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Mr. Postman Es war nicht besonders hell im Zimmer. Die Beleuchtung reichte gerade aus, um die graue Fläche des Monitors erkennen zu können. Wie eine in der Luft schwebende Leinwand malte sie sich ab. Der Mann davor saß auf einem Stuhl. Er schaute sich selbst an. Nicht im Spiegel, sondern im Viereck des Monitors. Dort malte sich sein Gesicht schwach ab. Die Haare dunkler als die übrige Fläche. Die Gesichtszüge allerdings verschwammen, und dies passierte auf eine ungewöhnliche Art und Weise. Obwohl der Mann sich nicht bewegte, ging in seinem Gesicht etwas vor. Es entwickelte ein Eigenleben. Die Haut wanderte über die Knochen hinweg. Sie spannte sich dabei an verschiedenen Stellen und wurde sehr straff. So straff, dass sie überdehnte und riss. Knochen erschienen. Gelbliches Gebein. Augenhöhlen waren plötzlich vorhanden. Es gab keine Lippen mehr, keine Nase. Nur noch Löcher, in denen die Dunkelheit lauerte. Finstere Schächte. Unheimlich anzusehen. In Tiefen weisend, die das Grauen anderer Welten beinhalteten. Der Mann war zufrieden. Er lachte. So wie er lachte kein Mensch. Es waren glucksende Laute, tief in der Kehle geboren, die aus dem offenen Loch des ehemaligen Mundes drangen. Geräusche, die nicht aufhörten, sich verstärkten und sich dabei auch auf irgendeine Art und Weise auf den Sitzenden übertrugen, denn sein Körper wurde durchgeschüttelt. Auf dem Monitor bewegte sich die Skelettfratze. Sie zuckte. Sie hüpfte hin und her, und aus den Augenhöhlen rannen dunkle Streifen hervor, die nur schwarz aussahen, es aber nicht waren. Die zittrigen Fäden schimmerten in einem dunklen Rot und bestanden aus Blut. Erst jetzt war der Mann zufrieden und nickte sich selbst zu ...
Lilian Evans stand vor dem Spiegel. Wie jeden Morgen, wie so oft. Es gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, denn sie hatte Zeit, viel Zeit. Da ihr Mann wochentags unterwegs war, fühlte sich Lilian als eine grüne Witwe. Eine Frau, die allein gelassen wurde mit all ihrem Frust. Finanziell ging es ihr gut, aber das Geld war nicht alles. Auch innerhalb der Woche brauchte sie jemanden, mit dem sie reden konnte. Der auch mal mit ihr ins Bett stieg, darauf aber musste die kinderlose Frau verzichten, wenn Barry unterwegs war, um das Computergeschäft anzukurbeln. Er war Vertriebsleiter einer Firma, die CD-ROMs auf den Markt brachte, und musste entsprechend viele Kunden besuchen. An den Wochenenden war er zumeist ausgepowert. Da wollte er nur seine Ruhe haben, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Er konnte nicht begreifen, dass eine fünfunddreißigjährige Frau keine sexuelle Altlast war, sondern mitten im Leben stand. Lilian seufzte. Wie oft hatte sie versucht, ihrem Mann das beizubringen. Es war nicht möglich gewesen. Sie hatte gegen eine Wand geredet und ihn nur immer abwinken sehen. Dabei wollte sie nicht daran glauben, dass ein Mann wie er keine Affären hatte, denn die Abende verbrachte er sicherlich nicht allein. Beweise dafür hatte Lilian nicht gefunden. Ihr Misstrauen war trotzdem nicht gewichen, und sie hatte das Fremdgehen ihres Mannes für sich selbst als Tatsache akzeptiert.
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Wie du mir, so ich dir! Nach diesem Motto hatte sie schließlich gehandelt und sich ebenfalls hin und wieder einen Liebhaber gegönnt. Nicht sehr oft, aber ihr reichte es aus. So konnte sie an den Wochenenden die glückliche Ehefrau spielen, weil sie Tage zuvor ihren sexuellen Frust hatte ablassen können. Lilian hatte sich arrangiert und lächelte ihrem Spiegelbild jetzt zu. Schlecht sah sie nicht aus, auch wenn ihre Haare blondiert waren, da sie die ursprüngliche Farbe, dieses sehr fahle Blond, einfach nicht mehr sehen konnte. So leuchteten sie jetzt wie reifer Weizen, hochgesteckt zu einer Turmfrisur. Ein wenig erinnerte sie an Ivana Trump, eine Frau, die sie mochte. Sie war für Lilian ein Vorbild, denn sie hatte es ihrem Mann so richtig gezeigt. Das tat Lilian auch, nur eben auf ihre Art und Weise. Der Spiegel war breit. Er war vor allen Dingen ehrlich. Er zeigte alles in ihrem Gesicht. Auch leider die kleinen Falten, die sich heimlich in die Haut hineingegraben hatten. Draußen dämmerte es bereits. Das Licht fiel von zwei verschiedenen Seiten auf den Spiegel und auch auf die davor sitzende Frau. Um die Augen herum waren die Falten besonders gut zu sehen, was ihr gar nicht passte. Sie beugte sich der Fläche noch weiter entgegen und sorgte dafür, dass die Haut straffgezogen wurde, damit von den Falten nichts mehr zu sehen war. Danach nahm sie etwas Schminke und anschließend einen hautfarbenen Puder, den sie über die beiden Stellen strich. Erst dann war sie zufrieden. Danach knetete sie ihre Wangen. Sie tat es langsam, beinahe schon genussvoll. Sie rieb auch ihr Kinn, um die Haut dort ebenfalls zu straffen. Ihre Augen waren hell. Die Stirn wirkte hoch, weil kein Haar hineinfiel. Die Nase kam ihr persönlich etwas zu dick oder zu fleischig vor, aber sie passte zu dem breiten Mund, dessen Lippen ein helles Rot zeigten. Sie mochte die modernen, dunklen Lippenstifte nicht. Sie liebte kräftige Farben, auch bei ihrer Kleidung. Unter dem grünen Hausmantel aus Seide trug sie nur ein Nichts von Slip. Seide liebte sie und musste jetzt lachen, als sie daran dachte, dass dieser Stoff, der ihre Brustwarzen so sanft streichelte, auch Barry so gut gefallen hatte. Er hatte ihr den Mantel sogar ausgesucht. Ihr war es egal. Barry mochte ihn, aber er zog ihr das Kleidungsstück niemals aus. Das würde der Liebhaber besorgen, der eintraf, sobald es dunkel war. Er musste aufpassen. Er durfte seinen Wagen nicht in der Nähe abstellen. Er musste die Laternen meiden, wenn er sich dem Haus näherte, in dem Lilian Evans lebte. Es war eine gute Gegend. Obere Mittelklasse. Wer hier eine Wohnung gemietet hatte, stand nicht nur mit beiden Beinen im Beruf, er verdiente auch nicht schlecht. Broker, Ärzte, Anwälte, auch hohe Beamte hatten sich in diesem Viertel niedergelassen. Zumeist in Wohnungen, die ihnen gehörten. Alte Häuser, perfekt renoviert. Gehsteige, auf denen kein Schmutz lag. Gepflegte Vorgärten, insgesamt eine Idylle. Aber auch nur eine Fassade, denn hinter diesen feinen Mauern ging es oft hart her. Da gab es dann den großen Frust, wenn die Leistung nicht mehr stimmte. Auch das kannte Lilian, denn es gab genügend sogenannte Freundinnen, die hin und wieder eine Andeutung hatten fallen lassen. Sie selbst hatte nur zugehört und ihre eigene Ehe gelebt. Das perfekte Lügen war ihr leichtgefallen. Schließlich hatte sie bei ihrem Gatten üben können. Nicht hinter die Fassade blicken lassen. Immer die perfekte und glückliche Frau spielen. Wie in den oft so kritisierten, aber immer gern gesehenen Familienserien aus den Staaten. Sie schaute auf die Uhr. Eine halbe Stunde musste sie noch warten, bis ihr Galan kam. Lilian benutzte gern diesen Ausdruck. Oder auch Kavalier. Das gefiel ihr. Es klang so hoffnungslos altmodisch und erinnerte sie zugleich an die Zeiten, als die Männer noch echte Kerle gewesen waren und es ihren Frauen auch bewiesen hatten. Sie trauerte diesen Zeiten nicht nach, sondern holte sie sich zurück, und das tat ihr sehr gut. Wie immer konnte sie es kaum erwarten. Bereits jetzt spürte sie das Kribbeln in ihren Adern. Sie war erregt. Kein Blut mehr in den Adern, dafür Champagner. So sehr kribbelte es in ihr.
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Das teure Gesöff hatte sie längst kalt gestellt. Wenn ihr Galan erschien, erwartete er den Schluck. Er regte ihn an, da konnte er auf eine Viagra-Pille gut verzichten. Sie stand auf. Sehr langsam, sich dabei im Spiegel beobachtend. Als sie neben dem Spiegel stand und sich im Profil sah, streckte sie ihren Körper. Dabei verrutschte der Ausschnitt, und sie konnte die weichen Rundungen ihrer Brüste sehen, deren Spitzen schon hart aufgerichtet waren. Sie saugte die Luft scharf durch die Nase, als sie sich mit ihren schlanken Fingern selbst streichelte. Wie wunderbar leicht sie über die Seide glitten und dabei die Haut massierten! Es war ein gutes Gefühl und steigerte bei Lilian die Vorfreude. Ein Geräusch an der Tür ließ sie erstarren! Plötzlich löste sich Lilian aus der Traumwelt. Sie stand wieder inmitten der Realität. Das Geräusch hatte ihr überhaupt nicht gefallen. Es war einerseits so fremd und andererseits so bekannt gewesen. Es passte einfach nicht in diese Uhrzeit hinein, denn die Post war schon am Vormittag gebracht worden. Jetzt aber hatte die Innenklappe des Briefkastens geklappert, als sie wieder zugefallen war. Vor Schreck war sie bleich geworden. Allmählich fand das Gesicht wieder zu seiner normalen Farbe zurück, und Lilian überlegte, was sie tun sollte. Wenn tatsächlich die Briefkastenklappe das Geräusch verursacht hatte, dann musste ihr jemand eine Nachricht überbracht haben. Kein Reklamewurf, der erfolgte früher. Um diese Zeit waren keine Boten mit den Zetteln unterwegs. Es war schon komisch. Lilian spürte die leichte Gänsehaut auf ihrem Rücken. Sogar ihre Füße wurden kalt, obwohl sie teilweise von den leichten, flachen Schuhen bedeckt waren. Ob die Nachricht etwas mit ihrem Besucher zu tun hatte? Daran wollte sie nicht glauben. Wenn ihm etwas dazwischengekommen wäre, hätte er sie sicherlich angerufen. Da musste jemand anderer an der Haustür gewesen sein. Lilian dachte auch an ihren Mann, obwohl es Unsinn war, wie sie sehr bald selbst zugab. Aber sie war und blieb vorsichtig. Deshalb bewegte sie sich auch durch ihre Wohnung wie eine Fremde und achtete auf das geringste Geräusch. Zu hören war nichts. Sie schritt durch die Stille, die sich im gesamten Haus ausgebreitet hatte. Die Wände waren sehr stabil gebaut worden. Da störte kein Nachbar den anderen. Sie ging durch den Flur. Es brannte nur eine Lampe. Ihr Licht schwebte geisterhaft über dem Boden. Als hätte sich dort ein Geist verdichtet. Sie passierte den Schein. Die Haustür war innen weiß gestrichen worden und in zwei unterschiedlich große Hälften geteilt. In der schmaleren befand sich auch die Öffnung für den Briefkasten, und durch sie war tatsächlich etwas geschoben worden, das allerdings nicht den Boden erreicht hatte, sondern leicht gekippt festklemmte. Ein Brief! Helles Papier. Mehr breit als hoch. Nichts weiter als eine Nachricht, über die sie eigentlich hätte lächeln müssen, was sie aber nicht tat, denn es war ihr schon komisch, auf die Tür zuzugehen. Sie spürte wieder den kalten Hauch auf ihrem Rücken, der dort lag wie kleine, eisige Graupen. Lilian Evans kam sich im Prinzip lächerlich vor, als sie nahe der Tür stehen blieb und sich nicht traute, den Brief aus dem Schlitz zu ziehen. Das ungute Gefühl hielt sie zurück. Sie glaubte daran, dass sich mit dieser Nachricht ihr Leben ändern könnte, was natürlich nicht stimmte. Nur gelang es ihr nicht, über diesen Schatten hinwegzuspringen. Mit großer Mühe fasste sie den Brief an, und das auch nur mit ihren Fingerspitzen. Behutsam zog sie ihn hervor. Der Umschlag kam ihr kühl vor. Es lag daran, dass die Hälfte noch draußen gesteckt hatte und dieser Maiabend nicht eben zu den wärmsten zählte. Sie hielt den Brief hoch und drehte ihn um. Kein Absender auf der Rückseite. Auch die Adresse auf der Vorderseite war nicht vollständig ausgeschrieben. In großen Buchstaben hatte nur jemand ihren Namen geschrieben. Lilian überlegte, ob sie den Brief öffnen sollte. Die große Vorfreude war vergangen. Wenn sich jetzt etwas bei ihr veränderte, dann lag es allein an der Kälte, die sie durchrieselte.
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Auch klopfte das Herz schneller. In der Brust spürte sie leichte Stiche. Schweißperlen malten sich auf der Stirn ab. Auch an den Händen spürte sie die Feuchtigkeit. Sie nahm den Brief mit in die Küche, die aufgeräumt war wie ein Ausstellungsstück in einem Möbelhaus. Ihre Hand zitterte noch immer, als sie ein Messer aus der Schublade holte. Sie hielt es in der rechten Hand, den Brief in der linken. Sie schlitzte den Brief mit einem Ruck auf. Sie schaute in den Umschlag. Nur ein weißer Zettel war zu sehen. Aber er war beschrieben, das erkannte sie deutlich. Warum sie die Augen schloss, als sie die Finger in den Umschlag schob, wusste sie selbst nicht. Sie tat es einfach und hielt die Nachricht für einen Moment fest. Lilian brauchte den Zettel nicht erst auseinander zu falten. Sie zog ihn so hervor und drehte ihn herum. Wieder erschrak sie! Eine rote Schrift. Sie dachte sofort an Blut und nicht an einen Liebesbrief. Noch hatte sie die Nachricht nicht gelesen. Dazu musste sie den Brief erst drehen. Auch das tat sie langsam, um das Erkennen der Wahrheit so lange wie möglich hinauszuzögern. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als die Botschaft zu drehen und zu lesen. Das Licht reichte gerade noch aus. Lilian hatte das Gefühl, ihr wären die Beine unter dem Boden weggezogen worden. Plötzlich drehte sich die Küche. Der Fußboden, die Wände, auch die Decke, alles war in Bewegung geraten, und sie selbst kam sich ebenfalls vor wie in einem Boot sitzend. Lilian hatte den Text gelesen. Sie kannte jedes Wort, aber sie wollte nicht glauben, was man ihr da geschrieben hatte. Mit einem hastigen Schritt näherte sie sich der Spüle, drehte das Wasser an, beugte sich dem Strahl entgegen und trank einen Schluck. Viel besser ging es ihr danach nicht, aber sie raffte sich auf, um dorthin zu gehen, wo der Brief lag. Dass ihre Hände feucht geworden waren, störte sie nicht weiter. Lilian nahm den Brief in die Hand, und nun schaffte sie es, die Worte halblaut zu lesen. »Deine Zeit ist um, du Nutte! Lange genug hast du es getrieben! Jetzt werde ich kommen und es dir heimzahlen ... « Lilian stand auf dem Fleck, ohne sich zu rühren. Noch immer war sie nicht in der Lage, die Nachricht zu fassen, auch wenn sie schon mehrere Minuten zur Salzsäule erstarrt war. Damit kam sie nicht zurecht! Von Beginn an hatte sie genau gewusst, dass diese Nachricht kein Scherz gewesen war. Nein, da wusste jemand verdammt gut über sie Bescheid. Aber wer war derjenige? Wer hatte sie beobachtet? Wer konnte den verdammten Brief geschrieben haben? Barry! Der erste Gedanke galt ihrem Mann, doch sie kam davon wieder ab. Sie kannte Barrys Schrift. Auch wenn er sie verstellt hatte, sie hätte es bestimmt bemerkt, wenn er diese Nachricht geschrieben hatte. Außerdem war Barry ein Typ, der so etwas nicht tun würde. Er war ihr gleichgültig. Zwischen ihnen lief nichts mehr. Wen immer sie auch hier in ihrer Wohnung empfing, so etwas brauchte ihn nicht zu stören, da ihre Ehe sowieso nur eine Farce war. Wie lange Lilian unbeweglich in der Küche gestanden und sich wie in einem fremden Haus gefühlt hatte, wusste sie selbst nicht. Irgendwann drehte sie sich mit einer schwerfälligen Bewegung herum und ging wieder zurück in den Flur. Dort lehnte sie sich gegen die Wand, den Kopf leicht gedreht und den Blick auf die Haustür gerichtet. In ihr zeichnete sich keine Glasscheibe ab. Sie war durchgehend aus Holz gefertigt worden. So konnte sie auch nicht sehen, was sich dahinter abspielte. Sie war wie die Tür eines Tresors. Auf irgendeine Art und Weise fühlte sich Lilian auch eingeschlossen. Sie war eine Gefangene im eigenen Haus. Wie ging es weiter? Würde der Unbekannte die Drohung wahr machen und tatsächlich bei ihr erscheinen? Sie hoffte es nicht, aber sie konnte auch nicht sicher sein.
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Der nächste Blick auf die Uhr ließ sie abermals erstarren. Die halbe Stunde war vorbei. Eigentlich hätte Charlie längst bei ihr sein müssen. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die immer pünktlich waren, besonders wenn es um bestimmte Besuche ging. Heute nicht. Zwei Minuten über die Zeit! Der Eindruck, in einem Gefängnis zu sitzen, verstärkte sich immer mehr in ihr. Das Kribbeln auf dem Rücken hatte sich längst zu einer zweiten Haut verdichtet. Obwohl sich die Luft nicht verändert hatte, kam sie ihr viel dichter und dicker vor. Sie bewegte ihren Kopf. Schaute zurück. Da war nichts. Danach wieder der Blick zur Tür. Auch da war alles gleich geblieben. Wie auch hätte sich etwas verändern sollen? Welche Chancen gab es denn? Keine. Sie hätte sich lächerlich gemacht, wenn sie die Polizei angerufen hätte. Was hätte sie den Beamten sagen sollen? Dass sie einen Brief erhalten hatte, in dem eine Drohung stand, weil sie fremdgegangen war? Man hätte sie ausgelacht, und das zu Recht. Flucht? Das Haus verlassen? Zu einer Freundin fahren und sich ihr zu offenbaren? Nein, das war auch nicht gut. Bisher hatte sie all ihre Seitensprünge selbst vor der besten Freundin geheim halten können. Das sollte auch so bleiben. Lilian hatte sich - wie auch immer - in diese Lage hineingebracht, und sie musste auch allein da wieder raus. Egal, was mit ihr noch passierte. War es wirklich egal? Das wollte sie plötzlich nicht mehr glauben. Durch die offene Tür konnte sie nicht schauen, aber sie hatte gute Ohren und wusste, dass sich dahinter etwas tat. Da war jemand! Augenblicklich kehrte die Angst wieder zurück. Lilian fühlte sich von ihr umklammert und zugleich aus ihrer normalen Welt hinausgedrückt. Schritte hatte sie nicht gehört, aber es war jemand an der Tür. Davon ging sie aus. Dann hörte sie das Kratzen von außen. Ein schreckliches Geräusch, wie von langen Totenfingern hinterlassen. Es bewegte sich über die gesamte Tür hinweg. Es begann oben, wanderte weiter, baute dabei eine Figur, ein Viereck, einen Kreis, was auch immer. Die Zeit war für Lilian Evans nicht mehr existent. Sie stand auf dem Fleck, starrte aus leblosen Augen gegen die Tür und hörte dieses verfluchte Geräusch. Kratzende Finger, deren Weg sich genau verfolgen ließ, der dann plötzlich stoppte. Wo? schoss es Lilian durch den Kopf. Wo habe ich das Kratzen zuletzt gehört? Sie war nicht in der Lage, sich eine Antwort zu geben. Sie glaubte auch nicht, dass sich der unheimliche Besucher zurückgezogen hatte. Außerdem war die Beleuchtung aus gutem Grund nicht eingeschaltet worden. Zwar lebte die Evans' in einer Wohnung, die jedoch war innerhalb des Komplexes so gebaut worden, dass sich der Mieter vorkam wie in seinem eigenen kleinen Haus. Um in die Wohnung zu gelangen, musste man keinen Treppenflur durchqueren. Da gab es eben die Tür nach draußen und auch zum Vorgarten hin. Etwas bewegte sich. Die Klappe wurde von außen angedrückt und in die Höhe geschoben. Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Luftzug drang in das Haus und streichelte Lilians Gesicht, wo sie einen Schauer spürte. Sie nahm ihn nur am Rande wahr. Sie wollte einfach nichts mehr merken, denn ihr Augenmerk galt einzig und allein der Klappe. Eine andere Kraft drückte sie hoch. Nur war niemand da, um einen Brief hindurchzuschieben. Leer blieb sie allerdings auch nicht, denn etwas kroch durch den breiten Spalt. Verbunden war diese Bewegung mit schabenden Geräuschen. Innerhalb der Klappe füllte sich der Raum aus. Ein gelblicher Gegenstand. Aufgeteilt. Wie Finger. Nicht wie Finger.
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Es waren Finger. Nur keine normalen. Durch den Briefschlitz in der Tür hatte sich eine Knochenhand geschoben, über deren hautlose Finger zähes Blut rann ...
Charlie Parker war happy! Er hätte laut gelacht, doch das verbiss er sich lieber. Er wollte nicht auffallen, denn wenn man sich ein bestimmtes Leben aufgebaut hatte, dann musste man sich auch an bestimmte Regeln halten, und das war bei ihm der Fall. Offenheit war fehl am Platz. Heimlich erledigte er seine Geschäfte, die sich in erster Linie um Frauen drehten. Sie brachten ihm nicht nur die Zufriedenheit auf finanziellem Gebiet, auch sein Sexleben war sehr abwechslungsreich, und genau das hatte er immer gewollt. Nur deshalb hatte ihm der Liebe Gott dieses Aussehen geschenkt, um andere Menschen beglücken zu können. Dass dabei des öfteren ein erkleckliches Sümmchen abfiel, nahm er gern mit. Charlie stufte sich als alterslos ein. Stets gepflegt, einmal im Jahr eine Generalüberholung seines Körpers, nicht zu unsolide leben, auch mal allein schlafen, sich richtig ernähren, das alles waren Angewohnheiten, die er unbedingt beibehalten musste, um nicht so schnell zu altern. Er war über 40, sah aber jünger aus. Zudem passte er sich in seinem Outfit stets der neuen Mode an, wobei er niemals übertrieb und die Kleidung immer im Rahmen blieb. Die Frauen stuften ihn als chic ein. Man konnte sich mit ihm sehen lassen, was allerdings nicht für alle zutraf. Einige Heimlichkeiten gönnte er sich schon. Wie die abendlichen Besuche bei den Frauen, die er rein ‚zufällig’ kennen gelernt hatte. Da er tagsüber frei hatte, konnte er sich bewegen, wo er wollte, was Charlie Parker auch weidlich ausnutzte. So hatte er eine nette Brünette an einer U-Bahn-Haltestelle gesehen und angesprochen. Danach war alles wie von selbst gelaufen, und so war es auch bei Lilian Evans gewesen. Im Supermarkt hatte er sie gesehen und sich an sie herangemacht. Charlie besaß eine gute Nase für Frauen, die sexuell frustriert waren oder brachlagen, wie er es für sich ausdrückte. So ein Wild war leicht zu erlegen. Auch Lilian hatte ihm kaum Schwierigkeiten bereitet. Sich zuerst ein wenig zieren, okay, das gehörte dazu. Danach hatte alles wie von selbst geklappt. Schon beim zweiten Treffen waren sie gemeinsam in einem Hotelbett gelandet. Später hatten sie dann abgemacht, dass er zu ihr kam, wenn sie es wollte. Einmal in der Woche war die Regel, und auch jetzt, wo Charlie sie schon länger kannte, ließ er die gebotene Vorsicht nie außer acht. So parkte er seinen 3er BMW noch immer ein Stück entfernt in einer Seitenstraße. Von dort aus hatte er es nicht weit. Auch wenn ihm jemand begegnete, fiel er nicht auf. Dank seiner gepflegten Kleidung wirkte er stets wie einer der Bewohner dieser Häuser. Wer hier lebte, war nicht eben arm. Charlie lächelte, als er seinen Wagen verließ. Sein Stammparkplatz war frei gewesen. Niemand hatte sein Fahrzeug unter dem Geäst der ausladenden Kastanie abgestellt. Die meisten Besitzer ärgerten sich wohl, wenn der Blütenstaub auf ihre Autos regnete. Charlie war das egal. Er blieb nie lange und auch niemals bis zum Morgen. Die Helligkeit störte ihn. Die mied er wie ein Vampir die Sonne. Immer das gleiche Ritual. Aussteigen, danach der Blick in die Runde. Ausloten, ob die Luft rein war. Sie war es. Wie immer. Es hatte nie Schwierigkeiten gegeben. Parker lächelte. Wie hätte es auch anders sein können bei seinem Glück? An eine Gefahr dachte er nicht. Wer hätte ihm auch gefährlich werden können? Keiner. Glückspilze wie er lebten immer auf der besonderen Schiene, die stets zum Erfolg führte.
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Er freute sich auf Lilian. Sie war ebenfalls ein Glücksgriff gewesen. Ein verdammt heißer Feger. Ein Weib, das man nicht allein lassen durfte. Zumindest nicht zu lange. Das aber hatte ihr Gatte getan. Da lagen die Konsequenzen auf der Hand. Locker ging Charlie Parker um den BMW herum. Auch jetzt hielt ihn noch der Schatten des Astwerks bedeckt und auch der des Stamms. Dass dort jemand auf ihn warten könnte, dieser Gedanke kam ihn nicht. Dort wartete der Tod, und er meldete sich mit einem hohl klingenden Kichern an. Parker hörte es. Er blieb stehen und drehte sich. Vorbei war es mit seiner schon euphorischen Laune. Was er da gehört hatte, war ihm auf den Magen geschlagen. Noch sah er nichts. Der Stamm wuchs vor ihm hoch. Über ihm breitete sich das Geäst aus. In der Dunkelheit bildete es einen Schatten, einen großen schwarzen Pilz. Zugleich ein Dach, vor dem sich der Mann fürchtete. Nichts war mehr wie sonst. Er hatte sich in dieser Gegend stets wohl gefühlt, das war nun vorbei. Natürlich dachte er an die zahlreichen Überfälle, die immer wieder stattfanden, aber nicht hier, sondern ... Seine Gedanken brachen ab. Jemand hatte erneut gekichert. Genau vor ihm. Trotzdem nicht zu sehen, weil sich die Gestalt hinter dem Stamm verbarg und sicherlich auf eine günstige Gelegenheit für einen Überfall wartete. Parker wollte nicht wissen, was der Stamm verbarg. Mutig war er nur bei Frauen und nicht im normalen Leben. Hier war ihm einfach alles egal. So schnell wie möglich weg und ... Es blieb beim und, denn auf einmal war der andere da. Er drehte und löste sich aus seiner Deckung. Dabei klang ein ungewöhnliches Geräusch auf. Ein Klappern oder helles Schaben fast. Charlie nahm es nur am Rande wahr, denn was ihm da entgegenkam, war einfach nicht zu glauben. Es gehörte nicht in diese Welt. Es war grauenhaft. Eine Gestalt wie aus dem Lehrbuch des Horrors. Es gab sie wirklich. Er bildete sich dieses Monstrum nicht ein, das die Uniform eines Briefträgers trug. Ein Postmann mit Mütze, auf dessen Schirm ein Posthorn abgebildet war. Nur war dies kein normaler Briefträger, denn er hatte die Uniform über einen Körper gestreift, der keiner war, sondern nur aus Knochen bestand. Bestehen musste, denn auch das Gesicht unter der Mütze war eine schmutzig-gelb schimmernde Fratze aus Gebein. Charlie Parker vergaß das Atmen. Er vergaß einfach alles. Er war in seinem Schock und der Angst gefangen. Sein Blick galt dem anderen Gesicht, das keines mehr war. Höhlen ohne Augen. Ein tiefes Loch, wo eigentlich die Nase hätte sein müssen. Das gleiche galt für den Mund. Ob sich darin noch Zähne abmalten, konnte er nicht sagen. Es war ihm auch egal. Die verdammte Gestalt an sich war schon grauenhaft genug. Aus den Engen der Ärmel schauten die Hände hervor. Nein, auch keine Hände. Fleisch- und hautlose Klauen. Widerliche Finger, lang, knochig und knotig. Er schüttelte sich. Die Angst erwischte ihn jetzt wie brutale Schläge, die ihn zerstören wollten. Die Welt hatte sich für Charlie Parker nur auf diese eine Begegnung reduziert. Sekunden wurden für ihn zu Minuten. Die Fratze unter dem Schirm war geblieben, doch sie hatte sich für ihn verändert. Sie war viel größer geworden. Ausgebreitet zu einem wahren Monstrum. Natürlich dachte er an Flucht. Nicht zu schaffen. Der Anblick hatte ihn gelähmt. Innerhalb dieser wenigen Sekunden machte Charlie Parker Schlimmeres durch als in seinem gesamten Leben. Er hatte sich nie Gedanken über das Sterben gemacht, nicht als Glückspilz. Jetzt musste er es. Da er keine Übung im Meistern von Stresssituationen hatte, kam er damit auch nicht zurecht. Es erwischte ihn eiskalt. Hände griffen zu. Nein, Knochenfinger. Und die legten sich um seinen Hals und drückten sich zugleich in sein Gesicht hinein. Er spürte sie. Sie waren so kalt, so hart und zugleich nachgiebig. Das allerdings stimmte nicht, denn was tatsächlich nachgab, war die Haut in seinem Gesicht, die aufgerissen wurde, als die Finger in sie hineindrangen. Zugleich drückten sie auch seinen Hals zusammen.
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Furchtbar. Nicht mehr zu beschreiben. Ein irrer Schmerz, der Parker dazu veranlasste, den Mund aufzureißen, um seine Not in die Dunkelheit zu brüllen. Er schaffte es nicht. Die Knochenfinger waren zu stark, und sie waren tödlich. Charlie Parker brach in die Knie und sank dem Boden entgegen. Dass er ihn berührte, spürte er schon nicht mehr, da war er bereits tot. Das Skelett hatte seine Kehle und das Gesicht zerstört. Es richtete sich auf. Seine Hände waren blutig. Es lachte glucksend, aber leise, und aus dem Lachen waren bei genauem Hinhören gewisse Worte zu verstehen. Kurze Sätze nur. »Mr. Postman ist da. Mr. Postman kommt ... «
Ich werde verrückt! Ich werde verrückt! Das ... das glaube ich einfach nicht. So etwas gibt es nicht. Das bilde ich mir ein. Da hat sich einer einen Scherz erlaubt, verdammt! Die Klaue ist nicht da. Sie kann nicht da sein, verflucht ... Lilian Evans wollte es nicht wahrhaben. Sie schloss die Augen und kniff sie dabei hart zusammen. Eine gewisse Zeitspanne wollte sie abwarten, bis dieser makabre Scherz vorbei war. Scherz? Ja, es musste ein Scherz sein. Zwar war nicht Halloween, doch überall in der Nachbarschaft gab es junge Leute, die sich immer wieder Streiche ausdachten. Sie hatte auch nichts dagegen, doch nicht solche, die Menschen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringen konnten. Die Frau schaute wieder hin, nachdem sie zuvor bis zehn gezählt hatte, was ihr sehr schwergefallen war. Sie sah die Tür und auch den Umriss der Klappe, die sich innen abmalte. Die Hand war nicht mehr da! Weg, verschwunden. Nur ein böser Traum, und Lilian hätte aufatmen können. Sie konnte es nicht. Etwas war zurückgeblieben. Zumindest das starke Zittern, das sie fast von den Beinen holte. So stützte sie sich an der Wand ab, den Blick auf die Tür gerichtet und darauf wartend, dass wieder etwas passierte. Nein, die Klaue blieb verschwunden. Keine gelben, hautlosen und leicht gekrümmten Skelettfinger mehr. Da war einfach nichts zu sehen. Sie konnte aufatmen. Es ging wunderbar. Im Prinzip zumindest. Eigentlich war alles wie sonst ... Der Ausdruck in ihrem Gesicht wirkte alt. Ihr Atmen hörte sich schwer an. Im Kopf drehte sich etwas, doch sie kam nicht damit zurecht. Alles war so anders geworden. Dieser makabre Scherz hatte vieles verändert. Sie kam mit sich selbst nicht mehr zurecht, und auch Charlie Parker war vergessen. Lilian dachte einzig und allein über diesen verdammten und makabren Scherz nach. War es ein Scherz gewesen? Wenn ja, wer trug dafür die Verantwortung? Sie dachte an ihren Mann Barry, Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig war, aus diesem Alter war er schließlich heraus, aber man wusste nie. Barry hatte selten geredet. Besonders nicht mit ihr. Er war immer ein Heimlicher gewesen, und sie konnte sich schon vorstellen, dass er zu etwas Schlimmem fähig war. Die Hand erschien nicht. Die Klappe war wieder zurückgefallen. Sie bewegte sich auch nicht. Alles kam ihr tatsächlich vor wie ein böser Traum, der sie überfallen hatte, obwohl sie wach gewesen war. Der Schock klang langsam ab. Allmählich beruhigte sich auch wieder ihr Herzschlag, aber zur Normalität kehrte er nicht zurück. Es blieb die Erinnerung. Und Charlie Parker kam nicht. Er, der eigentlich immer pünktlich war, ließ sich einfach nicht blicken. Auch darüber wunderte sich die Frau und nahm es nicht als normal hin.
