K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- U N D
KULTURKUNDLICHE HEFTE
ROLAND
KORBER
BILD...
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- U N D
KULTURKUNDLICHE HEFTE
ROLAND
KORBER
BILDER AUS DEM LEBEN DER I N D I O S
VERLAG SEBASTIAN LUX M U R N A U . MÖNCHEN . INNSBRUCK . B A S E L
Wie vor tausend Jahren . . . Läßt man den Blick über die Karte der Neuen Welt schweifen, so erscheint Mexiko als der kleine Nachbar der Vereinigten Staaten. Aber die Verhältnisse täuschen. Das Land ist achtmal so groß wie die Bundesrepublik, es umschließt in seinen Grenzen fast zwei Millionen Quadratkilometer. Ungeheure Gebirge türmen sich in mehr als fünftausend Meter Höhe auf und werden von den Berghäuptern des Orizaba, Popocatepetl und Iztaccihuatl überragt. Weite, trockene Hochflächen und Wüsten wechseln mit herrlichen Pinienwäldern, feuchtwarmen Urwäldern und fruchtbaren Zonen üppigen Pflanzenwuchses ab. Der Boden birgt große Schätze. Gold, Silber, Edelsteine, Schwefel und die Porzellanerde Kaolin werden abgebaut. Glimmer findet man im Süden, er ist als Isolierstoff lebensnotwendig für die gesamte Elektro-Industrie: Mexiko besitzt nahezu das Weltmonopol, öl quillt vor allem im Golfgebiet aus dem Boden; seit der Enteignung der ausländischen Olgesellschaften im Jahre 1938 produziert man in modernen Hydrieranlagen eigenen Treibstoff. Baumwolle wächst in Nord und Süd; sie bildet den Reichtum des Landes, denn 50 Prozent des Ausfuhrerlöses deckt diese Pflanze, aus der schon vor Kolumbus die Indianer ihre herrlichen Stoffe gewebt haben. Kaffee steht mit 30 Prozent an zweiter Stelle der Ausfuhrliste. Mais, das Hauptnahrungsmittel der Indianer, ist erst durch die Spanier als Neuheit aus Mexiko in Europa bekannt geworden. Die Karavellen der Eroberer füllten sich einst mit weiteren erstaunlichen Dingen aus dem Lande der Azteken und Maya und brachten sie in die Alte Welt: Sisalfasern von der Agave für Seilereien und Mattenflechtereien, Vanille, Tomaten, Kartoffeln, Truthähne, Rohgummi aus dem Urwald — alles Produkte, die man vor Kolumbus in Europa nicht kannte und ohne die unser Leben heute nicht denkbar ist. Die hochentwickelten Indianerkulturen des Hochlandes und die verlassenen Riesenstädte der Maya im Süden, die die Spanier vorfanden, sind Zeugen für die vielseitigen Fähigkeiten der Urbevölkerung. Unter den heutigen Indianern findet man sehr geschickte 2
Töpfer, Weber und Silberschmiede. Sie sprechen die Sprache ihrer Vorfahren, aber die Kenntnisse der alten Astronomen, Baumeister und Schriftkundigen sind verlorengegangen. Je weiter man in das Land und seine Geheimnisse eindringt, desto weniger begreift man es zunächst in seiher Eigenart. Der äußere Verputz der Zivilisation bröckelt ab, und was darunter zum Vorschein kommt, ist unerwartet fremd, eine andere Welt. Nur scheinbar gebärdet sich die Hauptstadt mit ihren Wolkenkratzern amerikanischer als manche Stadt in den USA. Nur scheinbar hat die Technik und die von Europa und den Spaniern übernommene Kultur das Land der Alten Welt näher gebracht. Der moderne Teil der Hauptstadt ist nicht mit ganz Mexiko gleichzusetzen, wie Manhattan — das Wolkenkratzerviertel New Yorks — nicht die Vereinigten Staaten verkörpert. Der flüchtige Besucher, der in den mit den neuen technischen Errungenschaften ausgestatteten Hotels wohnt, erlebt letzten Endes nur ein Schein-Mexiko. Auch muß man bedenken, daß die Weißen innerhalb der Bevölkerung nur einen verschwindend kleinen Teil bilden: fünfzehn Millionen reinblütige Indianer und sieben Millionen Ladinos, Mischlinge aus spanischem und indianischem Blut, stehen knapp zwei Millionen Weißen gegenüber. Sprache, Baustil, Technik, alle von den USA und Europa übernommene Zivilisation bildet nur eine dünne Oberfläelienschicht. Auf dem Land und mitten in der Großstadt geht das Leben den seit Jahrtausenden gewohnten Gang. Jede Otomi-, Huasteca- oder Chamula-Indianerliütte ist aus dem gleichen Material und in der gleichen Weise gebaut wie vor tausend Jahren. Viele Kirchen stehen auf Plätzen, die den Göttern der Vorzeit geweiht waren, und mancher Indio trägt das Bild seines Schutzheiligen neben dem aztekischen Zauberamulett auf der Brust. Mexiko ist eine Kulturlandschaft für sich. Die Indianer, deren Ahnen nach den neuesten Forschungen in einem zehntausende Jahre währenden Vordringen als Jäger und Fischer von Asien her den amerikanischen Kontinent besiedelt haben und vor allem hier im mexikanischen Hochland seßhaft geworden sind, können ihre asiatische Urheimat auch heute noch nicht verleugnen.
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Land der Gegensätze Todmüde erreichen wir am Abend EI Banito; Texas und die Grenze der USA, die wir in der Morgenfrühe überquert hatten, liegen weit hinter uns. Mitten in der Buschsteppe lädt ein Motel, ein Rasthaus für Autofahrer, zum Verweilen. Es ist Januar, und wir freuen uns, daß es noch so angenehm warm ist. Im Schwimmbassin vor den einstöckigen Bungalows dampft merkwürdig das Wasser. Eigentlich lockt es uns nach einer so langen Tagesfahrt mit aller Macht zur Ruhe, doch der leichte Schwefelgeruch, der aus den Wasserdämpfen aufsteigt, macht uns neugierig. So schwimmen wir denn im wohlig warmen Wasser. Als wir uns nach zehn Minuten wieder über die Betonumrandung aus dem Bassin stemmen, fühlen wir uns wie neugeboren. Alle Schlafmüdigkeit ist geschwunden. Die radioaktiv-eisenhaltige Schwefelquelle hat in Windeseile ein kleines Wunder vollbracht. Wenn es uns heute immer wieder nach Mexiko zieht, dann nicht zuletzt aus dem Grunde, weil überall und rings im Lande solche Heilquellen aus dem vulkanischen Boden brechen und weil das glles gewissermaßen frei Haus angeboten wird, ohne Kurtaxe und ohne daß ein Bademeister bemüht werden muß. Wir wollen am nächsten Tag schon ins Hochland hinauffahren, aber wir kommen vorerst von El Banito nicht los. Die Kraft der Quelle, die auch aus der Dusche neben unserem Zimmer herausströmt, hält uns fest. Die leichtgewellte Buschsteppe, aus der man nachts das eigenartige Brüllen des mexikanischen Tigers hören kann, vollendet den Reiz dieses zauberhaften Stückchens Erde. So unternehmen wir am nächsten Morgen nur einen Abstecher zum nahegelegenen Rio Salto. Einige hundert Meter rechts und links vom Ufer ziehen sich Palmenhaine hin. Zwischen Bambusstauden tanzen Schmetterlinge, hin und wieder fliegt ein bunter Vogel mit einem Flöten- oder Krächzlaut durch die Palmwipfel. Der Weg, der zum Fluß führt, biegt kurz vor dem Wasser nach links ab und endet zwischen zahlreichen kleinen Steinhäusern. Es ist seltsam, die Häuser stehen leer. Die Fensterrahmen hängen lose in den Angeln, die Wände sind grau verschmiert. Keine menschliche Stimme belebt die tote Siedlung auf der Böschung fünf Meter über dem Wasserspiegel des leise gurgelnden Flusses. Unser Begleiter erzählt uns die Geschichte dieser Feriensiedlung: Ein Hotelbesitzer hatte die kleinen Häuser gebaut, um sie vor
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über die Silberstadt Taxco ragt die von den Spaniern erbaute Kathedrale
allem an amerikanische Touristen, die gern über die Grenze herüberkommen, zu vermieten. Alles ging gut, bis 1956 die Katastrophe hereinbrach. Ein Hurrican fegte von der Goldküste her über das Hinterland. In wenigen Minuten schwoll das Wasser des Rio Salto acht Meter über den Normalstand. Die Menschen wurden in ihren Betten überrascht. Nur einem Amerikaner gelang es, sich auf eine Palme zu retten, er hielt dort aus, bis man ihn nach drei Tagen befreite. Er hatte mit ansehen müssen, wie die Bewohner, wie Frau und Kind ertranken, ohne daß er Hilfe bringen konnte. Als man ihn fand, hatten Aufregung und Schmerz ihn um den Verstand gebracht. W i r blicken in den friedlich dahinziehenden Fluß und müssen daran denken, wie sehr die trügerische Ruhe dieses Wasserlaufs ein Symbol für das Land ist. Mexiko ist unberechenbar. Orkane drohen vom Meer her, Erdbeben beunruhigen aus der Tiefe. Man fährt auf der Landstraße, die makellos daliegt; plötzlich ziehen Wellen durch den Asphalt, und die nächste Brücke ist eingestürzt. Felsen donnern von der Höhe, die Erde bebt. Vor eini5
