzählige Fässer darstellte, die dicht unter der Erdoberfläche lagerten. Eine neue Grafik zeigte ein sechzehneckiges Faß mit umlaufenden Stoßkanten von allen Seiten. Das große Zeichen, das vor der Radioaktivität des Faßinhalts warnte, war unübersehbar. »Diese Anlage befindet sich genau unter Ihren Füßen«, fuhr Carter fort. »Nur wenige Meter unter der Erdoberfläche lagern Tausende von Tonnen, randvoll mit giftigen Chemikalien, die frühere Generationen an dieser Stelle vergraben haben. Und obwohl der Inhalt der Tonnen absolut tödlich ist, wurde hier ein Teil unserer Stadt errichtet!« Selbst die abgebrühten Direktoren des großen Senders zeigten jetzt Reaktion. Was ihr bester Mann da aufgedeckt hatte, war unglaublich! »Wer damals die wirklich Schuldigen dieses geradezu unglaublichen Umweltverbrechens waren, läßt sich jetzt nicht mehr feststellen. Zu viele Jahrzehnte sind inzwischen vergangen, um noch genau sagen zu können, wer den Auftrag gab, diese giftigen und radioaktiven Abfälle einfach im Erdreich zu vergraben.« Es schien, als blicke Carter jedem einzelnen seiner Zuschauer direkt ins Gesicht. »Aus den Geheimunterlagen, die ich im Laufe der Zeit in mehreren Archiven zusammengesucht habe, geht eindeutig hervor, daß auch heute noch Personen, die genaue Kenntnis von diesem ungeheuerlichen Projekt haben, an verantwortlichen Positionen sitzen.« Ashwell konnte seine Unruhe kaum noch verbergen. Fast hätte er sich dazu verleiten lassen, einen Teil seines sauer verdienten Geldes da draußen in einem Wohnprojekt anzulegen. Auf verseuchtem Boden! Unvorstellbar! »Obwohl die Verantwortlichen wissen, was für grauenhafte Folgen es haben könnte, wenn eins dieser Fässer durch
Korrosion oder mechanische Einwirkungen platzt, haben sie es bisher nicht für nötig gehalten, die Öffentlichkeit über die Gefahr zu unterrichten. Bisher hat keine staatliche Stelle irgendwelche Sanierungsmaßnahmen eingeleitet. Daß gewisse Kreise hier ihre finanziellen Interessen wahren wollen, steht eindeutig fest!« Carters Stimme wurde schneidend. »Aber wo Menschenleben in Gefahr sind, darf man nicht an Gewinn und Verlust denken, sondern muß bemüht sein, uns und den nachfolgenden Generationen die Sicherheit zu geben, die für unser Überleben unerläßlich ist. Meine Aufgabe besteht nicht darin, effektive Maßnahmen vorzuschlagen. Ein Reporter wie ich hat nur die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem fordere ich die Verantwortlichen auf: Unternehmen Sie etwas!« Ein Summton aus der vor Cheviot in den Konferenztisch eingelassenen Kontrollkonsole zeigte an, daß seine Sekretärin mit ihm in Verbindung treten wollte. Unwillig knurrend beschloß der Vorstandsvorsitzende, das störende Signal zu ignorieren. Er lauschte lieber seinem besten Mann, der seine fesselnde Reportage gerade abschloß: »Wir sind eine unglückliche Generation. Wir sind die Kinder, die in einem vergifteten Hinterhof zurückgelassen wurden. Und unsere Eltern haben es nicht für nötig gehalten, uns etwas von dem Gift zu sagen!« Auf seine Sekretärin konnte sich Cheviot wirklich verlassen – schon deshalb, weil sie keinen Respekt vor ihm hatte. Als ihr Chef auf den Signalton nicht reagierte, rief ihn Miss Winter über die Interkomleitung für dringende Fälle: »Mr. Cheviot! Ped Zing auf Satellitenleitung eins!« Blitzschnell nahm Cheviot den Hörer ab. Der kleine Ped Zing war der große Vorsitzende der weltumfassenden ZikZakCorporation. ZikZak war nicht nur einer der mächtigsten
Konzerne der Welt – vielleicht der mächtigste überhaupt –, sondern auch der größte Werbekunde von Sender 23. Einen Ped Zing ließ man nicht warten. Niemals! Cheviot sah genau in das verborgene Kameraobjektiv oberhalb des Vidifonschirms, auf dem der fast kahle Japaner erschien. Er saß im Kreise seiner Direktoren in einem großen Büro irgendwo in New Tokyo. Für Gelegenheiten wie diese hatte Cheviot extra ein paar Brocken Japanisch gelernt. Er brach sich fast die Zunge, als er in der für ihn so fremden Sprache sagte: »Ich freue mich, daß Sie mir die Ehre Ihres Anrufs erweisen, Mr. Ped Zing!« Der Angesprochene aber verzichtete auf sämtliche Höflichkeitsfloskeln und sagte in dem fließenden, akzentfreien Englisch, das er so brillant beherrschte: »Kommen wir gleich zur Sache!« Cheviot haßte es, daß ihm der Japaner auf sprachlichem Gebiet so überlegen war, aber er ließ sich nichts anmerken. Es war nur ein schwacher Trost für ihn, daß ihm seine Sprachexperten immer wieder versichert hatten, Englisch sei viel unkomplizierter und deshalb wesentlich leichter zu erlernen als Japanisch. Der ZikZak-Boß gab ungern viel Geld für teure Satellitenleitungen aus. »Wir haben einen deutlichen Abwärtstrend in unseren Verkaufszahlen festgestellt, nachdem Sie die letzte Werbekampagne eingestellt haben.« Cheviot wußte das natürlich, beeilte sich aber zu versichern: »Dieser Abwärtstrend ist nur sehr klein, Herr Vorsitzender.« »Darüber will ich nicht mit Ihnen diskutieren!« Ped-Zing hob den rechten Arm wie der kommandierende Admiral eines der Superschlachtschiffe, mit denen die Japaner vor gut 60 Jahren beinahe die Herrschaft auf den Weltmeeren errungen hätten. »Mr. Kyoko, dürfte ich jetzt bitten?«
»Ja!« Die Kamera des Vidifons schwenkte und erfaßte einen der typischen japanischen Jungmanager, die heute das Wirtschaftsleben auf der Welt weitgehend unter Kontrolle haben. Kyoko trat vor einen Bildschirm, über den statistische Grafiken flimmerten. »Das hier ist die Computer-Analyse einer Ihrer Sendungen. Sie zeigt einen deutlichen Anstieg der Einschaltquoten. Offensichtlich hängt das mit dem neuen Moderator zusammen, der seit einiger Zeit für Sie tätig ist. Daher wünschen wir, daß dieser Moderator für unsere nächste Werbekampagne eingesetzt wird!« »Gentlemen, als unser wichtigster Kunde stehen Sie natürlich an erster Stelle!« Direktor Edwards warf seinem Chef einen bewundernden Blick zu. Das hätte er selbst ganz genauso formuliert! »Um welchen Moderator handelt es sich?« wollte Cheviot wissen. »Sein Name ist Max Headroom!« Bevor der Vorstandsvorsitzende reagieren konnte, schaltete sich Ped Zing wieder auf den Bildschirm. »Wir erwarten Ihren Anruf, Mr. Cheviot!« Dann war die Leitung tot. Der Japaner sparte eben, wo er nur konnte. Cheviot hatte keine Möglichkeit, noch irgend etwas zu sagen. ZikZak wollte Max Headroom. Aus. Allerdings machten sich die Japaner wohl kaum eine Vorstellung davon, was für ein schwieriger Bursche dieser Max war. »Bursche« war eigentlich das falsche Wort. Er war ein Computerprogramm, das durch sämtliche Datennetze des Senders 23 geisterte. Aber kein gewöhnliches Programm. Max Headroom war intelligent. Bryce Lynch hatte ihn erschaffen. Bryce war Chef der Forschung und Entwicklung von Sender 23. Ein
ungewöhnlicher Posten für ein Kind in seinem Alter. Doch auf seinem Fachgebiet machte keiner Bryce etwas vor. Von allen genialen Hackern war er der genialste. Es war ihm gelungen, das Bewußtsein Edison Carters elektronisch aufzuzeichnen und in ein spezielles Programmgerüst zu füttern. Er hatte eine Computer-Kopie des Reporters erschaffen. Mit der gleichen Intelligenz. Aber mit größerem Wissen. Denn schließlich hatte Max Headroom, wie sich das Programm selbst nannte, Zugang zu allen Datenbanken der Welt. Und so war es für Max, der auf den Bildschirmen nur als Kopf erschien, weil selbst die größten Computer nicht genug Speicherkapazität hatten, um auch noch den Körper zu simulieren, ein Leichtes, sich jedem Zugriff von außen zu entziehen. Gegen Max kam nicht einmal das Genie Bryce an. Er konnte nicht wie bei normalen Programmen Eingriffe vornehmen, etwas verändern. Max ließ es nicht zu, daß jemand an seiner Persönlichkeit herumpfuschte. Und er nahm von niemandem Befehle an. »Formby?« Cheviot stand auf und winkte seiner Stellvertreterin zu, ihm in eine stille Ecke des Saals zu folgen. Was sie hier zu besprechen hatten, brauchten die anderen nicht mitzuhören. »Wie weit ist Bryce mit dem Max-Headroom-Projekt vorangekommen?« »Ich treibe ihn zu größtmöglicher Eile an, aber er hat ziemliche Probleme! Max ist… nicht sehr kooperativ!« Die anderen Vorstandsmitglieder verfolgten weiter das Programm auf dem großen Wandmonitor. Nur Edwards spähte unauffällig hinüber in die dunkle Ecke, in der Cheviot und Formby in seltsamer Vertrautheit standen. Leider konnte er nicht hören, was die beiden besprachen, sosehr er sich auch
anstrengte. Aber er würde darauf achten müssen, daß Formby sich nicht zu sehr in den Vordergrund spielte – ihm vielleicht sogar seinen Platz streitig machte! Cheviot war besorgt. »Hoffentlich bekommen wir da kein Problem, Julia. ZikZak wollen Max für ihre Werbung… noch heute.« »Noch heute?« Miss Formby seufzte. Das bedeutete, sie waren auf den guten Willen des elektronischen Wesens angewiesen. In der Schaltzentrale der Nachrichtenredaktion, die rund hundert Stockwerke unter dem Konferenzsaal im 23er-Tower untergebracht war, hatte sich Murray in sein kleines Privatbüro zurückgezogen. Der Chefredakteur wollte keine Sekunde der neuen Sendung seines besten Mannes verpassen. Er hatte sich prima geschlagen, das stand schon fest, als er den Abspann sprach: »Das war Edison Carter vom Sender 23 mit der Sendung, in der Fragen gestellt werden, vor denen andere sich fürchten.« Einer der Mitarbeiter klopfte von außen an die Scheibe und hob den Daumen, als sich Murray zu ihm umdrehte. Carters Show war mal wieder ein echter Knaller gewesen. Zufrieden klatschte Murray die Hände zusammen. Er verließ sein Büro und ging zu jedem einzelnen seiner Mitarbeiter. Er und Carter wußten ganz genau, daß solche Erfolge nur möglich waren, wenn das ganze Team geschlossen hinter Chefredakteur und Reporter stand. Deshalb gebührte Murrays Lob auch allen hier im Raum. Er ging zu den Technikern und Redakteuren, klopfte ihnen auf die Schultern und sagte immer wieder: »Gute Sendung! Ausgezeichnet! Gute Arbeit!« Besonderes Lob hatte natürlich Theora Jones verdient, Carters Controllerin. Während seiner Einsätze draußen stand sie stets über das Funkgerät seiner Kamera mit ihm in
Verbindung, sah die Bilder, die er aufnahm, und versorgte ihn mit allen Informationen, die er brauchte. Jetzt war Theoras Aufgabe beendet, denn ihr Reporter befand sich schon im Hubschrauber und flog zum Sender zurück. Sie stand auf, als Murray freudestrahlend auf sie zukam und sie spontan umarmte. »Ich gratuliere! Da haben wir ein tolles Ding hingekriegt! Bravo!« Er deutete auf einen der unzähligen Kontrollmonitore: »Sieh nur, wie viele Anrufe wir bekommen!« »Bringen wir eine zweite Folge?« wollte Theora wissen. »Ist bereits in Vorbereitung! Die wird der Renner des zweiten Programms!« Ein Signal auf Theoras Kontrollpult zeigte, daß die Redaktion von ganz oben angerufen wurde. Murray drückte einen Knopf, und auf dem Hauptbildschirm erschien Ben Cheviots Gesicht. »Spannende Story, Murray! Ich gratuliere Ihnen! Ein guter Start für Ihre Serie!« »Danke, Sir! Ich glaube, daß wir…« Der alte Mann lächelte zwar gütig, aber soviel Zeit, um sich auf ein Gespräch mit dem Chefredakteur einzulassen, hatte er nun auch wieder nicht. Also fiel er ihm ins Wort: »Ich glaube, wir sollten eine weitere Folge zu dem Thema bringen. Das wird eine Erfolgsserie, ganz bestimmt!« »Ich bin völlig Ihrer Meinung!« stimmte Murray zu. Und das nicht nur deshalb, weil man dem Vorstandsvorsitzenden nicht widersprach. »Gratulieren Sie auch Edison von mir! Wir sind sehr zufrieden«, sagte Cheviot und schaltete sich aus der Leitung. »Ja, Sir, danke… ich sage es ihm!« Murray starrte den Schirm noch an, als er längst kein Bild mehr zeigte. Halb
entschuldigend meinte er zu Theora: »Cheviot hat es auch nicht leicht… er muß immer einen Schritt voraus sein.«
Nur wenige Menschen ahnten etwas von der Existenz des 13. Stockwerks im 23-Tower. Ein einziger Mensch schaltete und waltete hier nach Belieben – Bryce Lynch, das Kindgenie. Er saß in seinem großen Labor und beschäftigte sich mit seinem Lieblingsprojekt: Max Headroom. Das Gesicht des Computermannes, das dem von Edison Carter so sehr glich und doch so völlig anders war, lächelte gewinnend von sämtlichen Monitoren im Raum. Max arbeitete gern mit Bryce zusammen – aber nur, wenn er Lust dazu verspürte. »Ich brauche ein paar von Edisons Erinnerungen«, sagte der Junge. Max machte den Bildschirm direkt vor Bryce frei. An seiner Stelle erschien das Gesicht eines zwölfjährigen, molligen Mädchens, das die Lippen unbeholfen zu einem Kuß aufgeworfen hatte. Es kam näher und näher, bis die Lippen den ganzen Schirm füllten. »Das war Edisons erster Kuß«, kommentierte Max vom Nebenschirm. »Rrrüüührrrend!« Seine Stimme spielte alle Tonlagen durch. Max erweckte gern den Eindruck, als wäre sein Sprachprogramm noch immer gestört. Was nicht zutraf. Bryce merkte nicht, das Miss Formby die Codetür geöffnet hatte, die den einzigen Zugang zur Forschungs- und Entwicklungsabteilung darstellte. »Hier habe ich noch etwas für deine Da-da-datenbank, Bryce«, säuselte Max. »Viele Mädchen.« Gesichter huschten über den Schirm. Der Junge sah mit offenem Mund zu. Dieser Carter hatte ja wirklich schwer was aufgerissen.
Im Gegensatz zu Bryce hatte Max von einem der Zweiwegbildschirme an der Seite Miss Formby längst entdeckt. Der Junge meinte, eins der Girls auf dem Monitor wäre gemeint, als Max zuckersüß flötete: »Ist da nicht ein besonders nettes Mädchen? N-niedlich, nicht?« Formby beschloß, diesen Kommentar lieber zu überhören. Sie ging zu Bryce und fragte anzüglich: »Amüsierst du dich?« »Guten Tag, Mrs. Formby!« »Miss!« Dieser Bengel! Dachte der, sie wäre eine Großmutter? »Also, wie weit seid ihr?« »Nicht sehr weit.« Bryce wirkte ziemlich zerknirscht. Er haßte es, Niederlagen eingestehen zu müssen. Max dagegen genoß die Situation. Er setzte das freundlichste Gesicht auf, das in seiner Datei gespeichert war, und plapperte munter drauflos: »Ahh… Miss… Miss… Miss Formby! Haben Sie Edison gesehen?« Plötzlich wurde er ganz ernst. »Ich möchte, ich möchte etwas über eine bestimmte Na-na-nacht wissen, an die ich mich nur noch sehr unklar erinnern kann. Es gibt Kopfschmerzen und ein du-du-du-dunkles Loch in meiner Datenbank. Datenbank.« Als Max klar wurde, wie schmerzlich sein Verlust war, setzte er noch einen sehr menschlichen Kommentar hintendrauf: »Mist!« Formby beschloß, den Computermann zu ignorieren. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, mit dem Abbild eines lebenden Programms auf einem Bildschirm zu reden. Also wandte sie sich an Bryce: »Was hältst du davon, Max arbeiten zu lassen… für einen unserer besten Kunden?« »Na ja, wenn’s den Leuten egal ist, wann Max kommt und geht, was er sagt und tut… warum nicht?« Bryce schaute so unschuldig wie möglich durch seine große Brille.
Es war nicht gerade leicht für ihn, zuzugeben, daß Max Headroom, seine eigene Schöpfung, sich von niemandem kontrollieren ließ. Nicht einmal vom genialen Bryce Lynch.
3. Kapitel
In der Nachrichtenzentrale wurde der Erfolg der Sendung kräftig begossen. Als Carter den großen Raum betrat, wurden ihm von allen Seiten Glückwünsche zugerufen. »Edison!« Theora winkte ihm. Er lief zu seiner Controllerin, nahm sie in den Arm und drückte ihr einen dicken Kuß auf die Wange. Murray stand grinsend daneben, ein Glas in der Hand. »Herzlichen Glückwunsch! Cheviot gefällt die Sendung. Wir sollen weitermachen!« »Womit? Mit dem Trinken?« Carter lachte und nahm sich ein Glas. Theora hakte sich bei ihm ein und zog ihn auf die Seite. »Übrigens, Max möchte dich sprechen. Es geht um eine verlorene Erinnerung!« Der Reporter seufzte. »Max kann einen ganz schön nerven! Er hat mich gestern abend über meinen Privatterminal heimgesucht. Ich konnte ihn nicht abschalten, ich mußte eine Decke über ihn werfen… dann hat er mit der geredet!« Theora kicherte. Max war schon ein seltsamer Typ. Er brauchte keinen Schlaf, wurde niemals müde. Unverwüstlich, solange auch nur ein Fünkchen Energie durch die Leitungen floß. Einer der Redakteure tauschte Carters leeres Champagnerglas gegen ein volles. »Hier hast du was zu trinken!« »Danke.« Carter versuchte, Theora die Eigenheiten seines elektronischen Alter Ego zu erläutern. »Sein Problem liegt darin, daß er im Alter von 27 Jahren geboren wurde… mit
einer nur noch sehr verschwommenen Erinnerung an seine Jugend. Also muß ich ihm Dinge erklären, an die wir uns eigentlich beide nicht mehr erinnern können. Das ist auch der Grund, warum er manchmal mit den Möbeln redet.« »Mit einem Stuhl, das könnte ich ja noch verstehen«, flachste Theora. »Aber mit ‘ner Decke?« Carter verzog das Gesicht.
Ben Cheviot war allein in seinem Büro im 210. Stock, als Formby ihn über die interne Vidifonverbindung aus der 13. Etage anrief. Das, was sie zu sagen hatte, war alles andere als erfreulich. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Max sehr kompliziert ist.« Julia blieb beim formellen »Sie«, obwohl dies eine Privatleitung war. Aber man wußte nie genau, welche Kanäle gerade überwacht wurden und welche nicht. Cheviot wußte ihre Professionalität zu schätzen, aber diese Sache packte sie nicht richtig an. »Nicht nur Max ist kompliziert… ZikZak auch. Bryce soll sich an die Arbeit machen!« Formby wirkte seltsam gehemmt. »Das Problem liegt darin, daß er Zeit braucht, um alles unter Kontrolle zu bekommen. Er muß das ganze Programm durchchecken!« »Es gibt nur ein Problem«, stellte Cheviot kategorisch fest. »Wir müssen den guten Ruf des Senders wahren. Ich bin überrascht, daß ausgerechnet Sie etwas anderes für wichtiger halten, Miss Formby!« Auf dem kleinen Bildschirm des Vidifons konnte der Vorstandsvorsitzende deutlich sehen, wie die sonst so kühle und gefaßte Blondine um ihre Fassung rang. Nightingales Organbank war eines der privaten Sammelzentren für transplantationsfähige menschliche
Organe. Florence, die Besitzerin, zahlte besser und stellte weniger Fragen als die Beamten der staatlichen Banken. Deswegen arbeiteten Breughal und Mahler auch vorzugsweise für sie. Bei dieser Gelegenheit hatten sie Dr. Mason kennengelernt. Eigentlich war er Florences Angestellter. Doch von dem kleinen Nebenverdienst, den er sich hier verschafft hatte, wußte die alte Nightingale nichts. Johlend schob Mahler die fahrbare Bahre mit ihrem bewußtlosen Opfer durch die weißgekachelten Flure der Organbank. Breughal saß vorne neben dem Kopf des Mädchens und trommelte einen wahnwitzigen Takt an die Wände. Dr. Mason erwartete sie schon. Er war ein großer, fleischiger Mann, der seine besten Jahre längst hinter sich hatte. Der Mißbrauch von Aufputschmitteln, den er seit Jahren betrieb, hatte seine Spuren hinterlassen. Der Arzt wirkte aufgeschwemmt. Er kämpfte sichtbar um seine Fassung. »Verdammt, Breughal… könnt ihr nicht etwas diskreter sein?« Für Mahler war das wohl ein gigantischer Witz, denn er wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Sein Partner aber reagierte eiskalt und aggressiv, so wie es seine Art war: »Wir bringen Ihnen Frischfleisch, Dr. Mason… sind Sie diskret, wenn Sie es auseinanderschneiden?« Mahler beugte sich so weit vor, daß sein stinkender Atem dem Arzt fast die Luft wegnahm. »Doktor… behalten Sie die besten Stücke für sich?« Breughal kicherte wie ein aufgedrehtes Schulmädchen. Er griff in seine Jackentasche, holte die Tüte mit Gewebeproben heraus und reichte sie dem Arzt. »Ich hoffe, die Spezifikation stimmt?«
Das hätte Mason besser nicht gefragt. Breughals Lachen endete übergangslos. Gefährlich ruhig fragte er: »Habe ich mich schon mal geirrt, Dr. Mason?« Der Arzt wußte, daß ihm der Kerl Angst machen wollte, und versuchte, standhaft zu bleiben. »Es könnte passieren…!« »Das glaube ich nicht! Ich weiß zum Beispiel ganz genau, was für ein Typ Sie sind! Na, wie wär’s… wollen wir’s überprüfen, Dr. Mason?« Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Breughal den Analysator aus der Tasche. Er ließ die kleine Kreissäge herausschnellen und hielt die rotierende Klinge dicht an Masons Hals. Schon schloß sich Mahlers Pranke um das Genick des Arztes. Er hielt ihn fest, damit sein Partner besser arbeiten konnte. »Überprüf ihn! Los, überprüf ihn!« Mason konnte sich gerade noch aus seinem Griff winden und davonlaufen. Das Gelächter der Organsammler gackerte durch den Flur. Zwei Pfleger traten an die Bahre mit der bewußtlosen Frau und schoben sie fort. Mahler sah ihr bedauernd nach. »Es tut mir fast leid um sie… sie hat so einen entzückenden Rücken!« Breughal lehnte sich an die Wand und starrte der davonrollenden Bahre nach. Er fand, genau jetzt war der richtige Augenblick für einen philosophischen Erguß gekommen: »Der lauteste Ton im Universum… ist der letzte Schlag des Herzens.« Mahler sah seinen Partner bewundernd an. Wie gebildet Breughal doch war! In der Nachrichtenzentrale von Sender 23 herrschte wieder die übliche Betriebsamkeit. Die kleine Feier zum Erfolg der letzten Sendung war vorüber, seit Carter nach Hause gegangen war, um ein wohlverdientes Ruhepäuschen einzulegen.
Einer der Researcher, die alle eingehenden Informationen sichteten, winkte dem Chefredakteur. »Murray! Hier ist ein Bursche, der läßt sich nicht abwimmeln! Er will mit Edison reden.« Murray seufzte. Manche Zuschauer waren wirklich sehr hartnäckig. »Theora, übernimm du das Gespräch, bitte!« »Okay!« Die Controllerin legte das Gespräch auf ihren Schirm. Aber der blieb dunkel. Der Anruf kam aus einer öffentlichen Vidifonzelle, und offensichtlich war die Kamera dort defekt. Ein Mann war am Apparat. »Ich muß mit Edison Carter sprechen!« »Das ist hier im Sender nicht möglich, aber Sie können gern eine Nachricht hinterlassen. Hallo… hallo?« Der Mann hatte aufgelegt. In einem der Hinterzimmer von Nightingales Organbank wand sich die junge Frau vergeblich in den Lederriemen, die sie an den Operationstisch fesselten. Dr. Mason starrte sie angeekelt an. Er ertrug es nicht, wenn seine Organspender so sehr gegen ihr unausweichliches Schicksal ankämpften. Die Oberschwester drückte eine Maske mit Narkosegas fest auf das Gesicht der jungen Frau, und fast augenblicklich erschlaffte ihr schöner Körper. »Gut.« Dr. Mason war zufrieden. »Hoffentlich hat sie das, was wir brauchen.« Hinter ihm stand der Arzt, mit dem Mason auf Plantagenets Anweisung hin zusammenarbeiten mußte. »Beeilen Sie sich«, drängte der Mann. Auch Theora Jones hatte endlich Feierabend. Sie trat aus dem Aufzug in die menschenleere Tiefgarage im Keller des 23er-Towers. Nur wenige Fahrzeuge waren hier abgestellt, denn während der großen Rezession war praktisch die gesamte Autoindustrie zusammengebrochen. Es gab einfach
nicht mehr genug Leute mit ausreichend Geld, um die millionenfach von den Fließbändern laufenden Wagen zu bezahlen. In der Autoindustrie waren mehrere hunderttausend Arbeitsplätze verlorengegangen, so daß auch die Familien der Entlassenen sich keine Fahrzeuge mehr leisten konnten. Ein Teufelskreis ohne Ende, der schließlich dazu geführt hatte, daß Autos wie zu Beginn ihrer Entwicklung wieder teure, in Handarbeit hergestellte Einzelstücke wurden. Solche Wagen waren für die Masse der Bevölkerung natürlich unerschwinglich, nur hochbezahlte Spezialisten und Manager konnten sich noch ein Auto erlauben. Diese Menschen aber hatten kein Interesse an den uniformen Einheitsmodellen, die vor dem Zusammenbruch von den Fließbändern gelaufen waren. Sie leisteten sich lieber große Karossen mit pompös geschwungenem Blech im Chrom- und Glitzerstil der 50er Jahre. Natürlich verbarg sich unter den altmodisch anmutenden Karosserien modernste Hochtechnologie. Theora liebte ihren zartrosa lackierten Studebaker Starshooter, »das handliche Modell für die Frau von heute«, wie die Werbung versprach. Sie zog den Funkschlüssel aus ihrer Handtasche, mit dem sie gleichzeitig die Alarmanlage abschalten und die Fahrertür öffnen konnte. Im nächsten Moment wurde sie von hinten gepackt und von ihrem Wagen fortgezerrt. Bevor sie reagieren konnte, hielt ihr jemand eine gefährlich aussehende Spritze direkt an den Hals. Sie sah nur, daß die Hand, die das gefährliche Gerät hielt, mit einem blutdurchtränkten Lappen umwickelt war. Mit einer Stimme, die sich hörbar darum bemühte, männlich-entschlossen zu wirken, zischte Theoras Angreifer: »Und jetzt rufen Sie Mr. Carter an… gleichgültig, wo er gerade steckt!«
Edison Carters Privatwohnung war ein großer, sachlichmoderner Komplex über mehreren Ebenen. Die behagliche Möblierung stand in angenehmem Kontrast zur geometrischen Strenge der Architektur. Der Reporter stellte die Dusche ab, schlüpfte in seinen Bademantel und frottierte das schon leicht schüttere Haar. Sein Vidifon teilte ihm piepsend mit, daß jemand ihn sprechen wollte. Carter aktivierte den Bildschirm, auf dem das Gesicht seiner Controllerin erschien. »Edison…« Theoras Gesicht wurde zur Seite geschoben. Hinter ihr erschien der Kopf eines jungen Mannes aus den Slums, den Carter noch nie gesehen hatte. Der Kerl hielt eine Spritze drohend an Theoras Hals. »Edison Carter?« fragte er. »Am Apparat!« »Sind Sie allein?« Vor lauter Verblüffung konnte Carter nur nicken. Im nächsten Moment war die Verbindung unterbrochen. »Theora… Theora! Hallo!« Aber die Leitung blieb tot. Der Anruf war vom öffentlichen Vidifon in der Eingangshalle des exklusiven Wohnblocks gekommen, in dem Carters Apartment lag. Mel brauchte nur wenige Minuten, um seine Geisel, die offenbar jeden Widerstand aufgegeben hatte, in den Aufzug und bis vor die Wohnungstür des Reporters zu schleifen. Auf seine Frage hatte ihm die Frau augenblicklich die Nummer von Carters Apartment genannt. Die Tür war mit einem dieser verfluchten modernen Computerschlösser gesichert. »Ich muß erst die Codenummer eingeben«, stöhnte die scheinbar willenlose Frau. »Tun Sie das«, nickte Mel und lockerte seinen Griff, damit sie die Tastatur erreichen konnte. Ein Fehler. Im nächsten Moment zuckte Theoras Ellenbogen nach hinten, genau in
Mels Solar Plexus. Geschwächt durch die Prügel und den Blutverlust, klappte er zusammen wie ein Taschenmesser. »Edison!« brüllte die junge Frau. Die Tür wurde aufgerissen, und der Reporter, der gerade noch Zeit gehabt hatte, in Hemd und Hose zu schlüpfen, stürmte heraus. Er faßte Theora bei den Schultern. »Alles in Ordnung?« »Ja, mir geht’s gut!« »Was man von dem da nicht gerade sagen kann!« Carter beugte sich zu der zerlumpten Gestalt auf dem Fußboden hinab. Stöhnend versuchte Mel, sich aufzurichten, aber der Reporter konnte ihn mühelos zurückdrücken. »Da haben Sie irgendwas falsch gemacht, Freundchen! Theora haßt Gewalt!« Carter steckte sich die leere Spritze in die Tasche und hob den Jungen mühelos vom Boden hoch. Der war nicht mehr in der Lage, sich zu wehren. Widerstandslos ließ er sich in Carters Apartment führen.
In dem kleinen Operationssaal in Nightingales Organbank, von dessen Existenz die gute Florence nicht einmal etwas ahnte, führte Dr. Mason eine Reihe Vortests durch, die absolut notwendig waren, wenn die geplante Transplantation ein Erfolg werden sollte. »Machen Sie schnell!« drängte der Arzt, der Plantagenets Interessen vertrat. Mason haßte diesen Kerl. »Sie dürfen mich nicht drängen. Wenn ich es richtig machen soll, brauche ich Zeit. Ich kann nicht schneller arbeiten!« Er wandte sich an seine zuverlässige Oberschwester, die dafür sorgte, daß das bewußtlose Mädchen nicht aus der Narkose erwachte. »Edie, wie ist der Zustand der Patientin?«
»Hervorragend! Ein Jammer, die Teile an die alte Dame zu verschwenden.« Wurde die zuverlässige Edie mit den Jahren etwa weich?
