Frank Goyke
Muttermord
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Frank Goyke
Muttermord
s&p 12/2006
Nichts. Michael betätigte den Lichtschalter. Er hob die Teppiche an. Die Dielung darunter war gescheuert. Er nahm die Reproduktion von der Wand. Sah braune Spritzer auf der Tapete. Ihm kam es vor, als hätte man seine Beine gekocht und die Knochen herausgelöst, aber er stand. Er ging auch. Er konnte gehen. Ging hinaus. Über die Betonplatten. Um das Haus herum. In den Schuppen. Machte Licht. Wieder einmal. Seit Stunden schaltete er Glühlampen ein und aus und ein und aus. Griff nach dem Spaten. Nach der Taschenlampe. Sie legte er zurück. Der Schein aus dem Schuppen würde genügen. Er wollte Gewissheit, aber keine zu deutliche. Dann ging er graben. ISBN: 3-434-54060-1 Verlag: Rotbuch Erscheinungsjahr: 2006 Umschlaggestaltung: Bayerl & Ost, Frankfurt am Main
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Buch Der siebzehnjährige David Leichtner fährt MountainbikeRennen und träumt davon, einmal ein richtiger Profi zu werden. Die Mutter Angelika unterrichtet in einer ABM-Maßnahme Jugendliche, denen sie Kunst und Kultur nahe bringen soll, der Vater Manfred ist nur mit seiner Firma beschäftigt. Davids Halbbruder Aaron interessiert sich zunehmend für die DVDSammlung, das Bike und die coolen Turnschuhe des großen Bruders – ein Narrenschiff nennt Angelika ihre Familie, die in einem kleinen Haus in Rosenthal am Ortsrand von Berlin wohnt. Eine ganz normale Familie, die durch einen grausamen Mord erschüttert wird: Im Affekt ersticht David seine nörgelnde Mutter mit einer Schere. Die beiden Brüder vertuschen die Tat so geschickt, dass Manfred Leichtner seine Frau als vermisst meldet. Eigentlich kein Fall für Dietrich Kölling und die Zweite Mordkommission, wäre da nicht Beate Nowikowski von der Vermisstenstelle, die mehr vermutet als eine Frau, die ihre Familie verlassen hat. Kölling hat allerdings ganz andere Sorgen: Ein Kindermörder hinterlässt im Norden Berlins die zerstückelten Leichen seiner Opfer, die vierte Knabenleiche ist schon in Einzelteilen aufgetaucht. Einen Profiler braucht und will Kölling nicht, doch mehr und mehr fragt er sich, ob die Kollegin Nowikowski nicht auf der richtigen Spur im falschen Fall ist.
Autor Frank Goyke wurde 1961 in Rostock geboren, von 1983 bis 1988 studierte er Theaterwissenschaft in Leipzig, danach folgten Tätigkeiten als Redakteur und Lektor. Von 1991 bis 1996 war er Dramaturg an einem Berliner Off-Theater. Seit 1997 lebt und arbeitet Goyke als freier Schriftsteller in Berlin. Sein Roman Dummer Junge, toter Junge wurde 1996 mit dem »Marlowe« der Raymond-Chandler-Gesellschaft als bester deutschsprachiger Kriminalroman ausgezeichnet. In der Reihe mit Kommissar Dietrich Kölling sind bisher sieben Bände erschienen, u. a. Der kleine Pariser, Grüße vom Boss und zuletzt Hexentanz.
Erstes Kapitel Er atmete gleichmäßig, wenn auch tiefer als sonst, und gleichmäßig trat er in die Pedale. Der Asphaltweg zur Stadt hinaus stieg leicht an. Er trat ein wenig kräftiger, aber sein Atmen blieb nahezu unhörbar. Seine Muskeln bewegten sich leichtgängig wie die Räder in ihren Lagern, so als koste ihn die Fahrt nur wenig Kraft. Manchmal allerdings presste er für kurze Zeit die Lippen aufeinander, ohne es selbst zu bemerken. Einmal warf er verstohlen einen Blick auf seine Armbanduhr. Eine Trainingsstunde stand ihm noch bevor. Er schwitzte unter dem Sturzhelm, und auch den Rücken fühlte er nass werden. Die Steigung des Weges hatte zugenommen, doch seine Hände in den fingerlosen Handschuhen hielten entspannt den Lenker umfasst, und in den Waden spürte er nichts: David war stolz auf seine Kondition, denn er hatte sein Training vernachlässigt, seitdem er mit Mar ja ging. Jetzt war er wieder jeden Tag dabei, er hatte sich geschworen, alles unter einen Hut zu bekommen, die Schule, den Sport und die Liebe. Sein Training hatte ein Ziel, in vier Wochen würde er ein Mountainbike-Rennen fahren, irgendwo im tiefsten Brandenburg. In wenigen Minuten würden sie sich an der Grenze zu Brandenburg befinden. Neben sich wusste er Norman, vor sich sah David die Rücken von Mario und Uwe in den weißen Trikots mit der Werbung. Die Innungskrankenkasse war jetzt ihr Hauptsponsor, und die Innungskrankenkasse war es auch, die den Cross Country Cup für Berlin und Brandenburg gestiftet hatte. Da verstand es sich von selbst, dass alle im Team die besten Plätze belegen wollten, aber das wollten sie immer. David trat gleichmäßig, nur mit etwas mehr Kraft. Dann hatten sie die Straße erreicht, die Schildow und Lübars verband. Nach 4
dem Überqueren der Straße ging es wieder bergab, und ohne dass die Jungen sich verständigen mussten, sprinteten sie los, hinab zum Kölpchensee, der sich unmittelbar an der Stadtgrenze befand. Es war ein windstiller Frühlingstag, was ihnen um die Ohren pfiff, war allein der kühlende Fahrtwind. David fühlte sich frei in diesem Moment, es machte einen Heidenspaß, wenn man einen Abhang hinunterjagte, fast flog er, und die anderen flogen mit ihm. Den neuen Hauptsponsor hatte sein Vater beschafft. Der Vater gehörte als Maurermeister der Bauinnung an, er war seit einem halben Jahr Präsident des RSV Sturmvogel, was sich bedeutend anhörte, aber mit den Präsidenten anderer Sportvereine nicht zu vergleichen war. Der RSV Sturmvogel hatte gerade einmal dreißig Mitglieder, unter ihnen vielleicht zwanzig Aktive. Aber das Überschaubare und Familiäre gehörte zu den Vorzügen des Vereins. Bei den Rennen waren der Spaß und das Zusammengehörigkeitsgefühl viel wichtiger als Siege oder Platzierungen. Von Sponsoren wurde nicht viel mehr erwartet als neue Trikots oder auch mal ein neuer Van zum Transport der Fahrer. Trotzdem rechnete David, rechneten alle Mitglieder es dem Präsidenten hoch an, dass er die Innungskrankenkasse gewonnen hatte. Bei einem kleinen Club von Mountainbikern konnte mit großen Werbeeffekten nicht gerechnet werden. Das Möbelhaus, der frühere Hauptsponsor, hatte sich denn auch nach zwei Jahren wieder zurückgezogen. Nun fuhr RSV Sturmvogel eben für eine Krankenkasse und hatte auch schon neue Trikots bekommen. David hatte seinen Rennplan für das Cross Country in Brandenburg noch nicht, deshalb fuhr er im KB mit, im Kompensationsbereich, um seine körperliche Belastbarkeit zu erhöhen. Man trainierte dabei vor allem im flachen Gelände, der kleine Berg an der Stadtgrenze war nur ein Intermezzo, und eine Pulsfrequenz von achtzig bis hundertzehn Schlägen pro Minute war das Ziel der Übung. Norman, Mario und Uwe hatten sich 5
David vor allem aus Freundschaft angeschlossen, sie sollten eigentlich seit gestern im EB trainieren, im Entwicklungsbereich. David hätte auch allein fahren können, aber natürlich machte es mehr Laune mit den Kumpels. Fun, das war das Wichtigste. Aber eine gute Platzierung bei einem Rennen nahm natürlich jeder gern mit. Die Piste, auf der sie ihre Runden drehen wollten, war im früheren Grenzgebiet der DDR zu Westberlin gelegen, im Mauerstreifen. Vor vielen Jahren hatten hier nur die Kübelwagen der Grenzsoldaten fahren dürfen, nun aber hatten sie es erobert, sie, die Biker. Der Asphaltweg brach in Glienicke ab und wurde zu einer Sandbahn, das Fahren wurde nun schwieriger, aber David brauchte weder einen Muskelkater zu fürchten noch Verspannungen, schließlich war er ja nicht ganz aus dem Training ausgestiegen und hatte im Übrigen Magnesiumtabletten genommen. Er hielt auch gut mit den anderen mit, die im Moment vielleicht eine etwas bessere Kondition hatten als er. Nicht eine Muskelfaser spürte er, was er vermisste, denn es konnte auch ein angenehmes Gefühl sein, wenn der Körper seine lebendige Existenz vermeldete. Doch als sie sich entschlossen, nur so zum Spaß einmal die Zeit zu nehmen, da wurde ihm klar, wie sehr er sein Training vernachlässigt hatte. Seine Zeit war miserabel. Ihre Hände zitterten so sehr, dass der Kaffee über den Rand der Tasse schwappte, und vermutlich hätte sie das Steingutgeschirr sogar fallen lassen, aber sie stellte es rasch auf das Klavier. Wütend war sie vor allem, aber auch deprimiert und am Ende ihrer Kräfte. Sie hätte schreien können, aber sie schrie nicht, weil sie sich selbst zum Vorwurf machte, was vor einigen Minuten geschehen war. Wieder einmal zweifelte sie an ihren Fähigkeiten. Und wenn sie nicht an ihren Fähigkeiten zweifelte, dann am Sinn ihrer Arbeit. Angelika Leichtner klopfte sich eine 6
Zigarette aus der Schachtel und steckte sie in den Mund. Sie brauchte drei Anläufe, um dem Feuerzeug eine winzige Flamme zu entlocken. Als sie den ersten Zug nahm und tief inhalierte, begann wieder das Stechen in der Lunge. Sie rauchte zu viel, schon die zweite Schachtel hatte sie an diesem Tag angebrochen. Sie rauchte aus Angst und Verlegenheit, wenn sie nicht weiterwusste, und sie rauchte, wenn sie sich für ihre Angst und Verlegenheit schämte; sie rauchte also immer. Dabei hatte sie ihre Arbeit voller Enthusiasmus begonnen und in ihr mehr gesehen als einen Job, hatte sie als Berufung betrachtet, als gesellschaftlichen Auftrag. Jetzt war sie nur noch froh, dass sie etwas Geld verdiente. Niemand vermochte zu sagen, wie lange noch. »Wie ist es gelaufen?«, fragte Jonas, der Projektleiter. Angelika zuckte nur die Schultern. Jonas musterte sie eine Zeit lang, und Angelika war klar, dass er ihr ansah, wie es gelaufen war. Auch er kannte diese Misserfolge, aber er nahm sie sichtlich leicht: Wenn er das Gefühl hatte, sich sinnlos verausgabt zu haben, ließ er ein paar ironische Kommentare über die allgemeine Verblödung ab und verschwand, um im Arbeitsamt neue Stellen für das JugendKunstKulturProjekt Open Hands zu erkämpfen. Immerhin hatte er erreicht, dass es seit sieben Jahren existierte. Angelika Leichtner war nunmehr seit anderthalb Jahren dabei. In schwachen Stunden, und schwache Stunden hatte sie oft, sah sie ihr Leben nach dem Abitur als einen Abstieg, der sein Ende noch lange nicht erreicht hatte. Sie stand beim JKKP doch nur in Lohn und Brot, damit die Arbeitslosenstatistik geschönt werden und der faule Staat sich selbst vorspiegeln konnte, er würde etwas für die Jugend tun. Angelika Leichtner drückte ihre Zigarettenkippe aus und trank einen Schluck von dem Kaffee. Er war stark, bitter und reizte ihre Magennerven. Aber der Magen schmerzte sowieso wie stets nach einer Niederlage. 7
»Muss wieder mal schlimm gewesen sein«, sagte Dorothee, eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wie sie alle. Dorothee war die Sekretärin, aber sie nannte sich Projektgruppenleiterin Gestaltung, weil das Arbeitsamt eine Sekretärin nicht bewilligt hatte. Ohne Dorothee wäre das JKKP längst zusammengebrochen. Ihr Stellenprofil hatte sich Angelika ausgedacht, und nach diesem Profil zu urteilen, arbeitete die Sekretärin des Vereins bei der Freizeitgestaltung an zwölf Pankower Schulen mit. Alles war Betrug, aber Dorothee hielt nicht nur die Fäden zusammen, sie hatte auch drei Kinder zu versorgen. Das adelte den Betrug nicht nur, es löschte ihn aus. »Ich musste vorhin mal durch euren Raum, du hast es gar nicht bemerkt … Also, ich würde so viel Geduld gar nicht aufbringen.« Angelika nickte. Sie brachte diese Geduld auch nur scheinbar auf. Nach außen hin wirkte sie immer ruhig, aber in ihr tickte eine Zeitbombe: Noch zwei, drei solcher Erfahrungen, und sie würde verbrannte Erde hinterlassen. Bei Open Hands war sie die Projektleiterin Bildkünstlerisches Gestalten. Schulklassen konnten sich zu so genannten Projekttagen anmelden, und dann versuchte sie, die Schüler nicht nur mit der Kunst vertraut zu machen, sondern sie zu Eigenschöpfungen anzuregen. Vor allem die Jüngeren und die künstlerisch interessierten Gymnasiasten vermochte sie gelegentlich mitzureißen, aber oft genug zeigten ihr die Jugendlichen, dass sie nur am Kaugummikauen und am anderen Geschlecht interessiert waren. »Ich weiß auch nicht, wie lange ich das noch durchhalte«, gestand Angelika, und Dorothee machte ein bekümmertes Gesicht. An diesem Tag hatte sie die achte Klasse einer Realschule zu betreuen gehabt, genauer gesagt, den Teil dieser Klasse, der sich für den von der Schulleitung verordneten Projekttag bei Bildkünstlerisches Gestalten eingetragen hatte. Es waren fünf Mädchen gewesen und drei Jungen, eine überschaubare Gruppe eigentlich. Keiner von ihnen hatte sich auch nur im 8
Entferntesten für Kunst interessiert; die acht, von denen zwei der Mädchen mit zwei der Jungs gingen, hatten sich nur eingetragen, weil dieser Projekttag außerhalb der Schule stattfand, sie hatten ihn daher für einen freien Tag gehalten. Die Zeichenlehrerin oder Kunsterzieherin oder wie immer sich diese Idiotin nannte, hatte von vornherein erklärt, sie könne wegen eines Arzttermins leider nicht anwesend sein. Das allein hätte Angelika Leichtner schon zu denken geben müssen. Als sie vor die Schüler trat, wusste sie bereits, dass sie verloren hatte. Die beiden Pärchen kauten Kaugummi, knutschten, kauten Kaugummi und knutschten wieder. Angelikas einführende Worte prallten an ihnen ab wie jedes Wort, weil ihnen Sprache nichts bedeutete, Sprache nicht, Kunst nicht, Gedanken nicht, nur Kaugummis und Knutscherei und Turnschuhe. Angelika kleidete sich immer ein wenig jugendlich für ihre Projekttage, und als fünfundvierzigjährige Frau konnte sie sich das wohl auch leisten. Und dann hatte einer der knutschenden, Kaugummi kauenden, vor Lässigkeit völlig verspannten Jungen zu ihr gesagt: Was haben Sie denn für Scheißturnschuhe an? Vier Stunden sollte der Projekttag währen. Angelika hatte fünf Minuten nach seinem Beginn, als die acht Teilnehmer über diese freche Bemerkung laut wieherten, bereits aufgegeben. Aber nicht deswegen brach sie jetzt vor Dorothee und der Kaffeetasse in Tränen aus. Der knutschende, kauende, der megacoole Bengel hatte sie an ihre Söhne erinnert. Er war blond gewesen wie sie, hatte seine Haare getragen wie sie, war gekleidet gewesen wie sie und war ebenso unkontrollierbar. Und wie ihren beiden Söhnen, wie David und Aaron, war ihm die Kunst nicht nur fremd, er verachtete sie sogar. So hatte ihr dieser Bursche angetan, was ihr die Söhne antaten, ganz Produkt ihres Vaters und Stiefvaters und jedenfalls des Mannes, den sie einmal geliebt und für den sie Davids leiblichen Vater verlassen hatte. Sie war nicht bereit, es länger zu ertragen. Sie war nicht mehr bereit zu dulden, dass Aaron sie ignorierte, 9
wenn er die von seinem Halbbruder ausgeliehene DVD Riddick – Chroniken eines Kriegers sehen wollte, ein ausgesprochen dummes Machwerk. Sie war nicht mehr bereit, David alle Wünsche zu erfüllen, nur weil sein Stiefvater Präsident eines Sportvereins war. Diese Radlerschuhe Sidi Fire, für die der Junge vermutlich durchs Feuer gehen würde, kosteten über hundertfünfzig Euro, und das konnten sie sich nicht leisten. Die Jungen wussten es nicht, und sie sollten es auch nicht wissen. Die Sidi Fire würde David jedenfalls nicht bekommen. David drehte den Knauf mit dem roten Symbol ein wenig nach rechts, damit das Wasser noch heißer würde, als es ohnehin war. Er stöhnte, als der Strahl aus der Dusche seinen Rücken traf, er stöhnte vor Schmerz und vor Wonne. Der Schmerz erinnerte ihn an das Zurückliegende, an die schlechte Zeit beim Training, die Wonne hingegen an Marja. Noch waren seine Eltern nicht zu Hause, sondern nur Aaron. Sein kleiner Bruder guckte sich wieder Riddick – Chroniken eines Kriegers an, das war an der Musik unzweifelhaft zu erkennen. Vermutlich wichste er dabei. Auch David bekam einen Ständer. Der Ständer gehörte Marja, mit der er noch nie geschlafen hatte, jedenfalls nicht wirklich: In seinen Phantasien tat er es nahezu unablässig. Mit Roxanne, seinem ersten Mädchen, hatte er viermal Sex gehabt, dann war es nach drei Wochen auseinander gegangen. Bei Marja war es anders. Marja wohnte drüben, sie wohnte im Märkischen Viertel. Als David noch ein Kind gewesen war, war das Märkische Viertel zwar schon da gewesen, aber jenseits der Mauer. Jetzt hatte er eine Freundin dort. Er hatte das Mädchen kennen gelernt, als er auf dem ehemaligen Grenzstreifen unterwegs gewesen war mit seinem MTB und sie mit ihrem Weiberfahrrad. David hatte trainiert, sie war nur durch die Gegend gefahren, just for fun oder weil sie nach einem Jungen gucken wollte, das wusste er bis heute nicht.
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Einen Jungen hatte sie jedenfalls gefunden. Und sie hatten sich immerhin schon mal sehr, sehr heftig geküsst. Wenn David sich den heißen Strahl aus der Dusche auf den Rücken prasseln ließ, bekam er nicht nur einen Ständer, der Rücken juckte auch. Manche Jungen in seinem Alter hatten Pickel im Gesicht, sein Gesicht war glatt. Er war froh darüber, musste aber einen bescheidenen Preis für seinen reinen Teint zahlen. Ihm wuchsen die Pickel auf dem Rücken. Traf sie heißes Wasser, juckten sie eben. Was juckt, das heilt, sagte seine Großmutter immer. Die Pickel juckten, aber sie verschwanden nicht. Marja hatte sie noch nicht gesehen. Er liebte Marja. Vor Jahren, als er sie noch nicht gekannt hatte, hätte er sie nie besuchen können, aber da war er ohnehin ein Kind gewesen. Jetzt waren es nur ungefähr fünfhundert Meter, die sie trennten. Hundert Meter davon waren noch immer ein verkrautetes Niemandsland, ein Müllplatz, auf dem kleine Kinder gern spielten. Über das Märkische Viertel mit seinen Hochhäusern hatten seine Eltern immer sehr sehnsüchtig gesprochen. Das war der Westen gewesen, das Unerreichbare. Nun hatte sich alles verkehrt. Familie Leichtner, seine Familie, lebte in einem Einfamilienhaus. Marja, die immer noch das Mädchen aus dem Westen war, für die Rosenthaler jedenfalls, Marja wurde jetzt verachtet. Im Märkischen Viertel wohnten die sozial Schwachen und die dunkelhäutigen Arbeitsplatzräuber. So hieß es. So hieß es seit Jahren im Rosenthal, bei den Eigenheimbesitzern. Der Junge stellte die Dusche aus, griff nach dem Badelaken und trocknete sich ab. Im Spiegel schaute er nach, ob sich nicht endlich der erste Bartwuchs am Kinn zeigte, aber außer dem blonden Flaum über seiner Oberlippe kündete kein Haar von seiner wachsenden Männlichkeit. Manche Siebzehnjährige, die dunklen Typen vor allem, konnten sich schon einen richtigen Bart stehen lassen, und manche, die Raver, hatten zumindest 11
einen Spitzbart. David, der zu Weihnachten einen Elektrorasierer bekommen hatte, würde wohl noch lange warten müssen, bis er ihn einsetzen konnte. Dennoch verteilte er etwas vom väterlichen Aftershave auf dem Gesicht, um gut und männlich zu riechen. Er kleidete sich an, die neuen sandfarbenen Hosen mit den vielen aufgesetzten Taschen, ein weißes T-Shirt und ein graues Kapuzenshirt darüber. Sandfarben waren auch die Socken, nur etwas dunkler als die Hose. Er schaute noch einmal in den Spiegel, fuhr sich schnell durch die Haare und war überzeugt, keinesfalls der hässlichste Junge Berlins zu sein, sondern eher das Gegenteil, ein hübscher, frisch geduschter, strahlender Bursche. Als Fußbekleidung wählte er seine Nikes, die nicht mehr ganz neu waren und, da er Schuhe nie putzte, bereits verschmuddelt, aber sie waren immerhin ziemlich nobel. Während er hineinschlüpfte, fiel ihm ein, dass er seine Mutter gebeten hatte, ihm neue Radlerschuhe zu kaufen. Die Sidi Fire mussten es schon sein, die fand er geil. Die Mutter war wieder in Gedanken gewesen und hatte nicht reagiert, aber David war sicher, dass sie ihm den Wunsch erfüllen würde, wie sie es bisher immer getan hatte, weil der Vater hinter ihm stand. Deshalb war er nicht nur stolzer Besitzer eines Scott, sondern er hatte auch die tune-Laufräder bekommen und den Carbonsattel, wobei er zum Sattel immerhin hundert Euro von seinen Ersparnissen hatte hinzulegen müssen. Die neue Gabel allerdings, eine Rock Shox SID, hatte er komplett von seinem eigenen Geld gekauft. Deshalb war er nun blank, besaß aber neben seiner Aerospace Titan auch eine Federgabel, und die brauchte er einfach, um sein Rad perfekt umzurüsten. Sein Bike war mittlerweile mehr wert als mancher Gebrauchtwagen, und obwohl Teamgeist und Fun im Club sehr viel zählten, gab es doch ein paar Kameraden, die ihn beneideten. David genoss ihren Neid. Wenn er die Sidi Fire bekam, würden noch ein paar mehr Leute blass werden.
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»Ich gehe zu Marja«, rief David seinem Bruder zu, durchquerte die Diele und verließ das Haus. Er betrat die Straße, die hier, wo sie wohnten, noch nicht asphaltiert war, und machte sich auf den kurzen Weg zu seiner Freundin. Der Einzige, der Davids Rad mit Geringschätzung betrachtete, war Titus. Titus fuhr kein Scott, sondern ein Cannondale, ein sehr teures Stück mit allen nur denkbaren Schikanen, aber er tat so, als wäre dies selbstverständlich. Seine Alten waren stinkreich. Niemand im Verein konnte Titus leiden, vor allem weil er sich aufführte, als gehöre er eigentlich nicht in so einen Club wie den Sturmvogel, sondern ins Telekom-Team bei der Tour de France, aber er war ein verdammt guter Biker und hatte bei den letzten Rennen immer vordere Plätze belegt und zweimal gesiegt. Bei den Junioren war er der Beste, was in einem Verein mit neun Junioren zwar noch nicht die Weltspitze verhieß, und ein Olympiasieger und Weltmeister wie Julian Absalon würde er bestimmt niemals werden, aber trotzdem ärgerte sich David über die Erfolge dieses Schnösels. Seine Freunde Norman, Uwe und Mario ärgerten sich auch. Allein um es Titus zu zeigen, musste David in den nächsten Tagen und Wochen hart an sich arbeiten. Wenn er beim Cross Country Cup der Innungskrankenkasse eine bessere Zeit fuhr als dieses Arschloch, hatte er viel erreicht. Marja wohnte in einem Hochhaus im neunten Stock, und die Nachbarn der Familie Bethge waren Türken und Albaner. Nein, viel Geld hatten die Bethges wirklich nicht und immerhin vier Kinder, die ernährt werden mussten. Marja war die Älteste. Was David an Marjas Familie von Anbeginn angezogen hatte, war die Heiterkeit, die hier herrschte: Manchmal, wenn David Abendbrot mitaß, kam er aus dem Lachen gar nicht heraus. Wenn er dann an seine düster brütende Mutter und seinen Vater dachte, der auch nicht gerade ein fröhlicher Mensch war, wünschte er sich manchmal, er könnte seine Eltern zu den Bethges an einen Tisch setzen, damit sie einmal sahen, wie Lachen funktionierte. Allein Aaron war ein echter Scherzkeks. 13
David liebte seinen jüngeren Bruder, der genau genommen sein Halbbruder war. Frau Bethge öffnete ihm die Tür. »Hallo, David«, begrüßte sie ihn und hieb ihm auf die Schulter, wie es eigentlich nur Männer taten. Frau Bethge aber war ein Mannweib, das beim Armdrücken sogar ihren Sohn Karlchen besiegte, der zwar erst sechzehn war, aber immerhin Boxer. »Prima, dass du kommst. Sieht so aus, als hätte Marja was Ernstes mit dir zu beschwatzen.« David bekam sofort Schluckbeschwerden. Der herzliche Empfang konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwas im Busch war, was ihn betraf. Er ahnte nicht, worum es sich handelte, aber mit einem unguten Gefühl klopfte er an die Tür zu Marjas Zimmer, das sie sich mit ihrer kleinen Schwester teilen musste. »Hey, David«, rief Karlchen aus dem gegenüberliegenden Raum, dessen Tür offen stand. »Wann spieln wa ma wieder Monopoly?« »Komm rein, Dave«, forderte ihn Marja auf. Sie war allein, hatte Lena aus dem Zimmer oder zum Teufel geschickt. Bisher war es so gewesen, dass sie auf ihrem Bett gelegen und irgendein hochwichtiges Buch gelesen hatte, wenn David sie besuchen kam, heute aber hockte sie an ihrer Arbeitsplatte und machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Davids Herz klopfte augenblicklich wie bei einem Training im Spitzenbereich. Er war sich keines Fehlers, keiner Schuld bewusst, aber Mädchen neigten dazu, Kleinigkeiten, die man als Junge einfach übersah, zu Weltuntergängen aufzubauschen. Marja lächelte zwar, aber dieses Lächeln war so gezwungen, dass es ihm kalt den Rücken hinunterrann. »Soll ich mich aufs Bett …?«, fragte David zaghaft. Marja schüttelte den Kopf. »Brauchste nicht«, sagte sie. »Es wird wehtun, aber es geht schnell.« 14
»Was?« David riss die Augen auf. Er presste beide Zeigefinger gegen die Daumen, ein Trick, den er beim Zahnarzt anwandte, um den Schmerz beim Bohren durch einen anderen Schmerz zu kompensieren. »Ich war am Wochenende auf ’ner Disko im Atrium«, erklärte Marja. David begriff augenblicklich. Marja erteilte ihm den Laufpass, weil sie einen anderen kennen gelernt hatte. Er schluckte, aber er sagte nichts. »Bis zwei, halb drei waren wir dort«, fuhr Marja fort. »Zum Schluss hab ich immer nur mit einem Jungen getanzt. Ich hab mich verliebt, Dave.« »Und ich?«, fragte David. Er starb gerade tausend Tode und spürte dennoch, wie töricht seine Frage war. »Ich würde gern mit dir befreundet bleiben«, sagte Marja, aber das sagten Weiber immer, im Fernsehen vor allem. »Ich mag dich ja wirklich gern, David, bloß …« Ihre Augen wurden feucht. »Du immer nur mit deinem Sport. Sergej liest wenigstens.« »Sergej?« »Wir haben auch schon miteinander geschlafen«, sagte Marja mit gewollter Leichtigkeit. Das verletzte David am meisten. »Nein«, brüllte er. Er glaubte zu brüllen, denn nur ein heiseres Krächzen kam aus seinem Mund. »Wieso Sergej?« Er würde den Typen abstechen. »Wer ist das?« Nichts würde er tun. Er besaß weder ein Messer, noch war er gewalttätig. »Kommt aus Russland und hat unheimlich viel zu erzählen«, sagte Marja. »Menja sawut Sergej. Menja sawut Marja. Und was der so weiß und gelesen hat …« Marja schüttelte verträumt den Kopf. Sie war eine Literaturnärrin. »Alles.« David rannte davon. Er hörte Karlchen rufen, aber er unterschied keine Worte mehr, er prallte mit Frau Bethge zusammen, die ihm die Arme entgegenstreckte, weil sie ihn trösten wollte, er stieß sich von ihr ab und lief hinaus in den Gang, lief zum Lift, hatte keine Geduld, auf den Fahrstuhl zu warten, und hetzte die Treppen hinunter. 15
Er war fast ein Mann mit seinen siebzehn Jahren, aber er war auch noch ein Junge. Der Mann kämpfte mit den Tränen. Der Junge setzte sich vor dem Haus auf die Treppenstufen und begann zu weinen. Fragonard hatte Kunstwerke hervorgebracht, keine Projekte. Als sie auf der Grabbeallee im Stau stand, musste Angelika Leichtner an den französischen Maler denken. Der äußere Anlass dafür, dass ihr ausgerechnet Fragonard einfiel, war eine Zeitungsnotiz, die sie am Morgen gelesen hatte. Fragonards fast unbekanntes Gemälde Sich niederwerfender Petrus war in Paris für anderthalb Millionen versteigert worden, obgleich der Schätzwert nur bei hunderttausend gelegen hatte. Angelika hoffte, das jahrelang als verschollen geltende Gemälde wenigstens in der neuen Bild der Kunst betrachten zu können, die sie noch immer abonniert hatte. Am liebsten würde sie natürlich das Original sehen, aber kaum aufgetaucht, war es bereits wieder in Privatbesitz verschwunden. Angelika ließ die Kupplung kommen, der Golf ruckte einen Meter vorwärts. Der durchschnittlich gebildete Deutsche hatte womöglich von Délacroix gehört, von Watteau, den man im Charlottenburger Schloss anschauen konnte, wo mehr Watteaus hingen als im Louvre, weil Friedrich II. ihn gesammelt hatte, man kannte natürlich die Impressionisten, aber dann hörte es schon auf. Fragonard gehörte nicht zum Bildungsgut. Er war zu Zeiten Ludwigs XV. ein bedeutender Maler gewesen und war es noch heute, obwohl seine Gemälde lange Zeit als frivol verschrien gewesen waren, aber er war ein großer Künstler. Es war unmöglich, sich ihn in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vorzustellen, als Projektleiter Historienmalerei womöglich oder als Projektleiter Erotische Kunst. Angelika lächelte bitter und kam einen weiteren Meter voran. Eins Komma fünf Millionen für Sich niederwerfender Petrus, tausendzweihundert Euro für eine Projektleiterin; nicht, dass sich Angelika Leichtner mit Fragonard 16
verglich, der seit 1806 tot war und von den Millionen sowieso nichts mehr hatte, aber auch sie konnte mehr, und es war ungerecht, dass man sie unbegabten Schülern zum Fraß vorwarf. Einhundertzweiundachtzig Jahre nach Fragonards Tod hatte Angelika Leichtner, Sachgebietsleiterin Progressive Vorsozialistische Kunst Westeuropas im VEB Kunst-Verlag, damit begonnen, eine zweibändige Geschichte der Bildenden Kunst Frankreichs von den Anfängen bis zur Französischen Revolution herauszugeben, kein Staatsplanthema zwar, aber immerhin vom Ministerium und der Partei mit viel Segen und Vorlob bedacht und unterstützt durch das Centre Culturel Français. Natürlich durfte Fragonard in einem solchen Werk nicht fehlen, nicht Fragonard, nicht Boucher, nicht Chardin, nicht Greuze. Der Mann, der sich so gern Buchminister genannt, und die dumme Kuh, die beim Zentralkomitee die Kunst zerstört hatte, sie hatten bereits eine Dienstreise nach Paris genehmigt, ihr Pass war in Arbeit gewesen, mit einer Kustodin des Louvre hatte es immerhin zwei Telefongespräche gegeben, die allerdings nur der Verlagschef hatte führen dürfen, und dann war eine Revolution dazwischengekommen, die Kindergartenrevolte der Ostdeutschen. Der VEB Kunst-Verlag existierte nicht mehr, die zweibändige Geschichte der Bildenden Kunst Frankreichs von den Anfängen bis zur Französischen Revolution war nicht nur nicht erschienen, sie war nicht einmal geschrieben worden, Angelika hatte ihren Job verloren, der mehr als ein Job gewesen war: eine Berufung. Allerdings musste sie sich eingestehen, und sie gestand es sich seit langem nicht bloß ein, sie warf es sich auch vor, dass sie nicht im JKKP Open Hands verkümmern müsste, wenn sie mehr Mut hätte. Eine Umschulung hatte sie natürlich gemacht. Das Arbeitsamt hatte sie zur Spezialistin für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit ausbilden lassen, in einem sechsmonatigen Crashkurs. Es gab mehr Spezialisten für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit als Sand am Meer, und diejenigen, die sich auf der Stellenjagd 17
durchsetzen konnten, hatten alle nicht bloß Hochschulabschlüsse auf diesem Gebiet, sie hatten auch Universitäten in Amerika, England oder Frankreich besucht und beherrschten Englisch, Französisch oder Spanisch aus dem Effeff. Angelika konnte auch mehr als Au revoir oder A bientôt sagen, aber mit einem grässlichen Akzent, der die ostdeutsche Kleinstadtoberschule verriet. In Frankreich war sie noch immer nicht gewesen, hatte die Kathedralen von Chartres und Rouen nicht gesehen, obwohl sich mit ihnen Namen wie Corot und Monet verbanden, und Das Narrenschiff, der einzige Hieronymus Bosch im Louvre, der sie mehr interessierte als die Mona Lisa, kannte sie nach wie vor nur als Repro. Sie ließ sich von halbwilden Vierzehnjährigen ein Was-haben-Sie-denn-für-Scheißturnschuhe-an? ins Gesicht schleudern und lächelte dazu noch gezwungen. Sie und nur sie allein war Schuld daran, dass es so war. Die Idee ihres Mannes, sie könne in seiner Baufirma die Buchhaltung machen, hatte sie sofort verworfen. Sie hätte sich hineinfuchsen können in die Welt der Belege und Zahlungsanweisungen, das war keine Frage, aber noch einmal gegen ihre Träume zu handeln war unvorstellbar. Schon dass sie sich vor etlichen Jahren nach dreimaliger Ablehnung an der Kunsthochschule von Malerei auf die Kunstgeschichte hatte umlenken lassen, war ein Verrat an ihren Lebenszielen gewesen, aber mit der Kunstgeschichte hatte sie sich arrangieren können. Sie hatte auch die Arbeitslosigkeit geschluckt, war dann allerdings von Selbstzweifeln übermannt worden, nachdem sie sich bei zwanzig Verlagen beworben hatte und unter fadenscheinigen Vorwänden abgewiesen worden war. Besonders schmerzhaft waren hämische Bemerkungen von Freunden oder Bekannten, dass man alles schaffen würde, wenn man nur wolle und könne. Diese Bemerkungen waren nie auf sie gemünzt, aber sie bezog sie dennoch auf sich. Drei frühere, allerdings jüngere Kolleginnen hatten in Prenzlauer Berg eine Galerie eröffnet, die einigen Erfolg hatte, aber den Schritt in 18
eine selbständige Existenz hatte Angelika Leichtner nicht gewagt. Ihr Mann war Bauunternehmer geworden, wenn einer in der Familie ein solches Risiko auf sich nahm, genügte es. Auch die Arbeit im JKKP hatte von Anbeginn nichts mit ihren Träumen zu tun gehabt, aber sie musste zwei anspruchsvolle Kinder versorgen, und so hatte sie zugegriffen, bevor ihre Arbeitslosenhilfe auslief. Angelikas Golf ruckelte über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße, von der die unbefestigte Straße 126 eine Verlängerung darstellte. Bevor sie in die Straße 126 fuhr, schaltete sie herunter. Sie stoppte vor ihrem Haus, stieg aus, stieß das Tor auf, kehrte zum Wagen zurück und ließ ihn auf das Grundstück bis vor die Garage rollen. Das Tor verschloss sie nicht wieder, Michael würde es später ebenfalls benutzen wollen. Sie trat ins Haus, rief von der Diele aus nach David und Aaron. Aaron steckte rasch den Kopf aus seinem Zimmer, in dem geschossen und geschrien wurde, er teilte ihr mit, der Große sei bei seiner Freundin, dann verschwand er wieder. Angelika streifte die Schuhe ab, ging auf Strümpfen in die Küche und setzte Teewasser auf. Nachdem der Tee gebrüht war und drei Minuten gezogen hatte, goss sie ihn in eine irdene Kanne um, mit der sie die Treppe ins Obergeschoss hinaufstieg. In einem der kleinen Räume unter der Dachschräge befand sich ihr Refugium. Angelika legte eine CD von Vangelis ein, zog den Katalog des Louvre aus dem Regal und setzte sich in ihren Lesesessel. Fragonard und die Franzosen überblätterte sie nur, und erst beim Narrenschiff von Hieronymus Bosch hielt sie inne. Angelika betrachtete es lange. Die Narren waren fröhlich. Sie musizierten, sangen, fraßen und soffen, einer übergab sich, doch mehr schienen sie nicht zu wollen. Das Glück des Narren war schlicht wie sein Gemüt. Und es war sinnlich. Angelika goss sich Tee ein. Sie wäre durchaus in der Lage, zu den Schülern im JKKP auch über Sinnenfreuden in der Malerei zu sprechen, aber 19
sie fragte sich nun, wie sie es selbst damit hielt. Als die DDR noch existierte und in der ersten Zeit nach ihrem Untergang hatte es in ihrem Garten zwar nicht regelmäßig, aber doch häufig Grillfeste gegeben, bei denen sich manchmal dreißig, vierzig Gäste um sie drängten; diese Feste waren dann aber aus kaum nennbaren Gründen eingeschlafen. Es gab noch ein paar Freunde, die sich hin und wieder sehen ließen und mit denen man Wein trinken und Nüsse knabbern konnte, doch hatten diese Treffen immer etwas Angespanntes. Früher hatten sie, vom Alkohol beflügelt, die abenteuerlichsten gesellschaftlichen und künstlerischen Visionen entworfen, sie hatten auch stundenlang über ein bestimmtes Buch oder Bild streiten können, doch nun drehten sich alle Gespräche nur um Sorgen, Geldnöte und Krankheiten. Da war es schon eine angenehme Abwechslung, wenn Urlaubsfotos herumgereicht wurden und Angelika sich wieder einmal den Eiffelturm, die Grachten, den Markusplatz oder die Skyline von Manhattan anschauen durfte. Die Tradition der Grillfeste hätte Angelika gern wiederbelebt, aber Michael arbeitete so angestrengt, dass er am Wochenende seine Ruhe haben wollte. Und dann würden sie für Fleisch, Bratwurst, Bier und Wein ein paar Hunderter berappen müssen, die sie derzeit nicht übrig hatten. Angelika löste ihren Blick vom Narrenschiff und schaute zum Fenster, das zum Garten ging. Von ihrem Lesesessel sah sie nur den Himmel und ein paar Äste vom Kirschbaum. Dann glitt ihr Blick wieder zurück zu Boschs Gemälde. Ja, auch sie waren nichts als Narren. Sie waren Narren in ihrem beständigen Drang zu bewahren, was sie hatten; vom Vermehren konnte keine Rede sein. Aber sie waren Narren von einem anderen Kaliber als die von Bosch dargestellten: Ihre Narretei kannte weder Lust noch Freude. Es war vorbei. Aus, dachte David. Es ist aus. Wegen eines Sergej. Der nicht nur an seinen Sport denkt. David trat so 20
kräftig, ja brutal in die Pedale, dass er mit einem Wadenkrampf rechnete, aber diesen Krampf wünschte er sich auch. Er wollte das Gefühl haben, dass seine Muskeln rissen. Es hätte ihm nichts ausgemacht, mit dem Bike zu stürzen und sich die Haut abzuschürfen, überall, oder sich den Kopf aufzuschlagen oder sich das Genick zu brechen. Er fuhr besinnungslos, ziellos und ohne jegliche Kräfteeinteilung. Schließlich kam dann auch der herbeigesehnte Schmerz, allerdings in der Lunge. David nahm keine Rücksicht auf sich selbst. Er raste, bis der in die Augen rinnende Schweiß und die Tränen ihn fast blind machten. Als ihn Roxanne vor die Tür gesetzt hatte, war sein Leid schnell gewichen, denn mit Roxanne war er vor allem gegangen, um eine Freundin vorweisen zu können. Er hatte das Mädchen schon gemocht, aber seine Wahl hätte auch ein anderes Mädchen treffen können. So wichtig war ihm Roxanne, wie er nach der Trennung festgestellt hatte, gar nicht gewesen. Marja war ihm das Allerwichtigste. Es stimmte nicht, dass er nur seinen Sport im Kopf hatte. Marja hatte er im Kopf gehabt, im Kopf und im Körper. Für Marja hatte er sein Training vernachlässigt und die Schule auch, aber die interessierte ihn sowieso nicht. Fast jeden Nachmittag hatte er mit Marja verbracht. Er liebte sie. Diesen kaltschnäuzigen Abschied hatte er nicht verdient. David raste auf zwei Spaziergänger zu, ein Pärchen, das sich bei den Händen hielt. Dafür hasste er die beiden sofort, außerdem blockierten sie den schmalen Weg. David unternahm nichts, um seine Fahrt zu verlangsamen. Bevor er die Spazierenden über den Haufen fuhr, bemerkten sie ihn und sprangen beiseite. Sie schickten ihm Schimpfwörter hinterher, aber er hörte nicht hin. Alles, was ihm vor das Rad kam, würde er niederwalzen, so wie ihn das Schicksal an diesem Tag niedergewalzt hatte.
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Angelika brauchte die Tür eigentlich nicht zu öffnen, um zu wissen, was Aaron gerade trieb. Sie hörte es, und als nach ein paar Sekunden eine ihr bis zum Überdruss bekannte Filmmusik einsetzte, wusste sie auch, welches Video sich der Dreizehnjährige gerade anschaute. Zwar verabscheute sie ScienceFiction, doch um zu kontrollieren, was sich ihr Jüngster fast jeden Tag antat, hatte sie X-Men wenigstens im Schnelldurchlauf betrachtet. Sie hatte Aaron den Streifen verboten, war aber nicht wütend auf ihn, sondern auf David, dem die Kassette gehörte und der sie seinem Bruder nicht verweigerte. Angelika war überzeugt, dass diese perspektivlosen und gewalttätigen Filme auch dem Älteren schadeten, aber er war ihr schon so sehr entglitten, dass er ihre Appelle vollkommen missachtete. Auch auf Aaron begann das schlechte Vorbild des großen Bruders abzufärben, und er ließ sich nur noch nach heftigem Widerstand in die Schranken weisen. Angelika riss die Tür auf. Ihr bot sich die erwartete Szenerie. Aaron lag auf seinem Bett. Er trug nur eine Turnhose und ein T-Shirt und starrte gebannt auf den Bildschirm, während er sich versonnen an den Oberschenkeln kratzte. Erst nach einiger Zeit stellte er fest, dass jemand seine Tür geöffnet hatte, also warf er einen knappen Blick auf seine Mutter. Angelika regte sich nicht, und es verstrichen noch etliche Sekunden, bevor sich Aaron endlich bequemte, nach der Fernbedienung zu greifen und den Film anzuhalten. Dann erst wandte er Angelika seine Aufmerksamkeit zu. »Mama?«, fragte er. Auch David sprach sie noch immer so an, aber Angelika war davon überzeugt, dass die Jungen unter sich von ihr als der Alten sprachen. »Wann wollte David zu Hause sein?« »Keine Ahnung.« Aaron warf einen verstohlenen Blick auf das Standbild. »Die Kassette nimmst du jetzt raus«, befahl Angelika.
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»Ist doch bloß noch ’ne Viertelstunde«, protestierte der Junge, »und Hausaufgaben habe ich gemacht.« Das entsprach gewiss der Wahrheit. Aaron war ein ausgezeichneter Schüler, der alles mit links erledigte. Von David konnte man das nicht sagen, im letzten Schuljahr wäre er beinahe sitzen geblieben, und Angelika fragte sich, wie der Bengel das Abitur schaffen wollte. Sobald er das Schulhaus verließ, war die Penne Luft für ihn. Angelika war sich durchaus bewusst, dass Eltern nicht das gesamte Leben ihrer Kinder bestimmen sollten und bestimmen konnten, doch um Davids Zukunft machte sie sich ernsthafte Sorgen. Mit seinem Sport konnte er keinen Blumentopf gewinnen, denn niemand würde ihm allein deshalb einen Job geben, weil er eines seiner lächerlichen Rennen gewonnen hatte. Der Cup der Innungskrankenkasse, auf den er sich vorbereitete, bedeutete nicht das Geringste, und selbst ein Siegerfoto in einem Provinzblatt war für einen Personalchef Makulatur. Dass ihr Sohn studieren würde, daran glaubte Angelika ohnehin nicht mehr, aber eine Lehrstelle sollte er immerhin bekommen. David ließ die knappe Zeit verrinnen, ohne sich um irgendetwas zu kümmern, von seinem Fahrrad abgesehen und von seinem Mädchen. Er rannte in sein Unglück. Und wenn sie ihn nicht bremste, würde er seinen begabten, aber im tiefsten Herzen faulen Bruder auf diesem Weg mitnehmen. »Ich will, dass du die Kassette jetzt rausnimmst«, sagte Angelika, und sie sagte es lauter als beabsichtigt. Aaron widersprach nicht, aber durch seine zeitlupenhaften Bewegungen zeigte er an, was er von der mütterlichen Forderung hielt. Auch seine Körperhaltung bewies Widerwillen. Angelika hätte ihn gern zusammengestaucht, wurde aber abgelenkt. Jemand steckte einen Schlüssel in die Haustür, und durch das geriffelte Glas erkannte sie die Umrisse ihres Ältesten. David, das hatte sie überprüft, musste seine Hausaufgaben noch machen, in Englisch, Deutsch und 23
Mathematik. Und wenn David seine Hausaufgaben vernachlässigt hatte, sollte er um achtzehn Uhr heimkehren, nicht um achtzehn Uhr fünfundvierzig. Angelika feilschte nicht um Minuten. Ein Zuspätkommen mochte verzeihliche Gründe haben, aber nun konnte David mit Verständnis nicht mehr rechnen. Zu spät kam er immer. David war noch nicht einmal in der Diele, da wusste er bereits, dass gleich ein Donnerwetter losbrechen würde. Er war vollkommen durchgeschwitzt, er atmete nicht, sondern seine Lungen pumpten die Luft, und sein Herz überschlug sich geradezu. Was er dringend brauchte, war etwas zu trinken. Was er brauchte, nicht minder dringend, war Marja. Ein Donnerwetter konnte er nicht gebrauchen. »Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt«, begann seine Mutter, und ihr war anzusehen, wie mühsam sie ihre Wut unterdrückte. Sie stand bei der Flurgarderobe mit dem Schränkchen, auf dem allerlei Krimskrams lag, Papiere, ein paar Schlüssel, eine Schere. »Kein langer Weg entschuldigt Euer Säumen.« »Dreiviertelstunde«, presste der atemlose David hervor und schloss die Haustür. »Um wieder bis in die Puppen über deinen Aufgaben zu sitzen. Kein Wunder, dass du dich im Unterricht nicht konzentrieren kannst.« David wandte sich zum Schuhregal. Er konnte sich auch dann nicht konzentrieren, wenn er ausgeschlafen war. Die Schule langweilte ihn, er verstand nicht, wozu er Chemie oder Biologie oder Musik lernen musste, er hatte das ständige Gerede von der Allgemeinbildung und der Vorbereitung auf das Leben gründlich satt. Darauf, sein Mädchen zu verlieren, bereitete einen die Schule jedenfalls nicht vor. »Ich warte auf deine Ausrede«, sagte die Mutter.
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David zuckte bloß die Schultern. Er hatte keine Ausrede vorbereitet, weil eine Ausrede nicht nötig war. Er war siebzehn. Vor dem Schuhschrank streifte er seine Nikes ab, indem er mit der Spitze des rechten Schuhs den Hacken des linken von der Ferse schob und dann den Fuß herauszog. Das brachte seine Mutter auf die Palmenkrone. »Wie oft«, fragte sie mit einem drohenden Ton, »wie oft soll ich dir … Warum machst du nicht die Schnürsenkel auf?« »Geht schneller so«, sagte David unwillig. »Davon gehen die Schuhe kaputt«, schrie die Mutter. »Aber der Herr denkt wohl, ist doch egal, kann mir die Alte neue kaufen? Du achtest überhaupt nichts.« »Mama, das sind nur Schuhe«, widersprach David. »Ja, waren die nicht teuer? Willst du nicht immer das Beste? Und dann achtest du es nicht. Ist alles selbstverständlich. Ist ja selbstverständlich, dass sich deine Eltern die Seele aus dem Leib schinden und der Herr Sohn alles zerstört.« »Mama, alles …« »Halt den Mund! Ich will von dir nichts hören! Ich verlange, dass du pünktlich kommst. Und ich verlange, dass du achtest, was wir mühsam erarbeiten. Auch deine Turnschuhe. Hörst du? Auch deine Turnschuhe.« »Ja, ja«, murmelte David und trat einen Schritt weiter in die Diele. Auch die Mutter war näher gekommen. »So billig lasse ich mich nicht abspeisen«, schrie sie. »Diese Radlerschuhe da, diese … die kannst du vergessen. Meinetwegen sollst du mit kaputten Schuhen rumlaufen. In ungeputzten. Wie ein Bettler.« »Mama«, versuchte David noch einmal, sie zu beruhigen. »Verdammt noch mal, ich hätte dich bei deinem Vater lassen sollen«, schrie die Mutter. »Der ist ein ebensolcher Nichtsnutz wie du.« Auch in David regte sich nun die Wut. Er verbrachte manchmal ein Wochenende mit seinem leiblichen Vater, und 25
das waren fantastische Wochenenden. Mit Vater verstand er sich gut, und er wollte nicht, dass Mama ihn beleidigte. Immer regte sie sich über Kleinigkeiten auf, darüber, dass er eine Dreiviertelstunde zu spät kam, oder darüber, dass er die Schnürsenkel nicht öffnete. Daraus machte sie ein solches Drama. Das hätte David noch verkraftet. Die Bemerkung über seinen Vater war zu viel. »Guck dich doch an«, keuchte er, »du mit deiner sinnlosen Stelle da.« Seine Mutter machte ein paar schnelle Schritte, dann geschah etwas Ungeheuerliches. Sie hob die Hand. David sah die Hand auf sich zukommen. Es erschien ihm, als brauchte sie endlos, bis sie mit einem kurzen, trockenen Schlag auf seiner Wange landete. Noch nie war David geschlagen worden. Die Ohrfeige schmerzte nicht einmal, jedenfalls nicht auf der Wange. David dachte und fühlte überhaupt nichts, nicht in den ersten Sekunden nach dem Schlag. Dann schoss ihm plötzlich das Blut in den Kopf, mit einer solchen Gewalt, dass er fürchtete, sein Schädel müsse zerspringen, und diesen Blutschwall sah er vor seinen Augen, als hätte er sich rot über die Wände der Diele und über seine Mutter ergossen. »Ich werde meine Schnürsenkel nie aufmachen«, brüllte er los. »Nie. Und wenn du dich aus dem Fenster stürzt.« Die Hand kam noch einmal, durch den blutigen Nebel vor seinen Augen. Seine Mutter sagte auch etwas oder rief es, aber David verstand nicht. Es war nur eine Sekunde, aber ihm war, als würden Bilder aus seinem ganzen Leben durch sein Hirn wirbeln: Marja und die Häme von Lehrern, Marja und die ewigen Streitereien zu Hause, Niederlagen bei Rennen, die schlechte Zeit beim Training, Marja, die Mutter, Marja, die Ohrfeigen, eine zurückgegebene Chemiearbeit, drei Fünfen, Titus, der siegessichere Sohn stinkreicher Eltern, hundert Fünfen, sein Vater, die Mutter, Marja. Er wusste gar nicht, dass 26
er, um sich zu halten, nach der Flurgarderobe gegriffen hatte, er wusste nicht, dass er eine Schere in der Hand hielt. Er sah die Schere, und er sah ihr zu. Die Schere handelte. Sie war ein lebendes Wesen. Sogar zu bluten vermochte sie. »Aber David«, rief die Mutter. Über ihre Wange rann es rot. »Nie werde ich die Schnürsenkel aufmachen«, brüllte David wie von Sinnen, »nie werde ich sie aufmachen, nie, nie, nie.« »David, hör auf!« Die Mutter versuchte, ihm die Schere zu entreißen, aber David ließ sich nichts wegnehmen, gar nichts. Noch einmal schlug die Mutter zu. Ein letztes Mal. Ein allerletztes, ein allerallerletztes Mal. In Davids Kopf explodierte ein Vulkan. Die Lavabrocken, die durch die Luft geschleudert wurden, tanzten und drehten sich vor seinen Augen. Auf unerklärliche Weise war der Körper seiner Mutter plötzlich so nahe, als wäre er ein Teil seines eigenen. Sehen konnte er sie nicht inmitten des Brandes, aber spüren. Er krümmte sich, und als für einen Moment das Gesicht der Mutter aus den Flammen hervorkam, zeigte es keinen Schmerz, sondern Erstaunen. Und einen Vorwurf. Alle Vorwürfe, die jemals gegen David erhoben worden waren. David stöhnte von der unbekannten Erregung, die ihn ergriffen hatte, und hieb die Schere noch einmal in dieses Gesicht. Als das Blut spritzte, wurde er gewahr, dass er mehrmals zugestochen hatte. Er zitterte, aber er fühlte sich auch unendlich stark. Dann sank die Mutter auf den Boden. David stand da, keuchend, gekrümmt, mit hängenden Armen. Sein Körper brannte, Wasser lief ihm aus den Augen, unablässig formte er Laute, die aber tonlos blieben. Vor seinen Füßen wusste er die leblose Mutter, aber nicht sie starrte er an. Sein Blick hatte einen Halt gefunden: die aufgerissenen Augen seines Bruders.
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Zweites Kapitel Die beiden jungen Kriminalbeamten schienen seine Sorge nicht sehr ernst zu nehmen. Sie schauten sich nicht gerade sorgfältig in Angelikas Arbeitszimmer um. Michael Leichtner stand in der Tür und beobachtete sie, wie sie die eine oder andere Schublade öffneten, wie sie in den Papieren auf dem Schreibtisch wühlten und auch einmal ein Buch aus dem Regal nahmen. Vor fast vierundzwanzig Stunden hatte Michael Leichtner seine Frau als vermisst gemeldet. Man hatte ihn beruhigt, so etwas komme vor, die meisten Vermissten kehrten spätestens nach ein paar Tagen zurück. Bisher war Angelika nicht zurückgekehrt. Sie hatte überhaupt keinen Grund, einfach Haus und Mann und Kinder im Stich zu lassen. Das schienen ihm diese Bullen aber nicht zu glauben. Michael Leichtner glaubte es selbst nicht, obwohl er es gern geglaubt hätte. Angelika war in letzter Zeit nicht sehr glücklich gewesen, aber nicht unglücklicher als er, und er war nicht verschwunden. Ihr musste etwas zugestoßen sein. Dass die Mama schnell zum Discounter in der Hauptstraße fahren und noch etwas einkaufen wollte, hatten David und Aaron gesagt. Vom Discounter war sie nicht zurückgekehrt. Aber sie war auch nirgendwohin gefahren, weder mit dem Auto noch mit dem Fahrrad, denn der Golf stand vor der Garage, das Fahrrad darin. Angelika hatte das Haus verlassen. Das war alles, was Michael Leichtner wusste. »Einen Abschiedsbrief haben Sie nach wie vor nicht gefunden?«, fragte einer der beiden Kriminalisten, dessen Haar für einen Polizeibeamten außergewöhnlich lang und strähnig war. Vielleicht war er noch ein Lehrling oder wie immer das bei der Polizei heißen mochte. 28
»Nein«, brauste Michael Leichtner auf. Ein Abschiedsbrief hätte bedeutet, dass Angelika vorgehabt hatte, sich das Leben zu nehmen, oder dass sie es gar getan hatte; an eine solche Möglichkeit mochte er nicht denken. Er musste sie dennoch in Betracht ziehen, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, gab es sogar einige Indizien dafür. Wie ein Vermächtnis kam ihm vor, dass Angelika vor ihrem Verschwinden noch einiges im Haus verändert hatte. Sie hatte die beiden Perserbrücken, die bisher im Wohnzimmer gelegen hatten, in der Diele ausgerollt, die damit sofort wohnlicher wirkte, und auch mit einem Bild aus ihrem Arbeitszimmer, der Reproduktion irgendeines Franzosen, hatte sie ausgerechnet den Flur verschönert, so als habe sie sagen wollen, sie sei zwar fort, aber sie wünsche immer noch, dass sich Michael und die Kinder in dem Haus wohl fühlten, und zwar von dem Augenblick an, da sie es betraten. »Wir sollten die Umgebung absuchen lassen«, meinte der zweite Beamte, der etwas älter und viel kleiner als sein Kollege war, über seinem Hosengürtel wölbte sich bereits ein Bauch. »Kann nichts schaden«, bestätigte der Angesprochene. »Ich red mal mit der Chefin.« Er verließ den Raum, ging die Treppe hinunter. »Und Ihre Frau hatte wirklich keine schwer wiegenden Probleme?«, wollte der Zurückgebliebene wissen. »Verzeihen Sie, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber wie lief Ihre Ehe eigentlich?« »Normal«, erwiderte Michael. »Normal?« »Wie jede Ehe nach vielen Ehejahren. Es gab Höhen und Tiefen. Aber …« Michael brach ab, er wusste nicht weiter. »Aber nichts, was begründet, dass eine Frau abhaut?« »Abhauen, Gott, wie Sie reden.« »Verzeihung.« Der Bulle setzte sich in Angelikas Lesesessel. Michael wollte es ihm verbieten, denn in diesem Sessel hatte außer Angelika niemand sitzen dürfen, doch verkniff er sich den 29
Protest. »Gab es vielleicht auf ihrer Arbeitsstelle Probleme? Gab es … wie sagt man auf Neudeutsch? Mobbing?« Michael schüttelte den Kopf. »Irgendetwas Beunruhigendes in letzter Zeit? Seltsame Anrufe? Jemand, der sich in der Gegend rumgetrieben hat?« »Auch nicht«, sagte Michael. »Aber es muss etwas passiert sein. Sonst würde Ajax nicht verrückt spielen.« »Wer?« »Unser Hund. Seitdem meine Frau verschwunden ist … Er winselt nur noch oder bellt ständig ohne erkennbaren Grund. Außerdem frisst er kaum.« »Vielleicht vermisst er sein Frauchen«, vermutete der Beamte. »Nein«, sagte Michael, »das kann es nicht sein. Angelika, also meine Frau, hat manchmal für ein Wochenende ihre Eltern in Schwerin besucht. Mit den Kindern. Da hat er sich auch nicht so verhalten.« »Ein Hund ist ein denkbar schlechter Zeuge«, meinte der Beamte. »Aber gut, zeigen Sie ihn mir mal. Ich hab selbst einen. Schäferhund.« »Ajax ist ein Listenhund«, erklärte Michael. »Listenhund?« »Einer, der auf der Liste der angeblichen Kampfhunde steht. Ein Rottweiler, sanft wie ein Lamm.« Sie stiegen die Treppe hinab und durchquerten die Diele, wo Michael die Tränen kamen angesichts der von Angelika so akkurat und liebevoll ausgelegten Perserbrücken. Er öffnete die Haustür, ließ dem Kriminalisten den Vortritt. Der Zwinger befand sich auf der Gartenseite des Hauses, das sie zur Hälfte umrunden mussten. Weder Kläffen noch lautes Winseln war zu vernehmen. Das war auch unmöglich. Das Tor des Zwingers, von Michael aus Maschendraht gefertigt, stand offen, der Zwinger war leer.
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In der Zeitung, die Dietrich Kölling vor sich hatte, stand viel, aber eigentlich nichts. Das mochte an der Gazette liegen, aber auch daran, dass er Kopfschmerzen hatte, Migräne. Früher hatte er Migräne für die Krankheit unbefriedigter Frauen gehalten, die einen robusten Kriminalbeamten nie befallen konnte, aber auch er litt manchmal an ihr wegen seines Bluthochdrucks. Der Bluthochdruck war seine neueste Errungenschaft, die er verheimlichte, weil sie ihm peinlich war; unter dem Fachnamen Hypertonie fand er sie allerdings ziemlich bedeutend und ehrenwert. Die Medikamente, die sein Arzt ihm verordnet hatte, nahm er nicht, sie hätten ihm das Gefühl gegeben, ernsthaft krank zu sein. Er war aber nicht krank, er war Hypertoniker. »Scheint keine besonders aufregende Lektüre zu bieten«, meinte Becker, sein Stellvertreter, der mit dem Ausfüllen unerklärlicher Formblätter befasst war. »Ihr Käseblatt, meine ich.« »Und was Sie tun?«, fragte Dietrich Kölling. »Sachfahndung«, sagte Becker. »Ich liste gerade die Gegenstände auf, die Frau Simon gestohlen worden sind.« Hildegard Simon war einem Raubmord zum Opfer gefallen. Sie war eine alte Frau gewesen, acht auf ähnliche Weise getötete und beraubte alte Damen hatten sich in den letzten fünf oder sechs Jahren angesammelt, offenbar ging ein Serienkiller um. Jetzt sollte zum zweiten Mal eine Sonderkommission gebildet werden, doch Dietrich Kölling hatte seinem Chef klarmachen können, dass ihm die SoKo gestohlen blieb. Was Becker da machte, war nur Routine, da Dietrich Köllings Kommissariat während der Bereitschaft für die Tatortarbeit zuständig gewesen war. Für den Ersten Angriff, wie es so schön hieß. Viel anzugreifen hatte es nicht gegeben. In ein paar Tagen konnte man die unseligen Akten der Sonderkommission übergeben, die pikanterweise SoKo Oma heißen sollte. Dietrich Kölling hatte den Namen seinem Chef vorgeschlagen, um sich jung fühlen zu können, aber im Moment fühlte er sich nicht jung. 31
»Jedenfalls gibt es wieder viel Elend in dieser Stadt«, sagte er und schaute zum Fenster. Die Stadt, die er meinte, befand sich hinter diesem Fenster, aber er sah nur grauen Himmel. »Und lassen Sie sich bloß keine Brüste aus Silikon machen.« »Das ist ein alter Hut«, murmelte Becker und tippte das Geschreibsel von seinem Klemmbrett ab. »Bei irgendeiner Schauspielerin sind die Polster verrutscht, und nun sieht sie aus wie schwanger«, fuhr Dietrich Kölling unbeirrt fort. Er hatte Appetit auf Kaffee, aber er musste sich zügeln. »Ach«, sagte Becker nur. »Und Frau Angelika L. hat es vorgezogen, ihrer Familie Lebewohl zu wünschen«, sagte Dietrich Kölling. »Eine gute Familie mit gutem Mann und guten Kindern, aber sie hat sich wohl noch was Besseres vorstellen können.« »Wer ist Angelika L.?«, fragte Becker uninteressiert. »Die Kunsthistorikerin Angelika L.«, las Dietrich Kölling vor, »die seit vielen Jahren Pankower Jugendliche bei eigenschöpferischer Tätigkeit anleitete und bei Kollegen wie Schülern sehr beliebt war. Und ihr Mann ist Präsident, beliebter Präsident des Sportklubs RSV Sturmvogel.« »Was mit Fliegen?« »Nein«, Dietrich Kölling versuchte, seinen Kopf zu schütteln, aber der Schmerz machte die Bewegung klein, »RSV bedeutet Radsportverein.« »Aha.« Becker tippte. »Niemand begreift, dass diese Frau einfach alles stehen und liegen lässt.« »Wenn man abhaut, lässt man immer alles stehen und liegen«, sagte Becker. »Auch wahr«, bestätigte Dietrich Kölling und warf die Zeitung in den Papierkorb.
