Achim Hiltrop präsentiert
Folge 2: Nächtliche Schreie in Mansfield Manor Die Räder der Kutsche und die Hufe der Pferde ...
13 downloads
419 Views
162KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Achim Hiltrop präsentiert
Folge 2: Nächtliche Schreie in Mansfield Manor Die Räder der Kutsche und die Hufe der Pferde knirschten auf dem frisch gefallenen Schnee, der die Straße nach Birmingham bedeckte. Colin Mirth sah mit wachen Augen nach draußen und nahm das Bild der verschneiten Landschaft zufrieden in sich auf. Es ist schön, wieder zu Hause zu sein, dachte er. Die letzten dreizehn Jahre hatte er in Amerika, Asien und diversen europäischen Ländern verbracht. Ein solch prächtiges, winterliches Panorama hatte er zuletzt vor drei Jahren in Italien genossen. Nun aber, am Vorabend des Weihnachtsfestes des Jahres 1876, war er wieder daheim in England. In wenigen Stunden würde er mit seiner Familie an einem wärmenden Kaminfeuer sitzen und Neuigkeiten austauschen – in dem Haus, in dem er vor sechsunddreißig Jahren geboren worden war. Ein unruhiges Schnarchen riß ihn aus seinen Tagträumen. Neben ihm schlummerte Sergeant Archibald Moore, sein Kollege beim Scotland Yard. Moore war gut zehn Jahre älter als Colin, dafür aber mehr als zehn Zentimeter kleiner und deutlich mehr als zehn Pfund schwerer als er. Moore war alleinstehend, und Colin hatte ihn spontan eingeladen, mit nach Birmingham zu kommen und das Weihnachtsfest im Hause Mirth zu verbringen. Moore hatte freudestrahlend zugesagt. Die Aussicht, aus London herauszukommen und Weihnachten einmal nicht alleine verbringen zu müssen, hatte den Sergeant regelrecht aufblühen lassen. Colin sah wieder aus dem Fenster. Die Bahnfahrt war lang, wenn auch komfortabel gewesen. Nun ging es noch einige Meilen mit der Kutsche weiter. Die Gegend kam ihm bereits ein wenig vertraut vor. Bald würde er zu Hause sein. * "Gütiger Himmel", staunte Archibald Moore, als er aus der Kutsche stieg, "also, das nenne ich groß." Colin drehte sich zu ihm um. "Das Anwesen meiner Familie. Mirth Mansion. Eigentlich nichts besonderes", sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. "Ich muß schon sagen!" Moore legte den Kopf in den Nacken und nahm das enorme verwinkelte Fachwerkhaus, welches die Ausmaße eines kleinen Schlosses hatte, in Augenschein. "Sie haben mir verschwiegen, daß Sie adelig sind, mein Freund." Colin lachte und nahm das Gepäck von dem Kutscher entgegen. "Meine Familie ist genau so wenig adelig wie Ihre, Sergeant Moore. Vielleicht ein wenig besser betucht als andere Familien im Ort, aber gewiß nicht adelig", versicherte er seinem Kollegen. "Die anderen Familien im Ort", echote Moore ungläubig. "Wir sind hier fern ab jeglicher Zivilisation! Als Sie sagten, zum Haus Ihrer Eltern würden ein paar Morgen Land gehören, habe ich mit allem gerechnet, aber nicht... damit..." Die Hand des Sergeants beschrieb eine ausladende Geste, die den enormen Park, die vereisten Statuen und den zugefrorenen Springbrunnen vor dem Haus einschlossen. In der Ferne verloren sich die Spuren der Kutsche in der Winterlandschaft, und irgendwo dort
Colin Mirth draußen war die Landstraße, die das Anwesen der Familie Mirth mit Birmingham verband. "Wenn es Ihnen hier nicht behagt, steht es Ihnen frei, umgehend nach London zurück zu kehren", entgegnete Colin augenzwinkernd, während er den Kutscher entlohnte. "Das habe ich nicht gemeint", beeilte sich Moore zu sagen, "ich bin nur von den Ausmaßen des Anwesens überwältigt. Das ist alles." "Seien Sie unbesorgt, Sergeant, es ist ein Haus wie jedes andere auch. Es hat Wände und ein Dach, und drinnen sind gastfreundliche Leute. Kommen Sie!" Während die Kutsche den Rückweg antrat, stapften Colin und sein Begleiter mit ihren schweren Reisetaschen durch den Schnee zur Tür des Anwesens. Colin betätigte den eisernen Türklopfer, und wenige Augenblicke später öffnete ihm ein livrierter Butler, der eine Brille mit enorm dicken Gläsern auf seiner dünnen Nase trug. Beim Anblick der beiden Besucher breitete sich ein freudiges Lächeln auf dem faltigen Gesicht des alten Mannes aus. "Master Colin", rief er mit brüchiger Stimme, "daß ich das noch erleben darf! Du meine Güte, Master Colin ist wieder da!" Colin drängte an dem Butler vorbei ins wärmende Innere des Hauses, dicht gefolgt von Archibald Moore. "Guten Tag, Ernest. Was macht das Knie?" "Oh, wie immer, Master Colin, wie immer." "Ich darf dir Sergeant Moore vorstellen, meinen Kollegen von Scotland Yard." Moore nickte höflich, und Ernest verbeugte sich vor ihm. "Willkommen in Birmingham, Sergeant. Wir haben im ersten Stock Zimmer für Sie vorbereitet, Gentlemen, falls Sie sich nach der Reise etwas frisch machen möchten", sagte Ernest dienstbeflissen, "Master Colin bezieht selbstverständlich sein altes Zimmer, und für Sie, Sergeant, haben wir den grünen Salon vorgesehen." "Danke, Ernest, das wäre dann alles", sagte Colin, während er sich aus dem Mantel schälte und ihn zusammen mit seinem Hut dem Butler reichte. "Sind meine Eltern auch da?" "Eure Mutter, Master Colin, ist ganz aufgeregt, seit sie Euren Brief erhalten hat. Sie hat sich lange nicht mehr so auf ein Weihnachtsfest gefreut. Jetzt gerade ist sie mit Miss Emily in der Stadt, um noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Und Euer Herr Vater ist mit den Hunden in den Wald gegangen", sagte Ernest, während er auch Moores Reisekleidung entgegennahm. "Ich denke, Ihr werdet sie alle zum Tee sehen, Master Colin." "Schön", sagte Colin und grinste Moore breit an. "Dann haben wir ein wenig Zeit, und ich kann Ihnen das Haus zeigen." "Möchten die Herren vielleicht ein heißes Bad nehmen?" erkundigte sich Ernest höflich, "dann kann ich in der Küche heißes Wasser machen lassen..." Colin winkte ab. "Nicht jetzt, Ernest. Später vielleicht. Kommen Sie, Sergeant?" * Als sich die Tür von Colins Zimmer hinter ihm und Sergeant Moore geschlossen hatte, ließ sich Colin seufzend in einen mit Samt bezogenen Sessel sinken. "Wieder zu Hause", seufzte er. "Komisch, es kommt mir fast vor, als wäre ich nie weg gewesen." Moore ging im Zimmer auf und ab und blieb vor einem riesigen Bücherregal stehen. "Sind das alles Ihre, Commander?" "Ja", sagte Colin mit geschlossenen Augen. Der Sergeant nahm ein Buch aus dem Regal und blätterte darin. "'Stürm, stürm, du Winterwind'?" Seite 2