Bisher hatte Carter aus dem jungen Burschen nur dessen Namen herausgequetscht: Mel Moondock. Wie ein Häufchen Elend hockte er auf dem teuren Ledersofa. Der Reporter saß vor ihm auf der Tischkante und hielt ihm die Spritze dicht unter die Nase. »Verraten Sie mir, was Sie damit vorhatten?« »Nichts… die Spritze ist leer. Ich wollte ihr nichts tun!« »Ach, tatsächlich?« Theora ging wütend auf und ab. Erst überfiel sie der Kerl in der Tiefgarage, und dann gab er sich als Unschuldslamm. »Es tut mir leid«, beteuerte Mel. »Ich mußte Mr. Carter sprechen. Wir sind nicht aus der Stadt… wir kennen hier niemanden. Die Metro-Polizei hätte mir nicht zugehört. Und ich habe auch kein Geld, um mir Hilfe zu kaufen.« Das war offensichtlich. »Wer ist ,wir’?« fragte Carter. »Rayna und ich… wir leben am Fluß. Wir sind in die Stadt gekommen, um der Organbank Blut zu verkaufen. Rayna hat eine seltene Blutgruppe, die gut bezahlt wird. Wir waren gerade auf dem Rückweg… sie haben sie entführt.« »Wer hat sie entführt?« Mel schloß die Augen, schüttelte hilflos den Kopf. Carters Instinkt sagte ihm, daß er hier einer ganz heißen Story auf die Spur gekommen war. Also fragte er nach: »Worum genau geht es?« »Ich weiß es nicht genau. In den Randbezirken verschwinden in letzter Zeit sehr häufig Menschen. Da tauchen immer zwei Punk-Typen mit einem Lieferwagen auf. Die stehlen einfach Menschen, Mr. Carter. Das sind richtige
Menschenjäger… das Ganze ist organisiert. Ein übles Geschäft. Die zwei bevorzugen Frauen… jetzt haben sie Rayna.« Carter sah, daß es auch bei Theora geklingelt hatte. Also schienen die Gerüchte über Aasgeier, die auch lebendige Opfer nicht verschmähten, doch zu stimmen. Carter selbst war vor nicht allzu langer Zeit solchen Typen in die Finger gefallen. Allerdings war er da bewußtlos gewesen. Er hatte nicht den geringsten Schimmer, wer die Kerle waren.∗ Bryce saß noch immer in seinem Labor und ärgerte sich mit Max Headroom herum. Der elektronische Mensch vor ihm auf dem Bildschirm nahm die Arbeit offensichtlich nicht ernst. »Gib mir mal eine Reaktion«, verlangte Bryce. Er wollte die Daten dann erfassen und schließlich versuchen, ein intelligentes Programm zu erstellen, ohne den Gedächtnisinhalt eines lebenden Menschen zu kopieren. Aber Max machte nur Faxen. Er zog eine schrecklich alberne Grimasse und verschwand vom Bildschirm. Aber nicht, um Bryce zu ärgern. Denn Theora Jones wartete in der Leitung, um den Knaben zu sprechen. Und Max fand Theora ebenso nett und attraktiv, wie das Edison Carter, seine menschliche Ausgabe, tat. Das Gesicht der Controllerin erschien auf dem Bildschirm. Sie lächelte den Jungen an: »Hallo, Bryce!« »Ah, guten Tag, Miss Jones!« Seit Bryce sich ein wenig mit den Speicherinhalten von Carters Gedächtnis befaßt hatte, war ihm erst so richtig bewußt geworden, was man mit Mädchen alles anstellen konnte. Und wenn ihn diese Theora so lieb ansah, wurde ihm ganz anders ums Herz. »Hör mal, Bryce, ich muß eine Personenschablone mit dem Diogenes-Programm erstellen. Kannst du mich verbinden?« ∗
s. Max Headroom, Bd. 1, Tödliche Spots
»Ja, natürlich!« Das Diogenes-Programm war zwar eines der bestgehüteten Geheimnisse des Senders 23 und nur ausgewählten Leuten zugänglich, aber wenn Miss Jones ihn so nett um etwas bat, konnte Bryce einfach nicht widerstehen. »Sie kommen über 0-20-6-1 rein, Datensatz 17-10-86.« »Vielen Dank.« Wirklich schade, daß sie sich schon wieder aus der Leitung schaltete! Doch Theora war jetzt beschäftigt. Sie saß am Kommunikationsterminal in Carters Wohnung und rief das Diogenes-Programm auf. Mit diesem Wunderwerk der Elektronik, das Bryce sich an einem langweiligen Wochenende ausgedacht hatte, war es möglich, Gesichter zu erstellen. Und zwar viel lebensechter als die altertümlichen Phantombilder der Metro-Polizei. Mel hatte sich einigermaßen erholt und starrte Theora fasziniert über die Schulter. »Also, fangen wir an«, sagte sie. »Ich brauche einige typische Merkmale des Mannes. Er ist ein Weißer… wie alt?« »25, vielleicht 30.« Mel versuchte, sich das Aussehen von Raynas Entführern so deutlich wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. »Haar?« »Eine Punkfrisur.« »Kinn?« »Spitz.« Nach Mels Angaben erschuf Theora auf dem Bildschirm das Gesicht eines abgrundtief häßlichen Kerls. Immer wieder veränderte sie Kleinigkeiten, bis der junge Mann zufrieden nickte. »Okay, das reicht erst mal… jetzt der andere.« Als die Prozedur abgeschlossen war, ließ Theora die beiden Bilder ausdrucken und reichte sie Carter. Der musterte die
Computerfotos, die Breughal und Mahler beinahe lebensecht darstellten, mit Interesse. »Schöne Menschen erfreuen einen immer wieder!« »Wir brauchen noch Rayna und den Lieferwagen.« Die Controllerin machte sich wieder an die Arbeit. Sie ahnte nicht, daß Bryce sie mit Hilfe einer kleinen Koppelschaltung belauschte. Max sah vom großen Bildschirm im Labor des Jungen voll Unverständnis, wie der das Computer-Porträt Raynas betrachtete. Bryces Interesse für das andere Geschlecht wuchs offensichtlich von Stunde zu Stunde. Dank der Zweiwegtechnik hörte Bryce auch mit, wie Edison den armen Mel tröstete: »Nicht nervös werden. Wir finden Ihre Rayna. Theora, ich brauche auch von diesem Bild einen Ausdruck. Und dann geht’s an die Arbeit.«
4. Kapitel
Carter war mit Mel und Theora zum Sender gefahren, um seine Kamera zu holen. Er hatte die junge Frau in der Schaltzentrale abgesetzt. Carter fühlte sich bei seinen Einsätzen einfach wohler, wenn er Theora hinter sich wußte, mit ihr verbunden über die unsichtbaren Fäden des Satellitenfunks. Anschließend hatte er sich mit Mel auf den Weg in die Randbezirke gemacht. Mit der einen Hand hielt er seine kostbare Kamera, mit der anderen kramte er die Fotos der beiden Punker aus der Manteltasche. Er zeigte sie zwei Mädchen, die sich an einem Feuer in einem alten Ölfaß wärmten. »Habt ihr die beiden schon mal gesehen?« Obwohl das Feuer für ausreichend Helligkeit sorgte, warfen die Mädchen nicht einen Blick auf die Bilder. Sie schüttelten nur stumm die Köpfe. Carter wußte, daß man hier in den Randbezirken keinem Fremden traute. Wer auf diesem gigantischen Müllplatz einer vergangenen Zivilisation überleben wollte, achtete bestimmte Spielregeln, oder er war sehr schnell sehr tot. Theora meldete sich über den Kamerafunk: »Laß die Verbindung offen, Edison, dann kann ich euch folgen.« »Okay.« Carter lehnte sich an einen alten Lastwagen ohne Räder, der still vor sich hinrostete. »Das ist wie die Suche nach einem defekten Mikrochip in einem Computer.« Mel schüttelte verzweifelt den Kopf. »Hier suchen wir sowieso umsonst… der Lastwagen fuhr in Richtung Osten!« Theora hörte alles mit. Hastig gab sie dem großen Zentralrechner im 23er-Tower einen Befehl. Alle Controller-
Pulte hatten Zugang zu diesem Superrechner, der manchmal sogar das Unmögliche möglich machte. Nur Sekundenbruchteile nach dem »Search«-Kommando füllte eine verwirrend komplexe Grafik ihren Monitor. »Ich habe hier eine Satellitenkarte der Randbezirke… der Computer errechnet den möglichen Weg, den der Lastwagen nahm.« Carter blickte durch den Sucher seiner Kamera. Theora gab ihm die Karte auf den winzigen Monitor. Der Computer zog einen Strich darüber, der sich von ihrem Standort zum westlichen Rand der Innenstadt schlängelte. »Danke, Zentrale, ich habe die Karte.« Aber die nutzte im Moment herzlich wenig. Plötzlich trat ein großer, schlanker glatzköpfiger Schwarzer aus dem Inneren des Lasters. Rik. Edison kannte den geheimnisvollen Mann, der hier draußen in den Randbezirken eine Moped-Rikscha betrieb. Manchmal half Rik dem Reporter mit Informationen weiter, manchmal unterstützte er ihn sogar persönlich. Den Grund dafür hatte Carter nie herausgefunden. Jedenfalls war Rik mehr, als er zu sein vorgab. Er verfügte über wesentlich größere Macht in den Slums, als sie ein Rikscha-Fahrer haben sollte. Wieso, wußte Carter nicht. Er wußte nur, daß dieser Mann unberechenbar war. Und verdammt gefährlich sein konnte. Rik lugte über den Rand seiner dunkel getönten Nickelbrille, die er offenbar niemals absetzte, selbst jetzt nicht in der Nacht, wo man schon ohne Sonnenbrille wenig genug sah. »Du stehst auf meiner Veranda, Edison.« »Äh, tut mir leid… das wußte ich nicht!« Carter sah sich um. Wenigstens war Grace, Riks gewaltige Leibwächterin, nicht in der Nähe. »Schwer beschäftigt, Freund?«
»Ja. Ich suche jemanden.« »Dann brauchst du einen rollenden Untersatz.«
Bryce Lynch mochte Cheviot, den alten und neuen Vorstandsvorsitzenden von Sender 23. Irgendwie erinnerte er ihn an seinen Opa, den er nie richtig kennengelernt hatte. Aber der alte Mann konnte auch sehr energisch werden. Streng schaute er vom Hauptbildschirm im Labor des Jungen. »Also, Bryce… wie schwerwiegend ist das Problem mit Max?« Cheviot wußte, daß Bryce nichts mehr haßte, als Probleme zuzugeben. Er lächelte den Jungen mit aller Freundlichkeit an, zu der er fähig war. »Ganz unter uns, mein Junge… die ZikZak-Corporation ist außergewöhnlich interessiert an Max!« Knisternd erwachte der Nebenmonitor zum Leben, obwohl Bryce ihn nicht eingeschaltet hatte. Max Headroom erschien und zeigte sein schönstes Sonntagslächeln. »Interessiert an mi-mi-mi-mi-mir? Aheemmm! Warum auch nicht? Nicht?« Max wirkte sehr geschmeichelt. Je wohler er sich fühlte, desto mehr häuften sich seine Sprachfehler. Mittlerweile war Max nicht mehr der einzige, der Stottern und Jaulen attraktiv fand. Inzwischen imitierten viele Zuschauer im ganzen Land – natürlich vor allem Kinder – seine verrückte Art zu sprechen. »Ihr wollt mehr Zuschauer? Ich liebe Zuschauer!« Seine Stimme schwang sich bis fast in den Ultraschallbereich hinauf. Bryce fand das nur noch lästig. »Halt den Mund, Max.« Er schaltete den Nebenmonitor ab. Doch im nächsten Moment war Max wieder da. Schließlich hatte er seine Rede noch nicht beendet.
»Und ich meine nicht nur so ein einfaches Quizpublikum, sondern alle Menschen! Alle Naiven, alle In-in-inIntelligenten!« Bryce hackte wie ein Weltmeister auf seinem Keyboard herum. Cheviot sah vom Hauptbildschirm aus interessiert zu, wie das junge Genie, dem bis jetzt nichts unmöglich gewesen war, vergeblich versuchte, den Computer-Mann loszuwerden. »Schalte dich aus!« Aber Max hatte noch Lust zu spielen. Abwechselnd erschien er und gab den Bildschirm wieder frei. Offenbar bereitete ihm das ein höllisches Vergnügen. Endlich war er weg. Cheviot mußte sich zügeln, um nicht aus lauter Schadenfreude loszulachen. Er fand es gar nicht recht, daß ein Kind wie Bryce Lynch über so viel Macht verfügte. Geschah dem Knaben ganz recht, daß ihm jemand seine Grenzen aufzeigte. Der alte Mann zog genüßlich an seiner Pfeife und fragte scheinheilig: »Fällt es dir so schwer, Max zu kontrollieren?« »Es geht hier nicht nur um ein technisches Problem, Mr. Cheviot!« Bryce war es nicht gewohnt, daß andere, die intellektuell weit unter ihm standen, seine Fähigkeiten bezweifelten. »Max hat die gesamte Persönlichkeit Edison Carters übernommen. Fast die gesamte… seine Fähigkeit zur Selbstkontrolle leider nicht. Und unglücklicherweise will Max nicht mit mir kooperieren, sondern nur mit Edison!« Cheviot wurde hellhörig. »Heißt das… mit Carter würde er vernünftig reden?« »Ja, vielleicht.« »Sehr interessant.« Der Vorstandsvorsitzende unterbrach die Verbindung ins 13. Stockwerk. Wenn Ped Zing diesen elektronischen Esel unbedingt haben wollte, sollte er ihn bekommen. Kunden, die so pünktlich zahlten wie die ZikZakCorporation, erfüllte Ben Cheviot jeden Wunsch.
Im geheimen Operationssaal in Nightingales Organbank hatte Dr. Mason seine Tests beendet. Er strahlte Edie an. Bald würde ein weiterer dicker Batzen aus dem schier unerschöpflichen Plantagenet-Vermögen auf sein Nummernkonto in der Schweiz überwiesen werden. Mason mußte nur noch eine kleine Organentnahme vornehmen. »Sie paßt perfekt«, flüsterte er seiner Oberschwester und Vertrauten zu, so leise, als könne jemand mithören. »Wir brauchen sie nur noch in die Kältekammer runterzuschaffen und einzufrieren.« Edie sah den Arzt verwundert an, so als verstände sie nur »Bahnhof«. »Wir beeilen uns besser!« mahnte Mason. »Zwecklos.« Die Oberschwester hatte die Ruhe weg. »In der Kältekammer liegt schon ein anderer Körper.« Mason erstarrte. Organentnahmen aus einer gefrorenen Leiche? Das war sein täglich Brot. Aber aus einem lebenden Körper? Unmöglich. So etwas verstieß gegen den hippokratischen Eid! Das Schrillen des Vidifons riß Mason aus seinen düsteren Gedanken. Der Assistenzarzt hatte den Hörer abgenommen, aber als Mason Dr. Moon auf dem Bildschirm erkannte, riß er dem Mann den Hörer beinahe aus der Hand. »Geben Sie her!« Dr. Moon war Plantagenets Leibarzt und somit auch für die sterbende alte Frau zuständig, die dem Konzernboß einst das Leben geschenkt hatte. Moon war ein guter Chirurg, vielleicht der beste – und auf jeden Fall der korrupteste. Plantagenet lebte nach dem Grandsatz: »Es gibt nichts, was man nicht kaufen könnte.« Müßig, darüber zu diskutieren, ob der Mann recht hatte oder nicht. Dr. Moon jedenfalls war käuflich gewesen – und nun völlig in Plantagenets Hand. Die Nervosität stand ihm ins Gesicht geschrieben, denn die Mutter seines Herrn starb ihm unter den Händen weg, wenn er
nicht schnellstens ihre defekte Hypophyse ersetzte. Diese Hirnanhangdrüse, die oberhalb des Gaumens gut geschützt im Schädel saß, war nur erbsengroß. Und doch steuerte sie alle hormonellen Abläufe des Körpers. Versagte sie, war der Tod unvermeidlich. Aber Plantagenet war nicht gewillt, den Tod seiner Mutter hinzunehmen. Jedenfalls nicht bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ihr Bewußtsein elektronisch aufzeichnen konnte. Wenn der Körper der einzigen Frau, die dem Konzernchef etwas bedeutete, schon nicht zu retten war, sollte wenigstens ihr Geist, ihre Seele überleben. Im Computer, so wie Max Headroom. Und bis zu dem Zeitpunkt, an dem Formby endlich das MaxHeadroom-Programm besorgte, mußte Moon den verfallenden Körper irgendwie am Leben erhalten. Also: »Dr. Mason, wann beginnen Sie mit der Zerlegung des Körpers? Ich will sämtliche Organe auf Vorrat haben, falls außer der Hypophyse noch etwas ausfällt!« Der schmierige Leichenfledderer, für den Moon nicht die geringste Achtung verspürte, war sichtlich nervös. »Die Kältekammer ist gerade besetzt… wir werden uns noch ein wenig gedulden müssen. Eine Stunde… mindestens.« Moon glaubte, seinen Ohren nicht mehr trauen zu können. Was faselte der Ignorant da? »Hören Sie, Dr. Mason, ich brauche schnellstens die Hypophyse! Sie müssen das Mädchen schockgefrieren! Wenn Sie etwas falsch machen, enden wir als Ersatzteile in unserer eigenen Organbank!« Mason wischte sich den Schweiß von der Stirn. Moon war mindestens genauso nervös, aber er ließ sich wenigstens nichts anmerken. »Verzichten Sie auf den anderen Körper! Hauptsache, Sie können die Kältekammer benutzen, Mason!« Moon hängte den Hörer auf und unterbrach damit die Leitung.
Mason wählte die Nummer des Technikers, dem er vertrauen konnte, weil er ihn regelmäßig bezahlte. »Michaels!« »Mason hier! Ihr müßt auf der Stelle die Kältekammer räumen! Werft die andere Leiche weg… wir bringen jetzt das Mädchen zum Schockgefrieren runter.« »Wir legen sie im Schnellverfahren auf Eis, obwohl ihr Körper noch warm ist? Damit riskieren wir jede Menge Gewebeschäden!« »Daran läßt sich nichts ändern! Letzten Endes brauchen wir nur die Hypophyse, verstanden?« Oberschwester Edie deckte ein Laken über Raynas Körper und Gesicht. Uneingeweihte brauchten nicht zu sehen, daß das hier keine echte Leiche war. Mason hoffte, es möge Plantagenet endlich gelingen, seine Mutter in ein elektronisches Programm umzuwandeln. Denn falls gleich in der Kältekammer eins von Raynas Organen beschädigt würde und die Alte noch ein Ersatzteil brauchte, bevor sie digitalisiert werden konnte, müßte er Breughal und Mahler noch einmal auf die Jagd schicken. Allein der Gedanke an eine weitere Zusammenarbeit mit den gewissenlosen Killern machte dem Arzt Angst. Zur gleichen Zeit fuhren Carter und Mel durch die Randbezirke. Riks Rikscha war hier zwischen den Müllbergen gerade das richtige Fahrzeug. Allerdings hatte der Motor des Mopeds vor zwei Tagen den Geist aufgegeben, und Rik war es bisher noch nicht gelungen, die passenden Ersatzteile aufzutreiben. Also zog er die Rikscha selbst. Mit erstaunlichem Tempo trottete er durch das Gewimmel der Street People. Carter mußte unwillkürlich lachen. »Immerhin ist es ein rollender Untersatz.«
Theoras Stimme quäkte aus dem Kameralautsprecher: »Laß die Kamera eingeschaltet, Edison… ich speichere euren Weg!« Auf ihrem Kontrollmonitor sah sie Rik vor dem Objektiv hertraben, in jeder Hand eine der Rikscha-Zugstangen. »Was ist denn das?« Unwillkürlich mußte Theora lachen. Hoffentlich hatte Edisons seltsamer Freund nichts gehört! Vor einem alten Stacheldrahtverhau blieb Rik stehen. Carter und Mel kletterten aus dem einachsigen Karren. Der Reporter wollte losgehen, doch der Neger verstellte ihm den Weg. »Dein Freund kann mitkommen, aber die Kamera läßt du hier. Klar?« Carter seufzte. Rik nahm das kostbare Stück und legte es unter die Sitzbank der Rikscha. Er holte eine dicke Kette hervor, schob sie durch eine Öse an der Rikscha sowie den Haltegriff der Kamera und schloß sie mit einem Vorhängeschloß. »Hier ist sie sicher. Die Kette hält!« Carter nahm die Decke, die das Polster auf der Sitzbank ersetzte, und legte sie über das kostbare Stück. »Unter der Decke ist sie noch sicherer!« Im nächsten Moment wurde Theoras Kontrollmonitor dunkel. »Fantastisch! Ich schalte auf Satellit um!« Aber die junge Frau führte ein Selbstgespräch, denn ihr Reporter hörte sie nicht mehr. Ein schneller Befehl, und auf ihrem Monitor erschien die grafische Darstellung eines Teils der Randbezirke, so wie er aus dem Orbit aussah. Ein rotes Blinklicht signalisierte den Standort der Kamera. Wenigstens war sie noch aktiviert.
Carter und Mel folgten Rik über einen Haufen Unrat und Gerumpel. Schließlich gelangten sie zu einer aus Blechplatten
und Plastikfolie errichteten Behelfsunterkunft. Eine Frau Mitte 30, die auch schon wesentlich bessere Tage gesehen hatte, hockte apathisch auf einer leeren Computer-Kiste in der Ecke. »Ich bin’s, Rik«, sagte der Schwarze. »Hallo, Poncho… ist Reg da?« Müde schaute die Frau auf. »Hast du was für uns?« »Leider nur mein bezauberndes Lächeln.« Carter spürte, daß diese Frau Informationen sonst nur gegen Geld verkaufte. Aber offensichtlich wagte sie es nicht, etwas von Rik zu verlangen. »Reg ist nach Hause gegangen«, seufzte sie. Einmal mehr fragte sich Edison, welche geheimnisvolle Macht Rik über die Menschen hier draußen ausübte. Dies war eine der Fragen, die ihm sein unheimlicher Freund niemals beantwortet hatte. Auf dem Rückweg zur Rikscha bemerkte Carter: »Eine Frau, die Poncho heißt?« »Reg will nicht, daß Dominique etwas erfährt«, kam Riks lakonische Antwort. Also hatte dieser Reg, von dem der Neger sich offensichtlich Auskünfte über die beiden gesuchten Punker versprach, mindestens zwei Frauen. Und eine davon mußte sich mit einem Männernamen tarnen, damit die andere nichts von ihr erfuhr und ihr die Augen auskratzte. Reg mußte ein interessanter Mann sein. Carter freute sich jetzt schon darauf, seine Bekanntschaft zu machen. Der Anblick, der sich ihnen bot, als sie zur Rikscha zurückkamen, war dagegen alles andere als erfreulich. »Oh, verdammt!« fluchte Carter. »Die Kamera ist weg!« Im Wagenkasten lag nur noch die Sicherungskette, schön sauber durchtrennt mit einem Bolzenschneider. »Schade um die Decke!« Rik nahm die Sache offenbar nicht ernst.
Carter stand kurz vor einer Explosion. »Der Verlust einer Senderkamera wird bei Sender 23 mit Erhängen bestraft!« Der Schwarze hatte für den Reporter nur ein müdes Grinsen übrig. »Ich würde nicht so schrecklich übertreiben.«
Plantagenet lief in seinem Luxus-Penthouse auf und ab wie ein gefangener Tiger in einem viel zu kleinen Käfig. Seiner Mutter ging es so schlecht, daß sie nur noch dank Sauerstoffzelt und künstlicher Beatmung lebte. Dr. Moon stand scheinbar teilnahmslos bei den komplizierten Apparaturen, die die stündlich schwächer werdenden Körperfunktionen überwachten. Wie konnte dieser Kurpfuscher nur so ruhig bleiben? Hatte er vergessen, wieviel Geld er bekommen hatte? Plantagenet hatte heimlich sämtliche frei verfügbaren Anteile von Nightingales Organbank erworben und sie Moon überschrieben, ebenso alle Hypotheken, die auf Florence liefen. Sie war nur noch dem Namen nach die Inhaberin ihrer Organbank. Wahrscheinlich ahnte sie noch nicht einmal, daß jetzt in Wirklichkeit Dr. Moon die Fäden des lukrativen Geschäfts in der Hand hielt. Und das alles nur dank Plantagenets Großzügigkeit. Dafür konnte man schon ein wenig mehr Mitgefühl erwarten. Dr. Moon war durchaus nervös, wenn er sich auch bemühte, sich nichts anmerken zu lassen. »Immer noch keine Nachricht von Formby?« Und als Plantagenet schwieg: »Durch Schockgefrieren könnten wir den Körper erheblich beschädigen.« »Mir ist diese junge Frau vom Fluß vollkommen gleichgültig! Macht mit ihr, was ihr wollt!« Waren das erste Anzeichen von Wahnsinn, die da in Plantagenets Augen funkelten? Der Wirtschaftskapitän machte seinen Standpunkt unmißverständlich klar: »Aber wenn Mutter stirbt und wir
ihren Geist nicht retten können, weil uns das Max-HeadroomVerfahren nicht zur Verfügung steht, wird Ihre hübsche Organbank von Polizei nur so wimmeln. Und ich… ich vermute, Sie wollen nicht, daß die Polizei erfährt, was hier wirklich vor sich geht, oder?« Moon wußte, daß ein Wort an die Behörden über die Vorgänge hier unweigerlich seine Zulassung als Arzt kosten würde. Er wäre beruflich erledigt. »Ich… äh, rede mit Mason! Er muß dafür sorgen, daß keine weitere Verzögerung eintritt. Wir transplantieren die Hypophyse direkt.« Das bedeutete: Sie würden das Organ einem lebenden, noch warmen Körper entnehmen. Anschließend war Zeit genug, um das Mädchen sorgfältig einzufrieren, so daß auch ihre anderen Organe als Ersatzteile für Plantagenets Mutter zur Verfügung standen. Die alte Frau würde überleben – und wenn noch hundert junge Habenichtse für sie sterben müßten!
Im hintersten Hinterhof der Außenbezirke stand ein seltsames Gefährt. Der große, grellpinkfarbene, fensterlose Bus, dessen verrückte Lackierung durch außen angebrachte Neonleuchten erst richtig zur Geltung kam, war bestimmt noch nie einem Metro-Bullen aufgefallen. Denn so tief trauten sie sich nicht in das Niemandsland, wo hinter jeder Müllhalde der Tod lauern konnte. Der Mann, der vor dem Bus stand und sich mit einem höchstens 18jährigen Mädchen unterhielt, paßte in diese unwirkliche Umgebung. Er hatte die 50 längst überschritten, und doch war er aufgemacht wie ein zwölfjähriger JungPunker. Seine Kleidung war aus den unterschiedlichsten Stilelementen zusammengewürfelt. Die vorherrschende Farbe war Knallbunt. Zu dünnen Zierstreifen geschorene rotgefärbte
Haare zierten die Seiten seines Schädels, während sich von der Stirn über den Scheitel bis tief in den Nacken ein mächtiger wasserstoffsuperoxydblonder Irokesenschopf zog. Der Mann war schon dabeigewesen, als in der Mitte der 70er Jahre englische Jugendliche den Punk erfunden hatten. Er hatte Gruppen wie die Stranglers, die Sex Pistols oder die Ramones noch live erlebt. Und war im Gegensatz zu den anderen Punks seiner Generation niemals erwachsen geworden. Das Mädchen zeigte ihm die Kamera, die es aus Riks Rikscha gestohlen hatte. Aus dem Lautsprecher tönte Theora Jones’ verzweifelte Stimme: »Edison… Zentrale ruft Edison! Melde dich… verdammt! Edison!« Der Altpunker untersuchte das sündhaft teure Gerät genau. Schnell fand er den Ausschaltknopf. Theoras Stimme erstarb. »‘Ne echte Senderkamera«, staunte der Mann. »So’n Ding ist eigentlich ‘ne Nummer zu groß für dich, Paula.« »Quatsch nicht soviel, Reg! Was gibst du mir dafür? Du willst sie doch haben?« Reg nickte und schloß das kostbare Stück fest in die Arme. So ein Gerät hatte ihm gerade noch gefehlt. Er gab Paula zwei Videocassetten mit Aufzeichnungen seiner neusten Produktionen. Und weil er wußte, wie sehr er das Mädchen übervorteilte, und weil er im Grunde seines Herzens ein sentimentaler alter Narr war, legte er noch eine echte Kostbarkeit obendrauf. Doch Paula hatte nur unverständige Blicke dafür. »Was ist das?« fragte sie mißtrauisch. »Das ist ein Buch!« »Und was ist ein Buch?« Reg seufzte. »Ein nicht-löschbarer, nicht-elektronischer Wortspeicher! So was ist sehr selten… so was braucht man!«
Schnippisch gab Paula ihm das Buch zurück. »Das kannst du behalten!« Was sollte sie mit solchem Schrott, den man nicht einmal anhören konnte? Mit den tollen Videocassetten war sie vollauf zufrieden. Paula trollte sich. Zischend öffnete sich die pneumatische Bustür. »Mit wem redest du da, Reg?« »Hallo, Dominique!« Nach all den Jahren, die sie zusammen verbracht hatten, war Dominique immer noch so entzückend eifersüchtig. Reg genoß es, geliebt zu werden. Früher einmal war Dominique eine richtige Schönheit gewesen, um die sich die Fotografen gerissen hatten. Aber sie hatte auf eine Karriere als Model verzichtet, um mit ihrem Reg durch die Welt zigeunern zu können. Auch heute noch war die brünette Frau mit den verführerisch dunklen Augen eine aufregende Schönheit. Sie ging schon auf die Fünfzig zu, aber ihre Figur war immer noch richtig knackig. Doch es kostete sie täglich mehr Zeit, ihren Körper so in Form zu halten. Für Punk hatte Dominique nie viel übriggehabt. Sie gab sich gern als große Dame. Ganz schön verrückt, daß sie trotzdem bei Reg geblieben war. Na ja, er liebte sie eben. Auf seine Art war er ihr immer treu gewesen. Die anderen Mädchen, mit denen man sich so herrlich vergnügen konnte, hatten für ihn nie wirklich gezählt. Dominique machte große Augen, als sie Regs Neuerwerbung sah. Stolz schwenkte er die Kamera und kletterte in den Bus. Es wurde Zeit für die nächste Ansage.
5. Kapitel
Verzweifelt bearbeitete Theora ihre Computer-Tastatur. Nichts. Der Bildschirm vor ihr zeigte nicht einmal mehr das Positionssignal der Kamera. »Ich möchte wissen, warum er das Ding abgeschaltet hat«, murmelte sie. Laut rief sie in ihr Mikrofon: »Melde dich, Edison! Wo steckst du?« Als wieder keine Antwort kam, aktivierte sie den Auto-Ruf: »Edison Carter in der Zentrale melden!« Ab sofort würde die Computerstimme alle sechzig Sekunden nach Carter rufen. Solange die Notstromversorgung seiner Kamera nicht defekt war, mußte er den Ruf hören, auch wenn er das Gerät ausgeschaltet hatte. Murray, den Theoras Anruf aus dem Bett geholt hatte, sah der Controllerin über die Schulter. »Was ist… gibt’s Schwierigkeiten mit Edison?« »Seine Kamera versagt.« »Ouuuhh!« Murray verbarg seine Stirn in der Hand. »Ich bekomme nicht mal eine Audio-Verbindung zustande… hoffentlich nur ein technisches Problem.« »Wir haben schon ein Problem!« Murray sah gottergeben an die Decke, aber die konnte ihm auch nicht helfen. »Ich sprach gerade mit Cheviot. Man braucht Max für eine große Werbekampagne. Bryce sagt, er wird nicht mitmachen. Cheviot ist sehr wütend!« Theora nickte. »Ich wette, Max hat verkündet, daß er alles mit Edison besprechen will!« Murray senkte bejahend den Kopf. »Und Edison ist verschwunden.«
»Jjja.« »Einfach toll! Weißt du… der Beruf des Chefredakteurs ist auch nicht mehr das, was er mal war.« Wie ein Häufchen Elend ging Murray hinüber zu seinem Büro, um sich einen starken schwarzen Kaffee zu genehmigen. Wenigstens das war noch genauso wie früher: Jedem Chefredakteur stand Kaffee in unbegrenzter Menge zur Verfügung. Bei so einem Job brauchte man den auch.
Plantagenet setzte das ganze Räderwerk seines Machtapparats in Bewegung. Er ließ Dr. Moon in der Organbank anrufen. Zum Glück erwischte der Arzt seinen Kollegen Mason noch, bevor der sich mit dem Mädchen auf den Weg zur Kältekammer gemacht hatte. »Transplantieren Sie!« befahl Moon über Vidifon. Mason rang sichtlich um seine Fassung. »Ich soll direkt transplantieren? Aber die Frau lebt doch noch!« Den Einwand hörte Moon schon nicht mehr. Er hatte das Gespräch beendet. Sein Assistenzarzt machte Mason klar, wer hier wirklich das Sagen hatte. »Sie müssen Mr. Plantagenets Wünsche unbedingt erfüllen!« Mason wußte, daß er keine andere Wahl hatte. Mit zitternden Fingern hob er das Laken vom Gesicht der bewußtlosen Frau. Der Tod in der Kältekammer würde ihr erspart bleiben. Statt dessen stand ihr der Tod auf dem Operationstisch bevor. Julia Formby war allein im großen Konferenzsaal im 148. Stock des 23er-Towers. Nervös telefonierte sie über Cheviots Anschluß, weil der wirklich abhörsicher war. Die Leitung verband sie mit Plantagenet, und von ihrer Beziehung zu diesem Mann – vor allem für den Grund dafür – durften die anderen Vorstandsmitglieder keinesfalls etwas erfahren. Dabei
konnten sie jeden Moment in den Saal kommen, denn Cheviot hatte sie zu einer Sondersitzung herbeordert. »Formby, die Zeit wird knapp«, drängte Plantagenet. »Ich will, daß bei Mutter der Max-Headroom-Regenerationsprozeß angewandt wird!« »Ich arbeite so schnell, wie ich kann.« Formby holte tief Luft. »Hören Sie zu, Plantagenet! Unser größter Kunde verlangt, daß wir ihm Max mit all seinen Möglichkeiten zur Verfügung stellen. Ich darf jetzt nichts Unüberlegtes unternehmen. Ich muß vorsichtig sein und noch abwarten!« »Unmöglich! Ich brauche das Programm auf der Stelle… für Mutter!« »Nein! Ich kann nicht riskieren, daß man die Sache entdeckt! Also bitte… bitte, ich muß noch etwas mehr Zeit haben.« Formby war den Tränen nahe, als sie den Hörer auflegte. Doch sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle, als die anderen Vorstandsmitglieder in den Saal kamen und an dem langen Tisch Platz nahmen. Sie lächelte jedem zu. Cheviot ließ das laufende Programm auf den Wandbildschirm schalten. Er hatte es geschafft, Max zu einer Mitarbeit bei der ZikZak-Werbung zu überreden. Den ersten Auftritt ihres elektronischen Moderators als Werbeonkel durften sich die Direktorinnen und Direktoren keinesfalls entgehen lassen. Max strahlte nur so vom Bildschirm. Zu diesem ehrlichen Lächeln würde jede Hausfrau sofort Zutrauen fassen. »Ja, ja, ZikZak… die G-G-G-G-Gesellschaft, die Ihnen hilft, Ihr Geld auf nette Art und Weise loszuwerden!« tönte der Computermann. »Und hier ist etwas für den Gentleman, der nich-nich-nich-nichts besitzt! Warum kaufen Sie nicht die ZikZak-Tragetasche? Wenn Sie diese Tasche tragen, sehen Sie garantiert aus, als ob Sie alles
besitzen! Ver-ver-ver-versuchen Sie es doch einmal. Es lohnt sich garantiert!« Die Vorstandsmitglieder starrten gebannt auf den großen Monitor, der ein zweigeteiltes Bild zeigte: In der oberen rechten Ecke war der munter weiterplappernde Max eingeblendet, den Rest des Schirms füllte die Grafik der aktuellen Sehbeteiligung. Die Kurve stieg steil an. Miß McFinch setzte ihr Glas mit japanischem Zik-ZakMineralwasser (»der Sake unter den Tafelwässern«) ab. »Sehen Sie sich doch die Einschaltquoten an!« Max bot seinen ganzen Charme auf: »Jaaa, ZikZik-ZikZikZak hat für jeden das richtige Produkt! Auch für die Unglücklichen mit Ha-ha-ha-haarproblemen. Benutzen Sie das ZikZak-Haarwasser. Wasser. Sie werden von der Wi-wiwi-wirkung überrascht sein!« Ashwell stand auf. Diesmal würde ihm der Kriecher Edwards nicht zuvorkommen. Er ging zu Cheviots Platz, beugte sich zu dem Vorstandsvorsitzenden hinab und grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Eine kluge Entscheidung, Ben. ZikZak wird zufrieden sein. Sie haben uns unseren Hauptkunden erhalten!« Ashwells Grinsen gefror zu einer Grimasse, als Cheviot sich eine Pfeife ins Gesicht steckte und ungerührt verkündete: »Es war nicht meine Entscheidung. Max ist einfach aufgetaucht. Er ist unberechenbar. Ich muß mit Bryce reden.« »Ja, und ich werde mitkommen«, stellte Formby fest. »Sollte ich nicht auch…« Ashwell versuchte, die Frau nicht zu beachten, doch sie fiel ihm ungerührt ins Wort. »Sie kommen nicht mit, Ashwell!« Keine fünf Minuten später standen die beiden Direktoren in Bryces Labor. Max machte weiter seine Späßchen, doch nur der Junge schien sich wirklich über das zu amüsieren, was da auf seinen sämtlichen Bildschirmen lief.