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Die Enge war das Belastendste. Alles war so erschreckend eng geworden, sein Zimmer, das Haus, die Stadt, das Universum, sogar seine Kleidung, alles wollte ihn erdrücken. David sprang von seinem Bett auf, rannte ans Fenster und riss es auf. Es kam frischere Luft herein, aber sie ließ sich nicht leichter atmen. Er konnte überhaupt nicht mehr atmen, er bekam nie genug Luft, und selbst wenn er sich entkleidete, wurde er noch bedrängt, auch seine Haut schnürte ihn ein. David nahm die Hände zu Hilfe, um Luft in seinen Mund zu pressen. Es war unmöglich. Er ging in die Knie, und plötzlich änderte sich alles, denn alles wurde weit. Die Wände traten zurück, die Zimmerdecke, der Himmel raste davon, es war überhaupt nichts mehr da außer Leere und inmitten dieser unendlichen Leere ein kleiner, schutzloser, verkrümmter Körper: Genug Luft bekam David aber auch in dieser Weite nicht. Und nach fünf Sekunden oder fünf Stunden war die Enge wieder da. David wollte sterben. Er starb aber nicht. David wollte schreien. Er konnte nicht schreien. Er konnte nicht schreien, weil ihm der Atem fehlte. Und er konnte nicht schreien, weil es nur noch ein Wort gab, weil die Sprache auf ein einziges Wort zusammengeschrumpft war, ein unaussprechliches und auch nicht schreibares Wort: Mama. David konnte das Wort nicht herausbringen, weder flüsternd noch schreiend. Aber es flüsterte und schrie sich selbst. Es flüsterte und schrie sich aus seinem Körper, aus seinem Zimmer, aus dem Haus, und vom Himmel, an dem diese dreckige Sonne lachte, hallte es zurück. Das Wort war körperlich geworden, es kroch aus allen seinen Poren und aus allen Ritzen zwischen den Dielen und über die Fensterbrüstung ins Zimmer und unter der Tür hindurch und durch das Schlüsselloch, es kroch und kroch wie ein Wurm auf ihn zu und aus ihm heraus, aber sagen, sagen konnte er es nicht. David streckte sich auf den kühlen Dielen aus und beschloss, das Wort zu weinen. Es wollte nicht geweint werden. Es war 33
überall, aber am stärksten wühlte es in ihm. Und dort vor allem wollte es bleiben und sich von ihm nicht herausflüstern, herausschreien oder herausweinen lassen; das Wort hatte beschlossen, ihn zu Tode zu foltern. David krümmte sich zusammen wie ein Fötus. Sein ganzes Leben hatte er sich einsam gefühlt, aber es hatte doch Augenblicke gegeben, in denen er sich so nicht gefühlt hatte. Augenblicke mit seinem Vater, Augenblicke mit Marja, Augenblicke mit den Freunden im Klub, sogar Augenblicke mit Aaron. Er hatte sich einsam gefühlt, jetzt war er es. Als er sich nur einsam gefühlt hatte, da hatte er immerhin auch Liebe empfinden können. Die wirkliche Einsamkeit war lieblos und eiskalt. Sie war wie die lackierten Dielen. Aber nachdem David auf den Teppich in seinem Zimmer gekrochen war, fühlte auch der sich kalt an. David wartete. Er wartete auf das Erfrieren. Das Wort tat ihm nicht den Gefallen, ihn einfach erfrieren zu lassen. Es selbst hatte längst einen Eispanzer, aber sein Tod widersprach den Zwecken des Wortes. David schlang die Arme um seinen Leib, um das Wort zu wärmen. Es wurde nur noch kälter. Irgendwann, David wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte, veränderte sich etwas in ihm. Neben das Wort trat ein Impuls, mit dem er nichts anzufangen wusste, aber der Impuls trieb ihn, ein anderes Wort zu suchen: ein Wort, das er getrost flüstern, schreien oder weinen konnte. David dachte nichts Bestimmbares, er war nur voller Bilder und voll des Wortes, aber da war dann auch ein Bild, das ihn wärmte. Er sah Marja sterben. Er sah sie verbluten. Er sah sich neben ihr knien und sie retten. Und da endlich war das Wort da, das er flüstern, schreien oder weinen konnte. Dass er es nur schrie, und zwar anhaltend, wurde ihm nicht bewusst. »Schnürsenkel«, brüllte David. Er brüllte es noch, als Michael zu ihm stürzte, aber als der Notarzt kam, da flüsterte er es. Und auf der Trage konnte er es endlich weinen. 34
Berlin war ein großer Bahnhof, Menschen kamen und gingen, und manche verschwanden auch. Wenn der Verschwundene besorgte Angehörige hatte, wurde aus ihm ein Vermisster und damit eine Sache der Polizei. Das Verschwinden war zwar kein verbrieftes Verfassungsrecht, aber auch kein Verbrechen, und in Berlin wurde ständig verschwunden und vermisst. Für Beate Nowikowski war es Alltag, seitdem sie bei der Vermisstenstelle der Berliner Kripo tätig war. Die meisten Verschwundenen und Vermissten kehrten zurück oder wurden aufgegriffen. Manche blieben für immer fort. Sie wollten einfach nicht zurückkehren und waren geschickt genug, sich nicht aufgreifen zu lassen. Oder sie waren Opfer eines Verbrechens geworden. Falls man dafür Anhaltspunkte oder gar die Leiche des Opfers fand, wechselten sie auf den Tisch einer der Mordkommissionen. An ein Verbrechen dachte Beate Nowikowski in der Vermisstensache Angelika Leichtner zwar bereits, aber sie hielt ihre Vermutungen noch zurück. Wenn Beate Nowikowski mit dem Auto oder der U-Bahn zum Dienst oder nach dem Dienst heimfuhr, war sie überzeugt, dass es in Berlin mehr Gründe zum Verschwinden als zum Bleiben gab. Die meisten Menschen blieben. Sie waren nun einmal Nesthocker und Gewohnheitstiere, die sich an ihre abgesteckten Reviere krallten und Verharren mit Dauer verwechselten; jede Veränderung verursachte ihnen Todesängste. Andere wiederum, eine Minderheit, veränderten ständig ihren Lebensraum, aus den gleichen Ängsten heraus. Manche jedoch verschwanden definitiv. Es mochte sein, dass sie nach ihrem Verschwinden glücklicher waren als zuvor, aber wenn sie jemand vermisste, musste Beate Nowikowski die Verschwundenen aufspüren. Auch Angelika Leichtner war nun eine vermisste und daher aufzuspürende Person. Die Vermisste war vielleicht nicht glücklich gewesen, aber auch nicht unglücklicher als alle, die ausharrten. Sie hatte eine 35
Ehe geführt, über die Beate Nowikowskis Mitarbeiter nichts Nachteiliges hatten ermitteln können, sie hatte zwei Söhne, die beide aufs Gymnasium gingen, und der ältere war ein guter Sportler. Sie nannte ein Haus mit einem großen Garten ihr Eigen, kein prächtiges Haus zwar, aber ein gemütliches. Es gab keine Gründe, all das mir nichts, dir nichts zu verlassen. Außerdem hatte Angelika Leichtner nach langer Arbeitslosigkeit wieder eine Arbeit gefunden, die womöglich nicht so übermäßig attraktiv und erfüllend war, aber in diesen Zeiten wäre jeder froh über einen solchen Job. Beate Nowikowski verstand einfach nicht, warum diese Frau eines Abends das Haus verlassen hatte, und zwar zu Fuß, und nicht mehr zurückgekehrt war. Ihren Söhnen hatte Angelika Leichtner erklärt, sie müsse rasch zum Supermarkt fahren, aber gefahren war sie nicht. Es war denkbar, dass sie sich entschieden hatte, an dem schönen Frühlingsabend zu Fuß zu gehen, und auf dem Weg musste ihr dann irgendetwas widerfahren sein. Es gab keine Zeugen, die sie gesehen hatten, oder aber diese Zeugen hatten sich nicht gemeldet. Beate Nowikowski gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass hier ein Verbrechen vorlag: Wäre es Angelika Leichtners Absicht gewesen, von daheim zu fliehen oder gar sich das Leben zu nehmen, sie hätte doch wohl ihren Wagen benutzt, um rasch fortzukommen. Für einen Selbstmord gab es keine erkennbaren Motive, aber das musste nichts bedeuten. Deshalb hatte man die Umgebung von Rosenthal weiträumig abgesucht, die Leiche hätte man eigentlich finden müssen. Natürlich konnte Angelika Leichtner ihren Golf auch bewusst nicht genommen haben, weil sie fürchtete, an ihrem Nummernschild erkannt zu werden. Dann war sie vielleicht zur Bushaltestelle gelaufen, von dort bis zum nächsten U- oder SBahnhof gefahren, von dort wiederum zu einem der Fernbahnhöfe. Dagegen sprach, dass sie kein Gepäck bei sich gehabt hatte, und da es anscheinend keinen Anlass für eine 36
spontane Flucht gab, hätte sie zumindest ein bisschen Wäsche mitgenommen. Nein, Angelika Leichtner war kein Vermisstenfall, nie und nimmer. Nun war auch noch der Hund der Familie verschwunden. Michael Leichtner, der Ehemann, der in seiner Verzweiflung Gespenster sah, glaubte daran, seine Frau sei zurückgekehrt und habe den Hund geholt, ein vollkommen absurder Einfall. Vermutlich war es so gewesen, dass die beiden Söhne, die sich vor allem um den Rottweiler kümmerten, ihn ausgeführt und in der allgemeinen Aufregung dann vergessen hatten, nach der Rückkehr den Zwinger abzusperren. Und der Hund, der unter der Unruhe und dem veränderten Klima in seinem Rudel litt, war ausgebüxt. Bei ihm vermochte Beate Nowikowski ein Motiv zu erkennen, bei Angelika Leichtner nicht. Sie konnte nur entführt worden sein. Entführt und vielleicht getötet. Wenn es leer war, nicht leer von Möbeln, aber leer von Menschen, wirkte das kleine Haus plötzlich riesengroß. Aaron hatte es für sich allein. Der Vater war völlig fertig, aber trotzdem war er am Morgen in die Firma gefahren, weil ohne ihn dort nichts lief. Das meinte er zumindest. David lag im Krankenhaus, und die Mutter würde nie mehr wiederkommen. Jetzt am Nachmittag, aus der Schule zurückgekehrt, war Aaron der Herr des Hauses. Am schwersten fiel ihm, das Haus zu betreten, denn der Weg hinein führte unweigerlich durch die Diele. Die Diele machte ihm Angst. Dort lagen die beiden Teppichbrücken, dort hing das Bild, und bevor er das Haus in Besitz nehmen konnte, musste er an Brücken und Bild vorbei. In den letzten Tagen hatte er die Fußbodenbretter immer wieder gescheuert. Er hatte sich aus der Schule ein Stück Kreide mitgebracht, das Bild abgehängt und die Spritzer an der Tapete mit der Kreide übergeweißt. Eigentlich war nichts mehr zu sehen. Dennoch fürchtete Aaron Tag für Tag, die Spuren 37
könnten wieder erstehen wie in dem Märchen Das Gespenst von Canterville. Das allerdings war ein lustiges Märchen. Aaron ging in sein Zimmer, legte die DVD von Kiddick – Chroniken eines Kriegers in den Player und stellte den Ton sehr laut; bald erfüllten die Musik und Kampfgeräusche das ganze Haus. Ihm konnte nichts geschehen. Er war noch nicht strafmündig, und er hatte seinem Bruder nur geholfen. Vielleicht käme er in ein Heim. Aaron kehrte in den Flur zurück. Im Heim gab es andere Jungen, man konnte einen Freund finden oder eine ganze Clique. Aaron stieg die Treppe hinauf. Die Lehrer schätzten ihn als intelligent und liebenswürdig ein, weil sie ihn nicht kannten. Intelligent war er natürlich, dagegen würde er nicht protestieren. Aber liebenswürdig? Aaron grinste. Er würde die anderen Jungen um den Finger wickeln und der Führer ihrer Clique sein. Aber ins Heim wollte er nicht. Er würde nur gehen, wenn er unbedingt müsste. Und überleben. Überleben war ganz einfach. Man musste nur lieb sein. Sich auf einen Schoß setzen und schmusen. Dafür bekam man alles. Vor dem Alleinsein in dem Haus fürchtete Aaron sich nicht. Allein war er immer, ob nun hier im menschenleeren Haus oder unter tausend Menschen. Und er war auch immer schon allein gewesen. Jetzt empfand er es als großes Glück, denn niemand ahnte, wer er war. Er brauchte keine Menschen, er hatte sie alle in seinem Kopf. Sogar erfinden konnte er sie. Er war das Monster, das aus Liebe Böses plant. Und er war derjenige, der zerquetscht, zerstückelt, gefressen, der ausgelöscht wurde. Aaron wandte sich nach rechts, zum Schlafzimmer seiner Eltern, dorthin, wo sein Vater und seine Mutter miteinander gebumst und ihn angeblich vor mehr als dreizehn Jahren gezeugt hatten. Die Zeugung konnte sich Aaron noch vorstellen, aber nicht, dass seine Mutter ihn ausgetragen hatte, denn dies würde bedeuten, er hätte einst in einem sehr engen Kontakt zu einem Menschen gestanden. Aarons Lieblingstheorie von seiner Geburt bestand darin, dass er in den unendlichen Tiefen des Univer38
sums entstanden war, an einem Ort, wo die größte Nähe zwischen zwei Körpern eine für Erdenbewohner gigantische Entfernung bedeutete, und dann war er herabgestürzt in das Bett einer Entbindungsstation. Im Bauch seiner Mutter herangewachsen zu sein, in ihrem Innern, war ihm eine grässliche Vorstellung. Mit ihr verband sich logisch, dass er seine Mutter neun Monate lang gebraucht hatte. Aaron aber brauchte niemanden. Wenn ein anderer ihn brauchte, störte ihn das nicht. Und jetzt brauchte ihn David. Aaron betrat das Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Zielstrebig griff er ins oberste Fach hinter die Pullover des Vaters. Was er zutage förderte, waren Videokassetten, die er schon vor einiger Zeit hier entdeckt, die er auch alle schon gesehen hatte. Heute würde er Black Lady II anschauen, denn in diesem Film gab es wahnsinnig geile Folterszenen. Zurück in seinem Zimmer, wechselte Aaron die Kassetten. Die Schwarze Lady trug immer eine Maske, sodass man ihr Gesicht nie zu sehen bekam und es sich vorstellen konnte. Sie steckte vom Hals bis zu den Hand- und Fußgelenken in einem engen schwarzen Anzug aus Lackleder, unter dem man ihre Brüste gut sehen konnte, und auch ihre hochhackigen Schuhe waren schwarz. Aaron entkleidete sich und legte sich rücklings auf sein Bett. Bis zum Ende der Kassette kam er nie. Aaron zerbiss sich vor Anspannung die Lippen. Die Schwarze Lady hatte einen nackten Mann mit furchtbar behaartem Arsch vor sich niederknien lassen. Der Mann trug ebenfalls eine Maske und ein Halsband, und er wurde so zusammengeschnürt, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Die Schwarze Lady verlangte von ihm, alle schlimmen Dinge zu gestehen, die er getan hatte. Der Mann wollte nicht. Plötzlich hatte die Lady eine dünne schwarze Rute in der Hand. Aaron seufzte und begann, den Kopf in den Nacken zu werfen. Mit der Rute schlug die Lady dem Mann auf den 39
Arsch. Aaron stellte sich vor, sie wäre seine Mama und der Mann, das wäre er. Dann war er fertig. Und fühlte sich so einsam und verlassen, dass ihm die Tränen kamen. Seine Mama hatte ihn nie bestraft. Manchmal hatte sie ihn gescholten, aber richtig bestraft hatte sie ihn nie. Es hatte Gemecker gegeben, aber keine Strafen, die man aushalten musste, keinen Stubenarrest oder eine Backpfeife und Schläge, richtig brutale und schmerzhafte Schläge, sowieso nicht. Jedes normale Kind bekam Strafen. Aaron nicht. Manchmal hatte er in der Schule eine Arbeit absichtlich verhauen. Zumindest hatte er ein paar Fehler eingebaut, hatte eine Drei bekommen und war dafür noch getröstet worden; Mama hatte ja gewusst, dass er nur Flüchtigkeitsfehler gemacht hatte und dass die nächste Arbeit wieder besser werden würde. Sie war dann auch besser geworden. Oder er war frech zu einem Lehrer gewesen, der ihm dafür einen Tadel gegeben hatte. Sofort war Mama in die Schule gerannt und hatte dem Lehrer zugesetzt. Aaron hatte das pflegeleichte, fehlerlose, gute Kind zu sein. Und er hatte sich immer drakonischere Bestrafungen ausgemalt, vom Einsperren in den Hundezwinger bis zum stundenlangen Stehen in der schneegefüllten Regentonne. Vor allem aber sollten die Strafen ungerecht sein, unangemessen, viel zu hart im Vergleich zum Anlass. Dann hätte er sich wenigstens einmal gegen seine Mutter wehren können. Er hätte aufbegehren und protestieren, er hätte auch irgendwo den Schutz suchen können, den er nicht mehr brauchte. Aber Strafen, wenn auch leichte, hatte immer David bekommen, und oft sogar für etwas, das Aaron getan hatte. Aaron wischte sich den Bauch ab. Zuerst hatte er immer Papiertaschentücher genommen, nun benutzte er das Bettlaken. Aber welche Spur er mit seiner Suppe auch immer gelegt hatte, sie war ignoriert worden. Die Spuren in der Diele hingegen hatte er bewusst beseitigt, er wollte nicht, dass die Polizei David auf die Schliche kam. Bald 40
würde Aaron vierzehn sein, und so lange durfte der Bruder nicht gefasst werden. Aaron hatte ihn in der Hand, er würde ihn zwingen, dass sie gemeinsam etwas Schreckliches begingen. Dann endlich würde er bestraft werden. Der Hund war außer Rand und Band. Es war ein Rottweiler, ein Rüde, und er ließ niemanden an sich heran. Obermeister Weinberger und Polizeianwärterin Koller hatten vor vielleicht zehn Minuten das Veterinäramt verständigt. Von dort würden bald die Spezialisten mit Fangschlinge und Beruhigungsspritze anrücken, so lange hieß es warten. Der Rottweiler war gefährlich, einem Jungen, der ihm zu nahe gekommen war, hatte er in den Arm gebissen, aber Weinberger hatte Verständnis für das Tier, denn es war offenbar ausgesetzt worden. Irgendein fieses Schwein mit menschlichem Antlitz hatte sich seines Hundes entledigen wollen, war mit ihm zum Kiessee nach Mönchmühle gefahren und hatte ihn dort an einen Zaunpfahl gebunden; es war doch klar, dass sich das Tier in seiner Verzweiflung wie irre gebärdete. Wenn es die beiden Polizisten nicht aggressiv anbellte, versuchte es, die Leine zu zerbeißen, und es würde ihm auch bald gelingen. Dann würde Obermeister Weinberger tun müssen, was er noch lange Zeit danach bedauern würde. Er selbst besaß einen Neufundländer, der sein kleines Häuschen in Birkenwerder mehr verschönerte als bewachte. Außerdem nannte er zwei Katzen sein Eigen, die sich mit dem Hund ausgezeichnet verstanden, weil er sich von ihnen auf der Nase herumtanzen ließ, und für seinen Sohn Mirko hatte er vor kurzem einen Hasen erwerben müssen. Bei Weinbergers war man tierlieb. Der Obermeister schaute sich den Hund, der wieder an seiner Leine zerrte, eine Zeit lang nachdenklich an. Weinberger fällte eine Entscheidung und ging in die Knie. Ein paar Sekunden starrte ihn der Rottweiler aus seinen blutunterlaufenen Augen 41
fragend an, dann knurrte er aus den Tiefen seiner verletzten Hundeseele und fletschte die Zähne. »Na ja«, sagte Weinberger sanft, fast zärtlich, »hast einiges durchgemacht, was? Scheißmenschen, wie soll man da noch Vertrauen haben? Und Durst und Hunger hast du, stimmt’s? Durst und Hunger machen auch Menschen aggressiv, glaub mir das ruhig.« Der Rottweiler fixierte den Obermeister. Sein Knurren klang immer noch bedrohlich, aber er kläffte nicht mehr und zerrte auch nicht an der Leine, als ob er gespannt darauf wäre, welches Theater das Menschentier noch abzuziehen gedachte, bevor es ihn endgültig verarschte. »Tja, ich weiß ja nicht, wie du heißt«, fuhr Weinberger in demselben einschmeichelnden Ton fort, während er die rechte Hand zur Faust ballte, »aber ich habe selber einen Hund. Ein Riesentier, freundlich wie eine von der Post, der eine Entlassungswelle bevorsteht.« »So ’n Quatsch«, ließ sich die Polizeianwärterin Koller vernehmen. Sofort kläffte der Rottweiler los. »Gehen Sie zum Wagen!«, befahl Weinberger seiner Kollegin. Sie gehorchte augenblicklich. »So ist eine Postangestellte normalerweise«, erklärte der Obermeister dem Hund, »schroff, abweisend und immer überfordert, weil sie ihre Kunden hasst. Vor allem die dämlichen, und das sind neunzig Prozent. Aber du solltest mal sehen, wie sie sich verändert, wenn die Post Stellen abbaut. Sie kriecht den Kunden förmlich in den Arsch. Mein Hund ist kein Arschkriecher, das will ich damit nicht sagen. Aber freundlich eben. Keine Ahnung, ob ihr euch versteht, zwei Rüden sind ja Konkurrenten. Wollen wir es nicht probieren? Meiner heißt übrigens Schnecke. Weil wir Weinberger heißen.« Der Rottweiler hatte aufmerksam zugehört, ohne allerdings den Kopf schief zu legen oder gar mit dem Schwanz zu wedeln oder mit dem Stück Schwanz, das er noch hatte, denn er war kupiert. Rottweiler gehörten nach offizieller Meinung zu den 42
kampflustigen Rassen, die sich gern mit anderen Rüden bissen, deshalb kürzte man ihnen zu ihrem eigenen Schutz den Schwanz. Weinberger hatte Zweifel, ob er einen solchen Hund bei sich aufnehmen und Schnecke zumuten konnte, aber dann blieb immer noch der Weg ins Tierheim oder der Fangschuss. Wenn gelang, was er vorhatte, würde er dem Hund zumindest die Schlinge ersparen können, und das war schon ein Erfolg. Weinberger setzte alles auf eine Karte und hielt dem Rottweiler seine Faust vor die Nase. So konnte er ihm keinen Finger abbeißen, ihn allerdings immer noch erheblich verletzen. Der Hund biss nicht, er schnüffelte. Falls der Geruch von Weinbergers Schweiß sein Missfallen erregte, war alles verloren, und der Obermeister würde krankfeiern können. Der Rottweiler öffnete die Lefzen. Aber er zeigte nicht seine Zähne, sondern seine Zunge und leckte den Schweiß seines neuen Freundes, um sich dessen Aroma zu merken. Weinberger hatte gewonnen. Er kraulte den Hund noch nicht, doch er löste die Leine. Die Polizeianwärterin Koller zog die Autotür zu. Dietrich Kölling hatte eine Wahnsinnstat begangen und sich für die Stallwache das Oberlehrerblatt Die Zeit gekauft. Die Wochenzeitung, die nicht nur wöchentlich erschien, sondern an der man auch eine ganze Woche las, hatte er als Student mitunter gekauft, als Polizeibeamter aber nicht mehr. Alles, was er über den geistigen Zustand der Deutschen für seine Arbeit erfahren musste, fand er am besten in Bild, und die sieben Ausgaben der Woche wogen nicht so viel wie eine Zeit. Nachdem er einen Artikel über Kinderschänder überflogen hatte, war ihm klar geworden, dass auch in der Zeit nichts anderes stand. Den Artikel über Kinderschänder hatte die Redaktion in der Rubrik Modernes Leben untergebracht. Ein wenig zynisch war man über die Jahre also geworden, aber über die Jahre zynisch wurde jeder Mensch, der einen Denkapparat besaß. Außerdem war Kinderschändung mittlerweile so 43
kleidsam wie Hugo Boss oder Versace. Dietrich Kölling runzelte die Stirn, als er einen prüfenden Blick auf seinen zeitlosen Übergangsmantel warf: In einem solchen Mantel konnte sich jeder Kinderschänder unsichtbar machen. Dietrich Kölling blätterte noch ein bisschen. Der Frühling stand in voller Blüte, alle Menschen wurden von Aufbruchsstimmung ergriffen, nur die Mörder nicht. Sie weigerten sich standhaft, Dietrich Köllings Lohn und Brot zu rechtfertigen. Dazu bedurfte es auch keiner Mörder, er war Beamter, der Staat bezahlte ihn fürs Nichtstun ebenso wie für angespanntes Ermitteln. Außerdem war eine Mordbereitschaft über das Wochenende nicht dazu angetan, irgendwelche dienstlichen Aktivitäten zu entfalten. Dietrich Kölling hob den Kopf und schaute, was seine Lieben trieben. Becker löste Kreuzworträtsel. Er hatte darin eine solche Meisterschaft entwickelt, dass sein Stift nur so über das Papier sauste. Die Oberkommissarin Blissow betrachtete ratlos ein Staubtuchset, versenkte es dann in der Ablage A-G und blickte zum Fenster hinaus. Und Tangermann, das Nesthäkchen, war seit Stunden auf der Toilette. »Schönes Wetter«, murmelte die Blissow. Es konnte auch ein Murren sein. »Bergspitze auf Rätoromanisch?«, grübelte Becker und kratzte sich mit dem Stift an der Schläfe. Das Wort rätoromanisch weckte Dietrich Köllings Lebensgeister, schließlich hatte er vor etlichen Jahren an einem Kriminalistenkongress in Zürich teilgenommen und hielt sich für einen ausgezeichneten Kenner der Eidgenossenschaft. »Na, Becker«, fragte er lauernd, »wissen Sie überhaupt, wo man Rätoromanisch spricht?« »In der Schweiz«, brummte Becker. »Vor allem in Graubünden. Und in einigen Tälern Oberitaliens.«
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»Oberitalien gehört nicht zur Schweiz«, sagte Dietrich Kölling, legte beide Hände flach auf den Tisch und beugte sich vor. »Nein«, erwiderte Becker nur. Das war alles, und das Mordkommissariat versank wieder in Lethargie. Als nach dem Vergehen ungezählter Minuten geklopft wurde, wandten sie alle drei sofort den Kopf zur Tür. Dietrich Kölling, der das Klopfen für einen Streich Tangermanns hielt, forderte etwas grob zum Eintreten auf. Es war aber nicht Tangermann, sondern eine Frau. Eher Ende als Mitte dreißig, schätzte Dietrich Kölling. Sie war jugendlich gekleidet, trug Jeanshosen, eine Jeansjacke, ein T-Shirt und Freizeitsandalen. Da weder Hinz noch Kunz einfach in die Büros der Mordkommissionen hereinschneien konnte, musste sie eine Kollegin sein. Dietrich Kölling erinnerte sich, ihr schon ein paar Mal im Dienstgebäude Keithstraße begegnet zu sein, also gehörte sie vielleicht zu einem der Brandkommissariate, zur Organisierten Kriminalität oder zur Vermisstenstelle. Ihre große lederne Umhängetasche verhieß nichts Gutes. »’n Tag, Beate«, wurde sie von der Blissow begrüßt. Die Damen waren also per Du. Dietrich Kölling fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, denn ein freundlich gemeinter Wochenendbesuch bei den leidenden Kollegen konnte dies nicht sein. »Nowikowski.« Die Frau Beate reichte Dietrich Kölling die Hand, eine Geste, die er eigentlich für weitgehend abgeschafft gehalten hatte, sodass er sich erstaunt erhob, schließlich war er ein Kavalier der alten Schule, bewies es aber nur selten. Auch Becker stand auf, aber der war ja im Osten unter einem Händedruck aufgewachsen. Nach verhaltenem Händeschütteln rückte Dietrich Kölling der Kollegin einen Stuhl zurecht. Nun durften sich alle wieder setzen.
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»Schönes Wetter«, sagte Dietrich Kölling. »Ein Mordswetter«, fügte er hinzu. »Was bringen Sie uns Tolles? Konfekt?« Er wies auf die bedrohliche Umhängetasche. »Einen unklaren Vermisstenfall«, erklärte die Frau Beate. »Nichts Tolles«, sagte Dietrich Kölling mit gekünsteltem Mitgefühl und sann darüber nach, was ein klarer Vermisstenfall sein mochte. Während er seinem Gast tief in die Augen sah, nahm er dennoch wahr, wie Becker ein paar Formblätter über dem Kreuzworträtsel ausbreitete; es galt den Ruf zu verteidigen, die Mordkommissionen arbeiteten so hart wie Hitler und Stalin zusammengenommen. Im Kreml brennt noch Licht, pflegte Becker, der Ostdeutsche, gelegentlich zu sagen, wenn sie eine Nacht in der Dienststelle verbringen mussten. In der Reichskanzlei auch, entgegnete Dietrich Kölling dann gern. »In Pankow«, begann die Frau Beate. Das war im Osten. Vielleicht kam die Frau Beate von drüben. Dietrich Kölling nickte und überlegte, wann und warum im Westen der Händedruck aus der Mode gekommen war. Irgendwie hing diese Entwicklung damit zusammen, dass man seit Jahren überall geduzt wurde; jeder Rotzlöffel behandelte einen so, als hätte man schon ein Bier mit ihm getrunken. Die Frau Beate erzählte von Pankow und einer verschwundenen Frau. Außerdem litten die Westdeutschen an permanenter Angst vor dem Verlust der Jugend, den sie nicht für naturgegeben, sondern für eine ansteckende Krankheit hielten. Die Verschwundene hieß Angelika Leichtner. Von ihr hatte Dietrich Kölling in der Zeitung gelesen. Er dachte über Infektionskrankheiten nach. Es gab Tröpfcheninfektion, Schmierinfektion und noch andere solcher Dinge. Ein Händedruck sollte vergleichsweise ungefährlich sein. Ganz und gar ungefährlich war natürlich das Du. Das übertrug nur jene schmierige Vertraulichkeit, die Dietrich Kölling nicht leiden konnte. Die Frau Beate glaubte nun, Angelika Leichtner sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Man konnte sich mit Viren oder mit Bakterien 46
infizieren. Bakterien waren dumme Einzeller, Viren waren noch nicht einmal richtiges Leben, aber diese mit Eiweiß ummantelte DNA konnte einem mächtigen Ärger einbringen. Der Mensch war so viel größer als diese kleinen Viecher und bekam von ihnen eine tropfende Nase, Gliederschmerzen, Kopfweh und manchmal den Tod. Der Hund sollte auch verschwunden sein. Dietrich Kölling horchte auf. »Welcher Hund?«, wollte er wissen. Er mochte keine Hunde, weil sie stanken und sabberten. »Der Hund der Familie Leichtner«, sagte die Frau Beate. »Vermutlich aus dem Zwinger getürmt. Vielleicht sucht er nach Frauchen.« »Sie ist ja verschwunden.« Dietrich Kölling spürte sofort, wie dümmlich es wirken musste. Er vergaß Viren und Bakterien und überlegte, ob wohl auch Hunde an Bluthochdruck leiden konnten. »Viele Menschen verschwinden Tag für Tag. Hunde, das weiß ich nicht. Wer ist eigentlich für vermisste Hunde zuständig?« Das beschäftigte ihn wirklich, aber nur für ein paar Sekunden. »Sagen Sie mal«, fragte die Frau Beate mit gerunzelten Augenbrauen und schaute ihn auf eine Art an, die man vielleicht als durchdringend bezeichnen konnte, »haben Sie mir überhaupt zugehört?« »Natürlich. Aber ich sehe nichts, was für ein Verbrechen spricht. Sie haben gesagt, die Frau war nicht glücklich auf ihrer Arbeit.« »So habe ich das nicht gesagt«, widersprach die Frau Beate. Und sie legte noch einmal die Gründe für ihre Annahme dar. Dietrich Kölling schüttelte den Kopf. »Haben Sie die Konten der Familie überprüft?« »Die Konten? Wieso?« Die Frau Beate wirkte irritiert. Dietrich Kölling gefiel das. »Vielleicht hat die Frau da … Angelika … vielleicht hat sie die Konten geplündert und verjubelt nun mit einem heimlichen
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Geliebten das Geld«, schlug er vor. »Ohne Mann und Bäl… Kinder in der Karibik.« »Sie sind zynisch«, meinte die Frau Beate. »Ich sage Ihnen nur, dies ist keine Sache für uns«, erklärte Dietrich Kölling. »Wenn die Frau seit Monaten ohne das geringste Lebenszeichen abgängig wäre, dann würden wir vielleicht Ihre Akten übernehmen. Oder …« »Oder?« »Oder wenn es von oben kommt.« Dietrich Kölling deutete zur Decke, obwohl sein Chef auf derselben Etage residierte. »Wenn was von oben kommt, werden wir tätig. Wir teilen zwar nicht alle Überzeugungen von oben, aber oben darf befehlen.« »Übers Wochenende kannst du die Akten ja mal bei uns lassen«, mischte sich die Blissow ein. Dietrich Kölling atomisierte sie mit seinem Blick. Dann zuckte er die Achseln, stand auf und begab sich zur Tür. Er hatte keine Lust auf Vermisstensachen, aber ob Hans-Joachim Tangermann, Hajota genannt, mittlerweile zur Leichensache geworden war, interessierte ihn brennend. Wenn die Blissow unbedingt eine Akte lesen wollte, sollte sie es tun. Sie konnte auch das ganze Archiv des Landeskriminalamtes studieren, wenn es ihr den Bereitschaftsdienst verkürzte. Dietrich Kölling fragte sich noch, ob die Frau Beate auch mit solcher Verbissenheit aus einem abgehauenen Mann ein Verbrechensopfer machen würde wie aus abgehauenen Frauen und Hunden, dann stieß er die angelehnte Klotür mit einem Fußtritt auf. Er klopfte an alle Boxen, und aus einer trat Hajota. Seine Augen waren gerötet, aber er hatte eher geweint als getrunken. Wahrscheinlich hatte ihn wieder eines seiner heiß geliebten jungen Betthühnchen verlassen. Dietrich Kölling öffnete einen Wasserhahn und wusch sich die Hände. Als er sich im Spiegelbild betrachtete, entdeckte er rote Flecken auf seinen Wangen und am Hals.
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»Los, Tangermann«, befahl er seinem Quotenschwulen, »gehen Sie in mein Zimmer, machen Sie Probesitzen auf dem Chefsessel und treffen Sie eine männliche Entscheidung.« »Welche denn?« Es war Dietrich Kölling gelungen, nun auch Hajota zu verwirren. »Schicken Sie mich in den wohlverdienten Ruhestand.« »Und was werden Sie dann machen?«, erkundigte sich Tangermann. »Ich weiß es nicht.« Dietrich Kölling war selbst erstaunt, wie resigniert seine Antwort klang. »Vielleicht mache ich eine Detektei zur Wiederbeschaffung vermisster Hunde auf.«
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Drittes Kapitel Die Straße hieß seit geraumer Zeit Hauptstraße. Sie war eine von acht Berliner Straßen gleichen Namens, und obwohl sich die Blissow bereits vorkam wie am Stadtrand, war es noch nicht einmal die nördlichste Hauptstraße in Berlin. Die Blissow nutzte den freien Tag nach dem Bereitschaftsdienst, um in unbekannte Jagdgründe des Berliner Ostens vorzudringen, aber sie tat es nicht aus übertriebenem Pflichtbewusstsein oder um Punkte bei ihren Chefs zu sammeln, sondern weil ihr daheim die Decke auf den Kopf fiel. Gerade einmal zwei Wochen waren vergangen, seitdem sie Martin endgültig vor die Tür gesetzt hatte, Martin, ihren Freund, ihren Lebensgefährten, den männlichen Part ihrer eheähnlichen Gemeinschaft oder wie immer man das nennen mochte. Die Begriffe waren ihr gleichgültig. Dreieinhalb Jahre gemeinsamen Lebens ließen sich in vierzehn Tagen nicht gründlich vom Tisch wischen, und obgleich Martin körperlich nicht mehr anwesend war, blieb er es doch atmosphärisch. Genauer gesagt, spürte die Blissow seine Abwesenheit, und dieses Gefühl machte sie nervös. Rechts vor ihr tauchte eine Kirche auf, die in ein Dorf eher passte als in eine Millionenstadt. Rosenthal war einst tatsächlich ein Dorf vor den Toren Berlins gewesen und dann eingemeindet worden wie etliche andere Dörfer auch. Ebenso wenig wie diese Kirche in die Großstadt hatte Martin zur Blissow gepasst, und doch hatten sie einige Jahre Bett und Tisch geteilt: Er, der mäßig erfolgreiche Musiker, der sich für einen Anarchisten hielt, weil er seine Schmutzsocken achtlos herumwarf, sie als Kriminalbeamtin und Vertreterin der staatlichen Ordnung, die im Übrigen auch auf häusliche Ordnung Wert legte. Zusammenraufen nannte man das wohl, wenn zwei so unterschiedliche Charaktere harmonierten, was sie natürlich nie 50
getan hatten. Die Blissow hatte bestimmt, und Martin, der aus Angst vor Verantwortung gern den kleinen Jungen spielte, hatte sich gefügt. Vor allem in ihrem Sexualleben hatte die Oberkommissarin die Hosen angehabt. Die starke Frau des Kommissariats, die Frau mit Haaren auf den Zähnen, das war sie auch privat gewesen, und da dies ihre selbst gewählte Lebensrolle war, hatte es sie nicht gestört. Rosenthaler Hof hieß die Gaststätte oder Kneipe linker Hand, an der die Blissow nun vorbeifuhr. Wenige Meter weiter bog die Hauptstraße in einem rechten Winkel nach links, und der Blissow schoss eine Frage in den Sinn, die man ihr vor mehr als zwei Jahrzehnten gestellt hatte, ihr und ihren Mitschülern. Ob sie sich ein Dreieck mit drei rechten Winkeln vorstellen könnten, hatte der Mathematik- und Physiklehrer am Gymnasium wissen wollen. Die Blissow erinnerte sich schwach, dass es ein solches Dreieck gab, aber die richtige Antwort wusste sie nicht mehr. Nicht die andere Frau war der Auslöser der Trennung gewesen. Diese andere Frau war ein jugendliches Groupie, das Martin und seine schräge Musik bewunderte, und da auch die Blissow mit Klischees lebte, war das Mädchen in ihrer Vorstellung so blond wie beschränkt, das Blond künstlich, die Beschränktheit echt. Solche Affären hatte es immer mal gegeben, wenn Martin plötzlich den Macho in sich entdeckte und angehimmelt werden wollte. Das Anhimmeln gehörte nicht zu den Stärken der Blissow. Was ihr aber schon seit langem gegen den Strich gegangen war, das waren Martins so genannte Ausflüge in die Freiheit gewesen. Als Künstler, so hatte er erklärt, brauche er ab und zu die Befreiung aus den Fesseln einer engen Beziehung, was nichts weiter bedeutete, als dass er mit seinen Freunden aus der Band tagelang durchsoff. Dass er dann mit eingerolltem Schwanz zurückkehrte und sich als der ungezogene Junge gerierte, der von Mutti eins hintendrauf erwartete, mochte angehen. Unerträglich war der Blissow aber 51
der Gestank gewesen, den der böse Bub verbreitete. Sie kam sich dann in ihrer eigenen Wohnung wie in der Lotterhöhle eines Alkoholikers vor. Solche lebensunwürdigen Räume kannte sie von ihrer beruflichen Tätigkeit zur Genüge, in ihrer Privatsphäre brauchte sie das nicht auch noch. Sich ihr Refugium zur Kloake verwandeln zu lassen, hatte sie nicht nötig, und da Martins Ausflüge in die billigen Eckkneipen häufiger geworden waren, hatte sie über eine Trennung bereits lange nachgedacht. Sie auch angedroht. Sie nun vollzogen. Die andere Frau war nicht mehr gewesen als der letzte Anstoß. Die verlängerte Hauptstraße war ein breiter Sandweg und namenlos. Vermutlich weil sie so kurz war, hatten es die Behörden nicht der Mühe wert erachtet, ihr einen Namen zu verpassen, und so trug sie eben eine Zahl: Straße 126. Die Blissow bremste bis zum Stand, schaltete den Motor ab und zog die Handbremse. Sie schaute in den Spiegel und ordnete ihr Haar, eine überflüssige Geste. Dann fiel ihr die Antwort ein. Auf der Oberfläche einer Kugel gab es Dreiecke mit drei rechten Winkeln. Die Blissow schüttelte den Kopf und stieg aus. Vielleicht musste sie an die Schule denken, weil sie gleich zwei Schülern begegnen würde. Damals hatte niemand die richtige Antwort gewusst. Denn niemand hatte sich von dem alten Zopf zu trennen vermocht, im Dreieck eine ebene Fläche zu sehen. Die Blissow hatte sich einen alten Zopf abgeschnitten. Nun litt sie am Phantomschmerz. Aaron betrat Davids Zimmer nur zögernd, eine Videokassette in der Hand. Seit drei Tagen war der Bruder wieder zu Hause. Im Krankenhaus hatte er sich verändert. David sprach kaum, lag den ganzen Tag im Bett und war abgemagert. Jedenfalls fand Aaron das, wenn er dem Bruder ins Gesicht schaute. Zweimal am Tag musste er irgendwelche blöden Pillen schlucken, zwei grüne und eine weiße. Die weiße, 52
das hatte Aaron schon herausgefunden, diente der Beruhigung. Welchen Zweck die grünen Pillen erfüllten, wusste er nicht. Aaron lag viel daran, den Großen aufzumuntern. Mit einem Bruder, der stumpfsinnig das Bett hütete, konnte er nichts anfangen. Deshalb auch hatte er sein zweitliebstes Video geholt, sein zweitliebstes offizielles Video, denn von Black Lady wusste niemand. Von Bad Biker Boyz II – Die Entscheidung erhoffte sich Aaron, dass David auf andere Gedanken käme. Ihm war klar, welche Bilder der Bruder immer wieder sah, ob die Ärzte ihn nun ruhig stellten oder nicht. Die im Kampf mit den Fäusten und allen nur denkbaren Waffen erfahrene Fahrradgang mit ihren hochgetunten Mountainbikes sollte diese Bilder vertreiben. Es wurde viel getötet in diesem Streifen, es floss viel Blut, die Stimmung des Films konnte nur als unheimlich beschrieben werden. Auch das Wort Endzeitstimmung, das er irgendwo im Zusammenhang mit der Bad Biker Boyz-Trilogie gelesen oder gehört hatte, fiel Aaron ein, denn sein Wort war es nicht. Vielleicht vermochte das Filmblut die Erinnerung an ein anderes Blutvergießen auszulöschen. Nicht für immer, das erwartete Aaron nicht. Aber der Bruder sollte begreifen, dass irgendwann einmal sowieso alles egal sein würde. Irgendwann einmal gab es nur noch die totale Einöde. Aaron fand die Wüste nicht schlimm. Im Gegenteil, er hatte einiges über die Sahara gelesen, über die scheinbar grenzenlose Einsamkeit, die aber eine Illusion war, denn die Wüste hatte Grenzen. Bei Bad Biker Boyz war es anders, dort war die Grenze eine Illusion. Irgendwelche kaputten Typen mit uralten Zweiradgurken suchten nach dem Paradies, das hinter dieser Grenze lag und aussah wie bei Neckermann Reisen. Völliger Schwachsinn. Aaron fand die Biker cooler. Sie waren brutal, das stimmte schon, aber sie hatten sich an die Wüste angepasst. »Some cool stuff«, kündige Aaron seinem Bruder an, als er die Kassette in den Schacht des Recorders schob. Aaron hatte zwar nicht wirklich einen Freund, weil er keinen brauchte, aber 53
immerhin einen Kumpel, den er sich warm hielt. Tobias hatte ein DSL-Modem, und manchmal surften sie durch das Internet. Klar, dass sie vor allem Weiber und Titten suchten, aber hin und wieder stöberten sie auch im amerikanischen Kindernetz, und da gab es Icons, die some cool stuff versprachen. Das war zumeist stinklangweiliges Zeug und mit Bad Biker Boyz oder Riddick gar nicht zu vergleichen. Aaron nahm die Fernbedienung zur Hand, setzte sich auf das Bett seines Bruders und drückte auf Play. »Lass mich in Ruhe«, sagte David. Er schaute sich die Zimmerdecke an, und Aaron fragte sich, was es da wohl Aufregendes zu entdecken gab. Natürlich nichts, nicht mal einen Wasserfleck. David war echt durch den Wind. Die Scheiße an Bad Biker Boyz II war, dass Treasure, der gute Held, der die Gang bekämpfte, in diesem Teil einen Hund hatte. Der Hund war kein Rottweiler, sondern eine Promenadenmischung, doch Aaron musste sofort an Ajax denken. Dass Ajax nicht mehr da war, das war Davids Schuld. Der Hund von Treasure würde sterben, wie es Ajax ging, wusste Aaron nicht. Er biss sich auf die Lippen, um nicht loszuheulen. Ajax vermisste er sehr. Er war bestimmt im Tierheim. Aaron ließ sich neben dem Bruder aufs Bett fallen. »Was soll das?«, fragte David. Aaron antwortete nicht. Sie waren jetzt zwei Einzelkämpfer in der Wüste, sie mussten zusammenhalten, denn nur dann konnten sie nicht überwunden werden, und manchmal, wenn einer aufgeben wollte, mussten sie einander trösten. David hatte es gut, er war krank geworden und konnte den Kampf gegen den Feind Aaron überlassen. Selbst die Bulette, die sich angemeldet hatte, würde ihn schonen. Nun, wenn er die notwendige Kraft beim Bruder nicht fand, er würde sie schon in sich selbst finden. Und irgendwann würde David aufstehen müssen. »Kannst du mich nicht in Frieden lassen?«, fragte David. Das verletzte Aaron, schließlich hatte der Bruder allen Grund, ihm 54
dankbar zu sein. Aaron würde sich holen, was ihm zustand. Auch für den plötzlichen Mangel an brüderlicher Liebe gab es eine Entschädigung. »Ich lasse dich in Frieden«, sagte Aaron und sprang vom Bett. »Aber du bist mir was schuldig.« David entgegnete nichts, er wies nur auf das Fernsehgerät, und Aaron verstand, dass er es abschalten sollte. Das tat er, dann baute er sich vor seinem Bruder auf. »Gib mir dein Bike«, verlangte er. »Was?« David riss die Augen auf. »Gib mir dein Bike.« »Niemals. Mein Bike fahre nur ich.« »Die Polizistin wird gleich kommen«, stellte Aaron mit ruhiger Stimme fest. Für David musste es dennoch wie eine Drohung klingen, und als eine Drohung war es auch gemeint. Das Haus der Familie Leichtner enttäuschte die Blissow. An einer unbefestigten Straße hatte sie zwar keine Villa erwartet, aber zumindest von außen wirkte das Haus trotz seiner zwei Stockwerke viel zu klein für eine vierköpfige Familie. Dass Angelika Leichtner in einer solchen Sardinenbüchse nicht mehr zu atmen vermocht hatte, konnte sich die Blissow nunmehr vorstellen. Sie erwartete von ihrem Besuch ohnehin nicht viel, aber sie fühlte sich besser, wenn sie etwas tat. In ihrer Wohnung stand die Welt still, während eine Ermittlungshandlung auf eigene Faust ihr Bewegung suggerierte, und sie lenkte auch die Gedanken ab. Die Vermisstenakte hatte der Blissow weder bestätigt, dass Angelika Leichtner einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, noch konnte sie es ausschließen. Wenn jemand ohne Ankündigung und scheinbar ohne Motiv verschwand, war das zumindest ungewöhnlich, wenn nicht verdächtig, aber vorgekommen war es schon. Niemand vermochte zu sagen, was sich in Angelika Leichtners Hirn über Wochen und Monate 55
zusammengebraut hatte, bevor sie dann jenen für Außenstehende unbegreiflichen Schritt unternahm. Vielleicht passte es bloß nicht in Beates Weltbild, dass eine Mutter ihre beiden Söhne im Stich ließ, und deshalb nannte sie ihr Verschwinden unvorstellbar. Aber sie war verschwunden, man musste sich das Unvorstellbare plötzlich vorstellen, einen Selbstmord sogar. Die meisten Selbstmörder setzten schon frühzeitig Zeichen, aber was die meisten taten, galt eben nicht für alle. Nicht alle schrieben Abschiedsbriefe. Und nicht bei allen bekam man die Motive heraus. Ein verschlossener Mensch band nicht jedem auf die Nase, wie er sich fühlte und was er beabsichtigte. Die Blissow hatte genug Berufserfahrung, sie wusste genau, wie oft Menschen jahrelang unter einem Dach zusammenlebten, ohne dass der eine den anderen wirklich kannte, und sie war auch mehr als einmal an Schauplätze von Verbrechen gerufen worden, die jemand begangen hatte, von dem man es nie erwartet hätte, aber erwartet oder nicht, er hatte es getan. Überhaupt gab es für Kriminalbeamte nichts Unerwartetes und Unvorstellbares, auch wenn im Regelfall nur Erwartetes und Vorstellbares geschah. Das Verschwinden der Angelika Leichtner mochte immerhin einer der Fälle außerhalb der Regel sein. Die Blissow klingelte am Gartentor. Im oder am Haus rührte sich zunächst nichts, dafür allerdings spürte die Blissow, dass ihr Besuch in der kleinen, abgelegenen Straße nicht unbemerkt geblieben war. Als sie sich umwandte, stellte sie fest, dass ihr Gespür sie nicht getäuscht hatte. Auf einem gegenüberliegenden Grundstück spähte ein älteres Ehepaar über die mit einer Nagelschere gestutzte Hecke. Das Ehepaar wich unwillkürlich zurück, als es sich ertappt fühlte, aber da Blicke über den eigenen Gartenzaun nicht verboten waren, siegte schließlich die Neugierde, und die beiden Alten blieben stehen. Die Blissow beschloss, ihnen später auf den Zahn zu fühlen. Neugierige Nachbarn waren manchmal nur
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geschwätzig, aber sie konnten auch eine Fundgrube sein, vorausgesetzt, es handelte sich um gute Beobachter. Dem Mann, der auf den zwischen Haustür und Gartentor verlegten Betonplatten der Blissow entgegenschritt, standen die Haare unordentlich vom Kopf ab, wie kleine Antennen. Sein Gesicht wirkte müde und abgespannt. Die nackten Füße steckten in ledernen Hausschuhen, er trug einen Freizeitanzug. Der Anzug war schwarz und hatte auf Armen und Beinen neongelbe Streifen. Wenn die Blissow seinen Gesichtsausdruck richtig deutete, stand der Mann unmittelbar vor dem Zusammenbruch. »Sind Sie die Frau von der Kripo?«, fragte er. Die Blissow nickte. Der Mann öffnete die Pforte von innen mit einem langbärtigen Schlüssel. »Ich habe versucht, etwas zu schlafen«, sagte er. »Nachts bekomme ich kein Auge zu, am Tag muss ich in meinen Betrieb, da dachte ich … na ja, bis Sie kommen, schaffe ich’s vielleicht.« »Und?« Mehr musste die Blissow nicht fragen. »Nein. Es geht nicht. Vielleicht nie mehr. Ich weiß nicht.« »Sie sollten ein Schlafmittel nehmen«, riet die Blissow mitfühlend, »vorübergehend jedenfalls.« »Bis was vorübergeht?« Darauf wusste die Oberkommissarin nichts zu erwidern. Michael Leichtner, denn um ihn musste es sich handeln, führte sie in das Haus. Er schloss die Tür ab, geleitete sie durch einen Flur und wies nach rechts in ein relativ geräumiges Wohnzimmer, in dem sich die Blissow auf Kriminalistenart, also im Uhrzeigersinn, umschaute. Vom Grundriss war der Raum nicht groß, aber der Eindruck von viel Platz entstand, weil er nicht mit Möbeln voll gestellt war und weil hohe Fenster den Blick zum Garten eröffneten. Links nahmen deckenhohe, aber schmale Regale die Wand ein. Die Regale dienten Büchern als Quartier, aber auch den vielen kleinen Dingen, die sich in allen Haushalten ansammelten, Reisemitbringsel, Geschenke, Nippes 57
und dergleichen. Statt der üblichen klobigen Couchgarnitur gab es nur ein zart ausschauendes Sofa, dessen Polster mit einem klein gemusterten grauschwarzen Stoff bezogen waren, zwei Chromstühle mit ebenso gemusterter Sitzfläche und Rückenlehne, einen niedrigen Glastisch, auf dem außer der Fernbedienung und dem Feierabendbier des Hausherrn nicht viel mehr untergebracht werden konnte, und eine Stehlampe mit weißem Schirm. Der Fernseher mit ansehnlicher Bildröhre stand vor den Fenstern, die Hi-Fi-Anlage neben dem Sofa auf dem Boden, den eine graue Auslegeware bedeckte. Gardinen gab es nicht, dafür Jalousetten. »Bitte, nehmen Sie Platz«, forderte Leichtner die Blissow auf, die sich für einen der Stühle entschied. Michael Leichtner nahm den anderen. Die tiefen Ringe unter seinen Augen, der graue Teint mit den blauroten Flecken und die aufgequollenen Wangen sprachen nicht allein von der Schlaflosigkeit, sie ließen die Oberkommissarin auch vermuten, dass sich der Mann mit allzu viel Alkohol über sein Leid hinwegzutrösten suchte. Wenn er dennoch nicht ruhen konnte, bedeutete es, dass die Wirkung des Alkohols längst in ihr Gegenteil umgeschlagen war und den Schmerz nicht bloß verstärkte, sondern dass auch seine einschläfernden Potenzen erschöpft waren. Leichtner gehörte in ärztliche Behandlung. Die Blissow hielt mit ihrer Meinung hinterm Berg, für die sukzessive Selbsttötung dieses Mannes war sie nicht zuständig. Für das Verschwinden seiner Frau im Übrigen ebenfalls nicht. Oder noch nicht. Dass Michael Leichtner ihr Leid tat, stand auf einem anderen Blatt. »Warum wollen Sie eigentlich mit mir sprechen?«, fragte der Mann. »Und mit den Jungs auch? Wir haben alles Ihrer Kollegin gesagt.« »Herr Leichtner«, begann die Blissow, »Sie haben selbst den Verdacht ausgesprochen, Ihre Frau könnte einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Ich bin hier, um über genau diesen Aspekt mit Ihnen zu reden.« 58
»Sie glauben also mittlerweile …« Die Blissow schüttelte heftig den Kopf. »Wir glauben für gewöhnlich nichts«, sagte sie. Ihr kühler Ton ließ den Mann zusammenfahren. »Es ist nur so, wenn Sie einen solchen Verdacht aussprechen, fragt sich: Wie kommen Sie darauf?« »Weil es keine andere Erklärung gibt«, sagte Leichtner. »Okay. Ich lasse mich auf Ihre Hypothese ein. Wir gehen beide davon aus, dass das Verbrechen nicht in diesem Haus stattgefunden hat?« »Was soll das?«, fragte Leichtner. Seine Stimme klang gepresst, als müsse er mit großer Mühe seine plötzlich aufgekommene Wut unterdrücken. »Ja oder nein?« Die Rücksichtnahme auf die Gefühle des Mannes war für die Blissow beendet, jetzt galt es, knallhart die Fakten abzufragen. »Natürlich nicht.« »Wir gehen nicht davon aus?« »Doch. Also, Sie drehen einem das Wort im Munde um.« »Nicht im Haus«, vergewisserte sich die Blissow. »Und aus dem Haus entführt wurde Ihre Frau auch nicht?« »Quatsch«, sagte Leichtner nur. »Sie war auf dem Weg zum Supermarkt, wo sie etwas einkaufen wollte, was sie vergessen hatte. So weit korrekt?« »Ja«, bestätigte Leichtner. »Dann lassen Sie uns überlegen«, verlangte die Blissow. »Welches Verbrechen kann sich auf dem Weg zum Supermarkt ereignet haben? Ein Tötungsverbrechen wohl kaum. Es muss sich also erst einmal um eine Entführung handeln. Nun war es zu der Stunde, da Ihre Frau das Haus verließ, zwar noch nicht dunkel, aber es gibt auch Entführungen am helllichten Tag, halten wir uns dabei nicht auf. Ihre Frau muss sich doch aber gewehrt, sie muss geschrien haben. Warum gibt es keine Zeugen?«
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»Vielleicht gibt’s ja welche«, meinte Leichtner. »Die Leute wollen bloß in nichts hineingezogen werden.« »Möglich. Sagen Sie, was brauchte Ihre Frau denn so dringend? Was war denn so unerlässlich, dass sie kurz vor Ladenschluss noch einmal losging?« »Die Jungs sagen Nudeln.« »Wie?« »Sie wollte Nudeln holen. David sagt, sie wollte einen Nudelsalat machen oder einen Nudelauflauf oder so.« »Wie so oft«, sagte die Blissow, und sie sprach leise, als sage sie es nur daher. »Ich verstehe nicht«, meinte Leichtner. »Ihre Frau hat oft Nudelsalate gemacht. Oder entsprechende Aufläufe.« »Nein, nie«, erwiderte Michael Leichtner. David lag auf dem Rücken und ahmte die Bewegungen beim Radfahren nach. Er hatte einen Zusammenbruch gehabt, noch immer fühlte er sich schlapp und krank, und auch die Momente tiefer Niedergeschlagenheit gab es nach wie vor. Trotzdem wuchs das Verlangen, wieder mit dem Radfahren zu beginnen. Den Cross Country Cup der Innungskrankenkasse konnte er sich aus dem Kopf schlagen, dafür war es zu spät, aber es würde neue Rennen geben, die tägliches hartes Training lohnten. David stellte sich vor, mit dem Biken überhaupt nicht mehr aufzuhören, sondern sich morgens in den Sattel zu schwingen und dann zu fahren und zu fahren und zu fahren, bis er ohnmächtig vom Rad fiel. Die Anspannung des Körpers, die extreme Pulsfrequenz, der Schweiß, der Fahrtwind, die hohe Geschwindigkeit, all das würde ihm helfen zu vergessen. Wenn er fuhr, dann musste er sich konzentrieren, auf das Bike, die Strecke und sich selbst, und falls die Gedanken einmal abirrten, genügte eine Beschleunigung der Trittfrequenz, um wieder voll beim Fahren zu sein. Es war allein die Untätigkeit, die David 60
fast wahnsinnig machte; er hatte sich für einige Zeit in diese Lethargie fallen lassen und gelitten, nun war es an der Zeit, sich am eigenen Schopf wieder aus dem Sumpf zu ziehen. Die Teilnahme am Cup in Brandenburg war verspielt, doch schon wenige Wochen später veranstalteten die Landesbank und Volvo ein Downhill in den Müggelbergen. David ließ die Beine sinken und richtete sich auf. Dieses Downhill war seine Chance. David musste hinaus auf die Straße. Er würde trainieren, bis ihm das Blut aus den Augen trat. Mit einem Sieg in den Müggelbergen, mit dieser Bestätigung seines Könnens, konnte er nicht ungeschehen machen, was er getan hatte, und auch Marja würde nicht zu ihm zurückkehren. Aber er konnte sich beweisen, dass er noch etwas wert war. David stieg aus dem Bett und kleidete sich an. Am liebsten wäre er sofort losgefahren, aber das war unmöglich, denn eine Polizistin war im Haus, die gerade mit dem Vater sprach und sich auch ihn und Aaron noch vornehmen wollte. Die Drohung seines Bruders hatte David verstanden, aber er nahm sie nicht ernst. Aaron würde ihn nicht ans Messer liefern, denn damit würde er sich ins eigene Fleisch schneiden, und auch das Bike würde er nicht bekommen. Sobald David wieder trainierte, würde Aaron einsehen, dass seine Forderung sinnlos war. David würde sich selbst und auch den Bruder auf den Sieg in den Müggelbergen einschwören, und jetzt, da sie durch das Blut der Mutter doppelt verbunden waren, musste Aaron einfach mit ihm fiebern. Ein Sieg im Downhill würde ihr gemeinsamer Sieg sein. »Mein Gott, Frauen probieren doch immer mal neue Rezepte aus«, sagte Michael Leichtner. Er hatte die Blissow in die Küche geführt und damit an einen Ort, wo sich die Mitarbeiter der Vermisstenstelle gewiss nicht umgesehen hatten. Statt ihrer tat es nun die Blissow. »War Ihre Frau eine gute Köchin?«, wollte sie wissen. »Hören Sie«, Leichtner wurde laut, »meine Frau ist weg. 61
Vielleicht tot. Ich bin sicher, dass sie tot ist. Irgendwelche Schweine haben sie umgebracht. Und Sie fragen, ob sie eine gute Köchin war?« »Eine vorsorgliche Hausfrau war sie jedenfalls«, behauptete die Blissow. Sie kniete vor einem Schrank mit einer Doppeltür und hatte gerade ein paar Töpfe beiseite gerückt. Hinter den Töpfen befand sich der Beweis für ihre Behauptung. »Schauen Sie.« Auch Leichtner ging in die Knie. Nachdem er gesehen hatte, was die Blissow entdeckt hatte, sagte er nichts mehr, weder laut noch leise. Zwei Packungen mit Nudeln hatten ihm die Sprache verschlagen. Der niemals endende Kampf zwischen Treasure und der MTBGang fand tonlos statt, seitdem die Kripotante im Haus war. Sie hatte sich telefonisch angemeldet und gleich darum gebeten, auch mit Aaron und David zu quatschen, sie wusste also, dass die beiden in ihren Zimmern hockten. Das bedeutete, es war Schwachsinn, sich unauffällig zu verhalten, und trotzdem gehorchte Aaron dem Impuls, ganz still und artig zu sein. Er saß sogar an seinem Schreibtisch und tat, als ob er seine Hausaufgaben machte. Er hatte nur Englisch auf, eine einfache Übung, bei der man fehlende Vokabeln in einen Text einsetzen musste. Aaron würdigte den Text nicht eines Blickes. Der Besuch der Kripotante beunruhigte ihn nicht, Bullen gehörten ja fast schon zur Familie, obwohl seit einer Woche keine mehr gekommen waren. Was Aaron ein wenig nervös machte, war der Umstand, dass diese Frau offenbar noch einmal alles durchkaute, denn schon seit fast einer Stunde gluckte sie mit dem Vater im Wohnzimmer. Alles war gesagt, wieder und wieder. Aaron begriff nicht, was es jetzt noch groß zu bequatschen gab. Vom Klo aus hatte er sich die Frau angeschaut, während sie am Gartentor auf den Vater gewartet hatte, und irgendwie war 62
sie ihm unsympathisch. Mit ihrem Gesicht stimmte etwas nicht. Die Bullen, die er bisher kennen gelernt hatte, egal ob Typ oder Weib, hatten entweder ein bisschen doof ausgesehen, oder sie hatten, wie diese Nowikowski, auf ihn wie Kindergartenmuttis gewirkt. Bei dieser Frau aber hatte er es für einen Augenblick mit der Angst zu tun bekommen. Sie war nicht eigentlich cool, denn vor coolen Bullen fürchtete er sich nicht, sondern sie schien eiskalt zu sein. Eiskalt nicht nur im Herzen, sondern auch im Grips. Aaron warf einen Blick auf den Bildschirm. Treasure lieferte sich gerade eine schöne Schießerei mit den Mountainbikern. Und da fiel ihm ein, wie ihm die Bulette vorkam: wie ein Seziermesser. Das gefiel ihm schon wieder. Er, der megaintelligente Aaron Leichtner, war schließlich auch eins. Der angebliche Nudeleinkauf war für Angelika Leichtner nur ein Vorwand für ihre Flucht gewesen, das stand für die Blissow felsenfest. Michael Leichtner hatte endlich einen Aschenbecher aus einem der Küchenschränke geholt, kurz bevor sie ihm das gesagt hatte, und jetzt rauchten sie beide. Michael Leichtner hatte ein Saftglas mit finnischem Wodka ausgetrunken. Er war vollkommen durcheinander, vermutlich weil auch er endlich begriff, dass seine Frau ihn und die Kinder verlassen hatte. Geahnt hatte er es wohl immer, auch Motive gab es, nun war es an der Zeit, dass er die Motive zuließ. Der Blissow musste er sie nicht bekennen. Für sie hatte sich die vage Vorstellung von einem Tötungsverbrechen zum Nachteil der Angelika Leichtner in Luft aufgelöst. Die Fahndung lief, irgendwann würde man der Vermissten schon habhaft werden. Und wenn nicht, war die Sache aus der Sicht des Referates Delikte am Menschen belanglos. Sie ging einzig Beate und ihre Mitarbeiter an. »Warum sind Sie eigentlich gekommen?«, fragte Michael Leichtner. Er stieß bereits ein wenig mit der Zunge an. »Wirklich an ein Verbrechen geglaubt haben Sie doch nie.« 63
»Ich sagte schon, dass wir keine Kirche sind«, entgegnete die Blissow. »Wir gehen Verdachtsmomenten nach. Für mich bestehen keine mehr.« »Und wer hilft mir jetzt?« »Es hat sich nichts geändert, Herr Leichtner«, sagte die Blissow. »Frau Nowikowski und die Kollegen von der Fahndung werden weiterhin nach Ihrer Frau suchen. Europaweit. Vielleicht sogar in der ganzen Welt.« »Und wenn … wenn …«, Michael Leichtner musste noch einmal nach der Flasche greifen, bevor er aussprechen konnte, was ihn quälte, »wenn sie Angelika nicht finden?« »Sie finden sie«, sagte die Blissow ohne Überzeugung. »Angelika wollte Nudeln kaufen«, schrie Leichtner plötzlich und schlug mit der Faust auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. »Sie wollte Nudeln kaufen«, schrie er. »Nudeln! Nicht weg!« Dann begann er zu weinen. Es war der Blissow peinlich. Sie unternahm nichts, wartete nur. In der Küchentür erschien ein sehr schöner barfüßiger Junge. »Papa?«, fragte der Junge. »Mama wollte Nudeln kaufen«, schluchzte Leichtner. »Wollte sie das?« »Ja«, bestätigte der Junge. »Warum?«, fragte die Blissow. Die Frage kam ihr sogleich absurd vor, sie hatte sie gewohnheitsmäßig gestellt. »Zum Kochen.« Der Junge trat zu seinem Vater und legte ihm beide Hände auf den rechten Unterarm. Leichtner schleuderte die Hände seines Sohnes weg, und zwar so heftig, dass der Junge zurücktaumelte. Sofort stürzte Leichtner auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. Angenehm, registrierte die Blissow, war das dem Jungen nicht. »Bitte gehen Sie«, sagte Leichtner. Das ließ sich die Blissow nicht zweimal sagen. Zwar erwog sie, einen Arzt zu verständigen, aber falls Leichtner tatsächlich durchdrehte, würden es sicher seine Söhne tun. Sie konnte getrost nach Hause 64
fahren, ein Bad nehmen, zur Ruhe kommen und Martin aus ihren Gedanken verbannen. Aber auch mit ihm brauchte sie sich nicht mehr zu befassen. Die Blissow ging zu ihrem Wagen. Die beiden Beobachter vom gegenüberliegenden Grundstück hatten sich zurückgezogen, aber vielleicht standen sie jetzt hinter der Gardine und glotzten. Die Blissow sah keine Veranlassung, Zeit an sie zu verschwenden. Für sie war die Angelegenheit Angelika Leichtner ein für alle Mal erledigt. Es waren keine Nudeln. Es waren Spaghetti. So stand es auf der Plastikhülle. Michael Leichtner wusste nicht, ob Spaghetti zu den Nudeln gehörten oder sich von den Nudeln unterschieden, die Ordnung der Teigwaren war ihm unbekannt. Er wog die Packung mit den Spaghetti in der einen Hand und hielt die Wodkaflasche in der anderen. Noch ein Schluck, und sie war leer. Auf den einen Schluck kam es nicht mehr an, auch auf eine zweite oder dritte Flasche nicht. An Alkoholvergiftung oder im Delirium sterben konnte Leichtner nicht mehr. Er war bereits tot. Also nahm er den Schluck und schleuderte die Flasche gegen das Fenster. Nur das Fenster ging zu Bruch. Die Spaghetti warf er in die Spüle. Die Jungs, das wusste er, würden nicht einmal gelaufen kommen, wenn er das Haus anzündete. Nachdem er Aaron aus der Küche gebrüllt hatte, saßen sie gewiss bibbernd auf ihren Stuben. Michael Leichtner hatte keine Fragen mehr. Falsch! Er hatte viele Fragen. Keine von ihnen würde er stellen. Er musste jetzt kochen. Die Jungs hatten Hunger. Seitdem Angelika fort war, hatte er sie versorgt, so gut er es vermochte. Leichtner weinte. Er hatte gearbeitet, weil er die Arbeit bei Strafe des endgültigen finanziellen Untergangs nicht vernachlässigen konnte, aber wenn er abends nach Hause gekommen war, hatte er immer den Tisch gedeckt und David und Aaron zum Essen gerufen. Es war ein eher karges Abendbrot gewesen, Stullen, Margarine und ein bisschen Belag. 65
Heute würde er kochen. Richtig kochen. Spaghetti mit Tomatensoße. Spaghetti mit Blut. Und da er Spaghetti mit Tomatensoße nicht kochen konnte, würde es Spaghetti mit Ketchup geben. »Papa!« Aaron wagte doch, abermals zu erscheinen. »Was ist denn los?« Michael Leichtner stützte sich auf den Rand der Spüle, um nicht zu Boden zu gehen. Aaron war sein eigen Fleisch und Blut, er war das Kind, das er gezeugt hatte, er fühlte sich deswegen verdammt, ihn zu lieben. Als Angelika und er beschlossen hatten, miteinander zu leben, hatte es nur David gegeben, das Kind eines anderen Mannes. Angelika war damals eine selbstbewusste, eine ihm überlegene Frau gewesen und er nur ein Maurermeister. In der DDR waren Maurermeister kleine Götter, aber dennoch war er stolz gewesen, dass eine Frau wie Angelika ihn begehrt und ihn in den Kreis ihrer intellektuellen Freunde eingeführt hatte. Die wollten natürlich alle etwas gemauert haben. Er hatte es genossen. Und er hatte trotzdem immer den Eindruck gehabt, als würde er an der Nase herumgeführt. Angelikas Freunde hatten über Kunst gesprochen, über Bilder und Theater und Literatur, über die Partei, die Zensur und über irgendwelche hohen Funktionäre, die Michael Leichtner nur aus dem Fernsehen kannte. Sie hatten so getan, als ob er etwas von all diesen Dingen verstünde, weil er die Mangelware beschaffen konnte, Steine und Zement. Nicht einmal Angelika hatte in den vielen Jahren ihrer Ehe begriffen, dass auch ein Michael Leichtner ein Lieblingsbild hatte und ein Lieblingsbuch. Ein Lieblingsstück nicht, Theater war ihm fremd. Aber er mochte die Dresden-Ansichten von Canaletto, weil er in Dresden zur Welt gekommen war, und seit seiner Jugend liebte er Tolkien, liebte er Der Herr der Ringe. Nach der Hochzeit hatte er die drei Bücher nie wieder angerührt. Er hatte es nicht gewagt. Und Karl May hatte er dem Müll 66
übergeben. Dabei hatte er bereits Anfang der Achtzigerjahre begonnen, seine Bücher zu sammeln. »Papa?« Aaron war hartnäckig. Michael schaute sich seinen Sprössling an. Das Resultat einer Liebe, die es seit Jahren nicht mehr gab, hatte noch einen kindlichen Körper, und was an diesem Körper vor allem im Wachsen begriffen war, das waren die Füße. Schamhaare hatte Aaron allerdings auch schon. Und er masturbierte. Michael Leichtner hatte die vollgewichsten Papiertaschentücher unter dem Bett seines Sohnes stillschweigend in den Aschekasten geworfen und seiner Frau nichts von ihnen gesagt. Auch mit Aaron hatte er nicht darüber gesprochen. Und Aaron fragte nicht, wo die Taschentücher geblieben waren. Er ahnte sicher, dass sein Vater die Intimität seines Zimmers verletzt hatte, aber er schwieg. Aaron schwieg immer, wenn es um seine Sehnsüchte und Gefühle ging, und Michael Leichtner bedauerte sehr, nicht den Mut zu haben, mit seinem Kind über sie zu sprechen. Aber er konnte es nicht. Über seine Gefühle war auch nie gesprochen worden. »Ein paar Minuten musst du mich noch allein lassen.« Michaels Stimme war weich wie eine Feder. »Bitte.« Aaron ging. Als er fort war, erbrach sich Leichtner in die Spüle. Auf die Nudeln. Die Spaghetti. Er hatte zwei Söhne. Einer war nur ein halber. Beiden hatte er nie wirklich gezeigt, wie sehr er sie liebte. Den halben liebte er am meisten. Er war viel verletzlicher als sein leiblicher Sohn. Deshalb hatte er noch mehr Angst vor ihm. Michael Leichtner fühlte sich schuldig. Er hatte versagt. Er riss einen Topf aus dem Schrank, knallte ihn auf den Herd und griff nach der zweiten Packung Spaghetti, denn nun musste er kochen. Er musste! Die Jungs hatten Hunger. Die Hälfte der Spaghetti, die vielleicht Nudeln waren und ganz gewiss mit Blut besudelt, landete auf den Fliesen. Nur David konnte getan haben, was er vermutete. David folgte seinen Gefühlen, ohne ihnen zu vertrauen. Aaron war ein Eisblock. 67
Leichtner hatte ein gefühlloses Kind in die Welt gesetzt. Er hatte es nie wahrhaben wollen. Deshalb hatte er David immer schlechter behandelt. Er hatte ihn spüren lassen, dass er nur geduldet wurde. Dass er das Secondhand-Kind war. Und er liebte ihn doch so sehr. Aber er war feige und ein Lügner. Jahrelang war er der wegen der Steine und wegen des Zements gut gelittene Bettgefährte einer erfolgreichen Frau gewesen war. Einer, der sich abstrampelte, aber über die dringend notwendige Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen nicht schöne Sprüche machen konnte. Nicht etwa weil er seinerzeit darüber nicht nachgedacht hatte, sondern weil ihm die Begriffe fehlten. Er war genau wie seine Söhne: Er sprach nicht. Aber er fühlte. Unsicherheit. Immer Unsicherheit. Und das Wort Strukturen hatte er zu hassen gelernt. Angelikas kleine Herrlichkeit war mit der Mauer zusammengebrochen. Nicht sofort, aber mit der Zeit. Im Gegensatz zu Michael hatte sie in dem neuen System nie Fuß gefasst. Umso mehr hatte sie sich ihren Illusionen hingegeben. Und im Zentrum dieser Illusionen hatte Aaron gestanden, der Hochbegabte, der Einsen-Schüler, das Goldkind, dem alles gelang. Einen eiskalten Engel hatte sie mit ihrer Affenliebe herangezogen. Aaron konnte sehr charmant, ja sogar zärtlich sein – oder es spielen. Michael hielt sein Kind für herzlos. Er hatte es gegenüber seiner Frau nur selten auszusprechen gewagt, denn trotz seiner anfänglichen wirtschaftlichen Erfolge in der Baubranche hatte er sich immer noch unterlegen gefühlt. Und er hatte zwar nicht heimlich, aber ohne viel Aufhebens daran gearbeitet, dass auch David seine Erfolge bekam. Im Sport. Sport zählte für Angelika nicht viel, aber beim Sport waren Stiefvater und Stiefsohn Partner, und so hatte Michael Leichtner nicht gezögert, für die Präsidentschaft des RSV Sturmvogel zu kandidieren. Der Klub war klein, der Posten nicht übermäßig reputierlich, aber er hatte es um Davids willen getan, der von Angelika streng gehalten wurde und wenig Zuneigung bekam, 68
vermutlich weil sie in ihrem Erstgeborenen seinen Erzeuger verachtete. David hatte auf diese Zurückweisung mit stummem Protest reagiert, nur äußerst selten hatte es Widerworte gegeben. Er hatte wie Michael alles in sich hineingefressen. Irgendwann musste dem Jungen der Kragen platzen, und womöglich war dies an dem Tag geschehen, als Angelika verschwunden war. Bisher hatte Michael Leichtner die Zeichen übersehen. Nun war ihm klar, dass die Jungen gelogen hatten. Nicht um einzukaufen, hatte Angelika das Haus verlassen. Sie war überhaupt nicht hinausgegangen. Michael Leichtner wollte nichts davon wissen. Er musste kochen. Vorerst trank er aber noch. Das heiße Wasser ließ die Blissow aus der Brause in die Wanne laufen, damit sich viel Schaum bilden konnte. Sie hatte sich für ein Melissebad entschieden, weil Melisse entspannte und beruhigte, so jedenfalls stand es auf der Plastikflasche mit dem Konzentrat. Nach dem Bad und hoffentlich entspannt und beruhigt würde sie sich ins Bett legen und noch etwas lesen. Das Wasser lief, die Blissow stand unschlüssig vor ihrem Bücherregal. Als Lektüre zum Einschlafen kam nur etwas Unterhaltsames infrage, aber weder ein Kriminalroman, denn so etwas las die Blissow nur sehr selten, noch eine Liebesgeschichte, die sie nur aufwühlen würde. Die Blissow zog Wolfsblut zwischen anderen Taschenbüchern hervor. Jack London konnte kein Fehlgriff sein. Sie entkleidete sich, ging ins Badezimmer und prüfte den Wasserstand. Das Telefon klingelte. Noch konnte es für sie oder für Martin sein. Einen Anruf für ihren Ehemaligen mochte sie nicht in Empfang nehmen, also kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und wartete den Anrufbeantworterspruch ab. »Hier Kölling«, brummte ihr Chef. Es war noch nie vorgekommen, dass er an einem freien Tag nach ihr verlangte, denn sein Vertrauter war Becker. Mit dem führte er auch private 69
Telefonate. »Ich würde gern etwas über Ihren heutigen Ausflug nach Pankow erfahren. Rufen Sie mich zurück, ich bin zu Hause.« Bevor Dietrich Kölling auflegte, riss die Blissow den Hörer ans Ohr. »Ja«, hauchte sie, spielte die Atemlose. »Bin gerade gekommen.« »Haben Sie gehört, was ich auf Band gesprochen habe?« »Mich wundert, dass Sie mehr wissen, als Sie wissen können.« »Aber liebe Kollegin, das ist doch meine zweite Natur«, sagte Dietrich Kölling von oben herab. »Frau Nowikowski hat mich angerufen und sich erkundigt, ob wir uns die Sache nun doch auf den Tisch ziehen wollen. Ehrlich gesagt, ich war etwas überrascht.« »Dann verfügt also Beate über die hellseherischen Fähigkeiten, die ich Ihnen zudiktieren wollte?« »Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie überhaupt über Fähigkeiten verfügt.« Die Blissow schwieg. Köllings Anfälle von Arroganz hatten auch viele männliche Kollegen zu spüren bekommen, aber sie richteten sich vor allem gegen Frauen. Nur gegenüber der Blissow hielt er sich mittlerweile im Zaum, denn sie konnte ihm Paroli bieten. »Das Geheimnis ist schnell gelüftet«, erklärte der Chef. »Sie hat vorhin mit Leichtner telefoniert, und der hat ihr brühwarm von Ihrer Stippvisite erzählt. Er soll übrigens betrunken gewesen sein. Sie haben ihm wohl ordentlich zugesetzt?« »Warum hätte ich das tun sollen? Der Mann ist verzweifelt. Verständlicherweise.« »Und sind Sie einem Verbrechen auf die Spur gekommen?«, erkundigte sich Dietrich Kölling. Die Blissow hörte einen ironischen Unterton heraus, der sie ärgerte, aber sie sprang nicht auf ihn an. Stattdessen berichtete sie sachlich, was ihr im Haus der Familie Leichtner widerfahren war. Dietrich Kölling 70
unterbrach sie nicht. Nach einer Weile wurde der Blissow bewusst, dass sie nackt mit ihrem Chef sprach. Obwohl er sie nicht sehen konnte, war es ihr peinlich, also entschuldigte sie sich für einen Moment, stellte das Wasser ab und zog sich ein langes Herrenhemd an. Das Hemd war eine Hinterlassenschaft von Martin, sie würde es nach dem Ende des Gesprächs dem Mülleimer überantworten. »Jedenfalls ist klar«, sagte sie, »dass Angelika Leichtner ihre Söhne mit einem Vorwand abspeiste, um ihr Fortgehen an jenem Abend zu rechtfertigen.« »Klar«, sagte Dietrich Kölling. »Warum war ein solcher Vorwand nötig?« »Die Söhne werden gefragt haben«, vermutete die Blissow. »Sie meinen: Mutti, wohin gehst du? Und dann sagt Mutti: Ich habe vergessen, Nudeln einzukaufen. Die wirklich wichtige Erklärung, nämlich warum sie ihre Familie verlassen will, die bleibt sie schuldig. Kein Abschiedsbrief, nichts. Aber ein so alberner Vorwand, der bedeutete ihr was?« »Irgendwie musste sie sich doch erklären«, wandte die Blissow ein. »Sie war sicher emotional aufgewühlt, da ist ihr dann spontan etwas eingefallen, als die Jungen gefragt haben.« »Emotional aufgewühlt«, wiederholte Dietrich Kölling. Die Skepsis war seiner Stimme deutlich anzuhören. »Nun, meinetwegen. Aber spontan? Trifft man den Entschluss, seine Familie zu verlassen, spontan? Von einer Sekunde zur nächsten? Wenn etwas sehr Schwerwiegendes vorgefallen ist, vielleicht. Es soll aber nichts Schwerwiegendes vorgefallen sein. Also hat die Frau ihr Verschwinden geplant. Dann hätte sie aber auch einen besseren Vorwand präsentiert. Ungefähr so: Kinder, ich muss noch mal in meinen Verein, es kann spät werden. Oder: Meine Freundin XY hat mich eingeladen, Abendbrot steht im Kühlschrank, wartet nicht auf mich. Von diesem Einkauf hätte sie doch nach einer halben Stunde zurückkehren müssen. Schon nach einer halben Stunde oder, denn manchmal trifft man ja 71
noch jemanden auf der Straße und hält ein Schwätzchen, also sagen wir, nach einer Stunde hätten sich die Söhne doch an den Kopf fassen müssen: Wo bleibt sie denn? Haben sie das getan? Meines Wissens nicht.« »Sie haben heimlich die Akte gelesen«, stellte die Blissow fest. »Stehen Sie jetzt auf dem Standpunkt von Beate Nowikowski?« »Keineswegs. Ihre Frau Beate interessiert mich nicht. Ich habe nur ein bisschen spekuliert. Gedankenspiele gegen die Schlaflosigkeit. Ansonsten bleibe ich dabei: Die Sache geht uns nichts an.« »Sie leiden unter Schlaflosigkeit, Chef?«, fragte die Blissow. »Ich leide unter gar nichts«, sagte er. »Im Übrigen gilt, was der Franzmann zu sagen pflegt: Bonne nuit!« Die Blissow hörte nur noch den Knall, als Dietrich Kölling am anderen Ende auflegte. Als Michael Leichtner zu sich kam, war es Nacht. Es musste Nacht sein, anders war die Finsternis nicht zu erklären. Die Finsternis konnte er sich nicht einbilden. Michael schloss noch einmal die Augen. Er hatte im Wohnzimmer gelegen, auf dem Sofa, das höchstens als Liegestatt für Zwerge geeignet war. Nicht allein deswegen spürte er jeden seiner Knochen, jeden Muskel. Es war der Alkohol, der in seinen Körper gekrochen war und jede Faser vergiftet hatte. Bis in die Fingerspitzen, bis in die Zehen hatte er gewütet, doch die schlimmsten Verwüstungen richtete er im Kopf an. Das Gehirn war geschwollen und presste die Augen gegen die Lider. Und wenn Michael sie öffnete, presste es die Augen gegen die Dunkelheit. Auch in seinen Eingeweiden hatte der Wodka sein Werk getan. Was ihm die Unterleibsschmerzen verursachte, vermochte er nicht zu bestimmen, weil der Schmerz sich nicht lokalisieren ließ. Vielleicht war es der Magen. Vielleicht die 72
Leber. Oder die Bauchspeicheldrüse. Michael war es gleichgültig. Ihm war egal, was zuerst kaputtging und ihn am Ende zerstörte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er auch die zweite Flasche noch bewältigt hatte, also musste der Wodka irgendwo in der Nähe sein und auf ihn warten. Michael richtete sich auf. Ihm wurde erst einmal schwindlig. Er ließ den Kopf hängen, mit dem Ergebnis, dass sich die Walnuss in seinem Schädel um sich selbst zu drehen begann. Leichtner kannte den Alkohol, er wusste, dass man mit einer brutalen Radikalkur seinen Wirkungen am besten begegnete, also sprang er auf. Er schwankte, aber er stand. Unsicher durchschritt er das Zimmer. Er ging hin und her wie ein Tiger im Käfig, und der einzige Gedanke, der sich denken ließ, war der an eine rasche Wiederherstellung. Sich zu bewegen half irgendwann. Als Michael glaubte, es wagen zu können, machte er Licht. Nun wurde von zwei Seiten Druck auf seine Augen ausgeübt; von innen presste das Hirn, von außen das eigentlich körperlose Licht. Michael zwang sich, nach anfänglichem Blinzeln die Augen offen zu halten. Die Wodkaflasche stand auf dem Tisch, dessen Glasplatte mit Zigarettenasche bestäubt war, und drei zerdrückte Kippen krümmten sich in dieser Aschewüste. Unter dem Tisch lagen zwei Schachteln West. Beide schienen leer zu sein. Michael musste würgen, als er sie entdeckte. Er ekelte sich vor dem Rauchen und hätte sich trotzdem am liebsten augenblicklich eine Zigarette angezündet. Warum er im Vollrausch den Aschenbecher hinausgetragen hatte, war ihm schleierhaft. Vielleicht hatte ihm ein Rest Verstand gesagt, dass man neben einem vollen Ascher nicht schlafen solle, wollte man nicht mit Kopfweh erwachen. Das Kopfweh allerdings hatte schon der Alkohol besorgt. Die vielen Zigaretten obendrein. Michael trat zum Tisch, griff nach der Flasche. Zwei Daumenbreit Wodka waren übrig, um ihm Linderung zu verschaffen. Das würde nicht genügen. 73
Obwohl ihm nicht zum Lachen zumute war, musste er grinsen, als er sich an das Spaghetti-Essen mit den Jungs erinnerte. David und Aaron hatten nur einen Anstandsbissen hinunterbekommen, während er mit geradezu wütender Häme Spaghetti und Ketchup in sich gestopft hatte, bis Aarons Gesichtshaut käseweiß geworden war und David die Küche verlassen hatte. Michael hatte mit Wodka nachgespült, die Jungs hatten nicht einmal ihren Saft getrunken. Vielleicht hatten sie ihn für wahnsinnig gehalten, vielleicht auch geahnt, dass er eine bestimmte Vermutung hegte. Für seine Vermutung sprach einiges. Ja, er hatte die Zeichen übersehen, weil er sie übersehen wollte. Wenn Angelika ihn wirklich hatte verlassen wollen, was er noch immer für unvorstellbar hielt, warum hatte sie dann an ihrem letzten Tag in der Familie noch die Diele umgeräumt? Und dann der Garten: An dem Abend, als sie verschwand, war Michael hinter das Haus gegangen, um Ajax aus dem Zwinger zu holen. Der Hund hatte sich wie wild gebärdet und ihn zu dem großen Erdbeerbeet gezogen, das frisch umgegraben worden war. Warum hätte Angelika auch das noch tun sollen? Und grub man Erdbeerbeete überhaupt um? Michael wusste es nicht, das Gärtnerische war nicht seine Sache. Aber eines war sicher: Man tat es nicht an einem Tag, an dem man Mann und Kindern für immer Adieu sagen wollte. Michael überquerte den Flur, betrat die Küche, schaltete auch hier das Licht an. Was er sah, bestätigte ihn nur. David und Aaron hatten abgewaschen und den Tisch gesäubert. Früher hatten sie das nie getan, nie freiwillig. Und auch Aarons plötzliche Leidenschaft für die Gartenarbeit hätte ihn längst misstrauisch machen müssen. Aaron hatte die Gartenarbeit immer gehasst. Seit dem Verschwinden der Mutter erbot er sich, wenn der Vater sich hilflos an den Beeten zu schaffen machen wollte, ihm diese Arbeit abzunehmen. Er grub, harkte, jätete Unkraut. Bisher war Michael dem Sohn dafür dankbar gewesen. 74
Jetzt sah er diese Bereitwilligkeit in einem anderen Licht. Martin hatte Angst. Er durchsuchte die Küchenschränke. Wodka war nicht mehr da, aber eine Flasche Moselwein entdeckte er. Die Angst war so stark, dass sie Herzkrämpfe verursachte. Er zerrte den vertrockneten Korken aus dem Flaschenhals, setzte sich an den Tisch, trank und starrte vor sich hin. Und warum war Ajax verschwunden? Der Hund war nie fortgelaufen, und er war kastriert. Michael war blind gewesen, weil er nie für möglich gehalten hatte, was er nunmehr ahnte. Noch konnte er sich damit beruhigen, dass er irrte. Er musste sich nicht unbedingt Gewissheit verschaffen. Bisher hatte er nicht unter die Teppiche in der Diele, bisher hatte er nicht hinter das Bild geguckt. Michael trank. Die Angst wich nicht. Die Gewissheit würde ihm nichts nützen, weil er aus ihr keine Konsequenzen zu ziehen gedachte. Doch würde er ohne sie nicht weiterleben können, nicht einmal weitervegetieren. Er befand sich in einem Teufelskreis. Mit einer heftigen Bewegung stand er auf und warf dabei den Stuhl um. Dann schlich Michael durch das Haus. Die Jungen schliefen. Er betrachtete sie lange, zuerst Aaron, dann David, und er weinte um beide. Aaron schlief ruhig und schnaufte leise, David wälzte sich in seinem Bett. Michael berührte nur die Wäsche, nicht den Jungen. Das Bettzeug war nass. Michael hätte vor Mitleid, Trauer und Schmerz schreien mögen. Er schrie nicht. Er schlich. Aus dem Zimmer. Die Diele entlang. In den Vorraum mit dem Schuhschrank und dem Kleiderständer. Wo er in der Dunkelheit verharrte. Auf Geräusche achtete. Auf Schritte. Das Einführen eines Schlüssels. Seine Drehung im Schloss. Das Knarren der Tür. Rascheln von Kleidern. Angelikas Rückkehr. Ajax’ Gebell. Nichts. Michael betätigte den Lichtschalter. Er hob die Teppiche an. Die Dielung darunter war gescheuert. Er nahm die Reproduktion von der Wand. Sah braune Spritzer auf der 75
Tapete. Ihm kam es vor, als hätte man seine Beine gekocht und die Knochen herausgelöst, aber er stand. Er ging auch. Er konnte gehen. Ging hinaus. Über die Betonplatten. Um das Haus herum. In den Schuppen. Machte Licht. Wieder einmal. Seit Stunden schaltete er Glühlampen ein und aus und ein und aus. Griff nach dem Spaten. Nach der Taschenlampe. Sie legte er zurück. Der Schein aus dem Schuppen würde genügen. Er wollte Gewissheit, aber keine zu deutliche. Dann ging er graben.