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Ob er damit zu tun hatte? Eine verrückte Idee, an die sie im Prinzip nicht glauben konnte. Das war einfach zu weit hergeholt. Schließlich gehörte Charlie Parker nicht mehr zu den Kindern, die sich gewisse Scherze einfallen ließen. Etwas trieb sie auf die Tür zu. Sie wollte unbedingt den Ort des Geschehens erreichen, obwohl die Furcht tief in ihr saß. Sie musste hin, da war der innere Motor nicht mehr abzustellen. Natürlich hätte sie auch an eines der Fenster treten können, dieser Gedanke kam ihr jedoch nicht. Er war ihr einfach zu fremd, und so schlich sie an die Tür heran und blieb dort stehen. Um nach draußen zu schauen, musste Lilian die Tür aufziehen. Das traute sie sich noch nicht. Für sie war etwas anderes wichtig. Zwar das Schauen nach draußen, doch mit einer gewissen Sicherheit im Hintergrund. Auch wenn sie sich davor fürchtete, die Klappe zu öffnen, es war der einzige Weg für sie, die Umgebung der Tür unter Kontrolle zu halten. Behutsam ging sie in die Knie, den Blick dabei ebenfalls zu Boden gerichtet. Der leise Schrei löste sich aus ihrem Mund, als sie sah, dass sie sich die Hand nicht eingebildet hatte, denn auf dem Boden malten sich die roten Flecke ab. Das war Blut ... Kälte rann ihren Rücken hinab. Es war wie körniger Grieß. Ihr Atem stockte, und sie ängstigte sich davor, die Fingerspitze in die winzigen Lachen einzutauchen, um dann durch ein kurzes Schmecken herauszufinden, ob tatsächlich Blut auf dem Boden lag oder nur eine andere Flüssigkeit, die ähnlich aussah. Ketchup, Filmblut - ihr schossen da einige Begriffe durch den Kopf. Vorsichtig hob sie die Klappe an. Lilian wollte unbedingt jedes Geräusch vermeiden. Wenn der andere noch draußen wartete, sollte er nicht heraushören können, was sie vorhatte. Es gelang ihr recht gut. Sie hob die Klappe so weit an, bis sie im rechten Winkel zur Tür stand, um dann durch den breiten Schlitz schauen zu können. Schreckliche Vorstellungen schossen ihr durch den Kopf. Sie war so gut wie hilflos. Wenn draußen jemand lauerte und ein Messer durch den Spalt drückte, dann war zumindest ein Auge verloren. Er konnte auch Säure sprühen oder schießen ... Er tat nichts. Es passierte auch nichts. Ihr gelang der begrenzte Blick in den Vorgarten. Dort sah sie einige Sträucher, die von der Dunkelheit umhüllt waren, nicht mehr. Keiner lauerte vor dem Haus, um auf eine Chance zu warten. Das beruhigte sie zunächst. Es ging ihr etwas besser, als sie sich wieder in die Höhe drückte und den Stoff des Seidenmantels vor ihrer Brust zusammenraffte. Lilian schloss die Augen. Nach außen hin war alles okay, wenn nicht das verdammte Blut gewesen wäre. Sie hatte keinen Traum erlebt, und sie wollte endgültig wissen, ob dieser Scherzbold verschwunden war. Durch den Schlitz hatte sie nicht viel sehen können. Der größte Teil des Vorgartens war ihr verborgen geblieben. Abgeschlossen war die Haustür nicht. Lilian brauchte nur die Klinke zu drücken und sie zu öffnen. Eine Tätigkeit, die völlig normal war, die sie schon unzählige Male hinter sich gebracht hatte, die ihr aber jetzt so verdammt schwer vorkam. Schwer lastete die Hand auf der Klinke. Auch die Kälte des Metalls spürte sie. Sie gab ihr ein leichtes Gefühl der Beruhigung. Mehr auch nicht. Lilian ging vorsichtig zu Werke. Erst die Haustür spaltbreit öffnen, dann der Blick nach draußen. Die Eingänge der anderen Häuser befanden sich rechts und links. Zumindest die der unteren Wohnungen, die oberen konnten von den Seiteneingängen erreicht werden. Die Häuser hier waren verschachtelt gebaut worden. Moderne Architektur, ungewöhnlich und auch interessant. Der kühle Wind streichelte ihr Gesicht und hinterließ einen weiteren Schauer auf der Haut. Ihr war kalt und warm zugleich. Die Hitze stieg in ihren Kopf. Die Hände zitterten ebenso wie die Knie, obwohl nichts passierte.
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Der dunkle Vorgarten, der von keinem Licht einer Außenlampe erhellt wurde, weil Lilian sie nicht eingeschaltet hatte. Niemand brauchte zu sehen, wenn Charlie sie besuchte. Aber Charlie war nicht gekommen, aus welchen Gründen auch immer. Dafür hatte sich dieser andere eingefunden. Sie öffnete die Tür noch weiter. Der Spalt war breit genug, um den Kopf hindurchstrecken zu können, was sie auch tat. Es passierte blitzschnell und erwischte Lilian ohne Vorwarnung, obwohl sie darauf eingestellt war. Aus welcher Richtung sie die Klaue erwischt hatte, wusste sie nicht. Plötzlich war sie da gewesen, und die kalten Knochen pressten sich gegen ihr Gesicht. Sie raubten ihr die Luft. Sie berührten die Haut, sie drückten sie ein, und plötzlich kam ihr der Brief mit der Warnung wieder in den Sinn. Alles hatte seine Richtigkeit, aber die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit hatten sie diesen Brief vergessen lassen. Lilian Evans war nicht in der Lage, dem Druck standzuhalten. Die andere Kraft presste sie zurück und hinein in ihre Wohnung. Noch immer wurde sie am Schreien gehindert, doch die Pranke bedeckte nur den unteren Teil ihres Gesichts. Der obere lag frei und auch die Augen. Sie konnte sehen. Die Mütze, das Posthorn darauf, die Uniform des Briefträgers - und das Gebein. Nicht ein Mensch hatte sie besucht, sondern ein Skelett, das sie jetzt zurück in die Wohnung drückte ...
Endlich, nach vielem Hin und Her, war der Termin zustande gekommen. Glenda Perkins hatte einige Male mit einer alten Bekannten telefoniert und es dann geschafft, sich mit ihr zu verabreden. Sie war nach Hause eingeladen worden, und dort wollten die beiden Frauen einen längeren Abend verbringen und über die Vergangenheit reden. Glenda hätte Muriel Drake gern auch in einem Restaurant getroffen, doch dagegen standen die Pflichten einer Mutter, denn Muriel hatte einen zweijährigen Sohn, den sie nicht allein lassen wollte. Ihr Mann konnte den Babysitter auch nicht spielen, denn er lag im Krankenhaus, weil er sich einen Fuß gebrochen hatte. So war als Treffpunkt nur Muriels Wohnung übriggeblieben, zu der Glenda unterwegs war. Sie saß auf dem Rücksitz eines dieser alten Londoner Taxis und lächelte vor sich hin. Allerdings nicht in der Vorfreude auf das Treffen mit Muriel, sondern eher dachte sie an den Morgen des Tages, als sie im Büro gesessen und John Sinclair das Vorzimmer betreten hatte. Sehr genau durchlebte Glenda die Szene und amüsierte sich jetzt noch darüber. Er war gekommen wie immer. Und dann war er auf der Stelle stehen geblieben. Dabei hatte Glenda nichts weiter getan, als ihn nur angeschaut. Das aber auf eine besondere Art und Weise. Dabei hatte sie gelacht, weil Johns Gesicht wirklich dumm ausgesehen hatte, und dafür gab es einen besonderen Grund. Es war die Brille! Genau. Nur die Brille, die Glenda aufgesetzt hatte und John über die Ränder hinweg angeschaut hatte wie eine Lehrerin, die strafend auf ihre Schüler blickt. »Guten Morgen, John ... « »Ähm ... ähm ... « »Was ist?« »Weiß nicht.« »Komme ich dir etwa anders vor?«
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John hob den Arm. »Im Prinzip schon.« Er lachte. »Die Brille da ... « »Findest du sie chic?« »Sie ... sie gehört zu dir?« »Ja.« Der Geisterjäger lachte. Es klang schon komisch. Dann schüttelte er den Kopf, suchte nach Worten und sprach sie aus, als er sich wieder gefunden hatte. »Kleine Überraschung oder kleiner Gag, wie?« »Nein, ganz und gar nicht. Ich brauche hin und wieder eine Brille. Das hat mir der Arzt gesagt.« Glenda nahm sie ab. »Und ich finde, dass sie mir steht. Ein wunderschönes rötliches Gestell, gut geschwungen, meinem Gesicht angepasst. Da die Sehkraft im Laufe der Zeit nachlässt und ich ja auch vor einem Monitor sitze, habe ich mein Augen überprüfen lassen. Der Arzt war der Meinung, dass ich eine Brille brauche. So habe ich sie mir zugelegt.« Sie reichte ihm die Augengläser entgegen. »Gefällt sie dir?« John hob beide Hände. »Weiß nicht. Klar, für dich finde ich sie gut.« »Sie macht mich sexy, wie?« »Keine Ahnung - ehrlich.« »Das hat man mir gesagt.« »Wer denn?« »Ein Kollege aus der Kantine.« »Ach so, ja.« »Was sagst du?« Er drückte sich vor einer Antwort und tigerte zunächst einmal auf und ab. »Schlecht ist sie nicht. Sie steht dir auch, denke ich. Wenn du sie brauchst, ist das schon okay.« »Danke, darauf habe ich gewartet.« Auf dem Weg zur Kaffeemaschine blieb John stehen. Er traute sich noch nicht, sein Büro zu betreten. »Hat Suko sie schon gesehen?« »Nein, noch nicht.« »Und Sir James?« »Der schon. Leider hat er mich enttäuscht. Er hat nur die Stirn gerunzelt und etwas geschmunzelt. Aber du hast mich angeschaut wie eine Fremde.« »So bist du mir auch vorgekommen. Als ich das Büro betrat, da dachte ich, am Schreibtisch sitzt eine Fremde, und ich wollte mich schon namentlich vorstellen.« »Oh, du Ärmster. Ist es schon so weit mit dir gekommen, John?« »Tja, hm - manchmal trifft es eben einen. Ich wusste ja immer, dass du für jede Überraschung gut bist. Aber sonst bist du noch die alte geblieben?« Sie nickte. »Ja, das kann ich bestätigen. Oder hast du sonst noch eine Veränderung an mir festgestellt?« »Nein, habe ich nicht«, erwiderte er, nachdem er seinen Blick über ihren Körper hatte gleiten lassen, soweit dies bei Glendas sitzender Haltung möglich gewesen war. »Dann ist ja alles okay.« John holte sich seinen Kaffee, ging auf die Bürotür zu, schaute noch einmal zurück und schüttelte den Kopf. Noch jetzt freute sich Glenda darüber, dass ihr die Überraschung perfekt gelungen war. Schon Tage zuvor hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn John sie plötzlich mit einer Brille sah. Seine Reaktion hatte ihre Vorstellungen sogar noch übertroffen. Er war beinahe aus den Schuhen gekippt.
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Ihr leises Lachen hatte sogar den Fahrer irritiert, der kurz den Kopf drehte und sich erkundigte, ob etwas war. »Keine Sorge, Mister, es ist alles in Ordnung. Ich habe nur leicht gelacht.« »Sehr schön, denn das findet man heutzutage ja recht selten. Die meisten Menschen sind zu ernst.« »Da sagen Sie was.« Glenda fühlte sich entspannt. Sie genoss auch die Fahrt zu ihrer Freundin. Es war eine ruhige Gegend mit alten und neuen Häuser, deren Bauweisen sich nicht störten, sondern wunderbar zusammenpassten. Wo Muriel genau wohnte, wusste sie nicht. Leider waren auch die Hausnummer nicht deutlich zu erkennen. Da musste sie schon zu Fuß gehen und sich die Fassaden genauer betrachten. Deshalb ließ sie den Fahrer halten. »Sind wir denn schon da?« »Nein, nicht direkt. Ich gehe den Rest der Strecke. Das Wetter ist ja wunderbar.« »Stimmt. Und hier wird Ihnen auch nichts passieren, Madam. Eine ruhige Gegend. Nur für mich nicht zu bezahlen.« Glenda seufzte. »Für mich auch nicht.« Sie zahlte die Rechnung, gab ein Trinkgeld hinzu und verließ den Wagen. Auf dem Gehsteig blieb Glenda Perkins stehen und schaute den Heckleuchten nach. Sie amtete tief durch. Hier stank es nicht nach Abgasen. Die Straße wirkte wie aus dem Bilderbuch entsprungen. Die hohen Laubbäume, die Gehsteige, die Vorgärten, dahinter die Häuser. Alt und modern gemischt. Die älteren mit ihren Erkern, die ebenfalls aus rotem Backstein gebaut worden waren wie die übrigen Fassaden. Bei den neuen Häusern hatte man das Material auch verwendet, allerdings in einem etwas helleren Farbton. Es war deshalb zu erkennen, weil an den Hauswänden Laternen und Lampen ihr Licht abstreuten. Muriel Drake wohnte in einem der älteren und renovierten Häuser. Es gehörte ihr nicht. Die junge Familie hatte dort eine Wohnung gemietet und fühlte sich ausgesprochen wohl, wie Muriel Glenda am Telefon berichtet hatte. Auf der richtigen Seite befand sie sich schon. Es war die mit den geraden Hausnummern. Allerdings musste sie noch einige Meter gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Es war ruhig in der Gegend. Autos fuhren kaum mehr. Und wenn, dann rollten sie langsam über die Straße, auf der kein Durchgangsverkehr herrschte. Glenda hatte sich zwar leicht angezogen, aber nicht zu sommerlich. Ihre Brille lag im Büro, und noch immer musste sie über Johns Gesicht lächeln, das er am Morgen aufgesetzt hatte. Sie trug ein beiges Kostüm, dessen Rock kurz über den Knien endete. Unter der Jacke hatte sie ein lindfarbenes T-Shirt angezogen, dessen Stoff nicht zu dünn war. Einen genauen Zeitpunkt hatte Glenda mit Muriel Drake nicht abgemacht, nur eine ungefähre Uhrzeit, und die würde sie einhalten können. Sie schlenderte über den Bürgersteig, schaute sich immer wieder die Fassaden der Häuser an so gut es möglich war und schritt auch unter dem Astwerk breite Laubbäume hinweg. Ein Paar kam ihr entgegen. Der Mann hatte seinen Arm um die Schultern der Frau gelegt. Beide schauten sich beim Gehen an und hatten keinen Blick für die Umgebung. Sie nahmen Glenda nicht einmal wahr, so verliebt waren sie. Die Sekretärin musste lächeln. Es fiel etwas verhalten aus, denn sie dachte daran, dass sie sich nicht in festen Händen befand, obwohl es Gelegenheiten genug für sie gegeben hätte. Nur konnte sie sich nicht entscheiden. Es war beileibe nicht so, dass sich keine Gelegenheiten ergeben hätten, nein, daran lag es nicht. Es ging auch um John Sinclair. Beide mochten sich. Beide wussten aber auch, dass eine Heirat nicht in Frage kam. Wenn Glenda sich anderweitig band, dann kam sie sich vor wie jemand mit schlechtem Gewissen. Außerdem würde sie ihrem Ehemann vielleicht nicht das geben können, was er verdiente, denn zwischen ihnen stand noch immer der Job, den sie nach wie vor liebte, der auch für sie nicht an Zeiten unbedingt gebunden war, und sie dachte auch daran, wie oft sie in gefährliche und haarsträubende Situationen hineingeraten war, in denen sie nur ganz knapp mit dem Leben davongekommen war.
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Sie hatte sich irgendwie mit ihrem ‚Schicksal’ abgefunden und fühlte sich dabei sogar recht wohl. Der Maiabend war nicht zu warm und nicht zu kühl. Ihre Laune war optimal. Sie hatte den Eindruck, den Frühling riechen zu können, der über dieser Gegend lag wie ein unsichtbares Tuch. Nachdem das Paar sie passiert hatte, war ihr niemand entgegengekommen. Sie befand sich allein auf dem Gehsteig und integriert in diese wunderbare Umgebung. Das eigentliche London, das wirkliche, das war für sie so weit weg. Das gab es kaum. Sie konnte es sich zumindest nicht vorstellen. Es gab auch keinen Lärm, keine laute Musik, keine schreienden Stimmen und auch keine Motorradfahrer, die mit ihren heulenden Maschinen die Ruhe der Umgebung störten. Dafür gab es den Mann. Glenda sah ihn plötzlich vor sich. Sie hatte auch nicht mitbekommen, woher er auf einmal gekommen war. Ob aus einem Vorgarten oder hinter einem der Baumstämme hervor. Jedenfalls war er da, und er lief genau in ihre Richtung. Eine sehr dunkle Gestalt, die mit der Umgebung verschwamm. Sie sah auch nichts Helles an ihr. Selbst nicht auf dem Kopf, der einen etwas ungewöhnlichen Umriss zeigte und Glenda vermuten ließ, dass er eine Mütze oder Kappe trug. Der Mann ging leicht gebeugt. Er trug eine Jacke, eine Hose. Die Arme schlenkerten bei jeder Bewegung hin und her, und aus den Ärmeln schauten recht helle Hände hervor. Das nahm sie schon wahr. Glenda hütete sich, den Mann zu überholen, obwohl das kein Problem gewesen wäre. Irgend etwas hielt sie davon ab. Rational konnte sie den Grund nicht erfassen. Sie gehorchte einfach ihrem Gefühl. Zudem sah sie sich auch ein wenig wie ein gebranntes Kind, das das Feuer scheut. Glenda hatte einiges hinter sich. Gerade sie wusste, dass es Dinge auf der Welt gab, die so unwahrscheinlich waren, dass man sie kaum glauben konnte. Genau dieses Wissen hatte sie gelehrt, vorsichtig zu sein. Nicht jedem zu vertrauen, immer eine gewisse Distanz bei Fremden halten, und das nahm sie in diesem Fall wörtlich. Sie behielt den Abstand zu dem Fremden bei, obwohl es keinen vernünftigen Grund gab, sich vor ihm zu fürchten oder näher an ihn heranzugehen. Sie wollte abwarten ... Der andere ging weiter. Er veränderte seine Bewegungen auch nicht. Steif, noch immer etwas schwankend, dabei mit den Füßen über den Boden schleifend. Manchmal schüttelte er seine Hände auch aus, und wenn er in das Licht einer Straßenlaterne geriet, tanzte sein Schatten über den Boden. Betrunken ist er nicht, dachte Glenda. Er benimmt sich nur recht seltsam. Was eigentlich auch nicht stimmte, wenn sie ehrlich war. Es lag allein an ihr, dass sie so misstrauisch war. Plötzlich war er weg! So schnell, dass Glenda glaubte, ihn als Spuk erlebt zu haben. Er war nicht mehr da, er war nach rechts abgetaucht, denn sie sah ihn, als er durch einen Vorgarten schritt, der nicht vorn durch eine Leuchte erhellt wurde, sondern von der Seite, denn dort fiel das weiche Licht in den Garten hinein. Genau in dieser Insel malte sich seine Gestalt ab, bevor sie auf eine Haustür zuschritt. Glenda ging weiter. Diesmal allerdings wesentlich langsamer. Ihr Misstrauen hatte sich verstärkt, und sie dämpfte ihre Schritte, bis sie kaum noch zu hören waren. Als Glenda den Beginn des Vorgartens erreichte, blieb sie stehen. Sie schaute zu, wie der Mann auf die Tür zuging. Er hatte es nicht einmal eilig, blieb auch vor der Tür stehen, ohne einen Schlüssel in die Hand zu nehmen. Er klingelte auch nicht. Dafür tat er etwas anderes. Er ging in die Knie und schabte dabei mit den Fingern über das Außenholz entlang. Die Geräusche waren so laut, dass Glenda sie hörte. Der Mann blieb in der Hocke, fummelte aber an irgend etwas herum, was Glenda nicht sehen konnte, da sein Rücken ihr die Sicht versperrte. Sie ging zur Seite und sorgte für einen besseren Blickwinkel. Dann hörte sie auch ein seltsames Geräusch. Da schien irgend etwas aufgeklappt worden und woanders gegengefallen zu sein. Sie wartete.
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Auch der andere wartete. Es war ein Spiel zwischen der Katze und der Maus. Nach einer Weile richtete sich der Mann wieder auf. Er drehte sich dabei nicht unbedingt zur Seite, doch Glenda gelang es dank ihres Standortes, einen Blick auf sein Gesicht zu werfen. Unter dem Schirm der Mütze schimmerte es sehr hell und wirkte auch irgendwie starr. Zum erstenmal sah Glenda die Haare, die wie Stroh rechts und links des Kopfes abstanden und so aussahen, als wollten sie mal gekämmt werden. Der Fremde wartete. Noch immer hatte er sich nicht bemerkbar gemacht. Er hatte nur durch den Briefkastenschlitz in das Haus hineingeschaut. Darüber wunderte sich Glenda jetzt noch. Im Moment hatte sie ihre Freundin vergessen. So etwas wie Jagdfieber war in ihr hochgekommen. Während sie weiterhin auf ihrem Beobachtungsplatz blieb, dachte sie über den Mann nach. Sie hatte ihn unter anderem für einen Einbrecher gehalten. War von dieser Theorie wieder abgekommen, denn Diebe verhielten sich anders. Die blieben nicht vor der Haustür stehen, sondern suchten nach einem anderen Einstieg. Was wollte er? Normal jedenfalls war sein Verhalten nicht. Da steckte mehr dahinter. Glenda Perkins nahm die Umgebung sehr intensiv wahr. Sie roch das Laub und auch den Duft der Blüten und Blumen aus den Vorgärten. Besser konnte sich der Frühling nicht bemerkbar machen, aber das vergaß sie jetzt, denn am Haus passierte etwas. Die Tür öffnete sich. Nicht normal, sondern sehr vorsichtig. Spaltbreit zunächst, und wenig später vergrößerte sich der Ausschnitt, so dass Glenda den Umriss einer blonden Frauengestalt sah, die sich im weichen Licht einer Flurbeleuchtung abzeichnete. Das alles kam ihr vor wie Momentaufnahmen. Sie erschienen, sie wurden abgestoppt, aber der ‚Film’ lief weiter, als sich der Mann in seiner dunklen Kleidung bewegte. Er betrat das Haus nicht normal. Glenda sah, wie er die Tür nach innen rammte und sich dabei auch zwangsläufig bewegen musste. So war sie in der Lage, für einen kurzen Augenblick einen Großteil seines Gesichts zu sehen. Der Moment reichte ihr! Glenda glaubte, selbst in einem Film zu stehen. Der Realität war der Boden entzogen worden, denn dieser Mann besaß zwar ein Gesicht, doch es war kein normales. Es war eine Knochenfratze! Die Heldin in einem Film oder einer Serie wäre sofort losgerannt und hätte gehandelt. Das tat Glenda Perkins nicht. Sie war einfach nicht dazu in der Lage. Die Überraschung hatte sie wie ein Schock getroffen, und er musste zunächst überwunden werden. Die letzten Momente liefen noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab. Es war kein Irrtum gewesen, dieser Mann besaß kein normales Gesicht. Was sich da unter der Mütze befand, das bestand tatsächlich nur aus gelblich schimmerndem Gebein. Sie erinnerte sich wieder an die schon unnatürlich hellen Hände und gelangte zu dem Schluß, dass auch der übrige Körper nicht aus Fleisch und Blut, sondern nur aus Knochen bestand. Ein lebendes Skelett also, das in das Haus eingedrungen war und die Frau überfallen hatte. Glenda konzentrierte sich wieder auf die Tür. Sie war jetzt voll da. Den Schock hatte sie verdaut, und sie wusste auch, was sie nun zu tun hatte. Die blonde Frau schwebte in höchster Gefahr. Wenn es noch etwas zu retten gab, dann jetzt. Glenda dachte auch nicht mehr daran, welcher Gegner ihr da gegenüberstand, sie wollte die Frau nur aus der Gefahr hervorholen. Mit eiligen Schritten durchquerte sie den Vorgarten und gelangte in die Nähe der Tür. Da hatte sie Glück. Die Tür war zwar aufgerammt worden, aber sie war nicht wieder zurück ins Schloss gefallen. Sie war also offen. Oder nur angelehnt. Glenda schob sie weiter auf. Vorsichtig. Immer darauf gefasst, dass dieses verfluchte Skelett plötzlich erschien und sie angriff.
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Es kam nicht. Sie schaute in einen leeren Flur. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie wartete auf Geräusche, auf Schreie und ... Ja, da war etwas. Ein Stöhnen, ein verzweifeltes Weinen und Schluchzen. Aber nicht im Flur, sondern aus einem der anderen Räume. Glenda Perkins betrat das Haus ...
Lilian wusste überhaupt nichts mehr. Sie kam sich auch nicht wie ein Mensch vor, sondern eher wie ein Subjekt, das aus dem normalen Leben entfernt worden war. Was sie hier erlebte, war einfach unmöglich. So etwas konnte es nicht geben. Das musste ein Traum sein, ein tiefer und grausamer Alptraum, aus dem sie irgendwann erwachte und wieder zurück in das normale Leben kehrte. Sie irrte sich. Es war kein Traum. Im Traum klemmte keine Knochenhand an ihrer Kehle, um ihr die Luft abzudrücken und sie gleichzeitig zurückzuschieben. Sie wehrte sich dagegen oder wollte sich wehren, aber der andere war einfach zu stark. Lilian kam gegen ihn nicht an. Die Hand klemmte an ihrer Kehle. Sie konnte kaum atmen. Wenn sie versuchte, Luft zu holen, entstand nicht mehr als ein Röcheln, das im Hals kratzte und aus dem Mund drang. Sie wurde nicht bewusstlos, obwohl sie es sich beinahe wünschte. So bekam sie mit, dass der Eindringling sie immer tiefer in den Flur hineindrückte und damit weg von der Tür, dem einzigen erreichbaren Fluchtweg. Sie ging automatisch. Ihre Füße tappten gegen den Boden, jedes Auftreten hörte sie wie einen Hammerschlag, doch darum kümmerte sich das lebende Skelett nicht. Es schob sie weiter. Die Knochenfratze unter der Briefträger-Mütze war ein starres, gelbliches Gebilde und tanzte trotzdem bei jeder Bewegung hin und her. Die leeren Augenschächte erinnerten an Höhleneingänge, die bis in die dunkelsten Tiefen der Hölle führten, um dort auf den Teufel zu treffen. Er war so etwas wie ein Teufel. Ein knöchernes Monster, das sein Opfer jetzt herumwuchtete und auf eine Tür zutrieb. Es war zufällig die zum Schlafzimmer. Da sie nicht geschlossen war, schwang sie nach innen. Das Skelett tauchte mit seiner Beute ein in den Raum, der bereits für den Liebhaber vorbereitet war. Das Licht hatte Lilian heruntergedimmt. Es floss weich über das breite Bett, dessen Decke aufgeschlagen war. Ein Vorhang verbarg das Fenster, und von einem Beistelltisch hob sich der mit Eis gefüllte Kühler ab. Daraus schaute der Hals einer Champagnerflasche hervor. Alles war angerichtet und erinnerte an eine Seifenoper oder an eine Schmierenkomödie. Nur nicht an die Brutalität des Augenblicks, die der Eindringling für sich buchte. Er hatte die Gewalt über sein Opfer bekommen und handelte auch danach. Er stieß Lilian weiter, die diesem Druck einfach folgen musste und immer weiter mit steifen, abgehackten Schritten zurückging, bis sie die Nähe des Bettes erreicht hatte. Genau darauf hatte der andere gewartet. Es war exakt der Punkt, und er stieß Lilian Evans brutal nach hinten. Zum Glück prallte sie nicht hart auf, denn die weiche Matratze federte ab. Aber sie blieb auf dem Rücken liegen. Der Seidenmantel klaffte auf. Zwei dunkle Augenschächte schienen auf die nackte Frau zu glotzen. Dieser wahr gewordene Alptraum stand vor ihr und beugte sich nach vorn. Lilian wollte es noch immer nicht wahrhaben. Sie glaubte es nicht. So etwas konnte es einfach nicht geben, aber diese Gestalt existierte wirklich. Sie hatte sie sogar berührt, und noch jetzt spürte Lilian die Nachwirkungen seiner Knochenhand an ihrer Kehle, denn dort ‚brannte’ die Haut.
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Er sagte nichts. Er starrte sie nur an. Auch die Mütze nahm er nicht ab. Wie sperriges Stroh wuchsen zu beiden Seiten die Haare nach unten und standen an ihren Enden vom Kopf ab. Das Maul war ebenfalls weit geöffnet. Auf dem Gebein hatten sich dunkle Blutfäden festgefressen. Noch weiter zog sich der Mund in die Breite. Dabei entstanden leise, knirschende Geräusche. Knochen brachen. Es zeigten sich wohl Risse an den Enden, und aus den Löchern drang ein fürchterlicher Gestank, den Lilian nicht einordnen konnte. Sie atmete unnormal heftig. Mehr ein Schlucken und Schluchzen. Es war eine bestimmte Situation eingetreten. Sie spürte genau, dass ihr dieser makabre Briefträger eine Botschaft übermitteln wollte, und sie hatte sich auch nicht getäuscht. Er sagte etwas. Es war schwer, ihn zu verstehen, da seine Worte mehr mit einem Krächzen unterlegt waren. Sie hörte Begriffe wie betrügen, fremdgehen und Strafe. Dass alle, die das taten, den Tod verdient hatten und ihn auch bekommen würden. Zwar hatte Lilian alles gehört, auch die Hälfte von dem verstanden, trotzdem waren die Erklärungen an ihren Ohren vorbeigerauscht. Es war alles zu unwirklich. Sie fühlte sich auch nicht wie jemand, der bestraft werden musste. Lilian hatte bei allem, was sie tat, einfach nur an sich gedacht, weil es ihr auch gut gehen sollte. Es war noch nicht vorbei. Das Skelett veränderte seine Haltung kaum, als es den rechten Arm bewegte und die Hand in die Tasche der Uniformjacke steckte. Da sich darin die Finger bewegten, bewegte sich auch der Stoff, und Lilian sah, dass er nach etwas fasste. Ein Gegenstand, den er dann langsam hervorholte. Sie hatte sich schon auf einiges eingestellt, erschrak trotzdem zutiefst, denn sie schaute auf die kalte und blanke Klinge eines Messers. Es war breit. Es war nicht einmal besonders spitz, aber vor diesen Waffen hatte sie sich immer gefürchtet. Und jetzt, als das Skelett seinen Arm anhob, da wurde die Furcht zu Todesangst, die alles überschwemmte. Wie durch eine Glocke hörte sie die Gestalt sprechen. »Untreue Hausfrauen müssen sterben ... « Nichts, gar nichts konnte sie tun. Nicht einmal den Arm bewegen und ihn in die Höhe strecken. Die Todesangst hatte Lilian Evans gelähmt. Steif und wie eingefroren lag sie auf dem Bett. »Müssen sterben ... «, wiederholte er. »Nein!« schrie die Frauenstimme ...
Glenda stand an der Tür. Sie hatte das Haus betreten und nicht lange zu suchen brauchen. Die Geräusche hatten ihr den Weg in die richtige Richtung gewiesen. Jetzt stand sie auf der Schwelle und starrte auf das, was sich da abspielte. Es war die Vorstufe zu einem schrecklichen Mord gewesen. Die hilflose Frau auf dem Bett, die unheimliche Knochengestalt über ihr. Das Messer mit der langen Klinge, schlimmer konnte ein Bild einfach nicht sein. Glenda hätte geschossen, aber wer trägt schon eine Waffe bei sich, wenn er zu einer Freundin geht? Sie gehörte nicht dazu, und sie hatte auch keine andere Waffe entdeckt, um sich zu verteidigen. Es blieb ihr nur die Stimme und hoffentlich die damit verbundene Überraschung. »Nein!«
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Mehr als dieses eine Wort hatte Glenda Perkins nicht hervorgebracht. Sie wollte damit für einen Schock sorgen, für ein kurzes Zögern, um selbst angreifen zu können. Und Mr. Postman hatte es gehört! Er stieß nicht zu. Zwar zuckte sein Arm noch, doch die gefährliche und tödliche Klinge trat nicht den Weg nach unten an. Zumindest nicht bis zum Körper. Nicht einmal auf dem halben Weg der Strecke kam sie zur Ruhe. Die Szene war erstarrt, und auch Glenda traute sich nicht näher. Sie wartete auf eine andere Aktion. Die Gegenseite sollte endlich aktiv werden, aber dort passierte nichts. Sie hörte nur das Jammern und Keuchen der Frau auf dem Bett. Sie litt unter furchtbaren Ängsten und war durch sie auch bewegungsunfähig geworden. Glenda wollte noch etwas sagen, doch der Knöcherne ließ sie nicht dazu kommen. Er bewegte sich jetzt und drehte seinen Körper langsam nach links. Es knackte nichts, es brach kein Gebein auseinander. Glenda sah nur das verdammte Messer und auch die Knochenhand, die den Griff hart umklammerte. Bis das Gesicht sie anstarrte! Es war schlimm, diesen Anblick ertragen zu müssen. Zum Glück war Glenda einiges gewohnt, so dass sie nicht durchdrehte, doch was sich ihr da präsentierte, das gehörte zu dem Schlimmsten, was sie je zu Gesicht bekommen hatte. Eine fürchterliche Fratze. Trotz der Postmütze nicht ins Lächerliche gezogen. Sie hatte sich der Gestalt ebenso angepasst wie die Uniform. Eine Fratze ohne Augen und Nase, aber mit dünnen Blutstreifen auf dem gelben Gebein. Obwohl die Augen nicht vorhanden waren, kam sich Glenda vor wie angestarrt. Leere Augenhöhlen, finstere Schächte, trotzdem gab es da etwas, mit dem sie nicht zurechtkam. Das möglicherweise auf dem Grund dieser Schächte lauerte und vielleicht sogar in der Hölle geboren war. Glenda spürte den Dunstkreis des Teufels, der seine Macht wieder in die Welt hineingedrückt und Grenzen überwunden hatte. Sie nahm allen Mut zusammen, bevor sie die Gestalt zum zweitenmal ansprach. »Geh weg! Hau ab! Verschwinde endlich!« Der Knöcherne schüttelte den Kopf. Diese kleine Geste reichte aus, um Glenda wissen zu lassen, dass sie hier auf verlorenem Posten stand. Sie musste etwas tun. Auch wenn sie nicht bewaffnet war. Es musste etwas geben, das ihn von seine eigentlichen Aufgabe ablenkte, und so blieb Glenda nicht mehr stehen, auch wenn es ein Risiko war. Wenn der Unheimliche von der Frau abgelenkt wurde und sich auf sie konzentrierte, dann konnte die andere möglicherweise die Chance ergreifen und flüchten. Darauf baute Glenda, und sie löste sich von der Türschwelle, wobei sie den ersten Schritt nach vorn und gleichzeitig zur Seite setzte. Nach links. Weg vom eigentlichen Geschehen, einen kleinen Bogen schlagend und die Aufmerksamkeit des Skeletts auf sich ziehend. Dazu brauchte man Nerven, und die hatte Glenda in diesen gefährlichen Augenblicken. Sie riss sich wahnsinnig zusammen. Sie wusste, dass der geringste Fehler tödlich sein konnte und war deshalb voll konzentriert. Nur verhindern, dass er zustach. Nur die Nerven behalten. Ihm nicht zeigen, wie groß die Angst tatsächlich war. Der Untergrund war mit hellem Teppichboden bedeckt, über den ihre Füße schleiften. Den Kopf hielt Glenda gedreht, denn sie musste den Knöchernen im Auge behalten. Glenda näherte sich der Bettseite, an der auch der Nachttisch mit der Champagnerflasche stand. Sie hatte bei ihrem Eintritt diese Szenerie schon wahrgenommen, die auf sie einen tödlichen und zugleich vom Rahmen her lächerlichen Eindruck gemacht hatte. Champagner und Blut - das passte nicht zusammen. Jetzt schon. Die Flasche konnte durchaus zu einer Waffe werden, falls Mr. Postman nicht vorher schon ahnte, was Glenda bezweckte. Danach sah es zunächst nicht aus. Er verfolgte ihren Weg und hatte sich dabei sogar aufgerichtet. Die Klinge wies nicht mehr direkt auf die blonde Frau. Wenn er jetzt zustach, würde er sie verfehlen.
