Jane Robinson
Mitternachtsparty Irrlicht Band 456
»Eine nette Nacht werden wir hier verbringen«, meinte Mary. »Du ha...
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Jane Robinson
Mitternachtsparty Irrlicht Band 456
»Eine nette Nacht werden wir hier verbringen«, meinte Mary. »Du hast recht, es ist ja bereits nach Mitternacht, und die Geisterstunde hat angefangen!« stimmte Jeanna ihr zu. Sie hatte Mühe, die beginnende Lähmung ihrer Zunge – und vor allem die aufkeimende Angst zu überspielen. Mila und Helen ließen sich tiefer in ihre Sessel sinken. Aus dem Vorführraum über ihnen fiel ein bläulicher Scheinwerferkegel – ein ganz normaler Lichtstrahl, wie er in jedem Kino aus dem Vorführraum auf die Leinwand fällt, dachten die Frauen. Aber dann! Helen entdeckte es zuerst: Es war kein normaler Lichtstrahl. Er schien vielmehr wie aus einer anderen Welt zu kommen, und er brachte die Leinwand zum Glitzern, als hätte er sie in silberglänzendes Konfetti getaucht. Oder wurde das Licht von einer Metallfläche reflektiert?
»Ein Bote hat soeben diesen Brief für sie abgegeben, Mrs. Foster. Und dazu diese rote Rose!« fügte Anne mit besonderer Betonung an. Helen Foster unterbrach ihr Klavierspiel. »Mr. Foster ist noch immer sehr aufmerksam, nicht wahr?« Sie lächelte glücklich und griff erfreut nach der Rose, die Anne ihr gebracht hatte. Sie senkte den Kopf über die Blüte, um sie zärtlich mit den Lippen zu berühren und ihren Duft einzuatmen. »Gewiß, Madame«, dienerte Anne zurückhaltend, und ihre Miene verriet deutlich, was sie dachte. Schließlich hatte sie die sehr harte Auseinandersetzung der Eheleute vor der gestrigen Abreise des Hausherrn mitbekommen. »Ein köstlicher Duft!« stellte Helen verzückt schnuppernd fest. »Ich werde eine Vase bringen«, erbot Anne sich. »Später vielleicht«, winkte Helen ab. »Ich läute dann nach Ihnen.« »Wie Sie wünschen, Madame.« Anne zog sich diskret zurück. Helen streifte die halbaufgeblühte Rose liebkosend mit den Lippen, als wollte sie sie stellvertretend für ihren Gatten zärtlich berühren, und sog dabei noch einmal den süßlichen Duft ein. Dieser Duft war von einer so ungewöhnlich köstlichen, aber schweren Süße, daß die junge Frau für einen Moment von einem ganz eigenartigen Schwindel befallen wurde, und sie hatte das seltsame Gefühl, als verlöre sie auf unerklärliche Weise ihre Bodenhaftung und beginne sanft zu schweben. Helen rieb sich die Augen, um den Nebelschleier zu vertreiben, der ihr plötzlich den Blick trübte. Was ist nur auf einmal mit mir? fragte sie sich betroffen und atmete ein paarmal tief durch, um die Beklemmung zu
vertreiben und die seltsame Steife, die ihre Lungenflügel zu lähmen schien. Irgendwie ist es heute besonders schwül! erklärte sie sich ihre eigenartigen Beschwerden. Ich sollte mir von Anne einen extrastarken Tee bringen lassen oder ein Aspirin einnehmen. Aber vorher werde ich Peter anrufen und mich für diese reizende Überraschung bedanken, entschied sie. Er wird schon voller Ungeduld auf ein Zeichen von mir warten. Wie lieb von ihm, sich auf eine so zauberhafte Art für sein gestriges Verhalten zu entschuldigen! Helen griff zum Telefon und wählte die Handy-Nummer ihres Mannes an. Sie bekam keine Verbindung! »Wie schade! Ausgerechnet jetzt hat er sein Handy abgestellt!« seufzte sie enttäuscht. »Dabei hätte er sich doch denken können, daß ich ihn nach einem solchen Versöhnungsangebot sofort anrufen würde! Er haßt unsere gelegentlichen Streitereien doch genau so sehr wie ich!« Nun, dann werde ich eben zuerst lesen, was Peter mir schreibt! dachte sie und griff nach dem Büttenumschlag, der mit der Rose gekommen war. Sie schob die Zeigefingerspitze in die Lasche des Umschlags und riß ihn auf. Er enthielt eine doppelte Büttenkarte, und Helen klappte sie auf in der Erwartung, die großen steilen Buchstaben ihres Mannes zu erblicken. Wie groß war ihre Enttäuschung jedoch, als sie feststellen mußte, daß in dem Umschlag keineswegs eine besonders romantische Nachricht von ihrem Ehemann steckte, sondern nur eine Einladung! »Eine Einladung?!« murmelte Helen verwundert und überflog mit wachsendem Erstaunen den Text. Man lud sie ein, nach Blendsfield zu kommen, einer kleinen Stadt in Wales. Dort sollte eine besondere
Mitternachtsvorstellung eines besonderen Films stattfinden – eine Veranstaltung nur für geladene Gäste. »Blendsfield?« murmelte Helen. »Von der Stadt habe ich noch nie etwas gehört!« Das kann nur ein ganz unbekanntes winziges Kaff sein in einer Gegend, in der sich Hasen und Füchse gute Nacht sagen! dachte sie. Ach, da ist ja ein genauer Plan beigefügt! stellte sie fest. Sogar eine gedruckte Wegführung! Also rechnet der Gastgeber offenbar damit, daß zumindest ein Teil seiner Gäste nicht weiß, wo dieses Nest Blendsfield liegt! Aber wieso ist mit einer Einladung eine so wunderschöne Rose gekommen? fragte Helen Foster sich.
Helen hatte die Rose, während sie die Einladung las, auf dem Flügel abgelegt, weil sich das dunkle Rot optisch so wundervoll von dem schwarzen Lack abhob. Jetzt griff sie danach um sie zu betrachten. Wie schade, daß die Rose nicht von Peter ist! dachte Helen einmal mehr. Es gab Zeiten, da verging kaum ein Tag, ohne daß er mich nicht mit irgend einer Aufmerksamkeit bedacht hätte. Aber diese Zeiten gehören leider längst der Vergangenheit an! Vielleicht ist es ganz normal, daß die leidenschaftliche Zuneigung für einander nachläßt, wenn man erst einmal zehn Jahre miteinander verheiratet ist, sinnierte Helen. Wahrscheinlich habe ich diese Entwicklung ein wenig auch selbst verschuldet, gestand sie sich ein. Wann hätte zum Beispiel ich Peter zuletzt eine feurige Liebeserklärung gemacht – so wie früher? Wann hätte ich ihn zuletzt – wie zu Beginn unserer Ehe – mit einem romantischen Essen überrascht oder ihn nach allen Regeln der Liebeskunst verführt?
Und dann dieser alberne Streit gestern morgen! Wir haben uns um eine Nichtigkeit gestritten, als ginge es für jeden von uns um Leben und Tod! – Kein Wunder, daß Peter schließlich ohne Abschied aus dem Haus gelaufen ist! »Das soll von jetzt an anders werden!« sagte Helen halblaut vor sich hin, und entschlossen, gleich den Anfang zu machen, griff sie erneut zum Telefon, und dieses Mal wählte sie die Nummer jenes Londoner Hotels an, in dem Peter abzusteigen pflegte, wenn er aus beruflichen Gründen in London blieb. Sie wußte zwar nicht genau, ob sie ihren Mann auch dieses Mal dort antreffen würde, weil er nach ihrem Streit ohne Erklärung aus dem Haus gerannt war, doch sie versuchte es auf gut Glück, und falls es ausgegangen war, würde sie ihm eine Nachricht hinterlassen. »Hier spricht Mrs. Foster«, ‘ stellte sie sich vor, als das Hotel sich meldete. »Würden Sie mich mit meinem Mann verbinden – oder kann ich eine Nachricht für ihn hinterlassen?« »Mrs. Foster?« murmelte die Telefonistin bestürzt. »Aber Mrs. Foster ist doch hier… im…« Sie brach erschrocken ab, weil sie offenbar begriffen hatte, daß sie mit jedem weiteren Wort die Katastrophe nur noch verschlimmern würde. Helen Foster aber hatte bereits genug gehört, um sich ein genaues Bild von der Situation machen zu können. Sie knallte ohne jedes weitere Wort den Hörer auf die Gabel. »Er betrügt mich!« ächzte sie außer sich. Sie ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte damit auf die Tasten ein, daß der Flügel entsetzlich schrille Mißtöne von sich gab, und Anne erschrocken in den Salon gestürmt kam. Helen war zu erregt, um Anne überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen. Sie konnte nur eines denken: Peter hat den Krach gestern morgen mutwillig vom Zaune gebrochen, damit er sich ohne weitere Erklärung auf dem Weg machen konnte!
»So eine… eine…«, stöhnte sie und fand kein Wort, das schlimm genug gewesen wäre, um das auszudrücken, was sie sagen wollte. Sie fühlte sich, als hätte man ihr einen Boxhieb in die Magengrube versetzt. »Deshalb also ist sein Handy abgeschaltet!« ächzte sie verbittert. »Er will während seiner Schäferstündchen ungestört bleiben! Und ich wollte… ich war bereit…« Ihre Stimme erstickte. Tränen schossen ihr in die Augen. Anne hatte die Vase gebracht, hielt es aber für klüger, sich wortlos wieder zurückzuziehen. Helen war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie Anne überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatte. Sie fühlte sich von ihrem Mann unsagbar gedemütigt! Hintergangen! Betrogen! Sie schwankte zwischen Wut und Verzweiflung. Schließlich aber siegten ihre Wut und ihr Trotz! »Ich werde nicht hier sitzen bleiben und mich grämen!« sagte sie verbittert. Sie riß die Einladungskarte an sich, die mit der Rose gekommen war, und las sie noch einmal durch. Wieso setze ich mich nicht einfach in meinen Wagen, fahre zu diesem Kaff in Wales und lasse mich durch die fremde Umgebung und andere Menschen ablenken? fragte sie sich. Wahrscheinlich ist der Film miserabel und der Empfang zum Gähnen langweilig. Trotzdem werde ich hinfahren, denn alles ist immer noch tausendmal besser, als hier zu sitzen und sich vor Wut und Kummer die Augen auszuweinen um jemanden, der sich gerade mit einer anderen Frau amüsiert! Und wenn Peter von meinem Anruf erfährt, wird er wahrscheinlich den obligaten Gegenanruf tätigen, um mir Sand
in die Augen zu streuen. Aber dann wird er auflaufen, weil Anne ihm ausrichten wird, daß ich fortgefahren bin! Und Peter wird sich giften vor Eifersucht und am eigenen Leibe spüren müssen, wie es ist, wenn man betrogen wird. Auch wenn ich ihn gar nicht betrügen werde!
Viel Zeit zum Überlegen blieb Helen Foster nicht. Wenn sie noch rechtzeitig zum Beginn der Mitternachtsvorstellung in Blendsfield ankommen wollte, mußte sie sich sputen. Und als erstes galt es, die Kleiderfrage zu lösen! Dieser Empfang könne genau der richtige Anlaß sein, das neue weiße Ripskostüm einzuweihen, überlegte Helen. Dazu werde ich nur die Ohrclips und die Armbanduhr tragen, die Peter mir zum letzten Hochzeitstag… Nein! unterbrach sie ihren Gedankengang energisch. Die Uhr werde ich nie wieder tragen! Heute will ich nicht an ihn erinnert werden! Heute bin ich frei und ungebunden. Schließlich nimmt Peter sich diese Freiheit ja auch heraus. Wer weiß, wie oft er mich schon betrogen hat! Und was dem einen recht ist, ist dem anderen billig! In kürzester Zeit war Helen Foster zur Abfahrt bereit. Sie trug das neue weiße Ripskostüm und hatte sich von Annes geschickten Händen das Haar hübsch frisieren lassen. »Und was möchten Sie, das ich Mr. Foster sage, wenn er anruft?« erkundige Anne sich, als sie Helen den kleinen Koffer zum Wagen trug. »Mr. Foster wird kaum anrufen«, entgegnete Helen. »Und falls doch, sagen Sie ihm einfach die Wahrheit.« Sie wedelte mit der roten Rose vor Annes Nase herum. Anne verstand sofort, was sie damit sagen wollte, und reagierte einigermaßen betroffen.
So etwas hatte sie der Gnädigen einfach nicht zugetraut! »Und wie lange werden Sie bleiben, gnädige Frau?« erkundigte sie sich verdattert. Helen schwang sich in ihren Wagen. »So lange ich Spaß haben werde.« Sie winkte Anne zu. »Machen Sie sich inzwischen ein paar schöne Tage!« Damit zog sie die Wagentür ins Schloß. Sie ließ den Motor an und fuhr los. Anne blickte dem eleganten Sportwagen ihrer Gnädigen seltsam berührt hinterher. Irgendwie ist sie völlig verändert, dachte sie verstört. Ob das mit dem Brief und der Rose zusammenhängt? fragte sie sich. Eigentlich kann es mir ganz gleichgültig sein, überlegte sie. Solange die Herrschaften verreist sind, werde ich mir auch ein paar schöne Tage machen können. Sie kehrte ins Haus zurück, entschlossen, gleich mit dem Selbstverwöhnen zu beginnen. Da gab es zum Beispiel diese riesige Pralinenschachtel, die immer für Besucher bereitgehalten wurde. Und in der Tiefkühltruhe befand sich jede Menge Erdbeereis, von dem aus gesundheitlichen Gründen zu den Festmahlzeiten immer nur kleine Portionen serviert wurden. Jetzt werde ich mich mal so richtig rundherum satt daran essen, beschloß Anne. Und telefonieren werde ich, ohne immer kleinlich auf die Zeit achten zu müssen! Hat die Gnädige mir nicht ausdrücklich angeraten, ich soll mir eine schöne Zeit machen? Genau das werde ich tun!
Der Zufall wollte es, daß Peter Foster nur kurze Zeit nach dem Anruf seiner Frau in der Empfangshalle seines Hotels auftauchte, und er war nicht allein, sondern befand sich in der
Begleitung einer jungen Dame, die sich ihres blendenden Aussehens durchaus bewußt war. Und Peter genoß es zweifellos, sich in der Öffentlichkeit mit ihr zu zeigen! »Wenn du mich bitte für eine Sekunde entschuldigen würdest, Liebling«, bat er sie. »Ich versuche beim Portier in Erfahrung zu bringen, wo es heute abend etwas Besonderes zu erleben gibt.« Er küßte sie verliebt auf die Wange. »Ich möchte nichts unversucht lassen, um diese Tage für dich und für mich unvergeßlich werden zu lassen.« »Auf einen so charmanten Mann wie dich würde eine Frau sogar ein halbes Leben lang warten!« schmeichelte Susann ihm und lächelte ein so verführerisches Lächeln, daß Peter Foster in Versuchung geriet, sie hier vor allen Leuten in die Arme zu reißen und leidenschaftlich zu küssen. »Ich bin gleich wieder bei dir«, raunte er ihr in einem Tonfall zu, als hätte er seine Wünsche bereits in die Tat umgesetzt. Und während er die wenigen Schritte auf die Portierloge zumachte, blickte er sich noch einmal um zu Susann, weil er den Anblick der jungen Frau einfach zu reizvoll – zu verführerisch fand, um ihn länger als ein paar Sekunden lang entbehren zu können. »Mr. Foster, was kann ich für Sie tun?« dienerte der Portier und begrüßte ihn mit einer geradezu unterwürfigen Verbeugung, denn das Trinkgeld dieses Gastes war stets bemerkenswert hoch – zu hoch, als daß er dafür nicht gern die Tatsache übersehen hätte, daß Mrs. Foster in Wirklichkeit nicht Mrs. Foster war. »Es geht um den heutigen Abend«, erklärte Peter ihm. »Ich möchte meiner… Begleiterin etwas Außergewöhnliches bieten. Was können Sie mir empfehlen?« »Oh, da gibt es eine reiche Auswahl, wie Sie sich denken können, Mr. Foster«, versicherte der Portier eifrig. Doch bevor
er auf Einzelheiten zu sprechen kommen konnte, stürzte die Telefonistin auf ihn zu. »Mr. Miller, ich glaube, mir ist gerade etws ganz Furchbares passiert!« platzte sie aufgeregt heraus. Der Portier hob beschwichtigend die Hände und deutete mit einem Seitenblick auf den Gast an, daß Interna nur unter vier Augen besprochen werden sollten. Die junge Dame ignorierte diese Warnung jedoch. »Da war eine Mrs. Foster am Apparat und wollte ihren Gatten sprechen«, sprudelte sie heraus. »Und ich war so verunsichert, weil doch Mrs. Foster mit ihrem Mann hier im Hotel… ich weiß jetzt, ich hätte das nicht erwähnen dürfen, weil Mrs. Foster gar nicht Mrs. Fost…« Der erfahrene Hotelportier hatte sofort begriffen, was passiert war, und welche Katastrophe durch die Unerfahrenheit der Telefonistin ausgelöst worden sein mochte. »Schweigen Sie!« schnauzte er sie an, und streifte dabei Peter Foster mit einem unsicheren Blick, in der Hoffnung, er könnte nicht mitbekommen haben, was sie da soeben von sich gegeben hatte. Aber Peter Foster hatte jedes Wort mitgehört und längst begriffen, um was es ging. Seine Frau hatte hier angerufen und durch die Ungeschicklichkeit der Telefonistin erfahren, daß er hier nicht allein abgestiegen war! Eine Katastrophe! Er wurde grün im Gesicht, und seine Lippen preßten sich so hart aufeinander, daß sie blutleer wurden. »Wie konnte so etwas passieren!« donnerte er wütend los. »Wissen Sie, in was für Schwierigkeiten Sie mich damit gebracht haben?« »Eine bedauerliche Ungeschicklichkeit der Telefonistin«, dienerte der Portier. »Bitte, entschuldigen Sie. Es ist ihr erster
Arbeitstag«, bemühte de Portier sich, an das Verständnis des Gastes zu appellieren. Peter Foster dachte jedoch nur an die persönlichen Schwierigkeiten, die die junge Frau in ihrer Unbedarftheit für ihn heraufbeschworen hatte, denn nach diesem Anruf konnte seine Frau sich an fünf Fingern abzählen, daß er seinen Aufenthalt in London nicht allein verbrachte! Vielleicht ahnte sie sogar, weshalb er gestern morgen völlig unmotiviert diesen dummen Streit vom Zaun gebrochen hatte! Eine Katastrophe!! »Haben Sie eine Ahnung, was dieses dumme Küken mit seinem vorlauten Mundwerk angerichtet hat?« donnerte er den Portier aufgebracht an. »Wie soll sich ein Gast denn in Ihrem Hotel noch gut aufgehoben fühlen können, wenn Sie nicht einmal in der Lage sind, qualifiziertes Personal einzustellen?« Seine Stimme war unversehens so laut geworden, daß jeder in der großen Hotelhalle aufmerksam werden mußte. Der Portier hob beschwichtigend beide Hände. »Ich bitte Sie, Mr. Foster, doch nicht in diesem Ton! Die Sache ist mir äußerst peinlich«, beteuerte er einmal mehr. »Dieses Mißgeschick hätte unserer Telefonistin natürlich unter gar keinen Umständen passieren dürfen. Andererseits muß man ihr zugute halten, daß sie heute ihren ersten Arbeitstag hat und…« Peter Foster brachte ihn mit einer unwilligen Handbewegung zum Schweigen. »Als Gast dieses Hotels kann ich erwarten, daß Sie Ihr Personal sorgfältiger schulen, ehe Sie es auf die Menschheit loslassen!« polterte er wütend. »Mit einer Entschuldigung ist nichts gewonnen, wie Sie sich denken können. Sie sollten sich klar darüber sein, daß Sie unter Umständen einen irreparablen Schaden angerichtet haben!« »Das ist mir durchaus bewußt, Mr. Foster«, dienerte der Portier, obgleich er insgeheim dachte: An die Möglichkeit ehelicher Konsequenzen hättest du denken sollen, bevor du mit
deiner Geliebten hier eingezogen bist! »Und die Hotelleitung wird sich erlauben, Ihnen die Begleichung der Rechnung…«, wollte er Peter Foster ein Angebot zur Güte unterbreiten, doch damit erreichte er genau das Gegenteil. Peter brachte den Portier mit einer wütenden Handbewegung zum Schweigen. »Ich brauch Ihr Geld nicht!« platzte er heraus. »Und ich reise ab! Sofort! Und verlassen Sie sich darauf, ich werde Ihr Hotel nie wieder betreten!« Damit drehte er sich um und wollte zum Lift zurückkehren, um sofort zu packen. Es drängte ihn, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um Helen wortreich zu erklären, daß alles nur ein ganz dummes Mißverständnis war. Und natürlich würde sie ihm glauben. Hatte sie ihm nicht immer geglaubt?! In seiner begreiflichen Erregung hatte für Peter Foster sogar seine Geliebte vorübergehend jede Anziehungskraft verloren. Aber Susann, die jedes Wort mit angehört hatte, hatte gleich begriffen, daß dies für sie ein ganz entscheidender Moment war. Sie hatte nicht die Absicht, sich einfach beiseite schieben zu lassen! Sie war entschlossen zu handeln – vielleicht sogar die Situation zu ihren Gunsten zu nutzen! Sie stand so plötzlich vor Peter, daß er ihr nicht mehr ausweichen konnte. »Liebling!« Sie lächelte ihr verführerisches Lächeln und blickte mit strahlenden Augen verliebt zu ihm auf. »Es tut mir so leid, daß du Ärger hattest. Aber nimm es nicht so schwer. Ich werde dafür sorgen, daß du alle Unannehmlichkeiten schnell vergißt.« Peter spürte ihre Nähe, und ihr warmer Atem streichelte sein Gesicht. Dabei sprach ihr Blick Bände, – ein Blick der einfach nicht mißzuverstehen war und ihn jedesmal erneut erregt hatte.