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Viertes Kapitel Becker und Tangermann waren weder die ersten Polizisten noch die ersten Kriminalbeamten am Fundort, aber die ersten Vertreter einer Berliner Mordkommission. Nicht zu einer Leiche hatte man sie gerufen, sondern zu zwei Armen. Das Auffinden zweier abgetrennter Arme war ein sicheres Indiz für ein Tötungsverbrechen. Im Übrigen sollten es Kinderarme sein. Becker und Tangermann waren nicht darauf erpicht, sie sich anzuschauen. Sie mussten aber. Die Kinderarme hatte man in einer Fichtenschonung in Arkenberge gefunden, und auf der Fahrt von der Keithstraße zum Fundort hatte der zugezogene Sachse Becker sich gefragt, ob der eingefleischteste Berliner über die Existenz von Arkenberge informiert war. Er hatte mit der Blissow telefoniert, sie war gebürtige Berlinerin, aber Arkenberge kannte sie nicht. Vielleicht waren die Arkenberger beleidigt, wenn man ihnen sagte, sie würden am Arsch der Welt leben. Am Arsch von Berlin lebten sie gewiss. Beim Kulturhaus der Kleingärtner von Arkenberge hatten sie ihren Wagen abgestellt. Die Fichtenschonung, die nun aus kriminalistischer Sicht ein Fundort war, befand sich gegenüber dem Kulturhaus und eröffnete den Blick auf eine riesige Müllhalde. Becker fand diesen Umstand makaber. Makabre Umstände waren nicht seine, sondern die Domäne seines Chefs, mit dem er nach wie vor per Sie verkehrte, aber auf eine schwer zu erklärende Weise musste man wohl davon ausgehen, dass sie befreundet waren. Becker hätte nichts dagegen gehabt, wenn Dietrich Kölling nach Arkenberge gekommen wäre. Der Chef und mutmaßliche Freund hatte aber erklärt, er könne auch vom Schreibtisch aus handeln. Becker ging davon aus, dass Dietrich Kölling ein gesundheitliches Problem hatte. Fragen würde er 77
nicht. Vor zehn Jahren war er ein ostdeutscher Kriminalobermeister mit geringer Zukunftserwartung gewesen, aber sein verrückter Chef mochte ihn irgendwie, so wie er seinen Chef irgendwie mochte, und nun war er Oberkommissar. Seine Karriere verdankte er Dietrich Kölling. Jeder Kollege im Referat Delikte am Menschen ging davon aus, dass sie eine klassische Männerfreundschaft verband. Sie hatten sich noch nie zusammen richtig voll laufen lassen. Dietrich Kölling hatte Becker noch nie daheim besucht. Hinter den Kulissen hatte er jedoch Beckers Aufstieg zum Stellvertretenden Kommissariatsleiter gefördert. Becker hatte nie Karriere machen wollen. Ohne seinen Chef hätte er auch keine gemacht. Einen Preis musste er natürlich zahlen. Am Fundort Arkenberge gehörte ihm die gesamte Verantwortung. Er war erfahren genug, sie wahrzunehmen. Mit Stolz erfüllte ihn seine Rolle als Ermittlungsleiter nicht. Aaron hatte es geschafft. Er hatte mit seinem Bruder einen Kompromiss geschlossen. Zur Schule fuhr er mit dem Scott, am Nachmittag bekam es David für seine Trainingsstunden, und wenn Aaron abends Lust auf eine Tour hatte, durfte er das Bike erneut benutzen. Es stand jetzt, mit zwei Schlössern gesichert, auf dem Fahrradplatz des Gym. Vom Sprachkabinett aus konnte er es nicht sehen, trotzdem warf er immer wieder einen Blick aus dem Fenster. Es war da, er spürte es. Es gehörte ihm nicht, und doch war es seins. »Please, open your book«, befahl Herr Guhl. Aaron blätterte gedankenverloren in seinem Englischbuch, hörte nur mit halbem Ohr hin. »Page eighty-two«, sagte Herr Guhl. Aaron folgte der Anweisung nicht. In seiner Klasse war er nicht beliebt. Er war nicht der Klassenbeste, das war ein Mädchen, Corinne, die superfleißig war und megadumm, wie alle Weiber. Aaron beschied sich mit Platz zwei. Wenn er gewollt hätte, würde er Corinne an die 78
Wand drücken, aber er wollte nicht. Trotzdem galt er zu Unrecht als Streber. Er riss sich für die Schule nicht den Arsch auf, aber alle glaubten es. Sie waren blöd, die Weiber vor allem. Corinne war allerdings ganz niedlich. Sie war direkt hübsch. Aaron wusste nicht, wie man an eine solche eingebildete Zicke herankam. Er wäre gern an sie herangekommen. Nicht für sich, Weiber waren ihm total egal. Aber wenn er mit Corinne ging, würde er wieder den Neid in den Augen seiner Kameraden sehen, so wie er ihn gesehen hatte, als sie am Morgen sein Bike umstanden hatten. Dann wäre er der King, der King mit einem Scott und mit einem Mädel, das schon ansehnliche Titten hatte. Corinne ging aber mit Pfeife. Eigentlich hieß der Wichser Philipp, aber weil er eine Pfeife war, wurde er auch so genannt. Aaron hatte den Spitznamen erfunden. Von ihm aus konnte sich die ganze Klasse ins Knie ficken. Er hatte das Scott. »Repeat after me«, befahl Herr Guhl und las Satz für Satz einen Text vor, und die Klasse blökte ihm den Text Satz für Satz nach. Aaron bewegte nur die Lippen. Um ihn herum saßen Typen, die radelten auf Krücken zur Schule, die bei Quelle oder bei Metro gekauft worden waren. Okay, Georg, Tobias und der Sklave besaßen auch ziemlich gute Mountainbikes. Der Sklave saß neben Aaron. Er war Serbe, hatte sich selbst einmal einen Slawen genannt und hieß seither der Sklave. Er machte fast alles, was man ihm sagte, weil er nicht anecken wollte. Im Augenblick betete er Sätze nach. Wie alle. Aaron bewegte die Lippen. In der Schule war der Sklave ziemlich gut. Nicht deswegen hatte Aaron ihn gefragt, ob er neben ihm sitzen wolle. Aaron hatte es gefallen, einen Sklaven an seiner Seite zu haben. Der Sklave dachte nun, Aaron wäre sein Freund. Aaron wies ihn nicht zurück. Wenn man mit einem Sklaven befreundet war, konnte man von ihm zwei Dienste einfordern: den Sklaven- und den Freundschaftsdienst. Der Sklave wusste, dass ihn alle den Sklaven nannten. Er protestierte nicht, sondern lächelte. 79
Aaron bewegte die Lippen, der Sklave sprach die Sätze aus dem Lehrbuch nach. Aaron war nicht so dumm wie Corinne, er hatte alles im Griff und wusste, dass Serben stolze Menschen waren und der Sklave nicht ewig alle Demütigungen schlucken würde. Er hatte ein Messer, nur seinem Freund Aaron hatte er es gezeigt. Mit diesem Messer könnte man Herrn Guhl die Kehle aufschlitzen, aber dafür war es zu schade. Ein Messer wie dieses durfte man nicht vergeuden. Man musste das Messer und die Rachegelüste des serbischen Freundes aufsparen. Man musste beides aufsparen für jene unvorstellbare Tat, der leider nur eine vorstellbare Strafe folgen würde, aber eine Strafe immerhin. Die Tat würde Aaron mit David planen, als Fortsetzung ihrer Blutsbrüderschaft. Vielleicht würden sie die Tat selbst ausführen, vielleicht ein Instrument benutzen. Das Instrument saß neben Aaron, bewunderte ihn und käute Sätze wieder. Drei Kriminaltechniker in weißen Overalls zeigten Becker und Tangermann, was ihnen gezeigt werden musste. Die Arme hatten sich in einer Plastiktüte der Supermarktkette Kaiser’s befunden, es waren die Arme eines Kindes, und der Mörder hatte sie bei der Achsel vom Rumpf getrennt. Als Ermittlungsleiter konnte Becker Anweisungen geben, aber die Kriminaltechniker wussten von sich aus, was sie zu tun hatten, und Becker schwieg. Dass er Anweisungen geben durfte, erfüllte ihn nicht mit Stolz. Stolz würde er sein, wenn sein Sohn Mark es schaffte, in die nächsthöhere Klasse versetzt zu werden. Damit war leider nicht zu rechnen. Marks schulisches Versagen beschäftigte Becker sehr, und er machte sich selbst mit verantwortlich; es war ein Fehler gewesen, den Jungen auf ein Gymnasium zu schicken. Auch mit einem Realschulabschluss würde Mark eine Lehrstelle finden können. Nun quälte sich der Junge auf der Penne, war miesepetrig und vergiftete die Atmosphäre in Beckers Familie. Seine Familie war Becker heilig, Kölling 80
nannte ihn gern einen Familienmenschen. Natürlich war es möglich, Mark vom Gymnasium zu nehmen und auf die Realschule zu schicken. Doch aus unsinnigen Gründen galt dies als sozialer Abstieg, und selbst der Junge hatte diese Meinung verinnerlicht. Lieber blieb er sitzen. Becker schüttelte den Kopf. Es war schon eine aberwitzige Welt, in der man leben musste. Becker stapfte zurück zur Straße, Hajota im Schlepptau. Auch der junge Kommissar sagte nichts. Mittlerweile war auch die Blissow eingetroffen. Sie stand neben ihrem Wagen und starrte den Müllberg an. Dann drehte sie sich langsam um und wandte ihre Aufmerksamkeit Becker zu. »Schon wieder eine Hauptstraße«, sagte sie. Becker verstand nur Bahnhof. »Die Straße hier heißt Hauptstraße«, erklärte sie also. »Schon in Blankenfelde heißt sie so.« »Es ist ja auch die einzige«, meinte Becker, der nicht begriff, warum der Straßenname so wichtig sein sollte. »Und was denken Sie?« Die Blissow wies in die Fichtenschonung. »Wie wir vermutet haben«, sagte Becker und zeigte seinerseits ins Unbestimmte. Arkenberge befand sich quasi in einem Dreiländereck. An der Nordspitze der Siedlung, bei den Fischteichen und der Kolonie An den Teichen, stießen Berlin und die Brandenburger Landkreise Barnim und Oberhavel und damit die Zuständigkeitsbereiche dreier Polizeipräsidien zusammen. Der Landkreis Barnim gehörte zum PP Frankfurt/Oder, der Kreis Oberhavel zum PP Potsdam. Die Mordkommissariate beider Präsidien bearbeiteten seit geraumer Zeit den Fall eines Kinderzerstücklers, und es war anzunehmen, dass er Körperteile eines seiner Opfer hier in Arkenberge abgelegt hatte; er pflegte seine Opfer nämlich zu zerstreuen. Bisher hatte er drei Jungen auf dem Gewissen, einen Fünfjährigen und zwei Siebenjährige.
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»Dann kriegen wir wohl bald Besuch aus Potsdam«, stellte die Blissow fest. »Und aus Frankfurt«, fügte Becker hinzu. »Trotzdem, hier müssen wir die Arbeit machen. Beginnen wir also mit der Zeugenbefragung.« »Gibt es denn Zeugen?«, fragte die Blissow. »Die Tüte ist von zwei Jungen beim Spielen entdeckt worden. Die übernehme ich. Sie und Tangermann sollten sich die Anwesen an der Straße, an der Hauptstraße vornehmen.« »Beim Spielen entdeckt.« Die Blissow rieb sich die Schläfen. »So schnell werden die beiden wohl nicht wieder in Fichtenschonungen spielen.« »Solange dieser Killer umgeht, ist das sowieso nicht zu empfehlen«, meinte Becker. Nach seiner Krankheit und der langen Trainingspause musste David erneut im Kompensationsbereich beginnen, aus dem er sich eigentlich längst hatte herausstrampeln wollen. David fuhr allein, und er hatte auch die Strecke für sich selbst festgelegt. Gleich nach der Schule, die er seit zwei Tagen wieder besuchte, hatte er den Klub aufgesucht und feststellen müssen, dass ein neuer Trainer für die Junioren zuständig war. Die häufigen Trainerwechsel gingen ihm allmählich auf den Geist. Wenn man Papa Glauben schenkte, hatte der Staat früher in der DDR viel mehr für den Sport getan, und nicht nur für den Spitzensport, sondern auch für das, was man damals Breitensport genannt hatte. Mittlerweile war aufgedeckt worden, dass es hinter den Mauern des Schweigens eine Menge Schweinereien gegeben hatte, Doping und regelrechte Sportlerzucht. Aber Doping gab es auch im Westen. Man brauchte nur an die Tour de France zu denken. Von der Tour de France war der Lack ab. David hatte sich vorgenommen, mindestens neunzig Minuten zu fahren, aber locker, wie es sich im KB gehörte. Die Strecke, die er ausgewählt hatte, war überwiegend flach und entsprach 82
nach seiner Schätzung in etwa der vorgesehenen Zeit. Zuerst nahm er wie üblich den Weg im ehemaligen Grenzstreifen zwischen Reinickendorf und Pankow, um nach Schildow zu gelangen. Eine Herzfrequenz zwischen neunzig und hundertzehn war das Ziel seiner Übung. Beim Kölpchensee überquerte David die Stadtgrenze von Berlin und jagte hangab nach Schildow. Ein kleiner Klub wie der RSV Sturmvogel konnte seine Trainer natürlich nicht honorieren oder ihnen gar eine Festanstellung bieten, alle Trainer arbeiteten ehrenamtlich, sie hatten also noch einen Beruf oder waren arbeitslos. Herr Matura, der bisher die Schüler, die Jugend und die Junioren betreut hatte, war arbeitslos gewesen. Nun hatte er einen Job gefunden und musste jeden Tag durch halb Berlin fahren, sodass er keine Zeit mehr hatte für das Training. David erreichte die Hauptstraße von Schildow und bog von ihr auf die Mühlenbecker Straße ab. Die stillgelegte Heidekrautbahn schnitt die Mühlenbecker Straße. Manchmal veranstalteten Eisenbahnfreunde Ausflüge auf dieser Strecke, die ein paar Enthusiasten gern wieder in Betrieb genommen hätten, und im letzten Jahr hatten David, Aaron und Michael an einem solchen Ausflug teilgenommen. Im letzten Jahr, als sie noch eine ganz normale Familie gewesen waren. Es würde bestimmt nie wieder Ausflüge geben. David musste sich nur Papa anschauen, dann wusste er es. Er hatte alles kaputtgemacht. David trat etwas kräftiger zu. Daran mochte er nicht denken. Aber er musste es, immer und immer wieder. Er begriff sich selbst nicht. Er war doch eigentlich ein friedfertiger Junge. Noch nie hatte er sich geprügelt, er ging allen Streitereien aus dem Weg. Er sehnte sich nur danach, geliebt zu werden. Die Jungs im Klub sollten ihn lieben, außer Titus natürlich, den keiner mochte, Marja sollte ihn lieben, von seinen Eltern hatte er Liebe erwartet. Mama hatte ihn gewiss 83
geliebt, sie hatte es nur nicht zeigen können und vielleicht auch genug Sorgen gehabt mit ihrer Arbeit oder so. Michael liebte ihn auch irgendwie, aber eben nur irgendwie, man konnte aus seinen Gefühlen nicht schlau werden. Jetzt hatte David alle Chancen auf Liebe verpatzt. Einen Muttermörder liebte niemand. Außer Aaron wusste keiner von seiner Tat. Er war wegen zweier blödsinniger Ohrfeigen vollkommen ausgerastet. Er war durchgedreht. Er hatte getötet. Seine Mama. Einfach umgebracht. Totgestochen mit einer Schere. Sie konnte ja nicht einmal etwas dafür, dass Marja ihn vor die Tür gesetzt hatte. Er hatte es auch nicht gewollt. Aber er hatte es getan. Er begriff sich nicht. Als David den Schienenstrang der Heidekrautbahn kreuzte, hörte er von fern den an- und abschwellenden Ton eines Martinshorns. Es war nicht nur eins, es waren mehrere. Und während er weiterfuhr, während er sein Training im Kompensationsbereich fortsetzte, eine Herzfrequenz zwischen neunzig und hundertzehn Schlägen pro Minute als Ziel, hoffte und fürchtete er, dass die Polizei seinetwegen gekommen war: um ein Ende zu machen mit ihm und seinen Versuchen weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. Obermeister Weinberger war außerordentlich stolz auf Schnecke. Er stand auf einem Feldweg, brannte sich eine Zigarette an und schaute seinem Neufundländer und dem Rottweiler beim Spielen zu. Benjamin hieß der Findling nun, denn den richtigen Namen, den ihm seine herzlosen Besitzer gegeben hatten, wusste Weinberger ja nicht. Der Obermeister musste lächeln. Schnecke und Benjamin, die beiden Namen passten zu den Hunden ungefähr so wie die Bezeichnung Gnom zu einem Zweimetermann. In den ersten Tagen hatte der Rottweiler mit Aggressionen und Beißattacken auf Schnecke reagiert, aber der gutmütige Neufundländer hatte seine Rechte als Herr des Reviers sofort 84
aufgegeben und sich Benjamin untergeordnet, und seitdem verstanden sich die beiden Hunde blendend. Sie waren unzertrennlich; ein Herz und eine Seele, so nannte man das wohl. Gerade jagten sie einander über den Acker. Benjamin lief voraus, dann wartete er schwanzwedelnd und mit hängender Zunge auf Schnecke. Aber sobald der Neufundländer ihn erreichte, setzte er sich wieder in Bewegung. Der Rottweiler war schneller. Schnecke hatte keine Chance, ihn einzuholen, wenn Benjamin es nicht wollte. Weinberger würde den ausgesetzten Hund wohl nicht behalten können. Das Tier hatte in seiner Verzweiflung einen Jungen angefallen, und dessen Eltern hatten eine Schadenersatzklage beim Amtsgericht Oranienburg eingereicht. Niemand wusste so recht, wen man für die Verletzungen haftbar machen sollte, schließlich war Benjamin nicht Weinbergers Hund, doch der Richter hatte bereits angedeutet, dass er die Klage zwar abweisen, aber die Überführung des Hundes ins Tierheim anordnen würde. Er hatte Weinberger ausdrücklich verboten, Benjamin frei herumlaufen zu lassen. Und auf der Dienststelle hatte er mächtigen Ärger bekommen, weil er die Männer vom Veterinäramt hatte abblitzen lassen und den Hund bei sich aufgenommen hatte. »Schluss!«, rief Weinberger, als die Hunde sich zu heftig balgten. Beide gehorchten aufs Wort. Dass der Rottweiler nunmehr Benjamin hieß, hatte er Weinbergers Sohn zu verdanken. Mirko liebte Benjamin Blümchen. Das war zwar ein Elefant, aber für Kinder waren alle Tiere liebenswert, solange man ihnen nicht Angst vor ihnen einredete. Elefanten, Pferde, Lamas, Hunde, Hasen, Krokodile, Kängurus und Katzen waren Mirkos Favoriten. Von Hasen und Katzen abgesehen, waren alle diese Tiere zumindest dann, wenn sie sich aufrichteten, größer als der Vierjährige. Er fürchtete sie nicht. Es gab auch keinen Grund. Das Tier, das ein Vierjähriger fürchten musste, hieß Mensch. 85
Weinberger zündete sich eine neue Zigarette an. Ein Tier namens Mensch hatte vor drei Tagen bei Bergfelde einen kleinen Jungen zerstückelt. Und dieser Mensch hatte es nicht getan, wie es ein verwahrlostes oder hungriges Tier getan hätte, nicht um sich zu ernähren. Die Polizei war nicht gekommen. Niemand hatte David ein Halt! oder ein Bleiben Sie stehen! Ansonsten machen wir von der Schusswaffe Gebrauch! hinterhergerufen. Es hatte keine Verfolgungsjagd gegeben, keine Warnschüsse, keine Erlösung. David musste weiterradeln. Er musste trainieren, die geplante Strecke absolvieren, die vorgesehene Zeit. Schon befand er sich auf dem Rückweg nach Berlin, zurück ins Rosenthal. In Mönchmühle legte er eine Rast ein, die nicht geplant war. Er konnte nicht mehr, die Tränen machten ihn blind. David saß am Mönchmühlener Kiessee. Die Badesaison war noch nicht eröffnet, nur ein paar Kids tobten am Ufer und spielten ihre unbegreiflichen Kinderspiele. Es war wohl eine Kinderbande, vier Jungen und ein Mädchen, und das Mädchen schien der Anführer zu sein, denn es war größer als die Jungen, älter als sie. David wusste nicht, ob diese Kids an dem Ort, an den sie abends zurückkehren mussten, geliebt wurden. Sie waren laut und ausgelassen, aber vielleicht lastete auf ihren Seelen schon ein fürchterlicher Druck, weil sie daheim geprügelt wurden und wie der letzte Dreck behandelt oder noch Schlimmeres mit ihnen geschah. Ein Kindermörder trieb sein Unwesen irgendwo in dieser Gegend, und vielleicht war es der Mann, der wie David am See saß und die Kinder beobachtete. David hätte gern die Rolle des Retters übernommen, um seine eigene Tat zu sühnen. Ein Kindermörder war er nicht. Er war ein Muttermörder. Alle würden ihn verachten, wenn sein Verbrechen ans Tageslicht käme. Und er wollte nicht verachtet werden, sondern anerkannt, so wie er war. Kein Spitzenschüler wie Aaron, kein Spitzensportler wie Jan Ullrich oder Julian 86
Absalon, kein Spitzenlover wie Sergej, nur ein ganz normaler Siebzehnjähriger mit ganz normalen Plänen. Eine gute Platzierung beim Downhill in den Müggelbergen wünschte er sich, das Abitur, so wie er es vermochte, dann einen Beruf, er war sich noch nicht sicher, welchen, eine tolle Frau, Kinder vielleicht; er wollte nur leben wie alle. Eine lebendige Mama aber wünschte er sich am meisten. Sie konnte ihn jeden Tag ohrfeigen, wenn sie nur lebendig werden würde. Aber man konnte fast alles zurücknehmen, ein falsches Wort, die Trennung von einem Menschen, Irrtümer, Fehlentscheidungen, nur den Tod nicht. Den Tod nicht und den Sex nicht. David wunderte sich über sich selbst, dass er plötzlich daran denken musste. Er hatte nie mit Marja geschlafen. Und er hätte es so gern getan, damit etwas Gutes von ihm bliebe, das nicht zurückgenommen werden konnte. Ihm war hundeelend, er hätte auch heulen können wie ein Hund. Zu Marja konnte er nicht, obwohl sie ihm angeboten hatte, Freunde zu bleiben. Das sagte sich leicht dahin und bedeutete nicht viel. David brauchte einen Menschen, bei dem er sich anlehnen konnte, und zwar nicht körperlich, sondern mit der Seele. Er brauchte einen Menschen, der ihn selbst dann nicht von sich stieß, wenn er gestand. Und er wollte gestehen, es musste heraus. Nur ein Mensch kam in Frage: sein Vater. Was sie verband, das war doch bedingungslose Liebe. David erhob sich und richtete das Bike auf, das im Sand lag. Sein Vater wohnte in Köpenick. Das war ein weiter, ein sehr weiter Weg. Aber weit war er nur geografisch. David hatte sich noch nicht in den Sattel geschwungen, aber die im Kompensationsbereich angestrebte Pulszahl hatte er bereits erreicht. Und er war sogar glücklich für diesen Moment. Als Becker am späten Nachmittag in die Keithstraße zurückkehrte und das Büro aufsuchte, das er sich mit Dietrich Kölling 87
teilte, wusste der Erste Hauptkommissar bereits etwas, das Becker noch nicht bekannt war. Die beiden Arme waren in die Rechtsmedizin überführt und dort sofort untersucht worden. Der Hauptkommissar von der Potsdamer Mordkommission schien mächtigen Druck gemacht zu haben, vermutlich weil er selbst unter Druck stand. Wenn ein Kindermörder umging, war die Öffentlichkeit immer erregt und aufgehetzt, was Wohlmeinende sensibilisiert nannten. Drei ermordete und zerstückelte Kinder hatte es bisher gegeben, die Leidensgeschichten ihrer Eltern und Geschwister waren durch alle Medien gezerrt worden, die Polizei konnte keine Ergebnisse vorweisen, und nun ging die Angst um in den Gegenden nördlich von Berlin. Nach dem Anruf aus der Gerichtsmedizin hatte Dietrich Kölling einige Maßnahmen eingeleitet, Becker konnte auf dem Absatz kehrtmachen. »Lassen Sie alle Hoffnung fahren«, sagte Dietrich Kölling denn auch. »Die Arme gehören nicht nach Potsdam und nicht nach Frankfurt/Oder. Es sind, wie’s ausschaut, unsere Arme.« »Was soll das heißen?« »Sie gehören zu Opfer Nummer vier. Ich habe die Bereitschaftspolizei und die Hundestaffel verständigt und möchte, dass da oben alles durchkämmt wird. Mag sein, dass wir noch mehr … Wie sagt man so schön? Grauenhaftes? Mag sein, dass wir noch mehr grauenhafte Entdeckungen machen. Und weil es sich um ein Kind handelt, bekommen wir sogar zwei Hubschrauber mit Infrarotkameras. Sie müssen also noch mal los.« »In Ordnung«, sagte Becker nur, schenkte sich aber erst einmal einen Kaffee ein. Dietrich Kölling signalisierte ihm, dass er auch einen wollte. »Früher, als es noch Stadtmauern gab, hätte man so einen Serienmörder vielleicht vor den Toren unserer wunderschönen Stadt halten können«, meinte er. »Dann hätten sich die Dorfgendarmen mit ihm rumgeplagt, und wir hätten uns ins Fäustchen gelacht. Na, was soll’s. Ich habe die Unterlagen aus 88
Potsdam und Frankfurt angefordert, damit wir uns ein Bild machen können. Aber dabei hilft uns noch jemand. Wir kriegen nämlich so einen neumodischen Kollegen aus VillingenSchwenningen, einen Profiler. Das ist jemand, der uns sagt, unser Mörder war vor zwanzig Jahren Bettnässer. Wir müssen dann nur alle Bundesbürger ermitteln, die vor zwanzig Jahren Bettnässer waren, und schon haben wir ihn. Der Mann ist Professor, lehrt an der Polizeihochschule und will wohl ein bisschen Praxisluft schnuppern. Ich habe gesagt, dass wir keinen Platz haben und er sich in Potsdam niederlassen soll. Dort kann er jedem Potsdamer ein individuelles Täterprofil erstellen. Und wenn wir unseren Mörder haben, will ich auch eins über mich.« Was der Professor aus Villingen-Schwenningen ausgerechnet in Berlin wollte, war Dietrich Kölling im Übrigen schleierhaft; vermutlich sich wichtig machen. Im Landeskriminalamt Berlin gab es auch Profiler, die sich aber nicht so nannten, weil sie glaubten oder fürchteten, seit dem Schweigen der Lämmer gebe es in der Öffentlichkeit ein falsches Bild von ihrer Arbeit. Die Abteilung mit der Bezeichnung Operative Fallanalyse hatte ihre Büros ebenfalls in der Keithstraße, und zwar ausgerechnet über Dietrich Köllings Kopf. Dass ein ehemaliger MK-Chef sie leitete, der quarzte wie ein Schlot, versöhnte ihn mit ihrer Existenz, doch nur wenn der Kriminaloberrat darauf bestand, nahm er ihre Dienste gegen energischen inneren Widerstand in Anspruch. »Das FBI hat gute Erfahrungen mit Täterprofilen gemacht«, wandte Becker ein. »Falsch«, widersprach Dietrich Kölling. »Sie machen gute Täterprofile. Meines Wissens haben sie aber mit einem solchen Profil noch nie einen Täter zur Strecke gebracht. Ob ein Täter intelligent oder chaotisch vorgeht, kann ich selbst erkennen. Leider gibt es aber mehr als einen intelligenten Menschen auf der Welt und sehr, sehr viele Chaoten.«
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»Ein Zerstückler ist schon etwas Besonderes.« Becker stellte einen Pott Kaffee vor seinen Chef auf dessen Schreibtisch. Dietrich Kölling zündete sich eine Zigarette an. »Ich kann mir meine Täterprofile auch selbst machen«, sagte er. »Sozusagen in Handarbeit. Nicht mit Computer und Flipchart, sondern mit Schere und Leim. Das meine ich jetzt im übertragenen Sinne.« »Hab schon verstanden«, sagte Becker. »Für mich gibt es drei Gründe, warum ein Täter seine Opfer zerstückelt«, dozierte MK-Chef Erster Kriminalhauptkommissar Kölling, denn was ein Professor aus Villingen-Schwenningen konnte, das konnte er noch viel besser, und zwar ohne Lehrstuhl zum Ausruhen und ohne akademischen Titel. »Entweder zum Lustgewinn oder weil er von einem krankhaften Hass besessen ist oder um die Leichenteile besser beseitigen zu können. In jedem Fall sind bei ihm alle Schrauben locker. Er ist ein Irrer, lebt allerdings so angepasst, dass niemand seinen Irrsinn bemerkt. Nun frage ich Sie: Wie viele angepasste Irre laufen durch unsere Welt?« »Zu viele«, sagte Becker. »Für meinen Geschmack kann es gar nicht genug geben.« Dietrich Kölling räkelte sich auf seinem Stuhl. »So werden wir erstens nie arbeitslos, und zum Zweiten können wir Nichtirren uns wohltuend vom Rest der Welt abheben.« »Kommen Sie mit nach Arkenberge?«, wollte Becker wissen. »Ich weiß nicht. Vielleicht.« Dietrich Kölling machte Gymnastik, das hieß, er streckte seine Arme nach dem Kaffeepott aus. »Aber nur im Hubschrauber.« »Hau ab!«, brüllte der Vater. »Lass dich hier nie mehr blicken!«, brüllte er. »Ich habe schon vergessen, was du mir gesagt hast. Aber wenn du noch einmal kommst, rufe ich die Bullen.« Sie standen im Flur, David und der Mann, den er liebte, weil er sein Vater war. Einen klaren Gedanken konnte David nicht 90
fassen. Er wurde hinausgeworfen, für immer, das war nicht zu überhören. Sie hatten schon so viel Schönes gemeinsam erlebt, David musste doch mit diesem Vater auch etwas Schreckliches durchstehen können. Er hatte sich so sehr an diese letzte Hoffnung geklammert und war für sie durch ganz Berlin gefahren. Jetzt zertrat sein Vater ihm die Finger. Und schlimmer noch, er zertrat seinen Jungen. »Verpiss dich!«, rief der Vater. »Da ist die Tür! Mach sie von außen zu. Und nie wieder auf!« »Ja«, sagte David, aber er wollte nicht. Noch immer hoffte er. Hoffte auf den Vater. Auf eine Geste. Auf einen Umschwung. Dachte gar nicht wirklich nach, aber die Worte purzelten doch aus seinem Mund. »Ich komm nicht wieder, weil ich mich umbringe.« »Mir egal«, sagte der Mann. Er brüllte nicht mehr und schloss die Tür. David stieg langsam die Treppe hinunter und trat hinaus auf die Kaulsdorfer Straße. Draußen vor der Tür befand er sich nun, ohne Rückweg. Einmal hatte er sich mit der Klasse dieses Stück angucken müssen, das Stück von diesem Beckmann oder so; es war nicht besonders kompliziert gewesen, aber alles nachvollziehen hatte er nicht können. Jetzt konnte er es. Da war ein Mann aus dem Krieg gekommen, ein Mann, der getötet hatte, und niemand wollte es hören. Jeder war nur mit sich selbst beschäftigt und wollte rasch vergessen. Der Mann, der sein Vater war, hatte auch nicht hören wollen, was David angerichtet hatte. Niemals würde er den Gedanken zulassen, dass sein Sohn ein Mörder war, also verstieß er ihn lieber und vergaß ihn dann. Er würde einfach leugnen, einen Sohn zu haben. David packte sein Rad. Den Mann, der sein Vater war, ging sein Schicksal nichts mehr an. Die Polizei würde er sicher nicht verständigen, auch wenn er sich damit zum Mitwisser machte, aber das Eingeständnis, einen mordenden Sohn zu haben, brachte er nicht über die Lippen. Nicht auf seinen Vater, aber auf dessen 91
Feigheit konnte er vertrauen. Und er selbst würde, käme es einmal hart auf hart, verschweigen, dass er vor diesem Mann ein Geständnis abgelegt hatte. David radelte in die Wuhlheide. Es dämmerte bereits, aber noch gab es hier ein paar vereinzelte Spaziergänger. David hatte mit Selbstmord gedroht. Es war mehr als eine Drohung, manchmal erwog er tatsächlich, seinem Leben ein Ende zu setzen. Nur, er hatte Angst vor dem Tod. Und vor allem wollte er eigentlich leben.
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Fünftes Kapitel Aaron liebte das Scott. Das Bike seines Bruders war nicht einfach nur ein Fahrrad; es war ein Geschoss, eine Rakete, ein Pfeil, abgeschossen von einem Bogenschützen Dschingis Khans. Zwei Bücher über den Mongolenchef hatte er gelesen, vor allem weil ihm dessen Foltertechniken imponierten. Er hatte unbotmäßige Männer an Pferdeschwänze fesseln und langsam zu Tode schleifen lassen, er hatte seine Feinde in Abgründe gestürzt. Und das, ohne ihnen, wie es eigentlich üblich war, die Münder mit Gras und Erde zu stopfen, damit man ihre Schreie hören konnte. Zur Abschreckung. Das fand Aaron ziemlich krass. Aaron jagte am Nordgraben entlang, von Rosenthal in Richtung Blankenburg. Er musste gar nicht viel tun, nur ein bisschen in die Pedale treten, und das Bike rauschte dahin. Das war echter Wahnsinn. Das Bike war lebendig. Er war es auch. Obwohl es nicht gerade warm war, trug Aaron nur eine knielange Hose und ein T-Shirt. Ihm war kalt, aber genau das wollte er. Die Kälte streichelte seine Haut. Die Kälte streichelte ihn. Und nicht nur das, sie biss zu. Es war ein absolut geiles Gefühl. Er spürte, dass er lebte. Er spürte, dass er einen Körper hatte. Und dieser Körper sehnte sich danach, sich hinzugeben. Sich der Kälte auszuliefern. Von ihr genommen zu werden. Wenn ihn schon sonst niemand nahm. Aaron wollte unbedingt genommen werden. Etwas Überlebensgroßes und Schwarzes und Brutales und Gemeines sollte über ihn kommen. Es sollte ihn in den Schmutz werfen und beißen und schlagen und aussaugen. Dieses Etwas hatte weder Geschlecht noch Namen. Darum ging es nicht. Das waren Dinge, um die sich die Normalsterblichen kümmern sollten. Ob nun Monster, Alien, 93
Necromonger oder wie auch immer, Hauptsache, es fraß ihn auf. Nachdem er sich ihm einen Tag, eine Woche, ein Jahr, ein ganzes Leben lang hingegeben hatte. Dann wollte Aaron unbedingt gefressen werden. Er kicherte: Wenn das jemand wüsste. Man würde ihn einliefern. Wo auch immer. Aber einen Aaron Leichtner, der vom Himmel gefallen war wie ein Meteorit, lieferte niemand ein. Niemand hatte diese Macht. Und Aaron hatte das Scott. Auf dem Stadtplan – City map, please, repeat after me! – hatte er gesehen, dass es zwischen der Pasewalker Straße und der zur Autobahn gewordenen Prenzlauer Promenade ein Gewässer gab, das schlicht und einfach Der Teich hieß. So etwas Bescheuertes war kaum vorstellbar: einen Teich einfach Der Teich zu nennen. Das konnte nur einem der besoffenen Bürokraten eingefallen sein, auf die Papa immer schimpfte. Für Papa waren alle Bürokraten und sogar die Politiker unfähig und Säufer. Vielleicht hatte er Recht. Aaron interessierte sich nicht für Politik. Für Der Teich hingegen interessierte er sich sehr. Teiche hatten für gewöhnlich ein Ufer. Manchmal war das Ufer mit Schilf bewachsen. Und im Schilf konnte man sich verstecken. Aaron pfiff sich schon seit mindestens anderthalb Jahren einen ab. Am Anfang war nichts rausgekommen, aber nun kam was raus, und zwar schon ziemlich lange. Doch unter freiem Himmel hatte er es noch nie gemacht. Noch nie am Ufer eines Teichs, im Schilfgürtel, und die Spaziergänger gingen vorbei, aber sahen und hörten ihn nicht. Das musste doch megakrass sein. Aber absolut. Aaron fuhr die Pasewalker Straße hinab bis zur Schlossallee. Nach einem Wirrwarr von Ampelschaltungen gelang es ihm endlich, die Pasewalker zu überqueren. Vielleicht dreißig Sekunden später – aber er hatte schon lange einen Ständer – befand er sich endlich auf dem Weg, der parallel zur Panke nach Norden verlief und irgendwo hinter Bernau enden sollte. Die 94
Panke und Bernau und alles hinter Bernau war Aaron scheißegal. Er wollte zu Der Teich. Irgendwo querte eine kleine Brücke die Panke. Aaron, besessen von seinem Ziel, achtete nicht darauf. Auf der Brücke stand ein Mann. Er hatte ein völlig lächerliches und verbeultes Damenfahrrad bei sich und sprach mit einem blonden Jungen, der höchstens zehn Jahre alt war. Vermutlich fragte er nach dem Weg. Der Vater des Jungen konnte der Typ nicht sein, denn dann hätte der Junge sicher auch ein Fahrrad bei sich. Aber bestimmt kein Scott. Aaron grinste. Armut war echt was Beschissenes. Der Teich, der auf dem Berliner Stadtplan Der Teich hieß, war von einem Schilfgürtel umgeben – und von einem mannshohen Maschendrahtzaun. Aaron stoppte das Scott mit Vorder- und Hinterradbremse und war richtig sauer. Aber was half es? Dann musste er eben umkehren. Für seinen Schwanz fand sich schon was. Und wenn es ein Baum war. Aaron kicherte in sich hinein. Als er die kleine Brücke über die Panke passierte, waren der Mann und der Junge verschwunden. Die Arme hatten Gesellschaft bekommen. Dietrich Kölling hatte sich doch nicht aufraffen können und war nicht nach Arkenberge geflogen, aber das war auch unnötig, denn Arkenberge kam zu ihm in Gestalt einer Fotoserie und eines Videos. Nicht weit von den Armen entfernt, im Naturschutzgebiet Schildow, war der Torso des Toten gefunden worden. Damit waren die letzten Zweifel ausgeräumt. Auch dieses Opfer war ein Junge. Er hieß Sebastian Krug, hatte in Schildow gewohnt und war an seinem Todestag mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Dietrich Kölling hatte sich das Video angeschaut, das die Fundorte der Leichenteile ebenso dokumentierte wie die weitere Umgebung, und war zu dem Schluss gekommen, auch der Mörder könnte ein Fahrrad 95
benutzen. Die Wege, auf denen er sich bewegt hatte, um die Überreste seines Opfers zu verstreuen, konnten mit einem Auto nämlich nicht befahren werden. Auch die bisherigen Fundorte bei Schwante, Bergfelde und Biesenthal widersprachen dieser These zumindest nicht. Der Mörder liebte schwer zugängliche Feld- und Waldwege. Eine gewisse Einsamkeit war seinen Werken ja auch förderlich. Dietrich Kölling schob die Fotos zusammen und warf sie Becker auf den Schreibtisch, damit dieser sie aufkleben und in die Lichtbildmappe einordnen konnte. Überall im nördlichen Speckgürtel Berlins redeten jetzt aufgeregte Eltern auf ihre kleinen Söhne ein und schärften ihnen ein, sich nicht mehr außerhalb ihrer heimatlichen Ortschaften herumzutreiben und nicht mit fremden Männern mitzugehen, und trotzdem fand der Mörder immer wieder neue Opfer, wenn er nicht die Geduld und seine Vorsicht verlor. Es gab immer Kinder, die Verbote ihrer Eltern nicht beachteten oder die Gefahr auf die leichte Schulter nahmen oder die nicht gewarnt wurden. Ob der Mörder die Jungen überhaupt ansprach und nicht einfach zuschlug, wenn ihm die Gelegenheit günstig erschien, war noch nicht geklärt. Dietrich Kölling stellte sich den Mann vor. Er sah kein Gesicht und auch keine bestimmte Gestalt, aber er versuchte nachzuvollziehen, wie der Mörder möglicherweise vorging. Vermutlich hatte er Zeit und machte jeden Tag Ausflüge. Er hielt sich abseits von den großen Straßen, und auch die Siedlungen mied er, blieb aber in ihrer Umgebung. Von außen betrachtet, unternahm er harmlose Spaziergänge oder eher Spazierfahrten, aber er suchte natürlich die Orte auf, die Kinder liebten: Kiesseen, kleine Wasserläufe, in denen man Staudämme errichten konnte, Waldränder, wo man vielleicht eine Bretterhütte zimmerte, verfallende Stallungen ehemaliger LPG, so in etwa. Tagelang streifte er herum, und irgendwann fand er dann einen Jungen, der für sich allein war. Der sich womöglich unerlaubt zu weit von zu Hause entfernt hatte, der eigentlich mit 96
seinem Freund hatte wegfahren wollen, und der Freund durfte dann nicht. Oder einen Jungen, der gar keinen Freund hatte. Bisher jedenfalls hatte er vier Kinder töten können, und es gab keine Zeugen. An so genannten Zeugenaussagen bestand kein Mangel, aber etwas Brauchbares hatten diese Leute nicht mitzuteilen. Ein Mann, der Kinder tötete, hatte dafür immer auch ein sexuelles Motiv, so verkappt oder krude es sein mochte. Er erregte sich an seiner scheinbar grenzenlosen Macht und an der tatsächlich grenzenlosen Ohnmacht seines Opfers, er genoss dessen Angst und das Leiden und die Agonie, wenn er es erwürgte. Im Moment des Tötens war er Gott. Das Gefühl hielt noch eine Weile an, aber bald war er wieder die armselige Kreatur, die unter ihrer Armseligkeit litt. Dann war es an der Zeit, erneut Gott zu werden. Dietrich Kölling hatte die kopierten Akten aus Potsdam und Frankfurt an der Oder gründlich studiert und war zu der Überzeugung gelangt, dass der Mörder unter Impotenz und damit unter existenziellen Zweifeln an seiner Männlichkeit litt. Diese Überzeugung gründete darin, dass der Mann die Jungen nicht vergewaltigte und auch nach der Tötung nicht masturbierte, jedenfalls nicht in Tatortnähe. Allerdings hatte man bisher erst zwei Tatorte entdeckt. Im Übrigen sah es so aus, als ob der Täter seine Opfer noch am Tatort zerlegte, was ungewöhnlich war, denn so abgelegen diese Orte auch waren, das Risiko war dennoch hoch. Selbst an abgelegene Orte verirrte sich mitunter ein Ausflügler oder Forstarbeiter oder Bauer. Der Mann war vorsichtig, wollte aber offenbar auch, dass ein Ende mit ihm gemacht würde. Er litt unter seinen Taten. Aber er war zu feige, sich zu stellen oder sich umzubringen. »Zu welchen Ergebnissen ist denn unser Profilprofi gelangt?«, wollte Dietrich Kölling von Becker wissen, denn dieser hatte gerade den vorläufigen Bericht des Fallanalytikers studiert. »Aber fassen Sie bloß zusammen.« 97
»Tja«, Becker spielte Papiererücken, »unser Mann ist männlich, zwanzig bis fünfunddreißig Jahre alt, er ist intelligent, geht planvoll vor und ist vermutlich impotent. Sadistische Motive treiben ihn an. Er lebt zurückgezogen, hat wenig Kontakt zu anderen Menschen und könnte arbeitslos sein.« »Aha.« Dietrich Kölling nickte. »Sagen Sie mal, Becker, uns sind doch bisher vier Opfer, zwei Tatorte und sieben Fundorte bekannt, nicht wahr?« Becker bestätigte es. »Was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, aber wir kennen die Gründe: Unser intelligenter und planvoll vorgehender Mann pflegt seine Opfer zu zerstückeln, und zwar, so schaut es aus, an Ort und Stelle. Vielleicht steigert er sich dabei in einen Blutrausch, bevor er dann wieder planvoll vorgeht. Nun braucht er aber zum Zerstückeln ein Werkzeug.« »Unsere Rechtsmediziner sind der Meinung, dass er eine Axt benutzt.« »Genau. Eine Axt. Er muss also doch wohl auch recht kräftig sein. Aber darauf will ich gar nicht hinaus. Die Schutzpolizei in den fraglichen Gegenden soll die Augen offen halten nach einem zwanzig- bis fünfunddreißigjährigen Mann von kräftiger Statur, der allein mit einem Fahrrad unterwegs ist und eine große Tasche oder einen Rucksack mit sich führt.« »Mit dem Fahrrad?«, fragte Becker. Aber dann fiel auch bei ihm der Groschen. »Natürlich, zu Fuß geht der nicht, und mit einem Auto konnte er die meisten der bekannten Tat- und Fundorte nicht erreichen. Allerdings …« »Ja? Was?« »Wenn er ein Fahrrad benutzt, kann er die Leichenteile nicht mit einem Mal abtransportieren.« »Das tut er auch nicht«, sagte Dietrich Kölling überzeugt, obwohl es nur eine Vermutung war. »Er tütet sie ein, versteckt sie dann und holt sie nach und nach ab.«
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»Verdammt leichtsinnig«, gab Becker zu bedenken, »und es widerspricht seinem Vorgehen. Er scheint doch extrem vorsichtig zu sein.« »Vor der Tat, Becker, vor der Tat ist er vorsichtig, denn wäre er es nicht, könnte er seine Tat nicht ausführen, also nicht zur Befriedigung gelangen. Nach der Tat ist ihm nicht mehr so wichtig, dass man ihn nicht ertappt. Er hat ja, wenn auch nur vorläufig, gehabt, was er wollte.« »Aber dann könnte er die Leichen an Ort und Stelle belassen. Das Verstreuen ist doch eine Schutzmaßnahme, oder nicht?« »Oder ein zusätzliches Vergnügen. Er löscht einen Jungen aus. Damit nicht genug, zerhackt er den Leichnam. Aber auch diese Zerstörung ist ihm nicht radikal genug, er will die Leichenteile auch noch möglichst weit voneinander trennen. Er legt sie uns aus wie Teile eines Puzzles. Also, informieren Sie nun die Schutzpolizei?« »Ich sehe Schwierigkeiten.« »Schwierigkeiten? Macht nichts. Lösen Sie die Probleme.« »Ich kann ja schwerlich die Polizei in den Schutzbereichen der PP Potsdam und Frankfurt zu etwas auffordern«, meinte Becker. »Vielleicht sind die Kollegen Argumenten zugänglich«, schlug Dietrich Kölling vor. »Außerdem wirkt unser Mann an Orten, an denen sich normalerweise kein Polizist sehen lässt.« »Wie? Was soll das heißen? Ach so, Sie meinen, es gibt keine Wald- und Wiesenpolizei, die Feld und Flur bestreift?« »So ungefähr habe ich’s gemeint«, sagte Becker. »Wozu haben wir dann überhaupt Polizei?« »Na, für die Schreibtischarbeit«, entgegnete Becker. »Passen Sie mal auf.« Dietrich Kölling griff nach dem Telefon. »Ich zeige Ihnen jetzt, wie man mit Menschen umgehen muss, wenn man sie überzeugen will.« Dietrich Kölling telefonierte fast zweieinhalb Stunden. In 99
dieser Zeit sprach er mit drei Staatsanwälten, neun Polizeibeamten und sogar einem Vertreter des Potsdamer Innenministeriums. Alle, die ihn begriffen, waren nicht zuständig. Diejenigen, die zuständig waren, begriffen ihn nicht. Nach diesen zweieinhalb Stunden rührte Dietrich Kölling das Telefon nicht mehr an, und selbst Anrufe nahm er nicht entgegen. Stattdessen schickte er Hajota in die Spur, der ihm ein Dienststellenverzeichnis der Schutzbereiche Oberhavel und Barnim beschaffen musste, während er einen Brief entwarf. Als Hajota das Gewünschte besorgt hatte, fand er eine Anweisung auf seinem Schreibtisch vor, denn Dietrich Kölling befand sich auf dem Heimweg. Er saß noch in der U-Bahn, da traf bei den ersten Brandenburger Polizeidienststellen bereits das Fax ein, das seine zugegeben noch vage Beschreibung des Mannes enthielt, der kleine Jungen mordete. Dietrich Kölling war mit sich zufrieden. Er fühlte sich wie ein Robin Hood des Dienstweges. Gestern Morgen auf dem Schulhof hatte Aaron den Neid gesehen. Der Neid war mit Hass vermischt gewesen, aber er hatte beides genossen. Jetzt sah er einen Neid, in dem Verachtung mitschwang. Verachtung konnte er nicht ertragen. Er war jedoch wehrlos, weil die Neider, die ihn verachteten, nicht nur älter und stärker, sondern auch in der Überzahl waren. »Geiles Bike«, sagte Titus und strich über die Lenkstange des Scott. Ihn kannte Aaron aus dem Klub seines Bruders, die beiden Kumpel, die Titus assistierten, waren ihm fremd. »Wem haste’s abgezogen?«, wollte einer von ihnen wissen. »Das haste doch jemand abgezogen, stimmt’s, Kleiner?« Aaron schüttelte den Kopf. Er hatte nur ein bisschen durch die Gegend fahren wollen, auf dem Asphaltweg neben der S-BahnTrasse hinunter bis in die Schönholzer Heide, um dort herumzucrossen. Auch Titus und seine Kumpel waren mit dem Bike unterwegs, und Aaron begriff nicht, warum es Titus auf 100
das Scott abgesehen hatte, schließlich besaß er mit dem Cannondale auch ein Kultrad. Aaron glaubte nicht, dass ihr Zusammentreffen ein Zufall war. Wahrscheinlich hatten sie eigentlich David aufgelauert und wunderten sich nun, dass Aaron dessen Scott fuhr. »Klar hat er das abgezogen«, behauptete Titus. »Dem seine Mutter ist doch mit der ganzen Kohle durchgebrannt.« Die Typen lachten. Aaron klammerte sich voll Angst an den Lenker. Gern hergeben würde er das Bike natürlich nicht, aber er würde es auch nicht verteidigen, denn dann würden ihn die drei sicher zusammendreschen. Die Beleidigung der Mutter ließ er unwidersprochen. »Is nur gerecht, wenn wir’s ihm wieder abnehmen«, meinte der zweite Kumpel. »Klauen is nämlich verboten.« »Absolut«, bestätigte Titus. »Hoffentlich kann er schon laufen«, sagte der erste Kumpel. »Nee, der krabbelt noch«, sagte der zweite. Sie lachten wieder. Aaron wurde es schwarz vor Augen. Wenn sie ihn noch mehr reizten, würde er sich vergessen. »Steig ab«, befahl Titus. Aaron schüttelte den Kopf. Sofort bauten sich die Kumpel neben ihm auf, griffen ihm unter die Arme und hoben ihn aus dem Sattel, als wäre er leicht wie eine Feder. Sie setzten ihn ab, nicht einmal brutal, er war größere Anstrengung wohl nicht wert. Titus schwang sich in den Sattel, umkurvte Aaron ein paar Mal. »Nicht übel«, sagte er. »Ich borg’s mir mal aus.« »Es gehört David«, sagte Aaron. »Quatsch«, widersprach Titus, obwohl er es besser wissen musste. »Ein richtiger Biker rückt sein Bike nicht raus. Aber vielleicht ist dein Bruder kein richtiger Biker. Trainiert ja auch nicht mehr.« »Doch«, sagte Aaron. »Echt?« Titus grinste. »Na, trainieren … Fährt ’n bisschen rum, was? So wie du, hm? Er ist doch ein Schlappschwanz.« 101
»Und ob«, sagte der erste Kumpel. »Kriegt keinen hoch. Geht mit ’ner Topbraut und war nicht drin.« »Deswegen hat sie ihm ja einen Arschtritt gegeben«, meinte Kumpel Nummer zwei. »Glaub sowieso, dass er ’n Arschficker ist«, sagte Titus. »Ist schwul, oder? So wie du.« Das war zu viel. Man konnte Aaron eine Menge an den Kopf werfen, und er hielt still, wenn er es für klüger erachtete. Schwul durfte ihn niemand nennen. Das war so ungefähr das Schlimmste, was man ihm vorwerfen konnte. Schwulsein bedeutete, ein Weichei zu sein, und ein Weichei war er nicht. Das ganz bestimmt nicht. Aaron spuckte Titus ins Gesicht. Er wusste, was folgen würde. Er bekam sofort eine aufs Maul. So heftig, dass er zu Boden ging und Blut schmeckte. Dann traten sie ihn. Zwar hatten sie nur Turnschuhe an und nicht die gefährlichen Stiefel mit Stahlkappen, die eher Mordwerkzeuge waren als Fußbekleidung, aber sie legten eine solche Kraft in ihre Tritte, dass Aaron vor Schmerz zu schreien begann. Niemand eilte ihm zu Hilfe. Er krümmte sich zusammen, damit sie seinen Unterleib nicht trafen, aber auch die Tritte in den Rücken, gegen Beine und Kopf taten weh. Aaron ließ es über sich ergehen. Er lag hilflos am Boden, wurde erniedrigt und getreten und fühlte sich trotzdem überlegen. Irgendwann würden die drei von ihm ablassen, die Tritte wurden schon schwächer. Aaron biss die Zähne zusammen; dass er geschrien hatte, war unverzeihlich. Aber anfangs war der Schmerz eben stärker gewesen als sein Wille. Als sie der Meinung waren, Aaron habe genug, zogen Titus und seine Kumpel ab. Aaron ließen sie liegen wie ein Stück Dreck, das Scott nahmen sie mit. Erst als sie sein Blickfeld verlassen hatten, rappelte sich Aaron auf. Noch immer hatte er den Geschmack von Blut im Mund, und nachdem er sich über die Lippen gewischt hatte, war auch Blut an seinem 102
Handrücken. Ansonsten fühlte er sich nicht so übel, wie er erwartet hatte, und er konnte sogar ohne Schmerzen gehen. Titus und seine Kumpel würden sich jetzt ins Fäustchen lachen und sich an ihrem feigen Überfall aufgeilen. Für Aaron bedeutete es die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Niemand, der sich mit ihm anlegte, kam so leicht davon. Sie unterschätzten ihn natürlich, weil sie nicht wussten, wer er wirklich war. Für sie war er nur ein dreizehnjähriger Junge. Sie konnten nicht in seinen Kopf schauen. Wenn sie es könnten, würden sie vor ihm davonlaufen und sich am Ende der Welt verstecken, für immer. Aber sie nahmen ihn nicht für voll. Das war ihr größter Fehler. Titus mochte sich vor Freude die Schenkel klopfen, er ahnte nicht, was beschlossene Sache war: Er war tot oder ein Krüppel. David und sein Bruder saßen auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus in weißen Plastikstühlen. Aaron hatte seine Füße auf den dritten der Stühle gelegt und betrachtete seine schmutzigen Tennissocken. David betrachtete ihn. Er war erschrocken gewesen, als er den Bruder zerschlagen und schmutzig hatte nach Hause kommen sehen, aber Aaron hatte nur gegrinst. Bloß die Sache mit dem Scott ärgerte ihn, aber dass man ihn geschlagen hatte, schien ihm wenig auszumachen. Zuerst war David rasend vor Wut gewesen, denn dass Titus das Scott abgezogen hatte, war mehr als eine Schweinerei. David fragte sich, was der Blödmann mit dem Bike vorhatte. Behalten konnte er es nicht, denn wenn der Vater davon Wind bekam, musste Titus mit gewaltigem Ärger im Verein rechnen. Und der Vater hatte schon etwas bemerkt. Aaron hatte sich sofort das Blut aus dem Gesicht gewaschen, aber seine Lippen waren geschwollen. Der Bruder hatte behauptet, er wäre mit dem Fahrrad gestürzt. Der Vater hatte nicht nach Schrammen und Schürfwunden an Armen oder Beinen gefragt und auch nicht danach, wo das Bike 103
geblieben war. In letzter Zeit nahm er jede Erklärung seiner Söhne hin, selbst die unglaubwürdigste. Aaron war eben gestürzt und auf den Mund gefallen. Das kam vor oder auch nicht. Nun hockte der Vater irgendwo im Haus und trank. Mittlerweile hatte David sich beruhigt. Titus hatte sich wahrscheinlich nur einen Joke erlaubt, wenn auch einen üblen und gefährlichen. Vermutlich wollte er damit etwas demonstrieren, seine Überlegenheit oder so. Und die wollte er nicht Aaron beweisen, sondern David. »Wir machen das Schwein alle«, sagte Aaron plötzlich. Er hatte die Stimme gesenkt, obwohl der Vater sicher nicht lauschte, schließlich war er mit seinen Gedanken und seinem Wodka beschäftigt. »Die beiden anderen Typen sind mir egal. Titus war der Anführer.« »Und wie willst du es anstellen?«, fragte David. »Ich lass ihn abstechen.« »Du lässt?« Das verstand David nicht. Aaron hatte keine Freunde. Außerdem war David natürlich dagegen, dass irgendjemand abgestochen wurde. Der Bruder nickte. Er bewegte die Zehen und schaute sie an, als würden sie einen sensationellen Tanz aufführen. David musterte ihn. Aaron sann auf Rache, weil er geschlagen und getreten worden war, David schmerzte vor allem der Verlust des Bikes. »Kann mir das gar nicht so richtig vorstellen«, sagte er. »Ich mein, Titus ist ein Arschloch, aber dass er mit Kumpels rumdüst und Leute abzieht … Hat er absolut nicht nötig.« »Na und?« Aaron schien weiterhin gebannt zu sein von seinem Zehentheater. »Wir haben auch ein paar Typen an der Schule, denen das einfach Spaß macht. Die haben genug Kohle zu Hause und klauen trotzdem. Is ja sonst nix los, machen sie eben ’nen bisschen Zoff.« »Blöd ist, dass ich nicht trainieren kann«, meinte David.