gen Jahren brach die Erde vor einem Bauern, der sein Feld pflügte, auf, Steine und Lava quollen hervor. Wochen später stand an der gleichen Stelle ein 600 Meter hoher Vulkankegel, der heute schon wieder erloschen ist, der Paricutin. Die Erde Mexikos ist jung, sie spendet und zerstört im gleichen Atemzug. Wer aus Texas, dem Südstaat der USA, ins Land kommt, wird überrascht durch den ständigen Wechsel der Bodenbeschaffenheit und des Klimas. Auch wir haben auf der Herfahrt diesen Wandel der Landschaftsbilder und der Wetterlaunen erlebt. Hinter der Grenze von Texas türmte der heiße Wind aus dem Golf gewaltige Staubwolken in den zartblauen Himmel und verschleierte die weite Kaktecnsteppe, die wir durchfahren mußten. Sieben Jahre Trockenheit hatten hier die Leute auf ihren Baumwollplantagen zur Verzweiflung gebracht. Hunderte hatten Haus und Hof verloren, das Vieh war am Wege verendet. Nach hundert Kilometern war die Steppe in das Bergland übergegangen, wir hatten den ersten Paß hinter uns gebracht; die Sierra Madie schickt hier ihre Ausläufer aus dem Zentralmassiv weit in den Norden (s. d. Karte S. 16/17). Vor den Bergen zeigte sich uns die größte Industriestadt Mexikos, Monterrey mit 350000 Einwohnern, umgeben von Orangen- und Mandarinenhainen. Und erneut änderten sich, als wir hoch in die Sierra Madre aufstiegen, die Bilder. W i r verließen die Orangenwälder. Hin und wieder stellte sich ein Berg quer, ein neuer Paß öffnete sich, und dahinter breitete sich urplötzlich Buschsteppe aus, Vieh graste an der Straße, die Halme waren grau vom Staub. Hinter dem nächsten Paß, hundert Kilometer weiter, aber zeigte sich das tiefe Grün ausgedehnter Zuckerrohr- und Reisfelder. Graues Wasser floß durch übervolle Kanäle, große Ochsenkarren schleppten die Lasten zur nächsten Stadt. Und eine Strecke weiter wieder neue Eindrücke: Auf einmal wurde die Erde einsam und tot, Krater ragten aus weiten Flächen. Nur hin und wieder lag eine IndioHütte an der Straße. Räudige Hunde spielten im Sand, ein Esel stand vor einer Kaktee und senkte den Kopf in der glühenden Sonne. In der Ferne gleißte der weiße Turm einer altspanischen Missionskirche. Vierhundert Jahre ist es her, daß die Mönche in die Verlassenheit dieser Landschaft zogen. Das Leben der Indios, denen sie das Christentum brachten, hat sich seit der Zeit kaum gewandelt. Der Glaube an die Götter der Ahnen ist heute vielerorts noch lebendig und verbindet sich oftmals wirr und phantastisch mit den christlichen Vorstellungen.
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Über das Hochland zum Großen Geysir Als wir endlich El Banito und seinen Schwefelbädern Lebewohl sagen, steht uns das gewaltigste Gebirgserlebnis der ganzen Reise bevor. „ I n Thomas and Charly beginnt der Aufstieg zum zentralen Hochland, in dessen Mitte die Hauptstadt Mexiko City liegt", so hätte man uns in Texas gesät. „Brechen Sie dort früh am Morgen auf. Die zweitausend Kurven bis zum letzten Paß vor der Hauptstadt haben es in sich. Nebel und Schneesturm können Ihnen in dieser Jahreszeit übel mitspielen, und man sollte niemand wünschen, in der Bergeinsamkeit stecken zu bleiben. Denken sie auch daran, den Vergaser nachzustellen, dreitausend Meter Höhenunterschied sind kein Pappenstiel für den W a g e n . " Als wir in das genannte Städtchen einfahren, lächeln wir. Sein Name ist in Wirklichkeit Tamazunchale; die Texaner haben daraus „Thomas und Charly" gemacht. Tamazunchale liegt am Rio Moctezuma. Der Fluß verdankt seinen Namen dem letzten Aztekenkaiser Moctezuma IL, der bei der Eroberung Mexikos durch Cortez im Jahre 1520 umgekommen ist. Die Spanier nannten ihn Montezuma. Herrliche Mangobäume säumen das Flußufer, Bananenhaine ziehen sich die Hänge hinauf. Die Straße folgt dem türkisblauen, tiefeingeschnittenen Fluß. Hin und wieder sieht man badende, bronzefarbene Indios. Vor freundlichen Bambushütten türmen sich Berge tropischer Früchte, vor allem Bananen in allen Größen und Farben. Unvermittelt hinter dem Ort setzt mit einer harten Wendung der Aufstieg ein. Die Straße biegt dem Berg zu, und es beginnt eine der kühnsten und zaubervollsten Hochgebirgsstrecken, die es wohl auf dieser Erde gibt. Kurve an Kurve zieht sich das Asphaltband in die Höhe. Tropische Wälder lösen sich ab mit Bananen-, Kakao- und Kaffeeanpflanzungen. Hin und wieder sieht man auch ein Maisfeld. Der Mais gedeiht in Mexiko in den Regionen zwischen 1500 und 2500 Meter besonders gut. In fünfzehnhundert Meter Höhe hört der tropische Wald auf. Immer wieder durchfährt man Strecken reiner Felswildnis, Ausblicke auf die tiefgestaffelten Bergketten des Hochlandes werden frei. An gewaltigen Abstürzen entlang steigt die kurvenreiche Straße weiter an. In zweieinhalbtausend Meter Höhe durchfährt man Pinienhaine. Aus dem dunklen Grün der Nadelbäume gleißen hellgraue Felswürfel, darüber dehnt sich ein Himmel von lichtblauer Zartheit und Frische. Wenn man aus dem Wagen
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steigt, erfaßt einen der Strom kühler Bergluft. Scharen riesiger Geier kreisen über den Abstürzen und lauern auf Beute. Dann kurvt die Höhenstraße wieder in die Tiefe. In einem kleinen Hochtal drängen sich die Häuser eines Dorfes. Wieder ein steiler Anstieg. Hinauf auf fast dreitausend Meter, hinunter auf zweitausend, und das auf einer Strecke von zwei- bis dreihundert Kilometern mehrmals sich wiederholend. Hinter einer Kurve ist die Straße plötzlich weggerutscht. Arbeiter sind dabei, in den Hang eine Umgehung der Abbruchstelle zu schaufeln. Während man vorsichtig am Berg entlangschleicht, sieht man in der Tiefe die abgestürzten Asphalttrümmer der Fahrbahn liegen. Zweihundertfünfzig Kilometer trennen uns noch von der Hauptstadt, als der Abend mit tropischer Plötzlichkeit hereinbricht. Der Paß liegt noch im Licht der Abendsonne. Unter uns erkennen wir in der Dunkelheit die Lichter der Silberstadt Zimapan. Seit 400 Jahren gräbt man hier nach Silber, und noch immer sind die reichen Adern der Berge nicht ausgeschöpft. Eine Stunde später sitzen wir mit dem reichsten Minenbesitzer des Ortes in einer kleinen Schenke zusammen und müssen den Pulque der Indios probieren, der neben dem Tequila, einem Kakteenschnaps, zu den beliebtesten alkoholischen Getränken des Landes gehört. Pulque wird aus dem Saft einer Agave gewonnen und vergoren. Für europäische Zungen ist er ziemlich ungenießbar. In großen Mengen von den Indios genossen, führt das Getränk zu kräftigen Räuschen. Dem weißen Mann ist zu raten, einen großen Bogen um die Pulqueria, den Ausschank von Pulqueschnaps, zu machen. Die sonst so ruhigen und friedlichen Indios lieben es nicht, bei diesen Genüssen gestört zu werden. Zu aztekischen Zeiten war das weißlich-milchige Getränk nur den alten Leuten und den Tempelpriestern vorbehalten. W e r nicht zu diesem Personenkreis gehörte und sich trotzdem betrank, wurde mit dem Tode bestraft. Als wir unsern neuen Bekannten bitten, uns seine Silbermine zu zeigen, macht er uns einen Gegenvorschlag. Am Tag zuvor, so haben ihm Indianer berichtet, ist im fünfzig Kilometer entfernten Kaolingebiet von Tecozautla der größte Geysir der Welt ausgebrochen. Ob es nicht lohnender wäre, ihn anzusehen? Nun, wir entscheiden uns, zu Gunsten dieses Naturschauspiels auf die Besichtigung des Bergwerks zu verzichten. Am frühen Morgen, noch in der Dunkelheit, brechen wir auf. Leichter Regen rieselt aus der geschlossenen Wolkendecke, Nebelschwaden ziehen über die hochgelegene Straße. Nach einer halben Stunde
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Blick auf die Kathedrale von Mexiko City, di* größte Domkirche Amerikas