Susann wußte das natürlich und schien zu erwarten, daß er die Situation als willkommenen Auslöser für die Scheidung von seiner Ehefrau betrachtete. Doch Peter fiel aus allen Wolken und reagierte ehrlich entsetzt! Eine Scheidung hatte er bisher mit keinem Gedanken in Erwägung gezogen!
Helen Forster folgte der markierten Straßenkarte, die der seltsamen Einladung beigefügt gewesen war. Schwierigkeiten bereitete ihr die Strecke in keiner Weise. Im Gegenteil! Sie führte über stille, abgelegene Landstraßen, und Helen blieb viel Zeit, über alles mögliche nachzudenken. Vielleicht ist es Schicksal, daß ich in derselben Stunde von Peters Untreue erfahren habe, in der ich diese seltsame Einladung bekommen habe, sinnierte sie. Es sieht ganz so aus, als könnte für mich mit dem heutigen Tag ein ganz neues Leben beginnen. Ihr Blick schweifte zum Beifahrersitz hinüber, auf dem die rote Rose lag – eine besonders große, wunderschöne Blüte! Wer wohl ihr Absender sein mag? fragte Helen sich immer wieder, und sie fand keine Antwort. Es gab einfach niemanden, dessen besondere Bewunderung ihr in der letzten Zeit aufgefallen wäre. Es konnte also nur ein Fremder sein. Auf jeden Fall muß ich einen besonderen Eindruck auf diesen Jemand gemacht haben, sagte sie sich, denn eine solche Rose pflegt man nicht irgendeiner x-beliebigen Frau zu schicken. Eine rote Rose ist noch immer ein Symbol für innige Liebe! Je länger Helen über die seltsamen Umstände nachdachte, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, daß der mitternächtliche Empfang, zu dem sie geladen war, nur einen
einzigen Grund haben konnte: Der unbekannte Spender der roten Rose bemühte sich, ihre Bekanntschaft auf neutralem Boden zu machen – unauffällig und wie es den ungeschriebenen Regeln des guten Anstands entsprach. Wie romantisch muß dieser Mann sein, wenn er sich so etwas ausdenkt! sinnierte Helen Foster und begann zu träumen wie ein Teenager. Peter war zu Beginn unserer Liebe auch ein sehr romantischer Mann, erinnerte sie sich schmerzlich berührt, und manchmal hatte er ganz unglaubliche Einfälle, um mir seine Liebe zu demonstrieren. Nein, daran will ich jetzt nicht denken! rief sie sich energisch zur Ordnung. Er hat unsere Liebe verraten! Er betrügt mich mit einer anderen Frau! Ich werde ihm niemals wieder vertrauen können! »Niemals wieder!!« sagte sie halblaut vor sich hin. Aber glücklich war sie nicht bei dem Gedanken. Und daran änderte auch die innere Spannung und die erregende Vorfreude auf dem bevorstehenden Abend nichts! Helen Foster griff zur Seite und zog die Rose zu sich heran, um erneut den Duft einzuatmen. Eigentlich war dieser Duft ein wenig zu stark – zu schwer – und auch dieses Mal hatte sie wieder das Gefühl, für kurze Zeit von einem Schwindel befallen zu werden. Aber irgendwie fühlte sie sich auch beschwingter, irgendwie gelöster, und ihre Eheprobleme verloren an Bedeutung. Sie hatte sich vorgenommen, sich für den Verrat schadlos zu halten, und genau das würde sie tun!
Peter Foster befand sich unversehens in einer peinlichen Zwickmühle. Einerseits war seine Geliebte eine wirklich verführerische junge Frau, die es nur zu gut verstand, seine
Leidenschaft immer wieder zu entfachen. Aber andererseits verbanden ihn mit seiner Ehefrau viele Jahre Gemeinsamkeit, und in dieser Situation wurde ihm bewußt, daß ihm die Erinnerung daran sehr viel mehr bedeutete, als er sich bisher klar gemacht hatte. Der Gedanke an eine Scheidung von Helen war ihm bisher nie gekommen – noch nicht ein einziges Mal – und in dieser prekären Situation wurde ihm klar, daß er eine Scheidung auch jetzt nicht wollte – selbst dann nicht, wenn es für ihn bedeuten würde, in Zukunft auf Susanns Verführungskünste verzichten zu müssen! Am liebsten hätte er Susann sogar einfach fortgeschickt, doch das verboten ihm die guten Sitten. Schließlich trug sie keine Schuld an dieser Katastrophe. Mehr noch! Er hatte sich sogar ziemliche Mühe geben müssen, um sie zu diesem Aufenthalt in London zu überreden. »Und was ist, wenn jemand aus deinem Bekanntenkreis uns zusammen sehen wird?« hatte sie zu Bedenken gegeben, als er ihr diese Reise vorschlug. Doch er war blind vor Verliebtheit gewesen und hatte keinen ihrer Einwände gelten lassen. »London ist riesig!« hatte er beruhigend auf sie eingeredet. »Und selbst wenn uns einer meiner Freunde sehen sollte, wird mir sicher eine plausible Erklärung einfallen.« Susann hatte schließlich zugestimmt, und er hatte das eingegangene Wagnis nicht bereuen müssen. Sie war eine zauberhafte Geliebte! Aber durch die Ungeschicklichkeit der Telefonistin hatte sich die Situation nun völlig verändert! Sein kleiner Liebesausflug war nicht länger geheim! Mit welchen Worten sollte er Helen erklären, was Sache war? Wie immer er es auch drehte oder wendete, es blieb ein schäbiger Ehebruch!
»Es tut mir leid, daß unser Aufenthalt in London durch diesen Zwischenfall getrübt worden ist«, entschuldigte Peter Foster sich bei seiner Geliebten. »Mir auch!« versicherte Susann. »Aber davon sollten wir uns nicht zu sehr die Stimmung verderben lassen«, meinte sie, und in ihren Augen schimmerte wieder dieser verräterische Glanz. Hat sie vielleicht insgeheim sogar gehofft, daß unsere Liebesbeziehung auffliegen würde? schoß es Peter durch den Sinn. O Gott, nur das nicht! dachte er. Nein, von einer Scheidung von Helen wollte er trotz seiner Verliebtheit nichts wissen! »Du wirst einsehen, daß wir hier nicht länger bleiben können«, nahm er einen erneuten Anlauf, das zu sagen, was jetzt gesagt werden mußte. Susann stockte der Atem. »Du meinst, du willst mich einfach abschieben, weil ich dir plötzlich lästig geworden bin?« sprang es ihr erregt über die Lippen. »Nun, von Abschieben kann keine Rede sein«, versicherte Peter und ruckte verlegen an seiner Krawatte. »Du kannst selbstverständlich hier in London bleiben… auf meine Kosten… aber du wirst einsehen, daß ich…« »Ich verstehe schon!« Susann warf beleidigt den Kopf in den Nacken. »Du stehst bei deiner Frau unter dem Pantoffel. Und wenn sie pfeift, stehst du stramm!« Kaum war ihr diese heftige Bemerkung über die Lippen gekommen, bereute sie ihre verbitterten Worte schon, denn sie bemerkte, wie es in Peters Gesicht zuckte. »Verzeih, Liebling!« Sie legte ihm die Hand bittend auf die Brust. »Das ist mir nur so herausgerutscht. Das meine ich natürlich nicht wirklich.« Aber Peter wandte das Gesicht ab und schwieg. »Meinst du nicht, wir sollten uns in aller Ruhe aussprechen?« Susann verstärkte den Druck ihrer Hand. »Ich liebe dich sehr.
Habe ich dir das nicht immer wieder bewiesen? Und auch du liebst mich! Hast du mir das nicht…« Sie stockte, denn Peter schwieg nachdrücklich, statt ihre Worte zu bestätigen. »Ich will dich nicht verlieren. Ich will dich unter keinen Umständen verlieren!« beschwor Susann ihn. Peter fühlte sich hin und her gerissen. Er war längst nicht so entschlossen, wie es auf Susann wirkte. Seine Leidenschaft für sie war ja keineswegs erloschen. Aber der Streß, den er zu Hause zu erwarten hatte, hatte seinen Gefühlen einen ziemlichen Dämpfer verpaßt. »Wir reden gleich weiter«, wimmelte er Susann ab. »Jetzt muß ich zuerst meine Frau anrufen und ihr versichern…« Susann reckte ihm kämpferisch das Kinn entgegen. »… daß du überhaupt nicht mit mir hier bist?« provozierte sie ihn erneut. Peter fühlte sich wie jemand, der unvermutet aus einem wunderschönen Traum aufgewacht ist und feststellen muß, daß in Wirklichkeit alles ganz anders ist, als der Traum es ihm vorgegaukelt hat. »Ja, weißt du…« Er räusperte sich, rieb sich verlegen das Kinn und suchte vergebens nach den passenden Worten. Susann hatte längst begriffen, daß sie die Initiative ergreifen mußte, wenn sie Gewinnerin der kommenden Auseinandersetzung sein wollte. »Aber Liebling!« Sie lächelte verführerisch zu ihm auf. »Wieso läßt du nicht alles einfach auf dich zukommen?« Sie ließ sich gegen seine Brust sinken und schaute mit vielversprechendem Augenaufschlag zu ihm auf. Doch unter den gegebenen Umständen verfehlte er seine Wirkung! Peter war mit seinen Gedanken nicht hier, sondern bei seiner Frau. Das sah man ihm deutlich an.
»Wie meinst du… alles auf mich zukommen lassen?« fragte er stirnrunzelnd, griff nach Susanns Schultern und schob sie ein wenig von sich ab. Ein wenig zwar nur, aber Susann registrierte es deutlich. Sie war gewarnt! Ihre Position war offenbar nicht so stark, wie sie eben noch geglaubt hatte! »Na ja«, meinte sie achselzuckend, »eben den Dingen ihren Lauf lassen.« Sie versuchte noch einen ihrer verheißungsvollen Blicke zu landen, doch Peter war jetzt nicht in der Stimmung, sich auf eine Turtelei einzulassen. Im Augenblick wollte er eigentlich nur eines: So schnell wie möglich mit seiner Frau sprechen und ihr nachdrücklich versichern, daß sie bei ihrem Anruf einen ganz falschen Eindruck gewonnen habe und sich alles ganz anders verhielt, als sie nach ihrem Telefonat vermuten mußte. Und er hoffte sehr, daß ihm die richtigen Worte glaubwürdig über die Lippen kommen würden! »Wir sprechen später über alles.« Peter griff nach Susanns Schulten und schob sie mit sanftem Nachdruck noch ein Stück weiter von sich ab. »Jetzt muß ich zuerst telefonieren! Bitte, entschuldige mich.« Ehe sie noch etwas erwidern konnte, hatte er sich abgewandt und strebte mit großen eiligen Schritten einer der Telefonzellen zu, die an einer Seite der Halle Hotelgästen zur Verfügung standen. Susann war klug genug, keinen weiteren Versuch zu unternehmen, ihren Geliebten zurückzuhalten, denn Peter hätte ihr nicht deutlicher klar machen können, daß ihre Position längst nicht so stark war, wie sie sich eingeredet hatte. Vielleicht ist die Zeit jetzt noch nicht reif, um Nägel mit Köpfen zu machen, überlegte sie. Aber ganz sicher wird meine Position nach diesem Ehestreit stärker sein als zuvor.
Ich werde also abwarten müssen, bis meine Zeit gekommen ist. Die Aussicht, eines Tages Mrs. Foster zu werden und dann im Geld zu schwimmen, ist zu verlockend.
Anne hatte sich im Salon in einem der bequemen Sessel niedergelassen. Sie genoß das Alleinsein, denn jetzt konnte sie sich wieder einmal fühlen, wie die Gnädige selbst! Als erstes gedachte sie sich über den Inhalt der großen Pralinenschachtel herzumachen, die stets für Gäste bereit gehalten wurde. Doch kaum hatte sie sie geöffnet, wurde sie vom Läuten des Telefons aufgeschreckt. Vielleicht ist das Mr. Foster, dachte sie und fragte sich, ob sie noch schnell eine der verführerischen Pralinen in den Mund schieben sollte, ehe sie zum Telefon ging, um den Hörer abzunehmen. Andererseits würde sie sich veraten, wenn sie mit vollem Mund sprechen würde. Also verzichtete sie schweren Herzens und stellte die verführerische Pralinenschachtel ab, ehe sie sich zum Telefon begab. »Hier bei Foster, Anne am Apparat«, meldete sie sich wie üblich. »Anne, ich bin es«, antwortete die Stimme des Hausherrn, und er klang äußerst erregt. »Ich muß dringend meine Frau sprechen!« »Bedauere, Mr. Foster, die gnädige Frau ist schon abgereist«, erwiderte Anne. Peter stutzte. »Abgereist?« fragte er betroffen. »Wieso denn abgereist?« Er konnte sich nicht erinnern, daß Helen etwas von einer anstehenden Reise erwähnt hatte. »Na, eben abgereist«, sagte Anne. »Unsinn!« begehrte Peter auf. »Sie ist nicht abgereist. Das hätte sie mir doch gesagt. Sie ist nur beleidigt und will nicht
mit mir sprechen. Aber es ist alles nur ein Irrtum. Ein großes Mißverständnis!« beteuerte er nachdrücklich. »Also sagen Sie ihr das, und holen Sie meine Frau ans Telefon!« »Es tut mir leid, Sir, aber Mrs. Foster ist tatsächlich abgereist!« versicherte Anne. »Mit dem Auto! Ich habe ihr selbst den Koffer zum Wagen gebracht.« »Den Koffer zum Wagen…?« fragte Peter verdutzt. »Was denn für einen Koffer?« »Na, den eleganten kleinen roten Wochenendkoffer«, klärte Anne ihn auf. »Sie bleibt doch über Nacht. Vielleicht sogar ein paar Tage. Nämlich… nachdem ein Bote diese große rote Rose gebracht hat, ist sie…« Peter hatte Mühe, Annes Ausführungen zu folgen. Nur eines begriff er: Das Mädchen sagte offenbar die Wahrheit, und Helen war tatsächlich verreist! »Was denn für ein Bote?« verlangte er zu wissen. »Und was für eine Rose?« »Eine riesengroße dunkelrote Rose«, berichtete Anne wichtig. »Ein richtiges Prachtstück von einer Rose! Ich habe so etwas noch nie gesehen. Und ein Briefumschlag war dabei. Schweres Bütten – sah sehr nobel aus! Und dann hat die gnädige Frau telefoniert, und dann…« Peter Foster begann zu begreifen was passiert war! Seine Frau hatte offensichtlich angenommen, er selbst habe ihr die Rose geschickt, und im Hotel angerufen, um sich bei ihm zu bedanken und um sich mit ihm auszusöhnen. Bei diesem Anruf hatte die Telefonistin dann den entsetzlichen Fehler gemacht! »Ach du großer Gott!« stöhnte er auf, und ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, knallte er den Hörer auf die Gabel. Alles war noch viel schlimmer, als er es ohnedies schon befürchtet hatte, und eines war ihm bei diesem Telefonat klar geworden: Er steckte ziemlich in der Tinte!
Dabei hatte er nicht die leiseste Ahnung, wie er sich da wieder herausmanövrieren konnte, ohne all zu viel Porzellan zu zerschlagen! Eines schien ihm unumgänglich geworden zu sein: Wenn er seine Ehe nicht verloren geben wollte, mußte er Susann als Bauernopfer bringen, so leid es ihm auch um diese Liebesbeziehung tat!
Susann Baker konnte nicht verstehen, was Peter am Telefon sagte, doch konnte sie ihn durch das kleine Fenster in der Tür der Telefonzelle beobachten, und sie registrierte, daß er äußerst erregt reagierte. Mir kann eigentlich nichts Besseres passieren, als Peters Streit mit seiner Ehefrau, überlegte sie. Aber es wäre nicht sehr klug, daran zu rühren. Ich sollte abwarten, bis er es erwähnt; denn wenn Peter sich in seiner augenblicklichen Erregung von mir bedrängt fühlt, könnte er Dinge sagen, die für mich nicht besonders angenehm wären. Also gilt es, Ruhe zu bewahren! nahm sie sich vor. Sobald sie beobachtete, daß Peter den Hörer auflegte, wandte sie sich halb ab, um ihm den Eindruck zu vermitteln, er sei während des Gesprächs völlig unbeobachtet gewesen. Aber dann stellte sie aus den Augenwinkeln heraus fest, daß Peter Anstalten machte, nicht zu ihr zurückzukehren. Er stürzte auf den Lift zu, sobald er die Telefonzelle verlassen hatte! Susann hatte beinahe den Eindruck, als erinnerte er sich gar nicht mehr daran, daß sie in der Halle auf ihn wartete. Sie beschloß zu handeln! Mit wenigen großen Schritten war sie neben ihm und schob ihre Hand in seinen Arm. »War es sehr schlimm?« erkundigte sie sich teilnehmend. Peters Kopf flog zur Seite.