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Aaron ließ seine Zehen Zehen sein. »Wir müssten an sein Cannondale rankommen«, sagte er und nahm David ins Visier. »Ist aber besser, wenn ich mit einem Bike trainiere, das ich kenne.« »So habe ich das nicht gemeint.« Aaron nahm die Füße vom Stuhl, presste die Sohlen fest auf den kühlen Steinboden und erhob sich. »Wann ist wieder ein Rennen?« »Anfang Mai«, erwiderte David. »In den Müggelbergen. Ziemlich großes Ding für Berliner Verhältnisse.« »Du hast doch ein paar Bücher über Bikes, oder?« »Klar«, bestätigte David. Er wusste noch immer nicht, worauf der Bruder hinauswollte. »Gib sie mir«, bat Aaron. »Wozu?« David bekam keine Antwort, und bevor er nachhaken konnte, lenkte ein Geräusch seine Aufmerksamkeit ab. Auch Aaron horchte auf. Es war ein Scheppern, als wenn Metall auf einen harten Untergrund aufschlug, und das Geräusch kam von der Garagenauffahrt. David war sofort auf den Beinen und stürzte mit Aaron um das Haus herum. Auf den Betonplatten zwischen Haustür und Gartentor lag das Scott. Sein Vorderrad drehte sich wie hilflos in der Luft. David traten Tränen in die Augen. Der Schaden war nicht allzu groß, stellte sich bei näherer Betrachtung heraus, und leicht behebbar. Ein paar Speichen waren verbogen, verbogen waren die Hebel der Gangschaltung, und auch die Schnellspanner sahen nicht besonders gut aus. Lenker und Sattel hatten sich beim Sturz auf die Betonplatten verdreht, das war schnell zu richten. Wahrscheinlich würde es David eine Stunde kosten, um das Bike wieder fit zu machen. Dennoch fühlte er sich am Boden zerstört. Sein Fahrrad hatte er immer gepflegt und in Schuss gehalten, wie es sich für einen Biker gehörte. Nun wies der Rahmen an etlichen Stellen tiefe Lackkratzer auf, die Titus ihm nur mit einem Schraubendreher oder einem ähnlichen Werkzeug beigebracht haben konnte. 105
David konnte vor Hass und Wut nicht sprechen. Aaron schon. »Wir machen ihn alle«, flüsterte er, die Hände zu Fäusten geballt. »Wir machen ihn alle.« David hob das Scott auf und schulterte es. Als er sich zur Haustür umwandte, stand dort der Vater. Stand, schaute und schwieg. Beate Nowikowski wusste nicht, ob sie triumphieren sollte oder sich schämen. Von Berufs wegen musste sie froh sein über jeden Vermissten, der aufgefunden wurde, aber sie hatte sich so in ihre Theorie von einem Verbrechen an Angelika Leichtner verbissen, dass ihr die Meldung aus Freiburg im Breisgau Unbehagen bereitete. Die Kripo Freiburg hatte ihr per Fax mitgeteilt, nach einem Ladendiebstahl eine alkoholisierte weibliche Person festgenommen zu haben, die der zur Fahndung ausgeschriebenen Angelika Leichtner fast aufs Haar glich. Die Frau habe keine Papiere bei sich und würde standhaft ihre Identität verschweigen, spreche aber eindeutig Berliner Idiom und halte sich nach Zeugenaussagen erst seit einigen Tagen in Freiburg auf. Die Freiburger Kriminalisten schienen ihren Job sehr ernst zu nehmen, obwohl es sich nur um einfachen Diebstahl handelte, und sie hatten sogar einen Zugbegleiter ausfindig gemacht, der ihnen bestätigen konnte, die Frau, zwei Tage nachdem Angelika verschwunden war, im ICE BerlinBasel gesehen zu haben. Allerdings hatte das Begleitteam zuerst in Braunschweig, dann in Frankfurt am Main gewechselt, und bisher war unklar, ob die Unbekannte in Berlin eingestiegen war; die Kripo Braunschweig ermittelte noch. Die Kripo Frankfurt hatte deutlich gemacht, sich nur am Rande mit einer solchen Lappalie befassen zu wollen. Auch ein Foto der Frau hatten die Freiburger Kollegen gefaxt und zugleich versprochen, es wegen der besseren Qualität auch noch per E-Mail zu übersenden. Auf dem Fax sah die Namenlose tatsächlich wie
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Angelika Leichtner aus. Beate Nowikowski seufzte. Ihr wurde klar, wie wenig sie über die Frau Doktor Leichtner wusste. Ihr inneres Bild von der Vermissten hatte anders ausgesehen als das im Bericht aus Freiburg übermittelte. Als alkoholisierte Ladendiebin konnte sie sich Angelika nicht vorstellen. Frau Doktor besaß sowohl eine EC-Karte als auch eine Kreditkarte, sie hatte es nicht nötig zu stehlen, hatte aber bisher noch keinen Gebrauch von ihren Geldkarten gemacht. Für Beate Nowikowski war dies ein Beweis dafür gewesen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Nunmehr schaute es aus, als hätte die Frau ihre Spur verwischen wollen, denn jede Geldabhebung bedeutete zwangsläufig, eine Spur zu legen. Sie hatte womöglich ihr Bares für die Zugfahrt ausgegeben und dann, von Hunger und Durst getrieben, den Diebstahl begangen. Es passte nicht zu ihrer Persönlichkeit, aber Menschen, die durchdrehten, taten ständig Dinge, die nicht zu ihnen passten. Oder die sich nicht mit dem Bild deckten, das man von ihnen hatte. Die in Freiburg festgenommene Frau hatte aber keine Lebensmittel klauen wollen, sondern Katzenstreu. Mehrstündige Vernehmungen hatten noch keine Antwort erbracht, wofür eine offenbar wohnungslose und angetrunkene Frau ausgerechnet Katzenstreu brauchte. Die Aufgegriffene handelte irrational, aber irrational war ja, wenn es denn eine war, auch Angelikas Flucht. Vielleicht litt sie unter einer bislang nicht diagnostizierten psychischen Krankheit, vielleicht war sie verwirrt und desorientiert. Das würde erklären, warum sie keine Papiere bei sich hatte. Irgendwann hatte sie einfach nicht mehr gewusst, wozu ein Mensch einen Personalausweis brauchte, eine Scheckkarte, eine Kreditkarte und was man sonst noch an Karten mit sich führte, oder jemand hatte ihre Verwirrtheit ausgenutzt und sie bestohlen. Beate Nowikowski erhob sich seufzend, verließ ihr Zimmer und begab sich ins Sekretariat. Die E-Mail aus Freiburg war mittlerweile eingetroffen. Die Kommissarin kehrte in ihr 107
Dienstzimmer zurück und legte das aus Baden übertragene Bild neben das Foto, das ihr Michael Leichtner für Fahndungszwecke zur Verfügung gestellt hatte. Zumindest eine große Ähnlichkeit konnte Beate Nowikowski nicht leugnen. Die letzten Zweifel konnte aber nur der Ehemann ausräumen, also ließ sich die Kommissarin von der Fahrbereitschaft einen Wagen bereitstellen und fuhr hinaus nach Pankow. Obgleich sich Aaron für den absoluten Durchblicker hielt, wenn er sich mit anderen Dreizehnjährigen, aber auch mit Älteren verglich, gab es doch eine Menge Dinge, die er nicht verstand. Die Anwesenheit des Sklaven und seiner Eltern in Deutschland gehörte dazu. Das war etwas, das nicht einmal Erwachsene begriffen. Die Serben hatten all ihre Balkankriege längst hinter sich, es war völlig unklar, warum man ihnen Asyl gewährte. Aaron stand an der Haltestelle Rosenthal Kirche und wartete auf den Bus. Ihn wurmte, dass er nicht das Bike nehmen konnte, aber David hatte es ihm verweigert, weil er es erst einmal auf Vordermann bringen wollte. Das war auch in Ordnung so. Aarons Überraschungsbesuch bei dem Sklaven hätte auch Aufschub geduldet, aber Aaron hatte sich etwas in den Kopf gesetzt und obendrein keinen Bock, den Abend in der Nähe des sauertöpfischen Vaters zu verbringen. Der Weg von der Straße 126 zum Sklavenstall war nicht besonders weit, aber mit den Öffentlichen nicht ganz unkompliziert zurückzulegen. Aaron hatte keine Lust zum Laufen. Laufen war ihm zu anstrengend. Wenn er den Sklaven schon besuchte, dann wollte er nicht zu viel Energie verschwenden. Viel Energie war der Sklave nicht wert. Aaron hatte nichts gegen Ausländer, er hatte allerdings auch nichts für sie übrig. Sie waren ihm schlicht gleichgültig. In der Schule wurde natürlich dauernd von ihnen gelabert. Immer, wenn irgendwo ein Ausländer was aufs Maul gekriegt hatte, ging das große Gequatsche von Toleranz und kultureller 108
Bereicherung und so weiter los. Wenn ein Deutscher was von einem Ausländer abkriegte, wurde nichts gesagt. Das also war Toleranz? Aaron konnte darüber bloß lachen. Toleranz war etwas für die Schleimer und die Müslifresser, für Corinne zum Beispiel. Sie stammte aus einer Familie vegetarisch lebender Zeugen Jehovas und laberte gern von Gott und der Liebe zu den Auserwählten. Wenn er der Chef von Deutschland wäre, würde Aaron das Scheißwort Toleranz verbieten. Solche Überlegungen sprach er nie aus. Man nannte ihn oft genug altklug. Das Wort altklug hasste er wie die Pest, weil es ihn an diese verpisste Farbe namens Altrosa erinnerte. Aaron grinste. Die beiden Tittenträgerinnen, die wie er auf den Bus warteten, guckten ihn doof an. Sie ahnten nicht, dass sie einen künftigen Killer betrachteten. Eine Farbe wie Altrosa mochten sie bestimmt leiden. Mit Sicherheit wussten sie aber nicht einmal, was Altrosa überhaupt war. Busfahrer hielten sehr viel von Toleranz. Der 124er hatte vor zwei Minuten abfahren sollen, doch der Busfahrer rauchte immer noch. Nicht einmal das Fahrziel hatte er geändert, über der Windschutzscheibe stand immer noch Rosenthal Kirche. Busfahrer waren aus Aarons Sicht extreme Blödmänner. Wer den ganzen Tag nur Bus fuhr, der konnte doch bloß Asphalt im Kopf haben. »Hallo, Süßer!« Die linke der beiden Tittenträgerinnen zwinkerte ihm zu. Wenn es hochkam, waren sie gerade vierzehn. Bestimmt hatten sie sich abgesprochen, Aaron ein wenig auf die Schippe zu nehmen. Aaron reagierte nicht. Blödheit konnte er überhaupt nicht ab, da war es höchst beruhigend zu wissen, dass es Atombomben gab. Es war bestimmt ein faszinierendes Schauspiel, die Weiber mitsamt ihren Plateauschuhen in Rauch aufgehen zu sehen. Es war drei Minuten über die Zeit, als sich der Busfahrer endlich bequemte, das neue Fahrziel einzustellen: AltHeiligensee. Aaron hatte keine genaue Kennung, wo das war. Er 109
spielte sich als Gentleman auf und ließ den Weibern den Vortritt, die natürlich nicht ahnten, dass er bloß ihre Ärsche sehen wollte. Ärsche waren etwas, wo man hineinficken konnte. Das machte Aaron schon ein bisschen fertig, dass er noch nie gefickt hatte. Der Sklave hatte ein Mädchen. Er hatte auch, beim Duschen nach dem Sportunterricht hatte es Aaron gesehen, total viel Schamhaar und einen langen Schwanz. Mit Spucke oder fioretta brachte Aaron sein Gerät auch auf Länge. Aber Wichsen war nicht Ficken. Aaron zeigte dem Busfahrer seinen Schülerausweis, der Fahrer schaute über ihn hinweg. Aaron hätte es schon gern mal ausprobiert, wie es war, wenn man sein Ding in ein Weib steckte. Dafür musste man sich aber verlieben. Aufs Verlieben hatte Aaron echt keinen Bock. Das war ihm zu kitschig. Der Busfahrer war unfähig zu sprechen. Er mümmelte. Wie ein Hase mümmelte er die nächste Haltestelle. »Hauptstraße Ecke Friedrich-Engels-Straße«, quetschte der Drecksack zwischen seinen Hasenzähnen hervor. Aaron sprang aus dem Bus. Die Titte, die ihn zuvor angesprochen hatte, winkte ihm. Er zeigte ihr den Stinkefinger. Die Weiber kicherten. Mehr konnten sie auch nicht. In Berlin fuhr man nicht mit den Scheißbussen, man wartete auf sie. Aaron klaubte aus der Innentasche seiner Jacke die Kippe, die er seinem Alten geklaut hatte, und die Streichholzschachtel, die er nicht hatte klauen müssen. Sie war ein Reiseandenken. Vor drei Jahren hatte die berühmtberüchtigte Family Leichtner tatsächlich versucht, Urlaub zu machen, und nicht irgendwo und irgendwie, sondern in Stockholm und nobel. Stockholm war natürlich Mamas Idee gewesen, weil man von dort mit alten Dampfern nach Gripsholm fahren konnte. Gripsholm war ein bescheuertes Schloss, wo eine bescheuerte Liebesgeschichte von Kurt Tucholsky spielte, aber darum war es Mama gar nicht gegangen, 110
die wollte bloß ätzend langweilige Bilder angucken. Die bedeutendste Porträtsammlung Schwedens. Aaron wäre fast gestorben. Überall hingen Schinken rum, Gemälde von Königen, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, für Schweden irgendwie wichtige Leute, lauter poröse Typen, die einem Zehnjährigen absolut am Arsch vorbeigehen, aber das Hotel in Stockholm, das war Spitze gewesen. Reisen, so hieß es. The number one of Stockholm’s hotels. Da hatte Papa echt die Kohle rausgeholt. Die schlanke Streichholzschachtel, die Aaron zum Entzünden der geklauten Kippe mit sich führte, hatte er in der Hotelbar Quarter Deck mitgehen lassen. Ein Diebstahl war das nicht gewesen. Der Barkeeper hatte ihn ausdrücklich aufgefordert, so viele Schachteln mitzunehmen, wie er greifen konnte. Sven hatte er geheißen, ein schlichter Name für einen Schweden, die ja gänzlich unverständliches Zeug, aber dann auch wieder perfektes Englisch quatschten, dieser Sven hatte Aaron von Anfang an gemocht. You are so beautiful, hatte er immer leise gesungen, wenn Aaron mal wieder Streichholzschachteln schnorren wollte. Swedish matches. Und während Mama über ihren Gin Tonic zu Papa mit seiner dritten, vierten, fünften extrem teuren Bloody Mary gesagt hatte: Das wäre wirklich eine Aufgabe, die schwedische Malerei für Deutschland zu erschließen, da hatte Sven ihn mit seinem Stift, gedacht zum Ausfüllen der Rechnung, the bill, mit diesem Scheißstift hatte er Aaron immer hinter dem Ohr gekrault. Nicht richtig, nur mal so kurz hoch und runter gefahren. Das hatte Aaron den Atem verschlagen. Neben dem Nobelhotel war es seine beste Erinnerung an Schweden. In der Straße 126 klingelte Beate Nowikowski wie üblich an der Gartenpforte, aber ihrer Bitte um Einlass wurde nicht entsprochen. Die Kommissarin wiederholte den Versuch, sie wiederholte ihn mehrfach, das Resultat änderte sich nicht. Offenbar war niemand zu Hause. Beate Nowikowski ärgerte 111
sich darüber, dass sie sich nicht telefonisch angemeldet und nun viel Zeit verschwendet hatte, machte kehrt und ging zu ihrem Wagen zurück. Dabei bemerkte sie zwei alte Leutchen, ein Ehepaar vermutlich, welches das gegenüberliegende Grundstück sein Eigen nannte und mit unverhohlener Neugierde den an und für sich banalen Vorgang auf der Straße beobachtete. Die Straße 126 war zwar nicht das Ende der Welt, aber das Ende von Rosenthal, hier geschah sicher nichts Aufregendes, sodass bereits eine Besucherin eine gewisse Abwechslung darstellte, zumal sich das Verschwinden der Frau Doktor gewiss herumgesprochen hatte. Ruheständler, die nichts anderes zu tun hatten, als den lieben langen Tag die Umgebung zu beobachten, entpuppten sich mitunter als ausgezeichnete Zeugen. Beate Nowikowski beschloss, die beiden Alten zu befragen. Wenn das eine halbe oder eine Dreiviertelstunde in Anspruch nahm, konnte es immerhin sein, dass in der Zwischenzeit Michael Leichtner aufkreuzte, und so würde sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Beate Nowikowski winkte dem Rentnerehepaar zu. Als hätten sie den Teufel gesehen, verschwanden die beiden eilig im Haus. Unwillkürlich schaute Beate Nowikowski an sich herunter. Sie war nicht in einer Weise gekleidet, die womöglich mit den Moralvorstellungen der Alten kollidierte, und sie war auch nicht von Kopf bis Fuß mit Schusswaffen behängt, gefährlich konnte sie also nicht wirken. Entschlossen trat sie an die Pforte und läutete. Im Gegensatz zu dem Eingang, durch den man auf Leichtners Anwesen gelangte, war dieser mit einer Wechselsprechanlage ausgerüstet, dafür fehlte das Namensschild. Nachdem etliche Minuten verstrichen waren und Beate schon einen Krampf im Zeigefinger befürchtete, meldete sich endlich der Mann. »Ja?«, fragte er. »Kriminalpolizei«, stellte sich Beate Nowikowski vor.
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»Kriminalpolizei?« Der Mann zerlegte das Wort in seine Silben. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.« »Warum denn?« Alte Menschen waren oft misstrauisch, und selbst wenn sie noch nie Opfer einer Straftat geworden waren, hatten sie doch so viel von Einbrechern, Dieben und Mördern gelesen und gehört, dass sie jeden Fremden für einen potenziellen Verbrecher hielten. Außerdem gab es Trickbetrüger, die sich als Kriminalbeamte ausgaben. Auch darüber berichteten die Zeitungen, angeblich um die Leute zu warnen, aber sie säten vor allem Angst. Trotzdem fielen immer wieder Ahnungslose auf die Trickbetrüger herein. Auf endlose Debatten via Wechselsprechanlage war Beate Nowikowski nicht versessen. »Ich habe auch einen Ausweis«, erklärte sie. Die Trickbetrüger, fiel ihr ein, präsentierten ihren Opfern fast immer gefälschte Dokumente. Ein Ausweis bewies gar nichts. Der Mann im Haus schwieg. Beate Nowikowski nahm an, dass er nun mit seiner Frau darüber diskutierte, wie man mit einer Einlass begehrenden Kriminalbeamtin umgehen solle, die auch eine Betrügerin sein konnte. Schließlich gelangten sie zu einer Entscheidung und verließen beide das Haus. Während die Frau vor der Tür stehen blieb, quasi sprungbereit, wenn man bei ihrem Alter noch davon sprechen konnte, näherte sich der Mann langsam der Pforte. Er betrachtete ausgiebig zuerst die Kriminalbeamtin, dann den Dienstausweis. Beate Nowikowski hätte sich nicht gewundert, wenn er an dem Ausweis auch noch geschnüffelt hätte, aber er gab ihn unberochen zurück und schüttelte den Kopf. »Der ist ja rot«, sagte er scharf. »Welche Farbe sollte er denn Ihrer Meinung nach haben?« »Grün«, sagte der Mann voll tiefer Überzeugung. »Polizeiausweise sind grün.« Jetzt begriff Beate Nowikowski, warum es Trickbetrügern 113
immer wieder gelang, trotz aller Warnungen erfolgreich zu Werke zu gehen: Alles Misstrauen der Welt half nichts gegen ein tief verwurzeltes Vorurteil. Vermutlich weil Polizeifahrzeuge und Polizeiuniformen grün waren, hatte der Mann den Schluss gezogen, auch die Dienstausweise müssten es sein. Beate Nowikowski war ratlos. Der Mann war es nicht. »Anne«, rief er seiner Frau zu, »klingel mal das Revier an und frag, welche Farbe die Kripoausweise haben.« Anne gehorchte und verschwand im Haus. Das Anklingeln des Reviers nahm viel Zeit in Anspruch, obwohl die Frage mit einem Wort zu beantworten war, doch mochte sie in den Ohren des Kollegen, der den Anruf entgegennahm, ein wenig ungewöhnlich klingen; Auskünfte über die Farbe von Dienstausweisen wurden vermutlich nicht täglich eingeholt. Beate Nowikowski hoffte nur, dass der Kollege das Problem überhaupt verstand. Wenn er die Farbe von Dienstausweisen für ein Staatsgeheimnis hielt, dann hatte sie schlechte Karten. »Bei Leichtners ist wohl keiner da?«, fragte sie, um die Wartezeit zu überbrücken. Es war eine dumme Frage, schließlich hatte sie sich bereits davon überzeugt, und die beiden Alten hatten es beobachtet. Die Antwort überraschte sie. »Doch, doch«, sagte der Mann. »Der Vater und der große Sohn, die sind da. Der Kleine ist vor ’ner halben Stunde weggegangen. Na, so klein ist er auch nicht mehr.« »Dann wollen sie wohl nicht öffnen«, meinte Beate. »Ist das ein Wunder? Da ist doch eine furchtbare Sache passiert. Aber …« Der Alte riss die Augen auf. »Wenn Sie von der Kriminalpolizei sind, dann müssten Sie’s ja wissen.« »Die Mutter ist verschwunden.« »Ist das nicht furchtbar? Wenn eine Mutter Mann und Kinder verlässt? Es sind anständige Leute, ich kann mir das gar nicht vorstellen. Hier in der Straße sind alle der Meinung, dass man der Frau etwas angetan hat. Es passiert doch so viel. Diese Jugendbanden. Wissen Sie, früher haben wir hier direkt an der 114
Mauer gewohnt, da war es ruhig und sicher. Wegen der Grenzer, die haben hier immer kontrolliert. Aber jetzt? Das Märkische Viertel da drüben, lauter Türken. Die brechen hier ein und so weiter. Und die Polizei? Die kriegt sie nicht.« »Wenn die Polizei sie nicht kriegt«, wandte Beate Nowikowski ein, »dann können Sie doch gar nicht wissen, dass es Türken sind.« »Na, oder Polen. Oder Rumänen. Zigeuner, die haben doch schon immer geklaut.« Beate Nowikowski entgegnete nichts. Ihr war bekannt, dass erwachsene Rumänen, unter ihnen viele Zigeuner, die man aber Sinti und Roma nennen sollte, scharenweise Kinder nach Berlin einführten und diese zum Taschendiebstahl abrichteten und dass diese Kriminellen auch vor Folter und Mord nicht zurückschreckten. Dass sie damit auch ihre ehrlichen Landsleute ins Gerede brachten, störte sie nicht, denn wenn es um Geld ging, hörte die Freundschaft auf. Rosenthal war allerdings kein Kriminalitätsschwerpunkt. Es gab gewiss die üblichen Einbrüche in Häuser wie überall, doch die Täter konnten gut und gern auch Deutsche sein. Jugendbanden waren es sicher nicht. Jugendbanden verlegten sich in der Regel auf die Straßenkriminalität. Die Frau des Hauses erschien wieder auf der Bildfläche, und nach ihrer Miene zu urteilen, hatte sie erreicht, was ihr aufgetragen worden war. »Hans«, sagte sie, »die Ausweise von der Kriminalpolizei sind rot.« Daraufhin schloss ihr Gatte die Gartentür auf. Er benutzte einen gewöhnlichen Schlüssel, wie man sie aus in jedem Baumarkt erhältlichen Rohlingen feilen konnte, das Schloss war also mit einem Dietrich zu knacken, wenn nicht gar mit einem gebogenen Draht. Aber selbst diese leichte Anstrengung wurde einem Einbrecher nicht abverlangt, dieser konnte auch
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schlichtweg über die Tür steigen. Sie abzuschließen war vollkommen sinnlos. »Bitte!« Der Mann hielt die Pforte auf und machte eine einladende Handbewegung. An der Haustür gab es auch ein Namensschild. Das alte Ehepaar trug den seltsamen Namen Gewinner. Hans und Annekathrin Gewinner. Das klang gut. Busse hatten Nummern. Eigentlich hätten Busfahrer welche tragen müssen, so wie im Knast. Wahrscheinlich trug man im Knast keine mehr. War aber egal. Die Panzerknacker, die hatten welche. Der Bus auch: 122. Sein Ziel hieß U Kurt-SchumacherPlatz. So weit musste Aaron nicht fahren. Der neue Busfahrer bekam sein Maul auch nicht auf. Er nuschelte etwas von »Singstraße/Fnanestraße«, als er die Haltestelle Lessing-, Ecke Fontanestraße ankündigte. Dort, vor dem Haupteingang von ABB und neben einer Kita, hatte das Bezirksamt in zwei Baracken ein Asylantenheim eingerichtet. Das war schon ein paar Jahre her, aber Aaron erinnerte sich noch an die Proteste und Demos der Anwohner. Klar, neben einem Kindergarten wollte man keine Asylanten, weil die Kinder grillten. Die waren doch das Blödeste, was man sich vorstellen konnte. Der Sklave war so lieb, der schlug nicht mal zurück, wenn er eins aufs Maul bekam. Und seine Eltern, die Aaron bei einem Elternabend am Gym kennen gelernt hatte, die sahen eher aus, als ob sie sich von den Kindergartenkindern grillen lassen würden. Aber Aaron wusste ja, Denken war eine Kunst. Die überwiegende Mehrheit der Menschen dachte nicht, sondern speichelte. Manchmal hatten sie auch ein bisschen Recht. Warum man Serben, die ja jetzt so was wie Demokratie hatten oder bloß Demokratur, wie Tahir es nannte, also warum man denen Asyl gewährte, das kapierte niemand. Der Sklave hatte versucht, es Aaron zu erklären. Sein Vater war Journalist in Belgrad gewesen, staatskritischer Journalist oder so was, und deswegen 116
war er dauernd von den Bullen eingesperrt und echt sogar gefoltert worden. Wie man ihn gefoltert hatte, darüber wollte der Sklave nicht sprechen. Es hätte Aaron sehr interessiert. Aaron fand Foltern geil. Er würde gern mal jemanden foltern oder gefoltert werden. Aber richtig, nicht nur wie in Black Lady II, wo das Fesseln und Schlagen nur ein Spiel war. Nein, eher schon wie in den Büchern, die er in der Bibliothek mit feuchten Händen und roten Ohren durchblätterte: Grausamkeit und Sexualität, Die Körperstrafen, Gerichtswesen im Mittelalter. Er hatte sich bisher nicht getraut, eines dieser Bücher auszuleihen, weil er die Blicke der Bibliotheksmiezen fürchtete; aus ihrer Sicht waren für ihn doch nur Bücher aus dem Kinderbuchregal geeignet. Der Sklave und seine Eltern waren keine wirklichen Asylanten. Sie waren Antragsteller, schon seit Jahren. Der Vater war eben clever, der klagte vor allen möglichen Gerichten. Diese ganze Klagerei war gerade zum Bundesdingsgericht gegangen, also zu diesem Gericht in Karlsruhe. Die Baracken waren ätzend, kein Schwein hätte Bock auf so einen Stall. Die Zündhölzer aus der Schachtel des Quarter Deck, die Aaron bei sich hatte, würden sicher ausreichen, um aus ihnen einen Asylantengrill zu machen. Das hatte Aaron nicht vor. Die strafwürdige Tat, die er plante und für die er den Sklaven brauchte, weil David ein Weichei war, sie musste viel raffinierter sein als so eine primitive Anbrennerei. Im Wohnzimmer des Ehepaares Gewinner, ausgestattet mit Kastenmöbeln, die in den fünfziger Jahren modern gewesen sein mochten, und mit einer enormen Couchgarnitur, roch es muffig. Es war das typische Alte-Leute-Aroma, eine Mischung aus Essensgerüchen, Franzbranntwein, altem Schweiß und verborgenem Staub. Beate Nowikowski wurde auf die Couch komplimentiert, Herr Gewinner stellte eine Flasche Asbach Uralt auf den Tisch. Seine Frau verzog das Gesicht. Offenbar 117
litt sie es nicht, wenn ihr Mann Alkohol zu sich nahm, aber er nutzte die Gelegenheit, einen Gast zu haben, weidlich aus. Beate Nowikowski wollte ihm nicht den Spaß verderben und willigte ein, selbst einen Weinbrand zu trinken. »Tja, die Leichtners«, sagte Herr Gewinner und setzte sich ebenfalls. »Nette Leute. Höflich, freundlich. Und sie haben es bestimmt nicht leicht.« »Warum nicht?« »Wenn man zwei Kinder durchbringen muss in diesen Zeiten?« Herr Gewinner runzelte die Stirn. »Wir sind Rentner, uns geht es einigermaßen gut. Aber Menschen in diesem Alter? Die Frau hat ihre Arbeit verloren. Jetzt macht sie ja wohl irgendwas Soziales. Scheint ihr aber nicht zu gefallen. Ich meine, sie wirkt immer so verkniffen. Und der Mann? Der arbeitet nur. Wenn er so weitermacht, erarbeitet er sich noch einen Herzinfarkt.« »Wie du«, ließ sich Frau Gewinner vernehmen. Sie langte nach der Flasche, aber ihr Mann brachte sie rasch in Sicherheit. »Er hat damals beim Rat des Stadtbezirks Pankow gearbeitet«, erklärte die Frau. »In der Abteilung Handel und Versorgung. Sind Sie aus der DDR?« »Nein.« »Aber Sie haben sicher gehört, wie das bei uns war. Er war für das undankbare Gebiet der Obst- und Gemüseversorgung zuständig. Die Bürger haben ja dauernd Eingaben gemacht, weil es keine Apfelsinen gab, wenn sie unbedingt welche wollten. Oder keine Bananen. Oder nur eine Sorte Kohl. Bis zum ZK haben die sich beschwert. Wenn die dann in Pankow wohnten, kriegte er das alles auf den Tisch. Dann musste er sich kümmern.« »Jedenfalls so tun, um die Leute zu beruhigen«, bekannte Hans Gewinner und nahm einen klitzekleinen Schluck vom Weinbrand. »Südfrüchte und Kohl kann man nun mal nicht backen.« 118
»Und Sie meinen, dass Herr und Frau Leichtner nicht gerade glücklich waren?«, fragte Beate Nowikowski. »So will ich das nicht sagen. Das kann ich einfach nicht beurteilen. Man kann in die Leute nicht reingucken. Aber sie waren beide immer so gehetzt. Man sieht’s an den Augen, wissen Sie? Wenn die ruhelos hin und her gehen. Sie haben ja eigentlich alles. Haus, zwei Autos, zwei ordentliche Kinder. Das will allerdings auch alles unterhalten und versorgt werden. Also man will ja die DDR nicht zurückhaben, nur … Der Kapitalismus hat einen anderen Zeitbegriff. Time is money, nicht? Sogar hier draußen bekommt man es mit. Die Leute gehen nicht mehr, sie rennen. Nicht mal unsere eigenen Kinder haben Zeit für uns. Sind immer auf Achse. Ich weiß nicht, Frau …« »Nowikowski.« »Ich weiß nicht, Frau Nowikowski, muss man denn unbedingt erfolgreich sein? Und wohlhabend? Gibt’s denn wirklich nichts anderes mehr außer Geld? Ich will nicht den Begriff Ideale verwenden, den haben wir in der DDR leider gründlich ruiniert … Es muss aber noch mehr da sein. Man muss doch mehr wollen. Geld kann man nicht mitnehmen. Also dahin, wo wir beide wohl bald sein werden.« »Dahin kann man gar nichts mitnehmen, auch Ideale nicht«, bemerkte Frau Gewinner. »Einen geldgierigen Eindruck macht Herr Leichtner auf mich nicht«, sagte Beate Nowikowski. »Aber die Kinder.« Herr Gewinner schenkte sich nach. »Man hört doch immer, wie anspruchsvoll die heute sind. Ich habe Zeiten kennen gelernt, da hat man sich über ein Stück Brot gefreut. Jetzt freuen die sich nicht mal mehr über eine ganze Torte. Sie haben verlernt, zu achten und zu schätzen, was sie von ihren Eltern bekommen.« »Ich denke, es sind nette Kinder?«
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»Ja, das sind sie. Gut erzogen. Vielleicht sind wir auch zu alt, um sie zu verstehen. Anne?« »Ja, Hans?« »Vielleicht möchte die Frau Oberleutnant einen Kaffee.« »Kommissarin«, korrigierte Beate Nowikowski. »Natürlich.« Hans Gewinner schüttelte den Kopf. »Man ist doch ganz schön verkalkt, was?« Er lächelte jedoch. »Erzähl doch der Frau Nowikowski mal, was wir heute gesehen haben.« Die Gattin hatte sich den Namen der Besucherin merken können. »Das war sehr seltsam«, erklärte der Mann. »Ein richtiger kleiner Krimi sozusagen. Zuerst kam der kleinere Junge nach Hause. Wie heißt der noch?« »Aaron«, sagte Frau Gewinner. »Aaron.« Der Mann nickte. »Er ist mit dem schönen Fahrrad von seinem Bruder … Der ist wohl irgendwie Radsportler, stimmt’s, Anne?« »Ja«, bestätigte seine Frau. »Tja, der ist also mit dem Rad von seinem Bruder weggefahren. Zurück kam er aber ohne das Rad. Ziemlich schmutzig. Und wohl auch mit Blut im Gesicht. Das war Blut? Anne? Wir haben uns doch darüber unterhalten.« »Vielleicht war es Blut.« Auch Annekathrin Gewinner begann unter der umständlichen Erzählweise ihres Mannes zu leiden. Deshalb entschloss sie sich, selbst zu berichten. »Wie mein Mann sagte, Aaron kam lädiert an. Später war dann ein junger Mann hier. Also auf der Straße. Der hatte das Fahrrad dabei und hat es über den Zaun geworfen. Unmöglich! Das Rad war bestimmt nicht billig. Es ist doch schade drum, wenn man so was mutwillig zerstört.« »Der Vater hat das auch mitbekommen«, sagte Herr Gewinner. »Aber ich glaube …« »Was glauben Sie?« »Wir glauben«, sagte die Frau, »dass er betrunken war.« 120
»Er trinkt wohl viel in letzter Zeit«, meinte der Mann und griff nach seinem Kognakschwenker. »Seitdem das mit seiner Frau passiert ist«, ergänzte Annekathrin. »Der … Wie heißt der Kleine noch?« »Aaron.« »Der Aaron ist bestimmt beim Radfahren an so ’ne Türkenbande geraten«, sagte Hans. »Aber warum haben die das Rad denn zurückgebracht?« Annekathrin Gewinner verstand die Welt nicht mehr. Auch Beate Nowikowski konnte das Rätsel vorerst nicht lösen. Zwischen den beiden Baracken, die das Asylantenheim darstellten, lungerten dunkelhaarige Männer in Trainingsanzügen herum. Sie trugen alle Badelatschen, unterhielten sich lautstark in einer Sprache mit vielen Zischlauten, und einige tranken Büchsenbier. Aaron bedachten sie mit misstrauischen Blicken, es kam wohl nie oder nur extrem selten vor, dass sich ein deutscher Junge hierher verirrte. Aaron wusste nur, dass der Sklave in einer der Baracken lebte, aber nicht, in welcher. Um sich bei den Typen zu erkundigen, musste ihm der Name des Sklaven einfallen. Aaron lachte leise vor sich hin. Er hatte sich so an die Bezeichnung Sklave gewöhnt, dass er einige Sekunden brauchte, bis ihm der Vorname einfiel: Tahir. Mit dem Nachnamen war das noch schwieriger. Es war irgendwas mit ic oder vic am Ende, wie diese Jugos eben hießen. Ausgesprochen itsch oder witsch. Die Eingänge zu den Baracken befanden sich an deren Stirnfronten, und aus einem dieser Eingänge traten drei Mädchen. Sie waren höchstens zehn Jahre alt, trugen Röcke und Zöpfe, so wie früher Mädchen herumgelaufen waren, aber vielleicht liebten sie auch bloß Pippi Langstrumpf. Aaron hatte keine Peilung, ob Serben Pippi Langstrumpf kannten. Die drei 121
Mädchen blieben stehen, nahmen einander bei den Händen und betrachteten Aaron wie einen Außerirdischen. »Ich suche Tahir«, erklärte er. »Ein Junge, so alt wie ich.« Die Mädchen schwiegen. Vielleicht verstanden sie kein Deutsch, vielleicht fürchteten sie sich. Aaron setzte ein Lächeln auf, aber das schien wegen der Schramme auf seiner Stirn noch bedrohlicher zu wirken. Die Mädchen wollten gerade davonlaufen, da kam eine Frau aus der Baracke, um die sich die Mädchen scharten. »Wohin?«, fragte die Frau. »Tahir. Ein Junge aus meiner Schule. Ich weiß seinen Nachnamen nicht.« »Tahir?« Die Frau zuckte die Achseln. »Aus Belgrad«, fügte Aaron hinzu. »Sein Vater ist Journalist.« »Ah, Karpovic«, sagte die Frau. »Sie gehen lang Gang. Ganz hinten. Dort.« Sie zeigte mit dem Daumen nach links, meinte also vermutlich die letzte Tür auf der linken Seite. Aaron betrat die Baracke. Auf dem Gang, an dessen beiden Wänden sich in regelmäßigen Abständen Türen befanden, die wie aus Pappmaché aussahen, roch es nach uraltem Bohnerwachs, vielleicht noch aus der DDR-Zeit, nach scharfer Küche, feuchter Wäsche und nach einer schweißgetränkten Ringermatte. Hinter allen Türen, so schien es jedenfalls, liefen Fernsehapparate oder Radios, es wurde geschossen und geschrien, man hörte Sirenen, quietschende Bremsen, Lautsprecheransagen und manchmal auch bloß Musik, Mainstream-Pop, aber auch unbekannte, sicher serbische Klänge. Als wären das nicht genug Geräusche, plapperten obendrein noch Kinder, weinten Babys, schimpften Mütter, grummelten Männer. Von irgendwoher drang ein Zischen, als würde jemand Fleisch oder Ähnliches in heißes Fett geben. Der Gang war menschenleer. An den Türen gab es keine Namensschilder, sondern Nummern. Was immer diese Baracke einst beherbergt hatte, 122
früher einmal hatten die Leute, die hier angestellt gewesen waren, ihre Namen an den Türen befestigt, denn die entsprechenden Schilderhalter waren noch vorhanden. An einer der linken Türen, etwa in der Mitte der Baracke, stand Materialausgabe. Neben dieser Tür befand sich ein Feuerlöscher. Für Bekloppte war über ihm ein Schild mit der Aufschrift Feuerlöscher befestigt. Ein paar Meter weiter lief ein breiter roter Pfeil über die Wand und zeigte zum Ausgang. Welchen Zweck dieser Pfeil erfüllte, verriet er nicht. Falls er den Fluchtweg markieren sollte, war er überflüssig, denn es gab nur zwei Möglichkeiten zur Flucht, und die waren eindeutig. Außerdem fehlte ein Pfeil in die Gegenrichtung. Die letzte linke Tür war mit der Nummer 23b versehen. Die 23b folgte auf die 22, eine 23a vermochte Aaron nicht zu entdecken. Die Tür hatte man, im Gegensatz zu allen anderen, die weiß waren, mit braunem Lack gestrichen, und wenn man sich anstrengte, konnte man noch den Schriftzug Telefonzentrale erkennen. An die Wand rechts neben dieser Tür war vor Urzeiten eine Plastiktafel genagelt worden, von der mittlerweile eine Ecke abgebrochen war. Die Tafel hatte einen roten Rahmen, und sie war dazu bestimmt gewesen, in dafür vorgesehenen Feldern ausgefüllt zu werden. Objekt, las Aaron. Brandschutzverantwortlicher. Brandschutzinspektor. Nächster Feuermelder. Irgendwann einmal waren dort Namen zu lesen gewesen, aber die Eintragungen waren längst verblasst. Nur um welches Objekt es sich gehandelt hatte, war noch zu erkennen, denn das war aufgestempelt worden. VEB Kommunale Wohnungsverwaltung Pankow, stand in dem Feld, Abt. Materialwirtschaft. Lagerbereich II. Leitung. Aaron klopfte an die braune Tür. Als Beate Nowikowski zum zweiten Mal an der Gartenpforte der Familie Leichtner läutete, erschien der ältere der Söhne in der Haustür und sagte ihr, sie brauche bloß die Pforte von innen 123
aufzuklinken, diese sei nicht verschlossen. Beate tat wie ihr geheißen, David blieb mit verschränkten Armen in der Tür stehen. Es wirkte fast, als wolle er sie bewachen. »Ich war schon einmal hier«, sagte Beate Nowikowski, »vor einer knappen Stunde.« »Oh«, sagte David, »da war ich hinten beim Schuppen. Dort hört man die Klingel nicht.« »Und dein Vater?« »Der schläft.« Das traf nicht mehr zu. Michael Leichtner erschien hinter seinem Sohn in der Diele. Sein zerzaustes Haar und der verschlafene Gesichtsausdruck verrieten, dass er tatsächlich geruht hatte. Vom Schlaf erholt wirkte er nicht. Seine Augenringe waren noch dunkler und tiefer, der Teint hatte eine graue Farbe angenommen, von der sich die gerötete Nase so abhob, dass sie größer erschien, als Beate Nowikowski in Erinnerung hatte. Der Mann sprach kräftig dem Alkohol zu, das ließ sich nicht leugnen. Ob er in seinem Zustand überhaupt in der Lage war, seine Firma zu führen, konnte sie nicht beurteilen. »Was hast du denn beim Schuppen gemacht?«, wollte Beate Nowikowski von David wissen, obwohl sie das nichts anging »Mein Fahrrad repariert«, sagte David. Niemand bat Beate Nowikowski ins Haus. »Na, das muss man sicher ab und zu machen.« »Ja, muss man«, bestätigte David. Die Kommissarin lauschte nach einem Unterton, aber es gab keinen. Michael Leichtner packte seinen Sohn bei den Schultern und schob ihn sanft zur Seite. Beate Nowikowski betrat an David vorbei das Haus. Der Junge folgte ihr nicht, sondern ging seiner Wege. Michael Leichtner geleitete seine Besucherin in die Küche. »Der einzige aufgeräumte Raum«, entschuldigte er sich. Beate Nowikowski nahm am Küchentisch Platz, Michael Leichtner machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. 124
Durch das Fenster konnte die Kommissarin in den Garten sehen. Das Fahrrad, ein Mountainbike, lehnte am Schuppen, neben ihm war eine Zeitung ausgebreitet, auf der Zeitung lagen Werkzeuge. Ein paar Schritte von ihm entfernt waren zwei Beete frisch umgegraben worden. »Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«, erkundigte sich Leichtner. »Schwarz«, erwiderte Beate Nowikowski, ohne sich ablenken zu lassen. Jetzt war nämlich David in ihr Blickfeld getreten. Er kniete sich neben das Mountainbike, sammelte das Werkzeug ein und knüllte die Zeitung zusammen. Er verschwand kurzzeitig, kehrte mit leeren Händen zurück und setzte sich auf das Rad. David fuhr aber nicht, er richtete sich nur ein paar Mal im Sattel auf und ließ seinen Hintern wieder fallen. Mit der rechten Hand klopfte er auf den Lenker, er zurrte hier und da an Kabeln, stieg vom Rad herunter und schob es aus dem Sichtfeld. »Ist David gestürzt?«, fragte Beate Nowikowski. »Gestürzt?« »Mit seinem Fahrrad?« »Nicht dass ich wüsste.« Die Kaffeemaschine begann zu brodeln, Michael Leichtner stellte zwei Tassen auf den Tisch. »Er trainiert zwar wieder, aber er beherrscht sein Rad so gut, beim normalen Training stürzt er nicht.« Beate Nowikowski fragte nicht nach, was ein unnormales Training war, und sie verschwieg auch die Beobachtung des Ehepaars Gewinner, da sie nicht wusste, was sie zu bedeuten hatte. Vermutlich handelte es sich um einen Dummejungenstreich, der mit Angelikas Verschwinden nicht das Geringste zu tun hatte. »Ihre Frau ist gesehen worden«, sagte Beate Nowikowski unvermittelt. »Was?« Michael Leichtner, der gerade Kondensmilch aus dem Kühlschrank geholt hatte, blieb wie vom Donner gerührt stehen. Für Sekundenbruchteile verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen, dann wurden sie unnatürlich weit. Da die 125
großen Bäume im Garten nicht genug Licht durchließen, herrschte ein Halbdunkel in der Küche, Beate Nowikowski konnte sich also täuschen, aber ihr kam es vor, als sei der Mann noch blasser geworden. »Wo?« »In Freiburg.« Beate Nowikowski öffnete ihre Umhängetasche. »In …? Was sagen Sie?« Der Ausdruck von Zweifeln, ja Verwirrung in Leichtners Gesicht überraschte Beate Nowikowski nicht. Menschen, die eine ihnen nahe stehende Person vermissten, klammerten sich an jeden Hoffnungsschimmer, aber sie fürchteten zugleich, ihre Hoffnung könnte doch noch enttäuscht werden, und waren daher misstrauisch. »Es ist noch nicht sicher«, sagte sie, »und deshalb möchte ich Sie bitten, sich ein Bild anzuschauen. Das Foto stammt von der Kripo in Freiburg, die haben eine Frau aufgegriffen, die Angelika zumindest sehr ähnlich sieht.« Beate Nowikowski legte das Papierbild so auf den Tisch, dass Leichtner es ohne weiteres in Augenschein nehmen konnte. Er warf nicht einen Blick darauf, sondern trat ans Fenster, griff nach dem Knauf und brach in ein hysterisches Gelächter aus. Es war ein qualvolles Lachen, das den Körper des Mannes zusammenkrümmte, aber er konnte es offenbar nicht steuern, konnte nicht innehalten. Für dieses Lachen hatte Beate keine Erklärung. Der Mann war mit den Nerven fertig, es konnte eine Überreaktion sein, doch hatte er sich das Bild, den Auslöser dieser Überreaktion, nicht einmal angesehen. »Bitte, Herr Leichtner, beruhigen Sie sich«, bat die Kommissarin. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Seltsamerweise kam Leichtner ihrer Bitte sofort nach. Er starrte eine Zeit lang dumpf brütend aus dem Fenster, dann hob er die Hand, in der er noch immer den kleinen Karton mit der Kondensmilch hielt, und betrachtete ihn, als enthielte er wunder welche Preziosen. Plötzlich würgte ihn wieder das Lachen. 126
»Das ist nicht meine Frau«, keuchte er. Beate Nowikowski entgegnete nichts. Der Schicksalsschlag hatte Leichtner dermaßen mitgenommen, er war auf dem besten Wege, verrückt zu werden, oder er war es bereits geworden. »Nein, das ist nicht meine Frau«, wiederholte Leichtner und betrachtete immer noch die Kondensmilch. Plötzlich begann er, mit der flachen Hand über die glatte Oberfläche des Kartons zu reiben. Er rieb und rieb und rieb, während ihn ein lautloses Lachen schüttelte. »Vielleicht entweicht ein Geist?«, fragte er in Bezug auf den Milchkarton. Ein Geist entwich nicht. Es geschah überhaupt nichts. Nur das Reibegeräusch war zu hören – und Leichtners leises Keuchen. Beate Nowikowski hielt es für geraten, den Rückzug anzutreten. Im Garten würde sie mit dem Jungen sprechen und ihn veranlassen, nach einem Arzt zu rufen. Leichtner gehörte in die Psychiatrie. Das war traurig, aber bei der Kripo hatte man oft mit traurigen Schicksalen zu tun. Wenn man mit jedem leidenden Menschen mitlitt, war man selbst rasch reif für die Anstalt. Der Ruf nach dem Arzt war das Vernünftigste. Beate Nowikowski verabschiedete sich, hatte aber den Eindruck, dass der Mann am Fenster ihre Worte gar nicht wahrnahm. Doch unerwartet schnell sprang er los und stellte sich ihr in den Weg. Beate Nowikowski fuhr heftig zusammen. Leichtner war nicht nur ein Irrer, er war ein gefährlicher Irrer noch dazu. »Das ist nicht meine Frau«, sagte er zum dritten Mal. Er sagte es voll Hass, und der Gegenstand des Hasses schien Beate Nowikowski zu sein. Für das Verschwinden der Angelika Leichtner konnte man sie aber nun wirklich nicht verantwortlich machen. »Das ist nicht meine Frau, haben Sie gehört? Sie ist es nicht.« »Ich habe es verstanden«, entgegnete die Kommissarin so ruhig wie möglich. »Ich frage mich aber …« »Was fragen Sie sich?«, brüllte Leichtner los, aber er grinste gleichzeitig. Die Psychiatrie würde er wohl nicht so schnell 127
wieder verlassen können. »Sie haben schon genug gefragt. Fragen über Fragen über Fragen.« »Wie können Sie mit Bestimmtheit sagen, dass die Frau auf dem Foto nicht Angelika ist? Sie haben sich das Bild ja nicht angeschaut.« »Ich kann«, zischte Leichtner. »Ich kann alles. Ich habe Röntgenaugen. Ich kann sogar in die Erde sehen. Unter unseren Füßen befinden sich Friedhöfe. Leichen über Leichen.« Seine Stimmung schlug abermals um, und Tränen liefen über sein Gesicht. »Bitte, bringen Sie mich um. Legen Sie mich zu den Toten da unten. Oder vögeln Sie mit mir.« Beate Nowikowski wollte nicht, was sie tat, aber ihre Gefühle waren für ein paar Sekunden stärker als ihr Wille. Ziemlich hart schlug sie Leichtner ins Gesicht. Es war nur ein Schlag, aber aus seiner Nase schoss Blut. Beate war es egal. Noch vor kurzem hatte sie für den Mann, der jetzt wimmernd auf dem Boden hockte, Mitleid empfunden, nun verachtete sie ihn. Sie ging. Die Vermisstensache Angelika Leichtner war für sie erledigt. Sie würde das Verfahren vorläufig einstellen. Noch nie war sie von einem Mann in solch rüder Weise zum Sex aufgefordert worden. Er mochte ja verrückt sein, aber sie war nicht seine Therapeutin, und auf diese Art und Weise schon gar nicht. Draußen vor der Tür sang eine Nachtigall, draußen vor der Tür weinte ein Mensch. Die Nachtigall konnte Beate Nowikowski nicht sehen, der Mensch hieß David und hockte auf den Treppenstufen. Beate Nowikowski ging an ihm vorbei. Sie hatte beschlossen, alles, was mit der Tragödie der Leichtners zusammenhing, fortan zu ignorieren. Tahir war voll begeistert über Aarons Besuch, er konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen. Zuerst hatte er es gar nicht auf die Reihe bekommen, dass es Aaron war, der da frisch-fröhlich durch die Tür hereinkam. Tahir hatte oben auf einem der beiden 128
Doppelstockbetten gelegen, die man in dem Zimmer aufgestellt hatte, eins an die linke, eins an die rechte Wand. Gegenüber der Tür war das Fenster, vor ihm stand ein quadratischer Resopaltisch, umgeben von vier Stühlen mit Stahlrohrrahmen. Rechts neben der Tür gab es noch einen kastenförmigen Billigstkleiderschrank, links neben der Tür ein Waschbecken. Zwei ausgeschlachtete Schaltschränke an den Wänden kündeten noch von den Zeiten, als der Raum die Telefonzentrale gewesen war. An dem Tisch saß Tahirs Mutter und putzte Rote Rüben. Sie hatte eine alte ausländische Zeitung ausgebreitet, und um das sandige Äußere abzuschaben, benutzte sie ein Messer mit geriffelter Schneide. Aarons Mutter hatte für diese Tätigkeit, wenn sie denn überhaupt einmal Möhren zubereitet hatte, eine Maschine benutzt. Wer keine solche Maschine besaß, bekam zur Strafe rostrote Finger. Tahirs Vater war nicht in dem Raum, den Aaron sogleich Zelle taufte, und der kleine Bruder seines Schulkameraden hockte im Schneidersitz auf dem Bett unter Tahir und legte ein Puzzle. Alle trugen Freizeitanzüge und starrten ihn an. Sie waren überrascht, denn mit ihm hatten sie nicht gerechnet. Nach einer Weile sprang Tahir von seinem Bett. Er hatte weiße Tennissocken an den Füßen, die er in blaue Badelatschen schob. Für Aarons Geschmack sah das mehr als albern aus, aber man schien hier so rumzulaufen. »Aaron«, sagte Tahir. Seine großen braunen Augen leuchteten. »Mann, Aaron!« »Das ist aber nett von dir«, meinte die Mutter. Sie war aufgestanden und überlegte wohl einen Moment, ob sie Aaron die Hand geben sollte, ließ es dann aber wegen ihrer beschmutzten Finger bleiben. »Willst du mit uns essen?« »Ich hab schon«, log Aaron. Tahirs kleiner Bruder hatte sich wieder in das Puzzle vertieft. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Tahir. 129
»Ziehen wir ein bisschen rum?« Tahir nickte. Er klaubte ein Paar Turnschuhe unter dem Bett hervor, recht anständige Dinger von adidas, weiß mit drei blauen Streifen, aber vom Straßenschmutz gezeichnet. Kein normaler Junge pflegte seine Sneakers, oder nur, wenn sie nagelneu waren. Aaron tat es auch nicht, David ebenso wenig. Deswegen hatte Mama immer mal wieder Stress gemacht. Als sie den Gang entlanggingen, auf die doppelflügelige Papptür zu, durch die Aaron die Baracke auch betreten hatte, legte ihm Tahir einen Arm um die Schulter. Aaron entwand sich der freundschaftlichen Umarmung nicht, war sich aber nicht im Klaren, welche Gefühle sie in ihm auslöste. Sie war ihm weder angenehm noch lästig, aber gleichgültig war sie ihm ebenfalls nicht. »Bist du mit deinem Edelbike da?«, wollte Tahir wissen. Aaron schüttelte den Kopf. »Aber genau darum geht’s«, sagte er. Am Gartentor war Beate Nowikowski ihren Vorsätzen zum Trotz umgekehrt. Sie hatte nun einmal eine mitleidige Seele, gegen die sie machtlos war. »Ich habe meine Mama umgebracht«, sagte David zwischen einem Tränenausbruch und dem nächsten. Beate saß neben ihm auf der Treppe, zu einer äußerst unbequemen Sitzhaltung gezwungen. »Ich habe meine Mama umgebracht.« »Aber Junge, das ist doch Unsinn«, widersprach die Kommissarin. »Sie müssen es doch gesehen haben«, flüsterte David, »das ganze Haus ist voller Blut.« Blut hatte Beate Nowikowski im Haus tatsächlich gesehen, das Blut aus Michael Leichtners Nase. Nicht nur der Vater, auch der große Sohn war verrückt geworden. Es war überhaupt nicht auszuhalten. Beate Nowikowski wollte möglichst rasch zu ihrer
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Familie, von der sie zu wissen glaubte, dass sie noch nicht durchgedreht war. »Du meinst sicher, dass du deine Mama manchmal geärgert hast«, sagte sie sanft. »Nun hast du Angst, dass du sie damit in den Selbstmord getrieben hast. Aber wir haben keine Anhaltspunkte für einen Selbstmord. Außerdem gibt es in fast allen Familien Konflikte zwischen Söhnen, die erwachsen werden, und ihren Müttern. Keine Frau bringt sich deswegen um.« »Aber ich habe Mama umgebracht«, beharrte David und weinte noch immer. »Möglicherweise haben wir sie gefunden«, meinte die Kommissarin, wenn auch nicht mit großer Überzeugungskraft. »Was haben Sie?« Auf diese Eröffnung reagierte David mit demselben Unglauben, derselben Verwirrung wie sein Vater. Beate Nowikowski begann nun ihrerseits, an ihrem Verstand zu zweifeln. Die Hoffnung, die, wenn man das so sagen konnte, aus Freiburg gefaxt worden war, sie war zwar vage, aber niemand schien sich zu freuen. »Das Bild, es …« Beate Nowikowski fiel ein, dass sie es nicht wieder an sich genommen hatte nach der widersinnigen Attacke des Vaters. »Da liegt ein Bild in der Küche. Ein Bild von einer Frau, die man in Freiburg …«, Beate überlegte sich ein wertfreies Wort, aufgegriffen mochte sie nicht sagen, »… die man in Freiburg gefunden hat. Vielleicht ist das deine Mutter.« »Meine Mutter?«, fragte David, noch immer ungläubig. Dann sprang er auf und hetzte ins Haus. Beate Nowikowski erhob sich aus ihrer unkomfortablen Sitzposition, die ihr Rückenschmerzen verursachte. Als David, das Bild in der Hand, zurückkehrte, wurde sie abermals überrascht. »Ja, das ist Mama«, sagte der Junge. Und heulte wie ein Schlosshund.
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Aaron hatte kein bestimmtes Ziel, jedenfalls kein geografisches, und so stromerte er mit Tahir nur so durch die Gegend. Der Sklave zeigte ihm einige verfallende Werkhallen, die vollkommen ausgeräumt waren und in denen es nach Altöl und Lumpen roch. Die Industriebrache wurde von einem Wachmann gesichert, der die beiden Jungen jedoch anstandslos passieren und sich umschauen ließ. Die Halle, in die es Aaron zog, wurde durch halb blinde Oberlichter nur spärlich erleuchtet. Je tiefer man in sie vordrang, desto penetranter wurde der Ölgeruch, und obwohl der Boden aus Beton bestand, hatte Aaron den Eindruck, er wäre sumpfig; das Maschinenöl war über Jahre und Jahrzehnte tief in den Beton eingedrungen. Einst hatten hier Arbeiter an Drehbänken oder woran auch immer gestanden, und linker Hand, hinter einer zur Hälfte verglasten Trennwand, hatten die Meister und die sonstigen Chefs in ihren Büros händeringend um Material gebettelt. Das Glas in den Trennwänden war fast überall zerbrochen. Aaron winkte Tahir, ihm in einen der dahinter liegenden Verschläge zu folgen. Auch der Verschlag war leer bis auf mit Fett und Wasser durchtränkte Papiere, die den Boden bedeckten, als hätte jemand ernsthaft vor, den Raum zu malern. Die Fenster zum Hof waren von einer dichten Staubschicht bedeckt, allerdings noch intakt. Bei den Papieren handelte es sich um Bestellscheine, Materiallisten und Auftragsformulare, es waren auch ein paar technische Zeichnungen darunter, Blaupausen aus einer untergegangenen Epoche, und Geschäftsbriefe oder etwas in dieser Art. Manche der unwichtig gewordenen Dokumente trugen den Schriftzug ABB Aseri Brown Bovery, andere waren weitaus älter und wahrhaft historisch, sie stammten noch aus dem VEB Bergmann-Borsig. Aaron griff scheinbar unwillkürlich nach Tahirs Hand. Der Sklave zuckte zusammen. »Hast du Mut?«, fragte Aaron.