»Hal-hal-hal-hal-lo, willkommen! Ich begrüße Sie wieder beim Sender Dreiundzwanzig. Zwanzig.« Max legte seine Stirn in Kummerfalten und senkte seine Stimme bis tief in den Keller. »Hören Sie, vergessen Sie den ganzen Quatsch über ZikZikZikZak-Hamburger-Packungen. Greifen Sie nicht nach Ihrem alten Lederportemonnaie… denn genauso schschmecken die Dinger.« Bryce kicherte amüsiert, aber Cheviot wäre beinahe die Pfeife aus dem Mund gefallen. Formby sah nur noch entsetzt aus. Max war nicht mehr zu bremsen: »Jetzt mal ganz im Ernst. Haben Sie je überlegt, warum ZikZak-Burger in Plastik verpackt werden? Ganz einfach. Ganz einfach. Ein bißchen von dem Plastik löst sich auf und verdoppelt so den Nährwert der Fleischdinger.« »Oh, mein Gott!« Cheviot fühlte sich, als würde ihm jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. »Bryce! Wenn du den verrückten Kerl nicht kontrollieren kannst, dann schalte ihn ab! Sorge dafür, daß er vom Sender verschwindet!« Bryce seufzte und aktivierte seine Computer-Konsole. »Ich hatte Sie ja gewarnt.« »Und no-no-no-noch etwas…«, kicherte es vom Bildschirm. »Diese ZikZak-Leute, die handeln doch mit allem! Von solchen geldgierigen Typen kann man nichts Gutes erwarten. Ich wa-wa-wa-warne Sie! Lassen Sie sich nicht mit der ZiZiZikZak-Corporation ein… sonst nimmt es ein schlimmes Ende mit Ihnen! Ich habe einen b-b-besseren Vorschlag für Sie. Sehen Sie sich ein bißchen was im Fernsehen an. Das ist das Ri-ri-rich-tige!« Bryce gab ein paar Daten ein, wandte sich aber schnell wieder vom Computer ab. »Wenn Max nicht will, kann ich ihn nicht abschalten. Er reaktiviert sich selbständig. Er hält
das Ganze für ein Quiz. Für ihn ist die ganze Welt nur Fernsehen. Er kennt nichts anderes.« Formby kochte. »Schalte den Strom ab! Nimm den Computer auseinander! Dreh jede Sicherung in diesem Gebäude raus… aber schalte ihn ab!« Bryce ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ist Ihnen klar, daß das bedeuten würde, Sender 23 auszulöschen? Das gesamte System besteht aus einem Netzwerk logisch aufeinander abgestimmter Computerprogramme. Kommunikation, Satellitenübertragung, Personalplanung, Logistik, Gesamtkontrolle, Ventilation, Sicherheitssysteme, Finanzplanung… einfach alles.« Max hörte vom Bildschirm aus interessiert zu. Cheviot und Formby hingegen hatten Schwierigkeiten, die in ihnen aufkeimende Panik zu bekämpfen. »Wenn wir den Strom abschalten, existiert Sender 23 nicht mehr! Vielleicht gäbe es eine Interimslösung…« Bryce dachte kurz nach. »Man müßte den Sicherheitscode knacken. Dann könnte es mir unter Umständen gelingen, an Max’ Hauptdatei heranzukommen. Er würde nur noch als Nebenprogramm existieren… scheint einfach zu sein!« Langsam verlor Cheviot seinen Glauben an die Menschheit. »Wenn das einfach sein soll, Bryce… möchte ich nicht wissen, was kompliziert ist.« Er tauschte einen kurzen Blick mit Formby. »Auf jeden Fall würden wir Zeit gewinnen, und Carter könnte mit Max reden. Fang an!« »Ich werde die gesamte Software übernehmen«, verkündete Formby. »Bei mir ist sie sicher!« Bryce war irritiert. Was sollte das denn? »Ich glaube, bei Bryce ist sie ebenso sicher«, stellte Cheviot fest. Der Junge nickte zufrieden. Max war sein Werk, Formby hatte kein Recht auf das Programm!
Er machte sich sofort an die Arbeit, als die beiden Direktoren sein Labor verließen. Es war noch nicht sicher, ob er Max wirklich bändigen konnte. Der Computer-Mann jedenfalls schien sich keine Sorgen zu machen. Er setzte sein ganz spezielles Werbeprogramm fröhlich, fort. »ZikZaks automatischer Spe-spe-speckstreifenstrecker ist das Richtige für Sie! Nicht länger werden Sie sich über gewellte Speckstreifen in der Pfanne ärgern! Speck-speckspeck-speckbraten wird wieder eine Freude!«
Dr. Mason überwachte die beiden Sanitäter der PlantagenetHealth-Service-Company beim Verladen der bewußtlosen jungen Frau in einen Krankenwagen. Die beiden verstanden ihr Handwerk. Der Arzt warf einen letzten Blick auf die unfreiwillige Organspenderin. Er hoffte, sie würde nicht leiden müssen. Es war wirklich jammerschade um diesen schönen jungen Körper. Doch ein Mediziner konnte sich keine Sentimentalität leisten, wenn es darum ging, Leben zu retten. Vor allem nicht, wenn das Leben der Mutter des vielleicht reichsten Mannes der Welt auf dem Spiel stand. Rik trabte mit seinem Wagen immer tiefer in die Randbezirke hinein. Die Lauferei schien ihn nicht sonderlich anzustrengen, denn er plauderte munter drauflos. »Blank Reg ist der Richtige für euch. Wenn einer die Typen kennt, die ihr sucht, dann er. Sicher weiß er einiges über sie.« Vor einem schäbigen Hinterhof blieb Rik stehen. »So, das wär’s. Hier ist Endstation. Er erwartet euch.« »Und wo?« Der Schwarze deutete auf den pinkfarbenen Bus mit der Neonbeleuchtung. »Ähh… was schulde ich dir, Rik?« wollte Carter wissen.
»Sei nett zu Pferden.« Der Rikscha-Mann trabte davon und war im Nu in der Dunkelheit verschwunden. »Sehr witzig.« Bei Rik war sich Carter nie ganz sicher, wie er reagieren sollte. Jetzt sah er sich den seltsamen Bus etwas genauer an. Sofort fielen ihm die Antennen auf dem Dach ins Auge. »Ein Piratenfernsehsender. Wie wohl das Programm ist?« Das, was Reg über den Äther brachte, war gar nicht so übel. In der Hauptsache sendete sein Zweipersonenbetrieb alte Musikvideos aus den 70er und 80er Jahren. Reg war Programmdirektor, Techniker und Moderator in einer Person. Dominique kümmerte sich um Buchhaltung und Finanzen. Gerade ging ein Video des fetten Transvestiten Divine über den Sender. Reg löffelte kalte Bohnensuppe aus einer Konservendose. Er seufzte. Von dem dicken Superstar war auch schon längst kein Knochen mehr beieinander! Reg stellte die Dose weg und aktivierte die fest installierte Kamera, als die letzten Takte des Songs verklangen. »Willkommen bei Big Time Television! Wir senden rund um die Uhr und lassen das Heute wie gestern aussehen! Ich habe euch mal gesagt, es gibt keine Zukunft. Tja… so isses! Und nun wieder etwas scharfe Musik!« Der Altpunker startete die nächste Cassette mit nostalgischen Videos, schaltete die Kamera ab und lehnte sich auf seinem billigen Klappstuhl zurück. Dieser Sender war sein Leben. Die Ausgestoßenen hier in den Randbezirken zogen sich die alten Videos gern rein. Hier draußen war Reg ein echter Star. Er sah zu seiner Lebensgefährtin hinüber, die sich schon wieder eine Zigarette auf die unendlich lange Spitze steckte, mit der sie das Kraut qualmte. »Hey, Dominique, du rauchst viel zu viel!«
»Reg, wir sollten nicht über persönliche Dinge reden. Wenn du nachts deine Jeans nicht an den Boden nagelst, würden sie weglaufen!« Der Altpunker grinste. Das Mäuschen hatte doch immer wieder einen kessen Spruch auf den schnuckeligen Lippen! Draußen bewachte ein mächtiger Hund die Eingangstür des Busses. Carter und Mel näherten sich dem böse knurrenden Biest mit sehr gemischten Gefühlen. »Ist ja gut… ganz ruhig. Ruhig.« Vorsichtig drückte der Reporter den Klingelknopf neben der Tür. Reg war überrascht, als der Summer ertönte. Besuch – um diese Zeit? Er stand auf und ging nach vorn zur Tür. Der Bus war zweigeteilt, das Fernsehstudio lag im hinteren Abteil. Reg gab Dominique ein Zeichen, leise zu sein. Vor der Tür standen zwei Gestalten. Den jungen Mann in der typischen abgerissenen Kluft der Randbezirke kannte Reg nicht. Wohl aber den anderen – Edison Carter! Obwohl er Regs Sohn sein könnte, war Carter für den Fernsehpiraten immer so eine Art Vorbild gewesen. »Hallo! Hallo, Freunde! Kümmert euch nicht um meinen alten Wolf… der beißt nicht! Hat sein Gebiß verloren!« Mißtrauisch musterte Carter den immer noch knurrenden Hund. »Wolf…?« »Ja, der Hund heißt Wolf. Stört euch das?« Reg führte die beiden gleich nach hinten in sein Studio, denn ihm war klar, daß der berühmte Reporter längst wußte, was sich hier in dem Bus befand. Als Dominique die Gäste kommen sah, griff sie schnell zu einem Staubwedel, um wenigstens ihre Schreibmaschine ein wenig zu reinigen. Es sah aber auch wirklich zu chaotisch aus im Bus. »Das ist meine Gefährtin Dominique… sie ist hier der Boß! Und ich bin Blank Reg.«
Dominique setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. »Entschuldigen Sie die Unordnung.« Aber daran war Carter nicht im geringsten interessiert. Er kam gleich zur Sache und drückte Reg die beiden Fotos in die Hand, die Theora mit dem Computer erstellt hatte. »Rik sagt, Sie kennen hier alle in der Gegend.« »Oh, ja.« Reg genügte ein kurzer Blick. »Breughal und Mahler… böse Jungs! Die sollte man in Ketten legen. Die sind in eine scheußliche Sache verwickelt. Ich glaube, ich weiß, worum es geht.« Mel starrte den Altpunker voller Angst an. Hatte Rayna überhaupt noch eine Chance? Reg gab seiner Freundin einen kurzen Wink: »Dom, ich brauch’ den Gegenstand, den Paula gebracht hat.« »Sofort.« Der »Boß« stand auf und holte artig Carters Senderkamera. Reg drückte sie dem Reporter in die Hand. Der konnte sein Glück kaum fassen. Er aktivierte das Gerät und hörte im nächsten Moment die Suchmeldung: »Edison Carter, bitte in der Zentrale melden!« Reg sah Carter fest an. »Ich sollte dir die Chance geben, die Kamera zurückzukaufen… wenn du verstehst, was ich meine.« »Sicher.« Reg fürchtete sich nicht vor der Metro-Polizei, wohl aber vor den Schlägertrupps, die die lizensierten Sender ihren illegalen Konkurrenten auf den Hals schickten. Carter würde den Standort von Big Time Television nicht ausplaudern. »Zentrale, hier ist Edison. Hört ihr mich?« »Edison, endlich!« Theoras Stimme klang merklich erleichtert. »Bleib bitte dran, Mr. Cheviot will dich sprechen.« »Cheviot?« Carter hörte, wie Theora die Verbindung herstellte. »Sprechen Sie, Mr. Cheviot!«
Im nächsten Moment übertrug der Kameralautsprecher die Stimme des Vorstandsvorsitzenden: »Carter? Das wurde ja Zeit! Wir haben ziemliche Schwierigkeiten mit Ihrem anderen Ich, Max Headroom. Wir können seine Eskapaden nicht mehr kontrollieren! Bryce hat mir erklärt, Max habe eine eigene Persönlichkeit. Er ist weit mehr als nur ein Programm. Nur Sie können mit ihm reden und ihn überzeugen, mit ihm zu kooperieren. Kommen Sie sofort zum Sender zurück!« Carter holte tief Luft. »Ich glaube, das Leben einer jungen Frau ist in größter Gefahr. Ich kann hier nicht einfach alles stehen- und liegenlassen, um mit Max zu reden, Mr. Cheviot. Lassen Sie sich bitte etwas anderes einfallen!« »Ich lasse mir nichts anderes einfallen!« tobte Cheviot aus dem Lautsprecher. Dominique bewunderte den Mut, mit dem Carter seinem obersten Chef widersprach. Sie bot ihm ein Glas vom besten billigen Rotwein an, den sie im Bus hatte. Aber Carter schüttelte in stummer Ablehnung den Kopf. »Ich lasse Ihren elektronischen Doppelgänger abschalten, bis Sie ihm Verantwortungsbewußtsein beigebracht haben!«, tönte Cheviot weiter. »Er glaubt, unser Sender sei eine Art Spielzeug für ihn. Es geht nicht anders, Sie müssen zurückkommen und ihn zur Vernunft bringen. Sobald Sie im Haus sind, melden Sie sich bei mir!« Cheviot schaltete ab. Für ihn gab es keinen Zweifel daran, daß man seinen Befehlen Folge leistete. Doch bei Carter sollte er auf Granit beißen.
6. Kapitel
Die Caligula-Bar war der Treffpunkt all derer, die unter den Ausgeflippten als wirklich ausgeflippt galten. Hier kamen die skurrilsten Typen zusammen, die in den Randbezirken zu finden waren. Sie zahlten gern die überteuerten Getränkepreise, denn das Caligula unterhielt seine Gäste mit einer scharfen Bühnenshow. Als Carter, Mel und Reg die Bar betraten, begann gerade Sheilas Tanzshow. Eine wirklich schweinische Sache, denn der Partner der grazilen Tänzerin war Porky, der fette Eber. Reg wußte, daß die Caligula-Bar das Stammlokal von Breughal und Mahler war. Tatsächlich entdeckte Carter die beiden an der Theke. Augenblicklich verschwand Mel im Gewimmel der Gäste. Hoffentlich machte der Junge keine Schwierigkeiten! Es war abgesprochen, die Lage erst einmal zu sondieren. Carter und Reg setzten sich an einen der wenigen freien Tische und bestellten ein Bier. »Was sagt denn das Gesetz zu so etwas?« fragte Carter und deutete auf die beiden Organsammler, die keine Ahnung hatten, daß sie beobachtet wurden. »Illegale Organbanken wurden doch auch schon früher ausgehoben.« »Das Gesetz… in den Randbezirken?« Reg schnaufte verächtlich. »Die Gerechtigkeit wird vom Bargeld geregelt, mein Junge!« »Und wie hoch ist zur Zeit der Preis für Gerechtigkeit?« »Ruf bei der Börse an!« Reg amüsierte sich königlich über seinen Witz. »Vielleicht sollten wir uns mal mit Mr. Breughal und Mr. Mahler unterhalten.«
Reg nickte. Er trank sein Glas aus und stand auf. Carter folgte ihm. Er entdeckte Mel, der am anderen Ende der Bar stand und die beiden Aasgeier nicht aus den Augen ließ. Die beiden so unterschiedlichen Fernsehleute bauten sich hinter den Kerlen auf. Carter legte Breughal die Hand leicht auf die Schulter. »Mr. Breughal?« Die Punker drehten sich um. Automatisch wickelte Mahler die schwere Kette um seine Faust, aber Reg versperrte ihm den Weg zu Carter. Da entdeckte er Mel. Mit einem Mal wußte er, was hier lief. Mahler griff an. Reg hatte in seinem langen Leben jede Menge Kämpfe ausgefochten und überlebt. Er rammte Mahler die harte Vorderkante seines Schädels gegen die Stirn. Doch das Muskelpaket war wirklich zu dumm, um den Schmerz zu spüren. Mahler wischte Reg wie ein lästiges Insekt beiseite. Breughal sprang vor, um Mel endgültig zu erledigen. Aber er hatte nicht mit Carter gerechnet. Ein gekonnter Judogriff, und der Organsammler lag nach Luft schnappend am Boden. Die übrigen Gäste der Bar sahen interessiert zu, wie Mahler sich rammbockgleich durch die Menschen vor der Bar schob, um Mel zu fassen zu kriegen. Doch jetzt war Reg wieder auf den Beinen, und zusammen mit dem Jungen und einigen anderen Gästen, die es auch nicht mochten, wenn man ihnen auf die Füße trat, gelang es ihm, den tobenden Koloß gegen die Bar zu drücken. Carter hob Breughal hoch. Er drückte ihn mit dem Genick gegen die Kante der Theke. Ein kurzer Ruck hätte genügt, um die Halswirbel des Mörders brechen zu lassen. Als Mahler sah, wie Breughal jeden Widerstand aufgab, wurde auch er ruhig. »Ich möchte mit Ihnen über Geschäfte reden«, keuchte Carter. »Sind wir uns einig?«
»Geschäfte jeder Art… sind unser Geschäft… Sir!« preßte Breughal zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Carter lockerte seinen Griff. Von der Bühne grunzte Porky, der Eber, seine Zustimmung. Offenbar hatte ihm die kleine Einlage da unten auf dem Parkett gefallen.
Bryce war ziemlich verwundert, als Miß Formby ihn allein aufsuchte. Weshalb trug sie diese große dunkle Brille? Sollte die etwa verbergen, daß sie geweint hatte? Die sonst so kühl-beherrschte Direktorin war ungewöhnlich nervös. »Wo befindet sich das Regenerationsprogramm?« fragte sie drängend. »In einem Datenfile des Systems…auf jeden Fall ist es nicht hier.« Bryce ließ sich durch nichts und niemanden aus seiner Ruhe bringen. Formby atmete heftig. »Komm bitte mit!« Als Bryce sich nicht rührte, zerrte sie ihn hoch. »Komm schon!« Die Frau schluchzte tatsächlich! Der Bildschirm vor Bryces Arbeitsplatz flackerte kurz, dann erschien Max Headrooms Kopf. Der Computermann sprach mehr zu sich selbst: »Wo gehen die beiden denn hin?« Blitzschnell hatte er überprüft, für welche Strecke Formby den Hubschrauber der Geschäftsleitung geordert hatte. »Nach Santuoy Condo? Was will den Formby mit dem Jungen da?« Max wußte, daß Santuoy Condo der Stadtteil der Reichen und der Superreichen war, bewacht wie eine Festung. Da niemand mit ihm sprach, rief er Bryce, der schon in der Tür stand, nach: »Dann muß ich mich wohl selbst ausschalten. Das ist sicherer.« »Wiedersehen!« rief der Junge, der noch nach seiner Jacke griff. Ungeduldig zerrte Formby an seinem Arm. »Komm schon!«
Als die beiden hinausgingen, stellte Max fest: »Das erfordert schon meine Berufsehre.« Er wirbelte über den Schirm, Datenlisten blendeten sich über sein Bild. »Irgend etwas stimmt nicht… nicht.« »Warum versteckst du dich in der Gehaltsliste?« rief Bryce, der die Daten gleich erkannt hatte, von der Tür. Aber Formby zerrte ihn gnadenlos nach draußen. Die Tür fiel zu. Auch für Max, der samt Datenliste vom Bildschirm verschwand.
Die Stimmung in der Caligula-Bar hatte sich wieder beruhigt. Carter saß mit Breughal und Mahler an einem Tisch. Er blätterte einige Geldscheine neben Breughals Bierglas. »Ich möchte gerne eine Leiche werden.« »Diesen Wunsch können wir Ihnen leicht erfüllen«, tönte Breughal. Mahler rülpste. »Und ich möchte an einen bestimmten Ort… geliefert werden.« Carter verdoppelte die Scheine auf dem Tisch. »Friedhof?« Breughal griff gierig zu, doch Carter hielt seine Hand unerbittlich fest. »Heute habt ihr eine junge Frau irgendwo hingebracht…« Der Reporter sah Mahler, der ihm gegenübersaß, direkt in die Augen. »Da will ich auch hingebracht werden.« Breughal lehnte sich grinsend vor, bis sein Kopf fast Carters Ohr berührte. »Wie romantisch.« Mit der Linken hob er Carters Hand, die seine Rechte immer noch auf die Tischplatte drückte, hoch. Er steckte die Geldscheine ein. »Es wird uns ein Vergnügen sein.«
Cheviot fühlte sich überhaupt nicht vergnügt. Er stand in seinem abgedunkelten Büro im 210. Stock des 23er-Towers
und telefonierte mit dem Zentralsekretariat. »Hat sich Carter zurückgemeldet?« »Nein, Sir«, kam die Antwort. »Also gut, geben Sie mir Formby.« »Miß Formby hat das Haus verlassen.« »Sie ist weggegangen?« »Ja. Und sie hat auch keine Nummer hinterlassen, unter der sie zu erreichen wäre.« »Im Klartext… Sie haben keine Ahnung, wo Formby steckt!« Wütend knallte Cheviot den Hörer hin. Ließen ihn denn heute alle im Stich?
Der Van der Organsammler hielt zum zweiten Mal in dieser Nacht vor dem Hintereingang von Nightingales Organbank. Breughal deckte Carter, der grinsend auf einer Bahre lag, mit einem Leichentuch zu. »Ruhen Sie in Frieden, Mr. Carter…aber nicht zu lange!« Der Killer hatte ja Humor! Mahler schob die Bahre durch die dunklen Flure. Im geheimen Operationssaal waren nur noch Dr. Mason und sein von Plantagenet bestellter Assistenzarzt. Die beiden besprachen die Liste der Organe, die sie für ihren Eigenbedarf beschaffen und einfrieren wollten. Mason war überrascht, seine Lieferanten schon wieder zu sehen. »Ein Geschenk für Sie, Dr. Mason. Viel Spaß«, grinste Breughal. Der Arzt hob das Tuch von der »Leiche«. Carter sprang von der Bahre, packte den massigen Mann am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. Mason war viel zu überrascht, um sich zu wehren. »Machen Sie keine Schwierigkeiten! Wo ist die junge Frau, die die beiden heute hergebracht haben?«
Keiner hatte auf den Assistenzarzt geachtet, der zu einem Medizinschrank gelaufen war und eine gefüllte Spritze herausgenommen hatte. Ein Fehler, denn bevor Mason auch nur den Mund aufmachen konnte, rammte ihm sein Kollege die Spritze in die Seite und drückte den Kolben bis zum Anschlag durch. Das hochwirksame Nervengift verrichtete sein Werk in Bruchteilen einer Sekunde. Leblos sank Mason zu Boden. Breughal und Mahler packten den schmächtigen Mann und drückten ihn gegen die Wand. Carter baute sich drohend vor dem Arzt, der zum Mörder geworden war, auf. »Er wollte Mutter verraten«, stammelte der Doktor. »Wer ist Mutter? Rede!« verlangte Carter. Doch der Arzt biß die Zähne zusammen. Es gab ein knackendes Geräusch. Der Mann verdrehte die Augen und sackte haltlos zusammen. Aus seinem Mund quoll grüner, beißender Rauch. Er hatte tatsächlich eine Selbstmordkapsel zerbissen! Mason und sein Assistent waren Carters einzige brauchbare Spur gewesen. Nur diese beiden hätten ihn zu Rayna führen können. Die beiden Aasgeier dagegen schienen die Situation zu genießen. »Jünger Äskulaps, heile dich selbst!« höhnte Breughal. »Das kann er nicht mehr!« Mahler wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Carter ahnte nicht, daß jene geheimnisvolle »Mutter« gerade zur Operation vorbereitet wurde. Sie und Rayna, die bewußtlos auf einem Tisch neben ihrem Sauerstoffzelt lag. Dr. Moon würde ihre Hypophyse transplantieren, sobald Plantagenet ihm das Zeichen dazu gab. Doch der Wirtschaftsmagnat zögerte. Sollte bei der Operation etwas danebengehen, war der Geist seiner Mutter
nur zu retten, wenn das Max-Headroom-Programm zur Verfügung stand. Nervös sah er auf seine Uhr. »Wo bleibt Formby?«
Carter war in die Nachrichtenzentrale von Sender 23 zurückgekehrt. Er hatte Mel mitgenommen. Der Chefredakteur sah seinen besten Mann entgeistert an, als der vorschlug: »Wir gehen damit einfach auf Sendung, Murray.« »Das wäre Wahnsinn! Wir wissen ja nicht einmal, wer hinter dem Projekt steckt.« »He, Murray!« Einer der Redakteure winkte ihn zu seinem Monitor. »Was ist?« Ausnahmsweise stand Theora auf der Seite ihres Chefs. »Murray hat recht.« Carter zuckte mit den Schultern. Er sah, wie Murray sich zu dem Monitor des Redakteurs hinunterbeugte und unwillkürlich versteifte. Cheviot war in der Leitung. »Geben Sie mir Carter! Sofort!« verlangte der Chef des Senders. Murray wirkte beinahe hilflos, als er sagte: »Edison, Mr. Cheviot möchte dich sprechen.« »Was denn? Jetzt?« Der Reporter klang reichlich aggressiv. Die Zeit lief ihm davon. Murray versuchte, ihn zu beschwichtigen. Der Boß hatte ziemlich sauer geklungen. »Ja?« Carter setzte sich vor das Vidifon. »Das wurde auch langsam Zeit, Mr. Carter!« Cheviot konnte ganz schön ungnädig klingen, wenn er wollte. »Ich möchte gleich eins klarstellen: Wenn Sie nicht mit Max reden, lassen wir Ihre Sendung sterben und löschen außerdem Ihren Arbeitserlaubniscode. Das würde Sie auf der Stelle daran hindern, die Möglichkeiten und Hilfsmittel des Senders 23 für
Ihre Privatzwecke zu benutzen. Ich gestatte es nicht einmal Ihnen, Mr. Carter, meine Anweisungen zu mißachten.« Der Reporter blieb äußerlich ganz ruhig. Murray und Theora aber kannten ihn gut genug, um zu wissen, daß er kurz vor einer Explosion stand. Eine Sache, die Carter als richtig erkannt hatte, führte er durch – wenn nötig gegen den Widerstand aller Cheviots dieser Welt! »Sie wollen also, daß ich zwischen dem Leben einer jungen Frau und meinem Job wähle? Sie kennen doch meine Antwort. Bei allem Respekt, Mr. Cheviot… die Prioritäten sind eindeutig.« »Bei allem Respekt…« Cheviot hatte jetzt überhaupt nichts Gemütliches mehr an sich. Er war nur noch der knallharte Geschäftsmann und Manager. »Meine Prioritäten sind Max Headroom und dieser Sender! Ich weiß nichts über die junge Frau… aber um ihr zu helfen, brauchen Sie den Sender. Und Sie brauchen Ihre Sendung. Es gibt für Sie nur einen Weg, die Show zu behalten. Überreden Sie Max dazu, die ZikZakWerbespots zu moderieren!« Carters Gesicht war wie versteinert. Mel begriff, daß der Reporter seine gesamte bürgerliche Existenz aufs Spiel setzte, um zwei Ausgestoßenen wie Rayna und ihm zu helfen. Das hätte er nie erwartet. Theora bewunderte Edisons Standhaftigkeit, ja, sie liebte ihn dafür. Sie wußte, was er antworten würde – und sie wußte, daß Cheviot seine Drohung nicht wahrmachen konnte. Ohne Carter wäre Max Headroom für Sender 23 nicht mehr verfügbar. »Meine Haltung ist klar, Mr. Cheviot… und das wissen Sie auch!« knurrte Carter. Der Vorstandsvorsitzende atmete tief durch. Mit Autorität war bei diesem Bengel tatsächlich nichts zu erreichen. Also ließ er den gestrengen Managerblick wieder von seinem
Gesicht verschwinden und lächelte so gütig, wie er nur konnte. »Hören Sie, Edison… wir wollen uns nicht streiten, okay?« Wie bekam er diesen Sturkopf nur dazu, im Interesse des Senders zu handeln? »Sie und Max sind doch praktisch eine Person. Sie beide verbindet eine geistige Nabelschnur. Sie sind unzertrennlich.« Carter wußte, daß er gewonnen hatte. Cheviot würde ihn nicht feuern, sondern ihm einen Kompromiß vorschlagen. Er wußte schon, wie dieser Kompromiß aussah. Und er würde ihn akzeptieren können. »Sie beide sind identisch in Erfahrung, Verhalten, Temperament und Logik«, säuselte Cheviot. »Wir haben mit einem ziemlich dummen Problem zu kämpfen. Lösen Sie es zur Zufriedenheit aller… das schließt auch die junge Frau ein.« Das war es, was Carter hören wollte! Cheviot unterbrach die Verbindung. Augenblicklich kam Leben in den Reporter. »Theora?« »Ja?« Die Controllerin verbarg ihr Gesicht hinter den Monitoren, damit niemand ihr Grinsen sah. »Gib mir mal Max«, verlangte Carter. »Okay…« Theoras Finger huschten über die Tastatur ihres Computers. Sie rief das Inhaltsverzeichnis aller Speicher im Zentralcomputer des Senders auf ihren Schirm und gab den Suchbefehl nach Max Headroom ein. Doch nichts passierte. Theora runzelte die hübsche Stirn. »Er ist nicht in seiner Datei.« Sie versuchte es noch einmal. Vergebens. »Tut mir leid.« Carter war wie elektrisiert. »Ruf Bryce!« »Gut…« Theora brauchte nur Sekunden, um dem Computer die böse Nachricht zu entlocken: »Bryce hat das Haus
verlassen…und es besteht keine Möglichkeit, ihn aufzuspüren.« »Verdammt!« Carter schlug auf die unschuldige Tischplatte ein, als sei sie für den ganzen Schlamassel verantwortlich.
Dr. Moon, Bryce Lynch, Plantagenet und Julia Formby standen am Krankenlager der alten Frau, die noch immer mit Sauerstoff beatmet wurde. Bryce starrte nachdenklich auf den verwelkten, leblosen Körper und die bewußtlose junge Frau auf dem OP-Tisch daneben. Sie kam ihm bekannt vor. Hatte er ihr Bild nicht heute schon einmal gesehen? Na sicher – ihr gehörte das hübsche Frauengesicht, das Theora Jones mit dem Diogenes-Programm zusammengebastelt hatte! Bryce war sich noch nicht ganz sicher, was hier eigentlich gespielt wurde. Er brauchte mehr Daten, um die Lage beurteilen zu können. Dr. Moon drängte: »Die junge Frau ist bereit. Ich kann sofort operieren. Aber ich brauche das Max-HeadroomRegenerationsprogramm.« Erstaunt stellte Bryce fest, daß dieser Plantagenet eine unglaubliche Macht über Formby auszuüben schien. Was hatte er gegen sie in der Hand? Die Sache versprach, interessant zu werden. »Besorgen Sie mir das Programm, Formby!« drängte Plantagenet. »Wenn Sie Mutter retten… retten Sie dadurch auch Ihren kostbaren Cheviot! Anderenfalls… sorge ich dafür, daß Ihre und auch Cheviots schlimme Verfehlungen der Öffentlichkeit bekannt werden.« Das wurde ja immer besser! Manchmal, fand Bryce, war die Wirklichkeit sogar noch faszinierender als das tollste Computerspiel!