»Wie?« fragte er zerstreut und blickte Susann an, als müßte er sich erst darauf besinnen, daß sie auf ihn gewartet hatte. »Ach so… nein… das heißt doch…«, murmelte er zerstreut. »Meine Frau ist einfach abgereist und hat nicht hinterlassen, wo sie zu erreichen ist.« »Oh!« sprang es Susann über die Lippen, und sie hatte Mühe ihren Triumph über diese Eröffnung vor ihm zu verbergen. »Dann erwartest du also, daß sie in Kürze hier aufkreuzt?« Peter stutzte. »Hier aufkreuzt?« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Das… daran hatte ich eigentlich nicht gedacht«, murmelte er betreten. »Aber jetzt, wo du es erwähnst… es könnte durchaus im Bereich des Möglichen liegen.« Der Lift kam. Der Boy öffnete die Tür. »Ich komme mit nach oben«, entschied Susann. »Wir sollten in aller Ruhe über alles sprechen.« Peter zuckte die Achseln. »Wie du meinst«, erwiderte er zerstreut. »Immerhin hat deine Frau von der Telefonistin erfahren, daß es mich gibt«, erinnerte Susann trotzig, weil Peter nicht in ihrem Sinne reagierte. Es kränkte sie ganz ungemein, daß sie von einer zur anderen Minute überhaupt keine Rolle mehr spielen sollte, und sie war nicht bereit, das so ohne weiteres hinzunehmen! »Trotzdem wäre es besser, sie würde uns nicht zusammen antreffen«, wandte Peter ein. »Ich hasse Auseinandersetzungen – und erst recht in der Öffentlichkeit. Ich kann mir solche Szenen einfach nicht leisten.« »Vielleicht ist deine Frau gar nicht…«, versuchte Susann zu retten, was noch zu retten war, doch Peter ließ sie gar nicht aussprechen. »Es tut mir leid, daß alles so gelaufen ist«, unterbrach er sie gereizt. »Niemand trägt die Schuld daran. Aber es ist nun einmal so, wie es ist. Und unsere Zeit in London ist vorüber!«
Das war mehr als deutlich! Susan empfand seine Worte wie eine Ohrfeige! Sie begriff, daß sie bereits verspielt hatte! »Ich werde dir nicht zur Last fallen!« erwiderte sie patzig und warf den Kopf in den Nacken. »Und ich habe auch nicht die Absicht, mich an einen Mann zu krallen, der sich so schäbig verhält wie du! Waschlappen und Pantoffelhelden waren mir schon immer zuwider!« Sie hatte erwartet, daß Peter diese harten Beleidigungen nicht einfach hinnehmen würde, doch er hatte offenbar gar nicht richtig hingehört, also nicht erfaßt, was Susann gesagt hatte. Er schaute sie nicht einmal mehr an! Susann kochte! Der Lift hatte die dritte Etage erreicht. Der Boy kam nicht mehr dazu, die Tür für seine Passagiere zu öffnen. Susann stieß ihn rigoros zur Seite, drückte die Tür auf und schoß nach draußen, ehe Peter noch etwas hätte sagen können. »Ich brauche zum Packen höchstens fünf Minuten«, rief er hinter ihr her. »Und selbstverständlich bezahle ich die Suite, wenn du noch bleiben möchtest.« Susann war in die entgegengesetzte Richtung gelaufen und antwortete nicht mehr! Einerseits war es Peter peinlich, daß die Auseinandersetzung vor dem Personal stattgefunden hatte, andererseits aber war er heilfroh, daß sich wenigstens eines seiner Probleme verhältnismäßig unkompliziert gelöst zu haben schien!
Da die Straßen, auf denen Helen Foster Blendsfield entgegenfuhr, wenig befahren waren, hätte nichts gegen ein höheres Tempo gesprochen, doch sie hatte beschlossen, es gemütlich angehen zu lassen.
Sie hatte ja Zeit genug! Ab und zu streifte sie die rote Rose, die auf dem Beifahrersitz lag, und manchmal hob sie sie auch auf und schnupperte daran, und sie fragte sich, wer der Absender sei und wer sie in Blendsfield wohl erwarten würde. Je öfter sie den schweren süßlichen Duft der Rose einatmete, desto mehr verlor die unerquickliche Wirklichkeit an Bedeutung – und schließlich spielte sie überhaupt keine Rolle mehr. Helen Foster fühlte sich so leicht und so beschwingt wie schon seit langem nicht mehr, und die Verletzung, die ihr Ehemann ihr zugefügt hatte, schien immer unwichtiger zu werden, je weiter sie sich von zu Hause entfernte, und allmählich geriet sie immer mehr in einen herrlichen Zustand, der einem Champagner-Rausch sehr ähnlich war. Es wurde Abend! Nach der Karte zu urteilen mußte Helen ihr Ziel beinahe erreicht haben. Aber es blieb ihr noch Zeit genug, unterwegs einen kleinen Imbiß einzunehmen. Also hielt sie an einem einladend wirkenden Landgasthof an und ließ sich ein leichtes Essen servieren. Hungrig war sie zwar nicht, doch hätte es einen zu schlechten Eindruck gemacht, mit zu großem Appetit zum Empfang zu erscheinen und statt der geistigen Genüsse, die sie zweifellos erwarten würden, nur Aufmerksamkeit für die Beköstigung zu zeigen. Das Essen war erstaunlich gut, und der Landwein, den man ihr servierte, ausgezeichnet. Und als Helen Foster wieder in ihren Wagen stieg, fühlte sie sich rundherum wohl. Die Probleme, die sie zu Hause zurückgelassen hatte, schienen mit jedem Kilometer wie durch Zauberhand immer unbedeutender zu werden und wenigstens an diesem Abend keine Rolle mehr zu spielen.
Ehe Helen weiterfuhr, zog sie noch einmal die Rose zu sich heran und sog den süßlichen Duft ein. Bald wird sich der Schleier lüften, und ich werde erfahren, welches herrliche Abenteuer auf mich wartet! dachte Helen. Und wenn ich danach heimkomme, kann ich Peter vielleicht sogar zeigen, wie es sich anfühlt, wenn man sich betrogen weiß. Auch wenn ich gar nichts anstelle, werde ich ihn in dem Glauben lassen, er sei betrogen worden, nahm sie sich vor. Vielleicht wird er dann in Zukunft den Bestand unserer Ehe nicht mehr so leichtfertig aufs Spiel setzen. Und wenn Peter gar nichts mehr an unserer Ehe liegt und er es darauf anlegt, die Scheidung zu bekommen? schoß es Helen siedendheiß durch den Sinn. Ihr Herz geriet aus dem Takt – es stolperte, und für Sekunden war ihr Atem blockiert – ein Zeichen dafür, daß sie ihn noch immer liebte! Nicht daran denken! rief sie sich zur Ordnung. Eines nach dem anderen! Heute ist heute, und was morgen sein wird, wird sich noch zeigen.
Etwa eine Viertelstunde vor Mitternacht erreichte Helen Foster Blendsfield ihr Ziel und steuerte den Parkplatz an, der auf der beigefügten Karte markiert war. Nach dieser Skizze zu urteilen lag das Kino, in dem man sie erwartete, ganz in der Nähe dieses Parkplatzes. Helen manövrierte ihren Wagen in eine Parklücke, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus – nicht ohne die Rose an sich zu nehmen, denn inzwischen war sie davon überzeugt, daß es mit dieser Rose eine besondere Bewandtnis haben mußte – sie wahrscheinlich als geheimes Erkennungszeichen dienen sollte.
Ich bin gespannt, wer zu dieser besonderen Vorstellung sonst noch eingeladen worden ist! dachte Helen, während sie dem Ausgang des Parkplatzes zustrebte. Bestimmt wird man nur die Creme der Stadt antreffen! Und wer wird wohl gleich auf mich zukommen, um mich zu begrüßen, überlegte sie. Sicher ist er ein Kavalier der alten Schule, denn nur ein Kavalier der alten Schule kann sich eine so romantische Geschichte ausdenken. Peter wäre niemals auf eine solche Idee gekommen! Peter! dachte sie. Er wird bestimmt höchst verwundert reagieren, wenn er irgendwann von Anne erfährt, daß ich mich keineswegs zu Hause eingesperrt habe, um mir die Augen auszuweinen, nur weil er mich mit einer anderen betrügt! Vielleicht wird er sogar eifersüchtig werden? Soll er nur! Ich wünsche ihm, daß er vor Eifersucht platzt. Dann wird er am eigenen Leibe spüren, wie es ist, wenn man sich von dem Menschen, den man liebt und mit dem man sein Leben teilt, hintergangen und betrogen fühlen muß! Aber vielleicht ist er so sehr in seine Geliebte verknallt, daß er gar nicht an mich… »Nein!« unterbrach Helen ihren Gedankengang energisch. »Heute abend werde ich weder an Peters Untreue, noch an irgendeinen anderen Ärger denken!« sagte sie halblaut vor sich hin. »Heute abend will ich das Prickeln eines kleinen Flirts spüren und mich wieder jung und begehrenswert fühlen! Vielleicht – wenn es sich ergibt – werde ich mich sogar ein wenig verlieben!« Am Ausgang des Parkplatzes wandte Helen sich nach links, wie es auf der Beschreibung angegeben war. Bis zum »Benson’s«, so hieß das Kino, mochte es schätzungsweise noch etwa zwei Minuten zu gehen sein. Helen schritt zügig voran, und je näher sie dem Kino kam, desto erwartungsvoller schlug ihr Herz, und desto höher
schraubten sich ihre Erwartungen, die sie an das ungewöhnliche Ereignis knüpfte. Eine so besondere Einladung wie diese MitternachtsFestvorstellung versprach einen ganz besonders unterhaltsamen Abend! Vielleicht wäre es mit Peter schöner gewesen, ging es Helen flüchtig durch den Sinn. Andererseits… vielleicht hätte er mich ohnedies nicht begleitet, denn Kino war ja noch nie seine Leidenschaft. Und wenn er mitgekommen wäre, hätte er mir mit seinen Nörgeleien nur den Abend verdorben.
Helen hatte ihr Ziel schon beinahe erreicht, als sie sich unvermittelt der Tatsache bewußt wurde, daß außer ihr niemand auf der nächtlichen Straße zu sehen war! Sie blieb stehen und blickte betroffen um sich. Keine Menschenseele, soweit sie blicken konnte! Es machte den Eindruck, als sei die kleine Stadt wie ausgestorben. Jedenfalls schien sie im Augenblick der einzige Mensch zu sein, der noch auf den Beinen war – die einzige, der dieses Benson’s anstrebte! Das ist höchst seltsam! schoß es Helen durch den Kopf. Angesichts eines solchen Ereignisses müßten sich doch auch andere Gäste dem Kino nähern! Die Veranstaltung soll doch schon in wenigen Minuten beginnen! Helen begann sich plötzlich unbehaglich zu fühlen, und ihr Schritt verzögerte sich. Als sie vorhin ihren Wagen abgestellt hatte, hatte sie sich nichts dabei gedacht, mutterseelenallein auf dem Parkplatz zu sein. Sie war viel zu sehr mit erwartungsfrohen Gedanken beschäftigt gewesen. Doch jetzt, da ihr Mißtrauen erst einmal
geweckt worden war, erschien es ihr plötzlich äußerst seltsam, daß außer ihr niemand sonst auf dem Parkplatz gewesen war! Eigentlich hätten doch auch noch andere Gäste der Veranstaltung den Parkplatz anfahren und ihre Wagen dort abstellen müssen! überlegte sie. Nachdenklich betrachtete Helen Foster die Rose, die sie als vermutliches Erkennungszeichen in der Hand hielt. Wie, wenn ich der einzige Gast wäre? schoß es ihr durch den Sinn, und dieser Gedanke hatte etwas so Beklemmendes, daß ihr das Atmen schwer wurde, als hätte sich ihr ein eiserner Ring um den Brustkorb gelegt. Sie wehrte sich gegen das aufkeimende Unbehagen, doch die einmal geweckten Zweifel ließen sich nicht einfach wieder zum Schweigen bringen. Wie anders wäre es zu erklären, daß die Stadt an diesem Abend den Eindruck macht, wie ausgestorben zu sein, grübelte Helen Foster, und die Erkenntnis, zu mitternächtlicher Stunde in einer fremden Stadt weit und breit der einzige Fußgänger zu sein und einem höchst ungewissen Schicksal entgegenzueilen, verursachte ihr eine regelrechte Gänsehaut, und sie wünschte, sie hätte sich trotz ihres Zorns auf ihren Ehemann nicht so leichtfertig dazu hinreißen lassen, der seltsamen Einladung eines Fremden so spontan zu folgen! Wenigstens ein vorheriges Telefongespräch wäre dringend angezeigt gewesen! dachte Helen Foster, doch das zu bedenken, war es jetzt zu spät! Dabei beginnt um Mitternacht die Geisterstunde! schoß es Helen durch den Sinn, und alles, was sie jemals darüber gehört oder gelesen hatte, drängte sich ihr auf, bereitete ihr zusätzliches Unbehagen und wollte sich einfach nicht wieder verscheuchen lassen! Die Erkenntnis, mutterseelenallein durch die mitternächtlichen Straßen einer fremden Stadt zu laufen, die
wie ausgestorben da lagen, ließ sie erschauern – bereitete ihr Angst. Und diese Angst verstärkte sich noch, weil sie das Ziel nicht kannte, nicht wußte, was sie erwarten würde – und immer mehr begriff sie, wie leichtfertig es gewesen war, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, dessen Ausgang ihr plötzlich höchst ungewiß erschien! Helen drehte sich um und blickte zögernd zurück, und dabei überlegte sie, ob sie nicht lieber auf die wie auch immer geartete Festvorstellung verzichten und zu ihrem Wagen zurückkehren sollte. Im Auto könnte ich mich wenigstens sicher und geborgen fühlen! dachte sie. Andererseits wurde Helen von ihrer angeborenen Neugier angetrieben, unbedingt zu ergründen, wer sich hinter dieser eigenartigen Einladung verbarg. Vor allem aber wollte sie in Erfahrung bringen, wer ihr die Rose geschickt hatte und warum! Eine glühendrote Rose konnte doch nur als ein Zeichen der Zuneigung bedeutet werden! Helens Neugier siegte schließlich über das Unbehagen, und sie beschloß, trotz allem weiterzugehen – zunächst jedenfalls! Allerdings setzte sie von jetzt an ihre Füße behutsamer auf, um das allzu laute Klack-Klack ihrer hohen Absätze zu vermeiden. Und alle paar Schritte blickte sie sich prüfend um, um sicherzustellen, daß sie nicht verfolgt wurde. Doch zu sehen war niemand! Die Stadt wirkte wie ausgestorben! Eine Geisterstadt könnte nicht schauriger sein! dachte Helen. Sie fröstelte und zog die Schultern ein, und sie wünschte, sie hätte vorhin doch lieber kehrt gemacht und wäre zu ihrem Wagen zurückgekehrt.
Es ist wie in einer Gespensterstadt! dachte sie, und die Gänsehaut kroch ihr den Rücken herauf und machte, daß sich ihr die Haare sträubten. Bis zu dieser Stunde hatte Helen Foster stets über Menschen, die sich gruselten oder gar an Geister oder Gespenster glaubten, nur spöttisch gelacht. Selbst jetzt noch hätte sie unter keinen Umständen gegenüber irgend jemandem zugegeben, sich allein im Dunkeln zu fürchten! Aber sie fürchtete sich! Sehr sogar! Das Herz schlug ihr hoch im Halse, und alles, was sie jemals an phantasievollen Beschreibungen von Gespenstern und sonstigen Erscheinungen gelesen oder gehört hatte, fiel ihr in diesen Minuten wieder ein. Über solche Kinderängste – wie sie es früher genannt hatte – hatte sie sich stets erhaben gefühlt und ‘ spöttisch darüber gelächelt. Man lebte schließlich im Jahre zweitausend! In diesen Minuten aber war Helen die Überheblichkeit gründlich vergangen. Vielmehr mußte sie sich eingestehen, daß ihr Stolz und ihre kaltschnäuzige Erhabenheit auf recht tönernen Füßen gestanden hatten. Ein Glück nur, daß ich das Kino gleich erreicht haben werde! dachte sie. Dort wird es hell sein, und ich werde auf andere Gäste treffen und kann mich geborgen fühlen. Und natürlich werde ich mir vor ihnen nichts anmerken lassen! nahm sie sich vor. Helen Foster beschleunigte ihre Schritte, und sicher hätte sie die letzte Wegstrecke sogar im Dauerlauf zurückgelegt, wenn ihre eleganten hochhackigen Schuhe und der enge Rock ihres Designer-Kostüms sie nicht daran gehindert hätten! Aber sie litt Höllenqualen der Angst!
Peter Foster räumte in aller Eile seine Habseligkeiten in den Kleidersack. Dabei kümmerte es ihn nicht, ob seine Anzüge und seine Oberhemden Knitter bekamen. Er wollte nur fort sein, ehe Susann es sich vielleicht doch noch anders überlegte und sich wieder in seiner Suite einfand, um ihn zu einer Versöhnung zu bewegen. Er hatte es so eilig, das Hotel zu verlassen, daß er nicht einmal abwartete, bis ihm der Portier einen Kofferträger schickte. Er warf sich den Riemen des Kleidersacks über die Schulter und eilte auf die Tür seiner Suite zu. Doch als er die Hand nach der Klinke ausstreckte, stockte er plötzlich. Was mache ich, wenn Susann draußen vor der Tür steht, und mit mir reden will? schoß es ihm durch den Sinn. Sie verfügt über gewisse wortlose Argumente, denen ich bisher nicht habe widerstehen können! Aber diesmal muß ich hart bleiben! dachte er. Es steht zu vieles auf dem Spiel! Eine Scheidung von Helen kann ich mir einfach nicht leisten. Ihr Vermögen steckt in meiner Firma. Was sollte werden, wenn sie es zurückziehen würde? Also werde ich Susann, falls sie vor der Tür auf mich warten oder mir auf dem Weg zum Lift entgegenkommen sollte, ganz einfach zur Seite schieben und an ihr vorbeigehen! nahm er sich vor. Nur so wird sie begreifen, daß es für uns keine gemeinsame Zukunft geben kann und unsere Affäre zu Ende sein muß. Peter atmete noch einmal tief ein, so als wollte er sich voll Mut und Entschlußkraft pumpen, dann griff er zur Klinke, drückte sie herunter und zog die Tür auf. Es war niemand zu sehen! Einerseits atmete Peter erleichtert auf. In gewisser Weise aber verletzte es schon auch seine Eitelkeit, daß Susann ihn so einfach aufgegeben haben sollte!
Ich sollte froh sein, daß es so glimpflich abgegangen ist und ich sie ohne Komplikationen los geworden bin, dachte er, als er mit dem Lift nach unten fuhr. Was kann mir Besseres passieren? Susann wird eingesehen haben, daß ich mich ihretwegen niemals scheiden lassen würde. Und was ist, wenn Helen ihrerseits die Scheidung einreicht? schoß es Peter durch den Kopf. Immerhin weiß sie jetzt, daß ich sie betrogen habe, und das wird sie kaum einfach so hinnehmen! Am Ende hat auch sie längst einen Liebhaber und nur darauf gewartet, daß ich ihr einen Scheidungsgrund… Peter konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, denn der Lift hatte die Halle erreicht. Der Liftboy öffnete die Türen und hielt diskret die Hand auf. Peter war im allgemeinen nicht kleinlich, und an den Trinkgeldern pflegte er nie zu sparen, doch sobald sich die Lifttüren geöffnet hatten, war sein Blick auf Susann gefallen, und im selben Moment war ihm klar geworden, was das für ihn bedeutete: Sie hatte auf ihn gewartet und er würde ihr nicht entkommen – wenn er nicht eine unglaublichen Skandal heraufbeschwören wollte! Susann hatte schon voller Ungeduld auf ihn gewartet, und sie stürzte sofort freudig erregt auf ihn zu. »Liebling, da bist du ja!« rief sie und strahlte ihn an, als wären sie vorhin in bestem Einvernehmen auseinander gegangen! Peters Kleidersack nahm sie ‘ einfach nicht zur Kenntnis! »Ich bitte dich!« Peter hob abwehrend die Hände. »Nicht jetzt! Ich bin sehr in Eile und im Aufbruch begriffen, wie du weißt. Du wirst den Abend leider allein verbringen müssen.« Noch deutlicher hätte er sich nicht ausdrücken können, doch Susann lächelte und strahlte ihn an, als hätte er ihr soeben eine Liebeserklärung gemacht. Wie selbstverständlich griff sie nach
dem Gurt seines Kleidersacks und zog ihn einfach von seiner Schulter. »Den geben wir in der Portiersloge ab«, bestimmte sie kategorisch. »Und dann werden wir uns einen schönen Abend machen.« Peter schnappte nach Luft, doch ehe er die passenden Worte gefunden hatte, mit denen er sie abwimmeln konnte, ohne es zu einer peinlichen Szene kommen zu lassen, sprach Susann schon weiter. »Diesen letzten Abend bist du mir einfach schuldig nach allem, was wir miteinander erlebt haben!« Peter stellte mit einem flüchtigen Blick fest, daß man bereits aufmerksam auf sie geworden war und sie beobachtete, und er begriff, daß Susann entschlossen war, es auf einen Skandal ankommen zu lassen, falls er nicht auf ihre Wünsche eingehen würde. Es blieb ihm also keine Wahl! Im Grunde macht es auch nichts, ob ich zwei Stunden früher oder später nach Hause komme, sagte er sich. Helen ist ja ohnedies nicht da. Und wer weiß, mit wem sie den Abend verbringt! Bei diesem Gedanken verspürte er Bitterkeit – und auch Trotz. Es war ein widerliches Gefühl, sich betrogen zu fühlen! »Also gut, ein Abschiedsessen«, gab er nach. In Susanns Augen blitzte es auf. Sie fühlte sich einmal mehr als die Siegerin!
