Bruce Coville Mr Morleys Monster
Bruce Coville
Mr Morleys Monster
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Bruce Coville Mr Morleys Monster
Bruce Coville
Mr Morleys Monster
Aus dem Amerikanischen von Wolfram Ströle Mit Illustrationen von Anke Kühl
Ravensburger Buchverlag
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2008 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH für die deutschsprachige Ausgabe Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „The Monsters of Morley Manor“. © 2001 by Bruce Coville Original English language edition Copyright © 2001 by Bruce Coville, Published by Harcourt, Inc. All rights reserved, including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition is published by arrangement with Ashley Grayson Literary Agency. e-Book by Brrazo 07/2009 Aus dem Amerikanischen von Wolfram Ströle Innenillustrationen: Anke Kühl Umschlaggestaltung: Sabine Reddig unter Verwendung einer Illustration von Anke Kühl Redaktion: Claudia Scharf Printed in Germany ISBN 978-3-473-34731-5 www.ravensburger.de
Für Willard E. Lape jr. auch „Epal“ genannt – frühe Quelle der Inspiration, Freund und nach wie vor liebster Assistent des verrückten Wissenschaftlers
Inhalt 1 Morley Manor 2 Affentheater 3 Samstagabendbad 4 Die Familie Morleskjewitsch 5 Gaspars Geschichte 6 Fünf kleine Monsterlein 7 Wentar 8 Die Sternentür 9 Wasserwesen 10 Die Mutter aller Frösche 11 Das Land der Toten 12 Doppelte Mission 13 Die Verwandlung 14 Heute ist gestern 15 Familientreffe 16 Ivanoma 17 Opa 18 Der Plan der Flinduwier 19 Die Sammelflasche 20 Ich, der Alien 21 Ein Körper, in dem es spukt 22 Martins Geschichte 23 Der Rote Nebel 24 Abschied 25 Epilog
1 Morley Manor Hätte Sarah den Affen nicht gebadet, hätten wir den Monstern vielleicht nie helfen müssen, groß zu werden. Aber sie tat es nun mal, also nahm die ganze Geschichte ihren Lauf und das war, wie sich herausstellte, für die Bewohner dieses Planeten auch nicht von Nachteil – vor allem nicht für die Toten. Ich kaufte die Monster auf einer Art Flohmarkt. Oder eigentlich wurde eher ein ganzes Haus verkauft, nämlich Morley Manor, der große Kasten am Ende der Willow Street. In unserer Stadt kannte jeder Morley Manor. Es war bestimmt das unheimlichste Haus in Fox Hill, wahrscheinlich sogar in ganz Nebraska, so gruselig, dass wir nicht mal zu Halloween hingingen. Es hatte drei Türme, Bleiglasfenster und einen hohen Eisenzaun mit spitzen Stacheln obendrauf – obwohl man vom Zaun nicht viel sah, weil die untere Hälfte vollkommen mit Unkraut überwuchert war. Jeder Turm hatte einen Blitzableiter und wahrscheinlich war das Haus nur deshalb noch nicht abgebrannt. Denn Blitze schlugen hier ständig ein. Mein Vater sagte immer, Morley Manor hätte sein ei9
genes Wetter. Es war dort stets dunkler und trüber und das Haus schien Gewitter magisch anzuziehen. Ich war in der sechsten Klasse, als Morley die Mumie starb. Ich weiß, es ist nicht besonders höflich, ihn so zu nennen, aber in der Stadt taten das alle, sogar die anderen alten Leute. Mumie Morley hinterließ kein Testament und von Verwandten war nichts bekannt, also beanspruchte der Staat das Haus und schrieb es zum Verkauf aus. Obwohl wir uns alle vor dem Haus gruselten, waren wir hell empört, als sich herausstellte, dass der neue Besitzer den Kasten abreißen und ein ganz neues Haus bauen wollte. „Man kann ihm keinen Vorwurf machen“, sagte meine Mutter, als wir im Hinterzimmer unseres Blumenladens darüber sprachen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dort jemand wohnen will.“ Sie rückte eine Chrysantheme in der Vase zurecht, betrachtete sie kritisch, zog sie wieder heraus und warf sie weg. Natürlich hatte sie nicht ganz Unrecht mit dem, was sie sagte, aber ich wusste, ich würde das Haus trotzdem vermissen. Schließlich war es das interessanteste Haus der Stadt. Wozu an einem Ort wie Fox Hill allerdings nicht viel gehört. Ein paar Tage später fuhren meine Eltern über das Wochenende zu einem Floristenkongress nach Los Angeles. Sie überließen mich und meine kleine Schwester Sarah der Obhut von Oma Walker. Oma war seit Opas Tod drei Monate zuvor viel bei uns zu Hause. Sie ist fast taub, was Gespräche mit ihr manchmal anstrengend macht. Aber wir hatten ganz und gar nichts dagegen, wenn Mama und Papa uns mit ihr allein ließen. Schließlich backte sie fast jeden Tag Kekse und schimpfte auch nicht, wenn wir sie im Wohnzimmer aßen und alles vollkrümelten. 10
Am selben Wochenende veranstaltete der neue Besitzer von Morley Manor einen Flohmarkt, um den ganzen alten Plunder aus dem Haus loszuwerden. Der Verkauf war für Sonntagnachmittag angesetzt und der Abriss sollte dann am Montagvormittag beginnen, am Columbus Day. Das war super, denn wir hatten an diesem Tag schulfrei und würden alle bei der Abrissaktion zusehen können. Zum Verkauf erschien die ganze Stadt, obwohl es in Strömen goss. Schließlich war das die letzte Gelegenheit, einmal einen Blick ins Innere des alten Gemäuers zu werfen. Wir fragten Oma, ob sie mitkommen wollte, doch sie wollte nicht. Sie benahm sich überhaupt ein wenig sonderbar, aber das tat sie seit Opas Tod oft. Was ich auch verstand. Die Beerdigung war der schlimmste Tag meines Lebens gewesen und ich wusste, dass Oma Opa noch lieber gehabt hatte als ich, so schwer man sich das vorstellen kann. Ich hatte nach Opas Tod einen ganzen Monat lang schlecht geschlafen und viel geweint. In meiner Sockenschublade bewahre ich bis heute eine alte Pfeife von ihm auf. Manchmal hole ich sie heraus und rieche an ihr, um mich besser an ihn erinnern zu können. Mama und Papa waren also verreist und Oma Walker wollte lieber zu Hause bleiben. Was bedeutete, dass Sarah und ich uns allein auf den Weg machten. Der Regen prasselte nieder und wir spannten den großen schwarzen Schirm auf, der Opa gehört hatte. „Und du willst wirklich nicht mitkommen?“, fragten wir noch einmal, bevor wir gingen. Oma schüttelte langsam den Kopf. „Das macht mich nur traurig.“ „Warum?“, fragte Sarah. Fragen zu stellen ist eine Art Hobby von ihr. Sie ist eine Jägerin und Sammlerin von Informationen. Ob ihr’s mir glaubt oder nicht: Ihr erstes 11
Wort als Baby war nicht „Mama“ oder „Papa“ und auch nicht „nein“, sondern „warum“. Seitdem sagt sie das täglich etwa dreitausendmal. Oma seufzte. „Ich möchte das Haus lieber so in Erinnerung behalten, wie es war.“ „Warst du denn mal drinnen?“, fragte ich erstaunt. Soviel wir wussten, war außer Mr Morley schon seit Jahren niemand mehr in dem Haus gewesen. „Sogar oft“, sagte Oma. „Bis …“ Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Auf, auf jetzt, geht und amüsiert euch.“ Und in null Komma nichts hatte sie uns aus dem Haus gescheucht. Draußen auf der Veranda blieben wir stehen und sahen uns an. „Glaubst du, sie weiß was über damals?“, fragte Sarah schließlich. Mit „damals“ meinte sie das schreckliche Unglück, das sich vor fünfzig Jahren in Morley Manor zugetragen hatte. Alle Kinder der Stadt wussten, dass dort etwas passiert war, aber niemand wusste, was. „Möglich“, sagte ich. „Aber das kriegen wir schon noch aus ihr heraus.“ Dafür war natürlich vor allem Sarah als offizielle Fragerin der Familie zuständig. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie alle Hebel in Bewegung setzen würde, um irgendwie an die gewünschten Informationen zu kommen. „Mann, ist es hier gruselig“, sagte Sarah, als wir durch das große, eiserne Eingangstor von Morley Manor gingen. Wir stiegen zur Haustür hinauf und traten ein. „Richtig gruselig.“ 12
Ich überlegte, ob ich sie mit einem lauten „Buh!“ erschrecken sollte, entschied mich aber dagegen. Dafür waren zu viele Leute um uns herum. Außerdem hatte ich plötzlich das Gefühl, leise sein zu müssen. Die Zimmer hatten hohe Decken und waren mit dunklem Holz getäfelt, die Türen knarrten genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Das Haus musste einmal sehr schön gewesen sein, aber ich verstand auch, warum jetzt niemand mehr darin wohnen wollte. Anscheinend setzte sich diese hauseigene SchlechtWetter-Zone auch in den Innenräumen fort. Es roch feucht und modrig. Die Tapeten schälten sich ab und hingen in langen Streifen an der Wand, auf den kahlen Stellen hatten sich dunkle Schimmelflecken gebildet. Aber nicht nur das Aussehen machte Morley Manor gruselig. Es war vor allem das Gefühl, das einen dort drinnen beschlich. Ich kann es gar nicht recht festmachen oder beschreiben. Auf jeden Fall konnte man sich ohne Weiteres vorstellen, dass es hier geheime Gänge gab, in denen seltsame Wesen lauerten – Wesen, die einen packten, wenn man so dumm war, sich nach Einbruch der Dunkelheit noch dort aufzuhalten. Es gab so viel Krimskrams, den ich mir gern gekauft hätte: sonderbare kleine Statuen, Kerzenhalter in Teufelsgestalt oder ein Schachspiel mit steinernen Figuren, die aussahen wie einem Albtraum entsprungen. Leider war alles zu teuer, sogar viel zu teuer. Schließlich hatte ich fast mein ganzes Geld vor einigen Tagen für eine neue Serie von Sammelkarten ausgegeben.
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Doch dann entdeckte Sarah etwas, was ich mir vielleicht leisten konnte. Es hing kein Preisschild dran. Herbie Fluke, ein Junge aus meiner Klasse, und ich standen gerade an einer abgesperrten Treppe, an der ein Schild mit der Aufschrift DURCHGANG STRENGSTENS VERBOTEN hing. Gerade als wir überlegten, was wohl passieren würde, wenn wir trotzdem durchgingen, zog Sarah mich am Ärmel und sagte: „Komm mal, Anthony, ich will dir was zeigen!“ Ich kam nicht gleich mit, schließlich sollte Herbie nicht den Eindruck bekommen, dass ich tue, was meine kleine Schwester will. Aber eine Minute später folgte ich ihr dann doch in die Bibliothek. Morley Manor war nämlich wirklich eine richtige, große Villa mit einer eigenen Bibliothek. Die stank nur leider ziemlich, weil die Bücher alle verschimmelt waren, was ich nun wirklich richtig schade fand. „Schau mal!“, sagte Sarah stolz. Auf einem kleinen, runden Tisch lag eine Art Zigarrenkiste. In den Deckel war ein seltsames Muster aus lauter Kreisen eingeritzt. „Die habe ich gar nicht gesehen, als ich vorhin hier drin war“, sagte ich. „Sie war hinter dem Lexikon versteckt.“ Sarah wies mit einem Nicken auf ein Regalfach. „So ein alter Mann, der sich hier Sachen angesehen hat, hat sie mir gezeigt. Ich dachte, vielleicht kannst du sie für deine Sammelkarten gebrauchen.“ Ich schnaubte. „Die würden da ja gar nicht alle reingehen!“ „Weiß ich doch. Aber wenn du sie zu Ausstellungen und zum Tauschen mitnimmst, könntest du die schönsten reintun.“ 15
Sie hatte Recht, aber das wollte ich natürlich nicht gleich zugeben. Ich hob die Kiste also hoch und untersuchte gründlich, ob das Holz auch überall heil war und nirgends faulte. Dann schnupperte ich daran. Ich wollte nichts mitnehmen, was nach Schimmel stank. Zu meiner Überraschung roch das Holz angenehm würzig. „Sie ist abgesperrt“, sagte ich und runzelte die Stirn. „Und? Die kriegst du doch auf.“ Ich glaube manchmal, Sarah denkt, dass ich alles kann – was ja ganz nett ist, aber auch anstrengend, denn sie darf ja nicht merken, dass es nicht stimmt. Nun ja, in diesem Fall hatte sie vermutlich sogar Recht. Irgendwie bekam ich die Kiste bestimmt auf. Ich drehte sie um, um den Preis abzulesen. „Sie hat kein Preisschild“, sagte ich vorwurfsvoll. Sarah verdrehte die Augen. „Dann frag doch nach. Wahrscheinlich kostet sie nicht viel. Du darfst natürlich nicht bezahlen, was die beim ersten Mal verlangen. Bei solchen Flohmärkten wird immer gehandelt.“ „Weiß ich doch!“, sagte ich. Was auch stimmte: Ich wusste es, weil Sarah es mir soeben gesagt hatte. Und ich konnte es ihr auch ruhig glauben: Sarah war zusammen mit meiner Mutter schon auf so vielen Haushaltsauflösungen gewesen, dass sie sich bestens auskannte. Ich betrachtete die Kiste noch einmal. Dann schlug ich vor, dass wir uns zuerst noch ein paar andere Sachen ansahen, hauptsächlich um die Entscheidung ein wenig hinauszuschieben. Sarah war einverstanden. Sie sieht sich gern alten Kram an. Bevor wir gingen, versteckte ich das Kästchen unter dem Schreibtisch, damit es mir kein anderer vor der Nase wegschnappen konnte. 16
Aber als wir weiterbummelten, musste ich die ganze Zeit an die Kiste denken und kam schon bald wieder zu ihr zurück, um sie noch mal genau unter die Lupe zu nehmen. Endlich ging ich damit zu der grauhaarigen Frau, die mit einer Kasse in der Eingangshalle saß. Ich kannte sie nicht. Vielleicht hatte der neue Besitzer extra für den Verkauf jemanden von außerhalb mitgebracht, um sicherzugehen, dass man ihn nicht übers Ohr haute. Oder war sie selbst der neue Besitzer? „Äh … was wollen Sie denn für die klapprige Kiste?“, fragte ich so beiläufig wie möglich. Sie nahm sie mir aus den Händen, betrachtete sie kurz und sagte dann: „Fünf Dollar.“ Fünf Dollar!? Ich unterdrückte nur mit Mühe ein würgendes Geräusch. „Ich biete Ihnen einen Dollar“, sagte ich. Die Frau lachte laut. Ich merkte, wie ich rot wurde. „Zwei Dollar?“, fragte ich. „Vier“, erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Das war immerhin ein Fortschritt. Offenbar hatte Sarah Recht. „Und zwei fünfzig?“, schlug ich vor. Dabei machte ich eine seltsame Feststellung: Jetzt, wo ich ernsthaft versuchte, die Kiste zu kaufen, wollte ich sie auf einmal auch unbedingt haben, so sehr, dass es mir schon fast unheimlich war. Die Frau kniff die Augen zusammen. „Drei fünfzig“, sagte sie entschieden. Tiefer wollte sie nicht gehen. Drei fünfzig war nun zwar viel besser als fünf, aber immer noch schwierig, weil ich nur zwei Dollar und siebenunddreißig Cent dabeihatte. Als ich das merkte, war ich richtig erleichtert, 17
dass die Frau nicht auf meine zwei fünfzig eingegangen war. Ich hätte dann dreizehn Cent zu wenig gehabt und ziemlich blöd dagestanden. Ich wollte schon schnell nach Hause zurücklaufen und meine Oma anpumpen, aber dann hatte ich Angst, jemand könnte die Kiste kaufen, während ich weg war, auch wenn ich sie wieder versteckte. Also machte ich mich auf die Suche nach Sarah. Vielleicht konnte ich mir von ihr was leihen. Ich fand sie in einem der Schlafzimmer. Sie probierte gerade alte Hüte an. „Wie findest du den?“, fragte sie, als ich eintrat. Sie hatte etwas Blaues, Wuscheliges auf dem Kopf, das ihr gar nicht mal schlecht stand. „Bescheuert“, sagte ich wie immer, wenn sie mich so was fragte. Sie schnitt eine Grimasse. „Du nervst, Anthony.“ Das durfte ich natürlich auf keinen Fall, ich wollte ja Geld von ihr leihen. Sie sah die Kiste in meiner Hand. „Hast du sie gekauft?“, fragte sie zufrieden. Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht genug Geld dabei. Wie viel hast du?“ Sie musterte mich misstrauisch. „Ich zahle es dir doch zurück“, sagte ich ungeduldig. „Du schuldest mir noch einen Dollar von letzter Woche.“ „Den hab ich zu Hause. Du hast nicht danach gefragt.“ „Hab ich doch!“ „Ach bitte, ich brauche doch nur einen Dollar und dreizehn Cent.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber ich will mir gern diesen Hut kaufen.“ Der Hut kostete einen Dollar fünfzig und Sarah hatte 18
zwei Dollar. Ich kam mir vor wie vor einer Rechenaufgabe, die ich nicht lösen konnte. „Vielleicht können wir handeln“, sagte Sarah. Die Frau schien nicht gerade erfreut, mich wiederzusehen, also überließ ich Sarah das Reden. So eine süße kleine Schwester hat auch ihre Vorteile. Sarah klapperte mit den Wimpern und bat und bettelte und schon hatte die Frau uns Hut und Kiste für vier Dollar dreißig verkauft. Den ganzen Heimweg über stritten wir uns, wie viel ich Sarah jetzt noch schuldete. Wir hörten erst damit auf, als wir durch die Haustür traten und Mr Perkins mich biss.
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2 Affentheater Mr Perkins ist der Affe meiner Mutter. Mama hat ihn letztes Jahr gekauft, als sie vierzig wurde. Sie sagte, als Kind hätte sie immer einen Affen gewollt, aber ihre Eltern hätten es nicht erlaubt. „Entweder ich bekomme eine Midlife-Crisis oder einen Midlife-Affen“, hatte sie an ihrem vierzigsten Geburtstag zu uns gesagt. „Ich habe mich für den Affen entschieden.“ Mein Vater war zwar nicht übermäßig erfreut, fand einen Affen aber noch besser als eine Midlife-Crisis meiner Mutter. Ich glaube, er befürchtete insgeheim, meine Mutter könnte, wenn sie den Affen nicht bekam, stattdessen noch ein Baby wollen. Na ja, so kamen wir jedenfalls zu Mr Perkins. Ich muss zugeben, dass ich bis zu dem Tag, an dem das kleine Biest bei uns eintraf, glaubte, es sei cool, einen Affen zu haben. Dann brachte Mama ihn nach Hause und ich stellte leider fest, dass Affen laut sind und launisch und dass sie stinken. Und dass sie einem auch gern auf den Kopf pinkeln. Mr Perkins hat das zweimal bei mir gemacht. 21
Als wir vom Morley-Manor-Ausverkauf zurückkamen, hockte Mr Perkins auf dem Kleiderständer, einem seiner Lieblingsplätze. Sobald er uns kommen sah, sprang er herunter und biss mich in den Knöchel. Nicht so stark, dass er die Haut verletzt hätte, denn er weiß genau, wenn er das tut, schmeißt Mama ihn raus. Nein, er biss nur so stark zu, dass ich erschrocken aufschrie und die Zigarrenkiste fallen ließ. Sofort schnappte er sie sich und rannte weg, als wüsste er, dass er mich damit am meisten ärgern konnte. „He!“, brüllte ich. „Bring das zurück!“ Sarah und ich jagten den Affen durchs ganze Haus und machten dabei so viel Lärm, dass nach einer Weile sogar Oma Walker darauf aufmerksam wurde und uns zu Hilfe eilte. Oma Walker ist übrigens die Mutter meines Vaters. Die Mutter meiner Mutter besucht uns nicht mehr, seit Mama den Affen hat. Sie nimmt das persönlich. Zu dritt trieben wir Mr Perkins schließlich hinter dem schweren Lesesessel meines Vaters in die Enge und ich konnte ihm die Kiste abnehmen. „Hoffentlich hat er sie nicht zerkratzt, Mann“, sagte ich wütend und untersuchte das Holz auf äußere Anzeichen von Beschädigung. Doch der Kiste war nichts passiert. Mir fiel ein solcher Stein vom Herzen, dass ich selbst überrascht war. Das einzig Gute an der ganzen Aufregung war, dass Sarah mich danach nicht mehr damit nervte, wie viel Geld ich ihr schuldete – wahrscheinlich weil sie merkte, dass ich so megaschlecht gelaunt war, dass dabei sowieso nichts für sie herausgekommen wäre. Ich nahm die Kiste mit in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Dann holte ich mein Set Miniatur22
schraubenzieher heraus. Opa Walker hatte es mir nur einen Monat vor seinem Tod zum Geburtstag geschenkt. Ich fand diese Miniwerkzeuge total cool und hatte immer mit ihnen gespielt, wenn ich ihn auf der Farm besucht hatte. Er hatte sie für seine Modelleisenbahn gebraucht, doch als seine Hände immer mehr zu zittern begannen, hatte er das Hobby aufgeben müssen. Manchmal denke ich, er hat sie mir vielleicht deshalb geschenkt, weil er spürte, dass er bald sterben würde. Ich packte die Schraubenzieher sorgfältig aus dem schwarzen Stoffbeutel aus, in dem Opa sie aufbewahrte, und untersuchte die Kiste. Wie sollte ich sie öffnen? Ich steckte den kleinsten Schraubenzieher in das Schlüsselloch und wackelte damit hin und her, doch ohne Erfolg. Ich wollte das Schloss möglichst nicht kaputt machen. Vielleicht würde ich dabei auch das Holz beschädigen, und das wollte ich auf keinen Fall. Ich drehte die Kiste herum und untersuchte die Scharniere. Sie waren mit winzigen Schrauben befestigt. Ich versuchte, die Schrauben aufzudrehen. Nichts. Während ich herumwerkelte, wurde die Kiste seltsamerweise immer wärmer. Und mir ging es nicht anders. Mittlerweile war ich so neugierig, ich musste einfach wissen, was da drin war. Nach einer ziemlichen Fummelei hatte ich die Schrauben endlich rausgedreht. Ich löste die Scharniere ab. Aber die verdammte Kiste wollte immer noch nicht aufgehen. Verärgert bohrte ich die Spitze eines etwas größeren Schraubenziehers zwischen Deckel und Kistenwand, um den Deckel hochzuhebeln. Aus Angst, Opas Schraubenzieher abzubrechen, wollte ich schon aufhören, da endlich öffnete sich der Deckel mit einem widerlichen 23
Quietschen etwa einen Zentimeter weit. Und gleichzeitig begann meine Schreibtischlampe zu flackern. Ich überlegte noch immer, ob ich besser aufhören sollte. Doch es war zu spät. Etwas Nebliges quoll aus der Kiste und ein grünliches Leuchten flackerte durch den Spalt. Plötzlich fuhr mir ein Kribbeln wie von einem Stromschlag durch die Finger. „Autsch!“, brüllte ich. Ich ließ die Kiste los und der Deckel schlug so schnell zu, als sei er von innen angesaugt worden. Was war das? Zwischen Schrecken und unbezähmbarer Neugier hin- und hergerissen, starrte ich die Kiste an. Endlich fasste ich mir ein Herz, streckte die Hand aus und klopfte ganz kurz mit der Fingerspitze dagegen. Dann zog ich meine Hand sofort wieder zurück. Nichts geschah. Ich wagte noch einen Versuch. Wieder nichts. Die Kiste muss sich irgendwie statisch aufgeladen haben, dachte ich. Ganz war ich allerdings nicht davon überzeugt. Ich beschloss, erst mal was zu essen und alles andere hinauszuschieben. Ein Teil von mir wollte die Kiste gar nicht mehr aufmachen, der andere brannte darauf zu sehen, was sie enthielt. Und meine beinahe größte Befürchtung war, der Inhalt der Kiste könnte völlig uninteressant sein. Ich aß also zu Mittag und sah dann mit Sarah ein paar Zeichentrickfilme im Fernsehen. Das macht echt Spaß, Sarah kann man immer so gut damit ärgern, wenn man sagt, wie blöd die Handlung von Scooby-Doo ist. Zwei Stunden später kehrte ich in mein Zimmer zurück. Es ist doch nur eine Kiste, verdammt noch mal!, schimpfte ich in Gedanken. 24
Trotzdem war ich ziemlich aufgeregt, als ich mich an einen weiteren Öffnungsversuch wagte. Der Deckel knarrte, als ich ihn hochstemmte, aber diesmal gab es keinen Nebel und auch keinen Stromschlag. Ich sah zwar das grüne Leuchten wieder, doch es verschwand, sobald ich den Deckel ganz offen hatte. Und unter dem Deckel kam … ein zweiter Deckel zum Vorschein! Er bestand aus einem etwas helleren Holz und hatte auf beiden Seiten kleine runde Griffe. In seiner Mitte war ein Kreis gemalt und darin stand in dicken, schwarzen Buchstaben: MARTIN MORLEYS KLEINE MONSTER. Darunter stand in ganz kleinen Buchstaben: WENN DU DIESE KISTE ÖFFNEST, KOMMT MEIN FLUCH ÜBER DICH. „Ist ja gut“, murmelte ich. Mumie Morley schien noch verrückter gewesen zu sein als allgemein angenommen. Ich nahm den zweiten Deckel ab. Ein bewundernder Pfiff entfuhr mir. Die Kiste war in fünf Fächer unterteilt und in jedem Fach lag eine metallene Figur in Gestalt eines winzigen Monsters. Drei schienen männlich zu sein, zwei weiblich. Sie waren alle mit sehr viel Liebe zum Detail gearbeitet – und sahen ziemlich schräg aus. Auf dem Boden jedes Faches klebte ein Namensschild. Ich musste es erst mit einem Taschentuch blank reiben, bevor ich die Namen lesen konnte. Den Schildern zufolge hießen die Monster Gaspar, Albert, Ludmilla, Melisande und Bob.
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„Komische Monster-Namen“, murmelte ich verdutzt und nahm Gaspar heraus. Zumindest nahm ich an, dass es sich um Gaspar handelte. Vielleicht hatte ja der, der vor mir mit den Monstern gespielt hatte, die Figuren wieder falsch einsortiert. Die Figur war gut zehn Zentimeter groß. Sie hatte einen Kopf wie eine Eidechse und einen muskulösen, menschenähnlichen Körper. Über ihren Schädel lief ein gezackter Kamm und verschwand hinten unter dem Kragen eines Laborkittels. Ein langer, kräftiger Schwanz ragte hinten aus der Hose hervor. Das Monster schien aus massivem Messing gefertigt und fühlte sich auch so an. Ich alberte ein Weilchen mit ihm herum und ließ es über den Schreitisch hüpfen und fauchen und so. Dann stellte ich es auf den Rand der Kiste und nahm die nächste Figur heraus, Albert. Albert war zwei Zentimeter kleiner als Gaspar und sah aus wie der typische Gehilfe eines verrückten Wissen26
schaftlers – ein buckliges Männchen mit zotteligen Haaren und grimmig verkniffenem Gesicht. Er hatte die Hände ausgestreckt, als wollte er etwas packen, und war gleichsam mitten in der Bewegung erstarrt. Ein großer Könner musste ihn gemacht haben. Auf den Rücken des groben Kittels war sogar ein zusätzlicher Flicken aufgenäht, um Platz für den Buckel zu schaffen. Alles bestand aus Messing, wirkte aber sehr realistisch. Ohne Albert aus der Hand zu legen, betrachtete ich die anderen Figuren. Ludmilla war wohl eine Vampirdame. Sie trug einen Umhang und hatte große Augen und über die Unterlippe ragten lange Eckzähne. Melisande hatte Schlangen als Haar – reizend. Bob sah aus wie ein Wolfsmensch – eine menschliche Gestalt mit einem zähnefletschenden Wolfsgesicht, das aber trotzdem irgendwie niedlich wirkte. Er stand leicht geduckt da, als wollte er sich auf jemanden stürzen. Alle fünf Monster waren verblüffend fein gearbeitet. Melisandes Gesicht zum Beispiel war mit ganz kleinen, zarten Schuppen bedeckt und sie trug ein hautenges Abendkleid, das ebenfalls geschuppt schien. Womöglich war der Inhalt der Kiste ja wertvoller, als ich gedacht hatte? Ich wollte Albert gerade neben Gaspar stellen, um mir Ludmilla noch einmal näher anzusehen, da kreischte Sarah: „Anthony! Hilfe!“ Ihre Stimme kam aus dem Bad. Ich stürzte aus meinem Zimmer und rannte den Flur entlang. Die Badezimmertür stand halb offen. Ich hörte das Wasser laufen und wütendes Geschnatter. Ich stöhnte. Sarah versuchte mal wieder, Mr Perkins zu baden! „Du steigst sofort wieder in die Badewanne!“, befahl sie dem Affen, als ich durch die Tür trat. 27
Auf dem Boden hatte sich bereits ein riesiger See gebildet. Auch Sarah war pitschnass und Haarsträhnen klebten ihr an der Stirn. Der tropfnasse Mr Perkins klammerte sich zischend und kreischend um ihren Hals. Schade war nur, dass er sie nicht biss und wohl auch nicht beißen würde, egal wie wütend er war. Mich beißt er aus purer Bösartigkeit. Meine doofe Schwester dagegen konnte ihm einen Knoten in den Schwanz machen, ohne dass er ihr auch nur die Haut ritzte. „Anthony!“, rief Sarah wieder. „Hilfe!“ Was erwartete sie eigentlich von mir? Sollte ich etwa Mr Perkins baden? Wenn ich den Affen auch nur berührte, würde er mich zerfleischen! Da bemerkte ich, dass ich Albert immer noch in der Hand hielt. Ich stellte ihn auf dem Toilettenkasten ab und machte einige scheuchende Handbewegungen, als wollte ich Sarah helfen. Doch so richtig ins Zeug legte ich mich nicht, zumal Mr Perkins sich mir plötzlich zuwandte und seine fiesen kleinen Eckzähne bleckte. Ich weiß wirklich nicht, was meine Mutter sich dabei gedacht hat, als sie ihn kaufte. Wie sich herausstellte, brauchte Sarah meine Hilfe gar nicht wirklich. Schon eine Minute später hatte sie Mr Perkins von ihrem Hals losgemacht und wieder in die Badewanne gesteckt. Es war, als hätte sie einen Mixer eingeschaltet. Wasser spritzte in alle Richtungen. Als wir Mr Perkins endlich das Fell gewaschen und abgetrocknet hatten – ich half beim Abtrocknen, weil er mich durch das dicke Handtuch nicht beißen konnte – bemerkte ich, dass einige Tropfen auf Alberts Hand gespritzt waren. Ärgerlich wies ich Sarah darauf hin, und sie wollte gleich wissen, woher ich das kleine Monster 28
hatte. Ich zeigte ihr das ganze Set und Sarah fand es ziemlich cool. Am Abend passierten noch zwei sonderbare Dinge; das erste nach dem Abendessen, als wir beim Aufräumen in der Küche halfen. Oma hatte die Zeitung gelesen und sie auf dem Tisch liegen lassen. Sarah warf einen Blick darauf und packte mich am Arm. „Anthony!“, flüsterte sie aufgeregt. „Das ist er!“ „Wer?“, fragte ich. „Von wem sprichst du?“ „Von dem da“, sagte sie und zeigte auf die Zeitung. „Das ist der alte Mann, der mir die Kiste gezeigt hat, die du heute gekauft hast!“ Ich nahm die Zeitung. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Die Zeitung war schon einige Tage alt und in dem Artikel wurde die Verkaufsveranstaltung in Morley Manor angekündigt, zu der wir heute gegangen waren. Und das Bild? Darunter stand: „Martin Morley, der kürzlich verstorbene Besitzer von Morley Manor.“ „Du spinnst“, sagte ich. „Der ist doch tot.“ „Mag sein“, erwiderte Sarah, „aber ich schwör dir, ich habe ihn heute gesehen.“ Sie sah ganz schön fertig aus. Ich glaubte ihr nicht. Ich wollte ihr nicht glauben. Aber es ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und als ob das noch nicht reichte, passierte beim Zubettgehen etwas noch Merkwürdigeres. Ich hatte die Hand von Albert, die nass geworden war, schon wieder ganz vergessen, wollte aber vor dem Schlafengehen noch einen Gutenacht-Blick auf die Monster werfen. Da sah ich, dass die Hand die Farbe gewechselt hatte. Das Messing hatte einen dunklen, fleischfarbenen Ton angenommen. 29
Ich wurde stinksauer, weil ich dachte, das Wasser hätte das Material, aus dem Albert gemacht war, irgendwie beschädigt. Vorsichtig wollte ich den Schaden untersuchen. Doch kaum hatte ich die Hand berührt, zuckte ich wie vom Blitz getroffen zurück und meine Wut schlug in Angst um. Die Hand des kleinen Monsters fühlte sich nicht mehr metallisch hart an, sondern weich … und warm … wie aus Fleisch und Blut! Ich packte Albert und hielt ihn mir dicht vor die Augen. Zu meinem Entsetzen begannen seine Finger sich zu bewegen.