Colin Mirth Colin gähnte. "William Shakespeare, 'Wie es Euch gefällt', zweiter Akt, siebte Szene. Geben Sie's endlich auf, Sergeant." Moore runzelte die Stirn. In den letzten Wochen hatte es sich für ihn zu einem regelrechten Sport entwickelt, die Literaturkenntnisse seines Kollegen bei jeder Gelegenheit zu prüfen. "Es muß doch irgendein Stück von dem Mann geben, das Sie nicht auswendig kennen!" Colin öffnete die Augen und blinzelte müde. "Keine Chance, Sergeant." Moore stellte das Buch achselzuckend in den Schrank zurück. "Eines Tages erwische ich Sie noch, Commander." Colin rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Mit spitzen Fingern angelte er eine kleine gläserne Phiole hervor, die er an einer Kette um den Hals trug. Das verkorkte Fläschchen strahlte ein sanftes blaues Licht aus. Moore fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. "Sie wollen ihn doch wohl nicht hier herauslassen?" Colin zuckte mit den Schultern. "Wo, wenn nicht hier?" Mit einer entschlossenen Bewegung öffnete er den Korken, und Archibald Moore wurde zum wiederholten Male Zeuge, wie die leuchtende Substanz aus der Phiole entwich, zu einem hellblauen Nebel wurde und schließlich die Gestalt eines Mannes mit entblößtem Oberkörper annahm. Abdul, Colins ständiger Begleiter seit einem gemeinsamen Abenteuer in Ägypten vor drei Jahren, sah sich neugierig um. "Sind wir da, Efendi?" "Ja, Abdul, wir sind da. Das hier ist das Zimmer, in dem ich aufgewachsen bin. Schau dich ruhig ein wenig um." Das ließ sich der Flaschengeist nicht zweimal sagen. Er stöberte ausgiebig in den Regalen und Schränken und öffnete jede Schublade im Zimmer. "Was wird denn das, wenn's fertig ist?" raunte Moore Colin verblüfft zu. Colin zuckte mit den Schultern. "Ich habe es ihm versprochen. Er wollte unbedingt wissen, wo ich herkomme und wie ich aufgewachsen bin. Es ist das erste Mal, daß er einen Meister aus dem Okzident hat, glaube ich." "Wie befremdlich", murmelte Moore und sah dem Geist fasziniert bei seinen Erkundungen zu. Dann kam ihm ein Gedanke. "Was ich Sie immer schon mal fragen wollte, Commander... gibt es da nicht normalerweise eine begrenzte Anzahl von Anlässen, für die ein Flaschengeist seinem Herrn zu Diensten sein muß?" Colin schmunzelte. "Sie spielen auf die sprichwörtlichen drei Wünsche an, die man als Gebieter frei hat?" "Eben jene." "Da hat sich offenbar ein Übersetzer einen schlechten Scherz erlaubt. Das mit den drei Wünschen, die Sie vielleicht aus den Märchen und Sagen kennen, gilt nur für Lampengeister. Abdul ist aber kein Lampengeist, sondern ein Flaschengeist", antwortete Colin, als würde diese Aussage alles erklären. Moore zwirbelte seinen Schnurrbart. "Was Sie nicht sagen." Abdul hielt plötzlich inne. "Da ist etwas", sagte er mit nervöser Stimme, "ich spüre eine dunkle Ausstrahlung." Colin und Moore wechselten einen stummen Blick. "Wovon redet er?" fragte Moore. "Schwarze Magie", dröhnte Abdul und baute sich drohend vor Colin auf, "Ihr habt mir damals geschworen, kein Schwarzmagier zu sein, Efendi! Ich habe Euch gesagt, daß ich Euch niemals folgen würde, wenn Ihr—" "Moment mal", wandte Colin ein, "ich bin kein Schwarzmagier." "Jemand in diesem Hause ist es", widersprach Abdul energisch, "und wenn Ihr einer Sippe von Schwarzmagiern entspringt, Efendi, dann könnt Ihr—" Es pochte an der Tür. Seite 3
Colin Mirth Schneller, als Colin und Moore ihm mit den Augen zu folgen vermochten, war Abdul wieder in die Phiole geflüchtet und hatte sie hinter sich verkorkt. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und Ernest steckte den Kopf ins Zimmer. "Ich habe nicht Herein gesagt, Ernest", sagte Colin pikiert, während er sein Hemd wieder zuknöpfte. "Oh Verzeihung", entschuldigte sich der Butler, "mein Gehör ist nicht mehr das beste. Aber der Tee ist jetzt fertig." "Wir kommen sofort. Ach ja, ich hätte gerne eine heiße Schokolade, keinen Tee", sagte Colin. "Gerne, Master Colin. Eure Eltern und Miss Emily sind inzwischen auch zurück, und Reverend Farnsworth ist auch zu Gast." Ernest schloß die Tür wieder hinter sich, und Colin atmete tief durch. "Das war knapp", murmelte er dann. "Das kann man wohl sagen", stimmte ihm Moore zu. "Was war das gerade für eine Geschichte mit Schwarzer Magie?" Colin kratzte sich am Kopf. "Als ich Adbul damals verpflichtete, mir zu Diensten zu sein, hat er mir den Eid abverlangt, daß ich ihn und seine Künste nicht für das Böse mißbrauchen würde – andernfalls hätte er mir die Gefolgschaft verweigert. Den Schwur habe ich ihm gerne geleistet, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß er Leuten aus dem Abendland grundsätzlich mißtraut. Ich vermute mal, daß er darum auch so begierig darauf war, mein Elternhaus sehen zu dürfen." Moores Augen weiteten sich. "Sie werden ihn doch wohl kaum ihrer Familie vorstellen wollen?" Colin lachte laut auf. "Wohl kaum, Sergeant. Kommen Sie, ich mache Sie erst einmal mit meinen Leuten bekannt, und hinterher fragen wir Abdul, was ihn vorhin so aufgebracht hat." * "Colin! Du bist wirklich da!" Emily Mirth sprang auf und lief ihrem Bruder mit ausgebreiteten Armen entgegen. Colin schloß seine kleine Schwester in die Arme und küßte sie auf beide Wangen. "Du erdrückst mich ja, Emmy", stieß er hervor, nachdem er sich aus ihrer Umarmung befreit hatte. "Als dein Brief kam, dachte ich, du würdest wieder einen deiner üblen Scherze mit uns treiben", sagte Emily aufgeregt, während sie sich die Freudentränen mit einem spitzenbesetzten Taschentuch abtupfte. Sie war knapp zehn Jahre jünger als Colin und hatte deutlich helleres Haar als ihr Bruder, doch abgesehen davon war die Familienähnlichkeit unverkennbar. Colin winkte Moore, der geduldig in der Tür zum Salon gewartet hatte, näher zu treten. "Treten Sie doch näher, Sergeant. Meine Schwester tut Ihnen nichts." Moore lächelte schüchtern und trat ein. Colin ergriff seinen Arm und führte ihn zu der Gruppe, die erwartungsvoll vor dem prasselnden Kaminfeuer gesessen hatte. Auf dem Tisch vor dem Kamin stand ein Silbertablett mit Teetassen, einer Teekanne und einer dampfenden Tasse mit heißer Schokolade. In einer Ecke des Salons war der Butler damit beschäftigt, die Kerzen an einem prächtig geschmückten Christbaum zu entzünden. "Mutter, Vater, Reverend Farnsworth – ich darf Euch meinen guten Freund und Kollegen vorstellen, Sergeant Moore von Scotland Yard", stellte Colin seinen Begleiter vor.