Dr. Moon sprach den Jungen an, als hätte er es mit einem Kleinkind zu tun. »Es ist ganz einfach. Sowie die kleine Operation vorbei ist, erwarten wir von dir, daß du bei unserer Patientin das gleiche Programm anwendest, das du auch bei Mr. Carter benutzt hast.« Bryce fand die Idee nicht sonderlich aufregend. Carter war ein junger, flotter Typ. Mit Max, seiner Computer-Ausgabe, konnte man jede Menge Spaß haben. Aber was sollte daran schon lustig sein, so eine vertrocknete alte Schachtel zu digitalisieren? Formby trat ganz nahe an den Jungen heran. Sie wußte, daß er auf stur schaltete, wenn man ihn zu sehr unter Druck setzte. Ihre Stimme klang fast flehend. »Du mußt mir helfen, Bryce… das von dir entwickelte ComputerRegenerationsprogramm ist unsere einzige Hoffnung. Du mußt ihren Geist erhalten, so wie du mit Edison Carters Geist Max generiert hast.« Sanft legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. Sie mußte zu dem Kind in Bryce vordringen, zu dem Jungen, der gut und hilfreich war. »Diese Frau ist sehr mächtig und sehr wohlhabend, verstehst du?« Bryce verstand nicht. Die Frau war bewußtlos. Sie starb. Solche Leute hatten keine Macht mehr. Und all ihr Geld nutzte ihnen nichts gegen den Tod. »Es gibt keine Alternative.« Dr. Moon verlor langsam die Geduld mit dem Knäblein. »Du wirst nach der Operation eine Computerkopie der alten Frau erstellen.« Für Moon war der Fall damit abgeschlossen. Für Bryce nicht. »Aber die junge Frau lebt noch. Die können Sie doch nicht einfach für dieses Experiment opfern.« Bryce sah in die Gesichter der drei Erwachsenen neben ihm. Sie konnten.
7. Kapitel
Theora Jones zog alle Register ihres Könnens, um dem Computer die benötigten Informationen zu entlocken. Carter beugte sich zu ihr herab und studierte die verwirrenden Bilder, die über ihren Monitor huschten. »Was entdeckt?« »Ich weiß nicht…« »Wieso?« »Ich bekomme andauernd diese merkwürdige Grafik auf den Schirm.« Bilder und Datensätze huschten abwechselnd in schneller Folge über den Monitor, manchmal überlagerten sie sich auch. Erkennen konnte man in dem Geflimmer nichts. Man bekam vom Zusehen höchstens Kopfschmerzen. »Ich verstehe das nicht.« Bei einem Vollprofi wie Theora wollte das was heißen. Aber einen Trick hatte sie immer noch in der Kiste: »Ich schalte ein Analyseprogramm ein.« Die schnellen Bildwechsel auf Theoras Schirm froren ein. Jetzt sah man die Karte, die Max nach den Daten aus der Flugbereitschaft über Formbys Reiseroute entwickelt hatte. »Hör mal«, wunderte sich Carter, »das ist eine Karte, die einen Transportweg beschreibt.« »Das weiß ich«, stellte Theora lakonisch fest. »Aber wie kommt sie in mein Betriebssystem? Sie hat hier nichts zu suchen!« Das Analyseprogramm schaltete zum nächsten Bestandteil der Störungen durch. Plötzlich stand eins der bestgehüteten Geheimnisse des Senders 23 in Klarschrift auf Theoras Schirm.
»Das ist vollkommen verrückt! Die Karte steckt im Programm für die Gehälter!« »Und damit können wir ohne Code nicht arbeiten«, stellte Edison fest. »Aber über dieses Programm könnte man unser System verlassen. Wenn irgend jemand unberechtigt in den Daten herumpfuscht, könnte das ganze Betriebssystem abstürzen. Dann wären wir stundenlang blockiert.« Klang da etwa Panik in Theoras Stimme? Grund genug dazu hatte sie. Ohne Betriebssystem wären die teuren Computer im 23er-Tower nur noch eine nutzlose Ansammlung von Blech, Kunststoff und Silikon. Nicht einmal mehr die Kaffeemaschinen würden funktionieren – vom Sendebetrieb ganz zu schweigen. Plötzlich flackerten die Ziffernkolonnen auf Theoras Schirm, wurden immer wieder von Max Headrooms Bild verdrängt. »Kontrolle! Ko-ko-ko-kon-kontrolle!« rief der Computermann. »Hier ist die Zentralkontrolle!« meldete sich Theora. Max’ Bild stabilisierte sich, das Gehaltsprogramm verschwand vom Schirm. Edisons elektronisches Ebenbild wirkte ein wenig unwirsch. »Nein, die brauche ich nicht«, stellte er fest. »Ich versuche gerade, mich selbst zu kontrollieren!« Carter versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Auf welche Ideen der Bursche kam! »Wie kommst du denn in die Gehaltsdatei?« fragte Theora. »Ganz einfach. Ich suchte einen fr-fr-fr-frei-freien Speicherplatz. So bin ich hier gelandet… aber es ist schrecklich langweilig.« Carter beugte sich zum Bildschirm vor. »Max, ich muß mit dir reden. Es ist sehr wichtig.«
Augenblicklich schaltete Max sein Mimik-Programm auf überlegen-jovial. »Ahh… worum geht es, mein Freund?« Theora konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Max’ Sucht, das überlegen-großspurige Gehabe aller möglichen Serienstars zu imitieren, mußte auch tief drinnen in Edisons Seele schlummern. Allerdings verstand der es besser als Max, seine menschlichen Schwächen zu verschleiern.
In Plantagenets Penthouse bereitete Dr. Moon seine Patientinnen für die Operation vor. Er desinfizierte Raynas Halspartie. Er hatte vor, den Unterkiefer und die Gaumenplatte zu entfernen, um von unten an die Hypophyse heranzukommen. Bei diesem heiklen Eingriff war größtmögliche Sterilität oberstes Gebot. Wenn sich das Spenderorgan mit irgendwelchen Keimen infizierte, konnte das zum sofortigen Tod der Organempfängerin führen. Und eins war klar: Mutter durfte nicht sterben, bevor der Junge ihren Geist nicht elektronisch erfaßt hatte. Bryce saß vor Plantagenets Computer-Terminal und ließ seine Finger über die Tasten fliegen. Verwirrende Grafiken erschienen auf dem Monitor. Formby, die hinter dem Jungen stand, um ihn zu kontrollieren, verstand nichts von dem, was da ablief. Ihr wurde schmerzlich bewußt, wie wenig Ahnung sie von Computern und ihrer Programmierung hatte. »Was machst du da?« fragte sie. »Ich stelle eine Verbindung zu meinem Terminal im Sender her. Nur so komme ich an das Regenerationsprogramm heran.« Unschuldig wie ein Kind, das er ja eigentlich auch noch war, glotzte Bryce durch seine große Brille. »Ich muß versuchen, meinen eigenen Kopierschutz zu überlisten.« Formby fühlte sich hilflos wie selten zuvor. Sie mußte den Ausführungen des Jungen glauben, ob sie wollte oder nicht.
Sie versuchte, ihre Machtlosigkeit hinter einer Drohung zu verbergen: »Komm ja nicht auf die Idee, irgend jemanden zu warnen!« Bryce warf einen kurzen Blick über die Schulter auf Dr. Moon, der gerade eine Injektion für Rayna vorbereitete. Der Junge war fest entschlossen, sich nicht noch einmal in ein Mordkomplott verwickeln zu lassen. Außerdem konnte er es auf den Tod nicht leiden, wenn jemand wagte, ihm, dem großen Bryce Lynch, zu drohen. Formby würde sich noch wundern!
Von Theoras Hauptmonitor hörte sich Max ungeduldig alles an, was Edison ihm zu sagen hatte. Allerdings blickte er sehr skeptisch drein. »Max, wenn du nicht bereit bist, mitzuarbeiten, setzt man meine Sendung ab. Und das würde höchstwahrscheinlich den Tod einer jungen Frau bedeuten.« Carter versuchte, so überzeugend wie möglich zu klingen: »Max, bitte hilf mir… und der jungen Frau!« Der Computermann fand, es sei an der Zeit für einen kleinen Tadel: »Bitten ist eine kultivierte, höfliche Form, Bef-bef-befbefehle zu erteilen.« Carter seufzte. Er warf Theora hilfesuchende Blicke zu. »Das hört sich bekannt an.« Aber die Controllerin lächelte nur, genauso wie Max, der feststellte: »Kei-kei-kei-kein Wunder! Der Satz stammt von dir.« »Ich weiß.« Carter blieb nur noch die vollkommene Kapitulation. »Ich… ich… ich… möchtedichauchumetwas-bitten… um eine An-an-an-antwort!« »Na gut.«
Max schaltete auf das ernsthafte Verhör-Gesicht, das er bei allen Detektiven in den uralten Kriminalfilmen so bewundert und deshalb gleich in sein Programm übernommen hatte. »Ich möchte zwei Dinge wissen: Erstens, warum ist da so ein wawa-wa-wattiges Loch in meinem Gedächtnisspeicher. Und zwei-zwei-zweitens: Was ist trinken? Trinken? Trinken? Trinken? Uuund… wares wares wares war es das Trinken, das dieses wattige Loch verursacht hat? Das… sind also drei Dinge«, stellte er so ernsthaft wie möglich fest. »Richtig.« Carter nickte. »Erstens… es war eine Examensparty. Zweitens, es macht dich kaputt, und drittens, dadurch entstand die Gedächtnislücke. Das wäre alles.« »Wenn das so ist, dann frage ich mich, wie du dein Exa-exaexam-examen bestanden hast, wenn dich das Trinken fertigmacht.« Carter schmunzelte. Das fragte er sich manchmal auch.
In blitzschneller Folge huschten Zahlenkolonnen über den Bildschirm vor Bryce Lynch. Formby starrte mißtrauisch auf die Datenflut. »Was ist das?« »Die Buchhaltung.« »Das sehe ich auch.« Das Kerlchen sollte ja nicht glauben, er hätte es mit einer blutigen Anfängerin zu tun! »Wozu brauchst du sie?« »Wenn ich eine Leitung für die Überspielung des Programms anfordere, brauche ich dafür ein Konto.« Bryce dozierte wie ein Professor im Hörsaal der Studienanfänger. »Da Sie sicher nicht wollen, daß man die Spur später verfolgen kann, muß ich ein Scheinkonto eröffnen, das ich nach der Überspielung wieder lösche. Ich könnte natürlich auch Ihr Gehaltskonto dafür benutzen.«
»Spiel nur nicht den Neunmalklugen!« giftete Formby. »Entschuldigung… ich dachte, deswegen bin ich hier.« Innerlich zerplatzte Bryce beinahe vor Lachen. Frau Direktorin gab sich überlegen, verstand aber offensichtlich gar nichts. Beim Verlassen seines Labors hatte Bryce gerade noch mitbekommen, wie Max in die Gehaltsdatei abgetaucht war. Bryce hatte vor, dieses ganze Komplott hier auffliegen zu lassen. Doch dafür braucht er Max’ Hilfe. Formby drehte sich zu den beiden bewußtlosen Frauen um. In wenigen Minuten würde Dr. Moon mit der Operation beginnen und das Mädchen dabei töten. Die junge Frau tat Formby leid. Aber sie konnte ihr nicht helfen. Plantagenet hatte sie in der Hand. Als Bryce merkte, daß die Direktorin seinen Monitor nicht mehr beobachtete, klinkte er sich ins Diogenes-Programm ein. Er rief die Bilder ab, die Theora Jones am frühen Abend über Edison Carters Terminal erstellt hatte.
»Moment mal… da sucht jemand in meinem Speicher rum!« Max verschwand vom Monitor, um Platz zu machen für endlose Datenreihen. »Das hatte ich vorhin doch auch schon auf dem Terminal.« Plötzlich war Theora wie elektrisiert. »Guck mal, Edison, was da kommt!« Die Gehaltsdatei wurde vom Diogenes-Programm ersetzt. Auf dem Bildschirm entstand das Bild des Chrysler-Vans von Breughal und Mahler. »Das sind die Bilder, die wir generiert haben!« »Moment… gleich hab’ ich es…«, murmelte Bryce. Das Bild des Lieferwagens war jetzt komplett. Leider wurde Formby wieder auf den Jungen aufmerksam. »Was ist das?« fragte sie.
»Nur eine Transport-Selektions-Datei.« Jeder Profi hätte sofort gewußt, daß Bryce Unfug redete. Doch Formby war kein Profi. Sie drehte sich wieder um. Mit einem Tastendruck holte Bryce Raynas Phantombild auf den Schirm. Er wußte, daß man dasselbe Bild jetzt im Sender 23 empfangen konnte. Theora hatte es schon auf ihrem Schirm. »Max, wer hat dieses Programm aufgerufen?« »Eine Sekunde!« Der Computermann blendete sich nur kurz ein. Dann überlagerte ein Code Raynas Phantombild: I-J-2-FI. »Den kenne ich!« rief Theora. »Der gehört zu Bryce. Also hat er das Programm abgerufen.« »Aber warum? Und von wo?« Carter verstand die Zusammenhänge noch nicht. Die Darstellungen auf dem Monitor wechselten jetzt laufend. »Schon wieder die Karte… jetzt Raynas Bild… und all diese Daten! Das sind Teile des Max-Headroom-Programms!« Langsam ging Theora ein Halogenlicht auf. »Also muß Bryce auch wissen, daß wir nach der Frau suchen.« Wie von der Tarantel gestochen sprang Carter auf. »Und Bryce ist jetzt bei der Frau!« Er rannte schon los Richtung Bereitschaftsraum, wo immer ein Hubschrauberpilot wartete. »Murray!« Theora rief ihren Chef. »Habt ihr eine Spur?« »Ich glaube, ja. Und Edison braucht sicher Hilfe!« Murray stürzte zum Haustelefon. Er drückte die Nummer des Sicherheitsdienstes. »Vier Männer nach Santuoy Condo… los!« Max schenkte Theora sein strahlendstes Bildschirmlächeln. »I-ich b-befinde mich jetzt in dem Speicher, den Bry-BryBryce benutzt.« »Ja, das weiß ich.« Theora verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte.
»Und es wäre so…sooo einfach, da aufzutauchen, wo Bryce sich befindet.« »Ja, tu das! Tu das, Max!« Theora atmete tief durch. Vielleicht hatte Rayna doch noch eine Chance.
Formby drehte sich um – und sah Raynas Bild auf dem Schirm. Voller Panik packte sie Bryce am Kragen, wollte ihn von seinem Stuhl zerren. »Was hast du da angestellt?« »Moment, Moment, was machen Sie da mit Bryce?« Für Max Headroom war es kein Problem, über die Datenverbundleitungen zum Computer-Monitor in Plantagenets Penthouse zu schlüpfen. »Hallo, Bryce, hier bin ich!« Formby ließ den Jungen los. Der Computermann schaute drein wie ein Fernsehmoderator, der einen Quiz-Kandidaten beim Schwindeln erwischt hatte. »Das wußte ich… irgend etwas ist f-f-f-faul!« »Max, du hast es erfaßt!« Bryce war sonnenklar, daß Max alles, was er vom Zweiwegmonitor sah, direkt zu Theora Jones in die Schaltzentrale übertragen würde. Er zog eine höchst verschwörerische Miene. »Ja, Mrs. Formby, ich bin jetzt soweit. Ich kann das Programm überspielen.« Mit seinem unschuldigsten Augenaufschlag blickte er zu ihr hoch. »Das wollen Sie doch noch immer, oder?« Theora fiel fast vom Stuhl, als sie die Direktorin entdeckte. »Das ist Formby!« »Ich wußte von Anfang an…Bry-Bry-Bry-Bryce darf ihr nicht vertrauen«, tönte Max aus ihrem Lautsprecher. Theora schaltete eine Verbindung zum Hubschrauber. »Edison, melde dich bitte!«
Carter saß vorne neben dem Piloten, Mel kauerte auf der hinteren Bank. »Wir haben das Ziel fast erreicht«, gab der Reporter durch. Theora sah auf ihren Nebenmonitoren Bilder aus Plantagenets Wohnung, aufgenommen aus allen möglichen Blickwinkeln. Max hatte sein elektronisches Bewußtsein auf sämtliche Bildschirme in dem Penthouse ausgedehnt. »Wir wissen jetzt, daß es sich um zwei Ärzte und Formby handelt.« »Formby? Wie kommst du denn darauf?« »Max beobachtet sie gerade.« »Was hat sie damit zu tun?« Carter war ehrlich überrascht. »Keine Ahnung, aber das finden wir heraus, sobald wir mit Bryce reden können!« Murray sah, wie Theora eine Computergrafik des Hauses, in dem Bryce sich befand, auf ihren Bildschirm zauberte. Er wußte, daß sie das Bild in den Hubschrauber überspielte und dem Piloten so einen sicheren Landeplatz auf dem Dach anwies. Schon kam Carters Bestätigung über den Funk: »Zentrale, Hubschrauber Zwei landet jetzt auf dem Dach.« Theora ließ sich vom Computer die Aufstellung der Hausbewohner geben. Für die beiden obersten Stockwerke war niemand registriert. Und… »Wir sind jetzt im Gebäude«, knarrte Carters Stimme aus dem Funk, »und zwar im vorletzten Stock.« »Unglaublich!« stöhnte Theora. »Die gesamte Etage… und die darüber… gehören einem einzigen Menschen!« Wer sich in den Zeiten der Überbevölkerung so viel Wohnraum leisten konnte, mußte unvorstellbar reich sein. Und sehr unsozial. Es gehörte sich einfach nicht, soviel kostbaren Wohnraum für sich allein zu verbrauchen. »Ich informiere Cheviot!« Murray lief zum Vidifonanschluß.
»Wir stehen vor der Tür. Ich brauche den Öffnungscode!« verlangte Carter. »Der Türcode lautet 5-0-6-2-7-4… schnell!« Auf den von Max übertragenen Bildern sah die Controllerin, wie sich der Arzt mit einer großen Spritze zu Rayna hinabbeugte. Bryce wandte sich angeekelt ab. Er konnte kein Blut sehen. Krachend flog die Tür zum Penthouse auf. Mel stürmte herein, gefolgt von Carter mit sendebereiter Kamera. »Wer sind Sie?« brüllte Plantagenet entsetzt. Aber niemand beachtete ihn. Mel hechtete zu Dr. Moon, riß den Arzt von Rayna weg und schleuderte ihn an die Wand. Daß er dabei das fahrbare Krankenbett der alten Frau wegdrückte, merkte Mel nicht einmal. Es rollte aus dem zusammenbrechenden Sauerstoffzelt heraus und prallte gegen die Wand. Schläuche wurden abgerissen, laut knallende Kurzschlüsse zerstörten die teuren medizinischen Apparaturen. Mit einem letzten Reflex richtete sich die alte Frau noch einmal auf, dann sank sie tot zurück. Jetzt konnte ihr keiner mehr helfen. Das stand endgültig fest. »Muuutteeer!« Plantagenet brüllte wie ein Wahnsinniger und hätte sich in die immer noch sprühenden Lichtbögen der Kurzschlüsse gestürzt, wären nicht die von Murray alarmierten Sicherheitsleute kurz hinter Carter in den Raum gekommen. Zwei starke Männer mußten ihre ganze Kraft aufwenden, um den Mann zu bändigen, der gerade den einzigen Menschen auf der Welt verloren hatte, der für ihn zählte. Ödipus läßt grüßen, dachte Carter. Zufrieden sah er, wie Mel bei seinem Mädchen kniete und zärtlich über ihr volles Haar strich. »Rayna… Rayna!« murmelte er immer wieder. Sie kam nur langsam zu sich und sah sich mit vor Verwunderung großen Augen um.
Carter aber mußte jetzt zuerst an seinen Job denken. Er richtete die Kamera auf Formby, die zitternd in einer Fensternische stand. »Mrs. Formby?« Die Angesprochene sah das rote Licht auf der Kamera, aber sie fand keine Worte zu ihrer Rechtfertigung. »Woher wissen Sie es?« war das einzige, was sie herausbrachte. »Max Headroom hat es mir gesagt.« Carter setzte die Kamera ab und blickte zu dem Monitor hinüber, von dem aus Max das Geschehen im Raum aufmerksam verfolgte. »Du bist dran, Max!« Der legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »Ich soll wohl… ko-k-k-kooperieren?« Max lächelte geschmeichelt. Geschäft war Geschäft. Im nächsten Moment schaltet er sich auf den Sendekanal von Sender 23. Jetzt war er nur noch Max Headroom, bester und beliebtester Fernsehmoderator der Welt. Und der gute Werbeonkel der ZikZak-Corporation. »Ahemm. Hier spricht Ma-Ma-Ma-Max Headroom! Ich präsentiere Ihnen mit freundlicher Unterstützung der Zik-ZikZikZak-Corporation eine Edison-Carter-Car-ter-Sonderse-sese-sendung! Die Sendung, die Fragen beantwortet, die-die-die andere nicht mal zu stellen wagen!« Während Max’ Ansage hatte Carter seine Kamera auf ein Stativ gestellt und sich vor dem Objektiv in Positur gesetzt. Jetzt kam Murrays Befehl »Titel ab!« aus dem Kontrollautsprecher. Dann legte der Reporter los: »Ich werde Ihnen in dieser Sendung zeigen, wie eine Organisation in unserer Stadt die Reichen, die Korrupten und die Privilegierten mit Organen versorgt hat, die illegal jungen und gesunden Menschen entnommen wurden. Die Randbezirke unserer Stadt waren für diese Organisation ein riesiges lebendes Ersatzteillager, in dem sie sich nach Belieben bediente. Das Ganze ist ein
unglaublicher Vorgang. Im Laufe der Sendung werden Sie genau erfahren, wie diese Organisation ihr blutiges Handwerk betrieb…« Überall in der Stadt, im Land und natürlich vor allem in den Randbezirken drängten sich die Menschen vor den Mattscheiben, um Carters unglaubliche Enthüllungen mitzuerleben. Selbst Blank Reg und Dominique hatten ihren eigenen Sendebetrieb eingestellt und zogen sich das Programm der legalen Konkurrenz rein. »Gut, Edison… mach sie fertig! Zeig’s diesen Mistkerlen!« tönte Reg, obwohl er genau wußte, daß Carter ihn nicht hören konnte. Der Reporter freute sich natürlich darüber, daß seine Sendung so gut beim Publikum ankam. Doch eins zählte ganz besonders für ihn: daß Mel seine Rayna lebend und unversehrt in die Arme schließen konnte. Noch während Carters Reportage lief, tauchten MetroPolizisten im Penthouse auf. Die Sicherheitsleute vom Sender 23 übergaben ihnen Plantagenet. Widerstandslos ließ der Milliardär sich abführen. Ohne Mutter hatte sein Leben Sinn und Inhalt verloren. Den Abspann von Carters Sendung mußte natürlich wieder Max sprechen. »In wenigen Augenblicken bin ich wieder bei Ihnen… mit Neuigkeiten vom Sender 23. Hanng… hhhaaanng.« Jetzt würde er erst einmal in die Speicher tauchen und sehen, für welchen ZikZak-Schrott er überhaupt werben konnte, ohne sein Ansehen zu riskieren. Jemand anders kämpfte verzweifelt darum, das eigene Ansehen wiederherzustellen. Cheviot hatte Formby in sein Privatbüro bestellt. Die Fenster hier oben im 210. Stock boten einen herrlichen Ausblick über die Stadt. Man konnte schon die Sonne sehen, die weit draußen hinter den Randbezirken
über den Horizont kletterte. Doch Formby hatte für solche Schönheiten keinen Sinn. Zumindest nicht jetzt. »Diese… diese Leute haben mich erpreßt, Ben«, beteuerte sie. »Sie wußten alles, jede Einzelheit über dich und mich. Ich wollte deinen guten Ruf nicht aufs Spiel setzen.« Beruhigend nahm Cheviot ihre Hand. »Du bist ein großes Risiko eingegangen. Ohne Carters Hartnäckigkeit hätten die Leute ihr Ziel erreicht. Du wärst ihnen vollständig ausgeliefert gewesen.« »Zum Glück kam es nicht dazu… es ist vorbei.« »Ja, so wie es auch mit uns vorbei ist, Julia.« Cheviot ließ die schmale Hand der blonden Frau los. »Ich wollte nicht… daß einer von uns beiden kompromittiert wird. Du bist der Leiter einer Fernsehstation.« »Ja, da hast du recht, Julia.« Alle Freundlichkeit war aus Cheviots Gesicht gewichen. Er war nur noch der eiskalte, knallharte Geschäftsmann, der eine verhängnisvolle Affäre mit seiner Stellvertreterin beenden mußte, bevor ihn die Sache den Kopf kostete. Er drückte den Knopf der Sprechanlage: »Edwards soll kommen.« Cheviot nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und deutete auf einen der freien Sessel davor. »Setz dich, Julia. Wir müssen uns mal wieder um unsere Einschaltquoten kümmern.«
8. Kapitel
Cheviot hatte seine ganzen Beziehungen spielen lassen, um Formbys Verwicklung in die Organaffäre zu verschleiern. Als Edison Carter erfuhr, daß Plantagenet die Frau erpreßt hatte, erklärte er sich einverstanden, ihre Beteiligung an der Sache zu vergessen. Breughal und Mahler waren untergetaucht. Die MetroPolizei hatte kein besonderes Interesse an einer ausgedehnten Suchaktion in den Randbezirken. Nightingales Organbank hatte eine gründliche Durchsuchung hinnehmen müssen. Florence war aus allen Wolken gefallen, als sie erfuhr, daß sie nicht mehr die Anteilsmehrheit an ihrem Unternehmen besaß. Aber weil man die Organbanken brauchte, durfte die alte Frau ihre Lizenz behalten. Sender 23 gab ihr einen beachtlichen Kredit, mit dem sie die Anteilsmehrheit zurückkaufen konnte. Eigentlich wäre damit alles in Ordnung gewesen. Aber das traf nur für die Organbank zu. Denn sonst war in der Welt des Edison Carter eigentlich kaum noch etwas wirklich in Ordnung. Nur drei Tage nach dem Ende der Plantagenet-Affäre sah sich der Reporter der vielleicht größten Herausforderung im Laufe seiner Karriere gegenüber. Er wußte nur noch nichts davon. Im Norden der riesigen Stadt, am Rande des Vorgebirges, das die trocken-heißen Winde aus der dahinterliegenden Wüste von der City abhielt, lag ein ausgedehntes Industriegebiet. Ein ehemaliges Industriegebiet, um genau zu sein.
Früher hatten hier weit über hunderttausend Menschen ihren Lebensunterhalt verdient. Doch seit der weltweiten Stahlkrise zu Beginn der 90er Jahre waren die ausgedehnten Anlagen menschenleer. Hochöfen, Kokereien, Walzstraßen und Maschinenfabriken waren dem Verfall preisgegeben. Stahl war im Zeitalter von Kunststoffen und Computern nicht mehr gefragt. Die riesigen Hallen verfielen, die großen Anlagen verrotteten. Eine Reihe weit über hundert Meter hoher, schlanker Schornsteine ragte nutzlos in den trüben Himmel. Die Schlote rauchten schon lange nicht mehr. Sie waren zu sinnlosen Mahnmalen einer längst versunkenen Epoche verkommen. In diesen frühen Morgenstunden hatte die blutigrote Sonne noch enorme Probleme, die trübe Gasschicht zu durchdringen, die den früher einmal blauen Planeten umgab. Das diffuse Licht goß eine unheimliche Stimmung von Verfall und Finsternis über den stillen Industrie-Friedhof. Ein zufälliger Beobachter hätte schon genau hinsehen müssen, um die junge Frau zu entdecken, die über die Schutthalden lief. Sie achtete darauf, stets in Deckung zu bleiben. Janie Crane war auf der Jagd, und sie wollte nicht, daß ihre Opfer sie entdeckten. Wobei »Opfer« in diesem Zusammenhang eigentlich das falsche Wort war. Denn Janie war einer Bande gottverdammter Verbrecher auf der Spur. Soviel Biß hätte man ihr auf den ersten Blick gar nicht zugetraut. Janie war ein verdammt attraktives Persönchen. Anfang zwanzig, mittelgroß, mit einer knabenhaft schlanken Figur, der es doch nicht an all den Zutaten, die eine schöne Frau ausmachen, fehlte. Allerdings verbargen eine weite Baumwollhose und eine voluminöse lederne Fliegerjacke die meisten ihrer körperlichen Vorzüge. Um so interessanter war dafür ihr Gesicht, das von einer wahren Löwenmähne langer blonder Locken weich umspielt
wurde. Janies schmalgeschnittene Züge wirkten offen, ehrlich – und energisch. Männer sahen ihr unwillkürlich zuerst auf den Mund, dessen volle, sanft geschwungene Lippen nur mühsam bezähmte Sinnlichkeit verhießen. Aber auch Kraft und Energie. Wer Janie Crane nicht nur oberflächlich betrachtete, merkte bald, daß dieses bezaubernde Geschöpf zu mehr bereit war als die meisten Menschen, wenn es darum ging, selbstgesteckte Ziele zu erreichen. Und das Ziel, das Janie sich im Augenblick gesteckt hatte, war mehr als nur ehrgeizig: Sie wollte Action-Reporterin beim Sender 23 werden. Edison Carter war ihr großes Vorbild. Janie hatte es zwar geschafft, eine Stelle als Volontärin in der Nachrichtenredaktion zu ergattern. Aber die Büroarbeit war nichts für sie. Sie wollte raus, mit der Kamera vor Ort arbeiten. Schon mehrmals hatte sie Murray diesen Wunsch vorgetragen, doch der hatte immer wieder abgewinkt und sie vertröstet: »Das kommt später.« Weil sie auf dem offiziellen Weg nicht weiterkam, hatte Janie gehandelt, als sie zufällig von dieser unglaublichen Sache hörte, die im Untergrund vorbereitet wurde. Ihr Informant war zuverlässig, heute morgen würde es hier ganz schön knallen. Und Janie würde die Bilder machen. Deshalb hatte sie sich gestern abend eine Telekamera besorgt. Mit ihrer langen optischen Kanone von immerhin 1100 mm Brennweite ermöglichte sie gestochen scharfe Aufnahmen auch aus großer Entfernung. Allerdings hatten die Telekameras statt einer Funkverbindung zur Sendezentrale nur einen eingebauten Recorder. Janie war hier draußen also ganz auf sich allein gestellt. Das wußte sie und verhielt sich entsprechend vorsichtig.
Als sie das Geräusch des Hubschraubers hörte, ging sie augenblicklich in Deckung. Verstecke gab es hier zum Glück mehr als genug. Die Maschine donnerte über sie hinweg, ohne daß die Insassen sie entdeckten. Verdammt! Das war einer der Einsatzhubschrauber von Sender 23. Hatte Murray etwa auch Wind von der Sache bekommen und jemanden losgeschickt, der ihr die Story vor der Nase wegschnappen konnte?