Fahrt hören die Wolken wie mit dem Messer geschnitten auf und geben den Morgenhimmel frei. Die Sonne steht über fernen Bergkuppen wie eine große Apfelsine. Hatte der Regen noch bis vor wenigen Minuten fruchtbare Maisfelder berieselt, so treffen die warmen Strahlen der Sonne jetzt auf eine ausgetrockneta Bergwüste. Gewaltige Lavafelder breiten sich in bizarren Formen über tief eingeschnittene Flußtäler. W i r passieren die kleine Stadt Tecozautla, verlassen die Asphaltstraße und setzen die Reise auf einem Sandweg fort. Unter den Rädern quillt feiner Puderstaub in dicken Wolken in die Höhe. Wir durchqueren eine F u r t Der Weg verengt sich und wird für den Wagen nicht mehr befahrbar. So lassen wir ihn im Schatten einer zehn Meter hohen Kandelaberkaktee stehen und steigen, dem Eselspfad folgend, einem Bergsattel entgegen. Hinter der Kuppe soll der Geysir aus der Erde brechen. Unterwegs fordern zwei bis drei Meter breite Löcher von unterschiedlicher Tiefe unser Interesse. Es sind die einfachen Grabstellen, welche die Indios anlegen, um dem Kaolin in die Tiefe zu folgen; der Rohstoff zur Porzellanherstellung lagert hier in weißen Adern bis dicht unter der Erdoberfläche. 9
Der tiefste dieser Kaolinschächte reicht sechzig Meter unter die Erde. Einfache hölzerne, von Hand bediente Göpelwerke, von denen die Körbe mit der kostbaren Edelerde heraufgezogen werden, ersetzen den Förderturm. Schon vor tausend Jahren boten die indianischen Bergwerke keinen anderen Anblick. Unser Begleiter erklärt uns, daß an der Sohle des tiefsten Stollens das Gestein glühend heiß ist. Die Hitze wird unerträglich, Schwefelwasser sickert aus dem Fels, und in der Erde pocht und stößt es. Dort unten befindet sich die höllische Küche, aus der der Geysir seine Kraft bezieht. Noch haben wir ihn nicht entdeckt, aber je näher wir dem Sattel kommen, desto deutlicher vernimmt man ein dumpfes Grollen und Zischen. Dann mit einemmal wird der Blick frei in das Tal vor uns. Aus dem Geröll am Flußufer erhebt sich majestätisch ein hundertzwanzig Meter hoher Strahl heißen Schwefelwassers. In großen Fetzen reißt der Wind sprühende Schleier über die Kakteen im Rund, ein überwältigender Anblick. Einige Indios haben sich in respektvoller Entfernung vor dem Wunder postiert und starren unbewegt in den kochenden Strom. Als wir uns sattgesehen haben, benutzen wir die Gelegenheit, uns das bunte und interessante Leben und Treiben der Indiosfamilien am Flußlauf anzusehen, überall im Gelände gluckst und zischt heißes Wasser aus den Steinen hervor und mischt sich abfließend mit dem kalten Gebirgswasser. Die Indios verstehen es, auf ihre Weise diese Naturkräfte zu nutzen. Ein paar geschickt zurechtgestellte Steine bilden ein Badebassin, in dem sich Männlein und Weiblein tummeln, alte Frauen nehmen heilende Schwitzbäder, andere waschen ihre Wäsche. Die Männer brühen Ruten zum Korbflechten. W i r bereiten uns ein paar gekochte Eier zum zweiten Frühstück. Nur ungern lösen wir uns von dem freundlichen Bild. Wir wollen noch am selben Tag Mexiko City erreichen. Unser Ausflug den Fluß entlang mag zwei Stunden gedauert haben. Als wir zum Geysir zurückkehren, sind die einsamen Hänge ringsum schwarz von Menschen. Aus der Ebene aber kriecht vom Horizont her eine endlose Staubwolke heran, Fahrzeug an Fahrzeug. Ganz Mexiko scheint sich auf die Beine gemacht zu haben, um das neue Weltwunder zu sehen. Mit Säuglingen, Großmüttern und allen Verwandten kommen sie oft zu zehnt im Viersitzer, mit EseLskarren, Motorrädern, Lastwagen und Omnibussen. Und an allem ist letzten Endes das Fernsehen schuld. Am Abend vorher hat man über den Geysir eine Reportage gebracht, und sogleich 10
haben sich die Mexikaner an Ort und Stelle begeben. — Leider mußte ich von Freunden aus Mexiko später erfahren, daß der Geysir inzwischen von den Ingenieuren gebändigt und eingefangen worden ist und eine Elektroturbine treiben muß, die Städte und Dörfer im weiten Umkreis mit Strom versorgt. Und Mexiko ist stolz auf diesen technischen Fortschritt.
Hauptstadt auf dem Seegrund W e r denkt schon daran, daß Mexiko City, die Hauptstadt des Landes, zu den ältesten Städten der Welt gehört und zu den größten? 1957 waren es fast drei Millionen Menschen, die die ständig wachsende Stadt mit ihren aus dem Boden schießenden Industrievierteln bevölkern. Einen Hinweis auf das Alter der Stadt bietet das sogenannte Pedregal, ein Lavafeld im Südwesten Mexikos, wo auf der Lava die wohl modernste und großzügigste Universitätsstadt der Welt angelegt ist. Hundertfünfzig der bedeutendsten mexikanischen Künstler und Architekten haben diese Lehrstätte und Stadt der Forschung geschaffen. Unmittelbar neben den weitgezogenen Sportanlagen und Instituten liegt halb unter der Lava das älteste monumentale Bauwerk Mexikos, die Pyramide von Cuicuilco. Die Tempelpyramide ist also noch älter als der Vulkanausbruch, der sie mit seiner Asche und Lava bedeckt hat. Die Gelehrten sind sich zwar nicht ganz einig, um welche Zeit einer der vielen kleinen Vulkane am Rande der Hauptstadt die Lava über die Pyramide ausgeschleudert hat. Die Archäologen behaupten, die Pyramide wäre etwa 3500 Jahre alt, die Geologen, die das Alter der Lava bestimmt haben, legen noch ein paar tausend Jahre dazu. Die Altertumsforschung steht für den Bereich der Hauptstadt wie in ganz Mexiko trotz jahrzehntelanger Kleinarbeit erst am Anfang, und nur ein Bruchteil der vielschichtigen Kulturen ist enträtselt. Fest steht, daß schon vor vielen tausend Jahren Menschen mit fortgeschrittener Lebensart am damaligen Ufer der großen Seen gesiedelt haben, in deren ausgetrockneten flachen Mulden sich die heutige Hauptstadt Mexiko City erhebt. Nur noch Reste des großen Süßwassersees und des Salzsees, die sich auf der Hochfläche noch zu Zeiten der spanischen Eroberung rings um die damalige aztekische Hauptstadt ausgedehnt haben, sind erhalten. Die Azteken sind das letzte Indianervolk gewesen, das aus den Steppen des Nordens ins Hochland Mexiko eingefallen 11
ist,' etwa um die Zeit, als im Abendland die Hohenstaufen regiert habend Die einwandernden Azteken haben unter Führung ihrer Priester eine kleine Insel inmitten des Sees als erstes Siedlungsgelände besetzt. Es war der Ort, wo sie nach der Weissagung ihrer Priester einen Adler auf einer Kaktee sitzend fanden, der eine Schlange verschlingt. Aus dieser Szene entstand das noch heute gültige Nationalwappen Mexikos, der Adler mit der Schlange auf der Kaktee (s. die Karte Seite 16 und 17). Als kleiner Stamm haben sich die rauhen Azteken gegen die verfeinerte Kultur der Altemwohner durchzusetzen gewußt und viele ihrer Lebensgewohnheiten übernommen. Auf der abgeschlossenen Insel gründeten sie die Stadt Tenochtitlan, die mit der Nachbarsiedlung Tlatelolco verschmolzen ist. Als die aztekischen Indianer ihre Macht über weite Gebiete Mittelmexikos ausdehnten und auch die Bevölkerung der Stadt wuchs, vergrößerte man die Insel künstlich mit auf dem Grund versenkten steinbelasteten Flößen. So entstand ein weites Lagunengebiet. Seine Reste haben sich im Xochimilco, dem „Blumenacker", erhalten, wo heute die Indios das Gemüse für die Großstadt anbauen. Der spanische Eroberer der Stadt, Hernando Cortez, hat Tenochtitlan-Mexiko im Jahre 1521 schleifen lassen und eine spanische Stadt an seine Stelle gesetzt. So verschwanden die riesigen Tempelpyramiden, die Priesterwohnungen, Schulen, Ballspielplätze und Paläste. 60000 Häuser soll Alt-Mexiko gezählt haben. Die auf seinen Trümmern errichtete neue Hauptstadt Mexiko wurde viel kleiner angelegt. Die größte Kirche ganz Amerikas, die Kathedrale von Mexiko, steht über den Ruinen des aztekischem Haupttempels, zu dessen letzter Einweihung über 20 000 Menschenopfer dargebracht worden waren. Auch die spanische Zeit Mexikos liegt heute weit zurück. Man erinnert sich ungern an die rauhen Landsknechte des Cortez,' kaum ein Name und kein Denkmal künden von den Taten der spanischen Eroberer. Der Nationalheld Mexikos ist heute Cuatemoc, der letzte aztekische Fürst, der nach dem Tode Moctezumas die Hauptstadt vergebens verteidigt hat. Cortez ließ ihn dem Henker übergeben. Mexiko aber ist stolz darauf, das Indianerland mit der ältesten Tradition zu sein. Auf unseren Streifzügen durch die Stadt vertieft sich in uns allmählich das Bild des wirklichen Mexikos. Man fällt zunächst von einem Extrem ins andere. Moderne, breite Hauptverkehrsstraßen der Innenstadt, riesige, in einer Betonwanne fundamen12
Die gewaltige Sonnenpyramide von Teotiüuacan, erbaut um 200 v. Chr.