Seite 4
Colin Mirth Moore verneigte sich höflich. "Archibald Moore, stets zu Diensten. Ich möchte mich vielmals für die großzügige Einladung bedanken, das Weihnachtsfest mit Ihnen feiern zu dürfen." "Willkommen in unserem Haus. Ich bin William Mirth", dröhnte Colins Vater mit einer tiefen Baßstimme und streckte dem Sergeant die Hand entgegen. "Sehr erfreut." "Elizabeth Mirth", Colins Mutter lächelte Moore freundlich an, "ich freue mich, einen Freund meines Sohnes kennenzulernen. Arbeiten Sie schon lange zusammen?" "Gut einen Monat, seit meiner Rückkehr nach London", nahm Colin die Antwort des Polizisten vorweg. "Der Sergeant ist so etwas wie mein Mentor, der mir hilft, mich in England nach der langen Zeit im Ausland wieder zurecht zu finden." "Ich verstehe", sagte Elizabeth, "es muß ungewohnt für dich sein, wieder hier zu leben, mein Junge." "Es gibt unangenehmere Orte auf der Welt", entgegnete Colin mit einem Augenzwinkern und wandte sich dann an den anderen Gast seiner Eltern. "Reverend Farnsworth, wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen!" "Unkraut vergeht nicht", sagte der knorrige kleine Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, mit einem listigen Grinsen. "Reverend", Moore deutete eine Verbeugung an, "sehr angenehm." "Ganz meinerseits, Sergeant", nickte Farnsworth. "Setzen wir uns doch", schlug Elizabeth vor, "was bin ich nur für eine Gastgeberin! Am Ende wird uns noch der Tee kalt. Hier, Sergeant, der ist für Sie. Und hier ist deine heiße Schokolade, Colin." Nachdem alle wieder am wärmenden Kamin Platz genommen hatten, nippte Colin an seiner Tasse und seufzte wohlig. Er hatte sich lange nicht mehr so gut in seiner Haut gefühlt. Er war daheim, bei Menschen, die ihn liebten. Vor ihm flackerte ein gemütliches Feuer, am festlich dekorierten Christbaum brannten Kerzen, und draußen vor dem Fenster tobte ein schreckliches Schneegestöber... Die Weinachtsfeiern in den Tropen waren längst nicht so stimmungsvoll gewesen, dachte er schmunzelnd. "Also, Colin, du bist jetzt wieder dauerhaft in England, habe ich das richtig verstanden?" fragte sein Vater über den Rand seiner Teetasse hinweg. "Hm-hmm", machte Colin bestätigend. "Und du arbeitest jetzt nicht mehr beim Secret Service, sondern bei Scotland Yard. Das hast du uns ja geschrieben", fügte Emily hinzu. "Richtig. Zusammen mit dem Sergeant", antwortete Colin. Seine Mutter räusperte sich. "Heißt das auch... heißt das auch, daß du deine bisherige Tätigkeit aufgegeben hast?" Colin schmunzelte. "Du kannst offen reden, Mutter. Sergeant Moore weiß, daß ich früher Geisterjäger war. Aber um deine Frage zu beantworten – nein, das ist vorbei. Ich bin jetzt ein normaler Kriminalpolizist wie jeder andere auch." Elizabeth atmete erleichtert auf. "Jetzt geht es mir besser." "Das gleiche hat auch Tante Phoebe gesagt, von der ich dich übrigens ganz herzlich grüßen soll", beeilte sich Colin zu sagen. "Geisterjagd", sagte Reverend Farnsworth spöttisch, "was für ein unchristlicher Beruf für einen Sproß aus gutem Hause! Ich habe nie verstanden, was ausgerechnet dich zum Okkultismus hingezogen hat, Colin." Colin zuckte mit den Achseln. "Sehen Sie's als eine Art Seelsorge an, Reverend. Ich kümmere mich um die armen Seelen, die es nicht bis in den Himmel geschafft haben." Farnsworth zog die Stirn kraus. "Ich wäre dir sehr verbunden, mein Junge, wenn du in meiner Gegenwart deine blasphemischen Äußerungen etwas zurückhalten könntest."