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Glendas Gesicht war nicht mehr starr. So etwas wie ein Grinsen umfloss ihre Lippen. Es war allerdings mehr ein Zucken der Mundwinkel, der Auslöser einer irrsinnigen Spannung. Viel schoss ihr durch den Kopf. Nicht stolpern, nicht fallen, den Unheimlichen unter Kontrolle behalten, obwohl dies nicht einfach war, denn durch das Starren brannten ihre Augen. Er stand noch immer so verflucht nahe an seinem Opfer. Das gefiel Glenda nicht. Sie überwand sich selbst, als sie das lebende Skelett ansprach. »Na, komm her. Los, beweg dich. Komm zu mir, verdammt. Los, ich will, dass du es bei mir versuchst ... « Eine Antwort hatte sie nicht erwartet. Uni so mehr wunderte sie sich, dass die Gestalt reden konnte. Zwar mehr ein Röcheln, aber die Worte waren verständlich. »Gehörst du auch zu ihnen?« »Zu wem?« »Zu den Fremdgängerinnen. Zu denen, die ihre Männer betrügen, verdammt noch mal ... « »Vielleicht ... « Er riss sein Maul noch weiter auf, und wieder waren an den Winkeln die knirschenden Geräusche zu hören. Die Antwort schien ihm nicht gefallen zu haben. Glenda konnte selbst auch nur den Kopf über diese Dinge schütteln. Okay, sie war einiges gewohnt, aber diese Situation war nicht leicht zu erklären oder zu begreifen. Schon längst hatte sie sich die Frage gestellt, woher eine Gestalt wie diese überhaupt kam. Hatte sie ihr Grab als Skelett verlassen? War der Körper vielleicht in ein Säurebad gefallen, das Haut und Fleisch abgelöst hatte? Sie wusste es nicht. Es war auch unwichtig, denn sie musste sich auf das Skelett konzentrieren. Es wiederholte ihre letzte Antwort, und Glenda nickte, obwohl sie ahnte, dass dies ihre Situation nicht verbessern würde. »Du auch ... «, röchelte es ihr entgegen. »Ja, warum nicht?« Zum erstenmal bewegte er sich schneller, und auch Glenda ging einen Schritt weiter. Noch näher an den Kühler und an die Flasche heran, deren Hals schräg und irgendwie griffbereit über dem Rand hervorragte. Das erste Opfer war vergessen. Es lag auf dem Bett, noch immer schwer nach Luft ringend, aber Lilian hatte noch nicht richtig erfasst, dass die unmittelbare Gefahr vorbei war, obwohl sie die Stimme der fremden Frau hörte, die sie warnte und darauf hinwies, doch endlich wegzulaufen. Mehr konnte Glenda nicht tun. Sie musste sich um das lebende Skelett mit der Uniform des Briefträgers kümmern. Es hatte den Rand des Bettes erreicht. Den rechten Arm mit der Knochenhand und dem Messer hielt es halb erhoben. Es war bereit, die Klinge in Glendas Körper zu rammen. Sie hatte sich so gedreht, dass sie den Unheimlichen anschauen konnte. In ihren Rücken spürte sie schon die Kühle des mit Eis gefüllten Kübels, und sie wusste auch, wie sie greifen musste, um die Flasche fassen zu können. Das alles hatte sie sich ausgerechnet. Aber sie wusste auch, dass sie nicht zu früh nach dieser ‚Waffe’ greifen durfte, denn die Überraschung musste auf ihrer Seite sein. Er kam noch näher. Ein zuckender und trotzdem gleitender Schritt. Die leeren Augenhöhlen waren tatsächlich wie Augen auf Glenda Perkins gerichtet. Sie fühlte sich von ihnen durchbohrt, beinahe wie seziert, und auch ihr Herz klopfte jetzt wieder schneller, je näher die Sekunde der Entscheidung heranrückte. Beim nächsten Schritt musste sie es wagen. Der Gedanke war kaum in ihrem Kopf aufgezuckt, als sich der Knöcherne schon bewegte. Er wollte gehen, sein Messerarm zuckte dabei zurück, um während des Schritts ausholen zu können. Auch Glenda Perkins bewegte sich. Was sie in den folgenden Sekunden tat, bekam sie mental kaum mit. Bei ihr war der Überlebenswille aktiviert worden. Sie schnappte sich die Flasche mit der rechten Hand. Der Hals war zum Glück nicht zu glatt, und sie hörte, wie die bauchige Flasche aus dem Eis gezerrt wurde.
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Glenda schwang sie hoch. Wasser spritzte weg. Selbst kleine Eiswürfel gesellten sich dazu. Und dann schrie Glenda auf, als sie die Flasche mit aller Kraft nach unten wuchtete. Sie traf den Kopf der Gestalt. Der Bauch der Champagnerflasche hämmerte direkt auf die Fläche der Mütze. Glenda hörte nicht, ob die Knochen knirschten oder zusammenbrachen, jedenfalls ging die Flasche zu Bruch. Sie zersplitterte, und die Flüssigkeit schäumte um den Kopf der Gestalt herum. Der Treffer hatte noch eine andere Wirkung. Auch die Stirn war getroffen worden, daran hatte kein Mützenschirm etwas ändern können. Durch diese Wucht war die Gestalt ein Stück zurückgetrieben worden und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sie taumelte. Sie war irritiert, aber nicht ausgeschaltet, das wusste Glenda genau. Der Arm mit dem Messer bewegte sich hektisch auf und ab, ohne ein Ziel zu treffen, und auch Lilian Evans war jetzt außer Gefahr. Das hatte sie sogar begriffen, denn sie hatte sich auf dem Bett aufgerichtet. Glenda war noch nicht fertig. Sie ließ das Stück des Flaschenhalses fallen, drehte sich und griff mit beiden Händen nach dem mit Eis und Wasser gefüllten Kühler. Er war nicht leicht. Glenda wuchtete ihn trotzdem hoch und rannte damit auf das lebende Skelett zu. Kurz davor schleuderte sie ihm das Eis entgegen und schlug noch mit dem Kühler selbst zu. Auch hier traf sie gut. Der Knöcherne kippte zurück. Glenda trat nach ihm. Unter dem Stoff traf sie das harte Gebein, und dieser Tritt schleuderte die Gestalt endgültig zu Boden. Jetzt war die Gelegenheit da! Glenda fuhr herum. Nach links, denn dort befand sich das Bett, und da saß auch die Frau. Lilian hockte da wie eine Puppe. Sie hatte alles gesehen, machte allerdings nicht den Eindruck, als hätte sie die Vorgänge auch begriffen oder verkraftet. Von allein kam sie nicht zurecht. So blieb Glenda nichts anderes übrig, als sie zu ihrem Glück zu zwingen. Die Zeit, um das Bett herumzulaufen, nahm sie sich nicht. Sie warf sich von der Seite her darüber, hatte die Arme ausgestreckt und bekam die rechte Hand der Frau zu fassen. Mit einem wilden Ruck zerrte sie Lilian zu sich heran. Glenda achtete nicht auf das Schreien der Frau, das sicherlich nicht wegen irgendwelcher Schmerzen aufgeklungen war, sie wollte nur den Erfolg und zog Lilian tatsächlich wie eine Figur vom Bett. »Komm endlich!« brüllte sie die Frau an. Lilian gehorchte. Sie flatterte. Sie tat alles automatisch. Sie musste ja gehen, um nicht zu fallen und hinterhergeschleift zu werden. Glenda bekam noch Gelegenheit, einen Blick auf das Skelett zu werfen. Es hockte am Boden, und trotz des Messers wirkte es irgendwie lächerlich, weil das Wasser die Uniform durchtränkt hatte. Sie klebte jetzt feucht an den Knochen. Eiswürfel hatten sich um die Gestalt herum ausgebreitet, und der Kühler lag nicht weit entfernt daneben. Glenda zerrte die Frau aus dem Zimmer. Hinein in den Flur. Obwohl Lilian halbnackt war, musste sie aus dem Haus raus. Beide Frauen stolperten auf die Tür zu. Glenda riss sie auf. Sie schob Lilian nach draußen. Dann schaute sie noch einmal zurück. Nein, er kam nicht. Das Monster hatte die Verfolgung nicht aufgenommen, sie hatten Glück gehabt. Wenig später lief auch Glenda durch den Vorgarten. Sie fand Lilian Evans am Ende, wo sie zusammengebrochen war, kniete und ihr Gesicht in den Händen vergraben hielt. Schwer atmend und auch keuchend blieb Glenda neben ihr stehen, den Blick immer wieder auf die Haustür gerichtet, weil sie damit rechnete, dass dieses lebende Skelett dort erschien. Sie hatten Glück, denn Mr. Postman hielt sich zurück. Aber die Gefahr war noch nicht gebannt, das wusste Glenda auch. »Kommen Sie, kommen Sie! Wir können hier nicht bleiben ... « Lilian gab keine Antwort. Sie zitterte, sie stand unter Schock. So blieb Glenda nur eine Möglichkeit. Mit beiden Händen packte sie zu und zerrte sie auf die Beine.
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Lilian konnte sich kaum halten. Glenda musste sie regelrecht mitschleifen. In der Nähe stand ein Baum. Den hatte sich Glenda als Ziel ausgesucht. An seinen Stamm konnte sie die Frau lehnen, denn sie brauchte beide Hände, um das Telefon bedienen zu können. John Sinclair musste jetzt Bescheid wissen, denn das war ein Fall für ihn. Glenda bezweifelte, dass sich jemand als Skelett verkleidet hatte - ähnliche Kostüme gab es ja -, dieses hier war echt. Ein skelettierter lebender Toter, ein Zombie der besonderen Art. Bis zum Baum waren es nur wenige Schritte. Glenda führte Lilian hin wie ein Kind. Sie schaute dabei nicht vor ihre Füße - und stolperte über etwas Weiches, das dicht neben dem Stamm lag und durch das Astwerk beschützt war. Sie schaute nach unten. Ihr stockte der Atem. Vor ihren Füßen lag ein Toter! Lilian Evans hatte ihn noch nicht gesehen. Frierend und zitternd stand sie neben Glenda Perkins, wobei ihre Zähne aufeinander schlugen. Ihr Blick war ins Leere gerichtet, und die Augen hatten einen so fremden Ausdruck bekommen. Von allein stützte sich Lilian am Stamm ab, wo sie auch stehen blieb. Glenda bückte sich. Die Lichtverhältnisse waren nicht besonders. So musste sie schon genau hinsehen, um erkennen zu können, wie der Mann ums Leben gekommen war. Zuerst sah es für sie aus, als hätte jemand mit einem Messer auf ihn eingestochen, was auch wahrscheinlich war. Bei näherer Betrachtung stellte Glenda fest, dass die Wunden anders aussahen. Nicht so breit und auch nicht so glatt. Der Mörder hatte sich den Hals und das Gesicht des Mannes vorgenommen und ihm nicht die Spur einer Chance gegeben. Tief atmete Glenda durch. Sie saß noch in der Hocke, als sie über sich die brüchige Stimme der Frau hörte. »Ich kenne ihn. Es ist Charlie Parker.« »Ein Nachbar?« »Nein, ein Freund.« »Wollte er zu Ihnen?« »Ja. Mich besuchen ... « In Glendas Kopf erhellten sich einige Lichter. Sie erinnerte sich daran, dass dieses lebende Skelett von Frauen gesprochen hatte, die fremdgegangen waren. Das musste auf Lilian zutreffen. Sie war allein im Haus gewesen, sie hatten ihren Freund bestellt, und der wiederum war von dem Knochenkiller abgefangen worden. »Dann hat der Mörder davon gewusst, nicht wahr?« »Kann sein.« »Wie heißen Sie eigentlich?« »Lilian Evans.« »Okay, ich bin Glenda Perkins und durch einen Zufall hierher gekommen. Jetzt muss ich die Polizei rufen.« Lilian erschrak. »Aber warum denn? Ich bin nicht mehr in Gefahr. Der ... ist doch weg.« »Das schon. Nur liegt vor unseren Füßen ein Toter. Ein Mensch, der ermordet wurde, und darum kümmert sich nun mal die Mordkommission. Das gehört dazu.« »Dann werde ich befragt?« »Es wird sich nicht vermeiden lassen.« Lilian antwortete nicht. Sie senkte nur den Kopf und fing an zu weinen. Sicherlich ahnte sie, was auf sie zukam. Ihre kleinen Abenteuer konnte sie jetzt nicht mehr geheim halten, doch eine Beichte und eine Aussprache waren immer noch viel besser, als in einem Sarg in kühler Erde zu liegen.
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Glenda hatte ihr Handy hervorgeholt. Manchmal waren diese Dinger Gold wert. Egal, wie spät es war, jetzt musste John Sinclair her. Und zwar so bald wie möglich ...
Ich saß im Rover, fuhr aus der Tiefgarage und konnte noch immer nicht richtig fassen, dass mir der Feierabend gestrichen worden war. Ein Feierabend mit kleinen Tücken, denn ich war dabei gewesen, Father Ignatius einen Brief zu schreiben. Ich wollte ihm einen kurzen Bericht über die Ereignisse der vergangenen Monate geben und ihn brieflich auch bitten, mir neue geweihte Silberkugeln zu schicken. Und dann war Glendas Anruf dazwischengekommen! Zuerst hatte ich alles für einen Scherz gehalten, trotz der aufgeregten Stimme. Nach wenigen Worten allerdings war mir klargewesen, in welch einen Schlamassel meine Sekretärin hineingerutscht war, und ich hatte mir auch jegliche Bemerkung über ihre neue Brille verkniffen. Es sah wirklich ernst aus, ich musste ran, und wenn alles so stimmte, wie es Glenda in ihrer knappen Form berichtet hatte, dann standen wir vor einem verdammt starken Problem. London war um diese Zeit nicht leer, aber erträglich. Suko hatte ich keinen Beschied gegeben. Sollte sich der Fall ausweiten, konnte ich ihn noch immer informieren. Zunächst einmal musste ich mich am Ort des Geschehens umschauen. London im Mai. Das bedeutete mehr Touristen, da gab es mehr Trubel, da konnte man schon draußen vor den Lokalen sitzen und in aller Ruhe die Abgase einatmen. In dieser Nacht hielt sich alles in Grenzen. Sie war einfach zu kühl, um die Gäste nach draußen zu treiben. Es regnete nicht, und ein leichter Wind bewegte das Laub der Bäume. Der Brief an Ignatius war vorerst vergessen. Ich konzentrierte mich auf das, was vor mir lag. Glenda hatte sich bestimmt nicht geirrt. Dieses Skelett war echt. Darin steckte kein Mensch, der sich einen Spaß machen wollte. Da er bereits eine Leiche hinterlassen hatte, konnte man ihn auch nicht als Spaßvogel ansehen. Glenda hatte eine Freundin besuchen wollen, und die wiederum wohnte in einer Gegend, die sehr teuer war. Dort wohnte der gehobene Mittelstand. Die Preise waren dementsprechend, aber die Häuser sahen auch gut aus und wurden gepflegt. Noch bevor ich in die eigentliche Straße einbog, sah ich schon den Widerschein des Blaulichts. Er huschte über freie Flächen zwischen den Häusern hindurch und wies mir den Weg. Bis zum Tatort direkt konnte ich nicht fahren. Es gab die übliche Absperrung. Zwei Wagen standen quer. Vor ihnen hielten sich uniformierte Kollegen auf und wollten auch mich umschicken. Statt dessen schnallte ich mich los, verließ den Wagen und hielt sofort meinen Ausweis in das Licht einer Lampe, um Diskussionen schon im Keim zu ersticken. »Danke, Sir, Sie können passieren.« »Wer leitet die Sache hier?« »Inspektor Murphy.« »Sehr gut, danke.« Ich kannte den Kollegen und wusste, dass er mir keine Schwierigkeiten machen würde. Glenda hatte ihn bereits über mein Kommen informiert. Als ich mich dem Tatort näherte, winkte er mir bereits zu. »So trifft man sich wieder, Sinclair.« »Unser Pech, dass es nie in einem Pub geschieht.«
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»Da sagen Sie was. Aber Sie können mich ja einladen.« »Abgemacht, wenn es die Zeit erlaubt.« »Bei Ihnen auch?« »Und wie!« Er grinste und deutete auf einen Baum, unter dem die Leiche lag, angestrahlt vom Licht zweier Scheinwerfer, die auch die Nähe des Tatorts ableuchteten. Die Kollegen waren noch dabei, die Spuren zu sichern und stellten ihre Nummernschilder auf. »Scheußliche Sache, wie der Mann getötet wurde«, sagte Murphy. »Wie denn genau? Wissen Sie schon mehr?« Murphy hob die Schultern. »Man hat ihm das Gesicht und auch den Hals zerstört.« »Oh ... « »Ja, und keiner von unseren Experten weiß, womit das geschehen ist. Jedenfalls war es kein Messer.« Ich nickte, dachte an Glendas Bericht und fragte: »Könnten es vielleicht Finger gewesen sein?« »Hä? Wie bitte?« Der Kollege trat zurück und schaute mich kopfschüttelnd an. »Keine normalen Finger natürlich. Auch nicht die eines durchtrainierten Karatekämpfers. Ich denke da eher an Knochenfinger, wie sie zu einem Skelett gehören.« »Ach ja - Skelett?« »Richtig.« »Wenn Sie das meinen, Sinclair.« »Sie glauben mir natürlich nicht, was ich nachvollziehen kann. Es wäre schon möglich.« »Und woher wissen Sie das?« Ich deutete zum dunklen Himmel, an dem nur wenige Wolken schwammen. »Ich habe den perfekten Draht zu ihm. « »Toll. Wie denn? Per Handy?« »Genau das ist es.« Ich kam wieder zur Sache. »Wo finde ich Glenda Perkins?« »Sie ist mit Lilian Evans ins Haus gegangen. Mrs. Evans war noch nicht in der Verfassung, verhört zu werden. Unser Arzt hat ihr zunächst eine Beruhigungsspritze gegeben. Glaube kaum, dass Sie mehr Glück haben werden, bei dieser Dosis.« »Dann rede ich eben mit Glenda. Wir sehen uns ... « »Klar.« Murphy verzog das Gesicht. »Oder soll ich leider sagen?« »Das bleibt Ihnen überlassen.« Durch den Vorgarten ging ich auf das Haus mit der offenen Tür zu. Es war still, als ich eintrat. Ein ungewöhnlicher Geruch schwebte mir entgegen. Nein, es roch nicht nach Blut, aber stickig und dumpf war es schon in diesem Haus. Die Angst, die beide Frauen gespürt hatten, schien sich hier noch gehalten zu haben, verdichtet in einer beklemmenden Stille. Ich war im schwach beleuchteten Flur stehen geblieben, um diesen Eindruck aufzunehmen. Im Gegensatz dazu stand die Einrichtung. Sie war nett und gediegen. Nichts wirkte überladen. Alles hatte Qualität. Wer hier lebte, brauchte nicht auf Kleingeld zu achten. Von beiden Frauen hörte ich nichts. Keine Stimmen, auch keine anderen Geräusche. Sie schienen überhaupt nicht anwesend zu sein, und ich rief nach meiner Sekretärin. »Glenda ... « »Ich bin hier, John. Es ist okay ... « Die Antwort War aus einem Zimmer an der linken Seite geklungen, dessen Tür nicht geschlossen war. Ich drückte sie auf und trat ein.
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Es war ein Schlafzimmer, und beide Frauen waren da. Lilian Evans lag auf dem Bett. Blass und bis zu den Schultern hoch zugedeckt. Sie sah aus wie jemand, der tief schläft. Glenda Perkins hatte sich einen Stuhl besorgt. Neben dem Bett hockte sie wie eine Wächterin. Der Schrecken stand auch ihr ins Gesicht geschrieben. Nur war sie eine Frau, die schon einiges durchgemacht hatte. So leicht warf sie nichts aus der Bahn. Dass die Ereignisse auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen waren, das sah ich ihr an. Trotz des Lächelns wirkte sie fahrig, aber auch erleichtert, als sie aufstand und mir entgegenkam. Ich schloss sie in die Arme. Dabei spürte ich ihr Zittern. Ich sah die Reste einer zerstörten Flasche auf dem Boden liegen, einen Kühler und auch Eiswürfel, die schmolzen oder schon geschmolzen waren. Auf dem Teppich zeichnete sich eine dunkle Lache ab. Ich hörte sie atmen. »John«, sagte sie flüsternd, »das ist gerade noch mal gutgegangen. Ich dachte, ich würde es nicht mehr packen, ehrlich. Dann kam mir die Idee mit der Flasche.« »Hast du sie dem anderen auf den Kopf geschlagen?« »Ja.« »Sehr gut.« »Ich habe ihn trotzdem nicht ausschalten können. Aber wir hatten die Chance zur Flucht.« »Gut, Glenda. Und wo steckt diese Gestalt jetzt?« Sie hob die Schultern, nachdem sie sich von mir befreit hatte. »Sorry, das habe ich nicht gesehen. Ich glaube allerdings nicht, dass er das Haus an der Vorderseite verlassen hat. Kann ich mir nicht vorstellen. Der wird einen anderen Weg gefunden haben.« »Setz dich mal wieder. Du kannst mir gleich alles erzählen.« Ich deutete auf die blonde Lilian Evans. »Wie geht es ihr? Wie hat sie es überstanden? Kann sie vernommen werden?« »Nein, auf keinen Fall.« Glenda schaute sie an, während sie sprach. »Der Arzt hat ihr eine Spritze gegeben, und das war verdammt nötig. Ich bin bei ihr geblieben. Sie fiel immer wieder zurück in die alten Angstzustände, als stünde der andere direkt vor ihr. Das ist wirklich ein Wahnsinn gewesen.« »Kann ich verstehen, wenn bei einem Menschen die Erinnerung immer wieder hochsteigt. Und bei dir, Glenda?« Sie sah meinen fragenden Blick auf sich gerichtet und hob die Schultern. »Soll ich sagen, Unkraut vergeht nicht?« »Wäre nicht schlecht.« »Nun ja, die Sache ist die ... « Sie fing damit an, im Schlafzimmer auf und ab zu gehen. Die Bewegung brauchte sie. Sie war wie ein Motor, der Details des Erlebten in ihr hochpumpte. »Es war wirklich ein Zufall, der mich in diese Sache hat hineinrutschen lassen. Einer, wie es ihn nur selten gibt. Andere würden Schicksal sagen, kann auch sein.« Sie blieb stehen, schaute mich an und schüttelte den Kopf. »Ich werde dir alles genau berichten, dann kannst du dir ja eine Meinung bilden, John.« Ich hörte zu. Eine Frau wie Glenda, die bei Scotland Yard arbeitet und in der Vergangenheit auch schon zahlreiche ungewöhnliche Dinge erlebt und durchlitten hatte, war dadurch so geschult, dass sie auch Dinge behielt, die sich in Stresssituationen ereignet hatten. Da konnte sie sich an Details erinnern, was mir natürlich zugute kam. Ich hörte aufmerksam zu. Glenda berichtete alles von Beginn an. Sie ließ auch ihre Taxifahrt nicht aus, und sie hatte später genau richtig gehandelt. Nur so war es ihr gelungen, Lilian Evans das Leben zu retten. Zum Abschluss sagte sie: »Jetzt ist er weg, John, aber er ist nicht vernichtet worden.« »Das stimmt leider.« Ich lehnte an der Wand und hatte die Hände in die Taschen meiner hellen Hose geschoben. Nachdenklich schaute ich auf meine Schuhe. »Sollen wir denn glauben, dass dieser Besuch des Skeletts hier bei Lilian Evans ein Zufall gewesen ist?« »Nein, John, das auf keinen Fall! «
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»Sehr gut. Was berechtigt dich zu dieser Annahme?« »Es gibt einen Beweis für das Gegenteil.« »Ausgezeichnet. Welchen?« »Einen Brief, eine Nachricht. Ich habe sie gefunden und versteckt. Die Kollegen wissen nichts davon, was auch nicht nötig ist, denn wir kümmern uns um den Fall.« »Sehr gut«, kommentierte ich lächelnd. Glenda hatte sich schon umgedreht und suchte unter dem Kopfkissen. Ein gutes Versteck. Lächelnd übergab sie mir das Schreiben, das sie schon entfaltet hatte. Ich las, wunderte mich, und las die Zeilen laut vor. »Deine Zeit ist um, du Nutte. Lange genug hast du es getrieben. Jetzt werde ich kommen und es dir heimzahlen ... « Ich ließ die Nachricht sinken und fragte: »Das war alles?« »Sicher. Wenn du mich fragst, dann klingen diese Zeilen nach Rache und Abrechnung.« Glenda atmete schwer durch die Nase. »Ja, etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Das ist Rache und Abrechnung. Oder siehst du das anders?« »Im Moment nicht. Der Schreiber bezeichnet Lilian Evans als Nutte. Er hat ihr den Brief zukommen lassen, wobei ich besonders das Wort Brief betone.« »Wegen der Uniform des Skeletts?« »Klar. Für mich ist er ein Briefträger gewesen. Ein killender Postman.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist zwar Irrsinn und so gut wie nicht zu fassen oder nachzuvollziehen, aber eine Tatsache. Ein mordender Briefträger, der sich rächen will, weil eine Frau fremdgegangen ist und sich einen Freund angelacht hat.« »Nur eine Frau?« Glenda schluckte und starrte mich an. »Meinst du ... bist du sicher, dass er noch mehr ... « »Ich will da nichts beschwören.« Rasch winkte ich ab. »Ich dachte nur gerade daran, dass dieser Killer ein Briefträger ist oder einer war. Und Briefträger wissen oft sehr viel. Sie kommen mit den Leuten ins Gespräch. Der eine Nachbar klatscht und tratscht über den anderen. Besonders in Gebieten wie hier, wo viele Frauen nicht berufstätig sind und den ganzen Tag zu Hause bleiben.« »Da kommt oft Langeweile auf.« »Klar.« »Und um die Langeweile zu verkürzen oder sie loszuwerden, kümmert man sich dann um andere Männer, die dafür sorgen, dass der Frust nicht mehr vorhanden ist oder zumindest kleiner wird.« »Bingo.« »Aber warum ein Skelett?« Glenda hatte es leise gefragt und schaute mich erstaunt an. »Kein normaler Briefträger, dafür jemand, der ohne Haut und Fleisch ist, sich dafür jedoch die Uniform eines Postman übergestreift hat, um in ihr seine Rachetour durchzuführen.« Sie schlug gegen ihre Stirn. »Das ist schon mehr als Wahnsinn.« »Der bei Mr. Postman Methode hat.« Glenda verdrehte die Augen. »Wir suchen also nach einem killenden Skelett in Postuniform.« »Das denke ich auch. Zudem kann ich mir vorstellen, dass er auch weiterhin hier in der Gegend bleibt und nicht unbedingt verschwindet. Er könnte hier genügend Opfer bekommen. Frauen, die eben frustriert sind, weil ihre Männer sie allein lassen. Er hat genau beobachtet oder gehört, was sie trieben und hat sich entschlossen, den Rächer der betrogenen Ehemänner zu spielen. So sehe ich das.« »Und das als Skelett«, flüsterte Glenda.
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»Eben unser Problem.« Sie schaute auf das Bett und damit auch Lilian Evans an. »Der Killer muss genau gewusst haben, dass sie an diesem Abend Besuch erwartet hat. Und er hat den Mann eiskalt getötet. Ich glaube sogar, dass er nur seine Hände genommen hat. Wenn ich mich recht erinnere, sind sie sogar blutig gewesen.« Sie schaute mich an. »Glaubst du das?« »Ja.« »Zwei Tote in einer Nacht. Und wir können nicht einmal sicher sein, dass es dabei bleiben wird.« Sie schüttelte sich. »Du wirst mich möglicherweise für eine Spinnerin halten, John, aber ich könnte mir vorstellen, dass dieser Briefträger noch immer unterwegs ist und bereits neue Opfer auf seiner Liste stehen. Man müsste wirklich in Erfahrung bringen, wer hier alles einen Freund hat oder es hin und wieder mit einem Seitensprung probiert. Das wird kaum möglich sein.« »Schwer auf jeden Fall«, gab ich zu. »Deshalb ist es wichtig, dass wir Lilians Aussage bekommen. Sie kennt sich hier aus. Sie kann möglicherweise wissen, was hinter den Fassaden läuft. Da können wir dann unter Umständen ansetzen.« Glenda warf Lilian einen schrägen Blick zu. »Noch schläft sie ziemlich tief.« »Dann holen wir sie da raus. Vielleicht bekommen wir sie wach. « Schütteln und rütteln wollten wir sie nicht, aber Glenda hatte die richtige Idee. Auf einem kleinen Tisch an der Wand standen zahlreiche Flakons und Parfümflaschen. Ein Zeug, das immer stark riecht, und Glenda suchte herum, ob sie das richtige fand. »Suchst du Riechsalz?« »So etwas Ähnliches.« Ich war bis zur Tür gegangen. »Ich werde mal mit dein Arzt reden und versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass er Lilian zunächst nicht in eine stationäre Behandlung bringt. Danach schaue ich mich mal etwas in der Gegend um.« »Warum willst du das tun?« »Glenda - Darling«, sagte ich. »Das ist doch ganz einfach. Lilian ist eine Frau, du bist es ebenfalls, was zudem niemand übersehen kann.« »Hör auf damit.« »Klar, schon gut, du hast ja recht. Es ist einfach so, dass sie kaum reden wird, wenn sie aus ihrem Zustand erwacht und plötzlich einen fremden Mann in ihrer Nähe sieht. So etwas käme schon einem Wunder gleich, denke ich mir.« »Da kannst du recht haben.« »Deshalb schaue ich mich ein wenig um. Gehe um die Häuser, wie man so schön sagt. Nur nicht im übertragenen Sinne.« »Wann bist du wieder zurück?« »Spätestens in einer Stunde. Sieh zu, dass du mit Lilian Evans zurechtkommst.« »Toll, danke.« »Wieso? Gefällt dir der Job nicht?« Glenda legte ihre Stirn in Falten. »Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich mir den Abend anders vorgestellt. Privater und netter, verstehst du?« »Aber sicher. Alles klar. Sogar mit und ohne Brille ... « Sie atmete scharf ein, auch als sie mein Grinsen sah. »Mensch, hau ja ab.« »Einen Augenblick noch. Wie heißt eigentlich deine Freundin, die ja auch hier wohnt?«
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»Muriel Drake.« »Danke.« Glenda lief zwei schnelle Schritte auf mich zu, bevor sie hart stoppte. »Du denkst doch nicht, dass auch Muriel zu denen gehört, die der Killer besuchen will?« »Weiß man es? Wie gut kennst du sie?« Glenda wollte den Kopf schütteln. Die Bewegung blieb aber schon im Ansatz stecken. »Ich habe sie lange nicht gesehen, das stimmt. Muriel lebt hier in der Straße. Ich sage dir die Hausnummer. Du kannst sogar auf dieser Seite bleiben.« »Danke. Immerhin etwas.« Ich strich über Glendas Wange. »Dann bist du mich auch sehr schnell los ... «
Mr. Postman war wieder unterwegs! Mit sicherem Instinkt hatte er erkannt, dass sein Plan gescheitert war. Nur gehörte er nicht zu denen, die aufgaben. Er wollte seine Geschlechtsgenossen rächen dazu war ihm jedes Mittel recht. Die beiden Frauen hatten das Haus verlassen. Sie waren auf die Straße gelaufen. Er war ihnen kurz nachgeeilt, hätte sie eigentlich noch packen wollen, aber er musste auch damit rechnen, dass sie schrieen und durchdrehten. Dann wäre es hier mit der Stille vorbei gewesen. Zwei Frauenstimmen konnten schon eine Nachbarschaft zusammenschreien. Deshalb war er vorsichtig. Einen Hinterausgang nahm er nicht. Er lief ihnen nach, die Mütze noch fest auf den Kopf gedrückt. In der offenen Haustür blieb er für einen Moment stehen. Vom Gehsteig her und jenseits des Vorgartens hörte er ihre Stimmen. Noch schrieen sie nicht. Sie würden es tun, wenn sie ihn plötzlich wiedersahen, und genau dieses Risiko wollte Mr. Postman nicht eingehen. Er musste an seinen Plan denken und durfte ihn durch nichts gefährden. Noch standen beide derartig stark unter dem Eindruck der Ereignisse, dass sie an nichts anderes denken konnten, deshalb war es für ihn ein guter Zeitpunkt, sich zurückzuziehen. Das tat er auch und nutzte die Deckung der Sträucher. Er bewegte sich parallel zu den Hauswänden entlang, räumte Hindernisse zur Seite oder durchbrach sie einfach. Einen Topf mit Blumen trat er einfach aus dem Weg, huschte geduckt an erhellten Fenstern entlang, und erreichte schließlich eine schmale Gasse, die nach rechts führte. Sie war gerade so breit, dass ein Auto hindurchfahren konnte. Nur durfte ihm kein zweiter Wagen begegnen. Die Gasse wurde umrahmt von Hauswänden. Es waren die schmaleren Seiten der Häuser mit weniger Fenstern. Er sah Dachrinnen, zwei Gullys, dann hatte er schon das Ende der Gasse erreicht, die in einen Parkplatz mündete, auf dem die Mieter ihre Wagen abstellten. Leer war der Platz nicht, aber er war so gut wie unbeleuchtet. Nur eine Laterne spendete spärliches Licht, das kaum die Autodächer erreichte. Das Ende des Platzes bildete eine Wand aus Garagen. Dahinter ragten Bäume hoch, und sie wiederum wurden von andere Bauten überstockt, die von der parallel verlaufenden Straße zu erreichen waren. Am Rande des Parkplatzes blieb Mr. Postman stehen. Noch immer ein Skelett. Eine Erscheinung ohne Fleisch und Haut, die aber lebte. Sie dachte und handelte wie ein Mensch. Sie war in der Lage, Schwingungen aufzunehmen. Sie konnte Menschen riechen, sie gut wahrnehmen und sich dann auf sie einstellen.