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3 Samstagabendbad Ich warf das Ding in die Kiste zurück, schlug den Deckel zu und verriegelte ihn. Dann legte ich die Kiste in die unterste Schublade meines Schreibtischs, machte die Schublade zu und schloss sie ebenfalls ab. Dort blieb sie allerdings nicht lange. Das brachte ich nicht fertig. Ich versuchte ja zu schlafen, aber ich konnte nicht, weil ich ständig an die kleine Hand denken musste, die sich suchend ausgestreckt hatte. Furchtbar – allerdings nicht so furchtbar wie die Vorstellung, ein lebendiges Wesen in versteinertem Zustand in meinem Schreibtisch eingeschlossen zu haben. Ein Wesen, das ich nur durch ein paar Tropfen Wasser zum Leben erwecken konnte. Wenn Mr Perkins die Figur nicht nass gespritzt hätte und ich nicht gesehen hätte, wie die Hand sich bewegte, hätte ich von alldem nichts gewusst und alles wäre in Ordnung. Aber jetzt wusste ich es nun einmal, und weil ich es wusste, hatte ich das Gefühl, etwas tun zu müssen. Mit dem Wissen, eine erstarrte Person im Schreibtisch zu haben, kann man doch nicht leben. Leider war die Vorstellung, die erstarrte Person vollends zum Leben zu erwecken, auch ziemlich beunruhi31
gend. Vielleicht hatte man sie ja aus gutem Grund in eine Statue verwandelt. Um was für eine Art von Monster handelte es sich überhaupt? Nun, zumindest um ein ziemlich kleines, so viel stand fest. Es konnte mich jedenfalls nicht in Stücke reißen. So überlegte ich eine Stunde lang hin und her und stieg dann aus dem Bett, schlüpfte in meinen Bademantel und ging zum Schreibtisch. Ich holte die Kiste heraus und öffnete sie. Alberts Finger bewegten sich immer noch. Sie ballten sich zur Faust und öffneten sich wieder, ein Stück lebendiges Fleisch, das an einer leblosen Figur aus Metall hing. Ich holte tief Luft, dann flüsterte ich: „Also gut, Kumpel, tauen wir dich auf.“ Ich steckte Albert in die Tasche meines Bademantels und trat in den Flur. Alles war dunkel und still. Hoffentlich schlief Mr Perkins und lauerte nicht in einem Versteck darauf, mir auf den Kopf zu springen und mich vollzupinkeln. Auf halbem Weg durch den Flur hielt ich an und kehrte zu Sarahs Zimmer zurück. Vor ihrer Tür blieb ich stehen und überlegte, ob ich sie wecken sollte. Einerseits wollte ich alles allein erleben. Andererseits war es vielleicht doch gut, jemanden dabeizuhaben, für den Fall, dass die Lage außer Kontrolle geriet – und um doch nicht alles allein erleben zu müssen. Außerdem ist es in Situationen, die mich in Schwierigkeiten bringen könnten, immer besser, Sarah dabeizuhaben, weil meine Eltern irgendwie weniger wütend sind, wenn sie dabei ist. Also klopfte ich an und machte die Tür auf. „Sarah!“, zischte ich. „Wach auf!“ Sarah stöhnte. „Was willst du denn, Anthony?“ Sie 32
wacht nicht gerne auf, vor allem nicht mitten in der Nacht. „Ich muss dir was zeigen.“ Erschrocken fuhr sie hoch und mir fiel ein, dass ich das letzte Mal, als ich sie geweckt und diese Worte zu ihr gesagt hatte, eine Schlange auf ihr Bett geworfen hatte. „Nein, etwas ganz anderes“, sagte ich ungeduldig. Ich machte ihre Nachtischlampe an und stellte Albert in den Lichtkegel. Sarah zuckte zusammen, als sie sah, wie die kleinen Fingerchen sich bewegten. Mit dem Rücken an die Wand gedrückt, flüsterte sie: „Das ist echt gruselig, Anthony.“ Sie erschauerte. „Wie ist das passiert?“ „Als er nass wurde. Ich mache jetzt auch den Rest von ihm nass.“ Sarah packte mich am Arm. „Willst du das wirklich tun?“ „Ich muss. So kann ich ihn nicht lassen.“ „Vielleicht hat ihn jemand absichtlich in eine Statue verwandelt“, sagte Sarah, vernünftig wie immer. „Vielleicht ist er ein böser Geist.“ „Oder der, der ihn verwandelt hat, war böse.“ Sarah überlegte. Sie ist nicht nur gern vernünftig, sondern hat auch schnell Mitleid. Wahrscheinlich wird sie in einem Jahr Vegetarierin sein. „Wie sollen wir das herausfinden?“ „Indem wir ihn auftauen.“ „Und wenn er nun wirklich böse ist?“ „Dann zerquetschen wir ihn!“ Ich sagte das mit mehr Überzeugung, als ich in Wirklichkeit hatte. In einer kurzen Vision sah ich Albert fliehen und sich in einem dunklen Winkel verstecken und 33
dann nachts heimlich herauskommen und uns quälen. Gerade wollte ich meine Meinung ändern und ihn doch nicht auftauen, da sagte Sarah: „Okay, dann machen wir es!“ Sie schlüpfte aus dem Bett und nahm eine Taschenlampe vom Nachttisch. Früher hatten wir beide eine Taschenlampe, aber ich habe meine verloren. Auf Zehenspitzen schlichen wir durch den Flur zum Badezimmer, obwohl das eigentlich unnötig war. Oma Walker hört so schlecht, dass wir vermutlich hätten trampeln können, ohne sie aufzuwecken. Im Schein von Sarahs Taschenlampe sah ich, dass Albert nach wie vor die Hand auf und zu machte. „Und jetzt?“, fragte Sarah im Badezimmer. „Wir machen ihn nass“, antwortete ich. Ich sah Albert an und fügte hinzu: „Sollen wir ihn nass spritzen oder in Wasser eintauchen?“ Sarah überlegte. „Eintauchen“, sagte sie schließlich. „Es wäre ja wohl zu krass, wenn nur lauter Punkte seines Körpers lebendig würden. Vielleicht auch gefährlich, ich meine für ihn.“ Ich wusste auch nicht, wie man ein Monster auf medizinisch korrekte Art wiederbelebte, beschloss aber, dass Sarah Recht hatte. Also ließen wir das Waschbecken volllaufen. Ich tauchte Albert ins Wasser und wollte ihn eigentlich gleich wieder herausnehmen. Aber kaum war er untergetaucht, begann das Wasser wie wild zu brodeln und spritzte über den Rand wie bei einer heftigen chemischen Reaktion. Ich ließ Albert los und sprang mit einem Entsetzensschrei zurück. Das Waschbecken begann gespenstisch grün zu leuchten. 34
Sarah drückte sich an mich und ausnahmsweise stieß ich sie nicht weg. Ein paar Sekunden später beruhigte sich das Wasser wieder und eine kleine Hand tauchte auf. „Er ertrinkt!“, flüsterte Sarah aufgeregt. „Du musst ihn retten, Anthony!“ Ich machte einen Schritt auf das Waschbecken zu, aber da kletterte Albert bereits auf den Beckenrand. Er schüttelte den Kopf und Wassertropfen spritzten in alle Richtungen. Dann stand er auf, sah sich um, kratzte sich am Kopf und sagte: „Oje, in was hat der Master mich da reingeritten?“ Er ging den Rand entlang. „Seltsame weiße Straße“, murmelte er. Ich räusperte mich. Albert hob den Kopf und erblickte mich und Sarah. „Hilfe!“, kreischte er. „Monster!“ Schon war er wieder im Wasser. Ich eilte zum Waschbecken und sah hinein. Albert tauchte zum Boden des Beckens hinunter und klammerte sich am Stöpsel fest. Ich sah ihm einen Moment lang tatenlos zu, doch dann, als ich fürchtete, er könnte ertrinken, langte ich hinein und holte ihn heraus. Er hämmerte mit den Fäusten gegen meine Finger und ich rechnete damit, dass er mich gleich biss, damit ich ihn losließ. Wahrscheinlich dachte ich das nur, weil ich es von Mr Perkins so gewöhnt war. Albert biss mich nicht. Er drehte und wand sich nur wie ein durchgedrehtes Eichhörnchen und schrie: „Lass mich los, du Grobian! Ich habe dir doch nichts getan.“ „He“, sagte ich beruhigend, „ich tu dir doch auch nichts. Ich habe dich aufgetaut, okay?“ 35
Er starrte mich an und auf seinem Gesicht wechselten sich in rascher Folge Überraschung, Verstehen, Wut, Angst und wieder Verstehen ab. „Aha“, sagte er schließlich. „Dann haben wir jetzt wohl ein kleines Problem.“ Er blickte zu mir auf und fragte misstrauisch: „Wer bist du überhaupt?“ „Ein Kind.“ Er riss die Augen auf. „Warum bist du dann so groß?“ „Warum bist du so klein?“, fragte ich zurück. Wir starrten einander an. Ich war ja wirklich nicht besonders groß. Sonst hätte ich mit Ralph Mangram in der Schule nicht so viele Probleme gehabt. Aber verglichen mit Albert natürlich … Ich hatte mir zuerst vorgestellt, der kleine Kerl sei aus irgendeinem Grund geschrumpft, aber jetzt fragte ich mich, ob er vielleicht aus einer anderen Welt kam. Vielleicht war er immer so klein gewesen und wir Menschen waren im Vergleich dazu Riesen! 36
„Lässt du mich bitte runter?“, fragte er leise. Ich setzte ihn auf den Rand des Waschbeckens und kniete mich hin, sodass unsere Gesichter sich auf gleicher Höhe befanden. Sein Kopf war ungefähr so groß wie mein Auge. Sarah kniete sich neben mich. „Wo kommst du her?“, fragte sie. „Ursprünglich aus Brooklyn“, sagte Albert. „Brooklyn?“, fragte ich. „Ja, Brooklyn, New York. Danach habe ich eine Weile in Transsilvanien gelebt.“ Na gut, das war beides auf der Erde. Damit war die andere Welt vom Tisch. „Und wo bin ich jetzt?“, fragte Albert. Er klang besorgt. „In Fox Hill in Nebraska“, sagte Sarah stolz. Albert riss die Augen auf. „Aber da wohne ich doch!“ Er schluckte. „Seid ihr … Seid ihr etwa Riesen?“ Sarah und ich schüttelten die Köpfe. Albert setzte sich in den Schneidersitz und ließ die Schultern hängen. Sein Buckel war jetzt fast so hoch wie sein Kopf. „Man hat mich geschrumpft!“, stöhnte er. Er klang restlos deprimiert, was ich gut verstand. Plötzlich sprang er auf. „Wo sind die anderen?“ „In der Kiste“, sagte ich. „Kiste?“ „In der Kiste, in der du auch warst“, erklärte Sarah. „Dann holt sie her! Wir müssen überlegen, wie wir unsere normale Größe wiedererlangen können.“ Er sah sich um. „Oder wartet mal, was für ein Jahr haben wir? Es ist doch das Jahr 1948?“ Der Ton, in dem er fragte, ließ schon vermuten, dass er selbst nicht daran glaubte. Aber als ich ihm sagte, dass er über fünfzig Jahre danebenlag, schrie er los. 37
„Das hat Martin getan! Ich wusste, dass er nichts Gutes im Schilde führte. Schnell, wir müssen unbedingt die anderen wecken!“ „Warum so eilig?“, fragte ich. Ich war nicht unbedingt erpicht darauf, fünf kleine Monster am Hals zu haben. Albert drückte sich vom Waschbecken ab, hielt sich an der Vorderseite meines Schlafanzugs fest und kletterte meine Brust hinauf wie ein Matrose die Takelage. Ich wollte ihn abstreifen, aber er war zu stark. Schon war er bei mir auf der Schulter, steckte seinen Kopf in mein Ohr und brüllte: „Weil die anderen meine Familie sind und keine Kistenzwerge bleiben sollen! Außerdem bin nicht ich der strategische Kopf. Wir brauchen Gaspar und Ludmilla. Jetzt holt sie schon!“ Wow! Und ich dachte, Mr Perkins sei anstrengend. Wir eilten durch den Flur, um die anderen zu holen. Albert saß in der linken Tasche meines Bademantels. Sarah ging auf der anderen Seite neben mir und zupfte mich am Ärmel. „Meinst du echt, wir sollen das tun, Anthony?“, flüsterte sie. „Wahrscheinlich sollten wir das auf gar keinen Fall tun“, sagte ich. „Andererseits haben wir noch nie ein solches Abenteuer erlebt. Und Albert können wir sowieso nicht von seinem Vorsatz abbringen. Und selbst wenn …“ Ich verstummte und Sarah nickte. Wir dachten beide das Gleiche: Diese kleinen Monster waren jetzt schon seit über fünfzig Jahren gefroren oder versteinert oder was auch immer. Es war wirklich Zeit, sie aufzutauen. In meinem Zimmer stellte ich Albert auf den Schreibtisch. Er eilte zu der Kiste. „Master!“, rief er erschrocken und sah Gaspar an. „Master, was hat dieser Wahnsinnige mit Ihnen gemacht?“ 38
„Dann hat er also nicht immer so ausgesehen?“, fragte ich und nahm das Monster mit dem Eidechsenkopf in die Hand. „Sein Aussehen ist mir egal, Dummkopf“, sagte Albert. „Das können wir ändern. Viel mehr Sorgen macht mir, dass er so klein ist und so starr.“ Er ging an der Kiste entlang und blickte in die anderen Fächer. „Arme Melisande“, seufzte er. „Arme Ludmilla. Sie schlafen seit über fünfzig Jahren.“ „Sie sind beide keine Dornröschen“, bemerkte ich. „Es kommt auf die inneren Werte an“, erwiderte Albert unwirsch. Er trat vor das letzte Fach mit dem Wolfsmenschen. „Armer Bob“, sagte er und tätschelte der Figur den Kopf. „So viele Jahre in dieser schrecklichen Gestalt eingesperrt.“ „Er hat also auch nicht immer so ausgesehen?“, fragte Sarah. Albert schüttelte den Kopf. „Nur gelegentlich. Er ist ein Wer.“ „Ein was?“, fragte ich. Dann fiel der Groschen. „Ach so, du meinst ein Werwolf?“ „Ja, so ungefähr“, erwiderte Albert. „Schluss jetzt mit dem Gerede. Wecken wir sie auf.“ Ich legte Gaspar in sein Fach zurück und nahm die Kiste in die Hand. Dann kehrte ich mit Albert auf der Schulter und Sarah an meiner Seite ins Badezimmer zurück. Es war Monsterstunde.
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4 Die Familie Morleskjewitsch Schon bei Albert hatte das Waschbecken gebrodelt wie ein Wasserkocher. Vier Monster auf einmal verwandelten es in einen wahren Geysir. Das Wasser spritzte in alle Richtungen, sogar bis zur Decke hinauf, und verpasste mir und Sarah eine ordentliche Dusche. Wie zuvor leuchtete es gespenstisch grün. Dann hörte das Brodeln auf, das Leuchten verging und vier hustende und spuckende kleine Monster stiegen aus dem Becken. Sie waren nass, zerzaust und vollkommen verwirrt, aber auch außer sich vor Freude, als sie einander sahen. „Melisande!“, rief Ludmilla. „Ludmilla!“, rief Melisande. Sie umarmten und drückten sich. Dann hob Melisande den Kopf und erblickte mich und Sarah. Die Schlangen auf ihrem Kopf begannen sich erschrocken zu winden und sie schrie auf. Für ihre Größe schrie sie erstaunlich laut. Ein Schrei antwortete ihr. Offenbar war Mr Perkins im Flur unterwegs. Ob er Melisande für einen zweiten Affen hielt? Vorsichtshalber machte ich die Badezimmertür zu. Die anderen Monster hatten auf Melisandes Schrei hin 40
ebenfalls aufgesehen und drängten sich mit aufgerissenen Augen aneinander – das heißt alle bis auf Gaspar, der Typ mit dem Eidechsenkopf. Er schloss nur die Augen und seufzte tief. Trotz Alberts Versicherungen, Sarah und ich seien Freunde, brauchten Ludmilla und Melisande eine Weile, bis sie sich beruhigt hatten. Anschließend stellte Albert zuerst Sarah und dann mich vor. „Die beiden haben uns entzaubert“, sagte er. Er klang dankbar und verwirrt. Gaspar sah uns an und verbeugte sich tief. Er war ganz offensichtlich nicht gewöhnt, sich zu verbeugen, denn er stieß mit der Nase am Waschbecken an. Sofort richtete er sich wieder auf, glättete seinen Labormantel und tat, als sei nichts passiert. Mit einer tiefen Stimme sagte er: „Meinen aufrichtigen Dank dafür, das ihr mich und meine Familie aus unserem Gefängnis befreit habt.“ Eine lange Zunge erschien züngelnd zwischen seinen Lippen. Auch Albert hatte von einer Familie gesprochen. „Also ihr seid alle miteinander verwandt?“, fragte ich. Gaspar lächelte ein ziemlich schreckliches Lächeln mit schrecklich vielen Zähnen. „Nun ja, Albert streng genommen nicht – er arbeitet allerdings schon so lange für mich, dass er praktisch zur Familie gehört. Aber Ludmilla und Melisande sind meine Schwestern. Und Bob ist unser treuer Hund.“ „Hund?“, rief Sarah. „Ich dachte, Werwolf!“ Gaspar machte ein ekelhaftes, zischendes Geräusch. Dann merkte ich, dass er lachte. „Bob ist ein Wermensch“, erklärte er. „Er ist meist ein Cockerspaniel. Nur bei Vollmond verwandelt er sich in eine Art Mensch. Dabei erschreckt er sich jedes Mal furchtbar.“ 41
Bob winselte zustimmend. Gaspar strich sich nachdenklich über seinen länglichen Kopf. „Hm, offenbar ist heute Vollmond, sonst hätte Bob seine normale Gestalt angenommen. Glaube ich zumindest. Es ist schwer zu beurteilen, inwiefern das, was wir durchgemacht haben, seine Verfassung beeinflusst hat.“ „Warum seid ihr so klein?“, fragte Sarah. Gaspar riss die Augen auf. „Verrat!“, rief er und hob die geballte Faust. „Heimtückischer Verrat. Es war das Werk meines Bruders Martin. Er hat uns verkleinert.“ „Hat er euch auch in Monster verwandelt?“, fragte ich. „Aber nein!“, zischte Melisande. Nicht ihr Mund hatte gesprochen, sondern die Schlangen auf ihrem Kopf. „Dassss waren wir sssselbsssst! Allerdingssss gefällt dassss Wort Monsssster unssss nicht. Wir ssssagen lieber … anderssss.“ „Ihr wolltet also Mon … äh … anders sein?“, fragte Sarah erstaunt. Ludmilla zeigte lächelnd ihre spitzen Zähne. „Wir hielten es damals für eine gute Idee.“ Ihre ein wenig fremdartig klingende Aussprache erinnerte mich stark an Bela Lugosi in Dracula. Da keiner der anderen diesen Akzent hatte, obwohl Ludmilla angeblich ihre Schwester war, überlegte ich, ob sie den Akzent einfach schick fand und ihn nur vortäuschte oder ob er mit ihrer Verwandlung zum Vampir zusammenhing. Bob setzte sich und versuchte, sich mit dem Fuß hinter dem linken Ohr zu kratzen, was ihm allerdings nicht gelang. Melisande tätschelte ihm mitfühlend den Kopf und erledigte dann das Kratzen für ihn. „Wisst ihr, wo unser arglistiger Bruder sich aufhält?“, fragte Gaspar und seine gespaltene Zunge züngelte zwi42
schen seinen dünnen Lippen hin und her. „Wir sind wieder frei und haben noch eine Rechnung zu begleichen. Wir müssen …“ Albert zerrte an seinem Mantel. „Hören Sie zu, Master, ich muss Ihnen was sagen.“ „Was denn?“, fragte Gaspar ungeduldig. „Wir haben über fünfzig Jahre geschlafen.“ Gaspar warf den Kopf zurück und zischte wütend. Er ballte die Fäuste und hob sie drohend zur Decke und sein dicker Schwanz schlug unruhig hin und her. „Was für eine Niedertracht!“, rief er. „Jetzt sagt alle Welt: ‚Du warst ein Narr, Gaspar, ein Narr, deinem falschen Bruder zu vertrauen.’“ Beinahe hätte er das Gleichgewicht auf dem Waschbeckenrand verloren. Plötzlich hielt er inne. „Ethel! Was ist mit Ethel?“ „Bitte, Master“, sagte Albert, „regen Sie sich nicht auf.“ „Wer ist Ethel?“, fragte Sarah. Gaspar ließ die Hände fallen. Seine Brust hob und senkte sich heftig. „Darüber will ich nicht sprechen.“ Er kniff die Augen zusammen. „Lebt Martin noch?“ Ich zögerte, weil ich nicht wusste, wie er die Nachricht aufnehmen würde. „Also?“, wollte er wissen. „Also“, sagte ich, „wenn Martin der Typ ist, den wir die Mumie Morley nannten, dann ist er vergangenen Monat gestorben.“ Gaspar zischte wieder. „Wir können uns also nicht von ihm verabschieden und alte Wunden können nicht mehr heilen. Was ist die Welt doch für ein Jammertal!“ Er straffte sich und erklärte: „Wir müssen so bald wie möglich zum Haus zurückkehren!“ „Warum?“, fragte Sarah. 43
„Weil wir nur dort wieder großßßß werden können“, zischten die Schlangen auf Melisandes Kopf und krümmten sich erregt. „Nur dort?“, fragte ich beklommen. „Völlig richtig“, sagte Gaspar. Er klang fest entschlossen. „Alles, was wir brauchen, befindet sich in meinem Labor – die wissenschaftlichen Instrumente sowie die Zutaten für meine Zauberkunst.“ „Sie arbeiten mit Wissenschaft und Zauberei?“, fragte Sarah. „Warum überrascht dich das?“, fragte Ludmilla und zeigte ihre Eckzähne. Sarah zuckte die Schultern. „Weiß nicht. Finde ich irgendwie seltsam.“ „Sarah hat Recht“, sagte ich, was ich, glaube ich, fast noch nie gesagt hatte. „In Filmen wird immer entweder Wissenschaft oder Zauberei verwendet, aber nicht beides zusammen.“ Gaspar seufzte, als sei der Streit schon alt. „Welch engstirniges Denken“, sagte er. „Aber die Menschen stecken natürlich immer alles gern in Schubladen.“ Ich erzählte ihm besser nicht, dass ich ihn selbst noch wenige Stunden zuvor in eine Schublade gesteckt hatte. „Genauso gut könnte man behaupten, ein Künstler solle entweder Maler oder Bildhauer sein, aber nicht beides“, fuhr er fort. „Aber welches Gesetz verbietet das? Die alten Griechen haben ihre Statuen auch angemalt.“ Ich sah ihn überrascht an. „Wirklich? Ich habe Bilder von solchen Statuen gesehen und die waren alle nicht bemalt.“ „Die Farbe ist abgegangen“, erklärte Gaspar barsch. Er fuhr sich mit der Zunge über die scharfen, kleinen Zähne, was ihn sehr gefährlich aussehen ließ. 44
Ich beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. „Es geht doch darum“, sagte er ruhiger, „dass man sich in seinen Möglichkeiten nicht selbst beschneidet.“ „Aber jetzt“, sagte Albert, „geht es vor allem darum, dass wir nach Morley Manor zurückkehren müssen, wenn wir je wieder groß werden wollen, Master.“ Gaspar legte Albert die Hand auf die Schulter ohne Buckel. „Du hast wie immer Recht, alter Freund.“ Ich warf Sarah einen nervösen Blick zu und sagte: „Das wird schwierig werden.“ „Natürlich wird es das“, erwiderte Gaspar müde. 45
„Aber so ist das Leben. Alles ist schwierig. Was ist es denn diesmal?“ Sarah sagte es ihm – „Morley Manor wird morgen Vormittag abgerissen!“ – und die fünf kleinen Monster reagierten mit einem Tumult. Melisandes Schlangen bekamen einen Zischanfall, Ludmilla verwandelte sich in eine nur wenige Zentimeter große Fledermaus, die herumschwirrte wie eine Motte um eine Kerze, und Gaspar legte in tragischer Heldenpose den Arm an die Stirn. Dann bog er den Kopf in den Nacken und rief: „Oh, grausame Welt ohne Erbarmen! Dass einem die Heimat so schnell genommen wird! Macht das Böse denn nie Pause? Muss es unablässig sein schmutziges Werk verrichten?“ „Keine Sorge, Master, Ihnen fällt schon was ein“, sagte Albert. Im selben Moment begann Bob ganz erbärmlich zu winseln. „Schluss jetzt!“, rief Sarah schließlich. „Wenn es so wichtig ist, bringen wir euch noch heute Nacht zurück.“ „Ach, echt?“, fragte ich überrascht. „Wir müssen, Anthony“, sagte Sarah ernst. „Sie brauchen unsere Hilfe.“ Sie hatte Recht. Heute Nacht war für die Monster die letzte Gelegenheit, ihre ursprüngliche Größe wiederzuerlangen. Andererseits wusste ich nicht, ob das so erstrebenswert war. Sollten in Fox Hill wirklich fünf ausgewachsene Monster herumlaufen? Gaspar schien meine Gedanken zu lesen. „Es ist für uns nicht nur die einzige Möglichkeit, unsere ursprüngliche Größe wiederzuerlangen“, sagte er. „Wir können auch nur in unserer vollen Größe nach Hause zurückkehren.“ 46
„Haargenau.“ Melisandes Schlangen zischten zustimmend. Ich war verwirrt. „Ich dachte, ihr wohnt hier, also in Fox Hill. Oder wollt ihr in eure Zeit zurückkehren, ins Jahr 1948?“ „Nein, in unsssser anderessss Zzzzuhausssse“, zischten Melisandes Schlangen. „Hinter der Sternentür.“ „Was für eine Sternentür?“, fragte Sarah. „Das ist jetzt egal“, sagte Gaspar unwirsch und warf Melisande einen finsteren Blick zu. „Wenn wir nicht nach Morley Manor zurückkehren, bevor es abgerissen wird, bleiben wir klein. Für immer.“ „Und dann müssen wir bei euch bleiben“, fügte Ludmilla hinzu, die sich wieder in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelt hatte. Sie leckte sich die Lippen und grinste auf eine Art, bei der mir sehr unwohl wurde. Ihr Grinsen gab den Ausschlag. So cool es sein mochte, die Monster eine Zeit lang dazuhaben, eine Dauerlösung konnte das nicht sein. Wer wusste schon, wie lange Ludmilla sich beherrschen konnte? Aber sosehr ich ihnen auch helfen wollte – vom Loswerden ganz zu schweigen –, bei dem Gedanken, sie könnten ihre volle Größe wiedererlangen, war mir immer noch ein wenig unbehaglich zumute. „Äh … Aber wenn wir euch dabei helfen, dann fresst ihr uns auch nicht oder trinkt unser Blut oder so was, ja?“, fragte ich ängstlich. Gaspar war empört. „Für was hältst du uns eigentlich?“, rief er mit blitzenden Augen. Ich hob hilflos die Hände. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung!“ Ludmilla legte Gaspar sanft die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ich sah, wie er sich ein 47
wenig beruhigte. „Ich bitte meinen Wutausbruch zu entschuldigen“, sagte er an mich gewandt. „Deine Bedenken sind keineswegs unbegründet. Lass uns überlegen, ob wir sie vielleicht zerstreuen können. Familie! Antreten!“ Die fünf Monster stellten sich in einer Reihe auf. Gaspar drückte die geballte Faust an sein Herz und sagte: „Als Dank für eure Hilfe versichern wir euch …“ Er brach ab und sah uns neugierig an. „Wie heißt ihr eigentlich?“ „Ich heiße Anthony Walker und das ist meine Schwester Sarah.“ Gaspar nickte feierlich. „Als Dank für eure Hilfe versichern wir euch, Anthony Walker und Sarah Walker, bei unserer Ehre und der Hoffnung auf ein besseres Morgen unserer Freundschaft und unserer Hilfe in Zeiten der Not. Also spricht die Familie Morleskjewitsch!“ „Also spricht die Familie Morleskjewitsch!“, wiederholten die anderen im Chor (außer natürlich Bob). Dann verbeugten sich alle fünf tief in unsere Richtung. Gaspar passte diesmal darauf auf, dass er nicht mit der Nase am Boden anstieß. „Morleskjewitsch?“, fragte Sarah. „So hießen wir vor unserer Ankunft in Amerika“, sagte Gaspar. „Wir verwenden den Namen nur noch für besonders feierliche Eide.“ Das Ganze konnte natürlich eine fette Lüge sein. Aber wir beschlossen, den Monstern zu glauben. Was blieb uns auch anderes übrig? „Wir müssen uns anziehen“, sagte ich. „Wir warten hier auf euch“, sagte Gaspar. Ich öffnete die Tür zum Flur. Sofort kam Mr Perkins hereingedrängt. Erschrocken versuchte ich ihn festzuhalten, aber vergeblich. 48
Fauchend und zähnefletschend sprang der bissige Affe geradewegs auf unsere kleinen Freunde zu.
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5 Gaspars Geschichte Dann ging alles sehr schnell. „Familie Morleskjewitsch, fertig machen zum Kampf!“, schrie Gaspar. Sofort verwandelte Ludmilla sich wieder in eine Fledermaus. Sie flog Mr Perkins entgegen und ging immer wieder im Sturzflug auf seinen Kopf nieder. Mr Perkins schrie gellend auf. Zugleich duckte der Wermensch Bob sich und begann auf wahrhaft furchterregende Art und Weise die Zähne zu fletschen. Noch erstaunlicher war Gaspar. Er kehrte Mr Perkins den Rücken zu, kniete sich mit einem Bein hin und stützte sich auf dem anderen ab. Albert rannte auf ihn zu, sprang mit dem Fuß in Gaspars verschränkte Hände und im nächsten Augenblick flog er auch schon durch die Luft auf Mr Perkins zu. Er landete auf dem Bauch des Affen und kletterte daran hinauf. Mr Perkins kreischte in Panik auf und wollte ihn abschütteln, wurde aber immer wieder von Ludmilla abgelenkt. Melisande beteiligte sich nicht am Kampf. „Sssseid nicht sssso gemein zu ihm“, zischten ihre Schlangen und verhedderten sich vor lauter Aufregung ineinander. „Erst das Überleben, dann das Erbarmen!“, brüllte Gaspar. Er wandte sich gleich wieder Mr Perkins zu und 50
schnappte mit seinem Eidechsenkopf nach dessen Zehen. Der Affe hatte genug. Kreischend flüchtete er aus dem Badezimmer und stürzte den Flur entlang. Ich fürchtete schon, er hätte Albert mitgenommen, doch dann sah ich das grimmige Gesicht des Buckligen um den Türrahmen spähen. Er musste abgesprungen sein, als Mr Perkins die Flucht ergriffen hatte. „Gut gemacht, Familie Morleskjewitsch!“, rief Gaspar zufrieden. „Ich finde immer noch, essss war gemein“, sagten Melisandes Schlangen. Indem Melisande ihnen das Sprechen überließ, konnte sie selbst sich umso besser auf ihren Schmollmund konzentrieren. „Ich fand’s toll!“, sagte ich. „Dieser Affe tyrannisiert uns seit dem Tag, an dem er hier aufgetaucht ist. Es wurde höchste Zeit, dass ihn mal jemand in seine Schranken weist.“ „Freut mich, wenn ich helfen konnte“, sagte Gaspar. „Wenn ihr jetzt so freundlich sein würdet, uns zu unserem Zuhause zu führen?“ „Wir ziehen uns nur schnell um“, sagte ich. Gaspar nickte. „Sehr vernünftig. Man sollte sich den Elementen niemals ohne angemessenen Schutz aussetzen.“ „Glaubst du, wir sollten Oma wecken?“, fragte Sarah. Ich machte mein Sag-mal-gehfs-noch-Gesicht. Sie seufzte. „Wahrscheinlich hast du Recht. Es ist nur irgendwie unheimlich, so ganz allein zu gehen.“ „Ihr seid ja nicht allein“, sagte Ludmilla. „Ihr habt doch uns!“ „Und dort wohnt ja keiner mehr“, sagte ich tapfer, dabei war mir auch ein wenig bang. 51
„Darauf würde ich mich nicht unbedingt verlassen“, murmelte Gaspar. „Was soll das nun wieder heißen?“, fragte ich scharf. Er zuckte die Schultern. „Die Welt ist groß und seltsam, Anthony.“ „Ein kleiner Philossssoph, mein Bruder“, zischte Melisande und betrachtete ihn liebevoll. Die Uhr an der Küchenwand zeigte 23 Uhr 45. Oma Walker schnarchte leise in ihrem Zimmer. Mr Perkins starrte uns von seinem Platz auf dem Küchenschrank böse an. Er hatte sichtlich Angst vor den seltsamen kleinen Geschöpfen, die in das Haus eingedrungen waren. Sarah und ich waren angezogen und zum Aufbruch bereit. Bevor wir gingen, teilten wir noch die Monster unter uns auf. Albert kam in die rechte Tasche meines gelben Regenmantels, Bob in die linke. Ludmilla und Melisande saßen in Sarahs Taschen. Gaspar hockte auf meinem Kragen und hielt sich an meinem Ohr fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Bereit?“, fragte ich. „Bereit“, sagte Sarah, doch ihre Stimme zitterte. Ganz sicher schien sie sich ihrer Sache nicht zu sein. „Bereit“, sagte auch Gaspar. Wir traten hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, doch offenbar nur vorübergehend. Schwarze Wolken verdeckten Mond und Sterne und in der Ferne rumpelte unheilvoll der Donner. „Vorerst werden wir nicht erfahren, ob Bob seine eigentliche Gestalt hätte annehmen sollen“, brummte Gaspar und blickte zum pechschwarzen Nachthimmel auf. 52
Seine Hände an meinem Ohr fühlten sich seltsam an, aber so konnte er sich mit mir unterhalten. Während wir durch die nassen Straßen platschten, erzählte er mir seine Geschichte. Sarah ging dicht neben mir und er redete so laut, dass auch sie ihn hören konnte. „Ich wurde vor fast einhundert Jahren als Zweiter von zwei Zwillingsjungen in Transsilvanien geboren“, begann er. „Mein Bruder Martin war dreizehn Minuten und dreizehn Sekunden schneller als ich. Wir waren damals nicht nur im Gesicht, sondern auch in unseren Gefühlen völlig gleich. Unsere Gedanken und Herzen waren eins. Wir dachten dasselbe und empfanden dasselbe. Und unser stärkstes Gefühl war die Neugier. Eines Abends im Sommer unseres zwölften Lebensjahres – unsere beiden Schwestern waren schon auf der Welt, Melisande lag allerdings noch in den Windeln – kletterten Martin und ich die Mauer eines alten, halb verfallenen Schlosses hinauf, das ungefähr zwei Kilometer außerhalb unseres Dorfes stand.“ In der Ferne blitzte es und Gaspar wartete, bis der Donner verklungen war. Dann fuhr er fort. „In dem Schloss spukte es angeblich. Martin und ich wollten beweisen, dass das nicht stimmte, obwohl wir halb hofften, es wäre doch so. Unseren Eltern hatten wir gesagt, wir wollten draußen übernachten. In Wirklichkeit hatten wir kühnere Pläne. Einzeln hätten wir dazu wohl nicht den Mut gehabt. Zusammen waren wir zu allem bereit, auch zu der größten Dummheit. Wir breiteten unsere Decken also auf dem Boden des großen Rittersaals aus. Es wurde Nacht und wir hörten ein seltsames Rascheln. Wir versuchten es wegzuerklären – bestimmt waren das Ratten oder der Wind, der durch einen kaputten Kamin wehte. Doch dann hörten wir unter 53
uns ein unverkennbar menschliches oder wenigstens menschenähnliches Stöhnen.“ Ich fröstelte und stellte fest, dass Sarah und ich um einiges dichter nebeneinandergingen als noch vor einer Minute. „‚Bist du bereit, Bruder?’, fragte Martin. ‚Ich bin bereit’, bestätigte ich. Martin ergriff in solchen Situationen immer die Führung. Er behauptete, das sei sein Recht als Älterer, was mich manchmal wurmte, manchmal aber auch tröstete. Wenn es darauf ankam, handelten wir sowieso immer gemeinsam. Nebeneinander stiegen wir die Schlosstreppe hinunter und suchten nach der Quelle des Stöhnens. Plötzlich packte Martin mich am Arm. Im Dämmerlicht vor uns stand eine hochgewachsene, seltsam unwirkliche Gestalt in einem wallenden Gewand. Sie schien nicht aus Fleisch und Blut zu bestehen, sondern aus einem merkwürdigen, milchigen Schein. Sie streckte uns die Hände entgegen und mir fiel fast das Herz in die Hose.“ Gaspar schwieg gedankenverloren. „Wer war diese Gestalt?“, wollte Sarah wissen. „Was habt ihr gemacht?“ „Ich wollte schon die Flucht ergreifen und hätte das wahrscheinlich auch getan, hätte ich nicht Martin an meiner Seite gehabt. Zusammen hielten wir die Stellung. ‚Was willst du, seltsamer Geist?’, fragte Martin.“ „Wie kamt ihr darauf, dass er was von euch wollte?“, fragte ich. „Geister wollen immer etwas“, sagte Sarah wissend. „Sonst erscheinen sie einem nicht.“
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„Richtig“, sagte Gaspar. „Martin hatte diesem Geist mit seiner Frage gleichsam den Mund geöffnet. Er erzählte, er sei ein Zauberer namens Wentar. Als Strafe für die Missetaten, die er in seinem Leben begangen habe, sei sein armer Schatten in die Gemächer des Schlosses eingesperrt worden.“ Gaspar hielt inne und fügte dann bitter hinzu: „Heute weiß ich, dass das nicht die ganze Wahrheit war.“ Ein Auto näherte sich und wir duckten uns hinter eini55
ge Büsche. Die Reifen zischten auf der nassen Straße und wirbelten einen Sprühregen auf. Gaspar sah dem Auto einen Moment lang überrascht nach und fuhr dann fort. „Jedenfalls bat Wentar uns um Hilfe. Wir sollten ihm helfen, seine Seele von dem Fluch zu befreien. Dazu waren Martin und ich gern bereit. Wir sahen darin ein spannendes Abenteuer. Nie hätten wir uns träumen lassen, dass die Aufgabe, die wir bekamen – wir sollten einen großen Edelstein namens, ‚Herz von Zentarana’ beschaffen –, so schrecklich sein könnte.“ „Was musstet ihr denn tun?“, fragte Sarah neugierig. „Das ist eine lange Geschichte“, sagte Gaspar, „und jetzt ist keine Zeit, alles zu erzählen. Es genügt zu sagen, dass wir zu Wentars Befreiung ein Buch benutzen sollten, das in einer geheimen Bibliothek im Ostturm des Schlosses versteckt war.“ Er kicherte. „Als Wentar uns den Weg in die versteckte Bibliothek erklärte, wusste er wahrscheinlich nicht, wie Martin und ich auf Bücher reagierten. Er hatte uns für unsere Hilfe Gold angeboten, aber die eigentliche Belohnung waren die Bücher.“ „Warum?“, fragte Sarah und ging um eine tiefe Pfütze herum. „Hattet ihr selber keine?“ „Wir hatten viele“, erwiderte Gaspar. „Unser Vater war ein großer Gelehrter. Aber die Bücher dieser Bibliothek steckten voll uralter, verbotener Weisheiten und enthielten Geheimnisse, von denen mein Bruder und ich schon immer geträumt hatten. Nachts hatten wir flüsternd von ihnen gesprochen, ohne zu glauben, wir könnten je in ihren Besitz gelangen. Wie diese Seiten unsere Vorstellungskraft beflügelten! Zu welch seltsamen Entdeckungen sie uns führten!“ „Klingt spannend“, sagte ich neidisch. Gaspar seufzte. „War es ja auch. Aber dieses Wissen 56