tierte Wolkenkratzer, überelegante Vororte, in Lavagestein hineinkomponierte Traumhäuser, ein brausender Verkehr stehen trostlosen Vorstädten der Arbeiterbevölkerung gegenüber. Dann um die Straßenecke saubere, moderne Wohnblocks, von der Regierung für die ärmere Bevölkerung gebaut. Dazwischen stehen Indianerhütten, halbnackte spielende Kinder, wenige Meter weiter eine uralte Kirche, ein Kloster, an der Mauer sind noch die Einschläge der Kugeln aus dem letzten Bürgerkrieg zu sehen. Viele Häuser, vor allem die, die sehr groß und gewichtig sind, stehen ein wenig schief, und manche sind mehrere Meter eingesunken. Unter ihnen hat der sandig-sumpfige, ehemalige Seegrund nachgegeben. Deshalb stellt man die neuen Hochbauten auf breite Betonfundamente. Wenn man Mexiko City verläßt, bleiben einem diese Hochhäuser, die volkreichen Plätze der Altstadt, der brausende Verkehr und auch die traurigen Vorstädte in Erinnerung als ein Ganzes.
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Marktleben So interessant und bunt die mexikanische Hauptstadt sein mag, so sehr die Drei-Millionenstadt zum Verweilen lockt, wer Mexiko wirklich kennenlernen will, muß in die Weite des Landes fahren. Sechshundert Kilometer südlich von Mexiko City, noch immer im Hochland des Zentralmassivs, liegt die Provinzhauptstadt Oaxaca in dem gleichnamigen Staat, w i r haben die Reise u n ternommen, weil Kenner des Landes uns gesagt haben, daß der Staat Oaxaca das indianischste Gesicht von ganz Mexiko zeige. Tatsächlich leben die Nachkommen der Zapoteken und Mixteken, die hier die Masse der Landbewohner bilden, heute noch so wie vor tausend Jahren, oft können sie nicht einmal Spanisch sprechen. Zwischen dem 2200 Meter hohen Plateau, auf dem Mexiko City liegt, und dem fruchtbaren Tal von Oaxaca haben wir sechs Passe zu bewältigen. Die Berglandschaft ist viel einsamer noch als im Norden. Am Wege gibt es zwei, drei Tankstellen. Auf unserer Reise erreichen wir nur mit Mühe eine der Tankstellen, und man will uns nicht einmal Benzin geben, was um so mehr verwundert, da man sich in einem Land befindet, in dem das öl an vielen Stellen buchstäblich aus dem Boden quillt. Erst als der Tankwart hört, wo wir herkommen, holt er noch ein paar Liter aus seiner privaten Reserve, nimmt uns aber das Versprechen ab, es niemandem zu verraten. Benzin aber gibt es nur deshalb gerade nicht, weil das Gerücht umgeht, die Regierung wolle den Preis erhöhen. Aus diesem Grunde halten die Großverteiler das kostbare Naß zurück. Tatsächlich ist das gesamte Preisgefüge des Landes sehr vom Benzin abhängig, denn die Motoren der wichtigsten Transportmittel laufen nur mit Benzin. Die Eisenbahn verliert von Jahr zu Jahr an Bedeutung, und es kann durchaus geschehen, daß nach der Fertigstellung einer neuen Straße der parallel laufende Schienenstrang einfach abgebaut wird. Autobus und Lastwagen, Passagier- und Frachtflugzeug bewältigen den Hauptverkehr. Die Fahrpreise und Frachtkosten sind überaus niedrig. Jeweils das modernste Verkehrsmittel ist dem mexikanischen Geschäftsmann gerade recht. Davon haben wir uns auch während des Aufenthalts in der Hauptstadt überzeugen können: In Viererreihen rasten moderne Straßenkreuzer über die breiten Boulevards. Doch dieser moderne Verkehr ist nur ein winziger Teil des Lebensausdrucks der Mexikaner; denn unmittelbar neben den Fernverkehrsstraßen beginnt die unendliche Weite des Landes,
wo die Zeit keine Rolle mehr spielt und der Indianer zu F u ß geht wie eh und je. Sogar in der Hauptstadt begegnen wir noch indianischen Lastenträgern, die barfuß über die Straßen eilen und am Stirnband hoch auf dem Rücken einen Schrank oder ein Bett mit schnellen Trippelschritten von einem Stadtteil in den andern tragen. Bis zu dem Augenblick, als der Europäer den Wagen und Karren und das Lasttier in Mexiko eingeführt hat, mußte der Mensch alles auf seinen Schultern oder auf dem Rücken tragen. Bei den Indios hat sich daran bis heute wenig geändert. Was der Esel nicht trägt, muß halt der Mensch schleppen. Man braucht nur den Männern und Frauen zu folgen, wie sie ihre Waren oder die landwirtschaftlichen Produkte zu den Märkten bringen. An Märkten reich ist besonders die Provinz Oaxaca, in der wir uns gerade befinden. Was wird dort nicht alles feilgeboten! Vor allem erfreuen uns die handwerklichen Erzeugnisse, hier sind die Indios von altershef wahre Meister. Man hört kein Feilschen, kein lautes Wort. Es geht äußerst friedlich zu auf diesem. Volksfest, zu dem viele Hunderte von weither gekommen sind. Und man kann verstehen, warum es für jeden Indio höchstes Glück bedeutet, am Markttag teilzunehmen. In langen Reihen sitzen die Frauen am Boden vor ihrer Ware. Geborgen schlummern die Säuglinge in den Rückentragen oder in einem Bündel am Boden. Dicke Indianerinnen rühren in gewaltigen Töpfen köstliche Soßen für die hungrigen Mäuler, während sich die Nachbarinnen in leisem Tonfall unterhalten. Es spielt keine Rolle, wie viele Geschäfte man macht, wichtig ist nur, daß man dabei ist und dazugehört. Oft sind die Frauen tagelang nur mit ein paar Eiern oder Feldfrüchten in der Rückentrage unterwegs, um einen besonders schönen Markt in der Ferne zu erreichen. Dann breitet man das Wenige, was man hat, vor sich aus und beginnt sich umzuschauen und das bunte Treiben in sich aufzunehmen. Die geschäftlichen Erwägungen des Indios bleiben uns ein Rätsel. Da verkauft eine Indianerin einen handgewebten Gürtel für einen Preis, der kaum dem Wert der Wolle entspricht. In den drei Tagen, an denen sie an ihm arbeitet, webt sie ihre Gedanken mit hinein und hat sehr viel Freude dabei. Warum soll sie dafür Geld nehmen? Wenn aber jemand kommt und ihr den Auftrag erteilt, in ein paar Tagen so und so viele Gürtel zu weben, wird sie viel mehr Geld dafür verlangen, sofern sie sich überhaupt ans Weben macht; denn nun ist sie gezwungen, zu arbeiten, und die Freude am freien Gestalten ist ihr genommen. 15
Es ist an einem frühen Morgen, als wir auf den Markt von Tolacolula kommen, um einige Früchte und Lebensmittel für einen längeren Ausflug in die Berge zu erstehen. W i r brauchen auch Zitronen. Bei einer alten Indianerin sehen wir drei Häufchen zu je fünf Zitronen ausgebreitet, es ist alles, was sie zu bieten hat. W i r hocken uns auf den Boden, um mit ihr zu verhandeln. W i e es sich hierzulande gehört, schauen wir die Zitronen erst einmal sorgfältig an und nehmen einzelne Früchte prüfend in die Hand. Die Früchte sagen uns zu, und so entschließen wir uns, den ganzen Vorrat zu kaufen. Im Stillen rechnen wir damit, der Frau eine Freude zu bereiten. Aber wir täuschen uns. Die Marktfrau ist gar nicht froh: „0 nein, Senores, das geht nicht. Fünf Zitronen will ich Ihnen g e ben, die andern muß ich behalten. Was soll ich sonst den ganzen, langen Tag noch auf dem Markte tun?", Am Abend dieses Tages kehren wir in einem Dorf der Zapoteken-Indianer ein, das durch seine Weber- und Töpferarbeiten bekannt ist. Diese Indianer sind von stämmigem Körperbau, mit runden, fast mongolischen Gesichtern. Sie sprechen eine leise, melodische Sprache, die nur dem Chinesischen verwandt ist; vielleicht ist diese Sprachverwandtschaft eine noch lebendige Erinnerung an die alte Urheimat in Asien. So eine Weberfamilie oder Töpferfamilie arbeitet gemeinsam an der Herstellung der kunstvollen Handwerksstücke, die Vater und Sohn auf den Märkten verkaufen. Die Farben, Muster und Formen sind althergebracht und gehen zurück auf Vorbilder aus der Blütezeit der zapotekischen Kultur. Zu welch hervorragenden Kunstschöpfungen es in alten Zeiten die Zapoteken und mit ihnen die Mixteken gebracht haben, das können wir auf dieser Reise auf dem Gipfel des Monte Alban erleben, wo sich eine gewaltige Ruinenstadt hinzieht. Die Funde und Bauten, die die Archäologen hier freigelegt haben,' sind von ungewöhnlicher Eindruckskraft. Zweitausend Jahre lang ist dieser Berg Opfer- und Kultplatz gewesen, in unzähligen Gräbern wurden hier die Fürsten und Priester der Zapoteken und Mixteken beigesetzt. Hier fand man vor wenigen Jahren in einem der Gräber den größten und herrlichsten Goldschatz Mexikos. Altindianische Goldschmiede waren die Schöpfer der über fünfhundert Masken, Ketten, Gehänge, Stirn- und Armreifen, die die Archäologen aus der Verborgenheit bergen konnten.