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Er hörte auch die Sirenen der alarmierten Polizeiwagen und wusste, dass es mit der Ruhe in dieser Gegend bald vorbei sein würde. Aber das Geschehen würde sich mehr auf die Straße konzentrieren, so hatte er in den hinteren Bereichen freie Bahn. Zwar war der erste Teil des Mordplans misslungen, aber Mr. Postman wollte in dieser Nacht mehr. Sie sollte zu einer unvergesslichen Mordnacht werden. Zu den langen Stunden des Todes und des Grauens. Er wollte, dass Menschen starben, und bestimmte von ihnen standen bereits auf seiner Liste. Die Namen kannte er auswendig. Er hatte sie sich nicht zu notieren brauchen. Das Skelett witterte! Wäre es ein Mensch gewesen, hätte es sicherlich seine Nasenflügel zuckend bewegt. So aber stand es einfach nur da und bewegte leicht seinen Knochenkopf. Da war etwas ... Er roch die Menschen. Er nahm ihre Ausdünstungen wahr. Es ging ihm nicht um die Leute in den Wohnungen, was er witterte, das spielte sich in seiner Nähe ab. Nicht einmal zu weit weg ... Mr. Postman setzte sich wieder in Bewegung und vermied es dabei, in den Lichtschein der einzigen Lampe zu gelangen. Es konnte sein, dass zufällig jemand aus dem Fenster schaute und sich so drehte, dass er auch auf diesen Parkplatz blickte. Der Knochenkiller wollte nicht gesehen werden. Jenseits der Häuser war bereits die Polizei eingetroffen. Man hatte den Toten gefunden. Die Mordkommission würde in Aktion treten, und die Männer würden sich auch die Aussagen der beiden Frauen als Zeuginnen anhören. Wer würde ihnen glauben? Als er sich diese Frage stellte, da spürte er so etwas wie Freude in seinem Innern. Trotz seiner Knochengestalt durchströmte ihn ein warmes Gefühl. Es machte ihm Spaß, und er stellte sich schon jetzt die ungläubigen Gesichter der Bullen vor, wenn sie hörten, was ihnen die Frauen zu sagen hatten. Keiner würde ihnen glauben. Man würde sie für übergeschnappt halten. Man würde nach allem fahnden und suchen, nur eben nicht nach einem lebendem Skelett in Postuniform. Ja, darin fühlte er sich wohl. Er hatte sie immer getragen. Über Jahre hinweg. Er war so stolz auf sie gewesen, und er gab sie auch jetzt nicht ab. Nein, auch nicht nach allem, was mit ihm geschehen war. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen. Er musste die Personen vernichten, die sich so schlimm benahmen. Sie hatten es verdient. Sie waren seiner Ansicht nach nichts wert. Er hatte sich oft genug die Beschwerden der Frauen angehört und hörte sie noch immer, denn er war ja beides. Tot und lebendig! Niemand kannte sein Geheimnis, aber jeder liebte ihn, den lebendigen Menschen. Er war ihrer aller Darling, und das sollte tagsüber auch so bleiben. Sein Weg führte ihn durch die Lücken zwischen den abgestellten Fahrzeugen. Auch jetzt war Mr. Postman vorsichtig. Er sorgte dafür, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen und hütete sich auch davor, mit seinen Knochenfingern an den Karosserien der Autos entlang zu streifen. In den Wagen hielt sich niemand auf. Trotzdem nahm er die Menschen deutlich wahr. Sie waren in der Nähe, als hätten sie auf ihn gewartet. Das Lachen einer Frau schreckte ihn auf und sorgte zugleich dafür, dass er stehen blieb. Er hatte niemand gesehen, war sich allerdings sicher, dass die Frauenstimme gelacht hatte. Nur wo? Er hielt sehr ruhig, voll konzentriert. Unter dem Schirm der Mütze malte sich das Gebein ab. Es leuchtete nicht, aber es war heller als sein struppiges Haar, das von seinem Knochenschädel abstand. Die Augen waren dunkle Höhlen. Zugänge in die Unendlichkeit. Kraftquellen der Hölle, die seine Existenz garantierten. Wo hatte die Frau gelacht? Der Laut war verstummt, aber er hörte trotzdem etwas. Ein schnelles und lautes Atmen, vielleicht sogar ein Keuchen, und es wehte auf ihn zu. Also kam es von vorn. Dort standen die Autos. Still und unbeweglich. Keines tanzte auf und ab, weil sich zwei Personen in einem gewissen Rhythmus darin bewegten. Hier also nicht.
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Seine Augen waren leer, aber er sah trotzdem, weil sich seine Sinne verändert hatten und auch durch die Hilfe des Teufels magisch manipuliert waren. So konnte er beinahe mehr als sehen und war damit hochzufrieden. Langsam ging er weiter. Vor ihm lagen die Garagen. Jetzt, da er näher an sie herangekommen war, konnte er sie auch besser erkennen. Sie bildeten keine durchgehende Wand. Zwischen ihnen waren immer schmale Wände hochgezogen worden, um dem Bau den nötigen Halt zu geben. Er hatte sie nicht gezählt, doch wenige waren es nicht. Geschlossene Tore, bis auf eines. Ein keuchendes Geräusch wehte aus seinem offenen Maul. Ein laut des Triumphes, der Freude, denn Mr. Postman hatte sein Ziel so gut wie erreicht. Das offene Tor war auch schwer zu entdecken gewesen. Es gehörte zu der letzten Garage an der rechten Seite. Dort sah es aus wie ein offenes Maul. Er war zufrieden, denn er wusste jetzt, wohin er zu gehen hatte. Sein Instinkt sagte ihm, dass er genau richtig lag. In dieser Garage tat sich etwas. Dort hatten sich zwei gefunden, um etwas zu treiben, gegen das er im Prinzip nichts hatte, wenn die beiden tatsächlich zusammengehörten und nicht fremdgingen. Das Keuchen verwandelte sich in ein Knurren. Er war sicher, dass sie es einfach nur trieben, um sich zu befriedigen. Mehr steckte nicht dahinter, das wusste er mit einer schon tödlichen Sicherheit. Er hob die Arme so an, dass die Ärmel verrutschen konnten. Dabei schaute er auf seine Hände und sah auch die dunklen Flecken darauf. Das alte Blut zeichnete sich dort ab, und er wusste, dass sich bald neues dazugesellen würde. Die letzten Meter bis zur Garage überwand er mit schnellen und auch lautlosen Schritten. Im Schatten eines geschlossenen Tores blieb er wieder stehen. Über seinem Schädel sprang der waagerechte Träger etwas vor, und auch er bildete noch einen Schatten, der nach unten fiel. Mr. Postman wartete ab. Es war weniger aus der letzten Garage zu hören. Er stand zu ihr eben nicht gut genug, aber das ließ sich sehr bald ändern. Der sichernde Blick zurück. Nein, es war ihm niemand gefolgt, und es hatte auch keiner das Haus verlassen. Er war allein, und so musste es sein. Innerlich lachte er, wenn er daran dachte, was jetzt vorn auf der Straße ablaufen würde. Da würden die Bullen durchdrehen, da kamen sie mit den Aussagen der Zeugen überhaupt nicht zurecht. Das war nicht sein Problem. Ihm waren andere Dinge wichtiger. Er bewegte sich wieder. Schlich. Große Schritte. Setzte seine Füße jedesmal vorsichtig auf. Blieb im Schatten der Garagen und hörte die Laute wieder. Diesmal intensiver. Fast schon hektisch. Sie waren dabei. Sie waren mitten bei der Sache. Er würde sie nicht sofort töten, nein, er wollte sich das Paar erst anschauen. Wenn alles in Ordnung war und sie zusammengehörten, dann hatte er bei ihnen nichts verloren, auch wenn er nicht begriff, dass sich jemand in einer Garage vergnügte. Er kam immer näher. Es wurde dunkler. Zudem hatte er noch das Glück, dass in der Nähe ein höherer Geländewagen stand, der sichtlich Mühe hatte, durch die schmale Gasse zu fahren. Nur war das nicht sein Problem. Er sah die Dinge anders. Sie hatten die Fenster des Autos nach unten gekurbelt. Es sollte nicht zu warm werden, deshalb waren sie auch so gut zu hören gewesen. Mr. Postman wurde zum Schatten. Er duckte sich. Er war ein lautloser Killer. Er kam noch näher, hütete sich allerdings davor, an einem Tor entlang zu streifen. Er sah den Wagen. Zumindest das Heck. Ein amerikanisches Modell aus der Chrysler-Palette. Dunkel. Blau oder grün. Alles Dinge, die er nur am Rande wahrnahm. Die Garage war breit genug, um auch ihm noch Platz zu lassen. So konnte er sich an der Seite des Fahrzeugs entlangschieben und einen Blick in das Innere erhaschen.
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Er duckte sich noch tiefer. Mit seinen gelblich schimmernden Knochenfingern stützte er sich am Boden ab. Ein ziemlich rauher Garagenboden, auf dem sich dunkle Ölflecken abzeichneten, deren Geruch er wahrnahm. Viel intensiver hörte er das Keuchen und die dazwischen aufklingenden geflüsterten Worte. Das Paar war voll und ganz mit sich beschäftigt, und es keuchte nicht nur die Frau, sondern auch der Mann. Aber er sprach mehr dabei. Mr. Postman war zufrieden. Jetzt kam es nur noch darauf an, wer sich in diesem Auto vergnügte. Um das genau erkennen zu können, musste er noch weiter vor und erreichte die linke der beiden Hecktüren. Geduckt blieb er hocken, wie jemand, der sich erst sammeln muss. Dann schob er sich hoch. Dabei drehte er seine Mütze. Der Schirm wies jetzt nach hinten. Er störte ihn nicht mehr. Mr. Postman glitt noch weiter hoch. Er wollte durch die Scheibe schauen und einen ersten Eindruck gewinnen. Da sie zur Hälfte nach unten gedreht war, hatte sie auch nicht beschlagen können. Er starrte aus den leeren Augenhöhlen in das Innere. Er sah die beiden. Sie hatten die beiden Vordersitze nach hinten gestellt, um den nötigen Platz zu haben. Dass sie so gut wie keine Kleidung mehr trugen, interessierte ihn nicht sonderlich. Mr. Postman wollte einen Blick in die Gesichter werfen, um zu erfahren, ob er mit seiner Vermutung richtig lag. Er sah die Frau! Als Mensch hätte er sein Gesicht wahrscheinlich verzogen, weil die Überraschung so groß war. Natürlich kannte er sie, hatte ihr oft genug die Post gebracht. Sie war ihm immer so unnahbar vorgekommen, spielte die Lady oder Grande Dame, die allem Menschlichen abhold zu sein schien. Hier nicht. Hier war sie wie ein Tier, denn sie hatte sich einen wesentlich jüngeren Liebhaber zugelegt. Einen dieser Kerle, wie man sie in den Fitnessstudios fand. Haare blondsilbrig gefärbt, schulterlang. Er trug so gut wie nichts mehr am Leib, und die Frau war dabei, ihm auch noch den sehr knapp sitzenden Slip abzustreifen. Die Lady war verheiratet. Hatte sogar zwei Kinder. Und hier war sie wie eine Hure. Ihr brauchte er keine Nachricht zu schicken. Ihm reichte es, was er gesehen hatte. Mr. Postman war eiskalt. Er würde noch warten. Genau dann, wenn es für sie am schönsten war, würde er die nicht verriegelte Tür aufreißen und als rächender Tod über sie kommen ...
Ich hatte das Haus verlassen und war von Murphy gesehen worden, der auf mich zukam. »Nun, haben Sie was herausgefunden, Kollege?« Ich gab ihm keine genaue Antwort, sondern fragte nach dem Arzt. »Den finden Sie noch bei der Leiche.« »Das ist gut.« »He, was wollen Sie denn von ihm?« »Nur ein paar Worte reden.« »Und was hat Ihnen Ihre Sekretärin zu sagen gehabt?« Ich drehte nur den Kopf, ging ansonsten weiter. »Leider viel zu wenig, Mr. Murphy.« »Genau das habe ich mir gedacht.« »Es läuft eben nicht immer.«
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Der Arzt war ein noch junger Mann, der müde aussah und schon einen Großteil seiner Haare verloren hatte. Dass Gaffer auf der Straße und auf den Gehsteigen standen und über Dinge diskutierten, von denen sie nichts verstanden, regte mich nicht weiter auf. Neugierde gehört zum menschlichen Dasein dazu, es ist eben eine Eigenschaft, die sich nicht ausmerzen lässt. »Sie sind John Sinclair, nicht?« »Ja. Und Ihr Name ist ... ?« »Dennis Oakland.« »Gut, Mr. Oakland. Ich komme nicht zufällig zu Ihnen. Mich quält da ein Problem. Und zwar ... « Er ließ mich nicht ausreden. »Wenn Sie von mir wissen wollen, wie der Mann hier ums Leben kam, kann ich Ihnen nur sagen, dass er irgendwie, ich betone irgendwie, erstochen wurde. Ich weiß allerdings nicht, mit welcher Waffe das geschah. Da müsste man die genaueren Untersuchungen abwarten.« »Das verstehe ich, Doktor. Aber darum geht es mir auch nicht. Ich möchte, dass Sie Mrs. Evans nicht mit in ein Krankenhaus nehmen. Es wäre mir lieber, wenn sie zunächst noch in ihrer Wohnung bleibt und in einer vertrauten Umgebung aufwacht. Ich könnte mir vorstellen, dass es für sie besser ist, da sie als wichtige Zeugin bestimmte Aussagen machen sollte. Für uns von großer Wichtigkeit.« Er schwieg. Wischte seine Hände am Kittel ab. Schaute dabei auf die neben ihm stehende Arzttasche. »Es ist ziemlich ungewöhnlich, was Sie da verlangen, Mr. Sinclair. Mir als Arzt muss es in erster Linie um das Wohl des Patienten gehen.« »Das ist auch bei mir der Fall.« Er schaute mich an wie jemand, der mir kein Wort glaubte. Aber er ging einen Kompromiss ein. »Wenn es natürlich sehr wichtig ist und Sie garantieren, dass sie keinen Rückschlag bekommt, dann werde ich zustimmen.« »Eine Garantie kann ich Ihnen natürlich nicht geben, Mr. Oakland. Ich sehe das mehr von der psychologischen Seite. Wenn Mrs. Evans die normale Umgebung um sich weiß und auch einen bekannten Menschen sieht, wird das meiner Ansicht nach viel bringen. Außerdem suchen wir einen Killer, den sie gesehen hat. Wir garantieren für ihren Schutz. Da brauchen Sie keine Sorgen zu haben, Mr. Oakland.« »Das habe ich auch nicht.« »Wunderbar. Eine Frage noch. Wie stark war das Mittel, das Sie ihr verabreicht haben? Oder genauer formuliert: Wann können wir damit rechnen, dass sie erwacht?« »Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Es kommt auf ihre körperliche Verfassung an. Ich denke, dass es noch eine gute halbe Stunde dauern wird. Bis dahin hätte sie ja auch im Krankenhaus sein sollen. Nun ja, das ist wohl jetzt vorbei.« »Danke für Ihr Verständnis, Mr. Oakland.« Er lächelte nur schief und ließ mich gehen. Kollege Murphy rief mir nichts mehr nach. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, denn irgendwie war ich schon ein Einzelgänger. Im Tempo eines Spaziergängers schlenderte ich über den Bürgersteig. Ich sah über mir das Laub der Bäume, ich entdeckte die Sperren, hinter denen die Neugierigen standen, ich sah die Autos auf der Straße, bei denen sich das Blaulicht drehte und die Sirenen abgestellt waren, und ich schaute mir die Fassaden der Häuser an, die durch die an ihnen vorbeigleitenden Lichtstreifen einen leicht unheimlichen Glanz bekommen hatten. Bild für Bild reihte sich zu einem Film zusammen, in dessen Mittelpunkt ich den Mörder stellte. Ein killendes, lebendes Skelett in einer Uniform des Briefträgers. Das hatte ich auch noch nicht erlebt, und ich fragte mich natürlich, was dahinter steckte und 'welche Kraft ihn antrieb. Eine andere Macht. Die Kraft der Hölle. Asmodis im Hintergrund. Da konnte einiges zusammentreffen, aber es musste auch ein Motiv geben, das ihn zu diesen Taten verleitet hatte.
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Was trieb ihn dazu? Wo lebte er? Wo hielt er sich versteckt? Gehörte er zu den Personen, auf die nur bedingt dieser Begriff zutraf? War er wirklich nur ein Monster oder zeigte er sich auch als Mensch, konnte also beides sein? Fragen, auf die ich jetzt keine Antwort bekommen würde. Wichtig war, dass ich ihn fand. Er war geflohen, das stand fest. Wohin allerdings? Wo konnte er sich versteckt halten? In welchem Haus? Wohnte er hier in der Nähe? War er schon längst über alle Berge oder hatte er in der Umgebung ein Versteck gefunden, einen Keller oder lag er unter einem Wagen, wo er in Ruhe abwarten konnte, bis alles vorbei war und die Polizisten sich zurückgezogen hatten? Es gibt viele Straßen in London, deren Ränder von Autos zugeparkt sind. Das traf hier nicht zu. Nur wenige Fahrzeuge standen draußen. Die meisten hielten sich in Garagen auf. Diejenigen, die im Freien parkten, waren mit einem dünnen Film aus Blütenstaub bedeckt. Die Neugierigen hatte ich zurückgelassen. Trotzdem gab es Menschen, die in den Fenstern lagen und sich die Köpfe verrenkten, um etwas erkennen zu können. So war das immer. Ich ging weiter. Eine halbe Stunde Zeit wollte ich mir schon nehmen. Dabei hielt ich die Augen offen und suchte die Umgebung ab. Glendas Freundin Muriel wollte ich nicht besuchen. Ich hörte wieder einmal auf meine innere Stimme. Sie verriet mir, dass der unheimliche Killer nicht allzu weit entfernt war. Er konnte sich durchaus in der näheren Umgebung aufhalten, um auf eine gute Gelegenheit zu warten. Die Nacht war noch lang. Da konnte verdammt viel passieren ... Vor der Einmündung einer Gasse blieb ich stehen. Sie führte nach rechts, war sehr düster, weil aus zu wenigen Fenstern an den Hausseiten überhaupt Licht sickerte. Ich überlegte und schaute auch, wo die Gasse wohl endete. Da war nicht viel zu sehen. Im Hintergrund brannte eine einsame Lampe, mehr nicht. Der Schein verteilte sich nicht besonders gut, sank dabei jedoch einigen Fahrzeugen entgegen, die auf einem extra geschaffenen Parkplatz zwischen den Häusern standen. Es war still. Ein gutes Versteck? Mir kam wieder in den Sinn, dass sich jemand leicht unter einem Auto verbergen konnte, und diesmal wollte ich dieser Spur nachgehen. Wenig später hatte mich die Gasse geschluckt. Meine Schuhe hatten weiche Sohlen, so dass meine Schritte kaum zu hören waren. Sehr sanft und auch langsam ging ich weiter. Die normale Geräuschkulisse der Straße war längst hinter mir geblieben, und ich näherte mich immer mehr dieser anderen und auch neuen Welt, die auf mich den Eindruck eines düsteren Gefängnishofes machte. Ein großer Wagen konnte die Gasse nicht durchfahren, dazu war sie viel zu schmal. Ich aber erreichte ihr Ende und bewegte mich vom Schein der einzigen Laterne weg. Langsam schritt ich über den Parkplatz. Diesmal setzte ich den Plan in die Tat um. Hin und wieder bückte ich mich, um unter die Fahrzeuge zu schauen. Um auf Nummer Sicher zu gehen, nahm ich die kleine Lampe zu Hilfe und leuchtete den Boden ab. Da gab es nichts zu sehen. Ein Irrtum. War auch nur ein Verdacht gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Es gab nicht nur die Wagen hier. Die Rückseite des Parkplatzes wurde von Garagen eingenommen, deren Tore allesamt gleich grau gestrichen waren. Geschlossene Tore. Keine Verstecke für diesen Killer ohne Haut und Fleisch, denn innerhalb einer Garage hätte er sich selbst in eine Falle manövriert. Also Fehlanzeige. Mit dem Gedanken allerdings konnte ich mich komischerweise nicht so recht anfreunden. Ich wusste nicht, was mich störte, aber es war schon etwas vorhanden. Sicherlich nicht die Stille, die lastend über dem Gelände lag. Jenseits der Garagen malten sich die Umrisse einiger Laubbäume ab, und dahinter wuchsen Hausfronten hoch. Alles normal, bis auf die leisen Geräusche oder Laute. Sie erklangen von vorn. Über die Autodächer hinweg. Dort aber lagen die Garagen, und sie waren geschlossen. Tatsächlich alle?
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Es verteilten sich dunklere und helle Stellen an der gesamten Front. Rechts von mir hatten die dunkleren die Überhand gewonnen. Ich ging deshalb in diese Richtung. Wieder sehr leise. Nur keine unnötigen Geräusche verursachen. Dafür hörte ich die anderen jetzt besser. Stimmen, Worte, Stöhnen und auch mal ein gurrendes, zufrieden klingendes Gelächter. Da wechselten sich eine Frauen- und eine Männerstimme ab, oder sie klangen auch zusammen auf. Die Laute waren für mich eindeutig. Was da passierte, war eben menschlich, dafür musste man Verständnis haben. Nur der Killer hatte es nicht gehabt, wenn ich an den Drohbrief dachte. Das machte mich misstrauisch. Normalerweise hätte ich nicht nachgeschaut, schließlich zähle ich mich nicht zu den Spannern, in diesem Fall allerdings war es etwas anderes. Ich musste hin. Nach zwei Schritten wurde es ernst. Ich hatte soeben die schmale Lücke zwischen zwei abgestellten Wagen betreten, da hörte ich den Schrei, der schnell erstickt wurde. Es war ein anderer Schrei gewesen. Bestimmt kein Lustschrei. Denn so verhielt sich jemand, den das Entsetzen plötzlich und brutal geschockt hatte ...
Sie waren verrückt. Sie waren immer wilder. Die Frau hatte es jetzt geschafft, den Mann ganz auszuziehen. Sie schleuderte den Slip über ihren Kopf hinweg, und er landete wie eine Trophäe über dem oberen Kreis des Lenkradrings. Die ‚Lady’ lag auf dem Rücken. Die Augen hielt sie geschlossen oder nur halb geöffnet. Ihre Umgebung nahm sie nicht wahr. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf das, was dieser muskelbepackte Adonis mit ihr anstellte, und das gefiel ihr verdammt gut. Sonst hätte sie sich nicht so wild unter ihm bewegt und gestöhnt. Die Knochenhand kroch an der Tür höher und erreichte bereits den unteren Teil der Scheibe. Dort fuhr sie leicht gekrümmt und kratzend ebenfalls entlang, bis sie den Rand erreicht hatte. Gleichzeitig hatte das Skelett auch seinen Oberkörper in die Höhe geschoben. Sein furchtbares Knochengesicht malte sich schwach auf der Scheibe ab. Die Klaue blieb nicht ruhig. Sie kroch über den Rand der Scheibe hinweg. Für einen Moment blieb sie mit dem Gelenk darauf liegen, bevor sie sich nach unten abwinkelte oder einfach wegknickte. Daumen und Finger bewegten sich. Sie suchten nach dem Stift der Verriegelung. Wenig später hielten sie ihn umfasst. Zogen ihn hoch. Jetzt war die Tür offen! Mr. Postman zog seine Klaue wieder zurück. Er wollte die Tür nicht von innen aufdrücken, sondern von außen aufziehen. Der Platz zwischen Auto und Garagenwand reichte ihm für seine mörderische Aktion. Das Paar hatte nichts bemerkt. Es befand sich romantisch ausgedrückt im Siebten Himmel der Liebe. Da war die normale Welt für sie versunken. Knochenfinger schoben sich nach innen in den Türgriff hinein. Sie packten zu, rissen die Tür auf. Es war so leicht, so einfach. Mr. Postman konnte die Tür zwar nicht bis zum Anschlag hin öffnen, der vorhandene Platz reichte ihm trotzdem aus. Er drückte sich in den Wagen, und die beiden merkten nichts. Bis er zugriff. Er wuchtete seine gekrümmte Knochenklaue nach unten und hob seine Finger so hart in den Nacken des Mannes hinein, dass er dort die Haut aufriss und blutende Wunden erzeugte.
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Es war der Schock überhaupt für den Adonis. Vom Himmel in die Hölle gerissen. Brutal und ohne Vorwarnung. Grauenhaft. Nicht zu begreifen. Schmerz, der ihn fast auffraß, der ihn alles vergessen ließ. Er spürte die Feuchte des warmen Bluts, die sich in seinem Nacken ausgebreitet hatte und am Rücken entlang lief. Er hatte sich aufgerichtet. Er wollte schreien. Der Mund stand offen, aber es drang kein Laut hervor. Dieser Mann war in sich erstarrt. Der Schock hatte ihn so werden lassen. Auch die Lady wurde ‚wach’. Plötzlich hatte sie bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sie war noch so in ihrem Liebesrausch gefangen, dass sie nicht richtig mitbekam, was geschehen war, obwohl sie ihre Augen weit offen hielt. Erst nach Sekunden schälte sich die nähere Umgebung deutlicher hervor. Sie sah das Gesicht ihres Liebhabers über sich. Seine entsetzten und entstellten Züge, und sie sah auch etwas von der roten Flüssigkeit, die als Streifen über seine linke Schulter hinwegrannen. Dass es Blut war, registrierte sie mehr am Rande, denn etwas anderes war viel schlimmer. Während der Liebhaber wie erstarrt wirkte, schob sich hinter seiner Schulter etwas Helles und gelblich Schimmerndes näher heran und wurde immer deutlicher. Es war ein Gesicht. Aber kein normales. Die Frau traute ihren Augen nicht. Was sich im Dämmerlicht des Autos abmalte, das war, das war ... eine Knochenfratze, wie sie nur zu einem Skelett passte. In diesem Augenblick brach auch bei der dunkelhaarigen Frau alles zusammen. Sie schrie voller Entsetzen auf!