ist aus gutem Grund verboten. Martin und ich experimentierten schon bald mit Kräften, die wir nicht annähernd verstanden, und begaben uns in Gefahren, von denen wir keine Ahnung hatten. Dann, eines Abends, fiel Martin durch ein Loch aus der Welt.“ „Hä?“, fragte ich dümmlich. „Es war der schlimmste Augenblick meines Lebens“, sagte Gaspar bedrückt. „Martin und ich waren an jenem Abend im Wald auf einer Lichtung. Wir folgten einem alten Labyrinth. Das war dumm von uns. Wir begriffen nichts von der Magie, mit der wir spielten. Aber wir hatten uns eingeredet, dass wir das machen müssten. Viele Jungen im Teenageralter tun das. Martin, der immer der Erste sein wollte, ging voraus, ich folgte mit einer Laterne. Plötzlich hörte ich ihn schreien, und im nächsten Moment war er verschwunden – einfach so, vor meinen Augen. Ich war vor Schreck wie gelähmt und wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich weitergehen und ihm folgen? Oder auf ihn warten? Oder Hilfe holen? Ich rief immer wieder seinen Namen, bekam aber keine Antwort. Es war kein Laut zu hören außer dem Raunen des Windes in den Bäumen über mir.“ Gaspar klang heiser. „Ich weiß bis heute nicht, ob es Klugheit war oder Feigheit, die mich davon abhielt, das Labyrinth weiterzugehen. Genauso wenig weiß ich, wie lange ich an dieser Stelle stehen blieb. Ich wagte nicht wegzugehen, aus Angst, ich könnte den Zauber brechen und Martins Rückkehr verhindern, und ich wollte auch nicht weitergehen und womöglich selbst verschwinden. Ich weiß nur, dass ich so lange stehen blieb, bis mir von der Anstrengung des Stillhaltens alles wehtat. Endlich leuchtete es vor mir grün auf und Martin kehr57
te tatsächlich zurück. Er war es und zugleich war er es nicht. Etwas an ihm war verändert. Seine Stimmung war gedrückt und seine Augen blickten sorgenvoll. Mit keinem Wort sprach er davon, was geschehen war und wo er gewesen war. Er wurde immer verschlossener. Früher hatte es zwischen uns keine Geheimnisse gegeben, jetzt gab es viele. Ich wusste nicht mehr, was in ihm vorging. Trotz des schrecklichen Erlebnisses besuchten wir weiter die Schlossbibliothek. Martin brannte mehr denn je darauf, mit unseren Nachforschungen fortzufahren. Sie faszinierten auch mich, doch mein Herz war schwer, denn wir waren uns nie mehr so nahe wie einst. Die Jahre vergingen. Wir wurden stärker und mutiger. Albert begann für uns zu arbeiten, aber das wäre eine eigene Geschichte. Unsere Familie gedieh. Nach dem Tod unserer Eltern übernahmen Martin und ich die Sorge für Ludmilla und Melisande. Dann kam der Krieg. Wir überlebten. Kurz nach Kriegsende entschied Martin, wir sollten nach Amerika auswandern. ‚Unserem Land steht eine so schreckliche Zeit bevor, wie man sie sich kaum vorstellen kann’, pflegte er zu sagen. Natürlich hatte er Recht. Die Kommunisten kamen und über unsere Heimat legte sich ein grauer Schleier.“ Gaspar verstummte und ich spürte, dass er mit sehr schmerzhaften Gefühlen kämpfte. Er wollte gerade fortfahren, da bogen wir in die Willow Street ein. Im Dunkeln vor uns ragte Morley Manor auf. Dahinter hatten sich schwarze Wolken aufgetürmt. Zischend fuhr ein Blitz über den Himmel und beleuchtete die schiefen Türme. „Zu Hause“, sagte Gaspar. In seiner Stimme lag so viel Liebe und zugleich Zorn, dass ich Angst bekam. 58
6 Fünf kleine Monsterlein Das Eingangstor von Morley Manor war dreieinhalb Meter hoch und hatte oben spitze Stacheln. Ich fürchtete schon, es könnte abgesperrt sein, aber wahrscheinlich dachte sich der neue Besitzer, da das Haus sowieso abgerissen würde, brauchte man es nun nicht mehr abzuschließen. Oder vielleicht glaubte er auch nur, dass ein normaler Mensch es sowieso nicht freiwillig betreten würde. Als ich versuchte, das Tor aufzustoßen, wurde mir klar, dass ein Schloss noch aus einem weiteren Grund überflüssig war: Die Angeln waren so verrostet, dass das Tor sich keinen Zentimeter bewegte. Wie hatte der Besitzer es nur für den Verkauf aufgekriegt? „Sarah“, keuchte ich, „hilfst du mir mal?“ Sarah trat neben mich. Ich sah sie an und nickte. Wir packten die nassen Eisenstäbe und drückten mit aller Kraft. Und plötzlich gab das Tor mit einem furchtbaren Quietschen zehn Zentimeter nach. Es fing wieder an zu regnen und natürlich konnten wir nicht gleichzeitig das Tor aufdrücken und einen Schirm halten. Ich schüttelte den Kopf, um das Wasser aus den Augen zu bekommen, und sagte: „Noch mal!“ 59
Wieder quietschte es, was aber diesmal durch einen gewaltigen Donnerschlag übertönt wurde, und das Tor stand jetzt immerhin so weit offen, dass wir uns seitlich hindurchquetschen konnten. Meine Haare waren klatschnass und ich wünschte, ich hätte wie Sarah meine Kapuze aufgesetzt. Auch Gaspar war völlig durchnässt, ich war also wenigstens nicht allein. Bob und Albert hatten sich unter die Klappen meiner Taschen zurückgezogen und waren trocken geblieben. Es war ein seltsames Gefühl, ihre Bewegungen zu spüren – als hätte ich in jeder Tasche einen Hamster. Wir näherten uns der Haustür. Ein Blitz zuckte über den Himmel und Donner krachte. Ich rechnete damit, dass Sarah gleich sagen würde, sie wolle nach Hause, aber sie sagte es nicht. Ich glaube, dass wir die Monster dabeihatten, machte uns Mut. Natürlich gruselten wir uns vor Morley Manor, doch unseren neuen Freunden schien es ein vertrautes Zuhause. Und da wir hier waren, um ihnen einen Gefallen zu tun, fühlten wir uns irgendwie sicher. Wir sprangen die Stufen zum Eingang hoch und atmeten auf. Auch die Haustür war nicht abgesperrt. Und sie ließ sich viel leichter öffnen als das Tor. Wir traten ein. Im selben Moment begann eine Uhr, Mitternacht zu schlagen. „Das ist ja merkwürdig“, sagte Sarah beklommen. „Was denn?“, fragte ich. Ich konnte kaum sprechen, so trocken war mein Hals. „Hier gibt es doch gar keine Uhren mehr. Eine Frau hat sie heute Vormittag alle gekauft.“ Ich fröstelte. Wir holten die Monster aus unseren Taschen. Die Möbel waren fast alle verschwunden – verkauft oder wegge60
bracht –, aber ein wackliger Tisch stand noch da und auf den stellten wir sie. Dann ließ Sarah den Strahl ihrer Taschenlampe durch das Zimmer wandern. „Unsssser schönessss Haussss“, zischte Melisande, packte Ludmilla am Arm und begann zu weinen. „Ach Schwesssster, wassss isssst nur mit unsssserem schönen Haussss passssiert.“ Die Schlangen auf ihrem Kopf sanken bekümmert nach unten. Ludmilla klopfte ihr auf die Schulter, aber ihre Lippen zitterten und sie sah aus, als wollte sie auch gleich losweinen. Gaspar sah sich zornig um. Sarah und ich knieten uns vor den Tisch, damit wir mit den Monstern sprechen konnten. „Was jetzt?“, flüsterte ich. „Wir steigen die verbotene Treppe hinauf“, sagte Gaspar entschlossen. „Hätte ich mir denken können“, murmelte ich. „Also gut, wo ist sie?“ Mir fiel die abgesperrte Treppe ein, die ich am Vormittag gesehen hatte. „Obwohl, ich glaube, ich weiß es schon. Wollt ihr zu Fuß gehen oder getragen werden?“ Sie wollten zu Fuß gehen, also setzten wir sie vorsichtig auf den Boden – mit Ausnahme von Ludmilla, die sich wieder in eine Fledermaus verwandelte und nervös auf und ab flatterte. Das große Schild mit der Aufschrift DURCHGANG STRENGSTENS VERBOTEN hing immer noch an derselben Stelle. Davor blieben wir stehen. „Wo führt die Treppe hin?“, fragte ich. „Zu meinem Labor“, sagte Gaspar. „Falls es noch da ist …“ Er klang ein wenig beunruhigt. 61
„Und zur Sternentür“, zischten Melisandes Schlangen aufgeregt. Die Stufen waren zu hoch für die Monster, Sarah und ich nahmen sie deshalb wieder hoch – nur Ludmilla flog uns voraus. Wir schluckten, dann stiegen wir hinauf. Plötzlich krachte es unter uns so laut und heftig, dass ich unwillkürlich aufschrie und fast gestolpert wäre. „Was war das?“, rief Sarah ängstlich. „Nur das Haus“, antwortete Gaspar, der auf meiner Schulter hockte. Als er die Fragezeichen in unseren Gesichtern sah, fügte er hinzu: „Es macht solche Geräusche von selbst.“ Mir sprangen fast die Augen aus dem Kopf. „Was soll denn das heißen?“ „Macht einfach keine Türen auf, ohne uns vorher zu fragen“, flüsterte Ludmilla, deren Geflatter wenige Zentimeter neben meinem Kopf mir tierisch auf den Keks ging. Ein kalter Windstoß pfiff an uns vorbei, als hätte jemand weiter oben ein Fenster geöffnet. Sarah erschauerte. „Wo kam der her?“ „Das ist nur das Haus“, sagte Gaspar wieder. „Vielleicht solltet ihr das letzte Stück allein raufgehen, Leute“, sagte ich und blieb einige Stufen vor dem oberen Treppenabsatz stehen. „Wir kriegen die Labortür nicht auf, ssssolange wir nur zzzzehn Zzzzentimeter groß ssssind!“, zischte Melisande. Sie klang, als halte sie mich für geistig unterbelichtet. Ich seufzte und ging weiter. Viel zu schnell waren wir am oberen Treppenabsatz angelangt. Sarah hob die Taschenlampe. 62
Vor uns erstreckte sich ein langer Flur, von dem verschiedene Türen abgingen. Am Ende des Flurs stand ein Bücherregal. „Okay“, sagte ich. „Welche Tür?“ „Überhaupt keine“, erwiderte Gaspar. „Aber du hast doch gesagt …“ „Wir benützen nicht die Türen, sondern das Bücherregal“, sagte Gaspar. „Ziehe das zweite Buch von rechts auf dem vierten Regalbrett heraus.“ Wir gingen den Flur entlang und ich zog das Buch heraus. Sofort glitt das Regal nach oben und verschwand in der Decke. „Es ist ein Bild“, erläuterte Gaspar zufrieden. „Das Bücherregal als Tor der Erkenntnis.“ Von Erkenntnis verstand ich nicht so viel, aber eine Art Tor war das Bücherregal tatsächlich, denn dahinter erstreckte sich ein Korridor von beträchtlichen Ausmaßen. Er war unglaublich lang und reichte offensichtlich weit über die Mauern von Morley Manor hinaus. Sein Ende konnte ich gar nicht erkennen. Nach etwa hundert Metern war er in Nebel gehüllt. „Das ist wirklich zu gruselig“, sagte Sarah. „Im Gegenteil“, bemerkte Ludmilla, die wieder Menschengestalt angenommen hatte und auf Sarahs Schulter saß. „Es ist gerade mal gruselig genug!“ „Die dritte Tür rechts“, sagte Gaspar. Der Boden knarrte unter unseren Füßen. Ich drückte die Tür auf und sie beschwerte sich ächzend. Im Schein von Sarahs Taschenlampe flackerte ein merkwürdiger Raum auf: Er wirkte wie eine Kreuzung aus „Labor eines verrückten Wissenschaftlers“ und „Stube eines Zauberers“. Das Zimmer sah aus, als sei es seit fünfzig Jahren nicht mehr betreten worden. Die Wände 63
waren so hoch, dass ich überlegte, ob man irgendwann mal die Decke entfernt und das Zimmer so mit dem Dachgeschoss verbunden hatte. Vielleicht aber auch nicht. Angesichts des Korridors, den wir soeben entlanggegangen waren, hatte ich sowieso keine Vorstellung mehr von den räumlichen Verhältnissen des Gebäudes. Arztliegen standen neben hohen Holzgestellen mit dicken, alten, in Leder gebundenen Büchern, deren Titel in den Buchstaben eines fremdartigen Alphabets gedruckt waren. Die Regale waren mit Reagenzgläsern, Messbechern und grünen Glasflaschen gefüllt, auf deren Etiketten Dinge wie MOLCHAUGEN, PULVERISIERTE FLEDERMAUSFLÜGEL und GERÖSTETE KRÖTENZEHEN standen. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt und zwischen den Tischen und Regalen hingen bündelweise Spinnweben. Auf der anderen Seite des Zimmers standen auf einer Art Bühne fünf Glaszylinder, jeder etwa zwei Meter hoch. „Gott sei Dank sind sie noch da!“, rief Gaspar bei ihrem Anblick erleichtert. „Damit können wir uns vergrößern.“ In den Taschen meines Regenmantels raschelte es. „Lass uns raus!“, rief Albert. Sarah und ich setzten die Monster auf einem leeren Tisch ab und zogen die Regenmäntel aus. „Gut“, sagte Gaspar, „an die Arbeit. Du musst die Geräte steuern, Anthony.“ „Was wollt ihr als Energiequelle verwenden?“, fragte ich. „Der Strom ist abgeschaltet worden.“ „Wir müssen doch hoffentlich keine Drachen steigen lassen, um Blitze einzufangen oder so was?“, fragte Sarah aufgeregt. 64
Gaspar lachte. „Es gibt in dieser Welt noch viele andere Energiequellen. Seht ihr das metallene Kästchen auf dem Tisch in der Ecke? Bringt mich bitte hin.“ Der kleine Kasten hatte einen gläsernen Deckel und trotz der dicken Schicht Staub und Spinnweben konnte ich erkennen, dass ein sehr großer grüner Edelstein darin lag. „Das ist das Herz von Zentarana“, sagte Gaspar. „Der Edelstein, von dem ich euch erzählt habe.“ Ehrfürchtig starrte ich ihn an. „Ich dachte, du hättest ihn Wentar zurückgegeben.“ „Haben wir ja auch, aber später haben wir ihn uns dann wieder zurückverdient. Aber das ist eine andere Geschichte. Leg ihn in das Steuergerät dort drüben.“ Beklommen nahm ich den Edelstein aus dem Kästchen. Er war glatt wie Glas und schien von innen zu pulsieren. Sobald ich die Hand darum schloss, sah ich durch 65
meine Finger einen grünen Schein. Behutsam legte ich ihn in das Steuergerät. „Jetzt leg den Hebel um“, sagte Gaspar und zeigte auf einen Hebel, der so groß war wie mein Arm. Ich drückte den Hebel herunter. Die fünf Glaszylinder hoben sich etwa zwei Meter in die Luft. Albert stieß einen Triumphschrei aus und Bob fiel sofort heulend mit ein. Ludmilla schwirrte aufgeregt zu der Plattform. Die anderen vier Monster trugen wir hinüber. Eifrig nahmen sie ihre Plätze unter den Glaszylindern ein. Endlich waren alle bereit und Gaspar sagte: „Schieb den Hebel jetzt in die Anfangsstellung zurück. Sobald die Kammern sich gesenkt haben und versiegelt sind, drück die drei Knöpfe daneben – zuerst den roten, dann den grünen und dann den schwarzen.“ Ich tat, was er sagte. Sobald ich den dritten Knopf gedrückt hatte, strömte dicker grüner Nebel in die Kammern. Draußen rumpelte der Donner und Regen prasselte auf das Dach. Plötzlich erfüllte eine knisternde Kraft das Zimmer, so stark, dass Sarah und ich unwillkürlich aufschrien. Ich fasste Sarah an der Hand. Ein grüner Blitz zuckte zwischen unseren Fingern hervor. „Sieh mal!“, schrie Sarah. Die Monster begannen zu wachsen – langsam zuerst und dann immer schneller. Bald waren sie größer als wir (außer Albert natürlich). Gaspar reckte triumphierend die Fäuste. Ich zögerte. War es wirklich ratsam, sie aus ihren Kammern herauszulassen? Doch die Entscheidung darüber wurde mir abgenommen. Die gläsernen Zylinder hoben sich von selbst. „Wir sind wieder groß“, rief Gaspar mit wohltönender 66
Baritonstimme. „Der böse Zauber ist gebrochen und wir sind wieder wir selbst.“ Albert sprang von dem Podium herunter und vollführte einen Luftsprung nach dem anderen. Ludmilla wirbelte ihren Umhang durch die Luft und verwandelte sich in eine Fledermaus mit einer Flügelspannweite von gut einem Meter. Melisandes Schlangen hätten sich vor lauter Aufregung fast verknotet. Bob warf den Kopf zurück und heulte vor Freude. „Ach, meine jungen Freunde, die Familie Morleskjewitsch steht tief in eurer Schuld“, sagte Gaspar und trat auf mich zu. Ich wusste zwar, dass er mir freundlich gesinnt war, doch angesichts seiner Körpergröße von über einem Meter achtzig bot sein Reptilienkopf einen furchterregenden Anblick. Ich wich einen Schritt zurück und Sarah drückte sich an mich. Gaspar blieb stehen, lächelte und zeigte dabei seine viertausend Zähne. „Ich kann gut verstehen, dass euch etwas mulmig wird, wenn ich euch zu nahe komme“, sagte er. „Nun gut. Ihr könnt gehen.“ Die fünf Monster versammelten sich in einem Halbkreis. „Ihr habt der Familie Morleskjewitsch einen großen Dienst erwiesen“, sagte Gaspar. „Wir danken euch.“ Sie machten dieselbe tiefe Verbeugung wie zuvor, als sie uns ihrer Freundschaft versichert hatten. Sarah und ich gingen langsam zur Tür. Zu meiner Überraschung stimmte mich der Gedanke zu gehen ein wenig traurig. Gleichzeitig war ich ganz schön stolz. Wir hatten den Monstern geholfen! Trauer und Stolz waren wie weggeblasen, als ich die Tür aufmachte. „Huch!“, rief Sarah. „Wer ist denn das?“ 67
7 Wentar Das Wesen vor der Tür war hochgewachsen – größer noch als Gaspar –, trug ein dunkelblaues Gewand und hatte einen Lederbeutel umgehängt. Sein bleiches, längliches Gesicht, das unter dem Schatten einer Kapuze hervorspähte, war von vielen tiefen Falten durchzogen. Es hatte wirklich grauenvolle dunkelrote Blutaugen, vielleicht das Furchtbarste, das ich je gesehen hatte. Trotzdem sah das Wesen fast aus wie ein Mensch. Aber nur fast. Sarah und ich wichen einen Schritt zurück. „Bist das wirklich du, Wentar?“, rief Gaspar. Seine rote Zunge fuhr zwischen seinen Kiefern, die gut einen halben Meter maßen, ein und aus. Ich betrachtete den Neuankömmling verwirrt. Was hatte der Geist eines transsilvanischen Zauberers in Fox Hill in Nebraska zu suchen? Das Wesen – ich wusste immer noch nicht, ob es sich um einen Menschen, einen Geist, einen Zauberer oder etwas ganz anderes handelte – trat ein, ohne auf die Frage zu antworten. „Wo warst du denn bloß all die Jahre?“, wollte Gaspar wissen. 68
Da sprach Wentar endlich. Seine Stimme klang voll und tief wie eine Orgel. „Was ich seit unserer letzten Begegnung getan habe, ist eine lange Geschichte, die ich jetzt nicht erzählen will. Die Zeit ist knapp, wenn wir deinen Bruder retten wollen.“ „Martin ist tot“, sagte Gaspar schwermütig. Dann warf er Sarah und mir einen Blick zu und zog seine lange Eidechsennase kraus. „Zumindest hat man mir das gesagt.“ „Was man dir gesagt hat und was die Wahrheit ist, muss nicht dasselbe sein“, erwiderte Wentar. „Ihr bösen Kinder habt uns angelogen!“, rief Ludmilla. Sie sah mich mit gebleckten Zähnen an und zischte. Sie war jetzt dreißig Zentimeter größer als ich und wirkte entschieden bedrohlicher als zuvor mit zehn Zentimetern. „Sei nicht dumm, Ludmilla“, dröhnte Wentar. „Ich habe euch zugehört. Anthony und Sarah haben nur gesagt, was für sie die Wahrheit ist. Angelogen hat euch Martin – oder besser gesagt das Wesen, das ihr für Martin gehalten habt.“ Gaspar sah ihn mit großen Augen an. „Martin war ein Wechselbalg?“, rief er erstaunt. „Nicht in dem Sinn, in dem ihr das Wort verwendet“, sagte Wentar. „Er war kein Gnom oder so etwas – auch wenn er wie in den alten Legenden gegen deinen Bruder ausgetauscht wurde. Und doch, irgendwie war er auch tatsächlich dein Bruder.“ „Du redesssst nur wirressss Zzzzeug“, zischten die Schlangen auf Melisandes Kopf. Sie krümmten und wanden sich empört. Ich hatte festgestellt, dass ihre Bewegungen heftiger wurden, je mehr Melisande sich aufregte. „Überhaupt nicht“, erwiderte Wentar. „Das Problem ist, dass ihr mangelhaft informiert seid.“ 69
„Dann informiere uns“, knurrte Albert. Der Bucklige mit dem grimmigen Blick kauerte neben Gaspar und hielt sich an dessen Labormantel fest. Er schien Wentar nicht besonders zu mögen. Gaspar schüttelte seinen großen Kopf. „Das tut Wentar nie umsonst, Albert“, sagte er. Seine Stimme hatte einen bitteren Unterton. „Du weißt, dass das bei ihm etwas kostet.“ „Wo ich herkomme, verwendet man Informationen wie Geld“, sagte Wentar. Er seufzte. „Leider weiß man dort auch, dass ich in der Schuld der Familie Morleskjewitsch stehe – tiefer als Leute wie ich eigentlich stehen sollten. Für einige Informationen habt ihr also gewissermaßen schon bezahlt. Wir müssen allerdings schnell handeln. Wir müssen noch vor dem Morgengrauen durch die Sternentür von hier verschwinden. Was wollt ihr also wissen?“ Gaspar zögerte. Sein Eidechsengesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an. „Sag du mir, was ich wissen muss.“ Wentar lächelte, was aussah, als würden unsichtbare Finger seine nach unten hängenden Mundwinkel hochziehen. „Hört, hört! Du hast seit unserer Begegnung eine Menge dazugelernt.“ „Ich habe auch eine Menge durchgemacht.“ Wentar zuckte mit den Schultern. „Das geht häufig Hand in Hand. Also gut, passt auf. In aller Kürze! Ich gehe davon aus, dass du den anderen erzählt hast, was in der alten Heimat Transsilvanien zwischen uns vorgefallen ist, Gaspar.“ Gaspar nickte – mit seiner fünfzig Zentimeter langen Schnauze ein interessanter Anblick. Er wies mit einer 70
Handbewegung auf mich und Sarah. „Auch die beiden Kinder kennen die Kurzfassung.“ Wentar warf uns einen Blick zu. Er schien nicht erfreut. „Es wäre am besten, sie nach Hause zu schicken“, brummte er. Ich wollte schon protestieren und sagen, dass ich bleiben und ihm zuhören wollte, da fügte er hinzu: „Doch ist es gegenwärtig vermutlich zu gefährlich, Morley Manor zu verlassen“ – worauf ich am liebsten sofort gegangen wäre. „Was heißt zu gefährlich?“, fragte Sarah an mich gedrückt. Wentar senkte die Stimme. „Ihr seid heute Nacht nicht als Einzige unterwegs. Auch andere halten sich in der Nähe auf, darunter eine Gruppe, die der Familie Morleskjewitsch und ihren Freunden nicht wohlgesinnt ist.“ Ich war versucht zu sagen, dass wir eigentlich gar keine Freunde der Monster seien, da wir uns ja erst vor wenigen Stunden kennengelernt hätten. Doch kam mir das unhöflich vor und womöglich sogar gefährlich. Und außerdem hatte ich tatsächlich das Gefühl, sie seien unsere Freunde. „Sobald der Morgen graut, kann euch nichts mehr passieren“, sagte Wentar beruhigend. „Bis dahin bleibt ihr besser bei uns.“ Gaspar schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Dann sag uns, was wir wissen müssen, Wentar, schnell!“ Wentar seufzte. „Zuallererst müsst ihr wissen, dass Wentar nicht mein Name ist. Es ist die Bezeichnung für das, was ich tue. Ich bin ein Wentar, einer von vielen.“
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Ich warf Gaspar einen Blick zu. Er klapperte mit seinen gelben Augen. Erst jetzt fiel mir auf, dass er wie eine Katze senkrechte Pupillensicheln hatte. „Die Wahrheit zeigt sich in Schichten“, sagte er. Er klang bekümmert. „Hinter denen, die du zu kennen glaubst, verbergen sich womöglich weitere Welten. Aber gut, mein alter Lehrer, ich höre. Was ist ein Wentar?“ Der Wentar öffnete die Hände, als wollte er zeigen, dass er nichts zu verbergen habe. „Ein wenig dies und ein wenig das. Forscher, Beobachter, Berichterstatter, Zuhörer, manchmal auch Richter. Vor allem aber entscheidet er über die Aufnahme neuer Mitglieder.“ 72
Ich glaubte zu verstehen, worauf er hinauswollte. „Also kein Zauberer“, hörte ich mich zu meiner Überraschung sagen. Überrascht war ich, dass ich trotz meiner Angst sprechen konnte. Der Wentar nickte. „Nein, kein Zauberer. Obwohl ich einige Zaubersprüche beherrsche. Wahrscheinlich bezeichnet man mich am zutreffendsten als … Alien. Ich arbeite für den Bund der zivilisierten Welten.“ Unter den Monstern wurde überraschtes Gemurmel laut. „Du meinst, du kommst von einem anderen Planeten?“, wollte Albert wissen. „Hätte ich mir gleich denken können.“ „Warum hast du das nicht früher gesagt?“, fragte Gaspar. Er klang wütend und ein wenig gekränkt, als habe man ihn hintergangen. „Bei unserer ersten Begegnung hättet ihr das noch gar nicht begreifen können“, erwiderte der Wentar. „Es war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort für so eine Enthüllung. Du und Martin, ihr habt beide einen Geist erwartet. Und während meiner langen Gefangenschaft – aufgrund meiner eigenen Dummheit hatte ich mich auf halbem Weg zwischen meiner und eurer Welt erwischen lassen – hatte ich auch einige Ähnlichkeit mit einem Geist.“ Er schloss seine sonderbaren roten Augen und sagte: „Ich war damals einfach nicht bereit, zwei vorwitzigen jungen Burschen die Information zu schenken, wer ich wirklich bin.“ Gaspar wollte etwas sagen, doch der Wentar ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Genug gefragt. Wichtig ist Folgendes: An jenem Abend, an dem ihr beide so leichtsinnig das Labyrinth betreten habt und Martin durch jenes Loch in der Welt gefallen ist, wurde er gefangen genommen.“ 73
„Wie kann das sein?“, fragte Gaspar. „Er kehrte doch noch vor Sonnenaufgang zurück.“ „Das ist mir schon klar“, sagte der Wentar unwirsch und hob die Hände, wie um den Einwand abzuwehren. „Dir dagegen ist nicht klar, dass die Zeit in verschiedenen Welten verschieden schnell abläuft – so verschieden, dass man in Flinduwien, der Welt, in die Martin fiel, einen Klon von ihm anfertigen konnte. Und dieser Klon wurde dann hierher zurückgeschickt.“ „Was ist ein Klon?“, fragte Ludmilla. „Eine genaue Kopie“, antwortete der Wentar. Ludmilla bleckte die Eckzähne. „So eine blöde Idee! Ein Martin war ja wohl schon mehr als genug.“ „Mag sein“, sagte der Wentar. „Aber die Flinduwier wollten den echten Martin behalten.“ „Warum?“, fragte Melisande. „Sie wollten ihn genau untersuchen“, sagte der Wentar. „Und um noch mehr Informationen zu bekommen, luden sie den Klon mit einer Kopie von Martins Persönlichkeit, programmierten ihn noch mit einigen zusätzlichen Befehlen und schickten ihn auf die Erde. Der Klon sollte Beobachtungen anstellen und entsprechende Daten zurückschicken – so wie ich es aus ganz anderen Gründen auch tue. Und deshalb schien Martin nach seiner Rückkehr derselbe und auch wieder nicht derselbe zu sein. Er war eine perfekte Nachbildung deines Bruders mit ein paar Extra … Programmen.“ Sarah warf mir von der Seite einen ängstlichen Blick zu. Jede Wette, sie stellte sich gerade vor, wie es wohl war, einen solchen Bruder zu haben. „Aber warum erzählst du uns das erst jetzt?“, fragte Gaspar. „Ich habe es selber erst vor Kurzem herausgefunden“, 74
antwortete der Wentar. „Außerdem mache ich mir Sorgen, weil die Flinduwier den Klon zurückgerufen haben.“ „Zurückgerufen“, wiederholte ich. „Heißt das, Mumie Mor … ich meine, Mr Morley ist gar nicht wirklich gestorben?“ „Genau das“, antwortete der Wentar. „Vielmehr haben die Flinduwier einen zweiten, leeren Klon geschickt und haben diesen beerdigen lassen. Auf jeden Fall müssen wir jetzt den richtigen Martin suchen.“ „Und ihn retten!“, rief Gaspar eifrig und ließ seine lange, rote Eidechsenzunge unablässig um die Schnauze züngeln. „Das wäre schön“, sagte der Wentar. „Mein Gewissen würde es jedenfalls erleichtern. Doch vor allem muss ich herausfinden, was die Flinduwier vorhaben, und das kann i.ch vermutlich am besten, indem ich Martins Gehirn anzapfe.“ „Aber warum haben sie überhaupt einen Klon von ihm zur Erde geschickt?“, fragte ich. „Hinter was sind sie her?“ „Ich dachte, das sei klar“, erwiderte der Wentar ernst. „Sie wollen die Herrschaft auf eurem Planeten übernehmen.“
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8 Die Sternentür „Warum denn das?“, rief ich. Das war keine besonders geistreiche Frage. Sie war mir nur so herausgerutscht. „Die anderen Wentare und ich haben uns das oft gefragt“, antwortete der rotäugige Alien. „Es ist schwer vorstellbar, warum jemand einen Planeten übernehmen will, der von seinen Bewohnern so übel zugerichtet wurde. Natürlich ist er alles in allem noch ganz brauchbar, es gibt viel Wasser und so weiter. Aber alle Bewohner der Galaxie wissen, wie viel Arbeit es kosten würde, eure Welt so weit aufzuräumen, dass sie für zivilisiertes Leben geeignet ist. Es muss also einen anderen Grund geben. Wir haben einige Vermutungen, sind aber trotzdem …“ Bevor er den Satz beenden konnte, fuhr er herum, als habe er hinter sich etwas gehört – aber was? Ich hörte nur den Regen gegen das Fenster prasseln. Mit aufgerissenen Augen drehte er sich wieder zu uns um. Ich hätte zunächst nicht sagen können, ob er Angst hatte – wer kann das bei einem Alien schon? –, als er flüsterte: „Rasch! Mir nach! Die Flinduwier kommen.“ Der Ton seiner Stimme ließ keinen Zweifel: Er hatte geradezu panische Angst – was mich wiederum natürlich auch nicht gerade beruhigte. 76
Ich warf Gaspar einen Blick zu. Ob er dem Wentar folgte? Er eilte bereits zur Tür. „Und die Kinder?“, fragte er. „Müssen wohl mitkommen“, sagte der Wentar. „Wir bringen sie später zurück. Los, schnell!“ Sarah nahm meine Hand. Das hätte ich mir normalerweise nicht gefallen lassen, aber normal war hier sowieso nichts mehr. Kaum hatten sich meine Finger um ihre Hand geschlossen, da wurde sie mir schon wieder weggerissen. „Sarah!“, schrie ich in meiner Angst, die Aliens könnten sie geschnappt haben. In Wirklichkeit war etwas anderes passiert: Albert hatte sie hochgehoben und sich über die Schulter geworfen – die ohne den Buckel. Mit erstaunlich schnellen Bewegungen hastete er nun hinter dem Wentar zur Tür hinaus. Der Wermensch Bob folgte den beiden auf dem Fuße. „Beeil dich, Anthony!“, rief Ludmilla, verwandelte sich in eine Fledermaus und flog den anderen nach. Melisande nahm mich an die Hand. „Du bleibsssst bei mir!“, zischten ihre Schlangen. Damit war ich einverstanden, die Gesellschaft der Schlangenlady war mir bei aller Absonderlichkeit immer noch lieber als die von ein paar herrschsüchtigen Außerirdischen. Zu zweit liefen wir in den Gang. Wir waren erst zwanzig oder dreißig Schritte gerannt, da spürte ich einen heftigen Schlag, ähnlich wie damals, als ich auf Oma und Opa Walkers Farm mit dem Kopf gegen den elektrischen Zaun gerannt war. Nur dass dieser Schlag zwanzigmal stärker war, aber weniger wehtat. „Was war das?“, rief ich. Niemand antwortete. Aber ich glaubte ohnehin, es zu 77
wissen. Wir hatten vermutlich eine Grenze überschritten – eine Grenze wie die beim Betreten des Gangs. Jetzt waren wir woanders. Nur wo? Wir rannten weiter. Hinter uns hörte ich jemanden rufen. Ich blickte über die Schulter und versuchte dabei bloß nicht ins Stolpern zu geraten. Der Gang hinter uns reichte nicht bis zur Treppe und nicht einmal bis zu der Stelle, an der das Bücherregal nach oben verschwunden war. Stattdessen endete er an einer schwarz flimmernden Wand. Dort hatte ich diesen sonderbaren Schlag verspürt! Und dann sah ich etwas, was mich völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Die Wand bekam eine Beule. Irgendjemand oder irgendetwas drückte von der anderen Seite dagegen und schimpfte dabei laut und wütend. Die schwarze Fläche schien sich zu dehnen, dünner zu werden. Ich bekam einen solchen Schrecken, dass ich stolperte und beinahe hingefallen wäre. Melisande riss mich gerade noch hoch. „Nicht stehen bleiben!“, zischten die Schlangen auf ihrem Kopf. Wir legten einen Zahn zu und hatten plötzlich die anderen eingeholt. Und ein gutes Stück voraus sah ich sie. Ich wusste sofort, dass wir am Ziel waren. Die Sternentür war so schwarz wie alles andere um uns herum. In ihrer Mitte pulsierte jedoch ein Kreis silbern leuchtender Sterne. Kaum waren wir dort angekommen, drehte der Wentar sich alarmiert um. Ich folgte seinem Blick.
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Die Wand hinter uns war durch dicke, glitzernde Krallen in Fetzen gerissen worden. Doch selbst diese Fetzen hatten noch magische Kräfte und hielten das Wesen auf der anderen Seite in Schach. Immer wieder versuchte es, sich mit roher Gewalt durch das Loch hindurchzuzwängen. Für einen kurzen Augenblick sah ich eine furchterregende Fratze – große Augen, eine wulstige, tiefrote Schnauze und gewaltige, vom Unterkiefer aufwärts ragende Eckzähne. Aus dieser Schnauze drang ein Wutschrei, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. 79
„Schnell!“, rief Gaspar. „Schnell!“ Der Wentar sammelte sich. Er bewegte die Finger bedächtig über den Sternenkreis und berührte die glitzernden Punkte in einer bestimmten Reihenfolge. Offensichtlich war es die richtige Kombination, denn die Tür öffnete sich mit einem melodischen Summen und dahinter wurde ein riesiges schwarzes, mit Sternen gesprenkeltes Nichts sichtbar. Es sah aus wie ein Tor zum Weltall und ich erwartete, dass ich im nächsten Augenblick in den Tod gesaugt werden würde, aber nichts passierte. Der Wentar streckte ganz ruhig die Hand aus und berührte einen Stern vor sich, als sei er eine Stickerei auf einem Vorhang. „Ich möchte dorthin“, sagte er zu der Tür. Dann drehte er sich zu uns um. „Folgt mir.“ Er machte einen Schritt nach vorn. Die schwarze Leere kräuselte sich und verschluckte ihn. Gaspar folgte dicht hinter ihm. Ludmilla flatterte ihrem Bruder nach und verschwand ebenfalls in der Nacht. Dann ging Albert mit Sarah auf der Schulter los. „Wartet!“, schrie ich. Doch zu spät, sie waren schon verschwunden. Ich sah mich um. Das furchtbar Wesen, das uns verfolgte, versuchte noch immer mit aller Kraft, sich durch die schwarzen Fetzen der Wand zu zwängen. Obwohl sie sich an ihm festklammerten und es zurückhalten wollten, hatte es die Barriere schon beinahe durchbrochen. Hinter ihm knurrten und schnaubten noch weitere Artgenossen. Plötzlich fixierte das Monster mich mit seinen Augen. Mir wurde heiß und kalt und in banger Erwartung schrecklichen Unheils blieb ich wie erstarrt stehen, ein hilfloses Opfer in den Augen eines gewaltigen Raubtiers. 80
„Wir müssssen gehen!“, schrie Melisande und zerrte mich an der Hand. Der Bann war gebrochen und ich folgte ihr durch die Sternentür. Mir war, als hätten mich gleichzeitig tausend Bienen gestochen und tausend Schmetterlinge geküsst. Ich spürte immer noch ein Kribbeln am ganzen Körper, da merkte ich, dass ich auf einer grünen, mit kleinen roten Blumen gesprenkelten Wiese stand. Doch wirklich entspannend war dieser Anblick nicht. Denn die Wiese war zwar grün, doch die Pflanzen darauf sahen nicht wie Gras aus, sondern eher wie fünf Zentimeter hoher Brokkoli. Genauso verhielt es sich mit den Blumen. Obwohl ich irgendwie gleich an Blumen dachte, als ich sie sah, waren es doch eindeutig keine. Und als Sohn zweier Floristen kann ich das beurteilen. Die steifen Blütenblätter, die von der höckrigen Mitte abstanden, glänzten metallisch. Ich berührte eins davon und schrie auf. Der Rand des Blattes war so scharf, dass ich mich geschnitten hatte wie an einem Blatt Papier. Ich steckte den blutenden Finger in den Mund und hob den Kopf. Der Himmel war lila wie wilde Iris. „Anthony“, sagte Sarah beklommen, „wir sind nicht mehr in Nebraska, oder?“ „Aber auch nicht auf Zentarana“, sagte Ludmilla, die wieder Menschengestalt angenommen hatte. Sie klang so angespannt, wie ich mich fühlte – was meine Anspannung natürlich nur verstärkte. „Wo hast du uns denn hingebracht, Wentar?“ „An einen Ort, an dem wir hoffentlich sicher sind – und vermutlich Informationen sammeln können.“ „Werden uns die Flinduwier nicht verfolgen?“, fragte ich. 81
„Vor denen sind wir jetzt erst einmal sicher. Sie können uns laut dem Gesetz der Magie nicht durch die Sternentür folgen.“ „Gutes Gesetz“, sagte Albert. Der Wentar antwortete nicht. Stattdessen begann er, sich langsam im Kreis zu drehen. Dabei machte er ein seltsames, summendes Geräusch. Vielleicht war er nervös. Vielleicht handelte es sich aber auch um einen geheimen Ruf. Oder er hatte einen Ohrwurm. Wie gesagt, wer kann solche Dinge schon bei einem Alien sagen? Mitten in der zweiten Umdrehung hielt er an und streckte die Hand aus. „Hier lang“, rief er. „Schnell!“ Er eilte über die Wiese und wir folgten ihm. Was blieb uns auch anderes übrig? Das grasähnliche Zeug federte unter meinen Füßen, sodass ich beim Gehen fast hüpfte. Außerdem gab es eine Art melodisches Summen von sich ähnlich dem Summen des Wentars vorhin. Die Luft war klar und frisch und es tat gut durchzuatmen. Unwillkürlich musste ich an die Worte des Wentars über den Schlamassel denken, den wir auf der Erde angerichtet hatten. Wie unsere Luft wohl riechen würde, wenn sie sauber wäre? Eine Viertelstunde später gelangten wir an einen großen See, dessen blaugrüne Oberfläche von sanften Wellen gekräuselt wurde. Wir stiegen den Hang zum sandigen Ufer hinunter. Plötzlich erhob sich etwas aus dem Wasser. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Sarah packte mich am Arm. „Was ist das denn?“, rief sie erschrocken.