Seite 5
Colin Mirth "Mir war nicht bewußt, Reverend, daß meine Worte einen derartigen Charakter haben", erwiderte Colin schmunzelnd. "Um die Seelen der Toten, die in den Himmel kommen, kümmert sich der Herr, unser Vater", belehrte Farnsworth ihn, "und diejenigen, die nicht in den Himmel eingelassen werden, sind des Satans." Colin wechselte einen schnellen Blick mit Moore, der aussagte, was er von dem Reverend hielt. "Wie Sie wünschen", sagte Colin, "dann habe ich mich eben mit den Geschöpfen Satans auseinandergesetzt." "Exorzismus", brauste Farnsworth auf, "ist der Kirche vorbehalten, junger Mann!" "Wie auch immer", Colin nippte unbeeindruckt an seiner Tasse, "andere Religionen dieser Welt sehen das übrigens ganz anders." "Am Vorabend des Weihnachtsfestes den Glauben in Frage zu stellen", polterte der Reverend, "das ist ja grotesk!" Elizabeth machte einen verzweifelten Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Noch etwas Tee, Reverend Farnsworth?" Farnsworth entspannte sich etwas. "Ja, bitte." Colins Vater, der dem verbalen Schlagabtausch zwischen dem Geistlichen und seinem Sohn interessiert gefolgt war, schüttelte amüsiert den Kopf. Dann wandte er sich an Moore: "Sagen Sie, Sergeant Moore, Ihr Zimmer ist doch hoffentlich zu Ihrer Zufriedenheit?" Moore schreckte hoch. "Oh ja, absolut. Sehr gemütlich, wirklich." "Das freut mich zu hören. Ich hoffe, Sie werden ein paar angenehme Tage mit uns hier verbringen." "Daran habe ich keinen Zweifel", sagte Moore. "Aber sagen Sie, Mister Mirth, was ist das eigentlich für ein merkwürdiges altes Haus, welches ich von meinem Fenster aus sehen kann?" Schlagartig verstummten sämtliche Gespräche am Tisch. Colins Vater seufzte schwer, Colins Mutter sah nervös von ihrem Sohn zu ihrer Tochter und zurück, und der Reverend rührte mit einer unerwarteten Aggressivität seinen Tee um. "Lassen Sie uns doch über London reden", schlug Emily vor, um die peinliche Stille zu überspielen. "An was für einem Fall arbeiten Sie und mein Bruder gerade, Sergeant Moore?" Moore war nur zu gerne bereit, das Thema zu wechseln. Der Gedanke, die angenehme Gesellschaft durch einen unbedachten Tritt in ein Fettnäpfchen gekränkt zu haben, behagte ihm überhaupt nicht. Er räusperte sich und wollte gerade vom Raubmord an Mrs. Davenport aus South Kensington erzählen, als Colin ihm zuvorkam. "Was stimmt denn nicht mit Mansfield Manor?" bohrte er weiter. Sein Vater schüttelte langsam den Kopf. "Wir sollten nicht mehr davon sprechen. Lassen wir die Toten ruhen." Colin hochte auf. "Die alte Miss Mansfield ist tot? Seit wann das denn?" Reverend Farnsworth räusperte sich. "Es gab ein Feuer. Vor fast drei Jahren. Das Haus ist völlig ausgebrannt, und lediglich die Fassade steht noch. Die gute Miss Mansfield, der Herr habe sie selig, ist seinerzeit in den Flammen umgekommen." "Ich verstehe." Colin erinnerte sich traurig an die freundliche alte Dame, deren Grundstück an das seiner Eltern grenzte. Als Kind hatte er sie immer gerne besucht und sich von ihr Märchen erzählen lassen... "Und warum hätten wir nicht davon reden sollen?" "Es geschah ausgerechnet in der Walpurgisnacht", ergänzte Emily in verschwörerischem Tonfall, "darum glauben einige Leute in der Stadt, Miss Mansfield sei in Wirklichkeit eine Hexe gewesen, und bei einem ihrer Hexenkunststücke sei etwas schief gegangen." Seite 6
Colin Mirth Colin lachte heiser. "Ich bitte dich!" "Nein, es ist wahr", beteuerte Emily, "ich meine – das ist das, was die Leute erzählen, zumal..." "Emily Mirth", rief ihr Vater streng. Das Mädchen fuhr unbeirrt fort, "zumal es seitdem in der Ruine spukt." "Das reicht jetzt, junges Fräulein", sagte William Mirth mit finsterer Miene, "ich möchte nicht, daß in meinem Hause schlecht über Miss Mansfield gesprochen wird. Möge sie in Frieden ruhen." Emily sah Moore mit blitzenden Augen an. "Das ist natürlich alles nur Gerede, Sergeant Moore. Schenken Sie unserem Dorftratsch bitte keinen Glauben." Moore räusperte sich nervös. "Natürlich nicht, Miss Mirth." * Nach dem Abendessen, als der Reverend sich wieder auf den Heimweg gemacht hatte, zog sich Colin auf sein Zimmer zurück. Er schloß die Tür hinter sich zu, ließ sich satt auf sein Bett sinken und kramte die gläserne Phiole, die seinen Flaschengeist beherbergte, hervor. Kaum hatte er das Fläschchen entkorkt, da stand auch schon Abduls bläulich leuchtende Gestalt vor ihm. "Ihr wünscht, Efendi?" Colin rieb sich die Augen. "Wir sind heute nachmittag unterbrochen worden, Abdul. Was war das für eine Geschichte mit der Schwarzen Magie, von der du sprachst?" Der Geist verschränkte die Arme vor der Brust. "Ihr glaubt mir noch immer nicht, Efendi." "Doch, doch", versicherte Colin ihm, "aber kannst du deinen Verdacht präzisieren?" Abdul kraulte sich nachdenklich den Bart. "Ich weiß, daß jemand in diesem Haus sich in Schwarzer Magie übt." Colin schmunzelte. "Du sprichst sicherlich von dem Reverend. Christen glauben fest daran, daß ihr Religionsstifter von den Toten auferstanden ist, wie du weißt. Ist es das, was du meinst?" Abdul schüttelte den Kopf. "Der Reverend ist wieder fort. Aber ich fühle die Präsenz eines Schwarzmagiers noch immer in diesem Hause." "Jemand von meiner Familie?" Colins Kinnlade klappte ungläubig herunter. "Oder der Butler", entgegnete Abdul achselzuckend. "Abdul, du bist verrückt." "Wie ihr meint, Efendi." Pikiert löste sich der Geist wieder in einem blauen Nebel auf und verschwand in der Phiole. Mit einem lauten Plopp-Geräusch schloß er den Korken hinter sich. * Archibald Moore konnte nicht einschlafen. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Es war empfindlich kalt geworden. Der Butler hatte zwar das Bett mit einem schweren, mit kochendem Wasser gefüllten kupfernen Bettwärmer vorgeheizt, ehe Moore sich schlafen gelegt hatte, doch selbst diese Wärme war längst verflogen. Die Kälte kroch unter die Bettdecke an Moores Beinen hoch unter sein Nachthemd. Die wollene Schlafmütze trug nicht dazu bei, seine Situation zu verbessern. Moore fror. Er hatte noch nie gut schlafen können, wenn ihm kalt war. In seiner kleinen ZweiZimmer-Wohnung in Paddington hatte er wenigstens einen gemütlichen Ofen, der die