Helen Foster erreichte an der nächsten Straßenecke die Hauptstraße, und das Kino, in dem die Galavorstellung stattfinden sollte, war nur noch wenige Schritte entfernt. Allerdings war es nicht erleuchtet!
Und Menschen waren noch immer nicht zu sehen! Auch die Hauptstraße lag wie ausgestorben da! Eben Mitternacht in einer kleinen verschlafenen Provinzstadt, in der die Straßenbeleuchtung nur spärliches gespenstiges Licht spendete. »Das alles ist doch wirklich höchst seltsam«, murmelte Helen. Sie zog erschauernd die Schultern ein und blieb stehen. »Wieso ist außer mir immer noch niemand zu sehen? Es sind doch nur noch wenige Minuten bis Mitternacht! Die übrigen Gäste müssen doch eigentlich von allen Seiten herbeiströmen! Und wieso ist nicht einmal der Eingang des Kinos beleuchtet?« fragte sie sich mit wachsendem Befremden. Helen streifte die Rose mit einem nachdenklichen Blick. Habe ich mich in meinem Zorn auf Peter all zu leichtfertig auf ein Abenteuer eingelassen? fragte sie sich besorgt. Hat mich vielleicht jemand in die Falle gelockt? Am Ende war dieser Jemand sogar Peter? Wie, wenn er in mir ein Hindernis zu seinem neuen Glück sähe? fragte sie sich. Wenn ich bei einer Scheidung mein Vermögen aus seiner Firma ziehen würde, wäre er ruiniert. In Romanen wird so ein Problem durch einen Killer gelöst! schoß es Helen durch den Kopf. Diese Vorstellung ließ sie erschauern, und unwillkürlich drückte sie sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand, um nicht auch von rückwärts auf eine böse Überraschung gefaßt sein zu müssen. Es war beklemmend, sich in finsterer Nacht in einer fremden Stadt allein und unbeschützt zu wissen – in dem Bewußtsein, daß jemand, dem sie seit ihrer frühesten Jugend vertraut hatte, ihr jetzt vielleicht nach dem Leben trachtete! Ihr Unbehagen steigerte sich allmählich immer mehr zu blanker Furcht!
Und was wäre, wenn ich mich nur im Datum geirrt hätte? versuchte Helen all die entsetzlichen Vorstellungen abzuwehren. Dann wäre es überhaupt kein Wunder, daß ich heute allein hier durch die nächtlichen Straßen laufe und niemand sonst gekommen ist! Sie zog die Einladung samt der Eintrittskarte aus ihrer Handtasche und hielt sie sich dicht an die Augen, um trotz der schlechten Beleuchtung die Buchstaben entziffern zu können. »… erlauben wir uns, Sie zu einer MitternachtsGalavorstellung in exklusivem Rahmen einzuladen«, stand da – nicht handschriftlich, sondern aufgedruckt, und als Datum der Veranstaltung war dieser Tag angegeben – der Tag, der um Mitternacht enden würde! Jeder Irrtum war also ausgeschlossen! Aber wieso ist denn niemand zu sehen? fragte Helen sich erneut beklommen. Da stimmt doch etwas nicht! Ein Kino, in dem gleich ein festlicher Empfang und eine Galavorstellung beginnen sollen, und weit und breit ist außer mir niemand zu sehen? Und nicht einmal der Eingang des Kinos ist erleuchtet! Helen Foster betrachtete die Rose mit aufkeimender Skepsis. An dieser Geschichte ist irgend etwas oberfaul! sagte sie sich. Wenn ich nur wüßte, was! Noch einmal verglich Helen die Adresse mit der Aufschrift auf der Eintrittskarte. Kein Zweifel, die hatte das richtige Kino angesteuert! Und der Beginn des Mitternachtsfilms sollte in weniger als fünf Minuten sein! Und wieso ist dann außer mir niemand zu sehen? fragte Helen sich zum wiederholten Male, und blickte ratlos nach links und nach rechts.
Diese leeren Straßen machten einen so gespenstischen Eindruck, daß sie in jedem Gruselfilm und in jedem Alptraum als Kulisse hätten dienen können. Alptraum! dachte Helen völlig verunsichert. Schlafe ich vielleicht und träume das alles nur? fragte sie sich. Ich muß mich zwacken! überlegte sie. Wenn man sich zwackt und Schmerzen spürt, schläft man nicht. Und wenn man nichts spürt, erlebt man nur einen Traum. Und in einem Traum ist alles möglich – aber ungefährlich! Helen kniff sich in den Unterarm. Es tat ziemlich weh, weil sie ordentlich zugekniffen hatte, aber es änderte sich nichts um sie herum! Überhaupt nichts! Ich spüre den Schmerz und wache nicht auf! stellte sie benommen fest. Also träume ich nicht, und es ist alles Realität! Ihr Blick streifte den Kassenschalter im Eingangsbereich des Kinos: Er war dicht verhangen – würde also bis zum Beginn der Vorstellung sicher nicht mehr geöffnet werden! Andererseits – wenn eine Vorstellung nur für geladene Gäste gegeben werden sollte, erübrigte es sich, die Kasse zu öffnen, weil niemand Karten zu kaufen wünschte! Aber so, wie es jetzt den Anschein hat, findet überhaupt keine Vorstellung statt, resümierte Helen. Also hat sich irgend jemand einen üblen Scherz mit mir erlaubt! folgerte sie. Eigentlich hätte ich mir gleich denken können, daß es sich bei dieser seltsamen Einladung nur um einen albernen Scherz handeln würde! Zu dumm, daß ich auf so einen Unfug hereingefallen bin! Und das alles wegen dieser Rose! Nein vor allem wohl, weil ich herausgefunden hatte, daß Peter mich betrügt!
Vielleicht steht hier irgendwo jemand im Halbdunkel und beobachtet mich – und amüsiert sich heimlich über meine Ratlosigkeit? In Helen kochte Wut hoch. Bis hierher und nicht weiter! dachte sie. Wenn sich jemand einen üblen Scherz mit mir hat machen wollen, hat er seinen Spaß gehabt! Aber ab sofort spiele ich nicht mehr mit! Sie schob ihre Eintrittkarte in die Handtasche zurück, fest entschlossen, sich unverzüglich auf den Weg zurück zum Parkplatz zu machen und nach Hause zu fahren. Und niemand wird jemals etwas von diesem Fiasko erfahren! nahm sie sich vor. Sie klemmte ihre kleine Handtasche mit wütender Entschlossenheit unter den Arm und setzte sich in Richtung Parkplatz in Marsch. Dabei hörte sich das KlackKlack ihrer hohen spitzen Absätze an wie Beifall.
Peter Foster führte seine Geliebte in das elegante Hotelrestaurant, und Susann ließ sich mit einem exquisiten Diner verwöhnen. Sie gab sich fröhlich und unbekümmert, ganz so als herrschte zwischen ihr und ihrem Geliebten bestes Einvernehmen. Peter seinerseits blieb trotz ihrer Bemühungen, ihn aufzuheitern, ziemlich wortkarg und stocherte nur lustlos auf seinem Teller herum. Die Vorstellung, seine Frau könnte einen heimlichen Geliebten haben, von dem er bisher nichts gewußt hatte, und nicht allein, sondern mit diesem Menschen verreist sein, beherrschte ihn immer mehr, und der Gedanke, sie könnte den anderen gerade in diesem Augenblick küssen und am Ende gar leidenschaftlich umarmen, schnürte ihm förmlich die Kehle zu und nahm ihm jeden Appetit.
Susann beobachtete ihn sehr genau und verstand in seiner Miene zu lesen. Es war nicht schwierig, seine Gedanken zu erraten, doch sie hütete sich, diesen Punkt zu berühren. Peter trank hastiger als sonst. Immer wieder griff er nach seinem Glas und versuchte mit großen Schlucken den Kloß herunterzuspülen, der ihn würgte. Susann mußte sich schließlich eingestehen, daß ihr Liebhaber zwar mit ihr an einem Tisch saß, damit für sie jedoch nichts gewonnen war, denn mit seinen Gedanken war er nicht bei ihr, sondern weit fort! Irgendwann war seine Einsilbigkeit einfach nicht mehr zu ertragen, und schon erwog Susann, aufzustehen und sich beleidigt zurückzuziehen, da schoß ihr eine bessere Idee durch den Kopf. »Wenn du wirklich befürchtest, deine Frau könnte dich betrügen, solltest du das Orakel befragen«, schlug sie vor. Sie war sich natürlich klar darüber, daß sie ihn zu einem gewagten Spiel animierte, andererseits blieb ihr eine Chance von mindestens 50 %. »So ein Unsinn!« wetterte Peter genervt und schüttelte unwillig den Kopf. »Das meinst du doch nicht ernst!« »Doch, sogar sehr ernst!« versicherte Susann. »Du kennst doch das alte Sprichwort: Glück in der Liebe, Pech im Spiel!« »Mir steht jetzt nicht der Sinn nach solchen Albernheiten!« wetterte Peter Foster. »Das gilt natürlich auch umgekehrt«, sprach Susann weiter, als hätte sie seine Bemerkung gar nicht gehört. »Pech in der Liebe bedeutet Glück im Spiel! Und wieso solltest du dir das nicht zu Nutze machen? Du könntest entweder die Zweifel an der Treue deiner Frau als gegenstandslos erkennen oder ein Vermögen gewinnen!« »Was soll dieser Unfug?« Peter winkte ärgerlich ab und griff erneut nach seinem Glas.
Susann gab nicht auf. »Was spricht dagegen, dieses Orakel zu befragen?« Sie lächelte geheimnisvoll wie eine Sphinx. »Du hast doch nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen: Entweder Geld oder die Sicherheit, von deiner Frau geliebt zu werden!« Peter Foster rieb sich das Kinn. Er war kein Spielertyp. Trotzdem erschien ihm Susanns Vorschlag gar nicht so schlecht. Seine augenblickliche Situation hätte ja kaum übler sein können. Und wenn tatsächlich etwas dran war an diesem Sprichwort, konnte er sich wenigstens mit einem Gewinn trösten. Und so ein unverhoffter Geldsegen wäre nicht das Schlechteste! Susann verstand Peters Mienenspiel zu deuten. »Du hättest es sogar ganz nahe!« Ihr Lächeln verstärkte sich. »Du sprichst von dem Spielsaal des Hotels!« Peter rieb sich das Kinn. »Wieso nicht? So oder so… du würdest in jedem Fall gewinnen«, redete Susann auf ihn ein. Eigentlich lag ihr nur daran, ihn abzulenken, denn insgeheim hoffte sie noch immer, ihn zu der Einsicht bringen zu können, daß er sich scheiden lassen mußte, weil er mit keiner anderen Frau so glücklich werden konnte wie mit ihr selbst. Peter preßte die Lippen trotzig aufeinander. Eigentlich hat sie völlig recht! dachte er. Und ob es dieses Orakel nun gibt oder nicht, alles ist besser, als die Aussicht, den ganzen Abend in trauter Zweisamkeit mit Susann verbringen zu müssen, denn sie wird nichts unversucht lassen, die Trennung noch hinauszuschieben. »Gehen wir also!« entschied er. Er legte seine Serviette ab und stand auf.
Helen Foster war auf ihrem Rückweg zum Parkplatz noch nicht weit gekommen, als sie zu ihrer großen Verwunderung in einiger Entfernung ihre Freundin Mila Quandt entdeckte, die ihr mit eiligen Schritten entgegenkam. Mila gehörte wie Helen zu einer verschworenen Clique von vier Freundinnen, die seit frühesten Kindertagen miteinander durch dick und dünn gegangen waren. Außer Mila zählten noch Mary Hampton und Jeanna Brixton zu dem Kreis der Freundinnen. Ganz früher waren sie sogar zu fünft gewesen, doch Eliza Norton stammte aus völlig anderen Verhältnissen und hatte aus finanziellen Gründen sehr oft nicht mithalten können. Das hatte immer wieder zu Spannungen und Mißstimmungen geführt, und Eliza schließlich bewogen, sich immer mehr aus ihrem Kreis zurückzuziehen, bis der Kontakt irgendwann völlig abgebrochen war. Niemand hatte sie gebeten, doch zu bleiben. Im Gegenteil! Eigentlich waren sie damals alle vier ganz froh gewesen, als Eliza Norton sich von der Clique trennte. Ein paar Jahre später wußte jemand zu berichen, Eliza habe das Land verlassen und lebe nun in Übersee. Aber niemand wußte etwas Genaues, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, nach ihrem Verbleib zu forschen. So hatte niemand sie jemals wieder zu Gesicht bekommen – oder auch nur gehört, was aus ihr geworden war. Man wußte nicht einmal, ob sie noch lebte! »Mila!« Helen Foster winkte ihr aufgeregt zu und eilte ihr mit schnellen Schritten entgegen, froh, nicht mehr allein zu sein. »Helen? Du?« wunderte Mila sich. »Sag bloß, du hast auch so eine Einladung…« »Du etwa auch?« fragte Helen aufgeregt.
»Ja, habe ich!« nickte Mila Quandt. »Eine Einladung zusammen mit einer Eintrittskarte für die Nachtvorstellung in diesem Kino da drüben! Und eine herrliche rote Rose war dabei.« »Etwa so eine?« Helen hielt der Freundin ihre Rose entgegen. »Ja, genau wie deine!« Mila lachte unbekümmert. Nach dieser Bestätigung stand für Helen endgültig fest, daß sich ihre romantischen Erwartungen an diesen Abend mit Sicherheit nicht erfüllen würden. Einerseits war sie darüber enttäuscht, andererseits aber freute sie sich, Mila so unverhofft wiederzusehen. Die Freundinnen umarmten sich und begrüßten sich mit flüchtigen Wangenküssen. »Eigentlich hätte ich dich anrufen und dir von der Einladung erzählen wollen«, sagte Helen. »Aber ich dachte… nun, ich wollte nicht… es hätte ja sein können, daß du keine Einladung bekommen hattest«, stammelte sie verlegen. »Mir ging es genau so«, gestand Mila Quandt. »Schön, daß wir uns doch noch getroffen haben!« »Ja, finde ich auch«, nickte Helen Foster eifrig. »Aber ich fürchte, wir haben uns beide zu früh auf dieses Ereignis gefreut. Es findet nämlich überhaupt nicht statt!« »Wieso denn das?« fragte Mila verständnislos. »Es scheint etwas schiefgelaufen zu sein, denn das Kino hat geschlossen«, berichtete Helen. »Und außer uns beiden ist niemand gekommen.« »Ach?« staunte Mila. »Das ist aber merkwürdig!« »Finde ich auch!« pflichtete Helen ihr bei. »Wenn du mich fragst, es sieht ganz so aus, als hätte sich jemand einen dummen Scherz mit uns erlaubt.« »Vielleicht sind wir nur zu früh dran«, wandte Mila in ihrer stets optimistischen Art ein und warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr. »Es sind ja noch beinahe fünf Minuten
bis Mitternacht«, stellte sie fest. »Da kann noch allerhand passieren!« »Findest du es denn nicht höchst merkwürdig, daß außer uns beiden niemand zu sehen ist?« fragte Helen Foster kopfschüttelnd. »Wir sind ja nicht allein!« Mila Quandt grinste breit. »Sieh doch mal! Da kommt noch jemand.« Sie zeigte zu der kleinen Gasse hinüber, die direkt auf das Kino zulief. »Jeanna ist im Anmarsch!« Jeanna Brixton hatte die Freundinnen soeben entdeckt und winkte ihnen freudestrahlend zu. »Dann fehlt jetzt nur noch Mary, und unser Quartett wäre komplett«, stellte Helen fest. »Wenn man vom Teufel spricht, ist er gewöhnlich nicht mehr weit!« lachte Mila und deutete nach links, wo Mary auf ihren wie üblich viel zu hohen Absätzen herangestöckelt kam. Mila schien das ganze als ein sportliches Abenteuer zu betrachten. Sie fand nichts Unheimliches an diesem ungewöhnlichen mitternächtlichen Treffen – zumal sie so unverhofft ihre Busenfreundinnen wiedergetroffen hatte. Aber auch Helen überwand ihr Unbehagen. Im Kreise ihrer Freundinnen fühlte sie sich sicher. Jeanna überquerte die Straße und kam mit ausgestreckten Händen auf Mila und Helen zu. »Ihr seid auch hier?« rief sie ihnen lachend zu. »Dann habt ihr also auch eine Einladung für diese Mitternachtsvorstellung bekommen? Das hätte ich mir eigentlich denken können.« »Offensichtlich nicht nur wir beiden«, rief Helen Foster ihr zu und zeigte die Straße hinunter. »Schau mal! Da kommt auch Mary!« Mary Hampton war ihrerseits soeben auf die Freundinnen aufmerksam geworden. »Halloo!« rief sie aufgekratzt. Sie winkte ihnen lachend zu und beschleunigte ihren Schritt.
Nicht eine der drei Freundinnen schien etwas Ungewöhnliches oder sogar Unheimliches an dieser mitternächtlichen Veranstaltung zu finden. Im Gegenteil! Sie amüsierten sich königlich und freuten sich, so unverhofft auf einander zu treffen. »Na, wenigstens stehe ich jetzt nicht mehr allein vor der verschlossenen Tür«, stellte Helen Foster lakonisch fest. Mila tätschelte ihr die Wange. »Hast du dich gefürchtet – so mutterseelenallein in der fremden Stadt?« Sie hatte es als Neckerei gemeint und nicht geahnt, daß sie ins Schwarze getroffen hatte. »Rede nicht so einen Unsinn!« fauchte Helen sie ungnädig an. »Oje, oje!« Mila hob beschwichtigend die Hände. »Es ist ja schon gut! Seit wann bist du denn so super humorlos?« »Ihr beiden werdet doch jetzt nicht in den Clinch gehen wollen!« griff Mary Quandt energisch ein. »Ich denke, wir sollten uns lieber freuen, daß der Zufall uns hier zusammengeführt hat und unsere Clique wieder einmal komplett ist. Wir werden uns auf jeden Fall ein paar schöne Stunden machen, und im Falle eines Falles auch ohne die angekündigte Mitternachtsvorstellung.« »Mary hat recht!« unterstützte Mila sie. »Wir haben uns doch noch nie miteinander gelangweilt. Und wenn ihr mich fragt, es ist schon viel zu lange her, seit wir als Clique so eine richtige Sause gemacht haben! Nutzen wir also die Gunst der Stunde.« »Und ich weiß auch schon, was wir anstellen können!« meldete Jeanna sich zu Wort. Sie hatte sich schon immer als die Wortführerin des Quartetts aufgespielt. Andererseits mußte man ihr zugestehen, daß ihre Einfälle immer recht amüsant und unterhaltsam gewesen waren. »Wir werden…«, verkündete sie.