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9 Wasserwesen Die Kreatur, die tropfend am Ufer stand, war etwa einen Meter zwanzig groß und sah aus wie eine Kreuzung zwischen Frosch und Fisch, obwohl sie Arme hatte und aufrecht ging. Vom Kopf bis zum Hintern schmückte sie ein dorniger Kamm. Der Mund unter den riesigen Glotzaugen war so breit, dass die obere Hälfte des Kopfes vermutlich abfiel, wenn das Ding gähnte. Es hatte Kiemen, aber keine Schuppen. Die Haut glänzte in der Sonne und sah aus wie rot geflecktes, mit einer dünnen Schleimschicht überzogenes Leder. Ich hätte wahrscheinlich noch viel mehr Angst haben sollen, aber vielleicht flippte ich deshalb nicht aus, weil ich Frösche so gerne mag. In Fox Hill gibt es jede Menge davon und ich fange sie und „hypnotisiere“ sie. Ich habe diesen Trick mal in einem Buch aus der Stadtbücherei gefunden. Wenn man einen Frosch auf den Rücken dreht und immer wieder mit der Fingerspitze langsam vom Hals über den Bauch fährt, wird er bald ganz, ganz ruhig und liegt still in der Hand und kann sich nicht mehr bewegen. Das ist total cool, aber man muss es sehr vorsichtig machen. 83
Das Wasserwesen hielt eine Hand mit Schwimmhäuten hoch und gab eine Reihe quakender Laute von sich, die wie ein ganzes Froschorchester klangen – vom Trillern des Frühlingspfeifers bis zum tiefen Rumpeln des Ochsenfrosches, na ja, eigentlich sogar noch viel tiefer. Der Wentar legte die Hände seitlich an den Hals und erzeugte einige ähnliche Laute. Ich, der ich in der Schule kaum eine Klassenarbeit in Französisch bestehe, war von so viel Fremdsprachenkenntnis sehr beeindruckt. Das Wasserwesen antwortete dem Wentar mit einem weiteren Froschchor. „Was sagt er?“, fragte Gaspar. „Er heißt Chug-rug-lalla-apsa-lalla-rugum-bupbup“, antwortete der Wentar gurgelnd. „Aber ihr könnt Chuck zu ihm sagen.“ „Gott sei Dank“, murmelte Albert. Der Wentar sah ihn böse an. „Chuck heißt uns willkommen, wenn wir ihm versichern, dass wir in Frieden kommen.“ „Schön und gut“, sagte Gaspar ungeduldig. „Aber die Frage ist doch, wird er uns helfen?“ „Das will ich ja gerade herausfinden“, erwiderte der Wentar gereizt. „Vielleicht bekomme ich eine Antwort darauf, wenn ihr mich nicht ständig unterbrecht.“ Gaspar presste die Lippen aufeinander. So sah also eine Eidechse aus, wenn sie verlegen und wütend zugleich war. Der Wentar und das Wasserwesen unterhielten sich eine ganze Weile. Ihr Gequake klang wie ein Duett von Sumpfbewohnern in einer lauen Frühlingsnacht. Endlich wandte sich der Wentar wieder uns zu und sagte: „Legt euch auf den Rücken.“ 84
Gaspar musterte ihn misstrauisch. „Warum?“ Der Wentar seufzte. „Ich muss etwas tun und habe es leichter, wenn ihr dabei alle liegt – am besten im Kreis und mit den Köpfen nach innen.“ Gaspar presste die Lippen zusammen, dann nickte er zweimal – einmal an den Wentar gewandt und einmal für uns zum Zeichen, dass wir tun sollten, was der Wentar wollte. Das dauerte eine Weile. Albert konnte sich wegen seines Buckels nicht richtig hinlegen und Bob winselte und knurrte. Am Schlimmsten aber fand ich die Schlangen auf Melisandes Kopf, die nicht stillhalten wollten. Ich hatte mich gerade hingelegt, da glitschte eine über meinen Hals und ich sprang schreiend wieder auf. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, schimpfte der Wentar. „Eine Schlange!“, rief ich und griff mir an den Hals. „Sie ist über mich gekrochen.“ Melisande sah mich gekränkt an und ihre Schlangen zischten: „Ssssie wollte dir nicht wehtun. Ssssie wollte nur Bekanntschaft mit dir schliessssen.“ Gaspars lange Zunge schoss aus seinem Maul und verschwand wieder darin. „Jetzt leg dich wieder hin“, befahl er. „Und du hältst die Mädels im Zaum, Melisande.“ Melisande sah ihn böse an, nickte aber. „Gut, dass das nicht mir passiert ist“, flüsterte Sarah, als ich wieder auf dem Rücken lag. „Schade eigentlich“, sagte ich. Während ich Schlangen nämlich im Grunde mag, gruselt sich Sarah richtig vor ihnen. Wenn ihr eine über den Hals gekrochen wäre, hätten wir sie wahrscheinlich stundenlang beruhigen müssen. Der Wentar begann um uns herumzugehen. Dabei murmelte er leise vor sich hin. Er nahm etwas aus seinem 85
Lederbeutel und streute es über unsere Köpfe. Anschließend bespritzte Chug-rug-lalla-apsa-lalla-ru-gum-bupbup uns mit Wasser. „Liegen bleiben!“, befahl der Wentar, als wir uns aufrichten wollten. Er sagte es so streng, dass sogar Bob gehorchte. Dann begann er leise zu singen und streckte dabei die Hände über uns aus. Ich spürte ein seltsames Kribbeln auf der Haut. Fünf Minuten später sagte der Wentar: „Jetzt könnt ihr aufstehen.“ „Was war das?“, murmelte ich. Chuck antwortete mir, obwohl ich mit mir selbst gesprochen hatte. „Wir haben dafür gesorgt, dass ihr uns besser versteht.“ Aus seinem Mund kam wieder eine Folge quakender und pfeifender Laute, aber plötzlich verstand ich jedes Wort. „Wie ist das möglich?“, fragte Sarah. Sie schien genauso erstaunt wie ich. Und sie klang genauso wie Chuck. Sie hatte natürlich nicht seine Stimme, aber sie machte die Laute seiner Sprache. Ich starrte sie entgeistert an. „Wir haben euch verzaubert“, sagte der Wentar. Ich hatte mir immer vorgestellt, Aliens seien eine Art Superwissenschaftler. Dass sie auch Magie verwendeten, wollte mir nicht so recht in den Kopf. „Bitte folgt mir“, sagte das Wasserwesen und kehrte zum Ufer zurück. „Ich möchte euch meiner Mutter vorstellen.“ „Sie hat doch nichts gegen unangemeldete Besuche von Fremden?“, fragte ich nervös. „Lebt sie denn unter Wasser?“, fragte Sarah. Sie klang noch nervöser. 86
„Keine Sorge“, sagte Chuck. „Ihr werdet atmen können. Dafür haben wir auch gesorgt.“ Er hockte sich ans Ufer und sprang ins Wasser, ohne sich zu vergewissern, ob wir ihm auch folgten. Der Sprung trug ihn zehn Meter geradeaus durch die Luft, dann verschwand er mit einem großen Platschen unter der Wasseroberfläche. Der Wentar watete ihm hinterher und Bob folgte ihm dicht auf den Fersen, er mochte Wasser offensichtlich ziemlich gerne. Zwar hatte er immer noch seine halb menschliche Gestalt, aber er hüpfte mit übermütigem Gebell durch die glucksenden Wellen. Plötzlich tauchte er vollkommen unter, als habe er soeben die Kante eines 87
Abgrunds überquert. Hustend und spuckend tauchte er wieder auf und verschwand erneut. Diesmal blieb er verschwunden. „Sieht ganz so aus, als ob das mit dem Atmen funktioniert“, sagte Sarah. „Entweder das oder er wurde aufgefressen“, meinte Albert. „Sehr witzig“, sagte Gaspar barsch. Er straffte die Schultern und watete hinter Bob, dem Wentar und Chuck ins Wasser. „Los, Albert“, rief er, ohne sich umzusehen. „Das Schicksal wartet.“ „Wie Sie meinen, Master“, sagte Albert. Er verdrehte die Augen und machte eine ergebene Geste, dann folgte er Gaspar ins Wasser. Am Ufer standen noch Ludmilla, Melisande, Sarah und ich. „Was mache ich mit meinen Haaren?“, murmelte Melisande. Das klang zwar wie eine typische Tussi-Frage, war aber keine, denn die Schlangen auf ihrem Kopf wanden und krümmten sich aufgeregt. Auf einmal wurde mir bewusst, dass nur noch ich und lauter Mädchen am Strand standen. Also stieg ich ins Wasser. „Warte auf mich, Anthony!“, rief Sarah und spritzte hinter mir her. Das Wasser war eiskalt und roch eigenartig zitronig, nicht unangenehm, sondern nur seltsam. Seltsam war auch, vollständig angezogen hineinzugehen. Zwar waren die Beine meiner Jeans schon seit dem Fußmarsch nach Morley Manor nass, aber jetzt klebten sie kalt und schwer an meiner Haut. Nur gut, dass ich nichts Wichtiges in meinen Hosentaschen hatte. 88
Wir waren bereits ein ganzes Stück hinausgewatet, da hörte ich Melisande und Ludmilla leise zischend und schimpfend hinter mir ins Wasser steigen. Wahrscheinlich fanden sie nasse Kleider noch schlimmer als ich. Aber ich drehte mich nicht um. Ich behielt das Wasser unablässig im Blick und war auf alles Mögliche von menschenfressenden Pflanzen bis hin zu schleimigen Riesenfischen und lebendigem Schmatzschlamm gefasst. Wer wusste schon, was für Kreaturen in den Seen dieses Planeten hausten? Plötzlich streckte Gaspar den Kopf aus dem Wasser. „Wo bleibt ihr denn?“, rief er mit tropfender Schnauze. „Beeilt euch!“ Das war ein gutes Zeichen. Ich hatte mir nämlich ziemliche Sorgen gemacht, weil die anderen so spurlos verschwunden waren. Ich drehte mich also zu Sarah um. „Bereit?“ Sie nickte. Wir fassten uns an den Händen und wateten weiter. Da Sarah kleiner ist, ging sie zuerst unter. Ich blieb stehen und sah zu. Das klingt gemein, ich weiß. Andererseits, wenn etwas schieflief, konnte ich sie leichter herausziehen als sie mich. Im nächsten Augenblick streckte sie den Kopf aus dem Wasser und rief: „Schnell, Anthony! Das ist echt der Hammer!“ Jetzt ärgerte ich mich, weil ich nicht zuerst untergetaucht war. Ich tauchte also ebenfalls hinein. Zuerst wollte ich die Luft anhalten, aber ich merkte bald, dass ich das nicht lange konnte. Nein, ich musste das Wasser einatmen. Vorsichtig – ganz vorsichtig – sog ich ein paar Tropfen durch die Nase ein. 89
Wow! Das Wasser fühlte sich in meiner Lunge richtig gut an und ich musste überhaupt nicht husten oder spucken. Ich holte mutiger Luft und füllte meine Lunge mit dem zitronigen Wasser. Ich spürte es schwer, aber nicht unangenehm in meiner Brust. Fasziniert sah ich mich um. Offenbar hatte der Wentar nicht nur unsere Lungen, sondern auch unsere Augen verzaubert, denn ich sah alles ganz scharf. Seltsame, fischähnliche Wesen schwammen um uns herum. Einige waren durchsichtig wie Geisterfische, andere hatten große Glotzaugen oder zogen lange Flossen wie Bänder hinter sich her. Vor uns wuchsen merkwürdige Pflanzen bis zur Wasseroberfläche hinauf, die in der Strömung hin und her wiegten wie Geisterhände, die etwas packen wollten. Auf dem Seegrund blühten verschiedene leuchtend bunte Blumen, einige waren klein wie Fingerhüte, andere groß wie Essteller. Mann, dachte ich, die könnten Mama und Papa für ihren Laden gebrauchen. In einiger Entfernung vor mir sah ich Gaspar. Er schien ungeduldig. „Komm“, sagte ich zu Sarah. „Beeilen wir uns.“ Ich hatte irgendwie erwartet, dass beim Sprechen kleine Blasen aufsteigen würden – doof. Dazu brauchte man natürlich Luft und die atmeten wir ja nicht mehr. Ich hörte mich ganz normal sprechen, obwohl der Schall sich durch Wasser ausbreitete und nicht durch Luft. Wir gingen weiter bergab. Ein kurzer Blick zurück zeigte mir, dass inzwischen auch Ludmilla und Melisande vollkommen untergetaucht waren. Melisandes Schlangen wanden und krümmten sich wie wahnsinnig 90
um ihren Kopf. Hoffentlich schadete ihnen das Wasser nicht. Als die Bewegungen der Schlangen allmählich schwächer wurden, Melisande jedoch ungerührt weiterlief, schwand meine Sorge. Das bedeutete dann wohl, dass die Schlangen nicht ertranken, sondern sich langsam beruhigten. Ich hob den Kopf. Über uns kräuselte sich die Wasseroberfläche im Sonnenschein. Es sah aus wie eine silbrig schimmernde, von einem ständig wechselnden Muster überzogene Decke. Ich tippte Sarah auf die Schulter und zeigte hinauf. Sie lächelte und sagte glücklich: „So was Cooles haben wir noch nie erlebt, Anthony.“ Ich wusste nicht, ob sie das Atmen unter Wasser meinte oder alles, was passiert war, seit ich Albert ins Waschbecken getaucht hatte. Aber sie hatte auf jeden Fall Recht. Melisande und Ludmilla hatten uns mittlerweile eingeholt. „Hopp, weiter“, sagte Ludmilla. Wir gingen weiter. Der Seegrund wurde schlammiger und ein paar Schlingpflanzen klammerten sich um unsere Fußknöchel. Also begannen wir zu schwimmen, was sich als viel leichter herausstellte. Zwar konnten wir atmen, aber das Wasser war natürlich trotzdem nass. Unsere Haare schwammen also um unsere Köpfe und die Kleider klebten uns eng auf der Haut – was Melisandes Kleid allerdings auch schon vorher getan hatte. Sarah ertappte mich dabei, wie ich Melisande anstarrte, und versetzte mir einen Rippenstoß. Wir schwammen tiefer und ich spürte den Druck des Wassers auf mir. Ich hätte gern gewusst, wie tief wir noch hinuntermussten und ob der Zauber des Wentars uns auch davor schützte, vom Gewicht des Wassers zerdrückt zu werden. 91
Mit großen Augen beobachtete ich die Unterwasserlandschaft um uns herum und achtete nicht weiter auf den Weg. Da rief Sarah plötzlich: „Um Gottes willen!“ Ich dachte zuerst, sie hätte vielleicht einen besonders schönen Fisch gesehen. Dann merkte ich, dass Chuck uns über eine Klippe geführt hatte. Ich bekam einen Schreck, als ich den gähnenden Abgrund sah. Dabei war das ja eigentlich gar nicht weiter schlimm: Wenn man im Wasser ist, kann man schließlich nicht hinunterfallen. Mein Schreck ließ nach und ich sah neugierig in die Schlucht unter uns. Dann wurde mir klar, weswegen Sarah so aufgeregt war. Sie hatte gar nicht die Klippe gemeint. Mein Herz begann wieder wie wild zu hämmern. Man hatte uns verraten.
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10 Die Mutter aller Frösche In der Mitte der Landschaft hockte ein ganz erstaunlich anzusehender Koloss, der Chug-rug-lalla-apsa-lalla-rugum-bupbup durchaus ähnlich sah, von einem entscheidenden Unterschied abgesehen: Er war größer als unser Haus! Im ersten Moment hielt ich ihn für eine Statue, welche die Wasserwesen angefertigt hatten. Doch wenige Augenblicke, nachdem wir über die Kante der Klippe hinausgeschwommen waren, drehte das Monstrum seine riesigen Augäpfel in unsere Richtung, klapperte zweimal mit den Lidern und öffnete das Maul. Heraus schoss eine grüne, bestimmt dreißig Meter lange Zunge. Sie schlang sich wie ein tödliches Band um den Wentar und zog ihn so schnell, dass man ihr kaum folgen konnte, in das klaffende Maul. Ich brach in Panik aus. Würde ich so sterben – verschluckt von einem Riesenfrosch auf einem fremden Planeten? Ich sah mich aufgeregt nach Sarah um. Sie schwamm neben mir. „Komm!“, schrie ich. „Nichts wie weg!“ Ich fasste sie an der Hand – vermutlich instinktiv, denn besonders klug war es nicht: Man kann überhaupt 93
nicht schnell schwimmen, wenn man sich an den Händen hält. „Wartet!“, befahl Chugrug-Froschfratze. Na klar. Ich würde bestimmt nicht geduldig Däumchen drehen und abwarten, bis er uns an sein Herrchen oder was das auch war verfütterte. Trotzdem drehte ich mich noch einmal um und sah, wie der Wentar gerade wieder zwischen den Lippen des Kolosses hervorkroch. Er kletterte über ein Nasenloch bis zu einer ebenen Stelle, auf der er stehen konnte. Dann winkte er uns zu sich hinunter. „Sollen wir?“, flüsterte Sarah. Gaspar, der neben uns im Wasser schwebte, sagte: „Das Universum ist wieder einmal seltsamer, als wir es uns je vorgestellt haben. Was für neue Dinge werden wir in dieser wässrigen Welt entdecken? Vorwärts, meine Lieben, vorwärts.“ Damit war die Entscheidung für die Morleys gefallen. Ich meinerseits kam zu dem Schluss, dass uns der Koloss, wenn wir versuchten wegzuschwimmen, wahrscheinlich einfach mit seiner Zunge einfangen würde. Also nickte ich Sarah zu. „Komm“, sagte ich, „dann gehen wir auch.“ Wir schwammen ebenfalls zum Grund des geheimnisvollen Sees hinunter. „Dies ist Königin Gunk-alla-gunk-gunk-ipsimallaribit“, erklärte uns der Wentar, als wir zu acht auf der Schnauze des Kolosses saßen. „Unsere Mutter“, fügte Chuck hinzu. „Wenn du das sagst“, meinte Albert. Der Wentar warf dem Buckligen einen strafenden Blick zu. „Außerdem ist sie meine offizielle Kontaktperson in dieser Welt. Wenn jemand uns helfen kann, dann sie. Wir müssen reingehen und mit ihr sprechen.“ 94
„Wo reingehen?“, fragte ich und sah mich nach einem Haus um. Ein solches Haus musste ganz schön groß sein, wenn dieses Vieh darin Platz haben sollte. „In ihren Mund“, sagte der Wentar. „Das soll wohl ein Witz sein!“, rief Ludmilla. Melisandes Schlangen wanden sich alarmiert. „Ich gelte nicht als besonders witzig“, sagte der Wentar. „Kommt. Ein unglaublich mächtiges Wesen begegnet uns mit größter Freundlichkeit. Es wäre unklug, sich lange zu zieren.“ Er streckte die Arme aus und stieß sich von der Schnauze des Froschmonsters ab. Chuck schwamm ihm nach, ohne sich noch einmal nach uns umzudrehen. Wir Übrigen sahen uns verwirrt und eingeschüchtert an. Dann straffte Gaspar die Schultern. „Familie Morleskjewitsch, antreten!“, kommandierte er. Rasch stellten die Monster sich in einer Reihe auf. „Wir sind die Familie Morleskjewitsch“, sagte Gaspar feierlich, „und wir schrecken vor Gefahr nicht zurück. Auch nicht vor dem Unbekannten. Ich sage: vorwärts!“ „Vorwärts!“, riefen die anderen. „Vorwärts!“, rief auch ich unwillkürlich. Und so kam es, dass Sarah und ich den Morleys über den Rand der gewaltigen königlichen Schnauze folgten. Kaum hatten wir die Nase verlassen, da klappte schon der riesige Mund auf und ein Wasserschwall spülte uns in eine dunkle Höhle – die noch dunkler wurde, als der Mund sich wieder schloss. Ich war mir ganz sicher, dass unser letztes Stündlein geschlagen hatte. Aber dann zauberte der Wentar wieder, und auf einmal hüllte uns ein dämmriger Schein ein.
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Das Maul der Königin war von innen etwas kleiner als mein Zimmer zu Hause. Ihre Zunge sah aus wie ein zotteliger Teppich. Wir ließen uns auf sie hinuntersinken. Zu meiner Erleichterung fühlte sie sich nicht klebrig und schleimig an, wie ich befürchtet hatte. Im hinteren Teil des Mauls sah ich zwei Beulen. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass es sich dabei um die Rückseiten der Augäpfel handelte. Hinter den Beulen begann der Rachen – ein schwarzes Loch, dem ich auf keinen Fall zu nahe kommen wollte. Plötzlich erfüllte ein tiefes Brummen das Wasser. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, dass es sich dabei um Worte handelte – dumpf dröhnende Worte. Der Wentar erklärte später, dass die Königin sie durch ein – für ihre Verhältnisse – leichtes Gurgeln im Hals erzeugte. 96
„Ich grüße den Wentar von Ardis und alle seine Gefährten.“ „Ich grüße Königin Gunk-alla-gunk-gunk-ipsim-allaribit“, antwortete der Wentar. „Und ich danke Euch für die Geborgenheit und Wärme Eures Mundes. Möge Eure Nachkommenschaft unaufhörlich wachsen und mögt Ihr Millionen von Kindern haben.“ „Die habe ich schon“, sagte die Königin. Sie klang ein wenig müde. „Zwei Millionen und vierhundertdreizehntausendundfünfhundertfünfundsiebzig, um genau zu sein.“ „Ihr übertrefft Euch selbst, Hoheit!“, rief der Wentar bewundernd. „Es macht mich völlig kaputt“, erwiderte die Königin. „Aber kommen wir zur Sache, Wentar. Soweit ich infor97
miert bin, haben Sie mit diesem schmutzigen kleinen Planeten namens Erde zu tun.“ „Das stimmt“, sagte der Wentar. „Mich begleiten sogar sieben Menschen dieses Planeten.“ Ich fand es nett von ihm, dass er Bob auch zu den Menschen zählte. „Wie ungewöhnlich“, sagte die Königin. „Die Umstände waren ungewöhnlich. Ich habe mich viel tiefer in ihre Angelegenheiten hineinziehen lassen, als mir lieb ist. Ich habe sie mitgebracht, weil wir verfolgt wurden.“ „Tatsächlich?“, sagte die Königin. „Lassen Sie mich raten. Von den Geschöpfen des Roten Nebels?“ „So ist es“, sagte der Wentar. Er klang überrascht. „Geschöpfe des Roten Nebels?“, fragte Gaspar. Er klang so verwirrt wie der Wentar überrascht. „Die Flinduwier werden manchmal so genannt“, erklärte der Wentar. „Der ‚Rote Nebel’ ist der Gefühlszustand, in dem sie sich oft befinden, ganz typisch für ihre Art. Es ist eine unkontrollierte rasende Wut jenseits unseres Vorstellungsvermögens, zum Teil mit … bemerkenswerten Folgen.“ „Ein solcher Geisteszustand ziemt sich nicht für ein zivilisiertes Wesen“, sagte die Königin. „Das stimmt“, antwortete der Wentar. „Nicht zuletzt aus diesem Grund überwache ich die Flinduwier. Und ich meine zu wissen, dass sie etwas im Schilde führen. Habt Ihr eine Vorstellung, was es sein könnte?“ „Nein“, erwiderte die Königin. Doch bevor der Wentar seiner Enttäuschung Ausdruck verleihen konnte, fügte sie hinzu: „Doch vielleicht kann Ihnen eins meiner Kinder mit Informationen dienen.“ Ein plötzliches, heftiges Vibrieren – ein Erdbeben? – 98
warf mich fast um. Sarah prallte gegen mich. Die Monster hatten sich geduckt und hielten sich gegenseitig auf wackligen Beinen fest. Dann erst wurde mir klar, dass die Erde gar nicht beben konnte, weil wir doch auf einer riesigen Zunge standen. Wollte unsere Gastgeberin uns verschlucken? „Was war das?“, fragte Gaspar, als das Beben nachließ. „Ich habe einen Wasserruf ausgeschickt“, sagte die Königin. „Er setzt sich im Wasser kilometerweit fort. Wenn eins meiner Kinder etwas weiß, wird es hierherkommen.“ Sie zögerte und fügte dann hinzu: „Es kann gar nicht anders.“ „Mütter!“, schnaubte Sarah. Keine fünf Minuten waren vergangen, da sagte die Königin: „Aha, eine Antwort! Ich bitte euch nun, zur Fortsetzung unserer Besprechung nach draußen zu gehen. Ich kann das Schlucken nicht mehr länger hinausschieben.“ Als ich das hörte, konnte ich es kaum noch erwarten, dass sie den Mund aufmachte. Gemeinsam schwammen wir nach draußen, um das Wesen zu empfangen, das auf den Ruf der Königin geantwortet hatte. Es sah genauso aus wie Chuck, aber klar, sie waren ja auch irgendwie Brüder. Es heiße Unk-lallaapsa-ribba-ribba-glibbit, sagte es und fügte hinzu: „Aber ihr könnt Unk zu mir sagen.“ Wir fanden neben dem linken Hinterbein der Königin, das turmhoch über uns aufragte, einen gemütlichen Sitzplatz. Sobald wir Erdlinge uns vorgestellt hatten, sagte Unk: „Mutter sagt, ihr wolltet etwas über die Flinduwier wissen.“ 99
„Richtig“, sagte der Wentar. „Vor allem, was sie mit der Erde vorhaben.“ „Ach so, das weiß ich nicht“, sagte Unk rasch. Ich glaubte ihm kein Wort. Er hatte so einen gehetzten, verzweifelten Blick – wie jemand, der Angst davor hat, die Wahrheit zu sagen. Auch Chuck bemerkte es. „Sag die Wahrheit, Bruder“, forderte er ihn grimmig auf. „Im Namen unserer Blutsbande.“ Unk verdrehte die Augen und begann zu zittern. „Ich weiß nichts“, krächzte er. „Ich befehle dir beim Namen deiner Mutter zu sprechen!“, rief der Wentar. Unk zitterte noch heftiger. Plötzlich wandte er sich ruckartig ab und wollte wegschwimmen. „Haltet ihn!“, rief der Wentar. Ich stand Unk am nächsten und packte ihn am Bein. Die tiefrote Haut war glitschig und das Bein erstaunlich kräftig. Ich klammerte mich mit aller Kraft daran fest. Dadurch kam Unk so langsam voran, dass die anderen ihn packen konnten. Er schlug wild um sich. Da hatte ich eine Idee. „Dreht ihn auf den Rücken!“, rief ich. Gaspar starrte mich entgeistert an. „Nein!“, rief Chuck. „Bitte nicht!“ Die anderen sahen ihn überrascht an. „Das gehört sich nicht“, sagte er leise. Wenn er nichts gesagt hätte, hätten die anderen meine seltsame Aufforderung wahrscheinlich gar nicht weiter beachtet. Aber die Anspannung in Chucks Stimme verriet ihnen, dass das mit dem Auf-den-Rücken-Drehen offenbar einen Versuch wert war. Also drückten sie Unk trotz Chucks Proteste auf den schlammigen Seegrund und 100
hielten ihn an seinen ausgestreckten Armen und Beinen fest. Ich begann mit der Hand vom Hals an abwärts über seinen Bauch zu streichen, wie ich es schon hundertmal mit den Fröschen gemacht hatte, die ich im Sumpf am Rand von Oma und Opas Farm gefangen hatte. Bei Unk musste ich dazu natürlich wegen seiner Größe die ganze Hand nehmen statt nur die Fingerspitze, aber im Prinzip war es genau dasselbe. „Das dürft ihr nicht“, sagte Chuck leise und wrang die mit Schwimmhäuten versehenen Hände. „Das dürft ihr nicht.“ Unk klapperte mit den Augendeckeln, zuerst schnell, dann immer langsamer. Schon bald strampelte er weniger heftig und entspannte Arme und Beine. Schließlich lag er schlaff und bewegungslos da. „Ist der Wentar von Ardis jetzt zufrieden?“, fragte Chuck bitter. Ich trat zurück und kam mir sehr gescheit vor. „Gut gemacht, Anthony“, flüsterte Sarah. „Psssst!“, zischten Melisandes Schlangen. Der Wentar beugte sich über Unk. „Hattest du Kontakt mit den Flinduwiern?“, fragte er leise. Unk nickte mit geschlossenen Augen. Der Wentar schien darüber mehr traurig als ärgerlich. Er beugte sich mit dem Mund zu Unks Ohr hinunter – wobei Unk keine richtigen Ohren hatte, sondern nur bräunliche Kreise – und fragte eindringlich: „Was haben die Flinduwier mit der Erde vor?“ Aus Unks Mund kam ein Gurgeln. Dann sagte er: „Sie wollen die Geister eurer Toten.“ Es klang, als müsste er die Worte von einem tief in seinem Inneren gelegenen Ort holen. Der Wentar starrte ihn verständnislos an. Von den 101
Monstern kamen wässrige Rufe des Erstaunens. Sarah suchte meine Nähe. Die nächste Frage platzte einfach aus mir heraus: „Wozu?“ Unks Antwort klang wie ein Schluchzen und sie verwirrte uns alle. „Sie brauchen sie als Batterien.“
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11 Das Land der Toten Gaspar beugte sich wieder über Unk. Seine Augen funkelten. „Was soll das heißen, ‚Batterien’?“, zischte er. Unk schluckte schwer und machte ein tiefes, quakendes Geräusch. „Ich weiß nichts Genaues, nur, was ich zufällig gehört habe. Die Geister eurer Toten verfügen über ungewöhnliche Kraft. Die Flinduwier wollen mit dieser Kraft eine besondere Waffe betreiben, die sie erfunden haben.“ Gaspars lange Zunge erschien wütend zwischen seinen Eidechsenkiefern. „So etwas Abscheuliches habe ich ja noch nie gehört!“ Das ging mir genauso. Den Geist eines Toten auszubeuten klang für mich schlimmer als Mord. Ob Geister starben, wenn man ihnen ihre eigentümliche Kraft entzog? Konnten Geister überhaupt sterben? Und wenn nicht, was passierte dann mit ihnen? Ob Opa Walker jetzt auch ein Geist war? Mir wurde plötzlich ganz kalt. Wurde jeder, der starb, zu einem Geist oder nur die, die noch etwas zu erledigen hatten? Hatte Opa Walker noch etwas zu erledigen? Die Bedrohung durch die Flinduwier schien mich auf einmal persönlich zu betreffen. 103
„Woher weißt du das alles?“, fragte der Wentar. „In welcher Verbindung stehst du zu den Flinduwiern?“ „Sie haben mich gefragt, ob ich als ihr Agent arbeite, und ich habe zugestimmt.“ Chuck starrte ihn entgeistert an. „Weiß Mutter davon?“ „Natürlich nicht“, flüsterte Unk von Scham erfüllt. „Was weißt du noch von ihren Plänen?“, fragte der Wentar barsch. „Nichts!“, rief Unk. „Wirklich nichts!“ Der Wentar schien ihm nicht zu glauben. Er stellte Unk noch weitere Fragen, doch es kam nichts mehr dabei heraus. Zuletzt winkte er verächtlich ab. „Dreht ihn wieder um“, sagte er. Wir gehorchten und augenblicklich war der hypnotische Bann gebrochen. Ich erwartete, dass Unk aufspringen und wegschwimmen würde, doch inzwischen schien er den Wentar dazu viel zu sehr zu fürchten. „Was wirst du jetzt mit mir tun?“, fragte er mit einem ängstlichen Blubbern. Der Wentar lächelte und ich war froh, dass dieses Lächeln nicht mir galt. „Gar nichts“, sagte er. „Alles Weitere überlasse ich deiner Mutter.“ Unk machte ein quiekendes Geräusch und sah aus, als wollte er gleich wieder umfallen. „Bring ihn nach Hause“, sagte der Wentar zu Chuck. „Und sorge dafür, dass er den Flinduwiern keine Informationen mehr übermitteln kann.“ „Aber gerne“, sagte Chuck. Seine Empörung darüber, wie wir Unk behandelten, war der Empörung über Unk selbst gewichen. „Grüße bitte deine Mutter von uns und richte ihr mei104
nen Dank für ihre Hilfe aus und mein Beileid für einen solch missratenen Sohn wie Unk-lalla-apsa-ribba-ribbaglibbit. Sag ihr, ich sei davon überzeugt, dass ihr ihre anderen zwei Millionen und vierhundertdreizehntausendfünfhundertachtundsiebzig Kinder mehr Ehre machen.“ Unk stöhnte. „Es wird mir ein Vergnügen sein“, sagte Chuck. Die beiden schwammen weg und wir sahen ihnen nach. „Und jetzt?“, fragte Gaspar, als sie zwischen Seegras und Fischen verschwunden waren. „Kehren wir so schnell wie möglich zur Sternentür zurück“, sagte der Wentar. „Also nach Hause?“, fragte ich eifrig. „Nicht unbedingt“, sagte der Wentar. „Wir müssen noch zwei Dinge erledigen. Wir müssen die Bewohner der Erde warnen und wir müssen herausfinden, wie die Flinduwier das genau anstellen wollen – am besten, indem wir Martin finden. Beides ist lebenswichtig.“ „Das klingt, als sollten wir uns aufteilen“, sagte Gaspar zögernd. Ludmilla nickte. „Gute Idee. Die Kinder sollten wir da sowieso nicht mit hineinziehen.“ Ich war einerseits gekränkt, andererseits dachte ich nur: Recht hast du! Bringt uns von hier weg! Der Wentar schüttelte den Kopf. „Anthony und Sarah stecken schon zu tief mit drin. Die Flinduwier wissen von ihnen, deshalb können wir sie nicht einfach heimschicken. Das könnte zu gefährlich für sie sein. Aber wir sollten uns trotzdem aufteilen, um die Warnung möglichst schnell zu übermitteln.“ „An wen denn?“, fragte Sarah. „An das FBI? Oder den Präsidenten?“ 105
Gaspar lachte. „Die haben doch von so etwas keine Ahnung, die sind viel zu beschäftigt. Selbst wenn wir zu ihnen durchdringen würden, sie würden uns doch nicht glauben.“ „Da war ich mir nicht so sicher“, sagte ich. „Wenn der Präsident euch sehen könnte, würde er wahrscheinlich alles glauben.“ „Ja, den Mächtigen tut es ganz gut, wenn sie ab und zu verunsichert werden“, sagte Ludmilla selbstgefällig. „Selbst wenn sie euch glauben würden, wüssten sie doch nicht, was sie tun sollten“, fiel der Wentar uns ins Wort. „Nein, wir müssen die warnen, die am meisten gefährdet sind.“ „Und das wären?“, fragte Albert, der hin und her geschwommen war und versucht hatte, einen Fisch zu fangen. „Das liegt doch auf der Hand“, sagte der Wentar. „Die Toten.“
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Bob begann zu winseln und Melisandes Schlangen wanden sich unruhig um ihren Kopf. „Wie sollen wir das denn anstellen?“, fragte ich ratlos. „Jemand muss das Land der Toten aufsuchen.“ „Das Land der Toten?“, flüsterte Sarah. „Das klingt aber unheimlich!“ „Wie kommt man denn dahin?“, fragte ich. „In meinem Atlas steht es nicht.“ Der Wentar richtete seine großen, roten Augen auf mich und ich bereute meine Frage sofort. Was, wenn man nun nur dadurch ins Land der Toten gelangte, indem man … selbst starb? Dem aufgeregten Zucken von Melisandes Schlangen nach zu schließen hatte sie denselben Gedanken. „Ich verstehe nicht einmal, was das sein soll“, sagte Sarah. „Was ist das Land der Toten?“ Der Wentar wirkte sehr ernst. Zugegeben, er sah mit seinem langen Gesicht und den traurigen Augen immer ernst aus, aber jetzt sogar noch ernster. „Es ist eine Welt zwischen Leben und Tod“, flüsterte er. „Ein Ort, an dem Verlorene und Aufrührer, Halsstarrige und Irregeleitete warten, über ihre Zukunft nachdenken und trauern. Sie sollten eigentlich anderswo sein.“ „Warum sind sie dann dort?“, fragte ich. Der Wentar seufzte tief. „Die Toten sollten zwar zur nächsten Stufe ihrer Existenz fortschreiten, aber nicht alle Seelen sind bereit, sich von der vorigen Stufe zu trennen. Die verschiedensten Dinge halten sie zurück – Schmerzen, Wut oder einfach eine unerledigte Aufgabe. Manchmal können sie auch einen geliebten Menschen nicht loslassen und manchmal, allerdings sehr selten, hält Freude sie zurück. Das Land der Toten ist ein Reich großer und kleiner Seelen, ein Ort, den es eigentlich gar 107
nicht geben sollte. Alles ist in Trauer getränkt. Es gibt auch Trost, doch die meisten beachten ihn nicht. Einige Seelen kommen nie an diesen Ort, andere bleiben nur einen Tag. Wieder andere, die Verbohrten oder Blinden oder von tiefster Seelennot Erfüllten, bleiben sogar Jahrhunderte.“ Mich überlief bei seinen Worten ein kalter Schauer, den ich auch noch spürte, als er längst zu Ende gesprochen hatte. „Wie gelangt man dorthin?“, fragte Sarah leise. „Am leichtesten, indem man stirbt“, erwiderte der Wentar. Als er unsere Gesichter sah, begann er zu kichern. Es war das erste Mal, dass ich ihn kichern hörte. „Keine Sorge! Das bedeutet ja noch lange nicht, dass man nicht auch anders hinkommt. Erfolg versprechend ist auf jeden Fall der Weg über eine persönliche Verbindung. Kennt ihr jemanden, der vor Kurzem gestorben ist?“ „Wir waren fünfzig Jahre lang in einer Kiste eingesperrt“, bemerkte Ludmilla. „Wahrscheinlich sind die meisten Leute gestorben, die wir damals kannten. Aber woher sollen wir wissen, wann?“ „Da gab essss natürlich Martin“, zischten Melisandes Schlangen. „Der aber nicht der wirkliche Martin war“, ergänzte Gaspar. „Aber Martins Klon ist doch nicht tot“, sagte der Wentar. „Er wurde nach Flinduwien zurückgebracht und durch eine leere Hülle ersetzt, die noch nie gelebt hafte. Dieses Ding wurde dann auf der Erde beerdigt.“ „Und ihr beide?“, fragte Gaspar und sah Sarah und mich an. „Kennt ihr jemanden, der unlängst das Zeitliche gesegnet und sich zu seinen Vätern versammelt hat?“ 108
„Oje!“ Albert schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich an uns. „Er meint, ob ihr jemanden kennt, der vor Kurzem gestorben ist.“ Natürlich kannten wir jemanden. Aber ich hatte gerade einen so dicken Kloß im Hals, dass ich kein Wort herausbrachte. Dafür antwortete Sarah. „Unser Opa“, sagte sie ganz langsam. „Wann ist er gestorben?“, fragte der Wentar. Zu meiner Überraschung schwang in seiner Stimme Mitgefühl. „Vor ungefähr einem Vierteljahr“, sagte Sarah. Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Könnte er zu denen gehören, die nur ungern loslassen?“, fragte Gaspar. „Stur war er schon“, sagte ich und musste gegen meinen Willen lächeln. „Er wartet bestimmt auf Oma“, fügte Sarah hinzu. „Er war nie gern ohne sie unterwegs.“ „Dann ist er vielleicht unser aussichtsreichster Kandidat“, sagte der Wentar. Die Vorstellung von Opa Walker als einem „aussichtsreichem Kandidaten“ für eine Reise ins Land der Toten gefiel mir nicht. Aber die Vorstellung, irgendwelche bizarren Aliens könnten seine Seele als Batterie missbrauchen, gefiel mir noch weniger. „Seid ihr Kinder zu dieser Reise bereit?“, fragte der Wentar. Er musterte Sarah und mich mit seinen roten Augen. „Ich will euch nicht verheimlichen, dass sie gefährlich ist. Aber es steht viel auf dem Spiel – für die Lebenden ebenso wie für die Toten eures Planeten.“ Ich sah Sarah an. Ihre Augen waren ängstlich aufgerissen. Aber ich kannte meine Schwester und wusste, dass 109
Angst für sie kein Grund war, etwas nicht zu tun. Also hob ich fragend die Augenbrauen. Sie nickte kaum merklich. Nicht nur die Familie Morleskjewitsch hatte ihre Rituale, wenn es darum ging, Entscheidungen zu treffen. Ich sah den Wentar an. „Wir sind bereit.“
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12 Doppelte Mission Bevor wir aus dem Wasser stiegen, musste der Wentar einen Umkehrzauber sprechen, damit wir wieder normal atmen konnten. Leider trocknete der Zauber uns nicht, wir stapften also nass und triefend über das federnde Brokkoli-Gras. Mittlerweile war es Abend geworden und ein kalter Wind wehte, der uns noch mehr frösteln ließ. Nur Bob schien das alles nichts auszumachen. Er war gern im Wasser gewesen und jetzt erregten ihn die vielen fremdartigen Gerüche um uns herum, von den Geräuschen kleiner Tiere ganz zu schweigen. Melisande musste ihn immer wieder daran hindern, zwischen den scharfkantigen roten Blumen herumzutollen, an denen er sich die nackten Füße aufgerissen hätte. Über uns wölbte sich der dämmrige, dunkelviolette Himmel und die Luft roch rein und würzig. Dieser Geruch war vielleicht überhaupt das Entscheidende. Noch mehr als der dunkelviolette Himmel, die messerscharfen Blumen oder das brokkoliartige Gras erinnerte mich dieser Duft daran, wie weit ich von zu Hause weg war. Ich hätte gern gewusst, wie spät es jetzt auf der Erde war. Der Wentar hatte ja gesagt, die Zeit vergehe in verschiedenen Welten verschieden schnell. Waren zu Hause 111
womöglich erst ein paar Minuten vergangen? Oder – viel schlimmer – waren es Tage oder gar Jahre? Wir waren so damit beschäftigt gewesen zu überleben, dass ich über solche Dinge gar nicht nachgedacht hatte. Jetzt gingen sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Schlief Oma Walker zu Hause noch tief und fest? Oder war sie aufgewacht und hatte gemerkt, dass wir weg waren? Ich stellte mir vor, wie sie unsere Eltern vollkommen aufgelöst und von Angst und Schuldgefühlen überwältigt von ihrem Floristenkongress nach Hause rief … „Wir müssen uns beeilen“, sagte ich. Gaspar nickte. „Von unserem Handeln hängt sehr viel ab. Wir tragen eine schwere Bürde.“ „Master“, sagte Albert, „ich sage es ja nur ungern, aber wenn wir uns trennen, müssen wir uns einigen, wer wohin geht.“ Melisandes Schlangen begannen zu zischen und sich wie wild zu krümmen. Ich wusste, wie ihnen zumute war. Die Gruppe aufzuteilen hielt auch ich für eine ganz, ganz schlechte Idee. „Ich muss natürlich nach Flinduwien, um Martin zu suchen“, sagte der Wentar. „Aber einer von euch Morleys sollte mitkommen. Wenn ich Martin wirklich ausfindig machen kann, beruhigt es ihn vielleicht, jemanden aus der Familie in meiner Begleitung zu sehen.“ „Vielleicht sollte ich dich begleiten“, sagte Gaspar. „Er ist schließlich mein Zwillingsbruder.“ Der Wentar schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Du bist außer mir der Einzige, der das nötige Wissen und die nötige Erfahrung für eine Reise ins Land der Toten hat, Gaspar. Deshalb musst du mit Sarah und Anthony zur Erde zurückkehren.“ „Ich gehe mit nach Flinduwien“, sagte Ludmilla. 112
„Ich auch“, sagte Albert sofort. Sarah stieß mich in die Seite. „Ich glaube, er mag sie“, flüsterte sie. Ich sah Ludmilla an. Von ihren Eckzähnen abgesehen, war sie eine richtig schöne Frau. Trotzdem war es eine seltsame Vorstellung, dass Albert sich in sie verknallt haben könnte. „Wenn also Ludmilla nach Flinduwien mitkommt, ssssollte ich Gasssspar und die Kinder begleiten“, sagte Melisande. Sie machte eine Pause, dann fügte sie hinzu: „Wahrscheinlich ssssollten wir auch Bob mitnehmen. Unsss stört er weniger.“ Bob schleckte ihr über das Gesicht. „Lassss dassss“, sagte sie und schob ihn weg. Wir gingen eine Weile schweigend weiter. Die Aussicht, sich trennen zu müssen, machte den Morleys sichtlich zu schaffen. „Wo sind eigentlich die Flinduwier, die hinter uns her waren?“, fragte Sarah plötzlich. „Sind sie uns auch bestimmt nicht gefolgt?“ „Ich habe doch gesagt, man kann niemanden durch eine Sternentür verfolgen“, erwiderte der Wentar ruhig. „Warten sie dann vielleicht noch in Morley Manor auf uns?“, fragte Sarah. Genau solche vernünftigen Fragen fallen ihr immer ein. „Das ist unwahrscheinlich“, sagte der Wentar. „Geduld gehört nicht zu ihren Tugenden. Ich vermute, dass sie inzwischen gegangen sind, zumal sie ja nicht wissen, wann oder ob wir zurückkehren. Trotzdem ist deine Sorge nicht ganz unbegründet.“ „Es gibt eben immer Grund zur Sorge, wenn man mit einem Wentar unterwegs ist“, brummte Albert. 113
Der Wentar beachtete ihn nicht, sondern wandte sich an Gaspar. „Sollten sie wider Erwarten doch noch da sein, kannst du euch mit diesem Schall-Disruptor etwas Zeit verschaffen. Wirf ihn einfach auf den Boden und er wird wirkungsvoll von euch ablenken.“ Er drückte Gaspar eine silberne Scheibe in die Hand, etwa so groß wie ein Eishockey-Puck. Der Wissenschaftler mit dem Eidechsenkopf ließ die Scheibe in die Tasche seines Labormantels gleiten. Dann besprachen er und der Wentar den genauen Weg ins Land der Toten. Ich hörte aufmerksam zu, verstand aber nur, dass Morley Manor als Ausgangspunkt offenbar sehr gut geeignet war. Kurz darauf standen wir an der Stelle, an der wir durch die Sternentür getreten waren. Die Tür war verschwunden! „Wo ist sie hin?“, rief ich und befürchtete schon, für immer in dieser Froschwelt festzusitzen. „Solche Türen stehen eben nicht immer offen“, erklärte Gaspar freundlich. „Stell dir nur vor, was das für Probleme verursachen würde! Die Leute könnten die ganze Zeit von einem Planeten zum anderen wechseln, was schon schlimm genug wäre. Aber es könnten auch alle möglichen wilden Tiere hindurchkommen. Das gäbe vielleicht ein gefährliches Durcheinander!“ Melisande begann zu lachen und die Schlangen gaben eine Art ersticktes Zischen von sich, offenbar ihre Art zu kichern. „Was ist daran so lustig?“, fragte Sarah. „Ich dachte nur daran, wassss die Menschen auf der Erde wohl ssssagen würden, wenn ssssie die Tiere ssssehen könnten, die ich auf Zzzzentarana halte.“ „Was ist Zentarana?“, fragte ich. 114
„Der Ort, an dem wir am liebssssten wären“, seufzte Melisande. Mehr wollte sie dazu nicht sagen, obwohl Sarah sie mit Fragen löcherte. Ungeduldig warteten wir alle darauf, dass Gaspar und der Wentar die Sternentür wieder öffneten – eine Prozedur, die offenbar eine Menge Singen und Gefuchtel mit den Händen erforderte. Plötzlich spürte ich, wie sich die Luft um uns veränderte. Gleichzeitig verstummten wir alle. Fast alle. „Sieh doch nur!“, flüsterte Sarah. Es war richtig krass. Zuerst sahen wir nur Luft. Dann zeichnete sich in der Luft ganz allmählich ein schimmerndes Oval ab und in der Mitte des Ovals erschien die Sternentür.