Seite 7
Colin Mirth ganze Nacht hindurch Hitze verbreitete. In diesem alten Tudor-Fachwerkhaus mitten im Wald gab es diesen Luxus leider nicht. Ächzend drehte er sich auf die andere Seite. Sein Blick fiel wieder auf das Fenster seines Zimmers. Die Vorhänge waren nur halb zugezogen und bewegten sich leicht, ein eindeutiges Indiz dafür, daß die Fenster nicht dicht waren. Der Schneesturm hatte inzwischen aufgehört, und die Nacht war klar. Am Firmament funkelten die Sterne wie kleine Diamanten, und in der Ruine im Wald brannte Licht... Moment! Moore setzte sich ruckartig auf. Er schwang die Beine über die Bettkante, angelte mit seinen kalten Füßen nach seinen Filzpantoffeln und schlurfte zum Fenster. Tatsächlich, dort draußen im Wald, wo die Umrisse von Mansfield Manor sich düster gegen den nächtlichen Sternenhimmel abzeichneten, flackerte ein kleines Licht. Der Sergeant kratzte sich am Kopf. Mansfield Manor war, wenn er richtig verstanden hatte, nicht viel mehr als eine ausgebrannte Ruine. Niemand lebte mehr da. Wenn dort also mitten in der Nacht Licht brannte, gab es nur eine rationale Erklärung – irgend ein Landstreicher mußte im Schneesturm Schutz gesucht haben und hatte sich nun vermutlich ein wärmendes Feuerchen gemacht. Genau, so mußte es sein. Moore gähnte verhalten. Es hatte keinen Zweck, einzuschreiten. Erstens war dies nicht seine Jurisdiktion. Zweitens stand das Gemäuer leer, so daß Hausfriedensbruch und Brandstiftung eigentlich keine zutreffenden Anschuldigungen waren. Drittens war morgen Weihnachten, und er brachte es nicht übers Herz, in dieser Nacht einen Obdachlosen fortzujagen. Viertens wollte er mit der Familie Mirth in ein paar Stunden zur Frühmesse gehen, und fünftens wurde er allmählich wirklich müde. Er wollte bereits wieder zurück ins Bett gehen, als er ein gespenstisches grünes Leuchten bemerkte, welches sich rasend schnell in der Ruine ausbreitete und Mansfield Manor hell aufleuchten ließ. * Mit heftig klopfendem Herzen pochte Moore an die Tür von Colin Mirths Zimmer. Undeutliche Worte, im Halbschlaf gemurmelt, waren die einzige Reaktion, die zu vernehmen war. "Machen Sie auf, Commander", zischte Moore, "ich bin's." Wenige Augenblicke später öffnete Colin verschlafen die Tür. "Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?" "Gewiß. Moment." Moore zückte höflich seine Taschenuhr. "Viertel vor eins. Wieso?" Colin stützte sich schwer gegen der Türrahmen und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. "Nichts, schon gut. Was gibt es denn so Dringendes?" Moore sah über die Schulter und vergewisserte sich, daß sie allein waren. Dann beugte er sich mit Verschwörermiene vor. "Ich bin soeben Zeuge eines paranormalen Phänomens geworden, Commander", flüsterte er heiser. Colin war schlagartig wach. "Pardon?" "Ich sagte, ich bin soeben Zeuge eines—" "Ja", machte Colin gedehnt, "das hatte ich schon verstanden, Sergeant. Was und wo?" "Ein geisterhaftes Licht", sagte Moore ernst, "in Mansfield Manor." *
Seite 8
Colin Mirth Eine Viertelstunde später stapften Colin Mirth und Archibald Moore durch den knietiefen Schnee, der das Waldstück zwischen den beiden Villen eingehüllt hatte. Moore war mit seinem Dienstrevolver bewaffnet, und Colin hatte einen Colt aus seiner Reisetasche geholt – ein Souvenir aus seiner Zeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, wie er dem Sergeant grinsend erklärt hatte. "Ich dachte zuerst, es handelt sich um Landstreicher", schnaufte Moore, "aber dann habe ich dieses grüne Leuchten gesehen. So wie neulich, Commander, wissen Sie noch? Das Geisterschiff von diesem Captain Trevelyan, das hat auch so geleuchtet." "Jetzt leuchtet es nicht mehr", bemerkte Colin. Im nächsten Moment gellte ein herzzerreißender Schrei durch die Nacht. Er schien aus der Ruine von Mansfield Manor zu kommen. Gleichzeitig flammte das geisterhafte grünliche Leuchten wieder auf; die Ruine und der sie umgebende verschneite Wald waren für wenige Augenblicke hell erleuchtet. "Was... was um alles in der Welt war das?" fragte Moore entsetzt, als der Schrei verklungen und das Licht wieder erloschen war. "Das", sagte Colin und räusperte sich, "war eindeutig ein paranormales Phänomen." Die beiden Männer beschleunigten ihre Schritte. Als sie die Ruine erreichten, war sowohl das grüne Leuchten als auch das Licht, das Moore zuerst gesehen hatte, verschwunden. Die einzige Lichtquellen in dem ausgebrannten Gemäuer waren die Laternen, welche Moore und Colin bei sich trugen, und der Vollmond über ihnen. "Hier ist niemand", sagte Colin und leuchtete mit seiner Laterne in alle Ecken. Hier gab es nichts als geschwärztes, halb eingefallenes Mauerwerk und Berge von verkohltem Holz, welche einst die Inneneinrichtung und die Decken des Hauses gewesen sein mußten. Die leeren Fensteröffnungen gähnten ihm stumpf entgegen; Schnee und Eiszapfen lasteten schwer auf der alten Ruine. "Aber hier war jemand", rief Moore triumphierend. Colin drehte sich überrascht um. Der Sergeant kniete im Schnee und deutete auf eine Stelle, an der Colin im Schein der Laternen einen dicken roten Fleck erkennen konnte. "Blut, Sergeant?" Moore schüttelte den Kopf. "Kerzenwachs, Commander. Rot eingefärbtes Kerzenwachs. Wie von einer Weihnachtskerze." Colin hob seine Laterne etwas höher. "Sehen Sie das auch, Sergeant?" Moore runzelte die