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»Mut? Klar.« Tahir schaute sich zur Halle um. »Ach, du meinst«, er zeigte auf eine frei stehende Treppe ohne Geländer, die zu einer rostigen Galerie hinaufführte, »du meinst, da hoch?« »Keine Kinderspiele.« Aaron entzog dem Jungen, der sich für seinen Freund hielt, die Hand. »Ich habe an etwas wirklich Gefährliches gedacht. Wo man vielleicht in den Knast kommt.« »Wir sind ja noch nicht strafmündig«, meinte Tahir. Vermutlich dachte er daran, dass Aaron bloß jemandem einen mittelschweren Streich spielen wollte. »Also, wie ist es?« »Ja, ich hab Mut. Was soll ich nun machen?« »Hast du es auch drauf, jemanden zu killen?« »Was?« Der Sklave schüttelte den Kopf. Das war aber keine Antwort, es brachte nur sein Erstaunen zum Ausdruck. »Ich muss mich an jemandem rächen«, erklärte Aaron und schaute Tahir fest in die Augen. Noch hielt dieser seinem Blick stand. »Und was willst du machen? Dem seinen Hund vergiften?« »Vielleicht.« »Nee, das mach ich nicht«, sagte Tahir entschieden. »Ich mag Hunde. Früher, zu Hause, hatten wir einen. War ein Deutscher Schäferhund.« »Ich meine einen Menschen«, sagte Aaron. »Einen Typen. Ich will einen Typen kaltmachen. Und du musst mir dabei helfen.« »Quatsch«, sagte Tahir heftig. Und schaute weg. »Du bist mein einziger Freund.« Aaron berührte Tahir an der Schulter. »Nur mit dir kann ich darüber sprechen. Du musst mir helfen, echt.« »Aber doch keinen Menschen«, protestierte der Sklave. »Komm.« Aaron wandte sich zum Gehen. »Ich erklär dir alles.« Dietrich Kölling hatte sich zu Bett begeben, um zu schlafen. 133
Millionen Menschen taten das Abend für Abend, Nacht für Nacht. Sie streckten sich aus, schlossen die Augen und verschwanden in der Welt der Träume. Dietrich Kölling hatte sogar ein Bier getrunken und war todmüde gewesen. Jetzt war er hellwach. Er lauschte. Vor dem Fenster seines Schlafgemachs führte eine Hauptverkehrsstraße vorbei, aber zu dieser Zeit, kurz nach ein Uhr, wurde sie nur noch selten benutzt. Weil sie selten benutzt wurde, verursachte jedes Fahrzeug das Geräusch einer startenden Rakete. Wenn er aus ihm unbekannten Gründen übermäßig geräuschempfindlich war, hatte Dietrich Kölling das Gefühl, auf einer Startrampe zu leben. In dieser Nacht war es wieder so weit. Er wechselte ständig die Seiten und versuchte sich einzubilden, dass er keine vorbeifahrenden Autos hörte, sondern das Meer. Das Meer hatte etwas Beruhigendes, vor allem wenn es auch noch regnete und stürmte. Dann war es besonders schön, im warmen Bett zu liegen. Doch die Vorstellung von Meer, Regen und Sturm beruhigte Dietrich Kölling nicht. Er wusste, dass er nicht einschlafen würde. Nach einer qualvollen Stunde stand er auf. Die Schlaflosigkeit war seit Wochen ein ständiger Begleiter. Nicht der Knabenzerstückler war es, der ihn nächtelang wach liegen und grübeln ließ. Er dachte natürlich hin und wieder an den Fall, den er nicht einfach in der Dienststelle zurücklassen konnte wie ein beliebiges Schriftstück, aber er grübelte nicht. Dass er nicht oder nur sehr schlecht schlief, musste andere Ursachen haben, vielleicht körperliche, aber daran mochte er nicht einmal denken. Dietrich Kölling hatte alles ausprobiert. Er hatte es mit Baldrian versucht und mit Melissebädern, er hatte heiße Milch mit Honig getrunken und sich zu Tode geekelt, er hatte wie Marlene Dietrich Leberwurststullen verschlungen und, auf dem Höhepunkt seiner Verzweiflung, Abendspaziergänge unternom134
men, obwohl er Spaziergänge hasste. Das Wort Schlaf war ein Fremdwort geblieben. Schließlich hatte er dann doch seinen Hausarzt, den weisen Sanitätsrat Doktor Kersten, aufgesucht. Der Doktor hatte ihn noch einmal nachdrücklich ermahnt, seine blutdrucksenkenden Medikamente einzunehmen, und ihm ein Schlafmittel verschrieben. Dieses Schlafmittel enthielt Barbiturate. Mit Barbituraten konnte man Menschen umbringen. Dietrich Kölling weigerte sich, derartige Medikamente einzunehmen. Wie ein alter Mann schleppte er sich ins Wohnzimmer und machte Licht. Von der Zeit, durch die sich kein normaler Mensch bis zum Erscheinen der nächsten Ausgabe hindurchbeißen konnte, hatte er noch das Feuilleton übrig. In der Hoffnung, es möge einschläfernd wirken, nahm er es sich vor. Der Hauptartikel oder wie immer man das in Fachkreisen nannte, widmete sich einem Roman, der angeblich das Lebensgefühl der Ostdeutschen auf den Punkt brachte. Dietrich Kölling las den ersten Absatz und legte die Zeitung sofort zur Seite. Dafür hatte er drei Gründe. Zum Ersten interessierte ihn das Lebensgefühl des Ostdeutschen nicht wirklich, zum Zweiten sah er überhaupt nicht ein, warum ein begabter Schriftsteller über den mathematisch seit langem bekannten Sachverhalt des Punktes fünfhundert Seiten fabrizierte, zum Dritten lehnte er es ab, Artikel zu lesen, in denen das Wort Identitätsverlust vorkam. Dietrich Kölling starrte zum Fenster. Er sah eine der Straßenlaternen vor dem Haus, die ein schmutziges gelbliches Licht verbreitete, und hörte ein Auto vorbeifahren. Seine Gedanken kreisten nun doch um den Mann, der kleinen Jungen auflauerte, um sie zu töten und zu tranchieren. Über dessen Identität machte sich Dietrich Kölling durchaus Gedanken, allerdings nicht in dem Sinne, wie der Artikelschreiber das Wort verwandt hatte. Dietrich Kölling würde bereits der Name des Mörders genügen, und seine Adresse als Sahnehäubchen würde er auch nicht zurückweisen. Das Innenleben des Täters war ihm 135
nicht so wichtig. Genauer gesagt, es interessierte ihn nicht im Geringsten. Vielleicht hatte auch er seine Identität irgendwo verloren? Dann, verdammt noch mal, sollte der ehrliche Finder sie aufheben und zu einem Fundbüro für verlorene Identitäten bringen. Jeder nach Serienmördern fahndende Kriminalist hatte mit der Muttermilch eingesogen, dass der Verlust an Identität eine neue Identität schuf. Der Serienkiller begann, aus seiner halb bewussten Identität eine voll bewusste zu machen, indem er serienmorden ging. So einfach war das. Dietrich Kölling sollte man als Autor für Die Zeit gewinnen. Ein kleines Zubrot konnte er immer gebrauchen. Was er mit dem Geld machen würde, wusste er nicht. Er hatte ein Sparbuch und Bundesschatzbriefe für die Altersversorgung, obwohl ihn ein gutes Ruhegeld erwartete. Dietrich Kölling trat an einen Schrank und nahm das Sparbuch heraus. Über viele, viele Jahre hatten sich dort mehr als hunderttausend Euro angesammelt, die er nie würde brauchen können und auf die kein Erbe spekulierte. Andere Menschen träumten davon, im Rentenalter ausgedehnte Reisen, sogar Weltreisen zu unternehmen. Dietrich Kölling war nicht reiselustig, er verbrachte seinen Urlaub entweder in Balkonien oder bei seiner Mutter. Vielleicht sollte er es in diesem Jahr anders halten, mit hunderttausend auf der hohen Kante und den knapp zehntausend auf dem Girokonto war er zu großen Sprüngen in der Lage. Seine letzte Ferienreise, sie lag wohl zehn Jahre zurück, hatte ihn an den Bodensee verschlagen. Nun war es an der Zeit, einmal ins Ausland zu fahren. Dietrich Kölling stellte im Kopf eine Liste aller Länder auf, in denen er sich während seines Lebens aufgehalten hatte. Die Liste war kurz. Er war in der Schweiz gewesen und in Dänemark, dabei hatte es sich allerdings um eine offizielle und eine inoffizielle Dienstreise gehandelt. Mit seiner Mutter hatte er, als er noch in Hannover lebte, Italien und Griechenland besucht. Nach seiner Flucht aus Hannover war er nie wieder 136
privat im Ausland gewesen. Die Schweiz, Dänemark, Italien, Griechenland, das war eine niederschmetternde Bilanz. Dietrich Kölling kehrte zu seinem Sessel zurück und schaute aus dem Fenster. Frankreich sollte sehr schön sein, die Côte d’Azur etwa, aber von seinem Schulfranzösisch waren höchstens die Grußformeln übrig. Und an den Teilungsartikel konnte er sich noch erinnern, weil der eine Besonderheit der französischen Sprache darstellte. Es mochte ein Vorurteil sein, aber Dietrich Kölling hatte gehört, dass die Franzosen sich weigerten, Englisch zu sprechen, und nur mit Englisch vermochte er sich leidlich zu verständigen. England wäre also ein gutes Pflaster für ihn, die Vereinigten Staaten, Kanada oder notfalls auch Skandinavien. Damals in Dänemark, auf der Suche nach einem Berufskiller, hatte er Englisch gesprochen. Geradebrecht, um ehrlich zu sein. Aber man hatte ihn verstanden. Dietrich Kölling erhob sich abermals und begann, nach seinem Schulatlas zu suchen. Schweden zum Beispiel, die Heimat seines literarischen Kollegen Martin Beck, das wäre doch etwas. Die Romane dieses Autorenpaares, dessen Namen er immer vergaß, kannte er zwar nicht, aber er hatte die Verfilmungen gesehen. Es waren ein Mann und eine Frau, der Mann war schon tot. Per, er hieß Per. Per Wahlöö. Mit zwei Ö. Sehr ungewöhnlich. Schwedisch eben. Der Vorname der Frau war ein Monatsname. Dietrich Kölling kramte in seinem Bücherregal von IKEA. Es war so instabil, oder er hatte sich beim Aufbau zu dumm angestellt, jedenfalls kippelte es trotz der vielen Bücher. Mai hieß sie. Aber mit J. Maj. Maj Sjöwall. Er hatte es. Lebte sie eigentlich noch? Er wusste es nicht. Er könnte im Internet nachgucken. Dietrich Kölling hatte sich lange gewehrt, aber nun hatte er auch zu Hause ein Modem. Er konnte E-Mails schreiben und E-Mails empfangen, aber er schrieb keine, und ihm schrieb nur die Werbewirtschaft. Dreimal täglich offerierten ihm die Volks- und Raiffeisenbanken 137
sensationelle Geldanlagen, obwohl er nicht einmal ein Konto bei ihnen unterhielt. Dietrich Kölling bevorzugte in Geldangelegenheiten das Solide, also wurde sein Girokonto bei der Deutschen Bank geführt. Während Dietrich Kölling seine Bücherregale durchstöberte, fragte er sich, ob die Mitarbeiter der Volks- und Raiffeisenbanken überhaupt wussten, dass es sich bei Raiffeisen um eine historische Persönlichkeit handelte. Er wusste es natürlich. Er wusste sogar, dass der Begriff Volksbanken von einem gewissen Hermann Schulze-Delitzsch eingeführt worden war, nach dem man hie und da Straßen und Plätze benannt hatte. Das war seine universelle Halbbildung, wie er es gegenüber seinen Mitarbeitern gern nannte. Er war eben ein Universalhalbgenie. Den Atlas fand er nicht. Nach Schweden würde er entweder fliegen müssen, oder er konnte eine Fähre benutzen. Dietrich Kölling flog nicht gern. Er hatte keine Flugangst, das nicht, aber er fand Fliegen langweilig. Fähren hingegen liebte er, vor allem den Blick über das weite, offene Meer. Das bedeutete natürlich nicht, dass er schon oft Fähren benutzt hatte. Dietrich Kölling traf rasch eine Entscheidung. Er würde in seinem diesjährigen Urlaub Berlin verlassen und verreisen. Nach Lindau am Bodensee. Zufrieden kehrte er ins Bett zurück. Kaum hatte er sich ausgestreckt, fühlte er sich hellwach. Dietrich Kölling öffnete die Schublade seines Nachttischs und nahm die unschuldig wirkende Packung mit dem Barbiturat heraus. Als Dietrich Kölling am nächsten Morgen voll Kaffeedurst, aber nicht voll Tatendrang sein Dienstzimmer betrat, hätte er am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Er fühlte sich wie gerädert. Nach langem Zögern hatte er gestern Nacht gleich zwei von den Pillen geschluckt. Der Schlaf hatte ihn getroffen 138
wie ein Hammerschlag. Aber er hatte nur drei Stunden gewährt. Aus seiner Absicht, den Fall des Knabenzerstücklers vom Schreibtisch aus zu klären und alle Außeneinsätze von seinen Mitarbeitern erledigen zu lassen, war nichts geworden. Um fünf am Morgen nämlich, er lag gerade in seinem traumlosen, todesähnlichen Barbituratschlaf, hatte sich das Telefon erdreistet, sein trostloses Privatleben zu stören. Der Kopf des Opfers Nummer vier war aufgetaucht. Aber damit nicht genug, wurde auch ein zehnjähriger blonder Junge aus der Schlossallee in Pankow vermisst. Der Diensthabende, der ihn geweckt hatte, musste ihm auch das brühwarm auftischen. Dietrich Kölling wusste, was das bedeutete: das Ende jeglichen Schlafs. Ausgerechnet mitten in der Nacht war der Kopf gefunden worden. Dietrich Kölling hatte sich nicht entziehen können, und so war er Viertel nach sechs neben der Kolonie Arkenberger Grund mit Schmerzen hinter den Schläfen über Bahngleise gestapft und hatte sich gefragt, warum nun auch der Wahnsinn aufgehört hatte, Methode zu haben. Der Kopf, der im wahrsten Sinne des Wortes ein Kindskopf war, lag in einem Böschungsgraben. Wie üblich hatte ihn der Killer in eine Plastiktüte verpackt und ihn dann die Böschung hinunterrollen lassen. Unter normalen Umständen hätte man ihn erst nach Wochen oder nie entdeckt. Die Umstände waren aber alles andere als normal. Auf das ekelhafte Beweisstück gestoßen war ein fünfzehnjähriger Junge, der die Nacht liebte und brauchte. Dieser Junge, das hatte Dietrich Kölling feststellen können, bevor er überhaupt ein Wort mit ihm gewechselt hatte, litt unter einer Perversion, für die der Kriminalist keinen Namen hatte, aber er brauchte auch keinen. Er hatte ihn nur im Licht der Strahler betrachten müssen, um sofort Bescheid zu wissen. Sein von Akne und einer hässlichen Brille entstelltes Gesicht sprach dafür, dass er nie ein Mädchen finden würde oder nur eines, dessen Gesicht von Akne und einer hässlichen Brille entstellt 139
wurde. Vermutlich brauchte er kein Mädchen. Er schielte fürchterlich, und er war ein Stotterer, wie Dietrich Kölling während des Versuchs feststellte, mit ihm zu sprechen. Das machte ihn zu einem bedauernswerten Individuum, aber noch bedauernswerter war die Art und Weise, wie er sich sexuell erregte. Nicht, dass er es Dietrich Kölling erklärt hätte, aber eine solche Erklärung war überflüssig. Seine El-el-eltern unterhielten in der Ko-ko-ko-kolonie A-a-a-arkenber-ber-berger Gru-grugrund eine Laubenlandparzelle, wo sie mit Beginn des Fr-frfrühlings nächtigten, mitsamt ihrem gestörten Sprössling. Der, aber das war bereits Dietrich Köllings Interpretation, schlich sich gern nachts aus der La-la-laube, um nur mit Turnhose und Turnhemd bekleidet durch das modrige Wasser von Böschungsgräben zu waten. Dabei war er, womöglich kurz vor dem Orgasmus, bedauerlicherweise gegen eine Plastiktüte mit unangenehmem Inhalt gestoßen. Der Junge, Rüdiger hieß er, verfügte zwar nicht über sonderlich viel Intelligenz, aber doch über die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen. Er hatte davon gehört, dass in Arkenberge Leichenteile herumgelegen hatten und die Kriminalpolizei ermittelte, also war er sich mit seiner Entdeckung furchtbar wichtig vorgekommen. Er hatte sich sogar selbst für einen Kriminalen gehalten, wie Dietrich Kölling bei der Erstbefragung herausfand, für Columbo. Aus diesem Grund war er auch nicht, wie es ein halbwegs verständiger Mensch getan hätte, erst einmal in die La-la-laube gelaufen, um sich anzukleiden, sondern er hatte halb nackt den weiten Weg um die Müllhalde herum zum Fernsprecher in Arkenberge auf sich genommen, um von dort die Po-po-po-polizei zu verständigen. Deswegen hatte er auch in seinem bemerkenswerten Aufzug auf dem Schotterbett der Gleisanlagen gestanden und war von einem Bein auf das andere getreten, weil er fror. Nicht nur Dietrich Kölling, auch der zuständige Oberkommissar von der Kripodienststelle Am Nordgraben und der Polizeiarzt hatten den 140
dunklen Fleck auf seiner Turnhose registriert. Rüdiger hatte tatsächlich einen Abgang gehabt. Es hatte nur eines Blickes bedurft, um den Polizeiarzt zu veranlassen, die Mannschaft des plötzlich nützlichen Krankenwagens dazu zu bewegen, Rüdiger an jenen Ort zu verfrachten, an den er gehörte. Im Gegenzug hatte Dietrich Kölling die undankbare Aufgabe übernommen, die laubenpiepernden Eltern zu verständigen. Eine halbe Stunde lang hatte er sich das Gekreisch von zwei arbeitslosen Menschen anhören müssen, die eigentlich ihren Rausch ausschlafen wollten. Vollends niedergeschmettert hatte ihn die Nachricht, dass Rüdiger bei einem von der Straßenverkehrsordnung vorgeschriebenen Halt aus dem Sanitätswagen getürmt war. Auf dem Weg in die Keithstraße war sich Dietrich Kölling vorgekommen wie ein Auto, das mindestens zweihunderttausend Kilometer auf dem Tacho hatte. Sein auf primitivste Weise wie die Verwaltung eines Obdachlosenasyls ausgestattetes Dienstzimmer war ihm wie der Inbegriff des Paradieses erschienen, und nun wurde dieses Paradies von zwei Frauen besudelt. Eine von ihnen, die Oberkommissarin Blissow, hatte ein Anrecht, sich hier ab und zu in die lädierten Schreibtischsessel zu fläzen. Die zweite, Beate Nowikowski, hätte Dietrich Kölling lieber in einem Böschungsgraben gesehen. »Ich habe keine Zeit«, polterte er los. »So ist er immer«, sagte die Blissow zu ihrer Busenfreundin von der Vermisstenstelle und zündete sich eine Zigarette an. Dietrich Kölling blieb nur übrig, sich auf den Besucherstuhl zu setzen. Das stellte eine Erniedrigung dar, die er der Blissow nie verzeihen würde. Er sehnte sich nach männlichem Beistand, aber Becker, den er vor einer halben Stunde geweckt hatte, befand sich auf dem Weg zu dem Neubau am Tempelhofer Damm, in dem die Fahndungsabteilung untergebracht war. Dieser Neubau war eine außerordentlich kuriose Angelegenheit. 141
Nach einer Strukturreform hatte man aus den Dienstzweigen der Berliner Kriminalpolizei ein Landeskriminalamt gebastelt, was zwar sehr bedeutend klang, und jeder Fahnder, der einen Fahrraddiebstahl nicht aufklärte, konnte sich überall als Mitarbeiter des LKA vorstellen. Doch die offensichtlich vom untergegangenen SED-Staat geklaute Idee, die Berliner Polizei zu zentralisieren, war, ebenso wie der SED-Staat, an der spießigen Kleinheit der Vision gescheitert. Der Neubau sollte die wichtigsten Abteilungen der Kripo unter einem Dach vereinen, doch es schaute so aus, als ob die Mordkommissionen nicht so wichtig waren, denn sie saßen immer noch in dem zwar schönen, aber maroden Gebäude in der Keithstraße. Strukturreformen gingen immer schief. »Wir müssen reden«, sagte Beate Nowikowski. Das war ein gigantischer Irrtum. »Worüber?« »Über den Fall Angelika Leichtner. Es gibt neue Entwicklungen.« Neue Entwicklungen gab es also. Dietrich Kölling nickte angestrengt. Um einen Leichenfund konnte es sich nicht handeln, davon hätte er längst erfahren. »Also?«, stellte er eine im Grunde genommen nicht beantwortbare Frage. »Vor ein paar Tagen wurde in Freiburg eine Frau aufgegriffen, die Angelika Leichtner aufs Haar ähnelte. Sie sprach Berliner Dialekt. Man hat auch festgestellt, dass sie mit dem ICE aus Berlin angekommen war, was natürlich nichts bedeutet. Sie hätte auch irgendwo bei einem fahrplanmäßigen Unterwegshalt zusteigen können, aber es sah erst einmal so aus, als hätten wir sie.« »Sie war es aber nicht«, sagte Dietrich Kölling, dem die langatmige Erklärung auf den Geist ging. »Nein. Die Kripo Freiburg hat sie mittlerweile identifiziert. Sie heißt Ruth Eboleit, stammt aus Brandenburg an der Havel und ist eine Berberin. Berber, das sind Obdachlose, die aber mit 142
Bahncard reisen und auf das Sozialamt gehen. Nobelpenner, wenn ich das so sagen darf.« »Dürfen Sie, dürfen Sie«, erlaubte Dietrich Kölling, nicht weil er generös war, sondern weil er das Ende der Story herbeisehnte. Er hatte einen Knabenkiller zu fassen, keine entlaufene Mutter. »Das Komische ist …« »Oh, wir dürfen sogar lachen?« Dietrich Kölling konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen. Er erntete zwei böse Blicke, aber sie versteinerten ihn nicht. »Meinetwegen.« Beate Nowikowski winkte ab. »Also, das Seltsame, das Merkwürdige, wie immer Sie wollen, besteht in Folgendem: Freiburg hat mir per E-Mail ein Foto der Aufgegriffenen übermittelt, als wir noch nicht wussten, dass es sich um Ruth Eboleit handelt. Ich habe das Foto dem Gatten vorgelegt, Michael Leichtner, und dem Sohn, David. Und nun kommt’s.« Ausgeschlossen, dachte Dietrich Kölling und biss sich auf die Lippen. Dem Vorwort folgt höchstens die Einleitung. »Ohne es sich auch nur einmal anzuschauen, hat Michael Leichtner strikt erklärt, auf dem Bild sei nicht seine Frau zu sehen. Der Sohn hingegen hat seine Mutter auf Anhieb identifiziert.« »Ja, und?« »Da stimmt doch was nicht.« Beate Nowikowski war von ihrer fixen Idee noch immer nicht kuriert. »Ich halte das für völlig normal. Denken Sie doch an diesen Jungen, der seit Jahren verschwunden ist. Angeblich hat ihn die Pornomafia entführt. Sie wissen, wen ich meine? Auf jedem dritten Pornofilm, den man ihr vorlegt, erkennt die Mutter ihren Sohn. Das ist ein Stresssymptom.« »Sie haben schon anders darüber geredet«, mischte sich die Blissow ein. »So, hab ich das?« Dietrich Kölling zuckte die Schultern, stand auf und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. 143
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er, obwohl er sich genau erinnerte. »Sie haben gesagt …«, begann die Blissow. »Man redet viel, wenn der Tag lang ist.« »Sie haben gesagt«, die Oberkommissarin ließ sich nicht beirren, »dass diese Identifizierungswut der Mutter dafür spricht, sie könne etwas mit dem plötzlichen Verschwinden ihres Sohnes zu tun haben. Sie haben sogar noch mehr gesagt.« »Ja, verdammt.« Dietrich Kölling war diese Wendung des Gesprächs äußerst peinlich. Die Blissow war unbarmherzig. »Sie haben gesagt, wenn Sie die Frau achtundvierzig Stunden verhören dürften, dann würden Sie eine Leiche ans Tageslicht fördern.«
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Sechstes Kapitel Aaron gähnte. Er hatte noch mindestens eine Stunde Zeit, bevor er zur Schule aufbrechen musste, aber er war schon wach. Eigentlich hätte er in der ersten Stunde Deutsch gehabt, aber Frau Ernst, seine Deutschlehrerin und Klassenleiterin, war wieder einmal krank. Die Pauker haben doch keine Ideale mehr, sagte Papa oft. Neben den Bürokraten und Politikern hasste er die Lehrer am meisten. Und sie haben nur eine Vision, nämlich die Frühpensionierung, behauptete er gern. Für Frau Ernst traf das garantiert zu. Angeblich hatte sie eine Herzkrankheit. Aaron war sicher, dass sie was am Kopf hatte. Sie war einfach blöd. Seine Aufsätze wurden zwar immer mit Einsen belohnt, aber das war kein Grund, sie nicht zu verachten. Wer um alles in der Welt war denn Frau Ernst? Eine hässliche Kuh, die niemand fickte. So war es doch. Aaron tappte ins Wohnzimmer. Es stank nach Zigarettenrauch und Wodka. Wieder einmal hatte Papa bis tief in die Nacht gesoffen. Nun war er in der Firma, ganz bestimmt mit einem gewaltigen Kater. Und David war schon in seiner Penne. Aaron öffnete die Terrassentür. Eine Elster flog auf, weil er sie erschreckt hatte. Ausgerechnet auf dem umgegrabenen Beet ließ sie sich erneut nieder. Aaron schaute schnell weg. Dort lag Mama. Er drehte sich um. Noch eine Stunde blieb ihm, um zu machen, was er wollte. Er konnte sich der Black Lady widmen, aber er hatte keine Lust. Aaron setzte sich auf die Couch und legte seine Füße auf den Tisch. Er betrachtete seine Zehennägel und stellte fest, dass er sie mal wieder schneiden müsste. Sie sahen aus wie Krallen. Das gefiel ihm. Er war ein Raubvogel. Raubvögel schlugen Wild. Und wen würde er schlagen? Tahir vielleicht. Der Gedanke an Tahir löste in ihm seltsame Gefühle aus. In 145
seiner Brust wurde es plötzlich ganz warm. Mochte er den Sklaven etwa? Nein, er mochte niemanden. Er hatte es nicht nötig, jemanden zu mögen. Und doch freute er sich darauf, dem Sklaven in etwa einer Stunde auf dem Schulhof zu begegnen. Tahir hatte große braune Augen und einen leichten Oberlippenflaum. Dieser Flaum machte ihn ganz verrückt. Mit einer abrupten Bewegung zog Aaron die Füße vom Tisch. Tahir war sein Werkzeug, er war nicht wert, dass er Gedanken oder gar Gefühle an ihn verschwendete. Sprechende Werkzeuge hatte man in der Antike die Sklaven genannt, wie er aus dem Geschichtsunterricht wusste. Mehr war auch Tahir nicht. Mehr durfte er nicht sein. Tahir war ein sprechendes Werkzeug mit großen braunen Augen und einem Oberlippenflaum. Seine Aufsätze belohnte Frau Ernst auch immer mit einer Eins, obwohl er doch gar nicht richtig Deutsch konnte; jedenfalls nicht so gut wie Aaron. Aarons Blick fiel auf einen Stapel Zeitungen. Seine Eltern hatten die Berliner Zeitung abonniert, aber seit Tagen holte sein Vater sie nur aus dem Briefkasten und warf sie ungelesen auf den Boden. Aaron streckte sich aus und nahm die oberste Zeitung vom Stapel. Sie trug das Datum des heutigen Tages. Auf der ersten Seite ging es vor allem um Politik. Aaron las nur die Überschriften. Die Regierung wollte etwas abschaffen. Die Europäische Union wollte etwas einführen. Der japanische Ministerpräsident kündigte eine Reform an. In Bagdad hatte es ein Selbstmordattentat mit fünfzehn Toten gegeben. Ein Pariser Polizist hatte in einem Vorort namens Vitry-sur-Seine einen maghrebinischen Jugendlichen erschossen. Und die Feinunze Gold war einen Dollar drei Cent teurer geworden. Zeitungen waren langweilig. Das Einzige, was Aaron interessierte, war der erschossene maghrebinische Jugendliche. Aaron drehte das Blatt um. Von der oberen linken Spalte der Rückseite lächelte ihn ein blonder Junge an. Er hatte eine Zahnlücke und trug ein T-Shirt, 146
das nach Grabbeltisch aussah. Aaron starrte das Foto an. Den Jungen hatte er schon mal gesehen. Er hatte auf der Brücke über die Panke gestanden, an jenem Tag, als Aaron zu Der Teich unterwegs gewesen war. Dies war auch der Tag gewesen, als Titus ihn verprügelt und ihm das Scott abgezogen hatte, ein Tag, den er nicht so rasch vergessen würde. Und an diesem Tag hatte er den Blondschopf mit der Zahnlücke gesehen. Er war nicht allein gewesen. Ein Mann hatte mit ihm gesprochen. Aarons Hände flatterten vor Aufregung, kaum konnte er die Zeitung halten. Der blonde Junge war verschwunden, und die Polizei suchte ihn. Aaron überflog den Text. Mit Vermisstensachen kannte er sich ja aus, seitdem diese Bulette namens Nowikowski ihnen die Bude einrannte. Die Polizei bat um Hinweise aus der Bevölkerung. Und ganz unten waren zwei Telefonnummern angegeben, nach der Aufforderung Wer Hinweise geben kann, wende sich bitte unter folgenden Rufnummern an die Zweite Mordkommission. Die Zweite Mordkommission: Das bedeutete, dass die Kripo davon ausging, der Junge könne diesem Knabenkiller zum Opfer gefallen sein. Und Aaron hatte einen Mann gesehen, der mit dem Jungen kurz vor dessen Verschwinden gesprochen hatte. Auf der kleinen Brücke über die Panke. Aaron versuchte, sich an das Gesicht des Mannes mit dem alten Damenfahrrad zu erinnern. Es war kein besonderes Gesicht gewesen, eher ein Allerweltsgesicht, das man sofort wieder vergaß. Nicht einmal das Alter des Mannes konnte er einschätzen. Er hatte nicht darauf geachtet, als er auf dem Scott an der Brücke vorbeigejagt war, schließlich hatte er nicht wissen können, dass diese kurze Begegnung eine große Bedeutung erlangen würde. Vielleicht hatte er den Mörder gesehen. Aarons Herz pochte heftig. Das wäre echter Wahnsinn: einem Killer zu begegnen, ohne zu wissen, dass er einer ist.
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Aaron liebte Science-Fiction, aber manchmal schaute er sich auch Thriller im Fernsehen an. In manchen dieser Filme kehrte der Mörder an den Tatort zurück. Gerade Serienkiller taten es, glaubte sich Aaron zu erinnern. Und der Typ, nach dem die Bullen suchten, war ein Serienkiller. Vielleicht waren die Ufer der Panke sein Revier? Aaron beugte sich vor zu dem Stapel ungelesener Zeitungen. Heute würde er nicht zur Schule gehen. Er hatte noch nie geschwänzt. Heute war das erste Mal. Dietrich Kölling machte sich Sorgen. Er hatte sich zwar nun einen Internetanschluss angeschafft, aber ein eigenes Auto besaß er noch immer nicht. Wozu auch? Er verreiste fast nie. Nur ab und zu besuchte er seine hochbetagte Mutter in Hannover. Um nach Hannover zu gelangen, konnte er den ICE benutzen. Das war recht bequem, und im Zug konnte man lesen, aus dem Fenster schauen oder schlafen – wenn man es denn konnte. Ein Auto brauchte er nicht. In Berlin griff er auf den ÖPNV zurück, auf den Öffentlichen Personennahverkehr. Der war, ebenso wie die Bahn, immer teurer geworden, aber daran hatte sich Dietrich Kölling gewöhnt. So war Deutschland nun einmal: Man bekam für immer mehr Geld immer schlechtere Leistungen. Die so genannte deutsche Wertarbeit war längst perdu. Schwatzende Pfuscher hatten das Land übernommen, Männer und Frauen ohne Eigenschaften und ohne Talente. Dietrich Kölling wählte sie. Seit Jahren schon entschied er sich immer für die Partei seines Polizeipräsidenten. Das tat er nicht, weil er ein Anpasser war – er war schon Polizeipräsidenten über den Mund gefahren –, sondern aus Bequemlichkeit. Fast fünfunddreißig Jahre arbeitete er bei der Kriminalpolizei. Er hatte Polizeipräsidenten mit allen möglichen Parteibüchern kommen und gehen sehen, doch er selbst war geblieben. Mittlerweile leitete er seit mehr als zehn Jahren eine Mordkommission. Aufsteigen würde er nicht
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mehr. Und das wollte er auch nicht. Man würde ihn als Kriminalrat in Pension schicken, und damit war er zufrieden. Der seiner Wohnung in der Straße Unter den Eichen am nächsten gelegene S-Bahnhof hieß Lichterfelde West. Dietrich Kölling war auf Pendelverkehr eingestellt, denn irgendwo wurde mal wieder gebaut. Gebaut wurde seit Jahren, aber nichts wurde besser. Natürlich nicht. Mein Gott, dachte Dietrich Kölling, als er in die AdolfMartens-Straße einbog, nächstes Jahr habe ich tatsächlich mein fünfunddreißigstes Dienstjubiläum. Dann werden alle gratulieren kommen wollen: der Chef von Delikte am Menschen, der PP und der Personalrat. Und die Blissow, denn die war ja im Bund Deutscher Kriminalbeamter. Aber das würde er nicht zulassen. Er würde Urlaub nehmen und nach Hannover fahren, wenn seine Mutter dann überhaupt noch lebte. Sie war dreiundneunzig, aber immer noch rüstig. Sie überlebt uns alle, dachte Dietrich Kölling, als er die Stufen zum S-Bahnhof erklomm. Wie jeden Morgen geriet er dabei außer Atem. Kein Wunder, schließlich war er Hypertoniker. Dietrich Kölling nahm die Zigarettenschachtel aus der Manteltasche, klemmte sich eine Kippe zwischen die Lippen und zündete sie an. »Hier ist Rauchen verboten«, sagte prompt ein junger Mann. Er war Anfang zwanzig, groß und hager, er trug Jeans, Turnschuhe und eine rote Trainingsjacke des SV Lichterfelde, und er spielte sich als Hilfspolizist auf. Vermutlich weil er normalerweise nicht ernst genommen wurde. Solche Leute konnte Dietrich Kölling auf den Tod nicht ausstehen. »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, herrschte er ihn an. »Machen Sie die Zigarette aus!« Der junge Mann baute sich vor ihm auf und bemühte sich um einen bösen Blick. Das war ganz und gar lächerlich. »Oder du kriegst aufs Maul.« »Das will ich sehen.« Dietrich Kölling blies dem jungen Mann Rauch ins Gesicht. Er war nicht bewaffnet, aber er traute sich 149
dennoch zu, den Aufschneider aufs Kreuz zu legen. Ein mittelschwerer Schlag auf den Solarplexus würde genügen. Die S-Bahn fuhr ein. Dietrich Kölling starrte dem jungen Mann in die Augen. Das konnte er nicht ertragen. Natürlich nicht; selbst beim Sex, wenn er denn welchen hatte, durften Frauen ihm nicht ins Gesicht sehen. Dietrich Kölling kannte diese Typen. Sie langweilten ihn. »Ich rufe die Polizei«, sagte der junge Mann. »Bitte.« Dietrich Kölling schob ihn zur Seite. »Die hat ja nichts Besseres zu tun.« Der junge Mann ging ein paar Schritte weiter und schimpfte vor sich hin. Er war angetrunken, das hatte Dietrich Kölling gerochen. Morgens um sieben Uhr dreißig hatte er noch oder schon wieder Alkohol im Blut. Dietrich Kölling stieg in die Bahn. Sie war sehr voll. Er zwängte sich zwischen die Leiber. Ausgerechnet neben einem Mann, der nach Knoblauch stank, fand er einen Stehplatz. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit, sich irgendwo festzuhalten. Aber das war auch nicht nötig; wenn er fiel, so fiel er weich. Vielleicht sollte er sich doch ein Auto kaufen. Dann würde er jeden Morgen im Stau stehen, aber er würde nur sich selbst riechen müssen. Doch ein Autokauf war eine komplizierte Sache. Man musste sich für ein Modell entscheiden, und in seinem Privatleben war Dietrich Kölling alles andere als entscheidungsfroh. Welcher Typ passte zu ihm? Ein Mercedes? Die S-Bahn ruckte so heftig an, dass Dietrich Kölling beinahe den Knoblauchfresser touchiert hätte. Touchiert gehörte zu seinen Lieblingswörtern, denn es klang vornehm. Vermutlich bekämpfte der Mann neben ihm seine Fahne, und auch der SBahn-Fahrer schien besoffen zu sein. Schicksalsergeben zuckte Dietrich Kölling mit den Schultern und lächelte den Knoblauchfresser an. Der murmelte nur vor sich hin.
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Aaron hatte das Scott aus der Garage geholt. Am Vormittag stand es ihm zur Verfügung, aber vielleicht würde er es auch am Nachmittag noch brauchen. Das würde Ärger mit David geben, denn der wollte nachmittags eigentlich trainieren. Aber der Bruder war fit genug, er konnte ruhig mal einen Tag aussetzen. Aaron befand sich auf der Spur des Bösen. So hatte er es selbst genannt: die Spur des Bösen. The trail of evil. Mit besten Grüßen an Herrn Guhl. Repeat-after-me würde heute auf die Anwesenheit von Aaron verzichten müssen. Aaron war krank. Er hatte Grippe. Und das Entschuldigungsschreiben von Papa würde er fälschen. Feixend jagte Aaron am Nordgraben entlang. Zuerst hatte er die alten Zeitungen durchgeblättert auf der Suche nach Artikeln über den Knabenmörder. In jeder Ausgabe gab es einen, zuerst auf den Brandenburg-, dann auf den BerlinSeiten. Der Killer kam näher. Er näherte sich Aaron, der ihn gern kennen lernen würde. Dann würde er dem Bösen ins Auge schauen können. Aber so richtig böse und gefährlich hatte der Mann mit dem Damenfahrrad gar nicht ausgesehen. Eher hatte er die Visage eines Prolls gehabt, soweit sich Aaron überhaupt erinnern konnte. Es ärgerte ihn, dass er nicht besser auf das Gesicht geachtet hatte. Und wenn der Mann gar nicht der Killer gewesen war? Vielleicht hatte er sich ja wirklich nur nach dem Weg erkundigt oder etwas anderes wissen wollen. Daran mochte Aaron nicht denken. Die Begegnung zwischen dem verschwundenen Jungen und dem Mann mit dem Damenfahrrad durfte kein Zufall gewesen sein. Sie hatte etwas zu bedeuten. Der Mörder hatte mit seinem Opfer gesprochen. Er hatte es zu etwas überredet, es entführt, es getötet und wer weiß was sonst noch mit ihm angestellt. Nur so konnte es gewesen sein. Aaron wollte es so. Er wollte das Böse sehen. Er wollte ihm ins Gesicht und in die Augen schauen. Das war bestimmt wie der Sex, den er noch 151
nicht gehabt hatte. Übermorgen würde Aaron vierzehn werden. Es war an der Zeit, Sex zu haben. Und am besten natürlich mit dem Bösen. Mit etwas Überlebensgroßem und Schwarzem und Brutalem und Gemeinem, das ihn in den Schmutz warf und dann nahm. Das ihn fertig machte. Das ihn auslöschte. Hoffentlich ging das nicht zu schnell. Ja, Dietrich Kölling machte sich Sorgen. Seine Mitarbeiter wussten nichts davon, denn er zeigte es nicht, aber der kleine Junge, der aus der Schlossallee in Pankow verschwunden war, beschäftigte ihn. Man musste das Schlimmste fürchten. Der Serienmörder stieß von Norden kommend immer weiter nach Berlin vor. Irgendwann würde er nach dem Herz der Hauptstadt greifen, wo immer es sich befand. Hatte Berlin überhaupt ein Herz, und wenn es nur ein Herz mit Schnauze war? Dietrich Kölling bezweifelte es. Aber sollte es eins haben, würde es auf dem Tisch der Rechtsmediziner gewiss nach Alkohol und Knoblauch stinken. Berlin war eine Proletenstadt. Dietrich Kölling hasste sie. Er hatte sich mit den Eltern des verschwundenen Knaben unterhalten. Wie die meisten Gespräche, die er außerhalb der Dienststelle führte, war die Unterhaltung sehr deprimierend gewesen. Die Eltern wussten überhaupt nichts von ihrem Sohn. Sie kannten die Freunde ihres Kindes nicht und wussten nicht einmal, wo er spielte. Aber die Mutter hatte wenigstens geweint. Dietrich Kölling konnte Tränen nicht leiden. Mit weinenden Frauen konnte er nicht umgehen, also hatte er die Bibliothek der Familie Weihe studiert. Lange hatte er sich damit nicht aufhalten können, denn sie bestand aus zwei Büchern: einem italienischen Kochbuch und einem Kneipenführer von Mallorca. Im Zimmer des Jungen hatte es nur die Schulbücher gegeben. Als er es inspizierte, hatte Dietrich Kölling die Trostlosigkeit des Lebens von ungebildeten Menschen gespürt. Diese Eltern hatten ihrem Kind nie beim Einschlafen etwas vorgelesen. Wenn 152
es ins Bett musste, wurde es hineingeschickt. Und trotzdem liebten sie es, auf ihre Art. Die Mutter hatte geweint. Der Vater hatte Bier getrunken und seinen Kummer hinuntergeschluckt. Mehr Liebesbeweise brauchte Dietrich Kölling nicht. Wenn noch ein Kind verschwand, würde er Becker zu den Eltern schicken. Er hatte sich geschworen, diesen Fall vom Schreibtisch aus zu lösen, obwohl ihm als Hypertoniker Bewegung gut tat. Der Schreibtisch bot ihm eine gewisse Sicherheit, und die Tat- und Fundorte wurden für gewöhnlich so gut dokumentiert, dass sie in Gestalt der Lichtbildmappe und eines Tat- oder Fundortprotokolls in sein Büro kamen. Warum sich also bewegen? Die meisten Bewegungen fanden routinemäßig statt, auch ohne ihn. Seine Mitarbeiter und die Polizeitechniker wussten im Schlaf, was sie zu tun hatten. Schlaf, dachte Dietrich Kölling, was ist das? Er war der festen Überzeugung, dass der blonde Junge tot war. Irgendwann würden seine Gliedmaßen, sein Torso und sein Kopf auftauchen, verstreut über ein großes Territorium. Und irgendwann würde Dietrich Kölling oder eine der Mordkommissionen aus Potsdam und Frankfurt den Täter zur Strecke bringen. Es war nur eine Frage der Zeit. Und neuer Opfer. So schrecklich es der Öffentlichkeit auch erscheinen mochte, mit jedem Opfer wuchs die Chance, den Mörder zu fassen, denn je länger die Fahndung währte, desto unangreifbarer würde er sich fühlen. Er würde Fehler machen und Spuren hinterlassen. Vielleicht würde er sogar ein demonstratives Zeichen setzen. Oder er würde beginnen, die Hinweisnummern der Polizei anzurufen und sich durch die Blume nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Aber natürlich wünschte sich niemand weitere Opfer, auch wenn es aus Ermittlungsgründen wünschenswert erschien. Dietrich Kölling wusste, dass man ihn im Referat Delikte am Menschen für einen Zyniker hielt. Vielleicht war er sogar einer, 153
und wenn ja, war er nicht der einzige. Aber so zynisch war er nicht. Es stimmte schon, was manche seiner Kollegen in diesen Fernsehsendungen sagten, in denen ungeklärte Mordfälle nachgestellt wurden: Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel. Die S-Bahn fuhr in den Bahnhof Botanischer Garten ein. Aaron wartete an der kleinen Brücke über die Panke. Er wartete schon seit fast einer Stunde, aber nicht einmal ein Spaziergänger war vorbeigekommen. Einmal war Aaron die Böschung hinabgeklettert und hatte unter der Brücke eine Vertiefung entdeckt, fast wie eine Höhle, in der man sich verkriechen konnte. Verkriechen wollte er sich natürlich nicht. Von dort unten konnte man niemanden sehen. Schließlich hatte er sich damit die Zeit vertrieben, Steine und Äste ins Wasser zu werfen und den Ästen dabei zuzusehen, wie sie langsam das Flüsschen hinabtrieben. Wie ein blödes Kind spielte er, weil nichts geschah. Aber kamen Mörder nicht immer an die Orte zurück, an denen sie ein Verbrechen begangen hatten? Aaron schaute sich um. Hier hatte der Mann den blonden Jungen bestimmt nicht getötet, denn die Gefahr, dabei entdeckt zu werden, war viel zu groß. Es musste an einer anderen, versteckteren Stelle gewesen sein. Aaron schwang sich auf das Scott und radelte am Ufer auf und ab. Dabei versuchte er immer wieder, sich den Mann vorzustellen. Er hatte eine Arbeitsjacke getragen, so ein wattiertes Ding. Schwarz war sie gewesen, aber ganz sicher war sich Aaron schon nicht mehr; Arbeitsjacken waren doch für gewöhnlich blau. Und er hatte einen Rucksack bei sich gehabt, so wie manche Angler. Doch auch das konnte Aaron nicht beschwören. Angelzeug hatte der Mann jedenfalls nicht dabeigehabt. Aaron befand sich auf der Höhe von Der Teich. Er vernahm ein Geräusch, das wie das Klappern eines schlecht befestigten Schutzblechs klang, und sein Herz machte einen Sprung. Sofort 154
verringerte er die Geschwindigkeit und drehte sich um. Er hatte sich nicht getäuscht, es war das Klappern eines Schutzblechs. Die Person, die sich ihm näherte, benutzte ein Damenfahrrad aus der Steinzeit. Aber es war eine Frau, was bei einem Weiberrad eigentlich auch nicht verwunderte. Sie war mindestens so alt wie Aarons Großmutter und würdigte ihn keines Blickes, als sie an ihm vorbeifuhr. Aaron kehrte zu der Brücke zurück. Irgendwie war es ziemlich sinnlos, was er hier trieb. Wo immer das Böse gerade unterwegs war, hier würde es wohl nicht so schnell wieder auftauchen. Dann sah er ihn. Der Mann kam aus nördlicher Richtung, und diesmal ging er zu Fuß. Die Arbeitsjacke war blau. Ein Ärmelschoner aus dem Dezernat Präsidiale Angelegenheiten hätte von Regulierungsbedarf gesprochen. Dietrich Kölling hasste das Wort wie die Pest, und nicht nur dieses: Die ganze Behördensprache bestand aus hassenswerten Begriffen. Trotzdem benutzte er einige von ihnen, weil er dann sicher sein konnte, dass man ihn in allen Behörden verstand. Die Empfindsamkeit in Bezug auf Formulierungen verdankte er seiner Mutter, die Deutschlehrerin gewesen war und den Schuldienst immerhin als Oberstudienrätin verlassen hatte. Das Wort Regulierungsbedarf kam in Dietrich Köllings Sprachschatz nicht vor. Was ihn bewegte, konnte er auf eine Art und Weise aussprechen, die unmissverständlich war. »Der Kaffee ist alle«, bemerkte er. Warum das so war, lag auf der Hand. In seinem Kommissariat waren alle grundsätzlichen Zuständigkeiten geregelt, aber was den Kaffee betraf, gab es keine eindeutige Verabredung. Bisher war es so gewesen, dass derjenige, der zuerst feststellte, dass der Kaffee zur Neige ging, Geld aus der Kaffeekasse nahm und ein neues Päckchen erwarb, außer Dietrich Kölling selbst. Er war daran gewöhnt, dass immer Kaffeepulver vorhanden war, ganz gleich, ob das durch ein Wunder bewirkt wurde oder durch die 155
Eigeninitiative eines Mitarbeiters. Versorgungskrisen hatte es immer wieder gegeben, wenn auch selten. In Krisenzeiten, das blökte mittlerweile der hinterletzte Provinzpolitiker, war Eigeninitiative mehr denn je gefragt. Bei der Polizei galten offenbar andere Maßstäbe. »Kaffee kann käuflich erworben werden«, sagte die Blissow zu allem Überfluss. Dietrich Kölling grummelte bloß. Dann zückte er seine Geldbörse, entnahm ihr einen Zehn-Euro-Schein, legte ihn auf den Tisch und schaute die beiden Damen herausfordernd an. Er würde den Kaffee aus eigener Tasche bezahlen, wenn sich jemand bereit erklärte, ihn zu beschaffen. Beate Nowikowski betrachtete den Geldschein, als handle es sich um eine miserable Fälschung, die Blissow schüttelte den Kopf. Als Ärmelschoner im Dezernat Präsidiale Angelegenheiten hätte Dietrich Kölling längst eine Dienstvorschrift zur Beschaffung von Genussmitteln durch subalterne Beamte erlassen. Da diese Vorschrift nicht existierte, starrte er stumm auf die leere Dose und entschloss sich zu einem Anruf im Sekretariat. Der Anruf wurde unnötig, da Hajota den Raum betrat. »Tach«, sagte er und blinzelte erstaunt in die Runde. »Na, eher Nachmittag.« Dietrich Kölling klatschte in die Hände, als er feststellte, dass sein Nesthäkchen noch dringender ein Aufputschmittel benötigte als er. Die auf der Suche nach Liebe durchwachten oder durch zechten Nächte hatten auch in dem jungen Gesicht ihre Spuren hinterlassen. »Der Kaffee ist alle.« »Aha.« Tangermann verschwand. »Ein hervorragender Kollege.« Dietrich Kölling fixierte die Frau Beate. »Ich vermute, Sie wollten mir noch etwas sagen?« »Allerdings. David Leichtner, der Sohn …« »Ich hab’s begriffen.« »David hat mir gegenüber eingeräumt, seine Mutter getötet zu haben.« 156
»Ach?« Dietrich Kölling setzte sich erneut auf den Besucherstuhl, weil ihm nichts anderes übrig blieb. »Glauben Sie ihm?« »Ich weiß nicht. Er hatte eine starke Gefühlsaufwallung, fühlt sich womöglich schuldig, aber … Nein, ich bin nicht sicher, ob ich ihm glauben soll.« »Trotz seiner starken Gefühlsaufwallung, was hat er denn noch gesagt? Zu Tatort, Tathergang et cetera.« »Nichts.« »Nichts?« Dietrich Kölling war drauf und dran, sich an den Kopf zu fassen, unterließ es jedoch. »Nein. Ich habe nicht nachgefragt. Er war nicht in der Verfassung …« »Nicht nachgefragt«, wiederholte Dietrich Kölling und nickte. »Nicht einmal nach dem Verbleib der Leiche? Die muss ja wohl irgendwo geblieben sein, oder? Wurde sie vielleicht an den Hund verfüttert? Das würde doch manches erklären, nicht wahr? Der Hund ist auf den Geschmack von Menschenfleisch gekommen, aus dem Zwinger ausgebrochen, und nun treibt er sich als Knaben verschlingendes Monster in Nordberlin und Brandenburg herum.« »Bitte, seien Sie doch einmal sachlich!« Beate Nowikowskis Stimme vibrierte, entweder vor Wut oder weil sie gleich in Tränen ausbrechen würde. Weinende Frauen konnte Dietrich Kölling nicht ausstellen, sie machten ihn verlegen. »Vielleicht war es der Vater«, gab die Blissow zu bedenken, »und der Junge deckt ihn.« »Nun gut, nun gut.« Dietrich Kölling machte eine knappe Kopfbewegung zu der Oberkommissarin hin. »Laden Sie die beiden vor. Vater und Sohn. Für Anfang oder Mitte nächster Woche.« »Das ist alles?«, fragte Beate Nowikowski. »Was soll ich nach Ihrer Meinung noch tun? Hubschrauber einsetzen, Räumpanzer, eine Hundertschaft Bürgerkriegs157
polizei? Bei so schwachen Anhaltspunkten, also entschuldigen Sie. Ich nehme Sie beim Wort. Ein gefühlsaufgewallter Jugendlicher, der sich am Verschwinden seiner Mutter mitschuldig fühlt, hat Ihnen irgendwelchen Unsinn aufgetischt. Ich finde, mit den Vorladungen komme ich Ihnen sehr weit entgegen.« »Und werden Sie die Vernehmungen selbst durchführen?« »Ich?« Dietrich Kölling war doch nicht der Laufbursche der Vermisstenabteilung. »Niemals.« »Woher kommst du?«, schnauzte David seinen Bruder an. »Es ist schon halb zwei!« »Ja, ja.« Aaron warf David den Fahrradschlüssel zu. Er war enttäuscht, denn der Mann in der blauen Arbeitsjacke war nicht der Mann mit dem Damenfahrrad gewesen. Vielleicht hatte der gar keine Arbeitsjacke angehabt. Aaron hatte trotzdem noch gewartet, dann jedoch aufgegeben. Er war nach Rosenthal zurückgeradelt, und während der Fahrt war ihm schließlich doch noch etwas eingefallen: Sein Mann hatte eine Brille getragen, so ein billiges Ding mit Metallgestell. »Ich verpasse mein Training«, sagte David. »Und du hattest doch heute nicht so lange Unterricht.« Aaron schüttelte den Kopf, setzte sich auf das Bett seines Bruders und streifte die Schuhe ab. »Ich war gar nicht in der Schule.« »Du warst nicht in der Schule? Aaron, was ist los mit dir?« »Ich hab was gesehen. Komm mit!« Aaron stand auf und verließ das Zimmer. David zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Der Bruder ging ins Wohnzimmer, nahm eine Zeitung vom Tisch und präsentierte sie David wie eine Trophäe. »Den Jungen habe ich gesehen«, sagte er. »Und da war noch ein Typ mit einem Weiberfahrrad. Ich glaube, das war der Killer.«
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»Aaron«, David setzte sich auf die Couch, »was erzählst du denn da? Spinnst du?« »Ganz bestimmt nicht.« »Und du hast diesen vermissten Jungen wirklich gesehen?« David deutete auf das Fahndungsfoto. »Den hier?«, wiederholte er. »Ja, den und keinen anderen«, sagte Aaron. »Woher willst du wissen, dass der Mann mit dem Weiberfahrrad ein … na ja …« David brachte es nicht über sich, das Wort auszusprechen. »Der Killer ist? Hundertprozentig wissen kann ich das natürlich nicht.« Aaron hockte sich auf den Boden und schaute den Bruder von unten herauf an. »Aber ich habe heute den ganzen Tag drauf gewartet, dass der Typ wiederkommt. Ich bin ständig die Panke hoch- und runtergefahren, aber er ist nicht noch mal aufgetaucht.« »Warum machst du das?« »Was meinst du, wie er ist? Wie es in ihm aussieht?« Aaron sah seinen Bruder in einer beinahe verträumten Weise an, die David Angst machte. »Ich will das wissen. Wie ist es, wenn man jemanden umgebracht hat?« »Aaron!« David sprang auf. Er wusste, wie es war. Es war zum Kotzen. Nein, nein, viel schlimmer. Doch nicht nur zum Kotzen; es war zum Krepieren. David holte aus und schlug dem Bruder die flache Hand ins Gesicht. Aaron zuckte zusammen, aber er wehrte sich nicht. »Entschuldigung«, sagte er leise. David schluckte die Tränen hinunter. »Du musst zu den Bullen gehen«, sagte er, zog ein Papiertaschentuch aus seiner Trainingshose und fuhr sich damit über die Augen. »Das mache ich nicht«, sagte Aaron. »Du musst!« David strich über Aarons Haar, berührte es aber kaum. Er wollte die Backpfeife ungeschehen machen. »Überleg 159
doch mal: Wenn du den Bullen hilfst, haben die einen guten Eindruck. Das wird uns helfen.« »Meinst du?« »Aber sicher.« »Und wohin soll ich gehen?« »Na, das steht doch in dem Zeitungsartikel. Zur Zweiten Mordkommission.« »Hier ist ein Kind«, sagte der Mann von der Objektwache. »Er möchte eine Aussage machen.« »Ein Kind?«, fragte Dietrich Kölling. »Und ein Er? Also ein männliches Kind?« »Ein dreizehnjähriger Junge, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte der Mann von der Objektwache. »Ein Junge ist ein männliches Kind«, erklärte Dietrich Kölling und schaute auf die Uhr. In einer Stunde fielen die Bleistifte in allen Behörden der Bundesrepublik Deutschland auf den Tisch. Nur bei den Mordkommissariaten nicht. Im Kreml oder in der Reichskanzlei brannte die ganze Nacht das Licht. In der kriminalistischen Fachsprache nannte man das den Ersten Angriff. Leider hatte Dietrich Kölling nicht viel anzugreifen. »Was will das männliche Kind namens Junge denn aussagen?« »Er glaubt, den Mörder … Sie wissen schon, den Zerstückler … also er sagt, dass er ihn vielleicht gesehen hat.« »Wie bitte?« Dietrich Kölling vergaß sofort sämtliche Uhren der Welt. »Wie heißt der Knabe denn?« »Aaron Leichtner.« »Was?« Dietrich Kölling schlug mit der flachen Hand auf den Bericht, dessen Lektüre er soeben begonnen hatte. »Ist er mit dem Vater da?« »Nee.« »Da kriegen wir Schwierigkeiten. Aber egal, bringen Sie ihn hoch.«
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»Ich kann ihm aber keinen Besucherausweis ausstellen. Er hat noch keine Personaldokumente.« »Verdammt, stellen Sie ihm aus, was Sie für richtig halten. Oder muss ich erst runterkommen und ihn selbst abholen?« »Ich glaube«, sagte der Mann von der Wache, »das wäre besser.« »Ich schicke einen Mitarbeiter.« Dietrich Kölling war bereits aufgestanden. Er verließ sein Büro, überquerte den Flur und riss die Tür zu Tangermanns Arbeitszimmer auf. Hajota saß vor seinem PC und tippte etwas, das offenbar seine ganze Konzentration erforderte, denn er kaute auf der Unterlippe. »Tangermann?« »Ja?« »An der Wache ist ein Dreizehnjähriger, der glaubt, eine wichtige Aussage machen zu können«, sagte Dietrich Kölling. »Das ist doch was für Sie. Holen Sie ihn bitte hoch.« »Chef!« Tangermann erhob sich. Er war blass geworden, und Dietrich Kölling wurde sofort bewusst, dass er zu weit gegangen war. Er hatte es nicht gewollt, es war ihm einfach nur herausgerutscht, weil er keine Lust hatte, zur Wache zu gehen. »Ich glaube, Sie haben ein falsches Bild von mir«, sagte Hajota. Dietrich Kölling hob die Schultern. Vielleicht stimmte es sogar. »Ich bin zwar schwul …« »Das habe ich Sie aber nie spüren lassen«, fiel Dietrich Kölling ihm ins Wort. »O doch, Chef. Sie merken es nur nicht. Ihre vielen Anspielungen, so wie die gerade eben! Und warum haben Sie mich auf die Polizeischule geschickt? Warum haben Sie dafür gesorgt, dass ich Kommissar werde? Trotz nicht gerade glänzender Leistungen? Weil Sie sich mit mir schmücken wollen. Schaut her, das Zweite MK hat einen supertoleranten Chef.« »Passen Sie mal auf, Tangermann.« Dietrich Kölling setzte sich an den Schreibtisch der Blissow, die abwesend war, weil sie 161
ermittelte. Was Hajota ihm vorgeworfen hatte, konnte er nicht auf sich sitzen lassen. »Ihre sexuelle Orientierung ist mir wirklich egal. Ihnen macht sie manchmal Probleme, weil Sie sich immer in den Falschen verlieben, und das sieht sogar Ihr unsensibler Chef. Denn das wollten Sie mir doch erklären? Dass ich kein Gefühl für Sie habe? Da irren Sie sich aber. Ich sehe Ihnen an der Nasenspitze an, dass Sie sich mal wieder in einer Krise befinden. Aber wir sind hier nicht in einem Sozialverein, Kommissar Tangermann, sondern bei der Polizei. Bei der Polizei werden Anweisungen ausgeführt. Und ich habe Ihnen die Anweisung erteilt, den Jungen abzuholen.« »Wer ist es denn?« »Aaron Leichtner.« »Nein!« »Doch.« »Was will er aussagen?« »Warten wir es ab.« »In welches Vernehmungszimmer soll ich ihn bringen?« »In kein Vernehmungszimmer, sondern in mein Büro.« »Aber Chef!« »In mein Büro, Tangermann! Und alles, was mit dem Staatsanwalt zu klären ist, das kläre ich. Verstanden?« Hajota nickte. Dann ging er zur Wache. Dietrich Kölling schämte sich. Er hatte den Chef herausgekehrt, weil er sich nicht eingestehen wollte, dass er Tangermann verletzt hatte. Aber Tangermann war nun mal ein Homo, und die waren sehr sensibel. So hieß es jedenfalls. Hajota war es wirklich. »Shit happens«, erklärte Dietrich Kölling der blauen Zettelbox der Blissow. Dann ging er zurück in sein Büro. »Sind die alle tot?«, fragte Aaron Leichtner. An der Wand hinter Dietrich Köllings Schreibtisch gab es ein Pinboard, auf dem die Fotos der zerstückelten Jungen befestigt waren. Vier Leichen in 162
Einzelteilen. Aaron streifte sie mit einem Blick, und seine Wangen röteten sich. Dietrich Kölling ließ ihn gewähren, weil er auf die Sensationslust unreifer, aber in einer kranken Medienwelt aufgewachsener Kinder spekulierte. Das war zweifellos zynisch. Zynisch wie die Welt, in der Dietrich Kölling lebte: Shit happens. Das sagte man, und dann ging man beerdigen. In Fernsehfilmen auf jeden Fall. Womöglich sogar in der so genannten Realität. Dietrich Kölling ging nicht mehr zu Beerdigungen. Wenn die Anwesenheit der Kriminalpolizei bei einer Beerdigung ermittlungsrelevant war, schickte er Becker und ein Videoteam. In der Regel kam nichts dabei heraus. Tangermann konnte es offenbar nicht ertragen. Er ging zu der Pinnwand, nahm sie ab, drehte sie um und stellte sie auf den Boden. »Das ist nichts für dich«, meinte er. »Ja«, sagte Dietrich Kölling, »sie sind tot. Das sieht man doch.« Mit einer Handbewegung schickte er Tangermann hinaus. Er konnte ihn jetzt nicht brauchen. Tangermann wusste es und ging. Dietrich Kölling legte ein liniertes Blatt vor sich auf die Schreibtischunterlage und nahm einen Bleistift aus der Federschale. Einen Stuhl hatte er schon bereitgestellt, und auf den deutete er jetzt. Aaron Leichtner nahm Platz. »Also, warum bist du hier?«, wollte er wissen. Der Junge kratzte sich an seinem hübschen Kinn und schaute Dietrich Kölling neugierig an. Dann sah er sich noch einmal kurz in dem Büro um, das aussah wie die meisten Büros der Welt, nämlich ziemlich nichtssagend. Außer der Pinnwand, die nun umgedreht auf dem Boden stand, gab es nichts Aufregendes zu entdecken. »Ich war mit dem Fahrrad unterwegs«, sagte er. »Mit einem Scott. Wissen Sie, was das ist?« »Nein«, sagte Dietrich Kölling. »Vermutlich etwas Besonderes?« 163
»Eines der besten Mountainbikes«, erklärte Aaron Leichtner. »Damit kann man fliegen.« »Vermutlich wenn man über einen großen Stein fährt«, sagte Dietrich Kölling. Die Babyhaut des Knaben machte ihn nervös. Vielleicht sollte er doch besser dafür sorgen, dass der Vater geholt wurde. Kinder ohne ein so genanntes Elternteil zu vernehmen konnte Komplikationen zur Folge haben. Dietrich Kölling entschied für sich, dies als ein informelles Gespräch zu betrachten. »Aber über Fahrräder wolltest du sicher nicht mit mir sprechen.« »Sind Sie der Chef hier?«, fragte Aaron Leichtner. Das schien ihm ungeheuer wichtig zu sein. »Ja, ich bin der große Zampano. Drei Mitarbeiter und eine Sekretärin müssen machen, was ich ihnen sage.« Dietrich Kölling seufzte leise; wenn das mit den Knabenmorden so weiterging, würde der Oberrat bestimmt noch eine Sonderkommission einrichten. Dann konnten aus drei Mitarbeitern im Handumdrehen dreißig oder hundert werden, während es bei einer Sekretärin blieb. »So, und nun zur Sache.« »Also, ich war mit dem Scott unterwegs. Just for fun, ich trainiere nicht für irgendwelche Rennen wie mein Bruder. Bin zuerst am Nordgraben lang und dann an der Panke. Da ist so ein Scheißtümpel, der Der Teich heißt. Ich wollte mal gucken, ob da keiner guckt.« »Aha.« Dietrich Kölling machte sich eine Notiz. »Wie heißt das Gewässer?« »Der Teich.« Dazu gab Dietrich Kölling keinen Kommentar ab. In einer Stadt, in der man Straßen mit dem Namen Straße und einer Zahl versah, durften Teiche auch Der Teich heißen. »Also, in der Nähe ist auch eine kleine Brücke über die Panke«, fuhr Aaron Leichtner fort. »Und da habe ich sie gesehen.«
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Er beugte sich ein wenig vor, so als ob er einen Blick auf die Notizen erhaschen wollte, aber Dietrich Köllings Hieroglyphen konnte nur er selbst entziffern. »Wen gesehen?« »Zuerst wusste ich es ja nicht. Aber heute Morgen, in der Zeitung, da war das Foto von einem vermissten Jungen. Der da in der Nähe wohnt. Und der war da auf der Brücke. Aber nicht allein. Ein Mann hat bei ihm gestanden und mit ihm geredet.« Dietrich Kölling setzte seine kryptische Niederschrift fort. Er entsann sich seines Besuchs bei den Eltern, die so gar nichts über ihren Sprössling wussten, und die Erinnerung bereitete ihm eine leichte Übelkeit. »Gibt es keinen Zweifel, dass es der Junge aus der Zeitung war?«, wollte er wissen. Aaron Leichtner schüttelte den Kopf. Das waren schon seltsame Zufälle, fand Dietrich Kölling. Kaum hatte er sich, um die Frau Beate loszuwerden, dazu bereit erklärt oder eher doch breitschlagen lassen, David und Michael Leichtner vorzuladen, spazierte eines der Familienmitglieder in sein Kommissariat, wenn auch keines der vorzuladenden. Und dieser unverhoffte Besucher war nicht nur der Sohn einer Vermissten, er hatte auch einen anderen Vermissten gesehen, bevor dieser vermisst worden war. Dietrich Kölling schaute dem Jungen in die Augen. Aaron Leichtner hielt seinem Blick stand. Zufälle gab es natürlich, sogar einen Kommissar Zufall, dem man zwar keine Anweisungen erteilen konnte, der aber auch kein Gehalt verlangte. Dietrich Kölling fand sich vorerst mit den Zufällen ab. »Wie hat der Mann denn ausgesehen?« »Ich hab natürlich nicht so drauf geachtet«, entgegnete Aaron Leichtner. »War er groß oder klein, dick oder dünn?« »Er hatte eine Brille, da bin ich ganz sicher. Was Billiges, glaube ich. Mit einem Metallgestell. Sehr groß war er nicht und auch nicht dick. Eher normal.« 165
»Normal«, murmelte Dietrich Kölling. Ihm war klar, was Aarons Beobachtung bedeuten konnte. Konnte, wohlgemerkt, denn vielleicht war er auch nur Zeuge einer alltäglichen und harmlosen Szene geworden. »Haarfarbe?« »Weiß ich nicht.« »Kleidung?« »Ich glaube, er hatte eine Arbeitsjacke an. So eine, wie man sie im Freien trägt, wissen Sie? Die wattiert ist. Sie könnte schwarz gewesen sein. Oder blau?« »Was darunter?« Aaron Leichtner zuckte nur mit den Schultern. »Die Hose und die Schuhe?«, fragte Dietrich Kölling. »Vielleicht eine Jeans? Oder eine schwarze Stoffhose?« »Ich weiß wirklich nicht. Und auf die Schuhe habe ich gar nicht geachtet.« Der Junge bemühte sich redlich. Aber er hatte beim Radfahren nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen, was erst durch den Zeitungsartikel zu etwas möglicherweise Außerordentlichem geworden war. Dietrich Kölling konnte nicht verlangen, dass er sich an die Details erinnerte, die für die Ermittlung wichtig waren. Einen Versuch startete er aber noch. »Hatte der Mann ein besonderes Merkmal? Eine Narbe oder eine Tätowierung? Womöglich eine ungewöhnlich geformte Nase oder etwas dergleichen?« »Mir ist nichts aufgefallen«, sagte Aaron Leichtner. »Der Mann war irgendwie, wie soll ich sagen, unauffällig.« Dietrich Kölling nickte. Neunzig Prozent aller Mörder, neunzig Prozent aller Verrückten und neunzig Prozent aller Perversen waren unauffällig; das machte es ja so schwer, sie in der Öffentlichkeit zu erkennen. »Gibt es sonst noch etwas, was du mir sagen möchtest?«, fragte er nach einem raschen Blick auf seine Notizen. »Na klar!« Der Junge schlug sich an die Stirn. »Da war noch was Wichtiges. Der Typ hatte ein Fahrrad bei sich.« 166
»Ein Fahrrad?« Dietrich Kölling wäre am liebsten aufgesprungen und einmal um die Schreibtische getanzt. »Ja, so ein altes Ding. Ein Weiberrad. Stammt bestimmt noch aus der DDR.« »Danke.« Dietrich Kölling ließ den Zettel in einer Mappe verschwinden. »Es war sehr gut, dass du gekommen bist. Wir melden uns sicher bald noch einmal bei dir.« »Muss ich denn nichts unterschreiben?« Der Gedanke, kein Protokoll unterzeichnen zu müssen, schien den Jungen zu enttäuschen. In den Filmen, die er sah, wurden bestimmt immer Protokolle unterschrieben. Dietrich Kölling würde aber erst einmal nur eine Aktennotiz verfassen, und die unterzeichnete er selbst. »Nein«, sagte er, »du musst nichts unterschreiben.« Er stand auf. »Jedenfalls noch nicht«, fügte er hinzu, damit der Junge von der großen Unterschrift unter das gewichtigste aller Protokolle wenigstens träumen konnte.