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Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Tür ihre endgültige Gestalt angenommen hatte. In Wirklichkeit waren es nur zehn Minuten. Als sie fertig war, war meine Vorfreude auf die Erde längst wieder verflogen. Mir war klar geworden, was wir dort tun sollten, und ich hatte eine Heidenangst davor. Der violette Himmel über uns war inzwischen fast ganz dunkel und die ersten Sterne tauchten auf. Im Gras begannen einige kleine Tiere zu singen. Wir standen bewegungslos da und mir wurde zum ersten Mal klar, dass wir uns nach dieser Trennung womöglich nie wieder sehen würden. Beide Gruppen begaben sich auf gefährliche Missionen – Missionen, von denen sie vielleicht niemals zurückkehrten. Auch die Morleys schienen bedrückt. Gaspar trat zu Ludmilla und sagte: „Pass auf dich auf, kleine Schwester.“ Sie umarmten einander lange. Ich sah mich nach meiner eigenen kleinen Schwester um. Sie ist eine schreckliche Nervensäge und geht mir eigentlich ständig auf den Geist, aber trotzdem würde ich alles tun, um sie vor Unheil zu schützen. So schrecklich die Monster von Morley Manor aussahen, ihre Gefühle waren auch nicht anders als unsere. Wir verabschiedeten uns voneinander. Der Wentar drückte mir fest die Hand. Es war das erste Mal, dass ich ihn berührte. Seine Haut fühlte sich wie Papier an. Zugleich spürte ich eine vibrierende Kraft. „Du warst sehr tapfer, Anthony“, sagte er. „Aber die größte Herausforderung steht euch noch bevor. Von dir und deiner Schwester hängt viel ab. Habe Mut und vertraue auf die Kraft der Liebe, die eine Familie zusammenhält.“ Auch Albert gab mir die Hand. Sie fühlte sich ledrig 116
an und war auf der Rückseite mit dicken Haaren bedeckt. „Danke fürs Auftauen“, sagte er. „War mir eine Ehre“, antwortete ich. Dann war es Zeit zu gehen. Der Wentar zog die Sternentür auf. Dahinter kam genau wie beim ersten Mal die schwarze, mit Sternen gesprenkelte Leere zum Vorschein. Der Wentar bückte sich und berührte den Stern in der Ecke rechts unten. „Ich möchte dorthin“, sagte er. Die Tür begann zu flimmern. Der Wentar trat zusammen mit Ludmilla und Albert hindurch. Im nächsten Augenblick waren sie verschwunden. Dann waren wir dran. Gaspar schritt vor die Tür, straffte die Schultern, murmelte etwas, was ein Gebet sein konnte, zeigte auf einen Stern und sagte: „Ich möchte dorthin!“ Die Tür flimmerte. Hinter Gaspar traten Sarah und ich durch die Tür und hofften, dass Gaspar auf den Stern gezeigt hatte, der uns nach Morley Manor zurückbringen würde. Melisande und Bob folgten dicht hinter uns. Und dann standen wir plötzlich wieder im Obergeschoss von Morley Manor – oder genauer gesagt in dem seltsamen Korridor, der aus Morley Manor hinausführte. Mein ganzer Körper kribbelte. „Man mag reisen, wohin man will, zu Hause ist es doch immer am schönsten“, bemerkte Gaspar trocken. Keine Ahnung, ob er das ernst meinte oder nicht. Mit schnellem Schritt ging er den Flur entlang Richtung Geheimtür und wir beeilten uns, ihm zu folgen. Nicht ein einziger Luftzug war zu spüren, doch die Fetzen der schwarzen Wand, die die Flinduwier aufgeschlitzt hatten, bewegten sich traurig hin und her, als bla117
se ein Wind aus einer anderen Welt. Gaspar streifte sie mit der Hand. „Was für eine sinnlose Raserei und blinde Wut“, flüsterte er traurig. Offenbar sprach er von den Flinduwiern. Als wir endlich wieder auf der anderen Seite des Bücherregals im wirklichen Morley Manor standen, blieben wir etwas zaghaft stehen. „Wassss glaubt ihr, wie viel Uhr essss isssst?“, zischte Melisande. Keiner von uns trug eine Uhr. Und auch im Haus hingen ja trotz der seltsamen Glockenschläge, die wir beim Betreten gehört hatten, keine Uhren mehr; sie waren zusammen mit dem Mobiliar verkauft worden. „Kommt“, sagte Gaspar. „Wenn wir rausgehen, wissen wir wenigstens, ob es Tag oder Nacht ist – wenn auch noch nicht, welcher Tag oder welche Nacht.“ „Hoffentlich waren wir nicht zu lange weg“, sagte Sarah nervös. Sie schob ihre Hand in meine und wir stiegen die Treppe hinunter. Ich drehte mich immer wieder um, weil ich fürchtete, die Flinduwier könnten uns in einem Hinterhalt auflauern. Doch alles blieb still; nur ein paar Löcher in den Wänden zeugten davon, dass hier vor Kurzem randaliert worden war. Wir traten nach draußen. Bob sprang über das Treppengeländer, lief im Garten herum und schnüffelte an den Büschen. Gaspar sah suchend zum Himmel hinauf. Ich stellte mich neben ihn. Es war noch dunkel, aber im Osten erhellte ein grauer Schein den Horizont. „Ich tippe auf vier Uhr morgens“, brummte Gaspar nach einer Weile. „Das ist ziemlich dumm, weil wir leider erst um Mitternacht ins Land der Toten übersetzen können.“ „Wir wissssen immer noch nicht, den Wievielten wir haben“, gab Melisande zu bedenken. 118
„Zwei Straßen weiter steht ein Zeitungskasten“, sagte Sarah. „Dort können wir nachsehen.“ Gaspar sah sich um. „Ich entferne mich nur ungern so weit vom Haus, ich will nicht unbedingt gesehen werden.“ Ich hatte mich schon so an die Monster gewöhnt, dass ich daran gar nicht gedacht hatte. Auf dem Weg zum Morley Manor waren sie nur zehn Zentimeter groß gewesen und wir hatten sie problemlos verstecken können. Doch jetzt war der gute Gaspar über ein Meter achtzig groß – von seinem riesigen, langen Eidechsengesicht ganz zu schweigen. Typen wie ihm begegnete man in einem Ort wie Fox Hill eher selten. „Ich sehe schnell nach“, bot Sarah an. „Ich bin gleich wieder da.“ „Ich komme mit“, sagte ich rasch. „Wartet!“, rief Gaspar. Aber da waren wir schon die Eingangsstufen hinuntergelaufen und fast am Gartentor angelangt. Ich glaube, Gaspar fürchtete, wir könnten ihn sitzen lassen. Dabei war ich Sarah aus einem ganz anderen Grund gefolgt: Ich hatte immer noch Angst wegen der Flinduwier. Sarah sollte nicht allein mit ihnen zusammenstoßen. Inwiefern ich ihr dann allerdings hätte helfen können, steht in den Sternen. „Oje“, sagte ich nach einem Blick auf die Zeitung im Kasten. „Oma ist bestimmt total ausgerastet! Wir sind schon einen ganzen Tag weg!“ Sarah studierte die Zeitung und begann zu lachen. „Nein, Anthony, nur eine Nacht.“ „Aber das ist die Zeitung vom Montag. Und am Sonntag sind wir losgegangen.“ „Und auf Sonntagnacht folgt Montagmorgen“, erklärte Sarah geduldig, als sei ich ein Idiot. 119
„Ja, aber jetzt ist es ja gerade erst Morgen. Die Zeitung von heute ist noch gar nicht erschienen. Also hängt diese Zeitung schon seit gestern hier und das bedeutet, dass wir heute Dienstag haben.“ „Falsch“, sagte Sarah und schüttelte den Kopf. „Das ist doch die Morgenzeitung. Sie erscheint so um vier. Außerdem ist der Kasten noch voll. Wenn es die Zeitung von gestern wäre, wäre er leer gekauft. Also ist heute Montag. Wenn wir wieder zu Hause sind, bevor Oma aufwacht, hat sie keine Ahnung, dass wir weg waren.“ „Also gut, dann gehen wir schnell zu Gaspar zurück und bringen ihm die gute Nachricht“, sagte ich mürrisch. Wieso wusste Sarah so was eigentlich immer? Gaspar und Melisande standen unmittelbar hinter dem Gartentor auf dem Weg zum Haus. Von draußen konnte man sie nicht sehen – obwohl Passanten um diese Zeit und an diesem Ort ohnehin ziemlich unwahrscheinlich waren. Auf ihren besorgten Gesichtern zeigte sich Erleichterung, als wir auftauchten. „Alles bestens“, sagte ich. „Es ist Montagmorgen, wie es sich gehört, und … oh nein! Das habe ich ganz vergessen!“
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13 Die Verwandlung „Was denn?“, riefen Melisande und Gaspar gleichzeitig. „Am Montag soll Morley Manor doch abgerissen werden“, sagte ich mit schwacher Stimme. „In ein paar Stunden geht es los!“ „Ach, du tückische Welt!“, rief Gaspar. „Dass das eigene Zuhause zum Spielball des Schicksals werden kann!“ Melisandes Schlangen krümmten sich erregt. Bob kauerte neben ihr und winselte erbärmlich. „Ich habe es euch aber gesagt“, erinnerte ich sie. Doch das war natürlich vor über fünf Stunden gewesen und seitdem war viel passiert. Aliens hatten uns verfolgt, wir waren auf einem anderen Planeten gewesen und wir hatten herausgefunden, dass die Seelen der Toten in Gefahr waren. „Wir müssen rasch handeln“, sagte Gaspar. „Zeit zum Nachdenken und Meditieren haben wir keine. Grausame Welt!“ Er sah sich wie Hilfe suchend um und ließ dann die Schultern fallen. Wir waren auf uns gestellt. „Gut“, sagte er. „Anthony und Sarah, kommt bitte wieder mit uns nach drinnen. Wir brauchen eure Hilfe, um uns wieder in unsere menschliche Gestalt zurückzuverwandeln.“ 121
„Wir ssssollen uns zzzzurückverwandeln?“, rief Melisande alarmiert. „Hier? Auf der Erde?“ Sie schien alles andere als begeistert und den Schlangen ging es ihrem scharfen Zischen nach zu schließen genauso. „Wir haben keine Wahl“, sagte Gaspar. Es klang entschuldigend. „Ihr könnt euch nach Belieben in Menschen zurückverwandeln?“, fragte ich fassungslos. „Was ist der Mensch?“, fragte Gaspar und breitete die Hände aus. „Eine bestimmte Gestalt und ein Gesicht? Oder etwas Tieferes, Wahrhaftigeres?“ „Beantworte doch einfach sssseine Frage“, zischte Melisande ungeduldig. Gaspar seufzte. „Ja, wir können uns verwandeln, aber es ist nicht einfach, zumindest nicht hier auf der Erde. Es ist eine schmerzhafte Prozedur – was wahrscheinlich eine tiefere Bedeutung hat, auch wenn ich noch nicht weiß, welche …“ „Warum habt ihr denn überhaupt diese Monstergestalt angenommen?“, fragte Sarah. „Das erzähle ich euch gern in einer ruhigen Stunde. Jetzt haben wir Wichtigeres zu tun.“ „Und Bob?“, fragte ich und zeigte auf den Cockerspaniel in Gestalt eines Wermenschen. „Bei dem geht das vorerst nicht“, sagte Gaspar. „Seine Verwandlung funktioniert nämlich anders. Aber jetzt kommt mit.“ Er kehrte ins Haus zurück und stieg die Treppe zu seinem Labor hinauf. Ich hatte auf einmal Angst, die Flinduwier könnten es in einem Wutanfall verwüstet haben, aber zu meiner Erleichterung war alles noch heil. 122
Der grüne Edelstein, die Energiequelle der ganzen Operation, lag noch im Steuergerät. Sogar unsere gelben Regenmäntel hingen noch dort, wo wir sie hingehängt hatten. „Jetzt hört gut zu“, sagte Gaspar. „Ich zeige euch, wie ihr die Instrumente zu bedienen habt. Aber ihr müsst noch etwas sehr Wichtiges wissen. Was wir jetzt tun, ist für Melisande und mich eine höllische Qual. Wir werden euch anflehen, damit aufzuhören. Aber das dürft ihr nicht! Auch wenn wir noch so sehr bitten und betteln, ihr dürft die Umwandlung auf keinen Fall abbrechen! Das wäre eine Katastrophe, verstanden?“ Ich nickte. Das klang nicht gut. Gaspar erklärte uns zweimal, in welcher Reihenfolge wir die verschiedenen Knöpfe und Hebel betätigen mussten, und ich musste alles zweimal wiederholen. Erst dann war er zufrieden, nahm Melisande an die Hand und stellte sich mit ihr unter dieselben Glaszylinder wie damals, als wir sie vergrößert hatten. Nachdem die beiden ihre Plätze eingenommen hatten, wartete ich noch Gaspars Nicken ab. Erst dann zog ich an dem Hebel und die Zylinder senkten sich langsam von der Decke herab. Melisandes Schlangen begannen sich aufgeregt zu krümmen und zu Knoten zu verschlingen. Leise klirrend setzten die Zylinder auf der Plattform auf. Gaspar nickte wieder und wir machten uns an die Arbeit und betätigten Hebel und Wählscheiben. Schon bald erfüllte ein eigentümliches Summen den Raum, erst ganz leise, dann immer lauter. In den Glaszylindern sprühten knisternde Funken und sie begannen sich mit grünem Nebel zu füllen. Elektrizität – oder eine andere, mir unbekannte Energie – ließ die Zylinder vibrieren. Plötzlich schrie Gaspar auf. 123
„Da stimmt was nicht! Wir müssen die Geräte abschalten!“, rief Sarah erschrocken. „Nein!“, widersprach ich heftig. „Gaspar hat uns doch gewarnt.“ Gaspar schrie wieder und hämmerte mit den Fäusten an die Wände des Zylinders. Gleichzeitig begann Melisande markerschütternd zu kreischen. Mir liefen Schauer über den Rücken, als kratze jemand mit Glasscherben über eine Tafel. Melisande ging in die Knie. Ich sah durch den grünen Nebel, wie ihre Schlangen sich panisch wanden und zu ganz neuen Längen streckten, als wollten sie sich von ihrem Kopf losreißen. „Mach Schluss!“, bat Sarah schluchzend. „Hör auf, Anthony! Du musst aufhören!“ „Das geht nicht“, rief ich, obwohl ich in diesem Moment nichts lieber getan hätte. „Wenn wir jetzt aufhören, stecken Gaspar und Melisande vielleicht für immer auf halbem Weg zwischen Mensch und Monster fest!“ Gaspar schrie zum dritten Mal. „Ich flehe dich an, Anthony, schalte aus! Ich habe mich geirrt! Schalte aus, wenn du auch nur den kleinsten Funken Mitleid hast!“ Er stieß mit dem Kopf gegen die durchsichtige Wand des Zylinders und schluchzte erbärmlich. „Ich halte das nicht mehr aus!“, schrie Sarah. „Schalt aus, Anthony!“ Sie stürzte sich auf den Hauptschalter und ich konnte sie gerade noch packen. Sie wollte mich abschütteln, aber ich hielt sie mit aller Kraft fest. Leicht fiel mir das nicht. Das Geschrei ging mir durch Mark und Bein und ich wünschte verzweifelt, es möge aufhören. Schlimmer noch, ich fürchtete insgeheim, es könnte tatsächlich etwas schiefgegangen sein und Gaspar und Melisande 124
würden gefoltert und lägen womöglich schon im Sterben. Doch Gaspar war todernst gewesen: Ich durfte die Prozedur nicht abbrechen, wenn sie einmal begonnen hatte. Sarah befreite sich, aber ich hielt sie sofort wieder fest und wir gingen zu Boden. Das Geschrei von Gaspar und Melisande wurde immer lauter und verzweifelter.