Glenda Perkins war es nicht unbedingt so recht, mit der fremden Frau allein zu bleiben, doch Johns Lösung war schon gut gewesen. Es konnte durchaus sein, dass sich der verdammte Killer noch in der Nähe aufhielt, weil er sich mit einem Mord nicht zufrieden geben wollte. Andere waren an der Reihe. In seinem Wahn kannte er keine Rücksicht. Die Beamten der Mordkommission waren noch nicht abgezogen, und so sah Glenda es beinahe als normal an, dass sie Besuch erhielt. Murphy, der Chef, betrat das Schlafzimmer. Er schlenderte über die Schwelle. Seine Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben, und sein Blick war auf das Bett gerichtet. »Sie schläft noch«, sagte Glenda. »Das sehe ich.« Er drehte sich um, damit er Glenda anschauen konnte. »Seien Sie froh, Miss Perkins, dass Sie für John Sinclair arbeiten.« »Ach ja? Wieso?« »Er hat es tatsächlich geschafft durchzudrücken, dass Lilian Evans hier in ihrer Wohnung bleiben kann.« »Das ist ausgezeichnet und wohl auch das beste für sie, denke ich mal.« »Ich nicht.« »Warum nicht?« »Sie wäre sicherer, wenn ... « »Hören Sie auf, Mr. Murphy, das glauben Sie doch selbst nicht. Nein, ich werde mich um sie kümmern und auch für ihre Sicherheit sorgen. Darauf können Sie sich verlassen. Außerdem ist John Sinclair auch noch hier.« Murphy schüttelte den Kopf. »Im Moment nicht, Miss Perkins. Er macht einen Spaziergang. In einer halben Stunde wird er wohl wieder zurück sein. Bis dahin kann viel passieren.«
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»Sicher.« Glenda lächelte den Kollegen scharf an. »Nur glaube ich nicht, dass John einen Spaziergang macht, wie sie es ausgedrückt haben. Ich weiß, weshalb er unterwegs ist.« Murphy knetete sein Kinn und erkundigte sich lauernd: »Sucht er einen Killer? Oder den Killer?« »Das könnte sein.« »Dann ist er Optimist.« »Oder jemand, der aus Erfahrung klug geworden ist«, nahm Glenda den Geisterjäger in Schutz. »Ist mir egal, wie man es sieht, Miss Perkins. Wir werden den Toten wegbringen. Unsere Arbeit ist erledigt. Ab jetzt wasche ich meine Hände in Unschuld.« »Gut, Herodes ... « »Ähm - wie meinten Sie?« Er winkte ab. »Ach ja, der berühmte Herodes. Der große Unschuldsengel.« Er ließ sich nicht mehr näher über das Thema aus, sondern trat an das Bett heran. »Die Aussage dieser Frau ist von großer Bedeutung. Sie hat ja den Killer gesehen, und Sie ebenfalls, Mrs. Perkins, nehme ich an.« »Wie kommen Sie denn darauf? Ich habe ihn vertrieben. Wenn ich ihn sah, dann nur von der Rückseite her. Er war dunkel gekleidet und trug einen Hut.« »Ja, so etwas Ähnliches sagten Sie schon.« Murphy kaute an seinem Frust. »Manche sind eben gleicher als gleich. Da kann man nichts machen. Schönen Abend noch, Miss Perkins.« »Danke, Mr. Murphy, Ihnen auch.« Glenda war froh, als der Kollege das Haus verlassen hatte. Sie konnte ihn auch verstehen. Immer wenn John Sinclair erschien, wurde den Kollegen, die normale Fälle behandelten, die Sache aus den Händen genommen. Auf der anderen Seite war John dafür zuständig, und die Aufklärungsquoten gaben ihm Gott sei Dank recht. Da Lilian Evans noch schlief, verließ Glenda das Zimmer und ging in die Küche. Es war ein geräumiger Raum, perfekt und modern eingerichtet und mit einer Essbar in der Mitte. Da glänzte alles, da lag kein Staub auf dem Boden, es war wirklich die beste Fassade, die man sich denken konnte. Nur lag etwas hinter der Fassade, das auch nicht durch Styling und Putzen verschwand. Menschliche Unzulänglichkeiten eben. Lust und Frust zugleich. Beides hatte sich immer mehr aufgepowert, und so war es dann zu dieser Tat gekommen. Im sehr hohen Kühlschrank fand Glenda an Getränken, was das Herz begehrte. Glenda entschied sich für einen Mandarinensaft und trat mit dem Glas in der Hand ans Fenster. Sie schaute zur Straße hin und beobachtete, wie die Mitglieder der Mordkommission allmählich abzogen. Murphy war einer der letzten und schaute zum Haus hin. Ob er sie gesehen hatte, wusste Glenda nicht. Sie trank das Glas leer, stellte es in die blitzblanke Spüle, schaltete das Licht aus und ging wieder zurück in das Schlafzimmer, in dem Lilian noch immer bewegungslos auf dem Bett lag. Diesmal setzte sich Glenda auf die Bettkante. Mit dem Handrücken streichelte sie die Wange der Frau und spürte das Zucken der Haut. Ein erstes Zeichen darauf, dass Lilian erwachte. Glenda wartete ab. Auf dem Gesicht zeigte sich die erste Unruhe. Die Lippen zuckten wie bei einem Menschen, der lächeln will. Sehr langsam schlug Lilian die Augen auf. Sie waren zwar klar, doch Glenda konnte sich vorstellen, dass der Blick schon einen Schleier zeigte und Lilian deshalb Mühe hatte, das zu erkennen, was sich in ihrer Nähe tat. »Lilian? Können Sie mich hören ... sehen ... ?« Glenda hatte leise gesprochen, um die Frau nicht zu erschrecken. Aber Lilian tat ihr nicht den Gefallen. Sie blieb zunächst einmal ruhig liegen. »Ich bin es! Glenda Perkins. Sie erinnern sich an mich?« Glenda lächelte ihr zu. Lilian gab noch keine Antwort, aber sie bewegte ihre Augen und schaute Glenda schärfer an. Allmählich musste sie erkannt haben, wer da auf ihrem Bett saß, und auch die Erinnerung kehrte wieder zurück. »Sie ... Sie haben mich doch ... «
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»Ja, das habe ich.« Es war die Antwort, die die Erinnerung an das Geschehen wieder in der Frau hochschießen ließ. Plötzlich versteifte sie, und auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck des Entsetzens. Da kam wieder alles zusammen, und die blanke Angst sprach aus ihrem Blick. Noch mehr versteifte sie sich, bis sie plötzlich aufschrie, die Decke fortschleudern wollte und es nur halb schaffte, weil Glenda sie an der Seite mit ihrem Gewicht beschwerte. Dafür krallte sich Lilian an Glendas Unterarm fest. »Er ist da. Er ist wieder da! Er kommt zurück ... zurück...« Sie wiederholte die Worte einige Male, und auch ihr Griff blieb in seiner Härte bestehen. Glenda tat nichts. Es war genau richtig, denn es dauerte nicht mehr lange, bis sich Lilian entspannte und auch Glenda losließ. Sie atmete heftig. Blieb aber auf dem Rücken liegen und bewegte nur ihren Kopf, ohne ihn vom Kissen anzuheben. Sie musste zu sich kommen und sich fangen können. Glenda hatte vor, ihr Fragen zu stellen, und dabei musste sie behutsam vorgehen. Sie durfte die Frau, die noch immer litt, nicht schocken. Zuerst fragte sie etwas anderes. »Möchten Sie etwas trinken, Lilian?« »Ja, will ich. Wie heißen Sie eigentlich?« Das hatte sie wieder vergessen, und so sagte Glenda ihren Namen. »Ja, stimmt, Sie waren hier.« »Richtig. Ich hole Ihnen Saft - okay?« »Ja, das ist gut.« Es dauerte nicht lange, und Glenda kehrte zurück. Sie war überrascht, denn Lilian hatte sich aufgesetzt. Das Haar war jetzt gelöst. Es fiel bis weit über ihr Gesicht. Sie strich es zurück und fuhr dabei über ihre Haut. »Ich fühle mich noch schwindlig, Glenda. Es ist alles so schrecklich. Zugleich komme ich mir dumpf vor. Ich habe was Fürchterliches erlebt. Ich möchte schreien, wenn ich daran denke, aber ich weiß nicht einmal genau, was es gewesen ist.« »Das wird sich alles richten, Lilian, machen Sie sich da keine Sorgen.« Sie sagte nichts und nahm Glenda das Glas aus der Hand. Sehr langsam trank sie den Saft, und Glenda ließ die Frau dabei nicht aus der Kontrolle. So sah sie auch, dass sich der Ausdruck in den Augen veränderte. Lilian Evans wirkte wie jemand, die sich negativ an ein bestimmtes Ereignis erinnerte. Das leere Glas rutschte ihr beinahe aus den Händen. Glenda fing es soeben noch ab. »Lilian, was ist los?« »Charlie - Charlie Parker ... « »Ja, was ist mit ihm?« »Er ist tot, nicht?« Glenda schwieg. Für Lilian war es Antwort genug. Trotzdem wollte sie es genauer wissen, und wieder umklammerte sie Glendas Arm. Diesmal mit beiden Händen. Sie schüttelte die Frau neben sich durch und wollte immer wieder wissen, ob es auch stimmte, dass Charlie Parker nicht mehr am Leben war. »Er ist leider gestorben.« »Umgebracht, nicht?« Glenda nickte. »Von ihm?« »Wen meinen Sie?« »Den ... den ... der auch hier war. Der mit der Uniform. Der mit der Mütze. Aber das war kein Mensch«, flüsterte sie und schaute dabei zur Tür, als könnte er jeden Moment dort erscheinen. »Nein, das war kein Mensch, ich erinnere mich jetzt genau daran. Kein Mensch, was anderes. Was ganz anderes ... « Ihre Stimme brach. Sie senkte den Kopf und schüttelte ihn zugleich. »Bitte, Glenda, sagen Sie auch was. Tun Sie mir den Gefallen.«
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»Sie haben recht, Lilian, es war kein Mensch.« Ihre Hände fielen schwer auf die Bettdecke. »Ja, ja, wir haben beide recht. Wir sind von einem Monster besucht worden, das uns umbringen wollte, nachdem es auch Charlie getötet hat.« »War Charlie Parker Ihr Freund?« »Ja - schon.« »Sie haben ihn geliebt?« Diesmal erhielt Glenda nicht sofort eine Antwort. »Was heißt geliebt? Ich mochte ihn. Er hat mir all das gegeben, was mein Mann nicht mehr wollte oder konnte. Was weiß ich.« »Er war also so etwas wie ein Geliebter?« »Das kann man sagen. Und jetzt ist er tot. Gekillt von einem Monster. Das kann es doch nicht geben, Glenda. So etwas läuft nicht frei herum. Das ist wie im Kino. Nein«, korrigierte sie sich. »Das ist viel schlimmer.« »Ich weiß es, Lilian.« Diese Antwort versetzte Lilian in Erstaunen. Sie hob den Kopf an, damit sie Glenda ins Gesicht schauen konnte. »Und das sagen Sie so einfach, als wäre es das Normalste der Welt? Warum regen Sie sich nicht auf? Warum schreien Sie nicht? Wo ist eigentlich die Polizei, verflucht noch mal?« »Die Beamten sind wieder abgezogen.« »Einfach so?« »Ja, ich habe es ihnen geraten. Ich arbeite selbst bei Scotland Yard und habe auch meinem Vorgesetzten Bescheid gegeben, der sich ebenfalls um den Fall kümmern wird. « »Wo ist er?« »John Sinclair wird gleich zurück sein. Er wollte sich draußen ein wenig umschauen.« »Auch den Killer suchen?« »Vielleicht.« Lilian schauderte zusammen. »Das ist ein Monster. Das ist eine furchtbare Gestalt. Wie kann ein Mensch nur gegen so etwas ankommen, verdammt noch mal?« »Es gibt gewisse Personen, die das können, Lilian. Dazu zähle ich auch John Sinclair.« »Ah, so ist das ... « Glenda wusste nicht, ob sie ihr glaubte. Außerdem wollte sie mit Lilian Evans nicht über das reden, was geschehen war, sie musste ein anderes Thema bringen, denn es ging jetzt genau um diesen Killer und um seine Herkunft. »Was denken Sie jetzt, Glenda?« »Nun, ich frage mich, ob wir über gewisse Dinge schon sprechen können.« »Was sind das für welche?« »Es geht um den Killer.« Lilian schaute Glenda starr an. »Kennen Sie ihn etwa?« »Nein, bewahre.« »Es hat sich so angehört.« »Bestimmt nicht. Nur frage ich mich, ob er Ihnen möglicherweise bekannt ist.« Hätte Lilian gestanden, hätte sie die Frage wohl von den Beinen gerissen. So aber blieb sie sitzen und schaute Glenda nur ungläubig an. Dann schüttelte sie den Kopf. »Wie ... wie ... können Sie denn so etwas sagen, verflixt?« Glenda legte ihr für einen Moment beide Hände auf die Schultern. »Bitte, beruhigen Sie sich. Es ist alles in Ordnung. Ich kann es Ihnen auch erklären.«
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»Tatsächlich?« Glenda nickte. »Ja. Gehen wir mal davon aus, dass dieser Unhold etwas Bestimmtes trug. Eine Uniform. Nicht nur irgendeine, sondern die Uniform der Post, des Briefträgers. Dazu mit der entsprechenden Mütze. Das habe ich gesehen.« »Stimmt«, gab Lilian flüsternd zu. »Wunderbar. Dann müssen oder können wir davon ausgehen, dass der Killer Briefträger gewesen ist, wie auch immer. Genauer gesagt: ein mordender Briefträger.« »Unsinn. Das war auch kein Briefträger, Glenda, das ist ein lebendes Skelett gewesen.« »Aber in einer bestimmten Uniform. Das muss etwas zu bedeuten haben, denke ich.« »Was denn?« »Ich habe noch keine Ahnung und kann mir die Dinge nicht einmal zusammenreimen.« Lilian musste wieder ihre Haare zurückstreichen. Die Schminke in ihrem Gesicht war verlaufen, der Lippenstift verschmiert. Sie wirkte etwas derangiert und bemühte sich, nachzudenken. »Wollen Sie mich jetzt fragen, was mit unserem Briefträger hier los ist und ob ich ihn kenne?« »Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund.« Lilian Evans hatte lange nicht mehr gelacht, jetzt tat sie es. »Aber nicht doch unser Postman.« »Wieso nicht?« »Nein, Glenda, der ist harmlos. Ein netter junger Mann, der eigentlich von allen hier gemocht wird.« »Wie heißt er denn?« »Der Name ist komisch. Aber er heißt wirklich so. Cassius Manson, Glenda.« »Da haben Sie recht. Der ist wirklich komisch. Trotzdem möchte ich auf Nummer Sicher gehen.« »Was bedeutet das?« »Ich werde beim Yard anrufen und mich erkundigen, ob etwas über einen Cassius Manson bekannt ist.« »Bitte, tun Sie das.« Lilian deutete auf das Telefon, das auf dem Nachttisch stand. Glenda Perkins hoffte nur, dass man ihren Wünschen und Bitten auch nachkam. Sie ging deshalb diplomatisch zu Werke und erklärte, dass sie in John Sinclairs Auftrag anrief. Die kleine Lüge öffnete ihr tatsächlich die Türen, und so wurde sie um Geduld gebeten. Der Name Cassius Manson war sehr selten. Dank modernster Computertechnik konnte sehr schnell herausgefunden werden, ob gegen diese Person tatsächlich etwas vorlag. Glenda brauchte nicht einmal zurückgerufen werden, sie bekam die Nachricht etwa zwei Minuten später. »Nein, Miss Perkins. Sie können John Sinclair bestellen, dass nichts gegen einen Cassius Manson vorliegt. Er ist zumindest bei uns nicht straffällig geworden. Wie es im Ausland aussieht, da brauchten wir mehr Zeit, um es herauszufinden ... « »Das ist auch nicht nötig. Vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen.« Glenda legte auf. Sie wusste nicht, ob sie enttäuscht sein sollte und schaute nachdenklich auf ihre Knie. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er harmlos ist. Wir mögen Cassius alle, und er mag uns. Er bringt ja nicht nur die Post. Er hat immer Zeit für ein Gespräch, für einen kleinen Schwatz. Für viele ist er ein bunter Tupfer im Leben.« »Man vertraut ihm auch?« »Klar.« »Und man spricht mit ihm auch über persönliche Dinge.« »Das denke ich schon.« »Haben Sie das auch mit ihm getan, Lilian?«
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Eine leichte Röte überzog das Gesicht der Frau. »Ich weiß genau, worauf Sie hinauswollen, Glenda, aber ich habe hin und wieder einen Freund. Es würde mir nie in den Kopf kommen, etwas mit einem Briefträger anzufangen, auch wenn er noch so nett ist. Das würde nie und nimmer geheim bleiben, und das kann ich mir nicht leisten. Ich weiß wohl, dass es andere Frauen hier in der Straße gibt, die sich mit den gleichen Problemen herumschlagen wie ich.« »Haben die auch die gleichen Lösungen gefunden?« Lilians Stimme verhärtete sich bei der Antwort. »Darüber kann und möchte ich nichts sagen.« »Schon gut, entschuldigen Sie. Ich bin eben Polizistin, und da muss ich bestimmte Fragen stellen. Wissen Sie denn - rein zufällig nur -, wo Cassius Manson wohnt?« »Nein, keine Ahnung. Er stammt nicht aus dieser Gegend. Die wäre auch zu teuer.« »Da haben Sie recht.« Glenda schaute auf die Uhr, und ihr Blick war Lilian nicht verborgen geblieben. »Sind Sie in Eile? Oder vermissen Sie jemanden?« »In Eile bestimmt nicht. Ich vermisse John Sinclair, meinen Kollegen. Er hätte schon längst zurück sein müssen.« Lilian schluckte. Sie wurde fahrig und bewegte ihre Handflächen entsprechend unruhig über die Decke hinweg. »Ob da etwas passiert ist?« »Hoffentlich nicht.« »Aber dass wir uns getroffen haben, war doch mehr ein Zufall, nicht wahr?« »Das stimmt. Ich wollte eine Freundin besuchen, die hier in der Nähe wohnt. Muriel Drake.« »Ach, die kenne ich. Muriel und ich haben uns hin und wieder in einem Café hier in der Nähe getroffen. Sie hat ein süßes Kind.« »Ja, ich weiß.« »Haben Sie Muriel schon angerufen?« »Nein, noch nicht.« »Wäre aber besser.« Glenda lächelte schmallippig. »Es ist etwas spät geworden. Ich werde mich morgen bei ihr entschuldigen. Außerdem wird ihr nicht verborgen geblieben sein, was hier geschehen ist. Sie haben trotzdem recht, Lilian, allmählich könnte John Sinclair hier erscheinen, denn ein Supermann und unverletzbar ist er auch nicht ... « »Denken Sie an den Killer, Glenda?« »Leider ja ... «
Der Schrei war schlimm gewesen! Er hatte mich gewarnt, mich angetrieben wie durch einen Treibsatz. Von diesem Moment an war alles egal. Ich konnte keine Rücksicht mehr nehmen und hoffte natürlich, den Killer stellen zu können. Der Weg war nicht weit. Nur hatte ich ungünstig gestanden. Vor mir bauten sich noch zu viele Fahrzeuge auf. Ich musste sie umkurven, denn an der rechten Außenseite der Garagen entdeckte ich das Loch. Da war die Tür offen. Auf dem Weg dorthin ‚meldete’ sich mein Kreuz. Es war der kurze Wärmestoß, der von ihm über meine Brust glitt. Somit stand für mich fest, dass ich es mit einem schwarzmagischen Gegner zu tun hatte und nicht mit einer Person, die sich als Skelett verkleidet hatte oder wie auch immer dazu gekommen sein mochte.
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Um die Autos herumkurven. Die Waffen ziehen. Mit möglichst schnellen Schritten laufen. Der Schrei hatte sich nicht wiederholt. Er war auch nicht sehr langgezogen gewesen. Eher kurz und heftig, aber die Skala der Gefühle war darin schon zu hören gewesen. Entsetzen, Angst, was auch immer. In der Garage musste es zu einem Kampf auf Leben und Tod gekommen sein. Ich hatte auch kein schlechtes Gewissen, als ich über die Kühlerhauben zweier Autos lief. Es war der kürzeste Weg, und nach dem nächsten Sprung, den ich beim Aufprall gut abfederte, gelang mir der erste Blick in die Garage. Dort stand ein dunkler Wagen, der sich bewegte. Da eine Tür offen stand, brannte auch die Innenbeleuchtung. Ich erkannte, dass sich jemand im Auto befand. Einen Körper sah ich. Es war kein Skelett. Ein Mensch mit heller Haut. Vielleicht sogar nackt. Der Mann bewegte sich. Er wurde bewegt. Ich lief noch, als man ihn aus dem Fahrzeug zerrte. Er wehrte sich nicht, und der Raum zwischen Auto und Wand war verdammt schmal. Der Körper prallte gegen die Wand. Der Mann selbst schrie nicht. Das tat die zweite Person im Auto. Es war auch kein Schreien, mehr ein Jammern, das durch die Garage wehte. Eine Frau stieß es aus. Sie hatte noch das Glück, im Wagen bleiben zu können. Nicht aber der Mann. Er wurde von kräftigen Händen in die Höhe gezerrt, aber derjenige, der das tat, stand hinter ihm. Ich konnte ihn nicht sehen, lief trotzdem weiter - und sah plötzlich, wie sich der Mann bewegte. Er tat es nicht freiwillig. Der andere hatte ihm einen heftigen Stoß gegeben. Wie vom berühmten Katapult geschleudert, wirbelte er auf mich zu. Die Distanz zwischen uns war schon zu klein geworden, mir war es deshalb unmöglich, auszuweichen. Er prallte gegen mich. Ich hatte ihn wie einen hellen Schatten kommen sehen. Nur hatte dieser Schatten plötzlich Masse bekommen, die mich von den Beinen riss. Zwar ruderte ich noch mit den Armen, es war jedoch unmöglich, Halt zu finden. Zudem sah mich der Fremde instinktiv als letzte Rettung an. Es gelang ihm sogar, sich an mir festzuklammern, und sein Gewicht hing plötzlich an mir. Ich wollte ihn wegschleudern, weil ich noch mitbekam, was weiterhin geschah. Ein anderer hatte die Garage verlassen. Er lief an den anderen Toren entlang. Durch meine Ablenkung war es ihm gelungen, die Flucht zu ergreifen. Der Mann, den ich hielt, blutete. Er war tatsächlich nackt. Sein Gesicht war eine einzige Maske der Qual. Da er sich nicht lebensgefährlich verletzt hatte, brauchte ich mich nicht um ihn zu kümmern. Es fiel mir schwer, ihn fortzuschleudern. Seine Hände waren wie Krallen. Sie wollten mich einfach nicht loslassen. Er stolperte zur Seite weg. Ob er sich noch fangen konnte, bekam ich nicht mit. Ich hörte nur, wie er gegen einen Wagen prallte. Seine jammernde Stimme hörte sich so fremd an. Wie die eines Tieres. Wo steckte der Killer? Ich hatte gesehen, in welche Richtung er gelaufen war. Jetzt fluchte ich noch mehr darüber, dass dieser verdammte Parkplatz mehr ein Schattenfeld war. Seine Fluchtrichtung hatte ich mir gemerkt. Es gab für ihn eigentlich nur einen schnellen Ausweg. Er musste den gleichen Weg nehmen, den auch ich gekommen war. Durch die Gasse, dann auf die Straße, und dort konnte ich ihn vielleicht stellen. Im Bruchteil einer Sekunde schoss mir durch den Kopf, was ich von ihm gesehen hatte. Viel war es nicht gewesen. Eine dunkle Gestalt, aber kein Knochengesicht, keine hautlosen Klauen. Es war einfach alles zu schnell gegangen. Ich wollte nach links und wieder zurück, als mich ein dröhnendes Geräusch ablenkte. Einen Gong hatte sicherlich keiner geschlagen, auch wenn es sich so angehört hatte. Der Grund war einfacher. Ein Tor weiter sah ich den Killer. Er war dabei, in die Höhe zu klettern. Er wollte auf das Garagendach und somit fliehen. Dabei war er mit dem einen Fuß gegen das Metalltor geschlagen. Ich sah ihn nur als Schatten, der sich rasch bewegte. Der Mann war geschickt und musste verdammt viel Kraft haben, denn er hatte sich durch einen Klimmzug in die Höhe gezogen. Seine Hände umklammerten dabei die Kante.
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Einige Schritte lief ich noch vor, um dann zu stoppen. Die Beretta hielt ich noch fest. Ich streckte beide Arme aus und zielte. Das Licht war mehr als schlecht. Wenn ich traf, musste ich Glück haben. Geschickt kletterte der andere hoch. Er bewegte sich schattenhaft, aber er bewegte dabei auch seinen Kopf. Vielleicht war es Zufall, dass er dabei in meine Richtung schaute. Unter der Mütze schimmerte sein Gesicht tatsächlich hell. Beinern, knöchern. Ja, das war ein Skelett. Ich drückte ab. Die geweihte Silberkugel traf, aber sie erwischte nicht den Flüchtling, sondern prallte gegen das Garagentor. Mit einem singenden Laut wischte sie als Querschläger weg, ohne größeren Schaden anzurichten. Einen zweiten Schuss konnte ich mir sparen, denn die Gestalt hatte es geschafft, sich auf das Dach zu wälzen. Damit war sie zunächst außer Gefahr. Leicht würde es nicht werden, sie zu stellen, aber an Aufgeben dachte ich nicht. Was dieses lebende Skelett konnte, das schaffte auch ich. Es musste mir gelingen, einfach nahe an dieser Gestalt zu bleiben. Jenseits der Garage wuchsen Bäume hoch. Vielleicht gab es dort auch Gestrüpp, da würde es dann schwerer werden. Ich stoppte vor einem Tor und sprang in die Höhe. Was der Mann machte, kümmerte mich nicht mehr. Vielleicht schaute er auch zu, wie ich mich bemühte, am Tor hochzuklettern, was gar nicht so einfach war, da meine Fußspitzen immer wieder abrutschten und ich jedesmal kräftiger nachziehen musste. Die Kante war rauh. Es würden sicherlich Schürfspuren an meiner Haut zurückbleiben. In der Zwischenzeit wurde der Vorsprung des mordenden Knochenmanns immer größer. Gerade dies spornte mich an. Zwei Versuche noch, dann presste ich einen angewinkelten Arm auf das Dach. Von nun an ging es leichter. Es lauerte auch niemand mit der Waffe auf mich. Vor mir sah ich die leere Fläche. Sie war dunkel und schmutzig. Der Wind hatte Laub und auch einige andere Dinge auf das Dach geweht. Das Skelett war nicht zu sehen. Ich lief der Rückseite entgegen und tastete nach meiner Waffe, die im Gürtel steckte. Während des Kletterns hatte ich sie nicht verloren, auch jetzt ließ ich sie stecken. Vor mir sah ich die Bäume. Dahinter führte eine Straße entlang. Ich blieb wieder am Rand stehen und schaute nach unten. Weicher Boden. Bedeckt mit Unkraut, Rasen und auch niedrigem Gestrüpp. Sehr dunkel. Alles war nur schemenhaft zu erkennen. Nichts bewegte sich in der Nähe. Ich hörte auch keine verdächtigen Geräusche. Der Knöcherne war verschwunden. Er hatte die Dunkelheit und die Umgebung für sich ausgenutzt. Hatte es Sinn, nach unten zu springen und die Verfolgung trotzdem aufzunehmen? Nein, das brachte nichts. Der Vorsprung war zu groß. Ich konnte mir auch vorstellen, dass der Killer seinen Rückzug abgedeckt hatte. Er war schlau, raffiniert. Ein schlechtes Gewissen blieb trotzdem in mir zurück. Es konnte durchaus sein, dass dieser Briefträger einen dritten Mordversuch unternahm. Wenn der klappte, dann gab ich mir einen Teil der Schuld. Niemand kam gegen sein Gewissen an oder jedenfalls nur schwer. Ich hörte darauf und machte mich nicht wieder auf den Rückweg, sondern sprang nach unten. Es war ein Risiko, da ich nicht wusste, wo ich landen würde. Hoffentlich nicht auf einer Wurzel. Deshalb leuchtete ich kurz den Boden an, sah nichts Verdächtiges und sprang. Ein guter Aufprall auf weichem Boden. Ich federte in den Knien nach, drückte mich wieder hoch und schaute mich um. Diesmal verließ ich mich nicht nur auf meine Augen, ich nahm auch die Lampe zu Hilfe. Kaltes Licht, das über den Boden huschte und sich im Gestrüpp verfing. Es tanzte über Baumstämme hinweg, es wischte durch Lücken, aber es traf nicht das Ziel, das ich mir wünschte. Dafür sah ich Müll, der einfach ausgekippt worden war. Autoreifen, ein verrosteter Kühlschrank, sogar eine Badewanne. Kartons, feuchtes Papier, ein Kinderwagen und zahlreiche Dosen. Das Grüngelände war nicht sehr breit. Vor ihm ragten die Fassaden der hohen Häuser in die Höhe. Nicht mehr als sechs Stockwerke. Rechtecke, die in ihrem Innern an verschiedenen Stellen mit Licht gefüllt waren. Beleuchtete Fenster der hinteren Wohnungen, in denen Menschen lebten, die auch Opfer werden konnten.
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Der Vorsprung des unheimlichen Killers war einfach zu groß gewesen. Ich sah ihn nicht mehr. Ich entdeckte auch nichts von ihm. Einer wie er hinterließ keine Spuren. Und er hatte mir auch nicht den Gefallen getan, auf mich zu warten. Ich ging dort wieder zurück, wo die Bäume aufhörten und das Gestrüpp dünner wurde. Sauer, frustriert, ärgerlich. Ich war so nahe dran gewesen und hatte es trotzdem nicht geschafft. Das nagte. Ich kannte das Gefühl. Nicht immer war ich der Sieger. Aber ich war auch ein Mensch, der so schnell nicht aufgab, und ich würde diesem lebenden Skelett auf den Fersen bleiben ... Ich war den gleichen Weg wieder zurückgegangen, stand im Hof und hörte das Schluchzen der Frau. Es war nicht besonders laut, aber in er Stille schon deutlich zu hören, und es klang aus der Garage, in der alles passiert war. Ich hatte mich sowieso mit den beiden unterhalten wollen, doch der Mann war weg. Ein letztes Utensil fand ich noch von ihm. Es war eine dunkle Socke, die vor dem Eingang der Garage lag. Auf seiner Flucht hatte er die Socke verloren. Bedächtig betrat ich die Garage. Die Wagentür stand noch offen. Auch die linke Beifahrertür, aus der ein nackter Fuß und ein Stück Bein hervorschauten. Die Frau weinte. Ihr Körper zuckte dabei, was sich auch auf ihren Fuß übertrug. Um sie nicht zu erschrecken, klopfte ich zuerst auf das Wagendach und sprach sie dann leise an. »Bitte, hören Sie mich, Madam?« Ich klopfte noch einmal. Diesmal härter, und ich sprach auch lauter. Da verstummte das Weinen. Ich nahm die Gelegenheit wahr und schob mich näher an die Beifahrertür heran. Erst als ich sie erreicht hatte, wurde ich gesehen und sah, wie die Frau erschrak. Ihr Körper schien von einem Peitschenschlag erwischt worden zu sein. Sie schrie auf und versuchte, sich nach rechts auf den anderen Sitz zu drücken. »Bitte, ich tue Ihnen nichts, Madam.« Sie nickte. Wenig überzeugt. Auch sie war kaum noch angezogen. Die Kleidung, einen Rock und eine Bluse hielt sie zusammengerafft vor ihren Körper. Es war soviel Platz, dass ich mich bequem auf den Beifahrersitz setzen konnte. Von der Seite her starrte mich die Frau ängstlich an. In ihren dunklen Augen stand noch immer der Schrecken, den sie durchlitten hatte. Auf dem Sitz zeichneten sich auch dunkle Flecken ab. Wahrscheinlich Blut, das der Mann verloren hatte. »Er ist weg«, sagte ich. Sie nickte. »Und ich bezweifle dass er noch einmal zurückkommt.« »Weiß nicht.« »Ist Ihnen etwas passiert?« »Nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist zum Glück nichts passiert. Es ist wie ein Traum«, fuhr sie fort. »Ich habe nur für einen Moment eine Totenfratze gesehen.« Sie stöhnte auf. »Ich weiß auch nicht, ob es der Wirklichkeit entsprochen hat. Kann sein, dass ich mir alles nur eingebildet habe, aber wenn, dann war diese Einbildung verdammt real, Mister.« »Ich heiße John Sinclair.« »Celine di Cappo«, sagte sie leise. »Ich wohne hier ... « »Und der Mann?« Sie senkte den Kopf. Es war ihr anzusehen, wie sehr sie sich schämte. »Ein Freund. Mein Gott, es war ein Freund, und wir haben uns getroffen. Heimlich. Es war nicht das erste Mal. Es bringt wohl nichts, wenn ich Ihnen die Geschichte meiner Ehe aufliste. Über einen Mann reden, der nur an seinen verdammten Brokerjob denkt und an nichts sonst. Wir kommen aus Mailand, sind nach London versetzt worden ... «, sie hob die Schultern.
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»Was soll ich da noch groß sagen? Es hat eben nicht mehr geklappt. Der neue Beruf hat meinen Mann umklammert wie Stacheldraht. Es gab für ihn kein Entrinnen. Ich stand außen vor. Da habe ich mir eben mein eigenes Leben gesucht und auch gefunden.« »Mit diesem Mann?« »Ja, mit ihm. Ein Lover. Einer, der Frauen abschleppt und sie hin und wieder besucht.« »Wie heißt er?« »Ist das wichtig?« Ich lächelte. »Es könnte wichtig werden.« »Gut«, erklärte sie nickend. »Dann werde ich Ihnen den Namen sagen, Mr. Sinclair. Ansonsten möchte ich das alles hier vergessen. Ich will auch nicht, dass mein Mann davon erfährt. Er ist für drei Tage in Italien bei unserer Heimatbank. Ich habe also Zeit gehabt, und mein Freund hatte sie eben auch.« »Dann haben Sie sich hier in der Garage getroffen.« »Ja.« »Warum?« Sie lachte auf und warf den Kopf zurück. Sie schaute auch weiterhin zum Wagenhimmel, während sie eine Antwort gab. »Warum, fragen Sie? Warum? Weil wir Spaß haben wollten. Im Bett kann es jeder treiben, aber in einem Auto, in der Garage, ist der Reiz besonders prickelnd. Da kehrt ein Stück Jugend zurück, verstehen Sie. Himmel, ich bin jetzt vierzig oder erst vierzig, aber ich möchte nicht behandelt werden wie eine alte Frau. Ich lebe ebenfalls. Nur habe ich das meinem Mann nicht näher bringen können.« »Und Ihr Freund hat Sie verstanden?« »Zumindest hat er so getan. Auch das freute mich. Daran erkennen Sie, wie tief ich auf einem gewissen Gebiet schon gesunken bin. Aber lassen wir das lieber.« »Können Sie sich vorstellen, weshalb diese Gestalt Sie überfallen hat, Mrs. di Cappo?« Sie schaute mich wieder an. »Mr. Sinclair, Sie fragen wie ein, Polizist. « »Vielleicht bin ich einer.« Sie nickte. »Ja, das habe ich mir fast gedacht. Ja, Sie sind ein Polizist. Ich würde kaum mit Ihnen reden, wenn Sie mir nicht das Leben gerettet hätten. Ich nehme an, dass Sie es getan haben.« »Schon möglich.« »Man wollte mich töten, und man hätte auch meinen Freund getötet. Da ist jemand gekommen, den es eigentlich nicht geben darf. Nicht so, finde ich. Ein Monstrum. Ein grauenvolles Etwas. Einer, den man weder begreifen noch erklären kann. Ich habe diese Fratze nur für einen Moment gesehen, doch ich weiß, dass ich mich nicht geirrt habe. Es gibt ihn, er ist kein Spuk gewesen. « »Ja, das kann ich bestätigen.« Sie räusperte sich. Dachte nach. Nahm eine Schachtel Zigaretten vom Boden auf und holte ein Stäbchen hervor. Ich gab ihr Feuer. Dass dabei ihre Kleidung verrutschte, störte Celine nicht. Ich sah, dass sie kleine und feste Brüste hatte. Sie rauchte und blies den Qualm gegen die Scheibe. Sie wirkte auf mich wie jemand, der noch darüber nachdachte, was er sagen wollte und was nicht. Ich ließ ihr Zeit. Asche fiel ab, was sie auch nicht störte. Nach dem vierten oder fünften Zug war sie bereit, etwas zu sagen. »Ich hätte es wissen müssen, Mr. Sinclair. Ich hätte wissen müssen, dass etwas passiert. Dass etwas unterwegs ist. Ja, das hätte ich wissen müssen.« »Warum?« »Man schickte mir eine Warnung zu. Man bezichtigte mich darin der Untreue. Dass ich dafür auch büßen würde.«
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»Wie reagierten Sie?« Celine drückte die Zigarette im Ascher aus und lachte dabei. »Gute Frage, Mr. Sinclair. Ich war natürlich geschockt. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich jemals entdeckt werden würde. Aber ich scheine mich geirrt zu haben.« »Wann erhielten Sie die Warnung?« »Vor drei Tagen.« »Haben Sie mit Ihrem Freund darüber gesprochen?« »Nein, bewahre. Ich wollte ihn nicht beunruhigen.« »Dann haben Sie selbst dieses Schreiben auch nicht allzu ernst genommen - oder?« Sie winkte ab. »Was heißt ernst? Ich war natürlich geschockt. Zunächst jedenfalls. Dann sagte ich mir, dass ich sowieso nichts daran ändern kann. Alles ist beim alten geblieben.« »Das zeugt von guten Nerven.« »Die habe ich auch.« Sie strich durch ihre schwarzen Haare. »Ich wollte noch mal richtig leben und auch Spannung hineinbringen. Das ist auch geglückt, aber auf eine Art und Weise, wie ich sie nicht akzeptieren kann.« Irgendwie bewunderte ich Celine di Cappo schon. Sie hatte verdammt gute Nerven. Bevor sie noch etwas sagen konnte, sprach ich sie wieder an. »Können Sie sich eigentlich vorstellen, wer der Schreiber dieser Nachricht ist?« Schweigen. Ein Ruck ging durch ihre Gestalt. Sie schien sich zu verhärten. »Sie glauben ja nicht, Mr. Sinclair, wie oft ich mir diese Frage schon gestellt habe.« »Ist etwas dabei herausgekommen?« »Nein, verdammt!« »Sie haben also keinen Verdacht?« »Überhaupt keinen.« »Wer weiß über Sie Bescheid?« »Nur wenige Menschen. « »Was ist mit Ihrem Mann?« »Hören Sie auf, Mr. Sinclair, den können Sie vergessen. Der kennt nur seinen Beruf und nichts anderes.« »Das sagen Sie.« Sie drehte sich und starrte mich an. Ihre dunklen Augenbrauen waren zusammengezogen. »Wie meinen Sie das? Glauben Sie etwa, dass mein Mann mir diesen Killer geschickt hat?« »Das nicht gerade. Aber er kann Verdacht geschöpft haben, zum Beispiel. Um den Verdacht zu erhärten, kann er einen Detektiv angeheuert haben, der Sie beobachtet hat.« »Glaube ich nicht.« »Was macht Sie so sicher?« »Verdammt, ich hätte es gemerkt. Mein Mann ist längst kein so guter Schauspieler. Er hätte sich nicht verstellen können, glauben Sie mir. Nein, nein, er steckt nicht dahinter.« »Wer dann?« »Ich habe keine Ahnung«, gab sie zu. »Ich weiß es einfach nicht. Ich weiß auch nicht, warum man mich hat umbringen wollen. Und Pete natürlich auch.« Jetzt kannte ich zumindest den Vornamen. Weitergekommen war ich nicht. Es blieb das große Rätsel, wer sich tatsächlich unter der Uniform des Briefträgers verbarg.
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»Noch eine Frage, Mrs. di Cappo. Was haben Sie überhaupt von der Gestalt gesehen?« »Das wissen Sie doch. Nur das Gesicht. Das gelbe Gebein. Das ist alles gewesen.« »Nicht seine Kleidung?« »Nein. Es war nur ein kurzer Augenblick. Ein Moment, nicht mehr.« »Gut.« »Ist das denn so wichtig?« Ich hob die Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Ich meine, dass er eine Briefträger-Uniform getragen hat und auch die dazu passende Mütze.« Celine di Cappo sah aus, als wollte sie lachen. Sie hatte bereits den Mund geöffnet, um dann den Kopf zu schütteln. »Sie sind ein ernster Mensch, Mr. Sinclair. Kann es nicht sein, dass Sie sich da geirrt haben? Es ist lächerlich. Ein Briefträger - Wahnsinn ... « »Es gibt hier einen, den Sie kennen.« »Natürlich. Ein netter Kerl. Cassius Manson. Immer freundlich. Immer guter Laune, auch wenn das Wetter schlecht ist. Und glauben Sie nur nicht, dass ich es mit dem Briefträger getrieben hätte. Nein, so schlau bin ich gewesen. Das gibt es nur in Romanen oder einschlägigen Porno-Filmen. Ich wollte dieses Risiko nicht eingehen. Wenn hier jemand etwas tut, das aus dem Rahmen fällt, dann spricht es sich schnell herum. Ich wollte nicht auffallen.« »Sehr vernünftig. Haben Sie Kontakt zu den Nachbarn?« »So gut wie keinen. Ich lebe mehr für mich. Das ist auch besser so.« »Dann wissen Sie nicht, ob es anderen Frauen ähnlich ergangen ist wie Ihnen?« »Nein«, sagte sie erstaunt. »Nein, wo denken Sie hin? Über dieses Thema würde ich mit keiner Nachbarin reden. Um Himmels willen! Hier lebt jeder für sich.« »Gut, Mrs. di Cappo.« »Ist es das schon gewesen?« »Ja.« »Und was passiert jetzt?« »Ich habe an Polizeischutz für Sie gedacht und ... « »Um Himmels willen, nur das nicht. Auf keinen Fall. Nein, das mache ich nicht. Polizeischutz. Das würde bedeuten, Sie rechnen damit, dass er zurückkehrt?« »So ist es.« »Es würde auffallen. Hier haben die Wände Ohren. Hier wird alles registriert. Da muss man verdammt vorsichtig sein. Ich denke gar nicht daran, mir so etwas anzutun. Tut mir leid, Mr. Sinclair, auf mich können Sie nicht rechnen.« »Und Sie haben keine Angst?« »Doch. Aber damit werde ich fertig.« Das klang endgültig. Zwingen konnte ich sie nicht. Ich wollte ihr auch nicht sagen, dass es bereits einen Toten gegeben hatte. Sie selbst wusste sicherlich nichts davon, sonst hätte sie mich darauf angesprochen. Bevor ich wieder aus dem Wagen stieg, bedankte sich Celine di Cappo noch bei mir. »Irgendwie sind Sie ja zu meinem Lebensretter geworden. Er hätte mich bestimmt getötet.« »Möglich.« Plötzlich musste sie lachen. »Und ich habe Pete immer für einen tollen Helden gehalten.« Sie zuckte die Achseln. »Man kann eben nicht auf allen Gebieten gut sein.« »Sie sagen es, Mrs. di Cappo.« Ich nickte ihr zu und stieg aus. Sie würde sich anziehen und das Fahrzeug ebenfalls verlassen.