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Siebentes Kapitel Als Kind war Aaron vor seinen Geburtstagen aufgeregt gewesen, wie man als Kind auch vor Ostern und vor allem Weihnachten aufgeregt war, und nicht allein der Geschenke wegen. Geburtstage, Ostern und Weihnachten waren für Kinder einschneidende Ereignisse, aber als einer Superintelligenz war Aaron schon vor Jahren klar geworden, dass dies nur deshalb so war, weil die Erwachsenen geheimnisvoll taten. Mit ihrem gebetsmühlenartig heruntergeklapperten Morgen hast du Geburtstag! oder Morgen kommt der Weihnachtsmann! und Bist du schon sehr aufgeregt? machten sie ihre Bälger so wuschig, dass diese nicht schlafen konnten, und schon gab es Stress. Zuerst nervten die Alten ihre Kinder, und wenn die Kinder vollkommen mit den Nerven fertig waren, spielten die Alten die Genervten. Aaron hatte sich dem früh entzogen. Mama und Papa waren immer sehr enttäuscht gewesen, wenn er vor den angeblich großen Ereignissen nicht verrückt spielte. Er hatte genau gewusst, dass er sowieso nicht bekommen würde, was er haben wollte, Kohle nämlich. Geld ist ein phantasieloses Geschenk, hatte Mama immer gesagt. Man muss sich mit Geschenken Mühe geben, hatte sie gesagt, damit der Beschenkte merkt, wie sehr man ihn liebt. Und dann hatte Aaron Spiele bekommen, die ihn anödeten, Bücher, die er nicht las, oder Klamotten aus dem achtzehnten Jahrhundert. Extrem phantasiereiche Geschenke also. An seinem vierzehnten Geburtstag war Aaron doch etwas nervös. Vierzehn zu werden, so laberten die Greise, das bedeutete, in den Kreis der Erwachsenen einzutreten, und das war echt verlockend: Man gehörte nun also zum Geheimbund der ewig gestressten Blödmänner, die jeden Tag an ihren Särgen bastelten und die Peilung verloren hatten. 168
Dass er erwachsen wurde, interessierte Aaron nicht, für ihn zählte allein das Erreichen der Strafmündigkeit. Wenn er jetzt ein dickes Ding drehte, würde man ihn ernst nehmen müssen. Er war nun kein Kind mehr, aber das war er nie gewesen, und er war noch kein wirklicher Erwachsener, doch das würde er nie werden. Aaron war Aaron. Es war an der Zeit, ein Weib zu ficken und einen Mord zu begehen. Auf einen Mord hatte er mehr Bock. Die Bilder, die er für kurze Zeit an der Pinnwand hinter diesem dicken Kriminalkommissar gesehen hatte, gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte sogar von ihnen geträumt, aber das war ein Albtraum gewesen. In den Zeitungen hatte nichts davon gestanden, dass der Killer die Kinder in ihre Einzelteile zerlegte, wahrscheinlich weil die Bullen es verschwiegen hatten. Der Typ lief ja voll neben der Spur. Was er tat, war sogar einem Aaron Leichtner zu viel. Er wollte lieber einen intelligenten, einen durchgestylten Mord begehen. Aaron liebte keine Überraschungen, und das Geschenk seines Vaters war zum Glück auch keine Überraschung gewesen. Mama hätte die Überraschungsfee spielen können, Papa nicht. Als er Aaron nach seiner Schuhgröße gefragt hatte, war alles klar gewesen. Am Gym waren wieder mal zwei Stunden ausgefallen. Aaron war allein zu Hause, eine gute Gelegenheit, seine neuen Turnschuhe auszuführen. Nur im Haus natürlich, noch durften sie nicht auf die Straße. Der Sklave würde Augen machen. Aaron hatte von einer Riesenparty gefaselt, obwohl er außer Tahir nur Corinne eingeladen hatte, und zwar schriftlich. Für sie hatte er eine vorgedruckte Einladungskarte gekauft, die ziemlich nobel aussah und sogar eine Melodie spielte, wenn man sie aufklappte. Er hatte sie ausgefüllt, sie ins Kuvert getan, das Kuvert verschlossen und es vor ein paar Tagen heimlich in ihren Rucksack gesteckt. Aaron hatte völlig abgeschnallt, als die eingebildete Corinne ihm schon in der nächsten Hofpause gesagt 169
hatte, sie würde echt gern kommen und sie fände ihn sowieso schon lange wirklich nett. Dabei war sie puterrot geworden, Aaron nicht minder. Daran erinnerte er sich nicht gern. Corinne hatte noch gefragt, ob sie eine Freundin mitbringen könne, ein echt nettes Mädchen aus ihrem Flötenquintett. Aaron hatte natürlich absolut nichts dagegen gehabt. Alles lief nach Plan. Die Freundin war für Tahir. Aaron kehrte in sein Zimmer zurück, setzte sich auf das Bett und hob die Beine, um Papas Geschenk betrachten zu können. Die Schuhe waren ein Produkt der Dirty Sports Fashion, einer australischen Firma, die gerade auf den Markt gekommen, aber schon absolut top war, weil sie mit einem ultracoolen Slogan für sich warb. Don’t dope your body, dope your shoes, so lautete ihre Sportschuhwerbung. Auf ihren Plakaten waren französische Bullen zu sehen, die gerade wieder bei der Tour de France zuschlugen. Einer der Radprofis sah auf dem Foto so bescheuert aus, man kriegte echt Lust, ihm in die Fresse zu hauen, und unter dem Bild stand: Drugs are cool. Your shoes are cooler. You’re the coolest. Aaron hatte irgendwann im TV gesehen, dass die Bundesregierung erwog, die Werbekampagne zu stoppen. Wegen Drugs are cool natürlich. Alle Kids waren geil auf Dirty Sports Fashion. Aaron bewegte die Zehen in den Schuhen, die Death Race hießen. In seiner Schule hatte er solche Sneakers noch nicht gesehen. Über Papa wunderte sich Aaron sehr. Dass er gepeilt hatte, wie begehrt die Schuhe waren. Er musste es irgendwo gelesen haben, oder Aaron hatte es mal erwähnt. Die Death Race kosteten knapp zweihundert Eier. Mit denen würde man sogar im Knast eine gute Figur machen. In den Knast wollte Aaron noch nicht. Nicht weil er was gegen schwedische Gardinen hatte. Aber kein poröser Richter konnte ihm garantieren, dass er im Knast auch wirklich hart rangenommen werden würde.
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Der neue Trainer, Herr Pick, hatte David und den anderen Jungen für das Downhill in den Müggelbergen ein wettkampforientiertes Aufbautraining verordnet. Das bedeutete, David war jetzt fünfmal in der Woche auf der Piste. Er fuhr nach einem strengen Plan die vorgeschriebene Stundenzahl, die von Woche zu Woche um dreißig Minuten gesteigert wurde, und er fühlte sich wohl dabei. Auf der Straße und im Gelände genoss er nicht nur die kraftvollen, intensiven Bewegungen, zu denen sein junger Körper fähig war, nicht nur das Spiel seiner Muskeln und die Wärme, die ihn durchfloss. Die Übungen verlangten ihm Konzentration ab, seine Gedanken wurden frei. Mit jedem Meter, den er zurücklegte, schwand das Gefühl von Enge und Bedrückung, das ihn ansonsten Tag für Tag begleitete, und zwar überallhin: zur Schule, zum Einkaufen, sogar noch auf das Gelände des Vereins. Sobald er zu fahren begann, war es fort. Seine Form war, das glaubte er jedenfalls, noch nie so gut gewesen. Er hätte gern jede Trainingseinheit um Stunden verlängert, aber Herr Pick war darin sehr genau und erlaubte es nicht. Einmal nahm er David beiseite und ermahnte ihn, sich nicht zu überfordern. Wenn er sich eine Zerrung oder gar einen Bänderriss zuziehen würde, wäre das Rennen für ihn gestorben, dabei setzten der RSV Sturmvogel und vor allem sein Vater große Hoffnungen in ihn. Das hatte Pick gesagt: Der Verein und dein Vater setzen große Hoffnungen in dich. David würde sie nicht enttäuschen, um keinen Preis. Der Vater hatte sich verändert. Nachdem er von der letzten Präsidiumssitzung des Sturmvogel zurückgekehrt war, hatte er mit David nicht nur den Essensplan für die Trainingswochen durchgesprochen, er hatte ihm sogar ein Lächeln geschenkt, ein beinahe liebevolles und jedenfalls kein gequältes Lächeln. Auch sprach er ständig über das Downhill von Landesbank und Volvo, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres. Er ermunterte David, das Training ernst zu nehmen, was David auch ohne ausdrückliche Aufforderung tat. Ab und zu kam der 171
Vater noch während der Arbeitszeit zum Verein gefahren und sprach lange mit Herrn Pick. Und auch Aaron schien sich auf das Downhill zu freuen, denn vor ein paar Tagen hatte er erklärt, er würde bis zum Renntag auf das Bike seines Bruders verzichten. Es schien, als würde die mutterlose Familie Leichtner einzig dem Rennen in den Müggelbergen entgegenfiebern und sich von einem vorderen Platz Davids etwas wie einen familiären Neubeginn erhoffen. Davids gutes, sein bestmögliches Abschneiden beim Downhill war ein Ziel, das ihrem Leben wieder einen Sinn gegeben hatte. Der einzige Wermutstropfen war Titus. David war darauf bedacht, vor und nach dem Training einen möglichst großen Abstand zu Titus zu wahren, er wechselte kein Wort mit ihm und ging immer erst duschen, wenn das Schwein den Duschraum verlassen hatte. Obwohl Titus bei den meisten Sportkameraden unbeliebt war, redeten sie doch mit ihm, sodass bereits Gerüchte kursierten, Titus habe David das Mädchen ausgespannt. Titus selbst tat alles, um diese Gerüchte zu schüren. Auf sie angesprochen, wies David sie nicht zurück, er zuckte nur die Schultern. Ihm war klar, dass er damit den Verdacht nur bestärkte, an der Sache könne etwas sein. Wenn er Titus’ nackten Leib unter der Dusche betrachtete, stellte er sich vor, wie sich dieser mit Haut ummantelte Scheißhaufen blutig geschlagen und vor Schmerzen brüllend auf den Fliesen wand. Was Titus dem Bruder und dem Bike angetan hatte, das würde David nie vergessen. Es schrie nach Rache. David genügte es, wenn er Titus beim nächsten, ja bei allen kommenden Rennen ausstechen würde. Aaron plante offenbar auch etwas, etwas anderes. Er hielt sein Vorhaben unter Verschluss. David fragte nicht mehr. Er wollte es gar nicht wissen. Dem Rennen, einzig und allein dem Rennen galt sein Interesse. Seit langem war Dietrich Kölling über das Erscheinen seines Stellvertreters nicht mehr dermaßen glücklich gewesen wie an 172
diesem Tag. Becker kam, als die beiden Frauen bei ihm herumgluckten, obwohl alles besprochen war. Es gab auch nichts zu feiern, aber offenbar hatten die Blissow und Beate Nowikowski das Bedürfnis, mit Dietrich Kölling einen Kaffee zu trinken. Der Oberkommissar erlöste ihn. Dietrich Kölling atmete auf. »Frau Nowikowski ist unbeirrbar, was?«, fragte Becker mitfühlend, nachdem die Frauen endlich das Büro verlassen hatten. »Sie ist schrecklicher als Xanthippe.« »Ich habe die Fotos vom Fundort neben den Bahngleisen mitgebracht«, sagte Becker und warf einen braunen Umschlag auf den Tisch. »Später.« Dietrich Kölling winkte ab, erhob sich und trat an die Karte. »Ich weiß, wie es dort ausgesehen hat. Kommen Sie.« Bevor Becker der Aufforderung folgte, schenkte er sich rasch einen Kaffee ein. Dietrich Kölling sah es mit Wohlgefallen. »Drei Fundorte haben wir in Arkenberge.« Er markierte sie mit roten Pinnwandnadeln. »Die Arme lagen in einer Fichtenschonung circa hundert Meter vom Kulturhaus an der Hauptstraße, Ecke Feldweg entfernt. Der Torso wurde am Rand des Naturschutzgebietes Schildow gefunden, eines Waldstücks, und es führt ein Verbindungsweg von der Hauptstraße in die Nähe des Fundortes. Der Weg ist gesperrt, nur Forstfahrzeuge dürfen ihn benutzen. Man kann ihn natürlich ungenehmigt befahren, aber der Schlagbaum, der ihn versperrt, ist Ihrem Bericht zufolge mit einem Schloss gesichert. Fundort Nummer drei: die Bahngleise neben der Gartenkolonie Arkenberger Grund. Schauen Sie, von der Hauptstraße erreicht man sie, wenn man die Müllhalde auf dem Bauernweg umfährt. Das ist nicht der einzige, aber der kürzeste Weg. Unser Täter ist also ziemlich herumgekurvt. Und ich möchte meinen, am helllichten Tage. Ein einsamer Mann, der sich nachts mit dem Fahrrad auf
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Forstwegen und an Bahndämmen herumtreibt, wäre eine sehr auffällige Erscheinung.« »Da draußen in Arkenberge?«, fragte Becker. »Die Leute halten sich abends entweder in ihren Gärten auf oder sitzen im Haus vor der Glotze. Aber etwas anderes. Schauen Sie.« Becker tippte auf die Karte. »Sebastian, also Opfer Nummer vier, wohnte in Schildow. Hier, in der Breiten Straße. Von dort ist es nur ein Katzensprung zum Wald, wo er sich meiner Meinung nach trotz des Verbots seiner Eltern aufgehalten hat und wo sich auch der Tatort befindet. Den wir leider immer noch nicht gefunden haben. Aber es gibt einen Anhaltspunkt, der unsere Suche beschleunigen wird.« »Einen Anhaltspunkt?« »Aus dem Autopsiebericht. Der Junge ist gewürgt worden wie die anderen auch, aber nicht erwürgt, sondern ertränkt.« »Ich verstehe.« Dietrich Kölling fuhr mit dem Fingernagel an der Berliner Stadtgrenze entlang, einer fetten roten Linie. »Das Tegeler Fließ. Oder aber … Hier oben, die Fischteiche.« »Halte ich für wenig wahrscheinlich«, meinte Becker. »Sie sind zu weit vom Zuhause des Jungen entfernt. Außerdem sind sie umzäunt. Wobei …« »Ja?« »Es gibt ein paar Löcher in den Zäunen. Kann schon sein, dass Sebastian ein abenteuerlustiger Junge war und die Teiche erkunden wollte. Aber sie liegen doch zu nahe an besiedeltem Gebiet. An Mönchmühle, wie Sie sehen.« »Seltsame Gegend da oben«, murmelte Dietrich Kölling vor sich hin. »Die Fischteiche sind noch Berlin, Mönchmühle gehört zu Brandenburg. Landkreis Oberhavel. Zuständigkeitsbereich PP Potsdam. Das ist quasi ein Fall, an dem man das Funktionieren oder Versagen des Föderalismus demonstrieren kann.« »Bisher können wir nicht klagen«, sagte Becker. »Was haben Sie in Sachen Tegeler Fließ unternommen?« 174
»Wird abgesucht. Aber lassen Sie mich fortfahren. Vermutlich im Naturschutzgebiet Schildow befindet sich der Tatort. Das Tegeler Fließ läuft am Westrand des Waldes entlang, der Fundort des Torsos befindet sich am Ostrand. Unser Täter hat also zugeschlagen und dann wie üblich sein Opfer zerstückelt. Er lädt sich die Leichenteile auf, durchquert den Wald und verbirgt die erste Plastiktüte, die mit dem Torso, am östlichen Waldrand. Dann benutzt er den Forstweg und entledigt sich der zweiten Tüte in der Fichtenschonung. Von dort setzt er seine Fahrt über die Hauptstraße und den Bauernweg, also um die Halde herum, zur Kolonie Arkenberger Grund fort, klettert dort über die Bahngleise und lässt den Kopf in den Böschungsgraben gleiten. Es war also kein Herumkurven, es war nur ein einziger Weg.« Dietrich Kölling nickte. Aus der Federschale auf Beckers Schreibtisch nahm er einen Teleskopzeigestock, zog ihn aus und verfolgte den von Becker vorgeschlagenen Weg des Mörders auf seiner Entsorgungstour. »Brillant«, sagte er schließlich. »Ich habe nur einen Einwand. Und eine Idee. Was zuerst?« »Den Einwand.« »Gut.« Dietrich Kölling schob den Zeigestock wieder zusammen. »Wir waren uns einig, dass der Mörder nicht mit dem Auto unterwegs ist, weil viele der Wege, die er benutzt hat, mit einem Auto nicht befahrbar sind. Ein Fahrrad, so haben wir besprochen, erschien uns als das wahrscheinlichste Fortbewegungsmittel. Daraus haben wir gefolgert, dass er die Leichenteile in mehreren Schüben abtransportieren muss. Das Wort Herumkurven war vielleicht unglücklich gewählt. Sagen wir es anders: Er ist mindestens zweimal zwischen Tatort und den Fundorten hin- und hergeradelt.« »Dem würde ich nicht widersprechen«, sagte Becker. »Danke. Und so komme ich auf das zurück, was ich ursprünglich explizieren wollte.« Dass Dietrich Kölling dieses 175
Fremdwort benutzte, stellte ein außerordentliches Kompliment für Beckers Denkfähigkeit dar. »In dieser abgeschiedenen Gegend … man ist fast geneigt, Enklave zu sagen … in diesem Arkenberge, wo jeder jeden kennt, muss ein Mann wie unser Täter aufgefallen sein. Ein Mann auf einem Fahrrad, mit Plastiktüten am Lenker oder auf dem Gepäckträger. Die Hälfte der Arkenberger hat ihn gesehen, das schwöre ich. Wir haben aber noch immer keinen Zeugen. Warum?« »Das verstehe ich, ehrlich gesagt, auch nicht«, gab Becker zu. »Jeder da oben ist zurzeit von Angst um sein eigenes Kind geradezu besessen. Sie müssen danach lechzen, uns zu helfen.« »Wahrscheinlich wollen sie nur ihre Ruhe haben«, vermutete Becker. »Sie wollen grillen, saufen, fernsehen und ihre Langeweile bis zum Tod genießen.« »Nicht mehr.« Dietrich Kölling schüttelte vehement den Kopf. »Ihre Ruhe ist dahin. Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Leute nur noch ein Gesprächsthema haben. Setzen Sie alle verfügbaren Kräfte ein, um die Siedlung zu durchforsten. Jeder, ich wiederhole, jeder Arkenberger muss befragt werden.« »Okay. Ich geb’s an Hajota weiter. Das ist was für ihn, da kann er sich profilieren.« »Eine Entscheidung, die Führungsqualitäten offenbart«, sagte Dietrich Kölling und lächelte Becker an. Der blieb ernst. »Und nun Ihre Idee«, verlangte er. »Ganz einfach.« Dietrich Kölling fuhr den Zeigestock erneut aus. »Wenn man Ihrer Beschreibung folgt und den Weg verlängert, wo landet man da?« »Am Badesee.« Becker klopfte sich leicht an die Stirn, keine demonstrative Geste, sondern nur als solche vorgetäuscht. »Ich wette mit Ihnen um meinen Stuhl, dass wir dort die Beine finden.« »Aber Sie wetten doch nie.« Auch Beckers Einwand war Teil ihres Spiels.
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»Nein«, bestätigte Dietrich Kölling. »Nur deswegen gewinne ich immer.« Hans-Joachim Tangermann empfand einen tiefen Schmerz. Es war kein physischer Schmerz, der sich zumeist auf eine Körperregion oder gar auf ein einzelnes Organ beschränkte, sondern ein psychischer, so umfassend, wie ein seelischer Schmerz nur sein konnte. Als er in beinahe somnambulem Zustand den Dienstwagen nach Norden chauffierte, hatte er Tränen in den Augen. Das Leben, zu dem er verdammt war, kam ihm beim Abbiegen von einer Hauptstraße in die nächste nicht allein unerträglich, es kam ihm unlebbar vor. Tangermann hatte sich verliebt. Er hatte sich so heftig verliebt, wie er sich immer verliebte, und wie immer galt seine Liebe dem Falschen; genauso wie es sein Chef vermutet hatte. Der Typ hieß Markus. Bereits in der Nacht, in der sich Tangermann in ihn verliebte, hatte er gewusst, dass es der Falsche war. Entdeckt hatte er ihn im neuen Schöneberger Schwulenpub ExPress-Ob nach dem dritten Tequila, angesprochen hatte er ihn nach dem fünften. Markus war ein kahl geschorener Sechsundzwanzigjähriger, fast eins neunzig groß, sehr schlank, aber mit einem wunderschönen Arsch in der Hose. Eine enge schwarze Jeans hatte er getragen, eine Lederjacke und Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln – ein eindeutiges Zeichen. Tangermann hatte ihn darauf angesprochen. Markus hatte ihm bestätigt, dass er ein Rechter sei und die Überfremdung durch Ausländer zum Kotzen finde, aber gegen Schwule habe er nichts, er sei schließlich bisexuell und hasse sich nicht selbst. Er habe eine Freundin, brauche aber mindestens einmal in der Woche einen Kerl. Das hatte Tangermann geschluckt. Es hatte sich aber auch der Polizist in ihm geregt, und er hatte einiges von Markus wissen wollen. Natürlich hatte er seine Fragen nicht 177
im Stil eines Bullen gestellt und sich als solcher auch nicht zu erkennen gegeben. Der Kerl, der ihn offenbar für einen leicht auszunehmenden Mann im sexuellen Notstand gehalten hatte, hatte bereitwillig Auskunft gegeben. Im sexuellen Notstand befand sich Tangermann seit Monaten. Nur so konnte er vor sich rechtfertigen, dass er wider sein Misstrauen gehandelt hatte. An der Einfahrt von der Stadtrandsiedlung Blankenfelde ins Naturschutzgebiet Schildow, die Forstfahrzeugen vorbehalten war, standen zwei Polizisten im Kampfanzug. Sie staksten breitbeinig hin und her wie die Darsteller in einem drittklassigen Western, und als sich Tangermann anschickte, in den Forstweg einzubiegen, geboten sie ihm sofort mit einer lässigen Geste Halt. Die beiden, jung wie frische Spucke, waren Anwärter, deswegen hatte man sie auf einen unbedenklichen Posten geschoben. Tangermann sah ihnen an der Nasenspitze an, dass sie sogar auf diesem Posten versagen würden, und kurbelte das Seitenfenster herunter. »Kennen Sie Verkehrszeichen?«, fragte der Anwärter, der brünett, untersetzt und schon auf dem Weg zum Bierbauch war. »Ich fürchte, ja.« »Er fürchtet«, sagte der Brünette zu seinem schwarzhaarigen Kollegen. Dieser war etliche Zentimeter größer und hatte ein vernarbtes Gesicht. »Und was bedeutet ein weißer Kreis mit ’nem roten Rand drum rum?«, wollte das Narbengesicht wissen. »Verkehrsverbot für Fahrzeuge aller Art.« »Er weiß es«, sagte der Untersetzte triumphierend. »Dann fahren Sie mal schleunigst weiter, bevor wir Ihnen ’ne Strafe aufbrummen.« »Das werde ich nicht tun«, widersprach Tangermann. »Und ob Sie das tun werden«, schnauzte Narbengesicht. »Selbst wenn Sie vom Forst wären … Hier läuft grade ’ne wichtige polizeiliche Maßnahme.«
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»Und das dürfen Sie einem dahergelaufenen Bürger wie mir auf die Nase binden?« »Was?« Tangermann machte ein schnelles Ende. Er zeigte seinen Dienstausweis, nahm die Entschuldigungen entgegen und passierte die Sperre. Während er wegen des schlechten Zustands des Knüppelpfades behutsam Gas gab, wurde ihm klar, dass er sich eben verhalten hatte wie sein Chef. Dietrich Kölling liebte es, hin und wieder Kollegen unterer Ränge herablassend zu behandeln. Das war eine Form des Selbstschutzes, wie Tangermann schnell begriffen hatte, aber sie wirkte natürlich sehr verletzend. Vor noch nicht allzu langer Zeit war auch Tangermann ein uniformierter Polizist gewesen, der in einem Abschnitt in Reinickendorf seinen Dienst getan hatte. Eine vakante Personalstelle in Dietrich Köllings Mordkommission und vermutlich auch der Wunsch des Abschnittsleiters, den schwulen Kollegen auf elegante Weise loszuwerden, hatten ihn in eines der Traumkommissariate der Kripo katapultiert. Er war wahnsinnig glücklich und stolz gewesen, obwohl ihn der Chef auf seine unnachahmliche Art anfangs sehr mies behandelt hatte, aber mittlerweile, das glaubte Tangermann zumindest, mochte er ihn auf seine ebenso unnachahmliche Art. Immerhin spürte er immer, wenn es seinem jüngsten Mitarbeiter schlecht ging, obwohl sich Tangermann doch zusammenriss. Es war vorgekommen, dass Dietrich Kölling ihn während der Dienstzeit nach Hause geschickt hatte, damit er Kater und Frust kurieren konnte. Und manchmal tat er das Gegenteil: Er überhäufte Tangermann mit Arbeit, damit er sich ablenken konnte und weil Schlafentzug gegen Depressionen wirkte, was tatsächlich zutraf. Das Missfallen des Chefs war unschwer auszumachen, weil Dietrich Kölling, wenn er wütend war, Atombomben nach Spatzen warf. Um ein Bekunden von Zuneigung zu erkennen, musste man sehr feine Sensoren haben. Mit Becker würde Tangermann nicht konkurrieren können, der Kronprinz war des 179
Königs Liebling, weil er nicht die geringste Ambition auf den Thron hegte. Tangermann konnte nicht behaupten, dass die verschlüsselten Sympathieerklärungen seines Chefs ihn kalt ließen. Er hatte die Möglichkeit bekommen, zu studieren und die Kommissarsprüfung abzulegen, er hatte es mit mäßigem Erfolg getan. Theorie war nicht seine Stärke, aber er war jetzt Kriminalkommissar Hans-Joachim Tangermann. Seine Eltern, die nach mehr als zwei Jahrzehnten Leben in Weddinger Mietwohnungen endlich ein kleines Haus bei Falkensee hatten erwerben können und bei diesem Kauf um hunderttausend Mark betrogen worden waren, sie waren natürlich stolz. In der ganzen Nachbarschaft hatten sie verbreitet, dass ihr einziges Kind ein hohes Tier bei der Berliner Kripo war. Hans-Joachim Tangermann wünschte, dass sie sich für seine Liebesnöte ebenso stark interessieren würden wie für seine Karriere. Tangermann wollte endlich von einem Menschen vorbehaltlos geliebt werden. Statt Liebe bekam er Leichenteile. Becker hatte dafür gesorgt, dass eine Polizeihundertschaft die Umgebung des Badesees im Arkenberger Grund nach den Beinen des Opfers absuchte, dann war er mit seinem Chef nach Pankow gefahren. Dietrich Kölling hatte sich von Aaron Leichtner auf der Spezialkarte die Brücke über die Panke zeigen lassen, auf der er den vermissten Jungen und einen Mann gesehen haben wollte. Nun wollte er die Lokalität in Augenschein nehmen. »Eines trifft jedenfalls zu«, sagte er, als sie auf der Brücke standen und auf das flache, träge dahinfließende Wasser blickten, »es ist nicht allzu weit von der Schlossallee bis hierher. Und es ist ein Ort, den man als Junge bestimmt gern zum Spielen aufsucht. Wasser übt ja eine gewisse Faszination auf Kinder aus.« 180
»Feuer noch mehr«, bemerkte Becker. Dietrich Kölling erwiderte nichts. Er schlug die Karte auf und betrachtete das Gewässer, das Der Teich hieß. Es war nur ein paar Schritte von ihnen entfernt. Auf jeden Fall kannte Aaron Leichtner die Gegend. »Ich möchte jedenfalls nicht ausschließen, dass dieser Aaron wirklich den Täter gesehen hat«, sagte er. »Wenn es überhaupt eine Tat gibt«, sagte Becker. »Ja, wenn.« Dietrich Kölling nickte vor sich hin. »Ehrlich gesagt, ich gehe davon aus. Unser Täter dringt immer weiter in den Norden Berlins vor, warum auch immer. Vielleicht will er uns ärgern. Und der verschwundene Knabe entspricht seinen Vorstellungen, will ich meinen.« Becker spie von der Brücke. Dietrich Kölling schaute ihm über die Schulter und sah, wie die Spucke ein Stück von dem Flüsschen mitgenommen wurde, bevor sie sich mit dem Wasser untrennbar vermischte und unsichtbar wurde. Angewidert wandte er sich ab und hob den Blick. Dann griff er plötzlich nach Beckers Mantelärmel. Becker zuckte zusammen. »Dort!« Dietrich Kölling deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung, in der er etwas entdeckt hatte. Eine Leiche oder Leichenteile waren es nicht. Keine dreißig Meter von ihnen entfernt hockte ein Junge mit angezogenen Beinen auf der Uferböschung. Er trug ein weißes Kapuzenshirt, eine Blue Jeans und weiße Turnschuhe, er war blond und dreizehn oder vierzehn Jahre alt. »Das nenne ich eine Überraschung«, sagte Dietrich Kölling und setzte sich in Bewegung. Becker folgte ihm. »Wer ist das?«, wollte er wissen. »Aaron Leichtner.« »Ach?« Becker stellte fest, dass der Bengel genauso aussah wie sein Sohn, zumindest was den Kleidungsstil betraf. Ansonsten war er jünger, und Beckers Sohn war auch nicht blond. 181
»Kommen Sie!« Dietrich Kölling setzte sich in Bewegung, Becker folgte ihm. Als Dietrich Kölling sich dem Jungen auf etwa fünf, sechs Meter genähert hatte, schaute dieser auf. Er brauchte offenbar ein paar Sekunden, um Dietrich Kölling zu erkennen, dann sprang er sofort auf. An der Nasenspitze war ihm anzusehen, dass ihm die Begegnung mit der Polizei an diesem Ort alles andere als angenehm war. »Guten Tag, Aaron«, sagte Dietrich Kölling, verzog das Gesicht zu einem Lächeln und streckte dem Jungen sogar die Hand entgegen. Aaron Leichtner nahm sie, nachdem er sich seine Hand an der Hose abgewischt hatte. »Guten Tag.« »Was machst du denn hier?« »Ach, nichts«, erwiderte der Junge. »Ich bin öfter hier.« »Mit dem berühmten Scott?« Dietrich Kölling lächelte noch immer. Er sah bestimmt aus wie ein Honigkuchenpferd. »Nee, mit meinem eigenen Rad.« Aaron Leichtner deutete auf ein Fahrrad, das er an einen Baum gelehnt hatte. Es war schwarz mit violetten Einsprengseln im Lack, es hieß Künsting und war garantiert kein Mountainbike. »Das Scott hat mein Bruder. Er trainiert heute.« »Fleißig, fleißig.« Dietrich Kölling schaute hinab zur Panke. Dann wandte er sich wieder Aaron Leichtner zu. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet: Warum bist du hier? Um dem fließenden Wasser zuzuschauen? Das soll ja etwas Beruhigendes haben. Oder spielst du Detektiv?« »Quatsch«, sagte der Junge sofort. Etwas zu schnell, wie Dietrich Kölling fand. »Davon möchte ich auch abraten.« »Ich wollte halt nach der Schule einfach noch ein bisschen durch die Gegend crossen«, behauptete Aaron Leichtner. Er bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln, und seines wirkte sogar ein wenig verschwörerisch. »Bevor die große Party beginnt. Ich hab heute nämlich Geburtstag. Muss dann auch los.« 182
»Oh, herzlichen Glückwunsch«, sagte Dietrich Kölling, während sich der Junge auf sein Fahrrad schwang. »Ciao«, sagte er noch, dann preschte er davon. Dietrich Kölling blickte zu Becker. Der machte bloß ein Pokerface. »War das so etwas wie eine Begegnung der dritten Art?«, wollte Dietrich Kölling von ihm wissen. »Ist das nicht eine Begegnung mit Außerirdischen? Dieser Leichtner-Sprössling kommt mir nicht gerade außerirdisch vor.« »Nein, er scheint ein höchst irdisches Wesen zu sein.« Dietrich Kölling langte in eine der Manteltaschen und förderte eine Zigarettenpackung zutage. »Aber seitdem uns Frau Beate die Bude einrennt, möchte man fast ausrufen: Leichtner auf allen Wegen. Ich finde es höchst bemerkenswert, dass ausgerechnet dieser Knabe eine möglicherweise wichtige Beobachtung gemacht hat. Vielleicht hat er sich das alles nur ausgedacht.« »Warum sollte er?« Dietrich Kölling zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief, behielt den Rauch eine Weile in der Lunge und entließ ihn dann durch Mund und Nase. Sanitätsrat Kersten hatte ihm dringend geraten, das Rauchen aufzugeben, weil es ein Risikofaktor bei Bluthochdruck war. Aber zum einen litt Dietrich Kölling nicht an Bluthochdruck, und zum anderen steckte das ganze Leben voller Risiken und führte unweigerlich zum Tode. »Vielleicht will er uns von etwas anderem ablenken«, meinte Dietrich Kölling. »Deshalb könnte er uns einen Bären aufgebunden haben. Dass der Vermisste in der Schlossallee wohnte …« »Wohnt«, korrigierte Becker rasch. »Nun, im Augenblick doch wohl nicht. Aber wie auch immer: Dass er aus der Schlossallee stammt, stand in der Zeitung.« »Dann fragt sich also, wovon uns Aaron Leichtner ablenken will«, sagte Becker.
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»Genau das fragt sich«, sagte Dietrich Kölling, warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Aaron hatte für seine Party zwei Anfangszeiten bestimmt. Die Mädchen, Corinne und ihre Freundin, waren für fünfzehn, der Sklave erst für fünfzehn Uhr dreißig bestellt. Tahir sollte ein Auge kriegen, wenn er Corinne sah, und Aaron noch mehr anhimmeln als sowieso, weil das begehrteste Weib der Klasse auf seiner Fete rumhockte. Als er noch nicht wusste, dass zwei Weiber vorbeikommen würden, hatte er den Sklaven sogar zu sechzehn Uhr eingeladen. Davor, eine geschlagene Stunde allein mit zwei Tittenträgerinnen zu verbringen, fürchtete sich Aaron, und so hatte er die Zeit für Tahir geändert. Weil er sich gelangweilt hatte, war er noch einmal an die Panke gefahren. Das war ein Fehler gewesen, wie er nun einsah, aber er hatte doch nicht damit rechnen können, dort dem Bullen aus der Keithstraße und noch einem zweiten zu begegnen, der nicht ein Wort gesagt hatte. Sie dachten jetzt bestimmt darüber nach, warum es ihn immer wieder an dieses beschissene Rinnsal zog. Nun würde er nicht mehr hinfahren. Es war einfach Bockmist, auf das Böse zu warten, wenn man es selbst tun konnte. Corinne war fast pünktlich. Exakt sieben Minuten nach drei klingelte sie am Gartentor. Aaron, der total aus dem Häuschen war, obwohl er doch cool bleiben wollte, bekam einen Schweißausbruch und rannte noch einmal ins Bad, um sich Papas Aftershave hinter die Ohren zu schmieren. Dann ging er öffnen. Corinne hatte sich für ihn schick gemacht. In der Schule trug sie Jeans und T-Shirts, wenn auch die allerbesten Marken, aber zur Feier des Tages hatte sie eine schwarze Lederhose angezogen, schwarze Plateauschuhe und eine dunkelblaue Seidenbluse. Sie sah echt geil aus. Von ihrer Freundin konnte man das nicht sagen. Sie war total verpickelt und hieß Sophie. 184
Außerdem waren ihre Eltern Lehrer, wie Aaron auf dem Weg von der Gartenpforte zur Haustür sogleich erfuhr. Der Sklave würde eine Krise kriegen. »Wer kommt denn alles?«, wollte Corinne wissen. »Tahir noch«, erwiderte Aaron kurz angebunden. Er rechnete damit, dass Corinne sofort umdrehen würde. »Super«, sagte sie. »Den kann ich gut leiden. Er ist immer so still, dreht nie auf. Ihr seid Freunde?« »Ja.« »Wo ’s ’n das Klo?,« erkundigte sich Sophie. Sie kicherte, als ob sie wer weiß was Komisches gefragt hätte. Aaron geleitete sie zur Tür und zeigte ihr den Weg die Diele entlang. Während sie den kurzen Weg zurücklegte, schaute sie zu Aaron und grinste. Es war kein verführerisches, sondern ein debiles Grinsen, wie er fand. Sophie öffnete die Badtür. Da sie ihren Blick noch immer auf Aaron gerichtet hielt, knallte sie gegen den Türrahmen. Aaron wandte sich rasch ab und verdrehte die Augen. Er sah eine Katastrophe voraus. »Wir haben eigentlich Herrn Becker erwartet«, sagte der Einsatzleiter der Bereitschaftspolizei. Das gab Tangermann einen zusätzlichen Stich ins Herz. Der Einsatzleiter traute ihm offenbar nicht zu, die Bedeutung des von seiner Truppe Entdeckten einzuschätzen. Tangermann versuchte abzulenken und gleichzeitig eine kleine Stichelei anzubringen. »Was sind denn das für zwei Cowboys da am Zufahrtsweg?«, fragte er. »Denen sollte man mal das Polizeiaufgabengesetz zu lesen geben. Wobei, lesen …« Er zuckte die Achseln. »Bei uns heißen sie Dick und Doof«, entgegnete der Einsatzleiter kühl. Er trug drei Sterne auf den Schultern. »Ich habe sie nicht eingestellt.« Das klang vorwurfsvoll, als hätte Tangermann es getan. »Na, dann lassen Sie uns mal gucken«, sagte er. 185
Zu gucken gab es eine Menge. Ein paar Meter von dem Rinnsal entfernt, das Tegeler Fließ genannt wurde, war durch das Niedertrampeln der Brennnesseln eine freie Fläche entstanden. Die trockene Erde und die niedergetretenen Pflanzen waren blutgetränkt, aber nicht nur das, es waren auch Knochensplitter und Fleischfetzen zu sehen. Tangermann wandte sich ab. Er konnte solche Anblicke nicht mehr ertragen. Gefreut hatte er sich, als er seinen Dienst bei der Mordkommission antreten durfte, aber schon sehr rasch war ihm klar geworden, dass er für diese Arbeit eigentlich zu sensibel war. Er hatte es zu unterdrücken versucht, weil er zumindest im Berufsleben ein starker Mann sein wollte, aber im Gegensatz zu seinen Kollegen fühlte er sich manchmal überfordert von den vielen übel zugerichteten Leichen und dem menschlichen Schmutz, der während der Ermittlungen aufgewühlt wurde. Mitunter dachte er sogar darüber nach, sich von der Mordkommission in ein anderes Kommissariat versetzen zu lassen, aber das konnte er seinen Eltern nicht antun. Sie waren davon überzeugt, dass ihr Sohn einen atemberaubenden Aufstieg hinter sich und eine ebensolche Karriere vor sich hatte. Wenn er plötzlich bei Diebstahl anfing, würden sie es für einen Abstieg halten. Davon einmal abgesehen, stand Tangermann auch sein eigener Ehrgeiz im Wege. Er hielt sich zwar nicht für eitler als andere Menschen, aber auch für ihn wäre es ein Eingeständnis einer Niederlage, wenn er den Dienst im Mordkommissariat quittieren würde. Doch bei dem aktuellen Fall wurden sein Ekel und sein Leid dadurch verstärkt, dass die Opfer Kinder waren. Er hatte seine Gefühle auf den Prüfstand gestellt und sich gefragt, ob er deshalb so besonders litt, weil es sich um Knaben handelte. Zur Wahrheit hatte er sich ermahnt, zur Wahrheit sich selbst gegenüber. Er war nicht pädophil, doch er kannte die Fotos der vier bislang umgebrachten Jungen und musste bekennen, dass ihre zerstörte kindliche Schönheit ihm sehr zu schaffen machte. 186
Es waren männliche Wesen, und er hatte nun einmal diese Affinität zum männlichen Geschlecht. Trotzdem, so hatte seine ernsthafte Selbstprüfung ergeben, erwürgte und zerstückelte kleine Mädchen würden ihn ebenso quälen: Kinder zu töten, das war nicht nur schrecklich, es war bestialisch. »Die Spurensicherung ist heute extrem lahmarschig«, meinte der Einsatzleiter. Kein Wort des Bedauerns oder des Mitleids kam über seine Lippen, er münzte das Grausame und das Grauen in technische Vorgänge um. Das war auch richtig so, schließlich ging es darum, ein Verbrechen aufzuklären, und was immer ein Beamter dabei empfand, für das Ermittlungsverfahren spielte es keine Rolle. »Sie sehen nicht gut aus«, stellte der Einsatzleiter fest, ohne Häme, aber auch ohne Mitgefühl. Tangermann riss sich zusammen. »Geben Sie mir die Karte«, bat er. Der Plan des NSG Schildow war den Suchmannschaften von der Forstverwaltung zur Verfügung gestellt worden, und Forstbeamte pflegten Wälder in Planquadrate einzuteilen, die sie Jagen nannten. Tangermann notierte sich die Nummer des Jagens, in dem die Überreste eines menschlichen, höchstwahrscheinlich kindlichen Körpers entdeckt worden waren. Dann schaute er sich die Wege an, die den Wald durchkreuzten. Sie folgten keinen mathematischen Prinzipien, sondern den Bedürfnissen der Heger und Nutzer sowie den natürlichen Gegebenheiten. Das Opfer, das hier getötet und zerstückelt worden war, hatte sich etwa zwanzig Meter von einem Schlängelpfad entfernt, war durch das Unterholz gestromert und dann an das Fließ gelangt, vorausgesetzt, es hatte überhaupt Waldwege benutzt und war nicht einfach dem Wasserlauf gefolgt. Der Mörder hingegen war gewiss aus dem Wald gekommen. Der Schlängelpfad führte zu einem breiteren Weg, der im Norden in einen weiteren mündete, und aus diesem wurde der Verbindungsweg nach Arkenberge. Falls Becker 187
Recht hatte, und daran bestand kein Zweifel, hatte der Mörder sich auf diesen Pfaden bewegt, also mussten sie abgesucht werden. Tangermann zögerte, dem Einsatzleiter mit dem weitaus höheren Rang eine Weisung zu erteilen. Jetzt fehlte ihm Beckers Beistand. Tangermann wurde vorerst einer Entscheidung enthoben, da die Spurensicherung eintraf. Bei den Leuten von der PTU, die in einem weinroten VW-Bus vorfuhren, handelte es sich um zwei Frauen und einen Mann. Sie nickten dem Einsatzleiter und Tangermann zu, öffneten die Hecktür des Kleinbusses, entnahmen ihm weiße Overalls und Gummistiefel und kleideten sich um. So präpariert, trat eine der Frauen, sie war Anfang vierzig, zum Einsatzleiter und zu Tangermann. »Schröder«, stellte sie sich vor. »Weisen Sie uns kurz ein.« »Das kann der Kollege von der Kripo machen«, sagte der Einsatzleiter und nahm die Forstkarte an sich. »Und nun sagen Sie mir endlich«, wandte er sich an Tangermann, »wo wir noch suchen sollen. Und vor allem: was? Wir sind nicht zum Rätselraten hier, und Sie haben doch wohl das Käppi auf.« Tangermann war froh, dass der Mann von der Bereitschaftspolizei selbst eine Weisung von ihm forderte. »Was wir suchen«, sagte er, »das weiß ich nicht. Reifenspuren von dem Fahrrad, das der Täter unserer Ansicht nach benutzt, wird man wohl nicht mehr finden. Vielleicht hat er unterwegs irgendetwas weggeschmissen.« »Irgendetwas.« Der Einsatzleiter zuckte die Achseln, aber er machte sich auf den Weg zu seinen Leuten. Tangermann zeigte der Frau Schröder das blutbesudelte Areal. »Wir nehmen an, dass der Junge im Tegeler Fließ ertränkt und dann an dieser Stelle zerstückelt wurde«, erklärte er. »Aha.« Frau Schröder winkte die beiden anderen Kriminaltechniker herbei. Dann widmete sie sich wieder Tangermann.
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»Sie wissen ja sicher besser als wir, was in so einem Kindermörder vorgeht, aber meinen Sie nicht, dass er erst mal längere Zeit das Opfer beobachtet hat? Und er wird doch nervös sein vor der Tat, oder? Falls er die Nervosität durch exzessives Rauchen bekämpft, dann finden Sie vielleicht dort«, sie wies in den Wald, »einen Berg von Kippen.« Die PTU machte sich an die Arbeit. Nach den Kippen suchte Tangermann selbst. Er brauchte keine Viertelstunde, bis er ein Dutzend fand. »Kein Lachs und kein Kaviar?«, fragte Corinne, zwinkerte Aaron zu und legte ihren Kopf an Tahirs Schulter. Sophie kicherte. Das tat sie schon die ganze Zeit. Aaron hatte die Nudeln serviert, die als Trainingsnahrung für David bestimmt gewesen waren. Nur weil Corinne mit Tahir flirtete, hatte er es getan. Sein Vater war über sich hinausgewachsen und hatte zu Aarons vierzehntem Geburtstag Schnittchen fabriziert. Aaron würde sie erst herausrücken, wenn er mit Tahir allein war, denn er hatte das Interesse für Weiber schon wieder verloren. Die laberten wirklich nur Scheiße. »Heut ist Miracoli-Tag«, lallte Sophie. Auch das war ein Fehler gewesen: vom Alten ein bisschen Schnaps abzuziehen und ihn an diese bekloppten Piepsmäuse auszuschenken. Corinnes Geschenk, ein Blumenstrauß – das musste man sich mal vorstellen –, verkümmerte in der Spüle. Aaron verkrümelte sich kurz ins Wohnzimmer und nahm sich eine der Wodkaflaschen seines Vaters vor. Das würde Ärger geben, aber Aaron war es scheißegal. Er war voller Hass. Er hasste sich selbst, weil er seinen bekackten Alten immer noch gern hatte und Papa nannte. Ein Vierzehnjähriger, der töten wollte, musste das Wort Papa aus seinem Wortschatz streichen. Aaron hasste sich für jeden Ansatz zärtlichen Gefühls anderen Menschen gegenüber, am meisten jedoch hasste er die Weiber. 189
Er hätte nur den Sklaven einladen sollen. Wenn sich jetzt etwas Ernsthaftes zwischen Corinne und Tahir abspielte, würde er mit der Pickelsophie in den Mond gucken. Die war so hässlich, man kriegte das Kotzen. Ständig prahlte die blöde Kuh mit den Auftritten ihres beschissenen Flötenquintetts. Sogar in Madrid war sie schon aufgetreten. Corinne zwar auch, aber die machte nicht so viel Gewese darum. Sie war mit dem Sklaven beschäftigt. »Hey, Aaron, nun sei nicht sauer«, rief Corinne. »Das war nur ein Gag. Die Nudeln sind super.« »Super Nudeln«, wiederkäute Sophie und kicherte. Man sollte die Weiber ausrotten. Aaron nahm noch einen anständigen Schluck aus der Wodkaflasche und schwankte bereits leicht, als er den Flur überquerte. Papa, der Vater, der Alte hatte es geschafft, zwei Stangenbrote aufzutreiben, deux baguettes, die nicht sofort vertrockneten, und er hatte sich richtig Mühe gegeben mit den Schnittchen. Lachs und Kaviar gab es nicht, aber Schinken, Salami, Camembert, Edamer und Thunfisch. Die Platten hatte der Alte mit Salatblättern, Radieschen sowie grünen und schwarzen Oliven garniert, alles sah wahnsinnig lecker aus, und Aaron bediente sich. Zwei Salamischnittchen schob er sich ein. »Was ’s los, Aaron?«, rief Corinne. »Vielleicht ist er schwul und eifersüchtig«, krähte Pickelsophie. Das war zu viel. Aaron sauste zurück in sein Zimmer. Ihm gelang es, trotz seiner Angetrunkenheit nicht mit dem Türrahmen zu kollidieren und sich in einer halbwegs drohenden Haltung aufzubauen. »Verpisst euch!«, brüllte er. »Von euch lass ich mir meinen Geburtstag nicht verderben.« »Aber … Aaron!« Corinne schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an; einen solchen Wutausbruch hatte sie wohl nicht erwartet. »Der Schnaps«, meinte Sophie, die selbst hinüber war. 190
»Haut ab!« Aaron vermochte sich nicht zu beruhigen. »Ich auch?«, fragte Tahir schüchtern. »Nee, du nich. Du bist mein bester Freund.« In dieser Sekunde meinte es Aaron ernst. »Klar, der ist schwul«, laberte Pickelsophie. »Komm bloß mit«, sagte sie zu Tahir, »der geht dir an die Wäsche. Was du für Typen kennst!« Das war auf Corinne gemünzt. Corinne und Sophie gaben Fersengeld. Aaron, ein wenig Stil wollte er wahren, begleitete sie zur Haustür. An der Tür schickte Corinne ihre Freundin voraus, die erst einmal protestierte, aber dann doch gehorchte. Als das Pickelgesicht durch die Gartenpforte auf die Straße 126 rannte, drehte sich Corinne zu Aaron um. »Tut mir echt Leid«, sagte sie. »Ich hätte diese Rüschenbluse nicht mitbringen sollen. Irgendwie sind wir ja befreundet, aber manchmal knallt die durch. Weißt du, Aaron, ihre Alten sind total spießig. Der Vater ist bei den Republikanern. Deswegen habe ich sie ja mitgebracht. Sie sollte mal einen netten Ausländer kennen lernen und einen Jungen … einen wie dich.« »Einen Schwulen?« »Ach, ist doch egal.« Corinne küsste ihn auf die Nasenspitze. Sie wurde nicht rot dabei, Aaron schon. »Bye«, sagte Corinne und wandte sich zum Gehen. »Corinne?« »Ja?« »Du bist gar nicht so hochnäsig, wie ich dachte«, sagte Aaron. »Ich? Hochnäsig?« Corinne lachte. »Da musste dich erst mal selber angucken. Also: Viel Spaß noch mit deinem Freund. Ich erfinde morgen ’ne Entschuldigung für euch.« »Wir brauchen keine«, sagte Aaron. »Aber ihr werdet bestimmt noch saufen.« Corinne winkte, bevor sie Sophie unter die Arme griff und nach links in Richtung Hauptstraße verschwand. Aaron schaute ihr nach.
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Corinne war okay, und er war der Einzige in der Klasse, der es wusste. »Aaron? Alles klar?«, fragte jemand hinter ihm. Es war Tahir, und er fragte mit sanfter Stimme. Nicht nur ein Schreibstift, auch eine Stimme konnte einen hinter den Ohren kraulen. Aaron tat nichts, er blieb nur stehen, erstarrt und atemlos. Er wartete. Er hoffte. Er wartete und hoffte auf eine Berührung. Die Berührung blieb aus. »Eh, was ist denn?«, wollte Tahir wissen. »Nichts.« Aaron vollführte eine Drehung, schob Tahir in die Diele und schloss die Tür mit einem Fußtritt. Der Mörder rauchte Zigaretten der Marke f6. Diese Marke stammte aus Ostdeutschland und war in der früheren DDR sehr beliebt gewesen, aber es war verfehlt, daraus den Schluss zu ziehen, der Täter müsse unbedingt im Osten leben. Wahrscheinlich war es aber. Drei seiner Verbrechen hatte er in Brandenburg begangen, das vierte an der Grenze zu Brandenburg, und obgleich sich alle Tatorte im Norden befanden, war es für Westberliner noch immer der Osten. Auch Becker war schließlich am vermeintlichen Tatort eingetroffen und hatte Tangermann zu seinem Kippenfund beglückwünscht, was dem Kommissar besonders unangenehm war, da es in Hörweite der Frau Schröder geschah. Sie hatte nur still in sich hineingelächelt. Für den überempfindlichen Tangermann war dieses Lächeln beinahe eine Beleidigung gewesen, obwohl es gewiss so nicht gemeint war. Ihm hatte es aber gesagt: Lass das blinde Huhn auch einmal ein Körnchen finden! Unterwegs nach Arkenberge war Tangermann drauf und dran, die gesamte Schöpfung zu verfluchen. Ein altes, verwittertes Wahlplakat, das er wenige Meter vor der Dorfkirche von Blankenfelde passieren musste, gab seinen Flüchen zusätzliche Nahrung. Welche Partei auch immer das Plakat aufgestellt und 192
dann vergessen hatte, sie forderte soziale Gerechtigkeit. Tangermann bremste den Wagen ab, blinkte und ordnete sich vor der Hauptstraße in die Linksabbiegerspur ein. Soziale Gerechtigkeit, das bedeutete, dass jeder genug vom immer kleiner werdenden großen Kuchen abbekam. Es gab keine Gerechtigkeit. Das Schicksal, Gott oder wie immer man es nennen wollte, verteilte seine Gaben höchst ungerecht. Tangermann fuhr auf der Hauptstraße nach Norden. Manche bekamen alles, nicht nur Geld und Erfolg, sondern obendrein noch Liebe, andere waren ausgeschlossen. Zu ihnen zählte sich Tangermann. Sein Einkommen war so wenig üppig, wie er erfolgreich war, aber das interessierte ihn nicht. Noch so viel Geld und noch so hehre Erfolge konnten die Abwesenheit von Liebe in seinem Leben nicht wettmachen. Mit Markus hatte er ein paar Mal geschlafen. Er hatte es, von der Eitelkeit angestachelt, tatsächlich für einen Erfolg gehalten, dass er den Typen, der nur einmal in der Woche einen Kerl brauchte, viel öfter in sein Bett bekommen hatte. Er war auch willfährig gewesen, doch Tangermanns sexuelle Ansprüche waren ohnehin gewöhnlich. Zärtlichkeit, Kuscheln, Streicheln und Küssen bedeuteten ihm mehr als ein rascher Orgasmus. Markus hatte sich auch umarmen, streicheln und küssen lassen. Dann war er, von einem Tag zum anderen, nicht mehr erschienen und hatte sich auch sonst nicht gemeldet. Seit dem vergangenen Abend kannte Tangermann die Gründe. In Arkenberge wurde Tangermann von zwölf Polizeibeamten erwartet. Sie kamen von den Kripodienststellen der Bezirke Reinickendorf und Pankow und waren abgestellt worden, um die Bewohner von Arkenberge zu befragen. Tangermann sollte die Aktion leiten, sollte sie koordinieren. Im Kulturhaus der Kolonisten befand sich die improvisierte Einsatzzentrale. Tangermanns Familie war nicht religiös, aber es gehörte zur Familientradition, dass alle Kinder mit vierzehn Jahren konfirmiert wurden. Zu seiner Konfirmation hatte Hans-Joachim 193
eine vergoldete Taschenuhr bekommen und einen goldenen Herrenring mit einer schönen Gravur und einem großen Topas in der Mitte, kostbare Erbstücke, die schon seit Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden. Tangermann trug sie nicht, aber er hatte sie, vorwiegend aus sentimentalen Gründen, gehütet wie seinen Augapfel. Im Kulturhaus wies er die Kollegen ein und ließ sich nicht anmerken, wie miserabel er sich fühlte. Anstatt in Tränen auszubrechen, teilte er für jede Straße und für die Kolonie Arkenberger Grund die Teams ein, dann ging es auch für ihn an die öde Beschäftigung des Klinkenputzens. Irgendwann, während Tangermann schlief, musste Markus seine Wohnung durchsucht haben. Tangermann hatte es zuerst aber nicht bemerkt, denn Markus war so vorsichtig zu Werke gegangen, dass alles an seinem Platz geblieben war. Genauer gesagt: Fast alles. Nachdem sich Markus ein paar Tage nicht gemeldet hatte und auch telefonisch nicht erreichbar war, hatte Tangermann, von gesundem Misstrauen oder einer Vorahnung getrieben, in seinem Kleiderschrank nachgeschaut; dort hatte er Uhr und Ring unter der Bettwäsche verborgen. Jeder Kriminalist, er selbst eingeschlossen, hätte ihm sagen können, dass dies eines der dümmsten Verstecke überhaupt war. Geschickte Einbrecher oder Beischlafdiebe pflegten immer zuerst zwischen der Wäsche nachzuschauen. Beide Stücke waren fort gewesen. Und Markus blieb verschwunden. Aaron hatte Kiddick – Chroniken eines Kriegers eingelegt. Tahir lag auf dem Bett, weil er es von seinem Asylantenheim gewöhnt war, die halbe Welt vom Bett aus zu betrachten. Zuerst hatte er jedoch seine Bewunderung dafür geäußert, dass Aaron nicht nur ein eigenes Fernsehgerät hatte, sondern auch einen Videorecorder und einen DVD-Player. Tahirs Begeisterung, die 194
bestimmt auch mit ein wenig Neid vermischt war, war Aaron runtergegangen wie Öl. Der Sklave schaute sich aber nicht Kiddick an; der Kampf gegen die Necromonger interessierte ihn augenscheinlich nicht. Stattdessen guckte er Aaron dabei zu, wie dieser Wodka einschenkte, mit zitternden Händen. »Weiber labern ’ne Menge Müll«, sagte er. »Kannste laut sagen.« Aaron öffnete das Fenster, dann zog er mit der ausholenden Geste eines Magiers zwei Zigaretten aus dem Ärmel seines Sweatshirts. Tahir sprang vom Bett. Sie rauchten zum Fenster hinaus. Den Wodka rührte Tahir nicht an. Er hatte Aaron erklärt, dass sein Vater ihn mit Stubenarrest bestrafen würde, wenn er mit einer Fahne heimkäme. In dem kleinen Raum in der Baracke musste Stubenarrest eine Folter sein. »Wenn wir aufgeraucht haben«, sagte Aaron, »können wir in die Küche gehen und uns voll fressen. Mein Alter hat einen Haufen Schnittchen gemacht.« »Du wolltest mir deine Geschenke zeigen«, erinnerte Tahir. Daran hatte Aaron nicht mehr gedacht, weil es den Stress mit der Pickeljule gegeben hatte, aber auch, weil er nicht mehr nüchtern war. Er musste sich zusammenreißen, schließlich galt es, seinen Plan zu verwirklichen. Aaron nahm den Schuhkarton aus seinem Kleiderschrank. Bereits als er die Aufschrift Dirty Sports Fashion auf dem Karton las, bekam Tahir glänzende Augen. Er wickelte die Death Race mit spitzen Fingern aus dem Seidenpapier, in das Aaron sie wieder eingeschlagen hatte, dann drehte er einen Turnschuh in der Hand und betrachtete ihn von allen Seiten, als handle es sich um ein Kronjuwel. »Geil«, sagte er schließlich. »Probier sie an.« »Was?« »Zieh sie einfach mal an«, sagte Aaron. 195
»Ehrlich?« Das Leuchten in Tahirs Augen verstärkte sich. Er löste die Schnürsenkel seiner adidas und streifte sie von den Füßen. Wieder trug er weiße Tennissocken, die allerdings bereits vom langen Tag gezeichnet waren. Gerade dass sie schmutzig waren, erregte Aaron auf seltsame Weise. Ihn überkam plötzlich der Wunsch, Tahirs Füße in die Hand zu nehmen und sie zu streicheln. Erschrocken von diesem bisher unbekannten Verlangen, floh er in die Küche. Im Flur hörte er, wie jemand die Haustür aufschloss. Es war David, der in seiner Trainingskluft steckte und vollkommen durchgeschwitzt war. »Hi, Bruderherz«, grüßte er und hob lässig die Hand. Von David hatte Aaron noch kein Geschenk bekommen, aber bei ihrem hastig eingenommenen Frühstück hatte der Bruder angekündigt, sein Präsent nach dem Training zu überreichen. David ging auf sein Zimmer, um sich umzuziehen, Aaron holte die Schnittchen und eine Flasche Apfelsaft. »Mann, hast du große Latschen«, sagte Tahir, als Aaron zurückgekehrt war. Offenbar war der Freund ein paar Mal auf und ab gegangen, und er konnte sich nicht satt sehen an den Death Race. Aaron platzierte die Platte und den Saft auf seinen Schreibtisch. »Sind sie dir zu groß?« »Nur ’n bisschen.« »Komm futtern.« Aaron nahm Käse, Tahir griff zur Salami. Sie war aus Schweinereien hergestellt, aber der Serbe war kein Moslem, er war Christ. »Ich werde die Schuhe ein paar Wochen tragen müssen«, meinte Aaron, »wegen meinem Alten und so. Außerdem zur Angabe in der Schule.« Er lächelte. Aus dem Bad war das Rauschen des Wassers in der Dusche zu hören. »Aber danach kannst du sie haben. Vielleicht für die Sommerferien?« »Das meinst du nicht wirklich.« Tahir, der gerade nach dem nächsten Salamischnittchen langen wollte, hielt in der 196
Bewegung inne. Aaron schaute auf dessen nackten Arm, auf dem sich eine Schonung schwarzer Härchen anschickte, zum Wald zu werden. Auch über Tahirs Scham, das wusste Aaron vom Sportunterricht, spross bereits ein dichtes dunkles Dickicht, neben dem sich Aarons dünnes blondes Gekräusel mehr als bescheiden ausnahm. »Doch. Du kriegst sie. Hundertpro. Allerdings … Wir müssen noch was zusammen machen. Du weißt es.« »Ja«, bestätigte Tahir flüsternd und senkte den Blick. »Es ist bald so weit. Am nächsten Sonntag, glaube ich.« »Ich habe Angst«, bekannte Tahir. »Das brauchst du nicht.« Aaron legte dem Freund eine Hand auf die Schulter. Tahir wurde starr, entzog sich aber nicht. »Du brauchst keine Angst zu haben, weil du noch nicht vierzehn bist.« »Und wenn ich ausgewiesen werde?« Das Duschgeräusch aus dem Bad verstummte. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen, David tappte auf nackten Füßen über den Flur. Tahirs Körper hatte sich etwas entspannt, seine Schulter vibrierte leicht unter Aarons Berührung. Aaron spürte mit einem Mal eine solch heftige Zuneigung, eine solche Zärtlichkeit für den Jüngeren, dass sie ihm die Kehle zuschnürte und er es als Erlösung empfand, als David sein Zimmer betrat. Der Bruder hatte sich sogar die Mühe gemacht, seine Gaben in Geschenkpapier einzuwickeln. Es waren zwei Geschenke, und trotz der Verkleidung sah man ihnen an, dass es sich um Bücher handelte. »Na, feiert ihr schön?«, fragte David. »Ja, super«, sagte Aaron und machte sich daran, die Präsente auszukleiden. Das erste war ein Buch mit Mangas, das zweite hatte sich Aaron ausdrücklich gewünscht. Es handelte sich um ein Buch über Mountainbikes, versehen mit vielen Abbildungen und technischen Zeichnungen. Eine Menge Geld hatte David ausgegeben, um seinen Bruder zufrieden zu stellen. 197
»Putz dir lieber die Zähne, bevor Papa kommt«, riet David. »Du hast schon ’ne kleine Fahne.« Dann ließ er die beiden Feiernden allein. »Iss doch noch was«, forderte Aaron den Freund auf und setzte sich auf sein Bett. »Und dann komm her.« Tahir tat, wie ihm geheißen. Er vertilgte das letzte Salamibrot, schenkte sich von dem Saft ein und nahm schließlich neben Aaron Platz. Gemeinsam vertieften sie sich in das Buch über Mountainbikes. Beim Cannondale verweilten sie am längsten.