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Handelsstraße nach Asien Von Cuba kommend, legt der Dampfer zuerst in Vera Cruz an der mexikanischen Ostküste an. Neben Tampico ist Vera Cruz der bedeutendste Hafen Mexikos und ein beliebter Badeort. Noch vor gar nicht so langer Zeit fuhr man nur ungern aus der Hauptstadt hinunter in den einst fieberverseuchten Landstrich. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, seinen Urlaub, wie heute, an diesem Sandstrand des Golfes von Mexiko zu verbringen. Unweit von Vera Cruz ist vor fast viereinhalb Jahrhunderten Hernando Cortez an Land gegangen, um seinen blutigen Eroberungszug ins Innere zu beginnen. Zuvor hatten schon einmal Spanier auf der Halbinsel Yukatan für kurze Zeit mexikanischen Boden betreten. Man war Kaugummi kauenden Eingeborenen begegnet, hatte den Gummi und den Kakao kennengelernt. Im Küstenbereich des heutigen Staates Vera Cruz lernten die Europaer im Gefolge des Cortez bei den totonakischen Indianern Vanille schlürfen, aßen mit Erstaunen die ersten gefüllten Maisfladen, labten sich an Tomaten, gemästeten Hunden und Truthähnen. An der Ernährung der Indianer hat sich bis heute nicht viel geändert. Rinder, Schafe und Ziegen sind hinzugekommen. Auf den zur Küste abfallenden Hängen wächst nun auch Kaffee neben dem alteingesessenen Kakao und der Vanille. Man erntet Bananen, Kürbisse und Orangen. Kurze Zeit, nachdem die spanische Herrschaft in Mexiko gesichert worden war und nachdem man die Kolonie bis zum Pazifik ausgedehnt hatte, begann Mexiko eine entscheidende Rolle als Durchgangsland für den spanischen Ostasienhandel zu spielen. Aus Spanien kam die Handelsware über den Atlantischen Ozean nach Vera Cruz und wurde hier umgeladen. Mit Karren, Eseln und Pferden brachte man sie über die mexikanische Landenge zum Stillen Ozean nach Acapulco. Erneut wurden die W a ren verladen, um die Schiffsreise nach China, Japan oder den Philippinen anzutreten. Die Karavellen hielten sich im Pazifik so lange wie möglich dicht unter der amerikanischen Küste, denn hier hatten die Spanier bis hoch in den Norden Kaliforniens ihre Stützpunkte. Aus den fernen Zielländern Japan, China, den Philippinen kehrten die Schiffe schwerbeladen nach Acapulco zurück. Als der Suezkanal fertiggestellt war, geriet der herrliche Naturhafen Acapulco in Vergessenheit. Erst in unserer Zeit wurde er neu entdeckt. 19
Heute verirren sich indes nur selten Handelsschiffe in die kreisrunde Bucht. Die Bugwellen der Luxusjachten und Motorboote kräuseln die tiefblauen Wasser. Am Meeresgrund erinnern die vermoderten Reste der Kauffahrteischiffe an die längst versunkenen Zeiten der Spanier. Anstelle der einstigen Handelskontore säumen unzählige Hotelpaläste den Strand oder thronen hoch über dem Wasser auf malerischen Felsklippen. Das ganze Jahr hindurch tummeln sich Amerikaner aus Süd und Nord in den warmen Wassern. In jeder Stunde bringt ein Flugzeug neue F e riengäste, denn Acapulco ist heute der berühmteste Badeort der ganzen Pazifikküste zwischen Alaska im Norden und dem Feuerland im äußersten Süden. W e r noch nach den Resten der alten Handelsverbindung Europa-Asien suchen will, muß auf dem halben Wege von Mexiko City zur Küste von der Autobahn abbiegen und nach Taxco fahren. Dieses altspanische Städtchen mit seinen fünftausend Seelen und dreißig Kirchen war einst Rastplatz auf dein Wege von einer Küste zur anderen. Das noch erhaltene Lagerhaus der Kaufherren trägt heute den Namen Alexander von Humboldts, es ist Museum und Hotel zugleich. Die Entwicklung Taxeos spiegelt ein wenig die mexikanische Geschichte. Schon die Azteken siedelten hier und schürften aus dem nahen Berg den „weißen Dreck der Götter", wie sie das Silber nannten. Dann übernahmen die Spanier die Gruben und gründeten die Stadt und das Lagerhaus. Im ausgehenden 17. J a h r hundert kaufte der sagenhaft reiche Silberkönig von Taxco, Alexander Borda, das Magazin, um es für den Ortspriester als Residenz auszubauen. Später erbte es der Bischof von Mexiko, als dessen Gast der große Völkerkundler und Weltreisende Alexander von Humboldt in Taxco wohnte. In der Revolution, als man die Kirchen und Priesterwohnungen stürmte, verfiel das denkwürdige Gebäude. Vor einigen Jahren erwarb es die Alexander-von-Humboldt-Gesellschaft, und seitdem kommen Künstler, Wissenschaftler und Touristen aus aller Welt in das schöne, alte Haus nach Taxco. Schon immer war das Städtchen ein Ziel der Maler, die sich nicht satt sehen können an den krummen und schiefen Gäßchen und an den Auslagen der Silberschmiede. Auch hier hat sich die Tradition altindianischer Handwerkskunst fortgesetzt. W i r gehen von Silberladen zu Silberladen. Man sieht die Silberschmiede bei der Arbeit. W i r begegnen Bergleuten, die, ihre Grubenlampe in der Hand, zur Schicht gehen. Nur ein Teil des Silbers wird im Lande verarbeitet. Der andere dient dem Export.