Ehe Jeanna ihren Satz zu Ende gebracht hatte, vernahm Mary Hampton hinter sich ein seltsames metallenes Geräusch, und als sie sich umdrehte, entdeckte sie, daß sich soeben die beiden Pendeltüren des Kinoeingangs weit öffneten, bis sie mit einem deutlich vernehmbaren metallenen Klicken irgendwo einrasteten. Und im selben Moment flammte im Eingang des Kinos das Licht auf! »Na, nun können wir uns das Pläneschmieden sparen!« Mary blickte feixend in die Runde. »Das Kino hat soeben seine Pforten für uns geöffnet!« Die drei anderen starrten entgeistert auf die geöffneten Flügeltüren. Zu sehen war niemand! »Aber vor einer Sekunde waren die Türen doch noch fest verschlossen!« gab Helen Foster zu bedenken. »Und es brannte nirgendwo Licht! Alles war dunkel!« »Und vom Personal ist noch immer niemand zu sehen!« stellte Mila fest. »Auch nicht von den Gastgebern!« fügte Helen bedeutungsvoll hinzu. Man merkte ihr an, es war ihr nicht ganz wohl bei dieser Entwicklung, und die gewisse unterschwellige Ahnung, die vorhin immer stärker Besitz von ihr ergriffen hatte, ehe sie ihren Freundinnen begegnet war, beherrschte sie plötzlich wieder so stark, daß ihr das Atmen schwer wurde! »Ich bitte euch, Kinder! Habt ihr noch nie etwas von Türen gehört, die sich automatisch öffnen und schließen lassen?« meldete Jeanna sich zu Wort. »Du hast recht!« nickte Mary. »Das wird es sein: Wir haben es hier mit einem modernen Kino zu tun, in dem man Personal auf ein Minimum beschränkt. Und in jedem kleinen Landhaus läßt sich heutzutage durch einen Computer das Licht so
steuern, daß es ein und aus geschaltet werden kann, ohne daß die Bewohner anwesend sind.« Das leuchtete allen ein. Nur Helen blieb skeptisch. Eine innere Stimme warnte sie vor einer Gefahr, und der Eindruck, daß sie keinesfalls zu ihrem Vergnügen hierher gebeten worden waren, sondern sie alle unwissentlich auf eine Katastrophe zusteuerten, verstärkte sich immer mehr! Aber welche ihrer Freundinnen hätte ihr geglaubt, wenn sie diesen Gedanken geäußert hätte?! Man hätte sie wahrscheinlich nur ausgelacht. Also schwieg sie! Doch das unterschwellige Grauen blieb und verstärkte sich noch mit jeder Minute!
Peter Foster schrieb einen Scheck über zweitausend Pfund aus und schob ihn dem Kassierer zu. »Jetons, bitte!« verlangte er knapp. »Wie wünschen Sie die Jetons, Mr. Foster?« erkundigte sich der Kassierer höflich. »So groß wie möglich!« antwortete Peter knapp. »Ich will sie in der Hand behalten können.« Der Kassierer zählte ihm die Jetons vor. Peter nickte bestätigend, nahm die Spielmarken wortlos auf, und da an einem der beiden Roulette-Tische gerade ein Platz frei wurde, ließ er sich dort nieder. Um seine Geliebte kümmerte er sich nicht. Er überließ es Susann, ihm zu folgen oder auch nicht. Susann ließ sich durch sein Verhalten nicht abschütteln. Sie nahm hinter Peters Stuhl Aufstellung und wartete gespannt ab, was passieren würde. Wenn Peter gewinnt, dachte sie, wird er darin ein Zeichen für sein Pech in der Liebe sehen und eine Bestätigung für die
Untreue seiner Ehefrau. In dem Fall wird er sich vielleicht wieder mit mir versöhnen. Doch wenn er verliert, wird er an die treue Liebe seiner Frau glauben und mich verlassen, um ihr begreiflich zu machen, ich sei ein einmalige Ausrutscher gewesen. Vielleicht hätte ich ihn lieber nicht bewegen sollen, den Spielsaal aufzusuchen! überlegte sie. Wie oft gewinnt man beim Roulette schon! Aber verlieren ist beinahe die Regel! Das zu bedenken ist es jetzt leider zu spät! Peter Foster schien völlig vergessen zu haben, daß Susann ihn in den Spielsaal begleitet hatte. Er kümmerte sich nicht um sie. Er setzte einen tausender Chip auf die Sieben. Die Kugel rollte bereits. »Nichts geht mehr!« verkündete der Croupier. Peter staute den Atem und versuchte den Lauf der Kugel mit seiner Gedankenkraft zu beeinflussen. Alles – nur nicht auf die Sieben! dachte er. Die Kugel landete auf der Acht! Tausend Pfund waren verspielt! Also hatte er Pech im Spiel! Peter atmete erleichtert auf. Wer weiß, vielleicht ist Helens Ausfahrt ganz harmlos, weil sie sich nur mit einer ihrer Freundinnen treffen will, dachte er. Er setzte erneut und diesmal auf die Acht, weil er es für unwahrscheinlich hielt, daß die Kugel zweimal hintereinander auf derselben Zahl landen würde. Und sobald sich das Orakel bestätigen würde, würde er das als schicksalhafte Entscheidung ansehen und sofort nach Hause fahren. Susann erahnte seinen Gedankengang, und auch sie fieberte der Entscheidung entgegen. Aber sie flehte den Himmel an, die Acht gewinnen zu lassen.
Der Croupier setzte mit elegantem Schwung die Scheibe in Bewegung und warf die Kugel auf die rotierende Scheibe. Dann verkündete er: »Nichts geht mehr!« Peter fixierte die Kugel. Nicht auf die Acht! dachte er. Alles, nur nicht auf die Acht! Die Kugel begann zu stolpern und landete Sekunden später in einem der kleinen Fächer. Peter war so entgeistert, daß er die Ansage des Croupiers nicht erfaßte. Er begriff nur eines: Sein Einsatz hatte sich mit der Zahl 32 multipliziert, denn die Kugel war auf der Acht gelandet! Damit hatte er ein Vermögen gewonnen! Glück im Spiel aber bedeutete Pech in der Liebe! Er spürte einen entsetzlichen Schmerz bei der Vorstellung, er könnte Helen tatsächlich an einen anderen Mann verloren haben! Und dieser Schmerz machte ihm klar, wie sehr er seine Frau noch immer liebte – immer lieben würde! Dieser Schmerz ließ ihn zugleich aber auch nachempfinden, was er Helen mit seiner Untreue angetan hatte! Und im selben Moment wurde ihm bewußt, daß er nicht nur Helen um seine Liebe betrogen hatte – sondern auch sich selbst. Der Croupier wollte Peter den Gewinn zuschieben, doch der wehrte ab. »Stehen lassen!« ächzte er. Ein drittes Mal wird die Kugel ganz gewiß nicht auf der Acht landen! dachte er. Und dann werde ich ein beachtliches Vermögen verloren – also Pech im Spiel haben! Susann erahnte seine Gedanken. Sie hielt den Atem an. Schade um das schöne Geld! dachte sie. Er wird es verspielen und sich auch noch einbilden, dadurch seine Ehe retten zu können!
Die Spannung am Spieltisch erreichte einen Siedepunkt, als der Croupier die Scheibe in Bewegung setzte, die Kugel warf und sein »Nichts geht mehr!« rief. Es war plötzlich so still am Spieltisch, als hätten alle den Atem angehalten. Nur das Geräusch der tanzenden Kugel hörte man überlaut. Sekunden dehnten sich die Ewigkeiten! Endlich begann die Kugel zu stolpern und… landete wieder auf der Acht! Ein Aufstöhnen ging durch die Runde. Auf dem lisch lag ein Vermögen! Tausend mal 32 war der erste Gewinn, und diese 32000 Pfund multiplizierten sich noch einmal mit 32! Das ist ja mehr als eine Million Pfund! überschlug Susann den Gewinn, und bei der Vorstellung einer solcher Summe wurde es ihr ganz schwindelig. Auch Peter stellte entsetzt fest, daß er ein beachtliches Vermögen gewonnen hatte! Wenn das Sprichwort stimmte, hätte sich sein Pech in der Liebe kaum drastischer bestätigen können! Er sprang auf. Susann konnte nicht schnell genug zurückweichen, und so standen sie unvermittelt voreinander – Auge in Auge! »Ich will dieses Geld nicht!« ächzte Peter verzweifelt. »Du kannst es haben!« Und ohne ihre Erwiderung abzuwarten, schob er sie zur Seite und verließ mit großen schweren Schritten den Spielsaal. Im ersten Impuls wollte Susann ihrem Liebhaber nachlaufen, um ihn zurückzuhalten… oder wenigstens mit ihm zusammen den Spielsaal zu verlassen. Doch da war diese unerhörte Summe Geldes, die auf dem Spieltisch zurückgeblieben war! Sie drehte sich um und fixierte den beachtlichen Berg von Jetons, der sich auf der Acht angesammelt hatte.
Ein Millionenvermögen lag da vor ihr auf dem Tisch! Und sie brauchte nichts weiter zu tun, als es an sich zu nehmen! Sie konnte mit einem Schlage zu einer reichen Frau werden! Eine solche Chance würde sie kaum ein zweites Mal im Leben bekommen!
Gleichgültig, was die anderen sagen, dachte Helen, es geht hier nicht alles mit rechten Dingen zu! »Ich war schließlich zuerst hier – eine ganze Weile bevor ihr eingetrudelt seid!« verteidigte sie sich erregt. »Und ich hatte Zeit, über alles nachzudenken! Wäre mir Mila vorhin nicht begegnet, wäre ich wieder heimgefahren! Und das sollten wir alle tun… solange wir noch können!« warnte sie. »Was willst du denn mit deiner Unkerei erreichen?« begehrte Mary auf. »Willst du uns den netten Abend verderben?« »Weshalb sollen wir nach Hause fahren, ausgerechnet jetzt, wo es losgeht?« fragte auch Mila. »Die beiden haben recht!« unterstützte Jeanna sie. »Wir werden vielleicht ganz allein in diesem Kino sein.« Sie zuckte die Achseln. »Na und? Solange der Film läuft, ist es ohnedies dunkel im Saal. Da kann es uns doch völlig gleichgültig sein, ob außer uns noch andere Leute anwesend sind.« »Genau!« Mila nickte eifrig. »Wir sind doch zu viert! Soweit es mich betrifft, reicht das völlig!« »Und es kommt euch nicht höchst seltsam vor, daß nur wir vier zu dieser Mitternachtsvorstellung eingeladen worden sind?« griff Helen die Bemerkung auf. »Wieso sollte es?« Mila zuckte die Achseln. »Das kann tausend Gründe haben«, wehrte sie lächelnd ab. »Zum Beispiel ist längs nicht jeder bereit, ein paar Stunden Fahrt auf sich zu nehmen, um in… wie heißt doch dieses Nest gleich… einen Film anzusehen!«
Mary und Jeanna kicherten vergnügt. »Ich schlage vor, wir nähern uns dem Innenleben dieser Institution.« Mila rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Und ich hoffe, sie haben hier halbwegs genießbares Popcorn!« »Na, komm schon, Helen!« Jeanna hakte sich bei ihr ein. »Sei kein Spielverderber. Deine Umsicht und Fürsorge in allen Ehren, aber was kann uns in so einem Kino schon Schlimmeres passieren, als daß wir uns entweder königlich amüsieren oder unsterblich langweilen?« »Das meine ich auch!« pflichtete Mary ihr bei. »Und sollten wir uns zu sehr langweilen, werden wir ganz einfach aufstehen und das Kino verlassen.« Mila hakte sich an der anderen Seite bei Helen ein. »Siehe ein, daß du überstimmt bist.« Gemeinsam zogen sie die Freundin mit sich ins Innere des Kinos, und Helen gab schließlich nach, wenn auch noch immer widerstrebend. »Ich jedenfalls finde es höchst merkwürdig, daß außer uns Vieren niemand sonst zu dieser Festveranstaltung geladen sein sollte«, verteidigte sie ihren Standpunkt noch einmal. »Wer weiß, vielleicht hat man uns die Karten nur geschenkt, weil gegen Geld niemand in den Film gehen wollte«, witzelte Mary Hampton. »Das spricht zwar nicht unbedingt für den Film, aber einem geschenkten Gaul schaut man nicht aufs Maul«, unterstützte Jeanna Brixton sie. »Ins Maul heißt das!« verbesserte Mila Quandt. Jeanna winkte unwillig ab. »Aufs Maul oder ins Maul – das ist doch völlig egal. Also, was mich betrifft, ich werde meine Karte jedenfalls nicht verfallen lassen!« verkündete sie kategorisch. Mila und Jeanna hatten schon während ihrer gemeinssamen Internatszeiten keine Gelegenheit ausgelassen, um sich zu
kabbeln. Niemand hatte das jemals besonders ernst genommen. Auch jetzt gingen die beiden anderen darüber hinweg. »Ich wollte immer schon mal ganz allein in einem Kino sitzen«, witzelte Mary anzüglich. Tief im Innern aber fand auch sie, daß die Begleitumstände dieser Veranstaltung schon sehr merkwürdig – irgendwie sogar ein bißchen unheimlich waren. Sie hatte nur nicht den Mut, es offen auszusprechen, um nicht wieder einmal von den anderen als Angsthase verlacht zu werden. Hätte sie nur geahnt, daß es allen anderen gar nicht so viel anders erging als ihr, und sie sich ebenfalls nicht getrauten, sich dazu zu bekennen! »Also, ich werde die Karte nicht verfallen lassen!« verkündete Jeanna Brixton noch einmal so nachdrücklich, als wollte sie damit ihre eigene warnende Stimme übertönen und sich selbst Mut machen. »Und ich komme mit!« unterstützte Mila Quandt sie. Helen Foster zögerte noch immer. »Nur schade, daß wir jetzt kein Popcorn haben werden«, meinte sie. »Kino ohne Popcorn ist doch kein richtiges Kino!« Mir sind auch schon bessere Ausreden eingefallen! dachte sie bei sich. »Es wird sicher auch mal ohne gehen«, schmetterte Jeanna Brixton den Einwand der Freundin ab. »Also sei ein Schatz, und verdirb uns nicht den Abend! Die Hauptsache ist doch, daß wir unseren Spaß haben werden!« Sie hakte sich energischer bei Helen ein und zog sie mit sich. »Und diesen Spaß werden wir ganz bestimmt haben!« versicherte sie. Zusammen passierten die beiden die Pendeltür, die sich soeben wie von Geisterhand vor ihnen geöffnet hatte. Das Foyer war hell erleuchtet, doch zu sehen war außer den Freundinnen keine Menschenseele!
Das ist ja gespenstisch! dachte Mary Hampton. Irgend etwas ist hier nicht, wie es sein sollte! Sie zögerte und blieb zurück. Sie fühlte sich ziemlich unbehaglich bei der Vorstellung, in einem verwaisten Kino zu sitzen, und am liebsten hätte sie sich Helens Auffassung angeschlossen und das Kino wieder verlassen. Doch dann hätte sie sich zu ihrer Angst bekennen müssen, und das wollte sie um keinen Preis – aus Angst, von den anderen verlacht zu werden! »Na, komm schon!« bedrängte Mila Quandt sie, ergriff ihre Hand und zog sie energisch mit sich. »Was kann uns schon Schlimmeres passieren, als daß man uns einen langweiligen Film vorsetzt?« »Und wenn er uns überhaupt nicht gefällt, können wir das Kino ja immer noch verlassen«, wiederholte Jeanna. »Dann haben wir aber wenigstens einmal im Leben ein ganzes Kino für uns allein gehabt.« »Ich weiß nicht, ob ich das als so besonders erstrebenswert betrachten soll«, maulte Mary, dennoch ließ sie sich mitziehen, um nicht von den anderen als Spielverderberin betrachtet zu werden.
Peter Foster war völlig aufgewühlt, als er den Spielsaal verließ. Durch das Geschehen am Spieltisch waren ihm die Augen geöffnet worden, und er erkannte plötzlich ganz klar, was für ihn – für sein Leben wirklich wichtig war. Plötzlich begriff er nicht mehr, daß er sich immer wieder in amouröse Extratouren verstrickt hatte! Er kam sich vor wie ein Schuft, weil er Helen immer wieder mit anderen Frauen betrogen hatte! Wie stolz war er damals gewesen, als sie eingewilligt hatte, seine Frau zu werden!
Wie im Siebten Himmel hatte er sich gefühlt, wenn sie in seiner Nähe war! Aber dann, einige Jahre nach der Heirat, hatte sich unmerklich zunächst der Alltag mehr und mehr lähmend auf ihre Beziehung gelegt, und schließlich hatte sich das gewisse Prickeln überhaupt nicht mehr eingestellt. Also hatte er versucht, es in außerehelichen Beziehung wieder aufleben zu lassen. Jetzt, da Helen alles entdeckt hatte und er befürchten mußte, daß sie die Scheidung einreichen würde, begriff er erst ganz, was er seiner Frau mit seinen außerehelichen Eskapaden angetan hatte, und wieviel sie ihm noch immer bedeutete! Plötzlich verstand er nicht mehr, daß es ihn immer wieder nach außerehelichen Beziehungen gelüstet hatte, denn im Grunde hatte ihn stets nur die Eroberung gereizt. Vielleicht hatte er noch das Prickeln genossen, das die verbotenen Heimlichkeiten auslösten. Doch allzu bald war der Reiz des Neuen stets verflogen gewesen und sein Interesse an dieser Affäre erloschen. Alle diese Seitensprünge waren immer in gleicher Weise verlaufen: Zuerst war er Feuer und Flamme gewesen und hatte sich eingeredet, der absolut perfekten Geliebten begegnet zu sein. Er hatte nicht eher Ruhe gegeben, als bis er sie erobert hatte. Doch sobald der Zauber der Fremdheit verflogen war, hatte die Liaison ihren Reiz für ihn verloren. Wenn er es jetzt recht bedachte, war er im Grunde eigentlich noch jedesmal froh gewesen, nach so einer Eskapade in die Geborgenheit seiner Ehe zurückkehren zu können. Und für eine gewisse Weile verlief dann sein Eheleben wieder in ruhigen Bahnen. Diesmal war jedoch alles anders! Hatte er bisher seine kleinen außerehelichen Romanzen stets vor Helen geheimhalten und ihr den getreuen Ehemann
vorspielen können, so hatte ein unglücklicher Zufall seine Eskapade mit Susann entlarvt! Helen wußte jetzt, daß er sie mit anderen Frauen betrog! Und das konnte nur eines bedeuten: Der Bestand seiner Ehe war gefährdet! Und nicht nur das! Die Hälfte seiner Firma gehörte Helen. Wenn sie bei einer Scheidung ihr Vermögen aus der Firma ziehen würde, würde alles, was er während der vergangenen Jahre unter großem persönlichem Einsatz aufgebaut hatte, verloren gehen. Die Tatsache, daß Helen ihren Koffer gepackt hatte und abgereist war, verriet ihm mehr als deutlich, wie ernst die Situation war! Peter hatte es eilig, heimzukommen! Er kümmerte sich nicht einmal mehr um die Hotelrechnung, sondern hinterließ einfach einen Blankoscheck. Zwar hätte Susann von dem Vermögen, das er für sie auf dem Spieltisch für sie zurückgelassen hatte, leicht alle seine Verbindlichkeiten im Hotel einlösen können, doch genau das wollte er nicht! Es lag ihm viel daran, ab sofort nicht mehr mit ihr in Verbindung gebracht zu werden. Vor allen Dingen aber wollte er ihr nicht mehr die geringste Möglichkeit bieten, noch einmal Kontakt zu ihm aufzunehmen! In dieser Stunde bewegte ihn nur noch eines: Er wollte von seiner Ehe… von seiner Liebe zu Helen… retten, was noch zu retten war! Natürlich war er sich klar darüber, daß Helen es ihm nicht leicht machen würde, doch er war entschlossen, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um sie zurückzugewinnen.