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Achtes Kapitel David war um sechs Uhr aufgestanden. Nicht weil es nötig gewesen wäre, aber er hatte seit fünf wach gelegen und nicht mehr einschlafen können. Das hatte mit seiner Aufregung zu tun, aber auch damit, dass er an Schultagen, wenn er zur ersten Stunde musste, sowieso um sechs aus den Federn musste. Er hatte ausgiebig geduscht und dann überprüft, ob bereitlag, was er brauchte. Am Abend zuvor hatte er es schon einmal getan. Alles war parat: der Sturzhelm und die Handschuhe, das Trikot und die Radlerhose, die Schuhe und die Socken. Weil für Downhills andere Bikes benutzt wurden, stand das Scott in der Garage, und dort würde es auch bleiben. David hatte es für die Ausbildung seiner Ausdauer und seiner Beinkraft benötigt und, wie Herr Pick meinte, für die Übung des Teamgeists. Bei einem Downhill kam es jedoch vor allem auf die Geschicklichkeit an und auf die Fähigkeit, gekonnt zu bremsen, ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren. Teamgeist war dabei eigentlich überflüssig, Downhills waren Veranstaltungen für Einzelkämpfer. Das Einzige, was David für seine Kameraden würde tun können, war, sie anzufeuern, allerdings immer in der Hoffnung, dass sie eine schlechtere Zeit fuhren als er; zumindest wenn er gewinnen wollte. Und das wollte er. Er wollte es unbedingt. Norman, Mario und Uwe sollten die anderen Vereine ausstechen, dafür war er auf jeden Fall. Nur: Dass der Sturmvogel die vier vorderen Plätze belegte, war unmöglich, er war nun mal kein Spitzenverein. David sah dem Downhill nicht nur mit großen Erwartungen, sondern auch mit einer gewissen Sorge entgegen. Sein Bruder hatte gelobt, sich an Titus zu rächen. Was er vorhatte, wusste David nicht, aber es musste etwas mit Titus’ Rad zu tun haben, denn woher sonst rührte Aarons plötzliches Interesse für die 199
Technik der Mountainbikes? Bisher war sie ihm gleichgültig gewesen. Seit seinem Geburtstag jedoch wälzte er Bücher, in denen Aufbau und Funktionsweise der MTB erklärt wurden. David stand am Fenster, blickte auf die Terrasse und schüttelte den Kopf. Er musste ausschließlich an das Rennen denken, nicht an Titus, nicht an Aarons Pläne. Er wollte gar nicht wissen, was der Bruder beabsichtigte. David wollte das Downhill fahren und siegen. Einmal nur siegen. Danach konnten sie mit ihm machen, was sie wollten. Sie alle, Papa, Aaron, die Lehrer, Herr Pick, die Bullen. Aber erst danach. David war aufgeregt. Wie vor jedem Rennen hatte er Lampenfieber. Obwohl er gerade auf der Toilette gewesen war und nichts getrunken hatte, verspürte er schon wieder einen starken Druck auf der Blase. Er kannte das: Bis er endlich an der Startlinie stand, würde er häufig pinkeln müssen. Das Klo war lange nicht gesäubert worden, aber das störte David nicht. Es lag an Papa, aber der war sowieso extrem gestresst, also war es normal, dass er sich nicht ums Klo kümmern konnte. Hauptsache war doch, dass er sich ebenso wie David auf das Downhill freute. Nur das hatte noch eine Bedeutung: Davids letzter Auftritt. Er pinkelte im Stehen. Mit Kopfschmerzen war Dietrich Kölling zu Bett gegangen, mit Kopfschmerzen war er erwacht. Geschlafen hatte er jedoch – ohne Barbiturate. Er hatte sogar viel und farbig geträumt, erinnerte sich allerdings nur noch vage daran, dass er in seinem Traum auf dem Gang einer Schule gestanden und darauf gewartet hatte, zur Chemieprüfung gerufen zu werden. Es war eine furchtbare Situation gewesen, denn Dietrich Kölling hatte sich zwar sorgfältig auf die Prüfung vorbereitet, allerdings auf ein Examen in Musik. Wie er die Prüfung überstanden hatte, wusste er nicht mehr. Der Benzolring hatte eine Rolle gespielt, und er war gezwungen worden, ihn in Stücke zu hauen. 200
So ein Unsinn, dachte Dietrich Kölling beim Morgenkaffee. Wenn man ihn in diesem Moment gebeten hätte, den Benzolring aufzumalen, hätte er es nicht vermocht. In seinem Traum jedoch hatte er ihn deutlich vor sich gesehen. Seine Schulzeit lag fast vierzig Jahre zurück. Wieso träumte er ausgerechnet von einer Chemieprüfung? Dietrich Kölling seufzte, nahm die Fernbedienung vom Tisch und zappte sich durch das Sonntagvormittagsprogramm. Auf vielen Sendern liefen Trickfilme, aber keiner entsprach seinen Neigungen. Er liebte Dagobert und Donald Duck, er liebte ihre Neffen und auch Goofy, Mickey, Kater Carlo und die Panzerknacker. Die Trickfilme, die am Sonntagvormittag für die Kinder gezeigt wurden, waren ihm zu laut und zu hektisch. Die Lautstärke konnte er regulieren. Aber das irrsinnige Tempo machte ihn nervös. An einem dienstfreien Sonntag mochte Dietrich Kölling sich nicht fühlen wie an einer belebten Kreuzung im Stadtzentrum. Der Sonntag hatte gefälligst ein ruhiger, friedlicher Tag zu sein. Dietrich Kölling schaltete zu Euronews. Dort lief die Sendung No comment. Es wurden brennende Leichen gezeigt. Sofort stieg Dietrich Kölling der Geruch von verbranntem Menschenfleisch in die Nase, und er zündete sich eine Zigarette an. Nach dem Kaffee und der Zigarette fühlte Dietrich Kölling seinen Puls. Sanitätsrat Kersten hatte ihm eine Klappkarte ausgehändigt, in die er dreimal täglich seine Herzfrequenz einzutragen hatte. Sein Herz war ein quicklebendiges Wesen, es pochte schon am Morgen schneller als normal. Dietrich Kölling trug die Zahl ein, starrte sie eine Zeit lang an und zerriss die Klappkarte. Die Zahlen sahen ihm zu sehr nach Todesurteil aus. Dietrich Kölling beschäftigte sich täglich mit dem Tod, aber nie mit seinem eigenen. An den Börsen, erfuhr er von Euronews, sah es wie seit langem miserabel aus. Die Wirtschaft war hypotonisch. Hypotoniker wurden angeblich sehr alt, Hypertoniker nicht. 201
Dietrich Kölling hatte es trotz Hypertonie bis zum Alter von siebenundfünfzig geschafft, er würde auch noch alt werden wie eine Riesenschildkröte. Trotz Hypertonie fühlte er sich unsterblich. Appetit hatte er nicht. Seine Appetitlosigkeit hatte mehrere Gründe. Die Brötchen, die er aus dem Brotschapp nahm, waren vier Tage alt und luden nicht zum Verzehr ein. Auch der Blauschimmelkäse hatte sein Haltbarkeitsdatum überschritten. Mit ihm konnte man nur noch Fugen abdichten. Vor allem aber: Dietrich Kölling mochte nicht essen. Sein Magen verweigerte die Nahrungsaufnahme. Trotzdem nahm Dietrich Kölling zu. Das lag vermutlich an irgendeinem Abschnitt seiner Gene, an der Immer-dicker-werden-trotzHungern-Sequenz. Dietrich Kölling war überzeugt, dass dieser Abschnitt irgendwann einmal entdeckt werden würde. Alles, so behaupteten die Genetiker, war vorbestimmt. Da konnte das Recht doch gleich einpacken. Straftäter waren Opfer ihrer Gene. Punktum, Schluss und aus. Dietrich Kölling zuckte die Schultern, brannte sich eine zweite Zigarette an und griff nach seinem Handy. Seit drei Tagen lag ein Zettel auf dem Frühstückstisch, den seine Nachbarin geschrieben und in seinen Briefkasten geworfen hatte. Sehr geehrter Herr Kölling, las er zum x-ten Mal. Ich fahre am 27. d. M. nach Teneriffa. Ob Sie sich wohl um meinen Kater kümmern könnten? Seit dem Tod von Helene kenne ich keinen Menschen mehr, der Katzen mag. Natürlich zahle ich Ihnen was. Dietrich Kölling tippte die Nummer der Nachbarin ein und überlegte, woher sie ihre Überzeugung nahm, er könnte Katzen mögen. »Brandt?«, meldete sich die Nachbarin. »Wieso fragen Sie? Sie müssen Ihren Namen doch kennen.« »Ach, Herr Kölling. Tut mir Leid, dass ich Sie behelligt habe. Ich weiß einfach keinen anderen Ausweg.« 202
»Tierheim.« »Nein, Herr Kölling. Jupiter geht im Tierheim zugrunde. Er braucht Zuwendung.« »Warum müssen Sie unbedingt nach Teneriffa?« »Ich bin verliebt.« »Was?« »Ich habe einen Mann getroffen. Er hat mich zu einem zweiwöchigen Urlaub eingeladen.« »Ach?« Dietrich Kölling zog heftig an seiner Zigarette. Er war neidisch. »Wer ist Helene?« »Die Dame aus dem ersten Stock links. Helene BergmannWinterfeldt, Witwe eines ehemaligen Kriminalrats. Sie ist vor vier Wochen verstorben. Wussten Sie das nicht?« »Nein.« Dietrich Kölling langte über den Tisch und schlug Tangermanns Klinkenputzerberichte auf. »Sie arbeiten zu viel.« »Genau. Deshalb habe ich für Katzen keine Zeit.« »Aber Jupiter ist ein Goldstück. Er ist sehr genügsam und kommt ins Bett.« »So? Ins Bett?« Das gefiel Dietrich Kölling. Sein Bett teilte er seit Jahren schon mit niemandem. Er blätterte in der Akte. Es stand nichts Wichtiges drin. »Wir können ja ein Experiment machen. Sie nehmen ihn heute und morgen und sehen, wie Sie mit ihm klarkommen.« »Warum eigentlich nicht?« Eine Leiche würde ihm dieser Sonntag nicht bescheren, dafür war die Mordbereitschaft da. Dietrich Kölling hatte fast vierundzwanzig Stunden nur für sich. Das war zu viel. Und Katzen sollten ja eigenständige Tiere sein, die nicht aufs Wort gehorchten, viel schliefen, gern schmusten und spielten und die man nicht Gassi führen musste. »Ich bringe auch das Klo, Herr Kölling. Katzenstreu und Futter. Machen Sie sich keine Sorgen.« »Mach ich mir nicht.« In No comment war der russische Präsident gerade dabei, seinem Außenminister die Hand zu 203
drücken. Dietrich Kölling mochte Putin nicht. Er war ihm zu asketisch. Klug war er wohl und ein geschickter Machtpolitiker. Aber Dietrich Kölling hatte seinen Vorgänger Boris Jelzin lieber gehabt. Das war ein Säufer mit hundert Leichen im Keller und dem Charme eines Bären gewesen. Bären hatten natürlich keinen Charme, es waren Raubtiere. Katzen auch. Dietrich Kölling blätterte zu Befragungsnotiz Nummer dreiundzwanzig. Ein Herr Kluge, Laubenpieper in Arkenberge, hatte nichts gesehen oder gehört. »Also, Herr Kölling?« »Bringen Sie ihn her!« David verließ rasch das Haus und ging in die Garage. Eine Zeit lang betrachtete er das Scott, das ihm so viel bedeutet hatte. Er streichelte den Lenker und dann den Sattel. Es war nur ein Bike, aber irgendwie doch ein Freund, von dem man sich verabschieden musste. Aaron sollte es bekommen. So hatte David es in einem Brief an den Vater aufgeschrieben. Für das Downhill brauchte er den Freund nicht. Für Downhills wurden voll gefederte Fahrräder benutzt, die so genannten Fullsuspension-Bikes. Mit ihnen hatte Herr Pick in den letzten Tagen ebenfalls trainieren lassen. Die vereinseigenen Fullsuspension-Bikes hatten die Kameraden am Vortag auf einem Spezialanhänger befestigt, der nun mit dem Van in der Garage des RSV Sturmvogel der Dinge harrte, die da kommen würden. Um neun Uhr war Treff für die Aktiven und die Trainer an der Verwaltungsbaracke des Vereins, aber da David unter keinen Umständen mit Titus im Van fahren wollte, hatte er den Vater überredet, den eigenen Wagen zu benutzen. Er hatte es damit begründet, dass man dann auch Aaron mitnehmen könne, und das hatte den Vater überzeugt. Papa und Aaron schliefen noch. David ging zurück ins Haus und setzte sich in die Küche. Er löste zwei Magnesiumtabletten
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in einem Glas Wasser auf und blickte hinaus in den Garten. Augenblicklich überkam ihn wieder der Jammer. Zweimal hatte er versucht, sein Herz auszuschütten, zweimal war er gescheitert. Vater, wie er seinen Erzeuger nannte, um ihn von Papa zu unterscheiden, hatte ihn vor die Tür gesetzt, die Kommissarin Nowikowski hatte ihm nicht geglaubt. Manchmal litt er unter der Zurückweisung oder unter der Skepsis, um sich ein paar Minuten später dafür zu verfluchen, dass er sich überhaupt ausgesprochen hatte. Er vermochte nichts rückgängig zu machen. Aber siegen, beim Downhill von Volvo und Landesbank siegen, das konnte er. Er musste nach vorn schauen. »’n Morgen, Champion.« Papa stand in der Küchentür und sah fürchterlich aus. Seine Gesichtsfarbe war überwiegend grau, auf den Wangen und am Hals hatten sich jedoch rotblaue Flecken gebildet. Drei steile Falten waren in seine Stirn gegraben, die Ringe unter den Augen waren schwarz. Er hatte am Abend wieder heftig gesoffen. Die beiden leeren Wodkaflaschen neben dem Mülleimer verrieten ihn. »’n Morgen, Papa.« »Ich hoffe, die Zeichen stehen auf Sieg.« Der Präsident des RSV Sturmvogel öffnete die Kühlschranktür und nahm eine Flasche Apfelsaft heraus. Mit zitternden Fingern löste er den Schraubverschluss und stürzte einen halben Liter Saft durch die Kehle. David trank seinen Magnesiumtrunk in kleinen Schlucken. An der Gartenpforte klingelte es. Papa schaute auf die Armbanduhr. »Das kann nicht die Post sein«, meinte er. »Wenn es wieder die Bullen sind … Heute schmeiße ich sie raus. Es ist Sonntag.« Er schlurfte in den Flur und nutzte die Gelegenheit, den Bruder zu wecken. Als er zurückkehrte, hatte er Aarons ausländischen Kumpel im Schlepptau, der so ähnlich wie ein Tier hieß: Tapir. »Hallo«, sagte der und wirkte verlegen. »Kommste mit zum Rennen?«, wollte David wissen. 205
»Darf ich doch?« »Klar.« Nun erschien auch Aaron auf der Bildfläche. Er tappte barfuß in die Küche, gähnte demonstrativ zum Zeichen dafür, dass man am Sonntag nicht vor dem Mittagessen aufstehen sollte, und knuffte seinen Freund in die Seite. Tapir fuhr zusammen. »Hast du schon gefrühstückt?«, fragte Papa. Er wollte sich offenbar von seiner Schokoladenseite zeigen. »Ja, hab ich.« »Aber ein Brötchen schafft er bestimmt noch«, meinte Aaron. »Ich glaub, das wird heute ein schöner Tag«, sagte Papa und öffnete die Klappe des Backofens. Dietrich Kölling leerte die Kaffeetasse, stand auf und trat an seine Hausbar. Die Bar befand sich in einem Hängeschrank in der Küche hinter einer Tür, die schief hing, und dort im Fach unter den Gläsern und über den tiefen Tellern. Sie enthielt eine äußerst bescheidene Auswahl an Alkoholika. Dietrich Kölling trank gern, aber wenig. Er konnte sich entscheiden zwischen schottischem Whisky, Kentucky Bourbon oder Grappa. Für den Grappa sprach nur die schöne Flasche mit dem schlanken Hals. Dietrich Kölling hatte sie zum Geburtstag von Hajota geschenkt bekommen. Tangermann mochte Grappa für ein erlesenes Getränk halten, Dietrich Kölling verabscheute ihn, weil er seiner Ansicht nach wie ein Desinfektionsmittel schmeckte. »Was hilft gegen meinen Kopfschmerz?«, wollte Dietrich Kölling von Jupiter wissen. Der Kater war seit zwei Stunden bei ihm. Eine Stunde lang hatte er die Wohnung erkundet. Nun lag er auf dem Küchentisch, den Dietrich Kölling eigentlich für tabu erklärt hatte, und leckte sich das Bauchfell. Wie immer, wenn man ihn ansprach, begann er heftig zu schnurren. »Bourbon? Whisky?« Dietrich Kölling zuckte die Schultern. Jupiter schnurrte. »Whisky.« Es war ein Single Malt, etwas Gutes also. Vom Guten gab sich Dietrich Kölling zwei Finger206
breit in ein zum Trinkgefäß mutiertes Senfglas. »Jana Schmitt hat auch nichts gesehen«, sagte er, setzte sich an den Tisch und kraulte den Kater zwischen den Ohren. Das Schnurren wurde so laut, man musste befürchten, dass es durch die dünnen Wände der Wohnung drang. Dietrich Kölling lebte in einem Haus, das der Beamtenbauverein errichtet hatte, und der Beamtenbauverein war in jeder Hinsicht sparsam. Schon vor einem halben Jahr hatte Dietrich Kölling der Verwaltung Stockflecke im Bad angezeigt, und nichts war geschehen. Dietrich Kölling widmete sich Befragungsnotiz Nummer neununddreißig. Herr Gräfe beklagte sich über Jugendliche, die seinen Birnbaum geplündert hatten. Der Anführer der Bande war der Sohn seines Nachbarn, mit dem er seit zwei Jahren um ein Wegerecht prozessierte. »Streit über den Gartenzaun, Jupiter. In Arkenberge würde man vermutlich auf dich schießen, wenn ich dich frei herumlaufen ließe.« Dietrich Kölling schlug die Seite um. Der Kater leckte seinen Arm. Es war kein angenehmes Gefühl, denn wider Erwarten war die Zunge rau wie ein Reibeisen. Die Aussagen von Herrn und Frau Lingenbrinck hatte Hajota mit einem roten Ausrufezeichen versehen. Lingenbrincks waren Rentner und verbrachten die Zeit vom ersten April bis zum dreißigsten September auf ihrem Grundstück. Das machten sie schon seit Jahren, und sie hielten sich penibel an die Daten. »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier«, sagte Dietrich Kölling. Jupiter leckte. Der Mann kam uns sofort merkwürdig vor, hatte Herr Lingenbrinck einem Hauptwachtmeister Schölzel erklärt. Wir haben ihn hier noch nie gesehen. Er fuhr auf einem alten Damenfahrrad und hatte einen großen Armeerucksack auf dem Rücken. Sein Blick wirkte irre. Er trug eine Brille mit Metallgestell, schwarze Hosen und ein schwarzes Hemd. Ich schätze ihn auf Mitte dreißig.
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»Den irren Blick bilden sich die Leute meistens ein«, sagte Dietrich Kölling und strich dem Kater sacht über die Augen. Jupiter quittierte es mit einem leisen Grummeln aus tiefster Kehle. »Sie wollen, dass Mörder sich von ihnen unterscheiden. Blickmäßig, wie Beckers Sohn sagen würde.« Aber immerhin bestätigten die Zeugen Aaron Leichtners Aussage. Auch er wollte einen Mann mit Damenfahrrad und einer Brille mit Metallgestell auf der Brücke über die Panke gesehen haben. Dietrich Köllings Skepsis ihm gegenüber war also unbegründet gewesen. In Arkenberge ist es üblich, dass man sich grüßt, sagte Frau Lingenbrinck weiter aus. Wir waren gerade beim Grillen. Guten Tag, habe ich zu dem Mann gesagt. Er gab keine Antwort. Wirkte irgendwie abwesend. Besessen, würde ich sagen. Mörder, die sowohl abwesend als auch besessen wirkten, hatte Dietrich Kölling noch nicht kennen gelernt. Dennoch war er überzeugt, dass die Lingenbrincks den Knabenzerstückler gesehen hatten. Und Aaron Leichtner ebenfalls. Sein Herz klopfte auf Hochtouren. Er hatte die erste ernst zu nehmende Spur. Hauptwachtmeister Schölzel hatte den Bericht mit einer persönlichen Einschätzung versehen: Das Ehepaar Lingenbrinck ist hochbetagt. Ich halte ihre Aussage für wenig glaubwürdig, da beide einen leicht umnachteten Eindruck machten. Dietrich Kölling war ganz anderer Ansicht. »Auch so ein dummes Klischee.« Er tippte dem Kater auf die Schnauze und war überrascht, wie kühl sie war. »Trau keinem über dreißig, und alles, was über achtzig ist, muss ja wohl leicht umnachtet sein. Leicht umnachtet fühle ich mich auch.« Dietrich Kölling trank den Single Malt aus. Dann griff er zum Telefon, obwohl es Sonntag war und er eigentlich nicht arbeiten wollte. Jupiter schlug mit der Tatze nach dem verdrillten Hörerkabel.
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David blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war drei Minuten nach halb zehn, als sein Vater den BMW an der Einfahrt zum Parkplatz unterhalb des Müggelturms stoppte. Die Zufahrt wurde mit einem Seil versperrt, das zwei jugendliche Ordner bewachten. Einer von ihnen trat an das heruntergelassene Seitenfenster und präsentierte sein Aknegesicht, der zweite fummelte mit der einen Hand am Seil, mit der anderen zwischen seinen Beinen. Geschäftige Menschen öffneten und schlossen Heckklappen und Schiebetüren, schoben Bikes, hantierten mit Werkzeugen, optimierten Züge und Bremsen, starrten auf Listen oder rauchten. David betrachtete die Aufschriften an den Transportern und Limousinen, sofern sie Aufschriften trugen. »Kein Platz mehr«, teilte der Ordner mit. »Aber wenn Se zu eim von die Vereine gehören, könn Se am Straßenrand parken.« »Wir gehören zu einem der Vereine«, entgegnete Michael Leichtner. »RSV Sturmvogel. Ich bin der Präsident.« »Ach so.« Der Ordner zuckte die Schultern. Den Van seines Radsportvereins vermochte David nicht auszumachen, was nicht verwunderlich war, schließlich hatten sich die übrigen Mitglieder erst um neun Uhr treffen wollen, und das bedeutete, vor halb zehn waren sie nicht vom Hof gekommen. Andere Sportler waren bereits eingetroffen: das Volvo Mountainbike Racing Team, die Kameraden des Mounty Club und der RSG 1980 Köpenick sowie die MTB Youth Racer Spandau, die ihren VW-Bus mit Graffiti und dem geklauten Spruch Don’t talk about heroes, be one! verziert hatten. Be one gehörte nicht nur zur Upperclass der Biker, es war auch eine Kultmarke, und das Hyper One galt als Spitzenmodell. Während der Vater mit dem Wagen zurückstieß, um sich in eine Lücke zwischen die am Wegrand geparkten Autos zu zwängen, begannen die Veranstalter, ihre Werbetransparente aufzuhängen. Die Gehilfen der Rennleitung stellten Klapptische und Klappstühle auf. David stieg aus und ließ sich von Aaron 209
seinen Rucksack reichen. Um zwölf sollte das Rennen beginnen, es war also noch reichlich Zeit. David war noch immer furchtbar aufgeregt. Und auch Papa war alles andere als die Ruhe selbst. Er zündete sich eine Zigarette an. Schon während der Fahrt hatte er heftig gequalmt. David trat an den Tisch, an dem sich die Freizeitfahrer in die Startlisten eintragen lassen mussten. Vor ihm warteten drei andere Jungen und ein Mädchen. Am Tisch für die Lizenzler hingegen herrschte Ebbe. Das Downhill in den Müggelbergen war für die Profis einfach zu unbedeutend, hier konnten sie weder ihr Können noch ihre Eitelkeiten richtig zur Geltung bringen. Als er an der Reihe war, entrichtete David sein Startgeld von zwanzig Euro, trug sich in die Rennliste ein, nahm seine Startnummer und den Rennplan in Empfang. Für elf Uhr dreißig war das Briefing aller Aktiven vorgesehen, und die männlichen Junioren sollten erst um dreizehn Uhr an den Start gehen, eine halbe Stunde nach den Herren. Den Parcours hatte jemand mit dilettantischen Strichen auf ein A4-Blatt gezeichnet. Er war knapp zweihundert Meter lang und endete am Teufelssee. »Was halten Sie von der Aussage der Lingenbrincks?«, wollte Dietrich Kölling von Hajota wissen. Mittlerweile war es Jupiter auf dem Küchentisch langweilig geworden. Er war auf den Boden gesprungen und schnupperte am Kühlschrank. »Ich halte sie für glaubwürdig, trotz des Kommentars.« »Nicht wahr? Sie haben die Notiz ja auch angestrichen. Die beiden haben unseren Täter gesehen.« »Meine Meinung. Soll ich was unternehmen?« »Ja. Holen sie die beiden ab und bringen Sie sie in die Dienststelle. Ich will sie förmlich vernehmen.« »Am Sonntag?« »Ist der Sonntag Ihnen heilig?« Dietrich Kölling griff nach den Zigaretten. 210
»Nee. Aber ich habe getrunken.« »Kein Problem. Ich auch.« Dass er sich mit siebenundfünfzig Aktiven seiner Klasse an den Start begeben würde, wusste David seit dem Briefing. Er selbst trug die Startnummer zweiundzwanzig, Norman die sechsunddreißig, Mario die einundvierzig, Uwe die fünfzig und Titus die dreiundzwanzig. Titus würde also direkt nach David starten. Gemeinsam mit Papa, Aaron und dem Jugoslawen, der nicht Tapir hieß, sondern Tahir, war David die Strecke abgeschritten und hatte sich mit den Bodenverhältnissen vertraut gemacht. Dabei hatte er feststellen müssen, dass die Müggelberge ihren Namen nicht verdienten und es sich eher um Hügel handelte, die nur mit wenigen steilen Abfahrten glänzen konnten. Das Wegstück, in das man von der Asphaltstraße links einbog, war etwa hundert Meter mit Schottersteinen gespickt. Ansonsten bestand der Parcours aus Waldboden von mittlerer Festigkeit, aber womöglich trog der Schein; außerhalb der für das Rennen abgesperrten Wege verboten Schilder des Umweltamtes ausdrücklich das Mountainbiking wegen der Erosionsgefahr. An einer der wenigen Steilabfahrten, David schätzte den Neigungswinkel auf sechzig Grad, blieben Aaron und Tahir zurück. Hier, so hatten sie erklärt, wollten sie das Rennen als Zuschauer verfolgen. David glaubte ihnen nicht. Um die Abfahrt etwas komplizierter zu machen, hatten die Veranstalter hier und da so etwas wie Sprungschanzen aus dem Mutterboden geformt. David schaute sie sich an. Sie waren viel zu weich, um einen souveränen Sprung hinzubekommen. David würde trotzdem versuchen, das Publikum zu beeindrucken. »Alles okay?«, wollte Papa wissen. »Kein guter Boden«, sagte David. »Und alles ist etwas unprofessionell.« »Aber du trittst doch an?« 211
»Natürlich, Papa.« »Ich will dich auf dem Siegerpodest sehen.« Papa legte ihm einen Arm um die Schulter. »So was gibt’s hier nicht«, sagte David. Sie kehrten zum Start zurück. Dort standen zwei uniformierte Bullen. David erschrak heftig. »Was ist denn?«, fragte Papa. »Nichts.« »Aufgeregt?« »Und wie!« »Du machst das schon«, sagte Papa. David schloss die Augen und atmete tief und langsam ein und aus. Auf diese Weise bekam er nicht nur ordentlich Sauerstoff ins Blut, es ließ ihn auch etwas ruhiger werden. Als er die Augen wieder öffnete, waren die Bullen immer noch da. Was hatte er denn auch anderes erwartet? Er war schließlich kein Kind mehr, das glaubte, Dinge und Menschen würden verschwinden, wenn man nur lange genug die Augen schlösse. Die beiden Polizisten kontrollierten die Absperrbänder. Am liebsten hätte sich David an die Stirn geschlagen. Sie waren gar nicht seinetwegen gekommen, sondern weil sie die Sicherheit des Rennens überprüfen wollten. Bei jedem Wettkampf waren Bullen dabei. Ein bisschen nervös war er immer noch, aber das hatte jetzt nur noch mit dem Downhill zu tun. David schob sein Fullsuspension-Bike zum Start. Papa begleitete ihn und strich ihm übers Haar. Das hatte er noch nie gemacht. »Papa!«, sagte David leise. »Ja, David. Ich bin dein Papa. Und ich … Also du sollst wissen, dass ich dich sehr gern habe. Trotz allem.« »Was meinst du damit? Trotz allem?« »Geh jetzt an den Start. Sie haben gerade die Zwanzig aufgerufen. Gleich bist du dran.« Papa wandte sein Gesicht ab. Aber die Tränen hatte David noch gesehen. 212
»Papa, ich …« »Los jetzt, mach hin!« Dietrich Kölling war vor fünfzehn Minuten in der Dienststelle eingetroffen. Er war auf dem Flur einem Kollegen der Mordbereitschaft begegnet, einem engagierten Gewerkschafter, der das Bedürfnis gehabt hatte, mit ihm über die Überstundenvergütung und die staatlichen Versorgungsleistungen für Beamte zu sprechen, von denen Dietrich Kölling überhaupt nichts hielt. Der Regierende Bürgermeister wollte die paar Piepen kürzen. Aber der Regierende war eine Schwuchtel. Tunten waren zu schwach, um sich durchzusetzen. Das sah man ja an Hajota. In seinem Büro nahm Dietrich Kölling die Kaffeemaschine in Betrieb. Er öffnete den Panzerschrank, in dem er neben der noch nie benutzten Dienstwaffe seine Notreserve verwahrte, trank etwas Wodka und begann damit, die Berge von Akten auf seinem Schreibtisch in ein Regal zu befördern. Das Ehepaar Lingenbrinck sollte den Eindruck bekommen, dass bei der Polizei Ordnung herrschte. Kommissar Tangermann holte die angeblich umnachteten alten Leutchen von der Pforte ab. Hajota sah wie zwei Wochen Proletenurlaub auf Mallorca aus, nur nicht so braun, die Lingenbrincks hatten sich für den Gang auf die Behörde schick gemacht. Herr Lingenbrinck trug einen beigen Anzug, der in den fünfziger Jahren modern gewesen war und der Dietrich Kölling sehr gut gefiel; er liebte das Zeitlose. Frau Lingenbrinck hatte sich für ein Kostüm entschieden. Das Kostüm war klösterlich grau und an einem Ärmel kunstgestopft. Auch Kunstgestopftes wusste Dietrich Kölling zu schätzen. Seine hochbetagte Mutter nannte fast eine viertel Million auf dem Sparkonto und in Wertpapieren ihr Eigen, die er einmal erben sollte, aber sie stopfte noch immer Dinge, die er seit langem wegwarf. »Mein Name ist Kölling«, stellte er sich vor. »Ich leite dieses Kommissariat.« 213
»Oh!« Herr Lingenbrinck trat einen Schritt zurück. »Bitte, nehmen Sie Platz!« Mit einer einladenden Geste deutete Dietrich Kölling auf zwei wacklige Stühle. Die Lingenbrincks gehorchten. Hajota setzte sich an Beckers Schreibtisch. »Mein Onkel war auch ein hoher Kriminaler«, sagte Herr Lingenbrinck. »Oberkommissar. In Litzmannstadt. Der Russe hat ihn erschossen.« »Aber Hermann!« Frau Lingenbrinck legte eine Hand auf den Arm ihres Gatten. »Das interessiert die Herren doch nicht.« »Er hat sich ja nur um die jüdischen Kriminellen gekümmert«, sagte Herr Lingenbrinck mit einem gewissen Stolz. Dietrich Kölling wechselte einen raschen Blick mit Tangermann. »Um Diebe und Saboteure. Er war sehr anständig. Der Russe hätte ihn nicht erschießen dürfen.« »Nun ja.« Dietrich Kölling massierte die Finger seiner rechten mit dem Daumen seiner linken Hand. Hajota blies imaginären Staub von der PC-Tastatur. »Ich habe den Onkel besucht«, fuhr Herr Lingenbrinck fort. »Wir sind mit der Straßenbahn durch den Sperrbezirk gefahren. Der Pole hat alles verkommen lassen, stimmt’s, Maria?« »Ich bin nie in Litzmannstadt gewesen«, sagte seine Frau. »Nein?« Herr Lingenbrinck schaute sie an, dann wandte er sich wieder Dietrich Kölling zu. »Da sagt man immer, im Alter würde das Kurzzeitgedächtnis nachlassen, aber an lange zurückliegende Dinge würde man sich immer besser erinnern. Nun sehen Sie, dass es gar nicht stimmt. Ich hätte eben noch schwören können, mit meiner Frau beim Onkel gewesen zu sein. Aber das kann gar nicht sein. Ich war damals ja erst dreizehn oder vierzehn.« Er lächelte. »Apropos Kurzzeitgedächtnis.« Dietrich Kölling glaubte einen Bogen zum Gegenstand der Vernehmung gefunden zu haben. »Sie haben da eine interessante Beobachtung gemacht, an die Sie sich bestimmt noch erinnern.« 214
»Natürlich«, sagte Frau Lingenbrinck. Ihr Gatte bestätigte es durch ein heftiges Nicken. »Uns kam dieser Mann sofort verdächtig vor. Arkenberge ist ein Dorf. Jeder kennt jeden. Oder soll ich lieber sagen: Jeder überwacht jeden? Nachdem wir erfahren haben, dass man … also, dass da was gefunden wurde … Stimmt es, dass es ein Kopf war? Von einem Kind?« Dietrich Kölling nickte. »Ich habe mit Hermann lange über unsere Beobachtung gesprochen. Es gibt sonst niemand, mit dem ich sprechen kann, verstehen Sie? Unsere Kinder und Enkel leben im Rheinland. Wir können sie nicht besuchen, weil es zu weit ist. Hermann und ich … also wir kamen beide zu der Überzeugung, dass wir etwas Wichtiges gesehen haben.« »Ich halte es auch für wichtig«, sagte Dietrich Kölling und nickte der Frau aufmunternd zu. Tangermann tippte in Beckers Tastatur. Herr Lingenbrinck schaute plötzlich auf die Uhr. »Verzeihung«, sagte er dann. »Ich muss meine Spritze nehmen. Wo kann ich?« »Spritze?«, fragte Dietrich Kölling. »Ich bin Diabetiker«, erklärte Herr Lingenbrinck. »Die Ärzte wollten mir schon ein Bein amputieren. Aber das will ich nicht. Lieber bringe ich mich um.« »Aber Hermann«, protestierte seine Frau. »Kollege Tangermann?« Dietrich Kölling wechselte mit seinem Mitarbeiter abermals einen Blick. Hajota verstand und erhob sich. »Wohin?«, wollte er wissen. »Das überlasse ich Ihrer Fantasie und Entscheidungsfreude.« Tangermann nickte. Er öffnete die Tür und ließ Herrn Lingenbrinck höflich den Vortritt. Erst jetzt bemerkte Dietrich Kölling, wie stark der alte Mann humpelte. Beim Betreten des Dienstzimmers musste er sich mit einer gewaltigen Anstrengung zusammengerissen haben. 215
»Zu alt zu werden ist das Schlimmste, was uns passieren kann«, sagte Frau Lingenbrinck. »Wissen Sie, warum das Leben im Leid endet? Mit Schmerzen, kaputten Knochen, zitternden Händen? Mit Sabbern, Einkacken, tauben Ohren? Wir werden für unser Leben mit Gebrechlichkeit belohnt. Seitdem mein Mann so krank ist, glaube ich nicht mehr an Gott.« Am Start stand Titus bereits neben David und grinste ihn an. Dieses Grinsen bedeutete, dass sich David keine Chance ausrechnen sollte. Titus war der Einzige im Verein, der ein eigenes Full-suspension-Bike besaß. Er kannte sein Rad in- und auswendig. David würde sich ziemlich anstrengen müssen, wenn er Titus schlagen wollte. »Na, was macht deine Mutter?«, fragte dieser. David antwortete nicht. Er konzentrierte sich auf den Start. »Startnummer zweiundzwanzig, David Leichtner, Radsportverein Sturmvogel«, kündigte der Sprecher an. Jemand klatschte heftig. David schaute in die Richtung, aus der das Klatschen kam. Papa hielt beide Hände hoch und zeigte ihm, dass er ihm die Daumen drückte. »Deine Mutter ist bestimmt abgehauen, weil sie zwei verblödete Söhne hat«, sagte Titus. Am liebsten hätte ihm David die Faust ins Gesicht geschlagen. Aber er bekam schon das Startzeichen, und weil er sich über Titus’ Bemerkungen aufregte, verlor er gleich etwas Zeit. Er musste den Verlust wettmachen. Mit hoher Geschwindigkeit raste er über die Schotterpiste. Hinter den Absperrbändern standen ihm vollkommen fremde Leute, aber sie feuerten ihn an. David wusste, dass er zu schnell fuhr. Die erste von den Veranstaltern angelegte Sprungschanze war bereits in seinem Blick. Wenn er nicht bremste, würde er sich überschlagen.
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David bremste nicht. Mit unvermindertem Tempo raste er auf die Schanze zu. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, als er zu fliegen begann. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, in der Luft zu stehen. David spürte, dass das Bike zur Seite ausschlug wie ein wild gewordenes Pferd. Sein ohnehin schon heftig klopfendes Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen, seine Muskeln verkrampften sich. Die Anspannung trieb ihm Tränen in die Augen, er biss die Zähne zusammen und klammerte sich an den Lenker. Mit dem gesamten Körper glich er die Flugbahn aus. Im letzten Moment gelang es ihm, das Bike wieder unter Kontrolle zu bringen. Sehr hoch flog er und sehr weit. Die Zuschauer schrien vor Entsetzen. Sie spürten, dass er alles auf eine Karte setzte, sogar sein Leben. Und genau das hatte er gewollt: Wenn es sein musste, würde er sein Leben opfern. Man sollte ihm nachsagen, dass er alles gegeben und das Unmögliche gewagt hatte. Aber wem war er einen solchen Nachruf wert? Wenn er das Bike nicht sicher zu Boden brachte, würde vielleicht am nächsten Tag ein Artikel über einen Unfall beim Downhill in den Müggelbergen in der Zeitung stehen, höchstwahrscheinlich von einem inkompetenten Lokaljournalisten verfasst, und am Tag darauf war alles längst vergessen. David hatte nichts Unmögliches gewagt. Sein Sprung war womöglich leichtsinnig gewesen, doch schaffte er es, mit beiden Rädern aufzusetzen, wenn auch sehr hart. Er war fast blind von den Tränen und dem Schweiß, der ihm in die Augen rann. Aber ihm gelang sogar der Anflug eines Lächelns, als wäre dieser Sprung ein leichtes Unterfangen gewesen. Ohne innezuhalten, raste er weiter. Er wollte siegen, und er wusste, dass er siegen würde. Warum ihm dieser Sieg so wichtig war, verstand er allerdings nicht mehr. Die Zuschauer applaudierten. David nahm eine scharfe Kurve so schnell, dass der Sand aufspritzte. Beinahe hätte er sich auf 217
die Seite gelegt. Dann wäre das Downhill für ihn vorbei gewesen, und er hätte zumindest Schürfwunden abbekommen. Er legte sich nicht auf die Seite. Er hatte sein Rad im Griff. Als er darüber nachdachte, was er riskiert hatte, lag die Kurve längst hinter ihm. Der abschüssige Weg ging nun über in weichen Waldboden, den dicke Baumwurzeln durchzogen. Die Bäume standen hier sehr dicht an der Rennstrecke, sodass David sich nicht nur auf den Boden konzentrieren musste, sondern auch darauf, nicht die Stämme zu streifen. Hier irgendwo mussten Aaron und Tahir stehen, aber er sah sie nicht, weil er nur einen Blick für den schwierigen Parcours hatte. Trotz seines Wunsches, eine exzellente Zeit zu fahren, musste er vorsichtig sein: Jede der Wurzeln war eine Stolperfalle, also bremste er ein wenig. Obgleich das Bike voll gefedert war, taten ihm der Hintern und die Arme weh. »Nein!«, schrie jemand. »Um Gottes willen!«, brüllte ein anderer. Meinten sie David und seinen rasanten Fahrstil? Er wusste es nicht. Noch eine Schanze war zu bewältigen. David wagte erneut einen kühnen Sprung. Aber er hatte das Gefühl, dass man ihm nicht mehr zusah. Der Waldweg wurde zu einem Schlängelpfad. David fuhr eine Art Slalom, wenn auch mit Hindernissen am Rand der Piste. Noch immer bildeten die Baumwurzeln gefährliche Stolperfallen auf dem Boden, aber David drehte trotzdem auf. Er sah bereits die Schanze, hinter der er die letzte Etappe zum Ziel wusste: eine nur leicht geneigte Asphaltstraße. Noch einmal wagte David einen kühnen Sprung. Der weiche Boden vor der Schanze verhinderte allerdings eine allzu rasche Anfahrt, sodass er nicht für eine Sekunde die Beherrschung über das Bike verlor. Kaum hatte er wieder aufgesetzt, trat er wie ein Irrer in die Pedale. Was seine Zeit betraf, hatte er ein gutes Gefühl. Doch eine leise Stimme in seinem Kopf zog bereits in Zweifel, dass ein Sieg überhaupt eine Bedeutung hatte. Er würde 218
überhaupt nichts wieder gutmachen. Nicht das Geringste. Das war nur eine Illusion gewesen. Nur noch wenige Meter bis zur Ziellinie beim Teufelssee, die jemand mit weißer Farbe auf den Asphalt gezogen hatte, lagen vor ihm. Als er sie überfuhr, nahm niemand mehr die Zeit. Die Funktionäre und Helfer gestikulierten, schrien, ruderten mit den Armen und deuteten hangauf. David bremste scharf und drehte sich um. Dort, wo die Schotterpiste in den steilen und tückischen Waldweg überging, lag ein Mensch. David konnte ihn kaum erkennen, aber er wusste, dass es Titus war, der kurz nach ihm gestartet sein musste. Sein Bike war noch etliche Meter weiter gerutscht und in die Zuschauer geknallt. Es hatte ein kleines Mädchen erwischt, das sich vor Schmerz krümmte. David schloss die Augen. Nun war wirklich alles aus. Dann rannte er los. Er ließ das teure Bike einfach fallen und lief den Waldweg hinauf. Er hörte eine Sirene und gleich darauf noch eine zweite. Ein Krankenwagen jagte die Schotterpiste hinab, gefolgt von einem Polizeifahrzeug. David rannte. Er mochte Titus nicht. Aber er wollte nicht, dass er starb. Titus blutete. Er blutete aus den Ohren. Die beiden Polizisten standen neben ihm und wirkten ratlos. Auch Papa war da. David ging neben Titus auf die Knie, zwischen dem Rennarzt und dem Sanitäter. »Dein Kumpel?«, fragte der Arzt. »Ein Mannschaftskamerad«, sagte David und kam sich vor wie eine Maschine, die irgendwelche beliebigen Fragen automatisch beantwortete. »Er ist tot«, sagte der Arzt. »Genickbruch.« »Nein.« David spürte, dass sein Gesicht alles Blut verlor und er käseweiß wurde. »Ein Unfall?«, wollte einer der Bullen wissen. »Wie soll ich das beurteilen?« Der Rennarzt streifte die Handschuhe ab und reichte sie seinem Assistenten. »Er ist 219
gestürzt. Mehr weiß ich nicht.« »Soll ich die Staatsanwaltschaft verständigen?« »Soll?« Der Arzt erhob sich. »Sie müssen! Haben Sie denn überhaupt keine Ahnung von Ihrem Job?« »Diese Rennen sind gefährlich«, sagte der Bulle. David kämpfte mit den Tränen. Dann legte jemand eine Hand auf seine Schulter. In der Hoffnung, dass es Papa wäre, drehte er sich um. Es war Aaron. Trotzdem schüttelte David die Hand nicht ab. »Ich schreibe in den Totenschein, dass die Todesursache unbekannt ist. Dann wird in jedem Falle obduziert.« Der Arzt winkte seinem Assistenten, und der gab ihm eine Zigarette. »Müssen wir absperren?«, fragte der zweite Bulle. »Sie haben doch schon abgesperrt.« »Ich meine, für die Spusi.« »Für wen?« »Die Spurensicherung.« »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf«, sagte der Rennarzt, »ich würde mich an Ihrer Stelle erst einmal mit dem Dienst habenden Staatsanwalt in Verbindung setzen.« »Das haben Sie schon gesagt.« Der zweite Bulle nahm ein Handy aus seiner Brusttasche. David ging fort. Er konnte den Anblick des toten Titus nicht mehr ertragen. Er konnte auch sich selbst nicht ertragen. Er war so dünnhäutig, dass er überhaupt nichts mehr ertrug. David setzte sich auf einen Baumstumpf. Nur Aaron folgte ihm. Er ging vor ihm in die Hocke und legte seinen Kopf an Davids Knie. David ergriff die Hände seines Bruders, zog ihn auf den Schoß und umarmte ihn. Er musste sich an jemandem festhalten, und Papa war zur Salzsäule erstarrt. »Und dein Freund Tahir?«, fragte er leise. »Der kotzt«, sagte Aaron.
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Neuntes Kapitel Dietrich Kölling hatte Frau Lingenbrinck nicht mehr vernehmen können. Ein Anruf hatte seine Pläne zunichte gemacht. Der Anrufer war der engagierte Gewerkschafter gewesen. Zusammen mit der Mordbereitschaft waren Dietrich Kölling und Hajota sofort in die Wüste gefahren. Die Wüste erstreckte sich zwischen Blankenburg, Malchow und der Kolonie Märchenland. Sie war als Naturschutzgebiet ausgewiesen und war beliebt bei Spaziergängern, Joggern und Reitern. Die Wüste hatte bestimmt auch einen schönen Namen, aber niemand wollte ihn wissen. Die Männer, die sich schweigend um einen kindlichen Torso gruppierten, hatten anderes zu tun. Im Augenblick allerdings schauten sie bloß. Nur der Gerichtsarzt hantierte an der Leiche. »Befindet sich höchstens zwei Stunden am Auffindeort«, meinte er, nachdem er das mit einer scharfen Spitze versehene Thermometer aus der Leber gezogen hatte. »Apropos: Wer ist der Auffindungszeuge?« »Ein Hund«, entgegnete einer der Männer. »Schon wieder eine Töle«, stöhnte Dietrich Kölling. »Hat sie auch die Polizei verständigt?« »Natürlich nicht. Das war Frauchen. Sie sind Gassi gegangen, dann ist der Hund plötzlich durchgedreht. Warum, das sehen Sie vor sich.« »Mhm.« Dietrich Kölling dachte daran, dass auch er vorübergehend ein Haustier hatte. Dieses würde nie eine Leiche entdecken, weil es nicht ausgeführt werden musste. Oder höchstens seine eigene. Was würde Jupiter machen, wenn Dietrich Kölling plötzlich und unerwartet an seiner Hypertonie verstarb? Würde er miauen? Und warum? Aus Liebe oder weil niemand mehr die Dosen öffnete? 221
»Er ist vor mindestens zwei Tagen getötet worden«, erklärte der Arzt. »Der Täter hat das Opfer diesmal aber nicht gut verborgen«, sagte Dietrich Kölling. »Stimmt«, bestätigte der Gewerkschaftsmensch, der im Moment die Feder führte. »Er wird unvorsichtig.« Dietrich Kölling kratzte sich am Kinn. »Er will, dass wir ein Ende machen«, fügte er hinzu. Der Oberrat hatte gerufen, also trottete Dietrich Kölling artig über den Flur. Seit dem frühen Morgen stand nun endgültig fest, wer das neue Opfer des Knabenzerstücklers war. Der Junge hieß Sebastian Brinkmann, war sieben Jahre alt und stammte aus Pankow. Aus der Schlossallee. Dietrich Kölling hatte das Wimmern der Mutter noch im Ohr. Und den Schrei des Vaters. Es war nur ein Schrei gewesen. Dietrich Kölling hatte er gereicht. Er war der festen Überzeugung, dass der Oberrat wegen der Knabenmorde eine neue Sonderkommission etablieren würde, und zwar unter seiner Leitung. Die Führung der SoKo Oma hatte er erfolgreich abschmettern können. Diese Sonderkommission war vor drei Tagen aufgelöst worden; ermordete Rentnerinnen hatten derzeit kein Publikum. Die Öffentlichkeit wollte zerstückelte Knaben. Dietrich Kölling hatte einen in der Tasche. Trotzdem wollte er keine Sonderkommission. Er hatte in seinem Leben schon etliche geleitet. Sonderkommission bedeutete, dass er erheblich mehr Personal zur Verfügung hätte, gute Kriminalisten und begabte Schutzpolizisten und einen Haufen Schrott. Er selbst hätte nur noch administrative Aufgaben zu erfüllen. Sein Traum, diesen Fall vom Schreibtisch aus zu lösen, würde in Erfüllung gehen. Aber das wollte er längst nicht mehr. Allmählich wurde ihm die Arbeit am Schreibtisch langweilig, und er wollte sich wieder den Wind um die Nase wehen lassen. Außerdem widerstrebte ihm, 222
der Chef von dreißig, vierzig, vielleicht sogar von hundert Leuten zu sein. Ihm genügte sein überschaubares Mordkommissariat mit den vertrauten Mitarbeitern. Entweder würden er, Becker, die Blissow und Hajota den Mörder finden oder die Mordkommissionen der PP Potsdam und Frankfurt an der Oder. Eine Sonderkommission war überflüssig wie ein Kropf. Trotz seines Missmuts entbot er der Chefsekretärin einen Morgengruß. Frau Hartmann lächelte, nein, sie strahlte ihn an. Das war eine zwangsläufige Notwendigkeit, wenn man ihre Fähigkeiten betrachtete. Dietrich Kölling hatte zwar schon mit seinem Chef gesoffen, aber er hatte ihm nie gesagt, dass seine Sekretärin unfähig war. Sie hatte drei Kinder. Vermutlich beschäftigte die Behörde sie aus Mitleid. »Der Oberrat ist gerade an einem Ort, den außer Kaisern sogar Oberräte aufsuchen müssen«, sagte sie und kicherte. »Ich gehe trotzdem schon mal rein«, sagte Dietrich Kölling. »Ja, Sie, Herr Kölling, Sie dürfen das ja auch«, sagte Frau Hartmann. Damit machte sie ihn zu einem Auserwählten. Aber alle Kommissariatsleiter durften das Chefzimmer betreten, ohne anzuklopfen und auch dann, wenn der Oberrat auf der Toilette war. Er hütete keine Staatsgeheimnisse. Zu seinem Erstaunen registrierte Dietrich Kölling, dass der Leiter des Referats Delikte am Menschen weder Fotos von toten Rentnerinnen noch von zerstückelten Jungen auf dem Besprechungstisch liegen hatte, sondern Bilder von einem Fahrrad. Ganz besonders groß und aus allen erdenklichen Perspektiven war jenes Ding aufgenommen worden, das nach Köllings Erinnerung den Lenker mit der Vorderachse verband. Sogar eine Zeichnung war angefertigt worden. Diese Zeichnung belehrte ihn, dass der Chef die Bilder nicht ausgebreitet hatte, weil er seinem Lieblingsenkel ein Fahrrad kaufen wollte; sie trug nämlich den Stempel der PTU. Und das war, man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, nicht der Polizeisportverein, sondern die Polizeitechnische Untersuchungsabteilung, 223
und wenn die so ein Fahrraddingsbums malte, lag vermutlich ein Verbrechen vor. »Na?«, sagte der Kriminaloberrat, als er sein Dienstzimmer betrat. Eine solche Frage konnte man nicht beantworten, also hielt Dietrich Kölling den Mund. Was er an seinem Chef bewunderte, war der akkurate graue Dreitagebart. Dietrich Kölling hatte schon das zweifelhafte Vergnügen gehabt, die Frau seines Chefs bei einem Betriebsausflug kennen zu lernen. Sie benötigte mindestens eine Woche, um bis drei zu zählen, also konnte sie den Bart nicht pflegen. Das machte bestimmt eine viele Jahre jüngere Geliebte, die Friseuse war, große litten hatte und auch nicht bis drei zählen konnte. Aber der Oberrat sah wirklich gut aus. Wie ein Medienstar. Allerdings wusste Dietrich Kölling auch, wie er nach einer Flasche Whisky aussah, nämlich beschissen. Und das beruhigte ihn. »Das ist eine Rock Shox SID«, sagte der Oberrat und tippte auf die Zeichnung der PTU. »SID hört sich nach Geheimdienst an«, sagte Dietrich Kölling. »Wird im nächsten James-Bond-Film mit so was geschossen?« »Es handelt sich um eine Federgabel«, erklärte der Oberrat und tat, als ob er in einem Fahrradladen aufgewachsen war. Federgabel hieß das Ding also. Dietrich Kölling fand es nicht weiter verdächtig. »Die offenbar das Interesse der PTU erweckt hat«, stellte er fest. »Aus gutem Grund.« Der Oberrat ließ sich in einen Sessel fallen und signalisierte Dietrich Kölling mit einer Handbewegung, seinem Beispiel zu folgen. »Es hat gestern in den Müggelbergen ein Fahrradrennen gegeben. Ein so genanntes …«, der Oberrat blätterte in Papieren, »… ein so genanntes Downhill. Veranstaltet von der Landesbank und von Volvo. Einer der Teilnehmer ist tödlich verunglückt.« Daher also wehte der Wind. Bei einem Fahrradrennen war jemand tödlich verunglückt, und wenn sich nach dem Unfall 224
zuerst die PTU und dann der Chef mit dem Fahrrad befassten, war klar, was es bedeutete. »An der Federgabel ist manipuliert worden«, sagte Dietrich Kölling. Der Oberrat nickte. »Nach dem Unfall hat die Rennleitung den TÜV beauftragt, das Fahrrad zu untersuchen«, erklärte er. »Diese Gabel funktioniert hydraulisch, und der TÜV hat sofort festgestellt, dass jemand an der Hydraulik herumgeschraubt hat. Wie immer man sich ein Herumschrauben an der Hydraulik vorzustellen hat … Ich bin da nicht bewandert. Der TÜV hat die Sache dann an die PTU übergeben. Die PTU hat das Fahrrad ebenfalls gründlich untersucht und ist zu denselben Resultaten gelangt.« »Wir leben in einem reichen Land«, murmelte Dietrich Kölling. »Bitte?« »Oh, ich meinte, vielleicht hätte man das Fahrrad auch noch einem Arzt vorstellen sollen.« »Sparen Sie sich Ihren Zynismus. Mit den Bremsen war auch etwas nicht in Ordnung.« »Konnte der Herumschrauber denn abschätzen, dass er einen tödlichen Unfall heraufbeschwört?« »Tja.« Der Oberrat zuckte mit den Schultern. »Wie alt ist das Opfer?« »Siebzehn. Ein Titus Gaschinski.« »Vielleicht war es ein Dummejungenstreich«, gab Dietrich Kölling zu bedenken. »Mit tödlichem Ausgang immerhin. Wir werden von Amts wegen ein Ermittlungsverfahren einleiten. Verdacht auf schwere Körperverletzung mit Todesfolge. Vorläufig.« »Totschlag käme maximal in Betracht«, sagte Dietrich Kölling. »Und wenn eine Tötungsabsicht vorlag? Gehen Sie an die Arbeit.« 225
»Ich gehe«, sagte Dietrich Kölling und erhob sich. »Ich gehe und hole mir eine Tagebuchnummer.« »Nehmen Sie die Unterlagen mit«, befahl der Oberrat. Dietrich Kölling klaubte sie zusammen und verließ das Chefzimmer noch missmutiger, als er es betreten hatte. Die Tagebuchnummer bekam er bei Frau Hartmann. Sie lautete Neunundsechzig aus Null-Sechs. Jedes Schriftstück in der Akte würde sie nun tragen und die Akte selbst natürlich auch. Ordnung musste sein. Auf wundersame Weise hatte sich der Kaffee vermehrt, denn nun waren sogar zwei Päckchen da. Dietrich Kölling registrierte es erfreut und füllte zehn Teelöffel von dem dunkelbraunen Pulver in die Kaffeemaschine. Becker hockte an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem Bewegungsdiagramm. Mit verschiedenen Farbstiften malte er etwas auf Millimeterpapier, das nur ein Kriminalist verstand. Für Außenstehende sah es wie das abstrakte Kunstwerk eines Kindes aus. »Und?«, fragte Dietrich Kölling. Auch das war eine Frage, die man eigentlich nicht beantworten konnte. Becker konnte. »Die Zeiten stimmen«, sagte er. »Welche Zeiten?« »Die ich aus den spärlichen Befragungsdaten herausgefiltert habe.« »Wissen wir denn nun, wer der Mörder ist?« »Nein. Aber wir bekommen ein schönes Diagramm. Ich habe es auch schon paginiert. Es wird Blatt zweitausendneunhundertfünfundvierzig in der Spurenakte. Ich habe es dort eingeordnet. Richtig?« »Ja, ja«, sagte Dietrich Kölling und schlug den Bericht auf, den ihm der Oberrat aufgezwungen hatte. »Ich hätte es auch in der Handakte ablegen können«, sagte der erbarmungslose Becker. »Dort wäre es Blatt siebzehntausendacht. Soll ich die Paginierung ändern?« 226
»Ist es ein Foto?« »Nein, ich sagte doch, dass es ein Diagramm ist.« »Dann gehört es auf jeden Fall nicht in die Lichtbildmappe.« »Das habe ich auch nicht gefragt.« »Hajota ist doch der Aktenhalter in unserem Fall?« »Ja, das ist er. Aber ich möchte ihm ein so sensibles Aktenstück nicht ohne Ihre Genehmigung anvertrauen.« »Warum nicht? Haben Sie Vorurteile gegenüber homosexuellen Mitarbeitern?« »Natürlich nicht. Aber er sieht seit Tagen schrecklich blass aus.« »Er hat Probleme«, sagte Dietrich Kölling. »Mit einem Mann?« »Womit sonst? Mit einem Schaf?« »Können wir ihm helfen?« »Natürlich nicht. Und das habe ich ihm auch gesagt. Wir sind die Polizei und kein Sozialverein.« »Man könnte ihm ja trotzdem helfen«, sagte Becker und nahm einen Diätriegel aus der obersten Schreibtischlade. Dietrich Kölling hatte den Bericht aufgeblättert. Das Unfallopfer namens Titus Gaschinski war für den RSV Sturmvogel angetreten, und mit dem RSV Sturmvogel verband sich für Dietrich Kölling eine Erinnerung. Er kramte in seinem Gedächtnis, wurde jedoch nicht fündig, also schaute er Becker an. »Der Radsportverein Sturmvogel sagt uns etwas«, meinte Dietrich Kölling. »Mir nicht.« »Doch, doch, doch.« Dietrich Kölling nickte vor sich hin. »Wo ist Frau Blissow?« »An ihrem Schreibtisch.« »Gut.« Dietrich Kölling nickte noch immer, zog das Telefon zu sich heran und tippte zwei Nummern ein. »Ich brauche Ihr enzyklopädisches Wissen«, sagte er nur. Eine Minute später trat die Blissow ein. 227
Sie war sofort im Bilde. »Der ältere Sohn der abgängigen Frau Leichtner trainiert in diesem Verein«, sagte sie. »Klar!« Dietrich Kölling schlug sich vor die Stirn. »Ich werde alt.« »Sie sind es«, konterte die Blissow. »Danke.« Dietrich Kölling erhob sich, griff nach seinem Jackett und legte es sich über die Schultern. »Kommen Sie, wir machen alle einen Ausflug.« Benjamin und Schnecke hetzten über ein Feld, das in diesem Jahr brachlag. Sie sprangen umeinander und kläfften leidenschaftlich, sie balgten sich, trennten sich wieder und lieferten sich eine Verfolgungsjagd. Obermeister Weinberger war stolz auf die beiden Hunde. Sie waren kräftig und kerngesund. Der Obermeister nutzte seinen dienstfreien Tag für einen ausgiebigen Spaziergang. Erst am Abend, um achtzehn Uhr, musste er in der Dienststelle sein. Weinberger mochte das freie, weite Land, über das sich ein fast wolkenloser Himmel wölbte. Lerchen sangen in der Höhe, dann rief ein Kuckuck. Der Obermeister zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche und schüttelte sie. Auf dem Knüppelpfad, den er benutzte, kam ihm ein Mann entgegen. Der Mann fuhr auf einem klapprig wirkenden Damenfahrrad, und während er sich näherte, schaute ihm Weinberger ins Gesicht und in die Augen – eine alte Polizistengewohnheit. Der Mann grüßte, wich aber seinem Blick aus. Er trug eine Brille mit Metallgestell, schwarze Hosen und ein schwarzes Hemd. Auf dem Rücken hatte er einen großen Armeerucksack. Obermeister Weinberger pfiff seinen Hunden, der Mann fuhr an ihm vorbei. Irgendetwas an ihm rief in Weinberger eine Erinnerung wach. Die Hunde kamen angerast, Weinberger drehte sich um. Der Mann radelte jetzt, so schnell er konnte. Heftig trat er in die 228
Pedale. Er erinnerte den Obermeister an etwas, das er auf einem Fax gelesen hatte. Das Fax war aus Berlin gekommen und an alle Polizeidienststellen Nordbrandenburgs gerichtet gewesen. Der Revierleiter hatte es an eine Pinnwand im Aufenthaltsraum gepappt. Alle Kollegen hatten es lesen sollen. Der gründliche Weinberger kannte den Text beinahe auswendig. »Benjamin! Schnecke! Fuß!«, rief er laut. Dann begann er zu rennen. Die Hunde rannten mit. »Haben Sie auch Ihre abscheulichen Lieblingswörter?«, wollte Dietrich Kölling von seinen Mitarbeitern wissen. »So wie«, er zeigte zum Märkischen Viertel, »Großwohnanlage?« »Sekundäre Viktimisierung«, entgegnete die Blissow. »Was ist denn das?« Becker hockte neben Hajota im Fond des Kleinwagens. Wie ein Hahn neben einem Hähnchen auf der Stange, dachte Dietrich Kölling und lächelte. »Fragen Sie den Kollegen Tangermann«, riet die Blissow. »Der kommt frisch von der Schule.« »Sekundäre Viktimisierung«, sagte Hajota, »das bedeutet, dass Opfer von Verbrechen durch die polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Ermittlungshandlungen zum zweiten Mal zu Opfern werden. Das gibt es vor allem bei Kindern oder Vergewaltigungsopfern.« »Und Sie, Becker?« Dietrich Kölling hupte, um einem Radfahrer anzukündigen, dass er nach rechts abzubiegen und ihm die Vorfahrt zu nehmen gedachte. »Sehr rücksichtsvoll«, meinte die Blissow mit Blick auf den Radler, der scharf hatte bremsen müssen und dem Wagen eine Drohgebärde hinterherschickte. »Ich bin kein LKW-Fahrer«, sagte Dietrich Kölling, »ich habe keine toten Winkel.« »Der tote Winkel im Rückspiegel eines LKW ist aber eine Tatsache«, erklärte Hajota.