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Maismaikt In Oaxaca. Im Vordergrund Maisreibsteine in der Form, wie sie die indianische Bevölkerung schon vor 3000 Jahren verwendet hat
Im Guatemala-Expreß Eines Tages in naher Zukunft wird es möglich sein, daß sich Mister Smith in Alaska in seinen Wagen setzt, um über die längste Straße der Welt bis hinunter nach Feuerland zu rollen. Heute kommt er auf dieser Panamerikanischen Autobahn schon bis in die südliche Grenzzone Mexikos, und wenn er nicht ge-. rade mitten in die Regenzeit gerät, kann er versuchen, mit einem geländegängigen Wagen auch noch über die mexikanische Grenze bis nach Guatemala-Stadt über die Trasse der geplanten Fortsetzungsstrecke vorzustoßen. W i r treffen am mexikanischen Isthmus von Teuhantepec (siehe Karte S. 16/17) einen belgischen Diplomaten, der als erster soeben die Strecke von Guatemala City mit einem Kraftwagen geschafft hat. W i r betrachten mit gemischten Gefühlen die zerbeulte, schlammverschmierte Karosserie, denn wir befinden uns mit unsern drei kleinen deutschen Wagen ebenfalls auf dem Weg zur Grenze. „Nie wieder,' so lange die Straße nicht fertig ist,' mache ich 21
d a s " , sagt der Belgier. „Zurück verlade ich mit der Bahn in Arriaga." Gerade das haben wir vor. Arriaga liegt etwa 200 km vor der Grenze Guatemalas, unweit der pazifischen Küste. Eine fünfzig Kilometer lange Seitenstraße verbindet den Ort mit der Panamerikanischen Autobahn. ü b e r Arriaga hinaus nach Süden zu aber laufen nur noch zwei einsame Schienen, kein Weg, kein Steg führt zur Grenze von Guatemala. Der Zug verläßt Arriaga fahrplanmäßig um 11 Uhr; er kommt schon weit her aus Vera Cruz oder Mexiko City, ,und auf dem langen Wege passiert hin und wieder so manches: Ein Erdbeben hat vielleicht die Schienen verworfen, ein Tropengewitter reißt die Brücken mit, eine Binderherde verteilt sich hartnackig auf dem Fahrdamm, oder ein Kind wird unterwegs geboren. Da nimmt man es dem Zug nicht allzu übel, wenn er hin und wieder einmal einen Tag später ankommt. Wir warten auf den Expreß, der unsere Wagen mitnehmen soll, und haben Zeit, uns umzusehen. Drei, vier Geleise verteilen sich über das Bahnhofsgelände von Arriaga, über das Hühner, Hunde und Schweine treiben. Links und rechts einstöckige, ein wenig traurige Häuser; kaum ein Fenster, nur offene Türen. Vor der kleinen Kneipe, der Fonda, steht ein Pferd und läßt den Kopf hängen. Ein paar Kinder spielen, sie werfen Steine über eine Mauer. Hoch unter den wenigen weißen Mittagswölkchen kreisen wie Mückenschwärme Tausende von Geiern. Am schattenlosen Wegrand hält ein Indio sein Mittagsschläfchen, den Strohhut tief im Gesicht. In unseren Kraftwagen, die wir bereits auf einen bereitstehenden Waggon verladen haben, herrscht dicke, knallige Wärme. W i r beschließen, daß einer Wache bei den Wagen hält, während die anderen drei in das Dorf zum Einkaufen gehen. Ich bleibe, zurück und spanne mir einen alten Begenschirm auf, so geht es ganz leidlich mit der Sonne. Während ich so sitze und ein wenig vor mich hinträume, läuft ein Güterzug ein. Die museumsreife Lokomotive zischt und pufft aus allen Löchern, aber sie fährt und rangiert eifrig Öltanks, Kaffeesäcke und Maiskolben; schließlich rollt sie auf unser einsames Gleis. Ich fuchtele mit den Händen, denn sie hängt uns an. Doch sie wechselt nur von einem Ende des Bahnhofs zum anderen hinüber. Und während wir rangierend an Hütten, Misthaufen und freundlich grinsenden Indianern vorbeirollen, steigt der Heizer zu mir herüber. „Woher, wohin? Aus Deutschland? Bucno Allemagna! Sieh Dir die Loko-
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motive an, sie ist älter als ich. Aber ich hab' sie gern, das gute, alte Stück! Es stammt aus Deutschland. Bravo Allemagna!" Freundschaftlich drückt er mir die Hand, ehe er unseren W a g gon direkt vor dem Personenbahnsteig wieder abkuppelt. Im Schatten der Vorhalle liegen und hocken einige Indios, die sich schon für den Abendzug nach Norden eingefunden haben. Eine Frau hat eine kleine Kochstelle auf den Steinfließen eingerichtet. Sie brät gefüllte Därme und bereitet Tortillas, Fladenbrote aus Mais und Wasser, für die Beisenden. Ein Eisverkäufer balanciert einen großen Blecheimer auf dem Kopf. Auf der Straße neben dem Bahnhof stehen riesige Fernlaster mit Kaffeesäcken. Ihre Fahrer vertreiben sich in den kleinen Schenken die Zeit beim Marimbaspiel mit Bier, Colagetränken und freundlichen, kleinen schwarzen Mädchen. Es dauert nicht lange, und ich bin umringt von staunenden Kindern, Frauen und Männern. Alles müssen sie betasten, was sie erlangen können. Säuglinge werden von ihren Müttern auf unsere Gummimatratze gesetzt, die man staunend befühlt. Drei, vier Knirpse sitzen neben mir und betrachten mich stumm. Ich sehe in tiefschwarze, traurig-freundliche Mandelaugen. Selten habe ich in so unergründliche Kindergesichter geblickt. Nur in Asien werden sie einem wieder begegnen. Endlich kommen auch meine Begleiter wieder. Meine Frau verteilt Ananas und Mangos. Wir knacken Nüsse auf den Schienen und kochen Kaffee. Der Benzinkoeher ist eine Sensation. Mit Erklären und Auskunftgeben vergeht die Zeit sehr schnell, und plötzlich ist es dunkel geworden. Vor uns neben den Schienen hocken noch immer in langen Reihen die geduldigen Fahrgäste für den Nordexpreß. Ganze Wagenladungen von Körben, Säcken und Bündeln, Schweinen, Hunden und Truthähnen liegen auf dem Boden. Säuglinge träumen auf den Rücken ihrer Mütter. Plötzlich geht ein Raunen durch die Reihen. Jemand legt sein Ohr auf die Schine, die Erde zittert sanft: „El Expreß." Ein riesiger Scheinwerfer tastet sich aus dem Dschungel heran. Hundert Meter vor dem Bahnsteig hält de* Zug. Nun werden sie ihm sicher entgegenlaufen und versuchen, in den übervollen Abteilen ein Plätzchen für die Nachfahrt zu erkämpfen. Nichts von alledem. Die hockenden Gestalten wenden kaum die Köpfe dem Zug entgegen. Jeder wartet geduldig. Die Lokomotive übernimmt in aller Ruhe erst einmal Wasser, dann rollt sie in den Bahnhof. Erst als sie stillsteht, erheben eich die Fahrgäste, und es dauert kaum zehn Minuten, bis ohne Hast 23
und Drängen auch das letzte Ferkelchen einen Winkel für die Nacht gefunden hat. Wie alles in den überbesetzten Expreß noch hineingeht, bleibt ein Bätsei. Als nach kurzem Aufenthalt der Zug nach Norden abgedampft ist, können wir daran denken, uns für die Nacht einzurichten. W i r mieten ein Zimmer in einem kleinen Gasthof und verabreden, in zwei Schichten dort zu schlafen. Auf keinen Fall wollen wir die Fahrzeuge unbewacht auf dem Bahnhof stehen lassen. Um neun Uhr versuche ich zum Schlaf zu kommen. Eine einzige, traurig flackernde Glühbirne erhellt das riesige Zimmer. Es ist so warm, daß man keine Decke braucht. Plötzlich setzt allgemeines, wütendes Hundegebell ein. Das müde flackernde Licht geht aus. Ehe ich begreife, was los ist, bekommt mein Bett einen heftigen Stoß. Die W ä n d e beginnen zu wanken. Im nächsten Augenblick stehe ich auf den Steinfliesen, über den Boden läuft eine Welle. Tief in der Erde grollt es. Ich taste suchend nach meinen Kleidern. Mit einem Mal ist es totenstill. Menschen laufen auf die Straße, aufgeregt bellen wieder die Hunde. Esel schreien in der Ferne. Das Licht geht wieder an. Ich sitze nm Bettrand. So also sieht ein Erdbeben aus! Für den Best der Nacht lege ich meine Sachen etwas näher an meine Lagerstatt. Ungestört schlafe ich bis zum morgendlichen Ablösungstermin. In der schläfrigen, glühenden Hitze warten wir dem GuatemalarExpreß entgegen. Dann kommt der große Augenblick, wo wir endlich und unmittelbar hinter der Lokomotive am Zug hängen. Dicke, schwarze Bußflocken fliegen uns um die Ohren, w ä h rend wir mit über fünfzig Stundenkilometern, hin und her gestoßen, über die Schienen schaukeln. Immer am Fuße der Berge führt die Bahnlinie durch Dschungel, Weideland und an salzigen Lagunen vorbei. Gegen Abend erreichen wir San Pedro. Ein paar Palmen stehen geisterhaft am Ufer eines riesigen Haffsees, Einbäume sind durch den Schlick an Land gezogen. Ich zähle zwanzig Strohhüttein, das ist die Station. Gemütlich schlummern die Eingeborenen in ihren Hängematten, nackte Kinder spielen auf dem Bahndamm. Indianerinnen laufen von Wagen zu Wagen,' um gebratene Fische anzubieten, gekochte Eier und Käse. Vor dem Packwagen türmen sich Berge von Bierkästen. Auf dieser Bahnfahrt sollte mir klar werden, daß die Mexikaner auch ein Volk der Biertrinker sind. Auf der Weiterfahrt halten wir oftmals irgendwo im Urwald, kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Aus dem Packwagen aber klirrt ein Kasten Bier auf der»