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Mir war, als würde ich selbst gefoltert. Tat ich das Richtige? Gerade wollte ich Sarah loslassen, damit sie den Schalter umlegen und den ganzen Albtraum beenden konnte, da hörte ich einen dreifachen Knall, wie Gaspar ihn bei seinen technischen Erläuterungen angekündigt hatte. Der Nebel in den Zylindern färbte sich purpurrot. „Endlich!“, rief ich und ließ Sarah los. „Jetzt können wir ausschalten.“ Ihr ganzes Gesicht war tränenverschmiert. „Du bist ein Scheusal!“, schluchzte sie. Ich beachtete sie nicht, sondern stand auf und ließ die Zylinder hoch. Hustend und spuckend traten Gaspar und Melisande hervor. Bob sah sie nur kurz an und begann zu heulen. „Heiliger Strohsack!“, rief Sarah und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. „Ihr seht ja aus wie Filmstars!“ Und an mich gewendet murmelte sie: „Wollte nicht rumstressen, Anthony, tut mir leid.“ „Macht nichts, Kleine“, antwortete ich leise. „Wenn du erst so groß bist wie ich, passiert dir das nicht mehr.“ „Idiot!“, zischte sie. Sie hätte wahrscheinlich noch mehr gesagt, aber der Anblick von Gaspar und Melisande lenkte sie ab. Kein Wunder. Gaspar hatte in seiner Menschengestalt pechschwarze Haare, eine markante, vorspringende Nase, eine hohe Stirn und weit auseinanderstehende, braune Augen. Er streckte sich und rieb sich die Arme, dann schüttelte er den Kopf wie ein Hund, der soeben aus dem Wasser gestiegen ist. Melisande betastete gerade ihre Haare und machte eine Grimasse. „So was Langweiliges!“, murmelte sie und durchwühlte die schwarze, glänzende Lockenpracht mit 126
den Fingern. Es war seltsam, sie ohne Zischlaute sprechen zu hören. „Und … was tun wir jetzt?“, fragte ich. „Zuerst müssen Gaspar und ich uns umziehen“, sagte Melisande entschlossen. Das fand ich eigentlich schade – sie sah toll in dem Kleid aus. Aber vielleicht hatte Melisande auch Recht – zumindest konnte sie damit nicht in Fox Hill herumlaufen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Und das galt wahrscheinlich auch für jeden anderen Ort auf der Welt. „Melisande hat Recht“, sagte nun auch Gaspar. „Man wird oft nach seiner Kleidung beurteilt. Ich habe heute Vormittag noch viel vor und brauche jeden Vorteil, den ich mir verschaffen kann. So gern ich diesen Labormantel trage, er hat schon bessere Tage gesehen.“ „Ich glaube aber nicht, dass das so einfach ist“, sagte Sarah. „Warum nicht?“, fragte Melisande. „Wenn ihr irgendwo noch eigene Kleider habt, sind die seit fünfzig Jahren aus der Mode. Und andere Klamotten gibt es hier vermutlich nicht. Schließlich wurde vor Beginn der Abbrucharbeiten das ganze Haus leer geräumt und alles verkauft. So ist Anthony ja zu euch gekommen.“ „Dann müsst ihr uns helfen“, sagte Gaspar atemlos. „Wir müssen den Abbruch verhindern. Besorgt uns angemessene Bekleidung und dann muss ich sofort irgendeinen Anwalt sprechen. Anwälte mögen abscheuliche Wesen und der Fluch der Menschheit sein, aber sie sind im Moment unsere einzige Hoffnung.“ Sarah sah mich an. „Meinst du, sie könnten Sachen von Mama und Papa tragen?“ 127
Ich zögerte. Unsere Eltern wären wahrscheinlich alles andere als begeistert. Andererseits hingen wir jetzt schon so tief mit drin, dass so etwas wie „den Kleiderschrank der Eltern plündern“ auch nicht mehr groß ins Gewicht fiel. „Schwer zu sagen. Ich glaube, Gaspar ist etwas größer als Papa und Melisande hat etwas mehr …“ Ich brach ab. „Ich weiß nicht. Könnte hinhauen.“ „Dann gehen wir“, sagte Gaspar. „Und Bob?“, fragte Sarah. Gaspar sah Bob an und der Wermensch begann zu winseln. „Den nehmen wir wohl lieber mit“, entschied Gaspar. „Wenn uns jemand begegnet, müssen wir ihn eben verstecken. Kannst du dafür sorgen, dass er ruhig ist, Melisande?“ Melisande sah Bob an und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, wird schon gehen.“ Wie sich herausstellte, musste Bob gar nicht versteckt werden. Als wir nach draußen gingen, wurde es bereits heller. Bob begann aufgeregt zu bellen, dann legte er sich auf die Seite und strampelte mit den Beinen, wie es Hunde tun, die träumen. Immer wieder rollte er über den Boden. Wenige Augenblicke später befreite er sich zappelnd aus seinen Kleidern – ein hechelnder und wedelnder Cockerspaniel mit Schlappohren. „Der ist ja süß“, sagte Sarah, als Bob zu ihr trottete und ihre Hand leckte. „Braver Hund!“, rief Melisande und tätschelte ihm den Kopf. „Kommt jetzt“, sagte Gaspar. „Wir müssen uns allmählich beeilen.“ Er hatte leicht reden. Er brauchte das alles nicht seiner Oma zu erklären. 128
Wir schlichen uns in unser Haus. Oma schlief, aber wie lange noch? Sie stand normalerweise ziemlich früh auf. Aber hauptsächlich machte ich mir Sorgen wegen Mr Perkins. Er kam auch gleich in die Küche gesprungen und bleckte seine garstigen kleinen Affenzähne. „Pfui“, sagte Melisande scharf. „Mach den Mund zu und sei lieb.“ Zu meinem Erstaunen gehorchte Mr Perkins tatsächlich. Er sah sie mit großen Augen an, und als sie ihm ihren Arm entgegenstreckte, sprang er mit zwei Sätzen auf ihre Schulter. Dort blieb er artig sitzen. „Melisande hatte schon immer ein Händchen für Tiere“, sagte Gaspar stolz. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Wir hatten in dieser Nacht schon eine Menge bizarrer Dinge erlebt, aber das vielleicht Seltsamste war der Anblick der bildschönen Melisande mit einem sanftmütigen Mr Perkins auf der Schulter, der ihr behutsam mit den Pfoten durch die schwarzen Locken fuhr. Sarah gähnte. Auch ich merkte mit einem Mal, wie erledigt ich war. „Ich glaube, ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so müde“, murmelte ich. „Bitte helft uns noch, etwas zum Anziehen zu finden“, sagte Gaspar. „Dann könnt ihr schlafen.“ Wir führten die beiden zum Schlafzimmer unserer Eltern, wo auch Oma schlief. Zur Sicherheit schlichen wir auf Zehenspitzen, obwohl ich nicht glaubte, dass sie uns hören würde, schließlich war sie fast taub. Eine halbe Stunde und einige Dutzend Sicherheitsnadeln später sahen Gaspar und Melisande in ihren neuen Kleidern einigermaßen passabel aus. Papas Anzug stand Gaspar nicht wirklich, aber Sarah meinte, bei seiner guten Figur könne er das verkraften. Melisande sah nicht 129
mehr so atemberaubend aus wie in ihrem Abendkleid, aber das war auch in Ordnung so. „Und jetzt?“, fragte Sarah. „Jetzt wecken Melisande und ich irgendeinen armen Anwalt auf und versuchen, Morley Manor zu retten“, sagte Gaspar. „Keine leichte Aufgabe, aber es müsste uns wenigstens gelingen, die Abbrucharbeiten einen Tag hinauszuzögern. Schließlich sind wir die rechtmäßigen Erben. Ihr beide schlaft in der Zwischenzeit. Für unsere Reise ins Land der Toten brauche ich euch frisch und ausgeruht.“
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14 Heute ist gestern Ich war innerlich so aufgewühlt, dass ich erwartete, kein Auge zuzutun. Doch kaum hatte mein Kopf das Kopfkissen berührt, tauchte ich weg und schlief wie ein Toter. Eine gute Übung für das, was uns bevorstand. Gegen Mittag wachte ich auf. Schlaftrunken tapste ich in die Küche. Dort stand Oma an der Arbeitsplatte und knetete einen Hefeteig. Mr Perkins hockte auf seinem Platz und fraß einen Apfel. Als ich hereinkam, fletschte er die Zähne. Melisandes mäßigender Einfluss war offenbar schon wieder verflogen. Überhaupt wirkte alles wie immer, völlig normal, und ich fragte mich, ob die Abenteuer der letzten Nacht nur ein seltsamer Traum gewesen waren. Oma hörte mich natürlich nicht hereinkommen. Ich trat langsam neben sie, um sie nicht zu erschrecken. Sie zuckte trotzdem ein wenig zusammen. „Guten Morgen, du Langschläfer“, sagte sie fröhlich. „Was habt ihr beide denn gestern Abend angestellt? Habt ihr noch heimlich ferngesehen, nachdem ich im Bett war?“ „So ähnlich“, murmelte ich. Dann sah ich sie an. Sie versteht einen besser, wenn sie die Lippenbewegungen sieht. „Ist Sarah schon auf?“ 131
„Sie ist im Bad. Jetzt frühstücke doch erst mal, Junge.“ Das war keine schlechte Idee. Ich war bei unserer Heimkehr so müde gewesen, dass ich meinen Mordshunger ganz vergessen hatte. Als ich die Cornflakes aus dem Küchenschrank holte, fauchte Mr Perkins mich böse an. Das Fauchen erinnerte mich an Melisandes Schlangen. Ich hätte zu gern gewusst, ob sie und Gaspar einen Anwalt gefunden hatten, der ihnen half, Morley Manor zu retten. Ein Läuten an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Oma sah, wie ich aufstand. „Ich mach schon auf, Anthony. Iss du dein Frühstück.“ „Morgen, Froschkönig!“ Einen Moment später hüpfte Sarah gut gelaunt in die Küche. Und mit ihr kam auch Oma wieder zurück. Sie hatte einen sonderbaren Gesichtsausdruck. Hinter meiner Großmutter erschienen Melisande und Gaspar, gefolgt von dem Schwanz wedelnden Bob. „Diese Leute behaupten, sie seien Freunde von euch“, sagte Oma. Sie wirkte ein wenig verwirrt. Es mag seltsam erscheinen, dass Oma fremde Besucher einfach so hereinließ, aber man darf nicht vergessen, dass die Einwohner von Fox Hill ihre Haustüren bis heute nicht abschließen. Wir sind nicht gerade die Hauptstadt des Verbrechens. „Wie ist es gelaufen?“, fragte ich und sprang auf. Gaspar lächelte. „Die Gerechtigkeit hat gesiegt! Wir haben eine einstweilige Verfügung gegen den Abbruch erwirkt. Morley Manor steht noch!“ „Du meine Güte!“, sagte Oma. „Was habt ihr denn mit Morley Manor zu schaffen?“ Auf einmal richtete sie ihren Blick auf Gaspar und 132
kniff die Augen zusammen. Ihre Hände begannen zu zittern. „Gaspar?“, flüsterte sie. Er sah sie neugierig an. Sie fasste sich ans Herz. „Gaspar!“, sagte sie wieder und diesmal klang ihre Stimme vorwurfsvoll. Gaspar sah sie irritiert an. Plötzlich riss er die Augen auf. „Ethel?“, rief er entgeistert. Oma schwankte und hielt sich am Küchentisch fest. Dann ließ sie sich langsam auf den Stuhl sinken. „Gaspar“, murmelte sie. „Melisande und Bob!“ „Was geht hier eigentlich vor?“, fragte ich. Ich verstand überhaupt nichts mehr. „Das wüsste ich auch gern“, sagte Oma. Sie klang vollkommen verstört. Gaspar sah mich an. „Deine Oma und ich, wir waren einst verlobt und wollten heiraten“, sagte er. Er konnte vor Rührung kaum sprechen. „Du bist es also tatsächlich“, flüsterte Oma überwältigt. „Aber wie kann das sein? Wo warst du denn all die Zeit?“ „Das ist eine lange Geschichte“, sagte Gaspar. „Stimmt“, sagte ich. „Setzt euch“, sagte Oma energisch. „Ich höre.“ Wir saßen fast den ganzen Nachmittag am Küchentisch. Zweierlei musste erzählt werden: was Sarah und ich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden erlebt hatten und was Gaspar und den anderen Morleys vor über fünfzig Jahren zugestoßen war. Sarah wollte natürlich alles ganz genau über die Verlobung von Gaspar und Oma wissen. Es schienen aber recht schmerzhafte Erinnerungen damit verbunden zu sein. Die beiden wichen Sarahs 133
Fragen immer wieder aus, und so ließ meine Schwester das Thema nach einer Weile wieder fallen. „Es regt sie immer noch total auf“, meinte sie später. Und endlich erfuhren wir auch mehr darüber, was den Morleys vor fünfzig Jahren passiert war … „Wir wissen selbst nicht alles, was passiert ist“, gestand uns Gaspar. „Dazu müsste der Wentar erst meinen Bruder zurückbringen und außerdem den Klon, der sich all die Jahre als mein Bruder ausgegeben hat. Aber ich kann euch sagen, wie es anfing.“ Er verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Wie ihr wisst, war ich Wissenschaftler und zugleich Zauberer.“ „Ein großer Skandal für alle, die es herausfanden“, warf Oma Walker ein. „Und ein noch größerer Skandal, als mein großer Bruder anfing, mit einer so viel jüngeren Frau auszugehen“, sagte Melisande. „So ist das in einer Kleinstadt.“ Ich begriff erst mit einiger Verzögerung, dass sie mit „jüngerer Frau“ Oma meinte! „Von wegen, Melisande“, sagte Oma scharf. „Ich habe in der Großstadt gelebt. Die Leute klatschen dort genauso viel wie in der Kleinstadt, wahrscheinlich sogar noch mehr. Bitte erzähl weiter, Gaspar. Ich kann es kaum erwarten zu erfahren, warum du mir das Herz gebrochen hast.“ „Das habe ich nie gewollt“, entgegnete Gaspar und nahm ihre Hand. „Können wir den romantischen Teil überspringen? Ich wüsste gern, wie es weitergeht“, sagte ich. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass Oma jünger sein sollte als Gaspar, wo sie jetzt doch dreißig oder vierzig Jahre älter aussah als er. Aber natürlich hatte sie nicht die letzten fünfzig Jahre auf Eis gelegen wie die Morleys. 134
Gaspar nickte mit dem schmalen, attraktiven Gesicht, das er jetzt anstelle seines Eidechsengesichts hatte. Ich fragte mich, ob Opa Walker von dieser Beziehung gewusst hatte. Und dann fragte ich mich, was wohl wäre, wenn alles anders gelaufen wäre und Gaspar meine Oma tatsächlich geheiratet hätte. Mein Hirn verknotete sich fast, als ich versuchte, das zu Ende zu denken. „Unsere Schwierigkeiten begannen, als ich das Geheimnis der Sternentür entdeckte“, sagte Gaspar. „Ich war wütend, als mir klar wurde, dass Martin es schon seit einiger Zeit kannte, mir aber nichts gesagt hatte.“ „Wir glaubten damals natürlich noch, Martin sei unser wirklicher Bruder“, sagte Melisande. Gaspar seufzte. „Jetzt wissen wir die Wahrheit und das 135
ändert natürlich alles. Wir haben ja noch gar keine Zeit gehabt, uns klar zu machen, welche Folgen das hat … Jedenfalls wollte ich es Martin heimzahlen, dass er mich nicht in seine Pläne eingeweiht hatte. Also sagte ich ihm auch nichts von unseren Unternehmungen. Zusammen mit Ludmilla, Melisande, Albert und Bob machte ich mich nämlich an die Erforschung anderer Welten. Vor allem der Planet Zentarana faszinierte uns. Seine Bewohner hatten die Fähigkeit erworben, ihren Körper nach ihren Wünschen zu formen und sich nach Lust und Laune zu verändern. Melisande und Ludmilla waren es schon lange leid, ständig wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit angegafft zu werden. Besonders sie waren deshalb von der Vorstellung begeistert, sich ein anderes Aussehen zuzulegen.“ „Wir probierten alles Mögliche aus“, sagte Melisande. „Das war sehr lustig. So, als ob man in einer Umkleidekabine verschiedene Kleider anprobiert. Und auf Zentarana geht das ganz bequem, nicht so wie hier auf der Erde …“ Sie sah Sarah und mich vielsagend an. Oma warf ihr einen verächtlichen Blick zu. Offensichtlich waren die beiden nicht gerade die besten Freundinnen. „Albert blieb natürlich Albert“, sagte Gaspar, „und Bobs Probleme als Wermensch hatten schon in Transsilvanien angefangen. Die beiden sind immer sie selber. Aber Ludmilla, Melisande und ich spielten mit unserem Aussehen. Ende Oktober 1948 wurde in der ganzen Stadt Halloween gefeiert …“ „An diesem Abend habe ich euch zum letzten Mal gesehen“, murmelte Oma. Gaspar nickte. „Wir drei hatten beschlossen, in unserer neuen Gestalt loszuziehen. Was könnte es für bessere 136
Kostüme geben? Leider fand Martin ausgerechnet an diesem Abend heraus, was wir getan hatten. Bei unserer Rückkehr nach Hause kam es zu einem heftigen Streit. Martin zog eine seltsame Waffe, die ich noch nie gesehen hatte. Und das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich auf dem Waschbecken stehe und zu Anthony und Sarah hinaufblicke!“ Oma drückte ihm die Hand. „Ich habe lange geweint, als du verschwunden bist“, flüsterte sie. Gaspar schüttelte seinen Kopf. „Ich bin so durcheinander, Ethel. Ich weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll.“ Erschrocken sah ich Tränen in seinen Augen und mir wurde klar, dass zwar für Oma seitdem fünfzig Jahre vergangen waren, dass Gaspar aber das Gefühl haben musste, als habe er sie erst gestern gesehen, die junge und schöne Frau, die er heiraten wollte. Jetzt war sie alt. „Es gab einen Riesenskandal“, sagte Oma leise. „Der Verdacht kam auf, Martin hätte euch alle umgebracht, aber man fand keine Leichen, deshalb konnte die Polizei ihn nicht verhaften.“ Sie schüttelte den Kopf. „Dabei wart ihr die ganze Zeit in Morley Manor in einer Kiste eingesperrt. Dieser Martin! Ich könnte ihn …“ Sie konnte nicht weitersprechen und brach ab, vielleicht wegen Sarah und mir. Vielleicht konnte sie sich aber auch einfach nichts ausdenken, das schlimm genug für Martin gewesen wäre. „Er war ja gar nicht der wirkliche Martin“, sagte Gaspar leise. „Andererseits: Wer ist schon wirklich …“ „Die vergangenen fünfzig Jahre kommen uns wie ein kurzer Moment vor“, sagte Melisande. „Doch die Welt hat sich dramatisch verändert! Wir waren heute Morgen 137
nur ein paar Stunden unterwegs, fühlten uns aber wie auf einem anderen Planeten. Wahrscheinlich wären wir mit all dem Neuen gar nicht zurechtgekommen, wenn wir nicht schon nach Zentarana und zu anderen merkwürdigen Orten gereist wären.“ „Und jetzt müsst ihr schon wieder los“, murmelte Oma kopfschüttelnd. „Ihr müsst ins Land der Toten zu meinem armen Mann.“ Gaspar nickte. „Gut“, sagte Oma entschieden, „ich begleite euch.“ Gaspar wollte noch protestieren, aber vergeblich. Ich kannte diesen Ton. Oma von ihrem Vorhaben abzubringen war aussichtslos. Eher würden mir Flügel wachsen – obwohl mich das nach der letzten Nacht wahrscheinlich auch nicht mehr überrascht hätte. Ich wusste genau: Oma mochte noch so erstaunt sein, Gaspar zu sehen, ja, vielleicht regte sich sogar etwas von der alten Liebe in ihr, aber die Gelegenheit, Opa zu besuchen, würde sie auf keinen Fall versäumen! Die Morleys hatten ja nun Oma, um die für die Reise notwendige Verbindung zum Verstorbenen herzustellen. Also stritten wir lange darüber, ob auch Sarah und ich mitkommen durften. Oma hielt das für viel zu gefährlich. Unser Argument, dass wir ja schon so viele andere Abenteuer erlebt hätten, überzeugte sie nicht. Nicht einmal Sarahs weinerliches Betteln, das meist zum Erfolg führt, konnte daran etwas ändern. Erst als ich zu bedenken gab, wir seien allein wahrscheinlich mehr gefährdet, als wenn wir sie begleiteten, lenkte sie ein. Wir kehrten also um elf Uhr abends nach Morley Manor zurück. 138
„Eins verstehe ich nicht“, sagte Sarah, als wir uns dem Haus näherten. „Wenn für die Reise unsere Verbindung zu Opa ausschlaggebend ist, warum müssen wir dann nach Morley Manor zurückkehren? Warum bleiben wir nicht einfach bei uns zu Hause?“ „Aus zwei Gründen“, sagte Gaspar. „Erstens hat Morley Manor eine starke magische Aura. Deshalb haben wir das Haus ja damals gekauft. Und mit unserer Arbeit haben wir diese Aura im Lauf der Jahre noch verstärkt. Zweitens können wir von hier aus tiefer in die Erde gelangen, was die Reise vereinfacht.“ „Liegt das Land der Toten denn unter der Erde?“, fragte Sarah. „Nicht unbedingt. Den Worten des Wentar nach zu schließen, liegt es überhaupt nicht in dieser Welt. Aber sich unter die Erde zu begeben, bringt einen der Wahrheit ein Stück näher.“ Dann hatten wir das Haus erreicht. Planierraupen parkten davor. Melisande erschauerte. „Heute haben die Schwingen des Verderbens unser Zuhause gestreift“, sagte Gaspar grimmig. Drinnen führte er uns zielstrebig die Kellertreppe hinunter, Sarahs Taschenlampe leuchtete uns den Weg. In der anderen Hand hielt er einen alten Reisigbesen, mit dem er die klebrigen Spinnweben zur Seite schlug, die stellenweise dick wie Vorhänge aus weißgrauer Seide herunterhingen. Eine Tür am anderen Ende des Kellers führte uns noch tiefer in den Erdboden hinab. Ein Spinnennetz streifte meine Stirn. Es war kalt und feucht. Bob begann zu winseln. „Ganz ruhig, mein Junge“, murmelte Melisande, die neben ihm ging. 139
Wir stiegen die Treppe hinunter. Ich zählte hundertdreizehn Stufen. „Wer hat diese Treppe gebaut?“, fragte Sarah. „Martin natürlich“, antwortete Gaspar. „Früher hätten wir so etwas gemeinsam gemacht.“ Er klang bitter und wehmütig. Endlich waren wir ganz unten angelangt. Wir standen in einer kleinen Erdhöhle. Die Decke wurde von dicken Holzbalken getragen. Auf Gaspars Anweisung legten wir uns hin und fassten uns an den Händen. Der Boden war kalt und feucht, aber die Nähe zur Erde sei wichtig, sagte er. „Lasst Platz zwischen euch für mich frei“, sagte er zu Oma und mir. Wir rückten auseinander, hielten uns aber weiter an den Händen. Gaspar saß neben uns. „Jetzt schließt die Augen“, sagte er und schaltete die Taschenlampe aus. „Warum denn?“, fragte Melisande. „Es ist doch so schon dunkel genug!“ „Es hilft euch, tiefer in euch hineinzugehen“, sagte Gaspar leise. Ich schloss die Augen und lauschte den Geräuschen, die er machte. Er murmelte einige seltsame Wörter, die ich nicht verstand. Hin und wieder hörte ich ihn ein Streichholz anzünden. Ich sah den flackernden Schein des Lichts durch die geschlossenen Lider. Ein beißender Geruch füllte den Raum, eine merkwürdige Mischung aus Frische und Fäulnis, scharf wie Essig und zugleich süß wie Apfelwein. Mir wurde etwas schwindlig. „Jetzt denkt an die, die von uns gegangen sind“, sagte Gaspar. Im nächsten Moment spürte ich, wie er meine 140
Hand von Oma löste. Er legte sich zwischen uns beide und nahm meine Hand. Ich spürte den Boden unter mir, kalt, feucht und hart. Mir war geradezu, als liege ich in einem Grab. Ich dachte an Opa. Wie gern wollte ich ihm sagen, dass ich ihn vermisste. Plötzlich erblickte ich unter mir eine lange, silberne Schnur. Erschrocken stellte ich fest, dass sie offenbar an meinem Körper hing! Oma schwebte neben mir. Mir gegenüber sah ich Sarah und Melisande, auf der anderen Seite Gaspar. Sogar Bob war mitgekommen. Er sah so überrascht aus, wie ein Cockerspaniel nur aussehen kann. Ein endloser, von milchigem Nebel erfüllter Raum umgab uns. In ihm schwebten menschliche Gestalten, einige klar umrissen, andere so verschwommen, dass man sie nur mühsam erkennen konnte. Ihr Murmeln und Seufzen klang durch den Raum. Ich blickte nach unten. Dort war nur Nebel. Ich hatte keinerlei Vorstellung, wie hoch wir über dem Boden schwebten – wenn unter uns überhaupt Boden war. Und trotzdem war mir ganz leicht zumute, ich hatte gar keine Angst abzustürzen. „Hier lang!“, sagte Oma plötzlich entschieden. Die schwebenden Gestalten um uns herum begannen lauter zu murmeln, es klang erstaunt. Wir folgten Oma. Ich weiß nicht, wie wir vorwärtskamen. Wir schlugen nicht mit den Armen oder etwas Ähnliches. Es war mehr so, dass man sich überlegte, wohin man gehen wollte, und sich dann einfach in diese Richtung bewegte. Vor uns schwebte ein Geist. Er sah sogar von hinten vertraut aus. Ich spürte einen 141
dicken Kloß im Hals, den ich nicht wegschlucken konnte. „Tag, Horace“, sagte Oma leise. „Wir wollten dich mal besuchen.“
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15 Familientreffen Opa drehte sich um und Oma sah sein Gesicht und begann zu weinen. Sie weinte natürlich keine richtigen Tränen, weil wir ja nicht in unseren richtigen Körpern steckten, aber so wie ihre Lippen zitterten und ihre Schultern zuckten, merkte man doch, dass sie weinte. Und Opa? Na ja, er sah … also er sah merkwürdig aus. Auf seinem Gesicht zeigten sich die verschiedensten Gefühle: Überraschung, Glück, Zorn, Freude und sogar Angst. Merkwürdig war, dass er kein altes Gesicht mehr hatte wie beim letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte. Auch jung war es nicht. Es war wie die Summe aller Altersstufen, die er durchlaufen hatte, und aller Gesichter, die er dabei gehabt hatte. Die Falten waren weg, aber die Augen blickten alt und weise. Außerdem war er durchsichtig, was mir allerdings nicht so merkwürdig vorkam, weil wir das ja auch waren. Doch im Unterschied zu uns hing an seinem Körper keine silberne Schnur. Er hatte keine Verbindung zur Welt der Lebenden mehr. Eine kleine Ewigkeit lang sah er uns einfach nur an. „Ihr seid nicht tot“, sagte er schließlich. Es klang besorgt, verwirrt und erleichtert zugleich. 143
„Natürlich nicht, Horace“, erwiderte Oma nüchtern. Ich war überrascht, dass sie ihn gehört hatte, denn er hatte kaum lauter gesprochen als im Flüsterton und sie war fast taub. Dann fiel mir ein, dass ihre Taubheit ja zu ihrem Körper gehörte und unsere Körper hatten wir beim Übertritt ins Land der Toten zurückgelassen. „Was tust du hier?“, fragte Opa. „Und mit den Kindern! Du hättest nicht kommen sollen, Ethel!“ „Wir mussten kommen“, sagte Gaspar. Opa wandte sich ihm zu und seine Augen wurden groß. „Gaspar?“, sagte er langsam. Er klang erstaunt und, wie ich meinte, auch eine Spur verärgert. „Gaspar Morley? Und – ist das möglich? – Melisande!“ Er sagte den Namen mit einer Art Schluchzen. „Du bist ja gar nicht älter gewor… – aber du bist auch nicht tot! Wie kann … Ethel, was geht hier vor? Was hast du mit denen zu schaffen?“ „Das ist eine lange Geschichte“, sagte Gaspar. Opa zeigte auf die milchige Leere, die uns umgab. „Wenn ich etwas habe, dann Zeit.“ „Nein, nicht unbedingt“, erwiderte Gaspar. „Wir haben diese gefährliche Reise unternommen, um die Toten vor einer Gefahr zu warnen.“ „Tot ist tot“, sagte Opa. Es klang verächtlich. „Wirklich?“, fragte Gaspar. „Gewiss, du lebst nicht mehr wie früher. Aber auch wenn du keinen Körper mehr hast, dein Selbst existiert noch. Und ihm droht Gefahr.“ Opa schnaubte. „Du klingst wie ein Pfarrer. Aber keine Sorge, Gaspar, es gibt hier nicht viel, was mich in Versuchung führen könnte. Gegenwärtig besteht kaum die Gefahr, dass ich eine größere Sünde begehe.“ Über Gaspars attraktives Gesicht huschte ein Schatten. „Die Gefahr kommt von außen, du alter …“ Er hielt inne, 144
holte tief Luft und schloss die Augen. Offenbar zählte er bis zehn, vielleicht auch weiter. Dann sprach er wieder. Er klang etwas steif und förmlich und sehr kontrolliert. „Es gibt ein großes, mächtiges Volk von Außerirdischen, das kein Erbarmen und keine Gnade kennt. Diese Aliens, die Flinduwier, haben eine Waffe entwickelt, welche sie mit den Seelen der Toten antreiben wollen. Wenn du, mein Bester, von den Flinduwiern geschnappt würdest, müsstest du einen zweiten Tod erleiden, einen endgültigen. Nicht nur der Körper, sondern auch deine Seele wäre dann tot. Oder vielleicht nicht tot, denn wir wissen im Grunde nicht, was mit einer Seele passiert, die für diese Waffe verwendet wird. Ihr Schicksal könnte noch viel schlimmer sein als die bloße Auslöschung.“ Opa wirkte jetzt doch etwas eingeschüchtert. „Das ist doch bestimmt ein Scherz“, flüsterte er. „Dafür hätte ich die weite Reise in das Land der Toten nicht auf mich genommen“, erwiderte Gaspar scharf. „Gibt es hier so etwas wie einen Anführer, zu dem du uns bringen könntest?“ „Ich habe mir nie träumen lassen, dass ich das mal jemanden zu einem Geist sagen höre“, flüsterte Sarah. „Ich habe mir so einiges nie träumen lassen …“, sagte ich leise. Opa hatte inzwischen eine grimmige Miene aufgesetzt. Ich kannte diesen Ausdruck, so sah er immer aus, wenn er nachdachte. „Ich glaube nicht, dass es einen Anführer gibt“, sagte er. „Aber ich bin noch nicht so lange hier, vielleicht kenne ich ihn nur noch nicht. Einige Seelen haben mich bei meiner Ankunft begrüßt, sie haben mich beruhigt und dafür gesorgt, dass ich keine Angst hatte. Aber seither war ich eigentlich auf mich allein gestellt.“ 145
„Was tust du denn hier die ganze Zeit, Opa?“, fragte Sarah. „Warten und nachdenken. Und loslassen.“ Er warf meiner Oma einen Blick zu. „Das fällt mir besonders schwer, Ethel. Ich will nämlich gar nicht loslassen.“ „Was denn loslassen?“, fragte Sarah. Wir waren beide an seine Seite geschwebt und Sarah streckte einen Arm aus, um seine Hand zu nehmen. Aber richtig berühren konnte sie ihn natürlich nicht. Das geht nur bei Lebenden. „Die Welt“, sagte er langsam. „Das Leben.“ Er sah wieder Oma an. „Am schwersten fällt es mir bei dir, Liebes. Aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein, genauso wenig die anderen. Wir sollen weiterziehen nach … Ich weiß nicht, wohin. Irgendwohin. Aber ich konnte nicht aufhören, an unser gemeinsames Leben zu denken.“ Er sah Gaspar an und fügte bitter hinzu: „Ich habe nicht erwartet, dass du mit meinem alten Rivalen hier auftauchst.“ 146
Oma lächelte. „Bist du etwa eifersüchtig, du Dummkopf?“, fragte sie mit ihrer zärtlichsten Stimme. „Eifersüchtig auf die Lebenden“, sagte Opa. Oma streckte die Hand nach ihm aus, konnte ihn aber genauso wenig berühren wie Sarah. „Wahrscheinlich hält deine Eifersucht dich hier zurück, mein Lieber. Du musst loslassen, Horace, aber noch nicht jetzt. Erst wenn dieser Albtraum vorbei ist.“ Sie sah mich an und sagte leise: „Das ist doch ein Albtraum, Anthony, oder? Ich meine, ich träume doch nur, richtig?“ Wie gern hätte ich einfach Ja gesagt. Aber Oma ließ in Sachen Wahrheit nicht mit sich handeln und verurteilte sogar kleinste Lügen. Wer wusste außerdem, was für Gefahren wir noch überstehen mussten, bis alles vorbei war? Wenn Oma glaubte, sie träume nur, ließ sie sich davon am Ende einlullen und war weniger wachsam und entschlossen. Und das konnten wir uns wirklich nicht leisten. Ich schüttelte also den Kopf. „Nein, Oma, das ist kein Traum.“ 147
Sie seufzte. „Ich wusste es. Ich habe nur irgendwie gehofft … Na, egal. Was machen wir jetzt, Gaspar?“ Gaspar wirkte unsicher, was ungewöhnlich für ihn war. „Ich würde sagen, wir versuchen, die Toten zu warnen. Danach kehren wir in die Welt der Lebenden zurück und sehen nach, ob die anderen schon wieder aus Flinduwien da sind.“ Oma wandte sich erneut an Opa. „Na bitte, Horace. Du musst uns helfen, die Toten zu warnen. Vorher kann ich nicht mit den Kindern heimkehren.“ Sie schwebte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Gaspar gab uns ein Zeichen und wir drehten uns alle weg, damit die beiden, die Lebende und der Tote, einige Minuten für sich hatten. Während Oma und Opa miteinander flüsterten, sah ich mir unsere Umgebung genauer an. Es gab nicht viel zu sehen. Alles war grau und nebelverhangen und schien endlos weiterzugehen, es gab keinerlei Landschaft oder eine sonstige Kulisse. Ich wusste aber trotzdem irgendwie, wo oben und unten war. Auch die Toten, die gelegentlich an uns vorbeitrieben, hielten ihre Köpfe alle in derselben Richtung nach oben. Die Geister, wie man sie wohl nennen musste, ignorierten uns mehr oder weniger. Das war mir ganz recht. Sie sahen nur einmal in unsere Richtung, als Bob sie anknurrte. Offenbar war man im Land der Toten nicht an den Anblick eines Cockerspaniels gewöhnt. „Pst!“, flüsterte Melisande. „Du störst sie.“ Bob schwebte winselnd neben sie. „Mir gefällt es hier gar nicht“, flüsterte Sarah. Sie schwebte fast so dicht neben mir wie Bob neben Melisande. „Alles wirkt so kalt.“ Gaspar nickte. „Schön ist es hier nicht. Aber vergesst 148
nicht, man verbringt hier keine Ewigkeit, sondern zieht irgendwann weiter.“ Im Land der Toten geht das Zeitgefühl verloren und ich wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als Gaspar meine Großeltern mit einem Räuspern unterbrach. Opa blickte erschrocken auf, als habe er uns ganz vergessen. „Was sollten wir deiner Meinung nach jetzt tun, Horace?“, fragte Gaspar ungewöhnlich sanft. Opa sah Gaspar lange an. „Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich. „Gibt es denn niemanden, an den wir uns wenden können?“ „Nicht, dass ich wusste.“ So ging es noch ein paarmal hin und her, bis ich es nicht mehr hören konnte. Ich weiß nicht, was über mich kam. Wahrscheinlich hatte ich einfach die Nase gestrichen voll. Ich hob also den Kopf und schrie aus voller Kehle: „Hiiilfe! Wir müssen mit jemandem reden! Wer ist denn hier zuständig?“ Auf meinen Ausbruch folgte Schweigen. Dann begann Melisande zu lachen. Es war ein schönes, melodisches Lachen. Und es wirkte wie ein Köder.
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16 Ivanoma Auf Melisandes perlendes Lachen hin hielten die Geister, die um uns durch den Nebel trieben, an und kamen näher. Wenig später umringten uns Dutzende durchscheinender Männer und Frauen und einige Kinder. Sie alle starrten Melisande mit einem Blick an, den ich nur hungrig nennen konnte. „Man hört hier so selten jemanden lachen“, sagte Opa leise. Melisande wirkte nervös. Ich aber sah unsere große Chance gekommen. „Hört mal alle zu“, fragte ich laut in die Runde, „wir haben da ein Problem. Gibt es hier vielleicht irgendjemanden, mit dem wir reden können – so eine Art Anführer?“ Die Toten wechselten schnelle Blicke. Endlich sagte eine Frau mit traurigen Augen und einem altmodischen Kleid: „So etwas gibt es hier nicht. Aber vielleicht könntet ihr mit Ivanoma sprechen.“ „Wer ist das?“, fragte ich. Ich war etwas überrascht, dass die Erwachsenen mir das Reden überließen. Wahrscheinlich wollten sie mich einfach ausreden lassen, da ich nun schon einmal angefangen hatte. Hoffentlich machte ich alles richtig. 150
„Ivanoma ist … das ist eine Art Berater“, sagte die Frau. „Das?“, fragte ich. „Ivanoma ist nicht nur einfach ein Er oder eine Sie …“ Die Tote machte eine Pause. „Dazu ist es viel zu umfassend. Es ist viel mehr.“ Die anderen murmelten zustimmend. Wir drehten uns zu Opa um. „Seht mich nicht so an“, sagte der. „Ich habe von diesem Ivanoma-Ding noch nie was gehört und habe auch keine Ahnung, um was es sich handelt.“ „Wie gelangen wir zu diesem umfassenden Wesen?“, fragte Gaspar. Die Frau zögerte. Mit einem Blick auf unsere silbernen Schnüre sagte sie: „Ich weiß nicht, ob ihr so weit gehen solltet.“ Das gab mir sehr zu denken. Die Verbindung zu meinem Körper wollte ich auf keinen Fall unterbrechen. „Ach was, die Schnüre halten schon“, meinte Gaspar zuversichtlich. Melisande beugte sich zu mir. „Er weiß hoffentlich, wovon er spricht“, flüsterte sie mir ins Ohr. Ich sah sie entsetzt an. Aber noch bevor ich etwas erwidern konnte, sagte die Frau, die von Ivanoma gesprochen hatte: „Folgt mir.“ Im Land der Toten zu reisen ist eine merkwürdige Erfahrung. Zuerst dachte ich, man könnte die Entfernung überhaupt nicht messen, weil alles gleich aussah. Doch unterwegs sah ich einige verschwommene Hinweise auf die Welt der Lebenden. Es handelte sich um kaum mehr als vernebelte Schemen in verschiedenen Grautönen ähnlich den Bildern, die man manchmal in einem schlecht eingestellten Fernseher bekommt. Nur dass diese Sche151
men echt waren. An ihnen merkte ich, dass wir uns sehr schnell vorwärtsbewegten. Ich machte mir immer größere Sorgen wegen der silbernen Schnüre. Wie weit würden sie sich dehnen? Plötzlich ging es abwärts. Unter uns erstreckte sich ein großer See aus Eis. In der Mitte des Sees lag das schönste Wesen, das ich je gesehen hatte. Ivanoma. Es hatte Menschengestalt, war aber riesig, vielleicht dreißig Meter lang. Gewaltige, perfekt geformte Flügel, die aus den Schultern wuchsen, waren über das durchsichtige Eis gebreitet. Über dem stillen, vornehmen Gesicht wölbte sich eine breite, hohe Stirn. Der Mund schien am einen Ende fast ein wenig missbilligend nach unten gezogen, am anderen schien er lächeln zu wollen. Ich verspürte bei diesem Anblick plötzlich den heftigen Wunsch, dieses Lächeln zum Erblühen zu bringen. Das Wesen lag bewegungslos auf dem Rücken und blickte stumm in den dunklen Nebel hinauf. Schwärme von Toten umringten es, lehnten sich an seine Seite, umschwebten den herrlichen Kopf und ruhten auf seiner Brust. Aus den schönen Augen floss ein nicht endender Strom von Tränen. Einige Tote badeten in ihm. Wir sanken nach unten auf das Wesen zu und ich empfand Furcht, Scheu und Mitleid zugleich. Plötzlich bewegte Ivanoma die Lider, hob den Kopf und dann einen langen, wohlgeformten Arm. Ich sah, dass der Arm mit einer Kette an das Eis gefesselt war, doch im nächsten Moment lösten sich die Fesseln auf, als bestünden sie lediglich aus Nebel. „Was führt die Lebenden ins Land der Toten?“, fragte das Wesen mit einem Flüstern, vielstimmig und melodisch wie ein ganzer Chor. 152
Einladend hielt es uns die Hand hin. Wir sollten darauf landen. Was wir auch taten. Und obwohl unsere Körper gar nicht anwesend und wir in Wirklichkeit leichter als Luft waren, sah ich das große Wesen unter unserer Berührung zusammenzucken. Der Handteller sank nach unten wie unter einem großen Gewicht. Dann standen wir in der Mitte von Ivanomas Hand und das Wesen senkte diese und hielt sie sich vor die Augen. Vor was für Augen! Hundert Jahre würden nicht genügen, ihren Anblick zu beschreiben. Mir war, als ertrinke ich in Schmerzen und Schönheit, und ich fürchtete schon, nie mehr die normale Welt oder etwas anderes ansehen zu können. Meine Mutter hatte einmal gesagt, die Erinnerung an Schmerzen verblasse mit der Zeit, sonst würde keine Frau ein zweites Kind bekommen. Bestimmt gilt das auch für andere Dinge, Dinge wie 153
Schönheit und Liebe. Wenn die Erinnerung an den Anblick dieser Augen, die einen Meter breit und Tausende von Kilometern tief waren, nicht verblasst wäre, wäre ich für die Welt heute wahrscheinlich verloren. Ich würde nur noch in Sehnsucht versunken dasitzen. Lange Zeit sagte keiner etwas. Endlich fragte Sarah, die immer etwas fragen muss: „Bist du Ivanoma?“ Das Wesen nickte. „Bist du ein Engel?“, fragte ich. Es nickte wieder. „Warum bist du hier? Und warum bist du so traurig?“ Wir waren natürlich nicht wegen dieser Fragen gekommen, aber ich konnte an nichts anderes denken. „Ich habe einst einen Fehler gemacht“, flüsterte der Engel mit einer Stimme, bei deren Klang Mozart vor Neid in Tränen ausgebrochen wäre, weil er keine so schöne Musik hätte schreiben können. „Ich habe in einem uralten Krieg auf der falschen Seite gekämpft. Jetzt büße ich für meine Sünde.“ „Aber deine Ketten halten dich doch gar nicht“, sagte ich und dachte daran, wie der Engel zu unserem Empfang die Hand gehoben hatte. Jetzt lächelte Ivanoma tatsächlich und mir war, als müsste ich auf der Stelle vor Freude sterben. „Ich habe meine Ketten selbst gemacht und kann sie jederzeit zerbrechen. Ich bin freiwillig hier, um die Toten zu trösten und ihnen Hilfe, Führung und Liebe anzubieten, wenn sie dazu bereit sind.“ Ich sah, wie Oma Opa in die Seite stieß, wie um zu sagen: „Jetzt! Das ist unsere Chance, Schnarchnase.“ „Die Toten brauchen deine Hilfe jetzt“, sagte ich. Ivanoma hob fragend eine Augenbraue und mir war, als ginge die Sonne auf. 154
Rasch erzählte ich dem Engel, was wir über die Flinduwier wussten. Sein kummervoller Blick brachte mich fast um. „Ich weiß, es stimmt“, flüsterte er schmerzerfüllt und wie zerschmettert von zehntausend Jahren menschlicher Not. „Ich habe in den letzten Momenten – und versteht mich recht, Momente bedeuten für mich etwas anderes als für euch – immer wieder eine unbekannte Angst über dem Land der Toten gespürt. Ich habe Schreckensschreie gehört. Ich wusste nur nicht, was dies alles zu bedeuten hatte.“ „Kannst du uns helfen?“, rief ich aufgeregt. „Ich kann die Toten warnen“, sagte Ivanoma. „Du kannst bestimmt noch mehr“, drängte ich. „Du bist doch stark und mächtig.“ „Ich bin gefesselt“, erwiderte Ivanoma. „Aber du kannst die Fesseln zerbrechen!“ „Ich habe versprochen, es nicht zu tun.“ Mehr wollte Ivanoma nicht sagen. Doch wir hatten bekommen, wofür wir ausgezogen waren. Wir wollten die Toten warnen und Ivanoma hatte gesagt, er würde das für uns tun. Unsere Mission war damit eigentlich erfüllt. Und trotzdem … „Komm“, flüsterte Gaspar. „Wir müssen gehen.“ Er hätte genauso gut sagen können, er müsste mir das Herz herausreißen und es noch schlagend in den Fressnapf eines Hundes legen. „Gehen?“, rief ich. „Unmöglich!“ „Ihr müsst“, flüsterte Ivanoma. „Die Lebenden gehören nicht hierher. Es war tapfer von euch zu kommen, aber jetzt müsst ihr zurückkehren. Ich werde die Toten warnen. Kümmert ihr euch um die Lebenden.“ Der Engel schloss die Augen und sein Kopf sank wieder auf das Eis. 155
Mir war, als würden auch von mir unsichtbare Fesseln abfallen. Solange ich in die Augen des Engels sah, hätte ich das Land der Toten nicht verlassen können. Jetzt stand es mir frei zu gehen. Unsere Rückkehr vollzog sich rasend schnell. In weniger als einem Herzschlag waren wir wieder mit unseren Körpern und der Welt der Lebenden vereint. Es war klar, dass Ivanoma unsere Reise zurück beschleunigt hatte. Genauso klar war bald auch, dass der Engel einen zweiten Fehler gemacht hatte.