Er wollte für seine Ehe einen neuen Anfang, und er würde nichts unversucht lassen, um seinen kapitalen Fehler auszubügeln! Auf keinen Fall durfte er zulassen, daß es zu einer Scheidung kam! – Und das nicht nur weil Helen ihn damit finanziell ruinieren konnte, sondern vor allem auch, weil er sie liebte – noch immer viel mehr liebte, als es ihm während der vergangenen Jahre bewußt gewesen war. Und insgeheim hoffte Peter Foster, Anne zu seiner Verbündeten gewinnen zu können. Helen wird Anne bestimmt anvertraut haben, wohin sie gefahren ist und wo sie notfalls zu erreichen sein wird, sagte er sich. Und ich werde sie ganz einfach so lange bearbeiten, bis sie mir alles verrät! Überhaupt… vielleicht ist Helen nur fortgefahren, weil sie sehen will, ob ich versuchen werde, sie aufzuspüren, um sie zu überreden, wieder nach Hause zu kommen, sinnierte er. Schon deshalb wird sie Anne gesagt haben, wo sie zu finden ist. Peter fuhr so schnell, wie es die Straßenverhältnisse nur gestatteten. Glücklicherweise war die Autobahn um diese nachtschlafene Zeit nicht sehr frequentiert. So kam er zügig voran und erreichte seine Villa kurz nach Mitternacht. Doch seine geheime Hoffnung, Helen könnte inzwischen vielleicht schon zurückgekehrt sein, erfüllte sich nicht. Als er seinen Wagen in die Garage fuhr, war der zweite Stellplatz verwaist! Helen verbrachte diese Nacht also anderswo!
Verwundert stellten die vier Freundinnen fest, daß auch im Foyer des Kinos kein Personal zu sehen war. Selbst an der Theke, an der man offenbar sonst Popcorn und Süßigkeiten
kaufen konnte, war an diesem Abend niemand zu sehen, und die Regale waren völlig leer! Es brannte zwar überall Licht – geradezu eine Festbeleuchtung, doch angesichts der gähnenden Leere wirkte gerade das eher gespenstisch. Plötzlich rief Mary: »Na, seht doch mal, was da hinten steht!« Sie zeigte auf vier große Tüten mit Popcorn, die jemand ganz am Ende der Theke aufgestellt hatte. »Genau vier! Wie abgezählt!« staunte Mila. »Für jeden von uns eine große Tüte!« »Das kann nur eines bedeuten«, stellte Jeanna fest. »Diese Vorstellung war von vornherein nur für uns vier gedacht! Und aufmerksamer hätte uns doch kein Gastgeber versorgen können!« »Das Popcorn ist ein Zeichen dafür, daß es mit der seltsamen Einladung seine Richtigkeit hat«, folgerte Mila. Helen Foster blieb skeptisch. »Trotz allem bleibt doch die Frage offen, wer dieser geheimnisvolle Gastgeber sein mag. Weshalb hat er sich uns nicht längst gezeigt, um uns persönlich zu begrüßen, wie man es von einem Gastgeber erwarten kann?« »Helen hat recht«, pflichtete Mary ihr bei. »Ihr könnt doch nicht bestreiten, daß das ganze äußerst merkwürdig ist! Was bezweckt dieser Mensch mit dieser seltsamen Einladung?« »Das frage ich mich allerdings auch«, bekannte Jeanna. »Wieso sind ausgerechnet wir vier eingeladen worden? Und in welcher Beziehung steht er zu’ uns.« »Ich bin überzeugt, das wird sich im Laufe des Abends noch herausstellen«, meinte Mila. »Denn bestimmt hat unser Gastgeber sich etwas dabei gedacht, als er gerade uns vier eingeladen hat. Also verderben wir ihm nicht die Freude!« »Mila hat recht«, unterstützte Jeanna sie. »Das ganze wird sich bestimmt in Kürze zu einem herrlichen Spaß entwickeln.«
»Und irgendwann platzt dann die Bombe, und wir werden alle furchtbar lachen«, meinte Mila. »Also zeigen wir uns von unserer nettesten Seite und spielen wir mit. Wir wollen ihn doch nicht enttäuschen, nachdem er sich so große Mühe gegeben hat!« Sie griff entschlossen nach einer der Tüten mit Popcorn. »Mila hat recht!« Jeanna öffnete ihre Tüte mit Popcorn. »Vorläufig ist doch bestens für unser leibliches Wohl und unsere Zerstreuung gesorgt. So eine Riesentüte Popcorn würde mindestens…« Jeanna konnte ihren Satz nicht ganz zu Ende bringen, denn Mary fiel ihr ins Wort. »Ich frage mich, wann du endlich einmal etwas genießen kannst, ohne den Preis dafür auszurechnen.« Helen Foster griff nach den beiden verbliebenen Tüten und reichte eine davon an Mary weiter. »Wenn die Anfangszeit sich nicht geändert hat, muß der Film jeden Moment anfangen«, stellte Mila fest. »Wir sollten also unsere Plätze einnehmen, damit wir den Anfang nicht verpassen.« »Jeanna hat recht!« Mila kaute bereits an den ersten Popcorns. »Auf eine Platzanweiserin warten wir heute nacht bestimmt vergebens. Also suchen wir uns einfach den Platz aus, der uns am meisten zusagt.« »Natürlich werden wir Loge sitzen!« bestimmte Mary. »Und wann hätten wir vier schon mal eine ganze Loge für uns allein gehabt!« » Stimmt!« nickte Jeanna. »Und diesmal haben wir sogar ein ganzes Kino für uns allein! Wir können so laut lachen, wie es uns Spaß macht, und wir können schimpfen und anzügliche Bemerkungen machen, und niemand wird sich beschweren oder uns kritisieren.« »Daß mir ja keiner zu übermütig wird!« drohte Mila scherzend.
»Ich weiß nicht… irgendwie schmeckt das Popcorn anders als sonst«, stellte Mary fest. »Wahrscheinlich ist es viel frischer, weil es extra für uns gemacht worden ist«, meinte Mila genüßlich kauend. »Das wird es sein«, pflichtete Jeanna ihr bei. Der Weg zu den Logen war nicht schwer zu finden, und da die Tür zur Mittelloge einen Spalt breit geöffnet war, entschieden die vier jungen Damen, sich dort niederzulassen. Jeanna schnupperte irritiert, als sie die Loge betrat. »Irgendwie riecht es hier seltsam, findet ihr nicht?« »Stimmt«, bestätigte Mila. »Es ist so ein süßlicher Geruch wie von billigem Parfüm, und der legt sich einem schwer auf die Lungen.« »Es ist eher muffig und riecht nach Staub«, kommentierte Mary trocken. »Wer weiß, wann hier zuletzt gelüftet worden ist!« Helen hatte das Gefühl, ihre Lungen würden mit jedem Atemzug ein wenig mehr zusammengepreßt, so daß ihr das Atmen immer schwerer fiel. »Auf jeden Fall legt sich dieser eigenartige Geruch schwer auf die Lungen«, stellte sie fest. »Wir sollten nicht zu wählerisch sein«, mischte Jeanna sich ein. »Wer weiß, wann jemand hier zuletzt Geld für einen Logenplatz investiert hat. Da wird man nicht jeden Tag eine Putzkolonne einsetzen können, die alles keimfrei hinterläßt.« »Du hast recht«, nickte Mila. »Wer Geld für einen Logenplatz ausgeben will, sucht sich wahrscheinlich ein feudaleres Kino aus. Aber einem geschenkten Gaul…« . »Das hatten wir heute schon einmal«, fiel Helen ihr ins Wort. Helen und Mila waren die kleineren des Quartetts, deshalb teilte Jeanna ihnen zwei Sessel in der vorderen Reihe zu. Sie selbst und Mary nahmen in den beiden Sesseln hinter ihnen Platz. So war man nahe beieinander, was den Austausch der zu erwartenden Kommentare erleichtern würde.
Anne war entschlossen, sich gemäß der Aufforderung ihrer Herrin für einige Tage ein herrliches Leben in der Villa Foster zu bereiten. Der großen Schachtel mit den köstlichen Pralinen galt ihre erste Attacke. Und um ihren Genuß noch zu erhöhen, richtete sie sich in dem bequemen Fernsehsessel des Hausherrn gemütlich ein: Die offene Pralinenschachtel auf dem Schoß, stopfte sie sich voller Wonne eine Praline nach der anderen in den Mund, während sie die spannende Handlung eines Fernsehkrimis verfolgte. Aber dann – kurz bevor die Verbrecherjagd ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde Anne plötzlich von realem Motorengeräusch aufgeschreckt. Das hört sich ja an wie der Wagen vom gnädigen Herrn! durchfuhr es sie siedendheiß. Aber wollte der nicht bis zum Wochenende bleiben?! Sie hatte es noch nicht ganz zu Ende gedacht, als sich ihr Verdacht bestätigte, denn das Garagentor wurde geöffnet. »Ach, du liebe Güte!« ächzte Anne, und der Schreck trieb ihr glühende Röte ins Gesicht und peitschte ihren Puls auf Hochtouren, daß sie kaum noch atmen konnte. »Der gnädige Herr ist ja tatsächlich zurück!« ächzte sie und sprang in Panik so hastig auf, daß ihr dabei die Pralinenschachtel vom Schoß rutschte. Die verbliebenen Pralinen kippten auf den Boden und kullerten in alle Richtungen. »O gottogott!« ächzte Anne verzweifelt. »Auch das noch!« Sie sank auf die Knie, um die Pralinen in aller Eile wieder einzusammeln. Aber sobald sie sich bückte, wurde es ihr plötzlich speiübel. »Ich glaube, ich habe zu viele von diesen Pralinen gegessen«, stöhnte sie.
Ich muß die Schachtel schnell verschwinden lassen! dachte sie. Aber wohin? Anne tastete mit verzweifelten Blicken die Einrichtungsgegenstände des großen Wohnraums ab, um in passendes Versteck zu finden. Im Schloß der Haustür drehte sich bereits der Schlüssel des heimkehrenden Hausherrn! Anne sah keine andere Möglichkeit mehr, als die Pralinenschachtel mit den hastig wieder eingesammelten Restbeständen im Fernsehsessel des Hausherrn zu deponieren und deckte sie mit einem Kissen zu. Buchstäblich im allerletzten Moment! »Anne?« rief Mr. Foster in seiner herrischen Art. Er war bereits bis zur Diele vorgedrungen, und seine energische Stimme drang bis in den äußersten Winkel des Hauses, so daß Anne diesen Ruf unmöglich einfach überhören konnte – gleichgültig, wo immer sie sich gerade befinden mochte. Vorsichtshalber wischte sie sich noch einmal schnell über die Lippen, um eventuelle letzte Spuren ihrer süßen Sünden verschwinden zu lassen, dann stürzte sie zur Diele hinüber. »Mr. Foster?« stammelte sie. »Sie sind schon zu…?« Peter Foster schnitt ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. »Was ist mit meiner Frau? Ist sie zurück?« fragte er herrisch. »Die gnädige Frau?« Anne blickte verdattert zu ihm auf. »Aber die gnädige Frau ist doch verreist. Hat sie Ihnen… denn nicht…?« »Und wohin ist sie gefahren?« unterbrach Peter das unbeholfene Gestammel seiner Hausangestellten. »Das hat die gnädige Frau nicht gesagt«, antwortete Anne. »Nur, daß sie wahrscheinlich einige Tage…« Anne brach erschrocken ab, denn Peters Miene hatte sich jäh verfinstert. »Einige Tage?« fragte er mit heiserer Stimme.
»… weil ich doch den Koffer für sie…« Anne unterstrich ihr Gestammel mit einer hilflosen Geste ihrer Hände. »Wenn Sie den Koffer gepackt haben, hat meine Frau Ihnen auch gesagt, was sie für die Reise braucht«, stellte Peter stirnrunzelnd fest. »Also… wohin ist sie gefahren?« »Sie hat wirklich nichts gesagt!« beteuerte Anne. »Nur, daß sie das weiße Ripskostüm anziehen wollte«, stotterte sie verstört. »Das neue weiße Ripskostüm?« ächzte Peter. Er packte Anne bei den Schultern und schüttelte sie. »Wieso das weiße Ripskostüm? Denken Sie nach! Es ist wichtig! Ich will wissen, mit wem sie telefoniert hat! Es würde mich sehr wundern, wenn Sie dieses Mal nicht gelauscht hätten. Also! Wer hat angerufen? Was ist passiert? Und wohin ist meine Frau gefahren?« Er fing Annes Blick bezwingend ein. »Ich weiß es wirklich nicht!« schluchzte Anne. »Ein Bote hat für die gnädige Frau diese Rose gebracht und den Brief, und dann hat sie telefoniert und dann war sie überhaupt nicht mehr glücklich und sie hat sich ganz furchtbar aufgeregt und mit den Fäusten auf die Klaviertasten eingehämmert. Und dann mußte ich den Koffer packen. Das ist alles!« »Das ist nicht alles!« donnerte Peter und schüttelte sie erneut. »Was hat in dem Brief gestanden, der bei der Rose war?« »Die gnädige Frau hat ihn mir doch nicht gezeigt«, beteuerte Anne. »Aber ich wette hundert zu eins, daß Sie ihn trotzdem gelesen haben!« donnerte Peter. »In diesem Hause geschieht doch nichts, ohne daß Sie es nicht in Erfahrung bringen. – Also! Was hat in diesem Brief gestanden?« »Es… es… war eine Einladung… glaube ich…«, stotterte Anne. »Was für eine Einladung? Und wohin ist meine Frau gefahren?« Peter schüttelte sie erneut. »Und kommen Sie mir
nicht mit Ihrem ›Ich weiß es wirklich nicht.‹ Das nehme ich Ihnen nicht ab. Also! Denken Sie nach! Von wem war die Einladung?« Anne spürte, daß die heruntergeschlungenen Pralinen ins Freie drängten. »O Gott, mir ist so furchtbar schlecht!« stöhnte sie und konnte das Würgen kaum noch unterdrücken. »Ich glaube… ich… ich muß… o Gott, ist mir schlecht!« Peter sah ihr an, daß sie die Wahrheit sagte, und ließ sie los. Anne stürzte davon. Sie weiß etwas! dachte er und blickte ihr grimmig nach. Und ich werde nicht eher Ruhe geben, als bis ich es erfahren habe. Ich bringe sie schon noch dazu, alles auszuspucken! Und gleichgültig, wie spät auch immer es dann ist, ich werde Helen nachfahren und sie nach Hause holen! Und diesem Kerl, der ihr die rote Rose geschickt hat, werde ich klar machen, daß Helen meine Frau ist und auch meine Frau bleiben wird!
Im Dämmerlicht der spärlichen Beleuchtung konnte man erkennen, daß der Kinosaal tatsächlich völlig menschenleer war! Und ganz offensichtlich waren auch keine weiteren Zuschauer erwartet worden, denn die Stuhlreihen waren mit Schonbezügen zugedeckt. »Irgendwie mutet es seltsam an… so ein Kino mit nur vier Besuchern«, meinte Mila. »Und wieso sind ausgerechnet wir vier eingeladen worden?« »Wieso nicht wir vier?« fragte Mary achselzuckend. »Immerhin sind wir vier seit ewigen Zeiten miteinander befreundet.« »Das würde bedingen, daß unser Gastgeber uns allen vieren bekannt sein müßte«, gab Helen zu bedenken.
»Eben! Genau das meine ich ja!« ereiferte Mila sich. »Wer ist dieser Kinobesitzer? Und wieso weiß er, daß wir befreundet sind? Wir haben uns doch schon seit mindestens drei Jahren nicht mehr gesehen.« »Mila hat ganz recht«, stimmte Helen ihr zu. »Wieso hat dieser Mensch ausgerechnet nur uns vier eingeladen? Und weshalb stand auf seiner Einladung nicht sein Name?!« »Ganz sicher, um uns eine Überraschung zu bereiten«, meinte Jeanna. »Es muß sich auch nicht zwangsläufig um einen Mann handeln. Die Einladungen können ebensogut von einer Frau stammen«, sagte Mila. »Die Hauptsache ist doch, daß alles umsonst ist!« meinte Jeanna. »Arm wird dieser Kinobesitzer kaum sein, denn immerhin hat er uns noch das Popcorn spendiert!« »Jeanna hat recht«, unterstützte Mary sie. »Da wir die Karten und sogar das Popcorn umsonst bekommen haben, wird der Besitzer dieses Kinos sich solche Eskapaden leisten können. Wozu also sollten wir uns den Kopf über seine möglichen Motive zerbrechen?« »Und das Popcorn ist wirklich gut!« stellte Jeanna eifrig kauend fest. »Es schmeckt zwar ganz anders als normales Popcorn, aber eher besser.« »Viel besser sogar!« pflichtete Mila ihr bei. »Ich könnte mir glatt einen Doktor essen an diesem Popcorn!« »Dazu wird eine Tüte voll kaum ausreichen«, witzelte Mary und schob sich den nächsten Knuspermais in den Mund. »Aber irgendwie wird einem ganz seltsam von diesem Zeug«, warf Helen ein. Ihre Bemerkung wurde von dem dreistufigen Gong übertönt, und das Licht ging aus. »Kinder, es geht los!« hatte Mila im ersten Impuls rufen wollen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, denn
der Gong hörte sich so schaurig an, als käme er aus dem Inneren einer tiefen Höhle – oder direkt aus dem Jenseits?