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Sehr nachdenklich, aber auch aufmerksam ging ich zurück. Ich dachte an Celine. Sie war eine verflixt harte Frau. Andere in ihrer Lage hätten sich nicht so stark verhalten. Sie hatte den Schock weggesteckt wie nichts. Sexueller Frust kann eben einen Menschen innerlich verkrusten. »Wir dachten schon, es wäre etwas passiert«, sagte Glenda, als ich Lilian Evans' Wohnung betrat. »Du bist ziemlich lange weggeblieben.« Die beiden saßen noch im Schlafzimmer. Lilian hatte sich etwas zurechtgemacht, aber man sah ihr an, dass sie noch immer mehr als ängstlich war. Ihr Blick konnte nicht ruhen. Er streifte rastlos umher, und sie bewegte permanent die Hände. Ich setzte mich auf einen Stuhl. »Es ist auch etwas passiert. Sie, Mrs. Evans, haben nicht als einzige diese Warnung erhalten.« »Nein? Wer denn noch?« »Celine di Cappo.« Die Antwort haute sie fast um. »Celine, die Italienerin? Das ist doch nicht wahr. Ausgerechnet sie, die immer so vornehm tat und nur als die Lady bezeichnet wurde.« »Das war sie eben nur äußerlich.« »Was ist denn geschehen?« fragte Glenda. Ich berichtete es ihr. Beide Frauen hörten zu, und beide konnten es nicht fassen. Natürlich ärgerte es sie, dass es mir nicht gelungen war, den Killer zu stellen, doch daran ließ sich nichts mehr ändern. »Wir dürfen ihm nur keine neue Chance mehr geben«, erklärte ich zum Abschluss. »Wie willst du das machen, John?« »Ich habe noch keine Ahnung. Nur scheint diese Wohngegend hier etwas Besonderes zu sein. Nach außen Lack und Fassade, während es dahinter schon fault.« Lilian Evans hatte zugehört, sich aber eines Kommentars enthalten. Sie schaute nur zu Boden. Glenda hatte mich schon begriffen. »Meinst du, dass noch mehr dieser Warnungen geschickt worden sind?« »Davon gehe ich mal aus.« »Dann könnten alle untreuen Frauen diesen netten Brief bekommen haben.« »Damit ist zu rechnen.« Glenda lachte und ging durch das Zimmer. »Himmel, das herauszufinden, wird so gut wie unmöglich sein. Wenn du auch fragst, John, keine wird es zugeben. Das ist alles heimlich gemacht worden, wie eben bei Lilian auch. Stell dir mal vor, was geschieht, wenn die Ehemänner dahinterkommen. Diese Dramen möchte ich nicht erleben.« »Besser solche Dramen als neue Morde.« Sie nahm wieder auf dem Bett Platz. »Weißt du, was ich getan habe, John? Ich habe mich nach dem Namen des Briefträgers erkundigt, der hier die Post austrägt. Er heißt ... « »Cassius Manson«, sagte ich. »Ho, du weißt es?« »Celine hat es mir erzählt. Ein harmloser, ein netter und immer freundlicher Mensch.« »Das ist er auch«, sagte Lilian. »Keiner kann sich über ihn beschweren. Wir reden mit ihm, wir sind nun ja, wir sind eben hier sehr kommunikativ.« »Aber Sie verraten ihm keine Geheimnisse wie Ihrem Friseur. Oder doch?« »Nein, von meinem Freund wusste er nichts. Woher auch?« »Er kann es erfahren haben«, sagte Glenda.
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»Warum habt ihr ihn in Verdacht? Morgen früh wird er wieder kommen und die Post bringen. Dann könnt ihr ihn euch anschauen. Das ist mein Vorschlag.« »Den wir auch annehmen werden«, sagte ich. »Allerdings hätte ich da noch ein Problem. Meiner Ansicht nach ist es besser, wenn Sie Ihre Wohnung hier verlassen, Mrs. Evans.« »Wohin denn? Wohin soll ich gehen?« »Polizeischutz.« Sie überlegte einen Moment und schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht. Ich bleibe hier. Sie können mich nicht zwingen.« »Das stimmt.« Glenda hatte einen anderen Vorschlag. »Wie wäre es denn, wenn wir die Nacht hier verbringen, John?« Bevor ich antworten konnte, sprang Lilian auf. »Ja, ja, das wäre die Lösung. Wenn Sie hier sind, wird sich der Killer kaum trauen. Er kennt Sie jetzt.« Glenda schaute mich an und hob die Schultern. »Mir ist es recht, John. Ich habe nichts zu versäumen. Außerdem haben wir heute Freitag. Morgen brauchen wir nicht unbedingt ins Büro.« Ich war einverstanden. Sehr schnell sogar, denn ich hörte auf meine innere Stimme. Die nämlich sagte mir, dass nicht alles vorbei war. Einer wie dieser Killer gab nicht auf. Er nutzte den Schutz der Dunkelheit, auch bis in die frühen Morgenstunden hinein. Sicherlich wusste er auch, dass ihm jemand auf den Fersen war. Er musste etwas tun, um seine Rache vollenden zu können. Es lag für uns auf der Hand, warum er töten wollte. Nur wussten wir nicht, wer als nächste Person auf seiner Liste stand, und das wiederum ärgerte mich. Glenda sah es mir an. Bevor sie sprach, lächelte sie. »Glücklich siehst du nicht aus, John.« »Wer von uns könnte das sein?« »Was stört dich?« »Ich möchte nicht hier im Haus bleiben. Mir geht es einzig und allein um Cassius Manson. Du hast den Namen herausgefunden, Glenda, aber wir wissen nicht, wo er lebt. Das möchte ich ändern. Ich will ihm einen Besuch abstatten.« »Stimmt. Nach der Adresse habe ich nicht gefragt.« »Dann hole ich das jetzt nach.« Ich wandte mich an die Mieterin. »Kennen Sie sie, Lilian?« »Nein, bestimmt nicht. Ich glaube auch nicht, dass Manson ... ich meine, er kommt hier nicht als Skelett und verteilt die Briefe. So etwas ist unmöglich.« »Moment, Mrs. Evans. Damit will ich auch nicht gesagt haben, dass beide Personen identisch sind, aber dieser Briefträger ist durch die Uniform des Mörders unsere einzige Spur. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Zeit drängt. Ich möchte ihn kein weiteres Mal hier in Mordaktion erleben.« Diesmal rief ich die Kollegen an. Ich sprach mit dem Mann, mit dem auch Glenda gesprochen hatte. Er sollte nur herausfinden, wo ein Cassius Manson lebte. Dank der modernen Kommunikationstechnik war die Sache schnell erledigt. Ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, dass er gar nicht mal so weit von hier entfernt lebte. Als ich Lilian die Adresse mitteilte, blickte sie erstaunt hoch. »Das habe ich nicht gewusst. Es ist nicht einmal weit von hier entfernt. Manson hat mir das nie gesagt. Ich habe ihn auch danach nicht gefragt.« »So kann es kommen.« »Es ist nicht die gleiche Umgebung, Mr. Sinclair, das muss ich Ihnen schon sagen.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Sie werden die Häuser gesehen haben. Es sind die, die jenseits der Garagen liegen. Die höheren Bauten dort.«
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»Stimmt, die sind mir aufgefallen.« »Dann sollten Sie dort mal nachschauen. Sie brauchen nicht einmal den Wagen zu nehmen. Gehen Sie bis zum Ende dieser Straße durch und dann rechts.« »Danke, das werde ich finden.« Glenda ging mit mir zur Tür. Sie stellte sich vor mich und legte mir die Hände auf die Schultern. »Glaubst du wirklich, in Manson den richtigen gefunden zu haben?« »Es ist eine Spur und nicht mehr. Irgend jemand muss die Briefe ja geschrieben haben, und wenn es ein Briefträger ist.« »Ja, der als Skelett herumläuft.« Ich streichelte über ihre Wange. »Wir werden sehen, Glenda. Die Nacht ist noch lang ... «
Ich hatte tatsächlich auf den Wagen verzichtet und war zu Fuß gegangen. Das Leben hier hatte sich wieder normalisiert. Äußerlich war es ruhig geworden. Es gab keine Polizeifahrzeuge mehr, keine Absperrungen, aber die Unruhe brodelte schon. Die Bewohner waren aufgeschreckt worden. Keiner wusste, was genau vorgefallen war, aber ich war überzeugt, dass einige schon ein schlechtes Gewissen bekommen hatten und froh darüber waren, wenn die Nacht vorbei war. Hinter vielen Fenstern brannte Licht. Einige standen auch offen. Dort malten sich die Umrisse der Mieter ab. Mal standen sie im Licht, mal im Dunkeln, die Straße beobachtend, rauchend oder Gläser mit Drinks in den Händen haltend. Diese gespannte Ruhe würde sich auch so schnell nicht geben. Besonders nicht in der Nacht, die kein Schutz mehr war, sondern für einige Menschen Gefahren barg. Ich war fremd hier. Man konnte mich sehen, wenn ich in den Lichtschein der Laternen geriet. Niemand traute sich, mich anzusprechen. Auch die Menschen nicht, die ihre Häuser verlassen und sich auf den Gehsteigen versammelt hatten. Frauen und Männer standen dort zusammen. Aus ihren halblauten Gesprächen entnahm ich, dass sie sich um den schrecklichen Mord gerade in dieser Straße drehten. Das Ende der Straße zeichnete sich ab. Die Kreuzung erschien. Und damit auch der Autoverkehr, der sich in dieser Wohngegend doch sehr zurückgehalten hatte. Ich musste nach rechts. Zwar nicht in eine andere Welt, aber hier gab es schon Geschäfte und auch andere Häuser, in denen Menschen mit weniger Einkommen wohnten. Die beiden Bauten, die für mich interessant waren, konnte ich nicht übersehen. Man hatte sie gebaut, ohne neue Straßen anzulegen. Von der normalen führten Stichwege ab. Namen gab es auch nicht. Es war einfach die daran vorbeiführende Straße und in Nummern aufgeteilt. Ich musste zu Haus zwei. Ein schmaler Weg, auf dem helle Platten schimmerten. Überall standen Wagen. Sehr dicht geparkt, so dass ich mich wunderte, wie die Fahrer aus manchen Klemmen herausfanden. Das Haus Nummer zwei unterschied sich in nichts von den anderen in der Reihe. Auch hier schimmerte das Außenlicht, und in seinem Schein hatten sich einige Jugendliche versammelt, die sich allerdings friedlich verhielten und mich auch nicht anpöbelten. Hier sollte Manson wohnen. Das Haus gehörte nicht zu den ganz miesen Kasernenbauten, die es auch noch gab. Man hatte das Klingelbrett heilgelassen, auf dem der Besucher die Namen der Mieter fand und sicherlich auch so davor stand wie ich, als ich nach Manson suchte.
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Ich fand ihn nicht. Viele Namen in unterschiedlichen Schriften zusammengefügt, aber kein Manson war dabei. Sollte sich der Kollege geirrt haben? Das glaubte ich nicht. Es musste eine andere Lösung geben. Ich war einmal da und wollte auch so schnell nicht wieder zurück. Deshalb betrat ich das Haus, erreichte einen warmen und stickigen Flur und ging auf die nächstliegende Tür zu, wo jemand wohnte, der Graves hieß. Dort schellte ich. Es war jemand in der Wohnung, denn ich konnte eine Stimme hören. Sie war nicht eben leise, sogar ziemlich ungehalten. Die Tür wurde aufgerissen, und vor mir stand ein Mann, wie ich ihn so sehr liebte. Ausgebeulte graue Jogginghose, ein blassrotes Netzhemd über einen Oberkörper gestreift, auf dem die Brusthaare beinahe wie ein Pelz wuchsen. Ein rötliches Gesicht. Fettige Haare und Bieratem. Ein toller Feierabend. Ich blieb sehr freundlich und fragte: »Mr. Graves?« »Ja, das bin ich. Was wollen Sie?« »Mit Ihnen reden.« Er reckte sein Kinn vor. »Warum? Wir kennen uns nicht. Ich weiß nicht, was Sie wollen.« »Bitte, es geht auch nicht um Sie, Mr. Graves. Ich habe nur eine Frage. Können Sie mir bitte sagen, wo ich Cassius Manson finden kann? Er soll ja hier wohnen.« »Hä? Was sagen Sie da?« »Cassius Manson.« »Willst du mich verarschen, Mann?« »Nein, das hatte ich nicht vor, Mr. Graves.« Er holte tief Luft und blähte dabei seine Nasenlöcher weit auf. »Sie können Manson irgendwo auf dem Friedhof suchen, Mister, denn er ist tot. Verstanden? Tot!« Mehr sagte er nicht und rammte mir die Tür vor der Nase zu. Ich stand da wie der berühmte begossene Pudel. Cassius Manson war also tot. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Wieso war er tot und brachte trotzdem noch die Post? Ich war durcheinander, ging von der Tür weg, blieb allerdings noch im Hausflur stehen. Manson hatte hier mal gewohnt, das stimmte schon. Nur war er gestorben, auch nichts Unnormales, das trifft schließlich jeden Menschen. Aber wieso brachte er noch die Post? Ein toter oder untoter Briefträger, mit dem die Bewohner redeten und dabei nicht wussten, mit wem sie es in Wirklichkeit zu tun hatten? Das wollte mir nicht in den Sinn. Hier musste jemand seine Hand im Spiel haben, der gewisse Geschicke verdammt raffiniert zu lenken verstand und alle täuschte. Mit dieser Nachricht hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich wusste jetzt, dass der Fall so einfach nicht lag und ich mich neu orientieren musste. Dabei war ich gespannt, was Lilian Evans dazu sagen würde und auch Celine di Cappo. Vor der Haustür prallte ich beinahe mit einem jungen Mann zusammen, der eintreten wollte. »Hi«, sagte er und grinste. »Leicht einen in der Hacke?« »Nein, das nicht.« »Du wohnst nicht hier, wie?« Ich hatte schon weitergehen wollen. Aus einem Gefühl heraus blieb ich stehen. »Nein, ich war nur hier, um jemanden zu besuchen, aber den gibt es nicht mehr.« »Wer ist es denn?« »Cassius Manson.« Der Knabe vor mir lachte und strich über seine aalglatten, pechschwarzen Haare. Überhaupt war er nur in Schwarz gekleidet. Um seinen Hals herum hingen ein paar billige Silberkreuze und Pentagramme. So einer wie er gehörte zur Gruftie-Szene. Seine Gesichtshaut war so bleich wie gepudert.
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»Was ist daran so lustig?« »Na ja, nicht viel. Aber Cassius ist tot. Es gibt unseren Mr. Postman nicht mehr. So hat er sich genannt.« »Wann starb er denn?« »Weiß ich nicht genau. Liegt schon mehr als ein Jahr zurück.« »Und wer trägt jetzt die Post für ihn aus?« »Keine Ahnung. Ein Nachfolger oder so.« »Kanntest du ihn?« »Ja. Wie man einen so kennt. Wir sind ganz gut miteinander ausgekommen, war nicht übel, der Kannbe. Zwar kein Schwarzer, aber er hat uns immer akzeptiert.« »Bist du auch auf seiner Beerdigung gewesen?« »Nein. Wir gehen zu anderen Zeiten auf die Friedhöfe.« Er fing an zu lachen. »Was ist daran so lustig?« »Hast du schon mal unsere Feten erlebt?« »Nicht direkt«, log ich. »Aber ich habe schon davon gehört oder gelesen.« »Die sind total abgefahren. Mal was Neues.« Er trat plötzlich zurück. »Scheiße, warum erzähle ich dir das alles?« »Weil ich gefragt habe.« »Klar, und wer bist du?« Auf eine derartige Frage hatte ich gewartet und mir schon eine Antwort zurechtgelegt. »Ein Halbcousin von Cassius. Ich war einige Jahre im Ausland. Bin jetzt wieder zurück und wollte nur kurz bei ihm vorbeischauen. Dass er tot ist, damit habe ich nicht gerechnet. Kannst du mir wenigstens sagen, wo ich sein Grab finde?« Der Gruftie schaute mich misstrauisch an. »Ja, ich weiß, wo man ihn begraben hat. Nicht mal weit von hier. Auf einem kleinen Friedhof. Der ist wirklich geil.« »Warum?« »Ich will wieder hin.« »Tatsächlich?« »Ja. Um Mitternacht läuft da die Totenparty. Muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät.« Er wollte an mir vorbei ins Haus, aber ich hielt ihn fest. »Einen Moment noch.« »Was ist denn?« »Kann ich mit?« »Bist du irre? Auf die Fete?« »Nein, auf den Friedhof. Es wäre doch möglich, dass du mir sein Grab zeigst. Wenn ich schon mal hier bin, möchte ich wenigstens von einem Verwandten Abschied nehmen. « Er überlegte nicht lange. »Was ist dir die Sache denn wert?« »Fünf Pfund.« »Abgemacht. Ist ein Wort. Warte hier, ich bin gleich wieder zurück. Ach ja, ich bin Julian.« »Und ich heiße John.« »Bis gleich dann ... «
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Der kleine Friedhof war tatsächlich nicht weit entfernt. Ich wusste nicht, dass es hier einen gab. Von außen konnte man den Friedhof auch für einen kleinen Park halten, und davon gab es in London nun zahlreiche, das weiß jeder. Trotzdem waren wir gefahren. Ich hatte mich auf den Rücksitz eines schwarzlackierten Rollers klemmen können und war bis zum Eingang gebracht worden. Nachdem das Knattern des Motors verstummt war, umgab uns Stille. Auch die Verkehrsgeräusche hielten sich in Grenzen, denn die zahlreichen Bäume in der Nähe wirkten wie Schallschlucker. Julian grinste mich an. »Na, hast du Schiss?« »Warum? Tote tun einem Menschen nichts.« Julian grinste scharf. »Falls sie wirklich tot sind.« »Ach, gibt es die auch lebend?« »Darauf warten wir noch.« »Dann viel Spaß.« Hier brannte kein Licht. Eine schleierhafte Düsternis breitete sich über dem Gelände aus. Sie hatte sich bis in die letzten Winkel und Ecken hineingedrückt und saugte vieles auf, das wir bei Tageslicht noch hätten sehen können. Büsche, Hecken, Bäume. Schmale und etwas breitere Wege. Grabsteine, die hoch oder flach die letzten Ruhestätten schmückten und dabei bewacht wurden von weit ausladenden Bäumen, deren Umrisse manchmal wirkten wie erstarrte Gespenster. Julian trug Stiefel oder halbhohe Schuhe. Seine Schritte waren zu hören. Manchmal schabten die kleinen Kiessteine gegeneinander, dann raschelte es, und auch in den dichten Büschen blieb es nie ruhig, denn sie bildeten die Verstecke für die schlafenden Tiere. Die Natur gab uns den Atem eines ziemlich warmen Tages zurück. Die Luft kam mir schwül vor. Sie war auch leicht feucht und wie der Vorbote eines Gewitters. Der Wind hatte sich zurückgezogen. So wurden die Blätter kaum bewegt und sahen aus wie erstarrt. Ich schaute mich immer wieder nach allen Seiten hin um, ohne allerdings von Julians Gruftie-Freunden etwas zu sehen. Entweder waren sie noch nicht da oder verhielten sich still. Julian hatte meine Gedanken erraten. »Keine Sorge, die Fete geht gleich los.« »Wie macht sich das bemerkbar?« »Sie werden die Totenlampen anzünden.« »Sehr romantisch.« Er lachte und fragte: »Geht dir die Muffe?« »Nein, warum sollte sie?« »Weil wir auf einem Friedhof sind. Manchmal sind sie gefährlich.« »Tot und doch nicht tot ... « Julian wollte darauf keine Antwort geben. »Egal«, sagte er statt dessen, »wir sind gleich da.« Unser Weg führte uns durch ein Karree, in dem vier Bänke aufgestellt worden waren. Niemand hatte zu dieser Zeit darauf Platz genommen. Der faulige Geruch einer Biomülltonne schwebte mir entgegen. Wir passierten den Komposthaufen und gelangten in den Bereich, in dem auch das Grab des Cassius Manson lag. Davor blieben wir stehen. »Okay«, sagte mein Begleiter. »Ich lasse dich jetzt allein. Hier ist es. Viel Spaß noch.« Er drehte sich um und tauchte unter. Ich blieb vor dem Grab stehen und schaute es mir an. Viel war nicht zu sehen. Hier ragte kein Stein als letztes Mahnmal in die Höhe, und es gab auch kein Kreuz, sondern nur ein flaches Stück Fels, das an den Toten erinnerte.
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Ich holte meine Lampe hervor und leuchtete das Grab an. Mit dem Strahl zeichnete ich die Umrisse nach und stellte fest, dass es nicht eben gepflegt aussah. Hier war nur das Nötigste getan worden, und so hatte das Unkraut freie Bahn gehabt. Ich konzentrierte den Kegel auf den Stein, der das blasse Licht wiedergab wie ein matter Spiegel. Nur mühsam war die Schrift zu entziffern, weil der flache Stein bereits mit einer Moosschicht überzogen war. Mein Gedanke war gewesen, das Cassius Manson tatsächlich wie ein Zombie aus der Tiefe gestiegen war. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich Spuren sehen müssen, die es allerdings nicht gab. Zwar war die Oberfläche nicht völlig glatt, aber von unten her aufgewühlt zeigte sie sich auch nicht. Andererseits konnte das Grab nach jedem Verlassen des ‚Toten’ auch wieder gerichtet und instand gesetzt worden sein. Nein, das erschien mir schon zu weit hergeholt. Überhaupt war dieser verdammte Fall mehr als kompliziert. Mit Zombies kannte ich mich aus. Ich hatte auch gegen lebende Skelette gekämpft, alles kein Thema, aber so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte, war es nun doch nicht. Hier steckte etwas anderes dahinter, und das war ein verdammtes Problem. Nichts störte meine Gedanken. Die Stille umfing mich wie ein Grab. Ja, sie schien mich begraben zu haben. Das Licht strahlte das Grab nicht mehr an. Ich stand in dieser blauen Schwärze, spürte auch die Feuchtigkeit in der Luft, als wäre sie mit zahlreichen Tüchern gefüllt worden. Ich war allein - oder? Julian war längst verschwunden. Er musste seine Freunde schon getroffen haben, nur sah und hörte ich sie nicht. Auf dem Gelände gab es genügend dunkle Stellen, um sich verstecken zu können. Ich drehte mich um. Gräber, wohin ich schaute. Schattenhaft. Düster und versteckt. Umweht vom Atem der Dunkelheit. Starre Tücher, die keinen einzigen Lichtfunken durchließen. Ich hatte mit Friedhöfen meine Erfahrungen sammeln können. Ich kannte die unterschiedlichsten. In den Großstädten, auf dem Lande, sehr einsame und auch Friedhöfe, auf denen sich die Besucher die Klinken in die Hand gaben. Dieser hier lag inmitten der Großstadt und war trotzdem so einsam. Ich stand auf einer Insel, die Geräusche an sich vorbeifließen ließ und nur die wenigsten davon aufnahm. Wo lauerte Mr. Postman? Hier oder noch in der Straße? Er hatte es zweimal versucht und war beide Male gescheitert. Er wusste, dass nach ihm gesucht wurde und musste eigentlich einen Platz finden, an den er sich zurückziehen konnte. Der Friedhof hier wäre ideal gewesen, denn er bot verdammt viele Verstecke. Noch einmal leuchtete ich das Grab an, untersuchte es genauer, drückte sogar die Hand auf seine Fläche, aber sie gab nicht nach. Das Grab war nicht von innen aufgewühlt worden. Trotzdem ging ich davon aus, dass ich eine besondere Stelle erreicht hatte. Hier tat sich etwas. Hier war etwas Außergewöhnliches geschehen, aber es gab keine Reste oder Spuren. Ich musste mich aus diesem Feld lösen und wieder zurück in die Realität kommen. Glenda und Lilian Evans waren allein. Wenn sich Mr. Postman nicht hier auf dem Friedhof aufhielt, dann hatte er ein anderes Versteck gefunden. In der Straße? Nahe der untreuen Frauen, die er auf seine Liste gesetzt hatte? Ich wusste es nicht. Aber ich würde am Ball bleiben. Zudem verdichtete sich bei mir das Gefühl, dass in dieser Nacht noch etwas geschehen konnte. Zwar befand ich mich nicht weit von den beiden Frauen entfernt, aber mehr als eine Viertelstunde würde ich vom Friedhofstor schon laufen müssen. Dann sah ich die Lichter. Klein nur, winzig. Sie flackerten auch kaum. Sie standen verteilt vor mir, und manche von ihnen schwebten in der Luft, während andere wieder Kontakt zum Boden hatten. Die Party fing an. Mich interessierte sie nicht. Glenda und Lilian waren wichtiger. Einen Schritt nur kam ich weit, da hörte ich das andere Geräusch, identisch mit meinem. Jemand kam. Ich hatte ihn gehört.
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Und ich hörte ihn auch weiter, wie er seine Füße auf den Boden setzte. Lange zu raten brauchte ich nicht, denn sehr bald zeichnete sich vor mir eine Gestalt in der Dunkelheit ab. Ebenfalls düster vom Aussehen her. Ich wartete darauf, das bleichgelbe Gebein schimmern zu sehen, der Gefallen wurde mir leider nicht getan. Was da auf mich zukam, war ein normaler Mensch, ein Mann. Er war noch schlecht zu erkennen, und ich wollte ihn auch nicht erschrecken, indem ich ihn anleuchtete, doch ich wusste, dass er allein meinetwegen gekommen war. Er blieb plötzlich stehen. Nahe, aber nicht nahe genug, um alle Einzelheiten zu sehen. Ein Skelett war er jedenfalls nicht, und er trug auch nicht die Uniform eines Briefträgers. Er sah völlig normal aus in seiner Kleidung - Jacke, Hose und ein ebenso dunkles Hemd. Ängstlich kam er mir nicht vor, und auch in seiner Frage schwang keine Furcht mit. »Was machen Sie hier?« »Das gleiche könnte ich Sie fragen.« »Ich habe einen Grund.« »Darf ich fragen, welchen?« »Ja, dürfen Sie. Und Sie erhalten sogar eine Antwort. Ich bin gekommen, um das Grab meines Bruders zu besuchen ... «
Das war der nächste Schock für mich. Ein regelrechter Hammer, denn damit hätte ich nie gerechnet. Es gab also einen zweiten Manson? Oder gab es nur einen? Konnte er sich von einem Menschen in ein Skelett verwandeln und umgekehrt? Vielleicht durch eine fremde Kraft, die ich nicht kannte? Mir fiel plötzlich ein, dass ich auf dem Grabstein nur den Namen Manson gelesen hatte und keinen Vornamen. Ich hatte darauf nicht weiter geachtet und auch nicht darüber nachgedacht, weil ich davon ausgegangen war, dass das Moos die anderen Buchstaben überwuchert hatte. Das Rätsel jedenfalls war nicht kleiner geworden. »Mitten in der Nacht?« fragte ich, weil mir keine andere Antwort einfiel. »Sie wollen mitten in der Nacht das Grab Ihres Bruders besuchen?« »So ist es. Oder wollen Sie es mir verbieten? Wir leben in einem freien Land. jeder kann jederzeit irgendwohin gehen, wo es ihm passt. Haben Sie das vergessen?« »Sicherlich nicht.« »Eben. Und was tun Sie hier?« »Ich gehe gern auf Friedhöfen spazieren.« »Dann will ich Sie nicht daran hindern.« Ich dachte nicht daran, dieser indirekten Aufforderung zu Verschwinden Folge zu leisten, sondern blieb stehen. »Sie wollen zu Manson, dem Briefträger?« »Ja. Er war mein Bruder, wie ich schon sagte.« »Er ist schon länger tot?« »Warum?« »Nur so.« »Vergessen Sie es, Mister.« »Haben Sie seinen Job übernommen? Tragen Sie jetzt die Post aus? Sind Sie Cassius Manson, über den die Leute so nett und freundlich sprechen?« »Das bin ich.« »Schön. Dann möchte ich von Ihnen nur wissen, wer dort in der Erde liegt.« »Das interessiert Sie einen Dreck, Mister. Es ist mein Bruder, und damit hat es sich.«
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Es war schade, dass ich ihn nicht so genau sah. Er war etwas kleiner als ich. Sein Haar war wohl dunkelblond. Das Gesicht verschwand mehr im Dunkeln, deshalb war sein Alter auch schlecht zu schätzen. Eines allerdings war er auf keinen Fall - ein Skelett. Er war nicht die Person, die ich verfolgt hatte. »Kann ich jetzt zum Grab meines Bruders gehen, Mister?« »Bitte, ich hindere Sie nicht daran.« »Das weiß ich. Aber Sie stören, wenn ich das so sagen darf. Sie stören mich in meiner Ruhe und Andacht. Deshalb appelliere ich an Ihre Pietät. Ziehen Sie sich zurück. Wenn Sie über den Friedhof wandern wollen, gibt es genügend Platz hier, so dass wir beide uns nicht in die Quere kommen. Ich habe sehr an meinem Bruder gehangen und unter seinem Tod entsprechend gelitten. Tagsüber habe ich wenig Zeit, sein Grab zu besuchen. Da bleibt mir oft nur die Nacht.« »Verstehe.« »Dann bitte.« Er hatte deutlich genug gesprochen, und ich wollte es auch nicht auf die Spitze treiben. Mit betont langsamen Schritten ging ich an ihm vorbei, und ich drehte mich zunächst auch nicht um, bis ich eine gewisse Distanz zwischen uns gebracht hatte. Das Erscheinen dieses Mannes hatte dem Fall eine neue Dimension gegeben. Allerdings konnte ich die Zeuginnen verstehen, wenn sie ihren Briefträger als einen normalen Menschen beschrieben. Er war auch normal, aber zugleich umgab ihm ein Geheimnis, das in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Auftauchen des Skeletts stand. Ich wusste nur nicht, wie ich dieses Rätsel lösen konnte. Die Totenlichter schimmerten noch immer. Es war auch nicht mehr so ruhig. Schwermütig klingende Gesänge brodelten über den Friedhof hinweg. Die Grufties feierten ihre Totenfete. Sollten Sie. Im Gegensatz zu Manson waren sie harmlos. Es drängte mich natürlich, zu Glenda und zu Lilian zurückzugehen. Auf der anderen Seite stand dieses Treffen mit Manson. Durfte ich ihn überhaupt aus den Augen lassen? War es nicht besser, wenn ich ihm auf den Fersen blieb? Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit und ging nicht zu weit weg. Zumindest blieb ich in Hörweite. Wenn der andere nicht gerade über die Gräber lief, war es auf diesen mit kleinen Steinen belegten Wegen unmöglich, sich lautlos zu bewegen. Ich würde ihn bestimmt hören, wenn er das Grab verließ. Schutz und Deckung gab es hier genug. Und so stellte ich mich hinter einen Busch. Jetzt hieß es abwarten. Je mehr Zeit verstrich, um so größer wurde meine Nervosität. Ich versuchte auszurechnen, wie lange jemand vor dem Grab eines Verwandten stand, der seit über einem Jahr tot war. Sicherlich nicht länger als zehn Minuten oder eine Viertelstunde. Doch was war bei diesem Manson schon normal? Nichts, gar nichts, denn die Zeit war noch längst nicht vorbei, als ich die Schritte hörte. Wenn ich mich nicht zu stark irrte, hatte sich Manson jetzt auf den Rückweg gemacht. Wenn er so weiterging, musste er an meinem Versteck vorbei. Es wurde spannend. Und dann kam ich mir reingelegt vor, weil Manson auf meiner Höhe stehen blieb. Ich hörte ihn leise lachen und ihn danach sprechen. »Kommen Sie ruhig aus Ihrem Versteck, Mister. Ich weiß schon, dass Sie dort sind. Jemand wie Sie macht einfach keinen Rückzieher.« Zwar ärgerte ich mich, aber es hatte keinen Sinn, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Manson wartete auf mich in nahezu lockerer und entspannter Haltung. Er lächelte sogar, als ich vor ihn trat. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« »Gut, ich höre.« »Sie wollen doch sicherlich mehr über meinen Bruder wissen.« »Das kann ich nicht leugnen.«
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»Dann kommen Sie mit.« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Was soll ich? Mit Ihnen kommen? Wohin denn? Vorhin haben Sie mich nicht ... « »Ja, das weiß ich. Ich habe es mir nur anders überlegt. Ich möchte Sie bitten, mit in meine Wohnung zu kommen. Dort können wir dann über meinen Bruder sprechen.« »Wie kommt dieser Stimmungswandel zustande?« Er winkte ab. »Sie sind ein Mensch, der so leicht nicht aufgibt. Sie bleiben am Ball. Bevor ich mich von Ihnen verfolgt fühle, will ich Sie aufklären. Oder trauen Sie mir nicht? Mir, einem schlichten Briefträger, der in einigen Stunden wieder seinen Dienst antreten muss?« »Ich muss zugeben, dass Sie mich überrascht haben.« »Das ist manchmal meine Art. Entschuldigen Sie. Überlegen Sie nicht zu lange, sonst ... « »Keine Sorge, ich komme mit.« »Wunderbar.« Manson strahlte mich an. Das sah ich trotz der Dunkelheit. »Dann können wir ja beide zufrieden sein ... « Er war es bestimmt. Bei mir allerdings blieb schon eine gewisse Skepsis zurück ...
Die Überraschungen rissen nicht ab, denn Manson wohnte tatsächlich in dem Haus, aus dem ich gekommen war und wo mir ein gewisser Graves erklärt hatte, dass es keinen Manson gab. »Sie wohnen hier?« »Stört Sie das?« »Nein, ganz und gar nicht. Nur Ihr Name stand nicht ... « »Moment, ich weiß, was Sie sagen wollen. Da, schauen Sie, Mr. Sinclair.« Er wusste mittlerweile meinen Namen und hatte sich nicht überrascht gezeigt. Das Klingelschild befand sich in der unteren Hälfte. Wenn ich richtig rechnete, wohnte er in der zweiten Etage, und ich las den Namen halblaut vor, auf den er deutete. »Nosnam ... « »Richtig, Mr. Sinclair. Drehen Sie ihn einfach um. Lesen Sie ihn von hinten nach vorn.« Es war kinderleicht. Ich wusste jetzt, dass hier nicht Nosnam wohnte, sondern auch Manson. Raffiniert gemacht, das musste man ihm schon lassen. Von der Seite her schaute er mich lächelnd an. »Wollen wir den Lift nehmen oder zu Fuß gehen?« »Meinetwegen die Treppe.« »Gut, es ist nur bis zur zweiten Etage.« Er ging vor mir her. Ein Mann, der keine Angst zeigte, sich einmal zu mir umdrehte und sogar lächelte. »Das hier ist beileibe kein Luxus, aber man kann es durchaus aushalten. Ich zahle nicht soviel Miete wie meine Kunden, die ich jeden Tag besuche.« »Die Arbeit macht Ihnen Spaß?« »Sehr, Mr. Sinclair.« »Ihr Bruder war ja auch Briefträger ... « Er gab mir keine normale Antwort, sondern lachte nur. Was immer das auch zu bedeuten hatte.