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17 Opa Als ich die Augen öffnete, umgab mich tiefe Nacht. Eine Minute lang fürchtete ich schon, wir hätten es nicht geschafft. Dann fiel mir ein, dass wir unsere Körper ja im tiefsten Keller von Morley Manor gelassen hatten und dass es dort stockdunkel war. Ich hörte, wie sich Sarah neben mir bewegte. „Anthony?“, flüsterte sie. „Bist du da?“ „Ja“, antwortete ich leise. „Ist das alles wirklich passiert?“ „Ich glaube, ja.“ „Es ist wirklich passiert“, bekräftigte Gaspar. Ich hörte, wie er nach etwas suchte, dann flammte ein Streichholz auf. Die Flamme war zwar klein, kam mir in der Dunkelheit aber schrecklich hell vor. Halb blind kniff ich die Augen zusammen. Melisande hatte sich aufgesetzt und klopfte sich ab. Bob lag noch winselnd auf der Seite. Oma bewegte sich überhaupt nicht. Ich rappelte mich auf und wollte nachsehen, ob sie sich verletzt hatte. Da hörte ich eine vertraute Stimme sagen: Ethel, hast du dir etwas getan? Ich erstarrte. „Opa?“, fragte ich leise. „Opa, bist du das?“ 157
Mhm. Es klang kleinlaut, fast verlegen. „Wo bist du?“ Ich hörte Gaspar fluchen. Die Flamme war bis zu seinen Fingerspitzen heruntergebrannt. Er ließ das Streichholz fallen und wir saßen wieder im Dunkeln. „Mit wem sprichst du, Anthony?“, fragte Sarah. Oma stöhnte. Gott sei Dank, sie lebt!, sagte Opa. „Wo bist du?“, rief ich. „Neben dir“, antwortete Sarah. „Ich bin hier“, sagte Melisande. „Nicht ihr“, sagte ich ungeduldig. „Opa!“ Ich sitze auch hier, sagte Opa. Plötzlich kapierte ich, was er meinte. Zutiefst erschrocken fasste ich mir mit den Händen an den Kopf und rief laut: „Aber was tust du denn hier drinnen?“ Er seufzte. Tut mir leid, Anthony. Ich weiß nicht, wie Ivanoma euch zurückgeschickt hat, jedenfalls konnte ich mich irgendwie … an euch anhängen. Ich bin in deinem Körper gelandet. „Du bist was?“ Opa seufzte wieder. Aber ich wollte das doch gar nicht. Ich weiß nicht einmal, wie ich es gemacht habe, ich weiß nur, dass ich deine Oma furchtbar vermisse. Ich konnte sie nicht wieder ziehen lassen, vielleicht weil ich sie wiedergesehen habe und ihr so nah war. Also … bin ich einfach mitgekommen. „Aber das ist doch …“ Ich verstummte, denn jemand schüttelte mich. „Anthony!“, sagte Gaspar scharf. „Alles in Ordnung?“ Er hatte die Taschenlampe gefunden. Ein schwacher gelber Schein erfüllte den Keller. Mir wurde plötzlich 158
klar, dass ich zwar laut mit Opa gesprochen hatte, seine Stimme aber nur in meinem Kopf zu hören gewesen war. Ich muss geklungen haben, als sei ich verrückt geworden. Sag ihnen nicht, dass ich hier bin!, bat Opa. „Was?“ Es wäre deiner Oma nicht recht. Sie wäre nur wütend auf mich. Bitte, Anthony – ich gehe bei der ersten Gelegenheit wieder. Ich schwieg. BITTE! Ich seufzte. Opa war immer gut zu mir gewesen. Was sollte ich tun? Ihn verpetzen? Ihn ins Land der Toten zurückschicken? Wir besprechen das später, dachte ich. Hoffentlich verstand er mich, wenn ich nur in Gedanken sprach. Danke, Anthony, du bist ein braver Junge. Offenbar konnte er meine Gedanken verstehen. Laut sagte ich: „Entschuldigung, Gaspar. Mir ist noch ein bisschen schwindlig von der Reise.“ „Sprich lauter, Anthony“, sagte eine Stimme weiter unten. „Oma!“, rief ich. „Geht’s dir gut?“ „Im Großen und Ganzen ja“, sagte sie. „Leider höre ich wieder schlecht. Schade eigentlich, aber das war zu erwarten.“ Sie wollte aufstehen. Hilf ihr!, sagte Opa, aber Gaspar war schneller als ich. Ich spürte, wie Opa sich ärgerte. Der war schon immer hinter ihr her, brummte er. Ich glaubte nicht, dass Gaspar sich noch für Oma interessierte, die inzwischen fünfzig Jahre älter war als er. Ob Opa meinen Gedanken mitbekommen hatte? Er schwieg jedenfalls. 159
„So“, sagte Oma, als sie wieder stand. „Ich muss sagen, mit so etwas habe ich nicht gerechnet, als ich euren Eltern versprach, dieses Wochenende auf euch aufzupassen.“ Sie klang ein wenig zittrig, was ich ihr nicht verdenken konnte. „Lasst uns raufgehen“, sagte Gaspar. Auch er klang ein wenig zittrig, was mich nervös machte, da er doch unser Anführer war. „Wann die anderen wohl zurückkommen?“ Was er nicht sagte, aber vermutlich dachte: Die Frage war nicht nur, wann die anderen zurückkommen würden, sondern ob überhaupt. Was passierte, wenn der Wentar, Albert und Ludmilla in Flinduwien erwischt worden waren? Wie sich herausstellte, hätten wir uns um die Rückkehr der anderen keine Sorgen zu machen brauchen. Wir stiegen die Treppe zu Gaspars Labor hinauf und dort warteten Albert, Ludmilla und der Wentar auf uns. In ihrer Gesellschaft befand sich auch ein magerer, schwarzhaariger Junge, der nicht viel älter sein konnte als ich. Er trug einen Overall aus blauer Alufolie. Oder so was Ähnliches. „Martin!“, rief Gaspar entgeistert. „Martin?“, wiederholten Sarah, Oma und ich alle zur selben Zeit. Auch Opa sagte es, aber den konnte nur ich hören. „Der ist ja noch ein Kind!“, sagte ich. „Natürlich“, erwiderte der Wentar, der hinter dem Jungen stand und wie immer düster dreinblickte. „Er hat ja auch die letzten Jahrzehnte in einem scheintoten Zustand verbracht!“ Martin starrte Gaspar mit einer Mischung aus Furcht 160
und Neugier an. Wie seltsam es für ihn sein musste, seinen Zwillingsbruder als erwachsenen Mann zu sehen. Gott sei Dank hatte Gaspar wenigstens seinen Eidechsenkopf abgelegt – was Ludmilla und Albert übrigens kommentarlos hinnahmen. Martin sagte ein paar Worte in einer fremden Sprache. Ich war zunächst überrascht, aber nur, weil ich nicht gleich schaltete. Natürlich, die Flinduwier hatten ihn ja entführt, als er noch als Kind in Transsilvanien lebte, und anschließend in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt. Was hatte ich erwartet? Dass er Englisch sprach? Eine zweite und noch viele größere Überraschung kam, als Gaspar ihm in derselben Sprache antwortete und ich feststellte, dass ich sie verstand! Verwirrt sah ich Sarah an. Sie schien genauso erstaunt wie ich, doch dann lächelte sie. „Der Übersetzungszauber wirkt immer noch!“, rief sie. Gaspar hatte Folgendes gesagt: „Der große Bruder ist jetzt also der kleine Bruder und der kleine der große. Willkommen zurück in unserer Welt, Martin.“ 161
Martins Lippen zitterten. Ich glaubte schon, er würde in Tränen ausbrechen, doch dann bekam er sich wieder unter Kontrolle. Seine Gesichtszüge wurden starr. Ich kannte Gaspar inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er unter normalen Umständen ein Kind, das so unglücklich wirkte wie Martin, getröstet hätte. Aber Martin war nicht irgendein Kind. Er war Gaspars Zwillingsbruder und ein wenig älter – zumindest war er das früher gewesen und hatte es Gaspar zufolge immer ausgenutzt. Außerdem hatte die Familie seit Martins Entführung nach Flinduwien sechzehn Jahre lang in dem Glauben gelebt, der flinduwische Klon sei der wirkliche Martin. Was für ein Durcheinander! Kein Wunder, dass alle in ihren Gefühlen völlig verwirrt waren. Ich versuchte mir vorzustellen, wie das für mich wäre, wenn ich eines Abends einschlafen und beim Aufwachen feststellen würde, dass meine kleine Schwester inzwischen eine sechsundzwanzigjährige Frau ist. Ich fand die Vorstellung furchtbar und bei einer Zwillingsschwester wäre sie womöglich noch viel furchtbarer gewesen. Und das Allerfurchtbarste wäre gewesen, wenn mich kurz vor dieser Enthüllung ein Außerirdischer (der Wentar) von einem anderen außerirdischen Planeten (nämlich Flinduwien) gerettet und in ein fremdes Land (die USA) verschleppt hätte. Ich konnte es dem armen Martin nicht verdenken, dass er aussah, als wollte er gleich losheulen! Ludmilla weckte uns aus unserer Erstarrung. Sie ging zu Martin und schloss ihn in die Arme. „Mein armer kleiner Bruder“, flüsterte sie. Sie hätte es womöglich geschafft, Martin zu trösten, wenn beim Sprechen nicht ihre Vampirzähne aufgeblitzt 162
hätten. Entsetzt starrte er sie an und machte sich von ihr los. „Lass mich!“, rief er. Er legte das Gesicht in die Hände und begann, heftig zu schluchzen. Auch Ludmillas Lippen zitterten. Sie ließ die Hände fallen und ging einen Schritt zurück. Gleichzeitig trat Gaspar neben Martin. Er sagte nichts, sondern legte ihm nur sacht die Hand auf die Schulter. Martin stieß ihn weg und rannte zur Tür. Albert und ich wollten die Verfolgung aufnehmen. Doch noch bevor wir zwei Schritte gemacht hatten, hob der Wentar die Hand und machte eine sonderbare Bewegung. Martin sank zu Boden. Bob duckte sich und knurrte den Wentar an. „Was hast du getan?“, schrie Melisande. „Ich habe ihn nur in den Schlaf gezaubert“, sagte der Wentar ruhig. „Er kann sich ein wenig ausruhen und Kraft schöpfen, während wir uns unterhalten. Also los, wir haben nicht viel Zeit.“ Wer ist dieser Wichtigtuer?, fragte Opa. Das ist eine sehr lange Geschichte, dachte ich als Antwort. Schon gut. Ich finde es wahrscheinlich selbst heraus, wenn ich mich hier ein wenig umsehe. Erschrocken schüttelte ich den Kopf. Halt! In meinem Kopf wird nicht ohne meine Erlaubnis herumgeschnüffelt! Schon gut, Anthony. Glaub mir, wenn man tot ist, findet man vieles, was man früher sehr ernst genommen hat, nicht mehr so wichtig. Ich bin zum Beispiel gerade auf eine Erinnerung gestoßen, der zufolge du vor drei Jahren das Kellerfenster zerbrochen hast. Damals wäre ich wü163
tend gewesen, aber jetzt … gibt es wichtigere Dinge zu bedenken. Ich wollte ihm antworten, doch da fuhr der Wentar fort. „Martin hat uns schon eine wichtige Information gegeben“, sagte er. „Nämlich, was die Flinduwier mit den Toten der Erde vorhaben.“ „Und das wäre?“, fragte Gaspar. „Sie wollen mit ihrer Hilfe tote flinduwische Krieger wiederbeleben.“ „Das ist doch albern“, sagte Melisande. „Wenn sie das können, warum verwenden sie dann nicht die Seelen ihrer eigenen Toten?“ Der Wentar schnaubte. „Eine zynischere Person als ich würde sagen, weil die Flinduwier gar keine Seelen haben. Doch das stimmt wie die meisten einfachen Antworten nicht. Der wirkliche Grund ist komplizierter.“ Er warf Martin einen Blick zu, wie um sich zu vergewissern, dass er noch schlief, und fuhr fort: „Man kann durch die Sternentüren zwar problemlos von Welt zu Welt reisen, doch sie bergen auch große Gefahren.“ „Warum?“, fragte Sarah. „Womöglich öffnet man dem Bösen Tür und Tor. Feindlich gesinnte Planeten können ohne Vorwarnung in anderen Welten einfallen. Natürlich überprüfen wir die Planeten gründlich, bevor wir sie in unseren Bund aufnehmen und ihnen damit den Zugang zu den Türen erlauben. Aber leider geht manchmal etwas schief.“ „Wie bei den Flinduwiern?“, fragte Gaspar. Der Wentar nickte. „Die Geschöpfe des Roten Nebels in den Bund der zivilisierten Welten aufzunehmen, war einer unserer wenigen Fehler und ein besonders schlimmer. Noch haben wir die Flinduwier unter Kontrolle. Doch sie sind so gierig nach Eroberungen. Nicht aus164
zudenken, wenn sie mit ihrer Armee auf einem fremden Planet einrücken würden. Zum Glück wurden die Sternentüren aus Sicherheitsgründen so konstruiert, dass täglich nur zehn Wesen einer Art durch eine solche Tür gehen können.“ „Ich verstehe immer noch nicht, was das alles mit den Geistern unserer Toten zu tun hat“, sagte ich. „Das erkläre ich dir gern“, fauchte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und schrie. Die Flinduwier waren da.
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18 Der Plan der Flinduwier Der Flinduwier, dem ich in der letzten Nacht begegnet war, hatte gerade die Barriere eingerissen, die den aus Morley Manor hinausführenden magischen Korridor von unserer Welt trennte. Ich hatte ihn nur flüchtig gesehen, denn im selben Augenblick, in dem er durchbrach, waren wir durch die Sternentür geflohen. Schon dieser kurze Anblick war ziemlich schrecklich gewesen, doch hatte er mich nicht darauf vorbereiten können, wie schrecklich ein Flinduwier ist, der einem in voller Größe gegenübersteht. Sie waren riesig – zwischen ein Meter achtzig und zwei Meter fünfzig. Der Wentar und Gaspar waren zwar auch groß, aber sie besaßen keine Bizepse in der Größe von Basketbällen und keine Schenkel, die den Umfang meiner Taille hatten. Wobei ich wohlgemerkt nicht von speckigen Schenkeln spreche, eher von massigen, festen Muskelpaketen. Denn die Uniform der Aliens bestand lediglich aus engen kurzen Hosen, breiten, silbernen Armreifen und Brustharnischen, an denen Waffen und Munition hingen. Sie trugen nicht einmal Schuhe, die doch eigentlich zur Grundausstattung eines jeden Kriegers gehören. Zugegeben, vielleicht nicht für Krieger, 166
deren Füße aussehen wie längliche, biegsame Pferdehufe. Noch biegsamer waren ihre Finger, keine richtigen Finger, sondern eher lange, schuppenbedeckte Tentakel. Besonders schaurig fand ich, dass die Tentakel verschieden lang und dick waren. Wahrscheinlich hieß das, dass sie auf verschiedene Verwendungszwecke spezialisiert waren … Und darüber wollte ich lieber nicht zu genau nachdenken. Genauso überdimensioniert wie die Muskeln waren die Schnauzen und Augen der Flinduwier.
Alles in allem sahen sie abstoßend hässlich aus. Mama sagt immer, man soll andere nicht nach ihrem Aussehen beurteilen, aber im Moment fiel mir das ausgesprochen schwer. Die Flinduwier sahen nicht nur gemein und tückisch aus, ich spürte, dass sie es auch waren. Sie waren zu zehnt und damit war das Zimmer mehr oder weniger voll. 167
Der Flinduwier, der ganz vorne stand, vermutlich der Anführer, lächelte. Ich wünschte, er hätte es nicht getan. Nicht wegen der zwei Reihen silbern glitzernder Zähne, obwohl die schon schlimm genug waren. Nein, am schlimmsten fand ich die schwarze Zunge, die wie bei einer Schlange aus dem Maul züngelte. Sie war noch viel schrecklicher und furchteinflößender als die von Gaspar, wahrscheinlich weil sie am Ende zwei große Atemlöcher hatte. „Unser Plan ist einfach“, sagte er mit einer Stimme, die polterte wie Kieselsteine in einem Mixer. „Die Beschränkung auf zehn Angehörige einer Art, die täglich durch eine Sternentür gehen dürfen, gilt nur für die Lebenden. Wir können also so viele Leichen mitnehmen, wie wir wollen. Sobald wir sie hierhergebracht haben, erwecken wir sie mit den Geistern eurer Toten wieder zum Leben.“ „Was habt ihr davon?“, fragte Gaspar. „Ihr könnt nicht erwarten, dass unsere Toten für eure Ziele kämpfen werden.“ „Wir lassen ihnen keine Wahl“, sagte der Flinduwier aufgeräumt. „Wir brauchen nur ihre Lebenskraft zur Wiederbelebung der Leichen. Sobald das abgeschlossen ist, stehen sie vollkommen unter unserem Befehl.“ „Und wo wollt ihr eine Armee von Leichen herbekommen?“, fragte Gaspar. Der Alien lächelte wieder. „Jeder Flinduwier ist bereit, im Dienst seines Planeten zu sterben. Sobald der Ruf nach Leichen ergeht, wird unser größtes Problem die Erfassung der vielen Freiwilligen sein, die sich einen Platz im Kriegerhimmel verdienen wollen. Ein solcher Tod ist eine große Ehre und ein Privileg.“ „Aber wenn ihr eine Seele in einen Körper einpflanzen 168
könnt, warum nehmt ihr dann nicht die Seele, die ursprünglich da war?“, fragte Ludmilla. Der Anführer lächelte höhnisch. „Die Rückführung der Seele in den toten Körper kann diesem zwar Kraft und die Fähigkeit der Bewegung verleihen, nicht aber wirkliches Leben. Wiederbelebte Tote sind lediglich Zombies.“ Er gebrauchte natürlich nicht das Wort Zombie, da er ja Flinduwisch sprach, aber das meinte er. „Als Zombie zu existieren, ist kein würdiges Schicksal für die Seele eines flinduwischen Helden. Es wäre eine Kränkung seiner Ehre. Doch unsere Pläne machten große Fortschritte, als wir den kleinen Martin entführten. Wir untersuchten ihn und entdeckten, wie sehr die Geister eures jämmerlichen, lange missachteten kleinen Planeten sich an das Leben klammern – so sehr, dass sie sich sogar an einem fremden Körper festhalten. Sie sind deshalb für unsere Zwecke ideal geeignet.“ Er warf den Kopf zurück und lachte. Ich glaubte zumindest, dass er lachte. Zu hören war eine Mischung aus Kettensägengeheul und dem Knurren eines Werwolfs. „Jetzt wird Flinduwien endlich aus seinem Schlaf erwachen! Wir wachen auf – und die Galaxie erzittert!“ Ich hörte hinter mir jemanden stöhnen und drehte mich um. Martin richtete sich auf. Melisande machte einen Schritt auf ihn zu. „Keine Bewegung!“, herrschte der Flinduwier sie an. Beim Klang seiner Stimme hob Martin den Kopf. „Ach, du bist das, Dysrok! Wurde aber auch langsam Zeit. Ich habe mich schon gefragt, wo ihr bleibt.“ „Wovon sprichst du, Martin?“, rief Gaspar. „Halt den Mund, du Idiot“, fuhr sein Bruder ihn an. „Warum glaubst du, habe ich zugelassen, dass der Wentar mich hierher zurückbringt? Weißt du, was ein Köder ist?“ 169
Melisande begann zu weinen. Oma legte ihr den Arm um die Schultern. Das ist meine Ethel, dachte Opa. Immer um andere besorgt. Sonst sagte er nichts, aber ich spürte, wie Panik in seinen Gedanken aufkeimte. Und das völlig zu Recht. Kaum hatte er zu Ende gedacht, begann der Armreif eines Flinduwiers zu piepen. Dysrok lächelte und seine Zunge fuhr zwischen den Lippen heraus. „Na, so was“, schnarrte er zufrieden. „Sieht aus, als hätten wir einen Geist unter uns. Den könnten wir ja eigentlich gleich mitnehmen, wenn wir schon hier sind. Der kann uns bestimmt ganz nützlich sein.“ Der Flinduwier hinter ihm, dessen Armreif piepte, drehte sich langsam im Kreis. Sobald er in meine Richtung sah, begann der Reif lauter zu piepen. Das blaue Gesicht mit der zündelnden Zunge verzog sich zu einem schrecklichen Lächeln und er trat einen Schritt auf mich zu. Das Piepen wurde noch lauter. Dysrok sah mich überrascht an. „Beherbergst du einen Toten, Bürschchen?“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte, möglichst unschuldig und naiv auszusehen. Doch vergeblich. Der Flinduwier mit dem Armreif hob seine Waffe. Sie sah aus wie eine große Wasserpistole – ein buntes, wulstiges Gerät mit einer breiten Mündung am einen und einem gelben, flaschenähnlichen Behälter am anderen Ende. Er lächelte und seine schlangenähnliche Zunge züngelte erregt. Die großen, schwarzen Löcher an ihrer Spitze öffneten und schlossen sich wie Nasenlöcher, die Witterung aufnahmen. „Wer du auch bist“, rief er spöttisch, „komm raus!“ 170
Er zielte mit der Spielzeugpistole auf meinen Kopf und drückte ab.
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19 Die Sammelflasche Ich hörte es knistern und spürte einen Energiestoß ähnlich dem beim Durchschreiten der Sternentür. Halt dich fest!, Opa, dachte ich. Halt dich fest! Jemand schrie. Mir wurde erst später klar, dass ich das war. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Im nächsten Moment schien mich etwas in Stücke zu reißen. Zuerst glaubte ich, das sei so, weil Opa aus mir herausgerissen wurde. Erst nach einer Weile begriff ich. Es war noch viel schlimmer. Nicht Opa war aus meinem Körper herausgerissen worden – ich selbst! Ich wurde in die Pistole des Flinduwiers hineingesaugt! Ich glaubte zu träumen – einen von den Träumen, in denen man zwar weiß, dass man träumt, sich aber trotzdem nicht zwingen kann aufzuwachen. Ich schrie wieder. Das Schreien schien mir langsam zur Gewohnheit zu werden. Ich richtete damit aber nichts aus, denn niemand konnte mich hören. Wahrscheinlich hatte ich gar keinen Mund. Ich hatte auch keine Augen und keine Ohren, obwohl ich hörte und sah, was um mich vorging. Keine Ahnung, wie das funktionierte. Wahr172
scheinlich hörte und sah ich wie ein Geist – wie eben, als wir ohne unsere Körper das Land der Toten betreten hatten. Das war ganz in Ordnung gewesen, weil ich immer noch eine körperähnliche Gestalt gehabt hatte. Doch wenn man in einer Flasche feststeckt, macht man sich allmählich über so etwas Gedanken. Während langsam meine Orientierung zurückkehrte, hörte ich, wie Opa ein Mordstheater veranstaltete. „Wie konntet ihr ihn einfach so mir nichts, dir nichts einsacken?“, schrie er. Er sprach mit meiner Stimme und durch meinen Mund und hielt sich meinen Kopf mit meinen Händen. „Was geht hier vor?“, rief Oma. „Anthony, was ist los?“
Opa wandte sich mit meinem Körper in ihre Richtung und sagte: „Das war Opa. Er steckte in mir drin und sie haben ihn herausgezogen!“ Die nackte Angst packte mich. Was fiel Opa ein? Warum log er Oma an? Wollte er meinen Körper behalten? Konnte es sein, dass mein eigener Großvater mich auf diese Weise betrog? 173
Oma war wütend. „Lass sofort meinen Mann aus dieser Flasche heraus!“, schrie sie und wollte sich auf den Flinduwier mit der Sammelflasche stürzen. „Ethel!“, rief Gaspar. Er packte Oma und hielt sie fest. Dysrok lachte. „Wir lassen den Geist raus, wenn die Zeit reif ist. Und dann kommt er aus der Flasche in den Körper eines flinduwischen Kriegers. Er wird den Körper mit seiner Kraft beleben, aber seinen Willen werden wir lenken. Er wird in allem unser Sklave sein.“ Oma verstand das alles natürlich nicht, weil der Wentar ja keinen Übersetzungszauber über sie gesprochen hatte. Ich dagegen verstand jedes Wort – leider. Auf einmal zog der Flinduwier, der geschossen hatte, die Flasche vom Ende der Pistole ab und steckte sie in einen Beutel. Um mich herum wurde es dunkel und ich sah und hörte nichts mehr. Dabei war ich eben erst vom Land der Toten zurückgekehrt. Wo ich es wesentlich netter gefunden hatte als in dieser Flasche. Ich geriet in Panik. Nur nützte es nichts. Ich meine, normalerweise kann man richtig gut Stress abbauen, wenn man in Panik gerät. Man kann schreiend durch die Gegend rennen oder hyperventilieren oder so was. Ich hingegen konnte mir nur vorstellen, das alles zu tun. Das Gefühl der Hilflosigkeit wurde immer stärker, bis ich glaubte, explodieren zu müssen. Wenn man in Panik gerät, soll man tief Luft holen. Da ich weder Nase noch Mund noch Lunge hatte und in der Flasche auch keine Luft war, konnte ich auch das nicht. Schließlich begann ich zu beten. Das half. Es geschah zwar kein Wunder, aber ich beruhigte mich ein wenig – was angesichts der Umstände schon ein kleines Wunder war. 174
Sobald ich mich beruhigt hatte, konnte ich auch wieder nachdenken. Warum tat Opa so, als sei er ich? Bestimmt wollte er die Aliens irgendwie überlisten. Er wollte sie in dem Glauben belassen, dass sie den Geist eines Toten und nicht den eines Lebenden gefangen hatten, weil er sich davon irgendeinen Vorteil versprach. Ein Teil von mir glaubte fest an diese Variante. Aber eine kleine fiese Stimme in mir behauptete hartnäckig, Opa dachte in Wirklichkeit etwas ganz anderes: „Hurra! Ich lebe wieder!“ Warum hatte die Pistole wohl mich geholt und Opa in mir dringelassen? Ich musste an Dysroks Behauptung denken, die Geister der Erde würden sich an das Leben „klammern“. Vielleicht hing Opa, der bereits gestorben war, noch mehr am Leben als ich. Oder aber der Grund dafür war unsere Reise ins Land der Toten. Ich hatte meinen Körper vor Kurzem schon einmal verlassen und war deshalb vielleicht nicht so fest mit ihm verbunden, wie ich es hätte sein sollen. Vielleicht kam auch beides zusammen oder die Ursache war eine ganz andere – alles war möglich. Und im Grunde war es eigentlich auch egal, warum ich aus meinem Körper herausgesaugt worden war. Die Frage war doch vielmehr, was ich als Nächstes tun sollte. Wobei man natürlich unter den gegebenen Umständen keine große Wahl hat. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit ich betend und grübelnd und zitternd und bibbernd in der Flasche verbracht hatte, als ein Flinduwier den Beutel aufmachte und die Flasche wieder herauszog. Er hielt mich in meinem Gefängnis in die Höhe und sagte: „Versuchen wir es mit dem. Bringt eine Leiche. Wir stecken ihn rein und schauen mal, was dabei herauskommt.“ 175
20 Ich, der Alien Mehrere Flinduwier trugen einen sargähnlichen Kasten herein. Er war zwar größer als normale Särge, aber die Flinduwier waren ja auch größer als normale Menschen. Er sah ganz schlicht aus, ohne jede Verzierung und Schnitzerei. Nur auf dem Deckel waren einige Schnörkel zu sehen, womöglich flinduwische Schriftzeichen. Mir fiel plötzlich auf, dass sie aussahen wie die Zeichen auf der Kiste, in der Gaspar und die anderen Miniaturmonster eingesperrt gewesen waren. Die Flinduwier stellten den Sarg aufrecht hin und Dysrok drückte einen Knopf an der Seite. Der Deckel klappte auf. Darin stand die massige Gestalt eines toten Flinduwiers. Mein neues Zuhause. Der Kerl hatte wie die anderen Flinduwier Berge von Muskeln, Tentakel statt Fingern und die seltsamen, gebogenen Füße. Die Augen hatte er geschlossen, aber auch so sah man, wie groß und vorquellend sie waren. Spitze Fangzähne bohrten sich aus dem Unterkiefer über die riesige Schnauze. Die Flasche, in der ich mich befand, wurde zu dem Kasten getragen und an eine Röhre an der Seite angeschraubt. 176
Dann pumpten sie mich in den Flinduwier hinein. Zunächst spürte ich nur eine klamme Feuchtigkeit, als habe man mich in ein Stück rohe Leber eingewickelt. Dann erwachte der Körper des Flinduwiers langsam wieder zum Leben. Ich spürte, wie Blut durch die Adern strömte. Am liebsten hätte ich mich vor Ekel geschüttelt, aber es ging nicht. Ich bewohnte den Körper nur, ich konnte ihn nicht steuern. Meine Augen gingen auf und ich konnte wieder sehen. Durch die Augen eines Flinduwiers sah die Welt ganz anders aus als durch die Augen eines Erdlings. Schon die Farben waren ganz anders. Sie waren nicht einfach heller oder dunkler als vorher, sondern überhaupt mit nichts vergleichbar, was ich bisher gesehen hatte. Ich kann es schwer beschreiben, jedenfalls war es ziemlich abgedreht. Außerdem sehen flinduwische Augen viel schärfer als unsere. Ich konnte das Gewebe von Sarahs Jeans oder die farbigen Flecken in Omas Augen erkennen, die zehn Meter entfernt von mir stand. Ich konnte die einzelnen Haare auf Gaspars Handrücken zählen.
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Doch zu dieser Scharfsichtigkeit kam auch noch etwas anderes, so etwas wie ein „Bewertungssystem“. Jeder Gegenstand, den ich sah, erschien mir entweder als eine mögliche Gefahr oder eine mögliche Waffe – manchmal auch beides. Und jeder Nicht-Flinduwier, sogar meine geliebte Oma, erschien mir als bedrohlicher Gegner. Zum Glück hatte ich keine Macht über den Körper, in dem ich steckte, sonst hätte ich mich womöglich auf sie gestürzt und sie zermalmt. Ich war nicht gern ein Flinduwier. Zumindest wunderte ich mich jetzt nicht mehr über ihre Angriffslust – wobei ich mich fragte, ob sich ihre Fähigkeit, so zu sehen, daraus entwickelt hatte, dass sie so angriffslustig waren, oder ob überhaupt diese Art der Wahrnehmung sie erst angriffslustig machte. Dysrok zog ein schwarzes Kästchen aus seinem Beutel. Er drehte an einer Scheibe und ich spürte, wie eine Art Stromschlag durch mich hindurchlief. Ich erschrak, fand das Kribbeln aber dennoch nicht unangenehm. „So“, sagte er. „Ich habe ihn aktiviert. Komm her, Zarax.“ Zarax musste mein Name sein, denn meine Beine traten automatisch vor. Dysrok lächelte. „Seht ihr, wie einfach das ist? Die Wiederbelebung einer Leiche mit einem Geist der Erde dauert nur wenige Augenblicke. Und dann steht der Körper vollständig unter unserer Kontrolle.“ „Und was passiert mit dem Geist?“, fragte Gaspar. Dysrok fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Er dient lediglich als Batterie, als Lebenskraft, die den Körper antreibt. So können wir die Vorrichtung an den Sternentüren umgehen, die verhindert, dass mehr als zehn 179
Mitglieder einer Art am selben Tag die Tür passieren. Sie schlägt nicht bei toten Körpern Alarm, also können wir, wenn wir möchten, auch eine Million toter Krieger am Tag durch die Tür schaffen. Mithilfe einer kleinen Vorhut, welche die Krieger aktiviert, können wir in wenigen Stunden eine Armee hierher transportieren, die zur Eroberung dieses kleinen Planeten ausreicht.“ Er reckte sich triumphierend. „Wenn die Erde erst uns gehört, beginnt die eigentliche Arbeit. Wir werden eure Geister einsammeln und sie als Treibstoff für die Körper unserer Krieger verwenden. Dann werden wir den uns zustehenden Platz als Herrscher der Galaxie einnehmen.“ Ich dachte an die traurigen Geister, denen wir im Land der Toten begegnet waren, und stellte mir vor, dass sie in den Körpern von Flinduwiern eingesperrt sein würden. Ich dachte auch an Opa, der in mir festsaß, an den alten Mr Zematoski von gegenüber, der vergangenen Monat gestorben war und an Edon Farrrells große Schwester Gwen, die vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Die Vorstellung, ihre Seelen könnten in kalte flinduwische Leichen gesteckt werden, war so schrecklich, dass es mich fast zerriss. Zu meiner Überraschung zuckte einer meiner neuen Arme tatsächlich. Überraschend daran war, dass ich ja eigentlich keinerlei Kontrolle über meine Glieder haben sollte. Ich versuchte noch einmal, den Arm zu bewegen. Nichts. Ich konzentrierte meine ganze Kraft auf die rechte Hand. Nichts … nichts … nichts … Dann ein Zucken! Ich hörte sofort auf. Die Flinduwier durften nichts 180
merken. Hoffentlich hatte ich mich nicht schon verraten? Ich versuchte mich umzusehen, hatte aber nach wie vor keine Kontrolle über meine Augen. Stattdessen starrte ich geradeaus in das Wohnzimmer von Morley Manor, das im Augenblick trotz der fehlenden Möbel ziemlich voll war. Oma, Sarah und alle Mitglieder der Familie Morleskjewitsch sahen mich an. Sarah weinte. Ich wollte ihr winken und irgendwie zu verstehen geben, dass ich lebte, aber es ging nicht. Besonders krass war es, meinen eigenen Körper dastehen zu sehen, aus dem Opa mich erschrocken und zugleich fasziniert anstarrte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich nun tun sollte. Dysrok traf die Entscheidung für mich. Er drehte an der Scheibe seiner Fernbedienung und lotste mich zur Wand. „Nun schließ die Augen und warte auf künftige Befehle“, sagte er. Ich tat, wie geheißen. Alles wurde dunkel. Ich konnte mich nicht rühren. Der flinduwische Körper war eiskalt, so unvorstellbar kalt, obwohl ich ihn doch mit meinem Bewusstsein belebt hatte. Ich wollte zittern vor Kälte, konnte aber nicht. Ich war wie tot. Nein, das stimmt nicht ganz. Wenn ich tot gewesen wäre, hätte ich ja ins Land der Toten gehen können, wo ich, so seltsam es klingt, lieber gewesen wäre als in diesem lebenden Sarg aus kaltem flinduwischen Fleisch. Ich dachte daran, dass die Flinduwier alle Toten der Erde auf diese Art einsperren wollten, zumindest alle, die sie bekommen konnten. Am liebsten hätte ich geschrien. 181
21 Ein Körper, in dem es spukt Ich konnte nichts mehr sehen, spürte und schmeckte nichts. Aber zwei Sinne funktionierten doch noch: Ich konnte hören und ich konnte riechen. Ich merkte, dass nicht nur die flinduwischen Augen schärfer sahen als unsere menschlichen. Meine neue Nase roch auch viel besser. Es dauerte ein wenig, mich daran zu gewöhnen, weil diese Erfahrung so neu war. Und vieles von dem, was ich roch, konnte ich nicht zuordnen oder deuten. Immerhin konnte ich durch genaues Zuhören und Verarbeiten meiner Geruchsempfindungen bald bestimmte Gerüche bestimmten Leuten (oder Aliens oder Monstern) zuordnen. Sobald mir das gelungen war, konnte ich feststellen, wo welche Leute standen und wann sie sich bewegten. Nach einer Weile stellte ich auch fest, dass ihr Geruch sich änderte, wenn sie redeten. Ich konnte ihre Angst riechen oder ihre Wut oder ihr Selbstvertrauen. Nach einiger Zeit wurde klar, dass die Flinduwier auf einen Anführer warteten, der das weitere Vorgehen leiten sollte. „Wo bleibt Jivaro?“, knurrte Dysrok mehrmals. Dem Geräusch seiner schweren Schritte entnahm ich, 182
dass er im Zimmer auf und ab ging. Anhand seines Geruchs konnte ich seinen Weg genau verfolgen. „Ist doch egal“, knurrte ein anderer Flinduwier. „Töten wir die Dummköpfe einfach und fertig. Was spricht dagegen?“ Dysrok trat vor ihn. Ich hörte keinen Schmerzensoder Protestschrei, schloss aber aus den Geräuschen, dass Dysrok ihm einige Kopfnüsse verpasste. „Dass der Einzige, den es sich zu töten lohnt, der Wentar ist, du Trottel!“, brüllte er. „Und den dürfen wir ohne Anwesenheit eines höheren Amtsträgers nicht umbringen.“ „Ihr wärt gut beraten, es überhaupt nicht zu tun“, sagte der Wentar ruhig. „Du hältst den Mund, du Schnösel!“, fauchte Dysrok. Er klang schrecklich wütend, hielt jedoch etwas mehr Abstand vom Wentar und auch von den anderen. Nach dem ganzen Ärger, den uns der Wentar schon eingebrockt hatte, war ich froh, dass er nun auch mal zu etwas nütze war. „Oje“, seufzte Albert, „vielleicht hätten wir in der Kiste bleiben sollen.“ „Ruhe!“, brüllte Dysrok. Ich war unterdessen weiter damit beschäftigt, meinen neuen Körper unter Kontrolle zu bringen. Das war schwierig, schließlich wagte ich es nicht, größere Bewegungen zu machen. Nicht einmal die Augen durfte ich öffnen, weil die anderen sonst sofort gemerkt hätten, was los war. Also konzentrierte ich mich darauf, die Pomuskeln anzuspannen. Das klingt vielleicht doof, aber gibt es in einer Situation auf Leben und Tod sonst einen Muskel, den man be183
wegen kann, ohne dass die Person direkt vor einem das Geringste bemerkt? Ich erkundete weiter die gruseligen Unterschiede zwischen dem flinduwischen und dem menschlichen Körper. Einige lagen auf der Hand, wie die Tentakel, die ich jetzt statt normaler Finger hatte, oder die hufartigen Füße. Andere waren unauffälliger – wie meine unglaubliche Kraft. Sie war deshalb unauffälliger, weil ich sie ja nicht einsetzen konnte.