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Kaffeekirschen, Kaffeeblüte und die Mackette, das Hauptarbeitsgerät
Bahndamm, dann zischt und dampft die Lok wieder weiter. Der einsame Bierempfänger wird durch heftige Pfeifsignale herangerufen. Es ist wieder dunkel geworden. Große Leuchtkäfer tanzen durch den nachtdunklen Wald. Flackerndes Licht aus dem Feuerkessel der Lokomotive huscht über die gewaltigen Urwaldriesen. Weit voraus steigt roter Schein über den Horizont, wächst und wächst, und plötzlich hinter einer Kurve schlagen haushohe Flammen aus dem Dschungel. Links und rechts der Bahn knattert und zischt es, glühende Baumstümpfe stürzen zusammen. Funkenregen prasselt über die schmale Schneise der Schienen. Eine Katastrophe? Keineswegs. Seit Jahrtausenden roden die Indios den W a l d für ihre Maisfelder auf diese Weise. Tag und Nacht glimmen irgendwo die Brände im Urwald. Iri der erkalteten Asche baut man den Mais. Nach ein paar Ernten muß man weiterziehen. Dann folgt der Wald wieder nach. An der nächsten Station, in ExcuintlaJ erleben wir eine neue Überraschung. Es ist wohl gegen zehn Uhr am Abend. Vom klaren Sternhimmel fällt ein sanftes Licht auf wenige Hütten. Eine gewaltige Stimme tönt aus der Dunkelheit herüber, scheppert und 25
kratzt, und dann merken wir, daß sie aus einem Lautsprecher kommt. Hier tief im Dschungel dringt aus einer Bambushütte die Stimme der Werbung: „Freunde, gönnt euch einen Schluck. Trinkt das gute Moctezuma-Bier. Moctezuma in aller Welt das Beste!" Nie im Leben hätten wir in dieser Umgebung mit einer solch aufdringlichen Stimme der Zivilisation gerechnet. Noch einige Male wird unversehens Halt gemacht, Bierkästen werden in wartende Hände herausgereicht. Gegen ein Uhr in der Nacht taucht dann endlich wieder eine richtige Station auf; es ist das Städtchen Huixtla. Es liegt etwa fünfzig Kilometer vor der Staatsgrenze Guatemalas, unsere Karte verzeichnet von hier aus einen Fahrweg bis dorthin. Da wir das letzte Stück mit eigener Kraft zurücklegen wollen, lassen wir unseren Waggon mitten auf dem Hauptplatz von Huixtla abhängen. Zunächst aber geht es nicht weiter, denn niemand ist da, der unsere Fahrzeuge abladen könnte. So kochen wir einen Tee, legen die Schlafsäcke aus und beobachten das nächtliche Treiben. Es ist nicht viel, was da vor sich geht. Ein einsamer Hund schleicht an den Häuserwänden entlang. Ein Schläfer schnarcht in Intervallen. Drüben geht die Tür einer Fonda auf, und drei Burschen mit Guitarren treten ins Freie. Vor einem Hause in der Nähe unseres Liegeplatzes bauen sie sich auf und beginnen zu singen. Beim zweiten Stück geht im ersten Stock kurz das Licht aus. Die Angesungene hat ihr Wohlgefallen auf diese Weise ausgedrückt. Froh über den Erfolg singen die Minnesänger weiter und uns in den Schlaf. Als wir aufwachen, scheint uns die Sonne direkt auf die Nase. W i r blicken uns um. Da stehen gestikulierend und in gedämpfter Unterhaltung vielleicht hundert Männer und Frauen. Sie benehmen sich wie Menschen, vor denen auf unerklärliche Weise eine Marsrakete niedergegangen ist. Sie haben unseren Schlaf respektiert und ein paar Meter Abstand gehalten. Nun, da wir aufgewacht sind, kommen sie näher, um zu fragen, um anzufassen, zu lachen und zu staunen. Einige entfernen sich, um ihre Freunde zu holen, und so dauert es nicht lange, bis eine noch größere Menge den Bahnhofsplatz füllt. Gut, denken wir, sie werden ausreichen, um unsere Fahrzeuge auf die Straße zu heben. Leider haben wir falsch gedacht. Das wäre Sache der Bahn, meint einer, und der Chef säße gleich in der Baracke nebenan, sicher würde er das für uns machen. Wenn man vor Hunderten von Augen die Morgenwäsche machen und sich ankleiden muß, wird einem das Ansehen langsam 26
unangenehm. So sind wir hocherfreut, als auf dem anderen Gleis von Guatemala her, ein Zug mit Zirkuswagen einrollt. Sie bringen seltene Tiere nach Mexiko City. W i r sehen einen Strauß, Eisbären und Hyänen und hoffen, daß sich bald das Interesse der Neugierigen von uns auf den Zirkus übertragen wird. Aber leider sind wir eine zu große Attraktion, zumal in diesem Augenblick Bahnarbeiter Balken herbeibringen, um uns abzuladen. Als wir den ersten Wagen über die wackligen Bretter abseilen wollen, kracht die Lokomotive des Zirkuszuges rangierend auf unseren Wagen. Nun wird es für die Zuschauer erst recht interessant. Schweißgebadet balancieren wir unsere Sachen auf den Bahndamm, begleitet von dem Beifall und den Anfeuerungsrufen der Menge. Hand anzulegen wäre unter ihrer Würde. Endlich sind wir soweit, daß die Motoren laufen und wir in der ersten Seitenstraße verschwinden können. Wochen später, auf der Rückreise, verladen wir Sack und Pack ins Flugzeug und fliegen dieselbe Strecke, die wir mit der Bahn gefahren sind, in einer guten Stunde ab. Und das ist auch eine der mexikanischen Überraschungen: Für das Flugzeug müssen wir nicht ganz ein Drittel von dem ausgeben, was wir der Bahn bezahlt haben, denn die Bahnreise frißt Trinkgelder, und irgendwie müssen die Leute ja auch leben.
Kaffee aus dem Süden Neben der Baumwolle steht der Kaffee an der Spitze der Ausfuhrprodukte Mexikos. Es ist ein besonders wertvoller Kaffee, der unter sorgfältiger Pflege auf den Hängen der Küstenberge von Ghiapas hier im Süden heranreift. Wenn man die gastfreundlichen Plantagenbesitzer — in Mexiko heißen sie Finceros — in ihren Bergfincas besuchen will. dann steigt man heute am besten in das Flugzeug nach Tapachula. Allerdings ist es ratsam, nicht gerade zur Regenzeit auf die Reise zu gehen, damit man auch wirklich sein Ziel in den Bergurwäldern erreicht; denn nicht selten reißt die Wegverbindung von den Plantagen zur Kreisstadt Tapachula für Wochen ab. Da schwellen die Bergbäche nach unvorstellbaren Regengüssen, reißen Brücken ein und verursachen Bergrutsche. Die neue Hauptstadt des Grenzstaates Ghiapas ist Tuxtla Guiterez. Sie liegt an der Panamerikanischen Autobahn, die Mexiko von Nord nach Süd durchschneidet. Es gibt nicht viel zu sehen 27
für den Fremden. Nur in der Nähe des kleinen Flugplatzes findet man eine Merkwürdigkeit, die einer näheren Betrachtung wert ist. Es ist der mit viel Liebe angelegte Zoologische Garten. W i r benutzen unseren Aufenthalt bis zum Abflug der Verkehrsmaschine zu einem Rundgang durch die weiten Gehege, in denen alle wilden Tiere zu sehen sind, die Mexiko noch beheimatet. Die Tapire, Affen, Alligatoren, Riesenschlangen und herrlich bunte Vögel erinnern an die Halbinsel Yukatan und das Halbdunkel ihrer gewaltigen Urwälder. Nur selten wagt sich ein Weißer in diese Waldeinsamkeit. Meist sind es Gummi- und Orchideensammler, die oft genug in der bedrohlichen Wildnis ihr Leben aufs Spiel setzen. Hin und wieder berichten sie von lianenüberwucherten, geheimnisvollen Ruinen. Man schätzt, daß die mächtigen Urwaldriesen Yukatans unter ihren bis zu fünfzig Meter hohen Laubkronen noch etwa dreihundert Ruinenstädte aus der Mayazeit verbergen.* Dreißig versunkene Tempelstädte hat man bisher erst entdeckt. Nur ein Bruchteil der Bauten ist freigelegt. Die nördlichen Ebenen Yukatans und die Randgebiete sind besiedelt, und man baut Sisal und sammelt Rohgummi. Die altspanische Gründung Merida träumt ein heiter-gemütliches Dasein. Die Yukateken sind ein fleißiges Volk. Im Zoo von Tuxtla Guiterez findet man aber auch die Tiera der Bergwildnis und der Buschsteppe: den Puma, das Ozelot und einen katzengroßen Tiger, den Tigrillo. In keinem Zoo der Welt habe ich dieses sehnige kleine Raubtier je gesehen. Auch den Mapaches, dackelgroßen, fuchsartigen Wildtieren, bin ich in den Zoogehegen noch nicht begegnet. Manche Indianerstämme zähmen sich die freundlichen Gesellen und halten sie als Haustiere. Die Krönung eines Rundgangs durch den Zoo aber ist der mächtige mexikanische Bergadler mit seinem buschigen Federschmuck. Er sieht aus wie die Verkörperung eines aztekischen Fürsten mit der Federkrone. Die Indianer sprechen nur flüsternd von ihm, sie erzählen von Kindesraub und Überfällen auf ausgewachsene Menschen. Als wir Stunden später im Flugzeug sitzen und über das Bergland nach Südwesten fliegen, begegnen wir einem Paar dieser herrlichen Adler. In majestätischer Ruhe ziehen sie ihre Kreise dicht unter den Schwingen des Flugzeugs, ihrer metallenen Konkurrenz. Sie lassen sich keineswegs aus der Ruhe bringen. * Vgl. dte Lui-Lesdbogen 86 „Das Reich detr Maya" und 51 „Cortez — der weiße Gott".