Janie sorgte sich umsonst. Der Hubschrauber war in der letzten Nacht gewartet worden, und nun machte Martinez, der Pilot, einen kleinen Probeflug. Da er und Edison Carter an diesem Morgen Bereitschaft hatten, flog der Reporter gleich mit. So war er jederzeit erreichbar, wenn sich irgendwo etwas ereignen sollte, das interessant genug für die Nachrichten oder für Carters Show war. Martinez jagte den Hubschrauber in einem wahnwitzigen Slalomtanz um die himmelhohen Schornsteine. Carters Magen krampfte sich zusammen, als er sah, wie nah die Rotorblätter den Schloten kamen. Aber solange Martinez derart relaxed am Steuerknüppel saß, brauchte sich auch der Reporter keine Sorgen zu machen. Oder? »Na, das macht Ihnen so richtig Spaß, was, Martinez?« »Tja, für einen richtigen Piloten gibt es nichts Besseres!« »Also… ich hätte Angst, daß ich gegen einen dieser Schornsteine fliege«, deutete Carter vorsichtig an. Immerhin hatte er selbst auch eine Lizenz als Hubschrauberpilot, wenn er auch selten flog. Doch Martinez verstand Carters Andeutung nicht – oder wollte sie nicht verstehen: »Ach, wissen Sie… ein bißchen Nervenkitzel muß schon sein!«
Janie atmete auf, als der Hubschrauber endlich verschwand. Sie huschte weiter durch die Ruinen, bis sie den Lastwagen sah. Alles war, wie es ihr Informant gesagt hatte. Die junge Frau ging hinter einem Gewirr geborstener, verrosteter Metallstreben in Deckung. Sie schob eine Cassette in ihre Kamera, die sich dadurch automatisch aktivierte. Durch den Sucher sah Janie den Lastwagen, als stände sie direkt vor ihm. Es war ein Zweiachser mit Kastenaufbau. Fenster hatte nur das Fahrerhaus. Auf dem Dach waren zwei für einen gewöhnlichen Lastwagen höchst ungewöhnliche Apparaturen installiert: eine automatische Fernsehkamera und eine Satellitenantenne, mit der man die Bilder an jeden Ort der Welt übertragen konnte. Janie konnte nicht sehen, ob Menschen in dem Wagen waren, aber sie ging davon aus. Und sie täuschte sich nicht. Der Aufbau des Lasters war vollgestopft mit elektronischem Gerät. Vor den Kontrollen hockte ein dünner Kerl Anfang 30. Sein Name: Lucian. Sein Beruf: Terrorist. Lucians blasses, schmales Gesicht wurde von einer großen Nickelbrille dominiert, die ihm wohl den Anschein des Intellektuellen geben sollte. Denn dafür hielt er sich. Die Fransen seines dünnen Schnurrbarts hingen so tief herab, daß sie seinen beinahe lippenlosen Mund fast ganz verdeckten. Die Augenbrauen waren genauso buschig wie das dunkelbraune Haar, das wirr von Lucians Kopf abstand – so, als hätte er gerade an einen blanken Starkstromdraht gegriffen. Irgendwie erinnerte Lucian an eine Schmalspurausgabe des verblichenen Albert Einstein. Allerdings hielt er sich für wesentlich begabter und intelligenter als jenen Professor aus längst vergangenen Zeiten. Hewett, sein Kumpan, lümmelte auf dem Fahrersitz. Er verstand nicht viel von Technik. Ihm ging es bei den Terror-
Einsätzen nicht um irgendwelche krausen Ideale. Er wollte einfach seinen Spaß haben. Hewett liebte Explosionen. Er war vielleicht zehn Jahre jünger als Lucian. Sein Äußeres hatte er nach einem alten Video zurechtgestylt, das des öfteren von Big Time Television ausgestrahlt wurde. Es zeigte eine vergangene Rock-Größe namens Tina Turner. Der Keyboarder dieser Sängerin hatte Hewett ungemein imponiert. Und so hatte er sein Äußeres dem des Muskel-Musikers angeglichen. Er trug seine pomadisierten Haare glatt nach hinten gekämmt, zog nur ärmelfreie Westen und T-Shirts an. Sogar die Lieblingsgeste jenes Musikers, die kraftvoll geballte Faust, hatte er so lange einstudiert, bis er sie perfekt beherrschte. Trotzdem wirkte Hewett nicht beeindruckend, sondern höchstens lächerlich. Denn ihm fehlten einfach die nötigen Muskeln. »Na?« fragte er. »Nichts Besonderes«, stellte Lucian mit einem kurzen Blick auf die Instrumente fest. »Nur ein Hubschrauber vom Sender 23 außerhalb unseres Bereiches.« »Sehr klug von dem.« Hewett ballte die Faust. Lucian sah ihn mit der Ungeduld des Intellektuellen an, der nur von dummen Narren umgeben ist. »Worauf wartest du noch? Fahr los!« »Ja.« Hewett startete den Motor. Er ahnte nicht, daß keine 300 Meter entfernt Janie Crane hockte und jede Bewegung des Wagens auf Band bannte. Der fuhr nicht einmal 200 Meter weit auf einen freien Platz vor den verlassenen Hallen des alten Stahlwerks. Von hier konnten die Sensoren das Ruinengelände wesentlich besser abtasten. Lucian sprang auf wie elektrisiert, als auf dem Schirm des Infrarotspürers ein Signal blinkte. »Verdammt! Da ist irgendwo eine Wärmequelle!«
Hewett kam nach hinten und warf einen Blick auf den Schirm. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Also: »Wahrscheinlich nur ‘ne Ratte!« Doch Lucian war nicht überzeugt. Er richtete seine Scanner gezielt auf den verdächtigen Bezirk. Hewett wurde ungeduldig. »Komm schon, spiel nicht verrückt. Da kann niemand sein!« »Wir sollten’s kontrollieren!« »Ach Quatsch… das ist nur ‘ne Ratte!« Hewett warf einen Blick auf seine Armbanduhr, dann hielt er sie Lucian vor die Nase: »Ding, ding! Nur noch zwei Minuten!« Der Intellektuelle wußte, daß sein dummer Mitstreiter recht hatte. Hier draußen war wirklich niemand. Und nur wegen einer Ratte durfte man nicht die Arbeit der ganzen Gruppe riskieren. Er öffnete ein unscheinbares Kästchen auf der Konsole vor ihm. Lucian legte einen kleinen Schalter um, und der große Knopf in dem Kästchen begann rot zu blinken. Der Funkzünder war aktiviert.
Im Vorstandssaal im 148. Stock des 23er-Towers hatte man ganz andere Probleme. Cheviot hatte das gesamte Direktorium herbestellt. Handeln war dringend nötig. Die Vormittagsprogramme brachten höchste Einschaltquoten bei Hausfrauen und den Millionen Menschen, die auf der Straße lebten. Und was brachte Sender 23? »Eine Pudelparade?« Cheviot traute seinen Augen nicht. »Was soll denn das? Damit gewinnen wir doch keine Einschaltquoten!« Ashwell beeilte sich, zustimmend zu nicken. Und er hatte auch gleich einen ganz tollen Vorschlag zu machen: »Frank Braddock hat noch ein sehr gutes Angebot für uns.«
Cheviot verzog schmerzhaft das Gesicht. War er denn nur von Einfaltspinseln umgeben? »Braddock will doch nur schnelles Geld machen.« Edwards blickte angestrengt auf seine Fingernägel, damit keiner sehen konnte, wie sehr ihn die Niederlage freute, die Ashwell sich gerade selbst beibrachte. Der versuchte es noch einmal: »Er meldet sich gleich bei uns.« »Wozu denn das?« Cheviot redete wie ein Lehrer mit dem schlechtesten Schüler seiner Klasse. »Mein Gott, Ashwell… Braddock bietet uns die miesesten Programme an. Jeder Amateur kann uns bessere Sendungen verkaufen.« Ashwell kannte sich selbst nicht wieder. Er wagte es tatsächlich, seinem Vorgesetzten zu widersprechen. Allerdings in milder Form. »Übertreiben Sie nicht Ben«, bat er besänftigend. Zum Glück wurde die allgemeine Aufmerksamkeit von Ashwell abgelenkt, als Cheviots Sekretärin aus dem Vorzimmer die Vidifonleitung mit Braddocks Anruf auf den großen Wandbildschirm schaltete. Der Medienhändler grinste wie ein Honigkuchenpferd. Er war ein aalglatter Typ Ende 30. Sein ovales Gesicht wurde von einer riesigen Nase beherrscht, hinter der die listigen Schweinsäuglein des Mannes beinahe verschwanden. Auch Braddocks teurer Maßanzug konnte den Eindruck nicht verhindern, daß man es mit einem schmierigen Typen zu tun hatte, dem man besser nicht die Hand reichte – zumindest nicht, wenn man teure Ringe trug. »Hallo, Benny!« tönte Braddock vom Schirm. »Um diese Zeit werden die höchsten Einschaltquoten erreicht, und Sender 23 bringt tatsächlich eine Hundeshow!. Benny… werden Sie’s denn nie lernen?« Seine Stimme klang unglaublich arrogant.
Cheviot blieb erstaunlich ruhig. »Wie geht es Ihnen, Frank? Ich muß Sie doch nicht daran erinnern, daß ich schon für Fernsehprogramme verantwortlich war, als Sie noch in die Windeln gemacht haben.« Das konnte Braddock nicht kratzen. Edwards befand es an der Zeit, seinem Chef den Rücken zu stärken: »Im übrigen haben Sendungen mit Hunden schon immer die Haushalte der höheren Einkommensklassen sehr angesprochen.« »Ja, ich liebe Hunde auch!« tönte Ashwell, der es nicht leiden konnte, wenn jemand bei Cheviot beliebter sein wollte als er. Doch auf diese Art von Unterstützung konnte Cheviot verzichten, das sah man seiner Miene deutlich an. Formby warf Ashwell einen tadelnden Blick zu, als wäre er der kleine Sohn, den sie niemals hatte und nach dem Ende ihrer Affäre mit Ben wohl auch nie bekommen würde. Cheviot faßte es einfach nicht. Ashwell war wirklich keine Leuchte, aber heute stellte er sich besonders dämlich an. Braddock bekam alles mit und grinste breit. »Natürlich bieten Sie die Programme an, die Sie haben. Sie sind der Sender. Aber irgend etwas sagt mir, daß Sie noch einen richtigen Knüller brauchen, damit die Konkurrenz Sie nicht überholt!« Langsam ödete das leere Geschwafel Cheviot an. »Sagen Sie, was Sie für uns haben, Frank…aber schnell, sonst ist es zu spät.« »Ich rede… von einem wirklichen Guerillakrieg, der hier mitten in Ihrer Stadt tobt, Benny!« Die Vorstandsmitglieder sahen Cheviot gespannt an. Die Sache klang wirklich interessant. Wie würde Cheviot reagieren?
»Wenn Sie die Story bringen, liegen Sie an der Spitze!« tönte Braddock. Aber der alte Mann wirkte seltsam gelangweilt, als hätte er das alles schon viel zu oft gehört. »Sie wissen doch… Blut kommt immer an!« Der Medienhändler gab noch nicht auf. »Wie hat es der unvergessene A. D. Schoepps so treffend formuliert? ›Eine einzige Katastrophe fesselt die Zuschauer mehr als zehn brave Männer, die hundert Katastrophen verhindern‹!« Doch Cheviot war nicht zu beeindrucken. »Wenn Sie von diesen Waffenfreaks sprechen, die Sie schon seit Jahren anpreisen, können Sie’s vergessen. Das ist eine ganz alte Kamelle, die Breakthru TV schon mal gebracht hat.« »Richtig, Ben!« »Ganz Ihrer Meinung.« »Ist nichts für uns.« Freundlich nickend nahm Cheviot die Zustimmung seiner Direktoren entgegen. Nur Frank Braddock wollte partout nicht einsehen, daß er verloren hatte. »Benny! Breakthru TV hat damit hohe Einschaltquoten erzielt. Und diese Waffengruppe ist im Moment wieder sehr aktiv. Ich biete Ihnen ein komplettes Paket… Filme, Interviews, Nachrichtensondermeldungen. Alles, was Sie wollen!« »Sinkende Einschaltquoten eingeschlossen«, betonte der alte Mann mit süffisantem Lächeln. Er mochte Frank Braddock nicht – und es bereitete ihm große Freude, das den arroganten Kerl auch spüren zu lassen. »Das ist eine Gruppe von Verrückten, die nur Krieg spielen wollen, weiter nichts. Wir haben kein Interesse.« »Aber Benny…!« Mit einem Mal wurde Cheviots Gesicht stahlhart. »Und noch etwas… hören Sie endlich auf, mich Benny zu nennen!« Entschlossen unterbrach er die Leitung.
»Sie haben einen Fehler gemacht, Ben Cheviot.« In kalter Wut starrte Braddock auf seinen Vidifonschirm, der nur noch das Symbol für eine unterbrochene Leitung zeigte. Er stand auf, denn langsam wurde es ernst. Sein Arbeitsplatz war eine kleine erhöhte Plattform am Rande der großen Halle, in der sich die Medienbörse befand. Hunderte von Medienagenten wie Braddock kauften und verkauften hier die unterschiedlichsten Programmangebote. »Biete Spielfilm mit zwei Sendelizenzen!« brüllte jemand. Braddock ließen der Lärm und das Gewimmel hastender Menschen ruhig. Er arbeitete seit Jahren in diesem geordneten Durcheinander, und er genoß die Hektik hier an der Börse. »Ich habe einen 60-Sekunden-Spot für Breakthru TV!« Gekonnt bahnte er sich seinen Weg durch die streßgeplagten Kollegen, vorbei an den Ständen der großen Sender, die hier alle eine Repräsentanz unterhielten. Sender 23 natürlich auch. »Unsere Intrigenserie sorgt garantiert für steigende Einschaltquoten!« »Suche 20 Sekunden Werbezeit bei Breakthru TV! Der Preis ist Nebensache!« Jetzt, wenige Minuten vor zehn Uhr vormittags, war das Treiben besonders hektisch, denn die letzten Ein- und Verkäufe für das Abendprogramm mußten unter Dach und Fach gebracht werden. »Sucht jemand Werbezeit bei Sender 23?« »Ich kaufe!« Ein kurzes Handzeichen, das nur Insider verstanden, und zwei Medienagenten hatten ihr Geschäft unter Dach und Fach. »Ich suche einen Spielfilm aus dem Jahr 1980!« Braddock registrierte den Ruf. Normalerweise wäre er sofort aktiv geworden, denn er hatte da noch ein paar »Rambo«-Filme von damals. Ziemlich lasche Kost, wie alles aus jener Zeit, aber fürs Kinderprogramm ganz nett…
Doch jetzt ging es um viel größere Geschäfte. Der Zeiger der Saaluhr sprang auf die volle Stunde. Wenn alles nach Plan verlief, startete für Braddock jetzt das größte Geschäft seines Lebens…
9. Kapitel
Wenige Sekunden vorher draußen im alten Industriegebiet. Lucian und Hewitt starrten gemeinsam auf den Monitor, der den Countdown abzählte. Beinahe kindliche Vorfreude spiegelte sich auf dem Gesicht des Jüngeren. Noch sechs Sekunden bis zehn Uhr, dann: »Fünf… vier…drei…zwei…eins…« Die beiden Männer zählten gemeinsam. Bei Null drückte Lucian auf den rot blinkenden Knopf. Im nächsten Moment erschütterten gewaltige Explosionen die 500 Meter lange alte Maschinenhalle. Glutflüssiges Feuer schien bis zum Himmel zu spritzen, eine ganze Serie von Detonationen legte das Monument menschlicher Baukunst endgültig in Schutt und Asche. Die beiden Terroristen waren in ihrem Lastwagen weit genug vom Explosionsherd entfernt – und doch ausreichend nahe, um mit der automatischen Kamera auf dem Dach erstklassige Aufnahmen zu machen. Janie, die viel näher an der großen Halle in Deckung kauerte, hatte keine Chance. Die Druckwelle erfaßte sie und wirbelte sie wie ein welkes Blatt durch die Luft. Die junge Frau knallte gegen einen Haufen geborstener Betonplatten und blieb reglos liegen. Ihre Kamera fiel in ein Gewirr rostiger Stahldrähte. Die Cassette sprang heraus und verschwand im niederrieselnden Staub. Die beiden Terroristen im Lastwagen lachten wie die Kinder. Ihr Anschlag war ein voller Erfolg.
Murray stürmte zu Theoras Kontrollpult. Wenn Carter Bereitschaftsdienst hatte, mußte natürlich auch seine Controllerin hundertprozentig einsatzbereit sein. »Breakthru TV hat eine Sondersendung!« rief der Chefredakteur. »Ich schalte sofort durch.« Theora holte das Programm der Konkurrenz auf ihren Schirm. Ein Studiosprecher war ins Bild der zerstörten, immer noch qualmenden Fabrikhalle eingeblendet. »Das betroffene Gebiet liegt nahe am Vorgebirge, nördlich des Sektors sieben. Es handelt sich um eine ehemalige Industriefläche. Die Gründe für die schweren Explosionen sind bisher nicht bekannt.« »Wirklich gute Bilder!« murmelte Murray anerkennend. Doch er konnte sie nicht beobachten, denn Max Headroom blendete sich unaufgefordert auf Theoras Monitor ein. »Jada, jada, ja das gute alte Breakthru Ti-ti-tivi. Das würde ich nicht mal mit der Antenne anfassen!« »Mag sein, aber mit dem Bericht waren die jedenfalls schneller als wir«, lächelte Theora. »Der bringt Einschaltquoten.« Beleidigt, weil man ihn offenbar nicht verstehen wollte, verschwand Max wieder vom Schirm. »Wo ist Edison?« fragte Murray. Theora schaltete sich auf die Funkfrequenz ihres Reporters. »Edison, hier spricht Kontrolle 23!« Carter meldete sich fast augenblicklich. Er saß noch immer auf dem Sitz neben Martinez, der den Probeflug des Hubschraubers zu einem ausgedehnten Trip über das verödete Industrierevier nutzte. »Nördlich von Sektor sieben hat es eine schwere Explosion gegeben«, kam die Anweisung über Funk. »Seht euch das mal an!«
Martinez wendete die Maschine auf der Stelle und raste los. Er liebte es, seinem Hubschrauber die Sporen zu geben. Carter ließ sich von Theora die Breakthru-Sondersendung auf den Suchermonitor seiner Kamera legen. Über Lautsprecher hörte er den Kommentator: »Vor wenigen Augenblicken meldete sich ein anonymer Anrufer bei Breakthru TV. Er teilte mit, daß die ›Weiße Brigade‹ die volle Verantwortung für die Explosion übernimmt. Er war es auch, der unserem Sender das Bildmaterial der Explosion zur Verfügung stellte.« Carter war Profi genug, um die erstklassige Qualität der Bilder anzuerkennen. Aber eins wunderte ihn: »Wie sind die bloß so schnell da rangekommen?« Martinez deutete aus dem Fenster. Carter sah, was der Pilot meinte. Von der einst riesigen Halle standen nur noch ein paar Wände, gewaltige Rauchwolken stiegen in den Himmel. »Hier sieht es ja wüst aus!« meinte Carter mehr zu sich selbst. Und dann laut: »Theora, wir sind über dem Gebiet. Wir gehen gleich runter!« Der Hubschrauber schwebte über den Trümmern. Martinez fand einen halbwegs freien Platz und setzte die grazile Maschine auf. Die Metro-Polizei hatte den Ort des Anschlags schon erreicht. Einige Beamte stellten weiträumige Absperrungen auf. Carter sprang aus der Maschine, die Kamera in der Hand. Geduckt lief er unter den immer noch kreisenden Rotorblättern entlang. »Wir sind unten«, informierte er seine Controllerin. »Von Breakthru TV keine Spur.« Ungerührt hob er das Absperrungsseil und kletterte darunter hindurch. Er ging auf den nächsten Polizisten zu, der in voller Kampfmontur mit schußbereiter Waffe sinnlose Wache in den Trümmern hielt. Carter setzte die Kamera auf die Schulter und blickte durch den Sucher.
»Achtung Kontrolle! Aufnahme ab!« Er richtete das Objektiv auf den Polizisten, der sich sichtbar in Positur stellte. Hoffentlich winkt der Idiot jetzt nicht und ruft ›Hallo, Mami‹, dachte Carter. Laut aber sagte er: »Ich bin Edison Carter vom Sender 23. Was ist hier geschehen?« Der Polizist war sich natürlich bewußt, daß ihn der berühmteste Reporter des Landes interviewte. Bereitwilligst gab er Auskunft – soweit er das konnte. »Eine Guerilla-Truppe ist für alles verantwortlich.« »Todesopfer?« »Die sagten, wir bräuchten nicht zu suchen… es wäre niemand hiergewesen.« »Warum sind Sie da so sicher?« Bevor der Polizist antworten konnte, befahl eine schneidend scharfe Frauenstimme: »Wenz… der Kerl soll verschwinden!« Die Einsatzgruppe der Metro-Polizei wurde von einer Frau geleitet, die in ihrer Uniform noch vermännlichter aussah, als sie sowieso schon war. Wer bei der Metro-Polizei Karriere machen wollte, mußte härter sein als die härtesten Straßenjungs. Das war die Frau zweifellos, erkannte Carter auf den ersten Blick. Der gerade noch so stolze Offizier schrumpfte merklich zusammen, wagte aber doch einen schwachen Protest: »Chief… das ist Edison Carter!« »Unwichtig. Und wenn er der Erzengel Gabriel wäre… er soll verschwinden!« »Hören Sie mal, Sie kennen mich doch!« Sture Beamte konnte Carter auf den Tod nicht ausstehen. Sture Beamtinnen schon gar nicht. »Ich habe das Recht, hier zu sein!« »Sie haben überhaupt kein Recht.« Das blonde Mannweib war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Sie können sich in Ihren albernen Hubschrauber setzen und verschwinden. Machen Sie schon!«
Carter wußte, wann er ausgespielt hatte. Gegen einen Trupp Metro-Polizisten unter dem Kommando eines männerverachtenden Eisbrockens kam er nicht an. Er setzte die Kamera ab und ging zur Absperrung zurück. Ein ziemlich verkommener Lieferwagen knatterte heran und hielt direkt vor Carter. Ein Kameramann und eine Reporterin sprangen heraus. »Chief, da kommen die Leute von Breakthru TV«, tönte Officer Wenz. »Die dürfen doch hier aufnehmen, oder?« Sie durften. Carter konnte es kaum fassen. Breakthru war ein billiger kleiner Sender, der seiner Redaktion »Aktuelles« nicht mal einen einzigen Hubschrauber zur Verfügung stellen konnte. Mit ihren alten Lieferwagen waren die BreakthruReporter meist erst dann zur Stelle, wenn auf den großen Sendern die Reportage über das betreffende Ereignis längst lief. Auch diesmal kamen die Billig-Kollegen zu spät. Und trotzdem hatten sie Carter die Story vor der Nase weggeschnappt. Mit schleppenden Schritten ging er zum Hubschrauber zurück. »Die Konkurrenz ist da, Kontrolle. Breakthru TV ist gerade mit dem Auto eingetroffen.«
Murray saß bei Theora und verfolgte die Breakthru-Sendung, als Carter die Nachrichtenzentrale betrat. Er sah, wie der Reporter in das Chefredakteursbüro stürzte – und gleich wieder herausstürmte, als er es leer vorfand. Jetzt hatte er Murray gesehen und kam mit langen Schritten auf ihn zu. Der stand auf, gab Theora einen gutgemeinten Rat: »Halt dir lieber die Ohren zu… vielleicht wird’s unanständig.« Schließlich kannte er Carter schon ein paar Jährchen länger.
Der Reporter kam gleich zur Sache: »Bei dieser ExplosionsStory bin ich gerade ausgebootet worden.« Theora konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie sah, wie schwer Carter atmete. War er etwa die ganze Strecke vom Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach bis hier herunter gelaufen? Aber die Controllerin hätte ihr Mienenspiel besser im Zaum gehalten, denn momentan verstand der Reporter absolut keinen Spaß. »Warum grinst du denn so dämlich?« ätzte er. Theoras Lächeln gefror ihr auf den Lippen. Solche Gemeinheiten war sie von Carter nicht gewöhnt. Das tat weh. »Schon gut, beruhige dich…« Murray versuchte, die Wogen zu glätten, bevor sein bester Mann nichtwiedergutzumachenden Schaden anrichtete. »So was kommt schon mal vor!« »Aber – nicht – bei – MIR!« Theora fürchtete, Carter würde gleich explodieren wie seinerzeit der selige Stu McWilliams. Doch langsam schien er zu merken, wie idiotisch er sich aufführte. »Na gut… na gut! Ihr beide scheint ja mehr zu wissen als ich… also erklärt mir gefälligst, was passiert ist!« Langsam überlagerte der Gedanke, daß weder Murray noch Theora für das Debakel verantwortlich waren, seine Wut. Murray bemühte sich, so sachlich und ruhig wie möglich zu klingen. »Das Ganze war eine Aktion der Weißen Brigade.« Pause. Carters gerade zurückgekehrte Geduld begann sich wieder zu verflüchtigen. »Und wenn schon! Dann war es eben eine Aktion der Weißen Brigade. Was hat das zu bedeuten?« »Das ist ein Handel. Breakthru TV hat die Exklusivrechte, alle Aktionen der Weißen Brigade zu filmen.« Der Chefredakteur bemühte sich, die unangenehme Nachricht so schonend wie möglich weiterzugeben.
Carter starrte ihn mit offenem Mund an. »Nimm mich nicht auf den Arm, Murray!« »Edison… wir haben gerade einen 24stündigen Wettbewerb um die höchsten Einschaltquoten. Da kämpft jeder um einen Vorteil.« Carter bekam den Mund nicht mehr zu. »Na ja, und Breakthru TV hat die Exklusivrechte gekauft. Das ist eben so.« »Wir reden hier von Nachrichten, nicht von Unterhaltung. Seit wann kann man die Rechte an Nachrichten kaufen?« Murray sah seinen schwer atmenden Reporter nachdenklich an. »Bist du wirklich so naiv… oder tust du nur so?« Bevor Carter diese peinliche Frage beantworten mußte, hatte Theora die nächste Breakthru-Sondersendung auf dem Schirm. Die beiden Männer stellten sich hinter ihren Stuhl, um sich die Sache anzusehen. »Hier ist Breakthru TV mit einer sensationellen ExklusivStory!« verkündete ein reichlich blasser Reporter. »Vor wenigen Minuten wurde dieses Gebiet von schweren Explosionen erschüttert. Zum Glück sind keine Menschenleben zu beklagen.« »Woher wollen die das so schnell wissen… bei dem riesigen Gebiet?« höhnte Carter. Keine beantwortete seine Frage, auch nicht der Mann auf dem Bildschirm, der ungerührt fortfuhr: »Wir berichten Ihnen jetzt im Detail, wie es dazu kam, daß…« Ein Rauschen, und statt des Breakthru-Mannes machte sich Max Headroom auf dem Bildschirm breit. »Die Kon, die Konkurrenz kann doch nur eins. Sie kann Wer-wer-werbespots senden, weiter nichts.« Schon war der Computermann wieder verschwunden, aber er hatte erreicht, was er wollte: Theora und Carter lächelten wieder.
Der Breakthru-Reporter fuhr fort: »Wie wir gerade erfahren haben, übernimmt die sogenannte Weiße Brigade die Verantwortung für die Explosionen. Hierbei handelt es sich um eine Gruppierung radikaler Anarcho-Syndikalisten. Wie uns ein Sprecher der Weißen Brigade mitteilte, waren die Explosionen von langer Hand vorbereitet. Mit ihnen wollte die Gruppe ihre Kraft demonstrieren. Man hat uns versichert, daß alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden, denn Menschenleben sollten keinesfalls gefährdet werden. Schon in Kürze wird Ihnen unser Sender weitere Einzelheiten der Affäre bringen.« Murray schnaubte verächtlich. »Dieser billige Verein bringt nicht mal eine richtige Funkstrecke zusammen… seht euch das doch an!« »Aber dafür haben sie die Exklusivrechte an dieser spannenden Story. Richtig… oder nicht?« Im Augenblick hätte Carters Stimme selbst Stahlbeton zerschnitten. Murray steckte die Hände beleidigt in die Hosentaschen und sagte überhaupt nichts mehr. Was konnte er schon dafür? Doch Carter ließ nicht locker. »Also? Was ist denn?« Murray mußte schwer um seine Selbstbeherrschung kämpfen. Er nahm Haltung an und salutierte übertrieben, wie ein Rekrut vor einem Feldmarschall: »Ja! Ja! Sie haben recht… Sir!« Carter merkte, daß er seinem Chef und Theora unrecht getan hatte. Langsam legte sich seine Wut. Er machte einen versöhnlichen Vorschlag: »Na ja, dann können wir uns doch heute freinehmen, oder?« »Ach ja, bitte!« Theora war Feuer und Flamme. Murray schwieg überrumpelt, aber Carter beharrte auf seinem Vorschlag. »Also?« »Warum nicht? Wenn’s euch Spaß macht…«
Im großen Saal der Medienbörse starrte alles gebannt auf den überdimensionalen Wandbildschirm. Für einen Moment vergaßen die Agenten ihr nervenaufreibendes Geschäft, denn die Reportage, die Breakthru brachte, war wirklich sensationell. »Ladies und Gentlemen, auf Breakthru TV können Sie sich verlassen«, tönte der blasse Reporter. »Wir sind stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Schneller als wir ist keiner im Nachrichtengeschäft. Natürlich halten wir Sie auch weiterhin über die Terrortaten der Weißen Brigade auf dem laufenden.« Frank Braddock grinste zufrieden. Als der Reporter vom Bildschirm verschwand, kehrte die gewohnte Hektik in den Saal zurück. »Bravo, Breakthru! Ein echter Knüller!« »Kaufe Werbezeit bei Breakthru! Wer macht mir einen Kurs?« »Ich biete Breakthru TV. Hat jemand Interesse?« Braddock lachte sich ins Fäustchen. Wenn sich erst herumsprach, daß er diese lukrative Story vermittelt hatte, würde er sich vor Angeboten nicht mehr retten können. Der Vidifonsummer rief ihn zu seiner Arbeitsplattform. Er lächelte seinem Geschäftspartner auf dem Bildschirm jovial zu. »Gute Arbeit! Die Sache kommt unheimlich gut an!« »Haben dir die Aufnahmen gefallen, Frank?« »Ausgezeichnet! So muß es weitergehen, wie ein Maschinengewehr, verstanden?« »Natürlich, Frank!«
Bei den Vorstandsmitgliedern von Sender 23 machte sich Krisenstimmung breit. Edwards faßte in Worte, was alle
dachten: »Wie Sie sehen, hat Breakthru TV mit dieser Story einen gewaltigen Vorsprung bei den Einschaltquoten erreicht.« Cheviot nahm den altmodischen Hörer auf, den er so liebte. »Verbinden Sie mich mit Ped Zing, und schalten Sie das Gespräch auf den großen Schirm.« »Sofort!« Augenblicke später erschien der Vorsitzende der ZikZakCorporation, der wichtigste Werbekunde des Senders 23, auf dem Schirm. »Guten Morgen, Sir!« Cheviot setzte zu einer Erklärung an, aber Ped Zing ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Breakthru TV hat meiner Gesellschaft gerade Werbezeit angeboten… und zwar genau zu der Zeit, in der weiter über die Aktivitäten der Weißen Brigade berichtet werden soll.« Die Augen des alten Japaners leuchteten vor Begeisterung. »Eine interessante Sendung! Mit vielen Explosionen!« »Das war Frank Braddock!« Wenn Formby den Mann in diesem Moment greifbar gehabt hätte, wäre sie mit den spitzen Absätzen ihrer Stöckelschuhe auf ihn losgegangen. Cheviot versuchte zu retten, was zu retten war: »Breakthru TV hat weder die Mittel noch die Fähigkeiten, diese hohen Einschaltquoten lange zu halten, Herr Vorsitzender.« »Es bedarf keiner großen Mittel und Fähigkeiten, um mit Ihren momentanen Einschaltquoten zu konkurrieren, Mr. Cheviot! Die Konkurrenz ist Ihnen dicht auf den Fersen! Wenn Sie den Vorsprung bei den Einschaltquoten verlieren, dann verlieren Sie auch ZikZak.« Der Asiate unterbrach die Leitung. »Vielleicht hätten wir Braddocks Angebot doch annehmen sollen.« Ashwell testete die Stimmung in der Runde. Vielleicht konnte er doch noch Vorstandsvorsitzender werden anstelle des Vorstandsvorsitzenden – wenn er es nur geschickt
genug anstellte. »Diese Weiße Brigade ist genau zum richtigen Zeitpunkt aktiv geworden.« Eine Tatsache, die niemand bestreiten konnte. Auch Cheviot nicht.
Nachdem die Breakthru-Leute angerückt waren, hatte auch die Metro-Polizei keinen Grund mehr, die gesprengten Ruinen noch länger zu bewachen. Eine oberflächliche Suche hatte die Angaben der Terroristen bestätigt: Menschenleben waren bei der Explosion nicht gefährdet worden. »Verschwinden wir! Das Gelände ist sauber!« rief der Leiter des Suchtrupps. Die Beamten stiegen in die Mannschaftstransporter. »Wir sind fertig!« bestätigte der letzte Mann. Die Wagenkolonne setzte sich in Bewegung und war bald in einer rostroten Staubwolke verschwunden. Janie Crane fluchte still über die Oberflächlichkeit der Beamten, die noch dazu von ihren sauer verdienten Steuergeldern gar nicht übel bezahlt wurden. Sie war zu weit weg von den Stellen, an denen die Bullen sich umgesehen hatten. Und sie war zu schwach, um sie durch laute Rufe auf sich aufmerksam zu machen. Mit zitternden Fingern zog sie den Schal von ihrem Hals und verband damit die stark blutende Wunde an ihrem rechten Oberschenkel. Aus eigener Kraft würde sie es nie schaffen, hier wegzukommen. Mit dem Bein konnte sie nicht gehen. Und sie hatte niemandem gesagt, wohin sie gewollt hatte. Wenn ihr nicht der Zufall zu Hilfe kam, war sie verloren, das wußte sie. »Was sagt man dazu? Sehr interessant!«
Janie fuhr herum, als sie die Stimme neben sich hörte. Sie sah einen blassen Jüngling mit pomadisiertem Haar, der ihre zerstörte Telekamera schwenkte. Hewett gefiel sich in der Rolle des harten Burschen, vor allem, wenn er es nur mit einer verletzten Frau zu tun hatte. »Dann war die Wärmequelle vielleicht doch keine Ratte«, griente er.
10. Kapitel
Carter und Murray tobten ihren ganzen Frust bei einer Partie Breaker-Ball aus. Dieser schweißtreibende Sport war eine Abart des altertümlichen Squash. Allerdings war die Stirnwand, gegen die man den kleinen Gummiball treiben mußte, in Zielfelder unterteilt. Eine Elektronik maß genau an, wie gut oder schlecht man ins Zentrum spielte und vergab entsprechende Punkte an die Spieler. Auf einem Monitor in der Seitenwand wurde der aktuelle Spielstand angezeigt. Ein zweiter Monitor daneben diente eigentlich als TV- und Vidifon-Anschluß, damit die Spieler jederzeit erreichbar waren oder sich über die neusten Fernsehprogramme informieren konnten. Doch jetzt hatte Max Headroom diesen Monitor okkupiert. Er sah voller Unverständnis, wie sein menschlicher Doppelgänger und der nette Murray sich bis zum Umfallen quälten. Der Schweiß rann ihnen in Strömen übers Gesicht. Und so etwas sollte Spaß machen? Unvorstellbar, sich freiwillig einer solchen Tortur zu unterziehen! »Es ist immer wieder dieselbe Geschichte«, japste Murray. »Das Geld spielt die Hauptrolle!« keuchte Carter. Er hämmerte den Schläger gegen den Ball, als steckten alle seine Feinde in der unschuldigen Gummikugel. »Wie recht du hast!« Volley. »Aber… Sender 23 hat doch mehr Geld als Breakthru TV.« Knallharter Return. »Warum hat Cheviot dann die Reportage über die Weiße Brigade nicht gekauft?« Stopper genau vor Carters Füße. Nicht mehr zu returnieren.