Stirn. "Da sind Spuren. Sie führen in die Richtung da." Er zeigte in den Wald. "Das meine ich nicht." Colin schüttelte den Kopf. "Die Wachsflecken ergeben ein Muster im Schnee. Einen Kreis." Moore pfiff anerkennend. "Sie haben recht, Commander. Und wer immer hier gewesen ist, hat im Inneren des Kreises gestanden. Aber wozu?" Colin verzog das Gesicht. "Nach allem, was ich heute Nacht hier gesehen habe, drängt sich mir der Verdacht auf, daß wir es mit einer Art okkultem Ritual zu tun haben." * Am nächsten Morgen, nach dem Verteilen der Weihnachtsgeschenke, fuhren Colin und Sergeant Moore mit der Familie Mirth zum Gottesdienst nach Birmingham. Colin hatte schlechte Laune; er und Moore hatten in der zurückliegenden Nacht noch versucht, den Spuren im Schnee zu folgen. Dann aber hatte es wieder begonnen zu schneien, und ihre Bemühungen waren erfolglos geblieben. Im dichten Schneetreiben hatten sie umkehren und unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen müssen. Kaum hatte die Kutsche Mirth Mansion wieder erreicht, sprang Colin ungeduldig aus dem Wagen. "Kommen Sie, Sergeant, ich muß Ihnen etwas zeigen." Seite 9
Colin Mirth Moore folgte Colin in dessen Zimmer. "Machen Sie bitte die Tür hinter sich zu, Sergeant. Ich wollte Abdul gleich frei lassen", sagte Colin und ging zu dem großen Bücherregal. Moore verschloß die Tür und schälte sich aus seinem Mantel. "Was genau suchen Sie denn da?" "Ein Buch über Geisterbeschwörung". Colin runzelte die Stirn. "Merkwürdig." "Was ist merkwürdig?" Colin drehte sich um. "Es ist nicht da." "Vielleicht haben Sie es verlegt? Oder woanders einsortiert? Sie waren immerhin seit Jahren nicht mehr hier", sagte Moore. Colin schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Diese Bücher sind alle noch aus meiner Studienzeit in Oxford. Und die Sammlung war vollständig in diesem Schrank einsortiert." "Vielleicht hat sich jemand das Buch ausgeliehen?" fragte Moore. "Die Shakespeare-Bände vielleicht. Aber ein Buch mit alten Zaubersprüchen in einer Sprache, die nur noch wenige Menschen auf der Welt lesen können...?" Colin verstummte. "Sie haben recht", sagte er nach einer kurzen Pause, "was ist, wenn sich jemand das Buch ausgeliehen hat?" "Ich wußte gar nicht, daß man in Oxford auch archaische Zaubersprüche lehrt", bemerkte Moore mit hochgezogenen Augenbrauen. Colin begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. "Mein Lehrer für altenglische Schriften war in seiner Jugend ebenfalls in Sachen Paranormale Phänomene für die Regierung Ihrer Majestät tätig. Er hat mich in diese Thematik eingeführt und mich später auch zum Secret Service vermittelt." "Und dieses Buch, das Sie suchen?" "Eine alte Handschrift mit Beschwörungsformeln und Bannsprüchen", sagte Colin nachdenklich, "ich selbst benutze diese Formeln fast gar nicht mehr, seit ich Abdul habe. Ein Flaschengeist ist die beste Waffe, die sich ein Geisterjäger wünschen kann. Aber heute morgen auf dem Weg zur Kirche fiel mir dieses Büchlein wieder ein, und ich wollte mal ein wenig darin blättern. Vielleicht hätte uns das einen Anhaltspunkt gegeben, was in Mansfield Manor passiert ist." "Wissen Sie, was mir Sorgen bereitet, Commander?" fragte Moore mit Grabesstimme. Colins Gesicht verfinsterte sich. "Abduls Warnung, daß jemand in diesem Haus sich mit Schwarzer Magie beschäftigt." "Richtig, Commander." "Dabei ist das Buch eigentlich gar kein Werk der Schwarzen Magie", entgegnete Colin. "Hmm", machte Moore verwirrt. "... sondern eher eines der Weißen Magie", fuhr Colin fort. "Aber man könnte es zu einem Werkzeug des Bösen machen, wenn man genügend – nun ja – kriminelle Energie aufbringt. Und das macht mir eigentlich noch viel mehr Angst als das Buch an sich, Sergeant." "Wollen wir Abdul fragen, was er davon hält?" fragte Moore. "Gute Idee." Colin griff an seinen Hemdkragen, öffnete den obersten Kragenknopf und förderte die kleine Glasphiole an ihrer Silberkette ans Tageslicht. "Fragen wir ihn einfach." * "Wir haben ein fehlendes magisches Buch. Wir haben einen Flaschengeist, der uns versichert, daß sich ein Schwarzmagier in unserer Nähe herumtreibt. Und wir haben Seite 10
Colin Mirth Spuren eines okkulten Rituals im Schnee gefunden", brummte Moore. "Wenn ich mit solchen Beweisen zu Inspector Pryce gehen würde, würde er mich gleich wegsperren lassen." Die Nacht war sternenklar. Es hatte den ganzen Tag über geschneit, und Moore hatte sich im gemütlichen warmen Haus der Familie Mirth den Bauch mit Leckereien vollgeschlagen. In seinem Magen rumorte es; die delikate Weihnachtsgans, der Yorkshirepudding und ein paar Gläschen Sherry hatten das Abendessen zu einem kulinarischen Erlebnis werden lassen. Nun hockte er mit Colin in dem verschneiten Wald unweit der Ruine von Mansfield Manor. Colin nickte, ohne den Blick von den eingefallenen Mauern mit den ausgebrannten Fensterhöhlen zu wenden. "In der Tat, das würde er. Vor allem, wenn er uns jetzt sehen könnte. Statt noch ein wenig am warmen Kamin zu sitzen, schlagen wir uns hier in der Kälte die Nacht um die Ohren." Es war in der Tat empfindlich kalt geworden. Zwar hatte es aufgehört zu schneien, doch zur gleichen Zeit war die Temperatur bis weit unter den Gefrierpunkt abgesunken. Die Kälte kroch den beiden Männern durch die Stiefel und die Kleider bis ins Mark. Nur Abdul fror nicht. Die bläulich schimmernde Gestalt des Flaschengeistes schwebte neben Moore und Colin eine Handbreit über dem verschneiten Waldboden und sah sich gelangweilt um. "Ich hoffe nur, wir warten nicht vergebens, Efendi." "Ich auch. Andererseits..." Colin zuckte mit den Schultern. "Andererseits?" Abdul legte nachdenklich den Kopf schief. "Ich weiß nicht, Abdul. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl bei der Sache. Dieser Verdacht, den du gestern hattest – verbunden mit dem fehlenden Manuskript ergibt das eine mögliche Erklärung für die Vorgänge in Mansfield Manor, die mir überhaupt nicht behagt." Colin seufzte schwer und sah seiner weißen Atemfahne in der schneidend kalten Nachtluft nach. "Ja", murmelte Moore leise, "den Gedanken hatte ich allerdings auch schon, Commander. Ohne jemanden verdächtigen zu wollen, aber –" Ein fahles grünes Leuchten erschien in einem der Fenster der Ruine, und der Sergeant verstummte. Mit der gleichen Geschwindigkeit, wie sich das grüne Licht in Mansfield Manor ausbreitete, erscholl auch wieder der gequälte, langgezogene Schmerzensschrei, den die Männer schon in der vergangenen Nacht gehört hatten. Abdul hielt sich die Ohren zu. "Das klingt nicht gut, Efendi." Colin zog seinen Colt und rannte in geduckter Haltung los. Moore folgte ihm mit gezücktem Revolver. "Ich habe niemanden kommen sehen", zischte der Sergeant. "Vielleicht von der anderen Seite", erwiderte Colin. "Leise jetzt!" Noch immer gellten die Schreie durch die Nacht. Colin und Moore pirschten sich geräuschlos an die Ruine heran, dicht gefolgt von dem Flaschengeist. Colin wußte zwar, daß er mit seiner Waffe gegen eine Geistererscheinung nichts ausrichten konnte – dafür hatte er schließlich Abdul zur Unterstützung mitgebracht – doch gegen denjenigen, der sich dort in Geisterbeschwörungen versuchte, würde ihm die Waffe sicherlich gute Dienste leisten. Jedenfalls fühlte sich Colin bewaffnet viel sicherer. "Ein Schwarzmagier, Efendi", raunte ihm Abdul ins Ohr, "ich kann es fühlen. Ihr auch?" Colin schüttelte den Kopf. Er gab Moore einen Wink, und auf das verabredete Zeichen schwang sich Colin durch eine eingestürzte Mauer ins Innere der Ruine, während Moore ihm aus der Deckung Feuerschutz gab. Die Szenerie, die sich Colin bot, war furchteinflößend: in einem Kreis, der mit Kerzenwachs in den Schnee gezeichnet war, kniete eine in einen weiten Umhang gehüllte Gestalt, deren Gesicht im Schatten einer Kapuze verborgen blieb. Sie hatte Seite 11
Colin Mirth die Hände wie zum Gebet erhoben und murmelte Beschwörungsformeln. Adressat dieser Beschwörung war ganz offensichtlich der grelle grüne Nebel, der vor dem Fremden in der Luft schwebte und von innen heraus zu leuchten schien. Der Nebel änderte unaufhörlich die Form und nahm ab und zu für einen kurzen Moment menschliche Konturen an, ehe er wieder zu einem grellen Lichtpunkt zusammenschrumpfte oder in eine gesichtslose Wolke zerfaserte. Soweit Colin es beurteilen konnte, war diese geisterhafte Erscheinung auch die Quelle der furchtbaren Schreie, die seine Trommelfelle malträtierten und seinen Schädel fast zum Bersten brachten. Colin stand einen Moment wie versteinert da und versuchte, sich einen Reim auf die unheimliche Situation zu machen. Dann räusperte er sich. "Scotland Yard", rief er, "nehmen Sie die Hände hoch, Sir!" Die vermummte Gestalt verstummte, und im gleichen Augenblick verschwand die grün leuchtende Erscheinung. Damit erlosch aber auch die einzige Lichtquelle in Mansfield Manor, und Colin und der Fremde standen sich für einen Moment im Dunkeln gegenüber. Dann rannte der Unbekannte fort. "Halt!" Colin hob seinen Colt und gab einen Schuß in die Luft ab. "Stehenbleiben, Polizei!" Sergeant Moore sprang aus seinem Versteck hervor und feuerte dem Flüchtenden zweimal hinterher. Colin sprintete los. "Ihm nach, Abdul!" Auf seinen Befehl hin schoß der Flaschengeist wie ein blauer Blitz durch den verschneiten Wald, doch schon nach wenigen hundert Yards hielt er inne. "Efendi! Hierher!" Atemlos kam Colin zu ihm gerannt. "Was ist, Abdul? Hast du ihn gefunden?" "Nicht den Magier, Efendi, aber das hier." Abdul zeigte zu Boden. Schnaufend und mit hochrotem Kopf kam Moore näher. "Was gibt es, Gentlemen?" "Das hier." Colin hob ein dünnes, ledergebundenes Büchlein aus dem Schnee auf. Eine von den Kugeln aus Moores Revolver steckte darin. "Ist das das fehlende Buch, Commander?" fragte Moore aufgeregt. "So ist es, Sergeant." Colin puhlte das deformierte Geschoß aus den zerfledderten Manuskriptseiten und reichte es Moore. "Bitte sehr. Souvenir aus Birmingham. Fröhliche Weihnachten, Sergeant." "Wollen wir unserem Geisterbeschwörer nicht verfolgen?" Moore zeigte auf die Spuren, die tief in den verschneiten Wald hinein führten und sich irgendwo in der Finsternis im Dickicht verloren. "Wie denn?" fragte Colin achselzuckend. Er und Moore hatten die Laternen in dieser Nacht zu Hause gelassen, um bei der nächtlichen Oberservierung der Ruine nicht aufzufallen. "Außerdem glaube ich, daß das nicht mehr notwendig sein wird." * In Colins tiefe und gleichmäßige Atemzüge hatte sich ein leises Schnarchen eingeschlichen. In seinem Zimmer war es stockdunkel; die schweren, mit Brokat verzierten Samtvorhänge waren zwar einen Spalt breit geöffnet, doch draußen war es noch finstere Nacht, und es hatte auch wieder begonnen zu schneien. Auf einem Stuhl neben seinem Bett lag das antike Manuskript mit den Zaubersprüchen, welches er bei seiner nächtlichen Exkursion erbeutet hatte. Langsam senkte sich die Türklinke. Mit einem kaum vernehmbaren schabenden Geräusch öffnete sich die schwere Eichentür. Jemand betrat das Zimmer auf Zehenspitzen. Leise knarrte eines der Seite 12