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Tief unter uns auf den Kuppen der bewaldeten Küstenberge zeigt sich endlich die Finka. W i r setzen im heißen Tapachula auf. Unsere Freunde haben uns einen Jeep an den Landeplatz geschickt. Nur einer dieser Geländewagen überlebt die holprigen Wege durch den Urwald. Langsam steigt das Gelände an, die Berge nehmen uns auf, aus kleinen Tälern und Schluchtein stürzt glasklares Wasser zur Ebene. Dieses Gebirgswasser, das so reichlich vorhanden ist, trägt mit dazu bei, daß der Kaffee in den klimatisch günstigen Höhenlagen so gut gedeiht. Wenn man zum ersten Mal miterlebt, wie viele und komplizierte Arbeitsvorgänge notwendig sind, bis der fertige Sack Kaffee auf die weite Reise gehen kann, dann ist man erstaunt. Hier auf den Finkas zeigt sich wieder einmal, wie großartig der genügsame Indio alle Arbeiten übernimmt, zu denen ein Weißer in diesem Klima nicht fähig wäre. Aber es ist auch nicht leicht, mit ihnen umzugehen. Sie haben ihre eigenen Ansichten von der Arbeit und von dem, was ihnen Freude macht. Die meisten I n dianer begreifen nicht, warum der weiße Mann mehr produziert, als er selbst am nächsten Tage verbrauchen kann. Sie haben keinen Sinn für Besitzerwerb, und die meisten wollen gar nicht mehr verdienen, als sie zum notwendigsten Leben brauchen. J e den Montag teilt der Verwalter auf dem Wirtschaftshof die Indios zur Wochenarbeit ein. In Gruppen mit ihren Vorarbeitern ziehen sie in die weit ausgedehnten Plantagen. Die einen bauen an Zufahrtswegen, andere roden den Wald, und wieder eine andere Gruppe verteilt Dünger unter die frisch geschnittenen Kaffeestauden, wenn nicht gerade alles bei der Ernte ist. An solch einem Montag sitzen wir im Büro des Verwalters, die Arbeitseinteilung ist beendet, als es leise klopft. In der Tür steht ein Vorarbeiter mit sechs seiner Leute. Ruhig und bestimmt bittet er um die Zuteilung einer anderen Arbeit. „Don", sagt er, ,,Du schickst uns nach San Jose; wir wollen aber nicht nach San Jose, das sind drei Stunden Weg, wir m ü ß ten zwölf Kilometer laufen." Der Verwalter blickt ihn erstaunt an. „ W a r u m wollt ihr nicht laufen, am Wochenende lauft ihr jedesmal die fünfzig Kilometer nach Tapachula. Was können euch da die paar Kilometer nach San Jose ausmachen! Ihr bekommt jede Stunde Weg genau bezahlt wie die Arbeit im Kaffeetal. Ich zahle euch noch eine W e gezulage. Gehen ist doch leichter als Arbeiten." „Don, wir wollen nicht mehr Geld, wir wollen nicht laufen. Gib uns eine andere Arbeit." 29
Der Verwalter wirft mir einen Blick zu und zuckt mit den Achseln: „Es tut mir leid, Fernandez, einer muß die Arbeit tun, seid friedlich und geht nach San J o s e l " Fernandez macht einen halben Diener, und die Tür schließt sich. Nach San Jose gehen sie nicht. Als wir beim abendlichen Whisky auf der Veranda sitzen, ist der Verwalter ein wenig verstimmt. „Diese Gemütsakrobaten!" sagt er. Da bietet man ihnen eine Wegzulage, und sie gehen einfach nicht nach San Jose. Jetzt kann ich morgen sehen, wer mir die Erdarbeiten an der Straße macht." Die Indios aber, unter der Führung von Fernandez, haben noch am Nachmittag ihre Bündel gepackt und die Finka verlassen. Vielleicht gehen sie nun zum Nachbarn und arbeiten dort für weniger Geld — bis zu dem Tag, an dem ihnen eine Arbeit aufgetragen wird, die ihnen vielleicht auch dort keine Freude m a c h t Es wäre falsch, die Lebensauffassung des Indios mit der eines Europäers zu vergleichen. Genügsam und bescheiden denkt er nur an heute. Der Gedanke an die Zukunft bewegt ihn nicht. Das einzige, was man ihm lassen muß, ist die Freiheit, zu gehen, wann und wohin er will.
Kurze Geschichtsübersicht Um 13 000 v. Chr. Um 2000 V. Chr. Um 1500 v. Chr. 31 n. Chr. 1256 n. Chr. 1370
Aultauchen der ersten Menschen. Nomaden, die über die Bering-Straße aus Asien nach Amerika einsickern. Beginn des Ackerbaus. Beginn der ältesten Kulturen.
Ältestes datiertes Bildwerk. Azteken lassen sich im Hochtal von Mexiko nieder. Gründung Tenochtitlans, auf dessen Trümmern heute MexikoStadt liegt. Die Azteken nennen sich Mexikaner. 1502—1520 Moetezuma II, aztekischer Kaiser. Unter seiner Herrschaft größte Ausdehnung des Stadtstaates. 1517 Der Spanier Hernando de Cordoba (Cortez) entdeckt Yucatan. 22. April 1519 Hernando Cortez betritt zum ersten Male mexikanischen Boden bei der heutigen Hafenstadt Vera Cruz. 16. Aug. 1519 Cortez verbrennt seine Schiffe und beginnt den Marsch auf Tenochtitlan. 13. Aug. 1521 Tenochtitlan endgültig von den Spaniern erobert. Gründung des Vize-Königreichs Neuspanien. Seit Ende des 17. Jhs. wird Texas, Neu-Mexiko und Kalifornien von Mexiko aus besiedelt. 1810—1815 Aufstand unterdrückter Indianer gegen die Großgrundbesitzer. 1821 Kreolen (in Mexiko geborene Spanier) vollziehen die Trennung vom spanischen Mutterland.
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1824 1846—48 1859 1864 1867 1914 1934—1940 1942
Republikanische Verfassung. Krieg gegen die Vereinigten Staaten geht verloren. Alle Gebiete nördlich des Rio Grande fallen an die USA (Texas, NeuMexlko, Arizona, Kalifornien u. a.). Benito Juarez, Zapoteke, erster rein indianischer Präsident Mexikos, verfügt die Trennung von Staat und Kirche. Kirchlicher Grundbesitz wird eingezogen. Mk Hilfe Napoleons III. wird Erzherzog Maximilian von Osterreich gegen den Willen der meisten Mexikaner Kaiser von Mexiko. Maximilian wird von Juarez besiegt und erschossen. Die USA besetzen Vera Cruz und unternehmen 1916 eine Strafexpedition gegen Nord-Mexiko. Unter Präsident Cardenas wird Land an die Bauern verteilt und der ausländische Besitz an ölfeldern nationalisiert. Kriegseintritt Mexikos.
Geographische Daten Größe: 1969 365 qkm. Ausdehnung: Zwischen 15 Grad 33 Grad Nord und zwischen 87 und 117 Grad West. Entfernung: Zwischen Nogales im Norden und Grenze Guatemala Im Süden etwa 3500 km. Breite: In Höhe der Hauptstadt ca. 900 km vom Pazifik bis zum Golf. Größte Erhebungen: Im Zentralmassiv Orizaba 5742 m, Popocatepetl 5425 m. Bevölkerung: Rund 25 Millionen Einwohner. Davon 70% reine Indioa, 20% Mischlinge, 10% Weiße. Großstädte: Mexiko-Stadt. Einwohnerzahl im schnellen Wachstum begriffen. 1958 über drei Millionen Einwohner. Guadalajara 400 000; Monterrey 350 000; Pueb-la 220 000; Vera Cruz 110 000. Bodenschätze: Silber (Jahresförderung etwa drei Millionen Kilogramm), Blei, Kupfer, Gold, Schwefel, Kaolin, Glimmer (fast Weltmonopol), Erdöl. Landesprodukte: Mais, Weizen, Baumwolle, Sisal, Kaffee, Kakao, Kautschuk, Vanille. Hauptausfuhrprodukte: Baumwolle (50% der Einnahmen), Kaffee (30%). Im letzten Jahr wurde der Schwefelexport verzehnfacht. Haupt-Ein- und -Ausfuhrländer: USA und Deutschland. Umschlaggestaltung und Karte: Karlheinz Dobsky Uinschlagbüld: Die Universitätsbibliothek von Mexiko City; Umschlagseite 2: Hauptgebäude der Universität, der größten Hochschule der WeltBilder: R. Körber, Ullstein und dpa
L u x - L e s e b o g e n 272
(Erdkunde) H e f t p r e i s
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Pfg.
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