»Ich weiß es nicht!« Der schlaksige junge Mann atmete tief durch. »Gut gespielt, Murray! Puuuh…« Carters Luft war immer noch etwas knapp. »Vielleicht ist was faul an der Sache.« Murray konnte nicht antworten. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Was denn, was denn? Seid ihr etwa schon erschöpft?« gackerte Max vom Schirm. Carter hob drohend den Schläger. »Wer wie du in einem Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen!« Max setzte sein Unschuldsengelgesicht auf: »Steine werfen, werfen, ist das etwa auch ein Spiel! Ha?« Murray beschloß, die Bemerkung zu überhören. Er konzentrierte sich lieber auf seinen Aufschlag. »Was könnte an einer guten Reportage denn faul sein?« Das hätte er besser nicht gesagt. Carters geschmetterter Return war nicht zu holen. »Dein Punkt«, japste der Chefredakteur, der langsam seine Jährchen spürte. »Ja.« Zu mehr als dieser lapidaren Feststellung reichte, auch die Luft des jüngeren Mannes nicht mehr. Max legte seine elektronische Stirn in fragende Falten. Diese Miene hatte er bei einem Staatsanwalt aus einer Krimiserie abgeguckt. »Warum spielt ihr nur mit einem Ba-ba-ball?« »Das weiß ich auch nicht, Herr Trainer!« »Pah!« Max war sauer. Edison zeigte sich mal wieder absolut nicht kooperativ! Frechheit! Carter ließ Murray keine Zeit zum Verschnaufen. Sein Aufschlag kam knallhart. »Sag mal, Murray… wer bietet so eine Reportage eigentlich an?« »Ein Programmhändler!« »Woher kriegt der das Material?«
»Ich nehme an… er hat einen Vertrag mit den Terroristen geschlossen.« Vor lauter Überraschung verriß Carter seinen Schlag. Der Ball verfehlte die Zielwand und tröpfelte schlapp zu Boden. Aber der Reporter hatte plötzlich jedes Interesse an dem Spiel verloren. »Ich frage dich: Wie kann man einen Vertrag mit Terroristen abschließen?« Murray brachte kein Wort über die Lippen. »Du antwortest nicht?« Endlich kam Leben in den Chefredakteur. »Das kriegen wir raus!« Die beiden Männer stürmten aus der Sporthalle. Von seinem Bildschirm aus sah Max ihnen resignierend nach: »Tja, wenn ihr nicht spielt, seid ihr am besten! Hhhmmh!« Da ihm keiner mehr zuhörte, konnte er ruhig auf seinen attraktiven Sprachfehler verzichten.
Total verschwitzt, nur mit kurzen Hosen und T-Shirts bekleidet, stapften Carter und Murray in die Nachrichtenzentrale. Jede Spur von Resignation war von ihnen abgefallen. Jetzt waren die beiden nur noch zwei voll auf ihre Aufgabe konzentrierte Profis. »Wie haben die so schnell die Kameras da hingebracht?« fragte Carter. »Tja, und wer hat zum Beispiel die Explosion aufgenommen?« wollte Murray wissen. »Die Story wurde schon vor der Explosion angeboten!« »Der Programmhändler hat also schon im vorhinein gewußt, daß die Explosion stattfinden wird.« »Du hast es erfaßt.«
Theora saß vor ihrem Kontrollpult und roch gedankenverloren an einer roten Rose, die ihr Carter geschenkt hatte, bevor er mit Murray zum Breaker-Ball verschwunden war. Nur eine Entschuldigung für sein unmögliches Benehmen vorhin? Oder sollte die kostbare Blume mehr sagen? Die Controllerin mußte unwillkürlich lächeln, als sie die beiden Männer in den kurzen Hosen sah. Intensiv musterte sie Edisons Knie und stellte mit Kennerblick fest: »Aufregende Beine!« »Danke sehr! Vielleicht könnte ich mir deine auch mal ansehen!« Bevor Theora auf dieses interessante Angebot näher eingehen konnte, tönte Max vom nächsten Bildschirm: »Ich wünschte, man würde mir auch Boi-bai-beine machen! Hhmh!« Doch offensichtlich hatte niemand Interesse an einer Unterhaltung mit ihm. »Gib mir Cheviot!« verlangte Murray. »Okay!« Theora schaltete eine Videoleitung in den großen Sitzungssaal.
»Ich weiß genau, wer dieser Programmanbieter ist, Murray.« Cheviot kramte seine Pfeife hervor und begann, sie sorgfältig zu stopfen. Einige der Direktoren sahen leicht indigniert zu dem Chefredakteur auf dem Wandmonitor, der mit kurzer Hose und Turnhemd nur spärlich bekleidet war. Formby allerdings konnte ihr Interesse für die nackten Beine des Mannes kaum verhehlen. Der Vorstandsvorsitzende fuhr fort: »Der arme Kerl könnte ziemlichen Ärger bekommen.«
»Armer Kerl?« Augenblicklich hatte Formby Murrays Knie vergessen. »Das ist ein Wahnsinniger! Er ermuntert die Leute zu gefährlichen Handlungen! Vielleicht gibt er sogar offizielle Aufträge! Ich schlage vor, wir decken die Sache auf!« Ein Vorschlag, dem Edwards nur zustimmen konnte: »Das ist die richtige Einstellung, Julia.« »Als Belohnung bekommen wir die hohen Einschaltquoten. Und zwar genau dann, wenn wir sie brauchen.« Cheviot nickte. Er entzündete eins seiner kostbaren, altmodischen Streichhölzer und setzte den Pfeifentabak in Brand. »Einverstanden. Murray, Carter übernimmt die Story. Er bekommt jede Unterstützung. Diese Enthüllungsstory wird ein ganz großer Erfolg.« Plötzlich blinzelte der alte Mann listig. »Ach ja, Murray, noch etwas… ziehen Sie lange Hosen an!« Die Direktoren am Tisch lachten beifällig. Nichts war vergnüglicher als ein Witz auf Kosten der Angestellten.
»Du hast mitgehört!« Murray, der keine Anstalten machte, seinen Sportdress zu wechseln, sah Carter an. »Wo willst du anfangen?« »Bei der Explosion. Theora, überprüf das Gelände.« »Sofort.« Die Controllerin rief eine Sattelitenkarte der Industrieruinen ab. Die Überwachungseinrichtungen spürten keine Unregelmäßigkeiten auf. »Es ist unbewacht. Sie sind alle nach Hause gefahren.« »Okay.« Carter war wieder ganz der alte, sprühte vor Tatkraft. »Martinez soll sich bereithalten, ich zieh mich um.« Er ging nicht aus der Zentrale, er rannte. Krrrks! Max machte sich wieder auf dem Schirm breit. »Wer hat eigentlich gewonnen?«
»Das Spiel endete unentschieden«, brummte Murray, stand auf und ging hinüber zu seinem Büro. Aber Max war noch nicht zufrieden. »Und wer hat das Unentschieden gew-gew-gewonnen?« Theora lachte. Egal, wie sehr er die anderen nervte – sie mochte Max und seine kruden Späße.
Der rote Hubschrauber flog über die Randbezirke des Sektors sieben nach Norden, auf die Ruinen des alten Industriegebiets zu. Martinez und Carter unterhielten sich über die Gegensprechanlage. Beim Lärm der Turbine und dem Geknalle der Rotoren hätte man sonst sein eigenes Wort kaum verstanden. Der Pilot reagierte ungläubig auf das, was der Reporter ihm berichtete. »Der Kerl verkauft Berichte über Terroristen ans Fernsehen?« »Ja, er filmt ihre Aktionen und bietet die Bilder dann den Sendern an.« Carter sah nach unten. Was hatte ein Lastwagen in dieser Einöde verloren? Aber dann konzentrierte er sich wieder auf seine Aufgabe. Er hatte Besseres zu tun, als sich um fremde Laster zu kümmern. Ein Fehler. Denn es handelte sich um den Kastenwagen von Lucian und Hewett, die auf dem Rückweg zu ihrem Versteck waren. Janie Crane lag gefesselt auf dem Boden. Sie stöhnte leise. Der schlechtgefederte Wagen rumpelte und ruckte. Jeder neue Stoß sandte ein Woge von Schmerz durch den gepeinigten Körper der jungen Frau. Hewett drehte sich um und grinste sie an. Er liebte es, andere leiden zu sehen.
Martinez hatte den Hubschrauber vor der zerstörten Werkhalle abgestellt. Jetzt waren keine Polizisten mehr hier, um die Leute vom Sender 23 zu verscheuchen. Carter und der Pilot kletterten über die Trümmer und sahen sich aufmerksam um. Martinez schüttelte den Kopf. »Was haben die hier eigentlich in die Luft gesprengt? Das waren doch sowieso schon Ruinen.« »Ja, allerdings.« Carter kletterte auf eine Schutthalde. Von dort oben hatte er einen besseren Überblick. »Ein Wahnsinn, hier Dynamit zu verschwenden.« Plötzlich wurden die scharfen Augen des Piloten auf einen feucht schimmernden roten Fleck aufmerksam. »Sehen Sie mal… das scheint Blut zu sein. Anscheinend haben ein paar Ratten dran glauben müssen.« Carter kam von dem Schuttberg herunter. Irgend etwas gab knirschend unter seinem schweren Stiefel nach. »Was ist denn das hier?« Er bückte sich. »Eine Videocassette.« Martinez hatte das verschmutzte rote Etikett schon identifiziert: »Die gehört unserem Sender!« »Das weiß ich… aber wie kommt sie hierher?« Carter war fest entschlossen, diese Frage zu klären.
Vom großen Wandschirm im Vorstandssaal grinste Frank Braddock das versammelte Direktorium des Senders 23 an. Die Arroganz auf seinem Gesicht war nicht mehr zu übertreffen. »Verzeihen Sie, wenn ich störe, Benny, aber wir haben ja jetzt wohl gerade die sogenannte tote Zeit. Die Stunden vor dem großen Abendprogramm!« Cheviot besann sich auf die gute Erziehung, die er vor vielen Jahren genossen hatte, und lächelte so höflich, wie er konnte. »Das war früher einmal so… bevor wir tausend Kanäle hatten.
Erstaunlich, daß Sie sich an diese Zeit erinnern. Das finde ich richtig rührend.« Aber dann wurde seine Miene wieder knallhart. »Kommen Sie zur Sache, Frank. Was wollen Sie?« »Ich will nur, daß Sie mich akzeptieren. Und ich glaube, das werden Sie, wenn Sie sehen, was gerade bei Breakthru TV läuft.« Braddocks Grinsen wurde noch arroganter, wenn das überhaupt möglich war. »Sie sollten mal umschalten«, flötete er. Cheviot zuckte mit den Schultern. Demonstrativ gelangweilt drückte er auf den Knopf, der das Breakthru-Programm auf den großen Monitor holte. Er wußte, daß seine Direktoren ihn genau beobachteten. Wenn er sich eine Blöße gab, würden sie die gnadenlos ausnützen. Auch Julia. Auf dem Bildschirm erschien ein hagerer Kerl mit schütteren, ausgefransten blonden Haaren. Die Kamera lag zu seinen Füßen und zeigte ihn in Heroen-Pose. Ein viel zu weiter Stoffmantel und ein karierter Schal, den der Mann mehrmals um seinen Hals gewickelt hatte, verhinderten, daß man bei dieser Aufnahme-Position allzuviel von seinem Gesicht sah. Man hörte gerade noch die letzten Worte des BreakthruKommentators: »… Mr. Croyd Hauser.« Schon ließ dieser Hauser seine verquaste Ideologie auf die unschuldigen Fernsehzuschauer los: »Bei allen Kämpfern gegen das etablierte System wurde es zur Sitte, im nachhinein die Verantwortung für alle Schläge zu übernehmen, die gegen diese korrupte Gesellschaftsordnung geführt wurden. Die Weiße Brigade lehnt so einen Unsinn entschieden ab. Wir sagen Ihnen vorher, wann es losgeht… jetzt!« Hauser sprang zur Seite. Er riß einen Arm aus der Manteltasche und gab irgendwem ein Zeichen. Als er die Kamera nicht mehr blockierte, sah man, daß er sich in einem
Ruinengebiet aufhielt. Im nächsten Augenblick zerfetzte eine mächtige Detonation die Reste einer Halle, vielleicht 200 Meter von der Kamera entfernt. Das Direktorium des Senders 23 war schockiert. Breakthru TV zeigte jetzt einen Studiosprecher, der mit professioneller Gelassenheit verkündete: »Zur Zeit haben wir keine weiteren Informationen… bis auf die Tatsache, daß die Metro-Polizei sich dem Tatort mit Höchstgeschwindigkeit nähert. Wir melden uns wieder, sobald es etwas Neues gibt.« Braddocks Grinsen erschien wieder auf dem Schirm. Er fuchtelte mit seinen Wurstfingern vor dem Aufnahmeobjektiv herum, als wolle er durch die Leitung greifen. »Na, Benny? Sehen Sie sich die Einschaltquoten an!« »Wirklich beachtenswert.« Cheviot verlor nicht für eine Sekunde seine überlegene Ruhe, obwohl Braddock nach Kräften versuchte, ihn zu provozieren. Er wollte es dem Mann heimzahlen, daß er ihn so lange hatte links liegen lassen. Cheviot würde noch darum betteln, Braddock-Programme kaufen zu dürfen! »Ja, ja… ich bin eben ein Schoßkind des Glücks! Sogar Sie müssen jetzt zugeben… diese Story verkauft sich gut!« »Das bestreite ich nicht… aber Edison Carter verkauft sich besser.« Cheviots Worte kamen knallhart, wie Pistolenschüsse. »Gerade jetzt macht er eine interessante Reportage über die Vermarktung des Terrorismus!« Jede Fröhlichkeit war von Braddocks Gesicht verschwunden. Er hatte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Panik stieg in ihm auf. »Deshalb wird Sender 23 die Rechte an den Berichten über die Weiße Brigade nicht kaufen. Sie haben es etwas übertrieben… auf Wiedersehen, Frank. Viel Glück.« Cheviot unterbrach die Leitung.
Wütend hämmerte Braddock auf seinen unschuldigen Vidifonapparat ein. Damit hatte er nicht gerechnet. Wenn Sender 23 den für seine Spürnase bekannten Edison Carter auf die Sache ansetzte, war Braddocks Lizenz als Medienagent in Gefahr. Wenn diese Sache schiefging, würde er nicht mal mehr mit Piratensendern Geschäfte machen können. Er mußte sich schleunigst etwas einfallen lassen.
11. Kapitel
»Schneller! Schneller!« schrie der Papagei und klammerte sich auf dem Dach des ferngelenkten Modellautos fest, das durch das Labor des Chefs der Abteilung Forschung und Entwicklung des Senders 23 flitzte. Bryce Lynch brauchte mal wieder eine kreative Pause. Das ferngesteuerte Auto war eine echte Herausforderung an sein Können, schließlich wollte er keinen Unfall bauen, wenn Coco mitfuhr. Aber wenn er zu wenig Gas gab, schimpfte der kluge Papagei, der Bryce die Vorlage zu seinem ersten elektronisch generierten Lebewesen geliefert hatte. Theora Jones, Edison Carter und der Pilot Martinez kamen durch die Geheimtür ins Labor. Ärgerlich hielt Bryce sein Spielzeug an. Wenn Carter jetzt auch noch seinen Piloten hierherschleppte, war das Geheimnis des 13. Stockwerks bald keines mehr! Der Reporter beugte sich zu dem Papagei hinab, um ihn am Köpfchen zu kraulen, doch Coco langte mit seinem kräftigen Schnabel zu. Gerade noch rechtzeitig zog Carter seine Finger zurück. Bryce war mit seinem Papagei mehr als zufrieden. Edison kannte die Launen des Knaben. Wenn man etwas von ihm wollte, hatte er grundsätzlich keine Zeit. Dann mußte man ihm ein bißchen Druck machen… Er hielt ihm die Cassette unter die Nase, die er im Schutt gefunden hatte. »Äh, Bryce… ich möchte wissen, was hier drauf ist.« Bryce musterte den reichlich defekten Gegenstand intensiv, dann stellte er fachmännisch fest: »Da ist ein Fußabdruck drauf.«
»Laß die dummen Scherze, Bryce! Ich hab’ es ziemlich eilig!« Der Junge blieb gelassen. »Eile mit Weile, Edison.« Er hob sein Modellauto, auf dem noch immer Coco thronte, vom Boden und stellte es neben den Computer auf die Arbeitskonsole. Carter drückte ihm die Cassette, aus der ein loser Bandstreifen heraushing, nachdrücklich in die Hand. »Hier!« »Schöne Bescherung! Das wird etwas dauern!« Voller Abscheu betrachtete Bryce die demolierte Cassette. Wie konnte man nur einen wertvollen Datenträger derart mies behandeln? Er wickelte das lose Band und das Gehäuse und hielt Carter die Cassette hin. »Leider verfüge ich momentan nur über sehr wenig Zeit.« »Ich warte!« Der Reporter nahm die Cassette nicht an. Er sah ziemlich ärgerlich aus. Bryce seufzte. Na gut. Warum nur mußte ihm der Mann immer ausgerechnet dann lästig fallen, wenn er absolut keine Lust zum Arbeiten hatte?
Hewett hatte den Lastwagen vor Hausers Versteck im alten Industriegebiet geparkt. Er war schon hineingegangen, um den Chef der Weißen Brigade auf die Ankunft ihres unfreiwilligen Gastes vorzubereiten. Lucian legte sich einen Arm Janies um die Schulter und zerrte sie aus dem Wagen. Sie stöhnte. Mit dem verletzten Bein konnte sie nicht auftreten. Lucian trug sie mehr, als daß sie ging. Dem selbsternannten Revolutionär war nicht ganz wohl in seiner Haut. In seinen wirren Gedankengängen spielte Gewalt eine große Rolle. Gewalt gegen Sachen. Wenn Menschen zu Schaden kamen, regte sich sein Gewissen.
»Tut mir leid, daß Sie verletzt worden sind. Ich ahnte gleich, daß Ihre Wärmeausstrahlung für eine Ratte zu groß war.« Janies einzige Antwort war ein gequältes Stöhnen. Lucian versetzte seinem inneren Schweinehund einen deftigen Tritt. Wer sich für den bewaffneten Kampf entschieden hatte, mußte manchmal Opfer einkalkulieren. So war das eben. Hauptsache, Lucian selbst gehörte nicht zu den Opfern. Ein kluger Kopf wie er mußte die Revolution schließlich überleben, um den armen dummen Massen nach dem großen Sieg verkünden zu können, wo’s langging!
Bryce schob eine Cassette in sein Abspielgerät. Mit irgendwelchen technischen Tricks hatte er die Informationen des beschädigten Bandes auf dieses einwandfreie übertragen. »Ich will nichts versprechen, aber irgend etwas werden wir sehen. Das Band war in ziemlich schlechtem Zustand… ich hab’s mit einer Laserabtastung versucht!« Der Bildschirm zeigte eine von vielen Störstreifen überlagerte Aufnahme des alten Industriegebiets. Am unteren Bildrand war ein Timecode eingeblendet. »Schrecklich, wieviel Zeit man für so eine Arbeit braucht«, stöhnte Bryce. Carter beschloß, die Bemerkung zu überhören. Er beschäftigte sich lieber intensiv mit Coco, der immer noch auf der Konsole hockte und seine Beißlust abgelegt zu haben schien. Bryce gab seinem Computer ein paar Befehle ein. Er schaffte es tatsächlich, fast alle Störstreifen aus dem Bild zu nehmen. Jetzt sahen Carter und Theora, die unmittelbar hinter dem Jungen stand, dasselbe, was auch Janie durch den Sucher beobachtet hatte: Den Wagen der Terroristen, der sich langsam in Bewegung setzte und von der Halle wegrollte.
Das Bild wirbelte durcheinander, Staub legte sich vor das Objektiv – dann wurde der Bildschirm dunkel. »Da waren die Explosionen!« rief Carter. »Fahr zurück… anhalten!« Auf dem Monitor stand das eingefrorene Bild des Lastwagens mit Kamera und Antenne auf dem Dach. Der Reporter winkte seinen Piloten, der sich leicht verunsichert im Hintergrund hielt, herbei. »Martinez!« Dem genügte ein kurzer Blick auf den Schirm, um zweifelsfrei festzustellen: »Ja, genau da waren wir vorhin. Warum wohl sollte jemand dort Aufnahmen machen?« Ungelöste Probleme faszinierten Bryce. »Wirklich sehr merkwürdig…« Seinen Ärger über die Störung hatte er längst vergessen. »Genau zu der Zeit, als der Wagen da stand, ereignete sich auch die Explosion. Das Band wurde nicht gekürzt…das erkennt man am Timecode.« Er deutete auf die Zahlen am unteren Bildrand. Theora zog ihre hübsche Nase kraus, was sie noch niedlicher aussehen ließ: »Warum hat man den Wagen in Breakthrus Fernsehbericht nicht gesehen?« »Gute Frage.« Leider hatte Carter auch keine Antwort darauf – wohl aber Max, der sich einmal mehr unaufgefordert auf den Monitor schaltelte. »Aaaah! Wei-wei-weil von diesem Wagen die Explosion übertragen wurde. Übertragen wurde.« Schon machte er wieder Platz für das Videobild, blieb aber in der Tonleitung. »Max hat recht!« Carter deutete auf den Schirm. »Da! Die haben eine Kamera auf dem Dach!« »Jjja. Jjja. Denn sicher ist das kein Auspuffrohr«, kam der Kommentar des unsichtbaren Computermannes. Aber Max konnte es seinem Publikum nicht zumuten, daß es auf seinen bezaubernden Anblick verzichten mußte. Also blendete er
auch wieder sein Bild auf den Schirm. Max sah sehr mitgenommen aus. »Aaach… dies-dies-diese logischen Schlußfolgerungen sind sooo ermüdend. Ejaaa.« Trotz seiner tollen Vorstellung blieb Max der verdiente Applaus verwehrt, denn alle drehten die Köpfe zur Tür, als Murray hereinstürmte. Langsam, fand Bryce, ging es in seinem einst so gemütlichen geheimen 13. Stockwerk zu wie in einem Taubenschlag. Zu allem Unglück war Murray nur mit kurzer Sporthose und verschwitztem T-Shirt bekleidet. Hatte der Mann denn überhaupt kein Stilgefühl? »Bryce, schalte auf Leitung 16«, verlangte er kurz und bündig. »Ich habe etwas sehr Interessantes für euch!« Der Junge hatte jede Lust am Widerspruch verloren und holte die gewünschte Leitung auf seinen Hauptmonitor. Ein Mann erschien, ungefähr in Carters Alter. Der Reporter hatte ihn schon einmal irgendwo gesehen… ja, das war einer der Techniker, die für die Geräteausgabe an Reporter zuständig waren. Warum wirkte der Mann so nervös? »Erzählen Sie’s noch mal, Phil!« befahl Murray. Phil lockerte seinen Kragen, als wäre er ihm plötzlich zu eng geworden. Er fühlte sich mehr als unwohl in seiner Haut. Zögernd stotterte er los: »Na ja… äh… sie kam gestern abend zu mir. Und… ich muß sagen… sie war sehr nett…« Carter’ warf Murray einen gequälten Blick zu. Was sollte diese Lebensbeichte eines Gehemmten? »Sie brachte eine Flasche Wein mit…«, fuhr Phil fort. »Und… na ja… wie ich schon sagte… ich…« »Verschonen Sie uns mit Einzelheiten«, brummte Murray. »Hier hört eine Frau zu. Weiter!« »Ja… sie wollte sie unbedingt haben… ich konnte nicht nein sagen. Also habe ich… habe ich sie ihr gegeben.«
Carter war schon wieder auf dem besten Weg, unwirsch zu werden. »Was hat er ihr gegeben?« Murrays Antwort machte einiges klar: »Die RR7. Die Telebildkamera.« »Wem?« »Janie Crane. Unserer ehrgeizigen Nachwuchsreporterin.« Carter starrte auf den Bildschirm. Wenn er diesen Trottel von Phil in der nächsten Viertelstunde in die Finger bekommen sollte, würde er ihn zu Papageienfutter verarbeiten und höchstpersönlich an Coco verfüttern!
Carter war deshalb so wütend, weil er die Risiken, die ein Action-Reporter täglich auf sich nahm, genau kannte. Eine Anfängerin wie Janie aber riskierte ihr Leben, wenn sie in dem Großstadtdschungel da draußen auf eigene Faust Nachforschungen anstellte. Zu dieser Erkenntnis war Janie mittlerweile auch gelangt. Aber momentan konnte sie nicht darüber nachdenken. Denn sie hatte das Bewußtsein verloren. Eine Frau aus Hausers Bande sah kurz nach der jungen Reporterin, die auf einem notdürftig hergerichteten Lager in einem kleinen Verschlag ruhte. Als sie sah, daß die Gefangene noch atmete, entfernte sie sich wieder. Der Verschlag war einmal das Büro eines Ingenieurs gewesen, der die Verantwortung für die mächtigen Maschinen in der großen Kraftwerkshalle trug, in deren östlicher Ecke er seinen Arbeitsplatz hatte. Doch in den Tagen Edison Carters arbeiteten weder Menschen noch Maschinen in der Halle. Das Kraftwerk war längst stillgelegt und diente Croyd Hausers Gang jetzt als Unterschlupf.
Hauser stand am anderen Ende der Halle und unterhielt sich mit Hewett. Der hatte sich die Telekamera quer über Schultern und Nacken gelegt und hielt sie mit beiden Händen fest – eine Pose, die er von einem vergilbten James-Dean-Foto abgesehen hatte. Hewett kam sich unheimlich stark vor. Hauser ließ ihn in dem Glauben. Wen störte es, ob der Kerl ein Idiot war oder nicht? Hauptsache, er war nützlich. Der Chef der Weißen Brigade war in jungen Jahren ein Genie gewesen. Doch er hatte die harte Wirklichkeit der Welt, in der er leben mußte, nicht ertragen. Und so war er fast unmerklich zwar, aber doch endgültig auf die andere Seite des schmalen Grates gewechselt, der Genie und Wahnsinn trennt. »Ich will nicht, daß die Kleine mich sieht«, stellte Hauser fest. »Hat sie schon viel erzählt?« »Sie hat uns eine Menge erzählt«, grinste Hewett. »Nur nicht, wer sie ist.« »Hat sie euren Wagen gesehen… als ihr die Explosion gefilmt habt?« »Da fragen Sie noch? Daran kann doch wohl kaum ein Zweifel bestehen. Ach ja… « Hewett nahm die Kamera von der Schulter und drückte sie Hauser in die Hände. »… leider steckte keine Videocassette in ihrer Kamera.« »Wer benutzt so ein Modell?« Hewett zuckte die Schultern und grinste blöd. »Keine Ahnung.« Ein teuflisches Lächeln verzerrte Hausers Gesicht. »Ich werde die Kleine wohl fragen müssen.« Das irre Lachen des Oberterroristen hallte noch lange durch die leere Halle.
Martinez hatte seinen Hubschrauber wieder in den Luftraum nördlich des Sektors sieben gebracht. Carter, der neben ihm saß, spähte angestrengt über die schier unendliche Einöde,
deren Ruinen auf gespenstische Art an die Vergänglichkeit allen menschlichen Strebens gemahnten. Er machte sich Sorgen um seine junge Kollegin, vor allem, weil nirgendwo eine Spur von ihr zu entdecken war. »Keine Sorge, Edison.« Martinez spürte, was in dem Mann zu seiner Linken vorging. »Janie ist ein ziemlich cleveres Mädchen.« »Aber wo steckt sie?« Theoras Stimme aus dem Funkgerät ersparte Martinez die Antwort auf eine Frage, die er nicht beantworten konnte. »Ich habe im Infrarotbereich Auspuffgase entdeckt! Ich zeige euch die Grafik, Edison!« Mit Hilfe der Daten aus der Satellitenüberwachung schuf Theoras Computer eine dreidimensionale Darstellung des Ruinengeländes. Eine Reihe blinkender Punkte symbolisierten die Wärmespur, die sich quer durch das Gelände zog. Die Controllerin überspielte die Darstellung auf den Zentralmonitor im Hubschrauber-Cockpit. Gleichzeitig shiftete sie die Grafik so, daß sie das Gebiet jetzt genau aus Martinez’ Blickwinkel zeigte. Der Pilot brauchte der Spur auf dem Bildschirm nur nachzufliegen. Kinderspiel für einen Könner wie ihn. »Alles klar, Kontrolle! Wir fliegen da hin«, gab Carter durch. Er tat so, als spräche er mit sich selbst, aber er wollte natürlich, daß Theora jedes einzelne Wort mithörte: »Die verrückte Reporterin muß während der Explosion hiergewesen sein… warum machen Frauen nur so etwas Unlogisches?« Die Controllerin grinste, aber sie verkniff sich jeden Hinweis auf Carters unzählige unlogische Handlungen. Sollte er doch sein männliches Ego pflegen, wenn ihm das etwas brachte! »Wahrscheinlich war sie schon seit etlicher Zeit an dieser Story dran«, vermutete Theora. »Ich wette, sie ist diesem Fahrzeug auch gefolgt.«
Der Computer hatte sich in der Darstellung seiner Grafik dem Flugtempo des Hubschraubers angepaßt. Die Abgasspur endete vor zwei noch ziemlich intakten Gebäuden, die deutlich rot gefärbt waren. Rot bedeutete Wärmestrahlung! Aber die hatte hier im Ruinengebiet nichts zu suchen. »Hoffen wir, daß Janie kein tragisches Ende gefunden hat«, tönte Carter über Funk. »Wir sind jetzt am Ziel, Kontrolle… wir gehen runter.« Der Hubschrauber schwebte gefährlich dicht über den Rand der hochaufragenden Ruinen. Mit jahrelang erworbener Routine brachte Martinez den zerbrechlichen Vogel in einer Wolke aus aufwirbelndem Staub und Rost zu Boden. Noch näher konnte er an die Gebäude mit der Wärmestrahlung nicht heran, sonst wären die Gestalten, die sich dort verborgen hielten, vom Rotorlärm gewarnt worden. Ein blinkendes Codesignal zeigte Theora auf ihrem Computerbildschirm den Landeplatz des Hubschraubers an. »Ich habe euch deutlich auf meinem Monitor«, gab sie durch. »Kein Anzeichen, daß ihr von irgend jemandem geortet werdet.« »Danke, Kontrolle.« Theoras schneller, aber gründlicher Sicherheitscheck blieb ergebnislos. »Keine Aktivitäten zu erkennen.« Carter öffnete die Tür des Helikopters. Er stieg aus und langte in das Gepäckteil hinter den Sitzen. Dort hatte er sein ganz spezielles Einsatzfahrzeug verstaut: ein Klappfahrrad mit winzigen Rädern. Doch Sitz und Lenker waren hoch genug, um auch einem Erwachsenen bequem Platz zu bieten. Er lehnte den Drahtesel, den er beim Trödler erstanden hatte, an den Helikopter. Carter bedauerte die Tatsache, daß seines Wissens nach heute auf der ganzen Welt keine Fahrräder mehr gebaut wurden.
»Sie warten hier, bis ich zurückkomme, klar?« wies er seinen Piloten an. »Klar.« Martinez liebte kleine Extratouren von Zeit zu Zeit. Doch wenn er versprach, keine zu unternehmen, konnte man sich hundertprozentig auf ihn verlassen. »Bleiben Sie mit Theora und mir in Verbindung. Vielleicht brauche ich Hilfe.« »Nur keine Angst.« Martinez reichte dem Reporter die Funkkamera. »Aber seien Sie vorsichtig. Und… hey, spielen Sie nicht Zielscheibe, okay?« »Ich versuche mein Bestes.« Carter hängte sich die Kamera am Trageriemen über die Schulter, stieß sich mit den Füßen vom Boden ab und radelte los. Auf den ersten Metern war es gar nicht so einfach, das Gefährt mit den winzigen Rädern auf einer halbwegs geraden Spur zu halten. Der Reporter fuhr die schönsten Schlangenlinien, bis er auf ein halbwegs vernünftiges Tempo beschleunigt hatte. »Kontrolle? Ich rase jetzt zum Einsatz!« Unwillkürlich mußte Theora lächeln, als sie sich Edison auf seinem kuriosen Rad vorstellte. Das Positionssignal der Senderkamera kam klar und deutlich herein. Sie sah, wie es sich langsam über den Schirm schob. Das reinste Schneckentempo! Na ja. Das Fahrrad war zwar nicht einmal ansatzweise so schnell wie der Hubschrauber. Aber dafür auch wesentlich weniger auffällig.