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Ein Skelett jedenfalls war er nicht. Als solches hätte er sich auch kaum so unter die Leute getraut, obwohl sich das andere ebenfalls als mordendes Knochengebilde gezeigt hatte. Wenn ich daran dachte, dass es zu dieser Zeit wieder auf Killertour war und ich mich hier bei Manson aufhielt, bekam ich schon Magendrücken. Ich hatte mir Lilian Evans' Telefonnummer gemerkt. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb ich stehen und ließ Manson weitergehen. Ich wählte per Handy die Nummer und hörte ihre nervös klingende Stimme. »Sinclair hier. Geben Sie mir Glenda.« »Moment.« »Ja, John! Was ist denn?« Ich erklärte ihr in knappen Worten, wo ich mich aufhielt und auch den Hintergrund dieser Geschichte. »Pass nur auf, Glenda, denn ich weiß nicht, ob der Killer noch unterwegs ist.« »Bisher ist alles ruhig geblieben. Kannst du sagen, wann du hier bist?« »Noch nicht. Ich muss jetzt Schluß machen.« »Soll ich Suko alarmieren?« »Der ist nicht da. Er und Shao sind über das Wochenende verreist. Es bleibt alles unter uns.« »Okay, ich passe auf.« Damit war das Gespräch beendet, das Manson natürlich nicht entgangen war. Er stand einige Stufen über mir und schaute auf mich herab. »Na, haben Sie Ihre Nachricht hinterlassen, Mr. Sinclair?« »Ich habe nur einer Freundin abgesagt.« »Oh, wie großzügig. Da fühle ich mich dann doppelt geehrt, dass Sie zu mir kommen.« Ich verzog nur die Lippen und dachte: Das wird sich noch herausstellen. Denn zuletzt lacht immer der Beste. Manson ging weiter. Lässig. Wie jemand, der nichts zu verbergen hat. Als ich neben ihm stehen blieb, hatte er die Wohnungstür bereits aufgeschlossen. Er deutete über die Schwelle hinweg. »Treten Sie ein, Mr. Sinclair.« »Nach Ihnen.« Er lachte. »Noch immer misstrauisch?« »Das ist mir angeboren.« Wir betraten die stille, kleine und auch düstere Wohnung, in der es muffig roch. Es war ein schaler, abgestandener Gestank, der sich ausgebreitet hatte. Hier hätte mal kräftig durchgelüftet werden müssen, aber dazu sah sich jemand wie Manson wohl nicht in der Lage. Er schaltete zwar das Licht ein, allerdings nur im Flur und dann in seinem Arbeitszimmer, in das er mich führte. Es war kein großer Raum, doch er enthielt alles, was nötig war. Außer einer Couch fielen der Schreibtisch und der darauf stehende Computer auf. Zwei Stühle standen davor, einer war direkt auf den Monitor gerichtet. Ich war an der Tür stehen geblieben, während Manson in die Runde deutete. »Das also ist mein kleines Reich.« »Eines Briefträgers.« »Wie meinen Sie das denn?« Er war etwas sauer, das hörte ich seiner Stimme an. »Trauen Sie einem Briefträger die Benutzung eines Computers nicht zu?« »Doch - natürlich. Ich traue Ihnen sogar noch mehr zu«, erwiderte ich vieldeutig. »Nur wundere ich mich darüber. Der Bildschirm und das andere Drumherum wie Drucker, Fax und Telefon scheint mir sehr wichtig für Sie zu sein.«
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Er nickte heftig. »Das ist es auch. Besonders der Computer. Er ist der Weg und der Blick in eine andere Welt, verstehen Sie? Ich lasse ihn auch oft eingeschaltet.« »Sie denken ans Internet?« »Nicht nur«, gab er zu. »Mit diesem Computer sind auch andere Dinge möglich.« »Welche?« »Die wollte ich Ihnen zeigen, wenn Sie etwas Zeit haben, Mr. Sinclair.« Er hatte mich bei der Antwort angeschaut. Da es hell war, sah ich ihn deutlicher. Sein Gesicht war breit und trotzdem knochig. Der Kopf kam mir irgendwie unegal gewachsen vor. Er war oben ziemlich breit und lief leicht spitz zu. Er hatte sehr blasse Augen und das fahlblonde Haar streng gescheitelt. Manson wirkte richtig unmodern, wie jemand, der noch aus einer anderen Zeit stammte. Ich blickte auf meine Uhr, nachdem er mich noch einmal an seine Frage erinnert hatte. »Wenn es nicht länger als eine halbe Stunde dauert, Mr. Manson. Ich möchte auch nach Hause. Es ist schon ziemlich spät geworden.« »Stimmt. Keine Sorge, ich werde Ihre Zeit schon nicht zu lange in Anspruch nehmen.« »Okay. Was wollen Sie mir zeigen?« »Setzen Sie sich!« »Bitte?« »Ja, nehmen Sie Platz. Vor dem Computer. Setzen Sie sich auf den Stuhl, damit Sie direkt auf den Bildschirm schauen können. Sie sollen ihn voll unter Kontrolle haben.« Ich hob die Schultern und näherte mich dem Stuhl. Manson beobachtete mich dabei. »Wollen Sie mir etwas auf dem Monitor präsentieren?« »Genau das.« »Was wird es sein?« »Warten Sie es ab, Mr. Sinclair. Ich bin sicher, dass Sie überrascht sein werden.« »Kann schon sein.« Ich setzte mich hin, und Manson schaute mir dabei zu. Er hielt mich regelrecht unter Kontrolle, und auch jetzt war in seine farblosen Augen kein Leben gekommen. Sie blieben blass und fischig. »Sitzen Sie bequem?« »Es geht.« »Gut, dann können wir beginnen.« Auch er nahm Platz und drückte sich auf den zweiten Stuhl, der rechts neben mir stand. Die Maus lag dabei in seiner Reichweite. »Darf ich fragen, was Sie mir zeigen wollen, Mr. Manson?« »Dürfen Sie, doch ich halte mich mit der Antwort zurück. Nur soviel kann ich Ihnen verraten: Es wird kein Surfen durch das Internet werden. Wir bleiben schon sehr konkret.« »Ich bin gespannt.« »Das muss auch so sein.« Er grinste mich von der Seite her an, und das Grinsen gefiel mir überhaupt nicht. Er führte etwas im Schilde gegen, mich, das stand fest. Nur war es müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Ich wollte alles an mich herankommen lassen und war entsprechend wachsam. Er hatte den Apparat eingeschaltet. Das leise Summen war verstummt. Auf dem Schirm erschienen einige technische Daten, wie es bei einer CD-ROM der Fall war. Ich wartete ab. Meine Gedanken schweiften dabei zurück in die Vergangenheit. Mit magisch veränderten Computern oder CD-ROMs hatte ich meine Erfahrungen sammeln können. Allein durch Shao, die einmal durch ein Computerspiel in ihre Totenwelt hineingeraten war. Aber auch gegen einen CDROM-Vampir hatte ich schon kämpfen müssen. Deshalb war ich auch hier auf alles gefasst und nahm mir vor, mich nicht erschüttern zu lassen.
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Zudem war ich davon überzeugt, mich auf der richtigen Spur zu befinden. Mein Gefühl sagte mir, dass ich den Fall durch diesen Besuch hier lösen würde oder zumindest die alles entscheidende Spur fand. Hoffentlich war es dann für die Frauen nicht zu spät. »Alles klar, Mr. Sinclair?« »Bei mir schon.« »Gut, dann geben Sie acht.« Ich gab acht. Er spielte mit der Maus, ließ den Pfeil wandern und klickte, als die Spitze das kleine Kästchen mit der Aufschrift Start erreicht hatte. Auf dem Monitor veränderte sich das Bild. Eine Tabelle erschien. Unterteilt in mehrere Kästchen. Ich konnte nicht alle durchlesen, hatte allerdings den Namen Manson noch entdeckt. Der Pfeil wanderte dorthin. Wie ein Klick. Dann Mansons flüsternde Stimme: »Achtung, Sinclair!« Ich konzentrierte mich auf den Monitor. Was er mir zeigen wollte, darüber hatte ich nicht großartig nachgedacht. Ich wollte mich auch nicht überraschen lassen, wurde es trotzdem, als ich erkannte, was sich da abmalte. Es war ein Gesicht. Eines, das ich kannte. Ich schaute genau auf das Gesicht des Mannes, der neben mir saß. Nein, ein Lächeln huschte nicht über meine Lippen. Ich stieß nur den Atem aus. »Nun, Mr. Sinclair?« »Was soll ich dazu sagen?« »Nun ja, was Sie fühlen oder denken.« »Es hat mich schon überrascht, Sie auf dem Bildschirm zu sehen, Mr. Manson.« »Danke, sehr freundlich.« Er kicherte, so dass ich mich beinahe gezwungen sah, einen Blick zur Seite zu werfen. Manson hatte sich verändert. Er sah gespannt aus. In seinen blassen Augen lag jetzt ein schon fanatischer Glanz. Ähnlich wie bei einem Computerfreak, der sich nicht von seinem Bildschirm lösen konnte. »Eine Frage, Mr. Sinclair. Wen sehen Sie da?« »Was soll das? Sie sind es!« »Sicher?« »Ja.« »Irrtum!« flüsterte er. »Sie irren sich, Sinclair. Aber das ist natürlich und menschlich. Ich bin es nämlich nicht.« Er atmete sehr laut auf, bevor er weitersprach. »Das Gesicht, das Sie da auf dem Bildschirm sehen, gehört nicht mir, sondern meinem Zwillingsbruder ... « Wieder ein Schock! Ich hatte ihn gehört, und ich saß auf dem Platz ohne mich zu rühren. Es war eine verdammte Überraschung gewesen. Dieser Manson hatte also einen Zwillingsbruder. Ich packte es nicht, aber ich merkte, dass sich der Knoten zu entwirren begann. Möglicherweise war alles einfacher, als ich bisher gedacht hatte. Er ließ mir Zeit, die Überraschung zu verdauen. So konzentrierte ich mich auf das Bild auf dem Monitor, um jede Einzelheit des Gesichts wahrzunehmen. Es gab keine Unterschiede zwischen den Gesichtern. Das auf dem Bildschirm war mit dem des Mannes neben mir völlig identisch. Bis aufs letzte Detail. Ein Irrsinn, kaum zu begreifen, aber auch völlig natürlich. Warum sollte nicht jemand das Foto seines Zwillingsbruders einspeichern? In diesem Fall allerdings steckte mehr dahinter, und ich würde es auch erfahren. Zunächst gab ich keinen Kommentar ab, saß beinahe wie entspannt auf dem Stuhl, und das gefiel dem Mann auch nicht. »He, warum halten Sie sich so zurück? Sind Sie nicht überrascht? Warum sagen Sie nichts?« Ich hob die Schultern etwas an. »Sorry, aber ich wusste nicht, dass Sie einen Zwillingsbruder haben. Nun ja, so überraschend ist es auch wieder nicht. Schließlich gibt es genügend Zwillinge in diesem Land.«
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»Da haben Sie recht.« »Und weiter.« »Wir haben uns geliebt. Wir haben uns wirklich geliebt. Keiner wollte ohne den anderen sein, auch im Tod nicht. Wir haben aneinander gehangen.« »Aber jetzt ist Cassius tot!« sagte ich. »Genau.« Er hatte völlig locker gesprochen, die Hand lag lässig neben der Maus. »Und Sie leben, Mr. Manson. Da müssten Sie doch auch einen Namen haben.« »Ich heiße Gordy. Gordy Manson.« »Der Briefträger.« Er lachte etwas schrill. »Auch das. Es klappte alles nahtlos. Ich habe den Job meines Bruders übernommen. Stellen Sie sich vor, niemand hat etwas bemerkt. Nicht auf meiner Dienststelle, und auch die Kunden haben nichts mitbekommen. All die neugierigen Weiber, die jeden Morgen darauf warten, Post zu erhalten. Sie glauben gar nicht, was man als Postbote so alles erfährt. Ich habe meinem Bruder kaum glauben können, als er mir das immer erzählte. Nach seinem Tod habe ich es am eigenen Leib erfahren können. Diese Frauen sind gelangweilt, frustriert. Sie suchen nach Abwechslung ... »Zum Beispiel nach einem Lover oder einem Freund«, unterbrach ich ihn. »Ja, richtig. Einige von ihnen haben das tatsächlich getan.« Er zuckte die Achseln. »Mein Bruder hat es erfahren. Er transportierte manchmal Briefe dieser Lover. Er war sehr moralisch, verstehen Sie? Er mochte es nicht, wenn Menschen ihre Welten einfach verließen und Mauern einrissen. Für ihn musste alles seine Ordnung haben. Er war für manche Frauen so etwas wie ein Beichtvater. Das würde offen keine von ihnen zugeben, aber die Lage ist nun mal so gewesen. Er hat sich alles sehr gut gemerkt, und er hat geschworen, es nicht auf sich beruhen zu lassen.« »Ja«, sagte ich, noch immer das Bild anstarrend. »Das habe ich alles verstanden. Doch Ihr Bruder ist tot. Was kann er noch daran ändern? Es sei denn, Sie hätten seine Aufgabe übernommen und nicht nur das Austeilen der Post.« Gordy Manson nickte traurig vor sich hin. »Sie haben recht, Mr. Sinclair, er ist tot.« Er dachte einen Moment lang nach, bevor er weitersprach. »Es hört sich zwar kitschig an, aber hier stimmt der Spruch, dass Liebe den Tod überwinden kann. Ja, bei meinem Bruder trifft er zu, weil es um Liebe ging.« Ich musste mich räuspern, bevor ich fragte: »Geht es um die Liebe zwischen Ihnen beiden?« »Exakt, wunderbar, Mr. Sinclair. Wie Sie das alles erfasst haben! Wahnsinn.« »Es war ja nicht schwer, wenn ich ehrlich bin. Kann ich davon ausgehen, dass er trotzdem noch lebt und von Ihnen gelenkt wird? Dass er gar nicht in seinem Grab liegt?« »Sie begreifen schnell!« Ich drehte ihm das Gesicht zu. Seine Züge waren angespannt, und der Mund mit den schmalen Lippen hatte sich zu einem Lächeln verzogen. »Wollen Sie nicht wissen, wie wir das geschafft haben, Sinclair? Sind Sie jetzt nicht neugierig?« Ich hob die Schultern. »Sie werden es mir sicherlich näher bringen, sonst säßen wir nicht hier.« »Exakt.« »Wie kann Ihr Bruder leben?« »Das ist nicht so schwer. Man muss nur den richtigen Weg kennen. Er war schon immer etwas Besonders. Er hat sich für Dinge interessiert, die der normale Mensch nicht begreift. Das ging mir auch so. Ich habe ihn ausgelacht, als er davon sprach, seine Seele dem Teufel zu verkaufen. Sie würden sagen, dass er sich in die Hand des Bösen gegeben hat, und das trifft auch zu. Für ihn war es nicht das Böse. Für ihn war es die Erfüllung seiner Wünsche, denn der Teufel hat ihm ein anderes Leben versprochen. Eins nach dem normalen.
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Er starb, er verweste, aber in seinen Knochen steckte die Kraft der Hölle. Sie trieb ihn aus dem Grab, und so läuft er als Cassius Manson wieder durch die Straßen. Diesmal nur nicht am Tag, sondern in der Nacht. Sie gehört ihm. Sie ist für ihn ungemein wichtig. Er ist der wahre Herrscher im Viertel der frustrierten Frauen. Er hat nicht vergessen, was sie getan haben, und er hat dem Teufel als Gegenleistung versprochen, ihm die Seelen der Frauen zu schenken, die er umbringt. « Ich war nicht geschockt. Das alte Lied. Schon oft hatte ich es gehört. Es gab immer wieder Menschen, die sich nicht damit abfinden konnten, dass ihr Leben irgendwann vorbei ist. Sie wollen auch weiter existieren. Einige lassen sich einfrieren, andere wiederum versuchen es mit Magie. Und wer den richtigen Weg fand, der konnte tatsächlich einen Erfolg erzielen, so wie Cassius Manson. »Warum sagen Sie nichts, Sinclair?« »Ich muss erst darüber nachdenken.« »Tun Sie es nicht!« flüsterte er. »Tun Sie es nicht. Sie werden es nicht begreifen. Sie zerbrechen sich nur den Kopf darüber, und wenn Sie nicht stark genug sind, dann können Sie sogar dem Wahnsinn anheimfallen. Ehrlich.« »Ja, es gibt diese Menschen.« »Gehören Sie nicht dazu?« fragte er. »Bisher habe ich mich gut gehalten. Oder finden Sie nicht?« Er lachte. »Schon, Mr. Sinclair. Sie haben sich wirklich gut gehalten.« »Erzählen Sie weiter.« »Danke, ehrlich. Ich freue mich, dass ich es Ihnen sagen kann. Das findet man nicht oft. Mein Bruder lebt also. Und er existiert als Skelett. Aber das werden Sie ja bereits wissen, wie ich hörte.« »Tatsächlich? Von wem?« »Oh ... Mr. Sinclair. Denken Sie doch daran, dass wir beide Zwillinge sind. Wir stehen und standen immer in Verbindung. Wir haben uns stark geliebt. Wir waren diejenigen, die nie auseinander gingen. Wir blieben stets auf einer Linie. Wir mochten uns. Wir haben uns versprochen, dass uns auch der Tod nicht trennen kann. Etwas von ihm ist auch auf mich übergegangen. Die Verbindung zwischen uns bleibt bestehen. Selbst der Tod hat da keinen Schnitt machen können.« »Wie ... ähm ... war denn die Verbindung? Ich meine, wie stellt sie sich dar?« »Ich weiß, was er denkt, und er weiß, was ich denke. Das Band ist nicht gerissen, und wenn Sie nach vorn schauen, dann sehen Sie es genau vor sich.« Ich blickte wieder auf das Gesicht des Cassius Manson. Da war von einer Skelettfratze nichts zu sehen. Das Gesicht glich haargenau der Person, die neben mir saß. Ich hob die Schultern und tat sehr ahnungslos. »Begriffen habe ich zwar nicht viel, aber ... « »Hören Sie doch auf, Sinclair. Sie haben sehr wohl etwas begriffen. Sie können mich nicht aufs Glatteis führen. Sie nicht. Sie waren Cassius auf den Fersen, das weiß ich. Sie haben sogar auf ihn geschossen, aber sie haben ihn nicht getroffen. Ich kenne mich aus, ich habe es von ihm gehört. Sie sind auf der Jagd nach ihm, aber Sie werden ihn nicht bekommen, weil er besser ist als alle anderen.« Scharf atmete er aus. »So, Mr. Sinclair, und jetzt werde ich Ihnen etwas zeigen. Sie sollen meinen Bruder so sehen, wie er tatsächlich ist. Ich werde Ihnen beweisen, dass das Band zwischen uns steht.« »Wie Sie wollen.« Er bat mich, etwas zur Seite zu rücken, was ich auch tat. So konnte Gordy Manson direkt auf den Monitor schauen und auch geradewegs in das andere Gesicht. Sie starrten sich an. Auf der einen Seite das Gesicht im Computer, auf der anderen der lebende Mensch. Gordy hob beide Arme an und presste seine Fingerspitzen gegen die Stirn. Er musste sich konzentrieren und das Band noch mehr festigen.
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Ich ließ ihn in Ruhe. Es war eine entscheidende Szene, das wusste ich. Von der Seite her beobachtete ich, was dort ablief. Noch passierte nichts. Das Gesicht auf dem Schirm blieb ebenso unbeweglich wie das des Menschen Gordy Manson. Aber nicht mehr lange. Es geriet Bewegung hinein. Plötzlich veränderte sich die Haut. Sie zuckte. In das Gesicht auf dem Schirm geriet Leben. Für mich sah es so aus, als würde er scharf grinsen. Dabei dünnte die Haut immer mehr aus. Sie straffte sich weiter, sie dehnte sich. Der gesamte Kopf blieb nicht mehr ruhig. In diesem Fall wusste ich allerdings nicht, ob ich eine Computeranimation sah oder eine echte Verwandlung stattfand. Es war schon beeindruckend, wie sich die Haut plötzlich auflöste, als wäre Säure über sie hinweggekippt worden. Sie ging zurück, sie dampfte nicht einmal weg, sie verschwand so, und es trat das zum Vorschein, was sich darunter befand. Ich sah Knochen ... Bleiches Gebein. Zerfetzt, rissig. Von dünnen Blutfäden gezeichnet. Offene Augenhöhlen, in denen die Finsternis der Hölle lag. Tiefe Schächte, ein offenes Maul, darüber ein Oval, in dem früher einmal die Nase gesessen hatte. Ein Bild des Schreckens, aber so verdammt echt, denn dieses Gesicht hatte ich schon gesehen und auch die dazugehörige Gestalt. Bisher hatte sich Gordy Manson nicht gerührt und sich auch nicht gemeldet. Jetzt aber sprach er den Namen seines Bruders aus. Er flüsterte ihn mit wahrer Inbrunst. »Cassius ... mein geliebter Cassius. Sehen Sie ihn? Sehen Sie ihn, Sinclair? Das ist er. Das ist mein Bruder. Und er ist nicht tot.« Gordy hatte mit einer schon erschreckenden Inbrunst gesprochen. Mir war klar, dass er alles tun würde, um immer bei seinem Bruder bleiben zu können. »Ich kann ihn sehen. Ich kann ihn jederzeit abrufen, wenn er nicht selbst bei mir ist. So wie in der Nacht, denn die Nacht ist seine Zeit. Tagsüber nahm ich ihn bei mir auf. Manson wohnt ja nicht mehr hier. Hier lebt jetzt Nosnam. Es ist auch nicht aufgefallen, dass ein Zwilling die Wohnung übernommen hat. Es gibt genügend Perücken und andere Dinge, um sich zu verwandeln. Und gesehen hat uns auch noch niemand. Wir stehen erst am Anfang, wissen Sie?« »Ja, ich habe begriffen. Aber ich frage mich, was Cassius wirklich will?« »Was er will?« Gordy fuhr zurück. »Das kann ich Ihnen sagen, verdammt noch mal. Er will endlich die alte Ordnung wiederherstellen. Er will die Frauen bestrafen, und er wird sie bestrafen!« Ich schüttelte den Kopf. »Bestrafen? Für was denn bestrafen, bitte schön? Dass sie gelebt haben? Dass sie ihren eigenen Weg gegangen sind, der den moralischen Vorstellungen Ihres Bruders nicht entsprach? Sollten sie deshalb sterben?« »Ja.« »Ist er Richter? Ist er Henker? Er, der mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hat?« »Cassius sieht es so.« »Und tötet!« »Richtig.« Manson holte tief Atem. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Nacht seine Zeit ist. In der Dunkelheit ist er unterwegs. Das ist für ihn günstig. Sie haben ihn ja erleben können, denn auch jetzt ist er wieder auf Tour.« »Das denke ich.« Innerlich blieb ich ruhig, und auch meine Stimme hatte sich nicht verändert, aber ich stand bereits auf dem Sprung. So schön es war, Aufklärung erhalten zu haben, es hatte mich gleichzeitig Zeit gekostet. Zeit, die einer anderen Person das Leben nehmen konnte. Gordy hob die Schultern. »So ist das nun mal, Mr. Sinclair.« Er deutete auf den Bildschirm. »Jetzt wissen Sie alles.«
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Die Bewegung hatte mich etwas abgelenkt. Mein Blick folgte der ausgestreckten Hand automatisch, und darauf hatte Gordy nur gewartet. Bevor ich mich versah, hielt er eine Waffe in der Hand. Er hatte sie blitzschnell gezogen, zielte damit auf mich und lachte. Dann sagte er: »Mein Bruder wird wieder töten, Sinclair. Und damit er das kann, werde ich Sie hier in meiner Wohnung erschießen ... «
»Was hat er denn gesagt?« fragte Lilian Evans. Sie hatte sich wieder umgezogen und trug jetzt eine schwarze Samthose und ein beigefarbenes T-Shirt. »John Sinclair, meinen Sie?« Glenda lächelte optimistisch. »Er ist am Ball, Lilian, das kann ich Ihnen versprechen. Er wird sich so leicht nicht in die Suppe spucken lassen.« »Heißt das, dass er dem Killer schon nahe auf der Spur ist?« »Ja, das hoffe ich.« »Und wo sucht er nach ihm?« »In einem Haus. Es steht nicht einmal weit entfernt von hier. Ich kann mir vorstellen, dass noch in dieser Nacht eine Entscheidung fällt. Irgendwie will ich nicht glauben, dass John den kürzeren zieht. Er war sogar auf dem Friedhof und hat sich das Grab des Cassius Manson angeschaut.« Lilian Evans bekam große Augen. »Was sagen Sie da, Glenda? Auf dem Friedhof?« »Warum nicht?« »Da hätte ich Angst.« »Kann ich verstehen. Das ist auch nicht jedermanns Sache. Aber John ist daran gewöhnt.« Die beiden Frauen hatten den Raum gewechselt. Sie saßen jetzt im Wohnzimmer, zu dem auch ein Erker gehörte mit bis nach unten gezogenen Scheiben. Der große Raum war nicht überladen mit modernen Möbeln eingerichtet. Möbelstücke ohne Verzierungen. Schlicht, beinahe schon reduziert, auf das Wesentliche beschränkt, aber es war alles da, was vorhanden sein musste. Die zwei Frauen saßen sich gegenüber. Sowohl Glenda als auch Lilian konnten von ihrer Position aus das Fenster im Erker beobachten. Ihr Blick glitt nach draußen, bis hin zur Straße, die eingetaucht in der nächtlichen Dunkelheit lag und nur dort erhellt wurde, wo das Licht der Laternen schien. Die Bäume wirkten wie Schatteninseln, in denen sich Ungeheuer verbergen konnten. Über der Gegend lag noch immer der Hauch einer tödlichen Gefahr, den Lilian Evans besonders spürte, denn sie schwitzte stark. Ihr Gesicht zeigte diesen öligen Film, der auch an ihren Händen klebte, die sie mehrmals gegeneinander rieb und damit gar nicht aufhören konnte. Sie hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt. Hin und wieder trank sie in hastigen Schlucken und war einmal so nervös, dass ihr das Glas aus der Hand rutschte und am Boden landete. Es zerbrach trotz des Teppichs. Zwischen den Scherben breitete sich die Lache aus. »Langsam, Lilian, langsam ... « »Das sagen Sie so. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Killer noch in der Gegend herumgeistert.« Glenda hob die Schultern. »Da könnten Sie recht haben, aber wir sollten nicht zu pessimistisch denken.« Lilian nickte. Da sie keine Uhr trug, fragte sie Glenda: »Wie spät ist es eigentlich?« »Gleich halb zwei.« Lilian erschrak. »So spät schon. Dann hat er noch Zeit bis zum Hellwerden.« »Wir aber auch.« »Das sagen Sie so.« Lilian schaute vor ihre Füße. Ihr war anzusehen, dass sie nachdachte. »Ich weiß gar nicht, wie ich das alles meinem Mann erzählen soll. Der dreht durch, wenn er ... «
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Glenda ließ sie nicht ausreden. »Wissen Sie was, Lilian?« Sie wartete, bis sie angeschaut wurde. »Ich will mich ja nicht in Ihre Eheprobleme einmischen, aber wäre es nicht besser, wenn Sie ihm die Wahrheit sagen und dann beide versuchen, einen Neubeginn zu schaffen?« Lilian lachte auf. »Ha, wenn das so einfach wäre.« »Das habe ich damit auch nicht gesagt. Ich kann mir vorstellen, dass es schwierig ist. Da fühlt man sich verletzt, gekränkt, aber Sie haben bisher zusammengehalten, und warum sollte das nicht auch weiterhin der Fall sein?« Lilian schaute zu Boden und nickte. »Ja, Glenda, im Prinzip haben Sie recht. Man sollte es versuchen.« »Eben. Falls Sie dabei Unterstützung brauchen, ich stelle mich zur Verfügung, obwohl es im Prinzip eine Sache zwischen Ihnen beiden ist. Überlegen Sie es sich.« »Ja, mache ich«, erwiderte die Frau leise und musste sofort umdenken, als Glenda ein anderes Thema anschnitt. »Sie rechnen damit, dass dieser Killer noch frei herumläuft und versucht nachzuholen, was ihm nicht gelungen ist. Das ist auch meine Meinung. Von John Sinclair wissen wir, dass er nicht nur versucht hat, Sie umzubringen, sondern auch eine Nachbarin namens Celine di Cappo.« »Ja, das stimmt.« »Sie ist bestimmt allein - oder?« Lilian nickte. »Ich glaube, dass es besser ist, wenn Sie die Frau anrufen und bitten herzukommen. Dann wären wir zu dritt. Ich kann mir vorstellen, dass sie in einer schrecklichen Angst lebt.« »Das ist wahr. Nur habe ich mich mit ihr nie so besonders gut verstanden. Sie kam mir immer arrogant vor. Spielte die große Lady.« Glenda winkte ab. »Das war sicherlich alles nur Tünche, um gewisse Probleme zu überdecken.« »Kann sein.« Glenda deutete auf das Telefon. »Versuchen Sie es. Es kann nicht schaden.« Lilian war noch skeptisch. »Soll ich wirklich ... ?« »Ja, bitte.« Sie lächelte. »Gut, weil Sie es sind, Glenda. Sie haben mir schließlich das Leben gerettet.« Sie winkte ab. »Ach, hören Sie auf.« Lilian Evans ging zum Telefon. Die Nummer hatte sie gespeichert und brauchte nicht zu wählen. Sehr schnell meldete sich die Frau. Es war klar, dass sie nicht hatte schlafen können. Glenda Perkins hielt sich zurück und beobachtete Lilians Reaktion. Sie hielt sich gut, sie sprach auch nicht zu hektisch und nervös, und Glenda entnahm ihren Worten, dass der Vorschlag auf fruchtbaren Boden gefallen war. Als Lilian auflegte, sich umdrehte und nickte, da lächelte sie auch. »Ja, sie wird kommen.« »Gut, und wann?« »Sofort. Es sind wirklich nur ein paar Schritte.« Glenda erhob sich aus ihrem Sessel. Sie ging auf den Erker zu, in dem eine kleine Sitzgruppe stand. Dort standen auch zwei Leuchten mit jeweils zwei Schirmen von der Wand ab, die aber waren ausgeschaltet, so dass der Erker beinahe im Dunkeln lag und Glenda auch nicht gestört wurde, wenn sie nach draußen schaute, da sie vom Dunkel in das Dunkel hineinsah. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musste sich ebenfalls zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. Auch sie glaubte fest daran, dass die Gefahr noch nicht vorbei war. Irgendwo lauerte Mr. Postman, der knöcherne Killer. Verstecke gab es genug, in denen er ruhig abwarten konnte. Irgendwann, wenn es für ihn richtig war, würde er seine Deckung verlassen und zuschlagen.
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Auf der Straße tat sich nichts. Niemand war unterwegs. Am Himmel hatten sich einige Wolken gebildet, aber es war kein Wind aufgekommen. Über der Szenerie lag das Gefühl der Angst wie eine unsichtbare Bleiplatte. Glenda ging zur rechten Seite des Erkerfensters und zog es auf. Sie wollte ein wenig frische Luft schnappen, denn im Zimmer war es ziemlich stickig geworden. Außerdem konnte sie besser nach Celine di Cappo Ausschau halten, die eigentlich schon hätte erscheinen müssen, denn der Weg war wirklich nicht weit. Glenda konnte nur einen Teil der Straße und des Gehsteigs überblicken, weil der Bewuchs des Vorgartens ihr die Sicht nahm. Sie hörte nichts. Keine Schritte, und auch der Verkehr der nahen Straßen hielt sich im Hintergrund. Keine Stimme, keine Autos, die gestartet wurden, eben die frühmorgendliche Ruhe, die Glenda allerdings suspekt war. Celine kam. Sie war zu hören. Von der rechten Seite her vernahm Glenda das hastige Aufsetzen ihrer Füße, auch wenn die Echos es verzerrten. Aber sie näherte sich ziemlich schnell dem Haus, und Glenda hätte sich eigentlich wohler fühlen müssen. Es war nicht der Fall, denn die tödlichen Überraschungen konnten noch lauern. Lilian kam zu Glenda. Sie hatte die Schritte ebenfalls gehört und wollte aus dem Fenster schauen. Glenda hatte sich hinausgebeugt. Mit einigen Worten wollte sie Lilian Evans beruhigen. Genau in diesem Augenblick passierte es. Die Schritte verstummten! Zuerst wollten es die Frauen nicht wahrhaben. Sie standen zunächst erstarrt, beide aus dem Fenster gelehnt, dann drehten sie die Köpfe und schauten sich an. »Warum?« flüsterte Lilian. »Sie ... sie ist noch nicht hier am Haus. Sie wird es sich doch nicht überlegt haben und ... « »Nein, das bestimmt nicht.« »Und jetzt?« Glenda zögerte noch. Es war wieder still geworden, und genau diese Stille gefiel ihr nicht. Sie hatte etwas Bedrohliches. Darin lauerte eine gewisse Gefahr, die für beide Frauen spür-, aber nicht sehbar war. Es waren diese langen Augenblicke der Ungewissheit, in denen nichts passierte und alles geschehen konnte. »Ich könnte sie rufen ... « Glenda hob die Schultern. »Nein, noch nicht. Sie wird sicher noch überlegen und ... « Da hörten sie den Schrei! Nicht einmal laut, er klang mehr erstickt, weil er auch abgewürgt worden war, und das sicherlich von einer Knochenklaue. »0 Gott!« Lilian zog sich zurück und riss ihre Hände hoch. All die Erinnerungen an ihr eigenes Schicksal strömten wieder zurück. Nicht so bei Glenda. Sie handelte. Bevor Lilian etwas sagen oder sie zurückhalten konnte, kletterte sie bereits aus dem Fenster ...
Ja, ich hatte geschlafen und mich zudem noch ablenken lassen. Vielleicht hatte ich diesen Gordy Manson auch unterschätzt. Jetzt nicht mehr, denn nun starrte ich in die Mündung eines stupsnasigen Revolvers, den er auf mich gerichtet hielt.