Diesen Eindruck hatten offenbar auch die anderen, denn das Lachen und Schwatzen war jäh verstummt. Mila fürchtete sich plötzlich. Die Geisterstunde! dachte sie und rückte ihren Sessel ganz nahe an den Helens heran. Sie tastete sich nach Helens Arm und krallte ihre Hand in den Stoff des weißen Ripskostüms. Und Helen war froh, die Freundin zu spüren, und legte ihre Hand auf die der Freundin. »Vielleicht tritt jetzt der Besitzer des Kinos vor den Vorhang, um uns zu begrüßen«, meinte Mary. Auch ihre Stimme klang längst nicht mehr so sicher wie noch kurz zuvor. »Dann werden wir endlich erfahren, was es mit dieser merkwürdigen Einladung auf sich hat«, bemerkte Jeanna. »Ich bin nicht sicher, ob ich das noch will«, ächzte Mila. »Dieser Gong… er hat sich so anders angehört als normal… richtig unheimlich.« Ihre Stimme zitterte und hörte sich irgendwie fremd an. »Und er dröhnt so seltsam in den Ohren nach«, stöhnte Helen und preßte sich gequält die Hände auf die Ohren, um den Nachklang zu ersticken. »Mir ist, als sollte mir gleich der Kopf platzen.« »Ja, du hast recht. Es ist als würde es einem den Schädel zersprengen«, schloß Mila sich an und beugte sich noch weiter zu Helen hinüber. »Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie ist es hier plötzlich schrecklich unheimlich, findest du nicht?« raunte sie ihr hinter vorgehaltener Hand zu. »Wir sollten vielleicht lieber wieder gehen.« Jeanna hatte es trotzdem gehört. »Was soll denn daran unheimlich sein, wenn in einem Kino ein Gong ertönt?« riskierte sie eine kesse Lippe – eigentlich mehr, um die Angst
zu übertönen, die sich auch ihrer bemächtigt hatte. »Es ist wie in jedem anderen Kino auch: Das Licht geht aus, damit der Film anfangen kann. Wenn das Licht nicht verlöschen würde, würden wir doch nichts sehen können.« »Und der Gong ist wahrscheinlich dazu da, die Besucher aufzuwecken, die inzwischen eingeschlafen sind!« spottete Mary. »Und diesen Service hat man uns auch zukommen lassen, und das, obgleich wir nichts für die Vorstellung bezahlt haben! Das ist doch äußerst großzügig, denke ich.« »Wo wir doch sogar das Popcorn noch umsonst bekommen haben!« flachste Jeanna eifrig kauend. »Es hat ein ganz besonderes Aroma, findet ihr nicht auch? Schade nur, daß wir niemanden nach dem Rezept fragen können!« »Du hast recht, irgendwie schmeckt es ganz anders als normales Popcorn«, flichtete Mary Hampton ihr bei. »Es ist sozusagen Geisterstunden-Popcorn«, spottete Jeanna. »Und ich kann nicht genau sagen, was mir mehr gefällt, das Popcorn oder die Geisterstunden-Atmosphäre.« »Ich finde auch, daß das Popcorn gut schmeckt«, pflichtete Helen ihr bei. »Aber ich glaube, mir ist ganz seltsam davon geworden. Irgendwie fühle ich mich beinahe so, als würde ich schweben… ich spüre meinen Körper nicht mehr so richtig.« »Wie meinst du das… du spürst deinen Körper nicht mehr so richtig?« Mila blickte sie betroffen an. »Hast du vielleicht auch so ein merkwürdiges Flimmern vor den Augen?« Der nächste Gong ertönte, ehe Helen antworten konnte, und wieder war es ihr, als würde ihr der Kopf unter den Schallwellen zerplatzen. Sie schrie gequält auf und preßte sich die Hände auf die Ohren. Jeanna beuge sich vor und legte Helen die Hand auf die Schulter. »Es wird gleich wieder gut sein«, versicherte sie. »Es wäre doch zu schade, wenn wir den Höhepunkt dieses Abends verpassen würden!«
Vorn an der Bühne öffnete sich der Vorhang und gab die Leinwand frei. »Wenn der Film so gut wird wie das Popcorn, werden wir einen netten Abend haben«, meinte Jeanna, aber während sie sprach, merkte sie unvermittelt, daß ihre Zunge nur noch widerwillig gehorchte. Sie lag dick und schwerfällig im Mund, und der Klang ihrer Stimme hörte sich völlig verändert an – irgendwie blechern! »Eine nette Nacht werden wir hier verbringen«, verbesserte Mary. »Du hast recht, es ist ja bereits nach Mitternacht, und die Geisterstunde hat angefangen!« stimmte Jeanna ihr zu. Sie hatte Mühe, die beginnende Lähmung ihrer Zunge – und vor allem die aufkeimende Angst zu überspielen. Mila und Helen ließen sich tiefer in ihre Sessel sinken. Aus dem Vorführraum über ihnen fiel ein bläulicher Scheinwerferkegel, – ein ganz normaler Lichtstrahl, wie er in jedem Kino aus dem Vorführraum auf die Leinwand fällt, dachten die vier. Aber dann…! Helen entdeckte es zuerst: Es war kein normaler Lichtstrahl. Er schien vielmehr wie aus einer anderen Welt zu kommen, und er brachte die Leinwand zum Glitzern, als hätte er sie in silberglänzendes Konfetti getaucht. Oder wurde das Licht von einer Metallfläche reflektiert? Jedenfalls blendete es so sehr, daß sich die vier jungen Damen in der Mittelloge erschrocken die Augen zuhielten. Als Helen etwas später durch einen Spalt zwischen ihren Fingern hindurch blinzelte, hatte sich das Erscheinungsbild auf der Leinwand bereits wieder verwandelt, und es wirkte nun wie eine vom Mond angestrahlte Wasseroberfläche. Ein romantischer Anblick, der zum Träumen verleitete!
»Schaut mal, das sieht ja aus wie ein verwunschener See!« sagte Helen, doch ihre Faszination erstickte, kaum daß sie es ausgesprochen hatte, denn voller Entsetzen erkannte sie, daß sich die real wirkenden Wassermassen plötzlich zu einer riesigen Flutwelle auftürmten, die alles unter sich begraben drohte. Vor allem den Kinosaal! Auch die anderen hatten die Entwicklung erkannt. »O mein Gott!« rief Mila entsetzt. »Das sieht ja aus, als würde dieser See in einer riesigen Welle über uns hinwegschwappen und uns…« Vor Angst versagte ihr die Stimme, und in einer Reflexbewegung duckte sie sich hinter die Logenbrüstung, um wenigstens etwas Schutz vor dem Ansturm des Wassers zu haben. Die Flutwelle blieb jedoch aus, und die Freundinnen begriffen, daß sie sich nur von einer Illusion hatten täuschen lassen. Ihre Sinne hatte ihnen eine Gefahr vorgegaukelt, die in Wirklichkeit gar nicht bestand! Sie waren völlig unangetastet geblieben! Sie befanden sich trotz allem in Sicherheit! »Das war ein netter Gag, aber völlig wirkungslos!« spottete Jeanna trotzig. »Völlig wirkungslos!« wiederholte sie. Sie war wütend, weil sie auf den Gag hereingefallen war! Doch ihre Worte hörten sich eher an wie das Pfeifen eines Kindes, das sich im Keller fürchtet. »Wer wird schon auf so einen Kinderkram hereinfallen!?« Die letzten Worte hatte sie so laut gesprochen, daß ihre Stimme unbedingt bis in den letzten Winkel des Kinosaales dringen mußte. Denn irgendwo in diesem Hause vermutete sie den Urheber dieses Spukgeschehens, und ihm gönnte sie keinen Triumph. Noch während sie gesprochen hatte, sah man auf der Leinwand seltsame Schatten aus dem Wasser auftauchen,
Frauengestalten, die mit ihren breiten schlitzäugigen Gesichtern allerdings eher an außerirdische Wesen erinnerten als an irdische Filmschauspieler. Mary versuchte es Jeanna gleichzutun. »Kann mir mal jemand verraten, was das sein…?« Alle weiteren Worte blieben ihr vor Schreck im Halse stecken, denn kaum hatte sie zu sprechen begonnen, formierten sich die bläulich schimmernden Schattenwesen auf der Leinwand zu einer Art gespenstischem Reigen. Zunächst tanzten sie auf der imaginären Wasserfläche. Plötzlich aber bückten sie sich alle wie auf ein Kommando, und als sie sich wieder aufrichteten, hielten sie in ihrer Mitte einen riesigen Kopf mit einer schauerlichen Fratze zwischen den Händen. Ihr Tanz wurde wilder, und auf einmal lösten sie sich von der Leinwand und schwebten direkt auf die Mittelloge zu, in der die vier Freundinnen saßen. Den entsetzlichen Kopf trugen sie zwischen sich.
Peter Foster suchte in seinem Autoatlas nach einem Ort namens Blendsing, denn das war der Name, der Anne im Gedächtnis geblieben war. Er konnte ihn nicht finden. Einen Ort mit dem Namen Blendsing war nicht im Autoatlas verzeichnet. »Sind Sie sicher, daß Sie den Namen richtig behalten haben?« fragte Peter seine Perle gereizt. »Denken Sie nach! Es ist sehr wichtig!« »Ich habe ja nicht so genau hinsehen können, weil doch die gnädige Frau jeden Moment hätte zurückkommen können«, redete Anne sich heraus. »Ja, ja, schon gut«, winkte Peter unwillig ab.
Wenn es dieses Nest tatsächlich gibt, muß ich es doch finden können! dachte er und begann erneut in seinem Autoatlas zu blättern. Doch das brachte nichts. Schließlich suchte er systematisch alle Orte durch, die mit den Buchstaben Blen… begannen. Und jedesmal blickte er Anne forschend an, doch sie schüttelte immer wieder den Kopf oder sie zuckte bedauernd die Achseln. »Was ist mit Blendsfield?« ächzte Peter schließlich. Es war der letzte Name in der Reihe. »Ja!« rief Anne und nickte eifrig. »Ja, das ist es!« strahlte sie. »Jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich wieder ganz genau! Blendsfield! Das stand da! Ich habe nämlich noch gedacht…« »Na, endlich!« unterbrach Peter ihren Redefluß. »Da bin ich ja schon einen Schritt weiter!« dachte er. »Und welche Adresse war in Blendsfield angegeben?« bedrängte er Anne erneut. »Eine Adresse?« Anne schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nun wirklich nicht mehr.« Sie blickte ihn unglücklich an. »Nur, daß es ein Kino war… ja, daran erinnere ich mich genau! Es war ein Kino!« versicherte sie. »Ein Kino?« fragte Peter kopfschüttelnd nach. »Sind Sie sicher?« »Ziemlich!« nickte Anne. »Ich habe nämlich noch gedacht, daß Kino um Mitternacht…« Peter begriff, daß sie nicht phantasierte. Er hatte Helens Spur gefunden! »Ja, ja, schon gut«, winkte er ungeduldig ab. »Machen Sie mir eine Thermosflasche starken Kaffee. Schnell! Ich will in spätestens fünf Minuten losfahren.« Ich werde dieses Kino schon finden, dachte er. In einem Nest, in dem sich Hasen und Füchse gute Nacht sagen, wird es kaum mehr als ein Kino geben. Und das wird auf der Hauptstraße liegen.
Aber was um alles in der Welt hat Helen bewogen, sich nachts mit jemandem in einem Provinzkino zu treffen?!
Die Fratze, die von den tanzenden Gestalten auf die Mittelloge zu getragen wurde, schlug auf einmal die übergroßen Augen auf. Es waren grünlich phosphoreszierende Augen, die gleißende Blitze versprühten. Mila und Helen duckten sich erschrocken noch tiefer, um sich vor diesen Lichtstrahlen zu schützen. Jeanna hingegen nahm die Bedrohung nicht ernst. »Also irrsinnig interessant finde ich das nun nicht gerade!« stellte sie trotzig fest. »So ein alberner Kinderkram! Soll das etwa eine echte Geisterstunde sein?« Sie lachte hart auf. »Damit kann man doch keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Wenn das eine Geisterstunde sein…« Der Rest ihrer spöttischen Bemerkung erstickte ihr vor Entsetzen in der Kehle, denn auf einmal löste sich die riesige Fratze aus dem Kreis der tanzenden Spukgestalten und stürzte wie an einem langen dünnen Hals direkt auf die Mittelloge zu. Mila schrie entsetzt auf, glitt aus ihrem Sessel und duckte sich auf den Boden. Jeanna hatte das Gefühl, ihr Herzschlag setzte vor Schreck und Entsetzen aus. Die Kehle schnürte sich ihr zu, so daß sie keinen Ton mehr heraus brachte und ihr selbst der Schrei des Entsetzens im Halse stecken blieb. Sie war wie gelähmt – hilflos der Situation ausgeliefert, denn sie konnte sich nicht mehr bewegen. Mary wollte sich hinter Helens Sessel ducken, doch ehe sie auch nur von ihrem Sitz gleiten und sich auf den Boden sinken lassen konnte, spürte sie etwas Kaltes, Glitschiges, das wie eine Qualle auf ihr Gesicht und ihren Hals klatschte. Und als sie es voller Entsetzen mit den Händen abwischen wollte,
mußte sie fassungslos feststellen, daß ihre Hände wie angeleimt an ihren Sessellehnen klebten und sich auch mit aller Anstrengung nicht mehr davon lösen ließen. Nur Helen hatte es noch rechtzeitig geschafft, sich tief hinter die Brüstung der Loge zu ducken, ehe der Spuk über sie hereinbrach. Der Scheinwerfer, der die Leinwand angestrahlt hatte, verlöschte, und urplötzlich war es stockfinster im Saal. Und so still war es mit einem Male, daß man die bewußte Stecknadel hätte fallen hören können! Nicht einmal den Atem der vier jungen Frauen konnte man hören! In diese unheimliche Stille hinein sagte eine krächzende heisere Stimme: Hoffentlich habt ihr jetzt begriffen, daß ihr mir hier ausgeliefert seid, und keiner von euch kann meiner Rache jetzt noch entkommen! Dies wird euer Grab werden! Helen Foster erschauerte und duckte sich noch tiefer hinter die Logenbrüstung. Sie flatterte an allen Gliedern. Auch Mila zitterte wie Espenlaub und klammerte sich verzweifelt an sie. »Ihr werdet bezahlen!« drohte die unheimliche Stimme. »Auf Heller und Pfennig werdet ihr für all eure Arroganz und eure Hartherzigkeit bezahlen!« Mein Gott, das ist ja eine Frauenstimme! dachte Helen betroffen. Und wenn mich nicht alles täuscht, kenne ich diese Stimme sogar. Wenn ich nur wüßte, an wen sie mich erinnert! Auch Mila flatterte an allen Gliedern. »Ich will hier heraus!« jammerte sie verzweifelt. Sie wollte sich aufrichten, um zur Tür der Loge zu laufen und zu fliehen, doch voller Entsetzen mußte sie feststellen, daß sie keine Macht mehr über ihre Gliedmaßen hatte. Ihre Knie knickten ein wie Streichhölzer, sobald sie aufzustehen versuchte, und unversehens hockte sie
wieder neben Helen auf dem Boden – am ganzen Körper zitternd. Helen blickte sich nach den beiden anderen um. Sie konnte jedoch nur schattenhafte Umrisse erkennen. Jeanna saß zwar noch in ihrem Sessel, war aber völlig in sich zusammengesunken und lag mit vorgebeugtem Oberkörper auf einer der Seitenlehnen. Sie schien bewußtlos zu sein, denn sie rührte sich nicht mehr. Helen wurde das Atmen immer schwerer. Es war, als preßten sich ihre Lungenflügel immer mehr zusammen. Wie ein Stein lagen sie ihr in der Brust. Habe ich nicht vorhin schon Schlimmes geahnt! haderte sie mit sich. Hätte ich doch nur auf die Warnung meiner inneren Stimme gehört und wäre wieder nach Hause gefahren, statt mich von den anderen aufhalten zu lassen! Jetzt sitzen wir alle hier wie in der Falle, und niemand weiß, ob wir hier lebend wieder herauskommen werden! Ganz unvermittelt flammte in allen vier Ecken des Kinosaals grelles grünliches Licht auf. Helen schrie erschrocken auf und schob sich geblendet die Hand über die Augen. Auch Mila hielt sich die Augen zu und duckte sich tiefer auf den Boden. Marys Oberkörper war weit nach vorn gesunken, und als sie sich mühevoll wieder aufgerichtet hatte, und Helen sie durch die Fingerritzen hindurch anschaute, erkannte sie ihre Freundin kaum noch, denn ihr Gesicht war völlig entstellt. Etwas Dunkles, Schillerndes klebte auf ihrer rechten Gesichtshälfte. »Himmel, was hast du denn da in deinem Gesicht?« fragte Helen bestürzt. »Das sieht ja aus wie eine Qualle!« »Im Gesicht… eine Qualle?« ächzte Mary verstört und fuhr sich mit der Hand zur Wange, denn plötzlich peinigte sie dort ein brennender Schmerz. Sobald sie ihre Haut berührte,
ertastete sie etwas Ekelhaftes, Glitschiges. »Was ist das?« schrie sie entsetzt auf. »O Gott, was geschieht mit uns?« Helen reichte ihr ein Taschentuch an. »Nimm es damit ab und wirf es über die Brüstung.« Mary wollte das Taschentuch annehmen, aber ihre Hände zitterten zu sehr. Sie stand unter Schock und hatte keine Kraft mehr, zuzugreifen. »Halt still, ich werde dieses ekelhafte Ungetüm abnehmen«, erbot Helen sich. Sie hatte Mühe, das Gesicht ihrer Freundin zu reinigen. Was immer es war, es schien sich in der Haut festzukrallen, und zurück blieben häßlich blaurote Flecken, die aussahen wie Feuermale. Mary, die immer die Hübscheste von ihnen gewesen war, war auf einmal völlig entstellt! »Mein Gott, wie furchtbar ist das alles!« stöhnte Mila entnervt auf. »Laß uns bloß schnell dieses Kino wieder verlassen! Wer weiß, was sonst noch alles passiert!« Mary stieß Jeanna an. »Los, komm zu dir! Wir müssen weg von hier!« redete sie auf sie ein, doch Jeanna reagierte nicht. Sie hing wie leblos in ihrem Sessel. »Lieber Himmel, was ist denn mit Jeanna?« ächzte Mary erschrocken. Jetzt entdeckten es auch die beiden anderen: Jeanna war offenbar bewußtlos! Mary und Helen faßten sie bei den Schultern und schüttelten Jeanna, bis sie allmählich wieder zu sich kam. »Wir müssen fliehen!« bedrängte Helen sie. »Du mußt dich jetzt zusammennehmen, Jeanna. Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier. Hier ist es nicht geheuer, und wer weiß, was noch alles mit uns geschieht, wenn wir nicht sofort fliehen!«
»Sie hat recht!« ächzte Mary atemlos. »Bloß weg von hier!« Die Angst vor einem entsetzlichen Ende mobilisierte ihre letzten Kraftreserven, und ohne auf die anderen zu warten, sprang sie auf, stürzte auf die Tür der Loge zu und wollte sie aufstoßen. Es ging nicht! Mary rappelte verzweifelt an der Klinke, doch die Tür gab nicht nach. Sie ließ sich nicht mehr öffnen! Es hatte ganz den Anschein, als sei sie inzwischen von außen verriegelt worden! »O mein Gott, wir sind ja gefangen!« kreischte Jeanna entsetzt auf. »Wir sind in eine Falle getappt!« wimmerte Mila verängstigt und klammerte sich verzweifelt an Helen. Helen blickte verstört von einem zum anderen. Sie erkannte, daß sie in dieser Situation von niemandem anders Hilfe erwarten konnte als von sich selbst. Ehe ich hier zu Grunde gehe, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um hier heraus zu kommen und zu überleben! dachte sie, und im selben Moment schoß ihr ein rettender Gedanke durch den Kopf. »Es gibt eine Möglichkeit, diesem Alptraum trotz allem zu entkommen«, sagte sie, zu allem entschlossen. »Wir müssen über diese Brüstung klettern und nach einem anderen Ausgang suchen.« »Den findet ihr garantiert nicht!« krächzte die unheimliche Stimme. »Den findet ihr nicht!« wiederholte ein schepperndes Echo, das aus allen Winkeln gleichzeitig zu kommen schien. »Ihr seid meine Gefangenen! Und niemand kann euch zu Hilfe eilen. Diesmal nicht! Diesmal seid ihr mir ausgeliefert! Völlig ausgeliefert!! Und euer Reichtum und eure einflußreichen Väter werden euch keine Vorteile mehr verschaffen können!«
»O mein Gott, das ist ja tatsächlich die Stimme von Eliza!« schrie Mila auf. »Eliza… sie hat uns… hierher… gelockt, um uns…« Angst und Entsetzen schnürten ihr die Kehle zu, und sie sank ohnmächtig in sich zusammen. Helen griff nach Milas Schultern und schüttelte sie derb. »Komm zu dir! Laß das Theater! Für solche Spielchen ist jetzt keine Zeit. Oder willst du hier umkommen?« Mila schlug die Augen wieder auf. »Ich… es…«, stammelte sie verstört und machte eine ratlose Geste mit den Händen. »Ja, ja, schon gut!« Helen strich ihr beruhigend über das Haar. »Nimm dich zusammen! Wir schaffen es schon.« »Was ihr euch einredet! Das ist doch nicht Eliza!« wehrte Jeanna ab. »Schon vergessen? Eliza war arm wie eine Kirchenmaus. Woher sollte sie das Geld haben, ein ganzes Kino zu mieten und hier so ein Theater zu veranstalten. Dafür müßte sie doch ein Vermögen aufwenden. Aber sie hätte ja nicht einmal Geld genug gehabt, um uns eine Eintrittskarte zu schicken, geschweige denn, einen Boten zu engagieren, der uns eine so teure Rose…« »Geld habe ich jetzt mehr als ihr alle zusammen!« schepperte die unheimliche Stimme aus den Lautsprechern, und es hörte sich so schaurig an, als würde diese Stimme durch einen langen hohlen Gang kommen. Oder kam sie etwa direkt aus dem Jenseits? »Der Sprachfehler!« zischte Mila den anderen erregt zu. »Habt ihr es gehört? Es ist tatsächlich Eliza. Sie stößt noch immer mit der Zunge an. Für mich besteht kein Zweifel mehr: Es ist tatsächlich Eliza!« wiederholte sie mit verlöschender Stimme. »Unsinn, was sollte Eliza von uns wollen?« wehrte Mary mit zitternder Stimme ab. »Wir haben doch seit vielen Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt!«
»Vielleicht bin ich schon im Jenseits und habe dadurch jetzt eine ganz besondere Macht über euch?« sagte die unheimliche Stimme, als hätte dieser Jemand jedes Wort mit anhören können. »Kann sein, ich befinde mich aber auch nur an der Schwelle des Todes und mag nicht allein hinübergehen. Ihr wart einmal meine besten Freundinnen. Also finde ich es nur gerecht, wenn ihr mich auf diesem Weg ins Jenseits begleitet! Und seid versichert, ich habe dafür gesorgt, daß ihr das tun werdet!« Nach diesen Worten herrschte lähmendes Entsetzen! Und Schweigen!