Croyd Hauser hatte nicht die geringste Ahnung, wie dicht man ihm auf den Fersen war. Und selbst wenn er es gewußt hätte – einen Mann wie ihn störten solche Kleinigkeiten nicht. Er tat gerade etwas für seinen in die Jahre gekommenen Körper, als Frank Braddock ihn über die geheime
Vidifonverbindung anrief. Normalerweise hätte der Medienagent schallend gelacht, wenn er gesehen hätte, wie Hauser Gewichte stemmte – im Mantel und mit um den Hals geschlungenem Schal. Ein Bodybuilder, wie er im Witzbuch stand. Doch in diesem Augenblick war Braddock nicht nach Lachen zumute. »Hör zu… wir stecken in der Klemme, Croyd!« Der Terroristenanführer lachte nur. »Aber warum denn? Wir haben doch schöne Aufnahmen geliefert.« »Sender 23 macht Ärger. Dieser Carter ist an der Story dran… und er jagt uns!« Stellte sich Hauser nur dumm, oder war er es wirklich? Jeder normale Mensch, der etwas zu verbergen hatte, wurde nervös, wenn Carter ihm auf der Spur war. Dieser Reporter hatte seinen guten Ruf nicht von ungefähr. Nur Hauser blieb die Ruhe selbst! Braddock versuchte, ihn wachzurütteln: »Außerdem hat euch irgendeine Reporterin gefilmt!« »Wir haben die Kleine.« Hauser ließ die Hantel zu Boden fallen. Er trat ans Vidifon und stellte den Ton leiser. Franks Gebrüll nervte. »Carter hat nicht die geringste Ahnung, wo wir stecken. Nicht nervös werden!« »Croyd… wenn die Geschichte auffliegt, kriegen wir Schwierigkeiten! Ich ganz besonders!« »Breakthru TV hat hohe Einschaltquoten. Die machen garantiert weiter. Sender 23 ist unwichtig.« Braddock bekam fast einen Herzanfall über so viel blödsinniges Phlegma. »Croyd, sei nicht so optimistisch. Wenn Sender 23 hinter unseren Schwindel kommt, lassen uns alle fallen… wie eine radioaktive Kartoffel!«
Der Medienagent wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. »Ich wäre damit am Ende… ich müßte den Beruf wechseln!« Hauser grinste. Er hatte nicht das geringste Interesse an Braddocks Problemen. »Ohne Risiko gibt’s keinen Profit, so ist das nun mal. Und jetzt beruhige dich, Frank. Bisher lief doch alles bestens. Ich hab’ noch ein besonders schönes Finale für dich.« Ungezügelter Fanatismus leuchtete aus den Augen des Terroristen: »Vielleicht gibt’s dabei ein paar Verletzte… aber dieses Finale könnte uns noch viel Geld einbringen. Du mußt es verkaufen, Frank! Breakthru TV beißt garantiert an!« »Du bist ein Träumer, Croyd. Das warst du schon immer. Du lebst in einer Klischee-Welt, du mit deiner amateurhaften Feierabendrevolution. Jetzt schlägst du auf einmal vor, Menschen umzubringen!« Braddock erschauerte, als ihm zum ersten Mal richtig klar wurde, mit was für einem Psychopathen er sich da eingelassen hatte. Trotz all seiner hochgestochenen Reden von Revolution und Befreiung der Unterdrückten ging es Hauser in erster Linie darum, Angst und Schrecken zu verbreiten. Er liebte es, wenn die Leute ihn fürchteten. Er geriet geradezu in Ekstase, wenn er Macht hatte über die Leben anderer Menschen. »Du bist total verrückt! Ich bin Geschäftsmann… kein Freiheitskämpfer, verstehst du? Unsere Abmachung war klar! Menschenleben werden nicht aufs Spiel gesetzt!« Hauser atmete tief durch. Kommentarlos unterbrach er die Verbindung. Wie konnte Frank es nur wagen, ihn verrückt zu nennen? Der würde sich noch wundern! Solange er der Revolution nützlich war, durfte er sein schäbiges Leben noch behalten. Doch wenn sich erst die Proletarier aller Länder unter Hausers Führung vereinigt hatten, würde Braddocks
Kopf als einer der ersten rollen. Als einer der ersten von vielen. Hauser wußte, daß er vor allem Geld brauchte, wenn er seine Revolution erfolgreich durchführen wollte. Es war nicht allzu schwer, in dieser verrückten Welt an Geld zu kommen. Man mußte nur den richtigen Dreh kennen. Er wandte sich zum treuesten all seiner Kampfgefährten um. Hewett wartete respektvoll im Hintergrund. »Schaff das Mädchen ins Fahrzeug, Hewett.« »Ja, Sir!« Der junge Mann salutierte wie ein Soldat. Dabei verabscheute er das Militär. »Vielleicht müssen wir die Kleine meiner unausgegorenen Klischeewelt… und unserer amateurhaften Feierabendrevolution opfern!« Hewett verstand zwar nicht, weshalb sein großer Führer so seltsam kicherte, doch das hatte ihn auch nicht zu interessieren. Er versicherte nur pflichtschuldigst: »Das würde mir großen Spaß machen!«
12. Kapitel
So eine Radtour durch die Reste einer einst blühenden Industriegesellschaft machte Carter ganz melancholisch. Er fragte sich, ob sich die Menschheit je wieder dazu aufraffen könnte, in einer gemeinsamen Anstrengung zu alter Größe zurückzufinden. Oder waren die Zeiten des Wohlstands der goldenen 80er Jahre unwiederbringlich verschwunden? Der Reporter war so sehr in seine trüben Gedanken vertieft, daß er den Motor des Lastwagens, der sich von hinten rasch näherte, beinahe überhört hätte. Im letzten Moment sprang er vom Rad und duckte sich in eine dunkle Nische. Der Wagen fuhr dicht an ihm vorbei, ohne daß ihn die Insassen entdeckten. Carter hielt den Atem an. Antenne und Kamera auf dem Dach, der kastenförmige Aufbau – das war ohne Zweifel der Wagen, den Janie unmittelbar vor der Explosion aufgenommen hatte. Diese Spur war heiß! »Kontrolle, es ist soweit«, flüsterte der Reporter in sein Kameramikrofon. »Verstanden.« Carter ließ das Fahrrad stehen und rannte durch Hallen voller altertümlich-gigantischer Maschinen, deren Sinn heute niemand mehr verstand. »Ich folge dem Wagen.« »Okay, ich habe ihn«, kam Theoras Stimme aus dem Lautsprecher. Sie überspielte ihre Computergrafik auf Edisons Suchermonitor. »Bleib mit mir und dem Hubschrauber in Verbindung«, verlangte er. »Ich brauche vielleicht Hilfe.« »Alles klar, Edison.«
Die ausgedehnten Ruinen boten tausend Verstecke. Carter konnte unmöglich alle durchsuchen. »Die müssen sich hier irgendwo versteckt haben«, knurrte er. Auf ihrem Monitor in der Zentrale sah Theora, wie das Peilsignal von Carters Kamera immer weiter zum Bildschirmrand wanderte. »Du entfernst dich zu weit vom Hubschrauber!« Aber der Reporter gab jetzt nicht viel auf gutgemeinte Ratschläge. »Hier drin ist alles so unübersichtlich! Ich muß schon sehr großes Glück haben, wenn ich sie finden will.« »Bitte sei vorsichtig!« bat die Controllerin über Funk. Doch Carter hatte nur noch einen Gedanken: »In welche Richtung muß ich weitergehen?« In gar keine, dachte Theora. Laut sagte sie: »Edison, es ist zu gefährlich!« »Das ganze Leben ist gefährlich.« Auf ihrem Zweitmonitor sah Theora alle Bilder, die Carters Kamera aufnahm. Plötzlich schwenkte das Objektiv auf eine Schiebetür in der Wand, die hier absolut nicht hinpaßte. In einer Ruine aus der Vergangenheit war eine Schiebetür aus modernem Panzerglas völlig fehl am Platz. Der Reporter prüfte das Schloß – nicht abgeschlossen. Er atmete tief durch. »Die Typen sind bestimmt gewalttätig. Meine beste Überlebenschance besteht darin, ihnen zu zeigen, daß alles aufgezeichnet wird.« Sein Atem kam jetzt flach und stoßweise. »Halte die Verbindung.« »Edison, du brauchst Verstärkung! Du schaffst es nicht allein!« »Uns bleibt keine Zeit mehr. Ich muß Janie helfen… ich gehe weiter.« Mit einem entschlossenen Ruck schob er die Tür zur Seite und schlüpfte durch die Öffnung.
»Edison!« protestierte Theora. Sie hätte genausogut gegen eine Wand sprechen können. Hinter der Schiebetür führte eine stählerne Treppe in ein ausgedehntes Kellergeschoß. Ein Gewirr alter Rohrleitungen machte es unmöglich, mehr als fünf Meter geradeaus zu sehen. Lautlos huschte der Reporter die Treppe hinab. »Theora, bist du noch da?« flüsterte er. »Selbstverständlich!« Für wen hielt der sie eigentlich? Für eine Flasche wie Gorrister, der seine Kontrollen auch schon mal verlassen hatte, wenn sein Reporter noch nicht vom Einsatz zurück war? Carter erreichte den Fuß der Treppe. Er hörte leise Stimmen. Als er in ihre Richtung schlich, wurden die Laute verständlich. »Hast du das begriffen?« »Ja.« »Gut. Ich will, daß alles zerstört wird. Kein Stein darf auf dem anderen bleiben, ist das klar?« Carter erkannte die Stimme. Sie gehörte eindeutig Croyd Hauser – dem irren Terroristen, den Breakthru TV interviewt hatte. Also war er am Ziel. »Ich hab’ sie gefunden«, flüsterte er. »Alles mitschneiden.« Das rote Licht an der Kamera leuchtete auf. Carter war auf Sendung. Ob seine Aufnahmen live ausgestrahlt oder auf die Bandmaschinen in der Nachrichtenzentrale überspielt wurden, spielte jetzt keine Rolle. Der Reporter sprang aus der Deckung, die Kamera auf der Schulter: »Hören Sie zu!« brüllte er. »Nicht schießen! Meine Kamera überträgt alles live, was hier passiert!« Aber im nächsten Moment setzte er das Gerät wieder ab. Sein Mund stand vor Staunen weit offen. Erst jetzt sah Carter, wo er hier war. In einem Studio für Filmtricks. Mehrere Männer und Frauen arbeiteten an einem
großen Modell der Ruinenstadt. Alles war miniaturisiert, aber absolut naturgetreu. An einer Stelle leckten Flammen an den kleinen Häusern. »Ich brauche mehr Rauch!« befahl einer der Männer. Sein Assistent schwenkte eine Rauchkanne über das Modell. »Das ist ein Trickstudio!« staunte der Reporter. Im 23erTower starrten Theora und Murray, der immer noch Bein zeigte, total perplex auf die Bilder, die Edison ihnen übermittelte. »Mr. Carter… was für ein hochdramatischer Auftritt.« Croyd Hauser löste sich aus einer dunklen Nische und schlenderte auf den Eindringling zu. Der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ja, mein Hobby ist die Schauspielerei!« Die Antwort schien dem Terroristen zu gefallen, denn er lachte. »Sie scheinen… äh… ziemlich überrascht! Was hatten Sie denn hier erwartet?« »Ein Terroristen-Hauptquartier.« »Wie Sie selbst sehen, ist alles ganz harmlos.« Carter trat an den Tisch und sah sich die Modellstadt näher an. Wirklich gut. Für Fernsehbedürfnisse reichte die völlig. Explosionen, die man hier türkte, konnte man gut als echt verkaufen. »Eine ungewöhnliche Art, Reportagen zu produzieren. Die Idee ist entwaffnend!« »Entwaffnend…« Hauser schlenderte an Carters Seite. »Das hier ist besser als ein Fronteinsatz. Aber die Arbeit ist genauso schlimm… vielleicht sogar noch schlimmer. Und die Storys müssen wir andauernd ändern.« »Mr. Hauser…« Urplötzlich gefror das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes. »Kein Interview… oder ich töte Sie!«
Carter war völlig perplex. Wie konnte sich jemand so schnell ändern? »Haha! Nur ein Scherz! Kommen Sie, Mr. Carter… ich zeige Ihnen alles!« Dieser Wirrkopf pflegte denselben kruden Humor wie Alf, jener außerirdische Fernsehstar aus Edisons Kinderjahren. Der Reporter machte noch schnell ein paar Bilder vom Trickstudio und folgte Hauser dann nach nebenan. Der große Raum war vollgestopft mit modernster Elektronik. Hier konnte man zur Not ganze Spielfilme bearbeiten. »Ich zeige Ihnen unsere letzten Aufnahmen!« schlug Hauser vor. Der Reporter zeigte sich beeindruckt: »Sie sind sehr gut ausgerüstet.« »Wir befinden uns auf dem neuesten Stand der Kriegstechnik… das heißt, wir erreichen diesen Eindruck. Nur mit Trickeffekten.« »Warum machen Sie das? Was ist aus Ihrem Krieg geworden?« »Ich habe schon vor langer Zeit erkannt, daß militärische Aktionen absolut überflüssig sind. Wenn Menschen ums Leben kommen, werden dadurch Leidenschaften entfacht. Deshalb habe ich mich auf künstliche Reportagen spezialisiert. Mir ist klargeworden, daß ich keinen wirklichen Krieg führen muß. Ich habe jetzt eine viel bessere Waffe… das Fernsehen.« Hauser schaltete einen Bildschirm ein und spielte eine der nebenan produzierten Katastrophensequenzen ab. Doch so leicht war Carter nicht zufriedenzustellen. »Was ist mit den Anschlägen überall in der Stadt?« fragte er mißtrauisch.
»Getürkt. Natürlich bestand eine theoretische Gefahr, daß bei den Sprengungen jemand getötet wurde, aber wir haben die Gebiete immer sehr sorgfältig geräumt.« Der Reporter war noch immer nicht ganz überzeugt. Sein Instinkt warnte ihn, diesem Mann zu sehr zu glauben. Dazu machte er einen zu kaputten Eindruck. »Was hat die Weiße Brigade von alldem hier?« »Geld. Wir sind die ersten Revolutionäre, die mit modernem Merchandising operieren. Ich arbeite mit einem Programmhändler. Der bringt die Ware an den Markt, und ich bekomme 80 Prozent. Das hat ganz gut funktioniert.« »Hat funktioniert…?« Hausers irres Lachen irritierte Edison immer mehr. »Ich habe keine Lust, irgend jemanden noch länger mitverdienen zu lassen, Mr. Carter. Ab sofort verhandle ich nur noch direkt mit den Fernsehsendern.« Er machte eine Kunstpause, dann zischte er: »Meinen kleinen Krieg gibt es auch immer noch… aber nicht hier.«
Nach seiner Rückkehr in die Zentrale sah sich Edison die Aufnahmen aus dem Terroristen-Hauptquartier noch einmal gemeinsam mit Theora und Murray an. »Er hat dich einfach so gehen lassen?« staunte der Chefredakteur. »Natürlich! Denn, weißt du… diesmal werden wir und nicht die Konkurrenz Hauser bezahlen. Er hat wirklich ausgefallene Ideen.« Der Reporter musterte die stark behaarten Beine seines Vorgesetzten: »Findest du nicht, du solltest dich endlich umziehen?« Doch für so etwas hatte Murray jetzt keine Zeit. »Ich ändere das Programm und bringe das hier in den letzten 15 Minuten.«
Schon rannte er los, zum Platz des Programmkoordinators. »Ted, wir müssen alles noch einmal umstellen!« Theora mußte an die vermißte Kollegin denken. »Janie hast du nicht bei Hauser gefunden?« fragte sie. Carter schüttelte den Kopf. »Nein, Hauser hat nicht die geringste Ahnung. Martinez glaubt, sie hat die Kamera bei der Explosion fallenlassen und ist weggelaufen.« Er schnaubte verächtlich. »Wahrscheinlich versteckt sie sich vor Murray. Ich fürchte, sie wird noch viel Ärger mit ihm bekommen… und mit mir auch!« »Oh-ho!« Theora brachte es nicht fertig, sonderlich beeindruckt zu sein. Wäre es möglich, daß der große Edison Carter die Konkurrenz einer jungen Nachwuchsreporterin fürchtete und ihr deshalb die Flügel stutzen wollte, solange er dazu noch die Möglichkeit hatte?
In den Abendstunden ging es an der Medienbörse traditionell besonders hektisch zu. Ein- und Verkäufer versuchten gegenseitig, sich zu überschreien. »Ich kaufe Sendezeit! Egal, welche Programme!« »Biete zehn Werbesekunden für die Edison-Carter-Show!« »Zu wenig! Hat jemand 20 Sekunden für mich?« Die Börsenleitung bemühte sich, stets die interessantesten Programme auf den großen Saalmonitor zu schalten. Diesmal schien das Angebot von Sender 23 besonders attraktiv zu sein. »Sender 23 unterbricht jetzt sein reguläres Programm für einen Sonderbericht von Edison Carter«, verkündete der Ansager. Frank Braddock brachte gerade noch ein paar kleine Geschäfte unter Dach und Fach. Die meisten seiner Kollegen wandten sich dem Wandmonitor zu, gespannt darauf, welche Sensationen Carter diesmal präsentieren würde.
Sender 23 war Braddock völlig egal – bis er Cheviot und Formby sah, die auf der anderen Seite des Saals durch den Haupteingang kamen. Der Alte hatte sich schon seit Jahren nicht mehr hier blicken lassen. Sein Kommen bedeutete nur eins: Er suchte Frank Braddock. Der Medienhändler hielt sich ein paar Akten vors Gesicht und versuchte, so unauffällig wie möglich in der Menge unterzutauchen. Er hatte sich nicht getäuscht. Cheviot war wirklich seinetwegen hier. »Ich muß Braddock finden«, sagte er zu Formby, die ein paar Bekannte begrüßte. »Wahrscheinlich hat er sich in einer Ecke versteckt«, vermutete die Direktorin. »Oder man verprügelt ihn«, schmunzelte der alte Mann. Denn gerade startete Carters Reportage, und er merkte, welche Wirkung sie auf die Medienprofis hier im Saal hatte. »In den letzten Tagen lebte unsere Stadt in Angst und Schrecken«, tönte der Reporter vom großen Bildschirm. Die Lautsprecher verstärkten seine Stimme so sehr, daß man sie auch im hintersten Winkel der Halle verstehen konnte. »Es war nicht die normale Angst, die man hat, wenn der Fernseher nicht funktioniert oder das Computerprogramm abstürzt… ich spreche von der Angst ums Leben! Unbekannte versuchten, uns mit nackter Gewalt zu terrorisieren! Jedenfalls wollten das die Berichte unserer Konkurrenz glauben machen. Doch Sender 23 ist es nun gelungen, die wahren Hintergründe dieser von Breakthru TV um die sogenannte Weiße Brigade aufgebauten Affäre zu enthüllen. Die Anschläge waren nichts weiter als billige Täuschungen, die meisten Aufnahmen entstanden im Trickstudio!« Cheviot sprach im Brustton der Überzeugung mit einem der Medienagenten, der ihn freundlich begrüßte: »Eine laufende Produktion getürkter Filmberichte! Einfach unglaublich, so was!« Er wandte sich an Formby: »Entschuldigen Sie mich,
Julia! Ich sehe da drüben den Intendanten von Network 5! Ich muß mit ihm über diese Belloni-Sendung sprechen!« Cheviot ließ die Frau stehen, die sich angeregt mit einem Bekannten über Carters Enthüllungen unterhielt.
Ganz in der Nähe der Medienbörse parkte der Lastwagen der Weißen Brigade. Lucian saß vor seinen Kontrollen und aktivierte den Funkzünder. Sein Finger senkte sich auf den roten Knopf. Diesmal würde es die Weiße Brigade dem ganzen verdammten Establishment zeigen! Und zwar gehörig. Carter beschrieb gerade genau die technischen Tricks der Studioterroristen, als in der Medienbörse die Bombe explodierte. Von einer Sekunde auf die andere brach das Chaos über Hunderte ahnungsloser Menschen herein. Die Sprengladung detonierte an der Längswand des Saals. Sie wirkte verheerend. Menschen wirbelten durch die Luft, anderen riß es die Kleider vom Leib. Steinbrocken zischten wie Geschosse. Wen sie trafen, der stand nicht mehr auf. Als der Donner der Detonation verhallte, füllten Schreie die Luft. Wie durch ein Wunder war Cheviot unverletzt geblieben. Er starrte durch den Staub und Qualm. Wo war Julia? Eben hatte sie noch da drüben gestanden… da! Die Frau, für die er einmal sehr viel empfunden hatte, lag regungslos am Boden. Sie war über und über mit Staub bedeckt. Eine häßliche Wunde verunzierte ihr immer noch schönes Gesicht. Cheviot eilte zu ihr, kniete sich in Schutt und Staub und nahm die reglose Gestalt in seine Arme. »Holt sofort einen Arzt!« brüllte er. Und leiser, verzweifelt: »Wie konnte so etwas nur passieren?«
13. Kapitel
Carter hatte lange und mit Hochdruck gearbeitet, um seine Reportage über Hausers getürkte Bombenanschläge noch ins Nachtprogramm zu bringen. Anschließend war er total erschöpft nach Hause gefahren und gleich ins Bett gefallen. Der Ton des Türsummers drang nur langsam durch seine Träume von einer schöneren Welt bis an sein Bewußtsein durch. Knurrend zog er sich das Kissen über den Kopf und murmelte im Halbschlaf: »Laßt mich in Ruhe… ich bin nicht zu Hause.« Doch der Türsummer hörte nicht auf, ihn zu nerven. Stöhnend wälzte Carter sich herum, griff nach der Fernbedienung und aktivierte den Monitor der Türüberwachung. Theora stand draußen. »Edison!« Carter schaffte es gerade noch, den Türöffner zu drücken. Dann ließ er sich wieder in die Kissen fallen und zog sich die Decke bis über beide Ohren. Hatte denn niemand in dieser grausamen Welt Mitleid mit ihm? Theora stürmte herein. Carter schaffte es, ihr ein müdes »Gute Nacht!« zuzuwinken. Wie konnte man am frühen Morgen derart aktiv sein? Ekelhaft. Aber die junge Frau kümmerte sich nicht um sein Schlafbedürfnis. Gnadenlos zog sie ihm die Decke weg. Zum Glück (oder leider? Das wußte er um diese Zeit noch nicht so genau) hatte er wenigstens seine geblümten Bermuda-Shorts an. »Männer am Morgen!« grinste Theora. »Tut mir leid, dich zu stören, aber du mußt erfahren, was passiert ist!«
Sie setzte sich auf seine Bettkante und zog die Decke vom großen Monitor. »Und blockier nicht immer das Bildtelefon!« Theora schaltete den Apparat auf Fernsehbetrieb. Gerade kamen die Frühnachrichten. Als die junge Frau sah, daß der Reporter schon wieder auf dem Weg in Morpheus’ Arme war, zog sie ihn gnadenlos – und kräftig – am linken großen Zeh. Im nächsten Moment saß Carter kerzengerade im Bett. Er gähnte zwar noch, aber jetzt war er wenigstens einigermaßen wach. Theora deutete auf den Bildschirm: »Das da wird dir überhaupt nicht gefallen!« Zuerst begriff Carter noch nicht ganz, was die Worte der Nachrichtensprecherin bedeuteten: »Nach ersten Schätzungen der Metro-Polizei sind bei dieser Explosion mindestens 25 Menschen schwer verletzt worden. Hier unser aktueller Bericht.« Ungläubig wischte sich Carter den Schlaf aus den Augen, als er die Bilder sah. Das da war doch die Medienbörse! Wieso trug man die Leute auf Bahren hinaus? Die Stimme der Sprecherin erklärte einiges: »Im Gegensatz zu den Behauptungen des Sender 23, bei den Anschlägen der Weißen Brigade handle es sich ausschließlich um Trickaufnahmen, hat sich dieser Bombenanschlag als schlimme Realität erwiesen. Diese hochdramatischen Bilder wurden uns freundlicherweise von Breakthru TV zur Verfügung gestellt.« »Ich verstehe das nicht!« Carter begriff langsam, daß seine Reportage von letzter Nacht mit der Wirklichkeit nichts zu tun gehabt hatte. Aber… »Hauser hat doch gesagt, das Ganze wäre nichts als Schwindel!« »Ich weiß, ich weiß!« Theora hatte schließlich alles live miterlebt. »Trotzdem… diese Bilder sind leider Realität!« Die Nachrichtensprecherin fuhr unbeirrt fort: »Und nun wiederholen wir noch einmal in einer Zusammenfassung alle
Fakten, die uns über diesen Anschlag bisher bekannt wurden. Die Medienbörse hatte gerade den abendlichen Umsatzhöhepunkt erreicht. Hunderte Händler von sämtlichen Fernsehgesellschaften drängten sich in dem Saal, als völlig überraschend ein Sprengsatz detonierte. Bisher wurde die Täterfrage noch nicht eindeutig geklärt, aber alle Experten sind einhellig der Meinung, daß dieses feige Attentat die Handschrift der Weißen Brigade trägt. Die Metro-Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen, aber bisher noch keine verwertbaren Spuren entdeckt.« Carter war fassungslos. »Wie hat Murray reagiert?« »Keine Ahnung. Aber Cheviot und Formby waren in der Börse, als es passierte!« Nahmen die Hiobsbotschaften denn überhaupt kein Ende? »Wurden sie verletzt?« »Cheviot geht es gut, aber Formby hat etwas abbekommen… soviel ich gehört habe, nichts Schlimmes.« Na, wenigstens eine gute Nachricht. Und doch: »Murray wird ganz schönen Ärger bekommen.« Theora wußte, was Edison meinte. Der offenbar falsche Bericht von gestern abend war zwar Carters Werk – und auch ihres – , aber die programmrechtliche Verantwortung für alles, was über den Sender ging, trug der Chefredakteur. Und der hieß Murray. Ausgerechnet jetzt schaltete sich auch noch Max Headroom auf den Monitor. Er hatte bei seiner andauernden rasenden Jagd durch das Leitungsnetz wohl mitbekommen, daß Carters Anschluß nicht länger mit einer Decke verhangen war. »Verzeihen Sie, wenn ich gerade jetzt Ihr Frühstück unterbreche. Unterbreche.« Er bemühte sich, so seriös wie der selige Köpke zu wirken, von dem er letzte Nacht ein paar Aufzeichnungen in den Speichern gefunden hatte. Aber es war Max nicht gegeben, lange ernsthaft zu bleiben.
»An so einem kalten Morgen gibt es nichts Bessers als…« – kurzes Grinsen nach allen Seiten – »Atompopcorn! Popcopopcorn!« Max wollte Carter nur aufheitern, aber der machte ein Gesicht wie bei seiner eigenen Beerdigung. Also mußte Max noch eins draufsetzen: »Ißt du viele Bequerel… fu-fun-funkeln deine Augen hell! Ehee?« Heute morgen konnte nicht einmal Max’ berüchtigter Humor Carters miese Lause verbessern. Der Reporter brummte nur unwirsch: »Was soll denn dieser Unsinn?«
Carter hatte sich nicht getäuscht, als er prophezeite, daß Murray Ärger bekommen würde. Selten in seinem bisherigen Leben hatte sich der Chefredakteur so unwohl gefühlt. Und das nicht nur, weil er Anzug, Schlips und Kragen tragen mußte. Der Anruf Ben Cheviots war kurz und unmißverständlich gewesen: Murray mußte sich im Vorstandssaal im Stockwerk 148 zum Rapport einfinden. Sämtliche Direktoren hatten sich an dem langen Tisch versammelt. Auch Formby, die sich erstaunlich schnell vom Schock erholt hatte. Ein großes Pflaster bedeckte fast ihre gesamte rechte Wange. Der Arzt, der die Wunden vernäht hatte, hatte ihr versichert, daß keine Narben zurückbleiben würden. Murray saß ganz allein am entfernten Ende des Tisches. Er gehörte nicht in diese illustre Runde der Reichen und Mächtigen – und das ließ man ihn deutlich spüren. Der Chefredakteur starrte angestrengt auf seine Fingernägel. Er hatte eine Sendung abgeliefert, die vorne und hinten nicht stimmte. Das war so ziemlich das schlimmste, was einem Nachrichtenmann passieren konnte.
Der Vorstandsvorsitzende machte der versammelten Runde noch einmal klar, was für einen Bock Sender 23 mit der gestrigen Sondersendung geschossen hatte. »Und das ausgerechnet jetzt, wo der Wettbewerb um die höchsten Einschaltquoten läuft. Können Sie sich einen schlechteren Zeitpunkt vorstellen, Murray?« Der Angesprochene starrte noch intensiver auf seine Fingernägel, aber eine zufriedenstellende Antwort fand er dort auch nicht. Also blieb ihm nur das Eingeständnis: »Nein, Sir… es hätte…es hätte überhaupt nicht schlimmer kommen können.« Ashwell sah die große Chance, sich zu profilieren: »Wie zuverlässig ist Edison Carter überhaupt?« Cheviot holte tief Luft. Er hatte noch nicht vergessen, daß er seine Rückkehr auf den Chefsessel vor allem Edison Carter verdankte. Worte wie »Loyalität« waren für den alten Mann keine leeren Hülsen. Sie bedeuteten ihm noch etwas – solange es sich mit seinen Aufgaben vereinbaren ließ. Er warf Ashwell einen tadelnden Blick zu: »Carter ist der zuverlässigste Reporter im Sender 23. Er wird sich genauso unwohl fühlen wie wir!« Murray wagte es, das Wort zu ergreifen, ohne gefragt worden zu sein: »Es war nicht seine Schuld, Sir! Er macht seine Arbeit immer sehr sorgfältig.« Auf seinen besten Mann ließ Murray nichts kommen, und wenn es ihn den Job kosten würde. »Hausers Bericht schien absolut glaubwürdig zu sein!« Formby schnaubte. Wie glaubwürdig, das hatte sie am eigenen Leib erfahren. Cheviot griff zu dem altmodischen Telefonhörer, den er so liebte, und wies seine Sekretärin an: »Miss Winter, verbinden Sie mich mit Frank Braddock.« Er sah nachdenklich in die Runde: »Das ist eine unangenehme Situation.« Dann, an den Chefredakteur
gewandt: »Vielen Dank, Murray… wir unterhalten uns später noch unter vier Augen.« Der Angesprochene stand auf und verließ den Saal. Uff! Das Schlimmste war überstanden! Wie es schien, stand Cheviot nach wie vor hinter Carter und ihm!
Der alte Mann atmete tief durch, als Braddocks arrogantes Gesicht auf dem Wandmonitor erschien. Die nächsten Worte Cheviots waren vielleicht die schwersten seines ganzen langen Lebens: »Ich möchte mich bei Ihnen und Breakthru TV bedanken, Frank, daß Sie uns Bildmaterial zur Verfügung gestellt haben.« »Tja.« Der schmierige Medienagent kostete seinen Triumph voll aus. »Das war nach dem bösartigen Bericht von Edison Carter gar nicht so einfach. Aber… es war das mindeste, was ich für Sie tun mußte. Ich bin froh, daß es Ihnen gutgeht… es hätte viel schlimmer enden können.« Braddocks Augen funkelten kalt. Das war eine versteckte Drohung, dessen war Cheviot sich völlig bewußt. Äußerlich blieb er völlig ruhig. Er wechselte einen langen Blick mit seiner verletzten Kollegin und ehemaligen Geliebten. »Ja, wir… Formby und ich hatten großes Glück.« »Hören Sie Ben«, schleimte Braddock, »Breakthru TV ist an meinem Material weiterhin sehr interessiert, aber ich ziehe Sender 23 vor.« Der konnte nämlich wesentlich mehr bezahlen, aber das sagte der Agent nicht. »Immerhin haben Sie und ich schon eine Menge miteinander durchgemacht!« Bevor sich Cheviot über diese neue Unverschämtheit aufregen konnte, stellte Formby sachlich fest: »Sie haben keine Wahl, Ben. Eine weltweite hohe Einschaltquote ist jeden Ärger wert… sogar einen Frank Braddock.«
»Ben, Formby hat recht«, stimmte Edwards zu. »Wir sind doch Fernsehprofis… in unserem Geschäft gibt es zwar Moral, aber das Wichtigste sind die Einschaltquoten!« Formby nickte. »Wenn wir nicht von Braddock kaufen, tut es ein anderer.« Der Medienagent verfolgte die Diskussion zufrieden. Das Direktorium war längst auf seiner Seite. Nur noch dieser alte Querkopf mußte überzeugt werden. »Es geht hier nur um die Einschaltquoten, Benny! Denn Einschaltquoten bedeuten Profit!« Cheviot seufzte. Er schien nur eine Möglichkeit zu haben. Aber die behagte ihm überhaupt nicht. »Unser Sender will nichts mit Anschlägen zu tun haben! Unter keinen Umständen!« Cheviot blickte das Gesicht auf dem Wandschirm durchdringend an. »Ich müßte die Garantie erhalten, daß niemand verletzt wird. Haben wir uns verstanden?« Braddock grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Benny… Benny! Ich kenne… Croyd! Hauser!… wie meinen Bruder!« Er redete sich in Rage. Die Adern auf seiner Stirn traten deutlich hervor. »Wenn ich Croyd sage, Sie verlangen, daß kein Menschenleben gefährdet werden darf… dann wird auch kein Menschenleben gefährdet! Das ist todsicher!« Ashwell sah indigniert zum Schirm. Der Kerl benahm sich wie ein Geistesschwacher. Und trotzdem – er hatte genau das, was Sender 23 brauchte. »Sie müssen mir vertrauen«, säuselte Braddock. »Sind Sie einverstanden?« Der Angesprochene zögerte noch immer. Ashwell drängte: »Geben Sie ihm einen Vertrag, Ben!« »Die Einschaltquoten!« erinnerte Edwards. Cheviot nickte fast unmerklich. »Okay, Frank… wir kaufen!«
»Ausgezeichnet!« Die Aussicht auf einen fetten Profit verzerrte die Züge des Agenten zu einer gierigen Fratze. »Sie bekommen noch heute Ihren Vertrag!« Cheviot unterbrach die Leitung. Dieses blöde Grinsen hätte er nicht eine Sekunde länger ertragen können. Er holte tief Luft. »So! Und jetzt will ich eine massive Werbung für unsere Sondersendung… große Ankündigungen für eine sensationelle Story über die Aktionen der Weißen Brigade. Das muß wirklich einschlagen!« Vielleicht war der Wettbewerb um die Einschaltquoten doch noch nicht verloren…
Carter hatte sich rasch geduscht und rasiert, während Theora ihm ein schnelles Frühstück vorbereitete. Er kam sich vor wie der größte Idiot. Sich von einem arbeitsscheuen PseudoIntellektuellen mit einem Kopf voller verquaster Ideen derart reinlegen zu lassen. Carter fluchte leise vor sich hin. Wo war sein berühmter Instinkt geblieben, als Hauser ihn aufs Glatteis führte? Unter Theoras anerkennenden Blicken stieg er in seine Sachen. Wenn ihm der Job nur etwas mehr Zeit ließ, würde er Theora unbedingt zu einem gemütlichen Abend einladen müssen unter dem Motto: »Ganz allein zu zwein.« Die Frau war nicht nur intelligent, sie sah auch noch blendend aus! Und wenn ihr Kaffee nur halb so gut schmeckte, wie er roch… Er schmeckte sogar noch besser, stellte Carter schnell fest, als er das Frühstück verzehrte. Viel Zeit zum Genießen blieb ihm allerdings nicht. Murray meldete sich via Vidifon. Der elegante Anzug stand ihm gut, fand Carter. Machte gleich einen ganz anderen Menschen aus ihm.