Colin Mirth Fußbodenbretter, und sofort verlagerte die Gestalt ihr Gewicht auf den anderen Fuß, um den verräterischen Laut zu unterdrücken. Noch zwei Schritte, dann hatte der Fremde neben Colins Bett erreicht. Einen Moment lang stand er unschlüssig im Zimmer, dann nahm er ein sanftes bläuliches Glühen wahr, welches von dem Stuhl neben dem Bett ausging. In dem sanften Lichtschein erkannte er das Buch, nach dem er gesucht hatte. Gierig streckte er die Hand danach aus. Dann geschah alles sehr schnell. Aus dem Einschußloch, das Moores Revolverkugel in dem Büchlein hinterlassen hatte, schoß ein blendend blauer Lichtblitz hervor, der sich in Sekundenschnelle in die hünenhafte, halbnackte Figur eines blauhäutigen Flaschengeistes verwandelte. Im gleichen Augenblick sprang Sergeant Archibald Moore mit vorgehaltener Waffe und einer Kerze in den Händen aus dem Kleiderschrank. Colin fegte die Bettdecke beiseite, trat nach dem Eindringling und entzündete mit einem Streichholz die Kerze neben seinem Bett. Die Gestalt stieß einen spitzen Schrei aus und ging zu Boden. "Scotland Yard", bellte Moore, "keine Bewegung, du Strolch!" Colin grinste Abdul und Moore zufrieden an. "Ich wußte doch, daß er versuchen würde, sich das Buch wieder zurück zu holen." "Und ich hatte doch recht, Efendi, daß es einen Adepten der schwarzen Magie in Eurer Familie gibt", triumphierte Abdul. Alle Augen richteten sich auf die Gestalt, die nun die Kapuze ihres Mantels zurückschlug und sie trotzig anblickte. Colin seufzte schwer und verschränkte die Arme vor der Brust. "Du also." Emily hielt dem stechenden Blick ihres Bruders stand. "Ja, ich." "Du hast das Manuskript gestohlen und damit in Mansfield Manor okkulte Riten zelebriert", sagte Colin vorwurfsvoll. "Aber warum, Emmy?" Die junge Frau verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust, in einer nahezu perfekten Imitation der Geste ihres Bruders. Colin wechselte einen Blick mit Moore. "Wenn man einen Geist herbeirufen will, tut man das am besten an einem Ort, an dem jemand eines gewaltsamen Todes gestorben ist", erklärte er ihm. "Meine Schwester hat sich Mansfield Manor ausgesucht." Moore pfiff leise durch die Zähne. "Und der Geist, den wir gesehen haben... dieses grüne Leuchten... war das etwa der Geist von der alten Miss Mansfield?" Abdul nickte ernst. "So ist es, Sergeant Moore. Und so, wie es sich anhörte, ist die arme Miss Mansfield nur unter großen Schmerzen wieder aus dem Schattenreich zurückgekehrt." "Weil mein kleines Schwesterchen irgend etwas bei der Beschwörungsformel falsch gemacht hat", fuhr Colin fort. "Ich hatte nun mal keinen so guten Lehrer wie du, Colin", platzte Emily plötzlich heraus, "ich mußte mir alles selbst beibringen! Irgendwann hätte ich es richtig gekonnt, und dann wäre ich –" "Eine Hexe", unterbrach Colin sie. "Du wärst tabu für alle, die dich kennen. Ganz Birmingham würde über dich reden. Du müßtest weit fortgehen, jahrelang, bis sich keiner mehr an dich erinnert." "So wie du", gab sie bissig zurück, "aber du willst ja offensichtlich unbedingt der einzige in unserer Familie sein, der Macht über Geister ausübt!" "Es geht mir nicht um Macht", verbesserte er sie, "es ging mir nie um Macht. Es ist immer nur mein Anliegen gewesen, den Verstorbenen den Frieden zu geben, der ihnen zusteht, so daß die Lebenden keine Geister zu fürchten brauchen." Emily zeigte mit einem zitternden Finger auf Abdul. "Und dabei machst du ausgerechnet mit einem Geist gemeinsame Sache?" Seite 13
Colin Mirth "Laß das mein Problem sein", entgegnete Colin kühl, "und lege dich nicht mit Mächten an, von denen du nichts verstehst, Emmy." "Aber ich will sie verstehen", flehte sie ihn an, "und ich kann das bestimmt genau so gut wie du. Vielleicht sogar noch besser! Ich muß es wenigstens versuchen, Colin!" "Das hast du bereits getan. Du hast den Frieden der armen Miss Mansfield gestört, nur um deine Neugier zu befriedigen. Dein Versuch ist fehlgeschlagen, Emmy. Es ist vorbei." Er schüttelte traurig den Kopf. "Was würden unsere Eltern sagen, wenn wir beide diesen Weg gehen?" Emily sah erst Abdul und dann ihren Bruder mit großen Augen an. Sie rang nach Worten, wollte ihm widersprechen, ihn anschreien, mit ihm streiten... dann ließ sie kraftlos die Arme sinken und rannte schluchzend aus dem Zimmer, die Tür hinter sich zuknallend. Colin drehte sich zu seinen Kameraden um und lächelte schief. "Ich muß mich für das Betragen meiner Schwester entschuldigen, Gentlemen. Sie wollte mir lediglich nacheifern – ohne zu ahnen, in welcher Gefahr sie die ganze Zeit über geschwebt hat. Ein falscher Zauberspruch aus diesem Buch hätte sie das Leben kosten können..." Moore sicherte seinen Revolver und ließ ihn in seiner Jackentasche verschwinden. Er gähnte herzhaft. "Was machen wir jetzt mit ihr?" Colin zuckte mit den Achseln. "Hat sie – juristisch betrachtet – etwas verbrochen?" Moore runzelte die Stirn. "Äh, nein. Abgesehen von dem Diebstahl des Buches." "Ich werde keine Anzeige erstatten. Außerdem sind wir, streng genommen, außerhalb unserer Jurisdiktion. Es gibt also nichts, was wir der Polizei in Birmingham melden müßten." Colin nahm das Manuskript wieder an sich. "Und was das Buch betrifft... es war ein Fehler von mir, es nach meinem Studium hier zurück zu lassen. Ich hätte nie gedacht, daß jemand überhaupt in meiner Büchersammlung herumstöbern würde – oder daß Emmy so leichtsinnig sein könnte, damit zu experimentieren." * Die Verabschiedung am nächsten Morgen fiel recht kurz aus. Sowohl William Mirth als auch seine Frau Elizabeth spürten, daß die Atmosphäre zwischen ihren Kindern nicht die beste war. Ernest half Colin und dem Sergeant, das Gepäck in die Kutsche zu laden, dann ließ der Kutscher die Peitsche knallen, und die lange Rückreise nach London begann. "Versprechen Sie mir was, Sergeant?" fragte Colin, während er aus dem Rückfenster der Kutsche einen letzten Blick auf sein Elternhaus warf. "Ich weiß schon: kein Wort über die Geistererscheinung zu Inspector Pryce", Moore nickte verständig und zwirbelte seinen Schnurrbart, "aber nur, wenn Sie niemandem erzählen, daß ich mich mitten in der Nacht in einem fremden Schlafzimmer im Kleiderschrank verstecken mußte."
Demnächst: "Der Werwolf von Westminster"
Seite 14