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»LKW-Fahrer«, belehrte ihn sein Chef, »haben die meisten toten Winkel im Kopf.« »Intrauterinpessar«, platzte Becker heraus. »Bitte?« »Intrauterinpessar«, wiederholte Becker. »Das ist so ein Wort, an dem man sich die Hände wärmen kann.« »Was ist ein Intra … Was ist das?«, fragte der wissbegierige Tangermann. »Eine Frauensache«, beschied ihm die Blissow. Der Rest der Fahrt war Schweigen. »Wir sind alle sprachlos«, erklärte Michael Leichtner seinen Gästen. Sie saßen im Wohnzimmer, in dem es nach Schweißfüßen, abgestandenem Bier und nach Urin roch, Leichtner verteilte mit heftig zitternden Händen die Kaffeetassen. »Erst das Verschwinden meiner Frau. Nun der Tod von Titus. Was bedeutet das alles?« »Ich glaube nicht, dass da ein Zusammenhang besteht«, meinte Dietrich Kölling. »Ich glaube es sehr wohl«, widersprach die Blissow. Dietrich Kölling durchbohrte sie mit einem Blick, aber sie begann nicht zu bluten. »Jemand hat an Titus’ Rad manipuliert«, sagte Leichtner und schenkte Kaffee ein. Dietrich Kölling nahm einen Schluck. Der Kaffee schmeckte nach Seife. »Vielleicht wollte er verhindern, dass Gaschinski siegt«, überlegte Becker. »Dass Titus bei dem Sturz ums Leben kommt, hat der Täter nicht wissen können. Das war Pech.« »Entschuldigen Sie, aber in unserem Sport ist man fair«, sagte Michael Leichtner. »Titus ist ein guter Fahrer, aber nicht der beste. Wir haben ihn unter den gut Platzierten gesehen, aber nicht als jemand, der den Sieg davonträgt.« »Wer war denn Ihr Favorit?«, wollte Dietrich Kölling wissen. »Mein Sohn. David. Er hat sich in letzter Zeit so sehr ins 230
Training gekniet … Zu sehr, wenn Sie mich fragen. Er nahm kaum noch etwas anderes wahr. Aber ich verstehe ihn. Er brauchte das Training, um dem Schmerz über den Verlust der Mutter etwas entgegenzusetzen.« »Klingt plausibel«, meinte Tangermann. »Sie haben von Ihrer Frau immer noch nichts gehört?«, fragte Dietrich Kölling. »Nein.« »Ist Ihnen bekannt, dass David unserer Kollegin Nowikowski erklärt hat, er habe seine Mutter getötet?«, wollte die Blissow wissen. »Das ist Unsinn.« Michael Leichtner zerschnitt mit einer entschiedenen Geste die Luft. Für Dietrich Köllings Geschmack kam diese Entgegnung zu schnell. »David ist verzweifelt. Er denkt wohl, er habe mit seinem Verhalten dazu beigetragen, Angelika in den Selbstmord zu treiben.« »Wie hat er sich denn verhalten?« »Wie jeder Junge seines Alters. Er muss sich von seinem Elternhaus abnabeln und seine eigene Identität finden. Durch Kontroversen, durch Widerworte. Jeder Siebzehnjährige macht eine solche Phase durch.« Identität, dachte Dietrich Kölling, gehört auch zu meinen Lieblingsunworten. Jupiter, der Kater, der nachts unter seine Bettdecke schlüpfte und in seinen Kniekehlen schlief, hatte Identität nicht nötig. Dietrich Kölling hatte tatsächlich begonnen, dieses verdammte Vieh zu mögen, obgleich es ihm auch Widerworte gab: Es hatte das von seinem Herrchen auf Zeit erworbene Billigfutter so lange mit lautem Miauen kommentiert, bis Dietrich Kölling in eine Zoohandlung gestürzt war und nur das Feinste und Teuerste kaufte, was die Tierfuttermittelindustrie zu bieten hatte. Das fraß der Kater anstandslos. Und auch Dietrich Köllings Sahneleberwurst, Dietrich Köllings Schimmelkäse und Dietrich Köllings Ohrenschmalz liebte Jupiter heiß und innig. 231
»Wir werden mit David sprechen müssen«, sagte Dietrich Kölling. »Das könnte ich machen«, erbot sich Hajota. »Nee, nee, nee!« Dietrich Kölling schüttelte den Kopf. »Der Junge ist Chefsache. Wo ist er?« »In seinem Zimmer. Vorn am Flur. Soll ich …?« »Ich finde den Weg.« Dietrich Kölling stand auf. Er war froh, dem grässlichen Kaffee entrinnen zu können. »Nehmen Sie Rücksicht auf ihn, er ist sehr sensibel«, sagte Leichtner noch. »Bin ich auch«, behauptete Dietrich Kölling meilenweit an der Wahrheit vorbei. Er verließ das Wohnzimmer und trat in den Flur. Die Tür eines der Räume, die von ihm abgingen, stand offen, und Aaron Leichtner lehnte am Türrahmen. Er trug einen Trainingsanzug, massierte mit den Zehen des linken den Rist des rechten Fußes und starrte Dietrich Kölling an. Dietrich Kölling lächelte. Der Bengel hatte ein Pokerface aufgesetzt, aber sein Blick war eiskalt. Und irre, dachte Dietrich Kölling, als er sich an die Vernehmungsprotokolle von Herrn und Frau Lingenbrinck erinnerte. Der Knabe war wirklich durch den Wind. »Du bist bekanntlich nicht David.« »Wissen Sie doch.« Aaron Leichtner zeigte eine Tür weiter. »Dort finden Sie mein Bruderherz.« »Danke.« »Was ich Ihnen schon immer sagen wollte: Sie strahlen Kompetenz aus.« »Wie bitte?« Das hatte noch nie jemand zu Dietrich Kölling gesagt. Der Satz passte nicht zu diesem offenbar frechen und vorlauten Bürschchen. Kompetenz, soziale Kompetenz vor allem, gehörte auch in Köllings Enzyklopädie der Lieblingsunwörter. »Kompetenz kann nicht strahlen. Man kann kompetent sein oder so erscheinen, aber Kompetenz ausstrahlen? Nein.« 232
»Ist der gleiche Blödsinn wie Sinn machen?« »Du scheinst ja ein Sprachkritiker zu sein«, sagte Dietrich Kölling. »Ich bin der einzige Intelligente in dieser Familie«, erklärte Aaron Leichtner. Er begann Dietrich Kölling auf die Nerven zu gehen. »Und ich bin der Papst«, erwiderte er. »Glaub ich nicht.« Aaron Leichtner grinste. »Sie lächeln ja nicht andauernd.« »Man soll sich über die Gebrechen alter Leute nicht lustig machen.« »Warum nicht?« Darauf wusste der Chef eines Berliner Mordkommissariats nichts zu entgegnen. Das Bürschchen hatte ihn besiegt. Und sich einen Feind gemacht. David Leichtner weinte. Ausgerechnet vor Dietrich Kölling, der sich als Trostspender überhaupt nicht eignete, brach er in Tränen aus. »War dein Bruder auch bei diesem Downhill dabei?«, fragte Dietrich Kölling leise; irgendwo musste er schließlich anfangen. »Halbbruder. Gleiche Mutter, anderer Vater.« »Verstehe.« »Nichts verstehen Sie.« »Was sollte ich denn, deiner Meinung nach, verstehen?« »Nix.« David Leichtner, der auf dem Bett lag und nicht aufgestanden war, wie es die Höflichkeit eigentlich gebot, bedeckte seinen Kopf mit einem Kissen. »Ich will tot sein. Würden Sie mich abknallen?« »Ich bin nicht bewaffnet.« »Aber Sie sind doch Bulle.« »Trotzdem bin ich unbewaffnet. Das hier ist kein Film. Ich schieße nicht. Wenn unbedingt geschossen werden muss, zitiere ich Spezialisten herbei. Tut mir Leid.« 233
»Ja, Aaron war auch dabei. Mit einem Kumpel. Als Zuschauer. So wie mein Vater.« David Leichtner nahm das Kissen vom Kopf. »Nur meine Mama …« Er verstummte. »Wo ist sie?« »Keine Ahnung.« »Du weißt es nicht?« Dietrich Kölling setzte sich an den Schreibtisch. Ein Heft mit einer Hausaufgabe war aufgeschlagen, die Aufgabe war noch nicht gelöst. David sollte die Fläche unter einer Parabel berechnen, zwischen Null und x, = 5. Infinitesimalrechnung, dachte Dietrich Kölling, Himmelherrgott, vor unzähligen Jahren hast du es gekonnt. »Sie ist tot«, sagte David und wischte die Tränen mit Papiertüchern ab. »Sicher?« »Mama hätte uns nie verraten.« »Vielleicht ging es ihr schlecht.« »Schlecht geht’s uns allen. Deswegen haut man nicht ab. Nicht Mama!« »Warum geht es euch allen schlecht?« »Warum, warum, warum? Das ist eine Kinderfrage, oder?« David Leichtner richtete sich ein wenig auf. »Ich habe auch immer ›Warum?‹ gefragt. Warum haben sich meine Eltern scheiden lassen? No answer! Nie.« »Vielleicht haben sie sich nicht mehr geliebt«, versuchte Dietrich Kölling eine Antwort. David zuckte nur die Schultern. »Erzähl mir von Titus Gaschinski.« »Der? Das war ein Großmaul. Ziemlich eingebildet. Titus war kein schlechter Biker, aber er hat sich für sonst was für einen großartigen Sportler gehalten. Im Klub mochte ihn keiner.« »Und du?« »Ich mochte ihn auch nicht.« »Hattet ihr mal Streit?« »Streit? Nein. Er war mir egal.«
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»Aha.« Dietrich Kölling betrachtete erneut die Parabel im Koordinatensystem. »Und jemand anderer? Im Klub? Oder von einem anderen Verein? Wer könnte ihn so gehasst haben, dass er am Fahrrad herumschraubte?« »Ich weiß nicht.« David saß nun auf dem Bett und presste die Füße auf den Boden. »Gab es denn einen Vorfall in letzter Zeit? Ärger? Eine Auseinandersetzung?« »Da müssen Sie im Klub herumfragen. Ich habe nichts gehört.« Dietrich Kölling war der festen Überzeugung, dass ihm David nicht die Wahrheit gesagt hatte. Der Junge trug sein Innenleben auf dem Gesicht zur Schau. Er vermochte nicht überzeugend zu lügen. Es war etwas vorgefallen, vor dem Rennen in den Müggelbergen. Dietrich Kölling hätte es gern in Erfahrung gebracht, biss sich aber an Davids Widerstand die Zähne aus. Auch Michael Leichtner wollte von einem Streit nichts wissen, Aaron ebenfalls nicht. Er behauptete, Titus Gaschinski kaum zu kennen. Und er ließ sich nicht so leicht durchschauen wie sein Bruder. Dietrich Kölling trat aus dem Haus und ging in den Garten. Er wollte für ein paar Minuten allein sein. Vielleicht hatte die Blissow doch Recht, und es bestand ein Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Frau Leichtner und dem Tod des jugendlichen Bikers. Dietrich Kölling betrachtete die sorgsam gepflegten Beete und fragte sich, ob sie noch die Handschrift der Frau trugen. Michael Leichtner jedenfalls schien dem Alkohol verfallen zu sein und wenig Wert auf Ordnung zu legen, und dass sich die Söhne für Gartenarbeit begeisterten, konnte sich Dietrich Kölling nicht vorstellen. Auch er hatte es als junger Mensch gehasst, wenn ihn die Mutter zwang, ihr im Garten auszuhelfen. Dietrich Kölling seufzte, drückte den Rücken durch und kehrte zur Eingangstür zurück. In einem Bericht der Beate Nowikowski 235
hatte er von einem Ehepaar aus der Nachbarschaft gelesen, das die Kollegin von der Vermisstenstelle befragt hatte. Ein Ehepaar mit einem seltsamen Namen, das eine Beobachtung gemacht haben wollte. Etwas mit einem Fahrrad. Dietrich Kölling seufzte abermals, trat ins Haus und rief seine Mitarbeiter zu sich. Michael Leichtner brachte sie zur Pforte. Dietrich Kölling reichte ihm zum Abschied die Hand. Dann versammelte er seine Kollegen am Wagen und sprach leise, weil Leichtner noch immer am Gartenzaun stand und sie zu beobachten schien. »Sie nehmen sich jeder ein Foto des Verstorbenen und klappern die Nachbarschaft ab. Vielleicht hat ihn jemand hier gesehen.« Ein Mobiltelefon klingelte. Instinktiv griffen alle in ihre Taschen. Es war Dietrich Köllings Handy, das angeschlagen hatte. Dietrich Kölling telefonierte mehrere Minuten. Während des Gesprächs hellten sich seine Gesichtszüge auf, und als er die Taste drückte, mit der man auflegte, strahlte er regelrecht. »Was Positives?«, erkundigte sich Becker. »Der Knabenzerstückler«, sagte Dietrich Kölling. »Er hat doch nicht schon wieder zugeschlagen?«, fragte Tangermann mit weit aufgerissenen Augen. »Dann würde ich mich kaum freuen. Nein, man hat ihn. Ein Obermeister Weinberger hat ihn bei Birkenwerder festgenommen.« »Woher weiß man, dass es der Zerstückler ist?«, fragte Becker nach. »Er hatte was im Rucksack.« Dietrich Kölling wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, dem Mann ins Gesicht zu schauen, der mehrere Kinder getötet und zerlegt hatte. Seine Mitarbeiter ließ er in Rosenthal zurück, wo sie Klinken putzen sollten, und machte sich mit dem Wagen auf den Weg nach Birkenwerder. 236
Der kleine Ort im nördlichen Speckgürtel von Berlin hatte SBahn-Anschluss und sah brav und bieder aus. Trotzdem hatte er einen Serienmörder ausgebrütet. Dietrich Kölling ahnte, was man sich hinter den properen Fassaden erzählte. Niemand hatte es für möglich gehalten. Berlin, das war ein Sündenbabel, in dem Killer gediehen wie Unkraut, aber doch in Birkenwerder nicht. Das musste ein Irrtum sein. Dietrich Kölling hielt vor dem Polizeirevier und stieg aus dem Wagen. Es war ein schöner, sonniger Tag, der nach Urlaub schmeckte. Er hatte seine Pläne abermals revidiert. Er würde nicht nach Lindau reisen, sondern nach Hannover zu seiner Mutter. Sie würde ihn beköstigen, ohne dass er dafür etwas bezahlen musste. Außerdem wusste er nicht, wie lange er sie noch hatte. Sie war über neunzig, und obwohl er es sich wünschte, unsterblich war sie nicht. Dietrich Kölling konnte nicht sofort mit dem Knabenmörder sprechen, wie er es vorgehabt hatte, denn zwei Kriminalbeamte aus Potsdam vernahmen den Mann gerade und wollten nicht gestört werden. Um sich die Zeit zu vertreiben, suchte er den Obermeister Weinberger auf, der ihm haarklein berichten sollte, wie er den Täter zur Strecke gebracht hatte. Dieser Weinberger freute sich über die Aufmerksamkeit, die man ihm neuerdings entgegenbrachte, aber es schien ihm auch gleichzeitig unangenehm zu sein, so sehr im Mittelpunkt zu stehen. »Ich hatte tagsüber dienstfrei«, begann er. »Wir wohnen am Rand von Birkenwerder, und nicht weit von unserem Haus erstrecken sich Felder. Es gibt auch vereinzelte Baumgruppen, Solle und später einen Wald. An dienstfreien Tagen gehe ich stundenlang durch die Felder spazieren. Ich nehme oft meinen Sohn und immer unsere Hunde mit, denn die brauchen auch Auslauf.« Hunde, dachte Dietrich Kölling, schon wieder. »Heute bin ich sehr früh aufgebrochen«, fuhr der Obermeister fort, »gleich nach der Nachtschicht. Sie wissen vielleicht, wie 237
das ist: Die Nächte sind besonders anstrengend, man raucht viel und trinkt viel Kaffee, und in letzter Zeit habe ich manchmal Herzstiche. Ich bin kein Typ, der gleich zum Arzt rennt, aber ich habe mir gesagt: Weinberger, wenn du aus der Schicht kommst, da schläft der Junge noch, also schnappst du dir nur die Hunde und machst eine anständige Tour; für dein Herz kann das nur gut sein. Ja, und dann kam mir dieser seltsame Typ entgegen.« »Wieso seltsam?« »Tja, warum eigentlich?« Weinberger zuckte die Achseln. »Ich kann es nicht genau erklären. Mir fiel Ihr Rundfax ein. Dass wir auf einen Mann achten sollen, der auf einem Fahrrad und mit Gepäck auf abgelegenen Wegen unterwegs ist. Sie werden jetzt sagen, der Mann hätte auch ein Jäger oder ein Angler sein können. Das konnte er nicht. Es ist keine Jagdsaison, und er hatte kein Angelgerät bei sich.« »Was haben Sie also getan?« »Ich bin ihm gefolgt. Er hat es natürlich bemerkt und versucht zu entkommen. Das machte ihn mir erst recht verdächtig. Ich muss sagen, ich war selbst überrascht, wie schnell ich noch laufen kann. Er hatte immerhin ein Fahrrad. Doch der Weg war schlecht. Außerdem fürchtete der Typ wohl meine Hunde. Er hat aufgegeben.« »Sie hatten also den richtigen Riecher«, lobte Dietrich Kölling. »Aber ich auch.« »Sie auch?« Weinberger hob die Brauen. »Ich lag damit richtig, dass der Täter ein Fahrrad benutzt.« »Stimmt.« Der Obermeister schaute auf seine Armbanduhr. »Wissen Sie was? Ich habe noch vier Stunden Zeit, bis ich meinen Dienst antreten muss. Und hier ist es nicht besonders gemütlich. Wollen wir nicht bei mir zu Hause warten? Es ist nicht weit.« »Gern. Aber sagen Sie mir noch: Was haben Sie gemacht, nachdem der Mann aufgegeben hatte?«
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»Ich gab mich als Polizist zu erkennen und bat, einen Blick in seinen Rucksack werfen zu dürfen. Er leistete keinen Widerstand. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, dass er irgendwie … erleichtert war.« Obermeister Weinberger verstummte. »Und in dem Rucksack?« »Ja.« »Was haben Sie gefunden?« »Zwei Plastiktüten. Und darin …« Weinberger schüttelte sich und senkte die Stimme. »Darin … Arme und Beine. Von einem Kind.« Hans und Annekathrin Gewinner ließen sich die Dienstausweise zeigen, dann durften Becker und die Blissow eintreten. Dass schon wieder die Polizei bei ihnen aufkreuzte, schien sie nicht zu beunruhigen. Im Gegenteil, sie waren offenbar stolz darauf, dass man sie ernst nahm. »Wir möchten Ihnen ein Foto zeigen«, sagte die Blissow. Ihrer Handtasche entnahm sie den vergrößerten Abzug eines Passbildes, das Titus’ Eltern den Ermittlern zur Verfügung gestellt hatten. »Kennen Sie diesen jungen Mann? Hat er sich schon mal hier in der Gegend aufgehalten?« Hans Gewinner klaubte ein Brillenetui aus der Obstschale auf dem Tisch, öffnete es und setzte die Brille auf. Nur kurz hielt er das Foto in der Hand, dann reichte er es seiner Frau. »Das war der Junge, der vor etwa vierzehn Tagen das Fahrrad bei Leichtners über den Zaun geworfen hat«, sagte er. »Das Fahrrad des Ältesten, von David. Wir haben das nicht verstanden. Wie kann man so etwas machen? Es ist doch sicher ein teures Fahrrad. Diese jungen Leute haben keine Achtung mehr vor den Dingen, stimmt’s, Anne?« Frau Gewinner nickte. Sie legte das Foto auf den Tisch. »Es war schon merkwürdig. Zuerst ist der Kleine mit dem Rad weggefahren, ist aber ohne zurückgekehrt. Und verletzt, nicht, Hans? Er blutete. Und dann kam dieser Junge«, sie tippte auf 239
das Bild, »und hat das Rad über den Zaun geschmissen. Hat ordentlich gescheppert.« »So ein Vandalismus«, schimpfte Herr Gewinner. »Alles beschmieren und zerstören sie: Bushaltestellen, Einkaufswagen, die Wände der Kaufhalle. Man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher.« »Du warst es«, sagte David. »Du und Tahir.« »Was?« Aaron hatte es sich wieder einmal auf dem Bett bequem gemacht und schaute Riddick – Chroniken eines Kriegers. David schaltete das Fernsehgerät aus. »Ihr habt Titus umgebracht.« »Quatsch! Ich habe gar keine Ahnung von Mountainbikes.« »Und warum hast du dir das Buch von mir schenken lassen?« David ergriff den Bruder bei den Armen und riss ihn vom Bett. »Das Buch über Technik und so? Na, warum?« »Interesse«, murmelte Aaron. Er sah die Wut in Davids Augen und bekam es mit der Angst zu tun. »Wolltest du dich an Titus rächen? Weil er dir das Bike weggenommen und dich zusammengeschlagen hat?« »Vielleicht.« »Ja oder ja?« »Was geht’s dich an? Ist allein meine Sache.« »Was es mich angeht?«, schrie David. »Ich bin im selben Klub. Der dicke Bulle denkt bestimmt, dass ich was damit zu tun habe.« »Hast du aber nicht.« Aaron machte sich frei, trat zum Fernseher und schaltete ihn wieder ein. »Was ist los mit euch?« Michael Leichtner hatte die Tür geöffnet. Er war betrunken, hatte glasige Augen und schwankte. »Nichts«, sagte Aaron. »Ich hau ab«, schrie David. »Keine Minute länger … Ich halt’s nicht mehr aus mit euch.«
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Wenige Augenblicke später krachte die Haustür ins Schloss. Leichtner starrte den jüngsten Sohn an. »Nichts war«, wiederholte dieser. »Er heißt Karl-Uwe Bornhöft, ist siebenunddreißig Jahre alt und ledig«, sagte Weinberger und deutete auf ein weißes Haus am Ende einer Pflasterstraße. Es war ein Neubau und wirkte wie aus dem Katalog. »Bornhöft lebt noch bei seinen Eltern. Aber ich kenne ihn nicht, kann mich nicht erinnern, ihn jemals zuvor gesehen zu haben. Er ist ein unauffälliger Mensch.« »Arbeit?«, wollte Dietrich Kölling wissen. Weinbergers Territorium wurde von einem schwarz lackierten Metallzaun markiert. Jeder Gitterstab trug eine Spitze in Form einer kleinen Pyramide. »Hat er nicht. Er hat wohl einmal Koch gelernt, übt den Beruf aber seit über zehn Jahren nicht mehr aus.« »Koch also. Ich hätte einen Metzger erwartet.« »Na, das ist wohl eher ein Klischee. Nicht jeder Metzger oder jeder Gärtner hat Neigungen zum Morden.« »Nein.« Dietrich Kölling lachte. »Auch nicht jeder Mann mit Hut.« Weinberger schloss die Pforte auf, die ebenfalls aus schwarzen Metallstäben bestand. Zwei große Hunde kamen aus dem Nirgendwo und stürmten auf ihn zu, ein zottiger Neufundländer und ein Rottweiler. Dietrich Kölling klammerte sich an den Zaun. »Keine Sorge, HK, die tun nichts«, behauptete der Obermeister. »Ihnen nicht. Aber mich kennen sie nicht.« »Trotzdem. Sie sind friedlich. Na, Schnecke?« Weinberger tätschelte dem Neufundländer die Flanken. »Hallo, Benjamin!« Aus dem Haus trat ein kleiner Junge, der ebenfalls Weinberger entgegenlief: auf Socken.
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»Aber Mirko«, sagte Weinberger mit Blick auf die Socken und strich dem Jungen über den Kopf. »Mutti wird schimpfen.« Er deutete auf Dietrich Kölling. »Das ist ein Kriminalkommissar aus Berlin. Sag guten Tag.« »Guten Tag.« Der Junge senkte verlegen den Blick. »Haben Sie keine Angst?«, wollte Dietrich Kölling wissen. »So große Hunde … und das Kind?« »Wie ich sagte: Schnecke und Benjamin sind lieb. Bitte!« Weinberger wies auf das Grundstück mit dem kurzen Rasen und den exakt angelegten Blumenrabatten. Dietrich Kölling betrat es. »Benjamin, da denkt man eher an einen kleinen Hund«, meinte er. »Vermutlich hieß er einmal anders«, erwiderte Weinberger. »Er ist ein Findling.« »Wohl ausgebüxt?« Dietrich Kölling betrachtete den Rottweiler. »Und hat gar keine Sehnsucht nach seinem früheren Zuhause?« »Man hat ihn ausgesetzt. An einem Kiessee an der Stadtgrenze zu Berlin. Einfach an einen Baum gebunden und dann allein gelassen. Auf so ein Zuhause kann ein Tier verzichten. Genauer gesagt: Es ist keins mehr.« »An einem Kiessee an der Stadtgrenze zu Berlin? Wo genau?« »Bei Mönchmühle. Warum?« »Nichts weiter«, sagte Dietrich Kölling und warf einen letzten Blick auf den Rottweiler, der Benjamin hieß. Der Hund kläffte, und Dietrich Kölling zuckte zurück. David jagte über die Piste. Er hatte kein Ziel, wollte nirgendwo sein und nirgendwohin. Der Schweiß rann ihm in die Augen und machte ihn fast blind. Ihm war es egal. Nichts sehnte er so herbei wie den Tod. Alles war aus den Fugen geraten, nachdem er seiner Mutter das Schreckliche angetan hatte. Der Vater soff, Aaron tötete, das 242
Downhill, von dem sich David so viel versprochen hatte, war nach Titus’ inszeniertem Unfall abgebrochen worden. David konnte nicht weiterleben. Er fuhr ins Märkische Viertel und an dem Haus vorbei, in dem Marja wohnte. Von ihr hätte er gern Abschied genommen, aber er wagte es nicht. David raste den Wilhelmsruher Damm entlang. Schon wieder musste er weinen. Es tat ihm um Marja Leid, um Papa und um Aaron. Aaron war trotz seiner Kaltschnäuzigkeit kein schlechter Kerl. David erinnerte sich daran, wie er Aaron zum ersten Mal gesehen hatte. Er war drei Jahre alt gewesen, fast schon vier. Aaron hatte als Säugling sehr zerknittert ausgesehen, und sein Kopf war kahl gewesen. David hatte ihn bedauert. Dann hatte er ihn in den Arm nehmen dürfen. Er hatte Angst gehabt, das Baby zu zerquetschen. Und es sofort geliebt. David war voll Liebe, als er sich der Kreuzung von Wilhelmsruher Damm und Eichhorster Weg näherte. Seine Liebe galt der Mutter, dem Vater, Papa, Aaron und Marja. Er hoffte, dass sie alle glücklich würden – ohne ihn. Die Ampel war rot. David bremste nicht. Und auch der Fahrer des Lastkraftwagens, der Kühlprodukte für eine Supermarktkette auslieferte, vermochte weder zu bremsen noch auszuweichen. Dreieinhalb Stunden hatten die Potsdamer Kollegen Karl-Uwe Bornhöft durch die Mangel gedreht, ohne viel Brauchbares aus ihm herauszuquetschen. Bornhöft hatte sich in sich selbst zurückgezogen und die Verbindungen zur Außenwelt gekappt. Nun versuchte Dietrich Kölling sein Glück. Er bildete sich nicht ein, den Schlüssel zur gestörten Persönlichkeit des Knabenkillers zu besitzen, aber er wollte ihn sich wenigstens ansehen – wie ein exotisches Tier im Zoo.
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Bornhöft war kein Exot. Er lebte unter ganz normalen Menschen und unterschied sich von ihnen nicht im Geringsten. Er sah aus wie sie, aß und trank wie sie, schlief wie sie. Aber er lebte in einer anderen Welt. In dieser Welt befand er sich nun, und es würde schwierig werden, ihn aus ihr herauszulocken. Dietrich Kölling suchte das Zeichen, das Mal. Er forschte in den Augen seines Gegenübers, obwohl er die Hoffnung längst aufgegeben hatte, in den Augen von Psychopathen etwas lesen zu können. Im Mittelalter hatte man die Augen für das Fenster der Seele gehalten. Nach dieser Auffassung zu urteilen, hatte Bornhöft keine Seele. Sein Blick war leer und unergründlich. Und das Zeichen, das Mal gab es nicht. Nach einer Weile konnte der Mörder nicht mehr ertragen, nur angestarrt zu werden, und schaute weg. Wie beim Katerkampf; er hatte aufgegeben, aber Dietrich Kölling hatte nicht gesiegt. Ihn bewegten weder der Tathergang noch die Tatumstände, die man auch aus den Spurensicherungsprotokollen herleiten konnte. Nur eine Frage beschäftigte ihn wirklich, die schwierigste von allen, die vielleicht nie würde beantwortet werden können, weder von den Psychologen noch vom Gericht, noch vom Täter selbst. Von ihm womöglich am allerwenigsten. »Warum haben Sie es getan?« »Ich musste.« Dietrich Kölling war überrascht, dass Bornhöft gesprochen hatte. »Es überkam Sie?« »So kann man es auch ausdrücken.« »Was überkam Sie? Ein diffuses Es genügt mir nicht.« »Ich kann es Ihnen nicht erklären.« »Oder wollen Sie nicht? Hat es Sie erregt? Bekamen Sie einen Abgang, als Sie die Kinder töteten und zerstückelten?« »Nein!« Bornhöft wurde heftig, schaute Dietrich Kölling aber immer noch nicht an. »Es war nichts Schmutziges.« »Nichts Schmutziges … wie Sex?« »Ich liebe Kinder«, erwiderte der Mörder leise. 244
»Das glaube ich Ihnen sogar. Sie mögen Kinder, weil Sie sich ihnen verwandt fühlen. Sie konnten nicht erwachsen werden. Sie haben Angst vor Erwachsenen. Vor Frauen.« »Ich mag Knaben. Sie sind so zart.« »Dann haben Sie wohl aus Edelmut gemordet? Damit die Kinder nicht erwachsen werden müssen? Übrigens, meiner Meinung nach haben Sie keine besondere Ader für Jungs. Das bilden Sie sich nur ein. Sie erklären sich selbst, was Sie taten, mit einer pädophilen Neigung zum eigenen Geschlecht. Nehme ich Ihnen nicht ab, Bornhöft. Sie haben nicht aus Neigung getötet, sondern aus Angst.« »Wenn Sie alles schon wissen –« Dietrich Kölling schnitt ihm das Wort ab. »Was ich weiß oder vermute, steht nicht zur Debatte. Mich interessiert, was Sie über sich zu wissen glauben. Und was Sie tatsächlich über sich wissen. Sie leben noch bei Ihren Eltern?« Bornhöft nickte. »Warum?« »Ich habe es gut da.« »Nein, haben Sie nicht. Lügen Sie mir nicht in die Tasche. Und auch sich selbst nicht. Ihre Eltern sind Monster.« Dieses Wort benutzte Dietrich Kölling nicht gern, weil es der Lieblingsbegriff der Boulevardpresse war, aber jetzt war es angebracht, aus pragmatischen Gründen. »Nein, sie sind gute Menschen.« Der Mörder fuhr auf. »Was haben die guten Menschen Ihnen angetan?« Karl-Uwe Bornhöft brach sofort wieder in sich zusammen und zuckte hilflos die Schultern. »Sie sind noch immer abhängig von ihnen. Wie hat man Sie abhängig gemacht? Mit Gewalt?« »Mit Liebe«, sagte der Mörder schwach. »Aha. Und wie mussten Sie sich die Liebe verdienen? Das mussten Sie doch? Normalerweise lieben Eltern ihre Kinder
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voraussetzungslos. Um ihrer Existenz willen. Welche Voraussetzungen mussten Sie erfüllen?« »Keine.« »Nicht lügen!« »Ich lüge nicht.« »Herr Bornhöft.« Dietrich Kölling verschärfte den Ton. »Was haben Ihre Eltern mit Ihnen gemacht oder von Ihnen verlangt, als Sie noch ein Kind waren?« Karl-Uwe Bornhöft antwortete nicht. Dietrich Kölling wusste, dass er auf dem richtigen Weg war, aber dieses Wissen nützte ihm nichts. Der Mörder hatte sich wieder in seine Welt zurückgezogen. Noch eine halbe Stunde arbeitete sich Dietrich Kölling an ihm ab, dann strich er die Segel, allerdings nicht ohne das letzte Wort, denn das ließ er sich nicht gern nehmen. »Wissen Sie, Bornhöft, Sie sind mir herzlich gleichgültig. Ihre Motive, Ihre Biografie, warum Sie wurden, wie Sie sind … alles Peanuts. Wir haben Sie. Sie können nie wieder töten, weil Sie bis an Ihr Lebensende hinter Gittern bleiben. Und nicht mal einen Platz in der forensischen Literatur können Sie beanspruchen. Dort hat man Typen wie Sie längst ausführlich beschrieben. Was sind Sie denn, Bornhöft? Nur ein Nullachtfünfzehn-Psychopath. Und für mich? Für mich sind Sie Dreck. Dreck gehört auf den Müll. Ich habe nicht einmal das Bedürfnis, Sie zu verachten. In meiner Welt sind Sie eine Akte. Morgen schon, wenn ich meinen Teil der Akte geschlossen habe, beginnen Sie zu schimmeln.«
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Zehntes Kapitel In die Kriminalgeschichte eingehen würde auch Dietrich Kölling nicht, das blieb besonders raffinierten oder besonders grausamen Verbrechern vorbehalten, und doch hatte er eine wahrhaft historische Leistung vollbracht: Er hatte seinen Schreibtisch aufgeräumt. Nun saß er, nicht gerade tatendurstig, vor der polierten Tischplatte und betrachtete Federschale und Wochenkalender. Alle übrigen Utensilien hatte er in die Schubladen verbannt, in denen es weiterhin wie Kraut und Rüben aussah, aber er fand sich zurecht, und darauf kam es an. Dietrich Kölling wandte sich dem Monitor zu, dessen Bildschirm er mit einem Brillenputztuch gereinigt hatte. Vorher war er nur staubig gewesen. Staubig war er nicht mehr, aber dafür von Schlieren überzogen. Mit einem Seufzer bewegte Dietrich Kölling die Tastatur. Vor etwa einer Stunde hatte er mit dem Trainer des RSV Sturmvogel telefoniert und wollte nun einen Aktenvermerk über das Gespräch verfassen. Die Notizen dafür hatte er auf seinen Wochenkalender geschrieben. Der Kalender verriet ihm, dass Pfingsten bevorstand, was ihn wunderte, denn eigentlich war gerade erst Weihnachten gewesen. Der Mai verreckte in unerträglicher Hitze. Man sprach allgemein von sommerlichen Temperaturen, kein Wetter für Hypertoniker also. Dietrich Kölling überlegte, wie er die freien Tage verbringen sollte. Ihm fiel nichts ein. Aber er hatte ja Jupiter, der ihn beschäftigen und unterhalten würde. Dietrich Kölling sah seine Aktentasche auf dem Schreibtisch liegen. Er zog sie zu sich heran, öffnete sie und nahm eine Ansichtskarte heraus. Seine Nachbarin hatte ihm geschrieben.
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Die Ferienanlage auf Teneriffa sah aus wie alle Ferienanlagen in allen Katalogen aller Reiseanbieter. Mir geht es gut, wie geht es Ihnen?, hatte Frau Brandt geschrieben. Wetter, Essen, alles erstklassig. Kommen Sie mit Jupiter aus? Er ist doch wirklich eine Seele von Mensch. Ich habe große Sehnsucht. Herzliche Grüße, Ihre Johanna Brandt. Frau Brandt konnte getrost zum Teufel gehen. Dann könnte Dietrich Kölling den Kater behalten. Seine Gedanken schweiften ab. Sie sprangen ein wenig; von der Katze kamen sie auf den Hund. Seit der Begegnung mit Obermeister Weinberger kreisten sie immer wieder um etwas, das der Kollege aus Birkenwerder zu Kölling gesagt hatte. Es hatte mit dem ausgesetzten Rottweiler zu tun, den die Familie Weinberger auf den lächerlichen Namen Benjamin getauft hatte. Bevor Dietrich Kölling die Karte wieder in der Aktentasche verstauen konnte, kreuzte Becker auf, um ihn zu belästigen. Er hatte einen Ordner bei sich, weil die Polizei mit Vorliebe Papiere bewegte, und Schweiß stand dem Oberkommissar auf der Stirn: So anstrengend war das Herumschleppen von Dokumenten. »Es ist bald Pfingsten«, sagte Dietrich Kölling. »Ist mir nicht entgangen.« Becker legte den Ordner sacht auf seinen Schreibtisch, als wäre er ein Neugeborenes, dann ließ er sich auf den Drehstuhl plumpsen. Der Stuhl ächzte. Er war noch älter als die Polizei. »Titus Gaschinski war bei seinen Sportkameraden tatsächlich nicht beliebt«, sagte Becker. »Seine sportlichen Leistungen waren wohl ganz ordentlich, aber er galt als eingebildet und überheblich. Keiner mochte ihn. David hat uns also keinen Bären aufgebunden.« »Mich erstaunt, wie Sie mit diesen Erkenntnissen einen ganzen Ordner füllen können. Oder ist da ein unaufgebundener Bär drin?« »Den hier?« Becker klopfte auf das Produkt von Leitz. »Das ist die Spurenakte. Ich habe die ganze Gegend um die 248
Müggelberge umkrempeln lassen. War aber nicht mehr viel zu holen. Der Unfallort war dermaßen zertrampelt, oje! Die meisten Spuren stammen von den Sportlern, den Funktionären und uns selbst.« »Von mir nicht. Und am Unfallort wird das Fahrrad nicht manipuliert worden sein«, meinte Dietrich Kölling. »Das ist, was mich am meisten interessiert. Wann hatte der Täter die Gelegenheit, sich unbeobachtet an dem Rad zu schaffen zu machen?« »Nach Lage der Dinge überhaupt nicht.« »Nein? Aber er hat es getan.« »Vor dem Rennen wurden die Bikes natürlich noch einmal durchgecheckt«, erklärte Becker. »Man darf sich das jetzt nicht vorstellen wie bei der Tour de France, wo sich Heerscharen von Technikern um die Räder kümmern. Bei einem Klub wie Sturmvogel machen das die Aktiven selbst, und natürlich schauen auch die Trainer nach dem Rechten. Bei dem Downhill in den Müggelbergen war Michael Leichtner dabei, der Vereinspräsident. Sein Sohn trat nach längerer, gesundheitlich bedingter Pause wieder an, da wollte Papa sehen, wie er sich schlägt.« »Und? Wie schlug er sich?« »Es sah wohl ganz gut aus. Aber dann wurde das Rennen abgebrochen.« »Und dieser Titus?« »Nicht besser und nicht schlechter als David.« »Es könnte also doch Konkurrenz eine Rolle spielen?« »Keiner glaubt daran. David ist einer von den Menschen, die alle mögen. Und die alle für ein Weichei halten. Michael Leichtner hatte Recht, sein Sohn ist ein Sensibelchen.« Becker klopfte abermals auf die Akte. »Ich habe mir sagen lassen, dass Mountainbiker eine eingeschworene Gemeinschaft sind, für die Kameradschaft und Fun wichtiger sind als gute Platzierungen. Gaschinski war zwar unbeliebt, aber aus 249
Konkurrenzgründen hat ihn wohl keiner beiseite geschafft. Bei diesen Rennen sind keine großen Blumentöpfe zu gewinnen. In unserem Fall betrug die Siegprämie fünfzig Euro, von der man aber das Startgeld abziehen muss. Dafür töten vielleicht irgendwelche Gangbanger, allerdings auch nur, weil sie mehr erwartet haben.« »Weichei, Fun, Gangbanger, was für eine Sprache.« Dietrich Kölling schüttelte den Kopf. »Man merkt, dass Ihre Kinder pubertieren.« »Die Tochter wird bald zwanzig«, sagte Becker. »Ja? Gott, gestern war sie doch noch zehn.« Dietrich Kölling zündete sich eine Zigarette an. Becker bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. Nur er wusste von der Herzerkrankung und der Hypertonie. »Was Sie da über die Konkurrenz gesagt haben, erscheint mir etwas einseitig. Siebzehnjährige Radler konkurrieren ja vielleicht nicht um unbedeutende Siege in unbedeutenden Rennen, aber wie sieht es denn mit Mädchen aus? Ich meine, wir wissen noch gar nicht, ob Gaschinski wirklich sterben sollte. Vielleicht wollte ihm jemand eins auswischen, weil Titus ihm das Mädchen vor der Nase weggeschnappt hat. Dafür haut man jemanden zusammen, warum sollte man nicht auch ein Fahrrad manipulieren? Verzeihung, ein Bike.« »Auch möglich«, bestätigte Becker. »Bleibt immer noch offen, wann der Herumschrauber herumschraubte.« »Nachdem sich Gaschinski eine Startnummer geholt hatte, hat er sein Bike nicht mehr aus den Augen gelassen. Das bestätigen Zeugen, und Zauberei wird es wohl nicht gewesen sein. Das Rad war keine Minute unbeaufsichtigt.« »Welche Zeugen bestätigen es?« »Michael Leichtner, Aaron Leichtner und Tahir Karpovic, Aarons Freund. Stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien.« Dietrich Kölling musste wieder an Weinberger und den 250
Findling Benjamin denken, den man am Kiessee von Mönchmühle ausgesetzt hatte. Die Familie Leichtner vermisste nicht nur Mutter und Ehefrau, sondern auch ihren Hund. Und dieser Hund war ein Rottweiler. »Na, dann fahren wir noch mal raus nach Rosenthal«, sagte Dietrich Kölling. »Die PTU soll auch mitkommen. Ich möchte ein kleines Experiment machen.« »Ein Experiment?« Dietrich Kölling nickte. Er hatte sich schon auf der Karte angesehen, wie man von Rosenthal aus den Kiessee erreichte. Es war nicht gerade ein Fußweg oder nur ein Fußweg für Wanderer. Mit dem Rad war er allerdings ohne Schwierigkeiten zurückzulegen. Außerdem war zumindest ein Teil des Weges mit der Trainingsstrecke des RSV Sturmvogel identisch, wie ihm ein Herr Pick am Telefon gesagt hatte. Nur ein kleiner Teil, aber immerhin. Warum war der Rottweiler der Leichtners abgehauen? Das beschäftigte ihn fast mehr als das Verschwinden der Frau. Genauer gesagt, vermutete er einen Zusammenhang, und Zusammenhänge zu vermuten war schließlich ein Teil der Polizeiarbeit. Hunde, denen es gut ging, verließen ihr Rudel nicht einfach so, und kastrierte Rüden schon gar nicht. Wozu auch? Sie wollten nur noch fressen, schmusen, toben und Gassi gehen. Hündinnen interessierten sie nicht mehr, und nur das war ein Fluchtgrund. Außerdem kehrten selbst unkastrierte Rüden, wenn sie bei allen empfängnisbereiten weiblichen Hunden der Umgebung Promenadenmischungen angesetzt hatten, erschöpft und hungrig nach Hause zurück. Darüber stand zwar nichts in den Büchern, die sich Dietrich Kölling Jupiters wegen von Tangermann hatte besorgen lassen, nichts in Meine Katze, in Katzen verstehen und Alles über Katzen, aber das war ja auch nicht zu erwarten. Dietrich Kölling wusste es trotzdem. Im Übrigen wusste er jetzt noch mehr über das Verhalten von
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Katzen. Er hatte die Bücher nämlich alle gelesen. Katzen waren toll. »Was für ein Experiment?«, wollte der beharrliche Becker wissen. »Eine Hundenummer. Wie im Zirkus und mit einem Rottweiler als Star.« Aaron wusste nicht, wie ihm geschah. Seit Tagen wartete er auf den Boss der Kripo, der Kompetenz nicht für etwas hielt, das man ausstrahlen konnte. Aaron fand den dicken Typen witzig und beängstigend zugleich. Er wartete auf Handschellen, grobe Worte, Stöße in den Rücken, Gewalt und Schmerz. Doch nichts dergleichen ereignete sich. Nur Tahir war gekommen. »Ich bin traurig«, hatte der Sklave gesagt. Aaron hatte ihn an der Gartenpforte in Empfang genommen; Papa war nicht mehr in der Lage, Besucher zu begrüßen. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden, seitdem David sich umgebracht hatte, soff er durch. »Dein Bruder …« Tahir hatte in aller Öffentlichkeit seinen Kopf an Aarons Schulter gelehnt und seinen Arm gestreichelt. Das hatte Aaron total verwirrt – vor allem dass er etwas wie Zärtlichkeit gegenüber Tahir empfand. Ja, mehr noch: Er hatte sich plötzlich vorgestellt, wie es wäre, Tahir zu berühren. Wie es wäre, sein Gesicht und seinen Hals zu streicheln. Wie es wäre, ihn langsam auszuziehen. Wie Tahir nackt aussah, wusste er vom Duschen nach dem Sportunterricht. Aaron hatte seinen entkleideten Körper vor sich gesehen, ebenso feucht wie das wirre dunkle Haar, und zum ersten Mal war ihm bewusst geworden, dass er ihn schon immer hatte berühren wollen. Aber Aaron wollte keine zärtlichen Gefühle, um keinen Preis. Trotz seiner Verwirrtheit hatte er bemerkt, dass die blöden Halbtoten von gegenüber alles beobachteten. Eigentlich gehörten die auch gekillt. Wie konnten zwei vertrottelte Loser denn nur Gewinner heißen? Das war doch ein Riesengag. Papa kämpfte im Wohnzimmer mit dem Schicksal. Er schrie, 252
und irgendetwas fiel polternd zu Boden. David war tot. Er hatte sich von einem Laster überfahren lassen. Aaron hatte selbst fast eine Stunde geheult. Irgendwie hatte er David schon gern gehabt. Aber nun hieß es, nach vorn zu schauen. Alles ging zu Bruch. Aaron triumphierte. Tahirs schmuddelige weiße Socken machten ihn wahnsinnig. In Black Lady II gab es eine Szene, in der die Lady einen ihrer Sklaven aufforderte, ihr die Füße zu lecken. Der Mann gehorchte und nahm ihren großen rot lackierten Zeh in den Mund. Dann saugte er daran, als erwartete er, aus dem Zeh würde Milch fließen. »Nimm mich in den Arm!« Aaron saß auf der Bettkante und schaute Tahir voll Sehnsucht an. Sein Schwanz wurde lebendig. »Was?« »Wir könnten doch …« Aaron senkte den Blick. Er spürte, wie seine Wangen heiß und rot wurde, und nicht nur sie, sondern auch die Ohren. »Was?« »Mal zusammen wichsen.« »Chef?« Tangermann kam über den Hof gerannt, ein Papier in der Hand. Dietrich Kölling und Becker wollten gerade in ein Auto steigen, das der Berliner Polizei gehörte. »Das UKB hat angerufen. Beim Siebten MK. Auch David Leichtner ist tödlich verunfallt. Man hält es für einen Suizid.« »Mein Gott, Tangermann, Sie sind ja käseweiß.« Dietrich Kölling nahm ihm die Telefonnotiz aus der Hand und las. Nach einem Zusammenstoß mit einem LKW war David Leichtner mit einem Helikopter in das Unfallkrankenhaus nach Marzahn geflogen worden. Dort hatte man ihn sofort operiert. Erfolglos. Die multiplen Brüche und die nicht minder multiplen Schädigungen lebenswichtiger Organe infolge des Einwirkens stumpfer Gewalt waren nicht mehr zu reparieren gewesen. David Leichtner befand sich auf dem Weg in die Rechtsmedizin.
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Eine Staatsanwältin Zunk, die Dietrich Kölling nicht bekannt war, hatte eine Autopsie angeordnet. »Zunk?«, fragte er und gab Hajota das Papier zurück. »Eine Neue?« »Nee, nur versetzt. Sie kommt von Rauschmittel.« »Hat aber trotzdem eine klare Entscheidung getroffen. Fahren Sie hin, Tangermann. Zur Obduktion.« »Muss das sein?« »Natürlich. Seien Sie doch nicht so dünnhäutig.« Dietrich Kölling nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Er wollte chauffiert werden. Becker war bereit. »David ist ein Siebzehnjähriger, Dietrich«, sagte Becker. »Das ist für Hajota eine Qual.« »Hast du mich eben Dietrich genannt?« »Verzeihung. Ist mir rausgerutscht.« »Macht nichts. Wir bleiben dabei. Und nun los, Becker. Gib Gas!« Aaron streifte behutsam die Socken von Tahirs Füßen. Der Sklave lag ganz still, aber nicht locker, sondern angespannt. Er hatte die Augen geschlossen. Aaron folgte der Szene in Black Lady II, nahm den großen Zeh von Tahirs linkem Fuß in den Mund und begann zu saugen. Tahir stöhnte. An der Gartenpforte wurde Sturm geklingelt. Tahir hob den Kopf, öffnete die Augen, die glasig waren vor Geilheit, und schaute Aaron fragend an. Aaron zuckte mit den Schultern. Er sprang auf und lief zur Tür. Doch Papa war schon da, trotz seines Vollsuffs. Offenbar hatte er aus dem Fenster geschaut und wusste, wer Einlass begehrte. Wenig später sah Aaron es auch. Es waren die Bullen. Sie kamen mit einem großen Aufgebot. Als Dietrich Kölling und Becker in der Straße 126 eintrafen, wurden sie bereits erwartet. Zwei Kastenwagen der PTU waren 254
vorgefahren, und auch Obermeister Weinberger, den Dietrich Kölling nach Rosenthal beordert hatte, war an Ort und Stelle. Auf dem Rücksitz seines Privatwagens befand sich der Rottweiler. Er kläffte laut und sprang immer wieder gegen die Tür. Aus dem Haus traten zuerst Michael Leichtner, betrunken wie immer, dann sein Sohn. Er trug wieder nur seine Sportwäsche und blieb wie angewurzelt stehen, als er den Hund entdeckte. Dietrich Kölling gab Weinberger ein Zeichen. Der Obermeister öffnete den Schlag. Sofort sprang der Rottweiler aus dem Wagen und hetzte zur Gartentür. Dietrich Kölling zündete sich eine Zigarette an und beobachtete nur. »Ajax?«, fragte Aaron und ging in die Knie. Er hatte Tränen in den Augen. Der Hund rieb sich an seinen Beinen, winselte und bellte abwechselnd. Von seinen Lefzen troff Speichel. Das war kein appetitlicher Anblick, aber Dietrich Kölling wandte sich nicht ab. »Es ist Ajax«, sagte Aaron zu seinem Vater. »Ich frage mich, warum der Hund ausgesetzt wurde«, sagte Dietrich Kölling. »Entweder von Ihnen, Herr Leichtner, oder von Ihren Söhnen.« »Er wurde ausgesetzt?« Michael Leichtner hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Er schien tatsächlich überrascht zu sein. »Ja, wurde er. Und dafür habe ich nur eine Erklärung. Auf Ihrem Grundstück ist etwas verborgen, das der Hund nicht finden durfte. Lassen Sie ihn in den Garten.« »Das ist nicht nötig.« »Nein?« »Ich habe meine Frau getötet«, sagte Michael Leichtner. »Aber Papa!« Aaron richtete sich auf. »Du halt den Mund! Ich bin es gewesen. Habe sie in einem Wutanfall erstochen und … und im Garten …« Leichtner konnte nicht weitersprechen. Er stützte sich auf seinen Sohn. Dietrich Kölling nickte den Kriminaltechnikern zu, die auf Anweisungen warteten.
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Die Männer und Frauen öffneten die Hecktüren der Kastenwagen, stiegen hinein und kleideten sich um. In weißen Overalls und mit großen Metallkoffern in den Händen schritten sie durch die Pforte und begaben sich über den Betonplattenweg zur Rückseite des Hauses. Dietrich Kölling und Becker hatten bei Leichtner und Aaron Aufstellung genommen. Becker legte eine Hand auf Leichtners Schulter. »Kommen Sie«, forderte er ihn auf. »Was?« Michael Leichtners Blick kehrte aus weiter Ferne zurück. »Kommen Sie mit in die Dienststelle. Ich muss Ihre Aussage aufnehmen.« »Ich habe sie getötet, ja, ich«, sagte Leichtner. »Und du«, er wandte sich an seinen Sohn, »du geh ins Haus. Du sagst nichts, hörst du? Gar nichts.« Aaron folgte den Anweisungen des Vaters, Becker schob Leichtner zum Wagen. Auch die Blissow war mittlerweile am Ereignisort eingetroffen. Sie schaute sich eine Zeit lang um, warf ihrem Chef einen Blick zu, nickte und schloss sich Becker an. Es war nicht erforderlich, ihr etwas zu sagen, sie wusste genau, was vorging. Dietrich Kölling setzte sich in Bewegung. Auch er stapfte hinter das Haus. Die Kriminaltechniker gingen sehr vorsichtig vor. Sie brauchten mehr als eine Stunde, um den Leichnam freizulegen. Jeden ihrer Schritte dokumentierte ein Fotograf. Auch die ersten Nummernschilder wurden aufgestellt, dort, wo die Techniker etwas fanden, das mit der Tat in Beziehung stehen konnte. Der Leichnam war noch relativ gut erhalten, und dass es sich um eine Frau handelte, war unschwer zu erkennen. Dietrich Kölling drehte sich weg. Hier hatte er nichts mehr zu tun. Alles lag in den Händen von Fachkräften, die ihr Handwerk beherrschten. Sie würden eine Spurenakte anlegen, und dieser Akte konnte Dietrich Kölling alle Informationen entnehmen, die er für seine Arbeit brauchte. 256
Auf der Straße 126 hatten sich ein paar Neugierige aus der Nachbarschaft versammelt. Sie starrten auf die Autos, auf das Grundstück, auf das Haus. Becker und die Blissow waren mit Leichtner davongefahren. Weinberger war noch da. Er stand bei seinem Auto, den nach wie vor mal kläffenden, mal winselnden Rottweiler am Riemen, Ajax oder Benjamin. Der Hund zog an der Leine, und der Obermeister hatte alle Mühe, ihn zu bändigen. »Was wird mit ihm?«, wollte er von Dietrich Kölling wissen. »Keine Ahnung. Von Rechts wegen gehört er den Leichtners. Aber da sie ihn ausgesetzt haben … Sie werden ihn sicher nicht wiederhaben wollen, also behalten Sie ihn.« »Und das Kind? Wer kümmert sich um das Kind?« »Ich werde das Jugendamt verständigen. Die haben in solchen Sachen Routine.« »Da hat der Mann also seine Frau erstochen.« Weinberger schüttelte den Kopf. »In einem Wutanfall.« »Das kommt öfter vor«, sagte Dietrich Kölling. »Die meisten Morde sind Beziehungstaten.« »Ich weiß.« »Außerdem hat Leichtner die Tat nur eingeräumt. Ob er sie auch begangen hat, steht für mich nicht fest.« »Aber wer sollte es denn sonst …« »Nehmen Sie die Söhne.« »Wie? Ein Muttermord?« Ein Leichenwagen bog in die Straße 126 ein. Durch die Gruppe der Zuschauer ging ein Raunen. Dietrich Kölling schaute noch einmal zum Haus und begegnete den Blicken zweier Jungen, die hinter einer Gardine hervorlugten. Es waren Aaron und ein ausländisch wirkender Bengel ungefähr gleichen Alters. »Vielleicht ein Muttermord«, sagte Dietrich Kölling. Er fingerte das Handy aus der Jackentasche, rief den Speicher auf
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und suchte nach der Nummer des Taxidienstes. »Wir werden sehen.« Weinberger sperrte den Rottweiler ins Auto. Der Hund heulte. Dietrich Kölling bestellte ein Taxi in die Straße 126, die belebt war wie nur selten. Aaron hatte sich sein erstes Mal immer als eine Vergewaltigung vorgestellt; etwas Überwältigendes und Schwarzes und Schmutziges sollte über ihn kommen und ihn nehmen. Aber seitdem er Tahir gesagt hatte, dass er mit ihm wichsen wolle, war alles anders. Nun wollte er der Überwältiger sein. Und Tahir hatte sich ihm hingegeben. Wären die Bullen nicht gekommen, hätte noch einiges passieren können. Aaron streichelte Tahirs Hals. Die weiche Haut des Sklaven fühlte sich verdammt gut an. Es war schön, ihn zu streicheln. Aaron hatte das Gefühl, ihn zu lieben. Aber er wusste zugleich, dass er keine Skrupel haben würde, ihn zu verraten. »Was machen wir denn jetzt?«, fragte Tahir. »Und vor allem du? Was willst du jetzt machen?« »Jetzt habe ich das ganze Haus für mich allein. Ich kann tun und lassen, was ich will. Mit dir kuscheln zum Bleistift.« »Kannst du nicht. Irgendwer kommt und holt dich.« »Nur wenn ich mich holen lasse.« Aaron setzte sich mit untergeschlagenen Beinen neben dem Sklaven auf die Couch. Auf dem Tisch stand eine Wodkaflasche, in der sich noch drei Daumenbreit Flüssigkeit befanden. Aaron nahm einen Schluck, dann reichte er die Flasche dem Sklaven. »Du auch was?« Tahir nickte, trank und hustete. Aaron musste lachen. »Ziemlich scharf, oder?« »Eklig.« »Mein Vater schafft zwei Flaschen davon. Jeden Tag.« »Hat er wirklich …?« »Frag nicht.« Aaron fuhr mit dem rechten Zeigefinger über 258
Tahirs Brust. Der hatte dort schon ein paar Haare, um die Aaron ihn beneidete. »Und danach?« »Warten wir.« »Tiefer«, sagte Tahir, nahm Aarons Hand und führte sie über seinen Bauch. »Er ist schon total dick.« »Was meinen Sie?« Dietrich Kölling wandte sich an Becker und die Blissow, die gerade aus dem Vernehmungsraum getreten waren. Zwei Stunden hatten sie Michael Leichtner verhört. »Es könnte so gewesen sein, wie er behauptet«, sagte die Blissow. »Er hatte Streit mit seiner Frau. Es ging ums Geld, genauer gesagt um die Abwesenheit von Geld. Die finanzielle Lage der Leichtners war, wie soll ich sagen, angespannt. Sehr angespannt. Der Streit wurde immer heftiger, Leichtner hat rot gesehen, nach einer Schere gegriffen und mehrmals zugestochen. Das Tatwerkzeug will er weggeworfen haben. Nachts hat er den toten Körper dann in den Garten geschleift und ihn dort begraben.« »Nachts? Wo waren da die Söhne?« »Sie haben geschlafen.« »Na, eine Leiche ist aber ein sperriger Gegenstand. Wenn man sich damit abplagt, verursacht man Geräusche. Und vor allem: Wo hat er die Leiche verstaut, bis es Nacht wurde?« »Im Keller, sagt er.« »Und während der Auseinandersetzung … Wo fand die eigentlich statt?« »Vorn in der Diele. In der Nähe der Haustür.« »Ach? Dann ist der Streit wohl losgebrochen, nachdem einer von beiden das Haus betreten und der andere ihn in Empfang genommen hatte? Sozusagen noch im Mantel?« »So ungefähr. Sie kam, er war schon da und hat ihr die Tür geöffnet.« »Hatte sie keinen Schlüssel?« 259
»Das wissen wir noch nicht«, entgegnete Becker. »Während also die Auseinandersetzung stattfand … Waren die Jungs nicht dabei?« »Nein. Der eine, David, soll beim Training gewesen sein, der andere bei einem Freund. Das Ehepaar Leichtner war allein im Haus.« »Glauben Sie das?« »Möglich ist es.« »Und wenn er seine Söhne schützen will? Beim Streit waren sie angeblich nicht dabei, nachts schliefen sie und wurden nicht wach, obwohl es doch ungewöhnliche Geräusche gegeben haben muss. Warum war David so verzweifelt, dass er sich das Leben genommen hat? Weil seine Mutter verschwunden war? Oder weil er wusste, dass sie tot war? Und wer sie getötet hatte? Er hat zur Nowikowski gesagt, dass er es war. Wir haben es leider nicht ernst genommen.« »Ihn können wir nicht mehr fragen.« »Nein. Aber den Jüngeren. Ich habe jemanden vom Jugendamt losgeschickt, der sich um ihn kümmert. Eine Frau Wichert. Sie wird ihn in einer betreuten Jugendwohnung unterbringen. Vorläufig. Morgen nehmen wir ihn uns vor.« »Kein Haftbefehl?« »Er ist erst vierzehn.« »Seit wann nehmen Sie darauf Rücksicht?« »Seitdem ich eine Katze habe.« »Was haben Sie?« »Vergessen Sie es!« Jemand machte sich in der Diele zu schaffen. Aaron und Tahir fuhren auf. Sie hatten die Wodkaflasche geleert, und beiden war etwas schummrig von dem Alkohol, aber sie fühlten sich auch leicht und gelöst. Eine lange Zeit hatten sie schweigend beieinander gesessen. Keiner von ihnen wusste, was das Erlebnis, das sie gerade gehabt hatten, für sie bedeutete. An 260
Aarons Händen klebte noch Tahirs Suppe. Er hatte befürchtet, dass sie ihn ekeln würde. Aber sie hatte ihn nicht geekelt. »Komm!« Aaron nahm Tahirs Hand, ging mit ihm zur Tür und öffnete sie. Gemeinsam schauten sie in den Gang. Drei Männer hatten das Haus betreten und waren dabei, den Teppich aus dem Vorflur zu schaffen. Die Männer trugen weiße Overalls und sahen wie die Spermien in irgend so einem Film von Woody Allen aus, den Aaron irgendwann mal in der Glotze gesehen hatte. Damals hatte er noch keinen eigenen Fernseher gehabt und war gezwungen gewesen, sich im Wohnzimmer das anzuschauen, was seine Eltern sehen wollten. Eigentlich hatten Mama und Papa ihn wegschicken wollen, weil es ein Film über Sex war, aber dann hatte Papa gemeint, es könnte nichts schaden, wenn Aaron aufgeklärt werden würde. Als ob das nötig gewesen wäre. Jedenfalls hatten sich Mama und Papa ausgeschüttet vor Lachen, und Aaron hatte vieles in dem Film nicht kapiert. Die Männer nahmen auch das Bild und die Garderobe von der Wand, dann stellten sie starke Strahler auf und leuchteten in alle Ecken und Winkel. Ein Blitzlicht zuckte immer wieder auf. Als einer von ihnen Aaron und Tahir bemerkte, schickte er sie mit einer Handbewegung zurück in Aarons Zimmer. Die beiden schauten aus dem Fenster auf die Straße. Kurze Zeit nachdem die Männer ins Haus gekommen waren, fuhr ein weiteres Auto vor. Es war ein PKW, der an der Beifahrertür eine Aufschrift trug, die man aber aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Eine junge langhaarige Frau stieg aus. Sie war mit Jeans, einem Männerhemd und einer Lederjacke bekleidet, hatte eine Umhängetasche dabei und sprach einen Mann im Overall an, der das in Plastikfolie eingeschlagene Garderobentischchen zu einem der Kastenwagen schleppte. Aaron kippte das Fenster auf. »Ich hole ihn«, sagte der Mann. »Sie dürfen das Haus nicht betreten.« 261
Keine zwei Minuten vergingen, dann kam der Typ in Aarons Zimmer. »Da ist eine Frau Wichert vom Jugendamt«, sagte er. »Sie wird dich unterbringen. Zieh dir was an.« »Ich will nicht«, sagte Aaron. »Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Und du«, er deutete auf Tahir, »du geh lieber nach Hause. Das hier ist nichts für Kinder.« »Wir sind keine …« »Ja, schon gut.« Der Mann winkte ab. »Beeilt euch. Wir sind bald fertig, und dann wird das Haus versiegelt.« Dietrich Kölling hatte das von Becker und der Blissow verfasste Vernehmungsprotokoll gelesen und Michael Leichtner aus der Untersuchungshaft überführen lassen, um selbst noch einmal mit ihm zu sprechen. Leichtner machte einen erschöpften und gequälten Eindruck. Er war vollends mit den Nerven am Ende. »So, Herr Leichtner.« Dietrich Kölling lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Vernehmungszimmer zwei hatte er für den ganzen Tag reserviert, denn nach dem Vater war der Sohn an der Reihe, und auch ein paar Sportkameraden des RSV Sturmvogel waren zur Zeugenvernehmung vorgeladen. »Ihr Geständnis habe ich studiert. Darauf gehe ich später ein. Sagen Sie mir eins: Warum hat sich David das Leben genommen?« »Nachdem ich … nachdem ich meine Frau … nachdem ich ihr das angetan hatte, ist unsere Familie zerbrochen. Das hat er nicht verkraftet.« »War er bei dem Mord dabei?« »Nein, natürlich nicht.« »Natürlich?« Dietrich Kölling begann mit dem Stuhl zu kippeln. »Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt, Herr Leichtner.«
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»Inwiefern?« Leichtner schaute auf. Er war auf der Hut, erwartete offensichtlich einen Hinterhalt. »Erzählen Sie mir von dem Tag, an dem Aaron mit blutig geschlagenem Gesicht nach Hause kam.« »Bitte?« »Sie sollen mir von dem Tag berichten, an dem Aaron mit zerschlagenem Gesicht nach Hause kam. Was ist da passiert?« »Er ist gestürzt.« »Mit dem Fahrrad?« »Ja.« »Mit wessen Rad?« »Davids. Er hat es seinem Bruder geborgt.« »Aha. Er ist also gestürzt. Und ist ohne das Fahrrad zurückgekommen?« »Das brachte später jemand.« »Wer?« »Ich weiß nicht.« »Habe ich richtig verstanden? Aaron stürzte, ließ das Fahrrad liegen, und ein Unbekannter brachte es dann? Genauer gesagt: Warf es über den Zaun? Sodass es Schaden nahm? Ich weiß, wer der Unbekannte ist, Herr Leichtner. Es war Titus Gaschinski. Der beim Rennen in den Müggelbergen selbst zu Schaden kam. Die Räder, so sagten Sie, werden beim Rennen stets beaufsichtigt? Ja, aber von wem? Wer war in der Nähe? Sie?« »Fast die ganze Zeit«, sagte Leichtner. »Sehen Sie, so kommen wir der Wahrheit ein Stück näher. Ich werde Ihnen sagen, wer die ganze Zeit in der Nähe war. Aaron. Und sein Freund.« Dietrich Kölling setzte sich gerade hin, öffnete eine Vorgangsmappe und schaute auf das obere Blatt. »Tahir Karpovic. Hier!« Aus seiner Aktentasche zog er ein Buch. »Das haben wir unter Aarons Bett gefunden. Eine Anleitung zur Reparatur von Mountainbikes. Man kann sie aber
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auch als Anleitung zum Manipulieren und Zerstören lesen. Was haben Sie dazu zu sagen?« »Nichts.« »Das ist nicht viel.« Dietrich Kölling schlug die Mappe zu und erhob sich. »Wir sind noch lange nicht miteinander fertig. Aber jetzt erwarte ich einen anderen Besucher. Vielleicht bringt Aaron etwas Licht in das Dunkel.« Aaron hatte hin und her überlegt. Wenn er bestraft werden wollte, musste er ein Geständnis ablegen. Doch nun, da er dem dicken Kommissar gegenübersaß, kam ihm das alles nicht mehr so leicht vor, und seine Pläne lösten sich in Luft auf. Der Bulle hatte ihn nach jenem Nachmittag gefragt, an dem Titus und dessen Kumpel ihn geschlagen, das Bike abgezogen und es demoliert hatten. Sicher würde er auch das Downhill und Titus’ Unfall zur Sprache bringen. Legte Aaron ein Geständnis ab, würde er vielleicht in den Knast gebracht werden. Das wollte er nicht mehr. Die Jugendwohnung, in der man ständig überwacht wurde, reichte ihm schon. Seine Freiheit bedeutete ihm mehr, als er gedacht hatte. Sie zu verlieren war eine zu harte Strafe. Da verriet er lieber den Sklaven. Der war doch sowieso noch nicht strafmündig. »Der Jugo war’s«, hörte er sich sagen. »War was?«, fragte der Kommissar. »Er hat an Titus’ Bike rumgemacht. Also, ich war mit Davids Rad unterwegs. An diesem Nachmittag, nach dem Sie sich erkundigt haben. Da taucht plötzlich Titus auf. Und noch zwei andere Typen. Die haben mich angehalten und grundlos geschlagen. Und getreten. Bis ich blutete. Und Davids Bike haben sie auch kaputtgemacht. Ich hab’s Tahir erzählt. Ich bin sein bester Freund, also meinte er, er würde mich rächen. Er wollte Titus bloß eins überbraten. Nicht umbringen. Wirklich nicht.«
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»Für dich hat er es also getan?« Der Kommissar machte sich wie immer Notizen. »Ja. Die Jugos sind so. Für ihre Freunde tun sie alles.« »Das war kein guter Freundschaftsdienst.« »Ich weiß. Ich konnte es nicht verhindern. Wenn sich Tahir was in den Kopf setzt, macht er es. Hundertpro.« »Und du hast ihn nicht angestiftet?« »Nein. Ehrlich. Ja, ich hab wohl gesagt, dass ich mich gern irgendwie an Titus rächen würde … Das war aber nur … Ich wollte doch nicht, dass Tahir so was tut.« »Wie alt ist dein Freund?« »Dreizehneinhalb.« »Und du?« »Vierzehn. Aber das wissen Sie doch.« »Gut. Warte einen Moment.« Der Kommissar schnappte sich seine Unterlagen, stand auf und verließ den Raum. Lange musste Aaron nicht ausharren, zehn Minuten vielleicht, dann war der dicke Bulle zurück. »Wir holen deinen Freund Karpovic aus der Schule«, sagte er. »Mal sehen, was der uns zu erzählen hat.«
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Elftes Kapitel Die Tage schlichen dahin, und es wurde immer heißer. Pfingsten war vorüber, Frau Brandt war aus dem Urlaub zurück, braun gebrannt und bester Laune. Dietrich Kölling war unzufrieden. Er fühlte sich matt, hin und wieder schmerzte das Herz, der hohe Blutdruck brachte seinen Schädel fast zum Zerspringen. Nachdem die Presse den Erfolg der Polizei gefeiert hatte, war der Knabenzerstückler aus den Schlagzeilen verschwunden, doch hatte Dietrich Kölling ohnehin nur einen bescheidenen Anteil an der Lösung des Falles. Kurz nach den Feiertagen waren Becker und Hajota zur SoKo Oma abgestellt worden. Dietrich Kölling hatte eine neue Sache auf dem Tisch, einen Totschlag bei einem Besäufnis, bei dem zwei Männer miteinander in Streit geraten waren und der eine den anderen mit einem Schürhaken erschlagen hatte. Eine Petitesse also, wie Dietrich Kölling es zu nennen pflegte. Auch der Fall Leichtner beschäftigte ihn noch. Mit ihm kam er nicht zurande. Michael Leichtner wich keinen Fingerbreit von seinem Geständnis ab. Obwohl Dietrich Kölling noch etliche Fragen und Zweifel hatte, nahm er sich vor, endlich den Abschlussbericht zu schreiben und die Akten an Frau Zunk abzuverfügen; sollte sich die Staatsanwaltschaft mit der verfahrenen Kiste herumplagen. Tahir Karpovic hatte alle Schuld auf sich genommen. Was den so genannten Unfall von Titus Gaschinski betraf, würde es keine strafrechtliche Anklage geben. Tahir war zu jung. Eine Schadenersatzklage der Eltern von Gaschinski hatte der Richter jedoch zugelassen. Tahir würde lange zahlen müssen. Wenn er überhaupt jemals Geld verdiente. Er und sein Freund Aaron befanden sich auf freiem Fuß. Dietrich Kölling hatte mehrmals versucht, aus ihm 266
herauszukitzeln, dass Aaron Leichtner der Spiritus Rector für die gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge gewesen war, doch Tahir hatte darauf beharrt, dass die Tat allein auf seinem Mist gewachsen war. Eine Tötungsabsicht hatte er geleugnet, und sie war ihm nicht nachzuweisen. Aber selbst wenn sie ihm nachzuweisen gewesen wäre, der Junge wäre nur in ein Heim gekommen, zu Sozialarbeitern, die ihm mit viel Verständnis und niederschwelligen Angeboten begegnet wären. Davon hielt Dietrich Kölling ohnehin nichts. Aaron Leichtner hatte einen solch treuen Freund nicht verdient. Aber verdient oder nicht, er hatte ihn. Dietrich Kölling verstand nicht, warum Karpovic sich opferte. Er glaubte ihm nicht, konnte aber keine Beweise dafür erbringen, dass es anders gewesen war. Dieser Aaron war aus dem Schneider, es sei denn, Tahir machte vor Gericht eine andere Aussage. Das würde er sicher nicht tun. Außerdem stand ihm nur ein Zivilprozess bevor. Wo sich Aaron befand, wusste Dietrich Kölling nicht. Das Jugendamt hatte den Jungen in einem Heim am Rande Berlins untergebracht, doch er war ausgebüxt. Die Fahndung nach ihm war nicht Dietrich Köllings Angelegenheit. Dafür waren Beate Nowikowski und ihre Kollegen zuständig. Sie würden ihn nicht finden. Der Bengel war zu clever. Vielleicht war er mit seinem Freund Tahir nach Serbien abgehauen. Dietrich Kölling massierte sich die Stirn. Er musste nun doch grinsen: Mit der hartnäckigen Frau Beate hatte dieser verzwickte Fall angefangen, bei ihr endete er wieder. Dietrich Kölling fällte eine beherzte Entscheidung. Er stürmte in sein Sekretariat, täuschte einen wichtigen Arzttermin vor und verließ die Dienststelle ohne die Absicht, an diesem Tag noch einmal zurückzukehren.
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»Hier stinkt’s nach Pisse«, sagte der Sklave. Er hatte sich mit Aaron in einer leer stehenden Fabrikhalle nördlich von Berlin getroffen. »Ich weiß. Ist ein total ekliges Loch«, sagte Aaron. »Wir bleiben hier auch nicht.« »Was machen wir?« »Hier.« Aaron gab Tahir einen Schuhkarton. Tahir öffnete ihn und wickelte die Death Race aus dem Seidenpapier. »Für mich?« Tahirs Augen glänzten. »Ich habe sie dir versprochen.« »Soll ich sie anziehen?« »Später.« Aaron streichelte Tahirs Wangen. »Hast du einen Plan?« »Ich habe alles Geld von meinem Sparkonto geholt. Wir haben achthundert Euro. Wohin möchtest du?« »Ich weiß nicht.« »Nach Mexiko?« »Warum Mexiko?« »Keine Ahnung.« »Reichen da achthundert Euro?« »Bestimmt nicht. Wir müssen noch was klauen.« »Das mach ich«, sagte Tahir. »Und du nimmst mich auch ganz bestimmt mit?« »Versprochen«, sagte Aaron. Dann suchte er mit der Hand den Ort, dessen Berührung Tahirs Augen glasig werden ließ. »Alle unsere Katzen sind tierärztlich untersucht, kastriert, entwurmt und geimpft.« Frau Schläfke, die Leiterin des Tierheims, führte Dietrich Kölling in den Bereich für Stubentiger. »Sie müssten einen Unkostenbetrag entrichten, einen sehr moderaten.« »Natürlich.« Dietrich Kölling schaute durch eines der hohen Fenster und klopfte an das Glas. Katzen aller Farben schauten
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ihn an. Einige ließen sich aber nicht stören und setzten ihre Siesta fort. So eine wollte er haben. »Eines der älteren Tiere würde doch zu Ihnen passen«, meinte Frau Schläfke. »Weil ich selbst alt bin?« »Nein, nicht deshalb. Aber sie sind am schwersten zu vermitteln. Sie brauchen für den Lebensabend ein gemütliches Heim … Und Sie, Herr Kölling, sind doch ein Katzenfreund.« »Na ja …« »Luzie zum Beispiel.« Frau Schläfke zeigte in den Raum. Dietrich Kölling wusste nicht, welche der Katzen sie meinte. »Ich hätte ja lieber einen Kater«, sagte er. »Kein Problem. Wie wäre es mit Egon? Er ist dreizehn Jahre und wurde von seinem Frauchen abgegeben, weil man sie ins Altersheim gesperrt hat.« »Dreizehn?« »Oh, Egon wird sehr alt. Sie werden Ihre Freude an ihm haben. Allerdings ist er blind.« »Blind?« »Das macht gar nichts. Katzen haben so feine Sinne, die können auch ohne Augenlicht existieren. Und Egon ist sehr anhänglich.« »Wie viele Leute haben ihn denn abgelehnt?« »Keiner will ihn, Herr Kölling. Aber er …« »Hab ich kapiert. Ich nehme ihn.« »Sie haben ihn doch noch gar nicht gesehen.« »Egal. Schnurrt er?« »Alle Katzen schnurren.« »Und was kostet er?« »Sie wollen ihn sich wirklich nicht ansehen?« »Nein.« »Warum nicht? Das macht mich misstrauisch.« »Ich bin seit fast dreißig Jahren Bulle, Frau Schläfke. Ich arbeite bei Mord und Totschlag. Ich versuche seit vielen, vielen 269
Jahren, das Irrationale auf eine rationale Ebene zu ziehen. Auf eine justiziable, um genau zu sein. Einmal möchte ich mich auch irrational verhalten dürfen.« »Okay.« Die Chefin des Tierheims öffnete eine Glastür. »Ich verstehe Sie zwar nicht, aber Egon können Sie mitnehmen.« Sogar einen Transportkorb stellte das Tierheim zur Verfügung. Dietrich Kölling sollte ihn bei Gelegenheit zurückbringen. Mit dem Korb und dem Kater in der Hand begab er sich zur nächsten Tramstation. Egon war schwarz, grau und braun gestromt, er hatte ein sehr dichtes helles Bauchfell mit dunklen Tupfern, und dass er blind war, bemerkte man nur, wenn man ihn aufmerksam betrachtete. In der Straßenbahn schaute sich Dietrich Kölling in einem fort um. Er war stolz auf sich, und alle sollten sehen, dass er zum Katzennarren geworden war. Doch wie immer waren die Mitreisenden nur mit sich selbst beschäftigt. Niemand beachtete den dicken Mann mit dem Katzenkorb.
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