Der Chefredakteur rief von einem Anschluß irgendwo in der Vorstandsetage an. »Na, wie war’s?« fragte Carter und schluckte den letzten Brötchen-Bissen hinunter. »Keine reine Freude…« Murray wirkte ziemlich geschafft. Aber gleich kehrte sein alter Kampfgeist wieder zurück. »Ich würde diesem Hauser meine Begeisterung gern persönlich übermitteln!« Genau wie sein bester Reporter war der Chefredakteur kein Mann, der sich leicht übertölpeln ließ. Um so mehr machte es ihn wütend, wie vollständig er dem Terroristen auf den Leim gekrochen war. »Es ärgert mich, daß uns dieser miese Kerl derartig reingelegt hat!« »Nicht uns hat er reingelegt… mich!« Carter fand, daß sein Chef etwas Rückenstärkung brauchte. »Ich habe ihm alles geglaubt. Und das schlimmste ist…« Der Reporter blickte betreten zu Boden. »Was denn?« Murray konnte Kunstpausen nicht leiden. Carter seufzte. »Ich fürchte, Hauser hat mich mit Janie auch angelogen. Wahrscheinlich war sie doch da.« Murray überlegte einen Augenblick. Ja, das klang vernünftig. Aber wenn die junge Frau noch in den Händen der Terroristen war, die gestern abend bewiesen hatten, daß sie vor nichts zurückschreckten…! »Na gut… ich schick dir Martinez rüber! Ihr fliegt sofort los und sucht den Bastard!« Keine zehn Minuten später setzte der rote Einsatzhubschrauber von Sender 23 auf dem Dach von Carters Wohnblock auf. Der Reporter und seine Controllerin liefen geduckt zu der Maschine, die mit laufendem Rotor wartete. Martinez hatte Carters Kamera schon mitgebracht, aber er
mußte trotzdem noch einmal zum 23er-Tower zurückfliegen und Theora absetzen. Mit ihr an den Kontrollen traute sich Carter zu, es mit allen Terroristen der Welt aufzunehmen. Dann ging’s los, Martinez brachte den Helikopter auf Nordkurs. Kaum waren sie über die Randbezirke der Stadt hinaus, drückte der Pilot die Maschine so tief wie möglich hinab. In weniger als zehn Metern Höhe jagte er den schlanken Hubschrauber mit Vollgas über die Einöde. Im Zeitalter der Satellitenüberwachung war Tiefflug eigentlich überflüssig geworden, denn vor den Radarantennen im Orbit konnte man sich nicht verbergen. Aber zu denen hatten die Terroristen keinen Zugang. Falls sie ihr Hauptquartier überhaupt abgesichert hatten, dann nur konventionell. Und das bodengestützte Radar, das Martinez nicht unterfliegen konnte, mußte erst noch erfunden werden. Carter unterbrach das angespannte Schweigen an Bord: »Haben Sie die Berichte gesehen?« »Ja… die haben die Medienbörse ganz schön durcheinandergewirbelt.« Martinez grinste. »Das ist wirklich eine Riesenstory!« Der Reporter hatte zwar gewußt, daß sein Pilot unheimlich wild auf Action war, aber diese Eröffnung überraschte ihn doch. Martinez war ja richtig blutrünstig! Dann würde er heute auf seine Kosten kommen! »Ich fürchte, diesmal wird es ziemlich gefährlich für uns«, stellte Carter so sachlich wie möglich fest. »Janie wird noch immer vermißt!« »Die finden wir schon!« Brutal zog Martinez den Helikopter hoch, um einen Hügelrücken zu überspringen. Die Vorfreude auf das kommende Abenteuer stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Frank Braddocks Arbeitsplatz in der Börse hatte unter der Explosion genauso gelitten wie die übrige Einrichtung der Halle, aber die Reparaturkolonne hatte seinen Platz bevorzugt wiederhergerichtet, nachdem er dem Chef der Truppe ein paar Scheinchen kommentarlos in die Hand gedrückt hatte. Ein Anruf kam herein. Croyd Hauser meldete sich aus seinem Hauptquartier und erkundigte sich nach dem Stand der Verhandlungen. »Hast du den Vertrag mit Sender 23?« »Natürlich! Hast du jemals erlebt, daß ich irgend etwas nicht erreiche?« Braddock gestikulierte wie ein großer Volkstribun vor dem Vidifon herum. Er wußte nicht recht, was er von Hausers Benehmen halten sollte. Der lehnte nur lässig an einem Pfeiler und grinste mit irrem Blick ins Objektiv. Der Medienhändler hielt es für besser, seinen gemeingefährlichen Geschäftspartner ein wenig zu besänftigen. »Noch etwas, Croyd. Ich habe einige häßliche Dinge zu dir gesagt… das war nicht so gemeint. Du kennst mich, ich bin manchmal sehr emotional. Du bist ein prima Bursche!« Hauser grinste noch immer wortlos vor sich hin. Braddock beschloß, sich nicht länger daran zu stören. »Ehrlich, Croyd… die Sache, die du jetzt vorbereitet hast, ist einfach Spitze! Aber…« Zwischendurch warf der Agent immer wieder einen Blick auf seinen zweiten Schirm, über den der endlose Strom von Angebot und Nachfragen lief. Schließlich wollte er kein lukratives Geschäft versäumen. »Vergewissert euch, daß diesmal keine ›Ratten‹ in der Nähe sind, klar?« Braddock mußte aufpassen, daß ihm der verrückte Spinner nicht das größte Geschäft seines Lebens kaputtmachte. Und alles, was dieser Wirrkopf von sich gab, war sein widerliches Lachen! In Braddock stieg die schreckliche
Vermutung auf, daß Hauser nicht unbedingt vorhatte, sich an die Abmachungen zu halten. Aber jetzt, wo er endlich mit Sender 23 ins Geschäft gekommen war, durfte nichts mehr schiefgehen. Er beschloß, die nächste Aktion persönlich zu überwachen. »Wir treffen uns am Drehort, Croyd! Ich sehe einem Profi gern bei der Arbeit zu!« Wieder dieses irre Gackern. Braddock unterbrach die Verbindung. Er würde der Weißen Brigade gründlich auf die Finger sehen müssen. Wie hatte eins der ideologischen Vorbilder von Hausers Truppe einmal so treffend formuliert? »Vertäuen ist gut. Kontrolle ist besser.«
14. Kapitel
Der Hubschrauber strich dicht über das Gewirr stillgelegter Hochöfen und Raffinerieanlagen hinweg, das diesen Teil des ehemaligen Industriegeländes prägte. Carter aktivierte seine Kamera. Die Bilder, die das teure Gerät durch die Plexiglaskanzel des Helikopters machte, hielten Theora in der Zentrale auf dem laufenden. »Kontrolle, wir nähern uns wieder Hausers Tele-TerroristenHauptquartier!« gab Carter über Funk durch. Er hatte seinem Piloten den Weg, den er bei seinem ersten Besuch hier genommen hatte, genau beschrieben. Diesmal würde er nicht erst zum Einsatzort radeln müssen. Martinez hatte ihm versichert, für ihn sei es eine Kleinigkeit, sozusagen direkt vor Hausers Tür zu landen. Carter hatte zwar fast grenzenloses Vertrauen in die fliegerischen Fähigkeiten seines Piloten, aber jetzt bedauerte er doch, sich auf einen solchen Wahnsinnsflug eingelassen zu haben. Er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, als Martinez die Maschine mitten in dem Gewimmel verrosteter Stahlröhren und brüchiger Backsteinbauten zu Boden brachte. Die Stimme des Reporters klang sehr um Entschlossenheit bemüht, als er durchgab: »Wir gehen langsam runter.« Martinez fand nicht auf Anhieb das, was er suchte. Den Landeplatz unmittelbar vor dem Eingang der Terroristenzentrale konnte er nicht direkt anfliegen. Jedenfalls sah das von hier oben so aus, denn ein paar Rohrleitungen überquerten den Platz in vielleicht 20 Metern Höhe und machten eine Landung so unmöglich.
Aber Martinez hatte schon ganz andere Sachen zustandegebracht. 150 Meter von seinem Ziel entfernt war er an einer halbwegs offenen Stelle in das Gewirr der Ruinen hinabgestiegen. Nun hielt er den Hubschrauber maximal einen halben Meter über dem Boden und manövrierte ihn im Schrittempo nach vorn. Dabei störten ihn weder die Tatsache, daß er durch eine nicht allzu hohe Halle fliegen mußte, noch die überall aufragenden Streben. »Martinez, fliegen Sie bloß vorsichtig! Das ist Millimeterarbeit!« keuchte Carter. Der Pilot grinste nur. Warum mußten diese Fernsehfritzen nur immer so unglaublich übertreiben? Von wegen Millimeterarbeit – er hatte satte Zentimeter zur Verfügung! Kein Hindernis kam näher als zehn Zentimeter an den rasenden Rotorkranz der Maschine heran. Mit einem Wort: Platz genug! Allerdings war Carter nicht der einzige, der sich unwohl fühlte. Auf ihrem Bildschirm konnte Theora dank der Senderkamera genau mitverfolgen, was für ein wahnwitziges Manöver Martinez flog. Ihr Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, Edison könnte etwas zustoßen. Aber der Pilot paßte schon auf. Schließlich trug er hier ja auch seine eigene Haut zu Markte. Und lebensmüde war Martinez nicht. Wohlbehalten setzte er den Helikopter direkt vor dem Eingang zu Hausers Hauptquartier ab. Von außen wirkte das alte, halbverfallene Kraftwerk absolut harmlos. Doch Carter wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Er streifte Kopfhörer und Mikrofon der Bordsprechanlage ab. »Wie ich Hauser kenne, wird er uns hundertprozentig erwarten. Das heißt… allergrößte Vorsicht!« »Selbstverständlich.« Martinez war durch nichts zu erschüttern.
Carter stieg aus und hob seine Kamera auf die Schulter. Der Pilot verließ den Hubschrauber ebenfalls. Seine Finger schlossen sich fest um eine große, stabile Taschenlampe, die sich im Notfall auch hervorragend als Schlagstock eignete. Theora quälte in der Zentrale ihren Computer, aber sie bekam absolut keine Daten über versteckte Aktivitäten auf den Schirm. Auch die gestern noch so intensive Wärmestrahlung der Gebäude hatte kräftig nachgelassen. »Wir sind unten, Kontrolle!« gab Carter unnötigerweise durch. Er schwenkte die Kamera herum, um Theora einen Überblick zu verschaffen. Der Reporter drang in die Halle ein, Martinez folgte ihm auf dem Fuße. Auf dem Weg zu der Schiebetür machte Carter seinen Befürchtungen über den Kamerafunk Luft: »Eigenartigerweise gibt es kein Empfangskomitee. Theora, kontrolliere noch einmal alles ganz genau… diesmal wird’s bestimmt nicht so harmlos!« Aber es war nicht mehr festzustellen als die Tatsache, daß es nichts festzustellen gab. Carter erreichte die Schiebetür und stürmte die Treppe hinunter ins Kellergeschoß. Der Pilot war dich hinter ihm. Der Reporter hatte die Kamera auf der Schulter, um jeden Angreifer sofort aufs Bild bannen zu können. Niemand griff die beiden Männer an. Die Weiße Brigade war längst ausgeflogen. Das Trickfilmstudio hatten die Terroristen mitgenommen. Sie hatten gründliche Arbeit geleistet, soviel stand fest. Hier unten war nicht eine einzige verwertbare Spur zu finden. Auch nicht von Janie. Carter wirbelte auf dem Absatz herum. »Niemand mehr da«, rief er Martinez zu. »Los, kommen Sie mit.« Die beiden Männer hasteten zum Helikopter zurück. Die Turbine brauchte einige Sekunden, um wieder auf Touren zu kommen. Martinez nutzte die Zwangspause, um die
Umgebung zu sondieren. Die Rohrleitung quer über den Platz machte einen senkrechten Start zwar unmöglich. Aber von hier unten erkannte er eine Möglichkeit, die ihm vorhin aus der Luft entgangen war. Wenn er ein wenig seitwärts in die große Halle da drüben schwenkte, dort über das Niveau der Rohrleitungen stieg und dann wieder seitlich zurück über den Platz schwebte, mußte er hier herauskommen, ohne den Rückweg mühsam dicht über dem Boden und im Schrittempo zu fliegen. Die Sache würde zwar ein bißchen eng werden, aber es würde schon klappen. Außerdem ließen sich so wertvolle Minuten gewinnen. Martinez war klar, daß es mit jeder Sekunde, die verstrich, unwahrscheinlicher würde, Janie noch lebend zu finden. »Achtung, Kontrolle, wir starten jetzt wieder«, gab Carter durch. Theora führte einen schnellen Check durch. Der Luftraum war in weitem Umkreis frei. »Alles überprüft! Startfreigabe!« Martinez schob den Gashebel nach vorn und kuppelte den Rotor ein. Vorsichtig hob er den Helikopter an, schwebte seitwärts unter das Hallendach und stieg hier bis über das Niveau der störenden Rohrleitungen. Er mußte teuflisch aufpassen, um nicht gegen die Deckenkonstruktion zu krachen. Doch dann hatte er es geschafft, schwebte erst seitwärts ins Freie und schraubte die Maschine jetzt steil nach oben in den schmutzig-trüben Himmel. Theora zapfte die Datenleitungen sämtlicher Überwachungssatelliten an, deren Orbit über das ehemalige Industriegebiet führte. Auch die der militärischen. Das war zwar illegal, brachte aber beste Ergebnisse. Und die Controllerin war erfahren genug, um ihre Datenspur so zu verschleiern, daß niemand sie ausfindig machen konnte. Sie
befahl ihrem Computer, die einzelnen Satelliten-Scans miteinander zu vergleichen – bingo! »Ich hab’ was entdeckt!« Sie schaltete eine Detailkarte auf ihren Schirm. »Und zwar 280 Grad westlich von euch!« Schon brachte Martinez den Hubschrauber auf den angegebenen Kurs. Inzwischen konnte Theora die Satelliten-Informationen besser interpretieren: »Das ist ein Bodenfahrzeug… es bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit.« Für Carter stand fest, daß er diesmal auf der richtigen Spur war. »Ruf Murray«, gab er durch. »Sag ihm, wir haben seine Lieblingsterroristen entdeckt!« »Er ist schon hier!« kam Theoras Antwort auf dem Funkgerät. Der Chefredakteur stand hinter ihrem Platz, stützte sich auf die Rückenlehne ihres Stuhls und starrte gebannt auf den Bildschirm. Unwillkürlich mußte Theora schmunzeln. Murray trug jetzt wieder ein offenes Hemd mit aufgerollten Ärmeln und darüber seine heißgeliebte, abgewetzte alte Weste. Nach seiner Rückkehr aus der Vorstandsetage hatte er nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sich umzuziehen. »Was ist mit Janie?« »Ich wünschte, wir hätten eine Antwort, Murray.« Carters Stimme klang alles andere als zuversichtlich. Ihm stand einer der gefährlichsten Einsätze seiner Karriere bevor. Vielleicht würde ihn diese Reportage das Leben kosten. Er konnte wirklich nicht behaupten, sich auf die nächsten Minuten zu freuen. Trotzdem hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, die Finger von der Sache zu lassen. Und das nicht nur, weil ein Menschenleben auf dem Spiel stand. »Okay, Martinez… fliegen Sie so, als würde man auf uns schießen!«
»So fliege ich immer!« verkündete der Pilot mit breitem Grinsen. Und da hatte er nicht einmal unrecht. Er zog alle Register seines großen fliegerischen Könnens. Mit Vollgas raste der Hubschrauber durch das alte Industriegebiet, tanzte um die Ruinen und über Schuttberge. Nicht ein einziges Mal stieg Martinez über die Dächer hinauf. Er nutzte jede Deckung, die sich ihm bot.
Etliche Kilometer weiter westlich rumpelte der Lastwagen der Terroristen über die holprigen Straßen des alten Industriegebiets. Wie üblich saß Hewett am Steuer, und wie üblich kam für ihn nur eine Gaspedal-Stellung in Frage: durchgedrückt bis zum Bodenblech. Lucian nahm einige Schaltungen vor. Er war sich bewußt, daß Hauser, der hinter ihm an der Wand des Aufbaus kauerte, jede seiner Handlungen kritisch beobachtete. Neben dem Terroristenboß saß Janie auf dem Boden, an Händen und Füßen gefesselt. »Wir sind gleich soweit, Croyd«, meldete Lucian. »Wir müssen dann am Einsatzort nur noch die Sprengladungen vorbereiten.« Hauser grinste zufrieden. Er blickte die blonde junge Frau an, die in ihren Fesseln so hilflos wirkte – und so attraktiv. Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Sein Kampf ging vor. Laut sagte er: »Unsere junge Freundin hier wird dabeisein… sie darf für eine große Sache sterben!« »Sie sind vollkommen wahnsinnig!« keuchte Janie. »Wenn mein Bericht über den Sender geht, sind Sie erledigt!« Hauser schmunzelte. War das Blondchen wirklich so naiv, oder tat sie nur so? Sie würde keine Berichte über irgendwelche Sender geben. Nie mehr.
Hewett drehte sich im Fahrersitz um. Einmal mehr ballte er die rechte Faust. »Seien Sie doch ein bißchen fröhlicher, Kleine! Wenn der Laden hier hochgeht, werden Sie weltberühmt! Die erste Reporterin vom Sender 23 im Weltall!« Hewett wollte sich schier ausschütten vor Lachen über seinen tollen Witz, und auch Hauser prustete laut los. Der Junge hatte zwar einen etwas seltsamen Humor… aber er fand ihn ungemein komisch!
»Wann erreichen wir das Fahrzeug?« kam Carters Funkanfrage aus dem Hubschrauber. Martinez kitzelte die letzten Leistungsreserven aus der Maschine. »Ihr braucht noch etwa zehn Minuten«, antwortete Theora. »Hauptsache, wir sind rechtzeitig da!« brummte Carter. »Wenn Hauser aus dem Wagen steigt, will ich mit (der Kamera dabeisein.« »Keine Angst, das schaffen wir schon«, versicherte Martinez. »Wir kommen wie aus heiterem Himmel über diesen unangenehmen Zeitgenossen!« Carter hatte seinen Piloten schon lange nicht mehr so entspannt gesehen. Je gefährlicher ein Einsatz war, desto lockerer wurde der Mann offensichtlich! Theoras Stimme im Kopfhörer riß Carter aus seinen Gedanken: »Achtung, das Fahrzeug hat angehalten! Ihr habt noch sieben Minuten Flugzeit!« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Ich will euch nicht unnötig Angst machen, aber…vielleicht sind die Typen bewaffnet!« Carter blickte zu seinem so entspannt wirkenden Piloten. »Martinez hat nie Angst.« Was er von sich selbst nicht unbedingt behaupten konnte.
Lucian rannte über ein Trümmerfeld zurück zum Lastwagen. Hewett und Hauser standen davor und hielten Janie zwischen sich fest. Die Fesseln hatten sie der Reporterin abgenommen. Sie war durch ihre Beinverletzung sowieso viel zu geschwächt. Sie konnte nicht entkommen. Der Terrorist mit den wirren Haaren deutete auf ein halbzerfallenes Gebäude auf der anderen Seite des Trümmerfeldes: »Ich habe die Sprengladungen montiert. Gleich rechts von diesem… äh… Ding da.« Er warf einen zweifelnden Blick auf ihre vor Schmerzen stöhnende Gefangene. »Wollen Sie es wirklich tun?« »Kümmere dich um die Kamera, Lucian!« befahl Hauser barsch. »Wir sprengen doch das Ganze nicht zum Spaß in die Luft!« Der Angesprochene kletterte gehorsam die Leiter hinauf, die seitlich am Kastenaufbau des Lastwagens montiert war. Auf dem Dach angekommen, schraubte er die automatische Kamera vom Stativ.
»Schneller, Martinez!« verlangte Carter, obwohl er doch wußte, daß der Hubschrauber kein höheres Tempo brachte. Aber er konnte seine Nervosität kaum noch zügeln. Er spürte es in seinen Knochen, daß Janies Leben bedroht war. »Wie lange noch, Theora?« »Bei der Geschwindigkeit… zirka fünf Minuten!« kam die Antwort über Flink.
Hauser und Hewett schleiften die halb bewußtlose JungReporterin mitten auf das Trümmerfeld. »Wohin mit ihr?« rief Hauser.
Lucian, der noch auf dem Dach des Wagens stand, dachte kurz nach und antwortete dann: »Da ist es gut!« »Hier?« »Ja, sag’ ich doch!« Die beiden Terroristen ließen das stöhnende Mädchen zu Boden gleiten. Hewett lief zum Lastwagen zurück und nahm die Kamera an, die Lucian ihm reichte. Hauser tätschelte Janies Wange. Der Schmerz hatte sie kurzfristig das Bewußtsein verlieren lassen. Wie durch einen roten Schleier hörte sie Hausers höhnische Worte: »Durch Ihre Mitwirkung wird dieser Bericht erst richtig spannend!«
»Mehrere Personen haben das Fahrzeug verlassen«, informierte Theora ihren Reporter. »Edison, vielleicht legen die eine neue Sprengladung!« »Ich vermute etwas Schreckliches«, orakelte Carter. Weshalb, konnte er nicht sagen – aber er war felsenfest davon überzeugt, daß der nächste Anschlag der Weißen Brigade Menschenleben kosten würde.
Hewett plazierte die Kamera mitten im Trümmerfeld und richtete sie auf Hauser aus, der bei dem Mädchen kniete. »Hier ist das Abschlußkabel!« Lucian reichte ihm die Verbindung. »Werd’ nur nicht nervös«, lachte Hewett. »Geh zum Wagen zurück!« Er fühlte sich unglaublich stark und mächtig. Als Mitglied der Weißen Brigade war er jemand, den die anderen fürchteten. Ein Gebieter über Leben und Tod! Lucian nervte ihn. »Vergiß nicht, wir brauchen gute Aufnahmen!«
Hewett fokussierte die Kamera auf Hauser und das Mädchen, das ausgestreckt im Schutt lag. »Die Einstellung gefällt mir…«, murmelte er. Und dann, laut: »Lucian, wie sieht’s auf dem Monitor aus?« Auf ihrem Monitor in der Schaltzentrale sah Theora, wie sich ein zweiter Leuchtpunkt dem ersten näherte, der das Fahrzeug der Terroristen darstellte. »Edison, ich glaube, da kommt noch ein zweites Fahrzeug!« warnte sie den Reporter. Ein zweites Fahrzeug bedeutete mehr Gegner. Carter schluckte. »Martinez, die Chancen stehen zehn zu eins, daß wir die Sache nicht überleben!« »Endlich wird’s spannend!« Der Pilot grinste nur. Sein Passagier seufzte vernehmlich. »Sie haben wirklich eine morbide Einstellung!« Martinez knüppelte den Hubschrauber um eine hohe Gebäudeecke herum und nahm die letzten Kilometer in Angriff. Es würde nur noch wenige Sekunden dauern, bis sie am Einsatzort waren. Allerdings gab es auf dem letzten Abschnitt der Strecke kaum ausreichend hohe Gebäude, die ihnen Deckung geben konnten. Wenn sie Pech hatten, gingen sie den Terroristen jetzt doch noch ins Radarnetz.
Frank Braddock parkte seine Limousine wenige Meter von Hausers Lastwagen entfernt. Der Medienhändler war stolz auf seinen turbinengetriebenen, zweifarbig pink-rosa lackierten Dodge im Airflow-Styling der frühen 50er Jahre. Ein Erzeugnis bester Handwerkerkunst – und ein kleines Vermögen wert. Braddock zeigte gerne, was er hatte. Auch wenn das Auto eigentlich der Bank gehörte. Aber wenn das Geschäft mit Sender 23 erst gelaufen war, konnte er den Kredit auf einen Schlag ablösen.
Hauser warf einen letzten prüfenden Blick über Lucians Schulter. Das Bild war perfekt! »Gut… wir können anfangen!« Er sah Braddock, der auf den Kastenwagen zukam, und winkte ihn herein: »Komm doch her, Braddock! Wir stehen kurz vor den Aufnahmen!« Der Agent sah sich das Kontrollboard an. Er hatte es wirklich mit Profis zu tun! Hauser deutete auf den Bildschirm: »Bitte… auf dem Monitor kannst du alles sehen!« »Eine etwas merkwürdige Kameraeinstellung.« Braddock verstand nicht, weshalb die Optik so dicht über dem Erdboden plaziert war. Doch Hauser klärte ihn auf. »Das ist Absicht! Die junge Frau hat die Kamera fallen lassen. Wenn sie jetzt aufsteht, macht es bumm, und sie wird in tausend Stücke zerrissen!« Braddock nickte anerkennend: »Die Puppe sieht richtig echt aus!« »Das ist keine Puppe«, kicherte Hauser. »Das ist diese Reporterin vom Sender 23!« »Was denn? Ein richtiger Mensch? Sag mal, bist du wahnsinnig geworden? Das ist ja Mord!« Hauser packte den Medienhändler am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. »Nein, Braddock, das ist die Revolution! Du willst gute Aufnahmen? Das werden welche!« Der nackte Wahnsinn leuchtete aus Hausers Augen. »Lucian, schalte zum Sender 23«, befahl er. »Das wird eine LiveSendung!« »Croyd, wir sind zu nahe dran… wir brauchen mehr Sicherheitsabstand!«
Hewett kniete noch draußen bei der Kamera. Als er den Hubschrauber sah, sprang er erschrocken auf. Das da war nicht eingeplant! Mit langen Schritten lief er zum Lastwagen. »Croyd, da kommt ein Hubschrauber!« »Na ja, und wenn schon!« Der Oberterrorist war jetzt total auf dem Ego-Trip. In diesem Moment hätte er es mit der ganzen Welt aufgenommen. So tapfer war Hewett nicht: »Hören Sie, der ist von Sender 23! Die haben uns entdeckt!« »Dann werden wir denen ein richtig spannendes Schauspiel bieten, klar?« »Klar!« Jetzt war auch Hewett überzeugt. Hauser wollte den roten Knopf drücken, doch Lucian packte sein Handgelenk. »Nicht zünden! Wir sind zu nahe am Sprengsatz dran!« »Zünden!« Hauser brüllte wie ein Wahnsinniger. Sein Irrsinn sprang auf Hewett über, der schrie: »Nein, nicht draufdrücken! Das will ich machen! Laß mich ran!« Lucian kämpfte verzweifelt gegen seine beiden Kumpane an. Braddock versuchte, sich aus dem Staub zu machen. Doch Hewett ließ ihn nicht durch.
»Edison, da liegt jemand!« Martinez hatte Janies Körper entdeckt. »Mein Gott, das ist Janie Crane! Los, Martinez, weiter runter!« In der Zentrale starrte Murray fasziniert auf Carters Bilder. Er drückte die Notruftaste: »Mr. Cheviot, schalten Sie sich in die Übertragung ein! Das ist ein Notfall!« Im Sitzungssaal hoch oben sprangen die Direktoren von ihren Sitzen auf, als sie die dramatischen Bilder, die Carter lieferte, auf dem Wandmonitor sahen.
Der Reporter sprang aus dem Hubschrauber, der noch nicht ganz aufgesetzt hatte, und packte seine verletzte Kollegin. »Janie, festhalten!« Und dann: »Hoch, Martinez!« Im Lastwagen kämpften Lucian und Braddock vergeblich gegen zwei Wahnsinnige an. »Sprengen! Sprengen!« brüllten Hauser und Hewett. Mit übermenschlicher Kraft schob Hauser die anderen beiseite und drückte den roten Knopf. Die gewaltige Explosion wirbelte den Lastwagen wie ein Spielzeug durch die Trümmerwüste. Lucian hatte recht gehabt: Sie waren zu nah am Sprengsatz gewesen. Aber nun lebte niemand mehr, der die Wahrheit seiner Worte hätte erkennen können. Martinez schaffte es mit knapper Mühe und Not, den Hubschrauber vor der Druckwelle in Sicherheit zu bringen. Im Konferenzsaal des 23er-Towers kämpfte Cheviot um seine Fassung: »Diesen Braddock bringe ich eigenhändig um!« »Das überlassen Sie mir!« knurrte Formby. Beide ahnten nicht, daß Braddock längst nicht mehr unter den Lebenden weilte. »Die Einschaltquoten!« Edwards deutete auf die ins Bild eingeblendete Kurve, die rasant anstieg.
Martinez hatte den Hubschrauber in sicherer Entfernung zu Boden gebracht. Carter stand vor der Maschine, Janie lehnte erschöpft an einer der Landekufen. Martinez bediente die Kamera. Über Funk meldete sich Murray: »Achtung, Edison, ihr seid auf Sendung!« »Ich übergebe jetzt an meine Kollegin, die diesen Bericht beinahe mit dem Leben bezahlt hätte«, sagte Carter. »Sie hat gegen alle Regeln unseres Senders verstoßen, um für diese Story zu recherchieren. Ladies und Gentlemen… Janie Crane
vom Sender 23 meldet sich live vom Schauplatz des Geschehens.« Die junge Frau atmete tief durch, bevor sie mit matter Stimme sprach. »Das alles begann vor mehreren Monaten… doch meine Rolle in diesem blutigen Drama begann erst gestern morgen. Beinahe hätte ich meine Neugier mit dem Leben bezahlt… doch als ich entdeckte, daß die Weiße Brigade wieder aktiv wurde… und zwar gezielt und auf Bestellung… wollte ich unbedingt Beweise sammeln…« Und sie erzählte die ganz unglaubliche Geschichte von Frank Braddock und Croyd Hauser.
Nach dieser Sondersendung war Max Headroom ein Millionenpublikum sicher. Kaum hatte Janie ihre Reportage beendet, schaltete er sich auf den Sender: »Und jetzt und jetzt kommen wir zu etwas ganz Besonderem beim Sender 23: Es geht um die Verleihung des be-be-be-bedeutungslosesten und extravagantesten Fernsehpreises. Die Jury verleiht ihn demjenigen, dessen Sen-Sen-Sendungen in diesem Jahr am meisten wertvolle Sendezeit und wertvolles Geld vergeudet haben. Al-al-also können wir alle sehr gespannt sein, nicht? Hang… hang, hang! Ich melde mich gleich wieder… hm!« Grinsend verschwand Max vom Schirm – um in der nächsten Sekunde wieder aufzutauchen. Statt des üblichen grafischen Musters bildeten jetzt alte Werbefilme der Autoindustrie seinen Hintergrund. »Hallo, hier ist Max Max Headroom vom Sender 23. Diese Sendung widmet Ihnen Ihnen… oh! Nein, nein, neineinein! Sowas kann man mit mir nicht machen, die glauben doch wohl nicht im Ernst, daß ich für die Autoindustrie Werbung mache. Bei denen läuft wohl die Kurbelwelle schief! Das das das hat man schon mal mit mir versucht, und ich bin nicht
darauf reingefallen. Sie glauben anscheinend, daß ich jetzt den Gang wechsle und wie eine Zündkerze vor Beg-gei-gei-geisterung Funken sprühe! Bei denen muß doch wohl die Öl-öl-öölwanne undicht sein! Hören Sie, hören Sie, ich will hier vor Ihnen auf keinen Fall einen Kolbenfresser bekommen… aberSiekönnennichtallenErnsteserwartendaßichhierdummrums tehe… und alberne Sprüche über Autolackierungen aufpoliere! Der Club der Scheibenwischersammler hat mir kürzlich geschrieben! Sie behaupten, meine Sprüche wären so differential… äh, differenziert! Ahii!« Max genoß es sichtlich, sein Publikum zu veralbern. »Ja, ja, ich kenne solche Schmeicheleien. Die wollen mich nur rumkriegen, damit ich für ihre Benzinschleudern Werbung mach-mache! Ich weiß, der Autoindustrie geht es schlecht, alle müssen den Keilriemen en-enger schnallen. Aber das ist doch nicht meine Schuld. Die brau-brau-brauchen nur einen richtigen Mannder-Mannderdas Steuer fest in die Hand nimmt. Und wer ist dieser grandiose Steuermann? Max Max Max Headroom! Aber wenn ich denen nicht recht bin, dann sollten sie den Wagen anhalten, den Gangangang rausnehmen, den Motor rausnehmen und Pedale einbauen, das spart Energie! Puuuh!« Max merkte, daß seine Witze die Schmerzgrenze erreicht hatten. Er verschwand freiwillig vom Sender, bevor man ihm den Strom abschaltete. Am nächsten Morgen registrierten die Autohändler einen Anstieg der Bestellungen um 18,6 Prozent.