Peter Foster holte seinen Wagen wieder aus der Garage. Anne reichte ihm die Thermoskanne mit dem Kaffee durch das heruntergelassene Seitenfenster an. »Ich lasse mein Handy eingeschaltet«, sagte Peter. »Wenn Sie etwas von meiner Frau hören, rufen Sie mich auf jeden Fall sofort an.« Anne nickte eifrig. »Ganz gewiß, Herr Doktor. Das mache ich bestimmt!« versicherte sie. Peter Foster fuhr in Richtung Wales. Zunächst kam er zügig voran, weil kaum noch Verkehr auf den Straßen war. Dabei hielt er den Gegenverkehr immer im Auge, um Helens schnittigen Sportwagen nicht zu verpassen. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, daß es ihr in dem bewußten Kino nicht gefallen und sie früher als erwartet die Heimfahrt angetreten hatte. Doch Helens rasanter Sportwagen tauchte nicht auf! Immer wieder streifte Peter sein Handy mit Blicken, als wollte er es beschwören, sich endlich zu melden, aber es gab keinen Mucks von sich! Also hatte Helen sich noch nicht zu Hause gemeldet!
Und auf jeden Fall war sie noch unterwegs! Wenn ich heute morgen das Handy nicht abgeschaltet gehabt hätte, hätte Helen wahrscheinlich niemals etwas von meiner dummen kleinen Affäre mit Susann erfahren! grübelte er. Und natürlich wäre sie dann auch nicht in dieses Nest gefahren! Es kann doch nur eine Trotzreaktion gewesen sein. Sie wollte mir etwas heimzahlen! »Es ist wie verhext!« stöhnte er auf und schlug mit beiden Händen unwillig auf das Lenkrad ein. Die ersten Hinweisschilder mit Städtenamen in Wales tauchten auf. Blendsfield war nicht darunter. Es war ein so kleines Nest, daß es auf keinem der Straßenschilder erwähnt wurde. Doch Peter Foster hatte sich die Strecke bis zu diesem Ort genau eingeprägt. Er war sicher, sein Ziel nicht zu verfehlen. Was er nicht vorausgesehen hatte, war die Straßensperre, die ihn zwang, über eine Umleitung weiterzufahren. Bauarbeiten! »Auch das noch!« stöhnte er verzweifelt. »Hat sich denn alles gegen mich verschworen?« Er fuhr den Wagen an den Straßenrand und hielt an. Er wollte überlegen, wie er auf die neuen Umstände am besten reagieren könnte. Wenn er der Umleitung folgte, bestand durchaus die Möglichkeit, daß er Helen verpaßte, denn die Gegenrichtung war nicht gesperrt! Er beschloß, erst einmal hier stehen zu bleiben und eine Weile abzuwarten. Vielleicht habe ich Glück, und Helen kommt hier vorbei. Andererseits kann das unter Umständen bis zum Morgengrauen dauern, und wer weiß, was inzwischen alles mit Helen passiert! Wenn ich ihr helfen will, muß ich sie so schnell wie möglich finden.
Die vier Freundinnen waren eine ganze Weile vor Schreck und Fassungslosigkeit wie gelähmt. Keine von ihnen war noch fähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen – geschweige denn, sinnvoll zu handeln. Mila registrierte es als erste. »Es riecht hier nach Moder!« stöhnte sie angewidert auf. »Wie in einer Totengruft! Ekelhaft!« »Ganz recht!« krächzte die Stimme ihres unsichtbaren Peinigers. »Ihr solltet euch schon an diesen Geruch gewöhnen, denn so wird es von jetzt an immer für euch riechen. Ich bringe euch nämlich Tod und Verderben!« In die letzten Worte hinein klapperte und klimperte es, als bewegte jemand ein Skelett, dessen Knochen sich aus der Halterung zu lösen begannen. »Hört ihr das? Was ist das?« ächzte Mila erschrocken und klammerte sich zitternd an Helen fest. »O mein Gott, seht doch nur!« schrie Mary auf und zeigte auf die Trennwand zur Loge links neben ihnen. Die anderen folgten ihrem Blick und entdeckte drei Skelette, die jenseits der halbhohen Trennwand zur Nachbarloge wie an einem Gummiband auf und ab tanzten und dabei die knöchernen Hände gierig zu den jungen Damen hinüberstreckten. Und ehe die vier ganz begriffen hatten, was da ablief, schwang eines der Skelette bereits sein knöchernes Bein über die Trennwand. Kein Zweifel, alle vier war sofort klar, was das zu bedeuten hatte: Es stand ihnen die Invasion dieser Skelette bevor, die auf magische Weise ein Eigenleben entwickelt zu haben schienen! Mila und Mary wichen in einer Reflexbewegung zur Trennwand gegenüber zurück. Allein, noch bevor sie sie ganz erreicht hatten, tauchte dort ein Skelett in einer schwarzen Pelerine auf, eine Kapuze über den hohlen Schädel gezogen, und breitete drohend seine Arme aus.
»Kommt nur in meine Arme!« ächzte es heiser, und dabei flackerten in seinen Augenhöhlen grünliche Lichter. »Ich habe bereits auf euch gewartet!« Helen Foster war vor Schreck sekundenlang wie gelähmt, dann aber kam Leben in sie, und handelte sie instinktiv. Sie hätte später nicht mehr zu sagen gewußt, woher sie noch die Kraft genommen hatte, sich über die vordere Brüstung der Loge zu schwingen und in den Kinosaal zu flüchten. Sie verletzte sich bei der Aktion, doch in ihrer Erregung spürte sie die blutende Wunde nicht einmal. Ihr ganzes Sinnen und Trachten war auf Flucht programmiert! Sie duckte sich zwischen die beiden hinteren Stuhlreihen tief an den Boden und war erst einmal froh, daß niemand sie aufgehalten hatte. Sobald sie wieder den Atem gekommen war, kroch sie auf dem Boden voran auf den Seitengang zu. Kurz bevor sie ihn erreichte und ihre Deckung verlassen mußte, hielt sie inne und blickte zurück. Keine ihrer Freundinnen war ihrem Beispiel gefolgt! Helen lauschte angestrengt, doch ihre Stimmen waren verstummt. Nur das leise Klirren der Skelette konnte sie noch vernehmen. Helen duckte sich ganz tief an den Boden und zog in Erwägung, zurückzukehren, um den anderen zu helfen. Doch bevor sie den Mut dazu gefunden hatte, erhellte eine Stichflamme das Kino, und Sekunden später war der große Raum von Prasseln und Bersten und Krachen erfüllt, und noch ehe Helen ganz begriffen hatte, was passierte, war eine wahre Hölle ausgebrochen. Zum Nachdenken blieb ihr keine Zeit mehr! Wenn sie nicht in den Flammen umkommen wollte, mußte sie auf dem schnellsten Wege ins Freie finden!
Helen Foster handelte nicht mehr mit dem Verstand, sondern ließ sich nur noch von ihrem Instinkt leiten. Und dieser Instinkt führte sie aus der Flammenhölle hinaus ins Freie! Hinter ihr barsten Fenster und brachen Balken krachend ein. Schauriges Heulen wie von einer Meute von Wölfen ließ sie erschauern. Von ihren Freundinnen war nichts zu sehen oder zu hören! Ich muß die Feuerwehr verständigen, dachte Helen verzweifelt. Wenn ich nur wüßte wie! Sie erinnerte sich, daß sie ihr Handy im Wagen zurückgelassen hatte. Mein Auto! dachte sie und blickte verstört nach links und rechts. Sie begriff, daß sie die Orientierung verloren hatte. Vergebens versuchte sie sich daran zu erinnern, in welcher Richtung der Parkplatz lag, auf dem sie vorhin ihren Wagen abgestellt hatte. Alles sah so ganz anders aus, als sie es in Erinnerung hatte! Schließlich wandte sie sich auf gut Glück nach rechts, doch einen Parkplatz fand sie nicht. Verstört blickte sie immer wieder um sich und versuchte mit wachsender Verzweiflung, ihre Erinnerungsvermögen zu mobilisieren. Es wollte ihr nicht gelingen! Doch dann geschah so etwas wie ein Wunder! Nachdem sie eine ganze Weile ziellos umhergeirrt war, stand der elegante rote Sportwagen plötzlich vor ihr – genau so, als wäre sie gerade eben erst ausgestiegen. »Dem Himmel sei Dank!« ächzte Helen erleichtert und wollte den Wagenschlüssel aus ihrer Handtasche nehmen. Die war nicht da! Helen griff nach der Türklinke und zerrte voller Verzweiflung daran, und plötzlich geschah so etwas wie ein Wunder: Die Tür ließ sich aufziehen!
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Helen begriffen hatte, daß sie einsteigen konnte. Völlig erschöpft ließ sie sich in den Sitz fallen. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, die Wagentür hinter sich ins Schloß zu ziehen. Sobald sie in den Sitz gesunken war, verließen sie die Kräfte. Die Sinne schwanden ihr, und es wurde Nacht um sie.
Peter stieg aus, um die Lage zu überprüfen. Seine geheime Hoffnung, jenseits der Sperre auf der ursprünglichen Strecke noch ein Stück vorankommen zu können erwies sich als nicht praktikabel. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf der Umleitung weiterzufahren oder umzukehren. Umkehren wollte er auf keinen Fall! Er war entschlossen, dieses Kino in Blendsfield zu finden und seine Frau nach Hause zurückzuholen – gleichgültig, in wessen Gesellschaft er sie dort antreffen würde! Diese Entscheidung war sein Glück, denn schon nach wenigen Kilometern wurde er auf – ein knallrotes Cabrio aufmerksam, das von der Straße abgekommen und im Straßengraben gelandet war! »Mein Gott, das ist ja Helens Wagen!« ächzte er bestürzt. Sekunden später hatte er das Cabrio erreicht, hielt an und sprang aus dem Wagen. Er stürzte auf Helens Wagen zu. Auf den ersten Blick sah er, daß der Wagen zwar kaum beschädigt war, aber Helen hing regungslos über dem Lenkrad. War sie ohnmächtig? Oder tot? Peter riß die Wagentür auf. »Helen! Liebling!« rief er sie an. »Was ist mit dir?« Er berührte sie vorsichtig an der Schulter. Helen reagierte nicht!
Peter drückte ihr die Fingerspitzen auf die Halsschlagader. Er konnte den Puls spüren – wenn auch nur ganz schwach. Immerhin lebte Helen noch! Peter richtete sie behutsam auf und rief mehrmals ihren Namen. Helen schlug tatsächlich die Augen auf, aber sie blickte ihn aus glasigen Augen verstört an. »Wer sind Sie?« fragte sie mit schwerer Zunge. »Was wollen Sie von mir?« »Ich bin es doch! Peter!« ächzte er. »Gott sei Dank, du lebst!« ächzte Peter. »Keine Sorge, mein Liebling, alles wird gut!« Er ließ seine Blicke forschend umherschweifen und entdeckte auf dem Beifahrersitz die große rote Rose, von der Anne gesprochen hatte. Helen waren die Augen wieder zugefallen. »Nicht wieder einschlafen!« rief Peter sie an und versuchte sie mit leichten Schlägen auf die Wangen wach zu halten. Vergebens! Irgendwie riecht es hier eigenartig! dachte er und griff instinktiv nach der Rose. Sobald er sie bis auf einen halben Meter an sich gezogen hatte, verstärkte sich dieser süßliche Duft so sehr, daß sich bei Peter Widerwillen einstellte. Bloß weg von hier! dachte er. Er hob Helen auf die Arme und trug sie zu seinem Wagen hinüber. Er bettete sie auf den Liegesitz und brachte sie auf dem schnellsten Weg in die nächste Klinik. Helens Wagen und die präparierte Rose blieben zurück. Die behandelnden Ärzte fanden durch eine sofort angeordnete Blutanalyse ein Gegenmittel, das Helen ins Bewußtsein zurückbrachte und ihr Leben rettete. »Es war Rettung in letzter Minute«, versicherte der behandelnde Arzt Peter. »Wenn Sie uns Ihre Frau auch nur eine halbe Stunde später gebracht hätten, wäre es für jede Hilfe zu spät gewesen!«
Peter blickte ihn entgeistert an. »Sie meinen, es hat sich um einen Giftanschlag gehandelt?« Der Arzt zuckte die Achseln. »Das aufzuklären wäre Sache der Polizei. Allerdings würde ich Ihnen empfehlen, von einer Anzeige abzusehen. Ihre Gattin braucht Ruhe – und Abstand zu allem, was auch immer geschehen sein mag.« »Geschehen ist ja offenbar nichts«, erwiderte Peter. »Sie befand sich ja noch auf der Hinfahrt, und sie saß selbst am Steuer!« »Wenn Sie so wollen, spielt sich unter Einwirkung der Substanz, die wir im Blut ihrer Gattin gefunden haben, das Erleben hauptsächlich im Kopf ab – was allerdings die selben Auswirkungen haben dürfte wie ein reales Erleben.« Peter begann zu begreifen, was der Arzt ihm zu sagen versuchte. »Sie haben recht«, nickte er. »Ich sollte es meiner Frau überlassen, ob sie entsprechende Schritte einleiten möchte oder nicht.«
Es dauerte beinahe eine Woche, ehe Helen die Augen aufschlug und ihr Blick wieder klar war. »Peter?« fragte sie verwundert, als sie ihn an ihrem Bett sitzen sah. Es war das erste Mal, daß sie ihn erkannte! Peter riß sie glücklich in die Arme. »Du bist aufgewacht, mein Liebling! Endlich!« stöhnte er erleichtert auf. »Jetzt wird alles wieder gut, mein Herz. Ich schwöre dir, ich werde dich niemals wieder allein lassen! Ich liebe dich! Ich habe immer nur dich geliebt! Ich verstehe selbst nicht mehr…« Er stockte, weil er ihrem Gesichtsausdruck ansah, daß sie gar nicht begriffen hatte, wovon er sprach. Helen begriff nur eines: Sie träumte nicht mehr, und Peter saß tatsächlich an ihrem Bett und hielt sie in den Armen!
»Es war so furchtbar!« seufzte sie. »Einen schlimmeren Alptraum kann ich mir gar nicht vorstellen!« Peter küßte ihr die Worte zärtlich von den Lippen. »Träume sind Schäume!« sagte er und preßte sie liebevoll an seine Brust, um Helen das Gefühl zu vermitteln, behütet und beschützt zu sein. »Von nun an wird es nur noch Sonnentage für dich geben!« beteuerte er. »Glaube mir, mein Herz, meine Liebe wird dich schnell vergessen lassen, was immer auch geschehen sein mag!« Helen lauschte seinen Worten nach. Sie klangen, als wären sie aus dem Herzen gesprochen. Zugleich aber belebten sie ihre Erinnerung, und was sich ihr da aufdrängte, erfüllte sie mit Grauen. Wenn wir durch diesen Trip in die Welt des Grauens einen neuen Anfang für unsere Liebe gefunden haben könnten, hätte das Entsetzen noch etwas Positives gehabt, dachte sie. »Du glaubst mir noch nicht so ganz, wie?« drängte Peters Stimme sich in ihre Gedanken. »Warte mal!« Und dann küßte er sie mit einer Leidenschaft, wie Helen sie schon seit langem nicht mehr erlebt hatte, und mit jedem dieser heißen Küsse verblaßte der Alptraum ein wenig mehr, bis das Glück der Liebe stärker war als das Dunkel des Grauens.
Einige Wochen später wickelte Anne nach einem Einkauf auf dem Wochenmarkt das Gemüse aus Zeitungspapier aus, und zufällig fiel ihr Blick dabei auf eine der Schlagzeilen: Kinobrand in Blendsfield, stand da. Blendsfield? dachte sie. Dieser Name kommt mir irgendwie bekannt vor. War das nicht das Nest, das auf dieser Einladung gestanden hat? Ehe sie darüber nachdenken konnte, tauchte Peter Foster in der Küche auf und entdeckte die Schlagzeile. Er begriff
augenblicklich, was passieren konnte, wenn Helen die Zeitung zu Gesicht bekommen würde. Hatte der Arzt ihn nicht nachdrücklich davor gewarnt, Helen an diese Geschichte zu erinnern?! »Kein Wort zu meiner Frau!« warnte er Anne. Er knüllte die Zeitung zusammen und steckte sie in den Abfalleimer. »Jetzt nicht! Und nicht in hundert Jahren! Ist das klar?« »Sicher!« nickte Anne verdattert. »Natürlich! Das bleibt unser Geheimnis!« In diesem Moment betrat Helen die Küche und bekam die letzten Worte noch mit. »Was bleibt euer Geheimnis?« fragte sie ahnungslos lächelnd. Peter begriff augenblicklich, daß er sofort reagieren mußte und trat mit ausgebreiteten Armen auf seine Frau zu. »Da du uns schon mal belauscht hast, will ich gleich damit herausrücken!« Er zog sie an sich. »Ich habe die Absicht, dich zu entführen, und ich bin sicher, du würdest es nicht bereuen müssen, dich mir anzuvertrauen.« Helen wollte etwas erwidern, doch dazu kam sie nicht mehr, denn Peter verschloß ihr die Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuß. »Sieh ein, daß du mir ausgeliefert bist!« sagte er zwischen zwei Küssen an ihren Lippen. »Jetzt und für alle Zeiten.« Er küßte sie wieder. »Wenn du mich los sein wolltest, hättest du dir das früher überlegen müssen. Jetzt ist es zu spät!« »Ich könnte nirgendwo glücklicher sein als in deinen Armen«, flüsterte Helen ihrem Mann bewegt zu. »Und wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, daß wir beide ein langes glückliches Leben vor uns haben und zusammen alt werden.« »Das hätte ich nicht besser ausdrücken können, mein Herz!« versicherte Peter.
Muß Liebe schön sein! dachte Anne und schlich sich geräuschlos fort, um die beiden nicht zu stören.