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»Verloren, Sinclair, verloren ... « Ich hob die Schultern. »Sieht so aus.« Das Zucken hatte ihm nicht gepasst. »Beweg dich nicht, Sinclair. Hüte dich ... « »Keine Sorge, Manson, ich bin nicht lebensmüde. Sie wollen mich also erschießen.« »Richtig.« »Sie wissen, wer ich bin?« »Nicht genau, aber das spielt wohl keine Rolle.« »Abwarten. Ich bin Polizist. Yard-Beamter. Sie wissen selbst, dass meine Kollegen alles daransetzen werden, um einen Polizistenmörder zu finden. Außerdem haben wir es uns angewöhnt, nicht ohne Rückendeckung zu arbeiten. Die habe ich mir geholt.« »Nein, Sinclair.« Er riss seinen Mund so weit auf wie ein Frosch seinen, um nach einem Insekt zu schnappen. »Nein, nein, und noch mal nein. Das hätte ich gemerkt.« »Moment, Manson, ich habe telefoniert.« »Ja, ich weiß. Ich habe auch zugehört. Ein Bulle spricht anders, wenn er Kontakt zu seiner Dienststelle aufnimmt. Da bin ich Fachmann. Das habe ich oft genug in der Glotze gesehen. Es hat keinen Sinn. Sie können sich nicht herausreden.« »Sehr schlau, Manson.« Er grinste scharf. »Klar, bin ich immer. Aber eine Entscheidung überlasse ich Ihnen noch.« »Danke. Welche denn?« Er sonnte sich in seine Überlegenheit. »Sie können mir sagen, ob Sie dem Tod ins Auge sehen wollen oder nicht.« Ich nickte leicht. »Verstehe, Manson. Sie überlassen es mir, ob ich von vorn oder hinten erschossen werde.« »Genau das.« »Eine Entscheidung ist schwer.« »Das weiß ich. Aber ich habe nicht zu lange Zeit.« Ich überlegte. Nein, überlegen war der falsche Ausdruck. Meine Gedanken jagten sich. Sie suchten nach einem Ausweg aus diesem lebensgefährlichen Dilemma. Ich konnte nie schneller als eine Kugel sein, das stand fest. Und seine Distanz war günstig. Wir saßen uns gegenüber. Ich schaute in die Waffenmündung. Er hatte den Finger am Abzug. Auf dem Gesicht lag ein kaltes Grinsen. Ich maß die Entfernung zwischen uns, ohne dass er es bemerkte. Die Distanz war recht kurz. Beide hatten wir unsere Beine ausgestreckt, und auch der Raum zwischen unseren Füßen war nicht besonders groß. Ich konnte es riskieren. Es war zwar risikoreich, sogar lebensgefährlich, aber so etwas wie eine letzte Chance. Auch dadurch bedingt, dass wir beide auf Drehstühlen saßen. »Was ist jetzt, Sinclair?« »Eine letzte Frage noch - bitte.« Er überlegte nicht lange. »Gut, dann ist Schluß.« »Okay, das verspreche ich. Haben Sie schon einmal geschossen, Mr. Manson, und das auf einen Menschen? Wissen Sie, wie schwer es ist, genau zu zielen und ... « »He, was soll der Scheiß? Ich habe ... « Dann trat ich zu. Mit beiden Füßen, wobei ich die Beine nicht einmal angewinkelt hatte. Ich hatte sie nur vorgestoßen und Mansons Füße angetickt. Nicht einmal kräftig, aber das reichte, denn Manson saß auf einem Drehstuhl, dessen Fläche sich schon bei der geringsten Bewegung drehte. So auch hier.
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Die Waffe zielte plötzlich nicht mehr auf mich. Vielleicht hätte er mich noch getroffen, aber Manson war kein Profi, und er verdaute auch die Überraschung nicht. Der Schuss löste sich, als ich meinen Stuhl längst schon verlassen hatte. Die Kugel richtete bei mir keinen Schaden an. Sie hieb in den Monitor hinein, als wollte sie die Skelettfratze dort zerstören. Für mich war die Szene wie ein Sinnbild. Es trieb mich an, denn jetzt befand ich mich auf der Siegerstraße. Gordy Manson brüllte vor Wut auf. Beim Abdrücken war seine Hand in die Höhe geschleudert worden, und natürlich wollte er sie wieder senken, und sich auch auf dem Stuhl drehen. Er schaffte beides nicht. Ich war blitzschnell bei ihm. Mit einem gewaltigen Schlag wuchtete ich ihn von seinem Platz. Er fiel schreiend zu Boden, zur mir abgewandten Seite hin, und die nächste Kugel schlug irgendwo in die Wand. Dann war ich über ihm. Ich hatte zwei Hände, und die setzte ich auch ein. Mit einer griff ich in sein Haar und zerrte den Kopf des Mannes hoch. Mit der anderen umklammerte ich das rechte Handgelenk. Ich drehte es so weit herum, bis Manson vor Schmerz aufschrie und ihm nichts anderes übrig blieb, als die Waffe fallen zu lassen, die ich zur Seite kickte. Manson jammerte noch. Er lag vor mir. Ich hatte ihn halb in die Höhe gezogen und wuchtete ihn dann zurück auf den Fußboden. Ich war wütend, zornig. Ich hatte hier Zeit verloren, die der verdammte Killer nutzen konnte. Manson röchelte. Der Aufprall hatte ihn fertiggemacht. Als ich ihn herumdrehte und in sein Gesicht starrte, da sah ich, wie er aus der Nase blutete. Sein Gesicht war zu einer Fratze entstellt, aber er lebte noch. Ich kniete mich über ihn. Drückte ihn mit den Beinen zusammen. Hielt eine Hand gegen seine Brust gepresst und hatte meine eigene Waffe gezogen, deren kalte Mündung seine Stirn berührte. »Wo steckt Cassius?« Der Mann spie Blut aus, das ihn von der Nase her in den Mund gelaufen war. »Wo ist er?« »Weg. Nicht hier!« »Ist er unterwegs?« »Er killt. Er holt sich die untreuen Weiber. Er holt sie für sich und den Teufel ... « Ich starrte ihn an. Ich sah in seine Augen und wusste, dass ich aus Gordy Manson nichts mehr herausbekommen würde. Der war einfach zu fest in die Pläne seines Bruders verstrickt und würde dessen Taten immer gutheißen. Da ich schon genug Zeit verloren hatte, gab es nur eine Alternative. Ich holte mit der Beretta aus und schlug ihm den Lauf hart, aber dosiert, gegen den Kopf. Gordy Manson zuckte noch einmal, dann war für ihn der Käse gegessen. Er würde einige Zeit im Reich der Träume verbringen. Genau das durfte ich mir nicht erlauben. Ich musste weitermachen, und ich musste mich verdammt beeilen, um schneller zu sein als Mr. Postman ...
Glenda Perkins hatte den Unheimlichen noch nicht gesehen. Das war auch nicht nötig gewesen. Celine di Cappo hatte nicht umsonst gestoppt. Der andere musste ihr aufgelauert haben, und der abgewürgte Schrei war ein zusätzlicher Beweis gewesen.
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Das schoss ihr durch den Kopf, als sie aus dem Fenster in den Vorgarten hineinsprang und nicht auf einem der Steine landete, sondern auf der weichen Erde. Sie hielt sich an einem Strauch fest und dachte plötzlich daran, dass sie waffenlos war. Das hielt Glenda nicht zurück. Wenn sie den Killer von Celine weglenken konnte, war damit schon mal so etwas wie eine Galgenfrist gewonnen. Er war noch nicht sichtbar. Glenda wurde zu stark die Sicht durch die hohen Sträucher genommen. Sie kämpfte sich vor, um so schnell wie möglich die Straße zu erreichen. Irgendwo hielt er sich auf. Sie war sich sicher. Nach dem nächsten langen Schritt stand sie plötzlich am Rand des Vorgartens und schaute nach rechts. Die Dunkelheit schwamm über dem Gehsteig. Sie schien zu zittern. Das stimmte nicht. Es lag einzig und allein an Glendas Nervosität, die ihr Blickfeld einengte. Die Bewegung konnte sie nicht übersehen. Auch wenn sich Mr. Postman eine dunkle Stelle ausgesucht hatte. Der Raum zwischen zwei dicht belaubten Bäumen, wo keine Laterne ihren Schein abgab. Dort schützte die Finsternis, doch in ihr spielte sich die Szene ab, die Glenda noch nicht deuten konnte. Ohne auf sich selbst Rücksicht zu nehmen, lief sie los. Es waren vielleicht zwanzig Meter und damit eine Entfernung, die jemand schnell zurücklegen konnte. Nach jedem Schritt trat deutlicher zum Vorschein, was sie schon befürchtet hatte. Celine di Cappo war nicht mehr allein. Der Killer hatte sie zu fassen bekommen. Er war über ihr, jedenfalls entnahm sie das den sich heftig bewegenden Umrissen. Wenn sie nicht alles täuschte, wehrte sich die Frau noch. Dann sackte sie zusammen. Glenda hörte ihren leisen Schrei. Ein Wehlaut, der sie noch stärker anspornte. »Hör auf!« brüllte sie Mr. Postman zu. Mehr ein Verhalten aus Hilflosigkeit. Direkt neben dem Baumstamm hatte der Skelettkiller sein Opfer zu Boden gedrückt. Da Celine helle Kleidung trug, war sie gut zu sehen. Sie bewegte sich nicht mehr, und das lebende Skelett hockte noch immer über ihr. Seine Knochenarme waren nach unten gerichtet. So wie er wirkte, musste er die hautlosen Finger um den Hals der Frau gepresst haben. Glenda stoppte nicht. Sie überlegte auch nicht. Sie stoppte ihren Lauf nicht ab und trat aus der Bewegung heraus zu. Glenda hatte auf den Knochenkopf der Gestalt gezielt und sich vorgestellt, dass der Schädel durch die Wucht des Aufpralls in zahlreiche Teile zersplitterte. Ein Irrtum, denn er blieb ganz. Zwar bewegte er sich hin und her, aber er fiel auch nicht ab und schien mit dem Knochenrumpf verwachsen zu sein. Glenda hatte ihren Lauf nur unwesentlich abbremsen können. Deshalb prallte sie auch gegen den rissigen Stamm, doch sie hatte sich zur Seite gedreht. So wurde sie nur an der Schulter erwischt und nicht im Gesicht. Der Schmerz war trotzdem so stark, dass sie sich zunächst nicht auf Mr. Postman konzentrieren konnte. Auch um Celine konnte sie sich nicht kümmern. Selbst ein Blick auf ihr Gesicht ließ der Knöcherne nicht zu. Der Stoß hatte ihn zwar auf den Rücken geschleudert, aber wie ein Mensch rollte er sich herum und brachte sich in die richtige Position. Dann kam er hoch. Schnell, gleitend, überhaupt nicht abgehackt, wie man es eigentlich bei seiner Gestalt hätte erwarten können. Glenda starrte ihn an. Er starrte zurück, obwohl in seinen Augenhöhlen nur tiefe Finsternis lag. Noch immer trug er seine Mütze, auch wenn diese jetzt verrutscht war und der Schirm zur Seite zeigte. Für andere mochte er lächerlich aussehen, für Glenda Perkins nicht. Da war er ebenso makaber und gefährlich wie bei der ersten Begegnung. Ein Wahnsinniger, ein Unhold, über dessen Gebein im Gesicht das Blut rann. Und Blut tropfte auch von seinen verdammten Klauen zu Boden. Frisches Blut ...
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Glenda stand unter dem Baum wie jemand, der eine andere Welt betreten hatte. Diese gesamte Szene war so schrecklich irreal. Sie wollte daran nicht glauben, und doch war es eine Tatsache. Vor ihr stand dieser schreckliche Mörder, und sie wusste nicht, ob Celine di Cappo bereits tot war. Mr. Postman bewegte seinen Knochenkopf. Die Uniform schlotterte um einen Körper. Sie war schmutzig, verklebt. Sie stank. Im Gesicht bewegte sich das Maul noch mehr in die Breite. In der Stille hörte Glenda das leise Knacken des Gebeins. Ihr kam es vor, als würde sie von der Gestalt angegrinst, die genau wusste, was sie zu tun hatte. Blitzschnell kam sie vor. Einen Schritt nur, aber sie wuchs vor Glenda in die Höhe, die in ihrer Verzweiflung die Hände hochriss, denn der andere wollte sie packen. Sie sah diese verdammten Klauen auf sich zukommen. Gekrümmt, gelblich schimmernd, vorn leicht spitz, auch schmutzig und blutverklebt. Glenda hatte ihm nichts getan. Sie hätte nicht auf seiner Liste stehen dürfen, trotzdem wollte er sie aus dem Weg schaffen. Die Knochenhände griffen nach ihr. Sie spürte die Finger wie harte Stöcke, und sie schaffte es, zurückzuspringen, bevor die Klauen richtig zupacken konnten. So rutschten sie an ihren halb erhobenen Armen ab, hätten sich leider beinahe in der Kleidung verfangen, wenn Glenda nicht noch einen Schritt nach hinten zurückgewichen wäre. Mr. Postman gab nicht auf. Er wollte töten. Er killte für den Teufel, nichts anderes gab es für ihn, und deshalb setzte er auch sofort nach. Glenda wich zurück. Weg vom Baum. Sie machte den Fehler und ging auch weiterhin immer nur nach hinten. Sie hätte sich umdrehen müssen, um wegzurennen, das erfasste sie in diesem Augenblick nicht, und so kam es, dass Mr. Postman schneller war. Zudem sprang er noch. Es war ein lächerlich aussehender Hopser, aber er ging über in eine flüssige Bewegung, der Glenda Perkins nicht mehr ausweichen konnte. Diesmal prallte er gegen sie. Er stieß Glenda zurück. Sie blieb noch auf den Beinen, sah jedoch, dass sich dicht hinter ihr die Gehsteigkante befand. Der nächste Schritt war der falsche. Mit dem Fuß kam sie schräg auf. Sie knickte weg, und jetzt gelang es ihr nicht mehr, das Gleichgewicht zu bewahren. Glenda Perkins erlebte die folgenden Sekunden wie in Zeitlupe. Sie fiel auch nicht unbedingt schnell, sie kam sich vor wie eine schwebende Person, die irgendwann einmal am Ziel ankam. Das war in diesem Fall die Straße nahe des Gehsteigs. Sie spürte den Aufprall, und er war nicht einmal schlimm. Viel schlimmer war das Wissen um die Gestalt, die in Reich- und Trittweite vor ihr stand und alle Vorteile auf ihrer Seite hatte. Trotzdem kam er näher. Er ging schleichend. Nur kurze Schritte. Er wusste, wie stark er war. Glenda war klar, dass sie es nicht schaffen würde, auf die Beine zu kommen. Da war er einfach zu schnell, und sie war schließlich kein Geist. Deshalb kroch sie zurück. Verzweifelte Bemühungen einer verzweifelten und auch waffenlosen Frau, dem Grauen doch noch zu entkommen. Sie wollte nicht so sterben, wie dieser Charlie Parker ums Leben gekommen war. Mit von Knochenhänden zerfetzter Kehle, in ihrem eigenen Blut erstickt und ... Die Gedanken rissen. Mr. Postman hatte sich gebückt und blitzschnell zugegriffen. Zum erstenmal spürte Glenda, wie Knochenklauen ihren rechten Knöchel brutal umklammerten. Es blieb nicht nur beim einfachen Festhalten, denn Mr. Postman drehte ihren rechten Fuß herum. Glenda biss die Zähne zusammen. Sie wollte nicht schreien, aber sie schaffte es nicht ganz, denn aus dem Mund drangen keuchende Laute. Dann lag sie auf dem Bauch, weil sie der Bewegung einfach hatte folgen müssen. Sie drehte dem Unhold den Rücken zu. Mit dem Gesicht auf die Straße gepresst, so dass der rauhe Asphalt an ihren Lippen entlang glitt. Die Furcht hatte sie steif werden lassen. Es war eine Situation, wie sie sonst nur in fürchterlichen Alpträumen vorkam, und Glenda erlebte sie in der Realität.
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Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sie die Arme anwinkeln konnte, um sich abzustützen. Doch sie schaffte es trotz ihrer furchtbaren Angst. Hochstemmen und ... Ein Schrei! Nicht sie hatte geschrien, sondern eine andere Person. Aber ebenfalls eine Frau. Das Echo verhallte noch, als der Druck um ihren rechten Knöchel plötzlich verschwand. Glenda blieb einfach liegen. Sie konnte es nicht fassen. Sie glaubte noch immer, sich getäuscht zu haben und bewegte sich deshalb nicht. »Komm endlich!« Die Stimme überschlug sich beim Schrei. Sie sägte in Glendas Kopf. Und diese sirenenhaft gebrüllten Worte verfehlten die Wirkung nicht. Glenda wusste plötzlich, wer diesen Schrei ausgestoßen hatte. Es war Lilian gewesen, die nicht im Haus geblieben war. Sie wälzte sich herum. Das Skelett kroch über den Boden, aber wichtiger war Lilian Evans, der es diesmal gelungen war, Glenda das Leben zu retten. Nicht weit entfernt lag ein großer Stein, den sie aus dem Vorgarten mitgeschleppt hatte. In ihrer Angst musste sie fast übermenschliche Kräfte entwickelt haben, denn der Stein war verdammt schwer. Und sie hatte ihn hochgewuchtet und auch getragen. »Komm, komm, komm!« Lilian wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Sie ging auch zurück und lockte damit das Skelett von Glenda Perkins weg. Glenda raffte sich auf. Ihre Bewegungen waren nicht normal. Sie kam mühsam auf die Füße. Sie torkelte und hatte dabei das Gefühl, über einen schwammigen Boden zu laufen, der sich ähnlich wellte wie ein wogendes Meer. Sie lief noch gebückt und mehr am Boden als aufrecht zu Lilian hin, die sich umgedreht hatte, keinen Schritt mehr ging und ihr entgegenschaute. Glenda sah den fiebrigen Blick in Lilians Augen. Sie sah aus wie eine Frau, die eine weite Reise durch eine Region des Schreckens hinter sich hatte. Und sie bewegte sich erst, als Glenda gegen sie stolperte und sich an ihr festhielt. Der Schrei war nicht ungehört geblieben. Einige wenige Menschen, die keinen Schlaf hatten finden können, zeigten sich an den offenen Fenstern und schauten nach unten. So richtig bekamen sie nicht mit, was die beiden Frauen für einen Schrecken durchlebten. Mr. Postman gab nicht auf. Er kam wieder hoch. Aber es war ihm anzusehen, welch gewaltige Kraft ihn da erwischt hatte. Der schwere Stein war mit voller Wucht auf den Knochenkörper gefallen, und ihn hatte auch kein Uniformstoff schützen können. Sein Körper war in Mitleidenschaft gezogen worden. Irgend etwas unter der Kleidung musste gebrochen sein. Vielleicht an der linken Hüft- oder Brustseite, denn Mr. Postman ging schräg und leicht eingeknickt. Er konnte sich nicht mehr normal bewegen. Er hinkte, aber er dachte nicht daran, aufzugeben. So leicht war er nicht zu stoppen. Er wollte seine Beute. Er wollte das Blut der Frauen fließen sehen, und er tat es einzig und allein für seinen großen Mentor im Hintergrund, den Teufel. Deshalb hielt ihn nichts auf. Er wuchtete sich weiter. Zackig bei jedem Schritt. Er schien vorher immer Kraft zu holen, ehe er sich weiterbewegte. Er war ein Untier, und er kam ihnen auch nach, als sie längst den Gehsteig erreicht hatten und den Weg wieder zurückliefen. Wo sollten sie hin? Für die beiden Frauen gab es nur ein Ziel. Es war das Haus, in dem Lilian wohnte. Nichts anderes mehr. Dort konnten sie sich zwar keine Ewigkeit verstecken, aber durchaus halten, sich auch verteidigen. Nur mussten sie die Tür vor ihrem Verfolger erreichen. Glenda hatte ihre Schwierigkeiten mit dem schnellen Laufen. Die Klaue war einfach zu stark um ihren Knöchel gepresst worden. Jeder Schritt mit dem rechten Bein wurde zur Qual. Die Schmerzen zogen bis in die Wade hinein. Das merkte auch Lilian. Sie lief an Glendas linker Seite, wollte sie antreiben, sah dann das verzerrte Gesicht, hörte auch das Keuchen und wusste, dass ihre neue Bekannte nicht mehr so konnte, wie sie wollte.
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Sie half ihr. Stützte sie ab. »Komm, nicht aufgeben, Glenda. Jetzt bin ich an der Reihe. Vorhin hast du mir Mut gemacht.« »Okay, okay, ich halte schon durch!« Sie drehten sich nicht um. Es hätte sie aufgehalten, aber sie wussten, dass ihnen Mr. Postman auf den Fersen war, denn sie hörten seine Schritte. Zwar setzte er nicht mit den Knochenfüßen auf, er trug schließlich Schuhe, aber er ging auch nicht lautlos, und das Tapp Tapp hörte sich mehr als gefährlich an. Beide Frauen erreichten den Vorgarten, ohne dass etwas geschehen wäre. »Jetzt nur noch bis zur Haustür, Glenda!« drängte Lilian, »nur noch bis zur Tür ... « Glenda nickte nur. Ging aber weiter. Versuchte, nicht mit dem rechten Bein voll aufzutreten, weil der Schmerz sonst einfach zu groß wurde. Lilian hatte die Tür nicht geschlossen. Das erwies sich jetzt als Vorteil. Sie schob Glenda hinein und ließ sie erst los, als sie im Flur standen. Dann drehte sich Lilian auf der Stelle und knallte die Haustür zu. Als sie ins Schloss fiel, klang es beinahe so laut wie ein Pistolenschuss. Glenda lehnte an der Wand. Sie atmete heftig. Das Flurlicht erhellte ihr schweißfeuchtes und verzerrtes Gesicht. Sie atmete durch den offenen Mund und hielt das rechte Bein angewinkelt, um nicht mit dem Fuß auftreten zu müssen. Lilian schaute sich hektisch um. Wie eine Fremde im eigenen Haus. Es gab nur die Möglichkeit, in einem der Zimmer zu verschwinden, und sie entschied sich für das Wohnzimmer. Dort standen auch Gegenstände, die sich möglicherweise zur Verteidigung eigneten. »Kannst du noch?« Glenda hob den Kopf an und lachte scharf. »Kommt darauf an, wohin du mich schaffen willst.« »Scherzkeks. Ins Wohnzimmer natürlich.« »Okay, dann komm.« Diesmal brauchte Lilian Glenda nicht zu stützen. Den kurzen Weg schaffte sie allein, auch wenn sie humpelte wie Mr. Postman. Sie quälte sich durch, und Lilian hielt ihr die Tür auf. Es sah noch alles so aus, wie sie es verlassen hatten. Keine Veränderung, kein Skelett, und Glenda war froh, sich in den nächstbesten Sessel fallen zu lassen. Lilian blieb neben ihr stehen. »Und was machen wir jetzt?« keuchte sie voller Hektik. »Abwarten!« »Auf wen?« »Ich werde versuchen, John Sinclair zu erreichen. Verdammt, er muss kommen. Er geht nicht ohne Handy, und ... « Glenda verschluckte ihre nächsten Worte, denn sie hatte sehr gut Lilians heftige Drehbewegung nach links gesehen. Lilian blieb stehen, starrte in eine bestimmte Richtung. Und zwar so intensiv, dass es auch Glenda auffiel. »Was ist denn?« »0 Gott!« stöhnte Lilian Evans. »Das Fenster. Das verdammte Fenster steht noch immer offen ... « Beide Frauen sahen, wie sich von außen her zwei Knochenhände in die Höhe schoben und die ziemlich tief liegende Fensterbank umklammerten...
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Es hatte für mich keinen Sinn gehabt, erst noch versuchen zu telefonieren. Ich wollte mich durch nichts aufhalten und ablenken lassen. Wichtig war einzig und allein Mr. Postman. Ihn musste ich stellen. Es durfte zu keinem zweiten Mord mehr kommen. Ich war wie ein Schatten aus dem Haus gehuscht und rannte los. Ein einsamer Flüchtling in der Nacht. Dieses Bild hätte ich für jeden Beobachter abgegeben. Dieser verdammte Gordy Manson hatte mich aufgehalten. Mein Leben hatte auf der Kippe gestanden. Gut, ich hatte mich retten können und hoffte nun, auch andere zu retten. Falls nicht schon zuviel Zeit vergangen war. Da ich mich praktisch immer im Training befand, brauchte ich mir um meine Kondition auch keine Sorgen zu machen. Sie war gut, und ich kam entsprechend schnell voran. Mit langen Sätzen, mich immer wieder abstoßend, federnd laufend. Himmel, was einem alles durch den Kopf schoss, wenn man es so verdammt eilig hatte. Der erste Pluspunkt stand auf meinem Konto, als ich die Straße erreichte hatte. Sie lag jetzt vor mir wie eine große, sich nach hinten öffnende Bühne, wobei ich auf der gleichen Seite lief, an der das Haus der Lilian Evans stand. Es klappte wunderbar. Der Gehsteig war leer. Auch auf der Straße sah ich keine Gestalten und erst recht keinen Postman. Also weiter. Die Hoffnung verstärkte sich. Bäume wischten an mir vorbei. Hausfassaden ebenfalls. Sie waren nicht mehr als Momentaufnahmen im prall gefüllten Film meines Gehirns. Es ging immer weiter, das Ziel rückte näher, und ich verringerte mein Tempo, da ich nicht wie ein abgekämpfter Hund nach der Jagd bei Lilian Evans eintreffen wollte. Langsamer laufen. Beinahe Jogging-Tempo. Dann noch weniger. Ich schritt jetzt aus. Rechts standen die Bäume. Links von mir lagen die Vorgärten und die Fronten der Häuser. In meiner Nähe war es still. Eine Stimme klang irgendwo über mir auf, aber ich verstand nicht, was der Mann sagte. Das Stöhnen überhörte ich nicht. Obwohl ich langsam lief, fiel es mir schwer, den Lauf zu stoppen, und ich rutschte noch ein Stück nach vorn, bevor ich anhalten konnte. An der rechten Seite. Ich drehte mich. Sah den Baum, den Stamm - so schnell wie vorhin beim Laufen. Furcht stieg in mir auf. Das Bündel war ein Mensch, eine Frau. Ich sah sie, ich sah das Blut in ihrem Gesicht und am Hals. Die Zeit musste ich mir einfach nehmen, so sehr es mich auch drängte, zu Glenda und Lilian zu gelangen. Ich bückte mich, und zugleich klang mir ihr Stöhnen entgegen. Es war Celine di Cappo, die neben dem Baumstamm lag und die fürchterlichen Wunden hatte. Sie brauchte so schnell wie möglich einen Arzt, den ich über Handy anrief. Dabei blieb mein Blick auf ihr Gesicht gerichtet. Ich sah den schwachen Glanz der Angst in ihren Augen. Er flimmerte dort wie eine Bitte. Den Anruf hatte ich beendet, der Notarzt würde kommen, und ich wollte ihr noch einige tröstende Worte sagen, in der Hoffnung, dass sie mich auch hörte. »Es ist Hilfe unterwegs, Celine. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen ... « Ob sie mich verstanden hatte, wusste ich nicht. Eine Reaktion jedenfalls zeigte sie nicht. Zum Abschied strich ich ihr über ihr erhitztes Gesicht, und die Wut auf den verdammten Postman steigerte sich. Ich wollte und musste ihn haben. Der Weg zum Haus der Lilian Evans war nicht mehr weit. Da Mr. Postman versucht hatte, Celine zu töten, musste ich einfach davon ausgehen, dass er es bei den anderen beiden ebenfalls versuchte, falls er es nicht schon geschafft hatte.
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Die Angst peitschte mich weiter, Häuser an der linken Seite. Noch zwei Fassaden, dann stand ich am Ziel. Das Erkerfenster fiel auf. Ich sah auch den leichten Lichtschimmer hinter dem Glas. Wollte schon vorbei und zum Eingang laufen, als ich mitten in der Bewegung stoppte. Von außen her hatte sich eine dunkle Gestalt in die Höhe geschoben. Das Gesicht sah ich nicht, dafür aber die Kopfbedeckung, die schräg auf dem Schädel saß. Es gab keine andere Möglichkeit. Derjenige, der dabei war, in die Wohnung zu klettern, war Mr. Postman ... Endlich hatte ich ihn! Ich stand hinter ihm. Uns trennte nur der Vorgarten. Ich kam mir vor wie jemand, der seinen Erfolg im Moment nicht fassen konnte. Die Gestalt dachte gar nicht daran, sich umzudrehen. Sie schob sich höher, sie glotzte in den Raum hinein, aus dem ich eine Frauenstimme hörte. Es war nicht zu unterscheiden, wer gesprochen oder geschrien hatte, ob Glenda oder Lilian, jedenfalls mussten sie das killende Skelett gesehen haben. Es wollte einsteigen. Es hatte nur ‚Augen’ für die beiden Frauen. Was hinter ihm geschah, sah es nicht. Diesmal ließ ich mir Zeit. Ich war die Ruhe selbst. Das Kreuz steckte bereits in der Tasche. Die Beretta griffbereit vor mir im Gürtel. Den Blick hatte ich auf Mr. Postmans Rücken gerichtet und ging die ersten Schritte auf den Rand des Vorgartens zu. Ich bewegte mich nicht einmal schnell, nur eben so lautlos wie möglich. Das Skelett drehte sich nicht um. Es war damit beschäftigt, in das Haus zu klettern. Die Öffnung des Fensters war breit genug, nichts konnte Mr. Postman noch aufhalten. Weiche Erde wurden von meinen Schuhen zusammengedrückt. Ich wich Sträuchern aus, um so jedes verräterische Geräusch zu vermeiden. Und so kam ich dieser schrecklichen Gestalt näher und näher, die noch immer nichts bemerkt hatte. Sie zog sich jetzt hoch. Sie winkelte unter der Uniform das rechte Knochenbein an, um sich mit dem Knie abstützen zu können. Genau darauf hatte ich gewartet. Der letzte Schritt. Ich war da. Streckte den linken Arm aus. Legte ihn auf die Schulter der Gestalt. Der heftige Ruck. Das Skelett fiel mir entgegen. Ich trat dabei einen kleinen Schritt zur Seite und schaute zu, wie Mr. Postman rücklings zu Boden fiel und liegen blieb ... Jetzt sah ich auch sein Gesicht! Noch nie hatte ich aus dieser kurzen Distanz hineingeschaut. In eine Fratze, die wirklich nichts Menschliches an sich hatte. In der sich das Blut mit der gelben Farbe des Gebeins regelrecht verschmiert hatte. Ein widerlicher Anblick. Mr. Postman machte beinahe sogar einen hilflosen Eindruck auf mich. Den Frauen war aufgefallen, dass der Killer es nicht mehr versuchte. Sie hatten Mut gefasst und waren ans Fenster getreten. Ich nahm die Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, drehte für einen Moment den Kopf und schaute auf die angestrengten Gesichter. Glenda beugte sich mir entgegen. »John, endlich! Bitte, gib mir die Waffe!« »Moment, was willst du?« »Deine Beretta. Ich will ihn killen. Verdammt noch mal, es steht mir zu!« Ich überlegte nicht lange. Aus ihrer Sicht hatte Glenda recht. Zu stark hatte sie unter Mr. Postman leiden müssen. Deshalb streckte ich meinen Arm schräg zur Seite hin und gleichzeitig nach oben, um ihr die Beretta zu reichen. Schießen konnte Glenda. Das hatte sie schon mehr als einmal bewiesen. Sicherheitshalber umfasste sie die Pistole mit beiden Händen. Lilian Evans war zurückgetreten und sagte etwas zu ihr, was ich nicht verstand.
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Glenda hatte sich die beste Zielposition ausgesucht. Die Mündung wies schräg in die Tiefe, und sie verfolgte die Bewegungen des Skeletts, das versuchte, sich aufzurichten, um möglicherweise sein Heil in der Flucht zu suchen. Ich trat zur Seite. Das Kreuz hielt ich fest. Beinahe konnte ich meine Hand daran wärmen. Dann fiel der erste Schuss! Ich sah das blasse Mündungsfeuer, bevor die Kugel ein Loch in die Uniform stanzte und die Knochen traf. Der zweite Schuss! Diesmal hieb die geweihte Silberkugel in die dünne Kehle. Glenda feuerte erneut. Sie traf den Kopf. Jeden Schuss begleitete sie mit einem Schrei der Wut oder der Erlösung. Wahrscheinlich kam da beides zusammen. Mr. Postman musste die Treffer nehmen. Er tanzte. Er wurde herumgeschleudert. Er brach zusammen, und er versuchte, auch wieder in die Höhe zu kommen. Seine Uniform war perforiert worden. Aus den Löchern sickerte plötzlich Rauch, der eklig stank, als wären alte Kadaver verbrannt worden. Der Vorgarten würde für Mr. Postman zum Totenplatz. Glenda hatte schließlich fünf Kugeln verschossen, bevor sie die Waffe wieder sinken ließ. Die letzte Kugel hatte Mr. Postman irgendwo im Kreuz getroffen und ihn nach vorn geschleudert. Er lag jetzt auf dem Bauch. Seine Klauenhände zuckten, als wollten sie die Erde aufreißen und sich einen Fluchttunnel graben. Nein, das schaffte er nicht. Er verging. Sein Schädel war schwarz geworden. Ich sah es deshalb, weil ich ihm die Mütze vom Kopf getreten hatte. Der Killer verbrannte nicht, er verkohlte. Er kokelte aus. Die Knochen verloren ihre gelbe Farbe und auch die Härte. Sie bröselten zusammen. Ein stinkender Rest blieb zurück, eingehüllt in die Kleidung des Briefträgers, wobei die Mütze besonders auffiel, die auf dem Rest lag, als wollte sie ihn beschützen. Ich winkte Glenda zu, die noch immer auf den Rest starrte. Ihr Blick war nach innen gerichtet. Wahrscheinlich musste sie sich erst darüber klar werden, dass es Mr. Postman nicht mehr gab. Dass ich ihr die Beretta abnahm, bekam sie auch nicht mit. Vielleicht hörte sie nicht einmal die Sirene des Notarztwagens. Die allerdings nahm ich wahr. Deshalb verließ ich den Vorgarten, um auf den Arzt zu warten und ihn einweisen zu können. In meinem Leben hatte ich ja schon viele lange und gefährliche Nächte erlebt. Diese aber gehörte zu denen, die ich nicht so schnell vergessen würde. Und die Menschen hier im Viertel würden sich wohl an einen anderen Briefträger gewöhnen müssen, denn weder Cassius noch Gordy Manson waren in der Lage, diesen Job weiterhin auszuführen ...
ENDE
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