Während ich mich immer mehr an den neuen Körper gewöhnte, wurde ich etwas nervös. Konnte ich mich so stark mit dem Flinduwierleib verbinden, dass ich nicht mehr von ihm loskam? Eine schreckliche Vorstellung, die dadurch noch schrecklicher wurde, dass ich auf Überreste der Erinne184
rungen des Vorbesitzers stieß, die noch im Gehirn hafteten. Sie verstaubten in verborgenen Winkeln seines Kopfes wie Möbel, Fotos und Nippes in einem alten Haus nach dem Tod des Besitzers. Wer weiß schon, wie Geist und Körper wirklich verbunden sind? Ich habe jedenfalls keine Ahnung, deshalb kann ich auch nicht erklären, was genau da los war. Aber es war ein gespenstisches Gefühl, so viel steht fest – als ob ich in dem Körper nicht allein gewesen wäre. Ein Körper, in dem es spukte. Die erste Erinnerung, der ich begegnete, erschreckte mich so sehr wie eine kalte Hand, die einen in einem dunklen Zimmer packt – sie schien aus dem Nichts zu kommen. Obwohl ich ja keine Macht über den Körper hatte, hatte ich das Gefühl, als zuckte er vor Schreck ein wenig zusammen. Die Erinnerung war unglaublich lebendig und ich geriet in Panik, weil ich zunächst glaubte, der Alien, dem der Körper ursprünglich gehört hatte, sei irgendwie immer noch am Leben. „Lasst mich hier raus!“, wollte ich rufen und mit den Fäusten gegen irgendeine Tür hämmern. Aber es war zwecklos. Die Erinnerung tauchte auf und ich konnte nichts dagegen tun. Sie bestand aus einem einfachen Bild: Jemand blickte von einem hohen Berg auf eine Stadt hinunter. Die Stadt war ein hässliches Durcheinander von Häusern, aber über allem lag eine seltsame, ursprüngliche Schönheit. Am weiten, hellgrünen Horizont schienen zwei Sonnen. Vor der Stadt lag ein dunkler See, und dahinter erstreckte sich eine völlig verbrannte und ausgedörrte Wüste, die sich leuchtend rot von dem grünen Himmel abhob. Trotz dieses faszinierenden Anblicks war die gesamte Erinnerung überlagert von schrecklicher Angst und Ein185
samkeit. Weitere Erinnerungen stellten sich ein und ich wusste plötzlich, dass sie aus der Kindheit des Vorbesitzers stammten. Man hatte ihn damals auf dem Berg ausgesetzt, um ihn abzuhärten. In Flinduwien aufzuwachsen, war offenbar kein Zuckerschlecken. Weitere Erinnerungen stiegen wie Luftblasen im Wasser zur Oberfläche auf: Erinnerungen an Angst, Schläge und die Ausbildung zu einem grausamen, verwegenen Krieger. Die furchtbarste Erinnerung handelte von einem Zimmer, in dem „mein“ Flinduwier zusammen mit drei anderen Kindern eingesperrt war. Das Wasser reichte bis zum festgesetzten Tag der Freilassung nur für zwei zum Überleben. Über weitere Einzelheiten möchte ich nicht sprechen. Die Bilder verfolgen mich noch heute. Die flinduwischen Krieger taten mir fast schon leid – obwohl ich natürlich auf keinen Fall wollte, dass sie die Herrschaft über die Erde übernahmen, von der Galaxie ganz zu schweigen. Aber wie konnten wir das verhindern? Ich erwartete nicht, eine Antwort auf diesen Gedanken zu bekommen, doch ich bekam sie trotzdem. Ich hörte plötzlich eine Stimme in meinem Kopf: Wir brauchen nur den Bund der zivilisierten Welten über die Pläne der Flinduwier zu informieren. Die Stimme erschreckte mich noch mehr als die Erinnerungen des Aliens und ich glaube, diesmal bin ich wirklich zusammengezuckt. Ich wollte brüllen: „Wer bist du? Was tust du hier drinnen?“ Das konnte ich natürlich nicht. Aber ich muss es gedacht haben, denn die Stimme antwortete mir. Ich bin Martin. 186
22 Martins Geschichte Martin?, dachte ich erstaunt. Gaspars Bruder? Das Kind, das die Flinduwier entführt haben? Nein, der Hund des Nachbarn. – Natürlich Gaspars Bruder! Wie bist du in diesen Körper gekommen? Die Flinduwier haben mich in so viele Körper hineingesteckt und wieder herausgeholt, dass ich irgendwann gelernt habe, selbst Körper zu wechseln. Den Flinduwiern habe ich meine neue Fähigkeit allerdings verschwiegen. Aber statt die Zeit mit dummen Fragen zu verplempern, sollten wir uns lieber überlegen, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen. Hast du irgendeinen Vorschlag?, dachte ich. Hoffentlich war das nicht auch eine dumme Frage. Martin seufzte. Leider nein. Aber jetzt habe ich wenigstens mit dir gesprochen und wir sind besser gewappnet, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Mir war das recht. Es war ein Hoffnungsschimmer. Und ich war neugierig. Martin hatte keine Lust auf Fragestunde? Tja. Mittlerweile war mir das ehrlich gesagt ziemlich egal. Ich kapiere nur eins nicht. Auf welcher Seite stehst du – auf unserer oder auf der Seite der Flinduwier? 187
Auf meiner eigenen, erwiderte Martin scharf. Kannst du mir das erklären?, fragte ich. Hängt davon ab, wie viel Zeit wir haben, antwortete er. Ich sehe kurz nach. Ich spürte nicht, dass er ging, aber er muss wohl weg gewesen sein, denn plötzlich hörte ich ihn sagen: Also gut, da draußen sieht es ruhig aus. Merken die nicht, wenn du deinen Körper verlässt?, fragte ich. Ach, na ja. Klar wäre das schlecht, aber es ist unwahrscheinlich. Ich sitze jetzt schon eine ganze Weile trübsinnig in der Ecke und niemand beachtet mich. Und selbst wenn jemand in meine Richtung sieht, sitze ich ja nur mit dem Kopf in den Armen gelegt da. Willst du jetzt hören, was hier vor sich geht, oder nicht? Und dann erzählte er mir seine Geschichte. Ich habe sie hier aufgeschrieben. Einiges davon erfuhr ich erst später, aber das meiste habe ich von ihm. Als ich damals zum ersten Mal durch das Loch der Welten nach Flinduwien fiel, war ich nicht wirklich erschrocken. Vor allem freute ich mich. Ich hatte schon immer mehr über die Welten jenseits der Erde wissen wollen, und dieser Wunsch schien endlich in Erfüllung zu gehen. Ich wusste ja nicht, wie teuer ich dafür bezahlen musste. Denn bezahlen musste ich. Ich hatte einen Ort betreten, welcher der Hölle ähnelte wie kein zweiter. Ich dachte an das, was ich über eine Kindheit in Flinduwien gelernt hatte, und gab ihm Recht. Als ich aus unserer Welt herausfiel, stand bereits ein Flinduwier bereit und packte mich. Die Flinduwier hatten von den waghalsigen Experimenten erfahren, die Gaspar und ich durchführten und uns in eine Falle gelockt. 188
In kürzester Zeit hatten sie eine Kopie von mir geschaffen, die sie zur Erde zurückschickten. Das war noch kein Klon, die kamen erst viel später, sondern einfach eine schnelle Kopie, kaum mehr als eine belebte Marionette, eine Art Platzhalter. Er wurde wenige Tage später durch eine verbesserte Kopie ersetzt und einige Wochen später durch eine noch genauere. Endlich hatten sie den perfekten Klon von mir geschaffen, den sie nach Wunsch programmierten und als endgültigen Ersatz für mich losschickten. Dieser Klon lernte meine Familie und unsere Welt kennen und schickte entsprechende Informationen zurück nach Flinduwien. Doch der scheinbar perfekte Klon hatte nun mal flinduwische Wurzeln, und so erfuhr meine Familie einige wichtige Geheimnisse, zum Beispiel das Geheimnis der Sternentüren. Den Flinduwiern war das nicht recht – wenn herausgekommen wäre, dass sie das Geheimnis einem Planeten verraten hatten, der nicht zum Bund der zivilisierten Welten gehörte, wären sie hart bestraft worden. Aber das Risiko gingen sie ein. Ich war unterdessen ihr Gefangener. Oder vielmehr ihr Versuchskaninchen für die verschiedensten wissenschaftlichen Experimente. Ich wurde untersucht und kategorisiert, als sei ich ein Exemplar einer interessanten neuen Insektenart. Nach einiger Zeit begannen die flinduwischen Forscher mit mir zu sprechen und mir von sich zu erzählen. Es kam mir so vor, als sei ich für sie so etwas wie ein besonders intelligentes Haustier, jemand, mit dem man seine Sorgen teilen kann. Das war bemerkenswert, denn ein Flinduwier würde seine Probleme oder Zweifel nie einem Artgenossen anvertrauen. Es würde sofort als Schwäche eingestuft werden und in ihrer Gesellschaft ist nichts gefährlicher als das. 189
In Flinduwien vergeht die Zeit in einer anderen Geschwindigkeit als hier. Das Verhältnis ist ungefähr drei zu eins. Deshalb konnten die Flinduwier die erste Kopie von mir unglaublich schnell zurückschicken und Gaspar schöpfte keinen Verdacht. Für jede Minute, die hier vergeht, vergehen drei in Flinduwien. Ich selbst bin also seit über zweihundert fahren flinduwischer Zeit in Flinduwien. Martin klang bei diesen Worten so verzweifelt und traurig, dass es mir fast das Herz brach. Zugleich war ich verwirrt. Wenn du schon so lange dort bist, warum siehst du dann aus wie zwölf? Weil ich in dieser Gestalt nach Ansicht der Flinduwier am besten als Köder für den Wentar geeignet war. Ich habe in meiner Zeit in Flinduwien körperlich zwar schon verschiedene Altersstufen eingenommen, aber den Flinduwiern war die Gestalt am liebsten, in der sie mich ursprünglich gefangen hatten. Wahrscheinlich sahen sie darin ein Symbol ihres ersten Schrittes auf dem Weg zur Alleinherrschaft. Die Jahre vergingen, auf die ersten hundert Jahre folgten die zweiten und die Wissenschaftler, die auf mich aufpassten und mich erforschten, räumten mir immer mehr Privilegien ein. Dazu gehörte auch, dass ich gelegentlich in andere Versionen meines Körpers schlüpfen durfte. Sie hatten ja Klone von mir in jeder Altersstufe, ich konnte sein wie ein Zwanzig-, Dreißig- oder Sechzigjähriger. Sie bewahrten in ihrem Labor Dutzende meiner Kopien auf und mithilfe ihrer Technologie war es nicht übermäßig schwer, von einer zu anderen zu wechseln.
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Und eines Abends erfuhr ich von dieser teuflischen Tat: Man hatte meine Familie in Miniaturmonster verwandelt. Und der Klon, der dieses getan hatte, war nach Flinduwien zurückgerufen worden. Das war meine Chance. Ich musste in irgendeinen alten Körper im Lager schlüpfen, auf die Erde zurückkehren und etwas unternehmen – irgendwas, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Eines späten Abends verwandelte ich mich in den alten Martin Morley und betrat durch die Sternentür dieses Haus. Zu meinem Entsetzen musste ich aber feststellen, dass der ganze Hausrat verkauft wurde. Mir blieb nur wenig Zeit, bis man mich in Flinduwien vermissen würde. Ich wollte meine geschrumpfte und versteinerte Miniatur-Familie nicht dorthin mitnehmen, musste aber 191
dafür sorgen, dass sie das Haus verließ, bevor es abgerissen wurde. Deshalb zeigte ich deiner Schwester die Kiste, in die mein Klon meine Familie vor so langer Zeit eingesperrt hatte. Aber woher wusstest du davon?, fragte ich atemlos. Martin schnaubte. Die Flinduwier sagten es mir selber, diese Narren. Weil sie selbst keine Familienbindungen kennen und wussten, dass ich oft mit meinem Bruder und meinen Schwestern gestritten hatte, nahmen sie an, mir sei egal, was sie mit meinen Angehörigen getan hatten. Sie glaubten sogar, es würde mich freuen. Martin klang verächtlich. Elendes Gesindel! Sie hatten keine Ahnung von den starken Banden, welche die Familie Morleskjewitsch zusammenhalten! Geblendet durch ihre eigene Grausamkeit, könnten sie nie verstehen, wie sehr Blut und Loyalität mich trotz allen Streits mit meinen Geschwistern verbinden. Sie hatten auch keine Ahnung, dass ich meine Angehörigen unbedingt befreien wollte und jahrzehntelang an diesem Vorhaben arbeitete. Er schwieg einen Augenblick, offenbar in Erinnerungen versunken. Ich versuchte mir vorzustellen, wie mir an seiner Stelle zumute gewesen wäre. Es jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Endlich fuhr er fort. Merk dir eins, Anthony: Entscheidend für den Plan der Flinduwier ist seine Geheimhaltung. Wenn der Hohe Rat des Bunds der zivilisierten Welten davon Wind bekommt, wird er die Flinduwier mit seinen Streitkräften schneller zermalmen, als eine Mausefalle zuschnappt. Der Rat hat Verdacht geschöpft, muss sich aber in diplomatischer Zurückhaltung üben. Wollen die Flinduwier Erfolg haben, müssen sie somit ihre Eroberungspläne zunächst unbemerkt vorantreiben. 192
Wir müssen sie also im Grunde einfach nur ablenken, während der Wentar in seine Heimatwelt zurückkehren und den Bund alarmieren kann. Es wäre schön, wenn wir aus all dem lebendig herauskämen, aber wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht, ist das freilich nur nebensächlich. Soll das heißen, das Schicksal der zivilisierten Welten liegt in unserer Hand?, fragte ich. Ja, das trifft es ziemlich genau, antwortete Martin. Aber … Warte! Was ist da los? Unter den Flinduwiern war ein heftiger Streit ausgebrochen. Da sie eigentlich auch in ihren normalen Gesprächen schon stritten, musste es sich bei einem so heftigen Disput um etwas Wichtiges handeln. „Wir sollten nicht auf Jivaro warten!“, rief ein Krieger, der bisher noch nichts gesagt hatte. „Töten wir sie jetzt, dann haben wir es hinter uns.“ „Wer befiehlt hier, Frax?“, rief Dysrok. „Die Frage ist, wer sollte hier befehlen?“, erwiderte Frax und gab Dysrok einen Schubs. Ein Soldat schubste seinen Anführer? Martin musste mein Erstaunen darüber gespürt haben, denn er sagte: So sind sie immer. Macht hast du nur, solange du sie auch behaupten kannst. Sie kämpfen ständig miteinander … oh! Frax wurde immer lauter und wütender und hatte sich an Dysrok vorbeigedrängelt. „Mit der alten Frau fangen wir an“, sagte er. „Nur so zum Spaß.“ Ich witterte, wie er auf meine Oma zuging. Verzweifelt befahl ich meinem Körper etwas zu tun, einen Arm zu heben oder einen Schritt zu machen, vergeblich. Ich stand da wie versteinert. Meine kleine Schwester hatte dieses Problem nicht. 193
„Du lässt meine Oma in Ruhe!“, schrie sie. Ich roch ihre Angst – und mindestens genauso stark ihre Wut. Ich roch, wie sie sich schützend vor Oma stellte. „Dann fangen wir eben mit dir an!“, brüllte Frax, packte Sarah und hob sie hoch. Meine Schwester brüllte wie am Spieß.
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23 Der Rote Nebel Das war zu viel. Sarah mochte eine schreckliche Nervensäge sein, aber sie war meine Schwester und ich würde nicht zulassen, dass ein dahergelaufener Alien sie in Sushi verwandelte. „Lass sie los, du Scheißflinduwier!“, brüllte ich. Im selben Moment gingen meine Augen auf. Ich sah alles durch einen roten Nebel und spürte, wie ich endlich die Macht über den Körper ergriff. Wutschnaubend griff ich an. „Stehen bleiben, Zarax!“, befahl Dysrok. Ich lachte. Als ob ich stehen bleiben würde, nur weil er es befahl! Ich war eine rasende Bestie. Der Rote Nebel war über mich gekommen und kein Befehl der Welt konnte mich mehr aufhalten! Dysrok drehte hektisch an der Fernbedienung herum, schüttelte sie irritiert, drehte noch mal und warf sie endlich mit so einer Wucht hin, dass sie in tausend Teile zersplitterte. Im Vorbeigehen schlug ich ihm die Faust ins Gesicht. Er fiel mit einem dumpfen Laut zu Boden. Der Rote Nebel wurde heller. Der Alien, der Sarah gepackt hatte, starrte mir ängstlich und verwirrt entgegen. 195
„Lass … sie … sofort … los!“, brüllte ich in den heiseren Lauten der flinduwischen Sprache. Irgendwo in meinem Kopf hörte ich Martin lachen. Der Flinduwier setzte Sarah ab. Sofort eilten Ludmilla und Melisande zu ihr und brachten sie in Sicherheit. Denn nun entbrannte eine regelrechte Schlacht. Der Flinduwier, den ich angebrüllt hatte, begann mich mit den Fäusten zu bearbeiten. Aber das war mir egal. Mein Blut kochte. Ich war im Kampfrausch, ein Geschöpf des Roten Nebels, eine kreischende und um sich schlagende Maschine.
Zwei andere Aliens sprangen mich von hinten an. Ich wollte sie abschütteln, aber sie klammerten sich an mir fest und zogen mich hinunter. 196
Und kurz darauf brach völliges Chaos aus. Ich kapierte nicht gleich, was passiert war. Gaspar hatte den Zeitpunkt gekommen gesehen, seine Spezialwaffe einzusetzen. Er langte in die Tasche, zog den Schall-Disruptor heraus, den der Wentar ihm auf dem Planeten der Frösche gegeben hatte, und schleuderte die kleine silberne Scheibe mit aller Kraft auf den Boden. Es gab eine Riesenexplosion. Eine gewaltige Rauchwolke stieg auf, farbige Blitze schossen daraus empor. Bei jedem Blitz gab der Disruptor ein hohes Quietschen von sich, das mitten durch meinen Kopf schnitt. Offenbar hatte man den Disruptor auf eine Tonhöhe eingestellt, die für Flinduwier besonders quälend war, denn alle Flinduwier einschließlich mir hielten sich die Ohren zu und begannen laut zu heulen. Die Menschen im Zimmer sahen uns überrascht an, als könnten sie sich nicht erklären, was über uns gekommen war. Die Schmerzen waren fast unerträglich. Wie konnte ein Geräusch so wehtun? Mein flinduwischer Körper wurde immer schwächer. Zu meinem Erstaunen nahm ich verschwommen wahr, dass sich die anderen flinduwischen Krieger bereits wieder berappelten. Der Wentar hatte es prophezeit: Sie waren gegen Schmerzen abgehärtet. Und so bewirkte der Disruptor deshalb auch nicht mehr als eine Ablenkung. Unsicher schwankend und stöhnend näherten sie sich dem Gerät – offenbar, um es zu zerstören. Ich war gegen solche Schmerzen nicht abgehärtet. Ich war auch diesen seltsamen Körper nicht gewohnt. Doch einen Vorteil hatte ich: Die Flinduwier waren nichts weiter als Soldaten – ich dagegen war Bruder, Enkel und Freund. Die Flinduwier kämpften, weil sie nicht anders 197
konnten, ich kämpfte, um Menschen zu retten, die mir etwas bedeuteten. Und ich hatte noch einen Vorteil auf meiner Seite: Martin. Er steckte in meinem Kopf und feuerte mich an. Das ist nicht dein Körper, Anthony!, rief er. Wen kümmert es, was mit ihm passiert? Die Schmerzen hören wieder auf. Entscheidend ist nur, wer den Kampf gewinnt. Ich brüllte wieder und stapfte langsam auf den Disruptor zu. Die Schmerzen waren überwältigend und schnitten durch meinen flinduwischen Schädel wie in Säure getauchte Rasierklingen aus Feuer. Doch der Rote Nebel war stärker. Ich ging immer weiter und schrie und heulte mit einer Stimme, die mir selbst Angst machte. Mir war, als müsste ich mich zwingen, einen brennenden Fluss hinaufzuschwimmen. Ich sah, wie sich auch die anderen Flinduwier Schritt für Schritt dem Disruptor näherten, um ihn zu zertrümmern, und wenn es sie das Leben kostete. Ich musste zuerst dort sein und das verhindern! Ich versuchte, schneller zu gehen. „Zarax, ich befehle dir, stehen zu bleiben!“, schrie Dysrok. Er kroch auf allen vieren von der anderen Seite des Raumes auf den Disruptor zu. Frax, der Soldat, der mit ihm gestritten hatte, trat ihm auf den Kopf – vermutlich, um ihm seine Verachtung dafür zu zeigen, dass er mich nicht stoppen konnte. Ein anderer Flinduwier packte mich am Arm. Ich fuhr herum und verpasste ihm einen solchen Faustschlag, dass er durchs Zimmer torkelte. Meine Kraft überraschte mich selbst, aber ich hielt mich nicht damit auf, sondern zwang mich weiterzugehen. Gerade wollte ich den Disruptor aufheben und die anderen damit aus dem Zimmer trei198
ben, da griffen mich zwei Flinduwier an. Ich donnerte mit einer Wucht zu Boden, dass die Wände bebten. Die Flinduwier brüllten wild durcheinander. Der Geruch ihrer Wut, ihrer Angst und ihres Hasses brannte in meinen außerirdischen Nasenlöchern und erfüllte meine menschliche Seele mit Grauen. Zur gleichen Zeit schienen meinem flinduwischen Körper zusätzliche Kräfte zu wachsen. Schreiend packte ich einen der Flinduwier und schmetterte ihn gegen den anderen. Beide fielen bewusstlos zu Boden. Ich bewegte mich Stück für Stück weiter. Je näher ich dem Disruptor kam, desto stärker wurde das Gefühl, mein Kopf könnte gleich explodieren. Soll er doch!, rief Martin durch die schneidenden Schmerzen hindurch. Es ist ja nicht deiner! Geh weiter, los! Ich konnte die Scheibe schon fast berühren, da hielt ein Flinduwier mich am Fuß fest. Mit diesem flinduwischen Klotz am Bein fiel es mir noch schwerer, mich weiter auf die Quelle solcher Schmerzen zuzubewegen. Jeder Zentimeter, der mich von dem Disruptor trennte, war eine Oase der Erleichterung. Plötzlich hörte ich wütendes Knurren und Schnappen. Bob, der sonst so niedliche kleine Cockerspaniel, hatte den Flinduwier angegriffen, der mich festhielt. Der Alien schrie wütend auf. Der Angriff lenkte ihn so sehr ab, dass ich ihn abschütteln konnte. Ich kroch wieder einige Zentimeter auf den Disruptor zu. Mittlerweile hatten sich auch die anderen in den Kampf gestürzt. Albert sprang durch das Zimmer, rammte immer wieder stolpernde Aliens und versuchte zu ver199
hindern, dass sie mich packten. Ich sah ihn auf einen Tisch klettern, hochspringen und auf dem Rücken eines Flinduwiers landen. „Juhu!“, rief er übermütig und hielt dem Flinduwier die Glotzaugen mit den Händen zu. „Genau wie früher, was, Master?“ Gaspar antwortete nicht, er war zu sehr damit beschäftigt, mit den Fäusten auf einen flinduwischen Schädel zu hämmern. Er hockte auf dem Rücken des Aliens und hatte die Beine um dessen Taille geschlungen. „Saubande!“, fauchte er und versetzte dem Flinduwier eine klatschende Ohrfeige. „Familien auseinanderzureißen! Jetzt rächt die Familie Morleskjewitsch sich dafür!“ In einer anderen Ecke hielten Melisande und Ludmilla einen Flinduwier an den Beinen fest. Jedes Mal, wenn der Alien eine der Morley-Schwestern packen wollte, störte die andere ihn dabei. Oma schlug ihm währenddessen ausdauernd mit ihrem Schuh auf den Kopf. Den seltsamsten Anblick in diesem verrückten Handgemenge bot allerdings mein eigener, von Opa angetriebener menschlicher Körper. Er drängte zusammen mit Sarah einen Flinduwier von der Scheibe weg. Zwar war unter normalen Umständen kein Mensch einem Flinduwier kräftemäßig gewachsen. Doch der Disruptor des Wentars mit seinem auf flinduwische Ohren abgestimmten Höllenlärm hatte unsere Gegner so sehr geschwächt, dass meine Freunde und Angehörigen sie festhalten konnten. Dabei riskierten sie ihr Leben. Ich durfte sie nicht im Stich lassen. Ich mobilisierte noch einmal all meine Kräfte, schob mich nach vorn und ergriff den Disruptor. Dann stand ich schwankend auf. Die Flinduwier heulten wütend und mir 200
war, als explodierten in meinem Kopf tausend Bomben auf einmal. Ich richtete den Disruptor auf die Flinduwier und scheuchte sie alle in eine Zimmerecke. Gut gemacht!, rief Martin. Gut gemacht, Anthony! „Pass auf!“, schrie Opa durch meinen Mund. Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um. Ein Flinduwier war im Begriff, sich auf mich zu stürzen. Ich trat nach ihm und erwischte ihn am Unterkiefer. Er prallte mit dem Rücken gegen die Wand. „Das reicht“, sagte der Wentar und machte einen Schritt auf mich zu. „Das reicht. Der Kampf ist vorbei.“ Behutsam nahm er mir den Disruptor aus der Hand. Von Schmerzen überwältigt, brach ich auf dem Boden zusammen. Um mich wurde es schwarz.
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24 Abschied Als ich die Augen öffnete, blickten meine Freunde und meine Familie auf mich herunter. Ich hob meine Hand vor die Augen und verlor jede Hoffnung. Ich war immer noch in dem flinduwischen TentakelKörper eingesperrt. „Kommst du darin zurecht, Horace?“, fragte Oma. „Das ist nicht Horace, Liebes“, sagte mein Opa, der neben ihr stand und immer noch in meinem Körper steckte. „Das ist Anthony.“ „Wenn das Anthony ist, wer bist dann du?“, rief Sarah und betrachtete ängstlich meinen Körper. „Dein Großvater“, sagte mein Opa. Er klang etwas verlegen. Sarah sah ihn mit großen Augen an. „Das ist ja abartig“, sagte sie und wich von ihm zurück. „Ich verstehe das nicht“, sagte Oma mit zittriger Stimme. Sie sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen. „Ich verstehe überhaupt gar nichts mehr!“ „Tut mir leid, Ethel“, sagte Opa bedauernd. „Als diese Monster versehentlich Anthony statt meiner aus seinem Körper holten, schien es am besten, nichts zu sagen. Ich 202
dachte, alles, was sie nicht wissen, könnte uns vielleicht später noch helfen.“ „Eine weise Entscheidung“, sagte der Wentar. „Wissen ist immer ein wichtiger Vorteil. Anthony konnte den flinduwischen Körper wohl nur deshalb unter Kontrolle bekommen, weil er ein lebender Geist ist und kein toter. Ohne diese List hätten wir nie so einen Überraschungsangriff starten können.“ „Du wolltest meinen Körper also nicht behalten?“, fragte ich. „Natürlich nicht!“, erwiderte Opa. Er klang empört, aber sein Gesicht errötete leicht. Also hatte er doch zumindest flüchtig daran gedacht! Aber egal. Ich an seiner Stelle hätte das vermutlich auch getan. Entscheidend ist ja schließlich, was man tut, und nicht, was man denkt. „Und wie kriegen wir mich jetzt aus dieser Hülle heraus?“, fragte ich und sah an meinem schrecklichen Körper hinunter. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, antwortete der Wentar nach einer peinlichen Stille. „Könnte man dazu vielleicht die flinduwische Pistole verwenden?“, fragte Sarah. „Wenn sie ihn in den Körper hineingebracht hat, müsste sie ihn doch auch wieder herausziehen können.“ „Einen Versuch ist es wert“, sagte der Wentar. Sein langes Gesicht blickte düster. „Wo sind die Flinduwier eigentlich?“, fragte ich. Ich hatte immer noch Kopfschmerzen und konnte mich nur schwer konzentrieren. „Der Wentar hat Hilfe herbeigerufen, während du geschlafen hast“, sagte Ludmilla. Sie klang sehr zufrieden. „Die Flinduwier wurden weggeschafft. Sie werden für ihre Machenschaften hoffentlich streng bestraft.“ 203
„Nun, da ich Beweise für ihre Pläne hatte, konnte ich den Bund der zivilisierten Welten ohne Mühe dazu bringen, den flinduwischen Planeten unter Quarantäne zu stellen“, sagte der Wentar. „Ich hatte schon lange den Verdacht, dass sie etwas ausheckten, doch konnte ich nie gegen sie vorgehen. Jetzt wird für lange Zeit keine Bedrohung mehr von ihnen ausgehen.“ Albert kehrte zu uns zurück. „Hier ist die Pistole“, sagte er. „Wer will es versuchen?“ „Ich“, sagte Martin. Er war mittlerweile wieder in seinen eigenen Körper zurückgekehrt. „Ich kenne mich damit am besten aus.“ Er zielte mit der Pistole auf meinen Kopf. Ich zuckte zusammen. Andererseits konnte ich es kaum erwarten, aus diesem schrecklichen Körper herauszukommen. „Bereit?“, fragte Martin. Ich nickte. Er drückte ab. Ein Energiestoß hüllte mich ein und alles wurde dunkel.
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Als ich die Augen öffnete, war ich immer noch in dem Flinduwier eingesperrt. Und noch immer blickten meine Freunde und meine Familie auf mich herunter. „Was ist passiert?“, rief ich entsetzt. „Nichts“, flüsterte Melisande und senkte bekümmert den Kopf. „Gar nichts.“ „Ich glaube, ich weiß, wo das Problem liegt“, sagte der Wentar. „Und?“, rief ich. „Wo denn?“ „Als der Rote Nebel über dich kam, hast du dich eng mit dem flinduwischen Körper verbunden. Du hast ihn nicht mehr nur bewohnt und mit Energie versorgt, sondern in ihm gelebt, wie er es gewohnt war. Jetzt will er dich nicht loslassen.“ „Heißt das, ich muss den Rest meines Lebens als Flinduwier verbringen?“, fragte ich fassungslos. Niemand antwortete. Niemand sah mir in die Augen. „Kann ich vielleicht seinen Platz einnehmen?“, fragte Opa.
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Oma sah ihn erschrocken an, sagte aber nichts. „Könnte klappen“, sagte der Wentar. „Ist aber trotzdem keine gute Idee. Wenn ich Recht habe und Anthony den Körper nur steuern konnte, weil er den Geist eines Lebenden hat, dann hättest du diesen Vorteil nicht. Du würdest wahrscheinlich als willenloser Sklave enden, wie die Flinduwier es beabsichtigt haben.“ „Das macht nichts, das kenn ich alles“, sagte Opa. „Ich war fast fünfzig Jahre verheiratet.“ „Horace!“, rief Oma schockiert. „War nur ein Scherz“, sagte er leise und ich hörte ihm an, dass er damit nur sein eigenes Entsetzen angesichts des ihm bevorstehenden Schicksals hatte überspielen wollen. Ich hatte Gewissensbisse, weil ich ihm misstraut hatte. „Ich habe vielleicht eine bessere Idee“, sagte Martin. „Ich übernehme seinen Körper. Ich bin bereits daran gewöhnt, die Körper zu wechseln. Die Flinduwier haben mich in mehr Klone gesteckt, als ich zählen kann.“ Die anderen setzten zu Fragen an, doch er hob die Hände und sagte zum Wentar: „Es wäre doch sinnvoll, einen Spion bei den Flinduwiern zu haben – jemanden, den sie nicht so leicht entdecken. Nur für den Fall, dass sie wieder … Theater machen.“ „Gewiss“, sagte der Wentar unbehaglich. „Dann könnte ich das doch übernehmen.“ Melisande begann zu weinen, doch Martin lächelte. „Sei nicht traurig, Melisande“, sagte er sanft. „Ich bin schon so lange von dieser Welt fort, dass ich hier sowieso nicht mehr richtig herpasse. Flinduwien mag schrecklich sein, aber ich gehöre jetzt nun mal dorthin. Ich lebe jetzt nach flinduwischer Zeitrechnung schon seit über zweihundert Jahren dort – fast zwanzigmal so 206
lange wie auf dieser Welt. Außerdem“, er lächelte boshaft, „habe ich dort noch einige Rechnungen zu begleichen.“ Damit war die Entscheidung gefallen. Richtig freuen konnten wir uns nicht. Bevor wir mit dem Körpertausch anfingen, setzten Gaspar und Martin sich ein wenig abseits und sprachen miteinander. Ich hätte gern gewusst, was sie füreinander empfanden. Sie waren Zwillinge und hatten einander verloren. Gaspar hatte mit einem Klon Martins gelebt, Martin lebte seit zweihundert Jahren in einer anderen Welt. Was hatten sie sich noch zu sagen? Während sie miteinander redeten, wurde ich immer ungeduldiger und musste mich ziemlich zusammenreißen, mir das nicht anmerken zu lassen. Aber ich wollte den flinduwischen Körper so schnell wie möglich loswerden und fürchtete, dass es vielleicht nicht mehr ging, wenn wir zu lange warteten. Endlich kehrten sie traurig, aber gefasst zu uns zurück. Gaspar, der so viel größere und ältere, aber in Wirklichkeit so viel jüngere Bruder, hatte Martin die Hand auf die Schulter gelegt. Sie nickten einander zu. Dann erschlaffte Martins Körper und ich spürte, wie er in den Körper des Flinduwiers zurückkehrte. Stück für Stück ersetzte er langsam mein Bewusstsein durch seines. Es dauerte Stunden – die längsten Stunden meines Lebens. Als er schließlich fertig war, sagten wir beide mit derselben Stimme: „Also gut, ihr könnt mit der Pistole weitermachen.“ Der Wentar zielte auf unseren Kopf und drückte ab. Wieder hüllte mich ein Energiestoß ein, doch diesmal war es anders. Ich spürte, wie ich aus dem Körper heraus- und in das Sammelgefäß hineingezogen wurde. Pa207
nik erfasste mich, doch nur für einen kurzen Moment. Dann war ich zurück in meinem eigenen Körper. Willkommen zu Hause, Anthony, sagte mein Großvater. Er klang sanft und gütig und nur ein wenig traurig. Das hast du gut gemacht, Junge. Wir unterhielten uns noch ein Weilchen, dann verschwand Opa aus meinem Körper. Seine Gestalt schwebte vor mir und sah aus wie im Land der Toten. Er trieb zu meiner Oma hinüber, strich ihr über die Wange – natürlich nicht wirklich, da nur die Lebenden Dinge berühren können – und flüsterte: „Ich liebe dich über alles, mein Herz. Leb wohl. Wenn es an der Zeit ist, sehen wir uns auf der anderen Seite.“ Er warf Sarah zum Abschied eine Kusshand zu und winkte den anderen. Dann sah er mich noch einmal an. „Denk an meine Worte“, flüsterte er. Er zwinkerte mir noch mal zu und war verschwunden.
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Epilog Es ist jetzt ein Jahr her, dass Sarah und ich die Monster von Morley Manor kennengelernt haben. Seitdem hat sich vieles geändert. Zum Beispiel Morley Manor. Gaspar konnte beweisen, dass er der rechtmäßige Erbe ist. Sobald der Rechtsstreit beendet war, der bis Ende des Frühjahrs dauerte, machten er und Albert sich daran, das Haus zu renovieren und in seinem früheren Glanz wiederauferstehen zu lassen. Ludmilla und Melisande verbringen die meiste Zeit auf Zentarana, sind aber oft in Morley Manor zu Gast. Wenn sie dann zu Besuch kommen, veranstaltet Gaspar manchmal ein Essen, zu dem er auch Sarah, Oma Walker und mich einlädt. Gelegentlich erscheinen die Schwestern in einem seltsamen neuen Outfit. Das erste Mal mussten sie uns sogar sagen, wer sie waren, und wollten sich darüber ausschütten vor Lachen. Aber meist kommen sie in ihrer vertrauten Gestalt, Melisande mit ihren Schlangenhaaren und Ludmilla mit ihren Vampirzähnen. Mama und Papa verstehen nicht ganz, was uns immer wieder nach Morley Manor zieht, aber das brauchen sie auch nicht. Ich sage ihnen immer wieder: „Die Welt ist so groß und merkwürdig, dass wir unmöglich alles verstehen können.“ „Du hast dich im vergangenen Jahr verändert, Anthony“, sagt Mama manchmal. „Du wirst erwachsen.“ 209
Vielleicht. Sie sagt das vor allem, wenn ich im Blumengeschäft aushelfe. Was ich aus gutem Grund tue. Opa gab mir in unserem letzten Gespräch etwas mit auf den Weg. Ich habe ihm damals nicht recht zugehört. Es passierte so viel auf einmal und ich war noch ziemlich durcheinander. Aber jetzt muss ich immer wieder an seine Worte denken. Wahrscheinlich hat er sie irgendwo in meinem Kopf verankert, sozusagen als kleines Abschiedsgeschenk für mich. Ich kann sie so deutlich hören, als befinde er sich nach wie vor in meinem Kopf und nicht … Na ja, nicht da, wo er nun ist. Anthony, dein Leben lang werden Menschen zu dir sagen: Geh mit offenen Augen durch die Welt, hör die Vögel zwitschern, rieche an den Rosen. Gewöhnlich sagen sie dir aber nicht, warum. Ich weiß es nun, aber leider zu spät: Im Land der Toten gibt es keine Gärten. Du musst jetzt in vollen Zügen leben, Anthony – solange du am Leben teilhast. Lebe mit allen Sinnen, sehe, spüre und liebe das Leben. Lass es nicht an dir vorbeiziehen, mein Junge. Denn man weiß nie, welches der letzte Moment des Lebens sein wird, welchen Duft, welches Geräusch, welchen Geruch man zuletzt wahrnehmen wird. Alles Gute! Lebe das Leben. Wahrscheinlich gar kein schlechter Rat, er kommt schließlich von einem Toten. Ich verbringe also jetzt mehr Zeit im Blumengeschäft als früher. Ich helfe meinen Eltern gern. Außerdem weiß man nie, welche Rose die letzte sein wird. Auch in Morley Manor mache ich mich nützlich. Ich arbeite mit Gaspar in seinem seltsamen Labor voller Wissenschaft und Magie. Gaspar sagt, er will die Geheimnisse des Universums ergründen. 210
Ich glaube eigentlich nicht, dass wir sie je ganz ergründen werden. Andererseits weiß ich jetzt manches, das ich früher nicht wusste. Zum Beispiel, was es heißt, eine Familie zu haben, in der man geborgen ist. Wir haben allen Grund, glücklich zu sein.
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Bruce Coville Schon als Kind liebte Bruce Coville Monster über alles! Der schönste Tag des Jahres war für ihn Halloween, wenn es in den Straßen von unheimlichen Gestalten nur so wimmelte. Kein Wunder, dass er auch jede Menge Gruselbücher las. Am liebsten mochte er Geschichten, die unheimlich und lustig zugleich waren. Bald hatte Bruce Coville alles gelesen, was die Bibliothek in dieser Richtung hergab und so beschloss er, seine eigenen Bücher zu schreiben! Seinen ersten Roman schrieb Bruce Coville mit siebzehn Jahren. Es dauert jedoch eine Weile, bis er * vom Schreiben leben konnte. In der Zwischenzeit arbeitete er unter anderem als Spielzeugmacher, Lehrer und Totengräber. Heute ist Bruce Coville einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren der Vereinigten Staaten. Er hat drei Kinder und zwei Katzen und lebt in New York.
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Anke Kühl Anke Kühl ist Illustratorin und Grafik-Designerin und hat die Frankfurter Ateliergemeinschaft „Laborproben“ mitbegründet. Ihre witzigen, einzigartigen Figuren begeistern Leser und Kritiker gleichermaßen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, so war sie 2002 die erste Preisträgerin des renommierten Troisdorfer Bilderbuchstipendiums. Anke Kühl hat eine große Schwäche für glubschäugige Froschmonster und fiese Flinduwier und lebt mit ihrer Familie in Frankfurt.
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